Specielle Pathologie und
Therapie der ...
Heinrich Schüle
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Tb A7
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H. SCHÜLE.
KLINISCHE PSYCHIATRIE,
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HANDBUCH
der
Speciellen PatMop ui Therapie
bearbeitet von
Prof. H. Ausplte in Wien, Dr. V.Babea in Budapest, Dr. A. Baer in Berlin, Prof. Chr. Baeumler in Froiburg.
woiL Prof. C. Bartels in Kiel, Prof. J. Bauer in Mönchen, Prof. V. F. Birch-Hirschfeld in Leipzig, weil. Prot.
H. v. Boeok in München, Prof. B. Boehm in Leipzig, Prof. O. Bollinger in Manchen, Dr. H. Oursohmann
in Hamborg, Baur. L. Degen in Kogonsburg, Prof. W. Ebstein in Oottingen, Prof. W. Erb in Heidolberg, Prof.
F. Erismann in Moskau, Prof. A. Eulenburg in Berlin, Prof. C. Flügge in Göttingen, Prof. J. Forster
in Amsterdam, Prof. B.Fraenkel in Berlin, Prof. O. Fraentoel in Berlin, weil. Prof. N. Friedreich in Heidelberg,
Prof.E. Geber in Klaosenburg, Prof. A. Geigel in Wünburg, woil. Dr. F.Haenisoh in Groifawald, Prof. A. Heller
in Kiel. Prof. H. Herls in Amsterdam, Prof. O. Heubner in Leipzig, Prof. A. Hilger in Krlangen, Prof. Li. Hirt
in Breslau, Prot E. Hitzig in Halle, Prof. G. Huguenin in Zürich, Prof. H. Immormann in Basel, Prof.
F. Jolly in Straasbarg, Prof. Th. Juergensen in Tübingen, Prof. A. Kunkel in Wünburg, Prof. A. Kussmaul
in Strasburg, weil. Prof. H. Lebert in Vetey, Prof. O. Leiehtenstem in Köln, Dr. B. Lesser in Leipzig.
Prof. W. Leube in Würzburg, Prof. C. v. Liiebermeister In Tftbingen, Dr. G. Merkel in Nürnberg, Dr.
P. Biiehelson in Königsberg, Prot F. Mosler in Qreifswald, Prof. B. Naunyn in Königsberg, Prof. A. Neisser
in Broslau, Prof. H. Nothnagel in Wion, weiL Prof. F. Obernier in Bonn, Prof. J. Oertel in München, Prof.
M. v. Fettenkofer in München. Prof. E. Ponfick in Breslau, Prof. H. Quincke in KieL Dr. F. Benk in Mün-
chen, Prof. Fr. Riegel in Giossen. Prof. E. Rindfleisch in Würzbnrg, Prof. S. Rosenstein in Leiden, Prof.
H. Ruehle in Bonn, Prof. O. 8ohroeder in Berlin. Prof. Ii. Sohrötter in Wien, Dr. H. Schule in nienau, weil.
Prof. O. v. Schuppet in Tübingen, Dr. A. Schuster in München, Prof. E. Schwimmer in Budapest, Prof E. Seit?,
in Wiesbaden, Prof. H. Senator in Berlin, Prof. J. Soyka in Prag, Dr. A. Steffen in Stettin, weiL Prof.
J. Steiner in Prag, Prof. Th. Thierfelder in Rostock, Prof. Ii. Thomas in Freiburg, Dr. P. G. Unna in
Hamburg, weil. Dr. E.Veiel in Cannstatt, Dr. Th.Veiel in Cannstatt, Prof. A. Vogel in Dorpat, Prof. E.Wagner
in Leipzig, woiL Prof. H. Wendt in Leipzig, Dr. A. Weyl In Berlin, Dr. G. WoLffhügel in Berlin, Prof.
in Erlangen. Prof. H. v. Ziemssen in München, Prof. W. Zuelser in Berlin
Herausgegeben
von
Dr. H. v. Ziemssen,
Professor der klinischen Medicin in München.
XVI. HAND.
DRITTE AUFLAGE.
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C.W.VOGEL.
18S6.
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KLINISCHE PSYCHIATRIE.
SPEC [ELLE PATHOLOGIE UND THERAPIE
DHU
GEISTESKRANKHEITEN
VON
Dr. HEINRICH SCHÜLE
««
IN 1LLKNAU.
Dritte völlig umgearbeitete Auflage.
MIT 3 ABBILDUNGEN.
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C.W.VOGEL.
1886.
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I
Das Uebersetzungsrecht ist vorbehalten.
Herrn Geheimrath Dr. C. Hergt
DIRECTOR IN ILLENAU
ZUGEEIGNET.
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Vorwort.
Die nachstehende Darstellung umfasst die Schilderung der
speci eilen Formen des Irreseins. Sie erscheint, wenn auch als
weitere Ausfuhrung des betr. Capitels meines früheren Handbuchs,
doch als eine vollständig neue, auf breiterer Grundlage angelegte,
mit möglichster Berücksichtigung nicht allein der typischen Bilder,
sondern auch der Variationen, sowohl in den Zeichencomplexen
selbst, als in den Verlaufsarten, der Mischung und den Uebergängen
der einzelnen Zustandsformen. Indem zugleich auch die wichtigern
einschlägigen Capitel aus der allgemeinen Psychopathologie einge-
flochten sind, stellt das Buch den Versuch einer „klinischen
Psychiatrie" dar. Von einer eingehenden Besprechung der
Aetiologie musste dabei, schon des Umfanges der Schrift wegen,
abgesehen werden; dagegen ist die Prognose und namentlich die
Therapie, dem praktischen Zwecke einer klinisch vollständigen
Darlegung entsprechend, gebührend berücksichtigt.
Das zu Grunde gelegte Material stammt nur aus hiesigen Be-
obachtungen, theils aus der eigenen jetzt nahe an 25jährigen Er-
fahrung, theils aus den Aufzeichnungen früherer Mitarbeiter. Wenn
ich unter diesen den Namen unseres leider zu früh verstorbenen
Dr. Kast (späteren Bezirksarztes in Freiburg) hervorhebe, so genüge
ich einer schuldigen Anerkennung für diesen lieben Freund und aus-
gezeichneten Beobachter. Der Beschränkung auf das hiesige Material
lag die Absicht einer möglichst unabhängigen Darstellung zu Grunde,
deren Ergebnisse, soweit sie mit anderwärts gemachten zusammen-
träfen, frei und selbstständig diese letzteren zu bestätigen geeignet
wären. Darnach möge auch die Verwerthung der Literatur im Texte
bemessen werden, welche aus obiger Rücksicht in engeren Grenzen
sich halten durfte.
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X
Vorwort.
Für die zwei Capitel des epileptischen Irreseins und des Idio-
tismus schulde ich einen grossen Theil des Materials und manchen
schätzbaren Wink der Freundlichkeit meines hiesigen Collegen Frz.
Fischer und namentlich des Collegen Wildermuth in Stetten.
Beiden möchte ich hiermit meinen geziemenden Dank abstatten. Auch
mein Freund v. Kr äfft- Ebing sei nicht vergessen.
Dass ich dem Buche den Namen meines verehrten Freundes
und Collegen Hergt vorsetzen und dasselbe dem hochverdienten
Manne zur Feier seines 50jährigen Jubiläums Uberreichen durfte,
gereicht mir zur besonderen Befriedigung. Sei es ihm, neben dem
Ausdruck pietätsvoller Gesinnung, zugleich ein Andenken an das
gemeinsame schöne Wirken in unserem Illenau, dessen Emporblühen
das höchste Streben seines reichen Lebenswerkes, dessen segens-
volle Erfolge zum grossen Theile das Verdienst seiner Arbeit,
seines Beispiels sind!
Illenau, November ISS5.
H. Schüle.
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Iiilialtsverzeiclmiss.
:*eite
Einleitung. Begriffsbestimmung: der SeelenstKruny.
Vcrhaltniss der Lehre der ,.p8ychi.schen" Störungen zu den Ergebnissen der
Hirn phy-iiologie und Hirnanatoroie . . . . . . . . . . . . . . 2
Erfordernisse für die einstige ».nosologische4' ' Krkeimtniss der Seetenstörung 4
Angabe tlos Buchs als eine klinisch-descriptive 5
Eintlieiluug der Seelenslürumren.
Syiuptoinatologischer Standpunkt i\
Wichtigkeit des ., Verlaufs" . • ■ ■ T
Der psychologischen Qualität der Kinzelsymptomc qua Keactionsforincn der
Tiefe des patholog. liirnproccsses ... . ' S
Das Moment der „Krankheitsentwicklung" 10
Der Factor der „cerebralen Widerstandskraft' • \2
Da3 „rüstige" und das „invalide" Gehirn n
Der ..anthropologische" Standpunkt . ■ . • • • ■ ■ ■ - ■ • • ■ F*
Die ..psychischen Cerebrupat.hieen'S die acuten Frschöptungsformcii de-> tle-
hirns idas Pelir. acut.) und die chronische degenerative llirnersc hopfung
ulie progr. Paralyse) • ■ - . I1'
Allgeincin-Schcnia der Fintheilung IT
Klinische Charakteristik der Kinzelgruppen l"S
Die Melancholie. Allgemeines.
Literatur 21
Klinische Definition 22
Analyse der Symptome • • • • 23
Störungen des Fuhlens und Wollens ... 23
Klinische Haupttypcn 2 1
..Antraf* 26
Erniedrigung des Selbstgefühls 28
Das Wollen .... 2^
Anomalieon des Vorstellcns , , . . . . . . . . . . . . . . . . 2D
Melancholischer ..Wahn" 31
Ailegorieen aus den begleitenden Sensibilitatsstörungen resp. psvehophysische
Function der Neuralgie" . . . . . . . . . ....*, . 31
Melancholischer Verfolgungswahn , Thiermetamorphose , hypochondrische
Wahnbildung . • • • • • • • • • - . . ■ • • 32
Anomalieen der sensorischen Functionen, Sinnestäuschungen . . '. '. . . 33
Anomalieendersensibeln Functionen ; pathogenetische Function der ..Neuralgie" 33
Vasomotorische Begleiterscheinungen. . . .. 3^
lrophische . . . . . . . . . . . . . • • • • 3"
>tnriingen der Respiration. Verdauung, Menstruation, des Schlafes .... 3'>
>limik 39
1 berapie 40
Somatische l'>
XII InhaltäTcrzeichniss.
Opium- und Morphiuminjectionen 42
Bromkali . . . . 41
Korperernahrurig 44
>ahrungsverwcigorung 45
i'sychiscbo . 4(»
iiehandlung der einzelnen Unterformen 47
Specielle Melancholie.
Verschiedener Krankheitsboginn 49
Klinische Typen 61
Weiterverlaut und Ausgango b.s
Massive Melancholie bl
Kaptus inelaiicholicu.H . . ■ - - bb
H y p o c h o n d r i s c h e M e 1 a n c h o 1 i e ~~fiG
Melancholia agitata . "59
lntercurrente acute Wahnsinn aopisodon . . . 59
Melancholische Unterform mit überwiegenden Illusionen .... 60
Chronische Melancholie * Gl
C h r o n i s c h e h y p o c h o n d r i s c h o Melancholio tVA
„Invalide" Mclancholieen: senile 66
IS c uras t h eni sch-tor pide GS
Masturbatorischo . 69
Syphilitische 72
Melancholia attonita 73
Die Manie. Allgemeines.
Literatur 76
Klinische Definition 76
Analyse der Symptome 77
Anomalieen in der ßewegungssphare "77
Anomalieen in der (lenuithssphare sö
Manisches ..Lustgeluhr' . . 81
Manische Verstimmung'' ... H2
Heigemischte Moral Insanity h'2
Anomalieen des Vorstellens vi
„ldeenliucht" ■ . ■ . . . . ■ ■ ■ • . . . • 82
Stufeideiter in der Idcenrlucht; manische Verworrenheit Hb
Grössenwahn Hb
Anomalieen der sensorischen, sensibcln, motorischen und trophischen Kuno-
tionen, der Temperatur . 86
Des Körpergewichts, des Schlafs 87
Therapie" ' ...... . 87
Somatische. 87
Bäder HS
llyoscyamin 89
Korperernahrung 90
Psychische. .... 90
Üehandlung der einzelnen Unterformen 91
Spcclelle Manie.
Klinische Eintheilung 92
Mania mitis 93"
Mania typica. 95
lntercurrente acute W a hnsinnsphasen 97
Ausgange 9"B
lumr 9.)
., Melancholische Tobsucht" H'l
.. Z u r n " in a n i e e n IQ'2
Sexual"manieen . . lü^
Moria. 1 < » r>
Mania gravis luii
< ' h r o nis c h e M an ie 112
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Inbaltsverzeicbniss. XIII
Seite
Psychische Schwlchcznstftnde.
Literatur . . . . . . . . , , , , , , , , , , , , , . . . LH
Analyse der „geistigen Schwäche" 115
Klinische Typen. '. . . . . • • • • • • • lTl
See und är er Wahnsinn res]), halluciiiatorische Verwirrtheit . . . . 110
Oer Blödsinn s. str. 121
Allgemeine klinische Zeichen desselben 122
Mimik und Physiognomik 125
Krankheitstypen . . . . 1 2t>
Ver s a~t l ler s c c. Bl öd s i nn 12G
Apathischer 127
Therapie 120
1)er Wahnsinn — Paranoia.
Literatur , , , , . . , , , . . . , . . . . . , , , : Lü>
Allgemeines . _ 131
Psychologische Analy.se resp. Genese des chronischen typischen Wahnsinns i:TT
Des acuten Wahnsinns ... 13 1
Klinische Ditlerenzen und Zusammenhänge beider . . . . . . . 135
Allgemeine Symptomatologie des chronischen (typischen) Wahnsinns . i:TT
Lhe "„Wahnideen" . . . . . . . . . . . . 137
Formale Genese der letztere; Unterschied der wahnsinnigen von der melan-
cholischen Wahnvorstellung 137
.,Vorstelluugs"wahn • 13S
..Sinnen"wahn 130
Bedeutung der mitbcgleitcnden anomalen Emptindungen (Sensibilitatsano-
malieen) für die ,,Objcctivatioii" . . . . . • • ■ • . • • • " 130
Bedeutung des „Worts" lur die erkrankte „Symbolik" im Wahnsinn llü
Inhalt der Wahnideen . . 1 TT)
Anomalieen des „Wollens" im W ahnsinn 1 12
Des Fuhlens und der Stimmung 143
Somatische Begleitzeichen . . III
Verlauf 11 l
Therapie 113
Chronischer depressiver Wahnsinn.
Verfolgungswahn . 146
a) Cii t'hrtdc Form:
Klinisches Bild 14ü
Wahl des Wahnobjects . . . . . . . . . . . .... . . ■ . 147
Bedeutung und zeitliches Verhältnis» der Ilallucinationen, formale Unter-
schiede in den letztern LL>
Systematisirung 150
Verlauf 151
Ausgange . . . . . 152
Sei-iuul:\rer Kinf allswahnsinn 152
Zerfall in Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L5_3
., Negativer" Verf'olgungswahnsinn . . 154
b ) CcrfhrtJSffhuiu' Form:
I'hys'ikali scher Verfolgungswahnsinn .... 155
Beginn und Entwicklung. . . . . . 15ii
Ceiitritugale und centripetale Ilallucinationen . .157
Weiterverkauf. . . 15S
Mögliche Genesung. . 15'.»
In günstiger Weitervcrlauf . . . . 15'.)
Auttreten von episodischem hypochondrischem Wahnsinn .15'.)
Jntercurrenter Stupor, Grössen wahn H>u
Ausgang in secuiu aren WTahusiuu resp. halluc. Verwirrtheit 1(>0
I'e^enerativer (meist onanistischer) Wahnsinn U>1
Verfolgungswahn auf Grundlage von Tabes lt>2
Li tersuehtswahn bei Frauen. . lo2
XIV Inhaltsvcrzeichniss.
Eifersuchtswahn bei Männern : . , , , , , , , , . , , . ]M
Schwangerschal tswahnsinn . . . 103
Manische Form des Verfolgungswahns 163
Melancholische Form des Verfolgungswahns 164
C ouipli eirender Gross enwahn . . 165
..Abortiver" Verfolgungswahn 168
Der chronische expansive Wahnsinn Iü.»
Klinisches Bild Itifl
VVciterycrlauf und Ausgänge ■ 172
..Negativer" expansiver Wahnsinn 17:>
Subacutc Varietät 174
Der acute Wahnsinn.
Allgemeine Symptomatologie . . . . • ■ • • • 1"5
Zusammenhange und Unterschiede von der Melancholie. Manie, u. dem Stupor 176
Verlaut . 177
Ausgänge . . . . • . . . . • . . . • • • • 1"^
>peciclle Symptomatologie; Der a c u t e h al 1 u ein at o ri s e h e 'Wahnsinn
Typus a): Der acute und peracute e.xaltirte tmenstruale) Wahnsinn. IM
Typus b): Der subacute manische Grössenwahnsinn . . . . . 1n2
Typus c): Der acute und subacuto hallucin. Vertolgungswahnsiun . ]yi
Typus d): Der acute, erst depressive, spater expansive Wahnsinn . \s\
Typus e): Der acute, gleichzeitig depressiv-expansive Wahnsinn . . lv>
Typus f): Der acute hypochondrische Wahnsinn . 1*>H
Typus g): Der acute (subacute) eercbrospinale Wahnsinn .... 186
Der a c u t e m e 1 a n c h o 1 i s c h e W a h n s i n n 1 87
Der acute manische Wahnsinn . , : : : , : , ; : .. , , , VA1
Therapie 193
Der attoniscue Wahnsinn — die Katatonie.
a) Religiös -expansive Form 1%
Status attonitus 11)7
Verlauf . . . ,_, , ^ ._, , , , . '2( MI
b) Depressive (dämon oman o) Form 200
..KaUtonei" Uranaitorischer) lilodsiiin 201
Klinische Varietät dieses letzteren '>()'»
..Geberdun"- Verrücktheit 202
Verlaut' und Ausgange . 203
Neuralgische Unterform dieser damonomanen Gruppe . . . 2o4
..Hysterische" Katatonie 2o7
,.Ka"tatone Manie" .... 2o7
Status attonitus
Weitorverlauf in ilie Genesung 21'»
Ungeheilte >ccundarzustände . 2 1 1
Die acute primäre Dementia.
Literatur . : . . . t , , , , . : ; ; . . . : : . : , 211
Klinische Charakteristik und Eintheilung , . ■ ■ ■ ■ 212
Unterschiede des ..organischen" und des ..psychischen" Stupor . . . 2i:t
Des organischen Stupors und der Mclanch. attonita. . 214
at Der organische Stupor d. h. die acute primäre Dementia mit
Stupor 214
KrMnkluMt-j.ihl ... . ~!ÜX
Ausgänge . - • ♦ 2 1 S
..Fostmanischer" Stupor . . 2ll>
Stupide hallucinatorischo pr. Dementia 220
Krankheitsbild 220
Verlaut' und Ausgänge 222
Anbang: Der „Pseudo" (psychische) Stupor.. 225
Uebergangsloriocn iPseudostupor mit traiisitoriscueni Status atton ) . . . 229
d by Google
Inhaltsverzeichniss.
XV
b) Die acute primäre Dementia ohne Stupor. Postfebrile
Formen, Formen aus aus traumatischer und toxischer Entstehung
22*>
Versatiles Blödsinnsbild
22.)
230
231
Djis liYstpriselH* Irresein
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Chronisch dei>enerativer hysterischer Wahnsinn
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Degenerativer h y s t e r i s c h er B 1 o d si n n
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Zulässigkeit ev. Indicationen für eine gynäkolog. Behandlung
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Behandlung der spcciellen hysterischen Irreseinszustande ....
251
Das epileptische Irresein.
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255
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üj i'hs atuio posiopiicpiiscne angsiiicne uciirium
25S
V a r*i ßtpn
\ ..t*liotf/iTi finü Ii. » w 1 1 u 1. 1 u *>i t\u iiii/l /Im* hVinnnriinif
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l^ziehuiiuen des acuten epilept. Irreseins zu den Krainplinsulten .
201
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^Sita a 1 1 &~ i* rn-'t T\tf» i c 1 i'ii9A1 /• Vi f* Ii
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Der epileptische Charakter
264
1 Ii rt O TI 1 1 i\ Y'\ f 1 c (>n A 1 | |t T ' 1 ii n 9
i
2o8
-m
271
271
Transformation in Hysterie
271
Anhang: Die jaoendKchen Epileptiker
271
272
Genetische- Beziehungen zu den verschiedenen klin. Formen der Kpilepsie
273
Die intercurrenten acuten psychischen Störungen bei jugondl. EpileptiKern
274
Das hypochondrische Irresein.
Literatur '.
277
277
27*>
2$1
2^2
J'er chronische hypochondrische Wahnsinn ihypuch. Marasmus)
2*-3
ed by Google
XVI Inhaltsverzeichniss.
Psychische Neurasthenie 2S4
Therapie 285
Die periodischen circulllren und alternirenden Psychosen.
Literatur 2ST
Kliaischü Allgeincincharaktere 2ST
Die periodische Manie ... 2SS
Klinische Typen 2S9
„Juvenile" form 293
Intervall 293
Entwicklung und Verlauf 295
Ausgange 297
Körperliche Symptome . . 295
Die periodische Melancholie 298
Die circulären Geistesstörungen 2'.".*
Allgeincincharaktere . . . . . . . . . . . . 300
Klinisches Symptomcnbild : a) Di e circuläre Manie 3u2
b) Per circuläre Wahnsinn 3Ö4~
Die melancholische Phase 305
Das Intervall 307
Weiterverlauf 308
Die ,.degenerativc,t Melancholie 309
ci Der circuläre Stu por . . . . . . . . . . . . . . . 3nu
Zeitliche Gruppirung der Paroxysmen in den periodischen und circulären
Psychosen 3 in
Die alternirenden Psychosen :w>".
Körperliche Begleitsymptome 319
Anhang-. Die menstrualen Psychosen . . . . • • . \ ' '
Kinfluss der Menstruation ijn Allgemeinen auf bereits bestehende Seelen-
Störungen 323
Das Delirium acutum.
Literatur 325
Klinische Begriffsbestimmung und Kintheilung 325
1. Die irritaUvcH formen:
ai Uns Delirium acutum maniacalc 32(j
hl Das Delirium acut, in der allgemeinen Paralyse. . . . 33u
o Das Delirium acutum melaucholico-stupurosum , . . 330
2. Die Inanilions formen :
Das Delirium acutum anergeticum s. paralyticum 334
Pathologische Anatomie ......... ~ 336
Mikroskop Befund . . . . . . . . . • • • • • • •
Rechtfertigung der klinischen Sonderstellung des Delirium acutum als eines
eigenartigen Symptonienmodus und Symptomenverbatids mit charakte-
ristischer" Verlaufsform " * ~. 33S
Therapie 340
Die typische allgemeine Paralyse (Paralysig progressiva).
Literatur .341
Klinische Begriffsbestimmung 342
Analyse der Symptome • • • • • • • • • • ^43
aj * Psych isc h e : Verhalten des Bewusstseina und der höheren seelisch"!)
Functionen; des Vorstellens ~. 343
Paralytischer Grössen wahn 344
..Negativer'' Grössenwahn 344
Anomalieen des Gemüthslcbens 34;»
Der Willenssphäre 347
Kurense Acte J 34 7
b) Mo t o r i s c h e : Sprache, Schrift 34s
..Manische Aphasie" . . 34S
sd by Go
Inhaltsverzeichnisse X£U
Paralytische Paralexie . . ♦ 349
bt orangen in Gang, Haltung, Bewegungen 350
Verhalten der Sehnonretiexe . . . °
Störungen in der Zunge 351
Mimik 352
Pupillen 352
Stimme 35'2
Peplutition 353
Urinentleerung t 353
Convulsioncn 353
Apoplektifonuc Anfalle . . 355
c) Sensorielle und sensible Störungen 3ö5
Sehstörungen; Asymbolie nach paralyt. Anfallen 3öT>
Kopfschmerz . 3og
Sexuelle Functionen 35T
dl Vasomotorische und trophische Störungen 357
Tepiperaturverhältnisse . . . . .* . . . . . . ■ . . • • . ■ . 357
Verhalten des Harns. Uthämatomc. Parenchymatöse Muskeldegenerationcn.
Hautentzündungen und -Ausschlage, Haarveränderungen etc H S
Klinisches Krank heil sbild. Typische» Bild. Manische Form . 35S
Remissionen ^61
Schlussstadium 362
Varietäten im klinischen Symptomenbitd:
a) Hypochondrische Paralyse 363
Circuläre" Paralyse 364
Paralyse mit Verfolgungswahn und Hallucinationcn :tC4
Ii" Primär demente l'aralysc . . . . . . . . . . . . 3tU
Variationen dieser aus einer anfänglichen Schwächenielancholie mit erst-
postponirenden motorischen Zeichen " 36t>
Paralyse nach acuten febrilen Krankheiten 366
Varietäten iin klinischen YcrlaufT~
..Congestive" Paralyse 366
L unier- Baillarger'sehc Paralyse •••••• • • 36"
Secundar einsetzende Paralyse als Folgestadium einer vorausgegangenen
andern Psychose ••••••• "... 367
Sehr langer und sehr kurzer Verlauf 36"
iu-Tiiissionen, ,.lntcrmissionen" und Genesungen :Ujs
Verlaufsdaucr der typischen Form . . . 36'J
J 'a i/to 'of/ischt' An atoni ie .
Makroskopisch ' 3H9
Mikroskopisch ■ ■ • 370
Versuch einer Nosologie 372
Paralyse der Frauen :t75
Therapie 3 7 Ii
Die psychischen Cerebropatlileen (niodiflcirteu Paralysen).
Literatur . ._. , . . . . . s . , s . , , , , , . 378
..l'aralyse" aus grundliegender Perienceph. chrun. und sub-
acuta oder Fncc]ihalitis subactila . 379
Klinische Charaktere der .»galoppironden'' Paralyse . . 3Sl
Patholog. anat. Befunde. Zusammenhänge mit gewissen Formen der Mania
gravis 392
Complictrendo Pacchymeningitis . . . . . . 3"$3
Grundliegende p r i m a r e . n i c h t- en t z ü n d ] Ii c h c Hirnatrophic . 3S6
G r u n d I i o g e n d e primäre 11 i r n a t r o p h i e m i t e n t z ü n d 1 i c h c n K e i z -
ersch ei n u ngen 389
Fernen tia senilis gravis 391
Paral y sen na c h A p op 1 e x ieen . . . . . . • • - 393
G rn ndliegende disseminirte H ir nr ü c k cnmar ks k 1 c rose . . . . 393
Par a ly s c n ac h m u 1 1 i p 1 cn Ca p i 1 1 ar e k ta s i cen 391
Paralyse bei Hirntumoren 394
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XVIII Inhaltsferzeichniss.
Tabischo Paralyse etc :u>4
Syphilitische Paralysen 3'jc»
Therapie lüu
Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.
Literatur 401
Allgemeines . 4u2
Diu speei fischen A 1 ko h o 1 p s yc ho s en : Die acuten pathologi-
s c h e n Ii a n s e h z n s t ä n d o . 404
Forenses . . . . . . . . . . . . . , . . , , . . . . . Aiih
Der acute Trinkerwahnsinn 4o5
Varietäten 4li^
Der chronische Trinkerwahnsinn a) depressiver Natur 4o(J
1>> eialtirtcr Natur 410
Der chronische Alkoholismus 41»
Körperliche Symptome • • m
Psychische resp. der alkoholistisclie Charakter 412
Klinische Folgezustande des chronischen Alkoholismus 41H
Das Delirium tremens . . . . . . . . . . . . . . . . . 4_L1
Delirium tremens febrile 417
Alkoholistische Pseudoparalyse 417
A 1 k o ho Iis tisch e P aral y so . 41U
Wciterverlauf des chronischen Alkoholismus : Sccundarzuständo .... 421
Alkoholistischo Manioen , , , , , , , , , , , , , , , . 422
A 1 k o h o Ii sti s ch e M e 1 a n c h o 1 io e n , , , , , . . , . . . , . A21
Alkohol-Epilepsie 424
Therapie 425
Das hereditttre Irresein.
