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Full text of "Specielle Pathologie und Therapie der Geistes-krankheiten"

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Specielle  Pathologie  und 
Therapie  der ... 

Heinrich  Schüle 


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Tb  A7 


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H.  SCHÜLE. 

KLINISCHE  PSYCHIATRIE, 


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HANDBUCH 


der 


Speciellen  PatMop  ui  Therapie 

bearbeitet  von 

Prof.  H.  Ausplte  in  Wien,  Dr.  V.Babea  in  Budapest,  Dr.  A.  Baer  in  Berlin,  Prof.  Chr.  Baeumler  in  Froiburg. 
woiL  Prof.  C.  Bartels  in  Kiel,  Prof.  J.  Bauer  in  Mönchen,  Prof.  V.  F.  Birch-Hirschfeld  in  Leipzig,  weil.  Prot. 
H.  v.  Boeok  in  München,  Prof.  B.  Boehm  in  Leipzig,  Prof.  O.  Bollinger  in  Manchen,  Dr.  H.  Oursohmann 
in  Hamborg,  Baur.  L.  Degen  in  Kogonsburg,  Prof.  W.  Ebstein  in  Oottingen,  Prof.  W.  Erb  in  Heidolberg,  Prof. 
F.  Erismann  in  Moskau,  Prof.  A.  Eulenburg  in  Berlin,  Prof.  C.  Flügge  in  Göttingen,  Prof.  J.  Forster 
in  Amsterdam,  Prof.  B.Fraenkel  in  Berlin,  Prof.  O.  Fraentoel  in  Berlin,  weil.  Prof.  N.  Friedreich  in  Heidelberg, 
Prof.E.  Geber  in  Klaosenburg,  Prof.  A.  Geigel  in  Wünburg,  woil.  Dr.  F.Haenisoh  in  Groifawald,  Prof.  A.  Heller 
in  Kiel.  Prof.  H.  Herls  in  Amsterdam,  Prof.  O.  Heubner  in  Leipzig,  Prof.  A.  Hilger  in  Krlangen,  Prof.  Li.  Hirt 
in  Breslau,  Prot  E.  Hitzig  in  Halle,  Prof.  G.  Huguenin  in  Zürich,  Prof.  H.  Immormann  in  Basel,  Prof. 
F.  Jolly  in  Straasbarg,  Prof.  Th.  Juergensen  in  Tübingen,  Prof.  A.  Kunkel  in  Wünburg,  Prof.  A.  Kussmaul 
in  Strasburg,  weil.  Prof.  H.  Lebert  in  Vetey,  Prof.  O.  Leiehtenstem  in  Köln,  Dr.  B.  Lesser  in  Leipzig. 
Prof.  W.  Leube  in  Würzburg,  Prof.  C.  v.  Liiebermeister  In  Tftbingen,  Dr.  G.  Merkel  in  Nürnberg,  Dr. 
P.  Biiehelson  in  Königsberg,  Prot  F.  Mosler  in  Qreifswald,  Prof.  B.  Naunyn  in  Königsberg,  Prof.  A.  Neisser 
in  Broslau,  Prof.  H.  Nothnagel  in  Wion,  weiL  Prof.  F.  Obernier  in  Bonn,  Prof.  J.  Oertel  in  München,  Prof. 
M.  v.  Fettenkofer  in  München.  Prof.  E.  Ponfick  in  Breslau,  Prof.  H.  Quincke  in  KieL  Dr.  F.  Benk  in  Mün- 
chen, Prof.  Fr.  Riegel  in  Giossen.  Prof.  E.  Rindfleisch  in  Würzbnrg,  Prof.  S.  Rosenstein  in  Leiden,  Prof. 
H.  Ruehle  in  Bonn,  Prof.  O.  8ohroeder  in  Berlin.  Prof.  Ii.  Sohrötter  in  Wien,  Dr.  H.  Schule  in  nienau,  weil. 
Prof.  O.  v.  Schuppet  in  Tübingen,  Dr.  A.  Schuster  in  München,  Prof. E.  Schwimmer  in  Budapest,  Prof  E.  Seit?, 
in  Wiesbaden,  Prof.  H.  Senator  in  Berlin,  Prof.  J.  Soyka  in  Prag,  Dr.  A.  Steffen  in  Stettin,  weiL  Prof. 
J.  Steiner  in  Prag,  Prof.  Th.  Thierfelder  in  Rostock,  Prof.  Ii.  Thomas  in  Freiburg,  Dr.  P.  G.  Unna  in 
Hamburg,  weil.  Dr.  E.Veiel  in  Cannstatt,  Dr.  Th.Veiel  in  Cannstatt,  Prof.  A.  Vogel  in  Dorpat,  Prof.  E.Wagner 
in  Leipzig,  woiL  Prof.  H.  Wendt  in  Leipzig,  Dr.  A.  Weyl  In  Berlin,  Dr.  G.  WoLffhügel  in  Berlin,  Prof. 

in  Erlangen.  Prof.  H.  v.  Ziemssen  in  München,  Prof.  W.  Zuelser  in  Berlin 

Herausgegeben 


von 


Dr.  H.  v.  Ziemssen, 

Professor  der  klinischen  Medicin  in  München. 

XVI.  HAND. 

DRITTE  AUFLAGE. 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON  F.  C.W.VOGEL. 
18S6. 


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KLINISCHE  PSYCHIATRIE. 

SPEC  [ELLE  PATHOLOGIE  UND  THERAPIE 

DHU 

GEISTESKRANKHEITEN 

VON 

Dr.  HEINRICH  SCHÜLE 

«« 

IN  1LLKNAU. 

Dritte  völlig  umgearbeitete  Auflage. 

MIT  3  ABBILDUNGEN. 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON  F.  C.W.VOGEL. 
1886. 


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I 


Das  Uebersetzungsrecht  ist  vorbehalten. 


Herrn  Geheimrath  Dr.  C.  Hergt 

DIRECTOR  IN  ILLENAU 


ZUGEEIGNET. 


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Vorwort. 


Die  nachstehende  Darstellung  umfasst  die  Schilderung  der 
speci eilen  Formen  des  Irreseins.  Sie  erscheint,  wenn  auch  als 
weitere  Ausfuhrung  des  betr.  Capitels  meines  früheren  Handbuchs, 
doch  als  eine  vollständig  neue,  auf  breiterer  Grundlage  angelegte, 
mit  möglichster  Berücksichtigung  nicht  allein  der  typischen  Bilder, 
sondern  auch  der  Variationen,  sowohl  in  den  Zeichencomplexen 
selbst,  als  in  den  Verlaufsarten,  der  Mischung  und  den  Uebergängen 
der  einzelnen  Zustandsformen.  Indem  zugleich  auch  die  wichtigern 
einschlägigen  Capitel  aus  der  allgemeinen  Psychopathologie  einge- 
flochten sind,  stellt  das  Buch  den  Versuch  einer  „klinischen 
Psychiatrie"  dar.  Von  einer  eingehenden  Besprechung  der 
Aetiologie  musste  dabei,  schon  des  Umfanges  der  Schrift  wegen, 
abgesehen  werden;  dagegen  ist  die  Prognose  und  namentlich  die 
Therapie,  dem  praktischen  Zwecke  einer  klinisch  vollständigen 
Darlegung  entsprechend,  gebührend  berücksichtigt. 

Das  zu  Grunde  gelegte  Material  stammt  nur  aus  hiesigen  Be- 
obachtungen, theils  aus  der  eigenen  jetzt  nahe  an  25jährigen  Er- 
fahrung, theils  aus  den  Aufzeichnungen  früherer  Mitarbeiter.  Wenn 
ich  unter  diesen  den  Namen  unseres  leider  zu  früh  verstorbenen 
Dr.  Kast  (späteren  Bezirksarztes  in  Freiburg)  hervorhebe,  so  genüge 
ich  einer  schuldigen  Anerkennung  für  diesen  lieben  Freund  und  aus- 
gezeichneten Beobachter.  Der  Beschränkung  auf  das  hiesige  Material 
lag  die  Absicht  einer  möglichst  unabhängigen  Darstellung  zu  Grunde, 
deren  Ergebnisse,  soweit  sie  mit  anderwärts  gemachten  zusammen- 
träfen, frei  und  selbstständig  diese  letzteren  zu  bestätigen  geeignet 
wären.  Darnach  möge  auch  die  Verwerthung  der  Literatur  im  Texte 
bemessen  werden,  welche  aus  obiger  Rücksicht  in  engeren  Grenzen 
sich  halten  durfte. 


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X 


Vorwort. 


Für  die  zwei  Capitel  des  epileptischen  Irreseins  und  des  Idio- 
tismus schulde  ich  einen  grossen  Theil  des  Materials  und  manchen 
schätzbaren  Wink  der  Freundlichkeit  meines  hiesigen  Collegen  Frz. 
Fischer  und  namentlich  des  Collegen  Wildermuth  in  Stetten. 
Beiden  möchte  ich  hiermit  meinen  geziemenden  Dank  abstatten.  Auch 
mein  Freund  v.  Kr  äfft- Ebing  sei  nicht  vergessen. 

Dass  ich  dem  Buche  den  Namen  meines  verehrten  Freundes 
und  Collegen  Hergt  vorsetzen  und  dasselbe  dem  hochverdienten 
Manne  zur  Feier  seines  50jährigen  Jubiläums  Uberreichen  durfte, 
gereicht  mir  zur  besonderen  Befriedigung.  Sei  es  ihm,  neben  dem 
Ausdruck  pietätsvoller  Gesinnung,  zugleich  ein  Andenken  an  das 
gemeinsame  schöne  Wirken  in  unserem  Illenau,  dessen  Emporblühen 
das  höchste  Streben  seines  reichen  Lebenswerkes,  dessen  segens- 
volle Erfolge  zum  grossen  Theile  das  Verdienst  seiner  Arbeit, 
seines  Beispiels  sind! 

Illenau,  November  ISS5. 

H.  Schüle. 


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Iiilialtsverzeiclmiss. 


:*eite 

Einleitung.  Begriffsbestimmung:  der  SeelenstKruny. 

Vcrhaltniss  der  Lehre  der  ,.p8ychi.schen"  Störungen  zu  den  Ergebnissen  der 

Hirn phy-iiologie  und  Hirnanatoroie  .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .  2 

Erfordernisse  für  die  einstige  ».nosologische4' '  Krkeimtniss  der  Seetenstörung  4 

Angabe  tlos  Buchs  als  eine  klinisch-descriptive   5 


Eintlieiluug  der  Seelenslürumren. 

Syiuptoinatologischer  Standpunkt   i\ 

Wichtigkeit  des  ., Verlaufs"   .    •    ■                                  ■    T 

Der  psychologischen  Qualität  der  Kinzelsymptomc  qua  Keactionsforincn  der 

Tiefe  des  patholog.  liirnproccsses  ...    .                                     '  S 

Das  Moment  der  „Krankheitsentwicklung"   10 

Der  Factor  der  „cerebralen  Widerstandskraft' •   \2 

Da3  „rüstige"  und  das  „invalide"  Gehirn   n 

Der  ..anthropologische"  Standpunkt  .    ■    .    •    •    •    ■    ■    ■    -    ■    •    •        ■  F* 
Die  ..psychischen  Cerebrupat.hieen'S  die  acuten  Frschöptungsformcii  de->  tle- 
hirns  idas  Pelir.  acut.)  und  die  chronische  degenerative  llirnersc  hopfung 

ulie  progr.  Paralyse)  •    ■  -    .  I1' 

Allgeincin-Schcnia  der  Fintheilung   IT 

Klinische  Charakteristik  der  Kinzelgruppen   l"S 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 

Literatur   21 

Klinische  Definition   22 

Analyse  der  Symptome  •    •    •    •   23 

Störungen  des  Fuhlens  und  Wollens  ...    23 

Klinische  Haupttypcn   2  1 

..Antraf*   26 

Erniedrigung  des  Selbstgefühls   28 

Das  Wollen  ....   2^ 

Anomalieon  des  Vorstellcns  ,  ,  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2D 

Melancholischer  ..Wahn"   31 

Ailegorieen  aus  den  begleitenden  Sensibilitatsstörungen  resp.  psvehophysische 

Function  der    Neuralgie"  .    .    .    .    .    .    .    .    .    ....*,    .  31 

Melancholischer    Verfolgungswahn ,    Thiermetamorphose ,  hypochondrische 

Wahnbildung .        •    •    •    •    •    •    •    •    •    -    .    .    ■    •    •   32 

Anomalieen  der  sensorischen  Functionen,  Sinnestäuschungen  .    .    '.    '.    .    .  33 

Anomalieendersensibeln  Functionen ;  pathogenetische  Function  der  ..Neuralgie"  33 

Vasomotorische  Begleiterscheinungen.    .   .    ..  3^ 

lrophische  .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .  •    •    •    •  3" 

>tnriingen  der  Respiration.  Verdauung,  Menstruation,  des  Schlafes  ....  3'> 

>limik   39 

1  berapie   40 

Somatische   l'> 


XII  InhaltäTcrzeichniss. 

Opium-  und  Morphiuminjectionen   42 

Bromkali    .    .    .    .   41 

Korperernahrurig   44 

>ahrungsverwcigorung   45 

i'sychiscbo .    4(» 

iiehandlung  der  einzelnen  Unterformen   47 

Specielle  Melancholie. 

Verschiedener  Krankheitsboginn   49 

Klinische  Typen   61 

Weiterverlaut  und  Ausgango   b.s 

Massive  Melancholie   bl 

Kaptus  inelaiicholicu.H  .    .    ■    -    -   bb 

H  y  p  o  c  h  o  n  d  r  i  s  c  h  e  M  e  1  a  n  c  h  o  1  i  e   ~~fiG 

Melancholia  agitata .     "59 

lntercurrente  acute  Wahnsinn aopisodon  .    .    .   59 

Melancholische  Unterform  mit  überwiegenden  Illusionen     ....  60 

Chronische  Melancholie  *   Gl 

C  h  r  o  n  i  s  c  h  e  h  y  p  o  c  h  o  n  d  r  i  s  c  h  o  Melancholio   tVA 

„Invalide"  Mclancholieen:  senile   66 

IS  c uras  t  h  eni  sch-tor  pide   GS 

Masturbatorischo   .    69 

Syphilitische     72 

Melancholia  attonita   73 

Die  Manie.  Allgemeines. 

Literatur   76 

Klinische  Definition    76 

Analyse  der  Symptome   77 

Anomalieen  in  der  ßewegungssphare   "77 

Anomalieen  in  der  (lenuithssphare   sö 

Manisches  ..Lustgeluhr'  .    .    81 

Manische    Verstimmung''   ...    H2 

Heigemischte  Moral  Insanity   h'2 

Anomalieen  des  Vorstellens   vi 

„ldeenliucht"  ■    .    ■    .    .    .    .    ■    ■    ■    •    .    .    .    •   82 

Stufeideiter  in  der  Idcenrlucht;  manische  Verworrenheit   Hb 

Grössenwahn   Hb 

Anomalieen  der  sensorischen,  sensibcln,  motorischen  und  trophischen  Kuno- 

tionen,  der  Temperatur     .   86 

Des  Körpergewichts,  des  Schlafs   87 

Therapie"   '  ......    .  87 

Somatische.    87 

Bäder   HS 

llyoscyamin   89 

Korperernahrung   90 

Psychische.    ....  90 

Üehandlung  der  einzelnen  Unterformen   91 

Spcclelle  Manie. 

Klinische  Eintheilung   92 

Mania  mitis   93" 

Mania  typica.    95 

lntercurrente  acute  W  a  hnsinnsphasen   97 

Ausgange   9"B 

lumr   9.) 

., Melancholische  Tobsucht"   H'l 

..  Z  u  r  n  "  in  a  n  i  e  e  n   IQ'2 

Sexual"manieen  .    .    lü^ 

Moria.     1  < » r> 

Mania  gravis    luii 

< '  h  r o  nis  c  h e  M  an  ie   112 


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Inbaltsverzeicbniss.  XIII 

Seite 

Psychische  Schwlchcznstftnde. 

Literatur  .  .  .  .  .  .  .  .  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  .  .  .  LH 

Analyse  der  „geistigen  Schwäche"   115 

Klinische  Typen.   '.    .    .    .    .    •    •    •    •                   •    •    •   lTl 

See  und  är  er  Wahnsinn  res]),  halluciiiatorische  Verwirrtheit     .    .    .    .  110 

Oer  Blödsinn  s.  str.   121 

Allgemeine  klinische  Zeichen  desselben   122 

Mimik  und  Physiognomik   125 

Krankheitstypen     .    .    .    .   1 2t> 

Ver  s  a~t  l  ler  s c c.  Bl  öd s  i  nn   12G 

Apathischer     127 

Therapie   120 


1)er  Wahnsinn  —  Paranoia. 

Literatur  ,  ,  ,  ,  .  .  ,  ,  ,  .  .  .  ,  .  .  .  .  .  ,  ,  ,  :  Lü> 

Allgemeines         .    _   131 

Psychologische  Analy.se  resp.  Genese  des  chronischen  typischen  Wahnsinns  i:TT 

Des  acuten  Wahnsinns    ...      13  1 

Klinische  Ditlerenzen  und  Zusammenhänge  beider    .    .    .    .    .    .    .   135 

Allgemeine  Symptomatologie  des  chronischen  (typischen)  Wahnsinns  .  i:TT 

Lhe "„Wahnideen"  .    .    .    .       .    .    .    .    .    .    .   .  137 

Formale  Genese  der  letztere;  Unterschied  der  wahnsinnigen  von  der  melan- 
cholischen Wahnvorstellung   137 

.,Vorstelluugs"wahn  •    13S 

..Sinnen"wahn   130 

Bedeutung  der  mitbcgleitcnden  anomalen  Emptindungen  (Sensibilitatsano- 

malieen)  für  die  ,,Objcctivatioii"    .    .    .    .    .    •    •    ■    •    .    •    •    •    "  130 

Bedeutung  des  „Worts"  lur  die  erkrankte  „Symbolik"  im  Wahnsinn  llü 

Inhalt  der  Wahnideen   .    .    1  TT) 

Anomalieen  des  „Wollens"  im  W  ahnsinn   1 12 

Des  Fuhlens  und  der  Stimmung   143 

Somatische  Begleitzeichen    .    .  III 

Verlauf   11  l 

Therapie    113 


Chronischer  depressiver  Wahnsinn. 

Verfolgungswahn  .   146 

a)  Cii  t'hrtdc  Form: 

Klinisches  Bild   14ü 

Wahl  des  Wahnobjects  .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    ....    .    .    ■    .  147 

Bedeutung  und  zeitliches  Verhältnis»  der  Ilallucinationen,  formale  Unter- 
schiede in  den  letztern   LL> 

Systematisirung   150 

Verlauf   151 

Ausgange  .    .    .    .    .   152 

Sei-iuul:\rer  Kinf allswahnsinn   152 

Zerfall  in  Demenz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  L5_3 

., Negativer"  Verf'olgungswahnsinn   .    .  154 

b )  CcrfhrtJSffhuiu'  Form: 

I'hys'ikali  scher  Verfolgungswahnsinn  ....    155 

Beginn  und  Entwicklung.    .    .    .    .    .  15ii 

Ceiitritugale  und  centripetale  Ilallucinationen   .  .157 

Weiterverkauf.     .    .   15S 

Mögliche  Genesung.    .   15'.» 

In  günstiger  Weitervcrlauf   .    .        .  .  15'.) 

Auttreten  von  episodischem  hypochondrischem  Wahnsinn   .15'.) 

Jntercurrenter  Stupor,  Grössen wahn   H>u 

Ausgang  in  secuiu  aren  WTahusiuu  resp.  halluc.  Verwirrtheit   1(>0 

I'e^enerativer  (meist  onanistischer)  Wahnsinn   U>1 

Verfolgungswahn  auf  Grundlage  von  Tabes   lt>2 

Li  tersuehtswahn  bei  Frauen.  .  lo2 


XIV  Inhaltsvcrzeichniss. 

Eifersuchtswahn  bei  Männern  :  .  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  .  ,  ,  .  ]M 

Schwangerschal  tswahnsinn  .    .    .   103 

Manische  Form  des  Verfolgungswahns   163 

Melancholische  Form  des  Verfolgungswahns   164 

C  ouipli  eirender  Gross  enwahn .    .   165 

..Abortiver"  Verfolgungswahn   168 

Der  chronische  expansive  Wahnsinn   Iü.» 

Klinisches  Bild   Itifl 

VVciterycrlauf  und  Ausgänge    ■   172 

..Negativer"  expansiver  Wahnsinn   17:> 

Subacutc  Varietät   174 

Der  acute  Wahnsinn. 

Allgemeine  Symptomatologie    .    .    .    .                                   •    ■    •    •    •  1"5 

Zusammenhange  und  Unterschiede  von  der  Melancholie.  Manie,  u.  dem  Stupor  176 

Verlaut                                                                                                 .  177 

Ausgänge  .  .  .  .  •  .  .  .  .  •  .  .  .  •  •  •  •  1"^ 
>peciclle  Symptomatologie;  Der  a  c  u  t  e  h  al  1  u  ein  at  o  ri  s  e  h  e  'Wahnsinn 

Typus  a):  Der  acute  und  peracute  e.xaltirte  tmenstruale)  Wahnsinn.  IM 

Typus  b):  Der  subacute  manische  Grössenwahnsinn     .    .        .    .    .  1n2 

Typus  c):  Der  acute  und  subacuto  hallucin.  Vertolgungswahnsiun    .  ]yi 

Typus  d):  Der  acute,  erst  depressive,  spater  expansive  Wahnsinn    .  \s\ 

Typus  e):   Der  acute,  gleichzeitig  depressiv-expansive  Wahnsinn  .    .  lv> 

Typus  f):   Der  acute  hypochondrische  Wahnsinn    .   1*>H 

Typus  g):  Der  acute  (subacute)  eercbrospinale  Wahnsinn    ....  186 

Der  a  c  u  t  e  m  e  1  a  n  c  h  o  1  i  s  c  h  e  W  a  h  n  s  i  n  n   1 87 

Der  acute  manische  Wahnsinn  .  ,  :  :  :  ,  :  ,  ;  :  ..  ,  ,  ,  VA1 

Therapie   193 


Der  attoniscue  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 

a)  Religiös -expansive  Form   1% 

Status  attonitus   11)7 

Verlauf  .    .    .    ,_,  ,  ^  ._,  ,  ,  ,  .   '2( MI 

b)  Depressive  (dämon  oman  o)  Form   200 

..KaUtonei"  Uranaitorischer)  lilodsiiin   201 

Klinische  Varietät  dieses  letzteren   '>()'» 

..Geberdun"- Verrücktheit   202 

Verlaut'  und  Ausgange  .   203 

Neuralgische  Unterform  dieser  damonomanen  Gruppe      .    .    .  2o4 

..Hysterische"  Katatonie   2o7 

,.Ka"tatone  Manie"  ....      2o7 

Status  attonitus    

Weitorverlauf  in  ilie  Genesung   21'» 

Ungeheilte  >ccundarzustände                                                                         .  2 1 1 


Die  acute  primäre  Dementia. 

Literatur    .  :  .  .  .  t  ,  ,  ,  ,  .  :  ;  ;  .  .  .  :  :  .  :  ,  211 

Klinische  Charakteristik  und  Eintheilung  ,    .    ■    ■    ■    ■   212 

Unterschiede  des  ..organischen"  und  des  ..psychischen"  Stupor     .    .        .  2i:t 

Des  organischen  Stupors  und  der  Mclanch.  attonita.    .   214 

at  Der  organische  Stupor  d.  h.  die  acute  primäre  Dementia  mit 

Stupor   214 

KrMnkluMt-j.ihl  ...  .  ~!ÜX 

Ausgänge    .    -    •  ♦   2 1 S 

..Fostmanischer"  Stupor  .    .   2ll> 

Stupide  hallucinatorischo  pr.  Dementia   220 

Krankheitsbild   220 

Verlaut'  und  Ausgänge   222 

Anbang:  Der  „Pseudo"  (psychische)  Stupor..   225 

Uebergangsloriocn  iPseudostupor  mit  traiisitoriscueni  Status  atton  )   .    .    .  229 


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Inhaltsverzeichniss. 

XV 

b)  Die  acute  primäre  Dementia  ohne  Stupor.  Postfebrile 

Formen,  Formen  aus  aus  traumatischer  und  toxischer  Entstehung 

22*> 

Versatiles  Blödsinnsbild  

22.) 

230 

231 

Djis  liYstpriselH*  Irresein 

.•)i> 

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h  ffii*s(*h*k*i    \  p  Triniton 

Tic 

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237 

\\  fkllpii  iiTifi  HdtiHpIii 

r\  t »rr>*^i*l  l  r  hA  SivninrAfTii4 

O'iü 

Hvfttpfisrhi>tt  I  r  r  c  k  i»  l  n 

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H  v  s  t  i'ri^r  Ii  o  r  W  a  h  ti  *<  i  ii  ti 

■)  1  ". 

Chronisch  dei>enerativer  hysterischer  Wahnsinn  

24«» 

Degenerativer  h  y  s  t  e r  i  s  c h er  B  1  o  d si n n  

2:»o 

2.-)l 

Zulässigkeit  ev.  Indicationen  für  eine  gynäkolog.  Behandlung  

•j;.2 

Behandlung  der  spcciellen  hysterischen  Irreseinszustande  .... 

251 

Das  epileptische  Irresein. 

t         » . .  „ 

255 

25ti 

S  i  -  ►*  r  i  *»  I  1  <»  S  v  in  n  t  o  tu  ;i  t  n  1  n  *t  \  » 

iö  i 

1  v  it  ii  n  ■   ui    Ilg*  t»  iHi  ^  t  ^  it  i  1  imi  t  i  u  ik  ^      S  t  n  m  (i  r 

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üj  i'hs  atuio  posiopiicpiiscne  angsiiicne  uciirium 

25S 

V  a  r*i  ßtpn 

\  ..t*liotf/iTi    finü    Ii. » w  1 1  u  1. 1  u  *>i  t\u   iiii/l    /Im*  hVinnnriinif 

Jon 

l^ziehuiiuen  des  acuten  epilept.  Irreseins  zu  den  Krainplinsulten  . 

201 

A  1 1  11  1  S  L  II  U    IjJ  .S  l  11  L  1  11  U  11  L;  i»  n  Ii  1  S  1 1  Ii    II  l'S       ])  1  1  (»  ])  I.    Ii  1  l!  ä  l!  1  11  S 

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^Sita a 1 1 &~ i*  rn-'t    T\tf» i c  1  i'ii9A1  /•  Vi f* Ii 

.O.t 

Der  epileptische  Charakter  

264 

1  Ii rt     O  TI  1  1  i\  Y'\  f  1  c  (>n  A     1  |  |t  T '  1  ii  n  9 

i 

2o8 

-m 

271 

271 

Transformation  in  Hysterie  

271 

Anhang:  Die  jaoendKchen  Epileptiker  

271 

272 

Genetische-  Beziehungen  zu  den  verschiedenen  klin.  Formen  der  Kpilepsie 

273 

Die  intercurrenten  acuten  psychischen  Störungen  bei  jugondl.  EpileptiKern 

274 

Das  hypochondrische  Irresein. 

Literatur  '.  

277 

277 

27*> 

2$1 

2^2 

J'er  chronische  hypochondrische  Wahnsinn  ihypuch.  Marasmus) 

2*-3 

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XVI  Inhaltsverzeichniss. 

Psychische  Neurasthenie  2S4 

Therapie  285 


Die  periodischen  circulllren  und  alternirenden  Psychosen. 

Literatur   2ST 

Kliaischü  Allgeincincharaktere   2ST 

Die  periodische  Manie  ...    2SS 

Klinische  Typen   2S9 

„Juvenile"  form   293 

Intervall   293 

Entwicklung  und  Verlauf   295 

Ausgange   297 

Körperliche  Symptome    .    .   295 

Die  periodische  Melancholie   298 

Die  circulären  Geistesstörungen   2'.".* 

Allgeincincharaktere    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .   300 

Klinisches  Symptomcnbild :  a)  Di e  circuläre  Manie   3u2 

b)  Per  circuläre  Wahnsinn   3Ö4~ 

Die  melancholische  Phase   305 

Das  Intervall   307 

Weiterverlauf   308 

Die  ,.degenerativc,t  Melancholie   309 

ci  Der  circuläre  Stu  por  .    .    .    .    .  .    .    .    .    .    .    .    .    .    .  3nu 

Zeitliche  Gruppirung  der  Paroxysmen  in  den  periodischen  und  circulären 

Psychosen   3  in 

Die  alternirenden  Psychosen   :w>". 

Körperliche  Begleitsymptome   319 

Anhang-.  Die  menstrualen  Psychosen  .    .    .    .    •    •    .    \  '  ' 

Kinfluss  der  Menstruation  ijn  Allgemeinen  auf  bereits  bestehende  Seelen- 

Störungen   323 


Das  Delirium  acutum. 

Literatur   325 

Klinische  Begriffsbestimmung  und  Kintheilung   325 

1.  Die  irritaUvcH  formen: 

ai  Uns  Delirium  acutum  maniacalc   32(j 

hl  Das  Delirium  acut,  in  der  allgemeinen  Paralyse.    .    .    .  33u 

o  Das  Delirium  acutum  melaucholico-stupurosum     ,    .    .  330 


2.  Die  Inanilions formen : 

Das  Delirium  acutum  anergeticum  s.  paralyticum  334 

Pathologische  Anatomie  .........    ~  336 

Mikroskop  Befund .    .    .    .    .    .    .    .    .    •    •    •    •  •    •  • 

Rechtfertigung  der  klinischen  Sonderstellung  des  Delirium  acutum  als  eines 
eigenartigen  Symptonienmodus  und  Symptomenverbatids  mit  charakte- 
ristischer" Verlaufsform  "    *  ~.  33S 

Therapie  340 


Die  typische  allgemeine  Paralyse  (Paralysig  progressiva). 

Literatur  .341 

Klinische  Begriffsbestimmung   342 

Analyse  der  Symptome                          •    •    •    •    •    •    •    •    •               •  ^43 

aj *  Psych  isc  h  e  :  Verhalten  des  Bewusstseina  und  der  höheren  seelisch"!) 

Functionen;  des  Vorstellens  ~.  343 

Paralytischer  Grössen wahn   344 

..Negativer''  Grössenwahn   344 

Anomalieen  des  Gemüthslcbens   34;» 

Der  Willenssphäre   347 

Kurense  Acte  J   34  7 

b)  Mo  t  o  r  i  s  c  h  e :  Sprache,  Schrift   34s 

..Manische  Aphasie"    .    .   34S 


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Inhaltsverzeichnisse  X£U 

Paralytische  Paralexie     .    .    ♦   349 

bt orangen  in  Gang,  Haltung,  Bewegungen   350 

Verhalten  der  Sehnonretiexe    .    .    .  °  

Störungen  in  der  Zunge   351 

Mimik   352 

Pupillen   352 

Stimme   35'2 

Peplutition   353 

Urinentleerung  t   353 

Convulsioncn   353 

Apoplektifonuc  Anfalle   .    .    355 

c)  Sensorielle  und  sensible  Störungen   3ö5 

Sehstörungen;  Asymbolie  nach  paralyt.  Anfallen   3öT> 

Kopfschmerz  .    3og 

Sexuelle  Functionen   35T 

dl  Vasomotorische  und  trophische  Störungen   357 

Tepiperaturverhältnisse    .    .    .    .    .*  .    .    .    .    .    .    ■    .    .    •    •    .    ■    .  357 

Verhalten  des  Harns.   Uthämatomc.   Parenchymatöse  Muskeldegenerationcn. 

Hautentzündungen  und  -Ausschlage,  Haarveränderungen  etc   H S 

Klinisches  Krank  heil  sbild.   Typische»  Bild.  Manische  Form    .  35S 

Remissionen   ^61 

Schlussstadium   362 

Varietäten  im  klinischen  Symptomenbitd: 

a)  Hypochondrische  Paralyse   363 

Circuläre"  Paralyse    364 

Paralyse  mit  Verfolgungswahn  und  Hallucinationcn   :tC4 

Ii"  Primär  demente  l'aralysc     .    .    .    .    .    .    .        .    .    .    .    .  3tU 

Variationen  dieser  aus  einer  anfänglichen  Schwächenielancholie  mit  erst- 

postponirenden  motorischen  Zeichen  "  36t> 

Paralyse  nach  acuten  febrilen  Krankheiten   366 

Varietäten  iin  klinischen  YcrlaufT~ 

..Congestive"  Paralyse   366 

L unier- Baillarger'sehc  Paralyse    ••••••    •    •   36" 

Secundar  einsetzende  Paralyse  als  Folgestadium  einer  vorausgegangenen 

andern  Psychose  •••••••  "...  367 

Sehr  langer  und  sehr  kurzer  Verlauf   36" 

iu-Tiiissionen,  ,.lntcrmissionen"  und  Genesungen   :Ujs 

Verlaufsdaucr  der  typischen  Form   .    .    .   36'J 

J  'a  i/to  'of/ischt'  An atoni  ie . 

Makroskopisch  '   3H9 

Mikroskopisch     ■    ■    •   370 

Versuch  einer  Nosologie   372 

Paralyse  der  Frauen   :t75 

Therapie   3  7  Ii 


Die  psychischen  Cerebropatlileen  (niodiflcirteu  Paralysen). 

Literatur    .  ._.  ,  .  .  .  .  .  s  .  ,  s  .  ,  ,  ,  ,  ,  .  378 

..l'aralyse"  aus  grundliegender  Perienceph.  chrun.  und  sub- 

acuta  oder  Fncc]ihalitis  subactila  .   379 

Klinische  Charaktere  der  .»galoppironden''  Paralyse  .    .   3Sl 

Patholog.  anat.  Befunde.   Zusammenhänge  mit  gewissen  Formen  der  Mania 

gravis   392 

Complictrendo  Pacchymeningitis  .    .    .    .    .   .  3"$3 

Grundliegende  p  r  i  m  a  r  e .  n  i  c  h  t- en  t  z  ü  n  d  ] Ii  c  h  c  Hirnatrophic  .  3S6 
G  r  u  n  d  I  i  o  g  e  n  d  e  primäre  11  i  r  n  a  t  r  o  p  h  i  e  m  i  t  e  n  t  z  ü  n  d  1  i  c  h  c  n  K  e  i  z  - 

ersch  ei  n  u  ngen   389 

Fernen  tia  senilis  gravis   391 

Paral  y  sen  na c h  A p op  1  e x ieen  .    .    .    .    .    .    •    •    -   393 

G  rn  ndliegende  disseminirte  H  ir  nr  ü c  k  cnmar ks k  1  c rose  .    .    .    .  393 

Par a  ly  s c  n  ac h  m  u  1 1  i  p  1  cn  Ca p  i  1 1  ar  e k  ta s i  cen   391 

Paralyse  bei  Hirntumoren   394 


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XVIII  Inhaltsferzeichniss. 

Tabischo  Paralyse  etc   :u>4 

Syphilitische  Paralysen   3'jc» 

Therapie   lüu 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistischen  Psychosen. 

Literatur  401 

Allgemeines    .  4u2 

Diu  speei  fischen  A  1  ko h o 1 p s yc ho s en  :    Die  acuten  pathologi- 

s  c  h  e  n  Ii  a  n  s  e  h  z  n  s  t  ä  n  d  o   .  404 

Forenses  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ,  .  .  ,  ,  .  .  .  .  .  Aiih 

Der  acute  Trinkerwahnsinn  4o5 

Varietäten  4li^ 

Der  chronische  Trinkerwahnsinn  a)  depressiver  Natur  4o(J 

1>>  eialtirtcr  Natur  410 

Der  chronische  Alkoholismus  41» 

Körperliche  Symptome  •    •  m 

Psychische       resp.  der  alkoholistisclie  Charakter  412 

Klinische  Folgezustande  des  chronischen  Alkoholismus  41H 

Das  Delirium  tremens  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4_L1 

Delirium  tremens  febrile  417 

Alkoholistische  Pseudoparalyse  417 

A 1  k  o  ho  Iis  tisch  e  P  aral  y  so    .  41U 

Wciterverlauf  des  chronischen  Alkoholismus  :   Sccundarzuständo   ....  421 

Alkoholistischo  Manioen  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  .  422 

A  1  k  o  h  o  Ii  sti  s  ch  e  M  e  1  a  n  c h  o  1  io  e n  ,  ,  ,  ,  ,  .  .  ,  .  .  .  ,  .  A21 

Alkohol-Epilepsie  424 

Therapie  425 


Das  hereditttre  Irresein. 

A.  Allgemein  pathologischer  Excurs   42G 

Literatur  .  .  ,  .  ,  ,  ,  ,  .  ,  .  ■.  ■.  =  ,  ,  .  .  .  .  42JJ 

Kintheilung   427 

/   Cornllarien  aus  der  Erblichkeitslehre   427 

//.  Klinische  aUgcm.  patholog.  Grundlagen:  Zwangsvorstellungen  und 

ZwaiK/s acte   432 

Verhalten  des  Bewußtseins   4;<2 

Der  Stimmung    43-t 

Emotive  und  nicht-emotive  Zwangsvorstellungen   ........    .    .  433" 

Psycho!.  Charakter  :  einlache  u.  convulsive  Zwangsvorstellungen  iGrubelsuchtt  4lU 

Sensorische  Zwangsemptindungen .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .  ■YM'> 

Klinisches  Verhalten  bVzugl.  des  Auttretens  und  der  Kellexe  auf  die  Go- 

mflths-  und  Handlungsspharo   '.  437 

„Krisen"   4:^ 

Zwangshandlungen  '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    '.    ',    .    '.  TTTTi 

I  m  p  ü  1  s  i  v  e ' '  A  c  t  e   4TT 

Psychologischer  Mechanismus    4TT 

Frage  der  „Monomanicen"   442 

Stehltrieb   443 

B  r  a  n  d  s  t  i  f  t  u  n  g  s  t  r  i  e  b   44:j 

Mord  tri  eh  .   443 

Dipsomanie   444 

Erotomanie   44ä 

Agoraphobie   .    .    .    .  440 

Körperliche  Begleitsymptomo   .   447 

Contrarc  S  e  x  u  a  1  ein  p  f  i  n  d  u  n  g  ■  447 

Forenses   4  !'■> 

Therapie   450 

B.  Die  hereditäre  Neurose  nach  Entwicklung  und  Verlauf   451 

Klinischer  Allgenicincharakter   451 

Krankheitsbild   451 


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Inhaltsverzeichniss.  XIX 

Seite 

Dementia  acuta  praecox   453 

Weiterentwicklung  .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .    .  4">3 

Klinische    Charaktere   der   hereditären   Melancholie  en  und 

Manieen  und  des  hereditären  Irreseins  überhaupt  ....  454 

Ansgängo   456 

Anhang:  Transitorische  Psychosen   457 

Literatur   457 

Formen   4T>S 

Transitorische  Manie   45S 

Klinische  Varietäten   4!>9 

Tran  sitorisc  her  manischer  Wahnsinn.  ä  ,  .  :  .  .  ,  .  .  .  4iiü 

Transitorischcr  Stupor   461 

Allgemeinhetrachtung   4C2 

Acutes  Irresein,  alternirend  mit  Asthma  ■    •   4*>:< 

T  r  a  n  s  i  t  o  ri  sc  ho  n  ou  ras  t  h  en  i  s  c  h  o  Psychosen    .   4b;t 

Poracnte  gewöhnliche  Irreseinsformen;  Unterschied  der  letztern  von  den 

>I>ecinsch  „transitorischen"   l'>4 

Therapie   4(i4 

C.  Pas  einfache  hereditäre  Irresein:  iMalailie  du  doute  et  dutoucher)  465 
Anhang:  Der  Querulantenwahnsinn  170 

D.  Originäre  Verrücktheit     .    .    .   475 

Entwicklung   476 

Charaktertypen   478 

Klinische  Formen   479 

Typisches  Bild:  Gemischt  depressiv-exaltirto  Form   4Si> 

Klinische  Finzeltypen   IST 

Weitervcrlauf   1^1 

Besserungen  und  „Heilungen"    4S3 

Uchergang  in  Chronicität    4S3 

..Paralogik*'  in  den  Ideenassodationen  und  Handlungen   IS3 

Die  verschiedenen  klinischen  Formen  des  Ausgangs  ■   4S4 

,,Thior4cult  Seitens  Mancher  dieser  originär  Verrückten;  partielle  Gelehr- 
samkeit und  Kunstfertigkeiten  .    .    .    .    .    ■    .    ...    .    .    .    .    .  4£4 

Die  chronischen  ..Winkcladyocatetr'  in  den  Asylen   485 

Blödsinnige  Abstumpfung,  Perversitäten  .    .    .    .    •    •    ♦    •        •    •    •    •  496 

Somatische  Todesursachen;  oft  consecutivor  Frontwechsel  des  Wahns   .    ,  isr> 

E.  Das  degenerative  erbliche  Irresein  —  die  Moral  Insanity    .    .    .    .  487 

Klinische  Begriffsbestimmung   4S7 

Allgemein- Psychologisches   ...    •    ■        •    ■    •    •    •    •    •    •    •    •    •    ■  4S8 

Die  anergetischo  (torpide)  und  crethischo  (reizbare)  Form  des  sittlichen 

Blödsinns    4SS 

K  r  a  n  k  h  e  i  t  s  h  i  1  d   4BQ 

Entwicklung  .   490 

Irresein  d  o  r  B u  m m  1  er  u  n  d  V  a gab  u  n d en   41>  1 

^Veitcrentwicklung  .    .    .            .    .        .    .    492 

Heizbare"  Form  der  M.  I.  bei  verheiratheten  Frauen   493 

Die  „krankhafte  Bosheit"  in  den  M.  I.  Acten   494 

I>  ie  d  e ge n er ati  ve  n  Man  i een   495 

Ausgänge   495 

Therapie   496 


Der  Idiotismus. 

Literatur   .  t  ,  ,  ,  ,  ,  .  ,  ,  ,  ,  ,  ,  :  .  :  ,  .  .  ,  .  .  ,  m 

Klinische  Begriffsbestimmung   497 

Psycholog,  klinische  Kintheilung   49S 

_  I.  Der  idiotische  Blödsinn   49S 

Kliiiische  Symptome    .        .    .    .   _^   .  499 

2.  Der  idio  ti  sc  ho  S  c  h  wach  sin  n   500 

a)  Der  hochgradige,  nicht-bildungsfähigo  idiot.  Schwachsinn    .    .    .  501 


XX  Inhaltsverzeichniss. 

Seit* 

Klinische  Symptome   501 

b)  Der  idiotische  Schwachsinn  mittlem  und  leichtern  Grades  .    .    .  503 

Klinische  Allgemeinsymptome   504 

Klinische  Typen   505 

Die  Hebephrenie   508 

Körperliche  Complicationen  der  Idiotie   509 

Die  Schädel  formen  der  Idioten  und  die. natürlichen  Familien"  51 1 
Tabellarische  Zusammenstellung  der  Insassen  von  Stetten  (Württemberg) 

nach  den  Schadelformen   512 

Pathologisch-anat.  Casuistik   512 

Register   516 


Berichtigungen. 

S.  355  Z.  19  v.u.  lies:  Porencephalieen  statt  Parencephalieen. 
S.  408  Z.  5  v.  u.  lies:  paralgische  statt  paralytische. 


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Begriffsbestimmung  der  Seelenstörung.  Aufgabe  des 
Buches.  Die  Begriffsbestimmung  der  „Seelenstörung"  kann  nach 
unserem  heutigen  Standpunkte  nur  erst  eine  psychologische  sein. 
Wir  verstehen  darunter  eine  „Krankheit  der  Person",  wodurch 
deren  Selbstbestimmungsfähigkeit  aufgehoben  wird. 

Gesicherte  Erfahrungen  am  Krankenbette  haben  im  Vereine  mit 
physiologischen  und  psychologischen  Experimenten  schon  lange  die 
Abhängigkeit  der  seelischen  Leistungen  im  Allgemeinen;  die  Ge- 
schichte der  Aphasie,  klinisch  und  post  mortem,  erweitert  durch  die 
Ergebnisse  der  neuesten  Localisationsstudien  auf  der  Hirnoberfläche 
uns  auch  den  Zusammenhang  bestimmter  seelischer  Functionen  mit 
corticalen  Herdläsionen  kennen  gelehrt  Dazu  kommen  die  autopti- 
schen Ergebnisse  von  psychisch  Kranken  selbst,  welche  für  einzelne 
Gruppen  wenigstens  mitbegleitende  organische  Hirnbefunde  nach- 
weisen. Wir  sind  somit  berechtigt  der  obigen  Definition  die  spe- 
cifische  Differenz  beizufügen:  „Krankheiten  der  Person,  beruhend 
und  verursacht  durch  eine  Hirnaffection". 

Bei  dem  heutigen  Stande  unseres  Wissens  erscheint  dieser  Satz  ver- 
allgemeinert als  ein  Machtspruch;  aber  er  ist  eine  durch  Physiologie 
und  Pathologie  gleich  begründete  Forderung.  Nicht,  als  ob  wir  deshalb 
die  Diagnose  einer  Geistesstörung  erst  von  dem  Ergebniss  der  Section 
abhängig  machten  —  so  wenig  wir  uns  aus  dem  Reichthum  und  der 
Feinheit  der  p.  m.  vorgefundenen  Windungen  erst  rückwärts  über  die 
intellectuelle  Befähigung  intra  vitam  belehren  lassen  dürfen;  die  gegen- 
seitigen Beziehungen  sind  zweifellos  nicht  so  einfach  und  direct  —  aber 
die  Petitio  irgend  einer  cerebralen  Affection,  sofern  die  psychischen  Lei- 
stungen abnorm  waren,  steht  dennoch  unerschütterlich  fest,  und  muss 
feststehen,  wenn  Uberhaupt  eine  Beziehung  zwischen  Nervenaction  und 
psychischer  Leistung  vorhanden  ist.  Diese  Relation  ist  aber  für  die  ele- 
mentaren Seele nfunctionen,  und  zwar  als  eine  gesetzmässige,  nachgewiesen. 
Für  die  höheren  Functionen  und  im  Weiteren  für  pathologische  Verhält- 
nisse liegen  freilich  die  Beziehungen  noch  ungleich  verwickelter.  Spe- 
ciell  für  die  letzteren  ist  nicht  nur  der  gröbere  und  feinere  anatomische 
Befund,  sondern  auch  noch  der  individuelle  der  hereditären  Kraftanlage 

Sehfile.  Geisteskrankheiten.   3.  Aufl.  1 


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2 


Einleitung. 


mit  in  Anschlag  zu  bringen.  Diese  Abschätzung,  geschweige  die  Er- 
kenntniss,  ist  erst  ein  ideales  Desiderat  ferner  Zukunft.  Dürfen  wir  auch, 
wiederum  empirisch  berechtigt,  vermuthen,  dass  für  diesen  individuellen 
Factor  die  Configuration  des  Gehirns,  speciell  vielleicht  der  Windungen, 
Hirngewicht  u.  s.  w.  einen  anatomischen  Ausdruck  abgibt ,  so  sind  dies 
Alles  doch  erst  Anfänge.  Auch  pathologische  Eigentümlichkeiten  in  der 
Hirnentwicklung  der  Gefässanlage  mögen  gewiss  noch  ausserdem  mit- 
spielen (8.  u.).  Bis  jetzt  sind  wir  noch  nicht  über  die  allgemeinste 
Ahnung  der  vielleicht  hier  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse  hinaus. 
Dazu  kommt  der  hochwichtige  Factor  der  Veranlagung  nach  Seite  der 
relativen  Functionsbeziehung  der  höheren  Hirngebiete  zu  einander:  so 
der  „Sinnesflächen"  zu  den  apperceptiven  und  namentlich  hemmenden 
Corticalpartieen  (Phantasie-Menschen,  nüchterne  Grübler  u.  s.  w.).  Man 
mag  darnach  den  Werth  beurtheilen,  welchen  der  Nachweis  einer 'Anä- 
mie, einer  Hyperämie  p.  m.  epikritisch  uns  bietet!  Gleichwohl  müssen 
wir  den  Weg  sorgfältiger  autoptischer  Forschung  unverdrossen  weiter 
beschreiten,  wenn  wir  auch  in  den  daraus  gezogenen  Schlüssen  der  ge- 
botenen Reserve  eingedenk  bleiben.  Ausser  dem  Gehirn  wird  auch  noch 
das  Rückenmark,  der  Sympathicus  und  schliesslich  der  gesammte  Körper- 
bau, soweit  er  auf  die  normale  oder  beeinträchtigte  Ernährung  des  Ner- 
vensystems im  Einzelfall  Beziehung  haben  kann,  in  die  Untersuchung  ein- 
zubeziehen  sein.  Unsere  jetzige  Aufgabe  liegt  vorwiegend  noch  im  psy- 
chophysischen  Gebiet,  wird  aber  fortschreitend  in's  anatomische  sich  zu 
vertiefen  bestrebt  sein  müssen. 

Psychologisch  macht  Ein  Krankheitszeichen  nie  das  Wesen  einer 
Seelenstöruug  aus:  ein  noch  so  barocker  Gedanke,  eine  einzelne 
anomale  Stimmung  oder  Handlung,  ja  selbst  eine  Sinnestäuschung 
reichen  dazu  nicht  hin.  Es  ist  bekannt,  dass  Hallucinationen  unter 
gewissen  Bedingungen  auch  bei  Gesunden  vorübergehend  vorkommen 
können;  auf  der  andern  Seite  fällt  der  Aberglaube  mancher  „Ge- 
sunder", welcher  den  entlegensten  Wahngebilden  Verrückter  nichts 
nachgibt,  an  sich  noch  nicht  in  das  Bereich  der  specifischen  Geistes- 
störung. Es  muss  die  geistige  Gesammtperson  betroffen  sein, 
so  dass  diese  in  ihrem  Denken,  Fühlen  und  Handeln  nicht  mehr  von 
frei  beweglichen,  der  Reflexion  und  Kritik  zugänglichen  Prämissen 
und  Motiven  bestimmt  wird,  sondern  von  einer  (dauernd  oder  mo- 
mentan) unverrückbaren,  dem  Ich  aufgedrungenen  Directive  —  seien 
es  Vorstellungen  oder  Gefühle  —  welche,  wenn  aufgerufen,  unbe- 
strittene Obermacht  haben  und  ausüben.  Der  geistige  Zwang  ist 
es,  welcher  das  Wesen  der  Seelenstörung  ausmacht.  Oft  steht  der 
Kranke  als  ganze  Persönlichkeit  unter  demselben;  anderemale  steht 
er  theoretisch  (reflexiv)  darüber;  das  Entscheidende  in  beiden  Fällen 
ist,  dass  er  denselben  nicht  wegräumen,  durch  Logik  nicht  Uber- 
winden, durch  seinen  Willen  nicht  hemmen  kann.  Dieser  „Zwang" 


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Einleitung. 


3 


ist  es,  welcher,  wie  wir  annehmen  müssen,  in  der  grandliegenden 
organischen  Hirnkrankheit  begründet  and  darch  diese  Uber  die  psy- 
chischen Functionen  verhängt  ist;  andernfalls  wäre  es  nur  „Irrthum" 
oder  „moralische  Schwäche4',  und  als  solche  psychisch  corrigirbar  — 
was  in  der  wirklichen  Seelenstörung  nicht  möglich  ist.  Es  ist  immer 
eine  Gesammtaffection  der  Indi vidual-Seele,  welche  sie  zu 
einer  „kranken"  stempelt. 

Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  dass  alle  Seelenäusserungen  in  einem 
gegebenen  Falle  auch  gefälscht  sein  müssen.  Es  gibt  eine  grosse  Gruppe 
von  Störungen,  für  welche  die  Eingangs  erwähnte  Definition  sammt  der 
soeben  gegebenen  Erläuterung  zutrifft,  und  welche  dennoch  einen  mehr 
minder  grossen  Besitz  von  geschonten  Vorstellungsreihen,  von  richtigen 
Gefühlen,  correcten  Handlungen  noch  aufweist.  Gleichwohl  sind  die 
Träger  im  vollen  Sinne  des  Wortes  „geisteskrank".  Der  Springpunkt 
liegt  hier  darin,  dass,  wenn  auch  nebensächliche  Vorstellungskreise  an- 
standslos beschritten  werden  können,  die  krankhafte  Hemmung  dennoch 
und  immer  eintritt,  sowie  das  Ich  als  solches,  als  Person,  engagirt  wird. 
Da  stürzt  sofort  der  täuschende  Bau  der  „freien  Beweglichkeit  gemäss 
dem  inneren  Werthcharakter  der  Vorstellungen  und  der  objectiven  Be- 
gründung der  Gefühle"  zusammen,  und  der  „Zwang"  steht  fertig.  Es 
gibt  keine  partielle  Seelenstörung;  diese  ist  immer  eine  allgemeine,  wenn 
auch  dauernd  oder  vorübergehend  gewisse  Kreise  partiell  intact  bleiben. 
Der  „Zwang",  und  mithin  das  entscheidende  Moment  für  Seelenstörung, 
ist  nicht  dann  allein  als  gegeben  zu  betrachten,  wenn  im  Einzelfalle  die 
Handlung  im  Sinne  der  speeifischen  Wahnrichtuug  erfolgt,  sondern  all- 
gemein, sowie  die  Wahnvorstellung  sich  fixirt  und,  in  die  Ich-Gruppe 
eingedrungen,  oberste  Prämisse  geworden  ist  (Verfolgungswahn).  Diese 
Anerkennung  ist  eine  unerlässliche  und  durch  keine  formalistische  Klü- 
gelei zu  bemäkelnde  Forderung;  denn  wer  wollte  sich  vermessen  —  unter 
den  zugegebenen  Bedingungen  —  zu  sagen,  wann  etwa  (bei  den  zahl- 
losen Verschlingungen  in  der  unergründlichen  Seelentiefe)  eine  solche 
falsche  Prämisse  bewusst  oder  unbewusst  ihren  bestimmenden  Eiufluss 
nicht  geübt  habe?  Die  forense  Untersuchung  darf  deshalb  nie  allein 
bei  der  analytischen  Betrachtung  stehen  bleiben,  sondern  muss  immer 
auch  noch  eine  synthetische  sein.  Ein  bemerkenswerthes  Memento 
liefert  in  diesen  Fällen  mit  Hecht  die  vox  populi,  welche  darum  meist 
so  sicher  geht,  d.  h.  urtheilt,  weil  sie  synthetisch  verfährt.  Viel  mehr 
als  die  Verstandesdefecte  beweisen  aus  diesem  Grunde  die  charakterolo- 
gischen  Aenderungen,  das  disharmonische,  im  Ganzen  ergebnisslose 
Streben  —  selbst  bei  nicht  auffallend  alterirtem  Gedankeninhalt. 

Eine  Einsicht  in  die  Nosologie  des  Hirnprocesses,  dessen  Re- 
sultat wir  „Seeleustörung"  nennen,  ist  bei  unsrer  heutigen  Erkennt- 
niss  noch  nicht  einmal  in  den  ersten  Anfängen  möglich.  Wir  wissen 
nicht,  welche  anatomischen  Hirnpartieen  im  wesentlichen  dabei 
engagirt  sind.   Es  sprechen  wohl  viele  Gründe  für  die  Betheiligung 

1* 


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•1 


Einleitung. 


der  Corticalis  und  zwar  in  Form  einer  diffusen  Affection,  und  hier 
wiederum  für  die  des  Stirnhirns,  der  Centraiwindungen,  obern 
Schläfen-,  und  der  obern  Parietalwindungen.  Der  atrophirende 
Degenerationsvorgang  speciell  bei  der  allgemeinen  Paralyse  (dieses 
Typus  einer  Erkrankung  der  Gesammtpersönlichkeit  in  ihren  höchsten 
psychischen  und  motorischen  Functionsgebieten ,  im  geistigen  und 
körperlichen  „Ich")  beschlägt  mit  einer  Regelmässigkeit  gerade  die 
genannten  Partieen,  dass  wir  darin  mehr  als  nur  einen  Zufall  er- 
kennen dürfen.  Auch  theoretische  (physiologische,  entwicklungs- 
geschichtliche) Erwägungen  treten  unterstützend  hinzu.  Aber  damit 
ist  vorderhand  unser  Wissen  abgeschlossen.  Klinisch  ist  es  sodann 
weiter  höchst  wahrscheinlich,  dass  fUr  einen  Theil  der  sog.  functio- 
nellen  Psychosen  (Melancholie  und  Manie)  das  vasomotorische  System 
eine  wichtige  Rolle  spielt.  Für  einen  andern  vermissen  wir  diese 
nachweisbare  Betheiligung;  hier  bieten  sich  uns  vielmehr  in  der  an- 
gebornen  Hirnanlage,  in  dem  individuellen  Hirnwachsthum  Momente 
dar,  welche  uns  die  beobachtete  Ablenkung  von  der  normalen  geistigen 
Entwicklungsbahn  verständlich  machen,  wenn  uns  auch  uuerkannt 
bleibt,  worin  diese  Hemmung  besteht,  und  warum  sie  gerade  in 
einer  bestimmten  Lebensepoche  (Pubertät)  in  Wirksamkeit  trat  (here- 
ditärer Virus).  Für  eine  weitere  Klasse  leitet  uns  die  Pathogenese 
auf  directe  (erworbene)  Schwäche-  und  Erschöpfungszustände  des 
Centrainervensystems  (acuter  Wahnsinn  und  Dementia);  und  endlich 
für  eine  letzte  grosse  Gruppe  auf  palpable  organische  Hiruleideu  hin, 
deren  Theilerscheinung  (Mit-Effect)  die  Psychose  darstellt  (Paralysen 
im  Allgemeinen). 

Windungs-Configuration,  Hirngewicht,  fötale  Missbildungeu  an  Gehirn 
und  Schädel,  Variationen  in  der  Gefässanlagc  im  Gehirn  geben  hier  die 
ersteu  Anhaltspunkte  für  eine  künftige  anatomische  Erkenntniss;  die 
Veränderungen  der  Blulfülle,  des  Blutdruckes,  die  wahrscheinlich  ver- 
schiedenen Effecte  der  Vasodilatatoren  und  Constrictoreu,  sodann  die  ex- 
perimentellen und  klinischen  Erfahrungen  Uber  Windungstopographie  und 
Leitungsverhältnisse  —  die  nächsten  Wegweiser  für  ein  künftiges  phy- 
siologisches Ver8tändniss.  Daneben  liefert  die  empirische  und  ex- 
perimentelle Psychologie  (Wundt)  die  Richtschnur  für  eine  richtige  Deu- 
tung dieser  Funde  und  für  deren  Anwendung  auf  die  Klinik,  d.  h.  auf 
die  Verhältnisse  am  lebenden  geistesgestörten  Menschen.  Nicht  ein  Weg 
allein,  sondern  alle  vereinigt  müssen  beschritten  werden,  um  dem 
Ziele  einer  wirklichen  Nosologie  der  Seelenstörung  näher  zu  kommen. 

Die  Aufgabe,  welche  der  Psychiatrie  an  diesem  gemeinsamen 
Werke  zufällt,  ist:  1.  das  Studium  der  einzelnen  psychopathischen 
Symptome  für  sich,  und  2.  die  Erforschung  der  empirischen  Ver- 


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Einleitung. 


5 


bände,  unter  welchen  diese  Einzelsymptome  thatsUchlich  zusammen- 
treten. Der  erstgenannte  Theil  bildet  den  Vorwurf  für  die  allge- 
meine, der  zweite  ftir  die  specielle  Psychiatrie.  Daran  schliesst  sich 
noch  die  in  ärztlicher,  wie  in  socialer  Richtung  gleich  hochwichtige 
Ursachenlehre. . 

Die  nachtolgende  Schilderung  bezieht  sich  vorwiegend  auf  die 
Ausführung  des  oben  abgegrenzten  zweiten  Theiles.  Sie  hat  sich 
zum  Zwecke  gesetzt  die  speciellen  sy mptomatologischen 
Krankheitsbilder  nach  Entwicklung,  Verlauf,  Endschicksal,  und 
zugleich,  soweit  möglich ,  nach  ihren  vielfachen  Uebergängen  und 
Verbindungen  zu  zeichnen,  und  zwar  aus  der  Beobachtung  am  Kranken- 
bette resp.  im  Krankenasyle.  Sie  ist  also  eine  klinisch-descrip- 
tive,  und  hat  nur  dieses  eine  Ziel  im  Auge.  Excurse  über  einige, 
zum  klinischen  Verständniss  erforderliche  Punkte  aus  der  allgemeinen 
Psychiatrie  (Zwangsvorstellungen  etc.)  sind  gelegentlich  eingefügt. 
Im  Uebrigen  und  Wesentlichen  soll  eine  möglichst  ausführliche  Be- 
schreibung der  einzelnen  Formen  versucht  werden,  und  zwar  nicht 
nur  in  irgend  einem  typischen  Bilde,  sondern  in  möglichst  zahlreichen 
Modificationen,  wie  sie  eben  die  tägliche  Beobachtung  bietet.  Es 
lassen  sich  auf  diese  Weise,  wie  sich  ergeben  wird,  eine  Reihe  von 
bald  ätiologischen,  bald  symptomatologischen  Untergruppen  aus- 
sondern, welche  jeweils  aus  einer  genügenden  Reihe  von  vergleich- 
baren resp.  zusammengehörigen  Krankheitsgeschichten  innerhalb  der 
typischen  Znstandsform  sich  ergaben. 

Die  vielleicht  da  und  dort  etwas  zu  grosse  epische  Breite  der  Schil- 
derung möge  sieh  aus  diesem  Bestreben  erklären,  möglichst  vieles 
symptomatologisches  Detail,  nach  einteilenden  Gesichtspunkten 
geordnet,  vorzutragen.  Vielleicht  gelingt  es,  wenn  wir  uns  erst  über 
Das,  was  die  Beobachtung  im  unendlichen  Formenreichthum  uns  liefert, 
nach  und  nach  verständigt  haben,  uns  immer  mehr  auch  Uber  die  Ge- 
sichtspunkte allgemeineren  Charakters  zu  einigen,  und  eine  gemein- 
same Sprache  zu  finden,  in  welcher  wir  uns  gegenseitig  in  der  spe- 
ciellen Psychiatrie  verstehen  lernen.  Die  Grundlage  für  dieses  wichtige 
Ziel  wird  eine  möglichst  dctaillirte  Symptomatologie  bleiben  müssen. 

Literatur.  Neuere  grössere  Hand-  und  Lehrbücher,  welche  das  psychi- 
atrische Gesammtgebiet  umfassen,  und  auf  welche  für  das  Folgende  ein- für 
allemal  verwiesen  wird:  Griesinger,  Lehrb.  der  Psychiatrie.  —  Spielmann, 
Diagnostik  der  Geisteskrankheiten.  —  Flemming,  Pathologie  u.  Therapie  der  Psy- 
chosen. —  K  cumann,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  —  Leidesdorf,  Lehrbuch  der 
Psychiatric  1807.  —  Schule,  Handbuch  d.  Geisteskrankheiten.  II.  Aufl.  isso.  — 
Arndt,  Lehrbuch  der  Psychiatrie  1SS3.  —  v.  Krafft- Ebing,  Lehrbuch  der  Psy- 
chiatrie. II.  Aufl.  1883.  —  Meynert,  Psychiatrie  (bis  jetzt  1  Theil  erschienen).  — 
Esquirol,  Geisteskrankheiten,  übersetzt  von  Bernhardt.  —  Falret,  Maladics 
mentales.  —  Morel,  Traitö  des  malad,  ment.  —  Dagonet,  Nouveau  traitö  des 
mal.  ment.  1876.  —  Guislain,  Lecons  orales,  deutsch  von  Laehr.  —  Maudsley, 


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6  Eintheilung  der  Seelenstörungen. 

Pbysiology  and  pathology  of  mind,  deutsch  von  Boehm.  —  Bucknill  and  Take, 
Manual.  —  Hammona,  Treatise  1SS3.  —  Blandford,  Seelenstörungen,  deutsch 
von  Kornfeld. 

Compendien:  Weiss,  Compendium  der  Psychiatrie.  —  Kraepelin,  Comp.  d. 
Psych.  lSSt.  —  Für  den  allgemeinen  Th eil  (Symptomatologie,  Aetiologie,  Pro- 
gnose, pathologische  Anatomie):  Emminghaus,  AUg.  Psychopathologie  1ST8  (mit 
Literatur).  —  Für  den  forensen  Theil:  Casper-Simon,  Handb.  d.  gerichtl. 
Medicin.  —  E.  Hoffmann,  Lehrbuch  d.  gerichtl.  Medicin.  —  v.  Kraf ft-Ebing, 
Lehrb.  d.  gerichtl.  Psychopathologie.  II.  Aufl.  —  Maschka,  Handbuch  d.  gerichtl. 
Medicin.  Bd.  IV,  1SV2.   S.  ausserdem  die  Special-Kapitel. 


Eintheilung  der  Seelenstörungen. 

Literatur.  Classification:  Meynert,  Allgem.  Wiener  med.  Zeitung  l^SO  und 
Lehrb.  d.  Psychiatrie.  I.  1SS4.  —  Leidesdorf,  Wiener  med.  Wochenschr. 
—  Spitzka,  Am.  J.  of  neur.  a.  psych.  1SS3.  —  Bini,  Arch.  ital.  1879. 

In  unserem  Versuche  einer  Classification  gehen  wir  zunächst 
vom  rein  symptoinatologischen  Standpunkte  aus. 

Es  ergibt  sich  darnach  eine  Reihe  empirisch  zusammengehöriger, 
immer  wiederkehrender,  mit  den  gleichen  psychologischen  Charak- 
teren ausgestatteter  Zustandsformen.  Es  sind  dies  die  Formen  eines 
1.  krankhaft  gehemmten,  2.  krankhaft  gesteigerten,  3.  und  ge- 
schwächten resp.  aufgehobenen  Seelenlebens.  Unter  einer  4.  Gruppe 
würden  sich  jene  psychopathischen  Zustände  zusammenfinden,  in 
welchen  eine  qualitative  Aenderung  des  Seelenlebens  in  der  Rich- 
tung stattfindet,  dass  eine  anomale  Sinnesthätigkeit  (primäre  Hallu- 
cination)  auftritt,  unter  Verdunkelung  des  Bewusstseins;  oder  aber 
eine  Spaltung  des  Ich  in  ein  wahngefälschtcs  und  theilweise  ge- 
schontes mit  allmählicher  Auflösung  der  Ich-Hegemonie  in  alogische 
und  imperative  Einfälle,  Antriebe,  Stimmungen.  Bilden  davon  die 
zwei  ersten  Gruppen  die  Repräsentanten  einer  krankhaften  Seelen- 
funetion  im  wachen  Zustande,  und  zwar  nach  dem  physiologischen 
Typus  des  depressiven  oder  heitern  Affects  (Melancholie  und  Manie}, 
so  lehnt  sich  die  vierte,  der  Wahnsinn,  zum  grossen  Theile  an  die 
analogen  Zustände  des  physiologischen  Traumlebens  an.  Auch  die 
3.  Gruppe  enthält  eine  Zustandsforra,  welche  noch  dem  Traumtypus 
sich  nähert,  daneben  aber  auch  eine  andere,  welche  um  so  entschie- 
dener an  den  tiefen  traumlosen  Schlaf  oder  an  hypnotische  Zustände 
sich  anschliesst:  die  primäre,  mehr  minder  vollständige  Aufhebung 
des  bewussten  und  activen  Seelenlebens  im  Stupor.  Der  letztern 
psychologisch  auszeichnende  Charakter,  nur  in  „wacher"  Form  und 


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Symptomatolog.  Standpunkt  in  der  Eintheilung. 


7 


unendlichen  Gradstufen,  tritt  uns  endlich  auch  in  einer  Gfruppe  ent- 
gegen, welche  die  Secundärstadien  aus  den  primären  affectiven 
Formen  bilden ;  wir  fassen  dieselbe  generell  als  psychische  Schwäche- 
Zustände,  als  „  Blödsinn zusammen,  und  trennen  davon  die  sympto- 
niatologisch  verwandten,  aber  genetisch  verschiedenen,  des  ange- 
borenen Schwachsinns  als  fünfte  Gruppe  —  Idiotismus  —  ab. 

Phänomenologisch  dürfte  diese  fiinftheilige  Gruppirung  einen 
ordnenden  Rahmen  um  die  zahlreichen  klinischen  Bilder  gestörten 
Seelenlebens  legen,  welcher  die  praktischen  Ansprüche  an  eine  Ein- 
theilung befriedigen  könnte.  Auch  einer  wissenschaftlichen  Anforde- 
rung vermöchte  dieser  Standpunkt  gerecht  zu  werden,  sofern  es  nur 
möglich  wäre  jenen  nur  symptomatologischen  Gruppen  auch  eine 
gesicherte  ätiologische  Grundlage  zu  geben.  Leider  ist  diese,  und 
damit  ein  specieller  Ausbau  in  verlässliche  ätiologische  Klassen,  bis 
jetzt  noch  nicht  durchführbar.  Ohne  eine  solche  Specificirung  bleiben 
aber  jene  grossen,  nur  äusserlich  verwandten  Zeichen-Gruppen 
zn  weit  und  dadurch  zu  unbestimmt.  Eine  nur  wenig  tiefer  gehende 
Untersuchung  des  casuistischen  Inhalts  derselben  zeigt  denn  auch 
sofort  innerhalb  einer  jeden  derselben  die  wichtigsten  klinischen 
Unterschiede.  Wir  erfahren  auf  jedem  Schritte,  dass,  trotz  überein- 
stimmender psychologischer  Grundzüge  im  Allgemeinen,  die  einzelnen 
Unterarten  so  erheblich  von  einander  abweichen,  dass  höchstens 
noch  eine  Vereinigung  für  eine  gewisse  Zahl  —  eine  Art  mittlerer 
Typus  —  bleibt,  während  nach  vor-  und  rückwärts  die  klinischen 
Bilder  ans  dem  Rahmen  herausdrängen.  Dieselben  entbehren  der 
wünschenswerthen  Individualisirung,  wenn  man  sie  nur  psycho- 
logisch einordnet 

Aber  auch  der  Verlauf  der  in  derselben  Gruppe  nach  psycho- 
logischen Charakteren  vereinigten  Fälle  erhebt  Einsprache  gegen 
eine  schlechthinige  Verschmelzung  oder  Gleichstellung.  Der  Verlauf 
ist  ein  hochwichtiges  klinisches  Moment,  insofern  darin  die  ana- 
tomisch uns  unbekannte  Natur  des  psychopathischen  Hirnprocesses 
mit  einer  Deutlichkeit  sich  enthüllt,  welche  uns  die  beachtens- 
werthesten  Schlüsse  auf  dessen  relative  Tiefe  resp.  Oberflächlich- 
keit gestattet.  So  können  symptomatologisch  anscheinend  gleiche 
Krankheitszustände  in  Heilung  Ubergehen,  oder  gegentheils  chronisch 
werden,  oder  endlich  periodisch  wiederkehren,  dort  als  Ausdruck 
einer  c.  p.  leichtern,  hier  einer  tiefern,  sehr  oft  unheilbaren  Hirn- 
affection.  So  gewinnt  mit  Einbeziehung  des  klinischen  Verlaufs-Mo- 
ments unsere  psychologische  Betrachtweise  bereits  eine  erheblich 
grössere  Sicherheit  und  Tragweite  in's  Individuelle. 


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8 


Einteilung  der  Seelenstörungen. 


In  gleicherweise  zeigt  nun  auch,  genauer  betrachtet,  die  Qua- 
lität der  psychischen  Symptome  eines  jeden  der  obigen  Zeichen- 
Complexe  —  sei'6  im  Verlaufe  des  Einzelprocesses ,  sei's  beim  Ver- 
gleich der  Einzelfälle  derselben  Gruppe  untereinander  —  wesentliche 
Aenderungen.  Das  Studium  dieses  Verhältnisses  fuhrt  zu  dem  be- 
merkenswerthen  Ergebniss:  dass  jene  elementaren  Reactionsformen 
eines  erkrankten  Gehirns  (die  wir  Melancholie,  Manie  nennen;  zwar 
im  Allgemeinen  die  leichtern  und  schwerern  Phasen  einer  psychi- 
schen Hirnaffection  begleiten;  im  Speciellen  aber  dabei  in  ihrem 
psychologischen  Charakter  sich  ändern  und  zwar  je  nach  der  Inten- 
sitätsstufe der  grundliegenden  Hirnkrankheit.  Den  durch  das  psy- 
chische Hirnleiden,  nach  seiner  wechselnden  Tiefe,  geschaffenen 
verschiedenen  „Cerebrationsstufen"  entsprechen  im  Einzelnen  be- 
stimmte Modifikationen  jener  allgemeinen  elementaren  Reactions- 
formen, m.  a.  W.:  das  psychologische  Symptomenbild  einer 
Melancholie  oder  Manie  ändert  sich  formal  (qualitativ)  pari  passu  mit 
dem  anatomisch-physiologischen  Charakter  (Tiefe)  des 
Hirnleidens,  wenn  auch  der  symptomatologische  Typus  der  genann- 
ten empirischen  Zeichen-Verbände  im  Grossen  und  Ganzen  derselbe 
bleibt.  Beide,  Melancholie  und  Manie,  erweisen  sich  in  ihren 
verschiedenen  klinischen  Nuancen  als  wirkliche  „Zustandsformen", 
welche  mit  den  zugehörenden  Cerebral  -  Zuständen  einen  gewissen 
Parallelgang  einhalten. 

So  treten  bei  tieferem  Hirnreiz  an  Stelle  der  logischen  Ideenflucht 
(in  der  Manie)  die  Verbindungen  nach  Assonanzen  (d.  h.  nach  äusserer 
Wortähnlichkeit);  zugleich  werden  die  „geformten"  Bewegungscombina- 
tionen  eckig  und  ziellos,  „reflectorisch" ;  bei  noch  tiefer  greifendem  Krank- 
heitsprocess  tritt  motorische  Iusufticienz ,  Tremor,  endlich  Ataxie  und 
Lähmung  ein.  Es  ist  im  pathologischen  Gebiete  die  Wiederholung  der 
experimentellen  Thatsache,  dass  auf  adäquate  Reize  das  erkrankte  Vor- 
derhirn „psychisch"  antwortet,  auf  tiefer  greifende  dagegen  mit  der 
Qualität  der  minderwerthigen  cerebralen  Accomodation,  und  endlich  nur 
noch  „reflectorisch"  in  Folge  des  immer  umfassenderen  cerebralen  Aus- 
falls resp.  Verlusts  an  psychischen  Associationen  uud  Hemmungen.  In 
diesem  Sinne  bildet  die  symptomatologische  Analyse  der  Einzelsymptome 
ein  „Auscultationsphänomen",  natürlich  nur  im  Allgemeinen ,  auf  die 
Qualität,  d.  h.  Tiefe  der  psychischen  Ilirnerkrankung.  —  Dieselbe  sym- 
ptomatologische Nuancirung  finden  wir  im  psychomotorischen  Gebiet  beim 
Stupor,  je  nachdem  dieser  eine  vollständige  Pause  der  psychischen  Func- 
tionen, oder  aber  —  auf  einer  höheren  Stufe  —  nur  eine  Hemmung 
durch  lebhafte  hallucinatorische  Innenvorgänge  darstellt. 

So  vertieft  sich  mit  Einbeziehung  des  „Verlaufs"  und  der 

Symptomen -„Qualität"  unser  anfänglicher  rein  symptomatologischer 

Standpunkt  zu  einem  klinisch  -  pathologischen.    Wir  unterscheiden 


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Symptomen-Qualität  u.  Verlauf  als  ,.Au8cultat".  Phänomene  d.  psych.  Hirnkrkht.  9 

nunmehr:  „psychische"  und  „psychisch -organische"  Melancholieenf 
Manieen  und  Stupor -Zustände,  und  lernen  dieselben  speciell  nach 
der  Qualität  der  sie  zusammensetzenden  Elemente  trennen  und  dar- 
nach den  klinischen  Zeichen- Verband  selbst  mit  leichtern  oder  tiefern 
Hirnerkrankungen  in  Beziehung  setzen. 

So  sind  im  Speciellen  die  klinischen  Symptomenbilder:  a)  der  Me- 
lancholie mit  (aus)  überwiegenden  Illusionen;  b)  des  depressiven  hallu- 
cinatorischen  Stupors,  und  c)  der  stupiden  (organischen)  Melancholie  mit 
begleitenden  InnervationsstÖrungen  aus  primärer  Hirnatrophie  generell 
zwar  aus  denselben  Elementen  zusammengesetzt,  im  Einzelnen  aber 
eben  geschieden  durch  die  Qualität  der  Symptome,  durch  deren  psycho- 
logisches Verhältnis*  zu  einander  und  zur  kranken  Person,  und  ferner 
durch  die  Aufeinanderfolge  resp.  den  klinischen  Verlauf.  Bei  a)  sind  die 
psychischen  Elemente  der  Melancholie  nach  dem  Aftectschema  geordnet, 
es  findet  sich  ein  waches  Ich  vor,  der  Verlauf  ist  psychologisch  ver- 
mittelt und  zusammenhängend ;  bei  b)  ist  es  ein  deliranter  Bewusstseins- 
zustand,  ein  trauroartiges  Ich,  ein  abrupter  (nicht  mehr  durch  psycho- 
logische Folge  verknüpfter)  Wechsel  der  ineinander  Ubergehenden 
Einzelphasen;  bei  c)  endlich  ist  eine  primäre  und  progressive  geistige 
Schwäche  das  wesentliche  Moment,  und  die  Melancholie  nur  noch  acciden- 
telle  Form;  der  Verlauf  vollständig  irregulär,  direct  durch  die  Hirnkrank- 
lieit  vermittelt,  unter  Anfügung  palpabler  cerebropathischer  Symptome. 

Nur  die  grosse  Gruppe  des  „primären  Wahnsinns"  will  sich 
diesem  Eintheilungsprincipe  aus  der  Qualität  der  psychischen 
Symptome  nicht  fügen.  Es  handelt  sich  bei  dieser  um  psycho- 
pathische Zustände,  in  welchen  krankhafte  Sinnenreizvorgänge  mit 
einer  geschwächten  Urtheilsfäbigkeit  —  infracorticale  sensuelle  Hyper- 
ästhesieen  und  Hyperergieen  mit  corticaler  Anenergie  —  zusammen- 
treten, und  zwar  theils  neben,  theils  ohne  Erhaltung  des  „formalen 
Schlussapparats  des  Gehirns",  der  Logik  und  Systematik.  Hier  liegt 
das  Verhältniss  zwiscben  psychischem  Krankheitssymptom  und  In- 
tensität der  Hirnstörung  anders.  Während  in  den  melancholischen 
und  manischen  Zuständen  die  Tiefe  der  Bewusstseinsstörung,  welche 
sich  in  der  qualitativen  Abänderung  der  psychischen  Symptome  kund- 
gab, einen  verlässlichen  —  gewissermaassen  proportionalen  —  Grad- 
messer für  die  Tiefe  der  Cerebralaffection  im  Allgemeinen  bezeichnet, 
so  ist  hier  (beim  Wahnsinn)  der  Mangel  oder  gegentheils  die  Erhal- 
tung des  Bewusstseins  von  keiner  analog  verwendbaren  Tragweite. 
Wir  erfahren  sogar  bei  dieser  Gruppe,  dass  die  Zustandsform  des 
W  ahnsinns  mit  erhaltenem  Ich  und  erhaltener  Logik  viel  ungünstiger, 
ja  sehr  oft  unheilbar  verläuft,  demnach  auf  eine  schwerere  Hirn- 
störung zu  beziehen  ist,  als  die  Wahnsinnsformen  mit  einem  ver- 
worrenen ballucinatorischen  Traumleben.    Dagegen  gewinnt  hier 


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Einteilung  der  Seelenstörungen. 


wiederum  der  klinische  Charakter  des  Verlaufs,  ob  diese  Zustände 
acut  oder  chronisch  sind,  eine  um  so  entscheidendere  Bedeutung. 

Damit  wird  jetzt  ein  erweiterter  Standpunkt  gewonnen.  Verfolgen 
wir  einerseits  den  „Verlauf"  in  diesen  psychischen  Zustandsformen 
und  berücksichtigen  wir  andererseits  gleichzeitig  das  vorhin  gewon- 
nene psychologische  Princip  der  gesetzmassig  variabein  Symptomen- 
qualität, so  finden  wir,  dass  beide  klinische  Kategorieeu  gleichfalls 
in  einem  gewissen  Zusammenhang,  in  einer  Art  Parallelgang,  ver- 
mittelt durch  die  Hirnaffection,  stehen.  So  folgt  —  typisch  —  auf 
den  Beginn  der  Anstieg  zur  Krankheitshöhe,  auf  diese  das  Declive; 
die  einzelnen  Phasen  sind  psychologisch  vermittelt  und  stehen  in 
einer  unläugbaren  Proportion,  so  dass  der  psychologisch  tiefer- 
werthigen  Manie  auch  eine  c.  p.  längere  Verlaufsdauer  (Schwäche- 
Nachstadium)  entspricht,  dem  raschen  und  scheinbar  leichten  Verlauf 
des  acuten  Wahnsinns  ein  mit  Vorliebe  remittirender  Verlauf,  gleich- 
sam ausgleichend,  entgegensteht.  Obwohl  wir  noch  entfernt  nicht 
alle  Bedingungen  übersehen,  so  darf  doch  allgemein  zu  Grunde  ge- 
legt werden,  dass:  je  tiefer  die  Symptomenqualität,  oder  je  über- 
stürzter die  Genese,  oder  je  alogischer  die  zusammensetzenden  Form- 
elemente (hallucinatorische  acute  Verwirrung)  —  auch  desto  länger 
resp.  desto  unsicherer,  event.  desto  mehr  durch  Recidiven  gefährdet 
der  Verlauf  sich  gestaltet,  und  damit  desto  ernster  der  momentane 
Eingriff  in  das  Hirnleben  veranschlagt  werden  muss.  Dies  führt  uns 
zum  Gesichtspunkt  der  Krankheits entwicklung.  Wir  lernen 
darnach  Fälle  kennen,  welche  eine  im  Vergleich  zur  Ursache 
verhältnissmäs8ige  Krankheitsstärke,  und  so  auch  eine  zu  letzterer 
adäquate  Krankheitsdauer  mit  Wachsthum,  Acme,  Reconvalescenz 
zeigen.  Daneben  aber  treffen  wir  eine  grosse  andere  Casuistik, 
welche  nach  einer  vergleichsweise  leichteren  ätiologischen  Schäd- 
lichkeit sofort  oder  in  überstürztem  Decursus  mit  jenen  qualitativ 
tieferwerthigen  Symptomenbildern  antwortet.  Es  ist  die  Analogie 
mit  der  geläufigen  Thatsache  aus  der  innern  Medicin,  wonach  ge- 
schwächte nervöse  Constitutionen  viel  rascher  auf  cerebrale  Schäd- 
lichkeiten (Fiebertemperatur,  Alcoholica)  durch  Delirien  und  Muskel- 
Ataxieen  reagiren,  als  kräftige  Naturen.  Wir  erlernen  nun  weiter  aus 
der  Tages-Erfahrung,  dass  die  Primärpsychosen  des  rüstigen  Nerven- 
lebens ausnahmslos  mit  einem  melancholischen  Vorstadium  beginnen, 
welches  sich  gemeinhin  nach  dem  Typus  eines  normalen  depressiven 
Affects  aufbaut  und  entwickelt.  Wir  begreifen  dieses  Vorkommen 
als  die  natürliche  Reaction  des  bis  dahin  noch  gesunden  Ich,  wel- 
ches auf  jede  innerlich  gefühlte  Aenderung  —  am  intensivsten,  wenn 


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Bedeutung  der  „Krankheitsentwicklung" 


11 


diese  seine  psychische  Situation  betrifft  —  mit  einer  Gemüthsver- 
stimmung,  einer  Wehmuth,  einem  Schmerz  antwortet  Die  nach- 
folgende wirkliche  Melancholie  erscheint  hiernach  als  die  Steigerung 
und  Ausgestaltung  dieses  ursprünglich  naturgemässen  Affects,  und 
imponirt  erst  als  Krankheit,  wenn  der  letztere  bis  zur  Hemmung  des 
Seelenlebens  vorgedrungen,  und  in  weitern  nervösen  Störungen  (sen- 
sibler und  vasomotorischer  Natur)  sich  fixirt  hat.  Es  bedarf  nun 
gerade  nicht  immer  dieser  einleitenden  emotiven  (deprimirenden) 
Gelegenheitsursache ;  es  kann  auch  primär,  auf  organischem  Wege, 
eine  Störung  in  den  geistigen  Hirnfunctionen  auftreten,  welche  vom 
Snbject  schmerzlich  erfasst,  und  zum  Kern  der  nun  logisch  sich 
weiter  entwickelnden  krankhaften  Depression  gemacht  wird.  Soweit 
gediehen,  hängt  das  weitere  Schicksal  des  Leidens  im  Wesent- 
lichen von  der  cerebralen  Resistenzkraft  im  Einzelfalle  ab.  Ist 
diese  eine  genügende,  so  geht  das  Leiden  nach  kürzerer  oder  län- 
gerer Zeit  direct  oder  durch  ein  Nachstadium  der  Ermüdung,  ev. 
eine  leichte  Exaltation,  welche  aber  ganz  in  den  Grenzen  des  nor- 
malen Freudegefühls  verläuft,  in  Genesung  Uber.  Der  Umschlag  der 
anfänglichen  Depression  in  „Manie"  setzt,  so  viel  wir  bis  jetzt  aus 
andern  klinischen  Gründen  zu  beurtheilen  vermögen,  schon  eine 
vergleichsweise  verminderte  cerebrale  Widerstandsfähigkeit  voraus, 
gehört  aber  immer  noch  zu  den  Reactionsformen  des  „rüstigen" 
Gehirns,  sofern  jene  (sec.  Manie)  sich  symptomatologisch  in  dem 
Rahmen  des  expansiven  Affects  bewegt,  und  den  physiologischen 
Charakter  in  den  Bewegungen,  den  logisch  - associatorischen  in  der 
Ideenflucht  einhält. 

Dieser  eben  gezeichneten  Krankheitsentwicklung  steht  nun  die 
erwähnte  andere  gegenüber,  welche  in  wesentlichen  Punkten  ver- 
schieden ist.  Einmal  fehlt  das  depressive  Vorstadium  ganz  oder 
beinahe,  und  die  Krankheit  setzt  brüsk  und  sofort  in  einer  sympto- 
matologischen  Form  ein,  welche  wir  klinisch-psychologisch  als  einer 
tieferen  Hirnstörung  zugehörig  erkennen  müssen.  Es  ist,  als  wären 
die  gewöhnlichen  Anfangsstadien  Übersprungen,  und  die  Acme  des 
Normal  Verlaufs,  oder  gar  Secundärzustände ,  eröffneten  die  Scene. 
Die  Melancholieen  dieser  Gruppe  setzen  gleich  6chon,  oder  sehr  bald, 
mit  einer  überwuchernden  Fülle  von  Sinnestäuschungen  ein;  die 
Manieen  als  Furor-Zustände  oder  Mania  gravis.  Der  Weiterverlauf 
ist  sehr  häufig  remittirend,  nicht  in  Einem  Anfalle  sich  erschöpfend. 
Hierher  gehört  namentlich  auch  die  Gruppe  des  acuten  Wahnsinns 
und  des  Stupors;  beide  beginnen  mit  einer  primären  acuten  Functions- 
schwäche  des  „Vorderhirns"  (des  Vorstellungs-  und  Willensorgans), 


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12 


Einteilung  der  Seelenstöruugcn. 


welche  beim  ächten  Stupor  sogar  bis  zu  einer  vorübergehenden 
Lähmung  sämmtlicher  Seelenfunctionen  sich  steigert.  In  der  by- 
sterisch-constitutionellen  Neuropsychose ,  deren  Wesen  zum  Theile 
in  dieselbe  Schwäche  der  „Vorderhirn"- Functionen  zu  setzen  ist, 
genügt  oft  eine  Hallucination,  um  das  Bewusstsein  zur  Ekstase  zu 
hypnotisiren.  Die  Hysterie  sowohl  als  die  Epilepsie,  besonders  aber 
die  letztere,  brechen  gelegentlich  mit  einer  solchen  Macht  in  die 
psychischen  Gchirnfunctionen  ein,  dass  plötzlich  und  psychisch  un- 
vermittelt die  schwersten  manischen  und  wahnsinnigen  Episoden  zur 
Entstehung  kommen.  Auch  die  Gruppe  der  Dementia  acuta  eignet 
sich  hieher,  bei  welcher  die  cerebrale  Anenergie  und  Widerstands- 
losigkeit  primär  in  der  Form  eines  psychischen  Schwächezustandes 
auftritt,  wie  dieser  sich  bei  anfanglich  rüstigem  Gehirne  erst  im 
langen  Verlauf  eines  unheilbar  gewordenen  Hirnleidens  als  secun- 
däres  Schluss6tadium  entwickelt. 

So  führen  endlich  alle  seither  versuchten  Betrachtweisen  und 
eintheilenden  Principien  in  dem  Factor  der  Widerstandskraft 
des  Gehirnlebens  zusammen.  Hatte  die  abänderungsffchige  Form 
in  den  ursprünglichen  psychologischen  Symptomencomplexen  sich  in 
Zusammenhang  mit  der  verschiedenen  Intensitätsstufe  der  Hirnaffee- 
tion  setzen  lassen,  so  hat  jetzt  der  Verlauf  d.  h.  die  Krankheitsent- 
wicklung jene  beiden  klinischen  Factoren  in  ihrem  Wccbselverhält- 
niss  auf  die  „individuelle  Resistenzfähigkeit"  als  auf  die  Beiden  ge- 
meinsame Grundlage  zurückgeführt.  Nach  diesem  umfassendem  und 
höhern  Eintheilungsprincip  unterscheiden  wir  nunmehr  rüstige  und 
invalide  Gehirne.  Unter  die  Reactionsformen  der  rüstigen  ge- 
hören die  Psychosen  nach  der  erstgezeichneten  Entwicklung,  unter 
die  der  invaliden  Gehirne  die  zweiten.  Unsere  soweit  begründete 
Classification  umfasst  darnach: 

1.  Psychosen  des  rüstigen  Gehirns:  a)  Melancholie ;  b)  Mania 
mitis  und  typica;  sammt  Secundarzuständen ; 

2.  Psychosen  des  invaliden  Gehirns:  a)  die  schwereren  Manieen, 
der  Furor  und  die  Mania  gravis;  b)  der  Wahnsinn  in  seiner  chronischen, 
acuten,  attonischen  (stupurösen)  Form;  c)  acute,  primäre  Dementia;  d) 
das  hysterische,  epileptische  und  hypochondrische  Irresein. 

Keben  diesen  grossen  Gruppen  erschliesst  sich  nun  weiter  ein 
anderer  und  wohl  noch  grösserer  Kreis  von  Fällen,  welche  sympto- 
matologisch  in  dem  Merkmal  zusammentreffen,  dass  sie  nicht  erst, 
wie  die  vorhin  besprochenen  Psychosen,  von  dem  Augenblick  ihrer 
klargestellten  Seelenstörung  anfangen  „krank"  zu  sein,  sondern 
schon  von  Jugend  auf  gewisse  geistige  Eigenheiten  (Excentricitäten, 


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Das  „rüstige"  und  „invalide"  Gehirn.   Deren  klin.  Rcactionsformen.  13 

Originalitäten,  unverbesserliche  Cbarakterfehler)  zeigen.  Bei  Vielen 
derselben  scheint  denn  auch  die  spätere  schulgerechte  Psychose 
nicht  eigentlich  eine  nova  res,  sondern  nur  die  Weiterentwicklung, 
der  endliche  „Excess"  einer  schon  ab  ovo  vorhandenen  Anomalie 
geistiger  Anlage  zu  sein.  Bei  Andern  verläuft  die  spätere  Psychose 
annähernd  nach  dem  klinischen  Typus  der  sonstigen  (oben  bespro- 
chenen) Zustandsformen,  aber  doch  mit  gewissen  besonderen  Zügen, 
welche  den  psychisch  vollentwickelten  Kranken  fehlen,  und  dadurch 
dieser  neuen  Gruppe  trotz  der  scheinbaren  Zeichengleichheit  eine 
bestimmte  Eigenart  wahren.  Diese  letztere  betrifft  wiederum  die 
Symptomen-Qualität  und  den  Krankheitsverlauf.  Nach  beiderlei  Hin- 
sicht neigt  diese  neue  Gruppe  zu  den  Psychosen  des  „invaliden" 
Gehirns  hin  —  wohl  ein  Fingerzeig  fllr  die  nahe  nosologische  Ver- 
wandtschaft jener  und  der  originär  belasteten  Krankheitsfamilien. 

1.  Bezüglich  der  Entwicklung  genügt  hier  eine  relativ  ge- 
ringe Ursache,  manchmal  selbst  ein  physiologischer  Vorgang  (Pubertät, 
Climacteriom,  Menses,  Gravidität)  zur  Hervorrufung  der  eigentlichen  Psy- 
chose, während  dort,  bei  rüstiger  Normalanlage,  das  Gehirn  erst  einem 
entsprechend  schwereren  Eingriffe  unterliegt.  2.  Bezüglich  der  Sym- 
ptome: hier  zeigt  sich  (wie  beim  invaliden  Hirn)  eine  grosse  Neigung 
zu  Delirien,  zu  Zwangsgedanken  und  Zwangshandlungen;  die  Wahnvor- 
stellungen sind  inhaltlich  mit  Vorliebe  barock,  phantastisch,  unmotivirt 
durch  die  Stimmung,  den  Kranken  nicht  seiton  verblüffend  —  gegenüber 
den  logischen,  aus  der  Stimmungsäuderung  entwickelten  und  den  Kran- 
ken selbst  befriedigenden  („erklärenden")  Wahngedanken  des  „rüstigen" 
Melancholikers.  Hier  grosse  Neigung  zu  relativer  Lucidität,  zu  „par- 
tieller" Seelenstörung,  sodass  die  gesunden  und  kranken  Vorstellungs- 
kreise sich  gegenseitig  neben  einander  bewegen  und  vertragen;  eine  vor- 
wiegend krankhafte  Betheiliguug  der  affectiven  Seelensphäre,  und  zwar 
als  originärer  Mangel  (moralische  Defecte)  neben  vergleichsweiser  Scho- 
nung des  Verstandes;  dort:  mehr  minder  allgemeine  Störung  der  See- 
lenfunctionen.  Endlich  im  Symptomenbild  als  Ganzem:  hier  eine  pro- 
teusartige  Combination,  ein  Gemisch  der  verschiedensten  Zustandsformen, 
oft  mit  buntem,  gesetzlosem  Wechsel  und  unberechenbarer  Aufeinander- 
folge, oder  gegentheils  ein  jahrelanges  Stationärbleiben  mit  langsamem, 
schleppendem  Niedergang,  jedoch  ohne  iu  wirklichen  Blödsinn  Uberzu- 
gehen; dort:  ein  psychologisch  und  physiologisch  gesetzmässiger  Verlauf, 
ein  zusammenhängender,  durch  eine  vasomotorische  Neurose  oder  trophische 
Constitutionsanomalieen  vermittelter  Krankheitsproccss,  dessen  Einzelphasen 
verschiedene,  nach  Analogie  des  Zuckungsgesetzes  (Arndt)  miteinander 
verknüpfte  Stadien  darstellen;  bei  ungünstigem  Verlaufe  Ausgang  in  fort- 
schreitenden Blödsinn  (absterbender  Nerv).  —  3.  Nach  dem  Verlauf: 
hier  sehr  oft  ein  jäher  Einsatz  mit  ebenso  raschem  Abbruch  der  eigent- 
lichen Psychose;  Ausgang  in  den  neuropathischen  Zustand  quo  ante; 
dort:  langsame  folgerichtige  Entwicklung  mit  successivem  Anstieg  und 
allmählichem  Abfall;  Ausgang  in  Heilung  oder  secundäre  psychische 


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14 


Eintheilnng  der  Seelcnstörungen. 


Schwächeznstände;  hier  grosse  Neigung  zu  periodischen  Anfällen  und 
circulären  Verbänden  von  Zustandsformen ;  dort:  einmaliger  Ablauf,  höch- 
stens mit  der  Disposition  zu  Recidiven,  je  mehr  sich  das  „rüstige"  Ge- 
hirn dem  „invaliden"  nähert.  Hier  endlich  vielfache  Neigung  zu  ver- 
frühtem psychischen  Stillstand  (Dementia  praecox),  oder  aber  zu  fort- 
schreitender geistiger  Entartung  (degenerative  St5rungsformen  mit  Moral 
Insanity);  dort:  zur  Genesung. 

4.  Bezüglich  der  Wirkung  auf  die  Descendenz:  hier  die  Neigung 
zur  progressiven  Degenerescenz;  dort  zur  Vererbung  der  einfachen  neu- 
ropathischen  Prädisposition. 

Diese  grossen  und  tiefgreifenden  Gegensätze,  welche  sich  so 
eben  in  der  Gegenüberstellung  der  ab  ovo  „organisch  Belasteten"  er- 
geben, dienen  nun  aber  nicht  allein  zur  schärfern  klinischen  Er- 
fassung beider,  sondern  fördern  auch  nach  vor-  und  rückwärts  unsere 
Classification.  Die  einschneidenden  Zeichenunterschiede,  welche  sich 
in  den  beiden  „natürlichen"  Familien  aufthun,  ordnen  sich  zwar 
wohl  dem  vorhin  gewonnenen  Princip  der  „Widerstandskraft  des 
Gehirnlebens"  unter;  aber  sie  lassen  das  „rüstige"  Gehirn  jetzt  weiter 
als  ein  „vollentwickeltes"  erfassen,  und  gewinnen  m.  m.  zu  dem 
„invaliden"  auch  noch  die  „prädisponirten"  Anlagen  hinzu.  Wie 
sich  oben  ergab,  vereinigen  sich  die  beiden  letztern  in  denselben 
wesentlichen  Reactionsformen.  Indem  wir  so  die  verminderte  cere- 
brale Resistenzfähigkeit  als  eine  erworbene  und  als  eine  ange- 
borene erproben,  treten  wir  von  dem  engern  klinischen  Betracht- 
punkte auf  den  erweiterten  anthropologischen  Uber.  Wir  lernen 
die  functionelle  Gehirnstörung,  welche  wir  als  Seelenstörung  be- 
zeichnen, theils  als  das  Werk  des  Lebens,  theils  als  die  Wirkung 
einer  funesten  Mitgift  kennen,  erfahren  aber  weiter,  dass  sie  nur  im 
ersten  Falle  als  eine  „rüstige"  Psychose  sich  zu  äussern  vermag, 
und  zwar  wiederum  nur  dann,  wenn  das  Gehirn  ein  ab  ovo  ent- 
wickeltes gewesen  war.  Der  „Invalide"  kann  es  werden  auch  durch 
spätem  Erwerb;  ist  es  aber  immer,  wenn  die  psychische  Anlage  un- 
zureichend war.  Im  Einzelnen  scheiden  sich  die  „Belasteten"  wieder 
in:  einfache  psychische  Schwächlinge  (s.  o.),  und  in  wirkliche  Defect- 
menschen  (s.  heredit.  Neurose). 

Von  diesem  Standpunkte  aus  erweitert  sich  nun  unsere  Ein- 
theilnng zu  folgendem  Schema: 

I.  Psychosen  auf  Grundlage  organo-psychischer  Vollent- 
wicklung: 1.  Psychosen  des  rüstigen  Gehirns  (s.o.);  2.  Psychosen 
des  invaliden  Gehirns  (s.  o.).  —  Als  Anhang  fügen  wir  hier  noch 
unter  c.  die  periodischen,  circulären  und  alternirenden  Psy- 
chosen ein,  weil  diese  genetisch  sich  glcichmässig  unter  die  vollentwickelt- 
invaliden  und  unter  die  defect- degenerativen  Constitutionen  vertheilen, 


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Psych.  Cerebropathieen.  —  Gruppe  der  Typ.  Paralyse  a.  d.  Delir.  acut.  15 

keiner  der  beiden  ganz  (der  letztern  wohl  vergleichsweise  mehr)  zuge- 
hören  und  so  die  natürliche  Uebergangsgruppe  bilden. 

II.  Psychosen  auf  Grundlage  defecter  organo-psychi- 
scher  Anlage,  resp.  Constitution.  Hierunter  reihen  sich  speciell 
ein:  1.  die  hereditäre  Neurose;  2.  das  einfache  hereditäre 
Irresein  —  das  Irresein  mit  Zwangsvorstellungen;  3.  die  originäre 
Verrücktheit;  4.  das  degenerative  erbliche  Irresein  —  die 
Moral  Insanity ;  5.  der  Idiotismus  mit  den  Typen  angeborener  geistiger 
Defecte  oder  erworbener  Entwicklungshemmung. 

Für  die  Untergruppe  3.  ist  der  Name  „Verrücktheit"  beibehalten 
im  Gegensatz  zu  dem  sonst  vielfach  Symptomengleichen  (nur  durch  die 
fehlenden  Degenerescenzzeichen  unterschiedenen)  chronischen  Wahnsinn, 
um  durch  die  Nomenclatur  auch  die  differente  anthropologische  Stellung 
beider  Zustandsformen,  speciell  die  angeborene  logische  Verschrobenheit, 
welche  hier  wirklich  in  anomale  Bahnen  „verrückt"  ist,  zu  kennzeichnen. 

Aber  auch  mit  diesem  Detail  der  Eintheilung  ist  das  Ganze  der 
klinischen  Symptomengruppen  noch  nicht  erschöpft.  Ein  Theil  der 
letztem  erstreckt  sich  nämlich  auf  das  Gebiet  der  functionellen 
Psychosen,  d.  h.  derjenigen  psychischen  Cerebralleiden,  bei  welchen 
die  klinische  Beobachtung  nur  psychische,  oder  mit  einfachen  sen- 
siblen und  vasomotorischen  (trophischen)  begleitete  Störungen,  letztere 
in  Eintritt  und  Verlauf  mit  den  erstem  gleichen  Schritt  haltend,  auf- 
finden lässt.  Daneben  hebt  sich  nun  noch  ein  anderer  und  sehr  an- 
sehnlicher Theil  ab,  bei  welchem  ein  organisches  Hirnleiden 
in  Form  selbstständ'ger  klinischer  (vor  Allem  grob  -  motorischer) 
Symptome  nachweisbar  ist.  Wir  bezeichnen  diese  Gruppe  als 
psychische  Cerebropathieen.  Darunter  reihen  sich  vornehm- 
lich ein: 

a)  die  chronische,  acute  und  subacute  Meningo-Periencephalitis; 
b)  die  Pachymeningitis  mit  Hämatom;  c)  die  diffuse  sclerosirende  Ence- 
phalitis; d)  die  diffuse  Encephalitis  mit  begleitender  Herderkrankung; 
e)  die  diffuse  Encephalitis  im  Gefolge  von  Neubildungen;  f)  die  chro- 
nische Periencephalitis  mit  vorausgegangener  oder  begleitender  Tabes 
spinalis;  g)  die  Encephalitis  syphilitica;  dazu  kommt  noch  h)  der  Alco- 
holismus  chronicus. 

Das  wesentliche  symptomatologische  Bild  aller  dieser  organisch- 
psychischen Hirnleiden  ist  Blödsinn  mit  Lähmung. 

Nunmehr  sind  immer  noch  zwei  Krankheitsgruppen  nicht  ein- 
gereiht, wovon  die  eine  zwar  nur  eine  kleinere,  die  andere  da- 
gegen eine  ausserordentlich  grosse  (immer  mehr  zunehmende)  Zahl 
von  Fällen  umfasst:  das  Delirium  acutum  und  die  allgemeine  pro- 
gressive Paralyse.  Beide  gehören  nicht  schlechthin  zu  den  einer 
bestimmten  pathologisch-anatomischen  Erkrankung  zu  unterstellen- 
den Hirnkrankheiten  (also  nicht  ohne  Weiteres  zu  den  psychischen 


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16 


Eintheilung  der  Seelenstörungen. 


Cerebropathieen).  Die  eine  davon,  die  Paralyse  /.ar1  l$oxrtv,  verläuft 
zwar  symptomatologisch  auch  unter  dem  Bilde  von  Blödsinn  mit 
Lähmung,  hat  aber  sowohl  in  der  Qualität  gewisser  Einzelsymptome, 
als  namentlich  auch  in  ihrem  Verlauf  ihre  specifischen  Eigenheiten, 
welche  eine  klinische  Sonderstellung  nicht  bloss  rechtfertigen,  sondern 
verlangen.  Dazu  kommt,  dass  der  als  charakteristisch  beanspruchte 
anatomische  Erfund  bei  dieser  sog.  klassischen  Paralyse  erst  den 
spätem  Verlaufsstadien  des  Leidens  zugehört,  nicht  auch  schon  den 
frühern,  welche  bereits  die  klinisch  voll  entwickelte  Krankheit  in  die 
Erscheinung  treten  Hessen.  Ich  glaube  deshalb  auch  heute  noch,  das9 
wir  die  Frage  nach  dem  viel  umstrittenen  Wesen  des  genannten 
Krankheitsprocesses  noch  als  ungelöst  betrachten  und  vorerst  prä- 
judizlos die  anatomische  Ursache  als  eine  „tiefe  Ernährungsstörung 
des  Gehirns  mit  dem  Charakter  höchster  Gefahr"  resp.  fortschreiten- 
der Zerstörung  auffassen  müssen  (s.  Weiteres  unter  „Typ.  Paralyse"). 
Wenn  hiernach  (wenigstens  nach  meiner  Auffassung)  die  klassische 
Paralyse  weitaus  mehr  das  Senium  praecox  (und  zwar  des  vollsaf- 
tigen auf  seiner  biologischen  Leistungshöhe  stehenden,  speciell  des 
männlichen  Gehirnlebens)  denn  eine  „Entzündung"  s.  str.  darstellt, 
so  darf  sie  auch  nicht  einfach  den  organischen  Hirnkrankheiten 
nach  dem  Typus  der  chronischen  Meningitis  und  Encephalitis  zu- 
gezählt werden.  Wohl  aber  bildet  sie  zwischen  diesen  und  den 
schweren  fnnctionellen  Psychosen  des  invaliden  Gehirns  den  klini- 
schen Uebergang.  —  Das  Delirium  acutum  entbehrt  gleichfalls  bis 
jetzt  der  anatomischen  Grundlage,  wenn  auch  immerhin  dessen  kli- 
nische Symptome  und  namentlich  der  sehr  peroiciöse  Verlauf  für 
eine  ausserordentlich  tiefe  Schädigung,  nicht  bloss  des  psychischen, 
6ondem  des  gesammten  Ilirulebens  unzweideutig  sprechen.  Gemein- 
sam ist  beiden  Gruppen  das  ätiologisch- klinische  Moment  der  „Hirn- 
erschöpfung", auf  welchem  sie  entstehen,  und  zum  Theil  auch  bis 
zum  Schluss  verlaufen.  Ich  möchte  dieselben  nach  diesem  Moment 
benennen:  das  Delirium  acutum  als  „acute  Hirnerschöpfung  mit 
dem  Charakter  der  Gefahr",  die  chronische  Form  der  klassischen 
Paralyse  als  „chronische  Hirnerschöpfung  mit  dem  Charakter  fort- 
schreitender Entartung"  —  und  beide  Gruppen  unter  einer  eigenen 
Klasse  vereinigen,  welche  als  solche  zugleich  den  Uebergang  ver- 
mittelt zwischen  den  Psychosen  des  invaliden  Gehirns  und  andrer- 
seits den  eigentlich  organischen  psychischen  Cerebropathieen. 

Endlich  ist  noch  eine  letzte  Gruppe  nachzutragen,  welche  ihre  Aus- 
zeichnung in  einem  wesentlich  ätiologischen  Begleitsmomente  besitzt,  und 
zwar:  a)  in  einer  mitbegleitenden  körperlichen  Erkrankung,  oder  aber 


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Schema  der  Classification. 


17 


b)  in  einer  Intoxication.  Zu  der  ersteren  Grnppe  gehören  die  febrilen 
and  postfebrilen  Psychosen,  welche  die  acuten  Infectionskrankheiten,  den 
Rheumatismus  acutus,  manchmal  Pneumonie  und  Phthise;  sodann  die  psy- 
chischen Störungen,  welche  gewisse  Neurosen  (Morbus  Basedow,  Chorea), 
ferner  Unterleibsaffectionen,  und  endlich  Gravidität  und  Puerperium  be- 
gleiten. Unter  die  letzteren  reihen  sich  die  Psychosen  im  Gefolge  des  Abusus 
von  Chloro-  und  Jodoform,  der  Bleivergiftung  u.  s.  w.  ein.  Symptoraato- 
logisch  vertheilen  sich  die  hierher  gehörigen  klinischen  Gruppen  unter 
sämmtlicbe  functionelle  Psychosen,  einzelne  unter  die  Cerebropathieen. 
In  Folge  dieser  weiten  Umgrenzung  ist  die  Zutheilung  der  reichhaltigen 
Gruppe  unter  die  eine  oder  die  andere  der  seitherigen  Classen  nicht  mög- 
lich ;  ich  möchte  dieselbe  deshalb  als  „Anhang"  zu  den  Psychosen  des  voll- 
entwickelten  invaliden  Gehirns  anftlgen. 

Unsere  Classification  ist  abschliessend  nunmehr  folgende: 
I.  Psychosen  auf  Grundlage  organo-psychlscher  Yollentwicklung. 

1.  Psychosen  des  „rüstigen"  Gehirns.  (Psychoneu- 
rosen  im  engern  Sinne): 

a)  Melancholie  I     ..,     ^       j..  „    ...  , 
, '       .   ,           ...  \  mit  den  Secundär-Zustauden. 

b)  Manie  (zum  Theil)  J 

2.  Psychosen  des  „invaliden"  Gehirns  (Cerebropsy- 
chosen): 

a)  Die  schwerern  Manieen:  Furor,  Mania  gravis; 

b)  der  Wahnsinn  in  seiner  acuten,  chronischen  und  attoni- 
schen  Form; 

c)  die  acute  primäre  Dementia;  mit  Anhang:  der  hallucina- 
torische  Stupor; 

d)  das  hysterische,  epileptische  nnd  hypochondrische  Irresein. 
Dazu  als  Anhang:  a)  die  periodischen  circulären  und  alter- 

nirenden  Psychosen ,  ß)  die  Seelenstörungen  im  Gefolge  extra- 
cerebraler körperlicher  Krankheiten  (febrile,  puerperale  etc.), 
sammt  den  Intoxicationen. 

3.  Die  perniciösen  Erschöpfungszustände  des  Ge- 
hirns: 

a)  Die  acute  Hirnerschöpfung  mit  dem  Charakter  der  Gefahr 
—  das  Delirium  acutum. 

b)  Die  chronische  Hirnerschöpfung  mit  dem  Charakter  der 
Destruction  (Degenerescenz)  —  die  classische  progressive  Pa- 
ralyse. 

4.  Die  psychischen  Cerebropathieen:  Die  Psychosen 
im  Gefolge  subacuter  und  chronischer  organischer  (diffuser  und 
localer)  Hirnkrankheiten  —  die  modificirten  progressiven  Pa- 
ralysen. 

Schttle,  Geisteskrankheiten.  3.  Aufl.  2 


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Eintheilung  der  SeelenstÖrangen. 


II.  Psychosen  auf  Grundlage  defecter  organo  -  psychischer  Anlage,  resp. 

Constitution. 

a)  Die  hereditäre  Neurose;  Anhang:  die  transitorischen  Psychosen. 

b)  das  einfache  hereditäre  Irresein  —  das  Irresein  aus  Zwangs- 
vorstellungen (Maladie  du  doute  et  du  toucher);  dazu  als  Anhang: 
der  Querulantenwabnsinn; 

c)  die  originäre  Verrücktheit; 

d)  das  degenerativ- erbliche  Irresein  —  die  Moral  Isanity; 

e)  der  Idiotismus. 

Es  erübrigt  nunmehr  die  wesentlichen  klinischen  Merkmale  der 
obigen  Hauptgruppen  hervorzuheben  —  zugleich  als  Uebergang  resp. 
Einleitung  zur  nachfolgenden  Detailschilderung. 

1.  Die  Psychosen  des  „rüstigen"  und  die  des  „invaliden"  Gehirns 
haben  als  gemeinsame  Charaktere: 

psychisch:  bestimmte  Symptomenverbindungen,  welche  einer- 
seits in  einer  Aenderung  der  früheren  normalen  Ich  Persönlichkeit  in 
der  ganzen  Breite  ihrer  psychischen  Sphäre  bestehen,  andererseits 
klinische  Zustandsformen  darstellen,  welch  letztere  (allgemein)  sich  an 
die  physiologischen  Typen  des  Aflects,  der  Traum-  und  Schlafvorgänge 
anlehnen  und  (speciell)  in  einem  gesetzmässigen  gegenseitigen  Ein-  und 
Zusammenwirken  der  krankhaft  abgeänderten  Seelenrichtungen  bestehen; 
es  sind  theils  primäre  Gemüthsstörungcn  (Melancholie,  Manie),  thcils  solche 
des  Vorstellungslebens  (Wahnsinn),  theils  Aeuderungen  der  Bewusstheit 
(Stupor).  Dieselben  wiederholen  sich  auf  verschiedenen  Cerebrations- 
stufen. 

somatisch:  sie  beruhen  —  soviel  wir  bis  jetzt  zu  erkennen  ver- 
mögen —  zum  grossen  Theile  (Melancholie,  Manie,  Stupor  und  acute 
TVahnsinnszustände)  auf  einer  vasomotorischen  Hirnneurose,  welche  einen 
gesetzmässigen,  cyklisch  zusammenhängenden  Verlauf  durch  verschie- 
dene psychische  Zustandsbilder  nimmt,  entweder  zur  Genesung,  oder  zu 
dauernder  psychischer  Schwäche.  Ausserdem  gehen  sehr  häufig  sensible 
(sensorielle)  Störungen  als  zugehörige  und  auch  psychisch  verwerthete 
Krankheitselemente  mit,  und  in  der  Regel  auch  trophische,  welch  letz- 
tere ebenfalls  mit  dem  Krankheitsverlaufe  gleichen  Schritt  halten.  Phy- 
siologisch-anatomisch ist  die  grundliegende  Affection  wahrscheinlich  in 
das  psychische  Central  -  Organ  der  Vorstellungs-  und  Willensthätigkeit 
(Rinde  des  Vorderhirns?)  zu  verlegen,  mit  theils  primärer,  theils  reflec- 
tirter  Entstehung  und  secundärer  Reizwirkung  auf  die  trophischen,  sen- 
soriellen und  sensibeln  Centren  („Gemüth").  Ich  bezeichne  sie  darnach 
insgesammt  als  „psychische  Hirnneurosen"  —  Psychoneurosen.  Dieselben 
gliedern  sich: 

a)  in  die  rüstigen  Psychoneurosen  mit  folgenden  klinischen  Cha- 
rakteren (hier  sind  die  bereits  oben  in  der  Gegenstellung  der  voll-  und 
defect  veranlagten  Psychosen  aufgestellten  Merkmale  beizuziehen):  Er- 
haltung der  psychischen  Mechanik  in  der  Wechselwirkung  und  Reaction 
der  einzelnen  Störungscomponenten  (nach  dem  Typus  des  depressiven 
Affectvorgangs  in  der  Melancholie,  des  heiteren  in  leichteren  manischen 


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Klinische  Charaktere  der  Ilauptgruppen. 


19 


Zuständen,  speciell  in  Erhaltung  der  logischen  Ideenassociation  und 
der  psychischen  Bewegungsform  in  der  typisch  -  manischen  Gruppe);  be- 
gleitende sensible  Anomalieen  (Neuralgieen)  tiberwiegend  häufig,  und  zwar 
in  einer  zur  cerebralen  Functionsstörung  ergänzend,  d.  h.  wesentlich  zu- 
gehörigen pathogenetischen  Function.  Ausgesprochen  depressives  Vor- 
stadium. Subacuter  oder  chronischer  Verlauf.  Genesung  ist  Regel.  Ge- 
ringe Neigung  zu  Recidiven,  nicht  erheblich  grösser  als  bei  sonstigen 
internen  Erkrankungen.  „Psychische"  Aetiologie  (GemUthserschütterun- 
gen)  vorherrschend  —  Psychoneurosen  im  engern  Sinne. 

b)  in  die  invaliden  Psychosen  mit  den  klinischen  Charakteren: 
theilweise  Erhaltung  der  psychischen  Mechanik;  aber  entweder  (im 
Vergleich  zur  vorigen  Gruppe)  auf  tieferer  Cerebrationsstufe  (tiefere  Forra- 
qualität  der  Bewegungen,  äusserliche  Associationen  in  der  Ideenflucht,  con- 
vulsive  Stimraungsreaction;  so  in  den  hieher  gehörigen  Manieen),  oder  im 
Schlepptau  eines  primären  Vorstellungs-  resp.  Sinnenwahns  (Schonung  der 
formalen  Logik  neben  und  auf  Grundlage  einer  herrschenden  Illusion; 
Gemüthsstimmung  zwar  in  adäquater  Weise  nach  dem  Wahninhalt  be- 
messen, d.  h.  formal  richtig,  aber  inhaltlich  durch  das  Wahn-Pseudos 
bestimmt;  so  im  chronischen  Wahnsinn).  In  einer  grossen  Gruppe  (acuter 
Wahnsinn,  Stupor)  mehr  minder  vollständige  Ausschaltung  der  Bewusst- 
heit  theils  ohne,  theils  mit  schrankenlosem  Spiel  anomaler  Sinnesreize 
fhallucin.  Wahnsinn).  In  einer  Untergruppe  der  letzteren  gesellt  sich 
noch  eine  motorische  Spannungsneurose  hinzu,  welche  bald  nur  als  selb- 
ständige Complication  (als  Symptom  des  Tiefergreifens  der  functionellen 
Hirnrindenaffection)  den  Verlauf  begleitet,  bald  aber  auch  in  psychische 
Function  mit  den  inneren  Wahnvorgängen  tritt  und  als  solche  mit  dem 
Decursus  der  Psychoneurose,  psychisch  und  organisch  ihr  zugehörend,  glei- 
chen Schritt  hält.  Ein  depressives  Einleitungsstadium  ist,  wenn  vorhan- 
den, in  der  Regel  nur  rudimentär  entwickelt;  oft  fehlt  es  ganz.  —  Die 
„invalide"  psychische  Zustandsform  kann  manchmal  erst  aus  einer  „rü- 
stigen" sich  herausbilden,  in  anderen  Fällen  aber  auch  direct  und  pri- 
mär einsetzen  (Manieen  auf  conBtitutioneller  Grundlage,  Stupor).  Endver- 
lauf unentschieden  und  wechselnd.  Gefahr  der  Recidive  gross.  Viele 
Zustände  treten  sofort  periodisch  oder  circulär  auf.  Grosse  Beeinflussung 
des  Verlaufs  durch  accidentelle  somatische  Momente.  Häufig  direct  or- 
ganische Entstehung  (Anämie  u.  s.  w.)  ohne  psychisch-sensibles  Zwischen- 
glied (d.  h.  ohne  einleitenden  Seelenschmerz»  —  Cerebropsychosen. 

2.  Die  perniciösen  Erschöpfungszustände  des  Gehirns  sind 
in  ihren  wesentlichen  klinischen  Charakteren  bereits  oben  gezeichnet. 

3.  Die  psychischen  Cerebropath  ieen  sind  charakterisirt  durch 
ihre  Verbindung  mit  einem  organischen  und  zwar  primären  Hirn-  (Rücken- 
marks-) Leiden,  dessen  klinische  Theilerscheinung  sie  bilden.  Deshalb 
Combination  des  psychopathischen  Symptomencomplexes  mit  sensibeln, 
motorischen  und  sensoriellen  Krankheitszeichen  aus  der  grundliegenden 
organischen  Hirnaffection.  Symptomenordnung  und  Gesammtverlauf  durch 
letztere  bestimmt;  an  Stelle  der  psychischen  Mechanik  (in  der  Verknüpfung 
der  einzelnen  Zustandsphasen)  ist  die  „Logik"  des  Hirnprocesses  getreten. 

II.  Die  Psychosen  des  defect  veranlagten  Gehirns  (resp.  des 
degenerativen  Gehirnlebens)  sind  oben  in  ihren  wesentlichen  Zügen  ge- 

2* 


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Eintheilung  der  Seelenstörangen. 


zeichnet  worden.  Darnach  resumiren  sich  die  klinischen  Charaktere: 
Neuropathische  Anlage  oder  ausgesprochene  hereditäre  Neurose;  charak- 
terologische  Eigentümlichkeiten  mit  Tics  und  Excentricitäten ;  grosse 
Neigung  zu  Zwangsgedanken,  zu  phantastischer  Träumerei  mit  jugend- 
lichem Grössen  walin ;  „Paralogik",  d.  h.  eigenartige  Vorstellungscombi- 
nationen,  bornirter  Scharfsinn ;  frühzeitiges  „Triebe"-  Leben ,  namentlich 
oft  in  pervers  sexualer  Richtung;  periodische  (unmotivirte)  Schwankungen 
in  Stimmung  und  Leistung.  Sehr  häufig  ethischer  Defect  gegenüber 
einer  leidlich  geschonten,  oft  sogar  einseitig  starken  intellectuellen  Ent- 
wicklung; oft  aber  auch  ethischer  und  intellectueller  Schwachsinn  von 
Jugend  an.  Grosse  Beeinflussung  des  psychischen  Lebens  durch  körper- 
liche Einflüsse,  zumal  durch  die  Evolutions-  und  Involutionsperioden.  Die 
psychischen  Störungsformen  auf  dieser  Grundlage  können:  1.  in  den  ge- 
wöhnlichen Habitualformen  verlaufen,  jedoch  mit  auszeichnenden  klini- 
schen Charakteren  (kein  gesetzmässiger  klinischer  Verlauf,  Polymorphie 
der  sich  ablösenden  Zustandsformen,  brüsker  Eintritt  und  jäher  Abfall, 
8.  später);  oder  2.  in  mehr  stationärer  Form  die  langsame  Steigerung, 
resp.  Weiterentwicklung  der  ursprünglichen,  krankhaft  defecten  Anlage 
bilden  (originäre  Verrücktheit,  viele  Fälle  von  Moral  Insanity) ;  oder  end- 
lich 3.  „degenerativ"  sich  gestalten,  indem  voran  der  sittliche  Zerfall 
fortschreitet  und  auf  dieser  Grundlage  das  Gemüths-  und  Vorstellungs- 
leben in  Form  einer  eigenartigen  chronischen  Manie  sich  zerstört,  oder 
aber  in  periodischem  oder  circulärem  Typus  seinen  Niedergang  nimmt  — 
sehr  oft  mit  dem  auszeichnenden  Charakter  der  Folie  raisonnante.  Zeit- 
weilige Remissionen  führen  nur  zum  Status  quo  der  originären  Anlage 
zurück;  wirkliche  Heilungen  sind  ausgeschlossen.  —  Der  Idiotismus 
bildet  die  abschliessende  Gruppe  dieser  individuell  eigenartigen  psychi- 
schen Existenzen. 

In  der  nachfolgenden  Darstellung  ist,  der  klinischen  Uebersicht- 
licbkeit  wegen,  welche  übrigens  auch  in  der  Natur  der  „fliessenden 
Uebergänge"  der  betr.  Psychosengruppe  begründet  ist,  die  Schil- 
derung der  schweren  (invaliden)  Manieen  gleichzeitig  mit  der  der 
rüstigen  (mitis  und  typica)  abgehandelt;  ebenso  die  Melancholia  at- 
tonita  mit  der  Übrigen  melancholischen  Gruppe.  Die  Intoxications- 
psychosen  (mit  Ausnahme  des  Alcoholismus)  sind  tibergangen,  ebenso 
die  einschlägigen  andern  ätiologischen  Gruppen  der  puerperalen, 
traumatischen,  febrilen  etc.  Geistesstörungen,  weil  diese  sämmtlich 
der  Ursachenlehre  zugehören  (s.  d.  Hdb.  II.  Aufl.,  Bd.  I,  189  ff.)  und 
in  ihrer  klinischen  Schilderung  zu  viele  Wiederholungen  veranlasst 
hätten. 


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Die  Melancholie.   Allgemeines.  21 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 

Literatur«  v.  Kraf ft-Ebing,  Monographie  1874.  —  Pohl,  Monographie 
ls52.  —  Jessen,  Berl.  Encyklop.  —  Meynert,  Ocstcrr.  Zeitschr.  für  prakt.  Heil- 
kunde 1871  und  Psych.  Centralbl.  1873  u.  1874  ;  ferner  Wiener  med.  Blätter  1881.  — 
Snell,  allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  2*5.  —  Frese,  Ibid.  28.  —  Richarz,  Ibid.  15. 

—  Bill  od.  An.  m£d.  psych.  1^56.  —  Fair  et,  Discuss.  sur  la  folie  raisou.  ibid.  — 
Schüle,  Dyspbrenia  neuralgica  1867.  —  Kraussold,  Melancholie  u.  Schuld  1SS4. 

Neuere  Specialarbeiten:  Mabille,  Au.  med.  psych.  ISSo  «Puls,  Temp., 
körperl.  Symptome).  —  Tigges  (körperliche,  namentlich  sensible  Begleiterschei- 
nungen), Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  39.  —  Kracauer,  Inaug.-Diss.  (climacter.  Mel.). 

—  Colard,  Au.  m£d.  psych.  1*>S0 (schwere  hypochondrische  Form);  Arch.de  neur. 
1882  Idelire  des  nögatious).  —  Ast,  Die  primären  Formen  der  Seelenstörungen. 
Med.  Corresp.-Bl.  ISSI. 

Zur  Melancholia  attonita:  Baillarger,  An.  raöd.  psych.  1S43  u.  1^53. 

—  Delasiauve,  Ibid.  1853.  —  Aubanel,  Ibid.  1^53.  —  Berthier,  Ibid.  1869. 

—  Dagonet,  Ibid.  lsfil).  —  Cullerre,  Ibid.  1S73.  —  Le  Grand  du  Saulle, 
Gaz.  d.  hOp.  ISti«».  —  Maudsley,  Lancet  1M>6.  —  Newington,  Journ.  of.  ment. 
sc.  1874.  —  Frigerio,  Arch.  ital.  1S74. 

Ueber  Mimik  und  Phys  iognomik:  Oppenheim,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych. 
40  (bezieht  sich  auch  auf  die  folg.  Kapitel).  —  Ueber  Patholog.  Anatomisches: 
Meynert,  Vierteljabrschr.  f.  Psych.  I.  —  Derselbe,  Psych.  Centralbl.  1871.  — 
Spitzka,  The  somatic  etiology  of  ins.  Monogr.  1882  (auch  für  die  folgenden  Ab- 
schnitte). 

Literatur  über  die  wichtigsten  psy  chiatrischen  Heilmittel.  Opium 
und  Opiate:  Chiarugi  1795  (deutsche  Uebersetzung,  S.  177,  mit  Literatur).  — 
Engelken,  Naturforscherversammlung  in  Kiel  1  S4*i,  in  Aachen  1S57;  Allg.  Zeit- 
schrift f.  Psych.  5.  —  L.  Meyer,  Ibid.  I (3.  —  Tigges,  Ibid.  21.  -  Nasse,  Ibid. 
32.  —  Le  Grand  du  Saulle.  An.  med.  psych.  ISj'j.  —  Erlenmeyer,  Arch.  d. 
deutsch.  Gesellsch.  III.  —  Morphium:  WitkowBki,  Ueber  die  Morphiumwirkung 
ipbysiolog.  mit  Literatur  1877).  —  Morphium-Injeetionen:  Rcissner,  Allg. 
Zeitschr.  f.  Psych.  24  (Narcein).  —  Hergt,  Ibid.  33.  —  Keimer,  Ibid  30.  — 
Schüle,  Dysphr.  neur.  18Ü7.  —  Wolff,  Arch.  f.  Psych.  2.  —  Knecht,  Ibid.  3. 

—  Gschciden,  Würzb.  phys.  Unters.  3.  —  Salomon,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  31. 

—  Mendel,  Berl.  kirn.  Wochenschr.  1 872.  —  Voisin,  Bull.  gen.  therap.  187 1  u. 
1876.  —  Morphinismus:  Laehr,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  3(».  —  Levinstein, 
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Berl.  klin.  Wochenschr.  1883.  —  Derselbe.  Volk.  klin.  Vortr.  237.  —  Erlen- 
meyer, Monogr.  Leipzig.  —  Obersteiner,  Wien.  Klinik  18b3.  —  Frz.  Müller, 
Wien.  med.  Pr.  10  (l8Su).  —  Leppmanu,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  39.  —  Lan- 
dowsky, Prgr.m£d.  1882.  —  Zambaco,  l'Enceph.  18^2.  —  Papaverln:  Leides- 
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Gnauck,  Char.  An.  VII.  —  Bromkali:  Drouet,  An.  m£d.  psych.  1873.  —  Stark, 
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31.  -  Boettcher,  Ibid.  35.  —  Voisin,  Traite  de  la  paralysie,  p.  298.  — 
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Richerche  sper.  Torinol883.  —  Langre  uter,  Arch.  f.  Psych.  15.  —  Peretti,  Berl. 
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22  Die  Melancholie.  Allgemeine«. 

Chlorid:  Fischer,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  27.  —  Scbroeter,  Ibid.  —  Schule, 
Ibid.  28  (Chloral-Rash).  —  Hansen,  Arch.  f.  Psych.  2.  —  Arndt,  Ibid. 3.  — 
Filrstner.  Ibid.  6.  —  Stark,  Württemb.  Corresp.-Bl.  1871.  —  Jolly,  Aerztl. 
Intell.-Bl.  1872  (rascher  Tod).  —  Pelman,  Irrenfreund  1871  (Purpura).  —  Gell- 
horn, Allff.  Zeitschr.  f.  Psych.  1872  (Exantheme).  —  Reimer,  Ibid.  1871  (Decu- 
bitus). —  Ergotin:  Yeats,  med. Times  and  Gaz.  1872.  —  Kitchen,  Am.  Journ. 
of  Ins.  1873.  —  Mann,  New- York,  med.  Rep.  1875.  — Van  Andel,  Allg.  Zeitschr. 
f.  Psych.  32.  —  Luys,  L'Enc6ph.  1882.  —  Eleetrf citftt :  Arndt,  Arch.  f.  Psych. 
2  und  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  28.  —  Tigges,  Ibid.  30.  —  Hughes,  Alienist  1883. 

—  JJnhrunffsTerweig-eruug:  Richarz  und  Oebecke,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych. 
1870.  —  Eickholt,  Ibid.  37.  —  Disc.  sur  l'aliment.  forcee,  An.  med.  psych.  1874. 

—  Lailler,  Ibid.  18*2.  —  Williams,  Jonrn.  ofment  sc.  1864.  —  Mickle.Ibid. 
1884  (p.  rect.).  —  Stiff,  Lancet  III.  (per  nasum).  —  Siemens,  Arch.  f.  Psych. 
15  (gegen  Zwangsfütterung).  —  Hjertströni,  Schm.  Jabrb.  191.  —  Speciell 
über  Schlaflosigkeit:  Eickholt,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1883.  —  Jewell, 
Journ.  of  nerv.  a.  ment.  dis.  1880.  —  Ueber  Bcttlasre:  Flersheim,  Inaug.-Diss. 
(sub  ausp.  L.  Meyer).  —  Behandlung  der  Unreinliehkeit:  Schüle,  Allg. 
Zeitschr.  f.  Psych.  37.  —  Ueber  HlrnwUgungen :  Crichton -Browne,  Brain 
1879.  —  Meynert,  I.e.  —  Specifische  tiewichtsbestlinroiingeii:  Morselli, 
Riv.sper.  1882.  —  SchUdelcapaeität:  Amadei,  Ibid.  18S3. 

Charakteristisch  ist:  1.  eine  krankhafte  Affection  des  Gemüths 
in  der  Richtung  einer  schmerzlichen  Verstimmung  in  allen  Graden 
von  der  höchsten  Verzweiflung  bis  zur  stillen  Resignation;  2.  eine 
damit  schritthaltendc  Gebundenheit  des  Vorstellungslebens,  theüs 
durch  Uebermacht  einer  einzigen,  vom  Schmerz -Affect  getragenen 
Gedankengruppe,  theils  durch  eine  allgemeine  Hemmung  des  Denk- 
processes  in  Folge  schmerzlicher  Hyperästhesie  der  den  Denkact, 
als  solchen,  begleitenden  innern  Organgeftihle;  3.  eine  Erschwerung 
oder  Bindung  der  Willensäusserungen,  primärer  oder  secundärer  Ent- 
stehung, letzteres  dann,  wenn  die  psychische  Hyperästhesie  die  sie 
befreienden  Reflexe  nicht  findet,  oder  trotz  der  erzwungenen  Ent- 
äusserungen  nicht  entlastet  wird,  so  dass  Muth  und  Initiative  er- 
matten. Stets  gehen  mit  diesem  psychischen  Zeichenverband  vaso- 
motorische und  trophische,  und  namentlich  sensible  Störungen  mit 
einher,  letztere  sehr  häufig  in  Form  von  Neuralgieen.  Auch  sen- 
sorische Affectionen,  Hallucinationen  und  Illusionen  können  mitbe- 
gleiten, bleiben  aber  im  Verhältniss  zur  Stärke  des  krankhaften  de- 
pressiven Affects,  dessen  Färbung  sie  tragen.  Eine  Verminderung 
des  Körpergewichts  ist  Regel.  Die  Krankheit  kann  acut,  subacut 
und  chronisch  verlaufen,  kann  einmal  oder  in  Recidiven,  remittirend 
und  auch  in  periodischer  Wiederkehr  auftreten.  Bei  nicht  geheilten 
Fällen  lolgt  ein  geistiger  Schwächezustand  (Blödsinn  oder  secundärer 
hallucinatorischer  Wahnsinn). 

Die  Melancholie  kann  alle  Altersstufen  befallen,  jeweils  mit  aus- 
zeichnenden klinischen  Modificationen  (Senium).  Auch  gewisse  ätiolo- 
gische Momente  (Masturbation  u.  s.  w.)  führen  bestimmte  Nuancirungen 
ein  (8.  u.). 


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Melancholie.   Analyse  der  Symptome.   Gestörtes  Fahlen. 


23 


Analyse  der  Symptome. 

a)  Anomulieen  in  der  Sphäre  des  Fühlens  und  des  Wollens  (der 
Triebe). 

Schmerzliche  Verstimmung  ist  erstes  und  Haupt- 
symptom. Der  Kranke  befindet  sich  in  einem  unendlichen  Weh. 
Er  fühlt  sich  in  seinem  Vorstellen  und  Wollen  gehemmt,  gebannt; 
er  kennt  lange  die  Ursache  nicht,  und  kann  sein  peinliches  Gefühl 
nicht  los  werden.  Die  schmerzliche  Verstimmung  ist  eine  allgemeine, 
immotivirte,  unveräusserliche.  Es  ist  die  unmittelbar  zur  Wahrneh- 
mung gedrungene  Hirnkrankheit  selbst,  welche  in  diesen  schmerz- 
lichen Verstimmungen  bewusst  wird.  Oft  bleibt  diese  als  solche 
auch  ohne  weitern  Inhalt.  Gewöhnlich  aber  heftet  sich  irgend  eine 
„Erklärung"  an,  das  dunkle  Gefühl  verknüpft  sich  mit  einer  Vor- 
stellung, einer  „zureichenden"  peinlichen  Erinnerung  aus  dem  Vor- 
leben, einem  gerade  eintreffenden  Ereigni63  (Gemüthsaffect).  Der 
Kranke  weiss  jetzt,  „was  er  weint".  Aber  diese  unter  dem  Zwang 
des  Causalitätsbedlirfnisses  vollzogene  Verbindung  ist  oft  nur  eine 
zufällige,  eine  durch  die  momentane  Bewusstseinslage  geschaffene 
Verbindung,  und  so  nur  eine  mögliche  Erscheinungsform,  welche  be- 
liebig wieder  wechseln  kann.  Subjectiv  kommt  es  auf  den  Inhalt 
dieser  hinzugedachten  Vorstellungen  gar  nicht  an;  dieser  kann  lo- 
gisch begründet,  oder  fictiv  berechtigt,  oder  geträumt  sein :  der  Me- 
lancholiker ist  im  letzten  Grunde  nicht  deswegen  unglücklich,  weil 
er  glaubt  Sünden  begangen,  Gott  beleidigt,  seine  Habe  verloren  zu 
haben  —  und  wenn  er  sich  dies  auch  einredet  —  sondern  vielmehr 
uud  einzig,  weil  er  fühlt,  dass  er  in  sich  anders  geworden,  dass  er 
nicht  mehr  kann,  wie  er  will,  uud  sich  nicht  mehr  zu  befreien  ver- 
mag. Manchmal  freilich  bereiten  auch  wirkliche  Erlebnisse  dieses 
geistige  Hemmungsgefühl ,  welches  so  schmerzlich  empfunden  wird, 
thatsächlich  vor;  aber  auch  dann  ist  es  nicht  der  Werth  des  Ereig- 
nisses selbst,  welches  krank  macht,  sondern  nur  der  Zwang,  mit 
welchem  es  wirkt,  d.  h.  Denken  und  Wollen  beschwert.  Für  das 
künftige  Schicksal  eines  Krankheitsverlaufs  ist  es  allerdings  nicht 
gleichgiltig,  ob  eine  melancholische  Vorstellung  auch  gegründet,  und 
namentlich  ob  das  „Schuld"bewusstsein  wirklich  auch  ein  reales  ist. 

Die  depressive  Verstimmung  selbst  zeigt  im  Einzelnen  eine 
reiche  Stufenleiter  der  Stärke  und  der  Form  ihres  Auftretens.  So 
entsteht  eine  Reihe  von  melancholischen  Typen. 

Klagen  und  Weinen  bis  zum  stumpfen  Heulen,  mitunter  mit  Schimpfen 
und  blasphemischen  Verwünschungen  sind  der  phonetische;  angst-  und 
schmerzgepres8te  Züge  mit  charakteristischer  Furchung  des  Gesichts  und 
der  Stirne  idas  sog.  „melancholische  Omega")  der  miraische;  Handeringen 


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24 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 


und  ruheloses  Hin-  und  Herrennen  (wie  ein  Pendel)  mit  Ausraufen  des 
Haares,  Sich-Zerkratzen  und  Zähneklappern,  plötzlichem  Zusammenschau* 
dern,  schnappenden  Mundbewegungen,  Schnalzen  der  Zunge,  automati- 
schem Reiben  am  Körper,  Drehen  der  Finger  u.  s.  w.  der  reflectorische 
Ausdruck  des  Depressionsaffects.  Oft  erfolgen  diese  Bewegungen  stoss- 
weise  und  rhythmisch,  lassen  sich  durch  den  besten  Willen  nicht  mas- 
sigen, am  ehesten  sich  durch  Sitzen  einigermaassen  beschwichtigen  (Me- 
lancholia  activa,  errabunda).  —  Andereinale  ist  es  gegentheils  ein  ruhiges 
Dasitzen  mit  angepressten  Gliedraaassen,  starren  Augen,  unbeweglich  ge- 
senktem Kopfe,  ein  stummes  Abweisen,  oder  auch  ein  plötzlich  gereizter 
Protest  gegen  jede  Ansprache  oder  Aufmunterung;  manchmal  auch  ein 
unterbrochenes  oder  andauerndes  Seufzen  —  was  von  dem  schmerzlichen 
Gemtithsbann  äussere  Kunde  gibt  (Melancholia  stupida,  passiva).  —  Oft 
macht  sich  der  quälende  Innenaffect  durch  ein  triebartiges  (scheinbar 
zweckmässiges)  Gebahren,  durch  eine  rastlose  Beschäftigung  ohne  Ziel 
und  Befriedigung  geltend;  in  anderen  Fällen  oder  Stadien  durch  eine 
Tage-  und  Wochen- lange  Regungslosigkeit,  welche  erst  durch  Anruf  sich 
vorübergehend  (zur  mechanischen  Betheiligung  am  Essen,  zur  gebotenen 
Besorgung  körperlicher  Bedürfnisse)  unterbrechen  lässt.  Dieser  Wechsel 
zwischen  Unruhe  und  schmerzgebannter  Passivität  dauert  oft  auch  wäh- 
rend der  Nacht  fort.  Wochenlang  meiden  die  Kranken  das  Bett,  irren 
im  Zimmer  umher,  gestikuliren,  zerschlagen  sich;  oder  gegentheils,  sie 
sitzen  in  derselben  angstgepressten  Attitüde  wachend  oder  weinend  oder 
stumpf  vor  sich  hinbrllteud  da  und  gönnen  sich  nicht  einmal  die  Hori- 
zontallage. Jede  directe  oder  tröstende  Ansprache  entlockt  ein  schmerz- 
liches, oft  krankhaftes  Schluchzen ;  sie  wollen  keinen  Trost  oder  können 
denselben  nur  mit  doppelt  gesteigertem  Schmerzausdruck  erwidern.  Viele 
derselben  kennen  lange  Zeit  keine  Thränen;  wochenlang  verharren  sie 
in  ihrer  Schmerzgebundenheit;  sowie  die  ersten  Thränen  wieder  anrücken, 
fühlen  sie  sich  dankbar  erleichtert. 

Eine  andere  Gruppe  von  Kranken  bietet  ein  davon  ganz  verschie- 
denes physiognomisches  Bild.  Wiewohl  von  derselben  depressiven  Af- 
fectstiromung  gebeugt,  ja  manchmal  schon  über  der  Grenze  der  Ver- 
zweiflung —  dort,  wo  nur  der  freiwillige  Tod  als  der  ersehnte  Arzt 
erkannt  wird  —  bieten  sie  gleichwohl  äusserlich  noch  den  Eindruck 
vollständiger  Componirtheit.  Aufgeräumt  in  ihrem  Benehmen,  vernünftig 
in  ihren  Handlungen,  sofern  diese  nicht  durch  den  Zug  der  Schwermuth 
gehemmt  werden,  vertrauensvoll,  gutmüthig  und  freundlich  in  ihrem  Be- 
gegnen, geordnet  in  den  Gedanken  und  der  Redeform,  möchte  man  kaum 
auf  die  feindselige  Stimmung  (welche  bereits  das  „Arsenal  des  Todes" 
in  Gedanken  ausmustert),  ja  manchmal  kaum  auf  ein  tieferes  Kranksein 
schliessen,  wenn  nicht  die  unheimliche  Stille,  die  mangelnde  Energie,  die 
Schlaffheit  und  Müdigkeit  des  Wesens,  der  düstere,  überaus  schmerzvolle 
Blick,  die  leise  zögernde  Sprache  wenigstens  zur  Vorsicht  mahnten.  Hier 
geschieht  oft  mitten  aus  dem  anscheinend  besten  Verhalten  des  Kranken, 
mitten  aus  der  mühsam  erheuchelten  Ruhe  heraus  die,  sorgsam  dissimu- 
lirte,  tragische  Wendung. 

Koch  gibt  es  eine  fernere  und  nicht  kleine  Zahl  von  Melancholikern, 
welche  weder  den  lebhaft  nach  aussen  bethätigten,  noch  den  in  sich  ver- 


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Melancholie.   Klinische  Typen. 


25 


srabenen  stillen  Affect  zeigt;  dafilr  aber  klingt  das  krankhafte  Web  in 
einer  Resignation  wieder,  welche,  ohne  apathisch  zu  sein,  abgeschlossen 
bat  mit  der  Hoffnung  und  auch  mit  jedem  Anspruch  aufs  Leben.  Sie 
sind  und  bleiben  die  Verlorenen  —  meist  mit  hypochondrischer  Richtung : 
sie  sehen  sich  abmagern,  folgern  daraus  auf  Schwindsucht  und  rechnen 
anf  dieser  für  sie  felsenfesten  Diagnose  mit  ihrer  Zukunft  ab.  Oder  sie 
erkennen,  dass  ihr  Leben  und  Streben  umsonst  gewesen,  und  beruhigen 
ihre  Selbstvorwürfe  in  einer  pessimistischen  Vor-  und  Rückschau,  in 
welcher  namentlich  alle  ihnen  erwiesene  Fürsorge  verkehrt  und  nutzlos 
erscheint.  Unbarmherzig  gegen  sich,  sind  sie  es  nicht  minder  gegen  ihre 
Angehörigen;  keine  Thräne,  keine  Bitte  dieser  rührt  sie.  Sie  bleiben 
that-  und  entschlusslos  und  verbringen  oft  wochenlang  im  Bett,  indem 
sie  höchstens  ihre  Vorwürfe  und  ihre  Resignationsphilosophie  sich  und 
Andern  vorerzählen  und  zum  Disput  reizen,  welcher  ihr  einziger  Ge- 
iiuss  und  momentane  Befriedigung  ist.  Hemmung  durch  das  Gefühl 
der  Insuffizienz  —  nicht  der  primäre  Afiectschmerz  —  ist  die  Grund- 
lage dieses,  namentlich  gern  periodisch  wiederkehrenden,  Gemütszustan- 
des. Aber  auch  hier  bildet  die  äussere  „Ruhe"  sehr  oft  nur  die  täu- 
schende Maske  Uber  einen,  wenn  auch  torpiden,  doch  leicht  entzündbaren 
wirklichen  Seelenschmerz,  wie  sich  dieser  denn  auch  nicht  selten  in  einer 
gewaltsamen  Reflexhandlung  convulsiv  entladet,  oder  anderemale  langsamer 
sich  zu  activeren  Phasen  mit  dem  Wahne  der  Sündhaftigkeit  oder  des 
„Verlassenseins  von  oben"  heraufarbeitet  (Melancholia  torpida). 

Eine  letzte  Erscheinungsform  endlich,  in  welcher  der  psychische 
Schmerz  klinisch  auftritt,  zeigt  physiognomisch  die  Kehrseite  der  oben 
zuerst  besprochenen.  War  dort  Alles  nur  gefühltes  Wehe,  jede  An- 
sprache, jeder  Trost  von  aussen  ebenso  schmerz- empfindlich  als  jede 
eigene,  kleinste  Initiative  von  innen  —  so  ist  hier  dagegen  völlige  Ge- 
fühllosigkeit. Die  Kranken  fühlen  sich  wie  todt,  ihr  Herz  todt,  ihr  Kopf 
wie  einen  Stein,  ihr  Inneres  vollkommen  leer  „wie  ein  ausgeblasenes  Thier". 
6ie  wissen  nicht  mehr,  dass  sie  auf  der  Welt  sind,  fühlen  auch  nichts 
mehr,  nicht  einmal  schmerzhafte  Verletzungen  oder  Berührungen  des  Kör- 
pers. Sie  können  das  Grässlichste  sehen;  nichts  rührt  sie  mehr,  auch 
keine  Liebe,  aber  ebenso  auch  das  Gegentheil  nicht;  sie  freuen  und  är- 
gern sich  nicht  mehr;  sie  sehen  Alles  anders  mit  ihren  Augen,  „welche 
wie  gebrochen  vorkommen";  aber  sie  sehen  doch  deutlich.  Von  ihrer 
Umgebung  wissen  sie  nur  noch  „in  Gedanken,  nicht  im  Gefühl".  Ihr 
Schlaf  ist  Ohnmacht,  ihre  Träume  sind  „schwebend";  auch  die  Gegen- 
stände in  der  Umgebung  „schweben"  (und  zwar  ohne  Schwindelgefühlj. 
Wenn  sie  weinen,  sehen  sie  bloss  ihre  Thränen,  empfinden  aber  keinen 
Schmerz.  Dieser  Zustand  kann  nicht  selten  über  den  ganzen  Paroxys- 
mus  andauern ;  anderemale  schlägt  er  im  Verlaufe  iu  die  entgegengesetzte 
Phase  um  mit  schmerzlichem  Gedankendrange  und  Jammern ,  dass  Alles 
verloren,  der  Kranke  in  der  Gewalt  des  Bösen  sei.  Es  ist  eine  wirk- 
liche Anaesthesia  psychica  dolorosa,  welche  untergeht  in  dem  Gefühl  wirk- 
licher Leere  und  Oede  im  Gemüth,  und  dieses  Gefühl  ist  tiefschmerzlich, 
auch  wenn  es  der  Kranke  nicht  gesteht,  oder  zu  gehemmt  ist  um  es 
äussern  zu  können.  Manche  geben  auch  zu,  dass  ihnen  noch  ein  kleiner 
Rest  von  Gefühl  geblieben  sei  „in  der  Herzgrube";  dort  spüren  sie  es, 


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2G 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 


„wenn  ein  plötzliches  Geräusch  ihnen  durch  die  Ohren  bis  auf  die  ge- 
nannte Brustgegend  fahrt". 

Auf  diesem  Boden  krankhafter  Affectstimmung  aller  Grade  und 
Formen  entwickelt  sich  nun  bei  weitaus  den  meisten  Melancholischen 
ein  psychisches  Symptom,  welches  seiner  Wichtigkeit  wegen  eine 
besondere  —  und  nie  genug  grosse  —  Auszeichnung  verdient:  die 
Angst.  Unendlich  reich  ist  deren  klinische  Erscheinungsform:  sie 
bewegt  sich  von  dem  offenen  Ausdruck  verzweifelten  Zitterns  und 
Bebens  mit  verzerrten  Zügen  und  blindem  Reflexdrang  in  langer 
Scala  nach  abwärts  bis  unter  die  mimische  Maske  einer  tauschenden 
Harmlosigkeit,  ja  selbst  einer  absichtlich  coquettirenden  Spielerei, 
bei  welcher  das  erzwungene  Lächeln  den  schrecklichen  innern  Ernst 
verdeckt.  Keinem  Melancholiker  trauen!  ist  nicht  umsonst  der  Kanon 
aller  Erfahrungen  und  der  Leitstern  jedes  zielbewussten  ärztlichen 
Handelns!  Die  Angst  kann  anfallsweise  kommen  in  Form  von  blin- 
den Raptus,  oder  aber  langsam  unter  zunehmender  Unruhe  und  Be- 
klemmung sich  steigern;  sie  kann  Tage  und  Wochen  das  kranke 
Gemüth  foltern,  oder  nur  wie  ein  Blitzstrahl  einfallen,  und  nachher 
wieder  einer  gefasstern  Stimmung  weichen;  manchmal  tritt  sie  ty- 
pisch zu  denselben  Tageszeiten  und  Stunden  auf. 

Mit  der  Angst  in  nächstem  Zusammenhang  stehen  deren  motorische 
Entäusserungen,  die  Angsthandlungen,  welche  einen  grossen  Theil  des 
Gebahrens  der  Melancholiker,  ja  oft  das  ganze  äussere  Krankheitsbild 
ausmachen.  Sie  sind  sämmtlich  gekennzeichnet  durch  das  Triebartige 
ihrer  Entstehung,  das  oft  Plötzliche,  Stürmische  ihrer  Ausführung,  durch 
das  rücksichtslos  Gewalttätige  in  ihrem  Forraencharakter.  Es  sind  ihrem 
Wesen  nach  Reflexacte.  Dabei  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  sehr  häufig 
auch  ein  bewusstes  Motiv  (Vorstellung)  mit  unterläuft,  welches  die  Ziel- 
bewegung der  Handlung  bestimmt  und  leitet.  Aber  dieser  Umweg  wird 
nicht  immer  beschritten;  recht  oft  bleibt  das  Angstgefühl  das  alleinige 
und  directe  Motiv  für  das  Handeln,  und  der  Angstgedanke  schiebt  sich 
erst  während  des  Ablaufs  der  Handlung  ein,  als  ein  Parergon  des  Re- 
flexaetes,  als  begleitendes,  nicht  aber  eingreifendes  und  bestimmendes 
Element.  Die  motorischen  Entäusserungen  der  Angst  können  harmlosen, 
aber  auch  sehr  gefährlichen  Charakters  sein.  Zu  den  ersteren  sind  die 
monotonen  zweck-  und  planlosen  Bewegungen  mit  den  Extremitäten  zu 
zählen,  das  Hin-  und  Herrennen,  das  Zupfen  mit  den  Händen  an  den 
Kleidern,  das  Zerreissen  oder  auch  das  Aufkratzen  der  Hände,  das  Ab- 
beissen  der  Fingernägel  bis  zum  Bluten,  das  Ausraufen  der  Haare.  Von 
den  lautlichen  Reflexen  gehören  hierher  die  in  allen  Tonarten  bis  zum 
unarticuliiten  Heulen  sich  bewegenden  Schreilaute,  nicht  minder  aber 
auch  jene  furchtbar  blasphemischen  und  obseönen  Schimpfworte,  welche 
sich  oft  in  das  angstgepresste  Schreien  oder  Stammeln  der  Kranken  ein- 
zwängen, und  in  ruhigen  Stunden  vom  Kranken  selbst  bedauert,  ja  zum 


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Melancholie.   Angst.  Angsthandhingen. 


27 


Gegenstand  vieler  Selbstvorwürfe  gemacht  werden.  Zu  den  gefährlichen 
Reflexen  zählen  die  Fluchtversuche,  und  namentlich  die  Gewalttätig- 
keiten gegen  Andere  und  gegen  sich  selbst:  der  Mord  und  Selbstmord. 
Auch  die  letztern  werden  nur  unternommen,  um  sich  der  schrecklichen 
Verstimmungsqualen  zu  entledigen;  sie  vollziehen  sich  bald  klarbewusst, 
bald  triebartig,  unbewusst.  Der  Kranke,  im  Uebermaass  seiner  Angst, 
wendet  die  tödtliche  Waffe  gegen  Andere  oder  gegen  sich  selbst,  und 
kommt  erst  nach  der  That  —  befreit  von  dem  beklemmenden  Alp  — 
zur  Erkenntniss  dessen,  was  er  vollbracht.  Nicht  selten  beginnt  auch 
jetzt  erst  seine  grösste  Verzweiflung,  wenn  er  das  Liebste  und  Theuerste 
zerstört  sieht  und  seine  Hand  als  die  Thäterin  erkennt,  noch  oft  dazu 
ohne  seine  Absicht.  Gehen  Wahnvorstellungen  mit,  dann  fehlt  allerdings 
diese  befreiende  Erkenntniss;  der  Kranke  weiss,  warum  er  getödtet:  er 
hat  seine  Angehörigen  von  der  drohenden  Gefährdung  durch  den  bösen 
Feind  behüten  wollen;  oder  warum  er  das  Messer  gegen  sich  selbst  ge- 
zückt: er  ist  ein  schlechter  Kerl,  dessen  Tod  eine  Wohlthat  oder  eine 
Forderung  der  Ehre  ist.  Für  den  Eintritt  dieser  Gewaltacte  ist  der 
Höhegrad  des  Affects,  der  Inhalt  des  melancholischen  Wahnes  und  ganz 
besonders  die  Einwirkung  von  Hallucinationen  und  Illusionen  maassgebend. 
Ausserdem  sind  aber  auch  körperliche  Momente  als  Begleiterscheinungen 
des  Angstanfalls  (s.  u.)  und  physiologische  Lebensphasen  des  Patienten 
(Gravidität  und  Wochenbett,  Menstruationstermin)  von  erschwerendem 
resp.  begünstigendem  Einfluss.  Namentlich  aber  ist  des  anthropologi- 
schen Moments  der  Erblichkeit  (Selbstmord  in  der  Ascendenz!)  zu  ge- 
denken, welcher  oft  wie  ein  Fatum  dem  gemütskranken  Sohn  oder 
Enkel  die  Wiederholung  derselben  Gewaltthat  aufnöthigt  (Zwangshand- 
lungen). 

Die  geläufigen  Motive  des  Sui-  oder  Homicidium  in  der  Melancholie 
sind:  Versündigungswahn  mit  Angst  vor  drohender  Bestrafung;  Klein- 
heitswahn, dass  der  Kranke  sich  und  die  Seinen  der  Schande  oder  dem 
Verhungern  ausgesetzt  habe ;  dämonomanische  Furcht  mit  Hallucinationen 
und  überwältigenden  Illusionen  (oft  plötzliches  Schwarzwerden  einer 
Person  der  Umgebung).  Verschiedentlich  ist  für  Homicidium  auch  das 
Motiv  schon  in  Erfahrung  gebracht  worden,  dass  der  Kranke  sich  durch 
seine  That  das  Schaflfot  zu  sichern  hofft.  (Ueber  die  erfinderischen 
A nsf tth rungsarten  des  Suicidium  s.  unter:  Zwangshandlungen.)  Sehr 
häufig  ist,  jedoch  weniger  bei  Angstzuständen  als  bei  melancholischem 
Versündigungswahn,  eine  hartnäckige  oft  bis  zum  Aeussersten  andauernde 
Nahrungsverweigerung. 

Nur  in  einer  kleinen  Zahl  von  Fällen  beschränkt  sich  die  ver- 
änderte Selbstempfindnng  des  Kranken  auf  die  Klagen  eines  innern 
Schmerzes,  einer  nur  seelischen  Verzweiflung  (gleichviel  aus  wel- 
chem Grunde).  In  der  grössten  Mehrzahl  werden  die  Klagen  auch 
körperlich  geäussert,  das  innere  Weh,  die  Angst  an  der  oder  jener 
Körperstelle  localisirt.  Weitaus  am  öftesten  figurirt  „das  Herz"  als 
dieser  locus  dolens,  und  zwar  entweder  in  gesteigerter  Empfindung 
oder  gegentheils  als  Empfindungsleere.   Dort  sitzen  die  „nagenden 


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28 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 


Gewissensqualen",  die  „Centnerlast",  das  „brennende  höllische  Feuer", 
der  „böse  Feind";  dort  wird  der  Mangel  jedes  „guten  Gefühles", 
jeder  „Liebe",  jedes  „Dranges  zum  Gebet"  so  peinlich  empfunden. 

Das  Herz  ist  todt  durch  die  Sünden;  alle  Gedanken,  gute  wie  böse, 
sind  abgestorben,  der  Teufel  ist  mit  der  Seele  des  Kranken  durchge- 
gangen, Freud  und  Leid  ist  in  unerreichbare  Welten  gerückt,  der  Kranke 
kann  nicht  mehr  beten  und  weinen.  Ausser  dem  Herzen  ist  es  nament- 
lich der  Kopf,  welcher  für  die  Localisation  der  Anaesthesia  psychica 
dolorosa  bevorzugt  ist.  Die  Kranken  haben  keinen  Gedanken  mehr,  sie 
fühlen  sich  darin  so  öde  und  leer,  dass  sie  sich  nicht  einmal  das  Bild 
ihrer  Lieben  mehr  vorstellen  können.  In  dritter  Linie  nimmt  auch  der 
ganze  Körper  Antheil:  sie  fühlen  weder  Hunger  noch  Durst,  kein 
Bedürfniss  nach  Excretionen,  sie  können  sich  mechanisch  verletzen,  ohne 
dass  sie  es  spüren  —  und  inmitten  dieses  „Todtseius"  bleibt  Plage  und 
Schmerz  ihr  einziger  Lebensreiz;  „so  hat  Gott  sie  verlassen". 

Es  ist  bezeichnend  für  die  Beurtheilung  dieser  „anästhetischen"  Pein, 
dass  viele  Kranke  sich  förmlich  nach  der  „Schwermuth"  sehnen,  wo  sie 
doch  wieder  einmal  einen  wirklichen  Schmerz  zu  fühlen  vermöchten. 
Wenn  im  Krankheitsverlauf  nach  dem  anästhetischen  Höhenstadinm  das 
hyperästhetisch  gedrückte  wiederkehrt,  so  äussern  sich  die  Kranken  bei 
allem  tiefen  Weh  dankbar  für  die  Thränen  und  den  Herzdruck,  den  sie 
so  lange  vermissen  mussten.  Nicht  selten  begleiten  auch  locale  Parä- 
sthesieen  diese  anästhetischen  Episoden. 

Das  erniedrigte  Selbstgefühl  des  Melancholikers  wird  ihm 
aber  am  lästigsten  bewusst  durch  die  Herabsetzung  alles  Wol- 
lens. Das  Bewusstsein  pereipirt  in  Folge  der  herrschenden  Affect- 
stimmung  keine  Gegensätze  mehr.  Was  der  Kranke  fühlt,  ist  doch 
nur  Wehe,  und  Dem  gegenüber  blasst  Interesse  und  Streben  zum 
blossen  Schemen  der  Stimmung  ab.  Insofern  aber  der  —  auf  cen- 
tralen Innervationsgefühlen  beruhende  —  Vorgang  der  Intention  selbst 
überaus  schmerzlich  geworden  ist,  muss  sich  der  Kranke  immer 
mehr  um  jede  Energie  und  Initiative  gebracht  fühlen.  Dieses  Gefühl, 
nicht  wollen,  sich  nicht  mehr  entschliessen  zu  können, 
ist  nun  das  zweite  Hauptsymptom  der  Melancholie;  es  bildet  mit 
und  neben  der  schmerzlichen  Verstimmung  den  eigentlichen  Kern 
der  Krankheit.  Im  Grunde  ist  das  eine  Moment  nur  die  Kehrseite 
des  andern;  das  fehlende  Wollen  ist  die  psychologische  Folge  des 
schmerzhaften  Fühlens,  oder  auch  umgekehrt.  Das  letztere  Verhält- 
niss  tritt  namentlich  dann  ein,  wenn  der  unschlüssige  Kranke  manch- 
mal, durch  die  Umstände  gedrängt,  früher  handeln  muss,  als  sein 
verzögerter  Entschluss  fertig  ist.  Dann  haftet  sich  die  peinlichste 
innere  und  äussere  Unruhe  an  jede  Handlung,  welche  er  nicht  eigent- 
lich gewollt  hatte  und  doch  gethan  sieht,  an.  Nun  geht  auch  alles 
Begehren  verloren;  der  Kranke  auf  dem  Höhepunkt  des  Leidens 


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Melancholie.  Willensstörungen. 


29 


muss  sogar  zum  Essen  und  Anziehen  angehalten  werden;  er  ver- 
kommt in  seinem  Aeussern,  weil  er  mit  seiner  innerlichen  Gebunden- 
heit nicht  einmal  zur  kleinsten  anderweitigen  Aufmerksamkeit,  noch 
weniger  zur  Activität  herauszutreten  vermag. 

Dieses  unendliche  WehegefUhl  des  geistigen  Energiemangels  er- 
zeugt nun  rückwirkend  eine  entsprechend  tiefe  Erniedrigung  des 
Selbstgefühls.  „Alles  und  Alle  sind  Etwas,  sind  glücklich,  nur 
ich  bin  nichts,  bin  ein  Verlorener"  —  das  ist  die  tägliche  und  stünd- 
liche Klage  des  Kranken.  Der  verzweifelt  Rüthlose  wird  durch  den 
kleinsten  Umstand  in  die  grösste  Spannung  versetzt,  und  klammert 
sich  in  seiner  Schwäche  an  ein  Nichts  an,  um  sein  Heil  darin  zu 
suchen.  Unterstützt  und  vollendet  wird  dieses  geistige  WehegefUhl 
nun  auch  noch  durch  ein  gleichgestimmtes  körperliches,  welches 
sich  auf  der  Perception  des  verminderten  Muskeltonus  aufbaut.  Der 
Kranke  fühlt  sich  müde,  selbst  beim  Liegen  und  Sitzen;  nicht  ein- 
mal ein  ausgiebiger  Schlaf  bringt  ihm  Frische  und  Erholung.  Bei 
der  hohen  Bedeutung  der  Muskelgefühle  für  unser  körperliches  und 
psychisches  Gemeingefühl  begreift  es  sich,  wie  deren  Ausfall  oder 
die  direct  empfundene  Muskelschwäche  die  Pein  der  seelischen  Abulie 
noch  wesentlich  erhöhen  muss. 

Der  Melancholiker  hält  sich  deshalb  in  der  Regel  auch  zurück- 
gezogen; er  achtet  auf  keine  äussere  Aufmerksamkeit,  deren  er  sich  doch 
nicht  würdig  glaubt.  —  Es  gibt  aber  auch  Kranke,  bei  welchen  neben 
dem  erniedrigten  Selbstgefühl,  welches  sie  in  Thränen  und  Weinen  be- 
theuern,  noch  eine  eben  so  gesteigerte  geistige  Empfindlichkeit,  ein  Be- 
dürfniss  in  ihrem  Leiden  anerkannt  und  sorglichst  berücksichtigt  zu 
werden  einhergeht.  Sie  essen  wenig,  sehen  aber  gerne  ausgewählte 
Kost,  gehen  in  keine  Gesellschaft,  wollen  aber  in  der  Einladung  nicht 
übergangen  sein  etc.  Noch  Andere  sind  trotz  ihrer  Resignation  in  man- 
cherlei sinnlichen  Genüssen  begehrlich  und  anspruchsvoll.  Sehr  viele 
Kranke  können  sich  auch  in  ihrem  Schmerz  und  in  ihrer  „Todesver- 
zweiflung" eines  gewissen  Neids  gegen  Andere  (ihrer  Ansicht  nach  vom 
Schicksal  Verschonte)  nicht  erwehren. 

So  spricht  Alles  um  den  Kranken,  für  ihn  und  in  ihm  nur  die 
Eine  Sprache  namenlosen  Schmerzes,  absoluten  Nichtkönnens.  Der 
Kranke  ist  rettungslos  unglücklich  —  und  dies  durch  eigene  Schuld. 
Bald  erfährt  er  auch  das  Warum?  durch  das  Echo  seiner  Schmerz- 
gefühle in  seinem  Vorstellungsleben. 

b)  Anomalieen  in  der  Sphäre  der  Vorstellungen. 

Alles  Vorstellen  ist  verlangsamt,  und  zwar  durch  den  Bann 
der  schmerzlichen  Verstimmung.  Jede  Vorstellung  erhält,  sowie  sie 
sieb  zum  Ich  in  Beziehung  setzt,  schmerzliche  Geftthlbetonung ;  ja 


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Dio  Melancholie.  Allgemeines. 


der  Vorstellungsablauf  selbst  ist  von  peinlichen  InnervationsgefÜhlen 

begleitet.    Dadurch  entsteht  eine  Hemmung;  die  active  sowohl  als 

die  passive  Bewegung  der  Vorstellungen  wird  möglichst  vom  Ich 

gemieden.  Als  drittes  verstärkendes  Moment  kommt  noch  das  Ueber- 

gewicht  und  die  abstossende  Macht  der  Schmerz -Vorstellung  (wenn 

diese  sich  einmal  aus  der  anfänglichen  Aflfectstimmung  entwickelt 

hat)  gegen  alle  anders  gefärbte  Wahrnehmungen  und  Ideen  hinzu. 

Durch  alle  diese  Momente  entsteht  eine  immer  umfassendere  Bindung 

der  intellectuellen  Functionen,  eine  Trägheit  des  Vorstellungsganges, 

und  endlich  Oede  des  Bewusstseinsinhalts,  welcher  immer  mehr  nur 

noch  vom  Einen  Schmerzgedanken  ausgefüllt  wird.   Zugleich  aber 

entsteht  reactiv  das  Gefühl  einer  peinlichen  Gedankenspannung,  weil 

das  Bewusstsein,  von  andrängenden  Gedanken  bestürmt,  diese  nicht 

aufzunehmen  und  in  sich  abzugleichen  vermag,  und  somit  einerseits 

verarmt,  andrerseits  tiberfüllt  bleibt. 

Es  handelt  sich  mithin  bei  der  Melancholie  nicht  um  einen  Mangel 
an  Gedanken,  sondern  vielmehr  um  Stagnation  oder  um  einen  monotonen 
Schraubengang  derselben  Gedankenreiheu ,  um  ein  „Gedankenbohren", 
wie  es  viele  Kranke  nennen.  Der  Melancholiker  ist  in  seinem  Denken 
überreich  beschäftigt  und  langweilt  sich  nie.  Nicht  selten  stellt  sich 
neben  der  fixirten  Affectvorstellung  auch  noch  ein  wirklicher  Gedanken - 
drang  ein  (s.  o.),  ein  Anstürmen  peinlicher  Reminiscenzen  und  beängsti- 
gender Wahrnehmungen;  aber  das  schmerzgebannte  Ich  kann  sie  nicht 
appereipiren.  Viele  Kranke  geben  selbst  an,  dass  ein  Wort,  eine  Erin- 
nerung, deren  Anrücken  schon  wie  ein  Alp  drückt,  eine  Reihe  schmerz- 
licher Gedanken  in  ihnen  weckt,  welche  sich  mit  steigender  Flucht  zu 
vollständiger  Verwirrung  zusammendrängen.  Als  häufige  Reactionen  auf 
diese  innere  Qual  erscheinen  die  Eingangs  bezeichneten  motorischen  Re- 
flexe. Gewöhnlich  gehen  auch  Wallungen  zum  Kopfe,  vermehrte  Herz- 
action,  unter  Umständen  Angstanfälle  mit  einher.  Bei  dieser  Ueberfüllung 
des  Bewusstseins  mit  Schmerz-  und  Reuegedanken  werden  die  übrigen 
Vorstellungen,  welche  dem  zersetzenden  und  hemmenden  Einfluss  der 
melancholischen  Stimmung  noch  entrinnen  können,  nach  und  nach  dem 
Ich  so  entfremdet,  dass  es  dieselben  nicht  mehr  als  sein  Eigenthnm  er- 
kennt, und  der  Kranke  allmählich  an  der  Realität  aller  Dinge  zweifelt. 

In  vielen  Fällen  hat  es  bei  diesen  formalen  Störungen  sein  Be- 
wenden, und  der  Kranke  hat  —  ohne  nur  eine  einzige  unrichtige 
Idee  in  sich  zu  beherbergen  —  mit  dem  Können  auch  das  Verständ- 
niss  seiner  Umgebung  eingebüsst;  er  verarmt  mitten  in  dem  Reich- 
thum äusserer  Geschehnisse,  welche  er  nicht  aufzunehmen,  oder  nur 
in  Einer  Farbe  zu  erfassen  vermag.  Liegt  in  dieser  lediglich  for- 
malen Störung  eigentlich  auch  schon  eine  inhaltliche  Fälschung,  so 
tritt  diese  letztere  nun  ausgesprochen  in  der  Entwicklung  des  melan- 
cholischen Schmerzes  zu  einer  adäquaten  Vorstellung  zu  Tage. 


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Melancholie.   Vorstellungsatörungen.  Wahn. 


31 


Nicht  immer,  aber  allermeist,  vollzieht  sich  diese  psychologische 
Folge:  der  melancholische  Wahn  entsteht  als  logische  Erklärung 
des  peinigenden,  bis  dahin  unbegriffenen  innern  Weh's.  Diese  Ent- 
wicklung kann  unbewnsst  geschehen,  manchmal  aber  auch  auf  dem 
Umweg  der  Reflexion.  Aus  dem  gegenwärtigen  Tagesgeschehen 
oder  aus  dem  Vorleben,  aus  einer  auffälligen  Wahrnehmung  oder 
als  Frucht  eines  prüfenden  Grübelns  wird  der  gesuchte  „Beweis" 
hergeholt,  der  dunkeln  Schmerzempfindung  das  erklärende  „Wort" 
geliehen.  Und  an  Veranlassung,  an  Material,  fehlt  es  ja  in  keinem 
Leben;  gibt's  doch  „Keinen,  der  nicht  wird  bewahren  still  ein  Weh 
in  seiner  Brust!"  Einmal  gefunden,  bleibt  es  erfasst  und  in  steter 
Wiederholung  festgehalten. 

So  entsteht  der  Versündigungswahn,  der  Wahn  der  Pflichtversäumniss 
gegen  Beruf  und  Angehörige,  der  Wahn,  verhungern  zu  müssen  etc.  Für 
den  concreten  Inhalt  der  Wahnideen  im  Einzelfall  ist  Übrigens  nicht 
immer  nur  ein  beliebiger  Einfall  oder  eine  zufällige  Reminiscenz  aus  dem 
Vorleben  des  Kranken  maassgebend,  sondern  sehr  oft  (wenigstens  mit- 
bestimmend) die  Qualität  einer  mit beglei tenden  Seusibili- 
tätsanomalie.  Körperliche  Hyperästhesieen,  Anästhesieen  oder  Dys- 
asthesieen,  mit  den  zugehörigen  Organempfindungen  (Intereostalnerven 
mit  den  Beklemmungsgefühlen,  sexuale  Keuralgieen)  sind  es,  welche  das 
Ich  „stimmen"  d.  h.  es  veranlassen,  in  der  oder  jener  Richtung  die  „auf- 
klärende" Thatsache  im  Vorleben  aufzusuchen.  Auch  ohne  einen  solchen, 
mit  ihrem  Timbre  harmonirenden,  Thatsachen- Beweis  diktiren  sie  zweifel- 
los oft  genug  dem  Bewusstsein  direct  die  Wahnvorstellung  durch  Alle- 
gorisirung  ihres  psychischen  Eropfindungsinhalts.  Wie  hochwichtig  dieses 
Verhältniss  für  das  klinische  Verständniss  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Die 
Wahnideen  der  Versündigung,  des  Verhungerns  scheinen  auf  der  Grund- 
lage elementarer  (hier  wohl  intracerebraler)  Dysästhesieen  sich  aufzubauen. 
Dabei  ist  ein  klinisches  Moment  für  die  Beurtheilung  dieser  Allgorieen 
hochwichtig:  die  psychiche  Leistungskraft  des  Hirn-Organs 
selbst,  als  des  schlussbildenden  Apparats  für  die  Verwerthung  resp. 
mehr  minder  adäquate  Erfassung  der  zugeleiteten  Empfindungen.  Im 
Allgemeinen  wird  diese  um  so  zutreffender  und  richtiger,  d.  h.  in  der 
Allegorisirung  der  Sensation  um  so  realer  sein,  je  funetionskräftiger  die 
Hemisphärenleistung.  Barocke,  phantastische  Umdeutungen  deuten  er- 
fahrungsgemäß c.  p.  immer  eine  entsprechende  psychische  Schwäche, 
unter  Umständen  eine  degenerative  (z.  B.  senile)  Hirnfunction  an.  Dabei 
ist  aber  nicht  zu  übersehen,  dass  tiefere  Ernährungsstörungen  flir  die 
„3chluss"kraft  des  Gehirns  nicht  selten  vorübergehend  dieselbe  depoten- 
ztrende  Wirkung  haben  können,  wie  degenerative  Hirnleiden  (so  nament- 
lich hochgradige  Anämieen).  Darnach  ist  die  „auscultative"  Verwerthung 
der  Wahnideen  sorgsam  zu  prüfen! 

In  einer  andern,  kleinern,  Reihe  von  Fällen  kann  dagegen  die 
Vorstellung,  welche  den  Kern  der  nachfolgenden  Melancholie  abgibt, 


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32 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 


voraufgehen,  und  reactiv  entweder  langsam  oder  acut  die  zuge- 
hörige depressive  Stimmung  aufrufen.  Dies  ist  namentlich  der  Vorgang 
bei  den  Melancholieen  aus  sog.  Zwangsgedanken.  Zufällige  erschüt- 
ternde Wahrnehmungen  (Erzählungen  von  Schauererlebnissen,  Anblick 
von  gewaltsam  Getödteten,  oder  auch  plötzliche  blasphemische  Ein- 
fälle, namentlich  in  der  Kirche)  bleiben  haften,  und  mit  ihnen  die  be- 
gleitende Affectwirkung.  Der  Gram  Uber  einen  solchen  unberufenen 
Gast,  welchen  das  Bewusstsein  mit  aller  Mühe  nicht  mehr  los  werden 
kann,  steigert  sich  nun  nicht  selten  zur  Verzweiflung  und  gibt  der 
schmerzlichen  Spannung  eine  Gradstärke  und  Dauer,  dass  langsamer 
oder  rascher  die  Melancholie  perfect  wird.  Brüske  Begegnungen, 
allzu  herbe  Verweise,  ein  eindringliches  Predigtwort,  namentlich  oft 
aber  ein  heftiger  Schreck  können  die  geschilderte  Genese,  welche 
bei  peracuten  Fällen  stets  eine  nervös  vorbereitete  Individualanlage 
voraussetzt,  zu  Stande  bringen. 

Statt  aus  dem  eigenen  Vorleben  des  Kranken  kann  aber  die 
melancholische  Verstimmung  auch  aus  der  Anssenwelt  die  Er- 
klärungsgründe  für  das  so  schmerzlich  veränderte  Fühlen,  und  nament- 
lich für  das  Gefühl  des  peinlichen  Gehemmtseins,  der  Willenlosig- 
keit,  herholen.  Der  Kranke  leidet  durch  Andere,  denen  er  durch 
eigene  Schuld  sich  in  die  Hand  gegeben,  die  ihm  übelwollen,  weil 
er  ein  so  schlechter  Mensch  ist  (nicht  wie  der  Wahnsinnige,  den 
man  gegentheils  wegen  seiner  „Vorzüglichkeit",  oder  „weil  er  Andern 
im  Wege  ist",  so  verfolgt).  Theils  sind  es  drohende  oder  wirkliche  — 
aber  immer  „gerechte"  —  Verfolgungen  durch  die  Polizei  etc.,  theils 
in  mehr  mystischer  Richtung  die  directen  Bedrängungen  durch  den 
„bösen  Feind"  (Dämonomelancholie).  Treten  dazu  noch  tiefer  grei- 
fende Sensibilitätsanomalieen ,  speciell  aus  den  Empßndungsgebieten 
unserer  individuellen  Körperform,  so  baut  sich  auf  dieser  dämono- 
manen  Grundlage  noch  der  Wahn  der  Metamorphose  der  körper- 
lichen Persönlichkeit  in  eine  aussermenschliche  Existenz  (Thiere)  auf. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  hypochondrischen 
Wahnvorstellungen,  welche  gewisse  melancholische  Zustände  aus- 
füllen, manchmal  aber  auch  nur  die  Anfangs-  und  Schluss-Stadien 
begleiten. 

Das  tiefe  Weh  dieser  Kranken  gründet  sich  auf  die  gesteigerte 
Wahrnehmung  der  veränderten  Körpersensationen;  aus  der  krankhaften 
Ueberempfindung  folgen  die  übertriebenen  Schlüsse  und  Befürchtungen. 
Namentlich  sind  es  die  abnormen  Gefühle  im  Kopfinnern  („Düppel  im 
Kopfe",  Schwindel,  Nebel,  Benommenheit,  Gefühl  von  Hirnsteifigkeit,  von 
„Zittern  und  Rieseln  im  Hirn,  als  ob  Blut  herablaufe",  Gefühle  von 
„Todtsein  im  Kopfe",  von  „absoluter  Taubheit  der  Gedanken",  welche 


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Sensorische,  sensible  uud  vasomotorische  Begleitsymptoine.  33 


die  Kranken  beängstigen  und  rathlos  und  auf  das  Aeusserste  gefasst 
machen.  Manchmal  tritt  ein  momentanes  Gefühl  der  Geistesabwesenheit 
ein,  als  ob  Alles  in  dem  Krauken,  namentlich  seine  Miene  starr  würde, 
und  die  Augäpfel  herausträten.  Sodann  die  beklemmenden  uud  beschweren- 
den Empfindungen  in  der  Magengegend  (das  stete  „Vollsein",  dass  kein 
Essen  mehr  Platz  hat),  im  Schlünde  („wenn  ich's  nur  wegschlucken 
könnte!"),  das  peinliche  Herzklopfen  mit  aussetzendem  Herzschlag,  und 
die  daran  geknüpfteu  Befürchtungen  von  Herzschlag  uud  Apoplexie. 
Auch  aus  dem  Schlundkrampf  entwickelt  sich  eine  furchtbare  Angst  und 
Todesfurcht,  so  Ubermächtig,  dass  „der  Herrgott  selbst  es  dem  Kranken 
uicht  auszureden  vermöchte".  Oft  geht's  vom  Schlund  in  den  Rücken 
und  von  der  Mitte  des  Brustrückgrats  hinauf  (schmerzhafte  Punkte)  Uber 
die  Achseln  in  den  Kopf,  so  dass  ein  Rash  durch  den  letztern  fliegt,  und 
der  Kranke  sich  momentan  nicht  mehr  zu  helfen  weiss,  zu  irgend  einer 
perversen  That  (Fortlaufen)  getrieben  wird.  (Weiteres  s.  im  Speciellen.) 
In  recht  durchgearbeiteten  (von  peinlicher  Selbstbeachtung  und  Grübelei 
ausgemusterten)  Krankheitsfällen  ist  kein  Fleckchen  am  Körper,  welches 
nicht  Bchmerzt  oder  nicht  abnorm  empfindlich  ist,  so  dass  schliesslich 
der  Kranke  in  eiuem  Chaos  von  beängstigenden  und  peinlichen  Miss- 
empfindungen aufgeht  (Brennen  auf  dem  Scheitel,  Verstopftsein  der 
Uhren,  Klopfen  und  Grillentöne  in  den  letztern,  Nebel  vor  den  Augen, 
Geschmacklosigkeit,  Behinderung  im  Schlingen,  Aufgetriebenheit  des  Lei- 
bes, häufiger  Drang  zum  Uriulasseu,  Brennen  in  der  Harnröhre,  Schmerz 
beim  Stuhlgang,  „Knacken"  in  den  Knicen,  Zittern  in  den  Beinen  etc.). 

c)  Anomalieen  der  sensorischen,  scnsibeln,  vasomotorischen  und 
trophischen  Functionen.  Mimik.  Die  Leistungen  der  Sinnesfunctionen 
im  Allgemeinen  richten  sich  in  der  Melancholie  nach  dem  Staude 
der  Cerebral-lnnervation.  In  hyperästhetischen  Stadien  gesteigert 
und  verschärft  (jede  Farbe,  jedes  Geräusch  thut  wehe,  gerade  wie 
jede  geistige  Ansprache),  werden  in  den  passiven  Phasen,  in  wel- 
chen der  Kranke,  durch  sein  inneres  Weh  abgezogen,  au  der  Aussen- 
welt  keinen  oder  nur  den  geringsten  Antheil  uimmt,  die  Wahrneh- 
mungen matt  und  farblos;  kein  noch  so  verlockender  Siunes-Eiudruck 
kommt  mehr  zur  Geltung,  selbst  die  Scbmerzempfindungen  sind  so 
herabgesetzt,  dass  der  Kranke  nicht  einmal  der  Wunden  zu  achten 
vermag,  die  er  sich  in  der  Verzweiflung  unbarmherzig  beibringt. 
Speise  und  Trank  vergtsst  er,  selbst  junger-  und  Durstgefühl  kaun 
neben  dem  inneru  Weh  nicht  mehr  zur  Perception  gelangen. 

Dabei  ist  merkwürdig,  wie  in  der  melancholischen  Unruhe  die 
Nahrungsverweigerung  mit  krankhafter  Essgier  (ganz  ohne  Sättigungs- 
geflihl)  abwechselt,  und  wie  ruheloser  Verzweitluugsdrang  oft  iu  un- 
bändiger Masturbation  sich  austobt  is.  u.). 

Eine  betondere  Hervorhebung  verdienen  die  in  der  Melancholie 
auftretenden  Sinnestäuschungen.  Es  sind  Hallucinationen,  und 

Schale,  Ü€bt«*»tJruDb'en.    3.  Aufl.  3 


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34 


Die  Melancholie.  Allgemeines 


in  noch  grösserer  Häufigkeit  Illusionen.  Letztere  begleiten  nament- 
lich die  Angstparoxysmen.  Oft  leiten  Illusionen  oder  Hallucinationen 
den  Beginn  der  Krankheit  ein,  so  namentlich,  wenn  durch  den  Chok 
eines  plötzlichen  Schrecks  (Anblick  eines  Erhängten)  der  als 
Zwangsgedanke  gebliebene  emotive  Eindruck  die  nähere  Krankheits- 
Ursache  bildet:  da  rauscht  es  in  den  Ohren  und  aus  den  Wänden, 
Fledermäuse  huschen  durch  die  schlaflose  Stille  der  Nacht,  das 
Gesichtsbild  wird  abwechselnd  neblig,  roth  oder  blau,  Lichtblitze 
zucken  durch  das  Zimmer  und  zeichnen  die  geftlrchtete  Schreck- 
gestalt ab  etc.  Geformte  und  selbständige  Hallucinationen  stellen 
sich  in  der  Regel  erst  mit  zunehmender  Krankheit,  auf  deren  Höhen- 
punkt, ein;  bald  bleiben  sie  dann  dauernd,  bald  treten  sie  zeitweilig 
zurück,  um  paroxysmenweise  (Menses,  Gemtithsbewegungen,  grössere 
körperliche  Anstrengung)  wiederzukehren.  Hauptsächlich  sind  es 
Hallucinationen  des  Gehörs,  Hallucinationen  und  Illusionen  des  Ge- 
sichts und  Illusionen  der  übrigen  Sinne,  welche  beobachtet  werden. 
Bezüglich  ihres  Inhalts  figuriren  die  „Stimmen"  theils  als  Verkünder 
drohender  Strafe,  theils  als  höhere  Weisungen  und  Handlungsbefehle 
(imperative  Gewaltacte);  in  „Schreien  und  Jammerrufen"  tönt  die 
Furcht,  als  ob  die  eigenen  Verwandten  gemartert  würden,  dem  Kran- 
ken entgegen.  In  den  „Gesichten"  erscheinen  schwarze  Figuren,  als 
Incarnationen  des  Höllengeistes,  unter  allerlei  legendenhaften  Meta- 
morphosen, oft  unter  Thiergestalt.  Oft  spricht  der  Kranke  selbst  in 
zweifachem  Sprachtimbre,  wovon  der  eine  Sprachton  dem  andern 
antwortet.  Unter  die  Illusionen  sind  zu  rechnen:  die  plötzliche 
Farbenveränderung  äusserer  Gegenstände,  wodurch  sie  dem  Kranken 
als  „eben  vom  Teufel  in  Besitz  genommen"  imponiren;  namentlich 
auch  die  gehörten  Zurüstungen  von  „aufgerichteten  Guillotinen,  her- 
beigetragenen Särgen",  in  welche  zufällige  äussere  Geräusche  sich 
umdeuten.  Auch  einfache  Hyperästhesieen  des  Gehörs  und  Gesichts 
(Empfindlichkeit  gegen  einzelne  Farben,  z.  B.  gegen  das  „Roth") 
gehen  und  kommen;  zeitweise  erscheint  gegentheils  Alles  wieder 
abgeblasst,  farblos,  musikalische  Tonfolgen  und  Lieder  als  unharmo- 
nisch. In  der  Sphäre  des  Geruchs  peinigen  Verwesungsgerüche,  in 
der  des  Geschmacks  allerlei  Ekelempfindungen  („Alles  ist  Dreck"), 
in  der  Tastsphäre  endlich  sind  es  nächtliche  obseöne  Berührungen 
(bei  sexualkranken  Frauen)  durch  den  „bösen  Geist",  welcher  (in 
Reflexhallucinationen)  sich  theils  als  „Person  mit  Hörnern",  theils  als 
„Hund",  theils  als  „Löwe"  nähert.  Die  höchste  Entwicklung  und 
durchgreifendste  Allegorie  erfahren  diese  Tast-  und  GemeingefUhls- 
Illusionen  durch  krankhafte  Umänderung  resp.  Aufhebung  der  körper- 


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Pathogenetische  und  psychophysische  Function  der  „Neuralgieen-.  35 

liehen  Begrenzungsgeftthle  (8.  o.):  so  entstehen  jene  Thiermetamor- 
phosen, wo  der  Kranke  glaubt  z.  B.  ein  „Wolf  geworden  zu  sein, 
„weil  er  so  viel  essen  müsse",  oder  eine  „Hornisse",  weil  es  ihm  die 
untern  Rippen  oft  einziehe,  oder  ein  „Hund",  weil  er  in  seiner  All- 
angst plötzlich  bellende  Schreilaute  auszustossen  und  krampfhaft  um 
sich  zu  beissen  sich  getrieben  fühlt. 

Die  klinische  und  namentlich  auch  forense  Bedeutung  der  Sinnes- 
täuschungen in  der  Melancholie  ist  nicht  hoch  genug  anzuschlagen.  In 
ihnen  resp.  deren  imperativer  Gewalt  beruhen  die  meisten  der  melan- 
cholischen Gewalt  -(Zwangs-)  Acte.  Jeder  hallucinirende  Melancholiker 
ist  gemeingefährlich.  Bemerkenswerth  ist  übrigens,  dass  die  „ächten" 
Hallucinationen  nicht  so  häufig  sind  (in  reinen  Melancholieen)  als  die 
Pseudohallucinationen  und  Illusionen;  sehr  oft  imponirt  ein  lebhafter  Ge- 
dankendrang, eine  rasch  und  unter  Angst  auftretende  Vorstellung  dem 
Kranken  als  „Stimme";  es  fehlt  ihr  aber  der  eigentlich  sinnliche  Timbre. 
Dieses  gilt  namentlich  auch  von  den  „aus  der  Brust"  oder  „aus  der  Herz- 
grube" laut  werdenden  Gesprächen;  genauer  analysirt  .sind  dies  nur  leb- 
hafte Gedanken,  welche  durch  die  mitbegleitendc  Präcordial-  und  Inter- 
costalempfindung  das  „objectivirende"  Moment  enthalten,  aber  doch  nicht 
eigentlich  sinnlich  „gehörte"  sind.  Manche  „Stimmen"  sind  auch  illuso- 
risch ausgelegte  „Ohrgeräusche"  (namentlich  bei  Chlorotisehen)  auf  Grund- 
lage desselben  einseitig  begünstigten  Gedankendranges.  —  Klinisch  höchst 
bemerkenswert!!  ist  die  prognostische  Bedeutung  der  Hallucinationen  für 
den  Verlauf  des  Einzelfalles.  Melancholieen  mit  ächten  und  sehr  leb- 
haften Hallucinationen  gehen  nicht  in  ein  manisches  Nachstadium  Uber, 
sondern  entweder  direet  resp.  successive  in  Genesung,  oder  durch  den 
Zwischenact  eines  hallucinatorischen  exaltirten  Wahnsinns  —  während  die 
uncomplicirten,  d.  h.  hallucinationsfreien  Fälle  erst  durch  ein  ächt  ma- 
nisches Tebergangsstadium  sich  krilisiren  (Hagen).  Das  Paradigma  für 
den  letztern  Modus  sind  die  Melancholieen  in  den  Circulärpsychosen. 

Nicht  minder  wichtig  als  die  sensorischen  sind  die  sensibeln 
Störungen  in  der  Melancholie.  Man  kann,  wenn  auch  nicht  mit 
Ausschliesslichkeit,  annehmen,  dass  jede  in  einen  bestimmten  Wahn- 
gedanken ausgearbeitete  Melancholie  mit  einer  zugehörigen  Sensibi- 
litäts-Anomalie (welche  auf  neuro-  oder  rausculo-  oder  endlich  vaso- 
sensibelra  Gebiete  liegen  mag)  verbunden  ist;  und  ferner:  dass  die 
psychisch-pathologische  Ausgestaltung  der  Melancholie  gerade  in  der 
peripheren  Ausstrahlung  —  vom  erkrankten  Gehirn  abwärts  —  erst 
über  die  vasomotorischen  und  dann  über  die  spinal- sensiblen  Nerven- 
gebiete besteht. 

Es  entspricht  dies  ganz  dem  physiologischen  Gang  der  Affectaus- 
breitung:  motorisch  von  den  Hemisphären  abwärts  schreitend  vom 
Oculomotorius  zum  Facialis  und  dann  Uber  die  Stammmusculatur;  vaso- 
motorisch und  sensibel  von  den  corticalen  Vasomotoriusfeldern  zum 
wichtigsten  psychischen  Aftectnerv:  dem  Vagus,  und  von  da  über  die  spi- 

3* 


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Die  Melancholie.  Allgemeines. 


nale  Rückensäule,  vor  Allem  zu  den  Intercostalnerven  und  im  Weiteren 
zu  dem  Splancliuicus.  Dieses  physiologische  Sclieraa  erhält  sich  auch 
unter  den  pathologischen  Bedingungen  der  depressiven  Affectneurose  in 
der  Melancholie,  nur  mit  der  Modifikation,  dass  durch  die  grundliegende 
somatische  Störung  (Anämie,  Sexualreiz,  Brnst-  und  Unterleibs-,  in  spe- 
cie  Uterin-Affectionen)  sich  meistens  schon  vorher  8ensibilitätsstörungen, 
resp.  Neuralgieen  ausgesondert  haben,  welche  fiir  die  centrale  Ansprache 
(von  den  Hemisphären  aus)  bereit  stehen,  und  so  das  gesuchte  und  un- 
entbehrliche periphere  Affect-Element  entgegenbringen.  Es  ist  oben  be- 
reits auf  die  „wahnfärbende"  Bedeutung  dieser  peripheren  Sensibilität«  - 
anomalieen  aufmerksam  gemacht  worden ;  hier  ist  jetzt  der  Ort,  die  letztern 
in  ihrer  klinischen  Verwertuung  besonders  hervorzuheben.  Man  wird  bei 
der  Untersuchung  der  Einzelfälle  alle  Modifikationen  derselben  vorfinden : 
Hyperä8thesieen,  Dys-  und  Anästhesieen.  Gewöhnlich  sind  es  umschrie- 
bene Neuralgieen ,  am  häufigsten  der  Intercostalnerven ,  dann  auch  des 
Trigeminu8  und  Occipitalis;  dazu  treten  die  visceralen  Empfindungs- 
störungen im  Gebiete  der  Herz-,  Schlund-  und  Unterleibsnerven.  So  loca- 
lisiren  viele  Kranke  ihre  „Angst"  in  den  Unterleib  in  Form  einer  von 
der  Uteringegend  aufsteigenden  Aura;  Andere  bezeichnen  ein  Zittern  oder 
Klopfen  im  Hypochondrium,  ein  Kriebeln  im  Nacken,  ein  Hautjucken  als 
den  Aufaug;  von  da  steigt  es  an  den  Nabel  und  in  den  Unterleib;  hier 
beginnt  manchmal  sofort  eine  massenhafte  Entwicklung  von  Blähungen, 
welche  unwillkürlich  abgehen  und  „geruchlos"  sind.  Nun  tritt  Gähnen 
und  zugleich  die  heftige  Angstempfinduug  ein.  Letztere  dauert,  bis  die 
Sensationen  und  Bewegungen  im  Unterleibe  wieder  vorUber  sind. 

Der  bei  Melancholikern,  man  kann  sagen  ausnahmslose,  Präcordial- 
druck  (von  der  Herzgrube  bis  zur  Mitte  der  Brust  hinauf,  „da,  wo  man 
Leid  und  Freud  empfindet")  reiht  sich  unter  eine  dieser  Kategorieen : 
entweder  ist  er  ein  Theil  der  Vagus-Neurose,  oder  der  Eflfect  einer  Inter- 
costal-Neuralgie,  oder  aber  eine  vasomotorische  lnnervationsstörung  des 
Herzens.  Allermeist  gehört  derselbe  wohl  den  beiden  erstgenannten  Entste- 
llungsgebieten an.  Iu  gleicher  Weise  treten  auch  die  anderen  Neuralgieen: 
occipitale,  brachiale,  manchmal  auch  crurale  (ischiadische)  psyebo-phy- 
sisch  (durch  ihren  Empfindungs-Timbre),  vor  Allem  aber  in  der  beschrie- 
benen Weise  pathogenetisch  (dadurch,  dass  sie  den  psychischen 
Reiz —  den  Aflectgedanken,  die  melancholische  Wahnvorstellung  —  fixi- 
ren)  integrirend  in  den  physio- pathologischen  Symptomencomplex  der 
Melancholie  ein.  Die  Klagen  des  Kranken  Uber  das  drückende  Gewissen, 
über  die  ihm  verlorene  Seligkeit,  über  den  Dämon,  der  Uber  ihn  Gewalt 
bekommen  —  also  der  melancholische  Wahnkern  —  bezieht  sich  auf 
diese  Missempfindungen  in  der  Herzgrube:  hier  werdeu  umschriebene 
Stellen  als  directer  Sitz  der  genannten  Klagen  bezeichnet,  so  dass  die 
Entstehung  jener  aus  einer  Allego risiruug  der  daselbst  gefühl- 
ten Parästhesie  vom  Krauken  selbst  täglich  demonstrirt  wird.  In 
den  brennenden  Gefühlen  im  Rachen  „lecken  die  Flammen  des  bösen 
Feindes  herauf",  in  dem  Wühlen  im  Halse,  in  der  Hitze  im  Magen, 
welche  nach  dem  Essen  über  Brust,  Hals  und  Kopf  schiesst,  offenbart 
sich  derselbe  Dämon,  welcher  dem  Kranken  dadurch  nur  die  Stelle  an- 
deuten will,  „wo  er  sich  an  das  Leben  gehen  soll".   Für  die  Folge  bildet 


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Vasomotorische  und  trophische  Störungen. 


37 


sich  auf  der  soeben  entwickelten  Grundlage  ein  klinisch  sehr  wichtiges 
Wechselverhältniss  herans:  die  beiden  verbundenen  Elemente  —  das  cen- 
trale (die  Wahnidee  resp.  deren  psychisches  Aequivalent)  und  das  peri- 
phere (die  erregte  sensible  Nervenbahn,  resp.  deren  vasomotorisches  Aequi- 
valent) rufen  wechselseitig  einander  hervor  und  bilden  in  ihrem  Auftreten 
und  Zusammenhang  einen  circulus  vitiosus.  Darin  beruht  die  hochwich- 
tige klinische  Function  der  Neuralgieen  (qua  in  Miterregung  begriffener 
sensibler  Nervenbahnen):  sie  bilden  ein  wesentlich  zugehöriges  Glied  in 
der  Pathogenese  dieser  Melancholieen  und  zugleich  den  dauernden  An- 
reiz für  die  sofort  parate  Schwellentiberschreitung  der  Wahnidee  resp. 
des  damit  verbundenen  Angstzustandes. 

In  schwereren  Fallen,  namentlich  von  plötzlicher  Chok- Melancholie, 
finden  sich  auch  locale,  oft  einseitige,  Anästhesieen,  so  namentlich  im 
Gebiet  des  Trigeminus.  Nicht  selten  combiniren  sich  auch  oberflächliche 
Anästhesieen  mit  neuralgischen  Hyperasthesieen  in  der  Tiefe  (Inter- 
costalgebiet). 

Die  vasomotorischen  Begleiterscheinungen  der  rüstigen  Me- 
lancholie bestehen,  so  weit  sie  sich  sphygmographisch  darstellen 
lassen,  in  einer  verstärkten  Tricrotie  des  Radialpulses  (vermehrte 
Contractur  des  Arterienrohrs).  In  spätem  Stadien  und  ebenso  bei  tief 
constitutioneller  Angegriffenheit  (namentlich  auf  anämischer  Grund- 
lage) treten  die  Zeichen  der  Gefässlähmung  (tardo-dicrote,  nnd  selbst 
monocrote  Formen)  auf.  Sehr  häufig  sind  zeitweilige  congestive 
Rash's  zum  Kopfe  (besonders  bei  Angstzufällen,  hier  auch  mit  My- 
driasis), mit  klopfendem,  sehr  entwickeltem  raschen  Carotidenpulse, 
neben  kleiner  Radialis  und  kühlen  Extremitäten. 

Anderemale  wechseln,  besonders  in  der  Bettruhe,  Frost-  und  üitze- 
zustände,  wovon  die  letztern  den  Kranken  sogar  aus  dem  Schlafe  stören 
und  aus  dem  Bette  treiben.  Manchmal  wird  namentlich  Uber  Kälte  in 
den  Ohren  geklagt,  so  dass  der  Kranke  nicht  ordentlicli  hört  und  mit 
den  Fingern  darin  bohren  muss.  Auch  im  Gefolge  recrudescirter  Neural- 
gieen treten  vielfach  vasomotorische  Fluxionen  auf,  besonders  bei 
jenen  der  Intercostalnerven.  In  dieser  Wechselwirkung  entstehen  manch- 
mal auf  eine  tiefe  Gemüthsbewegung  (mit  Ansprache  der  Intercostalbahnen) 
mehr  weniger  starke  Wallungszustände  zu  den  Lungen ,  welche  nament- 
lich bei  decrepiden  alten  Melancholikern  Bronchialkatarrhe  hervorrufen, 
oder  bestehende  erheblich  verschlimmern  können. 

Bei  den  torpiden  und  passiven  Formen  ist  der  Puls  gegentheils 
schwach,  oft  selten,  mit  hervortretender  venöser  Circulation;  oft  stellen 
sich  im  Verlaufe  Oedeme  der  Knöchel,  selbst  der  Fusse,  ein.  Bei  sehr 
chronischen  Formen  wird  in  späteren  Stadien  auch  eine  teigige  Infiltra- 
tion der  Stirnhaut  (wohl  mit  Stasen  in  der  Schädelhöhle)  beobachtet. 

Trophisch  treten  eine  Reihe  bald  mehr,  bald  weniger  ausgebil- 
deter Symptome  hervor.  Das  fast  ausnahmsloseste  derselben  ist  die  snc- 
cessive  Reduction  der  Ernährung  und  ebenso  der  Mangel  in  der  Blut- 
bildung —  nicht  selten  trotz  zureichendem  Essen  und  reichlichem  Gebrauch 


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Die  Melancholie.  Allgemeines. 


der  Tonica  und  Eisenmittel  (bei  hysterischer  Melancholie  fand  ich  anfäng- 
lich erst  sehr  starke  Fettanbildung  bei  entsprechender  Nahrungezufuhr, 
und  zwar  dies  trotz  der  activ  depressiven  Stimmung;  im  späteren  Krank- 
heitsverlauf starke  Gewichtsabnahme  um  30  Pfund).  Die  Besserung  der 
Ernährung  und  des  Aussehens  kündigt  nach  alter  Erfahrung  (c.  p.)  in 
zuverlässiger  Weise  die  eingetretene  Reconvalescenz  an,  deren  psychischer 
Theil  in  der  Regel  erst  nachfolgt.  Manchmal  vollzieht  sich  dieser  Um- 
schlag auffallend  rasch  —  wie  wenn  eine  bis  dahin  bestandene  Sperre 
im  trophischen  Nervenhaushalt  wäre  ausgeschaltet  worden  (so  nicht  selten 
auch  hei  künstlicher  Ernährung).  Die  Haut  wird  während  der  Krankheit 
meist  trocken,  welk,  spröde  durch  stark  wachsende  Epidermisschüppchen ; 
das  Aussehen  schmutzig  livide,  gedunsen,  nicht  selten  gealtert.  Mit  der 
Reconvalescenz  kehrt  auch  der  alte  Turgor  und  die  frühere  Frische  wie- 
der. Bei  tieferen  Störungsgraden  tritt  gern  auch  Fettschweiss  und  ein 
zunehmender  Anflug  von  Lanugo  über  das  Gesicht  auf  —  letzteres  in 
chronischen  ungünstigen  Fällen.  Auch  Haare  und  Nägel  werden  oft 
spröde,  die  ersteren  manchmal  rasch  melirt,  um  merkwürdigerweise  hie 
und  da  gleichfalls  zur  frühem  jugendlichen  Farbe  mit  Eintritt  der  Re- 
convalescenz zurückzukehren.  Desorganisation  der  Knorpel  (speciell  des 
Ohres  mit  Neigung  zu  Othämatomen i ,  Brüchigkeit  der  Knochen,  tiefe 
Assimilations-  resp.  Blutbildungsstörungen,  welche  unter  dem  Bilde  per- 
niciöser  Anämieen  mit  Petechienbilduug  im  Gehirn  und  in  der  Haut  ver- 
laufen, sind  die  trophische  Mitgift  ganz  schwerer,  in  Unheilbarkeit  ver- 
laufender Fälle.  Nicht  selten  ist  Neigung  zu  Furunkelbildung,  zu 
Phlegmonen,  oft  auch  zu  Hautafiectionen,  bei  senilen  Formen  besonders 
zu  Prurigo,  vorhanden.  Die  Körpertemperatur  zeigt  für  gewöhnlich,  d.  h. 
bei  frischer  und  rüstiger  Erkrankung,  keine  Alteration;  bei  torpiden  For- 
men ist  sie  nicht  selten  um  einige  Zehntel  unter  der  Norm. 

Die  Respiration  ist  in  der  Regel  —  sofern  nicht  Angstparoxysmen 
da  sind  —  verlangsamt  und  oberflächlich.  Zum  Theil  liegt  die  Ursache 
wohl  im  Nervenleiden  selbst,  zum  Theil  in  der  durch  die  ängstliche  De- 
pression veranlassten  Körperhaltung;  auch  der  Intercostalschmerz  mag 
hiefür  nicht  ohne  Bedeutung  sein.  Es  muss  an  dieser  Stelle  auf  die  hier- 
aus resultirende  Schädlichkeit,  welche  sowohl  mechanisch  in  Behinderung 
des  richtigen  Blutabflusses  aus  dem  Gehirn  besteht,  als  auch  chemisch  in 
der  dadurch  gegebenen  mangelhaften  Decarbonisirung  des  Blutes,  hinge- 
wiesen werden.  —  Palpitationen  des  Herzens  werden  oft  geklagt;  manch- 
mal sind  dieselben  äusserlich  nachweisbar;  anderemale  steht  die  subjective 
Empfindung  in  keinem  Verhältniss  zum  geringen  objectiven  Ergebnisse. 
Hier  sind  wahrscheinlich  intracardiale  Sensationen,  oder  aber  eine  durch 
den  Anschlag  an  die  neuralgische  Brustwand  verstärkt  gefühlte  Herzaction 
zur  Erklärung  beizuziehen. 

Störungen  der  Verdauungsfunctionen  sind  bei  der  Melan- 
cholie sehr  häutig.  Dyspepsieen,  abnorme  Säurebildung,  Magenkatarrhe 
mit  starkem  Zungenbeleg,  letzterer  auch  periodisch  allein  auftretend; 
namentlich  aber  Darmkatarrhe  mit  hartnäckiger  Obstipation  und  Abson- 
derung von  froschlaichähnlichem  Schleim,  mit  den  oft  höchst  fötid 
riechenden  knolligen  Stuhlen,  sind  ausserordentlich  häufige  Symptome. 
Gewöhnlich  erscheint  unter  den  ersten  verlässlichen  Zeichen  der  Recon- 


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Störungen  der  Respiration,  Verdauung  u.  8.  w.  Mimik. 


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valescenz  eine  Regelung  des  Stuhlganges.  Nicht  selten  ist  auch  zeit- 
weilige Lienterie  zugegen.  Die  meisten  Kranken  leiden  an  mehr  weniger 
grosser  Appetitlosigkeit,  welche  sich  nicht  selten  in  den  Dienst  des 
Wahnes  stellt  (Un Würdigkeit  zu  essen)  und  zur  Nahrungsverweigerung 
fuhrt;  anderemale  ist  die  letztere  aber  auch  ausschliesslich  Wahneffect 
(Versündigungswahn);  in  manchen  Fällen  führen  vielleicht  die  faulenden 
Epithelien  des  Zungenbelegs  ein  psychisches  „Verwesungsmotiv"  ein, 
welches  zur  Absage  der  Nahrung  führt.  In  einer  kleinen,  aber  beach- 
tenswerthen  Gruppe  spielen  pharyngeale  Krämpfe  mit,  welche  den  Schling- 
act  hemmen  und  dämonomanisch  ausgelegt  werden. 

Sehr  häufig  sind  im  Verlaufe  von  Melancholieen  Störungen  der 
Menstruation,  besonders  cessatio  mensium.  Diese  kann  Uber  die  ganze 
Krankheit  fortdauern  und  mit  ihrem  Schwinden  die  Wiederkehr  der  Re- 
con valescenz  bezeichnen.  Manchmal  tritt  übrigens  die  Genesung  auch 
ohne  vorherige  Menses- Regulirung  ein.  Sehr  gefährdend  resp.  verschlim- 
mernd für  den  Krankheitsverlauf  wirken  Menorrhagieen  durch  ihre  anii- 
misirenden  Folgen. 

Die  sexuellen  Functionen,  speciell  die  normalen  Sexualreize  bei  bei- 
den Geschlechtern,  liegen  oft  während  des  melancholischen  Paroxysmus 
darnieder;  anderemale  aber  tritt  anfall weise  ein  gesteigerter  Drang  nach 
geschlechtlicher  Befriedigung,  oft  in  Form  von  gebieterischer  Masturbation, 
zu  Tage. 

Fast  allen  Formen  von  Melancholieen  gemeinsam  (mit  Ausnahme 
weniger,  welche  zu  den  circulären  oder  periodischen  gehören)  ist  die 
Schlaflosigkeit.  Diese  kann  ausserordentlich  rebellisch  sein  und  den 
denkbar  höchsten  Grad  erreichen,  oft  trotz  aller  Arzneimittel.  Manch- 
mal schlafen  die  Kranken  einige  Stunden  und  wachen  dann  auf,  im  Schweiss 
gebadet  und  mit  verstärktem  Piäcordialdruck.  Der  Schlaf  kann  Wochen 
und  Monate  lang  fehlen  und  erst  mit  Eintritt  der  Reconvalescenz  lang- 
sam, oder  auch  plötzlich,  wieder  sich  einstellen.  Sehr  häutig  sind  bei 
unruhigem  Schlaf  die  peinlichen,  ausserordentlich  lebhaften  und  beäng- 
stigenden Träume.  Dabei  ist  interessant,  dass  manchmal  in  der  Recon- 
valescenz das  gesammte  wahnhafte  Vorstellungslcben  (mit  allen  Befürch- 
tungen und  SelbstvorwUrfen)  erst  noch  in  den  Traum  übersiedelt,  nachdem 
es  aus  dem  wachen  Bewusstsein  schon  gestrichen  ist,  und  dort  sein  nächt- 
liches Dasein  noch  kurze  oder  längere  Zeit  fortführt,  bis  es  endlich  ganz 
untertaucht. 

Die  Mimik  des  Melancholikers  zeigt  einen  fixirten  Affect  des  Schmer- 
zes in  den  starren,  wie  aus  Holz  geschnitzten  Zügen,  welche  oft  durch 
Tage  und  Wochen  festgehalten  werden,  wenn  nicht  der  Schmerz  der 
Verzweiflung  oder  Angst  sie  zu  einem  leisen  Beben  belebt.  Oft  ziehen 
die  Kranken  die  Lippen  zusammen,  oder  beissen  leicht  auf  eine  Seite  der 
Unterlippe,  während  die  Hände  ineinander  gelegt  und  gerieben  werden 
als  Ausdruck  ängstlicher  Rathlosigkeit.  Der  Blick  hat  gleichfalls  einen 
Starren,  oft  durch  Vortreten  der  Bulbi  noch  grösseren  Ausdruck;  bei 
andern  zeigt  gegentheils  das  verschleierte  matte  Auge  die  innere  Resig- 
nation an,  welche  die  Erfüllung  ihres  Verhängnisses  erwartet.  In  schweren 
(organischen)  Melancholieen  hat  der  Blick  etwas  fremdartiges:  er  schweift 
unruhig  und  ziellos  umher  und  wird  dazwischen  plötzlich  starr  mit  dem 


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Die  Melancholie.  Allgemeines. 


Ausdruck  des  Amaurotischen  (prognostisch  mali  ominis!).  Auch  die  Hal- 
tung und  Physiognomik  sind  vorwiegend  starr  und  gebunden,  ausser  in 
den  Erregnngsstadien  der  agitirten  Melancholie,  wo  das  jetzt  entfesselte, 
aber  monotone  Geberdenspiel  den  entlastenden  Reflex  darstellt,  welcher 
auf  Stunden  und  Tage  die  schmerzliche  Hemmung  durchbricht.  Nament- 
lich fallt  die  Nackenmusculatur  durch  ihre  Spannung  und  die  dadurch 
bedingte  steife  Kopfhaltung  in  den  Acmestadien  der  Kranken  auf.  Die 
intendirten  Bewegungen  sind  langsam,  trage,  energielos.  Die  Sprache  ist 
gewöhnlich  halblaut,  zögernd,  nicht  selten  verspätet,  sodass  der  Kranke 
erst  spricht,  wenn  man  ihn  verlassen  will;  die  Sätze  sind  häufig  unvoll- 
endet, oft  nur  aus  einigen  Worten  bestehend.  Manchmal  werden  die 
Antworten  nur  in  Seufzern  oder  einförmigen  Iliterjectionen  gegeben,  oder 
auch  in  Ausbrüchen  von  Weinen  und  vcrzweiflungsvollem  Jammern,  so- 
wie man  den  Kranken  anredet.  Neben  diesen  ausgesprochenen  melan- 
cholischen Typen  gibt  es  aber  einen  minder  hervortretenden  „mildern", 
aber  doch  sehr  charakteristischen  und  bemerkenswerten ,  weil  er  jene 
Kranken  betrifft,  welche  durch  äussere  Ruhe  und  scheinbare  Fassung, 
durch  ihr  artiges  und  bescheidenes  Auftreten  ihren  Seelenschmerz  zu  ver- 
decken wissen.  Hier  ist  es  der  einförmige  Ernst  auf  den  zeitweise  ge- 
spannteren Zügen,  welch  letztere  sich  im  Gespräche  häufig  zu  einem 
Gewohnheitslächeln  verziehen,  der  Uberaus  scheue,  meist  niedergeschlagene 
Blick,  die  matte  und  einförmige  Sprache,  die  Stille  und  Schweigsamkeit, 
das  Zaghafte  und  Zurückhaltende  im  Benehmen,  das  träumerische,  „nä- 
gelkauende" Umherstehen  —  welche  den  äusseren  Habitus  zusammensetzen. 

Therapie. 

a)  Somatische.  Die  Indicationen  sind :  1 .  R  u  h  e  dem  erkrankten 
Nervensystem,  und  zwar  sowohl  dem  hyperästhetisch -psychischen 
Centraiorgan,  als  auch  den  von  der  Peripherie  wirkenden  Reizen 
(Neuralgieen);  2.  Bekämpfung  aller  complicirenden  Begleiterkran- 
kungen (Gastricismen,  Obstipation  etc.);  3.  Hebung  der  gesunkenen 
Körperernährung. 

Hier  fällt  die  Aufgabe  der  somatischen  Therapie  zugleich  mit 
der  der  psychischen  zusammen;  nur  unter  Beiziehung  der  letztem 
lässt  sich  der  erstem  genügen  (s.  u.).  Speciell:  Sorgfältige  Diätetik. 
Der  Kranke  muss  alle  anstrengenden  Beschäftigungen  vermeiden,  be- 
sonders jede  ermüdende  Kopfarbeit;  er  soll  viel  in  frischer  Luft  sich 
aufhalten,  kleine  Spaziergänge  machen,  Morgens  sich  genügende  Bett- 
ruhe gönnen,  Abends  bei  Zeit  sich  legen.  Zur  Unterstützung  dienen 
lauwarme  Wannenbäder  mit  kalten  Umschlägen,  mit  Vortheil  Abends 
gebraucht.  Bei  Neigung  zu  Kopfcongestionen  Fuss-  und  Handbäder, 
event.  temporärer  Gebrauch  von  Eis.  Bei  anhaltenden  Congestiv- 
zuständen,  activen  und  auch  passiven  (in  chronischen  Melancholieen), 
sind  zeitweilig  Blutegel  hinter  die  Ohren  angezeigt  (sofern  der  Kräfte- 
zustand  es  zulässt);  unter  Umständen  auch  Digitalis.   Nicht  selten 


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Therapie :  Diätetik.   Bettruhe.   Behandlung  der  Schlaflosigkeit.  41 


reicht  diese  einfache  Therapie  aus,  namentlich  im  Anstaltsleben;  mit 
der  neuen  Umgebung,  welche  zugleich  die  Erfüllung  der  psychischen 
Indicationen  in  sich  schliesst,  findet  des  erkrankte  Gehirn  bei  täglichen 
Bädern  und  Fürsorge  fUr  den  Schlaf  auch  körperlich  seine  Ruhe. 
In  der  Regel  gelingt  dies  aber  nur  bei  leichtern  und  frischen  Fällen. 
Ist  der  melancholische  Affect  stärker,  steigt  derselbe  bis  zur  Melan- 
cholica  agitata,  so  kann  zwar  oft  das  genannte  einfache  Regimen 
auch  noch  genügen,  aber  stets  nur  in  Unterstützung  durch  den  Asyl- 
Aufenthalt  (s.  u.).  Eine  sehr  wesentliche,  nicht  genug  zu  schätzende 
Mithülfe  bei  dieser  symptomatischen  Behandlung  bildet  namentlich 
die  Bettruhe:  die  Horizontallage  erleichtert  die  Hirn-Circulation  und 
leitet  mit  der  motorischen  Ruhe  auch  die  cerebrale  ein.  Bei  anä- 
mischen, erschöpften,  speciell  nahrungsverweigernden  Kranken  steht 
dieses  diätetische  Mittel  in  erster  Stelle,  so  zwar,  dass  man  dasselbe 
unter  Umständen  durch  Beihülfe  eines  Wärters  (Wärterin)  durchführen 
rauss.  Dabei  Fürsorge  für  die  nöthige  Bettwärme,  so  besonders  bei 
Kranken  mit  Cyanose  und  Kälte  der  Füsse. 

Reicht  auch  dieses  Regimen  (Bettlage,  lauwarme  Bäder,  ent- 
sprechende Diät,  s.  u.)  zur  Erzielung  der  Ruhe  nicht  aus,  so  greifen 
wir  zu  narkotischen  Mitteln.  Diese  sind  zunächst  auf  Erreichung 
eines  genügenden  Schlafs  gerichtet  Im  Paraldehyd  ist  uns  dafür 
in  neuester  Zeit  ein  Arzneistoff  geschenkt  worden,  welcher  ebenso 
sicher  wirkt,  als  er  —  wenigstens  bis  jetzt  —  ganz  gefahrlos  er- 
scheint, selbst  bei  längerem  Gebrauche.  Man  beginne  mit  3  Gnu., 
und  steige  bis  zu  6  und  S  Grm. ;  die  höhern  Gaben  gibt  man  öfters 
mit  Vortheil  in  2  getrennten  Portionen  (4  vor  Schlaf  beginn,  2  ev. 
während  der  Nacht).  Chloral,  in  Dosen  von  1  —2  Grm.,  ist  vielleicht 
noch  wirksamer  wie  Paraldehyd;  aber  für  die  Dauer  ob  seiner  vaso- 
paralytischen  Wirkung  gefährlich.  Bei  decrepiden  Melancholikern 
mit  Herzschwäche  ist  Kampher  (0,06 — 0,13)  ein  mit  Recht  geschätztes 
Schlafmittel. 

In  sehr  acuten  Fällen  ist  es  aber  mit  der  Erzielung  der  Nacht- 
ruhe allein  nicht  gethan.  Das  hyperästhetische  Gehirn,  welches  auf 
alle  Gedanken  und  Wahrnehmungen  nur  mit  Schmerzempfindungen 
antwortet  und  in  motorischen  Reflexen  sich  zu  entlasten  sucht,  ver- 
langt auch  unter  Tags  gebieterisch  Ruhe.  Dazu  kommen  die  von  der 
Peripherie  einwirkenden  neuralgischen  Reize,  welche  eine  beständige 
oder  anfallsweise  Angst  unterhalten,  und  das  ohnehin  geschwächte 
Centraiorgan  immer  weiter  erschöpfen.  Da  muss  Ruhe  um  jeden 
Preis  geschafft  werden,  Ruhe  unter  Tags  und  in  der  Nacht.  Hier 
sind  die  cerebralen  Sedativa  des  Opiums  und  Morphiums  und  das 


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42 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 


cerebral  und  spinal  wirkende  Bromkali  unentbehrlich.  Bei  dem  leb- 
haft peinlichen  Gedankendrang  des  Melancholikers,  in  welchem  nur 
eine  innere  Ueberfüllung,  aber  kein  Fluss  der  Vorstellungen  statt- 
findet, weil  die  schmerzliche  Empfindung  jede  Bewegung  der  letztem 
hemmt  und  die  Wahnidee  der  Selbstverschuldung  oder  des  Verloren- 
seins alle  andern  Vorstellungen  verdunkelt  hält  —  ist  Opium  der 
König  der  Heilmittel.  Wir  beginnen  mit  0,04  —  0,06  des  Pulvers 
oder  auch  12—15  gtt.  der  Tinctur,  und  reichen  diese  Gabe  schon 
früh  Morgens.  Die  zweite  kann  Abends  als  Schlaf-Gabe  gereicht 
werden,  sofern  nicht  noch  eine  dritte  oder  selbst  eine  vierte  sich 
indicirt  erweist.  Diese  Indication  richtet  sich  ganz  nach  dem  Einzel- 
fall, nach  der  Stärke  des  melancholischen  Affects,  nach  der  Häufig- 
keit der  schmerzlichen  Tages-Exacerbationen.  Es  muss  Regel  sein, 
wenn  man  möglichst  sicher  und  berechnend  wirken  will,  das  be- 
ruhigende Mittel  stets  vor  Eintritt  der  eigentlichen  Paroxysmen  zu 
geben,  d.  h.  bevor  der  Kranke  unruhig  wird.  Erfahrungsgemäss 
wirkt  eine  kleine  Gabe,  rechtzeitig  gereicht,  viel  entschiedener, 
als  eitie  grössere  zur  Unzeit,  d.  h.  auf  der  Höhe  des  Anfalls.  An- 
fängliche Nausea  geht  allermeist  rasch  vorUber.  Bei  dem  einmal 
erreichten  Beruh igungseffecte  bleibe  man  aber  nicht  stehen,  sondern 
suche  nun  die  erzielte  Ruhe  möglichst  festzuhalten,  indem  man  die 
erprobte  Dosis  weiter  fortgibt.  Dazu  kann  vielleicht  schon  die  oben 
bezeichnete  Gabe  genügen;  ist  dies  aber  nicht  der  Fall  und  wächst 
die  Unruhe  unter  der  bisherigen  Dosirungshöhe ,  so  steige  man  mit 
dieser,  nach  Bedarf  um  5  resp.  10  gtt.  der  Tinctur.  Man  kann  so 
successive  bis  auf  50,  60,  SO,  ja  100  Tropfen  p.  Dosi  steigen,  ohne 
dass  man  irgend  eine  Inconvenienz  erlebt  als  die  unvermeidliche 
Obstipation,  welche  ja  leicht  zu  beseitigen  ist.  Ziel  der  Behandlung 
ist  immer  die  möglichste  cerebrale  Beruhiguog:  temporäre  Minde- 
rung oder  Hinwegnahme  des  krankhaften  GemUthsdrucks,  Nivellirung 
des  Gedankengangs,  so  dass  die  Suprematie  der  einen  Vorstellung 
(Wahnidee)  gelockert  und  wieder  normalere  Apperceptions -Verhält- 
nisse (Aufmerken,  Interesse)  hergestellt  werden.  Dieses  muss  aber 
dauernd  angestrebt  werden,  so  dass  der  wunde  Gemtithsnerv  heilen 
kann:  die  künstliche  Opiat- Ruhe  ist  der  Gipsverband  des  erkrankten 
Nerven.  Nach  unserer  Erfahrung  liegt  deshalb  sowohl  das  Geheim- 
niss  als  der  Segen  der  richtigen  Opium -Therapie  in  der  metho- 
dischen Anwendung. 

Man  reicht  das  Opium  in  der  Regel  per  os,  entweder  allein,  oder 
(bei  Schwächlichen)  in  Sherry.  Wo  dies  aus  Abneigung  des  Kranken 
nicht  möglich,  kann  man  auch  die  Klystierform  auwenden.  Speciell  em- 


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Opium.   Morphium -Injectioncn. 


43 


pfiehlt  sich  diese  in  Fällen,  in  welchen  mitwirkende  „uterine"  Reize 
wahrscheinlich  sind  (auch  Masturbationsdrang).  Unter  die  Speisen  ge- 
mischt geben  wir  es  nie;  hier  eignet  sich  ungleich  besser  die  subcu- 
tane Anwendung. 

Die  Anzeigen  für  den  Gebrauch  des  Morphiums  fallen,  wie  dessen 
Wirkungsweise,  mit  denen  des  Opiums  zusammen.  Morphium  greift  wohl 
die  Verdauungsfunctionen  weniger  an  und  dürfte  deshalb  in  Fällen  mit 
dafür  besonders  gebotener  Rücksicht  eine  Bevorzugung  verdienen.  We- 
sentlich aber  übertrifft  es  das  Opium  in  der  Brauchbarkeit  zur  subcutanen 
Application.  Die  wässerige  Lösung  des  Opiumextracts ,  frisch  gut  ver- 
wendbar, verdirbt  nämlich  gerne  und  gefährdet  dann  durch  Hervorrufung 
von  Hautabscessen. 

Die  Morphium-Injectionen  haben  sich  bei  uns  eingebürgert 
erhalten  und  ihren  guten  Ruf,  speciell  in  frischen  Fällen  von  Me- 
lancholia  agitata,  bewährt  Sie  verdienen  den  entschiedenen  Vor- 
rang vor  der  innern  Anwendung  da,  wo  man  1.  möglichst  rasch 
wirken  will;  2.  wo  neuralgische  Sensationen  vorhanden  sind;  und 
3.  wo  der  Widerstand  des  Kranken  die  innere  Anwendung  ausschliesst. 
Namentlich  Fälle  mit  paroxysmalen  Angstzufällen  sind  für  die  In- 
jectionen  bevorzugt;  auch  hier  gilt  wieder  die  Specialindication:  die 
Application  möglichst  im  Beginn  jeweils  vorznnehmen. 

Man  fange  mit  0,01  an  (in  der  Regel;  es  gibt  übrigens  auch  idio- 
synkratische  Personen,  welche  eine  noch  kleinere  Anfaugsdosis  räthlich 
machen)  und  steige,  in  beständiger  Beobachtung  der  Wirkung,  wenn 
nöthig  bis  0,06  und  selbst  noch  höher.  Wir  haben  früher  schliessliche 
Einzelgaben  von  0,2  nicht  gefürchtet  und  in  verzweifelten  Fällen  die 
befriedigendsten  Erfolge  davon  gesehen;  doch  dürften  diese  Eventuali- 
täten zu  den  seltenern  gehören.  Man  fährt  mit  der  Dosishöhe,  welche 
die  gewünschte  Beruhigung  erzielte,  methodisch  (wie  beim  internen  Ge- 
brauch) fort,  bis  der  Minderungsvcrsuch  gelingt.  Nicht  selten  muss  man 
nach  erzielter  Abnahme  wiederum  steigen,  und  so  wiederholt;  die  Do- 
airung  darf  nie  Schablone  werden,  sondern  immer  Bich  in  Fühlung  mit 
dem  wirklichen  Bedürfnisse  halten.  Bei  längerm  Gebrauch  ist  stets  die 
Gefahr  des  Morphinismus  zu  berücksichtigen,  obwohl  diese,  eo  lange  das 
Mittel  nur  von  ärztlicher  Hand  spendirt  wird  (was  ich  als  absolute  Be- 
dingung voraussetze),  wenigstens  nach  unserer  Erfahrung  lange  nicht  so 
gross  ist.  Wir  haben  unter  vielen  Hunderten  von  Fällen  noch  keinen 
beobachtet,  in  welchem  nicht  die  Abgewöhuung  wieder  gelungen  wäre. 
Bevor  letztere  sicher  und  fest  ist,  darf  auch  nie  ein  Reconvalescent  ent- 
lassen werden.  Die  Entwöhnung  geschieht  nach  unserer  Usance  am 
besten,  indem  man  die  Morphiumgabe  mindert  und  zunächst  den  Ausfall 
mit  einem  innerlichen  Aequivalent  deckt.  Daneben  ist  Unterstützung  mit 
Wein  und  täglichen  lauwarmen  Bädern  sehr  wichtig.  Man  lässt  so  zu- 
nächst die  Mittagsinjection  fallen,  während  man  die  beiden  andern,  Mor- 
gens und  Abends,  noch  beibehält.  Dann  kommt  der  Ausfall  der  abend- 
lichen an  die  Reihe,  indem  man  dafür  anderweitig  (medicinisch  Paraldehyd; 


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Die  Melancholie.  Allgemeines. 


oder  diätetisch)  den  Schlaf  zu  sichern  sucht,  und  als  Schluss  die  morgend- 
liche durch  Ersatz  von  Morphium  per  os  deckt,  weiches  jetzt  successive 
gemindert  wird.  Je  nach  dem  Einzelfalle  kann  man  oft  rasch  herab- 
gehen; doch  berücksichtige  man  die  möglichen  Fluxionen  zu  Darm  und 
Lungen.  —  Die  Chokzufälle  bei  den  Injectionen  sind  nicht  immer  zu  ver- 
meiden, da  wir  deren  sichere  Entstehuugsweise  noch  nicht  kennen;  die 
Auswahl  von  schlaffern  Hautgegenden  mit  sorgfältiger  Erhebung  der 
Hautfalte,  sodann  nur  wässerige  (nicht  angesäuerte)  Injectionsfltissig- 
keit  scheint  wichtig  zu  sein,  um  die  Läsion  resp.  chemische  Reizung 
eines  Nervenz weigchens,  und  damit  den  vasomotorischen  Reflex  zu  ver- 
meiden. 

Bromkali  ist  das  spinale  Opium,  und  eignet  sich  namentlich 
bei  spinal -irritativer  (nenrasthenischer)  Grundlage  der  melancholi- 
schen Neurose,  oder  bei  Verdacht  auf  bestehenden  Sexualreiz.  Die 
hypochondrischen  und  hysterischen  Melancholieen  indiciren  deshalb 
einen  fortgesetzten  Bromkaligebrauch,  welchem  sehr  oft  mit  Vor- 
theil etwas  Morphium  beigesetzt  wird.  (Vergl.  übrigens  auch  die 
Therapie  der  Hypochondrie  und  Hysterie). 

Die  etwa  vorhandenen  Neuralgieen,  worunter  die  der  Inter- 
costalbahnen  besonders  bevorzugt  sind,  erfordern  eine  specielle  Auf- 
merksamkeit. Gegen  leichtere  Paroxysmen  nützt  oft  überraschend 
schnell  die  örtliche  Anwendung  von  Chloroform  (auf  Watte,  oder 
mit  Oel  resp.  Spiritus,  ohne  und  mit  Opiumzusatz).  Bei  hartnäckigen 
neuralgischen  Beschwerden  liefert  die  elektrische  Localbehandlung 
nicht  selten  sehr  befriedigende  Erfolge.  Natürlich  richtet  sich  die 
Behandlung  der  peripheren  Sensibilitätsanoma licen  noch  im  weitern 
und  wesentlich  nach  den  eventuellen  grundliegendcn  Ursachen  (Uterin- 
krankheiten). 

Die  Bekämpfung  der  complicirenden  somatischen  Begleitzustände 
hat  in  erster  Reihe  katarrhalische  Magendarmzustände  ins 
Auge  zu  fassen.  Dieselben  sind  von  ausserordentlicher  Wichtigkeit ; 
mit  manchen  psychischen  Paroxysmen  gehen  sie  genau  parallel, 
ohne  deshalb  immer  in  Causalbeziehung  zu  stehen,  aber  doch  sehr 
oft  in  einem  Zusammenhang,  dass  die  psychische  Besserung  sicht- 
lich der  vorangehenden  gastrisch -intestinalen  nachfolgt.  Die  Behand- 
lung hat  hier  nach  den  Regeln  der  iuneren  Medicin  zu  geschehen. 
Eine  besondere  Wichtigkeit  verdient  die  genaue  Regelung  der  fast 
regelmässig  vorhandenen  Obstipation  mit  oft  übermässiger  Schleim« 
production  des  Dickdarmes,  manchmal  auch  mit  Lienterie.  In  zwei- 
ter Reihe  ist  die  sorgfältige  Ueberwachnng  der  menst malen 
Vorgänge  wahrzunehmen  (Näheres  bei  den  Menstrualpsychosen). 
Bei  Männern  sind  gehäufte  Pollutionen  zu  beachten  und  geeignet  zu 


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Bromkali.   Behandlung  der  iutestiu.  Störungen.   Nahrungsverweigerung.  45 


behandeln.  Dass  der  Bekämpfung  von  etwa  vorhandener  Mastur- 
bation die  ernsteste  Aufmerksamkeit  zu  schenken  ist,  versteht  sieb 
von  selbst.  —  Sorge  für  die  Hautpflege  darf  gleichfalls  nicht  ver- 
absäumt werden  (s.  u.). 

Die  Hebung  der  gesunkenen  Körperernährung  gehört  unter  die 
wichtigsten  Indicationen  der  Behandlung.  Hier  hat  vor  Allem  eine 
richtige  Diät  einzutreten:  der  Gebrauch  einer  nährenden  aber  mög- 
lichst reizlosen,  leicht  verdaulichen  Nahrung.  Wein  in  kleinen  Quan- 
titäten ist  fast  stets  zu  gestatten;  bei  torpiden  Patienten  täglich 
mehrere  Löffel  voll  eines  kräftigen  südlichen  Weines.  Oft  bringt 
ein  Glas  Glühwein  oder  Punsch  den  lange  vermissten  Schlaf.  Be- 
sonders befördernd  für  diesen  sowie  auch  für  die  Allgemeinernährung 
ist  gutes  Bier.  Dagegen  ist  die  Zahl  der  Cigarren  genau  zu  be- 
schränken, nicht  selten  nur  in  homöopathischer  Dose  zuzulassen,  ev. 
sogar  ganz  zu  beschränken.  Das  Schnupfen  ist  gegen  Uebermaass 
zu  überwachen. 

Man  kann  in  der  täglichen  Regulirung  des  'passenden  Kostzettels 
nicht  sorgsam  genug  sein.  Bei  decrepiden  Patienten,  welche  dazu  noch 
mit  oft  mangelhaften  Zähnen  eine  gierige  Hast  beim  Essen  entwickeln, 
ist  das  Fleisch  fein  zerkleinert  zu  reichen.  —  Oft  genug  verweigern  die 
Kranken  aus  Wahn  oder  aber  aus  wirklicher  Appetitlosigkeit  Tage  lang 
la.s  Essen.  Diese  Nahrungsverweigerung  (ein  Symptom,  welches 
übrigens  in  den  verschiedensten  Irreseinsformen  wiederkehrt)  verlangt, 
besonders  bei  Geschwächten,  die  grösste  Beachtung.  Man  wird  niemals 
sofort  nach  dem  ersten  Aussetzen  der  Nahrung  zur  Force  majeure  greifen. 
Hier  gilt's  zuzuwarten  und  erst  die  ganze  individualisirende  psychische 
Behandlung  in's  Treffen  zu  führen.  Zugleich  sind  ev.  Mundkatarrhe 
sorgsamst  zu  beseitigen  (Chlors.  Kali).  Dann  probirt  mau  es  mit  verborgen 
(aber  dem  Kranken  leicht  auffindlich)  hingelegten  Speisen;  manchmal, 
wenn  er  bei  den  Andern  gemeinsam  verweilt  und  ohne  aufmunternden 
Zuspruch  ganz  sich  selbst  überlassen  wird.  Andere  essen,  wenn  man 
zuwartet  und  dann  stillschweigend  sich  anhebt  das  Essen  abzutragen; 
wiederum  Andere  beginnen  ihr  erstes  Debüt  auf  einem  Spaziergang  zu 
geben,  wo  sie  Obst  auflesen  und  heimlich  naschen.  Das  Alles  sind  höchst 
beachtenswerte  praktische  Fingerzeige,  welche  erst  versucht  sein  müssen, 
ehe  man  zur  Schlundsonde  greift.  Aber  endlich  lässt  sich  diese  doch 
nicht  mehr  entbehren.  Man  kann  bei  Bcttlage  des  Krauken  und  nicht 
zu  sehr  geschwächter  Ernährung  c.  p.  an  8 — 14  Tage  zuwarten,  wenn 
der  Kranke  Wasser  trinkt  und  gelegentlich  etwas  Milch  oder  Wein  oder 
ein  Eisstückchen  nimmt.  Wird  aber  der  Puls  schwächer,  der  Kräftezu- 
Etand  geringer,  tritt  absolute  Weigerung  auch  gegen  Fluida  ein  und  der 
charakteristische  Inanitiousfoetor:  dann  ist  mit  der  künstlichen  Ernährung 
durch  die  Sonde  nicht  zu  zögern  —  lieber  zu  früh  als  zu  spät!  Man 
nmss  nicht  selten  Wochen-  und  selbst  Monate- lang  füttern  (natürlich  ver- 
sucht man  dazwischen  immer  wieder  die  eigene  Mithülfe  des  Kranken), 


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46 


Die  Melancholie.  Allgemeines. 


bleibt  sich  aber  bei  allen  diesen  Mühen  einer  Lebens-  and  sehr  oft  Ge- 
sundheit-rettenden That  bewnsst.  Zumeist  nimmt  der  anfängliche  heftige 
Widerstand  Seitens  des  Kranken  nach  und  nach  ab;  oft  wirken  kleine 
Morphium-  oder  Atropininjectionen  dabei  unterstützend.  (Man  gibt  am 
besten  Eiermilch,  kräftigen  Leguminosenschleim  mit  Ei  oder  Pepton  und 
Zusatz  von  etwas  Kochsalz;  Wein  lässt  sich  damit  verbinden;  je  nach 
Umständen  kann  man  auch  Ferr.  lact.  oder  Leberthran,  Malzextract  bei- 
mischen.) Oft  geht  der  künstlichen  Einflössung  der  Nahrung  mit  Vortheil 
eine  Auswaschung  des  Magens  mit  Vichywasser  voraus.  —  Bemerkt  muss 
werden,  dass  wiederholt  auch  die  Versetzung  nach  Hause,  welche  die 
Kranken  gewünscht  hatten,  die  Abstinenz  beseitigte. 

Sehr  wichtig  ist,  wo  es  nöthig,  die  arzneiliche  Bekämpfung 
anämischer  Zustände  durch  Eisen-  und  Chininpräparate.  Die  Wahl 
des  Eisenpräparates  hat  sorgsam  den  jeweiligen  Verdauungszustand 
zu  berücksichtigen;  manchmal  eignen  sich  dabei  Eisen  mit  Bitter- 
mitteln, passende  Mineralwasser,  bei  pastösem  Habitus  Jodeisen; 
bei  verweigerter  innerlicher  Darreichung  Salzbäder  mit  Eisenvitriol 
und  nachheriger  Bettruhe.  —  Leberthran  und  Malzextract  finden 
vielfache  Indicationen.  —  Bei  schlaffen  Constitutionen  wirkt  der  Ge- 
brauch temperirter  Morgen  Waschungen  mit  nachfolgender  Frottirung 
als  Tonicum  für  die  Verdauung  und  zugleich  als  Nervinum. 

b)  Psychisch.  Auch  hier  ist  Ruhe  dem  schmerzgebeugten  Ge- 
müth  erstes  Gebot.  Darum  kein  directes  Aufmuntern,  kein  rasches 
Anfassen,  kein  ungestümes  Aufrichtenwollen,  ebenso  wenig  aber  auch 
ein  mahnendes  Tadeln  oder  Zusprechen,  sondern  ruhige  aufrichtige 
Antheilnahme  an  dem  Geschick  des  Kranken,  welche  nicht  in  ge- 
suchten Worten,  sondern  in  der  Rathfindigkeit  gegenüber  der  Rat- 
losigkeit des  Kranken,  in  der  individualisirenden  Fürsorge  für  seine 
Bedürfnisse  das  ärztliche  Verständniss  für  sein  Leiden  bekundet, 
und  mehr  in  helfender  That  als  in  der  Rede  das  sichere  Sieges- 
bewusstsein  ausspricht.  Wahnvorstellungen  rede  man  nicht  aus,  am 
wenigsten  durch  Argumente;  man  nehme  sie  entgegen  und  halte  den 
Beweisversuchen  des  Kranken  gegenüber  die  summarische  Zu- 
versicht fest,  dass  man  fUr  ihn  hoffe  und  bestimmt  hoffe.  Sein  Ver- 
trauen gewinnen  ist  Alles!  Daneben  sorgsamste  Abhaltung  aller 
Reize  von  aussen,  aller,  wenn  auch  so  wohlgemeinter,  Zusprachen 
und  Hülfeversuche  seitens  der  Umgebung  des  Kranken! 

In  diesen  kurzen  Zügen  dürfte  der  Canon  der  psychischen  Therapie, 
wenigstens  für  die  Krankheitsanfänge,  gelegen  sein.  Unter  besonders 
günstigen  Verhältnissen  finden  sich  wohl  mitunter  die  nöthigen  Cur- 
bedingungen  auch  ausserhalb  des  Anstaltslebens;  sehr  selten  aber  in 
der  eigenen  Familie  des  Kranken.  Fast  ausnahmslos  ist  die  Versetzung 
in  eine  neue  Umgebung  absolute  Nothwendigkeit.   Diese  muss  aber  wie- 


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Psychische  Therapie.  —  Behandlung  der  Unterformen.  47 


derum  alle  Garantieen  der  Rahe  und  der  verständigen  Leitnng  bieten. 
Damm  keine  Zerstreuungsreisen,  aber  auch  kein  iaolirter  Badeaufenthalt; 
am  besten  eine  befreundete  Familie.  Es  ist  kein  Zweifel,  dass  eine  ge- 
wisse Anzahl  von  Melancholikern  anch  auswärts  von  einem  Asyl  genesen 
kann;  aber  es  ist  eine  relativ  kleine,  und  die  Auswahl  der  passenden 
Pille  erfordert  grosse  Sachkenntniss.  Bei  weitaus  der  grö&sten  Zahl  ist 
die  Versetzung  in  die  Anstalt  nothwendig  und  nnerlttsslich.  Bei  Neigung 
zn  Selbstmord  ist  sie  geradezu  Pflichtgebot.  Bei  rathlos  Ängstlichen,  in 
ihrem  Schmerz  sich  behagenden  Kranken  wirkt  der  Druck  der  Anstalt 
als  heilsamer  Gegenreiz.  Allgemein  muss  gesagt  werden,  dass  die  An- 
stalt mit  ihren  reichen  Ressourcen  und  ihrer  Einrichtung  zu  einer  indi- 
vidualisirenden  Behandlung  speciell  ftir  die  Melancholie  das  Heilmittel 
ersten  Ranges  darstellt,  dessen  volle  Durchführbarkeit  nur  in  den  sehr 
seltenen  Fällen  fraglich  werden  kann,  wo  das  Heimweh  eine  unbesieg- 
liche  Gemilthsspannung  und  manchmal  auch  Nahrungsverweigerung  — 
oft  aas  Wahn,  dass  der  Kranke  die  Kosten  nicht  bezahlen  könne  —  unter- 
hält. (Hier  wirkt  hin  und  wieder  die  begehrte  Rückversetznng,  natürlich 
unter  den  unerläßlichen  Cautelen,  erlösend).  —  Man  säume  nicht  zu  lange 
mit  der  Ordination  der  Asylpflege! 

Neben  der  Ruhe  ist  leichte,  anziehende,  zum  Aufmerken  ver- 
anlassende und  dadurch  vom  Wahn  ablenkende  Beschäftigung 
zu  empfehlen  (Feld-,  Gartenarbeit,  rationelle  Gymnastik).  Dabei 
sollen  anch  erholende,  mässig  anregende  Erholungsstunden  nicht 
mangeln.  Aber  nicht  zwangsweise  —  Geduld  und  Zuspruch  müssen 
nnerschöpflich  sein.  Oft  findet  sich  der  Kranke  am  ehesten  zurecht, 
wenn  man  ihn  mitten  unter  die  anderen  Arbeitenden  gehen  lässt  — 
Exempla  trahunt.  Aber  auch  Geduld  und  Zuwarten  haben  ihre 
Grenzen.  Oft  behagt  sich  der  Kranke  in  dem  Cult  seines  Weh's; 
er  wird  in  seinen  Schmerz  förmlich  verliebt  und  widerstrebt  allen 
Ansinnen  ihn  abzulenken.  Da  ist,  wenn  man  erst  sein  Vertrauen 
gewonnen,  auch  ein  ernstes  Wort  und  ein  nachhaltiges  Bestehen  auf 
der  als  nothwendig  erkannten  Vorschrift  am  Platze.  So  kann  auch 
die  Zeit  kommen,  wo  gegen  den  Wahn  ein  einredendes  Votum  an- 
gezeigt erscheint,  belehrend,  aufklärend,  selbst  bestimmt  verbietend. 
In  der  Gewährung  von  Concessionen,  in  der  Verschiebung  von  Wün- 
schen des  Kranken  hat  der  Arzt  ein  ebenso  reiches  als  wirksames 
Armamentarinm,  dessen  Indicationen  in  seinem  Kopfe,  dessen  An- 
wendung und  Modus  der  Ausführung  in  seinem  Mitgefühl  und  Tact 
gelegen  sind. 

Anf  die  einzelnen  klinischen  Unter  formen  der  Melancholie  über- 
gehend, erfordert 

a)  dieMelancholia  siraplex  Ruhe,  Regulirung  der  Diät,  Bäder, 
Beförderung  des  Schlafs,  Hebung  der  Ernährung  durch  eiweisshaltige  Kost, 
Wein;  unter  Umständen  Opium; 


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48 


Specielle  Melancholie. 


b)  die  Melancholia  agitata  Beruhigung  in  erhöhter  Potenz  durch 
verlängerte  Bäder  (1—2  Stunden  mit  Umschlägen),  Opiate,  ev.  Morph. - 
Injectionen,  Bettlage.  Sorgfältigste  Berücksichtigung  der  gesunkenen 
Körperernährung; 

c)  die  Melancholia  passiva  Bettlage,  Kegulirung  der  ungleichen 
Blutvertheilung  durch  Umschläge  auf  den  Kopf,  ev.  hirudines  (1 — 2  hinter 
die  Ohren,  in  Pausen),  Ableitungen  auf  die  Füsse,  Sorge  für  geordueten 
Stuhl,  Hebung  der  Ernährung,  Abwaschungen  mit  temperirtem  Wasser, 
Priessnitz'schc  Einpackungen,  lauwarme  Bäder.  —  Speciell  die  Melan- 
cholia attonita  erfordert  Bettruhe,  Sorge  für  die  Ernährung  (ev.  mit 
der  Sonde),  Ueberwachung  der  Excretiouen  (ev.  Katheter),  Morph.-Injec- 
tionen,  lauwarme  Bäder; 

d)  die  hypochondrische  Melancholie  hat  neben  den  sonstigen 
vorgenannten  Indicationen  auch  die  Therapie  des  hypochondrischen  Ele- 
ments wahrzunehmen  (8.  Hypochondrie).  Fest  und  bestimmt  im  Ourplan, 
keine  unnütze  Vielgeschäftigkeit! 

e)  Die  Schwäche-Melaucholieen  des  Alters  haben  ganz  be- 
sonders die  geschwächten  Ernährungsverhältiiiäse  zu  berücksichtigen  und 
deu  gesunkenen  Turgor  Vitalis.  Neben  Bettlage,  Bädern,  Wein,  China- 
Präparaten,  Opium,  ist  Kampher  als  wichtiges  Adjuvaus  zu  nennen. 

f)  Die  sexuellen  Melancholiecn  (ex  masturbatione)  indiciren 
Bromkali  ohne  oder  mit  Morphium,  ev.  Behandlung  des  localen  Leidens 
(Onanie,  Pollutionen),  kühle  Abwaschungen,  allgemeine  Faradisation,  gal- 
vanische Behandlung  des  Rückenmarks  und  der  neuralgischen  Sensationen. 

Die  psychische  Behandlung  bleibt  bei  allen  Uuterforuien  nach 
denselben,  stets  individualisirenden ,  Grundsätzen  zu  leiten.  Qaoad 
suicidium  sei  unbeugsame  Regel  für  den  Arzt:  Keinem  Melancholiker 
trauen! 


Specielle  Melancholie. 

Krankheitsbild.    Verlauf.  Ausgänge. 

Das  klinische  Symptomenbild  ist  ein  ausserordentlich  mannig- 
faltiges, je  nach  der  nähern  körperlichen  Grundlage,  den  Ursachen, 
dem  Lebensalter.  Auch  das  „psychische  Temperament",  die  Indi- 
vidualität, iutellectuelle  und  sittliche  Bildungsstufe  spielen  eine  sehr 
wesentliche  Rolle  sowohl  in  der  Gestaltung  des  klinischen  Zustande- 
büdes  selbst,  als  auch  des  Verlaufs  und  der  Ausgänge. 

Wir  halten  uns  hier  zunächst  an  das  Bild  der  rüstigen  Lebensjahre 
und  Constitution.  Auch  so  noch  ist  es  ein  sehr  vielseitiges,  formen-  und 
farbenreiches. 


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Krankheitsbeginn.    Verschiedene  Typen. 


49 


Die  Entstehung  der  Melancholie  ist  gewöhnlich  eine  allmähliche, 
seltener  eine  acute.  Vorbereitet  wird  sie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  durch 
emotive  Erlebnisse,  welche  die  geistige  und  körperliche  Widerstandskraft 
schneller  oder  langsamer  untergraben,  und  speciell  durch  den  Affect  des 
Kummers  und  der  Sorge  jene  „centroperiphere"  Form  vorbereiten,  welche 
wir  pbysiopathologisch  im  Mittelpunkt  der  fertigen  Melancholie  stehen 
sehen.  Schlaflosigkeit,  zunehmende  Schwäche  der  Verdauung,  Reduction 
der  Ernährung  sind  die  gewöhnlichen  Folgen  dieser  Vorbereitung;  sie 
werden  zugleich  mit  Neuralgieen  und  häufigen  vasomotorischen  Affectionen 
zum  Nährboden  fUr  die  sich  entwickelnde  Neuropsychose.  Es  kann  aber, 
und  zwar  häufig,  die  letztere  auch  ohne  den  bezeichneten  psychischen 
Umweg  direct  durch  eine  die  körperliche  Constitution  und  speciell  die 
Hirnernährung  beeinträchtigende  Allgemeinerkrankung  geschaffen  werden. 
Hier  stehen  chronische  oder  acute  Anämieen,  Menstruationsstörungen, 
katarrhalische  Darmzustände ,  Uterinaffectionen  bei  Frauen,  Verdauungs- 
störungen bei  Männern  in  erster  Reihe  als  einleitende  Vorgänge.  In  der 
Regel  geben  körperliche  Beschwerden  voraus,  worunter  Kopfweh  und 
vage  „rheumatoide"  Empfindungen  am  meisten  geklagt  werden;  andere« 
male  Schwindel,  Kopfdruck,  Verstopfung  der  Ohren,  Globusgefühle  im 
Hals,  Zittern  an  Armen  und  Füssen,  welches  „schliesslich  im  Kopf  und  auf 
der  Brust  sitzen  bleibt". 

Eine  allgemeine  Verstimmung,  eine  rat h lose  Verzagtheit,  ein 
menschenscheues,  hald  mehr  unmotivirt  gereiztes,  bald  mehr  unbe- 
greiflich gleichmütiges,  oft  muthloses  Wesen  beschleicht  den  Kranken. 
Er  bat  keine  Lust  zur  Arbeit,  ist  körperlich  und  geistig  milde.  In 
der  Folge  fängt  er  an  zu  „sinniren",  in  Büchern  zu  grübeln,  spricht 
wenig,  äussert  keine  rechte  Freude  und  Interesse  mehr.  Viele 
suchen  sich  noch  durch  Zerstreuungen  zu  betäuben,  Andere  (nament- 
lich Frauen)  durch  gesteigerten  Kirchenbesuch  sich  die  innere  Stütze 
wieder  zu  geben,  welche  sie  langsam  entsinken  fühlen.  Leise  kün- 
den sich  Selbstvorwürfe  an,  Anfangs  wieder  verscheucht  und  be- 
schwichtigt, allmählich  aber  lauter  und  nachdrucksvoller.  Manchmal 
kann  gleich  Anfangs  eine  unbestimmte  Angst  Platz  greifen,  und  der 
Kranke  durch  unmotivirtes  Weinen  seine  Furcht  kund  geben;  die 
nie  fehlende  Schlaflosigkeit  verschärft  das  peinliche  Gefühl  einer  un- 
endlichen Bangigkeit.  Mit  dieser  wechselt  oft  ein  Gefühl  „zorniger" 
Gereiztheit  ab,  ohne  dass  der  Kranke  weiss,  warum?  Wenn  er  sich 
Nachts  unruhig  im  Bette  herumwirft,  so  steigt  es  von  der  Brust  zum 
Kopfe,  dass  es  ihm  ganz  schwindelig,  vor  den  Augen  heiss  und 
schwul  wird,  und  er  Morgens  ganz  erschöpft  und  unfähig  zu  jeder 
Arbeit  aufsteht  —  Es  gibt  auch  eine  ganz  acute  Entstehung,  wo 
der  Kranke  Abends  noch  harmlos  zu  Bette  geht  —  aber  mitten  in 
der  Nacht  wird  er  geweckt  durch  peinliches  Herzklopfen,  oder  durch 
einen  brennenden  Schmerz  in  der  Herzgrube,  welcher  sich  bis  unter 

Sektle,  CeuOwkrankbeiUD.   3.  Aufl.  4 


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50 


Specielle  Melancholie. 


die  Rippen  hinzieht.  Da  überfällt  ihn  ein  Gefühl  namenloser  Angst; 
irgend  ein  (von  früher  parater  oder  erst  im  Affectmoment  erfasster) 
Gedanke  fällt  ihm  ein  und  bemächtigt  sich  der  emotiven  Stimmung; 
das  brennende  Gefühl  steigt  aus  dem  Leibe  in  den  Kopf:  die  Ge- 
danken werden  dem  Kranken  entfremdet,  sein  trauriges  Schicksal 
—  „durch  Sünde  dem  Bösen  verfallen"!  —  lastet  fortan  jetzt  auf 
dem  Herzen.  —  Andere,  seltnere,  Fälle  zeigen  gegentheils  ein  ein- 
leitendes Stadium  von  ungewohnt  heiterer  Verstimmung  (grössere 
Gesprächigkeit),  welche  nach  kurzer  Zeit  in  die  trübe  umschlägt. 

Bei  langsamerer  Entwicklung  bleibt  die  Gefühlsverstimmung  vor- 
erst ohne  klar  bewussten  Inhalt  noch  einige  Zeit  bestehen,  zwischen 
freien  und  gedrückten  Tagen  wechselnd;  übt  aber  einen  weiter- 
greifenden Einflus8  auf  das  Selbstgefühl  und  das  Verhalten  des 
Kranken.  Er  wird  zunehmend  gedrückter,  weint  öfter,  überrascht 
die  Umgebung  mit  nicht  geahnten  Selbstanklagen,  wogegen  keine 
Einsprache,  kein  Trost  einen  Zugang  gewinnt.  Im  Nachgrübeln  Uber 
die  Ursache  seiner  wild  durcheinander  gehenden  Gedanken  wird  er 
rathlos,  schwankt  hin  und  her,  ob  er  einen  zureichenden  Grund  in 
seinem  Vorleben  aufstöbere,  oder  ob  ein  „böser  Geist"  ihm  diese 
peinlich  unbestimmte  Furcht  vor  sich  selbst  beibringe.  Jetzt  rücken 
Illusionen  an,  der  Kranke  findet  in  allerlei  Wahrnehmungen  irgend 
eine  ihn  angehende,  ihn  schmerzende  Beziehung.  Oft  erklärt  ihm 
ein  Traum  sein  bis  dahin  unerfasstes  inneres  Weh,  oder  irgend  eine 
affectvolle  Begegnung,  irgend  ein  eindringlich  gesprochenes  Wort, 
das  ihn  sofort  erstarren  macht,  und  sich  festsetzt  auf  seinem  „Herzen". 
Wenn  die  „Gedanken"  wieder  kommen,  so  fährt's  ihm  regelmässig 
wieder  auf's  Herz,  und  von  da  heiss  und  schwindelig  in  den  Kopf, 
und  dann  ergreift  es  die  Glieder,  so  dass  er  unentrinnbar  überzeugt 
ist,  durch  eine  dämonomanische  Macht  besessen  zu  sein.  Oder  es 
steigt  in  der  Einsamkeit,  die  er  aufsucht,  oder  in  der  Stille  der 
Nacht  eine  Hallucination  auf  und  verkündet  ihm  seine  Verlassenheit 
von  oben,  sein  unentrinnbares  selbstverschuldetes  Schicksal. 

Sehr  häufig  erfasst  sich  aber  das  innere  Wehgefühl  als  zuneh- 
mende und  immer  schmerzlicher  bewusste  Unfähigkeit  seiner  Stel- 
lung, seinem  Berufe  zu  genügen.  —  In  der  hypochondrischen  Form 
ist  es  die  immer  drückendere  Empfindung  eines  unheilbaren  körper- 
lichen Leidens,  welches  sich  „angesetzt  hat". 

Abweichend  von  dieser  Genese  bilden  manchmal  hässliche 
Zwangsgedanken,  gewöhnlich  gotteslästerlichen  Inhalts  (der  Kranke 
mas8  statt  „Gott"  den  Namen  „Kröte",  „Teufel"  sagen;  oder  auch 
es  hängen  sich  dem  erhabensten  Namen  die  Vorstellungen  geschlecht- 


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Melanch.  religiosa;  persecutoria  (daemonomaniaca). 


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licher  Vermischung  an)  den  Anfang  des  Leidens.  Oft  steigen  die- 
selben plötzlich  ohne  jede  Veranlassung  auf;  andere  Male  werden 
sie  durch  den  Contrast  einer  andächtigen  Stimmung  brüsk  provocirt, 
oder  durch  eine  neuralgische  Sensation  hervorbeschworen.  Vergeb- 
lich, dass  der  Kranke  dagegen  ankämpft,  ringt,  betet,  Gott  um  seine 
Gnade  und  Verzeihung  anfleht:  er  fühlt,  dass  alle  seine  guten  Vor- 
sätze umsonst,  dass  er  vom  Himmel  Verstössen  ist 

Auf  einem  oder  dem  andern  Wege  schliesst  sich  der  Gemüths- 
zwang  mit  der  erklärenden  Vorstellung  (dem  depressiven  Wahn)  zur 
fertigen  Krankheit  zusammen,  wie  dies  oben  (s.  Allg.  Theil)  erläutert 
wurde.  Inhaltlich  stellen  sich  die  Haupttypen  dar  als  Melancholieen 
1.  mit  dem  Wahn  der  Sündhaftigkeit  (Melancholia  religiosa),  der  Ver- 
stossung  von  Gott;  oder  2.  mit  dem  Wahne  der  Verfolgung  durch 
feindliche  Mächte  (durch  Dämonen  oder  intriguante  Complotte:  Me- 
lancholia persecutoria,  daemononmniaca);  oder  endlich  3.  mit  dem 
Wahn  verhungern  zu  müssen,  die  eigene  und  fremde  Existenzen 
verwirkt  zu  haben. 

In  ihrem  äussern  Verhalten  scheiden  sich  diese  Typen  für  den  weitern 
Verlauf  wesentlich  nach  der  Stärke  des  krankhaften  Affects  und  speciell 
nach  dessen  reflectorischer  Wirkung  (Uebertragbarkeit)  auf  das  psycho- 
motorische und  auf  die  höhern  geistigen  Gebiete  (Stimmung  und  Vor- 
stellungsleben). Darnach  entstehen  die  scharf  geschnittenen  Krankheits- 
bilder der  Melancholia  activa,  passiva  (torpida),  der  Melancholia  attonita. 
Diese  Gruppen  haben  als  solche  und  zunächst  nur  psychologische  Be- 
gründung ;  insofern  aber  auf  deren  Gestaltung  (activen  oder  passiven  Cha- 
rakter) die  grundliegenden  körperlichen  Verhältnisse  (anthropologische 
Mitgift  des  Einzelfalls,  anämische  Ernährungsstörungen  des  Gehirns  mit 
den  Steigerungen  der  Reflexerregbarkeit)  von  entscheidendem  Einflüsse 
sind,  so  verdient  die  specielle  Trennung  in  die  genannten  Unterarten  auch 
eine  klinische  Berechtigung. 

Jetzt  beginnt  ein  schmerzliches  Weinen,  ein  ruheloses  Hin-  und 
Hergehen  mit  Geberden  der  Verzweiflung,  ein  dumpfes  Hinbrüten 
mit  ängstlicher  Spannung  der  Gesichtszüge  und  Abweisen  von  jeder 
Ansprache,  selbst  vom  Essen  und  Trinken.  Auf  die  verzehrende 
Unruhe  des  Tages  folgt  meist  auch  eine  qualvolle  Nacht,  oder  aber 
ein  stilles  Resigniren  mit  anscheinend  äusserer  Theilnahmlosigkeit, 
zeitweisem  Seufzen,  ein  müdes  Herumstehen  oder  -kauern  mit  steifer, 
oft  hölzerner  Gesichtsmaske.  Der  Morgen  ist  in  der  Regel  die 
schwerste  Zeit:  da  macht  sich  der  melancholische  Affect  im  Jammern, 
Sichanklagen  und  Zerknirschen,  in  ruhelosen  Gestikulirungen  am 
meisten  geltend,  nicht  selten  um  so  stärker,  je  mehr  die  Nacht  Ruhe 
und  Schlaf  gebracht  hatte.  Im  Verlauf  des  Tages  tritt  mehr  Samm- 

4* 


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o2 


Specielle  Melancholie. 


lung  ein,  und  endlich  Abends  ist  oft  der  Kranke  gefasst,  ja  nicht 
selten  gesellig  und  leicht  heiter.  Doch  können  die  aus  den  ange- 
gebenen Erscheinungen  gruppirten  Stimmungsbilder  auch  tagelang 
fast  ungeschwächt  fortdauern.  Manchmal  schwankt  der  Kranke 
zwischen  einer  bald  hoffenden  und  bald  verzweifelnden  Perspective 
ermattend  hin  und  her.  Sehr  oft  erweitert  sich  das  an  der  Grenze 
individuellen  Verlorenseins  angelangte  Versündigungsgeftthl  bis  zum 
unermesslichen  Schuldgefühl  eines  an  der  ganzen  Menschheit  be- 
gangenen Verbrechens:  nicht  der  Kranke  allein,  auch  die  ganze 
Welt  ist  jetzt  unglücklich  durch  ihn,  den  Einzelnen,  geworden;  nicht 
er  nur,  Altes  geht  zu  Grunde,  Könige  und  Kaiser  verhungern,  — 
der  melancholische  Kleinheitswahn  wird  zum  negativen  Grössenwahn. 

Die  Unruhe  erlaubt  dem  Kranken  oft  kaum  die  Sorgen  fiir  die 
nächsten  Bedürfnisse  zu  befriedigen.  Das  Noth wendigste  geschieht 
stets  nur  mit  Hast  und  Ueberstürzung.  Das  Essen  wird  hineinge- 
worfen, die  Kleidung  an  den  Leib  nur  gehängt,  die  Reinlichkeit 
vernachlässigt.  Unversehens,  oft  zu  annähernd  gleichen  Tagesstun- 
den,  brechen  Angstzufälle  aus  mit  Seufzen,  Stöhnen,  Händeringen 
oder  lautem  Aufschreien,  Haarausraufen,  Grimassiren,  Zerreissen  der 
Kleider,  Fluchtversuchen,  Gewalttätigkeiten  gegen  sich  oder  Andere. 
Aber  auch  ohne  solche  wird  der  feindselige  Drang  des  Kranken, 
in  welchem  er  sich  von  seiner  innern  Folter,  aus  seiner  todesbereiten 
Resignation  zu  entlasten  versucht,  in  allerlei  Präparationen  zur  Selbst- 
beschädigung entdeckt,  die  man  in  seiner  Tasche  findet:  Glasscherben, 
grössere  Steine,  zurecht  gedrehte  Stricke  u.  s.  w.  Viele  Kranke  bitten 
und  flehen  direct  und  inständig  sie  doch  vor  Selbstmord  zu  bewahren. 
Ist  ein  Angstzufall  vorUber,  welcher  nicht  selten  dem  Träger  oder 
der  Umgebung  Wunden  setzte,  so  ist  der  Kranke  erschöpft,  ermattet; 
manchmal  jammert  er  Uber  seine  fluchwürdige  That,  die  seinen 
Untergang  jetzt  erst  vollends  besiegle ;  oder  er  verharrt  in  dumpfer 
Resignation,  spricht  nicht  auf  Vorhalt,  ist  bereit,  Alles  über  sich 
ergehen  zu  lassen,  ja  erwartet  nicht  selten  mit  Befriedigung,  dass 
man  sich  jetzt  entgeltend  an  ihm  vergreifen  werde. 

Bei  nicht  Wenigen  wird  mit  dem  Eintritt  in  die  Anstalt  die  äusserliche 
Aufregung  wie  abgeschnitten.  Mit  schlecht  verhaltenem,  ängstlichem  Aus- 
druck behaupten  sie  die  Unbegründetheit  ihrer  Versetzung,  ja  tadeln  direct 
deren  Ausführung,  wodurch  höchstens  auf  sie  wegen  ihrer  „Heuchelei" 
noch  eine  vergrößerte  Schuld  falle.  Mit  grossem  Wortaufwand  einer  ge- 
wissen erzwungenen  Heiterkeit  und  unheimlichen  Zuversicht  behaupten  sie 
gesund  zu  sein,  lassen  auch  nicht  entfernt  die  „Zumuthung"  einer  Krank- 
heit auf  sich  kommen,  und  stützen  sich  in  gereiztem  Tone  auf  das  „Heim- 
weh", wenn  man  sie  auf  krankhafte  Erscheinungen  hinweist.   Mit  ernster, 


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Weiterverlauf.   Acme.  Reconvalescenz. 


53 


steifer,  befangener  Miene  und  verdecktem  Blicke  dämmern  sie  hemm,  sind 
äusseret  schweigsam  und  theilnahmlos,  and  lassen  sich  kanm  in  ein  Ge- 
spräch ein,  ohne  ihre  geistige  Gesundheit  im  Gegensatz  zu  ihrer  „Schlech- 
tigkeit" zu  betonen.  Oft  seufzen  sie  tief  auf,  und  werden  bisweilen  an 
einsamem  Orte  in  Thränen  gebadet  betroffen.  Oft  hört  man  einen  stoss- 
w eisen  Schmerzen slaut,  aber  nie  ein  Schmerzenswort,  oder  eine  unbe- 
rufene Klage.  Nie  rückt  der  Kranke  mit  der  Sprache  recht  heraus,  hat 
nie  das  Bedttrfniss  sich  auszusprechen ;  man  muss  ihn  ausholen,  oder  zur 
Klage  stimmen,  und  auch  so  beginnt  er  bald  wieder  zu  schweigen,  und 
zwingt  sich  wieder  in  seine  unheimliche  Fassung  ein. 

Ueber  die  körperlichen  Begleitsymptome  8.  Allgemeines. 

Auf  dieser  Höhe  verbleibt  die  Krankheit  Tage,  Wochen  und 
selbst  Monate,  immer  mit  den  charakteristischen  Tage ssch wankungen, 
nicht  selten  aber  auch  mit  grössern  und  anhaltenderen  psychischen 
Remissionen.  Während  die  Einen  sich  in  ihrem  Schmerze  zerwühlen, 
körperlich  und  geistig  gebrochen  werden,  bewahren  Andere  bei  all' 
diesem  Wechsel  der  innern  Vorgänge,  der  leichtern  und  oft  zum 
Tode  betrübten  Standen  ihre  Selbstbeherrschung;  sie  suchen  mit  aller 
Kraft  die  Krankheit  zu  bemeistern,  und  über  den  Verhältnissen  zu 
bleiben,  lassen  mit  bewunderungswürdiger  Geduld  das  Schwere  Uber 
sich  ergehen,  kehren  ihre  Ungeduld  nie  gegen  Andere,  sind  zufrieden, 
wenn  sie  ihre  Last  nur  etwas  verringert  fühlen. 

Eine  Wendung  der  Krankheit  lässt  sich  aber  objectiv  erst  mit 
der  Kräftigung  der  Körperernährung  und  mit  der  normalen  physio- 
gnomischen  Innervation  in  Blick  und  Miene  erhoffen.  Oft  genug 
wird  dabei  die  Geduld  noch  auf  eine  harte  Probe  gestellt.  Der 
Verlauf  ist  nämlich  stets  ein  allmählicher,  nie  ein  brüsker.  Der 
besser  aussehende  Kranke  wird  ruhiger,  theilnehmender;  manchmal 
kommt  jetzt  ein  Wort,  welches  von  Interesse  oder  Heiterkeit  zeugt; 
nicht  so  selten  sind  es  Lieder  der  Heimath,  Gedichte  aus  der  Jugend- 
zeit, die  er  zufällig  hört,  und  an  denen  er  sich  wieder  aufrankt  zur 
Wirklichkeit.  Die  im  Anfang  auf  solche  Erholungen  noch  gefolgte  Reue 
(denn  nur  die  „Vorwurfs  "  und  „Sünde -Gedanken"  waren  ja  nach 
dem  Urtheil  des  Kranken  bis  jetzt  die  „guten"  gewesen)  lässt  nach, 
die  Sinnestäuschungen  klingen  sachte  und  allmählich  ab,  und  so 
rUckt  der  Reconvalescent  —  freilich  allermeist  iu  zickzackformigem 
Verlaufe  —  in  die  Genesung  mit  voller  Krankheitseinsicbt  und  natür- 
lichem Dankgefühl.  Die  Genesung  selbst  hat  im  Anfang  in  der  Kegel 
noch  einen  leisen  Anflug  von  glückseliger  Exaltirtheit:  viele  Kranke 
verjüngen  sich  nicht  bloss,  sondern  sie  werden  zugleich  feiner  (gei- 
stiger) in  den  Zügen,  gehobener  in  der  Redeweise.  Erst  im  Ver- 
laufe der  sich  befestigenden  Genesung  blassen  sie  wieder  zu  den 


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54 


Specielle  Melancholie. 


nüchternen  Menschen,  welche  sie  vorher  waren,  ab.  —  Andere  wie- 
der brauchen  erst  noch  längere  Zeit,  nm  sich  nach  überstandener 
Krankheitsacnie  allseitig  zu  corrigiren,  und  schleifen  Bich  erst  unter 
dem  Druck  der  Aussenwelt  wieder  zurecht.  Da  gilt  es  manchmal 
erst  ein  psychisches  Schwächestadium  mit  leiser  Gedrücktheit,  in 
welchem  noch  Reste  aus  der  Melancholie  sich  fortspielen,  und  oft 
noch  ein  Griff  in  den  alten  Wahn  gethan  wird,  langsam  an  der 
Logik  der  Wirklichkeit  zu  tiberwinden. 

Namentlich  trifft  diese  protrahirtere  Reconvalescenz  für  die  Fälle  zu, 
in  welchen  sich  der  melancholische  Nihilismus  bis  zur  vollständigen  Un- 
klarheit der  früheren  Beziehungen  des  Kranken  ausgebildet  hatte,  wo  der 
Kranke  seinen  Namen,  seine  Angehörigen  als  ihm  unbekannt  verläugnet, 
wo  er  es  sonderbar  gefunden,  dass  er  noch  lesen  und  schreiben  könne 
u.  8.  w.  Hier  schieben  sich  auch  oft  noch  Anfälle  von  Präcordialangst 
ganz  unvermittelt  in  die  Reconvalescenz  ein.  Auch  bei  tiefer  Anämie  ist 
der  Umweg  meistens  ein  längerer.  Die  Kranken  magern  nicht  selten  zu- 
sehends ab,  werden  blass  und  kachektisch  aussehend,  der  Puls  wird  klein, 
elend  und  frequent,  die  Haut  trocken  und  spröde,  Foetor  stellt  sich  ein. 
Psychisch  werden  sie  stupider,  unleidiger,  haben  kaum  eine  Antwort,  als: 
dass  sie  nicht  wissen,  wie  es  ihnen  sei,  dass  man  sie  umbringen  solle 
u.  s.  w. ;  sie  werden  immer  widerstrebender  gegen  das  Essen,  nachlässiger 
im  Aeussern  und  motorisch  ganz  kraftlos  und  hinfällig.  Erst  sehr  lang- 
sam und  unter  häutigen  Stillständen,  manchmal  auch  unter  zeitweiligen 
Rückschritten,  vollzieht  sich  die  körperliche  Kräftigung,  und  damit  Schritt 
haltend  die  geistige  Erholung. 

Ist  endlich  auf  die  eine  oder  andere  Weise  die  Genesung  er- 
reicht, so  ist  diese  bei  rüstigen  Formen  und  nicht  zu  langer  Krank- 
heitsdauer eine  vollständige,  und  nicht  selten  auch  eine  dauernde. 

Der  passive  Melancholiker  ist  in  seiner  äusseren  Erscheinung  viel- 
fach das  Gegenbild  des  so  ebeu  Geschilderten.  Die  schmerzliche  Gebunden- 
heit mit  der  auf  das  intellectuelle  und  motorische  Gebiet  Ubergreifenden 
Hemmung  ist  hier  der  maassgebende  klinische  Charakterzug.  Die  Kran- 
ken sitzen  Tage  und  Wochen  lang  fast  unregsam  da,  oder  stehen  stumm 
und  still  mit  angstvollem  Blicke,  gebrochener  Haltung,  langen  unbeweg- 
lichen Zügen  auf  Einem  Flecke,  werden  nur  durch  starke  Berührungen 
aus  ihrer  schmerzlichen  Versunkenheit  aufgeschüttelt,  geben  mit  gepresster, 
leiser  Stimme  kaum  eine  Antwort,  als  eine  solche,  welche  auf  ihre  Selbst- 
erniedrigung abzielt,  und  dem  Gefühle  ihrer  Selbstverneinung  Ausdruck 
gibt.  Sie  verlangen  Zuchthaus,  Hochgericht,  Tod,  wollen  das  schlechteste 
Essen,  sind  die  faulsten  Ignoranten,  wissen  nichts,  verstehen  nichts.  Selten 
kommt  es  zu  einem  entlastenden  Thränenerguss.  Für  die  Umgebung  be- 
steht scheinbar  kein  Interesse,  und  doch  wird  jeder  Eindruck  im  Sinne 
der  peinlichen  Stimmung  verarbeitet.  Briefe  oder  Besuche  gehen  oft  wir- 
kungslos, manchmal  aber  auch  mit  einem  erschütternden  Reflex  auf  das 
Thränengebiet  vorUber;  doch  bald  erfolgt  wieder  die  alte  mimische  Ge- 
bundenheit, welche  sich  stets  bis  zum  höchsten  passiven  Widerstande 


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Passive  Melancholie.   Raptus  melaucholicus. 


55 


steigert,  sobald  nur  eine  Aufforderung,  oder  directe  Aenderung  der  Lage 
versucht  wird.  Die  Kranken  fragen  nicht  nach  Essen,  verweigern  dieses, 
je  mehr  man  ihnen  zuspricht,  achten  nicht  der  Kleider;  am  ehesten  geben 
sie  noch  der  oder  jener  Vorschrift  oder  ZumuthuDg  nach,  wenn  man  sie 
ganz  gehen  läset.  Dazwischen  folgen  sie  willenlos  fremden  Impulsen. 
Oft  intercurriren  periodische  Angstzufalle  mit  Hallucinationen  (Visionen 
bevorstehender  Marterqualen),  Urin  und  Stuhl  werden  bis  aufs  Aeusserste 
zurückgehalten.  Bei  tief  gesunkener  Ernährung  und  entsprechender  Anämie 
tritt  an  Stelle  der  contrahirten  Musculatur,  der  physiognomischen  und 
mimischen  Starre  oft  eine  mehr  minder  grosse  Schlaffheit,  welche  in  Ver- 
bindung mit  dem  scheinbar  apathischen  Wesen  und  dem  undurchdring- 
baren  Mutacismus  manchmal  die  Unterscheidung  von  einem  anämischen 
wirklichen  Schwächezustand  nicht  leicht  macht.  In  diesen  geht  dann 
auch  nicht  selten  der  Krankheitszustand  Uber.  Erfolgt  —  mit  Besserung 
der  Ernährung  und  Blutmischung  —  der  Uebergang  in  Reconvalescenz, 
so  löst  sich  successive  die  geistige  Gebundenheit  zu  immer  grösserer  Be- 
lebtheit. Der  Kranke  wird  gesprächiger,  fängt  an  zu  arbeiten,  beginnt 
von  seinem  innern  Weh  zu  erzählen,  die  activen  Bewegungen  werden 
freier,  die  schlaffen  kraftvoller.  Viele  werden  erst  zu  activen  Melancho- 
likern, und  machen  deren  oben  geschilderte  Schicksale  durch,  bis  sie  in 
die  Genesung  einmünden.  Bei  Anderen  aber  wird  diese  directer  erreicht, 
indem  die  gehemmten  Vorstellungen  unter  gleichzeitig  weichendem  Ge- 
mttthsdruck  in  Fluss  gerathen,  und  zunehmend  in  der  Wirklichkeit  sich 
corrigiren.  Auch  hier  geschieht  nicht  selten  der  Uebergang  erst  durch 
ein  Stadium  schmerzlichen  oder  wenigstens  drängenden  Heimwehs.  Bei 
Manchen  wird  die  volle  Correctur  nicht  in  der  Anstaltsbehandlung  oder 
in  den  Verhältnissen  der  seitherigen  Umgebung  erreicht;  die  Genesung 
zieht  sich  hinaus;  es  ist,  als  ob  der  Wahn  aua  dem  Boden,  wo  er  bis 
dahin  bestanden,  immer  neue  Stärke  zöge.  Iiier  wird  nicht  selten  erst 
darch  die  Entlassung  des  Kranken  oder  durch  Aenderung  seiner  Situation 
—  dann  aber  oft  auffallend  rasch  —  die  volle  Genesung  erzielt. 

Lässt  sich  der  im  Vorstehenden  geschilderte  Verlauf  und  Aus- 
gang als  das  Bild  einer  typischen  Melancholie  bezeichnen,  so  ist 
dasselbe  aber  in  seiner  reinen  Erscheinung  ein  keineswegs  häufiges. 
Sehr  oft  kommen  Complicationen  mit  Zwangsgedanken  (welche  den 
„neurasthenisch-convulsiven"  gegenüber  sich  durch  eine  peinigende 
Stabilität  und  Zähigkeit  auszeichnen),  oder  aber  mit  begleitenden 
Sensibilitätsanomalieen  und  Allegorisationen  (namentlich  in  dämono- 
manischer Richtung),  oder  auch  mit  stark  vortretenden  und  einfluss- 
reichen Illusionen  und  Hallucinationen  (Teufel,  Todtenköpfe,  Schlan- 
gen, wilde  Thiere  u.  s.  w.)  mit  entsprechender  Rückwirkung  auf 
Stimmung  und  Handeln. 

Unter  diese  Handlungsreflexe  gehört  namentlich  der  Raptus  me- 
lancholicus,  d.  h.  eine  plötzliche  Gewaltthat  gegen  sich  oder  Andere, 
als  Folgewirkung  einer  zunehmenden,  endlich  bis  zum  Unerträglichen  ge- 
stiegenen Angst.    In  der  Regel  gehen  irradiirte  periphere  Empfindungen, 


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56 


Specielle  Melancholie. 


Parästhesieen  oder  quälende  Neuralgieen  dem  Anfall  voraus;  oder  es 
steigen  Aura-artige  Sensationen  vom  Präcordium,  aus  dem  Unterleibe, 
vom  Hinterhaupte  auf;  oder  es  treiben  BeklemmungsgefUhle  mit  der 
Furcht  vor  drohender  Lebensgefahr,  in  andern  Fällen  schreckende  Hallu- 
cinationen  zur  Entlastungsthat  der  Verzweiflung.  Diese  selbst  kann  sich 
manchmal  in  einer  zielbewussten  Handlung  äussern  (Mord  von  Angehö- 
rigen, suicide  Raptus),  oder  aber  in  Form  einer  psychomotorischen  Con- 
vulsion  (Hinauswerfen  eines  Kindes  aus  dem  Fenster,  plötzliche  Ver- 
nichtung von  Gegenständen,  grässliche  Verstümmelungen  u.  8.  w.).  Es 
können  in  diesem  Falle  auch  noch  convulsive  Bewegungen  vorausgehen 
(bei  übrigens  erhaltenem  Bewusstsein):  Schütteln  und  Verdrehen  der 
Arme,  des  Kopfes,  der  Augen,  Grimassiren  des  Gesichts.  Damit  ver- 
binden sich  in  der  Regel  auch  noch  vasomotorische  Krampfzustände 
(Todtenblässe  des  Gesichts,  verstärkter  Herzschlag,  Ausbruch  von  kaltem 
Schweisse  u.  s.  w.).  Die  That  selbst  vollzieht  sich  nach  formeller  Seite 
in  directem  Verhältniss  zur  Stärke  des  schmerzlichen  Fühlens:  das  ergrif- 
fene Opfer  wird  förmlich  zerfleischt,  und  es  erfolgt  erst  mit  der  Erschöpfung 
ein  Nachlass  des  schrecklichen  Wuthens.  Nach  der  That  fühlt  sich  der 
Kranke  zuerst  erleichtert  —  es  ist  das  entspannende  Gefühl  der  voll- 
zogenen Reflexhandlung;  nachher  aber  folgt  mit  der  grössern  Ruhe  und 
Besinnlichkeit  eine  schmerzliche  Reue.  Die  Erinnerung  ist  selten  treu, 
meist  nur  summarisch,  oft  fehlt  sie  auch  ganz.  Es  gibt  in  dieser  Rück- 
sicht vielerlei  Uebergänge  zu  den  transitorischen  Zwangshandlungen  auf 
neurasthenischer  Grundlage  (raptus  r.euralgicus),  von  welchen  sich  die 
typischen  melancholischen  Anfälle  höchstens  durch  die  grössere  Conse- 
quenz  und  Zielbewusstheit  der  That  und  durch  die  relativ  längere  Zeit- 
dauer unterscheiden.  Klinisch  bemerkenswerth  ist,  dass  manchmal  meh- 
rere rasch  sich  folgende  Raptus  die  Melancholie  einleiten,  worauf  letztere 
ihrerseits  mit  Vorliebe  einen  dämonomanen  Inhalt  annimmt.  (Vgl.  auch 
den  acuten  dämonomanischen  Wahnsinn).  — 

Die  hypochondrische  Melancholie  ist,  wo  sie  als  selbstän- 
dige klinische  Form  durch  den  ganzen  Krankheitsverlauf  auftritt,  eine 
neurasthenische ,  resp.  eine  invalid -cerebrale  Neuropsychose.  Dieselbe 
schliesst  sich  bald  an  eine  körperliche  Erkrankung  (Magendarmkatarrh), 
oder  an  irgend  eine  peinlich  nervöse  Sensation  (Ohrgeräusche)  an;  bald 
aber  auch  tritt  sie,  ohne  dem  Kranken  bekannte  Ursache,  langsamer 
oder  schneller  in  Scene;  manchmal  erfasst  sie  in  einem  verwirrenden 
Schreck  (Gespenst  der  Spermatorrhoe)  urplötzlich  den  Leidens-Grübler. 
Die  depressive  Stimmung  arbeitet  sich  in  ein  zunehmendes  Chaos  von 
„Befürchtungen"  aus,  welche  rückwirkend  wieder  neue  Sensationen  ma- 
chen und  neue  Beobachtungen  liefern.  Der  Leib  wird  in  beängstigender 
Völle  gefühlt,  der  Athem  wird  gestellt,  in  die  Glieder  fährt  Zittern,  in's 
Knochenmark  ein  peinliches  Frösteln;  keiner  der  Aerzte,  welche,  soweit 
erreichbar,  consultirt  werden,  vermag  zu  helfen;  die  Arzneien  alle  be- 
wirken den  gegenteiligen  Effect;  es  fährt  nach  jedem  Löffel  Mixtur  wie 
„8chrot8chÜ8se"  durch  den  Magen,  friert  dem  Kranken  zum  Munde  her- 
aus, setzt  sich  auf  (oft  als  neuralgisch  nachweisbare)  Stellen  an  der  Brust, 
klopft  und  brennt  u.  s.  w.  Der  Kranke  kann  nicht  mehr  athmen;  ein 
„Dunst  aus  dem  Magen"  hemmt  ihn  auf  der  Herzgrube ,  fährt  aufwärts 


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Hypochondrische  Melancholie.  —  Verlaufsvarietäten.  57 


durch  den  Mund  bis  in  den  Kopf,  wo  er  ihm  Schwindel  nnd  Scheitel- 
stiche macht,  und  abwärts  durch  den  Darm  in  den  After  u.  8.  w.  Gegen 
die  „Magenunruhe"  wird  allerlei  Diät  gebraucht;  jeder  Quacksalber- 
Rath  befolgt;  oft  Tage  lang  gefastet.  Der  Kranke  fühlt  sich  unermess- 
lieh  elend,  zum  Arbeiten  unfähig,  in  den  schlaflosen  Nächten  von  seinen 
Befürchtungen,  nicht  mehr  gesund  zu  werden,  gefoltert.  Mit  ermüdender 
Einförmigkeit  werden  Tag  um  Tag  dieselben  Klagen  vorgebracht  Urin 
und  Stuhlgang  bilden  von  Morgens  bis  Abends  die  Sorge  und  zugleich 
das  zur  wachsenden  Pein  durchsuchte  Beobachtungsobject.  Alles,  was 
der  Kranke  einnimmt,  bereitet  nur  Qualen  und  stets  neue  Qualen.  Oft 
regt  sich  der  Gedanke  an  Selbstmord  in  gefahrdrohender  Weise.  Die 
Stimmung  ist  bald  verzweifelt,  bald  bitter  gereizt,  gegen  die  Umgebung 
voller  Vorwürfe ;  nicht  selten  trotzig  und  heftig,  selbst  gewaltthätig.  Re- 
gelmässig sinkt  die  Ernährung,  oft  sehr  bedeutend.  Die  Circulation  ist 
träge,  Hände  und  Ftisse  kühl,  der  Puls  verlangsamt,  oft  klein;  nie  fehlen 
dyspeptisebe  Erscheinungen,  manchmal  mit  peinigenden  KenVxnenrosen  auf 
den  Vagus.  Der  Stuhl  ist  in  der  Kegel  angehalten.  In  günstigen  Fällen 
gelingt  es,  zuerst  die  Verdauung  zu  reguliren  und  damit  die  Assimilation 
und  die  Körperernährung  zu  heben.  Hand  in  Hand  damit  bessert  sich 
die  Stimmung  und  regt  sich  die  Arbeitslust.  Oft  wollen  die  Kranken 
fühlen,  wie  sich  „stückweise  das  Leiden  aus  dem  Kopfe  und  den  Glie- 
dern zurückzieht".  So  tritt  nach  und  nach,  aber  immer  erst  in  inonate- 
laugem  Verlauf,  die  Genesung  ein,  nicht  selten  durch  Recidive  (Diät- 
fehler) unterbrochen. 

Auf  seniler  Grundlage  geht  die  hypochondrische  Melancholie  in 
der  Regel  rasch  in  Wahnsinn  Uber,  und  zeichnet  sich  sodann  inhaltlich 
durch  die  Ungeheuerlichkeit  der  Klagen,  und  (bei  der  Hemmungslosigkeit 
des  decrepiden  Gehirns)  durch  die  stürmischen  Reflexe  auf  das  Handeln 
des  Kranken  aus.  Raptus  der  gefährlichsten  Art  gegen  sich  oder  Andere 
werden  mit  vernichtender  Heftigkeit  in  Scene  gesetzt;  manchmal  geschieht 
dies  in  einer  unbezwinglichen  Serie  von  motorischen  Actiouen.  Die 
Kranken  stürzen  sich  in  verzweifelter  Angst  zu  Boden,  rennen  sich  mit 
aller  Heftigkeit  den  Kopf  an  die  Wände,  toben  und  schreien,  sie  mü äs- 
ten es  thun,  so  dass  manchmal  eine  letale  Erschöpfung  nachfolgt.  Der 
Verlauf  ist  dabei  ein  acuter,  in  wenige,  2—3,  Monate  zusammengedrängt. 
Der  hypochondrische  Inhalt  äussert  sich  als  Angst,  dass  der  Kopf  her- 
unterfalle, Gefühle,  dass  das  Genick  gebrochen  sei,  dass  der  Stuhlgang 
zum  Glied  heransfliesse ;  der  Leib  ganz  offen  sei,  sodass  der  Wind  hin- 
durcbblase,  das  Wasser  im  Leib  plätschere,  dass  der  Kranke  einen  häss- 
lichen  Leichengeruch  verbreite,  dass  er  an  venerischen  Geschwüren  leben- 
dig verfaule  u.  s.  w.  Anderemale  verläuft  diese  senile  Hypochondrie 
auch  mit  geringerer  Affectbegleitung,  nimmt  einen  chronischen  Verlauf 
(oft  durch  anhaltende  Nahrungsverweigerung  hindurch)  an,  und  geht  nicht 
so  selten  (Schlundsondenbehandlung,  Hebung  der  Ernährung)  in  Heilung 
mit  Defect  über  (s.  hypoch.  Irresein). 

Der  Verlauf  der  typischen  Melancholie  bietet  viele  Varietäten. 
Unter  diesen  sind  die  Episoden:  1.  von  tobsüchtiger  Erregung,  und 


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58 


Specielle  Melancholie. 


2.  stupider  Befangenheit  mit  Sinnestäuschungen  (Hallucinationen  und 
Illusionen)  die  bemerkenswerthesten  und  häufigsten. 

Die  1.  tobsüchtigen  Erregungsphasen  spielen  sich  unter  dem 
äussern  Bilde  ängstlicher  oder  verzweifelter  Unruhe  ab,  mit  monoton 
sich  wiederholenden  schmerzlichen  Klagerufen,  pendelartiger  Ruhe- 
losigkeit und  den  automatisch  sich  abwickelnden  Bewegungen  (siehe 
Allg.).  Man  hat  diesem  Zustande,  welcher  bald  intercurrent  auftritt, 
bald  aber  auch  den  ganzen  Verlauf  einnimmt,  die  Bezeichnung  der 
Melancholia  agitata  gegeben.  Oft  spielen  schreckhafte  Hallu- 
cinationen, allermeist  aber  lebhafte  Neuralgieen  die  physiologischen 
Mittelglieder  für  das  triebartig  reflectorische  Gebahren.  Die  Kran- 
ken magern  dabei  oft  rapid  bis  zum  Scelette  ab,  müssen  zu  den 
einfachsten  Lebensbedürfnissen  (Essen,  Noth  dürft)  angehalten  werden, 
bringen  wochenlang  ohne  Schlaf  zu.  Sehr  häufig  treten  auch  Angst- 
Raptus  dazwischen.  Die  Kranken  verstecken  sich,  wehren  sich  heftig 
gegen  jede  Annäherung,  rennen  umher,  stürmen  wüthend  auf  Per- 
sonen und  Gegenstände  ein,  essen  fast  nichts,  oder  schlingen  die 
Speisen  mit  gieriger  Hast  hinein.  Dabei  bilden  mit  dem  Weinen 
uud  Jammern  die  tagelang  ausgestossenen  monotonen  Satzfragmente 
nur  die  Variationen  desselben  Schmerzgedankens,  so  wie  auch  die 
ruhelos  wechselnden  Stimmungen  —  von  verzweifelten  Verwün- 
schungen und  Schuldgefühlen  bis  herab  zur  blasphemischen  Bitter- 
keit —  nur  denselben  wehevollen  Grundaccord  moduiiren. 

In  beiden  angegebenen  Merkmalen  —  der  Vorstellungshemmung  und 
der  Stimmungsmouotonie  —  liegt  der  wesentliche  Unterschied  gegenüber  der 
typischen  Manie,  für  welche  wirkliche  „Ideenflucht"  und  ein  Stimmungs- 
wechsel, „in  dessen  Register  kein  Ton  fehlt",  charakteristisch  ist.  Ueber- 
gänge  können  aber  dennoch  stattfinden,  indem  der  melancholische  Schmerz- 
afl'ect  in  raschem  Anstieg  so  sehr  gesteigerte  Reflexe  in's  motorische  Gebiet 
wirft,  dass  eine  Serie  von  Furor-Ausbrüchen  nachfolgt  (s.  Furor).  Die 
Ideenassociationen  können  dabei  lockerer,  der  Ablauf  rascher  und  eine 
vollständige  Ideenflucht  hergestellt  werden.  Der  Verlauf  ist  in  der  Re- 
gel ein  peracuter:  mehrtägige  Manie,  darauf  Umschlag  in  Depression 
und  heftige  Angst  (Furcht  umgebracht  zu  werden);  endlich,  wiederum 
nach  wenigen  Tagen,  psychischer  Erschöpfungszustand  mit  Schwerbesinn- 
lichkeit und  allmählichem  Ausgang  in  Genesung. 

Der  Weiterverlauf  der  Melancholia  agitata  geschieht  entweder: 
a)  in  den  ruhigem  melancholischen  Anfangszustand,  dessen  Höhe- 
punkt sie  monatelang  dargestellt  hatte,  und  durch  diesen  in  allmäh- 
liche Genesung;  oder  aber  b)  zunächst  in  ein  Aufregungsstadium 
mit  Gedankenverwirrung  und  triebartigem  oder  durch  Secunden- 
Einfälle  charakterisirten ,  oft  ganz  barocken,  motorischen  Zwangs- 
Gebahren  (einer  Art  choreiformer  Manie  aus  psychischer  Schwäche 


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Tobsüchtige  Erregungspbasen.   Melancholia  agitata. 


59 


mit  hober  affectiver  Reizbarkeit);  aas  diesem  in  ein  Stadium  kin- 
discher Schwäche  mit  Zwangsgedanken,  welche  sich  an  jedes  ge- 
sprochene Wort  oder  Wahrnehmung  anhängen,  und  stundenlang 
rociferirt  werden,  mit  ausserordentlich  wechselnder,  bald  kindisch 
befangener,  bald  wieder  natürlicher,  oder  aber  trotzig  verletzlicher 
and  begehrlicher  Stimmung;  von  da  endlich  in  Genesung,  oft  nach 
manchmal  wiederholten  manischen  Recidiven  der  geschilderten  Art; 
oder  aber  c)  in  einen  ruhigen  depressiven  (oder  auch  gebieterisch 
exaltirten)  Wahnsinnszustand  acuten  resp.  chronischen  Charakters. 
Mit  dieser  Wendung,  welche  oft  mitten  in  die  Melancholie,  oft  in 
die  Reconvalescenz  eintritt,  erweitert  sich  das  Schuld-  und  Busse- 
geftihl  zur  gehobenen  Empfindung  einer  durch  die  bestandene  Krank- 
heit geleisteten  „Erlösungs-Mission  für  die  Menschheit".  Oft  steigert 
sich  dieser  Rückschwung  der  Stimmung  zum  (melancholischen) 
Grössenwahn  „ein  auserlesener  Geist",  ja  „Gott  selbst"  zu  sein. 

Diese  Episode  kann  entweder  a)  den  Charakter  eines  geistigen 
Hehwächezustandes  darbieten  —  als  natürlichen  Ausdruck  der  Erschöpfung 
nach  der  verzehrenden  Unruhe  —  und  als  solcher  vorübergehend  sein; 
die  „compensirend"  beglückenden  Uallucinationen  klingen  nach  und  nach 
ab  und  es  erfolgt  jetzt  die  Genesung.  Dabei  ist  jedoch  auch  die  Mög- 
lichkeit von  wiederholten  Recidiven  dieses  hallucinatorischen  religiösen 
Wahnsinnszustandes  einzurechnen,  wodurch  nach  und  nach  eine  wirkliche 
und  dauernde  geistige  Schwäche  erreicht  werden  kann.  —  Die  exaltirte 
Periode  kann  aber  auch  b)  unter  dem  Bilde  einer  gereizten  (Zorn)  Ma- 
nie verlaufen,  mit  activ  gehobenem  Selbstgefühl  (dass  der  Kranke  die 
Verfolgungen  so  gut  ausgehalten  habe  und  jetzt  gerechtfertigt  sei;  dass 
er  damit  den  auferlegten  Kampf  gegen  den  Bösen  bestanden;  dass  alle 
Widersacher  jetzt  ihre  Strafe  erhielten)  und  einer  herrisch  aufbrausen- 
den, trotzigen,  selbst  brutalen  Stimmung.  Auch  hier  kann  nach  und  nach 
Genesung  eintreten,  nicht  selten  aber  auch  chronischer  Wahnsinn.  (In 
vielen  dieser  Fälle  werden  sich  wohl  gleich  im  anfänglichen  melancho- 
lischen Bilde  einzelne  beigemischte  Kerne  von  „Wahnsinn"  nacli weisen 
lassen!). 

Die  2.  im  Verlauf  der  Melancholie  auftretenden  acuten  Wahn- 
sinnsphasen haben  gemeinsam:  eine  mehr  weniger  tiefe  Bewusstseins- 
verdunkelung  mit  stupider  Angst  und  gleichgestimmten  Sinnes- 
täuschungen resp.  Illusionen. 

Die  Kranken  stürmen  umher,  drängen  fort,  schreien  wild  hinaus, 
bald  nur  in  Schreitönen,  bald  in  abgerissenen  Worten,  drohen  gewalt- 
tätig zn  werden,  schlagen  das  Essen  weg,  irren  Nachts  im  Zimmer  um- 
her. Dazwischen  schieben  sich  Perioden,  in  welchen  sie  von  der  Angst 
übermannt  reactionslos  hinausstarren,  in  derselben  Stellung  beharren 
mit  ängstlichen  Blicken  und  verzerrten  Zügen,  und  wie  Hilflose  behan- 
delt, angekleidet,  gefüttert  werden  müssen.  Sehr  oft  begleitet  eine  stür- 


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60 


SpecieUe  Melancholie. 


mische  Herzbewegung  mit  unregelmässigem  Pulse  und  Ungleichheit  der 
Pupillen  diese  oft  Tage-  und  selbst  Wochen-lang  dauernden  Episoden. 
Kommt  der  Kranke  wieder  zu  sich,  so  erzählt  er  von  den  massenhaften 
Täuschungen  aller  Sinne,  unter  welchen  er  gestanden:  von  feurigen 
Kreuzen,  Sternen  und  Blitzen,  von  Stimmen,  die  sich  um  seine  Seligkeit 
stritten;  von  Erscheinungen,  die  ihm  Trost  zusprachen,  Mitleid  zu  er- 
kennen gaben,  von  Todtenvisionen ;  von  peinlichen  Gefühlen  im  Körper, 
als  ob  man  ihn  zerschneiden  und  das  Blut  abzapfen  wollte  u.  s.  w.  Wie 
beim  acuten  Wahnsinn  ziehen  sich  die  illusorischen  Verkennungen  oft 
in  den  klareren  Zustand  weiter,  so  dass  der  Kranke  jetzt  noch  lange 
einen  gedämpften  Verfolgungswahn  in  seiner  depressiven  Stimmung  bei- 
behält. Namentlich  bleibt  auch  noch  ein  gereiztes  mißtrauisches  Wesen, 
als  ob  man  seine  Gedanken  lese  oder  aus  seinen  Gesichtszügen  ab- 
schaue. 

In  einer  mehr  chronischen  Form  nehmen  die  klimakterischen 
und  senilen  Melancholieen  oft  die  Charaktere  des  Wahnsinns  an, 
wobei  der  gesummte  ängstliche  Wahninhalt  fast  nur  aus  Illu- 
sionen besteht.  Die  Bewusstseinsstörung  ist  dabei  keine  so  tiefe, 
als  bei  den  acuten  Zwischenfällen;  richtige  und  falsche  Perceptionen, 
lucidc  und  balbtraumerische  Phasen  messen  vielmehr  in  einander 
Uber;  ein  lauter  Anruf  führt  diese  in  jene  zurück. 