A. Allgemein pathologischer Excurs 42G
Literatur . . , . , , , , . , . ■. ■. = , , . . . . 42JJ
Kintheilung 427
/ Cornllarien aus der Erblichkeitslehre 427
//. Klinische aUgcm. patholog. Grundlagen: Zwangsvorstellungen und
ZwaiK/s acte 432
Verhalten des Bewußtseins 4;<2
Der Stimmung 43-t
Emotive und nicht-emotive Zwangsvorstellungen ........ . . 433"
Psycho!. Charakter : einlache u. convulsive Zwangsvorstellungen iGrubelsuchtt 4lU
Sensorische Zwangsemptindungen . . . . . . . . . . . . . . . . ■YM'>
Klinisches Verhalten bVzugl. des Auttretens und der Kellexe auf die Go-
mflths- und Handlungsspharo '. 437
„Krisen" 4:^
Zwangshandlungen '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. ', . '. TTTTi
I m p ü 1 s i v e ' ' A c t e 4TT
Psychologischer Mechanismus 4TT
Frage der „Monomanicen" 442
Stehltrieb 443
B r a n d s t i f t u n g s t r i e b 44:j
Mord tri eh . 443
Dipsomanie 444
Erotomanie 44ä
Agoraphobie . . . . 440
Körperliche Begleitsymptomo . 447
Contrarc S e x u a 1 ein p f i n d u n g ■ 447
Forenses 4 !'■>
Therapie 450
B. Die hereditäre Neurose nach Entwicklung und Verlauf 451
Klinischer Allgenicincharakter 451
Krankheitsbild 451
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Inhaltsverzeichniss. XIX
Seite
Dementia acuta praecox 453
Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4">3
Klinische Charaktere der hereditären Melancholie en und
Manieen und des hereditären Irreseins überhaupt .... 454
Ansgängo 456
Anhang: Transitorische Psychosen 457
Literatur 457
Formen 4T>S
Transitorische Manie 45S
Klinische Varietäten 4!>9
Tran sitorisc her manischer Wahnsinn. ä , . : . . , . . . 4iiü
Transitorischcr Stupor 461
Allgemeinhetrachtung 4C2
Acutes Irresein, alternirend mit Asthma ■ • 4*>:<
T r a n s i t o ri sc ho n ou ras t h en i s c h o Psychosen . 4b;t
Poracnte gewöhnliche Irreseinsformen; Unterschied der letztern von den
>I>ecinsch „transitorischen" l'>4
Therapie 4(i4
C. Pas einfache hereditäre Irresein: iMalailie du doute et dutoucher) 465
Anhang: Der Querulantenwahnsinn 170
D. Originäre Verrücktheit . . . 475
Entwicklung 476
Charaktertypen 478
Klinische Formen 479
Typisches Bild: Gemischt depressiv-exaltirto Form 4Si>
Klinische Finzeltypen IST
Weitervcrlauf 1^1
Besserungen und „Heilungen" 4S3
Uchergang in Chronicität 4S3
..Paralogik*' in den Ideenassodationen und Handlungen IS3
Die verschiedenen klinischen Formen des Ausgangs ■ 4S4
,,Thior4cult Seitens Mancher dieser originär Verrückten; partielle Gelehr-
samkeit und Kunstfertigkeiten . . . . . ■ . ... . . . . . 4£4
Die chronischen ..Winkcladyocatetr' in den Asylen 485
Blödsinnige Abstumpfung, Perversitäten . . . . • • ♦ • • • • • 496
Somatische Todesursachen; oft consecutivor Frontwechsel des Wahns . , isr>
E. Das degenerative erbliche Irresein — die Moral Insanity . . . . 487
Klinische Begriffsbestimmung 4S7
Allgemein- Psychologisches ... • ■ • ■ • • • • • • • • • ■ 4S8
Die anergetischo (torpide) und crethischo (reizbare) Form des sittlichen
Blödsinns 4SS
K r a n k h e i t s h i 1 d 4BQ
Entwicklung . 490
Irresein d o r B u m m 1 er u n d V a gab u n d en 41> 1
^Veitcrentwicklung . . . . . . . 492
Heizbare" Form der M. I. bei verheiratheten Frauen 493
Die „krankhafte Bosheit" in den M. I. Acten 494
I> ie d e ge n er ati ve n Man i een 495
Ausgänge 495
Therapie 496
Der Idiotismus.
Literatur . t , , , , , . , , , , , , : . : , . . , . . , m
Klinische Begriffsbestimmung 497
Psycholog, klinische Kintheilung 49S
_ I. Der idiotische Blödsinn 49S
Kliiiische Symptome . . . . _^ . 499
2. Der idio ti sc ho S c h wach sin n 500
a) Der hochgradige, nicht-bildungsfähigo idiot. Schwachsinn . . . 501
XX Inhaltsverzeichniss.
Seit*
Klinische Symptome 501
b) Der idiotische Schwachsinn mittlem und leichtern Grades . . . 503
Klinische Allgemeinsymptome 504
Klinische Typen 505
Die Hebephrenie 508
Körperliche Complicationen der Idiotie 509
Die Schädel formen der Idioten und die. natürlichen Familien" 51 1
Tabellarische Zusammenstellung der Insassen von Stetten (Württemberg)
nach den Schadelformen 512
Pathologisch-anat. Casuistik 512
Register 516
Berichtigungen.
S. 355 Z. 19 v.u. lies: Porencephalieen statt Parencephalieen.
S. 408 Z. 5 v. u. lies: paralgische statt paralytische.
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Begriffsbestimmung der Seelenstörung. Aufgabe des
Buches. Die Begriffsbestimmung der „Seelenstörung" kann nach
unserem heutigen Standpunkte nur erst eine psychologische sein.
Wir verstehen darunter eine „Krankheit der Person", wodurch
deren Selbstbestimmungsfähigkeit aufgehoben wird.
Gesicherte Erfahrungen am Krankenbette haben im Vereine mit
physiologischen und psychologischen Experimenten schon lange die
Abhängigkeit der seelischen Leistungen im Allgemeinen; die Ge-
schichte der Aphasie, klinisch und post mortem, erweitert durch die
Ergebnisse der neuesten Localisationsstudien auf der Hirnoberfläche
uns auch den Zusammenhang bestimmter seelischer Functionen mit
corticalen Herdläsionen kennen gelehrt Dazu kommen die autopti-
schen Ergebnisse von psychisch Kranken selbst, welche für einzelne
Gruppen wenigstens mitbegleitende organische Hirnbefunde nach-
weisen. Wir sind somit berechtigt der obigen Definition die spe-
cifische Differenz beizufügen: „Krankheiten der Person, beruhend
und verursacht durch eine Hirnaffection".
Bei dem heutigen Stande unseres Wissens erscheint dieser Satz ver-
allgemeinert als ein Machtspruch; aber er ist eine durch Physiologie
und Pathologie gleich begründete Forderung. Nicht, als ob wir deshalb
die Diagnose einer Geistesstörung erst von dem Ergebniss der Section
abhängig machten — so wenig wir uns aus dem Reichthum und der
Feinheit der p. m. vorgefundenen Windungen erst rückwärts über die
intellectuelle Befähigung intra vitam belehren lassen dürfen; die gegen-
seitigen Beziehungen sind zweifellos nicht so einfach und direct — aber
die Petitio irgend einer cerebralen Affection, sofern die psychischen Lei-
stungen abnorm waren, steht dennoch unerschütterlich fest, und muss
feststehen, wenn Uberhaupt eine Beziehung zwischen Nervenaction und
psychischer Leistung vorhanden ist. Diese Relation ist aber für die ele-
mentaren Seele nfunctionen, und zwar als eine gesetzmässige, nachgewiesen.
Für die höheren Functionen und im Weiteren für pathologische Verhält-
nisse liegen freilich die Beziehungen noch ungleich verwickelter. Spe-
ciell für die letzteren ist nicht nur der gröbere und feinere anatomische
Befund, sondern auch noch der individuelle der hereditären Kraftanlage
Sehfile. Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 1
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2
Einleitung.
mit in Anschlag zu bringen. Diese Abschätzung, geschweige die Er-
kenntniss, ist erst ein ideales Desiderat ferner Zukunft. Dürfen wir auch,
wiederum empirisch berechtigt, vermuthen, dass für diesen individuellen
Factor die Configuration des Gehirns, speciell vielleicht der Windungen,
Hirngewicht u. s. w. einen anatomischen Ausdruck abgibt , so sind dies
Alles doch erst Anfänge. Auch pathologische Eigentümlichkeiten in der
Hirnentwicklung der Gefässanlage mögen gewiss noch ausserdem mit-
spielen (8. u.). Bis jetzt sind wir noch nicht über die allgemeinste
Ahnung der vielleicht hier in Betracht kommenden Verhältnisse hinaus.
Dazu kommt der hochwichtige Factor der Veranlagung nach Seite der
relativen Functionsbeziehung der höheren Hirngebiete zu einander: so
der „Sinnesflächen" zu den apperceptiven und namentlich hemmenden
Corticalpartieen (Phantasie-Menschen, nüchterne Grübler u. s. w.). Man
mag darnach den Werth beurtheilen, welchen der Nachweis einer 'Anä-
mie, einer Hyperämie p. m. epikritisch uns bietet! Gleichwohl müssen
wir den Weg sorgfältiger autoptischer Forschung unverdrossen weiter
beschreiten, wenn wir auch in den daraus gezogenen Schlüssen der ge-
botenen Reserve eingedenk bleiben. Ausser dem Gehirn wird auch noch
das Rückenmark, der Sympathicus und schliesslich der gesammte Körper-
bau, soweit er auf die normale oder beeinträchtigte Ernährung des Ner-
vensystems im Einzelfall Beziehung haben kann, in die Untersuchung ein-
zubeziehen sein. Unsere jetzige Aufgabe liegt vorwiegend noch im psy-
chophysischen Gebiet, wird aber fortschreitend in's anatomische sich zu
vertiefen bestrebt sein müssen.
Psychologisch macht Ein Krankheitszeichen nie das Wesen einer
Seelenstöruug aus: ein noch so barocker Gedanke, eine einzelne
anomale Stimmung oder Handlung, ja selbst eine Sinnestäuschung
reichen dazu nicht hin. Es ist bekannt, dass Hallucinationen unter
gewissen Bedingungen auch bei Gesunden vorübergehend vorkommen
können; auf der andern Seite fällt der Aberglaube mancher „Ge-
sunder", welcher den entlegensten Wahngebilden Verrückter nichts
nachgibt, an sich noch nicht in das Bereich der specifischen Geistes-
störung. Es muss die geistige Gesammtperson betroffen sein,
so dass diese in ihrem Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr von
frei beweglichen, der Reflexion und Kritik zugänglichen Prämissen
und Motiven bestimmt wird, sondern von einer (dauernd oder mo-
mentan) unverrückbaren, dem Ich aufgedrungenen Directive — seien
es Vorstellungen oder Gefühle — welche, wenn aufgerufen, unbe-
strittene Obermacht haben und ausüben. Der geistige Zwang ist
es, welcher das Wesen der Seelenstörung ausmacht. Oft steht der
Kranke als ganze Persönlichkeit unter demselben; anderemale steht
er theoretisch (reflexiv) darüber; das Entscheidende in beiden Fällen
ist, dass er denselben nicht wegräumen, durch Logik nicht Uber-
winden, durch seinen Willen nicht hemmen kann. Dieser „Zwang"
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Einleitung.
3
ist es, welcher, wie wir annehmen müssen, in der grandliegenden
organischen Hirnkrankheit begründet and darch diese Uber die psy-
chischen Functionen verhängt ist; andernfalls wäre es nur „Irrthum"
oder „moralische Schwäche4', und als solche psychisch corrigirbar —
was in der wirklichen Seelenstörung nicht möglich ist. Es ist immer
eine Gesammtaffection der Indi vidual-Seele, welche sie zu
einer „kranken" stempelt.
Damit ist aber nicht gesagt, dass alle Seelenäusserungen in einem
gegebenen Falle auch gefälscht sein müssen. Es gibt eine grosse Gruppe
von Störungen, für welche die Eingangs erwähnte Definition sammt der
soeben gegebenen Erläuterung zutrifft, und welche dennoch einen mehr
minder grossen Besitz von geschonten Vorstellungsreihen, von richtigen
Gefühlen, correcten Handlungen noch aufweist. Gleichwohl sind die
Träger im vollen Sinne des Wortes „geisteskrank". Der Springpunkt
liegt hier darin, dass, wenn auch nebensächliche Vorstellungskreise an-
standslos beschritten werden können, die krankhafte Hemmung dennoch
und immer eintritt, sowie das Ich als solches, als Person, engagirt wird.
Da stürzt sofort der täuschende Bau der „freien Beweglichkeit gemäss
dem inneren Werthcharakter der Vorstellungen und der objectiven Be-
gründung der Gefühle" zusammen, und der „Zwang" steht fertig. Es
gibt keine partielle Seelenstörung; diese ist immer eine allgemeine, wenn
auch dauernd oder vorübergehend gewisse Kreise partiell intact bleiben.
Der „Zwang", und mithin das entscheidende Moment für Seelenstörung,
ist nicht dann allein als gegeben zu betrachten, wenn im Einzelfalle die
Handlung im Sinne der speeifischen Wahnrichtuug erfolgt, sondern all-
gemein, sowie die Wahnvorstellung sich fixirt und, in die Ich-Gruppe
eingedrungen, oberste Prämisse geworden ist (Verfolgungswahn). Diese
Anerkennung ist eine unerlässliche und durch keine formalistische Klü-
gelei zu bemäkelnde Forderung; denn wer wollte sich vermessen — unter
den zugegebenen Bedingungen — zu sagen, wann etwa (bei den zahl-
losen Verschlingungen in der unergründlichen Seelentiefe) eine solche
falsche Prämisse bewusst oder unbewusst ihren bestimmenden Eiufluss
nicht geübt habe? Die forense Untersuchung darf deshalb nie allein
bei der analytischen Betrachtung stehen bleiben, sondern muss immer
auch noch eine synthetische sein. Ein bemerkenswerthes Memento
liefert in diesen Fällen mit Hecht die vox populi, welche darum meist
so sicher geht, d. h. urtheilt, weil sie synthetisch verfährt. Viel mehr
als die Verstandesdefecte beweisen aus diesem Grunde die charakterolo-
gischen Aenderungen, das disharmonische, im Ganzen ergebnisslose
Streben — selbst bei nicht auffallend alterirtem Gedankeninhalt.
Eine Einsicht in die Nosologie des Hirnprocesses, dessen Re-
sultat wir „Seeleustörung" nennen, ist bei unsrer heutigen Erkennt-
niss noch nicht einmal in den ersten Anfängen möglich. Wir wissen
nicht, welche anatomischen Hirnpartieen im wesentlichen dabei
engagirt sind. Es sprechen wohl viele Gründe für die Betheiligung
1*
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•1
Einleitung.
der Corticalis und zwar in Form einer diffusen Affection, und hier
wiederum für die des Stirnhirns, der Centraiwindungen, obern
Schläfen-, und der obern Parietalwindungen. Der atrophirende
Degenerationsvorgang speciell bei der allgemeinen Paralyse (dieses
Typus einer Erkrankung der Gesammtpersönlichkeit in ihren höchsten
psychischen und motorischen Functionsgebieten , im geistigen und
körperlichen „Ich") beschlägt mit einer Regelmässigkeit gerade die
genannten Partieen, dass wir darin mehr als nur einen Zufall er-
kennen dürfen. Auch theoretische (physiologische, entwicklungs-
geschichtliche) Erwägungen treten unterstützend hinzu. Aber damit
ist vorderhand unser Wissen abgeschlossen. Klinisch ist es sodann
weiter höchst wahrscheinlich, dass fUr einen Theil der sog. functio-
nellen Psychosen (Melancholie und Manie) das vasomotorische System
eine wichtige Rolle spielt. Für einen andern vermissen wir diese
nachweisbare Betheiligung; hier bieten sich uns vielmehr in der an-
gebornen Hirnanlage, in dem individuellen Hirnwachsthum Momente
dar, welche uns die beobachtete Ablenkung von der normalen geistigen
Entwicklungsbahn verständlich machen, wenn uns auch uuerkannt
bleibt, worin diese Hemmung besteht, und warum sie gerade in
einer bestimmten Lebensepoche (Pubertät) in Wirksamkeit trat (here-
ditärer Virus). Für eine weitere Klasse leitet uns die Pathogenese
auf directe (erworbene) Schwäche- und Erschöpfungszustände des
Centrainervensystems (acuter Wahnsinn und Dementia); und endlich
für eine letzte grosse Gruppe auf palpable organische Hiruleideu hin,
deren Theilerscheinung (Mit-Effect) die Psychose darstellt (Paralysen
im Allgemeinen).
Windungs-Configuration, Hirngewicht, fötale Missbildungeu an Gehirn
und Schädel, Variationen in der Gefässanlagc im Gehirn geben hier die
ersteu Anhaltspunkte für eine künftige anatomische Erkenntniss; die
Veränderungen der Blulfülle, des Blutdruckes, die wahrscheinlich ver-
schiedenen Effecte der Vasodilatatoren und Constrictoreu, sodann die ex-
perimentellen und klinischen Erfahrungen Uber Windungstopographie und
Leitungsverhältnisse — die nächsten Wegweiser für ein künftiges phy-
siologisches Ver8tändniss. Daneben liefert die empirische und ex-
perimentelle Psychologie (Wundt) die Richtschnur für eine richtige Deu-
tung dieser Funde und für deren Anwendung auf die Klinik, d. h. auf
die Verhältnisse am lebenden geistesgestörten Menschen. Nicht ein Weg
allein, sondern alle vereinigt müssen beschritten werden, um dem
Ziele einer wirklichen Nosologie der Seelenstörung näher zu kommen.
Die Aufgabe, welche der Psychiatrie an diesem gemeinsamen
Werke zufällt, ist: 1. das Studium der einzelnen psychopathischen
Symptome für sich, und 2. die Erforschung der empirischen Ver-
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Einleitung.
5
bände, unter welchen diese Einzelsymptome thatsUchlich zusammen-
treten. Der erstgenannte Theil bildet den Vorwurf für die allge-
meine, der zweite ftir die specielle Psychiatrie. Daran schliesst sich
noch die in ärztlicher, wie in socialer Richtung gleich hochwichtige
Ursachenlehre. .
Die nachtolgende Schilderung bezieht sich vorwiegend auf die
Ausführung des oben abgegrenzten zweiten Theiles. Sie hat sich
zum Zwecke gesetzt die speciellen sy mptomatologischen
Krankheitsbilder nach Entwicklung, Verlauf, Endschicksal, und
zugleich, soweit möglich , nach ihren vielfachen Uebergängen und
Verbindungen zu zeichnen, und zwar aus der Beobachtung am Kranken-
bette resp. im Krankenasyle. Sie ist also eine klinisch-descrip-
tive, und hat nur dieses eine Ziel im Auge. Excurse über einige,
zum klinischen Verständniss erforderliche Punkte aus der allgemeinen
Psychiatrie (Zwangsvorstellungen etc.) sind gelegentlich eingefügt.
Im Uebrigen und Wesentlichen soll eine möglichst ausführliche Be-
schreibung der einzelnen Formen versucht werden, und zwar nicht
nur in irgend einem typischen Bilde, sondern in möglichst zahlreichen
Modificationen, wie sie eben die tägliche Beobachtung bietet. Es
lassen sich auf diese Weise, wie sich ergeben wird, eine Reihe von
bald ätiologischen, bald symptomatologischen Untergruppen aus-
sondern, welche jeweils aus einer genügenden Reihe von vergleich-
baren resp. zusammengehörigen Krankheitsgeschichten innerhalb der
typischen Znstandsform sich ergaben.
Die vielleicht da und dort etwas zu grosse epische Breite der Schil-
derung möge sieh aus diesem Bestreben erklären, möglichst vieles
symptomatologisches Detail, nach einteilenden Gesichtspunkten
geordnet, vorzutragen. Vielleicht gelingt es, wenn wir uns erst über
Das, was die Beobachtung im unendlichen Formenreichthum uns liefert,
nach und nach verständigt haben, uns immer mehr auch Uber die Ge-
sichtspunkte allgemeineren Charakters zu einigen, und eine gemein-
same Sprache zu finden, in welcher wir uns gegenseitig in der spe-
ciellen Psychiatrie verstehen lernen. Die Grundlage für dieses wichtige
Ziel wird eine möglichst dctaillirte Symptomatologie bleiben müssen.
Literatur. Neuere grössere Hand- und Lehrbücher, welche das psychi-
atrische Gesammtgebiet umfassen, und auf welche für das Folgende ein- für
allemal verwiesen wird: Griesinger, Lehrb. der Psychiatrie. — Spielmann,
Diagnostik der Geisteskrankheiten. — Flemming, Pathologie u. Therapie der Psy-
chosen. — K cumann, Lehrbuch der Psychiatrie. — Leidesdorf, Lehrbuch der
Psychiatric 1807. — Schule, Handbuch d. Geisteskrankheiten. II. Aufl. isso. —
Arndt, Lehrbuch der Psychiatrie 1SS3. — v. Krafft- Ebing, Lehrbuch der Psy-
chiatrie. II. Aufl. 1883. — Meynert, Psychiatrie (bis jetzt 1 Theil erschienen). —
Esquirol, Geisteskrankheiten, übersetzt von Bernhardt. — Falret, Maladics
mentales. — Morel, Traitö des malad, ment. — Dagonet, Nouveau traitö des
mal. ment. 1876. — Guislain, Lecons orales, deutsch von Laehr. — Maudsley,
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6 Eintheilung der Seelenstörungen.
Pbysiology and pathology of mind, deutsch von Boehm. — Bucknill and Take,
Manual. — Hammona, Treatise 1SS3. — Blandford, Seelenstörungen, deutsch
von Kornfeld.
Compendien: Weiss, Compendium der Psychiatrie. — Kraepelin, Comp. d.
Psych. lSSt. — Für den allgemeinen Th eil (Symptomatologie, Aetiologie, Pro-
gnose, pathologische Anatomie): Emminghaus, AUg. Psychopathologie 1ST8 (mit
Literatur). — Für den forensen Theil: Casper-Simon, Handb. d. gerichtl.
Medicin. — E. Hoffmann, Lehrbuch d. gerichtl. Medicin. — v. Kraf ft-Ebing,
Lehrb. d. gerichtl. Psychopathologie. II. Aufl. — Maschka, Handbuch d. gerichtl.
Medicin. Bd. IV, 1SV2. S. ausserdem die Special-Kapitel.
Eintheilung der Seelenstörungen.
Literatur. Classification: Meynert, Allgem. Wiener med. Zeitung l^SO und
Lehrb. d. Psychiatrie. I. 1SS4. — Leidesdorf, Wiener med. Wochenschr.
— Spitzka, Am. J. of neur. a. psych. 1SS3. — Bini, Arch. ital. 1879.
In unserem Versuche einer Classification gehen wir zunächst
vom rein symptoinatologischen Standpunkte aus.
Es ergibt sich darnach eine Reihe empirisch zusammengehöriger,
immer wiederkehrender, mit den gleichen psychologischen Charak-
teren ausgestatteter Zustandsformen. Es sind dies die Formen eines
1. krankhaft gehemmten, 2. krankhaft gesteigerten, 3. und ge-
schwächten resp. aufgehobenen Seelenlebens. Unter einer 4. Gruppe
würden sich jene psychopathischen Zustände zusammenfinden, in
welchen eine qualitative Aenderung des Seelenlebens in der Rich-
tung stattfindet, dass eine anomale Sinnesthätigkeit (primäre Hallu-
cination) auftritt, unter Verdunkelung des Bewusstseins; oder aber
eine Spaltung des Ich in ein wahngefälschtcs und theilweise ge-
schontes mit allmählicher Auflösung der Ich-Hegemonie in alogische
und imperative Einfälle, Antriebe, Stimmungen. Bilden davon die
zwei ersten Gruppen die Repräsentanten einer krankhaften Seelen-
funetion im wachen Zustande, und zwar nach dem physiologischen
Typus des depressiven oder heitern Affects (Melancholie und Manie},
so lehnt sich die vierte, der Wahnsinn, zum grossen Theile an die
analogen Zustände des physiologischen Traumlebens an. Auch die
3. Gruppe enthält eine Zustandsforra, welche noch dem Traumtypus
sich nähert, daneben aber auch eine andere, welche um so entschie-
dener an den tiefen traumlosen Schlaf oder an hypnotische Zustände
sich anschliesst: die primäre, mehr minder vollständige Aufhebung
des bewussten und activen Seelenlebens im Stupor. Der letztern
psychologisch auszeichnende Charakter, nur in „wacher" Form und
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Symptomatolog. Standpunkt in der Eintheilung.
7
unendlichen Gradstufen, tritt uns endlich auch in einer Gfruppe ent-
gegen, welche die Secundärstadien aus den primären affectiven
Formen bilden ; wir fassen dieselbe generell als psychische Schwäche-
Zustände, als „ Blödsinn zusammen, und trennen davon die sympto-
niatologisch verwandten, aber genetisch verschiedenen, des ange-
borenen Schwachsinns als fünfte Gruppe — Idiotismus — ab.
Phänomenologisch dürfte diese fiinftheilige Gruppirung einen
ordnenden Rahmen um die zahlreichen klinischen Bilder gestörten
Seelenlebens legen, welcher die praktischen Ansprüche an eine Ein-
theilung befriedigen könnte. Auch einer wissenschaftlichen Anforde-
rung vermöchte dieser Standpunkt gerecht zu werden, sofern es nur
möglich wäre jenen nur symptomatologischen Gruppen auch eine
gesicherte ätiologische Grundlage zu geben. Leider ist diese, und
damit ein specieller Ausbau in verlässliche ätiologische Klassen, bis
jetzt noch nicht durchführbar. Ohne eine solche Specificirung bleiben
aber jene grossen, nur äusserlich verwandten Zeichen-Gruppen
zn weit und dadurch zu unbestimmt. Eine nur wenig tiefer gehende
Untersuchung des casuistischen Inhalts derselben zeigt denn auch
sofort innerhalb einer jeden derselben die wichtigsten klinischen
Unterschiede. Wir erfahren auf jedem Schritte, dass, trotz überein-
stimmender psychologischer Grundzüge im Allgemeinen, die einzelnen
Unterarten so erheblich von einander abweichen, dass höchstens
noch eine Vereinigung für eine gewisse Zahl — eine Art mittlerer
Typus — bleibt, während nach vor- und rückwärts die klinischen
Bilder ans dem Rahmen herausdrängen. Dieselben entbehren der
wünschenswerthen Individualisirung, wenn man sie nur psycho-
logisch einordnet
Aber auch der Verlauf der in derselben Gruppe nach psycho-
logischen Charakteren vereinigten Fälle erhebt Einsprache gegen
eine schlechthinige Verschmelzung oder Gleichstellung. Der Verlauf
ist ein hochwichtiges klinisches Moment, insofern darin die ana-
tomisch uns unbekannte Natur des psychopathischen Hirnprocesses
mit einer Deutlichkeit sich enthüllt, welche uns die beachtens-
werthesten Schlüsse auf dessen relative Tiefe resp. Oberflächlich-
keit gestattet. So können symptomatologisch anscheinend gleiche
Krankheitszustände in Heilung Ubergehen, oder gegentheils chronisch
werden, oder endlich periodisch wiederkehren, dort als Ausdruck
einer c. p. leichtern, hier einer tiefern, sehr oft unheilbaren Hirn-
affection. So gewinnt mit Einbeziehung des klinischen Verlaufs-Mo-
ments unsere psychologische Betrachtweise bereits eine erheblich
grössere Sicherheit und Tragweite in's Individuelle.
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8
Einteilung der Seelenstörungen.
In gleicherweise zeigt nun auch, genauer betrachtet, die Qua-
lität der psychischen Symptome eines jeden der obigen Zeichen-
Complexe — sei'6 im Verlaufe des Einzelprocesses , sei's beim Ver-
gleich der Einzelfälle derselben Gruppe untereinander — wesentliche
Aenderungen. Das Studium dieses Verhältnisses fuhrt zu dem be-
merkenswerthen Ergebniss: dass jene elementaren Reactionsformen
eines erkrankten Gehirns (die wir Melancholie, Manie nennen; zwar
im Allgemeinen die leichtern und schwerern Phasen einer psychi-
schen Hirnaffection begleiten; im Speciellen aber dabei in ihrem
psychologischen Charakter sich ändern und zwar je nach der Inten-
sitätsstufe der grundliegenden Hirnkrankheit. Den durch das psy-
chische Hirnleiden, nach seiner wechselnden Tiefe, geschaffenen
verschiedenen „Cerebrationsstufen" entsprechen im Einzelnen be-
stimmte Modifikationen jener allgemeinen elementaren Reactions-
formen, m. a. W.: das psychologische Symptomenbild einer
Melancholie oder Manie ändert sich formal (qualitativ) pari passu mit
dem anatomisch-physiologischen Charakter (Tiefe) des
Hirnleidens, wenn auch der symptomatologische Typus der genann-
ten empirischen Zeichen-Verbände im Grossen und Ganzen derselbe
bleibt. Beide, Melancholie und Manie, erweisen sich in ihren
verschiedenen klinischen Nuancen als wirkliche „Zustandsformen",
welche mit den zugehörenden Cerebral - Zuständen einen gewissen
Parallelgang einhalten.
So treten bei tieferem Hirnreiz an Stelle der logischen Ideenflucht
(in der Manie) die Verbindungen nach Assonanzen (d. h. nach äusserer
Wortähnlichkeit); zugleich werden die „geformten" Bewegungscombina-
tionen eckig und ziellos, „reflectorisch" ; bei noch tiefer greifendem Krank-
heitsprocess tritt motorische Iusufticienz , Tremor, endlich Ataxie und
Lähmung ein. Es ist im pathologischen Gebiete die Wiederholung der
experimentellen Thatsache, dass auf adäquate Reize das erkrankte Vor-
derhirn „psychisch" antwortet, auf tiefer greifende dagegen mit der
Qualität der minderwerthigen cerebralen Accomodation, und endlich nur
noch „reflectorisch" in Folge des immer umfassenderen cerebralen Aus-
falls resp. Verlusts an psychischen Associationen uud Hemmungen. In
diesem Sinne bildet die symptomatologische Analyse der Einzelsymptome
ein „Auscultationsphänomen", natürlich nur im Allgemeinen , auf die
Qualität, d. h. Tiefe der psychischen Ilirnerkrankung. — Dieselbe sym-
ptomatologische Nuancirung finden wir im psychomotorischen Gebiet beim
Stupor, je nachdem dieser eine vollständige Pause der psychischen Func-
tionen, oder aber — auf einer höheren Stufe — nur eine Hemmung
durch lebhafte hallucinatorische Innenvorgänge darstellt.