Nach  einer  längereu  oder  kürzeren  typisch  melancholischen  Einlei- 
tung, gewöhnlich  mit  dem  Wahne  der  Sündhaftigkeit  und  des  geistigen 
Verlorenseins  (manchmal  in  jnhem  Umschlag  durch  Episoden  von  „un 
endlichem  Wohlgefühl",  mit  „allen  Herrlichkeiten  des  Himmels"  unter- 
brochen! erfolgt  eine  immer  ausgedehntere  illusorische  Fälschung  aller 
Wahrnehmuugen  im  Sinne  der  depressiven  Stimmung  und  des  herrschen- 
den Wahngedankens.  Oft  geht  ein  Kampf  voraus,  in  welchem  der  gute 
und  böse  Geist  sich  noch  streiten;  aber  endlich  weicht  der  gute  Geist 
ganz,  und  lässt  im  Kranken  nur  das  „böse  Gewissen  und  den  verlassenen 
Sünder"  zurück.  Dieser  erkennt  nun  in  jedem  Tapetenschnörkel  Teu- 
felchen, sieht  in  jeder  Speise  abgeschnittene  Engel-  und  Heiligenköpfe, 
welche  seine  Sündenschuld  zum  Tode  gebracht;  tritt  er  auf  den  Boden, 
so  wandelt  sein  Fuss  über  Crucifixe,  welche  seine  ängstliche  Phantasie 
in  die  Astzeichnung  der  Bretter  gezaubert  hat  und  „auf  welche  er  treten 
mus8".  Beim  Rauchen  der  Cigarre  meint  er  „Christum  zu  verbrennen". 
Ja,  selbst  im  Urin  und  Stuhlgang  werden  allerlei  „Köpfe"  geschaut, 
welche  bald  als  gute,  bald  als  böse  Geister  —  immer  zu  neuer  Ver- 
zweiflung des  Kranken  —  aus  dessen  Körper  entleert  worden  sind.  Nicht 
selten  werden  deshalb  die  Excreraente  absichtlich  zurückgehalten.  Wi- 
derstreben gegen  das  Esseu,  gegen  die  Verrichtung  der  Bcdürfuisse,  ge- 
gen das  Aufstehen,  endlich  selbst  gegen  das  einfache  Aufschauen  bilden 
in  der  Folge  die  mächtigen  Hemmungsreflexe  auf  das  Wollen  des  Kran- 
ken, während  andererseits  die  symbolische  Umdeutung  der  Aussenwelt, 
verbunden  mit  ängstlicher  Ideenflucht,  ihn  in  immer  grössere  Zweifelsucht 
und  Unsicherheit  bannt:  ob  er  nicht  ein  Unrecht  thue  und  dadurch  seine 
allgemeine  Niederlage  vergrössere.    So  wird  der  Kranke  oft  gegen  das 


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Intercurrcnte  Wahnsinns-Episoden.   Chronische  Melancholie.  61 

Nothwendigste  widerstrebend,  oft  bis  zur  reflectorischen  Spannung  der 
gesammten  Körpermusculatur.  Auf  jede  Handlung,  jede  Rede  folgt  Reue, 
Jammern,  Händeringen,  Abbitte,  gesteigerte  Selbsterniedrigung  unter  immer 
absurderen  Betheuerungen  des  Wahnes.  Auch  Hallucinationen  fehlen  die- 
sem Zustande  nicht.  Vorübergehend  können  dieselben  sehr  lebhaft  wer- 
den und  den  Kranken  in  eine  durch  Tage  und  Nächte  fortdauernde  angst- 
gequälte Aufregung  mit  verzweifeltem  Schreien  und  gefährdenden  Raptus 
versetzen.  Das  Bewnsstsein  bleibt  lange  leidlich  erhalten  und  verdun- 
kelt sich  erst  in  Folge  der  vorübergehenden  oder  zunehmenden  Hirn- 
Inanition.  Der  Ausgang  ist  zunehmende,  oft  rasche  Erschöpfung  (Ueber- 
gänge  in's  sogenannte  melancholische  Delirinm  acutum),  oder  aber  sehr 
protahirte  geistige  Erholung  unter  entsprechender  Zunahme  der  Ernäh- 
rung. Die  Kranken  bleiben  dabei  lange  Zeit  reizbar,  händelsüchtig,  miss- 
traui8cb,  von  allerlei  Kopfsensat:onen  geplagt;  ihrem  Anffassen  und  Ur- 
theilen  mischen  sich  Züge  von  Verfolgungswahn  bei,  welche  nur  langsam 
zurücktreten,  in  der  Regel  ohne  corrigirt  zu  werden.  Die  Meisten  blei- 
ben im  günstigen  Falle  psychische  Invaliden;  diejenigen,  welche  sich 
ganz  bis  zur  Genesung  (manchmal  durch  eine  acute  fieberhafte  Erkran- 
kung, Pneumonia)  durcharbeiten,  gehören  der  mehr  subacuten  Verlaufs- 
form an  und  bilden  zugleich  die  Uebergänge  zur  primären  hallucinato- 
rischen  Dementia  (s.  d.J,  von  welcher  sich  die  scharf  charakterisirten 
Fälle  anch  nur  durch  die  Krankheitsentwicklung  und  namentlich  durch 
das  Verhalten  des  Bewusstseins  (hier  ein  vorwiegend  waches,  dort  ein 
anhaltend  träumerisch  tief  befangenes)  klinisch  unterscheiden. 

Noch  bleibt  eine  weitere  Verlaufsart  des  melancholischen  Pro- 
cesses  übrig:  inChronicität.  Alle  beschriebenen  Formen,  die  ac- 
tiven  und  passiven,  darunter  aber  besonders  die  dämonomanische 
und  die  hypochondrische  Unterform,  können  nach  Abklingen  des 
acuten  oder  subacuten  Stadiums  in  einen  chronischen  Verlauf  Uber- 
gehen, in  welchem  die  depressive  Stimmung,  die  Wahngedanken, 
und  auch  die  Hallucinationen  erhalten  bleiben,  von  dem  Kranken 
dauernd  aufgenommen  und  eingewöhnt  werden.  Die  Selbstanklagen, 
das  Jammern,  die  stereotypen  Bewegungen  (das  Fälteln  der  Kleider, 
Reiben  und  Zupfen  am  Körper  u.  s.  w.)  werden  Tagesgeschäft,  mit 
gleichzeitiger  Abnahme  der  Affectscbärfe,  welche  nur  zeitweilig  noch 
in  lebhaftem  Paroxysmen  zur  Geltung  kommt.  Im  Uebrigen  vermag 
der  Kranke  selbst  während  und  unter  seinen  —  immer  automatische- 
ren —  melancholischen  Aeusserungen  wieder  sich  zu  beschäftigen, 
freilich  meist  nnr  mehr  mechanisch,  auch  an  der  Umgebung  in  be- 
schränktem Grade  wieder  Antheil  zu  nehmen.   Aber  Interesse  und 
Energie  nnd  die  geistige  Schärfe  nehmen  dabei  ab,  der  Kranke 
steuert  einem  allmählichen  Blödsinn  zu  mit  melancholischer  Färbung. 
—  Andere  Male  freilich  erhält  sich  der  geistige  Tonus  bewunderungs- 
würdig lange;  die  Kranken,  längst  jeder  Freude,  jeder  Hoffnung 
bar,  und  stündlich  bereit  den  Tod  gegen  ihr  schweres  Dasein  ein- 


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G2 


Specielle  Melancholie. 


zatauschen,  ringen  gleichwohl  sich  oft  noch  tapfer  hindurch  —  wahre 
Helden  im  stillen  Dulden!  —  und  wissen  ihre  mühsam  zusammen- 
gehaltene Kraft  nützlich  zu  verwerthen.  Viele  münden  nach  und 
nach  in  Phthise  ein  (s.  senile  Form).  Die  gesunkene  Körperernäh- 
rung nimmt  bei  diesem  Uebergang  in  das  chronische  Stadium  in  den 
meisten  Fällen  (nicht  in  allen)  zu.  Das  Gesicht  bekommt  einen  zu- 
nehmend stumpferen  Ausdruck ;  oft  verdickt  sich  die  Stirnhaut;  auch 
die  Bindehaut  des  Auges  wird  dicker,  schmutzig  gefärbt,  und  behält 
bleibend  erweiterte,  geschlängelte  Gefässchen. 

Zu  diesen  chronischen  Melancholieen  (mit  cerebropathischem 
Charakter,  8.  u.)  gehört  aber  auch  eine  sehr  schlimme  klinische  Form,  in 
welcher  Opposition  und  Negation  sich  personificirt  haben  und  die  Ver- 
stimmung einen  Grad  erreicht  hat,  wo  jeder  Eindruck,  jede  Berührung, 
jede  Aenderung  der  momentanen  psychischen  Lage  eine  schmerzliche 
Reaction  herbeiruft;  wo  Lust  zu  Schmerz,  Schmerz  zu  Lust  wird,  die 
arme  Creatnr  will,  was  sie  nicht  soll,  und  soll,  was  sie  nicht  will. 
Gewöhnlich  bildet  eine  tief  gesunkene  Constitution,  sehr  oft  eine  erheb- 
liche Atherose  (mit  Herzfehlern),  eine  vorgerückte  Lebensepoche,  in 
frühem  Jahren  das  äquivalente  Element  einer  starken  erblichen  Bela- 
stung —  die  körperliche  Grundlage.  Die  eingesunkene  gebrochene  Hal- 
tung der  Kranken  zeigt  schon  auf  den  ersten  Blick,  dass  ein  tiefes 
Leiden  ihnen  den  „Genickfang"  gegeben,  während  aus  den  hohlen  Augen 
und  lebensmüden  Zügen  der  tiefste  Seelenschmerz  schaut.  Aengstlich 
und  misstrauisch  umherspähend,  sind  sie  von  einer  beständigen  innern 
Unruhe  getrieben,  stehen  immer  auf  dem  Sprunge  hinauszudrängen,  ver- 
sagen sich  Speise  und  Schlaf,  rütteln  an  den  Thtiren,  lassen  sich  durch 
tausend  fruchtlose  Versuche  nicht  abschrecken,  scheuen  nicht  Hitze  und 
Kälte,  kehren  sich  so  wenig  an  ein  freundliches  als  an  ein  strenges  Wort. 
Sie  widersetzen  sich  gegen  Alles  und  Jedes,  namentlich  gegen  das  Essen, 
wozu  sie  förmlich  geschleppt  werden  müssen,  essen  nicht  trotz  ihres 
Hungers,  am  ehesten  noch,  wenn  man  sie  gewähren  lässt  und  die  Speisen 
ruhig  wieder  abträgt,  worauf  sie  oft  gierig  zwischen  Thür  und  Angel 
darauf  losstürzen.  So  gewinnt  man  ihnen  durch  List  und  Täuschung 
mancherlei  ab;  meist  aber  weichen  sie  nur  der  force  majeure.  Ihr 
Anzug  ist  vernachlässigt,  schmutzig;  eine  Toilette  ist  nur  mit  Gewalt  zu 
erzwingen.  Durch  die  Zähigkeit  und  Gewandtheit  ihrer  Anstrengungen 
und  durch  die  rücksichtslose  Hartnäckigkeit  der  Durchführung  bilden  sie 
mit  die  schwersten  Kranken,  welche  immer  und  immer  wieder  ein  me- 
chanisches An-  und  Eingreifen  erfordern  —  so  sehr  auch  ihr  trauriger 
Zustand  die  höchste  Bedauerniss  erregt  und  auf  die  humanste  Behandlung 
Anspruch  erhebt.  Oft  sinkt  die  Stimmung  der  Kranken  bis  zur  Ver- 
zweiflung; oft  gewinnt  sie  auch  wieder  eine  gewisse  Fassung  und  Ruhe. 
Der  Ideenkreis  ist  sehr  enge,  von  ermüdender  Einförmigkeit  (Verloren- 
sein, Heimdrängen,  Bitten  um  „Gnade").  Dazwischen  kommen  Selbst- 
vorwürfe,  dass  der  Kranke  Dies  oder  Jenes  hätte  thun  oder  unterlassen 
sollen.  In  ruhigen  Stunden  wird  über  Druck  auf  dem  Herzen,  Angst, 
Verwirrung,  schreckliche  Gedanken,  dämonische  Versuchungen,  grosso 


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Chronische  Melanch.  Klinische  Typen.  —  Chron.  hypoch.  Melanch.  63 

Mattigkeit,  zeitweise  auch  Uber  Gebörshallucinationen,  geklagt.  Die 
Körperernährung  wird  in  der  Folge  immer  elender;  es  tritt  bald  jene 
Anomalie  der  Blutcomposition  ein,  wo  jede  leise  Contusion  Blutextravasate 
setzt.  Othämatome  sind  bei  diesen  Kranken,  selbst  auf  ganz  leichte 
Anlässe,  nicht  selten.  Manchmal  gelingt  es  durch  eine  ausserordentlich 
umsichtige  Pflege,  welche  besonders  auf  Hebung  der  Körperernährung 
(Sondenftitterung)  und  Vermeidung  des  Decubitus  abzielt,  den  Kranken 
wieder  langsam  in  die  Höhe  zu  bringen,  doch  nie  weiter,  als  bis  zu 
einer  psychischen  Heilung  mit  Defect;  noch  öfter  aber  lässt  alle  Mühe 
im  Stiche  und  der  Kranke  versinkt  in  unrettbaren  Marasmus,  oder  er- 
liegt einer  intercurrenten  Krankheit  (Phlegmonen,  Decubitus,  Petechien 
mit  unstillbarem  Nasenbluten;  Suicidium).  Klinisch  ist  bezüglich  des 
Verlaufs  zu  bemerken,  dass  sich:  1.  manchmal  ein  vorübergehender, 
alternirender  Typus,  und  2.  zeitweilige  subkataleptische  Stuporphasen 
einschieben.  Prognostisch  ist  die  Erfahrung  zu  beachten,  dass  selbst 
eine  Jahre  lang  dauernde  Nahrungsverweigerung  die  schliessliche  Re- 
convalescenz  nicht  ausschliesst.  — 

Nosologisch  bilden  diese  chronischen  Melancholieen  die  klinischen  und 
pathologisch  anatomischen  Uebergänge  zu  den  geistigen  Cerebropathieen 
aaf  Grundlage  einer  primären  Hirnatrophie.  Viele  der  dahin  ge- 
hörigen Fälle  bestehen  aus  einer  Serie  von  Einzelerkrankungen  (Paro- 
xysmen),  welche  sich  insgesammt  auf  eine  Reihe  von  Jahren  ausdehnen  — 
eine  Art  periodischer  Melancholieen  — ,  zunehmend  qualitativ 
schwerer  werden  und  endlich  in  einen  unheilbaren  letzten  Paroxysmus 
auslaufen  mit  dem  autoptischen  Endbefund  des  genannten  Charakters. 
Sie  beginnen  mit  einer  einfachen  oder  hypochondrischen  Melancholie, 
welche  in  der  Regel  schon  Anfangs  in  der  starren  Monotonie  inhaltsloser 
oder  kindlicher  Klagen  die  primäre  geistige  Beschränktheit  (psychische 
Schwäche  an  Stelle  einfacher  melancholischer  Hemmung),  und  nach  der 
Qualität  der  Stimmungsreflexe  (Herumwälzen  auf  dem  Boden,  unmotivirte 
oder  conträre  Negation,  perverse  Antriebe,  impulsive  Raptus  zur  Selbst- 
beschädigung) die  tiefe  „organische  Belastung"  des  psychischen  Sympto- 
menbildes erkennen  lässt.  Anfangs  folgt  noch  manchmal  Genesung  (voll- 
ständig oder  theilweise),  selbst  auf  jahrelange  Dauer.  Aber,  genauer 
betrachtet,  hat  der  Kranke  selbst  in  günstigen  Fällen  eine  Einbusse  er- 
litten: ein  leiser  psychischer  Marasmus  in  Form  eines  geringem  Interesses, 
einer  gewissen  Unschlüssigkeit,  eines  unmotivirt  zeitweilig  gedrückteren 
Wesens  bleibt.  Dann  folgt  wiederum  ein  melancholischer  Paroxysmus, 
bald  kürzer,  bald  länger  dauernd,  vielleicht  abermals  mit  relativer  Heilung, 
aber  zurückbleibendem  grösseren  Defecte.  Und  so  geht  der  Verlauf  in 
Etappen  weiter,  bis  endlich  der  Kranke  in  einen  Zustand  depressiver 
geistiger  Schwäche  einläuft,  in  welchem  der  Blödsinn  Hauptsache, 
die  melancholischen  Züge  nur  noch  mitgebrachte  Schablone  sind.  Oft 
gelangt  der  Kranke  in  diesem  noch  zur  Ausführung  seines  suieiden 
Dranges. 

Die  chronische  Form  der  hypochondrischen  Melan- 
cholie erwächst  (wie  die  oben  geschilderte  einfache  Form)  mit  Vor- 
liebe auf  neuropathischer  Constitution  (besonders  hysterischer),  und 


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64 


Specielle  Melancholie. 


auf  masturbatorischer  und  uteriner  Grundlage  (chronischer  Uterus- 
Infarct  mit  profusen  Katarrhen).  Sie  gehört  deshalb  auch  grössten- 
teils dem  weiblichen  Geschlechte  an,  befällt  aber  hier  alle  Alters- 
stufen, namentlich  junge,  unverheiratete,  erblich  belastete  und 
anämische  Mädchen;  doch  liefern  auch  junge  Männer  ein  genügendes 
Contingent. 

Das  Symptomenbild  baut  sich  auf  einen  Status  nervosus,  gewöhnlich 
mit  „Spinalirritation"  auf  und  trügt  als  specifische  Charaktere:  gedruck- 
tes, manchmal  grenzenlos  trauriges  Wesen,  gesteigerte  Empfindlichkeit 
mit  Neigung  sich  jedem  Schraerzenseindruck  maaaslos  hinzugeben,  Ver- 
zagtheit, Willensschwäche.  Körperlich  ist  der  ganze  sensible  Nerven- 
baum  in  hochgradigster  Hyperästhesie,  und  die  Kranken  bilden  die  Vir- 
tuosen auf  dem  nervösen  Eropfindungsinstrumente.  Jeder  Zoll  des  Kör- 
pers schmerzt,  jeder  Nerv  wird  peinlich  gefühlt,  für  die  Bezeichnung 
des  „Brennens",  „Quirlens",  „Spannens",  „Pressens"  u.  8.  w.  reicht  kaum 
der  Sprachschatz  des  Gebildeten  ans.  Auch  das  ruhigste  Denken  ist  mit 
widrigen  Empfindungen,  mit  ausstrahlenden  Wärme-  und  Kältegefühlen, 
mit  Herzklopfen  und  selbst  Angst  verbunden.  Gewöhnlich  aber  ist  gar 
kein  ruhiges  Denken  möglich;  die  Gedanken  drängen  sich  ungerufen; 
Alles,  was  der  Kranke  sieht  und  hört  u.  s.  w.,  erregt  Bilder  und  Gedan- 
ken, und  diese  wieder  andere,  und  so  mischen  sich  Bilder  und  Gedanken 
und  fuhren  zu  einem  peinlichen  Schwindel  mit  schmerzlicher  Ermattung. 
Lebhaft  vorgestellte  Empfindungen  objectiviren  sich  sofort  körperlich. 
Bei  Steigerung  des  Zustandes  wächst  die  innere  Unruhe  „vor  einem 
neuen  Gedanken"  und  der  Bann  der  Launenhaftigkeit;  die  Kranken  werden 
immer  mehr  zur  Resonanz  einer  jeden  hysterästhetischen  Regung.  Sie 
sind  ganz  vom  Augenblicke  beherrscht:  jetzt  ist  es  ein  beliebiger  Ein- 
fall, jetzt  eine  zufällige  GefUhlslage,  jetzt  ein  bedeutungsloser  Sinnes- 
eindruck, jetzt  eine  leise  Störung  des  GemeingefUhls,  jetzt  ein  phanta- 
stischer Sprung  —  welche  die  abnormen  Sensationen  aufregen  und  dann 
die  geistige  Situation  des  Kranken  jeweils  mit  zäher  Strenge  beherrschen. 
Stunde  um  Stunde  wird  ein  neues  Klageregister  gezogen:  bald  ist  die 
Nase  zu  eng,  der  Leib  zu  aufgetrieben,  das  Zimmer  zu  klein,  die  Luft 
zu  dicht,  der  Athem  zu  kurz  u.  s.  w.  Damit  geht  Hand  in  Hand  ein 
wachsendes  BedUrfniss  sich  in  dem  schweren  Leidenszustand  gebührend 
anerkannt  und  bemitleidet  zu  sehen.  Dies  führt  einerseits  zu  einer  immer 
grössern  Anspi  uchsfUlle,  welche  die  Umgebung  rücksichtslos  meistert, 
andrerseits  zu  einer  solchen  gemttthlichen  Verletzlichkeit,  dass  den  Kran- 
ken selbst  die  bestgemeinte  Pflege  nicht  genügt  Viele  geberden  sich 
wie  unleidige  Kinder,  wollen  alle  ihre  Wünsche  sofort  erfüllt  sehen, 
kommen  durch  eine  Kleinigkeit  ausser  Fassung,  ziehen  im  folgenden 
Augenblicke  an  sich,  was  sie  erst  abgewiesen  hatten,  verweigern  mit 
äusserstem  Eigensinn  den  Gehorsam  in  Dingen,  welchen  sie  sich  bis  dahin 
gerne  unterzogen  hatten.  Bei  Andern  entwickelt  sich,  damit  gleichen 
Schritt  haltend,  ein  Gefühl  des  Verkanntseins  und  eine  eben  so  ent- 
schlossene Verbitterung  über  die  Umgebung,  endlich  Trotz  und  Haas  und 
nicht  selten  feindseliges  Auftreten  gegen  dieselbe,  welche  „doch  nur 
darauf  warte,  den  Kranken  zu  verderben". 


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Chron.  hypochondr.  Melanch.  —  invalide"  (Organische)  Melancholieen.  65 


Bei  wieder  Anderen  mischen  sich  mit  den  Gefühlen  der  Erbitterung 
auch  die  der  Sehnsucht  nach  Genesung,  und  damit  weiter  die  Erinnerung 
an  die  tiberstandenen  Leiden,  an  die  getäuschten  Hoffnungen,  an  die  nicht 
erfüllten  Versprechungen,  und  erzeugen  reactiv  Episoden  melancholischen 
Schmerzes,  welcher  bis  zum  heftigsten  Weinen,  oft  bis  zu  krampfartigen 
Erschütterungen  des  Körpers  sich  steigern  kann.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  es  nicht  selten  und  nicht  schwer  gelingt,  den  Kranken  mitten  aus 
seinen  mit  Aufgebot  aller  Mimik  begleiteten  Verzweiflungsscenen  durch 
Anknüpfung  eines  interessanten  angenehmen  Gesprächs  zu  freien  Aeusse- 
rungen,  lebhafter  Conversation  und  heiterer  Stimmung  voll  Vertrauen  und 
Hoffnung  hinüberzulenken  —  den  sterbenden  Gladiator  unvermerkt  wieder 
aufzurichten.  Das  Bewusstsein  erhält  sich  daneben  in  einer  auffällig  con- 
trastirenden  Schärfe  und  Intaktheit.  Der  genannte  Zustand  kann  Monate 
und  selbst  Jahre  (oft  tagweise  alternirend)  andauern.  Der  Kranke  bleibt 
über  die  ganze  Zeit  ein  unberechenbares  Compendium  nervöser  Diagnosen 
und  Prognosen;  nie  ganz  frei,  immer  etwas  scheu  und  verzagt,  geht  er 
von  Tagen  düsteren  Weltschmerzes  zu  aufgeräumten,  ja  selbst  gesellig 
heiteren  über;  heute  überströmend  von  Klagen,  kann  er  morgen  alle  seine 
Missempfindungen  unterdrücken  und  auf  die  richtigen  Anschauungen  ein- 
gehen, um  in  jähem  Umschlage  wieder  zur  alten  Muthlosigkeit  herab- 
zusinken —  und  ebenso  aufsteigend  wieder  in  die  Flittertage  einer 
überstürzten  Genesungsfreude  einzulaufen.  Nicht  so  selten  gehen  auch 
Drohungen  von  (oft  ernst  gemeintem!)  Selbstmordhang  mit  einher.  In 
diesen  proteusartigen  Schwankungen,  welchen  deutlich  eine  hysterische 
Signatur  aufgedrückt  ist,  arbeitet  sich  in  günstigen  Fällen  das  Befinden 
des  Kranken  zur  Besserung  hinauf:  die  Klagen  werden  seltener,  die 
Stimmung  gefasster  und  gleichmässiger ,  das  Aussehen  componirter;  es 
stellt  sich  dauernde  Freude  an  der  Geselligkeit  und  Arbeitslust  ein.  Die 
weniger  begünstigten  Kranken  rücken  unter  wiederholten  und  zunehmend 
schwereren  Recidiven  in  hypochondrischen  (auch  secundären)  Wahnsinn, 
werden  immer  barocker  in  ihren  Sensationen  und  schliesslich  in  ganz 
neue  Körper  transformirt.  Sie  verfallen  auf  die  unsinnigsten  Selbst- 
euren,  essen  heisshungerig  Gras  und  Unverdauliches,  anderemale  ver- 
weigern sie  hartnäckig  die  Nahrung,  oder  nehmen  sie  nur,  wenn  man 
sie  ihnen  in  bestimmten  Geschirren,  oder  an  bestimmte  Orte  hinstellt; 
nicht  selten  zeigen  sich  auch  in  der  Folge  Verfolgungsgedanken  und 
namentlich  Vergiftungsfurcht.  Die  Einnahme  des  Essens  sowie  die  Ver 
richtung  der  Bedürfnisse  erfolgt  unter  ganz  verzwickten  Körperhaltungen. 
Dabei  wird  die  Stimmung  immer  indolenter,  oder  misstrauisch  feindselig, 
nicht  selten  explosiv  heftig  (Raptus  gegen  sich  und  Andere,  plötzliches 
Zerstören  i.  Wieder  Andere  dieser  chronischen  hypochondrischen  Melan- 
choliker bleiben  ihr  Leben  hindurch  fast  stationär,  und  schrumpfen  nur 
langsam  zu  beschränkten  und  immer  engherzigeren  Egoisten  zusammen. 
Hier  knüpfen  sich  die  Uebergänge  zum  chronischen  (degenerativen)  hypo- 
chondrischen Irresein  der  Männer  an.  — 

Es  erübrigt  nun  noch  ein  Blick  auf  die  Modifikationen,  welche 
das  im  Vorstehenden  gezeichnete  Symptomenbild  auf  Grundlage 
eines  invaliden  Hirnlebens  eingeht.    Die  vorigen  Schilderungen 

Schale,  Geiateakraakheileo.   3.  Aufl.  5 


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66 


Specielle  Melancholie. 


bildeten  bereits  die  Uebergänge.  Speciell  aber  gehören  hierher 
die  Melancholieen  auf  klimakterischem  (senilem)  Boden,  ferner  die  auf 
alkoholischer,  puerperaler,  masturbatorischer,  syphilitischer  Grund- 
lage und  Entstehung.  Alle  diese  klinischen  Unterformen  weisen  spe- 
cielle Nuancirungen  des  typischen  Krankheitsbildes  auf,  worunter 
einige  einen  praktischen  Werth  insofern  besitzen,  als  sie  zur  Bildung 
von  ätiologischen  Krankheitsgruppen  befähigen.  Symptomato- 
logisch  lassen  die  allgemeine n  Charaktere  der  betr.  Symptomen- 
complexe  sich  darin  zusammenfassen,  dass  das  psychische  Schema 
der  Melancholie  um  eine  Stufe  tiefer  sich  abspielt:  der  Inhalt  (Wahn) 
ist  geistig  schwächer  und  beschränkter;  die  Form  resp.  die  Asso- 
ciation der  psychischen  Acte  mangelhafter  und  gehemmter;  die 
klinischen  Einzelphasen  sowohl  in  ihrem  Beharren  als  in  der  Weise 
der  Uebergänge  sind  weniger  „logisch"  vermittelt,  als  vielmehr 
wesentlich  durch  die  Phasen  des  Nervenprocesses  bestimmt.  Der 
Vorstellungsablauf  ist  erschwerter,  oft  förmlich  erstarrt;  der  Vor- 
stellungskreis ungleich  reducirter  als  bei  den  rüstigen  Melancholieen. 
Die  Wahngedanken  werden  alberner  und  füllen  das  Bewusstsein  so 
sehr  aus,  dass  die  ganze  sprachliche  Aeusserung  mehr  nur  noch  in 
der  wochenlang  monotonen  Ableierung  desselben  Satzes,  derselben 
fragmentaren  Klagerufe  besteht,  woneben  keine  Correctur  aufkommt, 
ja  nicht  einmal  percipirt  wird.  Mehr  noch  prägt  sich  dieser  Zwang 
in  der  immer  starreren  Negation  der  Kranken  aus,  in  der  „Negation 
aus  Negation",  ohne  klar  bewusstes  oder  durch  einen  starken  Affect 
getragenes  Motiv. 

a)  Senile  Form.  Die  Kranken  sind  wie  benommen,  für  die  ein- 
fachsten Dinge  rathlos,  sie  widerstreben  Allem,  was  man  mit  ihnen  vor- 
nimmt, wehren  sich  ziel-  und  planlos,  sind  confus  wie  Kinder;  für  sich 
trippeln  sie  in  beständiger  Unruhe,  durch  ein  dunkles  Etwas  getrieben, 
was  wohl  peinlich  empfunden,  aber  nicht  erfasst  wird ;  nicht  selten  irren 
sie  in  stupider  Allangst  rastlos  und  mit  fliegender  Hast  umher,  unter 
allerlei  schüttelnden,  stossenden,  reckenden  Glieder-  und  Körperbewe- 
gungen; oder  sie  rennen  mit  krampfhaft  zurückgezogener  Kopfhaltung, 
nur  mit  dem  Hemde  bekleidet,  im  Zimmer  auf  und  ab,  und  finden  selbst 
nicht  einmal  zum  Essen  eine  kurze  Ruhe;  fortwährendes  Jammern  und 
Stöhnen,  oder  abgebrochene  kurze  Ausrufe  („ewig  verloren!",  „unheilbar!" 
„tobsüchtig!")  begleiten  diese  agitirten  Sturm-  und  Drangperioden.  In 
den  ruhigeren  Stunden  sind  sie  unzugänglich,  theilnahmlos,  ganz  von 
kleinlichem  Egoismus  erfüllt;  in  ihren  kurzen  Reden  zu  raisonnirender 
Disputirsucht  geneigt,  sensoriell  und  psychisch  hyperästhetisch,  unzu- 
frieden. Nicht  selten  brechen  plötzliche  Raptus  von  Gewalttätigkeit 
gegen  sich  und  Andere  durch.  Aus  den  Phasen  dieses  ruhigen  Pessi- 
mismus mit  bornirter  Rechthaberei  —  wobei  die  Ideen  der  absoluten  Ver- 
armung, des  verschuldeten  Ruins  seiner  Stellung  und  Familie  die  oberste 


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„Senile"  Form  der  organ.  Melancholieen. 


67 


Prämisse  für  den  Kranken  bilden  —  geht  er  immer  wieder  in  die  Auf- 
regungszustände  der  schmerzlichen  Gebanntheit  mit  den  triebartig  moto- 
rischen Reflexen  Uber.  So  zieht  sich  das  Krankheitsbild  unter  Exacerba- 
tionen und  Remissionen  wechselnd  oft  Monate  lang  hin.  In  günstigen 
Fällen  tritt  unter  zunehmender  Ernährung  nach  und  nach  Ruhe  und  rela- 
tive Erholung  ein,  welche  sich  auch  befestigen  kann.  In  ungünstigen 
Fällen  dagegen  bleibt  das  psychopathische  Schema;  nur  wird  der  Inhalt 
affectloser,  alberner.  Die  Kranken  plappern  unter  ihrem  heftigen  Wider- 
streben oft  die  barocksten  Phrasen  her,  endlich  reine  Vociferationen. 
Das  ganze  Gebahren  wird  immer  mehr  ein  automatisch  monotones.  Die 
Kranken  stöhnen  und  jammern  Tag  und  Nacht,  stossen  (bis  zur  Heiser* 
keit)  dieselben  Schreilaute  aus;  dabei  ziehen  sie  sich  aus  and  an,  sie 
esseD,  lassen  sich  spazieren  führen  u.  8.  w.  Nicht  selten  erholt  sich  dabei 
das  Bewusstsein  in  einem  solchen  Grade,  dass  die  Kranken  Uber  Vieles 
Auskunft  zu  geben  vermögen,  und  Uber  die  Trostlosigkeit  ihrer  Lage 
richtige  Ansicht  äussern;  sie  versichern  sogar,  dass  sie  geistig  ganz  klar 
seieu,  und  nur  durch  ihre  eigene  Schuld  und  Gottverlassenheit  so  jammern 
und  gesticuliren  mUssten.  Gewöhnlich  wird  diesem  ihnen  aufgezwungenen 
und  für  den  Willensgang  unerreichbaren  automatischen  Gebahren  eine 
dämonomani6che  Allegorie  unterlegt:  „der  Teufel  macht  es  ihnen."  Nicht 
selten  gehen  Halluciuationen  aller  Sinne  mit.  Wird  die  blödsinnige 
Schwäche  grösser,  so  objectivirt  sich  das  schmerzlich  deprimirte  Selbst- 
gefühl in  Vorstellungen,  welche  eine  dem  Kranken  unfassbare  Aende- 
rung  seiner  selbst,  der  Aussenwelt,  oder  deren  Negation  bedeuten.  Der 
Kranke  klagt,  dass  er  taub,  ganz  binterfür,  verrückt  sei,  dass  alles  zwei- 
deutig, nichts  ihm  mehr  klar  sei  was  er  sage;  er  wisse  nicht  mehr,  ob 
er  ein  Mannsbild  oder  Weibsbild  sei;  er  sehe  alles  wie  sonst;  aber  er 
wisse  nicht,  ob  es  wahr  sei;  er  behauptet,  alles  noch  zu  sehen  und  zu 
hören,  wie  sonst ;  aber  seine  Ohren  seien  verstopft.  Er  weiss  nicht  mehr, 
wo  er  hingehört  („ich  bin  ein  herumirrendes  Lamm,  welches  weder  Stuhl- 
gang hat,  noch  Wasser  lässt"),  kann  Süss  und  Sauer  nicht  mehr  unter- 
scheiden. Er  allein  von  Allen  muss  elend  und  matt  und  so  kraftlos,  dass 
er  nichts  mehr  leisten  kann,  ewig  in  der  Welt  herumlaufen.  Er  weiss 
auch  nicht  mehr,  was  er  redet  in  seiner  Verwirrung.  Manche  Kranke 
fragen  in  ihrer  Rathlosigkeit  nach  der  Belehrung  Uber  die  einfachsten 
Gegenstände  (ist  das  ein  Glas?  sind  das  Hosen?);  sie  verlangen,  dass  man 
sie  hinaus8tos8e  zu  den  wilden  Thieren.  Sterben  sei  das  beste  für  sie. 
Die  ersehnte  Erlösung  durch  den  Tod  rUckt  auch  manchmal  unter  zu- 
nehmender Reduction  der  Körperernährung  und  Anämie  heran  (Decubitus, 
Oedem,  zeitweilige  Fieberbewegungen,  hypot>tatische  Lungenaffectionen). 
Anderemale  ist  unter  günstigen  Bedingungen  (Assimilation  einer  kräftigen 
Diät)  auch  eine  relative  Erholung  zu  einem  natürlicheren  Benehmen  und 
Stimmung  wieder  möglich.  —  Nimmt  die  senile  Melancholie  das  hypo- 
chondrische Bild  an,  so  schrumpft  mit  der  zunehmenden  psychischen 
Schwäche  der  Vorstellungsinhalt  zu  immer  engeren  stereotypen  Kreisen 
zusammen  (Klage  Uber  Verstopfung,  Uber  den  Magen  u.  s.  w.),  während 
die  Stimmung  zu  einer  Verzweiflungsschablone  sich  einschränkt,  und  aus 
dem  immer  kindischeren  Gesichtskreise  alle  früheren  Interessen  und  Her- 
zensbeziehungen verschwinden.    Die  Krauken  verknöchern  förmlich  zu 

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Specielle  Melancholie. 


Egoisten  und  zugleich  zu  Jammersalen  ihrer  körperlichen  Parästhesieen, 
welchen  Tag  und  Nacht  keine  Linderung  mehr  beschieden  ist.  Langsam 
progressiv  schreitet  das  Leiden  fort,  manchmal  verschärft  durch  deli- 
rante  Angstzustände.  Körperlich  zeigen  nicht  selten  Hemianästhesieen  mit 
peinlicher  hypochondrischer  Verarbeitung  (oft  fühlen  solche  Kranken  die 
Speisen  nur  auf  einer  Magenseite,  glauben  eine  doppelte  Afteröffnung  zu 
haben),  verbunden  mit  einseitigen  vasomotorischen  KopfHuxionen  und  con- 
tralateralen Bewegungsstörungen,  die  palpabel  gewordene  Hirnaffection  an. 
Diese  Fälle  bilden  auch  den  klinischen  Uebergang  zu  den  psychischen 
Cerebropathieen  aus  primärer  Hirnatrophie  (s.  d.). 

b)  Neurasthenisch  -  torpide  Form  nach  erschöpfenden  Ex- 
cessen  oder  schweren  Consumptionskrankheiten  (Typhus,  Puerperium). 

Die  Kranken  sind  in  höchstem  Grade  apathisch,  sprechen  nicht,  oder 
nur  kurze,  oft  halb  betäubte  Antworten.  Dazwischen  fahren  sie  plötzlich 
heftig  auf,  werden  gewaltthätig  oder  widerstrebend.  Man  ftihlt  aus  ihrem 
Benehmen  die  Schmerzgebundenheit  durch  eine  direct  organische  Hem- 
mung heraus,  für  welche  das  getrübte  Bewusstsein  keinen  Kamen  und 
noch  weniger  eine  Erklärung  hat.  Dabei  sind  sie  nicht  misstrauisch  oder 
feindselig.  Sehr  häufig  verweigern  sie  lange  Zeit  die  Nahrung;  unbe- 
wacht schiessen  sie  mit  dem  Kopf  an  die  Wand  oder  lassen  sich  zum 
Bett  herabfallen,  um  im  nächsten  Augenblicke  wieder  stumpf  schmerzlich 
hinzukauern.  Diese  Raptus  machen  den  Eindruck  eines  zeitweilig  ent- 
lastenden Reflexes,  da  die  geistige  Spannung  bei  der  tiefen  Bewusstseins- 
störung  nur  schwer  den  Ausweg  durch  Worte  zu  linden  vermag.  Zeit- 
weise wohl  brechen  einige  lückenhafte,  unklare  Sätze  heraus,  welche  auf 
Wochen  lang  still  getragenen  Kummer,  auf  innere  verzweiflungsvolle  Angst 
hindeuten.  Dieser  Zustand  kann  sich  allmählich  unter  Besserung  der  Er- 
nährung und  entsprechender  Medication  (Morphium)  lösen,  und  der  Kranke 
successive  zu  freieren  Aeusserungen  gelangen,  in  welchen  er  jetzt  seine 
Schuldwürdigkeit,  seinen  Entschluss  zu  sterben,  oft  unter  Thränen  be- 
kennt, nicht  selten  auch  wegen  seiner  unwillkürlichen  Ausbrüche,  die  er 
gleichwohl  noch  nicht  lassen  kann,  um  Verzeihung  bittet.  Thatsächlich 
ist  auch  nach  und  nach  eine  allmähliche  Heraufbesserung,  und  zwar  durch 
ein  hallucinatorisches  Stuporstadium,  manchmal  auch  durch  abwechselnd 
träumerische  und  halb  lucide  Phasen  hindurch,  möglich.  Andernfalls  ver- 
zehrt sich  die  Hirnkraft  in  der  schmerzlichen  Gedankenspanuung  ohne 
einen  Abgleich,  und  der  Kranke  geht  durch  einen  melancholischen  Nihi- 
lismus („wir  haben  nie  existirt,  ich  bin  nur  Luft,  es  wächst  nichts;  die 
Welt  ist  untergegangen;  es  gibt  nur  Himmel  und  Erde"  u.  s.  w.)  in  eine 
zunehmende  psychische  Schwäche  über,  welche  eine  eigentümliche  Bei- 
mischung von  cerebraler  Benommenheit  und  Betäubtheit  beibehält.  Der 
Kranke  gibt  alles  zu,  er  verneint,  was  er  vorher  bejaht  hatte;  das  In- 
teresse stumpft  sich  ab.  Motorische  Insuflicienzen  (Nachschleifen  des 
Fusses,  einseitiges  Zitteruj  stellen  sich  ein;  auch  Nystagmus,  einseitiges 
Schwitzen.  Manche  Kranke  sprechen  nur  in  der  Inspirationsphase  („rück- 
wärts"), hie  und  da  passend,  häufiger  sinnlos.  Immer  mehr  treten  auch 
ethische  EntartungszUge  hervor  (Feindseligkeit  gegen  alle  natürlichen  Be- 
ziehungen, kleinlicher,  niedriger  Egoismus);  ein  unbeugsamer  Suicidiums- 
drang  bleibt,  und  gelangt  nicht  selten  jetzt  noch  zum  Ziele. 


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Neurasthen.  torpide  Form.  —  Masturbatorische  Melancholie. 


69 


c)  Masturbatorische  Melancholie.  Die  anf  onanistischer 
Grundlage  sich  entwickelnde  Melancholie  zeigt  ein  mehrfaches  klinisches 
Bild.  Die  häufigste  Form  ist  die  hypochondrische  aus  der  schranken- 
losen Ausbeutung  der  neurasthenischen  Spinalsensationen.  Im  Mittelpunkt 
stehen  vage  Rückenschmerzen,  Ziehen  und  Reissen  in  den  Beinen,  Be- 
schwerden beim  Uriniren,  Neuralgieen  der  Genitalien  (besonders  Parä- 
sthesieen  der  Urethra);  später  gesellen  sich  Kopfdruck,  Unfähigkeit  zu 
denken,  Schwindel,  Vergehen  der  Augen,  Herzpalpitationen,  präcordialc 
Gefühle,  vasomotorische  Erregungszustände,  oft  local  (einseitig)  hinzu, 
endlich  Angst  und  SelbstvorwUrfe.  Die  Stimmung  ist  verschieden:  in 
einem  Falle  Uberraschend  affectlos  (aber  nicht  zu  trauen !)  ist  sie  in  an* 
dem  überängstlich,  weibisch  verzagt  und  dabei  mit  einem  Zug  von  süss- 
licher  Zärtlichkeit  vermischt  (beständiger  Drang  die  Hände  Dritter  zu 
fassen,  oder  die  eigene  Hand  zu  geben,  welche  oft  durch  ihre  kühle, 
schweissige  Feuchtigkeit  erschreckt).  Die  populären  Jugendschriften 
liefern  die  autoritativen  Scbreckcitate,  deren  Hauptgespenst  die  drohende 
Tabes  bildet.  Ein  menschenscheues  Wesen,  weil  sie  fühlen,  dass  Andere 
ihnen  das  „von  der  Natur  auf  ihre  Stirn  gedrückte  Siegel"  ansehen 
möchten,  führt  sie  zur  Einsamkeit  und  zur  grüblerischen  Selbstpeinigung: 
dem  täglichen  Studium  ihres  Urins,  behufs  Untersuchung  einer  etwaigen 
Spermatorrhoe ,  der  sorgsamen  Einregistrirung  ihrer  Pollutionen  werden 
Stunden  gewidmet.  Nun  stehen  zwei  Wege  der  Weiterentwicklung  offen: 
a)  der  hypochondrisch- melancholische,  in  Genesung  resp.  Blödsinn;  b)  der 
dämonomelancholische,  in  Genesung  resp.  Wahnsinn.  Bei  der  ersten 
Form  sind  die  Hauptmomente  des  klinischen  Bildes:  trübe  Stimmung,  ab- 
geschlossenes, grüblerisches  Wesen  mit  eigensinnigem  Trotz  und  gereiztem 
Widerstand,  episodischen  Verfolgungs-  und  Grössenideen,  Phasen  von 
grosser  Aengstlichkeit  mit  Selbstvorwürfen;  dazwischen  plötzliche  Raptus, 
ausgehend  von  den  Genitalempfindungen  („wie  wenn  man  Einen  hin- 
machen müsste").  Allmähliche  sittliche  Entartung,  schamlose  Mastur- 
bation; bei  Vorhalt  obscönes  Gegenverlangen.  Unter  unregelmässigen 
Schwankungen  zwischen  bessern  Zeiten  (Krankheitseinsicht  und  Verspre- 
chungen) und  schlimmem  (mit  plötzlichen  Antrieben  zu  beissen  und  zu 
kratzen),  immer  tieferer  Gemüthszerfall  bei  oft  noch  leidlich  erhaltenem 
Vorstellungsleben  (speciell  Gedäcbtniss)  mit  sinnlosen  Einfällen,  Vernach- 
lässigung des  Decorums  und  einem  mechanischen  In -den -Tag -leben. 
Die  zweite  Form  beginnt  mit  einer  religiösen  oder  dämonomanen  Me- 
lancholie, ängstlicher  Unruhe  mit  Körperzittern  (wobei  der  Oberkörper 
oft  vorwärts  gestossen,  die  Beine  vorgeschleudert,  die  Achsein  gehoben 
werden  u.  8.  w.),  peinliches  Missbehagen  mit  stetem  Betasten  der  Ge- 
nitalien; dann  Selbstvorwürfe,  „dass  sie  die  Nachkommenschaft  verkürzt 
hätten";  Furcht  vor  dem  Himmel,  Verzweiflung  an  der  göttlichen  Gnade. 
In  der  Folge  Tastsensationen  (Zupfen)  an  den  Genitalien,  Teufelsvisionen, 
Besessenheit wahn,  Brausen,  Klingen  im  Kopfe,  Würgen  im  Halse,  Dru- 
cken und  Brennen  auf  der  Brust,  Verdrehen  der  Glieder,  Zerren  und 
Wühlen  in  den  Geschlechtsteilen  (so  dass  der  Kranke  sie  oft  wegreissen 
will),  Raptus  zu  Suicidiuro,  zu  Angriffen  auf  Andere,  oder  auch  zu  plötz- 
lichem reflectorischen  Gebahren:  Brüllen,  Schreien,  rasendem  Umsich- 
schlagen  mit  dem  Gefühl  verdammt,  allein,  auf  der  Welt  zu  sein.  Manch- 


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70 


Specielle  Melancholie. 


mal  in  jähem  Uebergang  jetzt  abwechselnde  himmlische  Wonnegefühle; 
dazwischen  immer  wieder  die  Empfindung,  „dass  der  Teufel  den  Kranken 
noch  verrückt  mache".  Der  Verlauf  kann  subacut  (einige  Wochen  bis 
Monate)  sein,  manchmal  sich  aber  auch  bis  zu  I — 2  Jahren  hinausziehen. 
Von  bestimmendem  Einflüsse  auf  denselben  ist  der  Grad  des  körperlichen 
Ernährungszustandes  und  namentlich  die  Entsagung  der  Onanie.  Der 
Krankheits verlauf  ist  immer  ein  sehr  wechselnder,  durch  Besserungen 
und  jähe  Verschlimmerungen  ausgezeichneter:  plötzlich  wird  der  Kranke 
wieder  fassungslos  verzweifelt  (er  ist  wieder  eine  blutlose  Hülle,  er  be- 
kommt ein  schwarzes  Gesicht,  der  Teufel  ist  mit  Allem,  was  noch  Gutes 
an  ihm  war,  durchgegangen;  er  wird  lebendig  an  Leib  und  todt  an  der 
Seele  begraben  u.  s.  w.).  In  der  Regel  gehen  acute  Gastricismen  mit. 
Bei  protrahirterem  Verlaufe  mischen  sich  Züge  von  Beeinträchtigungswahn 
und  Misstrauen  gegen  die  Umgebung  bei.  Körperlich  wird  oft  Impotenz 
(gänzlich  mangelnde  Erectionen)  und  unwillkürlicher  Samenabgang  beim 
Uriniren  und  Stuhl,  bei  reizbarerer  Schwäche  auch  Tagespollutionen  ohne 
Wollustgefühl  und  unter  furchtbarer  Beängstigung  des  Kranken,  beob- 
achtet.   Aber  auch  hier  ist  Genesung  nach  und  nach  möglich. 

Eine  andere,  ebenfalls  häufige  Form  beginnt  mit  religiöser  Melan- 
cholie mit  Hallucioationen  und  einem  impulsiven  Gebahren,  welcher  sich 
früh  schon  Züge  von  Wahnsinn  und  andererseits  von  ethischer  Entartung 
beimischen.  Die  Kranken  fangen  an  zu  „sinniren",  brüten  Tag  und 
Nacht  über  ihren  Gebetbüchern,  legen  sich  und  ihren  Angehörigen  Fast- 
und  Bussübungen  auf  und  ahnden  jedes  Uebersehen  darin  mit  Härte,  oft 
barbarischen  Misshandlungen.  Sie  gerathen  immer  mehr  in  schmerzliche 
Gebundenheit,  knieen  stunden-  und  tagelang  mit  gefalteten  Händen,  ver- 
weigern oft  hartuäckig  die  Nahrung,  vernachlässigen  das  Decorum,  lau- 
schen und  gehorchen  nur  den  „Eingebungen  Gottes",  welche  sie  in  leich- 
ten Körpererschütterungen  oder  in  kleinen  Kopf  bewegungen  u.  s.  w.  ver- 
spüren. In  raschem  Umschlag  folgen  auch  hier  oft  heitere  freie  Stunden; 
dann  aber  wieder  apathische,  resignirte  Episoden  oder  Zeiten  von  stumpfer 
Verzweiflung  über  ihre  Sündhaftigkeit,  deren  Memento  die  Kranken  an 
ihrer  abnehmenden  „Naturkraft"  fühlen.  Mit  dem  peinlichen  Gedanken- 
drange verbinden  sich  allerlei  spinale  Sensationen,  namentlich  beklem- 
mende über  das  Herz  und  Epigastrium. 

Wieder  Andere  mühen  sich  in  hartem  Kampfe  ab  zwischen  ihrem 
guten  Vorsatz  und  den  höhnenden ,  oft  direct  blasphemischen  Stimmen, 
welche  sie  als  „dämonische"  ängstigen,  um  so  mehr,  als  damit  immer 
die  sexuellen  Heizungen  (oft  mit  Tages- Pollutionen)  und  eine  peinliche 
Hemmung  alles  Wollens  eintreten.  Das  Gefühl,  zum  Schlechten,  das  sie 
doch  fliehen  wollen,  „getrieben"  zu  sein,  bringt  Anfangs  Verzweiflungs- 
scenen  (mit  Raptus),  später  stumpfschmerzliche  Resignation.  Die  Gene- 
sung ist  bei  dieser  klinischen  Form  schwieriger,  aber  doch  möglich  unter 
der  oben  bezeichneten  Bedingung.  Oft  intercurriren  manische  Raptus  von 
nur  wenigen  Stunden  Dauer  und  vollständiger  Unbesinnlichkeit  nachher. 
Die  protahirte  Rcconvalescenz  erfolgt  mit  Vorliebe  unter  der  Form  einer 
hypochondrischen  Melancholie  mit  gesteigerter  Schmerzempfindlichkeit  und 
grosser  Weichheit  der  Stimmung;  oft  spielen  Verfolgungswahnelemente 
mit  Episoden  von  Misstrauen,  Trotz  und  einem  feindselig  abstossenden 


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Masturbatorische  Melaucholie. 


71 


Benehmen  gegen  die  Umgebung  herein.  In  nicht  zur  Genesung  ge- 
langenden Fällen  bildet  sich  dieser  Verfolgungswahn  immer  breiter  und 
ausgedehnter  aus  und  wird  stationär.  Es  kann  aber  auch  der  Ausgang 
in  unheilbare  Katatonie  erfolgen. 

Oder,  endlich,  die  anfangliche  Melancholie  geht  nach  und  nach 
in  blödsinnige  Schwäche  Uber,  deren  HauptzUge  —  neben  der  intellec- 
tuellen  Abnahme  —  ein  grosser  Wechsel  in  der  Art  und  Richtung  der 
Bestrebungen,  ein  Herumgeworfenwerden  in  den  verschiedensten  Stim- 
mungen, bildet;  sagen  wir  kurz:  in  einem  Schwachsinn  hysteriformen 
Charakters  mit  sittlicher  Degeneration.  Bald  ausgelassen  heiter,  zu  muth- 
willigen  Spässen,  zu  frivolen  Reden  aufgelegt,  in  obscönem  Gebahren 
sich  gefallend,  mit  keckem  Hohn  gegen  das  Decorum  —  spielt  der  Kranke 
auderemale  wieder  den  Traurigen  mit  endlosen  Klagen  Uber  körperliche 
Zustände,  welche  aller  Begründung  entbehren.  Zur  einen  Zeit  anspruchs- 
voll und  maasslos  in  den  Anforderungen,  sinnlos  in  den  Zumuthungen, 
unbescheiden  im  Auftreten,  ungeberdig  bei  jeder  Zurechtweisung,  reizbar 
oder  ausweichend  bei  jeder  Berührung  —  ist  er  zur  anderen  gegentheils 
still  und  in  sich  gekehrt,  griesgrämig  den  Wänden  nachschleichend,  jede 
Beschäftigung  fliehend,  im  Benehmen  barsch,  trotzig,  herausfordernd  und 
selbst  gewaltthätig,  nachlässig  in  seinem  Aeusseru  und  bis  zum  Ueber- 
maass  gleichgiltig.    Dieser  letztere  Zustand  kann  sich  bis  zur  vollstän- 
digen Abulie  und  zur  Nahrungsverweigerung  und  zu  einem  Mutacismus 
steigern,  welcher  selbst  Uber  Jahresfrist  andauert.    Bemerkenswerth  sind 
dabei  die  momentanen  Uebergänge  in  belebtere  und  lucidere  Phasen,  wo- 
bei jedoch  das  Ungeordnete  und  Launenhafte  der  Bestrebungen,  das 
Wechselvolle  der  Entschlüsse,  die  Albernheit  der  Einfälle,  das  Ungleich- 
artige der  gemüthlichen  Reactionen  das  dauernde  Charakteristikum  blei- 
ben. Man  möchte  oft  glauben,  dass  die  ganze  Persönlichkeit  in  der  Un- 
willkUrlichkeit  des  scheinbar  Willkürlichen  untergegangen  sei,  wenn  nicht 
immer  auch  wieder  leitende  Ideen  eines  gradweise  freieren,  ja  selbst  gesun- 
den Bewusstseins  hereinspielten.  Die  Kranken  machen  den  Eindruck  der 
„Verzwicktheit"  und  ähneln  vielfach  dem  Gebahren  hereditär  Verrückter. 
Damit  gehen  GemeingefUhlsstörungen  Hand  in  Hand  (Hohlsein  im  Kopfe, 
alle  möglichen  und  unmöglichen  Spinalsensationen),  enormes  Mattigkeits- 
geftthl;  zeitweise  auch  Sinnestäuschungen.  Oft  Überraschen  bei  gebilde- 
teren Naturen  noch  Reste  aus  früherer  Zeit.    Ohne  eigentliche  Wahn- 
vorstellungen ist  der  Kranke  ganz  durch  capriciöse  Einfälle,  welche  die 
Kraft  fixer  Ideen  haben,  dirigirt.   Die  barocksten  Vorstellungsblitze  bre- 
chen zeitweise  durch.   Damit  geht  eine  sittliche  Entartung  Hand  in  Hand 
(seichte  Freigeisterei,  Lieblosigkeit,  selbst  Rohheit,  gegen  die  Eltern); 
gegen  die  Hausordnung,  sowie  gegen  Gute  und  Härte  verhält  sich  der 
Kranke  ablehnend,  gleichgiltig,  selbst  trotzig.    Im  Verlauf  der  Zeit  (Jah- 
resfrist) kann  es  nach  und  nach  gelingen  die  gröbsten  Auswüchse  der 
krankhaften  Verkommenheit  zu  mindern,  und  den  Kranken  durch  ein  ra- 
tionelles Traitement  moral  wieder  zu  heben  —  immer  vorausgesetzt,  dass 
die  Onanie  unterlassen  wird,  oder  die  gehäuften  Pollutionen  zurückgedrängt 
werden  können.    Die  Kranken  werden  nach  und  nach  wieder  theilneh- 
mender,  geordneter,  sorglicher  in  den  Aeusserungen ,  natürlicher  in  der 
Stimmung.    Im  ungünstigen  Falle  (wenn  die  Kranken  „Sclaven  ihrer 


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72 


Specteile  Melancholie. 


Hände"  bleiben)  folgt  ein  träger,  reactionsloser  Blödsinn  mit  indiffe- 
rentem, scheuem  Wesen,  langsamen,  zögernden  und  kraftlosen  Bewegungen, 
zunehmender  Verwahrlosung  des  Aeussern  neben  innerer  Versunkenheit. 
Sie  stehen  Tage  lang  an  die  Wand  geklebt,  oder  sitzen  mit  übereinander 
geschlagenen  Beinen,  häutig  vor  sich  hin  lachend,  bald  mehr  bald  weni- 
ger laut,  oder  plötzlich  um  sich  schauend  mit  sichtlicher  Gereiztheit,  leise 
oder  doch  nicht  so  laut  sprechend  oder  schimpfend,  dass  man  sie  ver- 
stehen kann.  Im  ganzen  Gebahren  sind  sie  langsam,  zögernd,  sorglos. 
Redet  man  sie  an,  so  bedarf  es  in  der  Regel  langer  Zeit  und  unsäglicher 
Mühe,  bis  endlich  die  Antwort  über  die  zuckenden  Lippen  tritt,  und  dann 
nur  stossweise  mit  kraftlosem  Ausdruck,  häufig  gewechselter  Satzconstruc- 
tion.  Es  dauert  oft  Monate,  bis  sie  auch  nur  den  Umkreis  ihrer  täglichen 
Umgebung  in  ihren  engen  Ideenkreis  aufnehmen  und  die  Personen  zu  er- 
kennen vermögen;  selbst  eingelernte  und  früher  geläufige  Kenntnisse 
stellen  sich  nur  abgeblasst  und  defect  mehr  ein.  Nie  treten  mehr  Her- 
zensbeziehungen zu  Anverwandten  in  Form  eines  entschiedenen  Verlangens 
hervor;  Besuche  machen  so  wenig  Eindruck  als  freundliche  Theilnahme 
oder  ernste  Strenge.  Hin  und  wieder  gibt  der  Kranke  als  Motiv  seiner 
schüchternen  Zurückhaltung  an:  dass  Alle  seine  Gedanken  wüssten,  be- 
vor er  diese  nur  selbst  ordentlich  sich  klar  gemacht  hätte.  Immer  mehr 
wird  das  Bewusstsein  dem  Spiele  des  kranken  Ideenganges  unterworfen, 
die  ganze  Aufmerksamkeit  absorbirt,  der  Wille  bis  zur  Indifferenz  ge- 
lähmt. Gegenüber  den  unablässig  sich  abwickelnden  Gedankenreihen, 
wobei  die  harmlosesten  Wahrnehmungen  einen  Bezug  auf  die  eigensten 
und  innersten  Seelenzustände  des  Kranken  erhalten,  verhält  sich  der 
Kranke  immer  mehr  nur  noch  als  stummer  oder  auch  ärgerlich  gereizter 
Zuschauer.  Der  positive  Boden  weicht  so  unter  seinen  Füssen;  er  selbst 
verfällt  auf  die  absonderlichsten  Einfälle,  hält  sich  für  heilig,  seine  Ver- 
wandten für  Kaiser  oder  Engel;  es  treten  bestätigende  oder  weitere  Of- 
fenbarungen bringende  Sinnestäuschungen  hinzu.  Interessant  ist  die  ausser- 
ordentlich grosse  Sensibilität  der  Genitalien  in  manchen  Fällen:  der  Kranke 
sucht  sie  im  Bade  mit  den  Händen  zu  verbergen,  legt  sich  immer  halb 
auf  den  Bauch  und  geräth  beim  Versuch  einer  Exploration  in  psychische 
Reflexkrämpfe  (Niederstürzen  auf  den  Boden,  Herumwälzen,  hastiges 
Strampfen,  Kratzen  mit  den  Händen,  in  den  Haaren,  forcirtes  Ausspucken, 
wildes  Blickewerfen,  Schnalzen  mit  der  Zunge,  Zittern  am  ganzen  Leibe)  — 
theils  mit,  theils  ohne  Blasswerden  oder  gleichzeitige  Pulsveränderung. 
Es  sind  die  Reactionen  auf  „unreine  Gedanken",  welche  in  ihm  aufsteigen 
und  von  Andern  hätten  erfahren  werden  können.  Ohne  über  sein  Befin- 
den je  von  selbst  zu  klagen,  sinkt  der  Kranke  in  immer  tiefere  geistige 
Schwäche,  wobei  aber  relative  Besserungen  nicht  ausgeschlossen  sind. 

Nicht  selten  bildet  auch  eine  Phthisis  pulmonum  den  Abschluss  des 
Leidens.    (Weiteres  s.  u.  „cerebrospinalem  Wahnsinn"). 

d)  Auf  8  p  e  c  i  f i  8  c  h  syphilitischer  Basis  bildet  manchmal  eine  schwere 
hypochondrische  Melancholie  (Syphilidophobie)  den  Abschluss  eines  pro- 
trahirten  Leidens,  welches  Jahre  zuvor  zwischen  Depressions-  und  Exal- 
tationszuständen  (letztere  in  Form  der  in  „Intellect  und  Willen"  aufge- 
nommenen, allmählich  degenerativen  Manie  mit  Processkrämerei,  häuslicher 
Rohheit,  Trinkexcessen)  geschwankt  hatte.    Dabei  sind  körperlich  keine 


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Syphilitische  Melancholie.  —  Melancholia  attonita.  73 


Zeichen  eines  tieferen  organischen  Hirnleidens  vorhanden,  nur  heftige 
Coogestionen  und  Kopfschmerz.  Die  finale  Melancholie  selbst  trägt  um 
so  ernster  modificirte  Symptome:  furchtbare  Angst  mit  schrankenlosen 
Illusionen  im  Sinne  des  Wahns  bei  sonst  erhaltenem  Vorstellungsinhalt 
und  gesunden  logischen  Functionen,  so  dass  die  Kranken  sehr  zu  dissi- 
muliren  verstehen;  sodann  namentlich  einen  impulsiven  Mord-  und  Selbst- 
morddrang, welchem  der  Kranke,  indem  er  in  jedem  Stippchen  „Condy- 
lome" diagnosticirt,  Uberall  Fäulniss  wittert,  schrfcklich  stinkt  u.  8.  w., 
sehr  häufig  zum  Opfer  fällt. 

Die  Melancholia  attonita. 

Die  Einleitung  bildet  eine  gewöhnliche  Melancholie,  deren  Weiter- 
entwicklung und  höchste  Steigerung  nach  körperlicher  und  geistiger 
Seite  der  Status  attonitus  darstellt.  Das  Bewusstsein  ist  im  höchsten 
Grade  gehemmt,  Uberwältigt  durch  das  schmerzliche  Fuhlen,  dabei 
aber  die  Perception  keineswegs  aufgehoben,  sondern  gegentbeils  oft 
in  überraschendster  Weise  geschärft.  Aber  der  Kranke  kann  seinen 
Wahrnehmungen  keinen  Ausdruck  geben ;  er  bleibt  in  seinem  un- 
endlichen Wehesein  schmerzgebannt,  unbeweglich  —  attonisch. 

Die  einleitende  Melancholie  kann  sowohl  der  activen  als  der 
passiven  Form  angehören  ohne  besondere  EigenthUmlichkeit,  ausser 
einer  zunehmenden,  oft  bis  zu  hohen  Graden  fortschreitenden  Anämie 
und  Abmagerung.  Psychiscberseits  greift  immer  mehr  eine  Negation 
gegen  jede  Ansprache  neben  einer  zerknirschten,  immer  mehr  starren 
Haltung  Platz. 

Bald  stellt  sich  Mutacismus  ein,  oder  es  bleibt  höchstens  noch 
ein  monotones  Hinlispeln  des  schmerzlichen  Wabnbekenntnisses,  meist 
in  abgebrochenen  mit  Weinen  begleiteten  Worten.  Die  Nächte  sind 
schlaflos  und  werden  bald  in  den  unbehaglichsten  Attitüden,  aus 
welchen  das  absichtliche  Verharren  im  Schmerz  oder  im  Busszwang 
herausschaut,  manchmal  in  halb  sitzender  Stellung  zugebracht,  das 
Kinn  auf  die  Brust  gepresst,  um  das  „unwürdige"  Gesicht  zu  ver- 
bergen. Die  zunehmende  Hemmung  des  Bewusstseins,  welche  dieser 
Besitz- Ergreifung  der  willkürlichen  Musculatur  durch  den  melancho- 
lischen Affectgedanken  parallel  geht,  macht  sich  hin  und  wieder  den 
Kranken  empfindlich,  so  dass  sie  Uber  ihre  fehlende  Orientirung 
jammern,  dass  sie  nicht  recht  wissen,  wo  sie  sind,  welche  Menschen 
sie  umgeben.  Trotz  der  Remissionen  mit  zeitweiligen  freien  Tagen 
wächst  die  geistige  Gebundenheit  und  motorische  Spannung  immer 
mehr.  Die  Kranken,  gewöhnlich  lange  zuvor  schon  der  Bettlage 
übergeben,  beharren  jetzt  fast  regungslos  oder  zitternd  und  bebend 
in  derselben  Haltung,  gebückt  mit  angepressten  flectirten  Armen 


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74 


Specielle  Melancholie. 


und  pronirten  Händen,  Tag  und  Nacht;  oder  sie  stehen  mit  ein- 
förmiger stupid  ängstlicher  Miene  hin,  wo  der  Zufall  oder  fremde 
Hand  sie  hinstellt,  lassen  theilnahmlos  Alles  um  sich  geschehen, 
werfen  höchstens  einen  ängstlichen  Blick  auf  die  Umgebung  oder 
zupfen  an  sich  herum. 

Aus  dieser  Stille  und  dem  passiven  Widerstreben  mit  gewalt- 
samer Spannung  der  Musculatur  heraus  geht  der  Kranke  nicht  selten 
zu  wechselnden  Graden  schmerzlicher  Aufregung  und  Ausbrüchen 
des  Jammerns  und  Verzweifeins  Uber,  und  macht  vom  Seufzen,  Stöhnen, 
dumpfen  Schmerzlauten,  unverständlichem  Jammern,  unruhigem  Hin- 
und  Hertrippeln  bis  hinauf  zum  angstvollen  Brtillen,  blinden  ver- 
zweifelten Toben,  fassungslosen  Gebahreu  und  zerstörungssüchtigen 
Wüthen  (Raptus  gegen  sich  und  Andere)  alle  Stufen  durch.  Gegen 
die  Nahrung  tritt  bald  ein  Widerstand  auf,  welcher  die  Sonden- 
fütterung nicht  umgehen  lässt.  Urin  und  Stuhl  wird  bis  aufs  Aeusserste 
zurückgehalten.  Manchmal  macht  sich  die  „conträre  Negation"  gel- 
tend, indem  der  Kranke  erst  das  Angebotene  abweist,  es  aber  beim 
Versuch  des  Wegnehmens  zu  ergreifen  sucht.  Die  Bewegungen  der 
Hände  sind  unsicher,  schlecht  bemessen,  oft  geradezu  täppisch,  durch 
die  motorische  Spannung  und  psychische  Hemmung  unzureichend. 
Die  Affectstarre  im  Muskelgebiet  ist  namentlich  in  den  Flexoren  der 
Arme  und  Beine  und  in  der  Gesichtsmusculatur,  in  welcher  die  Mimik 
der  Schuldhaftigkeit  und  Verzweiflung  plastisch  geworden,  oft  bis  zu 
hölzerner  Härte  und  Unregsamkeit  entwickelt,  und  nur  sehr  schwierig 
und  unter  schmerzlichem  Widerstande  des  Kranken  vorübergehend 
zu  überwinden.  Einem  besonders  heftigen  Widerstand  begegnet  der 
Versuch  den  gebeugten  Kopf  des  Kranken  aufzurichten.  Die  Sensi- 
bilität bleibt  dabei  erhalten  und  gibt  sich  bei  Prüfungen  durch  die 
sich  runzelnde  Stirne,  durch  Zwinkern  der  Lider  oder  anrückende 
Thränen  kund.  Spricht  man  theilnehmend  oder  aufmunternd  zum 
Kranken,  so  wird  nicht,  oder  auch  in  schmerzlichen  Thränen  er- 
wiedert.  Manchmal  jammert  der  Kranke  schluchzend  Uber  die 
„schlechten  Gedanken",  Uber  seine  Schuld  und  drohende  Strafe. 

Der  Puls  ist  auf  der  Krankheitshöhe  klein,  härtlich  (Arterie  contra- 
hirt),  die  Temperatur  subnormal.  Die  Körperernährung  sinkt,  und  zwar 
trotz  regelmässig  eingeflösster  Nahrung.  Die  Haut  wird  trocken,  schilfert 
sich  ab;  bei  Frauen  cessiren  die  Menses. 

Nach  in  der  Regel  mehrwöchentlicher  und  selbst  mehrmonat- 
licher Dauer  (ungünstige  Fälle  können  selbst  Uber  ein  Jahr  sich  hin- 
ziehen) wird  der  Kranke  etwas  zugängiger.  Die  Starre  nimmt  ab. 
In  der  Nacht  wird  der  Kopf  wieder  auf  das  Kissen  gelegt.  Ab  und 


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Melancholia  attonita. 


75 


za  gelingt  auch  die  Zuführung  von  etwas  Nahrung.  Der  Kranke 
sitzt  allmählich  wieder  aufrecht,  hält  auch  die  Augen  wieder  offen. 
Der  schmerzlich  verzogene  Gesichteausdruck  wird  natürlicher.  Körper- 
gewicht und  Aussehen  nehmen  zu,  die  Temperatur  wird  nach  und 
nach  normal,  der  Puls  voller.  Bald  werden  schüchterne  Anfänge 
der  Conversation  gemacht.  Aber  es  bleibt  noch  längere  Zeit  das 
6cheue  gedrückte  Wesen,  und  namentlich  die  motorische  Unbehilf- 
lichkeit.  Erst  nach  und  nach  löst  sich  der  letzte  Rest  der  Spannung 
zur  freien  Beweglichkeit,  der  „Nacken"  erhält  wieder  seine  Function 
als  „Kopfträger".  So  geht  der  Zustand  —  bei  Frauen  manchmal 
unter  Wiedereintritt  der  Menses  —  in  die  Genesung  Uber,  ohne  ein 
anderes  Zwischenstadium  als  das  eines  anfänglich  etwas  gehobenem 
Wohlbefindens  mit  schwungvollerem  Frohgefühl. 

An  die  Attonitätsphase  besteht  vollständige  Erinnerung:  es  ist 
oft  erstaunlich,  in  welch  qualvollen  Aengsten  und  gleichgestimmten 
Hallucinationen  sich  während  derselben  die  Kranken  befunden,  und 
wie  sie  trotzdem  daneben  oft  das  kleinste  Detail  aus  der  Umgebung 
wahrnehmen,  theils  richtig,  theils  wahnbaft  umdeutet.  Das  über- 
standene  Weh  der  Gebundenheit  wird  als  ein,  namentlich  durch  die 
gefühlten  Muskelfesseln,  grenzenlos  gewesenes  geschildert. 

Bei  nicht  günstigem  Verlaufe  zieht  sich  der  Status  attonitus  Uber 
viele  Monate  und  selbst  Jahre  hinaus  (wobei  übrigens  zu  bemerken  ist, 
dass  selbst  nach  der  Dauer  von  Uber  Jahresfrist  Genesung  von  uns  be- 
obachtet wurde);  die  tetanieförmige  Spannung  geht  immer  mehr  in  mo- 
torische Schlaffheit  über.  Die  Miene  wird  hängend  und  verliert  mit  der 
weichenden  Starre  auch  das  geistige  Gepräge.  Der  auf  der  Krankheite- 
liöhe  gespannt  gewesene  Puls  wird  monocrot,  an  den  Extremitäten  bildet 
sich  Cyanose  aus.  Es  kann  nun  entweder  in  diesem  Blödsinnszustand 
das  Leben  erhalten  bleiben  und  bei  reichlicherer  Nahrungsaufnahme  auch 
die  Körperernährung  sich  heben.  Oder  aber  es  neigt  sich  der  Zustand 
zum  Exitus  letalis  durch  Marasmus  oder  durcli  intercurrente  Brustpro- 
cesse,  worunter  Pneumonieen,  acutes  Lungenödem,  ganz  besonders  auch 
Hönde  Phthise  in  erster  Linie  stehen.  Des  gelegentlichen  Selbstmords 
uoter  den  möglichen  Ausgängen  der  Melancholia  attonita  ist  bereits  ge- 
dacht worden. 


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Die  Manie.  Allgemeines. 


Die  Manie.  Allgemeines. 

Literatur.  Jacobi,  die  Hauptformen  der  Seelenstörungen.  —  Meynert, 
österr.  Gesellschft.  für  pract  Heilkunde,  1671,  und  Anzeiger  d.  Gesellsch.  der  Aerzte 
in  Wien  1875.  —  Mendel,  dieManie,  Monogr.  1881  (mit  Literatur).  —  Tiling, 
Petersb.  med.  Wochenschr.  1681. 

Mania  gravis:  Loewenhardt,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  25.  —  Zenker, 
ibid.  33.  —  Stoelzel,  Irrenfreund  77.  —  Lagardelle,  J.  de  m6d.  de  Bord.  1680. 

Mania  recurrens:  Witkowski,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1881. 

Allgemein  bezeichnet  „Manie"  eine  Gesammterkrankung  des 
Seelenlebens  nach  motorischer  Richtung,  bestehend  in  einer  krank- 
haften Beschleunigung  des  Ablaufs  der  Vorstellungen,  einer  beschleu- 
nigten Umsetzung  der  Bewegungs- Anschauungen  in  Handlungen,  und 
einer  krankhaft  gehobenen,  oder  aber  gereizten,  in  ihrer  Erregbar- 
keitsschwellc  abnorm  wandelbaren  GemUthsverstimmung.  Aeusser- 
lich  ist  der  Zustand  gekennzeichnet  durch  alle  Grade  der  Unruhe 
und  vermehrten  Geschäftigkeit  bis  hinauf  zur  höchsten  motorischen 
Entfesselung,  vermehrtes  und  sich  Überstürzendes  Sprechen,  rasch 
wechselnde  Mimik,  unmotivirte  Geberden  und  triebartige  Actionen 
—  mit  erhaltener  logischer  Association  und  psychischem  Form- 
charakter bis  herab  zur  ungehemmten  Ideenflucht  und  grob  moto- 
rischen Luxusleistungen.  Innerlich  als  eine  geistige  Aufregung 
verschiedener  Grade,  als  eine  gleichmässige  Steigerung  aller  psy- 
chischen Processe  mit  erleichterter  Gedankenfolge,  raschem  Ent- 
schliessen,  schrankenlosem  Selbstgefühle;  auf  höhern  Entwicklungs- 
stufen als  Verwirrung  aller  Grade,  abrupter  widerspruchsvoller 
Wechsel  der  Gemüthslage,  ziellose  Ueberstürztheit  des  Begehrens, 
welches  kein  eigentliches  „Wollen"  mehr  ausreifen  lässt.  Dabei 
zeigt  die  Stimmung  entweder  eine  wirkliche  Heiterkeit  mit  flüchtiger 
Wandelbarkeit  in  alle  Nuancirungen  und  Gegensätze ;  oder  aber  einen 
gereizt  zornigen  Charakter;  oder  endlich  eine  vage  Charakterlosig- 
keit, welche  von  faselnder  Beglücktheit  bis  zum  Indiffereuzpunkte 
in  unvermittelten  und  flüchtigen  Uebergängen  hin  und  her  schwankt. 
Das  Bewusstsein  bleibt  in  den  niedern  Graden  erhalten,  wird  aber 
mit  zuuehmender  Raschheit  der  psychischen  Processe  unklar,  von 
wechselnder  Helligkeit,  ohne  jedoch  im  Ganzen  auf  die  Traumstufe 
zu  sinken:  es  wird  hier  Minutenbewusstsein  ohne  Continuität.  Ge- 
dächtniss  und  Wahrnehmungsfähigkeit  sind  verschärft,  so  lange  nicht 
die  Raschheit  des  psychischen  Ablaufs  beide  Functionen  beeinträch- 
tigt, resp.  die  krankhaft  gesteigerten  Innenvorgänge  die  Aufmerksam- 


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Klinische  Definition  der  „Manie".   Anomalieen  der  Bewegungssphare.  77 

keit  und  die  Perception  überhaupt  unmöglich  machen.  In  letzterem 
Falle  können  in  gleichem  Schritte  mit  der  Ausschaltung  der  hem- 
menden Hemisphärenthätigkeit  auch  Sinnestäuschungen  (Hallucina- 
tionen  und  Illusionen)  auftreten,  aber  stets  nur  als  Begleitsymptome, 
nicht  als  wesentliche  stimmunggebende  Elemente  (Unterschied  vom 
acuten  Wahnsinn).  Die  Manie  ist  eine  acut,  subacut,  chronisch  und 
periodisch  (resp.  circulär)  auftretende  Erkrankung.  Der  typische 
Verlauf  ist  anhaltend  oder  remittirend.  Begleitet  ist  derselbe  durch 
vasomotorische  und  trophische  Symptome.  Der  Ausgang  der  acuten 
und  subacuten  Formen  geschieht  in  Heilung  oder  in  psychische 
Schwäche,  unter  Umständen  auch  in  den  Tod  durch  Erschöpfung; 
bei  chronischen  in  Genesung  (seltener),  oder  in  relative  Erholung 
{Heilung  mit  Defect). 

Analyse  der  Symptome. 

Anomalieen  in  der  Bewegung ssphure  —  Hauptsymptom.  Alle 
Kranken  zeigen  ein  gesteigertes  motorisches  Sich -Entäussern:  Be- 
wegungs  -  Intentionen  und  ausgeführte  Bewegungen  (in  Geberden, 
Mimik  und  musculären  Leistungen)  sind  krankhaft  vermehrt. 

Betrifft  die  Steigerung  nur  die  Intentionen,  oder,  richtiger,  die 
geistigen  Innervationsgefühle  (I),  so  tritt  Dies  hervor  in  Plänesucht, 
in  einem  Drange  nach  Ortswechsel,  nach  Aenderung  der  Beschäfti- 
gung, nach  Erweiterung  des  Besitzes  (Kauflust).  Die  Kranken  sind 
in  steter  Unruhe,  sie  beginnen  und  vollenden  nicht,  sie  gehen  von 
Einem  zum  Andern  Uber,  sie  können  Alles  und  wollen  Alles  und 
finden  nirgends  Befriedigung.  Die  affective  Rückwirkung  führt  zu 
einem  erhöhten  Wohlgefühl  mit  Schaffensdrang,  welcher  seinerseits 
wieder  neue  geistige  Innervationsgefühle,  neu  vermehrtes  Streben 
erzeugt.  Parallel  geht  in  der  Vorstellungssphäre  eine  gleiche  Er- 
leichterung des  Vorstellungslaufs,  eine  Promptheit  und  Raschheit  — 
zugleich  aber  auch  Unfertigkeit  —  des  Urtheils.  Erhält  sich  der 
krankhafte  Gehirnreiz  auf  dieser  Stufe,  so  tritt  der  Kranke  noch  nicht 
sofort  aus  der  Norm  seines  individuellen  Könnens  heraus;  er  ist  nur  in 
seinem  Leistungsgefühle  um  mehrere  Register  höher  eingestellt,  und 
bethätigt  sein  neues  Können  durch  ungewohnte  Steigerung  seiner 
Energie,  zugleich  aber  auch  seine  krankhafte  Propulsion  durch  plan- 
lose Rastlosigkeit.  In  dem  Genuss  —  wenn  er  überhaupt  dazu  kommt 
—  verschmachtet  er  bereits  wieder  vor  Begierde.  Bei  Frauen  kleidet 
sich  der  manische  Drang  auf  dieser  Stufe  sehr  häufig  in  ein  erotisch 
kokettirendes  Benehmen  mit  gesuchter  jugendlicher  Grazie  und  Putz- 
sucht, oft  auch  in  eine  ästhetische  Vielgeschäftigkeit  mit  Erfind  ungs- 


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Die  Manie.  Allgemeines. 


reichthum,  namentlich  im  Zeichnen,  Malen,  Herrichtung  von  Blumen 
und  Nippsachen;  bei  Männern  im  Aussinnen  und  Zurichten  von  Ver- 
gnügungen, allerlei  Scherzen  und  Picknicks  mit  selbst  gemachten 
Dichtungen,  Verschönerungsplänen  u.  s.  w.,  wobei  jeder  neue  Tag 
die  Schöpfungen  von  zuvor  wieder  Uberbietet  und  umändert.  Im 
Beginn  der  Krankheit  tritt  namentlich  ein  Jagen  nach  aufregenden 
Belustigungen,  ein  Hang  nach  Excessen,  besonders  in  Baccho  et 
Venere,  hervor. 

Erweist  sich  in  dem  beschriebenen  Modus  der  psychisch-moto- 
rische Erregungszustand  als  eine  gesteigerte  Innervation  der  Gesammt- 
persönlichkeit  —  gleichsam  als  die  in  Intelligenz  und  Willen  aufge- 
nommene, aber  im  Rahmen  der  socialen  Bildungsformen  sich  erhaltende 
Manie  —  so  gestalten  sich  in  andern  Fällen  (II)  die  musculomoto- 
rischen  Bewegungs-Anomalieen  zu  dem  vorherrschenden  Element  im 
manischen  Krankheitsbilde.  Dieselben  behalten  auch  jetzt  noch  die 
psychische  Formung  bei,  werden  aber  Uberreich,  luxuriirend;  sie 
erscheinen  gleichsam  als  Selbstzweck.  Einzeln  betrachtet  bewahren 
sie  dabei  immer  noch  das  Gepräge  als  „gewollte  Acte",  aber  in 
ihrer  pauselosen  Inscenirung,  in  ihrer  ungehemmten  ziel-  und  plan- 
losen Reihenfolge  erweisen  sie  sich  als  nicht  intendirt,  vielmehr 
als  directe  Reizeffecte  aus  den  psychomotorischen  Hirnpartieen. 
Der  Kranke  singt,  jauchzt,  pfeift,  recitirt;  er  hUpft,  springt,  steht 
auf  und  legt  sich  nieder,  nimmt  alle  Attitüden  an,  macht  mögliche 
und  unmögliche  gymnastische  Productionen.  Die  Sicherheit  der 
Ausfuhrung  ist  unübertrefflich.  Die  Mannigfaltigkeit  der  mimischen 
Leistungen  ist  unerschöpflich,  das  ganze  Gebühren  aber  zwecklos, 
jede  Secunde  sich  ändernd,  als  ob  die  Claviatar  der  eingelernten 
und  ausführbaren  psychomotorischen  Combinationen  in  directem  An- 
schlag auf  und  ab  durchlaufen  würde. 

Dieses  Schema  kann  noch  auf  eine  (psychisch)  tiefere  Stufe  herab- 
treten, und  die  Aeusserungen  des  Kranken  zu  einem  blossen  Bewegungs- 
spiel ganz  abrupter  fragmentarer  Einzelacte  gestalten.  Waren  es  bis 
dahin  noch  motorisch  sinnvolle  Geberden,  welche  sich  ablösten,  so  sind 
es  jetzt  einfach  nur  combinirte  Muskelleistungen  ohne  physiognomiseben 
Charakter:  Schütteln  des  Rumpfes  und  der  Glieder,  Klatschen  mit  den 
Händen,  Schnalzen,  Hin-  und  Herbeugen  des  Kopfes,  Zusammenkauern 
abwechselnd  mit  Aufschnelten  des  Körpers  —  ein  kaleidoskopisches  Spiel 
von  motorischen  Leistungen,  oft  automatisch  stundenlang  wiederholt,  ohne 
seelisches  resp.  mimisches  Gepräge,  aber  immer  noch,  einzeln  betrachtet, 
mit  der  Formung  von  combiuirt  resp.  assoeiirt  arbeitenden  Muskelgruppen. 

Aus  diesem  Uberreichen  Register  von  psychisch  höher  oder 
tiefer  gewertheten  Bewegungscombinationen  greift  die  Manie  ihre  — 


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Die  manischen  Bewegungsanomal ieen  nach  ihren  versch.  klin.  Formen.  79 

anf  den  ersten  Blick  —  auffälligste  Signatar:  jene  in  buntestem 
Wechsel  sich  abspielende  Scala  von  Acten,  welche  formell  mehr  oder 
minder  als  „gewollte"  Handlungen  imponiren,  und  doch  in  der  motiv- 
losen Reihenfolge  und  der  Zwecklosigkeit  im  Ganzen  ihre  „spon- 
tane" Entstehung  kundgeben.  Damit  ist  das  Wesen  dieser  (II.) 
manischen  Acte  bezeichnet:  sie  erscheinen  als  freie,  sind  aber  nicht- 
intendirte,  aufgedrungene.  Diesen  Charakter  bewahren  sie  auch, 
wenn  sie  in  den  Dienst  eines  Aflfects  (z.  B.  eines  zornigen)  treten, 
in  der  Maasslosigkeit  der  Ausführung,  in  der  überstürzten  Aufeinander- 
folge, in  der  unbemessenen  oft  sich  widersprechenden  Combination, 
welche  nicht  selten  das  Ziel  vereitelt. 

Ausgeprägter  noch  tritt  der  reflectorische  Formcharakter  in  den 
Bewegungen  einer  weiteren  (III.)  Gruppe  von  manischen  Zuständen 
entgegen.  Handelte  es  sich  bisher  um  eine  einfach  beschleunigte 
Entbindung  eingelernter  Acte,  so  sind  es  nunmehr  förmliche  Be- 
wegungsexcesse ,  „psychomotorische  Convulsionen".  Dieselben  ent- 
änssern  sich  meistens  als  blinde  Zerstörungswuth ,  welche  lawinen- 
artig anschwillt  und  sich  austobt  —  austoben  muss  —  wie  die 
Muskelzuckungen  bei  Strychninisirung  des  Rückenmarks.  Von  einem 
„Ziel"  ist  höchstens  eine  dunkle  Ahnung  vorhanden,  und  nicht  vor- 
bewusst,  sondern  als  subjective  Begleiterscheinung,  als  Perceptions- 
geftihl  aus  den  unendlich  zahlreichen  „Drängen"  und  Spannungen 
in  dem  gereizten  Motorium  commune.  Der  „Zorn",  welcher  in  diesen 
stürmischen  Entäusserungen  zu  Tage  tritt,  ist  nicht  ein  primär  ge- 
wollter, sondern  musculär  gemachter.  Beide,  die  Convulsion  und 
deren  emotive  Erfassung,  sind  die  Wirkung  eines  organischen  Hirn- 
reizes. Darum  finden  sie  auch  kein  Ende,  weder  durch  direct  psy- 
chische, noch  durch  äussere  mechanische  Hemmung.  Erst  die  all- 
mähliche Begleichung  des  cerebralen  Reizes  bringt  Nachlass  des 
psychomotorischen  Krampfes,  welcher  wie  die  spinalen  Convul- 
sionen nur  anfallsweise  auftritt,  freilich  oft  von  tage-  und  selbst 
wochenlanger  Dauer  (Furor,  Mania  gravis). 

Endlich  können  in  einer  (IV.)  Gruppe  von  Manieen  die  moto- 
rischen Aeusserungen  auch  noch  das  Merkmal  der  psychischen  (Ko- 
ordination und  Combination  einbüssen:  die  Bewegungen  werden  zu 
Cinzelacten,  welche  nicht  bloss  ziellos,  sondern  (als  Bewegungs- 
Ganzes  betrachtet)  unvollständig  oder  defect  sind.  Die  motorischen 
Actionen  auf  dieser  Stufe  bestehen  nur  noch  in  unbemessenen,  stossen- 
den  Bewegungen  der  Extremitäten;  die  mimischen  des  Gesichts  in 
grimassirenden  Zuckungen.  Diese  Form  gehört  den  schwersten 
Manieen  an.  Gemeiniglich  fügen  sich  gleichzeitig  oder  in  der  Folge 


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80 


Die  Manie.  Allgemeines. 


auch  isolirte  flüchtige  tonische  Spannungen  und  klonische  Zuckungen, 
später  einzelne  Insufficienzen  und  Paresen  hinzu.  Wir  stehen  mit 
dieser  motorischen  Symptomenvariante  bereits  an  der  Grenze  oder 
im  Gebiet  grober,  acut  entzündlicher,  Hirnaffectionen. 

Anomaliecn  in  der  Gemüthssphäre.  Die  Stimmung  ist  entweder 
heiter,  dabei  empfindlich  und  wandelbar;  oder  aber  gereizt  zorn- 
mUthig  und  dabei  constanter.  Die  beiden  Normen  vertheilen  sich: 
jene  auf  die  Gruppe  der  reinen  (typischen)  Manieen,  diese  auf 
die  (melancholischen  oder  wahnsinnigen)  Furorzustände.  Die  Heiter- 
keit der  typischen  Form  fliesst  aus  dem  primären  Wohlgefühl  ge- 
steigerten Könnens  und  dem  secundären  eines  erleichterten  Ab- 
laufs der  psychischen  Vorgänge.  Damit  geht  Hand  in  Hand  eine 
ebenso  grosse  krankhafte  Empfindlichkeit;  jede  leiseste  Schranke, 
jeder  Widerspruch  wird  peinlich  empfunden,  ein  absagendes  Wort 
führt  zum  Trotz  oder  zur  kopflosen,  mitunter  auch  feindseligen  Ent- 
gegnung. Die  altruistischen  Gefühle  sind  in  der  Regel  gesteigert, 
durch  überschwengliche  Beglückungsphantasieen  erhitzt.  Nie  bleibt 
die  Stimmung  eine  dauernde:  in  die  heiteren  Regungen  mischen  sich 
unmotivirt  traurige,  in  die  Freudeäusserungeu  plötzliche  Thränen- 
ergüsse;  ebenso  lösen  sich  Sympathieen  und  Antipathieen  ab;  neben 
der  Kundgebung  edlerer  Gefühle  gehen  auch  niedrige  und  kleinliche 
einher,  decentes  und  sogar  prüdes  Benehmen  wechselt  im  nächsten 
Augenblick  mit  frivolen  Spässen.  „In  dem  Register  der  Tobsucht 
fehlt  keine  Taste."  Immer  ungeordneter  wird  in  der  Folge  das 
wirre  Spiel,  immer  unberechenbarer  die  Aufeinanderfolge,  immer 
jäher  die  Uebergänge.  Auf  die  tollste  Lustigkeit  folgt  schmerzliches 
Weinen;  Freudenschreie,  unbändiges  Lachen  und  Heulen  wirbeln 
durcheinander;  schmeichelndes  Andrängen  wechselt  mit  brutalem 
Dreinschlagen ,  alle  Affecte  spielen  ineinander  oft  nur  in  Minuten- 
dauer; kaum  begonnen,  schlagen  sie  in  das  Gegentheil  um.  Nichts 
ist  hier  beständig  als  der  Wechsel. 

Die  Stimmung  in  den  Furorzuständen  ist  hiervon  eine  ganz  ver- 
schiedene. Entweder  andauernd  zornig  gereizt,  oder  mehr  wechselnd 
in  Gegensätzen  sich  bewegend,  ist  sie  theils  die  Wirkung  eines 
tiefen  verhaltenen  Affectkernes  (eines  schmerzlichen  Motivs),  theils 
die  directe  Folge  wechselnder  Bewusstseinslagen  mit  bald  freund- 
lichem, bald  feindlichem,  gemüthlich  anziehendem  und  abstossendem 
Inhalt.  Ist  sonach  die  Stimmung  der  vorigen  (typisch-manischen) 
Form  wesentlich  eine  direct  psychische,  ein  Parergon  der  veränderten, 
d.  h.  erleichterten  geistigen  Bewegung,  so  ist  die  der  zweiten  Form 


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Aoomalieen  der  Gemüthssphare,  Stimmung.   Das  manische  „Lustgefühl".  Sl 


eine  reactive,  auf  einem  psychischen  Umweg  gewonnene.  Dabei 
können  übrigens  beide  Normen  zeitweise  ineinander  Ubergehen  und 
in  demselben  Krankheitsfall  miteinander  wechseln. 

Bei  manischen  „Hyperästhesieen  des  Sexualsinnes"  entsteht  eine 
cynische  Stimmungslage  mit  verhülltem  oder  schamlosen  Indecenzen 
des  Benehmens.  Die  Kranken  entblössen  sich,  drängen  sich  sinnlich 
an  Andere  an,  machen  selbst  brutale  lüsterne  Angriffe;  weibliche 
Kranke  nesteln  auffallenderweise  gerne  Tage  lang  in  den  Haaren, 
speicheln  übermässig,  salben  sich  mit  allem  Unrath  ein. 

In  den  schwereren  Hirnreizzuständen  der  Mania  gravis  kann 
die  Stimmung  eine  anhaltend  gereizte,  feindselige  sein,  wie  im  Furor, 
oft  aber  auch  schwankt  sie  zwischen  den  Gefühlen  von  „Beein- 
trächtigung", von  Indolenz  und  dann  wieder  von  „Himmelswonne" 
flüchtig  hin  und  her.  Manchmal  gehen  die  genannten  Nuancen 
phasenweise  ineinander  Uber,  oft  laufen  sie  nebeneinander  her,  und 
fuhren  den  haltlosen  Kranken  durch  die  unvermittelten  Gegensätze 
von  verzehrendem  Weinen,  schwelgender  Heiterkeit,  stumpfer  Apathie. 

Dabei  muss  hervorgehoben  werden,  dass  auf  dieser  Stufe  tiefen  Hirn- 
reizes der  krankhafte  Bewegungsdrang  sich  oft  auch  unabhängig  von 
der  Stimmungslage  erhalten  kann.  Beide  Vorgänge  spielen  sich,  ohne  sich 
zu  berühren,  neben  einander  ab :  derartige  Kranke  zerzupfen,  zerreissen, 
beschädigen  triebartig,  sind  dabei  gemüthlich  harmlos,  und  —  wissen  nicht, 
warum. 

Wie  ist  es  mit  dem  Lustgefüh  1  des  Manischen  beschaffen?  Ohne 
Zweifel  bezeugen  die  bramarbassirenden  Aeusserungen ,  die  Prahlereien 
des  Kranken  eine  gewisse  Stimmungsgehobenheit,  wie  diese  aus  dem  Weg- 
fall aller  Hemmungen  ja  nur  begreiflich  ist.  Eine  andere  Frage  ist,  ob 
dieses  WohlgefUhl  als  eine  wirkliche  Freude,  als  positives  Kehrbild 
des  melancholischen  Schmerzes  aufzufassen  ist?  Dem  scheint  nicht  so  zu 
sein.  Schon  der  rasche  Ablauf  der  psychischen  Processe,  die  vielfachen 
unwillkürlichen  Durchkreuzungen  durch  unangenehme  innere  und  äussere 
Eindrücke  hindern  eine  klarbewusste  und  irgendwie  dauernde  Perception. 
Wie  furchtbar  real,  nach  rück-  und  vorwärts  im  Blickfeld  des  Bewusst- 
seins  verlängert,  erscheint  dagegen  der  Schmerz  in  der  Melancholie!  In 
der  Manie  ist  die  Lust  keine  wesentliche,  keine  primär  vorhandene  und 
als  Grundakkord  bleibende,  sie  ist  vielmehr  eine  immer  neuerzeugte,  das 
Parergon  der  beschleunigten  geistigen  Mechanik,  wie  wir  es  oben  nannten, 
vielleicht  auf  Augenblicke  positiv,  stets  aber  nur  vage,  unbestimmt, 
flüchtig.  Darum  tritt  auch,  sobald  nur  vorübergehend  die  erleichterten 
Wollungen  und  die  promptere  Ideeubereitschaft  nachlässt,  sofort  ein  Ge- 
fühl der  Müdigkeit  und  Gedrücktheit  ein  —  ein  Beweis,  dass  jene  exal- 
tirten  Stimmungslagen  nicht  für  sich  begrüudet,  sondern  nur  Lichteffecte 
der  gereizten  Vorderhirnfunctionen  waren,  ohne  selbständige  Motiviruug. 
Sehr  häufig  drängt  sich  sogar  in  diese  Ruhepausen  ein  depressiver  Affect- 
kern  ein,  dessen  Spannungen  nur  deshalb  während  der  Erregungsphasen 

Sckttlo,  GeistccknakbeUeu.  3.  Aufl.  G 


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82 


Die  Manie.  Allgemeines. 


unbeachtet  resp.  ungeftthlt  blieben,  weil  sich  in  den  ungehemmten  Bewe- 
gungen immer  wieder  die  ausgleichenden  Reflexe  fanden.  Mit  Recht  spricht 
man  deshalb  von  einer  „manischen  Verstimmung"  als  der  Stimmungs- 
grundlage rüstiger  und  frischer  Manieen.  Bei  chronischen  und  durch 
Tiefergreifen  des  Hirureizes  schwereren  Stadien  kommen  mit  der  grösseren 
Trübung  des  Bewusstseins  diese  in  der  Tiefe  fortschwingenden,  gemtltu- 
lichen  Spannungen  nicht  mehr  zur  Perception;  in  gleichem  Schritte  macht 
sich  jetzt  auch  ein  wirkliches,  aber  zugleich  auch  krankhaft  er- 
höhtes Lustgefühl  geltend,  welches  sich  nunmehr  aus  den  motorischen 
Effectgefühlen  —  ohne  Gegensatz  —  aufbaut  und  in  gleichgestimmten 
Vorstellungsallegorieen  von  Macht,  Reichthum,  einer  höheren  Persönlich- 
keit u.  s.  w.  sich  vorübergehend  fixirt. 

In  gewissen  Fällen  und  Verlaufsstadien  der  Manie  kommen  end- 
lich Störungen  in  den  ethischen  Gefühlen  vor,  theils  dauernd  und 
für  die  betr.  Krankheitsphasen  (circuläre  Manie)  charakteristisch, 
theils  nur  vorübergehend  (Moria). 

Diese  Züge  von  manischer  Moral  insanity  zeigen  sich  bald  mehr  harm- 
los als  Drang  zu  Schabernack,  zum  Necken  und  Spötteln,  bald  aber  unter 
der  Maske  routinirter  Bosheit  und  Schadenfreude,  als  intrigante  Beun- 
ruhigung der  Umgebung,  bald  endlich  in  einem  eckcln  Cynismus,  nicht 
selten  noch  verziert  durch  Unwahrheit  und  disputirende  Rechtfertigungs- 
sucht. Der  psychologische  Mechanismus  liegt  hier  (zum  Unterschiede  von 
der  angeborenen  Moral  insanity)  nicht  in  einem  Defect  der  altruistischen 
Gefühle,  sondern  1 )  in  dem  krankhaft  gesteigerten  manischen  Triebleben 
(speciell  der  sexuellen  Hyperästhesie);  2)  in  der  verminderten  resp.  auf- 
gehobenen geistigen  Hemmuugsfähigkeit  neben  gesteigerter  Erregbarkeit ; 
und  3)  in  der  (gleichfalls  unbewusst  sich  einstellenden)  untreuen  Rcpro- 
duetion,  wodurch  wiederauftauchende  Vorstellungen  nur  modificirt  sich 
präsentiren,  so  dass  die  Kranken  optima  fide  lügen  müssen. 

Störungen  in  der  Vorslellungsthatigkeit. 

Auch  diese  ist  in  den  allgemeinen  geistigen  Erregungszustand 
einbezogen.  Reicher  andrängende  Vorstellungen  mit  entsprechend 
prompter  Umsetzung  in  Worte  (profuse  Geschwätzigkeit)  geben  sogar 
das  häufigste  erste  Anzeichen  vieler  manischen  Zustände  ab.  Der 
Kranke  verfügt  Uber  eine  ihm  bis  dahin  ungewohnte  Reproduction. 
Alles,  was  er  je  erfahren  und  gelernt,  steht  parat  vor  seiner  Erinne- 
rung und  zu  prompter  Diction;  fremde  Sprachen,  welche  er  in  ge- 
sundem Zustande  nur  zögernd,  weil  mit  Aufmerksamkeit  und  Vor- 
sicht, zu  üben  vermochte,  gehen  jetzt  anstandslos  fliessend  von  Statten. 
Mit  jedem  Wort,  mit  jeder  Wahrnehmung  treten  alle  nur  möglichen 
Bedeutungen  und  Nebenassociationcn  ein:  so  wird  der  Kranke  un- 
geahnt schlagfertig  in  seinen  Redeweisen,  witzig  durch  die  gestei- 
gerte Reproduction,  ein  geistreicher  unermüdlicher  Unterhalter.  An- 


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Anomalieen  der  Voretellungssphäre.  „Ideenflucht". 


83 


fangs  vermag  das  Ich  den  Andrang  der  Vorstellungen  und  deren 
sprachlichen  Umsatz  noch  leidlich  zusammenzuhalten,  obzwar  auch 
bald  schon  da  und  dort  eine  Bemerkung  dem  Kranken  entschlüpft, 
welche  Takt  und  Klugheit  zu  unterdrücken  geboten  hätten.  Mit 
dem  Sprechen  gehen  meist  auch  schriftliche  Ergüsse  Hand  in  Hand, 
deren  Länge  unter  der  mangelnden  Fähigkeit  „sich  kurz  zu  fassen" 
riesengross  anwächst.  Die  Schriftzeichen  erhalten  ungewohnten 
Schwung  und  Grösse,  das  Papier  wird  nach  allen  Seiten  über- 
schrieben, weil  immer  wieder  mehr  „einfällt";  dabei  nicht  selten 
beschmutzt,  aber  ohne  dass  es  der  Kranke  in  seiner  Hast  bemerkt. 

Bei  einer  andern  Gruppe  von  Kranken,  oder  auch  auf  einer 
fortgeschritteneren  Stufe  wird  der  Vorstellungsdrang  mächtiger  und 
der  Ablauf  rascher,  so  dass  die  einfallenden  Gedanken  in  pauseloser 
Reihenfolge  zur  Entäusserung  kommen.  Der  Kranke  spricht  unauf- 
haltsam, er  perorirt  in  einer  wahren  „Zungentollheit";  dazwischen 
singt  er,  jauchzt,  stösst  Schreie  oder  schallende  Gelächter  aus;  end- 
lich reinen  sich  nur  noch  Worte  an  Worte  an  (Vociferirung). 

Analysirt  man  den  Inhalt  und  Gang  dieses  „verbalen  Deliriums",  so 
ergibt  sich  für  die  manischen  Anfangsstadien,  dass  dasselbe  keineswegs 
ein  verwirrtes  ist,  sondern  gegentheils  eine  innere  Gesetzmässigkeit  im 
Inhalt  und  auch  der  Reihenfolge  der  Vorstellungen  bewahrt.  Man  ent- 
deckt nicht  selten  eine  hindurchziehende  Färbung  des  Inhalts  (nach  ero- 
tischer, zornig  gereizter  Richtung),  wobei  bestimmte  Reproductionen 
and  (in  unangenehmen  Erlebnissen  oder  falschen  Perceptionen  beruhende) 
VorBtellungsgruppen  immer  wiederkehren.  Manchmal  spielen  auch  gleich- 
gefärbte  Hallucinationen  herein ,  wiewohl  seltener  als  Uchte ,  denn  als 
Pseudohallucinationen ,  veranlasst  durch  besonders  lebhaft  aufsteigende 
Worte  und  Gedanken-Reihen.  Zahlreich  sind  namentlich  auch  die  Illu- 
sionen, welche  sich  oft  auf  alle  Sinne  beziehen. 

Die  formelle  Gesetzmässigkeit  in  der  „Ideenflucht",  wie  diese 
manische  Logorrhoe  auch  genannt  zu  werden  pflegt,  besteht  in  der 
Aneinanderreihung  der  Vorstellungen  —  nicht  durch  eine  primäre 
heitere  Verstimmung  —  sondern  nach  den  logischen  Associationen 
der  einfallenden  Gedanken  oder  Worte.  Mit  einer  geweckten  Vor- 
stellung kommen  in  der  hemmungslos  gewordenen  geistigen  Gedächt- 
nisstafel  auch  deren  Verbindungen  in's  Steigen,  und  so  wird  —  bild- 
lich gesprochen  —  die  Ideenflucht  durch  diese  gegliederten  Rinn- 
sale gelenkt.  Fällt  ein  neues  Wort,  eine  neue  Vorstellung  ein,  so 
wird  sofort  auch  diese  Bahn  beschritten,  aber  immer  mit  noch  an- 
fänglicher Bewahrung  eines  mehr  minder  ausgesprochenen  logischen 
Zusammenhanges,  wobei  allerdings  sehr  häufig  Zwischenglieder  aus- 
gelassen werden.    Manchmal  geht  neben  dem  bunten  Gewirr  der 


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84 


Die  Manie.  Allgemeines. 


Gedanken,  welche  sich  selbst  Uberlassen,  von  Augenblick  zu  Augen- 
blick sich  überstürzen,  eine  auffallend  klare,  ungetrübte  Anschauung 
der  Umgebung  einher,  wenn  die  Vorstellungen  auf  irgend  einen 
Gegenstand  gefesselt  werden. 

Sehr  viel  macht  für  die  Gestaltung  der  Associationen  die  Bil- 
dungsstufe des  Kranken,  seine  gerade  gegenwärtige  Stimmung,  und 
besonders  auch  der  jeweilige  Ermüdungszustand  des  gereizten  Vor- 
stellungs-Organs aus.  Dadurch  eben  gestaltet  sich  der  Associations- 
Modus,  wie  er  sich  in  der  Aufrufung  neuer  Worte  und  Reproduc- 
tionen  von  einem  gegebenen  aus  ausprägt,  stets  zu  einem  eminent 
individuellen  Vorgang,  welcher  je  nach  den  nervösen  Disposi- 
tionen des  Kranken  wechselt,  oft  einen  directen  Weg  beschreitet, 
andere  Male  aber  auch  Rösselsprünge  macht.  Bei  massiger  Ideen- 
flucht  drängen  sich  nicht  selten  schlagende  Witze,  scharfe  Urtheile 
in  die  Unterhaltung  ein;  aber  die  ruhige  Entwicklung  der  Gedanken 
fehlt,  es  erfolgt  ein  plötzliches  Ueberspringen,  wobei  dann  der  Zu- 
hörer das  Fehlende  ergänzen  muss.  Oft  genug  bricht  der  Faden  ab ; 
aber  ebenso  oft  nimmt  der  Kranke  denselben  plötzlich  wieder  auf, 
und  verfolgt  ihn  jetzt  scharf  und  bestimmt. 

Als  sicher  gilt,  dass  die  Associationen  um  so  logischer  sind,  je 
rüstiger  das  Gehirn  zu  arbeiten  vermag. 

Mit  dem  Zurücktreten  der  logischen  resp.  iunern  Verbindungen 
und  Zusammenhänge  findet  die  Aneinanderreihung  der  manischen 
Vorstellungen  mehr,  und  endlich  ausschliesslich,  nur  nach  dem 
äussern  Verbände  statt,  d.  h.  nach  der  lautlichen  Verwandtschaft, 
der  Assonanz.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  kann  die  Bevor- 
zugung eines  Lautklanges  in  den  gewählten  Worten  auch  schon  neben 
dem  logischen  Ideenflusse  statthaben;  so  entstehen  die  „Gedichte" 
vieler  Maniaci,  welche  mit  wenig  Witz  und  viel  Behagen  blosse  Reim- 
hetzen darstellen.  Auf  dieser  Associationsstufe  ist  der  Lautscball 
Alles,  der  innere  Sinn  wird  untergeordnet,  die  Worte  werden  an- 
einander geschweisst,  je  nachdem  sie  klingen:  Hand,  Wand,  Schand, 
Rand  u.  s.  w.  Manchmal  greift  übrigens  auch  der  Zwang  sprach- 
licher Antithesen  ein  („goldenes  Crucifix"  —  „silberner  Sautrog", 
„Judengurgel"  —  „Ochsenmagen").  Gehen  endlich  die  möglichen 
Worte  aus,  so  treten  assonirende  Silben  ein,  und  endlich  als  letzte 
und  unterste  Stufe  unarticulirte  Laute  (Zischlaute,  Brummtöne,  Thier- 
schreie). 

Bedenkt  man,  dass  diese  eben  geschilderten  Modificationen,  nament- 
lich der  Form  des  manischen  Deliriums,  sich  sehr  häufig  stufenweise 
ablösen,  indem  sie  gleichen  Schritt  halten  mit  der  Schwere  der  Manie 


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Stufenleiter  der  „Ideenflucht".  Manische  Verworrenheit.  Grössenwahn.  85 

resp.  mit  dem  Tiefergreifen  der  geistigen  Cerebralaffection ,  so  erhellt 
daraus  weiter  die  hohe  symptomatologische  und  diagnostische  Bedeutung 
dieser  Metamorphose  des  „Worts". 

Eine  weitere  Modification  der  ursprünglich  logisch  associirten 
Ideenflucht  kommt  in  gewissen  chronisch  gewordenen  Manieen  vor. 
Hier  können  oft  die  ursprünglichen  „Vorstellungskerae"  der  Anfangs- 
stadien erhalten  bleiben,  zugleich  mit  Gereiztheit  und  Zornmüthigkeit 
und  den  illusorischen  Verkennungen;  der  Kranke  bewegt  sich  Monate 
hindurch  in  demselben  scheltenden  und  feindseligen  Verkehr  mit  der 
Umgebung,  oder  führt  seine  täglichen  lärmenden  Selbstgespräche; 
aber  aus  der  profusen  Eloquenz  ist  jeder  logische  Faden  verschwun- 
den. Es  vermischen  sich  Reminiscenzen,  Illusionen,  halbfertige  Wahr- 
nehmungen, Reactionen  gegen  Sinnestäuschungen  bunt  durcheinander, 
und  bringen  eine  wirkliche  Verworrenheit  zu  Stande.  In  der 
Reeonvalescenz  entwirrt  sich  dann  der  Knäuel,  wie  er  sich  einst 
geschürzt  hatte:  erst  hellen  sich  einige  Bewusstseinskreise  auf,  dann 
treten  die  Affectkerne  (tageweise  noch  mit  heftiger  tobsüchtiger  Ent- 
äusserung)  hervor,  aber  jetzt  klarer;  nach  und  nach  corrigiren  sich 
die  Sinnestäuschungen,  falschen  Wahrnehmungen  —  und  endlich  re- 
construirt  sich  das  alte  Ich. 

Nicht  selten  arbeiten  sich  die  gehobenen  Selbstempfindungen 
des  Kranken  zu  entsprechenden  Vorstellungen  der  „Grösse"  empor; 
der  Kranke  ruft  sich  als  einen  „König",  als  „Bismarck",  „Moltke"  etc. 
aus;  oder  er  drapirt  sich  zu  einem  berühmten  Sänger  und  Schau- 
spieler, führt  Rollen  auf,  singt  Opern- Arien  etc.  In  der  nächsten 
Stunde  ist  er  wieder  ein  Anderer;  ja,  er  pcrsiflirt  sich  und  seinen 
eben  producirten  Grössenwahn  in  einem  schallenden  Gelächter,  oder 
er  vergisst  seine  Standeserhöhung  in  einem  improvisirten  Purzelbaum 
oder  in  einem  dargereichten  Glase  Wein.  Alle  diese  Minutenconcep- 
tionen  steigen  auf  und  zerplatzen  wie  schillernde  Seifenblasen;  auch 
für  sie  ist  „Nichts  beständig  als  der  Wechsel". 

Darin  liegt  der  wesentliche  Unterschied  des  manischen  Grössenwahns 
gegenüber  dem  in  den  Aufregungsstadien  der  Paralyse  oder  des  exal- 
tirten  Wahnsinns.  Der  Kranke  hält  nicht  fest  an  diesen  Einfallslaunen; 
er  gibt  sie  preis,  wenn  er  sie  auch  scheinbar  vertheidigt;  ja,  er  fühlt 
selbst,  dass  er  damit  nur  spasst.  Nicht  selten  genügt  ein  autoritäres 
Wort  des  Arztes  oder  das  kurze  Selbstbesinnen  des  Kranken,  um  jene 
zu  zerstieben.  Nie  bildet  sich  ein  wirklich  neues  Grössen- Ich;  wie  die 
Bewegungsacte,  wie  die  wechselnden  Stimmungen,  bilden  auch  diese  Grös- 
senideen  nur  oberflächliche,  flüchtige  Vorstellungsspiele,  welche  mit  jeder 
neuen  Stimmungalage  wieder  zusammenfallen  und  untergehen.  In  Moria- 
Zustanden  haften  sie  oft  etwas  länger,  sind  aber  auch  hier  im  Grunde 
nicht  ernst  gemeint. 


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86 


Die  Manie.  Allgemeines. 


Anomalieen  der  sensorischen,  sensibeln,  motorischen  und  trophiscken 

Functionen. 

Die  Sinnesempfindungen  im  Allgemeinen  sind  im  Zustande  der  Hy- 
perästhesie: alle  Eindrücke  werden  intensiver,  selbst  peinlich,  aufgenom- 
men. Geräusche,  einfallendes  Licht,  vermehren  die  Unruhe;  der  Schmerz 
eines  Furunkels  kann  in  der  Reconvalescenz  wieder  verstärkten  Rückfall 
bringen.  Die  speeifischen  Empfindungen,  namentlich  aus  der  Genital- 
sphäre, wirken  mit  gebieterischer  Stärke.  Wenn  freilich  mit  der  Fülle 
der  andrängenden  Vorstellungen  und  besonders  mit  der  Zunahme  der  Be- 
wußtseinsstörung (Mania  gravis)  keine  Perception  mehr  stattfindet,  dann 
kann  der  Kranke  auch  anästhetisch  gegen  Sinneseindrücke  werden,  nicht 
minder  gegen  Hautwunden  und  Verletzungen,  gegen  eckelhafte  Geschmäcke 
und  Gerüche.  Der  Drang  vieler  Kranker  sich  der  Kleider  zu  entledigen 
mag  auf  einem  erhöhten  innern  Wärmegefühl  beruhen. 

Des  im  Ganzen  nicht  so  sehr  häufigen  Auftretens  ächter  Hailucina- 
tionen  bei  der  reinen  Manie  wurde  oben  gedacht.  Interessant  ist  die  Ein- 
leitung vieler  remittirender  und  periodischer  Manieen  durch  dieselbe 
Sinnestäuschung.  In  protrahirten  Fällen  sind  die  Ilallucinationen  häu- 
figer, ebenso  in  den  deliranten  Phasen  der  Mania  gravis. 

Von  sensibeln  Störungen  ist  hauptsächlich  das  fehlende  motorische 
Ermüdungsgefühl  zu  erwähnen,  in  welchem  —  wenigstens  zum  Theil  — 
die  Ausdauer  der  Kranken  in  ihren  übermässigen  Muskelleistungen  zu 
suchen  ist.  Die  Motilität  bietet  in  den  fraglichen  Fällen  frischer  Ent- 
stehung und  ohne  tieferen  Hirnreiz  keine  Abnormität.  Der  motorische 
Leistun^scoe'fficient  erscheint  absolut  erhöht  zu  sein,  da  die  Kraftproben 
oft  ausser  allem  Verhältniss  mit  dem  sonstigen  musculären  Können  ste- 
hen.   Körperlich  reducirte  Kranke  leisten  oft  Erstaunliches. 

In  den  Hirnreiz-Manieen  (Mania  gravis)  kommen  auch  selbständige 
Motilitätsstörungen  vor,  so  Pupillendifferenzen  und  trägere- Contraction  der 
Iris,  Tremor,  ungleiche  Innervation  des  Gesichts,  Störung  der  Mimik,  con- 
vulsivisclie  und  ataktische  Erscheinungen  in  den  Extremitäten. 

Die  sphygmographischen  Radialis-Curven  ergeben  polymorphe  Bilder. 
In  den  melancholischen  Tobsuchten  erscheinen  verstärkt  tricrote,  in  den 
ächten  (heiteren)  Manieen  mehr  dicrote  Curven;  in  der  Mania  gravis  tarde 
und  mouoerote  Formen. 

Die  Temperatur  zeigt  bei  der  einfachen  incomplicirten  Manie,  ohne 
Hirnreiz,  keine  speeifischen  Abweichungen  von  der  Norm.  Mässige  Tem- 
peraturerhöhungen (bis  3S°  und  etwas  darüber)  sind  wohl  auf  die  ge- 
steigerte Muskelthätigkeit  zurückzuführen.  Ausserdem  wirken  viele  acci- 
dentelle  Ursachen  mit:  so  Erkältungen  auf  gelegentliche  Temperaturver- 
minderungen, Ooprostase  auf  intercurrente  Erhöhung.  Ohne  solche  Momente 
ist  eine  stärkere  Temperaturerhöhung  stets  das  ominöse  Zeichen  einer 
tieferen,  über  die  Grenze  des  „reinen"  Manie  hinausgehenden  Cerebral- 
affection.  So  finden  sich  in  den  acuten  Reizstadien  der  Mania  gravis 
solche  Ubernormale  Temperaturnummern,  welche  später  in  abnorm  nied- 
rige (bis  20,4  R.  und  26,5  C.)  übergehen.  (Ueber  die  Temperaturverhält- 
nisse im  Delirium  acutum  maniacale  s.  dieses).  Sehr  häufig  ist  in  allen 
manischen  Zuständen  die  locale  Kopftemperatur  erhöht,  manchmal  nur 
einseitig.    Merkwürdig  ist  die  oft  mit  Zurücktritt  der  Kopfcongestionen 


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Anomalieen  der  sensorischen,  sensibeln,  motorischen  u.  troph.  Functionen.  87 


sich  einstellende  Blässe  und  Gedunsenheit  des  Gesichts,  welche  sich  aber 
in  der  Regel  bald  ausgleicht. 

Die  Qualität  des  Pulses  und  die  Frequenz  sind  noch  viel  wech- 
selnder: bald  klein,  bald  stärker  entwickelt,  oft  an  Carotis  und  Radialis 
abnorm  ungleich  (dort  sehr  voll,  hier  klein),  bald  auffallend  selten  (so 
in  Nachlassstadien),  bald  sehr  frequent,  auch  aussetzend,  oft  weich ,  an- 
deremale  gegentheils  saitenartig  hart  (dies  namentlich  in  palpabeln  Hirn- 
reizzuständen). 

Das  Körpergewicht  nimmt  regelmässig  während  des  manischen 
Paroxysmus  —  mit  Ausnahme  des  circulären  (s.  dieses)  —  in  mehr 
minder  erheblicher  Weise  ab,  um  mit  der  einleitenden  Reconvalescenz 
wieder  zuzunehmen.  Dabei  spielen  individuelle  Verhältnisse  (Nahrungs- 
aufnahme. Schlaflosigkeit  u.  8.  w.)  eine  mannigfach  modificirende  Rolle. 
Auch  sonst  ist  der  Gang  beider  Symptomenreihen  nicht  immer  ein  pro- 
portionaler, sondern  zeitlich  oft  verschobener  (die  Ernährungszunahme  geht 
der  Reconvalescenz  voraus  u.  8.  w.). 

Constant  sind  in  allen  Manieen  trophische  Symptome  vorhanden. 
Bei  den  acuten  Formen  der  „heiteren  manischen  Verstimmung"  und  spe- 
ciell  bei  den  Paroxysmen  der  Folie  circulaire  tritt  als  Regel  ein  grösserer 
Turgor  mit  Weichheit  und  Feuchtigkeit  der  Haut  hervor,  welcher  den 
Kranken  frischer  erscheinen  lässt;  auch  die  Gesichtszüge  werden  reiner 
und  glätter,  Jugendlicher".  Die  Haare  kommen  nicht  selten  in  regeres 
Wachsthum  und  werden  pigmentirter  im  Gegensatz  zu  früher.  —  In  den 
schweren  Manieen,  namentlich  den  idiopathischen,  wird  dagegen  die 
Haut  welk,  faltig,  trocken,  die  Epidermis  oft  massenhaft  sich  abschil- 
fernd. Nicht  so  selten  tritt  auch  allgemeine  Furuncuiose  auf;  oft  Pete- 
chien und  Decubitus.  Die  Verdauung  ist  in  der  Regel  gestört.  Ano- 
malieen des  Appetits  (fehlender  Appetit,  anderemale  Heisshunger)  werden 
selten  vermisst.  Der  Stuhlgang  zeigt  keine  bestimmte  Aenderung.  In 
der  Mania  gravis  intercurriren  oft  schwer  stillbare  Diarrhoen.  In  den 
circulären  Manieen  ist  gesteigerter  Appetit  und  vermehrte  digestive  Lei- 
stungsfähigkeit Regel. 

Der  Schlaf  ist  in  sämmtlichen  manischen  Zuständen  gestört,  oft 
durch  Wochen  und  Monate  lang.  Nicht  selten  ist  die  Nachtzeit  durch 
schwere  Träume  erregt.  Auch  hier  macht  die  circuläre  Manie  sehr  oft 
(nicht  immer!)  eine  Ausnahme,  insofern  die  Kranken  nie  besser  und  tiefer 
zu  schlafen  behaupten,  als  in  der  Zeit  der  manischen  Phase. 


Ruhe 


Therapie. 

utische.    Erste  Indication  ist  wie  bei  der  Melancholie: 
geizten,  leicht  reiz-  und  erschöpf  baren  Gehirne!  Diese 
ich  t.  Abhaltung  der  störenden,  unter  Umständen 
en  von  aussen;  Beförderung  des  Schlafs;  2.  Be- 
|r«  ;ndirect  hervorgerufenen  Fluxionen  zum 

ung. 

tliche,  bei  der  Therapie  der  Melan- 
Maassnahmen,  vor  Allem  Isolirung 


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88 


Die  Manie.  Allgemeines. 


und  ev.  Bettruhe.  Der  Grad  der  notwendigen  Isolirung  richtet  sich 
nach  der  Intensität  des  vorhandenen  Hirnreizes  und  der  psychischen 
Erregbarkeit  des  Kranken;  je  grösser  diese,  desto  strenger  muss 
jene  sein.  Während  bei  den  leichteren  Fällen  eine  Einschränkung 
des  Kranken  auf  den  Verkehr  mit  einer  verständigen  Umgebung  neben 
sorgfältiger  Regulirung  des  Tageslaufes,  pünktlicher  Befolgung  der 
vorgeschriebenen  Diätetik,  Vermeidung  aller  erhitzenden  Genuss- 
mittel, Enthaltung  von  allem  unnützen  Verkehr  mit  der  Aussenwelt 
genügt,  muss  in  schwerern  Fällen  der  Aufenthalt  im  Zimmer,  unter 
Umständen  im  eigens  hergerichteten,  ordinirt  werden.  In  der  grössten 
Mehrzahl  der  Fälle  reicht  hierzu  die  Pflege  ausserhalb  der  Anstalt 
nicht  mehr  aus.  Wo  aber  alle  erforderlichen  Einrichtungen  be- 
schafft werden  können,  in  administrativer  Hinsicht  sowohl  als  auch 
in  der  persönlichen  des  passenden  Wartepersonals  und  der  ärzt- 
lichen Leitung,  sind  wenigstens  leichtere  Fälle  auch  auswärts,  zumal 
in  einem  guten  Spitale,  zu  behandeln  (Schutz  der  Fenster,  Thüren, 
Wände,  solides  einfaches  Mobiliar).  Unter  den  somatischen  Be- 
ruhigungsmitteln stehen  sodann  Bäder  wieder  obenan,  und  zwar 
hier  in  Form  von  verlängerten  und  manchmal  auch  von  kurzen 
kühlen  Bädern. 

Die  verlängerten  werden  von  2  —  4 ,  unter  Umständen  von  noch 
längerer  Dauer  verabreicht  (mit  Eisumschlägen);  die  kurzen  kühlen 
in  der  Temperatur  von  IG— 14— 12°  R.  8—10  Minuten  lang  gereicht, 
wiederum  mit  Eisumschlagen  und  unter  beständiger  ärztlicher  Controlle ; 
während  und  nach  dem  Bade  etwas  Wein ;  nachher  Frottiren  und  Bett- 
ruhe  resp.  Isolirung.  Man  vermeide  Kopfdouchen!  Die  lauwarmen  Bäder 
passen  hauptsächlich  hei  activem  acuten  Hirnreiz  d.  h.  bei  stark  vor- 
tretenden Fluxionszuständen;  die  kalten  sah  ich  dagegen  bei  protrahirtern 
Formen  sehr  wirksam,  wobei  eine  revulsive  (psychische)  Wirkung  mit 
erzielt  werden  soll.  Man  sei  bei  letzteren  sehr  vorsichtig  bezüglich  des 
körperlichen  Kräftezustandes :  grosse  Schwäche,  complicirende  Herz-  oder 
Lungenaffectionen  erheben  Einsprache!  —  Bezüglich  der  Isolirung  ist 
gleichfalls  sorgsamste  Ueberwachung  zu  empfehlen ,  damit  nicht  der 
Kranke  sich  selbst  und  seinem  Bewegungsdrange  überlassen  auf  Allotria 
verfällt  und  —  faute  de  mieux  —  in's  Zerreissen,  Schmieren  oder  gar 
Kothessen  geräth!  Manches  derartige  manische  „Artefact"  Hesse  sich 
durch  richtige  Unterbrechung  des  Zimmeraufenthalts  und  temporäres  Ver- 
setzen des  Kranken  entweder  zu  Andern  oder  in  eiuen  geräumigen  Spa- 
zierhof vermeiden!  —  Bei  unverbesserlichen  Zerreissern  ist  für  passende 
Kleidung  und  Bettzeug  zu  sorgen.  Dabei  sorgsame  Anhaltung  zur  Be- 
achtung der  Reinlichkeit! 

Erfordern  heftigere  Fluxionszustände  zum  Kopf  eine  locale  Be- 
kämpfung, so  ist  diese  nach  den  Regeln  der  inneren  Medicin  und 
mit  sorgfältiger  Beachtung  des  jeweiligen  Kräftezustandes  zu  leiten. 


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Therapie.   Somatische  Indicationen. 


89 


Nie  Aderlass!  Eisumschläge,  zeitweilige  Hirudines  (1 — 2  hinter  die 
Ohren)  genügen.  Daneben  ev.  Ableitungen  auf  die  Ftlsse.  Sehr 
günstig  wirken  in  vielen  Fällen  Priessnitz'sche  Einpackungen,  unter 
gleichzeitiger  Eisbehandlung  auf  den  Kopf  und  nachher  kühler  Ab- 
waschung mit  folgender  Frottirung  (täglich  wiederholt).  Arzneilich 
ev.  Digitalis,  und  bei  starken  Wallungszuständen,  namentlich  manchen 
Fällen  von  Mania  gravis:  Ergotin.  Als  Schlafmittel:  Paraldehyd, 
vorübergehend  auch  Chloral,  Bier,  abendliche  Bäder;  namentlich 
bringt  ein  kaltes  Bad  oft  mit  der  grössern  Beruhigung  auch  Schlaf. 
Bromkali  und  Opiate  sind  hier  gleichfalls  zu  nennen;  doch  stehen 
sie  als  Hypnotica  in  der  Promptheit  den  oben  genannten  nach. 

Manchmal  ist  dagegen  eine  specielle  Indication  für  die  letztge- 
nannten Arznei  Stoffe  gegeben,  so  dass  sie  in  der  Serie  der  individuell 
angezeigten  Beruhigungsmittel  in  die  erste  Linie  vorrUcken.  Es  ist  dies 
der  Fall  bei  jenen  manischen  Zuständen,  in  welchen  1.  ein  sexueller 
Factor  vorhanden,  sei's  in  der  Richtung  des  Deliriums  oder  in  perversen 
(masturbatorischen)  Drängen:  hier  ist  Bromkali  indicirt;  oder  2.  ein  emo- 
tiver Affectkern  dem  tobsüchtigen  Gebahren  zu  Grunde  liegt,  sei's  in 
Form  einer  peinlichen  Erinnerung  (erlittener  Aerger)  oder  einer  bestän- 
digen zornigen  Reizbarkeit.  Hierher  gehören  die  melancholischen  Tob- 
sachtszustände  und  der  Furor  in  seinen  verschiedenen  klinischen  Formen. 
Hier  sind  die  Opiate  königliche  Curmittel,  sowohl  per  os  als  per  suppos., 
oder  per  inject,  gereicht,  und  zwar  nicht  vorübergehend,  sondern  wie  bei 
der  Melancholie  methodisch. 

Für  gewisse  Manieen  mit  vorwaltendem  Bewegungsdrang  und 
tiefer  Bewusstseinsstörung  (Formen  der  Mania  gravis)  ist  Hyos- 
cyamin  ein  wirksames  Beruhigungsmittel.  Man  kann  nicht  so  selten 
heftige  Tob-Paroxysmen  dadurch  auf  Stunden  und  Tage  hinaus  sistiren, 
hin  und  wieder  sogar  coupiren.  Die  Bewusstseinsstörung  selbst  wird 
dadurch  nicht  direct  beeinflusst;  die  Kranken  werden  in  ihrem  (durch 
das  Mittel)  musculomotorischen  Elend  nicht  gerade  wesentlich  klarer, 
aber  ruhiger,  und  so  einer  geordneten  Einwirkung  zugängiger.  In 
gewissen  Fällen  folgt  dann  die  sensorielle  Aufhellung  successive  der 
motorischen  Beruhigung  nach;  meistens  aber  ist  der  Effect  vorüber- 
gehend, und  das  Arzneimittel  muss  in  erhöhter  Dosis  wiederholt 
werden. 

Man  sei  übrigens  vorsichtig  mit  diesem  heroischen  Alkaloid,  dessen 
chemische  Zusammensetzung  ohnehin  keine  verlässliche  ist!  Bei  activen 
Wallungen  zum  Kopfe,  ebenso  bei  Herz-  oder  Lungenaflectionen  oder 
geschwächtem  Kräftezustande  wage  man  es  nicht!  Das  Peinliche  der 
Anwendung  wird  vermehrt  durch  die  Anforderung:  keine  verzettelten 
kleinen,  sondern  mittlere  oder  selbst  eine  kühne  grössere  Dosis  zu  geben, 
wenn  man  entscheidend  wirken  will.   Betäubtes  Wesen,  ataktischer  Gang, 


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90 


Die  Manie.  Allgemeines. 


Heiserkeit,  heftiger  Schlundzwang  sind  neben  der  oft  hartnäckigen  Pu- 
pillenerweiterung die  gewöhnlich  in  den  Kauf  zu  nehmenden  Symptome ; 
dabei  Schwächerwerden  des  Pulses,  Verlangsamung  der  Respiration,  livide 
Gesichtsfarbe  u.  s.  w.  Man  beginne  bei  Frauen  mit  nicht  Über  0,005  p. 
dosi,  und  steige  auf  0,008  —  0,01  und  selbst  noch  etwas  höher;  bei 
Männern  kann  man  mit  0,01  beginnen  und  bis  0,015  und  0,02  vor- 
sichtig steigen.  Eine  Tagesgabe  genllgt ;  unter  Umständen  mit  kleiner 
Supplementirung.  Fortgesetzte  Anwendung  ist  abzurathen;  sicherer  und 
wirksamer  ist  die  Darreichung  in  Pausen,  je  nach  Bedarf,  und  wo  mög- 
lich nach  jeweils  erst  wieder  erfolgtem  Aufhören  der  Intoxications- 
zeichen.  Die  Darreichung  per  os  scheint  oft  stärker  zu  wirken  als  die 
subcutane. 

Ad  3.  Die  Beachtung  der  Körperernährung  ist  eine  höchst  wich- 
tige Indication,  umsomehr,  als  zu  der  häufig  mitgebrachten  Blut- 
armut und  Magerkeit  noch  die  gesteigerten  Ausgaben  durch  die 
beschleunigten  psychischen  Processe,  durch  die  motorischen  Muskel- 
leistungen und  durch  die  Schlaflosigkeit  hinzukommen.  Eine  kräftige, 
leicht  verdauliche,  an  Eiweiss  und  Kohlenhydraten  reiche  Diät,  mit 
Wein  und  Bier,  ist  deshalb  ein  dringliches  Erforderniss.  Dabei  ist 
die  Bulimie  vieler  Kranken  zu  berücksichtigen  (sorgfaltige  Ver- 
kleinerung der  dargereichten  Speisen,  häufige  Darreichung  von  je- 
weils nicht  zn  grossen  Mengen),  und  manchmal  auch  —  soweit  es 
angeht  —  individuelle  Liebhabereien,  deren  Versagung  Zornproteste 
und  Steigerung  der  Reizbarkeit  hervorrufen  würde.  Der  Appetit 
vieler  Maniaci  ist  geradezu  erstaunlich,  verdient  aber  in  rationellen 
Grenzen  immer  geziemende  Beachtung.  —  Vieler  Aufenthalt  im 
Freien  in  weiten  Spazierhöfen;  möglichst  leichte  zweckmässige  Klei- 
dung; Sorgfalt  gegen  die  Einwirkung  grosser  Sonnenhitze. 

Psychisch-,  Ruhe  und  Abhaltung  von  Reizen!  Der  Verkehr  mit 
den  Kranken  sei  wohlwollend,  aber  bestimmt  (suaviter  in  modo, 
fortiter  in  re!);  er  vermeide  alles  schroffe  Entgegentreten,  suche  mehr 
durch  Ablenkungen  und  gewinnende  Umwege,  als  durch  directes 
Fordern  das  Nöthige,  und  Alles  stets  mit  ruhiger  Geduld,  zu  er- 
reichen. Ernst  mit  Milde,  nicht  befehlend,  aber  auch  nicht  ängst- 
lich demonstrirend,  alle  Anreizungen  disputirsüchtiger  Kranker  ver- 
meidend, fest  und  consequent  in  den  Anordnungen  —  sei  die  Sig- 
natur des  ärztlichen  Tenors!  Dabei  sorgfältige  Wahrhaftigkeit  — 
der  Maniacus  hat  ein  treues  Gedächtniss!  Aber  der  ärztlichen  Con- 
sequenz  im  Auftreten  und  Handeln  bleibe  alle  Pedanterie  ferne  und 
namentlich  alles  kluge  Rechthaben!  Man  halte  in  seinen  Anordnungen 
nicht  am  Buchstaben,  variire  nach  Bedarf;  man  übe  gelegentlich  die 
tapfere  Kunst  des  Schweigens,  namentlich  absichtlich  provocirenden 


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Therapie.   Psychische  Indicationen.  —  Behandlung  der  Unterformen.  91 


Kranken  gegenüber,  scheue  temporär  selbst  einen  muthigen  Rück- 
zog nicht,  und  verstehe  dem  fliehenden  Feinde  goldene  Brücken  zu 
bauen  durch  freiwillige  (wenn  auch  vielleicht  ad  hoc  unverdiente) 
Gewährung  kleiner  Wünsche  und  Bedürfnisse.  Bei  zugängigen,  trai- 
tablen  Kranken  suche  man  den  gesteigerten  Bewegungsdrang  in  ge- 
ordnetere Bahnen  zu  lenken  durch  Anhaltung  zu  Arbeiten  im  Hause, 
in  der  Wäscherei,  in  den  Gärten  u.  s.  w.  Bei  allen  Kranken,  wo 
es  angeht,  bestrebe  man  sich  den  Sinn  für  das  Decorum  zu  wecken, 
und  gegen  die  niederziehende  Gewalt  der  Krankheit  aufrecht  zu 
erhalten!  —  Ist  das  Bewusstsein  erst  freier,  so  darf  auch  directe 
Corrective,  ja  inuss  unter  Umständen  geübt  werden.  Besonders 
nachdrucksam  muss  diese,  und  zwar  in  Form  einer  ärztlich  wohl 
erwogenen  Disciplin  und  Pädagogik,  eintreten  in  den  chroni- 
schen und  Schwäche-Manieen  (Moria),  wo  sie  den  wichtigsten  Theil 
der  therapeutischen  Anstalts-Technik  bildet. 

Auf  die  einzelnen  klinischen  Unterformen  Ubergehend,  lassen  sich 
die  wichtigsten  therapeutischen  Indicationen  in  Folgendem  zusammen- 
fassen: 

a)  Mania  mitis  und  typica.  Sorgsame  körperliche  und  geistige 
Diätetik  mit  möglichstem  Abschluss  von  allen  äussern  Reizen.  Meistens 
sofort  Spital-  oder  Anstaltsbehandlung  nothwendig.  Lauwarme,  womög- 
lich verlängerte,  Bäder,  bei  höhern  Graden  der  Unruhe  auch  ev.  kurze 
kalte;  Beförderung  des  Schlafs,  liebung  des  Kräftezustandes. 

b)  Furor.  Anstaltsbehandlung  unerlässlich.  Zeitweilige  Isoürung, 
Opiate,  methodisch,  oder  auch  Morph.-Injectionen.  Daneben  Bäder  wie 
oben.  Ev.  intercurrirend  Hyoscyamin.  Ueberwachung  des  Kräftezu- 
standes wie  oben.  Berücksichtigung  ev.  weiterer  Indicationen  (Sexual- 
leiden, neurasthenische  Constitution). 

c)  Mania  gravis.  Anstaltsbehandlung.  Zeitweilige  Isoürung. 
Sorgfältige  Eruirung  etwaiger  somatischer  Grundlagen  (Fötus);  darnach 
«pecielle  Indicationen.  Bäder  wie  oben,  namentlich  kalte.  Priessnitz'sche 
Kinpackungen  mit  Eisüberschlägen.  HyoscyaminBehandlung.  Bei  ha- 
bituellen Congestionen  Blutegel.  Sorgsame  Ueberwachung  des  Kräfte- 
znstandes,  Wein,  ev.  zeitweilige  erzwungene  Bettlage,  namentlich  bei 
Anämischen.  Vorsicht  wegen  drohender  Collapszustände  oder  rapider 
Abmagerung  mit  Temperaturabfall :  dann  Methodus  analepticus  bei  Bett- 
läge  mit  Schutz  gegen  Wärmeverlust.  Bei  drohendem  Uebergang  in  das 
Delir.  acutum  Bettlage,  Verdunkelung  des  Zimmers,  möglichste  Ruhe  in 
der  Umgebung,  fortgesetzte  Eisbehandlung. 

d)  Die  Behandlung  der  chronischen  Manieen  hat  den  ganzen 
somatischen  und  psychischen  Heilapparat  (s.  o.)  in  einer  der  jeweiligen 
l'hase  individuell  entsprechenden  Dosirung  zu  entfalten.  Bei  vorwie- 
gendem psychischen  Schwächecharakter  mit  eingewöhnten  (schablonisirten) 
Bewegungsexcessen:  sorgsame  zielbewusste  Pädagogik  neben  Ableitung 
durch  leichte  mechanische  Beschäftigung;  bei  andauerndem  Congestivzu- 


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92  Specielle  Manie. 

stände  znm  Kopfe  mit  Stasenbildnng  im  Gesichte:  tägliche  verlängerte 
Bäder,  zeitweilige  Hirudines;  unter  Umständen  Anlegung  einer  Fontanelle 
in  den  Nacken  oder  Einreibung  der  Tart.  stib.  Salbe  auf  den  Scheitel; 
bei  Anämischen:  zeitweilige  Bettlage  mit  kräftiger  Ernährung  und  Opium 
in  methodisch  zunehmenden  Gaben. 


Specielle  Manie. 

Krankheitsbild.   Verlauf.  Ausgänge. 

Auf  Grundlage  der  im  allgemeinen  Theil  entwickelten  Gesichtspunkte 
über  die  verschiedene  Formqualität  der  krankhaften  Bewegungsäusserungen 
und  der  „Ideenflucht",  und  bei  dem  erfahrungsgemässen  Parallelgang  beider 
Symptomenreihen  mit  der  Qualität  (Tiefe)  der  Hirnaffection  lassen  sich  unter 
gleichzeitiger  Einbeziehung  der  zugehörigen  somatischen  Momente  allgemein 
zwei  grosse  Untergruppen  der  Manie  aufstellen: 

1.  eine,  in  welcher  —  unter  gradweiaer  Bewusstseinsschonung  —  der 
psychische  Charakter  in  den  Bewegungen  und  der  logische  in  der  Asso- 
ciation im  Wesentlichen  erhalten  bleibt;  diese  Gruppe  verläuft  körperlich 
auch  ohne  (grob)  motorische  Symptome  und  ohne  —  oder  höchstens  ganz 
geringe  und  vorübergehende  — Teraperaturanomalieen;  und  2.  eine,  in  wel- 
cher —  unter  primärer  tiefer,  eventuell  bis  zur  Traumstufe  verdunkelter, 
Bewusstseinsstörung  —  die  psychische  Formqualität  in  den  bezeichneten 
Richtungen  verloren  geht,  und  gleichzeitig  direct  motorische  Symptome, 
sowie  manifeste  Störungen  der  Temperatur  (Fieber;  abnorm  niedrige 
Nummern)  vorkommen. 

Speciell  lässt  sich  die  I.  Gruppe  wieder  in  2  Untergruppen  son- 
dern, je  nachdem  a)  die  psychomotorische  Steigerung  sich  vorwiegend  auf 
dem  Gebiete  der  höher  combinirten  Acte  —  der  eigentlichen  Hand- 
lungen —  bewegt,  und  ebenso  auch  die  Reizung  im  „Ideen"gebiet  in  den 
Grenzen  der  höheren,  das  „Ich"  tragenden,  Vorstellungsreihen  sich  hält: 
als  vermehrte  und  beschleunigte  Strebungen,  zugleich  mit  heiterer  Stim- 
mungslage; es  ist  die  in  Intellect  und  Willen  aufgenommene  Manie  — 
Mania  mitis.  Ein  melancholisches  Vorläuferstadium  kann  vorhanden 
sein,  aber  auch  fehlen.  Genesung  ist  Regel.  Grosse  Neigung  zur  Perio- 
dicität;  und  b)  je  nachdem  die  Reizung  der  psychomotorischen  resp.  Be- 
schleunigung der  vorstellenden  Functionen  zu  einem  selbständigen,  von 
einem  Ich  nicht  mehr  zusammengehaltenen  Krankheitselemente  sich  ge- 
staltet; dort  als  ziel-  und  planloser,  unerschöpflich  sich  hervordrängen- 
der Bewegungsdrang,  hier  als  Ideenflucht  aller  Grade  (logisch  und  asso- 
nirend);  dabei  flüchtig  wechselndes  Stimmungsregister  mit  vorwiegend 
heiterem  Grundton.  Der  Krankheitsbeginn  geht  regelmässig  durch  ein 
Stadium  melancholicum  hindurch.  Genesung  (auch  bleibende)  ist  Regel  — 
typische  Manie.   Daran  schliesst  sich  als  schwerere  Form  der  Furor 


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Eintheilung  der  Manie.  Charakteristik  der  Uoterformen.   Mania  mitis.  93 

an,  mit  reflectorischem  Formcharakter  der  Bewegungen;  den  einfach  luxu- 
riirenden,  gleichsam  spielenden,  der  vorigen  Gruppe  gegenüber  sind  diese 
triebartig  heftig,  maasslos  bis  zum  Convulsiven  oder  auch  automatisch 
Zwangsmässigen.  Stets  finden  sich  in  der  jagenden,  oft  ganz  verworrenen, 
Ideenflucht  bestimmte  Vorstellungs„kerne"  melancholischen  oder  wahnsin- 
nigen Inhalts.  Die  Stimmung,  wenn  auch  vielfach  wechselnd,  ist  eine  vor- 
wiegend gereizte  („Zornmanieen"),  oder  eine  gemischt  depressiv-exaltirte. 
Hallucinationen  sind  sehr  häufig.  Ein  Stadium  melancholicum  kann  vor- 
hergehen, aber  auch  fehlen.  Oft  geht  die  Mania  typica  in  den  Grad  des 
Furor  Uber.    Genesung  ist  häufig,  aber  sehr  gefährdet  durch  Recidive. 

Unter  der  2.  Gruppe  vereinigen  sich  sämmtliche  palpable  Hirnrciz- 
zustände  mit  manischem  Charakter,  symptomatologisch  theils  unter  dem 
Bilde  derselben  Formqualität  der  Bewegungen  wie  der  Furor,  theils  einer 
noch  tieferen  (s.  Allg.),  und  noch  vermehrt  um  den  Hinzutritt  körper- 
licher Symptome  aus  organischer  (entzündlicher)  Hirnreizung.  Das  Be- 
wusstsein  ist  tief  gestört,  oft  förmlich  betäubt.  Eine  „Ideenflucht"  ist 
nicht  vorhanden ;  dafür  zeitweise  jagende  Delirien.  In  den  ruhigen  Phasen 
tritt  psychische  Schwäche  aus  Hirnerschöpfung  hervor ,  oder  ein  vager, 
oft  gemischter  Grössenwahn.  Genesung  ist  seltener,  Heilung  mit  Defect 
die  Regel;  manchmal  aber  auch  rasch  letaler  Verlauf  „Organische" 
Manieen  —  Mania  gravis. 

Die  Mania  mitis. 

In  der  Regel  geht  ein  Status  nervosus  mit  Störungen  des  Schlafs 
und  der  Verdauung,  Kopfcongestionen  und  Obstipation,  oder  ein  aus- 
gesprochen depressives  Initialstadium  voraus,  mit  ängstlicher  Unruhe 
und  Reizbarkeit.  In  allmählichem  Uebergang  zeigt  der  Kranke  jetzt 
eine  Aenderung  seiner  Lebensweise  und  seines  Temperaments:  er  be- 
ginnt in  bisher  ungewohnter  Weise  Lebensgenüssen  nachzugehen, 
namentlich  den  Freuden  der  Venus  und  des  Weins,  oder  dem  Be- 
suche geselliger  Cirkel.  Je  rauschender  die  Fröhlichkeit,  desto  lieber; 
er  kennt  keine  Ermüdung,  keine  Rücksicht  gegen  sich,  bald  aber 
auch  keine  gegen  seine  Umgebung.  Zuspruch  und  Abmahnung  prallen 
wirkungslos  ab  an  seinem  gesteigerten  Wohlgefühl;  ernstliche  Gegen- 
vorstellungen erregen  sein  überlegenes  Lächeln  oder  seine  trotzige 
Gereiztheit  Bald  kommen  Conflicte,  welche  aber  nur  seinen  Wider- 
stand schärfen,  oder  die  Betonung  seines  Selbstgefühls  herausfordern. 
In  der  Gesellschaft  wird  der  bis  dabin  Zurückhaltende  zum  vorlauten 
Wortführer;  unbedacht  und  vorschnell  mischt  er  sich  mit  seinen  Reden 
überall  hinein,  welche  mit  immer  schärferen  Accenten  und  lebhafter 
Mimik  begleitet  werden,  und  nicht  selten  auch  die  übrige  Körper- 
musculatur  zu  stossweisen  Mitbewegungen  aufrufen.  Schlagfertiger 
Witz  bei  einem  liebenswürdig  aufgelegten  Wesen  lassen  den  begin- 
nenden Kranken  Anfangs  noch  überall  willkommen  erscheinen ;  bald 


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94 


Specielle  Manie. 


aber  beleidigt  er  durch  Disputirsucht,  Rechthaberei,  unzarte,  oft  grobe 
Aeusserungen,  beantwortet  harmlose  Scherze  sofort  mit  überstürzen- 
den Duellforderungen.  Mehr  noch  erregt  der  frivole  Zug,  welcher 
nicht  selten  dem  ganzen  Auftreten  sich  beimischt,  Aufsehen;  auch 
verdeckte  oder  offene  Cynismen  fehlen  nicht,  um  das  ganz  veränderte, 
im  Charakter  getroffene  Wesen  des  Kranken  kund  zu  thun.  Dabei 
ist  aber  nicht  allein  der  gerade  beschäftigte  Vorstellungskreis  in  leb- 
haftester Erregung,  so  dass  der  Kranke  nicht  genug  Emphase  den 
Tagesvorgängen  entgegenzubringen  weiss,  welche  alle,  selbst  Lappa- 
lien, für  ihn  eine  von  Anderen  nicht  geahnte  Wichtigkeit  bekunden 
—  auch  die  Erinnerung  bis  in  ferne  Jahre  zurück  steigt  mit  einer 
Promptheit  und  Lebhaftigkeit  auf,  wie  nie  zuvor.  Dem  entsprechend 
fühlt  sich  der  Kranke  in  seiner  Stimmung  mächtig  gehoben,  wenn 
auch  die  Heiterkeit  das  Maass  noch  nicht  wesentlich  überschreitet; 
er  ist  nur  so  Uberaus  wohl,  gesund  und  thatkräftig,  kennt  nur  Schaffens- 
drang, will  deshalb  überall  ordnen  —  bald  aber  auch  meistern.  In 
rascher  Folge  tauchen  immer  neue  Pläne  auf,  welche  mit  jedem  Tage, 
selbst  jeder  Stunde  neu  wechseln;  Schwierigkeiten,  Bedenken,  finan- 
zielle oder  sonstige  Hemmnisse  existiren  schon  nicht  mehr,  der  hem- 
mungslos gewordene  Wille  schafft  sich  unbewusst  seine  Vorstellungs- 
welt von  Illusionen,  welche  sein  Spiegelbild  werden :  Alles  wird  er- 
reichbar. So  werden  Käufe  und  Verkäufe  abgeschlossen,  Summen 
verschleudert,  weil  es  in  der  rosigen  Perspective  des  Kranken  keinen 
Misserfolg  gibt  und  Alles  glücken  muss.  Heirathsprojecte  und  Ver- 
lobungen werden  concipirt,  dann  leichten  Herzens  geändert  und  wieder 
neu  angeknüpft;  nirgends  ist  Befriedigung,  der  Kranke  verschmachtet 
im  Genuss  vor  Begierde.  Dabei  ist  natürlich  von  einem  Genuss 
eigentlich  keine  Rede;  was  der  Kranke  wirklich  geniesst,  ist  das 
täuschende  Gefühl  seines  potentiellen  Könnens  und  der  Abglanz  seiner 
mit  der  Raschheit  der  Einfälle  wechselnden  Phantasmagorieeu. 

Je  mehr  die  Krankheit  zunimmt,  desto  mehr  wächst  die  Hast 
des  in  krankhafter  Propulsion  befindlichen  Seelenlebens.  Die  Ge- 
schwätzigkeit wird  anhaltend  und  fast  erdrückend.  Erinnerungen 
aus  dem  frühern  Leben  verweben  und  verschlingen  sich  mit  unmittel- 
baren Auffassungen  aus  der  Umgebung;  unerreichbare  Erwartungen, 
trügerische  Hoffnungen,  sonderbare  Speculationen,  ungemessene 
Wünsche  und  Forderungen,  schlechte  Witze  und  boshafter  Tadel, 
unmässige  Ueberhebung  und  trügerisches  Selbstlob,  ungesuchter  Rath 
und  übel  angebrachte  Fürbitten  —  Alles  drängt  sich  jetzt  in  buntem 
Wechsel  durcheinander.  Die  Rede  wird  abspringend  und  zerrissen, 
die  Aufmerksamkeit  ist  kaum  auf  Augenblicke  festzuhalten.  Dabei 


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Mania  mitis.  Krankheitsbild. 


—  Mania  typica. 


95 


kommen  Wahnideen  mit  festerem  Gepräge  nicht  auf,  ebensowenig 
Sinnestäuschungen.  Die  Stimmung  wechselt  zwischen  Roseufarbe  und 
düsterer  Verdrossenheit,  selbst  Gereiztheit;  nicht  selten  bricht  auch  ein 
schmerzliches  Weinen  durch,  aus  welchem  ein  unklares,  manchmal 
aber  auch  klar  empfundenes  Krankheitsgefühl  herausschaut.  Zu 
andern  Stunden  ist  der  Kranke  theilnahralos  und  gleichgiltig,  jedoch 
vorherrschend  heiter  oder  nachlässig.  —  In  diesen  wechselnden 
Phasen  schwankt  der  Krankheitsverlauf,  wenn  er  nicht  in  die 
höheren  Krankheitsgrade  der  typischen  Manie  Ubergeht,  durch  Wochen 
und  selbst  durch  einige  (bis  4—5—0)  Monate.  Das  körperliche  Be- 
finden zeigt  dabei  wenig  auffalleude  Aenderung,  bei  Frauen  zeit- 
weilige nervöse  Beschwerden,  oft  kommen  auch  Congestiv-Zustäude 
zum  Kopfe,  aber  ohne  Fieber.  Die  Körperernährung  wird  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  (wohl  durch  den  unregelmässigen  Schlaf  und 
die  in  der  allgemeinen  Unruhe  nicht  immer  genügende  Nahrungs- 
aufnahme) massig  reducirt;  in  anderen  Fällen  bleibt  das  Körperge- 
wicht gleich,  in  periodischen  resp.  circulären  erhöht  es  sich,  wie- 
wohl nicht  regelmässig  (s.  d.).  Allmählich  klingt  die  Aufregung  ab, 
oft  durch  eine  hypochondrisch-melancholische,  gewöhnlich  aber  durch 
eine  einfach  depressive  (ErmÜdungs-)Phase  hindurch ;  der  Krankheits- 
zustand geht  in  Genesung  Uber. 

Bezüglich  des  Vorkommens  der  Mania  mitis  ist  zu  bemerken,  dass 
sie  der  typischen  Manie  gegenüber  relativ  seltener  ist,  und  ebenso  selten 
durch  den  ganzen  Krankheitsverlauf  als  gleichbleibende  Form  sich  erhält. 
Gewöhnlich  steigert  sie  sich  zu  höheren  manischen  Graden.  Wo  sie  selb- 
ständig auftritt  und  bleibt,  bezeichnet  sie  häufig  die  manische  Phase  einer 
uachmaligen  circulären  Psychose.  Auch  die  Paralyse  beginnt  nicht  selten 
iu  der  Form  der  Mania  mitis  (modificirt  durch  den  primären  Blödsinn 
namentlich  auf  ethischem  Gebiete,  und  durch  den  Sopor,  die  Benommen- 
heit, welche  über  die  ganze  Persönlichkeit  des  Anfaugsparalytikers  sich 
legt).  —  In  selbständigem  Auftreten  kommt  sie  vorzugsweise  neurasthe- 
nischen  Constitutionen  zu,  merkwürdig  häufig  nach  geistigen  Anstrengungen 
'Eiamenarbeiteu). 

Die  Mania  typica. 

a)  Leichtere  Form.  Die  Entwicklung  kann  erfolgen:  1.  aus 
einem  ausgesprochenen  melancholischen  Vorstadium  von  kürzerer 
oder  längerer  Dauer;  2.  aus  der  Mania  mitis;  3.  (seltener)  nach 
äusserst  kurzen  Prodromis  (von  einigen  Stunden  oder  auch  Tagen), 
aus  einem  Status  nervosus  (nach  plötzlichem  Geinüths-Shok,  Menses) 
mit  rasch  ansteigender  Exaltation  direct  in  das  typische  Stadium 
hinein. 


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9G 


Specielle  Manie. 


Der  Kranke  bietet  das  Bild  einer  zunehmenden  motorischen  und 
geistigen  Unruhe;  er  weint  und  lacht  unmotivirt  oder  auf  gering- 
fügige Ursache,  läuft  hin  und  her,  beginnt  Arbeiten  und  lässt,  kaum 
begonnen,  wieder  ab;  er  beschwert  sich,  hat  eine  Menge  Wünsche, 
wird  reizbar  und  zornig  bei  Versagung.  Die  wachsende  Unruhe  zieht 
sich  rascher  oder  langsamer  (manchmal  mit  depressiven  Intermissio- 
nen)  auch  in  die  Nacht  hinein;  es  erfolgt  Schlaflosigkeit  und  bei 
Tag  eine  Zunahme  der  Unruhe  mit  immer  jäherem  und  grundloserem 
Stimmungswechsel.  Das  Reden  wird  ein  anhaltendes  Schwatzen, 
untermischt  mit  Singen,  Pfeifen  und  Lachen;  jede  Rücksicht  auf  die 
Umgebung  hört  auf;  Blick,  Mimik,  Gestikulationen  werden  lebhafter, 
die  Bewegungen  rascher  und  immer  entfesselter.  Der  Kranke  be- 
ginnt in  zweckloser  Geschäftigkeit  hin  und  her  zu  laufen,  frisirt  und 
putzt  an  sich  herum,  und  ist  doch  im  nächsten  Augenblicke  wieder 
so  unsauber  und  nachlässig  wie  zuvor;  er  hüpft,  tanzt,  springt,  macht 
alle  Jongleur-Künste.  Dabei  wird  unter  Lachen  und  Jauchzen  Alles 
erzählt,  was  ihm  einfällt,  sofort  aber  der  begonnene  Vorstellungsgang 
bei  einer  neuen  Wahrnehmung  oder  zufälligen  Reproduction  wieder 
verlassen ;  dann  diese  neue  Vorstellungsreihe  wieder  in  Worten  durch- 
jagt, jetzt  wieder  abgebrochen  —  bis  endlich  eine  in  immer  ent- 
fernteren und  loseren  Zusammenhängen  ablaufende  „  Ideenflucht "  er- 
reicht ist.  Dazwischen  lässt  sich  der  Kranke  durch  Zurufe  oder 
irgend  einen  äusseren  Eindruck  wieder  zu  sich  bringen;  er  gibt  auf 
Fragen  kurze  Antworten;  aber  gleich  beginnt  das  alte  Spiel  wieder 
von  Neuem.  Die  umgebenden  Personen  werden  verkannt,  bald  in 
näheren,  bald  entfernteren  Illusionen.  Auch  hier  nimmt  der  Kranke 
noch  eine  Zeit  lang  vorübergehende  Correctur  an,  doch  ohne  Einsicht 
Immer  mehr  löst  sich  das  psychische  Geschehen  in  Minuten -Acte 
auf;  mit  dem  stetig  wechselnden  Vorstellungsinhalt  werden  auch  alle 
Stimmungsregister  durchlaufen:  der  Kranke  jubelt,  weint,  schimpft, 
droht,  schmiegt  sich  an  und  schlägt  um  sich  —  ganz  in  der  Ein- 
gebung des  Moments.  Er  ist  der  Spielball  jedes  einfallenden  Ge- 
dankens, jeder  ans  ihm  oder  an  ihn  herantretenden  gemüthlichen 
Erregung,  der  stricte  Vollstrecker  jedes  motorischen  Antriebs.  Tritt 
vorübergehend  mehr  Ruhe  ein,  so  äussert  sich  meist  ein  gehobenes 
Selbstgefühl,  welchem  aber  jede  Tiefe  fehlt;  es  blitzen  wohl  vor- 
übergehend auch  Grössenideen  auf  von  hoher  Stellung,  Macht,  Reich - 
thum  u.  s.  w.,  aber  ohne  Nachhaltigkeit;  sie  werden  polternd  aus- 
gerufen, um  rasch  (oft  unter  ironisirendem  Lachen)  wieder  im  rast- 
losen Fluss  der  sich  drängenden  Vorstellungen  unterzugehen.  Auch 
erotische  Richtungen  tauchen  auf  und  nieder,  nicht  selten  mit  las- 


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Maoia  typica.   Intercurrente  acute  Wahnsinns-Phasen.  Weiterverlauf.  97 

civen  Scheltworten  abwechselnd,  manchmal  mit  brutalen  Attentats- 
versuchen.  Auch  Hallucinationen  stellen  sich  oft  ein,  aber  flüchtiger 
Natur  (sensorische  Nebenschliessungen  neben  dem  krankhaft  ver- 
stärkten psychischen  Hauptstrom),  und  erhitzen  vorübergehend  die 
Stimmung  bis  zur  übermässigen  Heiterkeit,  zum  tollen  Jubel;  oder 
drücken  gegentheils,  im  Inhalt  wechselnd,  jene  zum  zornigen  Weinen 
und  Schelten  herab  —  gehen  aber  gleichfalls  ohne  nachhaltige  Wir- 
kung im  raschen  Strom  der  Vorstellungen,  welcher  nichts  Fixes  duldet, 
wieder  unter. 

Werden  die  Hallucinationen  gelegentlich  vorherrschend  und  gewinnen 
dieselben  festere  Gestaltung,  so  dass  sich  darnach  die  Auffassung  der  Um- 
gebung dauernd  ändert  und  im  Weitern  eine  wahnhafte  Orientirung  mit 
Fälschung  des  Bewusstsein9  festgehalten  wird,  so  ist  das  Gebiet  der  ty- 
pischen Manie  überschritten,  und  letztere  in  eine  Piiase  von  „acutem  hallu- 
cinatorischen  Wahnsinn"  übergetreten.  Sehr  häuög  bildet  diese  Metamor- 
phose den  Uebergang  aus  der  initialen  Depression  in  die  eigentliche  Manie, 
und  zwar  ist  es  der  dämonomane  acute  Wahnsinn,  welcher  mit  Vorliebe 
diese  Vermittel ung  Ubernimmt.  Der  Anfangs  grübelnde  oder  mit  Ge- 
wissensscrupeln  gedrückte  Kranke  glaubt  sich  von  bösen  Geistern  um- 
ringt, die  ihn  tödten  wollen;  Illusionen  bestürmen  ihn;  bald  mischen  sich 
freudige  und  gehobene  (religiös-exaltirte)  ein:  der  Kranke  sieht  seine 
Rechtschaffenheit  erkannt,  und  fühlt  sich  zum  Richter  erkoren;  höhere 
Antriebe  heissen  ihn  predigen,  singen;  die  Reden  werden  ungereimt,  ab« 
gerissen,  die  Ideenflucht  nimmt  zu;  in  der  wachsenden  Entfesselung  der 
motorischen  Acte  geht  das  hallucinatorische  Traumspiel  unter  —  und  der 
Kranke  macht  jetzt  den  typischen  manischen  Decursus  weiter. 

Im  ferneren  Verlaufe  nimmt  die  verbale  Ideenflucht  zu  bis  zu 
einer  wirklichen  Verworrenheit,  bei  welcher  die  Verbindungen  nur 
noch  nach  äusseren  Assonanzen  hergestellt  werden.  Oft  geht  auch 
dieses  Band  verloren,  und  es  bleiben  nur  noch  aneinandergereihte 
Worte  aus  zufälligen  Einfällen,  Wahrnehmungen,  Reminiscenzen  u.  s.w. 
bestehen.  Dabei  schwindet  aber  das  Bewusstsein  nie  so,  dass  es  auf 
die  Traum 8 tu fe  sich  verdunkelte;  dasselbe  kann  wohl  unklar  und 
getrübt  werden  in  Folge  der  sich  überstürzenden  und  gelockert  zu- 
strömenden Vorstellungen,  in  welchen  das  Ich  sich  nicht  mehr  zurecht 
findet,  —  sowie  aber  der  Sturm  sich  mässigt,  stellt  sich  sofort  auch 
wieder  die  klarere,  vorübergehend  selbst  besonnene,  Situation  her. 

So  kann  sich  der  psychische  Zustand  durch  Tage  und  Wochen 
hindurch  erhalten.  Nach  und  nach  tritt  mehr  Ruhe  ein;  der  unge- 
stüme Bewegungsdrang  erhält  immer  mehr  den  Ausdruck  eines  vagen, 
gesticulatorischen  Spiels.  Die  Aufmerksamkeit  ist  wieder  leichter 
zu  fesseln,  das  Benehmen  wird  freundlicher  und  gelassener.  Manch- 
mal werden  jetzt  auch  subjective  Klagen  über  körperliche  Missgefühle 

Scfc&l«,  GeiBtaakrank halten.    3.  Aufl.  7 


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98 


Specielle  Manie. 


geäussert.  Der  Schlaf  wird  besser,  ebenso  der  Appetit;  der  Blick 
klarer,  die  Miene  componirter.  Die  Reimereien  und  profuse  Ge- 
schwätzigkeit lässt  nach.  Dann  und  wann  schieben  sich  stillere  und 
ernstere  Stunden  ein.    Der  Weilerverlauf  kann  nun  stattfinden: 

1.  unter  allmählichem  Nachlass  bis  in  die  Genesung.  Dieses 
geschieht  im  Uebergang  a)  durch  einen  Aufregungszustand  mit  psy- 
chischer Schwäche,  Moria  (muthwilliges  Wesen,  barocke  Einfalle  und 
Handlungen,  emotive  Reizbarkeit,  s.  u.);  oderb)  durch  einen  Zwischen- 
zustand einfachen  geistigen  Torpors;  oder  aber  c)  durch  eine  (secun- 
däre)  Wahnsinnsphase  hindurch  mit  Grössenwabn  und  Symbolisirungen, 
oder  mit  Hallucinationen.  Dieselbe  kann  einen  stillen  Charakter  (ver- 
schlossenes einsilbiges  Wesen,  BetUbungen,  Lesen  in  religiösen  Schrif- 
ten u.  s.  w.)  oder  einen  exaltirten  (phantastische  Kleidung,  dünkelhaftes 
Wesen,  alberne  Geschäftigkeit,  Verkennen  der  Umgebung,  launen- 
hafte Stimmung)  tragen; 

2.  zunächst  in  ein  ruhiges  (apathisches)  Intermissionsstadium  von 
Tage-,  oder  auch  einige  Wochen-langer  Dauer,  worauf  abermals  ein 
manischer  Anfall  folgt  mit  nachfolgender  Ruhe,  und  so  (vielleicht 
nach  mehrfachen  Wiederholungen)  mit  endlichem  Ausgang  in  Ge- 
nesung (remittirende  Form); 

Symptomatologi8ch  wechseln  diese  remittirenden  Paroxysiuen  hinsicht- 
lich der  Dauer,  Intensität  und  der  Länge  des  Intervalls.  Dabei  kann  der 
depressive  Zug,  welcher  dem  ersten  manischen  Anfall  noch  abwechselnd 
beigemischt  war,  in  den  späteren  Anfällen  immer  mehr  verloren  gehen, 
und  die  letzteren  reine  („tolle")  Exaltationszustände  darstellen  mit  zweck- 
loser Geschäftigkeit,  übermtithigem  Wesen,  Raisonniren,  bis  endlich  zu 
dem  ungereimtesten  sinnlosen  Gebahren  mit  Verworrenheit.  Manchmal 
bezeichnet  das  letzte  manische  Recidiv  auch  den  Uebergang  zur  Gene- 
sung; in  anderen  Fällen  jedoch  tritt  diese  erst  ein,  nachdem  sich  a)  ein 
längeres  Stadium  von  wirklicher  Melancholie,  oder  aber  b)  von  tiefer 
Stupidität  (Apathie,  betäubtem  Wesen,  secessus  inseiis,  Raptus)  einge- 
geschoben  hatte. 

3.  in  die  schwerere  Form  der  Manie  (den  Furor); 

4.  in  chronische  Manie; 

5.  in  dauernde  psychische  Schwäche. 

Diese  „Heilung  mit  Defect"  gibt  oft  ein  klinisches  Bild  von  eige- 
ner Schattirung.  Es  ist  ein  beginnender  Blödsinn  ohne  hervorstechende 
speeifische  Symptome,  eine  Indolenz,  die  sich  Uber  die  ganze  Persön- 
lichkeit legt,  eine  Unklarheit  und  Unbestimmtheit  des  Wesens,  aber  ohne 
eigentliche  Verkehrtheit  im  Denken,  eine  allgemeine  Zerstreutheit  und 
Ziellosigkeit,  neben  einer  gutmtlthigen ,  freundlichen  uud  willigen  Stim- 
mung. Oft  noch  intercurriron  störende  Traume  mit  Resten  aus  der  Exal- 
tationsphase,  welche  mit  der  Stärke  der  Wirklichkeit  den  Kranken  er- 
greifen und  ihn  Tage  lang  beeinflussen.  Auch  ohne  diese  wird  der  Kranke 


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Mania  typica.  Ausgange.  —  Furor.  Krankheitsbüd. 


99 


zeitweise  befangener,  unbestimmt  wandelbarer  in  seinen  Aeusserungen, 
gezwungen  in  Manieren  und  Haltung;  nicht  selten  wird  ängstliche  Un- 
ruhe geklagt,  wofür  der  Kranke  die  kleinlichsten,  oft  sich  widersprechen- 
den Umstände  als  Begründung  anführt.  Vage  hypochondrische  Sensa- 
tionen gehen  mit.  Die  Stimmung  wird  zunehmend  verdriesslicher.  So 
schreitet  das  Leiden  progressiv  weiter.  Die  Rede  des  Kranken  verliert 
immer  mehr  ihren  bestimmten  Charakter,  sie  wird  zögernd  oder  hastig, 
schnell  abgestossen,  abspringend,  endlich  verwirrt.  Es  treten  fragmen- 
tare  Aeusserungen  von  Beeinträchtigung  auf,  nicht  selten  mit  gereizten 
Beschuldigungen  gegen  die  Umgebung;  oft  kommen  gewaltthätige  Hand- 
langen —  wirkliche  manische  Recidiven  —  mit  lebhaftem  und  zweck- 
widrigem Muskelspiel.  Aufregungen,  ängstliche  Anwandlungen,  gutmü- 
tige freiere  Episoden  wechseln.  In  den  letzteren  ist  der  Kranke  zu 
Allem  zu  bestimmen ;  in  den  ersteren  erhebt  er  gegen  Alles  Widerspruch. 
Im  Verlaufe  (durch  Jahre)  nimmt  die  blödsinnige  Abstumpfung  immer 
mehr  zu.  Dazu  treten  imperative  Hallucinationen,  welche  aber  —  ausser 
den  Momenten  der  Aufregung  —  vom  Kranken  widerspruchslos  assimi- 
lirt  werden.  Durch  Jahre  hindurch  bleibt  sonst  dieser  ein  stiller,  harm- 
loser Gast,  welcher  nie  eine  Klage  laut  werden  lässt,  nie  einen  Wunsch 
oder  Verlangen  äussert,  willig  sich  der  Hausordnung  unterzieht,  und  nach 
gethaner  Arbeit  heiter  —  als  ob  er  in  der  Anstalt  seine  Heimath  de  jure 
besasse  —  mit  den  Andern  sein  Spielchen  macht. 

Die  Genesung  selbst  kann  eine  dauernde  sein,  ist  aber  sehr  oft 
auch  nur  eine  zeitweilige,  worauf  Recidive  erfolgt  mit  progressiv 
erschwertem  Charakter.  Für  die  klinische  Symptomatologie  ist  be- 
merkenswerth ,  dass  sich  diesen  Rückfällen  immer  ausgeprägtere 
Züge  von  Wahnsinn  (Ueberhandnahme  der  Hallucinationen)  oder  von 
geistiger  Schwäche  (triebartiges  motorisches  Gebahren  mit  Zerreissen 
und  Schmieren,  zunehmende  Stupidität)  beimischen.  Dazu  werden 
die  Paroxysmen  mit  jeder  neuen  Wiederkehr  auch  gedehnter,  und 
schwieriger  beilbar. 

b)  Die  schwerere  Form  (der  Furor).  Die  Entwicklung  die- 
ser Zustandsform  erfolgt  entweder  1 .  direct  nach  nur  kurzer  Einleitung 
auf  eine  einschneidende  GemUthserschUtterung  (Zornaflfect),  oder  auch 
(bei  tief  neuropathischer,  speciell  epileptischer  Anlage)  anscheinend 
von  selbst,  acut,  ohne  nachweisbare  Ursache;  oder  2.  im  Verlaufe 
einer  Mania  mitis,  welche  sich  namentlich  oft  in  einem  vorwiegenden 
Drang  zu  kaufen,  zu  trinken  u.  s.  w.  äussert,  und  in  raschem  Anstieg 
in  die  Krankheitshöhe  übergeht. 

Das  klinische  Bild  besteht  im  Wesentlichen  in  einer  Steigerung 
der  beschriebenen  typisch-manischen  Symptome,  speciell  der  moto- 
rischen. Während  diese  auf  der  Acme  der  vorigen  Formen  noch 
als  Einzelacte  psychisch-geformt  sich  zeigten,  treten  sie  hier  in  Form 
mächtiger  Explosionen  oder  eines  blind  triebartigen  —  reflectorischen 


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100 


Specielle  Manie. 


—  Gebahrens  auf,  als  unablässiges  Zerstören,  Zerreissen,  Schlagen, 
Schreien,  Heulen,  theilweise  auch  als  stossweise  automatische  Acte. 
Damit  einher  geht  eine  immer  verworrenere  Vorstellungsflucht  mit 
feindseliger  Verkennung  der  Umgebung,  und  gemüthlich  eine  höchst- 
gradige  Gereiztheit  oder  eine  verhaltene  depressive  Affectspannung, 
welche  sich  in  diesen  krampfhaften  Entladungen  (sehr  häufig  mit 
dem  Ausdruck  heftigen  Zorns)  anfallsweise  entäussert  Das  Delirium 
besteht  aus  Reproductionen,  unklaren  Wahrnehmungen  und  bunt  ge- 
mischten Einfällen,  oft  aus  zusammenhanglosen  Worten;  darunter 
besonders  Serien  von  berühmten  historischen  Namen,  mit  welchen 
der  Kranke  sich  in  Einem  Athem  identificirt.  Hallucinationen  feind- 
seligen oder  kränkenden  Inhalts  sind  häufige  Begleiter.  Damit 
wechseln  Impromptu's  mit  herrisch  gebieterischem  Auftreten  und 
brüskem  Widerstreben,  geschraubtem,  anspruchsvollem  Wesen.  Die 
Kranken  eilen  in  pauseloser  Unruhe  hin  und  her,  sie  schreien,  de- 
clamiren,  reimen  in  sinnlosen  Assonanzen,  beachten  keine  Reinlichkeit. 
Sie  ziehen  sich  aus,  laufen  ohne  jedes  Decenzgeftthl  nackt  unter  die 
Andern,  sie  zerreissen  die  Kleider  bis  in  die  kleinsten  Fetzchen, 
zerstören  Essgeschirre  und  Möbel;  im  Zimmer  wickeln  sie  sich  mit 
Vorliebe  in  den  zerzupften  Matratzeninhalt  ein,  in  welchem  sie  Tag 
und  Nacht  herumwühlen.  Das  dargereichte  Essen  wird  weggepustet. 
Jeder  Zuspruch  ruft  Erbitterung  in  schleunigster  Reaction  hervor. 
Dabei  ist  die  motorische  Erregbarkeit  aufs  Höchste  gesteigert  Zu 
den  excessiven  motorischen  Leistungen  gesellen  sich  noch  eine  Menge 
von  Mitbewegungen.  Die  „Zorn"-Paroxysmen  können  oft  Tage  und 
selbst  Wochen  hindurch  andauern  (häufig  mit  neuralgischen  Beklem- 
mungsgeftlhlen  über  die  Brust),  und  oft  ganz  jähe  mit  Anfallen  von 
heftiger  Angst  ganz  unmotivirt  abwechseln.  Dabei  bleibt  als  Grund- 
zustand eine  maasslos  leidenschaftliche  Aufregung,  welche  bald  als 
Frivolität  und  cynischer  Muthwille,  bald  in  rapidem  Umschlag  als 
zerwühlender  Schmerz,  Heulen  und  stupide  Angst  sich  äussert  Die 
Pupillen  sind  contrahirt,  wenig  beweglich,  der  Puls  beschleunigt, 
die  Haut  trocken.   Oft  starke  Kopfcongestionen. 

In  einer  klinisch  gut  begrenzten  Untergruppe  tritt  an  Stelle  dieses 
wirren  kaleidoskopischen  Spieles  ein  strengerer  innerer  Zusammenhang 
sowohl  in  der  Ideenflucht,  als  namentlich  auch  in  der  Erhaltung  der 
Grundstimmung,  welche  den  auf's  Höchste  gestiegenen  Affect  ver- 
zweifelnden Schmerzes  oder  des  heftigsten  Zornes  darstellt,  und  diesen 
Inhalt  auch  als  Kern  des  jagenden  Vorstellungsablaufs  bewahrt.  Das  sind 
die  eigentlichen  „melancholischen  Tobsuchten",  welche  ausgehen  von 
einer  erschütternden  Emotion,  und  in  Entwicklung  und  Form  den  moto- 
rischen Reactionstypus  des  höchstgradigen  Schmerzaffects  —  man  könnte 


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Furor.  Krankheitsbild.  „Melancholische  Tobsucht" 


101 


sagen,  den  zum  wirklichen  organischen  Hirnreiz  gewordenen  Affectein- 
griff,  welcher  sich  in  stürmischen  Reflexentladungen  auatobt  —  beibehal- 
ten und  im  klinischen  Bilde  darstellen. 

Im  acuten  Anstieg  einer  peinlichen  Unruhe  wird  rasch  das  manische 
Stadium  erreicht.  Der  innerlich  gefolterte  Kranke  wirft  sich  auf  den 
Boden,  er  zerreisst  die  Kleider,  zerrauft  sieb,  nennt  sich  den  Schlech- 
testen der  Schlechten,  schlägt  erbarmungslos  auf  sich  hinein,  schreit  seine 
(erdichteten)  Verbrechen  und  Sünden  in  Verzweiflungstönen  hinaus,  lftsst 
sich  in  seinem  raptusartigen  Vernichtungsdrange  kaum  bändigen,  bleibt 
unzugängig  auf  jede  Ansprache.  Bei  Fortdauer  und  Steigerung  der  Un- 
ruhe wird  jetzt  der  Vorstellungsgang  immer  abrupter;  es  mischen  sich 
Sätze  von  heterogenem  Inhalt,  manchmal  Anklänge  an  Orössenwahn  ein; 
doch  kehrt  der  Ideenfluss  immer  wieder  in  die  Kategorie  der  Selbst- 
anklagen und  SelbstverwUnschungen  zurück.  Manchmal  kommen  auch 
vorübergehende  Ruhepausen,  an  welche  sich  aber  gewöhnlich  um  so  hef- 
tigere motorische  Entladungen  anschliessen.  Unter  Zunahme  der  Puls- 
frequenz, vorübergehend  auch  der  Temperatur,  und  Wallungen  zum  Kopfe 
können  in  schwereren  Fällen  sich  Zeichen  von  noch  intensiverer  Hirn- 
reizung einstellen:  grimassirte  Gesichtszüge,  fest  zugeklemmte  Lider,  auto- 
matische Gesichtsbewegungen,  Schlingkrämpfe,  namentlich  aber  gesteigerte 
Reflexerregbarkeit,  so  dass  die  Zähne  des  Kranken  sofort  Uber  den  ein- 
geführten Löffel  zusammenschlagen.  In  gleichem  Schritte  vollzieht  sich 
ein  Perceptioneabschluss  oder  eine  wahnhafte  Verkennung  der  Umgebung. 
Der  Kranke  tobt  und  rast  einsichtslos  gegen  eigene  und  fremde  Beschä- 
digungen. Das  sind  dann  lebensbedrohende  Phasen,  je  länger  sie  an- 
dauern. Meist  gehen  sie  aber  bald  wieder  vorUber,  resp.  zurück  zu 
uiedrigeren  Reizgraden.  Der  Kranke  wird  ruhiger  und  zugängiger,  gibt 
naheliegende  Antworten.  Immer  wieder  brechen  zeitweise  motorische 
Stürme  mit  furorartigen  Entladungen  hindurch.  Der  Kranke  bewahrt 
auch  jetzt  noch  bei  aller  scheinbaren  Milde  eine  Reizbarkeit,  welche  ihn 
bei  jedem  versagten  Wunsche  „schwere  Rache"  androhen  lässt.  Oft  schie- 
ben sich  Moria- Phasen  dazwischen  mit  Neigung  zu  rohen  Spässen,  und 
einem  theils  stillen,  theils  offenen  Krieg  gegen  die  Hausordnung.  Im 
Ganzen  schreitet  aber  die  Beruhigung  fort,  und  nach  Umfluss  von  kurzer 
Zeit  (einigen  Wochen  —  Monate)  wird  die  Genesung  erreicht,  gewöhn- 
lich durch  ein  Stadium  von  Torpor,  oder  von  weinerlicher  (Schwäche-) 
Depression.  Die  Erinnerung  an  den  Uberstandenen  Paroxysmus  ist  oft 
nur  unklar  und  summarisch. 

Gar  nicht  so  selten  wächst  diese  Form  einer  reactiven  Affecttob- 
sucht  aus  einem  wirkli  chen  Schuldbewusstsein  aus  dem  Vorleben 
des  Kranken  heraus,  welches,  lange  im  Innern  verschwiegen  und  beschwich- 
tigt, plötzlich  durch  einen  neuen  mahnenden  Gemüthseindruck  die  sensi- 
beln  und  vasomotorischen  Affectbahnen  Ubermächtig  innervirt  und  hier 
eine  Spannung  setzt,  die,  zum  Unerträglichen  gesteigert,  im  Furor  sich 
entlädt.  Eine  ReservatlUge,  ein  falscher  Schwur  kann  so,  wenn  die  Re- 
miniscenzen  wieder  auftauchen,  oder  z.  B.  die  kirchlichen  Zeiten  der  Ge- 
wissenserforschung  herannahen,  einen  solchen  melancholisch -manischen 
Paroxysmus  periodisch  hervorrufen. 


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102 


Specielle  Manie. 


Die  Zorn-Manieen  der  Anämischen  und  Neuropathiker  (na- 
mentlich weiblichen  Geschlechts)  erhalten  häufig  einen  deliranten 
dämonomanischen  Charakter.  Die  innerlich  gefühlte  Aflfectspannung 
(im  Anscbluss  an  ein  tief  emotives  Lebensereigniss)  allegorisirt  sich 
in  feindliche  Wahngebilde,  welche  eine  illusorische  Verkennung  der 
Umgebung  und  gleichgestimmte  Hallucinationen  hervorrufen,  mit 
reactiven  WuthausbrUchen,  oder  auch  anhaltender,  triebartiger  mo- 
torischer Entfesselung.  Die  Stimmung  des  Entwicklungs-  und  Höhe- 
stadiums ist  fast  anhaltend  eine  gereizte,  zornmüthige;  erst  im  Ver- 
laufe und  in  der  Krankheitsabnahme  spielt  sie  in  den  wechselvollen 
Registern  der  ausgebildeten  Manie. 

Das  Bewusstsein  macht  alle  Phasen  der  Helligkeit  durch,  und 
sinkt  nicht  selten  anhaltend  oder  vorübergehend  auf  die  Traumstufe 
herab;  mit  der  Verdunkelung  und  dem  Abschluss  nach  aussen  er- 
höht sich  die  Stärke  des  hallucinatorischen  Innenlebens.  Eine  Menge 
körperlicher  Gefühle  (Mattigkeit  und  Reissen  in  den  Beinen  „als  ob 
sich  das  Fleisch  von  den  Knochen  löste",  Würgen  im  Halse,  Ste- 
chen auf  der  Brust,  Abnahme  des  Gehirns)  bestürmen  den  Kranken 
erst  mit  nervösen  Peinigungen.  Bald  wandeln  sie  sich  allegorisirt 
in  „Geistermächte"  um,  zerren  als  Dämonen  am  Leibe,  zupfen  an 
dessen  Genitalien,  „verkrachen"  in  seinem  Bauche,  fahren  als  Ge- 
rüche (manchmal  als  „farbige"!)  zu  seinem  Munde  heraus.  Die 
ganze  Umgebung  verwandelt  sich.  Jetzt  treten  neben  den  feind- 
lichen Geistern,  welche  nicht  selten  in  ihren  allegorischen  Trans- 
formationen wechseln,  auch  gut  gestimmte,  freundliche  auf;  lascive 
Delirien  mischen  sich  mit  erotischen,  religiös  gehobene  Stimmungen 
mit  erregt  melancholischen  (dämonomanischen),  und  diese  wiederum 
mit  finstern  gereizten.  Die  abgerissenen  Aeusserungen  des  Deliriums 
bewegen  sich  auf  der  Acme  der  Krankheit  nur  in  solchen  Darstel- 
lungen des  Kampfes  des  ethischen  Strebens  mit  dem  aufgezwunge- 
nen Bösen.  Die  gemüthlichen  Spannungen,  namentlich  aber  die  auf- 
tauchenden Reproductionen  des  peinlichen  Erlebnisses,  welches  die 
Krankheit  veranlasst  hatte  und  jenen  spannenden  Gemüthsdruck  fort- 
dauernd innervirt,  entladen  sich  in  zeitweisen  oder  selbst  anhalten- 
den Zorn-Explosionen,  den  eigentlichen  Furor-Anfällen,  in  welchen 
der  Kranke  sinnlos  tobt  und  schreit,  plan-  und  ziellos  zerstört,  ent- 
weder gar  nicht  oder  nur  in  der  einen  widrigen  Stimmung  percipirt, 
und  erst  zur  Ruhe  kommt,  wenn  die  cerebro-spinale  Reflex-Convul- 
sion  sich  durch  temporäre  Erschöpfung  abgeglichen  bat.  Sehr  oft 
genügt  der  leiseste  Anlass  zur  Wiederholung  eines  neuen,  oft  meh- 
rere Tage  und  Nächte  fortdauernden  Anfalls.   In  ruhigem  Stunden 


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Furor.  „Zorn^-Manieen.  „Sexual"-Manieen. 


103 


sind  die  Kranken  düster,  einsilbig,  gereizt,  verschlossen,  fuhren 
Selbstgespräche  oder  machen  abwehrende  oder  spottende  Pantomimen, 
verbeugen  und  bekreuzen  sich,  nehmen  sonderbare  Stellungen  ein, 
breiten  die  Arme  zum  Segnen  aus,  küssen  den  Boden,  oder  sie  sammeln 
in  zweckloser  Beschäftigung  ohne  Auswahl,  schmieren,  besudeln  die 
Wände,  bis  sie  plötzlich  wieder  rücksichtslos  auf  die  Andern  los- 
gehen, die  Thüren  zuschmettern,  schamlos  sich  entblössen,  in  blindem 
Drange  umhereilen,  Alles  an  sich  reissen,  und  in  zornigen  Schimpf- 
lauten und  verwirrten  Monologen  (aus  welchen  sehr  oft  der  von 
früher  her  innervirende  Affectkern  herausklingt)  sich  expectoriren. 
—  Andere  dagegen,  namentlich  weibliche  Kranke,  führen  in  pause- 
loser Geschwätzigkeit  ein  Gemisch  von  richtigen  und  falschen  Wahr- 
nehmungen und  namentlich  phantastischen  Minuten-Conceptionen  vor, 
mit  oft  rasch  ersonnenen  erotischen  Aufschneidereien  uud  übertrie- 
benen Entstellungen,  welche  die  Kranken,  wenn  ernst  ermahnt,  sehr 
oft  selbst  sofort  wieder  preisgeben. 

Das  ist  namentlich  das  Krankheitsbild  vieler  Sexual manie en  mit 
zu  Grunde  liegenden  Uterinaffectionen,  Menstrualstöruugcn,  früheren  ero- 
tisch-geschlechtlichen Erlebnissen,  Liebesverhältnissen.  Oft  gehen  speci- 
fische  Empfindungen  vom  Unterleib  und  den  Genitalien,  Ovarialschmerz, 
diesen  Furoranfällen  voraus.  Eine  äussere  Eigentümlichkeit  dieser  Se- 
xualgruppen ist  der  Drang  sich  zu  entblössen,  cynische  Geberden  zu 
machen,  die  Haare  zu  nesteln,  Alles  zu  bespucken,  und  ganz  besonders 
die  Sucht  sich  zu  beschmutzen,  und  mit  Speisen  oder  Urin  und  Koth 
einzureiben.  Die  Ideenflucht  ist  in  der  Regel  eine  sehr  grosse:  Erinne- 
rungen und  Erlebnisse  gehen  mit  richtigen  Wahrnehmungen  bunt  durch- 
einander, und  machen  oft  den  Eindruck  einer  vollständigen  Verworrenheit. 
Die  Associationen  sind  in  der  Regel  höchst  banal  und  drehen  sich  mit 
Vorliebe  um  fixe,  sich  ständig  wiederholende  Gegensätze  („schwarz  und 
weiss",  „hässlich  und  schön"),  welche  aber,  genauer  betrachtet,  nur  die 
Kategoriecn  für  den  innerlichen  percipirten  Kampf  darstellen  zwischen 
„beseligender  göttlicher  Liebe"  und  dem  „teuflischen  Widersacher".  Die 
Kranken  identificiren  sich  mit  Christus,  mit  der  Himmelsmutter;  ihnen 
entgegen  steht  eine  höllische  Umgebung;  die  Speisen  sind  Teufelsessen, 
die  Kleider  teuflisch  u.  s.  w.  Dabei  wildes  Toben  und  Zerstören,  wenn 
auch  nicht  ohne  lucide  Momente.  Die  Furorparoxysmcn  schliessen  sich 
oft  an  die  Menstruationstermine  an. 

Klinisch  symptomatologisch  betrachtet  sind  diese  soeben  geschilder- 
ten Formen  keine  reinen  Manieen,  sondern  —  je  nach  der  Entstehung  — 
Manieen  mit  Wahnsinnselementen  untermischt,  oder  aber  direct  manische 
Wahnsinnszustände.  Es  existiren  hier  keinerlei  feste  Grenzen,  sondern 
die  fliegendsten  Uebergänge.  Im  Speciellen  mischen  sich  auch  die  ge- 
nannten Zustände  so  vielfach,  dass  in  demselben  Krankheitsverlaufe  rein- 
manische  und  wahnsinnig-manische  Formen  miteinander  abwechseln  kön- 
nen. Es  ist  hier  ein  ganz  ähnliches  Verhältniss  wie  bei  gewissen  Varie- 
täten der  Melancholie  auf  invalider  Grundlage  (s.  d.):  hier  wie  dort  stehen 


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104 


Specielle  Manie. 


die  bezüglichen  klinischen  Symptomenbilder  in  der  Mitte  zwischen  Me- 
lancholie (Manie)  und  hallucinatorischem  Wahnsinn,  beiden  zugehörig,  aus 
beiden  ihre  Elemente  entnehmend.  Eine  tiefere  nosologische  Betrachtang 
erkennt  in  diesem  Vorkommen  die  allgemeine  Neigung  des  invaliden  Ge- 
hirns „in  den  Wahnsinn  zu  schillern".  Die  Besprechung  speciell  dieser 
Form  des  Furor,  als  einer  manischen  Abart,  geschieht  auch  nur  in  Rück- 
sicht auf  die  klinischen  Fälle,  bei  welchen  die  manische  Betonung 
des  Symptomenbildes  vorwiegt,  also  a  potiori  (relative  Selbständigkeit 
der  entfesselten  psychomotorischen  Acte,  Vorherrschen  der  zornmlithigen 
Stimmung  —  gegenüber  der  in  Folge  der  leitenden  Hallucinationen  ka- 
leidoskopisch wechselnden,  im  Uebrigen  farblosen,  des  acuten  manischen 
Wahnsinns).  Zur  Vervollständigung  ist  übrigens  dieser  und  namentlich 
auch  der  primäre  Verfolgungs-  und  Grössenwahn  beizuziehen,  welch1  letz- 
terer in  seiner  manischen  Form  das  Pendant  des  obigen  Bildes,  nur  mit 
überwiegendem  Wahnsinnscharakter,  darstellt. 

Der  Verlauf  dieser  Formen  ist  gewöhnlich  ein  schwieriger.  Die 
manische  Aufregung  hat  zwar  ihre  Schwankungen  und  Remissionen, 
aber  meist  nur  in  kleinen  Breiten.  Für  directe  Vorstellungen  und 
Belehrungen  (bei  der  einfachen  Manie  so  eindrucksvoll  und  wirksam 
selbst  auf  der  Krankheitshöhe!)  bleibt  der  hier  ungleich  tiefer  ge- 
störte Kranke  unzugänglich;  auch  gemüthliche  Einwirkungen  prallen 
machtlos  ab.  Die  Stimmung  ist  bald  heiter  exaltirt,  bald  düster, 
einmal  jubelnd  ausgelassen  und  muthwillig,  dann  wieder  indifferent 
und  staunend,  bald  bittend  und  resignirt,  bald  ängstlich  befangen; 
vorzugsweise  aber  bleibt  der  Grundton  vorwurfsvoll  und  heraus- 
fordernd —  mit  scheinbar  unmotivirt  sich  vollziehenden  Uebergängen. 
In  der  Folge  brechen  aus  dem  umdüsterten  Bewusstsein  erst  einige 
Schlaglichter  auf  (der  Kranke  klagt  über  seine  Kopfkrankheit,  über 
Angst,  über  den  bösen  Feind,  der  ihn  wttthend  mache);  aber  in  der 
Regel  tauchen  sie  noch  in  der  allgemeinen  Verwirrung  wieder  unter. 
Häufig  werden  neuralgische  Symptome  geklagt.  Im  Verlauf  von 
Monaten  erst  stellt  sich  grössere  Ruhe  ein;  das  triebartige  motorische 
Gebahren  lässt  nach.  Manchmal  tritt  aber  jetzt  die  verwirrte  Ideen- 
flucht erst  recht  hervor.  Auch  das  Benehmen  des  Kranken  ist  lange 
noch  verkehrt  (Herumlungern,  In-die-Sonne-schauen,  Anstarren  von 
Wänden,  Theilnahmlosigkeit).  Die  Stimmung  ist  dazwischen  un- 
natürlich heiter,  muthwillig.  Allmählich  macht  sich  aber  doch  mehr 
sittlicher  Ernst  geltend.  Der  Sinn  für  natürliche  Interessen,  für 
Familie  und  Heimath  erwacht  wieder.  Der  Kranke  wird  empfäng- 
licher für  edlere  Genüsse;  auch  die  Rede  wird  klarer,  jedoch  erst  nur 
oberflächlich;  sowie  man  tiefer  geht,  wirbelt  noch  der  verwirrteste 
Grund  auf,  und  damit  auch  die  frühere  Reizbarkeit,  welche  immer 
noch  periodische  Explosionen  setzt  (versagter  Entlassungswunsch!). 


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Furor.  Verlauf.  Ausgange.  —  Moria. 


105 


In  ruhigen  Zeiten  erzählen  jetzt  die  Kranken  von  ihrem  reichen 
hallucinatorischen  Innenleben  während  der  Krankheitszeit;  nicht  selten 
aber  decken  sie  anch  den  veranlassenden  depressiven  Affect  auf,  welcher 
sieb  wie  ein  rotlier  Faden  durch  die  Krankheit  hindurchgezogen,  die  ge- 
reizte Stimmung  unterhalten  und  die  krampfhaften  Wuthparoxysmen  ver- 
anlasst hatte. 

Die  Keconvalescenz  muss  schrittweise  erkämpft  werden  und 
zieht  sich  oft  lange  hinaus.  Die  Erinnerung  ist  entsprechend  dem 
Grad  der  Bewusstseinsstörung  oft  nur  eine  summarische ;  viele  Kranke 
wissen  nur  noch  von  einer  „Unruhe  im  ganzen  Körper"  zu  erzählen, 
worüber  sie  in  einen  solchen  Zorn  geratben  seien,  dass  sie  sich  nur 
durch  Toben  zu  helfen  gewusst  hätten.  Hebung  des  Körpergewichts 
und  der  Ernährung  begleiten  dieselbe  in  gleichem  Schritte.  Manch- 
mal setzt  sich  auch  ein  Paroxysmus  aus  mehreren  periodischen  An- 
fällen, mit  stupidem  Intervall  (stilles,  wortkarges,  kleinlautes  Wesen), 
zusammen.  —  Tritt  keine  Genesung  ein,  so  geht  der  Zustand  ent- 
weder in  1.  zunehmende  psychische  Schwäche  mit  zeitweiligen  Furor- 
paroxysnien,  sehr  oft  mit  Degenerescenzsymptomen  (degenerative 
Manie);  oder  2.  in  chronische  Manie;  oder  3.  in  periodische  Manie 
(s.  d.)  über,  mit  anfänglichen  Intermissionen,  welche  aber  immer  mehr 
zu  Remissionen  werden,  mit  dem  Charakter  geistiger  Schwäche  und 
krankhafter  Reizbarkeit  oder  beigemischten  Elementen  von  Verfol- 
gungswahn. — 

Die  Manie  auf  der  Grundlage  psychischen  Schwach- 
sinns —  die  Moria  der  älteren  Autoren  —  zeigt  sich  bei  einer 
1.  Gruppe  von  Fällen  als  das  Gemisch  von  einer  modificirten  Mania 
mitis  und  von  Furor.  In  den  psychischen  Grundzügen  derselben 
begegnen  sich  die  psychische  und  motorische  Aufregung,  der  anormale 
Thätigkeitsdrang  und  die  heitere  Verstimmung  der  erstgenannten 
Form  mit  der  krankhaften  Affectbereitschaft  der  zweiten:  die  Indo- 
lenz des  Blödsinns  mit  der  Gemüthsreizbarkeit  der  Manie.  Tolles 
Gebahren,  einfältige  aufdringliche  Geschwätzigkeit,  nicht  selten  mit 
der  charakteristischen  raisonnirenden  Disputirsucht ;  eine  unbesorgte 
nur  in  der  Minute  lebende  Nonchalance  der  Stimmung  mit  plumpen 
Spässen  und  unfläthigen  Anspielungen;  ein  freches,  muthwilliges 
Gebahren  mit  sinnlosem,  schallendem  Gelächter  oder  grinsendem 
Fratzenschneiden;  ein  Faseln  in  platten  Redensarten  oder  in  im- 
provisirten  dummen  Fragen,  welche  zugleich  als  Antwort  auf  ernste 
ärztliche  Zurechtweisung  dienen;  dabei  keine  eigentlich  gröberen 
Ausschreitungen,  sogar  ein  lenksames  Wesen,  so  lange  die  Wünsche 
des  Kranken  erfüllt  werden ;  auch  keine  Hallucinationen  und  Wahn- 
ideen; dagegen  zeitweise  vage  hypochondrische  Klagen  mit  alberner 


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106  Specielle  Manie. 

Motivirung  —  Das  sind  die  Hauptzüge  dieses  manischen  Blödsinns- 
zustandes. Die  Moria  kommt  in  dieser  Form  bei  imbecillen  Indi- 
viduen als  selbstständige  Erkrankungsform  vor;  bei  invaliden  Ge- 
hirnen aber  erscheint  sie  als  Uebergangsstadium  aus  der  typischen 
Manie  in  die  Genesung,  oder  auch  als  definitiver  Endzustand  eines 
durch  wiederholte  manische  Eingriffe  bankerott  gewordenen  Gehirn- 
lebens. Die  relative,  oft  sogar  beträchtliche  Verstandesschonung, 
namentlich  im  Beginn,  bringt  die  Kranken  nicht  selten  in  Conflicte 
mit  dem  Strafgesetz.  Der  Verlauf  kann  ein  recht  langwieriger  sein, 
insofern  die  ausserordentlich  erregbaren  und  geistig  schwachen  Pa- 
tienten überall  mit  der  Wirklichkeit  in  Collision  kommen,  welche 
sie  jeweils  durch  manische  Rückfälle  büssen. 

In  einer  anderen  2.  Gruppe  von  Fällen  erhält  das  klinische  Bild 
der  Moria  eine  Beimischung  von  expansivem  (fixem)  Wahn  —  nament- 
lich Christuswahn  —  und  ebenso  auch  von  zahlreichen  Illusionen  und 
Hallucinationen,  besonders  des  Gehörs  und  Gesichts.  Die  Krankheit  be- 
ginnt in  der  Regel  brÜ9k,  ohne  auffällige  Vorläufer,  als  eine  allgemeine 
psychische  Aufregung  mit  perversen  oder  frivolen  Streichen  (unbefugtes 
Zusammenläuteu  von  Kirchenglocken,  Störung  des  Gottesdienstes  oder 
der  öffentlichen  Ordnung  durch  phantastische  Kleidung  und  faschings- 
gemässes  tolles  Gebahren),  wobei  ein  leidlicher  Grad  von  Besonnenheit 
noch  vorhanden,  oder  durch  die  Force  majeure  (Einschreiten  gegen  den 
Kranken)  aufgerufen  werden  kann.  Die  Stimmung  vergleicht  sich  am 
nächsten  einer  montirten  Weinlaune,  das  Bewusstsein  dem  Niveau  eines 
Halbbetrunkenen.  In  der  Folge  wächst  die  Verwirrung  und  die  bis  zur 
Uebermacht  andringende  Fülle  und  Macht  der  Sinnestäuschungen,  während 
das  Bewusstsein  sich  traumartig  verdunkelt  und  das  Handeln  des  Krau- 
ken in  ein  entfesseltes  Spiel  reflectorischer  Acte  bis  zum  Zerstören,  Zer- 
reissen und  ziellos  gewaltthätigem  Gebahren  —  theils  spontan,  theils  durch 
Hallucinationen  und  illusorische  Verkennungen  geleitet  —  sich  auflöst. 
Stellt  die  vorige  Form  der  Moria  im  Bild  und  im  Verlauf  ein  Mixtum 
von  Mania  mitis  (auf  schwachsinniger  Grundlage)  mit  dem  Furor  dar,  so 
diese  ein  Gemisch  von  Mania  mitis  (resp.  Moria)  mit  Mania  gravis.  In 
der  That  wechselt  der  weitere  Decursus  episodisch  zwischen  den  beiden 
genannten  Zustandsformen,  und  richtet  sich  namentlich  im  Endschicksal 
nach  dem  Grad  der  intercurrenten  Mania  gravis- Anfälle.  Ausnahmslos 
ist  der  Verlauf  ein  länger  dauernder,  nie  unter  mehreren  Monaten.  In 
günstigen  Fällen  tritt  der  Kranke  „genesen",  ja  manchmal  viel  cultivirter 
aus  seinem  Anfall  —  freilich  in  der  Regel  auch  mit  dem  aufgefrischten 
Patent  auf  Recidive.  Aus  den  höheren  und  längeren  Aufregungszustän- 
den  wird  stets  eine  wesentliche  Zunahme  der  Imbecillität  in  die  „Gene- 
sung" mit  hinübergenommen. 

Die  Mania  gravis. 

Die  unter  der  Eingangsdefinition  hier  untergebrachten  Krank- 
heitsbilder entsprechen  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  zweifellos  auch  der 


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Moria.  —  Mania  gravis. 


107 


verschiedensten  pathologisch -anatomischen  Grundlage.  Ein  Theil 
a)  derselben  ist  wohl  noch  „functioneller  Natur",  wenn  auch  auf 
Grundlage  einer  tiefen  Ernährungsstörung  des  Gehirns  mit  Ausgang 
in  dauernde  Functionsschwäche  (Blödsinn) ;  die  andere  b)  dürfte  da- 
gegen sicher  auf  organischen  Hirnreizzuständen  beruhen,  welche  als 
Uebergänge  zu  den  palpabeln,  subacuten  und  chronischen  Meningeal- 
nnd  Cerebralaffectionen  aufzufassen  sind.  Die  Krankheitsgruppe  der 
Mania  gravis  bezeichnet  somit  auf  unserem  heutigen  Standpunkte 
noch  einen  weiten  klinischen  Sammelnamen. 

Typus  a.  Die  Prodromi  dieser  Gruppe  bestehen  in  einem 
gemischten  Zustande  von  vager  Depression  und  Verwirrtheit,  unruhig 
aufgeregtem  Wesen  mit  planlosem  Thätigkeitsdrang,  abwechselnd  mit 
hypochondrischen  oder  melancholischen  Anwandlungen  auf  Grundlage 
einer  primären  tiefen  Bewusstseinsstörung.  Der  Ausbruch  der  eigent- 
lichen Krankheit  erfolgt  in  raschem  Anstieg  durch  Steigerung  der 
motorischen  Unruhe,  manchmal  in  Form  eines  brutalen  Gewaltactes 
gegen  die  Umgebung.  Jetzt  bleibt  ein  wildes  Toben  mit  blindem, 
sinnlosem  Zerstörungsdrang  neben  anhaltender  Betäubtheit.  Der 
Kranke  beginnt  zu  faseln  oder  geht  auf  in  triebartig  motorischem 
Gebahren,  worin  er  unwählerisch  im  Schmutze  wühlt,  die  Wände 
abreibt,  sich  besudelt  etc. 

Von  der  Umgebung  wird  entweder  Nichts  wahrgenommen,  keine 
Frage  beantwortet,  oder  aber  Alles  verkehrt,  in  beständig  wechseln- 
den Illusionen ;  der  Kranke  lebt  nur  in  der  Minute ;  er  zerstört,  zer- 
reisst,  zerzupft,  verspielt  sich  mit  den  Fetzchen  unter  blödem  Lachen, 
oder  mit  der  affectlosen  Erwiderung:  es  seien  Gold  und  Kostbar- 
keiten. Er  lebt  ausser  Raum  und  Zeit;  er  ist  1000  Jahre  alt,  und 
doch  in  der  nächsten  Minute  wieder  er  selbst;  jetzt  König,  gleich 
darauf  wieder  Bauer,  —  er  fühlt  weder  den  Sinn  der  einen  noch 
der  andern  Aussage,  er  redet,  wie  man  ihn  stimmt.  Mit  der  gemüth- 
lichen  Indolenz  wechselt  eine  zeitweilige  höchstgradige  Reizbarkeit 
ab,  so  zwar,  dass  der  Kranke  wegen  einer  Lappalie,  wegen  eines 
Angriffs  auf  seine  Lumpen  und  Läppchen,  auf  die  Steine,  womit 
er  seine  Taschen  vollpfropft  u.  8.  w.,  in  brutalste  Gewaltthätigkeit 
Ubergehen  kann,  um  gleich  nachher  wieder  in  die  alte  Gleichgültig- 
keit zurückzufallen.  Jede  neu  begegnende  Person  ist  verwandt  mit 
ihm;  junge  Leute  begrüsst  er  als  Vater  und  Grossvater;  jeder  Aus- 
spruch ist  Augenblicksconception  auf  der  Grundlage  unbesinniicher 
Schwäche.  In  seinen  faselnden  Monologen  schwatzt  der  Kranke  von 
„eingehauchter  Gotteskraft",  von  fabelhaftem  Reichthum  (drei  Tril- 
lionen); dazwischen  auch  wieder  von  den  Hexen  und  Teufeln,  die 


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108 


Specielle  Manie. 


ihn  plagen,  die  er  sammt  den  „Räubern  und  Mördern"  erlösen  muss. 
Die  Sprache  wird  nicht  selten  unbeholfen  und  mühsam,  jedoch  ohne 
eigentlich  paralytischen  Charakter.  Die  schon  von  Anfang  an  ge- 
sunkene Ernährung  leidet  immer  mehr  Noth  theils  durch  das  un- 
genügende Essen,  theils  durch  das  heisshungerige  Verschlingen  unter 
eigener  Zuthat  von  allerlei  schmutzigen  und  unverdaulichen  Ingre- 
dienzen. Die  Körpertemperatur  sinkt  auf  subnormale  Nummern 
(8.  Allg.).  So  dämmert  der  Kranke  durch  Monate  dahin,  ganz  nur 
in  seinen  Faseleien,  einem  wirren,  durch  melancholische  und  Grössen- 
wahnsfragmente  vermischten  Vorstellungsleben  befangen,  welchem 
jedoch  auch  lucidere  Momente  nicht  fehlen.  —  Andere  Kranke  wieder 
sprechen  Monate  lang  gar  nicht,  äussern  nur  spontan  ein  unarticu- 
lirtes  Lachen  oder  stupides  Heulen  und  arbeiten  Tag  und  Nacht 
ruhelos  in  ihrem  sinnlosen  Bewegungs-  resp.  Zerstörungstrieb  weiter. 
Sie  genUgen  sich ,  wenn  sie  nur  immer  für  ihre  Geschäftigkeit  ein 
geeignetes  Object  finden.  —  Wieder  Andere  dagegen  gerathen  in 
ein  ganz  verkehrtes  Gebahren:  sie  machen  mitten  aus  ihrer  Lethargie 
heraus  sonderbare  Sprünge,  nehmen  eigentümliche  Stellungen  ein, 
sehen  in  die  offene  Sonne,  kleiden  sich  ganz  barock  etc.  In  der 
Stimmung  verbleibt  gewöhnlich  als  Grundzug  die  heitere  Indolenz 
mit  Interesselosigkeit  für  alle  frühem  Beziehungen,  welche  nicht 
mehr  für  den  Kranken  existiren.  Zeitweise  kann  die  Stimmung  auch 
von  stupider  ausgelassener  Heiterkeit  bis  zum  dumpfen  Trotze  wechseln. 
Nicht  selten  laufen  Anfälle  von  blinder  Gewaltthätigkeit  unter,  oder 
auch  Phasen  von  Singen  oder  lautem  Peroriren  durch  Tage  und 
Nächte  hindurch. 

Der  gewöhnliche  Verlauf  (acuter,  letaler  Verlauf  8.  u.)  ist  ein  sub- 
acuter oder  chronischer:  1.  in  Heilung  mit  Defect  (mehr  minder  ausge- 
sprochener Schwachsinn  mit  Reizbarkeit);  2.  in  apathischen  Blödsinn. 
In  beiden  Fällen  hebt  sich  die  Körperernährung;  bei  ungünstigem  Aus- 
gang manchmal  unter  überstürzt  rapider  Fettbildung  (in  4  Monaten 
46  Pfd.  bei  einem  Falle  meiner  Beobachtung).  Aber  auch  vollständige 
Genesung  ist  nicht  selten.  Ich  sah  sie  a)  nach  einem  sehr  ausgedehnten 
Schwächenachstadium  mit  depressiver  gereizter  Verstimmung,  Verkennen 
der  Personen,  Illusionen  des  Geschmackssinnes,  Angstanfällen,  andauern- 
dem heftigem  Kopfweh  mit  zeitweiliger  Stupidität  —  nach  Monatsfrist 
erfolgen.  Andremale  /*)  ist  das  Uebergangsstadium  zur  Genesung  durch 
einen  einfachen  hochgradigen  Blödsinn  gekennzeichnet,  mit  Interesselosig- 
keit gegen  Alles,  ausser  der  krankhaft  gesteigerten  Bssgier:  die  Kranken 
lungern  Tage  lang  auf  den  Bänken  herum,  lachen  höchstens  in  alberner 
Weise  vor  sich  hin,  oder  vociferiren  Unsinniges;  doch  taucht  darunter 
bald  auch  manches  beachtenswerthe  Fragment  aus  der  ursächlichen  Krank- 
heitsanamnese auf.  Ein  dritter  y)  Verlaufsmodus  geht  durch  das  Zwi- 
schenstadium von  Moria  in  die  Reconvaleacenz  über.    Hier  bleibt  nach 


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Mania  gravis.  Krankheitsbild.  Verlauf. 


109 


Abklingen  der  Manie  —  unter  zunehmender  Lucidität  —  noch  wochen- 
lang ein  manischer  Uebermuth  mit  der  charakteristischen  grossen  Reiz- 
barkeit, Ignoriren  des  Decorum  und  sehr  oft  einem  kindisch  sich  ver- 
spielenden Sammeltrieb. 

Interessant  ist  speciell  bei  diesen  manischen  Unterarten  die  vorüber- 
gehende Coupirung  des  sinnlosen  motorischen  Gebahrens  durch  Hyoscyamin 
und  die  manchmal  etappenweise  (mit  jeder  neuen  Gabe)  sichtbare  Be- 
schleunigung der  Reconvalescenz. 

Typus  b.  Die  Einleitung  zu  dieser  Gruppe  (der  wirklichen 
Hirnreizzustände)  besteht  in  einem  zerstreuten  Wesen  mit  zunehmen- 
der Vergesslichkeit  und  Ungeschicklichkeit  in  den  geläufigsten  Tages- 
geschäften, und  einer  zwischen  Heiterkeit,  Gedrücktheit,  Indolenz 
motivlos  abwechselnden  Stimmung.  Manchmal,  besonders  anf  alko- 
bolistischer  Grundlage,  können  diese  Prodromi  auch  fehlen  und  die 
Manie  fast  plötzlich  mit  voller  Stärke  ausbrechen.  Die  manische  Er- 
regung selbst  kann  1 .  vornehmlich  das  Vorstellungsorgan  betreffen  und 
mit  einem  Uberhitzteu  verworrenen  Gefasel  von  allerlei  Grössenwahn- 
tragmenten  („Millionen  und  Milliarden",  „Himmelskönigin",  Überall 
„Gold  und  Götter"  u.  s.  w.)  einsetzen,  welche  in  jagendem  Tempo, 
dabei  in  tausendfacher  Combination  und  mit  einer  duseligen  Glück- 
seligkeit recitirt  werden.  Mit  den  abrupten  Grössenwabn  -  Delirien 
wechseln  in  jähem  Uebergang  solche  der  Kleinheit,  wobei  die  Kran- 
ken schmerzerregt  weinen  und  heulen,  manchmal  in  kindischem 
Jargon  vociferiren.  Gewöhnlich  wechseln  megalomane  und  mikro- 
mane  Stunden  und  Tage  unregelmässig  ab.  Dabei  besteht  eine  Ver- 
worrenheit grössten  Styls.  Keine  Spur  irgend  eines  durchziehenden 
Vorstellungskerns;  dagegen  jagen  Einfälle  aller  Art,  oberflächliche 
Assonanzen,  oft  in  abgehetzten  Reimen,  Illusionen,  wirkliche  und 
erdichtete  Worte,  daneben  aber  auch  richtige  Perceptionen ,  bunt 
durcheinander.  Begleitend  gebt  mit  eine  ebenso  fragmentare,  in  allen 
Registern  spielende  Stimmung,  und  ein  sinn-  und  planloser  Tätig- 
keitsdrang, oft  mit  Raptus  von  Gewaltthätigkeit.  Der  Puls  ist  zeit- 
weise sehr  frequent,  die  Temperatur  sehr  häufig  bis  39",  selbst 
darüber,  erhöht.  Die  Ernährung  sinkt.  Motorische  Störungen  fehlen 
oft  dauernd;  keine  Ataxie,  keine  Sprachstörung,  nur  hin  und  wieder 
Myosis.  Im  Verlauf  von  Monaten  und  unter  Remissionen  bildet  sich 
eine  immer  ruhigere  psychische  Schwäche  aus,  mit  Erhaltung  von 
gewissen  automatischen  Bewegungen  (Sammeln,  Reiben,  Zerzupfen). 
Psychisch  hat  diese  Störungsform  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  den 
luitialzuständen  der  Paralyse,  von  welcher  sie  sich  nur  durch  den 
Mangel  der  charakteristischen  Motilitätsstörungen  unterscheidet  (manch- 
mal können  übrigens  die  letzteren  auch  noch  nachrücken!).  —  Eine 


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110 


Spccielle  Manie. 


andere  klinische  Gruppe  2.  ist  charakterisirt  durch  ihren  vorwiegend 
deliranten  Charakter  mit  massenhaften  Hallucinationen  aller  Sinne. 
Diese  beginnt  in  der  Regel  acut  (nach  kurzen  Vorläufern  von  Zer- 
streutheit, morosem  Wesen  und  Schlaflosigkeit)  mit  hallucinatorischer 
Verwirrung  und  heftiger  Aufregung  und  wiederum  zeitweiligen  Re- 
missionen. Das  Anfangsbild  kann  dadurch  einen  ausgesprochen  re- 
mittirenden  Charakter,  selbst  mit  tauschend  luciden  Intervallen,  an- 
nehmen. Die  Aufregung  selbst  schwankt  zwischen  depressiv  ängst- 
lichen und  exaltirten  Phasen,  der  delirante  Inhalt  zwischen  Vorstellungen 
der  Grösse,  Verfolgung  (Giftwahn)  und  Selbstbeschuldigung;  nicht 
selten  auch  der  körperlichen  Metamorphose  (die  Kranken  haben  einen 
andern  Kopf,  vertauschte  Körper,  haben  sogar  mehrere  Körper  in 
sich  u.  s.  w.).  Die  Krankheit  nimmt  nun  symptomatologisch  einen 
wechselvollen  Verlauf,  dessen  gesetzlos  sich  combinirende  psychische 
Zustandsformen  vornehmlich  durch  diese  Regellosigkeit  der  Aufein- 
anderfolge auf  einen  palpabeln  organischen  Hirnprocess  hinweisen 
(s.  Cerebropathieen).  Manische  Exaltationen  unter  dem  Bilde  des 
Furors  (mit  convulsiver  Reizbarkeit,  schreckhaften  dämonomanischen 
oder  Verfolgungs  -  Hallucinationen)  wechseln  mit  leichtern  Formen 
psychomotorischer  Aufregung,  oder  andererseits  mit  zeitweiligen  Stei- 
gerungen bis  in  die  perniciösen  Reizzustände  des  Delirium  acutum. 
Das  motorische  System  betheiligt  sich  bald  durch  fluchtige,  grob 
motorische  Störungen  (grimassirende  Mimik,  fibrilläre  Zuckungen, 
unharmonische,  durch  verstärkte  Action  der  Antagonisten  oder  ein- 
zelner Synergisten  gestörte  Bewegungen,  Verdrehen  und  Aufwärts- 
rollen der  Augen  u.  s.  w.).  Dabei  vollständige  Incohärenz  der  Vor- 
stellungen, welche  oft  nur  noch  in  hervorgestossenen  vereinzelten 
Worten  oder  Wortfragmenten  sich  kund  geben. 

So  tritt  nicht  selten  schon  nach  kurzem  Verlauf  der  Exitus  letalis 
ein  unter  Starrwerden  der  Züge,  rapidem  Zerfall  des  Gesichtsausdrucks 
(Leichenphysiognomie),  kleinem  und  sehr  frequentem  Pulse,  Parese  der 
Schlingmusculatur,  muldenförmigem  Einsinken  des  Unterleibs,  versatiler 
Unruhe,  unartikulirtem  Schreien  mit  Gaumenton,  Erweiterung  der  Pu- 
pillen, zeitweiligem  Trismus,  abwechselnd  mit  Parese  (bei  der  Section 
Trübung  und  Oedem  der  weichen  Häute  mit  partieller  Verlöthung  mit 
der  Corticalis).  —  In  andern  Fällen  erfolgt  der  Tod  unter  zunehmendem 
Sopor,  faselndem  Delirium  mit  vereinzelten  halbluciden  Momenten,  un- 
ruhigem Herumwälzen  im  Bette,  abwechselnd  mit  Prostration,  rascher 
Erhöhung  der  Temperatur  (40 .4)  und  enormer  Respirations-  (60)  und 
Pulsbeschleunigung  (ICO— ISO).  —  Glücklicherweise  wird  in  der  Regel 
diese  Höhe  des  Hirnreizes  nicht  erreicht,  und  ist  nach  einigen  Tagen  die 
drohende  Katastrophe  überwunden. 


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Mania  gravis.  Ausgänge. 


111 


Manchmal  tritt  jetzt  ein  zeitweiliger  scharf  eingehaltener  Typus 
zwischen  Tagen  von  starker  manischer  Aufregung  und  wiederum 
relativer  Ruhe  ein.  In  den  Remissionen,  welche  ganz  unvermittelt 
sich  einstellen,  macht  sich  eine  Schwäche -Erregtheit  geltend  mit 
vielen  Wünschen,  Redseligkeit,  Plänemacherei.  In  den  Exacerba- 
tionen rückt  eine  traumartige  Bewusstseinsverdunkelung  ein  mit  Hallu- 
cinationen  sämmtlicber  Sinne,  GrÖssenwahndclirien  (Gott,  Kaiser), 
furorartigen  Ausbrüchen  gegen  die  illusorisch  verkannte  Umgebung, 
heftigem  Zerstörungsdrang,  und  oft  unbändiger  sexueller  Erregung 
(Onanie).  Der  Steigerung  der  Eigenwärme  (bis  39°)  ist  oben  schon 
gedacht  worden.  Nach  und  nach,  unter  stetem  Wechsel  von  grad- 
weise stärkeren  und  schwächeren  manischen  Paroxysmen  und  Fort- 
dauer der  Uallucinationen,  greift  eine  zunehmende  psychische  Schwäche 
durch,  in  welcher  die  Halluzinationen  einen  immer  mehr  imperativen 
Charakter  erhalten,  oft  in  Vogel-  und  Menschenstimmen  reden,  höhnen 
und  necken,  alle  Ungereimtheiten  zumuthen  und  zu  heftigen  tobsüch- 
tigen Reactionen  vorübergehend  antreiben.  Zu  den  Täuschungen  der 
höheren  Sinne  können  sich  auch  noch  Allegorisirungen  aus  spinalen 
Hyperästhesieen  aller  Art  gesellen  (elektrischer  Verfolgungswahn).  All 
mählich  wächst  der  geistige  Verfall;  der  Kranke  wird  ruhiger,  aber 
ganz  dämmerhaft  in  seinem  Bewusstsein,  welches  jetzt  von  zerfahrenen 
Wahnvorstellungen  der  Grösse  und  der  Verfolgung  (Fürstenrang  — 
Jesuitenvcrfolgung  —  elektrischen  Quälereien  u.  s.  w.)  ganz  systemlos 
angefüllt  wird.  Der  Kranke  bietet  an  ruhigen  Tagen  das  Bild  einer 
hallucinatorischcn  Verworrenheit  mit  einzelnen  noch  erhaltenen  Resten 
früherer  Associationen;  er  kramt  affectlos  seine  zerfahrenen  Vor- 
stellungen in  endlosen  confusen  Schreibereien  aus;  an  unruhigen  Tagen 
stellt  er  eine  Art  Marionette  dar,  an  deren  Fäden  nach  allen  Seiten 
gezogen  wird  (choreatische  Verzerrungen  des  Gesichts  und  der  Glieder, 
dazwischen  allerlei  Zwangsstellungen  und  automatische  Bewegungen) 
bei  tiefer  Bewusstseinsstörung.  Die  geistige  Schwäche  wird  immer 
grösser  und  führt  progressiv  —  oft  unter  alternirendem  Wechsel  von 
manischen  und  apathischen  Tagen  —  in  unheilbaren  Blödsinn,  wobei 
noch  auf  Jahre  hinaus  Remissionen  und  Exacerbationen,  letztere  mit 
dem  krampfhaft  motorischen  Automatenspiel,  erhalten  bleiben  können. 
--In  andern  Fällen  geht  die  hallucinatorische  Mania  gravis  nach 
monatelanger  Dauer  in  eine  galoppirendc  Paralyse  über  (s.  d.). 

Sämmtlichen  Formen  der  Mania  gravis  droht  —  und  zwar  in  allen 
Verlaufsstadien  —  der  mögliche  Ausgang  in  letale  Erschöpfung  als  Folge 
der  motorischen  Ruhelosigkeit  und  der  neurogenen  Ernährungsstörung. 
Es  ist  entweder  der  directe  „llirntod",  oder  der  irreparable  „Banquerott 
aus  dem  mit  vollen  Händen  Zins  und  Capital  gleich  ausgebenden  Wärme- 


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112 


Specielle  Manie. 


verlust"  (Zenker),  welcher  den  magern,  blutarmen,  motorisch  abgehetz- 
ten Kranken  der  definitiven  Ruhe  (innerhalb  5 — 15  Monaten)  entgegen- 
führt. Nicht  so  selten  wird  auch  der  Umweg  durch  eine  extracerebrale 
Erkrankung,  mit  Vorliebe  eine  Pneumonie,  beschritten.  — 

Die  chronische  Manie  kann  sich  aus  jeder  der  vorbeschrie- 
benen klinischen  Hauptformen  entwickeln,  jedoch  nur  auf  Grundlage 
bestimmter  ätiologischer  resp.  cerebraler  Bedingungen. 

So  tritt  die  Mania  mitis  nur  bei  circulären  Seelenstörungen  in  chro- 
nischer Form  auf;  als  solche  kann  sie  über  Jahresfrist  währen,  bis  die 
alternirende  melancholische  Phase  oder  das  Intervall  eintritt.  Die  Mania 
gravis  wird  auf  der  Grundlage  starker  erblicher  Belastung  und  nament- 
lich nach  mehrmaligen  Recidiven  chronisch,  und  geht  dann  in  die  dege- 
nerative Manie  (s.  d.)  Uber. 

Auch  die  furiose  Manie  kann  sich,  wenn  auch  mit  Ruhe-(Er- 

8chöpfungs-)Pausen  bei  tief  anämischer  Constitution  und  namentlich 

auf  phthisischer  Grundlage  Jahre  lang  hinausziehen. 

Die  Entfesselung  der  Triebe,  der  Bewegungs-  und  Rededrang  spielen 
sich  fort;  zugleich  greift  eine  immer  umfänglichere  Verkennung  der  Um- 
gebung —  je  nacli  zufälligen  Einschlägen  der  regellosen  Ideenassociation 
—  Uberhand,  meistens  auch  ein  fackelnder  GrÖssenwahn,  welcher  bald 
in  diesem,  bald  in  jenem  Einfall  sein  vorübergehendes  Genüge  findet. 
Darunter  zieht  sich  eine  beharrlich  gereizte  Stimmung  hin,  welche  bei 
jeder  leisesten  Entgegnung,  ja  selbst  bei  einer  zufälligen  unangenehmen 
Reproduction  sofort  in  einem  Zornparoxysmus,  oft  von  tagelanger  Dauer, 
sich  entlädt,  den  Kranken  nie  zur  Ruhe  kommen  lässt  und  so  nicht  selten 
rasch  dem  Blödsinn  zuführt. 

Auch  die  typische  Manie  hat  ihre  chronische  Verlaufs-Varietät. 
Die  individuellen  Momente,  welche  die  Abweichung  der  cerebralen 
Hyperästhesie  lange  nicht  gestatten  und  dadurch  den  Verlauf  hinaus- 
ziehen, sind  theils  lebhafte,  immer  wieder  exaeerbirende  psychische 
oder  somatische  Neuralgieen  (emotive  Erinnerungen),  theils  wiederum 
tiefe  Constitutions-Anomalieen,  namentlich  hartnäckige  Anämieen  mit 
Ernährungsstörungen,  sexueller  Abusus;  bei  Frauen  profuse  Menses. 

Das  Krankheitsbild  schliesst  sich  ganz  an  das  der  typischen  Manie 
an,  deren  protrahirten  Verlauf  es  darstellt.  Die  Kranken  bleiben  Uber 
Jahresfrist  in  der  psychomotorischen  Erregung,  in  der  Vorstellungsflucht, 
in  dem  in  allen  Registern  spielenden  Stimmungswechsel.  Dabei  prägt 
sich  in  der  Entartung  (tiefer  stehenden  Qualität)  der  psychischen  Einzel- 
symptome die  zunehmende  Schwere  der  Hirnaffection  aus.  Die  Vorstel- 
lungsflucht wird  zur  ungeordneten  Verworrenheit,  die  früher  formvollen 
(„gewollten")  Bewegungen  erhalten  den  Charakter  des  Zwangsmädsigen, 
Stossweisen,  Automatischen;  die  Perception  der  Umgebung  wird  immer 
unklarer  und  gefälschter,  das  Bewusstsein  benommener  und  betäubter, 
ohne  vorübergehende  Erholung  zur  Besonnenheit  (Unterschied  von  der 
„degenerativen  Manie"  s.  Str.,  wo  gerade  die  Lucidität  des  Bewußtseins 


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Chronische  Manie.  Klinische  Formen.  Verlauf.  Ausgänge.  113 


neben  dem  krankhaft  erregten  Triebleben  charakteristisch  ist).  Das 
ganze  Benehmen,  alle  Aeusserungen  der  Lust  und  Unlust  erhalten  etwas 
Brutales  (rohes  Lachen),  welches  sich  auch  in  den  Gesichtszügen  dauernd 
wiederspiegelt.  Endlich  geräth  der  Kranke  in  einen  eingewohnten  Tages- 
lauf, in  welchem  sich  dieselben  Vociferationen  und  Schreie,  dieselben  Gesti- 
culationen,  dieselben  Verkennungen  der  Umgebung  stets  wiederholen.  Die 
Stimmung  ist,  entsprechend  den  ungeordneten  und  keiner  äussern  Cor- 
rectnr  zugängigen  Einfällen,  eine  höchst  wandelbare,  oft  kindisch  heitere 
oder  gereizte;  oft  erotische.  Das  ganze  Krankheitsbild  enthält  eine  Bei- 
mischung von  blödsinniger  Schwäche  zu  den  manischen 
Symptomen.  Der  Sinn  für  das  Decorum  geht  verloren,  der  Kranke 
entblösst  sich  rücksichtslos;  er  geht  in  schmutzigen  und  zerrissenen  Klei- 
dern einher;  Ansprachen  beantwortet  er  nicht,  oder  mit  Tritten  und 
Stössen;  er  rafft  zusammen,  was  er  bekommt,  namentlich  Essgegenstände, 
verschlingt  dazwischen  auch  Ungeniessbares,  verfällt  in  zunehmende  Un- 
redlichkeit, salbt  sich  mit  Urin,  Stuhlgang,  Oel,  Tinte  u.  s.  w.  ein  (viel- 
leicht gegen  anästhetische  Gefühle  —  einzelne  Kranke  wenigstens  ver- 
langen oft  stärkende  Dinge,  weil  sie  sonst  „Simpel"  würden).  Ohne 
erkennbare  Ursachen,  ohne  bestimmten  periodischen  Verlauf,  stellen  sich 
in  der  Folge  wieder  Paroxysmen  von  triebartiger  Heftigkeit  ein,  in  wel- 
chen die  Kranken  sich  wild  umherwerfen,  speien,  treten,  massenhaft 
ausspucken,  zerreissen,  wilde  Brülltöne  ausstossen.  Dazwischen  schieben 
sich  auch  mildere  Grade  von  Aufregung  mit  mehr  Moria-ähnlichem  Cha- 
rakter und  allerlei,  oft  choreiformen,  GesticuUtionen.  Zu  andern  Zeiten 
wechseln  manische  stupide  Phasen  ab,  wobei  der  umherlungernde  Kranke 
in  dem  steten  Auf-  und  Zuknöpfen  der  Kleider,  im  stundenlangen  Reiben 
des  Gesichts  und  der  Hände,  in  seinen  pauselosen  Monologen  aus  den 
verworrensten,  durch  wechselvolle  unklare  Affecte  zusammengewürfelten 
Vorstellungen  immer  noch  die  Elemente  der  „Manie"  im  Blödsinn  her- 
vortreten lässt.  —  In  einer  andern  klinischen  Varietät  nimmt  die  sich 
protrabirende  typische  Manie  den  Charakter  des  aufgeregten  Wahn- 
sinns an;  es  mischen  sich  immer  mehr  Sinnestäuschungen,  und  zwar 
mit  zunehmend  imperativem  Charakter,  ein;  der  Kranke  füllt  sich  mit 
einem  religiösen  oder  politischen  Grössenwahn  an  und  tritt  demgemass 
gebieterisch  oder  herausfordernd  auf;  er  ist  der  vortrefflichste  Mensch 
der  Welt.  Christus  u.  s.  w.  Manchmal  kommen  diese  wahnsinnigen  Exal- 
tationsphasen nur  episodisch  (zugleich  mit  Congestivzuständen  zum  Kopf  j, 
und  werden  in  den  freieren  Zeiten  nach  Seite  ihrer  megalomanen  Ueber- 
schreitungen  vom  Kranken  selbst  in  ärgerlicher  Weise  corrigirt  („er  wisse 
gar  nicht,  wie  dieses  Zeug  ihm  immer  wieder  in  den  Kopf  komme");  in 
der  Zwischenzeit  bleibt  eine  unmotivirt  wechselnde,  in  ihren  Grundzügen 
anspruchsvolle  und  höchst  reizbare,  disputirsttchtige  Stimmung  (Unterschied 
von  der  „remittirenden  Manie",  wo  die  Intervalle  ruhig,  eher  apathisch 
und  täuschend  lucid  sind). 

In  günstig  verlaufenden  Fällen  tritt  oft  nach  endlosen  Paroxysmen 
nach  und  nach  Abspannung  ein.  Der  Kranke  wird  weniger  reizbar,  lenk- 
samer, die  nächtliche  Unruhe  seltener;  es  wird  Reinlichkeit  beachtet. 
Körperlich  hat  sich  vor  dieser  beginnenden  Erholung  die  mit  den  Paro- 
xysmen bis  dabin  schwankende  Körperernährung  endlich  definitiv  ge- 

Bcbflle.  OeUtoekrukheiten.  S.  Aufl.  b 


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1U 


Die  psychischen  Schw&chezustande. 


hoben  und  nimmt  täglich  zu,  oft  unter  einem  wahren  Wolfshunger  des 
Patienten.  Die  Züge  werden  geistiger.  Ab  und  zu  tauchen  gemüthlichere 
Kegungen,  natürliche  Interessen,  Krankheitsbewusstsein  auf. 

Die  Reconvalescenz  ist  in  der  Regel  durch  immer  wieder  aufflackernde 
psychische  Reizbarkeit  und  Empfindlichkeit  eine  schwierige,  und  erkämpft 
ihre  Fortschritte  immer  erst  unter  recidiven,  wenn  auch  abklingenden, 
Nachschüben.  Aber  allmählich  wird  doch  die  volle  Genesung  erzielt, 
während  gleichzeitig  die  Backen  rund  und  frisch  geworden  sind.  In- 
teressant ist,  wie  oftmals  jetzt  bei  der  Selbstrecapitulation  des  Kranken 
die  Affectkerne  sich  aufdecken ,  welche  durch  den  ganzen  Krankheits- 
verlauf (oft  durch  Neuralgieen  gestützt)  andauerten,  und  die  falschen  Per- 
ceptionen  und  die  krankhaft  gereizte  Stimmung  bedingten.  —  Eine  volle 
Genesung  kann  noch  nach  anderthalbjähriger  Dauer  eintreten. 


Die  psychischen  Schwächezustände. 

Literatur.  Kraepelin,  Arch.  f.  Psych.  13.  —  Weiss,  Compend.  d.  Wiener 
med.  Wochenschr.  16S3.  —  Forense  Beurtheilung  s.  K  rafft- Ebing  etc.  —  Jastro- 
w  i  tz,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  39. 

Jede  Psychose,  auch  die  des  rüstigen  Gehirns,  hat  eine  geistig 
niederziehende  Kraft.  In  dem  Gemtithszwang  der  Melancholie,  wel- 
cher zur  Hemmung  des  Denkens  und  zur  Willenlosigkeit  führt,  wie 
nicht  minder  in  der  schrankenlosen  psychischen  Entfesselung  der 
Manie  liegt  ein  den  Bestand  des  Seelenlebens  schwer  gefährdendes 
Moment.  Glücklicherweise  ist  in  der  Mehrzahl  der  frischen  nnd 
ersten  Erkrankungen  die  grundliegende  nervöse  Störung  eine  (wenig- 
stens in  Grenzen)  herstellbare.  Sehr  leicht  kann  aber  bei  invalider 
Hirnanlage,  oder  bei  häufiger  Wiederholung,  oder  auch  durch  un- 
günstige Umstände  aus  der  Umgebung  die  Schädigung  zu  einer  irre- 
parabeln  werden;  so  folgt  eine  dauernde  Invalidität  oder  auch  Ver- 
nichtung des  geistigen  Hirnorgans  als  der  natürliche  Ausgang.  Wir 
sprechen  dann  im  Allgemeinen  von  geistiger  Schwäche. 

Praktisch  ist  diese  generelle  Bezeichnung  ein  Sammelname  für 
eine  reiche  Mannigfaltigkeit  an  klinischen  Symptomenbildern.  Es 
gibt  nämlich  eine  jede  der  psychischen  Primärformen  ihrem  nach- 
folgenden Schwächezustand  eine  gewisse  specifische  Färbung  mit, 
so  dass  die  verschiedenen  Blödsinns-Arten  mehr  weniger  beigemischte 
Schattirungen  bewahren,  welche  an  den  einstigen  Ausgang  und  ur- 
sprünglichen Krankheitstypus  erinnern.  Erst  die  vorgeschrittenen 
Grade  der  geistigen  Schwäche  bringen  eine  Art  Nivellirung  zu 


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Allgemeines.   Psycholog.  Analyse  der  „psychischen  Schwäche".  115 

Stande,  aber  in  sehr  vielen  Fällen  nicht  ganz.  So  behalten  die 
ätiologischen  Untergruppen  der  masturbatorischen  Melancholie  und 
des  sexuellen  Verfolgungswahnes  immer  noch  einige  bestimmte 
Nuancirungen ;  der  Blödsinn  aus  hysterischer,  hypochondrischer, 
epileptischer  Anlage  ist  eigenartig  gefärbt;  der  paralytische,  kata- 
tone,  stupuröse  Blödsinn  sind  in  gleicher  Weise  ebenso  von  einander 
verschieden,  als  wiederum  in  gewissen  ZUgen  übereinstimmend.  Für 
die  beiden  letzten  Formen  kommt  auch  noch  die  weitere  und  wichtige 
Unterscheidung  hinzu,  dass  hier  der  Blödsinn  nicht  immer  nur  das 
Endstadium,  sondern  sehr  oft  nur  Durch gangsphase  im  Gesammt- 
verlaufe  bildet. 

Gleichwohl  lässt  diese  grosse  klinische  Mannigfaltigkeit  der  Typen 
und  Formen  den  alle  vereinigenden  symptomatologischen  Charakter 
nicht  übersehen.  Dieser  liegt  in  dem  Zeichencomplex,  den  wir  eben 
unter  „psychischer  Schwäche"  im  Allgemeinen  zusammenfassen. 
Dessen  psychologische  Umschreibung  und  Analyse  ist  deshalb  an 
erster  Stelle  hier  zu  geben.  In  dieses  Schema  werden  sich  dann 
zunächst  die  melancholischen  und  manischen  Schwächezustände  in 
ihren  erfahrungsgemäss  häufigsten  Typen  einzuordnen  haben,  als 
Unterform  en. 

Die  psychische  Schwäche  ist  aber  nicht  nur  eine  erwor- 
bene, sondern  in  unendlich  vielen  Fällen  auch  eine  angeborene 
(Idiotismus),  und,  wenn  erworben,  nicht  immer  nur  ein  Folgezustand 
vorausgegangener  Psychopath ieen.  Auch  körperliche  Krankheiten, 
acute  Infectionen  in  erster  Linie,  schwächende  Einflüsse  durch  Ex- 
cesse,  Constitution -Anomalieen,  können  oft  genug  dieselbe  direct 
erzeugen. 

Analyse  der  geistigen  Schwäche.  Man  bezeichnet  mit  diesem 
Namen  die  unendlich  mannigfaltige  Stufenleiter  in  der  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit nach  abwärts  (vom  Normalmenschen  bis  zum  Idioten),  welche 
als  gemeinsames  Merkmal  eine  Verminderung  des  geistigen  Könnens  — 
herab  bis  zum  gänzlichen  Ausfall  resp.  Stillstand  der  psychischen  Func- 
tionen, einzelner  oder  aller,  aufweist  (der  Idiotismus  seibat  bildet  wieder 
eine  eigene  Form  und  Mischung,  s.  d.).  Diese  Verminderung  oder  Hem- 
mung kann  in  zweifacher  Weise  zustande  kommen:  1.  durch  gradweise 
Unthätigkeit  —  Trägheit  —  in  den  psychischen  Functionen;  oder  2.  durch 
abnorm  gesteigerte  Reizbarkeit  der  letzteren,  als  überstürzte  Perception 
und  Reproduction,  vorschnelle  und  schwankende  Gefühlsbetonung,  unfer- 
tige und  dadnrch  gefälschte  Apperception. 

Beide  Formen  der  „anergetischen"  und  „erethischen"  geistigen 
Schwäche,  des  „torpiden"  und  „reizbaren"  Schwachsinns,  werden  uns 
später  bei  der  Betrachtung  der  Moral  insanity  (nur  von  einer  anderen 
Seite  aufgefasst)  wieder  begegnen.    Sind  es  dort,  im  Gebiete  des  aitt- 


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116 


Die  psychischen  Schwächezustände. 


liehen  Schwachsinns,  die  beiden  gegensätzlichen  Typen  des  moralischen 
Idioten  und  des  Ubererregbaren  sinnlichen  Affect menschen ,  so  tritt  uns 
hier,  beim  intellectuellen  Schwachsinne,  einerseits  der  Typus  der  passiven 
Dummheit  entgegen  mit  ihrem  selbst  für  die  Götter  übermächtigen  Wider- 
stand und  unbesiegbaren  Phlegma,  und  andererseits  die  bornirte  Schwach- 
köpfigkeit  mit  ihrem  oberflächlichen  und  abspringenden,  stets  unfertigen, 
bald  kindisch  albernen,  bald  charakterlos  wandelbaren  Wesen. 

1.  Der  torpide  Schwachsinn  —  die  anerge tisch e  geistige 
Schwäche.    Die  einfachste  Form  ist  die  der  allgemeinen  geistigen  Ab- 
stumpfung resp.  Torpidität  auf  allen  Gebieten,    a)  intellectueil:  Wahr- 
nehmungen von  aussen  erfolgen  gar  nicht  (niederste  Stufe),  oder  in  mehr 
minder  beschränktem  Grade.  Dieselben  werden  aufgenommen,  gehen  auch 
Associationen  ein,  werden  aber  nicht  oder  nur  spärlich  resp.  unzureichend 
zu  höheren  Reihenbildungen  verdichtet.    Dadurch  entsteht  eine  Armuth, 
unter  Umständen  ein  gänzliches  Fehlen  der  Begriffe,  der  „Ideen".  Das 
höhere  Denken  vermag  sich  in  der  Regel  nur  bis  zum  praktischen  Uti- 
litätsstandpunkt  zu  erheben.    Ideen  von  allgemeinerem  Umfang  werden 
nicht  gebildet.    Wo  sie  vorhanden  sind,  sind  sie  angelernt,  oder  aus 
früheren  Tagen  geistiger  Activität  noch  geblieben,  aber  mehr  nur  noch 
als  trockene,   angehängte  Schemata.     Viele  Wahrnehmungen,  welche 
nicht  unmittelbar  praktisches  (resp.  sinnliches)  Interesse  haben,  gehen  ver- 
loren.   Daraus  entsteht  eine  stets  mangelhafte,  oft  ungetreue,  Reproduc- 
tion,  das  geistige  Interesse,  die  „active"  Apperception ,  fehlt  ganz,  oder 
ist  nur  auf  möglichst  starke  und  häufig  wiederkehrende  oder  sinnlich  an- 
sprechende Wahrnehmungen  gerichtet.  Dadurch  wird  das  gesammte  Denken 
monoton,  und  so  einseitig,  dass  der  Vorstellungsinhalt  eines  jeden  Schwach- 
sinnigen wieder  eine  speeifische  Welt  für  sich  ausmacht.    Durch  die 
Schwäche  der  Associationen  und  das  Fehlen  höherer  „verdichteter"  Be- 
griffe bleiben  auch  widersprechende  Vorstellungen  haften,  welche  aus  dem- 
selben Mangel  auch  subjectiv  geduldet  bleiben.    Die  Kritik  fehlt.  Alle 
intellectuellen  Operationen  vollziehen  sich  schwierig  und  langsam.  Daher 
auch  der  geringe  Grad  von  geistiger  Productivität  bis  herab  zur  abso- 
luten Sterilität,  bei  entsprechendem  Tiefstand  des  Interesses.  —  b)  ge- 
muthlich:  dieselbe  Torpidität  der  Gefühle.    Höhere  Gefühle  werden  nicht 
ausgebildet.  Das  Mitgefühl  für  Andere  (das  „Mitleid")  ist  dem  entsprechend 
defect,  oder  fehlt  ganz.    Um  so  entschiedener  rücken  die  egoistischen 
Gefühle  und  Strebungen  in  den  Mittelpunkt,  und  diese  wieder  nur  nach 
der  Kategorie  des  sinnlich  Angenehmen  oder  Unangenehmen.    Wie  die 
Gefühle  aber  einerseits  schwer  erregbar  sind  und  oberflächlich  bleiben,  so 
haften  sie  auch  nur,  wenn  sie  das  niedere  Interesse  des  Subjects  berühren ; 
dann  aber  zähe.    Bei  dem  Fehlen  zügelnder  höherer  Vorstellungen  ist 
die  Emotivität  theil weise  eine  sehr  grosse,  jäh  aufbrausende;  der  Affect 
übermächtig.    In  tieferen  Graden  des  Blödsinns  fehlen  aber  auch  diese, 
und  das  Gemüth  bleibt  gegensatzlos  in  der  Ruhe  des  Kirchhofs.  —  c)  psy- 
chomotorisch:  primitives  Handeln  ohne  Weitblick,  ohne  Uebersicht  der 
Folgen  und  somit  ohne  genügende  Zielbewusstheit.    Es  kann  ein  Zweck 
da  sein,  aber  dieser  ist  nur  auf  die  niedrigsten  Normen,  entsprechend  dem 
Stand  des  Vorstellungs-  und  Gemüthslebens,  eingestellt.    In  diesem  be- 
scheidenen Kreis  kann  sogar  die  Auswahl  der  Mittel  eine  bis  zu  gewissen 


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Psychologische  Analyse  der  „psychischen  Schwäche".  117 


Graden  schlaue  und  berechnete  sein:  scharfsinnige  Bornirtheit,  „Dumm- 
Pfiffigkeit/'  Bei  emotiver  Anlage  ist  das  Handeln  ungehemmt  triebartig, 
überstürzend  impulsiv.  Nach  beiden  Seiten  mangelt  demselben  —  grad- 
weise —  die  Selbstbestimmung«-  und  Dispositionsfähigkeit. 

2.  Der  reizbare  Schwachsinn  (psychische  Schwäche  mit  ge- 
steigerter Erregbarkeit).  Ist  psychologisch  der  Gegensatz  der  vorigen 
Form,  im  thatsächlichen  Endeflect  aber  das  Analogon.  Die  Apperception 
ist  hier  unstät,  fackelig,  umherirrend ;  der  raschen  Auffassung  entspricht 
keine  klare  und  ruhige  Verarbeitung.  Wohl  erfolgt  auch  A6sociations- 
bildung  der  Vorstellungen,  aber  Ubereilt  oberflächlich,  nach  nur  zufälligen 
Merkmalen.  Daher  ist  die  logische  Weiterbildung  seicht,  vorschnell,  oft 
falsch;  die  sich  bildenden  Begriffe  sind  entsprechend  unklar,  ungeordnet, 
confus.  Der  endliche  Bewusstseinsinbalt,  bei  der  vorigen  Form  beschränkt, 
ist  hier  ungleich  breiter,  aber  nicht  genügend  vertieft,  und  nicht  nach  dem 
innern  Werthe  der  Vorstellungen  abgestuft.  Es  bildet  sich  kein  logischer 
Aufbau,  keine  Hegemonie  unter  den  Vorstellungen.  Da  sich  ferner  bei 
der  Rasch  he  it  des  Anbildens  (in  Folge  der  unruhigen  Aufmerksamkeit) 
Gleichartiges  und  Verschiedenes  zusammengliedert,  so  werden  die  Schluss- 
bildungen unsicher  und  incorrect,  ja  oft  direct  gefälscht.  Auch  hier  re- 
sultiren  im  Bewusstseinsinnern  nach  und  nach  Widersprüche,  welche 
aber  bei  der  unsichern  Kritik  —  denn  Nichts  ist  fest  und  dauernd,  Alles 
vielmehr  in  steter  Umbildung  und  Zersetzung  —  geduldet  werden.  Trotz 
alles  prunkenden  Flitters  ist  ein  solches  Wissen  arm,  unverwendbar, 
steril.  In  Folge  des  inneren  Schwankens  wird  das  Ich,  als  Träger  der 
höchsten  Vorstellungsgruppe,  selbst  schwankend  und  häufig  rathlos.  Der 
Drang  sich  zu  erhalten  uud  zu  stützen  führt  zu  subjectiven  Unterstellungen 
d.  h.  zu  vorschnellen  Auslegungen,  womit  das  Ich  den  (in  Folge  der  in- 
neren Hemmungslosigkeit)  rascher  und  mächtiger  aufstrebenden  neuen  Vor- 
stellungen zu  imponiren  sucht.  Daraus  entsteht  eine  Uberwiegend  sub- 
jective  Färbung  der  Auffassung  und  sehr  oft  eine  falsche.  Zugleich 
aber  —  wie  bei  der  apathischen  Form  —  ein  Selbst cultus  des  Ich,  wel- 
ches immer  aufgerufen  und  beansprucht  wird,  mit  jedem  neuen  Eindruck 
sich  unwillkürlich  misst  und  auseinandersetzt.  Ein  geschraubtes,  innerlich 
haltloses  und  schwankendes,  von  jedem  Eindruck  bestimmbares  und  wirk- 
lich gelenktes  geistiges  Wesen,  welches  Uberbeweglich  und  darum  ohne 
Festigkeit  ist,  bildet  die  a)intellectuelle  Signatur  eines  solchen  Schwach- 
annigen.  —  b)  gemttthlich:  dasselbe  Schwanken  und  stete  Durchkreuzt- 
werden von  immer  neuen,  im  Nu  packenden,  rasch  verglimmenden,  und 
ebenso  oft  sich  widersprechenden  Gefühlen.  Dadurch  flatterhaftes  Interesse, 
Unfähigkeit  sich  zu  bleibenden  Allgemeingefühlen  höheren  Styls  und  in- 
tellectuellen  Inhalts  heranzubilden.  Statt  dessen  werden,  gleichen  Schritt 
haltend  mit  der  Erhöhung  des  dünkelhaften  Selbstgefühls,  die  vagen  und 
egoistischen  Kategorieen  der  Sympathie  und  Antipathie  die  massgebenden 
Können.  Wohl  entwickeln  sich  auch  Ansätze  zu  den  höheren  Gefühlen, 
aber  sie  bleiben  ohne  Mark  und  Nachdruck,  weil  sie  zu  unbeständig  sind. 
—  c)  psychomotorisch :  das  Handeln  ist  primitiv,  weil  es  durch  Minuten- 
gefühle,  oft  durch  die  Laune  des  Augenblicks  dictirt  ist.  Auf  leiden- 
schaftlichem Untergrunde  erfolgt  es  instinktmässig  rasch,  unbesonnen, 
überstürzt.    Es  fehlt  ihm  im  Momente  der  That  die  ruhige  Abwägung, 


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118 


Die  psychischen  SchwächezuBtäcde. 


der  stille  Kampf  der  Motive  unter  einander;  es  fehlen  Überhaupt  feste 
Motive.  Bei  der  gesteigerten  Erregbarkeit  ist  Alles  Krampf,  Kitzel,  Re- 
flex, ohne  Reflexion.  Diese  kann  nachhinken,  bleibt  aber  ohne  Wirkung, 
verpufft,  wenn  sie  noch  so  enthusiastisch  war.  —  Auch  hier  ist  die  freie 
Selbstbestimmungs-  und  Dispositionsfäbigkeit,  selbst  bei  formell  intacter 
facultas  ratiocinandi  —  gradweise  —  eingeschränkt,  und  mehr  minder  er- 
heblich geschadigt,  unter  Umständen  ganz  aufgehoben. 

Ujischwer  lassen  sich  in  diesen  beiden  skizzirten  Symptomenreihen 
psychologische  Grnndzüge  und  Complexe  erkennen,  welche  oft  und  wieder- 
holt in  den  klinischen  Krankheitsbildern  (früheren  und  späteren)  uns  ent- 
gegentreten. So  finden  sich  die  psychischen  Charaktere  des  erethischen 
Schwachsinns  im  Temperament  der  Hysterischen,  in  den  Reconvalescenz- 
stadien  der  acuten  Wahnsinnszustände,  vorübergehend  auch  im  Intervall 
der  Typosen  wieder,  während  die  Charaktere  des  phlegmatischen  Schwach- 
sinns in  den  Endstadien  der  Manieen  und  Melancholieen,  und  dauernd  und 
bis  zu  dem  höchsten  Grade  fortschreitend  im  apathischen  Blödsinn  wieder- 
kehren. Vollends  das  erbliche  Irresein  weist  beide  Formen  in  allen  Stufen 
und  namentlich  auch  in  der  mannigfachsten  Combination  auf;  denn  die 
apathische  und  die  erethische  Schwachsinnsform  können  klinisch  sich  auf 
das  Allermannigfachste  verbinden  und  verflechten.  Das  Letztere  tritt 
namentlich  im  Idiotismus  in  seinen  verschiedenen  Typen  uns  entgegen. 
Aber  auch  die  Habitual formen  der  rüstigen  Manie  und  Melancholie  zeigen 
—  individuell  casuistisch  —  in  ihren  Symptomenbildern  so  vielfache  Züge 
dieser  „psychischen  Schwäche",  dass  zumeist  auf  diesem  beigemischten 
Momente  der  unendliche  klinische  Symptomenreichthum  beruht.  Für  die 
klinische  Analyse  sowohl,  als  für  die  Prognose  müssen  diese  Elemente 
sorgsam  ausgeschält,  und  bei  der  psychologischen  Abschätzung  der  psycho- 
pathischen Symptome  getrennt  gewogen  werden.  Bei  dieser  Abschätzung 
ist  jeweils  der  frühere  Geisteszustand,  soweit  dessen  Ausbildungshöhe 
eruirbar,  einzurechnen;  denn  es  ist  selbstverständlich,  dass  bei  einstens 
reicher  geistiger  Anlage  ein  späterer  psychischer  Defect  weniger  auffällig 
für  den  ersten  Blick  entgegentritt  (ist  doch  auch  bei  grossem  Capital  eine 
Einbusse  von  einer  kleineren  Summe  noch  nicht  sofort  erkennbar !)  als  bei 
einer  dürftiger  veranlagten  oder  entwickelten  psychischen  Existenz  —  und 
doch  darf  auch  dort  ein  kleines  Minus  nicht  leicht  genommen  werden, 
zumal  wenn  dasselbe  in  einer  Einbusse  an  feinerem  Fühlen,  an  früherem 
Tact,  an  rascherer  Arbeitskraft  (wie  im  Beginn  vieler  Paralysen)  sich 
bemerklich  macht. 

Die  speciellen  Haupttypen,  in  welchen  „geistige  Schwäche" 
als  secundärer  klinischer  Symptomencomplex  in  Erscheinung  tritt, 
sind  für  die  einzelnen  Primärformen  theilweise  verschiedene.  Es  ist 
ein  wesentlicher  Unterschied,  ob  es  sich  im  Primärzustand  um  ein 
mit  Wahnideen,  speciell  mit  Hallucinationen,  angefülltes  Bewusstsein 
handelt,  welches  gerade  durch  diese  immer  mächtigeren  und  zahl- 
reicheren fremden  Elemente  seinen  Niedergang  erleidet,  „zersetzt" 
wird ;  —  oder  aber  um  ein  in  krankhafter  Spannung  erhaltenes  oder 
gegentheils  krankhaft  Uberproductives  Seelenleben,  welches  nach  und 


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Klinische  Typen.   Der  secundäre  Wahnsinn. 


119 


nach  seine  Luxusausgabe  nicht  mehr  zu  decken  weiss,  und  an  Er- 
schöpfung des  Hirnorgans  zu  Grunde  geht.  Unter  jenen  Typus  ge- 
hören die  anfänglich  schon  mit  Wahnsinnselementen  gemischten  oder 
in's  Wahnsinnsstadium  fortgeschrittenen  Melancholieen;  unter  diese 
die  einfachen,  aber  mit  verzehrender  Angst  einhergehenden  langen 
Depressionszustände,  und  ganz  besonders  die  schweren  und  recidi- 
virenden  Manieen.  Dort  tritt  uns  deshalb  im  zugehörigen  klinischen 
„Scbwäche"-Bilde  psychologisch  die  Zersplitterung  der  Ich-Einheit, 
neben  Uberwuchernden  Sinnestäuschungen,  als  wesentlicher  Charakter- 
zag entgegen;  hier  dagegen  der  Torpor,  die  Apathie,  auf  dem  theil- 
weisen  oder  ganzen  seelischen  Gebiete.  Es  entgeht  nicht,  dass  uns 
im  erstgenannten  Symptomencomplex  derselbe  Typus  begegnet,  wel- 
chen wir  im  „Wahnsinn"  (namentlich  in  spätem  Stadien  und  in  der 
hysterischen  Abart  desselben)  kennen  lernen  werden.  Man  hat  des- 
halb diese  Unterform  auch  als  „secundären  Wahnsinn"  bezeichnet. 
Als  Vorbild  der  torpiden  Form  werden  wir  ebenso  später  den  Stupor 
d.  h.  die  primäre  Dementia  wiederfinden,  und  dürfen  somit  darnach 
flir  diese  zweite  Gruppe  die  Bezeichnung  des  „secundären  Blödsinns" 
—  Blödsinn  s.  str.  —  beanspruchen. 

Selbstverständlich  ist  mit  dieser  Abtrennung  und  verschiedenen  Be- 
zeichnung nicht  ein  Wesensunterschied  ausgesprochen.  Beide  Formen, 
wie  sie  nosologisch  zusammengehören,  stellen  im  Grunde  auch  wieder  die 
beiden  Typen  des  erethischen  und  torpiden  Schwachsinns  in  concreter 
klinischer  Gestaltung  dar.  Sie  gehen  auch  thatsächlich  auf's  Vielfachste 
ineinander  Uber:  so  der  secundäre  Wahnsinn  in  den  eigentlichen  Blöd- 
sinn, sobald  die  affectiven  Reflexe  allmählich  ausbleiben  und  mit  der  zu- 
nehmenden „Rohe  des  Kirchhofs"  auch  die  Wahngebilde  immer  alberner 
d.  h.  intellectuell  abgeschwächter  werden.  —  Noch  einige  weitere  Be- 
merkungen sind  hier  einzufügen:  1.  der  secundäre  Wahnsinn  ist  nur 
theilweise  d.  h.  nur  für  eine  bestimmte  Gruppe  von  ungeheilt  ge- 
bliebenen Melancholieen  als  deren  Folgezustand  zu  betrachten;  andere 
Melancholieen  gehen  dagegen  direct  in  Blödsinn  Uber.  Ebenso  kann  auch 
unter  individuellen  Umständen  auf  eine  Manie  nicht  der  apathische  Blöd- 
sinn als  Terminalstadium  folgen,  sondern  ein  secundärer  bleibender  Wahn- 
sinn exaltirter  Form  (s.  Manie).  2.  Der  secundäre  Wahnsinn  entweder 
als  bleibende  Form,  oder  mit  allmählichem  Uebergang  in  Blödsinn  kommt 
nicht  nur  den  vorgenannten  Primärzuständen  der  Psychoneurosen  zu,  son- 
dern auch,  und  ganz  besonders,  dem  primären  „Wahnsinn" ;  ebenso  schliesst 
sich  der  secundäre  Blödsinn  den  ungeheilt  gebliebenen  primären  Zu- 
ständen der  genannten  Gruppe  an  —  freilich  in  beiden  Fällen  mit  theil- 
weisen  Modificirungen.  In  diesem  erweiterten  Sinne  ist  die  nachfolgende 
Schilderung  auch  auf  die  später  noch  zu  beschreibende  Gruppe  auszu- 
dehnen, resp.  diese  letztere  in  ihren  „Ausgängen"  auf  jene  zurückzu- 
beziehen. 


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120 


Die  psychischen  Schwächezustäode. 


Der  secundäre  Wahnsinn  —  die  hallucinatorische  Verwirrtheit 

Klinische  Charaktere:  Massenhafte  Sinnestäuschungen  ne- 
ben intellectueller  Zerfahrenheit,  bei  wachem  Bewusstsein;  Auf* 
gehen  in  Raptus  von  Einfällen,  plötzlichen  Stimmungen  und  An- 
trieben, oder  auch  indolente,  zeitweise  gereizte  Stimmung;  letztere 
theils  für  sich  bestehend,  theils  in  Abhängigkeit  von  den  Hallu- 
cinationen;  Auflösung  der  Bewusstseinseinheit  mit  schliesslichem 
Untergang  des  Ich  in  verschiedenen,  mitunter  sich  widerspre- 
chenden, regellos  sich  ablösenden  und  verdrängenden  Vorstellungs- 
gruppen ;  zunehmende  psychische  Schwäche  auf  allen  Gebieten.  Re- 
mittirend-exacerbescirender,  chronischer  Verlauf  in  blödsinnige  Ab- 
stumpfung. 

Krankheitsbild.  Die  Entwicklang  des  secundären  Wahnsinns 
geschieht  aus  primären  acuten  und  chronischen  Wahnsinnsformen 
(incl.  des  hallucin.  Stupors),  und  aus  gewissen  melancholisch- wahn- 
sinnigen Zuständen  (s.  o.).  Die  Kranken  verfallen  einer  immer  um- 
fassendem Goncentrirung  auf  ihre  wahnhaften  Innenvorgänge  neben 
einer  schrittweise  mangelhaftem  unklaren  Perception.  Sie  stehen  in 
indolenter  Haltung,  die  Hände  in  den  Taschen,  die  Mütze  auf  dem 
Kopfe  da,  oder  schleichen  theilnabmslos  herum,  lachen  oder  sprechen 
vor  sich  bin,  oder  nehmen  allerlei  sonderbare  mimische  Körperhal- 
tungen ein,  welche  sie  trotz  Mahnung  starr  beibehalten,  oder  immer 
wieder  aufsuchen  (Schütteln  des  Kopfes  und  Körpers,  allerlei  Han- 
tirungen  mit  den  Armen  und  Fingern,  Grimassirungen  u.  s.  w.)  Im 
Decorum  sind  sie  bis  aufs  Aeusserste  nachlässig,  oder  treiben  auch 
darin  (z.  B.  mit  der  Behandlung  der  Excremente,  des  Speichels) 
allerlei,  durch  Wahn  bedingte,  Perversitäten.  Ihre  sprachlichen 
Aeusserungen  sind  zerstreut;  oft  können  sie  die  einfachsten  Fragen 
nicht  beantworten,  oder  antworten  nur  in  denselben  monotonen  Sätzen. 
Inhaltlich  ist  die  Rede  so  verworren,  dass  gerade  dieser  Charakter- 
zug klinisch  sich  als  der  ausgezeichnetste  abhebt.  Oft  bejahen  sie 
Alles,  andere  Male  reiten  sie  dieselben  verfehlten  Schlagwörter  ab; 
meist  aber  ist  die  Rede  ganz  sinnlos,  mit  selbstgemachten  Umstel- 
lungen von  Silben,  mit  monströsen  neugebildeten  Worten  vermischt. 
Manche  Kranke  stehen  nur  ungern  Rede,  werden  gereizt,  wenn  man 
sie  anhält  ;  Andere  wieder  plappern  Tag  um  Tag  ein  und  denselben 
verbalen  Gallimathias.  Die  Stimmung  ist  gleichgültig,  farblos,  sehr 
oft  aber  auch  finster  und  gereizt,  oft  sichtlich  durch  den  Inhalt  der 
Hallucinationen  beherrscht;  andere  Male  (in  den  späteren  Stadien) 
losgelöst  von  letztern,  und  in  ihren  Uebergängen  unverständlich. 


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Klinische  Typen.   Der  secund&re  Wahnsinn. 


12t 


Das  Denken  ist  entsprechend  inhaltlos  und  incobärent;  das  Ich 
macht  alle  Metamorphosen  durch,  oft  in  gleichem  Schritte  mit  den 
znfällig  vorgedrängten  Wahngedanken;  manchmal  fehlt  aber  auch 
jeder  begreifbare  Zusammenhang  für  die  verschiedenen  Personen, 
wofür  der  Kranke  sich  ausgibt:  er  ist  gestorben  und  wieder  aufer- 
standen, bat  vor  Tausenden  von  Jahren  gelebt,  ist  der  Messias,  der 
WeltbeglUcker,  und  begnügt  sich  daneben  mit  seinen  Tagesspiele- 
reien. Ueber  die  ganze  Auffassung  der  Umgebung  zieht  sich  Eine 
grosse  Illusion,  in  deren  Perception  alle  Widersprüche  und  Gegen- 
sätze friedlich  neben  einander  liegen.  Nicht  selten  retten  sich  aber 
—  namentlich  durch  die  mächtigen  und  regelmässigen  Eindrücke 
der  Anstaltsordnung  —  einzelne  richtigere  Ideenkreise  aus  dem  all- 
gemeinen Chaos  heraus,  und  der  Kranke  vermag  in  bescheidenen 
Grenzen  sich  noch  auf  einem  wirklichen  Boden  zu  bewegen,  wo 
man  ihn  versteht  und  er  sich  mittheilen  und  nützlich  machen  kann. 
Andere  dieser  Invaliden  wissen  sich  künstliche  Krücken  zurecht  zu 
schneiden,  mit  welchen  ihnen  noch  ein  theilweiser  Verkehr  mit  der 
Aossenwelt  möglich  ist.  Viele  sind  periodisch  leidlich  klar  und  zu- 
gäogig,  vermögen  sich  theilweise  richtige  Urtheile  zu  bilden,  und 
klar  aufzufassen;  zu  andern  Zeiten  verlieren  sie  aber  jeden  Compass, 
werden  abspringend,  widersprechend,  verwirrt  in  den  einfachsten 
Antworten,  und  faseln  nur  in  hergebrachten  fragmentaren  Gemein- 
plätzen. In  den  freiem  Zeiten  Offnet  sich  denn  anch  sehr  oft  der 
Einblick  in  das  chaotische  Innenspiel  der  wechselndsten  und  um- 
fassendsten Sinnestäuschungen,  der  abnormsten  Gefühle.  Manche 
offenbaren  sich  als  Dämonomanen,  welche  an  den  verschiedensten 
Körpertheilen  böse  Geister  spüren;  Andere  reagiren  gegen  allerlei 
allegorische  Sensationen,  deren  peinliche  Eindrücke  sie  durch  ihre 
pervers  scheinenden  Bewegungen,  durch  ihr  Dehnen  und  Strecken, 
durch  ihr  Spucken,  durch  ihre  Einsalbungen  des  Körpers  u.  s.  w. 
auszugleichen  suchen.  Manchmal  intercurriren  Angstzufälle,  andere 
Male  Paroxysmen  von  manischer  Heftigkeit  mit  impulsiven  Gewalt- 
acten  gegen  sich  oder  Andere.  Der  religiös  hallucinatorische  Wahn- 
sinn in  dieser  secundären  Gestaltung  bringt  auch  seine  Paroxysmen 
von  Kasteiungen  und  Nahrungsverweigerung.  Allmählich,  bald  in 
gleicbmässigem  Niedergang,  bald  in  periodischen  Verschlimmerungen, 
schreitet  die  geistige  Abstumpfung  weiter,  und  rückt  endlich  immer 
mehr  in  den  apathischen  Blödsinn  ein,  wobei  aber  die  Hallucinationen, 
nur  immer  fragmentarer,  und  die  perversen  Reflexe  auf  das  motorische 
Gebiet  in  automatischer  Fixirung  erhalten  bleiben.  Nicht  so  selten 
geht  aber  Beides  in  der  Apathie  des  Blödsinns  unter. 


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122 


Die  psychischen  Schwächezustände. 


Der  Blödsinn  s.  str. 
Der  fast  unendliche  Formenreichthum,  welcher  sich  auf  diesem  kli- 
nischen Gebiete  erschliesst,  gestattet  nicht  eine  erschöpfende  Aufstellung 
geschlossener  Typen.  Soweit  letztere  möglich,  kommen  sie  an  den  be- 
treffenden Stellen  zur  Schilderung:  so  beim  katatonen,  paralytischen  ma- 
sturbatorischen  u.  s.  w.  Blödsinn.  Im  Folgenden  sollen  nur  die  gene- 
rellen klinischen  Charakterzüge,  wie  sie  sich  aus  einer  Fülle  von  Einzel- 
fällen und  am  häufigsten  wiederkehrend  ergeben,  zur  Darstellung  kommen. 
Jeder  neue  Fall  bietet  wieder  neue  Mischungen  und  Variationen.  Im 
Ganzen  beherrscht  die  Eingangs  dargelegte  psychologische  Scheidung  der 
psychischen  Schwäche  in  eine  „reizbare"  und  „torpide"  Form  auch  hier 
die  Trennung.  Wir  unterscheiden  darnach  einen  „versatilen"  und  einen 
„apathischen"  Blödsinn,  wobei  aber  zugleich  betont  werden  muss,  dass 
Detailzuge  aus  beiden  Formen  sich  sehr  häufig  in  denselben  Bildern  ver- 
einigen, und  somit  die  concreten  Formen  sehr  selten  „stylistisch"  rein 
sind.  Bezüglich  der  Primärformen,  auf  welche  sich  die  genannten  Zu- 
standscomplexe  als  Terminalstadien  vertheilen,  sind  zu  nennen :  einfache 
Melancholieen ;  sodann  vornehmlich  die  Gruppe  sämmtlichcr  (einfacher  und 
periodischer)  Manieen,  und  der  primären  Dementia;  theilweise  reichen 
auch  die  Ausgänge  gewisser  Wahnsinnsformen,  vornehmlich  des  masturba- 
torischen  Verfolgungswahnes,  in  diese  klinische  Zeichencombinatiou  hinein. 

Allgemein  klinische  Zeichen, 
a)  Uas  Bewusstsein  und  die  inteltectuelhn  Functionen.  Grundzug 
und  patbognomisebes  Symptom  ist  eine  mehr  oder  minder  tiefe 
Schwächung  aller  Seelenfunctionen ,  entweder  gleichmässig  oder  in 
theilweise  vermindertem  resp.  erhöhtem  Grade,  so  zwar,  dass  eine 
mehr  oder  weniger  vollständige  Aufhebung  der  geistigen  Gesammt- 
kraft  daraus  hervorgeht.  Dabei  ist  kein  Stupor  oder  ballucinatorische 
Benommenheit  vorhanden;  der  wache  Mensch  ist  geistig  verkürzt, 
eingeschränkt,  oder  —  in  den  äussersten  Grenzen  —  zur  blossen  Vege- 
tationsstufe herabgedrückt:  ein  psychisches  Caput  mortuum.  Spe- 
ele 1 1  sind  Urtheil  und  Auffassung  bedeutend  geschwächt,  oft  gleich- 
mässig bis  zu  dem  Grade,  dass  keine  Perception  mehr  klar,  richtig, 
und  selbst  geläufige  Denkoperationen  geschädigt  oder  aufgehoben 
sind.  Manchmal  erfolgt  dagegen  die  Auffassung  verworrener,  als  sich 
(in  engen  Grenzen)  die  Urtheilsbildung  noch  zu  vollziehen  vermag. 
In  höheren  Blödsinnsgraden  kann  der  Kranke  selbst  Uber  die  stehen- 
den und  eingewöhnten  Anschauungen  und  Begriffe  aus  seinem  Tages- 
leben nicht  mehr  verfügen.  Endlich  kommen  ihm  selbst  die  einfach- 
sten Denkkategorieen  abhanden,  oder  werden  ihm  zum  Verschwinden 
unklar.  Immer  mehr  bilden  den  Inhalt  seines  intellectuellen  Besitzes 
nur  noch  Trümmer  bunt  zusammengewürfelter  Vorstellungsmassen; 
das  Bewusstsein  löst  sich  in  ein  Haufwerk  gestückelter  Formen  auf. 
Die  Associationen  werden  defect  und  erzeugen  eine  demgemässe 


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Der  Blödsinn.   Allgemeines:  Intellectuelle  Functionen,  Stimmung.  123 


flache  Logik  durch  einfache  Juxtaposition  zufälliger  Vorstellungen, 
ohne  jede  condensirte  Begriffsbildung. 

Stylprobe:  Qott  soll  man  fürchten,  weil  man  zur  Kirche  muss. 
Die  Eltern  muss  man  achten,  weil  sie  Einem  Schläge  geben.  Die  Nase 
braucht  man,  weil  sie  mitten  im  Gesichte  steht  u.  s.  w. 

Das  Gedächtniss  ist  meist  in  gleichem  Grade  geschwächt,  manch- 
mal aber  daneben  für  gewisse  Lebensabschnitte  oder  einzelne  Wissens- 
gebiete (Rechnen)  in  auffallender  Schärfe  erhalten.  Die  Rede  ist 
stossweise  abgebrochen,  incohärent  oder  in  monotonen  Gemeinplätzen 
sich  ergehend;  in  leichteren  Fällen  resp.  Anfangsstadien,  manchmal 
aber  auch  Uber  lange  Jahre  hinaus,  verfügt  der  Kranke  noch  Uber 
eine  leidliche  Diction,  aber  nur  für  gewisse  Gebiete,  und  ist  im  Ver- 
gleiche zu  früher  schwerfällig,  unbeholfen  und  leicht  verlegen.  Viele 
Kranke  reden  gar  nicht  oder  sie  antworten  nur  auf  Suggestivfragen, 
und  hier  entscheidet  über  die  Antwort  mehr  der  Zufall  als  die  Ein- 
sicht. Viele  antworten  nur  noch  „ja"  oder  „nein",  oder  gar  nur  in 
einer  der  beiden  Schablonen;  bei  Anderen  fehlt  das  Bedürfniss  zur 
Mittheilung  ganz;  sie  werden  unruhig  und  ängstlich,  wenn  man  sie 
anredet,  tappen  mit  verlegenen  Bewegungen  an  sich  herum,  drehen 
sich  ab  oder  wiederholen  die  Frage  (Echolalie).  Formell  schieben 
sich  oft  allerlei  selbstgemachte  (gehörte)  Worte  ein;  oder  die  Kran- 
ken sprechen  in  Anakoluthieen,  Viele  in  der  Infinitivform  des  Zeit- 
worts, oder  von  sich  in  der  dritten  Person.  Inhaltlich  schränkt 
sich  die  Rede  oft  auf  die  banalsten  Phrasen  ein,  ohne  irgend  eine 
wahnhafte  Beimischung.  In  anderen  Fällen  treten  Reste  des  ursprüng- 
lichen dämonomanen  oder  exaltirten  Wahnes  dazwischen;  oder  der 
Kranke  erzählt  in  freieren  Momenten  von  allegorisirten  Sensationen 
aus  seinem  Körper -Innern,  oder  von  seiner  höhern  Mission  oder 
seinen  Reichthümern.  Dieser  blödsinnige  Grössenwahn  ist  aber  stets 
matt,  mehr  phantastisches  Spiel  als  Ueberzeugung ,  und  lässt  sich 
durch  Suggestivfragen  nicht  selten  zu  den  höchsten  Höhen  beliebig 
emporschrauben.  Interessant  ist,  dass  manche  Blödsinnige  in  ihren 
freien  Zeiten  von  ihrer  „frühern  Geistesschwäche"  erzählen,  von 
welcher  sie  aber  jetzt  genesen  seien.  Andere  dagegen  halten  an 
ihrer  gegenwärtigen  Verstandesschwäche  fest,  erzählen  davon,  wie 
sie  auch  sonst  alle  Indiscretionen  rücksichtslos  auskramen.  Je  tiefer 
der  Grad  des  Blödsinns,  desto  fragmentarer  die  sprachlichen  Mit- 
theilungen, bis  sie  endlich  auf  einige  hergebrachte  Worte  oder  Sätze 
sich  reduciren  oder  ganz  aufhören. 

b)  Stimmung  und  Willensrichtungen.  Die  Stimmung  ist  theilnahms- 
log,  apathisch,  so,  dass  vorwiegend  nach  diesem  Charakterzuge 


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121 


Die  psychischen  Schwäcbezust&nde. 


der  psychische  Gesammtzastand  bezeichnet  wird.  Der  Nachlass  der 
affectiven  Spannung  ist  es  aucb,  was  in  der  Entwicklung  des  Blöd- 
sinns aus  dem  zugehörigen  Primärzustande  das  entscheidende  Kri- 
terium bildet.  Der  Wahn  bleibt,  aber  erregt  das  Gemüth  nicht  mehr. 
Diese  „Apathie"  nimmt  mit  fortschreitendem  Blödsinn  zu,  und  endet 
in  den  höchsten  Graden  mit  einer  absoluten  Erstarrung  und  Theil- 
nahmlosigkeit,  selbst  für  die  Gefühle,  welche  dem  Kranken  einst 
„das  Leben  gegeben"  hatten.  Namentlich  erblindet  auch  das  sitt- 
liche Auge;  die  altruistischen  Empfindungen  schwinden  in  einem 
immer  mehr  nur  auf  das  Niedrig -Sinnliche  sich  concentrirenden 
Egoismus;  endlich  erlahmt  auch  dieser,  und  der  Kranke  bleibt  un- 
empfänglich für  Hunger  und  Durst,  für  Wärme  und  Kälte.  Ohne 
Hoffen  und  Wollen,  ohne  Klage  und  Schmerz  verbringt  er  Tag  um 
Tag  in  derselben  Indifferenz.  Doch  kommen  auch  in  diesem  Gebiete 
die  vielfachsten  Abstufungen  vor.  In  manchen,  schon  sehr  dementen, 
Kranken  bleiben  gewisse  Richtungen  ihres  einstigen  Gemtithslebens 
lange  Zeit  auffallend  geschont;  es  erhalten  sich  Züge  von  Pietät, 
oder  auch  —  auf  niederer  Stufe  —  gewisse  Liebhabereien,  welche, 
angeregt,  wie  beim  Kinde  einer  stürmischen  Entfaltung  fähig  werden. 
Aber  sie  bleiben  ohne  Entwicklungsfähigkeit  und  werden  in  der  Folge 
immer  mechanischer  und  unklarer.  Andere  wiederum  sind  für  Ernst 
und  Schmerz  gleich  biegsam,  ohne  dass  ein  tieferer  Eindruck  zurück  - 
bliebe.  Zu  Zeiten  freundlich,  äussern  sie  sich  zu  andern  oft  ganz 
motivlos  feindlich,  gereizt,  brausen  in  heftigem  Zorne  auf  und  ge- 
rathen  darüber  nicht  selten  in  einen  Furor;  oder  sie  werden  gegen- 
theils  zeitweise  unruhig  in  peinlicher  Allangst,  fürchten  umgebracht 
zu  werden,  fliehen  und  verstecken  sich,  oder  machen  sich  allerlei 
Unnöthiges  zu  schaffen,  schrecken  bei  jeder  Annäherung  zusammen, 
werfen  aus  geröthetem  Gesichte  ängstliche  Blicke  umher  und  wissen, 
befragt,  keinen  Grund  zu  sagen.  Nicht  selten  explodiren  dann  Raptus 
von  Gewaltthätigkeit  gegen  sich  oder  Andere.  Durch  alle  Stadien 
oder  Grade  dieses  formenreichen  Zustandes  zieht  sich  ein  schritt- 
weises Uebergewicht  seitens  der  sinnlichen  Begierden  und  Triebe, 
nachgerade  so,  dass  deren  Befriedigung  noch  die  einzigen  Hebel 
bilden,  von  denen  aus  die  träge  psychische  Maschine  in  Bewegung 
zu  setzen  ist.  Anderemale  macht  weder  die  Erfüllung  noch  die  Ab- 
sage der  Essgier  auf  den  Kranken  einen  erheblichen  Eindruck.  Spe- 
ciell  die  letztere  artet  nicht  selten  in  Gehässigkeit  aus,  der  ge- 
schlechtliche Drang  in  schamlose  Masturbation  oder  plump -freche 
Attentate.  Manchmal  schlagen  auch  beide  Triebe  perverse  Rich- 
tungen ein  (Verschlingen  von  allerhand  Ungeniessbarem,  päderastische 


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Der  Blödsinn.   Körperliche  Begleitsymptome.   Mimik.  125 


Gelüste).  Bei  vielen  Kranken  treten  anscheinend  barocke,  vielleicht 
aber  doch  körperlich  motivirte  Dränge  auf:  z.  B.  sich  plötzlich  nackt 
aaszuziehen,  oder  sich  mit  allerlei  Unrath  zu  besalben,  Urin  und 
Stuhlgang  zu  verspeisen  u.  s.  w.  Manche  äussern  periodisch  oder 
anhaltend  einen  oft  unbezwingbaren  Stehltrieb;  Andere  suchen,  wo 
sie  können,  mit  dem  Feuer  zu  «spielen  u.  b.  w.  Im  Uebrigen  liegt 
der  Wille  darnieder.  Die  Krauken  kauern  oft  Tag  um  Tag  auf  der- 
selben Stelle,  suchen  sich  in  demselben  Winkel  niederzulegen,  rühren 
sich  nicht,  bleiben  stehen,  wo  man  sie  hinstellt,  halten  die  ange- 
nommene Lage  krampfhaft  fest,  und  lassen  sich  aus  derselben  mehr 
schleifen,  als  dass  sie  zu  selbstwilligem  Geben  zu  vermögen  sind. 
So  in  den  apathischen  Zuständen.  — In  den  versatilen  gegen- 
theils  ist  eine  plänlose  Unruhe,  eine  ungeordnete  psychomotorische 
Aufregung  ohne  Ende,  in  welcher  die  Willensäusserungen  des  Kranken 
aufgehen  und  sich  ziellos  zersplittern.  Ist  diese  einmal  nach  einer 
gewissen  Richtung  häufiger  wiederholt  worden,  so  verfällt  sie  leicht 
der  Beharrung  und  Fixirung.  So  entstehen  die  automatischen  Acte, 
das  Stunden-  und  Tagelange  einförmige  Hin-  und  Herrennen  in 
einer  genau  bestimmten  Wegstrecke.  Ein  Versuch  den  Kranken  zu 
hemmen,  begegnet,  wie  beim  apathischen  der  Zuspruch,  nicht  selten 
einer  zornigen  Gereiztheit  mit  blinder  maassloser  Heftigkeit. 

c)  Körperliche  Begleitsymptome.  Motorische  Störungen  specifischer 
Art  sind  dem  einfachen  uncomplicirten  Blödsinn  nicht  eigen;  wo  sie 
dazu  treten,  sei's  in  Form  von  Krämpfen  oder  Lähmungen,  handelt 
es  sich  um  individuelle  Himaffectionen  mit  Herdsymptomen.  Die  allge- 
meinen Aenderungen  des  motorischen  Verhaltens  im  Blödsinn  liegen  viel- 
mehr im  psychischen  Theil  der  Motilität,  und  kennzeichnen  sich  als 
Störungen  der  Mimik,  Physiognomik,  Gesammthaltung  und  der  willkür- 
lichen Bewegungen.  Die  hier  in  Wirksamkeit  tretenden  Verhältnisse  sind 
in  ihrem  speciellen  Charakter  und  ihren  physio- psychologischen  Zusam- 
menhängen noch  lange  nicht  genügend  erforscht,  um  jetzt  schon  entwickelt 
werden  zu  können;  ein  Theil  derselben  wird,  soweit  möglich,  bei  den 
motorischen  Störungen  des  Idiotismus,  welche  vielfach  auch  für  die  tie- 
feren Grade  des  apathischen  Blödsinns  gelten,  zur  Sprache  kommen. 
Hier  sollen  nur  die  wichtigeren  nach  ihrer  klinischen  Symptomatologie 
kurz  aufgeführt  werden. 

Die  Mimik  und  Physiognomik  bietet  ausserordentlich  viele 
Typen,  welche  sämmtlich  in  der  Stumpfheit  der  Gesichtszüge  und  der 
Geistlosigkeit  des  Ausdrucks,  in  der  Trägheit  und  Langsamkeit  der  mi- 
mischen Bewegungen,  oder  aber  gegentheils  in  dem  choreatisch  ungere- 
gelten, Uberstürzten  Vollzug  der  letzteren  zusammentreffen  (vgl.  auch  das 
betr.  Detail  beim  paralytischen  und  katatonen  Blödsinn).  Die  Kopfhal- 
tung ist  in  der  Regel  eine  schlaffe  („die  Krankheit  hat  den  Genickfang 
gegeben");  der  Kopf  stark  vorübergebeugt  oder  in  die  Achseln  gezogen. 
Der  Ausdruck  ist  stumpfsinnig  indifferent,  die  Züge  sind  hängend,  oder 


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126 


Die  psychischen  Schwächezustande. 


zeitweise  durch  einen  Anflug  von  Schmerz  oder  schmerzlicher  Freude 
verzerrt ;  anderemale  „wahnwitzig"  verzückt  und  fade  lächelnd  mit  hinauf- 
gezogenen Brauen  und  Stirnfalten,  und  stier  fixirten  Augäpfeln;  der  Blick 
bald  blöd  hinausstaunend,  bald  anhaltend  auf  den  Boden  geheftet  und  miss- 
trauisch  sich  vorstehlend;  anderemale  dagegen  neugierig  und  gaffend,  dabei 
inhaltsleer  und  ohne  Tiefe ;  oft  auch  ganz  fremdartig  verwirrt.  Bei  passiv 
mit  den  Kranken  vorgenommenen  Bewegungen  werden  nicht  selten  die 
Bulbi  von  einer  Seite  zur  anderen  automatisch  gedreht.  Oft  werden  die  Li- 
der Monate  lang  geschlossen  gehalten.  An  der  Nase  fehlt  selten  das  charak- 
teristische Schleimtröpfcben.  Der  Mund  steht  meist  offen  und  secernirt  über- 
reichen dünnflüssigen  Speichel.  Auf  der  Stirn  finden  sich  häufig  Collectionen 
von  allerlei  Acneformen,  die  Stirnhaut  selbst  ist  oft  gedunsen  und  verdickt, 
mit  zeitweilig  stärkerer  Schwellung.  Neben  vorübergehendem  oder  blei- 
bendem Strabismus  kommen  nicht  selten  fliegende  Zuckungen  Uber  das 
Gesicht,  oder  ungleiche  Innervation  beider  Gesichtshälften  vor.  Die  Kör- 
perhaltung ist  bei  den  apathischen  Zuständen  eine  gebrochene  mit  vor- 
waltender Wirkung  der  Flexoren.  Manche  Kranke  werden  zeitweilig  bild- 
säulenartig starr,  ohne  und  mit  flexibilitas  cerea.  Andere  machen  perverse 
Bewegungen,  heben  beim  Gehen  die  Fils  so  so  hoch,  als  ob  sie  Uber  ein 
Hindernis8  schreiten  müssten,  oder  sie  biegen  und  recken  sich  in  allerlei 
barocken  Attitüden.  Nicht  selten  begegnet  man  einer  gesteigerten  Re- 
flexerregbarkeit der  Planta  pedis,  so  dass  das  Bein,  wenn  die  Fussspitze 
auf  den  Boden  gesetzt  wird,  in  clonischen  Krämpfen  rasch  auf-  und  ab- 
wärts geführt  wird  und  tumultuarisch  aufstampft.  Die  Körperernährung 
wird  gewöhnlich  pastös,  gedunsen,  fettreich,  die  Haut  zu  Ausschlägen 
und  Decubitus  geneigt;  doch  sind  die  trophischen  Verhältnisse  derselben 
sehr  verschieden:  Verwundungen  heilen  in  einem  Falle  außergewöhnlich 
schwer,  im  anderen  Uberraschend  leicht.  Oft  bildet  sich  Lanugo  aus.  In 
den  späteren  Stadien  reducirter  Blödsinniger  wird  die  Haut  oft  per- 
gamentartig dürr,  atrophisch,  reichlich  sich  abschuppend.  Die  vasomo- 
torische Innervation  ist  stets  erheblich  geschädigt  und  neigt  sich  zur  fort- 
schreitenden Lähmung  (Cyanose  und  Kälte  der  Extremitäten  mit  Oedem- 
bildung).  Der  Puls  ist  manchmal  auffallend  beweglich.  Der  Harn  zeigt 
im  Allgemeinen  Abnahme  im  Gehalt  des  Harnstoffs  und  der  Chlorate  (im 
Vergleich  zur  Nahrungsaufnahme). 

Die  Sensibilität  ist  bei  den  höheren  Graden  des  Blödsinns  immer 
abgestumpft,  namentlich  bezüglich  der  Schmerzempfindlichkeit.  Grosse 
Furunkel  werden  oft  unbemerkt  getragen.  Merkwürdig  ist  die  perio- 
dische Aufhebung  der  Sensibilität  und  der  Reflexerregbarkeit  in  ge- 
wissen Fällen,  und  ebenso  die  partielle,  so  dass  die  Kranken  gegen 
äussere  schmerzbringende  Agentien  unempfindlich  sind,  und  nur  bei  Kälte 
heftig  zusammenschrecken. 

Krankheitstypen. 
1 .  Der  versatile  secundäre  Blödsinn.  Primärstadien  aller  Formen 
gehen  voraus,  sehr  oft  ungeheilte  Dämonomanieen  mit  ängstlicher 
Aufregung,  wovon  nicht  selten  noch  einzelne  Reste  erhalten  bleiben. 
Charakteristisch  ist  neben  den  Allgemein  -  Charakteren  der  blödsin- 


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Der  Blödsinn.  Klinische  Typen.  Versatiler,  apathischer  Blödsinn.  127 

oigen  Miene  und  Haltung  eine  unbeherrschte,  unruhige  und  unzweck- 
mässige Beweglichkeit  der  psychischen  und  motorischen  Aeusse- 
rnngen.  Die  Kranken  laufen  umher,  machen  sich  viel  zu  schaffen, 
ordnen  beständig  an  sich  und  Anderen  herum,  falten  die  Hände, 
knieen  nieder,  küssen  Personen  und  Gegenstände,  halten  nicht  Stand 
weder  bei  der  Unterredung  noch  bei  irgend  einer  Beschäftigung, 
äussern  die  widersprechendsten  und  verkehrtesten  Bestrebungen.  Die 
Stimmung  ist  eine  kindisch  weichliche,  erschöpft  sich  in  einer  Menge 
von  Wünschen,  Bitten  und  Klagen,  aber  alle  ohne  wirkliche  Bedeu- 
tung. Selbst  die  zeitweilige  Angst,  welcher  die  Furcht  vor  dem 
„Bösen"  zu  Grunde  gelegt  wird,  geht  nicht  aus  einer  tieferen  Ge- 
mtithsbewegung  hervor,  da  alle  begleitenden  Erscheinungen  fehlen, 
and  höchstens  einige  im  Strome  alberner  Reden  vorgebrachte  Aeusse- 
rungen  darauf  hinweisen.  Der  Grundzug  der  Stimmung  ist  Indiffe- 
renz; der  Kranke  bleibt  einen  Tag  wie  den  andern,  lässt  Alles  mit 
sich  geschehen,  kommt  nie  in  Affect,  ist  nie  heftig  oder  gewaltthätig, 
stets  freundlich  und  fügsam.  Das  Interesse  ftir  die  nächstliegenden 
Dinge,  für  einstige  Herzensbeziehungen,  ist  geschwunden  oder  er- 
beblich gemindert;  einmal  geäussert,  gleitet  der  Kranke  im  nächsten 
Augenblicke  wieder  darüber  weg,  um  sich  an  einen  kleinlichen 
Wunsch  oder  eine  gehaltlose  Klage  anzuklammern.  Der  Sinn  für 
das  Decorum  erhält  sich  dabei  oft  noch  längere  Zeit.  Der  Kranke 
ist  überaus  zerstreut,  vermag  oft  kaum  auf  Augenblicke  seine  Auf- 
merksamkeit auf  einen  Gegenstand  zu  lenken:  sofort  schieben  sich 
immer  wieder  alberne  Bemerkungen  oder  Bewegungen  dazwischen; 
wenn  er  aber  wirklich  aufmerkt,  so  tritt  in  jedem  Perceptionsact  die 
Schwäche  der  Auffassung  und  des  Denkens,  die  Unklarheit  und  Un- 
fähigkeit zur  geistigen  Concentration  hervor.  Die  sprachlichen  Aeusse- 
rungen  enthalten  eine  Mischung  völlig  zusammenhangloser  Vorstellun- 
gen: Reste  des  Wahnes,  Reminiscenzen ,  unmittelbare  Auffassungen, 
Wünsche,  Klagen,  Begehren  —  Alles  wirbelt  bunt  durcheinander 
and  jagt  sich  gegenseitig.  Der  Kranke  bleibt  seiner  nächsten  Um- 
gebung gegenüber  fremd,  kennt  noch  nach  Monaten  die  täglichen 
Umgangspersonen  nicht,  bleibt  unbekannt  mit  den  Ort-  und  Zeitverhält- 
nissen. Oft  spielen  Sinnestäuschungen  herein.  Der  Verlauf  ist  entweder 
ein  stationärer,  oder  geht  allmählich  in  apathischen  Blödsinn  Uber. 

2.  Der  apathische  secundäre  Blödsinn.  Das  Krankheitsbild 
resp.  die  unzähligen  Krankheitsbilder,  welche  sich  aus  den  oben 
beschriebenen  Elementen  zusammensetzen,  lassen  sich  sehr  schwer 
zu  einem  bestimmten  Typus  vereinen.  Jeder  Einzelfall  ist  ein 
Fall  ftir  sich,  ein  jeder  eigenartig.    Es  gibt  kein  abgestufteres  und 


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128 


Die  psychischen  Schwächezustände. 


reicheres  Detail  in  Form  und  Mischung  und  Ausbildungsgrad  der 
geistigen  Schwächesymptome  als  diese  anscheinend  so  monotonen 
Blödsinnsformen.  Auch  der  Verlauf  zeigt  vielfache  Verschiedenheiten. 
Selten  ist  derselbe  ein  anhaltend  stationärer;  er  schreitet  vielmehr 
unmerklich  zu  immer  tiefern  Stufen  fort  Sehr  häufig  treten  perio- 
dische Aenderungen  ein,  manchmal  in  einer  mehr  oder  weniger  regel- 
mässigen Abwechslung.  So  lassen  sich  nicht  selten  alternirende  Phasen 
von  grösserer  Torpidität  und  andererseits  grösserer  (relativer)  Be- 
lebtheit beobachten;  in  der  einen  lungert  der  Kranke  nachlässig 
herum,  gibt  keinen  Bescheid,  glotzt  vor  sich  hin,  lässt  Stuhl  und 
Urin  unter  sich  gehen  —  in  der  andern  ist  er  mittheilender  und  reg- 
samer, frischern  und  belebteren  Aussehens,  reinlich,  fuhrt  oft  Selbst- 
gespräche. Diese  Verlaufsform  kann  sich  noch  schärfer  in  einem 
Wechsel  zwischen  stumpfsinnigen  und  andererseits  manisch  -  aufge- 
regten Perioden  ausprägen.  In  jener  bietet  der  Kranke  das  gewöhn- 
liche apathische  Bild,  in  dieser  wird  er  unruhig,  die  Züge  werden 
gespannt,  das  Auge  leidenschaftlich  belebt;  er  läuft  viel  hin  und 
her,  schlägt  die  Thttren  zu,  wird  unzugänglich,  abstossend,  ver- 
wirrter, reizbarer,  manchmal  heftig  und  gewaltthätig.  Diese  wech- 
selnden Zustände  tragen  durch  ihre  verschiedene  Dauer,  Kraft  und 
Ausdehnung  oft  ausserordentlich  viele  Nuancen  in  das  sonst  ein- 
farbige Grundgemälde  ein ;  ebenso  auch  durch  die  Weise  ihrer  Auf- 
einanderfolge. Bald  gehen  sie  regellos  in  einander  Uber,  bald  regel- 
mässiger, manchmal  bricht  die  Erregungsphase  plötzlich  aus,  andere 
Male  tritt  sie  allmählich  ein.  Nicht  selten  nehmen  die  Paroxysmen 
einen  ziemlich  gleichmässigen  und  bestimmten  Verlauf  ein. 

In  einem  unserer  Fälle  wurde  der  Kranke  jeweils  erst  reizbar,  är- 
gerlich, widerstrebend  faul,  der  ohnehin  frequente  Puls  steigerte  sich  an 
Häufigkeit  und  Völle,  der  Kopf  wurde  congestionirt,  die  Stirne  blauroth 
und  wie  das  übrige  Gesicht  mit  einer  Menge  von  Acneknoten  und  Pu- 
steln bedeckt.  Der  Kranke  sprach  noch,  und  zwar  richtig,  war  aber  bei 
Fragen  unleidig.  In  rascherem  oder  langsamerem  Uebergange  kam  er 
in  sein  zweites  Stadium,  das  „Lach"-Stadium.  Er  sprach  nun  kein  Wort 
mehr,  brach  dagegen  in  ein  fast  andauerndes,  unbändiges  Lachen  aus, 
welches  er  in  Haufen  von  sich  stiess,  die  Congestionserscheinungen  dau- 
erten fort,  Katarrhe  der  Lider,  der  Rachen-,  Nasen-  und  Luugenschleim- 
haut  stellten  sich  ein,  die  Pulsfrequenz  nahm  ab,  und  der  Kranke  ging 
nach  Verlauf  einiger  Tage  in  das  dritte  Stadium,  das  des  Stupors,  ein. 
Zwischen  diesem  und  dem  vorigen  war  er  zuweilen  heftig,  schlug  plötz- 
lich Scheiben  ein  und  ging  regelmässig  der  Ferse  eines  anderen  Blöd- 
sinnigen nach,  wo  dieser  nur  immer  hingehen  mochte.  Bald  aber  sank 
er  in  nahezu  vollkommene  Bewusstlosigkeit,  wurde  leichenblass,  der  Blick 
glotzend,  die  Zuge  hängend,  der  Gesichtsausdruck  verrieth  eine  angst- 
volle Erschütterung,  der  Kranke  sass  statuenartig  da,  Hess  sich  aus-  und 


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Apathischer  Blödsiun.   Krankheitsbild.  —  Therapie. 


12!» 


anziehen,  füttern,  war  unreinlich.  Der  Puls  sank  auf  60,  wurde  voll 
und  schnellend.  Plötzlich  oder  in  allmählichem  Nachlass  hob  sich  auch 
die  Stimmung,  und  das  Bild  des  früheren,  relativ  freieren,  Blödsinns  kehrte 
wieder.  Der  Puls  stieg  auf  SO,  wurde  klein  und  leicht  wegdrückbar,  die 
Katarrhe  schwanden,  das  Gesicht  reinigte  sich.  Solche  Anfälle  dauerten 
3—4  Tage  bis  zu  eben  so  viel  Wochen.  Nach  und  nach  rückten  sie 
immer  näher  zusammen.  Für  die  Stuporphasen  wurden  ängstliche  Hallu- 
cioationcn  zugegeben. 

Nicht  selten  kommen  auch  im  Verlauf  des  Blödsinns  erfreuliche 
Besserungen  vor,  wobei  das  Interesse  in  beschränkten  Grenzen 
wieder  erwacht,  der  Kranke  zugängiger  wird,  Theilnahme  äussert, 
und,  richtig  geleitet,  zu  nützlicher,  wenn  auch  bescheidener  Be- 
schäftigung angehalten  werden  kann.  Solche  relative  Besserungen, 
selbst  auf  Jahre  hinaas,  kommen  sogar  bei  tiefen  Blödsiunszuständen 
vor.  Gar  oft  werden  aber  diese  Lichtpunkte  durch  Rückfälle  in 
den  Stumpfsinn  wieder  Uberholt. 

Bei  dämonomaner  und  melancholischer  Grundlage  sind  die  zeitweilig 
auftretenden  Angstzufälle  sehr  zu  beachten:  der  Kranke  beginnt  plötz- 
lich gegen  jede  Annäherung  heftig  zu  widerstreben  (oft  in  der  Form  der 
conträren  Negation,  wobei  er,  am  ganzen  Körper  zitternd,  Alles  ver- 
spricht, nur  nicht  das  von  ihm  Verlangte),  verweigert  hartnäckig  die  Nah- 
rung und  äussert  nicht  selten  ernst  gemeinten  Selbstmorddrang.  Viele 
wachen  in  solchen  Paroxysmen  (rcactiv)  allerlei  sonderbare  krampfartige 
Bewegungen :  sie  lehnen  sich  gewaltsam  rückwärts,  zucken  rhythmisch  mit 
den  Lippen,  den  Augäpfeln  und  Lidern,  stossen  thierische  Schreilaule 
aus.  Jeder,  auch  der  mildeste  Eingriff,  erhöht  die  Angst  zu  einem  furcht- 
baren Grade.  Die  Kranken  finden  sich  noch  am  Besten  zurecht,  wenn 
man  sie  (wohl  beaufsichtigt!)  Uber  diese  Periode  hinweg  ganz  gehen  lässt. 

Therapie. 