So vertieft sich mit Einbeziehung des „Verlaufs" und der
Symptomen -„Qualität" unser anfänglicher rein symptomatologischer
Standpunkt zu einem klinisch - pathologischen. Wir unterscheiden
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Symptomen-Qualität u. Verlauf als ,.Au8cultat". Phänomene d. psych. Hirnkrkht. 9
nunmehr: „psychische" und „psychisch -organische" Melancholieenf
Manieen und Stupor -Zustände, und lernen dieselben speciell nach
der Qualität der sie zusammensetzenden Elemente trennen und dar-
nach den klinischen Zeichen- Verband selbst mit leichtern oder tiefern
Hirnerkrankungen in Beziehung setzen.
So sind im Speciellen die klinischen Symptomenbilder: a) der Me-
lancholie mit (aus) überwiegenden Illusionen; b) des depressiven hallu-
cinatorischen Stupors, und c) der stupiden (organischen) Melancholie mit
begleitenden InnervationsstÖrungen aus primärer Hirnatrophie generell
zwar aus denselben Elementen zusammengesetzt, im Einzelnen aber
eben geschieden durch die Qualität der Symptome, durch deren psycho-
logisches Verhältnis* zu einander und zur kranken Person, und ferner
durch die Aufeinanderfolge resp. den klinischen Verlauf. Bei a) sind die
psychischen Elemente der Melancholie nach dem Aftectschema geordnet,
es findet sich ein waches Ich vor, der Verlauf ist psychologisch ver-
mittelt und zusammenhängend ; bei b) ist es ein deliranter Bewusstseins-
zustand, ein trauroartiges Ich, ein abrupter (nicht mehr durch psycho-
logische Folge verknüpfter) Wechsel der ineinander Ubergehenden
Einzelphasen; bei c) endlich ist eine primäre und progressive geistige
Schwäche das wesentliche Moment, und die Melancholie nur noch acciden-
telle Form; der Verlauf vollständig irregulär, direct durch die Hirnkrank-
lieit vermittelt, unter Anfügung palpabler cerebropathischer Symptome.
Nur die grosse Gruppe des „primären Wahnsinns" will sich
diesem Eintheilungsprincipe aus der Qualität der psychischen
Symptome nicht fügen. Es handelt sich bei dieser um psycho-
pathische Zustände, in welchen krankhafte Sinnenreizvorgänge mit
einer geschwächten Urtheilsfäbigkeit — infracorticale sensuelle Hyper-
ästhesieen und Hyperergieen mit corticaler Anenergie — zusammen-
treten, und zwar theils neben, theils ohne Erhaltung des „formalen
Schlussapparats des Gehirns", der Logik und Systematik. Hier liegt
das Verhältniss zwiscben psychischem Krankheitssymptom und In-
tensität der Hirnstörung anders. Während in den melancholischen
und manischen Zuständen die Tiefe der Bewusstseinsstörung, welche
sich in der qualitativen Abänderung der psychischen Symptome kund-
gab, einen verlässlichen — gewissermaassen proportionalen — Grad-
messer für die Tiefe der Cerebralaffection im Allgemeinen bezeichnet,
so ist hier (beim Wahnsinn) der Mangel oder gegentheils die Erhal-
tung des Bewusstseins von keiner analog verwendbaren Tragweite.
Wir erfahren sogar bei dieser Gruppe, dass die Zustandsform des
W ahnsinns mit erhaltenem Ich und erhaltener Logik viel ungünstiger,
ja sehr oft unheilbar verläuft, demnach auf eine schwerere Hirn-
störung zu beziehen ist, als die Wahnsinnsformen mit einem ver-
worrenen ballucinatorischen Traumleben. Dagegen gewinnt hier
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Einteilung der Seelenstörungen.
wiederum der klinische Charakter des Verlaufs, ob diese Zustände
acut oder chronisch sind, eine um so entscheidendere Bedeutung.
Damit wird jetzt ein erweiterter Standpunkt gewonnen. Verfolgen
wir einerseits den „Verlauf" in diesen psychischen Zustandsformen
und berücksichtigen wir andererseits gleichzeitig das vorhin gewon-
nene psychologische Princip der gesetzmassig variabein Symptomen-
qualität, so finden wir, dass beide klinische Kategorieeu gleichfalls
in einem gewissen Zusammenhang, in einer Art Parallelgang, ver-
mittelt durch die Hirnaffection, stehen. So folgt — typisch — auf
den Beginn der Anstieg zur Krankheitshöhe, auf diese das Declive;
die einzelnen Phasen sind psychologisch vermittelt und stehen in
einer unläugbaren Proportion, so dass der psychologisch tiefer-
werthigen Manie auch eine c. p. längere Verlaufsdauer (Schwäche-
Nachstadium) entspricht, dem raschen und scheinbar leichten Verlauf
des acuten Wahnsinns ein mit Vorliebe remittirender Verlauf, gleich-
sam ausgleichend, entgegensteht. Obwohl wir noch entfernt nicht
alle Bedingungen übersehen, so darf doch allgemein zu Grunde ge-
legt werden, dass: je tiefer die Symptomenqualität, oder je über-
stürzter die Genese, oder je alogischer die zusammensetzenden Form-
elemente (hallucinatorische acute Verwirrung) — auch desto länger
resp. desto unsicherer, event. desto mehr durch Recidiven gefährdet
der Verlauf sich gestaltet, und damit desto ernster der momentane
Eingriff in das Hirnleben veranschlagt werden muss. Dies führt uns
zum Gesichtspunkt der Krankheits entwicklung. Wir lernen
darnach Fälle kennen, welche eine im Vergleich zur Ursache
verhältnissmäs8ige Krankheitsstärke, und so auch eine zu letzterer
adäquate Krankheitsdauer mit Wachsthum, Acme, Reconvalescenz
zeigen. Daneben aber treffen wir eine grosse andere Casuistik,
welche nach einer vergleichsweise leichteren ätiologischen Schäd-
lichkeit sofort oder in überstürztem Decursus mit jenen qualitativ
tieferwerthigen Symptomenbildern antwortet. Es ist die Analogie
mit der geläufigen Thatsache aus der innern Medicin, wonach ge-
schwächte nervöse Constitutionen viel rascher auf cerebrale Schäd-
lichkeiten (Fiebertemperatur, Alcoholica) durch Delirien und Muskel-
Ataxieen reagiren, als kräftige Naturen. Wir erlernen nun weiter aus
der Tages-Erfahrung, dass die Primärpsychosen des rüstigen Nerven-
lebens ausnahmslos mit einem melancholischen Vorstadium beginnen,
welches sich gemeinhin nach dem Typus eines normalen depressiven
Affects aufbaut und entwickelt. Wir begreifen dieses Vorkommen
als die natürliche Reaction des bis dahin noch gesunden Ich, wel-
ches auf jede innerlich gefühlte Aenderung — am intensivsten, wenn
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Bedeutung der „Krankheitsentwicklung"
11
diese seine psychische Situation betrifft — mit einer Gemüthsver-
stimmung, einer Wehmuth, einem Schmerz antwortet Die nach-
folgende wirkliche Melancholie erscheint hiernach als die Steigerung
und Ausgestaltung dieses ursprünglich naturgemässen Affects, und
imponirt erst als Krankheit, wenn der letztere bis zur Hemmung des
Seelenlebens vorgedrungen, und in weitern nervösen Störungen (sen-
sibler und vasomotorischer Natur) sich fixirt hat. Es bedarf nun
gerade nicht immer dieser einleitenden emotiven (deprimirenden)
Gelegenheitsursache ; es kann auch primär, auf organischem Wege,
eine Störung in den geistigen Hirnfunctionen auftreten, welche vom
Snbject schmerzlich erfasst, und zum Kern der nun logisch sich
weiter entwickelnden krankhaften Depression gemacht wird. Soweit
gediehen, hängt das weitere Schicksal des Leidens im Wesent-
lichen von der cerebralen Resistenzkraft im Einzelfalle ab. Ist
diese eine genügende, so geht das Leiden nach kürzerer oder län-
gerer Zeit direct oder durch ein Nachstadium der Ermüdung, ev.
eine leichte Exaltation, welche aber ganz in den Grenzen des nor-
malen Freudegefühls verläuft, in Genesung Uber. Der Umschlag der
anfänglichen Depression in „Manie" setzt, so viel wir bis jetzt aus
andern klinischen Gründen zu beurtheilen vermögen, schon eine
vergleichsweise verminderte cerebrale Widerstandsfähigkeit voraus,
gehört aber immer noch zu den Reactionsformen des „rüstigen"
Gehirns, sofern jene (sec. Manie) sich symptomatologisch in dem
Rahmen des expansiven Affects bewegt, und den physiologischen
Charakter in den Bewegungen, den logisch - associatorischen in der
Ideenflucht einhält.
Dieser eben gezeichneten Krankheitsentwicklung steht nun die
erwähnte andere gegenüber, welche in wesentlichen Punkten ver-
schieden ist. Einmal fehlt das depressive Vorstadium ganz oder
beinahe, und die Krankheit setzt brüsk und sofort in einer sympto-
matologischen Form ein, welche wir klinisch-psychologisch als einer
tieferen Hirnstörung zugehörig erkennen müssen. Es ist, als wären
die gewöhnlichen Anfangsstadien Übersprungen, und die Acme des
Normal Verlaufs, oder gar Secundärzustände , eröffneten die Scene.
Die Melancholieen dieser Gruppe setzen gleich 6chon, oder sehr bald,
mit einer überwuchernden Fülle von Sinnestäuschungen ein; die
Manieen als Furor-Zustände oder Mania gravis. Der Weiterverlauf
ist sehr häufig remittirend, nicht in Einem Anfalle sich erschöpfend.
Hierher gehört namentlich auch die Gruppe des acuten Wahnsinns
und des Stupors; beide beginnen mit einer primären acuten Functions-
schwäche des „Vorderhirns" (des Vorstellungs- und Willensorgans),
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Einteilung der Seelenstöruugcn.
welche beim ächten Stupor sogar bis zu einer vorübergehenden
Lähmung sämmtlicher Seelenfunctionen sich steigert. In der by-
sterisch-constitutionellen Neuropsychose , deren Wesen zum Theile
in dieselbe Schwäche der „Vorderhirn"- Functionen zu setzen ist,
genügt oft eine Hallucination, um das Bewusstsein zur Ekstase zu
hypnotisiren. Die Hysterie sowohl als die Epilepsie, besonders aber
die letztere, brechen gelegentlich mit einer solchen Macht in die
psychischen Gchirnfunctionen ein, dass plötzlich und psychisch un-
vermittelt die schwersten manischen und wahnsinnigen Episoden zur
Entstehung kommen. Auch die Gruppe der Dementia acuta eignet
sich hieher, bei welcher die cerebrale Anenergie und Widerstands-
losigkeit primär in der Form eines psychischen Schwächezustandes
auftritt, wie dieser sich bei anfanglich rüstigem Gehirne erst im
langen Verlauf eines unheilbar gewordenen Hirnleidens als secun-
däres Schluss6tadium entwickelt.
So führen endlich alle seither versuchten Betrachtweisen und
eintheilenden Principien in dem Factor der Widerstandskraft
des Gehirnlebens zusammen. Hatte die abänderungsffchige Form
in den ursprünglichen psychologischen Symptomencomplexen sich in
Zusammenhang mit der verschiedenen Intensitätsstufe der Hirnaffee-
tion setzen lassen, so hat jetzt der Verlauf d. h. die Krankheitsent-
wicklung jene beiden klinischen Factoren in ihrem Wccbselverhält-
niss auf die „individuelle Resistenzfähigkeit" als auf die Beiden ge-
meinsame Grundlage zurückgeführt. Nach diesem umfassendem und
höhern Eintheilungsprincip unterscheiden wir nunmehr rüstige und
invalide Gehirne. Unter die Reactionsformen der rüstigen ge-
hören die Psychosen nach der erstgezeichneten Entwicklung, unter
die der invaliden Gehirne die zweiten. Unsere soweit begründete
Classification umfasst darnach:
1. Psychosen des rüstigen Gehirns: a) Melancholie ; b) Mania
mitis und typica; sammt Secundarzuständen ;
2. Psychosen des invaliden Gehirns: a) die schwereren Manieen,
der Furor und die Mania gravis; b) der Wahnsinn in seiner chronischen,
acuten, attonischen (stupurösen) Form; c) acute, primäre Dementia; d)
das hysterische, epileptische und hypochondrische Irresein.
Keben diesen grossen Gruppen erschliesst sich nun weiter ein
anderer und wohl noch grösserer Kreis von Fällen, welche sympto-
matologisch in dem Merkmal zusammentreffen, dass sie nicht erst,
wie die vorhin besprochenen Psychosen, von dem Augenblick ihrer
klargestellten Seelenstörung anfangen „krank" zu sein, sondern
schon von Jugend auf gewisse geistige Eigenheiten (Excentricitäten,
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Das „rüstige" und „invalide" Gehirn. Deren klin. Rcactionsformen. 13
Originalitäten, unverbesserliche Cbarakterfehler) zeigen. Bei Vielen
derselben scheint denn auch die spätere schulgerechte Psychose
nicht eigentlich eine nova res, sondern nur die Weiterentwicklung,
der endliche „Excess" einer schon ab ovo vorhandenen Anomalie
geistiger Anlage zu sein. Bei Andern verläuft die spätere Psychose
annähernd nach dem klinischen Typus der sonstigen (oben bespro-
chenen) Zustandsformen, aber doch mit gewissen besonderen Zügen,
welche den psychisch vollentwickelten Kranken fehlen, und dadurch
dieser neuen Gruppe trotz der scheinbaren Zeichengleichheit eine
bestimmte Eigenart wahren. Diese letztere betrifft wiederum die
Symptomen-Qualität und den Krankheitsverlauf. Nach beiderlei Hin-
sicht neigt diese neue Gruppe zu den Psychosen des „invaliden"
Gehirns hin — wohl ein Fingerzeig fllr die nahe nosologische Ver-
wandtschaft jener und der originär belasteten Krankheitsfamilien.
1. Bezüglich der Entwicklung genügt hier eine relativ ge-
ringe Ursache, manchmal selbst ein physiologischer Vorgang (Pubertät,
Climacteriom, Menses, Gravidität) zur Hervorrufung der eigentlichen Psy-
chose, während dort, bei rüstiger Normalanlage, das Gehirn erst einem
entsprechend schwereren Eingriffe unterliegt. 2. Bezüglich der Sym-
ptome: hier zeigt sich (wie beim invaliden Hirn) eine grosse Neigung
zu Delirien, zu Zwangsgedanken und Zwangshandlungen; die Wahnvor-
stellungen sind inhaltlich mit Vorliebe barock, phantastisch, unmotivirt
durch die Stimmung, den Kranken nicht seiton verblüffend — gegenüber
den logischen, aus der Stimmungsäuderung entwickelten und den Kran-
ken selbst befriedigenden („erklärenden") Wahngedanken des „rüstigen"
Melancholikers. Hier grosse Neigung zu relativer Lucidität, zu „par-
tieller" Seelenstörung, sodass die gesunden und kranken Vorstellungs-
kreise sich gegenseitig neben einander bewegen und vertragen; eine vor-
wiegend krankhafte Betheiliguug der affectiven Seelensphäre, und zwar
als originärer Mangel (moralische Defecte) neben vergleichsweiser Scho-
nung des Verstandes; dort: mehr minder allgemeine Störung der See-
lenfunctionen. Endlich im Symptomenbild als Ganzem: hier eine pro-
teusartige Combination, ein Gemisch der verschiedensten Zustandsformen,
oft mit buntem, gesetzlosem Wechsel und unberechenbarer Aufeinander-
folge, oder gegentheils ein jahrelanges Stationärbleiben mit langsamem,
schleppendem Niedergang, jedoch ohne iu wirklichen Blödsinn Uberzu-
gehen; dort: ein psychologisch und physiologisch gesetzmässiger Verlauf,
ein zusammenhängender, durch eine vasomotorische Neurose oder trophische
Constitutionsanomalieen vermittelter Krankheitsproccss, dessen Einzelphasen
verschiedene, nach Analogie des Zuckungsgesetzes (Arndt) miteinander
verknüpfte Stadien darstellen; bei ungünstigem Verlaufe Ausgang in fort-
schreitenden Blödsinn (absterbender Nerv). — 3. Nach dem Verlauf:
hier sehr oft ein jäher Einsatz mit ebenso raschem Abbruch der eigent-
lichen Psychose; Ausgang in den neuropathischen Zustand quo ante;
dort: langsame folgerichtige Entwicklung mit successivem Anstieg und
allmählichem Abfall; Ausgang in Heilung oder secundäre psychische
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Eintheilnng der Seelcnstörungen.
Schwächeznstände; hier grosse Neigung zu periodischen Anfällen und
circulären Verbänden von Zustandsformen ; dort: einmaliger Ablauf, höch-
stens mit der Disposition zu Recidiven, je mehr sich das „rüstige" Ge-
hirn dem „invaliden" nähert. Hier endlich vielfache Neigung zu ver-
frühtem psychischen Stillstand (Dementia praecox), oder aber zu fort-
schreitender geistiger Entartung (degenerative St5rungsformen mit Moral
Insanity); dort: zur Genesung.
4. Bezüglich der Wirkung auf die Descendenz: hier die Neigung
zur progressiven Degenerescenz; dort zur Vererbung der einfachen neu-
ropathischen Prädisposition.
Diese grossen und tiefgreifenden Gegensätze, welche sich so
eben in der Gegenüberstellung der ab ovo „organisch Belasteten" er-
geben, dienen nun aber nicht allein zur schärfern klinischen Er-
fassung beider, sondern fördern auch nach vor- und rückwärts unsere
Classification. Die einschneidenden Zeichenunterschiede, welche sich
in den beiden „natürlichen" Familien aufthun, ordnen sich zwar
wohl dem vorhin gewonnenen Princip der „Widerstandskraft des
Gehirnlebens" unter; aber sie lassen das „rüstige" Gehirn jetzt weiter
als ein „vollentwickeltes" erfassen, und gewinnen m. m. zu dem
„invaliden" auch noch die „prädisponirten" Anlagen hinzu. Wie
sich oben ergab, vereinigen sich die beiden letztern in denselben
wesentlichen Reactionsformen. Indem wir so die verminderte cere-
brale Resistenzfähigkeit als eine erworbene und als eine ange-
borene erproben, treten wir von dem engern klinischen Betracht-
punkte auf den erweiterten anthropologischen Uber. Wir lernen
die functionelle Gehirnstörung, welche wir als Seelenstörung be-
zeichnen, theils als das Werk des Lebens, theils als die Wirkung
einer funesten Mitgift kennen, erfahren aber weiter, dass sie nur im
ersten Falle als eine „rüstige" Psychose sich zu äussern vermag,
und zwar wiederum nur dann, wenn das Gehirn ein ab ovo ent-
wickeltes gewesen war. Der „Invalide" kann es werden auch durch
spätem Erwerb; ist es aber immer, wenn die psychische Anlage un-
zureichend war. Im Einzelnen scheiden sich die „Belasteten" wieder
in: einfache psychische Schwächlinge (s. o.), und in wirkliche Defect-
menschen (s. heredit. Neurose).
Von diesem Standpunkte aus erweitert sich nun unsere Ein-
theilnng zu folgendem Schema:
I. Psychosen auf Grundlage organo-psychischer Vollent-
wicklung: 1. Psychosen des rüstigen Gehirns (s.o.); 2. Psychosen
des invaliden Gehirns (s. o.). — Als Anhang fügen wir hier noch
unter c. die periodischen, circulären und alternirenden Psy-
chosen ein, weil diese genetisch sich glcichmässig unter die vollentwickelt-
invaliden und unter die defect- degenerativen Constitutionen vertheilen,
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Psych. Cerebropathieen. — Gruppe der Typ. Paralyse a. d. Delir. acut. 15
keiner der beiden ganz (der letztern wohl vergleichsweise mehr) zuge-
hören und so die natürliche Uebergangsgruppe bilden.
II. Psychosen auf Grundlage defecter organo-psychi-
scher Anlage, resp. Constitution. Hierunter reihen sich speciell
ein: 1. die hereditäre Neurose; 2. das einfache hereditäre
Irresein — das Irresein mit Zwangsvorstellungen; 3. die originäre
Verrücktheit; 4. das degenerative erbliche Irresein — die
Moral Insanity ; 5. der Idiotismus mit den Typen angeborener geistiger
Defecte oder erworbener Entwicklungshemmung.
Für die Untergruppe 3. ist der Name „Verrücktheit" beibehalten
im Gegensatz zu dem sonst vielfach Symptomengleichen (nur durch die
fehlenden Degenerescenzzeichen unterschiedenen) chronischen Wahnsinn,
um durch die Nomenclatur auch die differente anthropologische Stellung
beider Zustandsformen, speciell die angeborene logische Verschrobenheit,
welche hier wirklich in anomale Bahnen „verrückt" ist, zu kennzeichnen.
Aber auch mit diesem Detail der Eintheilung ist das Ganze der
klinischen Symptomengruppen noch nicht erschöpft. Ein Theil der
letztem erstreckt sich nämlich auf das Gebiet der functionellen
Psychosen, d. h. derjenigen psychischen Cerebralleiden, bei welchen
die klinische Beobachtung nur psychische, oder mit einfachen sen-
siblen und vasomotorischen (trophischen) begleitete Störungen, letztere
in Eintritt und Verlauf mit den erstem gleichen Schritt haltend, auf-
finden lässt. Daneben hebt sich nun noch ein anderer und sehr an-
sehnlicher Theil ab, bei welchem ein organisches Hirnleiden
in Form selbstständ'ger klinischer (vor Allem grob - motorischer)
Symptome nachweisbar ist. Wir bezeichnen diese Gruppe als
psychische Cerebropathieen. Darunter reihen sich vornehm-
lich ein:
a) die chronische, acute und subacute Meningo-Periencephalitis;
b) die Pachymeningitis mit Hämatom; c) die diffuse sclerosirende Ence-
phalitis; d) die diffuse Encephalitis mit begleitender Herderkrankung;
e) die diffuse Encephalitis im Gefolge von Neubildungen; f) die chro-
nische Periencephalitis mit vorausgegangener oder begleitender Tabes
spinalis; g) die Encephalitis syphilitica; dazu kommt noch h) der Alco-
holismus chronicus.
Das wesentliche symptomatologische Bild aller dieser organisch-
psychischen Hirnleiden ist Blödsinn mit Lähmung.
Nunmehr sind immer noch zwei Krankheitsgruppen nicht ein-
gereiht, wovon die eine zwar nur eine kleinere, die andere da-
gegen eine ausserordentlich grosse (immer mehr zunehmende) Zahl
von Fällen umfasst: das Delirium acutum und die allgemeine pro-
gressive Paralyse. Beide gehören nicht schlechthin zu den einer
bestimmten pathologisch-anatomischen Erkrankung zu unterstellen-
den Hirnkrankheiten (also nicht ohne Weiteres zu den psychischen
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Eintheilung der Seelenstörungen.
Cerebropathieen). Die eine davon, die Paralyse /.ar1 l$oxrtv, verläuft
zwar symptomatologisch auch unter dem Bilde von Blödsinn mit
Lähmung, hat aber sowohl in der Qualität gewisser Einzelsymptome,
als namentlich auch in ihrem Verlauf ihre specifischen Eigenheiten,
welche eine klinische Sonderstellung nicht bloss rechtfertigen, sondern
verlangen. Dazu kommt, dass der als charakteristisch beanspruchte
anatomische Erfund bei dieser sog. klassischen Paralyse erst den
spätem Verlaufsstadien des Leidens zugehört, nicht auch schon den
frühern, welche bereits die klinisch voll entwickelte Krankheit in die
Erscheinung treten Hessen. Ich glaube deshalb auch heute noch, das9
wir die Frage nach dem viel umstrittenen Wesen des genannten
Krankheitsprocesses noch als ungelöst betrachten und vorerst prä-
judizlos die anatomische Ursache als eine „tiefe Ernährungsstörung
des Gehirns mit dem Charakter höchster Gefahr" resp. fortschreiten-
der Zerstörung auffassen müssen (s. Weiteres unter „Typ. Paralyse").
Wenn hiernach (wenigstens nach meiner Auffassung) die klassische
Paralyse weitaus mehr das Senium praecox (und zwar des vollsaf-
tigen auf seiner biologischen Leistungshöhe stehenden, speciell des
männlichen Gehirnlebens) denn eine „Entzündung" s. str. darstellt,
so darf sie auch nicht einfach den organischen Hirnkrankheiten
nach dem Typus der chronischen Meningitis und Encephalitis zu-
gezählt werden. Wohl aber bildet sie zwischen diesen und den
schweren fnnctionellen Psychosen des invaliden Gehirns den klini-
schen Uebergang. — Das Delirium acutum entbehrt gleichfalls bis
jetzt der anatomischen Grundlage, wenn auch immerhin dessen kli-
nische Symptome und namentlich der sehr peroiciöse Verlauf für
eine ausserordentlich tiefe Schädigung, nicht bloss des psychischen,
6ondem des gesammten Ilirulebens unzweideutig sprechen. Gemein-
sam ist beiden Gruppen das ätiologisch- klinische Moment der „Hirn-
erschöpfung", auf welchem sie entstehen, und zum Theil auch bis
zum Schluss verlaufen. Ich möchte dieselben nach diesem Moment
benennen: das Delirium acutum als „acute Hirnerschöpfung mit
dem Charakter der Gefahr", die chronische Form der klassischen
Paralyse als „chronische Hirnerschöpfung mit dem Charakter fort-
schreitender Entartung" — und beide Gruppen unter einer eigenen
Klasse vereinigen, welche als solche zugleich den Uebergang ver-
mittelt zwischen den Psychosen des invaliden Gehirns und andrer-
seits den eigentlich organischen psychischen Cerebropathieen.
Endlich ist noch eine letzte Gruppe nachzutragen, welche ihre Aus-
zeichnung in einem wesentlich ätiologischen Begleitsmomente besitzt, und
zwar: a) in einer mitbegleitenden körperlichen Erkrankung, oder aber
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Schema der Classification.
17
b) in einer Intoxication. Zu der ersteren Grnppe gehören die febrilen
and postfebrilen Psychosen, welche die acuten Infectionskrankheiten, den
Rheumatismus acutus, manchmal Pneumonie und Phthise; sodann die psy-
chischen Störungen, welche gewisse Neurosen (Morbus Basedow, Chorea),
ferner Unterleibsaffectionen, und endlich Gravidität und Puerperium be-
gleiten. Unter die letzteren reihen sich die Psychosen im Gefolge des Abusus
von Chloro- und Jodoform, der Bleivergiftung u. s. w. ein. Symptoraato-
logisch vertheilen sich die hierher gehörigen klinischen Gruppen unter
sämmtlicbe functionelle Psychosen, einzelne unter die Cerebropathieen.
In Folge dieser weiten Umgrenzung ist die Zutheilung der reichhaltigen
Gruppe unter die eine oder die andere der seitherigen Classen nicht mög-
lich ; ich möchte dieselbe deshalb als „Anhang" zu den Psychosen des voll-
entwickelten invaliden Gehirns anftlgen.
Unsere Classification ist abschliessend nunmehr folgende:
I. Psychosen auf Grundlage organo-psychlscher Yollentwicklung.
1. Psychosen des „rüstigen" Gehirns. (Psychoneu-
rosen im engern Sinne):
a) Melancholie I .., ^ j.. „ ... ,
, ' . , ... \ mit den Secundär-Zustauden.
b) Manie (zum Theil) J
2. Psychosen des „invaliden" Gehirns (Cerebropsy-
chosen):
a) Die schwerern Manieen: Furor, Mania gravis;
b) der Wahnsinn in seiner acuten, chronischen und attoni-
schen Form;
c) die acute primäre Dementia; mit Anhang: der hallucina-
torische Stupor;
d) das hysterische, epileptische nnd hypochondrische Irresein.
Dazu als Anhang: a) die periodischen circulären und alter-
nirenden Psychosen , ß) die Seelenstörungen im Gefolge extra-
cerebraler körperlicher Krankheiten (febrile, puerperale etc.),
sammt den Intoxicationen.
3. Die perniciösen Erschöpfungszustände des Ge-
hirns:
a) Die acute Hirnerschöpfung mit dem Charakter der Gefahr
— das Delirium acutum.
b) Die chronische Hirnerschöpfung mit dem Charakter der
Destruction (Degenerescenz) — die classische progressive Pa-
ralyse.
4. Die psychischen Cerebropathieen: Die Psychosen
im Gefolge subacuter und chronischer organischer (diffuser und
localer) Hirnkrankheiten — die modificirten progressiven Pa-
ralysen.
Schttle, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 2
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53
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Eintheilung der SeelenstÖrangen.
II. Psychosen auf Grundlage defecter organo - psychischer Anlage, resp.
Constitution.
a) Die hereditäre Neurose; Anhang: die transitorischen Psychosen.
b) das einfache hereditäre Irresein — das Irresein aus Zwangs-
vorstellungen (Maladie du doute et du toucher); dazu als Anhang:
der Querulantenwabnsinn;
c) die originäre Verrücktheit;
d) das degenerativ- erbliche Irresein — die Moral Isanity;
e) der Idiotismus.
Es erübrigt nunmehr die wesentlichen klinischen Merkmale der
obigen Hauptgruppen hervorzuheben — zugleich als Uebergang resp.
Einleitung zur nachfolgenden Detailschilderung.