Die  Behandlung  der  Secundär-  resp.  psychischen  Schwäche- 
zustände fällt  fast  ausschliesslich  den  Anstalten  zu.  Gerade  auf 
diesem  Gebiet  entfalten  sie  ihre  besonders  segensreiche  Wirkung,  so 
dass  man  deren  rühmendste  Auszeichnung  in  die  geistig  hebende  und 
fordernde  Pflege  der  Unheilbaren  setzen  darf.  Jedem,  auch  dem  In- 
validen, seine  Stelle  anweisen,  wo  er  noch  als  bescheidenes  Glied  in 
den  Organismus  sich  einfügen  kann ;  wo  er  mit  der  Freude  am  kleinen 
Wirken  den  noch  glimmenden  Funken  seiner  Selbstachtung  wach 
erhält ;  wo  er  geistig  sich  abzulenken  vermag,  und  am  gemeinsamen 
Werk  theilnehmend  auch  in  die  vernünftige  Wirklichkeit  sich  wie- 
der eingewöhnt  und  dadurch  die  geistigen  Krücken  gewinnt,  um 
social  zu  bleiben  und  in  der  innern  Anstaltswelt,  jetzt  seiner  zweiten 
Heimath,  schaffend  und  auch  geniessend  sich  zu  bewegen:  Das  sind 
in  grossen  Zügen  die  hohen  Ziele  und  auch  die  Erfolge  der  indivi- 

Sehttlo,  G«Ut«akraokheit«n.   3.  Aufl.  (J 


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130 


Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 


dualisirenden  Anstaltsbehandlung.  Daneben  bleiben  der  somatischen 
Therapie  noch  wichtige  Anhaltspunkte  genug.  Bei  der  Unterwürfig- 
keit dieser  geistig  hemmungslosen  Existenzen  unter  körperliche  Miss- 
empfindungen, bei  der  emotiven  Reizbarkeit,  welche  stets  neue  den 
geistigen  Niedergang  befördernde  AffectstUrme  setzt,  bei  den  inter- 
currenten  Angriffen  auf  das  Hirnleben  durch  Fluxionen  zum  Kopfe, 
Kreislaufs-  und  Verdauungsstörungen,  Auämieen  etc.  sind  der  ärzt- 
lichen Beobachtung  und  Therapie  immer  wieder  neue  Wege  gewiesen, 
um  diätetisch  und  arzneilich  einzugreifen  und  der  hohen  Aufgabe 
„den  sinkenden  Menschengeist  zu  heben"  gerecht  zu  werden.  Speci- 
fica,  worunter  man  früher  vor  Allem  den  Phosphor  rechnete,  gibt 
es  nicht;  dieselben  liegen  viel  näher  in  der  Anstaltsküche  (sorgsame 
individualisirende  Diät),  in  der  Tagesbeschäftigung,  namentlich  Feld- 
arbeit der  Kranken,  und  im  Kopfe  und  Herzen  des  leitenden  Arztes. 


Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 

Allgemeines  über  Wahnideen:  Hagen,  Studien  1870.  —  Ann.  m£d.  psych. 
1881.  —  Magnan,  Arch.  deneur.  1881.  —  Spitzka,  St.  Louis  Clin.  Ree.  1880. 
II. u.  Journ.  of  ment.  sc.  1881.  —  Buccola,  Riv.  sper.  1882.  —  Foville,  Ann. 
me*d.  psych.  1882  (Grössen-ldeeu).  —  Raggi,  Arch.  ital.  1884. 

Klinische  Schilderung:  Snell,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  22  u.  30.  —  Grie- 
singer, Arch.  f.  Psych.  1.  —  Westphal,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  34.  —  Hertz, 
Ibid.  —  Schäfer,  Ibid.  30  u.  37.  —  Koch,  Ibid.  30.  —  Leidesdorf.  Psych. 
Studien,  Wien  1877.  —  Tilling,  Psych.  Centrlbl.  187S.  —  Merklin,  Dissertation, 
Dorpat  1879.  —  Fritscb,  Jahrbücher  der  Psych.  1870.  —  v.  Kraf ft-Ebing, 
Lehrbuch  II.  —  Kraepelin,  1.  c.  —  Weiss,  I.e.  —  Morel,  I.e.  —  Scholz, 
Berl.  klin.  Wochcnschr.  1880.  —  Koch,  Irrenfreund,  8.  —  Buch,  Arch.  f.  Psych. 
11.  —  Falret,  An.  med.  psych.  1878.  —  Siegfried,  Berl.  klin.  Woch.  1881. — 
Moeli,  Char.  An.  VII.  —  Araadci  u.  Toniui,  Arch.  ital.  1883.  —  Muhr,  Arch. 
f.  Psych.  0  (Anat.  Befunde). 

Verfolgungswahn:  Le  Grand  du  Saulle,  Dt?lire des  persecutions.  —  Dis- 
cussion  über  ilie  Gesichtshallucinationen  im  Verfolgungswahn  iu  den  An.  med. 
psych.  1>81.  —  Kirn,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  1807  (tabischer  Verflgsw.). 

ExpunsiTer  Wahnsinn:  Ideler,  Der  religiöse  Wahnsinn  1847  ;  Versuch  einer 
Theorie  des  letztern.  1859.  —  Marc,  Geisteskrankheiten,  übersetzt  v.  Ideler,  sodann 
die  Eingangs  genannten  Lehrbücher  (speciell  v.  Krafft-Ebing,  Spielmann,  Dagonet, 
Maudsley). 

Acuter  hallucinatorischer  Wahnsinn:  Meynert,  Jahrb.  f.  Psych.  l8S0u. 
<1.  —  Kraepelin,  {über  deu  Einfluss  acuter  Krankheiten  etc.)  Arch.  f.  Psych.  11 
u.  1 2,  mit  vollst.  Literatur. 

Gefangeneuwahnsinn:  Moritz,  Casp.  Vierteljahrschr.  22.  —  Parrish,  J. 
of.  psych,  med.  1852.  —  Schmidt's  Jahrb.  1802  u.  1803.  —  Gutsch,  Allg.  Ztschr.  f. 
Psych.  19.  —  Delbrück,  Ibid.  20.  —  Reich,  Ibid.  27.  —  Köhler,  Ibid.  33  (Psy- 
chosen weibl.  Sträflinge).  —  Thomson,  J.  of  m.  sc.  1800  u.  1870.  —  Nicholsen, 
Ibid.  1*573,  1S74  u.  1875  (Psychopathie  der  Verbrecher).  —  Baer,  Gefängnisse,  Straf- 


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Psychologische  Analyse  des  chronischen  Wahnsinus. 


131 


anBtalten  u.  Strafsysteme,  Berlin  1871.  —  Brierre  de  Boismont,  Les  fous  cri- 
minels  en  Anglettere,  deutsch  von  Stark  1S70.  —  Sauze,  Ann.  m6d.  psych.  21.  — 
Hurel.Ibid.  1675.  —  Speciell  über  llallueinationen  s.  Hagen,  Sinnestäuschungen, 
Monogr.  1837,  u.  Allg. Ztschr.  f.  Psych.  25  mit Lit.  —  Desgl.  Emmi ugh aus,  Psycbo- 
pathol.  p.  135.  —  Kandinsky,  Kritische  u.  klin.  Betrachtgn.,  Monogr.  Berl.  ISS5. 

Der  prlmttre  chronische  und  acute  Wahnsinn. 

Der  innerste  Kern  dieser  grossen  Krankheitsgruppe  ist  eine  pri- 
märe Störung  im  Vorstellungsleben  entweder  in  Form  einer  Hem- 
mung oder  Förderung  der  Ich-Gruppe  mit  allegorisirender  (illuso- 
rischer) Apperception;  oder  aber  einer  Auflösung  des  Ich-Verbandes 
durch  jäh  einbrechende  und  übermächtige  Sinnestäuschungen.  Nach 
beiden  Richtungen  setzt  die  Genese  des  Processes  einen  begleitenden 
logischen  Defect,  eine  geschwächte  oder  mangelnde  Kritik 
and  Reflexion,  als  wesentlich  zugehörig  voraus  (Schwäche  oder 
Ausschaltung  der  Vorderhirnthätigkeit,  wozu  noch  die  verminderte 
Hemmungsfähigkeit  kommt,  s.  u.).  Im  ersten  Falle  bleibt  das  Ich 
erhalten,  wiewohl  als  ein  gefälschtes,  weil  es  dem  Zwange  der  un- 
bewusst  sich  vollziehenden  Objectivirung  jenes  subjectivcn  Hemmungs- 
oder Förderungsgefühles  erliegt;  im  zweiten  wird  das  Ich  verdunkelt, 
weil  die  krankhaft  erregten  Sinnescentren  das  geistige  Blickfeld  ein- 
nehmen und  beherrschen.  Im  ersten  Falle  besteht  somit  das  Wesen 
der  Störung  psychologisch  in  einer  Illusion  oder  falschen  Apper- 
ception ;  im  zweiten  in  einem  hallucinatorischen  Traumzustand.  Jene 
setzt  das  Wesen  des  chronischen  primären  Wahnsinns  zusammen, 
diese  das  Wesen  des  acuten. 

Die  chronische  Form  ist  klinisch  die  schärfer  umschriebene, 
und  muss  als  die  eigentlich  typische  vorangestellt  werden.  Entgegen 
der  Melancholie  und  Manie,  welche  beide  (speciell  die  erstere)  eben- 
falls psychologische  Elemente  eines  gehemmten  oder  geförderten 
Vorstellungsganges  in  sich  enthalten,  schliesst  der  Wahnsinn  nicht 
mit  diesem  Gefühle  einer  inneren  Entfremdung  oder  einer  inneren 
Erweiterung  des  persönlichen  Ich  ab,  sondern  macht  in  Einem 
darüber  hinaus  den  Sprung  in's  Objective.  Damit  begeht  er  aber 
einen  grossen  Trugschluss,  insofern  er  eine  innere  Ursache  in  der 
Aussenwelt  sucht.  Dass  dieser  Schluss  (zunächst)  in's  Blaue  sich 
vollziehen  kann,  überhaupt  psychologisch  möglich  wird,  liegt  darin, 
dass  der  Wahnsinnige  Uber  das  elementare  Gefühl  des  Gehemmt- 
resp.  Gefördert- seins  hinaus  zur  Apperception  Ubergeht  —  übergehen 
muss,  weil  (durch  die  Eigenart  seiner  Hirnerkrankung)  das  Ich  in 
seiner  kritischen  Kraft  geschwächt  und  widerstandsloser  geworden 
ist.  Im  Apperceptionsgefühl  liegt  aber  für  das  Ich  das  innere  Local- 
zeichen  zur  Objectivirung.   Es  handelt  sich  mithin  in  dem  Trug- 

9* 


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132  Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 

schluss,  wodurch  der  Kranke  eben  zom  Wahnsinnigen  wird,  am 
einen  primären  Erkenntnissact.  Die  Illusion  vollzieht  sich  in  statu 
nascenti  und  als  psychologischer  Zwang,  unbewusst,  wenn  auch 
getrieben  durch  das  CausalitätsbedUrfniss  (s.  u.)  Ist  dieser  erste  illu- 
sorische Erkenntnissact  vollzogen,  dann  hört  vorübergehend  (für  den 
einen  Act)  das  Gefühl  des  inneren  Schwankens  auf,  kehrt  aber  wieder, 
bis  endlich  der  fertige  Wahn  ausgebaut  ist  (s.  Wahnidee).  Auch 
jetzt  noch,  nachdem  Ruhe  auf  dem  ganzen  Erkenntnissgebiet  ein- 
getreten, können  in  der  Folge  wieder  Stimmungsanomalieen  sich  ein- 
stellen, und  zwar  nach  depressiver  wie  nach  manischer  Richtung; 
aber  deren  psychologische  Stellung  und  Bedeutung  ist  jetzt  nur  mehr 
eine  secundäre,  reactive.  Der  psychologischen  Entwicklung  nach 
befindet  sich  somit  der  Wahnsinnige  in  einer  wesentlich  anderen 
Lage  als  der  Melancholiker,  so  sehr  auch  im  Anfang  beide  Processe 
den  gemeinsamen  Weg  dunkler  Angst  nehmen,  und  so  häufig  beide 
von  demselben  psychischen  Entstehungspunkt  (z.  B.  einer  GemUths- 
bewegung)  ausgehen.  Während  aber  der  Melancholiker  gegenüber 
der  unerkannten  kranken  Gemüthsbedrängung  sich  concentrirt,  und 
schmerzgebeugt  sich  versch liessend  die  fremde  Last  auf  sich  nimmt, 
öffnet  sich  mit  dem  Eintritt  in  den  Wahnsinn  der  Bewusstseinsinhalt 
—  das  Ich  —  dem  fremden  Eindringling  (d.  h.  der  krankhaften  Illu- 
sion); es  appereipirt  und  weiss  nun  1.  um  was  es  sich  handelt,  und 
2.  dass  es  seine  eigene  Existenz  angeht.  Der  objectivirende  Schluss 
befreit  somit  den  Wahnsinnigen  von  der  Hemmung  (Angst),  an  wel- 
cher der  Melancholische,  den  Stachel  gegen  sich  kehrend,  ermattet 
(s.u.).  Aber  die  Befreiung  geschieht  um  den  Preis  der  Einheit 
des  Bewusstseins.  Das  Ich  des  Wahnsinnigen  ist  entzweit.  Er  fühlte 
im  Beginn  dunkel,  dass  er  nicht  mehr  Er  selbst  ist,  so  wie  früher; 
jetzt  ist  er  sich  klar,  dass  er  unter  fremden  Einfluss  gerathen  ist, 
wenn  ihm  auch  das  Detail  noch  fremd  ist;  oder  dass  von  aussen 
ihm  gesteckte  Ziele  —  „Mächte"  —  an  ihn  herantreten.  Dieser 
Schluss  ist  unbewusst  über  ihn  gekommen,  nicht  aus  Reflexion  er- 
folgt. Es  ist  oben  schon  darauf  hingewiesen  worden,  dass  die  Kritik 
mangelt  oder  unterdrückt  ist  gegenüber  der  ausserordentlich  lebhaft 
aufstrebenden,  weil  mit  objectivirendem  („sinnlichem")  Timbre  ver- 
sehenen neuen  (Wahn-)Vor6tellung. 

Beide  Vorgänge  setzen  eine  Verminderung  der  psychischen  Hem- 
mungsfähigkeit, eine  reizbare  Schwäche  im  geistigen  Mechanismus 
des  Wahnsinnigen  voraus,  wodurch  die  neu  eintretende  gefälschte  Wahr- 
nehmung eine  ungehinderte  Masse  associativer  Verbindungen  und  einen 
hemmungslosen  Eintritt  in  das  Blickfeld  des  Bewusstseins  erzwingt;  wäh- 
rend andrerseits  das  begleitende  phantastische  Element,  das  leise  inner- 


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Psychologische  Analyse  des  chronischen  Wahnsinns 


133 


liehe  „Mithalluciniren"  (gleichfalls  eine  Folgewirkung  aus  den  herabge- 
setzten centralen  Leitungswiderständen),  die  objectivirende  Täuschung 
erleichtert  und  vollziehen  hilft. 

Es  entgebt  nicht,  wenn  wir  jetzt  den  soweit  in  der  Bewusst- 
seinsspbäre  entwickelten  Process  weiter  verfolgen,  dass  die  gewonnene 
Erkenntniss  —  die  Wahnidee  —  sofort  auch  eine  Einbusse  an  dem 
geistigen  Gesammtbesitz  des  Patienten  bedentet.  Scheinbar  weiss  ja  der 
Wahnsinnige  jetzt  ein  Mehr,  aber  in  Wirklichkeit  ist  er  nur  um  eine 
pereeptive  Täuschung  reicher;  er  bewegt  sich,  indem  er  seine  ab- 
normen Innengefttble  nach  aussen  verlegt,  in  seinem  eigenen  Schatten, 
und  logisch  in  einem  Cirkel.  Aber  das  Bewusstsein  hat  ausser  dem 
verfälschten  Zuwachs  auch  noch  einen  verfälschenden  für 
den  übrigen  Vorstellungsinhalt  erworben.  Denn  die  neue  Vorstellung 
identificirt  sich,  weil  sie  dem  Ich  nicht  nur  als  klar,  sondern  — 
mehr  noch  —  als  nach  vor-  und  rückwärts  aufklärend  imponirt, 
sofort  und  intim  mit  der  obersten  Vorstellungsgruppe;  sie  wird  damit 
inhaltlich  immer  mehr  zur  Prämisse  für  Denken  und  Wahrnehmen 
überhaupt,  und  zugleich  zur  Tonangeberin  für  die  Stimmung.  Ein 
neues  Bewusstsein,  anfangs  kämpfend  mit  dem  alten,  wächst  in  dieses 
letztere  hinein  und  zersetzt  es  nach  und  nach.  Dabei  bleibt  das 
alte  immer  aber  noch  stückweise,  oft  zu  einem  grossen  Theile  und 
oft  auf  lange  Jahre,  erhalten.  Es  ist  für  die  typische  chronische 
Wahnsinnsform  charakteristisch,  dass  sie  eine  sogenannte  partielle 
Bewusstsein  ss  törung  heraus  bildet,  neben  welcher  der  übrige 
Tbeil  des  geistigen  Geschehens  (des  gesunden  Ich)  sich  noch  zu  con- 
serviren  vermag,  und  dass  im  gesunden  und  kranken  Bewusstseins- 
segment  (im  alten  und  neuen  Ich)  die  formalen  logischen  Functionen 
erhalten  bleiben.  In  seinem  Wahnkreis  auf  dem  Monde,  kann  der 
Wahnsinnige  in  den  übrigen  Wissensgebieten  noch  lange  den  früheren 
Umfang  und  die  einstige  Klarheit  bewahren  und  mit  derselben 
logischen  Schärfe  sich  im  Realen  behaupten,  mit  welcher  er  seine 
Fictionen  dialektisch  zu  vertheidigen  weiss.  Dieselbe  Logik  fährt 
fort  nach  aufwärts  zu  bauen,  deren  unbewusst  geschehende  Minir- 
arbeit  nach  abwärts  die  geistige  Existenz  untergräbt.  So  kommt 
Methode  und  System  in  den  Wahnsinn  —  das  zweite  Cha- 
rakteristicum  (neben  der  Erhaltung  des  wachen  Ich):  richtige  Wahr- 
nehmungen und  falsche  Conceptionen  reihen  und  verknüpfen  sich, 
beide  als  gleichscharf  ausgeschnittene  Figuren,  und  als  gleichwerthige 
Grössen  im  geistigen  Blickfeld. 

Die  Erhaltung  des  alten  Ich  ist  jedoch  nicht  eine  wirkliche,  wörtlich 
zu  nehmende.    Im  Grunde  kann  die  Auseinandersetzung  mit  dem  neuen 


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131 


Der  "Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 


Eindringling  nur  auf  dem  Weg  des  Compromisses  erfolgen,  indem  das 
alte  Ich  Zugeständniese  macht.  Darin  liegt  das  psychische  „Schwäcbe"- 
Moment,  welches  jedem  Wahnsinn,  auch  dem  täuschend  leistungskräftig- 
sten, eingeboren  ist.  Anfangs  vollzieht  sich  der  Compromiss  in  der 
Weise,  dass  das  alte  Ich  in  der  Kategorie  der  neuen  Wahnperception 
auffasst  und  denkt ;  später  dadurch,  dass  es  sich  immer  vollständiger  von 
dem  kranken  Gedankenkreise  absondert.  So  theilt  sich  rascher  oder  lang- 
samer der  geistige  Besitz:  die  ursprüngliche  Persönlichkeit  zerfällt,  zwei 
Seelen  wohnen  in  derselben  Brust,  zwei  Personen  in  demselben  Kopf. 
Eine  dritte  psychologische  Form  der  Weiterentwicklung  ist  die  Ausbrei- 
tung des  kranken  Ich  Uber  das  gesunde,  die  Aufsaugung  der  alten 
Persönlichkeit  durch  die  Schablone  der  kranken.  Aber  schon  die  An- 
fänge des  verhängnissvollen  Decursus,  in  welchem  noch  die  ursprungliche 
Persönlichkeit  in-  und  extensiv  das  Uebergewicht  bewahrt,  vollziehen  sich 
nicht  ohne  ernstere  Neben-  und  Folgewirkungen.  Gewöhnlich  spielen 
sich  diese  reactiv  im  GemUthsgebiete  als  periodische  Depressionen  oder 
Aufregungen  ab;  in  andern  Fällen,  bei  minder  starker  Gemütsbewegung, 
sucht  sich  das  in's  Schwanken  gerathene,  in  seinem  innersten  Bewusst- 
seinskern  bedrängte,  Ich  durch  Selbsthilfe  (s.  später)  zu  retten;  ein  häu- 
figer und  sehr  verbreiteter  —  unbewusst  geübter  —  Schutz  des  Ichbe- 
standes ist  die  sog.  „krankhafte  Präcision"  der  Wahnsinnigen, 
womit  sie  sich  als  die  immer  gleiche  und  unveränderte  Persönlichkeit, 
sich  und  der  Umgebung  gegenüber,  zu  sichern  bestrebt  sind,  ängstlich 
nach  immer  neuen  Bestätigungen  greifen,  dass  man  sie  nicht  mit  andern 
Personen  verwechsle.  Aber  auch  dieses  mühsame  Bestreben  hält  nicht 
immer  vor,  und  schliesslich  erfasst  sich  der  Kranke  als  „Doppelgänger", 
von  denen  der  Eine  „er  selbst"  ist,  der  Andere  aber  zu  den  „Verfol- 
gern" hält  (s.  später  auch  unter  den  Zwangsacten,  von  welchen  einige, 
wie  die  „Such-Mauie",  aus  diesem  „Verificationszwang"  ihren  psycholo- 
gischen Ursprung  nehmen). 

Die  acute  Form  bietet  diesem  eben  beschriebenen  Bilde  gegen- 
über auf  den  ersten  Anschein  wesentliche  Unterschiede.  Der  Er- 
haltung des  Ich  in  der  chronischen  Form  entspricht  hier  eine  Ver- 
dunkelung desselbeu;  dem  dortigen  „Uber"scbarfen  Wachsein  corre- 
spondirt  hier  ein  Schwanken  in  der  Bewusstseinshelle,  welche  vom 
Dämmerhaften,  ja  selbst  Traumartigen  —  oft  in  jähem  Uebergang 
von  Stunden  und  selbst  Minuten  —  bis  zu  gradweiser  Lucidität  hinauf- 
geht, nie  aber  die  eigentliche  Klarheitsstufe  erreicht,  jedenfalls  nicht 
dauernd.  Dort  sind  die  logisch  formalen  Thätigkeiten  geschont, 
oft  bis  zum  dialektischen  Raffinement;  hier  fehlt  dieses  systemati- 
sirende  Band ;  die  Sinnestäuschungen  sind  desultorisch,  in  ihrem  In- 
halt gleich  Traumbildern  wechselnd.  In  demselben  Zusammenhang 
finden  sich  dort  ausgesprochene  und  bleibende  depressive  oder 
exaltirte  Stimmungszustände ;  hier  dagegen  fragmentare,  abrupte, 
bunt  sich  mischende,  nicht  selten  sich  widersprechende.  Das  Wesent- 
liche aller  differentiellen  Momente  liegt  aber  in  der  massenhaften 


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Psych.  Analyse  d.  acut.  Wahnsinns.  Klin.  Differenzen  o.  Zusammenhange  beider.  1 35 

Entwicklung  der  Hallucinationen,  der  Einfälle,  der  plötzlich  auf- 
strebenden Stimmungen  und  Handlungsimpulse  bei  der  acuten 
Form  —  gegenüber  den  vergleichsweise  seltenern,  immer  wieder 
appercipirten  und  dadurch  gleichmässig  gefärbten  Sinnesdelirieu  in 
der  chronischen.  Man  kann  sagen:  bei  dieser  fest  gegliederte 
Ordnung,  Alles  in  ein  Schema  (des  Verfolgungs-  oder  Expansions- 
wahnes) eingefügt  und  Eine  Sprache  redend;  bei  jener  (der  acuten) 
Auflösung  der  Ich-Hegemonie  in  die  Membra  disjecta  von  kalei- 
doskopischen Traumbildern,  Einzelantrieben,  proteusartig  wechseln- 
den Stimmungen. 

Jedoch  sind  in  den  soeben  gegensätzlich  durchgeführten  Unterschei- 
dungen nur  die  Grenzfälle  des  acuten  und  chronischen  Wahnsinns 
gezeichnet.  In  der  Mitte  berühren  sie  sich  und  zeigen  ihre  klinische 
Verwandtschaft,  so  zwar,  dass  eine,  und  zwar  grosse,  Gruppe  der  acuten 
Form  in  Wirklichkeit  nur  die  Wiederholung  der  chronischen  darstellt. 
Hier  eröffnet  ein  echt  syrabolisirendes  Verfolgungsdelirium  mit  Sinnes- 
täuschungen und  gleichgefärbten  appereeptiven  Trugschlüssen  die  Scene, 
Anfangs  noch  neben  wachen  und  richtigen  Wahrnehmungen;  unter  zu- 
nehmender Bewnsstseinsverdunkelnng  rückt  ein  deliranter  geistiger  Ex- 
pansionszustand ein,  mit  religiös  mystischem  oder  erotischem  Inhalt;  aber 
das  Ich  bleibt  sich  dieses  Traumspiels  inne,  und  wenn  es  auch  nicht  die 
wachen  und  die  hallucinirten  Perceptionen  zu  sondern  vermag,  so  laufen 
sie  doch  alle,  systematisch  verknüpft,  in  seinem  Brennpunkt  zusammen. 
Das  ist  der  acute  Wahnsinn  x«r'  tifo /»,'»>;  manchmal  bleibt  er  in 
diesem  klinischen  Rahmen,  oft  aber  (z.  B.  bei  intercurrenten,  febrilen 
Zuständen)  Uberschreitet  er  denselben,  indem  die  Hallucinationen  über- 
mächtig werden  und  inhaltlich  wechseln,  und  tritt  so  in  den  weitern  Kreis 
der  oben  geschilderten  Grenzfälle  über.  Aber  auch  der  chronische  Wahn- 
sinn zeigt  in  seinem  Verlauf  oft  genug  Exacerbationen,  welche  sympto- 
matologisch  nichts  Anderes  darstellen,  und  auch  sind,  als  die  acute 
hallucinatorische  Wahnsinnsform,  wie  sie  oben  antithetisch  gezeichnet  ist. 
Namentlich  erfolgt  die  Einleitung  oft  mit  einer  derartigen  hallucinatori- 
schen  Phase.  Andrerseits  geht  der  nicht  geheilte  acute  Wahnsinn  nicht 
selten  in  einen  chronisch-hallucinatorischen,  theilweise  auch  systemati- 
sirten,  über.  Mit  Einschiebung  dieser  üebergänge  verringern  sich  die 
anfänglichen  scharfen  Gegensätze  immer  mehr  und  lassen  ihre  klinische 
Verwandtschaft  um  so  klarer  hervortreten.  Die  ursprünglichen  Grenz- 
fälle liegen  jetzt  nicht  einmal  so  weit  entfernt  als  die  Mania  mitis  und 
Mania  gravis,  welche  gleichwohl  Einer  klinischen  Gruppe  zugehören. 

Immerhin  ergehen  sich  mit  der  genauem  Analyse  der  in  dieses 
ausserordentlich  grosse  —  ich  möchte  annehmen  grösste  —  Psychosen- 
gebiet einschlägigen  Fälle  noch  gewisse  weitere  Differenzpunkte,  welche 
gebieten  die  Grenzfälle  klinisch  scharf  auseinander  zu  halten,  und  welche 
zugleich  die  ausserordentliche  Weite  des  Bogens  zeigen,  welcher  die  Ge- 
sammtgruppe  des  Wahnsinns  umschlies9t.  Die  chronischen  Fälle  reihen 
sich  nämlich  symptomatologisch  theilweise  eben  so  nahe  an  die  eigentlich 
degenerative  Verrücktheit  an  (ja  leihen  der  letztern  nicht  selten  ihre 


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136 


Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 


klinischen  Bilder),  als  die  acuten  an  die  Neuropsychosen  (Melancholie 
und  gewisse  Stuporformen  mit  Hallucinationen).  Es  ist  wichtig  dieses 
Verhältniss  zu  betonen.  So  unterscheidet  sich  zwar  im  Allgemeinen  der 
acute  Wahnsinn  von  der  Melancholie  sehr  markirt  durch  die  Unabhängig- 
keit von  einer  primären  krankhaften  Stimmungsanomalie,  welche  bei  der 
Melancholie  einleitendes,  andauerndes  und  herrschendes  psychisches  Ele- 
ment ist.  Aber  es  gibt  doch  auch  im  acuten  Wahnsinn  eine  dämono- 
manische Gruppe,  welche  nicht  allein  von  einem  mächtigen  depressiven 
( panphobischen)  Affect  getragen  ist,  sondern  auch  durch  ein  echtes  De- 
pressionsstadium eingeleitet  wird  mit  charakteristisch  herabgesetztem 
Selbstgefühl,  depressiv  gefärbten  Hallucinationen  und  Illusionen.  Das- 
selbe nahe  Verhältniss  —  sagen  wir,  dieselben  fliessenden  Uebergänge  — 
bestehen  zum  Stupor.  Im  Allgemeinen  findet  allerdings  gegenüber  der 
am  meisten  typischen  Stuporform  (der  attonischen)  der  acute  Wahnsinn  eine 
scharfe  Abgrenzung  durch  den  Mangel  des  Perceptionsabschlusses  und  der 
vollständigen  Willenshemmung,  wie  sie  beide  für  jene  (Stupor)  so  charakte- 
ristisch sind ;  aber  die  hallucinatorische  Form  des  Stupors  (der  sog.  Pseudo- 
Stupor) gliedert  sich  dafür  wieder  um  so  enger  an  eine  Untergruppe  des 
acuten  Wahnsinns  an,  welch  letztere  gleichfalls  nur  ein  traumartiges  Innen- 
leben noch  gestattet,  höchstens  vorübergehend  durchbrochen  durch  Phasen 
von  Halbklarheit,  oder  vereinzelten  luciden  Momenten.  Man  könnte  in  der 
That  jene  erst  genannte  Form  eben  so  gut  als  die  „stupuröse  Form  des 
acuten  Wahnsinns"  bezeichnen,  wie  als  „ballucinatorischen  Stupor",  zum 
Theil  auch  nach  Genese  und  Verlauf.  So  würde  selbst  der  erweiterte 
Betrachtstandpunkt  nicht  anzufechten  sein,  welcher  im  Allgemeinen  die 
gesammte  acute  Wahnsinnsgruppe  als  eine  Wiederholung  gewisser  me- 
lancholischer, manischer  und  stupuröser  Psychoneurosenzustände  in  der 
Traumphase  des  Bewusstseins  zu  erfassen  d.  h.  zu  definiren  suchte. 

Ebenso  führen,  wie  erwähnt,  von  den  chronischen  Wahnsinnsformen 
fliessende  Uebergänge  in  die  degenerative  Verrücktheit.  Die  beiderseitigen 
Krankheitsbilder  sind  symptomatologisch  nicht  selten  nahe  verwandt, 
ja  fast  identisch  (s.  o.),  so  dass  die  klinischen  Differenzen  nur  aus  dem 
Fehlen  des  „hereditären  Habitus"  herbeigeholt  werden  können.  Denn 
auch  die  Entwicklung  des  Leidens  ist  hier  nicht  selten  eine  frappant 
identische.  Von  sehr  beachtenswerter  Seite  (K  rafft  -  Ebing»  ist  deshalb 
auch  die  chronische  Verrücktheit  (i.  e.  chronischer  Wahnsinn)  im  Ganzen 
zu  den  degenerativen  Psychosen  geworfen  worden,  wohin  sie  aber  meines 
Erachtens  trotz  der  so  sehr  häufigen  Unheilbarkeit  nicht  gehört,  so  wenig 
als  die  chronische  Melancholie.  Richtig  ist  und  bleibt,  dass  die  psy- 
chische Degenerescenz  unter  dieser  Flagge  aufziehen  kann,  und  zwar 
zweifellos  vergleichsweise  öfter  als  unter  dem  Zeichen  der  andern  Psycho- 
neurosen  (es  müssten  denn  letztere  als  periodische  Manieen  oder 
Melancholieen  auftreten);  aber  es  bleibt  ein  genügend  grosses  Gebiet  von 
Fällen  reservirt,  welche,  wenn  auch  nahezu  symptomengleich,  doch  nicht 
„degeuerativ"  sind.  Vor  allem  legt  trotz  noch  so  grosser  Symptomen- 
congruenz  der  Verlauf  des  Leidens  gegen  die  beabsichtigte  Ver- 
mengung Einsprache:  der  Verlauf  ist  bei  allen  erworbenen  chronischen 
Wahnsinnsformen  ein  cyklischer,  aus  innerlich  d.  h.  physiologisch 
begründeten  Zusammenhängen  verschiedener  (manischer,  melancholischer 


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Der  chronische  Wahnsinn.  Analyse  der  Symptome.   Wahnideen.  137 

u.  g.  w.)  Zustandsphasen  zusammengesetzter,  während  der  der  degenera- 
tiven Nebenform  im  eminenten  Sinne  stationär,  gesetzlos  polymorph 
ist,  und  —  gegenüber  dem  langsamem  oder  raschern  Abfall  in  demente 
oder  allgemeine  Verwirrtheit  (beim  erworbenen  Wahnsinn)  —  die  Par- 
tialität  der  Bewusstseinsstörung  bewahrt  mit  gegenseitiger  Verträglich- 
keit des  gesunden  und  kranken  Ich. 

Allgemeine  Symptomatologie. 
I.  Der  chronische  (typische)  Wahnsinn. 
Analyse  der  Symptome. 

a)  Die  Wahnideen.  Formale  Genese.  Ihrer  Entstehung  nach 
stammen  sie  entweder  aus  Vorstellungen  (Wahrnehmungen,  Worte, 
Einfälle),  oder  aus  Sinnes-Empfindungen  aller  Art,  welche  „allegori- 
sirt"  d.  h.  in  die  apperceptive  Illusion  des  Ich  (s.  oben)  aufgenommen 
und  in  dessen  Stimmung  gefärbt  „umgedeutet"  werden.  Genetisch 
lassen  sich  danach  die  Wahnideen  in  1.  Vorstellungswahn  und  2.  Sin- 
nenwahn unterscheiden.  Die  Entwicklung  1.  der  wahnsinnigen  Vor- 
stellung geht  mit  der  der  melancholischen  parallel.  Während  aber 
bei  der  letzteren  die  durch  periphere  Irradiation  Ubermächtige  krank- 
hafte Stimmung  den  Eclaireur  für  einen  passenden  Erklärungsver- 
such des  (localisirten)  Gemüthsdruckes  bildet  und  für  ein  gedanken- 
überfallt es  Bewusstsein,  so  geht  hier,  beim  Wahnsinn,  die  erste 
Entwicklung  des  Wahns  innerhalb  des  Ich  selbst  vor  sich,  zwar  auch 
aas  einem  treibenden  Gefühle,  welches  aber  intellectueller  Natur  ist 
Es  ist  die  Rathlosigkeit  in  Folge  des  innerlich  erschütterten  Existenz- 
gefühls,  die  gefühlte  Leere  im  Bewusstsein,  welche  den  überstürzten 
„Schluss  in's  Blaue"  erzwang  (s.  oben),  und,  im  Bestreben  Sich-selbst 
wieder  zu  erfassen,  für  den  Augenblick  das  bedrohte  Subject  (das 
Ich)  durch  Setzung  des  (falschen)  Objects  —  scheinbar  —  rettete. 
Dieselbe  innere  Unruhe,  welche  nur  „Verification"  will,  erhält  aber 
auch,  immer  neu  aus  der  Hirnkrankheit  sich  erzeugend,  die  unbe- 
friedigte innere  Spannung  weiter. 

Der  wesentliche  psychologische  Unterschied  in  der  Bedeutung  der 
Wahnvorstellung  (als  solcher)  im  Wahnsinn  gegenüber  der  Melancholie 
ist  somit  der,  dass  im  ersteren  der  „Wahn"  sofort  schon  gegeben  ist, 
wenn  auch  anfänglich  nur  als  allgemeine  Denkschablone  —  während  er 
in  der  Melancholie  erst  secundär  hinzukommt.  Dort  ist  er  ein  unent- 
behrliches wesentliches  Element,  hier  nur  ein  accidentelles,  welches  sehr 
oft  auch  fehlen  kann.  Die  Wahnerschaflfung  an  sich  wirkt  deshalb,  wie 
früher  schon  hervorgehoben  wurde,  im  Wahnsinn  eigentlich  entlastend, 
aufklärend,  in  der  Melancholie  dagegen  belastend,  nur  erklärend. 

Für  den  concreten  Ausbau  des  Vorstellungs -Wahnes  —  für 

die  Ausfüllung  der  falschen  Denk  Schablone  —  wird  nun  diese  innere 


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138 


Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 


Spannung  zum  treibenden  Moment  Das  schwankende  Ich  stellt  sich 
nämlich  unbewusst  auf  eine  aufklärende  Wahrnehmung  ein:  aus 
seinem  inneren  Missgeftlhle  heraus  beginnt  es  zu  „ahnen"  d.  h.  es 
bereitet  selbst  die  gesuchten  Wahrnehmungen  vor.  Damit  ist  der 
Einschlag  fUr  den  falschen  Knoten  gegeben.  Das  ahnungslos  „ahnende" 
Ich  lässt  eben  durch  diesen  unbewusst  gespannten  Innervationsstrom 
der  Aufmerksamkeit  alle  unklaren  und  schwachen  Mitvorstellungen, 
sofern  sie  von  jenem  berührt  werden,  zu  klaren  und  mächtigen  Wahr- 
nehmungen anschwellen;  zieht  unbewusst  —  wenn  einmal  der  Trug- 
scbluss  in  die  Objectivität  eine  bestimmtere  Richtung  angenommen  — 
alle  Mithilfen  nicht  nur  aus  den  beobachteten  Dingen,  sondern  auch 
noch  hinter  denselben  hervor,  um  die  gefühlte  innere  Lücke  aus- 
zufüllen. So  gestaltet  sich  Das  und  Jenes  aus  der  Umgebung,  und 
schliesslich  Alles  zu  bedeutungsvollen  „Symbolen".  Das  von  jetzt 
an  „bewusst  ahnende"  Ich  ahnt  aber  nicht,  dass  es  in  den  diesen 
überraschenden  Funden  nur  unterlegte  Gedanken  zu  Tage  zieht, 
und  in  der  gewonnenen  Aufklärung  nur  den  fertigen  Vorstel- 
lungswahn geklärt  hat.  Dieser  kann  aus  allen  Wissens-  und  Er- 
fahrungsgebieten inhaltlich  hergenommen  sein  (s.  später).  Formell 
drängt  er  immer  mehr  zur  Ich  -  tragenden  Vorstellungsreihe  vor, 
und  sucht  sich  mit  dieser  zu  amalgamiren,  was  oft  plötzlich,  blitz- 
artig, anderemale  aber  erst  nach  neuen  inneren  Schwankungen  sich 
vollzieht. 

Es  entsteht  nämlich  nicht  selten,  sofern  der  neue  Eindringling  dem 
alten  Bewusstseinsinhalt  zu  sehr  widerspricht,  secundär  eine  Gemüths- 
spannung,  welche  nur  wieder  als  Reiz  zur  steten  „Prüfung"  des  neuen 
Fundes  aufstachelt,  und  damit  den  Kampf  mit  dem  Riesen  Antheus 
wiederholt  —  diesmal  aber  mit  der  eigenen  Niederlage  und  mit  dem 
Siege  des  letzteren  endet,  weil  bei  der  geschwächten  Kritik  und  Reflexion 
jede  Berührung  dessen  Macht  verstärkt.  (Ueber  die  Entwicklung  der 
eigentlichen  „Zwangsvorstellungen"  zu  Wahnvorstellungen  s.  das  betr. 
Capitel.) 

Einfacher  bietet  sich  2.  das  Verständniss  der  Genese  der  Wahn- 
vorstellungen in  den  Fällen  dar,  wo  Reizungszustände  im  Gebiete 
der  höheren  Sinne  oder  im  Spinal- Grau  (Hallucinationen,  Hyper-  und 
Parästhesieen)  auf  das  in  leiser  innerer  Erschütterung  begriffene 
Sensorium  einwirken  (Sinnenwahn).  Hier  ist  es  die  Macht  des  plötz- 
lich auftauchenden  Sinneseindrucks  oder  die  bis  dahin  ungeahnte 
Qualität  des  spinalen  Reizes,  wodurch  langsamer  oder  rascher  das 
ahnende  Ich  aufgeklärt  wird.  Manchmal  sind  es  erst  elementare 
centrale  Sinneserregungen,  welche  in  Gestalt  von  Wolken,  Flämm- 
chen,  Windsbrausen  u.  s.  w.  das  Ich  Überraschen  und  „stutzen" 


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Wahnideen.   Formale  Genese.   Vorstellungswahn.   Sinnenwahn.  139 

machen.  Aus  den  ungeformten  Lichtnebeln  krystallisiren  sich  aber 
farbige  Ringe,  schwarze  Punkte  und  Streifen  und  so  stufenweise  auch 
Aaschauungsbilder  heraus,  welche  durch  das  bereits  „bestimmte"  Ich 
symbolische  Bedeutung  erhalten.  Der  Kranke  ahnt  jetzt  und  weiss 
bald,  wohin  er  seine  Schritte  lenken,  von  wo  er  fern  bleiben  soll. 
In  einer  Reihe  von  Fällen  erfolgt  diese  Mittheilnahme  —  diese  Reiz- 
Ubertragung  auf  die  centrale  Sinnesfläche  —  unabhängig  von  der 
Affection  im  corticalen  Apperceptionsgebiet  und  erst  secundär:  die 
Vorstellungsstörung  „bildet  sich,  im  wahren  Sinne  des  Wortes,  in  die 
Sinne  ein";  in  anderen  Fällen  ist  aber  die  hallucinatorische  Reizung 
der  primäre  Vorgang,  welcher  in  seiner  psychischen  Wirkung  die 
kritisch  geschwächte  Intelligenz  bannt  und  erst  nach  sich  umstimmt. 
Wir  begegnen  darin  eigentlich  nur  einer  Steigerung  derselben  sen- 
soriellen Hyperästhesie,  welche  sich  schon  im  ersten  Krankheitsbe- 
ginn als  abnorm  erhöhte  „sinnliche  Betonung"  der  Vorstellungen  ein- 
führte (s.  oben).  Es  erscheinen  dem  Kranken  schon  einige  Zeit  vor 
Ausbruch  des  Wahnsinns  die  Farben  und  Figuren  in  der  Aussenwelt 
ungewöhnlich  schärfer  und  präciser,  die  gehörten  Töne  als  uner- 
wartet aufdringlich  —  gleichsam,  als  wenn  sie  ihn  mehr  angingen 
als  früher.  Bei  näherem  Fixiren  scheinen  die  Gestalten  auf  Bildern 
und  Gemälden  aus  dem  Rahmen  gegen  das  Auge  des  Beschauers  zu 
treten,  ja  sich  zu  bewegen.  Die  gesteigert  empfundenen  und  zum 
Theil  ganz  neuen  spinalen  Sensationen  erregen  erst  eine  hypochon- 
drische Verstimmung,  welche  die  ohnehin  geschwächte  Reflexion  des 
Kranken  noch  mehr  hemmt,  und  damit  gleichen  Schritts  den  Process 
der  wahnhaften  Allegorisirung  der  Sinnesempfindungen  fördert.  So 
wird  der  „Sinnenwahn"  fertig.  In  der  überreizten  centralen  Sinnes- 
fläche erhalten  die  ankommenden  Empfindungen  eine  grotesk  phan- 
tastische Umformung;  im  Apperceptionsgebiet  werden  sie  in  die 
„Schablone"  der  geahnten  „Beeinträchtigung",  „Grösse"  hineinge- 
zwängt. Dabei  wirkt  für  die  Specialisirung  der  Sinnenwahnideen 
deren  sinnlicher  Timbre  mit:  die  beklemmenden  Präcordialsensatio- 
nen  werden  in  den  Besessenheitswahn  umgedeutet,  die  uterinen  in 
den  Wahn  der  Gravidität  (Mutter  Gottes  u.  s.  w.)  allegorisirt.  Aber 
nicht  allein  centripetal  als  Matrix  für  Wahnvorstellungen  fungiren 
diese  spinalen  Hyperästhesieen,  sondern  auch  „centrifugal"  d.  h.  als 
mitbegleitende  periphere  Localzeichen  für  intellectuelle  Vorgänge;  so 
erhalten  zufällige,  mit  solchen  nervösen  Tics  zusammentreffende  Wahr- 
nehmungen, Einfälle,  Reproductionen  u.  s.  w.  das  jeweils  „objecti- 
virende  Moment",  so  dass  sie  nicht  als  innerlich  entstandene,  son- 
dern als  von  aussen  (d.  h.  feindseliger  Weise)  dem  Kranken  bei- 


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140  Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 

gebrachte  imponiren.  Viele  Wahnsinnige  unterscheiden  in  der  That 
eigene  und  fremde  Gedanken  nur  noch  durch  dieses  Kriterium. 

Das  bedeutsamste,  aber  auch  verhängnissvollste  „Symbol"  für  den 
Kranken  wird  das  Wort  in  Form  des  Zwangsgedankens,  des  Einfalls, 
der  Hallucination.  Als  Träger  des  Begriffs  im  normalen  Seelenzustande, 
als  Sammelpunkt  einer  unendlichen  Fülle  von  Einzelvorstellungen,  wird 
es  im  Wahnsinn  (und  in  der  „Verrücktheit",  s.  d.)  zum  mächtigsten  Zer- 
streuungsapparat, je  nachdem  es  zufällig  in  diese  oder  jene  „Ahnung" 
einschlägt,  oft  diese  vollständig  erfüllend  und  aufklärend,  oft  aber  auch 
das  Ich  im  Anfang  verblüffend,  bis  es  das  letztere  endlich  Uberwältigt 
und  ihm  seinen  „Sinn"  aufdrängt.  Bei  noch  mässigem  Grade  von  intel- 
lectueller  Schwäche  geschieht  dies  in  logischer  Weise  d.  h.  durch  den 
Wortinhalt,  welcher  sich  dem  Ich  aufzwingt;  später  sind  es  die  Silben- 
theile  des  Wortes  oder  schliesslich  sein  Lautklang,  welcher  durch  wei- 
tere Assonanzen  gleichklingende  Reproductionen  weckt  und  dadurch  ebenso 
viele  neue  Vorstellungen,  neue  bestimmende  Wollungen  herbeiruft  (so  na- 
mentlich zersplitternd  und  sinnverwirrend,  wenn  diese  Assonanzen  bei  ge- 
bildeten Kranken  über  mehrere  Sprachen  zu  gebieten  vermögen). 

Inhalt  der  Wahnideen.  In  allen  chronischen  Fällen  von 
Wahnsinn  haben  die  Wahnvorstellungen  die  Neigung  zur  logischen 
Verknüpfung,  zur  Sy stematisirung.  Diese  erfolgt  nach  dem  In- 
halt der  Wahnvorstellungen.  Der  Inhalt  kann  nun  sein:  a)  hypo- 
chondrischer, oder  b)  das  Ich  beeinträchtigender,  oder  c)  das  Ich 
erweiternder  Natur. 

Die  hypochondrischen  Ideen  im  Wahnsinn  zeichnen  sich,  gegenüber 
den  einfach  hypochondrisch-melancholischen,  durch  das  Groteske  und  Phan- 
tastische ihres  Inhalts  und  durch  die  plastische  Evidenz  nicht  allein  der 
Sensationen  selbst,  sondern  der  aus  den  centralen  Dys-,  An-  und  Hyper- 
ästhesieen  geschlossenen  „Thatsachen"  aus.  Dahin  gehören :  die  Verkür- 
zungen von  Knochen,  Verschiebungen  von  Organen,  Herausnahme  ge- 
wisser Körpertheile,  Umstitlpungen,  Transferte  von  rechts  nach  links  und 
umgekehrt  u.  s.  w.  (Weiteres  s.  unter  cerebrospinaler  Wahnsinn).  Die  b) 
das  Ich  beeinträchtigenden  Wahnideen  haben  allermeist  ein  Verfolgtwerden 
durch  äussere  Feinde  zum  Inhalt:  Freimaurer,  Jesuiten,  Dämonen  wech- 
seln in  der  Rolle  ab.  Die  Mittel  des  Angriffs"  werden  aus  der  Elek- 
tricität,  dem  Magnetismus,  den  Laboratorien  des  Chemikers  herbeigeholt 
und  beruhen  —  je  nach  ihrer  unbewussten  Auswahl  —  oft  nachweislich 
in  den  Qualitäten  der  Sensibilitätsanomalieen.  Unter  den  spinal  vermit- 
telten figuriren  die  „sexual  gefärbten"  in  erster  Reihe:  nächtliche  An- 
griffe auf  die  Hoden,  „Aushaspelungen  der  Samenkanäle",  „Andrückungen 
von  Dirnen"  sind  constant  wiederkehrende  Typen  bei  Männern ;  Attentate 
auf  die  Geschlechtsehre,  unzüchtige  Berührungen,  nächtliche  Begattungen, 
Schwangerschaften  u.  s.  w.,  die  correspondirenden  Wahnvorstellungen  bei 
wahnsinnigen  Frauen.  Die  Hallucinationcn  dieser  Gruppe  führen  dieselbe 
Sprache:  einen  beleidigenden,  oft  cynischen  Inhalt.  Die  Gruppe  c)  ver- 
einigt die  Grössenwahnideen,  und  zwar  religiösen,  erotischen  oder  phil- 
anthropischen Charakters:  Gottbegnadigungen,  Auserwähltsein  zu  hohen 


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Inhalt  der  Wahnideen.    Benehmen  und  Handeln.  141 


Missionen  (Messiaswahn)  sind  die  Typen  der  ersteren;  Heirathsträume, 
idealer  oder  mehr  sinnlicher  Verkehr  mit  fictiven  Geliebten  die  der  zwei- 
ten ;  weltbeglllckende  Entdeckungen  und  Erfindungen  die  Typen  der  dritten 
Unterform.  Auch  hier  gehen  gleichgestimmte  Hallucinationen  mit;  doch 
präraliren  für  den  beginnenden  Verfolgungswahn  die  des  Gehörs,  dann 
des  Gefühls  und  Geschmacks,  sehr  häufig  aber  auch  die  des  Getasts ;  für 
die  mit  Größenwahn  einsetzende  Wahnsinnsgruppe  kommen  auch  Gesichts- 
täuschungen neben  denen  des  auch  hier  bevorzugten  Gehörs.  —  Diese 
verschiedenen  Formen  von  Wahnideen  vertheilen  sich  aber  nicht  etwa 
getrennt  nach  einzelnen  klinischen  Gruppen,  sondern  sie  combiniren  sich 
vielfach.  Selbständig  und  den  ganzen  Krankheitsverlauf  beherrschend 
kommen  die  Verfolgungsideen  im  Beeinträchtigungswahnsinn  vor,  weniger 
souverän  sind  die  Expansionsideen  in  dem  Grössenwahnsinn.  Es  gibt 
wohl  Fälle,  in  welchen  sie  den  maassgebenden  Inhalt  dauernd  bilden;  aber 
dies  sind  mehr  nur  die  acuten  und  subacuten  Formen  dieser  Gruppe. 
Für  gewöhnlich  gehen  auch  beim  Grössenwahnsinn  depressive  Wahnvor- 
stellungen voraus,  nicht  selten  ein  förmliches  Stadium  bildend;  an  dieses 
schliesst  sich  —  wie  die  Fata  morgana  des  verdurstenden  Wüsten  Wan- 
derers —  der  Umschlag  in  das  expansive  Stadium  mit  gleichgestimmten 
Wahnvorstellungen  an.  Sehr  oft  wechseln  im  späteren  Verlaufe  beide 
Varietäten  mit  einander  ab.  Aber  auch  der  primäre  Verfolgungswahn 
nimmt  manchmal  im  Verlaufe  eine  Wendung  in  die  entgegengesetzte  Phase 
und  zeigt  das  Auftreten  von  GrÖssenideen.  Die  hypochondrischen  Wahn- 
ideen kommen  als  formgebender  Inhalt  vergleichsweise  seltener  vor ;  häu- 
figer bilden  sie  als  solche  Stadien  innerhalb  der  übrigen  Formen ,  so 
namentlich  als  Anfang,  manchmal,  wiewohl  seltener,  auch  während  des 
Krankheitsverlaufs;  öfters  dagegen  wird  im  Ausgang,  gegen  die  Recon- 
valescenz  hin,  ein  hypochondrisches  Stadium  bei  constitutionellen  Wahn- 
sinnsformen (namentlich  hysterischen,  aber  auch  den  originären)  beobachtet. 
Ganz  besonders  häufig  tritt  dasselbe  bei  sexueller,  speciell  masturbatori- 
scher,  Grundlage  auf. 

Klinisch  sehr  beachtenswert!!  ist  der  remittirend  -  exaeerbescirende 
Charakter  der  Wahnideen.  Sie  können  auftreten  und  wieder  verschwin- 
den, ja  sogar  auf  lange  Perioden  hinaus;  sie  können  wieder  einsetzen 
in  einfacher  Form  oder  verstärkt  durch  lebhafte  Hallucinationen;  ja  das 
Bewusstsein  kann  sich  unmittelbar  nach  einer  überstandenen  Phase  — 
mitunter  sogar  während  einer  solchen  —  zur  kritischen  Correctur  vor- 
übergehend erheben,  um  sofort  bei  der  neuen  Episode  zur  alten  Urtheils- 
sehwäche  und  kritischen  Benommenheit  herabzusinken.  Auch  fieberhafte 
Krankheiten  unterbrechen  zuweilen  das  Spiel  der  Wahnvorstellungen,  ja 
sie  können,  wie  intercurrente  Typhusfälle  beweisen,  sogar  ein  vollständiges 
Zurücktreten  derselben,  eine  Heilung,  bewirken  (in  einem  meiner  Fälle 
heilte  ein  fieberhafter  Magendarmkatarrh  einen  schweren  subacuten  Ver- 
folgungswahn). 

b)  Benehmen  und  Handeln  des  Kranken.  Hier  knüpft  sich  zu- 
nächst der  Einfluss  der  Wahnideen  auf  das  „Wollen"  der  Kranken  an. 
Manchmal  Bind  beide  bis  zu  einem  grössern  oder  geringem  Grade 
unabhängig  von  einander,  so  dass  die  intellectuelle  Schädigung  im 


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H2 


Der  WabnsinD  —  Paranoia.  Allgemeines. 


Aeusaern  gar  nicht  zu  Tage  tritt  und  nur  der  Affect  vorübergehend 
die  Fesseln  sprengt,  wobei  der  innere  Stachel  der  bis  dahin  stille 
getragenen  Verfolgung,  oder  aber  im  Pathos  der  Ueberlegenheit  der 
bis  dahin  dissimulirte  Grössenwahn  aufblitzt.  Anderemale,  und  dies 
ist  die  Mehrzahl  der  Fälle,  gehen  aber  Wahnideen  und  äusseres  Be- 
nehmen Hand  in  Hand.  Das  letztere  ist  der  ungeschminkte  Aus- 
druck des  Innern.  In  wieder  anderen  Fällen  findet  zwar  derselbe 
wechselseitige  Einfluss  statt,  aber  die  Beziehung  tritt  nicht  so  klar 
zu  Tage;  zwischen  Handlung  und  Motiv  scheint  vielmehr  eine  breite 
Kluft  zu  liegen.  Die  erstere  erscheint  formal  und  an  sich  correct, 
aber  in  ihrem  Inhalt  auffallend,  oft  geradezu  unverständlich.  Hier 
klärt  dann  erst  die  tiefere  Forschung  den  Zusammenhang  und  löst, 
oft  noch  vom  Schein -Motiv  verdeckt,  den  Widerspruch,  indem  sie 
den  Grössenwahn  (auffällige  Wohlthätigkeitsspenden)  oder  den  Ver- 
folgungswahn (persönliche  Schutzmaassregeln),  oder  den  „Wort"zwang, 
welcher  zur  äusserlich  correcten,  aber  innerlich  sinnlosen  Handlung 
ftthrte,  enthüllt. 

So  kann  ein  Kranker  plötzlich  alle  möglichen  Dictionnaires  sich  kaufen 
und  endlich  als  wirkliches  Motiv  nicht  den  anfänglich  behaupteten  Wis- 
sensdrang, sondern  den  Wortzwang  in  der  Silbe  „tik"  offenbaren,  welche 
im  Worte  „Politik"  zufällig  ihm  entgegentrat  und  haften  blieb,  und  zu 
deren  Bekämpfung  (d.  h.  um  davon  sich  zu  entlasten)  er  die  Ankäufe 
machte.  Die  Silbe  „tik"  war  von  der  Assonanz  „Dictionnaire"  apperci- 
pirt  worden. 

Sehr  oft,  namentlich  in  späteren  Stadien,  geht  diese  Umsetzung 
der  Wahnideen  in  Zwangsacte  —  dem  Kranken  selbst  fühlbar  — 
unter  dem  Bewusstsein  hindurch,  ohne  dass  er  einzugreifen  und  zu 
hemmen  vermag;  zu  andern  Zeiten  gelingt  es  ihm  ganz  oder  theil- 
weise  entgegenzuwirken,  und  er  freut  sich  dann  ob  seines  „Triumphes". 
Viele  Kranke  umgürten  sich  gleichsam  mit  einer  Brustwehr  von 
eigens  erdachten  „Selbsthilfen"  gegen  solche  Zwangsgedanken,  deren 
Entstehungsquellen  sie  kennen  gelernt  haben;  doch  hält  der  künst- 
liche Schutz  nicht  immer  vor,  und  der  Kranke  wird  paroxysmen- 
weise  zu  tumultuarischen  Auftritten  gegen  die  Umgebung  in  Form 
von  Schimpfworten,  absichtlichen  Kränkungen  u.  s.  w.  getrieben  — 
nicht  als  „gewollt  boshafte  Acte",  denen  diese  Zorn-Entladungen  oft 
täuschend  gleichen,  sondern  als  Zwangsreactionen,  wobei  der  Kranke 
nicht  anders  konnte,  wie  ein  Papagei  sprechen,  wie  eine  Maschine 
handeln  musste.  Bei  willensstarken  Naturen  dagegen  bemerkt  man 
nicht  selten  den  festen  Entschluss  des  Kranken  auch  hemmend  in 
den  Krankheitsmechanismus  einzugreifen,  so  dass  der  Kranke  nach 
aussen  hin  durchaus  componirt  sich  zu  führen  vermag.    In  vorge- 


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Zwangshandlungen.  Paralogie,  Paraphasie,  Paragraphie.  —  Stimmung.  143 

rückten  Wahnsinnsstadien  bilden  sich  sehr  oft  automatische  Zwangs- 
stellnngen  und  Bewegungen,  barocke  Körperhaltungen  und  Verzer- 
rungen zu  einer  habituellen  Mimik  aus  —  psychomotorische  Zwangs- 
vorstellungen,  genauer:  Reproductionen  der  früher  geübten  und  in 
das  Gedächtniss  der  Nervenmaterie  eingegrabenen  Zwangsacte. 

Hier  ist  auch  die  Paralogie  und  Paraphrasie  sowie  die  Paragraphie 
sehr  vieler  dieser  Wahnsinnigen  zu  erwähnen.  Neu  erfundene  Worte, 
Umstellungen  von  Silben,  neue  Schriftzeichen,  verschrobener  Ductus  der 
Zöge,  „bedeutungsvolle"  (eigentlich  sinnlose)  Unterstreichungen,  oft  mit 
verschiedener  Grösse  der  Buchstaben,  mit  verschieden  gefärbter  Tinte  — 
sind  häufige  Aeusserungen  dieser  erkrankten  geistigen  Symbolik. 

c)  Die  Stimmung.  In  der  Uberwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle 
ist  diese  im  Beginne  der  Krankheit  eine  gedrückte  oder  wenigstens 
eine  zerstreute,  entsprechend  dem  benommenen  Bewusstseinszustand 
and  der  ahnenden  Spannung,  wie  sich  die  „von  aussen"  gefühlte 
innere  Aenderung  aufklären  werde.  Ein  ruheloses  Wesen  treibt  den 
Kranken,  heisst  ihn  Lieblingsgewohnheiten  und  Verkehr  meiden;  ja 
selbst  die  Familie  kann  weder  seine  Aufmerksamkeit  noch  sein  Herz 
mehr  erfassen.  Bald  kommt  peinliches  Grübeln  und  damit  Erhöhung 
der  Depression.  Ist  erst  der  „Wahn"  appereepirt,  so  steigert  sich 
diese  zur  offenen  oder  verdeckten  Feindseligkeit.  Aber  dieser  Grund- 
ton bleibt  nicht  constant;  im  Gegentheil  —  und  ganz  im  Gegensatz 
zur  Melancholie  —  ist  der  grosse  Wechsel  der  Stimmung  sehr 
häufig  das  auffallendste  Symptom  des  (in  seinen  Wahnäusserungen 
noch  vorsichtigen  und  zurückhaltenden)  Kranken.  Zu  einer  Stunde 
noch  ziemlich  natürlich,  freundlich,  theilnehmend,  erkenntlich,  kann 
er  in  der  folgenden  finster,  wortkarg,  abstossend  sein;  von  der  weh- 
müthigen  Weichheit  bis  zum  gereizten  Trotze  können  alle  Nuancen 
in  rascher  Folge  durchlaufen  werden.  Zu  Zeiten  ist  die  Stimmung 
eine  absolut  unzufriedene,  zieht  aus  jedem  Worte,  aus  jeder  Miene 
und  Geberde,  aus  dem  heitern  unbefangenen  Treiben  Anderer  nur 
das  Gefühl  der  Kränkung,  der  Zurücksetzung,  des  bösen  Willens. 
Aber  auch  in  den  Stadien  exaltirten  Wahnsinns  ist  der  Kranke  nicht 
eigentlich  „glücklich".  Er  scheint  wohl  heiter  und  gehoben  —  Alles 
ist  ihm  ja  sichere  Verheissung  und  Thatsache  —  aber  der  fortwir- 
kende Reiz  im  Bewusstseinsorgan,  welcher  den  Kranken  immer  weiter 
„ahnen",  nie  wirklich  ausruhen  lässt,  entzieht  ihm  das  Gefühl  tieferer 
und  namentlich  dauernder  Befriedigung.  Erst  mit  dem  Eintritt  in 
Geistesschwäche,  wenn  das  „Rad"  im  Apperceptionsorgan  stillsteht 
und  die  bis  dahin  geschonten  normalen  Vorstellungskreise  schritt- 
weise reducirt  sind,  tritt  das  „vollkommen  selige  Gefühl  der  Befrie- 
digung" ein  —  die  erhöhte  (Erschöpfungs-)Reaction  des  absterbenden 


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144 


Der  Wahnsinn  —  Paranoia.  Allgemeines. 


Nerven  (Arndt).  Für  das  eigentliche  höhere  Gemüthsleben  ist  dem 
typischen  Wahnsinn  ein  Grundzag  von  Egoismus  eigen,  bald  mehr, 
bald  weniger  hervortretend,  welcher  die  Kranken  immer  mehr  von 
der  Welt  und  frühem  liebsten  Interessen  abschliesst  und  sie  altruistisch 
hart  macht 

d)  Somatische  Begleitzeichen  und  Ursachen  sind  in  bestimmter 
und  charakteristischer  Form  nicht  vorhanden.  Das  vasomotorische  Sy- 
stem, welches  in  melancholischen  und  manischen  Zuständen  eine  con* 
stante  Affection  zeigte,  ergibt  für  den  ruhigen  chronischen  Wahnsinn 
keine  nachweisbaren  Zeichen  von  Antheilnahme.  Dagegen  ist  der  letz- 
tere die  richtige  Brutstätte  —  wie  der  Wahnideen  und  Sinnestäuschun- 
gen —  so  auch  der  ausgedehntesten  Sensibilitätsanomalieen ;  ja  er  erhebt 
sich  in  einer  grossen  Zahl  von  Fällen  thatsächlich  erst  auf  dieser  vor- 
bereitenden Grundlage,  so  zwar,  dass  diese  sensibeln  Begleiterscheinungen 
wesentlich  ihm  d.  h.  der  bezüglichen  Hirnaffection  angehören  (s.  cere- 
brospinaler  Wahnsinn).  Die  abnormen  Gefühle  im  weitesten  und  engsten 
Sinne,  von  den  streng  localisirten  Neuralgieen  bis  zu  den  mehr  diffusen 
Verstimmungen  des  psychischen  Gemeingefühls,  bilden  als  „wahnbildende 
Matrix"  die  steten  und  zugehörigen,  wenn  auch  oft  polymorph  wechseln- 
den körperlichen  Begleitsymptome.  In  ihnen  fixirt  sich  der  „Verfolgungs- 
wahn", wie  sie  dereinst  die  ersten  „Angriffe  von  aussen"  für  das  ahnend 
suchende  kranke  Bewusstsein  abgegeben  hatten.  Aber  auch  die  wech- 
selnden Stimmungen  werden  durch  diese  Sensationen  geleitet:  aus  dem 
Brennen  in  den  Augen  entstehen  erst  Thränen,  daraus  „Wehmuth"  und 
endlich  „Zorn".  —  In  erweiterter  somatischer  Beziehung  sind  als  wich- 
tige Begleitzeichen  (resp.  periphere  Ursprungsstätten  des  Wahnsinns) 
Uterinaffectionen  und  Menstruationsstörungen  bei  den  Frauen  zu  nennen, 
sexueller  Abusus  bei  Männern  und  Frauen,  die  Involutionsphasen  (Puber- 
tät und  Climacterium)  bei  beiden  Geschlechtern,  und  namentlich  die  neur- 
asthenischen  Spinalzustände  bei  jungen,  durch  Masturbation  geschwächten, 
Männern  und  Frauen.  In  diesen  sämmtlichen  Fällen  ist  wohl  die  Affec- 
tion des  Lendenmarks  mit  der  aufsteigenden  und  zum  Theil  reflectorisch 
erzeugten  Spinalueurose  die  somatische  Folge,  und  für  den  sich  aus- 
bildenden Wahnsinn  die  mitwirkende  Ursache.  Für  den  acuten  Wahn- 
sinn sind  bei  Disponirten  auch  acute  Krankheiten,  namentlich  Magendarm- 
affectionen,  nicht  ohne  wichtige  Bedeutung.  Eine  grosse  Rolle  spielt  die 
erbliche  Belastung,  jedoch  nicht  sowohl  nach  Seite  ihres  degenerativen, 
als  vielmehr  des  einfach  prädisponirenden  Einflusses.  Viele  Patienten  sind 
in  jeder  Hinsicht  geistig  und  gemüthlich  gut  veranlagte  und  entwickelte 
Menschen. 

Der  Verlauf  des  Wahnsinns  ist  ein  sehr  mannigfaltiger.  Für 
den  chronischen  bildet  der  remittirend-exaeerbescirende  die  Regel. 
Eine  Reihe  von  Fällen  geht  nach  einjährigem  und  noch  längerem 
Bestände  allmählich  in  Genesung  Uber,  ein  vergleichsweise  grösserer 
Theil  in  Heilung  mit  Defect.  Andere  wieder  werden  auf  Jahre  hinaus 
stationär,  bewegen  sich  aber  doch  in  Schwankungen  und  zugleich  in 


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Verlauf.  Therapie. 


145 


einem  leisen  Decursus  nach  abwärts  in  mehr  oder  minder  hochgra- 
diger psychischer  Schwäche.  Die  klinischen  Charaktere  —  die  Wahn- 
ideen nnd  Hallncinationen  —  bleiben  dabei  erhalten,  gestalten  sich 
dem  intellectuell  schwachen  Ich  immer  befreundeter,  werden  zu 
eigentlichen  „Tages  Gästen"  (secundärer  Wahnsinn,  s.d.).  Wesent- 
lich für  den  Verlauf  ist  das  Auftreten  heftiger  manischer  Reactionen 
(Furoranfälle) ,  wodurch  der  geistige  Niedergang  beschleunigt  d.  h. 
mit  jedem  neuen  Anfalle  gefördert  wird.  Das  Endstadium  dieser  ist 
gewöhnlich  ein  wirklicher  Blödsinn  mit  Resten  der  früheren  Wahn- 
ideen (s.  die  Einzelformen).  Das  Eintreten  wichtiger  Involutions- 
Perioden  (Climacterium)  wirkt  gleichfalls  verschlimmernd,  ganz  be- 
sonders aber  sind  es  bei  langer  Krankheitsdauer  die  organischen 
Hirnprocesse  des  Seniums,  welche  oft  in  brüsker  Weise  den  Krank- 
heitsverlauf (durch  Apoplexie  mit  Folgezuständen  u.  s.  w.)  modificireu. 

Sehr  beachtenswerth  ist  der  intermittirend -schuh weise  Ver- 
lauf vieler  Wabnsinnsfälle.  Die  Krankheit  setzt  als  Verfolgungs-  oder 
Größenwahn  ein  und  corrigirt  sich  nach  kurzer  Zeit,  so  dass  die  Kran- 
ken wieder  genesen  oder  aber  gebessert  (ohne  Krankheitseinsicht)  ent- 
lassen werden  können.  Nach  kürzerer  oder  längerer  Frist  erfolgt  ein 
erschwerter  Rückfall  mit  verlängerter  Krankheitsdauer,  welcher  aber  auch 
wieder  heilen  und  sich  bessern  kann.  So  kann  sich  der  Turnus  noch 
mehrfach  wiederholen,  aber  immer  ernster  und  langwieriger,  bis  endlich 
der  letzte  Anfall  definitiv  bleibt.  Es  können  ferner  Attonitätszustände 
complicirend  in  den  Verlauf  eintreten  (s.  atton.  Wahnsinn).  —  Ganz  we- 
sentlich kann  der  Verlauf  durch  individuelle  Zwischenfälle  (Nahrungsver- 
weigerung bei  Verfolgungswahn,  tentamina  suicidii)  beeinflusst  resp.  ab- 
gekürzt werden. 

Therapie. 

Die  Behandlung  des  chronischen  Wahnsinns  verlangt  Aufnahme 
in  eine  mit  allen  Ressourcen  versehene  Irrenanstalt.  Der  Kranke 
muss  in  eine  neue  Welt  eintreten,  welche  die  schädigenden  Reize 
von  draussen  nicht  hat,  und  dabei  positiv  die  seiner  Individualität 
genügenden  Hilfsquellen  (zusagende  Beschäftigung,  Feldarbeit,  geistige 
Ablenkung),  und  ausserdem  noch  die  Mannigfaltigkeit  besitzt,  um 
Aufenthalt  und  Beschäftigungs weise  zu  wechseln,  wenn  sie  vom  Wahne 
inficirt  dem  Kranken  unbehaglich  werden.  Der  Wahnsinnige  ist  leicht 
verwundbar  und  bewahrt  tief,  was  ihn  einmal  verletzte:  deshalb 
sorgsam  erwogene  psychische  Behandlung.  Keine  directe  Wahn- 
correctur,  bis  der  Kranke  genügend  in  seiner  Reflexion  erstarkt  und 
in  seinem  Vertrauen  zum  Arzte  befestigt  ist.  Geduld  will  bei  dem 
Werke  sein!  Oft  lässt  sich  in  der  Reconvalescenz  durch  Verschie- 
bung der  ersehnten  Entlassung  ein  heilsamer  Gegendruck  gegen  die 

Schble,  Geisteskrankheiten.    3.  Aufl.  10 


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H6 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


letzten  Reste  des  Wahnes  ausüben;  anderemale  besorgt  die  Entlassung 
stillschweigend  diese  Correctur  durch  die  Eindrücke  der  Wirklich- 
keit, welche  der  mittlerweile  in  sich  zur  Ruhe  gelangte  Kranke  jetzt 
anders  aufzufassen  vermag.  In  den  selteneren  Fällen  ist  eine  wirk- 
liche Einsicht  in  den  Wahn  zu  erreichen;  gewöhnlich  ist  es  schon 
ein  sehr  glückliches  Resultat,  wenn  der  Kranke  denselben  zu  ver- 
gessen oder  wenigstens  zu  ignoriren  lernt.  Bei  bestandenem  Ver- 
folgungswahn sei  man  übrigens  vorsichtig  und  halte  die  Möglichkeit 
der  Dissimulation  stets  im  Auge.  Arzneilich  hilft  sehr  oft  Opium 
(Morph.-Injectionen)  die  richtige  geistige  Nivellirung  d.  h.  das  Zurück- 
treten der  anomal  überwiegenden  Wahnvorstellungen  zu  unterstützen. 
Daneben  ist  die  sorgfältigste  Beachtung  aller  körperlicher  Anomalieen 
(Ernährungs-  und  Circulationsstörungen ,  Neuralgieen,  Uterinleiden) 
angezeigt.  Beim  cerebrospinalen  Verfolgungswahnsinn  bildet  die  Be- 
kämpfung der  hier  ausserordentlich  häufigen  Onanie  einen  wesent- 
lichen Zielpunkt  des  ärztlichen  Handelns;  speciell  gegen  die  Sensi- 
bilitätsanomalieen  sind  Bromkali,  Morphium,  Elektricität,  bydropath. 
Behandlung  in  individueller  Auswahl  anzuwenden. 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 

a)  Der  Verfolgungswahn. 

Klinisches  Krankheitsbild. 

Es  lassen  sich  zwei  grosse  Typen  unterscheiden,  welche  aber 
aufs  Mannigfachste  in  einander  übergehen. 

a)  Die  cerebrale  Form.  Der  Anfang  der  Krankheit  ist  in  der 
Kegel  ein  allmählicher.  Selbst  wenn  die  eigentliche  Scene  mit  einem 
psychischen  Sturm  (Aufregung,  Hallucinationen)  beginnt,  so  bricht 
dieser  nicht  in  ein  bis  dahin  gesundes  Geistesleben  ein  (wie  nicht 
selten  die  verwandten  acuten  Formen),  sondern  stets  in  ein  vorbe- 
reitetes. Oft  ist  es  ein  einfacher  Status  nervosus,  andere  Male  aber 
eine  ausgesprochene  depressive  Stimmung,  welche  die  Krankheit  ein- 
leitet. Dabei  ist  das  anfängliche  in  der  Brust  verschlossene  Gefühl 
der  Verbitterung  oft  genug  aus  wirklichen  herben  Erlebnissen,  aus 
der  berechtigten  Enttäuschung  eines  redlich  gewollten,  aber  unter  einem 
ewigen  Unstern  gestrandeten  Strebens  grossgezogen.  —  Der  Kranke 
kommt  den  Näherstehenden  verändert  vor ;  er  fühlt  diese  Aenderung 


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a)  Cerebrale  Form.   Klinisches  Krankheitsbild. 


147 


wohl  auch  selbst,  vermag  sie  aber  nicht  zu  erklären.  Das  sind  für 
ihn  schwere  Zeiten,  welche  nicht  selten  den  Gedanken  an  freiwillige 
Lebensentsagung  ihm  nahelegen.  Die  innere  Unsicherheit  und  Rat- 
losigkeit —  viele  Kranke  versichern  direct,  dass  sie  sich  gar  nicht 
zu  fassen  vermöchten,  dass  sie  nicht  wüssten,  was  in  ihrem  Kopfe 
sei  —  erzeugt  Misstrauen  und  zunehmende  Selbstisolirung.  Bestän- 
diges Grübeln,  namentlich  in  religiösen  BUchern,  erfüllt  die  schein- 
bare, mühsam  zusammengehaltene  Ruhe.  Oft  schon  wird  jetzt  der 
Appetit  und  Schlaf  unwiederbringlich  gestört;  der  Kranke  magert 
ab,  fühlt  sich  auch  körperlich  elender  und  geistig  sich  immer  mehr 
ein  Räthsel.  Die  Lösung  des  letztern  durch  den  objectivirenden 
Trugschluss  und  damit  der  Schritt  in  die  eigentliche  Krankheit  hin- 
ein kann  nun  auf  die  individuell  verschiedenste  Weise  erfolgen.  Oft 
ist  es  ein  starker  Affect,  irgend  eine  lebhafte  Auseinandersetzung, 
wozu  dem  immer  reizbarem  Kranken  jeder  Tag  Gelegenheit  in 
Fülle  bietet;  er  kennt  von  jetzt  an  Den,  der  ihm  nicht  wohl  will. 
Sehr  häufig  figuriren  „Jesuiten  und  Freimaurer"  als  diese  feindlichen 
Attentäter;  andere  Male  führt  eine  peinliche  Erinnerung  aus  dem 
Vorleben  auf  die  Spur  des  gesuchten  Verfolgers  (s.  u.).  Oder  es  ist 
eine  Zeitungsnotiz,  welche  der  Kranke  auf  sich  bezieht,  oder  die 
auffallend  „spöttische"  Miene  irgend  eines  Vorübergehenden,  ein 
unerwartetes  Husten  oder  Lachen  oder  Ausspucken,  was  ihm  die 
Situation  klärt. 

Nicht  selten  ist  die  Wahl  des  ersten  Wahnobjects  keine  nur  zufällige, 
sondern  steht  vielmehr  in  engster  logischer  Verkettung.  So  bildet  oft  die 
einstens  still  gepflogene  Hoffnung  (z.  b.  auf  Verehelichung)  den  Inhalt  der 
ersten  Wahnsinnsillusion,  nur  im  verkehrten  Spiegelbild:  der  empfundene 
Nichterfolg  wird  jetzt  zur  absichtlichen  Kränkung  seitens  jener  einst  be- 
gehrten Persönlichkeit;  die  getäuschte  Hoffnung  (aus  dem  „Blick"  eines 
Dritten  abgenommen)  reflectirt  sich  als  erste  peinlich  empfundene  Beein- 
trächtigung. Umgekehrt  kann  die  innere  Entzweiung,  der  Kampf  zwi- 
schen Pflicht  und  Leidenschaft,  welchen  ein  „begehrter"  erotischer  Blick  in 
ein  disponirtes  Gemüth  geworfen,  zum  directen  Spiegelbild  in  Form  einer 
wahnsinnigen  Illusion  werden:  der  geduldete  unsittliche  Gedanke  —  zu 
schwach  zum  Rückschlag  in  eine  Melancholie  —  objectivirt  sich  als  Ver- 
folgung seitens  Dritter  (als  sei  der  Träger  jenes  Blicks  ein  frivoler 
Attentäter  auf  Frauenehre).  Doch  gibt  es  neben  diesen,  noch  logischen, 
Entstehungswegen  auch  ganz  unbewusst  bleibende,  wo  der  Wahn  toto 
de  coelo  hereinblitzt. 

Man  macht  sich  nun  Uber  den  Kranken  lustig,  sucht  ihn  zu 

beobachten,  zu  kränken,  oder  aus  seiner  Stellung  zu  entfernen.  Noch 

rascher  offenbart  sich  das  „Gesuchte",  wenn  Sinnestäuschungen  sich 

zn  dessen  Eclaireurs  machen.   Sie  kommen  theils  von  selbst,  theils 

10* 


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148 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


(und  sehr  häufig)  im  Anschlags  an  einen  alcoholischen  Excess,  ans 
welchem  der  Kranke  „Vergessenheit"  zu  schöpfen  gewähnt  hatte. 
Manchmal  sind  es  nur  elementare:  Brausen  im  Ohre,  Flimmern  vor 
den  Augen;  in  andern  Fällen  treten  aber  sofort  fertige  Hallucina- 
tionen  aus  einem  oder  mehreren  oder  sämmtlichen  Sinnesgebieten  auf- 

Der  Inhalt  der  Stimmen  ist  allermeist  Beschimpfung,  Holm  oder 
Neckerei;  der  Inhalt  der  krankhaften  Geschmacksperceptionen  ein  Gift- 
wahn. Genetisch  interessant  ist  die  Angabe  vieler  Kranken,  dass,  sowie 
sie  sich  nur  an  einen  Namen,  eine  Thatsache  erinnerten,  die  Stimmen 
sofort  den  Faden  weiter  spännen,  und  daraus  das  „dümmste  unbedeutendste 
Zeug"  machten;  dass  ihre  (der  Kranken)  eigene  Vorstellungen  ihnen  durch 
die  Stimmen  entrissen,  gleichsam  vor  dem  Munde  weggeschnappt  würden. 
Sowie  sie  an  Etwas  dächten,  erschiene  auch  dessen  Bild  vor  ihren  Augen 
leibhaftig.  —  Höchst  interessant  ist  die  Angabe,  dass  manchmal  dem 
Kranken  durch  das  G e h ö r  allerlei  Bilder  erzeugt  werden,  roheun- 
geformte  Massen,  z.  B.  Steine,  Holz,  Metall,  mit  grosser  Angstwirkung. 
Andere  im  Gegensatze  behaupten  („ blaue")  Stimmen  zu  sehen,  und  wollen 
sie  einfangen.  Manchmal  gehen  dem  Eintritt  der  Hallucinationen  tage- 
lange heftige  Angstzustände  voraus,  welche  mit  dem  Einbruch  der  Sinnes- 
täuschungen sich  legen,  freilich  nur  um  reactiv  jetzt  ebenso  oft  wiederzu- 
kehren. 

Es  gibt  eine  Entwicklungsform  des  Wahnsinns,  wobei  die  einleitende 
psychische  Verstimmung  gar  nicht  besonders  auffällt,  und  oft  ganz  nur 
im  Verhältniss  der  veranlassenden  Ursache  (tiefer  Gemüthsaffect)  einsetzt, 
und  erst  eine  plötzlich  aufblitzende  Sinnestäuschung  den  Kranken  und 
dessen  Umgebung  Uber  den  Ernst  der  Lage  belehrt.  In  diesen  Fällen 
ist  eigentlich  die  Hallucination  das  primäre  Krankheitssymptom.  Die- 
selbe kann  Anfangs  vom  Kranken  noch  richtig  beurtheilt  werden  und  auch 
vorübergehend  wieder  zurücktreten;  bald  aber  setzt  sie  wieder  ein  (zu- 
nehmende Anämie  und  Agrypnie),  und  bleibt  jetzt  uncorrigirt  (der  Kranke 
versichert,  wenn  er  die  Stimmen  höre,  „ganz  taub  zu  sein"). 

Merkwürdig  ist  oft  der  barocke  Inhalt  solcher  Primordialsinnesde- 
lirien;  so  z.  B.  hört  der  Kranke  beständig  3x11  =  12,  und  erkennt 
in  dieser  Zumuthung  eine  schwere  Beleidigung. 

Nicht  selten  wechselt  die  Projection  der  Stimmen;  oft  kommen  sie 
aus  nächster  Nähe,  anderemale  aus  der  Ferne,  so  dass  sie  der  Kranke 
kaum  versteht,  und  in  aufreibender  Pein  sie  doch  zu  belauschen  sucht. 
Manchmal  werden  gegentheils  die  Stimmen  mit  dem  Näherrücken  auch 
inhaltloser. 

Seltener  brechen  die  Hallucinationen  aus  mehreren  Sinnesgebie- 
ten, und  zugleich  mit  solcher  Mächtigkeit  ein,  dass  der  Kranke  auf 
Stunden  oder  einige  Tage  acut  verwirrt  und  in  eine  förmliche  Traum- 
welt vorübergehend  versetzt  wird.  Er  erlebt  in  diesen  acuten  Epi- 
soden förmliche  Theater-  oder  SpukstUcke,  die  man  mit  ihm  auf- 
fuhrt, geberdet  sich  in  heftiger  manischer  Erregung  oder  in  zitternder 
Todesangst,  wenn  er  sehen  muss  wie  man  ihn  „metzelt"  und  „vier- 


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a)  Cerebrale  Form.   Klinisches  Krankheitsbild. 

• 


theilt";  wenn  Gesichte  von  geinen  Widersachern  und  Freunden  sich 
um  seine  Vernichtung  oder  Beschtttzung  streiten. 

Eine  Reihe  von  Fällen,  vorzüglich  mit  starker  invalider  Hirnanlage, 
setzen  mit  einer  solchen  acuten  depressiven  Wahnsinnsphase  gleich  zum 
Beginn  ein,  und  verlaufen  erst  nach  Beschwichtigung  der  desultorischen 
massenhaften  Sinnestäuschungen  in  das  chronische  affectmatte  Stadium. 
Andere  beginnen  erst  mit  einer  Mania  mitis  (Plänesucht,  grosse  Ge- 
schwätzigkeit, gesteigerter  Thätigkeitsdrang) ;  sehr  bald  wird  aber  die 
gehobene  Heiterkeit  der  ersten  Tage  durch  Verfolgungshallucinationen 
gedämpft;  es  folgt  eine  gereizte  Stimmung  mit  ZornausbrUchen  und  zeit- 
weisen krampfartigen  Angstzufällen,  oft  auch  von  perversen  Acten  als 
Reaction  auf  die  bedrängenden  Sinnestäuschungen,  manchmal  mit  ganz 
verwirrter  Ideenflucht  —  und  erst  hieraus  klärt  sich  der  ruhige  Verfol- 
gungswahn. 

Wieder  andere  Fälle  endlich  verlaufen  inremittirendem  Typus, 
indem  nach  anfänglicher  acuter  Wahnsinnsphase  mit  Hallucinationen  sämmt- 
licher  Sinne  (oft  unter  heftiger  manischer  Reaction)  erst  ein  ruhiger  Zu- 
stand eintritt  mit  relativ  lucidem  Bewusstsein,  wobei  der  Wahn  aber 
uncorrigirt  fortdauert;  nach  längerer  oder  kürzerer  Remission  (eine  bis 
einige  Wochen)  kommt  ein  zweiter  manisch-hallucinatorischer  Raptus,  und  so 
im  Weiterverlauf  noch  mehrere,  bis  endlich  der  chronische  Zustand  bleibt. 

Bei  allmählicher  Entwicklung  ist  es  in  der  Regel  erst  Ein 
Sinnesgebiet,  welches  mit  seinen  Täuschungen  auf  die  Grübeleien 
des  Kranken  antwortet,  oder  ihm  plötzlich  die  schreckliche  „Ahnung", 
für  die  er  bis  dahin  keine  Lösung  finden  konnte,  erfüllt:  er  ist  das 
Opfer  einer  Intrigue;  man  will  ihn  aus  dem  Wege  räumen;  der 
Warnungsruf  der  Vögel  hat  ihm  wie  „geschwind,  geschwind"  ge- 
klungen; kaum  ist  er  rechtzeitig  noch  dem  „Gifte"  in  Speisen  und 
Getränken  entwichen.  Manchmal  folgen  jetzt  schon  emotive  Reac- 
tionen;  der  Kranke  steht  abermals  an  der  Schwelle  einer  Gewalt- 
tat, oder  er  fordert  erbittert  den  Schutz  der  Polizei.  Oft  aber  ver- 
schlie88t  er  auch  noch  die  Entdeckung  in  sich,  und  forscht  nach 
neuen  Beweisen.  Diese  lassen  nicht  lange  auf  sich  warten ;  ist  ja 
das  Perceptionsgebiet  unbewusst  auf  die  Klangfarbe  der  bereits  do- 
rn inirenden  Idee  eingestellt,  „gestimmt"  (s.  allg.  Einleitung),  so  dass 
nur  die  erwarteten  Accorde  wiederklingen.  Dazu  treten  Reflex- 
Illusionen  und  Symbolisirungen:  die  gefühlte  Ahnung  „wird  ge- 
schaut"; Alles  um  den  Kranken  ist  „geändert",  verhext,  kleiner 
gemacht,  vertauscht;  es  kommt  Thatsache  Uber  Thatsache,  dass  man 
ihn  nur  vexiren  und  schädigen  will.  Waren  es  Anfangs  Sinnes- 
wahrnehmungen, welche,  illusorisch  umgedeutet,  den  apperceptiven 
Trugschluss  unterstützten,  so  hilft  bald  das  „Wort"  mit,  oft  ein  bei- 
läufig gehörtes,  andere  Male  ein  gelesenes,  selbst  ein  zufälliger 
Strassen-  oder  Orts-  oder  Personenname,  um  in  unterlegter  Umdeu- 


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1-50 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


taug  (ja  selbst  nach  seiner  syllabären  Zusammensetzung  oder  in 
seiner  Assonanz)  die  gesuchte  Antwort,  „die  Erklärung"  zu  bringen 
für  das  verzweifelt  schwankende  und  nach  einem  zureichenden 
Grunde  ringende  Bewusstsein.  So,  von  den  mannigfachsten  Sinnes- 
täuschungen, Träumen  und  innern  Eingebungen  unterstützt,  klärt 
sich  endlich  der  fertige  Wahn  des  Verfolgtseins  ab.  Jede  neue 
Beobachtung  wird  krampfhaft  in  das  System  hineingezerrt;  endlich 
erscheint  die  ganze  Umgebung  in  zweifellos  verdächtiger,  be- 
deutungsvoller Gestaltung.  Der  Kranke  aber  fährt  fort  mit  allen 
Mitteln  seiner  Logik  zu  argumentiren ,  dass  er  „geistesgesund"  sei, 
oder  führt  seine  nicht  abzuleugnenden  nervösen  Beschwerden  als 
weitere  Beweise  für  die  ihm  böswillig  zugefügten  Schädigungen  vor. 
„Wenn  ich  geisteskrank  sein  soll,  so  bin  ich  es  mit  Verstand". 

Der  Kranke  steht  nun  im  Mittelpunkte  eines  Complottes,  dessen 
Ziel  und  Opfer  er  ist.  Alles  ist  darauf  berechnet  ihn  zu  quälen 
und  in's  Verderben  zu  ziehen.  Durch  verfängliche  Fragen  sucht 
man  ihn  in  die  Irre  zu  führen,  durch  Vorspiegelungen  seinem  Glau- 
ben abtrünnig  zu  machen,  durch  obscöne  Reden  seine  Grundsätze  zu 
untergraben.  Man  gibt  ihn  für  Den  und  Jenen  aus,  dichtet  ihm 
Schandtbaten  an,  verdächtigt  ihn,  häuft  alle  möglichen  Verbrechen 
auf  ihn,  treibt  Spielwerk  mit  ihm.  Durch  seine  innern  Eingebungen 
und  Ahnungen,  auf  die  er  felsenfest  baut,  erhält  er  Aufklärungen 
Uber  seine  innere  bedrängte  Lage,  in  welcher  ihm  manchmal  so 
sehr  der  Boden  unter  den  Füssen  weicht,  dass  er  an  seiner  eigenen 
Person  zweifelt,  ob  er  es  Selbst  oder  ein  Dritter  sei. 

So  kann  der  Zustand  sich  auf  Wochen,  Monate,  serfest  viele 
Jahre  hinaus  erhalten  unter  einem  unberechenbaren  Wechsel  von 
ruhigem  und  unruhigem  Perioden  und  entsprechenden  Stimmungs- 
lagen, welche  bald  gereizt  und  misstrauisch ,  affectbereit,  bald  aber 
gegentheils  auch  weich,  weinerlich,  unendlich  verzagt  sind.  Manch- 
mal ist  der  Kranke  herrisch  und  widerstrebend,  lehnt  sich  gegen 
alle  Anordnungen  auf,  hetzt  und  intriguirt;  zu  andern  Zeiten  verfällt 
er  einer  passiven  Resignation  und  Ermattung,  zieht  sich  wochenlang 
von  den  Andern  zurück,  bleibt  anhaltend  zu  Bette  liegen,  schweigt 
beharrlich,  verweigert  auch  oft  in  nicht  unbedenklicher  Zähigkeit 
die  Nahrung. 

In  gleicher  Weise  variirt  auch  der  Grad  geistiger  Klarheit. 
Zeitweise  lebt  der  Kranke  ganz  nur  in  seinen  Wahngedanken,  welche 
längst  die  innersten  Theile  seines  Selbst  geworden  sind;  zu  andern 
Zeiten  treten  dieselben  mehr  in  den  Hintergrund,  so  dass  der  Kranke 
nicht  selten  seine  eigenen  Zustände  zu  schildern  vermag,  oft  in  ver- 


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_  . 


ai  Cerebrale  Form.   Klinisches  Krankheitsbild. 


151 


kehrter  Motivirung,  manchmal  aber  auch  in  bewunderungswürdiger 
Einsicht.  Nur  Uber  den  Zwang  in  seinem  Denken  und  Fuhlen  ver- 
mag er  nicht  hinwegzukommen.  —  Andere  Male  ist  die  freiere  Hal- 
tung aber  nur  eine  scheinbare.  Beobachtet  man  den  Kranken  ge- 
Dauer, so  wird  er  doch  trotz  aller  Correctheit  von  einem  geheimen 
vorberechneten  Plane  in  der  Fuhrung  seines  Tageslaufs,  in  der  Aus- 
wahl seiner  Umgebung,  seiner  Beschäftigung,  in  seinem  Thun  und 
Meiden  geleitet.  So  äussert  er  nicht  selten  in  verletzender  Weise 
onmotivirte  Sympathieen  und  Antipathieen,  weist  Briefe  als  „unecht" 
ab,  meidet  plötzlich  die  gewohnte  Gesellschaft,  weil  ihm  feindselige 
Sticheleien  gemacht  würden;  oder  er  wird  da  und  dort  betreten, 
wie  er  vor  sich  hin  Scheltworte  lispelt  oder  Grimassiruogen  macht, 
als  ob  er  erlittenen  Hohn  zurückgehen  wollte.  Andere  Male  dagegen 
treten  tagelang  dauernde  Anfälle  von  „Todesangst"  mit  Entweichungs- 
versuchungen  oder  verzweifelter  Selbsthilfe  auf. 

Sehr  häufig  schweigt  der  schon  entwickelte  Verfolgungswahn, 
oder  tritt  wenigstens  in  seiner  Macht  zurück,  wenn  man  den  Kranken 
in  andere  Verhältnisse  bringt  (s.  u.),  so  oft  bei  der  Versetzung  in 
die  Anstalt.  Andere  Kranke  üben  diese  Hilfe  instinctiv  selbst:  sie 
wechseln  ihren  Aufenthalt,  Dienstboten  ihre  Plätze,  und  fühlen  sich 
mit  dem  Eintritt  in  die  neue  Umgebung  sofort  behaglich,  oder  we- 
nigstens freier.  Meist  aber  ist  die  Freude  nur  eine  kurze.  Sowie 
der  Reiz  der  Neuheit  vorüber,  steigt  die  alte  Inficirung  der  Um- 
gebung wieder  auf,  und  spricht  Alles  wieder  die  alte  Sprache:  die 
Verfolger  sind  nachgezogen!  —  Manchmal  tritt  aber  eine  wirkliche 
Intermission  ein,  in  welcher  der  Kranke  auf  kürzere  oder  längere 
Zeit  freier  wird  und  wieder  in  seinen  alten  Wirkungskreis  eintreten 
kann;  die  Krankheit  ist  zurückgedrängt,  aber  doch  nicht  wicklich 
öberwunden.  Einsicht  und  Correctur  bleiben  dem  Kranken  versagt, 
jeder  ernstliche  Versuch,  ihn  zu  „überzeugen",  erregt  Unwillen  und 
Misstrauen. 

Unter  günstigen  Verhältnissen  kann  die  zurückgedrängte  Wahn- 
gruppe  allmählich  der  Vergessenheit  anheimfallen,  und  der  Kranke 
sich  draussen  wieder  vollständig  erholen.  Es  gibt  Fälle,  in  wel- 
chen diese  Klärung  sich  auffallend  rasch  und  auch  mit  wirklicher 
Krankheitseinsicht  vollzieht 

Aber  nicht  immer  geschieht  Dies  ganz  und  noch  seltener  dauernd. 
In  der  Regel  bricht  früher  oder  später  die  alte  Wunde  wieder  auf. 
Oft  genügt  ein  geringer  Gemüthsaffect  —  und  ein  neuer  Paroxysmus 
(Aufgeben  der  bisherigen  Berufsstellung,  ruheloses  Umherziehen) 


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152 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


schlie88t  sich  an,  bis  endlich,  absatzweise  nnd  in  Schüben,  ein  end- 
lich permanenter  Krankheitszustand  erreicht  ist. 

Dieser  äussert  sich:  1.  als  sog.  „Einfallswahnsinn",  wobei  der  Kranke 
immer  mehr  zum  Automaten  zerfahrener  Gedanken  und  unmotivirter  Raptus 
wird.  Die  ungerufen  sich  aufdrängenden  Gedanken,  welche  durch  ihr 
brüskes  Auftreten  sehr  häufig  als  Pseudohallucinationen  imponiren,  bilden 
oft  auf  Jahre  hinaus  die  Quelle  peinlichster  Plagen  für  den  Kranken, 
um  so  mehr,  als  er  darin  den  gefühlten  Beweis  des  „von  aussen  Ge- 
machten", der  fortdauernden  Vexationen  erkennt.  Die  Zwangsantriebe 
erhalten  dabei  nicht  selten  eine  sehr  bedenkliche  Richtung  gegen  eigenes 
oder  fremdes  Leben;  oder  aber  2.  es  entsteht  ein  secundärer  halluci- 
natorischer  Wahnsinn,  in  welchem  der  Kranke  ganz  in  dem  Spiel  der 
immer  schrankenloseren  Sinnestäuschungen  aufgeht.  Die  letzteren  um- 
fassen fortschreitend  alle  Sinnesgebiete:  Funken-  und  Flammenerschei- 
nungen wechseln  mit  einem  Chaos  der  sonderbarsten  Gestalten,  welche 
alle  für  den  Kranken  eine  besondere  Bedeutung  haben.  Dazu  treten 
Geschmacks-,  Geruchs-  und  GefUhlstäuschungen  fletztere  besonders  in  der 
Geschlechtssphäre).  Der  Kranke  schliesst  sich  in  einer  Welt  des  Wahnes 
ab,  welche  bald  im  Himmel,  bald  in  der  Hölle,  bald  in  der  Wirklichkeit 
spielt,  die  barocksten  Eingebungen  einer  entarteten,  hemmungslosen 
Phantasie  theils  mit  richtigen,  theils  mit  wahnsinnig  umdeuteten  Wahr- 
nehmungen zum  sinnlosesten  Inhalte  verquickt,  und  den  Kranken  imperativ 
beherrscht.  Eine  Menge  eigenartiger  Selbsthülfen  (Vor-  und  Rückwärts- 
gehen, Gehen  im  Bogen,  Wiegen  und  Schütteln  des  Kopfes,  beständiges 
Sichverbeugen,  Sichverhtillen,  Verschliessen  der  Ohren  und  Augen  u.  s.  w.) 
machen  den  Kranken  zu  einem  zeitweisen  Automaten.  Nicht  selten  mischen 
sich  jetzt  unter  die  Verfolgungsvorstellungen  auch  solche  der  Grösse, 
des  Glücks,  der  Begnadung  vom  Himmel. 

Im  Anstaltsorganismus  werden  solche  chronische  Verfolgungs- 
wahnsinnige im  Lanfe  der  Jahre  oft  trotz  ihres  ganz  transscen- 
denten  Innenlebens  noch  recht  nützliche  Gehilfen  und  Arbeiter;  man 
räumt  ihnen  alles  Aufregende  aus  dem  Wege,  beschäftigt  sie  in  einer 
ihnen  zusagenden  Weise,  und  erlebt  so  taglich  den  Segen  dieser 
geistigen  Ablenkung  und  „Tonisirung".  Der  alte  Wahn  tritt  zurück 
—  Anfangs  und  oft  auf  längere  Zeit  noch  mit  dem  Reflex  einer  an- 
dauernd gereizten  Stimmung,  welche  bei  der  leisesten  Berührung  des 
kranken  Gedankenkreises  explodirt,  während  der  Kranke  sonst  sich 
musterhaft,  gelassen  und  correct  verhält.  Freilich  fehlt  jede  corri- 
girende  Einsicht;  eher  gibt  der  Kranke  Alles  preis,  als  sich  sein 
Recht  aus  den  Händen  winden  zu  lassen.  Zeitweilige  „Ahnungen", 
Traumbilder,  welche  sich  zur  Bedeutung  von  Gesichtstäuschungen 
aufschwingen,  bestärken  ihn.  Nach  und  nach  klingt  aber  der  Affect 
aus,  der  uncorrigirte  Wahn  wird  geduldet,  kapselt  sich  ab  wie  ein 
Sequester,  und  erlaubt  dem  geschont  gebliebenen  Theile  des  Seelen- 
lebens eine  desto  freiere  Beweglichkeit  (s.  u ).  —  Andere  dagegen 


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a)  Cerebrale  Form.  Verlauf.  Ausgänge. 


153 


fallen  einem  zunehmenden  Schwachsinn  mit  Verwirrtheit  und  unregel- 
mässig einsetzenden  Aufregungsparoxysmen  anheim.  Sie  werden 
periodisch  gereizt,  aufbrausend,  gewaltthätig ,  suchen  (oft  mit  einer 
bei  ihrer  sonstigen  Geistesschwäche  bewundernswerthen  Raffinirtheit) 
zu  entweichen;  oder  sie  werden  temporär  finster,  abstossend,  ver- 
weigern die  Nahrung,  drohen  mit  Selbstmord.  Manchmal  wird  dabei 
Hitze  im  Kopfe  mit  Status  nervosus  geklagt.  In  der  Folge  werden 
die  Erinnerungen  und  Sinnestäuschungen  zu  noch  sonderbareren,  ver- 
zwickteren Vorstellungen  verarbeitet;  dazu  treten  die  heterogensten 
Ideen  in  loser  Ordnung,  wie  sie  eben  eine  planlose  Association  und 
der  Contrast  des  Inhalts  oder  der  Form,  oder  auch  der  unmittelbare 
Eindruck  einer  Sinnestäuschung  zusammengespielt  hat  aus  dem  Kreise 
eines  immer  engern  Vorstellungsgebiets  —  höchstens  noch  durch 
die  Schablone  der  „Beeinträchtigung  der  Persönlichkeit"  locker  ver- 
bunden. 

Stylprobe:  „Die  Kräfte  würden  (dem  Kranken)  entzogen;  man 
ziehe  ihm  daa  Geblüt  aus  dem  Kopf;  er  bekomme  nichts  zu  essen;  das 
Essen  sei  kraftlos;  man  nehme  ihm  die  Gedanken;  diese  führen  in  das 
Holz  (das  der  Kranke  eben  sägt),  und  fielen  zerflossen  als  Sägspäne  wieder 
herunter;  es  seien  Todsünden  in  dem  Holz;  sein  Leben  schlage  wieder 
aus;  es  fange  an  zu  grünen,  wie  das  Holz;  er  habe  eben  ein  Naturge- 
wissen; das  sei  schwach  und  zerbrechlich,  wie  Glas  u.  s.  w."  Manchmal 
lässt  sich  noch  ein  einigermaassen  associativer  Faden  im  wirren  Vorstel- 
lungsspiel nachweisen,  insofern  die  geäusserten  ganz  barocken  Vorstel- 
lungen und  Gefühle  sich  als  Reflexhallucinationen  zufälliger  Perceptionen 
ausweisen;  z.  B.  wenn  Andere  ausspucken,  so  schlüpft  der  Speichel  in 
ihn  (den  Kranken)  hinein,  und  fällt  ihm  oben  in  den  Kopf;  wenn  der 
Nachbar  Schnaps  trinkt,  so  spürt  der  Kranke  Feuer  in  seinen  Eingeweiden; 
die  auf  das  Feld  zum  Düngen  geführte  Mistjauche  läuft  in  ihn,  in  sein 
geöffnetes  Gehirn  hinein;  die  Schweine,  die  er  sieht,  fressen  aus  seinem 
Gehirn;  Kühe,  welchen  er  begegnet,  brüllen  aus  letzterem  heraus  u.  s.  w. 

Eine  vernünftige  Rede  kommt  bei  dem  Kranken  nicht  mehr  auf. 
Die  sprachliche  Form  wird  immer  eigenthttmlicher,  die  Worte  anders 
accentnirt,  Silben  und  Worte  versetzt,  fremde,  schlecht  gewählte 
untermischt,  oft  am  unrechten  Platze,  allerlei  Wiederholungen  und 
Clausein  eingeschoben  u.  s.  w.  Das  Benehmen  schwankt  zwischen 
träger  Apathie,  plötzlichen  Aufregungen,  und  Neigung  zu  verkehrten, 
und  selbst  gewaltthätigen ,  Handlungen.  Interesse  und  Tbeilnahme 
schwindet.  Viele  Kranke  suchen  oft  für  Wochen  die  Bettruhe  auf. 
Dazwischen  treten,  allerdings  immer  seltener,  auch  wieder  freiere 
Zeiten,  in  welchen  eine  mechanische  Beschäftigung  möglich  ist. 

Die  bereits  oben  erwähnte  eigenartige  klinische  Modifikation  des  Ver- 
folgungswahnsinns, in  welcher  die  Neigung  und  auch  die  Kraft  des  Kranken 


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154 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


besonders  hervortritt  zu  dissimnliren,  die  Rolle  des  Angegriffenen  mit 
der  des  Angreifers  zu  vertauschen,  gegen  jede  Zumutbung,  als  ob  er 
krank  und  der  ärztlichen  Behandlung  bedürftig  sei,  zu  protestiren  —  soll 
hier  noch  kurz  skizzirt  werden.  Es  sind  dies  Fälle,  welche  nahe  zum 
Querulantenwahn  hinüberleiten,  sich  von  diesem  jedoch  durch  die  Passivi- 
tät ihres  Verhaltens  unterscheiden;  es  fehlt  ihnen  das  „manische"  Ele- 
ment der  wirklichen  Processkrämer.  Sie  greifen  nur  an,  wenn  man  die 
geistigen  Kreise  berührt,  aus  welchen  die  Imputation  für  eine  seelische 
Gestörtheit  ihrerseits  herzuleiten  wäre :  da  werden  sie  sofort  erst  einsilbig, 
tiberlegt,  mäkelnd,  endlich  disputirsüchtig,  rechthaberisch,  aufbegehrend, 
schroff  abweisend.  In  ihrem  zurückgezogenen  ablehnenden  Verhalten,  und 
ihrer  gezwungenen  aufrechten,  oft  forcirt  vornehmen  Haltung  sind  sie  be- 
ständig auf  einen  Angriff  gefasst,  welcher  ihre  Gesundheit  verdächtigen 
könnte.  Mühsam,  aber  mit  grosser  Consequenz,  verhalten  sie  den  Trotz 
und  verbeissen  den  Zorn.  Unbeobachtet  ziehen  sie  das  Gesicht  in  ernstere, 
düsterere  Falten,  werfen  mürrische  Blicke  um  sich;  in  der  Gesellschaft 
stehen  sie  abseits  mit  verschränkten  Armen,  den  Mund  von  einem  höh- 
nischen und  verlegenen  Lächeln  umspielt.  Im  Verkehr  sind  sie  unfreund- 
lich, trotzig,  zu  dialektischen  Klopffechtereien  bereit;  sie  weisen  jede  neu- 
trale Conversation  ab,  drängen  gleich  wieder  auf  die  Frage  ihrer  „Deten- 
tion" ein,  wollen  die  juristischen  Gründe  wissen,  pochen  auf  ihre  geistige 
Klarheit,  auf  ihre  Freiheit  und  Selbständigkeit,  und  schliessen  mit  dem 
Ceterum  censeo  des  an  ihnen  begangenen  „Justizmordes".  Die  ärztlichen 
und  amtlichen  Belege  für  ihre  Verbringung  in  die  Anstalt  erklären  sie 
sämmtlich  für  falsch  und  nichtswürdig.  Dieser  Zustand  eines  mehr  nega- 
tiven Wahnsinnsbildes  —  so  positiv  auch  dessen  Reflexe  auf  Stimmung 
und  Verhalten  des  Kranken  sind  —  dauert  oft  Wochen  und  Monate. 
Der  Kranke  spricht  während  dieser  ganzen  Zeit  nichts  grob  Verkehrtes 
und  hält  sich  auch  an  die  Ordnung.  Für  sich  allein  und  unbeachtet 
lacht  er  oft  vor  sich  hin,  weist  aber  jede  Anfrage  nach  Hallucinationen 
<auf  welche  er  sichtlich  reagirt)  höhnisch  ab.  Alle  Versuche  in  die  Tiefe 
des  Wahnes  zu  dringen  scheitern  an  seiner  überlegten  Vorsicht  und  Ver- 
schlossenheit. Doch  bricht  dem  Kranken,  nachdem  er  umsonst  auf  die 
Annahme  seiner  Gesundheitsbehauptung  gehofft,  endlich  die  Geduld.  Er 
wird  heftig,  barsch  und  gewaltthätig,  schreitet  zur  Selbstjustiz  gegen 
harmlose  andere  Kranke  und  lässt  jetzt  ziemlich  unverhüllt,  im  Gefühle 
des  Rechts  und  der  inneren  Genugthuung,  die  Andeutung  fallen,  „dass 
er  jetzt  genug  ausgehalten,  dass  er  der  feindlichen  Partei  nicht  noch 
ganz  zum  Opfer  fallen  wolle".  Aber  mit  dieser  Explosion  ist's  wieder 
geschehen;  es  folgt  kein  normalerer  FIuss  in  den  Vorstellungen  nach, 
kein  Wechsel  und  noch  weniger  eine  Versöhnlichkeit  in  der  Stimmung. 
Man  steht  mit  dem  Kranken  wieder  auf  dem  alten  Ötandpuukte,  wie  Mo- 
nate zuvor;  weder  durch  gemüthliches  Anfassen,  noch  durch  forcirte  Be- 
weisführung lässt  er  sich  zu  Geständnissen  herbei.  Oft  intercurriren  psy- 
chische Reflexkrämpfe  (convulsivische  Bewegungen  umschriebener  Mus- 
keln, plötzliches  Hiuausschreien).  In  günstigen  Fällen  kann  nach  und 
nach  eine  mildere  Stimmung  Platz  greifen,  die  dialektische  Schärfe  ab- 
brechen, der  Kranke  zugänglicher  werden,  so  dass  er  jetzt  mit  einer  ge- 
wissen Natürlichkeit  behauptet,  dass  er  sich  keiner  Krankheit  bewusst 


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„Negativer"  Verfolgungswahnsinn,  b)  Cerebrospinale  Form.  155 

sei,  und  jedenfalls  im  Leben  draussen  sich  zu  bewegen  wissen  werde. 
Oft  reussirt  man,  wenn  man  jetzt  nachgibt,  und  dem  fliehenden  Feinde 
goldene  Brücken  baut.  Manchmal  taucht  nach  der  Entlassung  der  Wahn 
auch  dauernd  unter.  —  Im  anderen  Falle  wird  er  chronisch,  und  der  Kranke 
eine  bleibende  Negation  der  Hausordnung  und  jeder  Annäherung.  —  Oder 
aber:  das  System  des  passiven  Widerstandes  führt  zur  Nahrungsverwei- 
gerung und  zunehmender  Entkräftung,  und  nicht  selten,  trotz  Kunst- 
hilfe,  zum  frühzeitigen  letalen  Ausgang.  Oft  intercurriren  Angstzufälle 
mit  Stupidität  und  Spannungen  in  der  Musculatur.  Der  conträre  Wider- 
stand bleibt  trotz  oft  theilweiser  späterer  Krankheitseinsicht  bis  zum  Le- 
bensende. — 

b)  Die  cerebrospinale  Form.  Die  Einleitung  dieser  zweiten 
Gruppe  ist  meist  dieselbe,  wie  bei  der  ersten.  Gewöhnlich  geht 
psychisch  ein  tiefes  Misstrauen  „gegen  alle  Menschen",  und  körper- 
lich ein  Status  nervosus  voraus  mit  Kopfdruck,  ungeheurer  Mattig- 
keit, erschwerter  Apperception  und  Reproduction ,  grosser  geistiger 
Erschöpf  barkeit,  Wechsel  zwischen  Activität  und  Abulie,  und  einer 
darauf  gegründeten  hypochondrischen  weinerlichen  Stimmung. 

Aetiologisch  ist  zu  bemerken,  dass  ganz  besonders  sexuelle  Excesse, 
worunter  Masturbation  in  erster  Reihe,  den  nervösen  Untergrund  ab- 
geben. Für  sehr  viele  Fälle  passt  deshalb  auch  die  ätiologische  Bezeich- 
nung: masturbatorischer  Wahnsinn.  —  Statt  der  hypochondrischen 
Depression  kann  auch  ein  melancholisches  Vorstadium  die  Krankheit  ein- 
leiten: die  Kranken  klagen  sich  weinend  und  verzweifelnd  grosser  Sün- 
den an,  bald  direct  des  begangenen  Abusus,  bald  auch  erdichteter  Ver- 
brechen; sie  verlangen  hingerichtet  zu  werden,  kommen  nicht  zu  Ende 
mit  der  peinlich  genauen  Erzählung  ihrer  fictiven  Selbstbeschuldigung. 
In  anderen  Fällen  debutirt  die  Krankheit  mit  einem  cerebralen  Verfol- 
folgungswahn  mit  oder  ohne  Hallucinationen,  sehr  häufig  mit  Beachtungs- 
wahn. Zahlreich  kommen  auch  Zwangsgedanken  vor,  oft  conträren  In- 
halts, so  dass  die  Kranken  allerlei  cynische  oder  blasphemische  Dinge 
denken  müssen. 

Unter  den  nervösen  Anfangssymptomen  stehen  cardiale  Inner- 
vationsstörungen  (Herzklopfen,  Beklemmungen,  zeitweiliger  Herz- 
krampf), vasomotorische  Rash's  mit  häufigem  Wechsel  der  Gesichts- 
farbe im  Vordergrund.  Das  typische  Gepräge  erhält  die  Krankheit 
durch  das  Hinzutreten  cerebrospinaler  Sensationen  (richtiger  Parästhe- 
sieen),  welche  —  allegorisirt  —  das  ursprüngliche  diffuse  Unbehagen 
des  Kranken  auf  locale  körperliche  Grundlagen  stellen  (physika- 
lischer Verfolgungswahnsinn).  Die  Gedanken  werden  „gestellt", 
Arme  und  Beine  vorübergehend  immobilisirt,  die  Augen  bald  starr 
gemacht,  bald  wieder  beweglich,  oder  nach  einwärts  gedreht.  Die 
Muskelgcfllhle,.  diese  eingewöhnten  Gradmesser  jeder  Bewegungs- 
leistung, zeigen  sich  plötzlich  verändert:  ein  abgerissener  und  auf 


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156 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


die  Hand  gelegter  Knopf  imponirt  mit  der  Schwere  einer  Kanonen- 
kugel. Am  Abend  noch  rüstig  für  athletische  Uebnngen,  ftthlt  der 
Kranke  am  andern  Morgen,  „dass  ihm  alle  Muskeln  durchschnitten 
sind".  Der  Körper  wird  vorübergehend  „federleicht",  der  Kopf  ist 
bald  frei  und  unendlich  klar,  bald  wieder  benommen  wie  „som- 
nambul". Das  sind  gewöhnliche  Anfänge.  Da  entdeckt  der  Kranke 
plötzlich  die  Lösung  des  Räthsels:  bei  einem  Gang  Uber  die  Strasse 
empfindet  er,  wie  ein  Vorübergehender  ihn  fixirt,  und  gleich  fährt 
eine  Erschütterung  durch  seinen  Rücken  bis  in  seine  Extremitäten 
—  es  ist  kein  Zweifel,  dass  man  ihn  elektrisirt  Die  Passanten 
tragen  magnetische  und  elektrische  Batterien  in  ihren  Kleidern.  Bald 
geben  auch  in  sein  Bett  galvanische  Verbindungen;  er  kann  nicht 
mehr  ruhig  liegen;  plötzlich  zucken  Funken  oder  heftige  Schläge 
durch  ihn.  Andere  Male  ziehen  während  der  Nacht  Empfindungen 
durch  seine  Genitalien,  als  ob  man  „Proben"  mit  ihm  anstellen, 
Obscönitäten  mit  ihm  treiben  wolle.  Frauen  empfinden  Coitus-Atten- 
tate:  es  sind  männliche  Verfolger,  vielleicht  ein  früher  reflisirter 
Geliebter,  den  die  Kranke  kannte,  nicht  wollte  oder  nicht  heirathen 
durfte.  Oder  es  ist  der  „böse  Feind",  welcher  in  die  Kranke  ein- 
gefahren und  in  irgend  einem  Körpertheile  (so  im  Bauche  bei  Uterus- 
Parästhesieen ;  oder  einer  andern  peripheren  Nervenbahn  entsprechend, 
hier  mit  Vorliebe  in  den  Intercostalbahnen  „am  Herzen")  Wohnsitz 
genommen.  Jetzt  ist  es  fortan  „der  Teufel",  welcher  die  lästige 
Empfindung  und  die  damit  zusammenhängende  Vorstellung  dem  Kran- 
ken beibringt;  dieser  „Dämon"  in  phantastisch- legendenhafter  Gestalt 
oder  in  bekannter  Menschenform  „presst  ihm  die  Brust  zusammen", 
schnürt  ihm  den  Hals  zu,  hemmt  die  Gedanken,  oder  „knechtet  ihm 
fremde  ein,  bannt  ihn  in  Gedächtnisssperre",  in  „Mundsperre".  Wenn 
man  den  Kranken  scharf  ansieht,  so  fährt  ihm  sofort  die  Empfindung 
durch  die  neuralgische  Körperstelle;  und  umgekehrt,  wenn  die  locale 
Parästhesie  sich  einstellt,  so  fühlt  er,  dass  man  ihn  ansieht  und 
beobachtet,  seine  Gedanken  ihm  „abziehen"  und  „herauslesen"  will. 
Bei  lebhafterem  eigenem  „Ideengang"  sieht  er  elektrische  Funken 
und  spürt  magnetische  Strömungen,  sogar  solche,  die  sich  auf  Andere 
überleiten.  Immer  ausgedehnter  werden  alle  Sensationen  auf  äussere 
Personen  bezogen;  die  letzteren  erweisen  sich  „freundlich"  oder 
„feindlich",  je  nachdem  die  ersteren  dem  Kranken  angenehm  oder 
unangenehm  sind.  So  wird  die  Verbindung  zwischen  Vorstellung 
und  peripherer  Sensation  immer  inniger,  immer  zwangsmässiger. 
Die  Wechselbeziehung  trifft  namentlich  auch  für  die  Stimmung  zu, 
welche  ganz  nur  Reflex  wird  und  sich  nicht  selten  in  plötzliche 


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b)  Cerebrospinale  Form.  Klinisches  Krankheitsbild. 


157 


Zornparoxysmen ,  oft  mit  Gewaltacten,  entlädt  gegen  die  als  feind- 
lich percipirte  Umgebung.  Hier  spielen  auch  oft  noch  vasomotorische 
Congestivzustände  zum  Kopfe  mit:  plötzliche  „Wärmeausstrahlungen 
vom  Rücken  oder  einer  neuralgischen  Stelle  am  Thorax  steigen  zum 
Kopfe  und  „erhitzen  die  Gedanken",  so  dass  ein  förmlicher  „Vor- 
stellungsschwindel" entsteht,  und  der  Kranke  vorübergehend  kein 
präcises  Wort  zu  finden  und  keine  Einzelerinnerung  festzuhalten  ver- 
ma€  —  „weil  er  immer  auch  alle  verwandten  Erinnerungen  damit 
durchdenken  muss".  Als  Acte  der  Selbsthilfe  werden  dann  alle 
möglichen  trippelnden  und  wiegenden  gymnastischen  Uebungen  im- 
provisirt,  „um  die  Wärme  wieder  anders  zu  vertheilen". 

Die  spinalen  Sensationen  werden  in  der  Folge  noch  zahlreicher 
und  mischen  sich  mit  visceralen. 

Hier  einige  der  geläufigsten  und  bezeichnendsten:  schmerzhaftes 
Kitzeln,  Gefühl,  als  ob  Fische  unter  die  Achsel  schlüpften;  als  ob  Nat- 
tern bissen,  ein  brennendes  Bügeleisen  über  den  Bauch  führe,  Würmer 
zwischen  Haut  und  Fleisch  sässen,  als  ob  der  Kopf  angebohrt,  in  alle 
möglichen  Formen  gezogen,  als  ob  Glieder  ausgerissen  würden,  als  ob 
man  auf  dem  Kranken  Holz  säge,  als  ob  er  „am  magnetischen  Galgen" 
hinge,  als  ob  man  magnetischen  Sand  auf  ihn  werfe,  magnetischen  Regen 
*nf  seinen  Kopf  giesse,  die  Samenkanäle  ihm  heraushaspele,  das  Blut  auf- 
und  abpumpe,  als  ob  eine  Katze  den  Kranken  inwendig  schlecke  und  mit 
den  Haaren  ausbürste,  als  ob  der  Körper  auf  Wasser  schwämme;  Aus- 
pressen der  Augen,  Schwinden  des  Rückenmarks  u.  s.  w. 

Für  den  Kranken  sind  diese  widrigen  Empfindungen  nicht  einfache 
Quälereien ,  sondern  Verfolgungen  durch  den  „bösen  Geist".  Manchmal 
empfindet  derselbe  seine  schlimmen  (sinnlichen)  Gedanken  einseitig  als 
Druck  in  der  Einen  (linken)  Schädelhälfte  mit  Verfinsterung  des  betr. 
Auges,  unter  gleichzeitiger  ärgerlicher  Gereiztheit,  während  die  „guten" 
Gedanken  nur  rechts  fühlbar  werden,  und  zwar  unter  angenohmer  He- 
bung seines  Muthes.  —  Damit  einher  gehen  bei  masturbatorischer  Grund- 
lage gehäufte,  kaum  zurückzudrängende  Pollutionen,  manchmal  selbst 
unter  Tags  und  mit  schliesslich  fehlender  libido.  Frauen  fühlen  den 
spontanen  Abgang  einer  Flüssigkeit  aus  den  Genitalien  unter  Wollust- 
empfindungen, nachdem  zuvor  paroxysmal  hallucinatorische  geschlecht- 
liche Insinuationen  oder  imaginäre  „Andrückungen"  an  sie  gemacht  wur- 
den.   Dabei  braucht  Onanie  nicht  immer  im  Spiele  zu  sein. 

Immer  kommen  jetzt  auch  Irradiationen  auf  die  höhern  Sinnes- 
gebiete, namentlich  auf  Ohr  und  Auge. 

Der  „gefühlte"  Verfolger  kündigt  sich  auch  durch  Wispern  und  ge- 
heimnissvolles Rauschen,  durch  bestätigende  höhnende  oder  auch  bedrohende 
Worte  (Bibelverse)  an.  Man  vexirt  den  Kranken  mit  Spiegeln;  der  Verfolger 
zeigt  sich  in  Form  einer  Flamme  oder  einer  Gluth,  noch  präciser  in  den 
Contouren  einer  bekannten  oder  maskenhaft  verhüllten,  oder  frivol  nackten 


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158 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


Gestalt  aus  der  Umgebung;  manchmal  entspricht  merkwürdigerweise  diese 
centro-periphere  Reizung  nur  dem  einen  Auge,  während  die  Sehkraft  des 
anderen  vermindert  ist  und  alle  Gegenstände  nur  verschwommen  sieht. 
Oft  haben  sich  die  Farben  und  Grössen  Verhältnisse  der  Aussen  weit  ver- 
ändert. Die  gehörten  Scheltworte  kommen  theils  aus  der  Luft  in  das 
Ohr,  theils  (und  sehr  häußg)  aus  der  hyperästhetischen  Körperstelle,  so 
aus  dem  Epigastrium,  aus  dem  Unterleibe.  Dort  „schwatzt  es"  und  treibt 
dem  Kranken  das  Blut  in  den  Kopf  u.  8.  w.  —  In  der  Nase  wird  ein 
stinkender  Geruch  empfunden  nach  Schwefel  und  Pech  („wenn  der  Höl- 
lengeist im  Epigastrium  sich  zeigt");  selbst  ganz  barocke  Gerüche  nach 
Enzian,  Firniss,  Petroleum,  Sperma;  alle  Gegenstände  stinken  (riechen 
nach  Kalk  u.  8.  w.) ;  auch  der  eigene  Körper.  —  Aehnliche  Täuschungen 
im  Geschmackssinn  erregen  Vergiftungswahn.  Bemerkenswerth  ist  die 
häufige  Entstehung  des  letzteren  auf  Grundlage  eines  Gastricismus.  Es 
gibt  ziemlich  viele  Fälle,  bei  welchen  in  diesem  Znsammenhang  der  ganze 
Verfolgungswahn  mit  Giftfurcht  debutirt.  Andere  Kranken  fühlen  Aether 
in  ihren  Mund  fliessen,  von  da  in's  Ohr,  und  endlich  in  den  Hoden  u.  s.  w. 
Nicht  selten  sind  vertiginöse  Anwandlungen ,  manchmal  mit  epileptoiden 
Zufällen;  bei  hochgesteigerter  sensueller  und  spinaler  Hyperästhesie  kann 
sogar  das  Kritzeln  eines  Bleistifts,  das  Kehren  der  Zimmer  einen  Schmerz 
hervorrufen,  dass  der  Kranke  „sich  den  Tod  wünscht".  Unschuldige  Fra- 
gen können  ihn  so  erschrecken,  dass  sich  „Herz  und  Kopf  in  ihm  ver- 
mischen" und  er  nicht  mehr  weiss,  was  man  von  ihm  will.  Anderemale 
können  beim  kräftigen  Anfassen  der  Haut  tonische  und  klonische  Zuckungen 
auftreten.  —  Auch  somnambule  Zustände  mit  wandelnden  Bildern,  leb- 
haften Farbenspielen,  überschwenglichen  „verklärten"  Gedanken,  beim  Er- 
wachen „eine  nie  geahnte  Auffassung  der  Aussenwelt"  werden  beobachtet. 

Die  beschriebenen  Symptome  sind  auch  bei  voll  entwickelter 
Krankheit  nie  in  gleicher  Stärke  und  Ausdehnung  vorhanden.  Viel- 
mehr findet  ein  grosser  Wechsel  statt,  oft  local,  so  dass  bald  mehr 
die  obere,  bald  mehr  die  untere  Körperhälfte  heimgesucht  ist;  manch- 
mal ist  der  Kranke  „oben  klar"  und  „unten  steht  er  bis  an  den  Bauch 
im  Nebel".  Sehr  variirend  ist  auch  die  Reaction  dieser  Parästhe- 
sieen  und  Paralgieen  auf  Stimmung  und  Haltung.  Solche  Kranke 
können  zu  Zeiten  trotz  ihrer  Wahnideen  natürlich  geordnet,  freund- 
lich sein,  selbst  zeitweise  einige  Krankheitseinsicht  äussern.  Andere 
Male  aber,  und  oft  in  jähem  Umschlag  aus  freiem  GemUthszustande, 
werden  sie  verstimmt,  bitter  gereizt  (Masturbanten,  namentlich  nach 
unfreiwilligen  Pollutionen,  welche  auf  vexatorische  Essen- Zuthaten 
geschoben  werden),  und  gerathen  nicht  selten  in  leidenschaftliche 
Heftigkeit,  die  sich  bis  zur  Wuth  und  Gewaltthätigkeit  steigern  kann. 
Auch  in  der  scheinbar  grössten  Ruhe  des  misstrauischen  Kranken 
sind  plötzliche  impulsive  Raptus  (selbst  Mordattentate  gegen  bis- 
lang nicht  gemiedene  Personen)  zn  fürchten.  Bei  Frauen  bringt  der 
menstruale  Termin  regelmässige  Verschlimmerungen. 


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b)  Cerebrospinale  Form.  Krankheitobild.  Verlauf. 


159 


Auf  dieser  Stufe  angekommen,  kann  sich  das  Leiden  wieder  sachte, 
zurtickbilden.  An  dem  Rest  des  intact  gebliebenen  Vorstellungsbesitzes 
rankt  sich  der  Kranke  anf  und  lernt,  namentlich  durch  entsprechende  Be- 
schäftigung sich  ablenkend,  allmählich  sich  über  sein  Leiden  zu  stellen. 
Dieses  d.  h.  der  Verfolgungswahn  tritt  immer  mehr  zurück,  ohne  aber 
auch  kritisch  überwunden  zu  werden;  namentlich  dauern  die  Gehörshallu- 
cinationen  oft  noch  Monate  lang  fort.  Das  äussere  Verhalten  wird  ge- 
ordnet, nur  bleibt  der  Kranke  scheu  und  zurückgezogen.  Nach  und  nach, 
oft  erst  in  Jahresfrist,  tritt  auch  dieser  Rest  der  Störung  zurück  —  zwar 
auch  jetzt  nicht  durch  Einsicht  Uberwunden  und  aufgeklärt,  aber  ver- 
gessen, weil  wirkungslos  geworden.  Dem  Genesenen  drohen  aber  Reci- 
dire,  welche  namentlich  bei  Fortdauer  der  Masturbation  nie  ausbleiben. 

Der  Weiterverlanf  des  Leidens  ist,  wenn  nicht  Heilung  ein- 
tritt, ein  ausserordentlich  mannigfaltiger,  entweder  in  (eigenartige) 
psychische  Schwäche,  oder  in  Degeneration.  Bei  den  masturba- 
torischen  Fällen  bildet  sich  in  der  Regel  anf  Grundlage  der  spinal-cere- 
bralen  und  visceralen  Gefühle  ein  hypochondrischer  Wahnsinn  auß. 

Der  Kranke  fühlt  seine  Knochen  verkürzt,  das  Mark  aus  denselben 
gezogen,  die  Hände  werden  länger  und  kürzer,  der  Kopf  erhält  alle  mög- 
lichen Contigurationen  (die  Verfolger  thun  dies  gelegentlich  experimenti 
causa,  „um  physiologische  Hirnexperimente  zu  machen"),  Wirbel  werden 
aus  dem  Rückgrat  herausgenommen  („die  bösen  Geister  haben  mich  zu- 
erst zu  einem  Simpel  und  dann  bucklig  gemacht"),  die  rechte  und  linke 
Körperseite  wird  vertauscht,  Nachts  werden  Körpertheile  geraubt,  andere 
verstümmelt.  Die  Eingeweide  verfaulen,  im  Gehirn  plätschert  Wasser. 
Im  Körper  geht  eine  Theilung  vor  sich:  „in  der  einen  Hälfte  concentrirt 
sich  das  eigentliche  Ich,  in  der  anderen  lebt  nur  ein  halbtodtes  Selbst- 
bewusstsein".  Manche  Kranke  versuchen  dagegen  allerlei  Gegenmittel; 
sie  waschen  sich  mit  Chemikalien,  brennen  sich  mit  der  Cigarre,  ätzen 
sich  die  Körper-Foramina  (Urethra,  Anus)  mit  Höllenstein,  schieben  Watte 
und  Holz  ein  u.  s.  w.  Andere  dagegen  trachten  nach  Verificirung  ihrer 
abnormen  Organgeflihle ;  sie  maltraitiren  sich,  um  sich  zu  Uberzeugen, 
dass  sie  noch  eine  Brust  oder  eine  Schulter  haben.  Dieser  Drang  kann 
sogar  eine  lebensgefährdende  Höhe  erreichen,  wenn  der  Kranke  allen 
Ernstes  sich  zu  schiessen  beabsichtigt,  um  zu  sehen,  ob  er  noch  „eine 
Brust  wie  andere  Menschen"  habe.  In  anderen  Fällen  kann  merkwürdiger- 
weise die  Reflexion,  dass  „die  Kugel  ihm  doch  nichts  anhabe,  durch  seinen 
Kopf  einfach  wieder  herausgehe",  den  Kranken  vom  letzten  ernsten  Schritt 
zurückhalten.  Das  hypochondrische  Stadium  kann  bald  stärker,  bald  schwä- 
cher durch  Jahre  hindurch  persistent  bleiben;  meistens  engt  sich  dabei 
der  Kreis  der  „beeinträchtigten"  Organe  eiu  und  bildet  künftig  einen 
stereotypen  Wahnkreis  unter  den  übrigen,  so  besonders  schadhafte  Zähne 
oder  Haare,  welche  oft  in  charakteristischer  Weise  für  die  phantastische 
Wahrnehmung  des  Kranken  sich  gewissermaassen  „beleben",  zu  Zähnen 
werden,  welche  sich  im  Munde  „bekämpfen",  oder  zu  „Zahn-Leichnamen" 
absterben.  Auch  der  „Magen"  spielt  eine  grosse  Rolle  in  dem  hypochon- 
drischen Elend  des  Kranken,  welches  sich  in  diesem  Falle  häufig  mit  Ge- 


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lüO 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


schmacks-  und  Geruchsillusionen  (Verwesungsgeruch)  verbindet  und  zeit- 
weilig zu  Nahrungsverweigerung  führt. 

Das  Auftreten  dieses  hypochondrischen  Wahnsinns  kennzeichnet 
jedoch  nicht  allein  nur  die  masturbatorischen  Fälle,  und  auch  nicht 
nothwendig  nur  die  schwerere  Verlaufsform.  —  Häufig  vollzieht 
sich  der  Fortschritt  des  Leidens  unter  zeitweiligen  Fluxionszustän- 
den  zum  Kopf  und  episodischen  Manieen  mit  Furor -Charakter, 
brutaler  Gewaltthätigkeit,  grimassirenden  Gesichts-  und  choreiformen 
Körperbewegungen,  und  einer  fragmentaren  assonirenden  Ideenflucht. 
Jeweils  folgen  dann  Erschöpfungsperioden  nach.  So  geht  die  geistige 
Abschwächung  etappenweise  weiter.  Nicht  selten  schieben  sich 
aber  auch  Stuporphasen  ein,  und  der  Weiter  verlauf  geschieht  unter 
dem  Bilde  des  katatonen  Wahnsinns  mit  Uebergang  in  katatonen 
End-Blödsinn  (s.  d.). 

In  andern  Fällen  tritt  kein  vollständiger  Stupor,  sondern  nur 
ein  Zustand  von  Mutacismus  ein,  mit  Indolenz,  Abulie  und  täglich, 
oft  in  regelmässigen,  z.  B.  viertelstündigen  Pausen,  wiederholten 
Zwangsstellungen  und  -Bewegungen  (Drehen  im  Kreise,  Attitüde  des 
hockenden  Frosches  u.  s.  w.). 

Andere  bleiben,  tagelang  zusammengekauert,  wie  Fakire  sitzen,  um 
mit  „dem  Magneten  der  Zimmerdecke"  in  Verbindung  zu  bleiben,  halten 
allerlei  Jongleurstellungen  ein,  weil  sonst  die  „elektrische  Verbindung" 
aufhört,  und  die  Höllengeister  Uber  sie  herfallen,  sie  an  der  Brust  drücken, 
Herz  und  Athem  stellen  u.  s.  w. 

Oder  endlich:  es  debütirt  plötzlich  ein  Grössenwahn  (bei 
onanistischer  Grundlage  häufig  religiösen  Inhalts;  s.  u.). 

Bei  chronischem  und  incomplicirtem  Verlaufe  erhält  sich  der 
spinale  Wahnsinn  auch  auf  Jahre  hinaus  im  stationären  resp.  sachte 
progressiven  Gange,  mit  zeitweiligen  Exacerbationen.  Der  Kranke 
wird  immer  mehr  der  Wirklichkeit  entfremdet,  immer  mehr  zum 
Spielball  seiner  Einfälle  und  seiner  wechselnden  Sensationen,  welche 
jeweils  sofort  in  Wahngedanken  oder  Hallucinationen  umschlagen 
(secundärer  Wahnsinn).  Das  Ich  stellt  künftig  nur  mehr  noch  den 
Durchgangs-  oder  Minuten-Sammelpunkt  für  diese  dar.  Es  ist  ein 
fließendes,  immer  wieder  neues,  geworden,  ohne  Continuität.  (Inter- 
essant ist,  dass  solche  Kranke  oft  sich  selbst  als  „Marionetten"  be- 
zeichnen, „aus  welchen  Andere  machen,  was  sie  wollen".)  Nur  für 
die  Vergangenheit  bleiben  noch  eine  Zeitlang  geschlossene  Vorstel- 
lungs-Complexe ;  aber  auch  diese  bröckeln  nach  und  nach  ab. 

Der  Kranke  lebt  jetzt  ausser  Raum  und  Zeit,  ohne  Theilnahme  und 
Interesse.  Die  Stimmung  ist  ausserordentlich  wechselnd:  im  einen  Augen- 
blick drohend  und  abweisend,  ja  unheimlich  feindselig,  überrascht  sie  im 


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b)  Cerebrospinaler  Wahnsinn.  Ausgänge.  Degenerativer  Wahnsinn.  161 


nächsten  durch  ein  blödes  Lachen,  eine  motivlose  Heiterkeit;  die  Haltung, 
soeben  noch  verschlossen,  misstrauisch ,  zu  Thätlichkeiten  geneigt,  oder 
doch  unter  einer  gewissen  Furcht  zurückhaltend,  kann  in  jähem  Umschlag 
wieder  offen  und  zutraulich  sein.  Der  urtheils-  und  gedächtnissschwache 
Kranke  wird  in  seinem  lockeren  psychischen  Bestand  nur  noch  durch  die 
Hallucinationen  zusammengehalten,  welche,  Uber  alle  Sinne  verfügend, 
imperativ  ihn  beherrschen.  Darunter  stehen  (auf  masturbatorischer  Grund- 
lage) die  des  Gefühls  in  erster  Reihe.  In  den  immer  zwangsmässigeren 
Reactionen  auf  dieselben  geht  das  Tagesgeschäft  des  Kranken  auf  (stän- 
diges Betasten  der  Genitalien,  Einsalben  des  Körpers  mit  Stuhlgang  und 
Urin,  Einspeicheln  der  Speisen  im  Teller,  stundenlanges  Auspusten,  Be- 
klopfen verschiedener  Körpertheile,  Verstopfen  der  Nase  und  der  Augen 
mit  Unrath  —  Alles,  um  sich  gegen  die  obscönen  Berührungen  zu  feien). 

Endlich,  wenn  die  Krankheit  bis  zur  letzten  Verlaufsgrenze  sich 
erschöpft,  bleibt  noch  eine  hallucinatorisch  verwirrte  oder  auch 
stumpfsinnige  Dementia  Übrig,  in  welcher  sich,  trotz  der  Indolenz, 
der  impulsive  Charakter  (namentlich  Attentate  auf  Genitalien  und 
Augen)  erhält.  Es  ist  der  eigentlich  degenerative  (meist  ona- 
uistische)  Wahnsinn. 

Dessen  klinische  Charakterzüge  sind  summarisch  folgende:  Der  an- 
fängliche spinale  (physikalische)  Verfolgungswahn  ist  mit  zunehmender 
geistiger  Schwäche  in  einen  religiösen  Expansionszustand  übergegangen 
mit  einem  weichlich  sentimentalen,  durch  allerlei  salbungsvolle  Gesten  und 
Pantomimen  verschnörkelten  Wesen,  welches  in  einem  Gemisch  von  Cul- 
tusexercitien  und  erotischen  Aeusserungen  sich  genügt  (tagelanges  Hände - 
falten,  einseitige  forcirte  Kopfhaltung,  Küssen  des  Fussbodens,  mystische 
Reverenzen  u.  8.  w.).    Die  geistige  Benommenheit  ist  eine  tiefe  und  gibt 
dem  Eintritt  von  visionär  hallucinatorischen  Phasen  ungehindert  Raum. 
Bemerkenswerth  ist,  dass  in  dem  confusen  Gebahren  ein  gewisser  ver- 
ständiger Zug  mit  einhergeht,  und  in  der  vagen  Faselei  stets  auch  rich- 
tige Perceptionen  unterlaufen.    Es  ist  ein  Gemisch  von  Traum  und  ober- 
flächlicher wacher  Lucidität.  Während  der  letzteren  besteht  ein  grosser 
Hang  zu  metaphysischen  Speculationen  und  schriftlichen  Exposes  Uber 
Gott,  Satan,  Weltseele ,  Weltprincip  u.  s.  w.   Der  Verlauf  ist  ein  ausser- 
ordentlich buntgemischter,  mit  jähen  l'ebergängen  aus  einer  Zu8tandspha.se 
in  die  andere :  religiöse  Exaltation  mit  Zwangsstellungen  und  -haltungen ; 
manische  Erregtheit  bis  zum  Zerstören,  Schmieren,  Urintrinken,  Drang 
den  Andern  die  Genitalien  zu  küssen  —  wechseln  mit  klareren  Episoden, 
diese  mit  intercurrenten  Stupcranfallen  (starkes  Speicheln,  vasomotorische 
Krampf-  und  Lähmungszustände);  diese  wieder  mit  hypochondrischen  Pe- 
rioden (der  Leib  verfanle  u.  s.  w.).    Endlich  bleibt  unter  manifester  Ge- 
wichtszunahme ein  hallucinatorisch  verwirrter  Blödsinn  übrig,  mit  intel- 
lectoeller  und  sittlicher  Abstumpfung  und  einem  triebartigen  Gebahren 
(Zusammenraffen  von   allem  Ergreifbaren,  Verschlucken  von  Steinen 
«.s.w.),  schmutzigstem  Habitus,  Vor -sich -Hinmurmeln  von  stereotypen 
ganz  verkehrten  Sätzen,  hastiger  Essgier  ohne  zu  kauen,  trophischen 
Störungen  (Neigung  zur  Hämatombildung  an  den  Ohren  und  am  Kopfe, 

Schftle,  GeiaUftknnkheiton.  3.  Aufl.  11 


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162 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn 


am  Hoden  u.  s.  w.).  —  Der  Verlauf  ist  oft  ein  relativ  sehr  rascher, 
subacuter,  in  den  Rahmen  weniger  Monate  zusammengedrängt.  — 

Unter  den  Fällen  dieser  Gruppe,  welche  gegentheils  bis  zum  Schluss 
die  logisch  strengste  Systematisation  in  der  feindlichen  Allegorisirung  der 
Gefühle  und  der  Hallucinationen  einhalten,  und  dabei  auch  das  seiner 
Situation  klar  bewusste  Ich  bewahren,  ist  besonders  der  Verfolgungswahn- 
sinn, welcher  auf  Tabes  dorsalis  d.  h.  auf  tabischen  Spinalsensationen 
manchmal  sich  aufbaut,  hervorzuheben.  Hier  deckt  sich  in  besonderer 
klinischer  Klarheit  und  Durchsichtigkeit  der  Parallelgang  der  (tabischen) 
Sensibilitätsstörung  einerseits  und  des  physikalischen  Verfolgungswahnes 
andererseits  auf.  Jede  spinale  Parästhesie  wird  in  elektrische  Einwirk- 
ungen, jede  motorische  Hemmungsempfindung  auf  Maschinen  der  Ver- 
folger („gelegte  Fussangeln")  zurückübersetzt.  Der  Kranke  vermag 
schliesslich  seinen  Zustand  in  solcher  Weise  zu  objectiviren  und  in  sei- 
nem allegorischen  Spiegelbild  so  zu  controlliren ,  dass  jeder  subjectiven 
Aenderung  des  Befindens  auch  eine  —  physikalisch  begründete  —  Aen- 
derung  im  elektrischen  Belagerungsapparat  von  draussen  unterlegt  wird. 
Manche  Kranke  sind  im  Stande  neben  den  dadurch  ihnen  aufgenöthigten 
Abwehrplanen  noch  ein  leidliches  Stück  seelisches  Interesse  für  andere 
Gebiete  zu  retten,  und  sich  auch  noch  nützlich  zu  beschäftigen.  Freilich 
müssen  für  jedes  Missgeschick  im  Arbeiten  sofort  die  „Zauberer"  wieder 
herhalten!  Bei  Anderen  aber  nimmt  das  Misstrauen  gegen  aussen  so  über- 
hand, dass  der  Kranke  sich  immer  mehr  abschliesst,  bei  Zumuthungen 
und  Ansprachen  aufbraust,  selbst  impulsiv  gewalttbätig  wird,  und  endlich 
in  einem  Stillleben  untergeht,  wo  er  nur  noch  mit  seinen  Hallucinationen 
Verkehr  und  Zwiegespräche  führt.  Vorübergehend  lässt  er  sich  noch 
aufrütteln,  auch  zu  mechanischen  Beschäftigungen  anhalten ;  in  Wirklich- 
keit aber  lebt  er  nur  noch  dem  immer  verwirrteren,  schliesslich  für  ihn 
selbst  unverständlichen  Innenspiel  der  Hallucinationen,  heiteren  und  är- 
gerlichen Einfallen,  welche  sich  durch  Lachen,  Schelten,  zeitweilige  zornige 
Reactionen  oder  Widerstand  gegen  die  Hausordnung,  selbsterfundene  Schutz- 
massregeln gegen  Localgefühle  kundgeben. 

Der  Eifersuchtswahn  bei  Frauen  —  ein  nicht  seltenes  kli- 
nisches Bild  im  Climacterium  oder  bei  localen  Parästhesieen  der  Genita- 
lien —  ist  gewöhnlich  viel  stationärer.  Einmal  erfasst  und  durch  That- 
sachen  verificirt,  wozu  bereite  Illusionen  sich  einstellen,  bleibt  er  durch 
Jahre  hindurch  auf  gleicher  Entwicklungsstufe;  mit  ihm  Gefühlskälte  und 
feindselige  Abneigung  gegen  den  Ehemann.  Aufgeregte  Paroxysmen  der 
„gerechten  Verachtung"  intercurriren.  Nach  und  nach  folgt  Nachlass 
des  Affects  bei  Unverbesserlichkeit  des  fixen  Wahnes  und  zunehmender 
geistiger  Schwäche.  Nicht  selten  treten  jetzt  hysterische  Symptome  (ner- 
vöses Erbrechen,  Husten,  Krämpfe)  in  den  Vordergrund  des  Krankheits- 
bildes. Die  Intelligenz  erhält  sich  oft  sehr  lange  auf  einer  leidlichen 
Stufe,  so  dass  die  Patienten  dem  Uneingeweihten  gar  nicht  als  Kranke 
imponiren,  zumal  sie  fein  zu  dissimuliren  verstehen.  —  Diese  Special- 
form kommt  übrigens  auf  consÜtutioneller  hysterischer  Grundlage  auch 
temporär  vor  und  kann  als  solche  wieder  zurücktreten,  indem  zu- 
gleich die  vaginalen  Parästhesieen  aufhören  und  die  bis  dahin  unbefrie- 
digten Coitusgefühle  (welche  zur  Annahme  einer  Impotenz  des  Mannes 


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TabischerVerfolggswahnainn.  Eifersuchtswanhnsinn.  SchwangerschafUwahns.  163 

aus  „anderweitiger  Neigung  und  Gepflogenheit"  geführt  hatten)  reparirt 
werden. 

Der  Eifersuchtswahn  bei  Männern  (Wahn  der  ehelichen  Un- 
treue Seitens  der  Frau)  entsteht  mit  Vorliebe  auf  alkoholistischem  Bo- 
den (sexuelle  Parästhesieen,  verfrühte  Impotenz  in  Folge  der  chronischen 
Intoxication?),  jedoch  auch  ohne  diese  specifische  Genese.  Die  Wahn- 
conception  kann  plötzlich  auftreten,  nicht  selten  nach  einem  erneuten  AI- 
koholexcess.  Die  gemtttbliche  Rückwirkung  führt  sehr  häufig  zu  furor- 
artigen Zornparoxy8men ,  oft  zu  directen  Gewaltthaten ,  theils  gegen  die 
Frau,  theils  gegen  den  vermeintlichen  Beleidiger  der  Hausehre.  Der 
Verlauf,  auch  hier  meist  ein  chronischer,  erfolgt  manchmal  schubweise. 
Illusionen  und  Hallucinationen  (vorzüglich  des  Gehörs)  compliciren  den- 
selben und  bauen  sich  oft  zu  ganzen  Romanen  auf,  wogegen  bei  der 
rabulistischen  Dialektik  des  Kranken  keine  Einwendung  aufkommt.  Die 
Kranken  erschöpfen  sich  Anfangs  in  gerichtlichen  Anklagen;  abgewiesen 
werden  sie  zu  erbitterten  Querulanten.  Mehr  und  mehr  aber  tritt  Indo- 
lenz ein:  der  Kranke  vergisst  im  Laufe  der  Jahre  allmählich  seinen 
Wahn  —  freilich  um  den  Preis  seines  feineren  Gemüthslebens,  speciell 
der  Anhänglichkeit  an  seine  Familie;  er  schrumpft  zum  Egoisten  herab, 
welcher  keine  tiefere  Empfindung,  ja  keine  Nachfrage  mehr  nach  den 
Seinigen  kennt.  Manchmal  kommen  aber  auch  wirkliche  Intermissionen 
vor,  und  sogar  spät,  selbst  nach  Jahren  noch,  eine  Heilung  mit  Defect, 
so  dasa  in  den  mittlerweile  geistig  schwächeren  und  ruhigeren  Kranken 
wieder  ein  natürliches  Interesse  für  die  lange  geschmähte  Frau  aufwacht, 
und  Uber  den  Wahntraum  hinweg  sich  auch  thätig  kundgibt. 

Dahin  gehört  auch  der  so  häufige  Schw anger Schafts wahn  von 
—  in  der  Mehrzahl  uterinkranken  —  Frauen;  er  steht  in  der  Regel  auf 
dämonomanischem  Boden  („der  böse  Feind  hat  sie  nächtlich  Uberwältigt"), 
und  kann  sich  weiter  in  allen  erdenklichen  Richtungen  einer  mütterlichen 
Phantasie  (mit  Geburt,  Wegnahme  des  Kindes,  oder  aber  in  beständiger 
Erwartung  und  Vorbereitung  zur  Niederkunft  durch  Anfertigung  von  Kin- 
derkleidchen u.  s.  w.)  hinausspinnen.  So  können  die  Kranken  nach  und 
nach  in  demente  Schwäche  Ubergehen  mit  Erhaltung  des  Wahns,  welcher 
sich  in  Hätscheln  und  Pflegen  von  Kinderphantomen  kindisch  befriedigt.  — 
Es  kommen  aber  auch  Fälle  von  acuterem  Charakter  und  Verlauf  mit 
dämononianen  oder  gegentheils  erotisch- religiös  gefärbten  Hallucinationen 
vor  (namentlich  im  Climacterium) ,  welche  günstig  verlaufen,  manchmal 
durch  den  Eintritt  der  vorher  cessirenden  Menses  corrigirt  werden. 

I  '  Manische  Form  des  Verfolgungswahns.  In  vielen  Fäl- 
len schlägt  die  protensartige  Krankheit  einen  von  den  seitherigen 
Arten  abweichenden  Verlaufs -Modus  ein.  Es  ist  oben  schon  der 
nicht  so  seltenen  initialen  Manie  gedacht  worden,  welche  als 
Gemttthsreaction  auftritt,  wenn  der  Kranke  die  empörende  Thatsache 
der  gegen  ihn  inscenirten  Verfolgung  entdeckt  hat. 

Diese  manische  Gereiztheit  und  Zornmüthigkeit  kann  dabei  den 
zu  Grunde  liegenden  Verfolgungswahn  so  maskiren,  dass  dieselbe  zur 
klinischen  Signatur  des  Krankheitszustandes  wird.    Schon  kurz  nach  dem 

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164 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn 


depressiven  Stadium  —  in  Folge  des  peinlichen  Beachtungswahns  — 
kann  der  Uebergang  sich  vollziehen.  Der  erst  noch  menschenscheue, 
Schutz  suchende  Kranke  tritt  aus  sich  heraus;  er  wird  heftig  und  hart 
gegen  Frau  und  Kinder,  missbandelt  sie,  wird  bei  Widerspruch  gewalt- 
tätig, ist  dabei  intellectuell  zerstreut  und  benommen,  macht  dumme 
unüberlegte  Streiche.  Diese  Anfälle,  oft  mit  Congestivzuständen  und 
Innervationsstörungen  (leichtes  Schielen,  Tieferstehen  des  einen  Mund- 
winkels, plötzliche  Gesichtszuckungen)  verbunden,  kommen  anfänglich 
nur  in  Pausen;  in  der  Zwischenzeit  ist  der  Kranke  matt,  hinfällig,  jam- 
mert wohl  auch  über  das  Vorgefallene.  Bald  aber  rücken  die  paroxy- 
stischen  Perioden  zusammen  und  bilden  nun  einen  Zustand  anhaltender 
Gereiztheit  und  activen  Misstrauens.  Auf  jede  leichtere  Veranlassung 
folgt  zornige  Aufregung.  Nach  Abklingen  dieser  wird  der  Kranke  je- 
weils wieder  ruhig,  bleibt  aber  fortwährend  in  der  Spannung  des  ver- 
haltenen Affects.  So  zieht  sich  der  Zustand  durch  Monate  dahin,  der 
Kranke  bleibt  ein  Noli  me  tangere.  Zeitweilig  führt  er  Selbstgespräche 
gegen  feindliche  Stimmen  oder  Traumbilder,  welche  Tag  und  Nacht  gleich 
rasch  sich  einstellen,  mit  wachen  Augen  manchmal  prompter,  als  mit  ge- 
schlossenen. Innerlich  kämpft  eine  depressive  Stimmung  aus  richtigem 
Krankheitsgefühl  mit  einer  vagen  expansiven.  Der  Kranke  ist  ein  ex- 
plosionsbereiter Vulkan,  düster  mürrisch,  dann  wieder  brutal  aufbrausend, 
anderemale  wieder  ironisch.  Der  Weiterverlauf  kann  ein  günstiger  sein 
und  zur  ganzen  oder  defecten  Heilung  fuhren;  andernfalls  geht  er  nach 
Jahren  in  einen  Secundärzustand  chronischen  exaltirten  (meist  religiösen) 
Wahnsinns  über,  oder  aber  in  reizbaren  Blödsinn  mit  abweisender  Ver- 
schlossenheit und  entschlossenem  Trotze  gegen  jede  Annäherung  oder 
Ansprache  und  einem  immer  mehr  nur  auf  „Stimmen"- Verkehr  und  auf 
Befriedigung  der  sinnlichen  Antriebe  (Essgier,  onanistische  und  selbst 
päderastische  Gelüste)  eingeschränkten  Egoismus. 

Melancholische  Form  d.  Verf.  W.  In  analoger  reactiver 
Entstehung  kann  auch  eine  melancholische  Verstimmung  auftreten 
und  dem  Wahnsinn  ein  ausgesprochen  depressives  Gepräge  geben. 

Die  Kranken  sind  traurig,  niedergedrückt  über  ihr  Schicksal,  sie 
bangen  vor  gerichtlichen  Verhandlungen  und  Strafen,  welche  die  von 
ihnen  „beobachtete"  oder  „zugeflüsterte"  Insinuation  einer  ehrlosen  Hand- 
lung nothwendig  Uber  sie  bringen  wird.  Tentamina  suicidii  sind  jetzt 
nicht  selten.  Hält  sich  der  Kranke  noch  leidlich  aufrecht,  so  vermag 
er  sich  doch  nicht  der  wachsenden  Verstimmung,  der  Qual  der  Schelt- 
stimmen zu  entziehen.  Viele  schliessen  sich  menschenscheu  ab  und  bringen 
Tage  und  Nächte  in  Weinen  und  Jammern,  in  Nahrungsverweigerung  zu. 
Oft  kommen  Paroxysmen  von  Verzweiflung  mit  imperativen  Raptus  von 
Zerstörung,  von  Fortdrängen  u.  s.  w.  Der  Kranke  trägt  jetzt  ganz  das 
äussere  Bild  und  Benehmen  eines  agitirten  Melancholikers,  nnd  nur  die 
genaue  Anamnese  d.  h.  die  Entwicklung  des  Leidens  vermag  den  diagno- 
stischen Springpuukt  zu  enthüllen.  Der  melancholische  Wahnsinnige  ist 
nicht  „schlecht",  weil  er  sich  „so  fühlt"  (wie  der  echte  Melancholiker;, 
sondern  weil  er  es  so  hört,  weil  man  ihn  absichtlich  und  immer  wieder 
als  einen  schlechten  Menschen  „ansieht  und  behandelt";  er  zeigt  deshalb 


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Manischer  Verfolggswahnsinn.  Melancholischer  Verf.  Complic.  Grössenwahn.  165 


auch  keinen  Affect  der  Selbsterniedrigung.  Wochen  und  Monate  lange 
Episoden  können  so  vorübergehen.  Endlich  kommen  auch  wieder  ruhigere 
Phasen,  Hand  in  Hand  mit  den  zurücktretenden  Hallucinationen.  Das 
kann  zu  kürzern  oder  längern  Remissionen  oder  selbst  Intermissionen 
mit  richtigem  Krankheitsgefühl  fuhren;  in  den  meisten  Fällen  kommen 
aber  Nachschübe  mit  erschwertem  Charakter.  Die  ursprünglich  beglei- 
tende Gemüthsverstimmung  wird  in  der  Regel  mit  den  Rückfällen  schwä- 
cher; um  so  mehr  treten  aber  jetzt  die  Hallucinationen  hervor  und  zwar 
mit  zunehmend  imperativem  Charakter.  Die  Kranken  gehen  vom  pri- 
mären in's  secundäre  Wahnsinnsstadinm  Uber.  Andere  dagegen  wandeln, 
dem  melancholischen  Verlaufscharakter  treu  bleibend,  in  zunehmende 
psychische  Schwäche  (unter  Remissionen);  die  reactive  Zornmütbigkeit 
bleibt  und  unterhält  die  beständige  Gemeingefährlichkeit  dieser  oft  bis  zum 
Nihilismus  verbitterten  Kranken.  (Ueber  eine  „abortive"  Modifikation  s.  u.) 

Complicirender  Grössenwahn. 

Eine  wichtige  klinische  Weiterentwicklung  des  Verfolgungs- 
wahnes tritt  ein,  wenn  zu  dem  depressiven  Moment  noch  ein  ex- 
pansives sich  hinzugesellt,  event.  in  das  letztere  Ubergeht:  wenn 
die  gefühlte  Beeinträchtigung  sich  in  ein  Gefühl  der  Erweiterung,  die 
Wahnvorstellungen  der  Unterdrückung  und  Verfolgung  sich  in  Grössen- 
ideen  umsetzen.  Dies  kann  klinisch  auf  verschiedene  Arten  sich 
vollziehen.  Erstens:  der  Grössenwahn  tritt  nach  längerem  oder 
kürzerem  Verlauf  des  Verfolgungswahns  als  dessen  Compensation 
auf  (psychologisch  liegt  eigentlich  in  jedem  Verfolgungswahn  schon 
die  Wurzel  eines  Grössenwahns) ;  der  bisher  verhöhnte  und  unter- 
drückte Kranke  fühlt  sich  durch  eine  göttliche  Inspiration  plötzlich 
„erhoben  und  belohnt";  oder  (in  langsamer  Wandlung)  findet  für 
seinen  jahrelang  getragenen  Schmerz  endlich  ein  Gegengewicht  in 
der  werdenden  Ueberzeugung ,  dass  er  ein  Fürstenkind  sei.  Dabei 
können  die  seitherigen  Schattenbilder  abblassen:  der  Kranke  feiert 
(wenn  anch  nm  den  Preis  seines  frühem  Ich)  eine  vollständige  Neu- 
geburt; oder  aber:  die  alten  Schatten-  und  die  neuen  Lichtbilder 
(Verfolgung  und  Verherrlichung)  können  nebeneinander  aufziehen, 
um  den  Vortritt  kämpfen,  wobei  bald  die  einen,  bald  die  andern 
das  Uebergewicht  erhalten.  Es  ist  dabei  bezeichnend,  dass  die 
Vormacht  in  der  Regel  dem  Verfolgungswahn  verbleibt,  weil  dieser, 
namentlich  in  dämonomaner  Allegorisirnng  (als  „leibhaftiger  Teufel") 
Uber  die  ungleich  stärkern  Mittel  der  Gehörs-,  Geruchs-  und  Getast- 
täuschungen verfügt,  während  „Gott"  nur  in  Gedanken,  Ahnungen 
und  Traumgesichten  sich  offenbart 

Manchmal  wechseln  beide  sogar  phasenweise  mit  einander  ab,  pe- 
riodischer Verfolgungswahn  (oft  unter  dem  äussern  Bilde  resignirter  Pas- 
sivität und  Nahrungsverweigerung)  mit  periodischem  Grössenwahn. 


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166 


Der  chronische  depressive  Wahnsinn. 


In  der  wahnsinnigen  depressiven  Phase  ist  der  Kranke  sprachlos,  hält 
die  Augen  geschlossen,  widerstrebt,  lässt  Alles  nnter  sich  gehen  —  man 
meint  einen  Blödsinnigen  vor  sich  zu  haben,  wenn  nicht  der  beseelte 
Blick  aus  den  verstohlen  herumspähenden  Augen  Einspruch  erhübe.  Unter 
allerlei  sonderbaren  halb  automatischen  Bewegungen  (Kopfverdrehen, 
Schaukeln  der  Beine,  plötzliches  Niedergleiten  auf  den  Boden)  beginnt 
die  freiere  Episode,  wo  der  Kranke  arbeitet  und  besonnene  Auskunft 
gibt.  Daran  schliesst  sich  in  oft  jäher  Steigerung  die  Grössenwahnsphase 
meist  religiösen  Inhalts:  gezierte  Kleidung,  Predigen,  Commandiren,  Pro- 
phezeien u.  s.  w.  Damit  wechseln  wieder  die  Zeiten  des  passiven  Wi- 
derstands; dann  wieder  Episoden  des  gesteigerten  Selbstgefühls  —  und 
so  in  vielfacher  Wiederholung.  Aus  den  leidenschaftlichen  Reden  des 
Kranken,  sowie  aus  dessen  ruhigen  Mittheilungen  ergibt  sich  der  Schlüssel 
dieses  polymorphen  Krankheitsbildes.  Beide  differente  Erscheinungsreihen 
haben  ihren  gemeinsamen  Schlusspunkt  in  dämonischen  Wahnvorstellungen. 
Der  Kranke  ist  von  den  ursprünglich  bösen  und  den  spätem  guten  Gei- 
stern abwechselnd  „besessen";  der  böse  sucht  ihn  durch  „Gefühle"  zur 
Sinnlichkeit  zu  verlocken,  der  gute  zu  Gott  zu  führen.  Beide  sitzen  in 
seiner  Brust,  und  sprechen  abwechselnd  mit  ihm  und  leiten  ihn.  Alle 
Sinnesanschauungen  und  Hallucinationen  gehen  durch  diese  zwei  Spectren 
hindurch.  In  den  Resignationsphasen  übt  der  „Böse"  seine  Macht  aus, 
welcher  der  Kranke  seine  Hand  nicht  leihen  will ;  darum  verschliesst  er 
die  Sinne  und  rührt  kein  Glied.  Sowie  ihn  aber  der  „göttliche  Geist" 
durchdringt,  dann  fühlt  er  sich  als  himmlischen  General,  als  Heiland. 
Im  Weiterverlauf  können  manische  Paroxysmen  intercurriren  (vgl.  unter 
„Zornmanie"),  oder  auch  melancholische  Phasen  mit  verzweifelnden  Angst- 
vorstellungen und  triebartigen  Handlungsreflexen  (Ausstossen  von  Thier- 
lauten, impulsiver  Suicidiumsdrang).  .  Der  Ausgang  ist  Genesung  oder 
secundärer  Wahnsinn. 

Zweitens:  Der  Grössenwahn  entsteht  nicht  intuitiv  (unbewu6st), 
sondern  vielmehr  als  logisches  Schlussglied  des  seitherigen  Wahn- 
systems in  der  Weise,  dass  die  Reflexion  des  Kranken  über  seine 
jahrelange  Duldung,  über  die  bisher  festgehaltene  „Thatsache"  eines 
feindseligen  Complotts  hinausdrängt  zu  der  Ahnung,  dass  er,  der 
Zielpunkt  der  zähen  Verfolgungen,  kein  gewöhnlicher  Mensch  sein 
könne,  dass  sicher  noch  Höhere  und  Mächtigere  die  Hand  im  Spiel 
haben  müssten,  denen  an  seinem  Untergange  gelegen  sei.  Oft  schliesst 
das  Wahnsystem  damit  ab;  mit  zunehmender  geistiger  Schwäche 
gewinnt  aber  hier  das  expansive  Moment  immer  mehr  die  Ober- 
hand; der  „Verfolgte"  erfasst  sich  immer  ausschliesslicher  als  den 
unterdrückten  Märtyrer  einer  grossen  Sache,  welcher  von  nun  an 
gern  und  freudig  weiter  dulden  will. 

Stets  besagt  diese  (expansive)  Art  der  Weiterentwicklung,  in  welcher 
Form  sie  sich  auch  vollziehe,  einen  Wendepunkt  zum  Schwereren,  wenn 
auch  nicht  gerade  immer  zum  Unheilbaren.  —  Die  Weise  des  Eintritts 
der  Grössenwahnphase  ist  klinisch  eine  verschiedene.    Sind  Hallucina- 


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Klinische  Formen  und  Ausgänge  bei  complicirendem  Grössenwahn.  167 


tionen  vorhanden,  so  mischen  sich  unter  die  „scheltenden"  zeitweise 
auch  „schmeichelnde",  unter  die  Drohungen  auch  Verheissungen  oder 
directe  Zurufe,  himmlische  Gesichte;  die  seitherigen  neuralgischen  Be- 
klemmungen weichen  einem  nunmehr  aufgehobenen  körperlichen  Begren- 
zungsgefUhle.  Das  kann  bei  ganz  ruhigem  Verhalten  des  Kranken  statt« 
finden  ohne  eine  sonst  zu  Tage  tretende  Aenderung.  Anderemale  stellt 
sich  aber  die  GrÖ&senwahnepisode  unter  der  Form  eines  acuten  manischen 
Paroxysmus  ein,  mit  vasomotorischen  Begleiterscheinungen.  Der  bis  dahin 
durch  Verfolgungen  gemarterte  Kranke  versinkt  in  einen  „entrückten" 
Zustand  mit  Verdunkelung  des  Bewusstseins,  in  welchem  er  mit  der 
Miene  des  Glücks  allerlei  mystische  und  symbolische  Acte  vornimmt  und 
nur  durch  orakelartige  bedeutungsvolle  Worte  und  Zeichen  antwortet :  er 
wandelt  jetzt  im  Licht,  steht  künftig  unter  einer  höhern  Macht;  er 
„glänzt"  jetzt;  dabei  kann  er  die  barocksten  Handlungen  vornehmen, 
sich  Haut  abkratzen,  einsalben  —  Alles  nur  als  Symbol  seiner  neuen 
Würde.  Klingt  der  Paroxysmus  ab,  so  bleibt  der  „gute  Geist"  über 
oder  in  dem  Kranken,  welcher  ihn  von  jetzt  an  leitet,  sei's  durch  An- 
triebe oder  durch  Zeichen,  oder  durch  Worte,  ja  selbst  durch  jeweilig 
promptes  Erscheinen,  so  oft  er  eines  Rathes  bedarf,  welchem  dann  blind 
gehorcht  wird.  Die  Gedanken  „verschleiern  sich",  bis  der  gute  Geist 
hilft.  Solche  Phasen  beglückten  Grössenwahns  können  episodisch  sich 
wiederholen. 

In  einer  letzten  Reihe  von  Fällen  endlich  hat  sich  der  depressive 
Verfolgungswahn  bis  zur  psychischen  Erschöpfung  abgespielt;  der 
Kranke  kennt  ferner  keinen  Ausgang  mehr.  Da  erscheint  dem  rath- 
losen  Philotket  der  rettende  Herakles:  unter  „erwärmenden"  oder 
„magnetischen"  Durch  ström  ungsgefilhlen  geht  dem  Verfolgten  eine 
neue  Welt  auf.  Die  Sonne,  die  Wolkenfiguren,  die  Vögelstimmen 
offenbaren  ihm  die  Verheissung,  dass  er  nur  habe  dulden  müssen, 
um  jetzt  die  Krone  zu  erreichen.  Es  ist  die  Fata  morgana  des  ver- 
durstenden Wüsten  Wanderers ;  wie  diese  kündigt  die  „neue  Zeit" 
dem  Kranken  den  besiegelten  geistigen  Niedergang  an. 

Dagegen  vermögen  die  vorerwähnten  Episoden  von  acuten  Grössen* 
wahnmanieen  (richtiger:  zwischenläufigen  acuten  Wahnsinnsepisoden) 
nicht  so  selten  sich  wieder  auszugleichen,  und  selbst  manchmal  den  an- 
fänglichen Verfolgungswahn  auf  längere  Zeit  ganz  zurückzudrängen. 

Der  endgültig  transformirte  „Heilige"  oder  „Prophet"  geht  dagegen 
mit  sammt  seinen  glänzenden  Attributen  in  zunehmenden  und  bleibenden 
Schwachsinn  über.  Dieser  Decursus  verläuft,  je  nach  dem  Wahninhalt, 
auch  ausserdem  noch  unter  erschwerenden  Folgen  für  die  Handlungsweise 
des  Kranken,  welcher  hemmungslos  nur  unter  der  Wahndirective  steht. 
Dies  betrifft  namentlich  die  Schwächestadien  mit  ekstatisch  religiösem 
Charakter.  Hier  treten  die  Selbstpeinigungen,  die  unbarmherzigen  Ver- 
stümmelungen, die  zähe  Nahrungsverweigerung  ein  —  Alles,  um  den 
sündigen  Leib  abzustreifen  und  sich  der  unverhofften  Gnade  würdig  zu 
aeigen.  Bei  wachsender  Demenz  bleiben  dann  die  „Erlöser"  und  „Welt- 


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168 


Der  chronische  depressfre  Wahnsinn. 


kaiser"  mit  ihren  kindischen  Lappen  und  Flitterputz  übrig.  Wendet 
sich  der  expansive  Umschlag  in's  Erotische,  so  erfolgen  die  Liebesromane 
aus  den  nächtlichen  Visionen  der  Geliebten,  im  Tagesleben  die  von  der 
höchsten  Sentimentalität  bis  zum  plumpen  Cynismus  sich  bewegenden 
Andrängungen  und  Belästigungen  der  illusorisch  auserkorenen  „Bräuti- 
game". Der  Name  wird  jetzt  gewechselt,  der  Ehering  abgelegt,  ein 
neuer  Bund  hat  begonnen.  Geschlechtliche  Regungen  und  Reizungen  zur 
Masturbation  befördern  durch  ihren  schwächenden  Einfluss  den  geistigen 
Zerfall. 

Für  die  klinische  Uebersicht  des  mannigfachen  Endschicksals 
aller  geschilderten  Zustands-  und  Verlaufsformen  ist  bei  einem  solchen 
an  sich  chronischen  (oft  durch  Jahre  protrahirten)  Processe  auch 
noch  der  mitbegleitenden,  körperlichen  Vorgänge,  speciell  des  Se- 
niums mit  seinen  organischen  Complicationen ,  zu  gedenken.  Bei 
manchen  dieser  Kranken  treten  dadurch  später  in  einer  oder  der 
andern  Art  Hirnzufalle  ein,  namentlich  Apoplexieen,  welche  den 
jahrelang  bestandenen  Verfolgungswahnsinn  in  eine  psychische  Cere- 
bropathie  hinüberführen.  — 

Diesem  schwersten  Verlaufe  stehen  ausgleichend  gewisse  abortiv 
verlaufende  Fälle  von  melancholischem  Verfolgungswahnsinn  gegenüber, 
welche  gar  nicht  so  selten  im  Verlaufe  von  mehreren  Wochen  zur  Hei- 
lung gelangen.  Gewöhnlich  handelt  es  sich  um  anämische  Individuen, 
noch  dazu  in  ungeeigneter  geistiger  Umgebung,  welche  ihren  Stachel 
erlittener  Beeinträchtigung  oder  Verfolgung  nicht  selten  aus  den  Dornen 
wirklicher  Erlebnisse,  roher  Behandlung  ziehen. 

Eine  andere  häufige  Vorbereitung  wird  durch  eine  auf  chronischen 
Magendarmaffectionen  beruhende  Neurasthenie  mit  hypochondrischer  Ver- 
stimmung beschaffen.  Meist  geben  wirkliche  (und  Pseudo-)  Hailucina- 
tionen  mit;  oft  sind  es  aber  auch  thatsächlich  erduldete  Kränkungen, 
welche,  lange  verschluckt,  endlich  durch  Association  mit  den  hyperästhe- 
tischen Unterleibssensationen  den  Boden  für  eine  „objective"  feindselige 
Machtstellung  gewinnen.  Mit  der  Wahnconception  verstärken  sich  sofort 
auch  die  abdominalen  Beschwerden,  und  reflectiren  sich  byperästhesirend 
auf  die  verschiedensten  Nervengebiete  (Druck  und  Spannung  im  Kopfe, 
Ueberlaufen  der  Augen,  Bangigkeit  auf  der  Brust,  Appetitlosigkeit,  Brennen 
im  Epigastrium  u.  s.  w.).  Durch  Versetzung  in  ganz  neue  Verhältnisse 
(Anstalt)  resp.  Behebung  des  Magendarmkatarrhs  wird  nicht  selten  Be- 
ruhigung und  geistige  Correctur  gebracht,  welche  sich  mit  zunehmender 
Körperkräftigung  befestigt.  Die  letztgenannten  Fälle  gleichen  in  mancher 
Hinsicht,  namentlich  in  der  Acuität  des  Verlaufs,  dem  Gefangenenwahn- 
sinn; das  Unterscheidende  liegt  im  hallucinatorischen  Elemente,  welches, 
wenn  Uberhaupt  vorhanden,  hier  nicht  primär  auftritt  und  nicht  als 
maassgebendes  formgestaltendes  Krankheitselement,  wie  bei  jenem.  — 


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Abortiver  Verfolgungswahnsinn.  —  Der  chronische  expansive  Wahnsinn.  169 


b)  Der  chronische  expansive  Wahnsinn. 

Wie  der  primäre  Verfolgungswahn  kann  auch  der  Grössenwahn- 
sinn  entweder  in  einfacher  oder  in  complicirter  Gestalt  (mit  Hallu- 
cinationen)  auftreten.  Inhaltlich  unterscheidet  man  eine  religiöse, 
erotische,  und  eine  philanthropische  Unterform,  von  denen  jede  isolirt, 
aber  auch  mehrere  combinirt  (die  religiöse  mit  der  erotischen)  vor- 
kommen. Auch  im  klinischen  Auftreten  und  Verlauf,  sowie  in  den 
Endschicksalen,  hat  diese  Gruppe  sehr  viel  Verwandtes  mit  der 
vorigen.  Sie  vertbeilt  sich  auf  alle  Lebensepochen  (mit  Vorliebe 
auf  Pubertät  und  Climacterium)  und  auf  alle  Ursachen  (mit  Vorliebe 
auf  sexuelle,  besonders  Masturbation).  In  ihrem  Verlauf  ist  sie  wie 
jene  exacerbescirend  -  remittirend.  In  ihrem  Ausgang  kann  sie  zu 
dauernder  Heilung  oder  mehr  minder  langer  Intermission  führen, 
am  häufigsten  aber  zur  stationären  Chronicität,  zur  Unheilbarkeit. 
Diese  letztere  prognostische  Signatur  betrifft  vorzugsweise  die  mit 
Verfolgungs-  und  Grössenideen  vermischten  Fälle.  Erblichkeit  ist 
häufig,  aber  lange  nicht  regelmässig;  vorausgegangene  schwächende 
Momente  (Sexualexcesse ,  Lactation,  profuse  Menses)  sind  sehr  oft 
ätiologisch  zu  verzeichnen. 

Neben  dieser  erworbenen  Form  des  expansiven  Wahnsinns  kommt 
auch  eine  originäre  vor  (gerade  wie  beim  Verfolgungswahn),  welche 
symptomatologisch  zwar  vielfach  mit  der  erworbenen  sich  deckt,  aber  in 
Entwicklung  und  Verlauf  sich  von  letzterer  ebenso  unterscheidet,  als  die 
Entartungspsycbosen  von  denen  geistiger  Vollentwicklung  (s.  Degene- 
reacenzcharaktere).  Die  originäre  Varietät  bildet  häufig  das  Endstadium, 
die  Folgeentwicklung,  einer  ab  ovo  vorhandenen  geistigen  Beschränktheit 
mit  religiöser  Ueberschwenglichkeit. 

Das  klinische  Symptomenbild  kann  fUglich  sämmtliche  Unter- 
formen, welche  wesentlich  nur  im  Wahninhalt  sich  unterscheiden, 
zusammenfassen. 

Vorauf  geht  bei  Vielen,  namentlich  in  der  Jugend  (Pubertäts- 
zeit) Erkrankenden,  ein  nervöses  Temperament,  eine  Neigung  zur 
Hypochondrie  und  zum  Grübeln.  Es  tritt  eine  schwärmerische  Cult- 
richtung  auf  mit  zunehmender  religiöser  Ueberspannung,  Drang  zu 
BussUbungen,  Entschluss  zur  Weltentsagung,  zum  Klosterleben.  Reli- 
giöse Zweifel  treten  entzweiend  entgegen  und  allegorisiren  sich  als 
gute  und  böse  Geister,  welche  miteinander  im  Kampfe  liegen.  Der 
Sieg  entscheidet  für  den  „geistigen  Schutzengel",  welcher  (bei  mit- 
begleitendem Sexualreiz)  vorübergehend  seine  Rolle  mit  dem  „herr- 
lichen Geliebten"  tauscht.    Eine  Aenderung  des  Wesens  vollzieht 


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170 


Der  chronische  expansife  Wahnsinn. 


sich.  Die  junge  Patientin  zieht  sich  zurück,  wird  menschenscheu, 
nächtelange  religiöse  LectUre  und  Kasteiungen  schliessen  sich  an. 
Immermehr  zeigt  sich,  gleichen  Schrittes,  eine  Abneigung  gegen  die 
bisherigen  Altersgepflogenheiten,  gegen  Eltern  und  Freundinnen; 
ein  Verkehr  in  Gedanken  oder  in  offenen  Hallucinationen  mit  dem 
Gegenstand  der  „Sehnsucht"  und  der  „Gnade"  vermittelt  ein  bereit- 
williges Aufgehen  unter  dessen  Befehle.  Symbolisirungen ,  welche 
die  Kranke  bestärken,  dass  sie  auf  dem  Wege  zu  ihrem  Glücke  sei, 
vollenden  den  fertigen  Wahn.  Den  Gehörs-  und  Gesichtstäuschungen 
schliessen  sich  solche  des  Geruchs-  und  des  Tastsinnes  an.  Es  fol- 
gen nächtliche  hallucinatorische  Roman-  und  Legenden -Erlebnisse; 
die  Personen  der  Umgebung  werden  feindlich  oder  freundlich  ver- 
kannt und  nach  der  Richtung  des  Wahns  appercipirt.  Die  Kranke 
wird  immer  mehr  der  Wirklichkeit  entrückt;  manchmal  kommen 
jetzt  ekstatische  oder  kataleptische  Episoden  mit  innerer  „Verzückung", 
oder  aber  gegentheils  mit  dem  mimischen  Ausdruck  büssender  Selbst- 
peinigung (verschränkte  Gebetsattitüden)  und  darauf  Rückkehr  in 
den  verstärkten  religiösen  (oder  erotischen)  Wahnzustand.  Auf  diesem 
Entwicklungsstadium  kann  die  Krankheit  stille  stehen  und  sich  zur 
Besserung  oder  Genesung  zurückbilden,  zugleich  mit  dem  spinal- 
neuralgischen Reizzustand,  welcher  durch  die  Intercostalsensationen 
(oder  begleitende  vasomotorische  Hitzegefühle)  die  „beglückenden 
Durchströmungen",  die  Reflexhallucinationen  des  erscheinenden  Schutz- 
geistes oder  Geliebten  vermittelt  hatte.  —  Dieselbe  klinische  Ent- 
stehung und  endliche  Zustandsform  kann  sich  auch  nach  der  Puber- 
tätszeit (besonders  auf  hysterischer  Grundlage  und  bei  ledigen  Per- 
sonen) wiederholen. 

Manchmal  aber,  zumal  in  reifern  Jahren,  vollzieht  sich  eine  etwas 
geänderte  Entwicklung.  Ausgesprochene  depressive  Stimmungen  gehen 
voraus,  manchmal  Glaubensscrupel,  oft  auch  wirkliche  Vorwürfe 
wegen  einer  That  im  Vorleben,  welche  nicht  die  volle  sittliche 
Feuerprobe  (jetzt  in  verschärfter  Prüfung!)  aushält  Da  fällt  plötz- 
lich ein  Predigtwort  oder  ein  biblischer  Vers,  oder  ein  Zug  aus  der 
Miene  des  Priesters  auf,  und  sofort  ist  Alles  klar:  das  Wort,  der 
Bibelspruch  bezieht  sich  auf  den  Kranken  und  nur  auf  ihn,  ist 
eigens  für  ihn  gewählt,  um  ihm  „Licht  zu  bringen  in  seiner  Nacht". 
Es  tiberkommt  ihn  wie  eine  himmlische  Gnadenspende  oder  auch 
als  erhebende  irdische  Verheissung,  er  solle  zu  Würden,  Reichthum, 
zu  einer  glänzenden  Heirath  aufsteigen.  Durchströmungsgeftthle  von 
Friede  und  Glück  ziehen  durch  ihn,  er  athmet  frei  vom  früheren 
Druck  auf  der  Brust;  er  fühlt  es  und  weiss  es,  dass  Gott  ihn  zu 


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Klinisches  Krankheitsbild. 


171 


solcher  Auszeichnung  ausgewählt  hat,  zu  seinem  Gesandten,  zum 
zweiten  Messias.  Mit  Einem  Schlage  spricht  Alles  um  ihn  dieselbe 
Sprache ;  nach  rückwärts  und  nach  vorwärts  wird  es  hell  und  klar. 
Ueberall  regen  sich  Zeichen;  alles  gewinnt  symbolische  Bedeutung, 
selbst  die  Speisen,  die  Kleider,  jeder  Zug  im  Benehmen  der  Um- 
gebung. Was  sich  nicht  sofort  in  dieser  Richtung  entschleiert,  ist 
gleichwohl  mit  weisem  Zweck  vorhanden  und  dem  Kranken  zuge- 
sandt; Alles  dient  zu  seiner  Prüfung.  Und  dass  er  diesen  Zweck 
ahnt  und  erkennt,  macht  ihn  glücklich  in  jeder  Lage ;  er  ist  in  Allem 
geführt  und  geleitet 

Der  Kranke  lebt  jetzt  mit  den  Heiligen  und  Frommen  als  glück- 
licher Bruder  (Schwester),  um  mit  ihnen  zusammen  alle  Genüsse  des 
Fleisches  zu  tbeilen ;  auch  die  Heiden  und  selbst  die  Thiere  werden  ge- 
richtet vor  seinem  Richterstuhle.  Sein  reiner  Blick  lässt  ihn  sofort  er- 
kennen, wer  Ansprüche  auf  Gnade  hat;  er  Ubersieht  die  Welt:  wohin 
sich  seine  Gedanken  richten,  da  stellt  sich  auch  seine  Aufgabe  hin ;  dort 
ist  Licht,  dort  das  neue  Jerusalem.  Aber  nicht  kampflos  ist  ihm  seine 
hohe  Stellung  beschieden.  Wohl  steht  er  mit  allen  Geistern  der  Erde 
in  geheimem  Rapport;  aber  nicht  alle  sind  freundlich  gesinnt.  Auf  dem 
Wege  einer  geheimen  Geistessprache,  „durch  die  Masse  und  Unruhe  der 
ihm  zeitweise  zuströmenden  Gedanken4'  muss  er  immer  auch  den  Wider- 
spruch der  Bösen  erkennen,  welche  noch  im  Dienste  des  Satans  stehen. 
So  wird  er  „durch  die  Gegensätze  von  innen  und  aussen"  anhaltend  ge- 
plagt; er  spürt  an  der  „innern  Hitze"  den  Zorn  des  Gerechten;  aber  er 
hat  seinen  „treuen  Geist",  der  in  der  Magengrube  sitzt,  und  wenn  er 
auch  leiden  muss,  so  ist  er  doch  der  „reine  Tempel  Gottes" ;  durch  ihn 
und  seinen  „göttlichen  Saamen"  werden  alle  Welten  ihren  Erlöser  be- 
kommen. 

Mit  fast  noch  sieghafterer  Gewalt  als  der  Wahn  einer  entdeckten 
Verfolgung  nimmt  die  zur  Gewissheit  gewordene  Grössenidee  von 
der  geistigen  Persönlichkeit  des  Kranken  Besitz.  Mit  heiterster 
Stimmung  und  freudiger  Hingabe  wird  jeder  Willensact  in  deren 
Dienst  gestellt,  wird  Familie,  Hab  und  Gut,  jeder  Lebensgenuss  ge- 
opfert, mit  der  Vergangenheit  abgerechnet  und  gebrochen. 

Der  Kranke  muss  jetzt  die  Sünder  bekehren,  die  Unreinen  reini- 
gen, die  Philosophen,  Freimaurer  und  Besessenen  dem  Glauben  zuführen. 
In  schwülstigen  poetischen  Formen  wird  die  göttliche  Gnade  gepriesen 
and  auf  der  Strasse  an  die  Vorübergehenden  gepredigt;  Alles  muss  rein 
werden.  Nicht  selten  werden  die  Habseligkeiten  verschleudert  und  im 
Wohlthunsfanatismus  verschenkt.  Auch  die  Speise  muss  rein  sein.  Viele 
Kranke  verabscheuen  jetzt  das  Fleisch,  wollen  sich  nach  der  Legende  nur 
von  Wurzeln  nähren  oder  von  Milch,  „aber  nur  von  einer  Kuh  und  nur 
aas  einem  Euter,  das  der  Kranke  selbst  milkt",  um,  wie  er  hofft,  dadurch 
alle  Schlacken  seines  früheren  Menschen  aus  sich  auszuscheiden.  So  zwingt 
er  auch  Frau  und  Kinder  (oft  in  gewalttätigster  Weise)  zum  gleichen 


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172 


Der  chronische  expansive  Wahnsinn. 


Thun.  —  Beim  erotischen  Wahne  werden  bogenlange  Briefe  und  senti- 
mentale Ergüsse  an  die  erträumten  „Personen  der  Verheissung"  gerichtet. 
Grosse  Geldsummen  werden  geopfert  im  wahnhaften  Drang  einer  „huma- 
nen Mission'*.  Vermögen  werden  hingegeben,  oder  an  der  Roulette  ver- 
spielt, wenn  eine  Traumvision  oder  eine  symbolische  Auslegung  die  be- 
reits anfahrenden  „riesigen  Geldsummen"  angekündigt  hatte. 

In  der  Regel  fördert  diese  Entwicklungshöhe  der  Krankheit 
auch  die  wirklichen  (und  Pseudo-)  Sinnestäuschungen. 

So  sieht  der  religiös  Wahnsinnige,  so  oft  er  inbrünstig  zu  beten  an- 
fängt, einen  Engel  neben  sich  hinknien;  in  der  Kirche  bezeichnet  ihm 
die  plötzliche  Farbenpracht  in  den  flackernden  Lichtern,  oder  in  der 
Nacht  ein  Stern,  welcher  sich  bis  zur  Grösse  des  Mondes  vor  seinen 
Augen  erweitert,  das 8  eben  sein  jetziger  Gedanke  ein  gottgeweihter  ist. 
Eine  grosse  Rolle  spielen  auch  namentlich  lebhafte  Träume.  Nie,  wie 
es  scheint,  wird  auch  Steigerung  des  Geschlechtstriebes  vermisst. 

Der  Weiterverlauf  kann  ein  ausserordentlich  mannigfaltiger 
sein,  wenn  er  vielleicht  auch  den  Formenreichthum  des  Verfolgungs- 
wahnes nicht  ganz  erreicht.  Es  kann  1.  die  Krankheit  von  der  er- 
langten Höhe  sich  langsam  znrlickbilden ;  die  Lichtfiguren  tauchen 
allmählich  unter,  der  Kranke  steigt  jetzt  aus  den  Wolken  wieder  auf 
den  Boden  der  Wirklichkeit.  In  den  selteneren  Fällen  geschieht  dies 
mit  Selbstcorrectur  und  Einsicht;  meist  ist  der  Wahn  nur  aus  dem 
Blickpunkt  verschwunden,  aber  nicht  überwunden.  Der  Kranke  ist 
zwar  geordnet  in  seinem  Tagesverhalten,  aber  gegenüber  von  früher 
schärfer,  schneidiger,  unbiegsamer  geworden,  namentlich  oft  religiös 
pedantischer  und  unduldsamer.  So  bleiben  Viele  unbewusst  auf  den 
Schultern  ihres  untergetauchten  Wahnes  stehen.  Es  kann  2.  der 
Weiterverlauf  ein  schubweiser  sein,  und  in  periodischer  Wiederkehr 
den  ersten  Anfall  wiederholen  (oft  mit  Symptomengleichheit  bis  ins 
Einzelne),  bis  endlich  ein  letzter  Anfall  stationär  bleibt  bis  zum 
Lebensende. 

Nicht  selten  mischen  sich  bei  dieser  Verlaufsform  auch  Paroxysmen 
von  Verfolgungswahn  gelegentlich  dazwischen.  Der  Kranke  wird  in  seiner 
Gemüthslage  das  Gegentheil  der  früheren  Anfalle,  reizbar,  heftig,  miss- 
trauisch.  Oft  schliesst  dieses  Schattenbild  dauernd  die  früheren  Licht- 
bilderacte. 

Oder  3.  der  Verlauf  wird  chronisch  —  der  häufigste  Ausgang. 
Auch  hier  treten  im  Einzelnen  viele  Variationen  auf.  So  können  sich 
a)  nicht  selten  acut  hallucinatorische  Paroxysmen  mit  Steigerung  zu 
Ekstasen  einschieben  (der  Kranke  sieht  niederfallende  Regen  von 
Glückssternen;  die  Engel  reichen  ihm  Zuckerbrod;  er  fühlt  sich  im 
Paradies);  oder  zu  andern  Zeiten  stellen  sich  b)  Episoden  von  Nah- 
rungsverweigerung ein,  mit  Mntacismus,  Selbstkasteiung  und  Buss- 


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Verlauf.  Ausgange.  „Negativer"  expansiver  Wahns.  Subacute  Varietät.  173 

peinigung,  oder  auch  von  ernsten  nnd  rücksichtslosen  Gewaltan- 
drohungen nnd  selbst  thätlichen  Angriffen  auf  die  Umgebung  — 
„Alles  zur  grössern  Ehre  Gottes." 

Es  gibt  keinen  selbst-  und  gemeingefährlicheren  Kranken  als  einen 
religiös  Wahnsinnigen  aus  dieser  Periode.  Eigener  Mord  und  der  Mord 
Anderer  („um  mit  deren  Seele  in  den  Himmel  fahren  zu  können"),  Selbst- 
verstümmelungen (namentlich  Attentate  auf  Hoden  und  Penis)  sind  häufig 
auftauchende  Krankheitswirkungen.  Ja,  Selbstkreuzigung  ist  mehrfach 
erlebt  worden. 

Manchmal  iutercurriren  auch  Paroxysmen,  von  Gastricismen  oder 
von  sexueller  Ueberreizung  (Onanie)  ausgehend,  welche  bis  zu  heftigster, 
tagelanger  Aufregung  (Satyriasis)  sich  steigern,  so  dass  der  Kranke  unter 
den  Aeusserungen  des  niedersten  Geschlechtstriebes  Personen  anfallt,  oder 
sich  unter  Angstschreien  auf  dem  Boden  wälzt,  während  der  Körper  wie 
von  elektrischen  Schlägen  durchzuckt  wird,  das  Gefässsystem  fieberhaft 
arbeitet.  Auch  diese  Modification  kehrt  in  brüsken  Uebergängen  manch- 
mal periodisch  wieder. 

In  andern  Fällen  c)  tritt  nach  und  nach  ein  ruhiger  Zustand  ein, 
aber  mit  immer  tieferer  „Einbildung"  des  Wahnes  in  das  gesammte 
Seelenleben,  namentlich  auch  in  die  Musculatur  der  Mimik  und  Phy- 
siognomik. So  arbeitet  sich  ein  Status  catalepticus  heraus,  in  wel- 
chem die  Kranken  wie  „Säulenheilige"  oder  „indische  BUsser"  da- 
stehen, Monate  lang  schweigen,  um  keine  Ansprache  oder  Umgebung 
sich  bekümmern,  ja  selbst  sich  verhungern  und  erfrieren  Hessen. 
Damit  wechseln  dann  wieder  Phasen  von  freierer,  motorischer  Be- 
weglichkeit ab;  die  Kranken  vermögen  wieder  zu  arbeiten  und  in 
bescheidenem  Grade  sich  nützlich  zu  machen.  Sie  theilen  ihren 
geistigen  Besitz  zwischen  sich  und  ihrem  „guten  Geist",  ihre  Lei- 
stungen zwischen  einem  mechanischen  Tagewerk  und  ihrem  inner- 
lichen Missionsdienst.  So  können  sie  auf  Jahre  hinaus  brauchbare 
Glieder  im  Anstaltsorganismus  bilden. 

Wie  der  Verfolgungswahn  liefert  auch  der  expansive  Wahnsinn  einen 
Typus  für  ein  negatives  klinisches  Bild.  Es  sind  chronische  Kranke, 
welche  ihre  Rechnung  in  sich  abgeschlossen,  aus  dem  äusseren  Wider- 
stande der  ungläubigen  Welt  ihren  inneren  Talisman  um  so  fester  und 
überzeugter  gerettet  haben,  des  Streites  endlich  milde,  und  in  ihrem  Be- 
sitze um  so  glücklicher  sind.  Den  Verkennungen  der  kurzsichtigen  Um- 
gebung, den  mannigfachen  und  wechselnden  Quälereien  setzt  er,  „der 
Gottmensch",  nur  eine  ergebene  und  stille  Resignation  entgegen.  Oft 
kommt  kein  Wort  der  Klage  über  seine  Lippen,  kein  Ausbruch  heiliger 
Entrüstung  wird  laut,  kein  Act  der  Rache  wird  vollzogen.  Der  Kranke 
wehrt  nur  ab,  was  ihn  bedroht,  oder  seiner  hohen  Würde  nicht  ange- 
messen ist.  Darum  zieht  er  sich  von  der  Gesellschaft  zurück;  darum 
arbeitet  er  nicht,  isst  wenig  oder  gar  nicht;  darum  lässt  er  sich  ungern 
in  ein  Gespräch  ein ;  man  will  ihn  ja  doch  für  einen  „Narren"  verzollen. 


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174 


Der  chronische  expansive  Wahnsinn. 


Andere  Kranke  d)  dagegen  sind  streitbarer  geblieben.  Sie  kön- 
nen es  nicht  verschmerzen,  wenn  die  Wirklichkeit  sie  hart  anfasst; 
sie  werden  gereizt  und  selbst  zornig  aufgebracht,  wenn  man  ihnen 
widerspricht,  wenn  sie  etwas  „Unheiliges"  sehen  müssen;  ja  Viele 
brausen  farorartig  auf,  wenn  sie  durch  irgend  ein  unreines  Zeichen 
(Pollution,  Menses)  daran  gemahnt  werden,  dass  sie  nicht  schon 
dauernd  „reiner  Geist"  geworden.  Bei  grösserer  psychischer  Schwäche 
klingt  endlich  der  Wahn  zu  formalen  Aeusserlichkeiten  herab,  zu 
kindischen  Draperieen,  symbolischen  Einrichtungen  des  Zimmers, 
„bedeutungsvollen"  Manieren,  selbsterfundenen  Worten  und  Schrift- 
zügen. Der  Abschluss  ist  1.  langsame  Demenz  mit  partieller  Ver- 
standesschonung; 2.  hallucinatorischer  (Einfall-)Wahnsinn  mit  para- 
phrastischer,  paragraphischer  und  parergischer  Verworrenheit;  3.  chro- 
nische Stupidität  mit  Status  catalepticus ,  untermischt  mit  luciden 
Stadien;  4.  zunehmender  Marasmus  (namentlich  bei  constitutionellen 
Leiden,  Phthise),  in  Folge  ungenügender  Körperernährung.  — 

Diesem  von  Beginn  an  chronischen  Verlauf  steht  auch  eine  sub- 
acute Varietät  gegenüber,  wobei  der  exaltirte  Wahnsinn  (gewöhnlich  re- 
ligiösen Inhalts)  unter  der  Form  zugleich  eines  psychischen  Aufregungs- 
zustandes  beginnt  und  weiter  verläuft.  Die  männlichen  Kranken  sind 
meist  mehr  minder  hereditär  belastet,  weibliche  Patienten  noch  ausser- 
dem häufig  anämisch,  oder  unregelmässig  menstruirt.  Gewöhnlich  han- 
delt es  sich  um  geringer  begabte,  oder  schwärmerische,  leicht  bestimm- 
bare, von  Jugend  auf  hochmüthige,  rechthaberische,  geistige  Anlagen. 
Bei  der  religiösen  manischen  Form  geht  in  der  Regel  ein  längerer  De- 
pressionszustand mit  Grübeln,  biblischer  Leetüre,  vermehrten  Cultübungen 
voraus.  Der  eigentliche  Paroxysmus  kann  plötzlich  auftreten,  nicht  selten 
im  Anschluss  an  ein  kirchliches  (Missions-)  Ereigniss:  die  Kranken  be- 
ginnen zu  predigen,  sie  proclamiren  sich  laut  als  die  Auserwählten  Got- 
tes, berufen  sich  auf  den  inneren  Geist,  der  sie  treibe,  oft  direct  auf 
„höheren  Befehl".  Sehr  häufig  geschehen  in  dieser  Phase  Attentate  ge- 
gen Andere,  namentlich  auch  sacrilegische  Handlungen,  weil  sie  allein 
sich  berufen  fühlen  das  wahre  Licht  zu  bringen,  und  das  seitherige  nur 
„Satanswerk"  bedeute.  So  weit  gediehen  kann  sich  der  Zustand  wieder 
zurückbilden;  bei  weiterer  Steigerung  geht  er  in  Moria  über  (s.  d.).  — 
Die  subacute  erotische  Exaltation  verläuft  unter  dem  Symptomen- 
bilde der  Mania  mitis:  erotische  Andeutungen,  „Zeichen"  von  Liebes- 
bewerbungen seitens  Dritter  bilden  den  Beginn ;  darauf  Erwiderungen  in 
Briefen  und  Gedichten,  auffälligere  Toiletten;  belebteres  Wesen,  lebhaf- 
tere Conversation,  immer  um  den  einen  Punkt  einer  bevorstehenden  Hei- 
rath sich  drehend;  Anfangs  noch  Dissimulation,  endlich  offenes  glück- 
strahlendes Bekenntniss  an  die  Umgebung.  Erfolgt  jetzt  keine  Rückbildung, 
so  kritisirt  sich  auch  diese  Form  durch  ein  ächt  manisches  Durchgangs- 
stadium mit  erotischer  Grundlage:  die  Kranke  wird  pauselos  geschäftig, 
kleidet  sich  an  und  aus,  und  wieder  an,  wird  immer  phantastischer  in 


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Der  acute  Wahnsinn. 


175 


Toilette  und  Zimmerschmuck,  die  Stimmung  flüchtig  und  reizbar;  dabei 
der  wachsende  Drang  zu  küssen,  zu  coquettiren  und  namentlich  mit  Blu- 
men sich  zu  schmücken,  Strausschen  auszutheilen  u.  s.  w.  Nicht  selten 
steigert  sich  der  Zustand  bis  in  sexuale  Manie  (s.  d.).  Gewöhnlich 
schliesst  sich  die  beschriebene  Form  an  wirkliche  unerwidert  gebliebene 
Liebeshändel  an;  manchmal  bildet  eine  reactive  Depression  mit  Ver- 
giftungswahn (Geruchs-  und  Geschmackstäuschungen)  die  Einleitung.  (Wei- 
teres 8.  u.  acutem  sensuellem  Wahnsinn,  wozu  diese  Fälle  den  Ueber- 
gang  bilden,  ähnlich  wie  die  analogen  beim  chronischen  Verfolgungswahn.) 


Der  acute  Wahnsinn. 

Krankheitsbilder.  Verlauf.  Ausgänge. 

Der  acute  primäre  Wahnsinn,  Die  klinischen  Formen  des  hallu- 
cinatori8chen  Wahnsinns  sind  ausserordentlich  mannigfaltige,  sowohl  in 
ihrem  klinischen  Bilde,  als  in  der  Entstehung  und  dem  Verlaufe  resp. 
den  Ausgängen.  Dem  eigentlichen  Krankheiteausbruch  geht  in  der 
Regel  ein  kürzeres  oder  längeres  Prodromalstadium  (Status  nervosus) 
voraus:  Kopfschmerz,  Schlaflosigkeit,  grillenhaftes,  gereiztes  Wesen, 
Störungen  des  Appetits,  Rash's  zum  Kopfe.  Anedre  Male  bildet  ein 
vager  Depressionszustand  mit  Präcordialdruck ,  Angst,  Weinen,  reli- 
giösen Grübeleien  die  Einleitung.  —  Oft  scheinen  gegentheils  alle  psy- 
chischen Prodromi  zu  fehlen,  so  namentlich  im  Defervescenzstadium 
vorangegangener  Fieberzustände.  Die  eigentliche  Krankheit  selbst 
tritt  darnach  theils  vorbereitet,  theils  plötzlich  in  Scene,  sehr  häufig 
nach  einem  Gemüthsaffect  (Gewitter),  oder  selbst  mitten  aus  dem 
Schlafe,  welchen  die  Kranken  noch  anscheinend  „wohl"  begonnen 
haben.  Der  Beginn  erfolgt  entweder  1.  als  heftige  Angst  mit  Ver- 
kennung der  Umgebung  und  reactiven  Zwangshandlungen  (melancho- 
lischer Typus),  oder  2.  als  massenhafte  Sinnestäuschungen  feindlichen 
oder  fördernden  Inhalts,  welche,  erst  einige  Zeit  bekämpft,  immer 
mehr  das  Bewusstsein  ausfüllen  und  in  gesteigerten  Reflexen  auf 
Stimmung  und  Handlung  sich  abgleichen  (manischer  Typus);  oder 
endlich:  es  verdunkelt  sich  das  Bewusstsein  in  raschem  Uebergang 
aus  dem  Wachen  zu  einem  Dämmerzustand,  in  welchem  die  Kran- 
ken auf  Stunden  und  Tage  in  einer  visionärem  Traumphase  festge- 
bannt resp.  in  wechselnde  innere  Situationen  geführt  werden,  wobei 
die  Perception  bald  aufgehoben,  bald  vorübergehend  klar,  sogar  ge- 
schärft, bald  illusorisch  gefälscht  sein  kann.  Nach  dem  Gesammt- 


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176 


Der  acute  Wahnsinn. 


ein  druck  erscheinen  demnach  die  Einen  ruhelos  panphobisch;  die 
Andern  verzückt  ekstatisch;  wieder  Andere  träumerisch  lucid,  alle 
Grade  der  Bewusstheit  in  unvermittelten  Uebergängen  und  ohne 
innerliche  Continuität  durchlaufend. 

Gemeinsam  liegt  Allen  eine  acute,  mehr  oder  weniger  tiefe,  an- 
haltende oder  re-  resp.  intermittirende  Bewusstseinsstörung,  und  ein 
bald  logisch  geordneteres,  bald  kaleidoskopisches  Innenspiel  von 
Sinnestäuschungen  und  Einfällen  zu  Grunde. 

Die  Hallucinationen  sind  entweder  von  übereinstimmender 
Färbung  (so  im  acuten  dämonomanischen  Wahnsinn),  oder  aber 
bunt  wechselnde  zusammenhanglose  Impromptu's,  aus  depres- 
sivem und  expansivem  Inhalte  gemischt;  bald  phasenweise  ab- 
wechselnd, bald  aber  auch  in  unvermittelten  und  unverhofften  Ueber- 
gängen in  einander  spielend.  Manchmal  flechten  sich  auch  allerlei 
Einfälle  hinein,  welche  an  zufällige  Reproductionen  sich  anschliessen, 
und  fast  mit  der  sinnenfälligen  Evidenz  von  Hallucinationen  zu 
phantastischen  Romanen  sich  ausspinnen. 

Die  Stimmung  ist  in  gleicher  Weise  mannigfaltig.  Dieselbe 
wird  vom  hallucinatorischen  Innenspiel  geleitet,  wechselt  mit  diesem. 
Bald  heiter  expansiv,  in  den  erträumten  Grössenideen  schwelgend, 
oder  ekstatisch  verzückt  in  glänzenden  Visionen,  ist  sie  in  andern 
Fällen  depressiv  bis  zu  den  höchsten  Graden  der  All -Angst  und  Ver- 
zweiflung; oder  aber  träumerisch  ruhig,  nach  aussen  scheinbar  in- 
different, wenngleich  innerlich  bewegt.  Manchmal  ist  die  Stimmungs- 
lage in  der  oder  jener  Richtung  durch  den  ganzen  Krankheiteanfall 
andauernd,  andere  Male  aber  auch  ausserordentlich  wechselnd,  von 
einem  Extrem  in  das  andere  jäh  überspringend;  in  wieder  andern 
Fällen  folgt  dem  anfänglich  depressiven  ein  späteres  exaltirtes  Sta- 
dium nach.  Dabei  bleibt  —  wie  für  den  chronischen  Wahnsinn,  so 
auch  für  den  acuten  —  wesentlich  und  charakteristisch,  dass  die 
Stimmung  stets  eine  reactive  ist,  d.  h.  durch  die  Sinnestäuschungen 
bedingt  resp.  unterhalten  wird.  Dieselbe  behält  deshalb  auch  immer 
eine  gewisse  Flüchtigkeit,  und  setzt  sich  nur  aus  Einzelacten  zusammen, 
je  nach  dem  Inhalt  des  hallucinatorischen  Schatten-  oder  Lichtspiels ; 
in  der  Zwischenzeit  gleicht  sie  sich  immer  wieder  zur  Farblosigkeit 
herab,  oder  hält  sich  in  der  ärgerlichen  Gereiztheit  oder  verzagten 
Rathlosigkeit  des  cerebralen  Neurasthenikers. 

Man  kann  mit  einer  gewissen  Einschränkung  sagen,  dass  sich  im 
acuten  Wahnsinn  die  melancholischen  und  manischen  Verstimmungen  (nicht 
minder  auch  der  stupuröse  Stimmungsmangel)  wiederholen  (s.  Einleitg.). 
Aber  das  psychologische  Verhältniss  der  Stimmungsänderungen  ist  ein 


I 


Klinischer  Charakter.  Verlauf.  177 

anderes  als  in  der  Melancholie  und  Manie.    Hier  ist  die  Verstimmung 
eine  primäre,  im  acuten  Wahnsinn  aber  eine  secundäre  Folgewirkung  — 
in  derselben  Weise,  wie  beim  manischen  Wahnsinn  die  motorischen  Acte 
nicht  „spontane"  sind,  sondern  Reflexe  der  wechselnden  Stimmungen  und 
Antriebe  und  vor  Allem  der  kaleidoskopischen  Sinnestäuschungen;  speciell 
bei  dem  melancholischen  Wahnsinn  fehlt  die  folgerichtige  Logik  der  Wahn- 
gebilde, welche  nicht  selten  chaotisch  und  innerlich  bis  zur  Verwirrung 
widersprechend  sind.    Doch  gibt  es  auch  Fälle  und  Episoden,  wo  sie  als 
gleichgefärbte  Schrecknisse  vor  das  ahnende  oder  gehemmte  Bewusstsein 
treten.    Nicht  selten  gehen  übrigens  die  in  Rede  stehenden  klinischen 
Zustände  in  einander  über:  eine  anfängliche  Melancholie  Steigertsich  durch 
Aufruf  von  überwuchernden  Sinnestäuschungen  in  eine  acute  Wahnsinnsphase 
(8.  Melancholie),  oder  umgekehrt,  ein  acuter  manischer  Wahnsinn  gelegent- 
lich zu  einer  wirklichen  Manie.  Sonst  aber  ist  nur  die  äussere  Form  bei 
beiderlei  Zustandsformen  eine  annähernd  gleiche;  der  psychologische  Auf- 
bau bleibt,  trotz  manchmal  verwandter  Entwicklung,  ein  innerlich  ver- 
schiedener. So  verhält  es  sich  auch  mit  der  stupurösen  Wahnsinnsform  im 
Vergleich  mit  dem  wirklichen  Stupor.  Die  den  letztern  auszeichnende  Wil- 
lenshemmung mit  dem  Perceptionsabschluss  nach  aussen  kann  als  Folge- 
wirkung (psychisch-motorischer  Reflex)  eines  primären  hallucinatorischen 
Wahnsinns  auftreten  (PseudoStupor) ;  es  können  aber  auch  echte  Stupor- 
pliasen  neben  und  mit  diesen  nur  äusserlichen,  d.  h.  transitorische  Phasen 
von  wirklicher  Dementia  acuta  abwechseln  (und  zwar  innerhalb  des- 
selben Krankheitsverlaufs)  mit  scheinbarer  resp.  hallucinatorischer.  Der 
klinische  Unterschied  ist,  dass  jene  für  immer  eine  Lücke  im  spätem 
Bewusstsein  zurücklassen,  diese  dagegen  eine  ausserordentlich  reiche 
Traumerinnerung  (s.  Dement,  ac).  —  Bei  den  dämonomelancholischen 
Formen  sind  die  —  oft  das  ganze  vielgestaltige  Krankheitsbild  durch- 
ziehenden und  „betonenden"  —  Affectkerne  sehr  bemerkenswerth.  Als 
schmerzliche  Erinnerungen  aus  irgend  einem  frühem  Erlebniss  bleiben 
dieselben  oft  lange  Zeit  unter  dem  Sturm  der  Hallucinationen  und  feind- 
seligen Acte  verdeckt,  erhalten  sich  aber  gleichwohl  als  wirksam  (in  der 
Färbung  jener,  in  dem  zornigen  Charakter  dieser),  und  treten  nicht 
Seiten  erst  in  der  Reconvalescenz  an  das  Tageslicht,  wo  sie  dann  oft  die 
ganze  Krankheitsgenese  überraschend  aufklären. 

Ebenso  mannigfaltig,  ja  noch  vielgestaltiger,  ist  der  Verlauf. 
Derselbe  kann  sich  in  peracuter  und  acuter  Form  von  einigen  Tagen 
(Menstruationsphase)  bis  zu  mehreren  Wochen  erstrecken;  in  pro- 
trahirterer  Form  kann  aber  der  Anfall  auch  Monate  dauern,  selbst 
bis  zu  einem  Jahre  und  noch  länger,  je  nachdem  (was  hier  beson- 
ders häufig)  immer  wieder  Nachschübe  kommen,  oder  aber  die 
Lösung  des  ganzen  Anfalls  erst  dnreh  eine  Reihe  von  physiologisch 
zusammenhängenden  (cy kl ischen)  Zustandsformen  sich  vollzieht.  Dieser 
Verlaufsunterschied  richtet  sich  namentlich  darnach,  ob  der  acute 
Wahnsinn  in  einfacher  oder  complicirter  Form  auftritt  —  einfach, 
wenn  nur  eine  hallucinatorische  Erkrankung  in  ihrer  verschiedenen 

Schüle,  Geirt*8kr.Bkheiten.   S.  Aufl.  12 


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173 


Der  acute  Wahnsinn 


klinischen  Gestaltung  und  Stimmungsreaction  vorhanden  ist;  com- 
plicirt  dann,  wenn  sich  eine  motorische  und  namentlich  vasomoto- 
rische Neurose  (sog.  Status  attonitus)  damit  verbindet.  Dieser  engern 
Untergruppe,  welche  nicht  bloss  neue  körperliche  Symptome  einführt, 
sondern  auch  die  psychischen  in  wesentlicher  Weise  abändert,  und 
(durch  die  vasomotorische  Mitaffection)  einen  vergleichsweise  viel 
protrab irteren  (cyklischen)  Verlauf  bedingt,  soll  deshalb  eine  beson- 
dere Besprechung  (s.  attonischer  Wahnsinn)  geschenkt  werden.  — 
Die  einfachen  Formen  verlaufen  selten  in  dem  anfänglichen  Tempo 
bis  zum  Schlüsse;  gewöhnlich  treten  mehr  oder  minder  lange  Epi- 
soden von  andern  geistigen  Störungsformen  (melancholische,  manische 
Zustände)  dazwischen,  theils  als  Stimmungsreactionen  auf  die  impe- 
rativen Sinnestäuschungen,  auf  die  verwirrenden  bunt  wechselnden 
Illusionen,  theils  als  zugehörige  Verlaufstadien  aus  vasomotorischer 
oder  neuralgischer  Entstehung.  Am  häutigsten  kommen  Aufregungs- 
zustände  vor.  Die  Ideenflucht  und  sprachlichen  Aeusserungen  in 
diesen  tobsüchtigen  Phasen  können  symptomatologisch  ein  Gemisch 
von  Grössen-  und  Verfolgungsdelirien  darstellen,  oder  auch  ein  phan- 
tastisches Gefasel  von  Einfällen,  selbstgemachten  Worten,  anomalen 
Associationen;  die  lautlichen  Aeusseruungen  können  sich,  oft  in 
raschem  Uebergang,  durch  alle  Stufen  der  Verworrenheit  und  Verbi- 
geration  bis  zum  zusammenhanglosen,  rein  noch  assonirenden  Deli- 
rium steigern.  In  gleicher  Weise  kann  der  physiologische  Charakter 
der  Bewegungen  wechseln:  während  Mimik  und  Action  für  gewöhn- 
lich nur  die  zugeordneten  Reflexe  auf  die  Einfälle  und  Trugwahr- 
nehmungen darstellen,  können  beide  sich  in  den  schwerern  Fällen 
vom  psychischen  Inhalt  emancipiren,  und  zu  automatischen,  von 
letztern  losgelösten  Acten  gestalten.  Nach  spätem  Geständnissen  sol- 
cher Kranker  lebten  sie  in  einer  von  ihrem  damaligen  Gebahren  ganz 
verschiedenen  phantastischen  Situation,  über  welche  hin  sich  ein  zu- 
sammenhangloses Spiel  von  mimischen  Bewegungen,  ungewollt  und 
unbewusst,  ausgebreitet  hatte.  Ein  Theil  derselben  mag  wohl  auch 
durch  (später  vergessene)  Motive  veranlasst  gewesen  sein.  —  In  den 
Höhegraden  stupider  dämonomanischer  Angst  treten  triebartige  Unruhe 
mit  impulsiven  Raptus  und  Zerstörungsdrang,  manchmal  choreatischen 
Grimassirungen,  monotone  Bewegungen,  andere  Male  perverse  Hand- 
lungen (Schmieren,  Verzehren  von  allerlei  Unverdaulichem)  auf.  Gegen- 
über den  manischen  Entäusserungen  schwerern  Formcharakters  kom- 
men aber  auch  die  mildern  psychomotorischen  Formen  vor:  grosse 
motorische  Geschäftigkeit,  pauseloses  Reden  und  Gesticuliren,  Singen, 
muthwillige  Acte. 


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„Einfacher"  and  „complicirter"  acuter  Wahnsinn.  Ausgänge.  179 

Somatisch  begleiten  den  Krankheitsverlauf  stets  ausgesprochene 
trophische  und  ci rotatorische  Symptome.  Vor  Allem  Abnahme  der  Er- 
nährung mit  Störungen  der  Verdauung  und  Assimilation,  ungleicher  Blut- 
vertheilung,  Aussetzen  oder  Unregelmässigkeiten  der  Menses  (Menstruatio 
nimia,  membranacea),  vasomotorischen  Anomalieen,  in  schwereren  Fällen 
vorübergehende  motorische  Insuffizienzen,  Divergenz  des  Blickes  u.  s.  w. 
Die  anfanglich  oft  vorhandenen  anomalen  Kopfsensationen  (heftiger 
Schmerz,  Krachen  im  Kopfe)  verschwinden  gewöhnlich  mit  dem  Eintritt 
der  Störung. 

Die  Ausgänge  der  Krankheit  sind  in  gleicher  Weise  mannig- 
faltig. In  der  Regel  erfolgt  Genesung,  und  zwar  gewöhnlich 
durch  ein  mehr  oder  weniger  langes  und  tiefes  psychisches  Schwäche- 
stadium hindurch.  War  eine  complicirende  somatische  Erkrankung 
vorhanden  (in  erster  Linie  acute  Magendarmaffectionen,  gewisse  post- 
febrile Zustände  u.  s.  w.),  so  kann  die  Genesung  Hand  in  Hand  mit 
der  somatischen  Reconvalescenz  erfolgen.  Bei  mitbegleitendem  (resp. 
vorausgehendem  oder  nachfolgendem)  Menstruatious-Eintritt  kann  eine 
acute  Lösung  stattfinden  (aber  nicht  immer!  s.  Menstrualpsychosen). 
Die  Hysterie  und  Epilepsie  ersetzen  nicht  selten  ihre  Krampfpar- 
oxysmen  durch  plötzlich  eintretende  und  wieder  abbrechende  acute 
Wahnsinnsphasen. 

Bemerkenswerth  und  interessant  ist  bei  diesem  Verlaufe  das  Ver- 
halten des  dominirenden  Krankheitselements:  der  Hallucinationen.  Bald 
hören  diese  mit  Einem  Schlage  auf;  bald  erkennt  sie  der  Kranke  als 
Sinnestäuschungen  an,  sucht  aber  dabei  raisonnirend  noch  die  Berechti- 
gung seines  Wahns  zu  retten  idass  man  doch  in  feindseliger  Weise  ihm 
diesen  krankhaften  Zustand  müsse  beigebracht  haben);  bald  endlich  tönen 
die  Gehörstäuschungen  sachte  ab,  klingen  aus  immer  grössern  Entfer- 
nungen, werden  nur  mehr  im  Groben  d.  h.  nicht  mehr  im  Detail  ver- 
ständlich ;  oder  endlich  sie  dauern  abgeblasst  fort  und  werden  neben  den 
richtigen  Perceptionen  immermehr  ignorirt,  bis  sie  schliesslich  ganz  ver- 
stummen. 

Die  Erinnerung  ist  bald  eine  vollständig  getreue,  bald  eine 
theilweise  defecte,  manchmal  aber  auch  nur  summarische;  nicht  selten 
fehlt  sie  ganz.  Oft  geht  sie  nur  bis  zum  Beginn  des  deliranten  Zustandes. 
Der  Kranke  erkennt  nur  aus  seinem  schweren  Kopfe,  aus  seiner  ge- 
drückten Stimmung  und  einzelnen  Gesichtshallucinationen,  dass  er  wieder 
einen  Anfall  durchgemacht  haben  müsse. 

Das  Uebergang88tadium  durch  psychische  Schwäche  ist  namentlich 
bei  der  dämonomanisch- halluzinatorischen  Gruppe  sehr  ausgeprägt.  Das- 
selbe trägt  hier  den  ausgesprochenen  Charakter  der  Hirnerschöpfung  mit 
gesteigerter  Reizbarkeit  (mangelnde  Orientirung,  Verkennen  der  Personen 
im  Sinne  des  frühern  Wahnes,  Misstrauen,  Negation  gegen  die  Umgebung, 
Abulie,  Zornmüthigkeit  mit  tagelangen  Paroxysmen  und  Wiederauftreten 
der  Hallucinationen).  Nach  den  stupurösen  Formen  bildet  ein  einfacher 
Hirntorpor  mit  Gedächtnissschwäche  und  Gemüthsabstumpfung,  aber  ohne 

12* 


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180 


Der  acute  Wahnsinn. 


die  gesteigerte  affective  Reizbarkeit,  die  Signatur  der  Uebergangsperiode. 
Dabei  laufen  oft  richtige  Pcrceptionen  und  trotz  des  allmählich  hellem 
Bewusstseins  uncorrigirte,  nur  nicht  mehr  emotive  Sinnestäuschungen 
recht  lange  neben  einander  her.  Nach  den  Exaltationsformen  kommen 
beide  genannten  Typen  vor,  oft  untermischt  durch  kurze  Rückfallsepi- 
soden.  Manchmal  bildet  auch  ein  Stadium  ruhigen,  systematisirten  Wahn- 
sinns mit  fixen  Wahnvorstellungen,  apperceptiven  Trugschlüssen  und  Sym- 
bob'sirungen  den  durch  Monate  hindurch  protrahirten  Ausgang  zur  Genesung. 

Die  Dauer  des  Einzelparoxysmus  schwankt  in  denselben  weiten 
Breitegraden.  Neben  den  Fällen  von  nur  mehrstündigem  Verlauf 
stehen  solche  von  Wochen,  Monaten  und  selbst  Uber  Jahresfrist. 
Alle  acuten  Wahnsinnsformen  sind  durch  eine  grosse  Geneigtheit  zu 
Recidiven  ausgezeichnet,  so  besonders  die  manischen ;  hier  setzt  sich 
manchmal  der  Einzelparoxysmus  aus  einer  Serie  von  Anfallen  zu- 
sammen (8.  o.). 

Bei  nicht  günstigem  Verlauf  ist  der  Ausgang  des  einfachen 
Wahnsinns  wie  der  bei  der  Vesania  typica:  1.  in  secundären  hallu- 
cinatorischen  (resp.  Einfalls-)  Wahnsinn  mit  dem  Charakter  der 
Verwirrtheit,  anschliessend  an  das  regel-  und  zusammenhanglose 
Vorstellungsspiel  auf  der  Krankheitshöhe;  nnd  2.  in  zunehmende 
geistige  Schwäche  bis  zum  apathischen  Blödsinn  (letzteres  nament- 
lich im  Maassstab  der  Mitbetheiligung  einer  vasomotorischen  Neu- 
rose). —  Bei  hysterischer  oder  epileptischer  Grundlage  ist  der  zurück- 
bleibende neurotische  Grundzustand  in  die  Ausgänge  einzurechnen. 
Beachtens werth  ist,  dass  ein  solcher  hallucinatorischer  Paroxysmus 
manchmal  einen  Hysterismus  —  wie  eine  grosse  Krise  —  bessernd 
beeinflusst. 

Specielle  Symptomatologie.  Es  lassen  sich  nach  Inhalt 
und  Form,  speciell  nach  der  Bethciligung  des  hallucinatorischen 
Factors,  folgende  klinische  Gruppen  aufstellen: 

1.  der  acute  sensuelle  (hallucinatorische)  Wahnsinn  — 
die  acute  hallucinatorische  Verrücktheit  der  Autoren; 

2.  der  acute  melancholische  (dämonomanische)  Wahnsinn; 

3.  der  acute  expansive  manische  Wahnsinn; 

4.  der  acute  stupuröse  Wahnsinn  —  der  hallucinato- 
rische Stupor  (s.  dessen  Schilderung  als  „Anhang"  zur  acuten 
primären  Dementia). 

Erste  Untergruppe. 

Der  acute  sensuelle  (hallucinatorische)  Wahnsinn. 
Krankheitsbild.   Dasselbe  stellt  eine  psychische  Zustands- 
form  dar  von  acuter  Entstehung  und  acutem  Verlauf,  dessen  wesent- 


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Klinische  Special-Typen.  Acuter  exaltirter  Wahnsinn. 


1S1 


liebste  klinische  Grundlagen  primäre  und  plötzliche  wahnhafte  Con- 
ceptionen  oder  Hallucinationen  eines  oder  mehrerer  Sinne  sind,  neben 
theilweiser  Lucidität,  so  zwar,  dass  die  Beziehungen  der  Sinnes- 
täuschungen oder  illusorisch  veränderten  Wahrnehmungen  zum  Ich 
erhalten  bleiben,  und  das  letztere  reactiv  in  seiner  Stimmungslage 
sich  gefördert  und  beeinträchtigt  fühlt.  Das  Krankheitsbild  wieder- 
holt somit  das  Schema  des  typischen  (chronischen)  Wahnsinns  in 
acuter  Form  und  abgekürztem  Verlauf.  Der  Ausgang  erfolgt  sehr 
oft  durch  ein  manisches  Stadium  in  Geuesung;  oder  aber  in  einen 
secundären  Wahnsinnszustand  mit  zunehmender  geistiger  Schwäche 
unter  Beibehaltung  des  hallucinatorischen  Charakters.  Der  Verlauf 
kann  aus  einem  oder  mehrereu,  durch  kürzere  oder  längere  Perioden 
getrennten,  Anfällen  bestehen,  mit  freier  (resp.  relativ  freier)  Zwischen- 
zeit —  remittirender  und  periodischer  acuter  Wahnsinn. 

Typus  a.  Peracuter  und  acuter  exaltirter  (menstru- 
aler)  Wahnsinn. 

Die  im  Ganzen  seltene  Störung  befällt  ausnahmslos  nenropathisch 
stark  belastete,  meist  junge,  Individuen.  —  Ohne  auffällige  Prodromi 
geräth  die  Kranke  um  die  Zeit  der  Menses,  anscheinend  plötzlich,  in 
einen  geistig  gehobenen  Zustand,  mit  dem  Wahn  einer  fürstlichen  Ab- 
stammung, der  bevorstehenden  Vermählung  mit  einem  im  Range  gleich- 
stehenden Bräutigam  u.  s.  w.  Kleidung,  Haltung  und  Benehmen  werden 
darnach  eingerichtet,  die  Umgebung  in  demselben  Sinn  umdeutet  und 
symbolisirt.  Mit  Eintreten  der  Periode  resp.  deren  Nachlass  schwindet 
rasch  der  Märchenzauber,  mit  nachfolgender  unklarer  Erinnerung  (die 
Kranke  spricht  nicht  mehr  davon  und  lässt  sich  ungern  daran  mahnen). 
Für  die  nächstfolgenden  Tage  bleibt  noch  ein  schläfriges  apathisches 
Wesen.  —  In  andern  Fällen  kann  derselbe  acute  menstruale  Anfall 
sich  auch  über  die  Menses  hinaus  auf  circa  S — 14  Tage  verlängern. 
Die  Kranke  versinkt  in  einen  ekstatischen  Zustand  mit  gleichwohl  fort- 
dauernden Perceptionen.  Die  Umgebung  wird  illusorisch  aufgefasst,  von 
überall  her  kommen  Zeichen  der  bevorstehenden  Erhebung  oder  Be- 
glückung; gleichgestimmte  Hallucinationen  stellen  sich  ein.  Episodisch 
löst  sich  die  innerliche  Gebundenheit  zu  einer  gehobenen  Gesticulation, 
zu  dramatischen  Haltungen,  Singen.  Declamiren,  Küsse-werfen,  Umarmung 
der  Umgebung;  die  Kranke  nennt  sich  Mignon,  der  Ersehnte  ist  der 
Wilhelm  Meister  u.  8.  w.  Der  Paroxysmus,  somatisch  mit  Schlaflosigkeit, 
Congestivzuständen  zum  Kopfe  neben  Kühle  der  Extremitäten  verbunden, 
klingt  gewöhnlich  wiederum  durch  einen  psychischen  Müdigkeitszustand 
mit  nervösen  Beschwerden  ab,  und  hinterlässt  nur  summarische  oder 
lückenhafte  Erinnerung  an  die  Dämmerzeit.  —  In  gleicher  Weise  wird 
in  acuter  Entstehung  und  Verlauf  auch  Schwangerschaftswahn, 
mit  romanhafter  Begründung  und  entsprechendem  erotischen  Verhalten 
bei  aussetzender  Periode  beobachtet.  Auch  dieser  schwindet  (namentlich 
bei  Wechsel  der  Umgebung)  oft  von  selbst  mit  der  folgenden  Menstrual- 
blutung. 


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182 


Der  acute  Wahnsinn. 


Typus  b.    Subacuter  manischer  Grössen  Wahnsinn. 

In  protrahirterem  Verlaufe,  nach  acuter  Entstehung,  kann  der  pri- 
märe Wahnsinn  das  typische  Symptomenbild  des  exaltirten  Wahnsinns 
annehmen,  und  als  scheinbare  Manie  mit  gebieterischem  Wesen,  schranken- 
losem (aber  nicht  nachhaltigem)  Selbstgefühl,  Ideenflucht,  tumultuarischem 
Gebahren  sich  in  Scene  setzen.  Auch  diese  Kranken  rekrutiren  sich 
aus  der  Gruppe  der  Neuropathiker,  Hereditarier,  mit  übrigens  sonst  nor- 
maler geistiger  und  körperlicher  Entwicklung  (politisch  aufgeregte  Zeiten 
bilden  eine  besonders  begünstigende  Atmosphäre).  Das  Zustandsbild 
der  ersten  Tage,  in  welchen  die  Kranken  als  Weltbeglücker,  Reforma- 
toren, Universalgenies  auftreten,  mit  Aufgebot  allen  Scharfsinns  ihre 
Maschinen  construiren,  ihre  hochfliegenden  Probleme  mit  Ungestüm  aus- 
kramen, hat  manchmal  eine  täuschende  Aehnlichkeit  mit  dem  Initial- 
stadium der  Paralyse,  wird  aber  vor  der  Verwechslung  mit  dieser  kör- 
perlich durch  die  fehlende  motorische  Ataxie  und  psychisch  durch 
die  durchgebildete  Systematik,  Consequenz  und  Stärke  des  Wahns,  so- 
wie durch  den  Mangel  des  eigentlichen  paralytischen  „Wonnegefühls" 
geschützt.  Die  Stimmung  ist  eine  sehr  gehobene,  anderemale  zwischen 
Hoffnung  und  Depression  (durch  Verkanntsein,  böswillige  Beeinträchtigung) 
schwankende,  bald  indolente,  bald  anspruchsvoll  gereizte;  oft  tritt  sie 
ganz  zurück  neben  der  rastlosen  Gedankenarbeit,  welche  die  GrÖssen- 
conceptionen  zur  höchsten  Leistungsgrenze  hinaufschraubt,  aber  doch 
immer  noch  in  der  Grenze  des  Erreichbaren  bleibt,  wenn  auch  Kritik 
und  Reflexion  dabei  sehr  zu  kurz  kommen.  Das  Bewusstsein  ist  be- 
nommen und  vielfach  durch  Hallucinationen  (Gottesstimmen,  Verschlucken 
des  heiligen  Geistes  in  Gestalt  einer  weissen  Taube,  goldene  Kreuze 
und  Wolken  am  Himmel  u.  s.  w.)  und  illusorische  Verkennung  der  Um- 
gebung getrübt.  Körperlich  steht  Schlaflosigkeit  mit  Abnahme  der  Er- 
nährung, ungleiche  Blutvertheilung  (Fluxionen  zum  Kopfe,  neben  kühlen 
Extremitäten  und  contrahirter  Radialis)  im  Mittelpunkt  der  Symptome. 
Der  Verlauf  ist  ganz  gesetzlos;  mit  manischen  Perioden,  in  welchen  der 
Kranke  ein  Spielball  von  Einfällen,  raptusartigen  Antrieben  und  reactiven 
Stimmungen  in  Folge  der  Hallucinationen  ist  (Zerstören,  Schmieren), 
wechseln  lucidere  Phasen;  mit  dem  Grössenwahn  mischen  sich  im  Ver- 
laufe oft  auch  Verfolgungsideen.  Der  Uebergang  in  Genesung  erfolgt 
nach  Wochen  resp.  mehreren  Monaten,  unter  allmählichem  Nachlass  der 
tobsüchtigen  Aufregung,  wobei  erst  der  exaltirt  -  depressive  Wahnsinn 
breiter  und  deutlicher  zu  Tage  tritt;  in  der  Folge  durch  ein  Erschöpfungs- 
stadium hindurch  in  Form  einer  mehr  minder  langen  geistigen  Apathie 
und  Willenlosigkeit.  Einzelne  Hallucinationen  und  Wahngedanken  dauern 
oft  noch  bis  in  die  Genesung  uncorrigirt  fort.  Die  geistige  Erholung 
kann  eine  vollständige  sein  mit  lückenhafter  Erinnerung,  hat  aber  grosse 
Neigung  zur  Recidive,  mit  der  Gefahr  eines  jeweils  bleibenden  und  sich 
summirenden  geistigen  Defects. 

Typ  us  c.  Acuter  und  sub acuter  hallucinatorischer  Ve r- 
folgungswahnsinn. 

Der  Beginn  ist  eine  aente  Benommenheit  des  Sensoriums  in  Form 
von  Rathlosigkeit,  Staunen,  triebartigem  Gebahren  (Fortlaufen);  daran 


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Subacuter  manischer  W.;  acuter  halluc.  Verf.-W.;  acuter  depress.-exalt.  W.  183 

schliesst  sich  ein  rasch  wachsender  Aufregungszustand  mit  feindseligem 
Verkennen  der  Umgebung  und  Sinnestäuschungen. 

Nicht  selten  verläuft  wiederum  das  menstruale  periodische  Irresein 
unter  diesem  Symptomenbilde.  Gewöhnlich  geht  eine  sensuelle  Hyper- 
ästhesie (grössere  Empfindlichkeit  gegen  alle  Sinneseindrlicke)  kurz  vor- 
aus; dann  folgen  Hallucinationen  feindseliger  Art  (in  der  Regel  des  Ge- 
hörs) mit  reactiver  Angst,  Misstrauen,  zorniger  Gereiztheit.  Statt  der 
Sinnestäuschung  kann  auch  ein  wiederkehrender  Zwangsgedanke  (z.  B. 
Angst  vor  dem  Eindringen  eines  wüthenden  Hundes),  verbunden  mit  illu- 
sorisch feindseliger  Umdeutung  der  Umgebung  und  dämmerhaftem  Bewusst- 
seinszustand  den  Wahninhalt  bilden.  Der  Inhalt  der  Hallucinationen  ist 
ein  sehr  mannigfaltiger,  aber,  wie  es  scheint,  ein  in  gewissen  Grenzen 
ätiologisch-typischer.  So  bedingt  der  acute  und  subacute  Verfolgungs- 
wahn auf  masturba torischer  Basis  in  der  Regel  sexuell  gefärbte 
Hallucinationen.  Die  Kranken  hören  Zoten  und  cynische  Aufforderungen 
sich  zuflüstern,  man  „telephonirt  Kuppeleien''  in  sie  hinein;  man  will  sie 
durch  forcirten  Coitus  erschöpfen  und  sie  dann  als  Selbstmörder  behan- 
deln u.  s.  w.  In  weiterer  logischer  Ausgestaltung  wird  eine  „elektrische" 
Verfolgungstheorie  construirt.  Alle  Zimmerwände  sind  akustisch  gemacht 
durch  Maschinen,  Uberall  her  tönen  ihnen  Lästerungen  oder  Verhöhnungen, 
namentlich  auch  Belächelungen  ihrer  angeblich  verminderten  „Potenz" 
(s.  u.  Typus  g).  —  Im  acuten  Trinkerwahnsinn  bilden  Gehörs-  und 
namentlich  auch  Gesichtstäuschungen  (beschimpfende  Zurufe,  Bilder  von 
eindringenden  Soldaten  mit  blanken  Waffen,  gehörte  Schüsse  u.  8.  w.)  den 
häufigsten  Inhalt  des  Krankheitsbildes  (s.  n.  Alkoholismus).  —  Beim  acu- 
ten Gefangenenwahnsinn  sind  die  Stimmen  «gewöhnlich  verspotten- 
den oder  neckenden  oder  auch  beängstigenden  Inhalts  (neue  Strafandro- 
hungen). Beim  Weiterverlauf  des  letzteren  kann  entweder  Genesung 
(gewöhnlich  durch  Versetzung  in  gemeinsame  Haft)  erfolgen,  oder  aber 
ein  chronischer  Secundärzustand  mit  Hallucinationen  und  reizbarer  gei- 
stiger Schwäche. 

Typus  d.  Acuter  depressiver,  und  sodann  expansiver 
Wahnsinn. 

Nicht  selten  ist  der  acute  Anfall  des  sensuellen  Wahnsinns  aus  zwei 
Phasen  zusammengesetzt,  einer  depressiven  und  einer  expansiven,  welche, 
ganz  wie  im  Verlauf  des  typischen  Wahnsinns,  sich  ineinander  transfor- 
miren.  Die  depressive  Phase  verläuft  unter  dem  äusseren  Bilde  melan- 
cholischer Gebundenheit  mit  hallucinatorischen  Angstparoxysmen,  in  wel- 
chen der  Kranke  die  Schrecken  der  Hölle  oder  einer  drohenden  Hinrichtung 
sieht,  seinen  Körper  in  tausend  Theile  sich  trennen  und  auseinanderfliegen 
fühlt,  Centnersteine  auf  seinem  Herzen  spürt,  welche  ihm  den  Athem  be- 
nehmen. Der  Eintritt  der  expansiven  Phase  (dieser  stiefmütterlichen 
Barmherzigkeit,  welche  die  Krankheit  selbst  übt!)  kann  nun  unter  ver- 
schiedenem Modus  in  Scene  treten.  Eine  häufige  Form  ist  1.  dass  die 
letztere  unter  zunehmender  Bewusstseinsverdunkelung  als  ein  hallucina- 
tori8ch  deliranter  Traumzustand  sich  vollzieht,  aus  welchem  nur  noch 
vereinzelte  und  stets  unklare,  illusorisch  gefärbte  Beziehungen  mit  der 
Aussenwelt  stattfinden.    Der  hallucinatorisch  gefolterte  (verspottete,  be- 


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184 


Der  acute  Wahnsinn. 


drohte)  Kranke  hört  jetzt  Stimmen  vom  Himmel,  welche  ihm  Ersatz  für 
das  erlittene  Unrecht,  Begnadigung,  Erhöhung  oder  (namentlich  bei 
sexueller  Entstehung)  Vereinigung  mit  der  Geliebten  etc.  verheissen.  Oft 
kommen  Steigerungen  zur  Ekstase  unter  dem  äusserlichen  Bilde  der  ka- 
tatonen  Stupidität.  Der  Kranke  hält  Tage  lang  die  Augen  geschlossen, 
folgt  mechanisch  dem  Zuge  äusserer  Gewalt,  behält,  einem  Automaten 
gleich,  einförmige  und  gezwungene  Stellungen  bei,  leistet  gegen  Alles 
passiven  Widerstand,  geht  zögernd  zu  einzelnen  Gesten  und  Bewegungen 
meist  religiöser  Symbolik  über,  rafft  sich  dann  plötzlich  auf,  um  lautlos 
und  ziellos  da  und  dorthin  zu  drängen  und  dann  in  die  frühere  Mono- 
tonie wieder  zurückzusinken.  —  Es  kann  aber  2.  aus  dem  unklaren  me- 
lancholischen Depressionszustande  sich  die  Fata  morgana  einer  GrÖssen- 
hallucination  (Messias)  abheben,  und,  während  der  „böse  Geist"  seinen 
Sitz  im  Körper  behält,  sich  als  „guter  Geist"  gleichfalls  darin  fest- 
setzen. Der  Kranke  entwickelt  sich  sachte  zu  zwei  Naturen  in  sich,  er 
erhält  eine  böse  und  eine  gute,  und  bewahrt  als  „dritte"  eine  „Verbin- 
dungsnatur" ;  Alles  in  ihm  wird  zwischen  den  freundlichen  und  feindlichen 
Mächten  getheilt,  sogar  die  Geschlechtstheile ;  von  dem  Centnerstein  des 
Herzens  löst  sich  eine  Hälfte  ab,  „wird  leicht  wie  der  Fittig  einer  Taube", 
und  erhält  den  Namen  „Gott"  eingeschrieben ;  die  guten  und  bösen  Gei- 
ster ringen  fortan  miteinander.  Dieser  Zustand  kann  chronisch  werden, 
und  ziemlich  bald  in  eine  Secundärform  übergehen  mit  Erhaltung  der  be- 
zeichneten Elemente  (gewöhnlich  unter  dem  Bilde  des  religiösen  Wahnsinns). 
—  Oder  3.  die  genannte  (expansive)  Phase  geht  in  acutem  Verlaufe  in  eine 
acute  reactive  Manie  Uber.  Auch  hiebei  finden  zahlreiche  Varietäten  statt. 
Es  kann  dieselbe  a)  unter  dem  Bilde  einer  Mania  mitis  verlaufen  mit  (reactiv) 
beglückter  Stimmungsgrundlage  (Singen,  Declamiren,  affectvoll  patheti- 
schem Gebahren  in  Miene  und  Haltung,  mit  mystischer  Symbolisirung  in 
den  Geberden);  so  beim  Wahnsinn  auf  hysterischer  oder  sexueller,  beson- 
ders masturbatorischer  Entstehnung.  Oder  aber  b)  der  Eintritt  der  exal- 
tirten  Phase  vollzieht  sich  unter  dem  Bilde  des  manischen  Furors  (s.  d.) : 
es  ist  die  emotive  Rückwirkung  aus  der  innerlichen  Bedrängniss  durch 
den  Kampf  des  bösen  und  guten  Princips  (heftiges,  gereiztes  Wesen, 
Wahn  des  Verhextseins,  massenhafte  Hallucinationen,  Thier-  und  Geister- 
spuck, Engelserscheinungen,  endlich  wüthendes  Zerstören,  „um  Schutz 
und  Hilfe  zu  suchen").  —  Bezüglich  des  Verlaufs  und  der  Aufeinander- 
folge des  depressiven  und  manisch- hallucinatorischen  Stadiums  kommt  ne- 
ben dem  directen  Uebergange  beider  Phasen  auch  noch  die  Modification 
vor,  dass  beide  durch  ein  apathisches  Zwischenstadium  (mit  Vaso- 
parese)  getrennt  sind ;  so  namentlich  bei  stark  invaliden  Gehirnen,  durch 
Potus  oder  durch  Insolation.  —  Der  Ausgang  ist  Genesung;  aber  nicht 
immer  direct,  sondern  a)  nicht  selten  durch  eine  nochmalige  depressive 
Walinsinnsphase  mit  den  schreckhaften  Hallucinationen  hindurch;  oder 
aber  tl)  durch  ein  längeres  Stadium  (2 — 3  Monate)  von  systematisirtem 
sensuellem  Wahnsinn  mit  neuralgischen  Allegorisirungen.  Im  ungün- 
stigen Falle  (oder  nach  häufigen  Recidiven)  folgt  ein  hallucinatorischer 
Secundärzustand  mit  partieller  Geschontheit  des  Bewusstseins  und  allmäh- 
lichem Uebergange  in  psychische  Schwäche. 


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Acuter,  gemischt  depressiv- expansiver  Wahnsinn. 


183 


Typus  e.  Acuter,  gleichzeitig  depressiv-expansiver 
Wahnsinn. 

Erschöpfungszustände  des  Gehirns,  namentlich  geistige  Ueberarbei- 
tongen,  gehen  voraus.  Der  Kranke  fühlt  Anfangs  nur  vag  und  dumpf 
eine  Aenderung  in  seiner  Denkarbeit  (eine  „Einmauerung,  eine  Durch- 
ächüttelung  und  Durchschauerung"  des  Gehirns);  rasch  objectivirt  sich 
diese  zur  „Thatsache",  dass  eine  „Verfolgung"  gegen  ihn  im  Spiele  sei. 
Jetzt  sofort  grosse  Angst,  die  sich  aber  besänftigt  durch  „Anzeichen", 
dass  eine  höhere  Mission,  eine  „Prüfung"  im  Spiele  sei.  Jede  Wahr- 
nehmung wird  auf  diese  Ahnungen  hin  geprüft,  die  Miene,  die  Worte, 
die  Kleidung  der  Vorübergehenden;  depressive  und  freudig  gehobene 
Stimmungen  lösen  sich  ab,  je  nach  den  „Zeichen",  den  freundlich  zu- 
sprechenden, oder  aber  tadelnden  Sinnestäuschungen.  Oft  verliert  der 
Kranke  trotz  der  Uberraschenden  Zauberwelt  seine  Orientirung  nicht;  er 
weiss  sich  Tage  lang  noch  leidlich  gut  zu  führen,  wozu  er  allerdings  eine 
immer  mühevolle  geistige  Präcision  braucht.  Endlich  unterliegt  die 
mühsam  zusammengehaltene  Kraft,  und  es  tritt  zunehmend  ein  Traumzu- 
stand ein,  aber  ohne  gefühlten  Uebergang.  Das  Ich  bleibt  sich  daneben 
seiner  geläufigen  Beziehungen  zur  Umgebung  bewusst;  es  geht  nicht  unter 
in  den  Spielen  der  Fata  morgana.  Das  GrössengefUhl,  das  Wissen  der 
„Begnadigung,  der  hohen  Mission",  bleibt  erhalten,  die  neuen  Concep- 
tionen  sind  nach  diesem  Inhalt  geordnet  und  bis  in's  Kleinste  „verständ- 
lich" und  bedeutsam.  Oft  spielen  auch  wirkliche  Wachträume  episodisch 
dazwischen;  aber  das  Ich  verwirrt  sich  nicht  dauernd,  es  findet  sich  im- 
mer wieder  zurecht  in  den  vorgegaukelten  „Schlössern",  „auf  den  Schif- 
fen", neben  den  grossen  Männern  aus  früheren  Jahrhunderten,  welche 
plötzlich  in  unvermittelten  und  lebendigen  Rapport  mit  dem  Kranken  tre- 
ten. Bei  noch  höherer  Steigerung  des  Leidens  kommen  jetzt  auch  ener- 
gische affective  Stimmungen  mit  motorischen  Entladungen:  der  Kranke 
bietet  vorübergehend  das  Bild  eines  Furors,  äusserlich  mit  planlosem 
Entäusserungsdrang  und  einer  Ideenflucht,  welche  zusammenhanglos  und 
unverständlich  erscheint,  weil  sie  nur  Bruchstücke  des  ausserordentlich 
intensiven  inneren  Traumlebens  hervortreten  lässt.  Nach  und  nach,  oft 
aber  auch  Uberraschend  schnell  (nach  dem  ersten  Bade),  folgt  motorische 
Beruhigung  und  beginnende  psychische  Lucidität.  Aber  lange  bleibt  in 
der  Regel  noch  ein  Zustand  von  geistigem  Torpor  mit  zähe  klebenden 
Wabngedanken  und  gemüthlicher  Indolenz  mit  Reizbarkeit  (die  Zeichen 
des  erschöpften  Gehirnlebens!)  zurück.  Auch  der  Drang  zu  „Deutungen" 
zieht  sich  manchmal  noch  lange  in  die  Reconvalescenz  hinein.  Letztere 
erfolgt  oft  mit  rapider  Zunahme  der  Ernährung.  Die  Genesung  aus  die- 
ser Form  ist  in  der  Regel  eine  vollständige;  doch  gleichen  sich  die  letzten 
Wahnvorstellungen  oft  erst  lange  nach  der  Entlassung  des  Kranken  in 
die  Auasenwelt  ab;  nicht  selten  erst  nach  stossweissen  Recrudescenzen. 
Die  Dauer  der  Krankheit  erstreckt  sich  auf  einige  Tage,  aber  auch  auf 
Wochen  (1 — 2  Monate).  In  ungünstigen  Fällen  bleibt  ein  chronisch  hal- 
lucinatorischer  Wahnsinn,  in  welchem  der  Kranke  immermebr  zum  Mi- 
nutenspiel  seiner  Eingebungen  und  Symbole  herabsinkt,  jede  Sinneswahr- 
nehmung mit  den  fabelhaftesten  Zuthaten  versetzt  erhält  (abgeschnittene 
Menschenköpfe  in  den  Speisen),  und  endlich  in  dieser  Traumwelt  dauernd 


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186 


Der  acute  Wahnsinn . 


untergeht,  unter  zeitweisen  melancholischen  oder  manischen  oder  wahn- 
sinnig-dementen  Reactionen  (alberne  Kleidung  oder  Gebahren)  mit  para- 
phrastischer  Verworrenheit. 

Typus  f.    Acuter  hypochondrischer  Wahnsinn. 

Die  Entstehung  ist,  nach  vorausgegangenem  Status  nervosus  mit 
ängstlicher  Grübelei,  oft  ausserordentlich  rasch  —  mit  Einem  Schlage. 
Eine  zufällige  Begegnung,  eine  Zeitungsnotiz,  ein  Gespräch,  eine  peinliche 
körperliche  Sensation,  lässt  oft  plötzlich  den  fertigen  Wahnsinn  empor- 
schiessen.  Mit  Einem  Male  wird  dem  Kranken  sein  Verhängniss  klar: 
er  hat  eine  Brust  von  Stein,  ein  verschobenes  Herz,  einen  dislocirten  Magen. 
Tiefe  Depression  bis  zur  Regungslosigkeit  oder  zu  verschränkten  Kör* 
perhaltungen  (motorische  Reflexe  auf  die  abnormen  inneren  Organgefühle) 
beherrscht  den  willenlos  gewordenen  Kranken.  Die  sensibeln  Allegorieen 
schaffen  nun  einen  wahren  Phantasiekörper:  der  Kehldeckel  ist  herabge- 
fallen, der  Hals  an  einem  Band  aufgehängt;  das  Essen  fällt  in  den  Brust- 
raum, die  Flüssigkeiten  in  den  Herzbeutel.  Die  Lunge  hat  sich  auf  einen 
Quadratzoll  zurückgezogen  und  ist  durchlöchert,  das  Rückenmark  ist  aus- 
gelaufen ;  der  Kranke  hält  sich  für  unzerstörbar  durch  alle  Elemente ;  nach 
dem  quasi-Tod  leben  und  zucken  seine  Nerven  in  der  Luft  fort  u.  s.  w. 
Nahrungsverweigerung,  Misstrauen  gegen  die  Umgebung,  starre  Resig- 
nation, neben  einem  seufzenden  Klagedrang,  plötzliche  Raptus  von  Gewalt- 
thätigkeit  setzen  das  nun  folgende,  oft  durch  Wochen  hindurch  ein- 
förmige, Krankheitsbild  zusammen.  In  langsamer  Abnahme,  oft  aber 
gegentheils  auch  überraschend  schnell  (nach  Typbus,  geheiltem  acuten 
Magen darmkatarrh)  hebt  sich  der  psychische  Bann,  und  tritt  die  Genesung 
ein.  Sehr  oft  kommen  auch  hier  früher  oder  später  fast  „photographisch 
gleiche"  Recidiven;  andere  Male  Anfälle  von  acutem  Verfolgungs-  oder 
exaltirtera  Wahnsinn  (Plänesucht,  gesteigertes  Selbstgefühl  mit  Reizbar- 
keit, Stimmungswechsel,  Neigung  zu  „Deutungen  und  Ahnungen";  auch 
zu  Excessen) ;  oft  wechseln  alle  diese  Zustandsbilder  periodisch  mit  ein- 
ander ab;  mit  jahrelangen  Intermissionen. 

Typus  g.  Acuter  (subacuter)  cerebrospinaler  Wahn  sinn. 

Endlich  stellt  auch  der  cerebrospinale  Wahnsinn  sein  Contin- 
gent  zur  acuten  (resp.  subacuten)  Verlaufsform.  So  namentlich  gern  auf 
alkoholistischer  Grundlage.  Voraus  geht  ein  8tatus  nervosus  (Schwarzsehen 
vor  den  Augen,  Hitze  im  Kopfe,  Ziehen  im  Körper,  schlechter  Schlaf  mit 
ängstlichen  Träumen,  präcordiale  Sensationen)  mit  „Ahnungen",  dass  „Ver- 
dächtiges" geplant  werde.  Nun  plötzlicher  Ausbruch,  oft  in  Einer  Nacht: 
Visionen  von  guten  und  bösen  Geistern,  welche  mit  ihren  Angriffen  an 
den  neuralgischen  Punkten  einsetzen,  und  so  vom  Kranken  Besitz  nehmen. 
Die  Qualität  der  Geister  wird  jeweils  aus  den  hemmenden  oder  erleich- 
ternden Körperempfindungen  gemerkt;  darnach  gestaltet  sich  die  feind- 
liche oder  freundliche  Reaction  des  Kranken.  Im  Verlauf  führen  beide 
im  Körper  des  Kranken  ihren  „neuralgischen"  Kampf  weiter ;  der  Kranke 
sucht  den  „Guten"  (die  ihm  vollen  Athem  geben)  durch  Gebet  zu  dienen, 
während  er  die  „Bösen"  durch  Gegenwirkungen  (Aderlässe  an  den  Füssen, 
Aufkratzen)  abzuleiten  bestrebt  ist.  Aus  allen  Körperwinkeln  „spricht" 
und  „deutet"  es;  der  Kranke  ist  in  seinen  ürtheilen  (was  gut  und  recht, 
was  er  thun  oder  lassen  soll)  nur  noch  von  den  Geistern  bestimmt,  die 


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Acuter  hypochond.  W. ;  ac.  cerebrospin.  W.;  acuter  melanch.  Wahnsinn.  187 


er  einathmet  —  oder  ausspeit,  sobald  er  an  einem  Stieb  in  der  Herzge- 
gend merkt,  dass  er  einen  „bösen"  verschluckte.  Die  Stimmung  ist  eine 
wandelbare,  reactiv  heitere,  oder  gedrückte.  Ganz  allmählich  nimmt  die 
Zahl  der  Geister  ab,  die  Gefühle  vermindern  sich  und  treten  zurück,  die 
vernünftige  Einsicht  kommt  zum  Durchbruch.  Im  Verlauf  von  einigen 
Monaten  ist  der  Kranke  genesen. 

Zweite  Untergruppe. 

Der  acute  melancholische  Wahnsinn.  Vorausgehender  Status  ner- 
tosus  oder  wirkliebe  (melancholische)  Depression;  dann  rascher  Um- 
schlag in  eine  hallucinatorische  Traumwelt  mit  Erhaltung  resp.  Aus- 
bildung der  schmerzlich  gefühlten  Beziehungen  zum  Ich;  daneben 
Fortdauer  der  Perception  mit  illusorischer  Umdeutung  nach  derselben 
Richtung;  manchmal  episodische  Expansionsdelirien;  acuter,  subacuter 
oder  protrahirter  Verlauf  unter  mehr  oder  minder  tiefem  Dämme- 
rungszustand, oft  mit  jähem  Umschlag  in  lucidere  Phasen;  Raptus- 
anfälle von  stupider  agitirter  Angst.  Schliesslich  Uebergang  in 
1.  Genesung,  oft  in  rascher  Lösung;  anderemale  durch  ein  mehr  oder 
weniger  langes  geistiges  Erschöpfungsstadium  mit  Nachklang  der 
melancholischen  Grundstimmung;  langsame  Correctur  mit  lückenhafter, 
meist  nur  summarischer  Erinnerung;  2.  in  unheilbare  Geistesschwäche. 

a)  In  den  leichteren  Formen  bildet  ein  Vorstadium  von  gemütblicber 
Depression  mit  unschlüssigem,  ungeschicktem  theilnahmlosen  Wesen  die 
Einleitung.  Unvermerkt,  oft  ahnungslos  in  der  Stille  der  Nacht,  oder 
nach  einem  Gemüthsaffect,  oder  nach  einem  schreckhaften  Naturereigniss 
(Gewitter)  stellen  sich  Sinnestäuschungen  ein,  bald  vereinzelt  und  leise 
sich  anmeldend,  bald  aber  auch  mit  überwältigender  Macht  das  Bewusst- 
sein  verdunkelnd.  Drohende  Rufe,  schreckhafte  Gesichte,  das  jüngste 
Gericht,  Modergeruch  u.  s.  w.  steigen  auf.  Jetzt  folgt  eine  reactive  Un- 
ruhe,  der  Kranke  wälzt  sich  anhaltend  und  lautlos  im  Bette,  springt 
wieder  heraus,  wirft  sich  auf  die  Kniee,  ringt  die  Hände  (oft  bis  sich 
Excoriationen  bilden),  klammert  sich  starren  Blickes  plötzlich  an  einen 
Dritten  an,  drängt  dann  wieder  hinaus,  ist  unempfindlich  gegen  Berüh- 
rungen. Alles  um  ihn  hat  sich  verändert,  Sonne  und  Mond  haben  ihren 
Glanz  verloren,  alle  Farben  sind  ausgelöscht;  Todte  wandeln  leibhaft  um- 
her; Uberall  sind  Mahnungen  und  Zeichen  für  immer  grössere  Schreck- 
nisse. Manchmal  erleichtert  sich  der  zum  Tode  geängstigte  Dulder  in 
einem  Strom  von  Thränen,  oder  er  sucht  in  irgend  einer  Selbstpeinigung 
Entlastung,  oder  er  bricht  in  eintönige  Schmerz-  und  Hilferufe  ans,  welche 
er  automatisch  Tag  und  Nacht  wiederholt.  So  kann  in  weiterer  Steige- 
rung sich  vorübergehend  eine  „manische"  Reactionsphase  abspielen;  ande- 
remale schliesst  sich  gegentheils  eine  Episode  der  Selbstzerknirschung  an, 
mit  krankhaftem  Drange  zu  Tag  und  Nacht  fortdauerndem  Beten,  so  dass, 
nur  um  keine  Minute  nachzulassen,  die  Nahrung  verweigert  und  jede 
Ansprache  von  aussen  mit  heftigster  Negation  oder  mit  Heulen  erwiedert 
wird.  In  der  Regel  gehen  lebhafte  Sensibilitäts-Anomalieen  (Parästhesieen 


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188  Der  acute  Wahnsinn. 

des  Herzens  und  der  Intercostalbahnen,  Beschwerungsgeftthle  im  Körper) 
mit  einher.  Damit  hängen  oft  im  Weitern  die  psychischen  Reflexkrämpfe 
zusammen,  welche  sich  in  Grimassiren  des  Gesichts,  Zukneifen  der  Augen, 
rhythmischem  Vorwärtsschleudern  der  Arme,  Schütteln  des  Oberkörpers, 
An-  und  Abziehen  der  Beine  u.  s.  w.  kundgeben;  auch  auf  den  Vagus 
treten  die  Reflexe  Uber,  und  rufen  Anfälle  von  Laryngismus  stridulus 
und  geändertem  Respirationstypus  hervor,  während  der  (gleichsinnige) 
Krampf  in  den  Gefässnerven  die  Blutwelle  unterdrückt  und  einen  kleinen, 
in  der  Frequenz  wechselnden  Puls  zu  Stande  bringt.  Treten  nicht  kata- 
tone  Phasen  ein  (was  häufig  der  Fall),  so  kann  sich  schon  nach  einigen 
Wochen  der  Dämmerzustand  unter  Zurücktreten  der  Hallucinationen,  Neu* 
ralgieen  und  des  vasomotorischen  Krampfes  lösen.  Der  Kranke  beginnt 
sich  zu  orientiren,  die  Aussenwelt  wird  wieder  wie  sie  war,  „nicht  mehr 
so  verdreht  und  umgestellt."  Unter  Zunahme  der  Ernährung  folgt  nun 
ein  mehr  weniger  langes  Correcturstadium  mit  Nachlass  der  Angst.  Bei 
Frauen  wirkt  oft  der  Eintritt  der  Menses  kritisch.  Genesung  ist  die 
Regel,  aber  die  Prognose  durch  Recidivfähigkeit  eingeschränkt. 

b)Die  schwereren  Formen  des  primären  melancholischen 
Wahnsinns  gehören  der  „dämonomanischen"  Grnppe  an.  Der  Verlauf 
derselben  ist  höchstens  subacut,  meist  aber  auf  Monate  ausgedehnt, 
entsprechend  der  Tiefe  der  Hirnaffection,  resp.  der  Tiefe  der  aus- 
nahmslos hier  vorhandenen  Anämie  (nicht  selten  mit  Suppressio 
mensium).  Der  Kern  des  ausserordentlich  mannigfaltigen  Symptomen- 
bildes ist  eine  furchtbare  Angst  mit  schreckhaften  Hallucinationen 
und  Illusionen,  Verdunkelung  des  Bewusstseins,  heftiger  emotiver  Re- 
action,  gewöhnlich  unter  dem  Bilde  eines  stupiden  Furors. 

Das  Prodromalstadium  ist  oft  unscheinbar,  eine  mehr  weniger  auf- 
fällige gemüthliche  Verstimmung  mit  vagen  nervösen  Symptomen  (Ziehen 
und  Reissen  in  den  Gliedern).    Um  so  jäher  erfolgt  der  Krankheitsaus- 
bruch, manchmal  wiederum  ganz  plötzlich  während  der  Nachtruhe,  welche 
der  Kranke  noch  ahnungslos  angetreten  (in  einem  meiner  Fälle  nach 
einem  Rausche,  wodurch  der  Kranke  seinem  geschwundenen  Kraftgefühle 
wieder  hatte  aufhelfen  wollen).  Nicht  selten  geht  auch  eine  kurze  Phase 
religiösen  Wahnsinns  mit  Christus- Visionen,  lautem  Predigen  voraus.  Oft 
eröffnet  sofort  eine  brüske  Handlung  (Gewaltact)  neben  sofortiger  tiefer 
Bewusstseinsstörung,  welche  nur  einzelne  Fragmente  eines  hallucinatorisch- 
dämonomanen  Traumlebens  (Teufel,  Hexen)  hervortreten  lässt,  zugleich 
mit  heftiger  Angst,  die  Scene.  Der  Kranke  bietet  das  Bild  einer  stupiden 
Verwirrung;  die  Umgebung  wird  verkannt,  oft  in  feindlichster  Weise 
brutal  angegriffen.    Furchtbare  Aufschreie,  blinder  Zerstörungsdrang, 
wechseln  ab  mit  ängstlicher  Hilflosigkeit.    So  kann  das  Krankheitsbild 
sich  durch  Wochen  hindurch  erhalten,  wobei  nur  der  jäh  eintretende  Um- 
schlag in  lucidere  Phasen  mit  Ruhe,  scheu  misstrauischem  Wesen,  und 
einer  vollständig  fehlenden  Orientirtheit  Uber  Lage  und  Umgebung  eine 
scharf  contrastirende  Abwechslung  bilden.  Immer  aber  drängt  sich  wieder 
der  Sturm  der  Hallucinationen  (namentlich  des  Gehörs  und  Gesichts,  dann 
aber  auch  der  übrigen  Sinne)  vor,  und  erzeugt  wieder  die  stupide  Pan- 


Dgle 


Acuter  melanch.  Wahnsinn:  leichtere  und  schwerere  Form. 


139 


phobie  mit  den  Raptus  und  dem  triebartig  'perversen  Gebahren.  Die 
All-Angst  kann  oft  eine  conträre  sein,  indem  der  Kranke  beim  Anblick 
i.  B.  einer  dargebotenen  Speise  aufschreit,  etwas  Anderes  wünscht  — 
sofort  aber  beim  Vorsetzen  des  Gewünschten  in  dieselbe  Angstäusserung 
und  Negation  geräth.    Das  Delirium  besteht  theils  in  Erwiederungen  auf 
die  schreckhaften,  beständig  wechselnden  und  quälend  imperativen  Sinnes- 
täuschungen, theils  in  verwirrten  Reproductionen,  oft  auch  in  zäher  Fest- 
baltung  einzelner,  barocker  Einfalls- Worte  (z.  B.  Butterfass).    Unter  den 
dämonoraanen  Inhalt  mischt  sich  nicht  selten  auch  ein  lasciver,  erotischer; 
anderemale  ein  religiöser.   Oft  stellen  sich  choreatische  Gesichtsverzerrun- 
gen, Grimassirungen  ein.  Die  tiefe  Bewußtseinsstörung  bleibt,  ebenso  auch 
das  kaleidoskopisch  wechselnde  Spiel  von  deliranten  und  lichtem  Episoden. 
In  den  schwersten  Fällen  werden  in  dem  tobsüchtigen  Reactionszustand  die 
höchsten  Grade  des  Furors  erreicht:  sinnloses  Zerstören,  Schmieren,  Kopro- 
phagie,  vollständige  Verwirrung,  mit  selbstgemachten  sinnlosen  Worten 
oder  nach  zufälligen  Assonanzen.    Unter  allmählichem  Zurücktreten  fast 
aller  bewussten  Vorgänge  geben  sich   die  Kranken  einem  kindischen 
Spiele,  und  den  barocksten  Verkehrtheiten  aus  den  unklarsten  Motiven 
hin:  sie  verstopfen  sich  Ohren  und  Nasenlöcher  „damit  der  Wind  nicht 
hindurchblase",  ziehen  sich  nackt  aus,  wollen  Alles  (das  Hemd  vom  Leibe) 
an  Andere  verschenken,  starren  stundenlang  gegen  die  Wand,  sehen  lange 
Zeit  in  die  offene  Sonne,  arbeiten  mit  verschlossenen  Augen,  sägen  den 
Holzbock  zusammen,  onaniren  schamlos  u.  s.  w.    Die  Körperernährung 
sinkt;  oft  intercurirt  Polyphagie  und  Polydipsie,  Hyperidrosis.  Nach  und 
nach  kommt  mehr  Ruhe  und  langsam  aufdämmernde  Klarheit.  Aber  die 
Angst  erhält  sich,  oft  in  einem  Grade,  dass  beim  Anblick  einer  als  feind- 
selig verkannten  Person  convulsive  Reactionen  entstehen.    Ebenso  hart- 
näckig bleibt  die  illusorische  Auffassung  der  Umgebung,  welche  von  den 
Kranken  selbst  nach  raonatelangem  Aufenthalt  noch  nicht  erkannt  wird. 
Manchmal  folgt  jetzt  ein  vielwöchentliches  Stadium  der  Hirnerschöpfung 
nach,  in  welchem  sie  unthätig  herumsitzen,  zu  Allem  angehalten  werden 
müssen.   Wiederholt  noch  ballen  sich  die  verschiedenen  psychischen  Ele- 
mente zu  einem  ausgesprochenen  dämonoraanen  Wahne  zusammen;  aber 
allmählich  ohne  die  frühere  Stupidität.  —  In  andern  Fällen  dauert  über 
dieses  Stadium  eine  körperliche  und  geistige  Unbehaglichkeit  und  Empfind- 
lichkeit fort,  welche  durch  die  unschuldigsten  Eindrücke  oft  aufs  Unan- 
genehmste berührt  wird,  und  bei  directem  Widerspruche  stundenlange 
Zornparoxysmen  mit  sofortigem  Rückfall  in  die  hallucinatorische  und  illu- 
sorische Verwirrtheit  hervorruft.    Die  Kranken  laufen  plötzlich  wieder 
unruhig  hin  und  her ,  halten  sich  von  ihren  „dämonischen  Verfolgern" 
in  abgemessener  Ferne,  stehen  auch  dem  Arzte  nicht  Rede  u.  s.  w.  Bei 
Frauen  bezeichnen  die  wieder  eintretenden  Menses  jeweilige  Etappen  zur 
Besserung.   Aber  diese  zieht  sich  in  der  Regel  lange  hinaus.    Hin  und 
wieder  muss  sich  die  Kranke  förmlich  zur  richtigen  Orientirung  zurück- 
erziehen,  oft  durch  unablässigen  Fragezwang  und  Verificationsbestrebungen. 
Mit  vieler  Mühe  und  meistens  erst  durch  ein  nochmaliges  aufgeregtes 
Schwächestadium  hindurch  (Disputirsucht,  albernes  Gefasel,  stupider  Trotz) 
arbeitet  sich  allmählich  ein  feststehender  Vorstellungskern  und  damit  be- 
ginnende Orientirung  heraus.  Manche  Kranke  müssen  jetzt  ihr  „Ich"  erst 


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190 


Der  acute  Wahnsinn. 


wiederfinden,  und  sprechen  erst  noch  einige  Zeit  per  „Du"  von  sich;  die 
Stimmung  bleibt  noch  lange  kleinmtithig,  weinerlich,  ängstlich,  verlegen, 
unsicher;  die  Haltung  schwach,  albern,  kindisch  und  wiederum  apathisch; 
im  Benehmen  wechseln  Gereiztheit,  grillenhafte  Laune  mit  planlosen  stür- 
mischen Bestrebungen.  Oft  erfolgt  die  volle  Aufklärung  mit  Krankheits- 
einsicht erst  nach  der  Entlassung  und  zu  Hause.  —  Statt  dieses  protra- 
hirten  Uebergangsstadiums  mit  Schwäche  und  zornmüthiger  Reizbarkeit 
führt  auch  manchmal  ein  Zustand  religiöser  Expansion  mit  Bekehrungs- 
drang zur  letzten  Stufe  der  Reconvalescenz. 

Die  letztere  ist  stets  durch  Hebung  der  tiefen  Anämie,  Zunahme  der 
Körperernährung,  oft  in  einer  den  früheren  Stand  weit  Uberschreitenden 
Weise  gekennzeichnet.  —  Die  Recidivfähigkeit  ist  zumal  bei  Fortdauer 
schwächender  Einflüsse  (sexuellem  Abusus,  Masturbation,  Menstruatio 
nimia)  eine  relativ  grosse.  Bei  ungünstigem  Verlaufe  bleibt  ein  chroni- 
scher Secundärzustand  mit  Hallucinationen  zurück,  zugleich  mit  Nachlass 
oder  Abschwächnng  des  emotiven  Elementes  und  nicht  selten  mit  be- 
schränkter theilweiser  Erholung.  —  In  schweren  Fällen  kann  aber  auch  die 
dämonomanische  Unruhe  und  Angst  auf  Jahre  hinaus  chronisch  werden, 
und  der  Kranke  Tag  um  Tag  und  Nacht  um  Nacht  seine  Schreie,  sein 
rastloses  (schliesslich  automatisches)  Gebahren,  seine  Abwehr  gegen  die 
Stimmen,  seine  Proteste,  oder  auch  seine  Verwünschungen  gegen  sich 
wiederholen,  mit  dem  immer  gebieterischem  Drange  den  „Teufel",  mit 
welchem  er  sich  längst  identificirt  hat,  auf  alle  Weise  zu  schädigen. 
—  Ein  weiterer  Ausgang  endlich  ist  ein  nachfolgender,  progressiver  und 
schliesslich  apathischer  Blödsinn.  Derselbe  kann  sich  direct  an  das 
acute  Wahnsinnsstadium  anschliessen ;  dies  namentlich  dann,  wenn  letzte- 
res mit  starken  Fluxionen  und  heftiger  reactiver  Mania  (gravis)  verlaufen 
war.  Dieser  Blödsinn  besteht  symptomatologisch  nicht  in  einer  einfachen 
Abschwächung  der  Geistesfunctionen ,  sondern  in  vorwiegender  Stupi- 
dität, welche  an  Hirndruck  (vielleicht  Hirnödem?)  denken  lässt.  Der 
früher  ängstlich  unruhige  Kranke  steht  jetzt  in  zusammengebrochener 
Haltung  unverrückt  in  der  Ecke,  den  Kopf  auf  die  Brust  gesenkt  (manch- 
mal so  stark,  dass  die  gezerrten  Nackenmuskeln  sich  entzünden,  und  die 
Beuger  des  Halses  sich  verkürzen);  er  nimmt  keine  Notiz  mehr  von  den 
Vorgängen  um  ihn,  antwortet  nicht,  oder  nur  mit  einer  stummen  Thräne ; 
bei  stärkerem  Drängen  bricht  er  in  einige  kurze  und  unleidige  Bemer- 
kungen aus  (im  Sinne  seines  melancholischen  Verfolgungswahnes):  dass 
alle  an  ihm  plagten,  dass  doch  nichts  recht  sei,  was  er  thue.  Jeder  wolle 
es  anders  haben,  er  komme  nicht  mehr  daraus,  es  heisse  immer,  er  sei 
ein  Teufel  und  solle  umgebracht  werden  u.  s.  w.  Dabei  wird  die  Nega- 
tion immer  grösser ;  so  kann  der  Kranke  im  Attonität  übergehen.  Nicht 
selten  wirkt  eine  zu  dieser  Zeit  energisch  eingeleitete  Therapie  (wieder- 
holt schon  die  Einreibung  des  Schädels  mit  Tart.  stib.)  in  dieser  Phase 
günstig:  der  Kranke  wird  darnach  regsamer,  mittheilender,  lenksamer. 
Er  hält  zwar  an  seiner  „Besessenheit"  fest,  (welche  sich  noch  lange  in 
allerlei  Paralgieen  und  Parästhesieen  in  seinem  Körper  fixirt),  arbeitet 
sich  aber  nach  und  nach  zu  einer  grösseren  Klarheit  hindurch.  Bei  un- 
günstigem Verlaufe  wird  aber  die  Stupidität  chronisch  mit  blinder  Nega- 
tion gegen  jede  Annäherung  Dritter,  so  dass  oft  bei  harmlosestem  Anlasa 


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Acuter  manischer  Wahnsinn. 


eine  verzweifelte  reflectorische  Abwehr  erfolgt.  Endlich  tritt  Indifferenz 
und  zunehmende  Passivität  ein,  so  dass  der  Kranke  auf  Jahre  hinaus  wie 
ein  Kind  gepflegt  werden  muss.  Diese  Endstadien  fallen  vielfach  mit 
denen  aus  der  acuten  hallucinatorischen  Dementia  (s.  d.)  zusammen. 

Dritte  Untergruppe. 

Der  acute  manische  Wahnsinn.  Acute  Entstehung,  theils  aus  dem 
gesunden  Leben  heraus  (bei  erblich  sehr  Disponirten,  nach  einem 
tiefen  Affecte),  theils  nach  einem  längern  oder  kürzern  Status  ner- 
vosus,  meist  mit  nur  vager,  seltener  mit  ausgesprochen  depressiver 
Stimmung  (s.  u.).  Geschwächte  Körperconstitution  mit  Anämie,  be- 
sonders auf  hysterischer  (onanistischer)  Grundlage  disponiren.  Frauen 
wiegen  vor  (Menses,  Puerperium).  Sofort  im  Krankheitsbeginn  zahl- 
reiche Hailucinationen  mit  entsprechender  Bewusstseinsverdunkelung; 
dann  rasch  zunehmende  Unruhe  bis  zur  Jactation  und  Verwirrung, 
unterbrochen  durch  lucide  Phasen.  Keine  heitere  Verstimmung;  Ge- 
rn Uthslage  im  Gegentheil  indifferent,  im  Einzelnen  durch  plötzliche 
Antriebe  oder  den  Inhalt  zufälliger  Hailucinationen  bestimmt,  wie 
diese  flüchtig  und  wechselnd.  Incohärenz  der  sprachlichen  Aeusse- 
rungen,  Vorherrschen  der  Assonanzen  vor  der  logischen  Association. 
Lückenhafte  und  summarische  Erinnerung.  Acuter  oder  subacuter 
Verlauf  in  Genesung;  oft  rasch,  und  zwar  direct  oder  nach  inter- 
currenten  körperlichen  Affectionen  (Furunculosis ,  Menses);  seltener 
langsam  durch  ein  Zwischenstadium  von  einfacher  oder  complicirter 
geistiger  Schwäche  hindurch.  Mit  der  Reconvalescenz  Zunahme  der 
Körperernährung,  Regulirung  der  vorhanden  gewesenen  körperlichen 
FunctionsstöruDgen  (Menses).  Ausgleich  der  vasomotorischen  Symptome. 
Neigung  zu  Recidiven,  bei  gewissen  Formen  zu  unregelmässiger  Pe- 
riodicität. 

Das  Prodromalstadium  wird  nicht  selten  1.  von  einem  einfachen 
Status  nervosus  gebildet.  Anderemale  2.  geht  eine  kurze  manische  Er- 
regung mit  massiger  Ideenflucht,  hochdeutscher  Sprache,  grosser  Begehr- 
lichkeit und  Geschäftigkeit  voraus.  Bei  wieder  anderen  Kranken  3.  leitet 
eine  acute  Rathlosigkeit  mit  hypochondrischer  Unruhe  die  Scene  ein: 
grosse  Mattigkeit,  Abgeschlagenheit,  „Wuseln"  und  Zucken  in  den  Augen, 
Stechen  im  Kopfe,  innerliches  Frösteln,  plötzliche  Stösse  in  den  Armen, 
Furcht,  dass  das  Blut  vergiftet,  dass  fremde  Substanzen  dem  Körper  bei- 
gemischt seien  u.  s.  w.  Jetzt  brechen  massenhafte  Hailucinationen  ein 
und  fahren  rasch  einen  Strudel  der  Verwirrung  herbei. 

Der  Kranke  steht  fast  plötzlich  mitten  in  einer  Traumwelt,  verkennt 
die  Umgebung,  äussert  nur  noch  verwirrte  Worte  oder  Angst,  dass  er 
selber  oder  ein  Angehöriger  sterben  müsse  u.  s.  w.  Die  Unruhe  steigert 
sieb,  es  kommen  herrische  Rufe  oder  Scheltreden.  Der  Kranke  ist  in 
einer  Stunde  träumerisch  heiter,  in  den  andern  gereizt,  dann  wieder 


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192 


Der  acute  Wahnsinn. 


schläfrig,  befangen  oder  indolent.  Die  Mimik  und  Geberden  stellen  ein 
Kaleidoskop  von  choreiformen  Bewegungen  und  fragmentaren  Acten  dar. 
Zerfahren  und  jeden  Augenblick  neu,  sind  die  motorischen  Aeusserungen 
wahre  Minutenacte,  inscenirt  durch  die  beständig  abwechselnden  Hallu- 
cinationen  und  Gefühle  (Staubempfindungen  auf  der  Haut),  durch  plötz- 
liche Antriebe,  auch  Raptus  von  blinder  Heftigkeit.  Dazwischen  treten 
Episoden  eines  sinnvolleren  Gebahrens:  der  Kranke  ergeht  sich  in  ero- 
tischen oder  religiösen  (Cultus-)  Geberden  und  Stellungen,  nimmt  auch 
Grandezzahaltung  an,  schlingt  und  knüpft  seine  Kleider  zu  immer  neuen 
Phantasiecostümen ;  aber  Alles  in  überstürzter  Hast  und  Flüchtigkeit,  in 
momentan  aufblitzenden  Einfällen.  Das  Bewusstsein  ist  benommen;  oft 
bis  zum  Perceptionsabscbloss  und  zur  Worttaubheit  verdunkelt.  Zeitweise 
sind  die  Kranken  stupid,  wie  betrunken;  sie  rennen  an  Hindernisse  an, 
ohne  sie  zu  bemerken;  dann  aber  treten  auch  wieder  —  und  oft  in 
jähem  Umschlag  —  lucidere  Phasen  auf,  in  welchen  der  Kranke  näher 
gelegene  Fragen  zu  percipiren  und  richtig  zu  beantworten  vermag,  die 
Umgebung  wahrnimmt  und  auch  geordneter  sich  verhält.  Den  wechseln- 
den Graden  der  Bewusstheit  entsprechend  sind  die  sprachlichen  Aeusse- 
rungen bald  abrupte,  monoton  ausgerufene  Worte,  bald  sinnlose  Assonanzen, 
vorübergehend  auch  Reminiscenzen,  Lieder  oder  selbsterfundene  Einfalls- 
conceptionen,  welche  gesungen  oder  pathetisch  declamirt  werden;  dazwi- 
schen aber  auch  kurze  lucide  Sätze. 

Mit  zunehmender  Bewusstseinsstörung  kann  die  Qualität  der  moto- 
rischen Bewegungen  bis  zur  Reflexstufe  sinken  und  das  Symptomenbiid 
dem  Typus  der  Mania  gravis  sich  nähern.  Jetzt  tritt  ein  ruheloses  Ver- 
stellen der  Zimmergegenstände  ein,  ein  Aus-  und  Anziehen  der  Kleider, 
in  höhern  Graden  ein  rücksichtsloses  Zerstören,  Schmieren  u.  8.  w.  Sehr 
oft  gehen  Congestivzustände  nach  dem  Kopfe,  Erhöhung  der  Kopf-  und 
Körpertemperatur,  Enge  der  Pupillen,  manchmal  Zittern  und  einseitige 
Deviation  der  Zunge,  Aftergeräusche  am  Herzen  mit  einher. 

Die  Reconvalescenz  erfolgt  oft  1.  auffallend  rasch  nach  1 — 2  Wochen 
(manchmal  wirkt  auch  hier  ein  Gastricismus  kritisch),  ist  aber  durch 
grosse  Neigung  zu  Recidiven  gefährdet  und  unterbrochen.  Diese  Fälle 
acuten  exaltirten  Wahnsinns  sind  dadurch  die  hauptsächlichsten  Vertreter 
der  „remittirenden"  Manieen.  Nicht  selten  erfolgen  mehrfache  Recidiven 
Schlag  auf  Schlag.  Die  Zwischenzeit  ist  durch  ein  ruhiges  Erschöpfungs- 
stadium mit  Torpor  und  Indolenz  (peinliche  Träume)  gekennzeichnet.  — 
Andremale  2.  wird  die  Genesung  erst  durch  eine  längere  Uebergangs- 
periode  von  geistiger  Schwäche  mit  kindischem  Wesen  und  grösserer 
Reizbarkeit  (Moria),  oder  aber  einem  Zustand  völliger  Unorientirtheit  und 
Rathlosigkeit  erreicht.  Der  befangene  Kranke  mit  dem  staunenden  Ge- 
sichtsausdruck und  dem  halb  schüchternen  Wesen  gleicht  erst  noch  einem 
„vom  Himmel  Gefallenen'',  wie  der  Volksmund  sagt.  Bald  verlegen,  bald 
ohne  Grund  auffahrend,  bald  sich  zurückziehend,  bald  trotzig  die  Stirne 
bietend,  ist  er  lange  Zeit  ganz  unberechenbar,  macht  sinnlose  Bemer- 
kungen, zittert  vor  Angst,  oder  macht  plötzlich  sonderbare  SprUnge  und 
Gesten,  ist  in  einer  Minute  unterthänig  und  zudringlich,  in  der  nächsten 
drohend  und  abstossend.  Führt  die  Moria  nicht  direct  in  die  Genesung, 
so  kann  sich  noch  eine  torpide  Depressionsphase  mit  Versündigungswahn 


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Acuter  manischer  Wahnsinn.  —  Therapie. 


nnd  gewaltthätigen  Impulsen  einschieben,  welche,  wie  jene,  nur  sehr 
langsam  in  der  Reconvalescenz  abklingt.  —  Die  Erinnerung  ist  hier 
stets  defect,  oft  nur  summarisch;  manchmal  ist  sie  ganz  gefälscht  und 
bleibt  so  bis  tief  in  die  Genesung  hinein,  wo  dann  erst  Correctur  statt- 
findet. Bis  dahin  wird  die  Lücke  durch  allerhand  Reminiscenzen  aus  der 
Traumzeit  ausgefüllt,  halb  wirklich,  halb  mehr  aber  erdichtet,  oft  mit 
gänzlicher  Verdrehung  der  damals  halbwach  gemachten  Wahrnehmungen. 
In  andern  Fällen  endlich  werden  aus  der  Traumzeit  lange  romanhafte 
nnd  phantastische  Erlebnisse  erzählt:  riesige  Kämpfe  mit  Schlachten- 
donner und  grässlichem  Blutbad,  Reisen  in  andere  Himmelskörper,  Ver- 
wandlungen u.  8.  w.  oft  mit  eigenthümlichen  Verwebungen  aus  der  illu- 
sorisch aufgefaßten  Umgebung  (Uebergänge  zum  hallucinatorischen 
Stupor).  — 

Ausser  diesen  in  der  Regel  auf  wenige  Wochen  beschränkten  Formen 
gibt  es  aber  auch  länger  dauernde,  welche  auf  mehrere  Monate 
sich  erstrecken  können.  Hysterische  Constitution  disponirt;  die  typischen 
Symptome  sind:  acute  Entstehung;  rasche  tiefe  BewusstseinsstÖrung  mit 
wechselnder  Lucidität;  illusorische  Verkennung  der  Umgebung,  gänzliches 
Aufgehen  in  Antriebe  und  Einfälle  (Hallucinationen  sind  oft  spärlich); 
grillenhafte,  flüchtige  Stimmungslagen;  perverser  Bewegungsdrang  (Schmie- 
ren, Zerreissen  u.  s.  w.)  neben  Neigung  zu  Schabernak  und  albernem 
Komödienspiel;  phantastische  Aufschneidereien,  romantischer  Minuten- 
Grössenwahn  in  allen  Registern  umspringend;  grosse  Reizbarkeit,  ab- 
wechselnd mit  farblosen  Stimmungsphasen.  Regelloser  abrupter  Verlauf 
zwischen  Aufregungen  und  Abspannungen  in  allen  Graden  der  Lucidität 
schwankend.  Längeres  Uebergangsstadium  von  reizbarer  Schwäche,  oft 
plötzlich  aufblitzende  Grössen-  und  Verfolgungsideen.  Vasomotorische 
Störungen,  intercurrente  Fluxionen,  Anämie.  Allmähliche  Genesung  unter 
vielfachen  (immer  schwächern)  Recidiven. 

Therapie. 

Der  acute  Wahnsinn  richtet  sich  in  seinen  therapeutischen  Indi- 
cationen  ganz  nach  den  für  die  acut  manischen,  melancholischen, 
dementen  (acute  Erschöpfungs)  Zustände  gültigen  Regeln.  Dabei  ist 
der  Thatsache,  dass  hier  sehr  häufig  körperliche  Ausgangspunkte 
resp.  Begleitaffectionen  vorhanden  sind,  entsprechend  Rechnuug  zu 
tragen;  so  sind  namentlich  acute  gastrische  Zustände,  Menstrualstö- 
rungen,  Uterinleiden,  acute  Anämieen  als  wesentliche  Indicationen 
zu  berücksichtigen.  In  der  Regel  ist  die  Versetzung  in  die  Anstalt 
nicht  zu  umgehen;  sie  ist  um  so  wirksamer,  je  früher  sie  erfolgt 
In  der  Anstalt  ist  die  richtige  Vertheilung  zwischen  Isolirung  und 
Aufenthalt  in  Gemeinschaft  der  Andern  eine  wichtige  tägliche  Auf- 
gabe für  den  Arzt.  Grundlage  für  die  Entscheidung  muss  die  Er- 
keontniss  bilden,  dass  man  es  in  allen  diesen  Zuständen  mit  er- 
schöpften Gehirnen  zu  thun  hat,  welche  der  Ruhe  und  der  sorg- 
samsten Abbaltuug  aller  Reize  bedürfen  —  in  erhöhterm  Grade  noch 

SchflU,  Geisteskrankheiten.   X  Aal  13 


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im 


Der  acute  Walinsini). 


als  die  einfach  manischen  Kranken.   Bald  schadet  die  fortgesetzte 
Isolirung,  bald  reizt  den  in  illusorischen  Verkennungen  befangenen 
Kranken  die  noch  so  harmlose  Umgebung:  hier  muss  von  Stunde 
zu  Stunde  neu  entschieden  werden.  Sobald  es  geht,  suche  man  den 
Kranken  zu  einer  leichten,  nur  seine  Aufmerksamkeit  leitenden  Be- 
schäftigung zu  gewinnen,  aber  stets  mit  Maass!  Jede  leise  Ermüdung 
kann  rächen!   Die  launenhafte  Empfindlichkeit  des  Kranken  erfor- 
dert Berücksichtigung  in  Form  eines  zielbewussten  Nachgebens; 
Widerspruch  erbittert.  Psychische  Correcturversuche  verschiebe  man, 
bis  das  Gehirn  des  Kranken  mit  dessen  sichtlich  gehobener  Ernäh- 
rung genügend  erstarkt  ist.  Solange  im  acuten  Stadium  die  Illusionen 
fortdauern,  sei  man  mit  Berührungen  der  Aussen  weit  (Briefe,  Be- 
suche) höchst  vorsichtig.   Ist  dagegen  die  Körperernährung  wieder 
zur  Norm  hergestellt  und  der  Kranke  zu  einer  genügenden  geistigen 
Klarheit  und  Selbstflihrung  gefördert,  so  dass  im  orientirten  Bewusst- 
sein  nur  noch  die  alten  Reste  des  einstigen  Wahnspucks  uncorrigirt 
fortbestehen,  dann  versuche  man  die  Entlassung  in  passende  Aussen- 
Verhältnisse;  in  der  Regel  vollzieht  jetzt  die  Wirklichkeit  den  letzten 
Schritt  zur  Aufklärung  und  Genesung.    Somatisch  ist  ausser 
etwaigen  Special-Indicationen  die  Hebung  der  Kräfte  Hauptindication 
(Diät,  Schlaf,  Bäder,  milde  Hydrotherapie).  Bei  geschwächtem,  vor- 
zugsweise durch  anhaltende  Reizbarkeit  sich  äusserndem  Hirnleben, 
wirken  fortgesetzte  kleine  oder  mittlere  Opiumgaben  oft  vortrefflich 
tonisirend.  —  Prognostisch  halte  man  stets  die  leichte  Möglichkeit 
der  Recidive  und  das  häufige  Auftreten  in  einer  Serie  kurzdauernder 
Anfälle  im  Auge.   Bei  Frauen  verdient  das  Verhalten  der  Menses 
sorgsamste  Berücksichtigung. 

Der  attonische  Wahnsinn  (die  Katatonie)  stellt  der  Behand- 
lung im  Wesentlichen  dieselben  Indicationen ;  spcciell  der  stupuröse 
Zustand  und  die  katatone  Dementia  verlangen  die  sorgsamste  robo- 
rirende  Behandlung  wie  bei  der  acuten  Dementia.  Bilden  doch  mit 
dieser  letztern  die  genannten  Phasen  die  klinischen  Haupttypen  für 
Hirnanämie,  wahrscheinlich  mit  consecutivem  Oedem.  Daher  Bett- 
lage, Wein,  ev.  baldige  Sondenfütterung.  Alle  directen  Kopfreize, 
wie  Douchen  oder  Ableitungen  mit  Tart.  stib.  Salbe,  sind  im  An- 
fange sorgfältig  zu  meiden.  Dagegen  beachte  man  die  zeitweiligen 
vasomotorischen  Fluxionen,  ev.  massige  dieselben  mit  Eisumschlägen. 
Im  katatonen  Blödsinn,  welcher  sich  oft  wochen-  und  monatelang 
hinauszieht,  sind  wiederum  kleine  oder  mittlere  Opiumgaben  oft  von 
unschätzbarer  tonisirender  Wirkung.  Daneben  sorgsame  Ueber- 
wachung  des  Kranken  gegen  Selbstbeschädigung  und  individualisi- 


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Der  attonischo  Wahnsinn 


—  die  Katatonie. 


195 


rende  psychische  Therapie.  Auch  hier  ist  nicht  selten  langsame 
Neuerziehung  nöthig.  Die  Bekämpfung  der  vasomotorischen  Paresen 
wird  durch  faradische  Pinselung,  lauwarme  Bäder,  häufige  Hand- 
bäder, wirksam  unterstutzt.  Selbstverständlich  ist  dieser  umfassende, 
nach  den  wechselnden  Zustandphasen  immer  wieder  zu  modificirende 
Heilapparat  nur  in  einer  Anstalt  zu  entfalten.  Bei  secundärem  ka- 
tatonen  Blödsinn  vorsichtige,  nach  Bedarf  wiederholte  Kopfdouchen. 


Der  attonische  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 

Literatur.  Kahl  bäum,  Die  Katatonie.  Monogr.  1874.  —  Rust,  Katatonie. 
Inang.-Di88. 1879.  —  Kiernan,  AI.  a.  Neurol.  18*2.  —  Derselbe,  Detr.  Lancet. 
tS94.  —  Jensen,  Alle.  Encycl.  d.  Wiss.  u.  Künste  (Ersen  u.  Gruber)  2.  Serie,  Bd.  24. 
—  Hammond,  Am.  J.  of  neur.  a.  psych.  18S3. 

Die  Katatonie  ist  eine  specielle  Erscheinungsform  des  acuten 
hallucinatorischen  Wahnsinns  und  dadurch  gekennzeichnet,  dass  als 
wesentliches  Krankheitselement  eine  motorische  Spannungsneurose 
sich  einstellt,  bald  anhaltend,  bald  fluchtig  intermittirend,  während  zu- 
gleich das  Bewusstsein  durch  Hallucinationen  und  Illusionen  Uberfüllt, 
sich  vor  den  Perceptionen  von  aussen  mehr  oder  minder  vollständig 
abschliesst.  Die  motorische  Starre  kann  noch  einen  physiognomischen 
Charakter  beibehalten,  und  als  solche  einen  „plastisch  gewordenen" 
Wahngedanken  darstellen  (Fecht-,  Prediger-,  Kreuzigungs- Attitüde), 
oder  aber  eine  rein  „organische"  sein,  ohne  geistige  Formung  (kata- 
leptisch  oder  tetanoid).  Der  psychische  Zustand  kann  dem  entspre- 
chend entweder  inhaltlich  auf  der  Traumstufe  des  acuten  Wahnsinns 
bleiben,  oder  aber  auf  die  des  wirklichen  temporären  Blödsinns 
(Stupors)  herabsinken.  Aus  beiden  Phasen  ist  vollständige  geistige 
Erholung  möglich,  in  letzterem  Falle  durch  einen  eigenartigen 
Schwächezustand  mit  zeitweiligen  katatonen  Reminiscenzen  hindurch. 
Der  Verlauf  ist  stets  ein  cyklischer,  von  bedeutender  Betheiligung 
des  vasomotorischen  Systems  begleitet  (eine  echte  Psychoneurose) ;  er 
geht  durch  wechselnde  Aufregungs-,  Depressions-,  Starrheitszustände 
hindurch,  welche  in  ihrer  physiologischen  Verknüpfung  und  Folge 
(wie  es  scheint)  an  den  Verlaufsgang  der  vasomotorischen  Neurose 
gebunden  sind.  Der  Ausgang  ist  Genesung  oder  bleibende  (eigen- 
artige) Geistesschwäche.  —  Klinisch  lassen  sich  die  verschiedenen 
Typen  der  Katatonie  am  einfachsten  nach  der  grundliegenden  Wahn- 

13* 


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190 


Der  attonische  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 


sinnsform  sondern.  Ich  unterscheide  demnach  eine  expansive  und 
eine  depressive  Katatonie  (religiösen  oder  dämonomanen  Inhalts),  an 
welche  sich  noch  eine  dritte  Gruppe  mit  grundliegendem  hysteri- 
schem Charakter  anschliesst. 

Die  letztere,  eine  sehr  hänßge  Verlaufsform  des  hysterischen  Wahn- 
sinns, ist  in  der  Regel  durch  ein  manisches  Aufregungsstadium  eingeleitet. 
Körperlicherseits  handelt  es  sich  immer  um  invalide  (angeborene  oder 
erworbene)  Constitutionen,  meistens  mit  mehr  minder  ausgeprägter  Anämie; 
eine  ausserordentlich  wichtige  Rolle  spielt  ätiologisch  die  Onanie.  Jüngere 
Individuen  sind  mehr  disponirt  als  ältere;  schon  die  Pubertätszeit  liefert 
ein  ansehnliches  Contingent.  Das  weibliche  Geschlecht  Uberwiegt  in  der 
Zahl  der  Erkrankungen. 

Erste  Untergruppe. 

Religiös-expansive  Form.  Den  Anfang  der  Krankheit  bildet  ent- 
weder direct  ein  acuter  religiöser  Wahnsinn,  oder  es  geht  erst  eine 
hypochondrische  Phase  voraus,  mit  grossem  Klagenreichthum ,  zeit- 
weiliger Aengstlichkeit,  Unruhe,  Selbstvorwürfen.  Der  Kranke  wird 
in  der  Folge  stiller,  wortkarg,  zieht  sich  zurück,  widmet  sich  Tage 
und  Nächte  lang  der  Kastei ung  und  endloser  Gebetübung.  In  mono- 
toner Wiederholung  werden  dieselben  Bibelworte  oder  Verse  aus- 
gesprochen, bald  in  abweisendem,  strafendem  Tone  gegen  die  Um- 
gebung, bald  prophetisch  predigend;  bei  Einsprache  erfolgt  sofort 
die  pathetische  Berufung  auf  die  höhere  Mission,  welche  dem  Kranken 
verliehen  ist.  Schon  jetzt  zeigt  manchmal  der  mimische  Aasdruck 
eine  auffallende  Härte  und  zeitweilige  Starrheit  der  Züge  —  der 
vorausgeworfene  Schatten  des  spätem  Acme-Zustandes.  Oft  liegt 
der  Kranke  auf  Stunden  unbeweglich,  ohne  zu  reden  oder  zu  essen, 
im  Bette;  beim  Erwachen  beginnen  Verwünschungen  gegen  die  sünd- 
hafte Umgebung,  oder  monotone  Recitationen  frommer  Sprüche. 
Dazwischen  stellen  sich  zeitweilige  Congestivzustände  zum  Kopfe 
ein  (abwechselnd  mit  Blässe  des  Aussehens,  kleinerem  ungleichen 
Pulse) ;  dabei  starke  Schweisse  und  zunehmende  gastrische  Symptome. 
Der  psychische  Zustand  bewegt  sich  immer  mehr  in  jähen  Sprüngen 
zwischen  exaltirter  Heiterkeit  mit  verworrenem  Declamiren  und 
Singen,  und  andrerseits  einer  angstvollen  Unruhe.  Oft  folgen  sich, 
in  flüchtigem  Wechsel,  Anfälle  von  Starrheit,  Angst  und  Exaltation. 
Vorübergehend  innervirt  der  religiöse  Wahngedanke  den  gesammten 
mimischen  Ausdruck :  der  Kranke  liegt  stundenlang  mit  ausgebreiteten 
Armen  da  und  bedeutet  nachher,  dass  er  die  Kreuzigung  habe  be- 
stehen müssen,  und  Christus  jetzt  gleich  sei.  Episoden  von  gestei- 
gertem und  herabgedrücktem  Selbstgefühle  wechseln,  und  damit  die 


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Klinisches  Krankheitsbild.  Religiös-expansive  Form. 


197 


conträrsten  Geberden  und  Acte:  Hüpfen,  Springen,  stundenlanges 
Hinknieen,  absolute  Schweigsamkeit,  rasches  Auffahren  mit  impro- 
visirtem  Predigen.  Kein  Zuspruch  vermag  mehr  Eingang  zu  finden. 
Der  Kranke  geht  immer  mehr  in  einem  wahnhaften  Innenleben,  in 
dessen  Bann  nun  auch  Sinnestäuschungen  aller  Art  einrücken,  unter. 
Er  steht  plötzlich  in  kataleptischem  Zustande  da,  oder  bleibt  in 
irgend  einer  Attitüde  (nach  einem  himmlischen  Lichtbild  greifend) 
im  Bette  liegen;  jede  Berührung  vermehrt  die  Steifigkeit  der  moto- 
rischen Haltung.  Bei  der  Untersuchung  zeigen  sich  die  Muskeln  des 
Stammes  und  die  mimischen,  wie  aus  Holz  geschnittenen,  Züge  nicht 
in  ihrem  einfachen  Tonus,  sondern  in  mehr  oder  minder  hochgradiger 
Spannung,  wobei  an  den  Extremitäten  bald  die  Extensoren,  bald  die 
Flexoren  überwiegen.  Oft  wechselt  die  Starre  an  beiden  Muskel- 
groppen  im  Verlaufe  von  Stunden  ab ;  der  Kranke  ist  bald  steif  und 
ausgestreckt  wie  eine  Statue,  bald  in  den  Ellbogen  flectirt,  so  zwar, 
dass  der  Widerstand  schwer  zu  überwinden  ist,  und  bei  passiven 
Bewegungen  sich  fühlbar  erhöht  Die  Kiefer  sind  durch  Trismus 
geschlossen,  die  Lider  so  fest  auf  einander  gepresst,  dass  sie  oft 
ödematös  werden.  Andere  Male,  und  oft  wiederum  nur  im  Umfluss 
von  Stunden,  ja  selbst  ganz  unerwartet  rasch,  kann  die  bis  dahin 
hölzerne,  gespannte  Muskulatur  wieder  schlaff  sein:  das  Gesicht  be- 
kommt einen  maskenartigen  leeren  Ausdruck,  die  Arme  und  Hände 
bangen  herab,  und  sinken,  wenn  erhoben,  nach  dem  Gesetz  der 
Schwere  nieder.  Dazwischen  kehren  aber  die  plastischen  Attitüden 
immer  wieder,  so  dass  der  Kranke  plötzlich  wie  ein  lebendes  Bild  in  der 
oder  jener  geschraubten  Pose  fixirt  erscheint  —  in  Wirklichkeit  dem 
Bann  eines  neuen  oder  stereotypen  Wahngedankens  folgend,  welcher 
hemmungslos  in  die  Muskulatur  sieb  „einbildet".  Manchmal  entbehrt 
übrigens  die  Zwangshaltung  auch  eines  mimischen  Gepräges.  Die 
Pupillen  sind  in  der  Regel  erweitert. 

Die  Sensibilität  ist  in  den  höchsten  Graden  des  Status  attonitus  er- 
loschen, d.  h.  es  treten  äusserlich  keine  Reflexe  hervor;  subjectiv  ist  die- 
selbe aber  oft  noch  vorhanden  (s.  u.)  und  nur  durch  negative  Willens- 
erregungen im  Dienste  des  Wahnes  gehemmt.  Anderemale  fehlt  bei 
schwächern  Eingriffen  die  Reaction,  tritt  aber  bei  stärkeren  in  irgend 
einem  benachbarten  Nervengebiet  (z.  B.  Thränensecretion  bei  Nadelstichen 
um  die  Lippen»  hervor,  nicht  selten  auch  in  einer  motorischen  (oft  ziel- 
losen) Explosion.  Bemerkenswerth  ist,  dass  sehr  oft  der  Kranke  eine 
exaete  Erinnerung  an  diese  sensibeln  Prüfungen,  gegen  welche  er  ganz 
indolent  erschien ,  bewahrt.  Auf  Kitzeln  wird  in  der  Regel  prompter 
reagirt.  Die  circulatorischen  Verhältnisse  erfahren  in  der  Attonität  aus- 
nahmslos eine  wesentliche  Aenderung.  Nach  anfänglichen  Fluxionen  zum 
Kopfe  prägt  sich  zunehmend  eine  Vasoparese  aus,  mit  Kleinwerden  des 


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Der  attoniscbe  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 


Pulses,  peripherer  Cyanose,  und  Neigung  au  localen  Oedemen  (manchma 
Conjunctival-Ocdem).   Auch  in  dem  vasoparetischen  Stadium  tauscht  sich 
der  kleine  Puls  mit  zeitweise  vollem,  gespanntem.    Die  Ernährung  sinkt 
regelmässig.   Allermeist  ist  jetzt  künstliche  Nahrungszufuhr  nothwendig. 