1. Die Psychosen des „rüstigen" und die des „invaliden" Gehirns
haben als gemeinsame Charaktere:
psychisch: bestimmte Symptomenverbindungen, welche einer-
seits in einer Aenderung der früheren normalen Ich Persönlichkeit in
der ganzen Breite ihrer psychischen Sphäre bestehen, andererseits
klinische Zustandsformen darstellen, welch letztere (allgemein) sich an
die physiologischen Typen des Aflects, der Traum- und Schlafvorgänge
anlehnen und (speciell) in einem gesetzmässigen gegenseitigen Ein- und
Zusammenwirken der krankhaft abgeänderten Seelenrichtungen bestehen;
es sind theils primäre Gemüthsstörungcn (Melancholie, Manie), thcils solche
des Vorstellungslebens (Wahnsinn), theils Aeuderungen der Bewusstheit
(Stupor). Dieselben wiederholen sich auf verschiedenen Cerebrations-
stufen.
somatisch: sie beruhen — soviel wir bis jetzt zu erkennen ver-
mögen — zum grossen Theile (Melancholie, Manie, Stupor und acute
TVahnsinnszustände) auf einer vasomotorischen Hirnneurose, welche einen
gesetzmässigen, cyklisch zusammenhängenden Verlauf durch verschie-
dene psychische Zustandsbilder nimmt, entweder zur Genesung, oder zu
dauernder psychischer Schwäche. Ausserdem gehen sehr häufig sensible
(sensorielle) Störungen als zugehörige und auch psychisch verwerthete
Krankheitselemente mit, und in der Regel auch trophische, welch letz-
tere ebenfalls mit dem Krankheitsverlaufe gleichen Schritt halten. Phy-
siologisch-anatomisch ist die grundliegende Affection wahrscheinlich in
das psychische Central - Organ der Vorstellungs- und Willensthätigkeit
(Rinde des Vorderhirns?) zu verlegen, mit theils primärer, theils reflec-
tirter Entstehung und secundärer Reizwirkung auf die trophischen, sen-
soriellen und sensibeln Centren („Gemüth"). Ich bezeichne sie darnach
insgesammt als „psychische Hirnneurosen" — Psychoneurosen. Dieselben
gliedern sich:
a) in die rüstigen Psychoneurosen mit folgenden klinischen Cha-
rakteren (hier sind die bereits oben in der Gegenstellung der voll- und
defect veranlagten Psychosen aufgestellten Merkmale beizuziehen): Er-
haltung der psychischen Mechanik in der Wechselwirkung und Reaction
der einzelnen Störungscomponenten (nach dem Typus des depressiven
Affectvorgangs in der Melancholie, des heiteren in leichteren manischen
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Klinische Charaktere der Ilauptgruppen.
19
Zuständen, speciell in Erhaltung der logischen Ideenassociation und
der psychischen Bewegungsform in der typisch - manischen Gruppe); be-
gleitende sensible Anomalieen (Neuralgieen) tiberwiegend häufig, und zwar
in einer zur cerebralen Functionsstörung ergänzend, d. h. wesentlich zu-
gehörigen pathogenetischen Function. Ausgesprochen depressives Vor-
stadium. Subacuter oder chronischer Verlauf. Genesung ist Regel. Ge-
ringe Neigung zu Recidiven, nicht erheblich grösser als bei sonstigen
internen Erkrankungen. „Psychische" Aetiologie (GemUthserschütterun-
gen) vorherrschend — Psychoneurosen im engern Sinne.
b) in die invaliden Psychosen mit den klinischen Charakteren:
theilweise Erhaltung der psychischen Mechanik; aber entweder (im
Vergleich zur vorigen Gruppe) auf tieferer Cerebrationsstufe (tiefere Forra-
qualität der Bewegungen, äusserliche Associationen in der Ideenflucht, con-
vulsive Stimraungsreaction; so in den hieher gehörigen Manieen), oder im
Schlepptau eines primären Vorstellungs- resp. Sinnenwahns (Schonung der
formalen Logik neben und auf Grundlage einer herrschenden Illusion;
Gemüthsstimmung zwar in adäquater Weise nach dem Wahninhalt be-
messen, d. h. formal richtig, aber inhaltlich durch das Wahn-Pseudos
bestimmt; so im chronischen Wahnsinn). In einer grossen Gruppe (acuter
Wahnsinn, Stupor) mehr minder vollständige Ausschaltung der Bewusst-
heit theils ohne, theils mit schrankenlosem Spiel anomaler Sinnesreize
fhallucin. Wahnsinn). In einer Untergruppe der letzteren gesellt sich
noch eine motorische Spannungsneurose hinzu, welche bald nur als selb-
ständige Complication (als Symptom des Tiefergreifens der functionellen
Hirnrindenaffection) den Verlauf begleitet, bald aber auch in psychische
Function mit den inneren Wahnvorgängen tritt und als solche mit dem
Decursus der Psychoneurose, psychisch und organisch ihr zugehörend, glei-
chen Schritt hält. Ein depressives Einleitungsstadium ist, wenn vorhan-
den, in der Regel nur rudimentär entwickelt; oft fehlt es ganz. — Die
„invalide" psychische Zustandsform kann manchmal erst aus einer „rü-
stigen" sich herausbilden, in anderen Fällen aber auch direct und pri-
mär einsetzen (Manieen auf conBtitutioneller Grundlage, Stupor). Endver-
lauf unentschieden und wechselnd. Gefahr der Recidive gross. Viele
Zustände treten sofort periodisch oder circulär auf. Grosse Beeinflussung
des Verlaufs durch accidentelle somatische Momente. Häufig direct or-
ganische Entstehung (Anämie u. s. w.) ohne psychisch-sensibles Zwischen-
glied (d. h. ohne einleitenden Seelenschmerz» — Cerebropsychosen.
2. Die perniciösen Erschöpfungszustände des Gehirns sind
in ihren wesentlichen klinischen Charakteren bereits oben gezeichnet.
3. Die psychischen Cerebropath ieen sind charakterisirt durch
ihre Verbindung mit einem organischen und zwar primären Hirn- (Rücken-
marks-) Leiden, dessen klinische Theilerscheinung sie bilden. Deshalb
Combination des psychopathischen Symptomencomplexes mit sensibeln,
motorischen und sensoriellen Krankheitszeichen aus der grundliegenden
organischen Hirnaffection. Symptomenordnung und Gesammtverlauf durch
letztere bestimmt; an Stelle der psychischen Mechanik (in der Verknüpfung
der einzelnen Zustandsphasen) ist die „Logik" des Hirnprocesses getreten.
II. Die Psychosen des defect veranlagten Gehirns (resp. des
degenerativen Gehirnlebens) sind oben in ihren wesentlichen Zügen ge-
2*
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20
Eintheilung der Seelenstörangen.
zeichnet worden. Darnach resumiren sich die klinischen Charaktere:
Neuropathische Anlage oder ausgesprochene hereditäre Neurose; charak-
terologische Eigentümlichkeiten mit Tics und Excentricitäten ; grosse
Neigung zu Zwangsgedanken, zu phantastischer Träumerei mit jugend-
lichem Grössen walin ; „Paralogik", d. h. eigenartige Vorstellungscombi-
nationen, bornirter Scharfsinn ; frühzeitiges „Triebe"- Leben , namentlich
oft in pervers sexualer Richtung; periodische (unmotivirte) Schwankungen
in Stimmung und Leistung. Sehr häufig ethischer Defect gegenüber
einer leidlich geschonten, oft sogar einseitig starken intellectuellen Ent-
wicklung; oft aber auch ethischer und intellectueller Schwachsinn von
Jugend an. Grosse Beeinflussung des psychischen Lebens durch körper-
liche Einflüsse, zumal durch die Evolutions- und Involutionsperioden. Die
psychischen Störungsformen auf dieser Grundlage können: 1. in den ge-
wöhnlichen Habitualformen verlaufen, jedoch mit auszeichnenden klini-
schen Charakteren (kein gesetzmässiger klinischer Verlauf, Polymorphie
der sich ablösenden Zustandsformen, brüsker Eintritt und jäher Abfall,
8. später); oder 2. in mehr stationärer Form die langsame Steigerung,
resp. Weiterentwicklung der ursprünglichen, krankhaft defecten Anlage
bilden (originäre Verrücktheit, viele Fälle von Moral Insanity) ; oder end-
lich 3. „degenerativ" sich gestalten, indem voran der sittliche Zerfall
fortschreitet und auf dieser Grundlage das Gemüths- und Vorstellungs-
leben in Form einer eigenartigen chronischen Manie sich zerstört, oder
aber in periodischem oder circulärem Typus seinen Niedergang nimmt —
sehr oft mit dem auszeichnenden Charakter der Folie raisonnante. Zeit-
weilige Remissionen führen nur zum Status quo der originären Anlage
zurück; wirkliche Heilungen sind ausgeschlossen. — Der Idiotismus
bildet die abschliessende Gruppe dieser individuell eigenartigen psychi-
schen Existenzen.
In der nachfolgenden Darstellung ist, der klinischen Uebersicht-
licbkeit wegen, welche übrigens auch in der Natur der „fliessenden
Uebergänge" der betr. Psychosengruppe begründet ist, die Schil-
derung der schweren (invaliden) Manieen gleichzeitig mit der der
rüstigen (mitis und typica) abgehandelt; ebenso die Melancholia at-
tonita mit der Übrigen melancholischen Gruppe. Die Intoxications-
psychosen (mit Ausnahme des Alcoholismus) sind tibergangen, ebenso
die einschlägigen andern ätiologischen Gruppen der puerperalen,
traumatischen, febrilen etc. Geistesstörungen, weil diese sämmtlich
der Ursachenlehre zugehören (s. d. Hdb. II. Aufl., Bd. I, 189 ff.) und
in ihrer klinischen Schilderung zu viele Wiederholungen veranlasst
hätten.
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Die Melancholie. Allgemeines. 21
Die Melancholie. Allgemeines.
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22 Die Melancholie. Allgemeine«.
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Riv.sper. 1882. — SchUdelcapaeität: Amadei, Ibid. 18S3.
Charakteristisch ist: 1. eine krankhafte Affection des Gemüths
in der Richtung einer schmerzlichen Verstimmung in allen Graden
von der höchsten Verzweiflung bis zur stillen Resignation; 2. eine
damit schritthaltendc Gebundenheit des Vorstellungslebens, theüs
durch Uebermacht einer einzigen, vom Schmerz -Affect getragenen
Gedankengruppe, theils durch eine allgemeine Hemmung des Denk-
processes in Folge schmerzlicher Hyperästhesie der den Denkact,
als solchen, begleitenden innern Organgeftihle; 3. eine Erschwerung
oder Bindung der Willensäusserungen, primärer oder secundärer Ent-
stehung, letzteres dann, wenn die psychische Hyperästhesie die sie
befreienden Reflexe nicht findet, oder trotz der erzwungenen Ent-
äusserungen nicht entlastet wird, so dass Muth und Initiative er-
matten. Stets gehen mit diesem psychischen Zeichenverband vaso-
motorische und trophische, und namentlich sensible Störungen mit
einher, letztere sehr häufig in Form von Neuralgieen. Auch sen-
sorische Affectionen, Hallucinationen und Illusionen können mitbe-
gleiten, bleiben aber im Verhältniss zur Stärke des krankhaften de-
pressiven Affects, dessen Färbung sie tragen. Eine Verminderung
des Körpergewichts ist Regel. Die Krankheit kann acut, subacut
und chronisch verlaufen, kann einmal oder in Recidiven, remittirend
und auch in periodischer Wiederkehr auftreten. Bei nicht geheilten
Fällen lolgt ein geistiger Schwächezustand (Blödsinn oder secundärer
hallucinatorischer Wahnsinn).
Die Melancholie kann alle Altersstufen befallen, jeweils mit aus-
zeichnenden klinischen Modificationen (Senium). Auch gewisse ätiolo-
gische Momente (Masturbation u. s. w.) führen bestimmte Nuancirungen
ein (8. u.).
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Melancholie. Analyse der Symptome. Gestörtes Fahlen.
23
Analyse der Symptome.
a) Anomulieen in der Sphäre des Fühlens und des Wollens (der
Triebe).
Schmerzliche Verstimmung ist erstes und Haupt-
symptom. Der Kranke befindet sich in einem unendlichen Weh.
Er fühlt sich in seinem Vorstellen und Wollen gehemmt, gebannt;
er kennt lange die Ursache nicht, und kann sein peinliches Gefühl
nicht los werden. Die schmerzliche Verstimmung ist eine allgemeine,
immotivirte, unveräusserliche. Es ist die unmittelbar zur Wahrneh-
mung gedrungene Hirnkrankheit selbst, welche in diesen schmerz-
lichen Verstimmungen bewusst wird. Oft bleibt diese als solche
auch ohne weitern Inhalt. Gewöhnlich aber heftet sich irgend eine
„Erklärung" an, das dunkle Gefühl verknüpft sich mit einer Vor-
stellung, einer „zureichenden" peinlichen Erinnerung aus dem Vor-
leben, einem gerade eintreffenden Ereigni63 (Gemüthsaffect). Der
Kranke weiss jetzt, „was er weint". Aber diese unter dem Zwang
des Causalitätsbedlirfnisses vollzogene Verbindung ist oft nur eine
zufällige, eine durch die momentane Bewusstseinslage geschaffene
Verbindung, und so nur eine mögliche Erscheinungsform, welche be-
liebig wieder wechseln kann. Subjectiv kommt es auf den Inhalt
dieser hinzugedachten Vorstellungen gar nicht an; dieser kann lo-
gisch begründet, oder fictiv berechtigt, oder geträumt sein : der Me-
lancholiker ist im letzten Grunde nicht deswegen unglücklich, weil
er glaubt Sünden begangen, Gott beleidigt, seine Habe verloren zu
haben — und wenn er sich dies auch einredet — sondern vielmehr
uud einzig, weil er fühlt, dass er in sich anders geworden, dass er
nicht mehr kann, wie er will, uud sich nicht mehr zu befreien ver-
mag. Manchmal freilich bereiten auch wirkliche Erlebnisse dieses
geistige Hemmungsgefühl , welches so schmerzlich empfunden wird,
thatsächlich vor; aber auch dann ist es nicht der Werth des Ereig-
nisses selbst, welches krank macht, sondern nur der Zwang, mit
welchem es wirkt, d. h. Denken und Wollen beschwert. Für das
künftige Schicksal eines Krankheitsverlaufs ist es allerdings nicht
gleichgiltig, ob eine melancholische Vorstellung auch gegründet, und
namentlich ob das „Schuld"bewusstsein wirklich auch ein reales ist.
Die depressive Verstimmung selbst zeigt im Einzelnen eine
reiche Stufenleiter der Stärke und der Form ihres Auftretens. So
entsteht eine Reihe von melancholischen Typen.
Klagen und Weinen bis zum stumpfen Heulen, mitunter mit Schimpfen
und blasphemischen Verwünschungen sind der phonetische; angst- und
schmerzgepres8te Züge mit charakteristischer Furchung des Gesichts und
der Stirne idas sog. „melancholische Omega") der miraische; Handeringen
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24
Die Melancholie. Allgemeines.
und ruheloses Hin- und Herrennen (wie ein Pendel) mit Ausraufen des
Haares, Sich-Zerkratzen und Zähneklappern, plötzlichem Zusammenschau*
dern, schnappenden Mundbewegungen, Schnalzen der Zunge, automati-
schem Reiben am Körper, Drehen der Finger u. s. w. der reflectorische
Ausdruck des Depressionsaffects. Oft erfolgen diese Bewegungen stoss-
weise und rhythmisch, lassen sich durch den besten Willen nicht mas-
sigen, am ehesten sich durch Sitzen einigermaassen beschwichtigen (Me-
lancholia activa, errabunda). — Andereinale ist es gegentheils ein ruhiges
Dasitzen mit angepressten Gliedraaassen, starren Augen, unbeweglich ge-
senktem Kopfe, ein stummes Abweisen, oder auch ein plötzlich gereizter
Protest gegen jede Ansprache oder Aufmunterung; manchmal auch ein
unterbrochenes oder andauerndes Seufzen — was von dem schmerzlichen
Gemtithsbann äussere Kunde gibt (Melancholia stupida, passiva). — Oft
macht sich der quälende Innenaffect durch ein triebartiges (scheinbar
zweckmässiges) Gebahren, durch eine rastlose Beschäftigung ohne Ziel
und Befriedigung geltend; in anderen Fällen oder Stadien durch eine
Tage- und Wochen- lange Regungslosigkeit, welche erst durch Anruf sich
vorübergehend (zur mechanischen Betheiligung am Essen, zur gebotenen
Besorgung körperlicher Bedürfnisse) unterbrechen lässt. Dieser Wechsel
zwischen Unruhe und schmerzgebannter Passivität dauert oft auch wäh-
rend der Nacht fort. Wochenlang meiden die Kranken das Bett, irren
im Zimmer umher, gestikuliren, zerschlagen sich; oder gegentheils, sie
sitzen in derselben angstgepressten Attitüde wachend oder weinend oder
stumpf vor sich hinbrllteud da und gönnen sich nicht einmal die Hori-
zontallage. Jede directe oder tröstende Ansprache entlockt ein schmerz-
liches, oft krankhaftes Schluchzen ; sie wollen keinen Trost oder können
denselben nur mit doppelt gesteigertem Schmerzausdruck erwidern. Viele
derselben kennen lange Zeit keine Thränen; wochenlang verharren sie
in ihrer Schmerzgebundenheit; sowie die ersten Thränen wieder anrücken,
fühlen sie sich dankbar erleichtert.
Eine andere Gruppe von Kranken bietet ein davon ganz verschie-
denes physiognomisches Bild. Wiewohl von derselben depressiven Af-
fectstiromung gebeugt, ja manchmal schon über der Grenze der Ver-
zweiflung — dort, wo nur der freiwillige Tod als der ersehnte Arzt
erkannt wird — bieten sie gleichwohl äusserlich noch den Eindruck
vollständiger Componirtheit. Aufgeräumt in ihrem Benehmen, vernünftig
in ihren Handlungen, sofern diese nicht durch den Zug der Schwermuth
gehemmt werden, vertrauensvoll, gutmüthig und freundlich in ihrem Be-
gegnen, geordnet in den Gedanken und der Redeform, möchte man kaum
auf die feindselige Stimmung (welche bereits das „Arsenal des Todes"
in Gedanken ausmustert), ja manchmal kaum auf ein tieferes Kranksein
schliessen, wenn nicht die unheimliche Stille, die mangelnde Energie, die
Schlaffheit und Müdigkeit des Wesens, der düstere, überaus schmerzvolle
Blick, die leise zögernde Sprache wenigstens zur Vorsicht mahnten. Hier
geschieht oft mitten aus dem anscheinend besten Verhalten des Kranken,
mitten aus der mühsam erheuchelten Ruhe heraus die, sorgsam dissimu-
lirte, tragische Wendung.
Koch gibt es eine fernere und nicht kleine Zahl von Melancholikern,
welche weder den lebhaft nach aussen bethätigten, noch den in sich ver-
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Melancholie. Klinische Typen.
25
srabenen stillen Affect zeigt; dafilr aber klingt das krankhafte Web in
einer Resignation wieder, welche, ohne apathisch zu sein, abgeschlossen
bat mit der Hoffnung und auch mit jedem Anspruch aufs Leben. Sie
sind und bleiben die Verlorenen — meist mit hypochondrischer Richtung :
sie sehen sich abmagern, folgern daraus auf Schwindsucht und rechnen
anf dieser für sie felsenfesten Diagnose mit ihrer Zukunft ab. Oder sie
erkennen, dass ihr Leben und Streben umsonst gewesen, und beruhigen
ihre Selbstvorwürfe in einer pessimistischen Vor- und Rückschau, in
welcher namentlich alle ihnen erwiesene Fürsorge verkehrt und nutzlos
erscheint. Unbarmherzig gegen sich, sind sie es nicht minder gegen ihre
Angehörigen; keine Thräne, keine Bitte dieser rührt sie. Sie bleiben
that- und entschlusslos und verbringen oft wochenlang im Bett, indem
sie höchstens ihre Vorwürfe und ihre Resignationsphilosophie sich und
Andern vorerzählen und zum Disput reizen, welcher ihr einziger Ge-
iiuss und momentane Befriedigung ist. Hemmung durch das Gefühl
der Insuffizienz — nicht der primäre Afiectschmerz — ist die Grund-
lage dieses, namentlich gern periodisch wiederkehrenden, Gemütszustan-
des. Aber auch hier bildet die äussere „Ruhe" sehr oft nur die täu-
schende Maske Uber einen, wenn auch torpiden, doch leicht entzündbaren
wirklichen Seelenschmerz, wie sich dieser denn auch nicht selten in einer
gewaltsamen Reflexhandlung convulsiv entladet, oder anderemale langsamer
sich zu activeren Phasen mit dem Wahne der Sündhaftigkeit oder des
„Verlassenseins von oben" heraufarbeitet (Melancholia torpida).
Eine letzte Erscheinungsform endlich, in welcher der psychische
Schmerz klinisch auftritt, zeigt physiognomisch die Kehrseite der oben
zuerst besprochenen. War dort Alles nur gefühltes Wehe, jede An-
sprache, jeder Trost von aussen ebenso schmerz- empfindlich als jede
eigene, kleinste Initiative von innen — so ist hier dagegen völlige Ge-
fühllosigkeit. Die Kranken fühlen sich wie todt, ihr Herz todt, ihr Kopf
wie einen Stein, ihr Inneres vollkommen leer „wie ein ausgeblasenes Thier".
6ie wissen nicht mehr, dass sie auf der Welt sind, fühlen auch nichts
mehr, nicht einmal schmerzhafte Verletzungen oder Berührungen des Kör-
pers. Sie können das Grässlichste sehen; nichts rührt sie mehr, auch
keine Liebe, aber ebenso auch das Gegentheil nicht; sie freuen und är-
gern sich nicht mehr; sie sehen Alles anders mit ihren Augen, „welche
wie gebrochen vorkommen"; aber sie sehen doch deutlich. Von ihrer
Umgebung wissen sie nur noch „in Gedanken, nicht im Gefühl". Ihr
Schlaf ist Ohnmacht, ihre Träume sind „schwebend"; auch die Gegen-
stände in der Umgebung „schweben" (und zwar ohne Schwindelgefühlj.
Wenn sie weinen, sehen sie bloss ihre Thränen, empfinden aber keinen
Schmerz. Dieser Zustand kann nicht selten über den ganzen Paroxys-
mus andauern ; anderemale schlägt er im Verlaufe iu die entgegengesetzte
Phase um mit schmerzlichem Gedankendrange und Jammern , dass Alles
verloren, der Kranke in der Gewalt des Bösen sei. Es ist eine wirk-
liche Anaesthesia psychica dolorosa, welche untergeht in dem Gefühl wirk-
licher Leere und Oede im Gemüth, und dieses Gefühl ist tiefschmerzlich,
auch wenn es der Kranke nicht gesteht, oder zu gehemmt ist um es
äussern zu können. Manche geben auch zu, dass ihnen noch ein kleiner
Rest von Gefühl geblieben sei „in der Herzgrube"; dort spüren sie es,
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2G
Die Melancholie. Allgemeines.
„wenn ein plötzliches Geräusch ihnen durch die Ohren bis auf die ge-
nannte Brustgegend fahrt".
Auf diesem Boden krankhafter Affectstimmung aller Grade und
Formen entwickelt sich nun bei weitaus den meisten Melancholischen
ein psychisches Symptom, welches seiner Wichtigkeit wegen eine
besondere — und nie genug grosse — Auszeichnung verdient: die
Angst. Unendlich reich ist deren klinische Erscheinungsform: sie
bewegt sich von dem offenen Ausdruck verzweifelten Zitterns und
Bebens mit verzerrten Zügen und blindem Reflexdrang in langer
Scala nach abwärts bis unter die mimische Maske einer tauschenden
Harmlosigkeit, ja selbst einer absichtlich coquettirenden Spielerei,
bei welcher das erzwungene Lächeln den schrecklichen innern Ernst
verdeckt. Keinem Melancholiker trauen! ist nicht umsonst der Kanon
aller Erfahrungen und der Leitstern jedes zielbewussten ärztlichen
Handelns! Die Angst kann anfallsweise kommen in Form von blin-
den Raptus, oder aber langsam unter zunehmender Unruhe und Be-
klemmung sich steigern; sie kann Tage und Wochen das kranke
Gemüth foltern, oder nur wie ein Blitzstrahl einfallen, und nachher
wieder einer gefasstern Stimmung weichen; manchmal tritt sie ty-
pisch zu denselben Tageszeiten und Stunden auf.
Mit der Angst in nächstem Zusammenhang stehen deren motorische
Entäusserungen, die Angsthandlungen, welche einen grossen Theil des
Gebahrens der Melancholiker, ja oft das ganze äussere Krankheitsbild
ausmachen. Sie sind sämmtlich gekennzeichnet durch das Triebartige
ihrer Entstehung, das oft Plötzliche, Stürmische ihrer Ausführung, durch
das rücksichtslos Gewalttätige in ihrem Forraencharakter. Es sind ihrem
Wesen nach Reflexacte. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sehr häufig
auch ein bewusstes Motiv (Vorstellung) mit unterläuft, welches die Ziel-
bewegung der Handlung bestimmt und leitet. Aber dieser Umweg wird
nicht immer beschritten; recht oft bleibt das Angstgefühl das alleinige
und directe Motiv für das Handeln, und der Angstgedanke schiebt sich
erst während des Ablaufs der Handlung ein, als ein Parergon des Re-
flexaetes, als begleitendes, nicht aber eingreifendes und bestimmendes
Element. Die motorischen Entäusserungen der Angst können harmlosen,
aber auch sehr gefährlichen Charakters sein. Zu den ersteren sind die
monotonen zweck- und planlosen Bewegungen mit den Extremitäten zu
zählen, das Hin- und Herrennen, das Zupfen mit den Händen an den
Kleidern, das Zerreissen oder auch das Aufkratzen der Hände, das Ab-
beissen der Fingernägel bis zum Bluten, das Ausraufen der Haare. Von
den lautlichen Reflexen gehören hierher die in allen Tonarten bis zum
unarticuliiten Heulen sich bewegenden Schreilaute, nicht minder aber
auch jene furchtbar blasphemischen und obseönen Schimpfworte, welche
sich oft in das angstgepresste Schreien oder Stammeln der Kranken ein-
zwängen, und in ruhigen Stunden vom Kranken selbst bedauert, ja zum
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Melancholie. Angst. Angsthandhingen.
27
Gegenstand vieler Selbstvorwürfe gemacht werden. Zu den gefährlichen
Reflexen zählen die Fluchtversuche, und namentlich die Gewalttätig-
keiten gegen Andere und gegen sich selbst: der Mord und Selbstmord.
Auch die letztern werden nur unternommen, um sich der schrecklichen
Verstimmungsqualen zu entledigen; sie vollziehen sich bald klarbewusst,
bald triebartig, unbewusst. Der Kranke, im Uebermaass seiner Angst,
wendet die tödtliche Waffe gegen Andere oder gegen sich selbst, und
kommt erst nach der That — befreit von dem beklemmenden Alp —
zur Erkenntniss dessen, was er vollbracht. Nicht selten beginnt auch
jetzt erst seine grösste Verzweiflung, wenn er das Liebste und Theuerste
zerstört sieht und seine Hand als die Thäterin erkennt, noch oft dazu
ohne seine Absicht. Gehen Wahnvorstellungen mit, dann fehlt allerdings
diese befreiende Erkenntniss; der Kranke weiss, warum er getödtet: er
hat seine Angehörigen von der drohenden Gefährdung durch den bösen
Feind behüten wollen; oder warum er das Messer gegen sich selbst ge-
zückt: er ist ein schlechter Kerl, dessen Tod eine Wohlthat oder eine
Forderung der Ehre ist. Für den Eintritt dieser Gewaltacte ist der
Höhegrad des Affects, der Inhalt des melancholischen Wahnes und ganz
besonders die Einwirkung von Hallucinationen und Illusionen maassgebend.
Ausserdem sind aber auch körperliche Momente als Begleiterscheinungen
des Angstanfalls (s. u.) und physiologische Lebensphasen des Patienten
(Gravidität und Wochenbett, Menstruationstermin) von erschwerendem
resp. begünstigendem Einfluss. Namentlich aber ist des anthropologi-
schen Moments der Erblichkeit (Selbstmord in der Ascendenz!) zu ge-
denken, welcher oft wie ein Fatum dem gemütskranken Sohn oder
Enkel die Wiederholung derselben Gewaltthat aufnöthigt (Zwangshand-
lungen).
Die geläufigen Motive des Sui- oder Homicidium in der Melancholie
sind: Versündigungswahn mit Angst vor drohender Bestrafung; Klein-
heitswahn, dass der Kranke sich und die Seinen der Schande oder dem
Verhungern ausgesetzt habe ; dämonomanische Furcht mit Hallucinationen
und überwältigenden Illusionen (oft plötzliches Schwarzwerden einer
Person der Umgebung). Verschiedentlich ist für Homicidium auch das
Motiv schon in Erfahrung gebracht worden, dass der Kranke sich durch
seine That das Schaflfot zu sichern hofft. (Ueber die erfinderischen
A nsf tth rungsarten des Suicidium s. unter: Zwangshandlungen.) Sehr
häufig ist, jedoch weniger bei Angstzuständen als bei melancholischem
Versündigungswahn, eine hartnäckige oft bis zum Aeussersten andauernde
Nahrungsverweigerung.
Nur in einer kleinen Zahl von Fällen beschränkt sich die ver-
änderte Selbstempfindnng des Kranken auf die Klagen eines innern
Schmerzes, einer nur seelischen Verzweiflung (gleichviel aus wel-
chem Grunde). In der grössten Mehrzahl werden die Klagen auch
körperlich geäussert, das innere Weh, die Angst an der oder jener
Körperstelle localisirt. Weitaus am öftesten figurirt „das Herz" als
dieser locus dolens, und zwar entweder in gesteigerter Empfindung
oder gegentheils als Empfindungsleere. Dort sitzen die „nagenden
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Die Melancholie. Allgemeines.