Auf  der  Hübe  der  vollentwickelten  Krankheit  bleibt  das  Bewußt- 
sein oft  durch  Wochen  hindurch  annähernd  oder  ganz  auf  der  Traum- 
stufe mit  entsprechendem  Abschluss  der  Aussen -Perception.  Um  so 
reicher  entfaltet  sich  ein  hallucinatorisches  Innenleben  (Stimmen  von 
Gott,  Gesichte) ;  doch  können  auch  einzelne  dämmerhafte,  meist  illu- 
sorisch umdeutete  Wahrnehmungen  sich  einmischen.  Zeitweilig  sogar 
überrascht  plötzlich  eine  ganz  richtige  Perception  mit  planvoll  be- 
messener Entäusserung.  Alle  Phasen  der  Bewusstheit  spielen  in  ein- 
ander, wenn  auch  die  traumartig  gebundene  die  maassgebende  bleibt. 

So  kann  der  Kranke  bald  apathisch  daliegen ,  bald  umspielt  ihn  ein 
Lächeln,  oder  er  macht  irgend  eine  unerwartete  Geberde:  das  Auge  be- 
lebt sich,  der  Mund  öffnet  sich  zu  einem  religiösen  Spruch;  plötzlich 
tritt  ein  verblüffender  Ausruf  hervor.  In  gleicher  Weise  bleiben  sensible 
ftusserliche  Reize,  oder  auch  eindringliche  Fragen,  oft  lange  unbeantwortet; 
plötzlich  ftber,  zu  einer  andern  Stunde,  kann  ein  zufallig  gesprochenes 
Wort  in  dem  scheinbar  ganz  benommenen  Kranken  einen  Starm  heftig- 
ster Erregtheit,  ja  selbst  schlagender  Ironie,  hervorrufen. 

Der  Kranke  muss  in  diesem  motorischen  Spannungszustande 
allermeist  im  Bett  gehalten  werden,  wo  er  halb  sitzt,  oder  in  allerlei 
verzwickten  Stellungen,  oft  mit  peinlich  verschränkten  rechtwinklig 
gebeugten  Beinen  verharrt.  Hebt  man  ihn  aus  dem  Bette,  so  bleibt 
die  ganze  Körpermasse  in  der  eingehaltenen  Starre;  der  Kranke 
hilft  selbst  nicht  mit;  die  motorische  Spannung  verstärkt  sich  beim 
Anfassen  oder  dem  Versuch  einer  passiven  Bewegung.  Dabei  an- 
haltender Mutacismus.  Dagegen  löst  sich  auch  jetzt  die  Starre 
immer  wieder  episodisch  von  selbst,  und  kehrt  auch  spontan  wieder. 
Interessant  ist,  dass  aufgenöthigte  Attitüden  (z.  B.  das  Falten  der 
Hände  zum  Gebet)  dem  (wie  bypnotisirten)  Kranken  sofort  die  zuge- 
hörige Stimmung  beibringen:  der  bis  dahin  Schweigende  recitirt  jetzt 
plötzlich  einen  Bibelspruch  u.  8.  w.  Doch  gelingt  das  Experiment  nicht 
immer,  was  wohl  mit  der  wechselnden  Bewusstheit  zusammenhängt. 
Letztere  verbleibt  in  ihren  Oscillationen  auf  den  verschiedensten 
Helligkeitsstufen;  sie  kann  oft  künstlich  durch  Einwirkung  von 
aussen  zu  höherer  Intensität  belebt  werden.  So  lässt  sich  der 
regungslos  daliegende  Kranke  erst  leicht  zur  Hälfte  Uber  den  Bett- 
rand schieben;  jetzt  aber,  halb  im  Freien  schwebend,  beginnt  er 
sofort  mit  sichtlich  activem  Aufgebot  von  Muskelkraft  zu  äquilibriren ; 
versagt  letztere  nach  und  nach,  so  fällt  die  starre  Körpersäule  nicht 


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Klinisches  Krankheitsbild.  Religiös-expansive  Form.  199 

herab,  sondern  läget  sieh  vorsichtig  herabgleiten,  oder  der  Kranke 
schiebt  sich  jetzt  langsam  nnd  wohl  bemessen  wieder  in  die  sichere 
Gleichgewichtslage  im  Bette  zurück.  —  Sehr  bemerkenswert!]  sind 
die  plötzlichen  Gewaltacte,  welche  die  Starre  durchbrechen  können. 
Oft  nur  als  zerstörende  Raptus  oder  Zerreissen  von  Bettzeug,  explo- 
diren  sie  andere  Male  in  Form  gefährlicher  Angriffe  auf  -die  Um- 
gebung, oder  auch  als  rücksichtslose  Selbstverstümmelungen  (nament- 
lich Attentate  gegen  die  Genitalien). 

In  der  Regel  ist  anhaltender  oder  intermittirender  Speichelfluss  vor- 
handen. Die  Körpertemperatur  hält  sich  vorzugsweise  Morgens  erheblich 
anter  der  Norm  (36 — 37  in  ano).  Das  Körpergewicht  sinkt  zunehmend, 
oft  sehr  bedeutend.  Der  Urin  zeigt  reichliche  Sedimente.  Der  Stuhl  ist 
verstopft;  die  Menses  cessiren. 

Auf  dieser  Höhe  bleibt  die  Krankheit  Wochen  und  selbst  Monate 
lang.  Löst  sie  sich,  so  geschieht  dies  erst  nach  voraufgegangener 
Besserung  in  der  Körperernährung.  Dann  stellen  sich  erst  seltenere, 
allmählich  immer  häufigere  Zeichen  von  wiederkehrender  psychischer 
Belebtheit  ein.  Der  Blick,  die  Miene  wird  natürlicher,  ausdrucks- 
voller. Die  geistige  Negation  nimmt  ab;  der  Kranke  beginnt  zu 
essen,  lässt  sich  zur  Reinlichkeit  anhalten.  Meistens  steigert  sich 
die  einmal  eingeleitete  Belebung  erst  zu  einer  ungeordneten  psycho- 
motorischen Erregung  mit  choreatischem  Charakter.  Die  Fessel  vom 
Sprachgebiet  löst  sich,  geht  aber  auch  erst  durch  ein  vociferirendes 
Uebergangsstadium  hindurch,  gebildet  aus  Alliterationen  und  Asso- 
nanzen, und  untermischt  mit  Lach  -  Paroxysmen  oder  krampfartig 
vorgestossenem  Aufschreien.  Nach  und  nach  klären  sich  fragmen- 
tare  Sätze  mit  Grössenwahnsphrasen  (Füret,  höherer  Geist,  Refor- 
mator) ab.  Charakteristisch  ist  der  pathetisch  declamatorische  Ton, 
mit  welchem  diese  noch  unzusammenhängenden,  meist  sinnlosen  und 
nicht  selten  monoton  wiederholten  Sätze  und  Worte  recitirt  werden. 
Es  ist  nicht  die  heitere  Lust  des  Maniacus,  nicht  die  chicanirende 
Bosheit  des  periodisch  Tobsüchtigen,  mit  welcher  diese  Sprachergtisse 
erfolgen,  sondern  ein  hohles  declamirendes  Pathos,  nicht  selten  mit 
allerlei  theatralischen  Attitüden  begleitet.  Mimik  und  Physiognomik 
bewahren  immer  noch  die  Neigung  zu  plastischen  Einbildungen;  aber 
die  Neurose  spielt  bereits  eine  Stufe  höher  —  mehr  im  Psychischen, 
im  Vergleich  zur  krampfhaft  tetanischen  Spannung  auf  der  Krank- 
heitshöhe. Es  ist  übrigens  interessant,  dass  einzelne  Nachklänge 
der  Spannungs-Neurose  nicht  selten  bleiben  und  sich  in  die  Recon- 
valescenz  hinein  ziehen,  so  z.  B.  flectirte  Haltung  eines  oder  des 
andern  Fingers  bei  sonst  wiedererlangter  Dexterität  der  Hände  im 


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200 


Der  attonische  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 


Allgemeinen.  Bei  weiblichen  Patienten  schliesst  sich  die  Reeon- 
valescenz  gern  in  etappen weisen  Vorschüben  an  die  Menstruations- 
terniine  an. 

Der  Verlauf  in  die  Genesung  ist  stets  ein  allmählicher,  durch 
häufige,  stunden-  oder  tagelange,  katatonische  Nachzügler  unter- 
brochen. Oft  schieben  in  der  Folge  sich  noch  Episoden  von  Auf- 
regung mit  Verbigeriren ,  pathetischem  Declamiren  u.  s.  w.  ein.  So 
wird  schrittweise,  unter  häufigen,  aber  stets  ktlrzern  und  psychisch 
freiem  Rückfällen  die  endliche  volle  Genesung  erkämpft. 

Aber  der  Verlauf  ist  nicht  immer  so  günstig.  Häufig  führt  er  direct 
oder  nach  wiederholten  (manchmal  durch  Jahre  getrennten)  Recidiven 
nach  und  nach  in  unheilbaren  chronischen  Wahnsinn  mit  zunehmender 
Verblödung.  Auch  in  diesem  Secundärzustand  erhalten  sich  in  der  Regel 
noch  partielle  Krampfzustände  in  einzelnen  Muskelgebieten.  In  schwerem 
Fällen  bleiben  die  Kranken  sogar  als  einseitig  oder  doppelseitig  contracte 
und  vertracte  Körperfiguren  übrig,  welche  mit  zugeklemmten  Augen,  oft 
krampfhaft  grimassirt,  dabei  mit  beständigem  Speichelfluss  jahrelang  bis 
ins  Kleinste  gepflegt  werden  müssen,  äusserlicb,  als  indolente  Schweiger, 
wie  Idioten,  erscheinen,  aber  dennoch  innerlich  zweifelsohne  über  ein 
mannigfach  erhaltenes  Geistesleben  noch  verfügen  —  bis  endlich  eine 
Lungenphthise  (die  häufigste  Todesursache)  das  bedauernswerthe  Dasein 
ab8chliesst.  (Weitere  Verlaufs-Modificationen  s.  bei  den  folgenden  Unter- 
gruppen). 

Zweite  Untergruppe. 

Depressive  (dämonomane)  Form.  Ist  das  einleitende  Stadium  ein 
hallucinatorischer  Verfolgungswahn,  so  ist  die  dämonomanische  Fär- 
bung auf  depressiver  Stimmungsgrundlage  mit  heftigen,  meist  im- 
pulsiven, Angstzufällen  das  häufigste  klinische  Bild.  Die  Kranken 
(es  sind  meist  Uterinkranke  Frauen,  oder  durch  sexuellen  Abusus 
geschwächte,  anämische  junge  Individuen)  sehen  Alles  verändert 
(„schwarz";  was  „links"  ist,  „rechts");  sie  werden  unruhig,  schlaflos, 
weinen  viel,  klagen  oft  Uber  Frösteln,  abwechselnd  mit  Congestionen, 
weiden  sehr  schreckhaft,  verzagt,  sensuell  hyperästhetisch,  äussern 
hypochondrische  oder  melancholische  Klagen  (über  Sündenschuld, 
Verlorensein),  welche  nicht  selten  ohne  tiefern  Aflfect  und  mit  er- 
müdender Umständlichkeit  vorgebracht  werden  (s.  masturb.  Melanch. 
und  cerebrospin.  Wahnsinn).  Zunehmende  Schwere  im  Kopfe  führt 
zu  einem  Dämmerzustande,  in  welchem  die  Kranken  immer  abge- 
schlossener gegen  die  Umgebung,  endlich  ganz  vor  sich  hinstaunend 
werden,  höchstens  fragmentare  Aeusserungen  („Teufels"wabn)  vor 
sich  hin  lispeln.  Jetzt  treten  lebhafte  Sinnestäuschungen  auf  (Vi- 
sionen von  Hexen ,  Thieren  u.  s.  w.) ;  zugleich  versinkt  der  Kranke 


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Klinisches  Krankheitsbild.   Daniornjmaiie  Form. 


201 


mit  offenen  Augen  in  ein  faselndes,  ganz  abruptes  Einfallsdelirium, 
in  welchem  er  halb  träumerisch  allerlei  ungeheuerlichen  Unsinn  re- 
citirt  (dass  er  Hunderte  von  Jahren  alt  sei,  dass  er  eine  Schlange 
gewesen,  dass  er  als  ein  Hund  geboren  worden,  dass  er  Judas  sei, 
dass  sein  Körper  mit  federnden  Maschinen,  mit  Elektricität  gefüllt 
sei  u.  s.  w.).  Oft  brechen  heftige  Raptus  von  Zerstörungsdrang,  von 
plötzlichen  monotonen  Aufschreien,  oder  auch  von  impulsiven  An- 
griffen gegen  sich  oder  gegen  die  Umgebung  durch. 

Andere  werfen  sich,  im  Schweisse  gebadet,  im  Bette  herum,  speien 
und  beissen,  treten  um  sich,  brüllen  in  unarticulirten  Tönen,  heulen  ab- 
gerissene Worte  religiösen  oder  drohenden  Inhalts  hinaus,  verweigern 
Speise  und  Trank  und  sinken  oft  plötzlich  in  bedrohliche  Callaps-Zustände. 
Der  Puls  ist  frequent,  die  Temperatur  kann  bis  gegen  39°  steigen. 

Nach  und  nach  werden  die  Gesichtszüge  gespannter,  hölzerner, 
regungsloser.  Die  conträre  Negation  der  Kranken  gegen  Ansprachen 
oder  Zumuthuugen  von  aussen  wächst.  Unter  zunehmender  Träg- 
heit des  Pulses  und  Ungleichheit  der  Blutvertheilung  (Fluxionen  zum 
"  Kopfe  mit  vollem  Carotidenschlag  neben  Kälte  der  Extremitäten  und 
fadenförmiger  Radialis)  rückt  die  psychomotorische  Starre  heran, 
und  beschlägt  auf  Stunden  und  Tage,  bald  allgemein,  bald  localer 
beschränkt,  das  Muskelgebiet.  Damit  wechseln  wiederum  allerlei 
plastisch  fixirte  Attitüden  ab  (Stellungen  eines  Fechters,  eines  knieen- 
den Beters,  eines  declamirenden  Schauspielers).  Andere  stemmen 
die  Füsse  stundenlang  senkrecht  in  die  Höbe,  tasten  damit  die  Wand 
ab,  während  die  Finger  an  die  Genitalien  gekrallt  oder  in  den  After 
geschoben  und  die  Züge  in  erschreckender  Verzerrung  gehalten 
werden.  Versucht  man  die  Spannung  passiv  zu  corrigiren,  so  wächst 
die  Starre;  manchmal  bricht  auch  der  Raptus  einer  explosiven 
Abwehrgeberde  durch  —  aber  Alles  unbemessen,  ziel-  und  planlos. 
Unter  Nahrungsverweigerung,  vasomotorischer  Parese,  Ptyalisnius, 
vollendet  sich  das  Höhestadium  des  katatonen  Stupors.  Der  Blick 
wird  glotzend,  durch  die  obern  Lider  verdeckt,  die  Stirn  in  Falten 
gezogen,  die  Haltung  schlaff,  vorn  Uberhängend,  die  obern  Extremi- 
täten sinken  herab,  der  Gang  des  Kranken  wird  schiebend,  alle  Be- 
wegungen träge,  energielos  und  plump,  der  Gesichtsausdruck  roh, 
leer  und  befangen.  Ab  und  zu  treten  barocke  Verschlingungen  der 
Arme  und  Beine  auf,  welche  sich  sofort  tixiren:  die  Kranken  balan- 
ciren,  wie  Kautschukfiguren,  oft  durch  Stunden  hindurch.  Zu  einer 
Ortsveränderung  passiv  veranlasst,  hüpfen  sie  in  ihren  verschränkten 
Attitüden  automatisch  weiter;  oder  wälzen  sich  hin  und  her,  wenn 
sie  zur  Erde  fallen ;  oder  verstricken  sich  in  einem  möglichen  und 


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202 


Der  attonische  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 


unmöglichen  Geberdenspiel  („Geberden  Verrücktheit"  möchte  man  es 
nennen),  bis  sie  plötzlich  wie  festgewurzelt  liegen  bleiben.  Dabei 
ist  bemerkenswerth ,  dass  sich  alle  diese  Verkehrtheiten  nicht  etwa 
mit  einer  ungestümen  Unruhe,  sondern  meist  in  ruhiger  Gemächlich- 
keit, mit  einer  ungeheuren  Stimmungsapathie,  abwickeln.  Andere  Male 
wechseln  automatisch  wiegende  und  schüttelnde  Bewegungen,  in 
stundenlanger  Monotonie  ausgeführt,  damit  ab.  Dann  kauern  die 
Kranken  auch  wieder  wie  leblos  auf  dem  Boden  und  sind,  wenn 
erhoben,  nicht  im  Stande,  sich  auf  den  Beinen  zu  erhalten.  Bekommt 
man  sonst  den  Eindruck,  als  ob  jede  Willensintention  sofort  den 
vorhandenen  Muskelkrampf  verstärke,  oder  eine  conträre  Spannung 
auslöse  (so  namentlich  beim  Versuch  passiver  Bewegungen),  so  schei- 
nen jetzt  alle  psychomotorischen  Bewegungsbilder  vorübergehend 
vergessen  zu  sein. 

Interessant  sind  wiederum  die  Schwankungen  in  der  Helle  des 
Bewusstseins.  Bald  ist  vollständiger  Perceptionsabschluss  vorhanden, 
bald  ein  Dämmerzustand  mit  dämonomaner  Verkennung  der  Um- 
gebung; bald  endlich  ein  leidlich  lucider  Zustand,  so  dass  auf  ein- 
fache Fragen  kurze  Antworten  eintreten.  Alle  diese  Phasen  wechseln 
imberechenbar,  wie  in  einem  Kaleidoskop,  manchmal  von  Stunde 
zu  Stunde. 

Auf  dem  Boden  des  so  geschwächten  Bewusstseins  schiessen  oft  die 
verschiedenartigsten  Hemmungen  und  Erregungen  auf,  welche  nirgends 
einen  einheitlichen  Schlusspunkt  finden  und  eine,  mit  der  Minute  oft 
wechselnde,  psychische  Situation  schaffen.  Bald  sind  es  unmittelbare 
Sinneseindrücke ,  welche  durch  falsche  Apperceptionen  den  Anlass  zu 
irrigen  Vorstellungen  und  falschen  Verknüpfungen  geben;  bald  Täuschun- 
gen eines  oder  aller  Sinne,  welche  das  spärliche  Bewusstsein  absorbiren; 
bald  und  vorzüglich  sind  es  Störungen  des  Gemeiugefühls,  in  welchen 
der  Kranke  aufgeht;  bald  sind  einzelne  abgerissene  Erinnerungen,  um- 
gestaltet durch  die  Bewusstseinslage,  die  treibenden  Motoren;  bald  be- 
herrschen unklare  Gefühle,  plötzlich  aufsteigende  Dränge,  sinnlose  Stre- 
bungen die  ganze  Persönlichkeit.  Als  Spielbali  aller  dieser  meist  com- 
binirten  psychischen  Hebel  steht  der  Kranke  nur  selten  in  bewussten 
Kreisen;  er  repräsentirt  vielmehr  einen  instinktmässigen  Reflexautomaten. 
Je  nachdem  man  den  einen  Hebel  anzieht,  finden  die  mannigfachsten 
psychischen  Wechsel  statt,  welche  aber  nicht  immer  rasch  abklingen, 
sondern  oft  Tage  und  Wochen  dauernde  Situationen  schaffen.  Der  Kranke 
imponirt  als  ein  Blödsinniger  eigenthümlicher  Art;  er  spricht  oft  wochen- 
lang kein  Wort,  lässt  Alles  willenlos  mit  sich  geschehen,  obwohl  er  das 
Nöthigstc  an  sich  manchmal  noch  freiwillig  besorgt,  verharrt  dazwischen 
anhaltend  in  seinen  sonderbaren  katatonen  Stellungen.  Nur  ab  und  zu 
spannen  ihn  intercurrente  Hallucinationen  zu  lebhafterer  Reaction  au. 
Gewöhnlich  leiten  sich  damit  die  lucidern  Bewusstseinsepisoden  ein.  Die 
motorische  Reaction  kann  verschiedene  Grade  durchlaufen:  von  den  ein- 


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Klinisches  Krankheitsbild.  Dämonomane  Forin. 


203 


fachsten  psychischen  Reflexbewegungen  (wie  sie  oben  schon  beschrieben 
wnrden)  bis  hinauf  zum  geläufigen  Schelten,  zur  stürmischen  Gewaltthat 
und  zur  überlegten  Rachsucht.  Das  Streben,  bei  abnehmendem  halluci- 
natorischem  Drang  sich  von  der  schmerzlichen  Spannung  zu  entlasten, 
kann  blinde,  fast  thierische  Wuthausbrüche  vorübergehend  entfesseln. 
Manchmal  erfährt  man  aus  den  abrupten  Aeusserungen  des  betäubten 
Kranken,  dass  während  dieser  Periode  zwei  Vorstellungen  ihn  leiten:  die 
eine,  dass  man  ihn  umbringen  wolle,  die  andere,  dass  er  dem  bösen 
Geiste  verfallen  sei.  Diesem  feindlichen  Princip  stellt  sich  bald  himm- 
lische (hallucinatorische)  Hülfe  entgegen,  verderbende  und  erlösende  Offen- 
barungen bestürmen  ihn,  nicht  selten  mit  noch  andern,  irdischen,  Sinnes- 
täuschungen (Giftfurcht,  Fluchtangebote  u.  s.  w.). 

Anderemale  combiniren  sich  die  wechselnden  Bewusstseinsphasen  in 
Form  von  längern  Perioden.  Die  katatone  Episode  wechselt  mit  Auf- 
regungszuständen ,  in  die  Mitte  zwischen  beiden  Zuständen  schiebt  sich 
eine  Phase  von  grösserer  oder  geringerer  Besonnenheit.  Die  Erregungs- 
paroxysmen  beginnen  dabei  gewöhnlich  damit,  dass  mitten  aus  der  Atto- 
nität  heraus  ein  zweckloses  Muskelspiel  mit  Fratzenschneiden,  Augenrollen, 
einförmigen  Bewegungen  einzelner  Glieder  (Stampfen  mit  den  Füssen, 
Anschlagen  einzelner  Körpertheile  an  die  Wand)  mit  fast  convulsivischem 
Rhythmus  anhebt,  woran  sich  dann  die  freiem  Bewegungen  allgemeiner 
Aufregung  anschliessen  in  Form  triebartiger  Acte,  planloser  motorischer 
Entfesselung.  Zwischenherein,  und  oft  Uberraschend  plötzlich,  kann  der 
Kranke  wieder  der  Umgebung  sich  nähern,  verhältnissmässig  besonnen 
sich  äussern  und  Wunsch  nach  Heilung  aussprechen. 

So  verbleibt  der  Zustand  oft  durch  Tage  und  Wochen,  während 
die  Ernährung  des  Körpers  immer  tiefer  herabgeht,  und  die  Zeichen 
der  vasomotorischen  Parese,  nur  durch  Kopffluxionen  unterbrochen, 
andauern. 

Beim  Fortschritt  in  die  Reconvalescenz,  welche  alsbald  oder  schon 
früher  durch  Hebung  des  Körpergewichts  sich  anzeigt,  tritt  zunächst 
die  motorische  Spannung  zurück.  Häufig  (wie  wenn  diese  erst  durch 
Umschlag  in  eine  zu  hoch  bemessene  Erregtheit  ihre  Lösung  zu 
finden  vermöchte)  geht  der  Zustand  erst  wiederum  durch  eine  cho- 
reatische  Unruhe  hindurch,  in  welcher  die  Kranken  Tage  lang  sich 
herumwälzen,  sich  zur  Erde  und  von  den  Bänken  stürzen  lassen, 
Purzelbäume  schlagen,  ohne  irgend  eine  Beschädigung  zu  empfinden, 
reiben,  schmieren,  Alles  zu  sich  stecken.  Die  Rede  besteht  in  einer 
chaotischen  Aneinanderreihung  von  Worten,  oft  mit  Fremdwörtern, 
oft  mit  Diminutiven  vermischt  Koch  immer  müssen  die  Kranken 
jetzt  getragen,  gewaschen,  gefüttert  werden.  Manchmal  folgt  nun 
nochmals  eine  dämonomelancholische  Phase,  aber  bereits  logischer  in 
ihrem  Inhalt,  und  mit  höchstens  episodischer  motorischer  Spannung. 
—  In  andern  Fällen  fehlt  dieser  manische  Uebergangszustand ,  und 
der  Attonitätsstatus  löst  sich  durch  ein  Stadium  von  mürrisch -feind- 


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201 


Der  attonische  Wahnsinn  — 


die  Katatonie. 


seliger  Negation  mit  brüsker  Abwehr  gegen  jede  Ansprache,  Neigung 
zu  zerstören,  sich  zu  zerkratzen,  die  Kleider  zu  zerreisseu.  Die 
eigentliche  Genesung  tritt  immer  nur  langsam  ein,  indem  die  Kran- 
ken Schritt  um  Schritt  wieder  zur  Wirklichkeit  müssen  zurückerzogen 
werden.  Oft  gehen  verstärkte  und  häufigere  Herzbewegungen,  an- 
haltende starke  Schweisse  mit  einher,  auch  Wallungen  zum  Kopfe. 

In  noch  andern  Fällen  wechseln  acute  Phasen  von  Verfolgungswahn 
(Gedankensperre,  Gedankenablesen,  totaler  Willenszwang  durch  die  „prü- 
fenden*' feindlichen  Mächte;  dabei  intercurrente  imperative  Haliucina- 
tionen)  mit  Anfällen  von  katatonem  vasomotorischem  Stupor  und  reactiv 
hallucinatorischer  Manie  in  cyklischer  Wiederholung  ab.  Die  Krankheit 
kommt  oft  auf  Monate  und  Jahre  hinaus  zum  Schweigen,  und  im  Intervall 
klingt  höchstens  noch  ein  matter  Verfolgungswahn  hindurch,  welcher 
aber  den  anscheinend  genesenen  Kranken  nicht  hindert  wieder  in  seinen 
Beruf  temporär  zurückzukehren.  Diese  Form,  nicht  selten  mit  periodi- 
schen Trinkexcessen  im  Zusammenhang,  führt  in  ihrem  auf  Jahre  hinaus 
protrahirten  Gesammtverlauf  nicht  zur  vollen  Genesung,  sondern  durch 
polymorphe  Recidiven  in  chronisch  hallucinatorische  Verwirrtheit,  oft  mit 
intens urrenten  katatonen  Phasen  und  wiederum  monatelanger  manischer 
Aufregung.  — 

Eine  interessante  Modification  bilden  einzelne  dämonomane  Ka- 
tatonieen  auf  spinal -sensibler  Grundlage,  indem  die  motorische  Span- 
nungsneurose sich  genau  in  eine  zeitliche  Nachfolge  (vielleicht  auch 
physiologische  Abhängigkeit)  zu  bestimmten  Neuralgieen  setzt, 
deren  motorische  Reflexe  sie  darzustellen  scheint. 

Die  Starre  beschlägt  hier  ein  Muskelgebiet  nach  dem  andern,  oft 
sprungweise,  und  stets  im  Anschluss  an  zuvor  lebhaft  gewesene  Neural- 
gieen. Diese  Anfangs  partiellen  Tetanieen  werden  immer  verbreiteter, 
vertheilen  sich  aber  ungleich  auf  die  beiden  Körperhälften,  so  dass  die 
Gesichtszüge,  die  Extremitäten  einseitig  verzogen,  ein  Arm  steif,  der  an- 
dere gebogen  und  angepresst,  eine  Thoraxseite  abgeflacht  (in  Folge  der 
einseitig  gespannten  Muskulatur)  erscheinen  kann.  Diese  Zustände  kön- 
nen im  Verlaufe  der  katatonen  Phase  wechseln,  indem  die  partielle  Te- 
tanie wandert,  hier  nachlässt,  dort  neu  auftritt  Gleichzeitig  sinkt  die 
Ernährung  und  treten  die  oben  besprochenen  trophischen  und  vasomoto- 
rischen Störungen  auf.  Bemerkenswerth  ist  die  Ein-  resp.  Mitwirkung 
dieser  motorischen  Zustände  auf  das  mit  Eintritt  der  Starre  modificirte 
krankhafte  Bewusstsein.  Während  dieses  im  Anfang  der  Krankheit  den 
gewöhnlichen  Inhalt  eines  (neuralgischen)  Verfolgungswahnes  geboten 
hatte,  sinkt  es  mit  Eintritt  der  motorischen  Neurose  nicht  einfach  nur  auf 
die  Traumstufe,  sondern  es  erhalten  sich  Wechselwirkungen  zwischen  der 
Starre  und  dem  verdunkelten  Bewusstsein  in  Form  der  gefühlten  moto- 
rischen Hemmungen.  Diese  werden  im  Sinne  des  Wahnes  allegorisirt, 
der  Kranke  fühlt  (nach  späterem  Geständniss),  dass  er  steif  und  regungs- 
los wird,  und  empfindet  diese  peinliche  Beschränkung  als  einen  Eingriff 
des  „bösen  Geistes",  welcher  ihn  förmlich  jetzt  in  Beschlag  genommen 


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Klinisches  Kranklieitsbild.  „Spinal-sensible"  Unterform.  205 


and  verzaubert  habe,  die  Sprache  ihm  „einstelle",  seine  Arme  verdrehe 
und  verziehe.  Das  Gefühl  des  Ueberwältigtseius  stellt  die  inneren  Wil- 
lensregungen des  Kranken  immer  ausschliesslicher  in  den  Dienst  der  mo- 
torischen Starre,  und  hilft  diese  verstärken.  Der  Kranke,  im  Gefühl  seiner 
Ohnmacht,  hört  Befehle,  dass  er  unregsam  liegen  bleiben  müsse,  dass  die 
Welt  untergehe  u.  s.  w.  Die  katatone  Phase  dauert  auch  hier  oft  Wo- 
chen und  Monate;  säe  kann  sich  successive  wieder  vollständig  lösen, 
in  Genesung  Ubergehen  und  eine  detaillirte  Erinnerung  zurücklassen.  Es 
können  aber  auch  die  motorischen  Spannungen  sich  theilweise  erhalten 
resp.  zeitweise  wiederkehren,  und  durch  ihre  centripetalen  Erregungen 
immer  verhängnissvoller  in  die  Ausgestaltung  und  Fixirung  des  dämono- 
manen  Bewusstseinsinhalts  eingreifen.  Dies  geschieht  durch  den  mit  der 
fortschreitenden  geistigen  Hirnerkrankung  immer  prompteren  Zwang  der 
Allegorisirung  (die  Umgebung  „macht"  dem  Kranken  die  motorischen 
Ie8chränkungen,  die  Verzerrungen  des  Gesichts  und  der  Glieder);  daran 
schliessen  sich  Reflexhallucinationen  mit  Zorn-Raptus  (feindliche  Personen 
setzen  sich  Nachts  auf  das  Bett  des  Kranken,  verkrümmen  ihm  die  Glie- 
der, hemmen  ihm  die  Sprache,  schrauben  ihm  den  Kopf  zusammen  u.  s.  w.). 
In  raschem  Fortschritt  neigt  sich  die  Krankheit  durch  diese  tobsüchtigen 
Erregungszustände  mit  immer  gebieterischeren  Hallucinationen  und  blitz- 
schnellen Zornaffecten  hindurch  in  die  tieferen  Grade  der  psychischen 
Schwäche.  Der  Kranke  macht  dabei  nicht  den  Eindruck  eines  Blödsinns 
durch  Mangel  der  intellectuellen  Energie,  als  vielmehr  den  der  Ueber- 
wältigung  in  Folge  des  immer  umfänglicheren  Ausfalls  der  cerebralen  Hem- 
mungen. Es  ist  in  gewissem  Sinne  das  natürliche  Experiment  infracorticaler 
Hyperästhesie  mit  Ausschaltung  der  hemmenden  Hemisphärenthätigkeit. 
Alle  Sinneseindrücke  werden  gesteigert  und  als  lästig  (feindlich  zugefügt) 
empfunden,  und  erregen  sofort  die  ungehemmten  Affecte  des  Begehrens,  des 
Schmerzes,  der  Wuth.  Dabei  ziehen  sich  die  aus  den  früheren  Krank- 
heitsstadien erworbenen  Neigungen  und  Antipathieen,  die  dämonoroanen 
Illusionen,  oft  untermischt  mit  erotischen  Perceptionen,  hindurch.  Die 
raschen  und  ungehemmten ,  bei  der  sensuellen  Hyperästhesie  oft  bis  zum 
Furor  gesteigerten  Affecte  bringen  psychisch  eine  immer  tiefere  Verworren- 
heit, motorisch  eine  Convulsibilität  der  Glieder,  abwechselnd  mit  tonischen 
Spannungen  der  letzteren  zu  Stande,  welche  auf  Jahre  hinaus  chronisch 
wird,  und  eine  bemerkenswerthe  Unterart  von  agitirtem  Blödsinn  ausmacht. 
Die  Zwangsbewegungen  des  gereizten  enthirnten  Frosches  bilden,  wie 
oben  schon  angedeutet,  das  Schema  zum  klinischen  Verständniss. 

Hier  ist  noch  eine  weitere  klinische  Modification  dieses  kata- 
tonenBlödsinns  auf  cerebrospinal-neuralgischer  Grundlage  einzu- 
schalten. 

Solche  Kranke  bieten  oft  auf  Monate  (und  selbst  über  ein  Jahr  hin- 
aus) das  Bild  stupider  Unruhe  mit  Unordnung  der  Bewegungen,  welche 
theils  als  typisch  choreatische,  theils  als  klonisch  krampfhafte,  theils  als 
gewollte  imponiren  —  aber  weder  das  Eine,  noch  Andere,  oder  höch- 
stens vorübergehend  sind  —  vielmehr  im  Wesentlichen  Reflexacte  auf 
die  zahllosen  abnormen  Sensationen  darstellen.  Sie  vollziehen  sich  im- 
perativ, mit  der  Autonomie  und  dem  Zwange  des  irren  Willens;  nicht 


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2on 


Der  attonische  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 


einfach  nur  automatisch  (wie  die  oben  besprochene  convuLsive  Geberden- 
„Verrücktheit",  welcher  sie  äusserlich  vielfach  gleichen).  Die  Augenlider 
werden  fest  zusammengeklemmt,  wo  möglich  noch  mit  Armen  und  Hän- 
den bedeckt;  der  Kopf  auf  eine  Seite  und  abwärts  verzogen,  der  Ober- 
körper in  derselben  Richtung  gehalten,  die  Beine  in  den  Knieen  leicht 
gebogen,  die  Füsse  nach  einwärts  gerichtet  —  so  laufen  die  Kranken 
mit  schweren  schleichenden  Schritten  bis  zu  einem  Widerstande,  Uber 
den  sie,  wenn  möglich,  hinweggehen,  oder  aber,  zurückgeworfen,  die 
frühere  Bahn  wieder  einschlagen.  Dabei  schneiden  sie  Grimassen,  schlen- 
dern den  Kopf  nach  allen  Richtungen,  hüpfen  wie  Frösche,  lassen  sich 
auf  den  Boden  fallen,  kauern  mit  zugewendetem  Gesiebte  hart  an  die 
Wände  oder  liegen  auch  in  irgend  einer  erzwungenen  Stellung  oder  Hal- 
tung unregsam  da,  bis  sich  irgend  eine  unliebsame  Person  nähert,  wo- 
rauf sie  in  die  frühere  Unruhe  gerathen,  oft  heftig  auffahrend  (gegen 
fictive  Vorwürfe :  „ich  bin  kein  Menschenfresser"),  oder  thierische  Brumm- 
laute  ausstos8en.  Beim  Essen  machen  sie  erst  allerlei  Bücklinge  und 
Segnungen,  fassen  den  Teller,  heben  ihn  rasch  in  die  Höhe,  drehen  ihn 
im  Kreise  und  lassen  ihn  plötzlich  sammt  dem  Inhalte  herabfallen,  wo- 
rauf sie,  nach  mehrfacher  Wiederholung  des  Schauspiels,  hastig  einige 
Löffel  zum  Munde  führen  und,  ohne  zu  kauen,  hinabschlingen,  oder  über 
den  Tisch  weg  wieder  herausspeien.  Damit  wechseln  auch  wieder  luci- 
dere  Phasen,  wo  sie  gesprächig,  freundlich,  selbst  zur  Arbeit  verwend- 
bar werden,  in  ihren  Bewegungen  sich  edler  geben ,  ihr  Aensseres  in 
Ordnung  haben,  freilich  stets  einen  frivol-läppischen  Zug  beibehalten. 
Die  Bestrebungen  behalten  in  der  Regel  eine  sehr  niedere  Richtung  (na- 
mentlich ungeheuere  Essgier).  In  der  Unruhe  werden  stotternd  und  be- 
bend nur  abgerissene  Sätze,  oft  monoton  wiederholt,  ausgestossen ,  wäh- 
rend in  den  lucideren  Phasen  die  Antworten  gut,  selbst  witzig  sind. 
Wenn  es  nun  einmal  gelingt  in  den  Kranken  tiefer  einzudringen  resp. 
ihn  unter  allerhand  zögernden  Andeutungen  und  öfteren  Widerrufen  zu 
veranlassen  aus  sich  herauszutreten,  so  entdeckt  man  einen  ausserordent- 
lich ausgedehnten  Wahn,  in  welchem  der  Kranke  steht  und  unter 
dessen  Directive  er  das  ganze  barocke  Gebahren  unternehmen  muss.  Da 
enthüllen  sich  Täuschungen  aller  Sinne  bald  angenehmer,  bald  un- 
angenehmer Natur.  Der  Kranke  selbst  ist  durch  irgend  ein  Ereigniss 
seines  Vorlebens  befähigt  „Uebernatürliches"  zu  sehen.  Er  erklärt  jetzt, 
dass  er  die  Augen  schliesse,  weil  ihm  das  Licht  „Scheine"  macht.  Diese 
„Scheine"  sieht  er  bei  Tag  und  Nacht,  er  sieht  sie  „Uberall"  (nur  nicht 
im  Schlafe),  sie  ziehen  ihn  „mit  magischer  Stärke"  in  die  finsteren  Win- 
kel. „Er  soll  aber  die  Scheine  sehen"  befiehlt  ihm  eine  Stimme  von 
oben.  Die  „Scheine"  bedrücken  ihn  bald  auf  dem  Herzen,  bald  erleich- 
tern sie  ihn.  Dieselben  repräsentiren  „Gestalten  und  Erscheinungen  guter 
und  böser  Natur".  Die  letztern  sind  „der  Teufel",  welcher  in  ihm  wohne, 
und  bald  den,  bald  jenen  Körpertheil  als  Quartier  aussuche.  Dadurch 
entstünden  seine  Körperhaltungen,  weil  jener  ihn  frech  bald  auf  diese, 
bald  auf  jene  Seite  dränge,  „wie  wenn  ihm  Kugeln  angehängt  wären"; 
der  Teufel  „schmeisse"  ihn  förmlich  (daher  die  hüpfenden  Bewegungen). 
Auch  in  die  Knochen  fahre  er  ihm,  so  dass  der  Kranke  ganz  steif  da- 
liegen müsse.    Im  Innern  des  Kranken  tobt  der  Kampf  gegen  den  Bö- 


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Klinisches  Krankheitsbild.  Hysterische  Form.  ;„Katatone"  Manie.  207 


sen,  der  sich  „wüst  geberde",  während  das  gute  Princip  zur  Geduld 
mahnt.  Oft  kommen  in  diesem  Sinne  auch  „heilige"  Gestalten  zum  Tröste 
und  zur  Aufmunterung.  Bei  geschlechtlichen  Reizungen  stellen  sich  da- 
gegen auch  wieder  sexuelle  Versuchungen  ein  („Mädchen,  welche  sich 
über  die  ganze  Länge  des  Körpers  andrücken").  Manchmal  beunruhigt 
auch  das  Sprechen  Dritter,  „wodurch  der  Teufel  im  Kranken  noch  grösser 
wird";  das  wird  dem  Kranken  „zuleid"  gethan  (daher  die  rücksichts- 
lose Heftigkeit  gegen  die  Umgebung).  Im  Essen  werden  manchmal  Staub, 
Ameisen  u.  8.  w.  geschmeckt.  So  wird  der  Zustand  nach  und  nach  dau- 
ernd (in  wesentlichen  klinischen  Punkten  identisch  mit  einer  Ausgangs 
form  des  onanistischen  primären  Wahnsinns,  s.  diesen). 

Dritte  Untergruppe  vorwiegend  auf  hysterisch  constitutioneller 
Grundlage. 

Die  Einleitung  wird  hier  in  der  Regel  (s.  übrigens  auch  Typ.  VIII 
des  hysterischen  Wahnsinns)  durch  ein  kürzeres  oder  längeres  de- 
pressives Vorstadium  gebildet,  entweder  mit  diffus  neuralgischem 
Charakter,  oder  auch  mit  Zwangsgedanken  und  hypochondrischen 
Grübeleien.  Daran  schliesst  sich  sehr  häufig  ein  Exaltationsstadium 
an,  welches  in  seinem  klinischen  Charakter  viele  hysterische  Züge 
trägt,  in  seiner  vollen  Entfaltung  aber  eine  specifische  Signatur  zeigt, 
30  dass  man  dasselbe  gewissermaassen  als  „katatone  Manie"  aus- 
zeichnen kann. 

Der  Umschlag  in  die  Aufregung  geschieht  jäh,  gewöhnlich  unter 
Voraufgang  eines  gereizten  rechthaberischen  Wesens  mit  Wortspal- 
tereien,  deren  wechselnd  barocker  Inhalt  zeitweilig  die  Stimmung 
und  Gedankenrichtung  zwangsmässig  beherrscht.  Rasch  steigt  jetzt 
mit  der  Aufregung  die  geistige  Zerfahrenheit.  Der  Kranke  verfällt 
einem  phantastischen  Gebahren  voll  toller  Einfälle  und  alberner 
Streiche.  Er  macht  den  Eindruck  eines  angeheitert  Betrunkenen  mit 
Declamiren  und  Witzereissen  und  einer  Amnesie  für  das  Decorum, 
welche  an  beginnende  Paralyse  erinnert.  Erhöhtes  Selbstgefühl 
wechselt  mit  Verzagtheit,  bombastische  Wortprahlerei  mit  unmoti- 
virter  Angst  und  Lebensüberdruss.  Der  Kern  und  die  Signatur  des 
aufgeregten  Gebabrens  ist  aber  eine  wirkliche  geistige  Erschöpftheit 
und  Schwäche;  der  nachfolgende  Blödsinn  wirft  bereits  seine  Schatten 
voraus.  Auch  bei  massiger  Unruhe  tritt  eine  grosse  Benommenheit 
des  Bewnsstseins ,  ein  auffallender  Mangel  an  Energie  und  Compo- 
nirtheit  zu  Tage.  So  kann  der  Kranke  vorübergehend  richtigen  Be- 
scheid geben,  geräth  aber  plötzlich  in  sinnlose  Verworrenheit,  welche 
bei  den  wechselndsten  Affecten  den  gleichen  kindischen  Inhalt  und 
Ausdruck  bewahrt.  Jeder  launenhaften  Willkür  wird  Folge  gegeben; 
das  Benehmen  zersplittert  sich  in  eine  Reihe  zusammenhangloser 


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208  Der  attoniscbe  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 

Acte,  welche  auf  Vorhalt  sophistisch  vertbeidigt  werden,  obwohl  die 
Zwecke  der  kleinlichen  Begehren  nicht  selten  sich  aufheben.  Dann 
kommen  auch  wieder  Pausen  von  ruhigerer  Fassung,  jedoch  mit  Er- 
haltung des  gehobenen  Selbstgefühls  und  des  Dranges  sich  geltend 
zu  machen,  sich  aufzuspielen.   In  raschem  Uebergang  mischen  sich 
depressive  Episoden  ein  mit  gänzlich  niedergehaltenem  Selbstbewusst- 
sein,  mit  religiöser  Zerknirschte eit  und  Drang  zur  Busse;  anderemale 
gereizte  und  dann  wieder  indifferente  Stimmungen ;  aber  alle  Nuancen 
nur  vorübergehend,  ohne  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit.   Die  tob- 
süchtige Exaltation  gewinnt  bald  wieder  die  Oberhand,  theils  nur  in 
leisen  Schattirungen  des  physiognomischen  Ausdrucks,  theils  rasch 
ansteigend  zur  Beweglichkeit  allgemeiner  manischer  Erregtheit:  lautes 
pathetisches  Predigen,  rasches  Anherrschen  der  Umgebung,  spitzfindig 
selbstgefälliges  Disputiren,  oder  verzwickte,  aber  wichtig  betriebene 
Grübeleien.  Der  Kranke  wird  jetzt  der  typische  Grössen  wahnsinnige: 
tiberall  findet  er  Symbole  und  Allegorieen  oder  auch  göttliche  Winke; 
er  beschäftigt  sich  mit  dem  Perpetuum  mobile,  wühlt  sich  in  phrasen- 
reiche Theorieen  über  die  höchsten  Probleme  ein  —  und  dies  Alles 
in  unvermittelten  Uebergängen,  rasch  wechselnd,  nicht  selten  auch 
mit  lucidern  Zwischenpausen.   Der  Puls  wird  kleiner,  der  Kopf  oft 
enorm  congestionirt,  während  die  Extremitäten  (Hände)  kühler  wer- 
den. Zeitweilig  melden  sich  Zwangsstellungen,  anderemale  motorische 
Raptus  an;  bald  wird  der  Kranke  jetzt  auch  in  steifem  Daliegen 
mit  tonischer  Spannung  der  Muskulatur  betroffen,  ekstatisch,  und  nur 
in  monotoner  Recitation  von  einzelnen  Satzfragmenten,  worunter  eigens 
gemachte  Worte  und  namentlich  wieder  Diminutiva  (Ludwiglein  u.  s.  w.) 
ebenso  auffällig  als  charakteristisch  sind.   Immer  mehr  verdunkelt 
sich  das  Bewusstsein,  während  in  gleichem  Schritte  die  motorische 
Neurose  sich  ausbreitet.   Zunächst  mehr  psychomotorisch  in  Form 
der  Statuenstellung:  Fechter,  Büsser,  Pfarrer  u.  s.  w.  erscheinen  wieder, 
in  wechselnden  Typen,  oft  durch  Stunden  hindurch;  dabei  besteht 
Mutacismus,  theilweise  durch  pathetisches  Declamiren  unterbrochen. 
Die  Perception  fehlt  entweder  ganz,  oder  besteht  in  tratimartig  um- 
deuteten, unklaren  Wahrnehmungen.    In  der  nächsten  Stunde  kann 
das  Bild  wiederum  ein  ganz  geändertes  sein. 

Unter  plötzlichem  Rash  zum  Kopfe  wirft  der  Kranke  jetzt  angst- 
voll den  Kopf  nach  der  oder  jener  Seite,  besieht  sich  von  oben  bis  unten, 
betastet  sich,  streicht  sich  den  Bart,  spreizt  die  Beine,  legt  die  Arme 
aus,  geht  einige  Schritte  vor-  oder  rückwärts,  um  plötzlich  wie  ange- 
mauert stehen  zu  bleiben,  fängt  in  aller  GemUthsruhe  an  sich  in  der 
Gegenwart  Anderer  auszuziehen,  sich  die  Kleider  zu  zerreissen,  allerhand 
Unverdauliches  in  den  Mund  zu  stecken  —  Alles  ohne  den  leisesten  Laut 


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Klinische«  Krankheitsbild.  „Hysterische4'  Form. 


209 


von  sich  zu  geben.  Aber  urplötzlich  springt  er  wieder  auf  und  davon, 
beginnt  mit  steigendem  Drange  das  lebhafteste  Geberdenspiel,  wobei  alle 
Affectschattirungen  und  die  entfesselte  Bewegungslust  in  buntester  unge- 
ordneter Folge  zum  Ausdrucke  kommen.  Oft  sind  es  nur  ganz  kurze 
und  rasche  Explosionen  und  Ausrufe ;  ein  Sprung,  ein  Stoss  —  und  der 
Kranke  sinkt  wieder  still  zusammen,  oder  es  bricht  ein  Sturm  gewaltig- 
ster furor-artiger  Entäusserungen  mit  Mutacismus,  oder  auch  mit  gänz- 
licher sprachlicher  Verworrenheit  aus,  worauf  erst  nach  Stunden  Er- 
schöpfung folgt. 

Das  Krankheitsbild  wird  in  seinem  folgenden  Verlauf  immer 
unberechenbarer,  zusammenhangloser.  Ruhepausen  mit  Hindämmern 
und  localen  klonischen  Krämpfen  (Augenzwinkern,  Mundverziehen, 
Schnüffeln)  wechseln  ab  mit  monotonen  choreaartigen  Bewegungen 
(Purzelbäumen  u.  s.  w.),  beharrliches  Schweigen  und  stupuröse  Abulie 
mit  theatralischen  Zwangsstellungen  und  verworrenem  Rededrang; 
zerstreutes,  zerfahrenes  Wesen,  wobei  der  betäubte  Kranke  sogar 
seine  Persönlichkeit  vergisst,  wechselt  mit  bebender  Angst,  partiellem 
nnd  allgemeinem  Körperzittern  bei  starr  gehaltenen  Augäpfeln ;  diese 
wieder  mit  halbfreien  Zuständen,  in  welchen  der  Kranke  in  abge- 
rissenen Sätzen,  selbstgemachten  Worten,  Apostrophen,  seltsamen 
Wendungen  vor  sich  hinspricht. 

Der  Inhalt  ist  ein  buntes  Gemisch  von  Reminiscenzen,  Lesefrüchten, 
verdeckten  Andeutungen  auf  den  frühem  und  gegenwärtigen  Zustand; 
bald  aber  auch  nur  ein  reiner  Wortschwall.  Bemerkenswerth  ist  dabei, 
d&ss  sich  der  Vorstellungsablauf  nie  überstürzt  und  immer  coupirt  bleibt, 
auch  wenn  er  rascher  geht,  ja,  zeitweise  liegt  der  Kranke  förmlich  in 
sprachlichen  Geburtswehen,  bis  tropfen-  und  stossweise  die  Aeusserungen 
zn  Tage  kommen. 

Unter  Kleinerwerden  des  Pulses  und  zunehmender  Gesichtsblässe, 
unter  Hervortreten  der  Gesichtsvenen  und  peripherer  Vasoparese 
rückt  das  eigentlich  katatonische  Bild  immer  mehr  in  den  Vorder- 
grund. Der  Kranke  liegt  stundenlang  unregsam  zu  Boden,  lässt 
passive  Bewegungen  mit  sich  machen,  reagirt  nicht,  oder  nur  ganz 
betäubt  anf  sensible  Reize,  speichelt  viel,  spricht  nicht  mehr;  zeit- 
weise treten  traumartige  Bewegungen  der  Extremitäten  auf. 

Diese  Phase  bezeichnet  den  Höhepunkt  des  Leidens.  Sie  kann 
von  einigen  Wochen  bis  mehrere  Monate  dauern.  Löst  sich  die 
Spannung,  so  tritt  zunächst  wiederum  ein  ähnlich  barockes  Geber- 
denspiel, wie  im  Anfange,  auf,  als  Ausdruck  fragmentarer  Innenvor- 
gänge: phantastische  Stellungen  und  Körperhaltungen,  abwechselnd 
mit  motorischen  Raptus ;  dann  wieder  träumerische  Ruhe ;  zu  andern 
Stunden  Verbigeration  oder  Echolalie.  Noch  immer  erfolgen  Rück- 
schläge in  vorübergehende  motorische  Starre  und  Mutacismus.  So 

SchftU,  aeutosknakhaitoii.  3.  Aufl.  14 


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210  Der  attonische  Wahnsinn  —  die  Katatonie. 

wechselt  der  Zustand  kaleidoskopisch  hin  und  her,  bis  unter  Hebung 
der  Ernährung  und  Circulation  und  allmählichem  Schwinden  der 
Vasoparese  eine  zunehmende  Klärung  des  Bewusstseins  und  Percep- 
tionsfähigkeit  eintritt.  Jetzt  folgen  oft  nochmals  manische  Erregungs- 
phasen wie  anfangs  mit  erhöhtem  Selbstgefühl,  verzwickter  Mimik, 
pathetischem  Declamiren.  Die  eingeschobenen  motorischen  Ruhe- 
pausen verlaufen  aber  allmählich  ohne  Muskelstarre.  Zwischen  die 
wechselvollen  Zustände  treten  jetzt  auch  freiere  Stunden  und  Tage, 
an  welchen  der  Kranke  frei  aufathmet,  sich  heiter  und  ziemlich  natür- 
lich zeigt,  und  besonnen  zu  antworten  vermag. 

Die  Erholung  des  Bewusstseins  erfolgt  stets  sehr  langsam  und 
muss  Schritt  um  Schritt  erkämpft  werden.  Der  Kranke  hält  sich 
lange  noch  nur  mit  sichtlicher  Anstrengung  in  den  geordneten  Ge- 
leisen; immer  hemmt  ihn  noch  Etwas  in  seinem  geistigen  Mecha- 
nismus, und  wenn  man  ihn  schon  frei  glaubt,  so  macht  er  oft  noch 
seine  sonderbaren  Seitensprünge  mitten  in  die  Verworrenheit.  Auch 
die  Stimmung  schwankt  noch  lange  zwischen  Sympathieen  und  Anti- 
pathieen,  und  schafft  blitzähnliche  Affecte.  Letztere  fixiren  sich  manch- 
mal, so  namentlich  die  Zornparoxysmen  zu  stundenlangem  Dastehen 
mit  geballten  Fäusten.  Alle  möglichen  und  unmöglichen  Attitüden 
werden  oft  wieder  durch probirt,  abwechseld  mit  automatischen  Acten 
(Streichen  mit  der  Hand),  oder  monoton  wiederholten  convulsiven 
Bewegungen  (Schleudern  der  Arme,  Zurückschnellen  des  Kopfes). 
Unter  die  freien  Intervalle  schieben  sich  noch  immer  zeitweise  halb- 
träumerische Phasen. 

Endlich  klärt  sich  das  Bewusstsein  immer  mehr.  Manchmal  geht 
das  psychische  Orientirungsgeschäft  nun  erst  noch  durch  eine  Phase 
mit  Zwangsgedanken  und  peinlicher  Präcision  hindurch.  Aber  auch 
diese  wird  überwunden.  Jetzt  fehlt  noch  die  Erinnerung  an  die 
katatone  Zeit,  während  die  an  die  vorangegangene  sich  rasch  her- 
stellt. Die  Aufhellung  auch  der  ersteren  bildet  den  Schluss  der  Ge- 
nesung, wobei  die  Kranken  wiederum  oft  die  interessantesten  Ent- 
hüllungen machen:  wie  sie  von  Hallucinationen  in  einem  wahren 
Traumleben  gehalten  worden  seien,  wie  sie  Alles  um  sich  verwan- 
delt gesehen,  auf  keinem  Punkte  mehr  die  psychische  Lage  beherrscht 
hätten,  dass  für  alle,  auch  die  barocksten,  Antriebe  innere  Motive 
sich  ihnen  untergeschoben  hätten.  Der  Mutacismus  wird  dabei  oft 
auf  innere  Gewissensbisse  zurückgeführt,  die  freudige  Aufregung  auf 
phantastische  Apergus,  die  katatone  Starre  auf  Ahnungen,  dass  der 
Tod  bevorstehe,  oder  auf  die  Empfindung,  als  ob  der  Kranke  unter 
einer  Champagnerflasche  gestanden,  ja  selbst  eine  solche  gewesen 


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Klin.  Krankheitsbild.  Hysterische  Form.  Ausgänge.  Secund.  katatoner  Blöds.  211 


sei ;  dass  der  Kranke  sich  gerne  in  die  Steifheit  gefügt  hätte,  damit 
man  ihn  für  todt  halte  und  hinausschaffen  könne;  das  Einschlagen 
z.  B.  des  Zeigefingers  wird  auf  Rettungsbestrebungen  gegen  Versin- 
kende (Visionen)  bezogen.  Nach  den  Angaben  einzelner  Kranker 
erfolgte  der  Umschlag  in  die  visionäre  Traumwelt  plötzlich,  mit  Einem 
Schlage. 

Manchmal  recurrirt  die  katatone  Manie  innerhalb  Jahresfrist, 
oft  mehreremale,  bis  endlich  ein  blödsinnig  stupider  Zustand  mit 
Verbigeration  dauernd  bleibt. 

Bei  ungünstigem  Verlauf  bildet  sich  auch  ein  chronischer  Secundär- 
zustand  aus  in  der  Form  fortschreitender  Auflösung  der  Bewusstseinsein- 
heit  in  zerfahrene  Einfälle,  Antriebe,  momentane  Stimmungen,  —  der 
Typus  des  unheilbaren  hysterischen  Wahnsinns.  —  Es  kann  aber  auch 
nach  unregelmässigen  Schwankungen  zwischen  freiem  und  attonischen 
Phasen  die  psychische  und  motorische  Gebundenheit  chronisch  werden: 
der  Kranke  verharrt  nun  Tag  um  Tag  in  Mutacismus  und  motorisch- 
mimischer Starre,  womit  nur  der  lebhaft  umherschweifende,  wenngleich 
gläserne  Blick  seltsam  contrastirt.  Dazwischen  treten  Raptus  von  plötz- 
licher Heftigkeit  und  zorniger  Gereiztheit,  namentlich  wenn  der  Kranke 
zu  irgend  einer  ihm  unangenehmen  Action  (Kleiderwechsel)  aufgefordert 
wird*  Ortsveränderungen  gehen,  wenn  auch  nur  auf  Aufforderung,  leich- 
ter von  statten;  sie  geschehen  aber  ganz  mechanisch;  der  Kranke  läuft 
und  bleibt  stehen,  wann  immer  man  ihn  anhält  Gang  und  Mimik,  Glieder- 
und  Kopfhaltung  bewahren  auch  bei  diesen  freieren  Aeusserungen  stets 
eine  gewisse  Spannung.  Die  vasomotorische  Parese  wird  permanent  (eis- 
kalte blaue  Extremitäten)  und  daneben  ein  nicht  zurückzudrängender, 
periodisch  massenhafter  Ptyalismus.  So  kann  der  Zustand  in  eine  secun- 
däre  katatone  Dementia  übergehen,  welche  Jahre  lang,  bis  an 
das  Lebensende,  dauert.  Auch  jetzt  noch,  in  der  vollständigen  Passivität 
der  Stammmuskulatur,  wobei  die  Kranken  fast  beständig  auf  dem  Fauteuil 
oder  im  Bett  gehalten  werden  müssen,  keinen  Laut  mehr  von  sich  geben, 
und  wie  Kinder  zu  pflegen  sind,  erhält  sich  ein  attonischer  Zustand  in 
Form  zeitweiliger  localer  Streckungen  und  Contracturen,  einseitigen  Ge- 
sichtsverziehungen, Spasmus  der  Lider.  Der  Tod  erfolgt  durch  Maras- 
mus oder  (sehr  häufig)  Phthise. 


Die  acute  primäre  Dementia. 

Literatur.  (Stupor)  Gambarri,  Gazz.lombard.  16ß4.  —  Dagonet,  Ann. 
meM.  psych.  1972.  —  laguet.  Dem.  simple  prim.  1672.  —  Newington,  J.  of 
m.  sc.  1S7-1.  —  Witte,  Arch.  f.  Psych.  8.  —  Binswangen  Charitö  Ann.  VI.  (na- 
mentlich über  prim.  Dem.  ohne  Stupor).  —  Schüle,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  38.  — 
Fritsch,  (pseudaphasische  u.  hallucinator.  Verwirrtheit)  Jahrb.  f.  Psych.  1680.— 
Hughe»,  Alienist.  1SS2. 

14* 


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212 


Die  acute  primäre  Dementia. 


Die  klinische  Zustandsform  des  „Blödsinns",  welche  uns  bisher 
nur  als  Aasgang  der  ungeteilten  Primärformen,  der  Melancholie, 
Manie  und  des  Wahnsinns  begegnete,  kann  selbst  auch  primär 
auftreten  und  zwar  in  einer  von  jener  secundären  mehrfach  und 
nicht  unwesentlich  verschiedenen  Gestaltung.  Ein  erster  Unterschied 
liegt  in  dem  Tempo  der  Entstehung:  während  diese  beim  secundären 
eine  chronische  ist,  ist  sie  hier  eine  acute,  selbst  peracute.  Ein 
zweiter  Unterschied  liegt  in  der  Weise  der  Entwicklung  und  im 
gegenseitigen  Verhältniss  der  psychischen  Elemente  des  Symptomen- 
bildes: während  der  secundäre  Blödsinn  schrittweise  erreicht  wird 
unter  Lähmung  des  emotiven  Elements  der  Psychose  (der  affectiven 
Spannung  in  der  Melancholie)  neben  anfangs  noch  leidlich,  ja  oft 
reich  erhaltenem  Vorstellungsinhalt  —  ist  hier,  bei  der  primären 
Dementia,  die  Herabsetzung  der  int  eile  ctuellen  Leistungskraft, 
der  psychische  Hirndruck  im  Ganzen,  das  auszeichnende  Symptom 
(Uber  die  zweifache  Weise  der  klinischen  Erscheinung  mit  und  ohne 
Stupor  8.  u.).  Die  stupurösen  Formen  speciell  haben  noch  die  weitere 
klinische  Besonderheit,  dass  sie  auch  für  ihre  chronischen  ungeheilten 
Secundärzustände  meistens  einen  Rest  dieses  geistigen  Hirndruckes, 
als  eine  Art  leisen  Sopors,  dauernd  beibehalten.  Eine  nicht  gerade 
durchgreifende,  aber  doch  erwähnenswerthe,  Differenz  der  acuten 
Blödsinnszustände  gegenüber  den  chronischen  liegt  ferner  in  dem 
relativ  häufigen  Vorkommen  von  convulsiven  Raptus,  gegenüber  dem 
friedlich  monotonen  und  apathischen  Charakter  der  secundären  gei- 
stigen Schwäche. 

Unter  sich  symptomatologisch  betrachtet,  scheiden  sich  die  Fälle 
des  acuten  Blödsinns,  je  nachdem  die  intellectuelle  Schwächung  oder 
temporäre  Sistirung  der  psychischen  Functionen  im  wachen  Be- 
wusstseinszustande  sich  vollzieht,  oder  in  einem  schlafähnlich 
gebundenen.  Der  einfachen  Trägheit  in  den  Associationen, 
Schwäche  des  Gedächtnisses  und  Gemüthsstumpfheit  dort  entspricht 
hier  ein  nicht  minder  vollständiger  Mangel  der  Perception,  der 
Stimmung  und  des  Wollens,  neben  einer  gradweisen  Betäubtheit  bis 
herab  zur  Bewusstlosigkeit,  zugleich  mit  Aufhebung  der  Sensibilität 
und  selbst  der  spinalen  Reflexe.  In  einer  umschriebenen  Unter- 
grnppe  finden  wir  diesen  Sopor-artigen  Zustand  während  des  ganzen 
Verlaufs  noch  mit  einer  ausgesprochenen  vasomotorischen  und  einer 
motorischen  Neurose  (tonische  Spannung  der  Muskulatur,  geändertes 
elektrisches  und  mechanisches  Verhalten  der  Muskeln)  —  einem  Status 
attonitus  —  verknüpft.  Beide  Zeichenreihen  halten  gleichen  Schritt 
mit  der  Tiefe  des  psychischen  Schlafzustandes.    In  der  andern 


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Klinische  Eintheiluug. 


213 


finden  wohl  noch  gradweise  Wahrnehmungen  statt,  auch  noch  ver- 
einzelte hallucinatorische  Innenvorgänge,  aber  auch  nur  im  Rahmen 
der  allgemeinen  Bewusstseinsverdunkelung. 

Es  ergeben  sich  somit  nach  dem  soeben  bezeichneten  Haupt- 
moment —  dem  Verhalten  des  Bewusstseins  —  zwei  grosse  Haupt- 
gruppen  der  primären  Dementia:  in  der  einen  ist  ein  schlaf  ähnlicher 
perceptions-  und  actionsloser  resp.  dämmerhafter  und  partiell  träu- 
mender Bewusstseinszustand  das  normgebende  Symptom,  mit  all- 
mählichem Aufwachen  in  vorübergehende  oder  bleibende  Dementia 
(stupuröse  Form);  in  der  andern  aber  ein  wacher  primärer  Blödsinn 
mit  gradweise  abgestufter  geistiger  Leistungsfähigkeit  bis  zur  Nullität 
(primäre  Dementia  ohne  Stupor).  Jene  bildet  die  Uebergänge  zu 
den  acuten  Wahnsinnszuständen,  diese  zum  secundären  Blödsinn  nach 
den  Primärformen.  Im  Speciellen  theilt  sich  a)  die  stupuröse 
Form  weiter  in  eine  1.  attonische  (mit  begleitender  motorischer 
Spannungsneurose),  und  2.  eine  stupid- hallucinatorische.  An 
die  Untergruppe  1.  schliesst  sich  der  postmanische  Stupor,  an  die 
Untergruppe  2.  der  hallucinatorische  (PseudoStupor)  als  Anhang.  Daran 
reiht  sich  als  Hauptgruppe  b)  die  primäre  Dementia  ohne 
Stupor. 

Bezeichnet  man  a  potiori  mit  „Stupor"  schlechthin  die  eine  der  hier- 
her gehörigen  Gruppen  (die  attonische),  so  muss  zwischen  einem  „orga- 
nischen" und  „psychischen"  Stupor  unterschieden  werden.  Der  Typus 
„psychischer"  Form  ist  durch  den  „hallucinatorischen  Stupor"  (s.  Anhang) 
repr&sentirt ,  welcher  klinisch  ebenso  nahe  dem  acuten  Wahnsinn  ange- 
hört, als  der  attonische  dem  wirklichen  Blödsinn.  Die  Aehnlichkeit 
beider  Zustände  ist  deshalb  nur  eine  äusserliche,  dem  „Stupor* -Habitus 
entnommene,  und  auch  hier  keine  vollständige,  insofern  der  organischen 
Form  (dem  wirklichen  Stupor)  ausser  der  Attonität  noch  die  Vasomotorius- 
Neurose  zukommt,  welche  der  hallucinatorischen  Form  fehlt.  Nicht  min- 
der sind  aber  auch  die  grundliegenden  Elemente,  und  namentlich  die 
Entwicklung  des  Stupors  in  beiden  Typen  verschieden.  Bei  dem  ersten 
—  unserer  primären  Dementia  —  bildet  ein  wirklicher  acuter  Blödsinn 
den  Kern  der  Krankheit;  bei  dem  zweiten  (dem  hallucinatorischen 
Stupor)  ist  die  physisch-motorische  Gebundenheit  nur  die  Folge  eines 
Wahrnehmungsabschlusses  aus  innerlichem  „Schauen".  Die  mangelnde 
Initiative  und  Erregbarkeit  ist  also  dort  das  Wesen,  hier  nur  ein  ein- 
zelnes physisches  (Reactions-)Sympton.  Diese  Unterscheidung  ist  fest- 
zuhalten auch  für  diejenigen  Fälle  echten  d.  h.  organischen  Stupors,  in 
welchen  zeitweilige  Hallucinationen  dazwischenlaufen  (wie  namentlich 
manchmal  im  Beginn).  Am  schärfsten  zeigt  sich  aber  die  Differenz 
beider  Zustände  im  Krankheitsverlauf,  und  in  den  Ausgängen:  dort 
(bei  der  organischen  Form)  dauert  der  Stupor  über  den  ganzen  Anfall 
und  erfordert  nach  Ablauf  eine  wirkliche  Neuerziehung  des  acut  blöd- 
sinnigen Kranken;  hier  bildet  der  Stupor  in  der  Regel  eine  kürzere 


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214 


Die  acute  primäre  Dementia. 


oder  längere  Episode,  aus  welcher  die  Rückorientirung  oft  plözlich,  oder, 
wenn  langsamer,  in  gleichem  Schritte  mit  dem  Rückzüge  der  Hailucina- 
tionen  und  Illusionen  erfolgt.  Dort  handelt  es  sich  m.  £.  W.  um  einen 
organisch  bedingten  (wenn  auch  nur  vorübergehenden)  geistigen  Defect, 
hier  um  eine  psychisch  motivirte  Hemmung.  —  Für  die  differentielle 
Diagnose  zwischen  attonischem  Stupor  und  attonischer  Melan- 
cholie, welche  durch  die  Attonität  eine  gewisse  äussere  Aehnlichkeit 
haben,  aber  sonst  grundverschiedene  Processe  darstellen,  ist  maassgebend: 
beim  attonischen  Stupor  peracute  Entstehung;  bei  der  attonischen  Melan- 
cholie eine  allmähliche  Entwicklung  aus  der  Melancholie;  dort  blöde 
schlaffe  Gesichtsmaske  mit  halb  geöffnetem  Munde  und  meist  profuser 
Salivation;  hier  starre,  angst-  und  schmerzvoll  verzerrte  Züge;  dort  pro- 
fuse Schweisse  mit  tardem,  ausserordentlich  wechselndem  Pulse,  hier 
trockene  spröde  Haut  mit  contrahirter  Arterie;  dort  Unfähigkeit  zur  Nah- 
rungsaufnahme aus  Blödsinn  und  Willenlosigkeit,  hier  absichtliche  Nah« 
rungsverweigerung  aus  Wahn;  dort  Hautanästhesie  ausSopor,  hier  schweig- 
same Duldung  des  richtig  empfundenen  Schmerzes  aus  melancholischem 
Schuldgefühl;  dort  Secessus  inscii,  hier  krampfhafte  (willentliche) Zurück- 
haltung; dort  zeitweise  attonisch  starre,  zeitweise  schlaffe  Muskulatur 
mit  Neigung  zu  Katalepsie  und  Flexibilitas  cerea,  hier  tonisch  flectirte 
Haltung  des  Rumpfes  und  der  Arme,  in  welcher  sich  der  ängstliche,  oder 
sich  selbst  erniedrigende  Affect  verkörpert;  dort  keine  Erinnerung  an 
die  Zeit  der  wirklichen  Bewusstseinsleere,  hier  peinlich  exaetes  Gedächt- 
niss  an  die  Zeit  eines  mit  allen  drohenden  Schrecknissen  überfüllten  Be- 
wußtseins. Ueber  die  differentiellen  Unterschiede  zwischen  katatonem 
Wahnsinn  resp.  katatoner  Dementia  und  stupid  -  hallucinatorischer  De- 
mentia 8.  d.  — 

a)  Die  acute  primäre  Dementia  mit  Stupor 
(organischer  Stupor). 

1.  Die  attonUche  Form.  Der  attonische  Stupor  ist  ein  subacut 
oder  acut  einsetzende  geistige  Hirnlähmung  mit  den  klinischen  Sym- 
ptomen aufgehobener  psychischer  Thätigkeit  (Perceptionsabschluss, 
Stimmungsmangel,  Abulie),  in  den  höchsten  Graden  auch  mit  An- 
ästhesie und  Fehlen  der  spinalen  Reflexe.  Damit  gehen  einher  eine 
vasomotorische  Neurose  (locale  Fluxionen,  wechselnde  Innervation 
des  Herzens,  Vasoparese),  sodann  ein  sog.  Status  attonitus  in  der 
Muskulatur  (mit  Aenderungen  in  der  galvanischen  und  idiopathischen 
muskulären  Erregbarkeit);  ausserdem  gewisse  allgemeine  und  locale 
trophische  Störungen,  vor  Allem  Gewichtsabnahme.  Nach  kürzerer 
oder  längerer  Dauer  Uebergang  in  allmähliche  Genesung  mit  ganzer 
oder  theilweiser  bleibender  Amnesie  an  die  Stupor-Phasc ;  oder  aber 
Niedergang  in  Blödsinn,  entweder  direct  oder  durch  zwischenlaufende 
Aufregungszustände. 

Die  Vorläufer  der  Krankheit  sind  hypochondrische  Grübeleien, 
namentlich  bei  vorausgegangenen  sexualen  Säfteverlusten,  oder  auch 


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Klinisches  Krankheitsbild.  Attonische  Form  (Organischer  Stupor).  215 


ein  vager  neurasthenischer  Znstand.  Manchmal  fehlen  diese  Zeichen; 
der  Kranke  gilt  als  gesnnd  bis  zn  dem  veranlassenden  Gemttths- 
affect,  an  welchen  sich  sofort  ein  benommenes,  zerstreutes  Wesen  mit 
depressiver  Stimmung  und  Neigung  zum  „Simuliren"  anschliesst. 
Bei  genügend  vorgearbeiteter  (nervös-anämischer)  Disposition  kann 
ein  erschütternder  Affect  auch  direct  in  den  Stupor  überführen. 
Die  Einleitung  bilden  in  der  Regel  cerebrale  Reizsymptome,  unstete 
Erregtheit  mit  verworrenem  Tag  und  Nacht  fortdauerndem  Sprechen 
(Sttndenschuld)  auf  Grundlage  einer  zunehmenden  geistigen  Betäubt- 
beit   Manchmal  steigert  sich  die  Unruhe  zu  vorübergebender  Pan- 
phobie  mit  abrupten  Delirien  und  Jactation,  so  dass  der  gepeinigte 
Kranke  keine  mechanische  Selbstbeschädigung  wahrnimmt.  —  Oder 
aber:  es  geht  gegentheils  die  anfängliche  ängstliche  Befangenheit  direct 
in  einen  immer  benommenem  Zustand  Uber  mit  mangelnder  Initiative, 
sodass  der  Kranke  sehr  bald  schon  zu  den  einfachsten  Handlungen  an- 
gehalten, geschoben  werden  muss.  Jetzt  treten  in  rascher  Folge  locale 
attonische  Zeichen  auf:  Offenhalten  des  Mundes,  Ausstrecken  der 
Arme  und  Beine.  Das  vasomotorische  System  nimmt  in  plötzlichen 
Rash's  zum  Kopfe  Antheil  unter  Beschleunigung  der  Pulsfrequenz, 
und  nicht  seltener  Erhöhung  der  Temperatur  bis  39"  und  darüber 
(in  einem  Falle  vorübergehend  40,4).   Die  vollen  Carotiden  über- 
wiegen auffallend  Uber  die  kleine  Radialis.   Oft  contrastiren  jetzt 
schon  küble,  röthlich-blaue  Hände  mit  dem  gerötheten  Gesicht  und 
der  injicirten  Conjunctiva.  Stundenweise  ist  die  Anästhesie  und  der 
Perceptionsabschluss  vollständig;  dazwischen  oft  dumpfes  Kopfweh 
und  Erbrechen.  Schliesst  sich  nicht  sofort  der  bleibende  Stupor  an, 
so  können  jetzt  noch  vorübergehende  Erholungen  zur  Lucidität  sich 
einschieben;  es  kann  selbst  nach  nur  mehrtägiger  Dauer  der  be- 
gonnene Stupor  sich  wieder  zurückbilden.    Schreitet  aber  der  Zu- 
stand weiter,  so  beschlägt  die  motorische  Neurose  immer  allgemeiner 
die  Muskulatur  des  Gesichts  und  Stamms,  während  alle  bewussten 
Seelenäusserungen  verschwinden.  So  bildet  sich  der  vollendete  Sta- 
tus attonitus  heraus:  vollständige  geistige  Regungslosigkeit,  Mangel 
jeder  Initiative,  schlaffe  ausdruckslose  Gesichtsmaske  mit  fast  be- 
ständigem Lidschluss  (dabei  oft  tagelangem  Blinzeln),  Zurücktreten 
der  Schmerzreflexe  (am  längsten  erhält  sich  die  Reaction  auf  Kitzeln) ; 
Verminderung  der  Sehnenreflexe,  Erhöhung  der  mechanischen  Er- 
regbarkeit der  Muskeln ;  schlaffes  Daliegen  mit  halbflectirten  Armen 
und  ausgestreckten  Füssen,  welche  in  einem  mittleren  Muskel-  und 
Gelenktonus  verharren,  ohne  eigentlich,  oder  nur  zeitweise,  rigide  zu 
sein,  und  passiven  Bewegungen  leicht  nachgeben;  jede  angenommene, 


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216  Die  acute  primäre  Dementia. 

wenn  auch  unbequeme,  Lage  zeigt  Beharrung  ohne  Ermttduogszeichen. 
Der  äussere  Perceptionsabscbluss  und  innere  Schlafzustand  können 
manchmal  sofort  vollkommen  sein,  so  dass  kein  Eindruck  von  aussen, 
keine  Regung  von  innen  heraus  sich  kenntlich  macht;  andere  Male 
aber  tritt  zeitweilig  noch  ein  Lispeln  einzelner  Worte,  ein  plötzlicher 
motorischer  Raptus,  aber  ziel-  und  planlos  zu  Tage.  Bei  anämischen 
Personen,  namentlich  Mädchen,  bleiben  gewisse  neuralgische  Punkte 
trotz  des  Stupors  in  lebhafter  Activität,  so  dass  ein  Druck  auf  die- 
selben (Intercostalbahnen)  oft  gentigt,  um  die  schlaffe  oder  hölzerne 
Miene  zu  einer  miraisch  weinerlichen  vorübergehend  zu  beleben  und 
betäubte  Abwehrbewegungen  herbeizuführen.  Bei  Männern  ist  das- 
selbe bei  irritable  test  beobachtet 

Unter  Abnahme  der  Frequenz  und  zunehmender  Tardität  des 
Pulses  nimmt  die  geistige  Regungslosigkeit  immer  zu;  der  Anfangs 
staunende  Blick  wird  leer,  gläsern;  der  Kranke  lässt  Alles  passiv 
mit  sich  vornehmen,  sich  in  jede  Lage  bringen.  Die  Initiative  ist 
verschwunden,  das  Essen  muss  gereicht  werden,  die  Excremente 
gehen  unwillkürlich  ab.  Die  Pupillen  sind  in  der  Regel  erweitert, 
oft  ungleich.  Immer  mehr  bilden  sich  jetzt  die  vasomotorischen 
und  trophischen  Symptome  aus  (s.  u.).  Die  Gesichtszüge  werden 
hängend,  ausdruckslos,  die  Kopfhaltung  schlaff,  aus  dem  halbgeöff- 
neten Munde  fliesst  profuser  Speichel.  Nicht  so  selten  stellen  sich 
auch  zeitweise  einseitige  Inner vationsstörungen  ein,  sodass  eine 
Augenspalte  weiter,  eine  Gesichtshälfte  straffer,  eine  Körperseite 
steifer  als  die  andere  erscheint  —  Erscheinungen,  welche  im  Ver- 
laufe wechseln,  verschwinden  und  wieder  eintreten  können.  Ebenso 
wechseln  Schlaffheit  und  vorübergehende  stärkere  Spannung  im 
Muskeltonus.  Die  Rückkehr  aus  passiv  aufgenöthigten  Stellungen 
erfolgt  träge.  Zeitweise  werden  die  in  den  Knieen  flectirten  Beine 
heraufgezogen. 

So  kann  der  Zustand  Wochen  und  selbst  einige  Monate  sich 
hinziehen.  Bei  günstigem  Verlauf  tritt  nach  und  nach  Besserung 
einzelner  Symptome  ein.  Es  regen  sich  vereinzelte  Actionen  (ein- 
fachere, sodann  complicirtere  Muskelacte);  aber  vorerst  scheinbar 
motivlos  und  unzugänglich  auf  Anreize  von  aussen.  Dieselben  sind 
erst  eckig,  unbeholfen.  Die  „spontan"  ausgelöste  Bewegung  hat  noch 
Neigung  zum  Verharren.  Ab  und  zu  werden  unverständliche  Worte 
gelispelt  Immer  schieben  eich  Rückfälle  in  den  attonischen  Zustand 
dazwischen;  doch  allmählich  tritt  jetzt  bei  passiven  Bewegungen 
eine  leise  psychische  Gegenwirkung  ein.  Die  Ernährung  hebt  sich, 
der  Puls  wird  entwickelter,  die  periphere  Cyanose  nimmt  ab.  Der 


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Klin.  Krankheitsbild.  „Organischer"  Stupor.  Verlauf. 


217 


Kranke  hält  jetzt  auch  manchmal  die  Augen  offen  und  scheint  den 
Vorkommnissen  der  Umgebung  zu  folgen;  aber  noch  ganz  theil- 
nahmlos  und  mit  den  frtthern  schlaffen  Gesichtszügen.  Die  Unrein- 
lichkeit  wird  seltener.  Die  abnorm  weiten  Pupillen  reduciren  sich 
mehr  auf  die  Norm;  auch  die  einseitigen  Innervationsstörungen  des 
Rumpfes  gleichen  sich  nach  und  nach  aus.  In  der  Folge  treten 
auch  vereinzelte  deutliche  Intentionsbewegungen  auf,  aber  vorerst 
noch  unsicher  und  wenig  bemessen;  erst  langsam  werden  sie  kräf- 
tiger und  zielvoller. 

Bei  vorausgegangenem  hochgradigen  Stupor  müssen  erst  alle  com- 
plicirtern  Muskelbewegungen  (Treppensteigen,  weibliche  Handarbeiten) 
wieder  eingelernt  werden.  Es  kommen  Reconvalescenzen  vor,  in  welchen 
der  Kranke  erst  auf  allen  Vieren  krabbelt,  ehe  er  in  aufrechtem  Gange 
wieder  normale  Ortsveränderungen  vornehmen  kann. 

Denselben  Process  einer  wirklichen  Neu-Erziehung  müssen 
auch  die  geistigen  Functionen  durchmachen;  es  vergehen  manchmal 
Wochen,  bis  die  Kranken  wieder  sich  zu  orientiren  vermögen.  Inter- 
essant ist  dabei  die  zeitweilige  Durchgangsphase,  welche  das  in 
tiefem  Schlafe  befangen  gewesene  Ich  mit  seinem  Vorstellungsinhalt 
zu  bestehen  hat. 

Da  treten  erst  wochenlange  Selbstgespräche  des  Kranken  auf,  in 
welchen  eine  zufällig  geweckte  Vorstellungsreihe  nach  der  andern,  erst 
in  oberflächlicher,  dann  in  immer  mehr  logischer  Association  abläuft,  — 
eine  die  andere  nach  sich  ziehend  —  wie  eine  erstarrt  gewesene  Wasser- 
masse, welche  schmelzend  in  Fluss  geräth.  Lange  ist  noch  keine  Hege- 
monie im  Vorstellungsablauf  (kein  „Ich")  bemerkbar;  der  Kranke  selbst 
spricht  von  sich  noch  in  dritter  Person. 

Die  Stimmung  ist  dabei  Anfangs  indifferent,  erst  nach  und  nach 
wird  dieselbe  für  unangenehme  Reproductionen  oder  äussere  Ein- 
drücke afficirbar,  und  meist  dann  in  explosiver  Weise.  Besonders 
lebhafte  Einfälle  können  in  endlos  wiederholte  Zwangsgedanken 
oder  auch  in  (Pseudo-)  Hallucinationen  sich  umsetzen.  Manchmal 
kommen  auch  motivlose  Zornwallungen  mit  plötzlicher  Gewalttätig- 
keit gegen  sich  ödere  Andere.  Nicht  so  selten  kann  der  transi- 
torische  Erregungszustand  sich  zu  einer  Reihe  von  manischen  Zer- 
störungsacten  steigern;  andere  Male,  namentlich  bei  jtingern  Indivi- 
duen, werden  Aufregungsstadien  mit  dem  Charakter  der  Moral  Insanity 
(brutale  Neckereien,  schamwidriges  Benehmen,  Schmieren)  als  kurze 
Durchgangsphasen  beobachtet. 

Erst  langsam  kämpft  sich  in  diesen  schweren  Fällen  die  Ge- 
nesung durch;  in  leichtern  vollzieht  sich  der  Uebergang  vergleichs- 


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218 


Die  acute  primäre  Dementia. 


weise  rascher;  bie  und  da  auffallend  rasch,  so  mit  Eintritt  der  bis 
dabin  cessirenden  Menses. 

In  schwereren  Fällen  bleibt  für  die  ganze  Uberstandene  Krankheit 
ein  vollständiger  Erinnerungsdefect  zurück;  in  leichtern  erhalten  sich 
einzelne  Erinnerungen,  aber  nur  an  den  Anfang  des  Stupors  (wie  es 
plötzlich  im  Kopfe  ganz  todt  geworden  und  der  Körper  nicht  mehr  habe 
bewegt  werden  können),  und  besonders  an  die  Zeit  der  Lysis  (erst  ganz 
fremdartige  Perception  der  Umgebung  mit  Verkennungen,  mühsames  Sich- 
Orientiren,  Einlernen  der  frühem  Dexterität).  Für  die  Krankheits  höhe  s 
bleibt  immer  Amnesie.  — 

Bemerkenswerth  ist,  dass  in  demselben  Verlauf  wiederholte 
Stupor-Anfälle  (einmal  in  demselben  Monate  in  zwei  auf  einander 
folgenden  Jahren)  auftreten  und  jeweils  in  Genesung  übergehen 
können. 

Ist  mittlerweile  die  Körperernährung  wesentlich  gestiegen,  so  kann 
der  zweite  Anfall,  obwohl  für  sich  mit  (graphisch  d.  h.  nach  den  Wä- 
gungsergebnissen)  derselben  quantitativen  Reduction  des  Körpergewichts 
einhergehend,  dennoch  milder  und  mit  abgekürzter  Reconvalescenz  ver- 
laufen, trotz  des  gleichen  klinischen  Symptomenbildes  und  einer  an- 
nähernd gleichen  Krankheitsdauer. 

Geht  die  acute  Dementia  in  chronische  Uber,  so  sind  ver- 
schiedene Verlaufsarten  möglich. 

Es  kann  sich  1 .  ein  erregter  Blödsinn  anschliessen  mit  vollständiger 
Amnesie  für  die  seit  dem  Stuporeintritt  vorgekommenen  Erlebnisse.  Der 
Kranke  erwacht  und  lebt  weiter  in  dem  zurückdatirten  frühem  Bewusst- 
seinskreis;  er  fühlt  nicht  die  mittlerweile  vorgegangene  Veränderung  in 
und  um  sich,  äussert  auch  früher  für  ihn  passende  Wünsche  und  Stre- 
bungen, aber  Alles  abgeblasst,  ohne  Energie,  schablonenartig.  Das  In- 
teresse, gegenwärtiges  und  früheres,  schwindet.  Die  Reproductionen 
werden  mehr  mechanisch  abgeleiert.  Der  Kranke  lebt  affectlos,  aber 
gleichwohl  reizbar,  nur  noch  in  der  Minute.  Mit  zunehmender  intellec- 
tueller  Verblödung  wird  der  Vorstellungsinhalt  immer  ärmer,  reducirter, 
schliesslich  dem  Kranken  selbst  unverständlich.  Der  Sinn  für  das  De- 
corum sinkt;  intercurrente  Congestivzustände  zum  Kopfe  (manische  Raptus) 
beschleunigen  den  Weg  zum  apathischen  Blödsinn.  —  Oder  aber:  2.  es 
bleibt  eine  chronische  Stupidität  zurück,  eine  Art  geistigen  Dämmer- 
lebens, in  welcher  der  Kranke  für  Nichts  mehr  Sinn  hat,  weder  für 
Gegenwärtiges  noch  für  Vergangenes,  weder  Dieses  noch  Jenes  mehr 
versteht,  oft  sein  nächstes  Vorleben,  seine  Familie  nicht  mehr  kennt,  ja, 
selbst  sein  eigenes  Ich-Bewusstsein  preisgibt  („ich  bin  nichts,  weiss  nichts, 
verstehe  nichts,  Alles  ist  nichts").  Interessant  ist  dabei  die  manchmal 
isolirte  Erhaltung  einzelner  früherer  Kunstfertigkeiten  (Kartenspielen, 
Singen  u.  s.  w.).  Dieser  Blödsinn  kann  sich  bis  zu  gewissen  Graden 
wieder  zurückbilden  und  der  Kranke  auf  einem  bescheidenen  geistigen 
Niveau  Jahre  lang  erhalten  werden.  —  Oder  endlich:  3.  es  schliefst  sich 
nach  einer  protrahirten  manischen  Uebergangsphase  (Moria)  ein  leidlich 


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Klinisches  Krankheitsbild.  „Organischer"  Stupor.  Ausgänge.  219 

lucider  Zustand  an,  mit  anscheinendem  Wiedergewinn  der  frühem  Per- 
sönlichkeit; aber  die  „Blume"  ist  hinweg  aus  dem  geistigen  Leben,  der 
Sinn  fllr  Höheres,  der  Tact,  ist  verloren  gegangen,  und  jenes  selbst  um 
einige  Marken  tiefer  eingestellt,  wenn  auch  keine  wesentlichen  Lücken 
herausgebrochen  sind.  Langsam  verlauft  dieser  Zustand,  und  zwar  trotz 
der  trügerisch  gebesserten  Körperernährung  (auch  trotz  der  wiederge- 
kehrten Menstruation),  nach  und  nach  in  immer  grössere  psychische 
Schwäche.  — 

In  einem  Falle  (29 jähriges,  erblich  nicht  belastetes,  vollsinniges, 
aber  zeitweilig  dem  Trunk  ergebenes  Mädchen)  trat  nach  einer  tiefen 
Gemüthsbewegung  einige  Tage  ein  sinnlos  aufgeregtes  Gebahren,  übrigens 
ohne  jegliches  Zeichen  einer  entzündlichen  Cerebralaffection,  ein  —  und 
8  o  f  o  r  t  nachher  ein  stupid  blödsinniger  Zustand.  Die  Kranke  staunte 
vor  sich  hin,  trippelte  herum,  sprach  nichts,  als  „ja"  und  „nein".  Die 
Gesichtsmuskulatur,  sowie  die  Zunge  und  Hände  zitterten  stark;  fehlender 
Patellar-  und  Triccpsreflex ,  erhaltenes  Fussphänomen.  Sie  appercipirte 
die  nächstliegenden  Dinge,  wusste  sich  aber  nicht  zu  orientiren.  Schon 
einige  Tage  später  verstand  sie  auch  die  einfachsten  vorgehaltenen  Gegen- 
stände nicht  mehr,  blieb  z.  B.  bei  Annäherung  einer  Scheerenspitze  gleich- 
gültig, lächelte  höchstens  blöde.  Nach  Umfluss  von  G  Wochen  10  Kilo 
Abnahme  am  Körpergewicht,  trotz  reichlicher  Nahrung,  leidlichem  Schlaf 
und  gänzlich  mangelndem  Affecte.  Vorübergehend  Temperatursteigerung 
bis  3S°;  dazwischen  auch  wieder  36,5.  Nach  8  weitern  Wochen  ist 
Patientin  eine  vollständige  psychische  Null;  sie  dämmert  vor  sich  hin, 
muss  gefüttert  werden  wie  ein  neugeborenes  Kind.  Hin  und  wieder  zeigt 
sich  ein  ausdrucksloses  Grinsen.  Die  Haut  verliert  ihren  Turgor;  zeit- 
weilige legale  Schweisse.  4  Wochen  später:  fortdauernde  Gewichtsab- 
nahme, Unreinlichkeit,  zeitweilige  automatische  Bewegungen.  Nun  kommen 
wiederholt  Erstickungskrämpfe,  plötzlich  Apnoe,  welche  Anfangs  unter 
Application  des  farad.  Pinsels  wieder  gehoben  werden.  8  Tage  später: 
Collaps  ohne  erschwerte  Respiration ;  Exitus  letalis.  —  Die  Autopsie  zeigte : 
hochgradige  primäre  Atrophie  der  Stirn-  und  Temporalwindungen,  und 
chronische  diffuse  Encephalitis  neben  Hydrops  ventricul.  —  (Hierher  ge- 
hört auch  der  im  Journ.  of  ment  sc.  1881  referirte  Fall  von  Bonville). 

Anhang.  Der  postmanische  (anergetische)  Stupor  tritt  nach 
gewissen  Fällen  von  Mania  gravis  auf.  Die  einleitende  Manie  ist 
durch  sehr  tiefe  Betäubtheit,  hallucinatorische  Verwirrung  oder 
blinden  Furor,  Congestivzustände  gewöhnlich  mit  Temperaturstei- 
gerung (bis  39°)  ausgezeichnet.  Die  Dauer  ist  in  der  Regel  nur 
eine  kurze,  wenige  Tage  bis  1—2  Wochen.  Der  sofort  mit  der 
Ruhe  eintretende  Stupor  zeigt  verschiedene  klinische  Bilder :  es  kann 
ein  vasomotorischer  Stupor,  ganz  wie  der  vorbeschriebene,  sich  ein- 
stellen, bald  mit,  bald  ohne  Attonität.  Die  Bewusstseinsstörung  ist 
jedoch  selten  eine  so  vollständige;  es  finden  immer  noch  Beziehungen 
mit  der  Umgebung  in  Form  einzelner  (mehr  oder  minder  klarer) 
Perceptionen  statt.   Ebenso  ist  selten  ein  Stimmungsmangel  wie  im 


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220 


Die  acute  primäre  Dementia. 


echten  Stupor  vorhanden ;  der  Kranke  erscheint  wohl  apathisch,  aber 
mit  einem  Zug  ängstlicher  Depression  oder  feindlichen  Misstrauens 
In  gleicher  Weise  kann  auch  die  vasomotorische  Neurose  fehlen, 
oder  unbedeutend  ausgeprägt  sein.  Dagegen  trifft  die  Reduction  der 
Körperernährung,  der  Mutacismus,  die  Nahrungsverweigerung  bei 
beiden  Formen  zusammen,  zum  Theil  auch  die  Passivität  des  Ge- 
sammtverhaltens,  welche  übrigens  beim  postmanischen  Stupor,  ent- 
sprechend der  activern  innern  Stimmungslage,  einen  Zug  von  con- 
trärer  Negation  beigemischt  trägt. 

Unzweifelhaft  liegen  diesen  individuellen  Nüancirungen  des  klinischen 
Bildes  theila  einfache  Erschöpfungs-,  theils  Hirndruckzustände  anatomisch 
zu  Gründe,  mit  allen  möglichen  Mischungen  und  Uebergängen.  Der 
„Hirndruck"  kann  oft  ein  so  grosser  sein,  dass  der  wie  ein  Klotz  da- 
sitzende Kranke  den  Eindruck  macht,  als  ob  er  einen  Keulenschlag  auf 
den  Kopf  erhalten  hätte,  und  dass  plötzlich  auf  ihn  eindringende  sensible 
Reize  Reöexzuckungen  durch  den  ganzen  Stamm  hervorrufen  —  wie  beim 
Thierexperimente  nach  vollzogener  Enthirnung. 

Unter  diesen  verschiedenen  grundliegenden  Verhältnissen  ist  der 
Verlauf  des  postmanischen  Stupors  ein  sehr  verschiedener.  Einfache 
Formen  mit  psychisch  motivirter  Attonität,  aber  ohne  mitbegleitende 
Vasoparese,  verlaufen  in  der  Regel  günstig,  wenn  auch  mit  sehr 
langer  Reconvalescenz.  Die  „Hirndruck"- Fälle  mit  der  grossen 
Stupidität  und  Gefässlähmung  (eiskalte  Extremitäten,  welche  selbst 
gegen  feuchte  lauwarme  Einpackungen  reactionslos  bleiben)  treten 
in  der  Regel  ihren  successiven  Niedergang  zum  apathischen  Blödsinn 
an  —  freilich  nicht  ohne  vorübergehende  lucidere  Zwischenzeiten, 
in  welchen  die  Kranken  Uber  quälende  Hallucinationen  (Schimpf- 
worte, Verfolgungen)  und  über  peinliche  Kopfgefühle  klagen  („man 
solle  ihnen  den  Kopf  zermalmen").  Dabei  Bulimie,  heftiger  Mastur- 
bationsdrang.  Manche  wachen  aus  ihrem  geistigen  (Gehirn-)  Schlaf 
intervallär  zum  Niveau  einer  einfachen  mechanischen  Arbeitsfähig- 
keit auf.  Aber  die  intercurrenten  Fluxionen  zerstören  jeweils  die 
leise  wieder  gehegten  Hoffnungen.  Manchmal  schliesst  eine  Phthise 
oder  ein  Darmkatarrh  nach  Jahresfrist  das  schwere  Leiden. 

2.  Die  stupide  (hallucinatorische)  Form.  Diese  Gruppe  bildet  eine 
klinische  Mittelstellung  zwischen  dem  echten  Stupor  und  der  folgenden 
Gruppe  der  primären  Dementia  ohne  Stupor.  Nach  Seite  der  Bewusst 
seinsstÖrung,  welche  auch  hier  das  primäre  und  maassgebende  Symptom 
bildet,  mischen  sich  traumartige  und  halblucide  Phasen;  es  ist  eine  Art 
blödsinnigen  Dämmerzustandes,  kein  vollständiger  Perceptionsabschhiss 
ohne  Innenleben,  wie  in  der  vorigen  Gruppe,  sondern  ein  halbwaches 
oder  selbst  zeitweise  waches  Bewusstsein,  aber  auf  der  niedersten  Stufe 
der  Function,  kaum  zureichend  für  die  nächstliegenden  Wahrnehmungen 


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„Postmanischer"  Stupor.  —  Stupid-hallucin.  Form  der  prim.  Dem.  221 


uod  einfachsten  Reactionen;  ein  Zustand  ungeheuerster  Verlangsamang  resp. 
Hemmung  der  intellectuellen,  gemtlthlichen  und  psychomotorischen  Thä- 
tigkeit.  Gleichwie  beim  echten  Stupor  ist  also  das  gedämpfte  und  ver- 
schwommene Wahrnehmen  nicht  durch  ein  abnorm  gesteigertes  Innenleben, 
welches  die  Reize  von  aussen  abhält,  bedingt  (wie  dies  beim  psychischen 
resp.  hallucinatorischen  Stupor  der  Fall),  sondern  durch  eine  primäre 
Betäubtheit  des  8ensoriums,  durch  eine  Functionsschwäche  der  gesammten 
geistigen  Hirntbätigkeit.  Die  dazwischen  laufenden  Sinnestäuschungen 
sind  nicht  selbständige  und  formgebende  Krankheitselemente,  sondern 
mehr  minder  zufällige  Begleiterscheinungen  —  in  psychologischer  Um- 
schreibung ausgedrückt:  vereinzelte  Reactionen  der  centralen  Sinnesfläche 
ohne  perceptiv  verarbeitende  und  associirende  Thätigkeit  des  (functions- 
schwachen)  Grosshirns.  Dieselben  sind  deshalb  hier,  im  Gegensatz  zum 
hallucinatorischen  stupiden  Wahnsinn  (dem  PseudoStupor),  auch  stets  nur 
fragmentar  und  abrupt,  während  sie  bei  dem  letztern  ebenso  zusammen- 
hängende Romane,  ja  oft  förmliche  Traumerlebnisse  bilden.  In  derselben 
Weise  erheben  sie  sich ,  den  ausserordentlich  plastischen  Formgebilden 
des  letztern  gegenüber,  sehr  oft  nur  zur  schattenhaften  Gestaltung  einer 
sog.  Pseudohallucination  d.  h.  der  „Objectivation"  automatischer  und  alo- 
gischer Gedankenvorgänge  in  Folge  des  Torpors  der  Reflexion. 

Gleichwohl  bestehen  zum  stupiden  und  namentlich  zum  attonischen 
Wahnsinn  vielfache  und  sehr  fliessende  Uebergänge,  deren  sichere  Ab- 
grenzung klinisch  nur  ermöglicht  wird  für  die  reinen  Fälle  und  nur 
durch  den  Gesammtcharakter  a  potiori:  hier  (bei  der  primären  Dementia) 
more  or  less  absence  of  cerebration,  dort  traumartiges  Innenleben; 
hier  motorische  Apathie  aus  demselben  Innervationsmangel,  dort  Atto- 
nität  oder  aber  paradoxes  Gebahren,  „Geberdenverrücktheit"  aus  Sinnen- 
wahn. Eine  weitere  Differenz  bringt  der  Verlauf  beider  Zustandsformen 
herbei ,  welcher  hier  einen  einfach  aufwärts  oder  abwärts  steigenden 
Gang  einhält,  dort  aber  einen  aus  allen  psychischen  Zustandsformen 
gemischten  polymorphen  und  dabei  cyklisch  zusammenhängenden. 

Voraus  geht  manchmal  eine  der  Umgebung  auffällige  Zerstreut- 
heit des  Wesens  und  Schwäche  des  Gedächtnisses.  Die  bis  dahin 
heitern  Mädchen  oder  jungen  Männer  werden  in  ihrer  Stimmung 
gedämpfter,  vorübergehend  deprimirt  oder  theilnahmslos.  Niemand 
kennt  die  Ursache  (Gemüthsbewegungen ,  Ueberarbeitungen ,  Nacht- 
wachen, Chlorose,  Menstruationsstörungen);  die  Kranken  am  wenig- 
sten selbst,  so  wenig  sie  ihren  eigenen  geänderten  Zustand  wahr- 
nehmen. Nun  überrascht  plötzlich  eine  grundlose  Aufregung,  welche 
unter  der  Hülle  einer  manischen  Beweglichkeit  sofort  einen  riesigen 
Zerfall  der  Persönlichkeit  erschreckend  offenbart.  Die  Kranken 
faseln,  tischen  allerlei  träumerische  Einfälle  auf  (glauben  plötzlich 
in  fremden  Ländern,  im  Himmel  zu  sein,  beten,  halluciniren  gelegent- 
lich), Alles  mit  ungeheurer  Indolenz,  ohne  sich  zu  verwundern,  im- 
provisiren  auch  einen  Raptus,  brutal  und  einsichtslos,  lachen  blöde 
wenn  sie  zur  Rede  gestellt  werden,  oder  geben  ein  läppisches  Ein- 


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Die  acute  primäre  Dementia. 


falls-Motiv  an.  In  diesem  unklaren  verschwommenen  Wesen,  ohne 
Consequenz  und  Ueberlegung,  rein  nur  in  der  Minute  wachend  oder 
träumend,  ohne  verbindende  Association,  dämmern  sie  hin. 

Bringt  man  sie  zu  einer  Antwort,  so  geben  sie  sehr  oft  und  immer 
wieder  Kopfschmerz  an,  aber  sie  wissen  ihre  Klagen  nicht  zu  verdeut- 
lichen, so  wenig  sie  selbst  ein  Bedürfniss  zu  Mittheilung  äussern.  Die 
gesprochenen  Sätze  sind  abrupt,  unklar,  unfertig  („ich  weiss  selbst  nicht  — 
ich  bin  einmal"  —  „da  macht  der  etwas  vor  —  ich  weiss  nicht,  wie's 
mir  ist"  u.  s.  w.).  Oft  kramt  der  Kranke  affectlos  die  barocksten  Ein- 
fälle aus  (,Jetzt  werden  wir  verbrannt"  —  „der  dort  ist  das  Kind  Je- 
sus"). Bald  schon  wissen  sie  auch  ihren  Aufenthaltsort,  selbst  ihren  Na- 
men nicht  mehr.  Vorübergehend  kann  sich  diese  Stupidität,  in  welcher 
sie  zum  Essen  u.  8.  w.  angehalten  werden  müssen,  zu  stärkerer  und  an- 
haltender motorischer  Erregung  steigern.  Sehr  oft  sind  es  Angstreflexe 
auf  Hallucinationen ;  die  Kranken  schreien  plötzlich  „Feuer",  suchen  in 
blindem  Drange  zu  entfliehen,  oder  sie  wiederholen  raptusartig  lebens- 
gefährliche Angriffe  gegen  die  Umgebung,  welche  sie  nicht  kennen  oder 
sehr  oft  verkennen ;  oder  endlich  sie  erschöpfen  sich  in  sinnlosen  Drängen 
(blasen  aus  Leibeskräften  stundenlang  mit  aufgeblähten  Backen  u.  s.  w.). 
Kleidung  und  Decorum  wird  nicht  mehr  beachtet  Manche  hängen  Tage 
lang  an  der  Thürklinke,  stürzen  sich  in  blindem  Drange  hinaus,  wieder- 
holen dabei  indolent  und  mechanisch  dasselbe  Wort,  dieselbe  perverse 
Phrase.  Oft  schieben  sich  auch  wirkliche  depressive  Momente  dazwischen, 
in  welchen  die  Kranken  fortverlangen,  oder  in  kläglicher,  weinerlicher 
Manier,  mit  kindischem  Jargon,  eine  Selbstbeschuldigung  vorbringen,  aber 
auch  nur  wie  geistesabwesend,  in  unklaren,  verworrenen,  oft  unvollendeten 
Sätzen.  Die  Stimmung  erhebt  sich  nicht  bis  zur  Stärke  des  Affects.  Sie 
achten  nicht  die  Temperaturunterschiede,  kennen  Uberhaupt  nicht  mehr 
die  kleinste  Fürsorge  für  sich;  sie  stürzen  halbangezogen  ins  Freie  und 
stellen  sich  mit  blossen  Füssen  in  den  Schnee  —  so  zerstreut,  rath-  und 
reactionslo8 ,  wie  vorher  im  Zimmer;  oder  sie  trippeln  stundenlang  mit 
unsicherem  Schritte  eine  kurze  Wegstrecke  hin  und  her  mit  steifer  ver- 
legener Armhaltung  und  vornüberhängendem  Kopfe,  tippen  gelegentlich 
mit  den  Händen  auf  den  Boden,  um  diese  oder  jene  Kleinigkeit  aus  dem 
Schmutze  zu  heben,  in  den  Mund  zu  fuhren  und  dem  Spiel  der  Kau- 
muskeln zu  überlassen.  Manchmal  gelingt  es  durch  irgend  eine  Näscherei 
oder  dargereichtes  Obst  sie  auf  eine  Stunde  zu  beruhigen;  aber  dann 
bleiben  sie  wiederum  theilnahmlos  sitzen ;  reicht  man  ihnen  eine  leichte, 
gewohnte  Handarbeit,  so  wissen  sie  nichts  anzufangen.  Zu  Allem,  was 
sie  beginnen,  müssen  sie  angetrieben  werden,  und  nur  langsam  zögernd, 
oft  eher  auf  ein  barsches  als  auf  ein  freundliches  Wort,  setzt  sich  die 
träge  Maschine  in  Bewegung.  Nicht  selten  hört  das  ohne  Kraft  und 
inneren  Trieb  inscenirte  Handeln  mit  dem  letzten  Worte,  welches  zu  sei- 
ner Aufmunterung  gesagt  wurde,  wieder  auf.  Auf  Anrede  geräth  der 
Kranke  in  sichtliche  Verlegenheit  und  in  unzweckmäßige  zitternde  Be- 
wegungen, erhebt  fragend  den  stieren  Blick,  wechselt  auch  die  Farbe, 
spricht  aber  nichts,  oder  bewegt  höchstens  und  fast  automatisch  die  Sprach- 
werkzeuge, ohne  einen  Laut  zu  produciren,  oder  von  inneren  Vorstellungen 


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Stupid-hallucinat.  Form  der  prim.  Dementia.  Verlauf.  223 


geleitet  zu  sein.  Seltener  nur  wird  ein  leises  Lispeln  oder  ein  „Ja"  oder 
„Nein"  vernehmbar,  letzteres  häufiger  als  ersteres.  Weder  die  gewählte 
Verschiedenheit  in  Ton  und  Ausdruck,  noch  die  Schwere  oder  Leichtig- 
keit des  Inhalts  vermögen  einen  Eindruck  zu  machen,  oder  wenigstens 
eine  passende  Reaction  hervorzurufen:  er  bleibt  stumm  und  hölzern. 
Auch  die  gemüthlichen  Interessen  sind  untergegangen;  weder  die  Lieb- 
kosungen, noch  die  Thränen  der  Angehörigen  beleben  die  „Bildsäule" 
zu  einer  Action,  das  gläserne,  zerfahrene  Auge  zu  einem  „Blick".  Ein 
Druck  scheint  auf  dem  Gehirn  zu  lasten  —  auch  nach  den  injicirten 
Conjunctivae,  dem  überwiegenden  Carotis- Pulse,  dem  warmen,  zur  Tran- 
spiration geneigten  Kopfe  zu  schliessen,  und  dieser  Druck  lastet,  aller 
ärztlichen  Einwirkungen  spottend,  oft  unverändert  durch  Wochen  und 
mehrere  Monate. 

In  günstigen  Fällen,  welche  hier  glücklicherweise  durchaus  nicht 
selten  sind,  bricht  nun  allmählich  eine  sichtliche  Hebung  der  ge- 
sunkenen Ernährung  durch;  das  Aussehen  wird  besser.  Nach  uud 
nach  nimmt  der  Kranke  auch  an  der  Arbeit  Theil,  Anfangs  noch 
mehr  zuschauend  als  mitwirkend,  ohne  Kenntniss  des  Zweckmässigen 
und  ohne  Energie.  Allmählich  regulirt  sich  der  bis  dahin  ausser- 
ordentlich trüge  Stuhl;  oft  wirkt  in  diesem  Stadium  auch  eine 
massige  Opiumgabe  wahrhaft  als  „Tonicum"  des  geschwächten  Ge- 
hirns. Die  Spannung  der  Züge  lässt  nach,  die  Haltung  des  Kranken 
wird  freier,  Interesse  und  persönliche  Zuneigung  stellen  sich  ein. 
Der  Kranke  gibt  Antwort,  stellt  auch  bald  selbst  Fragen,  freut  sich 
über  ihm  ertheiltes  Lob.  So  wird  fortschreitend  das  Benehmen 
immer  natürlicher.  An  die  Stelle  des  frühern  Schweigens  tritt  so- 
gar nicht  selten  jetzt  eine  kindische  Geschwätzigkeit.  Der  Kranke 
lernt  immer  mehr  sich  zu  orientiren.  Befangenheit  und  Schwäche 
des  Urtheils  bleiben  Anfangs  noch  lange  Zeit  zurück,  weichen  aber 
nach  und  nach  der  wiederkehrenden  frühem  Klarheit  und  Sicher- 
heit. Im  Verlauf  von  Monaten  —  Schritt  um  Schritt  —  wird  die 
Genesung  erkämpft. 

Bezüglich  der  Erinnerung  an  die  ttberstandene  Krankheit  variiren 
die  Angaben  der  Kranken  bedeutend.  Manche  wissen  Uber  den  Ausbruch 
der  Krankheit  und  das  Aufthauen  aus  dem  Stumpfsinn  wünschenswerthes 
Detail  zu  erzählen  —  was  aber  zwischen  diesen  Zeiträumen  liegt,  ist  wie 
ein  vergessenes  Traumleben  an  ihnen  vorübergegangen.  Andere  dagegen 
wissen  auch  aus  dieser  Phase  zu  berichten  und  erzählen  jetzt,  „dass  sie  da- 
mals ohne  Gedächtniss  und  Empfindung  gewesen,  dass  sie  keine  Worte 
mehr  gefunden,  dass  sie  Alles  hätten  glauben  müssen,  was  an  wirren  Ge- 
danken durch  ihren  Kopf  gegangen".  Im  Verlauf  von  3—4  Monaten  kann 
die  Genesung  —  und  dauernd  —  erreicht  sein. 

Ist  der  Verlauf  nicht  günstig,  so  vollzieht  sich  fortschreitend 
der  Niedergang  zum  chronischen  definitiven  Blödsinn.   Die  geistige 


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221 


Die  acute  primäre  Dementia. 


Persönlichkeit  zerfällt  in  Einzelacte  unter  der  Form  von  zerstreuten 
Einfällen,  unmotivirten  Antrieben  und  einer  zwischen  Apathie  und 
plötzlichen  Aufwallungen  schwankenden  unklaren  Gemüthsstimmung. 
Auch  hier  geht  (darin  verschieden  vom  secundären  Wahnsinn)  stets 
ein  leiserer  oder  tieferer  Sopor  —  eine  begleitende  Stupidität  —  mit. 
So  kann  der  Krankheitszustand  jetzt  schon  für  dauernd  abschliessen. 

—  In  andern  Fällen  treten  unregelmässig,  und  ganz  zusammenhang- 
los, Episoden  von  Furor  (Hallucinationen,  Zorn-Raptus)  dazwischen. 
Dann  folgen  ebenso  regellos  wieder  Stupiditäts- Phasen,  manchmal 
mit  nächfolgender  (betäubter)  Moria.  Mit  jedem  neuen  Anfall  ist 
ein  weiteres  Stück  geistigen  Capitals  unwiederbringlich  verloren. 
Die  Verblödung  (nach  Seite  des  Kopfes  wie  des  Herzens)  schreitet 
voran.  Viele  Kranke  vergessen  dauernd,  wie  sie  geheissen  haben, 
sie  leben  ausser  Raum  und  Zeit,  behaupten  tausend  und  noch  mehr 
Jahre  alt  zu  sein,  gestorben  und  wieder  auferstanden  zu  sein.  — 
Andere  bilden  sich  zu  einer  stationären  Blödsinnsform  aus,  in  wel- 
cher sie  in  ihrem  Vorstellungskreis  ganz  in  der  Zeit  und  Weise,  wie 
vor  ihrer  Erkrankung,  beharren:  sie  fahren  fort  als  Kaufleute  täg- 
lich ihre  Waaren,  ihren  Gewinn  und  Verlust  zu  berechnen;  die  Zeit 
und  die  Umgebung  geht  an  ihnen  spurlos  vorüber;  sie  verstehen 
nichts  mehr  davon,  bekümmern  sich  auch  um  nichts  mehr;  sie  ver- 
sinken im  Nichtsthun  oder  in  der  Monotonie  eines  längst  verlebten 
Vorstellungskreises  und  gemüthlich  in  einer  Indolenz,  welche  nur 
noch  für  Befriedigung  der  Leibesbedürfnisse  Raum  hat.  —  Wieder 
Andere  wenden  sich  einer  nichtssagenden  Vielgeschäftigkeit  zu, 
welche  treffend  als  „Form  ohne  Inhalt"  bezeichnet  wurde.  Sie 
üben  sich  in  einen  mechanischen  Tagesdienst  ein,  d.  h.  in  ceremo- 
nielle  Schablonen  ohne  Werth  und  Wirkung,  postiren  sich  an  die 
Thüren,  machen  devote  Complimente  an  die  Ein-  und  Austretenden, 
versehen  allerlei  nichtssagende  Functionen.  Andere  exerciren  reli- 
giöse Cultus-Geberden,  bekreuzen  sich,  knieen  hin  und  erheben  sich 

—  Alles  in  endloser  mechanischer  Wiederholung.  In  ihren  schrift- 
lichen Auslassungen  leisten  sie  Kinderbriefe  oder  verbalen  Gallima- 
thias.  —  Auf  noch  tiefern  Stufen  versinken  sie  endlich  in  mecha- 
nisches Verspielen:  sie  werden  Sammler,  denen  man  jeden  Abend 
ihre  Taschen  leert,  damit  sie  dieselben  am  andern  Tage  mit  der  alten 
Emsigkeit  wieder  füllen;  oder  aber  sie  verfallen  auf  automatische 
Bewegungen,  Strecken  und  Beugen  der  Extremitäten,  Herumwälzen 
des  Körpers,  GrimasBirungen,  Sicb-selbst-Schlagen,  fangen  ihre  Aus- 
leerungen auf,  schmieren  sich  ein,  verzehren  allerlei  Unratb  (Sand, 
Koth ,  Käfer  u.  s.  w.).   Auf  dieser  Stufe  des  apathisch  gewordenen 


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Stupid-ballucin.  Form.  Ausgänge.  —  Pseudo-  (psychischer)  Stupor.  225 

* 

Blödsinns  gesellen  sich  auch  die  schamlosen  Entäusserungen  des 
Sexualdranges  in  Form  cynischer  Angriffe  oder  rücksichtsloser  Ma- 
sturbation hinzu.  Besonders  zu  beachten  sind  auch  für  dieses  spätere 
Stadium  die  unregelmässig  periodischen  Raptus  von  Gewalttätigkeit 
(Zerstörungen  oder  drohende  Attaken  auf  die  Umgebung,  ohne  jedes 
Vorzeichen  und  verständliche  Motiv).   Weiteres  s.  u.  apath.  Blöds. 

Von  körperlicher  Seite  haben  sich  mittlerweile  längst  sehr  be- 
achtenswerthe  trophische  und  circulatorische  Zeichen  aufgethan.  Oft  schon 
nach  Dauer  von  kaum  wenigen  Wochen  bemerkt  man  eine  Überhandneh- 
mende Vasoparese  in  Form  der  bläulichen,  kalten,  leicht  schwitzenden 
Extremitäten.  Daneben  gehen  aber  in  der  Regel  auch  temperaturerhö- 
bende  Fluxionen  zum  Kopfe  einher,  besonders  in  den  intercurrenten  Er- 
regungsphasen. Viele  Kranke  erhalten  dadurch  ein  gedunsenes,  braun- 
röthliches  Aussehen  mit  Plumpheit  der  Gesichtszüge  und  einem  zunehmend 
stumpferen,  oft  geradezu  brutalen  Ausdruck.  Auffallend  ist  daneben  oft 
der  glänzende,  eigentlich  gläserne,  inhaltsleere  Blick.  (Weiteres  s.  u. 
apath.  Blödsinn.) 

Anhang.  Der  hallucinatorische  Stupor.  (Psychischer  Stu- 
por; stupider,  hallucinatorischer  Wahnsinn.)  Neuropathische  Anlage. 
Invalides  Gehirn.  Nach  einem  Vorstadium  von  psychischer  Reizbar- 
keit mit  Erschöpf  barkeit,  manchmal  mit  depressiver  Stimmung  und 
primärer  geistiger  Benommenheit  tritt  eine  Bewusstseinsverdunkelung 
bis  zu  illusorischer  Verkennung  der  Umgebung  und  einem  lebhaften 
hallucinatorischen  Innenleben  ein,  mit  Willenstorpor  und  mehr  oder 
weniger  vollständigem  (äusserlichem)  Stimmungsmangel.  Uebergang 
in  die  Genesung  theils  direct,  theils  durch  ein  manisches  Zwischen- 
stadium mit  psychischer  Schwäche  (Moria). 

Die  genannte  Psychoneurose  kommt  seltener  in  reiner  und  so  präg- 
nanter Form  vor,  dass  sie  für  die  Signatur  des  Krankheitszustandes  a 
potiori  maasagebend  wird;  häufiger  erscheint  sie  als  mehr  weniger  lange 
und  öfters  sich  wiederholende  Episode  in  constitutionellen  psychischen 
Neuropathieen  (Hysterie). 

Die  Vorläufer  sind  ein  gesteigerter  Status  nervosus,  nicht  selten 
mit  sexuellen  Reizzuständen,  oder  (bei  Mädchen)  menstrualen  Stö- 
rungen. Depressive  Gemüthsaffecte  wirken  als  fördernde  Gelegen- 
heitsursachen. Anomalieen  der  Stimmung,  namentlich  depressive  mit 
uiotivlosem  Weinen,  abwechselnd  mit  Reizbarkeit,  Eigensinn,  bizarren 
Einfällen  und  Begehrungen,  andere  Male  aber  auch  eine  vage  me- 
lancholische oder  hypochondrische  Gemüthslage  bilden  die  Einleitung. 
Damit  geht  ein  chlorotischer  Körperzustaud  mit  langsamer  Ernäh- 
mngsabnahme  Hand  in  Hand.  Der  Uebergang  in  den  Stupor  ge- 
schieht allmählich,  kann  aber  auch  (namentlich  bei  Recidiven)  rasch 
erfolgen.  —  Der  Stupor  selbst  charakterisirt  sich  durch  Apathie, 

Schale,  GeisVwVrankbeiteo.  3.  Aufl.  15 


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226 


Die  acute  primäre  Dementia. 


Abulie  mit  Negation,  und  einem  mehr  oder  weniger  tiefen  geistigen 
Dämmerzustand,  welcher  aber  nie  bis  zur  Stufe  der  vollen  Perceptions- 
losigkeit  herabsinkt.  Die  Kranken  sitzen  herum,  ohne  Beschäftigung, 
äussern  kein  Interesse  für  die  Umgebung,  weichen  jeder  Bewegung 
aus,  lachen  viel  vor  sich  hin,  beachten  kein  Decorum,  sind  wider- 
strebend gegen  Nahrungsaufnahme,  An-  und  Ausziehen,  werden  ge- 
legentlich bei  Zuspräche  auch  heftig,  bleiben  indolent  gegen  Auf- 
munterung oder  Zurechtweisung.  Hin  und  wieder,  bei  stärkerem 
Eindringen,  werden  Aeusserungen  laut,  welche  das  ausgedehnte 
hallucinatorische  Innenleben  und  gänzliche  illusorische  Verkennen 
der  Umgebung  kundthun. 

In  den  Speisen  sind  Mistkäfer;  die  zerschnittenen  Fleiscbstücke  sind 
belebt  und  bewegen  sich ;  auf  der  Hand  kriechen  Schlangen  und  veran- 
lassen die  schüttelnden,  oft  automatisch  träumerischen  Abwehrbewegnngen ; 
die  Umgebung  stinkt,  in  die  Ohren  sind  unreine  Ingredienzien  gestrichen, 
die  Zunge  gibt  Giftgeschmack  u.  s.  w. 

Dabei  bleibt  die  Stimmung  anscheinend  indolent  und  sind  die 
Kranken  schlaff  und  regungslos,  wenn  man  sie  nicht  anredet,  oder  nicht 
ein  innerer  Antrieb  sie  zum  Lächeln  oder  zu  irgend  einem  gelispel- 
ten Worte  bringt.  Die  Reinlichkeit  wird  nicht  beachtet,  ebenso  wenig 
die  Fürsorge  für  die  Kleider.  Initiative  und  Interesse  fehlen.  Der 
Kranke  beharrt  durch  Wochen  hindurch  in  diesem  Dämmerzustand. 
Die  Innervation  der  Muskeln  zeigt  keine  Anomalieen  (s.  u.);  auch 
Puls  und  Temperatur  nicht.  Die  Sensibilität  ist  erhalten,  das  Aus- 
sehen blass,  die  Körper-Ernährung  sachte  zurückweichend.  Sonstige 
trophische  Störungen  und  Lähmungserscheinungen  (Salivation)  wer- 
den nicht  beobachtet  Oft  steigern  sich  die  perversen  Empfindungen 
bis  zum  Gefühl,  dass  Körpertheile  fehlen,  oder  statt  des  eigenen 
Kopfes  ein  falscher  aufgesetzt  sei.  Auch  diese  innern  Wahrnehmungen 
gehen  meist  reactionslos  in  der  unermesslichen  Schlaffheit,  welche 
selbst  zu  wochenlanger  Bettsucht  führt,  unter.  In  andern  Fällen 
folgt  aber  ein  reactiv  manischer  Zustand,  gewöhnlich  in  Form  eines 
gereizten  Furors  mit  triebartigen  Entäusserungen  und  einem  zwischen 
zorniger  Gereiztheit  und  weinseliger  Heiterkeit  schwankenden  Stim- 
mungswechsel. 

Nach  kürzerer  oder  längerer  Dauer  (Wochen,  aber  auch  meh- 
rere Monate)  tritt  nach  und  nach  Ruhe  und  Klarheit  ein,  oft  lang- 
sam (s.  u.),  andere  Male  plötzlich,  oft  sofort  dauernd,  andere  Male 
transitorisch  auf  Stunden ,  und  dann  sofort  wieder  durch  neues  Ver- 
sinken in  die  Traumphase  abgelöst.  Mittlerweile  hat  sich  das  ge- 
sunkene Körpergewicht  und  die  Ernährung  gehoben,  in  der  Regel 


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Pseudo-  (psychischer)  Stupor.  Krankheitsbild.  Verlauf.  227 


in  steiler  Curve.  Diese  letztere  setzt  ihren  Anstieg  fort,  auch  wenn 
(bei  langsamer  Reconvalescenz)  die  manische  Uebergangsphase  sich 
einschiebt.  Dieses  Zwischenstadium  besteht  in  der  Regel  in  einer 
Aufregung  mittleren  oder  auch  nur  massigen  Grades  mit  dem  Cha- 
rakter der  Moria  (zuweilen  mit  Chorea). 

Heitere  muthwillige  Stimmung  mit  Neigung  zu  allerlei  Schabernack, 
rastloser  Handlungsdrang  mit  beständigem  Wechsel  der  Beschäftigung, 
Zerstreutheit  mit  Hingabe  an  bizarre  Einfälle,  gewöhnlich  mit  grosser 
Reizbarkeit  und  emotivem  Wesen,  so  dass  auf  jede  Einsprache  oder 
einen  versagten  Wunsch  sofort  kindischer  Trotz  und  Starrsinn,  andere- 
male  aber  auch  rasch  aufbrausender  Zorn  erfolgt;  Disputirsucht  oder  ge- 
hässiges Zuwiderhandeln  mit  alberner  Auflehnung  gegen  das  Gebot  oder 
Verbot  —  sind  die  wesentlichen  Züge. 

Nach  und  nach,  meist  erst  nach  Wochen,  gleicht  sich  dieselbe 
unter  weiterer  Besserung  der  Ernährung  und  Blutmischung  (bei 
Mädchen  nach  Regulirung  der  retardirten  resp.  cessirenden  Menses) 
unter  vorsichtiger  psychischer  Behandlung  in  die  Genesung  ab.  Die 
Erinnerung  an  die  durchlebte  Stupor- Phase  ist  eine  oft  bis  in  die 
Einzelnheiten  getreue;  man  erstaunt  dabei  über  das  bizarre  Traum- 
leben, welches  die  Kranken  geführt  haben. 

Eine  solche  Patientin  reiste  in  andere  Welten  oder  im  Fluge  durch 
audere  Länder;  vor  ihr  entstanden  Städte  und  versanken;  über  die  Erde 
weg  flog  sie  zur  Sonne  und  wurde  von  göttlicher  Wonne  durchglüht; 
dann  bildete  sie  als  Centrai-Sonne  den  Mittelpunkt  des  „Alls",  an  wel- 
ches die  anderen  Wesen  „wie  magnetisch"  sich  angliederten  u.  s.  w.  An- 
deremale  wandelt  sie  sich  in  Thiere  um,  bald  in  Blindschleichen,  dann 
in  Löwen  oder  in  einen  Mammuth,  in  dessen  Gestalt  sie  der  Sintfluth  bei- 
wohnte, und  anschwimmende  Leichen  abzuwehren  hatte.  Alles  um  sie 
lebte:  Heere  von  Soldaten,  klein  wie  Käferchen,  aber  aufs  Vollstän- 
digste equipirt ,  „sogar  mit  Blechmusik"  zogen  sie  in  ihrem  Zimmer  auf, 
und  schlüpften  behend  in  die  Poren  ihres  Körpers  ein.  Von  sich  selbst 
hatte  sie  bald  richtiges  Bewusstsein,  bald  fühlte  sie  sich  in  allerlei 
Körper-  und  Seelenwandlungen.  Am  merkwürdigsten  imponirten  ihr  die 
eigentümlichen  illusorischen  und  hallucinatorischen  Spiele  während  des 
Stupors:  sie  sah  die  eintretenden  Personen,  aber  in  beständig  neuen 
Masken;  plötzlich  konnten  dieselben  ganz  verwesen  in  Luft  oder  ver- 
glimmen in  feuriger  Lohe,  oder  auch  in  „schwarzer  Lethe"  zerrinnen  — 
vorübergehend  zur  empfindlichen  Trauer  der  Kranken.  Die  Illusionen 
im  vorgesetztem  Essen  waren  geradezu  haarsträubend:  abgeschnittene 
Menschenköpfe,  „flehende  Augen",  Zungen,  Leichentheile ;  dann  aber 
auch  wieder  Schlangen  und  Würmer  krochen  täglich  Uber  ihren  Speise- 
teller. —  Aus  der  Zeit  des  sich  lösenden  Stupors  wird  namentlich  die 
Erinnerung  an  die  ersten,  wieder  richtigen  Wahrnehmungen  aufbewahrt, 
welche  Anfangs  noch  neben  jenen  Schattenfiguren  einherliefen,  aber  doch 
wirksam  blieben.  So  wissen  manche  Kranke  getreu  und  lebhaft  von  dem 
ersten  nachhaltigen  psychischen  Eindruck  zu  erzählen,  von  einem  freund- 

15* 


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228 


Die  acute  primäre  Dementia. 


liehen  Wort,  einer  ihnen  erwiesenen  Aufmerksamkeit  (Blume),  woran  sie 
sich  wieder  zur  Wirklichkeit  emporrankten  und  fortschreitend  sich  selbst 
wiederzufinden  vermochten  (s.  Melanch.). 

Es  gibt  nun  auch  noch  gewisse  Fälle  von  hallucinatorischem 
PseudoStupor  mit  Status  attonitus  in  Form  vorübergehender  allge- 
meiner oder  localer  kataleptischer  Zustände  (minutenlanges  Auf- 
heben des  Armes,  tage-  und  wochenlange  Schief haltung  des  Kopfes; 
Einschlagen  oder  Ausstrecken  eines  oder  mehrerer  Finger  u.  s.  w.) 
und  gleicher  Verlaufsform  wie  die  vorbeschriebene.  Es  ist  klinisch 
bemerkenswerth ,  dass  bei  diesen  Uebergängen  zum  echten  Stupor 
die  mitbegleitende  vasomotorische  Neurose  fehlt,  oder  nur  als  Träg- 
heit und  Schwäche  der  Circulation  (welche  hier  ebenso  gut  einfaches 
Symptom  der  allgemeinen  Anämie  sein  können)  angedeutet  ist. 

b.  Die  acute  primäre  Dementia  ohne  Stupor.  Diese  zweite  Haupt- 
gruppe steht  bezüglich  der  Häufigkeit  ihres  Vorkommens  der  vorher  be- 
schriebenen (mit  Stupor)  zweifellos  nach.  Doch  sind  die  mittelgradigen 
Zustände  immerhin  in  postfebrilen  Zuständen,  namentlich  nach  schweren 
Infectionskrankheiten  wie  Typhus  und  Variola,  und  speciell  im  Puerperium, 
noch  ziemlich  häufig.  Die  extremen  und  zugleich  acut  resp.  subacut  ver- 
laufenden Fälle  durften  dagegen  sehr  selten  sein  (Bins  wanger).  Zahlrei- 
cher sind  die  Fälle  von  primärer  hochgradiger  Dementia  mit  chronischem 
Verlauf,  worunter  die  nach  Kopfverletzungen  ätiologisch  in  erster  Reihe 
stehen. 

Als  postfebrile  Psychose  stellt  die  primäre  Dementia  den  acuten 
Erschöpfungszustand  des  Gehirns  nach  dem  consumirenden  Fieber- 
process  dar.  Die  Kranken  sind  motorisch  und  psychisch  aufs 
Aeusserste  geschwächt.  Sie  sitzen  tagelang  herum,  ohne  ein  Wort 
zu  sprechen;  die  Wahrnehmungen  sind  ihnen  unklar  und  selbst  in 
der  einfachsten  Form  unverständlich.  Sie  wissen  sich  nicht  in  ihrem 
Aufenthalte  zu  orientiren,  und  müssen  gepflegt  werden  wie  Kinder. 
Die  leichtesten  Rechenexempel  misslingen;  manche  Kranke  ver- 
sichern, dass  sie  Anfangs  sogar  ihren  Namen  nicht  mehr  gewusst 
hätten.  Die  Stimmung  ist  indolent  oder  weinerlich.  Mit  zunehmen- 
der Körperkräftigung  tritt  die  psychische  Reconvalescenz  ein,  und 
erholt  sich  der  Kranke  aus  seinem  transitorischen  Blödsinn  wieder 
in  den  allmählichen  geistigen  Vollgenuss  des  Status  quo  ante.  Manch- 
mal geht  dieser  Weg  zur  Genesung  erst  durch  zwischenlaufende 
manische  Erregungszustände  hindurch.  Andere  Kranke  behalten 
auch  nach  der  Genesung  noch  auf  Jahre  hinaus  eine  geistige  Er- 
schöpfbarkeit  und  geringere  Widerstandsfähigkeit. 

Hierher  gehören  auch  die  in  der  Literatur  aufgeführten  Fälle  von 
primärer  acuter  Dementia  nach  Strangulationen,  sowie  nach  Kohlenoxyd- 
gas- Vergiftungen.    Ich  vermag  dieselben  um  eine  Beobachtung  zu  er- 


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Klin.  UebergäDge  zwiscb.  psych,  u.  org.  Stupor.  —  Prim.  Dem.  ohne  Stupor.  229 

weitem.  Ein  4 6 jähriger,  erblich  nicht  belaateter  Mann,  gerieth  aus 
psychischen  Ursachen  in  beginnende  Melancholie,  in  welcher  er  einen 
Erhängungsversuch  machte,  aber  noch  rechtzeitig  abgeschnitten  wurde. 
Heftige  Convnlsionen  und  ein  Zustand  stupid-manischen  Gebahrens  durch 
mehrere  Stunden  folgten  der  gelungenen  Rettung.  Von  nun  an  war 
der  Kranke  blödsinnig,  und  zwar  machte  er  den  Eindruck  eines 
Paralytikers  mit  ungleichen  Pupilleu,  ungleicher  Innervation  der  Gesichts- 
züge, steifem  Gange,  verlangsamter  Sprache.  Letztere  führte  der  Kranke 
selbst  auf  die  überstandenen  Krämpfe  (nach  dem  Erhängen)  zurück.  Der 
psychische  Zustand  war  der  einer  vollständigen  Indolenz  mit  weiner- 
lichem Wesen,  geschwächtem  Gedächtnis  und  Urtheil,  raschem  unmoti- 
virtem  Umschlag  der  Stimmung  von  euphorischem  Wohlbehagen  in  kin- 
disches Weinen.  Der  Kranke  wusste  sich  nicht  auf  unmittelbare  Vor- 
gänge zurückzuerinnern,  und  sagte  wiederholt  selbst:  er  sei  blödsinnig. 
Nach  Umflus8  von  8  Monaten  langsam  beginnende  Besserung  mit 
allmählichem  Uebergang  in  Heilung,  aber  bleibendem  leisem  De- 
fect.  Später,  nach  Jahren,  Recidive  mit  Uebergang  in  Unheilbarkeit.  — 
Auch  die  psychischen  Schwachsinnszustände ,  welche  im  Gefolge  der 
Cachexia  strumipriva  auftreten,  dürften  hier  einzureihen  sein.  — 

Unter  den  Graviditätspsychosen  sind  namentlich  die  milderen 
Fälle  relativ  häufiger.  Man  trifft  nicht  selten  nach  einem  Partus 
mit  starkem  Blutverlust  und  nachfolgender  angreifender  Lactation 
(besonders  bei  ungenügender  Ernährung  oder  nach  Gemttthsbewe- 
gungen)  primäre  geistige  Schwächezustände  ganz  acuter  Entstehung, 
welche  direct  das  Bild  einer  ausgeprägten  Dementia  darbieten. 

Meist  sind  es  die  versatilen  Formen  des  Schwachsinns :  die  hoch- 
gradig anämischen  Kranken  gerathen  nach  kurzem  Vorstadium  eines  ge- 
steigerten Status  nervosus  mit  Schlaf losigkeit  in  Unruhe;  sie  wissen  sich 
in  ihrer  Umgebung  nicht  mehr  zurecht  zu  finden,  kennen  Kind  und  Mann 
nicht  mehr,  haben  keinen  Sinn  für  die  einfachsten  Anforderungen  des 
Decorum,  müssen  gepflegt  und  zur  Beachtung  der  Reinlichkeit  und  Ein- 
nahme der  Nahrung  angehalten  werden.  Ohne  jede  Schätzung  einer 
Gefahr  machen  sie  lachend  die  waghalsigsten  Experimente,  sie  verzehren 
ohne  Sättigungsgefühl,  was  ihnen  in  die  Hand  kommt,  nehmen  weg,  was 
sie  sehen,  und  stecken  es  ein.  Dabei  vermögen  sie  kaum  auf  die  ein- 
fachste Frage  Antwort  zu  geben,  sie  widersprechen  sich  ohne  es  zu 
merken,  finden  die  einfachsten  Worte  nicht  mehr,  machen  die  barocksten 
Umschreibungen  (Pseudaphasie),  verkennen  die  Personen  (und  zwar  immer 
wieder  anders,  je  nach  ihren  Einfallen),  leben  —  wach  —  ausser  Raum 
und  Zeit. 

Andere  scheinen  ihre  Vergangenheit  ganz  vergessen  zu  haben,  leben 
barmlos  und  unbekümmert  in  den  Tag  hinein,  haben  keine  Frage  und 
keine  Antwort.  Für  sich  bilden  sie  bald  ein  Perpetuum  mobile  (wobei 
sie  stundenlang  im  Kreise  herumlaufen,  dieselbe  Melodie  pfeifen,  son- 
derbare Bewegungen  mit  Kopf  und  Händen  machen,  bei  jeder  Annähe« 
rang  oder  Berührung  sich  schütteln  oder  grimassiren  j ;  bald  kauern  sie 
in  den  Ecken  umher,  bespucken  den  Boden,  schreien  oder  lachen  gele- 


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230 


Die  acute  primlre  Dementia. 


gentlich  hinaus,  leben  nur  in  Minuteneinfällen,  in  welchen  sie  sich  ver- 
spielen, oft  kindisch,  oft  mehr  in  der  Form  einer  neckischen  oder  brutal 
plumpen  Moria.  Dazwischen  treten  auch  dann  und  wann  einzelne  Hallu- 
cinationen  ohne  System  und  Ordnung,  welchen  die  Kranken  bald  indiffe- 
rent sich  hingeben,  bald  aber  auch  durch  panphobische  oder  gewalttä- 
tige Reactionen  antworten.  Oft  halten  sie  stundenlange  Monologe  in 
wechselnden  Sing-  und  Brummtönen;  anderemale  sind  sie  in  tagelangeil 
Schweigen  versunken  und  widerstreben  heftig.  Der  Verlauf  kann  ein 
günstiger  sein  (durch  die  Moria  hindurch  mit  zunehmendem  psychischen 
G ehalt  und  Hemmungsvermögen),  nicht  selten  aber  auch  ungünstig  (Onanie) 
zu  dauernder  blödsinniger  Abstumpfung. 

Seltener  ist  die  acute  apathische  Form  des  Blödsinns.  Der 
Binswanger'sche  Fall  bietet  eines  der  wenigen  bis  jetzt  bekannten 
und  zugleich  eclatantesten  Beispiele. 

Eine  Frau  von  30  Jahren,  ohne  erbliche  Belastung,  mit  guter 
Schulbildung,  aber  von  dissolutem  zugleich  kümmerlichem  Lebenswandel, 
wird  schwanger  und  gerätb  (gegen  Ende)  nach  einer  flüchtigen  Aufre- 
gung (lautes,  unarticulirtes  Schreien,  verworrenes  Sprechen)  in  einen  Zu- 
stand tiefster  geistiger  Abstumpfung,  in  welchem  sie  ihren  Namen,  ihr 
Alter  nicht  mehr  weiss,  die  einfachsten  Gegenstände  verwechselt,  meist 
nur  mit  irgend  einem  gerade  einfallenden  Worte  oder  aber  mit  Brummen 
antwortet,  nicht  einmal  an  die  inzwischen  erfolgte  Niederkunft  sich  er- 
innert, die  dahinzielenden  Fragen  bald  bejaht,  bald  verneint.  Körper- 
licher8eits  war  Kühle  der  Extremitäten,  sehr  herabgesetzte  Aesthesis, 
unwillkürlicher  Urinabgang  vorhanden.  Die  Kranke  erholt  sich  einige 
Wochen  nachher  unter  gleichzeitiger  Hebung  des  sehr  herabgesetzten 
Körpergewichts  allmählich  wieder  zur  Besserung  ihrer  geistigen  Fähig- 
keiten auf  den  Status  quo  ante;  bleibt  aber  ohne  Erinnerung  an  die 
durchlebte  Zeit  der  Erkrankung.  — 

Dieser  Beobachtung  einer  directen,  ohne  Stupor,  eingeleiteten  pri- 
mären Demenz,  welche  sich  von  dem  sonst  Symptomengleichen,  apathisch- 
secundären  Terminal-Blödsinn  nur  durch  Heilbarkeit  unterschied,  kann 
ich  zwei  weitere  aus  meiner  hiesigen  Beobachtung  anführen.  Die  erste 
betrifft  mehr  einen  partiellen  acuten  Blödsinn  —  eine  primäre  Ge- 
föhlsabstumpfung  und  Abulte  mit  theilweiser  Amnesie  und  vollständiger 
intellectueller  Interesselosigkeit,  gleichfalls  im  Gefolge  des  Puerperiums. 
Eine  junge,  in  sehr  angenehmen  Verhältnissen  glücklich  lebende  verhei- 
rathete,  Frau  war  im  Anfang  der  zweiten  Schwangerschaft  vorübergehend 
leicht  melancholisch  afficirt,  aber  später  wieder  geistig  wohl  geworden. 
Da  begibt  sie  sich  in  einem  der  letzten  Graviditätsmonate,  nachdem  sie 
heftige  Leibschmerzen  gefohlt  hatte,  auf  das  Closet  und  legt  sich  nach- 
her, ohne  dass  der  Umgebung  das  Mindeste  aufgefallen  wäre, 
zu  Bett.  Am  dritten  Tage,  nachdem  die  Kranke  ganz  zufrieden  und 
ohne  Klage  sich  im  Bette  gehalten,  bemerkt  man  Blutspuren.  Der  her- 
beigerufene Arzt  constatirt  eine  vor  einigen  Tagen  stattgefundene  Nie- 
derkunft, welche,  wie  die  spätere  Untersuchung  erwies,  auf  dem  Abort 
sich  vollzogen  hatte.  Die  Kranke,  welche  im  Moment  der  Niederkunft 
nicht  bewusstlos  war,  aber  das  Vorgefallene  vergessen  hatte, 


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Primäre  Dementia  ohne  Stupor. 


—  Therapie. 


231 


blieb  auch  nachher  vollständig  indifferent.  Sie  war  oberflächlich  heiter, 
aber  abuliscb,  bekümmerte  sich  um  Nichts,  nahm  Alles  wahr,  gab  rich- 
tige Antworten,  und  hielt  nur  auf  ihre  Bettlage.  Sie  war  sehr  anämisch. 
Nach  vorübergehender  scheinbarer  Besserung  durch  eine  Zerstreuungs- 
reise stellte  sich  mit  dem  Widereintritt  der  Menses  derselbe  acut  blöd- 
sinnige Zustand  abermals  ein.  Erst  eine  mehrmonatliche  Cur  in  einem 
Asyl  befreite  sie  jetzt  dauernd  aus  der  geistigen  Abstumpfung,  und  stellte 
ihre  frühern  psychischen  Fähigkeiten  in  vollem  Umfang  wieder  her. 

Der  zweite  Fall  ist  durch  seine  Anamnese  bemerkenswerth.  Ein 
junger  Mann  wurde  durch  den  heftigen  Knall  einer  unerwartet  neben 
ihm  losgehenden  Kanone  aufs  Tiefste  erschreckt  und  büsste  zugleich  sein 
Gehör  ein.  Sofort  nach  diesem  Ereigniss  trat  eine  Umänderung  seines 
Wesens  ein:  früher  freundlich,  wurde  er  jetzt  düster,  menschenscheu,  ge- 
reizt, wollte  nicht  mehr  arbeiten;  auf  Zuspruch  benahm  er  sich  heftig 
und  gewaltthätig.  In  der  Folge  progressive  und  rapide  Zunahme  des 
Blödsinns:  allgemeine  Theilnahmlosigkeit,  starrsinniger  Widerstand,  zeit- 
weiliges Schimpfen  mit  Andeutungen  von  Verfolgungswahn  (Gehörshailuc.) ; 
Verstösse  gegen  das  Decorum,  Gehässigkeit.  Unaufhaltsamer  Zerfall  in 
bleibenden  apathischen  Blödsinn.  —  Daran  schliessen  sich  die  acuten 
primären  Dementia-Zustände  aus  Kopfverletzungen  an  (s.  die  Monogr. 
von  Sehlager,  Krafft-Ebing  und  die  neueste  Bearbeitung  von  Hart- 
man n,  Aren.  f.  Psych.  15). 

Therapie. 

Die  Behandlung  des  attonischen  Stupors  ist  eine  symptoma- 
tische: Bettruhe,  Sorge  für  genügende  Ernährung,  für  Reinlichkeit. 
Manchmal  genügt  die  Darreichung  kräftigen  Leguminosen-Schleims 
(Peptonchocolade)  mit  dem  Löffel,  welchen  man  vorsichtig  bis  gegen 
den  Zungengrund  vorschiebt,  anderemale  ist  die  Sonde  nöthig.  Für 
Reinhaltung  des  Mundes  ist  bei  dem  starken  Ptyalismus  durch  Aus- 
spülung mit  Kali  chlor.  Sorge  zu  tragen.  Pflege  der  Haut  durch  lau- 
wanne Bäder  (Seifenbäder).  Grosse  Sorgfalt  beim  Wechseln  der 
Bettwäsche,  da  ein  festeres  Anfassen  des  Kopfes  mit  der  flachen 
Hand  schon  genügen  kann  ein  Othämatom  zu  erzeugen.  Von  Zeit 
zu  Zeit  Probung,  ob  nicht  hinter  der  äusseren  Stupormaske  bereits 
einige  Perception  wiederzukehren  begonnen  hat:  dies  geschieht  durch 
Application  leichter  Hautreize  (Kitzeln,  passive  Gliederbewegungen 
u.  8.  w.),  welche  wiederholt  werden,  sowie  sich  einige  Reaction 
seitens  des  Patienten  zeigt.  Unter  sorgfältiger  Berücksichtigung  der 
nervösen  Erschöpfbarkeit  des  Kranken  wird  die  Wiederholung  in 
grösseren  Pausen  fortgesetzt.  Oft  versagt  der  Versuch  nach  anfang- 
lichem Gelingen  wieder,  und  man  muss  aufs  Neue  zuwarten ;  andere 
Male  aber,  besonders  wenn  bereits  der  Fortschritt  der  Körperernäh- 
rung, die  Hebung  des  Pulses,  zeitweilige  spontane  Bewegungen  des 


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232 


Die  acute  primäre  Dementia. 


Kranken  den  Nachlass  des  Hemmungszustandes  ankündigen,  werden 
die  Reactionen  des  Kranken  immer  ausgiebiger,  zielvoller,  mit  sicht- 
lichem Affect  begleitet.  Nicht  selten  gelingt  es  so  die  leise  be- 
gonnene Reconvalescenz  zu  beschleunigen,  und  den  Kranken  mehr 
minder  rasch  zur  Perceptionsfdhigkeit  zurückzuführen.  In  anderen 
Fällen  vollzieht  sich  diese  Rückkehr  mit  Besserung  des  somatischen 
Zustandes  von  selbst.  Die  nun  folgende  Erholungs-  oder  Reactions- 
periode  ist  nach  psychischer  und  somatischer  Seite  aufs  Sorgfältigste 
ärztlich  zu  leiten.  Der  wieder  erwachende  Kranke  ist  entweder 
schwachsinnig  ruhig  und  indolent,  oder  schwachsinnig  aufgeregt  und 
reizbar.  In  beiden  Fällen  gilt  es:  die  kleine  geistige  Kraft  zu 
schonen,  sie  methodisch  langsam  zu  üben  ohne  Uberanzustrengen, 
sie  gemüthlich  anzuregen  ohne  zu  reizen.  Es  gilt  nichts  Geringeres 
als  die  Rückerziehung  eines  einsichtslosen,  oft  eigensinnigen,  auf 
directen  Widerspruch  oft  convulsivisch  reagirenden  Kindes.  Bei  ge- 
steigerter Reizbarkeit  Xeres  mit  kleinen  Gaben  Opium;  häufige  lau- 
warme Bäder;  Gewährung  kleiner  Aufmerksamkeiten,  von  Esswün- 
schen  u.  s.  w.  Daneben  körperlich  umfassende  Methodus  roboraus 
(China,  Malz-Extract,  Bettruhe,  Diät,  Sitzen  im  Freien  u.  s.  w.); 
sachter  Wiederbeginn  einer  leichten,  vorerst  mehr  mechanischen  Be- 
schäftigung. Grosse  Vorsicht  mit  Besuchen  der  Angehörigen,  oder  mit 
Briefen!  Diese  Reconvalescenzzeit  ist  oft  auf  lange  Wochen  hinaus 
eine  grosse  Geduldsprobe  für  den  Arzt;  der  Kranke  muss  förmlich 
Schritt  um  Schritt  wieder  in  die  frühere  Norm  eingewöhnt  werden; 
andere  Male  vollzieht  sich  die  Rttck-Orientirung  rascher.  Der  Ge- 
nesene muss  einige  Zeit  noch  Quarantäne  in  der  Anstalt  halten.  — 
Die  hallucinatorisch-stupide  Form  verlangt  neben  sorg- 
samer somatischer  Pflege  (Diät,  Schlaf)  möglichste  Beruhigung  gegen 
die  verwirrenden  Einwirkungen  der  Hallucinationen.  Gegen  diese 
wirkt  wiederum  Opium  sehr  oft  zurückdrängend;  bei  Widerstand 
des  Kranken  in  subcutaner  Form.  Nimmt  die  acut  demente  Be- 
täubung zu,  dann  sorgfältige  Aufsicht  gegen  mögliche  Selbstbeschä- 
digung des  Kranken  (Verschlucken!),  für  regelmässige  Besorgung 
von  Urin  und  Stuhl,  gegen  intercurrente  Congestionen  (Bäder,  Hiru- 
dines,  Ableitungen;  bei  Frauen  Beachtung  der  event.  cessirenden 
Menses).  Wird  der  Zustand  chronisch,  zeigt  sich  livide  und  gedun- 
sene Gesichtsfarbe,  event.  Stirnödem,  dann  sind  in  Pausen  wieder- 
holte Ableitungen  angezeigt;  mehrfach  erwies  sich  uns  jetzt  die 
Einreibung  der  Brech weinsteinsalbe  sichtlich  günstig;  bei  reactiven 
Aufregungszuständen  sind  Bäder  und  Opium  indicirt  Sobald  es 
angeht  und  die  Körperkraft  es  zulässt,  muss  sofort  mit  der  Rttck- 


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Das  hysterische  Irresein. 


233 


erziehung  des  Kranken  begonnen  werden,  welcher  oft  noch  lange 
in  seinen  Sinnestäuschungen  sich  verspielt:  eine  individuell  ange- 
paßte Beschäftigung  führt  auch  hier  am  sichersten  in  die  Wirklich- 
keit ein.  —  Bei  Frauen  sind  die  Menseszeiten  sorgsamst  zu  beauf- 
sichtigen (Bettlage). 

Der  anergetische  Stupor  erfordert,  frisch  entstanden,  Ruhe 
(psychisch  und  körperlich),  Uebung  der  Ernährung,  sorgsamste  Abhaltung 
aller  Reize,  Bekämpfung  intercurrenter  Fluxionen.  Wiederholt  leisteten 
mir  methodisch  Priessuitz'sche  Einpackungen  mit  Eisbehandlung  des  Kopfes 
gute  Dienste.  Die  Nahrungsverweigerung  kann  vorübergehend  Sonden- 
gebrauch erfordern.  In  spätem  protrahirten  Stadien  (wenn  alle  fluxionären 
Reizerscheinungen  vorUber)  sind  zeitweilige  Kopfdouchen  ein  sehr  wirk- 
sames Mittel;  ebenso  faradische  Pinselung.  Daneben  Erziehung  zu  kör- 
perlicher Beschäftigung  mit  Muskelbewegung  (Massage  unter  Umständen). 
Während  der  ganzen  Stuporzeit  ist  sorgfaltige  Beaufsichtigung  (gegen 
etwaige  Raptus  von  Gewaltthätigkeit)  Uber  den  Kranken  zu  führen. 


Das  hysterische  Irresein. 

Literatur  über  Hysterie  im  Allgemeinen  siehe  Jolly,  d.  Handb.  12, 
mit  ausführt.  Literatur. 

Hysterisches  Irresein:  Morel,  I.e.  —  v.  Krafft-Ebing,  Lehrb.  II. 
—  Hyster.  Epilepsie:  d'Olier,  Ann.  m£d.  psych.  1881.  —  Richer,  Monogr. 
Paris  ISS I .  —  F6re,  Arch.  deNeur.  1882.  —  Huchard,  Ibid.  —  Dobie,  Brain 
1SS2.  —  Mabille,  l'Enceph.  1S83.  —  Bourneville  et  Bonnaire,  Arch.  de 
Neur.  IS84  (bei  einem  jungen  Manne).  —  Aetiologle:  Skene,  Arch.  of  med.  III. 
u.  Schm.  Jahrb.  186  (Zusammenhang  mit  weiblichen  Sexualerkrankgn.).  —  Opera- 
tive Therapie:  Maenner,  Deutsche  allgem.  Wochenschr.  1881  (Castration  mit 
Erfolg).  —  Landau  u.  Reimak,  Zeitschr.  f.  kliu.  Med.  VI  (gegen).  —  Goodell, 
Am.  Journ.  of  Ins.  1S82  (theilweise  erfolgreich).  —  Flechsig,  Neurol.  Centrlbl. 
1>S4.  (Erfolg).  —  Richter,  Berl.  kl.  Wochenschr.  188U.  (psych.  Therapie  bei  mo- 
tor.  Störungen).  —  Culerre,  Ann.  me\l.  psych.  18S0.  (Metallotherapie). 

Neuere  Epldemieen:  Chiap,  G.  e  F.  Franzolini,  Riv.  Bper.  V.  — 
Tamburini,  Ibid.  —  Colin,  Ann.  d'hyg.  publ.  isso. 

Die  Grundlage  der  hierher  gehörigen  ausserordentlich  formen- 
reichen psychopathischen  Zustände  bildet  das  sog.  „hysterische  Tem- 
perament" d.  h.  der  in  succum  et  sanguinem  übergegangene  byste- 
risch-neuropatbische  Charakter.  Dieser  letztere  kann  entweder  die 
Weiterentwickelung  und  Vollendung  der  hereditären  Neurose  (s.  d.) 
bilden,  oder  aber  erworben  sein  in  Folge  eines  invalid  gewordenen 
Nervenlebens ,  wobei  gewisse  Sexual-  und  Uterinzustände  von  er- 
fahrungsgemäss  wichtigem  Einflüsse  sind. 

a)  Das  hysterische  Temperament.  Bezeichnen  wir  in  Kürze 
dessen  Signatur,  so  lautet  diese  in  klinischer  Hinsicht:  gesteigerte 


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Das  hysterische  Irresein. 


Erregbarkeit  mit  Schwäche;  in  physiologischer:  Ueberwiegen 
der  Reflexthätigkeit  Uber  die  cerebralen  Hemmungsfunctionen  neben 
erhöhter  Convulsibilität  der  infracorticalen  (sensoriellen  und  sensibeln) 
Centren;  in  psychologischer:  krankhafte  Gemtithsreizbarkeit 
neben  Willensschwäche,  gesteigertes  Phantasieleben ;  endlich  in  psy- 
chophysischer:  abnorme  Minderung  des  intracerebralen  Leistungs- 
widerstandes, Erniedrigung  der  Empfindungssch welle,  Discontinuität 
der  höchsten  psychischen  Wellenlinie  (des  bewussten  Denkens,  Em- 
pfindens, Strebens).  Die  krankhafte  Gemtithsreizbarkeit  und  gestei- 
gerte reflectorische  Erregbarkeit  (1)  stehen  für  unsere  Betrachtung  im 
Kern  des  klinischen  Bildes.  Die  Kranke  wird  durch  jeden  sensibeln 
Eindruck  abnorm  tief  und  nachhaltig  beeinflusst,  und  zwar  sowohl 
durch  körperliche  Empfindungen  als  durch  gemüthliche  Emotionen. 
Dabei  stehen  die  beiden  letzteren  so  im  Zusammenhang  und  Wechsel- 
wirkung, dass  jede  GemUthsbewegung  abnorm  leicht  durch  den  „sen- 
sibeln Nervenbaum"  zittert,  und  sich  in  irgend  einem  Locus  dolens 
fixirt,  oder  vasomotorische  Stürme  aufruft.  Durch  dieses  associirte 
periphere  Moment  vollzieht  sich  aber  eine  Bindung  des  centralen 
psychischen  Factors,  so  zwar,  dass  das  Ich  sich  von  den  erlittenen 
Gemtithseindrilcken  abnorm  schwer  mehr  befreien  kann,  von  den- 
selben „organisch"  beherrscht  bleibt.  Bei  der  gesteigerten  Reflex- 
thätigkeit treten  mit  den  Hyperästhesieen  auch  motorische  Convul- 
sionen  in  dieses  Associationsverhältniss:  die  Emotion,  der  peinliche 
Gedanke,  löst  jetzt  auch  einen  Krampfanfall  aus,  nicht  selten  unter 
hallucinatorischer  Begleitung  und  entsprechender  Verdunkelung  des 
Bewusstseins;  oder  aber  es  entsteht  eine  plötzliche  Verwirrtheit  mit 
perversen  Acten,  aus  welchen  erst  ein  längerer  Schlaf  wieder  zur 
Lucidität  und  Selbstflihrung  zurückleitet  (s.  unten  „hyster.  Irres."). 
Hallucinatton,  Neuralgie  (im  weitesten  Sinne),  Krampf  bleiben  — 
einmal  geweckt  —  in  der  besprochenen  „psychischen  Function";  sie 
bilden  den  gefühlten  Wiederhall  für  das  gereizte  Gemüth,  bald  aber 
auch  die  Signale,  welche,  von  anderwärts  aufgerufen,  rückwirkend 
dem  Ich  die  associirte  Stimmung  zuführen  und  aufdrängen ;  sie  wer- 
den Resonanzboden  und  tonangebende  Stimmungsclaviatur  zugleich. 
Diese  directe  und  unmittelbare  Abhängigkeit  vom  körperlichen  Befin- 
den —  des  Gemüths  von  den  Nerven  —  erzeugt  eine  ausserordentlich 
labile  Gemüthslage,  ein  stetes  Schwanken,  eine  (geistig  unmotivirte, 
körperlich  begründete)  Launenhaftigkeit.  Diese  ist  der  z  w  e i  te  Haupt- 
grundzug im  Temperament  der  Hysterischen.  Die  Umgebung  und 
Eindrücke  werden  unter  die  unerbittlichen  Kategorieen  von  Augen- 
blickssympathieen  oder  -antipathieen  gestellt  und  darnach  das  Han- 


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Hysterischer  Charakter  (Temperament). 


235 


dein  entschieden.  Für  das  prüfende  Urtheil  ist  kein  Platz;  an  die 
Stelle  der  „Reflexion"  ist  das  „Reflex"handeln  getreten.  Kommt 
die  Reflexion  nach,  so  dringt  sie  nicht  bis  znr  Einsicht  der  Kranken 
in  ihr  unüberlegtes  Benehmen  durch ;  anch  auf  dieser  Stufe  beharrt 
die  dominirende  Macht  des  nervös  reizbaren  Gemüthes,  welches  den 
„Verstand"  höchstens  zur  nachträglichen  Rechtfertigung  für  das  un- 
überlegte (in  Wahrheit:  organisch  aufgezwungene)  Benehmen  zulässt. 

Aber  diese  logisch  unbegreiflichen»  anziehenden  und  abstossenden 
Neigungen  begegnen  sich  ausserdem  noch  in  einem  Oontrastspiel : 
oft  wird  geradezu  für  die  antipathische,  abstossende,  entschieden ;  je- 
doch für  gewöhnlich  nicht  absichtlich,  sondern  auch  wieder  in  Folge 
eines  nervösen  „Muss"  —  diesmal,  weil  die  anfängliche  Scheu  vor 
dem  Widerlichen  eine  convulsive  Neigung  wachruft  in  Form  des 
„Kitzels",  und  so  gerade  das  Widerliche  in  den  Sinnesempfindungen, 
das  Barocke  und  Paradoxe  in  den  Strebungen  der  Kranken  anzieht. 
Ohne  Zweifel  wurzelt  in  dieser  physiopsychologischen  Verkettung  zum 
grossen  Theile  die  wunderliche  Sucht  dieser  Kranken  nach  Origina- 
lität, der  unwiderstehlich  prickelnde  Hang  zum  Widersprach,  zum 
Nörgeln  und  Disputiren  —  dieser  dritte  Hauptzug  im  hysterischen 
Wesen.  Daran  d.  h.  an  diese  unwillkürliche  Verkettung  knüpft  sich 
endlich  aber  auch  die  bewusste  Reflexion  der  Kranken  über  diese 
Eigenart  und  der  schliessliche  Hang  nach  Auffälligkeiten,  die  schlecht 
verhüllte  Absichtlichkeit  sich  um  jeden  Preis  „interessant"  zu  machen. 
Ausserdem  bringen  auch  Viele,  namentlich  solche  mit  originär  neuro- 
patbischer  Anlage,  einen  gewissen  Zug  erhöhten  Selbstgefühls  mit, 
welcher  sie  von  jeher  ebenso  empfindlich  gegen  die  Frictionen 
des  Lebens  als  eingebildet  in  ihrer  eigenen  Werthschätzung  macht. 
Es  ist  eine  verhängnissvolle  Erfüllung  des  alten  Spruchs:  dass  der 
Mensch  das  Maass  der  Dinge  sei  —  wenn  dieser  Maassstab  seine 
schwankenden  Pole  in  der  jeweiligen  Stimmunglage  kranker  Ner- 
ven trägt! 

Daraus  resultirt  der  nie  fehlende  Egoismus  dieser  Kranken  — 
der  vierte  Charakterzug.  Gewohnt  immer  auf  sich  zu  achten,  aber 
auch  immer  wieder  an  ihren  Körper  gemahnt  durch  die  krankhaft 
gesteigerte  nervöse  Empfindlichkeit,  machen  sie  auch  den  Anspruch, 
in  ihrer  Leidensflllle  als  „Dulderinnen"  entsprechend  anerkannt  und 
berücksichtigt  zu  werden.  Während  sie  in  ihren  Rechten  sich 
immer  höher  steigern,  vergessen  sie  ihrer  Pflichten  gegen  die  Um- 
gebung: sie  vernachlässigen  ihre  Berufsaufgabe,  werden  unempfind- 
lich für  das  Leiden  Anderer,  indolent  für  die  grossen  Ereignisse  des 
Tages. 


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236 


Das  hysterische  Irresein. 


Aber  der  Proteus  der  Krankheit  erschöpft  sich  nicht  in  dieser 
Richtung  der  erwähnten  Charakterzüge.  Oft  ist  gegentheils  eine 
Ueberbethätigung  altruistischer  Gefühle  und  Strebungen  vorhanden; 
die  bis  dahin  nur  auf  sich  zurückgezogene  Kranke  beginnt  Werke 
der  Wohlthätigkeit  zu  üben,  vermag  sich  darin  nicht  genug  zu  thun. 
In  der  That  darf  die  jetzt  oft  unermüdliche  Bethätigung,  an  sich 
und  durch  die  Weise  wie  Jene  plötzlich  sich  und  ihr  tausendfaches 
„Weh  und  Ach"  vergessen  konnte,  manchmal  ihres  Gleichen  suchen. 
So  finden  sich  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Krankenpflege  solche 
staunenswerthe  Leistungen  hysterischer  Kranker,  welch  letztere  kurz 
zuvor  noch  als  Convulsionäre  den  Rath  des  Arztes  auf  schwere  Proben 
gestellt  hatten.  Gewiss  liegt  diesen  hysterischen  Grossthaten  viel- 
fach ein  egoistischer  Zug  —  das  Streben  anerkannt  und  bewundert 
zu  werden  —  zu  Grunde;  aber  für  alle  Fälle  ist  dies  auch  wieder 
nicht  zutreffend.  Es  gibt  ohne  Zweifel  darunter  viele  edle  Naturen, 
welche  nur  durch  ein  hohes,  echt  sittliches  Streben  der  Krankheit 
ihr  Können  abrangen  —  im  wahren  Sinne  „durch  die  Macht  des 
Gemütbs  ihrer  krankhaften  Empfindungen  und  Gefühle  Meister  wur- 
den." Freilich  leider  nur  vorübergehend;  denn  in  der  Regel  folgen 
auf  diese  Parforceleistungen  rächende  Ermattungen  —  ein  weiterer 
Charakterzug  im  hysterischen  Temperament,  welches  überall  und 
immer  den  Gegensatz  des  „Stetigen"  repräsentirt ,  auch  darin  die 
Krampfnatur  bewahrend:  erst  Ueberleistung,  dann  Erschlaffung,  und 
zwar  meist  in  periodischen  Schwankungen  wechselnd. 

Den  verhängnissvollsten  Eingriff  in  das  Gemüthsleben  übt  die 
Hysterie  durch  ihre  Schädigung  der  moralischen  resp.  ethischen  Ge- 
fühle im  engeren  Sinne.  Glücklicherweise  betrifft  dieser  Charakter- 
zug nur  einen  Bruchtheil  der  Fälle  und  zwar  die  schwersten  Grade, 
so  dass  derselbe  im  psychischen  Symptomenbilde  das  eigentlich 
degenerative  Element  des  hysterischen  Charakters  darstellt.  In  seinen 
Grundzügen,  richtiger  in  seiner  negativen  Entfaltung,  lag  derselbe 
bereits  im  Egoismus  der  Kranken  (s.  oben)  ausgeprägt.  Doch  betraf 
er  hier  vorwiegend  nur  die  sittliche  Schwäche,  den  Mangel  alt- 
ruistischer Gefühle  und  Neigungen  als  Folge  der  krapkhaften  Con- 
centrirung  aufs  eigene  Ich.  Hier  aber  tritt  er  activ  auf  in  der  Form 
moralischer  Perversion  —  als  krankhafte  Bosheit,  Verlogenheit,  Ver- 
läumdungssucht,  Cynismus  —  und  macht  diese  Kranken  mit  Recht 
in  ihrer  Familie  unmöglich,  in  der  Anstalt,  dem  einzigen  Deteutions- 
orte,  gefürchtet. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  nicht  selten  ganz  auoroalen 
Sexualgefühle.    Die  bezüglichen  Verirrungen  (Masturbation,  conträre  Se- 


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Hysterischer  Charakter  (Temperament) 


237 


xnalempfindung,  Amor  lesbicus  u.  s.  w.)  werden  auf  keinem  invaliden  Ner- 
vengeistesleben häufiger  betroffen,  als  auf  dem  phantastisch  schranken- 
losen, überreizt  erregbaren  der  Hysterie.  Namentlich  ist  auch  des, 
glücklicherweise  nicht  so  häufigen,  krankhaft  gesteigerten  normalen  Ge- 
schlechtstriebes zu  gedenken,  welcher  disponirte  Mädchen  und  selbst  in 
glücklicher  Ehe  lebende  Frauen  zu  Messalinen  werden  lässt.  Ich  kenne 
Fälle,  wo  bereits  auf  der  Hochzeitreise  Fluchtversuche  mit  Männern  aus 
zufälliger  Begegnung  gemacht;  wo  geachtete  Frauen  Liaisons  ohne  Wahl 
anknüpften  und  in  unersättlicher  Gier  jede  Würde  opferten.  Interessant 
ist,  dass  dieser  ethisch  perverse  Trieb  manchmal  nur  periodisch  auftritt 
mit  noch  andern  geistigen  und  auch  nervo»  -  trophischen  Begleitzeichen 
eines  krankhaften  Exaltationszustandes.  Oft  arbeitet  sich  in  der  Folge 
ein  langsam  zunehmender  chronischer  Eifersuchtswahn  heraus  (welcher 
forense  Wichtigkeit  bekommen  kann  durch  Attentate  auf  den  Ehemann 
resp.  Geliebten)  mit  oft  frappirender  Schonung  der  übrigen  geistigen  Per- 
sönlichkeit (s.  Moral  Insanity  und  Erotomanie  unter  Zwangshdlgn.). 

In  diese  Rubrik  gehört  namentlich  auch  die  Tendenz  der  Kran- 
ken ihre  Leiden  zu  Ubertreiben,  zu  simuliren  oder  zu  dissimuliren, 
je  nachdem  es  ihrem  krankhaften  Drange  zum  Wichtigthun  entspricht 

Für  die  klinische  Würdigung  dieses  Symptoms  der  ethischen  Depra- 
virung  sind  zwei  Momente  in  Betracht  zu  ziehen:  das  eine  liegt  auf  dem 
Gebiete  des  krankhaft  gesteigerten  Empfindungslebens  und  rückt  für  den 
ärztlichen  Beurtheiler  die  „unmoralische"  Handlungsweise  dieser  Kranken 
unter  die  Classe  der  Reflexacte,  bei  denen  ein  anomaler  Drang  (Sexual- 
empfindung) zur  gebieterischen  Erfüllung  treibt,  weil  das  cerebrale  Hem- 
mungsvermögen geschwächt  ist.  Die  Kranken  reagiren  hier  als  Kinder. 
Ein  zweites  Moment  ist  die  Uberwuchernde  Phantasie  dieser  Hysterischen, 
wodurch  sich  die  sinnlichen  Reize  in  Nacht-  und  Tagesträume  Ubersetzen, 
in  Romane',  welche  in  das  wache  Bewusstsein  hineinwuchern,  Wahrheit 
und  Dichtung,  Erlebnisse  und  Sehnsuchtsgedanken  zu  Einem  Gusse  ver- 
einigen und  den  Kranken  als  Wirklichkeit  imponiren.  FUr  die  classische 
„Bosheit  und  Rachsucht"  der  Hysterischen  ist  die  depressive  Gemüths- 
gmndlage  nicht  zu  Übersehen,  der  leise  oder  offene  Verfolgungs-  oder 
Beeinträchtigungswahn  aus  dem  Gefühle  der  Gekränktheit  und  der  feh- 
lenden Geltung  —  welcher  die  Kranken  bitter  macht,  ihrer  Brust  den 
Haas  und  ihrer  Zunge  den  Stachel  leiht.  Zur  „Lügenhaftigkeit"  der  Hy- 
sterischen kommt  als  ein  weiteres  Moment  hinzu,  dass  auf  dieser  Krank- 
heitsstufe die  Reproductionen  sich  nicht  mehr  treu  und  echt  einstellen, 
sondern  nur  mehr  weniger  gefälscht,  aber  ohne  dass  die  Kranken  es 
merken.  Diese  „lügen"  deshalb  nur  scheinbar;  in  Wirklichkeit  thnn  sie 
es  optima  fide;  sie  selbst  sind  die  Getäuschten  (s.  auch  Mor.  Ins.). 

Dieser  Punkt  führt  uns  zur  kurzen  Betrachtung  des  Vorstellungs- 
lebens im  Status  bystericus.  Neben  und  auf  Grund  einer  reichen 
intellectuellen  Begabung  und  Ausbildung,  welche  namentlich  an  Leb- 
haftigkeit der  Entfaltung,  an  Raschheit  und  vielseitiger  Gewandtheit 
den  gesunden  Zustand  oft  weit  Ubertrifft ,  besteht  eine  krankhafte 


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238 


Das  hysterische  Irresein. 


Neigung  zu  allerlei  Barockheiten,  zur  Beschäftigung  mit  den  ent- 
legensten Wissensgebieten,  und  in  Allem  eine  Methode  der  Erfassung, 
welche  ungleich  mehr  in  die  Breite  als  in  die  Tiefe  geht,  neben 
philosophirendem  Aufputz  oft  recht  ungeschickt  in  der  einfachsten 
Logik  bleibt  —  Geistreichthun  und  Beschränktheit  in  Einer  Person. 
Die  ästhetischen  „Blaustrümpfe"  beziehen  ihr  grösstes  Contingent 
aus  den  Reihen  der  Hysterischen.    Ausser  dieser  Schiefheit  und 
Disharmonie  der  Entwicklungsrichtung  im  Allgemeinen  —  welche 
übrigens  kein  Grundzug,  wenn  auch  sehr  häufiges  Vorkommniss  ist; 
viele  Hystericae  sind  Typen  einer  wirklichen  echten  Geistesbildung 
—  kommen  specifisch  krankhafte  Mißsverhältnisse  im  Vorstellungs- 
leben  vor  und  auch  Neigung  zu  wirklichen  formalen  Störungen  (s.  o). 
Zu  den  erstem  gehört  das  abnorme  Ueberwuchern  der  Phantasie 
Uber  die  intellectuellen  (reflectirenden)  Functionen;  zu  den  letztern 
die  grosse  Disposition  der  Hysterischen  zu  Zwangsvorstellungen.  Die 
gesteigerte  Phantasiethätigkeit  dieser  Kranken  zeigt  sich  in  der  Ge- 
neigtheit zu  bilderreichen  Perceptionen,  namentlich  zur  Allegorisi- 
rung  von  Sinnesempfindungen  (die  Hyperästhesieen,  speciell  der  Vis- 
ceralnerven, liefern  hierzu  ein  sehr  dankbares  Material),  ferner  zu 
lebhaften  Träumen,  zu  Illusionen  und  Hallucinationen,  zu  Wach- 
träumen, welche  schliesslich  beliebig  d.  h.  willkürlich  von  dem 
Kranken  zu  produciren  sind.   Am  meisten  und  verhängnissvollsten 
tritt  aber  die  Macht  der  Phantasie  zu  Tage  in  der  Fähigkeit  der 
Kranken,  Leidenszustände  —  spontan  concipirte  oder  an  Andern  be- 
obachtete —  in  Wahrheit  sich  „einzubilden",  so  dass  sie  in  der 
Folge  selbst  daran  wirklich  leiden. 

Hieher  gehören  ans  früheren  Jahrhunderten  die  Stigmatisirungen, 
aus  unserer  Zeit  die  epidemisch  auftretenden  d.  h.  gegenseitig  abge- 
lauschten Zuckungen  und  Krämpfe,  nicht  minder  aber  auch  die  zauber- 
haften, plötzlichen  Genesungen,  welche  bekanntlich  oft  auf  harmlose  In- 
gredienzien erfolgen,  wenn  nur  die  Phantasie  mit  dem  Zukunftsbild  sicher 
eintretender  Heilung  erfüllt  ist. 

Die  Zwangsvorstellungen  (s.  d.)  sind  theils  emotiver,  theils  in- 
tellectualer  Natur;  sie  treten  bald  als  harmlose  Schrullen  auf,  bald 
aber  auch  als  furienartige  Mächte,  welche  die  Kranken  zu  allerlei 
albernen  und  unsinnigen  Handlungen,  nicht  selten  zu  Selbstschädi- 
gungen oder  zu  Beleidigungen  der  Umgebung,  ja  zu  förmlichen  ma- 
nischen Reactionen  treiben  können,  weil  die  Kranken  des  lästigen 
Eindringlings  nicht  mehr  los  werden,  und  zwar  trotz  klarer,  kritischer 
Einsicht.  Die  Geneigtheit  zu  Wachträumen  macht  die  Kranken  zu 
periodischen  Deliranten,  als  welche  sie  in  wachem  Zustande  allerlei 


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Hysterischer  Charakter.  —  Hysterisches  Irresein. 


239 


Erdichtungen  als  eigene  Erlebnisse  auftischen,  oder  in  zeitweilige 
Ekstasen  verfallen,  mit  mystischem  Geisterverkehr. 

Die  Handlungsweise  der  Hysterischen  im  Allgemeinen  richtet 
sich  nach  den  im  Vorstehenden  geschilderten  Prämissen  resp.  Ab- 
änderungen im  intellectualen  und  GemUthsleben.  Es  erhellt  daraus, 
in  wie  vielfacher  Weise  im  Einzelnen  die  EntSchliessungen  und 
Handlungen  beeinflusst,  und  von  der  Norm  abweichend  modificirt 
werden  müssen,  welchen  schädigenden  Einflnss  namentlich  die  ge- 
steigerte Gemüthsreizbarkeit  und  Reflexerregbarkeit  mit  Ueberrum- 
pelung  oder  convulsiver  Ausschaltung  der  Reflexion  ausübt. 

Dadurch  bekommt  das  Handeln  der  Hysterischen  einen  so  auszeich- 
nend emotiven  und  krankhaft  überstürzten  Charakter.  Viele  Acte  erfol- 
gen aber  rein  nur  zwangsmässig  d.  h.  sie  gehen  ganz  unter  dem  Be- 
wuastsein  hindurch.  Die  Kranken  versichern  oft  in  aller  Ruhe,  dass  sie 
wie  in  einem  Traumzustande  manchmal  Sachen  thun  müssten,  wofllr 
sie  absolut  kein  Motiv  kennten;  sie  spürten  einfach  nur  die  Empfindung 
des  Müsse ns,  könnten  aber  die  Ausführung  beim  besten  Willen  nicht 
hemmen,  „ähnlich  wie  Maschinen".  Für  die  besonders  bevorzugten  Hand- 
lungsrichtungen, wenigstens  in  gewissen  Stadien  des  Status  hystericus,  ist 
namentlich  auf  die  ethisch  perversen  Gefühle  speciell  vom  Sexualgebiet 
aus  hinzuweisen.  Sie  bilden  die  mächtig  treibenden  Factoren  für  manche 
abenteuerliche  That  dieser  Kranken,  welche  bald  mit  dem  romantischen 
Aufputz  einer  schrankenlosen  Phantasie  ausgerüstet  nur  wohlberechnetes 
Aufsehen  erregen  soll,  bald  aber  auch  durch  die  unterstützende  Dialektik 
eines  raffinirten  Verstandes  zu  einer  erschreckenden  cause  celebre  führt. 
Die  Kriminalstatistik  aller  Länder  (einer  der  berühmtesten  Fälle  bleibt 
wohl  der  von  La  Ronciere)  liefert  Belege  für  das  auf  diesem  Gebiete 
Mögliche  —  eigentlich  unmöglich  Geglaubte. 

Für  das  „normale"  Wollen  und  Handeln  der  Hysterischen  ist 
namentlich  an  die  mehrfach  schon  betoute  Periodicität  zu  erinnern, 
in  welcher  die  psychische  Curve  dieser  Kranken  schwankt;  so  be- 
wegt sich  denn  manches  einst  viel  versprechende  Streben  im  steten 
Wechsel  von  Leistungskraft  (oft  Ueberleistung)  und  Ermattung,  und 
zerrinnt  an  diesem  aufgedrungenen  organischen  Zwange. 

Körperlicherseits  gehören  zum  Status  hystericus  alle  die  be- 
kannten Sensibilitäts-  und  Motilitätsstörungen,  sowie  die  sensorischen,  va- 
somotorischen und  trophischen  Affectionen,  wie  sie  der  hysterischen  Neurose 
eigen  sind.  Für  die  Entstehung  der  eigentlichen  Irreseinszustände  sind 
darunter  die  sensibeln  und  vasomotorischen  Anomalieen  am  wichtigsten. 
Besonders  hervorzuheben ,  als  oft  Jahre  lang  vorausgehende  Schatten 
grosser  Ereignisse,  ist  die  sehr  häufige  heftige  Migräne  vieler  Hysteri- 
scher, ebenso  der  menstruale  Paroxysmus,  welcher  nicht  selten  von  der 
Pubertät  an  ein  wiederkehrendes  wirkliches  Kranksein  bildet.  — 

b)  Das  hysterische  Irresein  selbst  ist  ein  ausserordentlich  man- 
nigfaches. Es  kann  acut  oder  chronisch,  vorübergehend  oder  dauernd 


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240 


Das  hysterische  Irresein. 


auftreten.  Symptomatologisch  kann  es  alle  klinischen  Zustands- 
formen  annehmen  resp.  durchlaufen  —  enthält  doch  der  Status  hys- 
tericus  die  Elemente  zur  Manie,  zum  einfachen  und  katatonischen 
Wahnsinn,  zur  Verrücktheit  und  zum  Blödsinn,  —  leiht  aber  jeder 
dieser  Erscheinungsweisen  ein  mehr  oder  minder  specifisches  Gepräge, 
so  dass  es  bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine  „ätiologische"  Krank- 
heitsgruppe bildet.  Schon  die  einfache  gradweise  Steigerung  des 
hysterischen  Temperaments  nach  Seite  der  Gemttthserregbarkeit  und 
cerebrospinalen  Hyperästhesie  setzt  einen  klinischen  Zustand  zu- 
sammen, welchem  wir  bereits  bei  der  Schilderung  der  Melancholie 
unter  einer  chronischen  Abart  der  hypochondrischen  Form  begegnet 
sind  (8.  d.).  Eine  zweite  klinische  Form,  welche  in  gewissem  Sinne 
gleichfalls  eine  Steigerung  des  hysterischen  Temperaments  darstellt, 
ist  das  hystero- epileptische  Irresein. 

Die  Veranlassung  ist  in  der  Uberwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ein 
Schreck,  wornnter  namentlich  (bei  jungen  Mädchen)  sexuelle  Attentate 
eine  hantige  Rolle  spielen.  Vorausgegangene  körperlich  schwächende  und 
physisch  degenerirende  Momente,  namentlich  Masturbation,  theilweise  auch 
Excesse  im  Dienste  der  Venus  vulgivaga,  disponiren. 

Bei  genügendem  Affectchok  kann  sich  unmittelbar  ein  allgemeiner 
Krampfinsult  mit  Bewusstseinsverdunkelung  und  Delirium  einstellen.  An- 
deremale  ist  es  der  Reiz  der  menstrualen  Ovulation,  oder  auch  die  Irri- 
tation von  einer  schmerzhaften  Narbe  aus,  in  deren  peinliche  Empfindung 
sich  zugleich  ein  nagender  Gram  verwebt  —  welche  den  ersten  Paroxysmus 
einleitet.  In  einer  weiteren  Gruppe  endlich  ist  keine  dieser  accidentellen 
Schädlichkeiten  nachzuweisen,  und  der  hystero-epileptische  Insult  stellt  sich 
als  die  einfache  Folgeentwicklung  der  hysterischen  Gesammtconstitution  dar 
(8.  o.),  nachdem  transitorische  Paralysen,  sensuelle  Anästhesieen,  Hyper- 
ästhesieen ,  periodische  Ruhe  und  Aufregung  u.  s.  w.  Jahre  lang  voraus- 
gegangen waren. 

Der  Krampfanfall  tritt  entweder  plötzlich  oder  nach  kurzen  Prodromis, 
wobei  die  Kranken  still  werden,  stieren  Blick  bekommen,  manchmal  auch 
weinen,  Uber  heftigen  Stirnkopf-(Ovarial  )Schmerz  klagen,  in  Scene.  Der 
Insult  selbst  kann  nun  auftreten:  1.  in  Form  der  bekannten  hystero-epi- 
leptischen  Convulsionen  mit  Hiustürzen,  Um-sich-Schlagen,  Grimassiren  des 
Gesichts,  Beissen,  Spucken  u.  8.  w.,  wobei  aber  die  motorischen  Entäusse 
rungen  nicht  einfach  nur  Reflexacte,  sondern  zugleich  das  deutliche  psy- 
chische Gepräge  eines  dämonomanischen  Wahnes  resp.  der  Abwehr  gegen 
feindliche  Verfolger  oder  llallucinationen  darstellen.  Manchmal  trägt 
das  Chorea  magna- artige  Gebahren  die  Form  von  blindheftigen  Angst- 
handlungen als  Reaction  auf  schreckhafte  Delirien.  Oder  aber  2.  der 
Anfall  bildet  einen  förmlichen  tobsüchtigen  Wuthparoxysmus  mit  gewalt- 
tätigen Tendenzen  gegen  sich  oder  die  Umgebung  (psychisches  Aeq tri- 
valent für  den  hysterischen  Krampfparoxysmus,  wie  die  Mania  furiosa  für 
den  epileptischen  Insult).  In  einer  oder  der  andern  Erscheinungsweise 
ist  der  Anfall  begleitet  von  Delirien  resp.  von  plötzlicher  illusorischer 


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Ilystero-eplleptisches  Irresein.   Krankheitsbild.  Verlauf  241 


Verkennung  der  Umgebung,  wobei  der  delirante  Inhalt  oft  mit  einer  pein- 
lichen Genauigkeit  (selbst  bis  auf  die  vorgebrachten  Scheltworte)  die  Er- 
innerung an  den  ursächlichen  Affectchok  wiederholt.  Die  „Verfolger" 
erscheinen  in  allegorisirter  Gestalt  als  „Teufel"  oder  „Dämonen".  Da- 
zwischen tauchen  aber  auch  halblucide  Momente  auf,  in  welchen  die 
Kranke  auf  Fragen  richtig  antwortet,  gehörte  Worte  verdreht,  daran  so- 
fort zornige  oder  schmerzliche  Ausbrüche  knüpft,  die  Entrüstete,  die  Ver- 
zweifelte, die  Märtyrerin  spielt  —  um,  wenn  die  mimische  Sprache  ver- 
sagt, in  ihrem  Krampfspiel  sich  weiter  auszutoben.  Druck  auf  die  Ovarien 
erhöht  (manchmal  gegentheils  sistirt)  die  „krampfige"  Aufregung.  Nach 
flberstan  de  nem  Anfall,  welcher  bis  zu  einigen  Stunden  (oft  in  mehreren 
Acten  mit  eingeschobenen  Ruhepausen)  dauern  kann  und  ohne  Tempe- 
raturerhöhung verläuft,  folgt  ein  stupuröser  Erschöpfungszustand  mit  ge- 
müthlicher  Depression  und  grosser  Reizbarkeit,  welcher  nur  langsam  wie- 
der in  die  Norm  abklingt.  Die  Erinnerung  ist  eine  summarische  und 
reicht  gewöhnlich  nicht  über  den  Anfang  des  Anfalls  hinaus.  Für  die 
Anfallshöhe,  bei  stärkeren  Attaken,  besteht  Amnesie  (Uebergang  zu  den 
epileptischen  Zuständen).  Bei  keiner  der  hysterischen  Psychosen  treten 
früher  und  beschwerender,  als  bei  dieser,  die  perversen  —  ethisch  dege- 
nerativen —  Symptome  hervor,  und  bilden  einen  chronisch  protrahir- 
ten  Irreseinszustand,  welcher  zu  den  ernstesten  der  gesammten  klinischen 
Psychiatrie  gehört.  Das  hysterische  Temperament  nach  der  schwersten 
Seite  seiner  Entwicklung  bricht  sich  Bahn  und  verbindet  sich  mit  den 
immer  bereiteren  Krampfattaken,  so  zwar,  dass  diese  jeden  versagten 
Wunsch,  jeden  unbefriedigten  Anspruch,  endlich  jede  kleinste  Verletzung 
der  gesteigerten  Empfindlichkeit  der  Kranken  begleiten.  Gemeinsam  wer- 
den alle  diese  „Kränkungen"  schliesslich  nur  mit  der  Einen  Sprache  eines 
convulsiven  Anfalls  beantwortet;  ein  einziges  Wort  genügt,  um  die 
Kranke  zu  unbändiger  motorischer  Entfesselung  und  der  affect vollsten 
Verwirrung  zu  bringen,  so  dass  sie  toto  de  coelo  zu  toben  beginnt,  Alles 
zerschlägt,  rücksichtslos  gegen  sich  und  Andere  wüthet.  Das  sind  die 
mit  Recht  so  gefürchteten  chronischen  hystero- epileptischen  Kranken.  In 
der  Zwischenzeit  sind  sie  meist  anscheinend  timide,  betreiben  aber  hinter- 
rücks um  so  reger  das  Geschäft  der  Verhetzung,  der  Verläumdung  und 
Ränkesucht.  Gelingt  es,  durch  die  schwierigste  aller  Therapieen  solche 
Kranke  nach  und  nach  aus  ihrer  „Convulsibilität"  zu  befreien  und  „zu- 
rück-zu-erziehen",  so  werden  sie  nicht  selten  wieder  sich  und  der  Aussen- 
welt,  zu  bescheidener  Functionsleistung  zurückgegeben;  meistens  droht 
aber  die  Recidive.  Bei  nicht  günstigem  Verlaufe  bleiben  sie  die  schwere 
Crux  jedes  Anstaltslebens  und  gehen  nach  und  nach  in  psychischer  Schwäche 
unter.  Dabei  können  die  früheren  tobsüchtigen  Attaken  in  Anfälle  von 
temporärer  Stupidität  sich  transformiren ,  in  welchen  die  Kranken  eine 
rudis  Moles  bilden  mit  plumpem  Gesichtsausdruck  und  mehr  minder  voll- 
ständiger psychischer  Gebundenheit  (namentlich  Gemüthsstumpf heit) ; 
manchmal  blitzen  auch  jetzt  noch  furiöse  Raptus  auf ;  merkwürdigerweise 
aber  kommen  auch  bei  jahrelangem  Verlaufe  d.  h.  wiederholten  Recidiven 
mit  progressiv  schwererem  Charakter  noch  „Heilungen",  natürlich  mit 
entsprechendem  psychischen  Defect,  vor. 

Schftl«,  G  einUek  rank  hei  tea.   3.  Aufl.  16 


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242 


Das  hysterische  Irresein. 


Zu  den  häufigsten  acut  auftretenden  Irreseinsformen  der  Hyste- 
rischen gehören  die  Dämmerzustände  und  Ekstasen,  welche, 
einmal  „eingelebt",  eine  ausserordentlich  zähe  Persistenz  annehmen 
können,  so  dass  deren  Eintritt  nicht  nur  an  immer  kürzere  perio- 
dische Schwankungen  im  Nervenleben  geknüpft  ist,  sondern  in  dag 
Willensbelieben  der  Kranken  gestellt  wird  (spontaner  Hypnotismus). 

Die  Ekstase  —  Visionszustand  —  besteht  in  einem  temporären  Per- 
ceptionsabschluss  nach  aussen  und  Concentrirung  der  Aufmerksamkeit  auf 
hallucinatorische  Innenvorgänge.  Sie  hat  verschiedene  Stufen,  entspre- 
chend dem  Grade  der  Perceptionsfähigkeit,  welch  letztere  theils  nur  ver- 
mindert, theils  aber  auch  'ganz  aufgehoben  ist.  Alle  diese  Grade  und 
Stufen  gehen  in  einander  Uber.  Intercurrirend  kann  die  Ekstase  bald 
vorübergehend  auf  Grundlage  eines  einfachen  hysterischen  Temperaments 
auftreten,  bald  als  Theilerscheinung  (transitorisches  Symptom)  verschie- 
dener hysterischer  Irreseinszustände.  So  complicirt  sie  den  dämonomanen 
und  erotischen  Wahnsinn,  ganz  besonders  aber  die  acuten  hallucinatori- 
schen  Formen.  Der  Eintritt  kann  plötzlich  oder  in  raschem  Anstieg  der 
Bewusstseinsverdunkelung  erfolgen.  In  den  Anfällen  selbst  besteht  katalep- 
tische  Starre  mehr  minder  hohen  Grades,  ohne  und  mit  Flexibilitas  cerea 
(manchmal,  bei  leichteren  Anwandlungen,  werden  träumerische  monotone 
Actionen  vorgenommen),  die  Augen  sind  starr  auf  einen  Punkt  geheftet 
oder  auch  fest  zugekniffen,  die  Pupillen  weit,  manchmal  in  hippusartiger 
Bewegung.  Dabei  mehr  minder  vollständige  Anästhesie  (selbst  der  Con- 
junetiva),  oft  marmorartige  Blässe,  anderemale  aber  auch  gegentheils  con- 
gestionirter  Kopf,  tarder,  seltener,  oder  aber  klopfender  frequenter  Puls. 
Die  Dauer  des  Zustandes  kann  einige  Augenblicke  oder  auch  Stunden 
betragen ;  die  Rückkehr  zur  Besinnung  erfolgt  theils  durch  kräftiges  An- 
rufen, oder  Hautreize  (kaltes  Wasser),  oder  gewaltsames  Oeffnen  der  Li- 
der; oft  geschieht  das  Erwachen  unter  heftigem  Grimassiren  des  Gesichts, 
Seufzen,  winselnder  Abwehr  gegen  jede  Berührung.  Der  Inhalt  des  in 
der  Ekstase  „Geschauten"  wird  nicht  selten  sorgfältig  von  den  Kranken 
verborgen  gehalten;  anderemale  erfährt  man  aus  den  Bekenntnissen  der- 
selben oder  aus  ihren  singend  recitirten  Faseleien  während  des  An- 
falls, dass  sie  in  Verbindung  mit  himmlischen  Geistern,  mit  Abgeschie- 
denen, mit  ihrem  „heiligen  Schau-Bräutigam"  sich  gefühlt,  oder  in  wan- 
delnden Decorationen  aus  richtigen  Wahrnehmungen  und  phantastisch  aus- 
gesponnenen Bildern,  in  welchen  sie  selbst  —  „wachend"  —  mitmachten, 
gelebt  hätten.  Diese  Anfälle  können  in  grösseren  Zwischenräumen,  manch- 
mal auch  täglich  vorkommen;  dieselben  können  im  chronisch  hysterischen 
Irresein  längere  Phasen  bilden,  welche  kommen  und  gehen,  hie  und  da 
aber  auch  nach  Monate  langem  Bestehen  für  die  übrige  Krankheitsdauer 
verschwinden. 

Die  hysterische  Melancholie.  Der  klinische  Typus  entspricht  im 
Grossen  und  Ganzen  der  gewöhnlichen  Melancholie,  und  bietet  oft 
nur  dieser  entsprechende  klinische  Bilder.  Gewöhnlich  sind  aber 
auch  charakteristische  hysterische  Züge  beigemengt. 


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Dämmerzustände.   Hysterische  Melancholie. 


213 


Als  solche  möchte  Ich  bezeichnen:  a)  wesentlich  stärkeres  Hervor- 
treten des  mitbegleitenden  neuralgischen  Elements,  gegenüber  der  „rü- 
stigen" Melancholie.    Die  zahlreichen,  sehr  prägnanten  Sensibilitätsstö- 
rnngen  unterhalten  nicht  bloss  einen  sehr  lebhaften  Circulus  vitiosus, 
sondern  schaffen  auch  einen  Status  hypochondriacus  neben  und  zu  dem 
melancholischen,  welcher  oft  phasenweise  mit  letzterem  abwechselt.  Die 
hypochondrisch-melancholischen  Klagen  selbst  sind  maasslos  übertreibend 
nnd  zugleich  phantastisch-überschwänglich,  oft  mit  verblüffenden  sprach- 
lichen Bezeichnungen  und  Vergleichen  (hereinragender  Zug  von  Verrückt- 
heit!). Die  Kranken  sind  „ausgehöhlt",  sie  „verbrennen  innerlich";  sie 
haben  ein  Schwächegefühl,  als  ob  sie  „wie  ein  Fackeltanz  innerlich  aus- 
löschten" ;  anderemale  fühlen  sie  sich  „dick  werden  wie  ein  zugebundener 
Schwartenmagen"  u.  s.  w.    b)  Unvermittelt  impulsive  Raptus  melancho- 
lici  sind  hier  relativ  viel  häufiger,  als  in  der  gewöhnlichen  Melancholie. 
Manchmal  stellen  sich  auch  paroxysmelle  Zwangsbewegungen  ein :  wirbel- 
artiges Herumrutschen  auf  dem  GesBss,  Nickkrämpfe  mit  dem  Kopfe, 
Grimassen  mit  dem  Gesichte.  Oft  gehen  starke  vasomotorische  Fluxionen 
zum  Kopfe  mit  Herzpalpitationen  und  sehr  hoher  Pulsfrequenz  mit  einher. 
Dabei  oft  jäher  Umschlag  in  eine  componirtere  Stimmung,  oder  umge- 
kehrt aus  dieser  in  die  motorischen  Raptus,    c)  Zeitweilige  Anfälle  von 
Lach-  und  Weinkrämpfen,  Globussensationen,  Ischuria,  oft  mitten  in  das 
melancholische  Pathos  hinein,   d)  Sehr  bereites  Auftreten  von  Hallucina- 
tionen,  namentlich  von  Reflexhallucinationen.    e)  Polymorpher  Wechsel 
verschiedener  psychischer  Zustandsformen ;  dabei  in  fragmentarer  Ausbil- 
dung und  jähen  Uebergängen;  so  namentlich  im  Krankheitsbeginn.  Auf 
vage  melancholische  Unruhe  folgt  unversehens  ein  kurzer  Furor;  dann 
kommen  Intermissionen,  darauf  (ganz  atypisch)  wieder  Aufregungsphasen, 
bis  endlich  nach  mehrwöchentlichem  Krankheitsverlauf  die  definitive  Me- 
lancholie sich  ausgebildet  hat.    f )  Die  depressive  Stimmung  ist  selten  so 
constant  und  consequent  wie  in  der  rüstigen  Melancholie;  sie  ist  gegen - 
theils  meist  schwankend  und  trägt  einen  inneren  Widerspruch  in  sich: 
dicht  neben  dem  thränenreichen  Weltschmerz  liegt  ein  hastiges  Interesse 
für  Vergnügen,  neben  dem  „Sttndergefühl"  eine  begehrliche  Anspruchsftllle 
und  persönliche  Empfindlichkeit;  Grossthun  durch  Verschenken  u.  s.  w. 
g)  Erhaltung  der  hysterischen  TemperamentszUge  im  melancholischen 
Krankheitsbilde:   forcirte  Uebertreibung  des  Schmerzes,  absichtliches 
Schmerzbehagen,  Demonstrationssucht,  Bedttrfniss  nach  Anerkennung  der 
„Scbmerzberecbti^ung",  bei  verletzter  Empfindlichkeit  Hass  gegen  den  Arzt 
(Klage  Uber  Vernachlässigung),  Neigung  zur  Intrigue  u.  s.  w.   h)  Grosse 
Geneigtheit  zu  Zwangsvorstellungen  (namentlich  obseönen  und  blasphemi- 
schen  Inhalts),  plötzliche  Impromptu'«,  mit  welchen  sofort  unter  Thränen 
coquettirt  wird  (z.  B.  dass  Angehörige  plötzlich  gestorben  seien  u.  8.  w.). 

In  einer  eigenen  hochinteressanten  Gruppe  von  hysterischen  Melan- 
cholieen  kommen  mit  den  Zwangsgedanken  auch  Zwangsbewegungen  und 
krampfhaft  hervorgestossene  Worte  (oft  im  sinnlosesten  Kauderwälsoh) 
vor,  bei  Erhaltung  des  Be  wusstseins.  In  der  Zwischenzeit  ist  die 
(der)  Kranke  deprimirt,  weil  sie  sich  in  Folge  dieses  aufgedrungenen  Zwanges 
bebext  glaubt.  Die  Anfälle  gehen  aura  artig  von  irgend  einer  Körper- 
steile  aus,  gewöhnlich  vom  Unterleib,  beginnen  mit  dem  Gefühle  des  Blä- 

16* 


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244 


lJas  hysterische  Irresein. 


hens,  des  Luftausstossens ;  dann  „steigt  es  herauf"  in  den  Kopf,  worauf 
ein  dramatisches  Intermezzo  mit  Vociferiren ,  sinnlosem  Gesticuliren, 
Schreien  in  allen  Thierlauten  (Bellen,  Um-sich-beissen)  sich  anschliesst. 
Die  Kranken  proclamiren  oft  selbst  ihre  „Hundswuth".  Sie  bilden  viel- 
fach noch  die  ergiebigen  Objecte  für  Exorcismen.  —  In  einer  andern 
bemerkenswerthen  Beobachtung  hatte  eine  obscöne  Berührung  bei  der 
geschädigten  Frau  (Climacterium)  erst  heftige  Selbstvorwürfe  und  dann 
eine  hysterische  Melancholie  nach  sich  gezogen,  deren  psychischer  Kern 
eine  genitale  Erinnerungshallucination  —  in  Form  der  bestän- 
dig gefühlten  obscönen  Handbetastung  —  bildete. 

Die  hysterische  Manie.  Ein  Theil  der  hierher  gehörigen  klini- 
schen Formen  verläuft  unter  den  Typen  des  acuten  manischen  Wahn- 
sinns, beziehungsweise  des  wahnsinnigen  Furors;  manche  verlaufen 
periodisch  als  Mania  menstrualis,  andere  unregelmässig  periodisch 
als  Aequivalente  hysterischer  Krampfanfälle  (acute  Erotomanie  mit 
Raptus  von  Zerstörungsdrang,  Ideenßucht,  wechselnder  Bewusstseins- 
lucidität,  polymorpher  Stimmung  u.  s.  w.).  —  Eine  zweite  Reihe 
hysterischer  Manieen  schliesst  sich  symptomatologisch  mehr  an  die 
typischen  Manieen  an,  jedoch  mit  einigen  auszeichnenden  (annähernd) 
specitischen  Charakteren. 

Letztere  dürften  etwa  darin  gelegen  sein :  a)  in  der  Hegel  sind  nicht 
die  luxuriirenden  Bewegungen,  sondern  die  Ideenflucht  das  am  meisten 
hervortretende  Symptom  (pauseloses  Schwätzen,  Vociferiren,  Verbigeriren); 
b)  die  „Ideenflucht"  erfolgt  vorwiegend  nicht  nach  logischen  Associationen 
oder  nach  Assonanzen,  sondern  besteht  in  abrupten  Einfallen  und  kalei- 
doskopischen Wortvermengungen,  wovon  oft  ein  beliebiges  herausgegriffen 
und  förmlich  zu  Tode  gehetzt  wird.  Oft  stundenlanger  „Frage-Zwang" 
in  Monologform,  oder  auch  als  Dialog  mit  Halluzinationen. 

Stylprobe:  Wer  rechnet  Regenbogen?  Wer  zimmert  Aepfel? 
Wer  hat  Köpfe  zu  verlieren  und  Knöpfe  zu  zählen?  Herr  Kaiser, 
wer  hat  die  Ehre  auf  einem  Schiffe  Luftballon  zu  tanzen  ?  Herr  Papst, 
wer  ist  Ihr  unterer  Schiffsagent  und  Thierbändiger?  Wie  heisst  Ihr 
schönster  Maler?  1.  2.  3.  Geben  Sie  mir  das  Licht  10 mal,  25 mal, 
95  mal,  1000  mal  u.  s.  w. 

c)  Die  Halluciuationen  sind  zahlreicher  als  in  der  typischen  Manie, 
aber  nicht  so  Überwiegend  und  auch  nicht  so  imperativ  als  im  manischen 
Wahnsinn.  Ihre  Färbung  ist  keine  stetige,  meist  depressiv- exaltirt  ge- 
mischte.   Sehr  oft  werden  sinn-  und  associationslose  Worte  zugerufen. 

d)  Die  Stimmung  ist  flüchtig,  in  Extremen  umspringend,  enthält  aber  einen 
durchgehenden  Grundzug  von  Disputirsucht  und  grillenhaftem  Eigensinn. 

e)  Sehwankende  Bewusstseinshelle  wie  im  manischen  Wahnsinn  —  in 
einer  Stunde  lucid,  in  der  nächsten  dämmerhaft  oder  hallucinatorisch  ver- 
dunkelt, f)  In  den  motorischen  Aeusserungen  geht  Willkürliches  und 
Unwillkürliches  regellos  und  abrupt  durcheinander  (Zerstören  von  Gegen- 
ständen, Dreinschlagen,  stürmisches  Liebkosen,  kindische  Einfälle,  zwangs- 
mässige  Marionettenbewegungen ,  schauspielerisches  Coquettiren  u.  s.  w.). 
g)  Mitbegleitender  Globus,  Pica,  vasomotorische  Rash's. 


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Hysterische  Manie.   Hysterischer  Wahnsinn 


245 


Der  Verlauf  dieser  Formen  ist  in  der  Regel  protrahirt  (mehrere  Mo- 
nate), und  geht  erst  durch  ein  Stadium  aufgeregten  hysterischen  Tempe- 
raments hindurch.  Recidiven  mit  znnehmend  erschwertem  Charakter  sind 
häofig.  — 

Der  hysterische  Wahnsinn  (Verrücktheit).  Keine  der  bisher  be- 
sprochenen Formen  des  hysterischen  Irreseins  ist  so  nahe  mit  dem 
hysterischen  Temperament  verknüpft,  als  gerade  die  Paranoia. 
Man  kann  dieselbe  theilweise  als  die  naturgemässe  Weiterentwick- 
lung und  Ausreifung  der  hysterischen  Anlage  bezeichnen,  und  somit 
in  gewissem  Sinne  als  die  typische  Erscheinungsweise  des  hysteri- 
schen Irreseins. 

Typus  1  wandert  in  die  originäre  Verrücktheit  (s.d.)  über, 
deren  directe  Vorfrucht  der  constitutionelle  Ilysterismus  bildet.  Der 
spätere  Verrücktheitszustand  stellt  im  Wesentlichen  die  „Hypertrophie" 
des  hysterischen  Charakters  dar. 

Typus  2  wird  durch  den  hypochondrischen  Wahnsinn 
gebildet  (s.  d.).  Auch  dieser  Verlauf  bildet  nur  die  Weiterentwicklung 
der  hysterischen  Anlage.  Charakteristisch  ist  wiederum  die  phantastische 
Cmdeutung  der  hysterischen  Sensationen  (Einschrumpfung  von  Innen- 
organen, Dislocationen,  Fehlen  und  Schwinden  derselben  u.  s.  w.).  Manch- 
mal schliesst  sich  eine  exaltirte  Transformation  an,  oft  aber  auch  gegen- 
theils  eine  tief  depressive  Reaction.  Interessant  sind  die  Reflexillusionen 
dieser  hysterischen  Hypochonder:  weil  sie  sich  im  Kopfe  hohl  fühlen, 
so  sind  auch  die  andern  Personen  „Simpel"  geworden ;  weil  sie  abnorme 
Sensationen  in  ihrem  Rücken  haben,  so  hat  sich  auch  die  Umgebung  in 
„Bucklige"  und  „Krüppel"  umgewandelt. 

Ein  3.  Typus  ist  von  eminent  chronischer  Natur  und  besteht  kli- 
nisch aus  der  excessiven  Steigerung  der  hysterischen  Launenhaftigkeit, 
der  Sucht  nach  barockem  demonstrativem  Gebahren,  der  Unterwürfigkeit 
unter  allerlei  Einfälle  —  auf  der  weitern  Grundlage  eines  der  Welt  sich 
immer  mehr  entfremdenden  Egoismus.  Es  sind  die  Gegenbilder  der  ein- 
gefleischten männlichen  Hypochonder.  Dadurch  entstehen  die  häuslichen 
Störenfriede,  die  unsocialen,  anspruchsvollen,  unerschöpflich  klagereichen, 
dabei  grillenhaften  Virtuosinnen  der  sensibeln  Nerven,  welche  sich  für 
jedes  Zusammenleben  unmöglich  machen,  schliesslich  eine  Einsamkeit  sich 
gründen,  in  welcher  sie  ihren  phantastischen  Erfindungen  nachhängen 
und  ihren  barocken  Einrichtungen  (verzwickte  Toiletten)  leben.  —  Viele 
erhalten  lange  ihre  geistige  Klarheit. 

Ein  4.  Typus  ist  vager  Verfolgungswahn,  inhaltlich  wechselnd  und 
ohne  Systematisirung,  gewöhnlich  mit  erotistischen  Richtungen  verquickt, 
auf  Grundlage  einer  launenhaft  schwankenden,  meistens  gereizten  Stim- 
mung, und  eines  in  lauter  Einfälle  und  Antriebe  zerfahrenen  geistigen 
Lebens.  Häufig  gehen  Hallucinationen  mit  einher.  Das  Krankheitsbild 
im  Ganzen  trägt  die  Züge  einer  Moria:  beständig  wechselnde,  in  allen 
Extremen  umspringende  Gemüthslage,  grosse  Reizbarkeit  mit  rücksichts- 
loser Reaction,  sittliche  Schwäche  u.  s.  w.,  intercurrente  manische  An- 


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2iC 


Das  hysterische  Irresein. 


fälle  (oft  periodisch  menstrual).  Dazwischen  auch  wieder  lacide,  ge- 
mtlthlich  componirte  Phasen.  Der  chronische  Krankheitsverlauf  besteht 
aus  einer  Reihe  unberechenbar,  in  den  schroffsten  Uebergängen,  an  ein- 
ander gereihter  Episoden.  In  den  erotischen  Phasen  besteht  gewöhnlich 
grosser  Drang  zur  Masturbation.  Genesung  ist  möglich,  aber  Recidive- 
fäbigkeit  gross.  Bei  ungünstigem  Verlauf  Untergang  in  immer  grössere 
psychische  Schwäche  mit  Erhaltung  des  gezeichneten  Typus. 

Der  5.  Typus  wird  von  den  acuten  „abortiven"  Wahnsinnszustän- 
den  in  Form  von  plötzlichen  Zwangsgedanken  gebildet.  Die 
Paroxysmen  begleiten  manchmal  die  Menstrualepoche,  können  aber  auch 
ausserhalb  derselben  auftreten  (s.  acuter  Wahnsinn,  Typ.  I).    Es  kann 
sich  aber  auch  ein  protra hirter  Irreseinszustand  mit  paroxysmenweise 
auftretenden  Zwangsgedanken,  -Empfindungen,  -Impulsen,  ev.  auch  im- 
perativen Hallucioationen  neben  begleitender  Lucidität,  später  mit  reac- 
tiven  melancholischen,  manischen  und  stupid-blödsinnigen  Episoden  her- 
ausbilden.   Beginn  mit  Eifersuchtswahn,  abwechselnd  mit  stürmischer 
Libido;  in  der  Folge  transitorische  Furoranfälle  gegen  den  Ehemann 
(Beissen,  Treten,  gemeine  Schimpfworte),  oder  Zerstören  von  Gegenständen 
der  Umgebung  bei  erhaltenem  Bewusstsein.    Mit  den  impulsiven  Raptus 
(Menses)  wechseln  zerknirschte  Reueperioden.  Immer  umfänglichere  Aus- 
bildung des  psychischen  und  psychomotorischen  Krampfzustandes  (Gri- 
massirungen  des  Gesichts,  plötzliches  Herumspringen  auf  Möbel  u.  s.  w.), 
theatralische  Selbstbeschädigungen,  Einstechen  von  Nadeln  in's  Gesicht 
u.  s.  w.  mit  sofortiger  Rückkehr  zur  Besinnung  und  Beherrschung,  sowie 
ein  gebietendes  Wort  gesprochen  wird  oder  eine  autoritäre  Person  eintritt 
Die  Phasen  der  Depression  bestehen  oft  in  wochenlanger  Bettsucht  mit 
Indolenz  gegen  Familie  und  gegen  sich;  anderemale  in  monotonem  Reci- 
tiren  derselben  Selbstvorwürfe  Uber  verlorenes  Leben,  mangelnde  Selbst- 
zucht; nicht  selten  geht  ein  kleinlicher  Geiz  mit  einher.    In  den  Exal- 
tationsperioden sentimental  gehobenes  Selbstgefühl  mit  überschwenglichem 
Unternehmungsdrang  (Dichten,  Componiren  u.  s.  w.)  —  bis  plötzlich 
wieder  eine  „Krarapfattake"  dazwischen  blitzt,  um  so  verletzender  für 
die  Umgebung,  als  die  Kranken  im  Maass  ihrer  Kränkungen  sich  kaum 
genügen  zu  können  scheinen,  am  schmerzlichsten  aber  für  die  letztern 
selbst,  welche  wissen,  wie  wehe  sie  thun  und  —  es  doch  nicht  hemmen 
können.    Hin  und  wieder  freilich  behaupten  sie,  gar  nicht  mehr  zu 
wissen,  was  sie  thaten.   Der  geschilderte  Zustand  kann  (durch  Besserung 
des  Uterinleidens?)  insofern  sich  mildern,  als  die  Attaken  seltener  werden, 
oder  aufhören,  und  der  periodische  Wechsel  zwischen  Exaltation  und 
Depression,  obwohl  bleibend,  doch  in  seinen  grellen  Contrasten  sich 
mildert.    Der  Zustand  kehrt  wieder  in  die  Grenzen  des  hysterischen 
Temperaments  zurück.  Bei  nicht  günstigem  Verlaufe  werden  die  Zwangs- 
gedanken zum  fixen  Wahn  mit  zeitweiligen  reactiven  Paroxysmen  und 
beständig  drohenden  impulsiven  Raptus,  neben  einer  tieferen  Gemüths- 
abstumpfung.    Die  Gefühle  für  die  Familie  schwinden,  ein  niedriger 
Egoismus  greift  uro  sich,  die  Sorge  für  das  Decorum  geht  unter  (lässige 
Toilette,  Unredlichkeit).  Sehr  häufig,  unter  wachsender  Fettsucht,  nimmt 
die  geistige  Schwäche  auf  allen  Gebieten  zu;  dabei  erhält  sich  manch- 
mal noch  lange  ein  spielendes  Interesse  für  frühere  Liebhabereien ;  nicht 


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Hysterischer  Wahnsinn.   Klinische  Typen. 


247 


selten  aber  auch  ein  intriguanter  Zug  mit  Neigung  zu  Entstellungen  und 
rechtfertigender  Dialektik  (hysterische  Degeneration). 

Der  6.  Typus  verläuft  im  Symptomenbilde  des  katatonischen  Wahn- 
sinns, entweder  nach  dessen  dämonomanischer  Form,  oder  nach  dem 
Typus  des  hallucinatorischen  Stupors.  —  Die  Einleitung  ist  entweder: 
1.  eine  allmähliche,  aus  einem  schon  länger  dauernden  Hysterismus  mit 
tiefer  Anämie  heraus  (in  2  meiner  Fälle  spielten  dabei  Sorgen  um  ein 
vorhandenes  Uterinleiden  eine  grosse  Rolle ;  bei  beiden  fiel  merkwürdiger- 
weise der  Beginn  der  acuten  psychischen  Erkrankung  mit  der  Einleitung 
der  gynäkologischen  Cur  zusammen);  ein  vager  Depressionszustand  mit 
vorwiegend  farbloser  Stimmung  und  abulischem  Wesen,  zeitweilig  unter- 
brochen durch  barocke  Zwangsgedanken  und  Zwangshandlungen,  leitet 
die  Scene  ein.  Oder  2.  es  kann  ein  hypochondrisches  Stadium  mit  zeit- 
weiligen hysterischen  Krampfanfällen  und  sonstiger  Lucidität  des  Be- 
wußtseins vorausgehen,  mit  centralen  Gemeingeflihlstäuschungen  und 
Reflexhallucinationen  (die  Kranke  sieht  ihren  Kopf  im  Spiegel  falsch  auf- 
gesetzt, die  Nase  translocirt  u.  s.  w.),  und  nach  kurzem  Zwischenstadium 
(mit  rathloser  Aengstlichkeit,  zerstreutem  Wesen)  in  den  Stupor  Uber- 
gehen. Oder  endlich  3.  die  Entwicklung  der  Psychose  erfolgt  nach  einem 
Prodromalstadium  hallucinatorischer  Verwirrung  mit  Giftfurcht  und  Nah- 
rungsverweigerung und  heftigem  Widerstand  gegen  jede  Annäherung ;  an 
dieses  schliesst  sich  sofort  der  Stupor  an. 

Es  scheint  fUr  die  katatonen  Wahnsinnsfälle  von  ausgeprägt  hyste- 
rischer Grundlage  charakteristisch  zu  sein,  dass  sie  sowohl  in  den  Vor- 
ais in  den  Nachstadien  der  eigentlichen  Stuporphase  einen  ausserordent- 
lichen Polymorphismus  von  jäh  in  einander  umspringenden  klinischen 
Zustandsformen  darbieten:  Grübelsucht  mit  peinlichster  Scrupulosität  und 
massiger  Depression  wechselt  mit  hallucinatorischen  Phasen;  diese  mit 
Zwangsgedanken,  Symbolisirungen ;  die  letztere  Phase  wieder  mit  deli- 
rantem  Fabuliren;  darauf  kommt  wieder  eiae  melancholische,  vorwiegend 
abulische  Episode  mit  sentimentalen  Contrastschätzungen  (sie  selbst  sind 
schuldbeladen  und  klein;  die  Andern  erklärte  Tugendideale);  dann  wieder 
lucide,  in  welchen  die  Kranken  mit  peinlichst  detaillirten  Krankheits- 
mittheilungen sich  ermüden  —  und  so  schwankt  der  Zustand  hin  und 
ber,  bis  endlich  Nahrungsverweigerung,  Mutacismus  und  Attonität  heran- 
rückt. Der  Stupor  selbst  zeichnet  sich  häufig  durch  eine  starke  Be- 
gleitung von  motorischen  Krampferscheinungen  aus:  klonische  und  to- 
nische Zuckungen  manchmal  bis  zu  Opisthotonus;  dann  heftige  Rash's 
zum  Kopfe  mit  gesteigerter  Pulsfrequenz,  manchmal  auch  Temperatur- 
erhöhung. 

Löst  sich  der  Stupor,  welcher  oft  durch  äusserst  lebhafte  Halluci- 
nationen  innerlich  belebt  ist  (Elektricitätsempfindungen  und  magnetische 
Strömungen),  so  ist  in  manchen  Fällen  für  lange  Zeit  eine  grosse  psy- 
chische Schwäche  vorherrschend,  mit  Zwangsantrieben,  automatischen, 
stundenlang  sich  ableiernden  Bewegungen,  Verkennen  der  Personen,  ab- 
soluter Rath-  und  Hilflosigkeit,  wobei  die  (der)  Kranke  durch  zufällige 
äussere  Wahrnehmungen  (Verkennungen)  gebieterisch  dirigirt,  oft  in  den 
verzwicktesten  Stellungen  lange  festgebannt  wird.  Dabei  wechselt  das 
klinische  Bild  von  Stunde  zu  Stunde.   Bald  Mutacismus  mit  dämmerhaften 


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248 


Das  hysterische  Irreseln. 


Acten  (welche  kaum  begonnen,  wieder  durch  contrXre  durchkreuzt  und 
vereitelt  werden),  bald  stufenweise  Lucidität,  bald  ein  Aufgehen  in  Mi- 
nutenantrieben und  -Stimmungen.  Die  (der)  Kranke  gleicht  einer  auto- 
matischen Drahtpuppe.  Zorniges  Aufbrausen,  sentimentale  Freundlich- 
keit, träumerische  Phasen,  moriaartige  Tändeleien  wechseln  wie  wandelnde 
Bilder.  Manchmal  schwindet  auch  das  Bewusstsein  der  eigenen  Person 
(er  ist  gestorben,  redet  von  sich  nur  noch  per  „Er")«  Dann  kommt 
auch  wieder  natürlicheres  Verhalten,  aber  in  steter  Gefährdung  eines  jähen 
Umschlags  in  blödes  Lachen,  confuses  Fabuliren.  Die  Hallucinationen 
dauern  während  dieser  Zeit  lebhaft  fort.  Der  Uebergang  in  die  Ge- 
nesung, stets  durch  Hebung  der  Ernährung  angekündigt,  ist  oft  ein  sehr 
rascher  („es  ist  mir,  wie  wenn  eine  Binde  von  den  Augen  gefallen  wäre"); 
die  Reconvalescenz  meist  aber  noch  durch  allerlei  Steigerungen  des  ur- 
sprünglichen hysterischen  Charakters  vielfach  unterbrochen.  Recidive 
mit  erschwertem  Symptomenbilde  ist  nicht  selten.  —  Bei  ungünstigem 
Verlauf  (wozu  übrigens  auch  noch  die  Typen  des  katatonen  Wahnsinns 
einzusehen  sind)  bildet  sich  entweder  a)  ein  chronischer  Stupiditätszu- 
stand heraus,  untermischt  mit  dämmerhaften  Angstparoxysmen  und  im- 
pulsiven Raptus,  und  allmählichem  Niedergang  in  apathischen  Blödsinn 
(Fettwerden,  Fettschweiss  im  Gesicht);  oder  aber  b)  ein  chronischer  ex- 
pansiver Wahnsinn.  Die  Entwicklung  dieses  letztern  Zustandes  geht  durch 
ein  poststupuröses  Blödsinnsstadium  mit  ungeheurer  Rathlosigkeit  und 
conträrer  Negation  hindurch.  Die  intendirten  Handlungen  erfolgen  nur 
staccato,  die  Willensimpulse  selbst  schlagen  sofort  in  Hemmung  um,  so- 
wie man  die  zögernde  Kranke  durch  Beihülfe  fördern  will;  oder  aber 
der  erhobene  Arm  greift  rasch  und  plötzlich  zu  —  gewöhnlich  mit  Ver- 
fehlen des  Zieles.  So  sind  auch  die  ersten  Antworten,  wenn  die  Kranken 
aus  ihrem  monatelangen  Mutacismus  erwachen,  zögernd,  unsicher,  ver- 
legen, dann  plötzlich  hastig  überstürzend;  aber  sofort  wieder  innehaltend. 
Bald  überrascht  auch  ein  treffendes  witziges  Wort.  Im  Ganzen  lebt  aber 
die  Kranke  noch  in  Einfällen  und  launenhaft  wandelbaren  Stimmungen. 
Anscheinend  harmlos  und  zufrieden,  kann  sie  auch  plötzlich  mit  einem 
improvisirten  Selbstschädigungsversuch  überraschen.  Aber  unter  dem 
äusserlich  widerspruchsvollen  Gebahren  —  anscheinend  ohne  Interesse 
und  Theilnahme,  von  Indolenz  zu  Zornausbrüchen  unvermittelt  Ubergehend, 
und  dann  wieder  zu  einem  lieblich  schmiegsamen  Wesen  —  setzt  sich 
doch  allmählich  die  frühere  Persönlichkeit  wieder  zusammen  (artisti- 
sche Fähigkeiten,  Ciavierspiel  u.  8.  w.  werden  wieder  begonnen);  aber  es 
scbliesst  sich  jetzt  auch  der  Grössenwahn  auf:  die  Kranke  ist  ein 
Kind  von  fürstlicher  Abkunft,  ist  geadelt  u.  s.  w.  In  der  Folge  können 
sich  beide  Gebiete  neben  einander  abgrenzen,  und  so  eine  Heilung  mit 
Defect  zu  Stande  bringen.  Es  kann  aber  auch  der  Wahn  activ  werden, 
und  durch  die  ständigen  Aufregungen  und  Conflicte  die  Kranke  einem 
immer  ausgebreitetem  secundären  Schwächezustand  zuführen. 

Der  7.  Typus  endlich  umfasst  die  Fälle  von  chronischem,  unheil- 
barem Hysterismus  mit  Degenerescenzsymptomen. 

Es  lassen  sich  dabei  zwei  Unterformen  unterscheiden,  wovon  die 
eine  a)  als  eigentlich  degenerativer  Wahnsinn,  die  zweite  b)  als  primärer 
hysterischer  Blödsinn  kurz  zu  bezeichnen  ist. 


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Chronisch  degenerativer  hysterischer  Wahnsinn.  249 

Untergruppe  a.  Chronisch  degenerati ver  hysterischer 
Wahnsinn. 

Meistens  hereditäre  Anlage.  Hysterische  Charakterzlige  in  der  see- 
lischen Entwicklung  von  Jugend  an;  auch  Zwangsgedanken,  Raptus  me- 
lancholici.  Früh  entwickeltes  Geschlechtsleben  mit  Neigung  zu  Selbst- 
befriedigung, mitunter  auch  zur  Perversität.  Oft  glänzende,  aber  einseitige 
intellectuelle  Begabung.  Krankheitsentwicklung  entweder  acut  (nach 
eingreifenden  Gemtithsbewegungenj:  Aufregung,  Schlaflosigkeit,  exaltirtes 
Wesen,  in  der  Form  der  Mania  mitis,  zeitweilige  hysterische  Krampf- 
anf  älle,  bald  primordiale  Verfolgungshallucinationen ;  in  der  Folge  brüsker 
Wechsel  zwischen  manischen  und  depressiven  (luciden)  Phasen.  Oder 
aber:  allmähliche  Krankheitsentfaltung  ohne  schroffen  Uebergang 
aus  dem  hysterischen  Charakter  heraus,  zunehmend  schärfere  Ausprägung 
des  „impulsiven  Charakters"  in  EntSchliessungen,  Ansichten,  Handlungen; 
kitzelnde  Neigung  zum  Contrast  mit  gebieterischer  Unterwürfigkeit  unter 
einen  periodisch  wiederkehrenden  Wechsel  in  Sym-  und  Antipatliieen,  in 
der  Wahl  der  Lebensweise,  der  Toilette,  der  Umgebung,  der  Liebhabe- 
reien. Immer  fertigere  Herausgestaltung  eines  periodischen  Typus, 
auf  dessen  Acmestadien  die  sog.  Krisen  entfallen,  während  die  Intervalle 
wenigstens  Anfangs  noch  leidlich  lucid  bleiben.  In  den  Krisen  heftiges 
Aufwirbeln  der  Zwangsgedanken  und  Zwangsimpulse:  Verfolgungs-  und 
Grössenideen  (namentlich  aber  erstere),  Hallucinationen  und  Illusionen, 
gesteigerter  Reproductionsdrang,  plötzlich  gewechselte  Sym-  und  Anti- 
•patbieen  —  beherrschen  die  Kranke,  wann  und  wie  sie  einfallen,  und 
wirken  imperativ.  Je  nach  dem  Inhalt  folgen  heftigere  oder  mildere 
Furorreactionen  (Zerstören  von  Gegenständen,  stundenlange  Aufschreie, 
Angriffe  auf  die  Umgebung,  oder  beleidigende  Kränkungen,  Schmähungen 
aller  Art  in  Worten  und  endlosen  Briefen).  Zunehmend  steigert  sich  der 
Gedankendrang  bis  zur  acuten  Verwirrung,  manchmal  bis  zum  Verlust 
des  PersönlichkeitsgefUhls,  so  dass,  oft  in  heftigem  Zornproteste,  in  Allem 
Verifikationen  gemacht  werden.  Sonst  erhält  sich,  mit  Ausnahme  dieser 
Höhestadien,  das  Bewusstsein  mit  einer  merkwürdigen  Lucidität.  Die 
Kranke  weiss  ihre  Verkehrtheiten  und  beurtheilt  sie  sogar  richtig;  aber 
sie  kann  ihr  triebartiges  Zerstörungswerk  nicht  hemmen,  noch  ihre  In- 
vectiven  in  sich  verschliessen ;  sie  muss  pervers  handeln  und  sprechen 
„wie  ein  Papagei".  Nicht  selten  gehen  gesteigerte  sexuelle  Dränge  (Ent- 
blößungen, Masturbation,  perverse  Neigungen)  mit  einher;  körperlicher- 
seits  Fluxionen  zum  Kopf  mit  eiskalten  Händen,  Schlaflosigkeit.  Form 
und  Dauer  der  Krisen  wechseln,  selbst  in  demselben  Krankheitsverlaufe. 
Manche  werden  auch  durch  unendliche  Abulie,  Schlafsucht,  Neigung  zur 
Unredlichkeit  u.  8.  w.  mit  raisonnirender  Dialektik,  Rückwärtsgrübeleien 
mit  unerschöpflichem  Verificationszwang  ausgefüllt.  Hin  und  wieder 
scbliessen  sie  sich  an  die  Menses  an.  Auf  die  Uberstandene  Krise  folgt 
tiefe  Abspannung,  Bettsucht,  reuevolles  Nachempfinden;  in  andern  Fällen 
tritt  aber  gegentheils  Euphorie  ein,  wie  nach  einem  reinigenden  Ge- 
witter. In  der  Folge  werden  die  Intervalle  immer  gedrückter  und  be- 
lasteter, die  Kranke  unausgesetzt  schwerer  krank,  wenn  auch  daneben 
oft  die  Krisen  selbst  an  Intensität  einbüssen. 


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250 


Das  hysterische  Irresein. 


Untergruppe  b.  Primäre  hysterische  Dementia  mit  De- 
generation. 

Nach  dem  Alter  der  Betroffenen  (jüngere  Individuen)  und  den  klini- 
schen Grundzilgen  dürfte  diese  Untergruppe  eine  Modifikation  der  acuten 
Dementia  resp.  der  Dementia  praecox  (s.  hered.  Neurose)  bilden.  Hit 
der  acuten  Dementia  hat  sie  auch  die  zwei  Verlaufsarten  gemein:  sie 
beginnt  nämlich  sowohl  mit  acutem  hallucinatorischem  Stupor,  als  auch 
ohne  solchen  —  als  directes  Stillestehen  der  bis  dahin  befriedigenden,  ja 
hoffnungsreichen,  geistigen  Entwicklung,  mit  rapidem  hemmungslosem  Nie- 
dergang. Die  Form  des  psychischen  Schwächezustandes  ist  darnach  ent- 
weder eine  chronische  Stupidität  mit  Dämmerzustand  und  Hallucinationen, 
oder  aber  eine  Art  wachen  Zerfalls,  dessen  Signatur  die  ungeheuerste 
gemüthliche  Indolenz  und  sittliche  Apathie  ist,  während  die  intellectuellen 
Functionen  noch  leidlich,  oft  auffallend,  wenigstens  partiell,  geschont 
bleiben  können.  Das  Charakterisirende  für  den  hysterischen  Ursprung 
ist  die  Erhaltung  des  hysterischen  Charakters  auch  im  Blö(hinn:  schwan- 
kende Bewusstseinsincidität,  Neigung  zu  Zwangsgedanken,  polymorpher 
Stimmungswechsel  auf  Grundlage  einer  sittlichen  Degeneration,  einer  wirk- 
lichen Verrohung  aller  ethischen  und  socialen  Eigenschaften;  dazwischen 
treten  allerlei  hysterische  Tics  und  Krampfzufälle,  oft  in  den  Aequivalenten 
eines  vorübergehenden  Furors.  Ueberraschend  ist  oft  der  ungemein  jähe 
Zusammenbruch  des  geistigen  Aufbaues:  schon  aus  der  ersten  hallucina- 
tori8chen  Attake  gehen  die  Kranken  mit  der  fertigen  Dementia  hervor. 
Sie  haben  sich,  ihre  Gemüthsbeziehungen,  ihre  Lebensziele,  ja  selbst  ihre. 
Würde  vergessen,  sie  tändeln  nur  noch  in  stossweisen  Anläufen  einer  sog. 
Beschäftigung,  zerzupfen  und  zerschneiden  plan-  und  ziellos,  oft  unter 
schallendem  Gelächter.  Zu  anderen  Zeiten  sitzen  sie  schweigsam  herum 
mit  niedergeschlagenen  Augen,  mit  hängender  Gesichtsmaske,  müssen  ge- 
pflegt werden  wie  Kinder.  Dazwischen  treten  die  widersprechendsten 
Impulse  raptusartig  auf :  Zuschlagen,  Beissen  —  und  sofort  wieder  Küs- 
sen, grobe  Verletzungen  des  Decorum  —  und  dann  wieder  Singen  und 
Ciavierspielen  in  einförmig  mechanischer  Wiederholung  derselben  zufäl- 
ligen musikalischen  Reminiscenzen.  Zornige,  zärtliche,  affectiv  heftige 
Scenen  wechseln  mit  abulischem  Dasitzen  —  Alles  abrupt,  unmotivirt. 
Dann  folgen  auch  wieder  blöde  Attentate  gegen  sich,  wobei  Alles  ohne 
Wahl  verschluckt  wird,  was  die  Kranke  vorfindet.  Nicht  selten  klingt 
durch  die  fragmentaren ,  vor  sich  hingelispelten  Sätze  ein  „erotischer" 
Zug;  anderemale  wird  stundenlang  still  und  laut  mit  Stimmen  verkehrt. 
Immer  mehr  geht  die  Kranke  in  ihrem  zerfahrenen,  von  Sinnestäuschungen, 
Illusionen,  Einfällen  und  plötzlichen  Antrieben  geleiteten  Innenleben  auf. 
Für  frühere  Erinnerungen,  für  die  Forderungen  des  Tages  ist  kein  Ver- 
ständni8S,  für  die  einstigen  Regungen  des  Herzens  kein  Interesse  mehr 
vorhanden.  Das  stumpfe  Hindämmern  wird  höchstens  noch  durch  unmoti- 
virtes  Lachen  oder  unverständliche  Geberden,  verworrene  Worte  und  Aus- 
rufe, flüsternde  Monologe  mit  allerlei  dramatischen  Pantomimen  zeitweise 
belebt.  Oft  scheiden  die  Menstrualtermine  noch  bestimmtere  psychische 
Perioden  ab;  aber  auch  diese  Marke  verwischt  sich  allmählich.  Die 
Kranke  muss  längst  zur  Nahrung  und  Reinlichkeit  angehalten  werden. 
Der  apathische  Blödsinn  ist  ein  stationärer,  nur  noch  von  zeitweiligen 


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Degenerative  hyater.  Dementia.  —  Therapie. 


251 


Raptus  von  Schreien,  Zerstörungs-  und  blindem  Selbstschädigungsdrang 
in  trauriger  Abwechslung  unterbrochen. 

Therapie. 

Bezüglich  der  Behandlung  der  Hysterie,  welche  die  Grundlage 
für  die  der  hysterischen  Psychosen  bilden  muss,  wird  auf  das  ein- 
schlägige Capitel  dieses  Werkes  verwiesen.  Im  Folgenden  finden 
deshalb  nur  die  allgemeinen  Gesichtspunkte,  und  nur  soweit  sie  auf 
unser  specielles  Gebiet  Bezng  haben,  summarische  Erwähnung.  Da- 
neben ist  auch  die  Therapie  der  Melancholie,  Manie  u.  s.  w.  einzu- 
sehen, welche  hier  sich  wiederholt,  mit  der  erweiterten  Indication 
der  zu  Grunde  liegenden  constitutionellen  Neurose. 

a)  Somatische.  Die  hier  in  Betracht  kommenden  Indicationen 
richten  sich  nach  der  individuellen  Ursache  des  hysterischen  Nerven- 
leidens. Diese  ist  nie  eine  einfache,  sondern  stets  combinirte;  in 
der  Regel  handelt  es  sich  1.  um  Anomalieen  der  Blutbildung  und 
Ernährung;  2.  um  eine  mehr  minder  entwickelte  genitale  Neurose; 
3.  um  hereditäre  oder  erworbene  spinale  oder  cerebro-spinale  Neur- 
asthenie. Je  nach  der  verschiedenen  Mischung  dieser  Componenten 
im  Einzelfall  ist  auch  die  Therapie  eine  individuell  verschiedene; 
stets  müssen  aber  sämmtliche  beachtet  und  bald  gleichzeitig,  bald 
nach  einander  in  den  umfassenden  Curplan  einbezogen  werden. 

Hierher  gehört  das  grosse  Capitel  der  Therapie  der  Chlorose 
und  Anämie  nach  den  Regeln  der  innern  Medicin,  mit  der  beson- 
deren Betonung,  dass  sehr  oft  nur  eine  lange  und  unentwegt  fort- 
gesetzte Behandlung  zum  endlichen  Ziele  fuhrt.  Sorgsame  Auswahl 
namentlich  der  Eisenpräparate,  mit  specieller  Berücksichtigung  der 
individuell  oft  sehr  delicaten  Empfindlichkeit  ist  unerlässlich.  Ver- 
dauungsverhältnisse, menstruale  Zustände  u.  s.  w.  sind,  wie  über- 
haupt, so  namentlich  in  der  hysterischen  Neurose  für  den  speciellen 
Curplan  in  genaue  Berücksichtigung  zu  nehmen.  Nur  keine  Scha- 
blone !  Damit  Hand  in  Hand  muss  eine  umsichtig  regulirte  roborirende 
Diätetik  gehen.  Für  einzelne  Fälle,  namentlich  von  nervöser  D\rs- 
pepsie,  ist  die  Playfair'Mitchell'sche  Behandlung  zu  versuchen  (Jolly), 
wenn  auch  mit  individuellen  Modifikationen  des  täglichen  Nahrungs- 
Pensums.  Bei  schlaffen  hysterischen  Melancholieen  verdient  die 
Massage  eine  besondere  Beachtung,  ebenso  die  allgemeine  Faradi- 
sation  (s.  u.).  Sind  spinale  Hyperästhesieen  vorwiegend  ausgeprägt, 
so  leistet  die  galvanische  Behandlung  des  Rückens  oft  sehr  gute 
Dienste.  Galvanische  Eopfbehandlung  geschehe  vorsichtig!  Auch 
wir  erlebten  durch  dieselbe  in  einem  Falle  das  Auftreten  dauernder 
Gebörshallucinationen.   Eine  milde  Kaltwasserbehandlung  entfaltet, 


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252 


Das  hysterische  Irresein. 


wenn  anders  zulässig,  bei  allgemeiner  Atonie  und  psychischem 
„Schmerzbehagen"  ihre  geistig-körperlich  kräftigende  Wirkung.  Bei 
Frauen  sorgsame  Beachtung  der  Menstruationszeiten,  namentlich  der 
Menstruatio  nimia  mit  ihren  schwächenden  Folgen!  —  Bezüglich  des 
zu  erwartenden  Erfolgs  roborirender  Cur- Methoden  muss  übrigens 
stets  im  Auge  behalten  werden,  dass  viele  Chlorosen  Hysterischer 
„nervösen"  Ursprungs  sind. 

Sehr  häufig  liegt  den  hysterischen  Psychosen  (und  zwar  aller 
Formen,  besonders  aber  der  Wahnsinnsgruppe)  eine  genitale  Neu- 
rose, ausgehend  von  einem  Leiden  der  Sexualorgane,  zu 
Grunde.  Damit  schliesst  sich  eine  ev.  gynäkologische  Behandlung 
in  den  Curplan  ein. 

Die  Ermittlung,  wo  diese  indicirt  ist,  fällt  oft  nicht  leicht.  Sie 
trifft  zusammen  mit  der  Frage:  wo  ist  ein  sexuelles  Localleiden  vor- 
handen? Die  Antwort  wäre  einfach,  wenn  man  eine  ev.  gynäkologische 
Untersuchung  schlechthin  preisgeben  dürfte.  Aber  diese  ist  in  jedem 
Falle  eine  Sache  ernster  Erwägung.  Nach  meiner  Ueberzeugung  darf 
man  sich  nur  auf  feste  oder  wenigstens  höchst  wahrscheinliche  Indica- 
tionen  hin  zu  einer  solchen  entschliessen,  und  nur  in  denjenigen  Fällen, 
wo  man  das  volle  Vertrauen  der  Patientin  bereits  erworben  hat,  und  deren 
Zustimmung  sicher  ist.  Zwangsmaassregeln  (Chloroformirungi  zu  diesem 
Zwecke  sind  zu  verwerfen  und  höchstens  bei  vitaler  Indication  zu  recht- 
fertigen; sonst  warte  man  geduldig  zu,  bis  die  Kranke  selbst  einwilligt, 
und  auch  dann  sei  man  vorsichtig,  ob  nicht  dieselbe  Nebenabsichten, 
die  sie  später  in  lasciver  Weise  ausbeutet  (bei  hysterischer  Moral  In- 
sanity),  damit  verbindet.  In  diesem  letzteren  Falle  werde,  wenn  die  Un- 
tersuchung ärztlicherseits  absolut  geboten,  eine  Wärterin  mit  beigezogen. 
Wann  aber  erscheint  eine  Exploration  überhaupt  angezeigt?  Die  In- 
dicationen  können  aus  somatischen  und  aus  psychischen  Symptomen  her- 
genommen werden.  Zu  den  ersteren  gehören  alle  aus  der  Gynäkologie 
bekannte  Zeichen:  profuse  Menstruation,  eitriger,  blutig  tingirter  Fluor, 
uterine  und  abdominelle  Sensationen,  welche  mit  Grund  auf  ein  Locallei- 
den zu  beziehen  sind,  vaginale  Hyperästhesieen  u.  s.  w.  Zu  den  zweiten 
sind  vorwiegend  erotische  Vorstellungsrichtungen  (oft  in  untermischt  dä- 
monomaner  Maskirung),  Schwangerschaftswahn  und  namentlich  sexuelle 
Verfolgungsideen  zu  zählen.  Ein  sicherer  Rückschluss  a  priori  besteht 
übrigens  in  letzterem  Falle  nie,  höchstens  ein  wahrscheinlicher;  aber  die 
Gründe  könuen  aus  fortgesetzter  Beobachtung  so  dringlich  werden,  dass 
die  Annahme  eines  „allegorisirenden"  Zusammenhanges  immer  gerechtfer- 
tigter erscheint  und  damit  die  Pflicht  einer  Verificirung  durch  örtliche 
Untersuchung.  In  diesem  Sinne  gilt  das  bekannte  Wort:  „dass  das  durch 
das  Speculum  einfallende  Licht  manche  Hysterie  aufkläre"  auch  heute 
noch.  Die  hier  am  häufigsten  in  Betracht  kommenden  Zustände  sind 
chronische  Infarcte  mit  Orih'cialgeschwttren,  Endometritiden,  Lageverände- 
rungen des  Uterus  mit  und  ohne  Verwachsungen  der  Vaginalportion 
u.  s.  w.    Die  Behandlung  dieser  Zustände  hat  nach  gynäkologischen  Re- 


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Therapie.   Genitale  Localbehandlung. 


253 


geln  zu  erfolgen.  Der  Erfolg  auf  die  iradiirte  Spinalneurose,  auf  Regu- 
lirung  der  Menses,  der  Verdauung  und  im  Weitern  auf  Gemüthsstimmung 
und  Haltung  der  Patientin  ist  oft  ein  eclatanter,  Schritt  um  Schritt  ver- 
folgbarer; aus  dem  allmählichen  Zurücktreten  gewisser  sexueller  Wahn- 
ideen ergibt  sich,  dass  die  Localbehandlung  thatsächlich  gegen  diese,  in- 
dem sie  ihnen  den  somatischen  Boden  entzog,  den  Angriff  führte.  Für 
künftig  wird  auch  die  operative  Gynäkologie  nach  den  neuerdings  von 
He  gar  speciell  für  die  Castration  festgestellten  Indicationen  in  ernstliche 
Erwägung  zu  ziehen  sein;  nur  werden  derartige  grössere  Eingriffe,  ab- 
gesehen von  der  sorgfältigen  individuellen  Auswahl,  nicht  zu  spät 
resp.  erst,  wenn  der  krankhafte  Circulus  vitiosus  bereits  tief  in  das  Ner- 
vensystem sich  eingeschlichen  hat,  vorzunehmen  sein.  Vielleicht,  dass 
wir  von  der  operativen  Gynäkologie  auch  noch  die  radicale  Bekämpfung 
der  Hyper-  und  Parästhesieen  der  Pndendalnerven ,  welche  so  oft  dem 
ärztlichen  Können  die  schwierigsten  Aufgaben  stellen  und  für  die  ratio- 
nelle Behandlung  vieler  hysterischer  Psychosen  unzweifelhaft  von  der 
entscheidendsten  Bedeutung  wären,  noch  erhoffen  dürfen.  Hartnäckige 
Masturbation,  nymphomanische  Paroxysmcn  und  möglicherweise  ausgebil- 
dete Wahnsinnsformen  bauen  sich  auf  den  dadurch  vermittelten  Sensationen 
auf.  Bis  jetzt  stehen  uns  dagegen  nur  interne  und  locale  Behandlung 
mit  Bromkali,  Suppositorien  aus  Opium  und  Bromkampher,  örtliche  An- 
wendung von  1 — 2°/o  Carbolwasser,  Bestreichungen  von  1 0  0  o  Calabarin- 
lösung,  gelegentliche  Aetzungen  der  Clitoris,  neben  kalten  Klystieren, 
Kleiensitzbädern  u.  s.  w.  zur  Verfügung,  theils  mit,  theils  ohne,  theils 
mit  nur  vorübergehendem  Erfolg. 

Die  Behandlung  der  vorhandenen  neurasthenischen  Grundlage 
richtet  sich  nach  den  hieflir  geltenden  therapeutischen  Grundsätzen. 
In  die  Hauptrolle  theilen  sich  milde  Kaltwasserbehandlungen  und 
elektrische  Curen  (s.  o.). 

b)  Psychische.  Die  Grundzüge  sind  wesentlich  dieselben,  wie 
sie  für  die  „reizbare  Schwäche"  im  Allgemeinen  gelten  (siehe  die 
frühem  Capitel),  nur  mit  einzelnen,  aus  dem  psychischen  Wesen  des 
hysterischen  Charakters  sich  ergebenden  Modifikationen.  Kurz  re- 
sümirt  dürften  es  folgende  sein.  Aufgabe  ist:  die  gesteigerte  geistige 
Erregbarkeit  mässigen,  und  den  Willen  sowohl  nach  seiner  hemmen- 
den als  nach  seiner  activ  energischen  Richtung  zu  kräftigen.  Um 
dieses  bei  der  Kranken  zu  erlangen,  muss  der  ärztliche  Einfluss  ein 
möglichst  autoritativer  werden.  Dazu  gehört  unbedingtes  Vertrauen, 
und  um  dieses  zu  gewinnen,  muss  der  Arzt  volle  Theilnahme  und 
Verständniss  der  Kranken  entgegenbringen.  Die  Kranke  muss  sich 
aussprechen  können  und  dürfen,  aber  nicht  in  einseitiger  Gewährung 
ihres  Klagedranges,  sondern  sofern  es  der  Arzt  nach  dem  jeweiligen 
Gemüthszustande  für  räthlich  zur  Beruhigung  findet.  Neben  dem 
geduldigen  Abhören  der  Klagen  muss  auch  eine  gelegentliche  Nicht- 
beachtung oder  nur  summarische  Behandlung  (tröstend,  wohlwollend, 


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254 


Das  hysterische  Irresein. 


aufmunternd)  ihre  wohl  erwogene  Stelle  im  ärztlichen  Cnrplan  finden. 
Dagegen  werde  jeder  Zweifel  oder  jeder  Übel  angebrachte  Scherz 
Seitens  des  Arztes  vermieden!  Wird  die  demonstrative  Hingabe  der 
Kranken  an  ihr  Schmerzbehagen  zu  gross :  dann  ernstlicher  Zuspruch, 
ev.  Verbot  zu  klagen,  weil  die  Gewährung  desselben  schade.  Da- 
neben sorgsame  individuelle  Ablenkung  durch  Arbeit  (mechanische: 
als  Haus-  oder  Gartenbeschäftigung;  oder  intellectuelle:  als  ernstere, 
die  Aufmerksamkeit  und  das  Urtheil  [nicht  die  Phantasie!]  anregende 
LectUre).  Den  schwankenden  Grillen  werde  eine  von  unerbittlicher 
sittlicher  Strenge  getragene  Directive  entgegengesetzt,  den  wechseln- 
den Einfällen  ein  zielbewusstes  festes,  aber  in  der  Gonsequenz  nicht 
einseitig  starres  Handeln.  Es  gilt  oft  die  ganze  Kunst  der  Erziehung 
eines  launischen,  reizbaren  Kindes.  Aber  die  verbale  Pädagogik 
werde  cum  grano  salis  geübt,  weil  sie  gar  oft  reizt  und  den  Wider- 
spruch verstärkt;  selbst  die  als  nöthig  erkannte  thatsächliche 
(z.  B.  Gebot  des  Aufstehens,  der  eigenen  Mithülfe)  geschehe  stets 
mit  Rücksicht  auf  die  reizbare  Schwäche  der  Kranken,  welche  auf 
ein  kräftig  consequentes  Anfassen  nicht  selten  mit  einer  verstärkten 
psychischen  Hemmung  antwortet.  So  werden  manche,  namentlich 
tief  anämische,  Hysterische  durch  directe  Anrufe  an  ihr  Mithelfen- 
müssen in  ein  noch  grösseres  Nichtkönnen  versetzt,  und  sind  erst 
auf  Umwegen  (dadurch,  dass  man  ihre  Schwäche  zuerst  bis  ins 
Kleinste  berücksichtigt  und  anerkennt)  zu  Anfängen  eigener  Initiative 
und  Activität  zu  gewinnen.  —  In  der  Wahl  der  Curpläne,  nament- 
lich der  medicinischen,  werde  stets  auf  die  Impressionabilität  der  Kran- 
ken gebührende  Rücksicht  genommen,  so  dass  aus  der  Schablone 
kein  Bedürfniss  entstehe  (Vorsicht  in  der  Gewöhnung  an  Narcotica  !j. 

Speciell  für  die  hysterische  Melancholie  auf  der  Grundlage  einer 
„schlaffen  Faser"  sind  die  allgemeine  Faradisation  und  die  Massage  sehr 
werthvolle  Unterstützungsmittel  ex  indicatione  morbi;  ebenso  temperirte 
Einpackungen  mit  kalten  Abwaschungen.  Bei  den  acuten  Raptuszufallen 
mit  Kopffluxionen ,  welche  oft  noch  den  Menses  sich  anschlieasen :  fort- 
gesetzte Eisbehandlung,  Chapman'sche  Rückenkühler.  Bei  einigermaassen 
schwererer  Ausbildung  der  Psychose  ist  Anstaltsbehandlung  unumgäng- 
lich nöthig.  Das  Letztere  gilt  ohne  Einschränkung  von  den  verschie- 
denen Wahnsinnsformen.  Manische  Zufälle,  welche  oft  nach  1 — 2 
Wochen  vorübergehen,  können  unter  günstigen  Bedingungen  ausserhalb 
der  Anstalt  zu  behandeln  versucht  werden  und  heilen  so  nicht  selten. 
Dagegen  gehören  die  Moral-Insanity-Fälle  sämmtlich,  und  möglichst  bald, 
in  Asylpflege.  Die  hystero-epileptoiden  Zufälle  können,  wenn  sie  leich- 
terer Art  sind,  durch  Spitalbehandlung  (ja  manchmal  zu  Hause)  mit  Er- 
folg bekämpft  werden  (Bromkali  in  fortgesetzter  Anwendung) ;  bei  schwe- 
rerer Form  aber  und  namentlich  bei  starker  Ausbildung  des  hysterischen 


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Das  epileptische  Irresein. 


255 


Charakters  ist  die  Versetzung  in  das  „Traitement  inoral"  der  Anstalt  un- 
erläßlich. In  mehreren  der  schwersten  Fälle  dieser  „crux  nosocomiaüs" 
führte  eine  methodische  Morphiumbehandlung  (Injection  jeweils  im  ersten 
Beginn  der  Podromi  applicirt)  neben  entsprechendem  sonstigen  Curregi- 
men  zur  dauernden  Genesung. 


Das  epileptische  Irresein. 

Literatur.  H.  Hoff  mann,  Beobachtungen  über  Seelenstör.  u.  Epil.  1859.  — 
Falret,  de  l'6tat  ment.  des  epil.  186u.  —  Delasiauve,  TraUe*  de  PepÜ.  1854.  — 
Morel,  Gaz.  hebd.  1801.  —  Kussel  Reynolds,  Die  Epilepsie.  1865.  —  Samt, 
Arch.  f.  Psych.  5  u.  6.  —  Gnauck,  Ibid.  12.  —  Sommer.  Ibid.  11.  —  Furstner, 
Ibid.  13.  —  Sommer,  Ibid.  10  (Befunde  am  Ammonshorn).  —  Thomsen  u. 
Oppenheim,  Ibid.  15  (sensor.  Störungen).  —  F.  Fischer,  Ibid.  15.  —  Pick, 
Ibid.  (Verhalten  d.  Bewusstseins).  —  Discuss.  sur  l'epil.  larvee,  Ann.  m6d.  psych. 
1673.  —  Le  Grand  du  Saulle,  Etüde  mld.  leg.  1877.  —  v.  Krafft-E  hing, 
AUg.  Ztschr.  f.  Psych.  34.  —  Weiss,  Ibid.  35.  —  Witko  wsky,  Ibid.  37.  —  Weiss, 
Psych.  Stud.  aus  Leidesdorf's  Klinik.  1877.  —  Sander,  Berl.  kl.  Woch.  1873. 

-  Binswanger,  Ibid.  1878  (Epileps.  vasomot.).  —  Moeli,  Ibid.  1882.  —  F. 
Fischer,  Ibid.  1884  („photogr.  Gleichheit44).  —  Witkowsky,  Allg.  Ztschr.  f. 
Psych.  41  u.  Neur.  Centralbl.  1884  (gegen  Fischer;  ferner  über  comatöse  Zustände 
der  Ep.).  -  Weiss,  Wien.  med.  Woch.  1876.  —  Leidesdorf,  Ibid.  1881.  — 
Mendel,  Deutsche Zeitschr.  f.  prakt.  Med.  1877.  —  Pick,  Epilept.  Irres,  in  Eulen- 
lurg's  Realeucycl.  —  W  itkowsky,  Naturf.  Vers,  in  Bad.  1879.—  Greppin,  Diss. 
Basel  1884.  —  Echeverria,  Consid.  clin.  snr  la  fol.  ep.  Congrcs  int.  Paris  1878-80. 

—  Christian,  Ibid.  —  Otto,  Arch.  f.  Psych.  5  (Bromkali-Cur).  —  Stark,  Allg. 
Ztschr.  f.  Psych.  31  (Bromkali).  —  Wildermuth,  Berl.  klin.  Woch.  1884  (Osmium- 
säure). —  Fürsorge  für  Epileptische  und  epileptische  Irre:  Le  Grand  du 
Saulle,  Ann.  meu.  psych.  1879.  —  Lunier,  Ibid.  1881.  —  Jolly,  Allg.  Ztschr. 
f. Psych.  38.  —  Derselbe,  Arch.  f.  Psych.  13.  —  Pelman,  Allg. Ztschr.  f.  Psych. 
39.  —  Kind,  Ibid.  40.  —  F.  Fischer,  Ibid.  —  Rieger,  Ibid.  41  (gefähr).  Epi- 
lept.). —  Derselbe,  Irrenfreund.  1885  (Epilept.  Anstalten).  —  Wildermuth, 
Zbchr.  f.  d.  Behdlg.  Blöds.  u.  Epilept.  Jahrg.  IV  u.  V.  —  Derselbe,  AUg.  Ztschr. 
f.  Psych.  40  (Anstaltsbehandlung).  —  Jugendliche  Epileptiker:  Krelin,  AI.  a. 
Neur.  18S2. 

Die  Thatsacben,  auf  welche  sich  die  Aufstellung  eines  „epileptischen 
Irreseins"  als  einer  —  nach  Entwicklung,  Verlauf  und  Symptomatologie  — 
eigenartigen  klinischen  Gruppe  grtlndet,  sind  folgende: 

1.  Acute  Irreseinszustände  schliessen  sich  oft  unmittelbar  in  typi- 
scher Weise  an  epileptische  Krampfanfälle  an  und  wiederholen  sich  mehr 
weniger  regelmässiger  Weise  nach  jedem  Krampfanfall,  resp.  nach  einer 
Gruppe  von  mehreren  rasch  aufeinander  folgenden  Insulten  (typisches 
postepilepti8ches  Irresein) ; 

2.  solche  Irreseinszustände  können  statt  eines  Krampfanfalles  eintreten 
(Aequivalente); 

3.  in  weniger  typischer  Weise  kommt  es  auch  vor,  das  dieses  Irre- 
sein dem  Krampfanfalle  vorangeht,  resp.  zwischen  mehrere  Insulte  sich 
einschiebt,  oder  dass  das  Irresein  von  Krampfanfallen  unterbrochen  wird; 
oder  endlich:  dass  ein  Krampfanfall  das  erstere  abschliesst. 


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25G 


Das  epileptische  Irresein. 


Dabei  ist  aber  eine  sichere  Beziehung  zwischen  Häufigkeit  und  In- 
tensität der  Krampfanfälle  einerseits  und  Irresein  andererseits  nicht  fest- 
zustellen. 

4.  Bei  Epileptikern,  deren  Leiden  sich  in  einer  oder  der  anderen 
Weise  mit  psychischen  Störungen  verbindet,  bildet  sich  im  Verlaufe  eine 
geistige  Stimmungslage  mit  bestimmten  intellectucllen  Anomalieen  und 
sittlichen  Defecten  aus,  welche  habituell  wird,  und  in  den  meisten 
Fällen  in  vollständige  Demenz  tibergeht.  Man  bezeichnet  dieselbe  — 
analog  dem  hysterischen  Temperament  —  als  epileptischen  Charakter. 
Dieser  sowohl  als  auch  der  nachfolgende  Blödsinn  bewahren  eine  typi- 
sche und  vielfach  speeifische  Eigenart. 

Die  Art  der  Entstehung  und  weitem  Entwicklung  des  epilep- 
tischen Irreseins  ist  gewöhnlich  die,  dass  an  die  von  früher  Jugend 
bestehende  oder  zur  Pubertätszeit  ausgebrochene  Neurose  sich  sachte 
der  epileptische  Charakter  (s.  u.)  anschliesst;  daran  nach  längerer 
Zeit  (mehreren  Jahren)  das  Irresein,  und  an  letzteres  nach  und  nach 
der  Blödsinn.  Dieser  Typus  zeigt  Übrigens  vielfache  Modificationen. 
So  kann  a)  der  epileptische  Charakter  schon  von  Kindheit  an  in 
einzelnen  Erscheinungen  vorhanden  sein,  und  auf  dieser  Grundlage 
in  späterer  Zeit  sich  der  motorische  Insult  und  das  Irresein  erheben; 
oder  b)  es  besteht  ein  angeboruer  Sehwachsinn  mit  epileptischer 
Reizbarkeit,  welcher  später  (oft  erst  Decennien  nachher)  seine  Weiter- 
entwicklung in  wirkliche  Epilepsie  mit  psychischer  Transformation 
durchmacht.  Sehr  häufig  haben  solche  Kinder  in  den  ersten  Lebens- 
jahren an  Convulsionen  (oft  Meningitis)  gelitten.  Am  seltensten  ist, 
dass  ein  Epileptiker  von  Kindheit  an  vollständig  gesund  war,  sich 
normal  entwickelte,  keine  somatischen  und  psychischen  Abnormitäten 
zeigte,  und  erst  in  der  Jugend  an  epileptischen  Krampfanfällen  mit 
psychischen  Störungen  erkrankte  (s.  u.). 

Bezüglich  des  zeitlichen  Erscheinens  dieses  Irreseins  sei  noch  die 
Möglichkeit  erwähnt,  dass  ein  psychischer  Paroxysmus  der  ersten  Krampf- 
attake  vorausgehen  kann.  Dagegen  vermögen  wir  der  Auffassung,  dass 
Irreseinsanfälle ,  welche  in  ihrer  Entstehung,  ihrem  Verlauf  und  ihrer 
Symptomatologie  den  epileptischen  gleichen,  an  Stelle  der  Krampfanfalle 
Uberhaupt  treten,  und  nur  dadurch  (ohne  sonstige  Erscheinung) ihre 
Zugehörigkeit  zur  epileptischen  Erkrankung  sollen  beanspruchen  dürfen 
(„psychische  Epilepsie"),  nicht  beizustimmen.  Wohl  aber  können  Irreseins- 
anfälle als  Aequivalente  von  Krampfparoxysmen  bei  einem  Individuum 
beobachtet  werden,  welches  ausser  den  ersteren  noch  andere  Erschei- 
nungen der  epileptischen  Erkrankung  (Petit  mal  u.  s.  w.)  aufweist. 

Das  acute  typische  Irresein  kommt  gewöhnlich  bei  Kranken 
mit  seltenen,  aber  heftigen  Krampfaufällen  vor,  während  bei  Epilep- 
tikern mit  rudimentären  Anfällen  (allein  oder  abwechselnd  mit  voll- 
ständigen) das  klinische  Bild  sich  in  mehreren  theilweise  ganz  indi- 


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Klinische  Symptomatologie.   Der  postepileptische  Stupor.  257 


viduellen  Modificationen  bewegt.  Der  Zeitraum,  innerhalb  dessen 
die  vier  Factoren  der  epileptischen  Erkrankung  —  Krampfanfälle, 
epileptischer  Charakter,  Irresein,  Demenz  —  nach  einander  in  die 
Erscheinung  treten,  ist  ebenso  wechselnd  wie  die  Aufeinanderfolge 
der  letztern  im  Einzelfalle.  Manchmal  schon  in  einigen  Monaten  sich 
bis  zur  vollen  Demenz  entwickelnd,  können  andere  Male  Jahre  ver- 
gehen, bis  die  ersten  Zeichen  des  Schwachsinus  anrücken,  und  wie- 
derum weitere,  bis  dieser  langsam  zum  Blödsinn  fortgeschritten  ist. 
Oft  kürzt  ein  rascher  Tod  im  Status  epilepticus  unter  gehäuften  An- 
fällen jäh  den  Verlauf  ab.  Diese  letztere  Wendung  kann  sich  auch 
während  des  ausgebildeten,  durch  Jahre  bestandenen  Irreseins  plötz- 
lich vollziehen.  Nicht  selten  liegt  ein  ansehnlicher  Zeitraum  zwi- 
schen dem  ersten  Krampf-  und  Irreseinsanfall.  Die  Insulte  können 
manchmal  von  selbst  längere  Zeit  (Monate,  Jahre)  vollständig  auf- 
hören oder  nur  äusserst  selten  eintreten  —  und  plötzlich  mit  erneuter 
Heftigkeit  und  Häufigkeit  einbrechend  rapid  zum  Tode  führen,  wäh- 
rend das  Irresein  in  der  anfallsfreien  Zeit  fortbestand.  Mit  der  zu- 
nehmenden Demenz  verwischt  sich  gewöhnlich  das  typische  Krank- 
heitsbild, wenn  sich  immer  auch  noch,  wie  ehedem,  die  Paroxysnien 
an  den  Krampfanfall  anschliessen.  Daneben  protrahirt  sich  häufig 
jetzt  das  Irresein  und  zeigt  höchstens  noch  geringe  Steigerungen 
durch  den  motorischen  Insult;  in  der  Folge  werden  aber  auch  diese 
Exacerbationen  nicht  mehr  beobachtet,  und  es  tritt  ein  Gemisch  von 
Schwachsinn,  epileptischem  Charakter  und  Irreseinsbruchstücken  zu 
Tage.  Bemerkenswerth  ist  das  bei  diesen  epileptisch  Blöden  oft 
6ehr  lange  erhaltene  Krankheitsgefühl. 

Klinische  Symptomatologie.  Diese  entwickelt  sich  am 
einfachsten  von  der  Betrachtung  des  postepileptischen  Irreseins  aus. 
Für  letzteres  lassen  sich  zwei  Typen  aufstellen: 

1.  Der  postepileptische  Stupor.  An  einen  oder  mehrere  Krampf- 
anfälle  schliesst  sieb  unmittelbar,  oder  durch  einen  kurz  dauernden 
Schlaf  vermittelt,  ein  mehr  oder  weniger  tiefer  Stupor  an,  in  welchem 
der  Kranke  in  regungslosem  oder  taumelndem  Mutacismus  verharrt, 
auch  leise  sinnlos  vor  sich  hinschwatzt,  manchmal  Assonanzen  an 
einander  reiht,  auf  Fragen  nicht  oder  durch  einen  traumhaften  Blick 
reagirt,  automatische  Bewegungen  macht,  gegen  jede  äussere  Be- 
rührung sich  wehrt,  plötzlich  gegen  seine  Umgebung  in  blinder  Weise 
gewaltthätig  wird.  Die  Lösung  des  Stupors  geschieht  gewöhnlich 
nur  allmählich,  kann  aber  auch  plötzlich  erfolgen,  insbesondere  dann, 
wenn  ein  neuer  Krampfanfall  dazwischen  tritt.  Auf  der  Höhe  des 
ßtupurösen  Dämmerzustandes,  oder  auch  erst  nachher,  kann  der 

Schal«.  Geiateskrankheiten.  3.  Aufl.  17 


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258 


Das  epileptische  Irresein. 


Kranke  die  schreckhaftesten  Delirien  äussern.  Der  nachherige  gänz- 
liche Erinnerungsdefect  beweist  die  tiefe  Bewusstseinsstörung  wäh- 
rend der  Stuporphase.    Uebrigens  erstreckt  sich  die  Gedächtnis- 
lücke selten  auf  die  ganze  Dauer  der  letztern  (dies  nur  bei  sehr 
acuten  und  kurzdauernden  Anfällen).    Gewöhnlich  wissen  sich  die 
Kranken  einzelner  Vorgänge,  wenn  auch  nur  dunkel  und  traumhaft, 
zu  erinnern;  der  blinde  Gewaltact  selbst  bleibt  nicht  selten  ver- 
gessen,  während  merkwürdigerweise  kleine  Zufälligkeiten,  unbedeu- 
tende Begleiterlebnisse,  stückweise  in  der  Erinnerung  reproducirt 
werden  können.  Interessant  und  eigentümlich  ist,  dass  oft  im  Ver- 
lauf des  Stupors,  und  während  anscheinender  Lucidität,  das  Vorgefal- 
lene richtig  reproducirt  wird  — -  und  nach  Lösung  des  Stupors  wiedeT 
untertaucht,  um  jetzt  für  die  Erinnerung  unerreichbar  zu  bleiben.  Da 
übrigens  der  Grad  der  Bewusstseinsstörung  innerhalb  desselben  Stupor- 
anfalls  stufenweise  wechselt  und  auch  im  Ganzen  ein  verschiedener 
ist,  je  nach  den  einzelnen  Anfällen,  so  ergeben  sich  daraus  unzählige 
Modifikationen  der  Erinnerung  im  Einzelfall. 

Für  gewöhnlich  weiss  der  Kranke  nach  dem  Ablauf  des  Stupors, 
dass  etwas  mit  ihm  vorgegangen  ist.  Er  fühlt  sich  körperlich  unwohl, 
ermattet,  schläfrig,  hat  keinen  Appetit,  klagt  Über  Kopfweh  oder  Schwin- 
del; manchmal  befällt  ihn  dann  eine  tremorartige  Muskelunruhe.  Die 
Notwendigkeit,  sich  Uber  sich  selbst,  Ort  und  Zeit  zu  orientiren,  zeigt 
ihm,  dass  er  einen  krankhaften  Zustand  durchgemacht  hat.  Wenn  nun 
dieses  Ereignisa  und  damit  die  Notwendigkeit  sich  auszukennen  häutiger 
wiederkehrt,  lernt  er  allmählich,  dass  er  Zufällen  unterworfen  ist,  von 
denen  er  nachher  keine,  oder  nur  eine  summarische  Erinnerung  hat. 

Der  tiefe  Stupor  dauert  gewöhnlich  nur  einige  Stunden  oder 
Tage;  zögert  er  sich  (als  Dämmerzustand  s.  u.)  über  Wochen  und 
Monate  hinaus,  so  wechselt  er  meistens  gradweise  sehr  erheblich. 

%  Das  acute  poslepileptische  ängstliche  Delirium  mit  raisonniren- 
dem  Charakter  und  hallucinatorischer  Erregung  (Grand  mal  intellec- 
tuel,  Falret). 

Nach  einem  oder  mehreren  Krampfanfällen  verfällt  der  Kranke 
plötzlich,  oder  nach  einem  kurzdauernden  Intervall  von  allgemeinem 
Unwohlsein  (häufig  nach  mehrstündigem  Schlaf),  in  die  heftigste 
ängstliche  Erregung;  er  stürzt  in  blindem  Ungestüm,  mit  fast  thie- 
rischer Gewalt,  auf  seine  Umgebung  los,  beisst,  tritt,  spuckt,  demo- 
lirt  Alles,  rennt  mit  dem  Kopfe  gegen  die  Wand,  sucht  sich  auf  jede 
Weise  zu  schädigen,  schreit,  lärmt,  verbirgt  sich.  Der  Kopf  er- 
scheint stark  geröthet,  die  Pupillen  wechseln  (häufig  erweitert),  die 
Conjunctivae  sind  stark  injicirt,  die  Augen  thränend,  der  Blick  starr; 


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Das  acute  postepileptische  ängstliche  Delirium  (Grand  mal  Intellect.).  259 

dabei  vermehrte  Speichelabsonderung,  starkes  Klopfen  der  Carotiden, 
beschleunigter  Puls  mit  ungleichen  vollem  und  schwächern  Schlägen. 
Erhöhung  der  Temperatur  ist  gewöhnlich  nicht  nachweisbar.  Nach 
einigen  Stunden  oder  wenigen  Tagen  verfällt  der  Kranke  wieder 
in  einen  mehrstündigen  Schlaf,  aus  welchem  er  durch  einen  kurz- 
dauernden Stupor  oder  Angstzustand  zum  Status  quo  ante  zurück- 
kehrt. Er  fühlt  sich  jetzt  krank,  klagt  über  Kopfweh,  grosse  Er- 
mattung, hat  viel  Durst  und  nimmt  langsam  wieder  Nahrung  zu  sich, 
die  er  während  seines  deliranten  Zustandes  verweigert  hatte.  Die 
Erinnerung  an  das  Vorgefallene  ist  in  diesen  Fällen  eine  äusserst 
mangelhafte.  Wohl  erinnert  sich  der  Kranke  im  Allgemeinen  an  den 
Inhalt  der  Delirien  und  Hallucinationen,  aber  nicht  auch  an  die  beglei- 
tenden Vorgänge  (wie  und  warum  er  in  das  Isolir-Zimmer  gebracht 
wurde,  wie  lange  er  dort  war).  Die  Orientirung  erfolgt  mehr  weniger 
rasch.  —  Die  Delirien  sind  wie  beim  Stupor  ängstlicher,  schreck- 
hafter Natur,  ebenso  die  Sinnestäuschungen.  Die  Kranken  sehen 
Gott,  Engel,  Teufel,  schwarze  haarige  Männer,  welche  gross  und 
klein  werden ;  Frauen  mit  weissen  Kleidern  und  schwarzen  Kränzen, 
reissende  Thiere,  Lichtflammen  und  dann  plötzliche  Dunkelheit;  sie 
glauben  im  Himmel,  in  der  Hölle  zu  sein,  sehen  schneien,  regnen, 
Fäden  vor  den  Augen,  Nebel  u.  8.  w. ,  hören  singen,  Musik,  Schelt- 
worte, Drohungen,  Klopfen  an  der  Thür,  Donnern,  Schiessen  u.  s.  w., 
haben  krabbelnde,  kriechende,  hauchende,  schmerzhafte  u.  s.  w.  Sen- 
sationen auf  der  Haut  und  manchmal  auch  auf  den  Schleimhäuten; 
Geftthle,  als  ob  sie  in  der  Luft  schwebten;  schmecken  und  riechen 
die  widerlichsten  Dinge.  Religiöser  Inhalt  ist  vorherrschend.  Eine 
yerschiedengradige  concentrische  Gesichtsfeldeineugung  begleitet  diese 
postepileptischen  Irreseinszustände  (s.  u.). 

Während  der  Stupor  bei  öfterer  Wiederholung  grosse  Verschie- 
denheiten bezüglich  seiner  Dauer  und  seines  Grades  zeigt,  tritt  gegen- 
theils  bei  dem  acuten  postepileptischen  Delirium  eine  mehr  oder 
weniger  vollständige  Gleichheit  der  sich  wiederholenden  Anfälle, 
sowohl  bezüglich  des  Verlaufs  als  der  Symptomatologie  entgegen. 

Varietäten.  Beide  Typen  —  der  Stupor  und  das  Delirium  — 
kommen  nicht  immer  in  der  geschilderten,  scharf  ausgesprochenen  Form 
vor,  sondern  zeigen  in  ihrer  Erscheinungsweise,  Dauer,  und  der  Art  des 
Verlaufs  zahlreiche  grössere  und  kleinere  Modificationen.  So  kann,  an 
den  Stupor  anknüpfend,  a)  die  sprachliche  Keaction  in  folgenden 
Formen  auftreten:  1.  als  vollständiger  Mutacismus;  2.  als  leises  unver- 
ständliches Lispeln;  3.  als  sinnloses  Plappern  mit  Wiederholung  von 
Silben,  Worten  oder  Assonanzen;  4.  als  schwatzhaftes  Raisonniren; 
5.  als  ein  auffallend  erschwertes  Sprechen  mit  Verwechslung  und  Ver- 

17* 


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2G0 


Das  epileptische  Irresein. 


schlucken  einzelner  Silben.  —  b)  Die  activen  Bewegungen  sind  ent- 
weder vollständig  gehemmt,  oder  verlangsamt  und  trage,  oder  aber 
geschehen  in  Form  monotoner  Zwangsacte;  oft  zeigt  sich  leiser  Tre- 
mor, taumelnder  Gang,  Rückwärtsgehen,  Kreis-Gang  u.  s.  w.  —  In  ver- 
schiedenster Form  können  c)  automatische  Handlungen  und  plötzliche 
Gewaltthätigkciten  zum  Ausdruck  kommen  (s.  u.),  letztere  gewöhnlich 
als  Reactionen  auf  die  sehr  beängstigenden  oder  religiösen  imperativen 
Delirien. 

Das  Bewusst8ein  ist  stets  tief  gestört.  Gleichwohl  darf  aus 
der  nachherigen  Amnesie  nicht  ohne  Weiteres  auf  eine  vollständige 
Bewusstlosigkeit  (wie  beim  epileptischen  Krampfanfall)  geschlossen 
werden.  Die  spätere  Reproduction  des  deliranten  Inhalts  legt  hier- 
gegen Verwahrung  ein,  und  deutet,  sowie  auch  das  Vorhandensein 
der  Reflexe,  auf  ein  gewisses  Erhaltenbleiben  des  Bewusstseins  hin. 
Es  treten  überhaupt  in  dieser  Richtung  die  verschiedensten  Verhält- 
nisse auf.  So  kann  ein  vollständiges  Fehlen  der  Erinnerung  für 
einzelne  Handlungen  auf  Stunden,  ganze  Tage  und  Wochen  hin* 
aus  constatirt  werden  —  gleichsam  eine  partielle  und  temporäre 
Latenz  der  Selbstbesinnlichkeit.  Dass  es  sich  nicht  um  ein  voll- 
ständig erloschenes  Bewusstsein  handelt,  beweist  u.  A.  die  Fähigkeit 
der  Kranken,  in  diesen  Zuständen  zweckmässige  Handlungen  vor- 
zunehmen. Was  auf  dem  Bewusstsein  während  dieser  Zeit  lastet, 
was  ihm  theilweise  Besonnenheit  gestattet  und  doch  die  Rückbesin- 
nung verwehrt,  wissen  wir  nicht,  und  vermögen  es  auch  von  den 
Kranken  später  nicht  zu  erfahren.  So  können  Kranke  auch  plötz- 
lich fortlaufen,  um  an  einem  fremden  Orte  erst  zu  „erwachen",  ohne 
sich  die  mindeste  Rechenschaft  geben  zu  können,  warum  und  wohin 
sie  entwichen  sind.  Andere  ziehen  sich  während  des  Tages  aus, 
legen  sich  nieder,  und  sind  nach  einigen  Stunden  erstaunt,  dass  sie 
sich  zu  Bett  befinden.  Auch  von  der  während  dieser  somnambulen 
Acte  verstrichenen  Zeit  haben  die  Kranken  keinen  Begriff ;  dieselbe 
kann  auf  Tage  und  Wochen  sich  erstrecken,  und  der  Reconvalescent 
erst  auf  dem  Wege  mühevoller  und  langsamer  Orientirung  an  äus- 
sern Anhaltspunkten  sich  die  ergänzende  Anschauung  erwerbeu.  Im 
Anfang  kommt  ihm  nur  Alles  fremd  vor;  allmählich  wird  er  sich 
bewusst,  dass  Etwas  mit  ihm  vorgegangen,  was  in  seiner  Erinnerung 
fehlt;  und  so  gelingt  es  ihm  nach  und  nach,  mit  allen  äussern  und 
innern  Hilfen,  schrittweise  die  Lücke  zu  überbrücken.  Es  kommt 
auch  vor,  dass  zeitlich  und  örtlich  falsch  pereipirte  Dinge  in  die- 
ser illusorischen  Weise  bei  beginnender  Lucidität  noch  erin- 
nert werden,  und  dass  nach  Ablauf  des  ganzen  Paroxysmus  die 
Erinnerung  fehlt.  Ein  vollständiger  Ausfall  der  Erinnerung  trifft  na- 


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Verhalten  des  Bewusstseins,  der  Erinnerung.  Verh.  des  Irreseins  zu  d.  Insulten.  26 1 

mentlich  für  Gewaltacte  häufig  zu  (s.  o.).  So  Ut  es  Thatsache,  dass 
im  epileptischen  Irresein  Morde,  Selbstmordsversuche,  brutale  Noth- 
zachtsversuche  u.  s.  w.  verübt  werden,  wofür  der  Kranke  später 
vollkommen  amnestisch  bleibt. 

Die  Art  dieser  Gewaltacte  hat  etwas  Specifisches.  Dieselben 
erfolgen  momentan,  werden  mit  blinder  Gewalt  und  äusserster  Heftig- 
keit gegen  die  Umgebung  ausgeführt,  mag  diese  ein  belebtes  Wesen 
sein  oder  ein  zufälliger  Gegenstand.  Zahlreiche  Beispiele  von  Selbst- 
verstümmelung lassen  auch  schliessen,  dass  der  Schmerz  nicht  zu 
jener  Empfindung  kommt,  wie  beim  normalen  Bewusstsein. 

Nach  der  Art  des  Verlaufs  und  der  Beziehungen  dieses  Irreseins 
zu  den  Krampfanfällen ,  sowie  nach  der  Symptomatologie  hat  man 
verschiedene  Formen  unterschieden.  Unsere  Darstellung  ist  vom 
postepileptischen  ausgegangen,  d.  h.  von  jener  typischen  Form, 
welche  sich  unmittelbar  an  den  Insult  anschliesst,  und  durch  tiefe 
Bewusstseinsstörung,  ängstliche  Delirien  und  Hallucinationen,  hoch- 
gradige Erregung  mit  raisonnirendem  Charakter,  kurzdauernden  Ver- 
lauf, plötzlichen  Beginn,  raschen  Abschluss  und  verschiedenartige 
somatische  Begleiterscheinungen  charakterisirt  ist.  Allein  auch  der 
Stupor  ist  ein  postepileptisches  Irresein,  und  kommt  überhaupt  nur 
im  Anschluss  an  Krampfanfälle  vor.  Das  erstgenannte  Irresein  da- 
gegen kann  auch  als  Aequivalent  d.  h.  ohne  vorhergegangene 
Krampfanfalle  an  Stelle  derselben  auftreten.  Die  Frage,  ob  es  Fälle 
gibt,  in  welchen  dieses  Irresein  den  epileptischen  Krampfanfällen 
unmittelbar  vorhergehe,  wird  verschieden  beantwortet,  weil  man  die 
Möglichkeit  nicht  beobachteter  Krampfanfälle  immer  im  Auge  hat 
Sichergestellt  ist  übrigens  dieses  Vorkommen  für  das  protrahirte  und 
recidivirende  epileptische  Irresein. 

Diese  verschiedenen  Thatsachen  müssen  hervorgehoben  werden,  da 
auf  denselben  unsere  von  der  geläufigen  Eintheilung  des  epileptischen 
Irreseins  abweichende  Auffassung  beruht.  So  typisch  das  postepileptische 
(delirante)  Symptomenbild,  so  ist  dasselbe  doch  als  solches  nicht  allein 
nur  postepileptischer  Natur;  ohne  sich  klinisch  zu  ändern,  zeigt  es  sich 
wandelbar  in  seiner  Beziehung  zum  Insult;  m.  a.  W.:  wir  treffen  den- 
selben Zeichencomplex  in  der  Nachfolge  wie  im  Vorausgang  resp.  als 
Ersatz  des  Krampfanfalls.  Damit  aber  trennen  wir  uns  von  der  seit- 
herigen Eintheilung  in  ein  prä-,  postepileptisches  Irresein  und  Aequivalent; 
oder:  wenn  wir  eine  oder  die  andere  der  Bezeichnungen  annehmen,  so 
drücken  wir  damit  nur  verschiedene  formelle  Beziehungen  (zeitliche 
zum  Insult),  nicht  aber  eo  ipso  auch  klinische  Differenzen  aus.  Ebenso 
venig  können  wir  den  Inhalt  der  Delirien  (schreckhaft -ängstlich  oder 
aber  religiös  exaltirt)  als  normgebend  anerkennen,  da  derselbe  ohne  jeden 
Einfluss  auf  den  Verlauf  des  einzelnen  Zustandsbildes  ist.    Es  bleibt  uns 


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Das  epileptische  Irresein. 


deshalb  nur  der  allgemein-symptomatologische  Standpunkt 
als  Grundlage  für  unsere  Specialgruppen  des  epileptischen  Irreseins  übrig. 

Darnach,  also  rein  symptomatologisch ,  unterscheiden  wir  fol- 
gende Erscheinungsweisen  des  epileptischen  Irreseins,  resp.  tritt  letz- 
teres auf: 

1.  als  Stupor  (s.  o.). 

a)  mit  tiefer  Bewusstseinsstörung,  ohne  nachherige  Erinnerung; 
kurze  Dauer. 

b)  mit  traumhafter  Bewusstseinsstörung  (Dämmerzustand),  nach- 
folgender, theilweiser  Erinnerung  in  der  geschilderten  Weise; 
verzögerter  Verlauf. 

c)  Uebergangsformen  zwischen  a)  und  b)  und  zwischen  diesen 
und  den  andern  Formen  des  epileptischen  Irreseins  (klinische 
Varietäten  nach  Sprache  und  Bewegungsstörung  s.  o.). 

2.  als  acutes  hallucinatorisch es  Delirium  (s.  o.)  mit 
schreckhaften,  angstvollen  Sinnestäuschungen,  furibunden  reactiven 
Wuthanfällen  gegen  die  Umgebung,  tiefer  Bewusstseinsstörung.  Dauer 
von  einigen  Stunden  bis  zu  3  —  14  Tagen.  Plötzlicher  Beginn  und 
rascher  Abschluss.  Verlauf  remittirend,  scheinbar  lucide  Phasen 
wechseln  mit  tief  betäubten.  Häufige  Recidive. 

3.  als  protrahirte  Dämmerzustände  von  wochen-  und 
monatelanger  Dauer  mit  traumartiger  Bewusstseinsstörung,  beängsti- 
genden Delirien  und  Hallucinationcn,  grosser  Reizbarkeit  und  dadurch 
bedingter  Gewaltthätigkeit,  lebhaften  Nachtträumen,  welche  halluci- 
natorische  Plastik  und  Nachwirkung  auf  das  Tagesleben  behalten, 
äusserst  langsamer  Lösung,  summarischer  RUckerinnerung.  (Diese 
Stupiditätszustände  kommen  insbesondere  auch  durch  Bromkalium 
hervorgerufen  vor.) 

4.  als  manische  Erregungszustände  vom  Charakter  des 
Furors  oder  der  Mania  gravis,  von  wochen-,  monate-  und  jahrelanger 
Dauer  mit  tiefer  Bewusstseinsstörung,  hochgradiger  Gereiztheit,  Nei- 
gung zu  blinder  Gewalt  gegen  sich  und  gegen  Andere,  ängstlichen 
und  religiösen  Delirien,  ebensolchen  Illusionen  und  Hallucinationen, 
mit  und  ohne  Remissionen  von  verschiedener  Intensität  und  Dauer. 
Diese  Erregungszustände  entstehen  gewöhnlich  acut,  und  bilden  oft 
den  Uebergang  zum  Blödsinn. 

5.  als  heitere  Erregung  mit  traumhafter  Bewusstseinsstörung, 
vereinzelten  Hallucinationen  religiösen  oder  ängstlichen  Inhalts,  kin- 
discher Reizbarkeit,  mit  blödsinniger  Schwäche  gemischt,  auf  Wochen, 
Monate  und  Jahre  sich  hinziehend,  mit  Uebergaug  in  tiefen  Blödsinn. 


Symptomatologlsche  Erscheinungsweisen  des  epileptischen  Irreseins.  2G3 

6.  als  plötzlich  eintretende  Angstzustände  meist  von  sehr 
schwerem  Charakter  mit  traumhaftem  Bewusstsein,  grosser  Reizbar- 
keit, Drang  zu  Selbstmord,  zu  Gewaltacten,  meist  ohne  sie  auszu- 
führen, zum  Umherirren  u.  8.  w.,  von  sehr  kurzer  bis  zu  mehrtägiger 
Dauer. 

7.  als  momentane,  in  wenigen  Minuten  vorübergehende  Ab- 
senzen mit  anscheinend  zweckmässigen  (automatischen)  Handlungen 
und  vollständiger  Amnesie. 

Hieher  gehören  jene  Anfälle  von  impulsivem  Davonlaufen,  momen- 
taner Gewalttätigkeit,  planmassiger  Päderastie  und  andern  sexuellen 
Handlungen,  von  plötzlichem  Drange  zu  Homicidium  oder  Suicidium ;  aber 
auch  die  harmlosen  Acte  des  Einkaufens,  Stehlens  u.  s.  w. 

(Mit  diesen  letztern  Zuständen  sind  die  gelegentlich  im  Gefolge  von 
Berauschungen  auftretenden,*  anscheinend  luciden,  später  vergessenen 
Triebacte  in  Beziehung  zu  setzen  [s.  Alkoholismus],  sodann  die  plötzlichen 
perversen  Sexualacte  [Entblössungen  der  Genitalien  vor  Kindern,  nym- 
phomanische Raptus],  bei  hereditär  Belasteten  ohne  frühere  und  spätere 
epileptische  Krampfanfälle,  wovon  Anjel  Arch.  f.  Psych.  15  erzählt.) 

An  diese  das  epileptische  Irresein  x«r'  l^ox^v  zusammensetzenden 
Erscheinungsformen  sind 

8.  die  gewöhnlichen  Habitualformen  der  Melancholie,  Manie 
und  des  Wahnsinns  anzureihen,  welche  nicht  selten  in  ihrer  typischen 
Gestalt  und  ohne  jede  modificirende  Einwirkung  Seitens  der  epilep- 
tischen Erkrankung  in  deren  Gefolge  auftreten.  In  andern  Fällen 
mischen  sich  (bei  intcrcurrentem  Wahnsinn)  aber  auch  Bewusstseins- 
störungen  bei,  welche  an  jene  des  epileptischen  Irreseins  erinnern. 

Somatische  Begleiterscheinungen. 

a)  Steigerung  der  Körper  temper  atur  kommt  bei  den  Irreseins- 
anfällen mit  schwerer  Bewusstseinsstörung  vor,  ist  aber  häufig  an  das 
gleichzeitige  Eintreten  von  Krampf insulten  gebunden.  Mit  der  Erhöhung 
der  Körpertemperatur  lässt  sich  eine  deutliche  Beschleunigung  der  Puls- 
frequenz nachweisen.  Die  Qualität  der  Pulswelle  zeigt  nichts  Charakte- 
ristisches. —  b)  Deutlich  ausgeprägte  Fluxionszu stände  nach  dem 
Kopfe.  —  c)  Verhalten  der  Pupillen.  Dasselbe  ist  während  der 
Krampfin8ulte  bei  den  einzelnen  Epileptikern  verschieden.  Bei  schwerer 
Epilepsie  erweitern  sich  zunächst  die  Pupillen  während  des  tetanischen 
und  klonischen  Stadiums  etwas ;  dann  kommt  eine  rasch  wechselnde  Ver- 
engerung und  Erweiterung,  und  schliesslich  bleibt  die  letztere  maximal 
und  reactionslos ,  um  mit  der  allmählichen  Rückkehr  des  Bewusstseins 
wieder  zur  Norm  zurückzukehren.  Schliesst  sich  ein  acuter  postepilep- 
tischer Anfall  an,  so  bleibt  gewöhnlich  die  Erweiterung  auch  während 
des  letztern.  Andere  epileptische  Zufälle  verlaufen  ohne  Einfluss  auf 
die  Pupillen  und  sodann  auch  der  acute  psychische  Paroxysmus.  —  d) 
Verhalten  des  Gesichtsfeldes.  Nach  den  neuesten  Untersuchungen 


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261 


Das  epileptische  Irresein. 


von  T b o m 8 e n  und  Oppenheim  kommt  die  sensorische  Anästhesie, 
speciell  die  concentrische  Gesichtsfeldeinengung  (welch1  letztere  übrigens 
nicht  constant  zu  sein  scheint)  mit  oder  ohne  cutane  Sensibilitätsstörung 
unter  2  Formen  bei  Epileptischen  vor:  1.  als  passagere  Anästhesie 
und  zwar:  a)  nach  einem  epileptischen  Anfall  mit  nachfolgender  Be- 
wusstseinstrübung;  b)  nach  einem  Insult  mit  sich  anschliessender  De- 
pression, emotiver  Reizbarkeit  und  Bewusstseinslucidität ;  c)  nach  Aequi- 
valenten  und  Abortivanfällen.  Dieselbe  fehlt  dagegen  ganz  nach  rein 
motorischen  Krampfanfällen. —  2.  als  stationäre  Anästhesie  bei  lang- 
jährigen, meist  etwas  schwachsinnigen  Epileptikern  (merkwürdigerweise 
scheint  sie  bei  jugendlichen  zu  fehlen);  dieselbe  tritt  unabhängig 
vom  Anfall  und  von  der  Art  desselben  auf;  d)  begleitende  Kopf  Sen- 
sationen (bohrende,  reissende  Schmerzen  theils  im  Hinterkopf,  theils 
in  der  Stirne;  Gefühle  des  Summens,  Sausens,  Krabbeins,  Knisterns;  des 
Wackeins  des  Gehirns  im  Schädel,  wie  wenn  Kugeln  im  Kopf  herum- 
fahren; Schwindel);  e)  das  Verhalten  der  Menses  ist  bezüglich  des  Auf- 
tretens motorischer  Insulte  und  anschliessender  Psychosen  ein  sehr  ver- 
schiedenes: manchmal  findet  diese  Coincidenz  statt  (periodisches  epilep- 
tisch •  menstruales  Irresein) ;  noch  häufiger  aber  ist  kein  bestimmter 
Zusammenhang  nachweisbar,  und  die  Menstrualzeit  kündigt  sich  nur  durch 
grossere  psychische  Zornmüthigkeit  an. 

Der  epileptische  Charakter  und  epileptische  Blödsinn 
zeigen  viele  individuelle  Spielarten  bei  Erhaltung  eines  typischen 
Gesammtbildes.  Generell  stellt  der  erstere  einen  psychischen  Ent- 
artungszustand dar,  ähnlich  dem  hysterischen,  dessen  Signatarzug 
neben  und  vor  dem  intellectuellen  ein  sittlicher  Defect,  eine  eigen- 
artige Moral  Insanity,  bildet. 

Nirgends  tritt  der  Egoismus  eines  psychisch  Gestörten  deut- 
licher hervor,  als  beim  Epileptiker  auf  dieser  Erkrankungsstufe.  Er 
lebt  nur  für  sich  und  verliert  das  Gefühl  für  andere  Menschen 
(insociable).  Nichts  kann  ihn  stören  in  der  pedantischen  Regelung 
seiner  Bedürfnisse.  In  jedem  leisesten  Widerstande  oder  Hinderniss 
erkennt  er  sofort  eine  feindselige  Hemmung,  einen  Feind,  welchen 
er  rücksichtslos  aus  dem  Wege  zu  räumen  sucht.  Was  Andere 
wünschen,  ist  ihm  ganz  gleichgiltig,  sofern  es  nicht  seine  eigenen 
Wünsche  berührt  oder  stört.  Wichtig  und  von  Bedeutung  ist  ftir 
ihn  nur,  was  seine  Person  betrifft;  alles  Andere  hat  keine  Berech- 
tigung zur  Existenz.  Vom  Nachgeben  ist  keine  Rede.  Tritt  ihm 
Jemand  in  den  Weg,  so  genügt  ein  geringfügiger  Anstoss  zum  heftig- 
sten Zornausbruch  uud  zur  brutalen  zermalmenden  Gewaltthat  (ab- 
scheuliche Schimpfworte,  blindwUthende  Misshaudlungen,  Tödtungen). 
Andere  Dritte  dagegen,  welche  den  Kranken  nicht  contrariiren,  oder 
ihm  momentan  willfährig  sind,  werden  mit  den  höchsten  Lobes- 
erhebungen überschüttet.    Eine  nachherige  Einsicht  in  seine  Hand- 


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Somatische  Begleiterscheinungen.  —  Der  epileptische  Charakter.  265 


lungsweise  fehlt  ihm  vollständig.  —  Auch  gegen  seine  Opfer  ergeht 
er  sich  gewöhnlich  noch  in  schimpfender  und  raisonnirender  Weise  mit 
Erörterungen  Uber  Recht  und  Unrecht.  So  kommt  es,  dass  er  sich 
von  der  Welt  zurückgesetzt  und  verachtet  glaubt  (auch  wirklich  ge- 
mieden ist),  und  in  der  Folge  immer  mürrischer  und  misstrauischer 
wird.  Ein  erst  leiser,  schliesslich  offener  Verfolgungswahn  thut  sich 
auf.  Unbegründete  Beschuldigungen  über  Misshandlungen  seitens 
der  Umgebung,  Verdächtigungen  wegen  Entwendung  des  Eigenthums 
u.  s.  w.  werden  zu  stehenden  Klagen  und  bei  jedem  Anlass  vorwurfs- 
voll geäussert.  Ueberall  glaubt  der  Kranke  besser  behandelt  und 
geachtet  worden  zu  sein,  als  gerade  von  seiner  augenblicklichen 
Umgebung.  Steigert  sich  das  Zerwürfniss  mit  der  Aussenwelt,  so 
droht  er  sofort  mit  Selbstmord,  welcher  für  ihn  die  gleiche  Bedeu- 
tung hat,  wie  eine  beliebige  andere  körperliche  Nöthigung.  Er  führt 
denselben  auch  sofort  impulsiv  aus,  in  directer  Consequenz  seines 
Aergers  oder  seines  physischen  Unbehagens. 

Eine  Epileptische  hatte  sich  erhängt  und  wurde  noch  kurz  vor  dem 
Eintritt  des  Todes  abgeschnitten.  Als  sie  wieder  zu  sich  kam,  gab  sie 
als  Motiv  zur  That  mehrtägige  Stuhlverstopfung  an  —  und  war  durch 
ein  Klystier  sehr  erfreut,  und  sofort  mit  dem  Leben  wieder  versöhnt.  — 
So  vermag  auch  oft  eine  kleine  Vergünstigung,  ein  Brief,  eine  Blume, 
eine  Cigarre  u.  s.  w.  den  Kranken  wie  im  Umschlag  aus  hoher  emotiver 
Erregung  wieder  zur  Ruhe,  ja  selbst  in  freundliche  Stimmung  überzuführen. 

Das  Verhalten  der  Epileptischen  gegenüber  ihren  körper- 
lichen Beschwerden  steht  mit  dieser  impulsiven  Handlungsweise 
und  speciell  mit  der  triebartigen  Entschlossenheit,  womit  sie  oft  bei 
Bagatellen  Uber  die  Gewohnheit  des  Daseins  hinwegschreiteu,  in 
schroffem  Widerspruch.  Wenn  der  Kranke  heute  sich  für  vollständig 
gesund  ausgibt  und  die  grössten  Pläne  ausspinnt,  kann  er  morgen 
zu  Bett  liegen  wegen  eines  unbedeutenden  Schmerzes,  dem  Arzte  mit 
weitschweifender  Umständlichkeit  und  Pedanterie  für  jede  kleinste 
Missempfindung  anliegen,  und  die  Fürsorge  wie  für  einen  Todt- 
kranken  beanspruchen.  Allen  unbehaglichen  Gefühlen  legt  er  die 
grösste  Wichtigkeit  bei,  und  verlangt  deshalb  in  empfindlicher  Weise 
die  Aufmerksamkeit  seiner  Umgebung  und  besonders  des  Arztes. 

Einsicht  in  seine  Krankheit  fehlt  dem  Epileptiker  vollständig. 
Es  ist  bekannt,  dass  Kranke  häufig  ihre  Krampfunfälle  in  Abrede 
stellen,  und  ihre  Umgebung,  welche  dafür  einstehen  will,  als  Lügner 
bezeichnen.  Viele  gehen  noch  weiter;  sie  behaupten  zeitweise,  Uber- 
haupt nicht  krank  zu  sein,  und  weisen  mit  Selbstüberhebung  und 
gesteigertem  Hochgefühl  auf  ihre  ausgezeichneten  Leistungen  hin. 
Gehen  sie  an  eine  Arbeit,  so  zeigen  sie  für  den  Anfang  zwar  oft 


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26G 


Das  epileptische  Irresein. 


einen  übertriebenen  Eifer,  welchem  aber  die  Beständigkeit  und  nicht 
minder  auch  die  innere  Befriedigung  fehlt.    Der  Kranke  arbeitet 
bald  überhaupt  nur  mehr  um  äussere  Belohnung;  bald  verweigert 
er  die  Arbeit  ganz,  weil  man  sie  zu  niedrig  taxirt  und  zu  schlecht 
belohnt,  gegenüber  den  nach  seiner  Meinung  viel  geringem  Leistungen 
der  Umgebung.    Andere  dagegen  bleiben  unverdrossene  und  aus- 
dauernde Arbeiter,  sofern  man  sie  ganz  gewähren  lässt  und  nichts 
hineinredet,  ja  sie  nie  tadelt.  —  Eine  besondere  Eigenschaft  des 
epileptischen  Charakters  ist  das  Familien-Lobreden.   Sie  selbst  und 
die  Ihrigen  sind  die  tugendhaftesten  Menschen,  welche  nie  genug 
zu  preisen  sind.  Ebenso  häufig  und  bezeichnend  ist  die  übertriebene 
Ausübung  äusserer  Religionsformen.   Gott,  Christus,  Maria  sind  die 
Kamen  und  Betheuerungen,  welche  immer  im  Munde  geführt  werden; 
in  der  Kirche  sind  namentlich  die  exponirtesten  Plätze  beliebt,  ohne 
dass  der  Kranke  dabei  die  mindeste  Rücksicht  auf  einen  möglichen 
Krampfzufall  nimmt.  —  Das  Triebartige  —  diese  auszeichnende 
Eigenschaft  der  epileptischen  Handlungsweise  —  tritt  namentlich 
auch  in  dem  geschlechtlichen  Leben  in  seiner  rohen  Nacktheit 
zu  Tage.   Insbesondere  leisten  weibliche  Epileptische  hier  oft  Un- 
glaubliches, und  wissen  dabei  mit  allem  Aufgebote  boshafter  Lüge 
zu  dissimuliren.  Onanie  ist  sehr  verbreitet,  auch  perverse  und  con- 
träre  Sexualempfindung  (s.  d.).   Manchmal  wird  auch  vollständiger 
Mangel  des  Geschlechtstriebes  mit  heftiger  Abneigung  gegen  jeden 
Geschlechtsverkehr  beobachtet.  —  Eine  besonders  zu  erwähnende 
Eigenschaft  der  Epileptischen  im  Anstaltsleben  ist  die  Neigung  zu 
Complotten  gegen  die  Umgebung,  so  wenig  sie  auch  sonst  zu  har- 
moniren  wissen  (Unterschied  von  andern  Wahn-  und  Blödsinnigen). 
Für  sich  bleibt  der  Epileptiker,  zerfallen  mit  der  Welt  und  inner- 
lich ohne  Halt,  der  Spielball  seiner  Augenblicks  -  Erregungen  und 
Impulse  (hierin  den  Hysterischen  verwandt),  und  unberechenbar  wie 
diese.  Wechselvoll  und  unbeständig,  einigen  sich  seine  Acte  und  die 
Launen  seines  Benehraens  nur  in  dem  Momente  einer  steten  Krieg- 
führung mit  der  Umgebung,  in  einem  Leben  voll  Bitterkeit,  Miss- 
trauen und  Collisionen.  So  wird  das  „difficile  ä  vi  vre"  von  Falret 
verständlich. 

Daneben  gibt  es  aber  auch  Kranke,  welche  diese  Züge  einer 
eigenartigen  ethischen  Degenerescenz  nur  in  schwächern  Andeu- 
tungen (rudimentär)  enthalten,  und  ausser  diesen  noch  eine  weitere 
Gruppe,  welche  davon  ganz  frei  bleiben,  bei  ihrem  Schwachsinn  eine 
gewisse  Gutmüthigkeit  bewahren  und  nie  in  heftige  Erregungen  ge- 
rathen. 


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Die  epileptische  Demenz. 


—  Tatholog.-anat.  Befunde. 