Gewissensqualen", die „Centnerlast", das „brennende höllische Feuer",
der „böse Feind"; dort wird der Mangel jedes „guten Gefühles",
jeder „Liebe", jedes „Dranges zum Gebet" so peinlich empfunden.
Das Herz ist todt durch die Sünden; alle Gedanken, gute wie böse,
sind abgestorben, der Teufel ist mit der Seele des Kranken durchge-
gangen, Freud und Leid ist in unerreichbare Welten gerückt, der Kranke
kann nicht mehr beten und weinen. Ausser dem Herzen ist es nament-
lich der Kopf, welcher für die Localisation der Anaesthesia psychica
dolorosa bevorzugt ist. Die Kranken haben keinen Gedanken mehr, sie
fühlen sich darin so öde und leer, dass sie sich nicht einmal das Bild
ihrer Lieben mehr vorstellen können. In dritter Linie nimmt auch der
ganze Körper Antheil: sie fühlen weder Hunger noch Durst, kein
Bedürfniss nach Excretionen, sie können sich mechanisch verletzen, ohne
dass sie es spüren — und inmitten dieses „Todtseius" bleibt Plage und
Schmerz ihr einziger Lebensreiz; „so hat Gott sie verlassen".
Es ist bezeichnend für die Beurtheilung dieser „anästhetischen" Pein,
dass viele Kranke sich förmlich nach der „Schwermuth" sehnen, wo sie
doch wieder einmal einen wirklichen Schmerz zu fühlen vermöchten.
Wenn im Krankheitsverlauf nach dem anästhetischen Höhenstadinm das
hyperästhetisch gedrückte wiederkehrt, so äussern sich die Kranken bei
allem tiefen Weh dankbar für die Thränen und den Herzdruck, den sie
so lange vermissen mussten. Nicht selten begleiten auch locale Parä-
sthesieen diese anästhetischen Episoden.
Das erniedrigte Selbstgefühl des Melancholikers wird ihm
aber am lästigsten bewusst durch die Herabsetzung alles Wol-
lens. Das Bewusstsein pereipirt in Folge der herrschenden Affect-
stimmung keine Gegensätze mehr. Was der Kranke fühlt, ist doch
nur Wehe, und Dem gegenüber blasst Interesse und Streben zum
blossen Schemen der Stimmung ab. Insofern aber der — auf cen-
tralen Innervationsgefühlen beruhende — Vorgang der Intention selbst
überaus schmerzlich geworden ist, muss sich der Kranke immer
mehr um jede Energie und Initiative gebracht fühlen. Dieses Gefühl,
nicht wollen, sich nicht mehr entschliessen zu können,
ist nun das zweite Hauptsymptom der Melancholie; es bildet mit
und neben der schmerzlichen Verstimmung den eigentlichen Kern
der Krankheit. Im Grunde ist das eine Moment nur die Kehrseite
des andern; das fehlende Wollen ist die psychologische Folge des
schmerzhaften Fühlens, oder auch umgekehrt. Das letztere Verhält-
niss tritt namentlich dann ein, wenn der unschlüssige Kranke manch-
mal, durch die Umstände gedrängt, früher handeln muss, als sein
verzögerter Entschluss fertig ist. Dann haftet sich die peinlichste
innere und äussere Unruhe an jede Handlung, welche er nicht eigent-
lich gewollt hatte und doch gethan sieht, an. Nun geht auch alles
Begehren verloren; der Kranke auf dem Höhepunkt des Leidens
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Melancholie. Willensstörungen.
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muss sogar zum Essen und Anziehen angehalten werden; er ver-
kommt in seinem Aeussern, weil er mit seiner innerlichen Gebunden-
heit nicht einmal zur kleinsten anderweitigen Aufmerksamkeit, noch
weniger zur Activität herauszutreten vermag.
Dieses unendliche WehegefUhl des geistigen Energiemangels er-
zeugt nun rückwirkend eine entsprechend tiefe Erniedrigung des
Selbstgefühls. „Alles und Alle sind Etwas, sind glücklich, nur
ich bin nichts, bin ein Verlorener" — das ist die tägliche und stünd-
liche Klage des Kranken. Der verzweifelt Rüthlose wird durch den
kleinsten Umstand in die grösste Spannung versetzt, und klammert
sich in seiner Schwäche an ein Nichts an, um sein Heil darin zu
suchen. Unterstützt und vollendet wird dieses geistige WehegefUhl
nun auch noch durch ein gleichgestimmtes körperliches, welches
sich auf der Perception des verminderten Muskeltonus aufbaut. Der
Kranke fühlt sich müde, selbst beim Liegen und Sitzen; nicht ein-
mal ein ausgiebiger Schlaf bringt ihm Frische und Erholung. Bei
der hohen Bedeutung der Muskelgefühle für unser körperliches und
psychisches Gemeingefühl begreift es sich, wie deren Ausfall oder
die direct empfundene Muskelschwäche die Pein der seelischen Abulie
noch wesentlich erhöhen muss.
Der Melancholiker hält sich deshalb in der Regel auch zurück-
gezogen; er achtet auf keine äussere Aufmerksamkeit, deren er sich doch
nicht würdig glaubt. — Es gibt aber auch Kranke, bei welchen neben
dem erniedrigten Selbstgefühl, welches sie in Thränen und Weinen be-
theuern, noch eine eben so gesteigerte geistige Empfindlichkeit, ein Be-
dürfniss in ihrem Leiden anerkannt und sorglichst berücksichtigt zu
werden einhergeht. Sie essen wenig, sehen aber gerne ausgewählte
Kost, gehen in keine Gesellschaft, wollen aber in der Einladung nicht
übergangen sein etc. Noch Andere sind trotz ihrer Resignation in man-
cherlei sinnlichen Genüssen begehrlich und anspruchsvoll. Sehr viele
Kranke können sich auch in ihrem Schmerz und in ihrer „Todesver-
zweiflung" eines gewissen Neids gegen Andere (ihrer Ansicht nach vom
Schicksal Verschonte) nicht erwehren.
So spricht Alles um den Kranken, für ihn und in ihm nur die
Eine Sprache namenlosen Schmerzes, absoluten Nichtkönnens. Der
Kranke ist rettungslos unglücklich — und dies durch eigene Schuld.
Bald erfährt er auch das Warum? durch das Echo seiner Schmerz-
gefühle in seinem Vorstellungsleben.
b) Anomalieen in der Sphäre der Vorstellungen.
Alles Vorstellen ist verlangsamt, und zwar durch den Bann
der schmerzlichen Verstimmung. Jede Vorstellung erhält, sowie sie
sieb zum Ich in Beziehung setzt, schmerzliche Geftthlbetonung ; ja
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Dio Melancholie. Allgemeines.
der Vorstellungsablauf selbst ist von peinlichen InnervationsgefÜhlen
begleitet. Dadurch entsteht eine Hemmung; die active sowohl als
die passive Bewegung der Vorstellungen wird möglichst vom Ich
gemieden. Als drittes verstärkendes Moment kommt noch das Ueber-
gewicht und die abstossende Macht der Schmerz -Vorstellung (wenn
diese sich einmal aus der anfänglichen Aflfectstimmung entwickelt
hat) gegen alle anders gefärbte Wahrnehmungen und Ideen hinzu.
Durch alle diese Momente entsteht eine immer umfassendere Bindung
der intellectuellen Functionen, eine Trägheit des Vorstellungsganges,
und endlich Oede des Bewusstseinsinhalts, welcher immer mehr nur
noch vom Einen Schmerzgedanken ausgefüllt wird. Zugleich aber
entsteht reactiv das Gefühl einer peinlichen Gedankenspannung, weil
das Bewusstsein, von andrängenden Gedanken bestürmt, diese nicht
aufzunehmen und in sich abzugleichen vermag, und somit einerseits
verarmt, andrerseits tiberfüllt bleibt.
Es handelt sich mithin bei der Melancholie nicht um einen Mangel
an Gedanken, sondern vielmehr um Stagnation oder um einen monotonen
Schraubengang derselben Gedankenreiheu , um ein „Gedankenbohren",
wie es viele Kranke nennen. Der Melancholiker ist in seinem Denken
überreich beschäftigt und langweilt sich nie. Nicht selten stellt sich
neben der fixirten Affectvorstellung auch noch ein wirklicher Gedanken -
drang ein (s. o.), ein Anstürmen peinlicher Reminiscenzen und beängsti-
gender Wahrnehmungen; aber das schmerzgebannte Ich kann sie nicht
appereipiren. Viele Kranke geben selbst an, dass ein Wort, eine Erin-
nerung, deren Anrücken schon wie ein Alp drückt, eine Reihe schmerz-
licher Gedanken in ihnen weckt, welche sich mit steigender Flucht zu
vollständiger Verwirrung zusammendrängen. Als häufige Reactionen auf
diese innere Qual erscheinen die Eingangs bezeichneten motorischen Re-
flexe. Gewöhnlich gehen auch Wallungen zum Kopfe, vermehrte Herz-
action, unter Umständen Angstanfälle mit einher. Bei dieser Ueberfüllung
des Bewusstseins mit Schmerz- und Reuegedanken werden die übrigen
Vorstellungen, welche dem zersetzenden und hemmenden Einfluss der
melancholischen Stimmung noch entrinnen können, nach und nach dem
Ich so entfremdet, dass es dieselben nicht mehr als sein Eigenthnm er-
kennt, und der Kranke allmählich an der Realität aller Dinge zweifelt.
In vielen Fällen hat es bei diesen formalen Störungen sein Be-
wenden, und der Kranke hat — ohne nur eine einzige unrichtige
Idee in sich zu beherbergen — mit dem Können auch das Verständ-
niss seiner Umgebung eingebüsst; er verarmt mitten in dem Reich-
thum äusserer Geschehnisse, welche er nicht aufzunehmen, oder nur
in Einer Farbe zu erfassen vermag. Liegt in dieser lediglich for-
malen Störung eigentlich auch schon eine inhaltliche Fälschung, so
tritt diese letztere nun ausgesprochen in der Entwicklung des melan-
cholischen Schmerzes zu einer adäquaten Vorstellung zu Tage.
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Melancholie. Vorstellungsatörungen. Wahn.
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Nicht immer, aber allermeist, vollzieht sich diese psychologische
Folge: der melancholische Wahn entsteht als logische Erklärung
des peinigenden, bis dahin unbegriffenen innern Weh's. Diese Ent-
wicklung kann unbewnsst geschehen, manchmal aber auch auf dem
Umweg der Reflexion. Aus dem gegenwärtigen Tagesgeschehen
oder aus dem Vorleben, aus einer auffälligen Wahrnehmung oder
als Frucht eines prüfenden Grübelns wird der gesuchte „Beweis"
hergeholt, der dunkeln Schmerzempfindung das erklärende „Wort"
geliehen. Und an Veranlassung, an Material, fehlt es ja in keinem
Leben; gibt's doch „Keinen, der nicht wird bewahren still ein Weh
in seiner Brust!" Einmal gefunden, bleibt es erfasst und in steter
Wiederholung festgehalten.
So entsteht der Versündigungswahn, der Wahn der Pflichtversäumniss
gegen Beruf und Angehörige, der Wahn, verhungern zu müssen etc. Für
den concreten Inhalt der Wahnideen im Einzelfall ist Übrigens nicht
immer nur ein beliebiger Einfall oder eine zufällige Reminiscenz aus dem
Vorleben des Kranken maassgebend, sondern sehr oft (wenigstens mit-
bestimmend) die Qualität einer mit beglei tenden Seusibili-
tätsanomalie. Körperliche Hyperästhesieen, Anästhesieen oder Dys-
asthesieen, mit den zugehörigen Organempfindungen (Intereostalnerven
mit den Beklemmungsgefühlen, sexuale Keuralgieen) sind es, welche das
Ich „stimmen" d. h. es veranlassen, in der oder jener Richtung die „auf-
klärende" Thatsache im Vorleben aufzusuchen. Auch ohne einen solchen,
mit ihrem Timbre harmonirenden, Thatsachen- Beweis diktiren sie zweifel-
los oft genug dem Bewusstsein direct die Wahnvorstellung durch Alle-
gorisirung ihres psychischen Eropfindungsinhalts. Wie hochwichtig dieses
Verhältniss für das klinische Verständniss ist, liegt auf der Hand. Die
Wahnideen der Versündigung, des Verhungerns scheinen auf der Grund-
lage elementarer (hier wohl intracerebraler) Dysästhesieen sich aufzubauen.
Dabei ist ein klinisches Moment für die Beurtheilung dieser Allgorieen
hochwichtig: die psychiche Leistungskraft des Hirn-Organs
selbst, als des schlussbildenden Apparats für die Verwerthung resp.
mehr minder adäquate Erfassung der zugeleiteten Empfindungen. Im
Allgemeinen wird diese um so zutreffender und richtiger, d. h. in der
Allegorisirung der Sensation um so realer sein, je funetionskräftiger die
Hemisphärenleistung. Barocke, phantastische Umdeutungen deuten er-
fahrungsgemäß c. p. immer eine entsprechende psychische Schwäche,
unter Umständen eine degenerative (z. B. senile) Hirnfunction an. Dabei
ist aber nicht zu übersehen, dass tiefere Ernährungsstörungen flir die
„3chluss"kraft des Gehirns nicht selten vorübergehend dieselbe depoten-
ztrende Wirkung haben können, wie degenerative Hirnleiden (so nament-
lich hochgradige Anämieen). Darnach ist die „auscultative" Verwerthung
der Wahnideen sorgsam zu prüfen!
In einer andern, kleinern, Reihe von Fällen kann dagegen die
Vorstellung, welche den Kern der nachfolgenden Melancholie abgibt,
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32
Die Melancholie. Allgemeines.
voraufgehen, und reactiv entweder langsam oder acut die zuge-
hörige depressive Stimmung aufrufen. Dies ist namentlich der Vorgang
bei den Melancholieen aus sog. Zwangsgedanken. Zufällige erschüt-
ternde Wahrnehmungen (Erzählungen von Schauererlebnissen, Anblick
von gewaltsam Getödteten, oder auch plötzliche blasphemische Ein-
fälle, namentlich in der Kirche) bleiben haften, und mit ihnen die be-
gleitende Affectwirkung. Der Gram Uber einen solchen unberufenen
Gast, welchen das Bewusstsein mit aller Mühe nicht mehr los werden
kann, steigert sich nun nicht selten zur Verzweiflung und gibt der
schmerzlichen Spannung eine Gradstärke und Dauer, dass langsamer
oder rascher die Melancholie perfect wird. Brüske Begegnungen,
allzu herbe Verweise, ein eindringliches Predigtwort, namentlich oft
aber ein heftiger Schreck können die geschilderte Genese, welche
bei peracuten Fällen stets eine nervös vorbereitete Individualanlage
voraussetzt, zu Stande bringen.
Statt aus dem eigenen Vorleben des Kranken kann aber die
melancholische Verstimmung auch aus der Anssenwelt die Er-
klärungsgründe für das so schmerzlich veränderte Fühlen, und nament-
lich für das Gefühl des peinlichen Gehemmtseins, der Willenlosig-
keit, herholen. Der Kranke leidet durch Andere, denen er durch
eigene Schuld sich in die Hand gegeben, die ihm übelwollen, weil
er ein so schlechter Mensch ist (nicht wie der Wahnsinnige, den
man gegentheils wegen seiner „Vorzüglichkeit", oder „weil er Andern
im Wege ist", so verfolgt). Theils sind es drohende oder wirkliche —
aber immer „gerechte" — Verfolgungen durch die Polizei etc., theils
in mehr mystischer Richtung die directen Bedrängungen durch den
„bösen Feind" (Dämonomelancholie). Treten dazu noch tiefer grei-
fende Sensibilitätsanomalieen , speciell aus den Empßndungsgebieten
unserer individuellen Körperform, so baut sich auf dieser dämono-
manen Grundlage noch der Wahn der Metamorphose der körper-
lichen Persönlichkeit in eine aussermenschliche Existenz (Thiere) auf.
Eine besondere Erwähnung verdienen die hypochondrischen
Wahnvorstellungen, welche gewisse melancholische Zustände aus-
füllen, manchmal aber auch nur die Anfangs- und Schluss-Stadien
begleiten.
Das tiefe Weh dieser Kranken gründet sich auf die gesteigerte
Wahrnehmung der veränderten Körpersensationen; aus der krankhaften
Ueberempfindung folgen die übertriebenen Schlüsse und Befürchtungen.
Namentlich sind es die abnormen Gefühle im Kopfinnern („Düppel im
Kopfe", Schwindel, Nebel, Benommenheit, Gefühl von Hirnsteifigkeit, von
„Zittern und Rieseln im Hirn, als ob Blut herablaufe", Gefühle von
„Todtsein im Kopfe", von „absoluter Taubheit der Gedanken", welche
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Sensorische, sensible uud vasomotorische Begleitsymptoine. 33
die Kranken beängstigen und rathlos und auf das Aeusserste gefasst
machen. Manchmal tritt ein momentanes Gefühl der Geistesabwesenheit
ein, als ob Alles in dem Krauken, namentlich seine Miene starr würde,
und die Augäpfel herausträten. Sodann die beklemmenden uud beschweren-
den Empfindungen in der Magengegend (das stete „Vollsein", dass kein
Essen mehr Platz hat), im Schlünde („wenn ich's nur wegschlucken
könnte!"), das peinliche Herzklopfen mit aussetzendem Herzschlag, und
die daran geknüpfteu Befürchtungen von Herzschlag uud Apoplexie.
Auch aus dem Schlundkrampf entwickelt sich eine furchtbare Angst und
Todesfurcht, so Ubermächtig, dass „der Herrgott selbst es dem Kranken
uicht auszureden vermöchte". Oft geht's vom Schlund in den Rücken
und von der Mitte des Brustrückgrats hinauf (schmerzhafte Punkte) Uber
die Achseln in den Kopf, so dass ein Rash durch den letztern fliegt, und
der Kranke sich momentan nicht mehr zu helfen weiss, zu irgend einer
perversen That (Fortlaufen) getrieben wird. (Weiteres s. im Speciellen.)
In recht durchgearbeiteten (von peinlicher Selbstbeachtung und Grübelei
ausgemusterten) Krankheitsfällen ist kein Fleckchen am Körper, welches
nicht Bchmerzt oder nicht abnorm empfindlich ist, so dass schliesslich
der Kranke in eiuem Chaos von beängstigenden und peinlichen Miss-
empfindungen aufgeht (Brennen auf dem Scheitel, Verstopftsein der
Uhren, Klopfen und Grillentöne in den letztern, Nebel vor den Augen,
Geschmacklosigkeit, Behinderung im Schlingen, Aufgetriebenheit des Lei-
bes, häufiger Drang zum Uriulasseu, Brennen in der Harnröhre, Schmerz
beim Stuhlgang, „Knacken" in den Knicen, Zittern in den Beinen etc.).
c) Anomalieen der sensorischen, scnsibeln, vasomotorischen und
trophischen Functionen. Mimik. Die Leistungen der Sinnesfunctionen
im Allgemeinen richten sich in der Melancholie nach dem Staude
der Cerebral-lnnervation. In hyperästhetischen Stadien gesteigert
und verschärft (jede Farbe, jedes Geräusch thut wehe, gerade wie
jede geistige Ansprache), werden in den passiven Phasen, in wel-
chen der Kranke, durch sein inneres Weh abgezogen, au der Aussen-
welt keinen oder nur den geringsten Antheil uimmt, die Wahrneh-
mungen matt und farblos; kein noch so verlockender Siunes-Eiudruck
kommt mehr zur Geltung, selbst die Scbmerzempfindungen sind so
herabgesetzt, dass der Kranke nicht einmal der Wunden zu achten
vermag, die er sich in der Verzweiflung unbarmherzig beibringt.
Speise und Trank vergtsst er, selbst junger- und Durstgefühl kaun
neben dem inneru Weh nicht mehr zur Perception gelangen.
Dabei ist merkwürdig, wie in der melancholischen Unruhe die
Nahrungsverweigerung mit krankhafter Essgier (ganz ohne Sättigungs-
geflihl) abwechselt, und wie ruheloser Verzweitluugsdrang oft iu un-
bändiger Masturbation sich austobt is. u.).
Eine betondere Hervorhebung verdienen die in der Melancholie
auftretenden Sinnestäuschungen. Es sind Hallucinationen, und
Schale, Ü€bt«*»tJruDb'en. 3. Aufl. 3
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Die Melancholie. Allgemeines
in noch grösserer Häufigkeit Illusionen. Letztere begleiten nament-
lich die Angstparoxysmen. Oft leiten Illusionen oder Hallucinationen
den Beginn der Krankheit ein, so namentlich, wenn durch den Chok
eines plötzlichen Schrecks (Anblick eines Erhängten) der als
Zwangsgedanke gebliebene emotive Eindruck die nähere Krankheits-
Ursache bildet: da rauscht es in den Ohren und aus den Wänden,
Fledermäuse huschen durch die schlaflose Stille der Nacht, das
Gesichtsbild wird abwechselnd neblig, roth oder blau, Lichtblitze
zucken durch das Zimmer und zeichnen die geftlrchtete Schreck-
gestalt ab etc. Geformte und selbständige Hallucinationen stellen
sich in der Regel erst mit zunehmender Krankheit, auf deren Höhen-
punkt, ein; bald bleiben sie dann dauernd, bald treten sie zeitweilig
zurück, um paroxysmenweise (Menses, Gemtithsbewegungen, grössere
körperliche Anstrengung) wiederzukehren. Hauptsächlich sind es
Hallucinationen des Gehörs, Hallucinationen und Illusionen des Ge-
sichts und Illusionen der übrigen Sinne, welche beobachtet werden.
Bezüglich ihres Inhalts figuriren die „Stimmen" theils als Verkünder
drohender Strafe, theils als höhere Weisungen und Handlungsbefehle
(imperative Gewaltacte); in „Schreien und Jammerrufen" tönt die
Furcht, als ob die eigenen Verwandten gemartert würden, dem Kran-
ken entgegen. In den „Gesichten" erscheinen schwarze Figuren, als
Incarnationen des Höllengeistes, unter allerlei legendenhaften Meta-
morphosen, oft unter Thiergestalt. Oft spricht der Kranke selbst in
zweifachem Sprachtimbre, wovon der eine Sprachton dem andern
antwortet. Unter die Illusionen sind zu rechnen: die plötzliche
Farbenveränderung äusserer Gegenstände, wodurch sie dem Kranken
als „eben vom Teufel in Besitz genommen" imponiren; namentlich
auch die gehörten Zurüstungen von „aufgerichteten Guillotinen, her-
beigetragenen Särgen", in welche zufällige äussere Geräusche sich
umdeuten. Auch einfache Hyperästhesieen des Gehörs und Gesichts
(Empfindlichkeit gegen einzelne Farben, z. B. gegen das „Roth")
gehen und kommen; zeitweise erscheint gegentheils Alles wieder
abgeblasst, farblos, musikalische Tonfolgen und Lieder als unharmo-
nisch. In der Sphäre des Geruchs peinigen Verwesungsgerüche, in
der des Geschmacks allerlei Ekelempfindungen („Alles ist Dreck"),
in der Tastsphäre endlich sind es nächtliche obseöne Berührungen
(bei sexualkranken Frauen) durch den „bösen Geist", welcher (in
Reflexhallucinationen) sich theils als „Person mit Hörnern", theils als
„Hund", theils als „Löwe" nähert. Die höchste Entwicklung und
durchgreifendste Allegorie erfahren diese Tast- und GemeingefUhls-
Illusionen durch krankhafte Umänderung resp. Aufhebung der körper-
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Pathogenetische und psychophysische Function der „Neuralgieen-. 35
liehen Begrenzungsgeftthle (8. o.): so entstehen jene Thiermetamor-
phosen, wo der Kranke glaubt z. B. ein „Wolf geworden zu sein,
„weil er so viel essen müsse", oder eine „Hornisse", weil es ihm die
untern Rippen oft einziehe, oder ein „Hund", weil er in seiner All-
angst plötzlich bellende Schreilaute auszustossen und krampfhaft um
sich zu beissen sich getrieben fühlt.
Die klinische und namentlich auch forense Bedeutung der Sinnes-
täuschungen in der Melancholie ist nicht hoch genug anzuschlagen. In
ihnen resp. deren imperativer Gewalt beruhen die meisten der melan-
cholischen Gewalt -(Zwangs-) Acte. Jeder hallucinirende Melancholiker
ist gemeingefährlich. Bemerkenswerth ist übrigens, dass die „ächten"
Hallucinationen nicht so häufig sind (in reinen Melancholieen) als die
Pseudohallucinationen und Illusionen; sehr oft imponirt ein lebhafter Ge-
dankendrang, eine rasch und unter Angst auftretende Vorstellung dem
Kranken als „Stimme"; es fehlt ihr aber der eigentlich sinnliche Timbre.
Dieses gilt namentlich auch von den „aus der Brust" oder „aus der Herz-
grube" laut werdenden Gesprächen; genauer analysirt .sind dies nur leb-
hafte Gedanken, welche durch die mitbegleitendc Präcordial- und Inter-
costalempfindung das „objectivirende" Moment enthalten, aber doch nicht
eigentlich sinnlich „gehörte" sind. Manche „Stimmen" sind auch illuso-
risch ausgelegte „Ohrgeräusche" (namentlich bei Chlorotisehen) auf Grund-
lage desselben einseitig begünstigten Gedankendranges. — Klinisch höchst
bemerkenswert!! ist die prognostische Bedeutung der Hallucinationen für
den Verlauf des Einzelfalles. Melancholieen mit ächten und sehr leb-
haften Hallucinationen gehen nicht in ein manisches Nachstadium Uber,
sondern entweder direet resp. successive in Genesung, oder durch den
Zwischenact eines hallucinatorischen exaltirten Wahnsinns — während die
uncomplicirten, d. h. hallucinationsfreien Fälle erst durch ein ächt ma-
nisches Tebergangsstadium sich krilisiren (Hagen). Das Paradigma für
den letztern Modus sind die Melancholieen in den Circulärpsychosen.
Nicht minder wichtig als die sensorischen sind die sensibeln
Störungen in der Melancholie. Man kann, wenn auch nicht mit
Ausschliesslichkeit, annehmen, dass jede in einen bestimmten Wahn-
gedanken ausgearbeitete Melancholie mit einer zugehörigen Sensibi-
litäts-Anomalie (welche auf neuro- oder rausculo- oder endlich vaso-
sensibelra Gebiete liegen mag) verbunden ist; und ferner: dass die
psychisch-pathologische Ausgestaltung der Melancholie gerade in der
peripheren Ausstrahlung — vom erkrankten Gehirn abwärts — erst
über die vasomotorischen und dann über die spinal- sensiblen Nerven-
gebiete besteht.
Es entspricht dies ganz dem physiologischen Gang der Affectaus-
breitung: motorisch von den Hemisphären abwärts schreitend vom
Oculomotorius zum Facialis und dann Uber die Stammmusculatur; vaso-
motorisch und sensibel von den corticalen Vasomotoriusfeldern zum
wichtigsten psychischen Aftectnerv: dem Vagus, und von da über die spi-
3*
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3G
Die Melancholie. Allgemeines.
nale Rückensäule, vor Allem zu den Intercostalnerven und im Weiteren
zu dem Splancliuicus. Dieses physiologische Sclieraa erhält sich auch
unter den pathologischen Bedingungen der depressiven Affectneurose in
der Melancholie, nur mit der Modifikation, dass durch die grundliegende
somatische Störung (Anämie, Sexualreiz, Brnst- und Unterleibs-, in spe-
cie Uterin-Affectionen) sich meistens schon vorher 8ensibilitätsstörungen,
resp. Neuralgieen ausgesondert haben, welche fiir die centrale Ansprache
(von den Hemisphären aus) bereit stehen, und so das gesuchte und un-
entbehrliche periphere Affect-Element entgegenbringen. Es ist oben be-
reits auf die „wahnfärbende" Bedeutung dieser peripheren Sensibilität« -
anomalieen aufmerksam gemacht worden ; hier ist jetzt der Ort, die letztern
in ihrer klinischen Verwertuung besonders hervorzuheben. Man wird bei
der Untersuchung der Einzelfälle alle Modifikationen derselben vorfinden :
Hyperä8thesieen, Dys- und Anästhesieen. Gewöhnlich sind es umschrie-
bene Neuralgieen , am häufigsten der Intercostalnerven , dann auch des
Trigeminu8 und Occipitalis; dazu treten die visceralen Empfindungs-
störungen im Gebiete der Herz-, Schlund- und Unterleibsnerven. So loca-
lisiren viele Kranke ihre „Angst" in den Unterleib in Form einer von
der Uteringegend aufsteigenden Aura; Andere bezeichnen ein Zittern oder
Klopfen im Hypochondrium, ein Kriebeln im Nacken, ein Hautjucken als
den Aufaug; von da steigt es an den Nabel und in den Unterleib; hier
beginnt manchmal sofort eine massenhafte Entwicklung von Blähungen,
welche unwillkürlich abgehen und „geruchlos" sind. Nun tritt Gähnen
und zugleich die heftige Angstempfinduug ein. Letztere dauert, bis die
Sensationen und Bewegungen im Unterleibe wieder vorUber sind.
Der bei Melancholikern, man kann sagen ausnahmslose, Präcordial-
druck (von der Herzgrube bis zur Mitte der Brust hinauf, „da, wo man
Leid und Freud empfindet") reiht sich unter eine dieser Kategorieen :
entweder ist er ein Theil der Vagus-Neurose, oder der Eflfect einer Inter-
costal-Neuralgie, oder aber eine vasomotorische lnnervationsstörung des
Herzens. Allermeist gehört derselbe wohl den beiden erstgenannten Entste-
llungsgebieten an. Iu gleicher Weise treten auch die anderen Neuralgieen:
occipitale, brachiale, manchmal auch crurale (ischiadische) psyebo-phy-
sisch (durch ihren Empfindungs-Timbre), vor Allem aber in der beschrie-
benen Weise pathogenetisch (dadurch, dass sie den psychischen
Reiz — den Aflectgedanken, die melancholische Wahnvorstellung — fixi-
ren) integrirend in den physio- pathologischen Symptomencomplex der
Melancholie ein. Die Klagen des Kranken Uber das drückende Gewissen,
über die ihm verlorene Seligkeit, über den Dämon, der Uber ihn Gewalt
bekommen — also der melancholische Wahnkern — bezieht sich auf
diese Missempfindungen in der Herzgrube: hier werdeu umschriebene
Stellen als directer Sitz der genannten Klagen bezeichnet, so dass die
Entstehung jener aus einer Allego risiruug der daselbst gefühl-
ten Parästhesie vom Krauken selbst täglich demonstrirt wird. In
den brennenden Gefühlen im Rachen „lecken die Flammen des bösen
Feindes herauf", in dem Wühlen im Halse, in der Hitze im Magen,
welche nach dem Essen über Brust, Hals und Kopf schiesst, offenbart
sich derselbe Dämon, welcher dem Kranken dadurch nur die Stelle an-
deuten will, „wo er sich an das Leben gehen soll". Für die Folge bildet
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Vasomotorische und trophische Störungen.
37
sich auf der soeben entwickelten Grundlage ein klinisch sehr wichtiges
Wechselverhältniss herans: die beiden verbundenen Elemente — das cen-
trale (die Wahnidee resp. deren psychisches Aequivalent) und das peri-
phere (die erregte sensible Nervenbahn, resp. deren vasomotorisches Aequi-
valent) rufen wechselseitig einander hervor und bilden in ihrem Auftreten
und Zusammenhang einen circulus vitiosus. Darin beruht die hochwich-
tige klinische Function der Neuralgieen (qua in Miterregung begriffener
sensibler Nervenbahnen): sie bilden ein wesentlich zugehöriges Glied in
der Pathogenese dieser Melancholieen und zugleich den dauernden An-
reiz für die sofort parate Schwellentiberschreitung der Wahnidee resp.
des damit verbundenen Angstzustandes.
In schwereren Fallen, namentlich von plötzlicher Chok- Melancholie,
finden sich auch locale, oft einseitige, Anästhesieen, so namentlich im
Gebiet des Trigeminus. Nicht selten combiniren sich auch oberflächliche
Anästhesieen mit neuralgischen Hyperasthesieen in der Tiefe (Inter-
costalgebiet).
Die vasomotorischen Begleiterscheinungen der rüstigen Me-
lancholie bestehen, so weit sie sich sphygmographisch darstellen
lassen, in einer verstärkten Tricrotie des Radialpulses (vermehrte
Contractur des Arterienrohrs). In spätem Stadien und ebenso bei tief
constitutioneller Angegriffenheit (namentlich auf anämischer Grund-
lage) treten die Zeichen der Gefässlähmung (tardo-dicrote, nnd selbst
monocrote Formen) auf. Sehr häufig sind zeitweilige congestive
Rash's zum Kopfe (besonders bei Angstzufällen, hier auch mit My-
driasis), mit klopfendem, sehr entwickeltem raschen Carotidenpulse,
neben kleiner Radialis und kühlen Extremitäten.
Anderemale wechseln, besonders in der Bettruhe, Frost- und üitze-
zustände, wovon die letztern den Kranken sogar aus dem Schlafe stören
und aus dem Bette treiben. Manchmal wird namentlich Uber Kälte in
den Ohren geklagt, so dass der Kranke nicht ordentlicli hört und mit
den Fingern darin bohren muss. Auch im Gefolge recrudescirter Neural-
gieen treten vielfach vasomotorische Fluxionen auf, besonders bei
jenen der Intercostalnerven. In dieser Wechselwirkung entstehen manch-
mal auf eine tiefe Gemüthsbewegung (mit Ansprache der Intercostalbahnen)
mehr weniger starke Wallungszustände zu den Lungen , welche nament-
lich bei decrepiden alten Melancholikern Bronchialkatarrhe hervorrufen,
oder bestehende erheblich verschlimmern können.
Bei den torpiden und passiven Formen ist der Puls gegentheils
schwach, oft selten, mit hervortretender venöser Circulation; oft stellen
sich im Verlaufe Oedeme der Knöchel, selbst der Fusse, ein. Bei sehr
chronischen Formen wird in späteren Stadien auch eine teigige Infiltra-
tion der Stirnhaut (wohl mit Stasen in der Schädelhöhle) beobachtet.
Trophisch treten eine Reihe bald mehr, bald weniger ausgebil-
deter Symptome hervor. Das fast ausnahmsloseste derselben ist die snc-
cessive Reduction der Ernährung und ebenso der Mangel in der Blut-
bildung — nicht selten trotz zureichendem Essen und reichlichem Gebrauch
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Die Melancholie. Allgemeines.
der Tonica und Eisenmittel (bei hysterischer Melancholie fand ich anfäng-
lich erst sehr starke Fettanbildung bei entsprechender Nahrungezufuhr,
und zwar dies trotz der activ depressiven Stimmung; im späteren Krank-
heitsverlauf starke Gewichtsabnahme um 30 Pfund). Die Besserung der
Ernährung und des Aussehens kündigt nach alter Erfahrung (c. p.) in
zuverlässiger Weise die eingetretene Reconvalescenz an, deren psychischer
Theil in der Regel erst nachfolgt. Manchmal vollzieht sich dieser Um-
schlag auffallend rasch — wie wenn eine bis dahin bestandene Sperre
im trophischen Nervenhaushalt wäre ausgeschaltet worden (so nicht selten
auch hei künstlicher Ernährung). Die Haut wird während der Krankheit
meist trocken, welk, spröde durch stark wachsende Epidermisschüppchen ;
das Aussehen schmutzig livide, gedunsen, nicht selten gealtert. Mit der
Reconvalescenz kehrt auch der alte Turgor und die frühere Frische wie-
der. Bei tieferen Störungsgraden tritt gern auch Fettschweiss und ein
zunehmender Anflug von Lanugo über das Gesicht auf — letzteres in
chronischen ungünstigen Fällen. Auch Haare und Nägel werden oft
spröde, die ersteren manchmal rasch melirt, um merkwürdigerweise hie
und da gleichfalls zur frühem jugendlichen Farbe mit Eintritt der Re-
convalescenz zurückzukehren. Desorganisation der Knorpel (speciell des
Ohres mit Neigung zu Othämatomen i , Brüchigkeit der Knochen, tiefe
Assimilations- resp. Blutbildungsstörungen, welche unter dem Bilde per-
niciöser Anämieen mit Petechienbilduug im Gehirn und in der Haut ver-
laufen, sind die trophische Mitgift ganz schwerer, in Unheilbarkeit ver-
laufender Fälle. Nicht selten ist Neigung zu Furunkelbildung, zu
Phlegmonen, oft auch zu Hautafiectionen, bei senilen Formen besonders
zu Prurigo, vorhanden. Die Körpertemperatur zeigt für gewöhnlich, d. h.
bei frischer und rüstiger Erkrankung, keine Alteration; bei torpiden For-
men ist sie nicht selten um einige Zehntel unter der Norm.
Die Respiration ist in der Regel — sofern nicht Angstparoxysmen
da sind — verlangsamt und oberflächlich. Zum Theil liegt die Ursache
wohl im Nervenleiden selbst, zum Theil in der durch die ängstliche De-
pression veranlassten Körperhaltung; auch der Intercostalschmerz mag
hiefür nicht ohne Bedeutung sein. Es muss an dieser Stelle auf die hier-
aus resultirende Schädlichkeit, welche sowohl mechanisch in Behinderung
des richtigen Blutabflusses aus dem Gehirn besteht, als auch chemisch in
der dadurch gegebenen mangelhaften Decarbonisirung des Blutes, hinge-
wiesen werden. — Palpitationen des Herzens werden oft geklagt; manch-
mal sind dieselben äusserlich nachweisbar; anderemale steht die subjective
Empfindung in keinem Verhältniss zum geringen objectiven Ergebnisse.
Hier sind wahrscheinlich intracardiale Sensationen, oder aber eine durch
den Anschlag an die neuralgische Brustwand verstärkt gefühlte Herzaction
zur Erklärung beizuziehen.
Störungen der Verdauungsfunctionen sind bei der Melan-
cholie sehr häutig. Dyspepsieen, abnorme Säurebildung, Magenkatarrhe
mit starkem Zungenbeleg, letzterer auch periodisch allein auftretend;
namentlich aber Darmkatarrhe mit hartnäckiger Obstipation und Abson-
derung von froschlaichähnlichem Schleim, mit den oft höchst fötid
riechenden knolligen Stuhlen, sind ausserordentlich häufige Symptome.
Gewöhnlich erscheint unter den ersten verlässlichen Zeichen der Recon-
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Störungen der Respiration, Verdauung u. 8. w. Mimik.
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valescenz eine Regelung des Stuhlganges. Nicht selten ist auch zeit-
weilige Lienterie zugegen. Die meisten Kranken leiden an mehr weniger
grosser Appetitlosigkeit, welche sich nicht selten in den Dienst des
Wahnes stellt (Un Würdigkeit zu essen) und zur Nahrungsverweigerung
fuhrt; anderemale ist die letztere aber auch ausschliesslich Wahneffect
(Versündigungswahn); in manchen Fällen führen vielleicht die faulenden
Epithelien des Zungenbelegs ein psychisches „Verwesungsmotiv" ein,
welches zur Absage der Nahrung führt. In einer kleinen, aber beach-
tenswerthen Gruppe spielen pharyngeale Krämpfe mit, welche den Schling-
act hemmen und dämonomanisch ausgelegt werden.
Sehr häufig sind im Verlaufe von Melancholieen Störungen der
Menstruation, besonders cessatio mensium. Diese kann Uber die ganze
Krankheit fortdauern und mit ihrem Schwinden die Wiederkehr der Re-
con valescenz bezeichnen. Manchmal tritt übrigens die Genesung auch
ohne vorherige Menses- Regulirung ein. Sehr gefährdend resp. verschlim-
mernd für den Krankheitsverlauf wirken Menorrhagieen durch ihre anii-
misirenden Folgen.
Die sexuellen Functionen, speciell die normalen Sexualreize bei bei-
den Geschlechtern, liegen oft während des melancholischen Paroxysmus
darnieder; anderemale aber tritt anfall weise ein gesteigerter Drang nach
geschlechtlicher Befriedigung, oft in Form von gebieterischer Masturbation,
zu Tage.
Fast allen Formen von Melancholieen gemeinsam (mit Ausnahme
weniger, welche zu den circulären oder periodischen gehören) ist die
Schlaflosigkeit. Diese kann ausserordentlich rebellisch sein und den
denkbar höchsten Grad erreichen, oft trotz aller Arzneimittel. Manch-
mal schlafen die Kranken einige Stunden und wachen dann auf, im Schweiss
gebadet und mit verstärktem Piäcordialdruck. Der Schlaf kann Wochen
und Monate lang fehlen und erst mit Eintritt der Reconvalescenz lang-
sam, oder auch plötzlich, wieder sich einstellen. Sehr häutig sind bei
unruhigem Schlaf die peinlichen, ausserordentlich lebhaften und beäng-
stigenden Träume. Dabei ist interessant, dass manchmal in der Recon-
valescenz das gesammte wahnhafte Vorstellungslcben (mit allen Befürch-
tungen und SelbstvorwUrfen) erst noch in den Traum übersiedelt, nachdem
es aus dem wachen Bewusstsein schon gestrichen ist, und dort sein nächt-
liches Dasein noch kurze oder längere Zeit fortführt, bis es endlich ganz
untertaucht.
Die Mimik des Melancholikers zeigt einen fixirten Affect des Schmer-
zes in den starren, wie aus Holz geschnitzten Zügen, welche oft durch
Tage und Wochen festgehalten werden, wenn nicht der Schmerz der
Verzweiflung oder Angst sie zu einem leisen Beben belebt. Oft ziehen
die Kranken die Lippen zusammen, oder beissen leicht auf eine Seite der
Unterlippe, während die Hände ineinander gelegt und gerieben werden
als Ausdruck ängstlicher Rathlosigkeit. Der Blick hat gleichfalls einen
Starren, oft durch Vortreten der Bulbi noch grösseren Ausdruck; bei
andern zeigt gegentheils das verschleierte matte Auge die innere Resig-
nation an, welche die Erfüllung ihres Verhängnisses erwartet. In schweren
(organischen) Melancholieen hat der Blick etwas fremdartiges: er schweift
unruhig und ziellos umher und wird dazwischen plötzlich starr mit dem
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Die Melancholie. Allgemeines.
Ausdruck des Amaurotischen (prognostisch mali ominis!). Auch die Hal-
tung und Physiognomik sind vorwiegend starr und gebunden, ausser in
den Erregnngsstadien der agitirten Melancholie, wo das jetzt entfesselte,
aber monotone Geberdenspiel den entlastenden Reflex darstellt, welcher
auf Stunden und Tage die schmerzliche Hemmung durchbricht. Nament-
lich fallt die Nackenmusculatur durch ihre Spannung und die dadurch
bedingte steife Kopfhaltung in den Acmestadien der Kranken auf. Die
intendirten Bewegungen sind langsam, trage, energielos. Die Sprache ist
gewöhnlich halblaut, zögernd, nicht selten verspätet, sodass der Kranke
erst spricht, wenn man ihn verlassen will; die Sätze sind häufig unvoll-
endet, oft nur aus einigen Worten bestehend. Manchmal werden die
Antworten nur in Seufzern oder einförmigen Iliterjectionen gegeben, oder
auch in Ausbrüchen von Weinen und vcrzweiflungsvollem Jammern, so-
wie man den Kranken anredet. Neben diesen ausgesprochenen melan-
cholischen Typen gibt es aber einen minder hervortretenden „mildern",
aber doch sehr charakteristischen und bemerkenswerten , weil er jene
Kranken betrifft, welche durch äussere Ruhe und scheinbare Fassung,
durch ihr artiges und bescheidenes Auftreten ihren Seelenschmerz zu ver-
decken wissen. Hier ist es der einförmige Ernst auf den zeitweise ge-
spannteren Zügen, welch letztere sich im Gespräche häufig zu einem
Gewohnheitslächeln verziehen, der Uberaus scheue, meist niedergeschlagene
Blick, die matte und einförmige Sprache, die Stille und Schweigsamkeit,
das Zaghafte und Zurückhaltende im Benehmen, das träumerische, „nä-
gelkauende" Umherstehen — welche den äusseren Habitus zusammensetzen.
Therapie.
a) Somatische. Die Indicationen sind : 1 . R u h e dem erkrankten
Nervensystem, und zwar sowohl dem hyperästhetisch -psychischen
Centraiorgan, als auch den von der Peripherie wirkenden Reizen
(Neuralgieen); 2. Bekämpfung aller complicirenden Begleiterkran-
kungen (Gastricismen, Obstipation etc.); 3. Hebung der gesunkenen
Körperernährung.
Hier fällt die Aufgabe der somatischen Therapie zugleich mit
der der psychischen zusammen; nur unter Beiziehung der letztem
lässt sich der erstem genügen (s. u.). Speciell: Sorgfältige Diätetik.
Der Kranke muss alle anstrengenden Beschäftigungen vermeiden, be-
sonders jede ermüdende Kopfarbeit; er soll viel in frischer Luft sich
aufhalten, kleine Spaziergänge machen, Morgens sich genügende Bett-
ruhe gönnen, Abends bei Zeit sich legen. Zur Unterstützung dienen
lauwarme Wannenbäder mit kalten Umschlägen, mit Vortheil Abends
gebraucht. Bei Neigung zu Kopfcongestionen Fuss- und Handbäder,
event. temporärer Gebrauch von Eis. Bei anhaltenden Congestiv-
zuständen, activen und auch passiven (in chronischen Melancholieen),
sind zeitweilig Blutegel hinter die Ohren angezeigt (sofern der Kräfte-
zustand es zulässt); unter Umständen auch Digitalis. Nicht selten
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Therapie : Diätetik. Bettruhe. Behandlung der Schlaflosigkeit. 41
reicht diese einfache Therapie aus, namentlich im Anstaltsleben; mit
der neuen Umgebung, welche zugleich die Erfüllung der psychischen
Indicationen in sich schliesst, findet des erkrankte Gehirn bei täglichen
Bädern und Fürsorge fUr den Schlaf auch körperlich seine Ruhe.
In der Regel gelingt dies aber nur bei leichtern und frischen Fällen.
Ist der melancholische Affect stärker, steigt derselbe bis zur Melan-
cholica agitata, so kann zwar oft das genannte einfache Regimen
auch noch genügen, aber stets nur in Unterstützung durch den Asyl-
Aufenthalt (s. u.). Eine sehr wesentliche, nicht genug zu schätzende
Mithülfe bei dieser symptomatischen Behandlung bildet namentlich
die Bettruhe: die Horizontallage erleichtert die Hirn-Circulation und
leitet mit der motorischen Ruhe auch die cerebrale ein. Bei anä-
mischen, erschöpften, speciell nahrungsverweigernden Kranken steht
dieses diätetische Mittel in erster Stelle, so zwar, dass man dasselbe
unter Umständen durch Beihülfe eines Wärters (Wärterin) durchführen
rauss. Dabei Fürsorge für die nöthige Bettwärme, so besonders bei
Kranken mit Cyanose und Kälte der Füsse.
Reicht auch dieses Regimen (Bettlage, lauwarme Bäder, ent-
sprechende Diät, s. u.) zur Erzielung der Ruhe nicht aus, so greifen
wir zu narkotischen Mitteln. Diese sind zunächst auf Erreichung
eines genügenden Schlafs gerichtet Im Paraldehyd ist uns dafür
in neuester Zeit ein Arzneistoff geschenkt worden, welcher ebenso
sicher wirkt, als er — wenigstens bis jetzt — ganz gefahrlos er-
scheint, selbst bei längerem Gebrauche. Man beginne mit 3 Gnu.,
und steige bis zu 6 und S Grm. ; die höhern Gaben gibt man öfters
mit Vortheil in 2 getrennten Portionen (4 vor Schlaf beginn, 2 ev.
während der Nacht). Chloral, in Dosen von 1 —2 Grm., ist vielleicht
noch wirksamer wie Paraldehyd; aber für die Dauer ob seiner vaso-
paralytischen Wirkung gefährlich. Bei decrepiden Melancholikern
mit Herzschwäche ist Kampher (0,06 — 0,13) ein mit Recht geschätztes
Schlafmittel.
In sehr acuten Fällen ist es aber mit der Erzielung der Nacht-
ruhe allein nicht gethan. Das hyperästhetische Gehirn, welches auf
alle Gedanken und Wahrnehmungen nur mit Schmerzempfindungen
antwortet und in motorischen Reflexen sich zu entlasten sucht, ver-
langt auch unter Tags gebieterisch Ruhe. Dazu kommen die von der
Peripherie einwirkenden neuralgischen Reize, welche eine beständige
oder anfallsweise Angst unterhalten, und das ohnehin geschwächte
Centraiorgan immer weiter erschöpfen. Da muss Ruhe um jeden
Preis geschafft werden, Ruhe unter Tags und in der Nacht. Hier
sind die cerebralen Sedativa des Opiums und Morphiums und das
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42
Die Melancholie. Allgemeines.
cerebral und spinal wirkende Bromkali unentbehrlich. Bei dem leb-
haft peinlichen Gedankendrang des Melancholikers, in welchem nur
eine innere Ueberfüllung, aber kein Fluss der Vorstellungen statt-
findet, weil die schmerzliche Empfindung jede Bewegung der letztem
hemmt und die Wahnidee der Selbstverschuldung oder des Verloren-
seins alle andern Vorstellungen verdunkelt hält — ist Opium der
König der Heilmittel. Wir beginnen mit 0,04 — 0,06 des Pulvers
oder auch 12—15 gtt. der Tinctur, und reichen diese Gabe schon
früh Morgens. Die zweite kann Abends als Schlaf-Gabe gereicht
werden, sofern nicht noch eine dritte oder selbst eine vierte sich
indicirt erweist. Diese Indication richtet sich ganz nach dem Einzel-
fall, nach der Stärke des melancholischen Affects, nach der Häufig-
keit der schmerzlichen Tages-Exacerbationen. Es muss Regel sein,
wenn man möglichst sicher und berechnend wirken will, das be-
ruhigende Mittel stets vor Eintritt der eigentlichen Paroxysmen zu
geben, d. h. bevor der Kranke unruhig wird. Erfahrungsgemäss
wirkt eine kleine Gabe, rechtzeitig gereicht, viel entschiedener,
als eitie grössere zur Unzeit, d. h. auf der Höhe des Anfalls. An-
fängliche Nausea geht allermeist rasch vorUber. Bei dem einmal
erreichten Beruh igungseffecte bleibe man aber nicht stehen, sondern
suche nun die erzielte Ruhe möglichst festzuhalten, indem man die
erprobte Dosis weiter fortgibt. Dazu kann vielleicht schon die oben
bezeichnete Gabe genügen; ist dies aber nicht der Fall und wächst
die Unruhe unter der bisherigen Dosirungshöhe , so steige man mit
dieser, nach Bedarf um 5 resp. 10 gtt. der Tinctur. Man kann so
successive bis auf 50, 60, SO, ja 100 Tropfen p. Dosi steigen, ohne
dass man irgend eine Inconvenienz erlebt als die unvermeidliche
Obstipation, welche ja leicht zu beseitigen ist. Ziel der Behandlung
ist immer die möglichste cerebrale Beruhiguog: temporäre Minde-
rung oder Hinwegnahme des krankhaften GemUthsdrucks, Nivellirung
des Gedankengangs, so dass die Suprematie der einen Vorstellung
(Wahnidee) gelockert und wieder normalere Apperceptions -Verhält-
nisse (Aufmerken, Interesse) hergestellt werden. Dieses muss aber
dauernd angestrebt werden, so dass der wunde Gemtithsnerv heilen
kann: die künstliche Opiat- Ruhe ist der Gipsverband des erkrankten
Nerven. Nach unserer Erfahrung liegt deshalb sowohl das Geheim-
niss als der Segen der richtigen Opium -Therapie in der metho-
dischen Anwendung.
Man reicht das Opium in der Regel per os, entweder allein, oder
(bei Schwächlichen) in Sherry. Wo dies aus Abneigung des Kranken
nicht möglich, kann man auch die Klystierform auwenden. Speciell em-
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Opium. Morphium -Injectioncn.
43
pfiehlt sich diese in Fällen, in welchen mitwirkende „uterine" Reize
wahrscheinlich sind (auch Masturbationsdrang). Unter die Speisen ge-
mischt geben wir es nie; hier eignet sich ungleich besser die subcu-
tane Anwendung.
Die Anzeigen für den Gebrauch des Morphiums fallen, wie dessen
Wirkungsweise, mit denen des Opiums zusammen. Morphium greift wohl
die Verdauungsfunctionen weniger an und dürfte deshalb in Fällen mit
dafür besonders gebotener Rücksicht eine Bevorzugung verdienen. We-
sentlich aber übertrifft es das Opium in der Brauchbarkeit zur subcutanen
Application. Die wässerige Lösung des Opiumextracts , frisch gut ver-
wendbar, verdirbt nämlich gerne und gefährdet dann durch Hervorrufung
von Hautabscessen.
Die Morphium-Injectionen haben sich bei uns eingebürgert
erhalten und ihren guten Ruf, speciell in frischen Fällen von Me-
lancholia agitata, bewährt Sie verdienen den entschiedenen Vor-
rang vor der innern Anwendung da, wo man 1. möglichst rasch
wirken will; 2. wo neuralgische Sensationen vorhanden sind; und
3. wo der Widerstand des Kranken die innere Anwendung ausschliesst.
Namentlich Fälle mit paroxysmalen Angstzufällen sind für die In-
jectionen bevorzugt; auch hier gilt wieder die Specialindication: die
Application möglichst im Beginn jeweils vorznnehmen.
Man fange mit 0,01 an (in der Regel; es gibt übrigens auch idio-
synkratische Personen, welche eine noch kleinere Anfaugsdosis räthlich
machen) und steige, in beständiger Beobachtung der Wirkung, wenn
nöthig bis 0,06 und selbst noch höher. Wir haben früher schliessliche
Einzelgaben von 0,2 nicht gefürchtet und in verzweifelten Fällen die
befriedigendsten Erfolge davon gesehen; doch dürften diese Eventuali-
täten zu den seltenern gehören. Man fährt mit der Dosishöhe, welche
die gewünschte Beruhigung erzielte, methodisch (wie beim internen Ge-
brauch) fort, bis der Minderungsvcrsuch gelingt. Nicht selten muss man
nach erzielter Abnahme wiederum steigen, und so wiederholt; die Do-
airung darf nie Schablone werden, sondern immer Bich in Fühlung mit
dem wirklichen Bedürfnisse halten. Bei längerm Gebrauch ist stets die
Gefahr des Morphinismus zu berücksichtigen, obwohl diese, eo lange das
Mittel nur von ärztlicher Hand spendirt wird (was ich als absolute Be-
dingung voraussetze), wenigstens nach unserer Erfahrung lange nicht so
gross ist. Wir haben unter vielen Hunderten von Fällen noch keinen
beobachtet, in welchem nicht die Abgewöhuung wieder gelungen wäre.
Bevor letztere sicher und fest ist, darf auch nie ein Reconvalescent ent-
lassen werden. Die Entwöhnung geschieht nach unserer Usance am
besten, indem man die Morphiumgabe mindert und zunächst den Ausfall
mit einem innerlichen Aequivalent deckt. Daneben ist Unterstützung mit
Wein und täglichen lauwarmen Bädern sehr wichtig. Man lässt so zu-
nächst die Mittagsinjection fallen, während man die beiden andern, Mor-
gens und Abends, noch beibehält. Dann kommt der Ausfall der abend-
lichen an die Reihe, indem man dafür anderweitig (medicinisch Paraldehyd;
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Die Melancholie. Allgemeines.
oder diätetisch) den Schlaf zu sichern sucht, und als Schluss die morgend-
liche durch Ersatz von Morphium per os deckt, weiches jetzt successive
gemindert wird. Je nach dem Einzelfalle kann man oft rasch herab-
gehen; doch berücksichtige man die möglichen Fluxionen zu Darm und
Lungen. — Die Chokzufälle bei den Injectionen sind nicht immer zu ver-
meiden, da wir deren sichere Entstehuugsweise noch nicht kennen; die
Auswahl von schlaffern Hautgegenden mit sorgfältiger Erhebung der
Hautfalte, sodann nur wässerige (nicht angesäuerte) Injectionsfltissig-
keit scheint wichtig zu sein, um die Läsion resp. chemische Reizung
eines Nervenz weigchens, und damit den vasomotorischen Reflex zu ver-
meiden.
Bromkali ist das spinale Opium, und eignet sich namentlich
bei spinal -irritativer (nenrasthenischer) Grundlage der melancholi-
schen Neurose, oder bei Verdacht auf bestehenden Sexualreiz. Die
hypochondrischen und hysterischen Melancholieen indiciren deshalb
einen fortgesetzten Bromkaligebrauch, welchem sehr oft mit Vor-
theil etwas Morphium beigesetzt wird. (Vergl. übrigens auch die
Therapie der Hypochondrie und Hysterie).
Die etwa vorhandenen Neuralgieen, worunter die der Inter-
costalbahnen besonders bevorzugt sind, erfordern eine specielle Auf-
merksamkeit. Gegen leichtere Paroxysmen nützt oft überraschend
schnell die örtliche Anwendung von Chloroform (auf Watte, oder
mit Oel resp. Spiritus, ohne und mit Opiumzusatz). Bei hartnäckigen
neuralgischen Beschwerden liefert die elektrische Localbehandlung
nicht selten sehr befriedigende Erfolge. Natürlich richtet sich die
Behandlung der peripheren Sensibilitätsanoma licen noch im weitern
und wesentlich nach den eventuellen grundliegendcn Ursachen (Uterin-
krankheiten).
Die Bekämpfung der complicirenden somatischen Begleitzustände
hat in erster Reihe katarrhalische Magendarmzustände ins
Auge zu fassen. Dieselben sind von ausserordentlicher Wichtigkeit ;
mit manchen psychischen Paroxysmen gehen sie genau parallel,
ohne deshalb immer in Causalbeziehung zu stehen, aber doch sehr
oft in einem Zusammenhang, dass die psychische Besserung sicht-
lich der vorangehenden gastrisch -intestinalen nachfolgt. Die Behand-
lung hat hier nach den Regeln der iuneren Medicin zu geschehen.
Eine besondere Wichtigkeit verdient die genaue Regelung der fast
regelmässig vorhandenen Obstipation mit oft übermässiger Schleim«
production des Dickdarmes, manchmal auch mit Lienterie. In zwei-
ter Reihe ist die sorgfältige Ueberwachnng der menst malen
Vorgänge wahrzunehmen (Näheres bei den Menstrualpsychosen).
Bei Männern sind gehäufte Pollutionen zu beachten und geeignet zu
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Bromkali. Behandlung der iutestiu. Störungen. Nahrungsverweigerung. 45
behandeln. Dass der Bekämpfung von etwa vorhandener Mastur-
bation die ernsteste Aufmerksamkeit zu schenken ist, versteht sieb
von selbst. — Sorge für die Hautpflege darf gleichfalls nicht ver-
absäumt werden (s. u.).