2G7 


In  der  Mehrzahl  der  Fälle  kommt  es  schliesslich  zur  epilep- 
tischen Demenz.  Der  Typus  dieser  tritt  besonders  prägnant  bei 
jenen  Patienten  zu  Tage,  welche  einst  auf  hoher  intellectueller  Stufe 
standen,  und  einem  rapid  progressiven  Niedergange  verfielen.  Die 
Perception  ist  auffallend  erschwert  und  verlangsamt,  die  Erinnerung 
an  das  soeben  und  früher  Vergangene  defect.  Damit  ist  eine  immer 
mangelhaftere  Anknüpfung  an  frühere  Ideenassociationen  gegeben. 
Der  reducirte  Kreis  von  Vorstellungen  bildet  mit  den  oberflächlichen 
neuen  Perceptionen  für  den  Kranken  den  Maassstab  seines  Urtheils. 
Die  formalen  logischen  Gesetze  können  dabei  erhalten  bleiben ;  allein 
die  vielen  Defecte  und  der  Mangel  jedes  erweiterten  und  vertieften 
Gedankenganges  schwächen  und  verfälschen  immer  mehr  die  psy- 
chischen Leistungen.  Als  letzte  Hilfe  bleibt  schliesslich  nur  noch 
die  Anlehnung  an  früher  geübte  und  mit  der  Zeit  mechanisch  ge- 
wordene Regeln.  Charakteristisch  ist,  wie  im  Beginne  der  Demenz 
die  Defecte  der  Erinnerung,  der  Begriffe  u.  s.  w.  in  stockender  und 
stotternder  Weise  durch  umständliche  Beschreibung  der  einfachsten 
Dinge  auszugleichen  gesucht  werden.  In  diesem  psychologischen 
Verhalten  liegt  eine  diesen  epileptischen  Blödsinn  auszeichnende 
Besonderheit,  welche  nur  bei  minder  gebildeten  Kranken  und  bei 
langsamer  Entwicklung  nicht  so  prägnant  in  die  Erscheinung  zu 
treten  vermag.  Individualität,  Charakter  der  Erkrankung  und  Ver- 
lauf bilden  ebenso  viele  Modifikationen  im  Einzelfalle.  So  kann  bei 
sehr  protrahirtem  Verlauf  eine  zeitweise  erschwerte  Perception  mit 
kaum  merklichen  Erinnerungslücken  und  Ausfall  einzelner  Begriffe 
und  Vorstellungsreihen  lange  den  einzigen  vorausgeworfenen  Schatten 
der  bereits  begonnenen  und  unaufhaltsam  progressiven  Dementia 
bilden.  —  Dunkel  noch  ist  die  Pathogenese  dieses  Blödsinns,  welcher 
manchmal  ausserordentlich  rapid  sich  entwickelt,  andere  Male  trotz 
der  zahlzeichsten  jahrelangen  Grand-Mal-Anfälle  sich  nicht  einstellt. 

Bezüglich  der  pathologischen  Anatomie  ist  auf  die  Epilepsie 
im  Allgemeinen  (Bd.  XII  des  Handbuchs)  zu  verweisen.  Die  häufig  vor- 
gefundene Atrophie  eines  oder  beider  Ammonshörner  ist  u.  E.  nicht  als 
specifischer  Befund,  sondern  als  Theilerscheinung  der  allgemeinen  Atro- 
phie des  Gehirns  aufzufassen,  wobei  allerdings  bis  jetzt  unerklärt  bleibt 
a)  warum  die  Ammonshörner  vorzugsweise  und  zuerst  von  dieser  Atrophie 
ergriffen  werden,  und  b)  warum  die  letztere  häufig  nur  das  Ammonshorn 
Einer  Seite  beschlägt.  Constant  finden  sich  in  chronischen  epileptischen 
Psychosen  die  Hirnhäute  afficirt  in  Form  von  Verdickung  rcsp.  sul- 
ziger Aufquellung,  und  zwar  ist  speciell  die  äussere  (Arachnoideal-)Schicht 
ergriffen.  Die  Affection  ist  am  stärksten  in  der  Umgebung  der  Gefässe; 
nicht  selten  finden  sich  neben  den  letztern  noch  Reste  kleiner  Apoplexieen 
(in  Form  eingesprengter  gelber  Punkte),  jedoch  nur  auf  der  Convexität. 


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268 


Das  epileptische  Irresein. 


Topographisch  bemerkenswert!!  (vgl.  Paralyse)  ist,  dass  sich  die  lepto- 
meningitische  Affection  hier  mit  anscheinend  constanter  Vorliebe  an  den 
Bereich  des  convexen  Theils  des  Scheitel-  und  Stirnlappens,  speciell 
entlang  der  Fossa  Sylvii  hält  (Wildermath).  Die  Hirnrinde  an  diesen 
Stellen  ist  verschmälert,  die  Furchen  verbreitert  (cystische  Degeneration 
mikroskopisch  nachgewiesen).  —  Seltener,  und  nur  in  weitgediehenen 
Fällen,  finden  sich  Veränderungen  an  der  Dura;  häufiger  dagegen  cir- 
cumscripte  Transparenzen  des  Schädeldachs,  entsprechend  den  sulzig  ge- 
quollenen Piastellen.  — 

Die  wichtigen  forensen  Beziehungen  der  epileptischen  Geistesstö- 
rung sind  in  den  betr.  Lehrbüchern  nachzusehen.  Hier  soll  nur  ein 
Zweifaches  knrz  Erwähnung  finden:  1.  der  A  Ugem  ein  Charakter  vieler 
epileptischer  Acte:  das  unvermittelte  Auftreten  und  das  Impulsive 
der  Ausfuhrung.  Während  der  Epileptiker  beide  Momente  mit  der  ver- 
wandten Handlungsweise  der  Hysterischen  theilt,  kommt  bei  ihm  noch 
als  specifische  Zuthat  das  triebartige  Ungestüm  hinzu,  womit  er 
stiehlt,  mordet  u.  s.  w.  ohne  Effectbewusstsein  und  Effectgefuhl,  bis  ihm 
eine  äussere  überwältigende  Schranke  hemmend  entgegentritt.  Diesen 
gegenüber  sind  nicht  minder  wichtig  2.  die  anscheinend  normalen  Hand- 
lungen in  manchen  psychisch-epileptischen  Paroxysmen,  für  welche  nach- 
her volle  Amnesie  besteht.  Letztere  ist  und  bleibt  das  wichtigste  und 
entscheidende  psychologische  Kriterium  für  wirkliche  Epilepsie;  nur  sind 
die  verschiedenen  Modi  derselben  im  Einzelfalle  einzurechnen  (s.  o.).  — 

Die  Behandlung  eines  epileptischen  Irreseinsanfalls  erfordert 
fast  immer  ein  Asyl,  für  die  frischen  und  acuten  ein  entsprechend 
eingerichtetes  Spital,  für  die  chronischen  und  häufig  recidivirenden 
die  Irrenanstalt.  Der  Kranke  muss  in  erster  Linie  abgehalten  wer- 
den sich  und  Andere  zu  beschädigen.  Bei  der  oben  chrarakterisirten 
Natur  des  Handelns  und  der  in  der  Regel  tiefen  Bcwussteeinsstörung 
ist  zunächst  Isolirung  nöthig.  Wegen  der  Gefahr  des  Selbstmords, 
des  Triebs  zur  Verstümmelung,  sowie  einer  Verletzung  durch  das 
plötzliche  Eintreten  eines  Krampfanfalls  muss  der  Kranke  ständig 
beobachtet  resp.  geschützt  werden.  Ist  der  Paroxysmus  ein  rasch 
vorübergehender,  so  ist  auch  die  Isolirung  nur  entsprechend  kurz 
nothwendig;  bei  protrahirterm  Verlauf  gibt  der  vorhandene  Reiz- 
zustand oft  Anlass  zu  längerer  resp.  nach  Bedürfniss  wiederholter 
Isolirung.  Oft  genügt  die  einfache  Bettlage  in  einem  gemeinsamen 
Sehlafsaal.  Für  die  Fälle  mit  Gefahr  der  Selbstbeschädigung  ist 
eine  Polsterzelle  sehr  wünsebenswertb. 

Die  Bekämpfung  starker  Congestionen  nach  dem  Kopfe  ist,  so 
lange  das  acute  Erreguugsstadium  andauert,  meist  unmöglich.  Da 
jedoch  diese  Zustände  gewöhnlich  rasch  vorübergehen,  oder  durch 
einen  oder  mehrere  Krampfanfälle  unterbrochen  werden,  so  ist  erst 
der  passende  Moment  abzuwarten  für  Application  von  Eis,  ableitende 


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Forense  Gesichtspunkte.  —  Therapie. 


269 


Mittel,  Blutentziehungen,  lauwarme  Bäder  mit  Umschlägen.  Ist  das 
Erregungsstadium  hochgradig,  oder  zieht  sich  dasselbe  längere  Zeit 
hinaus  und  ist  dadurch  Gefahr  für  das  Leben  vorhanden,  so  sind 
Narcotica  indicirt.  Am  raschesten  und  sichersten  wirkt  eine  Chloral- 
do8is  von  2— 3  Gramm  (per  os  ev.  per  anum);  Morphiuminjectionen 
haben  gewöhnlich  keinen  Effect  Die  Wirkung  des  Bromkaliums  ist 
für  diese  bedrohliche  Situation  eine  zu  unsichere  und  zu  langsame; 
dagegen  wird  dasselbe  nicht  selten  mit  Vortheil  mit  Chloral  ver- 
banden. 

Im  Uebrigen  fällt  die  Behandlung  des  epileptischen  Irreseins 
mit  jener  der  idiopathischen  Epilepsie  Uberhaupt  zusammen.  In 
erster  Linie  muss  auf  die  Beseitigung  der  motorischen  Insulte  hin- 
gearbeitet werden  (vgl.  hierüber  Epilepsie  Bd.  XII). 

Gelegentlich  ist  anzuführen,  dass  nicht  selten  die  Compression  eines 
Aasgangspunktes  der  Aura  oder  auch  der  Carotiden,  ferner  Verschlucken 
von  Salz,  von  etwas  Wein,  einen  drohenden  Anfall  zu  coupiren  vermag. 

Psych ischerseits  bildet  die  Reizbarkeit  der  Epileptiker  die  wich- 
tigste Indication  (daher  meistens  Asylbehandlung  unerlässlich!).  Die 
gesammte  Lebensweise,  das  Maass  der  geistigen  Arbeit,  die  (vor- 
wiegend vegetabilische)  Diät  sind  sorgfältigst  zu  regeln;  daneben 
sind  Alcoholica  und  Tabak  möglichst  zu  vermeiden.  Eine  ange- 
messene körperliche  Beschäftigung  mit  viel  Aufenthalt  im  Freien  ist 
ungemein  heilsam.  Zwischen  Thätigkeit  und  Ruhe  ist  das  richtige 
Verhältniss  herzustellen. 

Im  Speciellen  sind  von  unverkennbarem  Nutzen  manche  hy- 
dropathische Curen,  wobei  als  erste  Regel  gilt,  dass  sie  individuell 
angepasst  und  mit  Energie  und  Ausdauer  längere  Zeit  fortgeführt 
werden:  temperirte  Waschungen,  feuchte  Einpackungen  mit  nach- 
folgender kalter  Douche  auf  den  Kopf;  einfache  Douche  (10— 15  °R) 
anf  den  Kopf;  im  Sommer  Flussbäder.  Die  Douche  werde  vorsichtig 
applicirt,  nur  als  Regendouche,  und  von  höchstens  10—15  Secunden 
Dauer  (mit  Berücksichtigung  auch  der  Schultergegend,  um  tiefe 
Inspirationen  zu  erzielen);  nach  der  Douche  starke  Frottirung  des 
Körpers  und  speciell  des  Kopfes.  Die  Haare  müssen  zu  diesem 
Zwecke  kurz  geschnitten  werden. 

Worauf  die  erfahrungsgemäss  gute  Wirkung  dieser  Procedur  beruht, 
ist  physiologisch  nur  so  zu  erklären,  dass  wir  im  Momente  der  Appli- 
cation der  kalten  Douche  auf  den  Kopf  einen  Zurücktritt  des  Blutes  von 
den  äusseren  Theilen  zum  Gehirn  und  einen  Ausgleich  nach  aussen  durch 
das  nachfolgende  starke  Frottiren  erzielen.  Die  Normirung  der  Circu- 
lation  wird  durch  die  künstlich  hervorgerufenen  tiefen  Inspirationen  be- 
günstigt 


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270 


Das  epileptische  Irresein. 


Die  Brompräparate  erfreuen  sich  immer  noch  der  vorzugs- 
weisen Berufenheit  als  Specifica.  Deren  Anwendung  steht  deshalb 
unter  den  Arzneimitteln  in  erster  Reihe.  Die  Tagesdosis  schwankt 
von  6-8—12—15  gr.  pro  die,  wobei  aber  die  Wirkung  bezüglich 
der  Intoxication  (Bromismus)  individuell  sorgsam  zu  überwachen  ist 
(s.  u.).  Die  Grösse  der  Dosis  und  die  methodische  Anwendung 
(„wie  das  tägliche  Brod")  ist  es,  was  in  schweren  Fällen  so  viele 
glänzende  Erfolge  gebracht  hat  und  fortan  sichert 

Unter  der  Wirkung  dieses  Mittels  hören:  a)  nach  einiger  Zeit  die 
Krampfanfälle  und  mit  ihnen  die  psychische  Störung  vollständig  auf;  der 
epileptische  Charakter  und  die  consecutive  Demenz  bilden  sich  zurück; 
oder  aber  b)  es  treten  die  motorischen  Insulte  zurück,  oder  vermindern 
sich,  während  das  Irresein  in  gleicher  oder  etwas  modificirter  Weise  fort- 
dauert; oder  c)  die  Krampfanfälle  und  das  Irresein  werden  seltner, 
kommen  aber  plötzlich  mit  um  so  grösserer  Heftigkeit  und  Häufigkeit; 
oder  d)  die  Krampfanfälle  hören  vollständig  auf,  dagegen  setzt  jetzt  da* 
Irresein  mit  desto  stärkerer  Intensität  und  in  protrahirtem  Verlaufe  ein; 
oder  e)  es  entwickelt  sich  mit  dem  Aufboren  der  Insulte  und  des  Irre- 
seins eine  so  tiefe  Apathie,  dass  Bromkali  ausgesetzt  werden  muss;  da- 
mit kehrt  aber  jetzt  der  frühere  Zustand  zurück;  f)  die  eben  genannte 
Apathie  entwickelt  sich  nur  bis  zu  einem  mässigen  Grade  und  bildet 
sich  von  selbst  wieder  zurück;  nun  erfolgt  auch  das  Aufhören  der  In- 
sulte und  des  Irreseins,  aber  nur  auf  eine  beschränkte  Zeit;  g)  Krampf- 
anfälle und  Irresein  werden  durch  das  Mittel  in  keiner  oder  kaum  be- 
merkenswerter  Weise  beeinflusst;  h)  manchmal  ist  selbst  in  veralteten 
und  hereditär  belasteten  Fällen  noch  eine  günstige  Wirkung  des  Brom- 
kali zu  constatiren  —  vorausgesetzt,  dass  es  sich  nicht  um  einen  in  früher 
Jugend  durch  Epilepsie  erworbenen  Blödsinn  handelt. 

Warum  andere  Brompräparate,  wie  Bromuatrium,  Bromammo- 
nium weniger  wirksam  sind,  ist  nicht  festgestellt.  Dagegen  wissen 
wir,  dass  eine  Verbindung  der  letztgenannten  Präparate  mit  Brom- 
kalium oft  sehr  förderlich  ist,  indem  dieselbe  die  unangenehmen 
Nebenwirkungen  des  Bromkaliums  allein  nicht  hat. 

Die  Toleranz  gegen  die  Brompräparate,  insbesondere  gegen  das 
Bromkalium  ist  eine  individuell  sehr  verschiedene.  Manche  Kranke 
können  das  Mittel  Jahre  lang  in  grosser  Dosis  unbehelligt  fortsetzen; 
Andere  bekommen  bald  die  bekannten  Digestionsstörungen  (wogegen  Ein- 
nehmen der  Bromlösung  in  Zuckerwasser  mit  Nachtrinken  von  Milch  em- 
pfehlenswertli),  Schwäche  und  Verlangsamung  der  Herzaction,  körperliche 
und  geistige  Erschlaffung,  welche  selbst  gefahrdrohend  werden  können; 
oder  Exantheme  mit  Geschwüren,  hochgradige  Störungen  der  allgemeinen 
Körperernährung  u.  s.  w.  Bei  noch  höhern  Graden  der  Intoxication 
treten  psychische  Exaltationszustände  auf,  oder  auch  eine  unheimliche 
Betäubtheit  des  Sensoriums  mit  Ataxieen  in  Gang  und  Sprache,  Erinne* 
rungsdefecten ,  Hallucinationen.  Diesen  unangenehmen  Nebenwirkungen 
des  sog.  Bromismus  begegnet  man  durch  zeitweilige  Verminderung  der 


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Therapie.  —  Die  „jugendlichen  Epileptiker". 


271 


Tagesdosis,  durch  Combinirung  der  Brompräparate;  speciell  der  Brom- 
acne  durch  gleichzeitige«  Darreichen  von  Sol.  Fowl.  Plötzliches  Ab- 
brechen des  Mittels  muss  wegen  Gefahr  des  4tat  du  mal  vermieden 
werden. 

Führen  die  Brompräparate  nicht  zum  Ziele,  so  wird  oft  mit 
grossem  Yortheil  mit  Atropin  abgewechselt;  in  andern  Fällen  sind 
beide  Mittel  zweckmässig  zu  combiniren,  namentlich  auch  in  frischen 
Fällen.  —  Wildermuth  fand  nach  nutzloser  Brombehandlung  wie- 
derholt osmiumsaures  Kali  (10 — 20  mgr.  p.  die,  in  Pillenform)  von 
einem  zweifellosen  Erfolg  begleitet;  auch  die  Reizbarkeit  nach  den 
Anfällen  wurde  herabgesetzt  und  die  intellectuelle  Schwäche  ge- 
bessert. In  einem  Fall  dagegen  minderten  sich  dabei  die  Anfälle; 
aber  es  trat  jetzt  ein  psychischer  Erregungszustand  auf. 

In  sehr  seltenen  Fällen  erlebt  man  auch  eine  spontane  Heilung 
des  (noch  frischen,  auf  wenige  Anfälle  erst  beschränkten)  epileptischen 
Irreseins  mit  bleibender  Dauer.  —  Interessant  ist  die  von  Fischer  ge- 
machte Beobachtung,  wonach  eine  schwere  nnd  tief  eingewurzelte  epilep- 
tische Psychose  durch  einen  intercurrenten  Typhus  in  einen  hallucinato- 
rischen  Wahnsinn,  ganz  nach  dem  Typus  des  hysterischen  überging 
mit  zeitweilig  jetzt  auftretenden,  echt  hysterischen,  Krampfattaken, 
und  von  da  in  vollständige  und  dauernde  Genesung.  — 

Anhang.  Die  jugendlichen  Epileptiker  erfordern  wegen 
ihres  theilweise  von  dem  vorbeschriebenen  verschiedenen  Verhaltens 
eine  gesonderte  Besprechung.  Gemeinsam  ist  auch  ihnen  (welche 
die  Krampfneurose  vor  oder  während  der  Pubertätszeit  erwerben) 
a)  eine  chronische  Psychose  —  eine  Art  epileptischen  Charakters, 
nnd  b)  ein  acutes  Irresein,  welches  bald  an  die  Insulte  sich  an- 
scbliesst  resp.  vorausgeht  oder  die  letztern  ersetzt,  bald  unabhängig 
intervallär  oder  aber  vor  dem  Beginn  resp.  nach  dem  Aufhören  der 
gpecifischen  Krampfanfälle  auftritt. 

a)  Die  chronische  Psychose  der  jugendlichen  Epileptiker.  Nach 
Wildermuth's  Schätzung  sind  höchstens  20— 25  °/o  der  letztern 
als  geistig  intact  zu  bezeichnen,  und  auch  unter  diesen  steht  die 
Mehrzahl  an  der  Grenze  geistiger  Gesundheit.  Sie  verdanken  viel- 
leicht ihr  günstigeres  Geschick  dem  relativ  erst  spätem  Eintritt  der 
schädigenden  Krampfneurose  (nach  dem  5.  Lebensjahre).  In  je 
früherm  Alter  letztere  auftritt,  desto  grösser  ist  die  Gefahr,  desto 
früher  der  Eintritt  des  Idiotismus. 

Diese  jugendliche  epileptische  Idiotie  zeigt  als  Hauptsymptom  eine 
psychische  Schwäche  anergetischer  Form.  Namentlich  ist  der  Ablauf  der 
Vorstellungen  ausserordentlich  verlangsamt.  Sehr  häutig  sind  gewisse 
Bizarrerieen  damit  verbunden:  Sammeltrieb,  Freude  an  bestimmten  Be- 
wegungen, an  wehenden,  flatternden  u.  s.  w.  Gegenständen.    Es  kommen 


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272 


Das  epileptische  Irresein. 


alle  Grade  vor,  vom  leichtern  bildungsfähigen  Schwachsinn  bis  zum  voll- 
ständigen Blödsinn.  Die  letztern  haben  keine  speeifischen  Merkmale;  da- 
gegen zeichnet  die  erstem  eine  auffallende  Abnahme  des  Ge- 
dächtnisses für  längst  Vergangenes  in  hohem  Grade  aus,  neben  einer 
sonst  leidlich  noch  erhaltenen  Intelligenz,  ja  oft  als  eine  fast  selbständige 
Functionsstörung.  Ebenso  charakteristisch,  und  in  scharfem  Gegensatz 
zur  Idiotie  aus  andern  Ursachen,  ist  auch  hier  das  Vorhandensein  eines 
oft  recht  lebhaften  Krankheitsgefühls,  nicht  bloss  bezüglich  der 
„Anfälle",  sondern  speciell  auch  des  psychischen  Verhaltens  (vgl.  8.  257). 

Ob  an  eine  vorausgegangene  Epilepsie  sich  ein  psychischer  Zu- 
stand anschliessen  werde,  entscheidet  sich  in  der  Regel  im  Zeitraum 
von  1—2  Jahren  nach  Auftreten  der  erstem.  Wohl  aber  leitet  gegen- 
theils  sehr  oft  eine  psychische  Veränderung  den  Ausbruch  eigent- 
licher epileptischer  Anfälle  ein,  wenn  letztere  auf  vorausgegangene 
Traumen  oder  auf  Infectionskrankheiten  (worunter  Scarlatina  voran- 
steht) nachfolgen.  Diese  vorausgeworfenen  „geistigen  Schatten"  be- 
stehen theils  in  intellectueller  Abschwächung,  theils  in  einem  auf- 
geregten ängstlichen  Wesen,  oder  auch  in  einer  auffälligen  Hastigkeit 
des  Benehmens  (manchmal  mit  choreaartigen  Zuständen);  in  andern 
Fällen  in  grosser  Reizbarkeit  und  Zornmütbigkeit,  welche  sogar  bis 
zu  Angriffen  auf  die  Umgebung  führt.  Nach  mehr  oder  minder 
langem  Bestand  dieser  prämonitorischen  Charakteränderung  brechen 
dann  die  Insulte  aus. 

Viel  häufiger  ist  jene  dagegen  eine  consecutive,  als  Nachwirkung 
der  bestehenden  Krankheit  auftretend.  Verschieden  vom  Erwach- 
senen scheint  hier,  in  der  Jugend,  die  Häufigkeit  der  Anfälle 
nicht  ohne  Einwirkung  auf  den  Eintritt  der  chronischen  Psychose 
zu  sein.  Die  letztere  d.  h.  die  typische  Charakteränderung  pflegt 
in  der  Pubertätszeit  zu  beginnen.  Sie  erstreckt  sich  nach  intellec- 
tueller und  nach  ethischer  Seite,  führt  dort  zu  einem  zunehmenden 
Schwachsinn,  welcher  in  der  Regel  erst  die  Function  des  Gedächt- 
nisses beschlägt  (s.  o.),  später  allgemein  wird;  hier  zu  einer  beson- 
dern Form  moralischer  Entartung. 

Die  bis  dahin  folgsamen,  zuthunlichen  Kranken  werden  mürrisch, 
widerstrebend,  ungesellig,  streitsüchtig;  allmählich  pietätslos,  endlich  roh, 
gewaltthätig  (Misshandlung  von  Thieren,  von  Gespielen,  Geschwistern). 
Es  ist  bemerkenswerth  und  für  die  organisch  krankhafte  Natur  dieser 
psychischen  Umwandlung  bezeichnend,  dass  diese  Charakteränderung  in 
gleicher  Weise  —  und  gleich  unaufhaltsam  —  in  der  liebevollen  Pflege  des 
Elternhauses,  wie  unter  der  rationellen  und  consequenten  Erziehung  der 
Anstalt,  oder  in  den  kümmerlichen  Verhältnissen  des  Proletariers  sich 
vollziehen  kann.  Von  dem  moralischen  Defectzustand  des  gewöhnlichen 
Idioten  unterscheidet  sich  diese  epileptische  Depravation  durch  ihre  emi- 
nente Activität,  dnreh  den  Grundzug  der  Gewalttätigkeit,  welcher 


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Die  jugendlichen  Epileptiker.  Charakteränderung. 


273 


ihr  innewohnt,  und  namentlich  auch  durch  die  relative  Erhaltung  der 
Intelligenz.  Der  epileptische  Charakter  scheint  sich  sogar  mit  Vorliebe 
die  Fälle  auszusuchen ,  in  welchen  die  Intelligenz  eine  wesentliche  Ein- 
busse  noch  nicht  erlitten  hat.  Im  Speciellen  lässt  sich  eine  schwerere 
nnd  eine  leichtere  Form  des  epileptischen  Charakters  unterscheiden.  Die 
erste re  entwickelt  sich  in  der  oben  bezeichneten  Richtung  des  Verküm- 
merns  und  endlichen  Untergangs  der  altruistischen  Gefühle  weiter  bis  zu 
den  Höhegraden  der  Moral  Insanity;  aus  ihr  wachsen  später  die  gefähr- 
lichen Epileptiker  auf.  Die  zweite  bleibt  zunächst  auf  der  Consolidirung 
einer  mürrischen,  misstrauischen  Stimmungsgrundlage  stehen,  und  bewahrt 
neben  krankhaften  Antipathieen  ein  sonst  gutmUthiges  Wesen.  In  der 
Folge  fallen  aber  die  Träger  einem  Beachtungswahn  anheim  (Verspottung 
durch  Andere);  sie  werden  unsocial  und  nicht  selten  brutal  gewaltthätig. 
Die  dadurch  entstehenden  Misshelligkeiten,  verbunden  mit  der  krankhaften 
Unfähigkeit  sich  consequent  zu  beschäftigen,  machen  die  Kranken  ar- 
beitsscheu und  führen  Viele  dem  Vagantenthum  zu.  So  entstehen  die 
„epileptischen  Bummler".  —  Interessant  ist  der  Einflus9  der  socialen 
Stellung  auf  diese  letztere  Gruppe.  Während  die  der  untern  Klassen, 
ohne  äusseres  Correctiv  und  inneres  Steuer,  in  der  Regel  früher  oder 
später  zu  Landstreichern  und  Gewohnheitsdieben  werden  und  als  solche 
der  Justiz  zuwandern,  entwickeln  sich  die  social  besser  situirten  Kranken, 
welchen  das  gute  Beispiel  ihrer  Geschwister,  die  Würde  der  elterlichen 
Stellung  zum  lebendigen  Aufblick  verblieben  ist,  nach  der  Art  hebe- 
phrener  Prahlhänse.  Sie  tragen  sich  mit  phantastischen  Zukunftsplänen, 
lieben  die  Weltklugen  zu  spielen,  mit  wissenschaftlichem  Flitter  zu  para- 
diren,  in  der  Politik  zu  kannegiessern,  bleiben  aber  unfähig  zu  jeder 
gründlichen  Erlernung,  nnd  verlaufen  endlich  kläglich  in  dem  traurig- 
komischen  Contrast  ihrer  Grossmannssucht  mit  ihrer  wirklichen  geistigen 
Impotenz.  Bei  weiblichen  Kranken  stellt  sich  nicht  selten  ein  ausge- 
prägter Hang  zu  sentimental -tragischem  Wesen  ein:  die  Kranken  ge- 
fallen sich  in  der  Rolle  der  Leidenden,  tragen  auch  mit  Vorliebe  die 
vermeintlichen  Kränkungen  seitens  der  Umgebung  mit  der  Miene  der 
unschuldigen  Dulderin  vor,  fallen  aber  gelegentlich  mit  sehr  unzarten 
Schimpf-  und  Räsonnirparoxysmen  bedeutend  aus  der  Rolle. —  Ein  bei- 
den Geschlechtern  zukommender  Charakterzu^,  welcher  auch  erst  in  den 
Pubertätsjahren  aufzutreten  pflegt,  ist  die  „klettenartige  Aufdringlich- 
keit" dieser  jugendlichen  Epileptiker,  wodurch  sie  ohne  Rücksicht  auf 
Ort,  Zeit  und  Stimmungslage  ihres  ausgesuchten  Opfers  mit  eintöniger 
Beredtsamkeit  endlose  Klagen,  oder  auch  völlig  affectlos  unendliche  Erzäh- 
lungen über  ganz  gleichgültige  Dinge  vorbringen. —  Auch  die  demon- 
strativ-religiöse Färbung  des  Charakters  (grundverschieden  von  der 
naiven  echten  Frömmigkeit  des  Kindesalters)  pflegt  in  den  Pubertätsjahren 
sich  aufzu9chlie8seu. 

Bemerkenswerth  für  alle  diese  Charakterzüge  ist  I .  dass  sie  oft  ausser- 
ordentlich rapid  sich  entwickeln,  und  2.  dass  sie  in  vielfachen  Zusammen- 
hang mit  den  Insulten  treten  und  darnach  zahlreiche  Schwankungen  zeigeu. 

Vergleicht  man  diese  chronisebe  Neuropsychose  mit  den  ein- 
zelnen Formen  der  grundliegendcn  Epilepsie,  so  lassen  sich  durch- 

Scbüle,  GeiataikrankUeiUn.  3.  Aufl.  IS 


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274 


Da«  epileptische  Irresein. 


greifende  Unterschiede  d.  h.  constante  psychische  Varietäten  nicht 
auffinden.  Doch  bleiben  immerhin  einige  beachtenswerthe  Nuancen. 
So  entspricht  a)  der  typischen  Epilepsie  (ausgebildete  Krampfanfälle 
mit  völliger  Bewusstseinsstörung;  allgemeine  tonische  und  klonische 
Convulsionen ;  petit  mal;  meist  völlig  dunkle  Aetiologie)  das  Vor- 
kommen sämmtlicher  oben  skizzirter  intervallärer  Störungen;  da- 
gegen der  b)  Epilepsie  mit  Hemiparese  (i.  e.  halbseitige  Affection 
der  Pyramidenbahnen;  klinisch:  erst  halbseitige,  dann  allgemeine 
Zuckungen,  complete  Bewusstseinsstörung  oder  petit  mal;  häufigste 
Ursache:  Scharlach)  ein  mittlerer  und  hochgradiger  Schwachsinn 
mit  weniger  typischer  Charakterdegeneration;  während  die  c)  corti- 
cale  Epilepsie  durch  psychische  Intactheit  resp.  mässige  psychische 
Schwäche  ausgezeichnet  ist.  Eine  vierte  Gruppe  d)  lässt  sich  noch 
anfügen,  welche  in  grosser  Gleichartigkeit  eine  Annäherung  an  die 
allgemeine  Paralyse  darbietet. 

Jedoch  vorwiegend  in  den  somatischen  Zeichen:  hochgradige  Coor- 
dinationsstörung  in  der  Sprache,  Schrift,  untern  Extremitäten,  weniger  in 
den  Armen  und  Händen.  Auch  die  Aetiologie  (geistige  Ueberanstrengung, 
Kopfcontusion)  trifft  zu.  Die  psychischen  Symptome  beschränken  sich 
auf  die  progressive  Demenz,  welcher  aber  die  für  die  klassische  Para- 
lyse specifischen  Detailzeichen  (Grössen wahn  u.  s.  w.)  fehlen.  Auch  der 
„progressive"  Charakter  ist  ein  begrenzter;  derselbe  entwickelt  sich  nur 
bis  zu  einem  gewissen  Grade,  bleibt  aber  dann  stehen  (Aehnlichkeit  mit 
gewissen  alkoholischen  Paralyseformen).  Darin  und  in  der  sehr  langen 
Dauer  liegen  weitere  Unterschiede  gegenüber  der  klassischen  Form.  — 
Die  epileptischen  Anfälle,  welche  zu  diesem  klinischen  Typus  führen, 
sind  sehr  schwere  typische;  petit  mal  ist  vorhanden;  die  geistige  Ab- 
nahme eine  sehr  rapide;  die  Form  der  (acuten)  psychischen  Störung  ist 
Stupor  mit  gelegentlichen  Erregungszuständen. 

Beachtenswerth  ist  das  Verhalten  der  motorischen  Insulte  zu  den 
Veränderungen  im  ethisch- psychischen  Charakter.  Dasselbe  ist  sehr 
verschieden.  Der  epileptische  Charakter  kann  sich  entwickeln  a)  gleich- 
zeitig mit  häufigem  und  schwerern  Anfällen  (d.  h.  bei  Verschlechte- 
rung des  Leidens);  b)  beim  Gleichbleiben  der  motorischen  Symptome, 
und  c)  nach  wesentlicher  Besserung,  ja  Sistirung  der  letzteren. 

b)  Die  intercurrir  enden  acuten  psychischen  Störungen  bei  jugend- 
lichen Epileptikern.  Allgemein  kann  behauptet  werden,  dass  schwere 
acute  Formen  selten  sind;  namentlich  scheinen  die  Zustände  furi- 
bunder  Manie  (bei  Erwachsenen  so  häufig)  bei  den  jugendlichen 
Epileptikern  zu  fehlen.  Für  die  Entwicklung  sämmtlicher  inter- 
currenter  Psychosen  ist  wiederum  die  Pubertät  die  entscheidende  Zeit 

Bezüglich  des  Verhaltens  derselben  zu  den  Insulten  lassen  sich 
etwa  3  Gruppen  aufstellen: 


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Die  jugendlichen  Epileptiker.   Intercurrente  acute  Irreseinsanfalle.  275 

a)  Es  treten  zeitweilige  psychische  Störungen  auf,  aber  ohne 
einen  deutlichen  zeitlichen  Zusammenhang  mit  den  Krampfattaken 
resp.  mit  einer  besonderen  Häufung  oder  Intensität  der  letztern.  Sie 
kommen  in  unregelmässiger  Weise  vor,  ohne  Insulte,  oder  letztere 
einleitend,  oder  denselben  nachfolgend.  Die  klinischen  Formen  sind 
acutes  hallucinatorisches  Delirium,  und  Dämmerzustände  mit  reli- 
giösem Delirium. 

Die  Kranken  werden  zeitweise  stiller,  träumerischer,  oder  versinken 
in  einen  Zustand  von  tiefer  Stupidität,  in  welchem  aber  oft  noch  ein 
Schimmer  von  Perception  bleibt.  Während  desselben  reges  hallucinato- 
risches Traumleben  (Gesichte  von  Engeln,  schwebenden  Figuren,  himm- 
lischen und  höllischen  Geistern).  Aus  diesem  gehen  sie  theils  allmählich 
wieder  in  das  gewöhnliche  Verhalten  über,  oder  aber  durch  ein  Zwischen- 
stadium von  Aufregung  und  Gewalttätigkeit  mit  Hallucinationen,  welche 
aber  nicht  schreckhaften  Inhalts  sind.  Manchmal  trägt  die  Erregungs- 
phase einen  gehobenen  Charakter  mit  „Gott"hallucinationen. 

b)  Die  Psychose  resp.  pathologische  Stimmungsänderung  steht 
mit  den  Anfällen  in  Zusammenhang,  aber  ohne  dass  sich  zwischen 
prä-  und  postepileptischer  Periode  ein  klinischer  Unterschied  machen 
Hesse. 

Der  Kranke  befindet  sich  —  und  zwar  wiederholt  sich  dies  jedes- 
mal in  ziemlich  gleichmässiger  Weise  —  1  — 2  Tage  vor  oder  nach  dem 
Anfall  resp.  während  der  ganzen  Zeit  einer  Anfallsgruppe  in  einer  krank- 
haften Stimmung  (streitsüchtiges,  mürrisches,  begehrerisches  Wesen), 
welche  allmählich  wieder  in  das  normale  Verhalten  übergeht.  Das  Be- 
wusstsein  bleibt  dabei  erhalten  und  fehlt  nur  in  den  Krampfattaken. 

c)  Die  psychische  Aenderung  ist  an  den  Anfall  gebunden  und 
tritt  deutlich  prä-  oder  postepileptisch  auf.  Diese  beiden  Phasen 
wiederholen  sich  jeweils  typisch,  so  dass  man  nach  der  einen  oder 
anderen  deutlich  erkennen  kann,  ob  der  Kranke  eine  Krarapfattake 
gehabt  oder  eine  solche  bekommen  werde  (bemerkenswerther  Unter- 
schied gegenüber  dem  Erwachsenen!). 

Hier  kommen  eine  Menge  Varietäten  und  Abstufungen  vor.  Im 
Ganzen  kann  gesagt  werden,  dass  das  jugendliche  Gehirn  vom  einzelneu 
Anfall  weniger  afticirt  wird  als  das  des  Erwachsenen.  Lang  anhaltender 
Stupor  ist  sehr  selten,  nicht  minder  eine  wirklich  ausgebildete  postepi- 
leptiscbe  Psychose,  worunter  die  furibunde  Manie  ganz  zu  fehlen  scheint 
(8.  o.).  In  der  Regel  handelt  es  sich  nur  um  fragmentare  Psychosen 
d.  h.  um  Stimmungsänderungen.  Unter  diesen  kann  eine  depressive  Phase 
der  Krampfattake  vorhergehen  und  eine  euphorische  dem  Insult  folgen, 
oder  auch  umgekehrt  (letzteres  übrigens  seltener).  Bemerkenswerth  ist 
die  gleichmässige  Wiederholung  des  einmal  angenommenen  Typus.  Der 
Inhalt  der  präepileptisch  depressiven  Phase  ist  entweder  hypochondrischer 
Natur  (Leib  verfault,  Zähne  fallen  aus),  oder  mehr  ein  melancholischer, 
oder  endlich  gereizt  zornmüthiger,  mit  Selbst-  und  Gemeingefährlichkeit. 

IS* 


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276 


Das  epileptische  Irresein. 


Die  euphorische  Phase  besteht  in  gutmttthiger  Zuthunlichkcit  und  schwach- 
sinniger  Zufriedenheit.  Prognostisch  wichtig  ist  der  übereinstimmend 
schwere  Charakter  dieser  Gruppe;  der  therapeutische  Erfolg  erweist  sich 
allermeist  =  Null,  oder  als  höchstens  sehr  unbedeutend. 

d)  Die  psychische  Störung  tritt  als  Aequivalent  ein. 

Hier  finden  die  vielfachsten  Variationen  statt.  So  kann  a)  die  Krank- 
heit mit  acuten  psychischen  Anfällen  'von  ganz  kurzer  Dauer  (Davon* 
springen,  plötzliche  Heftigkeit)  einsetzen,  und  nach  und  nach  in  typische 
(motorische)  Epilepsie  Ubergehen.  Oder  (1)  die  typischen  Insulte  ver- 
schwinden, und  an  deren  Stelle  treten  periodische  Erregungszustände 
(Zerreissen,  Zerstören,  Wegwerfen,  zweckloses  Stehlen ;  oder  aber  wider- 
wärtiges, streitsüchtiges,  arbeitsscheues  Wesen).  Manchmal  bleiben  die 
Insulte,  scheiden  sich  aber  in  starke  und  schwache;  an  die  letztern 
schliessen  sich  traumartig  hallucinatorische  Erregungszustände  an,  während 
die  erstem  durch  ein  leicht  soporöses  Stadium  in  Euphorie  übergehen. 
Interessant  sind  die  Fälle,  in  welchen  nach  Zurücktreten  der  Insulte 
psychische  Erregungszustände  eintreten,  welche  später  mit  der  Wieder- 
kehr der  motorischen  Attaken  wieder  verschwinden. 

Auch  im  Verlauf  des  jugendlichen  epileptischen  Irreseins  können 
intercurrirend  hysterische  Anfälle  mit  Vociferationen,  Grand  mou- 
vement  und  charakteristischem  psychischem  Verhalten  auftreten.  Die- 
selben kritisiren  sich  durch  mehrtägigen  nachfolgenden  Sopor. 

Therapie. 

Die  somatische  (arzneiliche)  Therapie  ist  nach  den  für  die  er- 
wachsenen Epileptiker  besprochenen  Indicationen  m.  m.  einzurichten. 
In  psychischer  Hinsicht  ist  auf  Berufswahl  und  Beschäftigung  der 
jungen  Kranken  die  sorgsamste  Rücksicht  zu  lenken.  Als  Grund- 
satz gilt  hier,  dass  für  Alle,  welche  in  einem  erheblichen  Grade  an 
dieser  Krankheit  leiden,  ein  gelehrter  resp.  höherer  technischer  Beruf 
sich  nicht  eignet;  am  besten  ein  Handwerk,  welches  Beschäftigung 
zu  Hause  gestattet  (Buchbinder,  Korbmacher,  Mechaniker,  Gärtner, 
Oekonomen).  Es  ist  gut  dies  den  Eltern  vorher  zu  sagen,  um  ihnen 
eine  Reihe  schmerzvoller  Enttäuschungen,  fehlgeschlagener  Hoff- 
nungen zu  ersparen,  und  alle  die  nutzlosen  Experimente  zu  verhin- 
dern, welche  auf  die  ganze  Entwicklung  des  Kranken  den  ungünstig- 
sten Eiufluss  äussern.  Namentlich  hüte  man  sich  die  Eltern  auf 
die  Entwicklungszeit  des  Kindes  in  der  Pubertät  zu  vertrösten; 
keine  einzige  dieser  Versprechungen  erfüllt  sich;  denn  die  Pubertät 
ist  ja  gerade  die  Keimstätte  für  die  Entfaltung  dieser  schrecklichen 
Neurose.  Machen  die  eiuzelnen  Anfälle  oder  das  psychische  Ver- 
halten den  regelmässigen  Besuch  einer  öffentlichen  Schule  unmöglich, 
dann  ist  (ganz  glänzende  Verhältnisse  vielleicht  abgerechnet)  die 
Verbringung  in  eine  Anstalt  angezeigt 


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Das  hypochondrische  Irresein. 


277 


Die  letztere  muss  neben  geregeltem  ärztlichem  Dienst  Gelegenheit 
geben  a)  zur  Erwerbung  guter  Volksschulkenntnisse,  b)  zur  Ausbildung 
in  geeigneten  Gewerken,  und  c)  zu  vieler  Bewegung  im  Freien  und  ge- 
regeltem Turnunterricht.  (Ueber  die  nöthigen  Requisiten  vgl.  die  citirten 
Aufsätze  von  Wildermuth.)  Psycbiatrischerseits  ist  das  Postulat  auf- 
zustellen,  dass  Anstalten  für  Epileptische  unter  ärztliche  Directiou  zu 
stehen  kommen.  Diese  ist  hier  so  nothwendig  wie  bei  Irrenheilanstalten, 
und  nothwendiger  als  bei  Irrenpflegeanstalten.  Es  ist  eine  dringende 
Pflicht  des  Staats  diese  hochwichtige  Aufgabe,  welche  an  Wichtigkeit 
der  übrigen  Irrenfürsorge  nicht  nachsteht,  seinerseits  in  die  Hand  zu 
nehmen! 


Das  hypochondrische  Irresein. 

Literatur  s.  beiJolly,  d.  Handb.  12.  —  Le  Grand  du  Saulle,  Gaz.  des 
höp.  1681.  —  Zur  nenrasthenfschen  Unterform:  Beard,  Nervenschwäche.  — 
Chambard,  l'Enceph.  1882.  —  Tuczek,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  39.  —  v.  Holst, 
Mooogr.  1883.  (Behandlung). 

Unter  Hypochondrie  versteht  man  eine  psychische  Neurose 
auf  Grundlage  einer  Hyperästhesie  der  Empfindungsnerven  einzelner 
oder  aller  Organgebiete,  und  mit  der  Wirkung  eines  dadurch  gesetzten 
Zwanges  auf  das  gesammte  Seelenleben.  Dieser  äussert  sich  intel- 
lectuell  in  der  anhaltenden  Concentrirung  der  Aufmerksamkeit  auf 
das  leidende  Empfindungsgebiet,  in  der  Gemlithssphäre  als  Ver- 
stimmung und  Angst,  und  nach  Seite  des  Willens  als  Unruhe  und 
Aufregung  neben  zunehmender  Apathie  fUr  die  ausserhalb  des  kör- 
perlichen Schmerzgebiets  liegenden  Reize  und  Anregungen. 

Es  entgehen  nicht  die  in  dieser  nosologischen  Umschreibung  gele- 
genen und  tatsächlich  vorhandenen,  vielfachen  Beziehungen  zur  Melan- 
cholie, und  andererseits  zur  Hysterie.  Mit  ersterer  theilt  die  Hypochon- 
drie dasselbe  Grundelement  einer  psychischen  Hyperästhesie  und  die 
reactive  Verstimmung;  mit  letzterer  den  Reflexzwang,  welcher  die  jewei- 
lige seelische  Disposition  ganz  nur  an  die  irritirte  sensible  Nervenfaser 
bindet.  Noch  eine  andere  Eigentümlichkeit  verknüpft  die  hypochon- 
drische Neurose  mit  den  beiden  vorgenannten  und  ausserdem  noch  mit 
gewissen  Formen  des  Wahnsinns:  die  prompte  Wechselwirkung  zwischen 
peripherer  „Neuralgie"  und  dem  psychischen  Centrum,  und  ebenso  zwi- 
schen diesem  und  dem  Empfindungsgebiet,  wodurch  centrale  Gefühle  sich 
in  letzteres  „einzubilden",  zu  wirklichen  körperlichen  Sensationen  sich 
zu  gestalten  vermögen.  Wir  begegnen  deshalb  der  hypochondrischen 
Neurose  auch  gelegentlich  unter  der  Form  der  Melancholie  und  des 
Wahnsinns.  Zwischen  hysterischem  und  hypochondrischem  Charakter  ist 
vollends  im  Gebiete  des  „körperlichen  Weheseins"  keine  nosologische 


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218 


Das  hypochondrische  Irresein. 


Unterscheidung  zu  ziehen.  —  Die  gesonderte  Besprechung  an  dieser  Stelle 
will  der  Thatsache  Rechnung  tragen,  dass  der  hypochondrische  Seelen- 
zustand  sehr  oft  auch  für  sich  auftritt,  als  selbstständige  Neurose,  welche 
zwar  in  Melancholie  oder  Wahnsinn  übergehen  kann,  nicht  selten  aber 
auch  in  ihrem  klinischen  Habitus  verbleibt  resp.  in  psychische  Schwäche 
tibergeht.  Als  solcher  bildet  das  hypochondrische  Irresein  neben  dem 
hysterischen  und  epileptischen  eine  besondere  psychische  Constitution*- 
erkrankung,  und  mit  den  letzteren  zugleich  eine  eigene  Form  der  geistigen 
Degenerescenz. 

Analyse  der  Symptome  und  Krankheitsentwicklung. 

1.  Psychische  Hyperästhesie  auf  dem  Empfindungs- 
gebiet  —  Hauptsymptom.  „Der  Hypochonder  ist  der  Virtuose  auf 
den  sensibeln  Nerven."  Alle  körperlichen  ReizeindrUcke  werden  ge- 
steigert empfunden.  Bald  ist  es  nur  ein  bestimmtes  Gebiet,  wel- 
ches diese  gesteigerten  Schwellenwerthe  besitzt,  bald  der  sensible 
„Nervenbaum"  in  allen  Zweigen,  anhaltend  oder  auch  zeitweise  nach 
einzelnen  Provinzen  wechselnd.  Begünstigt  sind  erfahrungsgemäß 
die  Unterleibs-  und  Genitalnerven,  deren  Eindrücke  besonders  ein- 
schneidend vom  Sensorium  erfasst  werden.  Die  Empfindungen  sind 
aber  nicht  nur  gesteigert,  sondern  sehr  häufig  auch  qualitativ  — 
parästhetisch  —  geändert;  sie  imponiren  dem  Kranken  als  neu,  un- 
gewohnt, unfassbar,  keiner  Bezeichnung  zugänglich. 

Der  Hypochonder  fithlt  eben  nicht  nur  die  Allen  geläufigen  Verstim- 
mungen in  gesteigertem  Grade,  sondern  thatsächlich  auch  ganz  specifische, 
dem  normalen  Empfindungskreise  sonst  verschlossene.  So  kann  das  für 
den  gesunden  Menschen  unfühlbare  Verdauungsgeschäft  sich  für  den  Hy- 
pochonder in  eine  Welt  der  eigenartigsten  Sensationen  aus  der  Peristaltik 
des  Magens  und  der  Gedärme,  welche  er  deutlich  mitempfinden  muss, 
auflösen.  Die  häufig  der  hypochondrischen  Neurose  zu  Grunde  liegende 
Neurasthenie  läset  keine  Körperbewegung  zu  Stande  kommen,  ohne  eine 
schmerzliche  Mitempfindung;  ja  selbst  die  stille  Arbeit  des  Denkens  wird 
unangenehm,  oft  sogar  schmerzlich  pereipirt;  nicht  minder  aber  ebenso 
auch  die  körperliche  oder  geistige  Ruhe.  Die  Sinneseindrücke  gestalten 
sich  zu  peinlichen  Geräuschen,  Lichtblitzen  u.  s.  w. 

Aber  es  bleibt  nicht  einfach  bei  dieser  sensibeln  und  sensoriellen 
Hyperästhesie.  In  den  Blickpunkt  des  Bewusstseins  eingetreten, 
bleiben  die  Empfindungen  haften,  fesseln  die  Aufmerksamkeit  und 
knüpfen  sich,  indem  sie  zugleich  in  beängstigender  Weise  das  Ge- 
müth  erregen,  an  gleichsinnige  Vorstellungen  an.  Der  Kranke  wird 
zum  grüblerischen  Philosophen  seines  verstimmten  Empfindung«- 
Instruments.  Er  findet  in  den  bestürmenden  Sensationen  etwas  Be- 
achtenswerthes,  was  ihn  mit  Grund  beunruhigen  muss.  Nun  hilft  die 
Phantasie  oder  die  emsig  cousultirte  Lectüre  zur  Vollendung  des 


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Analyse  der  Symptome  und  Krankheitsentwicklung. 


279 


Wabnschlusses.  Der  aufgetriebene  Magen  lässt  ..innere  Hämor- 
rhoiden" oder  gar  noch  Schlimmeres  vermuthen  ,  der  zeitweilige 
Rückenschmerz  die  heranschleichende  Tabes,  der  „Kopfdrack"  das 
leise  sich  vorbereitende  Hirnleiden  diagnosticiren.  Nnn  wird  weiter 
geforscht,  beobachtet  und  verworfen,  verbessert  und  wieder  neu 
entdeckt:  der  geistig- körperliche  Cirkel  schliesst  sich  zu  einer  fllr 
den  Kranken  immer  zweifelloseren  Thatsache.  Entspricht  der  aus- 
legende Gedanke  ganz  und  einzig  der  Qualität  des  körperlichen 
Gefühls,  so  regt  sich  andrerseits  dieses  letztere  immer  und  sofort 
neu,  sobald  nur  die  befürchtete  Vermuthung  leise  anklopft.  So  wird 
der  geistige  Zwang  und  die  „Schablone"  fertig,  welche  sich  nun 
mit  täglich  frischem  Krankheitsinhalt  anfüllt.  Damit  ist's  aber  jetzt 
auch  um  die  Ruhe  des  Kranken  geschehen:  zur  sensibeln  Hyper- 
ästhesie kommt  nun  auch  die  des  Gemüths;  der  Kranke  wird  traurig, 
und  verfällt  einer  zunehmenden  Angst  In  dieser  Phase  des  Leidens 
geht  der  Hypochonder  mit  dem  Melancholiker  zusammen ;  jener  bleibt 
nur  realer  in  den  subjectiven  Beweisgründen  seiner  Resignation  oder 
Verzweiflung,  während  dieser  mehr  aus  der  Metaphysik  seine  Er- 
klärung holt.  Manchmal  gehen  thatsächlich  beide  Zustände  auch 
zeitlich  in  einander  Uber:  erst  ist  der  Kranke  ein  hypochondrischer 
Melancholiker,  später  der  Gemüthsgedrückte  aus  Sündenschuld.  Der 
Zwang  des  krankhaften  Fühlens  bleibt  derselbe.  Der  definitive 
Hypochonder  verbleibt  aber  im  Bann  seiner  körperlichen  Miss- 
empfindungen und  Befürchtungen.  Er  ist  krank,  schwerkrank,  un- 
heilbar. Die  jeweilige  Beschaffenheit  des  Stuhlgangs,  das  Eintreten 
oder  Fehlen  irgend  einer  erwarteten  Empfindung  wirft  unerbittlich 
die  Tagesloose  für  seine  Stimmung.  Dabei  erblasst,  wie  beim  Me- 
lancholiker, das  Gemüth8intere88e  fllr  Alles  ausserhalb  der  krank- 
haften Gefühlskreise  Gelegene.  Für  sich  ängstlich,  überbesorgt, 
wird  der  Kranke  gegen  Andere  gleichmütig;  der  krankhafte  Selbst- 
Ciilt  führt  zum  Egoismus,  und  dieser  nach  und  nach  zu  einer  voll- 
ständigen Gemüthsverknöcherung,  zur  endlichen  Theilnahmlosigkeit 
selbst  für  die  Familie,  für  den  Beruf,  für  alles  Ideale.  Nur  für  die 
Anerkennung  seiner  berechtigten  Klagen  bewahrt  der  Kranke  eine 
feine,  fast  gesteigerte,  ja  reizbare  Empfindung,  und  ebenso  auch  für 
den  Neid  gegenüber  Anderen,  Gesunden  (gleichwie  beim  Melancho- 
liker gegen  Glückliche). 

Doch  ist  dieses  Verhalten  nicht  ausnahmslos :  es  gibt  viele  jahrelang 
und  schwer  geprüfte  Hypochonder,  welche  in  der  Stille  zu  dulden  wissen, 
und  in  ihrer  Brust  und  ihrem  äusseren  Benehmen  Manches  von  dem  ein- 
stigen „göttlichen  Feuer"  zu  retten  vermögen;  sie  bleiben  bei  aller  Un- 


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280 


Das  hypochondrische  Irresein. 


liebenswürdigkeit,  die  sie  nun  einmal  begehen  müssen,  gelassene  und  ge- 
duldige Menschen,  und  dabei  dankbar  und  vertrauend. 

2.  Das  Vorstellen  ist  verlangsamt  bei  innerer  UeberfUllung  — 
wie  beim  Melancholiker.  Die  gesteigerten  Sensationen  erzwingen 
sich  und  binden  die  Aufmerksamkeit;  die  dazu  „gestimmten"  Vor- 
stellungen werden  aufgesogen  und  angebildet,  die  übrigen  laufen 
träger  ab,  oder  stagniren.  Daher  die  Monotonie  des  Vorstellens, 
welche  schliesslich  zu  immer  grösserer  Oede  des  intellectuellen  Be- 
sitzes führt,  weil  jeder  zur  Uauptgruppe  nicht  passende  Complex 
verdunkelt  und  gehemmt  wird,  und  ein  neuer  nur  unter  unangenehmen 
Hirnempfindungen  vorzudringen  vermag,  so  dass  die  psychische 
Hyperästhesie  immer  aufs  Neue  wieder  geweckt  wird.  Wenn  nicht 
(durch  Uebergang  in  Wahnsinn)  gefälschte  Vorstellungen  sich  ein- 
mischen, so  kann  der  Gedankeninhalt  des  Hypochonders  auf  Jahre, 
selbst  durch  das  Leben  hindurch,  qualitativ  geschont  bleiben.  Stets 
bildet  sich  aber  mit  der  immer  grössern  Stagnation  auch  eine  all- 
mähliche geistige  Abschwächung  ein,  welche  nach  und  nach  in  Blöd- 
sinn Ubergehen  kann. 

Aber  auch  in  diesem  Seelengebiete  gibt  es  Helden,  welche  trotz  des 
niederziehenden  Zwanges  der  lästigen  OrgangefUhle  und  deren  Beäng- 
stigungen tapfer  auf  der  Höhe  ihrer  intellectuellen  Schaffungskraft  sich 
zu  halten  vermögen. 

Steht  die  Hypochondrie  auf  erblich  belasteter  oder  neurasthenischer 
Grundlage,  so  erschließt  sich  auf  dem  grüblerischen  geistigen  Boden  sehr 
oft  ein  Heer  von  Zwangsvorstellungen,  mit  und  ohne  BerUhrungsfurcht; 
sehr  häufig  mit  Vorstellungsschwindel  (Platz-Angst). 

3.  Die  Willenssphäre  als  Reflex  der  abnormen  Gemuths- 
lagen  uud  peinlich  aufgedrungenen  Stimmungen  ist,  wie  diese,  tief 
geschädigt.  Ueberempfindlich  und  reizbar  auf  der  einen  Seite,  unter- 
liegen auf  der  andern  die  Kranken  einer  schwächlichen  Weinerlich- 
keit; selbst  rüstige  Männer  werden  oft  in  „ihren  Thränen  lebende 
Wasserpflanzen".  In  ihren  Paroxysmen,  welche  oft  chronisch  sind 
und  Jahre  dauern  können,  erschöpfen  sie  sich  durch  eine  rath-  und 
fassungslose  Unruhe,  welche  keine  Befriedigung  kennt.  Wohl  schei- 
nen sie  manchmal  nach  einer  geduldigen  ärztlichen  Abhör  getröstet 
und  ermuthigt,  aber  der  „Wurm  in  ihrem  Gehirn"  stirbt  nicht. 

Nach  aussen  suchen  Viele  ihrem  Schmerze  einen  möglichst  osten- 
sibeln  Ausdruck  zu  geben;  sie  schleppen  sich  in  zusammengebrochen 
müder  Haltung,  die  Hände  am  Bauche  oder  den  Genitalien,  herum,  for- 
dern mit  dem  wehmüthigsten  Blicke  uud  dem  schmerzlichsten  Gesichts- 
ausdruck das  allgemeine  Mitleid  heraus,  legen  sich  viel  hin,  vermeiden 
die  mindeste  Anstrengung,  stöhnen,  seufzen,  schluchzen  für  sieh,  oder 
sowie  Jemand  in  ihre  Nahe  kommt.  —  Stärkere  Naturen  wissen  ihre 


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Analyse  der  Symptome.   Körperliche  Begleitzeichen.  281 


würdevolle  Haltung  zu  bewahren  und  aufrecht  zu  bleiben,  und  nur  die 
gramdurchfurchte  Stirne  und  das  umwölkte  Auge  im  bleichen,  missfar- 
bigen Gesichte  treten  als  stumme  Zeugen  der  inneren  Leiden  hervor. 

Aerzte  über  Aerzte  werden  consultirt;  mit  dem  Genuss  sich 
auszusprechen  vermehrt  sich  die  Begierde.  Die  Bereitwilligkeit,  in 
den  Tod  zu  gehen,  statt  dieses  Daseins  Schwere  weiterzutragen, 
wird  zur  stehenden  Redensart,  welche  glücklicherweise  nicht  gerade 
häufig  sich  in  die  That  umsetzt;  aber  doch  oft  genug,  um  die 
sorgsamste  Ueberwachung  des  Arztes  zu  rechtfertigen.  Ein  täg- 
lich und  stündlich  vorgesagter  Gedanke  vermag  auch  eine  krank- 
hafte Feigheit  zum  Verhängniss  zu  treiben,  zumal  bei  der  Emotivität 
dieser  gemüthsschwachen  Menschen!  Unbefriedigt  durch  ärztliche 
Curen  und  die  versuchten  Geheimmittel,  durch  die  Elektricitäts* 
und  Wasserkünste,  wird  der  Hypochonder  endlich  zum  Selbstarzt 
Nun  beginnt  die  Medicina  crudelis  selbstersonnener  Quälereien.  Der 
Stuhlgang  wird  täglich  aufgefangen  und  analysirt,  der  Urin  beob- 
achtet, dabei  wacker  Pulse  gezählt,  die  Kleidung  nach  jedem 
Thermometerstand  genau  regulirt,  mathematisch  abgezählte  Zimmer- 
gymnastik getrieben  („um  das  Blut  bald  nach  ein-,  bald  nach  aus- 
wärts zu  leiten"),  Uber  Pollutionen  sorgsam  Buch  geführt,  mit 
Hebeln  und  Schrauben  zu  deren  Bekämpfung  geschritten,  allen 
„Bacterien"  in  Speisen  und  Getränken  peinlichst  aus  dem  Wege  ge- 
gangen —  der  ganze  Tageslauf  geht  schliesslich  in  einem  Register 
von  scharf  abgewogenem  Thun  und  Lassen  auf.  Der  Kranke  dieses 
Grades  wird  für  seinen  Beruf,  für  die  Umgebung  immer  mehr  todt, 
und  lebt,  ein  Verschollener,  nur  noch  sein  selbstgezimmertes  künst- 
liches Dasein. 

Aber  auch  hier  gibt  es  Ausnahmen !  Mit  bewundernswerter  Selbst- 
hilfe schaffen  sie  sich  allerlei  geistige  „Krücken"  (sie  ordnen  täglich  ihren 
gesammten  Zimmerbestand  in  neuer  und  systematischer  Anlage,  fegen 
und  scheuern  u.  s.  w.),  und  beschwichtigen  dadurch  jeweils  für  den  Tag 
ihre  krankhaften  Sensationen,  so  dass  sie  fllr  einige  Stunden  frei  und 
wieder  zu  „Menschen"  werden. 

Körperliche  Symptome,  a)  Sensibi  litätsstöruugen.  Hieherge- 
hört das  ganze  Heer  von  Hyperitsthesieen  und  Neuralgieen,  wie  sie  na- 
mentlich den  neurasthenischen  Syraptomencomplex  zusammensetzen.  Da- 
runter treten  besonders  hervor:  die  Klagen  Uber  Kopf,  Rücken,  Unterleib, 
Kopfdruck  in  allen  Formen,  Kopfweh,  vor  Allem  aber  Schwindel  (nicht 
immer  in  „drehender"  Form,  sondern  oft,  als  ob  die  Kranken  in  ein 
Loch  herabträten,  oder  mit  dem  Körper  schwebten);  sodann  peinliche 
BegleitgefUhle  bei  geistigen  Arbeiten  (beim  Sich-Besinnen  u.  s.  w.);  para- 
doxe Sensationen  im  Kopfinnern  (als  ob  ein  Rad  drin  gehe,  Waschseile 
aufgespannt  wären,  Theile  fehlten);  im  Rücken:  rasche  Ermüdung,  Amei- 
senkriechen, elektrische  Sensationen,  Kreuzschmerz  mit  Irradiationen  Uber 


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282 


Das  bypochoudrische  Irresein. 


Beine  und  Blase,  allmählich  aufsteigend  in  die  Brustgegend,  mit  Inter- 
co8talschmerzen,  Occipitalneuralgieen,  Trigeminus3chmerz.  Sensorielle  Hy- 
perästhesie, besonders  des  Gesichts  und  Gehörs  mit  grosser  Neigung  zu 
phantastischer  Umbildung;  ausserordentlich  gesteigerter  Geruch-  und  Ge- 
schmacksinn (z.  B.  gegen  Pfeffer).  —  Spinalanästhesie  und  -Analgesie  ist 
vergleichweise  seltener  (Taub-  und  Eingeschlafensein  der  Extremitäten), 
häufiger  dagegen  Verminderung  der  sensoriellen  Functionen  (trüberes 
Sehen  besonders  bei  Fixation,  mit  Flimmern  vor  den  Augen,  stumpferes 
Gehör,  beides  oft  bis  zu  transitorischer  Blindheit  oder  Taubheit  auf  Tage 
hinaus).  —  b)  Motilitätsstörungen.   Krämpfe  local  (Wadenkrampf), 
und  manchmal  allgemein  in  Form  von  (hysterischen)  Zuckungen,  Muskel- 
„Pulsationen",  epileptoide  Anwandlungen  (Schwindelgeflihle  und  wirk- 
liches zeitweiliges  Umsinken  mit  Ohnmacht);  oft  Tremor  am  ganzen 
Körper.   Von  Lähmungen  beobachtete  ich  wiederholt  solche  der  Stimm- 
bänder. —  c)  Vegetative  und  trophische  Anomalieen.  Schmer- 
zen im  Magen  und  in  den  Gedärmen,  speciell  in  der  Herzgrube,  so  dass 
die  Kranken  das  Kleid  nicht  zukuöpfen  können,  die  aufgelegte  Hand 
nicht  ertragen,  sich  nicht  bücken,  nicht  im  Bett  umdrehen  können;  pein- 
lich gefühlte  Peristaltik  mit  oft  gänzlicher  Sistirung  des  Denkens  wäh- 
rend der  Verdauung,  und  umgekehrt  sofortige  Verdauungsstörung  bei 
geistiger  Anstrengung  nach  dem  Essen  (Flatulenz,  beschleunigter  Stuhl- 
gang, Schmerz  im  Epigastrium);  krampfhafte  Contraction  einzelner  Darm- 
partieen  mit  Aufgetriebenbeit  (Herabsinken  der  Gedärme),  hartnäckige 
Obstipation  mit  froschlaichähnlichem  Schleimabgang,  oft  zwischenläufigen 
Diarrhöen.   Sehr  häufige  Hämorrhoidalentwicklung.    Ungleicher  Appetit; 
oft  Bulimie  ohne  Sättigungsgefühl.    Gestörter  Schlaf,  öfteres  Aufwachen 
mit  Gedankenjagd,  häufiges  Alpdrücken.    Vermehrte  Pollutionen,  Ano- 
malieen der  Poteuz.  —  d)  Vasomotorische  Störungen.  Ungleiche 
Blutvertheilung,  Kälte  der  Extremitäten,  fliegende  Hitze,  Rash's  zum 
Kopfe,  gesteigerte  Neigung  zur  Transspiration,  klopfende  Pulsationen  im 
Kopfe,  Ohr ,  Fingern ,  Unterleib  u.  s.  w.    Anomalieen  der  Temperatar- 
nerven der  Haut:  peinliche  Frostgefühle.    Sehr  häufig  Herzklopfen,  oft 
intermittirender  Herzschlag,  Respirationsbeklemmungen  (Asthma,  trockener 
Husten). 

Verlauf  und  Ausgänge. 

Die  Hypochondrie  ist  stets  eine  chronische,  auf  Jahre,  nicht 
selten  auf  das  ganze  Leben  sich  erstreckende  Krankheit.  Der  Be- 
ginn ist  in  der  Regel  ein  allmählicher.  Ein  allgemeiner  körperlicher 
Schwächezustand  (welcher  seine  Entstehung,  sowie  die  künftigen 
neuropsychischen  Fäden  vorzüglich  aus  den  beiden  Centren  a)  ge- 
störter Verdauung,  b)  anomaler  Geschlechtsfunction  bezieht),  oder 
Spinalirritation,  oder  endlich  cerebrale  Neurasthenie  (s.  u.)  gehen  in 
der  Regel  Jahre  lang  voraus.  Nicht  selten  kann  aber  bei  entspre- 
chender neuropsychischer  Disposition  auch  ein  acuter  Beginn  ein- 
setzen (gerade  wie  auch  bei  neuralgisch  vorbereiteten  Melancholieen): 
irgend  eine  Gemüthsbewegung,  die  Furcht  vor  Cholera,  der  Schreck 


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Verlauf  und  Ausgänge.  Hypochondrischer  Wahnsinn. 


283 


eines  jähen  Todesfalles  scbliessen  durch  den  Affectvorgang 
selbst  die  bis  dahin  getrennten  Glieder  (eines  peripheren  Nerven- 
leidens und  eines  hyperästhetischen  psychischen  Organs)  zn  der  Kette 
zusammen,  welche  von  nun  an  die  psychischen  Bewegungen  mehr 
oder  weniger  an  die  nervösen  Wellenbewegungen  vno  xovÖQiag  an- 
knüpft. Der  Gang  der  einmal  manifesten  Krankheit  ist  für  gewöhn- 
lich ein  exacerbescirend-remittirender :  nach  längern  oder  kurzem 
Intervallen,  in  welchen  der  Kranke  sich  wohl  und  rüstig  fühlt,  kehrt 
der  alte  Jammer  wieder,  nicht  selten  in  der  Form  einer  tief  schmerz- 
lichen Rückwirkung  auf  das  Gemttthsleben  (intercurrente  hypochon- 
drische Melancholie;  s.  d.).  —  In  andern  Fällen  geht  die  Krankheit 
nach  kürzerer  oder  längerer  Dauer  in  Wahnsinn  Uber.  Dieser  kann 
entweder  in  der  Richtung  des  gewöhnlichen  Verfolgungswahns  sich 
ausbilden,  indem  die  unfassbaren  und  so  aufdringlichen  Sensationen 
(weil  sie  eben  so  ungewohnt  sind)  von  sich  aus  den  Weg  zum 
Ich  -  entzweienden  Trugschluss  (als  seien  sie  von  aussen  gemacht) 
nehmen;  oder  es  entwickelt  sich  ohne  Verfolgungsideen  ein  speci- 
fisch  hypochondrischer  Wahnsinn,  indem  der  logisch  unlösbare  Rest, 
welcher  jeder  körperlichen  Empfindung  anhängt,  phantastisch  apper- 
cipirt  und  ohne  Reflexion  zur  wirklichen  Thatsache  erhoben  wird. 
So  entsteht  für  den  Kranken  ein  neuer  Phantasie  Körper  an  Stelle 
des  bisherigen. 

Der  Kranke  klagt,  dass  ihm  „Knöpfe"  im  Leibe  herumziehen,  dass 
ihs  Herz  in  die  Hypochondrien  herabsänke,  die  Eingeweide  durch  den 
Hodensack  herausträten;  die  Därme  sind  eingeschnurrt,  der  After  ver- 
trocknet; er  spürt  sogar  schwarzb raunen  Stuhlgang  die  linke  Seite 
des  Leibes  herablaufen  u.  s.  w.  Der  Hodensack  ist  mit  Holzklötzen  ge- 
füllt, und  dann  plötzlich  wieder  leer ;  die  „Venen"  sind  überfüllt ;  durch 
die  Schläfen  blasen  Winde;  nirgends  ist  mehr  Absonderung;  der  Kranke 
verdorrt  bei  lebendigem  Leibe;  der  Kopf  ist  zu  klein,  das  Hinterhaupt 
zu  gerade,  das  Herz  klopft  zu  stark  u.  s.  w. 

Neben  dieser  chronischen  kommt  auch  eine  acute  Modification 
vor  (S.  186).  —  In  andern  Fällen  bleibt  die  Hypochondrie  bestehen 
und  geht,  fortan  noch  unter  Schwankungen,  in  endlichen  Blödsinn 
über.  Dabei  kann  sich  der  hypochondrische  Wahn  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  „abkapseln",  und  einer  noch  leidlichen  Regsamkeit 
der  geschont  gebliebenen  übrigen  Seelenthätigkeit  Raum  geben. 

Solche  Kranke  gedeihen  bei  den  bescheidenen  Ansprüchen  der  ihnen 
individuell  angepassten  Einrichtung  des  Asyllebens  vortrefflich,  füllen 
auch  noch  manchmal  eine  nützliche  Stelle  aus,  während  sie,  in  den  Kampf 
nm's  Dasein  gestellt,  verloren  sind.  Andere  dagegen  gehen  in  kindischer 
Sorge  um  ihren  Corpus  auf;  sie  grübeln  über  jede  Kleinigkeit,  consul- 
tiren  täglich  über  eine  Warze,  berichten  Uber  jeden  verstopften  Schmeer- 


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2U 


Das  hypochondrische  Irresein. 


balg,  controlliren  stundenlang  vor  dem  Spiegel  ihr  Aussehen,  verlangen 
immer  neue  Rechenschaft  Uber  das  Heilverfahren  u.  8.  w.  Damit  treten 
wechselnde  Affecte  in  Scene:  die  Kranken  äussern  Unzufriedenheit,  Wi- 
derstreben, drängen  fort.  Manche  lassen  jetzt  gelegentlich  einen  „ Ver- 
folgungswahn" durchblicken.  Andere  wieder  dringen  zu  einem  wahnhaft 
gesteigerten  Selbstgefühl  mit  Grössenwabn  vor  —  wohl  als  Rückschlag 
auf  schmerzliche  innere  Verletztheit  wegen  der  ungenügenden  Anerken- 
nung ihres  Leidens.  Merkwürdig  sind  die  oft  plötzlich  und  abrupt  auf- 
tretenden Grössenideen  oder  beliebigen  mystisch  „bedeutungsvollen"  Ein- 
falle aus  dem  Munde  solcher,  bis  dahin  nur  „körperlich"  philosophirender 
Kranker.  Andere  bekommen  zeitweilige  stupide  Angstzufälle  mit  oft 
heftigem  Selbstmorddrang. 

So  kann  unter  Besserungen  und  Verschlimmerungen,  mit  immer 
wieder  eingestreuten  freiem  Zeiten,  der  Zustand  sich  protrahiren, 
periodisch  sich  mit  neuen  Masken  zudecken  (Melancholie,  Wahn- 
sinnsphasen, Aufregungszustände),  endlich  auch  stationär  bleiben, 
oder  aber  —  bei  entsprechender  Grundlage  —  mit  der  originären 
Verrücktheit  (als  einer  Erscheinungsweise  der  letztem)  gleichen  Ver- 
laufsweg und  Ausgang  nehmen.  Nicht  selten  schliesst  jetzt  noch  ein 
Suicidium  brüske  ab. 

Ein  anderer  Ausgang  ist  in  ein  organisches  Himleiden  (Atrophie), 
zu  welchem  eine  tiefe  umfassende  Hypochondrie  nicht  selten  das 
erste  Stadium,  sehr  oft  auch  das  bleibende  Krankheitsbild  liefert 
(8.  Cerebropathieen). 

Die  syphilitische  Hypochondrie  siehe  unter  den  invaliden  Melan- 
cholieen  (S.  72).  — 

In  unserem  nervenreichen  und  „nerv"armen  Zeitalter,  dessen  Sig- 
natur die  Neurasthenie  auf  allen  Gebieten  darstellt,  tritt  immer  mehr 
ein  Specialtypus  von  Hypochondrie  hervor,  welcher  sich  zu  einem  geschlos- 
seneren klinischen  Bilde  abzurunden  beginnt.  Derselbe  ist  eine  psychische 
Form  (Erscheinungsweise)  der  sog.  cerebralen  Neurasthenie,  und  be- 
gegnet mir  immer  häufiger  unter  den  Folgezuständeu  geistiger  Ueberan- 
strengung,  speciell  nach  den  monotonen  Arbeiten  vielbeschäftigter  Cassen- 
beamter.    Dessen  Symptomenbild  ist  kurz  folgendes: 

In  der  Conversation  fühlen  sich  die  Kranken  trüb  und  müde;  sie 
haben  das  Gefühl,  als  ob  sie  nicht  recht  bei  der  Sache  wären,  „wie  in 
einer  Art  Halbschlummer".  Sprechen  sie  eine  Ansicht  aus,  so  überkömmt 
sie  die  Angst,  ob  sie  nichts  Ungereimtes  gesagt  haben.  Sie  versprechen 
sich  leicht  und  verlieren  leicht  den  logischen  Faden.  Die  Auffassung 
ist  stumpfer,  oft  unendlich  mühsam,  zerstreut,  die  Erinnerung  unvollstän- 
dig, abgeblasst,  nach  Tageserlebnissen  oft  so,  als  ob  Monate  und  Jahre 
dazwischen  lägen.  Für  sich  fühlen  sich  die  Kranken  in  einer  bestan- 
digen Unsicherheit,  kommen  Uber  das  Detail  nicht  hinweg,  müssen  oft 
verificiren,  nur  um  das  Gefühl  der  Sicherheit  zu  erlangen.  Sie  werden 
durch  Kleinigkeiten,  die  ihnen  zufällig  begegnen,  so  gestört,  dass  sie  ans 
dem  Concept  kommen,  und  nicht  eher  fortfahren  können,  als  bis  das  An- 


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Cerebral-neuraathenisches  Symptomenbild. 


—  Therapie. 


285 


stoss  gebende  Ding  entfernt,  oder  aber  lange  und  scharf  beobachtet  wor- 
den ißt.  Thun  sie  dies  nicht,  so  gelangen  sie  über  Unklarheit  und  Zweifel 
nicht  hinaus.    Aeusserer  Zwang  gibt  vorübergehend  grössere  Sicherheit. 
Die  Auffassung  der  Aussenwelt  ist  fühlbar  stumpfer,  die  Dinge  „packen 
nicht".   Einen  Ueberblick  zu  erhalten  fällt  ausserordentlich  schwer,  und 
erfordert  stets  stückweises  Auffassen  oder  einen  höchst  quälenden  Ge- 
dankengang. Beim  Lesen  ist  ein  beständiges  Recapituliren  nöthig.  Leich- 
ter geht  es  bei  lautem  Lesen.   Manchmal  wird  aber  gegentheils  ein  erst 
klar  gewesener  Gedanke  trübe,  sowie  der  Kranke  den  Versuch  der  näheren 
Betrachtung  oder  des  Aussprechens  unternimmt ;  auf  diese  Weise  können 
logisch  völlig  ausgedachte  Pläne  unter  dem  Fixirpunkt  der  Aufmerksam- 
keit wieder  verschwinden,  und  die  ganze  Arbeit  muss  neu  begonnen 
werden.   Der  Kranke  hat  dabei  oft  das  Gefühl,  als  ob  er  wie  im  Halb- 
scblafe  sich  befände.    Bei  rasch  wechselnden  Gegenständen  kommt  so- 
fort Unruhe  in  alle  Nerven.    Dies  wirkt  wieder  auf  den  Kopf  zurück, 
und  alle  Gedanken  beginnen  jetzt  sich  zu  jagen.  —  Im  Gcmüthsleben  ist 
Angst  und  Unsicherheit  das  am  meisten  hervortretende  Symptom. 
Alles  vollzieht  sich  mit  Angst,  das  Alleinsein,  das  Alleinrcisen,  das  Auf- 
machen von  Schubladen,  das  Auspacken  von  Paketen  u.  s.  w.    Bei  son- 
nigem Wetter  ist  die  Angst  gewöhnlich  geringer  als  an  trüben  nebligen 
Tagen.    Mit  der  Angst  stellt  sich  in  der  Regel  Gedankenverwirrung  ein 
(der  Kranke  muss  oft  plötzlich  auf  gewohntem  Wege  stehen  bleiben  und 
sich  besinnen,  wo  er  sei),  und  körperliche  Auftreibung  des  Leibes  und 
peinlicher  Afterzwang.    Die  Angst  ist  dem  Kranken  so  aufsässig ,  wie 
ein  „böses  Gewissen".    Gegen  sonst  liebgewohntc  Dinge  stellt  sich  Ab- 
neigung und  Eckel  ein.  Das  frühere  Interesse  schwindet.   Daneben  greift 
eine  weiche,  bange,  weinerliche  Stimmung  immer  mehr  um  sich.  Alles 
rührt  den  Kranken  sofort  zu  Thränen,  so  namentlich  Musik.  Immer  Öde 
und  schwankend  in  seinem  innern  Selbstgefühl,  verfällt  er  einem  Hang 
zum  Grübeln  und  Brüten,  so  dass  er  für  den  Umgang  mit  andern  immer 
unfähiger  wird.   Er  geht  Tage  lang,  in  seine  Gedanken  versenkt,  in  sei- 
nem Zimmer  auf  und  ab,  und  ist  überrascht,  wie  schnell  die  Zeit  ver- 
schwunden ist.  —  Dazwischen  treten  aber  auch  klarere  Momente ,  so  bei 
anderweitigen  körperlichen  Schmerzen,  oder  bei  stärkeren  Emotionen. 
Beim  Schreiben  sind  viele  Kranke  ruhiger,  als  beim  Lesen.  Bemerkens- 
wertb  ist ,  dass  spontane  geistige  Thätigkeit  mitunter  wohlthuender  em- 
pfunden wird,  als  reeeptive. 

Therapie. 

Die  Behandlung  der  ausgesprocheneu  hypochondrischen  Psychose 
muss  nach  den  für  die  Hypochondrie  im  Allgemeinen  und  Speciellen 
giltigen  Grundsätzen  geleitet  werden  (siehe  den  betreffenden  Ab- 
schnitt in  diesem  Werke).  Je  nach  dem  „centralen  Brennpunkte" 
der  hypochondrisch-melancholischen  Klagen  und  Empfindungen  wird 
bald  der  Magen  und  Darmkanal,  bald  die  Sexualsphäre  (Pollutionen 
und  Folgezustände),  bald  endlich  eine  allgemein  spinale  oder  cere- 
brospinale  Neurasthenie  als  Mittelpunkt  des  speciellen  Curregimens 


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286 


Das  hypochondrische  Irresein. 


sich  darbieten.  Die  Behandlung  dieser  einzelnen  Varietäten  hat  nach 
den  Regeln  der  innern  Medicin  zu  geschehen.  Im  Medicationsstyl 
ist  möglichste  Einfachheit  zu  empfehlen.  In  die  wirkliche  Therapie 
wird  mit  Vortheil  eine  zeitweilige  Schein-Therapie  eingefügt,  um 
den  Kranken  nicht  zu  sehr  unter  die  Schablone  zu  gewöhnen.  Haupt- 
sache ist  und  bleibt  die  psychische  Behandlung,  welche  in  den 
GrundzUgen  ganz  nach  der  für  die  Hysterie  giltigen  einzurichten  ist. 
Nicht  selten  ist  ein  wenigstens  temporärer  Asyl -Aufenthalt  für  den 
rathlosen  hypochondrischen  Melancholiker  sehr  rathsam;  dieser  ge- 
winnt dabei  in  der  Regel  wieder  so  viel  innere  Kraft  und  Zuversicht, 
um  draussen  den  Kampf  mit  seinem  schweren  Leiden  wieder  wirk- 
samer bestehen  zu  können.  Zu  dauernden  Anstaltsgästen  sollen  aber 
nur  die  schwersten  Formen  des  eigentlichen  hypochondrischen  Ma- 
rasmus werden,  und  müssen  es,  wenn  Neigung  zu  Suicidium  vor- 
handen ist.  Aber  auch  bei  diesen  ist  ein  zeitweiliger  Entlassungs- 
versuch oft  mit  Erfolg  begleitet,  wenn  man  sich  entschliessen  kann 
dem  Kranken  seine  massigen  „Morphium"-Krücken  für  draussen 
zu  belassen,  mit  deren  Unterstützung  er  nicht  selten  sich  zu  einem 
kleinen  bescheidenen  Wirken  wieder  frei  zu  machen  vermag. 

Die  Behandlung  speciell  der  neurasthenischen  Form  der  Hypo- 
chondrie verlangt  eine  ausserordentlich  sorgsame  geistige  und  körper- 
liche Diätetik,  wie  sie  am  besten  in  einer  gut  geleiteten  Curanstalt 
geübt  wird.  Nach  der  Entlassung  bildet  eine  rationelle  Einrichtung 
der  Lebensweise  die  wichtigste  Indication,  um  Recidiven  vorzubeugen; 
doch  sei  man  vorsichtig  einen  bis  dahin  thätigen  und  arbeitsgewohn- 
ten Menschen  schlechthin  zum  Aufgeben  jedes  Berufs  zu  veranlassen: 
der  jähe  üebergang  zur  Passivität  erzeugt  nicht  selten  Melancholie 
und  ein  vorzeitiges  Senium !  Der  Kranke  vermeide  wohl  Congestio- 
nirung  seines  Gehirns  durch  Beschäftigung,  nicht  aber  zugleich  die 
ihm  nothwendige  cerebrale  Erfrischung  durch  eine  zusagende,  nicht 
überanstrengende  Thätigkeit!  Er  lerne  die  grosse  Kunst  des  Maass- 
haltens und  der  Selbstbeschränkung.  Das  „Du  sollst  den  Sabbath 
heiligen"  hat  auch  einen  tiefen  Sinn  für  die  praktische  Lebens- 
philosophie. 


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Die  periodischen,  circulären  und  alternirenden  Psychosen.  287 

Die  periodischen,  circulären  und  alternirenden 

Psychosen. 

Anhang:  Mens t rua  1- Psy ohosen. 

Literatur.  Periodisches  Irresein :  Esquirol  II,  1G8.  —  Morel, 
Traite  Alb.  —  Fair  et,  Malad,  ment.  —  Spielmann,  Diagnostik  324.  —  Focke, 
Ztschr.  f.  Psych.  5  (nach  Malaria.)  —  Koster,  Ibid.  IG.  —  Kirn,  Ibid.  2G. 
er  selbe,  Die  periodischen  Psychosen,  Monogr.  1878.  —  Mendel,  Manie 
I.e.  —  Neftel,  (period.  Melanch.)  Ccntralbl.  f.  med.  Wissensch.  22.  —  Koster, 
Ueber  die  Gesetze  des  periodischen  Irreseins  etc.  Monogr.  1882.  —  Bechterew, 
Petersb.  med.  Woch.  1879  (Verhalten  der  Temp.).  —  Hurd,  Am.  J.  of  Ins.  1882 
(Behandlung). 

Circulftres  Irresein:  Kirn,  I.e.  —  Koster,  I.e.  —  Emmerich,  Ueber 
cykl.  Seelenstörungen,  Schm.  Jahrb.  1Ü0  (Literatur).  —  Huppert,  Ibid.  1877.  — 
Falret.  Bull,  de l'acad.  de  meU  1854  T.  19.  u.  Arch.  gön.  1879.  —  Baillarger, 
Ann.  me'd.  psych.  1854.  —  Derselbe,  Ibid.  188u.  -  Ball,  Ibid.  1880.  —  L,  Meyer, 
Arch.  f.  Psych.  4  (Literatur).  —  Dittmar,  Ueberregul.  u.  cykl.  Geistesstörungen, 
Bonn  1877.  —  Hughes,  AI.  and  Neur.  18SU  (nach  Malaria).  —  Schäfer,  Neur. 
Ctrlbl.  1SS2.  —  Doutrebente,  An.  med.  psych.  1S82.  —  Ritti,  Ibid.  (körperl. 
Symptome).  —  Derselbe,  Trait<5  clinique  etc.  Paris  1881.  —  Foville,  Brain 
1*82.  —  Karrer,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  37.  —  Hjertstroem,  Schm.  Jahrb.  201. 
—  Kahlbaum,  irrenfreund.  1882.  —  Tonnini,  Arch.  ital.  1883. 

Menstrualpsychosen:  Schlager,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  15.  —  Schroe- 
der,  Ibid.  30  u.  21.  —  v.  Krafft-Ebing,  Arch.  f.  Psych.  8  (Literatur).  —  Ellen 
Powers  (Dissertat.  sub  ausp.  Forel)  1883  (mit  sehr  ausführt.  Liter.).  —  Cabarde, 
l'Enc^ph.  1883.  —  Algeri,  Arch.  ital.  1884. 

Darunter  versteht  man  Psychopathieen  von  verschiedener  klini- 
scher Form,  deren  Auftreten  nicht  in  einem  einzelnen  Anfall, 
sondern  in  wiederkehrenden  Paroxysmen  (derselben  oder  modificirter 
Artung)  besteht,  welche  zeitlich  getrennt  sind  durch  ein  relativ 
lucides  Intervall,  aber  klinisch  zusammenhängen  als  sich  wieder- 
holende resp.  abwechselnde  Acte  eines  unausgesetzt  geisteskranken 
Zustandes. 

In  rein  periodischer  Wiederkehr  treten  namentlich  gewisse  melan- 
cholische und  manische  Symptomencomplexe  auf  als  periodische  Melan- 
cholieen  und  Manieen.  Verbinden  sich  beide  in  directer  Aufeinander- 
folge (Melancholie  —  Manie,  oder  umgekehrt)  und  zwar  in  cyklischer 
Wiederkehr  und  mit  lucidem  Intervall,  so  entsteht  die  symptomatolo- 
gische  Abart  des  „circulären  Irreseins".  In  diese  letztere  Verbindung 
können  auch  der  Stupor  und  der  exaltirte  Wahnsinn  als  klinische  Aequi- 
valente  eintreten.  Beide  Arten  des  cyklischen  Irreseins,  das  periodische 
und  das  circuläre,  setzen  eine  invalide  Nervenanlage  voraus,  welche  in 
den  meisten  Fällen  eine  hereditäre,  in  seltenern  eine  erworbene  ist. 

Der  Verlauf  beider  Formen  ist  in  der  Regel  ein  protrahirter, 
auf  Jahre,  ja  selbst  auf  das  ganze  Leben  ausgedehnt.  Die  Einzel- 
Anfälle  können  bei  der  Wiederholung  typisch  („photographisch") 
dieselben  bleiben;  meistens  aber  erschweren  sie  sich,  je  öfter  sie 


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283 


Die  periodischen  Manieen. 


wiederkehren,  und  erhalten  dann  sehr  häufig  einen  degenerativen 
Charakter  —  letzteres  um  so  leichter,  wenn  die  periodische  oder 
circuläre  Verlaufsform  auf  dem  Boden  eines  protrahirten  hysterischen 
oder  epileptischen  Irreseins  ersteht  Als  „  functionelle "  Neuropsy- 
chosen  können  beide  Formen  heilen,  die  circuläre  viel  schwieriger 
als  die  rein  periodische.  Klinisch  kommen  beide  Formen  getrennt 
vor,  aber  nicht  selten  auch  wieder  in  der  Weise  verbunden,  dass  der 
periodische  und  der  circuläre  Typus  im  Verlauf  desselben  Krank- 
heitsfalles mit  einander  abwechseln. 

Die  nur  „scheinbare"  oder  „theilweise"  Lucidität  des  Intervalls  ist 
charakteristisch  für  die  eyklischen  Psychosen ;  dieses  wesentliche  Moment, 
welches  die  letzteren  übrigens  mit  den  remittirenden  Manieen  gemeinsam 
haben,  trennt  die  periodischen  Formen  von  den  einfachen  „Recidiven". 
Dass  die  Trennung  übrigens  keine  absolute,  beweist  die  allmähliche 
Uebergangsfähigkeit  von  anfangs  recidivirenden  Manieen  in  später  fii 
periodische.  So  setzt  auch  manchmal  ein  späterer  circulärer  Cyklus  mit 
einer  einfachen  Melancholie,  und  nachfolgender  Manie  ein;  dann  kommt 
eine  jahrelange  Pause,  und  jetzt  erst  erwacht  der  funeste  Cyklus.  Für 
diese  prognostische  Würdigung  ist  namentlich  der  klinische  Charakter 
des  ersten  melancholisch-manischen  Anfalls  (Melancholie  ohne  Wahnvor- 
stellungen und  Hallucinationen;  ausgeprägtes  selbstständiges  mani- 
sches Nachstadium  mit  Folie  raisonuante)  sehr  bedeutungsvoll.  Nach  dem 
wichtigen  Verhalten  des  Körpergewichts  stehen  die  periodischen  Manieen 
näher  bei  den  einfachen,  als  die  circulären;  doch  ist  auch  dieser  Factor 
nicht  durchgreifend  und  noch  weniger  corfstant  (s.  u.). 

Die  periodischen  Psychosen. 

a)  Die  periodische  Manie.  Die  Entwicklung  knüpft  mit  Vor- 
liebe an  die  hereditäre  Neurose  an,  oder  weist  wenigstens  ein  stark 
neuropathisches  Vorleben  auf.  In  den  erworbenen  Fällen  spielen 
Onanie  und  Kopfverletzungen  eine  besondere  Rolle.  Reizbarkeit 
und  Zornmüthigkeit  in  der  Charakteranlage  wird  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  angegeben;  manchmal  ist  neben  dieser  hochentwickelten 
Emotivität  eine  in  den  Schuljahren  hervortretende  intellectuelle  Träg- 
heit nicht  zu  verkennen  (s.  hered.  Neurose).  Fehler  in  der  Er- 
ziehung, namentlich  falsch  angebrachte  und  rücksichtslose  Strenge, 
mögen  von  erheblichem  Belang  sein  dafür,  dass  eiue  schlummernde 
Prädisposition  —  gleichsam  als  Reaction  für  die  verschluckten  Turä- 
nen  uud  Verunglimpfungen  —  gerade  diese  Richtung  einer  erst- 
maligen und  später  recidivirenden  Zorn-Manie  einschlägt.  Andere- 
male  entwickelt  sie.  sich  in  milderer  Form  aus  jenem  hereditären 
Naturell,  welches  neben  Neigung  zur  Phantasterei  eine  gewisse 
Grossmannssucht  in  die  Wiege  gelegt  bekam.  Aber  auch  hier  geht 
dem   wirklichen  Ausbruch   erst  ein  aufregender  Kampf  mit  der 


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Klinische  Typen. 


289 


„unverständigen"  Umgebung  in  der  Form  fortgesetzter  Gemttths- 
bewegungen  voraus. 

Man  wird  nicht  fehlgehen,  wenn  für  den  ersten  Paroxysmus 
stets  ein  kürzeres  oder  auch  länger  dauerndes  depressives  Stadium 
angenommen  wird.    In  ihrem  „innern  Kampf  und  äussern  Streit" 
werden  die  Kranken  verbittert,  reizbarer;  Lust  und  Freude  ver- 
gehen ihnen;  sie  fühlen  sich  schwach  und  matt,  träumen  viel,  ge- 
rathen  manchmal  in  starke  Schweisse,  Kopfcongestionen ,  neben 
kalten  Extremitäten;  werden  endlich  plötzlich  ängstlich  und  ein- 
geschüchtert.   Viele  suchen  durch  Aenderung  des  Wohnorts,  durch 
raptusartigen  Wechsel  ihres  Berufs  dem  ewigen  Aerger,  welcher 
sich  durch  Brennen  und  Unruhe  in  der  Magengegend  peinlich  fixirt 
und  den  Schlaf  stört,  zu  entgehen.    Oft  gestaltet  sich  der  einleitende 
Status  nervosus  zu  einem  wohl  charakterisirten  melancholischen 
Bilde  mit  Klagen  über  Denkunfahigkeit,  Verschuldung  und  Willen- 
losigkeit,  Todessehnsucht.    Bei  Andern  wieder  verschärft  sich  das 
Gefühl  des  innerlichen  Schwankens  zum  Trotz  und  zur  aufbrausenden 
Heftigkeit;  wieder  Andere  greifen  zur  beruhigenden  Flasche.  Mit 
dem  letztern  Moment  ist  eine  sehr  häufige  Entstehungsart  des  ersten 
manischen  Anfalls  bezeichnet:  die  Kranken  werden  Dipsomanen. 
Sie  berauschen  sich  unsinnig  und  vermehren  mit  der  Alkoholisirung 
die  ohnehin  verminderte  Widerstandsfähigkeit  ihres  Gehirns:  die 
Empfindlichkeit  und  Reizbarkeit  steigern  sich,  bei  der  geringsten 
Entgegnung  ist  die  Zorn-Manie,  der  Furor,  fertig.    Das  ist  eine 
klinische  Form  des  ersten  Anfalls.    Die  Symptomatologie  entspricht 
im  Wesentlichen  der  früher  geschilderten:  die  Kranken  werden 
rücksichtslos  brutal  in  ihren  Anforderungen,  maasslos  heftig  in  ihrer 
Erwiederung;  Gewaltthätigkeiten  aller  Art,  Misshandlung  oder  Be- 
drohung von  Personen  und  Sachen,  Feuergefabrdung,  wuthartiges 
Zerstören  entfesselt  sich  lawinenartig;  man  glaubt  oft  einen  Epilep- 
tiker vor  sich  zu  haben.   In  der  Regel  begleitet  ein  Verfolgungs- 
wahn, welcher  seine  Motive  aus  den  erlittenen  Beeinträchtigungen 
holt,  den  psychomotorischen  Krampfan fal  1 ;  mau  merkt  aber  der 
Fadenscheinigkeit  und  Kleinlichkeit  der  Motive  sofort  die  Schwäche 
an,  welche  die  „Gründe"  nur  als  vorgeschobene  verräth,  als  ex 
post  angehängte  Rechtfertigungsversuche  für  einen  aus  unbewusster 
Nöthigung  erfolgten  Handlungszwang.    Unter  günstigen  Umständen 
(Versetzung  in  die  Anstalt)  erfolgt  nicht  selten  in  kurzer  Zeit,  oft 
schon  nach  einigen  Tagen,  die  Beruhigung,  vorerst  noch  ohne 
Krankheitseinsicht,  welch'  letztere  aber  in  dieser  Periode  meistens 
noch  nachfolgt 

Sch&le,  GeifUrtraakhaiten.  3.  Aufl.  19 


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290 


Die  periodischen  Manieen. 


In  andern  Fällen  bricht  nach  mehrstündiger  grosser  Müdigkeit 
und  Erschöpfung  eine  plötzliche  (oft  religiös  gefärbte)  Verwirrtheit 
aus  mit  Verkennen  der  Personen,  untermischt  mit  freieren  Zeiten, 
in  welchen  der  Kranke  über  Dumpfheit  und  Taubsein  im  Vorder- 
kopfe klagt,  mit  rascher  Steigerung  zum  Toben  und  Zerstören  und 
allen  Erscheinungen  der  Mania  gravis.  Gewöhnlich  gehen  hier  sehr 
bald  auch  Sinnestäuschungen  mit  (Scheltstimmen,  Obscönitäten,  bäss- 
liche Gerüche,  Thierfratzen  u.  s.  w.).  Bemerkenswerth  ist  dabei, 
dass  der  Kranke  trotz  der  kühnsten  Sätze  und  Sprünge,  womit  er 
die  verschiedensten  Vorstellungsreihen  durchläuft,  doch  in  der  Regel 
seine  Besinnung  nie  ganz  verliert  —  das  bedeutungsvolle  Zeichen 
der  ungleichmässigen  Vertheilung  zwischen  intellectuellem  und 
motorischem  Delirium,  welches  bereits  den  Keim  der  spätem 
psychischen  Entartung  offenbart.  Die  Aufmerksamkeit  ist  in  dieser 
Zeit  für  keinen  Gegenstand  festzuhalten;  Tag  und  Nacht  dauert  die 
geschwätzige  Unruhe  fort.  Manchmal  begleitet  eine  anhaltende 
schmerzliche  Verstimmung  und  eine  stupide  Angst  diese  Paroxysnien: 
die  Kranken  fürchten  umgebracht,  erwürgt  zu  werden;  sie  sehen 
es  den  Gesichtern  der  Personen  an,  dass  diese  Feindliches  gegen  sie 
im  Schilde  führen,  und  bemessen  darnach  instinctiv  ihre  Ent- 
äusserungen.  Nicht  selten  werden  die  manischen  Angstparoxysmen 
auch  durch  Hallucinationen  aller  Sinne  (neckische  Stimmen,  Spinn- 
webe und  allerlei  Unrath  im  Essen,  Pferdestaub  im  Bette,  Schlangen 
im  Halse  u.  s.  w.,  bei  onanistischen  Individuen  auch  parästhetische 
Genitalsensationen)  unterstützt.  Im  ganzen  Benehmen  tritt  sehr  oft 
von  Anfang  an  eine  erschreckende  Brutalität  hervor. 

Es  gibt  aber  auch  Fälle,  in  welchen  der  Rest  der  Besonnenheit 
auf  der  Höhe  des  manischen  Anfalls  gauz  untergebt,  der  Kranke,  voll- 
ständig abwesend  und  bodenlos  verwirrt,  von  einer  Stimmung  in  die 
andere  geworfen  wird.  Erst  ausgelassen,  heiter,  singend,  jubilirend, 
jauchzend,  Jedermanns  Freund  und  Bekannter,  zu  trivialen  Witzen  auf- 
gelegt —  wird  der  Kranke  plötzlich  äusserst  gereizt  und  heftig,  schimpft, 
brüllt,  droht,  zerstört,  ist  ganz  unnahbar;  dann  wieder  in  kindischer  Ge- 
schäftigkeit sammelnd,  mit  allem  Flitter  spielend,  klettert  er  Uberall  hin- 
auf, verstellt  Alles,  macht  die  sonderbarsten  Gesten  durcheinander,  schaut 
in  die  offene  Sonne,  lebt  ausser  Kaum  und  Zeit. 

Die  Uebergangszeit  zur  Ruhe  kann  manchmal  in  raschem  Um- 
schlag, andremale  aber  auch  langsamer,  durch  ein  Stadium  von  eitler 
Selbstüberschätzung  mit  Grössen wahn  (namentlich  religiösen  Inhalts) 
erfolgen.  Ab  und  zu  trägt  selbst  der  ganze  manische  Paroxysmus 
dieses  „verrückte"  Gepräge.  Der  Kranke  geberdet  sich  in  seinem 
rücksichtslos  herrischen  Auftreten  als  Reformator,  will  Eisenbahnen 


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Klinische  Typen. 


29t 


und  Kriege  abschaffen,  faselt  in  verworrenster  Weise  von  Adam 
und  Eva,  von  Lucifer  u.  s.  w.,  verkennt  Personen  und  Umgebung 
in  Minutenblitzen. 

Doch  lässt  er  nicht  selten  seine  vagen  Träumereien  und  Behaup- 
tungen bei  eindringlichem  Nachfragen  alsbald  wieder  fallen.  Hält,  wie 
gewöhnlich,  die  Ideenflucht  dazwischen  ein  massigeres  Tempo  ein,  so 
werden  Bibelstellen,  Liederverse,  Sprichwörter,  goldene  Kegeln,  Beleh- 
rungen, Reminiscenzen,  Reflexionen  Uber  die  verschiedenartigsten  Gegen- 
stände, wie  sie  dem  Kranken  eben  in  den  Wurf  kommen,  alberne  Be- 
hauptungen, triviale  Anspielungen,  oft  ins  Ironische  und  Sarkastische 
übergehend,  zusammenhangslos  durcheinandergeworfen.  Ideen  Uber  Land, 
Menschen,  Gesetze,  Religion,  Begattung,  Kindererziehung,  Unterricht, 
Landwirtschaft  u.  s.  w.  stehen  gesellig  nebeneinander,  und  werden  iu 
sinnlosem  Gallimathias  in  den  Selbstgesprächen  des  Kranken  ausge- 
kramt. 

Dies  die  zweite  klinische  Form. 

Die  dritte  nimmt  im  Wesentlichen  das  Bild  der  Mania  mitis 
an.  Gehobenes  Selbstgefühl,  Plänemacherei,  Heirathsgedanken, 
(Kauflustl),  sinnlose  Geschäftigkeit  (Sammeln),  Wichtig-  und  doch 
eigentlich  Nichtsthun,  grosser  Wechsel  der  GemUthslage  mit  reiz- 
barer Verstimmung  —  sind  die  vortretenden  Züge.  Dazu  kommt 
eine  dienstbereite  raisonnirende  Dialektik,  welche  aus  Allem  und 
für  Alles  Entschuldigungen  und  Rechtfertigungen  zu  holen  weiss, 
eine  förmliche  „Beweiswuth"  mit  nergelnder  Disputirsucht.  Dieser 
Zustand  erhält  sich  manchmal  durch  den  ganzen  Paroxysmus ;  andere- 
male  aber  steigert  er  sich  im  Laufe  weniger  Tage.  Der  Gesichts- 
ausdruck wird  verwirrter,  das  Auge  steif  und  glänzend;  der  Kranke 
beginnt  mit  Kopf  und  Händen  lebhaft  zu  gesticuliren,  ohne  Unter- 
lass  zu  sprechen;  die  Rede  steigert  sich  zu  einem  enormen  Ge- 
dankendrange, so  dass  die  Kranken  in  Wahrheit  das  Herz  auf 
der  Zunge  tragen,  Nichts  verschweigen,  mit  ihren  Bekenntnissen 
(nicht  selten  intimen!)  sich  an  Jeden  herandrängen  und  in  die  pein- 
lichste Unruhe  gerathen,  wenn  sie  sich  nicht  aussprechen  können, 
aufdriuglich  die  Umgebung  corrigiren  und  belehren,  ungereimte 
Fragen  stellen,  hochtrabende  Sentenzen  um  sich  werfen,  Bibelsprüche 
verschwenden  u.  s.  w.;  oder  sie  queruliren  ihre  Umgebung  mit  der 
Betonung  ihres  Rechtsstandpunkts,  stellen  sich  Jedem  als  Opfer  der 
Justiz  dar,  verdächtigen  Behörden  und  Anverwandte,  behalten  in 
Allem  das  letzte  Wort.  Jeder  Einfall  wird  „gebucht";  vorher  findet 
der  Kranke  keine  Ruhe,  keinen  Schlaf.  Dasselbe  Ungestüm  bricht 
auch  in  das  Wollen  ein:  jeder  Wunsch  drängt  zur  Erfüllung,  und 
inuss  erfüllt  werden ,  selbst  wenn  die  Einrede  Dritter  vorübergehend 
angenommen  wird.    Der  Kranke  ist  der  speeifische  Schwätzer,  der 


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292  Die  periodischen  Manieen. 

rücksichtslose  Meisterer,  der  unerschöpfliche  Advocat  der  Umgebung. 
Die  Stimmung  ist  für  gewöhnlich  sorglos,  heiter,  leicht  geschürzt 
bis  zum  Cynismus,  gutmüthig.  Dazwischen  schieben  sich  Zeiten 
von  Verstimmung  mit  scheinbarer  Abspannung,  manchmal  selbst  mit 
einiger  Krankheitseinsicht,  ein.  In  der  Folge  kann  sich  dieser 
manische  Zustand  bis  zur  Verwirrtheit  steigern;  oder  es  können  sich 
bei  erhaltener  Lucidität  perverse  Richtungen  einschieben,  so  nament- 
lich ein  Drang  sich  mit  grösster  Indiscretion  in  die  Verhältnisse 
Anderer  zu  mischen,  und  dieselben  moralisch  zu  verurtheilen.  Die 
anfänglich  in  Putzsucht  sich  genügende  erotische  Richtung  tritt  in 
unverhülltern  Formen,  endlich  als  cynische  Nymphomanie  auf,  nicht 
selten  mit  gebieterischem  Drange  zur  Entblössung  und  zur  Mastur- 
bation. Dabei  geräth  der  Kranke  in  eine  zunehmende  Reizbarkeit; 
immer  steht  beim  geringsten  Entgegentreten  ein  Zorn-Affect  bereit, 
sehr  häufig  bis  zum  rücksichtslosesten  Schimpfen,  selbst  Zerstören. 
Der  Kranke  ist  missgestimmt  im  Gefühle  seiner  Krankheit.  Interessant 
ist  die  oft  paroxysmal  auftretende  Sym-  oder  Antipathie  gegen  ge- 
wisse Personen  (Ehefrau  resp.  Ehemann). 

Diese  dritte  Form  ist  symptomatologisch  oft  bis  in  die  kleinsten 
Züge  identisch  mit  der  manischen  Phase  in  der  circulären  Manie.  Die 
Uebergänge  in  die  freie  Zwischenzeit  sind  mannigfaltig.  In  einer  Reibe 
klingt  die  Aufregung  schrittweise  ab;  in  einer  zweiten  geht  der  Paro- 
xysmus  erst  durch  ein  längeres  hypochondrisches  Stadium  hindurch,  wel- 
chem aber  in  der  maasslosen  Uebertreibung  der  nervösen  Beschwerden 
und  der  Wichtigthuerei  der  exaltirte  Charakter  erhalten  bleibt 

In  einem  vierten  Typus  schliesst  sich  an  die  belebtere  Periode 
zunächst  eine  längere  Phase  von  psychischer  Gebundenheit  —  an 
die  motorisch  exaltirte  eine  motorisch  gehemmte  —  an,  aus  welcher 
nur  stossweise  einzelne  der  frühern  Erscheinungen  hervorbrechen. 
Der  Kranke  verharrt  dann  lange  Zeit  in  irgend  einer  Stellung  oder 
Lage,  führt  plötzlich  eine  vereinzelte  Bewegung  aus,  stösst  ein  Wort 
hervor,  thut  einen  Schrei,  lacht  gellend  auf,  verzerrt  das  Gesicht 
—  um  sofort  wieder  in  die  frühere  Einförmigkeit  zurückzusinken. 
Aus  dieser  kann  er  wieder  in  die  frühere  Erregungs  Periode  zurück- 
kehren, oder  aber  bald  in  rascher,  bald  allmählicher  Lösung  der 
Spannung  in  das  Intervall  übergehen  (s.  u.). 

Man  könnte  diesen  vier  klinischen  Typen  noch  einen  fünften 
anreihen,  bei  welchem  sich  ein  ausgesprochener  ch  oreati  sc  her 
Zug  durch  die  Qualität  der  manischen  Entäusserungen  hindurch- 
zieht —  zerfahrene,  abrupte,  stossweise  und  unmotivirte  Gesticola- 
tionen  an  Stelle  der  coordinirten  triebartigen  Handlungen  in  den 
einfachen  manischen  Symptomenbildern. 


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Juveniler  Typus.  —  Intervall. 


293 


Der  Kranke  kann  nicht  ruhig  stehen  bleiben;  er  wechselt  öfters  das 
Bein,  dreht  den  Stamm,  wendet  den  Kopf,  verdreht  die  Augen,  ist  selten 
eine  Minute  ruhig.  Dazwischen  fahren  plötzliche  Raptus  von  Zerstörungs- 
drang  (Fenstereinschlagen  u.  8.  w.).  Diese  klinische  Modifikation  wird  na- 
mentlich bei  jugendlichen  Periodikern  in  der  Pubertätszeit  (manch- 
mal mit  gleichzeitiger  Entwicklungshemmung  in  den  Genitalien)  beobach- 
tet. Das  Bewusstsein  ist  dabei  ganz  leidlich  lucid,  die  Stimmung  massig 
düster  oder  reizbar.  In  der  Folge  kann  sich  der  geschilderte  Typus 
umbilden  ,  und  den  regelrechten  manischen  Formcharakter  annehmen : 
nach  einleitender  Verstimmung,  Trägheit,  Schweigsamkeit,  unaufgelegtem 
schläfrigem  Wesen  kommt  ein  urplötzlicher  Ausbruch  von  gereiztem, 
heftigem  Schelten  mit  Neigung  zu  allerlei  verkehrten  Streichen  bis  zu 
blinder  Zerstörungswut!^  mit  Drang  zu  schmieren  u.  s.  w.  Die  Stimmung 
ist  dabei  oft  deutlich  in  zwei  Perioden  unterschieden :  anfanglich  (in  der 
ersten  Hälfte  des  Anfalls)  ausgelassen  heiter  und  exaltirt  (Singen,  Pfei- 
fen, selbstgemachte  Worte ,  Zoten  u.  s.  w.),  in  der  zweiten  weinerlich, 
schmerzlich  gereizt,  mit  Fluchen,  Schelten,  Jammern,  kindischem  Heulen. 
Interessant  ist  die  Beobachtung  in  einem  unsrer  Fälle,  wo  in  der  Zeit 
der  einleitenden  Depression  (mit  Neuralgieen  und  Reflexkrämpfen)  die 
Sprache  einen  um  den  andern  Tag  ausblieb,  und  periodisch  auf  Stun- 
den sich  ein  unruhiges  Spiel  mit  den  Fingern  einstellte. 

Die  Intervalle  bieten  in  gleicher  Weise  grosse  symptomato- 
logische  Unterschiede.  Zeitlich  schliessen  sie  sich  entweder  direct 
an  den  Paroxysmus  an;  oder  aber  es  schiebt  sich  erst  noch  eine 
Stupiditätsphase  als  Uebergang  ein  (in  einem  Falle  beobachtete  ich 
ein  kurzes  Zwischenstadium  von  Moria  mit  dämonomanen  Angstzu- 
fällen). In  dem  ersten  Falle  kann  der  Abfall  entweder  ein  brtlsker 
sein,  oder  aber  ein  allmählicher. 

Interessant  ist  beim  successiven  Uebergange  der  Kampf  des  krank- 
haften Dranges  mit  dem  einrückendem  gesunden  Bewusstsein.  Der  Kranke 
gibt  sich  Mühe  das  eben  Gehörte  festzuhalten  —  und  plötzlich  schneidet 
ein  Unsinn  die  richtige  Antwort  auf  halbem  Wege  ab;  oder  der  Kranke 
müht  sichtlich  sich  ab  in  das  richtige  Geleise  einzulenken,  und  nahe  daran, 
wird  er  von  einem  mächtigen  Eingriff  wieder  auf  die  Seite  geworfen. 

Ihrem  formellen  Charakter  nach  richten  sich  die  Intervalle  im 
Allgemeinen  nach  dem  Krankheitsstadium  und  nach  der  Intensität 
des  vorausgegangenen  manischen  Paroxysmus;  im  nähern  Detail  nach 
der  individuellen  Grundlage  des  Krankheitsfalles.  Je  früher  im 
Krankheitsverlauf  d.  h.  je  weniger  Paroxysmen  vorausgegangen,  je 
milder  die  letzteren  verliefen,  desto  freier  gestalten  sich  c.  p.  die 
Zwischenpausen.  Man  wird  die  letztern  in  den  ersten  Zeiten  oft 
nicht  von  den  Nachstadien  einfacher  Manieen  zu  unterscheiden  ver- 
mögen, so  wenig  als  der  erste  Paroxysmus  immer  mit  Sicherheit 
als  ein  künftig  periodischer  sich  erkennen  lässt.  Von  einem  eigent- 
lichen „Intervall"  kann  deshalb  auch  füglich  erst  nach  dem  Ablauf 


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21)4 


Die  periodischen  Manieen. 


zweier  oder  dreier  Paroxysmen  die  Rede  sein.  Nicht  selten  bietet 
dasselbe  im  Anfange  auch  Nichts  weiter  dar,  als  einen  einfachen 
neuropathischen  Zustand,  wie  er  ,der  hereditären  Neurose  (dieser 
„Vorfrucht"  zu  den  periodischen  Manieen)  eigen  ist.  Freilich  bleiben 
in  der  Regel  frühe  schon  einzelne  Nachwirkungen  des  Anfalls  haften 
und  zwar  namentlich  in  Form  eines  misstrauischen  Wesens,  welches 
überall  Beeinträchtigung  wittert,  und  Uber  eine  abnorme  Reizbarkeit 
und  Affectbereitschaft  verfügt.  Anfänglich  klingen  auch  diese  Reste 
wieder  ab,  und  der  Kranke  erscheint  wohl.  Gleichwohl  entdeckt 
man  bei  tieferem  Eingehen  bald  eine  gewisse,  wenn  auch  leise  in- 
tellectuelle  Torpidität,  welche  sich  in  etwas  erschwerterem  geistigen 
Arbeiten  kundgibt.  Iu  anderen  Fällen  dagegen  tritt  ein  auffallend 
räsonnirendes  Bestreben  hervor,  für  die  perversen  Acte  während  der 
Krankheit  eine  Ausrede  oder  einen  plausibeln  Grund  vorzuführen. 
Krankheitseinsicht  ist  nicht  da,  wohl  aber  Krankheitsgefühl. 
Die  in  der  manischen  Phase  aufgetretene  Neigung  zu  Trinkexcessen 
ist  in  der  Regel  jetzt  verschwunden;  der  Kranke  wird  sogar  über- 
trieben mässig;  doch  gibt  es  auch  Fälle  (der  obigen  vierten  Form), 
wo  jetzt  erst,  im  Intervall,  eine  gesteigerte  Trink-  und  Geschlechts- 
lust sich  regt  (Reaction  gegen  Schwächegefühle).  Mit  der  zunehmen- 
den Schwere,  Zeitdauer  (Länge)  und  auch  der  Zahl  der  Paroxysmen, 
ändert  sich  der  psychische  Charakter  des  Intervalls,  und  erhält  ein 
immer  ausgesprocheneres  krankhaftes  Gepräge.  Dieses  tritt  mit 
jedem  neuen  Anfalle  verschärft  hervor.  Das  Erste,  was  nothleidet, 
ist  die  Gefühlssphäre :  hier  greift  eine  immer  markantere  Abstumpfung 
um  sich,  zuerst  der  höhern  sittlichen  Gefühle  (der  religiösen  und 
ästhetischen),  und  dann  auch  weiter  der  socialen.  Feinfühlige  Men- 
schen werden  roh;  sie  gefallen  sich  in  Plattheiten,  oder  sie  werden 
apathisch,  verlernen  Rührung  und  Mitleid  —  „die  Blume  ist  hinweg 
aus  ihrem  Leben".  Gleichzeitig,  wenn  auch  durchaus  nicht  gleichen 
Schritt  haltend  (der  ungleiche  Gang  ist  vielmehr  Regel),  sinkt  die 
intellectuelle  Energie  und  gibt  einer  Verstandesabstumpfung  Raum, 
welche  bei  den  schwersten  Fällen  nach  und  nach  bis  zum  Blödsinn 
fortschreitet. 

Hatte  der  Anfang  die  Höhe  der  Mania  gravis  erreicht,  so  stellt  das 
Intervall  einen  Zustand  acuter  Hirnerschöpfung  dar,  in  welchem  der 
Kranke  sich  in  der  Umgebung  nicht  mehr  zu  Orientiren  weiss,  für  die 
einfachsten  Dinge  unschlüssig,  in  seinem  Benehmen  ziel-  und  planlos  ist, 
und  erst  mühsam  sich  leidlich  erholt. 

Die  Zeitdauer  des  Intervalls  ist  eine  nach  den  Einzelfällen  ver- 
schiedene.   Sehr  häufig  steht  sie  in  annähernder  Proportion  zur 


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Intervall.  Klinische  Varietäten.  —  Weiterverlauf. 


295 


Dauer  des  vorausgegangenen  Anfalls,  aber  nicht  immer  (s.  u.j.  Die 
Erinnerung  ist  bald  nur  eine  summarische,  oder  selbst  fehlend;  bald 
aber  auch  bis  ins  Kleinste  getreu,  und  gibt  als  solche  nicht  selten 
den  Grund  ab  für  innere  Vorwürfe  und  ein  GefUhl  der  Beschämtheit, 
welches  zartere  Naturen  oft  auf  längere  Zeit  den  Verkehr  mit  der 
Umgebung  meiden  lässt. 

Die  weitere  Entwicklung  und  Ausgestaltung  der  einmal  begon- 
nenen Krankheit  erfolgt  nun  an  der  Hand  immer  wiederkehrender 
manischer  Anfälle,  welche  geschieden  sind  durch  kürzere  oder  län- 
gere Intervalle.  Bezüglich  der  Form  dieser  successiven  Paroxysmen 
finden  mancherlei  klinische  Verschiedenheiten  statt.  Es  können 
1.  die  einzelnen  Anfälle  sich  durch  die  grösste  Einförmigkeit  und 
Regelmässigkeit  auszeichnen,  so  dass  der  nachfolgende  oft  bis  in 
kleine  Detailzüge  die  Symptome  des  vorausgegangenen  wiederholt. 
Letzteres  betrifft  namentlich  die  Anfänge,  welche  sehr  häufig  photo- 
graphisch gleich  sind,  so  zwar,  dass  der  aufmerksame  Kranke  selbst 
den  Beginn  eines  Anfalls  zu  diaguosticireu  lernt. 

So  beobachtete  ich  einen  Periodicus,  dessen  erste  Warnung  für  das 
aufziehende  Gewitter  die  Erscheinung  eines  graueu  Vogels  war,  den  er, 
der  bis  dahin  Ahnungslose,  plötzlich  neben  sich  gewahrte.  Um  sich  in 
seiner  Bestürzung  (denn  er  kannte  allmählich  die  peinliche  Vorbedeu- 
tung!) zu  vergewissern,  suchte  er  denselben  mit  der  Mütze  zu  fangen; 
aber  siehe,  der  Vogel  war  nicht  zu  erhaschen,  sondern  immer  neben  der 
Mütze  zu  sehen.  Nun  wusste  der  Mann  sofort,  wie  er  daran  war;  er 
ging  heim,  bestellte  seiu  Haus,  und  meldete  sich  direct  zur  Wiederauf- 
nahme in  die  Anstalt.  —  Andere  Kranke  fangen  zu  singen,  zu  musi- 
ciren,  zu  zeichnen  an;  wieder  Andere  treiben  plötzlich  gesteigerten  reli- 
giösen Cult.  Andere  endlich  werden  empfindlicher,  klagesüchtiger,  nament- 
lich begehrlicher,  und  auch  hier  oft  genau  im  Gebiet  stereotyper,  ihnen 
sonst  fremder  Wünsche.  Eine  letzte  Gruppe  fängt  an  zu  trinken.  Einer 
unsrer  Kranken  steckte  sich  jeweils  vor  Beginn  des  Paroxysmus  ein 
Federchen  auf  den  Hut  —  ganz  unscheinbar;  und  wie  Vieles  sagte  das 
harmlose  Ding  auf  Monate  voraus! 

Interessant  ist  die  Selbstbeobachtung  eines  ärztlichen  Collegen  über 
den  Anfallsbeginn:  Es  sei  ihm  allmählich  geworden,  wie  wenn  er  sein 
Vorderhirn  spürte,  wie  wenn  eine  Spannung  dort  bestünde,  fast  so,  als 
ob  er  es  sehen  könnte.  Er  verliere  die  Stimmung,  und  gerathe  in 
einen  Redefluss  mit  Drang  zum  Schwatzen  von  allen  Kleinigkeiten;  dann 
werde  er  disputirsüchtig,  beweiswüthig  und  zunehmend  reizbar.  Jetzt 
Hyperästhesie  des  Gehörs,  mangelnder  Schlaf,  und  dafür  unter  Tags  ein 
träumerischer  Zustand ;  Schmerzgefühle  im  Kopfe,  aber  nur  „psychische", 
keine  „periphere".  Dann  anrückendes  Wohlgefühl  mit  gesteigerter  gei- 
stiger Arbeitskraft  und  Leistung;  dazwischen  depressive  Zwangsempfin- 
dnngen  (als  ob  er  enthauptet  wäre,  und  der  Kopf  auf  dem  Abtritt  läge); 
dasselbe  „Spaltungsgefühl"  seiner  Persönlichkeit  begleite  ihn  durch  den 


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296 


Die  periodischen  Manieen. 


ganzen  Paroxysmus.  —  Auch  im  Intervall  sei  er  nicht  der  natürliche 
Mensch ;  er  spüre  zwar  wachend  keine  geistige  Aenderung  als  höchstens 
etwas  Müdigkeit;  aber  dafür  sei  der  Schlaf  geändert;  er  sei  zu  „persön- 
lich" im  Schlafe;  er  träume  nie,  sondern  er  denke  schlafend;  während 
im  gesunden  Schlafe  die  Persönlichkeit  zurücktrete,  so  sei  bei  ihm  (in 
der  Zeit  des  Intervalls)  gerade  das  Gegentheil  der  Fall:  er  sehe  sich, 
und  trete  immer  handelnd  auf. 

Es  kann  aber  auch  2.  der  nachfolgende  Paroxysmus  zwar  „den- 
selben Faden  aber  in  höherer  oder  niedrigerer  Nummer"  darstellen, 
d.  h.  auf  eine  Mania  mitis  eine  Mania  gravis,  oder  umgekehrt, 
folgen.  Gewöhnlich,  wenn  auch  nicht  regelmässig,  wird  mit  der 
vermehrten  Wiederkehr  der  Anfälle  deren  klinischer  Charakter  ein 
schwererer. 

Letzteres  geschieht,  indem  a)  die  Bewusstseinsstörung  mit  jedem 
Anfalle  zunimmt,  der  beschleunigte  Vorstellungsablauf  sich  zur  Verwor 
renheit  steigert,  delirante  Episoden  mit  Hallucinationen  sich  einschieben; 
oder  b)  indem  der  sittliche  Entartungscharakter  der  Manie  sich  immer 
stärker  ausprägt  (s.  degenerative  Manie);  oder  endlich  c)  indem  sich 
dem  manischen  Symptomenbilde  immer  mehr  Züge  von  secundärem  Wahn- 
sinn beimengen.  Zu  den  motorischen  Exaltationsäusserungen  des  Singens, 
Jauchzens,  Schreiens  treten  unarticulirte  Thierlaute  (die  Kranken  bellen 
wie  Hunde,  wiehern  wie  Pferde);  statt  der  früheren  manischen  Geschäftig- 
keit und  Handlungsvirtuosität  stellen  sich  jetzt  triebartige  Zwangsbe- 
wegungen ein :  die  Kranken  trippeln,  tanzen  mit  den  sonderbarsten  Gesten, 
scharren  mit  den  Füssen,  bleiben  plötzlich  mit  gespreizten  Beinen  stehen ; 
dann  galoppiren  sie,  wenn  man  sich  ihnen  nähert,  wiegen  sich  auf  einer  . 
Seite,  als  ob  sie  umfallen  wollten,  sprechen  in  albernen,  absichtlich  ver- 
drehten und  verschränkten  Reden,  oft  unter  einem  aberwitzigen,  ver- 
zwickten Lächeln.  In  der  Folge  bildet  sich  die  verschrobenste  sinnlose 
Ideenassociation  aus. 

Sprachprobe:  Ich  bin  kein  Gaul,  kein  Aufseher;  ich  muss 
in  Strassburg  den  Feldzug  mitmachen;  der  Kaiser  wird  nicht  umsonst 
gesagt  haben,  der  Mond  ist  ihm  hinter  die  Ohren  gegangen  u.  s.  w. 
Ich  heis8e  bald  so,  bald  anders;  ich  bin  der  Sohn  des  Kurfürsten, 
habe  Sonne  und  Mond  im  Munde,  die  Bilder  des  Kaisers  im  Leibe; 
ich  bin  unter  einem  Glase  abgestanden;  der  Kurfürstentisch  hängt  an 
mir;  ich  habe  die  wahre  Natur  durch  den  Mensa -Tisch  verloren, 
welcher  mir  durch  den  Sonnenstich  in  den  Leib  gejagt  wurde;  der 
Kurfürst  Elias  ist  in  meinem  Leib  gestorben;  ich  habe  die  Natur 
eines  Kindes,  den  Mund  eines  Affen  bekommen  u.  s.  w. 

Manchmal  mischen  sich  auch  Züge  von  hypochondrischem  Verfol- 
gungswahnsinn darunter. 

Auch  die  Intervalle  werden  im  Verlauf  psychisch  immer  belasteter. 
Die  Kranken  werden  nie  mehr  reconvalescent.  Sie  kommen  wohl 
wieder  aus  dem  Paroxysmus  hinaus;  aber  sie  bleiben  im  günstigsten 
Falle  ein  geistiges  Phlegma.    So  kehren  sie  heim,  um  oft  beim 


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Weiterirerlauf.  Ausgänge. 


297 


ersten  Anpralle  der  Wirklichkeit  wieder  zu  straucheln.  In  ihrem 
Geschäfte  werden  sie  untüchtiger,  endlich  unfähig;  in  der  Familie 
finden  sie  sich  nicht  mehr  zurecht,  umso  weniger,  als  sie  gemüthlich 
fremd  geworden  sind.  In  der  Anstalt  dämmern  sie  von  einem  Paro- 
xysmus zum  andern  hin,  ohne  Interesse,  ohne  Wunsch,  ohne  Klage, 
höchstens  mechanischen  Ansprüchen  genügend.  —  Andere  wieder, 
freilich  nur  die  selteneren  Fälle,  vermögen  hier  unter  Abhaltung  aller 
Reize  ihr  Intervall  zu  verlängern,  und  so  sich  wieder  bis  zu  einer 
gewissen  geistigen  Leistungshöhe  zu  erholen.  Dagegen  kürzt  sich 
bei  solchen,  welche  aus  der  Uberstandenen  Manie  eine  zunehmende 
geistige  Reizbarkeit  überkommen  haben,  die  kaum  errungene  Ruhe- 
pause oft  jäh  wieder  ab,  und  schlägt  in  einen  neuen  Paroxysmus  um. 

Je  länger  und  öfter  wiederholt,  desto  leichter  setzt  sich  dieser  in 
Scene.  War  Anfangs  noch  ein  entsprechender  Affcct-Chok  nöthig  ge- 
wesen, so  genügt  allmählich  die  leiseste  Contrariirung,  ja  ein  einziges 
unangenehmes  Wort;  endlich  selbst  eine  harmlose  Aenderung  der  Tages- 
ordnung (eine  Festlichkeit,  ein  Besuch,  ein  weiterer  Spaziergang,  ein 
Glas  Uber  den  Durst,  ein  körperliches  Unwohlsein),  um  sofort  wieder 
den  Sturm  zu  entfesseln.  Der  Volksmund  spricht  vom  Eintiuss  des 
„Mondwechsels"  (s.  später).  Manchmal  sind  selbst  nicht  einmal  solche 
leichteste  Reize  mehr  nachzuweisen :  der  Anfall  bricht  nach  kürzerer 
oder  längerer  Ruhepause  aus,  „wie  wenn  der  Wind  ihn  anbliese",  und 
endet  so  auch  „als  ob  man  einen  Schleier  wegzöge".  Bemerkenswerth 
ist,  da&s  hin  und  wieder  ein  manischer  Paroxysmus  in  der  remittirenden 
Form  auftreten ,  und  sich  aus  einer  Serie  von  2  —  3  tägigen  Einzelan- 
fällen mit  zwischenläufigen  Ruhepausen  zusammensetzen  kann. 

Dagegen  vermag  in  gewissen  Fällen  das  Intervall  sich  auch  auf 
Jahre  und  selbst  auf  viele  Jahre  auszudehnen,  so  dass  man  an  eine 
relative  Heilung  denken  möchte.  Aber  das  Damoklesschwert 
bleibt  auch  nach  Umfluss  eines  Decenniunis  noch  über  einem  solchen 
Periodicus  aufgehängt,  und  erweist  thatsächlich  jetzt  noch  seine  Gegen- 
wart. Doch  sind  auch  wirkliche  und  dauernde  Genesungen  verbürgt 
(Kirn),  und  zwar  sind  es  namentlich  die  kürzeren  manisch  hef- 
tigem Paroxysmen,  welche  diese  seltene  bessere  Prognose  abgeben. 

Jedoch  selten  genug!  Man  sei  deshalb  übervorsichtig  mit  der 
Prognose!  So  sah  ich  in  einem  Falle  erst  die  2  —  3  Wochen  dauern- 
den periodischen  Anfalle  schwinden ;  nun  aber  trat  an  Stelle  des  bis 
dahin  immer  ruhigen  Intervalls  erst  zornige  Gereiztheit,  und  dann  ein 
zunehmender  Einfallswahnsinn  mit  perversen  Drängen,  welcher  nach  und 
nach  in  dauernden  apathischen  Blödsinn  Uberging.  —  Einmal  sah  ich  Ge- 
nesang nach  Typhus  erfolgen,  und  zwar  fiel  die  Lysis  beider  Zustände 
genau  zusammen.  —  Sehr  interessant  ist  auch  der  von  mir  beobachtete 
Verlauf  einer  mehrjährig  typischen  periodischen  Manie  (mit  Moral  Insanity 
gemischt)  durch  eine  periodische  Melancholie  hindurch  in 
dauernde  Genesung. 


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2!>8 


Die  periodischen  Melancholieen. 


Die  periodische  Manie  kann  sieb,  wenn  ungebeilt,  auf  Jahre 
und  Jahrzehnte  oder  auf  das  ganze  Leben  erstrecken.  Oft  werden 
—  unter  günstigen  Aussenverbältnissen  —  mit  den  höhern  Jahreu 
die  Anfälle  seltener,  und  verlaufen  in  flachern  Hügeln;  aber  nicht 
immer.  Nicht  wenige  Kranke  bleiben  in  einem  letzten  Paroxysmal 
als  chronische  Maniaci  dauernd  hängen. 

Körperlicherseits  sind  sämmtliche  Begleitsymptome,  wie  sie  bei 
der  Manie  zur  Sprache  kamen,  auch  hier  aufzuführen.  Namentlich  stimmt, 
wie  oben  schon  erwähnt,  das  Verhalten  des  Körpergewichts  ganz  zu  den 
bei  der  Manie  vorkommenden  Befunden.  Der  Beginn  des  Paroxysmus 
wird  sehr  häufig  durch  starke  Kopfcongestionen  mit  Schläfrigkeit  und 
eigentümlich  steifem  Blick  gekennzeichnet.  Bei  den  kurzen  Paroxysmen 
gibt  nicht  selten  der  Eintritt  der  Menses  die  Auslösung  ab.  Der  Kopf 
ist  auf  der  Höhe  der  Krankheit  oft  roth,  gedunsen  und  heiss,  später 
blass  und  gedunsen;  die  Pupille  enge,  der  Blick  während  des  Paroxys- 
mus manchmal  schielend.  Constant  scheint  bei  den  heftigen  manischen 
Paroxysmen  die  erhöhte  Ausscheidung  von  Uraten  zu  sein,  welche  durch 
Reizung  des  Blasenhalses  manchmal  die  gesteigerten  sexuellen  Reize 
(Onanie)  bedingen. 

b)  Die  periodischen  Melancholieen  entbehren  der  z.  Th.  scharf 
geschnittenen  klinischen  Signatur,  welche  die  Manieen  kennzeichnet, 
und  nicht  selten  schon  beim  ersten  Anfall  eine  Wahrscheinlichkeits- 
diagnose stellen  lässt.  Die  allgemeinen  nosologischen  Charaktere 
sind  dieselben  wie  bei  den  Manieen:  Ueberwiegend  häufig  erbliche 
Anlage,  rascher  Beginn  und  oft  ebenso  brüskes  Aufhören;  die  letztern 
Momente  treten  mit  häufigerer  Wiederholung  der  Anfälle  um  so 
prägnanter  hervor  („oft  von  einem  Tag  zum  andern  gesund  und 
krank").  Die  in  Betracht  kommenden  klinischen  Formen  sind  so- 
wohl die  der  agitirten  als  der  ruhigen  resp.  passiven  Melancholie, 
und  zwar  mit  der  Auszeichnung,  dass  Sinnestäuschungen  in  der  Regel 
fehlen,  ebenso  Wahnvorstellungen:  es  sind  allermeist  ganz  reine 
Depressionszustände  aus  dem  Gefühl  Nichts  leisten  zu  können ;  damit 
verbunden:  allgemeine  Abulie,  Bettsucht,  tagelanges  Seufzen  mit 
Vernachlässigung  aller  persönlichen  Fürsorge.  Manchmal  schliesst 
sich  in  der  Folge  ein  Versündigungswahn  an,  oft  in  Form  schmerz- 
licher Resignation,  seltener  als  active  Melancholie  mit  Angst,  Ten- 
tamen  Suicid.  und  Nahrungsverweigerung.  Körperlicherseits  gehen 
gewöhnlich  anämische  Zustände  mit  Gastricismen  mit  einher,  oder 
(bei  den  agitirten  Formen)  Fluxionen  zum  Kopf  mit  heftiger  Gefäss- 
erregung,  Neuralgieeu.  Nie  fehlt  Abnahme  des  Körpergewichts. 
Die  chronischen,  langgestreckten  Anfälle  verlaufen  oft  nur  unter 
dem  Bilde  a)  einer  beständigen  Angst,  welche  bald  inhaltslos  ist, 


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Klinische  Bilder.  Entwicklung.  Verlauf.  Auggänge. 


299 


bald  in  hypochondrischer  Weise  sich  um  die  Befürchtung  der  Un- 
heilbarkeit  und  qualvollen  Leidens  bewegt;  oder  b)  einer  ebenso 
ausdauernden  Unzufriedenheit  mit  der  Umgebung,  mit  der  Kost» 
Wäsche,  Bedienung,  und  in  täglichen  Nergeleien  in  Folge  des  innern 
Unbehagens.  Moral  Insanity  in  Form  boshafter  Gehässigkeit,  Intri- 
guenlust  u.  s.  w.,  wie  sie  die  protrahirten  manischen  Zustände  aus- 
zeichnet, fehlt  hier.  Das  Bewusstsein  bleibt  lucid,  die  Stimmung 
natürlich  dankbar  und  zartsinnig.  Nur  mit  zunehmender  psychischer 
Schwäche,  welcher  die  Kranken  mit  jedem  neuen  Anfall  langsam 
zusteuern,  schliesst  sich  auch  der  unzertrennliche  Egoismus  auf. 

Nach  Aufhören  des  Anfalls  tritt  entweder  ein  ruhiges  Intervall 
ein,  welches  eine  relativ  viel  normalere  Leistungsfähigkeit,  und  auch 
zeitlich  viel  länger  gestattet,  als  nach  den  entsprechenden  mani- 
schen Zuständen ;  oder:  es  folgt  eine  Periode  gesteigerter  Lebens- 
und Schaffenslust,  welche  sich  aber  ganz  in  der  Breite  einer  natür- 
lichen Reaction  erhält.  Bezüglich  des  zeitlichen  Eintritts  der  Par- 
oxysmen  trifft  nicht  selten  dieselbe  „astronomische"  Regelmässigkeit 
ein,  wie  bei  den  periodischen  Manieen;  viele  Kranke  können  sicher 
rechnen,  dass  sie  mit  Eintritt  eines  bestimmten  Monats,  der  heissen 
Jahreszeit  u.  s.  w.  in  ihre  obligate  Schwermuth  verfallen.  Oft  bleibt 
aber  nur  die  latente  Disposition  zurück,  welche  erst  noch  eines 
äussern  Anstosses  bedarf,  um  activ  zu  werden;  dazu  genügen  dann 
allerdings  oft  leichte  Veranlassungen  (Festlichkeiten,  Besuche).  Der 
Weiterverlauf  ist  auch  hier  im  Wesentlichen  wie  bei  den  manischen 
Typosen.  Ein  Theil  der  Fälle  zieht  sich  durch  das  ganze  Leben 
hin,  selten  aber  in  sich  wiederholender  Gleichheit  der  Anfälle; 
manche  werden  im  Verlauf  milder  und  dabei  protrahirter ,  andere 
dagegen  auch  milder  und  kürzer;  ein  grosser  Theil  aber  erschwert 
sich  in  erheblicher  Weise,  geht  aus  der  einfach  apathischen  Form 
von  anfänglich  monatelangcr  Dauer  in  ein  chronisches  Irresein  auf 
Jahre  hinaus  über,  complicirt  sich  dabei  mit  Hallucinationen,  Zwangs- 
gedanken und  -Impulsen  (Suicidium!),  oder  auch  mit  Zügen  von 
Verfolgungs-  resp.  Grössenwahn,  unter  Fettzunahme  des  Körpers.  — 
Wieder  andere  aber  heilen  auch,  namentlich  juvenile  Formen,  mit 
dem  Eintritt  in  ein  höheres  Lebensjahrzehut. 

Der  schweren  Form  chronischer  (hirnatrophischer)  Melaucholieen, 
welche  oft  periodisch  und  in  wachsender  Verschlimmerung  mit  jeder  neuen 
Anfallsetappe  verläuft,  ist  S.  63  gedacht  worden. 

Die  cireulttren  Geistesstörungen. 
Vorleben  und  Entwicklung  fällt  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  ganz 
mit  den  periodischen  Psychosen  zusammen.    Es  ist  wiederum  die 


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300 


Die  circulären  Psychosen. 


hereditäre  Grundlage,  und  zwar  nicht  immer  nur  in  Form  einfacher 
Prädisposition,  sondern  der  Belastung  mit  greifbaren  „Stigmata  he- 
reditatis",  welche  wie  dort  die  Einleitung  bildet  Hatte  die  perio- 
dische Manie  an  die  im  hereditären  Charakter  vorhandene  Reizbar- 
keit und  Emotivität  angeknüpft,  deren  Excess  in  Form  pathologischer 
Steigerung  sie  in  gewissem  Sinne  bildete:  so  entfaltet  sich  die  cir- 
culäre  Störung  aus  jener  Eigenart  der  Nervenfunctionen  in  der  erb- 
lichen Neurose,  welche  wir  als  „convulsive"  kennen  lernen  werden, 
d.  h.  als  ein  Schwanken  zwischen  gesteigerter  Thätigkeit  und  abnor- 
mer Erschöpfung  —  an  Stelle  einer  continnirlichen  Leistungs-Curve. 
Dieser  Wechsel  zwischen  „Krampf  und  Erschlaffung"  bildet  ohne 
Zweifel  das  physiologische  Vorbild  für  die  spätere  Abwechslung  von 
Exaltation  und  Depression;  nur,  dass  beide  alternirende  Phasen  jetzt 
zu  vollständigen  klinischen  Zustandsformen  —  als  Manie  und  Me- 
lancholie —  entwickelt  sind.  In  dieser  Genese  beginnt  die  circuläre 
Psychose  manchmal  ihren  manifesten  Bestand  schon  zur  Pubertäts- 
zeit, nachdem  die  Kindheit  und  Jugend  dieser  Kranken  schon  auf 
Jahre  zuvor  den  besprochenen  Zickzackgang  in  der  nervösen  Energie 
und  auch  in  der  gemtithlichen  Stimmungslage  eingebalten  hatte. 
Aber  diese  „Invalidität"  nervösen  Functionirens  kann  —  freilich  in 
vergleichsweise  viel  seltenern  Fällen  —  auch  erworben  werden, 
wie  denn  thatsächlich  die  circuläre  Psychose  auch  ohne  erbliche 
Anlage  vorkommt  (so  nach  tiefen  Gemüthsbewegungen  mit  anämi- 
scher oder  kachektischer  Blutbescbaffenheit,  oder  als  vorübergehen- 
des und  selbst  definitives  Stadium  im  Verlauf  eingewurzelter  constitu- 
tioneller  Neuropsychosen  hysterischen  und  epileptischen  Charakters). 

In  diesem  genetischen  Zusammenhang  ist  oben  bereits  der  anfäng- 
lich nicht  •  cyklisch  veranlagten  Melancholieen  gedacht  worden ,  welche 
fUr's  Erste  noch  mit  einer  Manie  abschliessen ,  dann  in  ein  jahrelanges 
Wohlsein  Ubergehen,  später  aber  wieder  ausbrechen  und  jetzt  cyklisch 
weiter  verlaufen.  Dabei  ist  hier  nachzutragen,  dass  der  so  erworbene 
Typus  nicht  immer  dauernd  bleibt,  sondern  manchmal  nach  Ablauf 
mehrerer  Cyklen  noch  in  definitive  Genesung  Ubergehen  kann. 

Interessant  ist  ferner  die  Entwicklung  der  cyklischen  Psychose  aus 
einer  ursprünglich  periodischen  (8.  oben).  Es  gibt  gewisse  Manieen  der 
letzteren  Form,  welche  durch  ein  Gemisch  von  tiefster  Depression  oder 
Exaltation  (oft  im  UmHuss  von  nur  einigen  Stunden  jäh  in  einander  Uber- 
gehend) sich  auszeichnen.  Hier  kann  eine  allmählich  strenge  Sonderung  der 
beiden  gegensätzlichen  Stimmungsphasen  sich  ausbilden,  und  der  Weiter- 
verlauf von  jetzt  an  in  dieser  abwechselnden  (circulären)  Reihenfolge 
verbleiben. 

In  kleinem  Maassstab  —  nicht  als  selbstständige  Krankheitsform 
in  zwei  klinisch  differenten  Typen,  sondern  nur  als  abgeänderter 


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Allgemeine  Symptomatologie.  Entwicklung. 


301 


Verlaufs-Modus  einer  bestehen  bleibenden  Psychose  —  kommt  dieser 
Wechsel  zwischen  „Krampf  und  Erschlaffung"  auch  sonst  vor,  so 
namentlich  in  gewissen  Depressionszustanden.  Man  bezeichnet  den- 
selben hier  als  „alternirenden  Typus",  und  versteht  darunter  die 
Verlaufsart  einer  Melancholie,  wobei  abwechselnd  der  eine  Tag  psy- 
chisch krank,  der  andere  mehr  oder  weniger  geistig  frei  ist.  Das 
kann  durch  lange  Jahre  hindurch  sich  erhalten,  und  ein  Symptom 
eines  unheilbaren  Zustandes  abgeben  (s.  u.) ;  der  alternirende  Typus 
kann  aber  auch  nur  vorübergehend  auftreten,  und  mit  günstigem 
Ausgange  gewisse  Reconvalescenz  -  Stadien  begleiten  (so  besonders 
in  gewissen  senilen  Zuständen). 

Das  circuläre  Irresein  besteht  in  seiner  typischen  Form 
aus  der  Aufeinanderfolge  von: 

1.  einer  Exaltationsphase, 

2.  einer  Depressionsphase,  und 

3.  einer  „freien"  Zwischenzeit,  dem  Intervall.  Unter  den  Exal- 
tations-Zuständen  steht  klinisch  die  Manie  in  erster  Reihe  der  Häufig- 
keit; in  zweiter  der  aufgeregte  Grössen  Wahnsinn.  Die  Depressions- 
phase verläuft  stets  unter  dem  klinischen  Bilde  der  Melancholie. 
Diesen  zwei  Gruppen  steht  eine  dritte  gegenüber,  in  welcher  das 
eine  Stadium  durch  einen  Zustand  von  aufgeregtem  Stupor,  das 
andere  durch  einen  apathischen  Depressionszustand  repräsentirt  ist 
Das  Intervall  ist  entweder  in  präciser  Ausgestaltung  als  „freie" 
Zwischenzeit  vorhanden,  oder  aber  nur  rudimentär  in  Form  der 
sachte  ausklingenden  vorhergegangenen  Krankheitsphase  (Melancholie 
oder  Manie);  nicht  selten  kann  dasselbe,  namentlich  bei  rascher 
Aufeinanderfolge  der  Paroxysmen,  auch  ganz  zum  Ausfall  kommen, 
so  dass  an  das  Ende  des  melancholischen  Stadiums  sich  sofort  das 
manische  anschliesst  und  umgekehrt*).  Die  Oombination  resp.  zeit- 
liche Aufeinanderfolge  der  psychischen  Hauptstadien  ist  eine  ver- 
schiedene: es  kann  die  Melancholie  den  Reigen  beginnen,  oder  aber 
die  Manie.    Ersteres  scheint  das  häutigere  Vorkommnise  zu  sein. 

Nach  meinen  Erfahrungen  bin  ich  geneigt  zu  bestätigen,  dass  bei 
melancholischem  Krankheitsbeginn  sehr  oft  die  Initialmelancholie  —  den 
später  wiederkehrenden  Paroxysmen  gegenüber  —  die  stärkste  Intensität 
zeigt.  Doch  kann  ich  das  jetzt  nachfolgende  Intervall  nicht  auch  für 
das  längste  und  geistig  freieste  erklären.  Es  kann  auch  auf  die  an- 
fängliche Melancholie  sofort  der  manische  Paroxysmus  folgen,  und  als 
Drittes  erst  das  Intervall  (s.  u.). 


•)  Baillarger  unterscheidet  darnach  eine  folie  ä  double  forme  gegenüber 
der  folie  circulaire  s.  str. 


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302 


Die  circulären  Psychosen. 


Bezüglich  der  Stärke  der  Ausbildung  kann  eine  Phase  die  an- 
dere bedeutend  überragen.  So  ist  sehr  oft  die  melancholische  ausser- 
ordentlich stark  ausgeprägt,  und  die  manische  verläuft  in  mildester 
Form.  Anderemale  liegt  der  Hauptaccent  auf  der  manischen,  welche 
bis  in  schwere  Grade  sich  entwickelt,  während  die  melancholische 
sich  nicht  Uber  ein  gewisses  mittleres  Maass  erhebt.  Dann  aber 
können  auch  wieder  beide  Phasen  eine  analoge  Entwicklungshöhe 
aufweisen.  Alle  diese  verschiedenen  Modi  können  selbst  im  Ver- 
laufe desselben  Krankheitsfalles  wechseln. 

Ebenso  verschieden  ist  auch  die  Art  resp.  Schnelligkeit  der 
Entwicklung.  Regel  scheint  zu  sein,  dass  der  häufigen  Wiederkehr 
auch  die  Leichtigkeit  des  Ausbruchs  proportional  geht:  in  spätem 
Paroxysmen  geschieht  der  Umschlag  nicht  selten  in  wenigen  Stunden, 
in  einer  Nacht,  ja  selbst  manchmal  noch  schneller  (in  einigen 
Minuten  in  Fällen  von  circulärem  Stupor).  Der  Anfangsparoxys- 
mus  dagegen,  sei  er  manisch  oder  melancholisch  (namentlich  der 
letztere),  bereitet  sich  aus  längerer  Hand  vor. 

Eine  weitere  Spielart  ist  die,  dass  eine  Zeit  lang  d.  h.  im  Anfange 
der  Erkrankung  die  manische  Phase  brüsk  in  die  depressive  timschlägt, 
und  im  spätem  Verlauf  umgekehrt  die  depressive  brüsk  in  die  exal- 
tirte;  während  jetzt  die  manische  sachte  in  das  Intervall  ausklingt, 
und  dieses  allmählich  sich  zur  Depression  vertieft. 

Klinisches  Symptomenbild. 

a)  Die  virculäre  Manie.    Diese  kann,  wie  die  periodische,  in 
leichterer  und  schwererer  Form  vorkommen;  während  aber  für  jene 
die  schwereren  Formen  die  häutigeren  sind,  so  findet  für  die  circuläre 
das  Umgekehrte  statt.    Die  Mania  mitis  ist  der  charakteristische 
Typus,  und  zwar  ganz  in  der  für  die  periodischen  Formen  besproche- 
nen klinischen  Artung.  Als  neu,  und  dem  circulären  Modus  vielleicht 
ausschliesslich  zugehörig,  tritt  hier  eine  so  milde  Varietät  dieser  in 
„Intellect  und  Willen"  aufgenommenen  Manie  auf,  dass  dieselbe  fast 
als  Mania  mitissima  bezeichnet  werden  dürfte.  Die  Kranken  dieser 
Kategorie  zeigen  eine  Erhöhung  ihrer  normalen  Persönlichkeit  nur 
um  ein  minimales  Register:  sie  sind  belebter,  unterhaltender  und 
unternehmender,  liebenswürdiger  im  Wesen,  heiterer  in  der  Stimmung. 
Sie  fühlen  sich  wohl,  wie  seit  lange  nicht  mehr,  sehen  frischer  und 
jugendlicher,  unternehmender  aus,  und  kennen  kein  grösseres  An- 
liegen, als  ihre  „Gesundheit"  Jedermann  gegenüber  zu  rühmen. 
Ihre  geistigen  Leistungen  erhalten  das  Relief  weittragender  für  die 
Menschheit  bedeutungsvoller  Thaten;  ihr  Umgang  adelt,  oder  aber 
lässt  sie  nur  „geistig  bedeutende"  Menschen  um  sich  ausfinden. 


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Die  circuläre  Manie.  Klinische  Typen. 


303 


Manche  entwickeln  eine  ausgiebige  und  wohllautende  Singstimme. 
Alle  schlummernden  Talente,  namentlich  bei  weiblichen  Patienten, 
treten  auf;  eine  besonders  beliebte  BethUtigung  ist  ein  unerschöpf- 
liches Anfertigen  von  Blumen  und  allerlei  Nippsachen,  oft  in  den 
Phantasie vol Uten  und  originellsten  Erfindungen.  Auch  in  die  Haare 
werden  Blumen  geflochten,  für  Augenlider  und  Wangen  allerlei  kos- 
metische Färbungen  verwendet;  die  Kleider  in  selbst  erfundenen, 
recht  auffälligen  Moden  aufgebauscht.  Bei  Männern  tritt  grosse  Lust 
nach  sinnlichen  und  zerstreuenden  Genüssen  (Rauchen,  Billardspielen) 
hervor.  Die  kreuz  und  quer  geschriebenen  Briefe  sind  endlos  durch 
die  überströmende  Fülle  des  Details,  nicht  selten  ohne  stylistische 
Interpunction.  Andere  Patienten  reisen  ohne  Unterlass,  und  blühen 
auf  unter  den  Reisestrapazen.  Bei  Manchen  gewinnt  die  beginnende 
Erregung  bald  einen  ausgesprochen  erotischen  Charakter:  der  ältere 
Hagestolz  stellt  sich  auf  FreiersfUsse ,  die  climacterische  Frau  putzt 
sich  und  kokettirt  ohne  Rücksicht  auf  Anstand  und  Würde.  Aller- 
meist tritt  aus  diesen  Formen,  wenn  auch  noch  in  milder  Prägung, 
der  bekannte  Charakterzug  hervor,  welcher  in  der  weitern  Entwick- 
lung gleichmässig  die  periodischen  und  so  auch  die  circulären  Zu- 
stände begleitet:  ein  leiser  sittlicher  Defect.  Behagen  an  der  Ver- 
legenheit Anderer,  Lust  zu  mäkeln  und  zu  kritisiren,  der  Umgebung 
etwas  anzuhängen,  überlegenes  Selbstgefühl  mit  einem  schranken- 
losen Cultus  des  Ich,  im  Umgang  gelegentlich  auch  einmal  eine 
Noth-  oder  Verlegenheitslüge  —  das  sind  Pinselstriche,  welche  auch 
in  dieses  graziöse  Maniebild  sich  einschwärzen ,  freilich  oft  sehr 
verdeckt,  weil  die  Kranken  sich  zu  beherrschen  und  im  Nothfall 
fein  zu  „raisonnircn"  wissen.  Sehr  viele  dieser  circulären  Fälle, 
welche  nicht  zu  höhern  Stadien  sich  entwickeln,  betreten  nie  die 
Schwelle  eines  Asyls:  sie  spielen  sich  Jahre,  ja  selbst  das  ganze 
Leben  lang,  in  der  Stille  des  Familienlebens  ab,  oder  bleiben  in 
der  Laufbahn  des  einsamen  Gelehrten  oder  Künstlers,  welcher  perio- 
disch zwischen  Phasen  von  productiver  Schaffenslust  und  misan- 
throper, weltschmerzlicher  Abulie  bin-  und  herschwankt,  und  nicht 
selten  dadurch,  trotz  grosser  Begabtheit,  eflfectlos  zerrinnt.  Steigern 
sich  die  Symptome,  so  kommt  bis  ins  Einzelne  das  unter  der  perio- 
dischen Manie  geschilderte  Bild  der  Mania  mitis  zur  Entfaltung,  auf 
dessen  Schilderung  hier  verwiesen  werden  kann. 

Die  diagnostische  Unterscheidung  zwischen  einfacher  and  circulärer 
Mania  mitis  stützt  sich  vorwiegend  auf  dieses  begleitende  Moment  der 
reizbaren  Moral  Insanity.  Dazu  kommt  noch  die  ungleiche  Vertheilung 
der  manischen  Erregung  zwischen  Intellect-  und  Willenssphäre:  in  den 


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304 


Die  circulären  Psychosen. 


circulären  (wie  auch  in  den  periodischen  Formen)  überwiegt  in  der  Regel 
das  Delirium  der  Acte  Uber  das  der  Vorstellungen. 

Die  Stimmung  ist  beweglich  und  wandelbar,  vorherrschend  guter 
Laune  (doch  fehlen  auch  Momente  nicht,  in  welchen  die  Kranken 
auf  Stunden  förmlich  zusammenbrechen,  „weil  sie  wirklich  so  tief 
unglücklich  seien");  oft  spielt  ein  neckischer  Muthwille  durch,  stets 
aber  eine  grosse  Empfindlichkeit  und  Verletzlichkeit  mit  Neigung 
zu  gereizten  Ausbrüchen. 

Selten  bleibt  es  auf  dieser  Stufe.  Die  Aufregung  nimmt  in  der 
Hegel  bald  zu.  Eine  muthwillige  Heiterkeit  und  profuse  Geschwätzig- 
keit stellt  sich  ein  und  damit  zugleich  ein  unstäteres  Wesen,  ein 
wechselnderes  Begehren,  eine  grössere  Reizbarkeit.  Der  Kranke 
fuhrt  jetzt  das  grosse  Wort,  wird  leicht  ungeduldig,  hat  täglich  neue 
Wünsche  und  Bedürfnisse,  lebt  leichtfertig  in  den  Tag  hinein,  ge- 
räth  beim  leisesten  Anlasse  in  Zornausbrüche  und  Balgereien.  Dies 
das  eine  klinische  Bild. 

Das  andere  stellt  ganz  analog  der  schwereren  Form  der  perio- 
dischen Tobsucht  eine  allgemeine  hochgradige  Manie  dar,  mit  enor- 
mem Bewegungsdrang  (planlose  Geschäftigkeit,  Abreiben  der  Wände, 
triebartige  Bewegungen,  Springen,  Turnübungen,  sinnlose  Zerstörun- 
gen u.  s.  w.),  Uberfluthender  Geschwätzigkeit,  Reden  voll  von  Selbst- 
überschätzung und  eiteln  phantastischen  Prahlereien;  dazwischen 
maasslose  Bitterkeit  mit  Drohen  und  Schelten,  brutalem  Fortver- 
langen u.  s.  w.  Auch  hier  treten ,  namentlich  im  Verlauf  späterer 
Paroxysmen,  die  Züge  der  Moral  Insanity  bald  in  erschreckender 
Weise  hinzu,  als:  krankhafte  Bosheit,  frivoler  Cynismus  u.  8.  w.,  wie 
sie  die  sogenannte  „degenerative  Manie"  kennzeichnen  (s.  Moral  Ins.). 

b)  Der  circuläre  Wahnsinn  trägt  expansiven  (religiösen  oder 
politischen)  Charakter,  und  enthält  keine  oder  nur  matte  Verfol- 
gungsideen. 

Die  Einleitung  wird  in  der  Regel  von  einer  manischen  ErregUDg 
gebildet.  Der  Kranke  beginnt  zu  kaufen ,  zu  trinken ,  den  Spaß- 
macher zu  spielen,  mit  seiner  finanziellen  Leistungsfähigkeit  zu  prahlen. 
Bald  verräth  er  aber  seine  „geheime  Mission":  er  ist  heimlich  bei  einem 
fürstlichen  Hause  oder  der  Diplomatie  aecreditirt,  und  hat  wichtige 
politische  Aufgaben.  Orden  werden  vorgezaubert,  welche  sich  der  Kranke 
gekauft  hat  und  zur  Beglaubigung  vorzeigt;  phantastische,  selbsterdichtete 
Romane  über  frühere  Carrieren  und  politisch  wichtige  Dienste  werden 
dabei  aufgetischt,  aber  nicht  an  Jedermann  (wie  es  der  richtige  Maniacus 
oder  Paralytiker  thut),  sondern  nur  an  auserwahlte  Vertrauenspersonen 
als  Ausdruck  persönlicher  Huld  und  Confidenz.  Mit  diesem  fixen  Wahne 
weiden  bald  alle  Tagesereignisse  in  Beziehung  gesetzt,  er  —  der  Kranke 


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Der  circuläre  Wahnsinn.  —  Die  melancholische  Phase.  305 


—  ist  der  eigentliche,  wenn  auch  in  der  Stille  sich  haltende,  Faiseur; 
Documente  mit  Siegeln  und  Emblemen  (natürlich  selbstfabricirte)  bilden 
den  stets  bereit  gehaltenen  Beleg.  Ueberzeugt,  wie  er  von  seinem  Wahne 
ist,  überhört  er  lächelnd  jeden  Einwand;  er  sieht  bald  nur  noch  Gläu- 
bige um  sich.    Bei  der  Zeitungsnachricht  eines  hohen  Todesfalls  legt  er 
sofort  Trauerkleider  an;  bei  gespannten  politischen  Situationen  ver- 
schwindet er  plötzlich  auf  einige  Tage,  und  kommt  dann,  den  Arm  in 
der  Schlinge,  zurück:   er  war  mittlerweile  berufen  einen  mysteriösen 
politischen  Ehrenhandel  im  Duelle  auszufechten ;  daher  die  Armwunde. 
Und  dabei  zeigt  er  eine  alte  Narbe  auf,  oder  ein  frisches  Panaritium! 
Merkwürdig  ist  das  Doppelbewusstsein  in  vielen  dieser  Krankheitsphasen. 
Während  der  Kranke  in  den  erlogensten  Phantasieen  mit  dem  Aufgebot 
seiner  raisonnirenden  Dialektik  sich  ergeht,  kann  er  zu  einer  andern 
Stande  in  seiner  Berufsarbeit  leben,  als  Advocat  seine  Acten  bearbeiten, 
ja  sogar  plaidiren !    Bezüglich  des  Krankheitsbewusstseins  habe  ich  es 
erlebt,  dass  ein  solcher  sehr  intellectueller  Patient,  als  er  zufällig  mit 
seinen  gekauften  Orden  auf  einem  Spaziergang  einem  Vorgesetzten  be- 
gegnete ,  vor  der  Begrüssung  rasch  seinen  per  nefas  „  besternten "  Rock- 
umschlag  zuknöpfte,  und  erst  als  er  wieder  allein  sich  fühlte,  seiner' 
Decorationsfreude  offenen  Ausdruck  gab.    Grosse,  selbst  verschwende- 
rische, Ausgaben,  Uniformirungen  nach  dem  Schnitte  der  erträumten 
Rangstellung  etc.  bilden  nach  aussen  die  Kundgebungen  des  Wahnes;  doch 
weiss  der  Kranke  auch  mit  diesen  Demonstrationen  nach  Bedarf  Maass 
zu  halten.    So  sehr  er  sich  aber  auch,  wo  es  gilt,  zu  beherrschen  weiss, 
um  so  unbeschränkter  macht  sich  gegen  Untergebene,  und  namentlich 
gegen  die  eigene  Familie,  eine  hochfahrende  Härte  und  Heftigkeit  gel- 
tend, welche  nicht  selten  rücksichtslos  roh  und  selbst  gemein  wird. 

So  hält  sich  der  Zustand  Wochen  oder  auch  Monate  lang,  und 
klingt  wie  die  Form  a)  entweder  langsam  oder  manchmal  brüsk  in 
die  negative  Phase  ab. 

Diese  letztere  kann,  wie  Eingangs  angedeutet,  «)  die  Melan- 
cholie, oder  aber  ß)  das  Intervall  mit  erst  nachfolgendem  Depressions- 
stadium sein.  Folgt  sofort  die  Melancholie  nach,  so  hat  diese  nicht 
selten  bereits  Wochen  zuvor  ihren  Schatten  vorausgeworfen,  indem 
der  damals  noch  manische  Kranke  plötzlich  ohne  Motiv  ins  Weinen 
ausbrach,  und  stundenlang  Uber  sein  „Unglück"  wehklagte. 

a)  Die  melancholische  Phase  stellt  in  ihrer  typischen  Ge- 
staltung das  Bild  der  gewöhnlichen  Melancholie  dar,  und  zwar  in 
einer  so  scbulgerechten  reinen  Form,  wie  sie  isolirt  kaum  vorkommt. 
Die  passive  Form  ist  wohl  die  häufigere.  Die  Kranken  ziehen  sich 
aus  der  Gesellschaft  zurück,  werden  verzagt  und  wortkarg,  schüch- 
tern im  Benehmen;  es  ist  ihnen  Alles  recht,  wie  es  geht  und  ist; 
die  geistigen  Beschäftigungen  geschehen  nur  noch  mechanisch,  ohne 
tiefern  Ernst ;  über  das  ganze  Wesen  legt  sich  eine  gewisse  geistige 
Müdigkeit,  ein  energieloser,  schwächlicher,  unentschlossener  Grund- 

Schttle,  Q«Ut«Bkn!ikheiUm.   3.  Aufl.  20 


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806 


Die  circularen  Psychosen. 


zag.  Andere  werden  selbst  ganz  unregsam,  statuenartig;  sie  ant- 
worten kaum,  seufzen  und  weinen  viel,  müssen  zu  Allem  angebalten 
werden,  leisten  manchmal  gegen  jede  Ansprache  blinden  Widerstand. 
Kräftige  Singstimmen  in  der  Erregungszeit  bringen  jetzt  nur  heisere 
dünne  Fisteltöne  heraus.  Viele  verweigern  die  Nahrung,  oder  neh- 
men dieselbe  nur  unter  Nöthigung.  Andere  suchen  das  Bett  auf,  und 
sind  wochenlang  nicht  zum  Aufstehen  zu  bewegen.  Wieder  Andere 
sind  byperscnsibel  und  leicht  verletzlich,  so  dass  sie  aus  jedem 
Zuspruch  Thränen  ziehen.  In  ihren  Klagen  steht  das  unendlich 
schmerzliche  Gefühl  der  Willenlosigkeit  obenan;  sie  sind  zu  nichts 
mehr  nütze,  sie  sehen  nur,  wie  die  Andern  zu  arbeiten  und  zu 
wirken  vermögen;  für  sich  sind  sie  ohne  Kraft  und  Willen. 

Dies  trifft  namentlich  für  die  kleinen  taglichen  Sorgen  und  Wirrnisse, 
„für  die  Nadelstiche  des  Alltagslebens"  zu ;  Uber  diese  wissen  die  Kranken 
oft  nicht  hinwegzukommen,  während  sie  merkwürdigerweise  für  grössere 
Fragen  und  Entschliessungen  vorübergehend  sich  noch  aufzuraffen  ver- 
mögen. 

Im  Kopfe  ist  es  leer  und  öde,  die  Gedanken  gehen  nicht  mehr; 
die  Kranken  fühlen  sich  unermesslich  schwach  und  geistig  elend. 
Nur  der  Schmerz  über  dieses  Elend  erfüllt  sie  und  um  so  drücken- 
der, als  sie  in  eine  hoffnungslose  Zukunft  schauen  müssen,  welche 
für  sie  keinen  Ausweg  mehr  hat,  oft  gar  „durch  ihre  eigene  Schuld". 
Andere  wieder  erfassen  ihren  Schmerz  materieller;  sie  sehen  sich 
in  selbstverschuldeter  Armuth  und  finanziellem  Ruin;  vor  einigen 
Tagen  noch  mit  Ausgaben  von  Tausenden  leichten  Herzens  spielend, 
zählen  sie  jetzt  die  Kartoffeln  zu  den  Mahlzeiten. 

Sehr  oft  begleitet  eine  Menge  nervöser  Sensationen  die  schmerzliche 
Verstimmung,  namentlich  Neuralgieen  und  ue urasthenische  Allgemein- 
gefühle  (Kopfdruck,  furchtbare  Müdigkeit,  Palpitationen).  Dabei  werden 
dieselben  nicht  einfach  nur  als  lästig,  soudern  in  der  denkbar  quälendsten 
Form,  „unnatürlich  peinlich",  und  sogleich  mit  den  übertriebensten  Be- 
fürchtungen empfunden. 

Die  activen  Formen  bewegen  sich  in  der  bekannten  ruhelosen 
motorischen  Entäusserung  auf  Grundlage  aller  erdenklichen  Selbst- 
vorwürfe.  Oft  schelten  sich  die  Kranken  in  ihrem  gesunkenen  Selbst- 
gefühle als  „Missgeburten"  und  „Mondkälber",  als  „Versehen  der 
Natur".  Sie  kauen  sich  die  Finger  ab,  zerkratzen  und  peinigen  sich. 
Viele  schleichen  gebückt  einher,  und  wimmern  mit  Fistelstimme. 
Eine  reiche  Scala  kliuischer  Bilder  wird  mit  den  Einzeltypen  aus- 
gefüllt. Besonders,  und  dies  namentlich  gegen  die  manischen  Phasen 
hin,  fehlen  auch  ganz  leichte  Depressionszustände  nicht,  in  wel- 
chen die  Kranken  nur  Uberempfindsam,  krittelig  und  nergelnd  sind, 


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Die  „circulare  Melancholie".   Das  Intervall. 


307 


bald  in  schmiegsamer  Hilfsbedürftigkeit  und  unerschöpflichem  Klage- 
reichthum, bald  aber  auch  in  einer  Verbitterung  gegen  sich  und 
Andere,  welche  der  Geduld  der  Umgebung  schwere  Proben  setzt 
(die  Kost  ist  ihnen  zu  schwer,  die  Luft  zu  dicht,  der  Lärm  im  Hause 
zu  gross,  die  Behandlung  nicht  freundlich  genug,  und  dabei  die 
Kosten  zu  theuer  u.  8.  w.). 

Neben  diesen  allgemeinen  Verwandtschaftszügen  bewahren  diese  cir- 
culären  Melancholieen  einige  auszeichnende  symptomatologische  Eigen- 
heiten gegenüber  den  gewöhnlichen  typischen:  1.  es  kommen  fast  nie  wirk- 
liche Hallucinationen  vor,  sondern  höchstens  Pseudohallucinationen,  und 
auch  diese  nur  vorübergehend ;  2.  es  finden  sich  sehr  häufig  Wahnsinus- 
züge (Symbolisirungen,  Verfolgungsideen  mit  romanhaften  Conceptionen 
wie  im  hysterischen  Irresein)  beigemischt;  ebenso  3.  Züge  von  Moral  In- 
aanity  (degenerative  Melancholie):  das  innere  Wehegefühl  reflectirt  sich 
in  ausgesuchten  Kränkungen  und  Anklagen  der  Umgebung,  in  demon- 
strativen Selbstmorddrohungen,  gelegentlichen  Wuthattaken  u.  s.  w. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  nicht  selten  ein  melancholischer  Par- 
oxysmus  durch  einen  plötzlichen  erschütternden  Gemüthseindruck 
(Nachricht  vom  Tode  Angehöriger)  abgeschnitten  wird. 

ß)  Das  Intervall  kann  symptomatologisch  dreierlei  Formen 
bieten:  1.  es  setzt  die  voraufgehende  Phase  fort  in  nachklingender 
melancholischer  oder  manischer  Färbung,  aber  mit  zuuehmender 
Lucidität  und  Annäherung  an  den  Normalzustand;  oder  2.  es  stellt 
ohne  ausgesprochene  Färbung  ein  geistiges  Erschlaffungsstadium  dar. 
Ein  leiser  Sopor  legt  sich  über  die  Persönlichkeit  des  Kranken, 
welche  jetzt  „wie  abgedämpft,  weil  weniger  individualisirt"  erscheint; 
das  ganze  psychische  Wesen  ist  träge,  unendlich  müde,  ohne  Ini- 
tiative, die  Stimmung  muth-  und  theilnahmslos,  mit  einem  Zug  leiser 
Verstimmtheit  oder  selbst  Depression;  die  Haltung  schüchtern  und 
verzagt,  das  Handeln  mühsam,  ohne  Nachdruck,  und  rasch  sich  er- 
schöpfend. Schliesst  sich  das  Intervall  in  dieser  Form  direct  an 
eine  vorausgegangene  Manie  an,  so  erhält  es  nicht  selten  durch  be- 
gleitende Reue-  und  Schamgefühle  Uber  die  vorausgegangenen  und 
(bis  ins  Detail  erinnerlichen)  manischen  Licenzen  einen  ausgeprägten 
melancholischen  Zug  (s.  o.),  so  dass  man  oft  nicht  weiss,  ob  der 
Kranke  sich  in  einem  Intervall,  oder  in  der  melancholischen  Phase 
befindet.  Im  Verlauf  von  Monaten  arbeitet  sich  immer  mehr  die 
frühere  Persönlichkeit  wieder  heraus,  ohne  aber  je  die  einstige  Kraft 
und  Frische  zu  erreichen.  Die  Stimmung  namentlich  bleibt  in  einer 
Art  Dämmerung  —  aus  dem  Schatten  der  letzten  Vergangenheit 
und  dem  Dunkel  der  ungewissen  Zukunft.  Diesem  Typus  steht  ein 
dritter  gegenüber,  in  welchem  mit  der  ruhigen  Phase  ein  vollständig 

20* 


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008 


Die  circul&ren  Psychosen. 


neuer  Mensch  beginnt,  ohne  anknüpfende  oder  nachwirkende  Erinne- 
rung an  die  verflossene  Exaltation.  Dafür  ist  diese  mit  der  nächst- 
folgenden Erregungsperiode  um  so  näher  verbunden,  so  zwar,  dass 
in  dieser  erst  das  Gedächtniss  an  die  frühere,  und  jetzt  oft  bis  in 
die  kleinsten  Details  erwacht  —  wiederum  einer  Art  Doppelbewusst- 
sein,  wie  in  gewissen  alternirenden  Melancholieen. 

Ist  die  Krankheit  durch  Ausprägung  dieser  Einzelphasen  defi- 
nitiv gebildet,  so  besteht  der  Weiterve r lauf  in  deren  cyklischer 
Wiederholung.  Es  ist  oben  schon  bemerkt  worden,  dass  bezüglich 
der  Aufeinanderfolge  der  Componenten  eine  sehr  reichhaltige  Ver- 
schiedenheit obwaltet;  ebenso  bezüglich  der  Dauer  und  des  Eintritts 
der  Einzelanfälle  (speciell  Uber  letztern  Punkt  s.  u.).  Das  Endschicksal 
ist  folgendes.  Entweder  1.  es  bleibt  der  verhängnissvolle  Cyklus 
Uber  die  ganze  Dauer  oder  wenigstens  den  grössten  Theil  des  Lebens 
bestehen. 

Dabei  muss  der  Modification  Erwähnung  geschehen,  dass  die  anfäng- 
lich scharf  alternirenden  manischen  und  melancholischen  Episoden  im 
Verlaufe  manchmal  zu  weniger  präcisen  und  reinen  sich  umgestalten, 
und  in  den  mannigfaltigsten  Schattirungen  in  einander  übergehen  können. 
So  kann  an  Stelle  des  tief  depressiven  Typus  ein  Zustand  von  mässiger 
Abspannung  und  Ermüdung  treten,  oft  mit  richtiger  Kritik  über  die  ge- 
schehenen Ausschreitungen  in  der  Aufregungszeit;  dann  kann  wieder  — 
fast  als  Ironie  darauf  —  eine  Exaltation  in  Form  von  ungeordneter  Leb- 
haftigkeit und  Possenreisserei  folgen,  wobei  der  Kranke  (echt  verrückt) 
sich  Mühe  gibt  allerlei  barocke  Verkehrtheiten  nach  aussen  treten  zn 
lassen,  und  dasselbe  verzwickte  Spiel  auch  in  der  folgenden  torpiden 
Phase  wiederholt,  indem  er  sich  an-  und  auskleiden  und  selbst  füttern 
lässt,  und  statt  zu  sprechen  allerlei  symbolische  Gesten  eines  Stummen 
nachahmt.  Der  Weiterverlauf  schliesst  in  diesem  Falle  mit  einem  Zu- 
stand allgemeiner  Verwirrung  (Vorsichhinsprechen  und  •Lachen,  barocke 
Kopf-  und  Körperhaltungen,  Zwangsbewegungen)  und  endlichem  Unter- 
gang in  einem  stillen  apathischen  Blödsinn  ab. 

Oder  2.  es  tritt  bei  günstigen  Verhältnissen  (vor  Allem  in 
der  Ruhe  des  Anstaltslebens)  ein  immer  mehr  sich  protrahirendes 
Intervall  ein,  mit  dem  Charakter  einer  langsam  zunehmenden  geistigen 
Schwäche  und  bleibender  Geneigtheit  zur  Recidive;  oder  3.  es 
schliesst  sich  ein  dauernder  manischer  oder  melancholischer  Zustand 
an,  mit  allmählichem  Versinken  in  Demenz.  Der  Maniacus  bildet  sich 
zur  chronischen  degenerativeu  Form  aus  (s.  u.  „Mor.  Ins."),  der 
expansiv  Wahnsinnige  zum  phantastischen  Reformator  und  typischen 
Anstalts- Querulanten;  beide  Zustände  können  aber  auch  in  eine 
chronische  Melancholie  auslaufen,  in  welcher  der  Kranke  Jahre  lang 
im  Bett  liegt,  auf  jede  Ansprache  weint,  allen  Verkehr  nach  aussen 


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Das  Intervall.  „Degenerative  Melancholie".  —  Der  circuläre  Stupor.  309 

ängstlich  abbricht,  in  eine  Art  hyperästhetischer  Stumpfheit  sich 
einbannt,  und  nur  in  einem  selbstgeschaffenen  egoistischen  Tages- 
programm, worin  oft  die  Fürsorge  für  Waschen  und  Reinlichkeit 
fehlt,  sieb  schliesslich  beruhigt  und  abfindet.  Dabei  können  alle 
Herzensbeziehungen,  namentlich  aber  die  intellectuellen  Functionen, 
Urtheile,  sich  lange  in  einer  gewissen  Ungetrübtheit  erhalten,  welche 
mit  der  Abulie  (in  Allem,  was  Uber  die  enge  Sphäre  des  Tages- 
pensums hinausliegt)  im  schroffsten  Widerspruche  steht.  Der  Krauke 
fühlt  dies  selbst;  aber  er  hat  nur  vermehrte  Thränen  für  jede  Auf- 
munterung. Man  könnte  diesen  Ausgang  als  eine  besondere  Unter- 
art von  degenerativer  Melancholie  (S.  306)  bezeichnen.  —  Es 
kann  endlich  auch  4.  eine  wirkliche  Genesung  eintreten. 

Ein  zwar  sehr  seltener  Ausgang,  welcher  aber  um  60  bemerkend 
werther  ist,  als  er  selbst  bei  einer  klassischen  Folie  circulaire  (mit  ein- 
leitender speeifischer  Moral-Insanity-Manie)  ein  oder  das  andere  Mal  glü- 
cken kann,  sogar  auf  schwer  hereditärer  Grundlage. 

c)  Der  circuläre  Stupor.  Hierunter  reihe  ich  eine  Gruppe 
cyklischer  Psychosen  ein,  deren  Paroxysmen  aus  der  Verbindung 
resp.  Aufeinanderfolge  einer  aufgeregten  und  einer  athenischen  Stupor- 
Phase  bestehen,  mit  nachfolgendem  Intervall.  Den  vorbesprochenen 
Formen  gegenüber  zeichnet  sich  diese  Gruppe  durch  die  Kürze 
sowohl  der  Anfälle  als  des  Zwischenstadiums  aus  (einige  Tage  bis  ' 
1 — 2  Wochen),  sowie  durch  den  ausserordentlich  jähen  Umschlag 
der  einen  Phase  in  die  andere  (manchmal  während  des  Sprechens, 
des  Gehens).  Die  aufgeregte  Stupor-Pbase  verläuft  entweder  unter 
dem  Bilde  einer  stupiden  Manie  mit  tiefster  Bewusstseinsstörung 
und  plötzlichen  Raptus  —  1.  Unterform;  oder  als  aufgeregter  hallu- 
cinatorischer  Stupor  mit  grosser  Angst,  Verkennen  der  Personen, 
und  heftigen  motorischen  Reactioncn  von  Gewaltthätigkeit  — 
2.  Unterform. 

Die  1.  Unter  form  entsteht  in  der  Regel  auf  stark  belasteter 
Grundlage.  Der  Ausbruch  erfolgt  unter  heftigem  Congestiv-Zustand 
zum  Kopfe,  localen  Schweissen  und  jagenden  Pulsen;  dabei  wird 
der  Kranke  rasch,  oft  wie  mit  Einem  Schlage,  der  Wirklichkeit 
entrückt,  beginnt  zu  schreien,  um  sich  zu  schlagen,  wild  zu  zer- 
stören. Es  ist  das  einleitende  Bild  eines  peracuten  Furors,  welcher 
manche  Aehnlichkeit  mit  dem  epileptischen  hat. 

Die  2.  Unterform  stellt  einen  hallucinatorischen  Dämmer- 
zustand dar,  mit  stupider  Angst,  Illusionen  und  Hallucinationen, 
untermischt  mit  theilweise  richtigen  Wahrnehmungen;  träumerische 
Acte  wechseln  in  jähem  Umschlag,  und  regellos,  mit  lucidern,  moto- 


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310 


Die  circulären  Psychosen. 


rische  Raptus  mit  choreatischen  Bewegungen,  coordinirten  Krämpfen, 
dann  wieder  mit  Singen,  Vociferiren  u.  8.  w.  Manchmal  fehlen 
Sinnestäuschungen,  nnd  der  aufgeregte  Dämmerzustand  spielt  sich 
in  einer  Reihe  somnambuler,  perverser  Acte  ab  (Verstellen  von 
Gegenständen,  Fortwerfen  derselben  durch  das  Fenster),  bei  fast  voll- 
ständigem Perceptionsabschluss. 

In  beiden  Fällen  bricht  nach  kurzer  Dauer,  in  welcher  eigent- 
lich keine  Zunahme  der  (bereits  in  der  Acme  einsetzenden)  Auf- 
regung stattfindet,  der  stupurös-manische  Zustand  ab.  Unter  den 
Erscheinungen  der  Vasoparese  (kühle  Hände,  Kleinwerden  des 
Pulses)  und  starkem  Speicheln  wird  der  Kranke  stupid  apathisch, 
verharrt  in  Zwangsstellungen,  lässt  die  Excremente  unter  sich  gehen, 
widerstrebt  gegen  jeden  Eingriff,  antwortet  bei  eindringlicherem  Zu- 
setzen mit  Thränen.  Darauf  folgt,  oft  scharf  abgeschnitten,  das 
eigentliche  Intervall,  welches  in  verschiedenen  Graden  der  Lucidi- 
tät  sich  bewegt,  immer  aber  einen  gewissen  Zug  von  leisem  Sopor 
bewahrt,  ohne  je  die  Helligkeit  des  Bewusstseins,  wie  bei  den  andern 
circulären  Formen,  zu  erreichen.  Die  Erinnerung  ist  eine  stufen- 
weise, stets  defecte,  oft  fehlende. 

Der  Weiterverlauf  ist  ein  wechselvoller,  nach  meinen  Beob- 
achtungen stets  zur  Chronicität  resp.  Unheilbarkeit  sich  neigender. 
Dabei  werden  die  Paroxysmen  nicht  selten  um  die  apathische 
(katatone)  Phase  verkürzt,  so  dass  der  erregte  Stupor  direct  in  das 
Intervall  Ubergeht.  Dieses  gestaltet  sich  zu  einem  immer  tiefern 
psychischen  Schwächezustand  mit  Betäubtheit  und  gemttthlicber 
Indolenz. 

Letztere  wird  nicht  selten  gegen  den  Paroxysmus  hin  jeweils  durch 
Züge  von  Reizbarkeit  oder  aufgeregte  Moral  Insanity  vorübergehend  be- 
lebt: die  apathischen  Kranken  werden  plötzlich  unsocial,  schlagen  Andern 
das  Essen  oder  Arbeitsgegenstande  aus  der  Hand,  lachen  blöde,  erzählen 
Zoten,  entblössen  sich  u.  s.  w. 

Die  typischen  Anfälle  erhalten  sich  dabei  oft  mit  einer  fast 
umthematischen  Genauigkeit  (s.  u.) ;  anderemale  aber  verwischen  sie 
sich,  und  gehen  in  unregelmässig  periodische  Erregungszustände 
eines  mittlerweile  stationär  gewordenen  Blödsinns  über. 

Zeitliche  Gruppiruny  der  Paroxysmen  in  den  periodischen 

und  circulären  Psychosen. 

Es  ist  längst  den  Beobachtern  aufgefallen,  dass  der  Eintritt  der 
einzelnen  Phasen  in  den  beiden  Gruppen  nicht  nur  im  Allgemeinen 
ein  cyklischer  ist,  sondern  dass  derselbe  sich  oft  in  einer  Art  fast 


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Zeitliche  Gruppirang  der  Paroxysmen  (Einzelphaaen).  3 1 1 


astronomischer  Regelnlässigkeit  einstellt,  und  dass  die  Dauer  der 
Einzelphasen  die  einmal  angenommene  Zeitspanne  oft  mit  mathe- 
matischer Genauigkeit  einhält.  Man  hat  die  Ursachen  dieser  interes- 
santen Erscheinung  in  siderischen  Einflüssen  gesucht,  und  namentlich 
die  Mondsphasen  dafUr  verantwortlich  gemacht.  So  beachtenswerth 
diese,  namentlich  von  Koster  neuerdings  wieder  urgirte  Hypo- 
these auch  ist,  so  dürfen  doch  auch  die  terrestrischen  Erscheinungen 
nicht  unterschätzt  werden.  Ohne  Zweifel  spielen  nämlich  auch  sub- 
jective  Momente  aus  dem  Individual-Leben,  aus  der  Umgebung  und 
den  Aussenverhältnissen  des  Kranken  eine  gewisse  und  oft  grosse 
ätiologische  Rolle.  Mehr  als  uns  lieb,  wiederholt  sich  die  Erfahrung, 
dass  eine  genesene  entlassene  Maniaca  mit  dem  Eintritt  in  eine  ihr 
nicht  zusagende  Situation  draussen  sofort  recidiv  wird,  und  so,  nach 
mehrfacher  Wiederholung,  endlich  spontan  periodisch  wird.  In 
gleicher  Weise  bringt  bei  gebesserten  Kranken,  welche  „Meer  und 
Stürme  längst  hinter  sich  lassend"  eines  jahrelangen  Intervalls  sich 
freuten,  irgend  eine  Ausbiegung  vom  jahrelang  eingelebten  Tages- 
lauf (plötzlicher  fremder  Besuch,  Betheiligung  an  einem  Feste)  den 
anerwarteten  Rückfall  mit.  Der  manchmal  plötzlichen  Sistirung  der 
melancholischen  Phase  durch  eine  zufällige  Gemüthserschütterung 
ist  oben  schon  gedacht  worden.  So  gibt  es  irdische  Schädlichkeiten 
genug,  welche  erfahrungsgemäss  ausreichen,  ohne  dass  wir  nöthig 
hätten  nach  den  „Sternen"  zu  greifen.  Gleichwohl  bleibt  daneben 
eine  Reihe  beglaubigter  Thatsachen  von  einem  regelmässig 
periodischen  Einsetzen  des  Einzelanfalls  „ganz  aus  der  Gesund- 
heit heraus"  feststehen,  und  ebenso  von  einer  oft  Uberraschend 
gleichen  Zeitdauer  der  Einzelphasen  und  des  Intervalls.  Die  Ur- 
sachen dieser  regelmässigen  pathologischen  „Wellenbewegungen", 
deren  physiologischen  Typus  bekanntlich  der  Menstruationsvorgang 
darstellt,  sind  uns  bis  jetzt  dunkel,  sowie  nicht  minder  die  Kennt- 
niss  des  auslösenden  Modus  selbst.  Verschiedene  Thatsachen  scheinen 
dafür  zu  sprechen,  dass  bald  vasomotorische  (Fluxionen),  bald  nervös- 
reflectorische  Einflüsse  (periodische  Neuralgieen)  als  Zwischenglieder 
im  Spiele  sind.  Ohne  hier  in  Hypothesen  über  die  ev.  letzte  Ursache 
einzutreten,  soll  im  Nachstehenden  als  Beitrag  zu  den  klinischen 
Thatsachen,  soweit  sie  die  aufgeworfene  Frage  berühren,  eine 
Reihe  von  bei  uns  gemachten  Beobachtungen  Uber  Eintritt,  Zeit- 
dauer und  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Phasen  in  den  ver- 
schiedenen Circulärformen  angefügt  werden. 


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312 


Die  circularen  Psychosen. 


Ad  periodische  Psychosen. 

NB.  Der  graphischen  Uebersichtlichkcit  wegen  werden  in  den  folgenden  Tabellen 
die  manischen  resp.  stupuros  aufgeregten  Cyklen  mit  Cursiv-Züfern ,  die  melancholi- 
schen re«p.  stupurös  attonischen  mit  fetten  Ziffern ,  die  Intervalle  mit  halbfetten  Ziffern 
in  den  eingeschriebenen  Zahlen,  welche  Tage-  resp.  Wochen-  re«p.  Jahreszeitraunie 
bezeichnen,  ausgedruckt. 

1.  Q — r.  1.  Aufnahme.  November.   P.  4  M. 

J.  2'/a  Jahre. 
2.  Aufnahme.  Juli.  (Ursache:  Verlobung.)  P.  4  M. 

J.  8  M. 

Ist  cir-  r  i  Jahr  später  Verheirathung.    Jetzt  einige  Zeit  Depression, 
culär  ! 

gewor-  |     3.  Aufnahme.  Juli.  (Vermögensverluste.)  P.  6  M.  mit  nach- 
den    l  folgender  mehrmonatl.  Depression;  J.  4  Jahre. 

4.  Aufnahme.  Mai.  (Geschäftsei' Weiterung.)  P.  6. 

Während  des  Intervalls  abermals  Recidiv  mit  Aufnahme 
in  einer  auswärtigen  Anstalt. 


Perio- 
dische < 
Manie. 


5.  Aufnahme.  Juni.  (Keine  specielle  Ursache.)  P.  8. 

J.  IV2  Jahre. 

6.  Aufnahme.  Octbr.  (Keine  specielle  Ursache.)  P.  mehrere 
Monate,  dann  Abgleich  in  eine  ruhigere  phlegraat.  Phase, 
welche  bis  jetzt  andauert  (seit  4  Jahren). 

2.  W— r.  1.  Aufnahme.  Decbr.  (Keine  Ursache.) 

1\  8  Tage. 
J.  5  Jahre. 

2.  Aufnahme.  Juli.     P.  8  Tage.  .  . 

J.  4  Wochen.    (  le,chte  Form> 
August.  P.  8  Tage. 

J.  4'/i  Wochen. 

jetzt  depressiver  Zustand  mit  Uebergang  in  Reconvalescenz. 

Nach  3  Jahren: 

3.  Aufnahme.  Juni.    P.  4  Tage.        Ii-,,  r, 

J.  4>,  Wochen.}  Ie,ch,e  Form' 
P.  17  Tage  (schwere  Form). 

Nach  3  Monaten  Pause: 

4.  Aufnahme.  Octbr.  P.  4  Tage. 

J.  5  Wochen. 
P.  8  Tage, 
seit  14  Jahren  frei. 

3.  K— r.  1.  Aufnahme.  Novbr.  (Ursache:  verunglückte  Speculation.) 

P.  14  Tage  (schwere  Form). 

1  Jahr  später: 

2.  Aufnahme.  Novbr.  P.  16  Tage.       |  . 

I  7  iw  l  8chwere  Form  m,t 
P.  16  Tage'.      |  Frössen«  -  Ideen. 


leichte  Form, 


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Zeitliche  Gnippirung  der  Paroxysmen. 


313 


3.  K— r.  10  Jahre  spater: 

3.  Aufnahme.  März.  (Ursache:  Gemüthsbewegungen.) 

P.  6  Wochen. 

Im  Intervall  nach  Hause,  hier  rascher  Umschlag  in  Manie. 
Mai.  —  In  der  Anstalt  bald  wieder  ruhig. 

Juli  —  31.  August.  P.  6  Wochen  (schwere  Form,  gleich 
wie  die  seitherige). 

Im  September  l  Woche  scharf  alternirender  Typus;  bald 
über  den  andern  Tag,  bald  zwischen  Morgen  und  Nach- 
mittag, bald  zwischen  Tag  und  Nacht. 

Octbr.  u.  1  P.  6*  Wochen.  (Mania  gravis,  brüsker  Um- 

Novmbr.  J  J.  4  Wochen.  schlag.) 

Decmbr.      P.  3  Wochen. 

J.  4  Wochen. 

Im  Januar  und  Februar  je  3  Wochen  heftigsten  Heim- 
drängens; (manisches  Äquivalent);  nachher  Ruhe  und 
Intervall. 

Nach  ti  Monaten: 

4.  Aufnahme.  Novbr.  (Ursache:  Process.)   P.  4  Wochen. 

Nach  l'/i  Jahren: 

5.  Aufnahme.  Febr.  (Keine  Ursache.)  Nun  folgen  sich  die 

Paroxysmen  und  Intervalle: 

8.  4.  ||  4.  6.  ||  4.  3.  ||  3.  4.  J  0. 
jetzt  apathisches  Intervall  mit  Entlassung. 

6.  Aufnahme.  Febr.  (Keine  Ursache.) 

3%  6.  f|  4. 1.  8  3%  3'/->.  ||  4.  4. 
3%  1.  ||  2.  2.  ||  2.  2.  || 

subcut.  Morph.-lnject.; 

die  folgenden  Paroxysmen  werden  durch  erhöhte  metho- 
dische Morphiumgaben  coupirt. 
Im  indolenten  apathischen  Stadium  entlassen. 

Nach  mehreren  Jahren: 

7.  Aufnahme.  April.  4  wöch entliche  Paroxysmen  resp. 

Intervalle  (ohne  Morphium). 

Nach  kurzer  Entlassung: 

S.Aufnahme.  Juli.  Einige  Zeit  hält  sich  noch  der  Typus, 
dann  verwischt  er  sich  unter  Chloral-  und  später 
Hyoscyaminbehandlung,  und  wird  ganz  unregelmässig. 
Besteht  als  solcher  noch  fort. 

Es  kommen  hier  ausserordentlich  zahlreiche  und  eigenartige  Verlaufs- 
varietäten vor.  So  kenne  ich  einen  Fall  (nicht  hereditär),  bei  welchem 
jahrelange  Satyriasis  der  im  30.  Lebensjahre  beginnenden  Erkrankung 
vorausging.  Jetzt  initiale  Melancholie,  erst  mit  Aspermatismus  und  zu- 
nehmender Aphrodisie;  dann  manischer  Paroxy^raus  mit Trinkexcessen, 


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314  Die  circularen  Psychosen. 

brutaler  Gewalttätigkeit,  paradoxen  Behauptungen,  grosser  Reizbarkeit 
und  Unzufriedenheit.  Diese  Aufregungszustände  wiederholten  sich  jahre- 
lang erst  unregelmässig,  nachher  in  regelmässigen,  jeweils  8 — 10  Tage 
dauernden  und  allmonatlich  sich  einstellenden  Perioden.  Darauf  —  nach 
im  Ganzen  16  jähriger  Krankheitsdauer —  Stillstand  und  relatives  Wohl- 
befinden mit  nur  noch  jeden  Monat  eintretenden  2  —  3  tägigen  melan- 
cholischen Anfällen;  auch  diese  verloren  sich  nach  und  nach,  und 
der  Kranke  blieb  von  da  an  anfallsfrei. 


Ad  circttläro  Formen. 

Manisch-melancholische  Gruppe. 

1.  H  —  n.  Das  in  diesem  Fall  besonders  hervorragende  melan- 
cholische Stadium  dauert: 

1866  vom  11.  März     —    1.  Juni 

1867  =     19.  Juli       —  16.  Octbr. 
1S68    =     10.  April     —    8.  Juli 

1869  =  30.  August  —  26.  Novbr. 

1870  =  10.  August  —  14.  Novbr. 

1871  =  15.  Mai      —    5.  August 

1872  =  14.  Febr.    —  25.  April 

1873  =  12.  August  —  1.  Decbr. 
1S74  =      8.  August  —    2.  Decbr. 

1875  =      7.  Septbr.  —    l.  Decbr. 

1876  =  18.  Mai  —  15.  Juli 
1S77     =     11.  Febr.    —    S.  Mai 

1878  =    22.  Septbr.  —  25.  Jan.  1879 

1879  -     16.  Juni      —  Ende  Novbr., 

dann  Pause; 
1SS3    =     16.  Juni      —    9.  Septbr. 
1884    =    31.  Juli      —  Ende  Novbr. 

2.  G— ck.  Prävalirende  m  a  n  i  s  c  h  e  Paroxysmen,  oft  bis  zur  Mania 
gravis;  dieselben  dauerten: 

1579  vom    1.  Septbr.  —  11.  Novbr. 

1580  :      3.  April     —  29.  Mai 
ß    j  :     25.  April     —  15.  Mai 

lbbl\  =    29.  Octbr.  —  26.  Novbr. 

1S82    =     12.  Octbr.  —  31.  Decbr. 

ic    J   »    22.  Januar  —  12.  April 

23.  Septbr.  —  19.  Novbr. 

3.  L — r.    Dieselbe  manisc  u  -  prävalirende  Form: 

1879  vom    3.  Octbr.  —    7.  Febr.  1880 

1SS1     *    27.  Januar  —  13.  April 

18S2    =      9.  März  —  14.  Juni 

9.  Januar  —    3.  März 

1 1.  Octbr.  —  21.  Novbr. 


1SS3 


{: 


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Zeitliche  Gruppirung  der  Paroxysmen  (Einzelphasen). 


315 


circu- 
läreAn-^ 
fälle 


4.  L— k.   Erst  circuläre,  dann  periodisch-manische  Erkrankung. 

1.  Aufnahme  mit  16  Jahren.  (Ursache:  ausser  erblicher  An- 
lage sehr  starke  Onanie.)  Beginnt  im  Februar  1852  mit 

melanchol.  P.  2!/2  Wochen;  dann 

J.  2  Wochen ;  dann 
manischer  M.  2  Wochen ; 
jetzt  Intervall  2  Monate;  dann 

2.  2.  2.  (jeweils  Wochen). 
Jetzt  1  V2  Jahre  Pause  ohne  vollständige  geistige  Gesund- 
heit.   Onanie  hatte  in  gleicher  Weise  fortgedauert. 

2.  Aufnahme.  Januar  1854  beginnt  mit 
2  Wochen.  16  Tage.    4  W.  18  T.  8  T.  einige  Tage. 

8  T.    Jetzt  Melancholie,  in  welcher  Entlassung. 

3.  Aufnahme.   November  1856  mehrmonatliche  sehr 
schwere  (degenerative)  Manie; 

dann  Intervall:  abwechselnd  zwischen  manischen  und 
melancholischen  Phasen.  Dipsomanie. 

4.  Aufnahme.   Mai  1865  mehrmonatliche  schwere  Manie 
(bis  September); 

dann  lucides  Intervall. 

Von  jetzt  an  nur  periodisch-manische  Anfälle,  jeweils  durch 
starke  Trinkexcease  eingeleitet;  die  stärksten  derselben  entfallen  alljähr- 
lich auf  die  Monate 

April  —  Mai  —  Juni. 
Zerfall  in  Blödsinn. 


Circulär-stupuröse  Gruppe. 


5.  St— r.    P.  19  Tage.    Atton.  Stupor  mehrere  T«se. 
J.  4  Wochen. 

circu-  P.  77  Tage.    Atton.  Stupor  mehrere  Tage. 

läreAn-  J.  mehrere  Wochen, 

fälle  P.  3  Tage.     Atton.  Stupor  12  Tage. 

Nachher: 
P.  4  Tage.    J.  4  Wochen. 

Von  jetzt  periodische  manische  Anfälle  ohne  Stupor;  P.  dauert 
jeweils  an  3  Wochen. 

6.  X — g.  Circulärer  Stupor,  welcher  Anfangs  getheilt  ist  in  die 
ball  negatorische  und  attonische  Form;  später  aber  vorwiegend  einen  Zu- 
stand von  Stupidität  mit  Verkennen  der  Personen  und  impulsiven  Raptus 
darstellt.    Die  Dauer  der  Stuporanfälle  ist: 

1  879.  14.  Juni  —  5.  Juli;  20.  Juli  —  13.  August;  19.  December  — 
S.  Februar  1  SSO.  Dazwischen  ruhige  Intervalle  mit  beschränk- 
tem kindischem  Wesen. 

1880.  26.  Februar  —  17.  März;  14.April  —  9.  Juli;  12.  Juli  — 
28.  Juli;  8.  August  —  26.  October. 


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316 


Die  circulären  (alteruirenden)  Psychosen. 


immer 
mit  ein- 


18S1.  6.  Januar  —  18.  März;  10.  Mai  —  S.  August;  3.  October  — 
10.  October;  2.  November  —  23.  November. 

1882.  11.  März  —  4.  April;  18.  April  —  15.  Mai;  28.  Mai  — 
19.  Juni;  7.  Juli  —  24.  Juli;  8.  August  —  28.  August; 
12.  September  —  5.  October;  28.  October  —  7.  November; 
21.  November  —  6.  December;  26.  December  —  0.  Januar 
1883. 

1S83.  21.  Januar  —  15.  Februar;  4.  März  —  5.  April;  IC.  April  — 
24.  Juli;  3.  August  —  21.  August;  ?  September  —  7.  No- 
vember (unsicher);  26.  November  —  S.April  18S4. 

1884.    15.  April  —  1.  Mai;  15.  Mai  —  8.  Juni;  21.  Juli  — . 

7.  H — ch.  Circulärer  Stupor.  Schwere  erbliche  Belastung.  Be- 
ginn mit  30  Jahren.  P.  Anfangs  zusammengesetzt  aus  a)  einer  aufge- 
regten Stuporphase,  ß)  einem  depressiv-stupiden  Nachstadium,  einem 
freiem  Intervall.    Im  Verlauf  fällt  Phase  p  aus. 

Dauer  der  «-Stuporphasen: 

11.  14.  11.  (sämmtl.  Tage);  jetzt  3  Wochen  Intervall, 
10.  12.        (        do.      );  jetzt  wieder  3  Wochen  In- 
tervall, 

MM  se     16'  jetzt  wieder  3  Wochen  In- 

^"        nl  tervall, 

nur  «-Stupor  und  Intervall:  12.  11.  10.  16.  //.  13.  17.  10.  17.  11. 
ö  Wochen.  17.  12.  12.  17.  10.  10.  4.  19.  11.  13.  7.  10.  11.  17.  7.  15. 
10.  14.  12.  13.  12.  10.  14.  10.  Von  jetzt  4  Wochen  lang  über- 
den  andern  Tag  alternirender  Typus.  14.  4.  Jetzt  wieder 
5  Tage  täglich  alternirender  Typus;  sodann  eine  Phase  von  je  2  bessern 
resp.  2  schlimmem  Tagen  nacheinander.  Nun  IG  ( höchstgradiger  Stupor, 
in  welchem  künstliche  Ernährung  nöthig;  starke  Salivation;  Secessus  inscii); 
14  (recht  befriedigende  Lucidität);  13.    In  Privatpflege  entlassen. 

Die  alteruirenden  Psychosen. 

Unter  dieser  Bezeichnung  werden  Psychopathieen  zusammen- 
gefasst,  deren  wesentlicher  Charakter  in  einem  zwischen  einzelnen 
bessern  und  schlimmem  Tagen  regelmässig  abwechselnden  Verlaufe- 
typus besteht.  Man  könnte  auch  sagen:  der  Verlauf  bewegt  sich 
typisch  zwischen  Exacerbation  der  Grundkrankheit  und  einem  Inter- 
vall, beide  in  Form  von  kürzester  Dauer,  gewöhnlich  1  Tag,  oder 
den  Bruchtheil  eines  Tags,  eventuell  auch  2—  3  Tage.  Eine  Gruppe 
der  soeben  betrachteten  cyklischen  Stuporformen  hat  hierfür  schon 
das  klinische  Beispiel  geliefert;  aber  auch  in  der  manisch-melancho- 
lischen Gruppe  sind  Fälle  bekannt,  welche  in  3tägige  Paroxysmen 
sich  gliedern,  wovon  1  Tag  auf  die  manische  Unruhe,  1  auf  die 
melancholische  Depression  und  1  weiterer  auf  das  Intervall  ent- 
fallen.   Dieses  Verhältniss  kann  im  Weiterverlauf  wiederum  sich 


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Symptomatologie. 


317 


ändern,  so  dass  die  Einzelphasen  jetzt  1  bis  2  Wochen  währen,  bald 
mit  Einhaltung,  bald  mit  Ueberspringen  des  Intervalls;  es  kann  aber 
ebenso  gnt  der  anfängliche  Typus  mit  den  kurzen,  auf  1  oder  höch- 
stens 2  Tage  eingeschränkten  Phasen,  beide  schroff  in  einander  über- 
gehend, im  spätem  Decursus  der  Krankheit  wiederkehren. 

Der  specifisch  alternirende  Typus  d.  h.  der  regelmässige  Wechsel 
zwischen  1  freien  und  1  gestörten  Tage  kommt  einer  sehr  grossen 
Anzahl  von  psychischen  Krankheitszuständen  zu.  So  tritt  der  be- 
zeichnete Verlaufsmodus  häufig  im  hysterischen  und  epileptischen, 
namentlich  aber  im  paralytischen  Irresein  auf,  in  letzterem  jedoch 
stets  nur  anfallsweise  und  vorübergehend,  wenn  auch  oftmals  zähe 
sich  wiederholend.  In  der  hysterischen  Psychose,  speciell  in  den 
sog.  Dämmerzuständen,  ist  die  Kranke  am  gestörten  Tag  unruhig, 
in  blinder  Entäusserung  wechselnder  psychomotorischer  Einfälle;  am 
folgenden  Tage  still,  apathisch,  träumerisch.  Jn  den  alternirenden 
Stadien  der  Paralyse,  welche  namentlich  in  der  Anfangszeit  der 
Krankheit  manchmal  vorkommen,  schwärmt  der  Kranke  am  ersten  . 
Tag  von  seinem  gehobenen  Wohlgefühl,  von  der  Vortrefflichkeit 
seiner  Umgebung  „fUr  deren  Ruhm  er  nicht  genug  Hände  zum  Be- 
schreiben hat",  und  am  nächsten  verwünscht  er  mürrisch,  was  er 
Tags  zuvor  in  den  Himmel  erhoben  hatte. 

Besonders  häufig  tritt  der  alternirende  Typus  (episodisch)  in  der 
hypochondrischen  Abart  der  Paralyse  auf:  am  heitern  Tage  von  be- 
wundernswerthem  Gedächtniss,  Uberströmend  von  Reden  mit  höchst  ge- 
steigertem Selbstgefühle  und  in  athemloser  Bewegung  —  sitzt  der  Kranke 
am  trüben  Tage  mit  geschlossenen  Augen  da,  will  nicht  essen,  ist 
widerstrebend,  fühlt  sich  von  derselben  Hallucination  verfolgt,  hat  keine 
Zunge,  keinen  Magen,  kurz  kein  Organ,  nach  welchem  man  fragt;  ist 
er  selbst  nicht  mehr,  ist  längst  gestorben  u.  s.  w.  Am  heitern  Tage 
ist  der  Puls  100—120  mit  etwas  erhöhter  Hauttemperatur;  am  trüben 
SO— 90,  sind  die  Hände  kalt  und  bläulich. 

Aber  auch  in  der  Reconvalescenz  mancher  Melancholieen,  nament- 
lich auf  seniler  Grundlage,  kommt  vorübergehend  ein  alternirender 
Typus  vor:  1  Tag  ist  der  Kranke  heiter  im  Vorgefühl  der  Genesung 
und  nach  herrlichem  Schlafe;  den  folgenden  Tag  verzagt,  ob  der 
Zukunft  hängend,  und  oft  schlaflos  trotz  kräftiger  Narcotica.  Mit 
dem  Herannahen  der  Genesung  klingt  der  Typus  ab,  und  weicht  einem 
continuirlich  fortschreitenden  Wohlbefinden. 

Dauernd,  und  zwar  oft  auf  Jahre  hinaus,  gestaltet  sich  der 
beschriebene  Verlaufsmodus  vorzugsweise  in  gewissen  chronischen 
Melancholieen.  Derselbe  bietet  hier  zweifellos  ein  Symptom  der  Tiefe 
des  organischen  Hirnleidens;  er  ist  in  der  Regel  unangreifbar  für 


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.'318 


Die  circulären  (alternirenden)  Psychosen. 


die  antitypischen  Arzneimittel,  höchstens,  dass  er  manchmal  vorüber- 
gehend  zurücktritt  (merkwürdig  oft  bei  jeder  neu  angewendeten 
differenten  Arzneicor  oder  durch  Besuche),  um  bald  in  alter  Stärke 
wiederzukehren.  Die  Melancholieen ,  in  welchen  ein  alternirender 
Typus  (und  hier  wohl  als  degeneratives  Zeichen)  sich  ausprägt,  sind 
climacterische  oder  senile,  und  zwar,  soweit  meine  Beobachtungen 
reichen,  auf  Grundlage  von  sexuellen  Excessen  (Onanie)  und  Uterin- 
leiden. In  einem  Fall  war  die  alternirende  Melancholie  die  Vor- 
läuferin einer  spätem  hypochondrischen  Paralyse.  Manchmal  zeigt 
der  Beginn  der  Krankheit  den  besprochenen  Typus  noch  nicht;  es 
sind  gewöhnliche  agitirte  Melancholieen  mit  ausgeprägten  (organischen) 
Angstzufällen,  und  erst  allmählich  fixirt  sich  der  Wechsel  zwischen 
freien  und  schlimmen  Tagen;  Anfangs  nur  vorübergehend,  in  der 
Folge  aber  wiederkehrend,  und  endlich  mit  bleibender  Dauer.  Der 
Typus  selbst  kann  ein  kalendarisch-regelmässiger  sein,  so  dass  sich 
im  Anfang  der  Woche  genau  die  luciden  und  die  gestörten  Tage 
.  ausrechnen  lassen ;  er  kann  aber  auch  in  der  Folge  sich  modificiren, 
manchmal  in  2  aufeinanderfolgenden  schlimmen  und  ebenso  vielen 
nachfolgenden  guten  sich  abspielen;  dann  auch  wieder  in  1  •/«  schlimmen 
und  {h  guten;  anderemale  in  regelmässig  sehr  schlimmen  Morgen 
mit  jeweils  freien  Nachmittagen;  oder  endlich  je  l  Tag  mit  früh 
beginnender  langer  Depression  und  1  darauf  folgenden  mit  später 
einsetzender  und  nur  kurz  dauernder  Verstimmung.  Bei  sehr  pro- 
trahirtem  Verlaufe  kann  der  Typus  zeitweise  verschwinden  und 
wiederkehren;  es  kann  auch  ein  lucides  Intervall  ohne  jede  Spur 
eines  Wechsels  (Typus)  auf  Wochen  hinaus  sich  einfügen,  und  der 
verhängnissvolle  Turnus  nachher  Wiederbeginnen. 

Beide  Phasen,  die  freie  und  die  kranke,  gleichen  sich  manch- 
mal bis  aufs  Kleinste;  sowie  sie  auch  manchmal  genau  zu  derselben 
Tagesstunde  beginnen.  Andere  Male  ist  nur  beim  ersten  Eintritt  des 
Typus  der  „gute  Tag"  ein  exaltirt  heiterer,  und  der  „böse"  ein  me- 
lancholisch verzweifelter;  später  aber  unterscheidet  sich  der  gute 
vom  bösen  nur  durch  ein  Minus  von  Melancholie  (welche  jetzt  über 
beide  Tage  sich  ausdehnt),  um  noch  später  durch  einen  apathischen 
neben  einem  melancholischen  ersetzt  zu  werden.  Starke  psychische 
Ablenkungen  können  nicht  selten  den  Eintritt  des  Paroxysraus  um 
eine  oder  mehrere  Stunden  verschieben.  Aber  auch  ohne  solche 
kann  der  unruhige  Tag  einmal  später  gegen  Morgen,  ein  anderes 
Mal  schon  um  Mitternacht  beginnen.  Regel  scheint  übrigens  zu  sein, 
dass  der  schlimme  Tag  zeitlich  viel  früher  einsetzt  (oft  um  mehrere 
Stunden)  als  der  gute.    Auch  Arzneimittel  (Chloral,  Hyoscyamin) 


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Körperliche  Begleitsymptome  der  cyklischen  Psychosen. 


319 


vermögen  den  Typus  zu  beeinflussen,  aber  stets  nur  vorübergehend, 
und  stets  mit  gesteigerter  Nachfolge  des  zurückgedrängten  Anfalls- 
tages.  Dio  Kranken  selbst  bewahren  ein  höchst  genaues  Gedächt- 
niss  an  den  schlimmen  Tag ;  sie  beben  vor  demselben  in  Erwartung, 
und  bitten  nicht  selten  flehentlich  um  Schutz  und  Hilfe.   Der  paro- 
xysmale Tag  besteht  in  der  typischen  Wiederkehr  desselben  Angst- 
actes,  welchen  manchmal  somatisch  die  Symptome  einer  höchstge- 
steigerten Vagus-Neurose  begleiten:  frequenter  kleiner  Puls,  höchst- 
gradiger  Lufthunger,  Glottisparese  mit  heisern  Schreien;  dazu  kommen 
triebartige  Reflexacte  bald  in  Form  von  Sich -Schlagen,  Haar- Aus- 
raufen, Teut.  Suicidii,  oder  in  Gewaltthätigkeiten  gegen  Andere,  in 
Schimpfworten  und  selbst  Blasphemieen  —  sämmtlich  Befreiungs- 
dränge  aus  der  ungeheuren  innern  Beklemmung.    In  andern  Fällen 
verläuft  der  schlimme  Tag  farbloser,  und  besteht  nur  in  monotonem 
Jammern,  Selbstvorwürfen  und  nicht  selten  automatischen  Geberden 
(in-die-Hände-Klatschen,  sich-Schlagen,  Grimassiren,  Hin-  und  Her- 
rennen u.  s.  w.).  Am  ruhigen  Tage  sind  die  Kranken  gedrückt,  ver- 
zagt, kleinmüthig,  aber  ruhig.   Manchmal  kann  die  Stimmung  aber 
auch  in  eine  heitere  Exaltation  umschlagen. 

In  einem  unserer  Fälle  war  langjährige  und  auch  in  der  Krankheit 
fortgesetzte  Onanie  die  anamnestisch  und  auch  von  der  Kranken  selbst 
zugegebene  Ursache  der  alternirenden  Melancholie  gewesen;  bei  der 
Section  fand  sieb  cystöse  Degeneration  beider  Ovarien  (neben  Pacchy- 
meningitis  externa,  Craniosklerose  und  massiger  Hirnatrophio  bei  einer 
"5jährigen  Frau). 

Körperliche  Begleitsymptome. 

Als  solche  kommen  sensible,  vasomotorische  und  ganz  besonders  tro- 
phische  Störuugen  in  Betracht.  Die  sensibeln  betreffen  die  melancholische 
Phase,  und  bestehen  in  den  verschiedensten  Sensibilitätsanomalieen :  Kopf- 
druck, perverse  Kopfgefühle  (namentlich  eine  peinliche  Oede  und  Leer- 
heit des  Schädelinnern),  sodann  Neuralgieen  und  Parästhesieen  aller  Art, 
theils  allgemein,  theils  mehr  umschrieben.  Nicht  selten  bezeichnen  ty- 
pisch wiederkehrende  Neuralgieen  (der  Intercostalnerven  oder  der  Zähne) 
den  drohenden  Wiedereintritt  des  depressiven  Paroxysmus.  Oft  bildet 
dann  der  ausgedehnteste  und  in  den  grellsten  Farben  gefühlte  neurasthe- 
nische  Symptomencomplex,  gewöhnlich  hypochondrisch  umdeutet,  die  Ein- 
leitung oder  auch  den  Inhalt  der  nachfolgenden  Melancholie.  Nicht  selten 
erwachen  damit  auch  sexuelle  Irritationen  und  reizen  gebieterisch  zur 
Selbstbefriedigung  —  bei  sittenstrengen  Naturen  ein  steter  Selbstvor- 
wurf und  der  Kern  ihrer  subjectiven  Selbsterniedrigung.  Eine  grosse 
Kolle  spielen  bei  manchen  Kranken  die  lästigen  HautgefÜhle,  namentlich 
Staubempfindungen,  wodurch  sie  zu  tagelangem  Waschen  und  Abkratzen 
der  Wände,  Aufscheuern  des  Fussbodens  gedrängt  werden.  Die  vasomo- 
torischen und  circulatorischen  Symptome  halten  keinen  gesetzmässigen 


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320 


Die  circularen  Psychosen. 


d.  h.  für  die  einzelnen  Phasen  charakteristischen  Gang  ein;  im  Allge- 
meinen ist  die  manische  Phase  durch  lebhaftere  Gefässthätigkeit  und 
raschere  Herzaction,  durch  gerötheten  Kopf,  manchmal  auch  durch  ver- 
änderte Innervation  der  Mimik,  durch  sonderbare  Parästhesieen  (als  ob 
Pulverkörner  im  Kopfe  zersprängen,  als  ob  Brust  und  Bauch  leer  und 
nur  mit  der  Haut  überspannt  wären)  ausgezeichnet;  die  melancholische 
dagegen  durch  einen  trägen  und  seltenen  Puls  und  grössere  Geneigtheit 
zu  Kühle  der  Extremitäten.  Doch  kommen  auch  in  Erregungsstadien 
sehr  oft  intercurrente  vasomotorische  Krampfzustände,  Neigung  zu  Ohn- 
mächten mit  Frösteln  und  kaltem  Schweisse  vor,  besonders  nach  Gemtiths- 
bewegungen  (erregbare  vasomotorische  Schwäche).  Die  schwereren  Ma- 
nieformen verlaufen  regelmässig  mit  beschleunigter  Gefässthätigkeit  und 
Congestionen  zum  Kopfe.  In  den  attonischen  Phasen  der  circulären  Stu- 
porformen  entwickelt  sich  der  vasoparalytische  Charakter  oft  bis  zur 
Oedembildung  an  den  Extremitäten  mit  monoerotem  Pulse;  doch  inter- 
curriren  auch  hier  Fluxionen  zum  Kopfe.  —  Höchst  interessant  sind  die 
trophischen  Störungen.  Diese  haben  theils  localen,  theils  allgemeinen 
Charakter,  und  betreffen  in  letzterem  Falle  die  gesammte  Körperernäh- 
rung. Local  treten  sie  in  gewissen,  die  Erregungsphasen  begleitenden 
Hautausschlägen  (namentlich  Prurigo)  zu  Tage,  vereinzelt  auch  in  der 
Beeinflussung  des  Haarwachsthums  und  selbst  der  Haarfärbung:  man  hat 
Grauwerden  der  Kopfhaare  in  der  Melancholie  mit  Rückbildung  zum  brü- 
netten Habitus  und  dichterem  Haarwuchs  in  der  Manie  (u.  zwar  in  re- 
gelmässig wechselnder  Aufeinanderfolge)  beobachtet.  Manchmal  cessiren 
gewohnte  Effluvien,  z.  B.  Eiterungen  mit  dem  Beginn  der  Melancholie, 
und  fliessen  wieder  mit  Eintritt  der  psychischen  Erregungsphase. 

Wichtiger  noch  sind  die  Aenderungen  des  Aussehens  und  des  Kör- 
pergewichts. Die  Kranken  erscheinen  im  manischen  Stadium  , jünger", 
die  Wangen  zeigen  auffallende  Frische,  Gang  und  Haltung  gewinnen  eine 
mit  den  Altersjahren  contrastirende  Elasticität.  Der  ganze  Mensch  ist 
im  vegetativen  Turgor  oft  um  Decennien  hinaufgerückt.  Ebenso  gehen 
auch  alle  Functionen  prompt  von  Statten,  namentlich  ist  der  Schlaf  oft 
von  grösster  Regelraässigkeit;  Appetit  und  Verdauung  sind  vortrefflich. 
Dem  entsprechend  steigt  auch  die  Cnrve  des  Körpergewichts:  innerhalb 
einer  oder  mehreren  Wochen  kann  der  Kranke  um  10  oder  20  und  noch 
mehr  Pfunde  zunehmen.  —  In  der  melancholisch  en  Phase  findet  das 
gegenthcilige  Verhältniss  statt:  es  vollzieht  sich  eine  Gewichtsabnahme 
und  zwar  oft  nicht  weniger  rapide,  als  die  Zunahme  in  der  manischen 
Periode;  steile  Curvenabfälle,  oft  um  10  Pfund  in  einer  Woche,  sind 
wiederum  nicht  selten.  Der  Appetit  ist  jetzt  vermindert,  oder  wird,  wenn 
vorhanden,  aus  Gründen  der  psychischen  Depression  nicht  befriedigt.  Der 
Schlaf  ist  unregelmässig,  unbefriedigend;  oft  ist  es  ein  dämmerndes  Wach- 
bleiben, in  welchem  der  Kranke  sich  peinvoll  zwischen  Sich-selbst- Ver- 
gessen und  aufgezwungener  halber  Lucidität  hindurchkämpft.  Viele  Kranke, 
welche  in  der  Manie  polyphag  waren ,  leiden  jetzt  an  Polydipsie.  Das 
kurz  zuvor  noch  blühende  Gesicht  wird  blass  oder  missfarbig,  welk  und 
alt.  —  Mit  der  neuen  Paroxysmusreihe  wiederholt  sich  das  beschriebene 
trophische  Spiel,  uud  so  fort  durch  Jahre,  bis  endlich  das  protrahirte  In* 
tervall  mit  dem  stationären  oder  sachte  zunehmenden  Schwächezustaud 


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Körperliche  Begleitsymptome.  Körpergewicht. 


321 


eintritt,  woran  sich  das  vegetative  Leben  gewöhnlich  mit  Zunahme  der 
Obesitas,  oft  bis  zu  wahren  Fettmonstren  betheiligt. 

Man  hat  aus  diesem  Befunde,  welcher  namentlich  die  in  längeren 
Phasen  (und  in  der  milderen  Form)  sich  abspielenden  d.  h.  die  eigent- 
lich klassischen  Fälle  der  circulären  Manie  auszeichnet,  auf  eine  „Tro- 
phoneurose"  geschlossen,  welche  den  psychischen  Hirnzustand  begleite, 
und  höchst  wahrscheinlich  einen  nicht  -  vasomotorischen  Ursprung  habe, 
insofern  die  Circulationsverhttltnisse  in  den  beiden  Phasen  nicht  dieselben 
Gegensätze  zeigen.    Diese  Annahme  ist  sehr  wahrscheinlich, 
wenn  auch  die  exacte  Begründung  erst  noch  zu  liefern  ist,  und  zwar 
dorch  sorgfältige  Stoffwechseluntersucbungen  d.  h.  die  vergleichende  Be- 
rechnung aus  Ein-  und  Ausfuhr.    Aber  auch  so  bleibt  es  unbestreitbar, 
dass  die  Zunahme  des  Körpergewichts  nicht  nur  in  einfachem  Verhältniss 
mit  der  eingenommenen  Nahrungsmenge  und  der  täglichen  Ausgabe  (psy- 
chische und  motorische  Aufregungen!)  steht;  zweifellos  müssen  noch  neu- 
rotische Verhältnisse  ausserdem  mitwirken.   Aber  wie  weit?  ist  erst  zu 
prüfen.    Das  eben  erwähnte  Verhalten  ist  übrigens  kein  ausnahmsloses. 
So  gibt  es  nicht  wenige  circuläre  Fälle,  welche  gegentheils  in  der  Manie 
eine  Gewichtsabnahme  zeigen,  und  umgekehrt  in  der  Abspannungsperiode 
eine  Gewichtszunahme.   Vielleicht  mag  hier  die  Ursache  in  der  ungenü- 
genden Nahrung  wälirend  der  manischen  Erregtheit  und  Vielgeschäftigkeit 
gelegen  sein,  und  andererseits  das  erspriessliche  Gedeihen  in  der  mit  der 
nötigen  Ruhe  genossenen  Kost  in  der  Phlcgmazeit.  Aber  die  Gewichts- 
curven,  auch  diejenigen,  welche  in  das  obige  Schema  passen,  sind  nicht 
so  einfach.   Genauer  analysirt,  findet  sich  in  der  Exaltation  der  Curven- 
gipfel  nicht  schlechthin  nur  stetig  ansteigend,  sondern  aufs  Mannigfachste 
zerklüftet,  in  Hebungen  und  Senkungen  eingetheilt.    Ferner  correspon- 
dirt  durchaus  nicht  immer  das  Maximum  der  Erregung  mit  den  höchsten, 
und  die  Acme  der  Depressionen  mit  den  tiefsten  Punkten  des  (Gewichts-) 
Cnrvenverlauf8.    Vieles  hängt  ohne  Zweifel  an  dem  individuellen  Tem- 
perament:  emotive,  in  beständigen  Affectstürmen  explodirende  Naturen 
werden  sich  schwieriger  gegenüber  der  trophisch  fördernden  Neurose  im 
manischen  Paroxysmus  verhalten,  als  temperamentsruhige  und  dabei  in  ir- 
gend einem  Grössenwahn  heiter  schwelgende,  keinen  Widerspruch  em- 
pfindende Oykliker.    Manchmal  bricht  die  Ernährungscurve  auch  schon 
jähe  ab,  während  die  Exaltation  noch  eine  Zeit  lang  fortdauert:  es  sind 
die  vorausgeworfenen  „Reflexe  und  Schatten"  analog  den  melancholischen 
Anwandlungen,  welche  oft  auch  schon  auf  Stunden  hinaus  sich  in  die 
manische  Heiterkeit  einschieben  (s.  o.). 

Die  knrzen  schweren  Manieformen  verlaufen  sämratlich  unter 
Abnahme  des  Körpergewichts,  hierin  Ubereinstimmend  mit  den  analogen 
periodischen  Paroxysmen.  —  In  den  circulären  Stuporformen  mit  kurzen 
Anfällen  und  kurzen  Intervallen  richtet  sich  die  Körpergewichtscurve  an- 
scheinend gar  nicht  nach  dem  Cyklus  der  psychischen  Symptome;  nur 
wenn  der  Stupor,  und  zwar  in  seiner  attonischen  (vasoparetischen)  Modi- 
fication,  länger  dauert,  sinkt  auch  die  Curve  und  verharrt  pari  passu  auf 
ihrem  Depressionsniveau  (verminderte  Nahrungsaufnahme?) 

Schale,  Geisteskrankheiten.   3.  Aufl.  21 


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322  Die  menstrualen  (periodischen)  Psychosen. 

Anhang-.  Die  menstrualen  Psychosen.  Es  gibt  eine  Reihe 
periodischer  Psychosen,  welche  sich  an  die  Menstruationstermine  an- 
schliessen,  bald  an  den  Eintritt  der  Menses  selbst,  bald  an  die  prä- 
menstrnale  resp.  postmenstrnale  Zeit.  Die  auf  das  Prämenstrium 
entfallenden  sind  wahrscheinlich  die  zahlreichsten.  Nach  den  kli- 
nischen Formen  vertheilt,  sind  es  in  der  ersten  Reihe  psychische 
Aufregungszustände,  und  zwar  Manieen  mit  dem  Charakter  des  Furors 
(8.  Sexual-Manieen) ;  nach  dieser  Form  kommen  einfache  Exaltations- 
zustände,  mehr  mit  dem  Charakter  der  Mania  mitis,  und  ausgezeichnet 
besonders  durch  grosse  Reizbarkeit  und  schnippisches  disputirsüch- 
tiges  Wesen,  mit  Neigung  zu  Gewalttätigkeit.  In  zweiter  Linie 
sind  acute  dämonomane  Wahnsinnszustände  zu  nennen,  mit  schreck- 
haften Hallucinationen,  depressiver  Stimmung,  Raptus  zur  Selbstbe- 
schädigung, zwischenläufigen  stupurösen  Phasen,  zeitweiligen  Däm- 
merzuständen. Die  Übrigen  nun  noch  zu  nennenden  psychopathiscben 
Zustandsformen  stehen  in  der  Zahl  erheblich  hinter  den  vorgenannten 
zurück;  es  sind:  1.  acuter  exaltirter  Wahnsinn;  2.  acuter  Verfolgungs- 
wahn mit  Hallucinationen  und  Zwangsgedanken;  3.  acute  Anfälle 
von  Melancholie  mit  heftigen  neuralgischen  Symptomen,  Lebensüber- 
druss,  manchmal  mit  homiciden  Impulsen;  4.  kataleptische  Anfälle 
mit  Stupor;  5.  hysterische  und  epileptische  Zufälle;  6.  Dipsomania 
men8trualis  periodica  (Krafft-Ebing),  und  7.  Rleptomania  men- 
strualis  periodica  (Ellen  Powers). 

Wie  der  Beginn  (im  Verhältniss  zur  Menstruationsphasej  ein 
wechselnder,  so  ist  es  auch  die  Dauer  dieser  Paroxysmen.  Manch- 
mal beginnen  sie  brtlsk  einige  Tage  vor  den  Menses,  resp.  mit  oder 
nach  denselben;  andere  Male  werden  sie  erst  durch  nervöse  Sym- 
ptome, Schlaflosigkeit,  Kopfcongestionen  eingeleitet  Ebenso  ver- 
schieden ist  der  Ausgang.  Bald  hören  sie  scharf  abgeschnitten,  nach 
einigen  Tagen,  auf;  bald  ziehen  sie  sich  an  S— 14  Tage  hinaus. 
Dabei  kann  in  demselben  Krankheitsverlauf  eine  anfänglich  post- 
menstruale  Psychose  zu  einer  menstrualen  oder  prämenstrualen  sich 
umgestalten;  es  kann  ferner  der  Paroxysmus  mit  jeder  Periode  sich 
einstellen,  oder  aber  eine  und  die  andere  Uberspringen,  oder  end- 
lich nur  alle  paar  Monate  einsetzen.  —  Das  Intervall  ist  theils  psy- 
chisch frei,  theils  durch  ausgesprochene  nervöse  Symptome  oder 
leicht  melancholische  Verstimmung  gedrückt.  In  letzterem  Falle 
kann  ein  circuläres  Krankheitsbild  entstehen. 

Darunter  ist  ganz  besonders  interessant  jene  Modification ,  wo  das 
Intervall  in  zwei  scharf  geschnittene  Hälften  getheilt  ist,  von  denen  die 
eine  tief  melancholisch,  die  andere  furorartig- manisch  sich  gestaltet;  die 


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Klinische  Symptomatologie.  —  Einfluss  der  Menstruation  im  Allgemeinen.  323 

genannten  beiden  Phasen  können  dabei  mit  einer  bis  auf  die  resp.  Ein- 
trittstunde (Tag,  Nacht)  regelmässigen  Periodicität  einsetzen. 

Der  Weiterverlauf  und  das  Endscbicksal  dieser  menstrualen 
Psychosen  zeigt  in  gleicher  Weise  die  vielfachsten  Unterschiede. 
Wohl  in  der  grössten  Zahl  der  Fälle  ist  der  Ausgang  ein  günstiger, 
wodurch  sich  diese  Gruppe  wesentlich  von  den  gewöhnlichen  Typosen 
unterscheidet.  Die  Anfälle  kommen  immer  milder  und  dauern  kürzer; 
endlich  bleiben  sie  ganz  weg;  und  zwar  verlaufen  die  einfach  pe- 
riodischen wie  die  circulären  mit  melancholischem  Intervall  meist 
in  derselben  Weise  günstig.  Die  circulären  mit  melancholisch -ma- 
nischem Intervall  schlagen  nicht  selten  erst  einen  Umweg  ein  durch 
einen  quotidianen  oder  alternirenden ,  endlich  ganz  unregelmässigen 
Typus;  dann  kommt  eine  anhaltende  Ruhe-Phase,  anfänglich  noch 
mit  Apathie,  welche  nach  und  nach  in  die  Reconvalescenz  Ubergeht. 
—  Es  kann  aber  auch  eine  anfänglich  periodische  Menstrualtypose 
in  ein  chronisches  protrahirtes  Irresein  Ubergehen,  oder  endlich  in 
ein  definitives  periodisches  resp.  circuläres  der  schweren  Form. 

Die  körperlichen  Begleitsymptome  sind  unbeständig,  wie  es  scheint 
auch  bei  den  prämenstrualen  und  postmenstrualen  Psychosen  verschieden. 
Dort  Uberwiegen  die  activen  Fluxionszustände  zum  Kopfe,  gewöhnlich 
mit  gesteigerter  Pulsfrequenz  und  nicht  selten  mit  leichten  Temperatur- 
steigerungen; Neuralgieen,  Spinalirritation  sind  sehr  häufig;  anderemale 
wird  auch  Hyperidrosis  beobachtet.  Hier  dagegen  stehen  anämische 
Zustände  mit  kleinem,  oft  auch  frequentem  Pulse,  ungleiche  vasomotori- 
sche Blutvertheilungen  (Rash's)  im  Vordergrunde,  wozu  häufig  wiederum 
neuralgische  Beschwerden  treten. 

Bemerkenswerth  ist  das  Verhalten  der  Erinnerung,  welche  in  der 
Regel  nur  eine  ungenaue,  summarische  ist.  Doch  findet  sich  hin  und 
wieder  auch  eino  klare  Rückschau.  In  Fällen  auf  ausgesprochener  neur- 
asthenischer  Grundlage  beobachtet  man  auch  die  kritische  Lösung  des 
Anfalls  durch  einen  tiefen  Schlaf  mit  nachfolgender  totaler  Amnesie  (s. 
transitor.  neurasth.  Psychosen).  — 

Nachsatz.  Zahlreicher  als  diese  „periodischen"  Menstrual- 
Psychosen  sind  die  periodisch  im  Gefolge  der  Menses  auftreten- 
den Verschlimmerungen  bereits  bestehender  Seelenstö- 
rungen. 

In  der  Regel  stellen  sich  sowohl  bei  Melancholieen  als  bei  Manieen 
transitorische  Exacerbationen  des  Krankheitszustandes  ein,  und  zwar 
wieder  prä-  resp.  postmenstrual,  oder  während  des  Monatsfiusses  selbst. 
Manchmal  sind  es  besonders  die  „letzten  Tropfen",  welche  einen  beson- 
ders peinigenden,  von  den  Kranken  selbst  gefühlten  und  reactiv  weiter 
verwertheten  Reiz  ausüben.  Namentlich  steht  auch  der  Verfolgungswahn 
unter  diesem  verschlimmernden  Einfluss  der  Menstruation,  besonders  bei 
complicirenden  Uterinleiden  und  mitbegleitender  Hyperästhesie  des  n.  pu- 

21* 


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Ü24 


Die  menstrualen  (periodischen)  Psychosen. 


dendus.  Unter  gesteigerten  perversen  Empfindungen  in  den  Genitalien 
nehmen  hier  die  Wahnvorstellungen  den  Inhalt  sexualer  Verfolgungen  an, 
und  veranlassen  reactive  Zornmanieen  mit  stürmischen  Raptus  von  Zer- 
störungswut oder  Gewalttätigkeit.  Auch  die  hysterischen  Psychosen 
zeigen  regelmässig  menstruale  Verschlimmerungen,  nicht  selten  unter 
Kopftiuxionen  mit  Pulsfrequenz  und  psychischer  Gesammterregung  7  oder 
als  Dämmerzustände  mit  automatischen  Bewegungen,  imperativen  Raptus 
zur  Selbstbeschädigung.  Remittirende  Manieen  und  acute  Wahnsinnsformen 
wählen  sich  mit  Vorliebe  die  Epochen  zum  Wiederausbruch  aus.  —  Die 
gewöhnlichen  periodischen  und  circulären  Seelenstörungen  empfinden  gleich- 
falls sehr  häufig  den  menstrualen  Einfluss.  So  fällt  (bei  kurzen  melan- 
cholisch-manischen Anfällem  nicht  selten  der  Beginn  der  Aufregungsphase 
in  die  zweite  Hälfte  des  Intervalls,  so  zwar,  dass  die  Höhe  des  mani- 
schen Paroxysmus  mit  dem  Beginn  der  Menstruation  zusammentrifft.  Doch 
ist  dies  nicht  durchgängig,  ja  selbst  in  demselben  Krankheitsfälle  nicht 
bleibende  Regel;  es  kann  vielmehr  der  geschilderte  anfängliche  Typns 
sich  in  der  Folge  verschieben  und  die  Depressionsphase  mit  der  Men- 
struation coincidiren.  Interessant  ist  dabei  die  mir  von  G.  Burckhardt 
mitgetheilte  Beobachtung,  dass  bei  Goincidenz  der  Menstruationszeit  mit 
der  manischen  Phase  die  Menses  hellroth  fliessen,  beim  Zusammentreffen 
mit  der  Depressionszeit  aber  entschieden  viel  dunkler.  —  Des  Verhält- 
nisses der  Menstruation  zu  den  Psychosen  im  Allgemeinen  sei  hier 
nur  andeutend  gedacht.  Die  genauere  Erwägung  dieses  Einflusses  ge- 
hört in  die  Aetiologie.  Klinisch  lässt  sich  nur  sagen,  dass  die  verschie- 
densten Variationen  hierin  vorkommen.  Oft  bricht  die  Psychose  mit  dem 
Eintritt  der  Menses  aus  (so  manchmal  mit  den  ersten) ;  anderemale  schliesst 
sie  sich  an  eine  Suppressio  an,  wobei  nicht  selten  noch  Zwischenglieder 
(Gemüthsbewegungen)  sich  einschieben.  Nicht  selten  kommt  die  Recon- 
valescenz  mit  dem  Wiedereintritt  cessirter  Menses  mit  Einem  Schlage; 
anderemale  etappenweise  fortschreitend  mit  jeder  neuen  Menstruation;  oft 
bringt  eine  Epoche  einen  wesentlich  besseren  und  die  nächstfolgende  wie- 
der einen  schlimmeren  Zustand.  Es  können  aber  gegentheils  die  Menses 
nach  langer  Gessation  wieder  eintreten,  ohne  die  geringste  psychische 
Rückwirkung;  so  wie  sie  auch  nicht  selten  ohne  jeden  Einfluss  während 
einer  Psychose  ungestört  andauern.  Nosologisch  liegen  die  Verhält- 
nisse zweifellos  sehr  complicirt  und  individuell  verschieden.  Ein  Theil 
der  Fälle  dürfte  unter  die  Reflexpsychosen  gehören,  ausgehend  vom  Ova- 
rialreiz;  ein  zweiter  hängt  aber  entschieden  mit  den  vasomotorischen 
Fluxionen  im  Gefolge  des  Menstruationsvorganges  zusammen;  ein  dritter 
(so  namentlich  viele  prämenstruale)  dürfte  sich  nach  dem  Typus  der 
„Wellenbewegung"  im  weiblichen  Körper  (II e gar,  Reinl)  einrichten;  ein 
vierter  endlich,  wohin  ein  grosser  Theil  der  postmenstrualen  Psychosen 
(und  zwar  der  nicht-fluxionären)  gehört,  ist  entschieden  auf  die  direct 
anämisirende  Wirkung  des  Blutverlustes  zurückzuführen. 


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Das  Delirium  acutum.  325 


Das  Delirium  acutum. 

Literatur.  Brierre  de  Boismont,  M£m.  de  l'acad.  de  me"d.  11;  l'union 
mW.  3.  —  Calmeil,  Maladies  inflammat.  Paris  1S59.  —  Engelken,  Allg.  Ztschr. 
f.  Psych.  8.  —  Jensen,  Ibid.  11.  —  Schüle,  Ibid.  24  u.  25.  —  Delasiauve, 
Ann.  med.  psych.  T.  4.  —  Laurent,  Ibid.  T.  9.  —  Lunier,  Ibid.  T.  12.  —  Fo- 
ville,  Nouv.  dict.  de  rn^d.  etdechir.  1669.  —  Pauli,  Dissertat.  Bonn  1879.  —  L. 
Meyer,  Vircb.  Arch.  (acute  tödtl.  Hyst.).  —  Jehn,  Arch.  f.  Psych.  8  (mikrosk.)  — 
Derselbe,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  37.  —  Derselbe,  Dtsche.  med.  Wochenschr. 
27.  —  Mendel,  Berl.  klin.  Woch.  1879  (gegen).  —  Sioli,  Arch.  f.  Psych.  10  u. 
11.  —  Furstner,  Ibid.  11.  —  Sioli,  Berl.  klin.  Woch.  1860  (mit  Discussion).  — 
Voppel,  Irrenfreund  1861  (Tubercul.).  —  Bin s wanger,  Charit^  Ann.  VI.  — 
Grethe,  Inaug.  Diss.  (sub.  ausp.  Westphal)  1881.  —  Bernhard,  Allg. Ztschr.  f. 
Psych.  40.  —  Peli,  Arcb.it.  1685  (Literatur).  —  Delirium  acutum  meiancholicum: 
Majorfi,  Arch.  ital.  1883.  —  Delirium  acutum  in  der  Paralyse:  Foville, 
Ann.  med.  psych.  1882.  —  Anatomie  und  Nosologie:  Jolly,  Arch.  f.  Psych.  11 
(Fettemlohe  in  den  Lungen).  —  Briand,  Arch.deNeur.  1683  u.  Monograph.  1863 
(sub.  ausp.  Magnan;  Reduction  der  Blutkörperchen,  „Bacillen"  im  Blut,  fettige  Mus- 
keldegen.).—  Deecke,  Am.  Journ.  of  Inian.  1881.  —  Rezzonico,  Arch.it.  1884. 

—  Hertz,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  T.  39  (Enge  der  foram.  incalaria  und  emmissaria). 

—  Therapie:  S  Olivetti,  Arch.  ital.  und  Iliv.  sper.  1880  (Ergotin). 

Das  Delirium  acutum  ist  z.  Z.  noch  eiu  Sammelname  für  eine 
Reihe  von  klinischen  Symptomencomplexen,  welche  Ubereinstimmen 
in  der  Tiefe  und  prognostischen  Gefährlichkeit  der  zu  Grunde  lie- 
genden Hirnaffection,  in  der  (meist)  plötzlichen  Entstehung  und  dem 
acuten  Verlauf.  Dieselben  können  theils  für  sieb,  theils  im  Gefolge 
schon  bestehender  Psychosen  auftreten.  Die  zugehörigen  Krankheits- 
bilder  trennen  sich  im  Speciellen  in  2  Haupttypen:  1.  in  den  einer 
intensiven  Hirnreizung  mit  congestiver  Grundlage;  und  2.  in  den 
einer  acuten  Hirnerschöpfung  «auf  anämischer  Basis.  Beide  Typen 
besitzen  als  wesentliche  klinische  Charaktere:  tiefe  Bewusstseins- 
störung  in  Form  stupuröser  Zustände,  abwechselnd  mit  träumerischen 
und  selbst  halbluciden;  schwere,  direct  cerebrale  (nicht  psychisch 
vermittelte)  Schädigungen  der  Motilität;  vasomotorische  und  tro- 
phische  Störungen.  Die  „Hirnreiz"-Gruppe  1.  zerlegt  sich  wiederum 
in  zwei  Untergruppen:  die  erste  a)  repräsentirt  das  klinische  Bild 
eines  reinen  activen  Hirnreizes  von  acutester  Entstehung,  manisch  - 
convulsivem  Charakter,  hoch  febrilem  und  dabei  charakteristisch 
remittirendem  Verlauf;  die  zweite  b)  stellt  ein  aus  Hirn-Torpor  mit 
Reizsymptomen  gemischtes  Bild  dar  (mit  Ueberwiegen  des  erstem), 
von  minder  acuter  und  stürmischer  Entstehung,  melancholisch -stu- 
pidem Charakter,  mässig  febrilem  oder  fieberlosem  Verlauf.  Noso- 
logisch reiht  sich  die  Untergruppe  a)  der  activen  acuten  Meningeal- 
(Hirn-)  Hyperämie;  die  Untergruppe  bj  der  activ- passiven  Hirncon- 
gestion  mit  Uebergang  in  Hirndruck  ein. 


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32G 


Das  Delirium  acutum. 


Dieser  „Hirnreiz"-Gruppe  gegenüber  repräsentirt  die  Gruppe  2. 
den  klinischen  Typus  acuter  anämischer  Hirnerschöpfung:  tiefe  Be- 
wusstseinsstörung  aus  Inanition  mit  fragmentar  delirantem  Charakter 
(ohne  bestimmten  Inhalt),  motorischer  Adynamie,  Oblongata- Lähmung, 
afebrilem  Verlauf. 

1.  Die  irritativen  Formen,  die  „H irnreiz"-Gruppe. 
a)  Das  Delirium  acutum  maniacale.  Der  hierunter  begriffene 
Symptomen- Complex  entsteht  acut  oder  peracut  auf  Grundlage  einer 
Constitutionen  invaliden  (neuropathischen)  Gehirn-Constitution,  oder 
eines  durch  schwächende  körperliche  Processe  erschöpften  Gehini- 
lebens ;  oder  endlich  intercurrent  auf  dem  Boden  einer  bereits  be- 
stehenden psychischen  Cerebral-Affection.  Die  Signatur  des  Krank- 
heitszustandes ist  die  einer  intensivsten  Gehirnreizung.  Das  Sympto- 
menbild zeigt  psychisch:  tiefe  Bewusstseinsstörung  resp.  aufgehobene« 
Bewusstsein  mit  incohärenter  Ideenflucht;  heftige  motorische  Jacta- 
tion,  untermischt  mit  (convulsiven)  Bewegungen;  remittirendes,  mehr 
oder  minder  hochgradiges  Fieber,  mit  activen  Congestivzuständen  zum 
Kopfe ;  in  der  Regel  rascher  letaler  Ausgang  (acute  Hirnerschöpfung), 
sehr  viel  seltener  in  chronische  cerebrale  Functionsschwäche  (Blöd- 
sinn). Der  Verlauf  ist  peracut,  innerhalb  weniger  Tage,  höchstens 
einer  Woche. 

Symptomenbild,  a)  In  den  idiopathischen  Fällen  beginnt 
die  Krankheit  entweder  plötzlich  ohne  auffällige  Vorboten,  oder  sie 
scbliesst  sich  an  ein  kurzes  Prodromalstadium  an,  mit  allgemeinem 
Uebelbefinden ,  gesteigerter  Reizbarkeit,  unmotivirt  abwechselnder 
Stimmung  und  vagen  nervösen  Allgemeinsymptomen,  Schlaflosig- 
keit, intensivem  Kopfschmerz. 

In  der  Regel  sind  heftige  Gehirnstrapatzen  vorhergegangen:  ent- 
weder mclir  körperlicher  Art,  durch  Insolation,  Potus;  oder  geistig  als 
Ueberarbeitung  (Examenstudien)  mit  Nachtwachen,  oder  als  erschütternde 
gemüthliche  ArTecte,  unter  Umständen  auch  als  heftige  8chmerzen  (Pana- 
ritiura)  in  der  Reconvalescenz  aus  einer  andern  Psychose. 

Nach  wenigen  Tagen  zunehmender  Unruhe  und  Verwirrung, 
untermischt  mit  anfänglich  noch  luciden  Zwischenpausen,  eilt  die 
Krankheitsentwicklung  rasch  zur  vollen  Höhe.  Das  Krankheitsbild, 
nach  dem  ruhelosen  Gebahren  der  Kranken  und  ihrem  pauselosen, 
sehr  bald  incohärenten  Sprechen  beurtheilt,  macht  auf  den  ersten 
Anblick  den  Eindruck  der  acuten  Mania  gravis  höhern  Grades,  na- 
mentlich auch  bezüglich  der  leisem  oder  stärkern  Betäubtheit,  welche 
über  der  ganzen  Erscheinung  des  Kranken  liegt.  Anfangs  werden 
die  Perceptionen  noch  aus  der  Umgebung  geholt;  es  erfolgen  auch 


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Manische  Fora.  Klinische  Symptomatologie.  327 

einige  kurze  passende  Antworten;  aber  alle  Wahrnehmungen  spinnen 
sich  sofort  ins  Traumhafte  hinein  und  spielen  sich  delirant  weiter 
(s.  u.).  Anfangs  tritt  auch  noch  ein  rascher,  echt  manischer  Stim- 
mungswechsel entgegen:  der  Kranke  scherzt,  lacht,  droht,  greift  an; 
aber  sehr  bald  schon  kommt  gar  keine  ausgeprägte  wache  Stimmung, 
nicht  einmal  auf  Minuten  mehr,  zu  Stande,  sondern  nur  mehr  träu- 
merische, kaum  percipirte  und  flüchtige  Regungen,  welche  auf 
Stunden  hinaus  oft  einer  stupiden  Indifferenz,  neben  und  unter  dem 
Bewegungssturm ,  Raum  geben.  Körperlicherseits  ist  der  Puls  be- 
schleunigt, die  Temperatur  gesteigert,  manchmal  nur  über  38°;  in 
peracuten  Fällen  aber  auch ,  und  sehr  bald  schon ,  Uber  39  °,  ja  bis 
41  °.  Der  Kranke  dämmert  bereits  in  schwankendem  Gange  und  mit 
zunehmender  Rastlosigkeit  umher,  ziel-  und  planlos,  wirft  Bettstücke 
weg,  entblösst  sich,  wischt  die  Wände  ab,  stösst  jede  Annäherung 
zurück,  schlägt  das  Essen  weg.  Er  gibt  jetzt  keine  oder  höchstens 
nur  ganz  betäubte  Antworten.  Das  verworrene  Delirium  hat  ent- 
weder einen  drohend  gereizten,  oder  ängstlichen  Inhalt.  Der  Kranke 
faselt  von  Feinden  und  Vernichtung,  von  Himmel  und  Teufel,  von 
Schuften  und  Verfolgern;  dazwischen  auch  von  Gnade  und  himm- 
lischem Königreich;  dann  wieder  von  Sünde  und  Weltuntergang. 
Dabei  kann  ein  Wort,  eine  Silbe,  durch  alle  möglichen  und  unmög- 
lichen Assonanzen  hindurch  gehetzt  werden,  oft  in  verschiedenen 
Sprachen,  um  zuletzt  in  sinnlosen  alliterirenden  und  assonirenden 
Resten  sich  zu  verlieren: 

Julieltna  —  Guitarra  —  et  moi  et  toi  —  Grille  —  nous  sommes 
chez  vous  —  etsch  —  en  droit  —  moi  —  monsieur  —  Müllerchen  — 
Drillerchen  —  Allmächtiger  Vater  für  die  Gigolagaga  gaga  —  ja  ja  — 
brillant  —  gagerlaga  —  moi,  toi  —  oui,  oni,  non,  non  —  griffige, 
pfiffige  u.  8.  w. 

Oder  der  Kranke  äussert  ein  verwirrtes  Chaos  von  Wörtern  und 
Ausrufen  auf  Gesichts-  und  Gehörs- Hallucinationen,  von  fragmentaren 
Sätzen,  ohne  die  Umgebung  weiter  als  höchstens  in  träumerischen 
Minutenblitzen  und  kaleidoskopischen  Illusionen  wahrzunehmen. 
Immer  mehr  nimmt  jetzt  die  Unruhe  zu;  der  Kranke  ist  fast  nicht 
mehr  im  Bette  zu  halten;  er  vociferirt  unaufhörlich  trotz  des  aus- 
getrockneten Gaumens;  dazwischen  mengen  sich  Zisch-  und  Schnalz- 
laute; endlich  werden  nur  noch  unarticulirte  Töne  oder  Geräusche 
—  nicht  gesprochen  mehr,  sondern  vorgestossen.  Sucht  man  ihn 
festzuhalten,  so  entdeckt  man  eine  bedeutende  Hauthyperästhesie  mit 
gesteigerter  Reflexerregbarkeit,  so  zwar,  dass  unter  der  Hand  sich 
die  Muskeln  des  erfassten  Armes  contrahiren,  die  Extremität  steif 


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328 


Das  Delirium  acutum. 


wird,  der  Rumpf  in  vorübergehende  tonische  Starrheit  geräth.  Aber 
auch  von  selbst,  ohne  vorausgehenden  äussern  Hautreiz  durch  An- 
fassen, zucken  flüchtige  Streckkrämpfe  durch  den  Körper  und  durch 
die  Extremitäten,  wie  elektrische  Stösse.  Die  Gesichtszüge  werden 
hölzern,  gespannt,  dazwischen  auch  wieder  schlaff,  maskenartig; 
plötzlich  aber  in  choreatische  Grimassirungen  verzerrt.  Die  Bewe- 
gungen der  Arme  erhalten  einen  stossenden,  convulsiven  Charakter; 
andere  Male  spielen  die  Hände  wieder  an  den  Bettstücken,  zupfen 
am  Körper  herum,  greifen  unruhig  nach  den  Zähnen,  der  Zunge  u.s.w., 
oder  beschreiben  träumerisch  symbolische  Luftzeichnungen  und  Luft- 
schriften. In  der  Ruhe  sind  die  Arme  meist  tonisch  contrahirt,  fest 
an  den  Thorax  angepresst,  die  Hände  geschlossen,  geballt  mit  ein- 
gekrallten Fingerspitzen.  Nach  kürzern  oder  längern  Pausen  eines 
stupiden  ruhigen  Daliegens  bricht  plötzlich  der  Redestrom  wieder  los 
in  den  verworrenen  Alliterationen,  Assonanzen  und  Wortfragmenten, 
während  die  Stimme  immer  mehr  einen  näselnden  Ton  annimmt. 
Oft  treten  jetzt  automatische  Schüttel-  und  Stossbewegungen  der 
Arme  auf,  oder  Hin-  und  Herwerfen  des  Rumpfes,  Gesichtsverzer- 
rungen, Schnauzkrämpfe  —  Alles  in  fast  pauseloser  Aufeinanderfolge, 
und  so  stürmisch,  dass  der  in  Schweiss  gebadete  Kranke  sich  zu 
erschöpfen  droht.  Die  Nahrungsaufnahme  erfolgt  bei  den  zugeknif- 
fenen Lippen  um  so  schwieriger,  als  bei  Einführung  des  Löffels  so- 
fort Trismus  entsteht,  und  beim  Eingiessen  der  Flüssigkeit  resp.  bei 
Berührung  der  letztern  mit  der  Mundschleimhaut  reflectorisches  Aus- 
spucken folgt ;  einmal  begonnen,  spielen  sich  die  blasenden,  jappen- 
den,  saugenden  Mundbewegungen  auf  Stunden  hindurch  weiter.  Durch 
das  rücksichtslose  Anschlagen  der  hin-  und  hergeschleuderten  Extre- 
mitäten werden  diese  in  der  Regel  sehr  bald  über  und  über  mit 
Contusionen  und  Suggillationen  bedeckt.  Der  Urin,  meist  eiweiss- 
haltig,  wird  zurückgehalten  oder  ins  Bett  gelassen.  Der  Stuhl  ist 
meist  verstopft.  Die  Zähne  werden  bald  fuliginös ;  in  der  Lidspalte 
sammelt  sich  eitriges  Conjunctivalsecret.  Die  Pupillen  sind  bald 
verengt,  hald  mittelweit,  oft  ungleich,  stets  in  der  Reaction  träger. 
Der  Patellarreflex  bleibt  erhalten.  Das  Fieber  verbleibt  Uber  die 
ganze  Zeit  auf  hohen  Nummern,  39° — 40°—  41  °,  und  zeigt  die  be- 
achtungswerthe  EigenthUmlichkeit,  dass  es  in  ausserordentlich  sprin- 
genden Temperaturen,  oft  im  Umfluss  von  einigen  Stunden  und  noch 
kürzer,  in  Differenzen  von  einigen  Graden  herab  bis  zu  3S  resp. 
37—38°  sich  bewegt.  Nicht  minder  schwankt  die  Helligkeit  des 
Bewusstseins  in  den  überraschendsten  Breiten:  vom  tiefen  Sopor  bis 
zu  leidlicher  (nie  vollständiger)  Lucidität,  und  Dies  in  denselben 


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Manische  Form.  Symptomatologie.  Verlauf. 


320 


jähen  Uebergängeii.  Das  Gesicht  ist  bald  glühend  heiss,  bald  blass, 
die  Hände  und  Vorderarme  auf  Stunden  hinaus  oft  kirschroth. 

So  zieht  sich  unter  Exacerbationen  und  Remissionen  der  Zustand 
mehrere  Tage  (bis  1  resp.  1  yji  Wochen)  hin.   Ab  und  zu  tritt  mehr- 
stündiger Schlaf  ein,  aber  mit  häufigem  Aufschrecken;  auch  die 
Nahrungsaufnahme  erfolgt  dazwischen  befriedigend;  der  Kranke 
kennt  auf  Momente  Personen  aus  der  Umgebung:  man  glaubt  in  die 
Reconvalescenz  eingetreten  zu  sein.   Aber  leider  ist  in  der  Uber- 
wiegenden Mehrzahl  der  Fälle  diese  Hoffnung  nur  eine  trügerische. 
In  der  Regel  ohne  markante  Zwischenfälle  (wie  solche  in  Form 
apoplektiformer  Insulte  beobachtet  sind)  geht  der  vorübergehende 
Stupor  der  ersten  Tage  in  immer  anhaltenderen  Sopor  über.  Lang- 
samer oder  schneller  beginnt  sich  eine  zunehmende  Hirn-  resp.  Herz- 
Lähmung  vorzubereiten.   Trotz  des  calor  mordax  am  Körper  werden 
Hände  und  Füsse,  auch  die  Nasenspitze,  kühler,  Hände  und  Lippen 
leicht  eyanotisch.   Die  borkig  belegte  Zunge  zittert,  wird  beim  Vor- 
strecken höchstens  noch  bis  zwischen  die  Zähne  gebracht,  oder  bleibt 
in  der  Mundhöhle  liegen;  die  Nasenflügel  sinken  ein.    Der  Kranke 
beginnt  zu  collabiren;  der  Blick  wird  matt  und  gebrochen;  der 
Hautturgor  nimmt  ab.    Oft  zeigt  sich  früh  schon  Decubitus.  Der 
Puls  wird  jetzt  ungleich,  oft  aussetzend,  ebenso  auch  die  Respi- 
ration.   Die  eingeflössten  Flüssigkeiten  werden  im  Munde  umherge- 
gurgelt,  und  dann  wieder  herauslaufen   gelassen:   der  Schling- 
apparat fängt  an  seine  Dienste  zu  versagen.    Subsultus  tendinum 
stellt  sich  ein.    Die  Lider  senken  sich  halb  über  die  leise  hin-  und 
herrollenden  oder  starr  fixirten,  prallen  Bulbi;  oft  einseitig  stärker. 
Der  Kranke  lispelt  nur  noch  Unverständliches  vor  sich  hin,  reagirt 
für  gewöhnlich  auf  keine  Frage  mehr.    Auch  jetzt  noch  können  die 
täuschenden  Remissionen  sich  einschieben,  in  welchen  der  Kranke 
einzelne  deutliche  Worte  spricht,  sogar  Esswünsche  stammelt;  aber 
es  sind  nur  noch  letzte  Lichtfunken.   Ziemlich  häufig  macht  sich 
sub  finem  eine  Anschwellung  der  Submaxillardrüse  bemerklich,  bei 
deren  Palpation  der  Kranke  schmerzlich  das  Gesicht  verzieht  Er 
collabirt  immer  mehr;  das  Sehnenhüpfen  nimmt  zu.   Secessus  inscii, 
oft  in  Form  von  Diarrhoen,  treten  auf;  bei  Frauen  zeigt  sich  manch- 
mal blutiger  Abgang  ex  vagina.    Ueber  das  Gesicht  spielen  fortan 
leise  krampfartige  Zuckungen.    Die  Finger  greifen  träumerisch  an 
den  Bettstücken  oder  den  Wänden  herum ;  ab  und  zu  hebt  sich  auch 
automatisch  ein  Arm  oder  ein  Bein.  Die  Respiration  wird  zunehmend 
frequenter,  bis  auf  60.  So  rückt,  nicht  selten  unter  Tracheal-Rasseln 
und  abundanten  Schweissen,  der  Exitus  letalis  heran,  gewöhnlich 


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330 


Das  Delirium  acutum. 


unter  scharfem  Anstieg  der  Temperatur.  Vereinzeltemale  sind  auch 
finale  Convulsionen  beobachtet  worden.  —  Ausser  diesem  langsameren 
Hirntod  kann  auch  ein  rascherer  „Herz"-Tod  (es  ist  die  Erschöpfung 
des  „abgehetzten  Wildes")  die  Scene  beschliessen. 

Geht  die  Krankheit  nicht  in  den  Tod  über  (was  aber  nur  bei 
leichtern  Graden  zu  erhoffen  ist,  und  auch  dann  noch  selten  genug), 
so  folgt  unter  Ermässigung  sämmtlicher  Hauptsymptome  der  Rück- 
gang. Das  Fieber  nimmt  langsam  ab,  die  motorischen  Actionen 
werden  wieder  zielvoller  und  psychisch  geformter;  die  verworrene 
Ideenflucht  gewinnt  nach  und  nach  wieder  einigen  innern  Zu- 
sammenhang; die  luciden  Bewusstseinspbasen  dehnen  sich  aus.  Die 
begonnene  Reconvalescenz  muss  nun  noch  ein  mindestens  mehr- 
wöchentliches Stadium  eines  acuten  Blödsinns  durchlaufen,  welches 
nach  leichtern  Attaken  sich  wohl  wieder  zurdckzubilden  vermag 
(ob  ganz?);  nach  vollentwickeltem  Delirium  acutum  aber  (nach 
meinen  Beobachtungen)  immer  zu  chronischer  Geistesschwäche  führt. 
Dazu  ist  einzurechnen,  dass  auch  nach  begonnener  Reconvalescenz 
ein  neuer  plötzlicher  Anstieg  auf  die  Krankheitshöhe  möglich  ist, 
welcher  in  diesem  Rückfalle  tödten  kann. 

b)  Das  Delirium  acutum,  welches  nicht  selten  die  allgemeine  Para- 
lyse, manchmal  schon  in  den  Anfangsstadien,  zu  jähem  Abschlnss  bringt, 
besteht  in  einer  acuten  Steigerung  der  oft  noch  mässigen  Exaltation  zu 
einer  incohärenten  Ideenflucht  (Gemisch  von  traumartigem  Gefasel:  Grössen- 
wann,  Schuldideen,  Himmelswonne,  Todesschrecken,  halb  lucide  Percep- 
tionen,  tiefe  Stupidität),  triebartiger  motorischer  Unruhe  mit  blinder  Jac- 
tation  (Anstossen  an  alle  Hindernisse),  zunehmendem  Muskeltremor  in  den 
Extremitäten,  starkem  fibrillärem  Zucken  der  Gesichtsmuskulatur.  Dabei 
rapider  Collaps.  Die  Augen  werden  tiefliegend,  halbweit;  der  Blick  matt; 
in  der  Lidspalte  sammelt  sich  gelblicher  Schleim;  Zunge  und  Lippen 
werden  trocken,  borkig  belegt,  rissig.  Der  Kopf  ist  heiss,  der  Puls  be- 
schleunigt, klein;  calor  mordax  bis  zu  41°.  Rasch  treten  mussitirende 
Delirien  mit  gemischten  Hallucinationen  und  einer  erschöpfenden  Unruhe 
hinzu.  Flüssigkeiten  werden  hastig  genommen,  können  aber  bald  nicht 
mehr  geschluckt  werden.  Die  Stupidität  und  der  allgemeine  Zerfall 
nehmen  zu ;  Meteorismus  und  Retentio  urinae  stellen  sich  ein,  sehr  häufig 
auch  zerfliessende  Schweisse.  Der  Tod  erfolgt  unter  den  Symptomen 
einer  rasch  zunehmenden  Hirnlähmung,  oder  auch  von  den  Lungen  aas 
(lobuläre  Pneumonieen). 

c)  Das  Delirium  acutum  melancholicum  (stupurosum).  (Theil- 
weise  „delusional  Stupor",  Newington). 

Die  Erkrankung  entsteht  hier  nicht  so  peracut,  wie  die  vorige 
Form,  und  ist  stets  durch  ein  besser  charakterisirtes  Vorläuferstadium 
(depressiven  Inhalts  oder  einer  allgemeinen  Rathlosigkeit  mit  Angst) 


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Delir.  ac.  maniac.  in  d.  Paralyse.  —  Melanch.-stupuröse  Form.  Krankheitsbild.  331 

eingeleitet.  Der  psychische  Allgemeincharakter  ist  der  einer  mit 
Hirnreizsymptomen  gemischten  Stupidität,  jedoch  so,  dass  letztere 
vorwiegt  Ebenso  vereinigen  sich  in  den  motorischen  Symptomen 
Ataxieen  und  partielle  Lähmungen  mit  zeitweiligen  tonischen  Krampf- 
zuständen. Im  Speciellen  steht  dem  acut  manischen  Bilde  der 
vorigen  Form  hier  ein  ebenso  ausgesprochenes  melancholisches 
gegenüber:  depressive  Stimmung  neben  und  unter  der  sensoriellen 
Betäubtheit,  stupide  Angstzufälle  mit  reactiver  Unruhe,  unter  Um- 
ständen ein  fragmentarisch  hallucinatorisches  Traumleben.  Der  Con- 
gestivzustand  zum  Kopfe,  dort  ein  fluxionärer  im  höchsten  Grade 
activer,  trägt  hier  die  Zeichen  der  Passivität,  der  Hirnstase.  Die 
Temperatur,  dort  sehr  erhöht,  ist  hier  normal  oder  nur  wenig  Uber* 
normal.  Dagegen  treten  beide  Formen  wiederum  in  den  springen- 
den Temperaturen,  ebenso  auch  psychisch  in  dem  wechselvollen, 
zwischen  luciden  und  traumartigen  Phasen  schwankenden  Verlaufe 
zusammen.  Das  Krankheitsbild,  dort  der  Typus  höchster  psychisch- 
motorischer Aufregung,  ist  hier  vorwiegend  das  einer  erregten 
Stupidität,  einer  unter  gelegentlichen  Reizsymptomen  sich  vollziehen- 
den Lähmung  (Tod  durch  innere  „Hirnstrangulirung",  Hirndruck). 
Die  Prognose  ist  besser  als  bei  der  vorigen  Form,  aber  immer  noch 
ernst  genug;  der  Verlauf  protrahirter  (eine  bis  mehrere  Wochen). 

Das  melancholische  Delirium  acutum  ist  die  acute  cerebrale  Con- 
sumptions- Krankheit  der  reifern  und  höhern  Jahre  und  auf  mehr  con- 
stitutioneller  Grundlage  (Climacterium,  Puerperium,  Lactation);  die  mania- 
cale  Form  dagegen  die  der  j Ungern  Lebensperioden  und  auf  Grundlage 
von  directen  heftigen  Hirnreizen  (geistige  Ueberanstrengungen,  Insolation, 
Potus,  8.  oben). 

Die  Einleitung  der  Krankheit  ist  in  der  Regel  eine  längere, 
ausnahmsweise  aber  auch  kürzere,  selbst  nur  mehrtägige.  Dieselbe 
stellt  das  Bild  einer  tiefen  cerebralen  Asthenie  dar:  ängstliche  Rath- 
loBigkeit  mit  Kopfdruck  und  Schlaflosigkeit,  gesteigerte  Empfindlich- 
keit fUr  äussere  Eindrücke.  Nach  anfänglichen  vagen,  hypochondri- 
schen Klagen,  wobei  aber  sofort  die  geistige  Benommenheit  befremdet, 
tritt  bald  eine  ängstliche  Unruhe  ein,  namentlich  Nachts,  oft  ganz 
unerwartet,  triebartig.  Der  Kranke  hat  nirgends  Ruhe,  klammert 
sich  krampfhaft  Uberall  an,  setzt  jedem  Eingriff  heftige  Negation 
entgegen.  Alles  erschreckt  ihn,  die  Umgebung,  jedes  Geräusch.  So 
lange  er  noch  mehr  bei  sich  ist,  bringt  er  zerstreut  allerlei  klein- 
liche Anklagen  gegen  sich  oder  Selbstvorwürfe  vor;  oder  er  be- 
schwert sich,  dass  man  ihn  vergiften,  bestehlen  wolle.  Dazwischen 
treten  wieder  die  lucidern  Stunden  mit  leidlicher  Besinnung,  in  wel- 
chen der  Kranke  auch  Trost  entgegen  nimmt,  aber  dabei  auffallend 


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332 


Das  Delirium  acutum. 


confus  und  apathisch  bleibt   Immer  wieder  bricht  aber  die  Angst 
los,  nnd  zwar  mit  dem  Charakter  zunehmender  Betäubtheit  Nah- 
rungsverweigerung stellt  sich  ein,  aus  Giftfurcht   Bald  nehmen  die 
Gesichtszüge  einen  schlaffen,  hölzernen  Ausdruck  an,  vorwiegend 
auch  einen  krampfartig  verzerrten  (forcirtes  Aufsperren  des  Mundes, 
grasses  Anklotzen  mit  den  Augen,  zugleich  mit  der  Neigung  zu  to- 
nischer Beharrung,  oft  auf  eine  Reihe  von  Minuten).   In  gleicher 
Weise  gestalten  sich  die  Abwehr-Reactionen  gegen  innere  Traum- 
vorgänge und  ängstliche  Hallucinationen  zu  allerlei  Körperverschrän- 
kungen,  Drohgeberden,  Grimassirungen.  Dem  Versuch  eines  passiven 
Ausgleichs  stellt  sich  Seitens  des  Kranken  ein  reÜectorischer  Wider- 
stand entgegen.   Der  Uebergang  in  den  8 tu  porösen  Zustand  erfolgt 
oft  allmählich,  oft  aber  auch  rasch  aus  einem  Angstparoxysmus 
heraus.  Jetzt  verharrt  der  Kranke  in  stumpfem  Daliegen  mit  starren 
offenen  Augen,  theils,  wie  es  scheint,  in  regungslosem  Schlafzustand 
(ohne  innere  und  äussere  Perception),  theils,  und  wohl  noch  öfter, 
in  der  mehr  oder  weniger  tiefen  Dämmerungsphase  eines  angstvoll 
oder  verworren  Träumenden.  Diese  wird  oft  genug  durch  plötzliche 
ziellose  Entäusserungen  (Herausspringen  aus  dem  Bette,  stupide  An- 
griffe auf  die  Umgebung)  unterbrochen.  Alle  diese  Acte  tragen  den 
Eindruck  einer  dumpfen  Angst  mit  Abwehr,  aus  hallucinatorischen 
Eingebungen.    Dazwischen  werden  einzelne  Worte  (Stindenschuld, 
Gift,  Verfolgung  u.  s.  w.)  oder  abrupte  Sätze  desselben  depressiv- 
ängstlichen Inhalts  hingelispelt.   Zu  einer  andern  Stunde,  und  un- 
vermittelt, erhebt  sich  aus  der  Traumphase  das  Bewusstsein  wieder 
zu  einer  Halbklarheit,  in  welcher  der  Kranke  umherschaut  und 
deutlich  einzelne  Perceptionen  (meist  illusorisch  umdeutete,  jedoch 
auch  richtige)  zu  machen  vermag.   Andere  Male  wiederholen  sich 
panphobische  Anfälle  mit  triebartiger  Unruhe  und  nachfolgender 
Rückkehr  in  den  Stupor.  Die  motorischen  Acte  tragen  das  Gepräge 
der  Adynamie;  sie  sind  träge,  oft  zitterig,  ataktisch,  insufficient;  in 
der  Ruhe  sind  die  Muskeln  bald  schlaff,  bald  gespannt  anzufühlen. 
Oft  sind  die  Arme  matt,  herabfallend,  und  zu  gleicher  Zeit  die 
Beine  steif.  Oder  es  ist  eine  Gesichtshälfte  in  Contractur,  die  andere 
schlaff,  uud  wiederum  zeitweilig  fibrillär  zuckend.   Die  Sensibilität 
der  Haut  ist  herabgesetzt  oder  fehlt  ganz;  die  Hyperästhesie -und 
die  gesteigerte  Reflexerregbarkeit  (wie  im  Delirium  acutum  mania- 
cale)  wird  hier  vermisst.  Die  Gesichtsfarbe  ist  bald  roth,  mit  einem 
Stich  in's  Bläuliche  und  injicirter  Conjunctiva,  bald  ist  das  Ausseben 
dagegen  blass.    Die  Anfangs  normale  oder  mässig  febrile  Tempe- 
ratur sinkt  manchmal  während  der  Stuporphase  auf  subnormale 


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Melancholisch- Btupuröse  Form.  Verlauf.  Ausgänge. 


333 


Kammern,  behält  aber  die  charakteristischen  Schwankungen  bei 
(37,5—37,2—36,-37,6-37,3  bei  anhaltender  Bettlage  und  motori- 
scher Ruhe).  Anderemale  verharrt  dieselbe  auf  den  tiefern  Nummern, 
bis  complicirende  körperliche  Vorgänge  (Furunkeln,  Decubitus,  Pneu- 
monieen)  einen  neuen  Anstieg  bedingen.  Der  Puls  ist  zeitweise 
schwach  und  klein,  nicht  selten  ungleich ;  anderemale  dagegen  auch 
voll  und  hart  Die  Frequenz  ist  eine  mässige  (höchstens  etwas  Uber 
100,  manchmal  gegentheils  auch  selten),  und  lässt  den  Parallelgang 
mit  der  Temperatursteigerung  vermissen.  Das  letztere  Verhältniss 
trifft  auch  für  die  Respiration  zu,  welche  selbst  bei  den  febrilen 
Anfangsstadien  selten  über  30  p.  M.  steigt.  Oft  intercurriren  massen- 
hafte Schweisse,  aber  meist  nur  in  localer  Ausdehnung.  Die  Blut- 
fttlle  der  Haut  ist  überhaupt  eine  ungleiche,  oder  gestaltet  sich  im 
Verlauf  zur  ungleichen  Vertheilung,  so  dass  oft  das  Gesicht  cyano- 
tisch  livid  und  warm,  die  Füsse  und  Hände  dagegen  kühl  sind. 
Nie  fehlen  gastrische  Symptome.  Die  Zunge  ist  stets  dick  gelblich 
belegt,  mit  Neigung  zum  Austrocknen;  so  auch  die  Lippen.  Dabei 
starker  Foetor  ex  ore.  Constant  ist  auch  eine  hartnäckige  Obsti- 
pation. Der  Leib  ist  brettartig  gespannt  (durch  Contraction  der 
Recti),  nicht  selten  muldenförmig  eingezogen.  Stets  tritt  schon  in 
den  ersten  Krankheitstagen  eine  obstinate  Nahrungsverweigerung 
ein,  deren  Ursache  Anfangs  vielleicht  noch  in  depressiven  Halluci- 
nationen,  in  der  Folge  aber  wesentlich  in  motorischen  Innervations- 
störungen  des  Schlingapparats  (Krampf-,  später  Lähmungszustände) 
begründet  ist. 

So  verharrt  der  Zustand  in  charakteristischem  Wechsel  zwischen 
Besserung  und  Verschlimmerung,  zwischen  tiefem  Sopor  und  halb- 
lucidem  Stupor,  durch  Tage  und  selbst  durch  einige  Wochen.  Neigt 
sich  die  Krankheit  zur  Reconvalescenz,  so  ist  die  Besserung  immer 
durch  eine  deutliche  Hebung  der  Ernährung,  kräftigern,  regelmässi- 
gem Puls,  normale  Temperaturnummern,  spontane  Stühle  angekündigt. 
Die  Bewegungen  werden  kräftiger,  ausgiebiger ;  es  tritt  eine  natür- 
liche Mimik  mit  geistigem  Formgepräge  ein;  die  luciden  Bewusst- 
aeinsphasen  gewinnen  an  Klarheit.  Im  Verlaufe  von  Wochen  wird 
die  Genesung  erreicht,  in  der  Regel  durch  ein  melancholisches 
Schlussstadium  hindurch,  in  welchem  die  Ideen  der  Sündhaftigkeit, 
des  Bestohlen-seins  nochmals  hervortreten,  aber  nur  mehr  vereinzelt, 
und  immer  mehr  durch  die  realen  Wahrnehmungen  corrigirt.  An 
den  Uberstandenen  Krankheitszustand  bleibt  nur  eine  summarische, 
unklare  Erinnerung. 

Geht  die  Krankheit,  wie  leider  noch  häufiger,  nicht  in  Genesung 


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334 


Das  Delirium  acutum. 


Uber,  so  sind  zwei  Ausgänge  möglich:  1.  in  chronische  geistige 
Schwäche  mit  melancholischer  Färbung;  oder  aber  2.  in  den  Tod. 
Der  letztere  tritt  ein  a)  unter  den  Zeichen  des  zunehmenden  Hirn- 
drucks  (Oblongata- Lähmung):  der  Puls  wird  ungleich,  aussetzend, 
frequenter,  die  Respiration  unregelmässig,  oft  ausgesprochen  cepha- 
lisch,  die  Schlingfunction  immer  defecter,  und  endlich  durch  Gaumen* 
parese  unmöglich;  die  bis  dahin  oft  ungleichen  Pupillen  erweitern 
sich;  der  Sopor  nimmt  zu,  bis  derselbe  kampflos  in  den  Tod  über- 
geht. Oder  aber  b)  es  erfolgt  das  letale  Ende  durch  intercurrente 
ProcesBe,  auf  Grundlage  tieferer  trophischer  Störungen  (Abscesse, 
Decubitus,  colliquative  Diarrhoen,  Pneumonieen  u.  s.  w.). 

2.  Die  Inanitionsformen.    Das  Delirium  acutum 
anergeticum  s.  paralyticum. 

Das  hierher  gehörige  Krankheitsbild  tritt  nicht  acut  wie  das  mani- 
sche, und  nicht  subacut  wie  das  melancholische,  auf.  Stets  gehen  viel- 
mehr längere  Prodromi  voraus,  welche  psychisch  eine  entwickelte 
Dämonomanie  oder  hypochondrische  Depression  zum  Inhalt,  körperlich 
einen  anämischen  Zustand  mit  Ernährungsschwäche  und  nervöser  Er- 
schöpfung zur  Grundlage  haben.  Es  sind  invalide  Melancholieen  ohne 
rüstigen  Affect,  oft  sogar  mit  ausgesprochener  Apathie,  und  physische 
Typen  einer  nervösen  Consumptiou,  eines  nahezu  banquerotten  Ernäh- 
rungshaushalts. 

Manchmal  wird  der  Beginn  der  Krankheit  durch  eine  stupide 
Aufregung  gebildet,  mit  planlos  unbesinnlichem  Gebahren  (Entwei- 
chen, unmotivirtes  Zerstören),  worauf  erst  das  depressive,  melancho- 
lische Stadium  nachfolgt,  hie  und  da  mit  Hallucinationen ,  welche 
bald  gebieterisch  auftreten  (als  „Stimmen  Gottes"),  bald  aber  nur 
als  matte  und  wirkungslose  Licht-  und  Schattenbilder  nebenhergehen. 
Dabei  ist  das  Bewusstsein  für  den  nächstliegenden  Kreis  von  Wahr- 
nehmungen oft  noch  längere  Zeit  leidlich  frei.  Die  Stimmung  ist 
unberechenbar  wechselnd,  wenn  auch  vorzugsweise  gedrückt,  oft 
tief  melancholisch ,  so  dass  die  Kranke  schmerzlich  weint  (z.  B.  in 
der  Application  eines  Klystiers  den  Raub  ihrer  Unschuld  bejammert). 
In  der  Folge  wird  das  Bewusstsein  immer  dämmerhafter  und  schwankt, 
oft  im  Wechsel  von  Viertelstunden,  zwischen  wachern  und  traum- 
artigen Phasen,  welch  letztere  aber  hier  einer  intercurrirenden  Syncope 
näher  stehen  als  dem  Stupor.  Während  der  Kranke  eben  noch  per- 
cipirte  und  auf  Fragen  oder  eine  Aufforderung  erwiederte,  wird 
plötzlich  der  Blick  wie  halb  gebrochen,  die  Miene  starr  und  regungs- 
los, der  halb  offene  Mund  bleibt  geöffnet  —  und  erst  nach  einigen 
Minuten  erwacht  die  Besinnlichkeit  wieder  (oft  unter  einem  Seufzer), 


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„Inanitions"form.  Krankheitsbild.  Verlauf.  Ausgange. 


335 


so  dass  der  Kranke  mit  der  Umgebung  jetzt  wieder  zu  coinmuni- 
ciren  vermag.  Ebenso  wechseln  auch  die  sprachlichen  Aeusserungen 
zwischen  leidlich  richtigen  Antworten,  und  andererseits  einem  ver- 
worrenen lispelnden  Gefasel ;  oder  —  in  den  Stuporpausen  —  einer 
vorübergehenden  Sprachlosigkeit.  Die  Körperernäbrung  ist  reducirt, 
der  Puls  klein,  mässig  frequent;  die  Extremitäten  kühl.  Bald  stellt 
sich  Nahrungsverweigerung  ein  und  nach  motorischer  Seite  eine 
zunehmende  Schwäche  und  Hilflosigkeit,  so  dass  die  Kranken  ausser- 
halb des  Bettes  zusammenbrechen,  beim  Aufsitzen  sofort  zusammen- 
kauern, den  passiv  erhobenen  Kopf  auf  die  Brust  sinken  lassen. 
Nur  in  den  ersten  Tagen  der  Krankheit  erscheint  die  mangelnde 
Nahrungsaufnahme  als  eine  durch  melancholische  Hemmung  oder 
hallucinatorischen  Befehl  bedingte.  Im  Fortschritte  des  Leidens 
rücken  immer  mehr  die  Zeichen  einer  wirklichen  motorischen  Läh- 
mung im  Schlingapparat  ein:  die  Anfangs  psychisch  motivirte  Ab- 
stinenz wird  zur  organisch-paralytischen.  In  gleichem  Schritte  wird 
die  erst  noch  betäubte  Abwehr  gegen  die  (künstliche)  Beibringung 
von  Nahrung  immer  mehr  zur  willenlosen  Passivität;  die  Kranken 
halten  automatisch  den  Mund  geöffnet,  lassen  ohne  Widerstand  jede 
Operation  Uber  sich  ergehen;  dabei  Retentio  urinae,  Secessus  inscii. 
Das  Bewusstsein  ist  jetzt  aufs  Tiefste  gestört;  der  Kranke  percipirt 
nur  noch  träumerisch,  oder  gar  nicht;  die  Bewegungen  werden  ziel- 
los flatternd,  oder  erfolgen  reflectorisch,  unbewusst.  Die  zeitweiligen 
sprachlichen  Aeusserungen  sind  selbstgemachte  assonirende  Silben 
oder  sinnlose  Wortcombinationen. 

Sprach  probe:  gagaga  —  bebeleb ;  oder  sinnlose  Wortcombinationen : 
grüner  Rock  —  rothe  Fäden  —  blaue  Blätter  —  graue  Lilien  —  der 
Rosenkranz  noch  einmal  —  samrat  den  Ochsen  —  mit  der  Mistgabel  — 
blaue  Ohrenlappen  —  rothe  Ohrenringe  —  Kasten  für  einen  Halsknopf 
—  mit  meinem  Ochsenriemen  —  da  hab  ich  im  Nachtgebet  —  so  fang 
ich  Ratten  u.  s.  w. 

Oft  dauern  diese  Monologe  Tag  und  Nacht  fort.  —  Dazwischen 
erhalten  sich  die  charakteristischen  Schwankungen:  in  einer  Stunde 
apathisch  und  perceptionslos ,  kann  d^er  Kranke  zu  einer  andern 
leidlich  lucide  sein,  und  einige  passende  Antworten  zu  Stande  bringen. 
Manche  geben  jetzt  an,  dass  ihnen  die  Worte  und  die  Bewegungen 
„gemacht"  würden,  ohne  dass  sie  wüssten,  warum?  Letztere  be- 
stehen in  oft  Tag  und  Nacht  hindurch  fortgesetzten  Handtierungen 
(Herumzerren  des  Bettzeuges,  „fortwollendes"  Herausdrängen),  wobei 
weder  der  mangelnde  Effect,  noch  eine  etwaige  Beschädigung  be- 
achtet wird.  Eine  wirkliche  Stimmung  fehlt;  selbst  die  gelegent- 
lichen Offenbarungen  des  Kranken,  dass  er  keinen  Kopf,  keinen 


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33G 


Das  Delirium  acutum. 


Magen  habe,  todt  sei,  innerlich  austrockne  —  gehen  ohne  sichtliche 
Reaction  vorüber.  Die  Temperatur  ist  jetzt  meist  subnormal,  der 
Puls  klein,  die  Haut  schlaff,  bald  spröde,  bald  klebrig  schwitzend. 
Unter  zunehmender  Abmagerung,  hochgradiger  Anämie,  Neigung  zu 
raschem  Decubitus,  Katarrhen  der  Bronchien  und  der  Blase,  neben 
dick  belegter  trockener  Zunge,  bässlichem  Foetor  (manchmal  auch 
Ptyalismus)  zerfallen  die  Kranken  innerhalb  1 — 2  Wochen;  sie 
rutschen  im  Bett  zusammen,  liegen  apathisch  mit  tief  eingesunkenen 
Augen,  geöffnetem  Munde  da,  wiewohl  nicht  ohne  eine  zeitweilige 
dumpfe  Perception  der  Umgebung.  In  regellosem  Verlaufe  und 
trügerischen  Remissionen  gehen  sie  in  der  Regel  im  Verlauf  von 
mehreren  Wochen  dem  Tod  durch  Inanition,  oder  durch  intercur- 
rente  Processc  (lobuläre  Pneumonieen,  Phlegmonen,  Diarrhoen  u.  s.  w.) 
entgegen. 

Oefter  aber  gelingt  gerade  bei  dieser  (Inanitions-)  Deliriumsform 
auch  die  allmähliche  Erholung.  Der  Kranke,  Uber  die  kritische  Acme 
seines  Erschöpfungszustandes  hin  weggebracht,  beginnt  wieder  von 
selbst  zu  essen;  der  Puls  wird  kräftiger;  die  Temperatur  steigt 
wieder  mehr  zur  Norm  auf.  Es  bleibt  nun  noch  längere  Zeit  ein 
geistiger  Schwächezustand  mit  dem  verworrenen  Vociferiren  (manch- 
mal Echolalie,  tagelanges  Nachahmen  von  Thierlauten),  schlaffer, 
hängender  Gesichtsmaske,  planlos  vagen  Gesticulationen.  Das 
Schlucken,  und  nicht  minder  die  feinern  combinirten  Bewegungen 
mit  den  Händen  müssen  oft  förmlich  wieder  eingelernt  werden, 
ähnlicherweise,  wenn  auch  mit  zeitlich  rascherem  Erfolge  als  nach 
dem  primären  Stupor.  Doch  verfliessen  bis  zu  voller  Genesung 
immer  mindestens  einige  Wochen,  unter  starker  Steigung  der  Körper- 
gewichts-Curve. 

Pathologische  Anatomie.  Der  Hirnreizgruppe  I  des  Deli- 
rium acutum  entspricht  ein  hoch-  resp.  höchstgradiger  Blutreichthum  des 
Gehirns  und  der  weichen  Häute  incl.  des  Rückenmarks.  Derselbe  zeigt 
sich  als  mehr  minder  intensive  Hyperämie  der  Meningen,  der  Corticalis, 
der  MarkBubstanz,  der  Ganglien,  der  venösen  Blutleiter,  der  knöchernen 
Schädeldecken.  Mit  diesem  Befund  Hand  in  Hand  gehen  seröse  Durch- 
feuchtungen der  verschiedensten  Grade,  welche  sich  auf  die  Häute  und 
das  Gehirn  vertheilen.  Auf  Durchschnitten  zeigt  sich  die  Hyperämie 
bald  in  zonenartiger  bläulich  violetter  Färbung  der  Corticalis,  bald  mehr 
in  Form  insel förmiger  Plaques,  welche  durch  Rindengrau  unterbrochen 
sind.  Die  Marksubstanz  hat  gleichfalls  eine  violette  Beimischung  und 
lässt  bei  Transversalschnitteu  siebförmig  eine  Menge  kleinster  dunkler 
Bluttröpfchen  hervortreten ;  die  Meningen  sind  bald  bis  aufs  Feinste  arte- 
riell ramificirt  (oft  mit  weissen  Randsäumen  der  korkzieherförmig  gewun- 
denen Gefässe),  bald  mehr  in  ihrem  veuösen  Theile  hyperämisch,  so  dass 


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Pathologisch-anatomischer  Befund. 


337 


diese  in  prall  gefüllten  geschlängelten  Wülsten  sich  Uber  die  Oberfläche 
ausbreiten.  Auch  die  Ventrikel  zeigen  in  der  Regel  hochgradige  Injec- 
tion,  manchmal  mit  kleinen  Ecchymosirungen,  und  Vermehrung  der  intra- 
ventriculären ,  oft  röthlich  gefärbten  Flüssigkeit.  Auch  das  Spinalgrau 
nimmt  an  dieser  theils  allgemeinen,  theils  plaqueweisen  Hyperämie  Antheil. 

Dieso  generellen  Erfunde  modificiren  sich  nun  beträchtlich  nach  den 
Einzelfällen,  resp.  (wie  es  scheint)  nach  dem  Grade  der  vorhanden  ge- 
wesenen Hirnreizung,  und  dann  auch  nach  dem  Krankheitsstadium.  Ver- 
gleicht man  eine  grössere  Reihe  von  autoptischen  Ergebnissen,  so  drängt 
sich  die  Erkenntniss  auf,  dass  es  sich  bei  der  in  Rede  stehenden  Gruppe 
zwar  Ubereinstimmend  um  eine  abnorme  Blutüberftillung  des  Gehirns,  im 
Einzelnen  aber  bald  mehr  um  active,  bald  mehr  um  passive  Con* 
gestion  handelt.  Im  Zusammenhalt  mit  den  klinischen  Symptomenbildern 
entfallen  die  activ  byperämischen  Zustände  vorwiegend  auf  die  Unter- 
gruppe a) ,  die  passiven  mehr  auf  die  Untergruppe  b) ,  wobei  aber  die 
zahlreichen  klinischen  Uebergänge  nicht  ausser  Betracht  zu  lassen  sind. 
8odann  hat  auf  den  autoptischen  Erfund  das  mehr  minder  vorhandene 
Hirnödem  einen  wesentlichen  Einfluss,  und  muss  bei  der  epikritischen  Ab- 
schätzung entsprechend  in  Betracht  gezogen  werden.  Wahrscheinlich  muss 
dieser  Factor  speciell  für  die  Erklärung  der  bald  mehr  continuirlichen,  bald 
mehr  nur  inselförmigen  („rosig  geflammten,  gesprenkelten")  Corticalis- 
Röthe  eingerechnet  werden;  darauf  fuhrt  schon  die  nähere  Betrachtung 
der  interpolirten  Partieen  von  Rindengrau,  welche  oft  deutlich  gequollen, 
transparent,  aussehen.  Sodann  wechselt  der  hyperämische  Befund  örtlich, 
je  nach  der  verticalen  und  transversalen  Richtung  der  SchnittfUhrung. 
Am  häufigsten  scheinen  die  innersten  Corticalis-  und  anstossenden  ober- 
sten Marklager  besonders  stark  hyperämisch  zu  sein,  während  schichten- 
weise  nach  abwärts  die  seröse  Hirndurchfeuchtung  überwiegt.  Doch  ist 
dies  nicht  Regel;  man  trifft  auch  Fälle  von  Uberwiegendem  Oedem  in  den 
obern  Marklagern  und  Abnahme  desselben  gegen  die  Basis  hin  resp.  stärker 
hervortretendem  Blutgehalt  in  dieser  letztern.  —  Auch  auf  den  topogra- 
phischen Territorien  längs  der  Oberfläche  ist  der  Befund  bezüglich  der 
hyperämischen  Vertheilung  ein  sehr  wechselnder.  Das  Kleinhirn  ist  meist 
in  die  Hyperämie  einbezogen,  dagegen  die  Medulla  oblongata  und  der 
Pons  in  der  Regel  blass  und  ödematös.  —  Die  Hirnconsistenz  in  den 
Marklagern  ist  trotz  des  Oederas  gewöhnlich  zähe  und  klebrig,  mit  nach- 
ziehenden Gefässen  auf  Querschnitten. 

Den  möglichst  reinen  Fällen  der  Inanitionsforra  2  entspricht  ein 
vorwiegend  anämischer,  bezw.  ödematöser  Zustand  des  Gehirns,  wobei  die 
Hemisphären  prall  gewölbt,  turgescent  sind  (mit  auf  Durchschnitten  reich- 
lich austretenden  Blutpunkten),  der  Hirnstaram  dagegen  wiederum  stärker 
Ödematös  ist.  Auch  hier  zeigt  sich  die  Innenschicht  der  Corticalis  in  um- 
schriebenen Partieen  leicht  geröthet,  manchmal  mit  weicherm  Gefüge. 
Die  Meningen  sind  stellenweise  venös  hyperämisch,  dann  und  wann  mit 
blutigen  Suffusionen  durchsetzt,  und  in  der  Regel  in  toto  ödematös. 

Die  in  der  neuesten  Zeit  hervorgehobene  Enge  der  Foramina  iugu- 
laria  (Hertz;  ich  traf  denselben  Befund  auch  in  einem  meiner  jüngsten 
Fälle)  dürfte  als  mechanisches  Moment  für  die  Zurückhaltung  einer  ab- 
normen BlutfUlle  im  Gehirn,  welche  im  Weitern  zu  dessen  „Stranguli- 

Schftle.  GeiaUakrankhtiten.   3.  Aufl.  22 


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1 


338  Das  Delirium  acutum. 

rung"  führen  könnte,  erheblich  werden,  wenn  (wie  in  meinem  Falle)  noch 
bedeutende  Schädelverdickungen  mit  Verschluss  der  ausführenden  (venö- 
sen) Knochenkanäle  hinzutritt.  Vielleicht  ist  nicht  minder  wichtig  die 
individuelle  Leistungsgrenze  des  vasomotorischen  Systems  im  Gehirn, 
wodurch  (bei  angeborner  Schwäche)  eine  Relaxation  der  Gefässe  bedingt 
werden  kann,  welche  den  Ausgleich  einer  höhergradigen  Hyperämie  im 
Schädelinnern  nicht  mehr  zu  bezwingen  vermag,  und  dadurch  (besonders 
noch  in  Verbindung  mit  einem  der  eben  genannten  mechanischen  Momente) 
die  venöse  Hirnerstickung  herbeiführt. 

Von  Fürstner  ist  der  interessante  Befund  von  colloider  Muskel- 
degeneration in  mehreren  Fällen  von  Delirium  acutum,  ohne  gleichzeitig 
markanten  Hirnbefund,  mikroskopisch  constatirt  worden. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Corticalis  bestätigt 
—  nach  meinen  Erfahrungen  —  für  die  manische  Gruppe  den  Befund 
einer  hochgradigen  activen  und  passiven  Hirnhyperämie  mit  ungleicher 
localer  Vertheilung;  Auswanderungen  von  Blutkugeln  ins  Parenchym  (von 
Leidesdorf  beobachtet)  konnte  ich  nur  einmal  bei  Delirium  acutum  im 
Verlaufe  einer  allgemeinen  Paralyse  beobachten.  Dagegen  ergab  sich 
mir  eine  auffallende  Maceration  der  Neuroglia,  daran  kenntlich,  dass  sich 
die  Ganglienkörper  mit  ihren  zahlreichen  Ausläufen  schon  bei  der  ein- 
fachsten Zerzupfung  des  frischen  Präparats  (und  nach  eintägigem  Ein- 
hegen in  Kali  bichrom.)  in  einer  solchen  Zahl  und  Intaktheit  aus  dem 
Zwischengewebe  auslösen,  wie  es  sonst  erst  nach  längerer  künstlicher 
Macerirung  der  Fall  ist.  Die  Neuroglia  selbst  zeigte  sich  stark  mit 
Serum  resp.  Lymphe  imbibirt;  ebenso  waren  die  Arachniden  in  der 
Nähe  der  hyperämischen  Ge fasse  mit  derselben  opaken  mattglänzenden 
Flüssigkeit  gefüllt.  Hochgradige  Schwellung  der  Saftzellennetze  durch 
die  ganze  Corticalis,  wodurch  ein  wirkliches  „ Ebranlement u  der  einge- 
schlossenen Nervengebiete  wahrscheinlich  wurde,  hat  sich  in  einem  frühern 
Befund  dargeboten;  in  einem  weitern  Falle  des  heftigsten  maniakalen 
Delirium,  bei  einer  Intermittens-Dyskrasie,  wurde  Melanämie  im  Gehirn 
constatirt.  —  Diesen  positiven  Erfunden  bei  Delirium  acutum  stehen  nun 
auch  vielfach  beglaubigte  negative  entgegen;  doch  dürften  diese  —  nament- 
lich bezüglich  der  Frage  der  corticalen  Hyperämisirung  —  so  lange  nicht 
als  vollgiltige  Gegenzeugen  aufgeführt  werden,  als  nicht  die  weitere  eines 
etwa  bestandenen  Oedems,  welches  die  vorhanden  gewesene  Gefassinjec- 
tion  verdrängte,  jeweils  für  den  Einzelfall  entschieden  ist.  (Neuere  For- 
scher wollen  Blutveränderungen  und  die  Anwesenheit  von  Bacterien  con- 
statirt haben,  s.  Lit.).  — 

Sollen  wir  Uberhaupt  eine  klinische  Zustandsform  „  Delirium  acu- 
tum" beibehalten?  Diese  Frage  ist  in  Form  des  Einwands  in  neuerer 
Zeit  wiederholt  gestellt,  von  competenter  Seite  als  berechtigt  erklärt 
(Mendel,  Jollyj,  und  darnach  die  Existenzberechtigung  einer  besondern 
Krankheitsform  verneint  worden.  Man  hat  hierfür  namentlich  hervorge- 
hoben, dass  unter  der  genannten  Bezeichnung  ganz  heterogene  Processe 
zusammengefasst  würden:  diffuse  Hirnerkrankungen,  intoxicatorische  De- 
lirien, manische  und  melancholische  Processe  u.  s.  w.,  und  hat  nament- 
lich auch  frühere  und  spätere  Auslassungen  meinerseits  als  nicht  in  ge- 
genseitiger Uebereinstimmung  befinden  wollen.    Gleichwohl  bin  ich  mir 


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Pathol.-anat.  Befund.  —  Klin.-symptomat.  Existenzberechtgg.  d.  Delir.  acut.  339 

bewusst  meinem  ursprünglichen  Standpunkt  getreu  geblieben  zu  sein. 
Ich  behaupte  auch  heute  noch,  dass  das  Delirium  acutum  keine  Krank- 
heit sui  generis  ist;  auch  ich  halte  fest,  dass  dasselbe  auf  eine  Reihe 
Ton  acuten  Hirnaffectionen  und  Neuropsychosen  sich  vertheilt;  ich  ver- 
kenne auch  nicht  die  nahen  Zusammenhänge  der  irritativen  Gruppe  mit 
gewissen  Formen  der  Mania  gravis,  der  melancholischen  mit  gewissen 
acuten  fieberhaften  Stuporanfallen.    Aber  damit  ist  m.  E.  nicht  auch 
die  Wesenseinheit  der  genannten  Processe  dargethan.  Symptomatologisch 
fehlen  der  peracuten  Mania  gravis  die  convulsive  Art  der  motorischen 
Störungen,  die  gesteigerte  Reflexerregbarkeit,  die  charakteristische  „  Ideen- 
flucht4*,  die  hochgradige  primäre  Stupidität,  speciell  aber  die  Remis- 
sionen im  Krankheitsverlauf,  wie  sie  dem  Delirium  acutum  so  eigentüm- 
lich sind.    Acute  febrile  „Stupor "-Phasen  beobachtete  ich  in  schweren 
activen  Melancholieen ;  aber  sie  traten  plötzlich  ein,  und  schoben  sich 
ebenso  rasch  wieder  aus  —  hierin  wirklich  einem  Status  epilepticus  ver- 
gleichbar, welchem  Fürstner  neuerdings  das  Delirium  acutum  Uber- 
haupt nosologisch  gleichstellen  wollte  (wie  mir  scheint,  mit  Unrecht); 
jene  Stupor-Episoden  modificiren  auch  nicht  in  so  entscheidender  Weise 
den  Krankheitsverlauf,  dass  dieser  dadurch  plötzlich  zu  einem  lebensge- 
fährlichen wird  und  im  günstigsten  Falle  dauernde  Nachwirkungen  setzt, 
wie  das  Delirium  acutum.    Es  ist  nun  allerdings  zuzugeben,  dass  wir, 
wie  in  allen  psychischen  Zustandsformen,  so  auch  hier  Uebergänge  be- 
obachten ;  dass  speciell  die  Mania  gravis  unter  gewissen,  uns  unbekannten 
Bedingungen  in  das  für  das  Delirium  acutum  charakteristische  Sympto- 
menbild sich  „steigern"  kann.  Aber  auch  diese  Thatsache  kann  unmög- 
lich einen  Einwand  gegen  die  Aufstellung  eines  gesonderten  klinischen 
Symptomen  Verbandes  abgeben.    Denn  feststehend  bleibt  trotzdem  die 
klinische  Eigenartung  des  letztern  (nach  Qualität  der  Einzelsymptome, 
sowie  nach  ihren  Verbänden,  und  ihrem  Verlauf),  welche  der  Mania 
gravis  als  solcher  nicht  zukommt,  und  ferner  die  Thatsache,  dass  mit 
dieser  Modifikation  sofort  auch  eine  ganz  veränderte  Prognose  ge- 
geben ist.    Von  der  theoretischen  Berechtigung  abgesehen,  liegt  in 
der  Aufstellung  des  Delirium  acutum  als  einer  gesonderten  psychischen 
Zustandsform  auch  noch  ein  grosser  praktischer  Vortheil;  es  ist  die 
Signatur  der  G e f  a h r ,  welche  prognostisch  verlässlich  sich  einem 
jeden  Krankheitsfall  aufprägt,  in  welchem  diese  Symptomen*  Combination 
und  diese  Symptomen- Qualität  auftritt,  sei  es,  dass  sie  selbstständig  und 
direct  entsteht,  oder  als  Episode  resp.  Ausgang  sich  in  den  Verlauf  eines 
acuten  Wahnsinns,  einer  idiopathischen  Manie,  oder  einer  Paralyse  einflicht. 