Die Hebung der gesunkenen Körperernährung gehört unter die
wichtigsten Indicationen der Behandlung. Hier hat vor Allem eine
richtige Diät einzutreten: der Gebrauch einer nährenden aber mög-
lichst reizlosen, leicht verdaulichen Nahrung. Wein in kleinen Quan-
titäten ist fast stets zu gestatten; bei torpiden Patienten täglich
mehrere Löffel voll eines kräftigen südlichen Weines. Oft bringt
ein Glas Glühwein oder Punsch den lange vermissten Schlaf. Be-
sonders befördernd für diesen sowie auch für die Allgemeinernährung
ist gutes Bier. Dagegen ist die Zahl der Cigarren genau zu be-
schränken, nicht selten nur in homöopathischer Dose zuzulassen, ev.
sogar ganz zu beschränken. Das Schnupfen ist gegen Uebermaass
zu überwachen.
Man kann in der täglichen Regulirung des 'passenden Kostzettels
nicht sorgsam genug sein. Bei decrepiden Patienten, welche dazu noch
mit oft mangelhaften Zähnen eine gierige Hast beim Essen entwickeln,
ist das Fleisch fein zerkleinert zu reichen. — Oft genug verweigern die
Kranken aus Wahn oder aber aus wirklicher Appetitlosigkeit Tage lang
la.s Essen. Diese Nahrungsverweigerung (ein Symptom, welches
übrigens in den verschiedensten Irreseinsformen wiederkehrt) verlangt,
besonders bei Geschwächten, die grösste Beachtung. Man wird niemals
sofort nach dem ersten Aussetzen der Nahrung zur Force majeure greifen.
Hier gilt's zuzuwarten und erst die ganze individualisirende psychische
Behandlung in's Treffen zu führen. Zugleich sind ev. Mundkatarrhe
sorgsamst zu beseitigen (Chlors. Kali). Dann probirt mau es mit verborgen
(aber dem Kranken leicht auffindlich) hingelegten Speisen; manchmal,
wenn er bei den Andern gemeinsam verweilt und ohne aufmunternden
Zuspruch ganz sich selbst überlassen wird. Andere essen, wenn man
zuwartet und dann stillschweigend sich anhebt das Essen abzutragen;
wiederum Andere beginnen ihr erstes Debüt auf einem Spaziergang zu
geben, wo sie Obst auflesen und heimlich naschen. Das Alles sind höchst
beachtenswerte praktische Fingerzeige, welche erst versucht sein müssen,
ehe man zur Schlundsonde greift. Aber endlich lässt sich diese doch
nicht mehr entbehren. Man kann bei Bcttlage des Krauken und nicht
zu sehr geschwächter Ernährung c. p. an 8 — 14 Tage zuwarten, wenn
der Kranke Wasser trinkt und gelegentlich etwas Milch oder Wein oder
ein Eisstückchen nimmt. Wird aber der Puls schwächer, der Kräftezu-
Etand geringer, tritt absolute Weigerung auch gegen Fluida ein und der
charakteristische Inanitiousfoetor: dann ist mit der künstlichen Ernährung
durch die Sonde nicht zu zögern — lieber zu früh als zu spät! Man
nmss nicht selten Wochen- und selbst Monate- lang füttern (natürlich ver-
sucht man dazwischen immer wieder die eigene Mithülfe des Kranken),
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Die Melancholie. Allgemeines.
bleibt sich aber bei allen diesen Mühen einer Lebens- and sehr oft Ge-
sundheit-rettenden That bewnsst. Zumeist nimmt der anfängliche heftige
Widerstand Seitens des Kranken nach und nach ab; oft wirken kleine
Morphium- oder Atropininjectionen dabei unterstützend. (Man gibt am
besten Eiermilch, kräftigen Leguminosenschleim mit Ei oder Pepton und
Zusatz von etwas Kochsalz; Wein lässt sich damit verbinden; je nach
Umständen kann man auch Ferr. lact. oder Leberthran, Malzextract bei-
mischen.) Oft geht der künstlichen Einflössung der Nahrung mit Vortheil
eine Auswaschung des Magens mit Vichywasser voraus. — Bemerkt muss
werden, dass wiederholt auch die Versetzung nach Hause, welche die
Kranken gewünscht hatten, die Abstinenz beseitigte.
Sehr wichtig ist, wo es nöthig, die arzneiliche Bekämpfung
anämischer Zustände durch Eisen- und Chininpräparate. Die Wahl
des Eisenpräparates hat sorgsam den jeweiligen Verdauungszustand
zu berücksichtigen; manchmal eignen sich dabei Eisen mit Bitter-
mitteln, passende Mineralwasser, bei pastösem Habitus Jodeisen;
bei verweigerter innerlicher Darreichung Salzbäder mit Eisenvitriol
und nachheriger Bettruhe. — Leberthran und Malzextract finden
vielfache Indicationen. — Bei schlaffen Constitutionen wirkt der Ge-
brauch temperirter Morgen Waschungen mit nachfolgender Frottirung
als Tonicum für die Verdauung und zugleich als Nervinum.
b) Psychisch. Auch hier ist Ruhe dem schmerzgebeugten Ge-
müth erstes Gebot. Darum kein directes Aufmuntern, kein rasches
Anfassen, kein ungestümes Aufrichtenwollen, ebenso wenig aber auch
ein mahnendes Tadeln oder Zusprechen, sondern ruhige aufrichtige
Antheilnahme an dem Geschick des Kranken, welche nicht in ge-
suchten Worten, sondern in der Rathfindigkeit gegenüber der Rat-
losigkeit des Kranken, in der individualisirenden Fürsorge für seine
Bedürfnisse das ärztliche Verständniss für sein Leiden bekundet,
und mehr in helfender That als in der Rede das sichere Sieges-
bewusstsein ausspricht. Wahnvorstellungen rede man nicht aus, am
wenigsten durch Argumente; man nehme sie entgegen und halte den
Beweisversuchen des Kranken gegenüber die summarische Zu-
versicht fest, dass man fUr ihn hoffe und bestimmt hoffe. Sein Ver-
trauen gewinnen ist Alles! Daneben sorgsamste Abhaltung aller
Reize von aussen, aller, wenn auch so wohlgemeinter, Zusprachen
und Hülfeversuche seitens der Umgebung des Kranken!
In diesen kurzen Zügen dürfte der Canon der psychischen Therapie,
wenigstens für die Krankheitsanfänge, gelegen sein. Unter besonders
günstigen Verhältnissen finden sich wohl mitunter die nöthigen Cur-
bedingungen auch ausserhalb des Anstaltslebens; sehr selten aber in
der eigenen Familie des Kranken. Fast ausnahmslos ist die Versetzung
in eine neue Umgebung absolute Nothwendigkeit. Diese muss aber wie-
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Psychische Therapie. — Behandlung der Unterformen. 47
derum alle Garantieen der Rahe und der verständigen Leitnng bieten.
Damm keine Zerstreuungsreisen, aber auch kein iaolirter Badeaufenthalt;
am besten eine befreundete Familie. Es ist kein Zweifel, dass eine ge-
wisse Anzahl von Melancholikern anch auswärts von einem Asyl genesen
kann; aber es ist eine relativ kleine, und die Auswahl der passenden
Pille erfordert grosse Sachkenntniss. Bei weitaus der grö&sten Zahl ist
die Versetzung in die Anstalt nothwendig und nnerlttsslich. Bei Neigung
zn Selbstmord ist sie geradezu Pflichtgebot. Bei rathlos Ängstlichen, in
ihrem Schmerz sich behagenden Kranken wirkt der Druck der Anstalt
als heilsamer Gegenreiz. Allgemein muss gesagt werden, dass die An-
stalt mit ihren reichen Ressourcen und ihrer Einrichtung zu einer indi-
vidualisirenden Behandlung speciell ftir die Melancholie das Heilmittel
ersten Ranges darstellt, dessen volle Durchführbarkeit nur in den sehr
seltenen Fällen fraglich werden kann, wo das Heimweh eine unbesieg-
liche Gemilthsspannung und manchmal auch Nahrungsverweigerung —
oft aas Wahn, dass der Kranke die Kosten nicht bezahlen könne — unter-
hält. (Hier wirkt hin und wieder die begehrte Rückversetznng, natürlich
unter den unerläßlichen Cautelen, erlösend). — Man säume nicht zu lange
mit der Ordination der Asylpflege!
Neben der Ruhe ist leichte, anziehende, zum Aufmerken ver-
anlassende und dadurch vom Wahn ablenkende Beschäftigung
zu empfehlen (Feld-, Gartenarbeit, rationelle Gymnastik). Dabei
sollen anch erholende, mässig anregende Erholungsstunden nicht
mangeln. Aber nicht zwangsweise — Geduld und Zuspruch müssen
nnerschöpflich sein. Oft findet sich der Kranke am ehesten zurecht,
wenn man ihn mitten unter die anderen Arbeitenden gehen lässt —
Exempla trahunt. Aber auch Geduld und Zuwarten haben ihre
Grenzen. Oft behagt sich der Kranke in dem Cult seines Weh's;
er wird in seinen Schmerz förmlich verliebt und widerstrebt allen
Ansinnen ihn abzulenken. Da ist, wenn man erst sein Vertrauen
gewonnen, auch ein ernstes Wort und ein nachhaltiges Bestehen auf
der als nothwendig erkannten Vorschrift am Platze. So kann auch
die Zeit kommen, wo gegen den Wahn ein einredendes Votum an-
gezeigt erscheint, belehrend, aufklärend, selbst bestimmt verbietend.
In der Gewährung von Concessionen, in der Verschiebung von Wün-
schen des Kranken hat der Arzt ein ebenso reiches als wirksames
Armamentarinm, dessen Indicationen in seinem Kopfe, dessen An-
wendung und Modus der Ausführung in seinem Mitgefühl und Tact
gelegen sind.
Anf die einzelnen klinischen Unter formen der Melancholie über-
gehend, erfordert
a) dieMelancholia siraplex Ruhe, Regulirung der Diät, Bäder,
Beförderung des Schlafs, Hebung der Ernährung durch eiweisshaltige Kost,
Wein; unter Umständen Opium;
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Specielle Melancholie.
b) die Melancholia agitata Beruhigung in erhöhter Potenz durch
verlängerte Bäder (1—2 Stunden mit Umschlägen), Opiate, ev. Morph. -
Injectionen, Bettlage. Sorgfältigste Berücksichtigung der gesunkenen
Körperernährung;
c) die Melancholia passiva Bettlage, Kegulirung der ungleichen
Blutvertheilung durch Umschläge auf den Kopf, ev. hirudines (1 — 2 hinter
die Ohren, in Pausen), Ableitungen auf die Füsse, Sorge für geordueten
Stuhl, Hebung der Ernährung, Abwaschungen mit temperirtem Wasser,
Priessnitz'schc Einpackungen, lauwarme Bäder. — Speciell die Melan-
cholia attonita erfordert Bettruhe, Sorge für die Ernährung (ev. mit
der Sonde), Ueberwachung der Excretiouen (ev. Katheter), Morph.-Injec-
tionen, lauwarme Bäder;
d) die hypochondrische Melancholie hat neben den sonstigen
vorgenannten Indicationen auch die Therapie des hypochondrischen Ele-
ments wahrzunehmen (8. Hypochondrie). Fest und bestimmt im Ourplan,
keine unnütze Vielgeschäftigkeit!
e) Die Schwäche-Melaucholieen des Alters haben ganz be-
sonders die geschwächten Ernährungsverhältiiiäse zu berücksichtigen und
deu gesunkenen Turgor Vitalis. Neben Bettlage, Bädern, Wein, China-
Präparaten, Opium, ist Kampher als wichtiges Adjuvaus zu nennen.
f) Die sexuellen Melancholiecn (ex masturbatione) indiciren
Bromkali ohne oder mit Morphium, ev. Behandlung des localen Leidens
(Onanie, Pollutionen), kühle Abwaschungen, allgemeine Faradisation, gal-
vanische Behandlung des Rückenmarks und der neuralgischen Sensationen.
Die psychische Behandlung bleibt bei allen Uuterforuien nach
denselben, stets individualisirenden , Grundsätzen zu leiten. Qaoad
suicidium sei unbeugsame Regel für den Arzt: Keinem Melancholiker
trauen!
Specielle Melancholie.
Krankheitsbild. Verlauf. Ausgänge.
Das klinische Symptomenbild ist ein ausserordentlich mannig-
faltiges, je nach der nähern körperlichen Grundlage, den Ursachen,
dem Lebensalter. Auch das „psychische Temperament", die Indi-
vidualität, iutellectuelle und sittliche Bildungsstufe spielen eine sehr
wesentliche Rolle sowohl in der Gestaltung des klinischen Zustande-
büdes selbst, als auch des Verlaufs und der Ausgänge.
Wir halten uns hier zunächst an das Bild der rüstigen Lebensjahre
und Constitution. Auch so noch ist es ein sehr vielseitiges, formen- und
farbenreiches.
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Krankheitsbeginn. Verschiedene Typen.
49
Die Entstehung der Melancholie ist gewöhnlich eine allmähliche,
seltener eine acute. Vorbereitet wird sie in der Mehrzahl der Fälle durch
emotive Erlebnisse, welche die geistige und körperliche Widerstandskraft
schneller oder langsamer untergraben, und speciell durch den Affect des
Kummers und der Sorge jene „centroperiphere" Form vorbereiten, welche
wir pbysiopathologisch im Mittelpunkt der fertigen Melancholie stehen
sehen. Schlaflosigkeit, zunehmende Schwäche der Verdauung, Reduction
der Ernährung sind die gewöhnlichen Folgen dieser Vorbereitung; sie
werden zugleich mit Neuralgieen und häufigen vasomotorischen Affectionen
zum Nährboden fUr die sich entwickelnde Neuropsychose. Es kann aber,
und zwar häufig, die letztere auch ohne den bezeichneten psychischen
Umweg direct durch eine die körperliche Constitution und speciell die
Hirnernährung beeinträchtigende Allgemeinerkrankung geschaffen werden.
Hier stehen chronische oder acute Anämieen, Menstruationsstörungen,
katarrhalische Darmzustände , Uterinaffectionen bei Frauen, Verdauungs-
störungen bei Männern in erster Reihe als einleitende Vorgänge. In der
Regel geben körperliche Beschwerden voraus, worunter Kopfweh und
vage „rheumatoide" Empfindungen am meisten geklagt werden; andere«
male Schwindel, Kopfdruck, Verstopfung der Ohren, Globusgefühle im
Hals, Zittern an Armen und Füssen, welches „schliesslich im Kopf und auf
der Brust sitzen bleibt".
Eine allgemeine Verstimmung, eine rat h lose Verzagtheit, ein
menschenscheues, hald mehr unmotivirt gereiztes, bald mehr unbe-
greiflich gleichmütiges, oft muthloses Wesen beschleicht den Kranken.
Er bat keine Lust zur Arbeit, ist körperlich und geistig milde. In
der Folge fängt er an zu „sinniren", in Büchern zu grübeln, spricht
wenig, äussert keine rechte Freude und Interesse mehr. Viele
suchen sich noch durch Zerstreuungen zu betäuben, Andere (nament-
lich Frauen) durch gesteigerten Kirchenbesuch sich die innere Stütze
wieder zu geben, welche sie langsam entsinken fühlen. Leise kün-
den sich Selbstvorwürfe an, Anfangs wieder verscheucht und be-
schwichtigt, allmählich aber lauter und nachdrucksvoller. Manchmal
kann gleich Anfangs eine unbestimmte Angst Platz greifen, und der
Kranke durch unmotivirtes Weinen seine Furcht kund geben; die
nie fehlende Schlaflosigkeit verschärft das peinliche Gefühl einer un-
endlichen Bangigkeit. Mit dieser wechselt oft ein Gefühl „zorniger"
Gereiztheit ab, ohne dass der Kranke weiss, warum? Wenn er sich
Nachts unruhig im Bette herumwirft, so steigt es von der Brust zum
Kopfe, dass es ihm ganz schwindelig, vor den Augen heiss und
schwul wird, und er Morgens ganz erschöpft und unfähig zu jeder
Arbeit aufsteht — Es gibt auch eine ganz acute Entstehung, wo
der Kranke Abends noch harmlos zu Bette geht — aber mitten in
der Nacht wird er geweckt durch peinliches Herzklopfen, oder durch
einen brennenden Schmerz in der Herzgrube, welcher sich bis unter
Sektle, CeuOwkrankbeiUD. 3. Aufl. 4
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50
Specielle Melancholie.
die Rippen hinzieht. Da überfällt ihn ein Gefühl namenloser Angst;
irgend ein (von früher parater oder erst im Affectmoment erfasster)
Gedanke fällt ihm ein und bemächtigt sich der emotiven Stimmung;
das brennende Gefühl steigt aus dem Leibe in den Kopf: die Ge-
danken werden dem Kranken entfremdet, sein trauriges Schicksal
— „durch Sünde dem Bösen verfallen"! — lastet fortan jetzt auf
dem Herzen. — Andere, seltnere, Fälle zeigen gegentheils ein ein-
leitendes Stadium von ungewohnt heiterer Verstimmung (grössere
Gesprächigkeit), welche nach kurzer Zeit in die trübe umschlägt.
Bei langsamerer Entwicklung bleibt die Gefühlsverstimmung vor-
erst ohne klar bewussten Inhalt noch einige Zeit bestehen, zwischen
freien und gedrückten Tagen wechselnd; übt aber einen weiter-
greifenden Einflus8 auf das Selbstgefühl und das Verhalten des
Kranken. Er wird zunehmend gedrückter, weint öfter, überrascht
die Umgebung mit nicht geahnten Selbstanklagen, wogegen keine
Einsprache, kein Trost einen Zugang gewinnt. Im Nachgrübeln Uber
die Ursache seiner wild durcheinander gehenden Gedanken wird er
rathlos, schwankt hin und her, ob er einen zureichenden Grund in
seinem Vorleben aufstöbere, oder ob ein „böser Geist" ihm diese
peinlich unbestimmte Furcht vor sich selbst beibringe. Jetzt rücken
Illusionen an, der Kranke findet in allerlei Wahrnehmungen irgend
eine ihn angehende, ihn schmerzende Beziehung. Oft erklärt ihm
ein Traum sein bis dahin unerfasstes inneres Weh, oder irgend eine
affectvolle Begegnung, irgend ein eindringlich gesprochenes Wort,
das ihn sofort erstarren macht, und sich festsetzt auf seinem „Herzen".
Wenn die „Gedanken" wieder kommen, so fährt's ihm regelmässig
wieder auf's Herz, und von da heiss und schwindelig in den Kopf,
und dann ergreift es die Glieder, so dass er unentrinnbar überzeugt
ist, durch eine dämonomanische Macht besessen zu sein. Oder es
steigt in der Einsamkeit, die er aufsucht, oder in der Stille der
Nacht eine Hallucination auf und verkündet ihm seine Verlassenheit
von oben, sein unentrinnbares selbstverschuldetes Schicksal.
Sehr häufig erfasst sich aber das innere Wehgefühl als zuneh-
mende und immer schmerzlicher bewusste Unfähigkeit seiner Stel-
lung, seinem Berufe zu genügen. — In der hypochondrischen Form
ist es die immer drückendere Empfindung eines unheilbaren körper-
lichen Leidens, welches sich „angesetzt hat".
Abweichend von dieser Genese bilden manchmal hässliche
Zwangsgedanken, gewöhnlich gotteslästerlichen Inhalts (der Kranke
mas8 statt „Gott" den Namen „Kröte", „Teufel" sagen; oder auch
es hängen sich dem erhabensten Namen die Vorstellungen geschlecht-
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Melanch. religiosa; persecutoria (daemonomaniaca).
51
licher Vermischung an) den Anfang des Leidens. Oft steigen die-
selben plötzlich ohne jede Veranlassung auf; andere Male werden
sie durch den Contrast einer andächtigen Stimmung brüsk provocirt,
oder durch eine neuralgische Sensation hervorbeschworen. Vergeb-
lich, dass der Kranke dagegen ankämpft, ringt, betet, Gott um seine
Gnade und Verzeihung anfleht: er fühlt, dass alle seine guten Vor-
sätze umsonst, dass er vom Himmel Verstössen ist
Auf einem oder dem andern Wege schliesst sich der Gemüths-
zwang mit der erklärenden Vorstellung (dem depressiven Wahn) zur
fertigen Krankheit zusammen, wie dies oben (s. Allg. Theil) erläutert
wurde. Inhaltlich stellen sich die Haupttypen dar als Melancholieen
1. mit dem Wahn der Sündhaftigkeit (Melancholia religiosa), der Ver-
stossung von Gott; oder 2. mit dem Wahne der Verfolgung durch
feindliche Mächte (durch Dämonen oder intriguante Complotte: Me-
lancholia persecutoria, daemononmniaca); oder endlich 3. mit dem
Wahn verhungern zu müssen, die eigene und fremde Existenzen
verwirkt zu haben.
In ihrem äussern Verhalten scheiden sich diese Typen für den weitern
Verlauf wesentlich nach der Stärke des krankhaften Affects und speciell
nach dessen reflectorischer Wirkung (Uebertragbarkeit) auf das psycho-
motorische und auf die höhern geistigen Gebiete (Stimmung und Vor-
stellungsleben). Darnach entstehen die scharf geschnittenen Krankheits-
bilder der Melancholia activa, passiva (torpida), der Melancholia attonita.
Diese Gruppen haben als solche und zunächst nur psychologische Be-
gründung ; insofern aber auf deren Gestaltung (activen oder passiven Cha-
rakter) die grundliegenden körperlichen Verhältnisse (anthropologische
Mitgift des Einzelfalls, anämische Ernährungsstörungen des Gehirns mit
den Steigerungen der Reflexerregbarkeit) von entscheidendem Einflüsse
sind, so verdient die specielle Trennung in die genannten Unterarten auch
eine klinische Berechtigung.
Jetzt beginnt ein schmerzliches Weinen, ein ruheloses Hin- und
Hergehen mit Geberden der Verzweiflung, ein dumpfes Hinbrüten
mit ängstlicher Spannung der Gesichtszüge und Abweisen von jeder
Ansprache, selbst vom Essen und Trinken. Auf die verzehrende
Unruhe des Tages folgt meist auch eine qualvolle Nacht, oder aber
ein stilles Resigniren mit anscheinend äusserer Theilnahmlosigkeit,
zeitweisem Seufzen, ein müdes Herumstehen oder -kauern mit steifer,
oft hölzerner Gesichtsmaske. Der Morgen ist in der Regel die
schwerste Zeit: da macht sich der melancholische Affect im Jammern,
Sichanklagen und Zerknirschen, in ruhelosen Gestikulirungen am
meisten geltend, nicht selten um so stärker, je mehr die Nacht Ruhe
und Schlaf gebracht hatte. Im Verlauf des Tages tritt mehr Samm-
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o2
Specielle Melancholie.
lung ein, und endlich Abends ist oft der Kranke gefasst, ja nicht
selten gesellig und leicht heiter. Doch können die aus den ange-
gebenen Erscheinungen gruppirten Stimmungsbilder auch tagelang
fast ungeschwächt fortdauern. Manchmal schwankt der Kranke
zwischen einer bald hoffenden und bald verzweifelnden Perspective
ermattend hin und her. Sehr oft erweitert sich das an der Grenze
individuellen Verlorenseins angelangte Versündigungsgeftthl bis zum
unermesslichen Schuldgefühl eines an der ganzen Menschheit be-
gangenen Verbrechens: nicht der Kranke allein, auch die ganze
Welt ist jetzt unglücklich durch ihn, den Einzelnen, geworden; nicht
er nur, Altes geht zu Grunde, Könige und Kaiser verhungern, —
der melancholische Kleinheitswahn wird zum negativen Grössenwahn.
Die Unruhe erlaubt dem Kranken oft kaum die Sorgen fiir die
nächsten Bedürfnisse zu befriedigen. Das Noth wendigste geschieht
stets nur mit Hast und Ueberstürzung. Das Essen wird hineinge-
worfen, die Kleidung an den Leib nur gehängt, die Reinlichkeit
vernachlässigt. Unversehens, oft zu annähernd gleichen Tagesstun-
den, brechen Angstzufälle aus mit Seufzen, Stöhnen, Händeringen
oder lautem Aufschreien, Haarausraufen, Grimassiren, Zerreissen der
Kleider, Fluchtversuchen, Gewalttätigkeiten gegen sich oder Andere.
Aber auch ohne solche wird der feindselige Drang des Kranken,
in welchem er sich von seiner innern Folter, aus seiner todesbereiten
Resignation zu entlasten versucht, in allerlei Präparationen zur Selbst-
beschädigung entdeckt, die man in seiner Tasche findet: Glasscherben,
grössere Steine, zurecht gedrehte Stricke u. s. w. Viele Kranke bitten
und flehen direct und inständig sie doch vor Selbstmord zu bewahren.
Ist ein Angstzufall vorUber, welcher nicht selten dem Träger oder
der Umgebung Wunden setzte, so ist der Kranke erschöpft, ermattet;
manchmal jammert er Uber seine fluchwürdige That, die seinen
Untergang jetzt erst vollends besiegle ; oder er verharrt in dumpfer
Resignation, spricht nicht auf Vorhalt, ist bereit, Alles über sich
ergehen zu lassen, ja erwartet nicht selten mit Befriedigung, dass
man sich jetzt entgeltend an ihm vergreifen werde.
Bei nicht Wenigen wird mit dem Eintritt in die Anstalt die äusserliche
Aufregung wie abgeschnitten. Mit schlecht verhaltenem, ängstlichem Aus-
druck behaupten sie die Unbegründetheit ihrer Versetzung, ja tadeln direct
deren Ausführung, wodurch höchstens auf sie wegen ihrer „Heuchelei"
noch eine vergrößerte Schuld falle. Mit grossem Wortaufwand einer ge-
wissen erzwungenen Heiterkeit und unheimlichen Zuversicht behaupten sie
gesund zu sein, lassen auch nicht entfernt die „Zumuthung" einer Krank-
heit auf sich kommen, und stützen sich in gereiztem Tone auf das „Heim-
weh", wenn man sie auf krankhafte Erscheinungen hinweist. Mit ernster,
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Weiterverlauf. Acme. Reconvalescenz.
53
steifer, befangener Miene und verdecktem Blicke dämmern sie hemm, sind
äusseret schweigsam und theilnahmlos, and lassen sich kanm in ein Ge-
spräch ein, ohne ihre geistige Gesundheit im Gegensatz zu ihrer „Schlech-
tigkeit" zu betonen. Oft seufzen sie tief auf, und werden bisweilen an
einsamem Orte in Thränen gebadet betroffen. Oft hört man einen stoss-
w eisen Schmerzen slaut, aber nie ein Schmerzenswort, oder eine unbe-
rufene Klage. Nie rückt der Kranke mit der Sprache recht heraus, hat
nie das Bedttrfniss sich auszusprechen ; man muss ihn ausholen, oder zur
Klage stimmen, und auch so beginnt er bald wieder zu schweigen, und
zwingt sich wieder in seine unheimliche Fassung ein.
Ueber die körperlichen Begleitsymptome 8. Allgemeines.
Auf dieser Höhe verbleibt die Krankheit Tage, Wochen und
selbst Monate, immer mit den charakteristischen Tage ssch wankungen,
nicht selten aber auch mit grössern und anhaltenderen psychischen
Remissionen. Während die Einen sich in ihrem Schmerze zerwühlen,
körperlich und geistig gebrochen werden, bewahren Andere bei all'
diesem Wechsel der innern Vorgänge, der leichtern und oft zum
Tode betrübten Standen ihre Selbstbeherrschung; sie suchen mit aller
Kraft die Krankheit zu bemeistern, und über den Verhältnissen zu
bleiben, lassen mit bewunderungswürdiger Geduld das Schwere Uber
sich ergehen, kehren ihre Ungeduld nie gegen Andere, sind zufrieden,
wenn sie ihre Last nur etwas verringert fühlen.
Eine Wendung der Krankheit lässt sich aber objectiv erst mit
der Kräftigung der Körperernährung und mit der normalen physio-
gnomischen Innervation in Blick und Miene erhoffen. Oft genug
wird dabei die Geduld noch auf eine harte Probe gestellt. Der
Verlauf ist nämlich stets ein allmählicher, nie ein brüsker. Der
besser aussehende Kranke wird ruhiger, theilnehmender; manchmal
kommt jetzt ein Wort, welches von Interesse oder Heiterkeit zeugt;
nicht so selten sind es Lieder der Heimath, Gedichte aus der Jugend-
zeit, die er zufällig hört, und an denen er sich wieder aufrankt zur
Wirklichkeit. Die im Anfang auf solche Erholungen noch gefolgte Reue
(denn nur die „Vorwurfs " und „Sünde -Gedanken" waren ja nach
dem Urtheil des Kranken bis jetzt die „guten" gewesen) lässt nach,
die Sinnestäuschungen klingen sachte und allmählich ab, und so
rUckt der Reconvalescent — freilich allermeist iu zickzackformigem
Verlaufe — in die Genesung mit voller Krankheitseinsicbt und natür-
lichem Dankgefühl. Die Genesung selbst hat im Anfang in der Kegel
noch einen leisen Anflug von glückseliger Exaltirtheit: viele Kranke
verjüngen sich nicht bloss, sondern sie werden zugleich feiner (gei-
stiger) in den Zügen, gehobener in der Redeweise. Erst im Ver-
laufe der sich befestigenden Genesung blassen sie wieder zu den
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Specielle Melancholie.
nüchternen Menschen, welche sie vorher waren, ab. — Andere wie-
der brauchen erst noch längere Zeit, nm sich nach überstandener
Krankheitsacnie allseitig zu corrigiren, und schleifen Bich erst unter
dem Druck der Aussenwelt wieder zurecht. Da gilt es manchmal
erst ein psychisches Schwächestadium mit leiser Gedrücktheit, in
welchem noch Reste aus der Melancholie sich fortspielen, und oft
noch ein Griff in den alten Wahn gethan wird, langsam an der
Logik der Wirklichkeit zu tiberwinden.