Vielleicht  liegt  die  Zeit  nicht  ferne,  dass  das  Delirium  acutum 
auch  sein  anatomisches  Bürgerrecht  zu  legitimiren  vermag,  wenn, 
woran  ich  nicht  zweifeln  möchte,  die  manische  Form  als  eine  active 
Flnxionshyperämie  (acute  Erschöpfung),  die  melancholische  als  ein  relaxa- 
tiver  Congestionstorpor  mit  Stasen-  und  Oedembildung  (Erstickung  des 
Hirnlebens),  und  die  paralytische  als  ein  anämischer  Inanitionszustand  des 
Gehirns  endgiltig  sich  erweisen.  Dann  wird  sich  auch  immer  mehr  muth- 
maassen  resp.  begreifen  lassen,  welche  Psychosen-Formen  nach  ihrer  so- 
matischen Grundlage  sich  zu  einem  oder  dem  andern  dieser  Ausgange 
eignen  resp.  zu  steigern  vermögen.  Bis  dahin  aber  möchte  es  nicht  zu 

22* 


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Das  Delirium  acutum. 


rechtfertigen,  und  noch  weniger  zu  empfehlen  sein,  schon  aus  dem  an- 
gezogenen praktischen  Gesichtspunkte  nicht,  auf  einen  auch  in  seinem 
klinischen  Bilde  so  geschlossenen  Symptomen-Complex  zu  verzichten ;  denn 
obwohl  die  klinische  Specifitat  nicht  an  wesentlich  neuen  Zeichen  hängt, 
sondern  vornehmlich  an  einer  Modification  und  Combination  ge- 
gebener Symptome  —  so  macht  doch  die  Scharfe  und  Eigenart  dieser  und 
deren  übereinstimmender  Verlauf  die  quäst.  Zustandsform  sicher  diagno- 
sticirbar,  und  praktisch  so  verwerthbar. 

Therapie. 

Die  Behandlung  der  beiden  Gruppen  des  Delirium  acutum  hat 
wesentlich  verschiedene  Indicationen  zu  erfüllen.  Bei  der  ersten, 
der  irritativen  Form,  steht  die  Bekämpfung  der  activen  Fluxionen 
und  der  passiven  (gemischt  activ-passiven)  Hyperämieen  in  erster 
Linie;  bei  der  zweiten,  der  asthenischen  (paralytischen)  Form,  die 
Bekämpfung  der  Inanition.  Dort  ist  die  antiphlogistische,  hier  die 
roborirende  Methode  Hauptindication.  Aber  auch  bei  der  ersten  Gruppe 
kann  die  Hebung  des  körperlichen  Kräftezustandes,  zumal  wenn 
Nahrungsverweigerung  d.  h.  Unfähigkeit  der  Nahrungsaufnahme  ein- 
tritt, zur  gebieterischen  Anzeige  werden. 

Specicll  ist  für  alle  Formen  Bettruhe  unerlässlich,  wenn  nöthig 
erzwungene;  daneben  sorgsamste  Abhaltung  aller  Reize  von  aussen. 
Daher  Isolirung  in  einem  verdunkelten  Zimmer,  mit  Beachtung  der 
grösstmöglichen  Stille  der  Umgebung.  Eisblasen  auf  den  Kopf, 
häufig  Eisstückchen  in  den  Mund,  kühle  Ueberschläge  über  den 
Leib,  unter  Umständen  temperirte  Bäder.  Erträgt  es  der  Kräfte- 
zustand,  so  dürfen  im  Anfange  auch  kleine  locale  Blutentziehungen 
nicht  gescheut  werden.  Ableitungen  auf  den  Darmkanal.  Bei  sehr 
heftigen  Fluxionen  wirken  Einspritzungen  von  Ergotin  nicht  selten 
ermässigend.  Die  Nahrungseinflössung  geschehe  löffelweise  (sehr 
concentrirte  Fleischbrühe  mit  Ei)  und  sehr  häufig,  mit  steter  Be- 
rücksichtigung der  gesteigerten  und  durch  die  Ansprache  der  Mund- 
und  Schlingmuskulatur  noch  mehr  erhöhten  Reflexerregbarkeit. 
Nährklystiere.  Bei  beginnender  Adynamie  Champagner,  Moschus. 
—  Bei  der  anergetischen  Form  ist  neben  der  Bettruhe  auch  die  Er- 
haltung der  Köperwärme,  bei  Insufficienz  des  Schlingacts  Sonden- 
fütterung  unerlässlich.  Man  zögere  mit  letzterer  nicht!  Daneben 
Waschungen  mit  Wein;  bei  drohendem  Collaps  Kampher-  und  Aether- 
injectionen.  Die  lebensbedrohliche  Schwäche  kehrt  nicht  selten  un- 
erwartet wieder;  deshalb  fortgesetzte  Vorsicht!  Bei  deliranter  Un- 
ruhe ex  inanitione  leistet  nicht  selten  Xeres  mit  einigen  Opium- 
tropfen, mehrmals  täglich  gereicht,  sowohl  zur  Beruhigung  (Schlaft 
als  auch  zur  Förderung  des  Kräftezustandes  gute  Mithülfe. 


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Die  typische  Paralyse.  341 


Die  typische  Paralyse. 

Literatur.  Ausführt.  Literatur  bei  Krafft-Ebing,  Allg.  Ztachr.  f.  Psych. 
1866,  ferner  bei  Hitzig,  D.  Hdb.  Bd.  11.  —  Dazu  die  neueren  Specialwerke  von 
Voisin:  TraUe"  de la paralysie g^n.  des  ali£n6s.  1879,  von  Mendel,  Die  progressive 
Paralyse  der  Irren  18S0;  ferner  in  Wernicke's  Lehrb.  d.  Gehirnkrkhten.  III.  — 
Rosenthal,  Paralys.  progr.Pami^tnik.tow.lak.  warsz.  1879.  —  Neuere  Special- 
arbeiten: Conrulsionen:  Westphal,  Arch.  f.  Psych.  5.  —  Baillarger,  Ann. 
mM.  psych.  185S.  —  Zacher,  (auch  üb.  motorisches  Verhalten  nach  Convulsionen, 
Sehstörungen,  vasomot.  Störungen,  Hautreflexe)  Arch.  f.  Psych.  14.  —  Bechterew, 
Petersb.  med.  Wochenschr.  18S1  und  Arch.  f.  Psych.  14.  —  Eickholt,  Allg.  Z.  f. 
Psych. 41.  —  Pupillen:  Thurnam,  Journ.ofm.se.  1880.  —  Sprache:  Kussmaul, 
Störungen  der  Sprache,  p.  206.  —  Brosius,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  14.  —  Zenker, 
Ibid.  37.  —  Voisin,  Arch.  gen.  1876.  —  G  all  opain,  Ann.  m£d.  psych.  1876.  — 
Sehrift  und  Lesen:  Rabbas,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  41.  —  Rieger,  Würzb. 
Sitzungsber.  1884.  —  Knlepbünomen:  Westphal,  Arch.  f.  Psvch.  8.  —  Claus, 
Allg. Ztschr. f.  Psych.  38.  —  Fischer,  Arch. f.  Psych.  11.  —  Mickle,  Journ.  of 
m.  sc.  1882.  —  Spitzka,  Am.  J.  of  neur.  a.  psych.  1883  (Sehnenreflexe).  —  Seh« 
Störungen  und  Ilulliu  Inationen:  G.  Ludwig,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  13.  — 
Wendt,  Ibid.  19  u.  25.  —  Westphal,  Arch.  f.  Psych.  1.  —  Klein,  Psych. 
Stud.  aus  Leidesdorfs  Klinik.  —  Mickle,  Jour.  ofment.se.  1881  u.  82.  —  Fürstner, 
Arch.  f.  Psych.  8.  —  Claus,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  35.  —  Moeli,  Ibid.  39.  — 
Duterque,  Ann.  me"d.  psych.  1882.  —  Borysiekiewicz,  Allg.  Wiener  med. 
Ztg.  1882.  —  Hirschberg,  Neur.  Ctrlbl.  18S3.  —  Wiglesworth  and  Bicker- 
ton,  Brain  1S84.  —  Uhthoff,  Centralbl.  f.  klin.  Med.  1883.  —  S  tenger,  Arch. 
f.  Psych.  13.  —  TemperaturverhUltnlsse:  Reinhard,  Arch.  f.  Psych.  10.  — 
Kr öm er,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  36  (Literatur).  —  Riva,  Arch.it.  1S*0.  —  Bech- 
terew, Petersb.  med.  Wochenschr.  1881  u.  1882  (abnorm  niedrige  Temperatur).  — 
Derselbe,  Arch.  f.  Psych.  14. —  Hitzig,  Arch.  f.  Psych.  Neurologen- Versmlg. 
1884  (über  dasselbe  Thema).  —  Wirsch,  Inaug.-Diss.  Berl.  1881.  —  Zur  Ver- 
gleichung:  Williams,  Med.  Times a.  Gaz.  1867.  —  Gibson,  J.  of  in.  sc.  1868.— 
Clouston,  Ibid.  —  Maragliano  e  Sepilli,  Riv.  sper.  1879.  —  Tambroni, 
Ibid.  1884.  —  Trophifcche  Störungen:  Bonnet,  l'Enceph.  5.  —  Klinisches: 
a)  Beginn  der  Paralyse:  Sander,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1876.  —  Kirn, 
Arch.  f.  klin.  Med.  1877.  —  Kiernan,  (Kleptomanie)  Journ.  of  nerv.  a.  ment.  dis. 
1881.  —  Weiss,  Wien.  med.  Wochenschr.  1SS3.  —  Lizar et  (plötzlich  eintretende 
centrale  Ermüdung  als  Anfangs  symptom),  Revue  me"d.  de  l'Est  1884.  —  Howard, 
Am.  J.  of  neur.  etc.  1883.  b)  Remissionen  (Intervalle):  Christian,  Ann.  me"d. 
p6ych.  1880.  —  Andruzky,  Kowalewsky 's  Centralbl.  18S3.  —  Hammond,  J.  of 
n.  a.  ment.  dis.  1883.  —  Boettger,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  34.  —  Krafft-Ebing 
(forense  Bedeutung)  in  Friedreich's  Blättern  (mit  Literatur),  c)  Varietäten  des 
Verlaufs:  Hoestermann,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  32.  —  Schüle,  Ibid.  1876. 

—  Baillarger,  Ann.  med.  psych.  1877.  —  Derselbe,  Ibid.  1880  (Beginn  mit  He- 
miplegie). —  Ders.,  Ibid.  1881  (vorausgehendes  Stad.  congest.  mit  Aphasie  u.  Aura). 

—  Foville,  Ibid.  1881.  d)  Circuläre  Paralyse:  Lafitte,  Ann.  mäd.  psych. 
I SS2.  —  Bigot,  Ibid.  1SS3.  —  Laehr,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  39.  —  Benno, 
Ibid.  39.  —  Pathologische  Anatomie:  s.  Hitzig,  1.  c.  u.  Emminghaus, 
Psychopathologie  (mit ausführl.  Literatur).  Neuere  Arbeiten:  Tuczek,  Neu- 
rolog.  Centralbl.  1883  u.  Beiträge  zur  pathol.  Anatomie  u.  zur  Patbolog.  der  Dementia 
par.  Monogr.  1884.—  Mendel,  Neurol.  Centralbl.  1882  u.  Berl.  kl.  Woch.  1883. — 
Baillarger,  Ann.  meU  pBycb.  1882.  —  Rey,  Ibid.  —  Claus,  Arch.  für  Psych. 
12.  —  Amadei,  Riv.  sper.  18*3.  —  Binswanger,  Jenaer  Sitzgsber.  1884.  — 
Beziehungen  des  Rückenmarks,  klinisch  und  anatomisch:  Westphal, 
Vircb.  Arch.  39  u.  Arch.  f.  Psych.  12.  -  Simon,  Arch.  f.  Psych.  1  u.  2.  —  v.  Ra- 
benau, Ibid.  3.  —  L.  Meyer,  Ibid.  —  Tigges,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  29. 
(s.  auch  „modif.  Paralyse'4).  —  Frauenparalyse:  Sander,  Berl.  klin.  Woch. 
1970.  —  v.  Krafft-Ebing,  Arch.  f.  Psych.  35.  —  Jung,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych. 
35.  — Frit sc h,  Wiener  med.  Pr.  1879.  —  Sioli,  Char.  Ann.  IV.  1877.  -  Adam, 


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342 


Die  typische  Paralyse. 


Thöse,  Paris  1ST9.  —  Coloritch,  Inaug.-Diss.,  ref.  v.  Regis in  TEnc£ph.  1S83.  — 
Sepil  Ii,  Riv.  sper.lX.  1883.  —  Nosologie  in  derParalyse:  Spitzka,  Chic. 
Med.  Revue  1881.  —  Loggia  (übers,  von  Workman  im  Alien,  a.  >eur.  18S3>.  — 
Wann,  Bost.  med  a  snrg.  Journ.  1879.  —  Baillarger,  Ann.  m£d.  psych.  1883. 

—  Therapie:  L.  Meyer  (Ung.  stib.  Einreibungen),  Berl.  klin.  Woch.  1877.  — 
Ders.,  Ibid.  1SS0.  (Replik  gegen  Haunhorst,  Ibid.  Nr.  13).  —  Oebeke,  Allg. 
Zeitschr.  f.  Psych.  5S.  —  Geheilte  Paralysen:  Calmeil,  Tratte"  p.  286.  — 
Baillarger,  Ann.  m6d.  psych.  III,  t.  IV.  —  Nasse,  Irrenfreund  1870.  —  Schüle, 
Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  32.  —  F 1  emming,  Irrenfreund  1877.  —  Stölzner,  Ibid. 

—  üauster,  Psych.  Centrlbl.  1876  u.  Jahrb.  f.  Psych.  1879.  —  Oebeke,  Allg 
Ztschr.  f.  Psych.  36.  —  Ann.  möd.  psych.  1879.  —  L.  Meyer,  Berl.  klin.  Wocb. 
1878.  —  Tuczek,  1.  c. 

Die  klassische  Paralyse. 

Die  klassische  Paralyse  ist  ein  chronischer,  selten  subacuter, 
Krankheitsprocess,  welcher  symptomatologisch  aus  einer  Verbindung 
geistiger  und  körperlicher  (motorischer)  Krankheitszeichen  besteht, 
mit  dem  Charakter  des  fortschreitenden  Zerfalls:  einerseits  in  Blöd- 
sinn, andererseits  in  mehr  oder  minder  vollständige  Lähmung.  Im 
Beginn  des  Leidens  symptomatologisch  ausserordentlich  mannigfaltig 
d.  h.  unter  verschiedenen  psychischen  Zustandsformen  auftretend, 
und  zugleich  in  der  Prävalenz  theils  der  psychischen,  theils  der 
motorischen  Zeichenreihe  wechselnd,  zeichnen  sich  alle  Fälle  psy- 
chisch durch  eine  primäre  geistige  Schwäche  —  die  meisten  auch 
durch  den  speeifischen  Grössen wahn  —  aus,  und  motorisch  durch 
den  charakteristischen  Decursus  aus  erst  psychomotorischen  (corti- 
calen)  Defecten  in  schliessliche  palpable  Ataxie  und  Lähmung  spi- 
nalen Charakters.  Aetiologisch  bilden  in  der  Regel  directe  cerebro- 
spinale  Erschöpfungszustände  und  vasoparaly tische  centrale  Hyper- 
ämieen  die  Grundlage  des  Leidens;  von  biologischer  Seite  tritt 
biezu  —  als  prädisponirend  —  das  Stadium  des  vollkräftigen  Hirn- 
lebens, der  „Turgescenz"  des  Gehirns  (30—45  Jahre  beim  Mannet. 
Erblichkeit  spielt  häufig  mit.  Die  Paralyse  in  ihrer  ausgebildeten 
klinischen  Form  ist  vorzugsweise  eine  Krankheit  der  Männer;  die 
ungleich  seltnere  Frauenparalyse  zeigt  häufig  ein  modificirtes  Sym- 
ptomenbild. Der  Verlauf  der  typischen  Fälle  ist  ein  zickzackfbr- 
miger,  zwischen  Exacerbationen  und  Remissionen  (manchmal  bis  zu 
täuschenden  Intermissionen)  schwankender.  In  den  spätem  Verlaufs- 
stadien mischen  sich  dem  Krankheitsbild  immer  mehr  die  somati- 
schen Zeichen  der  nunmehr  palpabel  gewordenen  (d.  b.  in  Atrophie 
Ubergegangenen)  diffusen  Hirnkrankheit  bei.  Der  weitaus  häutigste 
Ausgang  ist  der  Tod;  Genesungen  sind  ausserordentlich  selten,  jedoch 
in  der  kleinen  vorhandenen  Zahl  verbürgt.  (Ueber  die  anatomische 
Diaguose  s.  u.) 


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Allgemeine  Symptomatologie.  Intellectuelle  Störungen.  343 


Analyse  der  Symptome. 

Das  Bewusstsein  (als  wache  Gesammtresultante  der  psychi- 
schen Ich-Functionen)  ist  ausnahmslos  tief  gestört,  und  zwar  nicht 
etwa  nur  auf  Grundlage  einer  specifischen  Vorstellungsanomalie 
(Grössenwahn),  sondern  zuvor  schon  durch  eine  universelle  geistige 
Schwäche.  Schon  von  den  ersten  und  unscheinbaren  Krankheits- 
anfängen an  liegt  ein  leiser  Sopor  über  der  kranken  Persönlichkeit 
—  mag  diese  sonst  in  geistigen  Einzeläusserungen  noch  so  nahe  an 
das  Bild  der  vorhergegangenen  gesunden  Tage  anknüpfen.  Der 
Charakter  ist  ein  anderer  —  leichter  bestimmbar  —  geworden,  und 
Dies  neben  und  trotz  der  im  Einzelnen  (namentlich  intcllectuell)  noch 
intact  ablaufenden  Functionen,  trotz  der  anscheinenden  und  that- 
sachlich  oft  noch  lange  vorhandenen  Correctheit  in  den  geistigen 
Einzelleistungen.  Die  höchsten  erworbenen  Vorstellungsreihen,  die 
Vorschriften  der  Moral,  der  Pflicht  und  guten  Sitte,  der  Achtung 
Anderer  und  der  eigenen  Würde  —  sind  noch  vorhanden,  aber 
wirkungsloser  geworden.  Die  gemüthlichen  Regungen,  welche  das 
Ich  einst  zum  „fremden  Selbst  erweitert"  hatten,  erschlaffen  und 
engen  sich  kleinlich  auf  die  eigene  Persönlichkeit  ein;  Schönheits- 
sinn und  Mitleid  verlieren  ihre  belebende  Wärme  für  das  Vorstellungs- 
leben. Und  der  Kranke  merkt  es  nicht!  Schrittweise  und 
unversehens  greift  die  Schwäcbuug  auch  in  die  Mechanik  des  engern 
Vorstellungslebens  ein:  die  Fähigkeit  sich  zu  concentriren  (aufzu- 
merken) beginnt  leise  Noth  zu  leiden,  und,  daran  anschliessend,  die 
einstige  Geübtheit  logisch  gegliederte,  längere  Gedankenreihen  zu 
bilden  (zu  reflectiren);  daneben  können  kurze  und  alt  eingewohnte 
Ideenverbindungen  noch  prompt  gelingen.  Allmählich,  oft  recht 
frühe  schon,  treten  auch  Gedächtnissdefecte  zu  Tage:  der  Kranke 
vergisst  wichtige  Maassnahmen,  und  zwar  oft  gerade  solche,  welche 
durch  lange  Berufsübung  am  meisten  gewohnt  waren,  und  macht 
sich  nichts  daraus,  wenn  er  an  seinen  Lapsus  gemahnt  wird.  Er 
fühlt  ihn  nicht! 

Dabei  ist  psychologisch  bemerkenswerth,  dass  der  Kranke,  welcher 
„den  Balken  im  eigenen  Auge"  nicht  gewahr  wird,  manchmal  den 
„Splitter"  im  Auge  seines  Mitpatienten  entdeckt  und  richtig  zu  beur- 
tbeilen  vermag. 

Bald  lockert  sich  jetzt  auch  das  Gefüge  der  erworbenen  und 
erlernten  Vorstellungsassociationen;  da  und  dort  fallen  dem  Kranken 
geläufige  Begriffe  und  Worte  aus;  er  stockt  im  Flusse  seiner  Rede, 
geht  von  Einem  aufs  Andere  über,  weil  ihm  überall  der  Faden 
bricht.   Er  lernt  auch  nichts  mehr;  neue  Wahrnehmungen  finden 


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344 


Die  typische  Paralyse. 


keine  Apperception ,  oder  keine  richtige.  «Die  allgemeinen  Denk- 
kategorieen  des  Raums  und  der  Zeit  stehen  nicht  mehr  sicher;  der 
Kranke  vergreift  sich  im  Datum,  in  der  Abschätzung  der  Tageszeit, 
des  Ortes,  wo  er  sich  befindet.  Er  erkennt  Personen,  die  er  täg- 
lich sah,  nicht  wieder;  weiss  ihren  Namen  nicht  mehr,  verwechselt 
dieselben.  Damit  und  neben  dem  leise  fortschreitenden  Zerfall  des 
vorhandenen  Besitzes  schwindet  immer  mehr  das  Verständniss  für 
die  Wirklichkeit,  zugleich  aber  auch  die  Fähigkeit  für  Urtheil  und 
Kritik;  neben  dem  progressiven  Blödsinn  ist  jetzt  die  Grundlage 
vorbereitet  für  das  Aufblühen  des  Grössenwahns.  Dessen  Cha- 
raktere, speciell  in  der  klassischen  Paralyse,  sind:  die  Unmittelbar- 
keit der  Entstehung,  die  sinnliche  Plastik,  das  Unmögliche  und  oft 
barock  Groteske  des  Inhalts  und  —  dem  Verrückten  gegenüber  — 
das  Umspringen  der  Grössenideen,  endlich  deren  Wandelbarkeit,  oft 
auf  die  nichtigsten  Einwände. 

In  Einem  Athemzuge  werden  Tausende  von  Millionen  verschenkt, 
„Tonnen  von  Caviar  und  Berge  von  Buttersemmeln  commandirt",  und  im 
nächsten  Augenblicke  wieder  vergessen.  Inhaltlich  wird  Alles,  was  die 
Erinnerung  birgt,  was  die  zufällige  Wahrnehmung  bringt,  jeder  Einfall, 
in  den  „organischen  Multiplicator"  eingeschaltet,  und  daraus,  unter  Auf- 
gebot der  krankhaft  Uberheizten  Phantasie,  die  chaotisch  wechselnde 
Grössenwahnsgallerie  geformt.  Aus  dem  Himmelsgewölbe  werden  die 
Sterne  herabgenommen  und  als  goldene  Kugeln  wieder  eingesetzt;  Uber 
alle  Gebirge  der  Welt  werden  Eisenbahnen  gelegt  und  im  Nu  in  den 
Mond  hinaufgeführt;  der  Kranke  hat  die  Atmosphäre  gepachtet  und  lässt 
sich  jeden  Zug  Athmungsluft  von  den  Andern  mit  einer  Million  bezahlen; 
er  selbst  ist  Milliarden  Jahre  alt,  besitzt  Tausende  von  Frauen,  bevöl- 
kert in  seiner  riesigen  Potenz  die  ganze  Welt  täglich  neu ;  er  belebt  alle 
Abgeschiedenen;  er  hat  Alles  gedichtet  und  geschrieben:  Homer,  Dante 
und  Shakespeare  sind  nur  Pseudonyme  seiner  unendlichen  Person;  er  ist 
Gott,  ja  Obergott,  vor  welchem  „der  gewöhnliche  Gott  auf  die  Kniee 
fallen  müsse".  Von  einer  „Methode  im  Wahnsinn",  welche  der  acut 
Wahnsinnige,  trotz  alles  Schwelgens  in  seinen  oft  auch  maasslosen  Be- 
glückungsideen  beibehält,  ist  beim  Paralytiker  keine  Spur  zu  entdecken. 
Je  höher  man  fragt,  desto  höher  versteigt  sich  der  Kranke,  wird  aber 
in  demselben  Maasse  alberner  und  kindischer,  und  vor  Allem  systemloser 
in  seinen  Conceptionen.  Durch  eine  erbetene  Cigarre  mit  Streichhölz- 
chen lässt  er  sich  vom  höchsten  Flug  wieder  in  die  Wirklichkeit  zurück- 
führen, und  bleibt  glücklich,  wie  vorher. 

Diesem  „expansiven"  Grössen  walin  steht  ein  „depressiver",  dem  po- 
sitiven ein  nihilistischer,  gegenüber,  ebenso  schrankenlos  in  der  Form, 
ebenso  ungeheuerlich  in  phantastischer  Uebertreibung;  in  gewissen  Fällen 
aber  insofern  realer,  als  er  sich  häufiger  auf  hypochond rische Sen- 
sationen aufbaut.  Es  ist  eine  Art  „Mikromanie",  jener  vorher  beschrie- 
benen „Megalomanie"  gegenüber.  Die  Kranken  —  mit  Verdauungsstö- 
rungen —  fühlen  ihren  Magen  zugenäht  und  verstopft,  ihren  Mund  und 


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AUg.  Symptomatologie.  Grössenwahn.  Störungen  der  Gemttthsfunct.  345 

After  geschlossen,  das  Körperinnere  mit  Eiter  erfüllt;  sie  sind  winzig 
klein,  weigern  sich  zu  Tische  zu  sitzen,  weil  kein  Stuhl  für  sie  hoch 
genug  ist;  sie  fühlen  sich  in  allen  vertracten  Körperformen  (z.  B.  drei- 
eckig); sie  haben  keinen  Kopf,  keine  FUsse,  können  nichts  essen  und 
verdauen,  weil  die  Gedärme  fehlen,  weil  die  Löffel  zu  gross,  die  vorge- 
setzte Suppe  u.  s.  w.  ihrer  Kleinheit  gegenüber  ein  unendliches  Meer  vor- 
stellt, in  welchem  sie  zu  ertrinken  fürchten;  aus  dem  Nabel  entbinden 
sich  Schachteln  mit  Nürnberger  Spielsachen  u.  s.  w. 

Anderemale  enthalten  die  mikromanen  Wahnperceptionen  eine  me- 
lancholische Färbung:  die  Kranken  sind  die  Ausgeburten  der  Hölle, 
unermessliche  Scheusale ;  Alles,  was  sie  geniessen,  ist  der  hässlichste  Un- 
rath ;  sie  selbst  befinden  sich  in  Nacht  und  Finsterniss  u.  s.  w. 

BemerkenBwerth ,  und  ein  wichtiger  Beleg  fUr  die  unreflectirte 
(organische)  Entstehung  dieser  Stimmungs-  und  Bewussteeinslagen  ist 
der  rasche  Umschlag  der  expansiven  in  die  depressive  Phase. 

Ganz  jählings  stürzt  der  Kranke  mit  seinen  ätherischen  Himmels- 
wonnen in  die  ebenso  grundlose  Tiefe;  erst  noch  „Obergott",  ist  er  jetzt 
der  Verdammten  Einer  geworden  (Meschede).  Es  können  beide  Phasen 
im  Zeitraum  von  nur  einer  Stunde  wechseln,  oder  auch  typisch  im  Verlaufe 
desselben  Tages:  Morgens  die  expansive,  Abends  die  depressive.  Die  letz- 
tere bringt  oft  brüske  Raptus  von  Selbstmorddrang  mit  sich. 

Die  Gemüthsfunctionen  zeigen  eine  gleich  tiefe  Schädigung 
wie  die  des  Vorstellungslebens,  ja  vielleicht  noch  eine  mächtigere, 
wenn  die  von  Anfang  der  Krankheit  schon  vorhandenen  moralischen 
Defecte  —  die  egoistische  Charakteränderung,  der  erblindende  Sinn 
für  das  Ideale,  für  Würde  und  Decorum  —  eingerechnet  werden. 
Aber  auch  die  Stimmung  ist  vom  Beginn  an  krankhaft  In  der  Regel 
ist  es  eine  allgemeine  Euphorie,  ein  erhöhtes  Wohlgefühl,  welches 
die  Krankheit  einleitet  —  eine  furchtbare  Ironie  der  Natur,  welche 
dem  Kranken  das  Trugbild  aller  innerlichen  Wonnen  vorhält,  wäh- 
rend sie  an  ihm  den  unaufhaltsamen  Ruin  seines  geistigen  Besitzes 
vollzieht;  ihn  in  maasslosem  Selbstgefühl  sich  wiegen  lässt,  während 
er  im  geistigen  Banquerott  zusammenbricht!  Die  Kranken  sind  Uber- 
glücklich, gesund  wie  nie  zuvor,  und  im  Gefühl  einer  körperlichen 
Leistungskraft,  welche  sie  alle  Excesse  aufsuchen  lässt.  Bei  dem 
abgestumpften  Sinn  für  Das,  was  sich  ziemt,  werden  alle  diese  Nei- 
gungen und  Bethätigungen  des  beginnenden  Paralytikers  zu  ebenso 
vielen  groben  Verstössen  gegen  den  Anstand,  gegen  die  eigene  und 
Familienwürde  (brutale  Debauchen  in  Venere  und  Baccho).  Aller 
Kummer  der  Vergangenheit  ist  weggewischt;  die  Pflicht  des  Tages 
macht  auf  den  gemüthsschwachen  Kranken  keinen  Eindruck  mehr. 
Er  erträgt  Alles  spielend,  sofort  mit  der  Nonchalance  des  Blödsin- 
nigen: die  Trauer  der  Angehörigen,  die  Trennung  von  denselben, 
den  Abschied  aus  dem  liebgewohnten  Lebensberuf. 


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31G 


Die  typische  Paralyse. 


Diese  Gefühlskalte  nimmt  mit  den  vorgeschrittenen  Leidensstadien 
za,  nicht  aber  ohne  manchmal  noch  spät  zu  einer  wohlthuenden  Wärme 
vorübergehend  belebt  werden  zu  können.  (Ueber  differentes  Verhalten 
dieser  affectiven  und  ethischen  Functionen  in  gewissen  ünterformen  der 
Paralyse  8.  u.) 

Neben  der  Indolenz  des  Gemtttbs  geht  in  der  Regel  eine  nicht 
minder  grosse  Reizbarkeit  einher;  ein  versagter  Wunsch  kann  den 
bis  dahin  harmlosen,  freundlichen  Kranken  in  zornige  Wuth  und 
brutale  Gefährlichkeit  versetzen.  In  der  Weise  des  Ausbruchs  dieser 
Affecthandlungen,  in  der  unendlichen  Rücksichtslosigkeit,  ja  Gemein- 
heit des  einst  feingebildeten  (und  intellectuell  noch  leidlich  geschonten) 
Kranken,  in  den  Misshandlungen  von  Frau  und  Kindern  enthüllt  sich 
erschreckend  der  gemüthliche  Defect.  Vielfach  fallen  auch  Conflicte 
mit  dem  Strafgesetze  gerade  in  diese  Anfangszeit  der  Krankheit  (s.  u.). 
Nach  der  That  ist  jeweils  Alles  sofort  vergessen ;  es  zeigt  sich  keine 
Reue,  weil  der  Kranke  seine  Rohheit  nicht  merkt,  nicht  fühlt. 

Mit  zunehmendem  Fortschritt  des  Leidens  nimmt  die  Gemtiths- 
verblödung  immer  zu,  und  erreicht  dieselben  äussersten  Grade,  wie 
der  intellectuelle  Blödsinn.  Doch  ist  dieser  Gang  nicht  ein  voll- 
ständig congruenter;  manchmal  verbleibt  eine  gewisse  schwachsinnige 
Gutmüthigkeit,  oft  aber  gegentheils,  oder  abwechselnd,  eine  raotiv- 
lose  Reizbarkeit  (der  lawinenartige  Reflex  eines  zeitweiligen  innern 
Unbehagens)  mit  Raptus  von  grausamer  Gewaltthätigkeit  gegen  sich 
und  Andere. 

Wie  mit  dem  Grössenwahn  die  nihilistischen  Ideen,  so  lösen  sich 
mit  der  Stimmungs  -  Euphorie  auch  depressive  Gemüthszustände  ab, 
und  zwar  nicht  selten  in  einem  gleich  jähen  Umschlage.  Dieselben 
können  bald  einen  ausgesprochen  melancholischen  Inhalt  haben,  sehr 
oft  aber  auch  einen  hypochondrischen.  Manchmal  tritt  ein  alter- 
nirender  Typus  darin  auf  (s.  u.).  Aber  auch  Stunden  von  richtigem 
Krankheitsgefühl  fehlen  nicht;  es  gibt  Paralytiker,  welche  zeitweise 
Uber  ihre  Unheilbarkeit  klagen  (ein  ärztlicher  College  sogar  Uber 
die  „Atrophie  des  Gehirns");  oder  es  folgt  auf  eine  euphorische 
Phase  ein  wochenlanges  Stadium  schmerzlicher  Gedrücktheit,  mit 
Weinen  und  übertriebener  Aengstlichkeit,  wobei  der  Kranke  peinlich 
seinen  Urin  beschaut,  seinen  Speichel  aufbewahrt  und  untersucht, 
über  eine  nächtliche  Pollution  in  Verzweiflung  geräth. 

In  Fällen  von  Paralyse  ohne  specilischen  Grössenwahn  (primäre  De- 
mentia s.  u.)  kann  eine  allgemeine  Ruhelosigkeit  der  Stimmung  mit  stets 
bereiten  Thränen  neben  hypochondrischer  Aengstlichkeit,  welch  letztere 
sich  mit  vager  Genesungshoffnung  immer  selbst  wieder  beschwichtigt,  die 
Stimmungsgrundlage  durch  den  grössten  Theil  des  Krankheitsverlaufs 


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Allg.  Symptomatologie.  Störungen  der  Wilensspbäre.  Forenses.  347 


bilden;  erst  gegen  Scillase  erfolgt  der  Umschlag  in  eine  untröstliche  Hoff- 
nungslosigkeit. 

a)  Die  Störungen  der  Willenssphäre  sind  grösstenteils  in  der 
Schilderung  der  vorstehenden  Vorstellungs  -  und  Stimraungsano- 
malieen  gegeben.  Es  sind  Acte  der  krankhaften  Reizbarkeit  (des 
pathologischen  Affects),  sowie  nicht  minder  des  expansiven  oder 
depressiven  Grössenwahns,  oder  endlich  der  blödsinnigen  Schwäche 
(theils  auf  Grundlage  einer  ungezähmten  sinnlichen  Triebrichtung, 
theils  einer  Urtheilslosigkeit,  welche  „Mein  und  Dein"  verwechselt), 
oder  endlich  einer  idiotischen  Bosheit  und  Rachsucht.  In  allen  For- 
men ist  die  krankhafte  Handlungsweise  psychisch  motivirt,  bald  be- 
wnsst,  bald  erst  ex  post  (raisonnirend);  sehr  oft  treten  die  Motive 
nicht  über  einen  dunkel  gefühlten  Drang  heraus,  wofür  der  Kranke 
keine  Rechtfertigung  weiss. 

Auf  allen  diesen  Wegen  begegnet  der  Paralytiker  dem  Strafgesetz, 
und  in  der  That  dürfte  ausser  der  Epilepsie  und  dem  Alkoholismus  keine 
andere  Geistesstörung  eine  ebenso  grosse  Menge  crimineller  Acte  liefern. 
In  den  erregten  Stadien  des  Krankheitsanfanges  sind  es  namentlich  die 
Conflicte  mit  der  Polizei,  die  Ruhestörungen,  die  Verletzungen  des  An- 
standes,  die  öffentlichen  Beleidigungen,  welche  den  Kranken  compromit- 
tiren;  oder  andererseits  die  maasslosen  Verschwendungen,  die  sinnlosen 
Verkäufe,  die  phantastischen  Unternehmungen.  Dann  kommen  die  An- 
griffe auf  fremdes  Gut  und  Leben,  die  Brandstiftungen  aus  kindischer 
Rache,  „um  Bettwanzen  zu  vertreiben",  oder  „um  Kartoffeln  im  Zimmer 
zu  braten";  die  plumpen,  frechen  Diebstähle,  die  Betrügereien  aus  al- 
berner Profitsncht,  endlich  die  Inceste  ans  gesteigertem  Sexualdrang,  wel- 
cher, Anstand  und  Würde  vergessend,  zur  nackten  Schamlosigkeit  (Noth- 
zucht,  Entblössungen  auf  öffentlicher  Strasse,  Vergehen  an  Kindern  u.s.w.) 
herabgesunken  ist.  Auch  die  Morde  sind  nicht  selten,  manchmal  wegen 
Bagatellen,  ja  selbst  in  Form  anscheinend  motivloser  brüsker  Attentate. 
Auch  die  nicht  so  seltenen  Suicidien  sind  hier  einzureihen,  gleichfalls 
kurzer  Hand,  in  impulsiven  Raptus,  unternommen. 

Mit  dem  fortschreitenden  Blödsinn  wird  die  Qualität  der 
psychischen  Handlung  immer  mehr  zur  triebartigen  Schablone:  die 
Kranken  fallen  einem  Sammeltrieb  anheim,  in  welchem  sie  sich 
täglich  mit  Steinchen,  Scherben  und  allerhand  Unrath  die  Taschen 
füllen,  um  sie  am  Abend  ausleeren  zu  lassen,  und  am  andern 
Morgen  ihre  kindische  Spielerei,  hinter  welcher  sie  allerdings  die 
Anhäufung  von  Gold  und  Pretiosen  erblicken,  neu  zu  beginnen; 
sie  stecken  nicht  minder  auch  fremdes  Eigenthum  ein,  oder  tragen 
es  offen  fort,  weil  sie  nichts  dabei  denken.  Hypochondrisch  melan- 
cholische Paralytiker  verweigern  auch  gelegentlich,  und  oft  recht 
intensiv,  die  Nahrung.  Andere  gegentheils  verfallen  in  ihrem  ver- 
blödeten Grössenwahne  auf  allerlei  perverse  Acte:  sie  verschlucken 


348  Die  typische  Paralyse. 


was  ihnen  in  die  Hand  kommt,  oder  schicken  sich  an  sich  aus 
dem  Fenster  zu  stürzen,  „weil  sie  Engel  geworden  und  Flügel  be- 
sässen." 

Auf  eine  localisirte  Affection  höherer  corticaler  Coordinationscentren 
sind  wohl  die  triebartigen  Actionen  vieler  Kranker:  das  tage-  und  wochen- 
lange Abreiben  der  Wände,  das  Scheuern  am  Körper,  die  automatischen 
Greif-  und  Webebewegungen  u.  s.  w.  zu  beziehen. 

b)  Motorische.  Hier  kommen  zuerst  die  psychomotorischen 
Störungen  der  Sprache,  Schrift  und  Mimik  in  Betracht.  Alle 
drei,  besonders  die  zwei  ersten,  sind  in  einer  charakteristischen, 
theilweise  pathognomonischen  Weise  in  der  Paralyse  verändert.  In 
der  Stufenleiter  dieser  Aenderungen  legen  beide  zugleich  den  fort- 
schreitenden Störungsgang  des  Paralyse- Processes  im  Allgemeinen 
klar:  wie  der  destructive  Angriff  zuerst  auf  die  psychische,  dann 
auf  die  psychomotorische  Qualität  dieser  combinirten  Bewegungs- 
acte  erfolgt,  und  endlich  die  grob  motorische  Läsion  (die  Lähmung) 
übrig  lässt,  nachdem  die  Corticalis-Affection  zu  einer  Tiefe  gediehen 
ist,  welche  keine  „psychischen",  sondern  nur  mehr  „organische" 
Reactionssymptome  noch  ermöglicht. 

So  besteht  die  Aenderung  der  Sprache  im  ersten  Beginn  in  einem 
einfachen  Häsitiren  (einem  psychischen  Schwanken),  weil  die  Asso- 
ciationen sich  nicht  mehr  mit  der  früheren  Promptheit  einstellen.  In  der 
Folge  kommt  eine  erst  leise,  dann  immer  deutlichere  Störung  in  der  for- 
mellen Leistung  des  Hypoglosso-Facialis-Gebietes  hinzu,  welche  sich  in 
einer  Einbusse  an  Geschmeidigkeit  und  Geläufigkeit  der  Sprache  und 
namentlich  auch  an  dem  Metall  der  Stimme  kundgibt.  Eine  Reihe  von 
Worten  wird  noch  ganz  prompt  gesprochen ;  dann  kommt  plötzlich  eine 
kleine  Stockung  der  Articulation ,  eine  flüchtige  Convulsion  der  Zunge. 
In  der  Folge  treten  Umsetzungen  und  Ellipsen  von  Silben  ein,  nament- 
lich bei  zusammengesetzten  Worten  —  wohl  in  Folge  von  Gedächtniss- 
defecten  im  Wortbilde.  —  Im  Weiteren  macht  sich  die  psychische  (Sil- 
benstolpern)  und  von  nun  an  auch  grob-motorische  Schwerfälligkeit  kennt- 
lich in  dem  forcirteren  Aufgebot  von  muskulärem  Kraftaufwand:  als 
convulsivische  Mitbewegungen  der  Lippen-  und  Mundmuskeln,  dann  des 
Gesichts,  sogar  der  Arme;  oder  aber:  es  werden  die  übrigen  Gesichts- 
partieen  und  selbst  die  Arme  durch  Aneinanderpressen  der  Finger  steif 
gehalten  —  als  arbeiteten  sie  auf  die  schwere  Leistung  hin  die  Zunge 
zu  beherrschen.  Aus  derselben  halb  bewussten,  halb  unbewussten  Inten- 
tion im  Verein  mit  der  zunehmenden  Anarthrie  bildet  sich  allmählich 
eine  Ummodelung  von  Vocalen  und  Consonanten  aus,  je  nach  den  beque- 
meren d.  h.  articulatorisch  leichteren  Uebergängen  (z.  B.  ü  statt  u,  oa 
statt  a),  nicht  selten  auch  in  dem  Einflicken  von  Vocalen  zu  demselben 
Nothbehelf  (Sch— e— wa— ger  statt  „Schwager").  Endlich  bilden  sich 
die  gröberen  anartbrischen  Störungen  immer  herrschender  aus:  so  im 
Rederhythmus  (Pausen  im  Sprechen,  präcipitirtes  Hervorstossen  von  Wor- 
ten, oft  förmliche  Sprachexplosionen);  sodann  Tremuliren  der  Stimme 


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Allg.  Symptomatologie.   Störungen  der  Sprache,  Schrift.  349 


(durch  musculäre  Insuffizienzen  in  den  Stimmbändern,  im  Velum  und  im 
Ansatzrohr) ;  endlich  gellende  und  meckernde  Stimme,  und  am  Schlags  an- 
arthrische  Aphasie  mit  Zungenlähmung  bis  zu  vollständiger  Sprachlosig- 
keit und  Ersatz  durch  unarticulirte  Laute. 

Merkwürdig  ist  die  zeitweilige  manische  Aphasie  (Wernicke)  ge- 
wisser Paralytiker,  welche  darin  besteht,  dass  unter  entsprechenden  mono- 
tonen Gesticulationen  dieselben  sinnlos  verdrehten  Worte  hinausgeschrieen 
und  in  ewiger  Wiederkehr  förmlich  „zu  Tode  gehetzt"  werden. 

Sprachprobe:  Ich  blase ,  wenn  ich  geblasen  habe ,  dann 
höre  ich  mit  Blasen  auf;  ich  will  die  Katzen  anblasen,  auch  sechs 
Pferde  können  blasen;  wenn  die  Kühe  blasen  könnten,  dann  könnten 
die  Scharfschützen  auch  blasen;  wenn  ich  kein  Kalbfleisch  bekomme, 
dann  kann  ich  nicht  blasen,  und  wenn  ich  nicht  blasen  kann,  dann 
ist  Alles  aus.  Man  ruft  mir:  blase!  blase!  Weisst  du,  wie  man  blasen 
muss?  Sag,  was  du  willst,  wenn  du  nur  blasen  kannst;  o  blase  doch! 
Alles  muss  geblasen  werden;  das  Blasen  hört  nicht  auf,  wenn  ich  einen 
Rausch  habe,  dann  ist  Blasen  das  Beste  u.  s.  w. 

Intercurrente  Zufälle  im  Einzelverlaufe  können  in  der  mannigfaltig- 
sten Weise  abändernd  auf  diesen  Stufengang  einwirken  und  einen  be- 
schleunigten Decursus  herbeiführen.  So  bleibt  nach  einem  stärkeren  An- 
fall von  Convulsionen  in  der  Regel  mindestens  eine  kürzere  oder  längere, 
amnestische  Aphasie  (oft  in  charakteristischer  Weise  mit  Ausfall  der  Sub- 
stantiva,  wofür  der  Kranke  in  den  begriff  liehen  Umschreibungen  sich  zu 
verdeutlichen  abmüht);  anderemalc  verfügt  er  Tage  lang  nur  über  Ein 
Wort,  womit  er  Alles  bezeichnet;  oder  endlich:  er  befindet  sich  über 
mehrere  Stunden  oder  Tage  in  einem  verbalen  Delirium.  Immer  bleibt 
nach  diesem  ersten  Chok  durch  einen  paralytischen  Anfall  eine,  wenn  auch 
leise,  Zunahme  der  Sprachstörung  zurück.  Auffallendes  Erhaltenbleiben 
der  Sprache  neben  den  progressiv  weiter  entwickelten  übrigen  Symptomen 
kommt  bei  der  typischen  Form  nicht  vor;  ich  beobachtete  es  bei  der 
syphilitischen  und  tabischen  Paralyse ;  in  einem  Falle  aus  letzterer  Kate- 
gorie sprach  der  Kranke  anhaltend  ein  forcirtes  Hochdeutsch,  mit  ganz 
eigenartiger  Accentbetonung. 

Die  Aenderungen  in  der  Schrift  verfolgen  den  gleichen  Decursus 
aus  dem  Kreis  anfänglich  bloss  „psychischer"  Defecte  in  schliesslich  „or- 
ganische" d.  h.  grob  motorische.  Im  Beginn  finden  sich  Auslassungen 
von  Worten  in  Folge  der  unsicheren  Vorstellungsassociationen ;  später 
Silbenellipsen,  so  dass  einzelne  Worte  verstümmelt  werden,  oder  auch 
Silbenverdoppelungen  und  Silbenumstellungen  (die  Analogie  des  corticalen 
„Silben8tolpern8").  Im  weiteren  Verlaufe,  oft  auch  gleichzeitig,  erschei- 
nen graphische  (ataktische)  Störungen,  welche  sich  kundgeben  a)  in  einem 
Tremolo  einzelner  Buchstaben,  indem  die  bis  dahin  sicher  schreibende 
Uand  plötzlich  (in  Folge  einer  leisen  Zuckung)  aus  der  Linie  fährt  und 
dem  Buchstaben  ein  „Zickzack"  anhängt;  nach  und  nach  vertheilt  sich 
dieses  „winklige"  Ausfahren  auf  immer  mehr  Schriftzeichen;  b)  in  einer 
ungleichmässigen  Schrift,  wobei  die  einen  Buchstaben  abnorm  gross,  die 
andern  klein  werden  und  zugleich  im  Ductus  der  Buchstaben  selbst  ver- 
doppelt angesetzt  wird.  Schliesslich  werden  die  letzteren  ganz  eckig, 
bilden  nur  noch  aneinandergereihte  Zickzacks  —  das  Schlusstableau  gra- 


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350 


Die  typische  Paralyse. 


phischen  Zerfalls  eines  auch  innerlich  „verwaschen"  gewordenen  Schrift- 
bildes. 

Ins  psychische  Gebiet  der  „Schrift"  und  Sprache  gehörig  sind  hier 
die  sehr  interessanten  und  vielfach  charakteristischen  Paragraphieen 
und  Paralexieen  einzelner  Paralytiker  (namentlich  auch  beginnender) 
kurz  zu  erwähnen.  Diese  Kranken  lesen  (ohne  im  Geringsten  aphasisch 
zu  sein)  ganz  falsche  Worte  (besonders  mehrsilbige  werden  entsetzlich 
verdreht),  können  vorgesprochene  nur  verstümmelt  niederschreiben,  letz- 
tere nicht  wiederlesen ;  8ie  vermögen  nur  noch  in  bescheidenen  Grenzen 
mechanisch  zu  zählen,  und  straucheln  bei  den  einfachsten  Rechenopera- 
tionen, wozu  intellectuelle  Combination  gehört  (Rabbas,  Rieger). 

Die  rein  motorischen  Störungen  haben  nicht  die  specifische 
Bewertbung,  wie  die  vorgenannten  psychomotorischen;  sie  kommen 
vielmehr  der  klassischen  Paralyse  gerade  so,  wie  der  modificirten 
(ans  primär  palpabeln  Hirnaffectionen)  zu. 

Störungen  im  Gang,  Haltung,  Bewegungen  u.  8.  w. 
Dieselben  combiniren  sich  aus  den  directen  Folgen  der  anatomischen 
Läsion  resp.  Fnnctionsstörung  und  aus  hinzutretenden  Compensations- 
bewegungen.  Die  erstem  sind  Anfangs  ausgesprochen  ataktische  — 
mangelnde  Coordination ;  die  zweiten  bestehen  in  einer  verstärkten 
Innervation  einzelner  Muskeln  und  Muskelcombinationen,  zum  Zwecke 
der  Gegenwirkung  und  Stützung.  Dadurch  erhalten  die  Actionen 
der  Fttsse  beim  Gehen  (analog  wie  die  Bewegungen  der  Lippen- 
und  der  Gesichtsmuskulatur  beim  Sprechen)  ein  convulsives  Gepräge. 
Die  Beine  „schlurfen"  und  werden  stossweise  vorgeschleudert;  zn 
gleicher  Zeit  nimmt  aber  der  Rumpf  entweder  eine  vorwiegend  flec- 
tirte  Haltung  (watschelnder,  nickender  Hahnenschrittsgang),  oder 
eine  Neigung  zur  extendirten  an  (Grandezza,  Parade-,  Schlittschuh- 
läuferschritt, Zenker).  Bei  raschem  Anhalten  oder  Umdrehen  er- 
folgt Schwanken,  ein  Ueberwerfen  nach  einer  Seite,  oder  auch  ein 
Umstürzen.  Aus  der  anfanglichen  Ataxie  wird  allmählich  Parese 
und  Paralyse  in  Form  eines  breitspurigen,  plumpen,  unbeholfenen, 
endlich  ganz  versagenden  Ganges.  Ebenso  sind  auch  die  Bewegungen 
der  oberen  Extremitäten  Anfangs  rein  ataktische,  aus  psychischen 
Defecten  in  den  Bewegungsanscbauungen  und  in  den  motorischen 
Associationen  zusammengesetzte :  der  Kranke  verfügt  noch  Uber  eine 
ansehnliche  Muskelkraft,  während  er  schon  seine  Kleider  nicht  mehr 
ordentlich,  oder  nur  mit  verstärktem  Willensimpuls,  zuknöpfen  kann. 
Fortschreitend  wird  das  Zittern  und  die  Unsicherheit  stärker  (das 
anfänglich  leise  Muskelzittern  lässt  sich  namentlich  durch  das  auf- 
gelegte Ohr  deutlich  hörbar  machen)  ;  endlich  wird  mit  dem  Fort- 
schritt der  Krankheit  die  Hand  vollständig  ungeschickt  und  kraftlos. 


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Allg.  Symptomatologie.   Störungen  im  Gang  (Sehnenreflexe),  Zunge.  351 

Nicht  so  selten  bilden  sich  in  der  Folge  da  und  dort  Contrac- 
turen  oder  vorübergehende  Athetose  in  einzelnen  Fingern  aus ;  oder 
auch,  es  gesellt  sich  jetzt  secundär  Muskelatrophie  aus  aufgehobener 
Function  dazu;  in  andern  Fällen  treten  locale  Muskelzuckungen, 
zeitweises  Emporschnellen  einer  Extremität  ein.  Die  Gesichtsinner- 
vation  wird  ungleich  d.  h.  einseitig  stärker  und  das  Gesicht  verzogen; 
nach  und  nach  bilden  sich  dadurch,  und  wohl  auch  in  Folge  der 
secundären  Muskelatrophie,  einseitige  Verflachungen  der  Gesichts- 
falten (namentlich  in  der  Stirne)  aus.  Oft  steht  eine  Augenbraue  höher, 
als  die  andere;  ebenso  die  Oberlippe.  Umschriebene  Zuckungen  sind 
nicht  selten,  namentlich  in  den  Nasolabialfurchen. 

Das  Verhalten  der  Sehnenreflexe  ist  verschieden;  einen  typi- 
schen Befund  gibt  es  nicht.  Eine  Steigerung  derselben  im  Beginn  der 
Krankheit  ist  nicht  selten,  und  zwar  ohne  jeweils  vorhandene  Lateral- 
sklerose. Bei  begleitender  Erkrankung  der  Hinterstränge  fehlen,  wie 
auch  sonst,  die  Sehnenreflexe  (s.  tabische  Paralyse);  doch  scheint  der 
Ausfall  erst  auf  einer  gewissen  Erkrankungshöhe  aufzutreten  (s.  sp.).  So 
zuverlässig  im  letzteren  Falle  der  diagnostische  Rückschluss  gelingt,  so 
wenig  lässt  sich  bis  jetzt  der  Befund  der  Sehnenreflexe  im  Allgemeinen 
mit  der  Art  und  Intensität  der  anatomischen  Gehirnvorgänge  in  der  Para- 
lyse in  irgend  eine  Beziehung  setzen.  —  Auch  das  Verhalten  der  elek- 
trischen (farad.  u.  galvan.)  Erregbarkeit  der  Nerven  und  Muskeln 
im  Paralyseprocess  ist  ein  zu  verschiedenes  und  wandelbares,  um  irgend- 
wie sicher  diagnostisch  (bis  jetzt)  verwerthet  zu  werden.  Ein  nicht  sel- 
tener Befund  ist  Herabsetzung  der  elektrischen  Erregbarkeit  der  Nerven 
nach  vorausgegangener  Steigerung.  Häufiger  noch  findet  sich  eine  Dif- 
ferenz in  der  quantitativen  elektrischen  Erregbarkeit  beider  Körperseiten, 
besonders  in  den  Peronei.  Qualitative  Erregbarkeitsänderungen  kommen 
bei  D.  p.  nur  vor,  wenn  sich  mit  derselben  eine  Erkrankung  der  vor- 
deren grauen  Substanz  oder  der  vorderen  Wurzeln  des  Rückenmarks 
verbindet. 

Die  Störungen  in  der  Z  u  n  g  e  bestehen  in  einem  ataktischen 
Zittern  beim  Herausstrecken,  so  dass  die  Zunge  beständig  aus  der 
Führungslinie  schwankt,  in  leisem  Tremolo  zurück  und  dann  wieder 
vorwärts  zuckt,  und  von  dem  Kranken  nur  durch  Fixiren  mit  den 
Zähnen  in  leidlicher  Ruhe  erhalten  werden  kann.  Dieses  wichtige 
(vielleicht  speeifische)  Verhalten  zeigt  sich  meist  schon  unter  den 
ersten  Krankheitssymptomen.  In  der  Folge  wird  das  Zittern  durch 
Hinzutreten  fibrillärer  Zuckungen  noch  verstärkt.  In  den  spätem 
Stadien  nimmt  die  Beweglichkeit  der  Zunge  schrittweise  ab ;  manch- 
mal kann  sie  nicht  mehr  aus  dem  Munde  bewegt  werden;  nicht 
selten  tritt  auch  hier  zur  Parese  noch  muskuläre  Atrophie. 

Die  anfänglich  ataktische  Störung  der  Stamm-  und  Extremitäten- 
moskeln  schreitet  bis  zur  vollständigen  Lähmung  fort,  sodass 


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352 


Die  typische  ParalyBe. 


der  Kranke,  unfähig  zum  Geben,  Stehen  und  zu  jeder  Arm-  und 
Handbewegung,  zu  einer  vollständigen  Moles  iners  wird.  In  gleichem 
Schritte  erhöht  sich  die  spinale  Reflexerregbarkeit,  so  dass  leiseste 
periphere  Reize  eine  wahre  Muskelanarchie  auszulösen  vermögen. 

Mimik.  Der  Blick  ist  im  anfanglichen  Erregangstadium  der  Para- 
lyse glänzend,  funkelnd,  animirt;  später  wird  er  matt,  gläsern,  inhalts- 
leer (durch  Divergenz  der  Angenaxen).  Die  Lider  sinken  in  den  spätem 
Stadien  oft  herab  und  geben  dem  Gesichte  ein  schläfriges  Aussehen;  zu 
andern  Zeiten  sind  sie  gegentheils  weit  aufgerissen,  bei  contrahirten  Fron- 
tales. Merkwürdig  ist  die  manchmal  zu  beobachtende  Paramimie,  so  dass 
die  Kranken  bei  Freudeäusserungen  einen  weinerlichen  Gesichtsausdruck 
bekommen;  hin  und  wieder  ist  der  letztere  über  längere  Zeit  anhaltend 
vorhanden  (bei  complicirenden  schweren  Rttckenmarksaffectionen,  speciell 
des  Bulbus).  Gegen  Schluss  der  Krankheit  werden  die  Züge  grob  und 
träge,  schlaf?  und  hängend,  der  Ausdruck  harmlos  und  einförmig;  viele 
Kranke  haben  für  die  Freude  nur  noch  ein  ganz  unbeherrschtes  Lachen, 
für  die  Aufmerksamkeit  ein  glotziges  Staunen,  für  die  Verdriesslichkeit 
auch  nur  eine  Nuance;  bei  ruhiger  Gesichtslage  sieht  die  Maske  wie  aus 
Holz  geschnitten  aus,  während  dagegen  beim  ängstlichen  Affect  sich  die 
Züge  zu  einem  erschreckenden,  furchtbaren  Anblick  spannen  und  verzerren. 

Pupillen.  In  der  weitaus  grössern  Hälfte  aller  Paralyse-Fälle 
ist  die  Reaction  der  Pupillen  träger,  und  sind  letztere  selbst  ein- 
seitig weiter.  Manchmal  wechselt  ausserdem  noch  die  Form  und 
die  Pupille  wird  verzogen,  und  zwar  theils  für  eine  längere  Zeit- 
dauer, theils  nur  für  den  Umfluss  einiger  Stunden.  Oft  tritt  bei  den 
acuten  Kopf-Rash's  im  Verlaufe  der  Paralyse  ganz  plötzlich  eine 
sehr  starke  Mydriase  auf,  welche  mit  Nachlass  der  Wallung  sich 
wieder  zurUckbildet.  Anderemale  fehlt  die  Reaction  auf  Licht,  tritt 
aber  bei  der  Accomodation  (Bewegung  der  Augenaxen)  ein:  so  bei 
begleitenden  Spinal-  und  Optionsaffectionen ;  oder  aber  umgekehrt: 
es  fehlt  die  Reaction  bei  der  Convergenz,  dieselbe  ist  aber  für  Licht 
erhalten,  so  bei  Erkrankung  des  oculomotorischen  Bündels  im  me- 
dialen Pedunculus  (Wem icke).  In  manchen  Fällen  endlich  wird 
auch  Myosis  beobachtet,  mit  fehlender  Reaction  auf  Lichtunterschiede 
(in  einem  meiner  Fälle  blieb  diese  das  einzige  restirende  Symptom 
nach  sonst  vollständigem  Rückgang  der  übrigen  Symptome).  —  Bei 
Complicationen  können  sich  auch  locale  Oculomotorius-  und  Abducens- 
Paresen  einstellen. 

Die  Störungen  in  der  Stimm-Muskulatur  sind  oben  bereits 
kurz  erwähnt  worden.  Es  sind  Fälle  beobachtet,  in  welchen  der 
Verlust  einer  ehedem  schönen  Singstimme  das  erste  eintretende 
Krankheitszeichen  bildete.  Sonst  wird  die  Stimme  oft  näselnd,  oder 


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Allg.  Symptomatologie.  Mimik;  Pupillen;  Zunge;  Deglutition ;  Convulsionen.  853 

guttural,  in  ihrem  Timbre  meckernd,  kreischend,  zeitweise  auch 
gaiiz  heiser. 

Störungen  der  Deglutition(Zenker).  Dieselben  theilen  sich  in 
i.  Coordinationsstörungen  der  Lippen-  und  Backenmuskulatur  mit 
Unbehilf  lichkeit  der  Kaubewegungen  und  tibercompensirenden  Mitbewe- 
gungen; 2.  mangelhaft  beherrschte  Aspiration  mit  Verschlucken  beim 
Trinken;  3.  Insuffizienzen  des  Velum  —  alle  drei  Momente  aus  geschwäch- 
ter Facialis-Innervation ;  4.  masticatorische  Coordinationsstörungen  durch 
Fnnctionsdefecte  im  Quintus;  5.  Hypoglossnsstörungen  in  Form  mangel- 
hafter Bissenbildung,  mit  verlangsamtem  Hinabschlucken  bei  ungenügendem 
Absen  luss  des  Isthmus;  6.  Hyperästhesie,  oder  gegentheils  Anästhesie,  in 
der  Mundschleimhaut  (Quintus-  und  Olossopharyngeusgebiet),  mit  Trismus 
und  Oesophagealspasmus;  7.  stufen  weises  Erlöschen  der  Reflexaction  und 
der  Emporbewegungen  des  Kehlkopfes  mit  mangelhaftem  Verschluss  des 
Ostium  laryngis  —  das  praktisch  wichtigste  Vorkommniss  in  den  End- 
stadien der  Paralyse,  oder  intercurrirend  nach  epileptischen  Anfällen. 

Ein  ausserordentlich  häufiges  motorisches  Symptom  ist  das  Zähne- 
knirschen, bald  nur  vorübergehend  (oft  schon  in  den  Anfangsstadien), 
bald  aber  auch  durch  Wochen  hindurch  anhaltend. 

Störungen  in  der  Urinentleerung  treten  theils  als  Ischurie, 
theils  als  Incontinenz  —  und  zwar  vorübergehend,  oder  (in  den 
Schlussstadien)  dauernd  —  auf. 

Eine  sehr  wichtige  Zeichengruppe  endlich  bilden  die  sog.  pa- 
ralytischen Anfälle  —  die  Convulsionen.  Abgesehen  von 
den  vielen  individuellen  Variationen  lassen  sich  nach  Form  und 
Ausdehnung  zwei  Gruppen  unterscheiden,  welche  symptomatologisch 
wesentlich  different  sind,  nach  der  Prognose  ein  verschiedenes  Ver- 
halten zeigen,  und  höchst  wahrscheinlich  auch  eine  verschiedene 
cerebrale  Entstehung  haben. 

Bei  der  ersten  Gruppe  handelt  es  sich  bloss  um  klonische  (oft  mit 
Voran sgang  tonischer)  Krämpfe  in  umschriebenen  Muskelgebieten  des  Ge- 
sichts oder  der  oberen  Extremitäten,  mit  Erhaltung  des  Bewnsstseins,  so 
zwar,  dass  der  Kranke  während  der  Convulsionen  noch  leidlich  zu  per- 
cipiren  und  kurze  passende  Antworten  zu  geben  vermag.  Die  zweite 
Gruppe  dagegen  umschliesst  mehr  minder  allgemeine  (oft  aus  erst  par- 
tiellen entstehende)  tonische  und  klonische  Zuckungen,  mit  vollständiger 
Ausschaltung  des  Bewusstseins  und  in  der  Regel  hochgradig  gesteigerter 
Reflexerregbarkeit.  Die  Krämpfe  können  einseitige  sein  und  in  Absätzen 
sich  in  gleicher  Weise  wiederholen,  oder  aber  von  einer  auf  die  andere 
Seite  übergehen;  oft  kann  krampfhafte  Beugung  der  oberen  mit  Streckung 
der  gleichnamigen  unteren  Extremität  eintreten.  Der  Anfall  beginnt  ge- 
wöhnlich im  Facialisgebiet  und  in  den  Drehern  des  Nackens;  die  para- 
lytischen Muskelgebiete  sind  die  hauptsachlich  ergriffenen.  Die  Beein- 
flussung der  Respiration  erfolgt  bei  dieser  zweiten  Gruppe  ganz  analog 
dem  specifisch  epileptischen  Insulte.  Der  Puls  ist  frequent  (jedoch  nicht 
regelmässig;  manchmal  auch  nur  60 — 70  und  von  ungleicher  Stärke); 

Schal«,  Geirtwkrtakheiten.   3.  Aufl.  23 


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354 


Die  typische  Paralyse. 


die  Temperatur  oft  stark  erhöht;  reichliche  Transspiration,  namentlich  im 
erhitzten  Gesichte,  geht  mit  einher.  Variirend  können  auch  allgemeine 
tetanische  Krämpfe  mit  klonischen  abwechseln,  und  ein  mehrstündiges 
kataleptisches  Nachstadium  folgen;  anderemale  treten  Anfälle  von  hef- 
tigstem allgemeinem  Zittern  ein.  Diese  Grand -mal -Anfälle  sind  in  der 
Regel  von  Vorboten,  häufig  auch  von  Nachsymptomen,  begleitet.  Zu 
den  Vorboten  gehört  gesteigerte  Unruhe  des  Kranken  mit  stärkeren  mo- 
torischen Störungen  und  'einem  benommenen  Wesen;  sehr  häufig  sind 
auch  Congestiverscheinungen,  Zähneknirschen,  manchmal  Aphasie  nachzu- 
weisen. Unter  den  Nachsymptomen  steht  Sopor  mit  partiellen  Paresen 
resp.  mono-  und  hemiplegischen  Paralysen  (oft  mit  andauernden  fibril- 
lären  Zuckungen  und  Sprachstörungen,  Aphasie,  Worttaubheit)  in  erster 
Reihe;  es  kann  aber  auch  ein  manischer  Zustand  mit  triebartigem  Zer- 
störun^sdrang  und  Gefährdung  gegen  sich  und  andere  nachfolgen.  Höchst 
selten  tritt  eine  interkurrente  Besserung  ein  (s.  u.).  Auch  mehrwöchent- 
liche starke  Polyurie  ist  beobachtet.  Sehr  interessant  ist  das  zeitweilige 
Auftreten  von  automatischen  combinirten  Handbewegungen,  welche  voll- 
ständig wie  „gewollte"  imponiren  nach  einem  solchen  Krampfanfall  (s.  o.). 

An  sich  und  in  Beziehung  zum  Gesammt verlaufe  der  Krankheit 
bedeutet  ein  grosser  paralytischer  Anfall  stets  eine  bleibende  Etappe 
nach  abwärts  in  der  fortschreitenden  psychischen  und  motorischen 
Lähmung.  Die  Anfälle  können  sich  bis  zu  48  in  24  Stunden  wieder- 
holen; es  kann  aber  auch  bei  wenigen  sich  bewenden,  und  in  diesen 
wenigen  der  Tod  erfolgen. 

Interessant  sind  dabei  die  manchmal  dazwischen  tretenden  freieren 
Remissionen.  Nach  mehrstündigen  (leichteren)  Convulsionen  kann  der 
Kranke  wieder  umhergehen,  ruhig  sprechen,  ohne  sich  an  das  Voraus- 
gegangene im  Geringsten  zu  erinnern,  Cigarren  rauchen  u.  s.  w.;  dann 
kann  nach  mehrstündiger  Pause  sich  ein  allmählicher  Sopor  mit  sterto- 
röser  Respiration  entwickeln ,  mit  Unempfindlichkeit  der  Haut ,  nahezu 
vollständig  aufgehobener  Reflexerregbarkeit  und  Pupillenreaction ;  dann 
nach  einer  Reihe  von  Stunden  wieder  freie  Zeit  über  einen  Tag  und  mehr; 
dann  wieder  Aufregung  und  Convulsionen;  dann  wieder  Sopor,  freie 
Zeit  u.  s.  w. 

Bei  starken  Convulsionen  erfolgt  nicht  so  selten  Zerbeissen  der 
Zunge,  selbst  einzelne  Male  bis  zu  völliger  Continuitätstrennung  und 
Verlust  eines  grössern  Stückes  (welcher  sich  theilweise  narbig  aus- 
gleicht, sogar  mit  Wiederkehr  eines  beschränkten  Sprach  Vermögens). 
—  Der  nach  dem  epileptiformen  Anfall  gelassene  Harn  ist  oft  (nicht 
immer)  ei  weiss  haltig. 

Was  den  muthmaasslichen  Sitz  der  beschriebenen  Anfälle  im  Gehirn 
betrifft,  so  sind  die  der  ersten  Gruppe  wohl  unzweifelhaft  direct  cor- 
ticaler  Natur.  Wahrscheinlich  ist  auch  für  die  zweite  Gruppe  —  das 
Grand  mal  —  dieselbe  Localisation  zu  beanspruchen  (schon  nach  der 
Natur  der  Folgesymptome,  speciell  der  Paralysen);  aber  als  viel  ausge- 
dehntere HirnrindenarTection.   Möglicherweise  handelt  es  sich  bei  diesen 


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Allg.  Symptomatologie.   Convulsionen,  apopleküf.  Anfalle.  355 


am  vasomotorische  Reflexe  grossen  Stils  von  infracorticalen  (Budge'schen 
oder  Not h nage l'schen)  Krampfcentren  aus.  Die  Ursache  der  auslösenden 
Reize  kann  entweder  peripher  gelegen  sein  —  erfahrungsgemäss  ver- 
mag eine  Ueberftlllung  der  Blase  oder  des  Mastdarms  einen  Anfall  her- 
vorzurufen, eine  passive  Bewegung,  ein  stärkeres  Anfassen  der  hyper- 
ästhetischen Haut  nach  einem  Anfall,  die  sofortige  Recidive  zu  bewirken  — 
oder  central  durch  directe  Einwirkung  der  im  Gehirn  aufgespeicherten 
und  durch  die  degenerirten  Geftlsse  nicht  prompt  wegzuschaffenden  lym- 
phatischen Stoffe  (Burckhardt). 

Seltener  als  die  eben  geschilderten  paralytischen  Convulsionen 
sind  die  zeitweilig  intercurrirenden  apoplektiformen  Anfälle. 
Dieselben  treten  manchmal  schon  unter  den  Vorboten  der  Krankheit 
auf  (Paralysis  congestiva  s.  u.),  häufiger  aber  erst  in  den  spätem 
Stadien.  Man  trifft  hier  oft  Kranke,  welche  ohne  auffällige  voraus- 
gegangene Bewusstseinsstörungen  plötzlich  mehr  oder  minder  ver- 
breitete Paresen  oder  Paralysen  —  im  Gesichte  oder  auf  einer 
Extrem itätenseite  darbieten.  Dieselben  gehen  in  der  Regel  rasch 
wieder  vorüber.  Sie  können  aber  auch  in  Form  von  leichten  Hemi- 
paresen  dauernd  werden.  Sehr  bemerkenswerth  ist,  dass  beinahe 
ausnahmslos  niemals  Gontracturen  (wie  bei  gewöhnlichen  Apo- 
plexieen)  nachfolgen. 

Die  anatomische  Ursache  bilden  höchst  wahrscheinlich  plötzliche  intra- 
cranielle  Druckschwankungen  in  Folge  von  Störungen  in  der  Vertheilung 
des  Liq.  cerebrospinalis.  Manchmal  sind  vielleicht  auch  einseitig  stär- 
kere Atrophieen  in  den  motorischen  Corticalisfeldern  (Parencephalieen), 
namentlich  für  die  dauernden  Hemiparesen,  verantwortlich  zu  machen. 
Wirkliche  blutige  Apoplexieen  kommen,  wie  es  scheint,  der  „typischen" 
Paralyse  nicht  zu,  sowie  auch  bei  den  in  Rede  stehenden  Anfällen  der 
klassische  apoplektische  Insult  fehlt. 

c)  Sensorielle  und  sensible  Störungen.  Erregungszustände  in  allen 
Sinnesgebieten  unter  der  Form  von  Hallucinationen  sind  nicht  so 
selten,  am  seltensten  vielleicht  die  des  Gehörs.  Die  letztern,  wenn 
sie  vorkommen,  haben  keinen  speeifischen  Inhalt  (Scheltworte, 
Drohungen,  Versprechungen,  Musik,  Thierstimmen).  Häufiger  sind 
in  den  manischen  Perioden  die  Visionen,  welche  vielen  gewalttäti- 
gen Acten  der  Paralytiker  zu  Grunde  liegen.  Geruchs-  und  Ge- 
schmackstäuschungen mögen  den  häufigen  Vergiftungswahn  bedingen, 
vielleicht  in  ihrer  angenehmen  Kehrseite  auch  die  „Ambrosia"-  und 
„Nektar"- Genüsse,  welche  die  Kranken  aus  den  gewöhnlichsten  Ess- 
gegenständen zu  kosten  vorgeben.  In  den  spätem  Stadien  erlöschen 
die  Functionen  der  zwei  letztern  Sinnesgebiete,  mit  dem  fortschrei- 
tenden Blödsinn  Hand  in  Hand  gehend,  so  zwar,  dass  die  Kranken 
für  die  hässlichsten  Geschmäcke  und  Gerüche  keine  Empfindung 

23* 


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356 


Die  typische  Paralyse 


mehr  haben.  Interessant  nnd  bemerkenswerth  ist,  wie  das  paraly- 
tische Krankheitsbild  selbst  dnrch  die  oft  zahlreichen  nnd  mannig- 
faltigen Sinnestäuschungen  so  wenig  modificirt  wird  (Unterschied  von 
den  andern  mit  Hallucinationen  verknüpften  Psychosen,  speciell  auch 
vom  Alkoholismus). 

Von  hohem  klinischen  Interesse  sind  die  eigentümlichen  Sehstörungen 
gewisser  Paralytiker  (mit  complicirenden  Herdsymptomen  im  Hinterhaupts- 
lappen, Fürstner).  Die  Sehstörung  besteht  darin,  dass  die  Kranken  den 
vorgehaltenen  Gegenstand  zwar  sehen,  aber  nicht  psychisch  erkennen 
können.  Sie  sind  also  auf  einem  oder  beiden  Augen  „seelen"blind.  Die 
betr.  Fälle,  welche  stets  vorgeschrittenen  Krankheitsstadien  angehören, 
können  wieder  in  Besserung,  oder  aber  in  totale  Blindheit  (Rindenblindheit) 
tibergehen.  Der  Augenspiegelbefund  ist  normal.  —  Auch  eine  eigenartige 
Asymbolie  ist  nach  paralytischen  Anfallen  beobachtet  worden  (Wer- 
nicke),  wobei  die  Kranken  —  nach  ihrem  Gesammtverhalten  zu  ur- 
theilen  —  zu  sehen,  zu  hören  und  zu  tasten  vermögen,  aber  nichts  desto 
weniger  die  Fähigkeit,  die  sinnlich  percipirten  Dinge  wiederzuerkennen 
(zu  „appercipiren"),  eingebüast  haben.  Daher  die  grosse  Rath-  und  Wil- 
lenlosigkeit  dieser  Kranken  nach  einem  solchen  Anfalle,  welche  oft 
Wochen  lang  dauert,  bis  sie  wieder  so  viel  Erinnerungsbilder  aufgefrischt 
haben,  um  sich  wieder  orientiren  zu  können. 

Von  sensorischen  Reizzuständen  im  Acusticus  im  Verlauf  der  Para- 
lyse ist  die  Beobachtung  aus  der  Krankheitsgeschichte  des  Componisten 
Schumann  zu  bewahren,  wornach  sich  bei  dem  Patienten  oft  urplötzlich 
ein  bestimmter  Ton  einstellte,  aus  welchem  sich  immer  weitere  Melo- 
dieen,  und  schliesslich  ganze  Ouvertüren  entfalteten. 

Die  Sensibilität  ist  stets  mitergriffen.  Zwar  im  Beginne 
weniger,  so  dass  in  diesem  Momente  eines  der  noch  verlässlichsten 
differentiellen  Merkmale  gegenüber  dem  chronischen  Alkoholismus 
gelegen  ist  —  um  so  entschiedener  aber  im  Verlaufe  der  Krankheit. 
Manchmal  tritt  Anästhesie  und  Analgesie  aber  schon  recht  frühe  au£ 
und  bildet  dann  nicht  selten  die  Grundlage  für  grössenwahnsinnige 
Allegorisirungen  (Federn  am  Körper,  Engels-Metamorphose).  In  den 
späteren  Stadien  erreicht  die  Gefühlsabstumpfung  einen  so  hohen 
Grad,  dass  die  Kranken  umfängliche  Hautentzündungen  (Phlegmonen, 
Carbunkel)  gar  nicht  merken,  dass  sie  Attentate  auf  die  feinstnervigen 
Körpertheile  machen,  ohne  den  mindesten  Schmerz  zu  äussern.  Die- 
selbe Anästhesirung  erstreckt  sich  auch  auf  die  inneren  Schleimhänte, 
und  wird  bald  für  die  Urethra  (bei  Handhabung  des  Catheterismus) 
wichtig.  —  Ein  allgemein  vorkommendes  Symptom,  namentlich  im 
Beginn  und  prämonitorisch,  ist  Kopfschmerz,  besonders  vorne, 
theils  diffus,  theils  halbseitig,  und  besonders  nach  geistiger  Anstren- 
gung (Geinüthsbewegung)  hervortretend. 


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Sensorielle  and  sensible,  vasomotorische  and  trophiscbe  Störungen.  357 

Die  sexuellen  Functionen  sind  im  Beginne  der  Krankheit  (in 
den  Erregungsphasen)  in  der  Regel  erhöht,  und  bilden  durch  die  oft 
schamlose  Weise  ihrer  Befriedigung  sehr  häufig  den  Ausgangspunkt  der 
compromittirendsten  Handlungen,  und  namentlich  auch  crimineller  Acte. 
Später  erlischt  mit  zunehmender  Lähmung  der  anormale  Drang  und  auch 
die  Function  (unwillkürliche  Pollutionen  bei  erschlafftem  Gliede,  Samen- 
abgang bei  Harn  und  Stuhlgang). 

d)  Vasomotorische  und  trophische  Störungen.  Zu  den  vasomo- 
torischen Störungen  gehören:  stunden-  und  tagelange  Fluxionen  zum 
Kopfe  mit  Papillen  Verengerung,  Röthung  des  Ohres  und  der  betr. 
Gesichtshälfte  mit  vollem,  weichem,  sehr  frequentem  Carotidenschlag 
(oft  mit  Schinerzhaftigkeit  des  obern  Halsganglions  auf  Fingerdruck ; 
dies  namentlich  in  convulsiven  Anfällen).  Manchmal  sc h Hessen  sich 
plötzliche  Hals-  und  Gesichtserytheme  mit  bedeutender  Temperatur- 
erhöhung an  einen  vorangegangenen  leichten  Alkohol-Reiz  an.  Sel- 
tener sind  Eruptionen  von  Zoster  und  auch  Bronzed  skin  beobachtet 
worden.  Oft  überrascht  eisige  Kälte  der  Extremitäten,  manchmal 
mit  profusem  Schweisse  (letzterer  nicht  selten  nur  partiell,  oder  auch 
einseitig)  und  tiefer  sensorischer  Benommenheit.  Oft  wechseln  vaso- 
motorische Krampf-  und  Lähmungszustände  miteinander  ab.  Das 
Körpergewicht  ergibt  für  die  ruhigen  Schlussstadien  eine  Zunahme 
(„Fettsucht"  der  Paralytiker). 

Ueber  die  Temperatur  Verhältnisse  schwanken  die  Angaben.  Scheidet 
man  die  Einzelfälle  aus  dem  Sammelnamen  der  „Paralyse"  genauer,  so 
wird  sich  für  die  typischen  Fälle  keine  dauernde  Temperaturerhöhung 
ergeben  —  accidentelle  Zustände  ausgenommen  (vasomotorische  Fluxionen, 
Coprostasen,  Decubitus  u.  s.  w.).  Dieses  Moment  scheint  mir  so  wichtig, 
dass  ich  darnach  u.  A.  die  reinen  und  andrerseits  die  modificirten  (resp. 
im  Verlauf  sich  durch  encephalitische  und  leptomeningitische  Aflectionen 
complicirenden)  Fälle  trennen  möchte.  Acute  Hirnzufälle  (Gonvulsionen) 
bringen  Temperaturerhöhung.  —  Bei  vorgeschrittenen  und  in  der  Körper- 
ernährung sehr  reducirten  Kranken  finden  sich  in  den  manischen  Erregungs- 
zuständen (mit  Neigung  zum  Sich-Entblössen  und  zur  Unreinlichkeit)  nicht 
selten  starke  Temperatur  ab  fälle  bis  zu  34  und  3u°  C.  Agonal  sind  bei 
marantischen  Kranken  Temperaturen  sogar  bis  zu  22°  C.  beobachtet  wor- 
den; gegentheils  hier  aber  auch  wieder  neuroparalytische  Steigerungen 
bis  42°  C.  und  darüber. 

Der  Harn  erleidet  im  Demenzstadium  eine  Abnahme  im  Volu- 
men und  der  absoluten  Menge  an  Harnstoff  und  Chloriden,  unter 
Zunahme  des  spec.  Gewichts  und  vermehrter  Neigung  zur  Alkales- 
cenz.  Der  Phosphor-  und  Schwefelsäuregehalt  desselben  steigt  in 
der  Periode  des  abnehmenden  Körpergewichts  trotz  stärkerm  Appetit 
und  fehlender  Temperaturerhöhung.  —  Die  Knochen,  und  darunter 
namentlich  die  Rippen,  werden  —  wohl  in  Folge  des  Verlustes  von 


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Die  typische  Paralyse. 


Kalksalzen  —  brüchiger  und  fracturiren  leichter.  —  Sehr  häufig 
entstehen  bei  den  „dyskrasischen"  und  allen  mechanischen  Schäd- 
lichkeiten sich  aussetzenden  Kranken  Othämatome,  sehr  selten 
Rhinhämatome.  —  Parenchymatöse  Muskeldegenerationen 
mit  Hämorrhagieen  (im  Transversus  abd.)  sind  gleichfalls  beob- 
achtet, wenn  auch  nur  selten.  Höchst  interessant  sind  auch  die 
(allerdings  nicht  häufigen)  Blutaustritte  in  die  Haut  in  der  Form 
von  Purpura,  von  grossen  Blutblasen,  von  profusem  Nasenbluten, 
von  „Blutschwitzen"  hinter  dem  Ohre,  endlich  von  Decubitus  acutus 
(trotz  sorgsamster  Reinlichkeitspflege).  Auch  Pemphigus  acutus  kommt 
vor.  Hartnäckige  Blasenkatarrhe  mit  pyelitischen  Affectionen  sind 
häufig,  und  meistens  wohl  die  Folge  von  Urinretention.  Etwas  sel- 
tener, aber  doch  noch  zahlreich  genug,  sind  ausgedehnte  Haut- 
Phlegmonen  mit  Neigung  zu  raschem  brandigem  Zerfall.  Der 
Decubitus  chronicus  führt  manchmal  zu  Knochen  -Cari es,  sogar  mit 
contiguirender  Entzündung  der  Rückenmarkshäute.  —  Ganz  besonders 
sind  hier  auch  die  häufigen  Lungen hypostasen  mit  Entwicklung 
lobulär  pneumonischer  Herde  zu  erwähnen,  welche  oft  sehr  rapid 
sich  entwickeln  —  ein  Symptom  der  nachlassenden  Vagusinnervation 
der  Lunge.  —  Auch  die  Haut  geht  trophiscbe  Veränderungen  ein, 
indem  sie  in  spätem  Stadien  oft  trocken,  spröde  und  leicht  ab- 
schuppend wird.  Das  Haar  ergraut  leicht,  oder  nimmt  eine  ganz 
ungewöhnliche  Farbennuance  (Stich  ins  Grünliche)  an;  oft  erscheint 
Canities  praematura,  theils  allgemein,  theils  partiell.  Der  Puls  ent- 
wickelt sich  successive  zu  tarderm  Charakter,  übrigens  ohne  sphyg- 
mographische  Specifität. 

Klinisches  Krankheitsbild. 

Die  ausserordentliche  Mannigfaltigkeit  der  klinischen  Bilder,  na- 
mentlich auch  nach  Beginn  und  Verlauf,  nöthigt  zur  getrennten  Be- 
schreibung. Ich  stelle  das  am  meisten  typische  Bild  voran.  Das- 
selbe umfasst  diejenigen  Fälle,  welche  mit  wesensgleicher  Aetiologie 
denselben  Beginn  und  einen  in  den  Hauptsymptomen  gleichen  kli- 
nischen Verlauf  zeigen,  welche  sich  fast  so  ähnlich  sind  wie  ein  Ei 
dem  andern;  daran  knüpfen  sich  dann  die  anderen  Typen  entweder 
als  Modifikationen  dieses  ersten,  oder  als  eigentliche  Varietäten. 

1.  Typisches  Bild.  —  Manische  Form. 
Der  Beginn  der  Krankheit  vollzieht  sich  still  und  geräuschlos  in 
Form  einer  immer  auffallenderen  Charakteränderung,  wie  sie  oben  ge- 
zeichnet wurde.  Der  sonst  gewissenhafte  tüchtige  Mann  kommt  etwas 
weniger  gut  mit  seinen  Berufsgeschäften  zurecht;  sein  Gedächtniss 


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Specielle  Symptomatologie.  Manwche  Form. 


339 


strauchelt;  gewohnte,  ja  auffallenderweise  sonst  geläufigste  Dinge  voll- 
ziehen sich  fUr  ihn  schwerer.  Zugleich  wird  die  Stimmung  reizbarer; 
der  geringste  Widerspruch  bringt  ihn  ausser  sich,  und  entfesselt  sofort 
eine  zornige  Wallung,  in  welcher  der  Kranke  seine  eigene  Selbstachtung 
und  zarte  Herzensrttcksichten  brüsk  bei  Seite  setzt.  Er  wird  heftig, 
ja  roh,  gegen  seine  Angehörigen,  ungezogen  gegen  seine  Vorgesetzten. 
Dabei  ist  intellectuell  noch  keine  Einbusse  zu  bemerken,  wenn  man 
die  zeitweiligen  Gedächtnisspausen  abrechnet;  Urtheil  und  Wissen 
entfalten  sich  noch  in  der  frühem  Promptheit.  Doch  aber  entdeckt 
der  tiefere  Blick  einen  Allgemein-Zug  von  Apathie,  welcher 
sich  über  die  geistige  Persönlichkeit  ausbreitet;  der  Kranke  ist  im 
Ganzen  stumpfer  geworden :  weniger  Initiative,  geschwächtes  Interesse, 
abnehmende  FeinfUhligkeit  —  und  dies  Alles,  ohne  dass  der  Kranke 
selbst  es  merkt.  Er  behauptet  sogar  gesunder  wie  je  zu  sein,  und 
wird  bei  der  leisesten  Insinuation  des  Gegentheils  aufgebracht.  Die 
Stimmung  ist  heiter,  nonchalant,  oft  duselig  weinselig.  Zwar  fehlen 
bei  manchen  Kranken  auch  zeitweilige  trübe  Stunden  nicht,  in  welchen 
sie  ihren  Defect  gegenüber  von  früher  fühlen,  selbst  vorübergehend 
Einsicht  äussern;  aber  Das  geht  vorUber.  Schlaflosigkeit  und  allerlei 
Missbehagen  im  Kopfe  wird  nicht  lange  schwer  genommen,  obwohl 
der  Kopfschmerz  nicht  selten  heftig  ist.  Dabei  ist  wiederum  be- 
merkenswert!], dass  Manche,  welche  in  frühern  Jahren  oder  jetzt,  im 
Beginn,  an  heftiger  Migraine  gelitten,  sich  mit  dem  wirklichen  Ein- 
tritt des  verhängni 88 vollen  Leidens  erleichtert  und  schmerzfrei  flihlen. 
Bedenklicher  wird  für  die  Umgebung  der  Zustand  des  Kranken,  wenn 
die  Gedächtnissdefecte,  die  Gemüthsschwäche,  und  die  Verstösse  gegen 
das  Decorum  auch  gegenüber  der  Aussenwelt  zu  Tage  treten,  wenn 
der  Kassenbeamte  plötzlich  seine  Schlüssel  stecken  und  ohne  Wei- 
teres sich  wieder  zurückgeben  lässt,  oder  wenn  der  bis  dahin  wür- 
dige Familienvater  öffentliche  Häuser  ungenirt  aufsucht,  der  feine 
Gesellschafter  plötzlich  Zoten  auftischt  —  und  von  alledem  bei  Vorhalt 
wiederum  nichts  merkt,  sondern  höchstens  in  affectvollem  Proteste  auf- 
fährt Nicht  selten  sind  zu  dieser  Zeit  schon  leise  motorische  Defecte 
nachweisbar,  vor  Allem  in  der  Sprache  (Häsitiren,  Silbenstolpern),  in 
der  Schrift  (Wort-  und  Silben-Ellipsen);  die  vorgestreckte  Zunge  zittert 
(s.  o.) ;  ungleiche  Gesichtsinnervation  und  vasomotorische  Kopffluxio- 
nen  intercurriren ;  Pupillendifferenz  tritt  auf.  Auch  Conflicte  mit  der 
Polizei  und  ernstere  mit  dem  Strafgesetz  werfen  oft  genug  die  bang- 
sten Ahnungen  und  Schrecken  schon  in  diese  Periode. 

Auf  dieses  einleitende  —  richtiger  erste  —  Stadium  der  Krank- 
heit folgt  nun  in  der  Regel  eine  manische  Episode.  Diese  spielt  sich 


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360 


Die  typische  Paralyse. 


gewöhnlich  zuerst  in  Form  einer  Mania  mitis  ab,  mit  dem  Gehoben- 
sein der  Gesammtpersönlichkeit,  dem  gesteigerten  Selbstgefühl,  der 
Euphorie,  der  Plänesacht  und  Kauflust.  Aber  bald  klärt  der  para- 
lytische Grössenwabn  mit  der  Unendlichkeit  des  Inhalts,  mit 
der  schrankenlosesten  (oft  poetischen)  Phantasie  als  vorstellender 
Form,  und  mit  seiner  absoluten  Evidenz  als  Handlungsnorm  des 
Kranken  —  die  Sachlage  auch  für  die  bis  dahin  ahnungslose  Um- 
gebung. In  der  That  hat  der  Kranke  damit  bereits  die  riesige  Höhe 
der  Bewusstseinsstörung  beschritten;  aus  seinen  Überschwenglich eu 
Projecten  schaut  dieselbe  Grössendimension  seines  Blödsinns.  Nicht 
selten  werden  in  diesem  Stadium  Vermögen  verschleudert,  weil  ja 
des  erträumten  Reich tbums  kein  Ende.  Erschüttert  in  seinen  erwor- 
benen Vorstellungsassociationen,  unfähig  für  neue  Perceptionen,  dabei 
absolut  kritiklos,  verfällt  er  immer  tiefer  in  seine  deliranten  Ideen. 
Tage  und  Wochen  lang  lebt  er  —  wachen  Sinnes  —  in  der  Welt 
seiner  Phantasieen.  Er  verspielt  sich  dabei  wie  ein  Kind,  beglückt 
Über  sein  mit  flitterhaften  Fetzen  drapirtes  Costtlm,  über  seine  ein- 
gesammelten Kleinodien.  Anderemale  bricht  er  in  tagelange  Zorn- 
tobsucht aus,  wenn  man  seinen  unsinnigen  Begehren  in  den  Weg 
tritt.  Aber  auch  von  selbst  steigert  sich  die  Mania  mitis  oft  zur 
Mania  gravis;  mitten  unter  den  Faseleien  von  Millionen  und  den 
stolzen  Ausrufen  seines  Weltkaiserthums  beschäftigt  sich  der  Kranke 
mit  sinnlosem  Zerstören  und  Zerreissen,  mit  Schmieren  und  selbst 
Kothessen  —  unter  seiner  Hand  wandelt  sich  der  hässlichste  Schmutz 
in  Gold  und  Leckereien.  Dazwischen  treten  auch  wieder  lucidere 
Momente,  und  neben  diese  wiederum  regellose  Paroxysmen  des  heftig- 
sten Tobens  und  blinder  convulsiver  Gewaltthätigkeit.  Die  Stim- 
mung ist  mit  der  Minute  wechselnd:  heiter  und  überglücklich,  mit 
jedem  Dritten  sich  verbrüdernd,  wird  sie  in  jähem  Umschlag  ge- 
bieterisch oder  feindselig.  Ebenso  wechselt  aber  auch  die  Euphorie 
und  das  maasslose  Selbstgefühl  mit  verzehrender  Hypochondrie  und 
Kleinheitswahn.  Der  „Gott"  und  „Kaiser"  in  einer  Stunde  ist  in 
der  folgenden  oder  am  andern  Tage  ein  fluchbeladener  Sünder  oder 
ein  „armer  Teufel" ;  der  „Uebergesunde"  ein  „rettungslos  Kranker", 
ein  „in  seinen  Organen  Verfaulter".  Treten  in  diesen  Paroxysmen 
Hallucinationen  auf,  so  nehmen  diese  in  der  Regel  die  Färbung  der 
Beeinträchtigung  an:  die  Kranken  schmecken  Aasgeruch  und  Gift  in 
den  Speisen,  sie  hören  Schaffotandrohungen,  sehen  abgeschnittene 
Köpfe,  und  reagiren  mit  der  Angst  des  Verzweifelten  auf  jede  Be- 
gegnung mit  den  vermeintlichen  Verfolgern.  Man  möchte  einen  epi- 
leptischen Grundzug  im  psychischen  Gebahren  dieser  hallucinatorisch 


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Specielle  Symptomatologie.   Manische  Form.  Verlauf.  Remissionen.  361 


aufgeregten  Paralytiker  durchfühlen.  Homi-  und  Suicidium  sind  nicht 
selten,  oft  unerwartet  raptusartig.  Anderemale  ziehen  die  wechselnd- 
sten Sinnestäuschungen  wirkungslos  an  dem  umdämmerten  Bewusst- 
sein  vorüber;  die  Kranken  sind  trotz  ihrer  rollenden  Augen  bald 
wieder  zufrieden,  und  lassen  sich  durch  jede  leichte  Version  ablenken. 

In  gleichem  Schritt  haben  in  der  Regel  die  motorischen 
Störungen  mittlerweile  zugenommen.  Das  Silbenstolpern  ist 
stärker,  die  Mitaction  der  Mundmuskulatur  bei  den  forcirten  Sprach- 
intonationen zu  einem  begleitenden  ataktischen  Zittern  geworden. 
Die  beschriebenen  Defecte  in  Schrift  und  Gang  nehmen  gleichfalls 
ihren  charakteristischen  fortschreitenden  Decursus.  Die  Körper- 
ernährung reducirt  sich  unter  der  oft  Tag  und  Nacht  fortdauernden 
Aufregung,  und  der  zeitweise  geringen,  oder  ttberhastigen ,  oder 
mit  allerlei  Ingredienzien  vermengten  Nahrungsaufnahme.  Bei  Gift- 
wahn wird  nicht  selten  das  Essen  vorübergehend  ganz  verweigert, 
an  euphorischen  Tagen  dagegen  maasslos  hinabgeschlungen.  Oft 
intercurriren  vasomotorische  Fluxionen;  auch  epileptiforme  Anfälle 
können  jetzt  dazwischentreten. 

Merkwürdig  und  klinisch  beachtenswerth  ist  das  nicht  seltene  zeit- 
liche Divergiren  im  Auftreten  der  specifischen  psychischen  Symptome 
(Grössenwahn-Exaltation)  und  der  motorischen  Zeichen.  So  gehen  manch- 
mal die  letztern  längere  Zeit  voraus;  in  anderen  Fällen  ist  das  manische 
Grössenstadium  schon  in  voller  BlUthe,  und  man  kann  nur  erst  schwierig 
leise  Sprachstörung  oder  Lippenataxie  entdecken;  speciell  der  „Gang" 
hält  oft  sehr  lange  untadelig  Stand.  In  wieder  anderen  Fällen  schreiten 
wieder  beide  Symptomen-Reihen  pari  passu  voran. 

Das  manische  Erregungsstadium  selbst  zeigt  in  Stärke  und  Dauer 
eine  ausserordentliche  Variation  in  den  Einzelfällen.  So  sehr  der 
Verlauf  bis  hierher  einen  oft  bis  in's  Kleinste  gleichen  Symptomen- 
kreis zeigt,  so  vielfach  differiren  die  weitern  Schicksale.  Es  kann: 
1.  das  manische  Stadium  in  seiner  milden  Form  überwiegen  und 
nur  vorübergehend  sich  zur  Mania  gravis  steigern,  aus  welcher  es 
dann  in  ein  Schwächestadium  abfällt.  Dieses  letztere  kann  als  erste 
Etappe  des  definitiven  Blödsinns  dauernd  werden,  und  gewöhnlich 
unter  wiederholten  manischen  Nachschüben,  schrittweise,  zu  den 
tiefern  Schwächestufen  vorschreiten;  oder  2.  es  erfolgt  aus  dem 
postmanischen  Blödsinn  eine  langsame  psychische  und  motorische 
Erholung,  welche  sogar  nicht  selten  eine  Genesung  vortäuschen 
und  sich  auf  Monate  und  selbst  Jahresfrist  ausdehnen  kann.  Es 
sind  dies  die  sogenannten  Remissionen  der  Paralyse  (s.  u.), 
bei  deren  klinischer  Beurtheilung  stets  zu  erwägen  ist,  dass  der 
Kranke  eine  empfindliche  Einbusse  durch  den  Anfall  erlitten  haben 


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362 


Die  typische  Paralyse. 


kann,  aber  gleichwohl  auch  jetzt  noch  mit  seinem  Vermögen  zu 
glänzen  vermag,  sofern  er  zuvor  reich  an  natürlichem  geistigen 
Capitale  gewesen ;  oder  es  kann  3.  auf  die  Mania  mitis  oder  gravis 
eine  melancholische  Phase  folgen  mit  dem  charakteristischen  Klein- 
heitswahn, Selbstbesch'ädigungen,  kindischer  Hilflosigkeit,  Nahrungs- 
verweigerung; beide  genannte  Phasen  können  in  der  Folge  mit 
einander  abwechseln  (s.  hypoch.  Paralyse);  oder  endlich  4.  es  dauert 
die  manische  Exaltation  Jahre  lang  in  wechselnder  Intensität  fort, 
und  geht  beim  Nachlass  in  das  apathische  Schlussstadium  Uber.  In 
letzterem  Falle  rückt  in  das  manische  Symptomenbild  der  Blödsinn 
schrittweise  immer  stärker  herein:  der  Grössenwahn  verliert  seine 
poetische  Race,  und  wird  immer  kindischer. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  die  Kranken  oft  auf  Jahre  dieselbe  Zahlen- 
hyperbel, z.  B.  80,000,  beibehalten:  sie  sind  80,000  Jahre  alt,  haben 
Su,000  Bände  geschrieben,  besitzen  80,000  Länder  und  Orden  u.  s.  w. 
(s.  oben  „manische  Aphasie"). 

Endlich  bleibt  nur  noch  ein  blöder  Optimismus  übrig.  Die  Vor- 
stellungsassociationen  werden  trümmerhaft,  so  dass  nur  noch  Worte 
und  dürftige  Satzfragmente  an  einander  gereiht  werden;  die  Hand- 
lungen werden  triebartig  automatisch  (Schmieren,  Sammeln);  endlich 
verlieren  die  motorischen  Entäusserungen  ihr  psychisches  Formge- 
präge ganz,  und  der  Kranke  gesticulirt  nur  in  schleudernden  und 
schlenkernden  Bewegungen,  ohne  allen  mimischen  Ausdruck  oder 
accomodirten  Zweck  —  automatischen  Drahtpuppen  ähnlich.  Sprach- 
lich tritt  allmählich  sinnloses  Vociferiren  auf,  mit  allen  möglichen 
und  unmöglichen  Modulationen  der  Stimme  (s.  o.).  Complicirende 
epileptiforme  oder  apoplektiforme  Anfälle  sind  als  weitere  Varietäten 
des  Bildes  längst  und  wiederholt  dazwischen  getreten  (mit  ihren  oben 
beschriebenen  Nachwirkungen) ;  doch  gibt  es  auch  sehr  viele  klassische 
Paralysen  ohne  die  genannten  Insulte. 

Das  Schlussstadium  ist  das  der  definitiven  und  bleibenden 
psychischen  und  motorischen  Lähmung.  Der  Kranke  wird  zum 
blödsinnig- apathischen  Phlegma.  Ohne  Interesse,  ohne  Initiative, 
ohne  erwärmendes  Gefühl  schrumpft  er  immer  mehr  zur  vegetativen 
Maschine  herab.  Seine  Tagesarbeit  ist  automatisches  Sammeln,  oder 
sonst  eine  plan-  und  ziellose  Entäusserung :  Abreiben  der  Wände, 
des  Bodens,  Zerzupfen  von  Kleidern  u.  s.  w.  Wird  ihm  entgegnet, 
so  erwiedert  er  reflectorisch  brutal.  Doch  glimmen  ab  und  zu  auch 
noch  Fünkchen  einer  gemüthlichen  Empfänglichkeit  aus  diesen  aus- 
gebrannten geistigen  Kratern  auf:  eine  Weihnachtsbescheerung  bringt 
ein  freudiges  Lächeln,  oft  die  Thräne  eines  fühlenden  Verständnisses 


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Spec.  Symptomatologie.   Manische  Form.  Ausgänge. 


303 


hervor.  Für  freundliche  Aufmerksamkeiten  belohnt  nicht  selten  ein 
Druck  der  Hand.  Motorisch  ist  der  Kranke  immer  machtloser  ge- 
worden; er  fällt  ohne  Unterstützung  um,  und  muss  sorgsam  wie  ein 
Kind  geleitet  werden.  Die  Sprache  ist  zum  anarthrischen  Lallen  ge- 
worden. Die  Blase  versagt  ihren  Dienst.  Katarrhe  melden  sich. 
Pie  Dysphagie  gebietet  sorgfältiges  Ueberwachen  der  eingeflössten 
Nahrung,  welche  nur  noch  in  vorsichtiger  Verkleinerung,  bald  nur 
noch  flüssig,  beizubringen  ist.  Ab  und  zu  rücken  locale  Paresen  an, 
welche  bald  wieder  vergehen,  bald  auch  bleiben.  Der  Kranke  ist 
so  anästhetisch,  dass  er  Wunden  und  Contusionen  nicht  mehr  fühlt. 
Viele  zerkratzen  sich  die  Haut,  bohren  sich  mit  den  Fingern  am 
Auge,  zerren  am  Penis  bis  zu  groben  Verletzungen.  Decubitus  stellt 
sich  ein,  selbst  bei  sorgsamster  Reinlichkeit  und  Wechsel  der  Bett- 
lage (wenngleich  eine  genaue  Beaufsichtigung,  möglichst  unter  Druck- 
vermeidung der  bedrohten  Körperstellen,  prophylaktisch  Vieles  ver- 
mag!). Immer  mehr  greift  eine  sich  ausbreitende  Vasoparalyse  Platz, 
mit  Kälte  der  Extremitäten,  lividen  Wangen,  elendem  Pulse,  zeit- 
weiligem und  endlich  bleibendem  Oedem  der  Füsse  und  abnehmen- 
der Körpertemperatur.  Endlich  erfolgt  der  einzig  erlösende  Tod; 
in  der  Regel  entweder  1 .  an  Marasmus  mit  marantischer  Thrombose ; 
oder  2.  an  Senkungs-Pneumonie,  gewöhnlich  mit  lobulären  Herden ; 
oder  3.  an  Convulsionen ;  4.  an  Delirium  acutum;  5.  an  acuter  Hirn- 
lähmung mit  frappanten  Temperaturanomalieen  und  den  Symptomen 
des  acuten  Hydrocephalus  internus;  oder  endlich  6.  an  acciden- 
tellen  Krankheiten,  unter  welchen  Pneumonie  (selten  Phthise),  Pleu- 
ritis in  Folge  von  Rippenbrüchen,  Decubitus  mit  Septhaemie,  Cystitis 
und  Pyelitis,  ausgedehnte  gangränöse  Hauptphlegmonen  in  erster 
Reihe  stehen.  Nicht  selten  sind  auch  Verschluckungen  aus  Dysphagie. 
—  Ueber  „Genesungen"  s.  unten. 

2.  Klinisch-symptomcUologische  Varietäten. 

a)  Das  Krankheitsbild  kann  von  Beginn  an  den  oben  geschilderten 
hypochondrisch  deliranten  Charakter  annehmen,  mit  fehlenden, 
oder  nur  schwach  angedeuteten  (oft  erst  finalen)  Grössenideen,  andere- 
male  aber  mit  abwechselndem  typisch  entwickeltem  Exaltationsstadium. 

a)  Aus  einer  prodromalen  Zerstreutheit  und  Vergesslichkeit,  verbun- 
den mit  reizbar  affectivem  Wesen,  entwickelt  sich  eine  ängstliche  Ver- 
stimmung mit  nihilistischen  Wahnvorstellungen  (der  Körper  ist  vernäht, 
tu  klein,  ohne  Ein-  und  Ausgangsöffnung,  die  Augen  laufen  aus;  der 
Kranke  hat  Niemanden  mehr,  muss  verhungern,  bei  lebendigem  Leibe 
verwesen  u.  s.  w.),  mit  ungleichen  Pupillen,  leichten  Paresen  im  Gange 
und  der  Zunge,  Zittern  der  Hände,  schmerzhafter  Hyperästhesie,  ge- 
steigerter Reflexerregbarkeit.    Der  genannte  Wahnkreis,  verbunden  mit 


364 


Die  typische  Paralyse. 


grenzenloser  Depression  und  der  Rathlosigkeit  des  jetzt  schon  manifesten 
Blödsinns,  bleibt  nun  bestehen,  und  schreitet  unter  dem  hypochondrisch- 
melancholischen  Bilde,  nicht  selten  in  alternirendem  Typus,  weiter,  mit 
immer  universellerem  Nihilismus,  stupid  ängstlichem  Widerstreben,  furcht- 
barer Angst  (dass  durch  die  Excremente  das  Leben  und  die  Gedanken 
abgingen  u.  8.  w.)  —  bis  endlich  unter  geistigen  und  körperlichen  Re- 
missionen nach  und  nach,  oft  auch  rapid,  ein  Marasmus  mit  Vasoparese, 
oder  Convulsionen ,  Decubitus,  allgemeine  Furunculose  mit  Pyämie,  die 
Scene  schliessen  —  hypochondrische  Paralyse.  Dabei  ist  Deiner- 
kenswerth,  dass  manchmal  die  psychischen  Lähmungserscheinungen  von 
den  motorischen  und  sensibeln  ungleich  Uberholt  werden,  so  dass  der 
körperlich  schon  ganz  gebrochene  und  anästhetische  Kranke  noch  Aber 
Familienverhältnisse  zu  sprechen  und  theilweise  richtige  Krankheitsein- 
sicht zu  äussern  vermag.  Es  gibt  Fälle,  in  welchen  während  des  Krank- 
heitsverlaufs eine  vollständige  Klarheit  Uber  die  Entwicklung  des  Leidens 
erhalten  bleibt 

Oder  aber  ß)  die  hypochondrische  Modification  bildet  einen  Act,  und 
zwar  den  ersten,  des  Dramas,  schliesst  mit  einer  Remission,  und  nach 
dieser  setzt  ein  klassisches  exaltirtes  Grössenstadium  ein.  Dieses  kann 
nun  bis  zu  Ende  bleiben,  oder  nochmals  mit  der  hypochondrischen  Form 
abwechseln  (circuläre  Paralyse). 

In  einer  y)  Modification  endlich  setzt  die  Krankheit  mit  einem  Ver- 
folgungswahn mit  Täuschungen  aller  Sinne  (und  den  charakteristischen 
motorischen  Zeichen)  ein;  im  Verlauf  baut  sich  auf  die  hallucinatorischen 
und  illusorischen  Missempfindungen  eine  umfassende  (echt  paralytisch  ge- 
färbte) Hypochondrie  auf,  unter  Fortdauer  des  Verfolgungswahnes  und 
der  Uallucinationen.  Im  Verlaufe  schieben  sich  einzelne  Züge  von  para- 
lytischem Grössenwahn  ein,  bleiben  aber  —  den  hypochondrischen  gegen- 
über —  viel  maassvoller,  weniger  fixirt,  und  wechseln  mehr.  Die  Stim- 
mung ist  vorwiegend  eine  verdrossene  und  unzufriedene,  dabei  wandelbar, 
leicht  weinerlich ;  das  Gemtlth  erhält  sich  in  seinen  frühem  edeln  Zügen 
und  Regungen,  selbst  gegenüber  den  Anfechtungen  der  Sinnestäuschungen, 
auffallend  geschont  Das  Gedächtniss  dagegen  zerfällt  ganz;  Personen- 
verwechslung. Die  Willensäusserungen  determiniren  sich  immer  mehr 
auf  das  zähe  Festhalten  verkehrter  Bestrebungen.  Successiver  geistiger 
Marasmus  und  Lähmung  mit  intercurrenten,  manchmal  ansehnlichen,  Re- 
missionen. 

b)  Die  Krankheit  beginnt  mit  dem  gewöhnlichen  Prodromal- 
stadium der  Zerstreutheit  und  reizbaren  Verstimmtheit,  wobei  eine 
allgemeine  geistige  Schwäche  prägnant  im  Vordergründe  steht, 
mit  Verlangsamung  der  intellectuellen  Leistungen. 

Dabei  ist  bemerkenswert!),  dass  ein  verhältnismässig  gesundes  Urtheil, 
soweit  es  die  gewöhnlichsten  Verhältnisse  betrifft,  oft  durch  eine  längere 
Zeit,  sogar  neben  tiefen  und  groben  „Schnitzern"  im  Denken,  sich  er- 
halten kann.  Auch  die  GemUthsseite  des  Seelenlebens  bleibt  —  ganz 
im  Gegensatze  zum  typischen  Verhalten  —  oft  noch  vergleichsweise  lange 
conservirt,  und  behält  neben  der  leichten  Bestimmbarkeit  und  dem  nn- 


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Spec.  Symptomatologie.   Hypochondrische  Paralyse;  primär  demente  Form.  365 


motivirten  Wechsel  der  Stimmung  (der  kindischen  Laune)  ein  grosses 
Wohlwollen  und  eine  zarte  Rücksicht  bei,  welche  in  wohlthuender  Weise 
lange  noch  die  ursprungliche  Humanität  des  Kranken  und  den  Adel  seines 
Herzens  erkennen  lassen.  Auch  bei  dieser  Varietät  können  psychische 
Exaltationsphasen  sich  einschieben,  aber  doch  nur  in  vergleichsweise  be- 
scheidenem Maasse.  Dies  gilt  namentlich  vom  Grössenwahne ,  welcher 
sich  hier  nur  in  sehr  massige  Höhen  versteigt  (reiche  Heirath,  ansehn- 
licher Güterbesitz),  und  bei  entgegengehaltenen  Vernunftgründen  sich  vor- 
übergehend, oft  bis  zur  Tiefe  der  Wirklichkeit,  ermässigen  läset.  Die 
Kranken  benehmen  sich  auch  ruhig  und  geordnet,  fügen  sich  in  die  Haus- 
ordnung, sind  zu  Allem  bereit,  freundlich  im  Umgang,  reinlich  in  der 
Kleidung,  aber  ganz  ohne  Interesse,  nur  die  Andern  gewähren  lassend. 
Die  Sprache  ist  gedehnt,  langsam,  stotternd;  die  Zunge  zittert  in  charak- 
teristischer Weise  und  weicht  seitlich  ab;  die  Pupillen  sind  träge  und 
ungleich,  die  Innervation  des  Gesichts  hängend,  der  Stand  der  Beine  ge- 
spreizt ,  der  Gang  unsicher,  grosses  Müdigkeitsgefllhl  u.  s.  w.  Die  ma- 
nische Phase  (wenn  von  einer  solchen  überhaupt  die  Rede  sein  kann) 
vollzieht  sich  in  einem  unbestimmt  wechselnden,  kleinlichen  und  erfolg- 
losen Drängen  und  Streben,  in  einer  gesteigerten  Geschäftigkeit,  wobei 
der  Kranke  tausenderlei  unternimmt,  aber  nichts  fertig  bekommt,  weil  er 
Alles  zerstreut,  abspringend,  unüberlegt,  ungeschickt  angeht.  Viele  brau- 
chen Stunden  zur  Erstellung  ihrer  bescheidenen  Toilette,  machen  dasselbe 
Geschäft  zehnmal  des  Tages,  mustern  täglich  ihre  Briefschaften,  Effecten, 
arrangiren  ebenso  oft  ihr  Zimmer,  behandeln  jeden  Gegenstand  mit  lächer- 
licher Aufmerksamkeit  und  Subtilität.  Dazwischen  kommen  hypochon- 
drische Sorgen  Uber  jede  Bagatelle,  worüber  sie  dieselbe  drangvolle  Aengst- 
lichkeit  äussern.  Zu  anderen  Zeiten  schieben  sich  Perioden  von  grösserer 
oder  geringerer  Hemmung  und  Aufhebung  alles  Geistigen  ein :  da  stehen 
die  Kranken  lange  auf  Einem  Flecke,  starren  ins  Blaue,  verharren  halb 
angezogen  in  sonderbaren  Attitüden,  reagiren  auf  keinerlei  Ansprache, 
lassen  willenlos  mit  sich  geschehen,  was  nöthig  ist,  oder  leisten  passiven 
gereizten  Widerstand. 

Rasch  zunehmende  Indolenz  mit  colossalen  Verstössen  gegen 
Anstand  und  Sitte  (schamloses  Sich  -  Entblössen  auf  offener  Strasse, 
blödsinniges  Stehlen  n.  s.  w.),  Parese  in  Armen  und  Beinen,  in  der 
Sprache  —  ohne  eigentlich  ataktischen  Charakter  —  ist  gleich  im 
Beginn,  oder  sehr  bald  nachher,  nachzuweisen.  So  schreitet  der 
Zustand  progressiv  voran  (in  manchen  Fällen  ausserordentlich  lang- 
sam), psychisch  immer  höhern  Blödsinnsstufen,  körperlich  einer  immer 
umfänglicheren  Lähmung  zusteuernd.  Nicht  so  selten  kann  aber 
auch  (und  zwar  vergleichsweise  häufiger  als  in  der  typischen  Pa- 
ralyse) eine  namhafte  Besserung  mit  theilweiser  Krankheitseinsicht, 
und  bedeutender  Ueduction  der  Grössenideen  eintreten,  so  dass  der 
Kranke  dieselben  für  gewöhnlich  zu  unterdrücken  vermag. 

Eine  andere  Verlaufsmodification  dieser  Unterart  zeigt  im  Ganzen 
keinen  psychischen  Exaltationszustand ;  namentlich  fehlt  jede  specifische 


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36G 


Die  typische  Paralyse. 


Grössenidee;  nur  eine  blödsinnige  Euphorie  —  das  Gefühl  eines  glück- 
lichen Seins  —  erhellt  subjectiv  die  zunehmende  geistige  Umnachtung. 
Zeitweilige  vasomotorische  Krampf-  resp.  Lähmungszustände  mit  glühend 
heissem  Kopfe  (Temperatur  bis  41°)  und  eiskalten  Extremitäten  inter- 
curriren;  in  anderen  Fällen  dagegen  schieben  sich  (manchmal  in  perio- 
dischen Intervallen)  Aufregungszustände  ein  mit  Optimismus,  oder  auch 
mit  delirantem  Toben  und  Zerstören  und  tiefer  Benommenheit  des  Be- 
wusstseins.  Der  Tod  erfolgt  unter  den  gewöhnlichen  Ausgängen  der 
Paralyse,  worunter  acute  Hirnlähmung  und  Convulsionen,  manchmal  auch 
Apoplexieen,  bevorzugt  sind. 

Nicht  so  selten  täuscht  der  Anfangsverlauf  dieser  b)  Variation  eine 
Schwäche- Melancholie  mit  vager  Verstimmung,  weichlichem,  thränen- 
bereitem  Wesen  und  grosser  Rathlosigkeit  vor,  während  die  moto- 
rischen Symptome  vorerst  verdeckt  bleiben.  Die  Unfähigkeit  leichte 
Briefe  zu  schreiben,  einfache  Zahlen  zu  addiren,  Lapsus  memoriae  etc. 
lassen  aber  bald  den  Blödsinn  aus  dem  Krankheitsbild  herausschauen. 
Oft  laufen  stupid-manische  Erregungszustände  dazwischen,  nach  deren 
Abklingen  jetzt  erst  die  Parese  auftritt  und  oft  so  rasch  zunimmt, 
dass  der  nunmehr  declarirte  Paralytiker  in  wenigen  Wochen  dem 
letalen  Ausgange  entgegen  galoppirt. 

Nach  acuten  fieberhaften  Krankheiten  tritt  manchmal  ein  acuter 
Blödsinn  mit  acuter  Ataxie  auf,  welcher  wieder  in  Heilung  Ubergeht.  Einen 
solchen  Fall  beobachtete  ich  im  Nachstadium  von  Variola.  —  Häufiger  tritt 
nach  Typhus,  und  zwar  im  vorgeschrittenen  Reconvalescenzstadium,  eine 
chronische  „Paralyse"  auf  in  der  vorbeschriebenen  modificirten  klinischen 
Form:  Gemüthsstumpfheit,  Interesselosigkeit,  Mangel  an  Initiative,  kin- 
dische Pläne,  welche  nicht  gerade  hochgehen,  aber  doch  im  Missverbält- 
niss  mit  der  Situation  des  Kranken  stehen,  Ungeschicklichkeit  im  Ge- 
schäfte, Verlust  des  Decorum,  inhaltlose  Geschäftigkeit,  negirendes  Ver- 
halten, hypochondrische  und  nihilistische  Ideen  (es  gibt  nichts  in  der  Welt, 
weder  Tag  noch  Nacht,  Alles  ist  zu  gross  oder  zu  klein,  zu  eng  oder 
zu  weit,  der  Kranke  hat  keinen  Kopf,  keine  Augen  u.  s.  w.);  Zerfall  der 
Ernährung.  Die  motorischen  (paralytischen)  Symptome  treten  erst  spat, 
manchmal  sogar  erst  ganz  am  Schluss  des  Krankheitsverlaufs  ein  (ge- 
spreizter Gang,  langsame  und  undeutliche  Sprache,  Zittern  der  Zunge, 
fliegende  partielle  Muskelkrämpfe,  Blasen-  und  Mastdarm-Paresen).  Auf- 
fallend ist  in  manchen  Fällen  die  lange  Erhaltung  des  Gedächtnisses.  — 
Auch  viele  der  schwereren  Kopf-Trauma-Psychosen  wandeln  das  geschil- 
derte Krankheitsbild  ab  (s.  auch  die  Psychosen  nach  Kohlenoxydvergiftung 
und  Strangulation,  unter  der  primären  acuten  Dementia  S.  228). 

3.  Varietäten  im  klinischen  Verlauf. 
a)  Der  Krankheitsbeginn  kann  statt  des  stillen  und  geräusch- 
losen Prodromalstadiums  mit  sehr  ausgesprochenen  vasomotori- 
schen Attaken  —  Fluxionen  zum  Kopfe  mit  apoplektiformen 
Anfällen,  heftigem  Kopfweh,  Aphasia  fugax,  Zufallen  der  Ohren; 


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Spec.  Symptomatologie.   Varietäten  im  klinischen  Verlauf.  367 


oder  mit  vasomotorischem  Gefässkrampf  (Eiseskälte  der  Extremitäten, 
Ohnmachtsanwandlungen)  — -  einsetzen,  woran  sich  direct  das  manische 
Grössenstadium  anschliesst.  —  In  einer  Anzahl  von  Fällen  gehen 
gewisse  motorische  Symptome  (Sprachhemmungen)  den  psychi- 
schen längere  Zeit  voraus;  doch  dürfte  für  die  genauere  Beobach- 
tung hierbei  eine,  wenn  auch  noch  so  leise,  psychische  Schwäche 
(Gedächtnissdefect)  nie  fehlen. 

In  einem  Falle  meiner  Beobachtung  trat  ohne  alle  und  jede  Vor- 
zeichen ein  plötzliches  Starrwerden  des  bis  dahin  gesunden  Mannes  auf, 
so  dass  derselbe  den  Löffel  nicht  mehr  aus  der  Suppe  zu  heben  ver- 
mochte, und  erst  durch  Bestreichen  mit  Essig  wieder  zu  sich  und  zu  der 
Empfindung  kam,  als  ob  er  aus  einem  schweren  Schlafe  erwacht  sei. 
Darauf  einige  Tage  volle  Componirtheit ;  nachher  zunehmende  Reizbarkeit, 
dann  Plänesucht,  und  jetzt  erst  leiser  Beginn  der  motorischen  Störungen. 

Dieser  Varietät  steht  eine  andere  gegenüber,  die  sog.  Lunier-Bail- 
larger'sche  Paralyse,  in  welcher  das  ausgesprochene  psychische  Bild 
die  Scene  eröffnet,  mit  kaum  schwacher  Andeutung  motorischer  Symptome 
(in  der  Sprache),  und  erst  allmählichem  Einrücken  der  charakteristischen 
Bewegungsstörungen. 

b)  Der  Anfang  der  conclamirten  Paralyse  erfolgt  nicht  als  selbst- 
ständige und  erste  Erkrankung,  sondern  als  Folgestadium  einer 
vorausgegangenen  andern  Psychose,  entweder  direct  oder 
mit  zwischenliegendem  längeren  oder  kürzeren  euphorischen  Inter- 
valle. Die  vorausgegangene  Psychose  kann  dabei  entweder  1. 
keine  Andeutung  auf  die  nachfolgende  Paralyse  enthalten;  oder 
aber  2.  es  finden  sich  bereits  Anfangs  leise  motorische  Symptome 
(Pupillenungleichheit,  unsicherer  Stand  auf  den  Beinen,  leises  Schwan- 
ken beim  Aufstehen,  aber  intacte  Sprache!). 

Als  solche  einleitende  Acte  des  spätem  definitiven  Dramas  sind  be- 
obachtet: Manie,  hypochondrische  Melancholie  mit  grosser  psychischer 
Reizbarkeit,  Verfolguugswalinsinn.  Ich  beobachtete  in  demselben  Verlaufs- 
zusammenbang  auch  initiale  Melancholie  mit  grosser  Indifferenz  und  einer 
bis  zur  schmerzlichsten  Verzweiflung  gehenden  Rathlosigkeit  bei  jeder 
Leistungsansprache,  und  leisen  motorischen  Symptomen ;  darauf  folgte  eine 
psychische  Reconvalescenz  von  mehrern  Monaten,  wobei  nur  die  Pupillen- 
differenz blieb;  dann  Rückfall  von  Melancholie,  aber  jetzt  mit  ganz  stu- 
pidem Charakter  und  heftigstem  Selbstmorddrang,  mit  denselben  immer 
noch  schwach  ausgeprägten  motorischen  Begleitzeichen.  Nun  abermalige 
vollständige  Erholung  von  fast  einem  Jahre.  Darauf  Ausbruch  einer  ma- 
nischen Paralyse  mit  Grössenwahn  und  galoppirendem  Verlauf. 

c)  Der  Verlauf  kann  ein  auf  viele  Jahre  langgestreckter, 
oder  gegentheils  kurzer  sein  (mehrere  Monate).  In  letzterm  Falle 
können  Convulsionen  (als  Ursache)  dazwischen  treten,  oder  aber 
complicirende  acute  Hirnzufälle  (Hämatome);  oder:  es  steigert  sich 


368 


Die  typische  Paralyse. 


die  manische  Erregung  in  das  Delirium  acutum;  oder  endlich:  der 
gesammte  Paralyseprocess  entwickelt  sich  zum  galoppirenden  Ver- 
lauf (durch  acute  Leptomeningitis ,  s.  Cerebropath.) ,  oder  scbliesst 
durch  einen  rapiden  Marasmus  ab. 

d)  Es  kann  nach  einem  anfänglichen  länger  oder  kürzer  (einige 
Wochen  resp.  Monate)  dauernden  Grössenwahnsinnsstadium  mit  den 
charakteristischen  motorischen  Störungen  in  der  Sprache,  in  der 
mimischen  Innervation,  in  der  Pupille  u.  s.  w.,  ein  successiver  Nach- 
laB8  der  Erscheinungen  folgen,  mit  Rückkehr  in  einen  geistigen 
Normalzustand  (s.  u.),  welcher  nicht  selten  sogar  Krankheitseinsicht 
aufweist 

Derselbe  unterscheidet  sich  aber  von  der  tadellosen  Gesundheit 
intellectuell  durch  eine  wenn  auch  oft  nur  leise  geistige  Müdigkeit, 
durch  rasche  Erschöpf  barkeit,  durch  die  fortdauernde  Neigung  des  Re- 
convalescenten  seine  Verhältnisse,  Kräfte  und  Kenntnisse,  wenn  auch  io 
bescheidenem  Maasse,  zu  überschätzen;  gemüthlich  durch  Oberfläch- 
lichkeit und  leichtere  Beweglichkeit,  oft  durch  eine  rührselige  Stimmungs- 
weichheit;  charakterologisch  durch  Minderung  der  Männlichkeit,  der 
Gesetztheit  im  Benehmen  und  Auftreten.  Sprachstörungen  können  in  ge- 
mindertem Grade  dabei  fortdauern  —  in  einem  meiner  neueren  Fälle 
blieb  eine  beiderseitige  Myosis  persistent  —  aber  in  ganz  seltenen 
Fällen  nach  und  nach  gleichfalls  verschwinden.  Das  sind  die  geheilten 
Paralysen,  welche  sich  bis  jetzt  erst  auf  sehr  vereinzelte  Beobachtun- 
gen beschränken,  gleichwohl  aber  wenigstens  die  Möglichkeit  einer 
Restitutio  bezeugen. 

In  beschränkterm  Grade  erfolgt  die  Rückbildung  der  Krank- 
heitssymptome nicht  so  selten  und  zwar  in  den  verschiedensten 
Epochen  des  Verlaufs,  gewöhnlich  nach  der  Initial  -  Manie ;  aber 
selbst  noch  manchmal  nach  der  viel  spätem  Nihilismus  -  Periode. 
Die  Kranken  bleiben  in  einem  ruhigen  Schwachsinnszustand,  meist 
mit  depressiver  Stimmung  und  einem  eigensinnig  reizbaren  Wesen; 
arbeiten  sich  aber  unter  günstigen  Verhältnissen  noch  weiter  zu 
einem  ruhigen  gelassenen  Benehmen  mit  beschränkter  Krankheits- 
einsicht und  Leistungsfähigkeit  in  ihrem  Berufe  hinauf.  Das  sind 
die  sog.  lucida  Intervalla  der  Paralyse.  Dieselben  stellen 
keine  eigentlichen  Intermissionen,  sondern  nur  Remissionen  der 
Krankheit  dar. 

Der  Kranke  ist  während  derselben  nicht  als  gesund,  und  forens  nicht 
als  imputationsffihig  zu  betrachten.  Diese  Remissionen  sind  nicht  immer 
leicht  zu  erkennen,  namenlich  dann  nicht,  wenn  die  initiale  Manie  nur 
das  „paralytische"  Gepräge  im  Allgemeinen,  nicht  aber  zugleich  auch  die 
charakteristischen  Bewegungsstörungen  dargeboten  hatte. 

Die  Verlaufsdauer  des  paralystischen  Processes  ist  eine  ver- 
schiedene. Nach  ziemlich  übereinstimmenden  Beobachtungen  ist  sie 


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Spec.  Symptomatologie.  Lucida  iutervalla.  Verlauf.  -  Pathol.  Anatomie.  369 


überwiegend  in  die  Frist  der  ersten  zwei  bis  drei  Jabre  einge- 
schlossen. Es  gibt  aber  auch  Fälle  von  5 — 6jähriger  Dauer,  sowie 
gegentbeils  andere  von  nur  mebrmonatlicbem  Verlauf  (s.  o.  und  unter 
„modificirter  Paralyse"). 

Selbstverständlich  spielen  in  der  Krankheitsdauer,  ausser  inter- 
currenten  innern  Erkrankungen  oder  möglichen  UnglUcksereignissen, 
auch  die  von  der  Cerebralaffection  selbst  bedingten  Zufälle  eine 
grosse  Rolle  (apoplektiforme  und  epileptoide  Convulsionen). 

Pathologische  Anatomie. 

a)  Makroskopisch. 

1.  Verdickung  des  Schädels  —  Hyperostose,  theils  allgemein, 
theils  vorwiegend  die  Glastafel  betreffend,  hier  oft  in  Form  warziger 
Osteophyten  mit  reicher  Canalisirung;  an  der  Schädelbasis  dagegen  sehr 
oft  osteoporotischer  Schwund  (durch  Druck  des  Schädelinhaltsj. 

Die  Dura  ist  fast  regelmässig  verdickt  und  fest  mit  dem  Schädel- 
dach verwachsen,  oft  so,  dass  sie  nicht  mehr,  oder  nur  mit  Zerreissung, 
gelöst  werden  kann.  Die  Innenfläche  ist  theils  intact,  glatt  und  glänzend, 
theils  aber  auch  mit  aufgelagerten  zarten  fibrinösen  oder  rosigen  Häut- 
chen streckenweise  belegt. 

2.  Diffuse  Trübung  und  Verdickung  der  Leptomenin- 
gen,  ausgehend  von  der  Umgebung  der  Gefässe,  meistens  ohne  Adhä- 
sionen an  die  unterliegende  Corticalis,  oder  letzteres  nur  auf  kleinere  herd- 
weise umschriebene  Strecken.  Manchmal  finden  sich  in  der  Pia  entweder 
oberflächlich,  oder  in  das  Gewebe  eingeschlossen,  knötchenförmige  An- 
häufungen von  Epithelzellen  (Epithelgranulationen).  In  den  weissen  oder 
weiss-gelblichen  Verdickungen  sind  manchmal  kleine  Stecknadel-  bis  hirse- 
ko rüg  rosse  Herdchen  von  derber  Consistenz  eingesprengt.  Die  verdickte, 
in  toto  oft  milchglasartig  transparente  Pia  ist  —  den  unterliegenden 
atrophischen  Windungspartieen  entsprechend  —  fast  ausnahmslos  zu- 
gleich der  Sitz  eines  mehr  minder  hochgradigen  Oedems.  Die  Piaaffection 
betrifft  vorwiegend  Stirnhirn  (oft  mit  Uebertritt  auf  die  Orbitalfläche), 
Centraiwindungen,  meist  auch  noch  iuclus.  der  obern  Parietalwindung 
und  der  ersten  Temporal windung;  die  übrigen  Windungen  des  Scheitel- 
und  Hinterlappeus,  sowie  des  Temporallappeus,  sind  in  der  Regel  mit 
einer  zarten  Pia  bekleidet.  In  den  Anfangsstadien  überwiegt  der  activ 
congestive  Zustand  der  weichen  Häute :  in  den  spätem  Stadien,  und  mit 
Zunahme  der  Trübungen,  wird  die  Blutfülle  geringer  und  vorwiegend 
venös,  oft  mit  geschlängelten  dicken  Venen  durchzogen. 

3.  Atrophie  des  Gehirns  (in  vorgerücktem  Stadien)  und  zwar 
in  überwiegender  Häufigkeit  nur  in  dem  Bereich  der  eben  beschriebenen 
Piaverdickuugen:  Stirnhirn  und  Central  Windungen  sammt  oberer  Tem- 
poral- und  Scheitelwindung  bieten  die  für  Atrophie  beanspruchten  Cha- 
raktere der  Verschmälerung,  Kammverschärfung,  Kerbung  der  betreffen- 
den Gyri  mit  entsprechender  Verbreiterung  der  Sulci.  Treffen  damit 
Einsiukungen  der  in  ihrem  Volumen  reducirten  Gyri  unter  das  Niveau 
der  Übrigen  zusammen,  so  entstehen  umschriebene,  mit  Piaödem  ausge- 

Schftle,  GeusUwkrankheitea.  3.  Aull.  21 


370 


Die  typische  Paralyse. 


glichene  Parencephalieen.  Sehr  häufig  ist  eine  Hemisphäre  atrophischer 
als  die  andere ;  oft  sind  einzelne  Windungen  oder  Windungspartieen  in 
auszeichnendem  Grade  betroffen  (klinisch  topographisch  wichtig !).  Atro- 
phie der  übrigen  Windungen  der  Convexität  kommt  auch  vor,  aber  ver- 
gleichsweise selten,  und  nie  so  bevorzugt,  als  die  der  genannten,  vorzugs- 
weise das  Pyramidengebiet  umfassenden  Partieen.  Manchmal  finden  sich 
in  der  Rinde  kleine  Cystchen.  In  einzelnen  Fällen  ist  die  Rinde  dünn 
und  weich,  und  lässt  sich  ganz  oder  schichtenweise  von  der  verhär- 
teten Marksubstanz  abheben.  (Bai  11  arg  er,  Rey.)  —  Das  Gewicht 
des  Gehirns  kann  von  1350  (bei  Männern  resp.  1200  bei  Frauen)  bis 
auf  1200  resp.  1000  herabsinken.  Als  Folgezustand  der  Stabkranz- 
atrophie findet  sich  in  den  Endstadien  regelmässig  Erweiterung  der 
Ventrikel  mit  Hydrocephalus  internus,  und  sehr  gewöhnlich 
auch  Granuli rung  des  Ependym's  (oft  chagrinartig  und  reibeisen- 
förmig  wie  eine  „Katzenzunge").  Die  Plexus  sind  nicht  selten  cystös, 
manchmal  psammomatös,  entartet. 

4.  Myelitis  —  bald  total,  bald  nur  in  den  Hinterseitensträngen, 
bald  auch  noch  in  Verbindung  mit  Myelitis  des  grauen  Kerns.  Auch 
graue  Degeneration. der  Hinterstränge  wird  hie  und  da  beobachtet.  Sehr 
oft  ist  Leptomeningitis  spinalis  zugegen.  —  Was  die  Beziehung  der  spi- 
nalen zur  cerebralen  Affection  anlangt,  so  ist  hier  ein  allgemeiner  Modus 
nicht  festzustellen;  wahrscheinlich  sind  es  zum  grössten  T heile  se- 
cundäre  Degenerationen  von  bestimmten  cerebralen  Ernährungscentren 
aus,  welche  durch  den  Paralyseprocess  in  Ausfall  gekommen  sind;  viel- 
leicht dürfte  man  an  die  Ausschaltung  der  psychomotorischen  Rinden- 
centren  denken,  obwohl  der  Nachweis  der  Körnchenzellen  bis  über  die 
Basalgangl ien  hinauf  noch  nicht  gelungen  ist.  Zum  anderen  Theil 
sind  aber  zweifellos  auch  idiopathische  Spinalprocesse  im  Spiel,  und  zwar 
sowohl  secundäre  (von  den  Leptomeningitiden  ausgehend),  als  auch  pri- 
märe, in  Form  chronisch  myelitischer  Herderkrankungen  mit  secundarer 
Entartung  durch  Leitungsunterbrechung. 

b)  Mikroskopisch. 

Die  Veränderungen  in  der  Corticalis  betreffen  in  den  verschiedenen 
Stadien,  speciell  in  den  Schlussstadien:  1.  die  Gefässe;  2.  die  Gan- 
glien und  feinsten  markhaltigen  Nervenfasern;  3.  die  Giia- 

u>  Anfangsstadien  der  Krankheit  und  Krankheitshöhe: 

1.  Die  Gefässe:  a)  Hyperämie;  und  zwar  betrifft  die  Blutfillle 
vorzugsweise  die  Innenzone  der  Corticalis;  b)  Erweiterung  des  Gefäas- 
lumens,  bald  allgemein,  bald  umschrieben  als  aneurysmatische  Verände- 
rungen des  Gefäs8rohre8;  c)  Verdickung  der  Gefässwände  mit  bestäubtem 
oder  aber  opakem  Aussehen,  nicht  selten  mit  Beeinträchtigung  des  Ge- 
fässlumens;  d)  Vermehruug  der  Gefässkerne,  Durchsetzung  des  Gefass- 
rohres  mit  Rundzellen  (eingewanderten  Leukocyten?)  mit  nachfolgender 
theils  fettiger,  theils  colloider,  theils  pigmentöser  Umwandlung. 

2.  Die  L  y  m  p  h  b  a  h  n  e  n  sind  mit  Leukocyten  und  vereinzelten 
rothen  Blutkörperchen,  sehr  oft  auch  mit  Hämatoidinkugeln ,  mehr  oder 
weniger  angefüllt  und  überfüllt;  so  namentlich  an  den  Theilungsstellen 
resp.  Astwinkeln  der  Gefässe.  —  Es  ist  zu  bemerken,  dass  nicht  alle 


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Pathologische  Anatomie.    Mikroskopische  Befunde.  371 


Corticalispartieen  die  beschriebenen  mikroskopischen  Veränderungen  zei- 
gen, und  auch  nicht  gleichmässig;  neben  stark  veränderten  Stellen  finden 
sich  angrenzend  viel  weniger  afficirte,  selbst  anscheinend  normale.  Am 
stärksten  ergriffen  erweisen  sich  in  der  Regel  die  Stirn-  und  Centrai- 
windungen. 

ß)  In  den  Endstadien  der  Krankheit  zeigen  sich  die  histo- 
logischen Weiterentwicklungen  dieser  eben  beschriebenen  Befunde: 

a)  Anämie  der  Gefässe  durch  Beeinträchtigung  des  Lumens  in  Folge 
von  Gefässwandprocessen  und  interstitiellen  sklerosirenden  Gliavorgängen; 

b)  Verengerung  der  Gefässlumina  durch  Ilypertrophirung  der  Ge- 
fässwand,  partielle  Gefässobliteration  in  Folge  von  fibrillärer  Entartung 
und  colloiden  Embolieen;  umschriebene  oder  ausgedehntere  fettige  und 
pigmentöse  Degenerationen  der  protoplasmatischen  Gefässröhren  und  der 
eingelagerten  Rundzellen  (Fettkörnchen -Kugeln;  jedoch  erst  in  den  tie- 
feren Hirnpartieen  und  von  da  an  nach  abwärts  vorkommend); 

c)  hochgradige  Erweiterung  der  Lymphbahnen  bis  zu  klaffenden 
Lücken  (etat  crible\);  in  weiter  gediehenen  Fällen  mit  Folgewirkung  auf 
das  Corticalispareuchym,  in  welchem  sich  durch  die  Lymphstauung  stellen- 
weise ein  grobporöses  Maschenwerk  (löcherigem  Käse  vergleichbar)  bildet, 
welches  oft  bis  zu  makroskopisch  wahrnehmbaren  Cystchen  sich  erweitert 
mit  eingespannten  Septa;  daneben  Druckrarefaction  der  Hirnsubstanz; 

d)  zunehmeuder  Belag  mit  Pinselzellen ;  Vergrösserung  der  Saftzellen 
mit  protagonartiger  Umwandlung  des  Inhalts.  In  den  letzten  Endstadien 
Schrumpfung  der  Spinnenzellen  mit  derber  und  glänzender  werdendem 
Contour  und  Fortsätzen; 

e)  die  Ganglien  zeigen  alle  Bilder  des  molekularen  Zerfalls  und  der 
Schrumpfung:  Untergang  des  Kernkörperchens,  bestäubtes  Aussehen,  pig- 
mentöse und  schollige  Entartung,  Sklerosirung,  Vacuolenbildung.  —  Die 
markhaltigen  feinsten  Nervenfasern  der  Rinde  schwinden  schon  in  früheren 
Stadien  der  Krankheit,  und  zunehmend  mit  deren  Fortschritt  (Tuczek). 

Die  G  1  i  a  zeigt  in  den  Anfangsstadien  der  typischen  Paralyse  keine 
Aenderung.  Später  wandelt  sie  sich  um  in  eine  homogene,  mattglänzende 
Masse,  mit  Untergang  der  lichtbrechenden,  molekulären  KUgelchen  (Ver- 
mehrung der  Kittsubstanz,  Untergang  des  höher  organisirten  Eiweiss- 
stoffes).  Die  homogene  Grundmasse  kann  sich  in  Fasern  zerspalten  und 
der  Glia  stellenweise  ein  filzartiges  Ansehen  geben.  Auch  die  Arach- 
niden  können  in  den  Endstadien  des  paralytischen  Hirnschwunds  eine 
sichtliche  Vermehrung  erreichen;  daneben  finden  sich  in  der  Regel  zahl- 
reiche Kerne  mit  geringer  Protoplasmaschicht  (ausgewanderte  Leuko- 
cyten?).  Vielleicht  reichen  die  gegen  Schluss  immer  zahlreicheren  Amy- 
loidkörper  auf  denselben  Ursprung  zurück. 

Einzelnemale  ist  „colloide"  Degeneration  der  Corticalis  (Glia  und 
feinste  Gefässe)  beobachtet  worden,  vornehmlich  in  der  hypochondrischen 
Paralyse ;  auch  graue  Degeneration  resp.  Sklerose  des  subcorticalen  Mark- 
streifens (Meschede,  Tuczek). 

Die  beschriebenen  Veränderungen  des  Markschwundes  der  Nerven- 
fasern mit  Einstreuung  von  Körnchenzellen,  Amyloidkugeln,  Verdickung 
und  Sklerosirung  der  Gefässe  und  der  Glia  lässt  sich  auch  durch  die 
Marklager  des  Grosshirns  in  den  Linsenkern  (StreifenhUgel),  und  durch 

2i* 


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372 


Die  typische  Paralyse. 


HirD8chenkel  und  die  Pyramidenbahn  nach  abwärts  in  das  Rückenmark 
verfolgen. 

Im  Kleinhirn  ist  Sklerosirung  der  Purkinje'schen  Zellen  beob- 
achtet worden. 

Im  Rückenmark  findet  sich  gewöhnlich  Myelitis  der  Seiten-  und 
Hiuterstränge  in  wechselnder  Ausdehnung  und  Configuration ;  es  kommen 
die  Bilder  der  abwärts  steigenden  Degeneration,  der  primären  Myelitis 
und  der  consecutiven  aus  Leptomeningitis,  bald  rein,  bald  gemischt,  bald 
strangweise,  bald  mehr  unregelmässig  localisirt  vor  (s.  auch  „tabische 
Paralyse"). 

Peripher  vorgefundene  Veränderungen  sind  nicht  constant.  Ver- 
fettung des  Herzmuskels,  Hämatombildung  in  Stammmuskeln  wird  gelegent- 
lich beobachtet.  — 

Versuchen  wir  aus  den  reichhaltigen  pathologisch -anatomischen 
Befunden  diejenigen  Thatsachen  zu  resumiren,  welche  zu  einer  ab- 
schliessenden Diagnose  und  im  Weiteren  (mit  den  klinischen)  zu 
einer  nosologischen  Charakteristik  der  Paralyse  (in  ihrer 
klassischen  Form)  zu  verwerthen  sind,  so  begegnen  wir:  makro- 
skopisch einer  chronischen  Ernährungsstörung  des  Gehirns  und 
theilweise  auch  des  Rückenmarks  mit  Ausgang  in  Atrophie  und  mit 
(secundärer)  Betheiligung  der  Hirnhäute;  mikroskopisch  in  den 
Endstadien  des  vollentwickelten  Leidens  einem  Schwund  der  corti- 
calen  Ganglienkörper  und  der  Associationsfasern,  zugleich  mit  Dege- 
neration der  Gefasse  und  (secundärer)  Umwandlung  bezw.  Vermehrung 
der  gliösen  Elemente. 

Nehmen  wir  die  klinischen  Thatsachen  und  die  Momente  aus 
der  Aetiologie  und  Biologie  zur  Vervollständigung  noch  hinzu,  so 
charakterisirt  sich  der  Paralyseprocess  klinisch  und  ätiologisch 
als  eine  auf  der  Lebenshöhe  des  Individuums  sich  vollziehende  früh- 
zeitige Involution,  und  zwar  eines  Uberreizten,  functionell  turges- 
cirenden  Gehirns;  anatomisch  als  ein  allgemeiner  Atrophirungs- 
Vorgang,  speciell  der  Rinde,  und  zwar  in  bestimmten  Abschnitten  des 
Grosshirns,  mit  Zerfall  der  Nervenelemente,  secundärer  Gliaverdich- 
tung,  den  Residuen  stattgehabter  Fluxionen  und  Lymphstauungen  im 
Gehirn  und  in  den  Häuten. 

Man  hat  sich  gewöhnt  für  alle  diese  Befunde  summarisch 
die  Bezeichnung  einer  „Periencephalitis  chronica  diffusa"  einzuführen, 
ist  aber  den  Beweis  schuldig  geblieben,  dass  es  sich  um  eine  primär 
entzündliche  Natur  des  anatomischen  Processes  handelt 

Geht  man  vorurteilslos  an  die  Analyse  der  Befunde  und  zwar 
aus  den  entscheidenden  Anfangs-  und  Höhestadien  der  Krankheit, 
so  vermag  man  nur  1.  einen  congestiven  Zustand  der  Hirnrinde,  und 
2.  die  Zeichen  einer  mehr  oder  minder  vorgeschrittenen  Atrophie 


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Versuch  einer  Nosologie. 


373 


der  nervösen  Elemente  zu  erkennen.  Eigentliche  Reizungs  Vorgänge 
an  diesen  und  an  der  Glia  sind  nicht  vorhanden,  oder  nur  bei  in- 
dividuellen Complicationen.  Die  Degeneration  der  Ganglien,  der 
Schwund  der  Nervenfasern,  die  histologische  Umwandlung  der  Zwi- 
schensubstanz unterscheiden  sich  nicht  wesentlich  von  den  Involutions- 
vorgängen des  senilen  Gehirns,  welche  wir  auch  nicht  als  entzünd- 
liche auffassen.  Die  Verdickung  und  Trübung  der  Pia  kann  ganz 
gut  als  Folge  der  chronischen  Hyperämieen  und  der  Lymphstauungen 
erklärt  werden,  ohne  dass  man  eine  primäre  chronische  „Meningitis" 
zu  unterschieben  nöthig  bat,  wogegen  auch  die  klinischen  Zeichen 
(Temperatur)  Bedenken  erheben,  noch  mehr  aber  die  makroskopische 
Thatsache,  dass  gar  nicht  selten  jeder  gewichtigere  Befund  an  den 
Meningen  überhaupt  fehlt,  trotz  zweifelloser  typischer  Paralyse. 

Für  einen  Theil  von  Fällen  dürfen  wir  nach  dem  Sections- 
ergebniss  direct  die  Einreihung  unter  die  senil-atrophischen  Zustände 
beanspruchen.  Sie  repräsentiren  ein  Senium  praecox  in  den  Jahren 
cerebraler  Vollkraft;  bei  diesen  erscheint  die  Paralyse  als  eine  kli- 
nische Form  der  Degenerescenz,  wozu  oft  genug  die  Keime  in  allerlei 
anomalen  charakterologischen  Eigenschaften  schon  im  Vorleben  vor- 
handen waren.  —  Ein  anderer,  und  zwar  grösserer,  Theil  von  Para- 
lysen lässt  aber  eine  schlechthinnige  Vermischung  mit  den  Alters- 
Involutionen  nicht  zu.  Bei  diesen  ist  in  allen  Stadien  des  Leidens 
eine  Betheiligung  des  Gefässsystems  in  Form  einer  starken  Con- 
gestionirung  mit  Dilatation  der  kleinsten  Gefässröhren,  und  zuneh- 
mend (in  den  spätem  Stadien)  einer  Ueberschwemmung  der  subadven- 
titialen  Lymph räume,  neben  Degeneration  der  Gefässwandung,  nach- 
zuweisen. Für  die  genannte  Gruppe  muss  deshalb  neben  dem  atro- 
phirenden  Nerven- Vorgang  auch  noch  dieser  erheblich  congestive 
berücksichtigt  d.  h.  eingerechnet  werden.  Beide  stehen  ausserdem 
auch  noch  in  zeitlichem  Zusammenhang  —  die  fluxionären  Zustände 
leiten  die  Krankheit  ein  —  und  höchst  wahrscheinlich  in  einem 
noch  viel  wichtigeren  causalen.  Der  abnorme  Congestivzustand  des 
Gehirns  führt  consecutiv  zu  der  Ernährungsstörung,  welche  in  Atro- 
phie ausgeht.  Soweit  bewegt  sich  die  Epikrise  ganz  auf  dem  Boden 
der  nekroskopischen  und  klinischen  Thatsacben.  Nun  gibt  uns  aber 
die  mikroskopische  Untersuchung  noch  einen  Befund  an  die  Hand, 
welcher  vielleicht  auf  die  tiefere  Ursache  hinweist,  wodurch 
jene  anfängliche  Congestion  zu  einer  dauernden,  und  so  pernieiösen, 
wird.  Dieser  Befund  bezieht  sich  auf  die  veränderten  optischen 
Eigenschaften  der  Gefässröhren  (bestäubtes  hyalines  Aussehen),  mit 
den  nie  fehlenden  massenhaften  Diapedesen  weisser  und  ebenso  auch 


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374 


Die  typische  Paralyse. 


rother  Blutzellen.  Es  ist  vorerst  noch  Hypothese,  welche  aber  m.  E. 
volle  Berechtigung  hat,  wenn  ich  aus  dem  erwähnten  Befunde  auf 
eine  abnorme  Beschaffenheit  der  feinsten  Gefässröhren 
schliesse,  und  in  dieser  die  Ursache  für  die  Störung  der  Exosmose, 
und  im  Weiteren  für  die  Verstopfung  der  Lymphräume  durch  aus- 
gewanderte Blutelemente  —  mithin  das  physiologische  Mittelglied  für 
den  Congestions-  und  speciell  Degenerationsvorgang  erkenne.*) 

Die  Einbeziehung  einer  krankhaften  Wandbeschaffenheit  der 
Gefässe  —  sei  sie  angeboren  oder  erworben  —  führt  uns  nun  einen 
Schritt  tiefer  zur  allerdings  gleichfalls  erst  hypothetisch  möglichen 
nosologischen  Erfassung  des  Paralyseprocesses.  Die  klassische 
Paralyse,  sagten  wir  oben,  ist  das  Senium  praecox  eines  abnorm 
veranlagten,  oder  aber  Uberleisteten  Gehirns.  Diese  Definition  lautet 
jetzt:  der  paralytische  Vorgang  stellt  in  Form  eines  geschlossenen 
klinischen  Bildes  die  Reactionsweise  eines  absterbenden  Gehirnlebens 
dar,  und  zwar  als  Effect  einer  Schädigung  in  der  physiologisch- 
chemischen Function  derGefäss-Protoplasmarohren,  mit  nachfolgender 
lnanition  und  endlichem  Untergang  des  Organs.  Diese  Invalidität 
resp.  Vulnerabilität  der  Gefässwände  bildet  m.  E.  den  letzten 
und  eigentlichen  Ausdruck  für  die  vereinigten  ätiologischen,  klinischen 
und  anatomischen  Ergebnisse;  in  ihr  erkenne  ich  bei  den  hereditären 
Fällen  die  präexistirende  (physiologische)  Grundlage,  bei  den 
andern  die  erworbene  (pathologischej  für  eine  widerstandlos  zum 
Zerfall  neigende  Hirnorganisation ;  nach  beiden  Richtungen  aber  den 
genetischen  Ausgangspunkt  für  die  deletäre  Gestaltung  der  fluxio- 
uären  Hirnprocesse,  speciell  für  die  frühzeitige  Involution.  Die  hohe 
Wichtigkeit  einer  anomalen  Sympathicusthätigkeit  in  ihrer  Folge- 
wirkung auf  die  wechselnde  Hyperämisiruug  des  cerebralen  Gefäss- 
gebiets,  und  dadurch  zugleich  auf  die  histologische  Textur  der  (sehr 
empfindlichen)  Gefässwand  selbst,  werden  uns  auf  derselben  Grund- 
lage jetzt  verständlich  (Tgl.  die  Experimente  von  Cohnheim). 

Nosologisch  möchte  ich  darnach  den  Paralyseprocess  definiren 
als:  „eine  perniciöse  Neurose  der  psychischen  und  psychomotorischen 
Hirnpartieen  (Carotidcn- Ernährungsgebiet),  welche  auf  einer  ange- 
borneu  oder  erworbenen  Vulnerabilität  der  intracerebralen  Gefäss- 
wände, ätiologisch  auf  einer  fluxionären  Hirntiberleistung  beruht 
(nach  beiden  Seiten  durch  anormale  Thätigkeit  des  Hals-Sympathicus 


♦)  Sehr  interessant  sind  in  dieser  Beziehung  die  Experimente  Mendol's, 
welcher  Huude  durch  wochenlang  fortgesetzte  Drehbewegungen  (Hirncongestio- 
nirung)  künstlich  „paralytisch"  machte. 


Paralyse  der  Frauen. 


375 


begünstigt  und  unterhalten),  und  anatomisch  fast  ausnahmslos  den 
degenerativen  Zerfall  des  Hirnorgans  mit  sich  führt."  — 

Die  Paralyse  der  Frauen  darf,  obwohl  vielfach  bezweifelt, 
als  ein  sicheres  klinisches  Vorkommniss  bezeichnet  werden.  Nur  ist 
sie  zweifellos . sehr  viel  seltener  als  bei  den  Männern,  1:7;  nach 
meinen  Beobachtungen  des  letzten  Decenninms  steht  sie  in  einem 
noch  viel  kleinern  Procentsatz.  Ihre  Hauptziffer  fällt  auf  eine  spä- 
tere Lebensepoche  als  beim  Mann  (10— 50  Jahre);  auch  in  der  Aus- 
wahl der  Bevölkerungsschicht  ist  sie  von  der  männlichen  Paralyse 
verschieden,  indem  sie  sich  vorzugsweise  aus  den  ärmeren  Klassen 
recrutirt,  während  jene  bekanntlich  die  besser  situirten  heimsucht. 
Unter  den  Ursachen  sind,  wie  bei  jenen,  congestionirende  Hirn- 
erschöpfungen ("sexuelle  Excesse)  aufzuführen,  sodann  Kampf  ums 
Dasein  (Kummer,  Sorge),  und  ganz  besonders  die  Wirkungen  des 
Climacteriums  oder  der  Menstrualstörungen. 

Das  klinische  Bild  ist  im  Wesentlichen  dasselbe  wie  bei  Män- 
nern, zeigt  aber  in  der  Regel  Modifikationen.  Diese  bestehen  vor  Allem 
darin,  dass,  entgegen  der  massgebenden  manischen  Paralyseform  bei 
männlichen  Kranken,  hier  die  ruhige  Demenz  mit  den  verblassten  oder 
nur  zu  bescheidener  Höhe  sich  versteigenden  Grössenideen  den  leiten- 
den Typus  darstellt.  An  Steile  des  verzehrenden  Feuers  in  den  phan- 
tastischen Conceptionen  ist  hier  mehr  die  stille  Gluth  getreten;  die  Un- 
endlichkeitsformel, welche  beim  männlichen  Grössenwahn  das  Universum 
umspannte  und  in  multiplicatorischen,  immer  weitern  Kreisen  sich  bewegte, 
ist  hier  zur  blöden  Euphorie  ermässigt,  welche  im  glücklichen  Sein,  in 
schönen  Kleidern,  vielen  Kindern,  herrlicher  Gesundheit  u.  s.  w.  sich  be- 
gnügt. Doch  gibt  es  auch  einzelne  Fälle  mit  Annäherungen  an  den  ersteren 
(männlichen)  Typus;  aber  sie  bilden  die  Ausnahme;  ganz  erreicht  wird 
die  Phantasiekraft  der  männlichen  Leistungen,  wenigstens  nach  meinen 
Beobachtungen,  nicht.  Dementsprechend  ist  auch  der  Verlauf  ein  ver- 
gleichsweise milderer,  lange  nicht  so  turbulenter,  wie  bei  den  Männern; 
es  kommen  wohl  auch  manische  Phasen  vor,  aber  viel  moderirter  in 
der  Stärke  und  kürzer  in  der  Dauer.  Der  Verlauf  ist  überhaupt  pro- 
trahirter;  während  er  sich  dort  in  3  Jahren  durchschnittlich  abspielt, 
ist  hier  die  annähernd  doppelte  Dauer  die  Regel.  Die  motorischen  Stö- 
rungen sind  im  Wesentlichen  dieselben;  doch  Uberwiegt  der  paralytische 
Charakter  Uber  den  convulsiv-ataktischen.  Remissionen  sind  im  Ganzen 
seltener,  ebenso  aber  auch  die  epileptoiden  und  paralytischen  Anfälle, 
wiewohl  diese  nicht  immer  fehlen.  Ganz  selten  werden  dieselben  im  An- 
fangsstadium getroffen;  die  „congestive"  Form  (s.  d.)  ist  deshalb  aus  der 
Frauenparalyse  auszuscheiden.  Auch  die  Hallucinationen  sind  seltener 
als  in  der  männlichen  Paralyse.  Krankheitsbild  und  Verlauf  tragen  den 
Charakter  eines  mehr  minder  geräuschlos  sich  vollziehenden  verfrühten 
Seniums,  welchem  aber  (klinisch  und  autoptisch)  der  —  gemässigte  — 
Uuxionäre  Charakter  erhalten  bleibt. 


376 


Die  typische  Paralyse. 


Therapie. 

Ein  Specificum  gegen  diese  höchst  gefährliche  trophische  Neurose 
eines  in  der  biologischen  Turgescenzperiode  begriffenen,  aber  durch 
Ueberconsumption  erschöpften  Gehirnlebens  gibt  es  bis  heute  nicht; 
auch  kein  Abortivum.  Gleichwohl  bleibt  es  eine  hochwichtige  Auf- 
gabe unentwegt  den  Kampf  gegen  dieses  furchtbare  (in  statistischer 
Zunahme  begriffene)  Leiden,  welches  die  Geisel  unserer  Zeit  ist,  auf- 
zunehmen. Dies  kann  aber  wirksam  nur  in  den  Anfangsstadien 
geschehen;  daher  die  Wichtigkeit  einer  genügend  frühzeitigen  Dia- 
gnose! Die  Indication  ist:  tonisiren  ohne  zu  reizen,  die  cerebrale 
vasomotorische  Affection,  ev.  den  fluxionären  Hirnzustand  bekämpfen. 

Das  wichtigste  Curerforderniss  ist  Ruhe.  Der  beginnende  Para- 
lytiker werde  sofort  aus  seiner  beruflichen  Thätigkeit  enthoben,  und 
ungesäumt  einem  Asyle  übergeben.  Am  besten  eignen  sich  dafür 
die  ländlich  gelegenen,  in  welchen  bei  der  nöth igen  Isolirtheit  auch 
die  Gelegenheit  zu  vieler  Bewegung  in  freier  Luft  ev.  Gartenarbeiten 
gegeben  ist.  Neben  der  Ruhe  und  einem  sorgfältig  regulirten  Tages- 
lauf, mit  Abhaltung  aller  emotiven  Einwirkungen,  werde  eine  kräftige, 
aber  milde  und  reizlose  Diät  eingehalten.  Dazu  passt  ein  mildes 
hydriatisches  Verfahren  mit  Vermeidung  von  Kopfdouchen,  Verbot 
des  Rauchens  und  der  Alcoholica  (letztere  höchstens  bei  körperlich 
Geschwächten  in  medicinischen  Dosen  zulässig),  Vorsicht  gegen  Son- 
nenhitze; Regulirung  des  Schlafs.  Peinliche  Abhaltung  aller  soma- 
tischen und  psychischen  Reize  muss  der  Grundzug  der  Behandlung  sein. 

Die  speci eilen  Indicationen  richten  sich  nach  dem  Einzelfall. 
Ist  Neigung  zu  activen  Fluxionen  vorhanden,  so  werde  diese  sorg- 
samst bekämpft:  Bettruhe,  blande  Diät,  Derivantien,  Eis,  Bäder  mit 
Umschlägen,  Fussbäder,  zeitweilige  Blutegel  hinter  die  Ohren.  Bei 
mehr  anhaltender  activ-  passiver  Hirncongestion  (nach  vorausgegan- 
genen Excessen)  ist  die  täglich  durch  1 — 2  Stunden  fortgesetzte  Eis- 
behandlung neben  unerschütterlich  einfachstem  diätlichem  Regimen 
angezeigt.  Von  Arzneimitteln  verdient  Seeale  nach  dieser  Richtung 
Beachtung;  unter  Umständen  auch  Jodkali.  Verräth  der  ganze  Ha- 
bitus (Aussehen,  Carotis-Puls,  Injection  der  Conjunctiva,  Kopfdruck, 
unruhiger  Schlaf  mit  Träumen)  die  dauernde  Hyperämisirung,  so  er- 
wäge man  ernstlich  die  Anwendung  eines  Haarseils  ev.  die  vorsich- 
tige Einreibung  von  Tart.  stib.  Salbe  auf  den  Scheitel ;  ermuthigende 
Erfahrungen  darüber  stehen  nicht  mehr  vereinzelt.  —  Bei  Schlaf- 
losigkeit werde  Chloral  möglichst  gemieden,  jedenfalls  in  fortgesetzter 
Anwendung. 


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Therapie. 


377 


Ist  der  anämische  Charakter  beim  Patienten  vorherrschend,  sind 
erschöpfende  Debauchen  vorausgegangen  oder  auch  geistige  Ueber- 
anstrengung,  so  passt  neben  der  geeigneten  roborirend  reizlosen  Diät 
(mit  etwas  Wein  und  Bier)  der  arzneiliche  Gebrauch  von  Chinin  mit 
Eisen,  Arsenik,  ev.  mit  oder  ohne  kleinere  Gaben  von  Opium.  Hier 
ist  es  auch,  wo  die  Anwendung  des  constanten  Stroms  durch  den 
Kopf  (vorsichtig  mit  Rheostat,  kurze  Sitzungen)  ihre  Erfolge  zu  ver- 
zeichnen hat.  Die  Kranken  fühlen  sich  darnach  wohler,  schlafen 
besser,  die  geistige  Leistungskraft  scheint  sich  sachte  zu  heben,  die 
motorischen  Störungen  (Sprache)  mindern  sich.  Wenn  auch  nicht 
Heilung  erzielt  wird,  so  belohnt  doch  nicht  selten  eine  erfreuliche 
Remission.  Mit  der  Kopfgalvanisation  wird  mit  Vortheil  die  der 
Wirbelsäule  (aufsteigend  1 — iy«  Min.)  verbunden. 

Ist  mit  einer  oder  der  andern  Behandlungsweise  ein  Erfolg 
(selbst  nur  ein  mässiger  oder  wenigstens  den  Krankheitsfortschritt 
hemmender)  erzielt  worden,  so  lasse  man  den  Kranken  noch  mög- 
lichst lange  nach  psychischer  und  somatischer  Richtung  Quarantäne 
halten !  Ein  einziger  Excess  —  und  bei  dem  vulnerabeln  Gehirn  ge- 
staltet sich  schon  ein  mässiger  alkoholischer  oder  sexueller  Reiz  zu 
einem  solchen!  —  kann  das  mühsam  Erreichte  vernichten.  Auch 
mit  der  Rückkehr  in  den  Beruf  werde  solange  als  möglich  gezögert. 
Mit  Vortheil  schliessen  sich  in  der  Behandlung  jetzt  Villegiaturen 
(massige  Höhen-Curorte,  Seeluft  ohne  Bäder)  an. 

Ist  erst  eine  manische  Attake  mit  dem  specifischen  Grössen- 
wahn  eingetreten,  so  mindern  sich  mit  den  prognostischen  Aussichten 
auch  die  Chancen  einer  noch  wirksamen  Therapie.  Doch  lässt  sich 
auch  hier  durch  sorgsamste  Abhaltung  aller  Reize  und  Bekämpfung 
des  fluxionären  Kopfzustandes  nicht  selten  noch  eine  Eindämmung 
des  Aufregungszustandes  erreichen,  so  zwar,  dass  nachher  eine 
Remission  folgt.  —  Letztere  bildet  erst  recht  die  Aufgabe  der  ein- 
gehendsten körperlichen  und  geistigen  Ueberwachung  Seitens  des 
Arztes,  nach  Maassgabe  der  Eingangs  entwickelten  Grundsätze. 

Vor  Allem  ist  Trennung  von  der  Familie  reap.  Verhinderung  des 
ehelichen  Verkehrs  sowohl  für  deu  der  Schonung  bedürftigen  Patienten, 
als  für  die  zu  erwartende  Descendenz  unerlässücb.  Diese  sehr  schwie- 
rige Aufgabe,  meist  noch  erhöht  durch  die  gebotene  Fürsorge  wegen 
möglicherweise  finanziell  schädigender  Regungen  von  Grössenwahn  (Käufe, 
Vertragsabschlüsse),  lässt  auch  jetzt  einen  Asylaufenthalt  (wenn  auch 
unter  freieren  Formen)  nicht  umgehen.  Freilich  bildet  der  Eigenwille 
des  sich  gesund  fühlenden  Kranken,  verbunden  mit  seiner  Reizbarkeit, 
oft  genug  ein  schwer  zu  überwindendes  Hinderniss.  Hier  muss  die  Au- 
torität des  Arztes  in  richtiger  psychisch -individualisirender  Weise  klug, 
aber  fest,  eintreten. 


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378 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


Die  spätem  Stadien  der  fortschreitenden  Krankheit  erfordern 
durchaus  den  Aufenthalt  in  einer  mit  allen  Ressourcen  (Feldbeschäf- 
tigung) ausgestatteten  Anstalt.  Die  Indicationen  richten  sich  nach 
den  einzelnen  Krankheitsphasen,  immer  unter  entsprechender  Berück- 
sichtigung des  so  besonders  vulnerabeln  Paralytiker-Gehirns.  Werden 
die  motorischen  Störungen  stärker,  so  wächst  die  Aufgabe  des  Arztes 
und  des  Wartepersonals.  Abgesehen  von  der  Hilflosigkeit  durch  den 
immer  erschwertem  Gang  u.  s.  w.  erfordern  die  anrückenden  Insufß- 
cienzen  im  Schlingapparat,  in  den  Functionen  der  Blase  und  des 
Mastdarms  eine  tägliche,  ja  stündliche,  einsichtsvolle  Ueberwachung. 
Bei  der  hypochondrischen  Form  ist  die  Gefahr  der  Selbstbeschädi- 
gung sehr  zu  berücksichtigen.  Nimmt  die  Lähmung  überhand  und 
wird  der  Kranke  bettlägerig,  so  ist  Alles  zur  Vermeidung  des  De- 
cubitus und  der  Senk-Pneumonieen  aufzubieten.  Blasenkatarrhe  er- 
heischen regelmässigen  Katheterismus.  In  diesen  Secundärstadien 
sei  die  Kost  eine  roborirend  reizlose  (Alles  fein  zerhackt),  und 
werde  durch  Darreichung  von  Bier  und  kräftigem  Wein  unterstützt. 


Die  psychischen  Cerebropathieen  (modificirten 

Paralysen). 

Literatur.  Coraplicireude  PacchymeningUta:  Ausführliche  Literatur  bei 
Huguenin,  d.  Handb.  Bd.  XI.  —  Fürstnor,  Arch.  f.  Psych,  8.  —  Arndt,  Virch. 
Arch.  52.  —  Savagc,  Jour.  of  ment.  sc.  1884.  Paralyse  nach  Herderkrankung-en 
(  Apoplexieen):  Mendel,  Deut,  med  Wochenschr.  S  Jahrgg.  —  Foville,  Ann. 
med.  psych.  1  ss«»  u.  Sl.  —  Eickholt,  Arch.  f.  Psych.  12.  —  Speciell  nach  Ca- 
pillarapoplexieeu:  L.  Meyer,  Arch.  f.  Psych.  1.  —  Arndt,  Virch.  Arch.  51 
•  namentlich  mikroBk.  Befund).  —  Savage,  J.  of  m.  sc.  1832.  —  Bei  multipler 
Sklerose  s.  betr.  Literatur;  ferner  Schultze,  Arch.  f.  Psych.  11.  —  Raynaud, 
Gaz.  des  hop.  lssi.  —  Greiff,  Arch.  f.  Psych.  I  i.  —  Bei  Dementia  senilis  com- 
plicata: Marc»*,  Kecherches  etc.  de  la  di'mence  senile  1S<>3.  —  Wille,  Allg.  Z. 
t.  Psych.  30.  —  Weiss,  Psychosen  des  Seuiums.  Wien.  med.  Pr.  ISsii.  —  Sepilli 
v  Riva,  Riv.  sper.  1880.  -  de  la  Cullerre,  Ann.  med.  psych.  18S3.  —  Bei  Ge- 
hirntumoren: Rey,  Ibid.  18*2.  —  Field,  Lanc.  1871».  —  „Tabische"  nnd 
„spastisohe"  Irrenparalyse:  s.  oben  bei  Literatur  der  typ.  Paralyse;  ausserdem: 
Micklc,  Lancetl*84.  —  Mills,  J.  of  nerv,  a  ment.  dis.  1  >ss3  (Tabes).  —  Gnauck, 
Perl.  klin.  Wochenscbr.  18M)(Lateralsklerosc).  —  Zacher,  Arch.  f.  Psych.  13  u.  15 
(spastischer  Symptomencomplext.  —  Moeli,  Char.  Ann.  VI.  —  Syphilitische  Para- 
lyse: Virchow,  Arch.  15,  Geschwülste  II.  —  lleubner,  Luetische  Erkrankung 
der  Hirnarterien  1S74  (Literatur);  Ders.,  d.  Handb.  XI.  —  Esmarch  u.  Jessen, 
Allg.  Ztschr.  1.  Psych.  14.  —  L.Meyer,  Ibid.  18.  —  Westphal,  Ibid.  20.  — 
Wille,  Ibid.  2S.  —  Schule,  Ibid.  28.  -  Rinning,  Ibid.  37.  —  Schale,  Sec- 
tionsergebnisse  1874.  —  Erlemeyer, Luetische  Psychosen,  II.  Aufl.  1879  (Literatur). 
—  Mendel,  Berl.  kl.  Woch.  l*7i).  —  Charcot  u.  Gombault,  Arch.  de  phys. 
1873.  —  Foville,  Ann.  med.  psych.  1 ST9.  —  Discuss.  des  rapp.  eutre  la  syph.  et 
la  paral.  gen.,  Ibid.  —  Ball,  Ann.  et  Bull,  de  la  soc.  de  m6d.  de  Gand  tSSl. — 
Mickle,  J.  of  m. sc.  1879.  —  Ü bersteiner,  Wien.  med.  Woch.  1883.  —  Schulz, 
Neurol.  Centbl.  1883.  —  Kiernan,  Alien,  and  Xeur.  1883. 


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Subacute  uud  galoppirende  Paralyse. 


379 


a)  Meningo-Perienccphalitis  chronica  und  subacuta,  oder  Encepha- 
litis subacuta:  Manie  mit  Grössenwahn  und  motorischen  Störungen 
mit  Uebergang  in  Blödsinn  unter  paralytischen  Reizsymptomen. 

Allgemeines  Krankheitsbild.  Die  erste  Einleitung  er- 
folgt nicht  selten  ganz  wie  bei  der  gewöhnlichen  Paralyse  (Reizbar- 
keit mit  brutaler  Reaction,  GemUthsstumpfheit  neben  dicht  daneben 
liegender  Weinerlichkeit),  und  nimmt  erst  nach  und  nach  ein  stürmi- 
scheres Verlaufstempo  an.  Sehr  häufig  imponireu  aber  die  Kranken 
schon  im  Prodromalstadium  durch  starke  cephalische  Beschwerden 
(namentlich  Schwindel  und  heftiges  Kopfweh;  manchmal  geht  Jahre- 
lang intensive  Migräne  voraus),  und  geistig  durch  eine  aussergewöhn- 
lich  starke  Benommenheit,  grobe  Gedächtnisslückcn,  Verstösse  gegen 
das  Decorum,  und  eine  intellectuelle  Zerstreutheit,  welche  selbst 
mässige  Leistungen  im  eingewöhnten  Berufe  nicht  mehr  gelingen 
lägst.  Frühe  schon  zeigen  sich  heftige  Congcstivzustände;  der  Kranke 
flieht  die  Sonnenhitze,  wird  nach  kleinen  Alkoholmengen  unver- 
hältnissmässig  rasch  und  tief  berauscht.  Die  heitere  Grössenwahns- 
episode  der  typischen  Paralyse  wird  übersprungen,  oder  steigert 
sich,  kaum  betreten,  zur  Mania  gravis.  Diese  bildet  unter  Tag  und 
Nacht  fortdauerndem  wildem  Toben  und  vernichtendem  Zerstörungs- 
drang die  erste  Phase  der  eigentlichen  Krankheit.  Gewöhnlich, 
wenn  auch  nicht  immer,  sind  jetzt  schon  die  motorischen  Störungen  in 
Sprache,  Gang,  Handbewegungen,  Pupillen,  in  auffallend  verstärktem 
Grade  ausgeprägt.  Das  Bewusstsein  ist  sehr  tief  benommen,  so  dass 
der  Kranke  keine  Umgebung  beachtet,  keine  Frage  zu  beantworten 
vermag,  auf  Ansprachen  mit  plumper  Heftigkeit  eindringt,  Alles  unter 
8ich  gehen  lässt,  ruhelos  an  den  Wänden  umhergreift,  oder  automatisch 
Schreilaute  ohne  Sinn  ausstösst.  Dann  und  wann  tritt  auch  ein  frag- 
mentarer  Grössenwahn  dazwischen:  Kaiser  —  Millionen  —  Gold  — 
Diamanten,  aber  nur  in  träumerisch  abgerissenen  Worten,  ohne  ver- 
bindende Association.  Damit  wechseln  in  jähem  Umschlag  Angst- 
paroxysmen,  mit  dem  bangen  Aufschrei  eines  Verfolgten,  ab.  Der 
Kranke  kommt  in  einen  panphobischen  deliranten  Zustand;  er  ver- 
kriecht sich,  verweigert  die  Nahrung,  macht  in  blindem  Drange  ver- 
zweifelte Angriffe,  vermuthet  überall  Gift.  Auch  in  diesen  negativen 
Aeusserungcn  dieselbe  Unklarheit,  Verworrenheit,  rasch  sich  ver- 
wischende Flüchtigkeit.  Das  Bewusstsein  bleibt  anhaltend  tief  be- 
täubt, dämmerhaft,  höchstens  mit  etwas  lucidern,  aber  nie  eigentlich 
klaren  Phasen  wechselnd.  In  der  Regel  begleitet  den  heftigen  mani- 
schen Sturm  eine  sehr  beschleunigte  Herzthätigkeit,  warmer  Kopf, 
frequenter,  dicroter  Puls  und  Erhöhung  der  Temperatur  (bis  zu  39" 


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380 


Die  psychischen  Cerebropathieeo. 


und  noch  darüber);  jedoch  kommen  auch  Congestivzustände  ohne 
Temperaturerhöhung  vor.   Wenn  jetzt  im  Verlauf  von  Tagen  oder 
einigen  Wochen  sich  ein  Nacblass  einstellt,  so  ist  der  fertige  Blöd- 
sinn da,  gewöhnlich  noch  nicht  in  der  apathischen  Form,  sondern 
in  der  einer  beständigen,  triebartigen,  plan-  und  ziellosen  Unruhe. 
Die  motorischen  Störungen,  gemischt  aus  Lähmungs-  und  Reiz- 
symptomen, nehmen  rasch  Uberhand;  die  Sprache  wird  durch  die 
hochgradige  Ataxie  der  Zunge  und  durch  krampfartige  Mitbewe- 
gungen der  Lippen-Muskulatur  schon  jetzt  schwer  verständlich.  Auch 
in  der  Ruhe  fliegen  beständig  leise  Zuckungen,  oder  plötzliche  Stösse, 
Uber  einzelne  Gesichts-  oder  Stammmuskeln  hin;  nicht  selten  geräth 
der  Körper  vorübergehend  in  ein  allgemeines  Zittern.    Es  ist,  wie 
wenn  das  gesammte  motorische  System  neben  zunehmender  Insuffi- 
cienz  in  einem  Reizzustand  unterhalten  würde,  welcher  durch  inter- 
mittirende  schwächere  oder  stärkere  Convulsionen  einzelner  Muskeln 
oder  Muskelbündel  sich  wieder  begleicht.   Intercurrent  brechen  auch 
Insulte  von  epileptiformen  Zuckungen  ein,  welche  weder  nach  moto- 
rischer noch  psychischer  Seite  sich  von  denen  der  gewöhnlichen 
Paralyse  unterscheiden.   Die  Temperatur  bleibt  oft  auf  lange  Wochen 
eine  erhöhte,  meistens  mit  abendlicher  Steigerung.    Zeitweise  schie- 
ben sich  immer  wieder  manische  Erregungszustände  in  den  Krank- 
heitsverlauf ein,  mit  dem  triebartigen,  „convulsiven"  Charakter  der 
motorischen  Acte  und  unter  andauernd  tiefster  Benommenheit  Der 
Vorstellungsgang  wird  immer  öder,  defecter,  und  bietet  bald  nur 
noch  ein  Gemisch  von  vereinzelten  Fragmenten  kindischer  Grössen- 
ideen  und  starren  Resten  eines  affectlosen  Verfolgungswahnes  dar. 
Heiter  vergnügt  oder  stumpf  gleichgültig  plappern  die  Kranken  diese 
monotonen  Vorstellungsreihen  her,  deren  Sinn  sie  nicht  mehr  ver- 
stehen.  Mit  den  Erregungszufällen  wechseln  auch  Phasen  von  Stupor 
ab.   Andremale  treten  unter  congestivem  Sturme,  bedeutender  Tem- 
peratur-Erhöhung und  raschem  Collaps  die  Zeichen  des  Delirium 
acutum  ein,  und  führen  die  Krankheit  zum  letalen  Ende.    Bei  ruhi- 
gerem Verlaufe  stellt  nach  den  manisch-congestiven  Anfällen  wohl 
immer  wieder  ein  Nacblass  sich  ein,  aber  stets  unter  Einrücken  auf 
eine  tiefere  Stufe  des  Blödsinns  und  der  Lähmung.    Eigentliche  „Re- 
missionen" wie  in  der  typischen  Paralyse  treten  hier  nicht  auf;  folgt 
einmal  eine  Pause,  so  ist  es  nur  eine  Etappe  im  zunehmenden  Blöd- 
sinn.   In  der  Regel  treten  früher  oder  später  (oft  schon  nach  wenigen 
Monaten)  tiefe  trophische  Störungen  ein;  die  Kranken  magern  trotz 
reichlicher  Nahrung  zu  Skeletten  ab ;  oftmals  kommen  auch  heftige, 
fast  unstillbare  Diarrhöen.    Auf  diesem  Wege  oder  durch  einen  der 


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Galoppirende  Paralyse.   Patholog.  Anatomie. 


andern,  bei  der  gewöhnlichen  Paralyse  namhaft  gemachten  Schluss- 
processe  (vom  Gehirn  oder  von  den  Lungen  ans)  schliesst  sich  die 
Scene,  manchmal  schon  nach  Wochen  oder  nach  einigen  Monaten. 

Das  gesammte  Krankheitsbild  stellt  einen  symptomatologisch  acnt 
verlaufenden  Paralysenprocess  dar,  weshalb  demselben  auch  die  Bezeich- 
nung der  „  galoppirenden  Paralyse"  gegeben  wurde.  Die  klinische  Eigen- 
art, gegenüber  der  typischen  Paralyse,  liegt  aber  nicht  nur  in  der  Rasch  - 
heit  des  Verlaufs,  sondern  auch  in  dessen  Abkürzung.  Die  Anfangs- 
stadien der  Normalparalyse  fehlen  hier ;  der  Beginn  tritt  sofort  mit  einem 
manischen  Anfalle  von  der  tiefern  psychischen  Formqualität,  wie  diese 
dort  erst  in  spätem  (Blödsinns)  Stadien  zu  Stande  kommt,  in  Scene. 
Ebenso  ist  der  Verlauf  d.  h.  die  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Phasen 
absolut  regellos,  der  typischen  Paralyse  gegenüber.  Die  häufigen  anhal- 
tenden Febricitationen  weisen  auf  einen  activen  cerebralen  Reizvorgang 
hin,  welcher  sich  auch  in  dem  Verhalten  der  Muskulatur  in  der  Ruhe 
(selbstständiges  fibrilläres  Zucken)  ausspricht.  Nicht  ein  schrittweiser 
Degenerationsvorgang,  nicht  eine  fortschreitende  Reduction  der  erreichten 
psychischen  und  psychomotorischen  Entwicklungshöhe,  nicht  ein  stufen- 
weises Herunterrücken  aus  der  feinen  geistigen  Form  in  das  erst  Unge- 
schickte und  endlich  grob  Täppische  motorischer  Defectleistungen  tritt 
uns  hier  entgegen,  wie  in  der  klassischen  Paralyse,  sondern  ein  von 
vornherein  brüsk  einsetzender  organischer  Destructionsprocess;  nicht  eine 
functionelle  Hirnerschöpfung  unter  dem  Bilde  eines  in  Zuckungen  abster- 
benden Nerven,  sondern  eine  quasi- traumatische  Vernichtung  der  gei- 
stigen Hirnelemente,  unter  dem  Bilde  einer  mehr  minder  acut  verlaufen- 
den destructiven  Meningitis  und  Encephalitis.  Die  „organische  Belastung" 
der  Elemente  im  psychischen  Symptomenbilde  ist  nicht  minder  charakte- 
ristisch, als  der  gekürzte  acute  Verlauf  im  Ganzen.  Letzterer  zeigt  auch 
keine  verständliche  Folge  der  einzelnen  Stadien  mehr:  die  entzündliche 
Hirnkrankheit,  als  solche,  bestimmt  deren  Gang  allein.  Nicht  selten  schliesst 
eine  acute  Meningitis  mit  Nackenstarre,  Delirien,  Sopor  den  Krankheits- 
verlauf ab.  —  Bezüglich  des  Anfangs  ist  noch  zu  bemerken,  dass  manch- 
mal, wie  bei  der  congestiven  Form  der  gewöhnlichen  Paralyse,  ein  apo- 
plektiformer  Insult,  oder  ein  Anfall  von  Convulsionen  die  erste  Einlei- 
tung bilden. 

Das  pathologisch  anatomische  Bild  ergibt:  a)  Die  Befunde 
einer  subacuten  Meningo-Periencephalitis.  Grauweissliche  Verdickung  der 
Lepto-Meningen  (die  Arachnitis  Bayle's),  mit  da  und  dort  eingesprengten 
gelblichen  Plaques  eines  acutem  Reizprocesses ,  und  diffuser  reichlicher 
lymphatischer  Durchtränkung;  die  Exsudate  nehmen  mit  Vorliebe  die  Um- 
gebung der  Gefässe  ein.  Starke  arterielle  Injection  der  Meningen.  Die 
weichen  Häute  haften  in  grösster  Ausdehnung  an  der  Gehirnoberfläche  an, 
und  zwar  vorzugsweise  längs  der  Stirn-,  Central-  und  oberu  Scheitelwin- 
dung, und  längs  der  Umgebung  der  Sylvi'schen  Spalte.  Die  Hinterhaupts- 
windungen und  die  Basis,  sowie  die  Medianfläche,  sind  meist  (nicht  immer) 
frei.  Nicht  selten  findet  sich  in  den  Fällen,  welche  gegen  Krankheits- 
schluss  ein  Delirium  acutum  gezeigt  hatten,  die  Steigerung  der  Meningitis 
zu  einer  acut  eitrigen  Entzündung.  Die  abgezogene  Pia  lässt  an  den  Ad- 


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382 


Die  psychischen  Cerebropathieen, 


härenzstellen  eine  geschwürige  blutende  Wundfläche  an  der  Corticalis 
zurück.  Die  Windungen  turgesciren  in  frischen  Fällen.  Das  ganze  Ge- 
hirn ist  nicht  selten  geschwellt.  Die  Corticalis  selbst  ist  in  den  frischern 
Krankheitsstadien  verbreitert,  roth,  mit  einem  Stich  in's  Bläuliche,  aber 
nicht  gleichmässig,  sondern  gefleckt,  streifig,  mit  blassern  Inseln  durch- 
setzt, zuweilen  eigentümlich  „schimmernd  und  glitzernd  *  vom  Glanz  der 
colloiden  Substanzen  (L.  Meyer).  Die  Consistenz  ist  vermindert,  jedoch 
nicht  gleichmässig;  oft  finden  sich  erweichte  neben  verhärteten  Stellen. 
Auch  das  Übrige  Gehirn  ist  bluterfüllt,  namentlich  die  Basalganglien.  In 
den  Hirnhöhlen  Granulirung  des  Ependyms  und  Ansammlung  einer  ge- 
trübten Flüssigkeit.  —  Derselbe  hyperämische  Befund  betrifft  auch  das 
Rückenmark,  sowie  dessen  Häute,  letztere  gewöhnlich  nur  an  der  die 
hintere  Markhälfte  umgebenden  Partie. 

Mikroskopisch  findet  sich  pralle  GefässfÜllung,  Ausweitung  und 
Vollpfropfung  der  Lymphscheiden  mit  Leukocyten  und  sehr  vielen  rothen 
Blutkugeln;  die  Gefasswände  sind  opak,  oft  deutlich  verdickt,  und  mit 
prall  gefüllten  und  vergrösserten  Spinnenzellen  bedeckt;  letztere  bilden 
oft  lange  Züge  durch  die  Glia.  In  der  Umgebung  der  Ge fasse  findet  sich 
stellenweise  die  anschliessende  Glia  wie  verwaschen,  und  durch  lympha- 
tische Exsudationen  abgedrängt.  In  dieser  theilweisen  Abtrennung  neben 
der  an  andern  Partieen  derbem  Verbindung  durch  die  aufsitzenden  hyper- 
plastischen Spinnenzellen  (letztere  sind  namentlich  stark  in  den  subpialen, 
und  äussern  Corticalislagern  vertreten )  scheint  die  Thatsache  der  starkern 
Anheftung  einerseits,  und  der  ausgiebigen  Ulcerirung  des  Corticalis-Stra- 
tum's  andrerseits  beim  Abheben  bedingt  zu  sein.  An  den  Capillaren  und 
den  Uebergangsgefässen  zeigen  sich  Wucherungen  von  sehr  vollkommen 
entwickelten  „Zellen"  (keine  Kernproliferationen),  oft  mit  fibrillären  Fort- 
sätzen, und  so  mächtig  die  kleinsten  Gefässe  umscheidend,  dass  deren 
Lumen  sogar  theilweise  zum  Verschwinden  kommt.  Später  tritt  hyaline 
und  fettige  Degeneration  auf.  Die  Ganglien  zeigen  da  und  dort  trübe 
Schwellung;  in  spätem  Stadien  Schrumpfung  und  Zerfall.  —  Es  kann 
aber  auch  bei  dieser  acuten  Paralyse  b)  der  anatomische  Process  die 
Hirnhäute  intact  lassen,  und  als  parenchymatöser,  encephalitischer  Pro- 
cess nur  die  Innenschicht  der  Corticalis  und  die  Hirnhöhlen  in  diffus 
entzündliche  Affection  ziehen.  Hier  zeigt  sich  keine  Spur  einer  iepto- 
meningealen  Verdickung ;  auch  die  äussere  Corticalisschicht  ist  weissgrau, 
kaum  verändert;  dagegen  die  innere  vollständig  erweicht  und  ausseror- 
dentlich stark  geröthet.  Neben  stärkster  GefHssentwicklung  resp.  Hyper- 
ämie mit  den  obigen  Veränderungen  der  Gefässröhren,  der  Lymph-  und 
Saftbahnen  fehlen  hier  oft  auch  capilläre  Apoplexieen  nicht.  Meschede 
beschreibt  auch  für  diese  acuten  Fälle  „aufgeschwellte,  erweichte  und 
mit  Fettkörnchen  erfüllte  Nervenzellen". 

Unter  diese  Gruppe  der  subacuten  Paralysen  möchte  ich  auch 
jene  Fälle  der  anhaltenden  Mania  gravis  rechnen,  bei  welchen  eine 
primäre  blödsinnige  Schwäche  mit  tobsüchtiger  Aufregung  und  Ver- 
wirrung, faselndem  Grösseuwahn,  Sinnestäuschungen,  blindem  Zer- 
störungsdrang, und  sinnlos  perversem  motorischem  Gebahren  die 
wesentliche  psychische  Symptomengrappe  bilden.    Die  motorischen 


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Paralyse  durch  Pacchymeningitis  modificirt. 


383 


Störungen  treten  daneben  ungleich  schwächer  in  die  Erscheinung. 
Plötzlich  klärt  ein  Anfall  von  allgemeinen  Convulsiouen,  welcher 
nicht  selten  sofort  letal  ausgeht,  anderemale  Schlag  auf  Schlag  sich 
wiederholt,  über  die  tiefe  organische  Hirnkrankheit  auf;  die  Autopsie 
weist  die  vorbeschriebenen  Zeichen  der  Meniugo-Periencephalitis 
nach  (vgl.  S.  110  und  111). 

Die  Kranken  sind  unbezwingbare  Zerstörer,  wozu  sie  Hände  und 
Füsse  und  Zähne  gebrauchen,  machen  die  verkehrtesten  Handlungen 
(laufen,  tanzen,  klettern  ohne  jede  Rücksicht  auf  Gefahr,  wühlen  im  Un- 
rath,  tragen  diesen  mit  dem  Munde  zusammen,  verbeissen,  was  sie  er- 
haschen können,  verschlingen  ohne  Auswahl),  sind  unreinlich,  sprechen 
anhaltend,  oder  schreien  verwirrte  fragmentare  Reden,  selbstgemachte 
Worte  u.  s.  w.  Tag  und  Nacht  hinaus.  Darunter  eine  Fluth  von  Grössen- 
ideen :  sie  sind  Kaiser  und  Könige,  Erzengel,  wollen  sich  mit  Gott  messen 
(„wer  grösser  sei"  u.  s.  \v.),  pissen  goldene  Uhren  u.  s.  w.  Absolute  Un- 
orientirtheit  über  ihre  Lage,  über  Zeit  und  Raum.  Rohes  brutales  Be- 
nehmen. Stimmung  schwankt  zwischen  den  Extremen  heiterer  oder  ge- 
reizter Exaltation  und  schaler  Indolenz.  Gehörs-,  Gesichts-  und  Gefühls- 
täuschungen  (häufig  wiederkehrende  Klagen,  dass  der  Kranke  Nachts  von 
den  Geistern  geschlagen  werde).  Allmählich  bedeutender  Rückgang  der 
Ernährung.  Jetzt  auch  nach  und  nach  motorische  Zeichen:  Ungleichheit 
der  Pupillen ;  die  Rumpfmuskulatur  ist  in  einer  gewaltsamen,  tetanusar- 
tigen, aber  durchaus  willkürlichen  Spannung;  Oberlippe  beim  Vorstrecken 
der  Zunge  oft  leise  erbebend;  Sprache  schnell  und  gut,  Gang  sicher  und 
behende.  Im  Verlauf  von  Monaten  allmählich  Ruhe,  aber  gleichbleibende 
Verwirrung  und  geistige  Schwäche.  Auch  in  der  Ruhe  noch  blödsinnige 
Geschäftigkeit  (Sammeln,  kindisches  Spielen  und  Tändeln,  Zerstören). 
Dabei  nimmt  auch  jetzt  noch  der  Umfang  der  motorischen  Störungen 
nicht  sichtlich  zu.  Gang  und  Sprache  bleiben  ungehemmt.  In  manchen 
Fällen  findet  sich  choreatisches  Zittern  des  ganzen  Körpers  oder  einzel- 
ner Theile  mit  Steigerung  der  Reflexerregbarkeit.  Die  paralytische  Ver- 
blödung nimmt  ihren  Decursus  weiter,  oft  unter  zwischenlaufenden  mani- 
schen Phasen.  Plötzlich  allgemeine  Convulsionen  ohne  nachweisbare 
Ursache.    Mittlere  Krankheitsdauer:  1 — 2  Jahre. 

b)  Complicirendc  Pacchymeningitis.  Bei  der  ausserordentlichen 
klinischen  Mannigfaltigkeit  in  der  Ausdehnung,  dem  Sitze,  der  Ein- 
trittszeit der  genannten  Dural -Erkrankung  lässt  sich  ein  auch  nur 
einigermaassen  constantes  Symptomenbild  nicht  geben.  Selbstver- 
ständlich lässt  (schon  allgemein)  die  das  paralytische  Bild  modificirende 
Ursache  einen  verschiedenen  Eingriff  erwarten,  je  nachdem  es  sich 
um  ein  Plus  von  Reizsymptomen,  ausgehend  von  dem  duralen  Ent- 
zündungsvorgang, handelt,  oder  aber  um  Effecte  des  Hirudrucks, 
herrührend  von  einem  umfangreichen  Hämatom.  In  der  Praxis  kom- 
men beide  Reihen  allerdings  meistens  gemischt  vor.  Aber  auch  die 
Veränderungsfähigkeit  eines  paralytischen  Symptomenbildes  (als  Re- 


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384 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


action  eines  degenerirenden  Gehirns)  wird  speciell  gegenüber  den  Wir- 
kungen des  raumbeschränkenden  Blutergusses  eine  andere  sein  müssen 
bei  einem  nahezu  noch  intacten  Hirnvolumen,  als  bei  einem  bereits 
atrophisch  erheblich  reducirten.  Während  im  erstem  Falle  schon 
durch  kleine  Vorgänge  relativ  grosse  Effecte  erzielt  werden  können, 
wird  im  letztern  unter  Umständen  die  lähmende  Wirkung  gar  nicht 
zur  Entfaltung  kommen,  wenigstens  nicht  in  Form  eines  brüsken 
Insults. 

Nach  meinen  Erfahrungen  sind  es  im  Grossen  und  Ganzen 
zwei  Typen  von  durch  Pacchymeningitis  complicirten  Paralysen. 
Der  erste  Typus  entwickelt  sich  wie  eine  gewöhnliche  Paralyse, 
und  die  Modification  beginnt  erst  mit  dem  Auftreten  der  Hämatom 
anfalle;  der  zweite  dagegen  zeigt  gleich  vom  Beginn  an  ein  ab- 
geändertes Symptomenbild.  Auffällig  ist  aber  auch  in  vielen  Fällen 
des  ersten  Typus  das  Fehlen  oder  die  vergleichsweise  nur  matte 
Entwicklung  der  Grössenwahnsphase ;  dafUr  stehen  die  Vergcsslich- 
keit,  die  geistige  und  gemüthliche  Schwäche,  die  Euphorie  des  Blöd- 
sinns im  Vordergrund.  Der  zweite  Typus  führt  sofort  im  Anfang 
der  Krankheit  eine  sehr  auffällige  Stupidität  in  das  psychische 
Symptomenbild  ein:  die  Kranken  dämmern  herum,  sind  nicht  bloss 
geistig  apathisch,  sondern  förmlich  schlummersüchtig,  unbesinnlich. 
Manche  sehen  aus  wie  mit  einer  Keule  aufs  Haupt  geschlagen.  Sie 
zeigen  oft  frühe  schon  ein  allgemeines  Körperzittern,  sehr  erhöhte 
Sehnenreflexe  und  eine  gesteigerte  Reflexerregbarkeit,  wie  beides 
der  Normal  -  Paralytiker  erst  in  spätem  Verlaufsstadien  darbietet. 
Der  apathische  Blödsinn  scheint  schon  an  den  Krankheitsbegiun 
vorgeschoben  zu  sein,  und  zwar  nicht  in  der  Form  „wacher"  gei- 
stiger Schwäche  mit  dem  kindisch  albernen  Wesen,  sondern  in  der 
eines  stupiden  Halbschlafes.  Sind  bei  der  ersten  Modification  erst 
einige  pacchymeningitische  Anfälle  eingetreten,  so  sinken  auch  diese 
Kranken  (oft  ausserordentlich  rapid)  auf  das  Nullitäts- Niveau  der 
zweiten  Form  herab.  Entsprechend  der  tiefen  Blödsinnsstufe  treten 
—  und  dies  schon  frühe  —  nicht  die  charakteristischen  amnestischen, 
und  erst  feinem,  articulatorischeu  Sprachstörungen  ein,  sondern  viel- 
mehr die  schweren  anarthrischen  Formen;  manche  Kranke  werden 
sehr  bald  schou  dauernd  aphasisch.  Die  Aufregungszustände,  welche 
sich  regellos  in  den  Krankheitsgang  einschieben,  sind  manische 
Phasen  eines  stumpfen  Blödsinns:  triebartiges,  sinn-  und  planloses 
Zerreissen  und  Zerstören,  Schmiereu,  unarticulirtes  Schreien  und 
Brüllen.  Bei  den  Kranken  der  zweiten  Form  findet  sich  sehr  häufig 
eine  beraerkenswerthe  Pulsverlangsamung  (bis  36).  Letztere  tritt  in 


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Paralyse  durch  Pacchymeningitis  modificirt. 


385 


charakteristischer  Weise  manchmal  nach  den  Hämatom-Insulten  ein. 
Die  Papillen  sind  verengt,  nicht  selten  bis  zar  Grösse  eines  Steck- 
nadelkopfes, nnd  gegen  Beschattung  unempfindlich;  sie  erweitern 
sich  oft  selbst  auf  Atropin  nicht,  oder  nur  spurweise.  Die  Erholung 
nach  den  pacchymeningitischen  Anfällen  hält  sich  in  der  Regel  in 
viel  bescheidenem  Grenzen  als  nach  den  apoplektiformen  oder  epi- 
leptoiden  Zufällen  der  gewöhnlichen  Paralyse;  meistenteils  bezieht 
sie  sich  nur  auf  langsame  Besserungen  der  Motilität;  aber  der  Blöd- 
sinn bleibt,  oder  hat  wesentlich  zugenommen.  Sehr  wichtig  ist  das 
Auftreten  von  Stauungspapille,  meist  einseitig,  hie  und  da  aber 
auch  doppelseitig. 

Die  eigentlichen  pacchymeningitischen  Zufälle  erfolgen  theils 
in  Form  von  stupider  Aufregung,  theils  als  apoplektisch  convulsive  Insulte. 
Beide  Formen  können  sich  auch  mit  einander  verbinden ,  die  Convulsionen 
an  das  Erregungsstadium  sich  anschliessen.  Dieses  letztere  besteht  ge- 
wöhnlich in  einem  triebartigen  Bewegungsdrang,  oft  mit  anhaltendem  An- 
schlagen des  Kopfes  an  die  Wand,  verworrenem  Faseln,  Kopfcongestionen, 
Pulsfrequenz,  profusen  Schweissen.  Der  Insult  dagegen  zeigt  Gesichts- 
blässe ,  Pulsus  cephalicus  oft  mit  Respiratio  cephalica,  und  convulsiveu 
Zuckungen  tonischer  und  klonischer  Art,  welche  in  einigen  Punkten  sich 
von  denen  der  gewöhnlichen  Paralyse  unterscheiden  (FUrstner).  Am  häu- 
figsten scheint  die  tonische  Deviation  des  Kopfes  nach  einer  Seite  vor- 
zukommen, zugleich  mit  Nystagmus,  sodass  die  Bulbi  von  auswärts  be- 
ständig bis  gegen  die  Mittellinie  der  Lidspalte  hin  und  her  oacilliren.  Die 
Zuckungen  der  Extremitäten  sind  abwechselnd  tonische  und  klonische, 
theils  einseitig,  theils  doppelseitig;  besonders  gerne  greifen  sie  von  einer 
auf  die  andere  Körperseite  über.  Sehr  beachtenswerth  sind  die  „gewollt 
und  zweckmässig"  aussehenden  Bewegungen,  welche  die  Kranken  oft  stun- 
denlang machen  (Uerumgreifen  am  Bettzeug,  am  Hemde,  im  Gesichte; 
wohl  zweifellos  als  directe  ReizeÄecte  der  motorischen  Rindencentren). 
Sehr  häufig  stellen  sich  locale  oder  ausgedehntere  Zuckungen  bei  halbluci- 
dem  (nicht  aufgehobenem)  Bewusstsein  ein.  Damit  intercurriren  oft  voll- 
ständige Hemiplegieen,  welche  stets  nur  langsam  durch  ein  Stadium  von 
grösster  Ungeschicklichkeit  sich  ausgleichen,  nicht  selten  aber  auch  dau- 
ernd bleiben.  Manchmal  kommt  (bei  Fortschritt  der  Blutung  über  den 
Schläfelappen)  auch  noch  brüske  Aphasie,  bei  Uebertritt  auf  die  Basis 
contralaterale  Anästhesie  hinzu.  Temperaturerhöhung  im  Anfang  ist  sehr 
häufig,  aber  nicht  regelmässig. 

Der  Weiterverlauf  ist  bald  successive  abwärtsgehend  (mitunter 
galoppirend,  unter  rascher  Abmagerung,  Purpura,  Fnrunculosis) ,  oder 
durch  eine  Reihe  von  neuen  Insulten  unterbrochen.  Die  Remissionen, 
wie  in  der  klassischen  Paralyse,  scheinen  zu  fehlen.  Von  den  Ausgän- 
gen sei  speciell  der  durch  Marasmus  in  Folge  verschiedener  anderweitiger 
Hämatombildnngen  (Zwerchfell,  Rippenpleura,  Bauchserosa)  erwähnt  (in 
zwei  Beobachtungen). 

Schftlo,  Geiatwknnkheiten.   3.  Aufl.  25 


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886 


Die  psychischen  Cerebro'patbieeii. 


c)  Die  primäre  Hirnatrophie.  Auch  hier  ist  die  Reichhaltigkeit 
der  unter  diese  anatomische  Diagnose  einzureihenden  klinischen 
Krankheitsbilder  eine  so  grosse,  dass  eine  Allgemeinschilderung  nicht 
möglich  ist.  Ich  beschränke  mich  deshalb  auf  die  Aufführung  der 
mir  unter  einer  grÖ68ern  Anzahl  von  Fällen  vorgekommenen  Typen. 
Nach  der  anatomischen  Diagnose  trenne  ich  dieselben  in:  1.  primäre 
Hirnatrophie  ohne  Reizerscb einungen  (diffuse  chronische  Sklerose); 
und  2.  primäre  Hirnatrophie  mit  Reizerscheinungen.  Die  erste 
Untergruppe  bildet  die  Vermittlung  zwischen  der  typischen  Paralyse 
und  der  Dementia  senilis;  die  zweite  leitet  Uber  zu  der  plaque- 
förmigen Sklerose,  und  zu  den  encephalitischen  und  apoplektischen 
Herderkrankungen. 

1.  Die  primäre  Hirnatrophie  ohne  (entzündliche)  Reiz- 
erscheinungen. 

1.  Typus.  Wohl  in  ihrer  reinsten  Form  beginnt  die  primäre 
Hirnatrophie  mit  einer  melancholischen  oder  hypochondrischen 
Verstimmung  senilen  Charakters  (Wahn  verhungern  zu  müssen).  Die  hypo- 
chondrische Richtung  führt  zu  peinlichster  Grübelei,  mit  maasslos  ängst- 
licher Uebertreibung  und  geradezu  monströsen  Befürchtungen  (weisse 
Luftbläschen  in  dem  Urin  imponiren  als  Stärke-Zucker,  daher  Diabetes- 
furcht ;  Nasenschleim  als  Hirnausfluss).  Psychische  Symptome :  Mühe  die 
Gedanken  zusammenzubringen,  Hemmungen,  Versagen  des  Gedächtnisses, 
ausserordentlich  rasche  geistige  Ermüdung.  Daneben  Dumpfheit  und  Wüst- 
heit im  Kopfe;  beim  Gedankenconcentriren  das  Gefühl  „als  ob  man  mit 
einem  stumpfen  Messer  in  Holz  schneiden  wolle";  Ziehen  und  Spannen 
im  Hinterkopf;  Schwerhörigkeit  und  Augenschwache;  Vergehen  der  Ge- 
danken beim  Augenschluss;  pappiger  übler  Geschmack,  Völle  des  Leibes; 
Mattigkeit  und  Zerschlagenheit  der  Glieder.  Nicht  selten  barocke  Zwangs- 
gedanken und  Localgeftihle  z.  B.  von  Trompetenstössen  an  einzelnen  Kopf- 
gegenden u.  8.  w.  Peinlich  ängstigendes  Gefühl  einer  totalen  Aende- 
rung.  Patient  will  in  nichts  mehr  der  alte  Mensch  sein.  Sehr  häufig 
krankhafte  Schlafsucht,  besonders  wenn  der  Kranke  wach  bleiben  will, 
also  unter  Tags;  oft  in  eigenthUmlichster  Form  veranlasst  z.  B.  bei  Be- 
rührung der  Nasenwurzel.  Daneben  fehlt  Nachts  der  normale  Schlaf;  beim 
Einduseln  oft  sehr  beängstigende  Stösse  und  Zuckungen,  sodass  der  Kranke 
zusammenschreckt  und  momentan  Gefühle  im  Hirne  bekommt  „als  ob  er 
sofort  verrückt  wäre \  Sensorielle  und  sensible  Hyperästhesieen,  wo- 
durch der  Kranke  nicht  das  leiseste  Geräusch  mehr  erträgt,  doppelt  hört, 
seine  eigene  Stimme  im  ganzen  Körper  resoniren  spürt;  mit  furchtbaren 
Angstanwandlungen  („  Kainsangsf);  Zittern  am  ganzen  Körper.  Daneben 
aber  auch  sensorielle  und  sensible  Anästhesieen  und  Parästhesieen. 
Die  Speisen  schmecken  süsslich,  wie  Uberzuckert,  während  andere  Ge- 
schmacksempfindungen wie  abgedämpft  sind.  Auch  die  Temperaturem- 
pfindung ist  abnorm:  abwechselnde  Kälte-  und  Hitzegefühle,  oft  so,  dass 
der  Kranke  wiederholt  unter  Tags  die  Kleider  wechseln  muss;  halbsei- 


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Paralysen  aus  primärer  (nicht-entzündlicher)  Hirnatrophie.  387 

tige  Kältegefühle,  „oft  bis  zur  Erfrierung",  selbst  im  Hochsommer.  In 
der  Folge  perverse  Hantsensationen,  als  ob  Sch weiss  daran  herabliefe 
(ohne  objective  Grundlage).  Nach  und  nach  kommen  auch  pelzige  und 
prickelnde  Gefühle  in  den  Fingern,  abnehmende  Locomotionsgefühle,  so 
dass  der  Kranke  zum  Stock  greifen  musa;  intercurrente  Schwindel-  und 
Betaubtheitsanwandlungen,  als  ob  er  auf  die  Stirne  fallen  müsse.  Nach 
und  nach  „Abnahme  des  Bewusstseins M,  während  früher  „nur  die  Gedan- 
ken abgenommen  hätten Anwandlungen  von  Traumzuständen  unter  Tags 
unter  das  Wachen  herein.  Geistige  Arbeit  ist  schliesslich  gar  nicht  mehr 
möglich.  Die  Stimmung  ist  überaus  wechselnd,  immer  sehr  weich  und 
abhängig,  bald  zerknirscht  und  hingegeben,  bald  stumpf  und  gleichgültig, 
bald  ärgerlich  gereizt  und  trotzig,  meist  kopflos  verzagt  und  kindisch 
muthlos,  nie  eigentlich  schmerzlich  affectvoll.  Immer  mehr  sinkt  sie  zur 
Fassungslosigkeit  herab.  Oft  zeigt  sich  in  der  Stimmungslage  ein  alter- 
nirender  Typus.  Der  Verkehr  mit  dem  Kranken  ist  durch  das  krittelige 
Wesen,  welches  sich  mitunter  ziemlich  unzart  auslässt,  und  durch  den 
krankhaften  Eigensinn,  welcher  den  verkehrtesten  momentanen  Eingebun- 
gen folgt,  ein  zunehmend  schwierigerer.  Körperlich  wird  der  Kranke 
immer  invalider.  Häufige  Klage,  als  ob  die  Glieder,  namentlich  die  Arme, 
„wie  an  einem  Hampelmann  herabhingen".  Oft  Empfindung,  als  ob  die- 
selben „ganz  gelockert",  „flüssig"  würden.  Langsam  zunehmender  gei- 
stiger und  körperlicher  Zerfall;  nicht  selten  aber  mit  Pausen  relativer 
Erholung.  Tod  gewöhnlich  durch  einen  intercurrenten  acuten  Hirnpro- 
cess  (Paccbymeningitis),  oder  durch  Pneumonie,  oder  Apoplexie  (Suicid.!). 

2.  Typus.  Die  andere  Form  ist  vorwiegend  hallucinatorischen 
Charakters  auf  Grundlage  einer  stupiden  Bewusstseinsstörung  und  einer 
tief  depressiven  (nihilistischen)  Stimmung.  Sie  schliesst  sich  an  die  hallu- 
cinatorische  primäre  Dementia  an,  ist  symptomatologisch  im  Wesentlichen 
deren  Wiederholung,  nur  mit  qualitativ  tieferem  (organischerm)  Charakter 
der  psychischen  Symptome,  und  complicirt  mit  bleibenden,  mehr  minder 
ausgesprochenen,  motorischen  InnervationsstÖrungen  in  der  Mimik  und  den 
intendirten  Bewegungen.  Sie  beginnt  mit  Schlaflosigkeit,  Zerstreutheit, 
träumerischem  Wesen,  Vergesslichkeit,  Raptus  von  perversen  Acten; 
dann  Halhicinationen  bald  eines,  bald  mehrerer  Sinne,  mit  immer  mehr 
imperativem  Charakter.  Jäher  Umschlag  in  Stimmungsextreme;  die  schroff- 
sten Gegensätze  gehen  in  einander  Uber,  ohne  dass  eine  Nachwirkung  bleibt. 
Conträres  Verhalten  bei  Ansprachen,  mit  Steigerung  der  motorischen  Ne- 
gation bei  Zuspruch;  bei  Gewahrenlassen  Nachlass  der  Spannung.  Für 
sich  absolut  rathlos,  untersteht  der  Kranke  nur  der  Directive  seiner  ge- 
bietenden Sinnestäuschungen,  deren  crasseste  Zumuthungen  er  auszuführen 
strebt  (gefährliche  Acte!).  In  der  Folge  bunt  wechselnde  Stimmung 
(schwachsinnige  Euphorie  mit  verzehrender  Verzweiflung;  manchmal  auch 
hier  die  abenteuerlichsten  hypochondrischen  Quälereien,  wie  oben  und 
in  der  typ.  Paralyse).  Wahnsinnige  Ideen-Agglutinationen  nach  dem  Modus 
zufälliger  Wahrnehmungen  oder  Erinnerungen,  faselnde  Monologe,  zu- 
nehmende Stupidität  und  Amnesie.  Die  einfachsten  eingelebten  Gewohn- 
heiten des  Essens  und  des  Sichanziehens  bedürfen  der  Nachhilfe  und 
grossen  Zeitaufwandes.  Motorische  Schwäche  nimmt  mit  der  psychischen 
zu,  während  die  Hallucinationen  pari  passu  übermächtig  werden.  Zerfall 

25* 


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38S 


Die  psychischen  Cerebropathieeo. 


der  Körperernährung.  Tod  vom  Gehirn  ans,  oder  durch  einen  Lungen - 
process. 

3.  Typus.  Auch  der  primäre  chronische  Wahnsinn  stellt 
sein  Symptomenbild  unter  die  klinischen  Erscheinungsformen  der  primä- 
ren Hirnatrophie.  Ein  Zustand  von  Depression  mit  heftigen  Angstexplo- 
sionen leitet  häufig  die  Krankheit  ein.  Darauf  folgt,  als  Erschöpfungs- 
phase  auf  den  vorausgegangenen  Reizzustand,  eine  Episode  von  Stupidität, 
und  zwar  gleich  mit  den  Zeichen  tiefer  Betäubtheit  (nicht  einfacher  Hern' 
mung):  Vergessen  der  einfachsten  Tagesgewohnheiten,  plumpe  Verstösse 
gegen  das  Decorum  u.  s.  w.;  zeitweise  können  auch  lncidere  Phasen  da- 
zwischen laufen.  Der  nunmehr  nachfolgende  und  definitive  Verfolgungs- 
wahn trägt  generell  die  Züge  des  gewöhnlichen  Wahnsinns ;  im  Einzelnen 
aber  die  charakteristischen  Modificationen  durch  die  Cerebropathie  (speciell 
des  organischen  resp.  atrophischen  Hirnprocesses).  Zu  Grunde  liegt,  und 
durch  alle  Phasen  des  ausserordentlich  mannigfaltigen  Krankheitsbildes 
verfolgbar,  ein  tiefes  universelles  Misstrauen  (beruhend  wohl  auf  dem 
innerlich  percipirten  Schwanken  des  geistigen  Existenzgefühles),  mit  gros- 
ser Angst  und  Rastlosigkeit;  daraus  und  aus  dem  innerlich  gefühlten 
Zwiespalt  zwischen  dem  kranken  und  dem  noch  gesunden  Bewusstseins- 
antheil  baut  sich  allegorisch  der  erst  vage,  in  der  Folge  aber  systema- 
tisirte  Verfolgungswahn  auf,  in  der  Regel  ausgefüllt  durch  centrale  Sen- 
sibilitätsanomalieen.  Dem  „functionellen"  primären  Wahnsinn  entgegen, 
mit  seinem  psychologisch  abgewogenen  Verhältniss  zwischen  Wahnelement 
und  Reaction,  und  logischer  Folge  der  aufeinanderfolgenden  Znstands-' 
phasen  —  zeigt  das  Krankheitsbild  des  „organischen"  Wahnsinns  nur  frag- 
mentare  und  dabei  gegensätzliche  Krankheitsacte,  ohne  psychologisch  ver- 
mittelten Uebergang  und  ohne  Ausgleichung:  auf  der  einen  Seite  stehen 
Unruhe  und  Unstätigkeit  neben  einem  reizbaren  und  empfindlichen,  brutal 
rücksichtslosen  Wesen,  und  auf  der  andern  grosse  Befangenheit  und  Hem- 
mung, geistige  und  körperliche  Müdigkeit  bis  zur  stupiden  Indifferenz  und 
Abulie.  Zwischen  diesen  Extremen  schwankt  das  Tagesbild  hin  und  her, 
in  buntem  jähem  Wechsel,  nicht  selten  in  einem  Gemisch  beider,  dazwi- 
schen auch  wieder  mit  lucideren,  gemüthswärmeren  Phasen  durchsetzt. 
Das  Bewusstsein  ist  tief  benommen,  der  Kranke  ganz  das  Spiel  seiner 
Einfälle,  welche  in  demselben  widerspruchsvollen  Gegensatz  sich  bewe- 
gen ,  nicht  selten  auch  in  sinnlos  extravagirenden  Gegensätzen  sich  ver- 
flüchtigen. Es  sind  Zustände,  welche  theils  an  die  degenerativen  Formen 
der  hysterischen  Verrücktheit,  theils  an  die  Paralyse  sich  anlehnen,  von 
beiden  aber  klinisch  ebenso  scharf  sich  sondern.  Dabei  intercurriren  im- 
perative Hallucinationen ,  Hyperästhesie  der  Haut  (wie  in  den  vorigen 
Fällen),  ein  zeitweiliges  eigentümliches  Zittern  einzelner  Muskeln  oder 
-Partieen  (wohl  in  Folge  geänderter  d.  h.  theilweise  ausfallender  Innerva- 
tion), Zittern  der  Zunge,  trophische  Störungen  der  Haut.  Progressiver  Fort- 
schritt in  geistigen  Schwachsinn,  unter  immer  mehr  alberner  und  kritik- 
loser Ausbreitung  des  Verfolgungswahns  auf  die  kleinlichsten  Verhältnisse. 

4.  Typus.  Ist  die  primäre  Hirnatrophie  mit  besonders  hervortre- 
tender Betheiligung  einer  chronischen  Ependymitis  der  Ventrikel  und 
starker  Wasseransammlung  in  denselben  (Hydrocephalus  internus)  com- 
plicirt,  so  entsteht  sehr  häufig  eine  modificirte  Paralyse  in  Form  eines  pri- 


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Paralysen  aus  primärer  Hirnatrophie  mit  intercurr.  entzundl.  Encephalitis.  389 

mären  Blödsinns,  welchem  jahrelange  Amaurose  (wohl  durch  Druck- 
schwund des  Chiasma  in  Folge  des  erweiterten  Infundibulums)  vorausgeht. 
Der  allmählich  einrückende  Blödsinn  verbindet  sich  mit  fortschreitender 
motorischer  Paralyse  (nicht  Ataxie).  Manchmal  ist  die  geistige  Umnach- 
tung durch  einen  vagen,  faselnden  Grössenwahn  etwas  erhellt.  Zähne- 
knirschen  scheint  hier  ein  häufigeres  Symptom  zu  sein,  früher  eintretend 
und  andauernder  als  in  den  sonstigen  Paralyse  fällen.  Der  Abwärtsgang' 
in  Apathie  des  höchsten  Grades  ist  gewöhnlich  durch  stupide  Aufregungs- 
zustände  unterbrochen. 

2.  Die  primäre  Hirnatrophie  mit  intercurrenten 
entzündlichen  Reizerscheinungen. 

Das  Krankheitsbild  ist  hier  ein  nicht  weniger  mannigfaltiges 
als  bei  der  vorigen  Form,  entsprechend  der  verschiedenen  und  ver- 
schieden starken  Localisation  des  Hirnprocesses.  Je  nach  dem  mehr 
diffusen,  oder  aber  ausserdem  auch  noch  localen  Auftreten  des  letz- 
teren; je  nach  der  vorwiegenden  Betheiligang  des  Gehirns,  oder  aber 
der  ev.  Mitaffection  der  Häute;  endlich  je  nach  der  ev.  Verbindung 
mit  (d.  h.  umschriebener  Steigerung  zu)  Herdaffectionen  —  muss 
selbstverständlich  das  klinische  Symptomenbild  die  mannigfaltigsten 
Züge  und  Verlaufsarten  darbieten.  Es  lassen  sich  deshalb  auch  nur 
einzelne  generelle  Züge  namhaft  machen;  im  Speciellen  ist  jeder 
EiDzellfall  nur  für  sich  und  aus  sich  selbst  nach  den  allgemeinen 
Grundsätzen  der  Hirndiagnostik  zu  beurtbeilen. 

Von  psychischer  Seite  besteht  symptomatologisch  noch  die  meiste 
Uebereinstimmung  unter  der  hierher  gehörigen  Casuistik.  Allermeist  setzt 
das  Leiden  mit  einer  primären  Dementia  ein:  Nachlass  des  Interesses, 
der  Leistungsfähigkeit,  des  Gedächtnisses.  Nicht  selten  übt  der  gefühlte 
Einbruch  der  geistigen  Schwäche  einen  Rückschlag  auf  das  Gemüthsleben 
des  Kranken  in  Form  einer  melancholischen  Depression,  welche  aber 
durch  ihre  Inhaltlosigkeit,  und  durch  den  matten  Affect  sich  sofort  mehr 
als  wirkliche  psychische  Abnahme,  denn  als  Hemmung  ausweist.  Bei 
stärkerer  vasomotorischer  Erregbarkeit  können  vorübergehende  Ohnmachts- 
anwandlungen, oder  aber  Aphasieen,  anderemale  (bei  heftigen  Congestiv- 
zuständen)  auch  Aufregungen  daz wischenlaufen,  mit  dem  stupiden  trieb- 
artigen Charakter  der  Mania  gravis.  Soweit  ist  der  Beginn  gewisser 
Varietäten  der  allgemeinen  Paralyse  oft  nicht  unähnlich;  dazu  kommen 
schon  sehr  bald  motorische  Störungen,  namentlich  in  der  Sprache  (Bradi- 
phasie),  breitspuriger  Gang,  ungelenke  Handleistungen  —  alle  diese  De- 
fecte  aber  sofort  mit  echt  paralytischem  Charakter.  Nicht  wenige 
Kranke  haben  auch  zeitweiliges  Krankheitsbewusstsein.  Echter  Grössen- 
wahn, wie  in  der  klassischen  Paralyse,,  wird  nicht  beobachtet;  allermeist 
fehlt  derselbe  ganz;  anderemale  erhebt  er  sich  nicht  über  ein  „glückliches 
Sein"  oder  ein  vages  delirantes  Faseln  in  den  (fiebernden)  Erregungszu- 
ständen. Die  begonnene  geistige  Schwäche  schreitet  nun  progressiv  weiter, 
oft  überraschend  schnell,  so  dass  nach  wenigen  Monaten  bereits  eine  tiefe 


390 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


Blödsinnsstufe  erreicht  ist.  Das  mehr  minder  rasche  Tempo  ist  bedingt 
durch  die  dazwischenrufenden  acuten  CerebralzuBtände,  welche  klinisch 
bald  unter  dem  Bilde  eines  fieberhaften  Stupors,  bald  einer  stupiden  Manie, 
bald  heftiger  Wallungszustände  mit  Delirien  und  Panphobie,  bald  schmerz« 
hafter  Reuralgieen  und  localer  Krampfzustände  (Zwerchfellskrämpfe. 
Schlingkrämpfe),  oder  Anfällen  von  choreatischen  Bewegungen  verlaufen. 
Nach  jedem  derartigen  Insult  nimmt  der  Blödsinn  und  motorisch  die  Läh- 
mung zu.  Ab  und  zu  treten  auch  wieder  zeitweilige,  aber  immer  nur 
höchst  bescheidene,  Erholungen  ein. 

Im  motorischen  Gebiete  tauchen  umschriebene,  an  Intensität  und 
Ausdehnung  wechselnde,  Krämpfe  und  Lähmungszustände  auf:  Schüttel- 
krämpfe in  der  einen  oder  andern  Extremität,  „raideur"  der  Muskeln 
abwechselnd  mit  Schlaffheit ,  flüchtige  Contracturen,  choreatische  Bewe- 
gungen in  einem  oder  beiden  Armen,  anderemale  automatische  (aber  g  e- 
formte)  Bewegungen  mit  den  Händen,  temporäre  Schiefstellungen  des 
Kopfes,  der  Augen  (mit  Strabismus),  alle  möglichen  Pupillendifformitäteo, 
bald  vorübergehend,  bald  bleibend,  oft  vor  und  nach  den  Anfällen  ver- 
schieden; Abnahme  resp.  Ausfall  und  dann  auch  partieller  Wiedereintritt 
der  Sehnenreflexe;  Anästhesie  und  Analgesie,  gleichfalls  in  überraschender 
Weise  wechselnd.  Manchmal  zeigt  sich  auch  einseitiger  Verlust  des  Ge- 
ruchs, oder  des  Gesichts  (Atrophie  der  Pupillen),  mit  Hemianopsie  und 
Farbensinnstörungen.  Oonstanter  dagegen  scheinen  zwei  Symptomenreihen 
zu  bleiben:  die  sehr  gesteigerte  Reflexerregbarkeit  der  Haut,  und  die 
starke  Betheiligung  des  vasomotorischen  Systems  (ungleiche  und  sehr 
wechselnde  Blutveitheilung  Uber  den  Stamm  und  den  Kopf,  mit  endlich 
immer  ausgeprägterer  Vasoparese  der  Hände  und  Füsse).  Gegentiber  der 
klassischen  Paralyse  ist  der  Verlauf  ausserordentlich  wechselvoll,  und  in 
der  Aufeinanderfolge  der  Einzelphasen  und  der  Gestaltung  der  Einzel- 
symptome ganz  unberechenbar.  Die  Betheiligung  des  trophischen  Systems 
findet  in  derselben  Weise  und  Ausdehnung,  wie  bei  der  allgemeinen  Para- 
lyse statt;  doch  tritt  hier,  dem  intensiven  Charakter  des  organischen  Pro - 
cesses  entsprechend,  die  Muskelatrophie  viel  entschiedener  und  regel- 
mässiger auf  als  dort,  manchmal  schon  frühzeitig. 

Als  Anhang  zu  c)  sei  hier  die  Hirnatrophie  mit  localen 
Erweichungsherden  oder  Apoplexieen  (Capillarektasien  und 
miliaren  Herden)  oder  auch  mit  multipeln  Sklerosen  angereiht 

Dabei  kann  wiederum  die  Beziehung  der  erstem  zur  Herd- 
erkrankung eine  primäre  oder  eine  secundäre  sein.  Im  ersten 
Falle  geht  eine  diffuse  cerebrale  Allgemeinerkrankung  voran,  in 
deren  Verlauf  später  die  Herderkrankung  auftritt;  im  zweiten  ist 
die  Herderkrankung  das  primäre  Symptom,  und  an  diese  d.  h.  an 
deren  FolgezustUude  schliesst  sich  secundär  die  allgemeine  Atrophie 
an.  Darnach  unterscheiden  sich  die  klinischen  Bilder:  1.  als  primärer 
Blödsinn  mit  progressiver  Parese,  mit  intercurrenten  Hemiplegieen 
und  Apoplexieen;  2.  Apoplexie  mit  secundärem  Blödsinn;  3.  Blöd- 
sinn mit  allgemeiner  fortschreitender  Lähmung,  untermischt  mit  localen 


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Paralysen  au3  schwerer  Dementia  senilis. 


301 


Paresen;  4.  hallucinatorischer  (magnetischer)  Verfolgungswahn3inn; 
mit  Allegorisirung  der  „rheumatischen"  Sensationen  und  progressiver 
Demenz  mit  Parese  (vgl.  S.  364,  y). 

Die  beiden  ersten  Gruppen  (1  und  2)  werden  vorzugsweise  ge- 
deckt durch  die  formenreiche  Gruppe  der  atheromatösen  Encephalitis. 
Vor  Allem  gehören  hierher  die  Altersprocesse ,  welche  unter  dem 
Sammelnamen  der  schweren  Dementia  senilis  zasammengefasst 
werden  (mit  fortschreitender  Lähmung). 

Der  eigentlichen  Krankheit  geht  ein  Stad.  prodrom.  voraus,  gebildet 
aas  körperlichen  und  psychischen  Symptomen.  Zu  den  erstem  gehören 
die  Zeichen  eines  diffusen  Hirnreizzustandes,  verschieden  je  nach  der 
Natur  und  dem  Sitz  der  durch  Atherose  bedingten  Circulationsstörung, 
und  untermischt  mit  allgemeinen  Sehwächeaymptomen:  Kopfweh,  Schwin- 
del, Schlaflosigkeit,  allgemeinem  Unbehagen,  Fro3t-  und  UnruhegefUhlen, 
namentlich  in  den  Füssen,  zuckendem  Puls  mit  den  Zeichen  vermehrter 
arterieller  Spannung  (Ei weiss  im  Urin);  zu  den  letzter n  enorme  Ver- 
gesslichkeit,  so  dass  selbst  die  Tageszeiten  verwechselt  werden,  rasche 
geistige  Ermüdung,  unleserliche  Schrift  mit  Schreibfehlern  und  Wortellip- 
sen, getragen  durch  ein  weinerliches,  hilfloses  Wesen  mit  Uberaus  grosser 
Verletzlichkeit  und  Reizbarkeit;  oft  geht  auch  ein  zunehmender  Geiz  mit 
Menschenscheu  vorher.    Die  eigentliche  Krankheit  kann  nun  entweder 
mit  einer  acuten  Geistesstörung,  meistens  im  Sinn  einer  aufgeregten  Melan- 
cholie mit  Wahnvorstellungen  nnd  Hallucinationen  (Wahn  des  Bestohlen- 
werdens,  sogar  ihres  geistigen  Hirnbesitzes!),  manchmal  auch  in  Gestalt 
einer  verzehrenden,  maasslos  oft  übertreibenden  Hypochondrie  (Wirbel 
dislocirt,  alle  Körpertheile  auseinander  gerissen,  Muskulatur  geschrumpft, 
Fleisch  vom  Gesicht  genommen,  intercurrente  völlige  Blindheit)  beginnen; 
oder  in  Form  einer  primären  Dementia  (Rücksichtslosigkeit,  Verletzung 
des  Anstandes,  Vergesst ichkeit,  Lähmung  in  Gang  und  Sprache,  enormer 
Easgier,  Anflug  von  mattem  Grössen wahn,  abwechselnd  mit  Depression, 
saccessive  zunehmendem  Blödsinn  mit  Paralyse,  manchmil  mit  langsamer 
Opticusatrophie) ;  oder  endlich:  motorisch  durch  einen  apoplektischen 
Anfall  mit  Hemiplegie  (Aphasie),  selten  durch  epileptiforme  Convulsionen. 
In  der  Regel  schreitet  die  Erkrankung  nach  psychischer  Seite  (zunehmen- 
der Blödsinn),  sowie  nach  somatischer  (neue  dazwischentretende  Lähmungs- 
anfälle) progressiv  weiter.    Es  kann  aber  dieser  Verlauf  besonders  im 
Anfang  noch  durch  sehr  bemerkenswerthe  Aufregungszustände  regellos 
durchkreuzt  und  unterbrochen  werden:  so  entsteht  eine  zwecklose  Ge- 
schäftigkeit (besonders  mit  den  Kleidern  und  der  Wäsche  u.  s.  w.),  mit 
zeitweiliger  Verstimmung  (Diebsfurcht!),  Brummen  unl  Schelten,  wie  bei 
einem  unartigen  Kinde;  aber  selten  mit  Heftigkeit.    Vermag  die  Erre- 
gung noch  in  einer  höhern  geistigen  Sphäre  sich  abzuspielen,  so  treten 
gelegentlich  perverse  Handlungen  zu  Tage,  worunter  namentlich  klepto- 
manische und  erotische  Antriebe  eine  social  oft  sehr  bedenkliche  Aus- 
schreitung bringen.    Die  Conflicte  mit  dem  Strafgesetz  sind  nicht  selten. 
Spricht  der  krankhafte  Hirnreiz  dagegen  mehr  die  psychomotorischen  und 
niedern  Centren  an,  so  können  auch  brutale  Manieen  auftreten,  mit  Ver- 


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392 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


worrenbeit  und  planlosem  Zerstörungsdrang.  Fehlen  die  Aufregungszu- 
stände,  und  verläuft  die  Krankheit  in  depressiver  Richtung  weiter,  so 
verräth  sich  auch,  hierbei  der  tiefere  organische  Hirnreiz  in  den  triebar- 
tigen Angstzufallen,  Zwangsvorstellungen  und  motorischen  Raptus,  welche 
oft  zu  Gewaltthaten  führen.  Findet  eine  Motivirung  der  Angst  statt,  so 
ist  diese  dem  Grade  der  Hirnstörung  entsprechend  läppisch  und  kindisch 
(ein  Kranker  aus  meiner  Beobachtung  brachte  Nächte  hindurch  in  Angst 
aus  dem  unbesiegbaren  Zwangsgedanken  hin,  dass  er  früher  einmal  ein 
Hemd  verkehrt  angezogen  habe!);  zunehmende  Sinnestäuschungen.  Wille 
macht  die  richtige  Bemerkung,  dass  oft  diese  ganze  melancholische  Sce- 
nerie  mit  den  verkehrten  Handlungen  nur  Nachts  spiele,  während  der 
Kranke  unter  Tags  kaum  Abweichungen  von  seinem  gewohnten  Verhal- 
ten zeige;  manchmal  wird  darin  ein  alternirender  Typus  beobachtet. 

In  einer  wie  in  der  andern  Verlaufsart  zielt  der  endliche  Verlauf 
zur  definitiven  Geistesschwäche,  mit  zunehmender  motorischer  Lähmung. 
Die  Kranken  werden  immer  theilnahmloser,  vorübergehend  stupid  (Hirn- 
druck in  Folge  der  atheromatösen  Circulationsstörungen),  schlafen  oft  ein, 
zeigen  eine  allgemeine  Betäubung.  In  den  freiem  Zeiten  sind  sie  reizbar, 
raisonnirend,  ärgerlich,  unzufrieden,  widerstrebend,  und  dabei  von  Minute 
zu  Minute  vergesslich.  Sie  vergessen  nicht  selten  ihren  eigenen  Namen, 
oder  lehnen  denselben  auf  Vorhalt  zornig  ab,  führen  mit  ihrem  Spiegel- 
bild ernstliche  Selbstgespräche,  trinken  behaglich  schmunzelnd  ihren  Urin 
u.  s.  w.  Die  Sprachstörung  ist,  entgegen  der  typisch-paralytischen,  nicht 
von  der  ataktischen,  sondern  glossoplegischen  Form :  wie  wenn  die  Kran- 
ken Brei  im  Munde  hätten.  Grösser  noch  sind  die  Associationsstörungen ; 
kein  Satz,  selbst  nicht  der  einfachste,  vermag  mehr  grammatikalisch  durch- 
geführt zu  werden;  nach  wenigen  Worten  stockt  der  Vorstellungsgang; 
dann  schiebt  sich  nach  einer  Pause  ein  weiteres  Satzfragment  vor,  und 
so  gehen  die  sprachlichen  Anakoluthieen  weiter.  Oft  wird  das  Wort 
nicht  gefunden,  oder  kann  nicht  ausgesprochen  werden,  weil  die  Zunge 
temporär  ganz  ungefüge  ist  (dadurch  grosse  Verstimmung  mit  zorniger 
Reaction !).  Manchmal  versucht  der  Kranke  durch  hieroglyphische  Zeichen 
seinem  Sprachdefect  schriftlich  abzuhelfen.  Neben  der  Agraphie  besteht 
oft  Alexie  und  Paralexie.  —  Immer  mehr  schreitet  der  intellectuelle  und 
namentlich  auch  sittliche  Zerfall  (perverse  Acte)  voran;  nicht  selten  in- 
tercurrirt  noch  eine  Zeit  lang  ein  alberner  monotoner  Grössen  wann;  der 
Kranke  muss  schliesslich  zur  Reinlichkeit  gemahnt  und  gefüttert  werden, 
und  sinkt  immer  mehr  zum  Schlafzustande  des  Säuglings  herab. 

In  diese  continuirliche  Verlaufscurve  nach  abwärts  treten  nun 
noch  die  mannigfachsten  motorischen  Krampf-  und  Lähmungs- 
zufälle: epileptoide,  apoplektische ,  hemiplegische,  apbasische  An- 
fälle —  bald  vorübergehend,  bald  auch  bleibend.  Auch  Anomalieen 
der  Sensibilität  schieben  sich  ein  und  Aenderungen  der  Sehnenreflexe, 
theils  zeitweilig,  theils  dauernd.  Trotz  grosser  Gefrässigkeit  magert 
der  Kranke  ab,  bis  endlich  ein  neuer  Schlaganfall,  oder  Decubi- 
tus, oder  Cystitis,  eine  Pneumonie,  das  reducirte  Dasein  (welchem 
übrigens  oft  überraschend  freie  Lichtblicke  nicht  fehlen)  abschliesst. 


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Paralysen  aus  Apoplexieen,  aus  dissemenirter  Sklerose. 


393 


Beim  Hirntod  machen  sich  bei  dieser  Form  besonders  häufig  auch 
die  Veränderungen  des  Athmungstypus  geltend  (cephalische  Respira- 
tion, Cheyne-Stockes'sches  Phänomen). 

Die  Dauer  der  Krankheit  ist  eine  sehr  verschiedene.  Es  gibt 
peracut  in  mehreren  Wochen  tödtlich  verlaufende  Fälle.  In  andern  können, 
selbst  nach  schweren  Insulten,  befriedigende  Remissionen  (von  Monaten) 
eintreten.  In  der  Regel  aber  ist  die  Krankheit  andauernd,  und  verläuft 
innerhalb  1—4  Jahren. 

Die  Blödsinn-Lähmungszustände,  welche  nach  Apople- 
xieen (Embolieen)  auftreten,  verhalten  sich  je  nach  dem  dauernden 
oder  abwechselnden  Ueberwiegen  von  Hirnreizvorgängen,  oder  aber 
zunehmendem  einfachem  Hirnschwunde,  symptomatologisch  verschie- 
den. Wesentlich  wirkt  natürlich  auf  die  Gestaltung  des  individuellen 
klinischen  Bildes  Ort  und  Tiefe  des  apoplektischen  Herdes,  und  nicht 
unwesentlich  auch  der  biologische  Reifezustand  d.  h.  die  vitale 
Leistungsfähigkeit  des  Gehirns  mit 

In  einem  Falle  von  Apoplexie  bei  einem  jungen  Manne  (in  Folge 
einer  heftigen  Erhitzung  auf  Grundlage  einer  frühem  schweren  Kopfver- 
letzung) sah  ich  bleibende  Hemiplegie  mit  zunehmender  Geistesschwäche 
folgen,  wobei  Anfangs  ein  acut  ballucinatorischer  Wahnsinn  (durch  mehrere 
Wochen)  ausbrach,  später  ein  bleibender  Verfolgungswahn,  mit  grosser 
Reizbarkeit,  zeitweisen  Kopffluxionen  und  allerlei  perversen  Sensationen. 
Der  letztere  führte  später  zum  Morde  des  behandelnden  Arztes.  —  Bei 
einem  57  jährigen  Manne  beobachtete  ich  2  Jahre  nach  einer  Apoplexie 
zuerst  eine  gesteigerte  Reizbarkeit  und  darauf  eine  Uber  l  Jahr  dauernde 
Mania  gravis,  mit  blinden  motorischen  Excessen ,  bodenloser  Verwirrung, 
triebartig  sinnlosem  Gebahren,  bedeutender  Abmagerung.  Jetzt  ein  Sta- 
dium von  spielendem  und  faselndem  Grössenwahn  (Kaiser,  Millionen).  Nach 
mehreren  Monaten  trat  ein  manisches  Schwächestadium  (Moria)  auf ;  hier- 
auf nochmals  kurze  Recidive  von  Mania  gravis,  mit  Uebergang  in  ruhigen 
Blödsinn.  Aus  diesem  erfolgte,  unter  Hebung  der  Körperernährung,  eine 
allmähliche,  aber  schliesslich  vollständige  und  bleibende  geistige  Ge- 
nesung. 

Mit  dem  Stillestehen  und  Ausheilen  der  apoplektischen  Hirn- 
verletzung kann  auch  Stillstand  und  relative  Heilung  der  psychischen 
Schwäche,  mit  ernstlicher  Besserung  der  Lähmungserscheinungen 
eintreten  (s.  o.).  Dies  sind  die  klinischen  Uebergangsfälle  zu  den 
traumatischen  Psychosen. 

d)  Die  Encephalitis  mit  dissemenirten  sklerotischen  Herden  bildet 
ihrerseits  den  natürlichen  Uebergang  zu  den  syphilitischen  Psychosen. 

Die  psychischen  Störungen  bei  der  klassischen  Hirnrückenmarks- 
aklerose  verlaufen  gewöhnlich  unter  dem  Bilde  einer  krankhaft  gestei- 
gerten Reizbarkeit,  unmotivirtem  Stimmungswechsel,  grosser  Weinerlichkeit, 
Gedflcbtnissschwäche ,  deliranten  Einfällen  mit  Hallucinationen,  Anwand- 


394 


Die  psychischen  Cerebropathieeo. 


lungen  von  Verfolgungsangst,  zwischenläufiger  schwachsinniger  Euphorie, 
albernem  GrÖssenwahn  —  progressiv  (manchmal  auch  in  rapidem  Abfall) 
bis  in  die  höchste  Stupidität.  Die  höheren  ethischen  Gefühle  bleiben  in 
der  Regel  lange,  oft  dauernd,  geschont.  In  einzelnen  Fällen  sind  auch 
melancholische  Depressionszustände  mit  Tentamen  suicidii  verzeichnet; 
in  andern  folgte  auf  das  depressive  Stadium  heiterer  GrÖssenwahn  mit 
Selbstüberschätzung.  Für  die  differentielle  Diagnose  sind  die  somatischen 
Zeichen  der  multipeln  Sklerose  (locale  Paresen  mit  Steifheit,  Intentions- 
zittern,  Zungenlähmung  u.  s.  w.)  beizuziehen. 

Die  von  mir  beobachteten  Fälle  von  progressivem  Blödsinn  mit  Läh- 
mung auf  der  Grundlage  einer  Encephalitis  mit  Capillarektasieen 
und  miliaren  Herden  waren  beide  durch  einen  anhaltend  sehr  hohen 
Betäubungszustand  mit  intercurrenten  motorischen  Herderscheinungen  und 
apoplektischen  Anfällen  ausgezeichnet.  Mit  der  Stupidität  wechselten 
Erregungszustände  mit  blindem  Zerstörungsdrange  ab.  Schliesslich  wurde 
die  tiefste  Stufe  des  apathischen  Blödsinns  mit  allgemeiner  Parese,  neben 
localen  Lähmungen,  erreicht.  —  Der  L.  Meyer'sche  Fall  (zugleich  der 
erste  in  dieser  Hinsicht  beobachtete)  entwickelte  sich  aus  Melancholie 
mit  epileptoiden  Angstzufällen  zu  einem  geistigen  Schwachsinn,  mit  mo- 
torischer Parese  im  Hypoglossus  und  Facialis  und  Abstumpfung  des 
Schmerzgefühls,  wie  bei  der  progressiven  Paralyse. 

e)  Psychische  Cerebralleiden  unter  der  klinischen  Form  des  progres- 
siven Blödsinns  mit  Lähmung,  bedingt  durch  Neubildungen  im  Gehirn 

werden  hier  bloss  der  Vollständigkeit  wegen  angeführt,  da  sich  eine  all- 
gemeine Symptomatologie  nicht  einmal  in  groben  Umrissen  geben  läs-?t. 
Sitz  des  Tumors,  Grösse,  Wachsthumsschnelle,  complicirende  mechanische 
Folgewirkungen  u.  s.  w.  machen  jeden  Fall  zu  einem  individuellen.  Das 
ausserordentlich  polymorphe,  regellos  verlaufende,  gewöhnlich  aus  diffusen 
und  Herderscheinungen  gemischte  Bild  zeigt  wohl  im  Allgemeinen  die 
Symptome  eines  mehr  oder  minder  raschen  Blödsinns  (allgemein  und  par- 
tiell) mit  den  mannigfachsten  Lähmungen ;  dazwischen  aber  stupid  manische, 
delirant  hallucinatorische  und  auch  lucidere  Phasen.  Selbst  das  Paralyse- 
bild ist  wiederholt  bei  Tumoren  beobachtet  worden,  manchmal  anhaltend, 
in  andern  Fällen  vorübergehend,  bis  dann  plötzliche  Insulte  und  locale 
sprungweise  Lähmungen,  ophthalmoskopische  Erscheinungen  u.  s.w.  die 
Specificität  des  atrophirenden  Hirnleidens  aufklärten,  lieber  die  speciellen 
diagnostischen  Gesichtspunkte  s.  Bd.  XI  d.  Hdb. 

f)  Complicirende  Rückenmarkserkrankungen.  Die  hier  in  Betracht 
kommenden  spinalen  Processe  sind:  graue  Degeneration  der  Hinter- 
stränge (Tabes,  „tabische  Paralyse"),  Lateralsklerose  (spastische 
Paralyse),  fleckweise  Degeneration  der  Hinter-  und  Seitenstränge, 
centrale  Myelitis,  Syringomyelie. 

Ein  bestimmteres  allgemeines  Krankheitsbild  lässt  sich  auch 
für  diese  verschiedenen  coraplicirenden  Spinalprocesse  nicht  geben. 
Am  ehesten  noch  bilden  die  „tabischen  Paralysen"  eine  klinisch  ge- 
schlossene Gruppe.   Aber  auch  hier  differiren  die  Syraptomenbilder 


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Paralysen  aus  capill.  Apoplexieen;  Hirntumoren;  „tabische"  Paralyse.  395 

wesentlich  nach  der  Eintrittszeit  der  Tabes,  insofern  diese  dem  para- 
lytischen Hirnprocess  bald  vorausgehen,  bald  nachfolgen  kann  (s.  u.). 
In  beiden  Fällen  kann  das  cerebrale  Bild  das  einer  gewöhnlichen 
Paralyse  sein,  und  die  spinalen  Tabessymptome  sich  einfach  dazu 
summiren.  Sehr  oft  aber,  namentlich  bei  vorausgehender  Tabes, 
können  die  durch  die  letztere  gebrachten  Zeichen  klinisch  im  Vor- 
dergrunde stehen  bleiben,  und  die  cerebralen  nur  erst  unbestimmt 
\sich  kundgeben. 

Nach  den  einleitenden  charakteristisch  rheumatoiden  Schmerzen  (sehr 
oft  auf  Grundlage  derselben)  bildet  sich  ein  hypochondrischer  Zustand 
aus,  welcher  schrittweise  in  Dementia  übergeht,  während  die  immer  um- 
fassenderen Sensibilitäts-  und  Motilitätsstörungen  den  Fortschritt  der  Tabes 
nach  oben,  und  das  Hinzutreten  von  anarthrischer  Aphasie  den  Ueber- 
griff  des  Leidens  speciell  auf  den  Med.  oblong,  darlegen.  Der  Verlauf 
dieses  tabischen  Blödsinns  ist  oft  ein  sehr  rascher;  in  anderen  Fällen 
treten  aber  gegentheils  auch  oft  unerwartete,  jahrelange  Remissionen  nach 
psychischer  und  körperlicher  Seite  ein.  —  Das  psychische  Bild,  welches  sich 
auf  der  Tabes  aufbaut,  zeigt  aber  nicht  selten  eine  mannigfaltigere  Gestal- 
tung und  Entwicklung.  Dasselbe  setzt  a)  mit  Verfolgungswahn  (s.  S.  1 62) 
ein,  welcher  seine  Allegorieen  aus  den  spinalen  Sensibilitätsstörungen  be- 
zieht; oder  b)  es  treten  erst  manische  Anfälle  auf  mit  gemischtem  de- 
pressiv exaltirtem  (GrÖssen-)Delirium,  woran  sich  erst  Genesung  und  dann 
nene  Nachschübe,  oder  aber  ein  hypochondrisches  Schwächestadium  an- 
schliesst,  mit  progressiver  Dementia.  Interessant  sind  die  temporären 
Besserungen  des  Blödsinns  und  der  Ataxie,  oft  ganz  plötzlich,  auf  Tage 
oder  Stunden  hinaus.  Dafür  ist  andererseits  der  Verlauf  der  Fälle  durch 
häufigere  Convulsionen  unterbrochen  als  die  gewöhnliche  Paralyse.  Der 
ataktische  Charakter  der  Bewegungsstörungen  mit  den  Aenderungen  der 
Sehnenreflexe  (s.  typ.  Paralyse)  bleibt,  neben  der  progressiv  einrückenden 
motorischen  Paralyse,  das  auszeichnende  Symptom. 

Als  eine  besondere  Modification  tabischer  Dementia  hat  Simon  einen 
Zustand  von  progressivem  Blödsinn  mit  Lähmung  beschrieben,  in  welchem 
die  Dementia  und  die  Tabes  gleichzeitig  einsetzen.  Die  erstere  hat 
die  Eigenart  der  senilen  Form:  Vergesslichkeit,  Hang  zu  träumerischen 
Faseleien,  kindisches,  sehr  reizbares  Wesen  mit  Anstreifungen  an  einen 
albernen  fragmentaren  Grössenwahn,  frühzeitige  Bulbärsymptome ,  An- 
ästhesie und  Analgesie.  Simon  fand  in  seinem  Falle  hochgradige  Sklero- 
Birnng  der  Marksubstanz  des  Grosshirns  neben  stahlblauer  Verfärbung 
der  Corticalis,  graue  Degeneration  der  Hinterstränge,  Körnchenzellen- 
Myelitis  der  Seitenstränge. 

Für  die  Epikrise  ist  zu  beachten,  dass  manchmal  p.  m.  Degeneration 
der  Hinterstränge  bei  Paralyse  sich  findet  ohne  intra  vitam  bestandene 
Ataxie  und  Sensibilitätsstörungen.  Letztere  Zeichen  scheinen  demnach  erst 
bei  genügendem  Markröhrenschwund  zu  Tage  zu  treten  (Westphal).  Die- 
selbe Vorsicht  gilt  auch  manchmal  für  die  Diagnose  einer  Lateralsklerose, 
welche  trotz  der  vorhanden  gewesenen  spastischen  Symptome  fehlen  kann 
(Zacher). 


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39G 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


g)  Psychische  Cerebralleiden  durch  Encephalitis  syphilitica. 

Wenn  schon  die  vorstehenden  Hirnaffectionen  Einsprache  erhoben 
gegen  den  Versuch  ein  nur  einigermaassen  typisches  Symptomenbild  der 
zukommenden  psychischen  Störung  zu  entwerfen,  so  ist  bei  der  Hirnlues 
die  Schwierigkeit  eine  noch  erheblich  grössere.  Seit  wir  wissen,  dass 
die  letztere  sowohl  diffuse  als  auch  locale  Producte  setzt  und  ausserdem 
noch  aus  beiden  Richtungen  gemischte,  so  müssen  wir  gefasst  sein,  allen 
den  vorhin  beschriebenen  Untergruppen  im  Detail  der  syphilitischen  En- 
cephalitis wieder  zu  begegnen.  Ein  Blick  auf  die  pathologisch-anatomischen 
Vorkommnisse  im  Groben  zeigt,  dass  dies  auch  nicht  anders  sein  kann. 
Wir  treffen  hier  Knochenprocesse  am  Schädel,  eigenartige  Meningitiden 
und  Encephalitiden,  theils  rein,  theils  wiederum  in  Verbindung  mit  Herd- 
erkrankungen, letztere  bald  ans  einfacher  Erweichung,  bald  aus  einer 
Arterienerkrankung  hervorgehend,  und  diese  wiederum  bald  umschrieben, 
bald  diffus;  ferner  noch  die  specifisch  gummösen  Neubildungen  und  die 
partiellen  Gehirnskierosen.  Dabei  spielen  sich  alle  diese  Vorgänge  theils 
mehr  im  chronischen,  theils  im  acuten  Tempo  ab,  wodurch  noch  neue 
und  noch  verwickeitere  Entstehungs-  und  Abänderungsbedingungen  für 
die  klinische  Erscheinungsweise  gegeben  sind.  Es  begreift  sich  daraus 
das  Proteus-ähnliche  der  Krankheitsbilder,  von  welchen  nicht  zwei  Fälle 
einander  genau  gleichen,  und  so  auch  weiter  die  Abneigung  vieler  Be- 
obachter aus  diesem  Embarras  de  richesse  noch  ein  „specifisches"  heraus- 
zuschälen, welches  einigermaassen  Anspruch  auf  gesonderte  Existenz  hat. 

So  wichtig  nun  diese  letzteren  Bedenken  im  Allgemeinen  auch  sind, 
und  so  gegründet  der  Einwurf  gegen  den  Versuch  einen  präcisen  Schul- 
typus im  Gebiet  der  syphilitischen  Cerebropathieen  aufstellen  zu  wollen, 
so  gingen  dieselben  doch  zu  weit,  wenn  damit  jede  Berechtigung  bestritten 
werden  wollte,  einen  generellen  Rahmen  um  die  grössere  Anzahl  dieser 
Symptomenbilder  zu  ziehen,  und  innerhalb  dieses  wenigstens  diejenigen 
Nuancen  herauszuheben,  welche  mit  einer  gewissen  Häuf igkei  t  wieder- 
kehren, und  tbatsächlich  die  syphilitische  Gruppe  von  verwandten  aus- 
zeichnen. Dass  die  hierher  gehörigen  Fälle  sämmtlich  unter  einer  oder 
der  andern  Form  der  sog.  modificirten  Paralysen  verlaufen,  dürfte  nicht 
zu  bestreiten  sein,  und  wird  auch  von  den  Gegnern  der  „Specifität"  zu- 
gegeben. Damit  wird  der  weitere  klinische  Rahmen  umschrieben.  — 
Dafür  darf  nun  gegentheils  eingeräumt  werden,  dass  die  Hirnlues  unter 
Umständen  auch  als  typische  Paralyse  verlaufen  kann,  allerdings  (wenig- 
stens nach  meinen  Beobachtungen)  viel  seltener,  als  man  lange  Zeit 
annahm,  wo  man  sogar  alle  Paralysen  schlechthin  auf  eine  speci fische 
Entstehung  zurückleiten  wollte.  —  Aber  auch  innerhalb  dieses  engern  und 
weitern  Rahmens  heben  sich  gewisse  klinische  Nuancen  heraus,  theils 
im  somatischen,  theils  im  psychischen  Gebiet,  theils  endlich  nach  Richtung 
des  Verlaufs.  Es  gibt,  wie  ich  behaupten  möchte,  einen  specifischen 
luetischen  Blödsinn,  welcher  höchstens  nocli  mit  gewissen  alkoholischen 
Formen  einige  Aehnlichkeit  hat;  es  gibt  gewisse  Eigenheiten  im  Verhalten 
der  motorischen  Störungen ,  wenn  auch  nicht  regelmässig  nachweisbar ; 
und  endlich  gewisse  Besonderheiten  im  Verlaufe,  gegenüber  den  typischen 
und  den  sonstigen  modificirten  Paralysen.  In  diesen  Momenten  liegt  für 
mich  das  Specifische  der  „syphilitischen"  Paralyse,  wo  sie  vorkommen, 


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Paralysen  aus  Encephalitis  syphilitica. 


397 


was  allerdings  nicht  immer  der  Fall  ist.  Selbstverständlich  darf  die  Dia- 
gnose auch  nie  von  den  andern  diagnostischen  Hilfen  absehen,  welche  von 
der  innern  Medicin  für  dieses  Specialgebiet  geleistet  werden  (s.  Heubner, 
d.  Handb.  XI). 

Im  allgemeinen  Krankheitsbilde  können  motorische  und 
psychische  Symptome  theils  einzeln,  theils  vereint,  die  Scene  er- 
öffnen. Die  psychischen  selbst  scheiden  sich  wieder  in  Läh- 
mungs-  und  Reizsymptome.  Der  Lähmungscharakter  ist  der  häufigere. 
Eröffnet  ein  primärer  Blödsinn  die  Scene,  so  besteht  dessen  Aus- 
zeichnung und  Eigenart  1.  in  seiner  auffallend  raschen  Entwick- 
lung (mit  den  übrigen  diffusen  d.  h.  uncomplicirten  Hirnatrophieen 
verglichen),  und  2.  in  seiner  ungleichen  Ausdehnung  resp.  Verthei- 
lung  auf  die  einzelnen  intellectuellen  Functionen.  Neben  der  allge- 
meinen und  intensiven  geistigen  Schwäche  treten  locale  Defecte 
auf,  in  Form  des  Verlusts  einzelner  Fähigkeiten  —  partielle  psychi- 
sche Ausfallserscheinungen  —  als  ob  der  Kranke  dieselben  nie  be- 
sessen hätte.  Gebildete  Kranke  verlernen  das  Rechnen  mit  den  4 
Species,  vergessen  eine  ihnen  früher  geläufige  fremde  Sprache;  wie- 
der Andere  verlieren,  fast  isolirt,  die  Anschauung  (Beurtheilung)  des 
Maasses  und  der  Entfernungen  (Erlenmeyer).  Der  syphilitische 
Blödsinn  besteht  nicht  in  einer  ebenmässigen  Abnahme  oder  Auf- 
hebung der  geistigen  Fähigkeiten,  sondern  als  ein  eminent  partieller, 
wenngleich  sofort  sehr  tiefgreifender  Zerfall  dieser  oder  jener  geisti- 
gen Energie.  Dieses  Cbarakteristicum  überträgt  sich  auch  auf  die 
höhern  psychischen  Leistungen.  Dazu  kommt  als  weitere  Eigenart 
3.  dass  eine  solche  schwache  Seite  im  krankhaften  Charakter  sich 
zeitweise  wieder  verliert,  um  eine  andere  herauszukehren  (sprung- 
weiser Defect).  So  können  sich  Witz  und  Bornirtheit,  Gemüth- 
lichkeit  und  Brutalität,  Bescheidenheit  und  Prahlerei,  zarte  Sitte  und 
rohes,  oft  unanständiges  Wesen  neben  einander  lagern,  resp.  ab- 
wechseln. —  Beginnt  die  Dementia  nicht  primär,  so  ist  sie  nicht 
selten  von  hypochondrischer  (syphilit)  Melancholie  (s.  d.)  eingeleitet, 
während  gleichzeitig  körperlicherseits  die  specifische  Kachexie  und 
Chlorose  sammt  den  nie  fehlenden  Neuralgieen  (besonders  Kopf- 
schmerzen) die  erweiterte  diagnostische  Grundlage  abgeben.  Dieses 
hypochondrische  Vorstadium ,  welches  unter  Umständen  Monate  und 
selbst  Jahre  (nach  meiner  Beobachtung)  einnimmt,  kann  oft  zu  den 
furchtbarsten,  echt  cerebralen,  Angstzufällen  führen,  und  den  Kranken 
einem  unbezwinglichen  Selbstmordtrieb  in  die  Arme  führen  (s.  Melanch.). 
Damit  geht,  bei  einmal  entwickelter  Krankheit,  derselbe  Mangel  an 
Krankheitseinsicht  Hand  in  Hand,  wie  dieser  auch  der  specifischen 


398 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


Paralyse  eigen  ist,  ebenso  dieselbe  Hingabe  an  die  Producte  einer 
ungezügelten  Phantasie,  dieselbe  schwachsinnige  Beurtheilung  der 
nächsten  Verhältnisse  und  der  eigenen  Lage,  dieselbe  Lockerung  des 
Gedankenganges,  Unmotivirtheit  des  Stimmungswechsels  mit  der  Rück- 
sichtslosigkeit und  Leichtfertigkeit  und  den  groben  Grenzverletzungen 
des  Geziemenden,  dieselbe  psychische  Zerfallenheit,  trotz  einem  oft 
noch  längere  Zeit  aufblitzenden  (partiellen)  geistigen  Glänze.  Auch 
der  Grössenwahn  gibt  manchmal  dem  paralytischen  nichts  nach, 
wenn  er  allerdings  auch  öfter  sich  nur  auf  eine  blödsinnige  Heiter- 
keit reducirt,  welche  zur  Täuschung  über  den  Krankheitszustand, 
und  zu  kritiklosem  Aufgehen  in  der  Minute,  ohne  Wunsch  und 
Klage,  führt. 

Mit  dem  Blödsinn  verbinden  sich  nun  bald  motorische  Sym- 
ptome, und  zwar  theils  mit  dem  primären  Charakter  der  Lähmung, 
theils  aber  auch  in  Form  der  Ataxie  und  der  krampfhaften  Hem- 
mungen ;  auch  hier  wie  in  den  analogen  Anfangsstadien  der  Paralyse. 
Die  Sprachstörung  ist  demgemäss  bald  mehr  die  ataktisch-paralytische, 
bald  mehr  die  glossoplegisch-bradyphasische.  Die  Arm-  und  Fussbe- 
wegungen werden  plump,  unsicher.  Die  Entwicklung  der  motorischen 
Störungen  gegenüber  den  psychischen  ist  übrigens  oft  eine  auffallend 
mässige.  —  In  der  Regel  haben  mittlerweile  die  verdächtigen  Neur- 
algieen,  die  Dolores  osteocopi  (heftiger  Kopfschmerz)  namentlich 
Nachts  sich  festgesetzt,  bald  die  psychische  Störung  begleitend,  bald 
mit  dem  brüsken  Einsatz  der  letztern  eine  Zeitlang  zurückweichend. 
Nicht  selten  melden  sich  um  diese  Zeit  auch  Sehstörungen  an  (in 
einem  Falle  meiner  Beobachtung  ging  eine  centrale  Amaurose  1  Jahr 
der  geistigen  Krankheit  voraus).  —  Treten  jetzt  keine  stürmischen 
Zeichen  auf,  so  kann  der  Process  in  progressiver  Verschlimmerung 
der  psychischen  und  motorischen  Zeichen  seine  weitere  Entwicklung 
nehmen.  In  der  Regel  aber  schieben  sich  bald  auch  motorische 
Herdsymptome  ein.  Es  treten  Ptosis  und  Strabismus,  vorübergehende 
Aphasie,  oder  klonische  Krämpfe  in  den  Extremitäten  auf  (sprung- 
weise, ohne  anatomische  Continuität!),  und  verschwinden  wieder 
flüchtig.  Sehr  häufig  wechselt  auch  die  psychische  Scenerie:  an 
Stelle  der  blödsinnigen  Indolenz  rückt  eine  heftige  Manie  mit  den 
einschneidenden  Bewusstseinsdefecten ,  wie  sie  der  Paralyse  eigen 
sind;  oder  auch  ein  acutes  Delirium,  in  letzterem  Falle  mit  oft  rasch 
tödtlicher  Wendung.  Oder  aber:  es  durchzucken  apoplektiforme  und 
epileptoide  Anfälle  das  bis  dahin  monotone  Krankheitsbild,  und  lassen 
neben  gleichzeitig  tieferer  Verblödung  vorübergehende  und  dauernde 
Hemiplegien  zurück. 


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Paralysen  aus  Encephalitis  syphilitica. 


399 


Anderemale  können  die  genannten  Krampfattaken  auch  den  Ver- 
lauf beginnen  (wie  bei  der  congestiven  Paralyse).  In  derselben 
einleitenden  Function  tritt  auch  oft  eine  Manie  auf,  mit  der  imma- 
nenten Dementia,  gerade  wie  bei  der  typischen  Paralyse,  und  auch 
mit  demselben  Grössen wabnscbarakter,  so  dass  das  „specifische" 
Bild  im  Ganzen  und  Einzelnen  (hier  auch  in  der  Entwicklung)  mit 
dem  typischen  zusammenfällt  —  wenn  nicht  die  begleitenden  moto- 
rischen Symptome  Einsprache  erheben. 

Letztere  behalten  in  gut  ausgeprägten  Fällen  —  neben  dem 
sprungweisen  Auftreten  und  flüchtigen  Verschwinden  (Wunderlich) 
—  den  gemischten  Lähmungs-  und  Reizcharakter  (locale  Paresen 
und  Contracturen).  Mit  den  grob  motorischen  Insulten  wechseln  An- 
fälle von  Sopor  mit  traumartigem  Halbschlummer,  Schwindelanfälle, 
Zitterkrämpfe  wie  bei  multipler  Sklerose.  Zu  den  Lähmungen  ge- 
sellen sich  auch  noch  immer  ausgedehntere  sensible  und  sensorielle 
Störungen  (Amaurose  s.  o.).  Nicht  selten  schiebt  sich  gelegentlich 
wieder  ein  syphilitisches  Exanthem  ein,  oder  specifische  Knochen- 
processe.  Mitaffectionen  des  Rückenmarks  zeigen  sich  in  Aenderung 
der  Sehnenreflexe,  Auftreten  von  Decubitus,  Cystitis.  Das  Heer  der 
damit  einrückenden  körperlichen  Zeichen  (neurotischer  und  trophischer 
Natur)  setzt  sich,  je  nach  der  individuellen  Grundlage,  mehr  aus  den 
einschlägigen  finalen  Symptomen  aus  der  typischen,  oder  aus  denen 
der  modificirten  Paralysen  zusammen. 

Auch  in  die  Gestaltung  des  Verlaufs  sind  alle  Ergebnisse  und  mög- 
lichen Zwischenfälle  aus  derselben  polymorphen  pathologisch-anatomischen 
Unterlage  einzurechnen.  Für  einen  Theil  der  syphilitischen  Paralysen 
stimmt  der  Verlauf  ganz  mit  dem  der  klassischen  Uberein,  sowohl  der 
gewöhnlichen,  als  der  acuten  Form,  und  der  Varietäten;  dabei  ist  aber 
der  syphilitischen  Paralyse  in  der  Regel  eine  ungleich  längere  Ver- 
laufsdauer eigen  (sogar  bis  zu  20  Jahren),  wie  sie  bei  der  typischen  nicht 
vorkommt.  Sodann  werden  bei  der  ersten  (der  specifischen)  manchmal 
plötzliche  Wendungen  aus  schweren  Krankheitsstadien  zu  einem  täu- 
schend guten  Befinden  beobachtet,  wie  dies  der  gewöhnlichen  (klassi- 
schen) gleichfalls  nicht  eigen  ist;  ein  Verhältniss,  welches  vielleicht  in 
der  bekannten  Flüchtigkeit  auch  anderer  luetischer  Hirnzustände  (Läh- 
mungen) sein  Analogon  findet.  Dabei  sind  eigentliche  Remissionen  nicht 
so  häufig,  wie  bei  der  gewöhnlichen  Paralyse,  obwohl  solche  auch  vor- 
kommen, sogar  bis  zur  Höhe  der  Kränkheitseinsicht  und  bis  zur  wieder- 
gewonnenen Festigkeit  und  Sicherheit  in  den  Muskelbewegungen,  auch 
der  feineren.  Es  gibt  sogar  solche  scheinbare  Reconvalescenten,  welche 
durch  ihre  Haltung,  durch  das  Feuer  ihres  Geistes  und  die  Innigkeit  ihres 
Gemüths  gelegentlich  förmlich  entzücken.  In  der  Regel  aber  bleibt  der 
remittirende  „specifische"  Paralytiker  in  vermehrtem  Grade,  als  der  ge- 
wöhnliche, in  diesen  Nachlasszeiten  geistig  geschädigt;  viel  mehr  als  Dieser, 


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400 


Die  psychischen  Cerebropathieen. 


welcher  ja  so  oft  als  gesund  imponirt,  fährt  Jener  fort  da  und  dort  sich 
Blössen  zu  geben;  er  bleibt,  vergleichsweise,  viel  schwacher  in  seinen 
beruflichen  Leistungen,  periodisch  gedrückt,  übelgelaunt;  kurz:  er  trägt 
das  Siegel  seiner  gewissen  Krankeit  viel  prägnanter  mit  sich  fort  Die 
Remissionen  haben  gewöhnlich  eine  mehrmonatliche  Dauer. 

Pathologisch-anatomisch  sei  hier  des  makroskopischen  Fund- 
reichthums nur  kurz  gedacht.  Vom  Pericranium  (Periostitis  syphilitica) 
und  Schädelgehäuse  beginnend,  sind  einerseits  die  hyperplastischen 
Knochenprocesse  mit  den  Osteomen,  andererseits  die  ostitischen  (gum- 
mösen) auch  bei  unseren  luetischen  Psychopathieen  nicht  selten,  manch- 
mal mit  vollständiger  Perforation  der  Schädelkapsel  und  secundärem  Ueber- 
tritt  der  Entzündung  auf  die  Hirnhäute.  —  Im  Gebiete  der  Hirnhäute 
sind  es  die  bekannten  diffusen  und  circumscripten  Verwachsungen  der- 
selben unter  sich,  sowie  mit  dem  Schädeldach  und  der  unterliegenden 
Corticalis.  Ob  auch  die  circumscripte  fellartige  Verdickung  der  Arach- 
noidea  als  specifisch  gelten  darf,  muss  erst  noch  weiter  bestätigt  werden. 
—  Im  Gehirn  selbst  wie  auch  in  den  Hirnhäuten,  wo  besonders  ihre 
Entwicklung  an  den  Nerven-Foramina  bedeutsam  ist,  sind  dann  Gumma 
bildungen  in  ihren  verschiedenen  Formen  und  Consistcnzgraden  die  Reprä- 
sentanten der  syphilitischen  Einwirkung.  Ausserdem  aber  auch  die  um 
8chriebenen  Erweichungsprocesse ,  theils  in  der  Corticalis,  theils  in  der 
Marksubstanz;  dissemenirte  Sklerosen  in  Form  von  eingesprengten  „blau- 
grauen" Herden  an  der  Hirnbasis  (L.Meyer).  Die  specifische  Arterien- 
Veränderung  Heubner's  (von  Neuern  wieder  bestritten)  soll  in  einem 
charakteristisch  kleinzelligen  Wucherungsprocess  zwischen  elastischer  Mem- 
bran und  Intima  (bestimmt  unterschieden  vom  atheromatösen  Vorgang)  be- 
stehen, und  zur  allmählichen  Beeinträchtigung  und  schliesslichen  Aufhebung 
des  Gefässlumens  fuhren. 

Zur  Frage  einer  mikroskopisch  nachweisbaren  Encephalitis  specific* 
kann  ich  aus  eigenen  Beobachtungen  den  Fund  einer  hochgradig  schwie- 
ligen Verdickung  und  förmlich  faserigen  Einscheidung  der  klein- 
sten Gefässe  beitragen,  wie  dies  in  Fällen  der  gewöhnlichen  Encephalitis 
nicht  vorkommt.  Der  Befund  verglich  sich  annähernd  mit  dem  in  der 
narbigen  Umgrenzung  alter  apoplektischer  Herde,  nur  dass  derselbe  hier 
frei  und  streckenweise  vorkam.  —  In  demselben  Sinne  ist  vielleicht  auch 
die  enorme  Vermehrung  der  Arachniden  in  der  grauen  Substanz  bei  einem 
meiner  Fälle  von  Myelitis  syphilitica  zu  deuten.  —  Einmal  fand  ich  weit 
verbreitete  hyaloide  Gefässdegeneration  in  der  Corticalis. 

Therapie. 

Die  Behandlung  der  modificirten  Paralysen  ist  im  Wesent- 
lichen dieselbe  wie  die  der  typischen,  nur  mit  den  durch  die  je- 
weilige Hirnaffection  speciell  gebotenen  Abänderungen.  Die  letztern 
richten  sich  nach  den  Vorschriften  der  innern  Medicin.  Die  galop- 
pirende  Paralyse  hat  die  zwei  Indicationen  a)  der  Bekämpfung 
des  acuten  (entzündlichen)  Hirnreizes,  und  b)  der  drohenden  Kräfte- 
consumption  in  erhöhtem  Maasse  zu  berücksichtigen. 


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Der  Alkoholismus  and  die  alkoholiatischen  Psychosen. 


401 


(Eisbehandlnng,  Bettlage,  verdunkeltes  Zimmer,  feuchte  Einpacknngen 
mit  Eisumschlägen ,  zeitweilige  hirud.  Anfangs  milde  Diät,  Milchcuren, 
bald  aber  kräftige,  leicht  verdauliche  Kost,  Fleisch  mit  Wein  und  Bier, 
Opiate,  unter  Umständen  Ergotin,  kräftige  Ableitungen  auf  den  Scheitel, 
den  Nacken,  die  Küsse.)    Sie  ist  nur  in  einer  Anstalt  zu  vollziehen. 

Bei  der  tabischen  Paralyse  ist  die  niitbegleitende  Tabes 
nach  den  für  diese  geltenden  Indicationen  in  Angriff  zu  nehmen 
(constanter  Strom).  —  Die  syphilitische  Paralyse  indicirt  Jod- 
kali, wenngleich  leider  dessen  Wirkungen  auch  nur  selten  den  ge- 
hegten Hoffnungen  entsprechen.  Andere  antisyphilitische  Curen  (Ein- 
reibungen, subcutane  Einspritzungen)  dürfen  nur  unter  sorgsamer  Be- 
rücksichtigung des  Kräftezustandes  unternommen  werden.  Ist  der 
Kranke  nicht  störend  oder  gefährlich,  so  kann  auch  eine  Badecur 
(Aachen)  unter  sachverständiger  Beaufsichtigung  und  Leitung  in  Er- 
wägung treten. 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistischen 

Psychosen. 

Literatur.  Allgemeines:  Brühl-Cramer,  1819.  —  Magnus  Huss, 
Chron.  Alkohoüsm.  1852.  —  Magnan,  Gaz.deshöp.  1869  u.  Gaz.  h6bd.  1873.  — 
Derselbe,  de  Talcoholisme.  Paris  1874.  —  Leudet,  Joum.  de  m6d.  ment  1867 
u.  1868.  —  Boehm,  D.  Handb.  XV.  —  Baer,  Der  Alkoholismus.  Berlin  lS68(mit 
Literatur  u.  sorgf.  Statistik).  —  Derselbe,  Trunksucht  und  Verbrechen.  Arch.  f. 
Psych.  10.  —  Allgemeine  und  spezielle  klinische  Symptomatologie:  Rüssel, 
Alien  and  Neurol.  1882.  —  v.  Speyr,  (Inaug.-Dissertat.  sub.  ausp.  Wille),  Basel 
1882.  —  Wright,  AI.  a.  Neurol.  1881  u.  1882.  —  Crothers,  Cliuic.  stud.  of 
Inebriety.  Philad.  Rep.  1881.  —  Ferner:  Journ.  of  nerv,  a  ment.  dis.  1882,  u.  Am. 
Joura.ofmed.se.  18S2.  —  Uthoff,  (Augenhintergrund),  Berl.  klin.  Woch.  1884. 

—  Moeli,  Ibid.  —  Lanceraux,  Union  mäd.  (vasomot.  u.  troph.  Störungen)  1881. 

—  Mason,  Am.  J.  of  neur.  1883.  —  Verfolgungswahn:  Casper  Liman's  Lehr- 
buch. —  Liman,  Zweifeln.  Geisteszustände.  —  Marcel,  de  la  folie,  causee  par 
Tabus  des  bois.  alc.  1847.  —  Le  Grand  du  Saulle,  1)61.  des  pers6c.  1871.  — 
Nasse,  Allg.  Ztschr.  für  Psych.  34.  —  Schaefer,  Ibid.  35.  —  Leidesdorf, 
Zeitschr.  d.  Geselisch.  d.  Aerzte.  1S54.  —  Delirium  tremens:  Sutton,  Uebersetzt 
von  Heinecke  1820.  —  Rose,  Pitha  und  Billroth's  Chirurgie  I,  (Literatur).  — 
Lasegue,  Arch.  g£n.  18*1.  —  Rc»gis,  l'Enceph.  18S2.  —  Mann,  Alien,  and 
Neur.  1883.  —  liumn,  Berl.  klin.  Woch.  lsvi  (Albuminurie  etc.»  —  v.  Speyr, 
I.e. —  Therapie:  Naecke,  Arch.  f.  kl.  Med.  25.  (Chloral  u.  Op.).  —  G  ugl,  Centr.- 
Bl.  f.  kl.  Med.  1884  (Paraldehyd).  D  u j ardin  u.  Beaumetz  (Strychn.l.  — 
Rousseau,  Arch.  de  psych.  188U  (Bromkali  und  kühle  Bader).  —  v.  Krafft- 
Ebing,  Memorabil.  1881.  —  Delirium  tremens  febrile:  Magnan,  1.  c.  — 
v.  Speyr,  1  c.  —  Furstner.  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  34.  —  Delasiauve, 
Gaz.  des  höp.  1871.  —  Alkoholistische  Paralyse  und  Psendo-Paralyse :  Hoff- 
mann's  Bericht  über  Siegburg  1 804.  —  Brosius,  Irrenfr.  1868.  —  Nasse,  ibid. 
1870.  —  Leudet,  1.  c.  —  Magnan,  1.  c.  —  Schreiber,  med.  Pr.  1880.  — 
Moneaux,  Marche  de  la  paralysie  etc.  These,  Paris  1*>81.  —  G.  Fischer, 
Arch.  f.  Psych.  1883  (Spinalerkrankuugen).  —  Wille,  Allg.  Wiener  med.  Zeitung 

Schül»,  OeistukrankheiUn.  3.  Aufl.  26 


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402 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistisehen  Psychosen. 


1863.  —  RSgis,  l'Encöpb.  (Neurol.  Centralbl.  1883).  —  Doerr,  Inaug.  Diss.  1893. 

—  Camuset,  Ann.  m£d.  ps.  1883.  —  Frigerio.  Arch.ital.  XX  (gegen  die  Pseu- 
doparalyse). —  Alkoholistische  Epilepsie:  Magnan,  1.  c.  —  y.  Speyr,  I.e.  — 
Le  Grand  du  Saulle,  Etüde  mea.  l£g.  1S77.  —  Echeverria,  J.  of  m.  sc.  1881. 

—  Raab,  Wiener  med.  Bl.  1882.  —  Mierzejewsky,  Wjestnsk.  Jahrgg.  1.  — 
Alkoholistische  Manie,  s.  Mania  gravis.  —  Alkoholistische  Melancholie: 
Luekken,  Schmidts  Jahrb.  1876.  —  Alkohol-Missbrauch:  Baer,  1.  c.  u.  Viertel« 
jahrsschr.f.  öfftl.  Gesundheitspfl.  1881.  —  Bin«,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1881. 

—  Mason,  Quart.  Journ.  of  Inebr.  1881.  —  Stark  u.  Götel,  Allg.  Zeitschr.  f. 
Psych. 37.  —  Absynthisme:  Gautier,  Progr.  möd.  27. 

Die  klinische  Betrachtung  der  Alkoholpsychosen  geht  mit  Vor- 
theil von  der  Naturgeschichte  der  einfachsten  Form  der  Alkoholver- 
giftung, des  Rausches,  aus.  Man  hat  aus  dem  Symptomenbild  und 
Verlauf  des  letztern  eine  „kurze  und  abstracte  Chronik  der  Geschichte 
des  Irreseins"  herausgelesen.  Richtiger  ist  wohl  dieser  Ausspruch 
auf  die  Aehnlichkeit  des  Rausches  speciell  mit  der  „Paralyse"  zu 
beschränken.  Auch  so  ist  die  Parallele  noch  interessant  genug. 
Sehen  wir  dabei  von  den  erwägenswerthen  Folgerungen  ab,  welche 
diese  Analogie  für  die  nosologische  Auffassung  des  wirklichen  Pa- 
ralyse-Processes  nahe  legt  —  der  Rausch  bringt  dessen  acute  tran- 
sitorische  Wiederholung  zu  Stande,  ohne  jeden  Entzündungsvorgang, 
nur  functionell  durch  acute  Intoxication !  —  so  ergibt  die  That- 
sache  der  individuellen  psychischen  Verschiedenheit  des  Rausches 
(bald  Depression,  bald  Exaltation),  und  die  weitere  der  unendlich 
verschiedenen  Grössenmengen  des  erforderlichen  Alkoholgiftes  sehr 
beachtenswerthe  Grundlagen  für  das  Verständniss  der  Alkoholpsy- 
chosen überhaupt.  Beide  Erfahrungen  zeigen,  dass  aller  Effect  in 
erster  Linie  auf  die  individuelle  Hirnconstitution  ankommt,  und  in 
zweiter  auf  die  Stärke  der  chemischen  Schädlichkeit  (Schnaps 
wirkt  ungleich  verderblicher,  als  Bier  oder  Wein,  und  unter  jenem 
wieder  die  Amylverbindungen  schlimmer  als  die  Aethylpräparate, 
und  diese  schlimmer  als  die  Methylderivate).  Aber  auch  die  indi- 
viduelle Hirnconstitution  schwankt  zu  verschiedenen  Lebensepochen 
und  unter  differenten  physiologischen  Bedingungen:  was  zu  Zeiten 
grösserer  Rüstigkeit  gut  ertragen  wurde,  kann  in  den  Tagen  einer 
stärkern  nervösen  Ergriffenheit  schon  zur  krankmachenden  Schäd- 
lichkeit werden,  und  den  Rausch  zu  einer  wirklichen  transitorischen 
Seelenstörung  umgestalten  (s.  pathol.  Rauschzustände). 

Ungleich  häufiger  treten  die  Wirkungen  fortgesetzter  Trink- 
excesse  auf  das  geistige  Nervenleben  auf.  Dieselben  können  in 
zweifacher  Weise  zu  Stande  kommen,  in  der  Form:  1.  einer  plötz- 
lichen acuten  Himaffection,  als  Ausdruck  summirter  Giftwirkung  des 
Alkohols,  weniger  wohl  der  direct  chemischen,  als  wahrscheinlich 


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Allgemeines. 


103 


der  vasomotorischen;  and  2.  als  chemische  Durchseuchung  des  ganzen 
Organismus,  als  sog.  Alkoholkachexie,  wiederum  in  chronischer  oder 
intercurrenter,  acuter  Form.  Jene  ist  das  einfache  Ergebniss  wieder- 
holter und  sich  summirender  tiefer  Berauschungen,  ohne  eine  bleibende 
Dyskrasie;  diese  dagegen  stellt  den  Ausgang  einer  systemati- 
schen Schädigung  sämmtlicher  nervöser  und  vegetativer  Func- 
tionen dar,  mit  gewissen  deletären  Organerkrankungen.  Es  begreift 
sich,  dass  beide  Erscheinuugsreihen  in  dem  Sinne  zusammengehören, 
als  sie  die  häufige  Stufenleiter  im  Niedergang  des  Gewohnheits- 
trinkers darstellen:  die  zweite  als  die  Weiterentwicklung  der  ersten. 
Aber  die  Aufeinanderfolge  ist  keineswegs  eine  noth wendige  und 
immer  zutreffende.  Es  kann  vielmehr  die  erste  Stufe  erreicht  wer- 
den, und  das  geschwächte  Nervensystem  nach  einer  oder  mehreren 
nervös- toxischen  Krisen  wieder  zur  Norm  sich  zurückbilden ;  andrer- 
seits kann  die  chronische  Säuferdyskrasie  sich  primär  entfalten,  ohne 
den  Umweg  durch  jene  wiederkehrenden  acuten  Vergiftungen  zu 
nehmen. 

That&achlich  ist  auf  der  ersten  Stufe  der  Alkoholismus  unter  ge- 
wissen Bedingungen  noch  heilbar,  und  erst  auf  der  zweiten  in  seinem 
Ausgang  besiegelt;  es  kann  aber  dieses  Endschicksal  als  Stigma  dege- 
nerationis  auch  schon  den  ersten  Entwicklungsstadien  mitgegeben  sein. 
Dürfen  deshalb  beide  Stufen  auch  theoretisch  unter  der  Bezeichnung  des 
Alcoholismus  chronicus  zusammengefaßt  werden,  so  ist  praktisch  doch 
deren  Trennung  festzuhalten.  Entsprechend  sind  auch  die  klinischen 
Symptomenbilder,  wie  sie  in  reinster  Form  den  beiden  genannten  Stufen 
zukommen,  theilweise  verschiedene:  so  gehört  der  acute  alkoholistische 
Wahnsinn  vorzugsweise  der  ersten  Stufe  an,  und  nur  untergeordnet  und 
vorübergehend  der  zweiten;  dagegen  beschränkt  sich  der  chronische 
Säuferwahnsinn,  Delirium  tremens,  und  die  alkoholistische  Paralyse  nur 
auf  die  zweite  d.  h.  den  Alcoholismus  chronicus  s.  str. 

Ein  Ueberblick  über  die  Seelenstörungen  im  Gefolge  des  fort- 
gesetzten oder  gewohnheitsgemässen  Abusus  spirituosorum  hat  aber 
noch  von  einem  weitern  Gesichtspunkte  auszugehen.  Die  sämmt- 
lichen  einschlägigen  Psychosen  sind  mit  den  eben  genannten  Formen, 
wenn  diese  immerhin  auch  von  den  frühern  oder  spätem  Stadien 
des  Alkoholismus  bevorzugt  werden,  lange  nicht  erschöpft.  Es  kom- 
men vielmehr  alle  in  der  Pathologie  des  Irreseins  gekannte  und 
früher  abgehandelte  Habitualformen  auf  der  Grundlage  dieser  Intoxi- 
cation  vor:  Manieen,  Melancholieen  und  acute  Demenzen,  neben  und 
mit  den  erwähnten  acuten  und  chronischen  Wahnsinnsformen.  Sym- 
ptomatologisch  tritt  nun  der  wichtige  Unterschied  hervor,  dass  ein 
Theil  derselben  ein  scharf  bestimmtes,  in  seinem  Detail  immer 
wiederkehrendes  klinisches  Bild  zeigt,  während  die  andern  im  All- 

20* 


404  Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistischen  Psychosen. 


gemeinen  und  auch  vielfach  im  Speciellen  mit  den  verwandten 
Formen  aus  anderer  Entstehung  zusammenfallen  (s.  u.).  Es  lassen 
sich  somit  specifisch  „alkoholistische"  Psychosen  unterscheiden  von 
solchen,  in  welchen  der  Alkohol  bloss  mitwirkendes  Element  ist, 
während  er  dort  formgebendes  ist.  Unter  die  specifischen  Formen 
gehört  der  acute  Trinkerwahnsinn  und  das  Delirium  tremens  (beide 
vielleicht  im  Wesentlichen  derselbe  Störungsvorgang,  jener  in  einem 
durch  fortgesetzten  Abusus  spirituosorum  vorübergehend  tiberreizten, 
dieses  in  einem  durch  eine  chronische  Intoxication  dauernd  ge- 
schwächten Gehirn);  sodann  der  Alcoholismus  chronicus  s.  str.  Zu 
den  nicht- specifischen  Formen  sind  die  alkoholistischen  Melancho- 
lieen,  Manieen,  Paralysen  und  chronischen  Wahnsinnszustände  zu 
stellen. 

Es  muss  hier  übrigens  sofort  bemerkt  werden,  dass  die  Uebereinstim- 
mung  der  Potusmanieen  und  Potusmelancholieen  mit  den  gewöhnlichen 
Habitualformen  nur  für  eine  gewisse  Klasse  von  Fällen  zutrifft.  In  diesen 
lässt  sich  in  der  That  symptomatologisch  kein  Unterschied  finden.  Da- 
gegen trägt  ein  anderer  Theil  so  bestimmte  Differenzen,  wenn 
auch  nur  in  kleineren,  aber  charakteristischen  Zügen,  dass  die  „alkoho- 
listische Signatur"  unwidersprechbar  ist.  Wahrscheinlich  vermag  die 
Wirkung  des  Giftes,  wenn  sie  tief  und  lange  genug  stattfand,  ein  dau- 
erndes Gepräge  zu  geben  (s.  später).  Ganz  besonders  tritt  diese  Dif- 
ferentia  specifica  auch  in  gewissen  Fällen  von  alkoholistischem  chronischem 
Wahnsinn,  und  zum  Theil  (dafür  aber  um  so  wichtiger !)  bei  der  Alkohol- 
paralyse hervor. 

Unsere  Schilderung  geht  zunächst  zur  ersten  Gruppe  über. 

a)  Die  specifischen  Alkohol-Psychosen.  Unter  diesen  sind  in  erster 
Linie  die  pathologischen  Rauschzustände  zu  erwähnen. 
Diese  können:  1.  der  somatischen  Sphäre  angehören,  und  als  ein 
übermässig  frühes  Auftreten  des  paralytischen  Endstadiums  der  Be- 
trunkenheit sich  darstellen.  Das  betr.  Individuum  kann  schon  nach 
einem  unverhältnissmässig  geringen  Alkoholgenuss  zusammenstürzen, 
und  auf  Stunden  hinaus  die  hochgradigste  Bewusstseinsstörung  dar- 
bieten; dabei  sind  alle  Zeichen  der  acuten  Alkoholintoxication  vor- 
handen (weite  und  starre  Pupillen,  starke  Kopffluxionen,  oft  auch 
krampfhaftes  Zucken  der  Glieder).  Nach  einem  tiefen  Schlafe  er- 
wacht der  Kranke  mit  dem  üblichen  Katzenjammer,  in  vollständiger 
Amnesie  an  die  Vorgänge  des  alkoholistischen  Insults. 

Diese  Form  acuter  Intoxication  betrifft  namentlich  Reconvalescenten 
(Typhus),  oder  temporär  nervös  Aufgeregte,  nach  heftigen  Gemüthsbewe- 
gungen  und  besonders  beim  Aufenthalt  in  einer  erhitzenden,  Fluxionen 
fördernden  Umgebung.  Es  gibt  aber  auch  eine  angeborene  Intoleranz 
gegen  Alcoholica,  welche  zu  dieser  „Ivresse  convulsive"  befähigt. 


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Patholog.  Rauschzustände.  Acuter  Trinkerwahnsinn 


405 


Wichtiger  sind  2.  die  in  der  psychischen  Sphäre  sich  abspielen- 
den krankhaften  Rauschzustände.  Als  disponirend  sind  wiederum 
accidentelle  oder  angeborne  Schwächezustände  zu  nennen,  mit  erreg- 
barem Vasomotoriu8  (Neigung  zu  Kopfhyperämieen).  Die  hier  auf- 
tretenden acuten  Psychopathieen  sind:  a)  transitorische  Furorzustände; 
b)  Anfälle  von  transi torischem  alkoholistischem  Verfolgungswahn  mit 
heftiger  manischer  Aufregung,  und  c)  Raptus  melancholici,  nament- 
lich in  der  Form  von  Selbstmordsattentaten  oder  Tödtungen  Ton 
nahen  Angehörigen  (im  „besoffenen  Elend").  Die  transitorischen 
Manieen  können  sich  in  zweifacher  Form  abspielen:  1.  mehr  par- 
tiell: als  plötzlich  während  des  Trinkens  (oder  sofort  nachher)  aus- 
brechender impulsiver  Drang  zu  irgend  einer  Gewalttätigkeit,  na- 
mentlich zur  Brandstiftung,  nicht  selten  gegen  die  eigene,  mühsam 
errungene  Habe;  und  2.  mehr  allgemein:  als  plötzlicher  Wuth- 
anfall mit  sinnlosem  Toben  und  Zerstören  von  Gegenständen,  auch 
vernichtendem  Eindringen  auf  Personen.  Der  Anfall  dauert  in  beiden 
Fällen  nur  ganz  kurz  (eine  bis  mehrere  Stunden),  schliesst  manch- 
mal mit  einem  kritischen  Schlafe,  andere  Male  mit  einem  Stadium 
erschöpfter  Betäubtheit  ab.  Charakteristisch  ist  die  stets  nur  sum- 
marische, oder  auch  ganz  fehlende  Erinnerung  an  das  Vorgefallene. 
—  Der  peracute  transitorische  Verfolgungswahn  (s.  d.)  mit  schreck- 
haften Delirien  und  verzweifelten  motorischen  (gleichfalls  sehr  be- 
drohenden) Reactionen  setzt  manchmal  nicht  unmittelbar  an  den 
Alkoholgenuss,  sondern  erst  einige  Stunden  später  ein,  und  entsteht 
theils  spontan,  theils  nach  einer  Gelegenheitsursache  (Zorn,  Angst). 

Alle  diese  pathologischen  Rauschzustände  haben  in  praxi  eine  ausser- 
ordentlich hohe  forense  Wichtigkeit.  Zur  richtigen  Beurtheilung  muss 
nochmals  betont  werden,  dass  ihre  Entstehung  sich  nicht  immer  an  einen 
wirklichen  Trinkexcess  anschliesst,  sondern  sehr  häufig  (bei  entsprechen- 
der geschwächter  Disposition)  an  relativ  mässigen  Alkoholgenuss.  —  In 
forenser  Hinsicht  ist  auch  sehr  bemerkenswerth,  dass  gewisse  Personen, 
oft  nach  Einverleibung  von  nur  wenig  Alkohol,  für  einen  mehr  minder 
langen  Zeitraum  in  einen  Zustand  kommen  können,  in  welchem  sie  mit 
anscheinendem  Bewusstsein  und  Urtheil  handeln  (Käufe  absch Hessen),  mit 
nachfolgender  vollständiger  Amnesie  an  diese  Vorgänge 
(Wright  u.  A.). 

Die  wichtigste  und  häufigste  Form  ist 

der  acute  Trinkerwahnsinn. 

Die  Entstehung  desselben  bilden  durch  Tage  oder  Wochen  voraus- 
gegangene alkoholische  Excesse  (gewöhnlich  in  Wein,  oder  in  Bier  und 
Wein).  Der  acute  Wahnsinn  bildet  so  den  einfachen  kritischen  Abscbluss 
eines  alkoholischen  Uebergenusses,  dessen  Unternehmer  aber  noch  nicht 
Gewohnheitstrinker  sind.  Dies  ist  der  gewöhnliche  Fall.  Wenn  die  Krank- 


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406 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistischen  Psychosen. 


lieit  im  Verlauf  des  ausgesprochenen  Alcoholismus  chronicus  auftritt,  was, 
wenngleich  seltener,  auch  vorkommt,  so  entfallt  sie  nur  noch  auf  die 
Anfangsstadien  der  genannten  Kachexie  (Magenerscheinungen,  Gemüths- 
Verstimmung,  Tremor  massigen  Grades).  Die  vorgeschrittenen  Schwäche- 
Stadien  der  letztern  „kritisiren"  sich  nicht  mehr  in  der  einfachen  Form  des 
acuten  Trinkerwahnsinns,  sondern  in  der  modificirten  des  Delirium  tremens. 

Die  Erkrankung  stellt  klinisch  einen  acuten  hallucinatorischen  Wahn- 
sinn dar,  welcher  allgemein  nach  Form,  Entwicklung  und  Verlauf  ganz 
mit  den  analogen  aus  anderer  (hirn-invalider)  Entstehung  Ubereinstimmt. 
Speciell  für  die  Alkoholgenese  charakteristisch  sind:  die  Plastik  und 
der  übereinstimmend  schreckhafte  und  zugleich  impera- 
tive Charakter  der  Sinnestäuschungen,  welche  einen  oft  bis  ins  De- 
tail gleichen,  und  bei  Individuen  aller  Altersstufen  und  Bildungsgrade 
wiederkehrenden  Inhalt  darbieten  (Figuren,  Rufe,  und  namentlich  auch 
elementare  Hallucinationen  als :  Schiessen,  aufsteigender  Rauch,  fliessende 
Blutströme).  Fast  immer  ist  den  Täuschungen  auch  ein  geschlechtlich 
obseöner  Inhalt  beigemengt,  aber  nicht  als  cynischer  Reiz,  sondern  als 
bevorstehende  körperliche  oder  sittliche  Schädigung  (Drohung  mit  ehe- 
licher Untreue,  geplante  Attentate  auf  geschlechtliche  Verstümmelung). 
Seltenerzeigt  sich  Elektricitätswahn,  dagegen  hin  und  wieder  gegen  Schluss 
der  deliranten  Phase  ein  vorübergehender  Exaltationawahn.  Grundzug  der 
Stimmung  ist  furchtbare  Depression  mit  Verzweiflungsangst  und  den  ge- 
fährlichsten reactiven  Raptusanfällen.  Das  Bewusstsein  ist  stets  tief  ge- 
stört, manchmal  vorübergehend  aufgehoben.  Der  Verlauf  ist  acut  in  ein- 
maligem Paroxysmus,  oder  aber  remittirend  in  wiederholten  Nachschüben. 
Der  Ausgang  ist  1.  Genesung  (Suicid!);  2.  Rücktritt  auf  die  Stufe  der 
chronisch  alkoholistischen  Constitution,  ev.  auf  den  schon  zuvor  bestan- 
denen chronischen  Verfolgungswahn. 

Krankheitsbild.  Der  Ausbrach  erfolgt  entweder  sofort  nach 
einem  schweren  Excess  (Reihe  von  solchen),  oder  nach  einem  Zwischen- 
raum von  mehreren  Tagen.  Im  letzteren  Falle  erscheint  das  Wesen 
des  Kranken  verändert:  er  ist  gedrückter,  misstrauischer,  reizbarer 
geworden.  Mit  Vorliebe  bricht  der  Wahnsinn  unmittelbar  nach  Ab- 
führung des  Betrunkenen,  im  Haftlocal,  aus.  In  der  Regel  treten 
die  ersten  Erscheinungen  Nachts  auf.  Eine  zunehmende  Masse  von 
leib-  und  wesenhaften  Sinnestäuschungen  stürmt  auf  den  Kranken 
ein.  Er  sieht  Feuerscheine,  hört  Schiessen;  auf  der  Strasse  sammeln 
sich  Leute,  deren  steigeudes  Getümmel  ihre  feindliche  Absicht  gegen 
den  Kranken  kundgibt.  Er  hört  die  Tritte  von  Gensdarmen,  welche 
ihn  holen  wollen.  Mau  verlangt,  ihm  Ruthenstreiche  geben  zu  dürfen, 
oder  ihn  nackt  auf  die  Strasse  zu  schleppen.  Oefters  folgt  jetzt 
schon  ein  Gewaltact  (Suicid.  Versuch,  Flucht  aus  dem  Fenster,  Ver- 
theidigungsschüsse  mit  Pistolen,  Zertrümmerungen  von  Zimmergegen- 
ständen). Der  Kranke  tobt  und  rast,  greift  jeden  Eindringenden 
lebensgefährlich  an.    Kommen  Augenblicke  von  Ruhe,  so  schrecken 


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Acuter  Trinkerwahiisinn.  Klinische  Varietäten.  407 


drohende  oder  strafende  Geister  das  schlummerlose  Auge:  nehen 
den  Kranken  legt  sich  still  und  schweigsam  eine  weisse  Person 
mit  einem  Schwert;  sowie  er  aufsteht,  hebt  sich  auch  diese  und 
„fuchtelt"  mit  dem  Schwerte.  In  dem  Kopfkissen  rasBeln  lebendige 
Heuschrecken  und  Käfer;  aus  der  Luft  dringt  Schwefelgeruch  oder 
Steinöldampf;  am  dargereichten  Brod  zeigen  sich  schwarze  Flecken, 
am  Boden  des  Wasserglases  ein  verdächtiges  Pulver.  Eine  All- 
Angst  foltert  den  Kranken,  welcher  oft  von  Beulen  bedeckt  und 
blutüberströmt,  aber  keiner  Wunde  achtend,  sich  unter  allen  Zimmer- 
Möbeln  versteckt,  nur  um  Ruhe  zu  suchen.  Aber  er  findet  sie  nicht 
Er  hört  auch  bald  seine  Angehörigen  um  Hilfe  nach  ihm  rufen:  man 
will  ihnen  Arme  und  Füsse  abhacken,  den  Bauch  aufschlitzen;  er 
sieht  Ströme  Blut  durch  das  Zimmer  wallen.  Manchmal  erscheint 
auch  der  leibhaftige  Teufel,  äfft  ihn  in  allen  Masken,  hält  ihm  Straf- 
predigten, und  entrollt  den  Ausblick  auf  die  Hölle.  Feuergluthen 
peinigen  den  Kranken;  seinem  Fluchtdrange  versperrt  sich  die  Thlire; 
sie  ist  zu  eng,  das  Schloss  geht  nicht  mehr  auf.  Und  während  er 
so  rastlos  umhergetrieben  wird  —  eine  Stunde  eine  Ewigkeit!  — 
muss  er  hören,  wie  seine  häusliche  Ehre  verloren  geht,  wie  die  Ver- 
fuhrer seiner  Frau  schon  zum  Fenster  hereinsteigen,  wie  sie  ihn  aus- 
lachen und  ihm  mit  Amputation  seines  Penis  drohen  n.  8.  w.  Da- 
zwischen mischen  sich  oft  auch  blasphemische  Worte,  welche  der 
Kranke  verzweifelnd  nachsprechen  muss. 

In  anderen  Fällen  hat  das  Delirium  einen  religiösen  Inhalt: 
Stimmen  und  Gesichte  lassen  das  Ende  der  Welt  herannahen,  die  Hölle 
und  die  Gräber  öffnen  sich;  dazwischen  tauchen  auch  obseöne  Orgien  auf; 
unter  die  richtigen  Wahrnehmungen  mischen  sich  illusorische;  der  Kranke 
lebt  in  zwei  Welten,  welche  durch  die  Hallucinationen  in  Einklang  ge- 
zwungen werden,  eine  die  andere  ergänzend;  Sündergerichte  werden  ab- 
gehalten, schreckliche  Strafen  verkündigt;  der  Kranke  sieht  und  fühlt 
diese  an  sich  vollzogen;  heftige  manische  Reaction.  —  In  einem  dritten 
Typus  sind  die  ersten  Zeichen  hypochondrisch -melancholischen 
Inhalts:  der  Kranke  verbringt  Nächte  und  Tage  in  übertriebener  Angst 
wegen  seiner  körperlichen  MissgefUhle,  und  meint  sich  auf  den  Tod  vor- 
bereiten zu  müssen,  vorerst  ohne  Hallucinatiouen.  Die  Angstzustände  treten 
anfallsweise  ein.  In  der  Zwischenzeit  ist  der  Kranke  ruhig,  düster,  stumpf 
vor  sich  hinbrütend.  Plötzlich  bricht  jetzt  der  acute  Verfolgungswahn 
mit  Sinnestäuschungen  in  der  geschilderten  Weise  aus.  Die  Hallucina- 
tionen können  manchmal  auf  Einen  Sinn  (Gehör)  beschränkt  bleiben. 

Sind  die  Schrecken  der  Nacht  vorüber,  so  folgt  meist  ein  Tag 
der  Abspannung,  wo  der  Kranke  zusammengebrochen  unter  den  wir- 
belnden und  jagenden  Erinnerungen  daliegt,  weint,  nicht  selten  Speise 
und  Trank  verweigert,  aber  dabei  leidlich  klar  ist  Andere  Kranke 


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408 


Der  AlkoholismuB  und  die  alkoholiatischen  Psychogen. 


dagegen  äussern  in  der  Zwischenzeit  einen  weinlaunigen  Galgen- 
humor, prahlen  mit  ihrem  siegreichen  Nachtabenteuer.  Aber  schon 
in  der  folgenden  Nacht  ändert  sich  die  Scene;  der  Geisterspuk  be- 
ginnt von  Neuem  und  mit  ihm  die  Angst,  so  dass  manche  Kranke 
um  körperliche  Beschränkung  bitten.  Sie  versichern  sogar,  dass  sie 
das  Trughafte  ihrer  Wahngebilde  einsehen.  Aber  gleichwohl  erfolgt 
der  nächtliche  Anprall  mit  gleicher  gebieterischer  Macht,  mit  glei- 
chem Vernichtungsdrang  gegen  das  eigene  oder  fremde  Leben  (es 
gibt  kaum  einen  selbst-  oder  gemeingefährlicheren  Kranken !).  So  kann 
es  mehrere  Tage  bis  zu  1  oder  2  Wochen  fortgehen ;  dann  werden 
die  Nächte  ruhiger,  die  Hallucinationen  treten  zurück,  und  unter 
allmählichem  Nachlass  stellt  sich  Klarheit  und  summarische,  selten 
genauere,  Erinnerung  ein.   Der  Kranke  ist  genesen. 

Anderemale  klingen  zuerst  die  geformten  Hallucinationen  ab,  und  die 
elementaren  bleiben  noch  einige  Nächte  und  Tage  (Steinrollen,  Aechzen 
u.  8.  w.).    Endlich  verschwinden  auch  diese. 

In  wieder  anderen  Fällen  schliesst  sich  an  den  ersten  Paroxysmus 
ein  ruhiges  Nachstadium  an,  mit  Verstimmung,  geistiger  Verwundbarkeit, 
grosser  Unterwürfigkeit  unter  die  Gewalt  zufalliger  Vorstellungen,  Launen- 
haftigkeit und  Unbeständigkeit.  Nachts  kehren  Träume  wieder,  welche 
den  Kranken  mit  der  Gewalt  der  Wirklichkeit  erfassen.  Manche  Kranke 
gehen  deshalb  an  die  Gerichte  mit  Beschwerden  über  die  erlittenen  Be- 
drohungen. Dann  folgt  wieder  ein  mehrtägiger  Angstanfall  mit  denselben 
Sinnestäuschungen,  darauf  wieder  Ruhe,  und  dann  abermals  Paroxysmus, 
und  so  weiter  durch  eine  Reihe  von  Wochen  (bis  zu  einigen  Monaten). 
Nach  endloser  Wiederholung  bleiben  endlich  die  Paroxysmen  aus;  die 
„Angst"  geht  im  Verlauf  in  ein  schreckhaftes  Wesen  über;  nach  und 
nach  kehrt  nachgiebige  freundliche  Stimmung  und  Klarheit  wieder. 

Merkwürdig  sind  die  oft  mitten  unter  den  schreckhaftesten  Delirien 
auftauchenden  kindischen  Zwischenrufe,  z.  B. :  „Rumbidibum" ;  „Pantoffel- 
schuh" ;  „die  Engel  haben  rothe  Strümpfe  an".  —  Die  Complementärfarben 
„roth"  und  „grün"  spielen  überhaupt  eine  auffallend  grosse  Rolle,  auch 
„weiss"  und  „schwarz".  Einzelnemale  schilderten  die  Kranken  einen 
durchgemachten  Kampf  zwischen  den  „Teufeln  und  guten  Geistern", 
welch  letztere  ihnen  in  der  ärgsten  Schreckenszeit  Math  zusprachen  nnd 
Rettung  verhiessen.  —  Bei  den  protrahirteren  Fällen  zeigt  sich  stets  eine 
periodische  Intensität  der  Sinnestäuschungen.  —  Als  eine  Modification 
beobachtete  ich  wiederholt  einen  acuten  magnetischen  Verfolgungswahn, 
mit  heftigen  Angstzufällen  und  Hallucinationen;  hier  waren  locale  An- 
ästhesieen  nachweisbar.  Hie  und  da  gingen  auch  Auraempfindungen,  vom 
Epigastrium  aus,  mit  einher,  sowie  paralytische  Sensationen  (glühende 
Eisen  in  den  Beinen  u.  s.  w.);  Ausgang  nach  mehreren  Monaten  in  Heilung. 

Das  Körpergewicht  der  Kranken  sinkt  während  der  Paroxysmen, 
um  sich  nachher  wieder  zu  heben;  der  Puls  ist  in  der  Regel  be- 
schleunigt; oft  Fluxionen  zum  Kopfe;  die  Temperatur  manchmal 


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Chronischer  alkoholifttischer  Verfolgungswahnsinn. 


409 


etwas  erhöht.  Gastrische  Zustände  mit  Obstipation  sind  regelmässig 
vorhanden.  — 

Der  ehronische  alkoholistisehe  Yerfolgungs-  (Grössen-)  Wahn 

hat  wesentlich  dieselbe  Stellung  zu  dem  vorangegangenen  Spirituosen- 
missbrauch, wie  der  acute;  er  gehört  sowohl  der  leichteren  als  der 
schwereren  Stufe  des  Alkoholismus  an,  vielleicht  der  letzteren  häu- 
figer. Viel  öfter  als  beim  acuten  finden  sich  deshalb  charakteristische 
motorische  und  namentlich  sensible  Störungen,  welch  letztere  auch  sehr 
häufig  die  Grundlage  für  die  Wahnailegorieen  abgeben.  So  ist  speciell 
der  fast  typische  Wahn  der  ehelichen  Untreue  oft  auf  nachweisbare  Ano- 
malieen  der  Potenz  und  Illusionen  des  Geschlechtssinnes  (Frigidität)  zu- 
rückzuführen. Besonders  aber  ist  der  die  meisten  Fälle  begleitende  ethisch- 
degenerative  Zug  und  der  primäre  intellectuelle  Schwachsinn  auf  Rechnung 
des  chronischen  Alkoholismus  zu  setzen.  In  diesen  beiden  Zeichen,  welche 
schon  die  Anfänge  der  alkoholistischen  Gruppe  begleiten,  liegen  wichtige 
und  verwerthbare  Kriterien  gegenüber  den  gewöhnlichen  chronischen 
Wahnsinnsformen,  in  deren  sonstige  Typen  auch  die  alkoholistisehe  ein- 
schlägt. Eine  fernere  Besonderheit  der  letztern  ist,  dass  Sinnestäuschungen, 
und  zwar  schreckhaften  Charakters,  nie  fehlen ;  darunter  sind  die  des  Ge- 
hörs die  vorwiegenden  und  häufigsten ;  in  zweiter  Linie  die  des  Gesichts, 
und  in  dritter  die  des  Getasts.  Dem  Inhalt  scheint  stets  eine  sexuelle 
Färbung  beigemischt  zu  sein  (so  namentlich  bei  den  Gehörstäuschungen : 
Vorwürfe  über  angedichtete  Inceste,  Androhungen  von  Castration,  Eier- 
stocksexstirpation  (!)  bei  der  Ehefrau  oder  den  Kindern ;  Hilferufe  der 
Frau  wegen  Nothzuchtsattentaten  u.  s.  w.).  Dieselbe  inhaltliche  Färbung 
wiederholt  sich  auch  in  den  häufig  wiederkehrenden  Gefühlstäuschungen: 
dass  dem  Kranken  das  Glied  „ausgepumpt"  werde,  dass  er  durch  Ma- 
schinen gelähmt  werde  u.  8.  w.  Mit  der  intellectuellen  Schwäche  hängt 
das  weitere  auszeichnende  Moment  zusammen,  dass  die  Wahnvorstellungen 
selten  so  logisch  streng  systematisirt  sind,  wie  dies  beim  gewöhnlichen 
chronischen  Wahnsinn  Regel  ist.  Der  Ausgang  in  Dementia  erfolgt  ver- 
gleichsweise rascher  (unter  häufigen  manischen  Reactionsperioden),  und 
bis  zu  den  tiefsten  Graden  des  Blödsinns  (während  beim  nicht- alkoholi- 
stischen der  geistige  Niedergang  in  der  Regel  langsamer  und  allermeist 
nicht  so  ausgiebig  sich  vollzieht). 

Der  Beginn  hat  nichts  Specifisches:  er  kann,  wie  bei  den  ge- 
wöhnlichen Formen,  allmählich  und  in  logischer  Entwicklung  aus 
den  Lebensverhältnissen  des  Kranken  heraus  erfolgen;  oder  aber 
nach  einem  kurzen  Anfall  von  acutem  Wahnsinn;  oder  endlich  direct 
und  ohne  Zwischenglied  nach  einem  heftigen  Rausche  (bei  genügender 
constitntioneller  Vorbereitung).  Inhaltlich  ist  der  alkoholistisehe  Ver- 
folgungswahn selten  ein  ausschliesslich  depressiver;  sehr  oft  schlägt 
er  im  Verlauf  in  Grössenideen  (Missionswahn,  fürstliche  Verwandt- 
schaft) um.  Die  religiös  exaltirten  Vorstellungen  führen  mitunter  zu 
saerüegischen  Thaten  oder  andern  Ausbrüchen  einer  rücksichtslosen 
Gemüthsrohheit;  der  „ideale"  Zug  des  gewöhnlichen  religiösen  Wahn- 


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410 


Der  AlkoholiBmus  und  die  alkobolistischen  Psychosen. 


sinns  fehlt  hier  ganz.  Die  intercurrenten  Aufregungszustände  tragen 
häufig  raisonnirenden  Charakter,  in  den  spätem  Phasen  die  Züge 
der  degenerativen  Manie. 

Neben  dem  chronischen  depressiven  Wahnsinn  kommt  aber  auch 
der  primär  exaltirte  auf  alkoholistischem  Boden  vor:  auf  einen 
heftigen  Trinkexcess  folgt  Aufregung  mit  Grössenideen  (Besitz  von 
Millionen,  extravagante  Pläne);  unter  remittirendem  Verlauf  (Klepto- 
manie!) bildet  sich  ein  chronischer  Exaltationszustand  mit  fixen 
Wahnideen  und  raschem  Uebergang  in  geistige  Schwäche  aus.  — 
Hin  und  wieder  geht  dieser  Modification  auch  ein  melancholisches 
Einleitungsstadium  mit  Tentamen  Suicidii  in  unmittelbarem  Anschluss 
an  den  Trinkexcess  vorher.  Im  Verlauf  der  Zeit  kann  der  Wahn 
zurücktreten,  und  einen  Zustand  chronischer  Geistesschwäche  zurück- 
lassen, in  welchem  der  Kranke  noch  für  leichtere  Arbeiten  —  manch- 
mal mit  überraschend  conservirter  Intelligenz  —  für  lange  befähigt 
bleibt.  Treten  dagegen  weitere  alkoholische  Schädigungen  ein,  so 
wiederholen  sich  in  der  Regel  manische  Anfälle,  mit  um  so  be- 
schleunigterem Verlaufe  in  apathischen  Blödsinn.  Genesung  wird 
nicht  beobachtet,  wohl  aber  Remissionen. 

Der  chronische  Alkoholismus. 

Darunter  versteht  man  den  chronischen  Vergiftungszustand  des 
Gesammtorganismus  in  Folge  des  anhaltenden  und  langsamen  Miss- 
brauchs der  Spirituosen,  die  systematische  Durchseuchung 
des  Körpers,  welche  sich  in  einer  immer  tiefer  greifenden  Schädigung 
der  psychischen  und  körperlichen  Functionen,  und  endlich  in  der 
Degeneration  beider  —  mit  palpabeln  anatomischen  Residuen  in  den 
Central-  und  sämmtlichen  vegetativen  Organen,  und  in  Anomalieen 
des  Bluts  und  der  Excrete  —  dauernd  und  progressiv  ausprägt. 

Die  Entwicklung  kann  langsamer  oder  rascher  erfolgen,  manch- 
mal nach  endlosen  Rauschanfällen  mit  ihren  warnenden,  aber  über- 
hörten, Folgezuständen ;  anderemale  ganz  schleichend,  so  dass  der 
Kranke  neben  seinen  anhaltenden  Excessen  noch  sein  Geschäft  zu 
besorgen  vermag,  bis  plötzlich  der  unterhöhlte  Boden  unter  ihm  zu- 
sammenbricht. 

Schon  das  Aeussere  dieser  Gewohnheitstrinker  trägt,  bei  aller 
individuellen  Mannigfaltigkeit,  typische  Züge.  Fettsüchtig  und  schlaff  und 
gedunsen  ernährt,  mit  weingrltnem  aufgetriebenem  Gesichte,  prall  gefüll- 
ten hervortretenden  Augäpfeln,  stark  injicirter  Conjunctiva,  wässerigem 
mattem  Blick,  unregelmässigem  kleinem,  meist  frequentem  Pulse,  katar- 
rhalisch afticirteu,  viel  zähen  Schleim  secernirenden  Schleimhäuten,  be- 
legter Zunge,  trockener  (wegen  Verstopfung  der  Überfüllten  Schmeerbälge) 


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Chronischer  Alkoholismus.  Somatisches  Bild. 


411 


matt  glänzender  Haut  —  bieten  sie  be'i  anch  noch  ansehnlicher  körper- 
licher Rüstigkeit  das  Bild  einer  tief  geschädigten  Constitution.  In  der 
Folge  wird  das  Aussehen  welk,  gelbbraun,  verfrüht  greisenhaft,  die  Mi- 
roik  grob;  die  Körperernährung  nimmt  ab,  oft  bis  zur  schlotternden  Ma- 
gerkeit ;  die  Haut  wird  trocken,  runzeliger,  zur  Furunkelbildung  geneigt, 
bedeckt  sich  kleienartig  mit  Epidermisschüppchen ;  jede  leichte  Contusion 
lässt  Blutextravasate  zurück.  Nach  den  einzelnen  Functionen  vertheilen 
sich  die  nach  und  nach  (bald  rascher,  bald  langsamer)  auftretenden  toxi- 
schen Folgen:  a)  auf  die  Verdauung:  als  chronischer  Magenkatarrh 
mit  Wasserkolk,  unvollständiger  Digestion ;  b)  auf  den  Stoffwechsel: 
Anomalieen  der  Ernährung  (s.  o.i,  hydrämisch  fettbildende  Dyskrasie, 
Vermehrung  des  Fibringehalts  des  Blutes,  später  „Blutdissolution"  (s.  o.) ; 
Herzschwäche,  im  Verlauf  Fettdegeneration  des  Herzens,  der  Leber,  der 
Nieren,  der  Intercostalmuskeln ;  c)  auf  das  Nervensystem:  als  sen- 
sible Störungen :  gesteigerte  Reflexerregbarkeit,  Hyperästhesieen  (schmerz- 
haftes Brennen  in  der  Haut,  bohrende  Schmerzen  in  Muskeln  und  Kno- 
chen; Kitzeln  und  Prickeln,  Pruritus,  Kopfdruck,  Schwindel,  allgemeiner 
uud  localer  Kopfschmerz);  daneben  oder  auch  damit  abwechselnd  Hyp- 
algie  und  Anästhesieen,  theils  umschrieben  (an  den  Füssen,  oft  mit  dem 
Gefühl,  als  ob  der  Kranke  auf  Kautschukballen  ginge;  sodann  in  den 
Vorderarmen  und  Händen,  so  dass  der  Kranke  einen  erfassten  Gegen- 
stand plötzlich  nicht  mehr  fühlt);  theils  einseitig  als  Hemianästhesie,  zu- 
gleich mit  Temperaturerniedrigung;  als  sensorielle  Störungen:  Abnahme 
der  Sehschärfe,  Verschwimmen  der  Objecto,  mangelhafte  Induction  von 
Farben,  Amblyopie  und  Amaurose,  Abnahme  der  Hörschärfe  mit  subjec- 
tiven  Geräuschen.  In  den  schwersten  Fällen  als  Epilepsie,  und  verschie- 
dene, in  der  Regel  combinirte,  Spinalerkrankungen  (Myelitis,  Sklerose, 
diffus  und  strangförmig,  graue  Degeneration);  vasomotorisch:  als  Con- 
gestivzustände  zum  Kopfe  (oft  stärker  im  nüchternen  Zustand),  Frost- 
anfälle; d)  auf  das  Muskelsystem:  als  motorische  Schwäche  verschie- 
denen Grades,  und  namentlich  Tremor.  Letzterer  kann  entweder  localisirt 
auftreten  (Accomodationsmuskel),  oder  als  allgemeines  Zittern  mit  einzel- 
nen, oft  vorübergehenden,  spastischen  Contracturen :  der  Kopf  wird  in 
zitternden  Bewegungen  von  vorn  nach  rückwärts  geschaukelt;  der  Thorax 
und  die  Beinmuskeln  gerathen  beim  Stehen  in  convulsive  Bewegungen, 
sowohl  automatisch,  als  namentlich  bei  leisen  äusseren  oder  psychischen 
Erregungen;  die  Zunge  zittert  im  Ganzen  und  in  einzelnen  Partieen, 
weicht  oft  nach  einer  Seite  aus;  wird  sie  länger  vorgestreckt,  so  erfol- 
gen leise  Mitbewegungen  und  flüchtige  Zuckungen  der  nächsten  Muskeln, 
und  endlich  geräth  der  ganze  Kopf  bald  in  ein  schwaches  Wackeln  nach 
rechts  und  links,  vor-  und  rückwärts,  bald  in  rotatorische  Bewegungen; 
beim  mechanischen  Zug  an  dem  Unterkiefer  spannen  sich  die  Massateren ; 
oft  ungleiche  Innervation  der  Gesichtshälften  und  Pupillen.  Die  Sprache 
ist  erschwert,  bradyphasisch,  oft  ganz  undeutlich,  jedoch  (verschieden  vom 
Paralytiker)  in  a  1 1  e  n  Buchstaben,  und  nicht  durch  Verschlucken  von  Sil- 
ben wie  bei  jenem,  sondern  durch  allgemeines  Tremuliren;  merkwürdig 
ist  die  oft  rüsselförmige  Contraction  des  Mundes  beim  Sprechen,  ohne 
Lippenataxie;  andereraale  ist  aber  gerade  die  letztere  sehr  stark.  — 
Die  sexuellen  Functionen  sind  im  Anfang  der  Krankheit  nicht  selten 


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112 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistischen  Psychosen. 


maassloa  gesteigert,  später  vermindert  (Sterilität  beider  Geschlechter,  Im- 
potenz). 

In  geistiger  Hinsicht  sind  die  Schädigungen  womöglich  noch  tiefer. 
Sie  zeigen  sich  intellectuell  als  Minderung  des  Gedächtnisses, 
Schwäche  des  Urtheils,  Dürftigkeit  der  Phantasie,  Interesselosigkeit;  in 
ethisch.er  und  affectiver  als  Abnahme  der  natürlichen  und  sitt- 
lichen Gefühle,  nicht  selten  mit  Perversität  und  fortschreitend  bis  zur 
vollständigen  moralischen  Entartung  (Verbrechernatur);  als  krankhafte 
Reizbarkeit  und  Zornraüthigkeit,  oft  bis  zur  blinden  Wuth  auf  kleinste 
Anlässe.  —  Auf  diesen  psycho-pathologischen  Elementen  baut  sich  ein 
eigenartiger  alkoh  olistische  r  Ch  ar  a  kter  auf,  m.  m.  nachfolgendem 
Typus : 

Der  werdende  Gewohnheitstrinker  beginnt  sein  Geschäft  zu  vernach- 
lässigen, und  frequentirt  dafür  das  Wirthshaus.  Hier  wird  er  neben  dem 
zunehmenden  Zecher  der  immer  frechere  Renommist.    Zu  Hause  Miss- 
handlungen der  Frau,  gesteigerte  sexuelle  Zumuthungen.   Wachsende  Ar- 
beitsscheu, zunehmende  Kälte  und  Plackereien  der  Familie;  Gleichgiltig- 
keit  gegen  sein  sinkendes  Ansehen ;  ständige  Unruhe,  welche  den  Kranken 
im  Hause  herum-  und  von  da  wieder  ins  Wirthshaus  drängt    Hier  und 
in  der  Familie  fortgesetzter  Streit  und  Hader ;  vermehrtes  Bedttrfniss  nach 
der  „Flasche".    Jetzt  oft  tagelange  Betrunkenheit,  alle  Getränkesorten 
untereinander.    Der  Eingangs  gezeichnete  Habitus  beginnt  sich  auszu- 
prägen, namentlich  auch  bald  Tremor  in  Zunge  und  Händen.  Allerlei 
Missgefühle  im  Kopfe,  Störungen  der  Sinnesorgane,  Frostgeftihle,  Appetit- 
losigkeit. Die  Erscheinungen  psychischer  Schwäche  brechen  überall  durch, 
und  zwar  im  nüchternen  Zustand  noch  bestimmter.  Jüngst  erlebte  Tbat- 
sachen  verschwinden,  Einnahmen  werden  vergessen,  Bestellungen  doppelt 
und  dreifach  gemacht,  eigene  Behauptungen  verleugnet  und  widerspro- 
chen.  Im  Geschäft  widersinnige  Anordnungen.   Unfähigkeit,  die  einfach- 
sten Combinationen  zu  Stande  zu  bringen,  unrichtige  Buchungen  u.  8.  w. 
Der  Kranke  kann  im  Gespräche  dem  einfachsten  Gedankengang  nicht 
folgen,  hat  keine  Gründe  mehr,  kommt  bald  in  sinnloses  Gefasel  oder 
renomraistischen  Wortschwall.   Dabei  halt-  und  grundloses  Schwanken  in 
den  verschiedensten  Tonarten  der  Stimmung:  bald  düster  bis  zum  Lebens- 
Uberdruss,  bald  ausgelassen  heiter,  bald  kleinlaut  und  wortkarg;  bald 
hoch  zu  Boss,  heftig  bis  zur  Raserei,  redefluthend ;  in  einer  Stunde  zer- 
knirscht und  voller  Selbstvorwürfe,  in  der  nächsten  trotzig  und  voll  Ueber- 
hebung,  jedoch  ohne  leitenden  Tenor  und  Motivirung.  Verhältnissmässig 
noch  bedeutender  leidet  die  Willenskraft  Noth.  Der  Kranke  vermag  sich 
nicht  aufzuraffen,  obwohl  er  fühlt,  daas  der  Boden  überall  unter  ihra 
bricht.    Bildsam  wie  Wachs,  lässt  er  sich  durch  alle  Eindrücke  bestim- 
men; aber  es  haftet  nichts  und  bleibt  nichts  bestehen  —  als  der  Hang 
zum  Trinken.   Die  Energie  zur  Selbsterhaltung  und  zur  Versorgung  der 
Familie  ist  längst  gebrochen,  die  Kraft  zum  sittlichen  Aufschwünge  ge- 
lähmt: heute  säuft  er,  misshandelt  aufs  Schnödeste  seine  Frau;  morgen 
bittet  er  auf  den  Knieen  um  Verzeihung;  trinkt  einen  Tag  wenig  oder 
nichts  und  geht  mit  Eifer  an  die  Arbeit  —  aber  schon  am  Nachmittag 
wird  gelungert  und  wieder  getrunken.    Jetzt  zerfliesst  er  in  Thränen 
über  irgend  eine  gute  Handlung,  von  welcher  er  eben  gehört,  im  nach- 


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Chronischer  Alkoholismus.  Psychisches  Bild.  Klinische  Folgezustäode.  413 

sten  Augenblick  prügelt  er  Weib  und  Kind;  jetzt  pocht  er  auf  seine 
Selbstständigkeit  und  Bürgerehre,  will  sich  nichts  vergeben  und  —  kurz 
darauf  beugt  er  sich  wieder  dem  nächstbesten  Worte,  unterwirft  sich 
jedem  fremden  Willen. 

Der  chronische  Alkobolismus,  bis  zu  diesem  Höbegrade  ent- 
wickelt, ist  schon  schwere  psychische  Krankheit,  nicht  mehr  Rausch 
und  Katzenjammer  allein.  Dessen  weitere  klinische  Schicksale  sind 
nun  ausserordentlich  verschieden.   Es  kann: 

a)  Auf  jeden  nachfolgenden  Rausch  sofort  (oft  mit  der  Regel- 
mässigkeit des  Experiments!)  ein  manischer  Ausbruch  (s.  u.),  oder 
ein  Raptus  von  Furor  folgen;  namentlich  kehrt  ein  unwiderstehlicher 
Trieb  zur  Brandstiftung  typisch  wieder; 

b)  es  kann  eine  periodische,  besonders  auf  die  Nächte  ent- 
fallende, Aufregung  eintreten  in  Form  von  Sinnestäuschungen  und 
massenhaften  Illusionen  (Bulldoggen,  Eisbären  im  Zimmer),  manchmal 
bei  voller  Besinnlichkeit  und  ganz  ohne  Angst;  andere  Male  aber 
mit  lebhaften  Schreckträumen  (Verfolgungen  durch  schwarze  haarige 
Hunde),  mit  deliranten,  schlaftrunkenen  Handlungen  (Zerstörung  von 
Gegenständen,  Gewaltthaten,  Suicidium)  —  agitirter  Alkoholismus; 

c)  es  können  manische  Zustände  von  acutem  und  protrahirtem 
Verlaufe  dazwischen  treten; 

d)  es  können  melancholische  Zwischenstadien  intercurriren 
(8.  u.); 

e)  es  bildet  sich  der  chronische  alko holistische  Ver- 
folgungswahnsinn (s.  o.)  heraus; 

f)  es  können  transitorische  Anfälle  von  tiefer  Bewusstseins- 
störunginit  Sinnestäuschungen  sich  einstellen  — Delirium  tremens. 

Wie  Eingangs  bemerkt,  erkenne  ich  in  diesem  letzteren  die  Wieder- 
holung des  acuten  Wahnsinns,  nur  auf  der  hier  tieferen  Cerebrationsstufe, 
wie  sie  der  chronische  Alkoholismus  geschaffen  hat. 

Das  Delirium  tremens. 

Krankheitsbild.  Der  Eindruck  und  die  Entwicklung  dieses 
in  seinem  klinischen  Bilde,  sowie  im  Verlaufe,  specifischen  Sympto- 
niencomplexes  erfolgt  auf  mehrfache  Weise.  Stets  gehen  schwere 
Trinkexcesse ,  besonders  im  Schnaps  (Absynth)  voraus.  Gleichwohl 
schliesst  sich  das  Delirium  tremens  seltener  direct  an  einen  speciellen 
Rausch  an  (der  Kranke  kommt  eigentlich  aus  fortgesetzter  Betrunken- 
heit nicht  mehr  heraus),  sondern  an  die  plötzliche  Alkoholentziehung 
(Haft);  oder  aber  der  Ausbruch  erfolgt  während  des  fortgesetzten 
Bacchanals,  ganz  unerwartet,  in  einer  Nacht;  besonders  häufig  tritt 


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414 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistischen  Psychosen. 


derselbe  im  Gefolge  epileptischer  Insulte  ein  (s.  n.),  entweder  sofort, 
oder  nach  kurzem  stupurösem  Intervall ;  im  letztern  Falle  setzt  sich 
die  postepileptische  Betäubtheit  ununterbrochen  in  den  deliranten 
Zustand  fort.  Es  kann  aber  auch  ein  Aufregungszustand  mit  schreck- 
haften Sinnestäuschungen,  ganz  im  Bilde  des  acuten  alkoholistischen 
Wahnsinns,  die  Scene  einleiten  und  nach  einigen  Tagen  in  das  cha- 
rakteristische Delirium  Ubergehen. 

Der  Kranke  wird  unruhig,  wankt  herum,  sucht  zu  entrinnen, 
rückt  an  den  Zimmergegenständen,  schreit  abrupte  Worte  hinaus, 
gewöhnlich  abwehrenden  oder  schimpfenden  Inhalts,  und  Dies  Alles 
in  einem  mehr  oder  minder  stupiden  Bewusstseinszustande.  Er 
dämmert  wie  im  Traume  umher,  lässt  sich  kaum  zur  einfachsten 
Antwort  bringen;  er  weiss  nicht,  wo  er  ist,  stiert  den  Fragenden  an. 
—  Andere  werden  im  Krankheitsbeginne  geschwätzig,  mischen  sich 
tölpisch  in  Alles  ein,  wissen  sich  dabei  aber  nicht  Uber  die  einfach- 
sten Dinge  zu  orientiren,  oder  vergessen  sofort  wieder,  was  sie  so- 
eben gehört  und  bereitwillig  zugestanden  hatten.  Der  Ausbruch  des 
eigentlichen  Deliriums  entfällt  in  der  Regel  auf  die  Nachtzeit.  Der 
Kranke  schreckt  auf,  beginnt  ruhelos  umherzulaufen,  zu  rufen,  vor 
sich  hin  zu  sprechen ;  oft  auch  drängt  er  ungestüm  fort,  wird  heftig 
beim  Entgegentreten.  Dabei  ist,  wenigstens  Anfangs,  die  Angst  oft 
noch  grösser  als  die  Blödigkeit.  Jetzt  bricht  eine  wachsende  Fülle 
von  Sinnestäuschungen  aus,  welche  mit  der  höchsten  Lebendigkeit 
der  Gestaltung  einen  beständig  wechselnden,  nur  fluchtig  dauernden, 
dabei  phantastisch  -  märchenhaften  oder  barocken  Inhalt  vereinen. 
Systemlos,  unzusammenhängend,  oft  in  den  curiosesten  Sprüngen 
einer  entfesselten  Phantasie,  Mögliches  und  Ungeheuerliches,  Erlebtes 
und  Erträumtes  bunt  durcheinander  mengend  —  so  blitzen  die  Phan- 
tasmen auf,  wie  ein  Lichtspiel  auf  ein  gehemmtes  Bewusstsein. 

Dabei  sind  aber  doch  gewisse  Richtungen  im  Inhalt  wiederkehrend, 
wenn  sie  sich  anch  in  der  unlogischsten  Weise  mischen  und  stets  ver- 
drängen, so  dass  eben  in  dieser  Mischung  der  specifische  Charakter  des 
Deliriums  sich  ausprägt.  Dabei  ist  der  Gesichtssinn  in  erster  Linie  be- 
vorzugt; nach  diesem  kommt  der  Tastsinn,  und  dann  die  Übrigen.  Es 
erscheinen : 

a)  Thiergestalten,  und  zwar  vorzugsweise  kleine  (Ratten,  Fliegen, 
schwarze  Käfer  mit  langen  Beinen);  jedoch  fehlen  auch  grosse  nicht 
(Ochsenherden,  Thiere  mit  langen  Hälsen);  b)  elementare  Gebilde,  und 
zwar  sämmtlich  von  „glänzendem  Aussehen" :  Feuerscheine,  Sternenregen, 
Springbrunnen,  Goldspangeu,  silberne  Ringe,  glänzende  Ketten,  glühende 
Drähte,  Heubundel  u.  s.  w. ;  ferner  farbenreiche  und  in  zugleich  in  steter 
Bewegung  befindliche  Erscheinungen,  wie  Maskeraden  und  Processionen ; 
sodann  c)  Gefllhlshallucinationen:   Haare  und  Brosamen  im  Bett,  Draht 


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Delirium  tremens. 


415 


in  der  Haut,  abgebrochene  Zähne  im  Munde,  Quecksilber  im  Körper, 
Löcher  im  Kopfe  (mit  der  Reflexhallucination,  dass  der  Kranke  auch  an 
den  Anderen  solche  Löcher  sieht)  u.  s.w.  —  In  der  Sphäre  des  Ge- 
rachs und  Geschmacks  treten  Verunreinigung  der  Luft  (Vitrioldünste  aus 
Wandritzen)  und  der  Speisen  auf;  in  der  des  Gehörs  werden  Scheltrufe, 
oder  (namentlich  häufig)  lascive  Aufforderungen,  oder  gegentheils  auch 
Beschuldigungsrufe  wegen  gröbster  sexueller  Vergeben,  auch  Majestäts- 
beleidigung, geklagt.  Auch  hier,  und  zwar  noch  mehr  als  beim  acuten 
Trinkerwahnsinn,  schieben  sich  oft  ganz  barocke  Worte  und  Zwischen- 
rufe ein. 

Dazu  treten  eine  Fülle  der  mannigfaltigsten  Illusionen,  deren 
Inhalt  ebenfalls  in  stetem  Flusse  sich  ändert,  wenn  sie  auch  mit  Vorliebe 
sich  um  der  Erkrankung  unmittelbar  vorausgehende  Ereignisse  drehen. 

In  diesem  Chaos  von  deliranten  Wahrnehmungen  bringt  der 
Kranke  die  ersten  Nächte  hin,  worauf  manchmal  noch  leidliche 
Tage  folgen,  in  welchen  er  sogar  seinen  Geschäften  nachgehen  kann. 
Bald  aber  zieht  sich  der  stupid  delirante  Zustand  auch  in  die  Tage 
hinein.  In  der  einen  Stunde  schläfrig,  seinen  Traumgestalten  nach- 
hängend, kämpft  der  Kranke  in  der  folgenden  in  blinder  motorischer 
Reaction  dagegen  an.  Immer  aber  bleiben  die  absolut  schlaflosen 
Nächte  die  Zeit  der  schwersten  Stürme.  Nicht  selten  kann  man 
den  Kranken  Morgens  mit  Contusionen  über  den  ganzen  Körper, 
oder  mit  einem  helmähnlichen  Hämatom  über  dem  Kopfe  und  der 
Stirne  antreffen,  welches  er  sich  durch  Anschlagen  an  die  Wände 
beigebracht,  wenn  er  den  „feurigen  Hengsten,  die  nach  ihm  mit  den 
Hufen  schlugen",  ausweichen  wollte.  Dazwischen  schieben  sich  auch 
klarere  Stunden,  wo  er  harmlos  in  seiner  Umgebung  sich  umschaut, 
als  ob  er  nicht  erst  den  Furien  seiner  Phantasie  entronnen  wäre; 
wo  er  mit  kindischer  Heiterkeit  über  Lappalien  lacht,  an  leichten 
Spielen  Theil  nimmt,  „ganz  gut  und  wohl"  sich  befindet,  obwohl  er 
in  der  Regel  vor  Erschöpfung  und  agitirtem  Muskeltremor  kaum 
aufzustehen  vermag.  Manche  Kranke  stecken  sich  plötzlich  in  einen 
Galaanzng,  weil  sie  fürstlichen  Besuch  empfangen  sollen.  Aber  mitten 
aus  diesen  lucidern  Momenten  kann  er  wieder  einem  Traumbild  an- 
heimfallen: das  Zimmer,  die  Personen,  werden  plötzlich  andere,  und 
er  merkt  nicht  die  ihm  mitgespielte  Täuschung;  er  befiehlt  und  ruft 
an,  wie  wenn  er  zu  Hause  oder  im  Kreise  seiner  Zecher  sässe;  oder 
er  belustigt  sich,  wie  „plötzlich  eine  Maus  in  das  dargebotene  Trink- 
glas schlüpft".  In  gleicher  Weise  kann  er  aber  auch  mitten  aus 
dem  Spiel  einen  ernsten  Selbstmordversuch  machen,  oder  auf  Stunden 
wieder  in  vollständige  Stupidität  sinken,  so  dass  er  auf  keinen  An- 
ruf mehr  reagirt,  oder  höchstens  ziel-  und  planlose  Entäusserungen, 
oft  monotone  Bewegungen  macht,  beständig  wischt  und  zupft,  als 


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416  Der  Alkoholismuß  und  die  alkoholistischen  Psychosen. 

ob  er  „Haare"  oder  „Garn  und  Fäden"  von  sich  abwischen  wollte. 
Dieses  Minutenbewusstsein  mit  stetem  Wechsel  der  verschiedensten 
Helligkeitsgrade,  dabei  mit  fliessenden  Uebergängen  der  halbluciden 
und  träumerischen  Phasen  (wie  die  Bilder  einer  Laterna  magica),  ist 
sehr  charakteristisch  für  das  Delirium  tremens.  Dabei  bleibt  selbst 
für  die  klarsten  Momente  die  ungeheure  Urtheilsschwäche ,  welche 
den  Kranken  alle  ihm  zugemutheten  Phantastereien  kritiklos  hin- 
nehmen lässt.  Die  Stimmung  ist  indolent  oder  ängstlich,  oft  auch 
staunend  und  verwundert,  je  nach  dem  Inhalte  der  Täuschungen; 
sie  ringt  sich  aber  nicht  zu  dem  starken,  und  noch  weniger  zu  dem 
dauernden  Affect  des  acut  Wahnsinnigen  auf,  sondern  bleibt  wandel- 
bar und  stets  grenzenlos  matt  und  stumpf,  selbst  wenn  der  Kranke, 
aus  seinem  Delirium  vorübergehend  erweckt,  von  den  „Abgründen" 
erzählt,  die  sich  soeben  neben  ihm  aufgethan,  oder  von  den  „vielen 
Schüssen,  die  er  soeben  in  seinen  Kopf  erhalten"  („gestern  haben 
Sie  mir  den  Kopf  weggemacht,  oder  war's  vorgestern  ?").  Auch  seioe 
Gegenhandlungen  sind  nur  unbemessene  Raptus,  welche  in  der  näch- 
sten Stunde  oft  wieder  vergessen  sind. 

Die  körperlichen  Erscheinungen  sind:  Pulsfrequenz,  manchmal  bis 
148  und  160,  ohne,  oder  aber  mit  nur  kurzer  und  massiger,  Temperatur- 
erhöhung (38—39);  heftige,  klebrige  Schweisse,  vermehrter  Tremor  (ein 
vorgehaltener  Bleistift  wird  mit  aller  Gewalt  angefasst),  starker  Magen- 
katarrh mit  dick  belegter  Zunge ;  Eiweiss  im  Urin  ist  beim  einfachen  De- 
lirium tremens  selten,  relativ  am  häufigsten  nach  vorausgegangenen  epi- 
leptischen Insulten.  Sehr  oft  findet  sich  Bronchialkatarrh,  manchmal  auch 
Furunkelbildung  Uber  die  Haut.  Die  Pupillen  sind  starr  und  weit.  Häufig 
zeigt  sich  ungleiche  Innervation  des  Gesichts  (durch  einseitige  Contractur) ; 
Ptosis.  Sehr  gewöhnlich  wird  in  freieren  Momenten  Uber  heftigen  Schwin- 
del geklagt;  viele  Kranke  taumeln,  so  dass  sie  ohne  Unterstützung  hin- 
stürzen. Die  Schmerzempfindung  liegt  ganz  darnieder;  selbst  über  die 
schwersten  Contusionen  wird  von  selbst  keine  Klage  geführt  (s.  o.). 

Die  Dauer  des  Deliriums  ist  eine  verschiedene;  sie  kann:  a)  nur 
einen  oder  mehrere  Tage,  manchmal  in  alternirendem  Typus,  dauern, 
und  dann  in  raschem  Umschlag  in  Genesung  übergehen.  Die  Krise 
geschieht  durch  einen  tiefen  Schlaf,  wonach  der  Kranke  erst  noch 
benommen  aufwacht,  bald  aber  (im  Verlauf  mehrerer  Stunden)  ganz 
zu  sich  kommt.  Er  ist  jetzt  müde  und  abgeschlagen,  wüst  im 
Kopfe.  Der  Puls  sinkt,  oft  unter  die  Norm,  der  Tremor  lässt  nach. 
Gewöhnlich  erfolgt  jetzt  die  Erholung  (unter  Abnahme  des  Magen- 
katarrhs und  Zunahme  des  Körpergewichts)  rasch  —  bis  auf  die 
frühere  Schwächestufe  des  habituellen  Alkoholismus.  Die  Erinne- 
rung ist  in  der  Regel  summarisch,  mauchmal  ganz  defect  (nament- 
lich hinsichtlich  des  Gedächtnisses  für  die  Krankheitszeit),  erholt  sich 


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Delirium  tremens  febrile.  Alkoholistische  Pseudoparalyse. 


417 


jedoch  nach  und  nach  (wenn  auch  nicht  immer).  In  sehr  wenigen 
and  nur  in  leichten  Fällen  ist  sie  bis  in's  Detail  getreu.  —  Es  kann 
aber  b)  die  Reconvalescenz  nicht  durch  Krisis,  sondern  durch  Lysis 
erfolgen,  und  dauernd  erst  durch  ein  hallucinatorisches  Nachstadium 
(für  eine  Reihe  der  folgenden  Nächte)  erkämpft  werden,  während 
die  Tage  zunehmend  lucider  werden;  oder  der  Kranke  tritt  c)  erst 
auf  einige  Tage  noch  in  einen  halbbetäubten  Zustand  mit  schwach- 
sinniger Begehrlichkeit  und  blödem  Grössenwahn;  oder  endlich  d)  es 
können  mehrere  Anfälle  von  Delirium  sich  wiederholen,  ohne,  oder 
auch  mit  gleichfalls  sich  wiederholendem,  epileptischem  Insult.  In 
der  Zwischenzeit  ist  der  Kranke  stupid  scblafsüchtig  und  ausser- 
ordentlich ängstlich,  so  dass  er  oft  mitten  in  der  Nacht  Fluchtver- 
suche macht. 

Die  Prognose  ist  für  alle  diese  Varietäten  eine  gute,  wobei  Übri- 
gens die  verschlimmernde  Wirkung  der  Recidiven  auf  den  zurückbleiben- 
den Alcoholismus  chronicus  einzurechnen  ist. 

Ein  weiterer  schlimmer  Ausgang  ist  der  in  das  fieberhafte  Deli- 
rium tremens.  Das  letztere  stellt  die  schwerere  Form  des  einfachen  dar, 
zugleich  mit  lebensbedrobendem  Charakter.  Die  Hauptsyui}  *  ne  sind 
dieselben;  nur  ist  starkes  Fieber  (bis  42°  mit  sprungweisen  issionen 
bis  3S,2°),  und  eine  vergleichsweise  noch  tiefere  Bewusstseinsstörung  zu- 
gegen. Die  Muskelstörungen  bestehen  hier  nicht  nur  in  einfachem  Tre- 
mor, sondern  zugleich  in  zeitweiligen  convulsiven  Stössen  und  Schlägen 
durch  die  gespannte  Muskulatur,  in  heftigen  partiellen  Zuckungen  durch 
den  Facialis,  Deviationen  des  Kopfes,  Nystagmus.  Sehr  häutig  intercur- 
riren  epileptische  Zufälle.  Albuminurie  scheint  regelmässig  vo/handen  zu 
sein.  Der  Verlauf  ist  peracut,  und  sehr  oft  tödtlich  durch  Erschöpfung, 
mit  Temperaturabfall  oder  Convulsionen  (Pneumonie).  In  nicht  letalen 
Fällen  Lysis  nach  S— 14  Tagen.  —  Das  Delirium  tremens  febrile  kann 
auch  primär  als  solches  auftreten.  Bei  der  Autopsie:  hochgradige  Hirn- 
hyperämie mit  ödematöser  Durchtränkung,  manchmal  capilläre  Apoplexieen. 

gj  Es  kann  der  Alcoholismus  chronicus  in  seiner  Entwicklung 
ein  paralytiformes  Bild  annehmen,  oder  aber  -in  eine  eigenartige 
Form  der  progressiven  Paralyse  übergehen  (Alkoholparalyse).  Im 
erstem  Falle  ist  die  „Paralyse"  nur  eine  Erscheinungsweise  des  Alco- 
holismus chronicus,  ist  nicht  progressiv,  wieder  besserungsfähig  und 
selbst  heilbar;  im  zweiten  ist  die  Paralyse  eine  wirkliche  (wenn- 
gleich modificirte),  und  theilt  das  Endschicksal  mit  dieser. 

Der  paralytiforme  Alkoholismus  hat  eine  chronische 
und  eine  subacute  Entstehung.  Der  psychische  Schwachsinn  und 
die  motorischen  Störungen  in  Locomotion  und  Sprache,  wie  sie  dem 
gewöhnlichen  Alkoholismus  Uberhaupt  eigen  sind,  bilden  gleichsam 
die  Vorfrucht  für  diese  besondere  klinische  Entwicklungsrichtung. 

8chftU,  GeUtdikrankbeitoo.  3.  Aufl.  27 


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418 


Der  Alkobolismus  und  die  alkoholischen  Psychosen. 


Während  darüber  bei  der  chronischen  Form  oft  mehrere  Jahre  ver- 
gehen, vollzieht  sich  in  den  andern  Fällen  die  Genese  innerhalb 
mehrerer  Monate:  Trinkexcesse  mit  manischen  Ausbrüchen  nach 
jeder  starken  Berauschung,  hierauf  in  rascher  Folge  verkehrtes 
Reden,  allgemeine  Aufregung,  Selbstüberschätzung,  riesige  Essgier, 
unsicherer  Gang  und  Sprache,  alkoholische  Constitution.  Bei  der 
chronischen  Entstehung  bildet  gewöhnlich  der  Trinkerverfolgungs- 
wahn (mit  Hallucinationen)  die  Einleitung  und  das  bleibende  psy- 
chische Symptomenbild,  woran  sich  die  motorischen  Insuffizienzen, 
neben  den  theilweise  noch  fortdauernden  alkoholistischen  Motilitäts- 
störungen, angliedern. 

Die  klinischen  Symptome  weisen  beachtenswerthe  Differenzen  gegen- 
über der  klassischen  Paralyse  auf.  Das  wichtigste  Unterscheidungsmerk- 
mal, welches  übrigens  auch  der  Alkoholparalyse  (s.  u.)  zukommt,  ist  die 
Combination  von  paralytischen  Symptomen  und  von  alkoholistischen.  tfo 
ist  stets,  wenn  auch  oft  in  geringerem  Grade  als  vorher,  Muskeltremor 
neben  den  motorischen  Lähmungserscheinungen  vorhanden;  nie  fehlt  ferner 
idiopathische  Muskelschwäche;  stets  sind  sensuelle  und  sensible  Störungen 
des  Alcoholismus  chronicus,  und  ebenso  auch  vegetative  (Alkoholhabitus) 
zugegen.  Hallucinationen  sind  vergleichsweise  viel  häufiger  als  in  der 
gewöhnlichen  Paralyse,  und  zwar  mit  nächtlichen  Exacerbationen  (wie- 
derum alkoholistische  Eigenart);  nicht  selten  sind  dieselben  specifischen 
Inhalts  (Untreuewahn).  Sodann  ist  das  Gesammtbild  sowohl  des  pseudo- 
paralytischen Alkoholismus,  als  auch  der  eigentlichen  Alkoholparalyse  in 
der  Regel  nicht  das  klassische  Paralysebild,  sondern  das  raodificirte  des 
primären  Blödsinns  mit  Lähmung  (paralytische  Ataxie).  Jedoch  verschieden 
von  diesem  (und  zwar  sowohl  von  dessen  primär  dementem,  als  vom  hypo- 
chondrischen Bilde)  kommt  der  Paralyse  des  Alkoholismus  das  ethisch- 
degenerative  Moment  als  ein  wesentliches,  und  gleich  von  Anfang 
bestehendes  Symptom  zu.  Während  dort  der  Adel  des  Herzens  und  der 
Gesinnung  so  oft  noch  rührend  den  intellectuellen  geistigen  Zerfall  durch- 
leuchtet, so  sind  h  i  e  r  die  sittlichen  Bedürfnisse  sofort  erheblich  geschwächt, 
die  sinnlichen  entsprechend  gesteigert.  Das  Gedächtniss  ist  manchmal 
noch  leidlich  erhalten,  in  andern  Fällen  aber  sehr  nothleidend ,  so  dass 
der  Kranke  von  einer  Stunde  zur  andern  vergisst.  Manchmal  sind  par- 
tielle Gedächtuissdefecte  vorhanden.  Die  geistige  Kraft  im  Ganzen  ist 
stets  ausserordentlich  blöde  und  abgestumpft,  namentlich  bezüglich  der 
Beurtheilung  der  eigenen  Lage.  Der  Kranke  schickt  Briefe  ohne  Wohn- 
ortsangabe zur  Post,  und  ist  auf  Vorhalt  nicht  im  Mindesten  betroffen, 
„da  man  ja  den  Empfänger  schon  ausfindig  machen  werde".  Nach  monate- 
langem Asylaufenthalt  verkennt  er  noch  die  Personen,  gibt  oft  allerei 
träumerische  Einfälle  zum  Besten,  lässt  sie  auf  Einwände  Dritter  fallen, 
tischt  sie  aber  gleichwohl  wieder  auf.  Die  Stimmung  ist  gleichmässig  zu- 
frieden, apathisch  leicht  bestimmbar,  unvermittelt  vom  Weinen  zum  Lachen 
zu  bringen,  ganz  wie  beim  Gewohnheitstrinker.  Dabei  ist  der  Kranke 
rücksichtslos  nonchalant,  vegetirt  herum,  ohne  Sinn  fllr  das  Deeorum, 
verrichtet  öffentlich  seine  Bedürfnisse,  lebt  in  der  Minute.   Der  Grösscn- 


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Alkobolistischc  Pseudoparalyse.   Alkoholistische  Paralysen.  419 


wahn  ist  mässig,  bewegt  sich  mehr  nur  in  bescheidenen  Grenzen  der  blöd- 
sinnigen Euphorie,  und  entbehrt  der  propulsiven  Kraft  und  plastischen 
Gestaltung,  wie  in  der  klassischen  Paralyse. 

Einmal  konnte  ich  bei  einem  behäbigen  Gewohnheitstrinker  mit 
massig  entwickeltem  Tremor  nach  einem  tiefen  Gemüthsaffect  einen  acutea 
Exaltationszustand  beobachten,  mit  allen  Charakteren  der  klassischen 
Paralyse,  namentlich  auch  mit  dem  specifischen  Grössen  wahn.  Der  Fall 
verlief  acut  in  Genesung;  ein  leichter  alkoholistischer  Tremor  blieb  erhal- 
ten, daneben  natürliches  Dankgeftlhl  und  Krankheitseinsicht,  nur  nicht 
auch  subjective  „ätiologische"  Aufklärung.  —  Diese  Fälle  bilden  die 
Uebergänge  zu  den  paralytischen  Nachstadien  nach  febrilen  Infections- 
krankheiten  (Variola).  —  In  einem  zweiten  Falle  waren  wohl  einige 
der  wesentlichsten  psychischen  Züge  aus  dem  Paralysetypus  in  das  alko- 
holistische  Krankheitsbild  binUbergenommen  (echter  Grössenwahn,  ethischer 
GemUthsdefect,  Urtheilsschwäche) ;  aber  die  motorischen  Symptome  fehlten, 
und  der  psychische  Kraftzustand  blieb  anhaltend  Uber  dem  Niveau  der 
Paralyse.    Es  folgte  wesentliche  und  dauernde  Besserung. 

Der  Verlauf  des  paralytischen  Alkoholismus  ist  in  der  Regel  ein 
subacuter,  und  gegenüber  den  nicht- toxischen  Formen  ein  günstiger. 
Auf  der  Entwicklungshöhe  angekommen,  schreitet  er  unter  passen- 
den Verhältnissen  (Anstalt)  nicht  weiter,  sondern  bildet  sich  (nach 
einigen  Monaten  bis  einem  Jahre)  zum  Status  quo  ante,  selbst  mit  theil- 
weiser  Krankheitseinsicht,  zurück;  manchmal  allerdings  auch  mit 
bleibendem  grösserem  psychischem  Defect.  Mitunter  kehren  nach 
einiger  Zeit  mitten  in  einem  sehr  befriedigenden  Zustande  plötzlich 
psychische  Absenzen  in  Form  grober  Rücksichtslosigkeiten  u.  s.  w. 
wieder.  Doch  auch  diese  können  sich  verlieren.  Die  motorischen 
Störungen  sind  gleichfalls  bis  zu  kleinen  Resten  rückbildungsfähig. 
Der  Ausbruch  von  Lungentuberkulose  scheint  manchmal  günstig  (hirn- 
entlastend) auf  die  Reconvalescenz  zu  wirken.  In  anderen  Fällen 
kann  aber  gegentheils  der  plötzliche  Eintritt  von  Hirnzufällen  (Con- 
vulsionen)  dem  Krankheitsverlauf  eine  rasche  Wendung  zum  Schlim- 
men geben.  —  Recidiven,  manchmal  unter  der  Form  schwerer,  mit- 
unter auch  rasch  letaler  Maniecn,  sind  die  Wirkungen  neuer  Trink- 
excesse.  —  Verschieden  von  dieser  intercurrenten  Modification  ist: 

die  alkoholistische  Paralyse  ein  definitiver  Ausgangszu- 
stand des  chronischen  Alkoholismus,  und  von  entschieden  progres- 
sivem Charakter.  Die  dahin  entfallenden  klinischen  Bilder  gehören 
sämmtlich  den  psychischen  Cerebropathieen  („Blödsinn  mit  Lähmung") 
an,  und  vertheilen  sich  anatomisch  auf  die  Meningitis-,  Pacchyme- 
niogitis-  und  Encephalitis-Gruppe,  ohne  oder  mit  Tabes  spinalis. 

Die  Entwicklung  der  hierher  gehörigen  Formen  ist  eine  ebenso  man- 
nigfaltige als  die  spätem  klinischen  Typen  selbst,  von  welchen  kaum 
zwei  Fälle  exact  einander  gleichen.    Die  oben  betonte  Combinirung  des 

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420 


Der  Alkoholismus  und  die  alkobolistischen  Psychosen. 


alkoholistischen  und  des  (hier)  cerebropatkischen  Symptomenbildes  in  Einem 
Krankheitsfall,  so  dass  beide  Reihen  theils  neben  einander  vorkommen 
(s.  o.),  theils  abwechseln,  ist  als  differentielles  Moment  gegenüber  den 
Fällen  aus  nicht  -  toxischer  Entstehung  festzuhalten.  Eine  fernere  (nur 
nicht  allgemein  zutreffende)  Eigenthümlichkeit  der  alkoholistischen  Paralyse 
ist  das  häufige  Vorkommen  von  Herdsymptomen  (Opticus- Atrophie,  ein- 
seitige Lähmung,  Schlaganfälle),  merkwürdigerweise  oft  ohne  erklärenden 
autoptischen  Befund.  In  der  stets  chronischen  Genese  gehen  manchmal 
intercurrente  Manieen  mit  religiösem  Grössenwahn  und  Versündigungs- 
ideen voraus,  ebenso  Anfälle  von  Delirium  tremens.  Die  Neigung  zu 
Convulsionen  ist  bei  einem  Theil  der  Fälle  eine  gesteigerte;  manchmal 
bleibt  das  Bewusstsein  dabei  erhalten.  Die  motorischen  Störungen  er- 
weisen sich  als  ausserordentlich  complicirte:  aus  dem  Hirnleiden,  aus 
spinalen  Affectionen,  aus  dem  Alcoholismus  chronicus,  und  oft  noch  aus 
den  Wirkungen  psychischer  Selbstcompensation.  Häufiger,  wie  es  scheint, 
als  sonst  gehen  bei  der  alkoholistischen  Paralyse  die  psychisch-paralyti- 
schen Symptome  (namentlich  der  starke  Blödsinn)  längere  Zeit  den  mo- 
torischen voraus.  Dabei  ist  der  Grössenwahn  in  der  Ruhe  Anfangs  noch 
sehr  bescheiden,  und  wächst  erst  später,  wenn  allmählich  auch  die  moto- 
rischen Zeichen  eingerückt  sind,  zu  den  verstiegenem  Höhen  kritikloser 
Schwäche.  Intellectuellerseits  überrascht  oft,  wie  ein  alberner  Grössen- 
wahn und  richtige  Schätzungen  dicht  neben  einander  liegen.  In  einem 
Falle  beobachtete  ich  längere  Zeit  heftige  Gliederzuckungen,  wie  von  elek- 
trischen Stössen,  worüber  der  schon  sehr  demente  Kranke  selbst  Klage 
führte.  Eigenartig  ist  die  manchmal  vorkommende  choreiforme  Aufregung 
solcher  alkoholistischer  Paralytiker:  sie  bleiben  keinen  Moment  in 
Ruhe;  bald  sitzen  sie,  bald  stehen  sie,  dann  nehmen  sie  den  Hut  ab, 
setzen  ihn  wieder  auf,  legen  den  Kopf  links,  dann  rechts,  nehmen  alles 
Ergreifbare  in  die  Hand,  lassen  es  wieder  fallen,  dann  räuspern  sie  sich, 
trinken,  wischen  sich  ab,  streichen  überall  an  sich  herum,  blasen  das  Licht 
aus  u.  8.  w.  —  Der  Verlauf  ist  mehr  als  bei  den  analogen  (nicht-toxi- 
schen) Formen  durch  Remissionen  gekennzeichnet;  dabei  haften  nicht 
selten  die  motorischen  Störungen  zäher  als  die  psychischen.  Im  Uebrigen 
und  allgemein  ist  die  Prognose  gleich  düster,  wie  bei  jenen. 

h)  Der  Weiterverlauf  des  Alcobolismus  chronicus,  soweit  der- 
selbe nicht  durch  die  vorgenannten  Zwischenfälle  oder  specielle  Ent- 
wicklungsrichtungen bestimmt  wird,  ist  ein  wesentlich  stationärer. 
Als  solcher  kann  er  sich  selbst  aus  höhern  Graden  wieder  sachte 
zurückbilden  (Abstinenz  des  Schnapses  vorausgesetzt),  und  der  Kranke 
wieder  ein  leidliches  Dasein  zurückgewinnen.  Weitaus  die  über- 
wiegende Mehrzahl  der  Kranken  —  Sklaven  ihrer  Kehle!  —  geht 
aber  unrettbar  dem  körperlichen  und  geistigen  Verfall  entgegen.  Ihr 
Schicksal  ist  entweder  eine  Reihe  von  periodisch  auftretenden  acu- 
ten Psychosen  (Delirium  tremens- Anfälle,  Manieen),  mit  dem  Folge- 
zustande einer  progressiven  Verblödung;  oder  die  psychische  Ent- 
artung unter  allen  dahin  gehörigen  geistigen  Typen.    Ein  Theil 


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Weiterverlauf  des  Alcoholismus  chronicus. 


421 


wandert  zu  den  Dipsomanen;  ein  anderer  bleibt  im  chronischen  Ver- 
folgungswahne stecken,  und  entwickelt  sich  (oft  nach  wiederholten 
Remissionen,  welche  speciell  dieser  Form  nach  Jahresfrist  noch  zu 
Theil  werden)  zu  allgemeinen  hallucinatorischen  Wahnsinnigen;  wie- 
der Andere  werden  Vagabunden  und  Querulanten,  und  unverbesser- 
liche Candidaten  für  die  Criminal- Justiz;  oder  enden  als  sittlich  blöd- 
sinnige Verbrecher  oder  Selbstmörder.  Das  specifisch  „toxische" 
Element  des  Alkohol  zieht  sich  für  den  aufmerksamen  Beobachter 
durch  alle  diese  Secundärstadien;  von  der  körperlichen  alkoho- 
listischen  Constitution  und  deren  Folgewirkungen  in  diesem  Stadium 
(Fettdegeneration  der  Innenorgane,  Atherose)  abgesehen,  bleibt  stets 
einer  oder  der  andere  der  wiederholt  betonten  Charakterzllge  nach- 
weisbar, und  fixirt  die  ätiologische  Natur  des  Krankheitsbildes.  Selbst 
in  der  bunten  Täuschungswelt  des  chronisch-wahnsinnigen  Halluci- 
nanten  erhalten  sich  sehr  häufig  noch  die  „rotben"  und  „blauen" 
Folien,  auf  denen  sich  die  bald  flächenhaften,  bald  körperlichen  Bilder 
mit  ihrer  packenden  Plastik  abzeichnen;  die  enorme  Leichtigkeit 
der  hallucinatorischen  Erregung  und  ebenso  die  polymorphe  „märchen- 
hafte" Eigenart  der  Sinnesbilder  (aus  dem  Delirium  tremens)  ver- 
bleibt auch  noch  dem  Alkoholisten  dieser  Secundärstadien,  welcher 
zu  halluciniren  im  Stande  ist,  wann  er  will,  aber  doch  nicht  auch  die 
Phantasmen  zu  bestimmen  vermag  (wie  sich  beispielsweise  beim 
einfachen  Lidschluss  erst  „ein  Gesicht"  zeigt,  dann  „ein  Hase,  dann 
ein  Rosenstock").  So  treten,  immer  mit  irgend  einer  specifischen 
Schattirung,  sämmtliche  Zustandsformen  der  speciellen  Psychopatho- 
logie im  Verlauf  des  chronischen  Alkoholismus  auf;  die  tiefern  Blöd- 
sinnszustäude  aber,  wie  es  scheint,  erst  auf  dem  Umweg  d.  h.  als 
directe  Folgewirkungen  intercurrenter  acuter  Cerebralaflfectionen,  be- 
sonders der  schweren  Manieen.  —  Neue,  und  nicht  minder  mannig- 
faltige Modifikationen  des  Verlaufs  werden  durch  acute  Hirninsulte 
(Apoplexieen  mit  ihren  Folgezuständen),  oder  durch  chronische  con- 
stitutionelle  Erkrankungen  in  Folge  der  Alkoholconstitution  (Nieren- 
affectionen,  Diabetes)  eingeführt.  Glücklicherweise  ist  an  sich  die 
Lebensdauer  dieser  durch  Schuld  oder  Schicksal  (oder  auch  beides!) 
rettungslos  Verkommenen  eine  relativ  kurze,  und  hebt  dadurch  und 
durch  die  häufig  frühzeitig  eintretende  Sterilität  den  möglichen  Fluch 
der  Vererbung  auf.  — 

Die  (s.  oben  c  u.  d)  im  Gefolge  alkoholistischer  Missbräuche  auf- 
tretenden Manieen  und  Melancholieen  entbehren  z.Tb.  des  mehr 
minder  specifischen  Gepräges,  welches  die  seither  betrachteten  Stö- 
rungsformen darboten.    Gleichwohl  fehlen  auch  hier  sehr  oft  be- 


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422 


Der  Alkoholismus  und  die  alkoholistiscben  Tsychosen. 


6timmte  Nuancirungen  nicht,  welche  die  ätiologische  Signatur  fest- 
halten. 

Die  alkoholistischen  Manieen  zeichnen  sich  aus  a)  durch 
rasche  Entstehung  und  raschen  Verlauf  mit  tiefer  Bewusstseinsstö- 
rung  (Betäubtheit),  häufigen  Sinnestäuschungen  und  Illusionen,  trieb- 
artig perversem  Gebahren,  Mischung  von  Indolenz  und  stumpf  zor- 
niger Gereiztheit,  mit  gelegentlich  blind  heftigen  Reactionen.  Für 
diese,  vielleicht  zahlreichste,  Gruppe  sind  der  Furor  und  die  Mania 
gravis  die  generellen  Typen. 

Typisches  Bild.  Allgemeinerscheinung  eines  ziemlich  Angetrun- 
kenen. Grosse  geistige  und  körperliche  Trägheit,  Schlummersucht,  Hin- 
brüten,  Staunen,  Geistesabwesenheit.  Damit  wechseln  Aufregungszustände 
verschiedener  Art  und  Grades,  alle  mit  dem  Charakter  grosser  Schwäche. 
Kindische  zwecklose  Spielereien,  Tändeln  an  den  Kleidungsstücken,  phan- 
tastische Costumirung  (besonders  auch  mit  barocken  Albernheiten ,  wie 
z.  B.  Verbinden  des  Gliedes,  abnorm  festes  Zubinden  der  Strümpfe  und 
des  Ilalstuchs),  Drang  zum  Verstellen  der  Gegenstände,  zum  Wühlen  im 
Schmutze,  zum  Zerstören,  läppisches  Complimentiren  gegen  den  Arzt, 
neben  brutalem  Benehmen  gegen  andere  Kranke,  auch  oft  tagelangem 
Schreien  und  excentrischem  sinnlosem  Gebahren;  anderemale  zudringliches 
Wesen  mit  albernen  Fragen  und  ungereimten  Bemerkungen.  Absolute 
Unorientirtheit  Uber  die  Situation;  Nachahmen  von  andern  Kranken.  Da- 
zwischen ruhige,  halblucide  Zeiten,  aber  ohne  Fähigkeit  zu  einem  geord- 
neten Gespräche.  Intercurrente  Andeutungen  eiues  verschwommenen  Ver- 
folgungswahns. Gesichtshallucinationen,  Magenkatarrh,  Tremor.  Nach 
mehreren  Wochen  Zurücktreten  der  Aufregung.  Jetzt  melancholisches 
Nachstadium  auf  der  Grundlage  grosser  psychischer  Schwäche  mit  schreck- 
samem Wesen  und  weinerlicher,  thränenrühriger  Stimmung.  Tremor  und 
Magenkatarrh  dauern  fort.  Allmählich  zunehmende  Ernährung,  Erweite- 
rung des  geistigen  Gesichtskreises,  heiterere  und  natürlichere  Stimmung. 
Reconvalescenz.  —  Die  peracuten  Manieen  schliessen  sich  manchmal  direct 
an  eine  tiefe  Berauschung  an,  und  können  zu  Raptus  lebeubedrohender 
Heftigkeit  (Mordattaken  auf  die  Umgebung),  sinnlosem  Wüthen  und  Zer- 
stören führen.  Der  Anfall  hat  so  manchmal  einen  vollständig  epileptoid- 
manischen  Charakter.  Es  können  auch  mehrere  Raptusanfälle  nach  ein- 
bis  mehrtägigen  Ruhepausen  (düsteres,  unheimliches  Wesen  mit  unruhigem 
Schlafe  und  grosser  Gereiztheit,  bei  übrigens  leidlicher  Lucidität)  auf 
einander  folgen,  und  erst  darauf  dauernde  Klärung  des  Bewusstseins  ein- 
treten. Die  Erinnerung  ist  bald  nur  eine  summarische,  bald  eine  genaue; 
manchmal  corrigirt  sie  sich  erst  langsam;  anderemale  ist  sie  sofort  nach 
überstandenem  Raptus  eine  prompte,  verdunkelt  sich  aber  nachher,  und 
oft  dauernd,  wieder  (forens  wichtig !). 

Eine  andere  Gruppe  b)  ist  dagegen  charakterisirt  durch  ein 
milderes  Tempo  des  Verlaufs  und  eine  geringere  Störungstiefe  der 
psychischen  Functionen.  Bewusstsein  und  Besinnung  bleiben  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  erhalten;  die  Handlungen  sind  wohl  krank- 


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Alkoholistische  Manieen. 


423 


baft  überstürzte,  aber  formell  mehr  minder  correcte;  sie  tragen  das 
Gepräge  eines  primären  Schwachsinnes  (tolle  Fastnachtstreiche,  muth- 
willige  Störungen  der  bürgerlichen  Ordnung),  und  sind  belebt  durch 
einen  massigen  Grössenwahn. 

Typisches  Bild.  Eine  raisonnirende  Disputirsucht,  welche  alle 
Vorkommnisse  weiss  brennen  will,  gänzliche  Einsichtslosigkeit  in  den 
eigenen  Zustand,  oft  mit  Andeutungen  von  Verfolgungswahn.  Gesteigertes 
Selbstgefühl  („als  ob  die  Andern  die  Narren  wären  und  er  der  Gescheidte"), 
weibische  Geschwätzigkeit,  welche  mit  beschränkter  Zähigkeit  den  bereits 
auf  den  Wirthsbänken  einstudirten  Text  hundertfach  auskramt  —  sind  die 
speeifischen  Charakterzüge.  Die  Stimmung  bewahrt  die  eigentümliche 
Weichlichkeit  und  Beweglichkeit  des  Trinkers,  manchmal  auch  eine  bis  zur 
Brutalität  explodirende  Reizbarkeit;  sie  geht  in  raschestem  Umschlag  vom 
Lachen  zum  Weinen  über,  behält  aber  bei  allem  Wechsel  den  Grundzug 
von  Indifferenz  oder  Schwäche  bei.  Der  Kranke,  eben  noch  der  alberne 
Schwätzer  und  Prahlhans,  ist  im  nächsten  Augenblicke  still  und  Schlich- 
tern; eben  beherzt  und  lärmend,  kann  er  gleich  darauf  die  Miene  ver- 
ziehen, allerlei  schwachsinnige  Klagen  vorbringen,  in  Thränen  ausbrechen, 
„weil  er  keinen  Vater  und  keine  Mutter  mehr  habe".  Glüht  erst  der 
Alkohol  nicht  mehr  in  den  Adern,  so  benimmt  sich  der  Kranke  —  das 
Raison nire ii  abgerechnet  —  ganz  verständig.  In  der  Regel  bricht  bald 
die  gesunde  Anschauung  wieder  durch,  gewöhnlich  jetzt  mit  der  Schwäche 
des  reuigen  Sünders,  welcher  mehr  preisgibt,  als  man  haben  will.  Der 
Kranke  bekennt  jetzt  offen  Alles,  was  man  verlangt,  wird  zunehmend 
still,  ängstlich,  kleinlaut,  so  dass  man  oft  mehr  Mühe  hat  ihn  aufzurich- 
ten, als  ihm  Besserung  an's  Herz  zu  legen. 

Sehr  häufig  haftet  auch  das  äussere  Sigillum  alcoholicum  dem  Krank- 
heitsbilde, dessen  Typus  hier  die  Moria  ist,  an:  gedunsene  Ernährung, 
geröthetes  Gesicht,  injicirte  Conjunctiva,  ungleich  innervirte  Gesichts- 
halften,  Tremor  linguae  et  oris,  Zittern  der  Hände,  eigenthümlich  schie- 
bender, schlottriger  Gang. 

Eine  dritte  Gruppe  c)  zeigt  die  Charaktere  der  degenerativen 
Manie,  und  ist  im  Grunde  ein  sittlicher  und  (oft  vergleichsweise 
geringerer)  intellectueller  Blödsinn  mit  periodischer  oder  auch  chro- 
nischer Aufregung,  perversen  Drängen  und  Handlungen  (sehr  oft 
geschlechtliche  Angriffe,  Unzucht  mit  Kindern,  Diebstähle,  Brand- 
stiftung, Misshandlungen  der  Familie.) 

Dieser  kurz  skizzirte  Rahmen  umfasst  ein  unendlich  reiches  Detail 
von  Einzelbildern  und  Combinationen  der  einzelnen  Formen.  So  kann  der 
Furor  mit  Hallucinationen  als  einfacher  Anfall  mit  Anschluss  an  einen 
Trinkexcess  verlaufen,  und  damit  abschliessen ;  es  kann  aber  auch  der 
Paroxysmus  aus  einer  Reihe  von  kurz  dauernden  manischen  (ganz  glei- 
chen) Krisen  mit  zwischenlaufenden  Remissionen  sich  abspielen.  Ebenso 
kann  die  Mania  gravis  als  anhaltender  Paroxysmus  auftreten;  oder  aber 
gegentheils  von  so  häufigen  und  langdauernden  Verstimmungen  und  Angst' 
zufallen  begleitet  sein,  dass  der  manische  Kranke  periodisch  sich  als  Me- 


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42  t 


Der  Alkobolismu8  und  die  alkoholistischen  PsychoseD. 


lancholiker  darstellt.  —  Auf  die  delirante  Manie  kann  ein  Stuporzustand 
mit  vasomotorischer  Parese  folgen,  aus  welchem  der  Kranke  durch  einen 
transitorischen  Blödsinn  sich  in  die  Reconvalescenz  durchkämpft,  oder 
aber  (in  sehr  interessantem  Umschlag  der  Gefassinnervation)  noch  durch 
ein  Stadium  von  mehrtägigen  Kopffluxionen  mit  grosser  motorischer  Be- 
weglichkeit und  schrittweise  abklingendem  Stupor  hindurchgeht,  um  jetzt 
erst,  auf  diesem  physiologischen  Umweg,  zu  genesen.  Interessant  ist  eine 
meiner  ophthalmologischen  Beobachtungen,  wonach  sich  in  der  Stupor- 
phase  die  Venen  der  Papillen  sehr  breit  und  platt,  die  Arterien  dagegen 
verschmälert  zeigten;  mit  Eintritt  der  Reconvalescenz  stellte  sich  das  nor- 
male Grössen verhältniss  wieder  her.  Die  Mania  gravis  kann  sich  nicht 
selten  peracut  zur  lebensgefährdenden  Höhe  des  Delirium  acutum  stei- 
gern. Gemeinsam  für  alle  alkoholistischen  Manieen  ist  die  leichte,  immer 
zunehmende  Fähigkeit  zu  Recidiven;  schliesslich  genügt  dazu  jede  leichte 
Berauschung.  Doch  gibt  es  auf  der  andern  Seite  auch  wieder  dauernde 
Genesungen. —  Diesen  klinisch  wohl  charakterisirten  Formen  stehen  ver- 
schwommene Krankheitsbilder  gegenüber,  welche  nur  vorübergehende 
und  vereinzelte  manische  Züge  aufweisen ,  aber  kein  fertiges  typisches 
Bild  zusammenbringen,  und  als  Steigerungen  des  alkoholistischen  psycho- 
pathischen Charakters  aufzufassen  sind:  so  geht  der  Kranke  nicht  selten 
in  eine  Phase  von  krankhafter  Weichlichkeit  und  zerknirschter  Stimmung 
über,  und  aus  dieser  in  einen  Zustand  von  frivoler  Exaltion  und  weinseliger 
Heiterkeit  mit  Neigung  zu  Cynismen  und  Possen  —  aber  mit  vollständig 
erhaltener  Lucidität;  daraus  allmähliche  Rückkehr  zur  Gemessenheit  und 
Besonnenheit.  — 

Die  Melancholieen  auf  alkoholistischer  Entstehung  verrathen 
ihre  Abkunft  durch  die  eminente  Gemüthsschwäche  und  Panphobie, 
abwechselnd  mit  weinerlicher  Verzagtheit  (erstere  motivlos,  letztere 
ohne  Mark  und  Nachdruck),  oder  gleichfalls  durch  den  torpiden 
Charakter  mit  Gemüthsstumpfheit,  thränenreichem,  weichem  Wesen, 
grosser  Willenlosigkeit,  enormer  Gedächtnissschwäche  und  Schwer- 
besinnlichkeit. Beide  Varietäten,  die  acute  und  die  chronischtorpide, 
sind  durch  Raptus  von  Gewaltthätigkeiteu  (gegen  sich  oder  Andere) 
bedroht.  Dabei  Hyperästhesie  der  Sinne,  häufige  Hallucinatiouen 
(mit  Vorliebe  schwarze  Figuren,  nächtliche  Feuer-  und  Brand- 
Visionen),  transitorische  Aufregungsphasen,  Schwindelgefühle,  Muskel- 
schwäche, Frostempfinduugen,  Zittern  (manche  Kranke  bitten,  mitten 
aus  ihrer  Angst  und  Verdammungsfurcht  heraus,  kniefällig  um  eine 
alkoholische  Herzstärkung!).  Der  Verlauf  in  der  zweiten  Form 
nimmt  leicht  einen  protrahirten  Charakter  an,  mit  bleibender  Geistes- 
schwäche; doch  kommen  auch  nach  längerer  Dauer  noch  Genesungen 
vor.    Recidiven  siud  häufig.  — 

Die  Alkoholepilepsie  ist  eine  Folgewirkung  des  Alcoho- 
lismus  chronicus.  Klinisch  ist  sie  besonders  bemerkenswerth  durch 
die  an  die  epileptischen  Insulte  sich  häufig  anschliessenden  Anfälle 


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Alkoholistische  Melancholieen.  —  Epilepsieen.  Therapie. 


425 


von  Delirium  tremens  (schwererer  Form).  Die  Vorläufer  sind  die- 
selben wie  beim  letztern.  Der  Insult  selbst  folgt  mit  Vorliebe  auf 
einen  Trinkexcess  oder  auf  eine  voraufgegangene  Gemüthsaufregung. 
Relativ  oft  trifft  im  Gefolge  eines  Anfalls  (deren  nicht  selten  mehrere 
im  Verlaufe  eines  Tages  sich  wiederholen)  das  letale  Ende  ein.  — 
Auch  aus  dieser  toxischen  Epilepsie  bilden  sich  nicht  selten  Trans- 
formationen in  psychische  Aequivalente  heraus. 

Aber  auch  ohne  vorausgegangene  Krampfanfälle  können  „epileptoide" 
Dämmerzustände  im  Gefolge  einer  tiefen  Berauschung  auftreten,  welche 
namentlich  forens  sehr  wichtig  werden  können,  da  dieselben  mitunter  mit 
scheinbar  zweckmässigen  Handlungen  verlaufen  (s.  o.  patholog.  Rausch- 
zustände). Als  solche  können  sie  auch  die  directe  Einleitung  eines  De- 
lirium tremens  bilden,  wie  die  motorischen  Krampfanfälle. 

Therapie. 

Die  pathologischen  Rauschzustände  bilden  wegen  ihres  transi- 
torischen  Charakters  seltener  den  Gegenstand  psychiatrischer  Behand- 
lung. Die  acuten  und  chronischen  Wabnsinnstormen  erfordern  Ho- 
spital- resp.  Anstaltsbehandlung  nach  den  für  die  verwandten  Zustände 
gültigen  Indicationen.  Der  chronische  Alkoholismus  eignet  sich  ftir 
die  Trinkerasyle,  deren  zunehmende  Erstellung  eine  dringende 
Bedtirfnissfrage  unsrer  Zeit  ist.  Für  die  geringem  Grade,  welche 
nicht  selten  besserungs-  und  selbst  heilungsfähig  sind,  müssen  die 
socialen  Reformen,  wie  sie  eben  in  verschiedenen  Ländern  angestrebt 
werden  und  zum  Theil  segensreich  schon  ins  Leben  gerufen  sind, 
eintreten.  Hier  berührt  sich  die  psychiatrische  Therapie  mit  einer 
der  wichtigsten  socialen  Aufgaben  der  Gegenwart.  —  Speciell  das 
Delirium  tremens  bedarf  der  sorgfältigsten  Hospital-  oder 
Anstaltsbehandlung.  Hauptindicationen  sind:  Kräfteerbaltung  und 
cerebrale  Beruhigung.  Nach  beiden  Richtungen  entspricht  die  Bett- 
lage unter  ständiger  Beaufsichtigung;  bei  tobenden  Kranken  ist  eine 
Polsterzelle  (nach  Bedürfniss  verdunkelt)  ein  dringendes  Requisit. 
Daneben  kräftige  reizlose  Diät  mit  Wein;  milde  Laxantien.  Sehr 
wohlthätig  wirken  Bäder  mit  Umschlägen.  Zur  Beruhigung  und 
Erzielung  von  Schlaf  ist  Chloral  (2—3—4  Gramm)  das  beste  Mittel; 
doch  reiche  man  es  nur,  wenn  keine  Herzschwäche  droht;  in  zweifel- 
haften Fällen  ist  Paraldehyd  gefahrloser  (1 — 0  Gr.)  Daneben,  und 
namentlich  auch  für  die  Nachbehandlung,  ist  Opium  sehr  empfeh- 
lenswert!]. 


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426  Das  hereditäre  Irresein. 

Das  hereditäre  Irresein. 


A.  Allgemein  pathologischer  Excurs. 

Literatur :  Erblichkeit  im  Allgemeinen.  Morel,  Traite  des  dlgeneresc,  u. 
de  l'here'dite'  morbide  progr.  Arch.  gen.  1667.  —  Prosper,  Lucas,  Traite*  philo- 
soph.u.  psych,  del'ndr^d.  1847.  —  Moreau,  de  la  jnreclisp.  hdr£d.  —  Ribot,  de  l'he- 
redite,  deutsch  von  Hotzen,  1846.  —  Prichar d.  Treatise.  —  Hohenbaum,  allg. 
Zeitschr.  f.  Psych.  5.  —  Jung,  ibid.  21.  —  Kicharz,  ibid.  30.  und  Mouogr. 
Bonn  18So.  —  Hagen,  Statist.  Untersuchungen  1  bT6.  —  Roth,  bist. -krit.  Unter- 
suchungen 1877.  —  F6re\  Arch.  de  neur.  VII  (neuropath.  Familien).  —  Ball  et 
R6gis,  l'Enceph.  1883  (Vererbung  d.  Psychosen  im  Allg.  u.  Spec).  —  De  ecke,  Am. 
Journ.  oflus.  1881  (Anatomischesi.  —  Benedicts  Monographie  über  Verbrecher- 
gehirne. —  Derselbe,  Wien.  med.  Pr.  1SSU.  —  Flesch,  Würzb.  Sitzungsberichte 
1  SSO  —8t  (Verbrecbergehirne)  und  Monograph.  1SS3.  —  Ferrier,  Brain  1882.— 
Gray,  Am.  J.  of  Ins.  1884.  —  Erbliches  Irresein :  Morel,  1.  c.  —  v.  Krafft- 
Ebing  in  Friedreichs  Blättern  1SCS.  —  Le  Grand  du  Saulle,  deutsch  von 
Stark,  Monographie  1S74.  —  Todi,  Arch.  ital.  1881  (neuropath.  Constitut).  — 
Andriani,  la  Psychiatria  18S5  (degenerat.  Psychos.)  —  MarandonduMontyel 
(Folie  avec  conscience)  Arch.  de  Neur.  1882,  u.  Euc<5ph.  1883.  —  „Impulsives  Irre- 
sein": Pohl,  Jahrb.  f.  Psych.  IV.  —  Gauster,  Maschka's  Handbuch  (mit  Lite- 
ratur). —  Zwangsvorstellungen:  v.  K rafft-  Ebing,  Beiträge  zur  Erkenn tniss 
krankhafter  Gemüths-Zustände  1S67.  —  Derselbe,  über  formale  Störungen  des  Vor- 
stellens, Vierteljahrsschr.  für gerichtl.  Medicin  1 S70  (Literatur).  —  Morel,  Desire 
&notif  1866.  —  Falret,  Anu.  m6d.  psych.  1866  (Folie  raison.).  —  Buccola,  Riv. 
sper.  1880.  —  Ball,  Encäpbal.  1881.  —  Griesinger,  Arch.  f.  Psych.  1.  —  Berger, 
ibid.  6 und  8.  —  Salonion, ibid.  S.  —  Eyselein,  ibid.  —  Wille,  ibid.  12. —West- 
p h a  1 ,  Berl.  klin.  Wochcnschr.  1877.—  Meschede,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  28.  — 
v.  K rafft-  Ebing,  ibid.  35.  —  S chäfer,  ibid.  36.  —  Claus,  Irrenfreuud  1880.  — 
Brosius.ibid.  IS8I.  —  Sioli,  Charite-Ann.  5.  Jahrg.  —  Juranville (dedoubl,  dela 

Sersonnalite)  Enceph.  1882.  — Jastrowitz,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1884.  — 
laladle  du  doute  et  du  toucher:  LeGrandduSaulle,  lafoliedu  doute  1875. 

—  Verga,  Arch.  ital.  18S1.  —  Taraburini,  Riv.  sper.  IX.  —  Las  egue  (la m£- 
lancolie  perplexe)  Arch.  g6n.  de  mäd.  1880.  —  Kussel  (Fall  von  Heilung)  Alien,  a. 
neur.  188U.  —  Kelp,  Irrenfreund  1882.  —  Cnbarde,  TEnceph.  3.  —  Moral  In- 
sanlty:  Pinel,  TraUe"  philosopbique.  —  Prichard,  Treatise.  —  Esquirol,  Mo- 
nomauie.  —  Jessen  (Mania  sme  delirio)  Berl.  Encycl.  —  Nasse,  Gesellsch.  der 
Bonner  Aerzte  1817.  —  Griesinger,  Lehrb.  —  Discuss.  in  der  Soc.  mäd.  psych. 
(Folie  rais.).  Ann.  m£d.  psych.  1866  u.  1867.  —  Solbrig,  Verbrechen  und  Wahn- 
sinn ISO".  —  v.  Krafft-Ebing,  Lehre  vom  moral.  Wahnsinn  (Monogr.).  —  Ders.: 
Friedreichs  Rl.  1871  (Literatur)  u  Allg.  deutsche  Strafr.,  Zcitg.  1872.  —  Stolz,  Allg. 
Zeitschr.  f.  Psych.  33.  —  Livi,  Riv.  sper.  1876  u.  1877.—  TamaBsia,  ibid.  1877.  — 
Blandford,  Seelenstöruugen,  deutsch  von  Kornfeld  187S. —  Gauster,  Maschka 
I.e.  (mit  Literatur)  und  Wiener  Klinik  1877.  —  Maudsley,  Zurechnungsfähigkeit 
der  Geisteskranken.  1874.  —  Verga,  Arch.  ital.  18m>.  — Todi,  ibid.  —  Grilli,  ibid. 

—  Bini,  ibid.  1881.  —  Try  de,  Schm.  Jahrb.  Bd.  189.  —  Lykke,  Bidrag  etc.  Iiiaug.  - 
Diss.  1870.  —  Holländer,  Jahrb.  f.  Psych.  Vi.  —  Hughes,  AI.  and  Neur.  18*»2.  — 
Savage,  Journ.  of  m.  sc.  1881.  —  Gasquct,  ibid.  1882.  —  Manning,  ibid.  1882.  — 
Weiss,  Wiener  med.  Wochenschr.  1883.  —  Funaioli,  Arch.  ital.  1884.  — 
Goldsmith,  Am.  J.  of  ins.  1^83.  —  Workm  an ,  ibid.  —  Querulantenwabnsinn : 
v.  Krafft-Ebing,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  35  (mit  vollständiger  Literatur).  Jahrb. 
f.  Psych.  1884.  —  Sponholz,  Erleumeyers  Centralbl.  1880.  —  Originäre  Verrückt- 
heit: Suell,Allg  Zeitschr.  f.  Psych.  22.  —  Sander ,  Arch.  f.  Psych.  1.  —  Rauch, 
die  primordiale  Verrücktheit  1883.  —  Burr,  Am.  J.  of  Ins.  1883.—  Deecke,  Am  J. 
oflns.  18>5.  —  ContrSrc  Sexualempfiadung  (Zusammenstellung  nach  v.  K raff t- 
Ebingl.  a)Männl.  Individuen  betr.:  Gas  per,  klin.  Novellen,  u.  Lehrb.  d.  gerichtl. 


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Eintbeilung.   Corollarien  aus  der  „Erblicheits"lehre. 


427 


Med.  p.  170  (7.  Aufl.);  —  Westphal,  Arcb.f.  Psych.  2;  —  Schminke,  ibid.  3.  — 
Scbolz,  Viertelj.  f.ger.  Med.  19.  —  Gock,  Arch.f.Psych.  5;  —  Servacs,  ibid.  6.  — 
Westphal, ibid.  —  Stark,  Allg.Zeitschr.  f. Ps.31.  —  Liman(Casp.Lebrb.  ti.Aufl., 
FallZastrow);  —  v.  K rafft- Ebing,  Arcb.  f.  Psych.  7.  —  Le  Grand  du  Saulle, 
Ann.  me\i.  psych.  1S7G.  —  Tama  ssia,  Riv.  sper.  1878.  —  v.  Kraf  ft-Ebing,  Allg. 
Zeitschr.  f.  Psych.  38,  u.  Lehrbuch,  II.  Aufl.  p.  85.  —  Sterz,  Jahrb.  f.  Psych.  Bd.  III. 

Krueg,  Brain  1881.  -  Charcot  et  Maguan,  Arcb.  de  Neur.  18V2.  —  Kirn, 
Allg.  Ztscbr.  f.  Ps.  39.  —  v.  K  rafft -Ebing,  Irrentr.  18S4.  —  Rabow,  Erlenmeyers 
Contralbl.  1883.  —  Bluracr,  Am.  Journ.  ot  Ins.  1882.  —  Savage,  Journ.  of  m.  sc. 
1884.—  v.  Kraf ft-Ebing,  Jabrb.  f.  Psych.  1885.  -  b)  Weibl.  Individuen  betr. : 
Westphal,  Arcb.f.  Psych.  2. —  Gock,  ibid.  -  v.  Krafft-Ebing,  Irrenfr.  18S4. 
—  Wise,  AI. audNcur.  1883.  —  Cantarano,  Zeitschr.  la  Psycbiatria  1S83.  — 
Agoraphobie s.  d.  betr.  Art.  in  Eulenburg's  Realcncyclop.  (Westphal)  mit  Lit. 

Zur  eingehenden  Darlegung  dieses  wichtigen  klinischen  Capitels 
ist  es  unerlässlich  die  Erörterung  einiger  allgemein -pathologischer 
Ergebnisse  vorauszuschicken.  Diese  sind:  I.  anthropologischer  Natur 
und  enthalten  die  Thatsachen  der  „Erblichkeit"  d.  h.  erblichen  Ueber- 
tragung,  und  II.  klinischen  Inhalts,  worunter  einige  der  wichtigsten, 
für  das  hereditäre  Irresein  fast  specifischen  Elementarstörungen  ge- 
hören: a)  Zwangsvorstellungen  und  Zwangshandlungen  (impulsive 
Acte),  und  b)  eigenartige  psychische  und  sensuelle  Anomalieen  im 
Gebiete  des  Geschlechtslebens  (die  „conträre  Sexual-Empfindung"). 
An  diese  nothwendigen  Prolegomena  schliesst  sich  die  Besprechung 
der  „hereditären  Neurose"  an,  als  des  gemeinsamen  Baumes,  dessen 
Aeste  sich  im  Weitern  in  das  a)  einfache,  und  ti)  degenerative  erb- 
liche Irresein  spalten. 

Der  klinischen  Schilderung  der  Gruppe  a)  ist  als  Anhang  das  „transi- 
torische  Irresein"  angeschlossen. 

%  Corollarien  aas  der  „Erhllehkelts"lehre. 

Wir  sind,  was  wir  sind,  nur  zum  kleinern  Theile  durch  uns;  zum 
grösseren  sind  wir  das  Werk  unserer  Ahnen.  In  diesen  d.  h.  in  deren 
geistigen  uud  körperlichen  Erlebnissen  führten  wir  Alle  unser  Vorleben, 
und  Jeder  von  uns  hat  in  seinem  wirklichen  Leben  wesentlich  (Viele  aus- 
schliesslich) die  begonnene  Geschichte  seines  Stammbaumes  weiterzuführen. 
Für  die  krankhaften  Seelenzustände  zumal  steht  die  Vererbung  im  Mittel- 
punkt der  vorbedingenden  und  erzeugenden  Ursachen.  Von  der  familien- 
weisen Vererbung  gewisser  Charaktcreigeuthümlichkeiten  („Tic's  und 
Spleen's"),  bis  hinauf  zur  Durchseuchung  ganzer  Stammbäume  mit  Gei- 
stesstörung und  Idiotismus,  zieht  sich  eine  zusammenhängende  Stufenleiter, 
in  welcher  die  verhängnissvolle  Mitgift  der  Eltern  oder  Seitenverwandten 
an  die  Kinder  oder  Enkel  in  allen  Spielarten  und  Stärkegraden  auftritt. 

1 .  Die  Erscheinungsweisen  der  erblichen  Uebcrtragung  gruppiren  sich : 

a)  hinsichtlich  der  Form.  Diese  ist  in  der  Mehrzahl  der  Erkran- 
kungsform in  der  Ascendenz  gleich,  d.h.  auf  eine  Melancholie  der  El- 
tern folgt  in  der  Descendenz  wieder  eine  Melancholie,  oft  mit  den  glei- 


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428 


Das  hereditäre  Irresein. 


chen  Wahnvorstellungen  und  Neigungen;  namentlich  kann  der  Selbst- 
mord in  erschreckendster  Weise  hereditär  sich  fortpflanzen.  Aber  auch 
Neuralgieen,  theils  als  solche,  theils  in  psychischer  Transformation,  können 
durch  mehrere  Glieder  der  Descendenz  hindurchgehen;  ja  selbst  Hallu- 
cinationen.  —  Neben  der  formgleichen  hereditären  Uebertragung  gibt  es 
aber  auch  eine  gleich  werthige.  So  kann  eine  Neuralgie  in  der  As- 
cendenz  unter  einer  neuralgischen  Krampfform  epileptoiden  Charakters 
in  der  Descendenz  wiederkehren,  oder  habituell  hereditäre  Kopffluxionen 
des  Vaters  in  einer  Apoplexie  des  Sohnes  (progressiv  hereditäre  Ueber- 
tragung; s.  8p.). 

b)  Hinsichtlich  der  Zeit  des  Auftretens.  Diese  fällt  oft  in  merk- 
würdigster Weise  mit  dem  Zeitpunkt,  in  welchem  auch  die  Erkrankung 
in  der  Ascendenz  debütirte,  zusammen  (ähnlich  wie  in  vielen  Fällen  von 
Phthise).  Anderemale  ist,  je  nach  der  Stärke  des  hereditären  Virus,  der 
Ausbruch  post-  oder  anteponirend. 

c)  Hinsichtlich  des  Geschlechts  des  U eher  trag  enden  und  des  Ergrif- 
fenen. Am  meisten  ist  die  Descendenz  gefährdet  bei  doppeltem  Kinflu68 
der  Eltern,  d.  h.  wenn  beide  krank  waren ;  bei  einseitiger  Erkrankung 
Uberwiegt  der  mütterliche  Einfluss;  für  Uebertragung  speciell  des  Selbst- 
mordes der  väterliche.  Erkrankungen  eines  der  beiden  Eltern  vor  der 
Pubertät  (besonders  Chorea  und  Epilepsie)  sind  für  die  Descendenz  sehr 
beunruhigend. 

2.  Nicht  nur  die  ausgesprochenen  Geistesstörungen  vererben  sich, 
sondern  Nerven-  und  Geistes-  und  Hirnkrankheiten  stehen  in  der  wech- 
selseitigen Beziehung  gegenseitigen  Ersatzes,  gegenseitiger  Uebergangs- 
fähigkeit  in  der  Descendenzreihe.  So  kann  eine  Generation  an  Seelen- 
störung leiden,  die  zweite  an  Chorea  und  Epilepsie;  in  die  dritte  rücken 
wieder  Melancholiker  und  Maniaci  ein.  Nach  den  neuesten  Uetersuchungen 
von  Ball  und  R6gis  hinterlassen  Geistesstörungen  ein  specielles  „Krank- 
heitssiegel" auf  die  Nachkommenschaft;  dasselbe  verwahrt  in  sich:  Gei- 
steskrankheit, Nervenkrankheit,  Hirnaffection,  Alkoholismus,  Lungen- 
phthise  —  als  Mitgift  und  Erbtheil  für  die  Descendenz.  Diese  traurigen 
Lebensgeschenke  vertheilen  sich  im  Einzelnen:  a)  in  den  paralytischen 
Familien  besteht  eine  grosse  Geneigtheit  speciell  zu  HirnafTectionen ;  b)  die 
Familien  mit  einfacher  Seelenstörung  bilden  d.  h.  tragen  und  erzeugen 
wieder  eine  „Wahnsinns-Diathese" ;  c)  die  Epileptiker  hinterlassen  Dis- 
position zu  Hirnleiden,  besonders  in  der  Kindheit;  eigentliche  Epilepsie 
ist  dagegen  sehr  selten  in  der  Descendenz;  d)  Hysterismus  erzeugt  eine 
nervöse  Diathese;  der  Alkoholismus  eine  Disposition  zu  Hirnkrankheiten 
(wiederum  besonders  in  der  Kindheit)  und  zur  Lungenphthise. 

3.  Das  hereditäre  Gift  hat  eine  Neigung  zur  generationsweise  ver- 
stärkten Wirkung  d.  h.  zur  fortschreitenden  Deteriorirung  der  Nach- 
kommenschaft —  analog  der  sich  steigernden  Giftwirkung  des  septisch 
infieiitcn  Blutes.  Man  spricht  deshalb  von  einer  einfachen  und  von 
einer  degenerativen  erblichen  Uebertragung  —  je  nachdem  die  De- 
scendenz bloss  in  (klinisch  und  prognostisch)  gleichen  oder  gleichwerthi- 
gen  Formen  erkrankt;  oder  aber  in  progressiv  schwereren  mit  Neigung 
zur  Degenerescenz  (s.  d.),  oder  endlich  zu  psychischen  und  körperlichen 


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Corollarien  aus  der  „Erblichkeits"Iebre". 


429 


Defectzuständen  (Idiotismus).  Anthropologisch  unterscheidet  man  von  dem- 
selben Standpunkte  zwischen  einfacher  Prädisposition  und  Uber- 
tragener  erblicher  Krankheit.    Unter  „Prädisposition"  ist  ein 
durch  Erblichkeit  verpflanzter  Schwächezustand  des  Organismus  zu  ver- 
stehen, wodurch  derselbe  zwar  noch  nicht  derb  greifbar  ausserhalb  der 
physiologischen  Grenze  gestellt  ist,  wohl  aber  eine  so  geringe  Wider- 
standsfähigkeit (Anpassungsvermögen)  besitzt,  dass  er  selbst  durch  Reize 
in  noch  normaler  Breite  zur  wirklichen  Krankheit  gebracht,  weiter- 
entwickelt wird.  Es  sind  die  „psychisch-kränklichen"  Naturen,  welche  ge- 
sund bleiben,  so  lange  körperlich  und  geistig  nur  bescheidene  Ansprüche 
an  sie  gemacht  werden  —  sonst  aber  auf  Schritt  und  Tritt  Gefahr  laufen 
zu  straucheln.  Für  den  Laienblick  unterscheiden  sie  sich  oft  nur  durch 
eine  grössere  Zartheit  von  dem  mittleren  Durchschnittsmenschen;  dem 
Arzte  aber  entgeht  unter  der  Hülle  einer  gesteigerten  Erregbarkeit  mit 
Schwäche  die  leise  nervöse  Kachexie  nicht,  welche  den  Gesundheitszustand 
dieser  „organisch  Belasteten"  zu  einem  labilen,  der  strengsten  Ueber- 
wachung  bedürftigen,  ausprägt.  Pubertät,  Menstruationsbeginn,  Gravidität, 
Puerperium  bilden  ebenso  zahlreiche  als  meist  unvermeidliche  Strandungs- 
klippen für  diese  durch  Heredität  „Invaliden",  deren  Zahl,  wenn  erst 
eine  exaete  Statistik  möglich,  den  weitaus  grössten  Theil  unseres  psy- 
chiatrischen Gebietes  uv spannen  dürfte,  und  deren  psychische  Charak- 
teristik theilweise  die  Sirnatur  unserer  Jetztzeit  ausmacht.  —  Unter 
„übertragener  erblicher  Krankheit"  verstehen  wir  eine  durch 
Erblichkeit  ab  ovo  anomale  oder  defecte  psychisch-nervöse  Constitution, 
deren  Mangel  entweder  nur  ein  physiologischer  ist  (Disharmonie  im 
Zusammenwirken,  krankhafte  Reizbarkeit  der  einen,  neben  Schwäche  der 
anderen  Geistesfunctionen ,  verzögerte  Entwicklung);  oder  welche  noch 
ausserdem  eine  anatomische  (morphologische)  Missbildung  (vor  Allem  in 
Kopf-  resp.  Gehirnentwicklung)  aufweist.  Man  denke  hier  an  den  nament- 
lich von  Rokitansky,  Brehmer,  Beneke  beschriebenen  „phthisischen 
Habitus",  an  die  angeborenen  Hypotrophieen  des  Herzens  und  der  grossen 
Gefässe  bei  diesem  und  bei  constitutionellen  Anämieen  (Virchow)  u.s.  w. — 
Verhältnisse,  welche  gewiss  auch  bei  der  Disposition  zu  anomaler  Hirnernäh- 
rung eine  grosse  Rolle  spielen,  und  in  dieser  Bedeutung  schon  durch  die 
erfahrungsgemässe  Abwechslung  von  Phthisis,  Geistesstörung,  Epilepsie 
u.  8.  w.  in  der  Descendenz  zur  Anerkennung  gebracht  sind.  Während 
somit  bei  der  einfachen  Prädisposition  nur  das  functionelle  geistige  Gleich- 
gewicht labiler  d.  h.  zu  Störungen  geneigter  ist,  wobei  aber  in  der  Regel 
noch  eine  accidentelle  Schädlichkeit  dazu  treten  muss  —  liegt  bei  der 
Übertragenen  erblichen  Krankheit  die  später  manifeste  Geistesstörung  schon 
im  Wurfe,  und  vollzieht  sich  progressiv  und  in  einfach  naturgemäßer  Ent- 
faltung aus  der  ersten  Anlage.   Während  ferner  dort  die  Kindheit  und 
Jugend  (leichte  Schattirungen  abgerechnet)  nahezu  die  des  sich  entwickeln- 
den Normalmenschen  sind,  so  sind  hier  dagegen  beide  schon  durch  eine 
Reihe  deutlich  anomaler  psychischer  und  nervöser  Erscheinungen  getrübt. 
Während  endlich  dort  die  späteren  Krankheitsbilder  im  Wesentlichen 
dieselben  sind,  wie  die  aus  nicht-erblicher  Anlage,  so  sind  hier  die  kli- 
nischen Symptomencomplexe  je  charakteristischer  auch  desto  speeifischer, 
und  zwar  sowohl  in  der  psychologischen  Gestaltung,  als  namentlich  auch 


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430 


Das  hereditäre  Irresein. 


im  Verlaufe  (s.  „hereditäre  Neurose")«  Damit  hängt  ganz  nahe  auch  die 
Thatsache  zusammen,  dass  bei  den  einfach  Prädisponirten  das  seelische 
Gesammtgepräge  dasselbe  ist,  wie  bei  normaler  Anlage ;  bei  den  erblich- 
Kranken  dagegen  ist  die  psychische  Signatur  eine  durchaus  eigenartige: 
es  sind  in  ihren  Typen  ganz  eigen  begabte,  zum  Theil  neue  Menschen- 
naturen, und  können  in  dieser  ihrer  abnormen  Mischung  und  Combination 
nur  aus  ihrer  Individualität  verstanden  werden,  so  namentlich  die  sittlich- 
defecten  Menschen  (vgl.  Moral  Insanity). 

4.  Jedoch  darf  die  Lehre  von  der  fortschreitenden  Entartung  keine 
8chlechthiuige  Allgemeingiltigkeit  beanspruchen.  Morel  noch  hatte  die 
verschiedenen  Umbildungen  des  hereditären  Irreseins  als  eine  fortschrei- 
tende Entwicklung  zu  immer  schwereren  und  schliesslich  unheilbaren  Zu- 
ständen gelehrt  (von  den  leichten  psychischen  Verstimmungen  und  Tem- 
peramentsänderungen, welche  noch  in  die  Breite  der  Gesundheit  fallen, 
bis  herab  zur  angeborenen  Idiotie,  innerhalb  vier  Generationen).  Diese 
Lehre,  so  unbestreitbar  viel  Wahres  sie  enthält,  hat  gleichwohl  im  De- 
tail der  Kritik  nicht  Stand  zu  halten  vermocht.  An  der  Hand  der  Sta- 
tistik ist  nachgewiesen  (Tigges),  dass  die  erbliche  Disposition  a)  eine 
ausserordentlich  erhöhte  Anlage  zu  Geisteskrankheiten  schafft;  b)  das  Er- 
kranken in  einem  früheren  Lebensalter  verschuldet;  und  c)  nach  spä- 
terer Erkrankung  auch  eine  grössere  Neigung  zu  Recidiven  bewirkt.  Da- 
gegen lässt  sich  d)  fUr  die  grosse  Mehrzahl  der  Hereditarier  ein  besonderes 
(gleichsam  immanentes)  Princip  der  Entartung,  entgegen  den  nicht -erb- 
lichen Fällen,  nicht  anerkennen;  e)  auf  hereditärem  Boden  entstehen  Gei- 
steskrankheiten zwar  leichter,  sind  aber  c.  p.  auch  heilbarer;  f)  die  Le- 
bensgefahr in  Folge  der  Geisteskrankheit  ist  eine  geringere.  Es  muss 
übrigens  zu  diesen  Sätzen  einschränkend  bemerkt  werden,  dass  zur  Lö- 
sung der  vorliegenden  Frage  die  Statistik  allein  nicht  maassgebend  sein 
darf;  ein  entscheidendes  Wort  spricht  namentlich  die  Erziehung  mit 
Als  sicher  dürfte  nach  meinen  Erfahrungen  anzunehmen  sein,  dass  Con- 
stitutionen gewordene  nervöse  oder  psychische  Anomalieen  der  Eltern 
viel  wahrscheinlicher  in  einer  progressiv  schlimmeren  Form  bei  den  Kin- 
dern wiederkehren,  als  eine  einmalige,  wenn  auch  schwerere,  psychische 
Gehirnaffection  bei  sonst  normalem  Geistesleben.  So  ist  es  eine  wirklich 
vielfach  beglaubigte  Thatsache,  dass  Bizarrerieen  des  Charakters  oder  ein 
leichter,  aber  eingewurzelter  Hysterismus  der  Mutter  viel  funester  be- 
züglich der  Vererbung  wirken,  als  ein  Anfall  rüstiger  Melancholie  oder 
Manie.  Auch  die  sittliche  Artung  der  Eltern  ist  als  hochwichtig  ein- 
zurechnen —  hier  greift  die  sociale  Ethik  entscheidend  in  die  Erblich- 
keitslehre herein:  —  immoralische  und  speciell  verbrecherische  Gesinnung 
erschwert  in  verhängnissvollster  Weise  eine  sonst  vielleicht  nur  zur  Prä- 
disposition reichende  Vererbung,  und  führt  progressive  Entartung  herbei. 
Daher  d.  h.  aus  dieser  zweifachen  Befruchtung  durch  ein  psychisches 
und  ein  moralisches  Uebel  zieht  der  Alkohol-  und  Opiummissbrauch  seine 
verheerende  Macht  auf  die  Descendenz.  Verbrechen  und  Wahnsinn,  phä- 
nomenologisch so  nahe  verwandt,  haben  auch  ätiologisch  theilweise  eine 
gemeinsame  Wurzel ;  viele  der  schwersten  Verbrecher  besitzen  die  durch 
Geisteskrankheit  am  meisten  belasteten  Stammbäume!  Ein  hochwichtiger, 
namentlich  forenser,  Ausblick  knüpft  sich  an  diese  Th atsache,  welche 


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■ 


Corollarien  aus  der  „Erblicbkeits"lehre.  431 

eine  grosse  Reihe,  und  zwar  gerade  der  empörendsten,  Verbrechen  unter 
anthropologischen  resp.  psychiatrischen  Schutz  stellt. 

5.  Diesem  dtisteren  Bilde  der  Vererbung  steht  glücklicherweise  die 
andere  Thatsache  gegenüber,  dass  der  erbliche  Zusammenbang  zwischen 
der  Erkrankung  der  Kinder  und  der  Eltern  kein  bedingungslos  not- 
wendiger ist.  Nicht  alle  Krankheitskeime  aus  der  Ascendenz  kommen 
zur  Entfaltung;  andererseits  können  neue  gesunde  Keime  eingeführt  wer- 
den, welche  die  Wirkung  der  schlimmen  abzuschwächen  oder  auszuglei- 
chen vermögen.  Manchmal  ist  diese  Besserung  der  Hirnanlage  nicht  so- 
fort, sondern  erst  nach  Umzüchtung  durch  mehrere  Generationen  zu 
erreichen.  Der  Fortpflanzung  der  tiefsten  Entartungen  setzt  die  Natur 
selbst  durch  Sterilität  ein  Ziel.  Sehr  Vieles  kann  bei  ungünstig  veran- 
lagten Existenzen  auch  eine  verständnissvolle  Erziehung  (s.  o.),  welche 
ohne  Schablone  und  Pedanterie  nicht  allein  auf  Kopf-,  sondern  auch  auf 
Herzensbildung  abzielt,  bewirken  —  dies  ist  der  Punkt,  an  welchem  die 
Pädagogik,  richtig  aufgefasst  und  gehandhabt,  in  ihrer  hohen  Wich- 
tigkeit mit  der  Erblichkeitslehre  zusammenhängt.  Sorge  vor  Ueberbür- 
dung  im  Lernen,  richtige  Charaktererziehung,  rationelle  körperliche  und 
geistige  Diätetik  vermögen  hier  ein  Grosses  in  der  Remedur!  Auch  die 
strenge  Ueberwachung  im  Heirathen  resp.  das  Abrathen  bei  Constitu- 
tionen neuropathischen,  hereditär  schwer  belasteten,  Individuen  gehört 
hierher. 

Nach  dem  Erblichkeitsgesetz  müssen  wir  die  Gleichheit  des  Partus 
mit  dem  Parens  d.  h.  der  Erzeugten  mit  beiden  Eltern  als  Regel  be- 
zeichnen. Dieser  idealste  Ausdruck  kommt  aber  in  der  Natur  nicht  vor. 
Als  die  empirisch  häufigste  Form  erscheint  vielmehr  die  Artung  des  Kin- 
des nach  einem  der  Eltern,  und  zwar  in  der  Weise  der  gekreuzten 
Vererbung;  d.  h.  der  Sohn  artet  mehr  auf  die  Mutter,  die  Tochter  auf 
den  Vater  (Necker  —  Stael,  Agrippina  —  Nero).  Daran  schliesst  sich  die 
indirecte  Vererbung  an:  die  erbliche  Uebertragung  erfolgt  aus  einer  der 
Seitenlinien  auf  die  Kinder  (Cäsar — Octavianus;  Gustav  Adolph — Karl  XII.). 
Als  dritte  Form  erscheint  die  rückfällige  Vererbung  von  den  Gross- 
eltern auf  die  Enkel  und  die  Enkelinnen  (Atavismus:  Philosoph  Men- 
delssohn —  Musiker  M.:  Zoonom  Darwin  —  Charles  Darwin).  Das  Ri- 
eh arz'sche  Gesetz  der  geschlechtlichen  Kreuzung  der  körperlichen  und 
geistigen  Attribute  des  Zeugenden,  wodurch  das  Geschlecht  eine  dem 
Geschlechte  des  prädominirenden  Parens  entgegengesetzte  wird,  mit  der 
Folgerung:  dass  darnach  schon  die  gleichgeschlechtliche  Vererbung  als 
eine  Anomalie  zu  betrachten  ist  —  ist  mittlerweile  nicht  unwidersprochen 
geblieben  (Roth).  Alle  unsere  äusseren  und  inneren  Eigenschaften  sind 
vererbbar,  sogar  manchmal  ganz  individuelle  Eigenschaften  (Seidigitismus, 
krustenartige  Epidermis;  oder  erworbene,  wie  Nägelkauen  u.  s.  w.)  Da- 
bei ist  aber  festzuhalten,  dass  nur  die  Möglichkeit  dieser  erblichen 
Uebertragungen  für  den  Einzelfall  feststeht,  nicht  aber  die  Notwendig- 
keit. Die  sehr  verwickelten  Bedingungen  hiefür  sind  uns  grösstentheils 
noch  unbekannt.  Ausser  den  psychischen  spielen  auch  die  terrestrischen 
der  Bodenbescbaffenheit  und  des  Klimas,  und  ganz  besonders  die  persön- 
lichen (Lebensweise),  eine  nicht  zu  unterschätzende  Rolle.  Ganz  beson- 
ders aber  kommt 


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432 


Das  hereditäre  Irresein. 


6.  der  Zeugungsact  in  Betracht.  Im  Rausch  erzengte  Kinder 
sind  erfahrungsgemäS8  nicht  selten  epileptisch.  Wie  weise  und  weitsich- 
tig handelte  darin  die  bekannte  Vorschrift  Lykurg's!  Können  nicht 
ebenso  auch  gemtithliche  Verstimmungen  beider  Ehegatten,  gegenseitige 
Abneigung  u.  s.  w.  nachtheilig  auf  die  Frucht  wirken?  Das  bekannte 
Sprichwort  von  der  Schönheit  und  geistigen  Begabung  der  „Kinder  der 
Liebe"  hat  m.  m.  eine  physiologische  Bedeutung.  Die  Annahme  scheint 
sicher  (wenigstens  nach  Erfahrungen  an  Thieren),  dass  der  männliche 
Einflu88  während  des  Begattungsactes  auch  Uber  den  letzteren  hinaus  auf 
andere  Ovula  „impressionirend"  wirken  kann. 

7.  Die  statistische  Häufigkeit  der  erblichen  Uebertragung  hat  bis 
jetzt  noch  sehr  ungleiche  Ergebnisse  geliefert.  Dieselben  schwanken  von 
Vio — 9  io  (Moreau).  Maudsley  hält  die  Zahl  über  «/4  und  unter  »/*  für 
die  nach  seioen  Beobachtungen  zutreffende;  ähnlich  Brierre.  Hoff- 
mann (Schwetz)  berechnet  55  pCt.,  Esquiro  122,5  pCt.  in  der  Salpetriere 
und  5G,8  in  seinem  Institut;  Hagen  28,9;  Tiggos  über  40  pCL  Bezüg- 
lich des  Geschlechts  überwiegen  die  Frauen. 

II.  Klinische  allgemein-pathologische  Grundlagen. 

a.  Zwangsvorstellungen  und  Zwanysacte. 

Man  versteht  unter  Zwangs  Vorstellungen  plötzlich  und  un- 
willkürlich auftretende,  den  vorhandenen  Ablauf  durchkreuzende  Vor- 
stellungen (Worte  oder  ganze  Sätze),  welche  dem  momentanen  Bewusst- 
seinsinhalt  fremd  gegenüberstehen,  aber  um  so  energischer  sich  in  dem 
Blickpunkt  der  Aufmerksamkeit  festhaften,  und  unerreichbar  bleiben 
für  Kritik  und  Reflexion,  bis  sie  von  selbst  wieder  untertauchen. 

Es  lassen  sich  verschiedene  Formen  und  Genesen  dieser  Zwangs- 
vorstellungen unterscheiden,  welche  auch  eine  verschiedene  psycho- 
logische und  klinische  Werthung  der  letztern  bedingen,  je  nach 
1.  dem  Verhalten  des  Bewusstseins;  2.  der  Stimmung;  3.  dem  psy- 
chologischen Charakter  des  Phänomens  selbst;  4.  dem  klinischen 
Auftreten,  ob  isolirt,  oder  mit  Reflexen  auf  das  Gemüths-  und  Hand- 
lungsgebiet; 5.  den  begleitenden  körperlichen  (nervösen)  Zeichen. 
Darnach  richtet  sich  auch  das  verschiedene  Weiter- Schicksal  dieser 
elementaren  Störung,  namentlich  deren  Eintreten  in  andere  Sympto- 
mencomplexe,  wodurch  erst  ein  eigentliches  „Irresein"  entsteht  (was 
die  Zwangsvorstellungen  an  sich  noch  nicht  sind). 

Ad  1.  Verhalten  des  Bewusstseins.  Man  kann  für  den 
reinsten  und  eigentlichsten  Typus  der  Zwangsvorstellungen  als  Regel 
aufstellen:  dass  das  Bewusstsei n  dabei  lucid  ist.  Der  Kranke 
pereipirt  nicht  bloss  die  sein  Denken  so  jäh  durchbrechende  Störung, 
sondern  er  macht  diese  eigens  zum  Object  seines  logisch  klaren 
Nachdenkens;  er  versucht  alle  Hilfen  und  Gegenmittel,  um  des  Ein- 


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Zwangsvorstellungen.    Verhalten  des  Bewusstseins.    Der  Stimmuug.  433 

dringlings  Herr  zu  werden.  Diese  Operation  setzt  voraus,  dass  der 
Kranke  den  eingedrungenen  Gast  als  einen  ihm  fremden  und  lästigen 
erkennt  —  ganz  verschieden  von  der  „Wahnvorstellung",  mit  welcher 
gegentheils  der  Kranke  sich  identificirt. 

Jedoch  steht  die  „Zwangsvorstellung"  mit  dem  „Wahne"  nicht  noth- 
wendig  in  einem  dauernden  Gegensatze.  Das  anfangliehe  „Stutzen"  des 
Bewusstseins  kann  nach  und  nach  aufhören  und  der  Kranke  sich  mit 
dem  Zwangsgedanken  versöhnen,  ja  denselben  in  seine  übrigen  Associa- 
tionen aufnehmen.  Damit  fällt  die  Schranke ;  die  ursprüngliche  Zwangs- 
vorstellung ist  zum  wirklichen  Wahn  geworden.  Aber  auch  ohne  diese 
langsam  umstimmende  und  endlich  siegreiche  Wirkung  eines  mächtigen 
Zwangsgedankens  kann  das  Bewusstsein  bei  genügender  geistiger  Impres- 
8ionabilität  (kritischer  Schwäche)  frühe  schon,  und  gleichsam  freiwillig,  dem 
insinuirenden  neuen  Gedanken  sich  unterordnen,  so  namentlich  in  der  hy- 
sterischen Verrücktheit:  liier  vermag  eine  zufällige  Wahrnehmung  gleich- 
gestimmte Reproduktionen  zu  wecken,  welche  auf  Stunden  hinaus  den 
Bewusstseinskreis  ausfüllen  und  sogar  Reflexillusionen  bewirken.  So  kann 
z.  B.  das  Bild  eines  Gestorbenen  irradiirend  auf  alle  Todeserlebnisse  in 
der  Erinnerung  Übergreifen,  so  dass  alle  diese  Bilder  wach  werden  und 
linge  nicht  wieder  vorschwinden,  ja,  dass  die  Kranke  an  fremdem  Orte 
und  mit  voller  Kritik  stundenlang  alle  Vorübergehenden  auf  die  Aekn- 
lichkeit  mit  jenen  Abgeschiedenen  prüfen  muss. 

Ad  2.  Verhalten  der  Stimmung.  Diese  ist  nach  zweifacher 
Seite  in  Erwägung  zu  ziehen:  a)  primär  —  in  ihrem  Eiufluss  auf 
die  Genese  des  Zwangsgedankens,  und  b)  secundär  —  in  ihrer  Nach- 
folge (Reaction)  auf  die  pereipirte  Gedankenstörung.  Nach  der  pri- 
mären Seite  lassen  sich  emotive  und  nicht-emotive  Zwangs- 
vorstellungen unterscheiden.  Die  „nicht-emotiven"  d.  h.  diejenigen, 
welche  nicht  von  einer  AfFectgrundlage  getragen  sind,  bilden  den 
eigentlich  echten  und  speeifischen  Typus,  wie  derselbe  namentlich 
für  die  hereditäre  Neurose  charakteristisch  ist.  Hier  spielt  also 
primär  keine  Stimmungsanomalie  mit,  sondern  ganz  wie  aus  heiterm 
Himmel  bricht  die  fremde  Idee  in  das  ahnungslose  Bewusstsein 
herein:  das  Ich  muss  plötzlich  irgend  eine  ganz  Uberraschende,  mit 
dem  übrigen  Contexte  der  Vorstellungen  gar  nicht  zusammenhängende, 
vielmehr  oft  aufs  Grellste  contrastirende  Vorstellung  denken  (ein 
Schimpfwort,  eine  Blasphemie  u.  s.  w.),  oder  auch  einen  Unsinn, 
anderemale  eine  compromittirende  Handlung. 

Oft  sind  die  Einfälle  (wirkliche  Gedanken-Tic's)  ganz  ausserordentlich 
harmlos,  z.  B.  Zahlen  zwang:  gesprochene  Worte  nach  ihren  Silben  oder 
Buchstaben  zu  zählen;  irgend  eine  angeschaute  Zahl  auf  gewisse  Eigen- 
schaften (Theilbarkeit)  zu  prüfen;  oder  Lese  zwang:  zufällige  Worte, 
Strassenuamen,  Aushängeschilde  u.  s.  w.  immer  auch  rückwärts  zu  buch- 
stabiren. 

Schttle,  Qouteskrankheiten.   3.  Aufl.  2$ 


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434 


Das  hereditäre  Irresein. 


Die  „emotiven"  Zwangsgedanken  resultiren  dagegen  immer  aus 
einem  vorbereitenden  Status  nervosus  mit  depressiver  Grundlage. 
Oft  sind  es  geradezu  beginnende  Melancholiker,  welche  in  ihrer 
peinlichen  Rathlosigkeit  nach  einer  Ursache  ihrer  Stimmungsänderung 
fahnden:  da  zuckt  die  Erinnerung  eines  grauenvollen  Ereignisses  auf, 
oder  die  zufällige  Erzählung  eines  solchen  —  und  der  erschütternde 
Gedanke  bleibt,  vom  depressiven  Affect  ergriffen,  haften.  Zwar 
stimmt  das  überraschte  Ich  nicht  sofort  zu  der  schrecklichen  Zu- 
muthung;  es  folgen  Anfangs  noch  innerliche  Entrüstungsscenen;  aber 
das  Ich  muss  den  aufgezwungenen  Gedanken  nachdenken,  bis  dieser 
immer  mehr  zum  seinigen  gemacht  (appercipirt)  ist,  ein  Vorgang, 
welcher  sich  in  der  Regel  durch  die  Verknüpfung  der  betreffenden 
Schreckvorstellung  resp.  Erinnerung  mit  einem  neuralgischen  Schmerz- 
gefühle vollzieht  (s.  Melancholie).  In  veränderter  Weise  kann  sich 
die  Stimmung  an  der  Genese  der  Zwangsvorstellung  auch  so  be- 
theiligen, dass  auf  der  nervösen  Grundlage  und  unter  einem  mässigen 
Affecteindruck  zunächst  eine  Zwangsempfindung  sich  einschiebt 
—  gewöhnlich  ein  neuralgisches  Beklemmungs-  und  Schmerzgefühl, 
und  erst  daraus  der  Zwangsgedanke  explodirt  (meist  in  Form  eines 
Befehls:  „bring  dein  Kind  um"  u.  s.  w.).  Auch  hier  steht  das 
Bewusstsein  dem  bestürmenden  Schreckgedanken  erst  fremd  und 
grauend  gegenüber;  aber  dieser  kämpft  mit  der  begleitenden  Gefühls- 
waffe (der  neuralgischen  Sensation),  und  siegt  endlich  durch  diese 
mächtige  Hilfe,  wie  sehr  auch  die  abstracte  Einsicht  und  Kritik  da- 
gegen ankämpfen. 

Dieses  Verhältniss  führt  weiter  zur  b)  secundären  Betheiligung  der 
Stimmung,  insoferne  der  Inhalt  der  Zwangsvorstellungen,  oder  allein  schon 
das  bedrückende  „Muss"  des  fremden  Gedankens  auf  die  Gemüthslage 
zurückwirkt;  worüber  unter  4.  das  Nähere. 

Ad  3.  Psychologischer  Charakter  der  Zwangsvorstel- 
lung. Dieser  liegt  allgemein  in  der  Bewerthung  der  betr.  Vor- 
stellung, in  deren  abnorm  erleichtertem  Aufsteigen  Uber  die  Schwelle, 
mit  jeweiliger  brüsker  Hemmung  des  übrigen  Vorstellungslaufs.  Im 
Einzelnen  besteht  aber  ein  wichtiger  und  folgenreicher  Unterschied 
unter  diesen  „agrammatischen"  Eindringlingen.  Die  eine  Gruppe 
repräsentirt  fixe  Sätze  oder  Satztheile  (Worte),  welche  sich  ungerufen 
und  ungewollt  eindrängen  und  unassimilirt  bleiben;  dieselben  können 
dabei  stereotypen  oder  wechselnden  Inhalt  haben.  Die  andere 
dagegen  umfasst  Vorstellungen  oder  Apperzeptionen,  welche  zwar 
aufgesogen,  aber  sofort  nachher  in  einen  Wirbel  von  dadurch  ge- 
weckten (nähern  und  fernem  Associationen)  zerstreut  werden. 


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Zwangsvorstellungen.   Einfache  und  convulsive  (Grübelsucht).  435 


Dort  besteht  das  Wesentliche  der  Störung  in  dem  festen  Keil,  wel- 
cher sich  in  das  Denken  einschiebt;  hier  gegentheils  in  der  Unbestän- 
digkeit der  neuen  Vorstellung,  welche  sich  nicht  fixirt,  sondern  sofort 
zerfliesst.  Dort  ist  Hemmung  des  Vorstellungsflusses  durch  mechanische 
Unterbrechung;  hier  durch  chemische  Auflösung  des  Wortes  als  des  Sam- 
melpunktes condensirten  Denkens.  Vom  Standpunkte  des  Ich  betrachtet, 
befindet  sich  dieses  bei  der  ersten  Gruppe  der  Zwangsvorstellungen  in 
einer  Situation  von  stets  neuen  Hindernissen  oder  lixen  Barrieren,  welche 
beliebig  in  den  Vorstellungsgang  sich  einschieben;  bei  der  zweiten  da- 
gegen in  einem  Zustande  von  Qedankenschwindel  durch  die  sich  beständig 
erweiternden  Associationskreise,  in  welche  die  ursprüngliche  Vorstellung 
vor  dem  Blickpunkt  der  Aufmerksamkeit  sich  auflöst. 

Die  erste  Gruppe  umfasst  die  einfachen  Zwangsvorstellungen, 
die  zweite  die  Grlibelsucht.  Jene  stellt  eine  Anomalie  des  Vor- 
stellens dar,  wobei  Satzeinschiebsel  mit  vorwiegend  barockem,  lächer- 
lichem, manchmal  aber  auch  beängstigendem  oder  kränkendem  In- 
halt sich  eindrängen;  es  ist  eine  Art  Chorea  des  Vorstellungslebens. 
Diese  aber  findet  ihr  Analogon  mehr  in  eine  Art  von  Vertigo  mit 
intellectueller  Convulsibilität  (s.  v.  v.!).  Beide  Arten  können  von 
emotivem  oder  nicht- emotivem  Charakter  resp.  Genese  sein.  Die 
nicht-emotive  Grübelsucht  erscheint  klinisch  unter  dem  Bilde  des 
sog.  krankhaften  Fragezwangs.  Ohne  treibende  Angst,  ohne 
jede  Affectbewegung  wandelt  sich  für  den  Kranken  eine  beliebige 
Vorstellung  in  eine  „Schraube  ohne  Ende"  um,  so  dass  sie  nach 
allen  —  mit  Vorliebe  transcendenten  —  Richtungen  in  endlose  Pro- 
bleme sich  zersplittert,  welche  sich  alle  in  Frageform  aufdrängen. 

Z.  B.  das  Wort:  „schön".  Wie  viele  Arten  von  „schön"  gibt  es? 
Ist  naturschön  und  kunstschön  identisch?  Gibt  es  überhaupt  objectiv 
Schönes,  oder  ist  Alles  nur  subjectiv  schön  ?  Wodurch  unterscheidet  sich : 
gedankenschön  und  farbenschön;  bücherschön  und  kleiderschön  u.  s.w.? 
Der  betr.  Kranke  brachte  es  auf  40  und  mehr  Arten  von  „schön".  — 
Oder:  es  müssen  alle  Speisen  und  Getränke  unter  die  Kategorieen  von 
„gut"  und  „schlecht"  untergebracht  werden,  alle  Lebensmittel  in  „ge- 
fälscht" und  „echt",  alle  Lotterieloose  in  „gewinnungsfähige"  und  „un- 
sichere" eingetheilt  werden. 

Die  emotive  Grübelsucht  ergeht  sich  in  der  Aufstellung  von 
allen  möglichen  und  unmöglichen  Consequenzen ,  welche  aus  einer 
zufälligen  Beobachtung  sich  extrahiren  lassen,  immer  mit  den  pein- 
lich gefühlten  Folgen  „wenn  es  wirklich  so  oder  anders  wäre". 

Z.  B.  eine  Farbe  erregt  sofort  den  Gedanken  an  deren  chemische 
Zusammensetzung;  daraus  weiter  die  Angst,  dass  Jemand,  der  jene  nicht 
kenne,  unter  der  möglichen  Wirkung  der  Farbe  Schaden  nehme,  ja,  dass 
Der  oder  Jeuer  bereits  diesen  Schaden  genommen  hätte;  bald  erscheinen 
wirklich  in  den  Gesichtszügen  der  Betheiligten  deutliche  Vergiftungs- 

2S* 


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43G 


Das  hereditäre  Irresein. 


Symptome,  an  den  eigenen  Händen  Spuren  des  Giftes,  ja,  da  und  dort  schon 
Zeichen  von  weiterer  Uebertragung  durch  fahrlässige  Berührung  u.  s.  w. 

Manchmal  kann  das  Gefühl  einer  plötzlichen  und  primären 
Hemmung  im  Vorstellungsablauf  und  die  Reflexion  dar- 
über eine  Störung  erzeugen,  welche  alle  Merkmale  der  Zwangs- 
vorstellung besitzt,  wie  diese  brüsk  das  Denken  unterbricht,  unge- 
wollt und  fremd  und  überaus  peinlich  dem  Bewusstsein  sich  entgegen- 
stellt, und  dabei  in  ihrem  subjectiven  Charakter  für  das  Ich  erhalten 
—  bewusst  —  bleibt.  Diese  bei  Neuropathikern  nicht  so  seltenen 
Zustände  sind  um  so  interessanter,  als  sie  die  Mitte  zwischen  Zwangs- 
vorstellung und  allegorisirter  Empfindung  (wie  in  der  Melancholie) 
einhalten. 

Mitten  in  den  geregelten  Vorstellungsablauf  schieben  sich  unter  dem 
Gefühl  gewaltsamer  Hemmung  plötzlich  Bruchstücke  und  Gruppen  von 
Gedanken  ein,  welche  die  Reflexion  über  das  momentane  psychische  Ge- 
schehen, Uber  die  augenblicklich  jetzt  thätigen  Seelenfunctionen  zum  In- 
halt haben.  Mit  unwiderstehlich  hastigem  Drange  muss  der  Kranke  dem 
krankhaften  Zuge  seiner  Gedanken  folgen,  die  sich  mit  unaufhaltsam  ge- 
steigerter Schnelligkeit  abwickeln,  bis  sie  in  ein  verworrenes  Chaos  ver- 
dämmern. Die  zunehmend  sich  verwirrenden  Vorstellungsbilder  ballen 
sich  im  geistigen  Sehfeld  zu  „dunkeln  Wolken"  zusammen,  welche  sich 
immer  näher  rücken,  bis  die  erleuchteten  Kreise  auf  einem  immer  klei- 
neren Punkte  zusammengedrängt  werden,  welcher  endlich,  auch  von  den 
„Wolken"  erdrückt,  die  vollständige  Hemmung  des  Denkactes  beschüesst. 
Dieses  ganzen  Vorganges  bleibt  der  Kranke  sich  während  des  Geschehens 
bewusst,  kann  denselben  aber  in  keiner  Weise  hemmen  oder  modificiren. 
Leichtere  Vorstellungsleistungen,  z.  B.  gewöhnliche  Conversation ,  sind 
neben  und  trotz  jenes  Gebundenseins  möglich;  nur  die  höhere  intellec- 
tuelle  Thätigkeit  ist  die  gehemmte.  Das  Ueberspringen  des  normalen 
Ideenganges  auf  die  verderblichen  Geleise  geschieht  zufallig  und  unwill- 
kürlich, meist  auf  dem  Wege  einer  flüchtigen  Ideenassociation.  Oft  sind 
gewisse  Tagesstunden  besonders  begünstigend.  Manchmal  schleichen  sich 
die  Hemmungen  sogar  in  das  Traumleben  ein.  Alle  Anstrengungen  mit 
der  Energie  der  Bewusstheit  jene  lästigen  Wolken  zu  zerstreuen  und 
das  geistige  Gesichtsfeld  aufzuhellen,  sind  vergeblich,  und  beschleunigen 
höchstens  den  hastigen  Ablauf  und  die  darauf  folgende  hemmende  Span- 
nung und  Unruhe.  Der  Kranke  muss  warten,  bis  sich  die  Hemmungen 
wieder  von  selbst  lösen,  bis  der  Anfall  vorUber  ist.  Sehr  oft  sind  es 
Zufälligkeiten  (Besuch,  Spazierengehen),  welche  den  Anfall  rasch  been- 
digen. Die  Analogie  der  Paroxysmen  mit  Tic's  von  wirklichen  Zwangs- 
vorstellungen liegt  nahe,  nicht  minder  aber  auch  die  Annäherung  an  die 
Hallucinationen,  obwohl  auch  gegenüber  diesen  wesentliche  Unterschiede 
bestehen  bleiben.  Am  besten  noch  könnte  man  den  Vorgang  vielleicht 
als  „sensorische  Zwangsempfindung"  bezeichnen. 

Zu  den  sensorischen  Zwangsempfindungen  gehören  auch  jene  Fälle, 
wo  der  Kranke  sich  zeitweise  „wie  von  einem  Wirbelwind  erfasst  durch 


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Sensorische  Zwangsempfindungen.  Emotive  u.  nicht-emotive  Zwangsvorstllg.  437 

die  Luft  tragen  fühlt".  Diese  Anomalieen  nahern  eich  noch  entschie- 
dener, als  die  vorigen,  den  Hallucinationen  (des  Muskelsinnes),  während  da- 
gegen jene  transformirten  Zwangswahrnehmungen,  wobei  ein  Kranker  jeden 
Morgen  sein  ruhig  schlafendes  Kind  „mit  einer  klaffenden  Halswunde  im 
Blute  daliegen  sehen  muss",  die  Uebergänge  zu  den  Illusionen  in  ge- 
wissen melancholischen  oder  acuten  Wahnsinnszu standen  bilden.  In  mehr 
harmloser  Weise  kehrt  derselbe  Zustand  in  Zwangstäuscbungen  des  Per- 
ceptionsgebietes  wieder,  wornach  einer  Kranken  jeder  in  ihre  Theater- 
loge eintretende  Herr  „als  mit  unter  dem  Arme  hervorgestrecktem  Kopf 
erschien.    So  sind  alle  Uebergänge  und  Zusammenhänge  gegeben. 

Speciell  an  die  schon  früher  (8.  Wahnsinn)  erwähnten  Doppelempfin- 
dungen des  Ich  (die  Doppelgängerei)  reiht  sich  ein  analoger  Vorgang  im 
äusseren  Wahrnehmungsgebiet  an.  Derselbe  besteht  darin,  dass  bekannte 
Persönlichkeiten  als  „zwei"  oder  „drei"  percipirt  werden,  von  denen  die 
eine  als  die  richtige  d.  h.  mit  dem  früheren  Erinnerungsbilde  stimmende, 
die  andere  aber  als  eine  nur  ähnliche  Erscheinung  erfasst  wird.  Diese 
sensorische  Illusion  führt  weiter  zur  Zwangsvorstellung  der  „Doppel- 
gängerei der  Umgebung",  und  kann  im  beginnenden  Wahnsinn  zur  Grund- 
lage für  eine  hypothetische  Verwechslung  „Vertauschung",  „verbreche- 
rische Unterschiebung"  der  eigenen  und  fremder  Personen  werden. 

Ad  4.  Klinisches  Verhalten  der  Zwangsvorstellungen 
bezüglich  ihres  a)  isolirten  Auftretens,  oder  b)  ihrer  Verbindung  mit 
Reflexen  auf  die  Gemüths-  und  Handlungs-Sphäre. 

Beides  kommt  vor.  Für  die  nicht- emotiven  (theoretischen) 
Zwangsvorstellungen  ist  das  isolirte  Auftreten  Regel.  Als  solche 
zeigen  sie  sich  bei  neurotisch  (hereditär)  Disponirten,  manchmal  schon 
im  zarten  Kindesaltcr,  und  zwar  sowohl  in  einfacher  als  in  vertigi- 
nöser  Form.  Eine  sehr  gefährdete  spätere  Zeit  ist  die  Pubertät; 
sodann  weiter  das  Puerperium,  das  Climacterium;  ferner  nach 
gehäuften  Pollutionen  (Onanie).  Auch  in  sehr  vielen,  auf  invalider 
Nervengrundlage  entstehenden  Psychosen,  namentlich  hysterischen 
oder  gewissen  melancholischen,  können  vorübergehend  Zwangsvor- 
stellungen isolirt  auftreten;  entwickeln  sie  sich,  wie  nicht  so  selten, 
weiter  zu  momentaner  Ueberherrschuog  des  Bewusstseins  und  einem 
zwangsmässigen  reactiven  Handeln,  so  entstehen  die  acuten  Wahn- 
sinnskrisen, die  Anfälle  von  sog.  abortiver  Verrücktheit.  Manchmal 
kommen  sie  episodisch  vor  (Wochen  und  Monate),  und  brechen  oft 
plötzlich  ab  „wie  mit  einem  Knack";  andere  Male  dauern  sie  durch 
viele  Jahre,  ja  selbst  durch  das  ganze  Leben.  Oft  schliessen  sich 
bei  langem  Bestand  noch  weitere  psychopathische  Symptome  an, 
so  dass  dann  ein  wirkliches  Irresein  nachfolgt,  in  welchem 
die  Zwangsgedanken,  und  zwar  in  vertiginöser  Form,  die  Hauptrolle 
spielen  (s.  Maladie  du  doute). 

Noch  häufiger  als  isolirt  kommt  das  in  Rede  stehende  psycbo- 


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438 


l>as  hereditäre  Irresein. 


pathiscbe  Symptom  mit  combinirten  Reflexen  auf  die  emotive  und 
motorische  Seelensphäre  vor.  Eines  der  häufigsten  Begleitsymptome 
ist  die  Angst.  Eine  krankhafte  Aengstlichkeit  geht  Uberhaupt  dem 
periodischen  Eintritt  der  Anfälle  voraus.  Die  Kranken  fühlen  sich 
müde  und  unschlüssig,  schwankend  und  rathlos  oft  für  die  einfach- 
sten Dinge.  Sie  kommen  aus  der  Furcht  nicht  heraus;  die  Angst 
lässt  keinen  festen  Gedanken,  noch  weniger  eine  Entsch Hessling 
reifen  —  so  verfallen  die  Kranken  in  immer  complicirtere  Selbst- 
hilfen, aber  ohne  die  gehoffte  Beruhigung,  weil  trotzdem  der  Ge- 
danke in  seiner  unruhigen  Oscillation  bleibt,  immer  neue  Irradiationen 
wirft. 

So  führt  beispielsweise  die  Furcht  der  Mutter,  dass  ihre  Kinder  sich 
erkälten  könnten,  zum  übermässigen  Besetzen  der  Kleider  mit  Knöpfen, 
endlich  zum  Zustopfen  jeder  noch  übrigen  Oeffnung  mittelst  Sicherheits- 
nadeln; nun  aber  kommt  der  Angstgedanke,  ob  die  so  Geschützten  nicht 
zu  warm  hätten?  ob  sie  sich  nicht  verweichlichten?  Mit  jedem  neuen 
Zweifel  wird  die  Unruhe  vermehrt,  mit  jeder  neuen  Anstrengung  die  end- 
lose Schraube  weiter  getrieben.  Besonders  verwirrend  und  beängstigend 
wirkt  der  Anblick  —  Manchen  schon  nur  der  Gedanke  —  au  Glasscher- 
ben, Nähnadeln,  oder  gar  Zündhölzchen,  deren  Beseitigung  oft  bis  zu  den 
feinsten  Stäubchen  des  Zimmerbodens  eine  tägliche  Sisyphusarbeit  bildet. 
Die  Kranken  müssen  beständig  prüfen  und  verificiren,  um  wenigstens 
auf  Augenblicke  ihre  treibende  innere  Unruhe  zu  beschwichtigen.  Aber 
es  wiederholt  sich  nur  der  Kampf  mit  dem  Kiesen  Antäus,  welcher 
durch  Berührung  mit  der  Krde  immer  neue  Kraft  gewinnt.  So  ist  es 
auch  mit  dem  Sich-Aussprechen  und  Klagen,  womit  der  Kranke  seinem 
gepressten  Herzen  Luft  zu  machen  sucht:  spricht  er  darüber,  so  verliert 
er  sich  ins  Endlose;  schweigt  er,  so  wächst  die  Beklemmung;  vor  dem 
„Scbweig"zwang,  wie  vor  dem  „Sprech"zwang  —  wie  er  seine  Lage 
selbst  bezeichnet  —  schwindelt  es  ihn. 

Diese  täglich  und  stündlich  wiederholte  Pein  führt  bald  zu 
einer  Angst  in  zweiter  Potenz:  der  Kranke  empfindet,  wie  er  sagt, 
schon  „die  Angst  vor  der  Angst",  und  sucht  dem  Gespenst  bald 
durch  alle  Gegenmittel  (mechanisch  und  intellectuell  ausgeprobte) 
aus  dem  Wege  zu  gehen.  Hat  auch  nur  die  leiseste  Regung  be- 
gonnen, so  zieht  es  ihn  rettungslos  in  den  Abgrund  der  Krise  hinab. 
Diese  besteht  in  dem  vorübergehenden  Verschwimmen  der  Gedanken, 
in  einer  Ueberfluthung  durch  die  möglichen  und  unmöglichen  Con- 
sequenzen  der  Angst  Vorstellung,  mit  dem  unendlichen  Wehegefühl 
eines  zur  vollen  Passivität  verdammten  Bewusstseins. 

Dieser  „Krampf''  wird  in  der  Kegel  mit  einer  Steigerung  aller  seu- 
sibeln  und  vasomotorischen  Hegleitsymptome  der  Zwangsvorstellung,  na- 
mentlich mit  vermehrter  Herzthätigkeit,  Kopf-  und  Präcordialdruck  be- 
gleitet.  Derselbe  dauert  bis  zu  mehreren  Stunden,  lässt  nach  und  beginnt 


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Zwangsvorstellungen.   Die  „Krisen".  —  Zwangshandlungen.  439 


wieder.  Nicht  selten  löst  er  sich  rascher  durch  reflexmotorische  Ent- 
äusserung  (Hin-  und  Herrennen,  Gesticuliren ,  Grimassenschneiden ,  auto- 
matische Geberden  und  Acte  aller  Art).  Bei  intercurrenten  Erregungs- 
zuständen kann  auch  ein  reactives  Wohlgefühl  vorübergehend  auftreten, 
so  dass  der  Kranke  mit  einer  Art  gehobener  Befriedigung  auf  seine 
Zwangslcistungen,  als  auf  eine  verdienstvolle  Arbeit,  schaut. 

Damit  betreten  wir  das  Gebiet  der  Zwangshandlungen. 
In  der  Mehrzahl  der  Fälle  sind  diese  die  psychologische  Folge  der 
Zwangsvorstellungen,  und  bezeichnen  deren  gesetzmässige  Weiter- 
entwickelung.  Dahin  gehört  das  Verrammeln  der  Fenster  mit  Stricken 
bei  der  Zwangsvorstellung  des  Hinausstlirzens ;  das  Verbannen  aller 
Messer  und  Scheeren  bei  dem  Zwangsgedanken  der  möglichen  Ver- 
wundung durch  dieselben;  dahin  auch  die  Vermeidung  gewisser 
Berührungen  (namentlich  Metall,  Thürklinken)  aus  Furcht  vor  Grün- 
span; dahin  endlich  das  endlose  Waschen  der  Hände  oder  der 
Essgegenstände  bei  der  Zwangsvorstellung  anklebenden  Schmutzes, 
des  Berührtseins  durch  Mäuse  etc.;  schliesslich  die  vielfachen  Zwangs- 
bewegungen beim  Sitzen,  das  automatische  Schütteln  der  Kleider 
hei  sexuellen  Empfindungen,  besonders  bei  der  Angst  sich  onani- 
stischen  Frictionen  auszusetzen. 

Etwas  modificirt  gehört  dahin  auch  die  Zwangsentwendung  von  weib- 
licher Toilette  (Schürze ,  Schuhe  u.  8.  w.),  um  in  deren  Anblick  sich 
sexuell  zu  begeistern  und  onauistisch  zu  reizen  (Jastr o witz). 

Aber  die  Zwangshandlung  ist  nicht  immer  und  nothwendig  nur 
die  Folge  einer  klar  bewussten  Zwangsvorstellung,  so  wenig  als 
jede  Zwangsvorstellung  zu  einem  motorischen  Handlungsreflex  sich 
umsetzen  muss. 

So  ist  es  bemerkenswerth,  dass  manche  Zwangsvorstellungen  statt 
des  überstürzten  Umschlags  in  eine  Zwangshandlung  eher  eine  verstärkte 
motorische  Hemmung,  eine  Art  Krampf,  erzeugen.  Dahin  gehört  das 
linkische  und  läppische,  oft  geradezu  impotente,  Verhalten  nervös  reiz- 
barer Menschen  in  Situationen  von  Verlegenheit.  Bei  Andern  sind  es  ge- 
wisse Idiosynkrasieen,  welche  ihnen  selbst  unerklärlich  bleiben  (z.  B.  der 
Anblick  gläserner  Trinkgefässe  auf  dem  Tische),  und  sie  im  Moment  der 
intendirten  Action  (z.  B.  beim  Einscheuken  u.  s.  w.j  förmlich  ataktisch 
machen,  oder  ganz  lähmen. 

Stets  wird  als  Mittelglied  zwischen  Zwangsgedanke  und  Hand- 
lung, als  physio-psychologische  Bedingung  des  Ueberganges  beider, 
die  treibende  resp.  auslösende  Kraft  von  Sensibilitäts Störungen 
d.  h.  ZwangsgefUhleu  einzuschalten  sein.  Für  die  emotiven  Zwangs- 
gedanken ist  diese  Bedingung  mitgegeben.  Aber  auch  den  nicht- 
emotiven kann  sie  sich  zugesellen,  sowie  jene  reactiv  d.  h.  dem  Ich 
lästig  und  peinlich  werden  (s.  ad  5).    Manchmal  stehen  bestimmte 


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440 


Das  hereditäre  Irresein 


Zwangshandlungen  in  einer  nähern  Beziehung  zu  speciellen  Zwangs- 
empfindungen, als  deren  befreiende  Reflexe.  Barocke,  ja  rätsel- 
hafte motorische  Aeusserungen  vieler  Kranker  erhalten  dadurch 
physiologischen  Zusammenhang. 

So  ist  nicht  so  selten  mit  dem  höchsten  intellectuellen  Hemmungs- 
gefühl  ein  Schmerz  im  Hinterkopfe  vorhanden,  welchem  der  Kranke  dnreb 
Rückwärtsbeugungen  des  Kopfes,  durch  Kratzen  und  Streichen  Linderung 
verschallt.  Anderemale  gelingt  ihm  dasselbe  Experiment  durch  eine  be- 
stimmte z.  B.  forcirt  aufrechte  Haltung,  oder  durch  rasches  pendelartigea 
Gehen,  wahrend  andere  Rumpf-  oder  Extremitätenbewegungen,  z.  B.  rasche 
Wendungen,  oder  aber  Vorwärtsbeugen  des  Kopfes  die  Zwangsempfin- 
dung nicht  heben,  sondern  gegentheils  verstärken.  Auf  vergeistigterem 
Gebiete  versieht  oft  bei  sensuellen  Hyperästhesieen  (belästigende  Sinnes- 
eindrücke  aus  der  Umgebung)  ein  Wechsel  in  der  Zimmereinrichtung,  na- 
mentlich in  der  Stellung  der  Möbel,  oder  auch  eine  alle  Mode  absichtlich 
verhöhnende  Kleidung  denselben  Act  der  Selbsthilfe.  Manchmal  muss 
(bei  Feingebildeten!)  auch  ein  derbes  Schimpfwort  oder  ein  gut  gemeinter 
Rippenstoss  an  Jemanden  aus  der  Umgebung  herhalten,  um  dem  peinli- 
chen innern  Schwanken  und  Grübeln  reflectorisch  Entlastung  zu  bringen. 
Man  beachte  aber  auch,  dass  in  demselben  logischen  Zusammenhang  ein 
ernstes  Tentamen  suicidii,  nicht  selten  mit  Erfolg,  als  Befreier  von  der 
übermenschlichen  Pein  solcher  Zwangsgedanken,  ungeahnt  sich  einstellen 
kannl 

Soweit  sind  die  Zwangsacte  correcte  Folgewirkungen  kranker 
intellectueller  Vordersätze,  mag  die  Form  derselben  auch  noch  so 
original,  ja  bizarr  sein.  Es  gibt  nun  bei  Neuropathikern  noch  eine 
Gruppe  von  Handlungen,  welche  ganz  das  Gepräge  von  gewollten 
haben,  aber,  so  weit  wir  es  übersehen,  vollständig  unwillkürlich 
sind.  Der  Kranke  weiss  keinen  Grund  dafür;  er  muss  sie  eben 
thun,  selbst  gegen  seine  eigene  Ueberzeugung,  und  wenn  er  allen 
Inconsequenzen  sich  aussetzte.  Dabin  gehören  zunächst  gewisse 
harmlose  Schrullen:  allerlei  Papierschnitzel,  Ohrenschmalz,  ab- 
geschnittene Fingernägel  sorgsam  aufzubewahren;  ja,  es  werden 
Fälle  erlebt,  in  welchen  Kranke  ihre  Excremente  iu  gleicher 
Weise  conservativ  behandeln,  selbst  todte  Thiere  wochenlang  auf 
ihrem  Leibe  herumtragen,  ganz  unempfindlich  gegen  den  Verwesungs- 
geruch. Aber  auch  der  sog.  instinetive  Selbstmord  gehört 
hierher,  welche  nicht  selten  mehrere  Glieder  derselben  Familie  ohne 
jeden  zureichenden  Grund  hinwegrafft,  merkwürdigerweise  oft  in 
demselben  Lebensjahre  (wie  ich  in  einem  Fall  beobachtete,  sogar 
zu  derselben  Jahreszeit,  bei  drei  Söhnen).  Die  erstgenannten,  mehr 
harmlosen  oder  unästhetischen,  Zwangsacte  kommen  oft  nur  tempo- 
rär resp.  periodisch  vor,  und  verschwinden  wie  sie  eingetreten 
waren.    Dahin  gehört  auch  die  periodisch  auftretende  „Such-Manie", 


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Zwaugshandlungeo.   „Impulsive"  Acte.   Psycholog.  Mechanismus.  441 

wobei  die  Kranken  zeitweise  plötzlich  das  ganze  Haus  bis  zur  letz- 
ten Schublade  durchstöbern,  neu  ordnen  und  ebenso  oft  wieder  um- 
ändern; sodann  die  „Wasch-Manie",  mit  dem  Drange  eines  endlösen 
Waschens  und  Putzens  (merkwürdigerweise  oft  abwechselnd  mit 
Idiosynkrasie  gegen  Reinlichkeit).  Auch  der  zeitweilige  Aneignungs- 
trieb einzelner  Neuropathiker ,  welcher  namentlich  auf  Cigarren- 
Requisiten,  Federmesser  u.  s.  w.  gerichtet  ist,  dürfte  hier  einzureihen 
sein.  Gemeinsam  allen  diesen  „Drängen"  ist  das  gebieterische 
Mus8,  ohne  und  selbst  gegen  die  bessere  Einsicht  des  luciden  Be- 
wusstseins,  oft  bei  hochentwickelter  Geistesbildung. 

An  diese  eben  besprochenen  Zwangsacte,  und  speciell.  an  den 
„instinctiven  Selbstmordtrieb"  reihen  sich  nun  noch  mehrere  gleich- 
geartete  Handlungsäusserungen,  welche  als  impulsive  zusammen- 
gefasst  werden. 

Die  psychologische  Analyse  derselben  hat  von  dem  normalen  Mecha- 
nismus der  „Tbat"  auszugehen,  dessen  Grundzüge  sind:  Kampf  der  ver- 
schiedenen Motive  (Vorstellungen),  je  nach  ihrer  Qualität  und  Quantität 
(d.  h.  ihrem  intellectuellen  und  Gemüthswerthe);  schliessliches  üeberge- 
wicht  der  stärksten  Vorstellung  durch  das  endgiltige  Ueberwiegen  ihres 
treibenden  Gefühlstons;  Reflex  von  diesem  aus  auf  die  combinirten  Be- 
wegungsbilder. Je  nach  Art  und  Ort  des  störenden  Eingriffs  treten  ver- 
schiedene Bedingungen  für  eine  krankhafte  Handlung  ein:  I.  es  können 
die  in  abwägenden  Kampf  tretenden  Vorstellungen  eine  abnorme  Beweg- 
lichkeit haben,  d.  b.  der  intellectuelle  Factor  des  Handlungsvorganges  zu 
schnell  oder  zu  langsam  ablaufen;  oder  aber  2.  es  ist  das  treibende  Ge- 
fühl, die  Gefühl8betonung  (physiologisch:  die  Function  der  mitschwingen- 
den sensibeln  Nervenbahn)  krankhaft  abnorm,  wobei  wiederum  in  der 
Erfahrung  zwei  Möglichkeiten  gegeben  sind:  es  findet  a)  eine  quantitativ 
Ubermassige  Innervirung  statt,  welche  stürmisch  zum  Handlungsretlex  treibt, 
ohne  die  vollständige  intellectuelle  Zwischenkette  aufzurufen;  oder  aber 
b)  eine  krankhaft  geänderte  resp.  defecte  Gefüblsbetonung,  in  der  Weise, 
dass  die  selbstsüchtigen  Tendenzen  gegenüber  den  altruistischen  Gefühlen 
abnorm  reizbar,  und,  wenn  aufgerufen,  überwiegend  stark  sind;  oder  aber: 
dass  die  letztern  mehr  weniger  fehlen,  resp.  in  ihrer  Innervation  wirkungs- 
los bleiben  (s.  Moral  Insanity).  Die  äussere  Form  der  Handlung  kann 
darnach  bald  mehr  dem  Typus  der  „gewollten"  Acte,  bald  mehr  dem 
Reflextypus  der  Affectentäusserung  entsprechen.  Ebenso  verschieden  ist 
der  Zustand  des  Bewusstseins,  welcher  in  den  weiten  Grenzen  zwischen 
Lucidität  und  plötzlicher,  mehr  weniger  vollständiger,  Trübung  bis  herab 
zu  deliranter  Verdunkelung  schwanken  kann.  —  Nicht  minder  differirt  die 
Erinnerung  an  die  vollbrachte  Tiiat.  Bald  vollständig  vorhanden,  ist  sie 
in  andern  Fällen  nur  dämmernd;  oft  fehlt  sie  sogar  ganz  (ohne  dass 
aber  daraus  schlechthin  der  bestimmte  Rückschluss  auf  Fehlen  des  Be- 
wusstseins  vor  und  während  der  That  abgeleitet  werden  dürfte;  letztere 
kann  nachträglich  erst  vergessen  worden  sein!).  Sehen  wir  von  den 
Moral-Insanity-Acteu  des  sittlichen  Idioten  ab,  so  handelt  es  sich  bei  den 


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442 


Das  hereditäre  Irresein. 


sog.  impulsiven  Thaten  des  Hereditariers  im  Wesentlichen  um  krankhaft 
überstürzte  Handlungen.  Diese  geschehen  a)  aus  plötzlicher  neural- 
gischer Beklemmung  (oft  mit  hallucinatorischer  Begleitung);  oder  b)  als 
Zwangsacte  aus  jener  unerklärlichen  „convulsiven"  GemUthsdisposition, 
welche  nach  Art  des  Kitzels  die  Lust  am  Schaurigen,  Gefürchteten  er- 
regt, und  mit  der  Contrastwirkung  der  wachsenden  Pein,  wovon  nicht 
loszukommen  ist,  sich  bis  zur  Höhe  eines  unbemessenen  Handlungsreflexes 
steigert;  oder  aber  c)  aus  einem  peinlichen  Vorstellungsschwindel  mit 
Angst,  welcher,  die  Reflexion  überspringend,  zur  Entäusserung  drängt. 
Gewisse  impulsive  Dränge,  wie  der  Stehltrieb,  sind  wohl  auf  directe  or- 
ganische Motive  aus  der  psychischen  Cerebralaffection  zurückzuführen,  in 
deren  Natur  wir  noch  nicht  eindringen  können.  Interessant  ist  für  dieses 
Hereinragen  des  pathologischen  Hirnlebens  im  Allgemeinen  —  direct  ia 
die  Formgestaltung  der  impulsiven  Handlung  —  die  Beobachtung 
Morel' s :  dass  der  Epileptiker  anders  mordet  als  der  Hypochonder,  und 
dieser  anders  als  der  Alkoholist  und  der  Paralytiker  (s.  u.). 

Sofern  das  Bewusstsein  bei  der  impulsiven  Handlung  erhalten  ge- 
blieben, verhält  sich  die  letztere  wie  eine  Zwangsvorstellung  (nur  hier 
im  psychomotorischen  Gebiet),  mit  allen  diese  charakterisirenden  Eigen- 
schaften. Sie  entsteht  plötzlich,  bricht  —  in  der  Regel  ausser  allem 
logischen  resp.  „gewollten"  Zusammenhang  —  mit  ihrem  Bewegungsbild 
in  das  Bewusstsein  ein,  welches  mit  seinem  übrigen  Inhalt  ihr  fremd  ge- 
genüber steht;  drängt  langsamer  oder  rascher  sich  empor,  bis  sie  durch 
die  begleitenden,  in  Folge  des  ungehemmten  Steigens  anschwellenden 
Innervationsgefühie  ihre  gewaltsame  Entäusserung  findet  —  über  den 
„Kopf"  des  Kranken  hinweg.  Nicht  selten  empfindet  das  Bewusstsein 
dabei  nur  den  dunkeln,  unwiderstehlichen  Drang  „pousse  malgrö  lui"; 
anderemale  gehen  sensorielle  Reizungen  (Licht-  oder  Feuersignale,  impe- 
rative Halluciuationen)  mit  einher. 

Die  praktisch  und  namentlich  auch  forens  in  Betracht  kommenden 
impulsiven  Acte  sind:  der  Stehltrieb,  der  Brandstiftungstrieb,  der  Mord- 
und  Selbstmordtrieb  und  die  (periodische)  Trunksucht.  Sie  alle  haben 
das  Gemeinsame,  dass  sie  auf  neuropathischer  Grundlage  beruhen,  welche 
eine  angeborene  (hereditäre  Neurose),  oder  erworbene  (constitutionelle 
Neurosen:  Hysterie,  Epilepsie,  Hypochondrie,  Kopfverletzungen,  schwere 
organische  Hirnleiden,  Paralyse,  postapoplekti.sche  Atrophie,  Alkoholismus) 
sein  kann.  Das  Auftreten  der  Zwangshandlung  geschieht  paroxysmell, 
wobei  dieselbe  sich  entweder  an  einen  Angstanfall ,  oder  einen  Insnlt 
(Epilepsie)  oder  an  einen  Excess  (Rausch)  anschliessen,  oder  endlich  peri- 
odisch auftreten  kann  (Dipsomanie). 

Nur  in  diesem  Sinne  d.  h.  unter  Miteinbeziehung  eines  weitern 
(d.  h.  allgemeinen)  psychischen  Hirnleidens,  als  Grundlage,  kann  man 
von  einem  „impulsiven  Irresein"  reden.  Auch  noch  in  andern  Psycho- 
pathieen,  als  den  oben  genannten,  kommen  impulsive  Acte  vorübergehend 
vor  (menstruales  Irresein);  niemals  aber  als  i  so  Ii  rte  Symptome  auf  dem 
Boden  einer  sonstigen  Geistesgesundheit.  Dass  man  deshalb  von  einer 
Mordmonomanie,  einer  Pyromanie  u.  6.  w.  als  einer  partiellen  und  nur 
auf  diese  eine  impulsive  Richtung  beschränkten  Störung  nicht  reden  kann, 
darf  heute  als  ausgemacht  gelten.  Vielmehr  wird  in  jedem  „mononia* 


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Die  „Monomanioen"-Frage.  —  Stebl-,  Brandstiftungs-,  Mordtrieb.  443 


nen"  Acte  ausser  dem  krankhaften  Triebe  auch  noch  die  weitere  cere- 
bropathische  Grundlage  (in  einer  der  bezeichneten  pathologischen  Rich- 
tungen) aufzufinden  sein,  und  sie  muss  im  gegebenen  Falle  sich  finden, 
wenn  anders  die  krankhafte  Natur  der  incriminirten  Handlung  erwie- 
sen werden  soll.  —  Wenn  aber  damit  auch  praktisch  die  frühere  Mo- 
nomanielehre als  erledigt  zu  betrachten  ist,  so  ist  doch  die  Frage  nach 
deren  theoretischer  Berechtigung  noch  nicht  zugleich  auch  mit  ent- 
schieden, freilich  in  einem  wesentlich  andern  Sinne.  Es  bleibt  nämlich 
immer  noch  das  Problem:  warum  diese  Hirnaffection  unter  den  möglichen 
Zwangsentäusserungen  gerade  die  eine,  und  immer  wiederkehrende,  Form 
wählt;  warum  z.  B.  der  Stehltrieb  so  speci  fisch  mit  epileptischen  (para- 
lytischen) Zuständen;  der  Drang  zur  Brandstiftung  so  Uberaus  häufig  mit 
alkoholistischen  Excessen;  der  ,, Mordtrieb"  mit  dem  durch  Onanie  com- 
plicirten  Hirnleiden  sich  verbindet?  Hier  scheinen  doch  gewisse  „cere- 
brale Idiosynkrasieen"  —  im  psychologischen  Terminus:  „specifische  Mono- 
manieen"  —  mit  im  Spiele  zu  sein. 

a)  Der  „Stehltrieb"  tritt  namentlich  in  verschiedenen  Episoden 
der  epileptischen  Neurose  auf,  sehr  oft  als  Vorläufer  von  epileptischen 
Erregungszuständen  oder  eines  Krampfinsults.  Charakteristisch  ist  das 
Triebartige  seiner  Entäusserung :  1.  der  Kranke  macht  die  denkbar  ver- 
wegensten Einbruchsversuche,  er  taucht  rastlos  in  den  verschiedensten 
Localitäten  und  Ortschaften  auf,  ohne  Rücksicht  auf  das  Entdecktwerden ; 
und  2.  er  stiehlt  ziel-  und  planlos,  ohne  Wahl,  das  Nächste  Beste,  nicht 
selten  Zweckloseste,  was  er  gar  nicht  brauchen  kann,  ja,  was  ihn  an 
seinem  Entkommen  hindert,  so  dass  er  nicht  selten  dadurch  sich  selbst 
fängt.  Er  stiehlt,  „weil  er  stehlen  muss".  Nicht  selten  wird  auch  das 
Gestohlene  sofort  wieder  weggeworfen,  verschenkt,  oder  zerstört.  Der 
moralische  Idiot  stiehlt  dagegen  aus  „convulsiver"  Ueberwältigung  neben 
Mangel  an  sittlichen  Pflichtbegriffen,  so  wie  er  etwas  Begehrenswerthes 
sieht.  —  Noch  sehr  der  Aufklärung  harren  jene  merkwürdigen  Kranken 
(8.  o.),  welche  schon  das  Interesse  B  ergmann 's,  früher  dasjenige  Galla 
aufriefen:  wohlhabende,  gebildete  und  gesittete  Personen  empfinden  eine 
unwiderstehliche  Lust,  gewisse  Gegenstände  (Federmesser,  Cigarrenspitzen 
u.  8.  w.),  wo  sie  deren  nur  ansichtig  werden  können,  einzustecken  und 
mitzunehmen.  Ist  dieses  nicht  wiederum  ein  Fall  der  oben  betonten  spe- 
cifi8chen  „Idiosynkrasie"  gewisser  Gehirnorganisationen? 

b)  Der  Brandstiftungstrieb  tritt  am  häufigsten  in  manischen 
Erregungsphasen  des  alkoholistischen  Gehirns  auf,  sodann  auch  bei  jugend- 
lichen Personen  von  imbeciller  Hirnanlage,  vornehmlich  in  der  Pubertät 
(bei  masturbirenden  jungen  Neurasthenikern ,  oder  bei  jungen  Mädchen 
zur  Menstruationszeit).  Die  Form  seines  Auftretens  ist  entweder  ein  Zwangs- 
gedanke, oder  eine  imperative  Hallucination  (elementarer  Art:  plötzlicher 
Flammenschein,  oder  in  Stimmenform:  „Leg  Feuer  an!"). 

c)  Der  Mord  trieb  betrifft  1.  gewisse  schwere,  hereditäre  Neuropa- 
thieen,  namentlich  auf  hysterischer  Basis;  2.  erworbene,  auf  sexueller  bezw. 
onanistischer  Grundlage.  Auch  diese  Form  schliesst  sich  mit  Vorliebe  an 
vorausgegangene  Zwangsvorstellungen  (der  Dolch  Macbetb's!)  an;  andere  - 
male  ist  der  Drang  vermittelt  durch  kitzelnde  Gefühlsperversitäten.  Be- 
rühmt bleibt  nach  letzterer  Richtung  der  durch  Marc  erzählte  Fall  von 


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Das  hereditäre  Irresein. 


dem  Dienstmädchen,  welches  beim  jedesmaligen  Entkleiden  des  ihr  anver- 
trauten Kindes  den  unwiderstehlichen  Antrieb  fühlte  „ein  Stück  von  des- 
sen weissem  Fleisch  abzuschneiden1'.  Maudsley  kannte  eine  72jährige, 
hereditär  belastete  Dame,  welche  paroxysmen weise  den  Drang  spürte 
ihre  zärtlich  geliebte  Tochter  zu  erwürgen.  Die  Intervalle  waren  durch 
reactive  verzweiflungsvolle  Depression  Uber  diesen,  von  der  Kranken  tief 
verabscheuten,  zeitweiligen  Zwang  ausgefüllt.  —  In  manchen  Fällen  von 
melancholischer  Verstimmung  auf  neurasthenischer  (spinalirritativer)  Grund- 
lage gibt  eine  periodisch  sich  verschlimmernde  Neuralgie  die  Auslösung 
zu  dem  homiciden  Impulse  ab,  unter  gleichzeitiger  Bewusstseinshemmung, 
welche  bis  zur  Bewusstlosigkeit  sich  steigern  kann  —  Raptus  neuralgi- 
cus.  Allermeist  steht  übrigens  der  „Mordtrieb"  auf  wahnhafter  Basis, 
besonders  auf  persecutorischem  und  religiösem  Wahnsinn,  und  auch  hier 
sind  die  Onanisten  am  gemeingefährlichsten.  —  Der  impulsive  Selbst- 
mordtrieb tritt  besonders  in  der  Melancholie  und  dem  Verfolgungswahn- 
sinn (auf  hereditärer  oder  Constitutionen  neuropathischer  Grundlage),  und 
im  menstrualen  Irresein  in  die  Erscheinung.  Er  bezieht  seine  Waffen  aus 
dem  ganzen  „Arsenal  des  Todes",  ohne  Wahl,  ohne  Ueberlegung.  Nicht 
selten  behält  der  Kranke  keine  oder  nur  eine  summarische  Erinnerung 
an  den  gemachten  Versuch;  anderemale  ist  er  vor  und  nachher  anschei- 
nend ganz  harmlos;  in  wieder  andern  Fällen  bricht  die  That  aus  einem 
stupid  unheimlichen  Brüten  heraus,  welches  ein  kenntliches  Memento  auf 
die  Stirn  des  Kranken  legt,  unerreichbar  für  allen  Zuspruch,  für  Bitten, 
für  versuchte  geistige  Ablenkung.  Sowie  sich  der  Kranke  unbewacht 
glaubt,  wird  er  sofort  unruhig,  die  Augen  sprühen,  er  sucht  mit  explo- 
siver Wildheit  zu  entspringen,  um  seinen  Drang  zu  erfüllen.  Dies  kann 
sehr  oft  conspectu  omnium  geschehen,  wobei  der  Kranke,  wenn  er  noch 
im  Momente  der  Ausführung  ergriffen  wird,  mit  den  convulsiven  Abwehr- 
bewegungen eines  Rasenden  reagirt.  Viele  beissen  sich  in  die  Schlag- 
adern des  Vorderarms  (sogar  mit  Ausreissen  des  Fleisches},  Andere  suchen 
sich  an  jedem  Nagel  aufzuhängen,  sich  in  gefüllte  Badwannen  zu  werfen, 
aus  dem  Fenster  zu  stürzen,  den  Kopf  zu  zerschellen,  sie  beissen  Stücke 
aus  Gläsern  und  Tellern,  um  sich  zu  verschlucken,  verschlingen  Steine, 
Nadeln,  Nägel,  Schlüssel,  Leinwandfetzen,  suchen  sich  in  das  Ofeufeuer 
zu  stürzen,  werfen  sich  plötzlich  unter  vorübergehende  Wagen  (Eisen- 
bahnzüge). 

d)  Die  Dipsomanie  vertheilt  sich  auf  eine  Reihe  von  hysterischen, 
hypochondrischen,  neurasthenischen  und  periodischen  Psychosen.  Prädis- 
ponirend  wirken  bei  Frauen  die  Gravidität  und  das  Climacterium.  Nach 
dieser  verschiedenen  Grundlage  ist  auch  das  zeitliche  Auftreten  und  die 
klinische  Form  des  Paroxysmus  verschieden.  Während  auf  der  Grund- 
lage der  genannten  constitutionellen  Neurosen  die  Anfälle  in  verschieden 
langen  Zwischenräumen  auftreten,  erscheinen  sie  auf  periodischer  Grund- 
lage mit  der  Regelmässigkeit  dieser  Psychopathie.  Sehr  oft  schliessen 
sie  sich  dabei  an  die  Menstrualparoxysmen  an  (s.  o.).  Recht  häufig  bil- 
den sie  die  Einleitung  einer  nachfolgenden  (periodischen)  manischen  Phase. 
Auf  neurasthenischem  Boden  geben  die  bis  zu  einem  gewissen  Höben- 
grade summirten  UnbehaglichkeitsgefUhle  den  Ausschlag  zur  Entstehung 
des  Anfalls.    Oft  leiten  auch  heftige  Neuralgieen  (Zahnschmerz)  den  letz- 


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Zwangshandlungen.    Dipsomanie.  Erotomanie. 


445 


tern  ein.  Der  Kranke,  welcher  bis  dahin  in  gewohntem  Tageslauf,  mit- 
unter ganz  abstinent,  ja  sogar  mit  entschlossener  Abneigung  gegen  Spi- 
rituosen gelebt,  fällt  plötzlich  in  einen  psychischen  oder  nervösen  Erre- 
gungszustand. Er  spürt  eine  ängstliche  Unruhe  oder  Palpitationen,  Kopf- 
druck,  Appetitlosigkeit ;  der  Schlaf  wird  schlechter,  die  Stimmung  ängstlich 
deprimirt  oder  ausserordentlich  reizbar.  Manchmal  zeigen  sich  ausge- 
sprochene Symptome  einer  Sympathicusneurose  (Pupillenänderung).  Dann 
wird  zur  Flasche  gegriffen,  und  ohne  SättigungsgefUhl  (oft  noch  mit  ver- 
minderter cerebraler  Widerstandsfähigkeit  gegen  die  toxische  Wirkung) 
fortgetrunken  bis  zur  tiefsten  Berauschung.  Darauf  kommt  ein  oft  1  bis 
2tägiger  Schlaf,  mit  nachfolgendem  betäubt  mürrischem  Wesen  und  den 
gastrischen  Folgen  des  stattgehabten  Abusus.  Psychisch  tritt,  wenigstens 
im  Anfang,  ein  moralischer  Katzenjammer  ein,  mit  einschneidender  Reue 
und  aufrichtigem  Ekel  vor  der  erniedrigenden  Debanche.  Im  Weitern 
führt  die  Krankheit  in  die  Folgezustände  des  Alcoholismus  chronicus, 
namentlich  bei  Complication  mit  den  acuten  Insulten  des  Delirium  tre- 
mens; oder  aber  sie  theilt  die  Weiterschicksale  der  periodischen  Manieen, 
deren  Theilerscheinung  sie  bildete.  Die  Anfangs  geistig  freien  Intervalle 
werden  oft  im  Verlauf  durch  ein  eigentümlich  scheues,  ängstliches  Wesen, 
mit  einem  Anflug  von  Gedrücktheit  und  ^Selbstständigkeit,  ausgefüllt. 
(Interessant  war  mir  in  einem  Falle  das  regelmässige  Eintreten  des  An- 
falls jeweils  4  Wochen  bei  einem  hereditär  nicht  veranlagten,  aber  durch 
schwere  Lebensschicksale  zum  Trinken  getriebenen  jungen  Manne.  Gleich- 
zeitig mit  dem  Auftreten  eines  vagen  Verfolgungswahnes  stellten  sich, 
neben  den  oben  geschilderten  nervösen  Symptomen,  Hämorrhoidalknoten 
und  Abgang  eines  froschlaichähnlichen  Schleims  ein,  wobei  dem  Kranken 
der  Schweiss  oft  tropfenweise  von  der  Stirn  floss.  Mit  dem  Eintritt  der 
Aufregung  hörte  der  Schleimfluss  auf.  Jetzt  erfolgte  mehrtägiges  Saufen 
mit  zunehmender  sinnloser  Heftigkeit;  dann  4 wöchentliche  Euphorie.  Ge- 
wöhnlich am  Sonntag  kehrte  dann  der  Turnus  wieder.)  —  Bei  gewissen 
Moral-Insanity-Zu8tänden  kommen  auch  Trinkexcesse  vor,  welche  aber 
nicht  periodisch  d.  h.  in  Anfällen  sich  einstellen,  sondern  nur,  wenn  der 
sittlich  haltlose  Kranke  Gelegenheit  zum  Trinken  bekommt:  dann  wird 
sinnlos  fortgetrunken,  so  lange  das  Geld  oder  der  Stoff  reicht.  Letztere 
sind  die  eigentlichen  Potatoren,  die  Gewohnbeitssäufer:  gewordene, 
oder  ab  ovo  sittliche  Schwächlinge,  und  als  solche  von  den  eigent- 
lichen Dipsomanen,  welche  aus  organischem  Zwange  excediren,  zu  unter- 
scheiden. 

e)  Die  Erotomanie  —  der  krankhaft  gesteigerte  Sexualtrieb  —  kann 
entweder  ein  (in  natürlicher  oder  masturbatorischer  Form)  einfach  er- 
höhter, oder  aber  ein  perverser  sein  (Violation,  Bestialität,  Leichenschän- 
dung, Sodomie  und  Päderastie,  Amor  lesbicus,  conträre  Sexualempfindung). 
Wie  die  vorgenannten  anomalen  psychischen  Triebrichtuugen .  so  kann 
auch  die  Erotomanie  nur  als  Theilerscheinung  einer  bereits  bestehenden 
oder  sich  entwickelnden  Psychopathie  auftreten:  so  in  der  Manie,  in  der 
activen  Melancholie  (hier  als  unbezwinglicher  Masturbationsdrang,  Leichen- 
schändung), im  spinalen  Verfolgungswahn ,  in  der  Dementia,  speciell  im 
Idiotismus,  und  in  der  Paralyse.  Aber  in  gleicher  Weise  kann  der  krank- 
haft gesteigerte  Sexualtrieb  auch  eine  mehr  isolirte  psychopathische  Er- 


416 


Das  hereditäre  Irresein. 


scheinung  bilden,  und  das  Symptom  einer  angeborenen  (oder  erworbenen) 
sittlich  defecten  Constitution  darstellen,  entweder  als  Nymphomanie,  Saty- 
riasis,  oder  in  einer  der  obigen  Perversitätsformen.  Als  solcher  kann 
derselbe  periodisch  auftreten  (hier  sehr  häufig  prä-  oder  postmenstraal, 
auch  postconuptial),  oder  anhaltend  (charakterologisch)  in  Form  eines  be- 
ständigen sinnlichen  Ritzels,  welcher  sich  bald  zu  einer  cynischen  Denk- 
und  Gefühlsrichtung  ausgestaltet,  bald  aber  sich  in  Zwangsgedanken  gel- 
tend macht,  so  dass  selbst  die  heiligsten  Gedanken  sich  nur  auf  der  Folie 
eines  beständig  innerlich  angeschauten  oder  gedachten  physischen  Sexual- 
actes  abzuzeichnen  vermögen.  Bei  edlern  Naturen  fuhren  diese  Zwangs- 
gedanken, welche  manchmal  bis  in  die  Pubertät  zurückreichen,  sehr  oft 
zu  schweren  reactiven  Melancholieen.  Bei  mehr  „convulsiver  psychischer 
Anlage"  entstehen  daraus  gewisse  Formen  der  Maladie  du  doute.  Als 
ein  besonders  sich  vordrängender  psychopathischer  Zug  erscheint  die  Eroto- 
manie im  hysterischen  Charakter,  hier  manchmal  schon  bei  jungen  Mäd- 
chen als  uncorrigirbare  Liebelei,  oft  mit  andringlichem  männersUchtigem 
Wesen,  selbst  mit  direct  schamlosem  Verlangen  oder  Sich-Hingeben.  Die 
intellectuelle  Sphäre  kann  dabei  die  Charaktere  einer  mehr  minder  aus- 
geprägten geistigen  Schwäche  bieten,  welche  aber  an  sich  oft  wenig 
markante  Auffälligkeiten  zeigt;  in  andern  Fällen — und  deren Kennt- 
niss  ist  namentlich  social  und  forens  höchst  wichtig  —  ist  die  Intelli- 
genz in  Wirklichkeit  qualitativ  intact,  zeigt  jedoch,  zugleich 
mit  der  Gemüthssphäre,  eine  charakteristische  Steigerung  der  Erregbar- 
keit, zugleich  mit  einer  durch  jeden  Eindruck  ungehemmt  bestimmbaren 
Schwäche.  Es  handelt  sich  m.  a.  W.  um  Hysterische  oder  Here- 
ditarier  mit  reizbarer  Moral  Insanity.  Nicht  selten  sind  locale 
Genitalveränderungen  nachzuweisen  (Ovarial-  resp-  Hodenaffectionen,  Vagi* 
nal-  oder  Pudendalhyperästhesieen ,  Uteruserosionen).  Erworben  wer- 
den kann  die  Erotomanie,  als  Symptom,  in  spätem  neurasthenischen  oder 
psychopathischen  Zuständen  durch  sexuelle  Excesse,  verbunden  mit  einer 
sittlichen  Erschlaffung  in  Folge  der  Orgien  einer  corrupten  Phantasie.  Doch 
scheinen  auch  hier  angeborene  Dispositionen  eine  Rolle  zu  spielen.  — 
Die  conträre  Sexualempfindung  findet  unten  ihre  getrennte  Besprechung. 

Unter  den  vertiginösen  Zwangsvorstellungen  verdient  eine  besondere 
Hervorhebung  die  bei  Neuropathikern  immer  häufiger  aufgefundene  „Platz- 
angst", die  Agoraphobie,  d.  h.  die  Zwangsvorstellung  einen  freien  Platz 
nicht,  oder  nicht  allein,  Uberschreiten  zu  können,  mit  einer  daran  sich 
knUpfenden,  bis  zur  „Krise"  sich  steigernden  Angst.  Ausser  einem  „freien 
Platze"  erwecken  auch  geräumige  Kirchen,  oder  Säle,  anderemale  mit 
vielen  Menschen  angefüllte  Räumlichkeiten,  dieselbe  Schwindelvorstellung. 
Diese  wird  in  der  Regel  durch  ein  im  Unterleib  beginnendes  und  nach 
dem  Kopfe  aufsteigendes  Wärmegefühl  eingeleitet,  oft  mit  intensivem 
Herzklopfen,  woran  sich  unter  Ausbruch  von  kaltem  Sch weiss  ein  Seit- 
wärtsziehen des  Kopfes  mit  allgemeinem  Zittern,  ein  verwirrendes,  endlich 
lähmendes  Furchtgefühl  anschüesst.  Manchmal  genUgt  schon  ein  plötz- 
licher schriller  Sinneseindruck,  die  optische  Wahrnehmung  einer  weiten 
Perspective,  ja  selbst  schon  der  Gedanke  an  eine  solche,  zuweileu  das 
lebhafte  Gefühl  der  Einsamkeit  oder  das  deprimirende  plötzlicher  Ver- 
legenheit zur  Erzeugung  des  „psychischen  Schwindels",  welcher  körper- 


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Agoraphobie.  Körperl.  Begleituymptoine.  —  Conträre  Sexualempfindung.  447 

lieh  in  muskulären  Tremor,  ja  selbst  in  vollständige  Muskelohnmaclit 
ausläuft.  Interessant  ist  dabei,  dass  auch  enge  Strassen  das  Angstgefühl 
erwecken,  sofern  plötzlich  eine  grössere  Menge  von  Passanten  auf  den 
Kranken  zukommen.  Unter  allen  Umständen  wird  der  Eintritt  desselben 
durch  sonnige  Beleuchtung  des  Terrains  begünstigt;  bei  Nacht  bleibt 
es  aus.  — 

Ad  5.  Unter  die  Begleitsymptome  der  Zwangsvorstellungen  gehören 
sensible  und  vasomotorische  Störungen,  gewöhnlich  allgemeinen  Charakters, 
wie  diese  den  sog.  Status  nervosus  oder  auch  das  klinisch  reiche  Bild 
der  Spinalirritation  zusammensetzen.  Es  sind  hauptsächlich  neuralgische 
Symptome  (darunter  besonders  Kopf-  und  Präcordialdruck) ,  sodann  cir- 
culatorische  (unregelmässige  Herzthätigkeit  und  Herzklopfen,  Dyspnoe), 
unangenehme  Sensationen  in  Klicken  und  Gliedern,  vasomotorische  Rash's, 
oder  gegentheils  Kältegefühle.  Die  sexuellen  Empfindungen  sind  manch- 
mal gesteigert,  in  andern  Fällen  aber  Uber  die  Zeit  der  Paroxysmen  er- 
loschen, so  dass  der  Kranke  an  der  Wiederkehr  der  erstem  das  Auf- 
hören der  letztern  erkennt.  In  den  Zwischenzeiten  treten  namentlich  die 
Zeichen  der  anämischen  Constitution  zu  Tage,  manchmal  auch  trophische 
Störungen  (Abmagerung  oder  gegentheils  starker  Fettansatz).  Grosses 
Ermüdungsgefühl  mit  Appetitlosigkeit  und  Dyspepsia  nervosa  bildet  sehr 
oft  die  Einleitung,  und  begleitet  auch  den  Paroxysmus  oft  auf  Monate 
hinaus;  dazu  gesellt  sich  hartnäckige  Schlaflosigkeit.  In  einem  Falle 
beobachtete  ich,  dass  heftiges  Gähnen  in  den  Exacerbationen  der  Zwangs- 
vorstellungen Erleichterung  brachte.  Obstipation  ist  nicht  selten.  Bei 
Frauen  wird  hin  und  wieder  ein  Infarctus  uteri  mit  Geschwürsbildung  und 
Fluor  getroffen,  dessen  erfolgreiche  Behandlung  sichtlich  günstigen  Ein- 
fluss  auf  den  Verlauf  des  Leidens  äussern  kann.  Die  Menses  bringen  in 
der  Mehrzal  der  Fälle  vorübergehend  Verschlimmerung.  — 

Unter  conträrer  Sexualempfindung  (Westphal)  versteht 
man  eine  Anomalie  des  Geschlechtssinns,  welche  in  der  Liebe  des  Man- 
nes zum  Manne,  resp.  des  Weibes  zum  Weibe  ihre  natürliche  und 
einzige  Befriedigung  rindet.  Dieselbe  kann  sich  als  ideale  Schwärmerei, 
oder  als  physische  Perversität  (obseöne  Berührungen ,  mutuelle  Onanie, 
seltener  Päderastie)  entäussern,  gewöhnlich  als  beides.  Der  geschlecht- 
liche Drang  ist  ein  gebieterischer,  dem  normalen  Bedürfniss  gegenüber 
gesteigerter;  er  umfasst  Sinnen  und  Denken  der  leidenden  Persönlich- 
keit, so  dass  diese  unglücklich  ist  (oft  wirklich  melancholisch  wird),  bis 
sie  den  Gegenstand  ihrer  Sehnsucht  gefunden,  oder  nach  einer  Trennung 
wiedergefunden.  Manche  sind  von  der  Anomalie  ihrer  Eigenart  über- 
zeugt, können  aber  dessenungeachtet  nicht  davon  lassen;  Andere  aber 
halten  ihren  Drang  für  den  „natürlichen",  und  foltern  sich  in  der  Gewis- 
senspein ab,  sich  einer  Rechtsordnung  gegenüber  zu  wissen,  welche  als 
sträfliche  Unnatur  brandmarkt  und  bestraft,  was  ihnen  unbesiegbarer  und 
eingeborner  Trieb  ist,  dessen  Erfüllung  sie  ebenso  beglückt  und  kräftigt, 
als  die  Entbehrung  sie  verzweifeln  macht.  Gegenüber  dem  Umgang  mit 
dem  andern  Geschlechte  sind  sie  ruhig,  eiseskalt;  gewöhnlich  bringen  sie 
es  nicht  einmal  zu  einem  physischen  Actus,  oder  die  Erection  wird  nur 
auf  dem  Umweg  vermittelt,  dass  sie  an  einen  „schönen  Mann"  d.  h.  au 
den  Gegenstand  ihrer  perversen  geschlechtlichen  Sehnsucht  denken.  Die 


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US 


Das  hereditäre  Irresein 


Ejaculation  in  diesem  Falle  bringt  aber  keine  Befriedigung,  oder  höchstens 
eine  ungenügende  („der  Onanie  vergleichbare");  während  die  mannmänn- 
liche Umarmung  geistig  die  höchste  Wonne,  und  physisch  eine  erfrischende 
Stärke  verleiht.  In  einem  Falle  beobachtete  ich  sogar  fehlende  Samen- 
ergiessung  bei  Umgang  mit  Frauen,  neben  gänzlich  fehlender  Libido;  wäh- 
rend dem  jungen  Mann  andrerseits  der  Qedanke  an  den  „Geliebten"  schon 
genügte,  um  eine  vollkommen  befriedigende  Pollution  herbeizuführen. 

Manchmal  steigert  sich  der  „Gedanke"  zur  Hallucination  eines  schö- 
nen Gesichts,  oder  auch  —  in  cynisch  niedriger  Form  —  der  Genitalien, 
welche  Tage  lang  sich  in  den  Blickpunkt  stellt.   Oft  weicht  der  Schlaf, 
bis  dem  gebieterischen  Drange  durch  Onanie  genügt  ist,  wobei  sich  der 
Kranke  bald  in  die  Rolle  des  Mannes,  bald  in  die  des  Weibes  (aber 
immer  nur  in  der  Phantasie  einer  gleichgeschlechtlichen  Umarmung)  ver- 
setzt.   Bei  nicht  Wenigen  geht  so  das  Geschlechtsleben  in  Pollutionen 
auf,  theils  freiwilligen,  theils  unbewussten  im  Traume  (oft  mehrere  in 
der  Nacht),  wobei  regelmässig  nur  in  der  wachen  Sinnesrichtung  geträumt 
wird.   Die  Intelligenz  ist  nicht  selten  wohl  erhalten,  oft  sogar  fein  ent- 
wickelt; die  Träger  dieses  anomalen  Dranges  leben  in  Amt  und  Würde, 
tüchtig  in  ihrem  Berufe,  Manche  selbst  in  (natürlich  peinvoller)  Vernunft- 
Ehe  —  und  daneben  in  dem  unbeschwichtigten  abnormen  Drange  und  der 
ständigen  aufregenden  Sorge  wegen  eines  möglichen  Conflictes  mit  dem 
Strafgesetze,  dessen  Bestimmungen  sie  als  unvereinbar  mit  ihrer  Indivi- 
dualnatur,  und  deshalb  als  hart  und  ungerecht  empfinden.    Dieser  als 
„fürchterlich"  geschilderte  Kampf  zwischen  socialer  Pflicht,  Angst  vor 
Schande,  und  andererseits  ihrem  Verhängniss,  führt  die  Unglücklichen 
nicht  selten  zu  Selbstmord.    Der  psychische  Tenor  im  Benehmen  und 
Aeussern  kann  bei  dieser  Klasse  der  „Urninge"  ein  vollständig  normaler 
sein,  so  dass  dem  Uneingeweihten  keine  Ahnung  wird  über  die  innere 
tiefe  Kluft:  der  Habitus  ist  der  eines  wohlentwickelten  Mannes  in  Stimme 
und  Haltung,  in  Kraft  des  Auftretens,  in  Haar-  und  Bartwuchs.  Bei  An- 
dern dagegen  verräth  der  psychische  Charakter  ein  entschieden  feminines 
Gepräge:  schon  von  Kindheit  aufsind  Puppen  die  Lieblingsbeschäftigung; 
auch  für  die  Jünglings-  und  Mannesjahre  bleibt  eine  Vorliebe  für  weib- 
liche Handarbeiten  (Sticken,  Kochen)  und  eine  entsprechende  Interessen- 
neigung (Moden,  Toilette).   Sie  haben  ein  weichlich  sentimentales  Wesen, 
fühlen  sich  selbst  „mehr  Weib  als  Mann",  siud  fast  durchgängig  von 
einer  Ruhrseligkeit,  welche  durch  den  leisesten  Anlass  (Schauspiel )  in 
Thränengüsse  versetzt  wird.    Bei  einer  weiteren  Gruppe  endlich  zeigt 
auch  der  äussere  Habitus  eine  gewisse  feminine  Signatur:    in  der  For- 
mung der  Brustbüate,  in  der  Stimme,  dem  geringen  Bartwachsthum,  der 
stärkeren  Entwicklung  des  monsVeneris;  oft  geht  auch  eine  entsprechende 
Toilette,  eine  koquette  Eitelkeit,  eine  Vorliebe  für  Kleiderziererei  Hand 
in  Hand ;  in  den  extremsten  Fällen  sogar  ein  künstliches  Nachahmen  der 
Frauenbüste  bis  zum  Tragen  weiblicher  Kleidung.    In  diesen  höheren 
Graden  der  conträren  Sexualempfindung  leidet  auch  die  intellectuelle  Seite 
tiefer  mit :  es  finden  sich  hier  alle  Stufen  des  Schwachsinns,  zugleich  neben 
ausgesprochener  Moral  Insanity  (cynische  Geistesrichtung,  welche  aller 
religiösen  und  sittlichen  Ordnung  in  frivoler  Weise  den  Krieg  erklärt, 
oft  mit  der  verschrobensten  „philosophischen"  Motivirung).   Eine  gewisse 


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Conträre  Sexualempfindung. 


449 


Zahl  von  originär  Verrückten  verfällt  auf  diese  Specialität.  Haben  sie 
den  Gegenstand  ihrer  „Liebe"  gefunden,  so  leben  sie  durch  freie  beider- 
seitige Entschliessung  (wenn  der  Geliebte  auch  den  „Vernünftigen",  wie 
sie  sich  oft  nennen,  zugehört)  mit  diesem  in  „glücklicher  Ehe";  sie  schwär- 
men und  dichten,  versinken  in  Todessehnsucht,  wenn  das  zärtliche  Ver- 
hältniss  gelöst  wird,  oder  gerathen  in  die  furchtbarste  Leidenschaft,  wenn 
sie  Grund  zur  „Eifersucht"  wittern.  Andere  begnügen  sich  mit  einem 
käuflichen  „Dioning",  und  fallen,  ertappt  oder  denuncirt,  dem  Strafgesetze 
anheim  i§  175  d.  Strafgesetzbuchs).  —  Körperlich  ist  ausnahms- 
los eine  neuro-  oder  psychopathische  Anlage  mitbegleitend.  Isolirt,  bei 
sonst  vollkommen  geistig  Gesunden,  kommt  das  erwähnte  Phänomen  nicht 
vor.  In  der  Uberwiegenden  Mehrzahl  der  bis  jetzt  bekannten  Fälle  ist 
erbliche  Belastung  verzeichnet,  und  eine  bis  auf  frühe  Lebensjahre 
nachweisbare  Neurasthenie  (Spinalirritation),  mit  Neigung  zu  Fluxionen, 
geringer  Resistenz  gegen  Alkohol,  periodisch  schwankender  nervöser  Lei 
stungscurve,  oder  temporärer  Verstimmung  mit  Reizbarkeit  und  impulsi- 
ven Neigungen.  Viele  zeigen  das  „neuropathische"  Auge,  den  schwim- 
menden, languescirenden  Blick.  Bemerkenswerth  ist,  dass  Einzelno  dieser 
„Urninge"  nach  mann-weiblichem  Geschlcchtsact  sich  ebenso  nervös  ge- 
schwächt und  angewidert  fühleu,  als  nach  Ausübung  des  Actus  in  ihrem 
Nnne  körperlich  erfrischt  und  geistig  gekräftigt  (s.  o.);  nach  eigenem  Ge- 
ständniss  werden  Manche  erst  durch  diese  Erfahrung  auf  ihre  specifische  Be- 
dürfnissnatur  aufmerksam.  Bei  den  originären  Fällen  wird  keine  äussere 
Anomalie  der  Genitalien  beobachtet  (ab  und  zu  Kryptorchismus},  mir 
functionell  eine  abnorme  Reizbarkeit  (tagelange  Erectionen  und  präcipirte 
Pollutionen).  —  Die  conträre  Sexualempfindung  ist  allermeist  angebo- 
ren, und  stellt  als  solche  ein  psychopathisches  Symptom  neben  den 
andern  der  hereditären  Neurose  dar;  nicht  selten  ist  sie  mit  ausge- 
sprochenen sonstigen  Degenerescenzzeichen  verbunden.  Der  abnorme  Trieb 
regt  sich  dann  gewöhnlich  mit  der  Pubertätsentwicklung,  nachdem  Jahre 
zuvor  schon  heftige  Masturbation,  oder  ein  Hang  nach  körperlicher  An- 
drängung au  Altersgenossen  (Küssen  von  Schulkameraden,  Sehnsucht  die- 
selben nackt,  oder  auch  nur  deren  Genitalien  zu  erspähen)  vorangegan- 
gen war.  Dieselbe  kommt  aber  auch  als  erworbenes  Symptom  im 
Gefolge  von  constitutionellen  Psychopathieen  vor,  worunter  hysterische 
und  originäre  Verrücktheit,  und  das  epileptische  Irresein  (s.  d.)  voran- 
stehen. Hier  ist  sie  theils  bleibend,  theils  temporär  (Menses).  In  einem 
dieser  erworbenen  Fälle,  wo  der  Kranke  (junger  Mann)  in  vollständige 
Nachahmung  der  Frauentracht  (Haarscheitelung,  künstlicher  Busen)  ver- 
fallen war,  fand  ich  p.  m.  Atrophie  der  Hoden;  jahrelange  Onanie  war 
vorausgegangen. 

Die  Thatsache  des  Vorkommens  der  beschriebenen  Geschlechtsauo- 
malie,  als  des  oft  markantesten  Zeichens  einer  anomalen  resp.  defecten 
nervös-geistigen  Anlage,  ist  namentlich  auch  in  forenser  Beziehung  von 
höchster  Bedeutung.  Ohne  damit  entfernt  die  ekeln  Verirrungen  eines 
abgelebten  Cynismus  exculpiren  zu  wollen,  ist  es  nicht  minder  Pliicht 
die  wirklichen  Träger  der  conträren  Sexualemplindung,  dem  heutigen 
Gesetze  gegenüber,  unter  anthropologischen  Schutz  zu  stellen.  Die  Be- 
sch ai«,  GeisU.kr.mkheiten.   3.  Aud.  2<J 


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450 


Das  hereditäre  Irresein. 


mühungen  v.  Krafft-Ebing's  in  dieser  Richtung,  speciell  nm  eine, 
unserer  wissenschaftlichen  Erkenntniss  gebührend  Rechnung  tragende, 
Aenderung  des  §  175  des  deutschen  Reichsstrafgesetzes  verdienen  alle 
Berücksichtigung  (s.  Jahrb.  f.  Psych.  18S5.  VI.  Bd.). 

Therapie. 

Die  Behandlung  hat  kein  Specificnm  aufzuweisen,  wodurch  wir 
den  Zwangsvorstellungen,  diesem  partiellen  „Krampf"  im  Seelenleben, 
entgegenwirken  könnten.    Dieselbe  kann  deshalb  nur  eine  sympto- 
matische und  indirecte  sein:  es  gilt  vor  Allem  die  neurasthenische 
Grundlage  nach  den  hierfür  geltenden  Indicationen  zu  bekämpfen,  unter 
genauester  Individualisirung.  Dabei  muss  Grundsatz  der  Behandlung 
bleiben:  alle  und  jede,  selbst  die  kleinste,  körperliche  und  nervöse 
Anomalie  (gastrische  Zustände,  sexuelle  Anomalieen,  Pollutionen,  Neur- 
algieen,  anämische  Constitution,  Fluxionszustände)  zu  beachten;  nicht 
selten  gelingt  es  auf  diese  Weise  doch  endlich  den  Zugang  zur  Kräfti- 
gung des  Hirnlebens  zu  finden.  Bei  Frauen  ist  namentlich  die  Beseiti- 
gung etwaiger  Uterinleiden  oft  von  sichtlich  bestem  Erfolge.  Der  zweite, 
nicht  minder  wichtige,  Factor  ist  der  psychische.   Hier  gilt  es  vor 
Allem  dem  Kranken  Muth  und  Selbstvertrauen  zu  gewinnen.  Eine 
Beruhigung  kann  ihm  schon  durch  die  Versicherung  werden,  dass 
allermeist  die  Anfälle  des  peinlichen  Leidens,  auch  der  Maladie  du 
doute  und  du  toucher,  paroxysmenweise  verlaufen,  und  von  der 
Natur  selbst  durch  oft  jahrelange  Ruhepausen  unterbrochen  werden. 
Mit  der  directen  (logischen)  Bekämpfung  dieser  perversen  Gedanken- 
krämpfe, dieses  „Vorstellungsschwindels",  sei  man  vorsichtig,  wenn 
man  nicht  vor  der  Dialektik  des  Kranken  erliegen  will.   Man  weiche 
auch  der  kitzelnden  Neigung  des  Patienten  nach  Aussprache  und 
seiner  Beweiswutb,  so  gut  es  geht,  aus,  und  zwar  mit  der  summa- 
rischen Versicherung,  dass  es  wieder  besser  mit  ihm  werde.  Viele 
Kranke  nehmen  den  Rath,  dass  sie  sich  vor  den  Gedankenkreiseln 
nicht  fürchten,  dass  sie  dieselben  über  sich  ergehen  lassen  sollten, 
des  sichern  endlichen  Sieges  eingedenk  —  dankbar  und  mit  Nutzeu 
entgegen.    Kann  man  sie  zu  einer  ablenkenden,  sie  interessirendeu 
Arbeit  gewinnen,  dann  ist  viel  gewonnen.    Oft  unterstützt  Morphium 
oder  Opium,  Brom,  Chinin,  Zincum  valerian.  das  Curregimen  we- 
sentlich; man  kann  die  betr.  Mittel  je  nach  Umständen  fortgesetzt 
(methodisch)  reichen,  oder  ad  hoc  in  den  Krisen,  und  dann  in  ver- 
stärkter Gabe.  Gegen  Schlaflosigkeit  Paraldehyd.  Auch  milde  hydro- 
pathische Proceduren  wirken  nach  körperlicher  wie  nach  geistiger 


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Die  hereditäre  Neurose.  Klinische  Charakteristik. 


451 


Seite  tonisirend;  ebenso  Reisen  in  verständiger  Begleitung  (Gebirgs- 
aufentbalt,  Seeluft). 

Der  Querulantenwahn  (s.  u.)  erfordert  immer  die  Anstaltsbe- 
handlung, und  zwar  werde  mit  der  Aufnahme  hier  am  wenigsten  gezögerti 


B.  Die  hereditäre  Neurose  nach  Entwicklang  und  Verlauf. 

Anhang:  Die  transitorischen  Seelenstörungen. 

Die  klinische  Charakteristik  des  hereditären  Temperaments  ist: 
cerebral  eine  gesteigerte  psychische  Erregbarkeit,  mit  Vorherrschen 
der  Phantasie  und  Neigung  zu  Delirien;  spinal  eine  erhöhte  Reiz- 
fähigkeit unter  der  Form  von  vermehrter  Empfindlichkeit,  abnormer 
Irradiation  cerebraler  Impulse  und  längerer  Resonanz  der  mitge- 
teilten Erregung;  sensoriell  eine  Disposition  zur  Hyperästhesie, 
mit  Steigerung  bis  zur  Hallucination;  vasomotorisch  eine  anomal 
lebhafte  Mitbetheiligung  bei  psychischen  Erregungen  (Affecten)  und 
bei  körperlichen  (Intoleranz  gegen  Spirituosa).  Auf  dieser  Grund- 
lage baut  sich  ein  psychischer  Habitus  auf,  mit  demselben 
Grundzug  einer  gesteigerten  Erregbarkeit  mit  Schwäche:  emotiv  als 
krankhafte  Empfindlichkeit  und  Reizbarkeit  mit  Sympathieen  und 
Antipathieen,  und  einem  zwischen  excessiver  Sentimentalität  und 
Stumpfheit  umspringenden,  vorwiegend  nervös  motivirten  Stimmungs- 
wechsel; intellectuell  als  Disharmonie  der  einzelnen  Energieen 
mit  grosser  Neigung  zu  Zwangsvorstellungen;  psychomotorisch 
als  gesteigerte  Energie  neben  Willensschwäche,  als  verpuffender  En- 
thusiasmus bei  fehlender  Ausdauer,  oder  jäher  Umschlag  in  collaps- 
ähnliche  Ermattung;  als  Signatur  der  ganzen  Persönlichkeit: 
eine  defecte  oder  unharmonische,  widerspruchsvolle  Charakteranlage 
und  Ausbildung. 

Alle  diese  Existenzen  sind  ab  ovo  krank  d.  h.  eigens,  anomal,  ge- 
artet. Wie  ihre  geistig- körperliche  Entwicklung  eine  mangelhafte  resp. 
ungleiche  ist,  so  auch  der  Abschluss,  entweder  in  Form  eines  frühzeitigen 
geistigen  Todes  (Dementia  praecox),  oder  durch  Uebergang  in  dauernde 
geistige  Störung  mit  eigenartigen  Nuancirungen  des  klinischen  Bildes,  und 
einem  besondern  Verlaufscharakter. 

Krankheitsbild  und  Verlauf. 
Schon  die  Kindheit  dieser  Hereditarier  zeigt  die  soeben  voraus- 
geschickten Charakterzllge.   Es  sind  wehleidige,  reizbare  und  zorn- 
miithige  Kinder,  oft  bis  zu  convulsivem  Gebahren,  grillenhaft,  lau- 
nisch, manche  schon  mit  einem  frühen  Hang  zur  Einsamkeit  und  zu 

2'J* 


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452 


Das  hereditäre  Irresein. 


phantastischen  Träumereien.  Selten  sind  sie  echt  heiter,  höchstens 
zeitweilig  unbändig  ausgelassen;  es  ist,  als  ob  der  Schatten  künftiger 
schwerer  Tage  schon  auf  ihnen  lastete.  Manche  beunruhigen  durch 
stete  körperliche  Kränklichkeit;  während  der  Dentition  erschrecken 
sie  durch  Convulsioncn,  bei  der  leichtesten  fieberhaften  Erkrankung 
durch  Neigung  zu  Delirien.  Von  dem  beseligenden  Kinderglück, 
von  dem  Frohsinn  im  Schoossc  des  Vaters,  am  Herzen  der  Mutter, 
tritt  Weniges  zu  Tage;  manche  äussern  Indifferenz,  ja  Kälte  gegen 
Eltern  und  Geschwister.  Hin  und  wieder  überrascht,  verfrüht,  eine 
intellectuellc  Entfaltung,  welche  den  Kinderjahren  weit  vorauseilt; 
der  fehlende  „kindliche"  Typus  wird  durch  diese  Altklugheit  noch 
viel  schärfer  fühlbar.  Andere  aber  sind  gegentheils  tarda  ingenia, 
und  bilden  die  undankbare  Mühe  des  Lehrers.  Sie  lernen  schwer, 
sind  in  ihren  Aufgaben  unendlich  pedantisch,  und  werden  rathlos 
und  unfähig,  sowie  man  sie  in  ihrem  einmal  angenommenen,  pein- 
lich gewissenhaften  Arbeitsgange  stört.  Immer  mehr  tritt  eine  Un- 
gleichheit in  der  Anlage  zu  Tage  —  neben  einseitiger  Begabung  für 
Sprachen  eine  auffällige  Bornirtheit  für  andere  Fächer,  besonders 
Mathematik,  oder  auch  für  Naturgeschichte  (defecte  Anschauungs- 
fähigkeit) —  im  Lernen  eine  unverbesserliche  Zerstreutheit,  ein 
Schwanken  zwischen  Fleiss  und  Faulheit,  welches  seinen  tiefem 
Grund  in  einer  nur  periodischen  Leistungskraft,  abwechselnd  mit 
nervöser  Erschlaffung,  aufzeigt.  Aber  selbst  die  fleissigern  Perioden 
werden  selten  durch  einen  wirklichen  Gewinn  belohnt;  der  noch  so 
vielseitigen  Bildung  fehlt  allermeist  die  Harmonie,  und  seitens  des 
Ich's  der  Ueberblick.  Dem  Detail  des  Wissens  mangelt  das  tiefere 
geistige  Band.  Neben  leichtem  und  raschem  Lernen  steht  oft  ein 
promptes  Vergessen.  Schon  in  frühen  Jahren  zeigen  sich  unver- 
standene Regungen  des  Geschlechtstriebs,  sehr  häufig  in  Form  spon- 
taner wollüstiger  Empfindungen,  oder  eines  angenehmen  Kitzels  beim 
Anblick  von  körperlichen  Züchtigungen  („Beriechen"  der  Schulruthe 
mit  nachfolgenden  Erectionen,  bei  Kindern  von  9  Jahren).  Auch 
andere  Zwangsgedankeu,  namentlich  schauerlichen  Inhalts,  oder  quä- 
lende Schuldbeziehungen  zu  irgend  einem  ernsten  Familienereigniss, 
selbst  Suicidiumgedanken  (wirkliche  Tentamina!)  können  Platz  grei- 
fen. Frühzeitige  Masturbation.  Schon  jetzt  können  Episoden  wirk- 
lichen Irreseins  (gewöhnlich  in  Form  von  depressiven  Zwangsge- 
danken) sich  anmelden.  In  andern  Fällen  bleibt  Ruhe  bis  zur 
Pubertätszeit.  Au  dieser  ersten  Klippe  stranden  nicht  Wenige  dieser 
Hereditarier:  ein  Theil  wandert  zu  den  Hebephrenen  (s.  d.);  ein 
anderer  iu  Dementia  acuta  (praecox). 


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Die  hereditäre  Neurose.  Weiterentwickig.  Dementia  acuta  praecox.  453 

Sie  erlahmen  in  dem  Interesse  für  ihren  Beruf,  kündigen  ohne  Motiv 
ihre  Stellung,  verlegen  sich  auf  professionelles  Nichtsthun,  auf  tagelanges 
Herumlungern  und  Cigarrenrauchen ,  werden  unendlich  zerstreut,  nach- 
lassig, eigenwillig,  fallen  durch  ein  unbegründetes  Lachen  unangenehm  auf. 
Privatim  treiben  sie  sich  in  den  heterogensten  Studiengebieten  herum, 
lesen  —  kaum  den  Knabenschuhen  entwachsen  —  Bücher  über  Geburts- 
hilfe und  Seelenstörungen,  Uber  Strafgesetz  und  Politik,  namentlich  aber 
auch  philosophische  Schriften.  Confus  in  ihrem  Urtheil,  sind  sie  gleich- 
wohl mit  Allem  fertig,  zuversichtlich  bis  zur  Rücksichtslosigkeit,  selbst- 
gefällig, Alles  belächelnd.  Ein  alberner  Selbstcultus,  durch  einen  in- 
stinctiven  Grössenwahn  getragen,  beginnt  sich  breit  zu  machen.  In  ihrem 
Auftreten  werden  sie  herrisch,  in  ihrem  Aeussern  hoffärtig  zugestutzt.  Die 
Pietätsbegriffe  schwinden;  eine  dünkelhafte  Rechthaberei  mit  grosser  Heftig- 
keit bei  Widerspruch  —  oft  aber  auch  unmotivirt,  in  periodischen  Stei- 
gerungen —  greift  Platz.  Scenen  von  Gewalttätigkeit  kommen.  Un- 
vermerkt blitzen  barocke  Grössen-  und  Verfolgungsideen  auf,  anfangs  zu- 
sammengestückelt, allmählich  aber  in  systematischem  Ausbau  zum  vollen 
Wahnsinn  sich  abrundend.  Die  wirkliche  geistige  Leistungsfähigkeit 
schrumpft  oft  in  Jahresfrist  zum  bescheidensten  Können  zusammen ;  einst 
hoffnungsvolle  strebsame  Jünglinge  vermögen  jetzt  kaum  mehr  einem  me- 
chanischen Abschreiber-Dienst  zu  genügen. 

Wieder  Andere  wandern  in  Besserungsanstalten  oder  in  Irren- 
asyle, nachdem  irgend  ein  impulsiver  Act  (Brandstiftung)  sie  mit 
dem  Gesetz  entzweit,  und  zugleich  zur  richtigen  Erkenntniss  ihres 
Seelenzustandes  geführt  hatte.  Bei  Vielen  geht  mit  der  Pubertät 
das  hereditäre  Temperament  in  das  ausgesprochen  hysterische  oder 
hypochondrisch- melancholische  Uber,  und  bringt  in  dieser  Metamor- 
phose die  originäre  Anlage  zur  Reife.  Es  gibt  derartige  sensible 
Unterleibsvirtuosen,  welche,  kaum  den  Knabenjahren  entwachsen, 
alle  Aerzte  consultiren,  jeden  Sommer  ein  neues  Bad  besuchen  und  — 
nie  gesund  sind.  Bei  der  schwersten  Form  hereditärer  Mitgift,  der 
ethisch  degenerativen,  enthüllt  gerade  die  Pubertätszeit  die  „instinc- 
tive  Bösewichts"-Natur  (s.  Moral  Insanity). 

Nicht  Wenige  der  Disponirten  vermögen  diese  erste  Klippe  zu 
umschiffen.  Dafür  kommen  jetzt  weitere  und  nicht  minder  gefähr- 
liche. Der  Kampf  ums  Dasein  rückt  an,  und  lichtet  die  Reihen 
dieser  psychischen  Schwächlinge.  Wo  sie  es  im  Leben  und  im  Be- 
rufe versuchen,  straucheln  sie.  Nirgends  dauern  sie  aus,  überall 
finden  sie  Mängel,  oder  werden  selbst  in  ihrer  Uubrauchbarkeit  er- 
probt. Unzufrieden  und  misstrauisch  Uber  den  ewigen  Misserfolg, 
nehmen  nicht  Wenige  das  Gefühl  der  Beeinträchtigung  oder  des  er- 
littenen Unrechts  aus  ihren  Niederlagen  mit,  und  stellen  sich  damit 
selbst  auf  den  Weg  in  den  Verfolgungswahusinn  (s.  u.).  Andere 
(Masturbanten)  gerathen  in  erotische  Verrücktheit.  Ein  weiterer  Theil 


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451 


Das  hereditäre  Irresein. 


entwickelt  sich,  des  verunglückten  Treibens  müde,  zu  Bummlern 
und  Vagabunden,  bis  sie  nach  jahrelangen  Kreuz-  und  Querztlgen 
und  zahllosen  Abstrafungen  sich  endlich  dem  Irrenhause  für  dauernd 
zuwenden.  Noch  Andere  werden  Sonderlinge  und  Misanthropen, 
darunter  Manche  in  barmloser  Art,  indem  sie  in  der  Stille  ihren 
Uebergang  in  originäre  Verrücktheit  mit  irgend  einer  Grössenwahns- 
schrulle  durchmachen,  und  damit  psychisch  abschliessen.  Nicht  We- 
nige aber  fallen  dabei  einem  zunehmend  verbitterten  Verfolgungs- 
wahnsinn anheim,  ziehen  sich  menschenscheu  zurück,  fuhren  das 
unsinnigste  Leben  der  Entbehrung,  wechseln  jahrelang  kein  Hemd, 
drohen  in  Schmutz  und  Unrath  zu  verkommen  —  bis  auch  sie  end- 
lich in  die  rettende  Hand  des  Asyls  gelangen.  Hier  leben  sie  nicht 
selten  wieder  auf;  die  sittliche  Verkommenheit,  neben  welcher  manch- 
mal noch  eine  Uberraschende  Verstandesschärfe  haushält,  vermag 
sich  unter  der  Corrective  der  Hausordnung  wieder  leidlich  zu  er- 
holen; aber  selten  nachhaltig  und  meist  nur  äusserlich.  Sie  bleiben 
im  Grunde  moralische  Lumpe,  verknöchern  dabei  zu  Egoisten,  theils 
nach  dem  Typus  der  Hypochonder,  theils  als  Zwangsvorstellungs- 
Candidaten  mit  Berührungsfurcht  (s.  d.). 

Der  grössern  Zahl  aber  vermag  auch  die  Anstalt  nicht  mehr  ihre 
helfende  Hand  zu  bieten:  sie  sinken  unaufhaltsam  in  immer  grössere 
psychische  Schwäche,  vor  Allem  des  Willens  und  des  Gemüthslebens, 
nach  und  nach  aber  auch  der  intellectuellen  Functionen  herab.  Abge- 
schlossen für  sich,  jede  Gesellschaft  meidend,  unfähig  sich  der  Umgebung 
anzupassen,  unschlüssig  in  ihrem  Thun,  stetig  eines  Anstosses  von  aussen 
bedürfend,  nur  noch  in  ihrem  Gedächtniss  und  in  den  erworbenen  Urtheilen 
leidlich  frei ,  steril  für  jede  Erweiterung  ihres  Wissens,  dabei  zeitweilig 
von  Sinnestäuschungen  oder  Anwandlungen  von  Grössen-  oder  Verfolgungs- 
wahn aufgerüttelt  —  gehen  sie  sachte  in  den  geistigen  und  sittlichen 
Schlaf  ein,  welcher  sich  auch  äusserlich  in  ihrer  gebrochenen  Haltung 
und  ihrem  vornübergebückten  Gang  traurig  verkörpert. 

Wieder  Andere  machen  im  Rahmen  ihrer  individuellen  Erkrankung 
das  ganze  Compendium  der  psychischen  Habitnalformen  durch ;  aber 
sehr  oft  in  ganz  unklarer  klinischer  Ausprägung  und  in  mannigfach- 
ster Combinirung,  so  dass  der  Krankheitsfall  in  allen  Formen  und 
Farben  schillert. 

Spielt  sich  das  erbliche  Irresein  mehr  in  dem  engern  Rahmen  der 
melancholischen  oder  manischen  Habitualform  ab,  so  vermisst  auch  hier 
eine  schärfere  Beobachtung  gewisse  auszeichnende  klinische  Züge  nicht. 
So  ist  die  gpeeifisch  hereditäre  Melancholie  charakterisirt  durch  die  häu- 
fige Disproportion  zwischen  dem  melancholischen  Affect  und  melancho- 
lischen Gebahren:  während  beim  rüstigen  Gehirn  die  beiden  genannten 
Momente  in  einem  adäquaten  Reflexverhältniss  stehen,  ist  beim  Heredi- 
tarier  das  emotive  Element  oft  schwach  gegenüber  dem  triebartigen  Selbst- 


Die  hereditäre  Neurose.  Klinische  Charaktere  der  „hereditären"  Psychosen.  455 


morddrang.  Die  specifische  hereditäre  Manie  trägt  in  gleicher  Weise 
nicht  selten  ein  primäres  Schwachsinns-Element  in  sich:  die  geistige  Stö- 
rung spielt  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  losgebunden  von  der 
Persönlichkeit  des  Kranken  ab,  und  zeigt  auch  bei  verhältniss- 
mässig  ruhigem  Ablauf  einen  sehr  ungeordneten  Mechanismus  der 
psychischen  Elemente.  Ferner:  steigert  sie  sich  auasergewöhnlich  rasch 
zur  Mania  gravis  resp.  zum  immer  mehr  reÖectorischen  Charakter  der 
manischen  Bewegungen  (gegenüber  den  coordinirten),  und  intellectuell  zur 
Verworrenheit  gegenüber  der  einfachen  manischen  Ideenflucht.  Sehr  oft 
mischen  sich  auch  melancholische  und  manische  Züge,  namentlich  wenn 
sie  sich  vorwiegend  im  Bereich  des  Gefühlslebens  abwickeln,  in  einer  so 
bunten,  abrupt  Uberspringenden  Weise,  dass  nie  eine  bestimmtere  Ab- 
rundung  des  Krankheitsbildes  zu  Stande  kommt.  Dazu  kommt  ferner  für 
die  hereditäre  Melancholie  und  Manie  der  sehr  leichte  Uebergang  in 
delirante  Phasen  (grosse  Neigung  zu  Hallucinationen ;  in  der  Melan- 
cholie oft  transitorische  Episoden  von  ganz  abruptem  Grössen  Wahnsinn), 
und  die  —  bei  einigermaassen  protrahirterem  Verlauf  —  stets  sich  ein- 
schwärzenden Züge  von  Verrücktheit.  Sehr  selten  sind  die  klinischen 
Bilder  rein  (s.u.).  Auszeichnend  ist  endlich  noch:  das  relativ  früh- 
zeitige Auftreten  der  genannten  psychischen  Krankheitszustände  und 
die  sehr  oft  gehäufte  Combination  (zwei  und  mehrere  manische  Paroxys- 
men  innerhalb  desselben  Anfalls),  manchmal  in  periodischer  Wieder- 
kehr, mit  successiver  Verflachung  der  CurvenhÖhe  gegen  die  Genesung 
hin  —  ohne  oder  auf  nur  leiseste  äussere  Veranlassungen. 

Es  muss  hier,  recapitulirend,  der  allgemeinen  klinischen  Physiognomik 
des  hereditären  Irreseins,  gegenüber  den  Psychosen  des  rüstigen  Gehirns, 
gedacht  werden.  Diese  Charakteristika  sind:  Polymorphismus  des  klini- 
schen Verlaufs,  jäher  Anstieg  und  Abfall  des  Paroxysmus  sowohl  im 
Ganzen  (unvermittelt  rasche  Entstehung  und  brüskes  Aufhören),  als  auch 
ebenso  jäher  Uebergang  der  einzelnen  Zustandsphasen  innerhalb  des  An- 
falls; speciell  für  Melancholie  und  Manie  (ausser  den  oben  angeführten 
klinischen  Charakteren)  oft  unvollständige  oder  nur  fragmentare  Ausbil- 
dung der  Einzelphase  mit  besonderer  Entwicklung  des  „impulsiven"  Ele- 
ments, neben  auffälliger,  wenn  auch  nur  relativer,  Geschontheit  des  In- 
tellects;  progressiver  Uebergang  in  geistige  Schwäche.  Grosse  Neigung 
zu  Recidiven,  oder  ausgesprochen  periodischer  Verlaufscharakter  (dauernd 
oder  vorübergehend). 

Für  männliche  Hereditarier  dieser  Jahre  bis  zum  Beginn  des 
dritten  Jahrzehnts  ist  die  Thatsache  nachzutragen,  dass  Manche  bis 
zu  diesem  Termin  wohl  ihre  physische,  nicht  aber  ihre  charaktero- 
logische  Reife  erreicht  haben.  Sie  machen  die  durchgreifende  Aende- 
rung  des  Gefühlslebens  in  dieser  „Mauserungszeit"  nicht  durch,  und 
lernen  deshalb  auch  das  erwachende  Kraft-  und  Selbstgefühl  des 
Mannes  nie  kennen.  Sie  werden  nicht  Weib,  aber  auch  nicht  Mann, 
und  behalten  immer  eine  an  das  Feminine  anstreifende  Aengstlich- 
keit  und  Skrupulositat  bei.  Sie  haben  Sinn  und  Gefühl  für  das 
„Ewig- Weibliche",  aber  kein  geschlechtliches  Interesse.  Sehr  geneigt 


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45G 


Das  hereditäre  Irresein. 


zu  Zwangsgedanken,  welche  sie  nicht  selten  von  Kindheit  auf  ken- 
nen, wandeln  sie  in  der  Regel  von  einem  melancholischen  Anfall 
mit  Lebensüberdruss  in  den  andern;  jeder  brüske  Affect  wirft  sie 
nieder;  intellectuell  können  sie  ihre  Anlagen  nicht  ausbilden  und 
verwerthen,  da  auf  jede  Anstrengung  eine  neurasthenische  Krise  folgt. 

Die  Jahre  des  Lebenszeniths  sind  für  den  Hereditarier  nur  in 
soweit  mehr  gefährlich,  als  bei  seiner  geistigen  Widerstandsschwäche 
alle  Ansprüche  des  Daseinskampfes  tiefer  einschneiden.  Bei  be- 
lasteten Frauen  ist  speciell  das  Puerperium  eine  schwere  Klippe 
(Melancholie,  acuter  Wahnsinn,  Delir.  acut.);  bei  disponirten  Män- 
nern droht  um  diese  Zeit  der  chronische  cerebrale  Erschöpfungs- 
zustand der  allgemeinen  Paralyse:  manchmal  nach  den  convulsivi- 
schen  Zuckungen  eines  exccntrischen  Lebens,  welches  durch  unzählige 
Compromittirungen,  durch  sociale  und  politische  Charakterlosigkeit 
sich  erst  bankerott  gemacht  hatte;  in  nicht  seltenen  Fällen  aber 
ohne  brüske  Schädlichkeiten,  sondern  vielmehr  als  directe  Weiter- 
entwicklung, als  das  Senium  praecox,  der  originär  defecten  Anlage. 
Besonders  häufig  aber  kommt  auch  auf  dieser  Altersstufe  der  chro- 
nische Wahnsinn  zum  Ausbruch. 

Unpraktisch  und  ohne  Berechnung  in  ihrem  geistigen  wie  im  öko- 
nomischen Haushalt,  unklar  in  ihrem  Willensdrang,  welcher  ihre  oft  guten 
Kräfte  und  edeln  Bestrebungen  in  ein  unerspriessliches  Vielerlei  zer- 
splittert, ohne  Schwerpunkt  in  ihren  Neigungen,  dabei  von  gesteigertem 
Selbstgefühl  —  ist  der  Zusammcnstoss  mit  der  unerbittlichen  Wirklich- 
keit, mit  dem  Ernste  des  Lebens,  für  Viele  unvermeidlich.  Sie  empfin- 
den, Gefühlsmenschen,  wie  sie  sind,  mit  sentimentalen  und  phantastischen 
Träumereien  die  harte  Anfassung  der  Wirklichkeit  als  eine  „Verletzung", 
deren  Ursache  sie  in  äusserer  Verfolgung  suchen  und  auch  finden  (s.  o.). 
Dies  kann  Schritt  für  Schritt,  aber  auch  in  Einem  Anfalle  sich  vollziehen. 
Die  klinische  Form  kann  ein  einfacher  Vcrfolguugswahnsinu  sein,  oder 
auch  ein  mit  Exaltationsideen  gemischter  (s.  orig.  Verrücktheit),  mit  oft 
raschem  Zerfall  in  verwirrte  Dementia. 

In  andern  Fällen  meldet  sich  wiederum  die  Maladie  du  doute 
an;  auch  der  Querulantenwahnsinn.  Noch  grösser  ist  die  Zahl  der 
periodischen  und  circulären  Psychosen  als  Weiterbildung  der  here- 
ditären Neurose  in  diesem  Lebensjahrzehnt. 

Endlich  bilden  Climacterium  und  Senium  die  letzten  und  mit 
die  günstigsten  Etappen  für  die  Entwicklung  (resp.  Abschluss)  der 
hereditären  Neurose.  Die  Involutionsphasen  des  Gehirns  werden 
Evolution.sepochen  für  den  anomalen  geistigen  Keim.  Wiederum  ist 
es  die  Maladie  du  doute,  welche  jetzt  in  den  Vordergrund  tritt;  oder 
die  hereditäre  Psychose  insceuirt  sich  als  hypochondrischer  Maras- 
mus, oder  als  impulsive  Melancholie;  in  mächtiger  Zahl  auch  als 


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Die  hereditäre  Neurose.  Ausgänge. 


—  Transitorische  Psychosen. 


457 


chronisch  depressiver  oder  exaltirter  Wahnsinn.  In  einer  letzten 
Gruppe  endlich  findet  das  durch  Erblichkeit  invalide  Gehirnleben 
seinen  Schlusspunkt  durch  frühzeitige  Cerebropathieen  (Apoplexieen 

U.  8.  W.). 

An  die  Betrachtung  der  Entwicklung  und  des  Verlaufs  der  heredi- 
tären Neurose  muss  eine  klinisch  wichtige  Bemerkung  angeschlossen  wer- 
den. Wenn  die  daraus  entstehenden  Psychosen  theils  durch  die  Eigenart 
ihrer  Symptome ,  theils  durch  den  Verlauf  eine  besondere  Gruppe  dar- 
stellen, so  finden  sich  thatsächlich  dieselben  auszeichnenden  Charaktere 
auch  bei  einer  Reihe  von  sog.  constitutionellen  Psychosen  resp.  psychi- 
schen Hirnleiden,  welche  nicht  angeboren,  sondern  erworben  sind  (durch 
sexuelle  Excesse,  tief  schädigende  Blutanomalieen,  schwere  Anämieen, 
vorausgegangenen  Typhus,  Alkoholismus,  Kopfverletzungen).  Hier  kann 
im  Einzelfalle  nur  die  Anamnese,  welche  bei  der  hereditären  Gruppe  die 
zurückreichenden  Belastungszeichen  nachweist,  die  differentielle  Diagnose 
abgeben.  — 

Als  Anhang  möchte  ich  hier  die  transitorischen  Seelen- 
störungen anreihen. 

Mania  t  r  ansltoria. 

Literatur,  v.  Krafft-Ebing,  Mania  transitoria.  Monogr.  18G5.  —  Der- 
selbe, transitorische  Störungen  des  bclbstbcwusstseins  1 SÖS.  —  Derselbe,  Irren- 
freund 1S71.  —  Schwartzcr,  transitorische  Tobsucht.  Monogr.  1S75  —  Pick, 
Prager  med.  Wochenschr.  1S79  —  Nctolitzki,  Ibid.  —  Mendel,  1.  c.  — 
Tamassia,  Riv.  sper.  1  SSO.  —  Kicruan,  Journ.  of  meut.  sc.  1  SSO.  —  Reich, 
Berl.  klin.  Wochenschr.  1  ss I .  —  Transitorische  neurasthenische  Psychosen: 
v.  Krafft-Ebing,  Irreuireuud  18S3.  —  Engclhoru,  Erlenmeyer»  Centralbl.  1SS1. 

Dieselben  entstehen  zwar  nicht  immer  auf  hereditärer  Grund- 
lage, aber  doch  sehr  häufig,  und  zeigen  —  was  für  den  Anschluss 
au  dieser  Stelle  entscheidender  —  in  ihrer  klinischen  Gestaltung 
einige  der  Wesenseharaktere  des  erblichen  Irreseins,  so  namentlich 
das  Brüske  der  Entstehung  und  des  Abschlusses.  Diese  wichtige 
Verlaufseigenthümlichkeit  hat  sich  bei  der  Gruppe  der  transitorischen 
Psychosen  so  prägnant  ausgebildet,  dass  der  Ausbruch  der  Krank- 
heit nicht  nur  ein  rascher,  sondern  ein  urplötzlicher  ist,  und 
ohne  eigentliche  Vorläufer,  auch  ohne  Entwicklung,  direct  mit  der 
Acme  einsetzt:  bei  der  transitorischen  Manie,  dem  Typus  dieser 
Gruppe,  steht  der  Kranke  im  Moment  des  Ausbruchs  sofort  auch 
auf  der  Höhe  tobsüchtiger  Verwirrung  und  motorischer  Explosion. 
Ebenso  scharf  wird  für  die  meisten  dieser  Fälle  der  Abschluss  durch 
einen  tiefen  Schlaf  bezeichnet,  mit  nachfolgender  Amnesie,  und  so- 
fortigem Uebertritt  in  Wohlsein  oder  in  einen  kurzen  Status  nervosus 
mit  rascher  Erholung. 

Bei  den  Fällen  von  nicht- hereditärem  Ursprung  findet  sich  eine 
aus8ergewöhnliclie  Erschöpf  barkeit  des  Gef  ässnerven  -  Systems,  mit  Nei- 


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458  Das  hereditäre  Irresein. 

gung  zu  Kopffluxionen,  verzeichnet.  Diese  vasomotorische  Schwäche  hält 
sich  manchmal  lange  verborgen,  bis  relativ  geringfügige  Gelegenheits- 
ursachcn  (Stubenhitze,  mässiger  Potus,  Affect-Chok)  sie  zur  Wirksamkeit 
bringen,  und  mit  dem  plötzlichen  Rash  zum  Kopfe  auch  sofort  die  volle 
transitorische  Psychose  in  Scene  setzen.  Gerade  die  typischen  Fälle  der 
sog.  transitorischen  Manie  gehören  den  nicht-hereditären  an,  und  betrafen 
bis  dahin  „gesunde",  wenigstens  nervös  nicht  grob  auffällige  Individuen, 
mit  theilweise  (bis  dahin)  latent  gebliebener  Congestiv-Anlage.  Bemer- 
kenswerth ist,  dass  Männer  eine  ungleich  grössere  Disposition  zu  dieser 
besondern  Erkrankungsform  haben,  als  Frauen,  und  in  auffälliger  Häufig- 
keit junge  Soldaten. 

Klinisch-symptomatologisch  lassen  sich  transitorische  Fälle  von 
Manie  (Furor),  acutem  delirantem  Wahnsinn,  und  von  hallucinatori- 
schem  Stupor  unterscheiden.  Auch  stupuröse  Dämmerzustände  mit 
und  ohne  exaltirten  Wahn  sind  beobachtet  (s.  u.).  Die  wichtigsten 
Formen  sind  die  beiden  ersten,  und  darunter  wiederum  die  tran- 
sitorischen Manieen. 

Unter  diesen  versteht  man  kurz  dauernde  Anfälle  von  peracu- 
tem Furor  ;  mit  wuth-  oder  zornartigen  motorischen  Explosionen,  von 
triebartigem,  reflectorisch-zwangsmässigem,  oft  convulsivem  Form- 
charakter in  den  Bewegungen;  mit  begleitenden  Kopffluxionen  und 
tiefster  Bewusstseinsstörung,  feindlicher  Verkennung  der  Umgebung 
oder  auch  gänzlicher  Perceptionslosigkeit;  mit  einem  jähen  Abschluss 
durch  einen  kritischen  Schlaf,  und  nachfolgender  vollständiger  Am- 
nesie an  den  Anfall  selbst. 

Der  letztere  bricht  peracut  aus,  gewöhnlich  nach  kurz  dauern- 
den Vorzeichen.  Als  solche  erscheinen:  vager  Kopfschmerz,  Wallungs- 
zuständc  zum  Kopfe,  sensorielle  Hyperästhesie;  oder  ein  stilles, 
schweigsames,  benommenes  Wesen.  Hin  und  wieder  sinkt  der  Kranke 
unter  Starrwerden  der  Augen  bewusstlos  zusammen,  und  steht,  wie- 
der zu  sich  gekommen,  sofort  in  der  vollen  Höhe  des  Paroxysmus. 
Andere  Male  bricht  dieser,  ohne  vorausgegangene  Syncope,  mitten 
aus  einem  bis  dahin  unauffälligen  Verhalten  des  Kranken  (aus  einem 
erst  ruhigen,  ahnungslosen  Schlafe)  aus.  Mit  Einem  Schlage  steht 
der  Kranke  —  erwacht  er  —  in  einem  Zustande  voller  U nbes inn- 
lich keit;  er  rollt  die  Augen,  vociferirt,  schreit,  singt,  predigt 
Dabei  ist  die  ganze  Muskulatur  in  drohender  Spannung.  Entweder 
von  selbst  in  rapider  Entwicklung,  oder  durch  eine  harmlose  Anrede, 
oder  auch  durch  ein  Wort  des  Vorwurfs  geweckt,  bricht  der  moto- 
rische Sturm  los:  bald  in  ungeordneten,  convulsiven  Bewegungen, 
in  Heulen,  Brüllen  und  Zähneknirschen,  Zerreissen  der  Kleider, 
schüttelnden  und  stossenden  Gesticulationen;  bald  aber  in  einer 


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Mania  transitoria.  Typisches  Bild. 


459 


blinden  Zornwuth,  welche  unter  übermässiger  Muskelleistang  maass- 
und  ziellos  sich  austobt,  Alles  vernichtet,  was  in  den  Weg  kommt, 
fllr  ihren  entfesselten  Drang  keine  Schranke  findet,  und  nur  durch 
grosse  Uebermacht  gebändigt  werden  kann.  Dazwischen  kann  manch- 
mal vorübergehend  eine  leise  Pause  sich  einschieben:  der  Kranke 
wird  etwas  gelassener,  fasst  unklar  einiges  Nächstliegende  auf ;  plötz- 
lich aber  fällt  er  wieder  in  das  ungestüme  Toben  zurück,  während 
der  Kopf  anhaltend  stark  geröthet,  der  Puls  voll  und  frequent,  die 
Herzbewegung  stürmisch  bleibt,  und  der  Körper  mit  reichlichem 
Schweisse  bedeckt  wird.  Nach  kurzer  Dauer  (2  Stunden  bis  1—2 
Tage)  stellt  sich  Erschlaffung  ein,  unter  Zurücktreten  der  vasomoto- 
rischen Erscheinungen ;  es  erfolgt  ein  mehrstündiger,  bald  natürlicher, 
bald  aber  auch  todähnlicher  Schlaf,  aus  welchem  der  Kranke  lucid, 
und  ohne  jede,  oder  höchstens  ganz  dämmerhafte  Erinnerung  an  das 
Vorgefallene  erwacht.  In  der  Regel  verwundert  er  sich  jetzt  über 
seinen  veränderten  Aufenthalt  (Spital),  und  weiss  in  seinem  Gedächt- 
uiss  nur  noch  an  einige  Vorläufersymptome  (Kopfweh  u.  s.  w.)  an- 
zuknüpfen. Damit  ist  der  Anfall  vorüber,  und  kehrt  in  vielen  Fällen 
nicht  wieder.  Die  Genesung  bleibt  auch  für  die  Folge  dauernd 
erhalten. 

Dies  das  typische  Bild  des  als  Mania  transitoria  zusam- 
mengefassten  Zeichencomplexes. 

Dabei  kommen  eine  Reihe  von  klinischen  Varietäten  vor:  a)  bezüg- 
lich des  Krankheitsbeginn 8.  Nicht  selten  knüpft  dieser  an  einen 
tiefern  Gemütbsaflect,  an  einen  verschluckten  Gram  oder  Aerger  und  eine 
dadurch  bewirkte  leise  Depression  an,  welche  sich  aber  nicht  in  eine 
schmerzliche  Verstimmung  reflectirt,  sondern  nur  in  ein  gemüthlich  reiz- 
bareres, zerstreutes  Wesen.  Bemerkenswerther  Weise  bricht  auch  der 
Anfall  nicht  in  Folge  des  fortgesetzten  NachgrUbelns,  gleichsam  als  An- 
sturm der  absichtlich  gerufenen  Geister  hervor,  sondern  gegentheils  un- 
erwartet, selbst  vom  Kranken  ungeahnt;  manchmal  nach  einem  heitern, 
gemüthlichen  Wein -Abend,  ohne  eigentlichen  Trinkexcess.  Die  „ver- 
schluckten Thränen",  der  verschwiegen  getragene  Affect,  hatten  hier 
langsam  die  vasomotorische  Aflection  vorbereitet,  welche,  soweit  gediehen, 
eines  nur  massigen  Alkoliolreizes  (manchmal  selbst  nur  einer  grössern 
Hitze  und  Dumpfheit  der  Stubenluft)  bedarf,  um  die  verhängnissvolle 
acute  Kopfcongestion  auszuwirken.  —  b)  bezüglich  des  Krankheits- 
verlaufs. Dieser  besteht  in  der  Regel  nur  aus  einer  sich  überstür- 
zenden Reihe  reflectorisch-triebartiger  Acte,  bei  einer  wachen  Unbesinn- 
licbkeit  resp.  gänzlichen  Bewusstlosigkeit;  der  Anfall  hat  nach  motorischer 
und  sensorieller  Richtung  einen  ausgesprochen  epileptoid-convulsiven  Cha- 
rakter. Nun  gibt  es  aber  Fälle,  in  welchen  episodisch  (namentlich  im 
Beginn  der  Wuth-Attake)  von  Seite  des  Bewusstseins  noch  ein  leiser 
Schimmer  mitgeht,  so  zwar,  dass  der  Kranke  seinen  nach  aussen  gewor- 


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4G0 


Das  hereditäre  Irresein. 


fenen  Vernichtungstirang  mit  den  Worten  begleitet:  „jetzt  bring'  ich  Einen 
um";  oder:  „Du  musst  hin  sein".  So  furchtbar  bedeutsam  dieser  Ruf 
für  das  nun  folgende  Zerstörungswerk  auch  sein  mag,  so  ist  er  doch 
keineswegs  nach  seinem  Inhalt  vom  Kranken  klar  erfasst;  denn  die  Wuth- 
Handlung  bleibt  in  gleicher  Weise,  wie  bei  der  rein  convulsiven  Explosion 
in  den  typischen  Fällen,  eine  ziel-  und  planlose,  nur  Reflex,  ohne 
jedes  Anzeichen  ciues  wirklichen  Vorbedachts.  Es  ist,  wie  beim  Goltz- 
schen  „Quack"- Versuch,  ein  unbewusster  Reflex  auf  das  Sprach- Centrum, 
ausgehend  von  dem  KraftgefUhl  aus  den  plötzlich  toniscb-innervirten  Mus- 
keln und  der  blitzähnlichen  Perception  der  durch  diese  Körperhaltung 
aufgedrungenen  Drohungsgeberde,  c)  bezüglich  des  Ausgangs.  Aus- 
nahmslos schliesst  dieser  mit  einem  kritischen  Schlaf  ab.  Nicht  immer 
ist  aber  damit  auch  die  dauernde  Genesung  gesichert.  Es  erfolgen  häufig 
Nachschübe  der  Furor-Anfälle,  und  zwar  bald  in  kürzeren,  bald  in  län- 
geren Pausen  (remittirender  transitorischer  Furor).  In  der  Zwischenzeit 
sind  die  Kranken  amnestisch  für  die  Zeit  des  Anfalls,  aber  geistig  klar, 
wenn  auch  müde  und  erschöpft,  dabei  gewöhnlich  mürrisch,  Übellaunig, 
etwas  scheu  und  verlegen.  Es  kann  nun  ein  zweiter  und  ein  dritter,  ja 
wiederholter  Paroxysmus  folgen,  wobei  die  Anfälle  selbst  (wenn  auch  in 
den  Grundcharakteren  der  Kopffluxionen,  der  tiefen  Bewusstseinsstörung, 
dem  abschliessenden  Schlafe  und  der  Amnesie  sich  gleichbleibend)  doch 
inhaltlich,  und  auch  in  der  Intensität,  bedeutende  Unterschiede  aufweisen 
können.  So  kann  auf  einen  ersten  Paroxysmus  mit  Schreien,  Singen  und 
wechselnden  aber  harmlosen  Drohgeberden  später  ein  mässiger  Furor- An- 
fall mit  Zerreissen  der  Kleider,  Umsichschlagen,  Beissen  u.  s.  w.  folgen, 
und  darauf  ein  vernichtend  heftiger  mit  der  schwersten  Gefährdung  der 
Umgebung.  Mit  der  Häufung  der  Anfälle  ändert  sich  aber  manchmal 
der  Krankheits  -  Charakter  auch  nach  Seite  des  Intervalls  und  des  End- 
Ausgangs:  so  kann  der  Kranke  nach  mehreren  Paroxysmen  plötzlich  in 
der  Zwischenzeit  moralisch  perverse  Züge  auf  Grundlage  einer  massigen 
psychischen  Exaltation  (Moria)  aufweisen,  welche  erst  mit  einem  folgen- 
den Anfalle  wieder  ausgetilgt  werden,  und  aus  dieser  heraus  ihren  Ueber- 
gang  in  definitive  Genesung  finden.  Einigcmale  beobachtete  ich  auch 
eine  längere  Mania  gravis  im  Anschluss  an  mehrere  vorausgegangene 
transitorische  Furor-Anfälle.  — 

Nahe  verwandt,  und  vielfach  mit  der  Mania  transitoria  s.  str.  zusam- 
mengeworfen, sind  die  peracuten  manischen  Wahn sinnszustände. 
Klinisch  stellen  dieselben  transitorische  Dämonomanieen  dar,  mit  zahl- 
reichen schreckhaften  Sinnestäuschungen  bei  traumartigem  Bewusstsein, 
und  heftigsten  Angstreactionen  im  motorischen  Gebiete.  Der  Ausbruch 
der  Krankheit  ist  ein  ebenso  jäher  wie  bei  der  eigentlichen  Manie;  ge- 
wöhnlich erfolgt  er  Nachts  aus  einem  bis  dahin  guten  Schlafe.  Der 
Kranke  fährt  auf  und  befindet  sich  sofort  in  einer  Traumwelt;  alle 
hallucinatorischen  Schrecknisse  bedrängen  ihn,  „Teufel  ringsum"  —  und 
dagegen  kämpft  er  verzweifelnd  und  bis  zur  eigenen  oder  fremden  Ver- 
nichtung. So  kommen  hier  neben  den  homiciden  auch  vielfache  suicide 
Raptus  vor.  Kopffluxionen  sind  sehr  oft  zugegen,  aber  lange  nicht  so 
regelmässig,  wie  bei  der  manischen  Form.  Nicht  selten  ist  sogar  Ge- 
sichtsblässe, oder  ein  Wechsel  zwischen  dieser  und  Rash  Zuständen  vor- 


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Mania  transitoria.  Klin.  Variet.  —  Peracuter  manischer  Wahns,  u.  Stupor.  461 

lianden.  Dagegen  fehlt  nie  eine  erhebliche  Beschleunigung  der  Herz- 
tätigkeit, dem  Höhepunkt  des  Angstaffectes  entsprechend.  Die  Pupillen 
sind  nicht  selten  stärker  erweitert,  manchmal  nur  einseitig.  In  einer  sehr 
grossen  Anzahl  von  Fällen  finden  sich  intercostale  Neuralgieen  vor,  deren 
Exacerbationen  mit  dem  Ausbruch  des  transitorischen  Wahnsinnsanfalles 
zusammentreffen ,  so  zwar,  dass  die  Annahme  einer  wirklichen  „Reflex- 
Psychose",  vom  Locus  dolens  aus,  sich  aufdrängt  (Raptus  nenralgicus,  s.  d.). 
Manchmal  ist  eine  vollständige  Spinal-Irritation  vorhanden,  mit  Schmerz- 
haftigkeit  der  verschiedensten  Nerven-Druckpunkte  und  allgemeiner  Haut- 
hyperästhesie und  gesteigerter  Reflexerregbarkeit  (Ausbeisscn  eines  Stücks 
aus  einem  in  den  Mund  gereichten  Löflei).  Die  Qualität  der  stürmischen 
Abwehr-  oder  Angriffsbewegungen  kann  dabei  in  gewissem  Grade  eine 
instinetiv  bemessene  sein  —  reactive  Angst-  oder  Verzweiflungsgeberden 
in  höchster  Steigerung ;  oder  aber  sie  erreicht  auf  der  Höhe  des  Anfalls 
auch  nur  wieder  die  Stufe  des  reflectorisch  Zwangsmässigen,  und  die 
„Handlung"  stellt,  wie  in  der  transitorischen  Manie,  nur  eine  ziellose  Ent- 
ladung, richtiger  „Entlastung"  aus  dem  dunkeln  Gefühl  einer  unermess- 
liehen  Bedrängtheit  dar.  Hier  schieben  sich  manchmal  Phasen  von  rein 
convulsiven  Bewegungen  (Verdrehungen  der  Arme  und  des  Kopfes,  Gri- 
massirungen,  schnellende  Vor-  und  RUckwärtskrümmungen  des  Körpers, 
tetanische  Streckungen,  abwechselnd  mit  Flexoren- Krämpfen)  dazwischen. 
Oft  treten  auch  flüchtige  Episoden  von  deliranter  Verkennung  der  Um- 
gebung auf,  mit  Spucken,  Lachen,  neckischem  Vcrsteckspielen  im  Bette, 
Kecitiren  u.  s.  w.  Der  Anfall  schliesst,  wie  bei  der  transitorischen  Manie, 
mit  einem  kritischen  tiefen  Schlafe  ab;  aber  nicht  so  typisch.  Manchmal 
ist  der  Schlaf  unruhig,  unterbrochen,  und  der  Kranke  dennoch  am  Morgen 
lucider;  oder  aber  der  Nachlass,  zugleich  mit  Aufhellung  des  Bewusst- 
seins,  bereitet  sich  schon  vor  dem  Schlafe  vor,  und  letzterer  bildet  nur 
die  Vollendung  der  begonnenen  Krise.  Auch  darin  besteht  gegenüber 
den  typisch-manischen  Fällen  eine  Nuancirung,  dass  die  Einzelerkrankung 
hier  viel  häufiger  aus  einer  Serie  von  Anfällen  zusammengesetzt  ist, 
bis  endlich  die  Genesung  folgt.  In  den  Intervallen  bewahrt  der  Kranke, 
wie  dort,  vollständige  Amnesie,  zugleich  aber  auch,  wenigstens  einige 
Tage  nach  dem  Anfall  (oft  aber  auch  durch  Wochen)  bei  sonstiger 
Lucidität  noch  ein  reizbares,  eigensinniges,  kindlich  empfindsames,  oder 
auch  finsteres,  weinerlich  misstranisches  Wesen.  —  Wie  auf  die  ge- 
häuften transitorischen  Furor- Anfälle  manchmal  eine  wirkliche  Mania 
gravis  folgt,  so  kann  der  peracute  manische  Wahnsinn  zu  einem  nach- 
folgenden subacuten  dämonomanen  Verfolgungswahn  die  Einleitung  bilden 
(jedoch  seltener). 

Einen  peracuten  transitorischen  Stupor  auf  hallucinatori- 
scher  Grundlage  beobachtete  ich  einmal  bei  einem  erblich  belasteten, 
mittelmässig  begabten,  aber  bis  dahin  gesunden  jungen  Mann  in  Inter- 
vallen von  ca.  S  Tagen.  Grössere  körperliche  Aufregung  war  voraus- 
gegangen. Nach  einleitendem  Kopfschmerz,  Benommenheit  und  Präcor- 
dialdruck  stellte  sich  unter  starken  Kopfcongestionen  ein  stupuröser  Zu- 
stand ein,  mit  Perceptionsabschluss  (nur  bei  heftigem  Geräusch  reflectorisches 
Zuck  en,  mit  träumerischen  fragmentareu  Aeusserungen  dämonomanen  In- 
halts); dabei  gelegentliche  Zuckungen  und  Herumschleudern  der  Arme, 


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162 


Das  hereditäre  Irresein. 


Schütteln  des  Kopfes,  stierer  schwärmerischer  Blick,  ruhiger  Puls,  nor- 
male oder  aub normale  Temperatur.  Der  Uebergang  in  das  Intervall  er- 
folgte nach  1 — 2  tagiger  Dauer  sehr  rasch  und  vollständig;  nachher 
Amnesie.  In  der  Zwischenzeit  war  der  Kranke  lucid,  arbeitsfähig;  nur 
zeigte  er  gegenüber  von  früher  mehrfach  ein  kindischeres  zerstreuteres 
Benehmen,  und  redete  oft  albern.  Die  Paroxysmen  wiederholten  sich  ca. 
10  Wochen  lang  in  immer  längern  Intervallen  und  ohne  äussere  Veran- 
lassung; dabei  nahmen  sie  an  Tiefe  der  Bewusstseinsstörnng  succesive 
ab,  und  verliefen  endlich  von  selbst  in  Genesung.  Der  Kranke  blieb 
dauernd  in  jeder  Hinsicht  gesund.  Von  Epilepsie  oder  Hysterie  war 
weder  vor-  noch  nachher  das  mindeste  Zeichen  aufzufinden;  auch  schwä- 
chende Einflüsse  waren  nicht  vorhergegangen.  Dagegen  war  die  Mutter 
des  Kranken  epileptisch  gewesen  und  an  Epilepsie  verstorben. 

Soll  man  die  klinische  Sonderstellung  der  besprochenen  tran- 
sitori6chen  Psychosen  aufrecht  erhalten?  Ich  möchte  diese  bis  heute 
noch  vielfach  umstrittene  Frage  b  e j  a  h  e  n  d  beantworten.  Für  die  Exis- 
tenzberechtigung, speciell  der  „transitorischen  Manie",  liegen  in  den  oben 
besprochenen  Charakteren  des  ganz  speciiischen  Krankheitsbeginns  (so- 
fortige Acme)  und  ebenso  auch  des  Krankheitsabschlusses  (kritischer 
Schlaf  mit  Amnesie  und  sonstiger  Lucidität),  neben  dem  peracuten  Ver- 
lauf und  den  begleitenden  vasomotorischen  Kopferscheinungen,  triftige 
Anhaltspunkte;  durch  diese  sondert  sich  die  besprochene  Gruppe  scharf 
von  allen  sonstigen  Manieen  ab.  Nur  die  Manie  der  Epileptiker  könnte 
in  Concurrenz  treten ;  aber  auch  diese  ist  ja,  den  übrigen  Manieen  gegen- 
über, eine  specifische,  und  ihrerseits  wiederum  th  eil  weise,  ganz  ent- 
scheidend durch  das  Intervall,  von  der  transitorischen  verschieden. 
Schwieriger  dürfte  die  zweite  der  oben  besprochenen  Formen  abzugrenzen 
sein,  welche  die  fliessendsten  Uebergänge  einerseits  zu  den  acuten  Psy- 
chosen in  fieberhaften  Krankheiten  (ganz  besonders  zu  den  psychischen 
Aequivalenten  der  Febris  intermittens)  und  andrerseits  zu  den  Insulten 
im  hystero-epileptischen  Irresein  aufweist.  Aber  gerade  in  dieser  grossen 
Gruppe  nimmt  sie  durch  ihre,  mit  der  transitorischen  Manie  gemeinsamen 
Grundzüge  (Beginn,  Schluss)  eine  strengere  Sonderstellung  ein.  Dies 
wenigstens  vorläufig  und  aus  praktischen  Gründen;  denn  nosologisch  — 
das  ist  auch  meine  Ueberzeugung  —  wird  die  jetzige  Trennung  nur  ein 
Uebergang  zur  Wiedervereinigung  sein,  unter  dem  Gesichtspunkte,  dass 
wir  diese  transitorischen  Formen  als  bestimmte  cerebrale  Modifi- 
cationen  der  grundliegenden  Allgemeinzustände  (der  hereditären,  neur- 
asthenischen  Neurose)  werden  begreifen  lernen.  Die  nie  fehlende  vaso- 
motorische Kopfhyperämie  bei  der  manischen  Gruppe,  die  selir 
häufige  Coincidenz  mit  Neuralgie  en  bei  der  zweiten,  der  reflexartige 
Formcharakter  in  den  Bewegungen ,  die  intercurrenten  vasomotorischen 
Gefässkrämpfe  neben  jeweils  prägnant  hervortretenden  neuralgischen 
Schmerzpunkten  —  geben  beachtenswerthe  erste  Fingerzeige  für  dieses 
spätere  Verständniss  einer  Pathogenese  ab.  Aber  vorerst  ist  die  Tren- 
nung durchaus  noch  festzuhalten,  weil  diese  wenigstens  die  sowohl  kli- 
nisch als  forens  hochwichtige  Thatsache  ausdrückt:  dass  es  peracute 
Seelenstörungen  gibt,  mit  grösster  klinischer  Symptomenverwandtschaft 
zu  epileptischen  und  hystero-epileptischen  Zuständen,  welche  aber  gleich- 


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I 


Acutes  Irresein,  mit  Asthma  alternirend.  —  Transit,  neurasthenische  Psychosen.  463 

wohl  weder  vor-  noch  nachher  den  mindesten  Anhaltspunkt  zur 
Annahme  ei  ner  vorhandenen  wirklichen  Epilepsie  oderHy- 
sterie  abgeben.  — 

In  diese  Gruppe  der  transitorischcn  Seelenstörungen  gehören,  wenn 
auch  den  bisher  besprochenen  etwas  ferner  stehend,  die  mit  Asthma 
abwechselnden  acuten  hallucinatorischen  Irreseinszustände,  auf  welche  in 
neuester  Zeit  wiederholt  aufmerksam  gemacht  wurde.  In  einem  hier  beob- 
achteten Falle  waren  (bei  einem  Soldaten,  früher  schon  engbrüstig  und 
mehrfach  bämoptoisch)  erst  asthmatische  Symptome  aufgetreten;  darauf 
Wiederherstellung.  Nach  drei  Tagen  Beengung  mit  Schleirarasseln;  wieder- 
um Besserung.  Nach  14  Tagen  Präcordialdruck,  Kopfweh,  Engigkeit 
ohne  objectiv  nachweisbaren  Lungenbefund;  dagegen  jetzt  sehr  starker 
linksseitiger  Intercostalschmerz.  Iu  der  Nacht  dämonomanischer  Anfall 
mit  Teufelsvisionen,  Singen  und  Predigen,  Nahrungsverweigerung,  gestei- 
gerte Reflexerregbarkeit,  kalte  Hände  und  Füsse,  einseitig  erweiterte 
Pupillen,  leises  Vorsichhinsprechen,  Perceptionsabschluss,  Puls  64.  Nach 
vier  Tagen  wieder  bei  sich:  vollständige  Amnesie.  Jetzt  vierwöchent- 
liche Pause  bei  geordnetem  äusserem  Verhalten;  Patient  ist  müde,  er- 
schöpft, wortkarg,  weinerlich;  ab  und  zu  noch  Engigkeit  mit  Rasselge- 
räuschen. Als  diese  vergehen,  wiederum  Paroxysmus  in  mässigem  Grade. 
Patient  bekommt,  nachdem  er  einige  Stunden  zuvor  stiller  und  gedrück- 
ter gewesen,  und  wieder  enger  geathmet  hatte,  plötzlich  das  Aussehen 
eines  Wechselfieberkranken  im  Frostanfall:  beschleunigte,  erschwerte  Re- 
spiration, seltener  Puls,  verstärkter  Herzchok,  mässige  Cyanose,  auffallend 
kühle  Hautdecken,  sehr  lebhafter  Intercostalschmerz.  Nach  wenigen 
Stunden  Anfall  vorüber.  Vollständige  Amnesie.  Nun  noch  zeitweilige 
schwache  Anfälle  von  Engigkeit.  Genesung. 

Krafft-Ebing  hat  unsere  Kenntniss  dieser  transitorischen  Irre- 
seinszustände noch  durch  mehrere  wichtige  Beobachtungen  erweitert.  Er 
fand  bei  Leuten,  welche  nach  geistigen  oder  körperlichen  Ueberanstren- 
gungen  und  gewöhnlich  unter  dem  mitwirkenden  Einfluss  von  Affecten 
cerebral-neurasthenisch  geworden  waren,  plötzliche  Ausbrüche  von  tran- 
8itorischer  Geistesstörung,  und  zwar  unter  dem  Bilde  von  „stuporartigen 
Dämmerzuständen",  theils  mit  „Angst",  theils  mit  dem  Wahne  der  „Stan- 
deserhöhung". Bei  den  letzteren  Fällen  waren  sogar  acute  motorische 
Ataxieen  vorhanden,  welche  auf  den  ersten  Blick  an  beginnende  Paralyse 
mahnen  konnten ,  sich  aber  gleichfalls  aus  dem  cerebralen  Iuanitions- 
zustande  ableiten  Hessen.  Trübung  des  Bewusstseins  bis  zur  Bewußt- 
losigkeit, Erinnerungsdefecte,  Ausfallserscheinungen  in  den  sensorischen 
Functionsgebieten  bis  zur  Aufhebung  der  Apperception,  Verlust  der  Sprache 
und  Bewegungsanschauungen ,  Angst,  einige  delirante  Vorstellungen  — 
waren  die  psychischen  Zeichen  des  klinischen  Bildes.  Theilweise  war 
vorausgehend  vasomotorischer  Gefässkrampf  nachweisbar.  Die  beobach- 
teten Fälle  endeten  nach  L'mfluss  mehrerer  Tage  (durch  Lysis)  in  Ge- 
nesung und  bleibende  geistige  Lucidität.  Amnesie  war  in  allen  Fällen 
vorhanden.  Ausser  den  vieldeutigen  Anfällen  von  Äugst  mit  Schweias- 
ausbrucb  und  Syncope  war  auch  hier  ein  bestimmtes  Zeichen,  welches 
auf  Epilepsie  hätte  schliessen  lassen,  nicht  auffindbar.  Ich  selbst  beob- 
achtete bei  einem  erblich  belasteten  Recruten,  nach  heftiger  Anstrengung 


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464  Das  hereditäre  Irresein. 

und  einem  acuten  Gastricismus,  einen  peracut  eintretenden  Raptus  suicidii 
mit  nachfolgendem  mehrwöchentlichem  stupurösem  Dämroerungszustand, 
ohne  Angst  und  ohne  Amnesie;  allmähliche  Reconvalescenz  nach  14  Tagen. 

Den  Uebergang  von  den  seither  betrachteten  transitorischen  Psy- 
chosen zu  den  acut  verlaufenden  gewöhnlichen  Irreseinsformen 
bilden  gewisse  acute  Wahnsinnszustände,  specicll  aus  der  sensuellen  Gruppe, 
welche  raenstruale  Entstehung  und  eine  nur  über  die  Katamenieu  sich 
erstreckende  Verlaufsdauer  haben.  Dieselben  sind  am  angegebenen  Orte 
besprochen,  und  linden  hier  bloss  der  Vollständigkeit  wegen  ihre  An- 
fuhrung. Klinisch  sind  diese  peracuten  Psychosen  vor  Allem  durch  die 
fehlende  resp.  gradweise  geringere  Amnesie  von  der  oben  ab- 
gehandelten Gruppe  der  „transitorischen"  abzutrennen.  —  Zu  letzteren 
dagegeu  gehört  wohl  der  interessante  Fall  von  plötzlicher  temporärer 
Amnesie  (Aphasia  amnestica)  bei  einem  neurasthenischen  Hereditarier  nach 
einem  heftigen  GeroUthseindruck,  mit  raschem  Uebergang  in  Genesung  — 
wovon  Danilo  (Merzejewsky  Wjestnsk  ISbl)  erzählt. 

Therapie. 

Die  Behandlung  der  hereditären  Psychosen  weicht  in  keinem 
wesentlichen  Punkte  von  der  der  erworbenen  Psychopath ieen  ab; 
nur  ist  die  ausserordentliche  Labilität  der  psychisch -nervösen  Con- 
stitution ganz  besonders  zu  beachten;  daher  grosse  Vorsicht  in  den 
geistigen  Zumuthungen  an  die  reconvalescenten  Kranken,  neben 
sorgsamster  Abhaltung  aller  Reize,  bis  die  Genesung  genügend  er- 
starkt ist. 

Die  Erziehung  nervös  belasteter  Kinder  ist  mit  besonderer 
Sorgfalt,  namentlich  in  der  Pubertätszeit,  zu  Uberwachen.  Frühe 
Bekämpfung  der  nervösen  Empfindlichkeit  (kalte  Waschungen),  Be- 
vorzugung objectiver  Wissensgebiete  (Anschauungsunterricht),  Aus- 
wahl der  Lectüre,  Schutz  des  jugendlichen  Gehirns  gegen  Ueber- 
bürdung,  Vermeidung  des  Tabaks,  der  Alcoholica,  genügender  Schlaf 
—  seien  leitende  Ilaupipunkte  für  den  Pädagogen!  —  Die  Frage  der 
Ve r he irathung  erblich  belasteter  Personen  ist  eine  sehr  schwierige, 
und  lässt  sich  nur  individuell  entscheiden.  Im  Allgemeinen  lässt  sich 
sagen,  dass  einfache  hereditäre  Prädisposition  keinen  Gegengruod 
abgibt;  wohl  aber  muss  eine  nachweisliche  hereditäre  Degeneration 
(tiefe  constitutionelle  Neuropathie  bis  in  die  Kindheit  zurückreichend, 
Periodicität,  Zwangsgedankeu  u.  s.  w.)  die  ernstesten  Bedenken  des 
Arztes  rechtfertigen.  Es  wird  Fälle  geben,  wo  er  pflichtgemäss  ab- 
rät h,  in  minder  schwer  gravireuden  wenigstens  nicht  zurät h. 


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Killfaches  hereditäres  Irresein.  Muladie  du  doute. 


465 


C.  Das  einfache  hereditäre  Irreseln. 

Irresein  aus  Zwangsvorstellungen  (Maladie  du  doute  et  du  toucher). 

Eine  Zwangsvorstellung  an  sich  macht  noch  keine  psychische 
Störung  aus,  so  wenig  als  eine  Hallucination.  Nicht  wenige  Menschen 
sind  durch  solche  heimgesucht,  vermögen  sie  aber  zu  beherrschen, 
wenn  auch  nicht  zu  unterdrücken.  Dies  gilt  namentlich  von  den  ein- 
fachen Zwangsvorstellungen,  auch  von  manchen  harmlosen  der  verti- 
giuösen  Form.  Sowie  aber  eine  depressive  Gemtithsreaction  (bei  den 
stationären)  oder  eine  ängstlich  rathlose  (bei  der  Grübelsuckt)  hinzu- 
tritt, und,  was  in  der  Regel  nicht  ausbleibt,  Zwangsacte  oder  Willens- 
hemmungen folgen,  so  ist  der  Beginn  einer  wirklichen  Seelenstörung 
gegeben. 

Acut  und  mehr  nur  transitorisch  treten  hier  und  da  bei  Neur- 
astbenikern  gewisse  barocke  Zwangsvorstellungen  ein,  rütteln  einen 
heftigen  Schreck-  oder  Affectsturm  auf,  führen  wohl  auch  zu  einigen 
metaphysischen  Zwangsreflexionen,  tauchen  aber  nach  einigen  Stun- 
den oder  Tagen  wieder  unter,  um  auf  Jahre,  selbst  auf  das  ganze 
Leben  hinaus  sich  nicht  wieder  zu  zeigen.  Nicht  selten  liegen  diesen 
Krisen  acute  gastrische  Verstimmungen  (cessirende  Hämorrhoidalblu- 
tung)  zu  Grunde. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ist  die  „Grübelsucht" 
von  chronischem,  wenn  auch  ausgesprochen  remittirendem  Charakter. 
Nach  einem  hypochondrisch  -  nervösen  Vorstadium,  manchmal  aber 
auch  ohne  nachweisbare  Einleitung,  tritt  plötzlich  —  toto  de  coelo  — 
ein  Zwangsgedanke  ein,  welchen  der  Kranke  nicht  mehr  losbekommt. 
Manchmal  liegt  dieser  im  „Wurf",  d.  h.  in  der  Directive  der  Auf- 
merksamkeit, welche  eifrig  nach  einer  ErgrUndung  der  (neurasthe- 
nischen)  Unbehaglichkeit  gesucht  hatte  und  endlich  —  zufällig  — 
irgend  ein  Wort  hört,  einen  Namen  liest,  eine  Beobachtung  macht, 
welche  zu  passen  scheint.  Damit  ist  der  „Zwang"  fertig,  und  die 
Gemüth8ruhe  dahin.  Sofort  verbindet  sich  eine  wachsende  Angst  mit 
der  neuen  Entdeckung,  und,  um  der  Angst  zu  entfliehen,  ein  Drang 
zu  neuem  Grübelu.  Die  intellectuelle  und  gemUthliche  Unruhe  nimmt 
zu,  dort  als  Zwang  immer  neue  Fragen  zu  stellen  und  verificirende 
Antwort  zu  holen,  hier  als  gesteigerte  Rathlosigkeit. 

Der  Kranke  weiss  nicht  mehr  sich  zu  helfen:  das  ewige  Fragen 
bringt  ihm  keine  befriedigende  Autwort;  aber  das  Schweigen  be- 
ruhigt ihn  noch  weniger;  er  kann  es  nicht  halten.  So  fragt  er  denn 
wieder,  immer  besorgter,  und  endlich  in  klopfender  Angst:  dass  er 

Sc  b  AI  e,  Geisteskrankheiten.   3.  Aufl.  30 


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4<JG 


Das  hereditäre  Irresein. 


am  Ende  ein  Wort  hören  könnte,  welches  ihn  nicht  beruhigte,  und, 
zähe  festhaftend,  seine  Unruhe  nur  vermehrte.  Er  lechzt  nach  Trost; 
aber  er  muss  fürchten  nur  neues  Gift  darin  zu  finden. 

Mittlerweile  ist  schon  Arzt  um  Arzt  berathen  worden,  Bad  um 
Bad  frequentirt;  und  doch  was  helfen  die  Curen?  Soll  das  Wasser 
kälter,  oder  nicht  vielmehr  wärmer  angewandt  werden?  Wann  soll 
gefrühstückt,  waun  und  wie  die  körperliche  Bewegung  angewandt 
werden  ?  Ueberall  nur  Fragen  und  peinliche  Skrupel !  Jede  Bemer- 
kung aus  dem  Munde  eines  Dritten  fordert  neue  Vergleiche  heraus 
und  bringt  neues  Schwanken;  der  Kreis  der  Augstgedanken  erwei- 
tert sich.  Wenn  er  —  der  Kranke  —  diese  Erwägungen  für  sich 
zieht,  und  Andere  nicht:  ist  er  nicht  Schuld,  wenn  diese  sich  dann 
Schädigungen  durch  ihre  Unwissenheit  holen?  Zu  den  hypochon- 
drischen Gedanken  treten  jetzt  auch  melancholische,  in  Form  von 
Vorwürfen  und  Selbstanklagen  über  Feigheit  oder  sträfliche  Gleich- 
gültigkeit. Nun  geht  die  Schraube  weiter;  an  die  Selbstquälereien 
des  Tages  und  der  Stunde  reiht  sich  der  gleich  peinliche  Rückblick 
auf  die  Vergangenheit:  Uberall  Unterlassungen  und  Pflichtwidrigkeit. 
Der  Kranke  wird  immer  verzweifelter;  er  kann  bald  auch  an  seine 
Geburt,  an  seine  Eltern  nicht  mehr  denken,  ohne  ihnen  und  sich  zu 
fluchen.  Kalter  Schweiss  Uberfällt  ihn;  es  kommt  zu  Herzpal pitatio- 
nen  und  Ohnmachtsanwandlungen,  nirgends  ein  Ausweg  —  er  muss 
sich  den  Tod  geben. 

So  ziehen  sich  in  unermesslichem  Weh  die  Wochen  dahin;  der 
Kranke  foltert  sich  in  den  conträrsten  Anschauungen  Uber  einen 
Gegenstand;  er  wird  in  seinem  Urtheil  ganz  abhängig  von  den  äus- 
seren Eindrücken,  und  diese  auferzwungene  Aenderung  seiner  Ge- 
danken, diese  peinlich  gefühlte  Abhängigkeit  seines  Gehirns  von 
aussen  bedrückt  ihn,  und  macht  ihn  absolut  rathlos  und  schwan- 
kend. Er  kommt  aus  der  Angst  nicht  mehr  heraus.  In  den  un- 
ruhigen Stunden  leidet  er  Folterqualen,  und  in  den  ruhigeren  ist  er 
erschöpft  und  bangt  vor  den  möglichen  neuen  Schrecken:  in  sich 
Verwirrung,  ausser  sich  verwirrende  Wahrnehmungen.  Die  aus  deu 
Mienen  und  Worten  der  Umgebung  gefühlte  Bedrohung  seiner  müh- 
sam zusammengehaltenen  Selbstdirective  macht  ihn  immer  menschen- 
scheuer und  verbitterter.  Zur  Verzweiflung  Uber  sich  kommt  nun 
auch  das  vollendete  Misstrauen  gegen  Andere. 

Es  folgen  nun  Tage  von  höchster  Gereiztheit,  in  welchen  die 
Mücke  an  der  Wand  ihn  ärgert.  Und  wenn  er  nur  in  seinen  „be- 
rechtigten" Klagen  festzubleiben  vermöchte!  Aber  kaum  hat  er  seiner 
Beschwerde  Luft  gelassen,  so  beginnt  sofort  auch  wieder  das  ängst- 


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Einfaches  hereditäres  IrreseiD.  Maladie  du  doute. 


•1G7 


liehe  Schwanken,  ob  nicht  seine  Ansprüche  zu  gross  und  gar  für  die 
Anderen  zum  Nachtheil  seien?  —  und  das  Gefühl  der  „Berechtigung" 
ist  wieder  dahin.  Von  der  Erbitterung  Uber  die  Anderen  wendet  er 
sich  zur  Verachtung  Uber  sich  selbst. 

Aber  noch  ist  die  volle  Höhe  des  Leidens,  dessen  innere  Qual 
durch  die  täuschende  Correctheit  eines  luciden  Verstandes  Uberdeckt 
ist,  nicht  erreicht.  Unzählige  Krisen  sind  über  den  Kranken  mittler- 
weile hinweggegangen;  aber  sie  sollen  von  nun  an  nicht  bloss  als 
Wirklichkeit,  sondern  auch  als  Schreckbilder  der  Phantasie  wirken. 
Der  Gedanke  an  den  möglicherweise  kommenden  Zwangsgedanken 
wird  zur  Zwangsvorstellung  zweiter  Potenz.  Die  tausendfach  ausge- 
standene Angst  wird  im  Rück-  und  Vorausblick  zur  gedoppelten 
Zwangsempfindung:  zur  Angst  vor  der  Angst!  Sie  Uberschleicht  den 
Kranken  in  den  ruhigsten  Stunden,  schreckt  ihn  mitten  in  der  Con- 
versation,  im  Theater,  beim  Spiele  auf;  umsonst,  dass  er  ihr  ent- 
fliehen will.  Die  ideelle  Angst  lässt  die  wirkliche  heraufziehen;  der 
Kranke  ermannt  sich,  will  lieber  still  halten.  Aber  hat  er  denn  jetzt 
recht  gethan?  Neuer  Skrupel  und  —  Krise. 

So  ist  es  auch  mit  den  Zwangsgedanken  der  verschleuderten  Zünd- 
hölzchen ,  der  offen  gelassenen  Fenster  oder  Ofenklappen  u.  s.  w.  Da 
wird  nachgesehen  und  geprüft,  und,  kaum  gethan,  ist  der  Zweifel  wieder 
da;  und  so  wird  fortgefahren  zu  verificiren  und  —  zu  grübeln.  Oft 
bringt  Verrammeln  der  verpönten  Oeffnungen  die  subjective  Gewissheit, 
dass  nichts  offen  sein  könne;  aber  dann  kehrt  sich  die  Angst  in's  Ge- 
gentheil  um,  ob  diese  Clausur  jetzt  die  richtige?  Ob  nicht  neue  und 
grössere  Uebelstande  dadurch  geschaffen  seien?  Es  hilft  auch  nicht, 
dass  Andere  nachsehen;  könnten  diese  sich  nicht  getäuscht  haben? 

Manchmal  nützt  dagegen  Eines  über  die  drohende  Angst  hin- 
weg: die  ruhige  Fassung  mit  dem  Entschluss  fester  Resignation  — 
komme  was  da  wolle;  was  liegt  daran?  Gelingt  es  unter  diesem 
philosophischen  Quietiv  die  Gedanken  sachte  anderwärts  zu  concen- 
triren  (Beschäftigung)  oder  reflexmotorisch  abzulenken  (Spaziergang 
u.  s.  w.) ,  so  wird  nicht  selten  die  drohende  Krise  vermieden  oder 
abgeschwächt. 

Immer  geht  auf  dieser  Stufe  der  Krankheit  ein  mehr  minder  aus- 
gesprochener Status  nervosus  mit  einher:  Kopfdruck,  epigastrische  Be- 
klemmung, vasomotorische  Zustände,  gastrische  Verstimmungen  u.  8.  w. 
Peinlich  ist  namentlich  bei  vielen  Kranken  die  Schlaflosigkeit,  bei  An- 
dern die  Obstipation  und  Appetitlosigkeit. 

Allmählich  meldet  sieb,  in  günstigen  Fällen,  Besserung  an,  bald 
nach  Wochen,  bald  erst  nach  Monaten.  Der  Kranke  sagt  sich  selbst, 
dass  er  sich  um  zu  viel  bekümmere,  was  eigentlich  Andere  anginge, 

30* 


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468 


Das  hereditäre  Irresein. 


und  nicht  ihn  selbst.  Aber  er  kann  seiner  Einsicht  lange  nicht  zu 
einem  wirksamen  Vorsatz  verhelfen:  immer  wieder  kommen  Rück- 
fälle, oft  in  der  alten  Schwere. 

Die  fortschreitende  Reconvalescenz  zeigt  sich  daran,  dass  die 
Zwangsgedanken,  wenn  sie  wieder  sich  einstellen,  mit  abnehmender 
Aflfectstärke  verlaufen.  Aber  auch  diese  Regel  hat  ihre  zahlreichen 
Ausnahmen.  Körperlich  bessert  sich  der  Schlaf  und  besonders  die 
Verdauung.  Jetzt  bleibt  auf  kürzere  oder  längere  Zeit  ein  ängst- 
liches, empfindliches  und  reizbares  Wesen;  der  Kranke  ist  durch 
seine  Kritteligkeit  und  Unleidlichkeit  noch  ein  recht  schwieriger  Gast. 
Immer  mehr  tritt  an  Stelle  der  Aengstlichkeit  eine  einsichtsvolle  Vor- 
sicht, wenn  auch  oft  noch  in  unnöthiger  Ausdehnung.  An  ihr  rankt 
sich  der  Kranke  wieder  allmählich  zum  Vertrauen  zu  Sich  herauf. 
Eine  „Selbsthilfe"  wendet  er  auch  jetzt  noch  an,  indem  er  Uber  ge- 
wisse Dinge  (die  er  fürchtet)  nicht  fragt,  der  Erzählung  von  Un- 
glücksfällen u.  8.  w.  aus  dem  Wege  geht,  Zeitnngslectüre  meidet.  So 
arbeitet  er  sich  wieder  in  die  Genesung,  welche  (soweit  es  die  vor- 
handene nervöse  Anlage  gestattet)  eine  vollständige  sein  kann.  Nicht 
selten  ist  der  Kranke  nach  einem  derartig  glücklich  bestandenen  Par- 
oxysmus  wohler,  als  Jahre  zuvor. 

Zwischen  diese  protrahirteren  Fälle  und  die  zuerst  angeführten 
acuten  sind  jene  zu  stellen,  in  welchen  die  Krankheit  in  schubweiseu 
oder  periodischen  Paroxysmen  auftritt,  mit  oft  jahrelangen  Intervallen, 
und  in  dieser  remittirend-exaeerbescirenden  Weise  durch  das  ganze 
Leben  hindurch  dauert. 

Bei  dem  letztbezeichneten  Verlaufe  können  verschiedene  Varie- 
täten —  Weiterentwicklungen  der  Grundkrankheit  —  stattfinden.  Dies 
geschieht  in  mehrfacher  Weise  (s.  Allg.),  gewöhnlich  aber  in  zwei 
klinischen  Typen:  1.  indem  die  Zwangsvorstellungen  zu  Zwangs- 
handlungen und  darunter  besonders  zu  einer  eigenen  Form  negativer 
(„Hemmungs"-)Acte  führen;  und  2.  indem  der  Zwangsgedauke  zur 
fixen  Wahnvorstellung  wird,  mit  depressiver  Reaction  (Zwaugsgedan- 
ken-Melancholie). 

Ad  1.  Hier  gehören  zunächst  jene  Fälle  von  Maladie  du  doute,  in 
welchen  die  Kranken  „zur  Selbsthilfe"  sich  in  eine  automatische  Tages- 
beschäftigung einbauen,  um  durcii  diese  selbstgewählte  Zwangsarbeit  sich 
von  ihrem  Gedankendrang  zu  entlasten.  Frauen  strickeu  täglich  von 
Morgens  bis  Abends  kleine  Beutelchen  in  allen  Farben  und  Zeichnungen; 
Männer  schneiden  sich  unverdrossen  Dutzende  von  Spazierstöcken,  alle 
von  derselben  Form  und  Grösse;  andere  malen  dieselben  monotonen  Fi- 
guren, oder  schreiben  Hefte  voll  mit  denselben  Buchstaben  u.  s.  w. 

Sodann  aber  ist  hier  jene  Reihe  von  Zwangsacten  resp.  Zwangs- 


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Einfaches  hereditäres  Irresein.  Maladie  du  toucher. 


469 

* 


Unterlassungen  aufzuführen ,  welche  psychologisch  auf  dem  Gedanken 
einer  möglichen  Verunreinigung  beruhen  und  aus  dieser  Angst  zur  Ver- 
meidung gewisser  Objectberührungen  schreiten  (Mala die  du  toucher). 
Der  Kranke  ist  dabei  nicht  selten  von  der  Unsinnigkeit  und  Lächer- 
lichkeit seines  Thuns  durchdrungen;  aber  er  kann  nicht  anders.  Be- 
schmutzte Strassenstellen  bannen  ihn  schon  aus  der  Ferne  gebieterisch 
zum  Stillstehen,  damit  er  dieselben  ja  nicht  berühre,  oder  veranlassen 
ihn  Umwege  zu  machen;  aber  auch  so  vermag  er  von  der  Furcht,  ob 
nicht  doch  etwas  Unreines  an  seine  Stiefel  oder  Kleider  gerathen  sei, 
nicht  loszukommen.  Oft  ist  es  auch  der  Angstgedanke  einer  möglichen 
Schädigung  durch  gewisse  Gegenstände,  welche  deren  Berührung  pein- 
lich meiden  lässt.  So  kann  der  Anblick  einer  an  ein  Haus  gelehnten 
Leiter  eine  beklemmende  „BerUhrungs"furcht  erzeugen,  und  sogar  irra- 
diirend  über  die  eigene  Sorge  hinaus  sich  noch  zur  vervielfachten  Angst 
einer  möglichen  Verunglückung  Dritter  durch  dieselbe  „Berührung"  er- 
weitern. Dabei  bleibt  es  nicht  bei  der  einfachen  Handlungshemmung:  je 
stärker  die  Furcht,  desto  heftiger  die  dämonische  Kraft  der  Anziehung 
durch  den  gefürchteten  Gegenstand.  So  begegnet  es  in  diesem  inneren 
Kampf  und  Streit  nicht  selten,  dass  der  rathlose  Kranke  geradezu  in 
das  gefürchtete  „Unglück"  hineinzurennen  impulsiv  sich  getrieben  fühlt  — 
nur  um  einmal  Ruhe  zu  bekommen. 

Unter  den  besonders  gescheuten  Berührungsgegenständen  figurirt  na- 
mentlich Metall  (Thürklinken)  und  Glas.  Der  Kranke  weiss  sich  in  seiner 
Noth  dagegen  oft  nicht  anders  zu  retten,  als  dass  er  sich  von  einer  zwei- 
ten Person  begleiten  und  unterstützen  lässt  —  nur  um  nicht  der  sonst 
unvermeidlichen  Krise  zu  verfallen. 

Der  Ausgang  dieser  Varietät,  der  Maladie  du  toucher,  ist  in  der 
Regel  ein  ungleich  ernsterer,  als  bei  der  einfachen  Maladie  du  doute. 
Die  Kranken  gehen  in  ihren  Grübeleien  und  ihrer  „Schmutz"fnrcht  ganz 
auf,  und  in  gleichem  Schritte  für  die  Aussenwelt  verloren.  Ihre  mono- 
tone Sisyphusarbeit  besteht  Tag  um  Tag  im  Reinigen  der  Zimmer  (wo- 
bei manchmal  sogar  der  Bodenstaub  mit  der  Zunge  abgeleckt  wird), 
im  hundertfachen  Waschen  der  Hände,  im  ewigen  Bürsten  und  Schüt- 
teln der  Kleider,  in  einer  täglich  wiederholten,  immer  pedantischeren  und 
kleinlicheren  Regelmässigkeit  in  Anordnung  und  Aufstellung  der  Zim- 
mergeräthe,  mit  peinlicher  Verbannung  aller  gläsernen  und  metallenen 
Objecte.  —  Manchmal  gelingt  es  dem  schwer  geprüften,  übrigens  ganz 
lucid  gebliebenen,  Kranken  von  selbst  seinem  ermüdenden  Sclavendienste 
einige  freie  Stunden  abzugewinnen.  Aber  eine  einzige,  von  ihm  unbeab- 
sichtigte, Aenderung  in  der  gewohnten  Pedanterie  des  Wohnzimmers  (Ver- 
schieben eines  Buches  oder  Papiers  auf  dem  Tische)  genügt,  um  den 
Kranken  sofort  in  Verwirrung  und  Beklemmung  zu  bringen.  Nur  durch 
immer  vollständigeren  Abschluss  von  Aussen  und  Einbau  in  die  eigene 
Welt  weiss  er  sich  noch  vor  der  Gefahr  täglich  und  stündlich  wieder- 
holter Krisen  zu  retten.  Die  Meisten  verarmen  dabei  zu  traurigen  Egoi- 
sten ;  Andern  dagegen  gelingt  es  ausser  der  geschonten  Intelligenz  auch 
noch  ein  leidliches,  wiewohl  immer  matteres,  Geraüthslebeu  zu  bewahren. 
Ein  eigentlicher  Blödsiun  tritt  nicht  ein.  —  Die  Fälle  mit  Zwangsvorstel- 
lungen, welche  sich  aus  der  hereditären  Neurose  in  die  hysterische  weiter 


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470  Das  hereditäre  Irresein. 

entwickelten,  theilen  in  ihrem  Vorlaufe  das  Schicksal  dieser  (s.  hyster. 
Irresein). 

Ad  2.  Der  Uebergang  gewisser  Zwangsgedanken  in  Wahnvorstel- 
lungen vollzieht  sich  unter  gleichzeitiger  Umwandlung  der  klinischen  Zu* 
standsform  in  eine  wirkliche  Melancholie.  Die  ausschlaggebende  depres- 
sive Stimmung  —  der  melancholische  Affect  —  ist  dabei  die  naturgemä&se 
gemtithliche  Reaction  durch  und  in  Folge  der  Zwangsvorstellung.  Dies 
findet  namentlich  in  den  Fällen  statt,  in  welchen  der  Inhalt  der  letzteren 
den  weiteren  Schluss  auf  eine  Selbstanklage  enthält,  so  besonders  bei 
bla8phemischen  Zwangsgedanken.  —  In  anderen  Fällen  bleibt  die  Zwangs- 
vorstellung als  solche,  d.  h.  als  fremder  Eindringling  bestehen,  und  der 
depressive  Affect  entwickelt  sich  aus  dem  endlichen  VerzweiflungsgefUhl, 
dieses  schreckliche  Alter  Ego  nicht  mehr  los  zu  werden  (so  bei  den  Er- 
innerungen von  Schauererlebnissen,  oder  bei  dem  Zwangsgedanken:  der 
Urheber  eines  vorgekommenen  Verbrechens  zu  sein). 


Anhang.  Der  Querulanten -Wahnsinn  —  das  Irresein  der 

Proeesskrämer. 

Die  Entwicklung  dieser  Krankheitsgruppe,  zugleich  einer  der 
klinisch  bestcharakterisirten,  geschieht  meistens  aus  der  hereditären 
Neurose,  und  setzt  an  dein  unvertilgbaren,  man  möchte  sagen:  ein- 
gebornen  Misstrauen  an,  welches  viele  dieser  Existenzen  von  Haus 
aus  begleitet.    Sehr  häufig,  ja  in  der  Regel,  reicht  auch  ein  origi- 
närer sittlicher  Defect  in  die  Genese  der  Krankheit  hinein,  ein  StUck 
Moral  Insanity,   welche  den  Träger  von  jeher  eine  eigenartige 
Rechtswelt  hatte  schaffen  lassen:  einen  Cult  schrankenlosen  Egois- 
mus mit  entsprechend  reducirtem  Rechtsgefühl  für  Andere,  und  da- 
neben eine   durch    dünkelhaftes  Selbstgefühl  getragene  geistige 
Beschränktheit,  welche  in  die  Aufstellung  von  rechtfertigenden 
Scheingründen  für  die  selbstsüchtigen  Rechtsbestrebungen  ihre  Stärke 
zu  setzen  gewöhnt  war.    Die  Vorgeschichte  dieser  Processer  enthüllt 
meist  ränke-  uud  streitsüchtige  Charaktere  von  Jugend  auf,  Thu- 
nichtgute,  welche  von  jeher  Alles  besser  wissen  wollten,  eine  um 
die  andere  Erziehungsanstalt  oder  Lehrstelle  quittirten,  weil  sie 
Uberall  Händel  bekamen,  jeden  Widerspruch  als  frechen  Eingriff  in 
ihre  Rechtssphäre  brutal  zurückwiesen,  und  rücksichtslos  auf  ihrem 
„Schein"  beharrten.    Andere  wieder  Hessen  früher  weniger  in  ge- 
müthlicher  als  in  intellectueller  Richtung  ihre  defecte  Aulage  her- 
vortreten; sie  zeigten  sich  als  flatterhafte  Hospitanten  in  allen 
Berufsgebieten,  nirgends  sich  gründlich  orientirend,  in  Allem  Etwas 
und  doch  Nichts  im  Ganzen,  ihr  seichtes  Wissen  durch  desto  grös- 


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Querulanten- Wahnsinn. 


471 


sere  Zuversicht  und  Beredtsamkeit  verhüllend.  Bei  diesen  bedarf 
es  in  der  Folge  erst  noch  eines  Anpralls  au  die  harte  Wirklichkeit, 
um  ihre  Luftschlösser  zerstört  zu  sehen  —  während  die  erstem  in 
regelmässiger  Weiterentwicklung  ihrer  krankhaft  hyperästhetischen, 
brutal  negirenden  Charakteranlage  zum  Schiffbruch  gleichsam  prä- 
destinirt  sind.  Beide  stürzen  gleichmässig  auf  den  ersten  äussern 
Bankerott  in  die  Illusion  einer  widerrechtlichen  Beeinträchtigung 
durch  Machinationen,  Intriguen  von  aussen;  sie  werden  verfolgungs- 
wahnsinnig. 

In  den  typischen  Fallen  wird  diese  Vorgeschichte  nie  vermisst  wer- 
den. —  Jedoch  sind  stark  belastete  hereditäre  Stammbäume  nicht  immer 
aufzudecken;  in  diesen  (wenigen)  Fällen  ergeben  sich  die  gleich  werthigen 
erworbeneu  Schädlichkeiten  für  eine  degenerative  geistige  Hirnentwick- 
lung: Kopfverletzungen  ,  acute  Hirnaffectionen,  alkoholistische  und  ganz 
besonders  onanistische  Excesse.  —  Bei  sehr  vielen  der  angegebenen  Fälle 
sind  direct  anch  die  Stigmata  hereditatis  (namentlich  pathologische  Schä- 
delbildung) äusserlich  wahrnehmbar. 

Nicht  alle  Fälle  debütiren  übrigens  mit  einem  ersten  erlittenen 
Misserfolg,  in  welchem  sie  passiv  die  Angegriffenen,  Beeinträchtig- 
ten spielen.  Je  nach  der  Richtung  und  Energie  der  immanenten 
Moral  Insanity  können  sie  auch  -  gleich  Anfangs  die  Angreifenden 
sein;  sie  gebahren  sich  hart  und  widerrechtlich  gegen  Untergebene, 
greifen  rücksichtslos  in  deren  Rechtssphäre  ein,  und  stehen  activ 
und  mit  offener  Waffe  dem  Einspruch  der  Billigkeit  und  Gerechtig- 
keit, welche  thatsächlich  von  ihnen  gekränkt  worden  sind,  gegenüber. 

Ob  aber  erst  passiv  oder  activ,  ob  erst  unterliegend  oder  sofort 
rechtsstörend,  treffen  Beide  in  dem  Punkte  zusammen,  wo  ihr  Selbst- 
gefühl —  richtiger,  ihr  vermeintliches  Rechtsbewusstsein  —  eine  äussere 
Schranke  findet.  Von  jetzt  an  gehen  sie  beide  gleichmässig  zum  Angriff 
über:  die  passiven  in  dem  Wahne  des  Verfolgtseins,  die  activen  in  dem 
Gefühl  der  widerrechtlichen  Kränkung;  beide  in  gleicher  Weise  getrieben 
durch  diesen  „Zwangsgedanken",  und  erhitzt  durch  ihr  krankhaftes  Selbst- 
gefühl. Es  liegt  ein  manisches  Element,  ein  Zug  von  rücksichtsloser, 
alle  Hindernisse  überspringender  Gewalttätigkeit  in  dem  nunmehr  begin- 
nenden Vorgehen,  uud  gleichzeitig  ein  Grundzug  unermesslicher  geistiger 
Schwäche,  insofern  der  Kranke  in  immer  neuen  dialektischen  Floskeln 
sich  behagt,  die  docli  bei  nur  einiger  Reflexion  zerstieben  müssten,  und 
(echt  wahnsinnig)  am  Scheine  sich  unbefriedigt  abmatten  muss. 

Auf  die  erste  Niederlage  vor  Gericht  erfolgt  nun  die  erste  que- 
rulante  Reaction.  Der  Kranke,  in  seineu  Rechtsanspruch  verbohrt 
uud  durch  dessen  Abweisung  verbittert,  schreitet  zum  Recurs,  und 
verfolgt  diesen  auch  durch  alle  zugängigen  Instanzen.  Dabei  wird 
oft  die  fein  abgewogene  Taktik  befolgt,  in  Nebensachen  sein  „Vor- 
gehen" anzuklagen;  aber  der  scheinbare  Rückzug  geschieht  nur, 


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472 


Das  hereditäre  Irresein. 


um  desto  schärfer  im  Hieb  auszuholen,  und  schliesslich  den  Gegner 
auch  für  das  eben  eingestandene  „Unrecht",  als  ein  provocirtes,  ver- 
antwortlich zu  machen.  Jede  neue  Niederlage,  weit  entfernt  ihn 
zur  Besinnung  zu  bringen,  schärft  nur  seinen  Widerstand  und  seine 
Angriffslust.  Tritt  er  eine  Freiheitsstrafe  an,  so  verbringt  er  diese 
mit  endlosen  Beschwerdeschriften,  welche  alle  nur  Variationen  des- 
selben Themas  sind:  er  ist  im  Rechte,  alle  Andern  im  Unrechte. 
Kaum  entlassen,  setzt  er  seine  Sisyphusarbeit  ruhig  fort;  zum  Zwangs- 
gedanken tritt  nun  auch  sein  beeinträchtigtes  „Rechtsgefühl"  als 
Zwangsimpuls;  er  fühlt  sich  bald  nicht  nur  berechtigt,  sondern 
geradezu  verpflichtet,  die  Sache  nicht  ruhen  zu  lassen,  „um  dem 
Rechte  auch  der  Andern  zum  Siege  zu  verhelfen".  Das  erst  unter- 
drückte Selbstgefühl  schlägt  jetzt  in  ein  exaltirtes  um  und  erweitert 
sich:  der  Kranke  weiss  sich  jetzt  als  Vorkämpfer  für  die  Sache 
aller  rechtlos  Bedrängten;  er  streitet  für  die  „Menschenrechte". 

Mit  diesem  verstärkten  manischen  Impulse  kommt  nun  auch 
der  anfänglich  erst  in  der  Stille  gehegte  Verfolgungswahn  zur  rech- 
ten Wirksamkeit:  der  Kranke  muss  nicht  nur  für  sein  und  der  An- 
dern Recht  kämpfen,  —  er  muss  auch  seine  „Feinde"  und  die  gegen 
ihn  geschilderten  Intriguen  entlarven.  Dadurch  wird  der  stille  Groll 
zum  offenen  Feldzug  gegen  Beamte,  Richter,  Zeugen.  Nun  häufen 
sich  die  Eingaben  und  Recursschriften  mit  Anklagen  und  Ehren- 
beleidigungen; von  einer  Instanz  wird  die  andere  beschritten;  jede 
Niederlage  und  gerichtliche  Busse  erhöht  die  Processwuth  und  die 
gereizte  Verstimmtheit.  Das  Sachliche  in  der  anfänglichen  Klage 
tritt  immer  mehr  gegen  das  persönlich  Gehässige  zurück;  an  die 
Stelle  der  anfänglichen  Gründe  rücken  Sophismen  und  rabulistische 
Düfteleien;  die  Ehrfurcht  vor  dem  Gerichte  artet  immer  mehr  in 
Zänkerei  und  rohe  Verunglimpfung  der  („sittlich  unempfindlichen") 
gerichtlichen  Personen  aus;  die  Moral  Insanity  in  ihrer  reizbaren 
Form  bestimmt  Rede  und  Schriftausdrnck  des  Kranken. 

Sehr  oft  täuscht  den  Laien  jetzt  immer  noch  die  raisonnirende  Dia- 
lektik und  der  wirklich  oft  nicht  ungewöhnliche  Scharfsinn,  womit  der 
Kranke  seine  vermeintlichen  Reehtsgründe  vorzuführen  weiss.  Aber  was 
heisst  diese  erhalten  gebliebene  formale  Logik  gegenüber  der  that- 
säcliüchen  Hornirtheit,  womit  der  Kranke  ad  absurdum  vorgeht,  wenn  er 
wirklich  Uberlegen  könnte?  Wie  kindisch  schwach  nimmt  sich  die  Reclits- 
verfechtung  einer  Bagatelle  aus  —  gegenüber  der  ungleich  grösseren  Ein- 
busse  an  idealem  und  materiellem  Kesitzthutn,  welche  ihm  jeder  neue  un- 
glückliche Instanzenzug  vor  Augen  führt!  Wie  reimt  sich  die  rohe  und 
oft  geradezu  gemeine  Schreibweise  mit  seiner  sonstigen  Bildungsstufe; 
wie  die  religiösen  Phrasen  mit  den  niedrigsten  Schimpfworten;  wie  seine 
grobe  Angriffsweise  mit  seiner  eigenen  Ueberempfindlichkeit  zusammen? 


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Querulanten- Wahnsinn. 


173 


Er  handelt  eben  so,  weil  er  so  handeln  muss,  consequent,  aber  mit  fal- 
schen Prämissen,  nnd  unbesonnen,  weil  er  organisch  getrieben  ist,  und 
zweckwidrig,  weil  seine  Einsicht  gestört,  sein  sittliches  Empfinden  defect, 
und  Denken  und  Fühlen  dazu  noch  manisch  „getrieben"  sind. 

Nicht  so  selten  kann  das  gekränkte  angriffsbed Urftige  Rechts- 
gefUhl  anch  zu  einer  criminellen  That  führen,  in  Form  eines  Atten- 
tats auf  die  vermeintlichen  Bedrücker.  Es  gibt  thatsächlich  wenige 
gefährlichere  Kranke,  als  einen  verfolgungswahnsinnigen  Querulanten. 
Eine  Reihe  von  Homicidien  sind  in  der  forensen  Literatur  verzeichnet. 

Mit  dem  Fortschritt  der  Krankheit  kommen  nun  auch  die  con- 
creten  Illusionen,  wie  sie  dem  Verfolgungswahn  eigen  sind.  Der 
Kranke  greift  zu  „Symbolisirungen"  von  Thatsachen,  die  er  im 
Sinne  seiner  fixen  Idee  umdeutet.  Vorgänge  in  der  Gerichtsver- 
handlung, gereizte  Worte  des  Richters  oder  der  Zeugen,  endlich  die 
barmlosesten  Nebendinge  gewinnen  bei  ihm  Gewicht  und  erhalten 
„Bedeutung".  Jetzt  wird  er  immer  zäher  in  seiner  Verteidigung, 
immer  berechtigter  in  seinem  Vorgehen;  denn  Alles  redet  nur  die 
Eine  Sprache  seiner  widerrechtlichen  Verunglimpfung,  der  allge- 
meinen Verschwörung  gegen  ihn.  Sehr  häufig  tritt  hinter  dieser 
dunkeln  Folie  die  heitere  eines  exaltirten  Wahnsinns  auf:  der  Kranke 
fühlt  sich  als  Werkzeug  Gottes,  welches  für  das  göttliche  Recht  ein- 
zutreten und  zu  kämpfen  hat;  er  proclamirt  laut,  dass  er  lieber  auf 
dem  Schaffote  sterben,  und  jeden  Augenblick  dazu  bereit  wäre,  als 
zu  widerrufen- („was  Lüge  wäre"),  oder  nachzulassen  in  seiner  gros- 
sen Mission. 

Es  kann  sich  so  ganz  das  Symptomenbild  des  originär  Verrückten 
aufschliessen  im  Gewände  des  Processkramers.  Fülle  dieser  Modification 
zeigen  dann  auch  den  intellectucll  erfassten  Grössenwahn:  sie  dünken 
sich  als  Prätendenten,  als  reiche  Erbschaftscandidateu.  In  der  Schrift 
finden  sich  die  charakteristischen  Unterstreichungen  neben  den  Stylproben 
verschrobener,  verzwickter  Inductionen  (der  originären  „Paralogik'),  manch- 
mal eines  widerspruchsvollen  bombastischen  Unsinns.  Intercurrent  köunen 
auch  Hallucinationen  auftreten,  theils  als  Gesichte,  theils  als  aufmunternde 
Stimmen. 

Der  ethische  Zerfall  wird  im  Weiterverlauf  immer  grösser.  Jede 
neue  Demüthigung  steigert  die  affective  Reizbarkeit,  und  diese  ge- 
nügt sich  bald  nicht  mehr  mit  den  einfachen  Angriffen  auf  die  „in- 
famen" Urtheilssprüche  (welche  in  den  Augen  des  Kranken  „unsitt- 
lich" und  damit  rechtlich  unverbindlich  sind),  und  deren  Verkündiger; 
sie  schreitet  nun  auch  zur  boshaften  Lüge  und  Verleumdung,  welche 
keine  Grenze  mehr  kennt,  und  schliesslich  gegen  den  gesammten 
Rechtsstaat  und  dessen  höchsten  persönlichen  Träger  den  Krieg  er- 


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•474 


Das  hereditäre  Irresein. 


klärt.  Von  den  Schmähungen  gegen  die  Richter  („welche  die  fremde 
Ehre  rauben,  um  die  eigene  Blosse  zu  decken"),  oft  während  der 
offenen  Gerichtsverhandlung,  wird  zur  Majestätsbeleidiguug  Uber- 
gegangen; auf  die  Worte  folgen  offen  verkündete,  gefährliche  Droh- 
ungen. Eine  Haftstrafe  zieht  die  andere  nach.  Das  Gefängniss 
schreckt  längst  nicht  mehr  ab,  selbst  das  angedrohte  Irrenhaus  nicht, 
weil  der  klagebedürftige  Kranke  „dort  die  Gelegenheit  habe,  seine 
Querelen  vor  Leuten  vorzubringen,  die  ihn  anhören  inüssten".  So 
übermächtig  und  blind  ist  die  Streitsucht  nur  des  Streites  wegen! 

Für  die  Weitergestaltung  der  Krankheit  selbst  bringt  der  An- 
staltsaufenthalt zunächst  keinerlei  Aenderuug;  der  Kranke  fährt 
wirklich  gerade  so  wie  draussen  mit  seinen  endlosen  Schreibereien, 
Recbtsprocessen,  Dcnunciationen  fort;  Anfangs  guter  Stimmung,  weil 
er  fest  auf  baldigste  gesundheitliche  Freisprechung  und  dann  vereinten 
Sturmlauf,  zugleich  mit  seinen  ärztlichen  Verbündeten,  gegen  die 
Rechtsunterdrücker  draussen  rechnet.  So  wie  aber  weder  das  er- 
hoffte Gesundheitsattest,  noch  das  Trutzbündniss  sich  einstellen  will» 
wird  die  Angriffsfront  des  Kranken  gewendet,  und  gegen  Arzt  und 
Wärter  vorgegangen. 

Da  kommen  die  Klagen  und  Eingaben  über  widerrechtliche  Frei- 
heitsberaubung, über  Briefunterschlagung,  falsche  Berichterstattung  nach 
aussen;  alle  einst  geübten  Titulaturen  (Lügner,  Diebe,  Betrüger,  Schur- 
ken) werden  jetzt  gegen  die  Anstaltsvorstände  hervorgeholt;  mit  andern 
Unzufriedenen  wird  Chorus  gemacht,  bald  in  der  Stille  des  rabulistischen 
Winkeladvocaten,  bald  als  öffentlicher  Ankläger,  namentlich  bei  Besuch 
von  Fremden.  Briefe  werden  geschmuggelt,  an  Wärtern  allerlei  Corrup- 
tion  versucht,  jeder  kleinste  Mangel  im  Ordnungsdienst  gebucht  und  dann, 
verdreht  oder  maasslos  übertrieben,  zu  ewigen  Querelen  aufgebauscht 
Die  bei  zugangigen  Kranken  heimlich  untergrabene  Anstaltsdisciplin  wird, 
wo  möglich,  zu  einer  Offensive  zu  treiben  gesucht,  auf  welche  sie  in  bos- 
hafter Freude  ihre  anscheinend  nun  vollberechtigte  BeschwcrdcfUhrung 
aufbauen;  gelegentlich  wird  bei  einem  zufälligen  Streite  Dritter  vom 
Querulanten  absichtlich  dreingeschlagen  —  „um  abzuwehren",  wenn  er 
sich  rechtfertigen  soll,  in  Wahrheit  aber,  um  hinterlistig  ein  Delict  zd 
schaffen,  aus  welchem  in  perfidester  Weise  neues  Capital  geschlagen 
wird.  Kaum  treibt  eine  erregte,  verfolgungswahnsinnige  „Moral  Insa- 
nity"  hässlichere  Zeichen  zu  Tage,  als  diese  überlegte  Bosheit  alter  Que- 
rulanten. Angriffe  auf  das  Leben  der  Acrzte  und  Wärter,  auf  den  Be- 
stand der  Anstalt  (Brandstiftung)  sind  an  der  Tagesordnung;  nicht  minder 
raffinirte  Entweichungen.  Bei  energischem  Entgegentreten  seitens  der 
Hausordnung  wird  auch  episodisch  mit  einer  Zorntobsucht,  mit  brutalem 
Zerstören,  unbeugsamem  Trotz,  Nahrungsverweigerung  geantwortet. 

Iu  anderu  Fällen  ist  der  Verlauf  innerhalb  der  Anstalt  günstiger. 
Die  Kranken  setzen  wohl  durch  Jahre  hindurch  ihre  Proteste  fort, 


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Querulanten- Wahnsinn.  —  Originäre  Verrücktheit.  475 


pochen  unentwegt  auf  ihre  Rechte;  aber  der  Nerv  des  einstigen 
Affects  erlahmt  allmählich,  und  sie  werden  nachgerade  harmlose 
Protestler,  welche  zwar  ihre  hochtönenden  Phrasen  fortan  im  Munde 
fuhren,  aber  durch  ein  energisches  Wort  des  Arztes,  durch  eine 
Cigarre,  eine  Prise  u.  8.  w.  sich  jeweils  wieder  begütigen  lassen. 
Es  ist  der  Decursus  in  progressiven  Schwachsinn,  welcher  diesen 
Husserlich  günstigem  klinischen  Verlauf  zeigt.  Nicht  so  selten  können 
solche  Kranke  im  Verlaufe  der  Jahre  noch  zu  mehr  minder  nütz- 
lichen Functionären  im  Anstaltsdienst  erzogen  werden.  Bei  charak- 
terschwUchern  Naturen  vollzieht  auch  der  immer  härter  gewordene 
innere  Kampf  ums  Dasein,  die  unerbittliche  Noth,  in  welche  sie 
sich  in  der  Länge  selbst  gestürzt  haben,  den  Uebcrgang  zur  Ruhe; 
die  Kranken  bleiben  unbekehrt,  werden  aber,  in  ganz  neue  Ver- 
hältnisse versetzt,  fügsamer.  Bei  einer  Reihe  von  Fällen  erzwingt 
endlich  die  Natur  selbst  diese  milde  Wandlung:  es  gibt  solche 
Processer,  welche  bis  zum  Senium  sich  nur  mit  ihrem  Rechtsphan- 
tom herumschlugen  und  jetzt  mit  der  Involution  des  Gehirns  (zumal 
wenn  die  überhandnehmende  Atherose  dessen  Energie  noch  mehr 
lähmt)  als  senile  abgearbeitete  Melancholiker  den  Rest  ihres  ab- 
gehetzten Daseins  im  Irrenhause  beschliessen.  Wieder  Andere  raffen 
sich,  durch  den  Druck  der  Wirklichkeit  nach  und  nach  eines  Bes- 
sern belehrt,  im  Leben  draussen  von  selbst  wieder  zu  einer  andern 
Thatsphäre  auf  —  im  Ganzen  sehr  seltene  Fälle;  aber  sie  kommen 
vor,  namentlich  bei  jüngern  Individuen. 

Ich  kenne  einzelne  Fälle,  in  welchen  Jahre  lange  Querulanten  wie- 
der zur  ( stillen)  Resignation  auf  ihren  „gekränkten  Rechtstitel"  gelaugten, 
und  jetzt  brauchbare  Verwendung  in  ihrem  oder  einem  anderen  Berufe 
zu  finden  vermochten. 

Secumlär  und  accidentell  tritt  der  Querulantenwahn  nicht  selten  epi- 
sodisch in  gewissen  Phasen  des  gewöhnlichen  depressiven  oder  exal- 
tirten  Wahnsinns,  namentlich  der  periodischen  Manie,  auf. 


D.  Die  originäre  Verrücktheit. 

Damit  bezeichnen  wir  jene  Gruppe  von  typischem  Wahnsinn, 
welcher  nicht,  wie  der  erworbene,  ein  Product  einer  spätem  nervösen 
Affection  darstellt,  sondern  aus  eiuer  anormalen  Anlage  herauswächst, 
indem  die  ursprüngliche  geistige  Excentricität  und  Disharmonie  sich 
Uber  die  weitesten  zulässigen  Grenzen  hinaussteigert  (Hypertrophie 
des  hereditären  oder  hysterischen  Charakters).    So  bei  übrigens 


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47G 


Die  originäre  Verrücktheit. 


geistvoll  angelegten  Naturen.  Das  klinische  Symptomenbild  kann 
aber  auch  eine  Form  des  Niederganges  (ein  Senium  praecox)  karg 
veranlagter,  originär  beschränkter  Existenzen  darstellen,  welche  ihre 
„Atrophie"  bald  als  Verfolgungswahn,  bald  als  täuschenden  Grössen- 
wahn  erfassen  (meist  gemischt).  Die  originäre  Verrücktheit  kann  in 
einfacher  Form  verlaufen  (so  auf  Grundlage  einer  beschränkten  gei- 
stigen Mitgift  mit  Torpidität);  oder  aber  mit  Hallucinationen  sich 
compliciren  (so  bei  geistig  lebhafter,  phantastischer  Anlage  oder  auch 
bei  erworbener  Cerebralasthenie).  Die  Hallucinationen  können,  wie 
beim  Wahnsinn,  die  primären  und  grundlegenden  Elemente  des  de- 
pressiven oder  expansiven  Wahnes  abgeben;  viel  häufiger  aber  steigt 
dieser  als  eine  „Eingebung"  aus  der  Tiefe  des  unbewussten  Seelen- 
lebens auf  (Primordialdelirien).  Die  secundär  hinzutretenden  Sinnes- 
täuschungen vollenden  dessen  Ausgestaltung.  Die  Störungsform  ist 
chronisch,  als  Ganzes  unheilbar,  insofern  immer  der  kranke  Rest 
bleibt,  nicht  selten  aber  aus  Paroxysmen  zusammengesetzt,  welche 
einzeln  heilen  können,  aber  in  der  Regel  erschwert  wiederkehren. 

Symptomatologie. 

Das  Vorlaufstadium  der  Krankheit  muss  bis  in  die  Jugend, 
nicht  selten  bis  in  die  Kindheit  zurückdatirt  werden  (s.  hereditäre 
Neurose). 

Die  Anlage  ist  sehr  oft  aus  der  Ascendenz  vererbt,  aber  durchaus 
nicht  immer.  Missgriffe  in  der  Erziehung  (Unverstand  bornirt  bochmüthiger 
Eltern)  spielen  manchmal  eine  ebenso  grosse  Rolle;  auch  politische  Zeit- 
Strömungen  können  für  leicht  erregbare  nrtheilsschwache  Köpfe  zur  Klippe 
werden. 

Es  sind  eigenartige  Kinder  und  Jünglinge  „nicht  wie  andere 
Buben  und  Mädchen",  wie  die  Laien  und  besorgten  Eltern  meist 
richtig  beobachtet  haben.  Ohne  die  kindliche  Heiterkeit  und  Ge- 
selligkeit, sind  es  im  Gegentheil  stille  in  sich  verschlossene  Träumer 
und  Grübler,  welche  sich  früh  schon  in  phantastischen  Luftschlössern 
behagen;  sind  sie  begabt,  so  ist  es  in  der  Regel  einseitig  (wenn 
auch  hier  oft  aussergewöhnlich).  Andrerseits  repräsentireu  Viele 
wahre  Ingenia  tarda.  Gemüthlich  fallen  sie  auf  durch  ihre  Indolenz, 
oder  gegentheils  durch  hypersentimentales,  oft  erschreckend  reizbares 
Wesen.  Der  Schlaf  ist  frühe  schon  durch  lebhafte  Träume  gestört, 
welche  nicht  selten  in  das  Wachsein  hinüberspielen  und  schwer  sich 
corrigiren.  Manchmal  werden  Nachts  somnambule  Zustände  beob- 
achtet, oder  selbst  ekstatisch  visionäre  Anwandlungen  unter  Tags, 
wobei  allerlei  Ahnungen  kommender  Grösse  vor  der  heiss  erregten 


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Originäre  Verrücktheit.  Beginn.  Körperliche  Begleitzeichen.  477 


Phantasie  aufsteigen,  eine  „heilige"  Luft  weht,  und  unter  Durch- 
8trömung  des  ganzen  Körpers  eine  unendliche  „Klarheit"  den  jugend- 
lichen Schwärmer  „durchleuchtet". 

Sehr  häufig  trifft  man  Chorea.  Das  körperliche  Wachsthum  ist  oft 
tadellos,  das  Aussehen  blühend.  In  der  grossen  Mehrzahl  fallen  aber 
frühe  schon  organische  Difformitäten  auf:  verschobener  Schädelbau  mit 
einseitiger  Abflachung  resp.  einseitig  hydrocephalischer  Wölbung,  rhom- 
bische und  kielförraige  Kopfform,  ungleiche  Entwicklung  der  Jochbogen, 
der  Orbita,  Schmal-  und  Steilheit  des  Gaumens,  Staphylombildung  mit 
Doppelsehen,  Schielen  u.  s.  w.,  ungleiche  Gesichts-Innervation,  mangelhafte 
Ohr- Entwicklung,  Assymmetrie  der  beiderseitigen  Körper-Entwicklung, 
ungleicher  Stand  der  Hoden  (Weiteres  s.  bei  Idiot.).  Die  Zähne  sind  oft 
sehr  hinfällig.  Nicht  selten  zeigt  sich  Scrophulose;  bei  Vielen  sind  in 
frühen  Jahren  Hirnaflectionen  vorausgegangen ;  manchmal  findet  sich  ein- 
seitige Blindheit  von  Geburt  aus  mit  diffuser  Glaskörpertrübung  und 
Atrophie  der  Chorioidea.  Bei  Andern  besteht  grosse  Geneigtheit  zu  De- 
lirien (oft  mit  Convulsionen),  welche  bei  den  leichtesten  fieberhaften  Er- 
krankungen sich  einstellen.  Der  Geschlechtstrieb,  gleichen  Schritt  hal- 
tend mit  antieipirter  psychischer  Entwicklung,  erwacht  auffallend  früh, 
und  führt  schon  vor  der  Pubertät  zu  kindischen  Liebeleien  (oft  mit  bom- 
bastisch romanhaftem  Schwulst  der  Diction),  oder  zu  der  noch  grössern 
Gefahr  der  Masturbation. 

Vorübergehend  tauchen  frühe  schon  Zwangsgedanken  auf,  nicht 
selten  auch  Anwandlungen  von  „Berührungsfurcht".  Auch  ein  un- 
motivirtes  ängstliches  Wesen,  häufig  mit  hypochondrischer  Richtung, 
wirft  besorgnisserregenden  Schatten,  um  so  mehr,  als  der  jugend- 
liche Frohsinn  daneben  nicht  zum  Durchbruch  kommt.  Beunruhigen- 
der noch  wirkt  die  Entdeckung,  dass  manchmal  auch  moralische 
Defecte  sich  äussern:  Lust  am  Lügen,  am  Verheimlichen,  am  Ent- 
wenden, an  Thierquälerei.  —  Nun  kommt  die  schwerste  Krise:  die 
Pubertät.  In  nicht  wenigen  Fällen  unterbricht  diese  brüsk  die  in- 
valide Gehirnentwicklung,  und  führt  eine  Dementia  praecox  (s.  erbl. 
Neurose)  herbei;  in  andern  kommt  es  zur  Hebephrenie  (s.  Idiotismus); 
in  wieder  andern  bricht  wirkliche  Seelenstörung  aus,  und  zwar  häufig 
in  Form  eines  acuten  manischen  Wahnsinns. 

Massenhafte  Sinnestäuschungen,  unklarer  Grössenwahn,  vermischt  mit 
VersUndigungsgefühlen,  mystische  Symbolisirung,  jäher  Stimmungsumschlag 
von  den  „Wonnen  des  Himmels"  zu  den  „Tiefen  der  Hölle",  vom  „Hei- 
ligen zum  Teufel",  intercurrente  kataleptische  Zustände,  vasomotorische 
Neurosen,  vermehrte  Pollutionen  u.  s.  w. 

Mit  zurückgelegter  Pubertät  kommen,  wenn  anders  keine  Resi- 
duen aus  dieser  Zeit  verbleiben,  oft  längere  Jahre  der  Ruhe  und 
einer  fortschreitenden  geistigen  Entwicklung.  Die  Kranken  vollenden 
Gymnasien  und  Universitäten,  excelliren  nicht  selten,  bleiben  aber 


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478 


Die  originäre  Verrücktheit. 


stets  —  und  immer  ausgesprochener  —  Menschen  sui  generis.  Ge- 
müthlich  bleiben  sie  Uberempfindlich,  und  oft  wie  Kinder  verletzbar. 
Dem  ganzen  Gebabren  klebt  ein  demonstrativer  Zug  an,  namentlich 
ein  leicht  bereites  Pathos,  neben  Gemüthsschlaffheit  und  Energie- 
losigkeit. Viele,  welche  die  Gelehrten-  oder  Künstlerlaufbahn  er- 
wählten, bringen  es  zu  keinem  Examen  und  zu  keiner  Anstellung; 
sie  schwanken  von  einem  Wissensgebiet  zum  andern,  bleiben  nie 
stetig,  sei  es,  weil  ihr  Interesse  rasch  verpufft,  oder  weil  sie  sich 
von  der  Materie  nicht  befriedigt,  oder  auch  von  der  Umgebung  nicht 
genug  gefördert  glauben,  und  deshalb  in  überlegenem  Schmollen  sich 
behagen. 

Die  Charaktertypen  sind  so  zahlreich  —  jeder  Kranke  ist  eigentlich 
ein  Typus  für  sich  —  dass  eine  erschöpfende  Allgemeinschilderuug  nicht 
möglich  ist.  Hier  sind  einige  der  häufigsten:  Reiche  Bildung  und  viel 
Wissen  in  die  Breite  (weniger  in  die  Tiefe);  geistreiches  Wesen  und  nocli 
forcirteres Geistreich th  un,  verblüftende Ideenassociation  oft  in  eigenartigen 
„Rösselsprüngen";  Vorliebe  für  Allgemeinplätze  und  profuse  Wortmacherei, 
original  barocke  Einfälle ;  überschwenglich  in  Lob  und  Tadel,  bald  naiv, 
bald  blasirt,  in  einer  Minute  sentimental,  in  der  andern  derb  —  und 
dies  Alles  in  jähen  Uebergängen  und  buntem  Geraisch;  in  Conversatiou 
und  Briefen  oft  geistreich  und  daneben  wieder  beschränkt,'  raisonnirend 
ohne  Raison;  Vorliebe  für  hochtrabende  gesuchte  Redensarten;  beim  Wider- 
spruch verlegen  zu  einer  armseligen  Dialektik  greifend;  stolz  auf  Prin- 
cipien  und  darin  starr  und  unbeugsam ,  und  daneben  ein  Spielball  von 
Launen  und  Einfällen ;  im  Leben  gutmüthige  Sonderlinge ,  welche  sich 
theils  in  dieser  „überlegenen"  Rolle  gefallen,  und  in  der  Gesellschaft 
zu  glänzen  suchen,  theils  aber  gcgentheils  den  Umgang  mit  Andern  mei- 
den, ihr  ganzes  Thun  in  das  möglichste  Dunkel  hüllen,  gern  Schleich- 
wege betreten,  und  bei  der  ihnen  stets  unliebsamen  Anrede  unter  schönen 
Grüssen  und  Bücklingen,  unter  einem  übertünchten  Wesen,  ihre  innere 
Unsicherheit,  Hast  und  Unruhe,  die  Haltlosigkeit  und  Zerfahrenheit  ihres 
Denkens  zu  verbergen  suchen. 

Ein  anderer  Typus:  Bornirt  geistreiches  Wesen,  selbstgefällig  und 
eitel  in  geschraubter  Diction  und  affectirter  Kleidung;  gehobenes  Selbst- 
gefühl, welches  mit  einem  Pessimismus  (aus  geistiger  Uebcrlegenheit) 
coquettirt;  Neigung  zu  philosophischen  Speculationen  mit  eigenem  System; 
einseitiges  Sich-fest-Rennen  in  Einer  Idee  mit  gewaltsamster  dialektischer 
Verwerthung  derselben;  Anhänger  der  unnatürlichen  Sexualbefriedigung, 
ohne  jedoch  deswegen  die  Ehe  zu  meiden;  in  letzterer,  und  trotz  der- 
selben, Cultus  der  sexuellen  Perversität. 

Ein  dritter  Typus  ist  (namentlich  bei  Mädchen):  zurückgezogenes 
Wesen  und  krankhaft  gesteigerte  religiöse  Uebungen,  Vorliebe  für  das 
Mystische,  affectirt  prüdes  Wesen  in  der  Ehe,  welche  entweder  mit  phan- 
tastischer Exaltation  oder  auch  gegentheils  mit  Resignation  eingegangen 
wird;  gleich  anfangs  oder  bald  nachher  sexuelle  Kälte  mit  überspannten 
Keuschheitsideen. 


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Charaktertypen.  Klinische  Formen. 


479 


Ein  vierter  Typus:  stürmische  Jugendzeit  mit  tollen  Excessen,  nach- 
her Umschlag  in  Entsagung  mit  forcirten  geistigen  Arbeiten  durch  Tage 
und  Nächte;  dann  wieder  müssiges  Schlendern  mit  entmuthigeuder  Selbst- 
kritik; Schwanken  in  der  Berufswahl ;  Gemüthsindolenz;  selbstgefälliger 
Sarkasmus;  sociale  und  politische  Unreife  mit  ebenso  entzündbarem  als 
rasch  verglimmendem  Enthusiasmus;  gänzlich  fehlende  Selbstzucht;  Un- 
erziehbarkeit  durch  die  Erfahrungen  des  Lebens;  endlich  zunehmende 
Misanthropie  aus  dem  Gefühl  des  Verkanntseins  —  Helden  in  der  Phantasie, 
Kinder  in  der  Wirklichkeit. 

Ein  fünfter  Typus,  und  ein  sehr  häufiger,  ist  endlich  der  Hysteris- 
inus bei  Männern  und  bei  Frauen. 

Körperlich  begleitet  alle  diese  Kranken  ein  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochener Status  nervo8U8,  häufiger  Kopfschmerz,  Neuralgieen,  Spinal- 
irritation, erhöhte  vasomotorische  Erregbarkeit  mit  grosser  Geneigtheit 
zu  Nasenbluten;  bei» jungen  Männern  gesteigerte  Pollutionen,  Anomalieen 
der  Potenz. 

Der  Beginn  der  Krankheit  kann  unbemerkt  in  der  Stille  sich 
vollziehen,  oder  aber  geräuschvoll  unter  tobsüchtiger  Erregung  in 
Scene  treten.  Im  ersten  Falle  bildet  ein  träumerisches  Grübeln  oder 
ein  emsiges  Nachschauen  in  allerlei  Büchern  die  Einleitung;  der 
Kranke  fühlt,  dass  Etwas  in  ihm  vorgehe,  und  will  sich  darüber 
Aufklärung  holen.  Andere  Male  hat  er  direct  an  den  Mienen  und 
Blicken  einer  vorübergehenden  Dame  die  Gewissheit  erhalten,  dass 
sie  in  Liebe  für  ihn  schwärme,  ihn  heirathen  wolle;  oder  ein  Ma- 
donnabild hat  ihm  ein  „Zeichen"  für  eine  besondere  Mission  zuge- 
winkt. Einwendungen  und  Gegenvorstellungen  werden  Anfangs  noch 
entgegengenommen,  aber  nur  halbgläubig;  bald  wird  jede  derartige 
Insinuation  abgewiesen,  oft  mit  drohendem  Affect  So  rückt  der 
Kranke  rascher  oder  langsamer,  oft  mit  Einem  Schlage,  in  die 
fertige  Krankheit.  Diese  kann  als  einfacher  Beeinträchtigungs- 
oder Grössenwahn  verlaufen;  oder  aber,  mit  Hallucinationen  com- 
plicirt,  als  eine  dieser  beiden  Formen.  Am  häutigsten  tritt  aber  das 
klinische  Bild  in  einer  Mischung  beider  auf:  als  depressiver  Wahn- 
sinn mit  Grössenideen,  resp.  exaltirter  Wahnsinn  mit  Verfolgungs- 
wahn (je  nach  dem  klinischen  Vorwiegen  des  einen  oder  andern 
Elements). 

Für  die  klinische  Charakteristik  der  beiden  erstgenannten  ein- 
fachen Formen  ist  das  a.a.O.  entworfene  Symptomenbild  inaassgebend. 
Dasselbe  enthält  für  die  originären  Fälle  nur  noch  die  Züge  aus  der 
hereditären  Neurose  (s.  d.)  beigemischt.  Aus  letzterer,  welche  Eingangs 
schon  für  viele  Fälle  als  directe  Vorfrucht  bezeichnet  wurde,  lässt  sich 
nicht  selten  die  ev.  spätere  Erkrankungsform  direct  ableiten,  und  in 
ihrer  individuellen,  depressiven  oder  exaltirten,  Richtung  verstehen.  So 
wandert  die  ab  ovo  geistig  schwächliche   und  ängstliche  Natur  nach 


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480 


Die  originäre  Verrücktheit. 


ihren  Misserfolgen  im  Daseinskampfe  zu  den  Misanthropen  und  Verfol- 
gunga- Verrückten,  während  der  sentimentale  Schwärmer  und  Phantast 
schon  von  Jugend  auf  seinen  Don  Quixote  mitbringt,  welcher  ihn  ohne 
Krise  —  in  natürlicher  Entwicklung  —  zum  exaltirt-verrückten  Roman 
tiker  ausgestaltet.  Eine  specielle  Betrachtung  erfordert  hier  deshalb 
nur  noch  die  dritte  Form  der  gemischten  Verrücktheit,  um  so  mehr, 
als  sie  für  die  originären  Fälle  die  eigentlich  typische  ist. 

Gemischt  depressi  v-exaltirte  Verrücktheit.  Das  an- 
fängliche Entwicklungsverhältniss  der  beiden  genannten  Wahnele- 
mente ist  individuell  sehr  verschieden.  Es  kann  1.  das  exaltirte 
Stadium  vorangehen.  Dem  einsamen  GrUbler  ist  das  gesuchte 
„Licht"  aufgegangen:  er  hat  irgend  eine  Stelle  in  einem  alten 
Buche,  ein  Bild  oder  eine  Zeitungsanzeige  aufgefunden,  welche  nur 
auf  ihn  passt,  eigens  für  ihn  hereingesetzt  ist;  er  ist  zu  Hohem 
geboren  und  bestimmt,  hat  ein  grosses  Vermögen  zu  erwarten,  be- 
deutende Ehrenstellen;  ja,  er  ist,  ohne  dass  er  es  seither  gewusst 
hat,  von  hoher  Geburt  und  Abstammung,  ein  untergeschobenes  fürst- 
liches Kind.  Viele  legen  sich  deshalb  den  Adel  bei  und  verlangen 
die  geziemende  Titulatur.  Aber  die  ungetrübte  Freude  Uber  diese 
berückenden  Conceptionen  bleiben  dem  Kranken  nicht  lange  be- 
schieden. Wie  diese  ohne  bewusste  Association  und  Motiv  aus  dem 
Unbewussten  aufgetaucht  sind  —  toto  de  coelo  dastehen ;  andere 
Male  vielleicht  noch  oberflächlich  an  wirkliche  Erlebnisse  resp. 
frühere  Vorstellungen  sich  anlehnend  —  so  steigen  jetzt  aus  der- 
selben unbewussten  Quelle  auch  Verfolgungsgedauken  auf:  Verdäch- 
tigungen seines  Namens,  oder  Befürchtungen,  dass  man  ihm,  dem 
Begnadigten,  feindlich  gesinnt  sei  und  Übel  wolle  wegen  seiner  Be- 
vorzugung; er  ist  ein  vertauschtes  Fürstenkind,  aber  eine  Iutrigue 
hat  die  Hand  im  Spiele;  seine  Widersacher  haben  ein  Interesse 
daran,  dass  die  Sache  nicht  herauskomme.  Daran  baut  sich  ein 
Beachtungswahu  auf.  —  Es  kann  aber  2.  der  Verfolgungswahn  den 
ersten  Act  des  Dramas  bilden,  und  erst  im  Verlauf  dieses  sich  das 
Grössenelement  („unter  einem  Wonnegefühl,  als  ob  der  Kranke  fliegen 
könute")  hinzufügen;  und  endlich  3.  können  beide  Richtungen  mit 
einander  hervortreten,  neben  einander  einhergehen,  zeitweise  sich 
mischen  oder  verdrängen,  abrupt  in  einander  überspringen,  jedoch 
ohne  dass  die  eine  dauernd  die  andere  zu  Uberwältigen  vermöchte; 
in  ihrer  einzelnen  reactiveu  Wirkung  bald  Seligkeit  Uber  das  Ge- 
müth  legen,  bald  erbitterte  oder  resignirte,  zu  Allem  entschlossene 
Depression. 

Viel  rascher  und  einschneidender,  auch  häufiger,  gestaltet  sich 
die  Krankheitseutwickluug  durch  die  Anwesenheit  von  Hallucinatio- 


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Gemischt  depressiv-exaltirte  Form.   Krankheitsbild.   Klinische  Typen.  481 

nen.  Da  hört  der  bis  dabin  nichts  ahnende,  höchstens  nervöse  und 
reizbare  Kranke  plötzlich  ein  Wort  sich  nachrufen  (es  kann  ein 
Schimpfname,  oder  gegentheils  ein  Hinweis  auf  seine  Grösse  sein; 
allermeist  spielen  sofort  beide  Timbre's  in  einander):  es  ergreift  ihn 
mit  der  Macht  einer  Offenbarung.  Nicht  selten  kämpft  der  Kranke 
Anfangs  noch  mit  der  Kraft  seiner  bessern  Ueberzeugung  dagegen 
an;  dauern  aber  die  Stimmen  fort  und  kehren  die  „Gesichte"  wie- 
der, so  verwirren  sich  rasch  die  Gedanken;  er  sieht  jetzt  bald  auch 
bestätigende  Symbole,  während  sein  Selbstgefühl  im  Kampfe  der 
freundlichen  und  feindlichen  Inspirationen  und  Andeutungen  sich 
höher  und  höher  hebt:  die  Verfolger  müssen  zu  Boden  geworfen 
werden  (nicht  selten  werden  kurzer  Hand  auch  Gewaltacte  geplant) ; 
oder  der  Kranke  will  sie  in  ihrer  Ohnmacht  gewähren  lassen;  denn 
deren  Machinationen  werden  ja  bald  entlarvt,  und  ihm  dadurch  eine 
nur  noch  grössere  Folie  gegeben.  Sagt  die  „schlechte"  Stimme 
zum  Kranken,  dass  sein  Untergang  verschworen  sei,  so  tröstet  die 
„gute",  dass  Gott  ihn  nicht  verlassen  werde  in  seiner  Noth  —  und  ' 
der  Kranke  beruhigt  sich,  dass  auch  „dieser  Kelch  an  ihm  vor- 
übergehen werde". 

Ueber  die  Detailgestaltang  dieser  ganz  in  der  concreten  Individua- 
lität wurzelnden  Krankheitaform  entscheidet  der  specielle  geistige  Fonds 
im  Einzelfalle,  sowie  Uber  den  grotesken  Inhalt  der  Grössenideen  die 
specielle  Wissensstufe;  dieser  wird  aus  allen  Gebieten,  oft  aus  entlegenen 
historischen  Zeiträumen,  bald  deductiv,  bald  inspirirt,  hergeholt. 

Handelt  es  sich  um  Fälle  von  originärer  geistiger  Beschränkt- 
heit (einseitige  Begabung  mit  Verschrobenheit),  welche  ihren  Aus- 
gang in  diese  Combination  von  Grössen*  und  Verfolgungswahn  neh- 
men, so  schaut  in  der  Regel  schon  bald  der  manifeste  Blödsinn 
durch  alle  flitterhaften  Wahnconceptionen  und  durch  das  noch  so 
mysteriöse  Gebahren  hindurch.  Diese  werden  in  den  Asylen  die 
„Fürsten  und  Kaiser",  welche  ständig  ihre  „goldenen  Kleider"  und 
Kronen  verlangen,  jeden  Tag  einen  Sack  Geld  erhalten,  Millionen 
von  Soldaten  parat  stehen  haben  u.  s.  w.,  und  nichts  desto  weniger 
nach  Absagen  ihres  Sprüchleins  wieder  gemüthlich  ihren  Weg  weiter 
nehmen,  von  der  Zeichnung  ihres  Wappens  und  Stammbaumes  ver- 
gnügt zur  Feldarbeit  gehen. 

Dahin  gehören  auch  die  „Narren"  von  altem  Schrot  und  Korn,  jene 
Typen  ewiger  Heiterkeit  und  Gutmüthigkeit,  voll  Ueberschätzung  und 
Selbstgefälligkeit,  jene  Effecthascher  und  Possenreisser,  Grosshanse  und 
Aufschneider,  welche  Tag  aus  Tag  ein  sich  ihrer  kindischen  Spielerei, 
einer  albernen  Ziersucht  hingeben,  profuse  Schwätzer  und  lebhafte  Decla- 

Schfkle,  Geisteskrankheiten.    3.  Anfl.  31 


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■182 


Die  originäre  Verrücktheit. 


mateurs  ibrer  „blauen"  Erlebnisse,  beständig  zufrieden  in  ihrer  zweck- 
losen Geschäftigkeit,  jedem  ernsten  Treiben  abhold,  unverdrossene  Sammler, 
welche  stundenlang  in  ihren  Papierschnitzeln  mit  wichtiger  Miene  herum- 
stöbern, überall  ihr  kindisches  Spiel  anheben  (hämmern,  putzen,  schmie- 
ren), zu  jeder  Inconvenienz  Seitens  der  Andern  den  Lachchor  bilden, 
eine  Stunde  mit  ihrer  Gesundheit  und  Stärke  prahlen,  in  der  andern  dem 
Arzt  mit  endlosen  unbegründeten  Klagen  über  nichtige  Beschwerden 
anliegen,  in  ihrer  Sprache  vom  ernsten  Pathos  in  frivole  Cynismen  über- 
springen —  dabei  keine  eigentliche  Wahnvorstellung  oder  Sinnestäuschung 
äussern,  über  ein  leidliches  Gedächtniss  verfügen,  aber  im  engsten  Ideen- 
kreise sich  herumtummeln,  schwach  im  Urtheil,  noch  schwächer  in  ihrem 
sittlichen  Gefühl;  dabei  harmlos,  nie  gewaltthätig  oder  verletzend,  zwar 
rasch  aufbrausend,  aber  ebenso  leicht  (durch  eine  Pfeife,  Cigarre  u.  s.  w.) 
wieder  bestimmbar. 

Anders  bei  einer  reichern  nnd  geschultem  psychischen  Anlage. 
Da  entstehen  ausserordentlich  mannigfaltige,  und  namentlich  durch 
ihren  langen  Verlauf  reiche  Krankheitsbilder.  So  vermögen  manche 
Kranke  bald  schon  ihre  Wahnideen  in  sich  zu  verschliessen ,  und 
verrathen  dieselben  nur  an  einzelne  ausgewählte  Personen ;  auch  die 
Regungen  ihres  Grössenwahnes  wissen  sie  normalen  Kategorieen 
unterzuordnen;  ihre  hohe  Protectionsstellung  wird  nur  im  Sinne 
einer  allgemeinen  Wohlthätigkeit,  wenn  auch  mehr  aus  „Drang", 
denn  aus  „Reflexion"  verwerthet.  Solche  Kranke  verrathen  oft  nach 
aussen  d.  h.  dem  Laien  gegenüber  kaum  etwas  Anomales,  obwohl 
sie  fortan  im  Dienste  ihres  expansiven  Wahnes  stehen,  und  alles 
Mögliche  und  Unmögliche  aus  ihrer  LectUre,  besonders  aus  der 
sensationellen  Tagespresse,  im  Sinne  ihres  Verfolgungswahnes  ver- 
arbeiten. —  Bei  Andern  dagegen  bricht  gleich  im  Anfang  eine  mehr 
oder  weniger  starke  Aufregung  hervor;  sie  schreiben  Hunderte  von 
Briefen,  lassen  sich  Abzeichen  ihrer  verheissenen  Würde  machen, 
nehmen  ein  überlegenes  herrisches  Benehmen  an,  brausen  rücksichts- 
los auf,  werden  dann  wieder  plötzlich  sentimental  weich,  machen 
Proclamationen  und  Proteste  mit  mystischen  Andeutungen,  gefallen 
sich  in  schwülstigen  Redensarten,  dichten  und  reimen  —  um  daneben 
immer  mit  der  Schärfe  einer  einseitigen  Logik  jedem  Einwand,  na- 
mentlich jeder  Zumuthung  einer  Krankheit,  zu  begegnen.  Bis  zu 
einem  gewissen  Grade  wissen  sie  fein  zu  dissimuliren ;  nur  wenn 
sie  contrariirt  werden  (dann  aber  um  so  maassloser),  bricht  der 
Grössenwahn  durch,  gewöhnlich  mit  einer  Fluth  von  symbolischen 
Beglaubigungen,  welche  unbemerkt  und  unter  der  Hülle  des  äussern 
Decorum  sich  ankrystallisirt  hatten.  Manchmal  fällt  aber  auch  nur 
eine  gewisse  Vornehmheit  und  Steifheit  der  Haltung  auf,  eine  Nei- 
gung sich  zu  putzen  und  Toilette  zu  machen,  eine  oft  ernst  nach- 


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Gemischt  depressiv-exaltirte  Form.  Weiterverlauf.  Ideenassociation.  HandelD.  483 

denkende,  mit  plötzlichem  Lächeln  wechselnde  Miene.  Nicht  selten 
kann  nach  Umflnss  von  Monaten  ein  solcher  Paroxysmus,  welcher 
unter  Erregungen  und  Abspannungen  ganz  regellos  verläuft,  wieder 
bis  zum  Rest  d.  h.  dem  bleibenden  eigenartigen  Charakter  und 
Originalwesen  abklingen.  Wirkliche  Krankheits  einsieht  wird  dabei 
Dichterreicht;  sehr  häutig  aber  besteht  doch  ein  Krankheitsgefühl. 
Die  Wahnvorstellungen  tauchen  unter,  bleiben  jedoch  uncorrigirt. 
Wohl  darum  ist  auch  Recidive,  namentlich  bei  dem  misstrauischen, 
reizbaren  Wesen  dieser  Kranken,  sehr  häufig. 

Ist  der  Verlauf  sofort  zur  dauernden  Chronicität  angelegt,  so 
arbeitet  sich  der  Kranke,  unter  partieller  Schonung  oft  eines  sehr 
grossen  Theils  seines  Bewusstseinsinhalts  und  seiner  logischen  Fähig- 
keit, immer  tiefer  in  seine  „verrückten"  Conceptionen  hinein.  Nach 
rück-  und  vorwärts  wird  jetzt  sowohl  Erinnerung  als  auch  Zukunfts- 
perspective  nach  dem  herrschenden  Wahne  corrigirt,  und  Alles  in  ein 
System  gefügt.  Neue  Stammbäume  werden  angefertigt,  alle  Wahr- 
nehmungen eigenartig  umgedeutet,  und  dies  mit  Hilfe  einer  gleich- 
falls immer  individuellern  Logik  —  einer  wirklichen  Paralogik 
—  für  welche  die  Causalität  immer  mehr  nach  dem  äussern  Zu- 
sammentreffen der  zufälligen  Nachfolge  zweier  Vorstellungen,  als 
nach  der  inhaltlichen  Verwandtschaft,  und  sofort  fertig,  sich 
vollzieht.  Es  tritt  das  post  hoc  gebieterisch  an  Stelle  des  wirk- 
lichen Motivs. 

Die  Ideenassociation  wird  eine  so  abstruse,  dass  sie  für  einen  Dritten 
nicht  mehr  verfolgbar,  endlich  unverständlich  ist.  Hier,  in  diesem  vor- 
gerückten Krankheitsstadium ,  finden  namentlich  jene  (s.  v.  v. !)  Orgien 
des  „Worts"  als  Lautbildes  statt,  jene  Spielereien  mit  Silben  und  Asso- 
nanzen, welche  ebensoviele  heterogene  Begriffe  wachrufen  und  die  Kran- 
ken auf  Tage  hinaus  in  einen  förmlichen  Schwindel  von  Gedanken,  Er- 
innerungen, Vergleichen  u.  s.  w.  gefangen  halten.  So  erklärt  ein  Kranker: 
„Calvarienberg"  =  Cal  i.  e.  Calle  (hebr.)  Braut;  vari  =  war,  i  =  Ignaz 
(des  Kranken  jüngster  Bruder),  en  =  „Russland"  (Aufenthaltsort  seines 
Bruders).  Dazwischen  mengen  sich  selbstgemachte  Worte  und  Bezeich- 
nungen von  eigenartiger  Verzwicktheit.  So  erwachsen  literarische  Leis- 
tungen, welche,  obwohl  in  deutschen  Ausdrücken  geschrieben,  keinen 
einzigen  verständlichen  Satz  mehr  enthalten.  Reicht  auch  das  selbster- 
fundene Wort  nicht  mehr  aus,  so  treten  eigens  gemachte  graphische  Zei- 
chen, Ringel,  Punkte,  allerlei  Schnörkel  ein,  um  den  „Gedanken"  zu  ver- 
sinnbildlichen. 

Für  das  Handeln  des  Kranken  werden  Einfälle,  plötzliche  Stim- 
mungen, Sympathieen  und  Antipathieen  zu  den  immer  mehr  und  zwangs- 
mässiger  leitenden  Normen,  neben  und  mit  den  schrankenlos  gebietenden 
Uallucinationen.  Der  Kranke  darf  jetzt  nur  sprechen  und  essen,  je  nach 
der  innern  Eingebung,  je  nach  dem  erhaltenen  „Zeichen",  dem  Stande 

31* 


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481 


Die  originäre  Verrücktheit. 


der  Sonne,  nach  einem  zufälligen  Traume  u.  s.  w.;  oder  er  muss  schwei- 
gen, an  den  oder  jenen  Ort  hinstehen  ,  diese  oder  eine  andere  Stellung 
einnehmen.  Dazwischen  kämpfen  die  „guten"  und  die  „bösen"  Mächte 
um  ihn;  er  bekommt  täglich  neue  Verheissungen,  aber  auch  neue  War- 
nungen. Der  ungelöste  Zwiespalt  erzeugt  reactiv  schmerzliche  Verstim- 
mungen mit  rathloser  Unthätigkeit  und  nicht  selten  mit  ernstem  Lebens- 
überdruss. 

Sehr  oft  schieben  6ich  hypochondrische  Phasen  ein  (manche 
Fälle  beginnen  gleich  zu  Anfang  mit  solchen),  in  denen  der  Kranke 
vom  bösen  Geiste  sich  „geschwärzt"  fühlt,  und  in  seiner  Kürper- 
form verschoben,  mit  ungleichen  Gliedern,  einseitigen  Verkürzungen, 
Verkrümmungen,  dislocirtcn  Organen  —  ganz  wie  bei  den  analogen 
Fällen  in  dem  erworbenen  Wahnsinn. 

Körperlicherseits  finden  sich  die  mannigfachsten  sensibeln,  vasomo- 
torischen und  trophidchen  Begleiterscheinungen.  Alle  Arten  von  Par-, 
Hyper-  und  Anästhesieen  (vorübergehende  Beklemmungen),  ungleiche  Blut- 
vertheilung  und  locale  Congestivzustände,  un regelmässige  Menses,  hyste- 
rische Lähmungen  und  Coutracturen,  Lanugo  im  Gesichte,  frühzeitige  (oft 
partielle)  Canities. 

So  kann  sich  die  Krankheit  unter  Besserungen  und  Verschlim- 
merungen, welche  nicht  selten  eine  annähernde  Periodicität  ein- 
halten, durch  Jahre,  oft  bis  zum  Schlüsse  des  Lebens,  hinziehen. 
Der  Grössenwahn,  zeitweise  stark  und  anspruchsvoll,  kann  zu  andern 
Zeiten  limitirt,  ja  periodisch  sogar  widerrufen  werden.  Viele  Kranke 
bewahren  durch  alle  Prüfungen  hindurch  ihr  leidlich,  ja  oft  ein- 
seitig voll  geschontes,  Bewnsstsein;  manche  bleiben  gute  Gesell- 
schafter, treffliche  Spieler,  geübte  Musiker,  gewandte  Reimdichter. 
Manche  imponiren  als  originelle  Denker,  und  erhalten  sich  durch 
ihre  eigenartige  Auffassung,  durch  gelungene  Folgerung,  strenge 
Unterscheidung,  genaue  Diction,  ernste  Haltung,  einen  philosophi- 
schen Anstrich. 

Tiefer  betrachtet,  bleiben  aber  Alle  ein  Mixtum  compositum  von 
Verstandesschärfe,  und  wiederum  von  Verrücktheit  und  von  blödsinniger 
Schwäche  —  theils  neben  einander  auf  den  verschiedenen  Urtheilsge- 
bieten,  theils  zeitlich  nach  einander,  je  nach  der  Disposition  ihrer  schwan- 
kenden geistigen  Functionscurve. 

Bei  nicht  Wenigen  erhält  sich  auch  ein  gemüthlich  liebenswür- 
diges, sociales  Wesen.  Manche  wenden  eine  tiefgehende  Sympathie 
gewissen  Thieren  zu,  namentlich  Vögeln,  die  sie  nicht  nur  auf- 
opfernd und  hingebend  pflegen,  sondern  in  mystischem  Cult  ver- 
ehren (eine  Patientin  aus  meiner  Beobachtung  suicidirte  sich  nach 
dem  Tode  ihres  Lieblings-Canarienvogels).  —  Bei  Andern  dagegen 


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Gemischt  depressiv« exaltirte  Form.  Ausgänge. 


185 


schrumpft  das  Gefühlsleben  zu  einem  immer  verknöchertem  Egoismus 
zusammen,  verbunden  mit  zunehmender  Menschenscheu,  Gemüths- 
rohheit  und  einer  leidenschaftlichen  Reizbarkeit,  so  dass  der  ge- 
ringste Widerspruch  oder  eine  ungelegene  Zumuthung  einen  Affect- 
sturm entfesselt.  Andere  werden  indolent  und  apathisch.  —  Daneben 
trifft  man  auch  wieder  Fälle  an,  wo  der  einmal  durchgemachte 
Paroxysmus  zurücktritt  und  die  Kranken  sich  erholen  (ihr  Naturell 
abgerechnet),  und  ihrem  Berufe,  ihrer  Familie  auf  Jahre,  selbst 
dauernd,  wiedergeschenkt  sind. 

Ist  mit  dem  ersten  oder  einem  der  folgenden  Anfälle  die  Bahn 
des  Niederganges  beschritten  (was  übrigens  in  keinem  Falle  be- 
stimmt zu  prognosticiren  ist),  so  ist  der  Decursus  in  der  Regel  ein 
allmählicher,  etappenweise  stationärer. 

Die  Reste  des  ehemaligen  Verfolgunga-  oder  Grössenwabnes  erhal- 
ten sich;  aber  der  Kranke  verweilt  nur  noch  mit  geringem  Nachdruck 
bei  denselben,  und  sucht  durch  schlechte  Witze  und  fade  Bemerkungen 
den  ungünstigen  Eindruck  bei  Andern  zu  verwischen.  Diese  Witzeleien 
werden  manchmal  zur  Sucht,  bald  als  beissende  Satire,  bald  als  Ironie, 
oder  herausfordernde  Ostentation,  und  lassen  in  der  muthwilligen  Laune 
doch  immer  wieder  das  krankhaft  gehobene  Selbstgefühl  durchfühlen. 
Dazu  gesellt  sich  ein  streitsüchtiges,  rechthaberisches  Wesen.  Diese  Klasse 
der  Verrückten  wird  nach  und  nach  zu  den  chronischen  Winkeladvocaten 
der  Andern,  während  sie  für  sich  zu  maasslosen  Schreibhelden  werden, 
welche  alle  Papierstückchen,  Bücher,  Zeitungen,  Wände  mit  ihrem  immer 
verschrobenem  Gekritzel  vollfüllen.  Die  Stimmung  schwankt  zwischen 
den  Extremen  einer  vorwaltenden  Gereiztheit  und  stumpfen  Gleichgültig- 
keit; die  höhern  Interessen  sinken.  Daneben  spielen  allerlei  Sinnestäuschun- 
gen fort  mit  immer  ideenärmererm  bizarrerm  Inhalt,  selten  von  impera- 
tivem Charakter,  meistens  ohne  tiefere  Nachwirkung.  Nicht  wenige  Kranke 
fühlen  die  zunehmende  Verwirrung  ihres  Gedankenganges  selbst,  aber 
ohne  schmerzlichen  Affect.  Manchmal  treten  dagegen  ausgesprochene 
melancholische  Phasen  in  brüskem  unvermitteltem  Uebergang  dazwischen: 
die  Kranken  werden  plötzlich  verstimmt,  ziehen  sich  in  die  hintersten 
Winkel  zurück,  wo  sie  Tage  lang  mit  ernster,  gespannter  Miene,  nieder- 
geschlagenem, thränenfeuchtem  Blicke  dastehen,  misstrauisch  werden, 
schlecht  schlafen  und  essen  (unter  gastrischen  Störungen),  und  ihre 
Düsterheit  mit  allerhand  Einfällen,  selten  mit  zureichenden  Gründen,  mo- 
tiviren. 

Schrittweise  abwärts  bewegt  sich  das  ganze  geistige  Getriebe 
immer  mehr  nur  noch  in  den  eingelebten  Bahnen  —  täglich  die 
alten  Klagen  oder  Wünsche,  aber  mit  abklingendem  Affect.  Das  in 
seinem  tiefsten  Innern  schwankende  Ich  hilft  sich  Uber  seine  innere 
Leere  und  Unsicherheit  immer  nothdürftiger  hinweg  durch  den  Drang 
nach  steten  „Verificationeu",  oft  mit  Fragezwang,  und  zur  Stütze 


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4SI) 


Die  originäre  Verrücktheit. 


seiner  Orientirung  durch  eine  peinliche  Präcision  in  allen  Anord- 
nungen des  Zimmers  und  des  immer  mechanischem  Tagesganges. 
Alles  wird  geprüft,  wieder  geprüft,  durch  hunderterlei  Kreuz-  und 
Querfragen  sicher  gestellt.  Die  geistigen  Aeusserungen  werden  flacher 
und  unbestimmter,  der  Kranke  rathloser  und  immer  kleinlicher;  er 
widerspricht  sich  und  widerruft  gemachte  Angaben,  zweifelt  an  seinen 
Aussagen.  Durch  die  innere  Unsicherheit  und  die  zunehmenden  Ge- 
dächtnissdefecte  laufen  in  seinen  Reden  und  Behauptungen  immer 
bedenklichere  Licenzen  unter. 

Auch  der  Sinn  für  das  Decorum  beginnt  Noth  zu  leiden.  Trotz  der 
äussern  Zucht  und  Ordnung  gehen  die  feinern  socialen  und  ästhetischen 
Rücksichten  immer  mehr  verloren;  die  Kranken  sinken  zum  banalen 
Sinnengeniisa  herab,  essen  ohne  Wahl  und  mit  grosser  Ueissgier,  mastur- 
biren  gelegentlich,  verstecken  ihren  Stuhl  in  Kleider  und  Schubladen 
u.  s.  w.  Das  intellectuellc  Leben,  welches  in  inhaltlich  und  formal  wohl 
erhaltenen  Resten  oft  noch  lange  der  ohnmächtige  Zeuge  des  unaufhalt- 
samen Zerfalls  gewesen,  geht  allmählich  in  blödsinnige  Abstumpfung  ein. 
Der  Kranke  wird  bis  zur  Unverständlichkeit  verwirrt;  er  beginnt  mit 
läppischen  Bildern  und  Zeichnungen  sich  zu  vergnügen,  schreibt  viel 
unsinniges  Zeug  zusammen,  macht  Tage  lang  dieselben  sinn-  und  end- 
losen Zahlenrechnungen,  treibt  allerlei  verkehrte  Handlungen  (legt  sich 
oft  der  Länge  nach  auf  den  Boden),  gesticulirt  viel  u.  8.  w.  Zwischen- 
hinein  wird  er  nicht  selten  noch  gereizt  und  plötzlich  gewaltthätig.  In  der 
Regel  aber  behagt  er  sich  in  seiner  Gemüthsruhe,  in  welcher  er  auch 
oft  harmlos  zerreisst  und  zerstört.  Oft  erhellt  noch  ein  blöder  Grössen- 
wahn,  mit  den  barocksten  Einfällen,  auf  einige  Zeit  die  heraufziehende 
geistige  Umnachtung.  Im  Laufe  der  Jahre  löscht  aber  auch  dieses  letzte 
Irrlicht  aus;  die  Kranken  sinken  zum  Kinde  herunter,  und  noch  unter 
dasselbe.  Unbekümmert  und  auch  ohne  Verständniss  für  die  Umgebung, 
selten  mehr  durch  Worte,  sondern  nur  durch  Gesten  (ein  freundliches 
Nicken,  ein  herablassendes  Lächeln)  sich  äussernd,  messen  sie  Jahr  aus 
Jahr  ein  dieselben  Abtheilungsräume  ab,  folgen  mechanisch  wie  ein  Uhr- 
werk demselben  eingelebten  monotonen  Tageslauf,  so  dass  man  die  Ge- 
schichte von  Lebensjahrzehnten  nicht  bündiger  geben  könnte,  als  durch 
die  lapidaren  Worte:  „er  ass,  trank,  schlief,  schnupfte  und  starb". 

Bei  erotischer  Wahnrichtung  schieben  sich  nicht  selten  sexuelle 
Perversitäten  in  den  ernsten  Krankheits verlauf.  Die  Kranken  fühlen 
sich  in  das  andere  Geschlecht  metamorphosirt  (entsprechende  Ge- 
berden und  Kleidung,  Nachahmung  von  Frauenbüsten).  Endlich 
schliesst  eine  —  wirklich  erlösende  —  körperliche  Krankheit  das 
Drama  ab  (Phthise,  Apoplexie). 

Mit  dem  Eintritte  der  finalen  Lungenphthise  wird  oft  noch  eine 
Quelle  von  hypochondrischen  Klagen  eröffnet,  wogegen  die  frühem  ent- 
sprechend in  den  Hintergrund  treten.  Gleichzeitig  greift  eine  Art  schmerz- 
licher Resignation  durch,  unter  deren  Quietiv  der  Kranke,  vom  Stand- 


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Das  degenerative  erbliche  Irresein 


—  die  Moral  Insanity. 


487 


punkt  des  Ueberwundenen  aus,  weniger  lebhaft  mehr  gegen  seinen 
Wahn  reagirt,  und  als  stiller  Dulder  nur  noch  um  Schonung  und  Gnade 
bittet.  — 

Die  Behandlung  kann  nur  in  einer  Anstalt  durchgeführt  wer- 
den, und  hat  bei  dem  polymorphen  Wechsel  der  Zustandsbilder  die- 
selben Indicationen  wie  letztere,  wenn  sie  nicht- originär  auftreten. 
Nicht  selten  werden  die  Kranken  nach  einem  temporären  Asylaufent- 
halt wieder  auf  Jahre  hinaus  „ganz  patent". 


£.  Bas  degenerative  erbliche  Irresein  —  die  Moral  Insanity. 

Unter  dieser  Bezeichnung  sind  alle  Krank  heitszustände  zusammen- 
gefasst,  in  welchen  ein  Mangel  oder  eine  Perversion  der  ethischen 
Gefühle  (mit  entsprechenden  Handlungen),  neben  einer  mehr  oder 
weniger  erhaltenen  Intactheit  der  intellectuellen  Sphäre,  das  vorwal- 
tende klinische  Symptom  bildet.  Der  „sittliche  Blödsinn"  ist  an  sich 
keine  selbstständige  Krankheitsform;  derselbe  erhält  vielmehr  erst  kli- 
nische Grundlage  und  Boden  durch  den  concreten  psychischen  Zustand 
(resp.  Cerebralaffection),  auf  welchem  er  erwächst.  Als  solche  kennen 
wir  gewisse  manische  Zustände,  namentlich  von  periodischem  oder 
circulärem  Charakter,  hysterische,  alkoholistische,  paralytische,  epi- 
leptische und  traumatische  Psychosen.  Bei  allen  diesen  kann  vor- 
übergehend oder  dauernd  die  in  Rede  stehende  sittliche  Schwäche 
form  gebend,  nnd  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unabhängig  von  dem 
gegentheils  oft  auflallend  geschonten  Verstände,  auftreten,  als  eine 
Modificirung  des  Symptomencomplexes ;  man  spricht  dann  von  einer 
mit  Moral  Insanity  complicirten  Manie,  oder  von  einer  in  Moral  In- 
sanity Ubergegangenen  hysterischen,  manischen  u.  8.  w.  Seelenstörung. 
Die  Nomenclatur  verfuhrt  dabei  wie  bei  gewissen  Entwicklungsweisen 
des  Delirium  acutum :  wie  dieses  letztere  sich  an  verschiedene  psycho- 
pathiscbe  Zustände  anschliessen,  aber  auch  ebenso  primär  in  Scene 
treten  kann  —  in  beiden  Fällen  und  Entstehungsweisen  aber  als 
so  Ich  es  einen  klinisch  geschlossenen  und  im  Verlauf  übereinstim- 
menden Symptomencomplex  darstellt  —  so  ist  es  auch  bei  der  Moral 
Insanity  der  Fall.  Ausgehend  (nach  der  einen  Form)  von  einer  here- 
ditären Neurose,  welche  bereits  die  wesentlichen  Züge  des  späteren 
Krankheitsbildes  mitbringt,  bildet  sie  die  einfach  natürliche  Weiter- 
entwicklung jener  Anlage.  Dieser  typischen,  reinen,  Gruppe  steht  die 
erworbene  Moral  Insanity  gegenüber,  welche  in  dieser  Gestalt  (theil- 


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488 


Das  degenerative  erbliche  Irresein  — 


die  Moral  Insanity. 


weise)  zugleich  die  degenerativen  Formen  der  zugehörigen  Psycho- 
neurosen  vereinigt:  in  dieser  zweiten  Gruppe  ist  auch  die  intellectuelle 
Sphäre,  der  vorausgegangenen  klinischen  Entwicklung  entsprechend, 
inhaltlich  mehr  oder  minder  gefälscht  (s.  u.).  Aber  die  Wahngedanken 
sind  auch  hier  nicht  tonangebende  Motive  für  das  perverse  Handeln, 
sondern  theils  nur  vage,  die  Stimmung  begleitende  und  allegori sirende 
Schemata  (gewöhnlich  als  Verfolgungswahn),  theils  den  anomalen 
ethischen  Empfindungen  und  Drängen  angehängte  Erklärungen.  Es 
können  übrigens  auch  die  erworbenen  Zustände  nach  dem  ersten 
Typus  einer  wahnfreien  allgemeinen  „psychischen  Schwäche"  (s.  d.) 
verlaufen. 

Zum  psychologischen  Verständniss  muss  hier  vorausgeschickt  werden, 
dass  die  Wurzel  unseres  sittlichen  Fuhlens  —  die  Befähigung  zum  „Mit- 
leid" —  mit  unserem  inneren  Selbst  zusammenhängt,  und  als  eigentlicher 
Kern  unseres  Individualcharakters  uns  angeboren  ist.  Was  wir  sittlich 
sind,  bringen  wir  mit;  was  wir  sittlich  werden,  ist  das  Werk  der 
äusseren  Umstände:  des  Lebens  und  speciell  der  Erziehung.  So  unend- 
lich viel  diese  vermag,  so  kann  sie  doch  nie  jenen  Kern  ändern;  sie 
kann  wohl  hemmen  und  einschränken,  durch  die  Motive  der  Belohnung 
oder  Bestrafung  eine  Richtschnur  für  das  praktische  sittliche  Auftreten 
des  Einzelnen  schaffen ;  aber  die  unbewusste  Werthschätzung  im  sittlichen 
Gefühle,  d.  h.  jene  innere  Nöthigung,  wornach  wir  den  Gedankeninhalt 
nicht  mehr  nach  dem  Utilitätsprincip ,  sondern  an  unserer  menschlichen 
Bestimmung  messen  —  vermag  Erziehung  allein  nicht  zu  schaffen.  Ob 
wir  altruistisch  oder  egoistisch  zu  fühlen  vermögen,  ist  im  Wesentlichen 
nicht  unser  Werk,  sondern  unsere  Mitgift.  Es  gibt  aber  darin  erfabrungs- 
gemäss  in  gleicher  Weise  Stiefkinder  der  Natur,  wie  in  der  intellectuellen 
Begabung:  den  Genie's  der  Humanität  stehen  die  sittlichen  Idioten  gegen- 
über. Es  ist  oben  angeführt  worden,  dass  die  grundliegenden  Defectzustände 
auch  erst  erworben  werden  können,  gerade  wie  eine  Farbenblindheit  an- 
geboren oder  durch  ein  Hirnleiden  acquirirt  sein  kann.  Bildlich  gespro- 
chen, ist  die  geistige  Netzhaut  dieser  Menschen  anästhetisch,  und  letztere 
in  Folge  davon  ethisch  blind.  Auszeichnend  ist  dabei  die  relative  Un- 
abhängigkeit dieses  Symptoms  von  der  (in  der  Regel)  ungleich  geringeren 
Schädigung  des  Vorstellungslebens.  Der  Verstand  —  schlechthin  als  lo- 
gische Function  aufgefasst  —  ist,  von  seinem  Inhalt  abgesehen,  formell 
intact,  und  vornehmlich  darin  gestört,  dass  der  oft  nicht  geringe  Scharf- 
sinn im  Schlepptau  der  perversen  Antriebe  oder  Neigungen  hängt,  und 
trotz  seiner  Leistungskraft  unfähig  ist  wirksame  Gegenmotive  zu  erzeu- 
gen. Es  ist  die  sog.  raisonnirende  Denkstörung,  wobei  der  Intellect  zum 
„Advocatus  diaboli"  der  anomalen  Gemüthsrichtungen  erniedrigt  ist.  Von 
diesem  Standpunkte  aus  erscheint  das  oft  glänzende  Rechtfertigungsplai- 
doyer  so  recht  als  ein  Zwangspensum,  dessen  der  Verstand  sich  ent- 
ledigen muss,  und  seine  scheinbare  Schärfe  im  Grunde  als  eine  geist- 
reiche Bornirtheit;  er  muss  einfach  gutheissen,  was  der  kranke  Wille  dic- 
tirt  hat.  —  Es  gibt  nun  freilich  im  Gebiet  dieser  sittlichen  Defectzustände 
auch  eine  Menge  wirklich  Schwachsinniger  in  allen  Graden  und 


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Allgemeines  —  klinisch  und  psychologisch. 


489 


Nuancen  der  Imbecillität:  intellectuelle  Idioten  neben  den  sittlichen. 
Aber  in  bemerken 8 werther  Weise  überragt  in  der  Regel  auch  bei  diesen 
tiefsten  Entartungsgraden  der  ethische  Mangel  den  intellectuellen.  Viele 
solcher  Kranker  sind  theoretisch  in  ihrem  Katechismus  sehr  gut  zu  Hause ; 
sie  wissen  viele  erbauliche  Sprüche  herzusagen  Uber  Das,  was  man  thun 
und  lassen  soll  —  aber  praktisch  stehlen  und  lügen  oder  morden  sie; 
sie  besitzen  wohl  die  abstract  ethischen  Vorstellungen,  aber  diese  sind 
concret  nicht  erregbar.  Mit  diesem  letzteren  Moment  ist  ein  noch  näherer 
Punkt  für  das  psychologische  Verständniss  vieler  Moral  Insanity-Fälle  be- 
zeichnet. Der  sittliche  Defect  äussert  sich  in  der  Unerregbarkeit,  in  der 
mangelnden  Gefühlsbetonung  der  ethischen  Vorstellungen.  Letztere  sind 
also  nicht  immer  nur  fehlend ;  sondern  sie  können  gegentheils  vorhanden, 
aber  praktisch  im  gegebenen  Momente  nicht  verwendbar  sein.  Dieselben 
sind  nicht  reactionsfähig,  d.  h.  sie  vermögen  im  Kampf  der  Motive  nicht 
aufgerufen  zu  werden.  Es  ist  ein  abstractes  Wissen,  aber  kein  „Wissen 
durch  Mitleid",  wodurch  allein  wir  sittlich  zu  fühlen  und  zu  handeln 
vermögen. 

Diesem  psychologischen  Modus  des  sittlichen  Blödsinns  steht  nun 
ein  zweiter  gegenüber,  welcher  nicht  auf  einem  Mangel  oder  einer 
Stumpfheit  der  ethischen  Gefühle  sich  aufbaut,  sondern  vielmehr  auf 
einer  übergrossen  emotiven  Reizbarkeit,  so  dass  in  der  Ueberstürzung  die 
höheren  sittlichen  Urtheile  nicht  zu  Stande  kommen,  oder  aber  gegenüber 
den  lebhaften  egoistischen  Drängen  keine  wirksame  Geschäftsbetonung  zu 
gewinnen  vermögen.  Charakterologisch  treffen  hier  grundlegend  zusam- 
men: 1.  ein  Uberwiegender  Drang  nach  äusserem  Schein  und  Geltung, 
getragen  von  eitler  Selbstüberschätzung;  2.  eine  reizbare  Verletzlicbkeit 
bei  Versagung  eines  Wunsches  mit  leidenschaftlicher  und  rücksichtsloser 
Reaction:  hyperästhetisch  für  die  eigene  Person,  anästhetisch  für  die 
Andern;  3.  ein  anscheinend  intactes  Vorstellungsleben,  welches  aber  nur 
zu  raisonnirender  Dialektik  sich  zu  erheben  weiss,  sonst  seicht  und  ober- 
flächlich ist,  seine  inneren  Widersprüche  nicht  corrigirt,  in  schönen  Phra- 
sen flunkert,  in  allen  Gebieten  herum  dilettirt  —  aber  nach  produetiver 
Richtung  steril  und  zerfahren  ist.  Es  sind  die  psychologischen  Prämissen, 
wie  sie  sich  in  dem  3.  und  5.  und  namentlich  7.  Typus  des  hysterischen 
Irreseins  (s.  d.)  aus  der  constitutionellen  Neurose  heraus  entwickelten,  und 
als  reizbare  Moral  Insanity  das  Wesen  der  hysterischen  Degene- 
ration ausmachen.  Oft  treten  dieselben  nur  periodisch  (resp.  circulär)  in 
die  Erscheinung.  Als  ständige  Folie  geht  ein  universelles  Misstrauen  mit 
einher,  welches  sich  vorübergehend  in  einem  exstapitirten  Verfolgungs- 
wahn auslassen  kann. 

Ueber  körperliche  Symptome,  speciell  Schädelanoma- 
lie en  8.  Idiotismus  u.  orig.  Verrücktheit. 

Krankheitsbild. 

Die  Entwicklung  der  angeborenen  Form  zeigt  von  früh  auf  das- 
selbe Symptomenbild  wie  die  hereditäre  Neurose;  nur  mischen  sich 
hier  bald  schon  die  Zeicheu  aus  der  perversen  (defecten)  ethischen 
Anlage  bej.  Es  sind  nicht  bloss  eigensinnige,  launenhafte,  übermässig 


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490 


Das  degenerative  erbliche  Irresein 


—  die  Moral  Insanity. 


egoistische,  sondern  im  wahren  Sinne  „unkindliche"  Kinder.  Sie 
zeigen  keine  Pietät  gegen  die  Eltern,  keine  Anhänglichkeit  an  die 
Geschwister,  kein  Mitgefühl  für  Thiere;  Belobung  oder  Bestrafung 
geht  an  ihnen  vorUber.  Zuspruch  macht  sie  verstockter  oder  lässt 
sie  gleichgültig.  Frühe  schon  zeigt  sich  ein  unheimlicher  Zug  nach 
dem  Schlimmen  und  Verbotenen,  welcher  verschärft  wird  durch  die 
immer  raffinirtere  Art  der  Begehung.  Lüge  und  Verstellung,  worin 
das  Kind  trotz  der  besten  Erziehungsiii  übe  sich  oft  Uberraschend  vir- 
tuos zurecht  findet,  werden  Mittel  zum  Zweck;  für  Zufriedenheit  oder 
Trauer  der  Eltern  besteht  keine  oder  nur  ganz  flüchtige  Empfindung, 
dagegen  ein  um  so  entschlossenerer  Trotz,  wenn  energische  Besse- 
rungsversuche gemacht  werden.  Immer  kommen  neue  Rückfälle. 
Nicht  selten  erschrecken  frühe  schon  schwerere  Charakterzüge :  Nei- 
gung zum  Stehlen,  Bosheiten,  ja  selbst  Grausamkeit  gegen  andere 
Gespielen.  Der  Knabe,  welcher  einen  Kameraden  wegen  eines  leich- 
ten Streites  ins  Wasser  warf  und  den  fast  Ertrinkenden  nochmals  vom 
rettenden  Ufer  wegstiess,  hatte  schon  P  ine  Ts  Aufmerksamkeit  er- 
regt. —  Die  Schule  bringt  keine  oder  nur  oberflächliche  Aenderung. 
Ist  der  junge  Patient  intellectuell  schwach  begabt,  so  wird  dieser 
Defect  nunmehr  an  den  fruchtlosen  Anstrengungen  des  Lehrers  ent- 
hüllt. Sind  geistige  Anlagen  da,  so  zeigen  sich  in  diesen  auch  ent- 
sprechende Fortschritte.  Aber  die  geistige  Entwicklung  erweist  sich 
bald  als  eine  verhängnissvoll  ungleiche:  neben  einseitiger  Begabang 
steht  eine  unverbesserliche  Beschränktheit,  neben  der  (oft  auffallen- 
den) Fähigkeit  für  einzelne  Fächer  bleibt  eine  Dummheit  für  die 
einfachsten  Dinge.  Nicht  selten  zeigt  sich  jetzt  schon  ein  perio- 
discher Zug  im  Entwicklungsbild:  Episoden  von  Interesse  und  gei- 
stiger Lebendigkeit  wechseln  mit  Phasen  einer  plötzlichen  Faulheit, 
ja  Stupidität.  Mit  den  erweiterten  geistigen  Beziehungen  verschärft 
sich  der  ethische  Defect,  namentlich  bei  den  reizbaren  Naturen.  Sind 
die  Kinder  bis  dahin  nur  durch  periodische  Indolenz  die  schlechten 
Beispiele  gewesen,  so  werden  sie  jetzt  bei  strafendem  Entgegentreten 
zu  Feinden  der  Disciplin,  bald  in  offener  Auflehnung,  bald  in  heuch- 
lerischer Minirarbeit.  Was  sie  einzig  noch  eine  Zeit  lang  einschränkt, 
ist  die  Furcht.  Aber  auch  darüber  schreiten  sie  weg  und  drohen 
bald  mit  Repressalien,  namentlich  mit  Selbstmord,  wozu  sie  nicht 
selten  theatralische  Vorbereitungen  in  Scene  setzen,  um  bange  zu 
machen  und  sich  interessant.  Zu  demselben  Zwecke  werden  Krank- 
heiten (Blutspeien)  simulirt.  In  das  sterile,  durch  keine  höheren  Ziele 
namentlich  durch  keine  Herzensbeziehungen  geleitete,  Gemüthsleben 
tritt  immer  mehr  eine  Verbitterung  gegen  die  Umgebung  oder  eine 


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Krankheitsbild.   Entwicklung.   Irresein  der  Bummler  und  Vagabunden.  491 

einfältige  Eitelkeit  ein.  Beide  befestigen  sich  zu  bleibenden  und  trei- 
benden Motiven  des  zunehmenden  Egoismus.  Gegen  Eltern  und  Men- 
toren wird  Krieg  geführt,  gegen  die  Umgebung  der  Aufsehen  er- 
regende Bramarbas  gespielt. 

Manchmal  scheint  allerdings  die  Prahlsucht,  welche  die  Kranken  zu 
sinnlosen  Geldverschleuderungen  und  zu  einer  förmlichen  Schenkwuth 
treibt,  mehr  aus  dem  inneren  Gefühl  der  Schwache  und  dem  BedUrfniss, 
an  Andere  sich  anzulehnen,  ihren  Ursprung  zu  nehmen.  Bemerkenswerth 
ist  die  manchmal  isolirte  Triebrichtung  auf  den  Besitz  gewisser  Gegen- 
stände (Portemonnaie^,  Photographieen),  welche  oft  hundertweise,  sei's 
mit  eigenem,  sei's  mit  erborgtem  Gelde  zusammengekauft  werden,  um  un- 
benutzt dann  in  einer  Ecke  zu  verstauben. 

Im  Uebrigen  wird  gelogen  und  verleumdet  —  ein  ungarischer 
Sensationsprocess  aus  den  jüngsten  Tagen  hat  einen  solchen  trau- 
rigen Helden  wieder  zu  Tage  gefördert  —  manchmal  auch  ein  cri- 
mineller Act  begangen,  welcher  den  Irrsinnigen  als  jugendlichen  Ver- 
brecher vor  die  Assisen  führt.  Von  jetzt  an  bleiben  bei  den  Meisten 
die  Conflicte  mit  dem  Strafgesetz  auf  der  Tagesordnung  (Diebstähle, 
Vagabondage,  Brandstiftungen). 

Das  Irresein  der  Bummler  und  Vagabunden  recrutirt seine 
Mannschaft  aus  diesen  moralisch  defecten  Menschen,  und  zwar  gibt  es 
deren  eine  nicht  kleine  Zahl,  welche  ihr  ganzes  Leben  diesem  professio- 
nellen Sport  widmen,  unbelehrt  durch  die  noch  so  zahlreichen  Gefängniss- 
strafen und  Erduldungen.  Meist  wird  noch  allerhand  sonstiger  Schwindel 
mit  betrieben,  namentlich  die  Annahme  falscher  Namen,  mit  allerlei  roman- 
haften Erdichtungen  über  ihr  Vorleben  —  deren  Wahrheit  für  den 
Psychologen  darin  besteht,  dass  dieselben,  ihrem  Kerne  nach,  ein  Ge- 
mische von  Verfolgungswahn  und  Grössenideen  enthalten,  vielleicht  halb 
Einfall,  halb  Mache  darstellen,  aber  mit  der  Ueberzeugungskraft  des  Wahn- 
sinns für  deren  Träger  ausgerüstet  sind.  Eher  Noth  und  Entbehrung 
und  gerichtliche  Strafen,  als  ein  Jota  des  erträumten  Stammbaumes  auf- 
geben! Allermeist  trägt  auch  das  Aeussere  dieser  unglücklichen  Stief- 
kinder des  Schicksals  die  Merkmale  der  Degenerescenz  in  Gesichtsinner- 
vation  und  Schädelbau  (s.  diese).  Bei  sehr  vielen  der  hieher  gehörigen 
Krankheitsbilder  wird  das  klinische  Endschicksal  durch  Alkoholismus,  dem 
sie  verfallen,  mitbestimmt. 

Auch  hier  tritt  wiederum  das  periodische  Moment  bei  manchen 
dieser  Kranken  zu  Tage.  Nicht  anhaltend  kehrt  sich  die  instinetive 
Bösewicbtsnatur  heraus,  sondern  nur  zeitweise,  aber  dann  rücksichts- 
los und  triebartig,  ohne  jede  Erwägung  der  möglichen  Consequenzen, 
ja  sogar  der  Selbstschädigung.  Der  manische  Drang  wird  zum  ge- 
bieterischen Impulse,  gehäufte  Vergehen,  sinn-  und  zwecklos,  werden 
ins  Werk  gesetzt,  und  das  Krankhafte  des  perversen  Handelns  durch 
dasselbe  manisch  erregte  Vorstellen  (in  Form  der  raisonnirenden  Dia- 
lektik) rabulistisch  zu  vertuschen  gesucht 


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492 


Daa  degenerative  erbliche  Irresein 


—  die  Moral  Insanity. 


Fast  ein  jedes  Vorleben  dieser  durch  ihre  Krankheit  unseligen 
Störenfriede  jeder  häuslichen  und  bürgerlichen  Ordnung  enthält  eine 
Aufzählung  der  in  bester  und  erwogener  Absicht  unternommenen  Cor- 
rectionsversuche  an  diesen  Kranken.  Sie  wandern  von  einer  Lehr- 
stelle zur  andern,  von  einem  Erziehungsinstitut  zum  zweiten  und 
dritten,  von  da  wieder  —  reumüthig  und  mit  allen  Vorsätzen  —  ins 
Elternhaus.  Dann  beginnt  der  alte  Turnus  wieder,  gewöhnlich  mit 
demselben  Misserfolg.  Immer  sind  „die  Andern"  daran  schuld;  sie 
selbst,  auf  der  That  ob  ihrer  Apathie  und  Interesselosigkeit  ertappt, 
rechtfertigen  sich  durch  Ausfluchte  wegen  erfahrener  Übelwollender 
Behandlung,  oder  auch  wegen  hypochondrisch  aufgebauschter  Körper- 
beschwerden. 

Tritt  dann  mit  den  Pubertätsjahren  (oder  schon  früher)  auch  das 
sexuelle  Moment  in  Bewusstsein  und  Streben  des  Kranken,  so  wer- 
den weitere  verhängnissvolle  Wege  erschlossen.  Ausser  cynischer, 
oft  geradezu  bestialischer  Befriedigung  in  natürlicher  Weise,  brechen 
sich  sehr  häufig  masturbatorische  Excesse  oder  perverse  sexuelle 
Richtungen  Bahn  (Päderastie,  Sodomie,  Nothzuchts vergehen),  und  er- 
öffnen neue  Conflicte  mit  dem  Strafgesetz. 

Das  Mannesalter  findet  den  unreifen  Charakter  des  hereditären 
Neurotikers  vor,  verschärft  durch  egoistisch  genusssttchtige  Tendenzen 
mit  rücksichtslosem  Befriedigungsdrang.  Dasselbe  erschliesst  die  Ge- 
wohnheitssäufer, Spieler,  Spectakeimacher,  Processkrämer. 

Intellectuell  imponiren  viele  dieser  Defect-  oder  Entartungsmenschen 
noch  als  „ganz  correct",  manche  sogar  als  raffinirt  schlau ;  aber  die 
Schärfe  des  Verstandes  bleibt  auch  jetzt  nur  eine  scheinbare,  eminent 
einseitige,  das  Urtheil  vorgefasst,  sehr  häufig  durch  die  egoistischen  Prä- 
missen eines  vagen  Verfolgungs-  oder  Eitelkeitswahnes  dictirt,  und  nur 
nach  formaler  Seite  geschont.  Bei  nicht  Wenigen  wuchert  Hand  in  Hand 
mit  der  geistigen  Beschränktheit  eine  um  so  schrankenlosere  Phantasie 
und  abenteuerliche  Plänesncht  (Streifzttge  im  amerikanischen  Urwald, 
Jagden  auf  Löwen  u.  s.  w.).  Nicht  selten  entdeckt  man  auch  Reproduc- 
tionsfälschungen  (wie  bei  den  Hysterischen),  einen  unbewusst  sich  ändern- 
den Bewusstseinsfocus,  von  welchem  die  Wahrnehmungen  und  Urtheile 
und  damit  auch  die  Stimmung  eine  beständig  wechselnde  Beleuchtung 
erhalten.  So  erklärt  sich  manche  Gesinnungslosigkeit  und  Lügenhaftig- 
keit dieser  Menschen  als  eine  durch  die  Störungen  in  den  Associationen 
ihnen  auferzwungene. 

Zahllos  sind  auch  hier  wieder  die  Gesetzesübertretungen,  un- 
zählig die  häuslichen  Wunden,  welche  dem  ehelichen  Zusammen- 
leben durch  den  indolent  apathischen,  oder  aber  flatterhaft  reizbaren, 
egoistisch  leidenschaftlichen  Kranken  geschlagen  werden.  —  Soldaten 


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Krankheitsbild.  Pubertätsjahre.  „Reizbare  Form"  bei  Frauen.  493 


machen  eich  fortgesetzter  Insubordinationen  schuldig,  wogegen  die 
schärfsten  Disciplinarstrafen  nicht  aufkommen. 

Speciell  für  weibliche  Kranke  bildet  der  Eintritt  in  die  Ehe  die 
verhängnissvollste  Etappe  für  die  Entfaltung  des  sittlichen  Gemüthsdefects, 
gewöhnlich  in  seiner  reizbaren  Form.  Leichtsinnig  und  nur  durch  Ge- 
nus8sncht  und  Eitelkeit  verlockt,  wird  der  ewig  bindende  Schritt  voll- 
zogen; aber  schon  die  Flitterwochen  streifen  die  Maske  ab.  Man  erlebt 
es,  dass  bereits  auf  der  Hochzeitreise  Fluchtversuche  inscenirt  werden 
—  um  die  Erfüllung  von  Bagatellen  zu  erpressen.  Gegen  Gravidität  be- 
steht eine  sofort  dem  Manne  offen  mitgetheilte  Abneigung;  tritt  erstere 
dennoch  ein,  so  wird  die  „Mutterliebe"  in  Form  zorniger  Aufwallungen 
und  Verwünschungen  gegen  den  Mann  und  das  zu  erhoffende  Kind  ge- 
äussert. Nach  der  Niederkunft  wird  unverhohlene  Gleichgültigkeit  gegen 
das  Kind  geübt;  leichten  Herzens  wird  es  einer  beliebigen  Amme  Uber- 
geben, weil  „die  Mutter"  nichts  „von  ihrer  Schönheit  einbüssen  will". 
Aber  als  Mittel  für  die  Erreichung  egoistischer  Zwecke  kommt  das  Kind 
wiederum  sehr  gelegen :  wird  von  jetzt  an  ein  Wunsch  von  Seiten  des  Man- 
nes versagt,  so  erfolgt  als  Repressalie  offene  Misshandlung  des  Neugebore- 
nen, oder  selbst  Androhung  von  dessen  Tödtung.  Derselbe  Turnus  kehrt, 
nur  verschärft,  in  den  folgenden  Schwangerschaften  wieder.  Die  Gewiss- 
heit einer  neuen  macht  die  „Mutter"  erst  wüthend,  danu  gegen  den  Mann 
drohend,  wobei  lachend  die  tiefsten  Kränkungen,  nicht  wiederzugebende 
Cynismen,  ausgesprochen  werden.  Und  dabei  ist  die  Kranke  stets  die 
Zurückgesetzte,  vom  Manne  so  schlecht  Behandelte,  dass  sie  ihre  Revanche 
in  Verleumdung  desselben  bei  Dienstboten,  im  Ausplaudern  ehelicher  Ge- 
heimnisse zu  nehmen  sich  nicht  verwindet!  Sie  ist  immer  im  Recht;  ihre 
raisonnirende  Dialektik  bleibt  unerschöpflich  im  Aufstellen  erlogener,  im 
Verdrehen  wirklicher  Thatsachen.  Bodenlose  Verschwendung,  oft  mit 
Hilfe  von  Entwendungen,  unsinniges  Anhäufen  von  kostbaren  Kleidern, 
ein  Modeleben  nach  den  barocksten  Einfällen,  schrankenlose  Eitelkeit  mit 
der  Sucht  sich  als  „Jugend"  hervorzuthun  —  füllt  das  Tagesbewusst- 
sein,  welches  für  den  Rückgang  des  Vermögens,  für  die  tausenderlei 
schmerzlichen  Scenen  im  Hause,  für  den  Ruin  alles  Familienglücks  keinen 
Raum  hat.  Die  Kranke  fühlt  es  nicht.  Auf  ernstliche  Entgegnungen 
und  Versagungen  wird  mit  Selbstmord  gedroht,  ein-  oder  das  anderemal 
auch  eine  Entweichung  in  Scene  gesetzt,  um  heimgeholt  das  alte  Lied 
wieder  zu  beginnen.  Die  Kinder  werden  nicht  erzogen,  oder  durch  das 
leidenschaftliche  Wesen  verzogen;  herzlos  wird  ihnen  die  Verbitterung 
gegen  den  eigenen  Vater  eingeflösst.  Nicht  so  selten  greift  bei  der  liber- 
tinen  Persönlichkeit,  welche  für  sich  jede  Freiheit  beansprucht,  und  nicht 
selten  in  ihren  Zornwallungen  androht  „in  ein  Bordell  sich  aufnehmen  zu 
lassen",  gegen  den  Mann  ein  Eifersuchtswahn  Platz,  welcher  sich  nicht 
scheut  im  geeigneten  Momente  zum  Revolver  zu  greifen,  und  ernst  ge- 
meinte Angriffe  zu  machen.  Mit  den  Erregungsperioden  lösen  sich  Phasen 
von  Abspannung  ab,  in  welchen  die  Kranke  sich  misstrauisch  abschliesst, 
die  Melancholische  spielt  —  manchmal  diese  aber  auch  wirklich  ist. 

Denn  nicht  immer,  ja  glücklicherweise  in  den  selteneren  Fällen, 
wird  die  nach  dem  Leben  gezeichnete  obige  Entwicklung  bis  zur 


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494  Das  degenerative  erbliche  Irresein  —  die  Moral  Inaanity. 

äussersten  Grenze  abgewartet.  Allermeist  greift  in  dieser  oder  jener 
Weise  die  beschränkende  Hand  ein,  entweder  als  strafende  Themis, 
oder  als  rettendes  Asyl.  Aber  hier  oder  dort  kommt  die  perverse 
Triebrichtung  nicht  zur  Ruhe ;  auch  unter  den  hemmenden  Schranken 
der  Hausordnung  lässt  sich  der  dämonische  Drang  nicht  zügeln,  das 
geftihlsstumpfe  Phlegma  nicht  beleben.  Die  Kranken  bleiben  die  in- 
dolenten oder  geschworenen  Feinde  des  Zusammenlebens;  sie  intri- 
guiren  und  wühlen,  heucheln  und  trotzen,  versuchen  pietätlos  das 
äusserste  Mittel  des  Widerstandes,  sind  erfinderisch  in  der  berech- 
neten Täuschung,  verwegen  im  offenen  Sich-Auf lehnen,  und  bilden 
dadurch  die  schwerste  Plage  eines  Anstaltslebens.  Für  ihr  perverses 
Gebahren,  für  gelegentliche  Schädigungen  Anderer  empfinden  sie 
keine  Reue  —  sie  bleiben  stumpf  und  gleichgültig,  oder  „im  Recht". 

Die  Krankheit  selbst  macht  im  Weiterverlauf,  und  ganz  beson- 
ders unter  dem  Zwang  der  unerlässlich  gewordenen  Freiheitsberau- 
bung, nicht  selten  einen  geänderten  Decursus.  Die  häufigste  Modi- 
fication  bilden  intercurrente  Manieen.  Diese  können  sich  entweder 
auf  einem  höheren  psychischen  Niveau  abspielen,  und  in  rastlosem 
Drange  nach  eigenmächtigen  Eingriffen  in  die  Anstaltsordnung,  in 
das  Privatleben  der  anderen  Kranken,  in  die  Vorschriften  des  Arztes 
sich  entäussern,  dabei  getragen  von  Selbstüberschätzung,  von  einer 
durch  Launen  und  Einfälle  geleiteten  reizbaren  Verstimmung,  und 
einem  gemüthlosen,  oft  brutal  rohen  Egoismus.  Oder  aber:  die  krank- 
hafte Erregtheit  spielt  sich  eine  oder  einige  Stufen  tiefer  ab  —  als 
ein  cynisches  Gebahren,  als  ein  Drang  zu  zerstören,  zu  schmieren, 
Andere  zu  schädigen,  und  dies  nicht  in  der  triebartigen  Weise  einer 
entfesselten  Bewegung  mit  entsprechender  Verwirrung  und  senso- 
rischer Betäubtheit,  sondern  gegentheils  mit  dem  Anschein  der  üeber- 
legung,  der  geschäftigen  und  dabei  in  immer  neuem  Raffinement  sich 
behagenden  Bosheit.  Immer  nämlich  —  und  Das  ist  für  diese  Zu- 
stände bezeichnend  —  bleibt  der  Verstand  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  inmitten  dieses  perversen  Treibens  erhalten;  aber  in  der  Regel 
nur,  um  ex  post  in  verkniffener,  oft  recht  windiger  Dialektik  das  zu 
rechtfertigen,  was  er  zuvor  nicht  hemmen  konnte  (s.  oben).  Es  kann 
keine  herbere  Satire  auf  das  „freie"  Wollen  geben,  als  diese  anschei- 
nend correcten,  zielbewussten  und  zäh  vertheidigten  Acte  des  auf- 
geregten moralisch-Blödsinnigen:  unter  der  Maske  gewollter  Bosheit 
sind  sie  die  aufgedrungenen  Reflexe  einer  gereizten  Verstimmung, 
eines  psychomotorisch  krankhaft  erregten  und  ethisch  geschwächten 
Gehirnlebens.  So  bildet  auch  die  nachträglich  rechtfertigende  Dia- 
lektik nur  die  traurige  Persiflage  auf  die  „Stärke"  eines  bloss  for- 


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Krankheitsbild.   Die  „degenerativen"  Manieen.   Ausgange.  495 


malen  Verstandes,  welcher  keine  wirklichen  Motive,  geschweige 
Gegenmotive,  aufzubringen  vermag,  sondern  nur  fingirte,  und  mit 
aller  seiner  Klügelei  und  imponirenden  „Gescheidtheit"  nur  den  un- 
geheuren auch  intellectuellen  Blödsinn  verdeckt,  welcher  die 
grobe,  ihm  mitgespielte,  Täuschung  nicht  merkt. 

Es  ist  hierbei  zu  bemerken,  dass  diese  manischen  Zustände  ausser 
der  eben  geschilderten  Entwicklung  (auf  originär  defecter  Gemüthsgrund- 
lage)  auch  erworben  werden  können,  und  zwar  als  Wirkungen  resp. 
Ausdruck  einer  cerebralen  Degeneration,  sei  diese  aus  gehäuften  An- 
fällen einer  gewöhnlichen  Manie,  oder  durch  eine  mehr  specifische  con- 
stitutionelle  Schwächung  (Alkohol-Sexual-Excesse)  allmählich  erst  heraus- 
gebildet. Auch  viele  circuläre  Manieen  verlaufen  unter  dem  beschriebenen 
Bilde ;  ebenso  gewisse  periodische  Typosen  (s.  d. ).  Ich  möchte  diese  ein- 
schlägigen Zustände  sämmtlich  als  degenerative  Manieen  zusam- 
menfassen, wobei  die  Bezeichnung  „Manie"  nur  den  kurzen  Ausdruck  für 
das  äussere  Bild  und  die  innere  krankhafte  Aufregung  abgeben  soll,  aber 
das  Wesen  des  Zustandes  in  dem  „degenerativen"  Momente  gelegen  bleibt : 
in  der  theilweisen  Erhaltung  des  Intellectes  neben  dem  Delirium  der 
Handlungen,  und  speciell  in  dem  sittlichen  Schwach-  oder  Blödsinn.  Die 
bezüglichen  klinischen  Zustände  zeichnen  sich  sämmtlich  auch  durch  ihre 
polymorphe  Gestaltung  und  ihren  gewöhnlich  periodischen  Verlauf  aus 
(8.  „Degenerescenz"  unter  heredit.  Neurose). 

Das  fernere  Krankheitsbild  dieser  degenerativen  Erregungszu- 
stände umfasst  die  Weiterentwicklung  der  betrachteten  psycho-patho- 
logischen  Elemente. 

Die  internirten  Kranken  verbleiben  —  oft  auf  Monate  und  Jahre  — 
in  der  psychomotorischen  Aufregung  mit  allen  Entäusserungen  eines  raffi- 
nirten  Cynismus:  sie  zerreissen,  schmieren,  treiben  schamlos  Obacönitäten ; 
und  dies  nicht  nur  aus  dem  Heiz  der  Selbstbefriedigung,  sondern  auch 
um  damit  Andere  zu  verletzen  und  zu  kränken.  FUr  sich  verschlucken 
sie  unter  lachender  Renommage  Steine,  Glas,  lebendige  Käfer  u.  8.  w., 
um  den  Arzt  zu  beunruhigen  und  ihm  MUhe  zu  machen.  Die  Stimmung 
ist  frivol  oder  mnthwillig  boshaft,  und  stets  mit  ihrer  Spitze  gegen  die 
Umgebung  gerichtet;  das  Benehmen  hinterlistig,  lügenhaft,  heimtückisch 
—  heute  Intrigue  und  offene  Chicane,  Morgen  lammfromme  Heuchelei. 
Keine  ethische  Verirrung  liegt  zu  ferne,  um  nicht  gelegentlich  geübt  zu 
werden.  Ausser  der  eigenen  Frivolität  in  Wort  und  That  werden  auch 
andere  Kranke  zu  verleiten  gesucht  (zur  Untergrabung  der  Hausordnung, 
aber  auch  zu  sexuellen  Excessen);  daneben  wird  gestohlen  und  frech  ge- 
leugnet oder  brutal  verhöhnt;  hilflose  Kranke  werden  im  Vorübergehen 
gestossen,  bis  aufs  Blut  gekniffen,  oder  an  den  Haaren  gerissen ;  Andern 
die  Kleider  oder  Speisen  in  hässlichster  Weise  (hinterrücks)  beschmutzt 
oder  zerstört.  Mit  offenen  und  verdeckten  Waffen  wird  gegen  jede  auf- 
keimende bessere  Richtung  Krieg  geführt,  Zuspruch  wird  mit  Lachen, 
ernsthafte  Entgegnung  mit  Spott,  mit  Zuschlagen  und  gefährlichen  Be- 
drohungen erwidert.  Der  Zustand  verläuft  exacerbescirend  -  remittirend ; 
in  den  Remissionen  tritt  gewöhnlich  eine  gewisse  Abspannung  mit 


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496 


Das  degenerative  erbliche  Irresein  — 


die  Moral  Insanity. 


Indolenz  auf  —  manchmal  fehlt  selbst  ein  leises  Krankheitsgefühl  mit 
serviler  (berechneter!)  Dank- Aeusserung  gegen  die  Anstalt  nicht.  Mit 
jedem  Rückfalle  schwinden  diese  letzten  Reste  natürlicher  Gemttths-Re- 
gungen  mehr  und  mehr,  und  die  Kranken  werden  zur  wahren  „Pest" 
eines  Asyllebens.  In  seltenen  Fällen  gelingt  es  noch  den  perversen  mo- 
torischen Drang  in  geordnetere  Bahnen  zu  leiten ;  aber  der  geistige  Zer- 
fall wird  in  der  Regel  dadurch  nicht  aufgehalten,  sondern  nur  verzögert 
(freilich  schon  ein  Gewinn!).  —  Anderemale  spielen  sich  die  Einzelan- 
fälle der  manischen  Moral  Insanity  in  grösseren,  durch  Jahre  getrennten 
Pausen  (periodisch)  ab. 

Ein  anderer  Ausgang  der  Moral  Insanity  ist  in  chronischen  Ver- 
folgungswahnsiDn.  —  Nicht  selten  treten  auch  acute  hallucinatorische 
Episoden  auf.  —  In  wieder  anderen  Fällen  endlich  bleibt  das  Krank- 
heitsbild für  das  ganze  Leben  stationär  (resp.  langsam  fortschreitend 
zum  Blödsinn);  durch  die  äussere  Dressur  des  Anstaltsmechanismus 
und  dessen  innere  sittliche  Disciplin  und  Leitung  werden  die  schlim- 
men ethischen  Richtungen  im  Zaume  gehalten;  so  findet,  innerlich 
und  äusserlich  gestützt,  mancher  dieser  Kranken  in  dem  vielgliedri- 
gen  Organismus  des  Asyls  ein  Plätzchen,  wo  er  sein  bescheidenes 
Können  einigermaassen  nutzbringend  noch  verwerthen  kann.  Viele 
erlangen  dabei  im  Laufe  der  Zeit  eine  wirkliche  Besserung,  so  das* 
sie  ein  geordnetes  Leben  auch  draussen  wieder  zu  führen  vermögen, 
wenn  auch  als  bleibende  geistige  Invaliden. 

Eine  richtige  und  erfolgreiche  Behandlung  kann  nur  in  einer 
Anstalt  stattfinden.  Dieselbe  muss  eine  ebenso  sorgsam  psychische 
(ärztlich -pädagogische),  als  eingehend  somatische  sein.  Bezüglich 
der  ersteren  gelten  die  früheren,  speciell  bei  der  Hysterie  aufgestell- 
ten Gesichtspunkte ;  nach  Seite  der  letzteren  werde  keine  körperliche 
Functionsstörung  für  zu  gering  genommen ;  die  erfolgreiche  Cur  man- 
cher tief  gehenden  Anämie  (namentlich  mit  Menstruationsstörungen 
und  Sexualreizen)  hebt  nicht  nur  die  intellectuelle,  sondern  auch  die 
temporäre  sittliche  Schwäche!  Angeborene  und  bleibende  sittliche 
Idioten  werden  am  besten  dauernd  in  die  Welt  eines  ländlichen  Asyls 
(Irreucolonie)  verpflanzt;  dort  können  sie  auf  der  Höhe  der  Menschen- 
würde gehalten  werden,  finden  als  die  bedauernswerthesteu  aller 
Sterblinge  ihr  Recht,  und  andrerseits  die  sociale  Gesellschaft  den  ihr 
gebührenden  Schutz  (Verhütung  von  Delicten  und  namentlich  auch 
von  Descendenz!). 


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Der  Idiotismus.  497 


Der  Idiotismus. 

Literatur.  Stahl,  Beiträge  etc.  1848.  —  Griesinger,  Lehrb.  —  Ireland, 
on  idiocy  and  imbecillitv,  Lond.  1877  (vollstdge  Monogr.).  —  Derselbe,  Edinb.  med. 
J.  1882  (Diagnose  und  Progn  ).  —  Bourneville  et  d'Olier,  Hecherches  clin.  et 
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J.of.  m.  sc.  1881.  —  Shaw,  Ibid  1882.  -  Derselbe,  Brit.  med.J.  1882.  —  Beach, 
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strocchi,  Kiv.  sper.  1880.  —  Tamburini,  Ibid.,  1881.  —  Derselbe,  Arch. 
ital.  1881.  —  üonzales,  Ibid.  —  L.  Meyer,  Arch.  f.  Psych.  I  (Crania  progen.). 

—  Derselbe,  Ibid.  5.  (Idiot.  Fuge).  —  J astrow itz,  Arch.  f.  Psych.  3  (ktndl.  En- 
ceph.  u.  Myel.).  —  Hartdegen,  Ibid.  11  (Glioma  gangliocell.  bei  e.  Neugeb.)  — 
Po  Hak,  Ibid.  1 2  (multiple  Ski.;  Balkenmangel).  —  Binswanger,  Ibid.  (Gehirnmiss- 
bildung). -  Kirchhoff,  Ibid.  (Atroph,  u.  Ski.  d.  Kleinh.).  —  Brückner,  Ibid. 
(multiple  tuberöse  Sklerose).  —  Kirchhoff,  ibid.  13.  —  Reinhard,  ibid.  (Idio- 
tcugeh.).  —  Jensen,  Ibid.  14.  —  Kortum,  Ibid.  15.  —  Otto,  Ibid.  16  (Poren- 
ceph.)  —  Schale,  Allg.  Ztschr.  f.  Psych.  26  (Porenceph.).  —  Richter.  Ibid.  38 
(Hildungsanomalieen).  —  Kundrat,  Porencephalie.  Monogr.1882.  —  Hitzig,  d. 
Hdb.  Bd.  II.  —  Coön,  Allg.  Wien.  med.  Zeitg.  1881  (Sprache).  —  Berkhan,  Arch. 
f.  Psych.  14  (Sprache).  —  Ireland.  Brain  1891  (Schrift).  —  Peretti,  Berl.  klin. 
Woch.  1882  (Schrift).  —  Scholz,  Viert.  1.  ger.  Med.  Bd.  36  (forens).  —  Speciell 
über  Mikrocepbalie:  Vogt,  Arch.  f.  Anthrop.  2.  —  Luschka,  Ibid.  5.  —  Schale, 
Ibid.  8.  -  Bischoff  (Helena  Becker),  Abhdl.  d.  bayr.  Akad.  d.  Wiss.  II.  Cl.  11.  — 
Mierjeccwsky,  Sitzgsber.  d.  Berl.  anthr.  Ges.  1872.  —  Sander,  Arch.  f.  Psych.  1. 

—  Jensen,  Ibid.  10.  —  Acby,  Arch.  f.  Anthrop.  6  u.  7.  —  Stark,  Allg.  Ztschr. 
f.  Psych.  32.  —  Schaafhausen  (Kmil  Tepler).  Sitzgsber.  d.  Niederrh.  Gesellsch. 
1877.  —  Hagen,  Physic.  med  Sitzungsber.  Erlangen  1872.  —  Anthrop.  Congress 
Stuttgart  (Vogt,  Virchow,  Ecker)  1872.  —  Friederich,  (Bertha Rämer)  Monogr. 

—  Falkcnheim,  Berl.  klin.  "Wochenscbr.  1882.  —  Bourneville  et  Wuillamiö, 
Arch.  de  neur.  18S2  u.  1883.  —  Zur  Verglelohuug:  Klin.-physiologisch:  Steffen, 
Krankh.  des  Kindesalters;  G  erhardt,  Haudb.  der  Kinderkrankh.  5.  —  Anatomisch 
und  speciell  über  Schädelwachsthum:  v.  Gudden,  Experimentalstudien,  Arch.  f. 
Psych.  2,  und  Monographie  München  1874;  ferner  Virchow's  und  Welcker's 
bezügl.  Arbeiten  etc.  —  Pathologisch-anatomisch:  Meynert,  psychopath.  Veran- 
lagung (krauiologisch),  Jahrb.  f.  Psych.  1S79.  —  Speciell  Ober  Hebephrenie: 
Kahlbaum  und  Hecker,  Virch.  Arch.  52;  Irrenfreund  1877.  —  Sterz,  Jahrb. 
f.  Psych.  1879.  —  Fink,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  37. 

Darunter  versteht  man  summarisch  sämmtliche  Zustände  der 
angeborenen  oder  in  früher  Jugend  erworbenen  psychischen  Defecte. 

Die  Versuche  einer  Eiutheilung  idiotischer  Zustände  können 
ausgehen  1.  vom  rein  psychologisch-klinischen  Standpunkt;  2.  von 
dem  Bestreben  durch  Zusammenfassen  der  psychischen  und  phy- 
sischen, namentlich  kraniologischen,  Merkmale  „natürliche  Familien" 
zu  bilden. 

Die  Versuche,  vom  ätiologischen  Standpunkt  aus  eine  schärfere  Ein- 
theilung  zu  gewinnen,  siud  hier,  wie  auch  in  den  übrigen  psychischen  Hirn- 

Schule,  Geisteskrankheiten.   3.  Aufl.  32 


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498 


Der  Idiotismus. 


affectioneu,  noch  als  verfrühte  und  gekünstelte  zu  betrachten;  wohl  aber 
kann  der  ätiologische  Gesichtspunkt  (wie  dort)  zur  Nuancirung  einzel- 
ner Unterabtheilungen  benutzt  werden.  —  Eine  Eintheilung  ausschliess- 
lich von  der  Sprache  aus  lässt  sich  nicht  durchführen,  weil  wir  es  bei 
den  Idioten  durchaus  nicht  bloss  mit  intellectuellen  Störungen  zu  thon 
haben. 

Psychologisch  klinische  Eintheilung. 

Da  es  sich  bei  sämmtlicben  Zuständen  der  Idiotie  um  Hemmung 
der  psychischen  Entwicklung  handelt,  so  liegt  es  nahe  eine  Ein- 
theilung in  der  Art  zu  versuchen,  dass  man,  entsprechend  den  ein- 
zelnen Formen  normaler  Entwicklung,  einzelne  Stufen  geistiger  Hem- 
mungsbildung unterscheidet.  Für  einen  grossen  Theil  der  IdioteD, 
die  „Schwachsinnigen"  in  dem  unten  zu  definirenden  Sinne,  ist  dies 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  möglich. 

Für  die  tiefststehende  Form  der  Idiotie,  den  „idiotischen  Blöd- 
sinn", Hesse  sich  aus  den  empirischen  Krankheitsbildern  eine  Ana- 
logie mit  der  kindlichen  Entwicklung  nur  in  gezwungener  Weise 
beiziehen. 

Der  fundamentale  Unterschied  zwischen  anergetischer  und  ere- 
thischer Schwäche  lässt  sich  durch  sämmtliche  Stufen  der  Idiotie 
hindurch  verfolgen,  wenn  auch  oft  nur  spurweise.  Am  schärfsten 
ist  er  ausgeprägt  in  der  hochgradigen  Form  des  idiotischen  Schwach- 
sinns, weniger  in  den  mittlem  und  leichtern  Formen  und  im  Blöd- 
sinn. Aber  auch  bei  jenem  gibt  es  Fälle,  welche  nicht  ganz  leicht 
zu  rubriciren  sind.  So  findet  oft  ein  fortgesetzter  Wechsel  der  Vor- 
stellungen, eine  beständige  Ablenkung  durch  äussere  Eindrücke  statt; 
der  Kreis  der  Vorstellungen,  in  welchem,  wenn  auch  in  fortwähren- 
dem Wechsel,  der  Kranke  sich  bewegt,  ist  so  klein,  dass  derselbe 
trotz  (vielmehr  in  Folge)  der  erethischen  Unruhe  ein  „anergetisehes" 
Gepräge  erhält. 

1.   Der  idiotische  Blödsinn. 

Dunkles  Triebleben.  Fehlendes  Bewusstsein;  Sprachlosigkeit. 
Nur  unarticulirte  Aeusserungen  von  Lust-  und  UnlustgefUhlen,  welche 
lediglich  von  grobsinnlichen  Eindrücken  abhängig  sind.  Keine  Apper- 
ception.  Automatische  Bewegungen.  Das  ganze  motorische  Ver- 
halten hat  den  Charakter  einfacher  Reflexaction.  Gedächtnis*,  Vor- 
stellung von  Raum  und  Zeit  nur  spurweise.  Unfähigkeit  zu  weiterer 
Entwicklung.  Zwischen  dem  blödsinnigen  Kranken  und  dem  psy- 
chischen Normalmenschen  fehlt  die  Brücke  intelligenten  Verkehrs 
auch  von  einfachster  Form. 


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Psycbolog.  klinische  Eintheilung.  —  Der  idiotische  Blödsino.  499 


Klinische  Symptome. 

a)  Das  Selbslbewusstsein  fehlt ;  die  Perceptionsfähigkeit  ist  ent- 
weder gleichfalls  fehlend,  oder  auf  die  primitivste  Stufe  eingestellt 
(höchstens  Wahrnehmung  fllr  grelle  SinneseindrUcke).  Das  Gedächt- 
niss  ist,  wenn  Uberhaupt  vorbanden,  in  derselben  Weise  rudimentär 
(manchmal  primitives  Wiedererkennen  von  Personen,  oder  Erinnerung 
an  Aufbewahrungsorte  für  Näschereien).  Manchmal  zeigt  sich  etwas 
Sinn  für  musikalische  Töne.  Das  intellectuelle  Leben  fehlt 
vollständig;  die  Kranken  können  nicht  lesen  und  schreiben,  vielleicht 
bis  auf  10  zählen.  Bezüglich  des  Sprach  de fects  ist  bemerkens- 
werth,  dass  einzelne  Kranke  in  den  ersten  Jahren  Sprechversuche 
machten,  aber  das  Errungene  in  der  Folge  wieder  einbüssten.  Sie 
gebrauchen  dann  noch  einzelne  Worte  in  sinnlosem  unverstandenen 
Geplapper  (manchmal  mit  dem  Tonfall  eines  rasch  redenden  Men- 
schen). Die  vicariirenden  sprachlichen  Aeusserungen  bestehen,  wo 
sie  vorhanden,  in  unarticulirten  Lauten  (Schreien  oder  kläglichem 
Aechzen),  welche  zur  Unlustbezeichnung  mitunter  verstärkt  vor- 
gestossen  werden.  Geruch  und  Geschmack  ist  sehr  oft  vollständig 
fehlend,  so  dass  die  Kranken  alles  Hässliche  anstandslos  verschlingen 
oder  benagen. 

b)  Haltung  und  motorische  Functionen.  Der  Gesichtsausdruck 
bietet  die  verschiedensten  physiognomischen  Typen,  mit  oft  propor- 
tional wohlgestalteten  Zügen,  aber  einer  desto  grellern  geistigen 
Leerheit.  Manchmal  ist  eine  primitive  mimische  Begleitbewegung 
für  Lust-  und  Unlustgefllble  zu  bemerken.  Interessant  ist,  dass  der 
Gesichtsausdruck  des  Schlafenden  oft  ein  überraschend  ange- 
nehmer und  freundlicher  ist,  während  die  wache  Miene  nur  eine 
schlaffe  Maske  zu  Stande  bringt.  Manche  zeigen  choreatische  Stö- 
rungen im  Gesicht  oder  in  der  Körperhaltung,  Andere  eine  allgemeine 
Unruhe  in  allen  Gliedmaassen;  wieder  Andere  athetotische  lebhafte 
Gesticulationen  in  den  Händen,  wiegende  Bewegungen  mit  dem  Ober- 
körper, Krämpfe  im  Kopfnicker  etc.  Die  coordinirten  Körperbewe- 
gungen fehlen  oft  ganz,  so  dass  der  Kranke  zu  hilflosem  Daliegen 
verurtheilt  ist;  anderemale  sind  dieselben  für  die  einfachen  Greif- 
und  Essbewegungen  vorhanden.  Einzelne  Kranke  lassen  sich  beim 
Gehen  nachziehen,  wie  gewisse  Betrunkene.  Nicht  selten  ist  die 
motorische  Kraft  vermindert  bei  Spannung  der  Körpermuskulatur. 
Hin  und  wieder  findet  sich  partielle  Muskelatrophie  mit  Lähmung, 
oder  Tremor,  oder  Intentionszittern.  Viele  zeigen  partielle  Contrac- 
turen  oder  Klauenstellung  der  Hände.  Sie  müssen  zu  allen  Bedürf- 
nissen angehalten,  gefüttert,  an-  und  ausgezogen  werden.  Sehr  oft 

32* 


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500 


Der  Idiotismus. 


versagen  die  Sphincteren  den  Dienst;  manchmal  ist  auch  der  Schling« 
apparat  defect  (s.  u.  körperliche  Begleiterscheinungen). 

c)  Affective  Seile.  Auf  der  tiefsten  Stufe  werden  Lust-  und  Un- 
lustgefühle  nicht  unterschieden;  es  besteht  völlige  Indolenz;  die  Miss- 
stimmung  äussert  sich  nur  durch  heftigeres  Schreien  (s.  o.),  die 
Euphorie  durch  Ausstossen  von  unarticalirten  andern  Tönen  (Schnur- 
ren), zugleich  mit  automatischen  Bewegungen  (Hin-  und  Herwiegen). 
Auf  höherer  Stufe  findet  auch  der  Zorn  einen  reflectorisch-mimischen 
Ausdruck  (Umherwälzen  auf  dem  Boden);  bei  heftigem  Schmerz 
quellen  Thränen  hervor.  Gemüthliche  Anhänglichkeit  besteht  nicht, 
oder  nur  in  rudimentärster  Form. 

Der  Verlauf  ist  entweder  continuirlicb,  oder  durch  periodische 
Exacerbationen  von  Erregung  unterbrochen.  Die  letztern  bestehen 
in  Zunahme  der  motorischen  Unruhe,  oft  mit  indifferentem  Geplapper, 
anderemale  mit  zornmüthig  klingenden  Schreien  und  Vermehrung 
der  automatischen  Bewegungen.  Da  und  dort  zeigt  sich  dabei  auch 
Erbrechen  mit  ruminirenden  Mund-  und  Schlundbewegungen. 

2.  Der  idiotische  Schwachsinn. 

Ueber  der  vorhin  skizzirten  tiefsten  Stufe  einer  nahezu  völligen 
Negation  intellectueller  Vorgänge  und  geistiger  Entwicklung  steht 
die  unendlich  variable  Gruppe  des  Schwachsinns,  mit  jener  durch 
manche  Abstufungen  verknüpft,  und  nach  oben  allmählich  Ubergehend 
in  die  gleichsam  noch  physiologische  Dummheit  und  Beschränktheit. 

Das  Charakteristische  für  sämmtliche  Formen  des  idiotischen 
Schwachsinns  ist  gegeben  in  der  Thatsache  des  pathologischen 
Abschlusses  der  psychischen  Entwicklung,  des  Stehen- 
bleibens derselben  vor  Erreichung  der  psychischen  Vollkraft.  Damit 
ist  nach  unten  und  oben  die  Grenze  gegeben.  Der  Blödsinnige  ent- 
wickelt sich  Überhaupt  nicht,  da  bei  ihm  ein  bildungsfähiges  Ich 
nicht  zur  Anlage  kommt.  Letzteres  geschieht  beim  Schwachsinnigen; 
es  bildet  sich  eine  Persönlichkeit,  welche  bewusst  mit  der  Aussen- 
welt  in  Beziehung  tritt  und  eine  Verständigung  mit  dieser,  wenn 
auch  auf  einfachste  Art  (durch  Worte  oder  Geberdeu)  ermöglicht. 
Die  Hemmung  der  Entwicklung  kann  nun  auf  verschiedenen  Stadien 
erfolgen,  und  daraus  ergeben  sich  die  weiteren  Unterabtheilungen 
des  Schwachsinns. 

Wir  unterscheiden  a)  den  Schwachsinn  höheren  Grades  (nicht  bil- 
dungsfähig); und  b)  den  Schwachsinn  mittleren  und  leichteren  Grades 
(bildungsfähig'.  In  die  erste  Gruppe  gehören  die  Entwicklungs- 
hemmungen auf  einer  Stufe,  welche  dem  frtlhen  Kindesalter  bis  zum 


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Der  idiotische  Schwachsinn,   a)  hochgradige,  nicht  bildungsfähige,  Form.  501 

3—4.  Lebensjahr  entspricht.  Die  zweite  Gruppe  umfasst  alle  zwischen 
dieser  Grenze  und  den  allmählichen  Uebergängen  bis  zum  Normalen 
liegenden  Fälle. 

Diese  Unterscheidung  ist  weniger  willkürlich,  als  es  anf  den  ersten 
Anblick  erscheinen  dürfte.  Die  Grenze  zwischen  dein  frühen  und  dem 
reiferen  Kindesalter  stellt  eine  der  wichtigsten  und  am  schärfsten  mar- 
kirten  Schwellen  dar,  welche  die  geistige  Persönlichkeit  in  ihrem  Wer- 
den zu  überschreiten  hat.  Als  Markstein  zwischen  beiden  Epochen  steht 
die  Entwicklung  des  höchsten  psycho-physischen  Vorgangs,  der  Sprache, 
welche  gerade  in  dieser  Zeit  aus  dem  kindlich  naiven  Stadium  in  die 
volle  grammatikalisch-syntaktische  Ausbildung  einzutreten  beginnt.  Auch 
praktisch  ist  diese  Unterscheidung  insofern  begründet,  als  in  jener  ersten 
Periode  der  Kindheit  wohl  von  Erziehung,  Disciplinirung,  nicht  aber  von 
Unterricht  im  engeren  Sinne  die  Rede  sein  kann.  Dementsprechend  sind 
die  Schwachsinnigen,  deren  Entwicklung  vor  Ueberschreitung  der  ersten 
Kindheit  Halt  macht,  auch  als  nicht-bildungsfähig  im  Sinne  der  gewöhn- 
lichen Unterrichtsziele  zu  bezeichnen.  Bei  dieser  Vergleichung  einzelner 
Stadien  der  normalen  Entwicklung  njit  den  verschiedenen  Abstufungen 
des  Schwachsinns  darf  natürlich  nie  vergessen  werden,  dass  wir  es  für 
gewöhnlich  hier  nicht  nur  mit  gleichmässigen  Hemmungsbildungen  zu 
thun  haben,  sondern  meist  auch  noch  mit  theilweisen  Entwicklungsexcessen 
(neben  der  Hemmung  im  Ganzen),  und  ferner  mit  psycho-pathologischen 
und  neuropathischen  Complicationen  verschiedenster  Art,  wodurch  uns 
nicht  ein  reines  harmonisches,  sondern  fratzenhaft  entstelltes  Abbild  ge- 
sunder kindlicher  Entwicklung  vorgeführt  wird. 

a)  Der  hochgradige,  nicht  bildungsfähige  (idiotische) 
Scb  wach  sinn.  Geistige  Entwicklung  bleibt  auf  der  Stufe  des 
frühen  Kindesalters  zwischen  1.  und  5.  Lebensjahr  gehemmt.  Sprache 
mangelhaft,  namentlich  in  grammatikalisch  -  syntaktischer  Hinsicht 
unentwickelt;  häufige  Mogilalieen.  Unterschied  zwischen  der  ere- 
thischen und  anergetischen  Form  des  Schwachsinns  deutlich  aus- 
geprägt: erstere  überwiegend,  und  nicht  selten  verbunden  mit  pe- 
riodischen Erregungszuständen.  Anklänge  an  das  Phantasieleben 
normaler  Kinder.  Gewisse  Disciplinirung  ist  wohl  möglich;  der 
eigentliche  Unterricht  scheitert  aber  an  der  mangelhaften  Concen- 
tration  bei  den  Erethischen,  an  dem  oft  mit  einer  gewissen  drolligen  . 
Bonhommie  gepaarten  Phlegma  der  Anergetischen.  Höchstens  An- 
schauungsunterricht möglich.  Ethische  oder  religiöse  Vorstellungen 
fehlen. 

Klinische  Symptome, 
a)  Intel/ectuclie  und  affective  Functionen.    Die  Kranken  kennen 
einfache  Gegenstände  der  Umgebung  und  wissen  sie  mit  Namen  zu 
benennen;  sie  erkennen  dieselben  auch  wieder  auf  Abbildungen. 
Die  anergetischen  Kranken  äussern  dabei  weder  Interesse  noch 


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502 


Der  Idiotismus. 


irgend  einen  Trieb  nach  Thätigkeit,  während  die  erethischen  eine 
oft  lebhafte  Wahrnehmung  bekunden,  welche  aber  momentan  immer 
wieder  abgelenkt  wird,  und  so  durch  fehlende  Concentration  resultat- 
los verpufft.  Viele  wissen  ihren  Namen  nicht,  während  Andere 
diesen  und  auch  noch  die  weitern  von  ihren  Angehörigen  kennen; 
Leistungsfähigere  vermögen  auch  bis  zu  bescheidenen  Zahlen  zu 
zählen,  verwirren  sich  aber,  sowie  nur  die  kleinste  Abweichung  in 
der  mechanisch  eingelernten  Reihenfolge  ihnen  zugemuthet  wird. 
Bemerkenswerth  ist  der  Drang  zu  Imitationen  Anderer  und  zeitweise 
zu  täppischer  Simulation,  interessant  auch  das  eigenartige  Phan- 
tasieleben einzelner  Kranken,  welche  bis  zu  märchenhafter  Alle- 
gorisirung  der  Umgebung  (zeitweilige  Hallucinationen)  und  zur  ernst 
gemeinten  Anthropomorphose  von  Puppen  führt.  Viele  wissen  auch 
sich  niedlich  zu  verspielen.  Gemtithlich  erheben  sie  sich  nicht  über 
entschiedene,  und  dann  mit  aller  Grellheit  ausbrechende,  Lust-  und 
UnlustgefUhle,  welche  oft  unmotivirt  und  in  raschem  Wechsel  sich 
aufdrängen.  Für  die  Umgebung  bewahren  sie  eine  gewisse  Anhäng- 
lichkeit, welche  aber  nie  tiefer  gebt.  Vereinzelte,  weiter  entwickelte 
Kranke  zeigen  einen  Zug  von  Freundlichkeit  und  Anfänge  socialer 
Regungen;  sie  sind  gutraüthig  und  gesellig.  Im  Allgemeinen  sind 
sie  unterrichtsunfäbig;  doch  lassen  sie  sich  in  richtiger  Pflege  in 
eine  gewisse  Ordnung  eingewöhnen. 

Die  Sprache  ist  mangelhaft,  höchstens  auf  wenige  Sätze  be- 
schränkt, welche  in  ungrammatikalischer  Form  vorgebracht  werden. 
Beliebt  ist  die  Infinitivform  beim  Sprechen.  Der  Wortschatz  ist  sehr 
spärlich,  und  besteht  oft  nur  in  Substantiven  und  Interjectionen. 
Viele  Kranke  sprechen  als  Antwort  die  vorgesprochenen  Sätze  nach, 
aber  ohne  Verständniss;  Andere  schieben  stehende  Flicksätze  ein; 
wieder  Andere  wiederholen  echolalisch  das  zuletzt  gesprochene  Wort 
einer  Frage.  Interessant  sind  die  sehr  häufigen  articulatorischen 
Störungen  und  die  ausgleichenden  Nothbehelfe. 

Manchmal  werden  Buchstaben  verwechselt,  anderemale  die  vorderen 
Silben  von  Wörtern  abgeworfen  (und  zwar  merkwürdiger  Weise  nur,  wenn 
die  Kranken  spontan  sprechen,  wahrend  sie  beim  Kachsprechen  so- 
wohl Buchstaben  als  Silbeu  richtig  artikuliren).  Oft  werden  Worte  mit 
mehreren  Consonanten  durch  Umgestaltung  mundgerecht  gemacht:  z.  B. 
„Grangruft"  statt  „Frankfurt".  N  wird  oft  ausgesprochen  —  gn,  z  =  I, 
t  =  d,  sch  =  gg  u.  s.  w. 

b)  llaltumj  und  motorische  Functionen.  Hier  begegnen  wiederum 
alle  Typen :  mikrocephale,  kretinoide,  bis  herauf  zu  normaler  Kopf- 
bildung, mit  stumpf- blöden  oder  choreatisch  unruhigen,  immer  wech- 
selnden Gesichtszügen.  Währende  Einige  ein  beständiges  euphorische« 


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Der  idiotische  Schwachsinn,   b)  mittlere  und  leichtere  Grade. 


503 


Lächeln  in  der  Miene  tragen,  schauen  Andere  stets  mürrisch ,  un- 
heimlich lauernd  aus.  Da  und  dort  begegnet  man  auch  einer 
„Nussknacker"-Phy8iognomie,  oder  einem  „Igel"-Typus  mit  vorwärts 
gestrecktem  Kopf  und  rüsselartiger  Mundbildung.  Die  Haltung  ist 
schlaff,  oder  gegentheils  zappelig  und  in  steter  Unruhe,  mit  hastigen 
Mitbewegungen  bei  einer  unerwarteten  Frage.  Der  Gang  ist  in  der 
Regel  unsicher,  holperig,  schleifend  oder  „quaddelnd",  trippelig, 
das  Stehen  bei  geschlossenen  Augen  unsicher;  die  Coordinations- 
bewegungen  der  obern  Gliedmaassen  mangelhaft  und  ungeschickt 
(s.  u.  körperliche  Begleiterscheinungen). 

c)  Sensorische  und  sensible  Functionen  häufig  intact  oder  nicht 
gröber  gestört  (s.  u.). 

Der  Verlauf  ist  ein  stationärer,  sachte  abwärts  zielender,  oder 
durch  unregelmässige  Erregungsphasen  theils  spontan,  theils  auf 
äussere  Anlässe  unterbrochen  (Raptus  von  Heftigkeit  mit  Zerstörungs- 
drang, Zerkratzen).  Je  nach  der  Entwicklung  der  Idiotie  im  Einzel- 
falle bleiben  die  Kranken,  wenn  sie  vorher  eine  normale  geistige 
Entwicklung  begonnen,  auf  der  kindlichen  Stufe,  in  welcher  ihnen 
durch  die  Hirnkrankheit  Halt  geboten  wurde,  stehen;  oder  sie  schla- 
gen jetzt  langsam  einen  retrograden  Gang  ein,  verlernen  auch  allmäh- 
lich das  wenige  Erworbene  wieder.  Andere  dagegen  lassen  sich  in 
bescheidenem  Umfange  bessern,  so  dass  sie  wenigstens  zu  einfachster 
mechanischer  Thätigkeit  verwendbar  werden,  bleiben  aber  gleichfalls 
dann  stille  stehen.   (Ueber  Complicationen  mit  Epilepsie  s.  u.). 

b)  Der  idiotische  Schwachsinn  mittlem  und  leich- 
tern Grades.  Lässt  sich  bei  der  vorigen  Gruppe  (des  hochgradigen 
Schwachsinns)  die  Stufe,  auf  welcher  die  psychische  Entwicklung 
zum  Stillstand  kam,  in  ein  verhältnissmässig  genaues  Analogon  mit 
der  normalen  kindlichen  Entfaltung  setzen  und  dadurch  zeitlich 
ziemlich  scharf  präcisiren,  so  ist  dies  bei  den  mittlem  und  leichtern 
Graden  des  Schwachsinns  nicht  in  derselben  Weise  möglich;  die 
Menge  der  Uebergänge  zum  normalen  Verhalten  ist  hier  zu  gross. 
Trotzdem  bleibt  die  Thatsache  der  Entwicklungshemmung  bestehen. 
Der  Kranke  überschreitet  die  Schwelle  der  frühen  Kindheit,  um 
dann  oft  in  relativ  kurzer  Zeit  den  Höhepunkt  seiner  Entwicklung, 
welche  im  Ganzen  sich  auf  der  Stufe  G—  12 jähriger  Normalmenschen 
bewegt,  zu  erreichen.  Einzelne  Züge  mögen  sich  ändern,  sexuelle 
Reguugen,  normale  oder  perverse  sich  einschieben  —  im  Grossen  und 
Ganzen  bleibt  der  Kranke  sich  gleich,  s.  z.  s.  „photographisch" 
gleich.    In  gewissem  Sinne  altern  diese  Kranken  nicht,  sie  bleiben 


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501 


Dtr  Idiotismus. 


kleine  Jungen  mit  bärtigen  Gesichtern,  im  Ganzen  zufrieden,  im 
Einzelnen  neubeglückt  durch  jede  kleinste  Abwechselung  im  All- 
tagsleben. Ihr  Ehrgeiz  ist  befriedigt,  sie  glauben  die  Höhe  der 
Erwachsenen  erreicht  zu  haben,  wenn  ihnen  eine  Cigarre  gestattet 
wird,  oder  wenn  sie  per  „Sie"  angeredet  werden. 

In  psychologischer  Hinsicht  ist  zu  bemerken,  dass,  während  bei 
der  vorigen  Gruppe  die  erethische  Form  des  Schwachsinns  über- 
wiegt, bei  der  jetzigen  der  anergetische  Typus  die  Scene  beherrscht. 
Die  Apperception,  die  Anknüpfung  associativer  Verbindungen  ist 
ungemein  verlangsamt,  vollzieht  sich  aber  im  Ganzen  in  logischer 
Weise,  so  dass  es  wenigstens  für  den  grössern  Theil  der  hierher- 
gehörigen Fälle  ermöglicht  wird  gewisse,  für  die  einfachsten  Lebens- 
verhältnisse ausreichende,  Vorstellungsreihen  zu  gewinnen  und  aus- 
zubauen. Nie  aber  reicht  diese  Befähigung  auch  weiter  bis  zu 
einem  selbstständigen  Auftreten  über  solche  einfache  und  regelmässig 
vorgeschriebene  Geleise  hinaus.  Die  treibende  Macht  des  mensch- 
lichen Ringens  und  Strebens  —  der  Kampf  ums  Dasein  —  wird 
den  Geistesinvaliden  dieser  Signatur  stets  unberührt  lassen.  Damit 
hängt  die,  wenn  psychologisch  auch  erklärliche,  aber  immer  wieder 
Uberraschende  Thatsache  des  vollständigen  Mangels  des 
Krankheits-  resp.  Defectgefühls  zusammen,  welchem  wir 
gerade  bei  diesen  leichtern  Schwachsinnsformen  begegnen.  Wir 
wundern  uns,  weshalb  diese  Idioten,  welche  in  der  Anstalt  recht 
gut  zur  Arbeit  zu  verwenden  sind,  welche  Jugendfreunde,  Geschwister 
in  selbstständigen  Stellungen  sehen,  beinahe  nie  das  Bedürfniss 
äussern  sich  ebenfalls  selbstständig  und  von  der  fortwährenden  Lei- 
tung unabhängig  zu  machen.  Gelegentlich  wohl,  mehr  raptusartig, 
taucht  einmal  auch  dieses  Verlangen  auf ;  aber  sehr  rasch  findet  sich 
der  Kranke  wieder  in  den  regelmässigen  Gang  des  Anstaltslebens,  in 
welchem  jeder  Schritt  vorgezeichnet  ist. 

Nach  gemüthlich-ethischer  Seite  zeigt  sich  der  Defect 
mindestens  ebenso  stark  als  nach  intellectueller  (ein  noch  ver- 
schärftes Pendant  zu  den  im  spätem  Alter  schwachsinnig  gewor- 
denen Epileptischen!).  Es  gibt  keinen  grössern,  keinen  beschränktem 
Egoisten,  als  den  Idioten.  An  dieser  Thatsache  ändern,  wie  Wil- 
dermut h  versichert,  auch  die  üblichen  sentimentalen  Anstaltsbe- 
richte nichts.  Gegenüber  der  so  oft  als  Dogma  vertretenen  Ansicht 
von  der  „gemütblichen  Tiefe",  ja  sogar  dem  „wahrhaft  religiösen 
Sinn"  der  Schwachsinnigen  dürfte  zu  bemerken  sein,  dass  ein  Theil 
der  mittlem  Formen  des  Schwachsinns  allerdings  ein  gewisses  lie- 
benswürdig anschmiegendes  Wesen  zeigt,  welches  aber  nicht  tiefer 


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Idiotischer  Schwachsinn.   Allgemeinsymptome.    Klinische  Typen.  505 

wurzelt,  und  „ganz  an  das  artige  Wesen  eines  Hündchens  erinnert, 
welchem 

So  freut  sich  die  Mehrzahl  dieser  Idioten,  wenn  z.  B.  ein  Mitkranker 
stirbt,  in  der  Hoffnung  auf  den  nicht  alltäglichen  Aspect  eines  Leichen- 
begängnisses. —  Analog  verhält  es  sich  auch  mit  dem  „religiösen  Sinn", 
von  welchem  in  den  Idiotenanstalten  der  Inneren  Mission  so  viel  die  Rede 
ist.  Nach  den  Erfahrungen  der  trefflichen  Anstalt  in  Stetten  eignen 
sich  übrigens  die  schlichten  Erzählungen  der  Bibel  überhaupt  aus  päda- 
gogischen Gründen  schon  sehr  gut  als  Ausgangspunkt  für  den  Unter- 
richt dieser  Kranken,  sowohl  in  intellectueller  als  ethischer  Hinsicht. 

Anhänglichkeit  an  die  Familie  ist  im  Allgemeinen  sehr  massig 
ausgeprägt.  Vollständig  aber  fehlt  jener  Geist  trotzigen  kamerad- 
schaftlichen Bewusstseins,  welches  bei  gesnnden  Jungen  ein  Haupt- 
capitel  im  Ehrencodex  bildet.  Es  gibt  hier  keine  mit  der  Persön- 
lichkeit verwachsene  ethisch-religiöse  Vorstellungen,  es  gibt  keinen 
kategorischen  Imperativ;  sondern  häufig  nur  eine  ethische  Indolenz, 
nicht  selten  periodisch  belebt  durch  einen  triebartigen  Hang  zum 
Verbrechen,  wogegen  nur  anzukämpfen  ist,  so  lange  der  Kranke 
in  dem  strengen  Geleise  und  in  der  Ueberwachung  einer  Anstalt 
sich  bewegt.  Die  Lehren  der  Ethik  und  Religion  bedeuten  für  ihn 
nicht  mehr  als  die  Vorschriften  der  Hausordnung. 

Aus  diesem  mangelnden  Gefühl  der  socialen  Verpflichtung  erklärt 
sich  auch  der  beschränkte  Thätigkeitstrieb  und  zum  grossen  Theil  die 
fehlende  Langeweile  dieser  Kranken.  —  Gesteigerter  normaler 
Geschlechtstrieb  gehört,  nach  Wildermuth's  Versicherungen,  zu 
den  seltenen  Ausnahmen  bei  den  Idioteu;  dagegen  ist  Onanie  ziemlich 
verbreitet,  und  wahrscheinlich  auch  perverser  Sexualtrieb. 

Von  Sprachstörungen  ist  für  diese  Gruppe  geradezu  charakte- 
ristisch :  das  „verwaschene  Sprechen",  das  Abwerfen  einzelner  Silben ; 
daneben  kommen  Mogilalieen  vor,  sowie  Unrichtigkeit  im  Gebrauch 
adverbialer  Bestimmungen.  Hier  finden  sich  auch  die  Fälle,  in  wel- 
chen die  sprachliche  Störung  in  einem  auffallenden  Gegensatz  zum 
sonstigen  psychischen  Verhalten  steht  —  ein  Zustand,  welcher  an 
die  erworbene  Aphasie  der  intelligenten  Erwachseneu  erinnert. 

Von  der  so  oft  gepriesenen  einseitigen  Kunstfertigkeit  der  Idioten 
kann  nur  in  ganz  ausnahmsweise  seltenen  Fällen  die  Rede  sein.  Viele 
solcher  Leistungen  entpuppen  sich  bei  näherer  Prüfung  doch  nur  als 
sehr  massige,  fast  kindische  Operate. 

Klinisch  lassen  sich  folgende  Typen  absondern: 
1.  Anergetheher  einfacher  Schwachsinns -Typus.  Intellectuelle 
Verkümmerung,  gewöhnlich  verbunden  mit  schlechter  physischer 
Entwicklung  und  anämischen  Zuständen.    Mit  dem  kümmerlichen 


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506 


Der  Idiotismus. 


Vorstell  angsieben  gebt  eine  völlige  Farblosigkeit  der  affectiven  Spbäre 
Hand  in  Hand.  Die  Kranken  sind  ganz  indolent,  zeigen  weder  aus- 
gesprochene Sympathieen  noch  Antipathieen.  Es  sind  die  enfants 
arrieres,  welche  meist  erst  nach  vielen  Unterrichts  versuchen  in  die 
Anstalten  kommen,  und  hier  ein  nicht  undankbares  Material  für 
sachgemässen  geduldigen  Unterricht  bilden. 

Sie  kennen  die  Umgebung,  haben  ein  gutes  Namen-  und  Personen- 
gedächtniss,  lernen  lesen  und  schreiben,  einfache  Zahlenverhältnisse  ver- 
stehen. Dabei  äussern  sie  aber  keinen  Thätigkeitstrieb,  keine  Lange- 
weile, kein  Verlangen  ihre  Lage  zu  ändern.  Zu  leichteren  Arbeiten 
lassen  sie  sich  gut  verwenden.    Sie  sind  meist  gesellig  und  gutmtithig. 

2.  Schwachsinns -Typus  mit  Grdssenwahn.  Die  Kranken  dieser 
Gruppe  bilden  den  Uebergang  zwischen  der  vorigen  anergetischen 
Form  und  der  folgenden  erethischen.  In  ihren  intellectuellen  Lei- 
stungen stehen  sie  kaum  höher  als  die  vorigen,  zeigen  aber  eine 
grössere  Lebhaftigkeit  der  Apperception.  Mit  einer  gewissen  Sucht 
sich  vorzudrängen  verbinden  sie  eine  Art  läppischen  Grössenwahns: 
der  Eine  macht  Gedichte,  der  Andere  Predigten  u.  s.  w.  Oft  sind 
es  reine  Aeusserlichkeiten,  z.  B.  der  Besitz  einer  Uniform,  welche 
ihrem  albern  geschraubten  Selbstgefühl  die  genügende  Folie  abgeben, 
um  ihr  ganzes  Bewusstsein  zu  erfüllen.  Nach  aussen  machen  diese 
Kranken  einen  kläglich  komischen  Eindruck.  Vor  denen  der  vorigen 
Gruppe  haben  sie  immerhin  den  Besitz  eines  gewissen  Phantasie- 
lebens voraus. 

Sie  lernen  lesen,  schreiben,  rechnen,  zeigeu  selbst  Vorliebe  für  ge- 
wisse Beschäftigungen.  In  ihrem  Wesen  sind  sie  theils  moros  und  zän- 
kisch, theils  gemüthlich  und  zufrieden;  bei  Widerspruch  oft  heftig  und 
zornig. 

3.  Erethischer  Schwachsinns -Typus.  Diese  Gruppe  enthält  die 
bei  den  mittlem  Schwachsinnsgraden  selten  prägnant  vorkommenden 
erethischen  Formen.  Sie  bilden  nach  unten  den  Uebergang  zu  den 
entsprechenden  Formen  des  hochgradigen  Schwachsinns;  an  Stelle 
papageiartigen  Wiederholens  tritt  hier  ein  albernes  Geplapper  und 
ein  beständiges  Durchkreuzen  der  Rede  durch  incohärente,  oft  ganz 
heterogene  Gegenfragen. 

In  ihrem  Wesen  täppisch  und  unruhig,  erzählen  sie  beständig,  und 
oft  die  unbedeutendsten  Dinge,  mit  Geschrei  und  Lebhaftigkeit.  Da  ihre 
Aufmerksamkeit  beständig  von  einem  Punkte  zum  andern  abspringt,  ist 
der  Unterricht  sehr  schwierig.  Sie  lernen  wohl  lesen  und  schreiben; 
auch  einfache  Zahlenbegriffe  und  einige  religiöse  Kenntnisse  sind  ihnen 
beizubringen.  Aber  schon  die  Erlernung  eines  einfachen  Handwerks  ist 
in  Folge  ihrer  ruhelos  fliehenden  Aufmerksamkeit  in  der  Regel  nicht 


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Idiotischer  Schwachsinn.   Klinische  Typen. 


507 


möglich.  In  Benehmen  und  Haltung  sind  sie  sehr  zu  possenhaften  Ücber- 
treibungen  geneigt;  Manchen  fehlt  auch  ein  gewisser  Zug  von  Ver- 
schmitztheit nicht.  Viele  vermögen  gar  keinen  Zeitbegriff  zu  gewinnen. 
Bei  unerwarteten  Fragen  gerathen  sie  in  verwirrte  Verlegenheit,  aus 
welcher  sie  sich  aber  nicht  selten  in  drolliger  Weise  durch  Ueberspringen 
auf  ein  anderes  Thema  zu  helfen  wissen.  Für  eine  neue  Situation,  als 
die  eingewöhnte,  haben  sie  keine  Orientirung.  Die  Sprache  ist  verwaschen, 
vielfach  pleonastisch,  durch  falschen  Gebrauch  adverbialer  Bestimmungen 
verdorben  („grad'  hab'  ich  die  Milch  geholt  wirklich  als").  Trotz  völliger 
Harmlosigkeit  und  einer  gewissen  freundlichen  „Zuthunlichkeit"  fehlt 
ihnen  jede  tiefere  gemüthliche  Erregung;  trotz  jahrelang  regelmässigem 
Kirchenbesuch  gewinnen  Viele  nicht  einmal  den  einfachsten  Gottesbegriff; 
sie  wollen  nicht  sterben,  und  glauben  es  auch  nicht.  —  Manche  zeigen 
periodisch  auftretende  Verstimmung  mit  zerstörenden  Raptus,  und  nach- 
folgenden Anklängen  an  primitive  Reue  mit  Weinen. 

4.  Aphatischer  Schwachsinns-Typus.  Diese  Gruppe  umfasst  eine 
Anzahl  von  Fällen,  in  welchen  eine  auffallende,  oft  bis  zur  Apbasie 
gehende,  Sprachstörung  vorhanden  ist,  und  zwar  in  scharfem  Con- 
trast  gegen  das  übrige,  nicht  schlecht  entwickelte,  geistige  Leben. 
Hierher  gehört  ein  Theil  der  von  Griesinger  als  „kleine  drollige 
Käuze"  aufgeführten  Kranken,  mit  theilweise  inakro-,  theilweise  ini- 
krocephaler  Kopfbildung. 

In  ihrem  Wesen  nicht  unintelligent,  gelehrig,  pünktlich,  gesellig, 
aufmerksam  auf  die  Vorgänge  der  Umgebung,  zum  Theil  recht  leidlich 
geschickt  in  Handarbeiten,  in  Lesen  und  Schreiben  (Rechnen  oft  mangel- 
haft), in  ihrer  geistigen  Signatur  bald  mehr  zum  apathischen,  bald  zum 
eretbischen  Typus  sich  hinneigend  —  zeigen  sie  sämmtlich  erhebliche 
Sprachstörungen.  Gewöhnlich  werden  beim  Vorsprechen  sämmtliche  (oder 
fast  sämmtliche)  Buchstaben  richtig  von  ihnen  «nachgesprochen;  dagegen 
beim  Wortesprechen  erfolgt  ein  mehr  oder  minder  starkes  Stammeln, 
wobei  die  Consonanten  mit  Vorliebe  durch  einen  zwischen  n  und  gl  lie- 
genden Laut  ausgedrückt  werden.  Manche  Kranke  empfinden  ihre  lin- 
guale Unbehilflichkeit  mit  einem  gewissen  drolligen  Missbehagen,  und 
suchen  die  defecte  Aussprache  durch  eine  lebhafte  Mimik  und  Physio- 
gnomik auszugleichen. 

5.  Moral  Insunüy -Typus.  Hier  ist  der  ethische  Defect  dem  in- 
tellectuellen  nicht  nur  gleich werth ig,  sondern  tritt  vor  letzterem 
prägnant  in  den  Vordergrund.  Die  Symptome  der  Moral  Insanity 
beherrschen  die  Scene,  und  zwar  sehr  oft  mit  periodischem  Cha- 
rakter des  Auftretens, 

Die  Kranken  dieser  Gruppe  kennen  die  einfachsten  Lebensbeziehun- 
gen, haben  auch  Schulunterricht  im  Erfolg  durchgemacht.  Sie  verfügen 
über  einen  gewissen  Fonds  von  mechanischem  Wisserf,  welchem  aber 
jeder  tiefere  und  namentlich  idealere  Zug  fehlt.  Sie  sagen  ohne  Be- 
fremden eingelernte  ethische  Sprüche  her,  gegen  welche  sie  sich  kurz 


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508 


Der  Idiotismus. 


vorher  durch  die  That  in  plumpster  Weise  verfehlt,  und  fühlen  den 
Widerspruch  nicht.  Sittlichkeitsvergehen  und  namentlich  Diebstähle  bil- 
den die  Kategorieen  der  hier  am  häufigsten  vorkommenden  Delicte.  Oft 
zwecklos,  werden  die  letztern  nichtsdestoweniger  sehr  oft  mit  vielem 
Raffinement  ausgeführt.    Onanie  ist  sehr  häufiger  Begleiter. 

6.  Hebephrener  Schwachsinns-Typus.  In  dieser  Gruppe  sind  ge- 
wisse Fälle  von  jugendlichem  Irresein  vereinigt,  welche  Schwachsinn 
zur  Folge  hatten  oder  mit  demselben  complicirt  sind. 

Hierher  gehören  erblich  in  der  Regel  stark  belastete  Kinder,  welche, 
nach  erst  normaler  Entwicklung  in  den  ersten  Jahren,  schon  frühe  und 
ohne  nachweisbare  Ursache  Anwandlungen  von  Depression  und  Exaltation 
zeigen,  manchmal  selbst  als  monatelange  Aufregung  mit  Verworrenheit 
und  Hallucinationen.  Darauf  folgt  meist  noch  Genesung.  Aber  die  kleinen 
Patienten  sind  geistesträger  und  auffallend  gemüthsstumpfer  geworden, 
oder  gegentheils  unstät  in  ihrem  Wesen,  abspringend  in  ihrer  Aufmerk- 
samkeit, ohne  Ausdauer  und  Fassungskraft.  Ein  primärer  anergetischer 
oder  erethischer  Schwachsinn  hat  Platz  gegriffen  und  lässt  sie  intellec- 
tucll  auf  kindlicher  Stufe  stehen,  ohne  Fähigkeit  zu  einer  wenn  auch 
noch  so  bescheidenen  Ausbildung.  Auf  leise  körperliche  (gastrische) 
Störungen  erfolgen  sofort  hallucinatorische  Erregungszustände;  bei  jungen 
Mädchen  erschliesst  sich  mit  Eintritt  der  Periode  eine  menstruale  Psy- 
chose mit  oft  typischer  Wiederkehr.  Aber  auch  bei  den  so  disponirten 
Jünglingen,  welche  mit  IG  Jahren  oft  noch  einem  12jährigen  gleichen, 
stellen  sich  periodische  oder  cyklische  Aufregungszustände  ein,  meist 
mit  kurzer  Dauer  (8—14  Tage)  und  mehrwöchentlichera  Intervall.  Die 
manischen  Phasen  zeigen  Annäherung  an  gewisse  Typen  der  Erwachsenen 
(s.  d.):  albernes,  verwirrtes  Faseln  mit  marionettenartigen  Bewegungen 
und  fratzenhaftem  Gesichterschneiden ,  spasshaftes  muthwilliges,  begehr- 
liches Wesen,  voll  sinnloser  Pläne  und  bramarbassirendem  Pathos.  Damit 
wechseln  hypochondrisch-ftngstliche  Episoden  ab.  —  Ein  anderer  Typus 
zeigt  periodische  Zornmüthigkeit  mit  verbaler  und  thätlicher  Bedrohung 
der  Umgebung  und  allen  Zeichen  einer  manischen  Moral  Insanity.  In 
der  Regel  tritt  nach  und  nach  der  Cyklus  zurück,  und  es  bleibt  das 
immanente  schwachsinnige  excentrische  Wesen,  oder  aber  eine  finstere 
zornmüthige  Reizbarkeit;  in  beiden  Fällen  mit  starkem  Gemüthsdefcct. 
Sehr  häufig  gehen  sexuelle  Perversitäten  (starke  Onanie)  mit  einher. 

Auch  Anfälle  von  Maladia  du  doute  finden  sich  bei  Schwachsinnigen 
dieser  Kategorie  vor;  in  einem  Falle  traten  sie  im  Anschluss  an  eine 
allgemeine  Ratlosigkeit  auf,  als  der  Kranke  fühlte,  dass  er  seinem  Be- 
rufe nicht  gewachsen  sei.  — 

Die  eigentliche  Hebephrenie,  das  pubische  Irresein,  wie  es  von 
Kahl  bäum  und  Heck  er  gezeichnet  wurde,  mag  hier  seine  Stelle  finden, 
obwohl  es  nicht  immer  auf  idiotischer  Basis  erwächst,  dafür  aber  in  der 
weitaus  grössten  Mehrzahl  der  Fülle  zu  einem  bleibenden  Schwachsinn 
führt.  Erblichkeit  spielt  ätiologisch  die  hervorragende  Rolle;  nach  ihr: 
Onanie  und  Kopfverletzungen;  wesentlich  mitwirkend  ist  extremer  For- 
malismus und  Pedanterie  in  der  Erziehung.  Allgemein  lässt  sich  der 
Krankheitsvorgang,  welcher  diese  eigenartige  Zustandsform  der  Hebe- 


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Hebepbrenie.  —  Körperliche  Complicationen  der  Idiotie.  509 


phrenie  herbeiführt,  als  ein  störender  Eingriff  in  die  eben  erst  (durch 
die  Pubertät)  in  Bildung  begriffene  neue  geistige  Entwicklungsstufe  auf- 
fassen, wodurch  „ein  Zerfahren  des  noch  leicht  zerfliesslichen  geistigen 
Inhalts  bewirkt  wird ,  und  dessen  edelster  Theil  verloren  geht.  Der 
Krankheitsprocess  setzt  der  geistigen  Weiterentwicklung  eine  Grenze, 
und  bringt  eine  eigenthümliche  Art  des  Schwachsinns  hervor,  welcher 
als  Inhalt  nur  die  todten  Elemente  jener  eben  erlebten  Entwicklungsphase 
birgt.  Dabei  erstarren  gewissermaassen  die  kämpfenden  Elemente  in  der 
Stellung,  als  ob  sie  noch  stritten".  Im  Speciellen  ist  der  Krankheits- 
beginn durch  ein  melancholisches  Prodromalstadium  eingeleitet.  Die 
traurige  Verstimmung  ist  aber  keine  tiefe  und  wechselt  unmotivirt;  es 
scheint,  als  ob  der  Kranke  damit  spielte  oder  kokettirte.  Zwischen  die 
düstern  Stunden  schieben  sich  ganz  abrupt  auch  heitere,  voll  Lachens 
und  albernen  Scherzen.  Die  schärfsten  Gegensätze  berühren  sich  un- 
mittelbar neben  einander.  Dabei  greift  ein  bizarres  Gebahren  Platz,  mit 
Neigung  zu  allerlei  ziel-  und  planlosen  (oft  anscheinend  boshaften)  al- 
bernen Handlungen.  Andere  Kranke  vagabundiren.  —  Eigenartiger  noch 
sind  die  formalen  Störungen  im  Vorstellen,  speciell  in  Schrift  und  Sprache. 
Jene  enthält  eine  Menge  von  Anakoltithieen,  und  eine  Weitschweifigkeit 
der  Diction  (Styl  des  „Carlchen  Miessnik"),  wobei  gewisse  Wendungen 
und  Phrasen  förmlich  „zu  Tode  gehetzt  werden".  So  auch  beim  Spre- 
chen, welchem  ausserdem  der  beliebte  Gebrauch  von  Provinzialismen  und 
Lauten  aus  dem  jüdischen  und  Officiers-Jargon  neben  einer  poetisch  ge- 
zwungenen phrasenreichen  Diction  eine  ganz  specifische  Eigenart  gibt. 
Bemerkenswerth  ist  auch  das  Gefallen  der  Kranken  an  allerlei  bizarren 
Einfällen  und  phantastischen  Aufschneidereien.  Grundton  und  Wesen  des 
skizzirten  Krankheitsbildes  bildet  ein  unverkennbarer  Schwachsinn  ere- 
thischer Form,  welcher  in  der  Folge  immer  mehr  dem  anergetischen  zu- 
steuert. Dazwischen  kann  nochmals  eine  Pause  von  längerer  oder  kür- 
zerer „Genesung"  sich  einschieben;  in  der  Regel  brechen  aber  neue 
Aufregnngszustände  (mit  dämmerhaftem  Bewusstseinszustand,  triebartigen 
Raptus  und  Hallucinationen)  früher  oder  später  wieder  aus,  und  führen 
den  allmählichen  geistigen  Niedergang  herbei.  —  Ich  sah  auch  eine  tiefe 
hypochondrische  Phase  intercurriren  (Onanie),  in  welcher  der  jugendliche 
Patient  einem  Tent.  suicidii  erlag. 

Die  körperlichen  Complicationen  der  Idiotie. 

a)  Epilepsie  —  in  30%  aller  Fälle  (nach  den  Erfahrungen  in  S  t  e  tt e n). 
Bemerkenswerth  ist,  dass  die  Epilepsie,  wo  sie  nur  als  Complication  der 
Idiotie  auftritt,  verhältnissmässig  leicht  psychisch  ertragen  wird.  Wesent- 
lich verschieden  ist  dagegen  die  Bedeutung  der  Epilepsie,  wo  sie  als 
Ursache  der  Idiotie  fungirt.  Hier  ist  deren  Einfluss  ein  perniciöser  und 
zwar  um  so  mehr,  je  früher  dieselbe  auftritt  (von  den  im  1. — 2.  Lebens- 
jahr Befallenen  wurden  50%  blödsinnig  idiotisch  und  nur  10%  bildungs- 
fähig); s.  S.  271. 

b)  Spinale  Störungen  (spastische  Paralyse). 

c)  Hemipurese  aus  partieller  Hirnatrophie  mit  Muskelatrophie  und 
Contracturen  — Motorische  Coordinationsstörungen,  ohne  aus- 


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310 


Der  Idiotismus. 


gesprochen  locale  oder  überhaupt  diagnosticirbare  HirnafFection,  finden  sich 
überaus  häufig  in  allen  idiotischen  Schwachsinnsformen;  schon  einfache 
Bewegungen  (wie  zum  Essen)  müssen  mit  vieler  Mühe  und  Geduld  ein- 
gelernt werden.  Ganz  besonders  zahlreich  vertreten  ist  aber  die  Un- 
sicherheit im  Gehen  und  Stehen,  mit  theils  schlürfendem,  theils  „quad- 
delndera"  Gang,  und  ausgiebig  plumpen  Balance-Bewegungen.  Romberg- 
sches  Symptom  ist  sehr  häufig;  ebenso  laterale  motorische  Ungleichheit 
(gewöhnlich  mit  Differenzen  in  den  Sehnenreflexen),  auch  ohne  sonstige 
halbseitige  Störung.  Chorea- Bewegungen,  in  Form  von  Mitbewegungen 
im  Gesichte  und  leichter  Unruhe  in  den  Händen,  sind  gleichfalls  verbreitet 
( t  mal  auch  halbseitig,  ohne  deutliche  Hemiparese). 

d)  Monoparesen.  Tremor.  Bulbäre  Erscheinungen.  Die  Monoparesen 
finden  sich  in  Form  isolirter  Lähmungen  einzelner  Muskelgruppen  (in 
1  Fall  ungleiche  Gesichtsinnervation  bei  mangelhafter  mimischer  Action 
beiderseits;  unvollkommene  Function  des  Buccinatorius,  Herabhängen  des 
Unterkiefers,  Unfähigkeit  die  überaus  schwer  bewegliche  Zunge  heraus- 
zustrecken; Schlingdefecte,  hochgradige  Anarthrie  beim  Sprechen  mit  Aus- 
werfen von  Gonsonanten  in  Nasal-Timbre,  t  =  tn,  1  und  m  =  ng,  k  un- 
gefähr wie  ong,  r  =  ch).  —  Nicht  selten  findet  sich  die  Monoparese 
auch  in  Form  einer  beiderseitigen  Ptosis,  neben  Ungleichheit  der  Facial- 
Innervation.  Der  Tremor  zeigt  sich  als  fortwährendes  Schütteln  des 
Kopfes,  als  Zittern  der  Arme  und  Beine;  manchmal  Intentionszittern  bis 
zur  Stärke  athetotischer  Bewegungen. —  Leichte  Bulbärsymptome  fin- 
den sich  auch  bei  vielen  höherstehenden  Idioten. 

e)  Weit  seltener  als  die  Störungen  auf  dem  motorischen  Coordina- 
tionsgebiet  sind  die  der  sensibeln  und  sensoriellen  Sphäre.  Der 
Tastsinn  ist  bei  der  überwiegenden  Zahl  der  Idioten  erhalten,  ebenso  das 
Muskelgefühl  und  der  Temperatursinn.  Am  häufigsten  noch  ist  die  Ver- 
minderung der  Schmerzempfindung.  Selten  fehlt  der  Geruchssinn  ganz; 
dagegen  kommen  Parästhesieen  desselben  öfters  vor.  Auch  das  Gehör 
zeigt  selten  erhebliche  Störungen  (das  schlechte  Hören  der  Idioten  ist 
meist  psychisch  bedingt).  —  Grobe  Veränderungen  im  Augenhintergruud 
sind  gleichfalls  nicht  sehr  häufig. 

f )  Von  allgemeinen  Ernährungsstörungen  kommt  am  häufigsten  Scro- 
phulose  und  Anämie  vor,  und  damit  zusammenhängend  die  Tuberculose. 
—  Acute  gastroentritische  Störungen  intercurriren  nicht  selten.  —  Inter- 
essant ist  das  relativ  geringere  Schlafbedürfniss  der  meisten  Idioten,  und 
die  geringere  Disposition  zu  Delirien  bei  fieberhaften  Erkrankungen. 

g)  Degenerationszeichen,  a)  Missbildungeu  am  Ohre:  auffallend 
plumpe  Modelliruog;  abgeflachte,  henkelartig  abstehende  Ohren;  auf- 
fallende Asymmetrie  in  der  Modellirung  der  Ohrmuschel ;  das  „abge- 
stutzte" Ohr  bei  Aztekenköpfen;  ,1)  am  harten  Gaumen  und  Unterkiefer: 
Spaltbildungen;  sehr  starke  Wölbung  (kielförmig)  mit  convergirenden 
Zähnen;  sehr  flacher  Gaumen  mit  prominirendem  Zwischenkiefer;  auf- 
fallender llochstand  der  Mittelpartie  des  Unterkiefers  gegenüber  den  seit- 
lichen; y)  an  den  Zähneu:  Schmelzdefecte  (Caries) ;  Schiefstand  mit 
seitlichem  Uebereinandergreifen ;  6)  der  Haut:  ausserordentlich  starke 
Faltenbildung;  derbe  Verdickung  namentlich  über  der  Stirn  und  Supra- 


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Die  Sch&delformen  und  die  „natürlichen  Familien".  511 


Orbitalgegend;  Hemiatropbia  facialis;  c)  an  den  Genitalien :  Kryptorchis- 
mus.  Die  Häufigkeit  der  Degenerationszeichen  bei  Idioten  belauft  sich 
auf  75<Vo  (Wildermuth). 

Die  Schädel  formen  der  Idioten  und  die  „  natürlichen 

Familien". 

Die  Bestimmung  der  Schädelformen  der  Idioten  d.  b.  die  Be- 
urtheilung,  ob  ein  Schädel  pathologisch  sei  oder  nicht,  ist,  von  den 
extremen  Fällen  abgesehen,  desshalb  nicht  leicht,  weil  es  an  einer 
genügend  grossen  Untersucbungsreihe  von  Schädeln  zweifellos  nor- 
maler Kinder  auf  den  verschiedensten  Entwicklungsstufen  fehlt. 

1.  Mikroccphale  Schädelformen.  Diese  unterscheiden  sich 

a)  als  typische  Mikrocephalie.  Aztekenköpfe.  Charak- 
teristisch: Abflachung  des  Hinterhaupts,  fliehende  Stirne,  zwischen 
Stirn  und  Nase  keine  Einsenkung;  kiel  förmige  Verschmälerung  nach 
vorn  (jedoch  nicht  immer  deutlich);  Längenwachsthum  des  Körpers 
zurückgeblieben. 

Anatomisch  scharf  umschrieben,  lässt  sich  klinisch  kein  —  in  seinem 
Habitus  —  entsprechend  abgeschlossener  Typus  zu  dieser  Grnppe  auf- 
finden. Bemerkenswerth  ist,  dass  unter  den  zugehörigen  9  Kranken  der 
Anstalt  zu  Stetten  Keiner  blödsinnig  ist;  3  gehören  dem  hochgradigen 
Schwachsinn  an,  6  den  mittleren  und  leichtern  Formen. 

b)  als  proportionale  Mikrocephalie.  Charakteristisch:  alle 
Schädeldurchmesser  sind  ziemlich  gleichmässig  reducirt. 

Klinisch  lassen  sich  mit  dieser  anatomischen  Gruppe  zwei  in  ihrem 
Habitus  etwas  scharfer  markirte  Typen  in  Beziehung  setzen:  a)  kleine 
eiförmige  Köpfe,  hübsch  gerundet,  sämmtliche  Durchmesser  verkleinert, 
Stirnprofil  gegen  Nasenrücken  abgesetzt.  Deren  Träger  sind:  erethisch 
Blödsinnige  und  Schwachsinnige  aller  Grade;  aber  selbst  in  den  leich- 
tern Formen  stets  mit  schweren  Cerebralstörungen  complicirt  (hochgra- 
dige Sprachstörung,  ßulbärsymptome) ;  ß)  stark  brachycephaler  Schädel, 
hoch,  hauptsächlich  im  Längsdurchraesser  reducirt.  Deren  Träger  sind: 
hochgradige  Schwachsinnige,  mit  raschem  Stimmungswechsel  von  täppischer 
Zärtlichkeit  zu  störrischem  Eigensinn,  disciplinirbare,  aber  nicht  bildungs- 
fähige, hereditär  schwer  belastete,  mit  Sprachlosigkeit  oder  höchstens  ru- 
dimentärer Sprache  behaftete,  zu  kindischem  Nachahmungstrieb  befähigte 
Fälle;  dabei  sehr  starke  Coordiuationsstörung  der  untern  Extremitäten, 
unsicherer  Gang  ohne  ausgesprochene  Paresen,  plumpe  breite  Zunge,  rohes 
Mienenspiel,  derbe  Gesichtshaut. 

2.  Makrocephule  Schädel  formen.  Hierher  gehören  die  hydro- 
cepbalen  und  cretinösen  Typen. 

Klinisch:  Alle  Formen  des  Blödsinns  und  Schwachsinns  vertreten. 
Anergetischer  Charakter;  meist  complicirt  mit  erheblicher  und  mit  dem 
übrigen  psychischen  (bildungsfähigen)  Verhalten  contrastirender  Sprach- 


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512 


Der  Idiotismus. 


Störung.  Sonst  fehlen  Coordinations-  und  motorische  Anomalieen.  Da- 
gegen kühle  Haut  und  Zwergwuchs  vorhanden.  Die  Gruppe  der  äusserst 
gemUthlichen  komischen  „Dollpatsche"  gehört  hierher. 

3.  Normale  Schädelformen.  Hierher  gehören  die  „progenaeen" 
Schädel  L.  Meyer's,  und  die  individuellen  Wachsthums- Anomalieen 
durch  vorzeitige  Synostosen.  Dabei  ist  nicht  selten  der  Gesichts« 
ausdruck  mehr  oder  minder  intelligent.  Die  anatomischen  Spielarten 
sind,  ausserordentlich  zahlreich. 

Viereckige,  im  Längsdurchmesser  verkürzte  Schädel;  Hinterhaupt 
wie  ein  Wulst  hervorgedrängt,  so  dass  man  es  mit  der  hohlen  Hand  so 
einschliessen  kann,  als  ob  man  das  blossgelegte  kleine  Gehirn  nmfasste 
(Synostose  der  Lambdanaht);  starke  Orthognathie.  Ferner  die  Schädel- 
Skoliosen,  die  Verschiebungen  und  Verbiegungen,  einseitigen  Abflachun- 
gen  u.  s.  w.  An  den  letztern  Anomalieen  nehmen  auch  viele  Originär- 
Verrückte  Theil.  —  Von  den  Idioten  zeigt  übrigens  ein  sehr  grosser  Theil 
(namentlich  die  mittlem  und  leichtern  Schwachsinnsformen)  keine  erheb- 
lichen Abweichungen  im  Schädelbau. 


Tabellarische  Znsammenstellung  der  Insassen  von  Stetten  nach 

den  Schädelformen: 


l'-luilsinn 

lLoirtiu-r.nl.  Solivudi- 

Mittl.  u  leictiter 
Scliwaclisinu 

M.  W. 

M.  W. 

;in..r-L't. 
M.  W. 

cri't  Ii. 
M.  W. 

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M.    \V.     M.  W. 

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127 

In  der  pathologischen  Anatomie  beschränke  ich  mich  auf 
einige  neue,  bis  jetzt  nicht  publicirte  Heiträge,  welche  ich  der 
Freundlichkeit  Wildermuth's  in  Stetten  verdanke. 


1)  Multiple  tuberöse  Sklerose  der  Hirnrinde  (cf.  Brück- 
ner, Bourneville).  M.  A.  IG  Jahre,  rechtzeitig  geboren,  körperlich 
normal  sich  entwickelnd;  im  Beginn  der  psych.  Entwicklung  durch  ein 
unruhig  aufgeregtes  Wesen  neben  intellect.  Schwäche  auffallend.  Schul- 
besuch nicht  ganz  ohne  Erfolg.  Vom  3.  Lebensjahre  epileptoide  Zufälle, 


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Patholog.  Anatomie.  —  Multiple  tuberöse  Sklerose  der  Hirnrinde.  513 


zunächst  in  Form  von  Zuckungen  in  den  Extremitäten  mit  leichter  Be- 
wusstaeinsstörung ;  nach  und  nach  ausgesprochene  Insulte,  welche  in 
Gruppen  von  2—3  Attacken  sich  alle  paar  Wochen  wiederholen.  1  SS  t 
gute  Ernährung,  rechtsseitige  Gesichtsatrophie,  plumpe  weit  abstehende 
Ohrmuscheln,  flacher  Gaumen,  kein  Strabismus,  keine  Parese,  keine 
Sensibilitätsstörung.  Gehör  linkerseits  vermindert.  Sprache  langsam,  häsi- 
tirend,  nicht  stotternd.  Gehen  normal;  Stehen  bei  geschlossenen  Augen 
unsicher.  Psychisch:  massiger  Schwachsinn  mit  langsamer Appercep- 
tion.  —  Vor  den  epileptischen  Anfällen  hochgradige  zornmUthige  Reiz- 
barkeit mit  Neigung  die  Umgebung  zu  insultiren  (auf  Grund  illusorischer 
Umdeutungen).  Nach  den  Anfällen  grosse  Euphorie,  „Heiterkeit  ohne 
inneres  Behagen".  Anfälle  kommen  nur  Nachts,  ohne  Aura,  beginnen 
mit  Schrei;  allgemeine,  rechts  stärkere  Convulsionen ;  auf  der  Höhe  der- 
selben starke  Gesichtsinjection.  Nachher  Schlafsucht.  Amnesie.  Im  Jahre 
1880:  59  Anfälle;  1881:  65;  1882:  72.  Vom  26.  Jan.  1883  gehäufte 
Anfälle  mit  starker  Temperatursteigerung,  Schlinglähmung,  Sopor,  Tod. 
Autopsie:  Schädel  blutreich,  Nähte  erhalten.  Starke  Injection  der 
Häute,  letztere  schwer  abziehbar.  Ueber  dem  linken  Hinterhauptslappen 
und  dem  rechten  oberen  Scheitellappen  ein  flächenhafter  Bluterguss.  G  e  - 
hirn:  Gewicht  1390.  Bei  vorsichtiger  Betastung  der  Hemisphären  stösst 
man  an  verschiedenen  Stellen  auf  knorpelharte  Indurationen,  ohne  dass 
die  Form  der  Windungen  verändert  wäre.    Nur  am  Fuss  der  rechten 

1.  Frontalwindung  findet  sich  eine  prominirende  Partie;  hier  auch  Adhä- 
sion der  Pia.  —  Windungsconfiguration  normal,  nur  vielfache  secundäre 
Furchung.  —  Auch  die  indurirten  Stellen  sind  von  dem  übrigen  Con- 
tinuum  durch  secundäre  Furchung  abgetrennt;  auf  ihrer  Höhe  zeigen  die- 
selben eine  seichte  s.  z.  s.  nabeiförmige  Einziehung.  Ausserdem  ist  die 
Oberfläche  meist  glatt,  glasurartig.  —  Die  Leptomeningen,  mit  Ausnahme 
der  erwähnten  Stelle,  leicht  abziehbar.  —  Linke  Hemisphäre:  hin- 
tere Cent.-W.  verschmälert;  fiss.  centr.  geradlinig,  einmal  scharf  recht- 
winklig sich  biegend.  Windungen  normal.  Frontallappen:  im  vordem 
und  hintern  Drittel  der  1.  Front.-Wdg.  je  1  sklerosirte  Stelle.  Die 

2.  Front.-Wdg.  in  eine  Reihe  hinter  einanderliegender,  harter,  durch  Ein- 
schnürungen getrennter  Knoten  verwandelt;  Fuss  der  3.  Front- Wdg. 
nicht  hart,  aber  derb  elastisch.  Ausserdem  Sklerosirung  an  einem  mittlem 
Windungszug  der  medialen  Partie  des  Stirnhirns,  am  untern  Scheitel- 
läppchen und  im  Lob.  praecentr.  Rechte  Hemisphäre:  Central  Win- 
dungen breiter  als  links;  Fiss.  interpariet.  mündet  direct  in  die  Foss.  Sylv. 

—  Sklerosirte  Stellen  finden  sich:  1.  in  der  Mitte  und  dem  medialen 
Ende  der  hintern  Central-Wdg. ;  2.  im  mittlem  Drittel  der  l.  Front.-Wdg.; 

3.  am  basalen  Ende  der  3.  Front. -Wdg. ;  4.  in  der  medianen  Partie  des 
oberen  Scheitelläppchens;  5.  am  vordem  Ende  der  3.  Temp.-Wdg.;  6. 
am  Anfang  der  1.  und  2.  Occip.-Wdg. 

Consistenz  des  Gehirns,  namentlich  im  Stabkranz,  fester  als  normal. 
In  der  Umgebung  der  sklerosirten  Stellen  leichte  gelbliche  Verfärbung. 

—  Die  Sklerosirung  entspricht  wesentlich  der  grauen  Substanz,  ist 
auf  dem  Durchschnitt  glänzend  weiss,  derb ,  zeigt  an  einzelnen  Stellen 
deutliche  Faserung,  und  ist  gegen  die  Markmasse  durch  eine  schmale 
gelbbräunliche  Leiste  abgegrenzt.  An  einzelnen  Stellen  erstreckt  sich  die 

Schal«,  Geisteskrukhoiten.  3.  Aufl.  33 


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514 


Der  Idiotismus. 


Sklerosirung  nur  auf  die  tiefem  Rindenpartieen ,  während  peripher  ein 
grauer  Saum  erhalten  bleibt.  —  Im  Marklager  der  rechten  Hemisphäre 
zerstreute  punktförmige  Suggillationen.  —  Mittelhirn,  Zwischenbirn,  Klein- 
hirn, Medulla  ohne  Sklerosirungen;  das  Gewebe  erscheint  hier  normal. 

2.  M  i  k  r oce p  hali e.  Asymmetrie  der  H  emisphären.  Ano- 
malie der  Windungen,  schwache  Entwicklung  des  Balkens 

Fig.  I. 


(vgl.  Fig.  1  und  2i.  A.  I).  4  Jahre  alt,  8  Monat-Kind,  Anfangs  mit 
Eselsmilch  und  Cognak  ernährt ,  später  mit  Ammenmilch.  Anscheinend 


Fig.  2. 


normale  psychische  Entfaltung;  im  Lebensmouat  eclampt.  Convulsionen 
(Erblassen,  tunische  Krämpfe  in  Armen  und  Beinen),  welche  später  als 


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Pathol.  Anatomie.   Asymmetrie  der  Hemisph.    Anomalie  der  Windungen.  515 

eigenthtimliche  Streckbewegungen  (auf  Berührungen)  wiederkehren.  Dürf- 
tiges elendes  Aussehen.  Völlig  hilflos;  kann  nicht  stehen  und  sitzen; 
keine  Spur  eines  psychischen  Lebens.  Klägliches  Aechzen  ohne  deutliche 
Unterschiede  für  Lust  oder  Unlust.  Bei  jeder  Berührung  eines  Körper- 
theils  opisthotonische  Streckkrämpfe,  links  mehr  als  rechts;  mit  Sistirung 
der  Respiration  und  Cyanose.  Tod  an  katarrh.  Pneumonie.  Autopsie; 
Schädelumfang  horiz.  40  cm.;  Längsumfang  27;  Ohrscheitellinie  27  cm.; 
linke  Hälfte  schwächer  gewölbt;  Nähte  mit  Ausnahme  der  Stirnnaht  er- 
halten; dünne  Knochen,  theilweise  transparent.  —  Dura  mater  nicht 
verwachsen.  —  Leptomeningen  stellenweise  ödematös,  getrübt  und  da 
und  dort  mit  Rinde  verwachsen.  Gehirn:  Gewicht  625.  Rechte 
Hemisphäre  (Fig.  2):  Centraiwindung  weit  nach  rückwärts  liegend 
(6,9  cm.  von  Spitze  des  Stirnlappens,  resp.  5,7  von  der  Spitze  des  Hin- 
terhauptlappens); geht  gabiig  getheilt  direct  in  die  Foss.  Sylv.  über. 

—  I.  Fiss.  temp.  reicht  nur  bis  an  die  Grenze  vom  hintern  und  mittlem 
Drittel  des  Schläfelappens;  I.  Temp.-Wdg.  kammförmig  verschmälert. 
Im  Uebrigen  zeigt  die  Windungsanlage  keine  erheblichen  Abweichungen. 

—  Linke  Hemisphäre  (Fig.  1):  Centraifurche  tief  eingeschnitten, 
ziemlich  senkrecht,  oben  gabiig  sich  theilend,  mündet  direct  in  die  Foss. 
Sylv.  —  Stirnlappen:  Anordnung  der  Windungen  ziemlich  genau  wie  rechts, 
nur  zeigt  sich  der  Fuss  der  III.  Windung  kammartig  verschmälert,  tief- 
liegend, d.  h.  von  benachbarten  Windungszügen  Uberragt;  der  vordere 
Theil  stellt  eine  plumpe,  vorn  durch  einen  Querschnitt  scharf  abgesonderte 
Masse  dar  ('s.  Abbildg.).  —  Schläfelappen  ganz  atypisch :  die  Parallel- 
spalte mündet  in  die  Fosaa  Sylv.  aus;  die  Basis  des  Lappens  nach 
hinten  ist  durch  eine  tiefe,  von  der  Einmündung  der  Rolando'schen 
Furche  aus  nach  hinten  und  unten  verlaufende  Spalte  vom  Hinterlappen 
getrennt. 

Die  GrössendifTerenz  beider  Hemisphären  ist  auch  in  den  grossen 
Ganglien,  namentlich  im  Thalamus,  sichtbar  (1.  kleiner  als  r.J;  ebenso 
in  der  Pyramide. 

Der  Balken  stellt  eine  Uberaus  dünne,  hautartige,  auf  dem  sagittalen 
Durchschnitt  nur  schwach  inarkirte  Masse  dar.  Commiss.  med.  auf- 
fallend breit  und  dünn.  —  Ammonshorn  verkümmert.  —  Ventrikel  mässig 
erweitert;  Ependym  verdickt.  —  Tract.  opt.  dext.  und  n.  opt.  sin.  plat- 
ter und  schmäler  als  der  der  andern  Seite.  —  Corticalis  leicht  bläu- 
lich transparent.  In  der  Markmasse  der  Windungen  strangartig  weisse  Par- 
tieen  neben  der  gelblich  gefärbten,  etwas  transparenten,  Umgebung. 

3.  Schwachsinn  leichteren  Grades.  Epilepsie.  Hydro- 
ceph.  cong.  Atypie  der  Windungen,  speciell  der  Centrai- 
furche (vgl.  Fig.  3).  W.,  10  Jahr  alt,  Zangengeburt,  von  jeher  grosser 
Kopf;  Gehen  erst  später  erlernt,  langsame  psychische  Entwicklung;  vom 
5.  Jahr  epileptisch.  Sehr  erregbar;  Schulbesuch  nicht  ohne  Erfolg.  Keine 
schwereren  motorischen  oder  sensiblen  Störungen.  Keine  coordin.  Sprach- 
störung.   Stirbt  nach  der  Aufnahme  an  Scarlatina. 

Autopsie:  Exquisit  hydrocephalischcr  Typus  (horiz.  Umfg.  57; 
Längsumfang  37;  grösste  Breite  16;  Längsdurchmesser  19;  Are.  supra- 
orb.  —  Protub.  oeeip.  r.  IS;  1.  18,5;  Distanz  der  Stirnhöcker  4,0;  der 

33* 


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516 


Der  Idiotismus. 


Proc.  zygom.  lü;  des  Meat.  aud.  ext.  12,5;  Breite  des  Sept.  orb.  2,5; 
Gesichtslänge  1 1,2;  Gesichtshöhe  S;  Gesichtsbreite  6;  Schädeldach  gleich- 
massig  verdünnt;  Nähte,  ausgenommen  Stirnnaht,  erhalten;  Dura  mater 
normal,  nicht  verwachsen.  Leptomcningen  verdickt,  getrübt,  theilweise 
adhärent,  sehr  injicirt.  Im  Arachnoid.-Raum,  namentlich  der  Basis,  viel 
Serum.  Ueber  der  1.  Kleinhirnhemispbäre  findet  sich  eine  von  den 
weichen  Häuten  umschlossene  cystenartige  Bildung,  welche  mit  dem 
Subarach.-Raum  nicht  commnunicirt,  und  zu  einer  Compression  der  1. 
Kleinhirnhemisphäre  geführt  hat.  — 


Fig.  3. 


Gehirn:  Gewicht  1550;  Windungen  abgeplattet,  breit  und  plump. 
—  Rechte  Hemisphäre:  Centraifurche  nicht  sehr  tief.  Dieselbe 
mündet  oben  nicht  in  die  Me dianapalte,  sondern  kerbt  nur  den 
untern  Rand  der  I.  Front. -Windung  ein,  so  dass  diese  mit  dem  Scheitel- 
läppchen continuirlich  zusammenhängt.  Die  Centraifurche  scheint  direct 
in  die  Foss.  Sylv.  überzugehen,  jedoch  zeigt  sich  in  der  Tiefe  noch  einen 


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Patholog.  Anatomie.   Atypie  der  Windungen  (Centralspalte).  517 


Abschluss  durch  einen  schmalen  Windnngsbogen.  Interparietalspalte  ist 
tiefer  als  die  Rolando'sche  Furche. 

Linke  Hemisphäre:  etwas  kleiner  als  rechte.  Centraifurche 
reicht  hier  nur  bis  in  die  Mitte  der  II.  Front.- Windung,  so  dass  diese  und 
die  erste  sich  in  den  Scheitellappen  fortsetzen  (Rückkehr  zum  hori- 
zont.  Furchungstypus?).  Nach  unten  geht  sie  in  die  Foss.  Sylv.  Uber. 
Fiss.  interpar.  sehr  tief  und  gut  entwickelt.  —  L.  Ammonshorn  abgeplattet. 
Ventrikel  sehr  erweitert,  enthalten  circa  1 50  grm.  helles  Serum.  Ependym 
stark  verdickt.  Commiss.  med.  bildet  einen  weissen,  runden  Strang,  un- 
gefähr von  der  Dicke  des  Oculomotorius.  —  Grosshirnganglien,  beson- 
ders der  Thalamus,  links  breiter  als  rechts ;  ebenso  Pyramide.  —  Link, 
hint.  Vierhügel  kleiner  als  rechts.  —  In  Medulla  und  Kleinhirn  ausser 
der  oben  beschriebenen  Compression  nichts  Abnormes.  — 

Betreffs  der  Veränderungen  am  Schädel  ist  die  Beobachtung  von 
Interesse,  dass  bei  Idioten  sehr  selten  Fälle  vorkommen,  in  welchen 
die  pathologische  Hirnveränderung  als  Folge  prämaturer  Nahtsynostosen 
anzusehen  wäre  (Wildermuth).  —  Complete  Obliteration  der  Nähte  fand 
sich  nur  bei  einem  9jährigen  epileptischen  Knaben  mit  erethischem  Schwach- 
sinn höheren  Grades.  —  Bei  einem  makrocephalen  Schädel  (49  cm.  Um- 
fang) waren  sämmtliche  Nähte,  auch  die  Stirnnaht,  erhalten  (Cystenbil- 
dung  im  rechten  Hinterhaupt-Scheitellappen). 

Der  Schwund  des  Gehirns  (aus  irgend  welcher  Ursache)  wird  aus- 
geglichen 1.  durch  gleichmässige  Verdickung  der  Schädelknochen,  meist 
verbunden  mit  Sklerosirung ;  2.  durch  Ausdehnung  (oft  bis  zu  einem 
enormen  Grad)  der  lufthaltigen  Nebenräume  der  Nase  und  des  Mittel- 
ohrs. Diese  beiden  erwähnten  Compensationen  allgemeiner  oder  partieller 
Hirnatrophieen  scheinen  häufiger  vorzukommen,  als  die  durch  entsprechen- 
den Ausgleich  mit  Liquor. 


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REGISTER. 


Abdomen  beim  Delirium  acutum  me- 
lancholicum  333. 

Ableitungen  beim  Delirium  acutum 
340.  —  bei  Epileptischen  26S.  269. 

Abmagerung  beim  Delirium  acutum 
paralyticum  336.  —  bei  Dementia  se- 
nilis (schwerer  Form)  392.  —  bei 
pacchymeniogitischen  Zufällen  385. 

—  bei  der  psychischen  Meningo- 
Periencepbalitis  chron.  380. 

Abscesse  bei  Delirium  acutum  melan- 
chol.  334. 

Absenzen  im  epileptischen  Irresein 
263. 

Abstumpfung,  allgemein  gei- 
stige, als  Form  d.  torpiden  Schwach- 
sinns 116. 

Abulie  beim  circularen  Irresein  309. 

—  bei  Dementia  (attonischer  Form) 
214.  —  bei  Melancholie  (periodischer 
Form)  298.  — ,  seelische,  bei  Melan- 
cholikern 29.  —  bei  Stupor  (halluci- 
natorischer  Form)  225.  226.  —  bei 
Verfolgungswahn  155.  —  bei  Wahn- 
sinn (chronisch-degencrativem  hysteri- 
schen) 249,  (dumonomanisch-halluci- 
natorischem)  179,  (hypochondrischem) 
160,  (der  hystcrisch-katatoneu  Form) 
247. 

Abwehr-Reactionen  gegen  innere 
Traumvorgänge  beim  Delirium  acutum 
melancholicum  332. 

Aderlass,  Unterlassung  dess.  in  der 
Manie  SS. 

Aetherinjectionen  beim  Delirium 
acutum  paralyticum  340. 


Aetzungen  der  Clitoris  zur  Behand- 
lung der  Hysterie  253. 
Affe  et  starre  bei  Melanchia  attonita 

74. 

Agoraphobie  446. 
Agraphie  bei  Dementia  senilis  392. 
Agrypnie  bei  Verfolgungswahn  149. 
Albuminurie  bei  Delirium  tremens  417. 
Alexie  bei  schwerer  Dementia  senilis 
392. 

Alkoholepilepsie  424. 

Alkoholgenuss,  Verbot  dess.  bei 
Paralyse  376. 

Alkoholismus  401.  —  agitirter  413. 
— ,  chronischer  15.  410.  — ,  paralyti- 
iormer  417.  — ,  Therapie  dess.  425. 
— ,  Veranlass,  z.  Eifersuchtswahu  163, 
z.  Wahnsinn  (cerebrospinalem)  IS6. 

Alkoholparalyse  417. 

Alkoholpsychosen  401.  — ,  speci- 
tische  404. 

Allegorisirungcn,  damonomane,  bei 
Grössen  wann  165.  —  bei  Gehirnatro- 
phie 391.  —  in  der  Melancholie  36. 
55.  — ,  sensible,  bei  acutem  hypochon- 
drischem Wahnsinn  186. 

Alternirende  Psychosen  316.  — ,  al- 
ternirender  Typus  ders.  317.  — ,  Ver- 
lauf ders.  317. 

Amaurose  bei  primärer  Hirnatrophie 
389. 

Amnesie  beim  epileptischen  Irresein 
263.  — ,  hereditäre  463.  —  im  hystero- 
epileptischen  Anfall  241.  —  bei  patho- 
logischen Rauschzuständen  404.  — 
bei  d.  tran8itorischen  Seelcnstörungen 


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Register. 


519 


457.  —  beim  Wahnsinn  (peracutem 
manischen)  461.  [390. 

Analgesie  bei  primärer  Hirnatophie 

Anämie,  angeborne  429.  —  in  Bez.  z. 
attoniscben  Dementia  215.—,  Behand- 
lung ders.  bei  Hysterie  251;  bei  Me- 
lancholie 46.  —  beim  Delirium  acutum 
paralyticum  336.  —  in  Bez.  z.  hyste- 
rischen Katatonie  247.  —  bei  Idioten 
502.  —  bei  Mania  (typica)  112.  —  bei 
Melancholie  54.  298.  —  bei  primärer 
Gehirnatrophie  390.  — ,  Ursache  des 
Delirium  acutum  paralyticum  334.  — t 
Veranlassung  zu  intellectueller  u.  mo- 
ralischer Schwäche  496.  —  bei  Ver- 
folgungswahn 149.  —  bei  Wahnsinn 
174.  188.  191.  196. 

Anaesthesia  psychica  dolorosa>5. 

Anästhesie  bei  attonischer  Demen- 
tia 214.  215.  —  in  der  Ekstase  der 
HyBterie  242.  —  bei  Gehirnatrophie 
(primärer)  386.  390.  —  in  der  Manie 
Mi.  —  bei  Melancholie  37. 

Anarthrie  bei  Paralyse  348.  —  bei 
der  psychischen  Pacchyraeningitis  381. 

—  bei  psychischen  Rückenmarkser- 
krankungen 395. 

Angst  zustände  bei  den  alternirenden 
Psychosen  319.  —  beim  Blödsinn 
(apathischen)  129.  —  beim  Delirium 
acutum  melancholicum  331.  332.  — 

—  bei  der  Dementia  senilis  392.  — 
beim  epileptischen  Irresein  263.  — 
bei  Gehimatrophie  (primärer)  388.  — 
bei  Grössenwahn  166.  —  bei  Hypo- 
chondrie 285.  — ,  Localisirung  ders. 
bei  der  Melancholie  36.  —  bei  Me- 
lancholie 26.  36.  55.  298.  —  als  Par- 
ergon  des  Reflexactes  26.  —  bei  den 
periodischen  Mauieparoxysmen  290. 

—  bei  der  psychischen  Encephalitis 
syphilitica  397.  —  bei  der  psychischen 
Meningo-Periencephalitis  chron.  379. 

—  bei  Stupor  309.  —  bei  Trinker- 
wahnsinn (acutem)  407.  —  beim  Ver- 
folgungswahn 155.  —  bei  Wahnsinn 
(acutem  dämonomanen)  17 8,  (acutem 
melancholischem)  1S8.  189,  (halluciua- 
torischem)  176.  — ,  wichtiges  psychi- 


sches Symptom  der  Melancholie  26. 

—  als  Zwangsvorstellung  437. 
Anomalieen  der  Constitution  als  Ur- 
sache psychischer  Schwäche  115.  — 
in  der  Sphäre  der  Vorstellungen  29. 

Anstaltsbehandlung  bei  Blödsinn 
129.  —  bei  epileptischem  Irresein  286. 

—  bei  Hypochondrie  mit  Neigung  zu 
Selbstmord  286.  —  jugendlicher  Epi- 
leptiker 276.  —  bei  Manie  91.  —  bei 
Melancholie  47.  —  bei  Paralyse  378. 

—  bei  psychisch.  Schwächezuständen 
129.  —  bei  Wahnsinn  145.  193.  195. 

Antiphlogosc  beim  Delirium  acutum 
340. 

Apathie  bei  Blödsinn  123.  —  bei 
geistiger  Schwäche  119.  —  bei  Me- 
lancholie 25.  bei  Paralyse  359. 
362.  —  bei  der  psychischen  Pacchy- 
mengitis  3S4. 

Aphasie  bei  Hirnatrophie  389.  —  bei 
Paralyse  319.  354.  366.  —  bei  der 
psychischen  Pacchymeningitis  384.  385. 

Apoplektiforme  Anfälle  bei  Para- 
lyse 355.  362.  366.  —  bei  der  schwe- 
ren Dementia  senilis  391. 

ApopTexieeu  mit  nachfolgenden  Blöd- 
sinn- LähmuDgszuständen  393. 

Ap pe reeption,  allegorisireude ,  bei 
Wahnsinn  131.  —  der  Paralytiker  356. 

—  bei  Schwachsinn  116.  117,  (idioti- 
schem) 504.  —  Wahnsinn  131,  (acutem) 
180,  (acutem  melancholischem)  187, 
(hallucinatorischem)  175,  (secundärem) 
120. 

Appetit  bei  circulärer  Manie  87.  — 
bei  epileptischem  Irresein  258.  —  bei 
Melancholie  39 

Arbeitsscheu  jugendlicher  Epilep- 
tiker 273. 

Arzneimittel,  Einfluss  ders.  auf  die 
alternirenden  Psychosen  318. 

Association  beim  Blödsinn  122.  —  in 
der  Manie  S4. 

Asylpflege  bei  Blödsinn  283.  —  bei 
Epilepsie  26S.  —  bei  hypochondrisch. 
Irresein  286.  —  bei  Hysterie  254.  — 
bei  Melancholie 47.  —  bei  Paralyse 376. 

Asymbolie  bei  Paralitikern  356. 


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520 


Register. 


Ataxie  beim  Delirium  acutum  melan- 
cholicum  331.  332.  —  bei  Paralyse 
342.  350.  351.  —  bei  der  psychischen 
Meningo-Periencephalitis  chronica  379. 

Athetotische  Bewegungen  bei  Idiotie 
499.  —  bei  Melancholie  (chronischer) 
62.  —  bei  Paralyse  351. 

Atrophie  der  Hoden  bei  contrarer 
Sexualempfindung  449.  —  der  Pupil- 
len bei  primärer  Hirnatrophie  390. 

A  tropin  bei  epileptischem  Irresein  271. 

Attonitätsphase  bei  Melancholie  75. 

A  tt  onitäts  zu  st  ände  bei  chronischem 
Wahnsinn  145. 

Augen  bei  Delirium  acutum  manicale 
329.  330.  -  bei  Wahnsinn  179. 

Augenspiegelbefund  bei  Paralyti- 
kern 356. 

Aztekenköpfe  Idiotischer  510. 

Bäder  bei  Delirium  acutum  340,  tre- 
mens 425.  —  bei  Dementia  acuta 
(8tupid-hallucinatorischer)  232.  —  beim 
epileptischen  Irresein  269.  —  bei  Pa- 
ralyse 376.  377.  401.  —  in  der  Ma- 
nie 88.  —  bei  Melancholie  40.—  bei 
Stupor  231.  232.  —  bei  Wahnsinn 
(acutem  manischen)  194. 

Beeinträcbtigungswahn  bei  der 
masturbator.  Melancholie  70. 

Beklemmungen  in  der  Magengegend 
und  im  Schlünde  bei  der  Melancholie 
33.  56. 

BerOhrungsfurcht  bei  originärem 
Verrucktsein  477. 

Beschäftigung  bei  epileptischem  Irre- 
sein 269.  —  bei  hysterischem  Irresein 
sein  254.  —  der  Melancholiker  47.  — 
bei  Paralyse  376.  378.  —  bei  Stupor 
232.  233.  —  bei  Wahnsinn  (acutem 
manischen)  194.  [387. 

Betäubtheit  bei  primärer  Hirnatrophie 

Bettruhe  bei  Delirium  acutem  340. 
—  bei  Melancholie  41. 

Bettsucht  bei  Melancholie  298.  306. 

Bewegungsdrang  in  der  Mania  gra- 
tis 81. 

Bewusstheit,  Beziehung  ders.  zur 
Seelenstörung  3. 


Bewusstsein,  Ausflösung  der  Einheit 
dess.  6.  —  bei  Blödsinn  122,  (idiotisch.) 

498.  —  beim  circulären  Irresein  308. 

—  bei  Delirium  acutum  325.  326, 
maniacale  328,  melancholicum  332, 
paralyticum  334.  335,  tremens  414. 
417.  —  im  epileptischen  Irresein  25S. 
260.  262.  263.  — ,  Gradmesser  für  die 
Tiefe  einer  Cerebralaffection  9.  —  bei 
Gehirnatrophie  (primärer)  387.  —  bei 
Hysterie  234.  240.  242.  —  bei  Idiotie 

499.  —  bei  Katatonie  195.  198.  202. 
208.  210.  —  bei  Manie  76,  (hysteri- 
scher) 244,  (periodischer)  290.  293. 
296,  (schwerer)  107.  110.  —  bei  Me- 
lancholie 137,  (attonischer)  73,  (hy- 
pochondrischer) 65,  (hysterischer)  243, 
(periodischer)  298.  —  bei  Moria  106. 

—  bei  Paralyse  343.  360.  366.  —  bei 
der  psychischen  Meningo-Periencepha- 
litis chronic.  379.  —  bei  Schwachsinn 
(reizbarem)  117.  118.  —  bei  Stupor 
(circulärem)  309.  310,  (hallucinatori- 
schem)  225,  (postmanischem)  219.  — 
bei  Trinkerwahnsinn  (acutem)  406.  — 
bei  Wahnsinn  120.  132.  133.  134.  135. 
137.  176.  182.  183.  188.  192.  197.249. 
305.  —  bei  der  Zorn-Manie  102. 

Bier  bei  Behandlung  der  Paralyse  378. 

Blödsinn  122.  -,  apathischer  108. 
127.  180.  190.  224.  230.  250.  —  nach 
Apoplexieen  393.  —  nach  Delirium 
acutum  330,  (maniacale)  326.  — ,  epi- 
leptischer 262.  264.  267.  —  bei  Ge- 
hirnatrophie 389.  — ,  hypochondri- 
scher 283.  — ,  idiotischer  498.  — ,  in- 
tellectueller,  bei  Moral  Insanity  495. 
— ,katatoner207.  —.klinisches  Krank- 
heitsbild dess.  122.  126.  —  bei  Me- 
lancholie (masturbatorischer)  72.  — 
in  Bez.  z.  Moria  105.  —  bei  Para- 
lyse 342.  347.  —  nach  Paralyse  362. 
365.  — ,  primärer  95.  212.  —  bei  psy- 
chischen Cerebralleiden  15.  394.  — 
durch  psychische  Meningo-Perience- 
phalitis ebron.  380.  —  als  psychischer 
Schwächezustand  7.  — ,  Therapie 
dess.  129.  —  transitorischer  228.  — , 
Verlauf  dess.  129.  -  ,  versatiler  122.126. 


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Register. 


521 


Blutbeschaffenheit,  Verbesserung 
ders.  beim  hallucinatorischen  Stupor 
227.  —  bei  der  Hysterie  251. 

Blutentziehungen  beim  Delirium 
acutum  340.  —  beim  epileptischen 
Irresein  269.  —  bei  Paralyse  376.  — 
bei  der  stupid-hallucinatorlschen  De- 
mentia acuta  232. 

Blutextravasate  bei  der  chronischen 
Melancholie  63.  —  in  die  Muskeln 
bei  Paralyse  358. 

Brandstiftungstrieb  bei  chroni- 
schem Alkoholismus  413.  — ,  heredi- 
tärer 443. 

Brech  weinsteinsalbe  bei  stupid- 
hallncinatorischer  Dementia  acuta  232. 

Bromkali  zur  Behandig.  des  hysteri- 
schen Irreseins  253.  254,  der  Manie 
89,  der  Melancholie  42.  44. 

Brom praparate  zur  Bebandlg.  des 
epileptischen  Irreseins  270. 

Bronchialkatarrh  beim  Delirium 
acutum  paralyticum  336.  —  beim  De- 
lirium tremens  416. 

Brustkrankheiten  bei  attonischer 
Melancholie  75. 

Bulbäre  Erscheinungen  bei  Idiotie 
510. 


Calabarinlösungen  zur  örtlichen 
Behandlung  der  Hysterie  253. 

Carbolwasser  zur  örtlichen  Behand- 
lung der  Hysterie  253. 

Caries  der  Knochen  bei  Paralyse  358. 

Carotidencompression  zur  Coupi- 
rung  eines  epileptischen  Anfalls  269. 

Castration  zur  Behandlung  der  Hys- 
terie 253. 

Centrainervensystem,  Beziehung 
dess.  zur  Seelenstörung  im  Allge- 
meinen 2.  4. 

Cerebralinnervation,  Bez.  ders.  z. 
den  Leistungen  der  Sinnesfunctionen 
in  der  Melancholie  33. 

Cerebraileiden,  psychische  19.  — 
durch  Encephalitis  syphilitica  396. 
—  unter  der  klinischen  Form  des  pro- 
gressiven Blödsinns  mit  Lähmungen, 


bedingt  durch  Neubildungen  im  Ge- 
hirn 394.  —  der  Hereditarier  457. 

Cerebropsychosen  17.  378. 

Charakter,  alkoholischer  412.  — ,  epi- 
leptischer 264. 

Charakteranlage,  Bez.  ders.  zur 
periodischen  Manie  288. 

Charaktero  lo  gis  che  Reife  bei 
männlichen  Hereditariern  455. 

Chinin  bei  Melancholie  46.  —  bei  Para- 
lyse 377. 

Chi  oral  im  Delirium  tremens  425.  — 
beim  epileptischen  Irresein  269.  —  bei 
Melancholie  41.  —  bei  Paralyse  376. 

Chlorose,  Behandig.  ders.  bei  Hyste- 
rischen 251. 

Chorea,  Beziehung  ders.  z.  periodi- 
schen Manie  292.  —  Coraplicat.  der 
Epilepsie  in  der  Jugend  272.  —  bei 
originärem  Verrücktsem  477. 

Choreaartige  Bewegungen  beider 
circulären  Form  des  Stupor  310.  — 
bei  Idiotie  499.  510. 

Circuläre  Geistesstörungen  299. 
—  Entwicklung  ders.  300.  — ,  zeit- 
liche Gruppirung  der  Intervalle  und 
Paroxysmen  ders.  314. 

Circuläres  Irresein  301.  — ,  De- 
pressionsphase dess.  301.  — ,  Exalta- 
tionsphase dess.  301.  — ,  freies  Inter- 
vall dess.  301.  — ,  Symptome  dess. 
302.  — ,  Verlauf  dess.  308. 

CirculationsBtörungen  in  der  Ka- 
tatonie 197.  —  im  Wahnsinn  (chro- 
nischen) 146. 

Collaps  im  Delirium  acutum  mania- 
cale  329.  330.  —  bei  psychischer 
Meningo-Periencephalitis  chron.  380. 

Conjunctiva  im  Delirium  acutum 
328.  332. 

Constitution,  geschwächte  nervöse, 
bei  cerebralen  Schädlichkeiten  10. 
— ,  neuropathische ,  Bez.  ders.  zur 
hypochondrischen  Melancholie  63.  — , 
Störungen  ders.  bei  Manie  112. 

Contracturen  bei  Idiotie  499.  —  bei 
Paralyse  351. 

Contusionen  im  Delirium  acutum 
maniacale  328. 


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522 


Register. 


Convulsioneu  im  Delirium  acutum 
325.  326.  330.  — ,  epileptische,  bei 
der  schweren  Dementia  senilis  391. 

—  in  den  ersten  Lebensjahren,  Bez. 
ders.  zum  epileptischen  Irresein  256. 

—  in  der  Hysterie  234.  —  in  der  Manie 
79.  —  bei  Melancholie  56.  —  bei  Para- 
lyse 353.  354.  363.  366.  —  bei  der 
psychischen  Meningo-  Periencephalitis 
chronic.  380. 

Coordinationsß töruugen  bei  Idio- 
tie 499.  503.  509.  —  bei  Paralyse  350. 

Cretinismus,  Complic.  der  Idiotie  511. 

Cyanose  beim  Blödsinn  126.  —  im 
Delirium  acutum  maniacale  329.  — 
der  Extremitäten  bei  Melancholia 
attonita  75. 

Dämmerzustand,  geistiger,  im 
Delirium  acutum  327.  332.  334.  —  bei 
Dementia  acuta  22o.  222.  —  bei  er- 
schöpfenden Geburten  229.  —  bei  epi- 
leptischem Irresein  262.  —  beim  hy- 
sterischen Irresein  242.  247.  248.  250. 

—  jugendlicher  Epileptiker  275.  —  in 
der  Manie  104.  108.  111.  —  bei  men- 
strualen  Psychosen  322.  —  bei  psy- 
chischer Pacchymeningitis  384.  —  bei 
Stupor  226.  257.  309.  310.  —  im 
Wahnsinn  (attonischen)  200.  202.  209, 
(secundärcu)  120. 

Dämonomanie  102.  — ,  Bez.  ders.  z. 
Delirium  acutum  auergeticum  334. 

Dämono  raelanchol  ie  32. 

Decubitus  bei  Paralyse  35S.  363.  — 
im  Delirium  acutum  (maniacale)  329, 
(melancholic.)  33-1,  (paralytic.)  336. 

Defecte,  psychische  497.  —  bei 
Encephalitis  syphilitica  397.  —  bei 
Wahnsinn  131. 

Degeneration,  Complic.  der  Idiotie 
510.  —  der  Hintcrsträngc  bei  psychi- 
schen Hückenmarkserkrankungen  394. 

—  bei  Verfolgungswahn  159. 
Delirien  bei  Furor  100.  102.  —  bei 

Gehirnatrophie  (primärer)  390.  — , 
halluciuatorische,  jugendlicher  Epi- 
leptiker 275.  —  bei  Mania  gravis  93. 


1 10.  —  bei  Paralyse  366.  —  bei  psy- 
chischen Rauschzuständen  41)5.  —  bei 
Trinkerwahnsinn  (acutem)  456.  —  bei 
Verfolgungswahn  149.  —  bei  Wahn- 
sinn (acutem)  178. 
Delirium  acutum  16.  325.  — ,  Äti- 
ologie dess.  325.  —  anergeticum  8. 
paralyticum  334,  (Symptome  dess.) 
334,  (Verlauf  dess.)  335.  — ,  Behand- 
lung dess.  340.  —  bei  Encephalitis 
syphilitica  398.  — ,  hallucinatorisches, 
beim  epilepischeu  Irresein  262.  — , 
hysterisches  210.  — ,  Inanitionsformen 
dess.  334.  — ,  irritative  Formen  dess. 
326.  —  maniacale  84.  110.  326,  (Sym- 
ptome dess.)  326.  330,  (Verlauf  dess.) 

329.  —  melancholicum  s.  stupurosum 

330,  (Symptome  dess.)  331,  (Unter- 
scheidung dieses  vom  D.  ac.  mania- 
cale) 331,  (Verlauf  dess.)  333.  — ,  mi- 
kroskopischer Befund  des  Gehirns 
bei  dems.  338.  —  bei  Paralyse  363. 
— ,  pathologischer  Gehirnbefund  bei 
dems.  336.  — ,  postepileptisches  ängst- 
liches 258.  —  bei  der  psychischen 
Meningo -Periencephalitis  chron.  380. 

—  tremens  413.  —  bei  Alkohol- 
epilepsie 424.  425.  — ,  Dauer  dess.  410. 

—  fieberhaftes  417.  — ,  Krankheits- 
bild dess.  413.  — ,  Prognose  dess.  417. 
— ,  Therapie  dess.  425. 

Dementia,  acute  primäre  211.  — ,  atto- 
nische  214.  — ,  Behandlung  ders.  231. 
232.  —  nach  circulärem  Irresein  308. 
— ,  chronische  (Verlauf  ders.)  218.  — , 
degenerativ-hysterische  250.  — ,  epi- 
leptische 267.  —  beim  hypochondri- 
schen Wahnsinn  161.  — ,  katatone 
211.  — ,  Krankheitsbild  ders.  212.  — 
als  Psychose  des  invaliden  Gehirns  12. 
— ,  senile,  schwere  391.  — ,  stupid- 
hallucinatorische  220.  — ,  ohne  Stupor 
228.  — ,  stuporöse  177.  214.  — ,  tabi- 
sche  395.  —  bei  Trinkerwahnsinn 
(acutem)  409.  — ,  Verlauf  ders.  216. 
223. 

Dcnkthätigkeit  des  Blödsinnigen  122. 
Depressionszustände  im  circulären 
Irresein  307.  —  bei  Delirium  acutum 


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Register. 


523 


331,  (anergeticum)  334.  —  bei  Me- 
lancholie (circulärer)  306,  (periodischer 
298.  —  bei  den  menstrualen  Psychosen 
322.  —  bei  Paralyse  364.  —  als  Typen 
geistiger  Schwäche  119. 

Derivantien  bei  Paralyse  376. 

Deviation  des  Kopfes  bei  pacehyme- 
ningitischen  Zufällen  365. 

Diät  bei  Blödsinn  (apathischem  secun- 
därem)  130.  —  bei  Delirium  acutum 
340.  —  bei  epileptischen  Irresein.  209. 

—  bei  hysterischen  Irresein  251.  — 
bei  Manie  68.  90.  —  bei  Melancho- 
lie 41.  45.  47.  —  bei  der  neurasthe- 
nischen  Form  der  Hypochondrie  286. 

—  bei  Paralyse  376.  377.  37S.  — , 
roborirende,  bei  der  hallucinatorisch- 
stupiden  Form  der  primären  Dementia 
232.  —  beim  Wahnsinn  (manischen) 
194. 

Diarrhöen  im  Delirium  acutum  (ma- 
niacale)  329,  (melancholicum)  334, 
(paralyticum)  336.  —  bei  Mania  gra- 
vis 67.  —  bei  der  psychischen  Meningo- 
Periencephalitis  chron.  3S0. 

Dipsomanie,  Heredität  ders.  444.  — 
menstrualis  periodica  322. 

Dissimulation  bei  Eifersuchtswahn 
162.  —  bei  Verfolgungswahn  153. 

Dolores  osteocopi  bei  Encephali- 
tis syphilitica  398. 

Dura  mater,  Veränderungen  ders.  bei 
Paralyse  369. 

Durstgefühl  nach  einem  postepilep- 
tischen Delirium  259. 

Dysästhesieen  bei  Melancholie  31. 

Echolalie  bei  Blödsinn  123.  —  bei 
Katatonie  (hysterischer)  209. 

Egoismus  der  Epileptiker  264.  —  der 
Hypochondrischen  279.  —  derllysteri- 
schen  235.  246.  —  der  Idioten  504. 

—  bei  reizbarem  Schwachsinn  117. 
Eifersuchtswahn  bei  Frauen  162. 

—  bei  Männern  163.  — ,  temporärer 
162. 

Einbildung  des  Wahns  173. 
Einfallswahnsinn  152. 


Eis  bei  Congestionen  Epileptischer  268. 

—  im  Delirium  acutum  340.  —  in 
der  Manie  8S.  89.  —  bei  Paralyse  376. 

—  bei  den  Raptusanfällen  Hysterischer 
254.  —  bei  vasomotorisch.  Störungen 
im  Wahnsinn  194. 

Eisenpräparate  bei  Hysterie  251 .  — 

bei  Melancholie  46. 
Ekelempfindung  der  Melancholiker 

34. 

Ekstasen   bei  hallucinatorischem 

Wahnsinn  176.  —  der  Hysterie  242. 

Elektricität  bei  Hysterie 251.  253.  — 
bei  katatonem  Blödsinn  195.  —  bei 
Melancholie  44.  48.  254.  —  bei  Para- 
lyse 377.  401. 

Encephalitis  mit  Geistesstörung 
379.  — ,  atheromatöse  bei  Gehirnatro- 
phie 391.  — ,  mit  Capillarektasieen 
394.  — ,  complic.  mit  Rtickenmarkser- 
krankungen  394.  - ,  Diagnose  ders.  394. 
— ,  diffuse  15.  —  durch  Neubildungen 
15.  394.  — ,  sklerosirende  15.  393. 
— ,  specitische  400.  — ,  suhacute  379. 
— ,  syphilitische  15.  396.  —  s.  auch 
Meningo-Periencephalitis  chronic. 

Ependyraitis,  chronische,  bei  pri- 
märer Hirnatrophie  3hb. 

Epilepsie  12.  — ,  alkoholistische 424. 
— ,  Bez.  ders.  z.  Paralyse  (hallucina- 
torischer)  360.  361.  — ,  Complic.  der 
Idiotie  509.  515. 

Epileptiforme  Anfälle  in  der  Jugend 
275.  276.  —  bei  Paralyse  362.  — 
Zuckungen  bei  psychisch. Meningo- 
Periencephalitis  chronic.  380. 

Epileptischer  Charakter  204. 

Epileptisches  Irresein  Erwachse- 
ner 255.  — ,  alternirender  Typus  dess. 
317.  — ,  Auftreten  (zeitliches)  dess. 

256.  257.  — ,  Behandlung  dess.  26s. 
— ,  Beziehung  dess.  zu  den  epilepti- 
schen Krampfanfällen  255.  201.  — , 
Entstehung  und  weitere  Entwicklung 
dess.  256.  — ,  Erscheinungsformen 
dess.  262.  — ,  forense  Beziehung  dess. 
266.  — ,  pathologische  Anatomie  bei 
dems.  207.  — ,  postepileptisches  255. 

257.  — ,  Symptomatologie  dess.  257. 


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521 


Register. 


— ,  Varietäten  des  postepileptischen 
259.  —  in  der  Jugend  271.  — , 
acute  psychische  Störungen  bei  dems. 
274.  — ,  Beziehung  des  jugendlichen 
zu  den  epileptischen  Insulten  274.  — , 
Charakteränderung  beiden».  272.  273. 

—  Häufigkeit  der  Anfälle  dess.  272, 
— ,  prä-  und  postepileptisches  275.  — , 
Therapie  dess.  276.  — ,  Unterscheidung 
dess.  von  der  typischen  Epilepsie  373. 

Erblichkeit,  s.  Heredität. 

Erbrechen  bei  attonischer  Dementia 
acuta  215.  —  bei  Idiotie  500. 

Ergotineinspritzungen  im  Deli- 
rium acutum  340. 

Erinnerung  im circulären Irresein 307 . 
308.  —  nach  Delirium  acutum  melan. 
chol.  333.  —  nach  Dementia  (mit  Hal- 
lucinationen)  223,  (mit  Stupor)  218.  — 
im  epileptischen  Irresein  258.  259.  260. 
262.  267.  —  bei  Furor  101.  —  des 
Hypochonders  285.  —  nach  einem 
hystero- epileptischen  Anfall  241.  —  in 
der  Manie  90.  94.  95.  —  bei  Stupor 
(circulärem)  310,  (hallucinatorischem) 
227 .  —  bei  Wahnsinn  (acutem)  179.181. 

Ermüdung  bei  Hirnatrophie  (primärer) 
386.  —  nach  einem  postepileptischen 
Delirium  259. 

Ermüdungagef Ohl,  motorisches,  in 
der  Manie  86. 

Ernährung  bei  Blödsinn  126.  —  im 
Delirium  acut,  paralyt.  335.  —  bei 
Dementia  (hallucinatorisch  -  stupider 
Form)  232.  —  bei  Furor  105.  —  bei 
Hysterie  251.  —  bei  Idiotie  510.  — 
bei  Manie  95.  109.  113.  —  bei  Me- 
lancholie 38.  —  bei  Paralyse  361.  372. 

—  bei  Stupor  (attonischem)  231,  (hal- 
lucinatorischem) 226. 227.  —  bei  Wahn- 
sinn 194.  199.  203. 

Ernährungsschwäche,  Veranlas- 
sung zum  Delirium  acut,  paralytic.  334. 

Erotomanie,  Heridität  ders.  445. 

Erotische  Verrücktheit  174.  — 
bei  Masturbanten  453. 

Erregbarkeit,  Steigerung  der  moto- 
rischen bei  Furor  100. 

Erschlaffung,  geistige,  im  circu- 


lären Irresein  307.  —  bei  primärer 
Gehirnatrophie  386. 

Erschöpfung,  cerebro- spinale,  Ur- 
sache der  Paralyse  342.  —  durch  Fie- 
berprocesse  als  Ursache  der  primären 
Dementia  228.  —  nervöse,  Veranlas- 
sung zu  Delirium  acutum  paralyt.  334. 
—  perniciöse  des  Gehirns,  Ursache 
von  Seelenstörung  19.  —  stuporartige 
nach  einem  hystero-epileptischen  An- 
fall 241.  —  bei  Wahnsinn  (acutem 
manischen)  193. 

Erweichungsherde,  locale  bei  Hirn- 
atrophie  390. 

Erytheme  an  Hals  und  Gesicht  bei 
Paralyse  357. 

Erziehung,  Bez.  ders.  z. periodischen 
Manie  288.  — ,  Einfluss  ders.  auf  he- 
reditäre Psychosen  430.  —  nervös  be- 
lasteter Kinder  464. 

Essgier  Blödsinniger  124. 

Ethischer  Defect,  Bez.  dess.  zu  epi- 
leptischen Irresein  272;  zur  Moral  In- 
8anity467. 489. 495 ;  zum  Querulanten- 
wahnsinn 470.  473;  zur  Seelenstörung 
im  Allg.  20. 

Exaltation  im  Wahnsinn  113,  (sub- 
acute erotische)  174. 

Excesse,  Bez.  ders.  zur  Melancholie 
(neurasthenisch-torpiden  Form)  68 ;  z. 
Verfolgungswahn  148.  —  Hangz.  dens. 
bei  Manie  78. 

Extremitäten  beim  Delirium  acutum 
(maniacale)  326,  (melancholic.)  332, 
(paralytic.)  335.  — ,  bei  pacchymenin- 
gitischen  Zufällen  385. 

Farbensinnstörungen  bei  primärer 
Hirnatrophie  390. 

Fettzunahme  im  chronischen  Stadium 
der  alternirenden  Psychosen  321.  — 
im  Verlaufe  der  Hysterie  246. 

Fieber  beim  Delirium  acutum  325.  326. 
328.  — ,  Irresein  durch  dass.  228.  — 
bei  Manie  92. 

Flimmern  vor  den  Augen  bei  Ver- 
folgungswahnsinn 146. 

Fluxionen,  vasomotorische  bei  Me- 


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Register. 


525 


lancholie  37.  —  nach  dem  Kopf,  s. 
Kopfcongestionen. 

Foetor  ex  ore  beim  Delirium  acutum 
(melaochol.)  333,  (paralytic.)  336. 

Folie  circulaire  87. 

Forense  Untersuchung  Geistes- 
kranker 3. 

Formgestaltung  der  impulsiven  Acte 
Hereditarier  442. 

Fragezwang  krankhafter, Hereditarier 
442. 

Freiheitsberaubung,  Einfluss  ders. 
bei  Moral  Insanity  494. 

Furor  92.  98.  —  bei  Dementia  acuta 
(mit  Hallucinationen)  224.  — ,  epilep- 
tischer bei  Stupor  (circulärem)  309. 
— ,  Krankheitsbild  dess.  99.  — ,  ma- 
nischer 184.  — ,  melancholischer  5S. 
101.  —  Paroxysmen  de68.  100.  101. 
103.  — ,  Reconvalescenzstadium  dess. 
105.  — ,  Verlauf  dess.  104.  —  bei 
Wahnsinn  165.  189. 

Furu neulose,  Complic.  des  Delirium 
acutum  333;  der  Manie  87;  pacchy- 
meningitischer  Zufälle  385. 

Oaloppirende  Paralyse  mit  Geistes- 
störung 381.  —  Behandlung  ders.  400. 

Gangran  der  Haut  bei  Paralyse  363. 

Ganglien,  Veranderg.  d.  corticalen  d. 
Gehirns  bei  Paralyse  371.  373. 

Gastricismus  beim  Delirium  acutum 
333.  —  bei  Melancholie  (masturbato- 
risch.)  70.  —  beim  Verfolgungswahn 
158. 

Gaumenparese  beim  Delirium  acu- 
tum melanchol.  334. 

Gaumenspalten,  Complicat.  mit  Idio- 
tie 510. 

Geburten,  Ursache  von  primärer  De- 
mentia 229. 

Gedächtniss  6.  —  bei  Alkoholismus 
chronicus  418.  424.  —  beim  Blödsinn 
123.  —  im  Delirium  tremens  416.  —  bei 
Furor  101.  —  bei  Manie  90.  94.  — 
bei  primärer  Hirnatrophie  386.  389. 
bei  schwerer  Dementia  senilis  392.  — 
bei  Verfolgungswahn  148;  s.  auch  In- 
tellect. 


Gedanken  drang  der  Melancholiker 
25.  30. 

GefäsBveränderungen  des  Gehirns 
bei  Paralyse  370.  371.  372.  373.  374. 

—  bei  der  psychischen  Meningo-Pe- 
riencephalitis  chron.  380. 

Gefangenenwahnsinn,  acuter  183. 
Gefühlsphäre  bei  Manie  (periodischer) 
294.  —  Melancholie  23.  25.  32.  50. 

—  bei  Schwachsinn  (torpidem)  116. 

—  bei  Wahnsinn  (chronisch  depres- 
sivem) 159. 

Gehirn,  psychische  Leistungskraf t  dess. 
bei  Melancholikern  31.  — ,  Psychosen 
des  defect  veranlagten  15.  19;  des  in- 
validen 12.  17;  des  rüstigen  12.  14.  17. 

Gehirnaffectionen,  Bez. ders. z. See- 
lenstörung im  Allg.  4.  —  bei  Delirium 
acutum  325.  — ,  Heridität  ders.  bei 
Cerebralpsychosen  428.  —  durch  Hypo- 
chondrie 284.  —  bei  Manie  78.  107. 
110. 112.  —  bei  Verfolgungswahn  168. 

Gehirnauämie  bei  der  Inanitionsform 
des  Delirium  acutum  337. 

Gehirnatrophie,  primäre  mit  Geistes- 
störung 386.  —  mit  Hallucinationen 
387.  —  bei  Hypochondrie  264.  —  mit 
localen  Erweichungsherden  oder  Apo- 
plexieen  oder  multiplen  Sklerosen  390. 

—  bei  Melancholie  63.  386.  —  bei 
Paralyse  369.  372.  373.  —  mit  Reiz- 
erscheinungen (entzündlichen)  389.  — 
ohne  Reizerscheinungen  366.  —  mit 
Wahn  388. 

Gehirndruck  bei  acuter  primärer  De- 
mentia 212.  —  im  Delirium  acutum 
melanchol.  334.  —  im  postmanischen 
Stupor  220. 

Gehirnentwicklung,  Bez.  ders.  zur 
Seelenstörung  2. 

Gehirnerschöpfung,  anämische  als 
Ursache  des  acuten  Delirium  16.  325. 
326.  331.  —  bei  Manie  (periodischer) 
294.  —  nach  Wahnsinn  (acutem  me- 
lanchol.) 189,  (dämonomanisch-hallu- 
cinatorisch.)  179. 

Gehirngebiete,  höhere,  Bez.  der 
relativen  Functionsbeziehung  ders.  zur 
Seelenstörung  2. 


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526 


Kegister. 


Gehirnhäute,  Veränderungen  ders. 
bei  epileptischem  Irresein  267,  bei  Pa- 
ralyse 372.  373. 

Gehirn hyperämie  im  Delirium  acu- 
tum durch  üirnreizung  336,  tremens 
febrile  417.  —  bei  Paralyse  16.  372. 
373. 

Gehirnlähmung  im  Delirium  acutum 
329.  330.  —  bei  Paralyse  363.  366. 

Gehirnödem  bei  Delirium  acutum 
(Inanitionsform)  337. 

Gehirnreizung  in  der  Manie  81.  93. 

—  bei  schwerer  Dementia  senilis  39 1 . 
— ,  Ursache  des  acuten  Deliriums  325. 
326. 

Gehirn  -  Rückeumarkssklerose, 
psychische  Störungen  bei  ders.  393. 

Gehirnstase  bei  Delirium  acutum  me- 
lanchol.  331. 

Gehirntorpor  bei  acutem  Wahnsinn 
179. 

Gehirnveränderungen  beim  epilep- 
tischen Irresein  267.  —  bei  Idiotismus 
512.  514.  515.  —  bei  der  psychisch. 
Mcningo-Periencephal.  361. 

Gehörsstörungen  Melancholiker  34. 

—  Paralytiker  356. 

Geis tess  ch  wache  durch  schwere  De- 
meutia  senilis  392. 

Geistesstörungen,  acute  als  Beginn 
der  schweren  Dementia  senilis  391. 
— ,  altemirende  316.  — ,  circuläre  299. 
— ,  periodische  288.  — ,  Wesen  ders.  3. 

Geistiger  Zwang  bei Seelcnstörung 2. 

Gemüthsaffecte  beim  Delirium  acu- 
tum (paralytic.)  334.  — ,  heftige  als 
Ursache  circulärcr  Psychoseu  300,  von 
Delirium  acutum  (mauiacale)  326.  — 
bei  Hypochondrie  277.  279.  2S2.  —  bei 
Hysterie  234.  246.  247.  —  beim  idio- 
tischen Schwachsinn  506.  —  beim  Idio- 
tismus 500.  502.  504.  —  bei  Manie 
SO.  292.  293.  304.  —  bei  Melan- 
cholie 23.  34.  305.  306.  307.  —  bei 
Paralyse  345.  360.  —  bei  reizbarem 
Schwachsinn  117.  — ,  Ursache  hallu- 
cinatorischen  Stupors  225. 

G  e  n  i  t  a  1  n  e  r  v  e  n  bei  hypochondrischem 
Irresein  27 S. 


Gereiztheit,  zornige  des  Melancho- 
likers 49. 

Geruchssinn  der  Idioten  510.  —  der 
Melancholiker  34. 

Geschlecht  in  Bez.  z.  Heredität  psy- 
chischer Leiden  428;  Katatonie  197. 
200;  Manie  (circulärer)  303;  Melan- 
cholie 50;  Paralyse  342. 

Geschlechtsorgane,  Behandlung  der 
Störungen  ders.  bei  der  Hysterie  252. 
— ,  Betasten  ders.  in  der  Melancholie 
69.  -,  Bez.  ders.  zur  Hysterie  233. 

—  der  Idioten  510.  —  bei  Verfol- 
gungswahn 156. 

Geschlechtstrieb,  Ausartung  dess. 
in  Masturbation  bei  Ulödsinn  124.  — 
Epileptischer  266.  —  bei  Hypochon- 
dern 282.  —  der  Idioten  505.  —  bei 
Manie  (periodisch.)  294.  —  bei  Melan- 
cholikern 39.  70.  —  bei  Paralytikern 
357.  —  s.  auch  Sexualdrang. 

Geschmacksstörungen  bei  ballucin. 
Stupor  226.  —  in  der  Melancholie  33. 
34. 

Gesichtsfarbe  bei  alternirenden  Psy- 
chosen 320.  —  bei  Delirium  acutum 
329.  332.  —  Hypochondrischer  285. 

—  Hysterischer  242.  —  bei  Katatouie 
196.  209.  —  bei  Paralyse  357.  363. 

—  bei  Stupor  (hallucinatoriscb.)  226. 

—  im  Verfolgungswahn  155. 
Ge8ichtsfeldciuengu  ng,  concen- 

trische  beim  epileptischen  Irresein  259. 
263.  264. 

Gesichtsinnervationbei  Idiotie  5 1  o. 

—  bei  Paralyse  359.  365. 

Giftwahn  im  Verfolgungswahn  148. 

Glia,  Veränderungen  ders.  bei  Para- 
lyse 371.  372.  373.  374. 

Globussensationell  bei  hysterischer 
Manie  244.  —  bei  hysterischer  Me- 
lancholie 243. 

Glottiskrampf  bei  alternirenden  Psy- 
chosen 319. 

Grand  mal  intellectuel  258. 

Gravidität,  Abneigung  gegen  dies,  bei 
Moral  Insanity  493.  — ,  Bez.  dere.  z. 
Dipsomanie  der  Frauen  444;  z.  Here- 
ditat des  Irreseins  429. 


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Register. 


527 


Graviditätspsychosen  229. 

Grössenwahnl65.  —  bei  Blödsinn  122. 
— ,  disseminirter  im  chron.  Wahnsinn 
141.  — ,  erotischer  169.  —  bei  Gehirn- 
atrophie (primärer)  389.  —  der  Hypo- 
chondriker  284.  — ,  der  Hysterischen 
248.  249.  —  in  der  Manie  85.  109.  112. 
290.  —  in  der  Melancholia  agitata  59. 
— ,  monotoner  bei  schwerer  Dementia 
senilis  392.  — ,  originärer  169.  — «para- 
lytischer 342.  344.  360.  364.  365.  368. 
382.  384.  — ,  philanthropischer  169. 

—  bei  der  psychisch.  Meningo-Perien- 
cephaliÜ8  chron.  379.  — ,  religiöser 
169.  — ,  subacuter  manischer  182.  — 
im  "Wahnsinn  (chronisch.)  140,  (hypo- 
chondrisch.) 160. 

Grabelsucht  465.  — ,  emotive  435. 

Haarkrankheiten  bei  Paralyse  358. 

Haarseil  bei  Paralyse  376. 

Hämatombildung  im  degenerativen 
Wahnsinn  161. 

Hände  beim  Delirium  acutum  329. 

Hallucinationen,  Bez.  ders.  zur 
Seelenstörung  im  Allg.  12.  —  bei  De- 
lirium acutum  327.  330.  331.  334.  — 
bei  Dementia  (acuta)  217.  231,  (seni- 
lis) 391.  —  bei  Eifersuchtswahn  163. 

—  bei  Encephalitis  393.  —  im  epi- 
leptischen Irresein  258.  262.  —  bei 
Furor  100.  —  des  Gehörs  bei  Melan- 
cholie 63.  —  bei  Grössen  Wahnsinn  166. 

—  bei  Ilebephrenie  50i>.  — ,  hereditäre 
455.  —  bei  Hirnatropbie  (primärer) 
387.  —  bei  Hysterie  234.  238.  —  in 
der  Katatonie  198.  202.  203.  —  in  der 
Manie  77.  86.  93.  97.  99.  110.  244. 
290.  —  bei  Melancholie  34.  35.  55. 
58.  67.  75.  243,  (auf  alkoholischer 
Grundlage)  424.  —  bei  Moral  Insa- 
nity  496.  —  bei  Moria  106.  —  in  der 
Paralyse  364.  —  im  Stupor  (circulä- 
ren)  309.  —  im  Trinkerwahnsinn  407. 

—  im  Verfolgungswahn  146.  149.  154. 
163.  245.  —  in  der  Verrücktheit  (ori- 
ginären) 476.  4SI.  —  im  Wahnsinn  120. 
134.  136.  141.  161.170.176.177.179. 
181.  183.  187.  191.  247.  249.  460.  — 


der  Zorn-Manie  102;  s.  auch  Sinnes- 
täuschungen. 
Harn  bei  Blödsinn  126.  —  im  Delirium 
acutum  maniacale  328.  —  in  der  Kata- 
tonie 199.  —  in  der  Manie  87.  —  nach 
einem  paralytischen  Anfall  353.  354. 

—  bei  Paralyse  im  Demenzstadium 
357. 

Harnblasenkatarrh  im  Delirium 
acutum  paralytic.  336.  —  bei  Para- 
lyse 358.  363. 

Harnblasenlähmung  bei  Paralyse 

363. 

Hautblutungen  bei  Paralyse  358. 

Hautentzündung,  Complic.  der  Me- 
lancholie 63.  —  bei  Paralyse  358. 

Hautexantheme,  Complic.  der  Me- 
laucholie  63.  —  bei  Paralyse  358. 

Hautpflege  bei  Behandlung  der  Melan- 
cholie 45. 

Hautreize  bei  Behandlung  des  atto- 
nischen  Stupor  23 1 .  —  in  der  Ekstase 
der  Hysterie  242. 

Hebephrenie  508.  —  bei  originärer 
Verrücktheit  479. 

Hemianästhesie  bei  Melancholia  se- 
nilis 68. 

Hemianopsie  bei  primärer  Hiruatro- 
phie  3U0. 

Hemiatrophia  facialis,  Complicat. 

der  Idiotie  510. 
Hemiparese,  Complicat. d. Idiotie 509. 
Hemiplegieen  bei  Hirnatrophie  3»)(). 

—  bei  pacehymeningitischen  Zufällen 
385. 

Hereditäre  Neurose,  Behandlung 
ders.  464.  — ,  Entwicklung  u.  Verlauf 
ders.  451. 

Hereditäres  Irresein  426.  — ,  de- 
generatives 487.  — ,  einfaches  465. 

Hereditäres  Temperament  451. 

Hereditüre  Uebertragung  427.  — , 
degenerative  u.  einfache  428.  — ,  ge- 
kreuzte 431.  — ,  indirecte  431.  — , 
rückfällige  431.  — ,  wechselseitige  Be- 
ziehung ders.  zwischen  Gehirn-,  Gei- 
stes- u.  Nervenkrankheiten  42$. 

Heredität,  Bezug  ders.  z.  Amnesie 
463;  z.  circulären  Irresein  330;  z. 


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528 


Register. 


Gröasenwahn  169;  z.  Hebephrenie  508; 
z.  hereditären  Uebertragung  428.  429 ; 
z.  Hypochondrie  2S0 ;  z.  Hysterie  233. 
249;  z.  Manie  112.288;  z.  Melancho- 
lie 27.  298;  z.  Paralyse  342.  374;  z. 
Seelenstörung  im  AUg.  4;  z.  Wahn- 
sinn 174.  182;  z.  Zeugung  431.  — , 
forense  Bedeutung  den.  430. 

Hereditätslehre  427. 

Herz  als  Locus  dolens  bei  Melancho- 
likern 27. 

Herzgeräusche  bei  acutem  mani- 
schem Wahnsinn  192. 

Herzhypertrophie,  erbliche  Ueber- 
tragung ders.  429. 

Herzklopfen  bei  Melancholikern  33. 

—  im  Verfolgungswahn  155. 
Herzl&hmung  beim  Delirium  acutum 

329.  330. 

Homicidium,  Motive  dess.  in  der  Me- 
lancholie 27. 
Hydr ocephalus  bei  Idioten  511.515. 

—  internus,  Complicat.  der  primären 
Hirnatrophie  u.  Ursache  von  Demen- 
tia paralytica  388. 

Hydrotherapie  bei  anergetischem Stu- 
por 233.  —  beim  epileptischen  Irre- 
sein 269.  —  beim  hysterischen  Irre- 
sein 251.  253.  254.  —  bei  Paralyse 
376.  —  bei  Wahnsinn  (acutem  mani- 
schen) 194. 

Hyoscyaminals  Beruhigungsmittel  in 
der  Mania  gravis  89.  109. 

Hyperämieen,  centrale  vasoparaly- 
tische  als  Ursache  der  Paralyse  342. 

Hyperästhesie,  cerebrale  bei  Manie 
112.  —  im  Delirium  acutum  mania  - 
cale  327.  —  der  Hypochondrischen 
278.  280.  —  der  Hysterischen  234. 

—  in  der  Manie  86.  —  bei  Melan- 
cholie (hypochondrisch.)  64.  —  bei 
Paralyse  363.  — ,  sexuelle  in  der  Ma- 
nie 81.  82.  —  der  Sinnesnerven  bei 
Hirnatrophie  (primärer)  386.  388,  bei 
Manie  (transitorischer)  458,  bei  Me- 
lancholie 34. 424,  bei  Verfolgungswahn- 
sinn 183,  bei  Wahnsinn  139.  —  spi- 
nale bei  Mania  gravis  111.  —  bei 
Wahnsinn  (chronisch.)  139. 


Hypnoti8mus,  Bez.  dess.  zur  Hyste- 
rie 242. 

Hypochondrie  277.  — ,  acute  282. 

—  bei  attoni8chem  Stupor  214.  — , 
chronische  282.  — ,  Complicat  der 
originären  Verrücktheit  484.  —  beim 
epileptischen  Irresein  in  der  Jugend 
275.  —  bei  Katatonie  (depressiver)  200. 
— ,  neurastheniscbe  Form  ders.  2S4. 

—  bei  schwerer  Dementia  senilis  391. 
Hypochondrisches  Irresein  277. 

— ,  alternirender  Typus  dess.  317.  — . 
Entwicklung  u.  Symptome  dess.  278. 
— ,  Therapie  dess.  285,  (psychische) 
286.  — ,  Uebergang  dess.  in  Wahnsinn 
283.  — ,  Verlauf  u.  Ausgänge  dess. 
282. 

Hysterie,  Complication  des  Eifer- 
suchtswahn der  Frauen  162.  -,  Bez. 
ders.  z.  Hypochondrie  277. 

Hysterische  Degeneration  247. 

Hysterisches  Irresein  233.  239.  — , 
acutes  239.  — ,  chronisches  248.  — , 
chronisch-degeneratives  249.  — ,  The- 
rapie dess.  (gynäkologische)  252,  (psy- 
chische) 253,  (somatische)  251. 

Hysterisches  Temperament  233. 
— ,  Steigerung  dess.  240. 

Hystero-epileptisches  Irresein 
240.  — ,  Behandig.  dess.  254. 

Iactationen  beim  Delirium  acutum 
(maniacale)  326.  328.  330. 

Ich-Bewusstsein  der  Idioten  505.  — 
in  der  Manie  85.  —  bei  psychischer 
Schwäche  1 19.  —  bei  Seelenstörung  6. 

—  im  Wahnsinn  120.  131.  132.  135. 
160.  181.  185.  189. 

Ideenassociation  in  der  depressiv- 
exaltirten  Verrücktheit  483. 

Ideenflucht  im  Delirium  acutum  ma- 
niacale 326.  330.  —  im  Furor  104. 

—  in  der  Manie  83.  92.  96.  112,  (hy- 
sterischen) 244.  —  in  der  Melancho- 
lie 58.  —  in  den  Sexualmanieen  103. 

—  im  torpiden  Schwachsinn  116.  — 
im  Verfolgungswahn  156.  —  im  Wahn- 
sinn 182.  1S7.  191. 

Idiotismus  15.497.  —  als  angeborene 


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Register 


529 


psychische  Schwäche  115.  — ,  Com- 
plicat.  dess.  509.  — ,  klinische  Sym- 
ptome de 88.  499.  —  ,  pathologischer 
Befund  bei  dems.  512.  — ,  psycholog.- 
klinisch.  Eintheilg.  dess.  49 8.  —  ju- 
gendlicher Epileptiker  271.  — ,  Scha- 
delformen bei  dems.  511.  — ,  Verlauf 
dess.  500.  503. 
Illusionen  im  Delirium  acutum  327, 
tremens  415.  —  im  Eifersuchtswahn 
163.  —  beim  epileptischen  Irresein 
260.  —  der  Hysterischen  238.  249.  — 
in  der  Manie  77.  83.  96.  —  Melan- 
choliker 27.  34.  55.  60.  —  Paralytiker 
364.  —  bei  Stupor  (circularer  Form) 
309.  —  bei  Syphiüdophobie  73.  —  im 
Wahnsinn  136. 18*,  (chronischer  Form) 
120. 

Imitationen  der  Idioten  502. 
Impotenz  bei  der  masturbatorischen 

Melancholie  70. 
Impulsives  Irresein  442. 
Inanition  beim  Delirium  acutum  (pa- 

ralyt.)  336. 
Indolenz  bei  Eifersuchtswahn  163.  — 

bei  idiotischem  Schwachsinn  499.  506. 

—  im  Intervall  der  circularen  Form 
des  Stupors  310.  —  nach  Mania  gra- 
vis 1U8. 

Inf  ectionskrankhe iteu,  Bez.  ders. 
z.  primärer  Dementia  228,  z.  Ausbruch 
epileptischer  Anfalle  in  der  Jugend 
272. 

Innervationsstörungen  bei  attoni- 
schem  Stupor  216.  —  bei  primärer 
Hirnatrophie  3*7  —  bei  Verfolgungs- 
wahnsinn 155.  164. 

In tellectuelle  Störungen  im  Alko- 
holismus  chronic.  409.  412.  —  im 
Blödsinn  122.  123,  (idiotischen)  498. 

—  bei  conträrer  Sexualempnndung 
448.  —  in  Dementia  acuta  212.  221. 
224,  senilis  (schwerer)  392.  —  bei 
Hypochondrie  280.  —  Hysterischer 
238.  —  bei  Idioteu  498.  499.  —  ju- 
gendlicher Epileptiker  271.  272.  —  in 
der  Manie  (periodisch.)  294.  —  in  der 
Melancholie  (circular.)  3(»6. 309.  —  bei 
Moral  Insanity  (erworbener)  488.  — 

Soh  ttle,  Geuteaknuikheiton.    3.  Aufl. 


in  der  progressiven  Paralyse  342.  343. 
359.  364.  —  bei  psychischer  Meningo- 
Periencephalitis  chron.  379.  380.  — 
im  Schwachsinn  (idiotischen)  501. 

Intentionszittern  der  Idioten  499. 

Intercostalneuralgieen  in  der  Me- 
lancholie (Behandlung)  44.  —  im  Wahn- 
sinn (chron.  expansiven)  170. 

Intervalle  der  alternirenden  Psycho- 
sen 318.  —  des  circularen  Irreseins 
305.  —  des  hereditären  Irreseins  462. 
—  der  Manie  (period.)  293.  294.  296. 
297.  —  der  Melaucholie  (periodisch.) 
299.  —  der  meostrualen  Psychosen 
322.  —  des  Stupor  (circulare  Form) 
310.  — ,  zeitliche  Gruppirung  ders.  in 
den  circularen  u.  periodischen  Psy- 
chosen 312. 

Intoxication,  acute  bei  Rauschzu- 
standen 404. 

Invalides  Gehirn,  Bez.  dess.  z.  See- 
lenstörung 12.  19.  —  Veranlassung  z. 
Delirium  acutum  326;  Melaucholie 
(hypochondrisch.)  57.  65;  Sexualma- 
nieen  104;  Stupor  225. 

Jodkali  bei  syphilitischer  Paralyse  376. 
401. 

Irradiation  der  Sinne  bei  Verf olgungs - 
wann  157. 

Irresein,  alternirendes  287.  316.  — 
der  Bummler  u.  Vagabunden  491.  — , 
circulares  2«>7.  301.  314.  — ,  degene- 
ratives erbliches  487.  — ,  einfaches 
hereditäres  405.  — ,  epileptisches  255, 
(in  der  Jugend)  271.  — ,  hereditäres 
426.  — ,  hypochondrisches  277.  — ,  hy- 
sterisches 233.  239.  — ,  hystero-epilep- 
tisches  240.  — ,  impulsives  442.  — , 
men6truales  322.  — ,  periodisches  287. 
312  —  der  Processkrämer  470.  — 
aus  Zwangsvorstellungen  465. 

Irrthum,  Unterscheidung  von  Seelen- 
störung 3. 

Ischurie  bei  der  hysterischen  Melan- 
cholie 243. 

Isolirung  zur  Behandlung  des  epi- 
leptischen Irreseins  268,  der  Manie 
87,  des  Wahnsinns  (acuten  mani- 
schen) 193. 

34 


530 


Register. 


Kamp  her,  Injectionen  dess.  im  Deli- 
lirium  acutum  (paralytic.)  340.  —  bei 
Melancholie  41.  48. 

Kataleptische  Anfälle  in  der  Ek- 
stase der  Hysterie  242.  —  beim  men- 
Btrualen  Irresein  322. 

Katatonie  195.  — ,  depressive  196. 
— ,  hysterische  196.  247.  —  nach  ma- 
sturbatorischer  Melancholie  71.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  Dementia 
(stupid-hallucinatorisch.)  214. 

Katheterismus  bei  Paralyse  37S. 

Klanenstellung  der  Hände  der  Idio- 
ten 499. 

Kleinhirn,  Veränderungen  dess.  nach 
Paralyse  372. 

Kleptomania  menstrualis  periodica 
322.  —  im  primär  exaltirten  Wahn- 
sinn durch  Alkoholismus  410. 

Kly stiere  zur  Behandlung  der  Hyste- 
rie 253. 

Knochenbrüchigkeit  bei  Paraly- 
tikern 35S. 

Körpergewicht  im  Furor  105.  —  in 
der  Manie  87.  95.  —  in  der  Melan- 
cholie 22.  298.  —  im  Trinkerwahn- 
sinn (acuten)  408. 

Körperhaut,  Beschaffenheit  im  Deli- 
rium acutum  329.  336.  — ,  Falten- 
bildung ders.  bei  Idioten  510. 

Körpertemperatur  im  Delirium  ar- 
cutum  327.  330.  336.  —  bei  Demen- 
tia attonita  215.  —  im  epileptischen 
Irresein  259.  263.  —  im  Furor  101. 
102. — bei  Hirnatrophie  (primärer)  386. 
—  bei  Hysterie  (katatonischer)  247.  — 
in  der  Katatonie  109.  201.  —  bei  Manie 
86. 92.  108.  —  bei  Melancholia  attonita 
74.  —  bei  pacehymeningitischen  Zu- 
fällen 385.  —  bei  Paralysis  progressiv. 
357.  363.  366.  —  in  der  psychisch. 
Mcningo-Periencephaliti8  379.  380.  — , 
subnormale  im  Delirium  acutum  me- 
lanchol.  332.  333.  —  im  Wahnsinn 
192. 

Kohlenoxydvergiftung,  Ursache 

von  primärer  Dementia  228. 
Kopfbildung  der  Idioten  502. 
Kopfcongestionen  bei  Alkoholpsy- 


chosen 405.  —  im  Delirium  acutum 
326.  —  im  epileptischen  Irresein  263. 

—  bei  Furor  100.  —  in  der  Manie  88. 
93.  298.  —  in  der  Melancholie  38.  73. 
298.  —  bei  menstrualen  Psychosen 
322.  —  bei  Paralysis  progresa.  357. 
359.  366.  —  bei  psychischer  Meningo- 
Periencephalitis  chron.  379.  380.  — 
bei  Stupor  (circulärer  Form)  309.  — 
bei  Verfolgungswahn  164. 

Kopfschmerz  im  Beginn  des  Deli- 
rium acutum  326.  —  beim  epilepti- 
schen Irresein  264.  —  bei  Manie  (pe- 
riodischer) 290.  —  nach  einem  post- 
epileptischen Delirium  259.  —  nach 
einem  postepileptischen  Stupor  258. 

—  bei  Paralyse  356.  359.  366.  —  im 
Verfolgungswahn  155. 

Kopfsensationen  beim  acuten  Wahn- 
sinn 179. 

Kopfverletzungen,  Bez.  ders.  zur 
primären  Dementia  228.  — ,  Veran- 
lassung zu  Manie  (periodischer)  288. 

Krämpfe  im  Delirium  acutum  (mania- 
cal.)  328.  —  in  der  Dementia  senilis 
392.  — ,  epileptische  256.  258.  268. 

—  der  Idioten  499.  —  bei  Melancholie 
63.  —  bei  primärer  Hirnatrophie  390. 

—  im  Stupor  (cirulären)  309.  — ,  toni- 
sche und  klonische  in  der  Paralyse 
353. 

Krankheitsentwicklung  der  Psy- 
chosen 10. 

Kryptorchismus,  Complicat.  der  Idio- 
tie 510. 

Künstliche  Ernährung  im  Delirium 
acutum  340.  —  bei  Katatonie  198.  — 
der  Idioten  499.  —  bei  Melancholie 
45.  63.  —  bei  Stupor  (anergetischem) 
233,  (attonischem)  216.  231. 

Lachkrämpfe  bei  der  hysterischen 
Melancholie  243. 

Lähmungsorscheinungen  nach 
Apoplexieen  393.  —  im  Delirium  acu- 
tum melancholic.  331.  —  bei  Demen- 
tia senilis  391.  —  bei  Encephalitis 
syphilitica  mit  Geistesstörung  397.  — 
bei  Idiotie  499.  510.  —  bei  Paralyse 


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Register. 


53  L 


(progress.)  364.  365.  —  bei  psychi- 
schen Cerebralleiden  15.  394.  —  bei 
der  psychischen  Meni  ogo-  Periencepba- 
litis  chron.  380.  — ,  spinale  als  Ur- 
sache von  GeistesstöruDg  342. 

Laryngismus  stridulus  beim  acuten 
melancholischen  Wahnsinn  188. 

Lateralsklerose  des  Rückenmarks 
mit  Geistesstörung  394. 

Launenhaftigkeit  bei  Hysterie  234. 
—  bei  hysterischem  Wahnsinn  245. 

Lebensalter,  Bez.  dess.  z.  alterniren- 
den  Psychosen  318;  z.  circulären  Psy- 
chosen 300;  z.  Delirium  acut.  331; 
z.  epileptischem  Irresein  256.  271;  z. 
hereditären  Neurose  451;  z.  idioti- 
schen Schwachsinn  500.  501.  508;  z. 
Manie  (circulären)  303;  z.  Melancho- 
lia  hypochondrica  64;  z.  Seelen  Störung 
4;  z.  Wahnsinn  181;  z.  Zwangsvor- 
stellung bei  neurotisch-hereditär  Be- 
lasteten 437. 

Lebensweise  für  den  Hypochonder 
286.  — ,  Regulirung  ders.  bei  epilep- 
tischem Irresein  269. 

Leetüre,  anregende  zur  Behandlung 
der  Hysterie  254. 

Lesen  eines  Hypochonders  285. 

Lesezwang  433. 

L  epto -M  e  n  i  n  g  en,  Veränderungen 
ders.  durch  Paralyse  368.  369,  durch 
psychische  Meningo-  Periencephalitis 
chronic.  381. 

Lippen,  Beschaffenheit  ders.  im  Deli- 
rium acutum  330.  333. 

Lobuläre  Pneumonie  beim  Delirium 
acutum  330.  336.  —  bei  Paralyse  358. 
363. 

Logorrhoe,  manische  83. 
Lucida  In tervalla  in  der  Paralyse 

368. 

Luftcurorte  für  Paralytiker  377. 

Lungenphthisis,  Bez.  ders.  z.  Alko- 
holiBmus  419.  —  als  Folge  der  origi- 
nären Verrücktheit  486.  hereditäre 
Folge  u.  Ursache  von  Geistesstörung 
428. 

Lustgefühl,  manisches  81. 
Lymphräume  des  Gehirns  bei  Para- 


lytikern 370.  371.  372.  373.  374.  — 
nach  psychischer  Meningo  -  Perience- 
phalitis chron.  362. 

Magendarmaffectionen  beim  De- 
lirium acutum  333,  tremens  416.  — , 
Eintiuss  ders.  auf  den  hypochondri- 
schen Melancholiker  57,  auf  den  Wahn- 
sinn 144.  159.  168.  —  in  der  Melan- 
cholie 44.  298. 

Makrocephalie  der  Idioten  511. 

Maladie  du  doute  456.  465.  468.  —  du 
toucher  465.  469. 

Manie  76.  -,  acute  77.  —  bei  Alko- 
holismus chronic.  413.  421.  — ,  Aus- 
gänge ders.  98.  105.  111.  114.  — ,  cir- 
culäre  77.  82.  91.  302.  314.  320.  321. 
— ,  chronische  77.  112.  — ,  Definition 
ders.  76.  — ,  degenerative  105. 112. 495. 

—  im  Delirium  acut.  326.  —  in  der 
Dementia  senilis  391.  — ,  Einteilung 
ders.  92.  —  bei  Encephalitis  syphi- 
litica 398.  —  im  epileptischen  Irre- 
sein 262.  263.  275.  — ,  furiöse  99.  112. 
— ,  gravis  79.  81.  89.  91.  106.  — ,  hallu- 
cinatorische  97.  — ,  hereditäre  457.  — , 
hysterische  244.  — ,  idiopathische  87. 
— ,  katatone  207.  — ,  Kraukheitsbild 
ders.  93.  95.  106.  109.  112.  244.  459. 

—  bei  Meningo-Periencephalitis  chro- 
nic. 379.  — ,  menstruale  322.  —  mitis 
91.  93.  —  in  der  Paralyse  358.  367. 
— ,  periodische  77.  288.  312.  —  durch 
psychische  Schwächezustände  105. 115. 
— ,  remittirende  98.  119.  — ,  Stupor 
nach  ders.  219.  309.  — ,  subacute  77. 
— ,  Symptome  ders.  77.  — ,  Therapie 
ders.  (psychische)  90,  (somatische)  87. 
— ,  transitorische  459.  —  typica  9t. 
95.  —  bei  Verfolgungswahn  149.  160. 
163.  -,  Verlauf  ders.  94.  97.  104.  108. 
110.  113.  245.  459. 

Marasmus  bei  Hereditariern  456.  — 

—  Hysterischer  240.  246.  bei  Melan- 
cholie 63.  75.  —  nach  pacehymenin- 
gitischen  Zufällen  385.  —  bei  Paralyse 
363.  368.  -  bei  Wahnsinn  (chronisch.) 
174. 

Massage  bei  anergetischem  Stupor  233. 

34* 


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532 


Register. 


—  bei  Hysterie  25t.  —  bei  hysterischer 
Melancholie  254. 

Masturbation  bei  conträrer  Sexual- 
empfindung  449.  —  bei  Melancholie 
69.  —  bei  Moral  Insanity  492.  —  bei 
originärer  Verrücktheit  477.  —  bei 
Verfolgungswahn  155.  183.  190. 

Melancholie  21.  —  activa  24.  51.  — , 
acute  49.  —  agitata  48.  5b.  —  bei  Al- 
koholismus chron.  420.  424.  — ,  alter- 
nirender  Typus  ders.  317.  318.  —  atto- 
nita  51.  73.  circuläre  35.  305.  314. 
— ,  chronische  49.  01.  — ,  dämonomane 
51.  — ,  Definition  ders.  22.  —,  degene- 
rative 307.  309.  —  im  Delirium  acu- 
tum 330.  —  beim  epileptischen  Irre- 
sein 263.  275.  —  errabuuda  24.  — 
bei  Hebephrenie  509.  — ,  hereditäre 
427.  454.  456.  — ,  hyperchondrische 
48.  56.  63.  277.  — ,  hysterische  242.  — 
bei  Katatonie  200.  — ,  klimakterische 
60.  — ,  Krankheitsbild  ders.  23.  48. 
64.  — ,  masturbatorische  69.  — ,  men- 
struale  322.  — ,  neurasthenisch-torpide 
68.  — ,  organische  65.  —  bei  Paralyse 
345.  362.  367.  —  passiva  24.  48.  51. 
54.  — ,  periodische  63.  298.  —  perse- 
cutoria  51.  —  religiosa  51.  — ,  senile 
48.  57.  60.  66.  — ,  sexuelle  48.  —  Sim- 
plex 47.  —  stupida  24.  — ,  Symptome 
ders.  23.  — ,  syphilitische  72.  -,  The- 
rapie ders.  (psychische)  46,  (somati- 
sche) 40.  —  torpida  51.  — ,  Unter- 
scheidung der  attonischen  von  attoui- 
schem  Stupor  214.  — ,  Verlauf  ders. 
53.  55.  57.  —  mit  Wahnsinn  coinpli- 
cirt  119. 

Meningealaf f cetionen  bei  Mania 
gravis  107. 

Meningitis  in  den  ersten  Lebensjahren, 
Bez.  ders.  z.  epileptischem  Irresein  256. 

Meningo- Pcricncephalitis  chro- 
nica u.  subacuta  (psychische) 
379.  -,  Krankheitsbild  ders.  379.  — , 
pathologischer  Befund  bei  ders.  381, 
(mikroskopischer)  382.  -  .Verlauf  ders. 
380. 

Mcnorrhagieen,  Gefährlichkeit  ders. 
in  der  Melancholie  39. 


Menstruale  Psychosen  322.  — , 
Symptome  ders.  322.  — ,  Verlauf  ders. 
323. 

Menstruation,  Bez.  ders.  z.  Dementia 
acut,  attonit.  2 1 8 ;  z.  epileptischen  Irre- 
sein 264;  z.  d.  Furorparoxysmen  103; 
z.  Heredität  429;  z.  hysterischen  Irre- 
sein 239.  240.  250.  252;  z.  Manie  1 12; 
z.  Melancholie  39.  74;  z.  Schwanger- 
schaftswahn 163;  z.  d.  Sexualmanieen 
103 ;  z.  Stupor  (hallucinat.)  225;  z.  Ver- 
folgungswahn 158;  z.  Wahnsinn  144. 
174.  179.  181.  188.  190.  191.  194.  199. 

Meteorismus  bei  Delirium  acutum  330. 

—  bei  Melancholie  36. 
Migräne,  Bez.  ders.  z.  Paralyse  359. 

—  der  Hysterischen  239.  —  bei  der 
psychischen  Meningo-Periencephalitis 
chron.  379. 

Mikrocephalic  der  Idioten  511. 

Mimischer  Ausdruck  im  Blödsinn 
125.  —  im  Delirium  acutum  328.  329. 
330.  332.  334.  —  in  der  Dementia  acuta 
attonit.  215.  216.  —  Hypochondrischer 
281.  —  Hysterischer  240.  242.  -  der 
Idioten  499.  502.  —  in  der  Katatonie 
196.  198.  201.  203.  —  in  der  Manie 
291.  —  bei  Melancholikern  33.  39.  — 
bei  Paralytikern  351.  352.  368.  —  im 
postepileptischen  Delirium  258.  —  im 
Wahnsinn  14:*. 

Mitbewegungen  bei  Idiotie  503. 

Mond,  Einfluss  dess.  auf  die  circulären 
und  periodischen  Formen  des  Irreseins 
311. 

Monomanicen  442. 
Monoparesen,  Complicatioo  d.  Idiotie 

510. 

Moral  Insanity  487.  — ,  manische 
82.  — ,  reizbare  489. 

Moralische  Störungen  im  Alkoho- 
lismus chronic.  412.  419.  —  bei  Blöd- 
sinn 124.  —  in  der  Dementia  (degene- 
rativ-hysterisch.) 250,  (senilis)  392.  — , 
hereditäre  Uebertragung  ders.  430. 454. 

—  Hysterischer  236.  237.  — ,  Irresein 
durch  diese  487.  —  bei  Manie  291. 
296.  303.  —  bei  Melancholie  68.  71. 
307.  —  bei  Paralytikern  359.  365.  — 


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Register. 


533 


im  Trinkerwahnsinn  (acuten)  409.  — , 
Unterscheidung  ders.  von  Seelenstö- 
rung 3.  —  bei  Verfolgungswahn  (hy- 
sterisch.) 245.  —  im  Wahnsinn  168. 
189. 

Moralität,  Bez.  ders.  z.  hereditären 
Uebertragung  430. 

Mord  trieb  hallucinirender  Paralytiker 
361.       Heredität  dess.  443. 

Moria  82.  105.  —  bei  Dementia  acuta 
224.  —  nach  hallucinatoriscbem  Stu- 
por 225.  227.  —  bei  Wahnsinn  (acutem 
manisch.)  192. 

Morphium  zur  Behandlung  des  epi- 
leptischen Irreseins  269;  des  hyste- 
rischen Irreseius  255.  —  bei  Melan- 
cholie 41.  43.  48. 

Morphinismus  43.  — ,  Entwöhnung 
dess.  43. 

Moschus  bei  beginnender  Schwäche 
im  Delirium  acutum  340. 

Motorische  Kraft  bei  Idiotismus  499. 

Motorische  Störungen  bei  Alkoho- 
lismus  4 IS.  —  bei  Blödsinn  125.  — 
im  Delirium  acutum  325.  328.  332.  335. 

—  bei  Epileptikern  in  der  Jugend  274. 

—  bei  Hypochondrie  282.  —  bei  Hy- 
sterie 239.  -  bei  Idioten  499.  503.  — 
in  der  Manie  77.  79.  86.  96.  110.  112. 

—  in  der  manischen  Phase  der  Hy- 
sterie 244,  der  subacuten  Paralyse  3S2. 

—  in  der  Melancholie  68.  74.  —  bei 
Paralytikern  350.  361.  362.  363.  365. 
368.  —  im  postepileptischen  Irresein 
260.  —  bei  Meningo-Periencephalitis 
chron.  379.  380.  —  bei  Rückenmarks- 
erkrankungen 395.  —  im  Stupor  310. 

Mundausspülungen  bei  attonischem 
Stupor  231. 

Mundbeweguugen  im  Delirium  acu- 
tum 328. 

Muskelatrophie  bei  Hirnatrophie 
(primärer)  390.  —  bei  Idiotie  499.  — 
bei  Paralyse  351. 

Muskeldegeneration,  colloide  bei 
Delirium  acutum  3:t$.  — ,  parenchyma- 
töse durch  progressive  Paralyse  35S. 

Muskel  starre  im  Delirium  acutum 
maniacale  325.  —  bei  Katatonie  195. 


197.  198.  200.  204.  20«.  -  in  der  Manie 
292.  —  in  der  Melancholia  atton.  73. 

—  im  Wahnsinn  143.  173. 
Muskelzuckungen  im  Delirium  acu- 
tum 330.  —  in  der  Manie  80.  —  bei 
pacehymeningitischen  Zufällen  385.  — 
bei  Paralyse  351.  —  bei  der  psych.  Me- 
ningo-Periencephalitis chronic.  380. 

Mussitirende  Delirien  330. 
Myelitis  bei  Paralyse  369.  —  bei 
Rückenmarkserkrankungen  394. 

Nährkly stiere  im  Delirium  acutum 
340. 

Nahrungsverweicherung  im  Deli- 
rium acutum  327.  328.  329.  332.  333. 
335,  postepileptischen  259.  —  in  der 
Katatonie  201.  —  bei  Melancholie  27. 
33.  74.  —  bei  Meningo-Periencepha- 
litis 379.  -  bei  Paralyse  347.  361.  — 
im  Stupor  220.  247. 

Narbe,  schmerzhafte,  Veranlassung  zu 
hysterischem  Krampfanfall  240. 

Narcotica  bei  epileptischem  Irresein 
269.  —  bei  Melancholie  41. 

Natürliche  Krankheitsgruppen 
497. 

Nervenaction,  Bez.  ders.  zur  psychi- 
schen Leistung  1. 

Nervenfasern,  Veränderungen  ders. 
durch  Paralyse  (progressiv.)  371.  373; 
bei  der  psychischen  Meningo-Perien- 
cephalitis 382. 

Nervenkrankheiten,  wechselweise 
Vererbung  ders.  mit  Geisteskrankhei- 
ten 428. 

Nervensystem,  Bez.  des  Ernährungs- 
zustandes dess.  z.  Seelenstörung  2. 

Neu-Erziehung  nach  Delirium  acu- 
tum 336.  —  nach  Dementia  acuta  217. 
233.  —  Hysterischer  241.  —  nach  Stu- 
por (attonischem)  232. 

Neuralgieen  bei  alternirenden  Psy- 
chosen 319.  — ,  Bez.  ders.  z.  Katotonie 
(dämouomanen)  204 ;  z.  Wahnsinn  (ce- 
rebroBpinalen)  186.  — ,  hereditäre  428. 

—  bei  Hiruatropbie  (primärer)  390.  — 
der  Hysterischen  234.  —  bei  Manie  112. 

—  des  Melancholikers  36.  37.  44.  56. 


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534 


Register. 


69.  29S.  306.  —  bei  Wahnsinn  (acatem) 
146. 

Neuralgische  Punkte  anämischer 
Personen  im  Stupor  216. 

Neurasthenie  bei  alternirenden  Psy- 
chosen 319.  — ,  Beseitigung  ders.  bei 
Hysterie  253.  —  der  Hereditarier  456. 

—  der  Hypochondrischen  278.  280.  — 
der  Melancholiker  306.  —  im  Stupor 
(attonischen)  214.  — ,  Veranlassung 
zu  chron.  Wahnsinn  144.  —  bei  Ver- 
folgungswahn 16S.  —  bei  Wahnsinn 
(acutem)  176. 

Neuro pathische  Prä dis position 
14.  —  bei  defect  veranlagtem  Gehirn 
20.  —  zu  Delirium  acut.  326.  —  zu 
hallucinatorischem  Stupor  225.  — ,  he- 
reditäre durch  Hysterie  428. 

Neuropsychosen,  Bez.  ders.  z.  acu- 
tem Wahnsinn  136. 

Neuro se,  erworbene  14.  457.  — ,  here- 
ditäre 15.  18.  427.  451.  — ,  vasomoto- 
rische, bei  acutem  Wahnsinn  178.  ISO. 

Nosologie  des  Hirnprocesses  4. 

Nymphomanie  292. 

Nystagmus  bei  der  neurasthenisch- 
torpiden  Form  der  organischen  Melan- 
cholie 68. 

Oblongata-L  ah  m  u  n  g  im  Delirium 
acutum  326.  334. 

Obstipation  bei  acutem  Trinkerwahn- 
sinn 409.  —  bei  Dementia  acuta  223. 

—  im  Wahnsinn  (attonischen)  199. 
Oedeme  bei  Blödsinn  126.  —  der  Füsse 

bei  Paralyse  363.  —  des  Gehirns  nach 
Mania  gravis  110.  —  in  der  Katatonie 
198.  —  der  Knöchel  und  Füsse  in  der 
Melancholie  37. 

Ohnmacht  in  der  Paralyse  367. 

Ohraffcctionen,  illusorische  des  Me- 
lancholikers 35.  —  in  der  Paralyse  366. 

—  bei  Verfolgungswahn  148. 

Ohrmissbildungen  bei  Idioten  510. 

Onanie  bei  Epileptikern  266.  — ,  Ver- 
anlassung ders.  z.  Manie  288;  z.  ma- 
sturbatorischen  Melancholie  69;  z.  Me- 
lancholie mit  alternirendem  Typus  318; 
z.Wahnsinn  (attonischen)  190. 


Opisthotonus  bei  der  katatonen  Hy- 
sterie 247. 

Opium  im  Delirium  tremens  425.  —  bei 
Dementia  acuta  223.  232.  —  bei  kata- 
tonem  Blödsinn  194.  —  bei  Manie  89. 

—  bei  Melancholie  41.  42.  48.  —  bei 
Paralyse  377.  —  bei  Wahnsinn  146. 
194. 

Originäre  Verrücktheit  475.  — ,  Be- 
handlung ders.  487.  — ,  Formen  ders. 
478.  — ,  gemischt  depressiv  -  exaltirte 
480.  — ,  Symptomatologie  ders.  476. 
— ,  Verlauf  ders.  483. 

Osmiumsaures  Kali  bei  hysterischem 
Irresein  271. 

Othämatom,  Entstehung  dess.  bei  Be- 
handlung des  attonischen  Stnpor  231. 

—  bei  Melancholie  (chronisch.)  63.  — 
bei  progressiver  Paralyse  358.  —  im 
Wahnsinn  (chronisch,  depressiv.)  161. 

Ovarialschmerz  im  Beginn  von 
Furoranfallen  103.  —  im  hysterischen 
Krampfanfall  240.  241. 

Pacchymeningitis  mit  Geistesstö- 
rung 15.  383.  — ,  Anfälle  ders.  384. 
— ,  Complicat.  der  primären  Hirnatro- 
phie 387.  — ,  paralytisches  Symptomen- 
bild ders.  384. 

Panphobiebei  Hirnatrophie  (primärer) 
390.  —  bei  Melancholie  424.  —  bei 
Stupor  (attonischem)  215.  —  bei  Wahn- 
sinn 176.  188. 

Parästhesieen  der  Hypochondrischen 
278.  —  der  Idioten  510.  —  der  Melan- 
choliker 28.  63.  —  vor  dem  Raptus 
melancholicus  56.  — ,  sexuelle  bei  ma- 
sturbatorischer  Melancholie  69;  im 
Wahnsinn  156. 163.  — ,  spinale  im  Ver- 
folgungswahnsinn 162.  —  im  Wahnsinn 
155.  158.  1S7. 

Paragraphie  bei  progressiver  Paralyse 
350.  —  im  Wahnsinn  143. 

Paraldehydim  Delirium  tremens  425. 

—  bei  Manie  89.  -  bei  Melancholie  41. 
Paralexie  bei  Dementia  senilis  392.  — 

bei  progressiver  Paralyse  350. 
Paralgicen  bei  Verfolgungswahn  158 
Paralogie  im  Wahnsinn  143. 


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Register. 


535 


Paralyse,  modificirte  17.  378.  — , 
alkoholis tische  419.  — •  durch  Apo- 
plexieen  393. 394.  — ,  Behandlung  ders. 
400.  —  nach  Delirium  acutum  330.  — 
bei  Dementia  senilis  391.  —  bei  disse- 
minirter  Sklerose  393.  —  durch  En- 
cephalitis syphilitica  396.  — ,  galop- 
pirende  III.  381.  —  aus  Hirnatrophie 
(primärer)  386.  389.  —  durch  Hirn- 
tumoren 394.  —  durch  Mania  95.  382. 

—  durch  Pacchymeningitis  383.  — , 
spastische  3i>4.  — ,  subacute  382.  — , 
tabische  394.  «-,  typische  341. 
Behandlung  ders.  376.  — ,  Bez.  ders. 
16;  z.  Meningo  -  Periencephalitis  chro- 
nic. 379.  381;  z.  den  Geisteskrankhei- 
ten — ,  Dauer  ders.  368.  —  der  Frauen 
375.  — ,  hypochondrische  362.  363. 
364.  — ,  klassische  342.  — ,  klinisches 
Krankheitsbild  ders.  358.  — ,  klinisch- 
symptomatologische  Varietäten  b.  ders. 
363.  — ,  manische  Form  ders  358.  — , 
Nosologie  ders.  372.  — ,  paralytischer 
Anfall  354.  — ,  pathologischer  Befund 
bei  ders.  (makroskop.)  369.  372,  (mi- 
kroskop.)  370.  372.  — ,  Remissionen 
ders.  361.  364.  368.  — ,  Symptome  ders. 
343.  — ,  Verlauf  ders.  366. 

Paralytischer  Anfall  354. 
Paralytisches  Irresein,  alterniren- 

der  Typus  dess.  317. 
Paranoia  130. 

Paraphrasie  im  Wahnsinn  143. 

Paresen  bei  Hirnatrophie  390.  —  bei 
Paralyse  363.  365.  366. 

Paroxysmen  der  alternirenden  Psy- 
chosen 317.318.  —  des  Blödsinns  (apa- 
thischen secundaren)  138.  —  des  cir- 
cularen  Irreseins  301.  —  im  Eifer- 
suchtswahn 162.  —  des  Furor  100. 

—  im  Grössen wahn  166.  182.  —  der 
Manie  63.  99.  111.  113.  289.  290.  295. 
296.  298.  458.  —  der  Melancholie  298. 
307.  —  des  menstrualen  Irreseins  322. 

—  des  periodischen  Irreseins  101.  468. 
— ,  remittirende,  in  der  Manie  96.  — 
des  Verfolgungswahnsinns  151.  164. 

—  in  der  Verrücktheit  (originären) 
476.  482.  485.  -  des  Wahnsinns  120. 


172.  173.  174.  179.  181.  183.  -,  zeit- 
liche Gruppirung  ders.  in  den  circu- 
lären  u.  periodischen  Psychosen  310. 

Partus,  Verhältnis8  dess.  z.  Parens  431. 

Patellarsehnenref lex  im  Delirium 
acutum  328. 

Periencephalitis  chronica  diffusa 
bei  progressiver  Paralyse  372. 

Periodische  Psychosen  288.  — , 
zeitliche  Gruppirung  der  Intervalle  u. 
Paroxysmen  ders.  312. 

Perverse  Handlungen  nach  Demen- 
tia acuta  224.  —  in  der  progressiven 
Paralyse  347.  348.  360.  —  im  Wahn- 
sinn (chronisch  depressiven)  161. 

Petechien  der  Haut  in  der  Manie  87. 

P  h  antasie  im  hysterischen  Irresein  238. 

Phlegmone  beim  Delirium  acut,  para- 
lytic.  336. 

Phthisischer  Habitus,  Erblichkeit 
dess.  429. 

PhthiBis  pulmonum,  Complic.  der 
masturbatorischen  Melancholie  72. 

Pleuritis,  Complicationen  der  Para- 
lyse 363. 

Pneumonie,  Complicat.  des  Delirium 
acutum  334 ;  der  Hirnatrophie  (primä- 
ren) 367;  der  Paralyse  363. 

P  olyurie  bei  progressiver  Paralyse  354. 

Postfebrile  Psychosen  228. 

Pr&cordiale  Sensationen  des  Me- 
lancholikers 36.  54.  69. 

Pseudohallucinationen  iu  der  Me- 
lancholie 35.  —  bei  Verfolgungswahn 
152. 

PseudoStupor  177.  213.  —  hallucinat. 

mit  Status  attonitus  228. 
Psychiatrie,  Aufgabe  ders.  4. 
Psychischer  Habitus,  Erblichkeit 

dess.  451. 

Psychische  Schw achezustände 
114.  — ,  Behandlung  ders.  129.  —  in 
der  Dementia  acuta  229.  230.  -  Hyste- 
rischer 250.  —  in  der  Katatonie  195. 
210.  — ,  klinische  Typen  ders.  116.  126. 
—  bei  Moral  Insanity  488.  —  des 
Paralytikers  362.  365.  —  bei  Verfol- 
gungswahn 159.  165.  —  im  Wahnsinn 
179.  164. 


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Ö3G 


Register. 


Psychische  Störungen  bei  jugend- 
lichen Epileptikern  274. 

Psychologische  Analyse  der  gei- 
stigen Schwäche  115. 

Psychomotorische  Störungen  bei 
progressiver  Paralyse  348.  —  in  der 
Manie  77.  —  fm  Wahnsinn  178. 

Psychoneurosen,  Classification  ders. 
17. 

Psychosen  im  Allgemeinen  4.  — ,  alko- 
holistische  401.  — ,  alternirende  14. 
287.  316.  —  durch  Cerebropathieen 
17.  19.  378.       circuläre  14.  287.  299. 

—  bei  defecter  organo  -  psychischer 
Constitution  15.  18.  19.  — ,  degenera- 
tive erbliche  15.  487.  — ,  Entwicklung 
ders.  10.  13.  — ,  erworbene  300.  — , 
febrile  u.  postfebrile  17.  228.  — ,  func- 
tionelle  15.  — ,  hereditäre  14.  426.  451. 

—  des  invaliden  Gehirns  12.  17.  19. 

—  bei  organo  -  psychischer  Vollent- 
wicklung 14.  17.  — ,  periodische  14. 
287.  288.  —  durch  perniciöse  Erschö- 
pfungszustände des  Gehirns  17.  19.  — 
des  rostigen  Gehirns  12.  14.  17. 18.  — , 
Symptomenqualität  ders.  9.  — ,  transi- 
torische  457.  — ,  traumatische  393.  — , 
Veranlassung  z.  Delirium  acutum  ma- 
niac.  326.  — ,  Verlauf  ders.  10.  13. 

Pubertät,  Einfluss  ders.  auf  das  epi- 
leptische Irresein  271.  276;  auf  die 
ethischdegenerative  Hcreditätsneurose 
453;  auf  die  Hereditätspsychosen  429; 
auf  Zwangsvorstellungen  437. 

Puerperium,  iiez.  dess.  z.  Heredi- 
tätspsychosen 429.  456;  z.  manischen 
Wahnsinn  191;  z.  Zwangsvorstellun- 
gen 437. 

Puls,  Bez.  dess.  zu  den  alternirenden 
Psychosen  317.  —  bei  Blödsinn  126. 
129.  —  im  Delirium  acutum  327.  329. 
330.  333.  334.  336,  tremens  416.  — 
beim  Eintritt  der  Paroxysmen  alter- 
nirender  Psychosen  319.  —  in  der 
Ekstase  der  Hysterie  242.  —  im  epi- 
leptischen Irresein  259.  263.  —  bei  ' 
Furor  IUI.  —  in  der  Katatonie  201. 
208.  209.  247.  —  in  der  Manie  S7. 
109.  —  bei  Melancholie  37.  60.  72.  74. 


—  bei  pacchymeningiti8chen  Zufallen 
385.  —  bei.  Pacchymeningitis  384.  — 
des  Paralytikers  353.  358.  363.  —  bei 
psychischer  Meningo-  Periencephalitis 
chronic.  379.  —  bei  Stupor  (attoniseb.) 
215.216.  -  im  Trinkerwahnsinn  (acut.) 
408.  —  im  Wahnsinn  188. 

Pupillen  im  Delirium  acutum  328.334, 
tremens  416.  —  beim  epileptischen 
Irresein  263.  —  bei  Hirnatropbie  (pri- 
märer) 390.  —  in  der  Mauia  gravis 
110.  —  bei  Paralyse  352.  357.  359. 
363.  365.  367.  368.  -  bei  psychischer 
Meningo -Periencephalitis  chron.  379. 

—  im  Wahnsinn  192.1 

Purpura  bei  pacehymeningitischen  Zu- 
fällen 385. 
Pyelitis  bei  Paralyse  363. 

Querulantenwahnsinn  470.  — ,  Be- 
handlung dess.  451.  — ,  Bez.  dess.  z. 
chronisch  -  depressiven  Wahnsinn  154. 
— ,  erworbener  471.  — ,  manischer  471. 
Verlauf  dess.  473. 

Raptus,  convulsiver,  bei  Dementia 
acuta  212.  —  zu  Gewaltakten  in  der 
masturbator.  Melancholie  69,  im  Ver- 
folgungswahn 158.  — ,  manisch-hallu- 
cinatorischer  im  Verfolgungswahn  149. 

—  melancholicus  55.  56.  243.  405.  — , 
motorischer  bei  epileptischem  Irresein 
262;  in  der  Hysterie  241. 246 ;  bei  psy- 
chischen Cerebropathieen  392.  —  bei 
Stupor  (circulär.)  309.  310.  —  Buicidü 
56.  464.  —  des  Trinkerwahnsinns  (acu- 
ten) 406.  —  im  Wahnsinn  178. 

Rauchen,  Einschränkung  dess.  bei 
Melancholie  45. 

Reactions formen  eines  invaliden  Ge- 
hirns 8,  eines  rüstigen  11. 

Recidive  alkoholischer  Manieen  424. 

—  des  Blödsinns  (apathischen)  129.  — 
des  circulären  Irreseins  308.  —  des 
epileptischen  Irreseins  261.  —  der  Hy- 
sterie 24 1 .  —  der  invaliden  Psychosen 
19.  —  der  Manie  93.  99.  245.  —  der 
Melancholia  agitata  59.  —  der  Moria 
106.  — ,  Neigung  zu  dens.  bei  erblicher 


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Register. 


537 


Disposition  430.  —  des  Verfolgungs- 
wahnes 165.  —  des  Wahnsinns  180. 
182.  186.  188.  190.  191.  194.  200. 
Reflexerregbarkeit  im  Blödsinn  126. 

—  bei  Delirium  acutum  327.  —  bei 
Hysterie  234.  —  bei  Pacchymeningitis 
(psychisch.)  384.  —  in  der  Paralyse 
363.  —  im  postepileptischen  Irresein 
260.  —  im  Wahnsinn  175. 

Reflexhandel  n  der  Hysterischen  235. 
Reflexkrämpfe,  psychische,  im 

Wahnsinn  154.  188. 
Religiöse  Grübeleien,  Veranlass^. 

z.  Wahnsinn  175. 
Remissionen  der  Paralyse  361.  364. 

368. 

Respiration  cephalische  bei  Dementia 
senilis  393.  —  bei  Delirium  acutum 

329.  333.  334.  —  bei  Melancholie  38. 
Retentio  urinaeim  Delirium  acutum 

330.  335.  —  bei  Paralyse  358.  —  et 
alvi  bei  Melancholie  74. 

Rheumatoide  Empfindungen, 
Veranlassg.  z.  Melancholie  49. 

Rückenmarkserkrankungen  mit 
Geistesstörung  394. 

Ruckenmarksveränderun  gen 
durch  Paralyse  372. 

Rüstiges  Gehirn,  Bez.  dess.  zur  See- 
lenstörung 12.  — ,  Psychosen  dess.  12. 
14.  17. 

Salz  zur  Coupirung  eines  epileptischen 

Anfalls  269. 
Sauf erdyskrasie,  chronische  403. 
Satyriasis  im  Wahnsinn  173. 
Schadelformen  der  Idioten  511. 
Schädelverdickung  durch  Paralyse 

369. 

Schlaf  im  Delirium  acutum  329.  — bei 
Hirnatrophie  (primärer)  386.  —  bei 
Manie  .  93.  —  bei  Wahnsinn  (acutem 
hypochondrischen)  186. 

Schlaflosigkeitbei  Hypochondrie  282. 

—  bei  Melancholie  39,  Behandlung 
ders.  41. 

Schlingfun ction  bei  Delirium  acut. 
329.  330.  333.  334.  335.  —  bei  Idiotie 
500.  —  bei  Mania  gravis  110.  —  bei 


Melancholie  39.  —  bei  Paralyse  353. 
363. 

Schmerzen,  heftige,  Ursache  von  Deli- 
rium acutum  maniacale  326. 

Schnupfen,  Einschränkg.  dess.  bei 
Melancholikern  45. 

Schreck,  Veranlassung  von  Hysterie 
240,  von  Melancholie  34. 

Schrift  nach  Dementia  acuta  224.  — 
Paralytiker  349.  361.  —  jugendlicher 
Epileptiker  274. 

Schuldbewusstsein,  wirkliches,  Ver- 
anlassg. von  Furor  10 1. 

Schwachsinn  anergetischer  einfacher 
505.  — ,  angeborener,  Bez.  dess.  z. 
epileptischen  Irresein  256.  — ,  apha- 
tischer507.  — ,  eretischer  118.  506.  — 
mit  Grössen wahn  506.  — ,  hebephrener 
508.  — ,  idiotischer  500.  501.  503.  515. 

—  jugendlicher  Epileptiker  272.  274. 
— ,  moralischer  507.  —  ,  phlegmatischer 
118.  —  reizbarer  117.  —  torpider 
116.—,  versatiler  nach  erschöpfenden 
Geburten  229. 

Schwäche,  psychische  115.  — , 
anergetische  u.  erethische  1 1 5,  (in  der 
Idiotie)  498.  504.  —  nach  Delirium 
acutum  330.  334.  336,  postepilepticum 
259.  — ,  erworbene  115.  —  nach  Manie 
98.  —  in  der  Melancholie  54,  (Folge 
ders.)  22.  —  bei  Paralyse  342.  359. 
364.  367.  — ,  reizbare  im  Wahnsinn  132. 

—  bei  Stupor  (circulärer  Form)  310. 
Schwangerschaftswahn  163.  — , 

bei  peracut.  u.  acut,  exaltirt.  Wahn- 
sinn 181. 

Schweisse,  abundante,  im  Delirium 
acutum  328.  329.  330.  333,  tremens 
416.  —  bei  Paralytikern  —  357. 

Schwindel  bei  Encephalitis  syphili- 
tica 399.  —  im  epileptischen  Irresein 
264.  —  bei  Hirnatrophie  (primärer) 
387.  —  nach  einem  postepileptischen 
Stupor  258.  —  bei  der  psych.  Me- 
ningo-Periencephalitis  chron.  379. 

8crophulose,  Complic.  der  Idiotie  51 0. 

Seeale  cornutum  bei  Paralyse  376. 

Sedativa  bei  Melancholie  41. 

Seelenstörungen,  Begriffsbestim- 


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538 


Register. 


mang  ders.  1.  — ,  Eintheilung  ders.  6. 

—  als  Gesammtaffection  der  Indivi- 
dual-Seele  3.  — ,  Heilung  ders.  im 
Allg.  4.  —  als  Mit-Effect  organischer 
Gehirnleiden  4.  — ,  Nosologie  ders.  im 
AlJg.  3.  — ,  transitorische  457. 

Seeluft  bei  Paralyse  377. 

Sehnenreflexe  bei  attonischem  Stu- 
por 215.  —  bei  Pacchymeningitis  (psy- 
chisch.) 384.  —  bei  Paralyse  351. 

Sehstörungen  Paralytiker  356. 

Selb8tbewusstsein  der  Idioten  505. 

—  bei  Seelenstörung  6. 
Selbstgefühl  des  Melancholikers  28. 

29.  —  im  Wahnsinn  136.  182. 
Selbstmordtrieb  440.  444.  —  bei 
conträrer  Sexualempfiudung  448.  — 
im  Delirium  tremens  415.  —  beim  Ein- 
tritt der  Paroxysmen  alternirender 
Psychosen  319.  —  bei  Encephalitis 
syphilitica  397.  —  bei  epileptischem 
Irresein  261.  263.  268.  — ,  hereditärer 
428.  —  bei  Hirnatrophie  (primärer) 
387.  —  bei  Hypochondrie  284.  —  bei 
Melancholie  27.  52.  57.  68.  69.  75. 

—  bei  Moral  Insanity  490.  493.  — , 
neurotisch  Belasteter  452.  —  bei  Pa- 
ralyse 345.  361.  —  im  Trinkerwahn- 
sinn  406.  410.  —  im  Verfolgungswahn 
melancholischen  167.  —  im  Wahn- 
sinn 145. 

Selbstverstümmlung  im  epilepti- 
schen Irresein  261.  268.  —  im  hysie- 
rischen  Irresein  246.251.  —  im  men- 
strualen  Irresein  322.  —  in  der  Para- 
lyse 363.  —  im  Verfolgungswahn  167 

—  im  Wahnsinn  173. 
Senil-atrophiBche  Zust&nde  bei 

Paralyse  373. 

Senium,  Entfaltung  hereditärer  Neu- 
rosen in  dems.  456. 

Senium  praecox,  Bez.  dess.  z.  ori- 
ginären Verrücktheit  476;  z.  Paralyse 
373.  —  hereditär  Belasteter  456. 

Sensibilitätsstörungen  bei  Alko- 
holismus chronic.  409.416.  —  bei  alter- 
nireuden  Psychosen  319.  —  bei  Blöd- 
sinn 1 26.  —  im  Delirium  acutum  332. 

—  in  der  Dementia  senilis  392.  —  im 


epileptischen  Irresein  261.  —  bei  Hira- 
atrophie  (primärer)  388.  —  bei  Hypo- 
chondrie 278.  281.  —  bei  Hysterie  239. 

—  der  Idioten  510.  —  in  der  Katatonie 
197.  209.  —  bei  Manie  86.  —  bei  Me- 
lancholie 22.  31.  33.  35.  55.  72.  243  306. 

—  der  Paralytiker  356.  —  bei  Rücken- 
markserkrankungen  395.  —  im  Wahn- 
sinn 140.  144.  —  bei  Zwangsvorstel- 
lungen und  Zwangsacten  439. 

Sensorielle  Störungen  im  Alko- 
holismus, chron.  41 8.  —  im  Delirium 
tremens  415.  —  der  Idioten  510.  —  bei 
Manie  86.  —  bei  Melancholie  33.  36. 
37.  56.  306.  —  bei  Paralyse  355.  — 
im  Wahnsinn  157.  —  s.  auch  Sinnes- 
täuschungen. 

Sexual  drang  nach  abgeheilter  De- 
mentia acuta  225.  — ,  angeborener  445. 

—  im  chronischen  Alkoholismus  41 1. 

—  bei  Eifersuchtswahn  der  Frauen 
162.  —  bei  Hysterie  237.  249.  —  bei 
Paralytikern  347. 

Sexualempfindung,  conträre  447. 
— ,  angeborene  und  erworbene  449.  — , 
forense  Bedeutung  ders.  449.  — ,  Here- 
dität ders.  427. 

Sexualmanieen  103.  — ,  Compiicat. 
ders.  mit  Wahnsinn  175. 

Sexuelle  Einflüsse  bei  Grössenwahn 
169.  —  bei  Moral  Insanity  492.  —  bei 
originärer  Verrücktheit  477. 486.  -  bei 
Trinkerwahnsinn  (acutem)  406. 409.  — 
bei  Verfolgungswahn  155.  168. 

Sexuelle  Reize  bei  Hysterie  236.  — 
bei  Melancholie  39.  — ,  Veranlassg.  zu 
hallucinat.  Stupor  225. 

Simulation  bei  Hysterie  237. 

Sinnenwahn  137.  138.  139. 

Sinnestäuschungen  im  Alkoholis- 
mus chronic.  409.  413.  —  im  Delirium 
tremens  4 1 4.  —  bei  Dementia  acuta  22 1 . 
250.  —  im  epileptischen  Irresein  259. 
262. —bei  Hirnatrophie  (primärer)  386. 

—  bei  Hypochondrie  283.  —  in  der 
Katatonie  200.  202. 206. —in  der  Manie 
77.  85.  113.  -  bei  Melancholie  33.  37. 

—  bei  Paralyse  344.  345.  355.  356. 
360.  361.  364.  382.  —  bei  Stupor  226. 


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Register. 


539 


—  im  Trinkerwahnsinn  406.  408.  — 

—  im  Verfolgungswahnsinn  152.  153. 
157.  —  im  Wahnsinn  131.  140.  147. 
172.  175.  189. 

Sklerose  der  Hirnrinde  bei  Idioten 
512. 

Somatischer  Zustand  bei  alterniren- 
den  Psychosen  319.  —  bei  Blödsinn 
125.  —  im  Delirium  tremens  416.  417. 

—  bei  Hypochondrie  281.  —  jugend- 
licher Epileptiker  274.  —  bei  Manie 
86.  88.  113. —  bei  Melancholie  38.  75. 

—  bei  menstrualen  Psychosen  323.  — 
bei  originärer  Verrücktheit  477.  —  bei 
Stupor  (circulärer  Form)  309  —  bei 
Wahnsinn  144. 168. 179.  — bei  Zwangs- 
vorstellungen. 447. 

Somnambule  Zustande  bei  originä- 
rer Verrücktheit  476. 
Sopor  bei  Delirium  acutum  328.  334. 

—  bei  Dementia  acuta  212.  —  im  In- 
tervallstadium circularer  Psychosen 
307.  310.  —  bei  Pacchymeningitis  384. 

Spannungsneurose,  motorische 
bei  Dementia  acuta  212.  —  bei  Kata- 
tonie 195. 

Spastische  Paralyse,  Complic.  der 
Idiotie  509. 

Speichelfluss  im  Delirium  acutum 
336,  postepilepticum  259.  —  in  der 
Katatonie  199.  201.  211. 

Sphinkterenlähmung  bei  Idiotis- 
mus 500. 

Spinale  Störungen,  Complic.  der 

Idiotie  509. 
Spinalirritation  bei  Hypochondrie 

282.  —  bei  Melancholie  64.  69.  —  im 

Wahnsinn  (chronisch.-depressiven)  1 55. 

157.  162. 

Spinalneurose,   Ursache  von 
Wahnsinn  144. 
Spinalreflexe  bei  attonischem  Stu- 
por 214. 

Sprachfertigkeit  in  der  Manie  82. 

Sprachstörungen  bei  Alkoholismus 
chronic.  411.  —  Blödsinniger  122.  — 
im  Delirium  acut.  327.  328.  335.  — 
bei  Idioten  498.  499.  501.  502.  505. 

—  jugendlicher  Epileptiker  274.  —  bei 


Manie  84.  96.  108.  -  Paralytiker  348. 
36t.  362.  363.  367.  368.  —  nach 
postepileptischem  Irresein  259.  — 
bei  psych.  Meningo  -  Periencephalitis 
chronic.  379.  380.  —  im  Verfolgungs- 
wahn 153.  —  im  Wahnsinn  191. 

Stehltrieb  Blödsinniger  125.  —  Here- 
dität dess.  443. 

Sterilität  durch  AlkoholiBmus  chronic. 
412.  —  bei  Fortpflanzung  erblicher 
Entartung  431. 

Stimme  eines  Paralytikers  352.353.  362. 

Stirnkopfschmerz  im  Beginn  des 
hystero-epilepti8chen  Insultes  240. 

Strabismus  bei  primärer  Hirnatrophic 
390. 

Strangulationen,  Veranlassung  zu 
primärer  Dementia  228. 

Stupidität  bei  Hirnatrophie  (primärer) 
388.  —  bei  Wahnsinn  174.  190. 

Stupor,  apathischer  225.  310.  — ,  atto- 
nischer  214.  — ,  Behandlung  dess.  227. 
231.  233.  — ,  circulärer  309.  — ,  Com- 
plicat.  der  primären  Hirnatrophie  390. 
—  bei  Delirium  acut.  332.  — ,  Diagnose 
dess.  213.  214.  epileptischer  262. 
— ,  hallucinatorischer  225.  — ,  hyste- 
rischer 247. 250. -in  der  Katatonie  195. 
201.  202.  205.  — ,  menstrualer  322.  — , 
organischer  214.  — ,  postepileptischer 
257.  — ,  postmanischer  (anergetischer) 
219.  —  bei  psych.  Meningo -Perience- 
phalitis chron.  384.  — ,  recidivirender 
in  der  Reconvalescenz  der  Dementia 
acuta  218.  — ,  transi torischer  463.  — , 
Verlauf  dess.  216.  220.  226.  258.  —  im 
Wahnsinn  119.  136.  160. 

Submaxillardrü8e,  Anschwellung 
ders.  bei  Delirium  acutum  329. 

Subsultus  tendinum  bei  Delirium 
acutum  329. 

Such-Manie  440.  —  der  Wahnsinnigen 
134. 

Suppos  itorien  zur  Behandlung  der 

Hysterie  253. 
Sympathicus,   anormale  Thätigkeit 

dess.  bei  Paralyse  374.  375. 
Syphilidophobie  72.  [394. 
Syringomyelie    mit  Geistesstörung 


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540 


Register. 


Tabes  spinalis  mit  Geistesstörung 
394.  — ,  Veranlassung  z.  Verfolgungs- 
wahnsinn 162. 

Tabische  Paralyse  294.  — ,  Behand- 
lung ders.  401. 

Tartarus  stibiatus- Salbebei Para- 
lyse 376. 

Tetanus  im  Delirium  acutum  328.  — 
in  der  Manie  gravis  110.  —  Paraly- 
tiker 354. 

Thrombose,  marantische,  bei  Para- 
lyse 363. 

Tobsucht  melancholische  bei  Furor 
100.  —  bei  ParalyBe  382. 

Torpor  bei  psychischen  Schwächezu- 
standen 119.  —  nach  Wahnsinn  185. 

Tracheairasseln  im  Delirium  acu- 
tum 329. 

Träume  im  epileptischen  Irresein  262. 

—  im  hysterischen  Irresein  238.  — 
des  Melancholikers  25.  —  im  Wahn- 
sinn 172. 

Transitorische  Seelenstörungen 
457.  462. 

Traumzustände,  hallucinatorische 
im  Wahnsinn  131.  —  der  primären 
Hirnatrophie  387. 

Tremor  im  Alkoholismus  chronic.  411. 
415.  416.  419.  —  bei  psychischer  Hirn- 
erkrankung 8. 

Trinkerverf olgungs wah u  418. 

Trinkerwahnsinn,  acuter  183.  405. 
-,  Krankheitsbild  dess.  406. 

Trismus  8.  Tetanus. 

Trophische  Störungen  bei  alterui- 
renden  Psychosen  320.  —  bei  Blödsinn 
126.  —  im  Delirium  acutum  325.  334. 

—  bei  Dementia  acuta  214.  225.  — 
des  Gehirns  in  der  Manie  107,  in  der 
Melancholie  31.  —  bei  Hirnatrophie 
(primärer)  387.  —  bei  Hysterie  239. 

—  bei  Manie  86.  87.  95.  112.  —  bei 
Melancholie  33.  37.  51.  55.  63.  67. 

—  bei  Paralyse  35".  —  bei  psychisch. 
Meniugo-Periencephalitis  chronic.  380. 

—  bei  Verfolgungswahn  155.  —  bei 
Wahnsinn  140.  161.  178.  186.  l^J. 

Tuberculose,  Complicat.  der  Idiotie 
518. 


Typhus,  Bez.  dess.  zur  primären  De- 
mentia 228.  — ,  Paralyse  nach  dems. 
366.  — ,  Wahnsinn  nach  dems.  186. 

Ue  beranstrengung,  geistige  als  Ur- 
sache des  Delirium  acutum  maniacal. 

326. 

Umherirren  bei  epileptischem  Irresein 

263. 

Umschläge  im  Delirium  acut.  340.  — 
bei  epileptischem  Irresein  269.  —  bei 
Melancholie  48.  —  bei  Paralyse  376. 
U nbesinnlicbkcit  in  derMania  tran- 

sitoria  458. 
Unterkiefer  -  Missbildungen  bei 

Idioten  510. 
U  n  t  er  1  ei  b  s Sensationen,  hyper- 
ästhetiBche,  Veranlassg.  zu  hypochon- 
drischem Irresein  278;  zu  Wahnsinn 
16S. 

Urate,  Ausscheidg.  ders.  bei  den  Par- 
oxysmeu  des  periodischen  Irreseins  29?. 

Urtheilsschwäche  im  Delirium  tre- 
mens 416. 

Uterinaffectionen,  Veranlassung  z. 
alteruirenden  Psychosen  318;  z.  hypo- 
chondrischer Melancholie  04;  z.  Se- 
xualmanieen  103;  z.  Wahnsinn  144. 

Variola,  Bez.  ders.  zur  primären  De- 
mentia 228.  — ,  Blödsinn  mit  Ataxie 
nach  ders.  366. 

Vasomotorische  Störungen  bei  al- 
ternireuden  Psychosen  319.  —  bei 
Blödsinn  126.  —  im  Delirium  acutum 
325.  333,  tremens  416.  —  bei  Demen- 
tia acuta  214.  225.  —  bei  Grössenwahn 
167.  —  bei  Hirnatrophie  (primärer)  389. 

—  bei  Hypochondrie  282.  —  bei  Hy- 
sterie 239.  —  bei  Manie  86.  244.  459. 

—  bei  Melancholie  22.  33.  37.  56.  69. 
243.  2US.  —  bei  Paralyse  357.  361. 
363.  366.  367.  —  bei  Stupor  (circu- 
lärer  Form)  309. 310.  — ,  Ursache  func- 
tioneller  Psychosen  4.  —  bei  Verfol- 
gungswahn 155. 157.  162.  —  bei  Wahn- 
sinn 160.  161.  170.  179.  184.  195.  201. 
203.  20i>. 


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Register. 


5-41 


Verbigeration  bei  Katatonie  (hyste- 
rischer) 209. 

Verblödung,  progressive  bei  Alkoho- 
li8mus  chronic.  420. 

Verbrechen,  Bez.  dess.  z.  Wahnsinn 
430. 

Verbrechenstrieb  der  Idioten  505. 
508. 

Verdauungsstörungen  in  der  Manie 
87.  —  bei  Melancholie  38.  —  bei  Hy- 
pochondrie 278.  282. 

Vererbungsgesetze  427. 

Verfolgungswahn  146.  — ,  acuter 
149.  — ,  alkoholischer  405.  40*.  409. 
— ,  cerebraler  146.  — ,  cerebro-spinaler 
155.  — ,  Complicat.  dess.  mit  Grössen- 
wahn  165.  —  bei  Dementia  senilis  391. 

—  der  Epileptiker  265.  — ,  hallucina- 
torischer  141.  182.  —  hereditär  Dis- 
ponirter  453.  —  bei  Hirnatrophie  (pri- 
märer) 388.  — ,  hypochondrischer  284. 

—  bei  hysterischem  Irresein  245.  249. 
— ,  klinisches  Krankheitsbild  dess.  146. 
155.  166.  — ,  manischer  III.  163.  — , 
melancholischer  (35. 164. — ,  menstrualer 
322.  —  nach  Moral  Insanity  469.  — , 
negativer  154.  —  Paralytiker  364. 
367.  — ,  periodischer  165.  — ,  physi- 
kalischer 155.  161.  —  bei  psychisch. 
Meningo-Periencephalitis  chron.  379. 
380.  — ,  remittirender  Typus  dess. 
146.  — ,  spinaler  155. 161.  — ,  tabischer 
162.  — ,  transitorischcr  alkoholistischer 
405.  407.  -,  Verlauf  desB.  152.  159. 
168. 

Verificationszwang  134.  485. 

Verletzungen,  Anlass  zu  epilep- 
tischen Anfällen  in  der  Jugend  272. 

Verrücktheit,  abortive  437.  — ,  Bez. 
ders.  z.  chronisch.  Wahnsinn  15.  136. 
— ,  gemischt  depressiv-exaltirte  480. 
— ,  hysterische  245.  —  katatone  202. 
originäre  245.  475. 

Verwirrtheit  im  Delirium  acutum  327. 
— ,  hallucinatorische  120.  — ,  manische 
85.  —  bei  Paralyse  (subacut.)  382. 

—  bei  psychisch.  Meningo-Perience- 
phalitis 379.  —  bei  Wahnsinn  180. 

Vociferiruüg  bei  Manie  83. 


Vorderhirn-Functionen,  Bez.  ders. 
zu  den  Psychosen  u.Neuropsychosen  1 1 . 

Vorstellungsanomal  ieen  bei  Furor 
100.  —  hereditär  Belasteter  436.  — 
bei  Hypochondrie  280.  —  in  der  Ma- 
nie 82.  85.  93.  —  in  der  Melancholie 
29.  30.  31.  58.  —  bei  Paralyse  343. 
360.  262.  263.  —  im  Verfolgungswahn 
157.  —  im  Wahnsinn  131.  139. 

Vorsteliungswahn  137. 

ärmegefühl,  erhöhtes  in  der  Manie 
86. 

Wahn,  expansiver  (fixer)  bei  Moria  106. 

— ,  fertiger  132.  — ,  melancholischer  51. 
Wahnideen  1 37.  —,  Combinirung  der 

einzelnen  Formen  im  Wahnsinn  141. 

—  bei  Dementia  senilis  391.  — ,  Ein- 
tlus8  ders.  auf  den  Willen  141.  — , 
Genese  ders.  137.  138.  —  des  Grössen- 
wahns  140.  — ,  hypochondrische  140. 
141.  — ,  Inhalt  ders.  beim  Wahnsinn 
140.  —  bei  der  Melancholie  31.  32. 

—  der  organischen  Melancholieen  66. 
— ,  remittirend-exaccrbescirendcr  Cha- 
rakter ders.  im  Wahnsinn  141.  —  des 
Verfolgtwerdens  140. 

Wahnsinn  130.  — ,  acuter  131.  134. 
175.  — ,  acuter  cerebrospinaler  186.  — , 
acuter  depressiver  u.  dann  expansiver 
183.  — ,  acuter  gemischt  depressiv- 
exaltirter  1 85.  — ,  acuter  exaltirter  181. 
— ,  acuter  halluciuatorischer  182.  — , 
acuter  hysterischer  1S6.  — ,  acuter 
manischer  191.  — ,  acuter  melancho- 
lischer 187.  — ,  acuter  sensueller  180. 
— ,  Aetiologio  dess.  131.  134.  —  durch 
Alkoholismus  405.  410.  420.  — ,  atto- 
nischer  195.  -,  Behandlung  dess.  145. 
193.  — ,  Benehmen  u.  Handeln  des 
Wahnsinnigen  141.  — ,  Bez.  dess.  z. 
physiologischen  Traumleben  6.  — , 
cerebraler  146.  — ,  cerebrospinaler 
1 55.  1 86.  — ,  cerebrospinal  -  neural- 
gischer 205.  chronischer  131.  137. 
388.  — ,  chronischer  depressiver  146. 
— ,  chronischer  expansiver  169.  — ,  cir- 
culärer  304.  307.  — ,  degenerativer 
161.  — ,  depressiver  (dämonomanischer) 


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542 


Register. 


97.  183  200.  322.  —  bei  epileptischem 
Irresein  263.  — ,  erworbener  137.  — , 
expansiver  106.  183.  — ,  hallucinato- 
rischer  97.  148.  180.  182.  225.  —  he- 
reditär Disponirter  456.  457.  — ,  hypo- 
chondrischer 159.  186.  283.  — ,  hypo- 
chondrisch -  hysterischer  245.  — ,  hy- 
sterischer 196.  207.  245.  247.  249.  — , 
klinisches  Krankheitsbild  dess.  146. 
155.  165.  169.  175.  — ,  manischer  97. 
113.  160.  163.  191.  -,  masturbatori- 
scher  155.  — ,  melancholischer  31.  51. 
59.  164.  187.  — ,  menstrualer  1SI.  — , 
negativer  154.  173.  — ,  negativer  ex- 
pansiver 173.  — ,  onanistischer  161. 
— ,  peracuter  181.  — ,  peracuter  ma- 
nischer 460.  -,  religiös -expansiver 
196.  — ,  remittirender  149.  — ,  secun- 
därer  120.  — ,  spinaler  204.  — ,  Stim- 
mung in  demB.  143.  — ,  stupuröser 
177.  — ,  Symptomatologie  dess.  (all- 
gemeine) 137,  (specielle)  180.  — ,  Un- 
terscheid^ dess.  von  der  Melancholie 
132.  136.  — ,  Ursachen  dess.  144.  — , 
Vererbung  der  Prädisposition  zu  dems. 
428.  — ,  Verlauf  dess.  136.  144.  152. 
159.  168.  172.  175.  — ,  Zwangshand- 
lungen in  dems.  142. 

Wahnvorstellung  137. 138.— s.  auch 
Wahnideen. 

Wasch-Manie  441. 

Wein  zur  Behandig.  des  attonischen 
Stupors  232,  der  Melancholie  45,  der 
Paralyse  378. — zur  Coupirung  eines  epi- 
leptischen Anfalls  269.  —  bei  Schwäche- 
zustanden im  Delirium  acutum  340. 

Weinkrämpfe  bei  hysterischer  Me- 
lancholie 243. 

Willensstörungen  bei  Blödsinn  125. 
—  in  der  Dementia  senilis  392.  —  bei 
Hypochondrie  280.  —  in  der  Manie 
79.  —  in  der  Melancholie  29.  70.  —  bei 
Paralyse  347.  364.  -  bei  Stupor  177. 

Wortzwang  im  Wahnsinn  142. 

Zahlenzwang  433. 
Zahnaffe ctionen  im  Delirium  acu- 
tum 328. 

Zahnmissbildungen  bei  Idioten  510. 


Zeit  sinn,  Schwinden  dess.  in  Mania 
gravis.  —  im  Wahnsinn  (hypochondri- 
schen) 160. 

Zeugungsact,  Bez.  dess.  zur  Heredi- 
tät 432. 

Zerstörungsdrang  im  Delirium  acu- 
tum 334,  postepilepticum  258.  —  bei 
Dementia  acuta  225.  —  Hysterischer 
241.  246.  249.  251.  —  jugendlicher 
Epileptiker  276.  —  in  der  Katatonie 
199.  201.  —  in  der  Manie  304.  — , 
Paralytiker  360.  366.  382.  383.  —  im 
Wahnsinn  168. 

Zittern  bei  Encephalitis  syphilitica 
399.  —  bei  Hirnatrophie  (primärer) 
386. 388.  —  der  Idioten  499.510.  —  der 
Paralytiker  354.  363.  —  bei  psychisch. 
Meningo- Periencephalitis  380.  —  bei 
psych.  Pacchymeningitis  384. 

Zorn-Manieen  93.  102.  — ,  Complic. 
der  Paralyse  360. 

Zornparoxysmen  bei  Furor  100.  — 
beim  Verfolgungswahnsinn  156. 

Zunge,  Beschaffenheit  ders.  im  Deli- 
rium acutum  329.  330.  333.  336.  — 
bei  Paralyse  351.  354.  359. 

Zwang,  geistiger  2.  133.  205.  —  bei 
Hypochondrie  279. 

Zwangsacte  432.  439.  — ,  impulsive 
441.  —  bei  Melancholie  35.  56.  58. 
— ,  physiologischer  Mechanismus  ders. 
441.  — ,  scheinbar  gewollte  440.  —  bei 
Verf  olgungswahnsinn  152.—  bei  Wahn- 
sinn 132.  142.  161.  175. 

Zwangsbewegungen  bei  alterniren- 
den  Psychosen  319.  —  bei  Blödsinn 
(idiotischem)  498.  --  im  Delirium 
acutum  328.  329.  335.  —  in  der  Manie 
111.  —  bei  Melancholie  243.  —  bei 
paccby meningitischen  Zufällen  358.  — 
bei  Paralyse  347. 354.  362.  —  bei  post- 
epileptischem Irresein  260.  262.  — 
bei  psych.  Meningo -Periencephalitis 
chron.  379.  —  im  Wahnsinn  143.  247. 
249. 

Zwangsempfindung  434.  — ,  senso- 
rische 436. 

Zwangsgedanken  beim  hereditären 
Irresein  465.  -  bei  Melancholie  32 


4 

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Register. 


49.  — ,  Uebergang  ders.  in  Wahnvor- 
vorstellungen 470.  —  bei  Verfolgungs- 
wahn 155.  —  im  Wahnsinn  142. 

Zwangshandlungen  s.  Zwangsacte. 

Zwangsvorstellungen  432.  —  bei 
Dementia  senilis  392.  — ,  emotive  u. 
nicht-emotive  433.  —  bei  Hirnatrophie 
(primÄrer)  386.  —  bei  Hypochondrie 


543 

280.  —  der  Hysterischen  238.  246. 
249.  —.klinisches  Verhalten  ders.  437. 
—  bei  Melancholie  55.  243.  299.  —  bei 
menstrualem  Irresein  322.  —  psycho- 
logischer Charakter  ders.  434.  — ,  verti- 
ginöse  446.  —  bei  Wahnsinn  143. 
183.  247. 


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Dniok  von  J.  B.  Hirsch fftld  iu  Leipzig. 


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