Namentlich trifft diese protrahirtere Reconvalescenz für die Fälle zu,
in welchen sich der melancholische Nihilismus bis zur vollständigen Un-
klarheit der früheren Beziehungen des Kranken ausgebildet hatte, wo der
Kranke seinen Namen, seine Angehörigen als ihm unbekannt verläugnet,
wo er es sonderbar gefunden, dass er noch lesen und schreiben könne
u. 8. w. Hier schieben sich auch oft noch Anfälle von Präcordialangst
ganz unvermittelt in die Reconvalescenz ein. Auch bei tiefer Anämie ist
der Umweg meistens ein längerer. Die Kranken magern nicht selten zu-
sehends ab, werden blass und kachektisch aussehend, der Puls wird klein,
elend und frequent, die Haut trocken und spröde, Foetor stellt sich ein.
Psychisch werden sie stupider, unleidiger, haben kaum eine Antwort, als:
dass sie nicht wissen, wie es ihnen sei, dass man sie umbringen solle
u. s. w. ; sie werden immer widerstrebender gegen das Essen, nachlässiger
im Aeussern und motorisch ganz kraftlos und hinfällig. Erst sehr lang-
sam und unter häutigen Stillständen, manchmal auch unter zeitweiligen
Rückschritten, vollzieht sich die körperliche Kräftigung, und damit Schritt
haltend die geistige Erholung.
Ist endlich auf die eine oder andere Weise die Genesung er-
reicht, so ist diese bei rüstigen Formen und nicht zu langer Krank-
heitsdauer eine vollständige, und nicht selten auch eine dauernde.
Der passive Melancholiker ist in seiner äusseren Erscheinung viel-
fach das Gegenbild des so ebeu Geschilderten. Die schmerzliche Gebunden-
heit mit der auf das intellectuelle und motorische Gebiet Ubergreifenden
Hemmung ist hier der maassgebende klinische Charakterzug. Die Kran-
ken sitzen Tage und Wochen lang fast unregsam da, oder stehen stumm
und still mit angstvollem Blicke, gebrochener Haltung, langen unbeweg-
lichen Zügen auf Einem Flecke, werden nur durch starke Berührungen
aus ihrer schmerzlichen Versunkenheit aufgeschüttelt, geben mit gepresster,
leiser Stimme kaum eine Antwort, als eine solche, welche auf ihre Selbst-
erniedrigung abzielt, und dem Gefühle ihrer Selbstverneinung Ausdruck
gibt. Sie verlangen Zuchthaus, Hochgericht, Tod, wollen das schlechteste
Essen, sind die faulsten Ignoranten, wissen nichts, verstehen nichts. Selten
kommt es zu einem entlastenden Thränenerguss. Für die Umgebung be-
steht scheinbar kein Interesse, und doch wird jeder Eindruck im Sinne
der peinlichen Stimmung verarbeitet. Briefe oder Besuche gehen oft wir-
kungslos, manchmal aber auch mit einem erschütternden Reflex auf das
Thränengebiet vorUber; doch bald erfolgt wieder die alte mimische Ge-
bundenheit, welche sich stets bis zum höchsten passiven Widerstande
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Passive Melancholie. Raptus melaucholicus.
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steigert, sobald nur eine Aufforderung, oder directe Aenderung der Lage
versucht wird. Die Kranken fragen nicht nach Essen, verweigern dieses,
je mehr man ihnen zuspricht, achten nicht der Kleider; am ehesten geben
sie noch der oder jener Vorschrift oder ZumuthuDg nach, wenn man sie
ganz gehen läset. Dazwischen folgen sie willenlos fremden Impulsen.
Oft intercurriren periodische Angstzufalle mit Hallucinationen (Visionen
bevorstehender Marterqualen), Urin und Stuhl werden bis aufs Aeusserste
zurückgehalten. Bei tief gesunkener Ernährung und entsprechender Anämie
tritt an Stelle der contrahirten Musculatur, der physiognomischen und
mimischen Starre oft eine mehr minder grosse Schlaffheit, welche in Ver-
bindung mit dem scheinbar apathischen Wesen und dem undurchdring-
baren Mutacismus manchmal die Unterscheidung von einem anämischen
wirklichen Schwächezustand nicht leicht macht. In diesen geht dann
auch nicht selten der Krankheitszustand Uber. Erfolgt — mit Besserung
der Ernährung und Blutmischung — der Uebergang in Reconvalescenz,
so löst sich successive die geistige Gebundenheit zu immer grösserer Be-
lebtheit. Der Kranke wird gesprächiger, fängt an zu arbeiten, beginnt
von seinem innern Weh zu erzählen, die activen Bewegungen werden
freier, die schlaffen kraftvoller. Viele werden erst zu activen Melancho-
likern, und machen deren oben geschilderte Schicksale durch, bis sie in
die Genesung einmünden. Bei Anderen aber wird diese directer erreicht,
indem die gehemmten Vorstellungen unter gleichzeitig weichendem Ge-
mttthsdruck in Fluss gerathen, und zunehmend in der Wirklichkeit sich
corrigiren. Auch hier geschieht nicht selten der Uebergang erst durch
ein Stadium schmerzlichen oder wenigstens drängenden Heimwehs. Bei
Manchen wird die volle Correctur nicht in der Anstaltsbehandlung oder
in den Verhältnissen der seitherigen Umgebung erreicht; die Genesung
zieht sich hinaus; es ist, als ob der Wahn aua dem Boden, wo er bis
dahin bestanden, immer neue Stärke zöge. Iiier wird nicht selten erst
darch die Entlassung des Kranken oder durch Aenderung seiner Situation
— dann aber oft auffallend rasch — die volle Genesung erzielt.
Lässt sich der im Vorstehenden geschilderte Verlauf und Aus-
gang als das Bild einer typischen Melancholie bezeichnen, so ist
dasselbe aber in seiner reinen Erscheinung ein keineswegs häufiges.
Sehr oft kommen Complicationen mit Zwangsgedanken (welche den
„neurasthenisch-convulsiven" gegenüber sich durch eine peinigende
Stabilität und Zähigkeit auszeichnen), oder aber mit begleitenden
Sensibilitätsanomalieen und Allegorisationen (namentlich in dämono-
manischer Richtung), oder auch mit stark vortretenden und einfluss-
reichen Illusionen und Hallucinationen (Teufel, Todtenköpfe, Schlan-
gen, wilde Thiere u. s. w.) mit entsprechender Rückwirkung auf
Stimmung und Handeln.
Unter diese Handlungsreflexe gehört namentlich der Raptus me-
lancholicus, d. h. eine plötzliche Gewaltthat gegen sich oder Andere,
als Folgewirkung einer zunehmenden, endlich bis zum Unerträglichen ge-
stiegenen Angst. In der Regel gehen irradiirte periphere Empfindungen,
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Specielle Melancholie.
Parästhesieen oder quälende Neuralgieen dem Anfall voraus; oder es
steigen Aura-artige Sensationen vom Präcordium, aus dem Unterleibe,
vom Hinterhaupte auf; oder es treiben BeklemmungsgefUhle mit der
Furcht vor drohender Lebensgefahr, in andern Fällen schreckende Hallu-
cinationen zur Entlastungsthat der Verzweiflung. Diese selbst kann sich
manchmal in einer zielbewussten Handlung äussern (Mord von Angehö-
rigen, suicide Raptus), oder aber in Form einer psychomotorischen Con-
vulsion (Hinauswerfen eines Kindes aus dem Fenster, plötzliche Ver-
nichtung von Gegenständen, grässliche Verstümmelungen u. 8. w.). Es
können in diesem Falle auch noch convulsive Bewegungen vorausgehen
(bei übrigens erhaltenem Bewusstsein): Schütteln und Verdrehen der
Arme, des Kopfes, der Augen, Grimassiren des Gesichts. Damit ver-
binden sich in der Regel auch noch vasomotorische Krampfzustände
(Todtenblässe des Gesichts, verstärkter Herzschlag, Ausbruch von kaltem
Schweisse u. s. w.). Die That selbst vollzieht sich nach formeller Seite
in directem Verhältniss zur Stärke des schmerzlichen Fühlens: das ergrif-
fene Opfer wird förmlich zerfleischt, und es erfolgt erst mit der Erschöpfung
ein Nachlass des schrecklichen Wuthens. Nach der That fühlt sich der
Kranke zuerst erleichtert — es ist das entspannende Gefühl der voll-
zogenen Reflexhandlung; nachher aber folgt mit der grössern Ruhe und
Besinnlichkeit eine schmerzliche Reue. Die Erinnerung ist selten treu,
meist nur summarisch, oft fehlt sie auch ganz. Es gibt in dieser Rück-
sicht vielerlei Uebergänge zu den transitorischen Zwangshandlungen auf
neurasthenischer Grundlage (raptus r.euralgicus), von welchen sich die
typischen melancholischen Anfälle höchstens durch die grössere Conse-
quenz und Zielbewusstheit der That und durch die relativ längere Zeit-
dauer unterscheiden. Klinisch bemerkenswerth ist, dass manchmal meh-
rere rasch sich folgende Raptus die Melancholie einleiten, worauf letztere
ihrerseits mit Vorliebe einen dämonomanen Inhalt annimmt. (Vgl. auch
den acuten dämonomanischen Wahnsinn). —
Die hypochondrische Melancholie ist, wo sie als selbstän-
dige klinische Form durch den ganzen Krankheitsverlauf auftritt, eine
neurasthenische , resp. eine invalid -cerebrale Neuropsychose. Dieselbe
schliesst sich bald an eine körperliche Erkrankung (Magendarmkatarrh),
oder an irgend eine peinlich nervöse Sensation (Ohrgeräusche) an; bald
aber auch tritt sie, ohne dem Kranken bekannte Ursache, langsamer
oder schneller in Scene; manchmal erfasst sie in einem verwirrenden
Schreck (Gespenst der Spermatorrhoe) urplötzlich den Leidens-Grübler.
Die depressive Stimmung arbeitet sich in ein zunehmendes Chaos von
„Befürchtungen" aus, welche rückwirkend wieder neue Sensationen ma-
chen und neue Beobachtungen liefern. Der Leib wird in beängstigender
Völle gefühlt, der Athem wird gestellt, in die Glieder fährt Zittern, in's
Knochenmark ein peinliches Frösteln; keiner der Aerzte, welche, soweit
erreichbar, consultirt werden, vermag zu helfen; die Arzneien alle be-
wirken den gegenteiligen Effect; es fährt nach jedem Löffel Mixtur wie
„8chrot8chÜ8se" durch den Magen, friert dem Kranken zum Munde her-
aus, setzt sich auf (oft als neuralgisch nachweisbare) Stellen an der Brust,
klopft und brennt u. s. w. Der Kranke kann nicht mehr athmen; ein
„Dunst aus dem Magen" hemmt ihn auf der Herzgrube , fährt aufwärts
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Hypochondrische Melancholie. — Verlaufsvarietäten. 57
durch den Mund bis in den Kopf, wo er ihm Schwindel nnd Scheitel-
stiche macht, und abwärts durch den Darm in den After u. 8. w. Gegen
die „Magenunruhe" wird allerlei Diät gebraucht; jeder Quacksalber-
Rath befolgt; oft Tage lang gefastet. Der Kranke fühlt sich unermess-
lieh elend, zum Arbeiten unfähig, in den schlaflosen Nächten von seinen
Befürchtungen, nicht mehr gesund zu werden, gefoltert. Mit ermüdender
Einförmigkeit werden Tag um Tag dieselben Klagen vorgebracht Urin
und Stuhlgang bilden von Morgens bis Abends die Sorge und zugleich
das zur wachsenden Pein durchsuchte Beobachtungsobject. Alles, was
der Kranke einnimmt, bereitet nur Qualen und stets neue Qualen. Oft
regt sich der Gedanke an Selbstmord in gefahrdrohender Weise. Die
Stimmung ist bald verzweifelt, bald bitter gereizt, gegen die Umgebung
voller Vorwürfe ; nicht selten trotzig und heftig, selbst gewaltthätig. Re-
gelmässig sinkt die Ernährung, oft sehr bedeutend. Die Circulation ist
träge, Hände und Ftisse kühl, der Puls verlangsamt, oft klein; nie fehlen
dyspeptisebe Erscheinungen, manchmal mit peinigenden KenVxnenrosen auf
den Vagus. Der Stuhl ist in der Kegel angehalten. In günstigen Fällen
gelingt es, zuerst die Verdauung zu reguliren und damit die Assimilation
und die Körperernährung zu heben. Hand in Hand damit bessert sich
die Stimmung und regt sich die Arbeitslust. Oft wollen die Kranken
fühlen, wie sich „stückweise das Leiden aus dem Kopfe und den Glie-
dern zurückzieht". So tritt nach und nach, aber immer erst in inonate-
laugem Verlauf, die Genesung ein, nicht selten durch Recidive (Diät-
fehler) unterbrochen.
Auf seniler Grundlage geht die hypochondrische Melancholie in
der Regel rasch in Wahnsinn Uber, und zeichnet sich sodann inhaltlich
durch die Ungeheuerlichkeit der Klagen, und (bei der Hemmungslosigkeit
des decrepiden Gehirns) durch die stürmischen Reflexe auf das Handeln
des Kranken aus. Raptus der gefährlichsten Art gegen sich oder Andere
werden mit vernichtender Heftigkeit in Scene gesetzt; manchmal geschieht
dies in einer unbezwinglichen Serie von motorischen Actiouen. Die
Kranken stürzen sich in verzweifelter Angst zu Boden, rennen sich mit
aller Heftigkeit den Kopf an die Wände, toben und schreien, sie mü äs-
ten es thun, so dass manchmal eine letale Erschöpfung nachfolgt. Der
Verlauf ist dabei ein acuter, in wenige, 2—3, Monate zusammengedrängt.
Der hypochondrische Inhalt äussert sich als Angst, dass der Kopf her-
unterfalle, Gefühle, dass das Genick gebrochen sei, dass der Stuhlgang
zum Glied heransfliesse ; der Leib ganz offen sei, sodass der Wind hin-
durcbblase, das Wasser im Leib plätschere, dass der Kranke einen häss-
lichen Leichengeruch verbreite, dass er an venerischen Geschwüren leben-
dig verfaule u. s. w. Anderemale verläuft diese senile Hypochondrie
auch mit geringerer Affectbegleitung, nimmt einen chronischen Verlauf
(oft durch anhaltende Nahrungsverweigerung hindurch) an, und geht nicht
so selten (Schlundsondenbehandlung, Hebung der Ernährung) in Heilung
mit Defect über (s. hypoch. Irresein).
Der Verlauf der typischen Melancholie bietet viele Varietäten.
Unter diesen sind die Episoden: 1. von tobsüchtiger Erregung, und
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Specielle Melancholie.
2. stupider Befangenheit mit Sinnestäuschungen (Hallucinationen und
Illusionen) die bemerkenswerthesten und häufigsten.
Die 1. tobsüchtigen Erregungsphasen spielen sich unter dem
äussern Bilde ängstlicher oder verzweifelter Unruhe ab, mit monoton
sich wiederholenden schmerzlichen Klagerufen, pendelartiger Ruhe-
losigkeit und den automatisch sich abwickelnden Bewegungen (siehe
Allg.). Man hat diesem Zustande, welcher bald intercurrent auftritt,
bald aber auch den ganzen Verlauf einnimmt, die Bezeichnung der
Melancholia agitata gegeben. Oft spielen schreckhafte Hallu-
cinationen, allermeist aber lebhafte Neuralgieen die physiologischen
Mittelglieder für das triebartig reflectorische Gebahren. Die Kran-
ken magern dabei oft rapid bis zum Scelette ab, müssen zu den
einfachsten Lebensbedürfnissen (Essen, Noth dürft) angehalten werden,
bringen wochenlang ohne Schlaf zu. Sehr häufig treten auch Angst-
Raptus dazwischen. Die Kranken verstecken sich, wehren sich heftig
gegen jede Annäherung, rennen umher, stürmen wüthend auf Per-
sonen und Gegenstände ein, essen fast nichts, oder schlingen die
Speisen mit gieriger Hast hinein. Dabei bilden mit dem Weinen
uud Jammern die tagelang ausgestossenen monotonen Satzfragmente
nur die Variationen desselben Schmerzgedankens, so wie auch die
ruhelos wechselnden Stimmungen — von verzweifelten Verwün-
schungen und Schuldgefühlen bis herab zur blasphemischen Bitter-
keit — nur denselben wehevollen Grundaccord moduiiren.
In beiden angegebenen Merkmalen — der Vorstellungshemmung und
der Stimmungsmouotonie — liegt der wesentliche Unterschied gegenüber der
typischen Manie, für welche wirkliche „Ideenflucht" und ein Stimmungs-
wechsel, „in dessen Register kein Ton fehlt", charakteristisch ist. Ueber-
gänge können aber dennoch stattfinden, indem der melancholische Schmerz-
afl'ect in raschem Anstieg so sehr gesteigerte Reflexe in's motorische Gebiet
wirft, dass eine Serie von Furor-Ausbrüchen nachfolgt (s. Furor). Die
Ideenassociationen können dabei lockerer, der Ablauf rascher und eine
vollständige Ideenflucht hergestellt werden. Der Verlauf ist in der Re-
gel ein peracuter: mehrtägige Manie, darauf Umschlag in Depression
und heftige Angst (Furcht umgebracht zu werden); endlich, wiederum
nach wenigen Tagen, psychischer Erschöpfungszustand mit Schwerbesinn-
lichkeit und allmählichem Ausgang in Genesung.
Der Weiterverlauf der Melancholia agitata geschieht entweder:
a) in den ruhigem melancholischen Anfangszustand, dessen Höhe-
punkt sie monatelang dargestellt hatte, und durch diesen in allmäh-
liche Genesung; oder aber b) zunächst in ein Aufregungsstadium
mit Gedankenverwirrung und triebartigem oder durch Secunden-
Einfälle charakterisirten , oft ganz barocken, motorischen Zwangs-
Gebahren (einer Art choreiformer Manie aus psychischer Schwäche
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Tobsüchtige Erregungspbasen. Melancholia agitata.
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mit hober affectiver Reizbarkeit); aas diesem in ein Stadium kin-
discher Schwäche mit Zwangsgedanken, welche sich an jedes ge-
sprochene Wort oder Wahrnehmung anhängen, und stundenlang
rociferirt werden, mit ausserordentlich wechselnder, bald kindisch
befangener, bald wieder natürlicher, oder aber trotzig verletzlicher
and begehrlicher Stimmung; von da endlich in Genesung, oft nach
manchmal wiederholten manischen Recidiven der geschilderten Art;
oder aber c) in einen ruhigen depressiven (oder auch gebieterisch
exaltirten) Wahnsinnszustand acuten resp. chronischen Charakters.
Mit dieser Wendung, welche oft mitten in die Melancholie, oft in
die Reconvalescenz eintritt, erweitert sich das Schuld- und Busse-
geftihl zur gehobenen Empfindung einer durch die bestandene Krank-
heit geleisteten „Erlösungs-Mission für die Menschheit". Oft steigert
sich dieser Rückschwung der Stimmung zum (melancholischen)
Grössenwahn „ein auserlesener Geist", ja „Gott selbst" zu sein.
Diese Episode kann entweder a) den Charakter eines geistigen
Hehwächezustandes darbieten — als natürlichen Ausdruck der Erschöpfung
nach der verzehrenden Unruhe — und als solcher vorübergehend sein;
die „compensirend" beglückenden Uallucinationen klingen nach und nach
ab und es erfolgt jetzt die Genesung. Dabei ist jedoch auch die Mög-
lichkeit von wiederholten Recidiven dieses hallucinatorischen religiösen
Wahnsinnszustandes einzurechnen, wodurch nach und nach eine wirkliche
und dauernde geistige Schwäche erreicht werden kann. — Die exaltirte
Periode kann aber auch b) unter dem Bilde einer gereizten (Zorn) Ma-
nie verlaufen, mit activ gehobenem Selbstgefühl (dass der Kranke die
Verfolgungen so gut ausgehalten habe und jetzt gerechtfertigt sei; dass
er damit den auferlegten Kampf gegen den Bösen bestanden; dass alle
Widersacher jetzt ihre Strafe erhielten) und einer herrisch aufbrausen-
den, trotzigen, selbst brutalen Stimmung. Auch hier kann nach und nach
Genesung eintreten, nicht selten aber auch chronischer Wahnsinn. (In
vielen dieser Fälle werden sich wohl gleich im anfänglichen melancho-
lischen Bilde einzelne beigemischte Kerne von „Wahnsinn" nacli weisen
lassen!).
Die 2. im Verlauf der Melancholie auftretenden acuten Wahn-
sinnsphasen haben gemeinsam: eine mehr weniger tiefe Bewusstseins-
verdunkelung mit stupider Angst und gleichgestimmten Sinnes-
täuschungen resp. Illusionen.
Die Kranken stürmen umher, drängen fort, schreien wild hinaus,
bald nur in Schreitönen, bald in abgerissenen Worten, drohen gewalt-
tätig zn werden, schlagen das Essen weg, irren Nachts im Zimmer um-
her. Dazwischen schieben sich Perioden, in welchen sie von der Angst
übermannt reactionslos hinausstarren, in derselben Stellung beharren
mit ängstlichen Blicken und verzerrten Zügen, und wie Hilflose behan-
delt, angekleidet, gefüttert werden müssen. Sehr oft begleitet eine stür-
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SpecieUe Melancholie.
mische Herzbewegung mit unregelmässigem Pulse und Ungleichheit der
Pupillen diese oft Tage- und selbst Wochen-lang dauernden Episoden.
Kommt der Kranke wieder zu sich, so erzählt er von den massenhaften
Täuschungen aller Sinne, unter welchen er gestanden: von feurigen
Kreuzen, Sternen und Blitzen, von Stimmen, die sich um seine Seligkeit
stritten; von Erscheinungen, die ihm Trost zusprachen, Mitleid zu er-
kennen gaben, von Todtenvisionen ; von peinlichen Gefühlen im Körper,
als ob man ihn zerschneiden und das Blut abzapfen wollte u. s. w. Wie
beim acuten Wahnsinn ziehen sich die illusorischen Verkennungen oft
in den klareren Zustand weiter, so dass der Kranke jetzt noch lange
einen gedämpften Verfolgungswahn in seiner depressiven Stimmung bei-
behält. Namentlich bleibt auch noch ein gereiztes mißtrauisches Wesen,
als ob man seine Gedanken lese oder aus seinen Gesichtszügen ab-
schaue.
In einer mehr chronischen Form nehmen die klimakterischen
und senilen Melancholieen oft die Charaktere des Wahnsinns an,
wobei der gesummte ängstliche Wahninhalt fast nur aus Illu-
sionen besteht. Die Bewusstseinsstörung ist dabei keine so tiefe,
als bei den acuten Zwischenfällen; richtige und falsche Perceptionen,
lucidc und balbtraumerische Phasen messen vielmehr in einander
Uber; ein lauter Anruf führt diese in jene zurück.
Nach einer längereu oder kürzeren typisch melancholischen Einlei-
tung, gewöhnlich mit dem Wahne der Sündhaftigkeit und des geistigen
Verlorenseins (manchmal in jnhem Umschlag durch Episoden von „un
endlichem Wohlgefühl", mit „allen Herrlichkeiten des Himmels" unter-
brochen! erfolgt eine immer ausgedehntere illusorische Fälschung aller
Wahrnehmuugen im Sinne der depressiven Stimmung und des herrschen-
den Wahngedankens. Oft geht ein Kampf voraus, in welchem der gute
und böse Geist sich noch streiten; aber endlich weicht der gute Geist
ganz, und lässt im Kranken nur das „böse Gewissen und den verlassenen
Sünder" zurück. Dieser erkennt nun in jedem Tapetenschnörkel Teu-
felchen, sieht in jeder Speise abgeschnittene Engel- und Heiligenköpfe,
welche seine Sündenschuld zum Tode gebracht; tritt er auf den Boden,
so wandelt sein Fuss über Crucifixe, welche seine ängstliche Phantasie
in die Astzeichnung der Bretter gezaubert hat und „auf welche er treten
mus8". Beim Rauchen der Cigarre meint er „Christum zu verbrennen".
Ja, selbst im Urin und Stuhlgang werden allerlei „Köpfe" geschaut,
welche bald als gute, bald als böse Geister — immer zu neuer Ver-
zweiflung des Kranken — aus dessen Körper entleert worden sind. Nicht
selten werden deshalb die Excreraente absichtlich zurückgehalten. Wi-
derstreben gegen das Esseu, gegen die Verrichtung der Bcdürfuisse, ge-
gen das Aufstehen, endlich selbst gegen das einfache Aufschauen bilden
in der Folge die mächtigen Hemmungsreflexe auf das Wollen des Kran-
ken, während andererseits die symbolische Umdeutung der Aussenwelt,
verbunden mit ängstlicher Ideenflucht, ihn in immer grössere Zweifelsucht
und Unsicherheit bannt: ob er nicht ein Unrecht thue und dadurch seine
allgemeine Niederlage vergrössere. So wird der Kranke oft gegen das
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Intercurrcnte Wahnsinns-Episoden. Chronische Melancholie. 61
Nothwendigste widerstrebend, oft bis zur reflectorischen Spannung der
gesammten Körpermusculatur. Auf jede Handlung, jede Rede folgt Reue,
Jammern, Händeringen, Abbitte, gesteigerte Selbsterniedrigung unter immer
absurderen Betheuerungen des Wahnes. Auch Hallucinationen fehlen die-
sem Zustande nicht. Vorübergehend können dieselben sehr lebhaft wer-
den und den Kranken in eine durch Tage und Nächte fortdauernde angst-
gequälte Aufregung mit verzweifeltem Schreien und gefährdenden Raptus
versetzen. Das Bewnsstsein bleibt lange leidlich erhalten und verdun-
kelt sich erst in Folge der vorübergehenden oder zunehmenden Hirn-
Inanition. Der Ausgang ist zunehmende, oft rasche Erschöpfung (Ueber-
gänge in's sogenannte melancholische Delirinm acutum), oder aber sehr
protahirte geistige Erholung unter entsprechender Zunahme der Ernäh-
rung. Die Kranken bleiben dabei lange Zeit reizbar, händelsüchtig, miss-
traui8cb, von allerlei Kopfsensat:onen geplagt; ihrem Anffassen und Ur-
theilen mischen sich Züge von Verfolgungswahn bei, welche nur langsam
zurücktreten, in der Regel ohne corrigirt zu werden. Die Meisten blei-
ben im günstigen Falle psychische Invaliden; diejenigen, welche sich
ganz bis zur Genesung (manchmal durch eine acute fieberhafte Erkran-
kung, Pneumonia) durcharbeiten, gehören der mehr subacuten Verlaufs-
form an und bilden zugleich die Uebergänge zur primären hallucinato-
rischen Dementia (s. d.J, von welcher sich die scharf charakterisirten
Fälle anch nur durch die Krankheitsentwicklung und namentlich durch
das Verhalten des Bewusstseins (hier ein vorwiegend waches, dort ein
anhaltend träumerisch tief befangenes) klinisch unterscheiden.
Noch bleibt eine weitere Verlaufsart des melancholischen Pro-
cesses übrig: inChronicität. Alle beschriebenen Formen, die ac-
tiven und passiven, darunter aber besonders die dämonomanische
und die hypochondrische Unterform, können nach Abklingen des
acuten oder subacuten Stadiums in einen chronischen Verlauf Uber-
gehen, in welchem die depressive Stimmung, die Wahngedanken,
und auch die Hallucinationen erhalten bleiben, von dem Kranken
dauernd aufgenommen und eingewöhnt werden. Die Selbstanklagen,
das Jammern, die stereotypen Bewegungen (das Fälteln der Kleider,
Reiben und Zupfen am Körper u. s. w.) werden Tagesgeschäft, mit
gleichzeitiger Abnahme der Affectscbärfe, welche nur zeitweilig noch
in lebhaftem Paroxysmen zur Geltung kommt. Im Uebrigen vermag
der Kranke selbst während und unter seinen — immer automatische-
ren — melancholischen Aeusserungen wieder sich zu beschäftigen,
freilich meist nnr mehr mechanisch, auch an der Umgebung in be-
schränktem Grade wieder Antheil zu nehmen. Aber Interesse und
Energie nnd die geistige Schärfe nehmen dabei ab, der Kranke
steuert einem allmählichen Blödsinn zu mit melancholischer Färbung.
— Andere Male freilich erhält sich der geistige Tonus bewunderungs-
würdig lange; die Kranken, längst jeder Freude, jeder Hoffnung
bar, und stündlich bereit den Tod gegen ihr schweres Dasein ein-
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Specielle Melancholie.
zatauschen, ringen gleichwohl sich oft noch tapfer hindurch — wahre
Helden im stillen Dulden! — und wissen ihre mühsam zusammen-
gehaltene Kraft nützlich zu verwerthen. Viele münden nach und
nach in Phthise ein (s. senile Form). Die gesunkene Körperernäh-
rung nimmt bei diesem Uebergang in das chronische Stadium in den
meisten Fällen (nicht in allen) zu. Das Gesicht bekommt einen zu-
nehmend stumpferen Ausdruck ; oft verdickt sich die Stirnhaut; auch
die Bindehaut des Auges wird dicker, schmutzig gefärbt, und behält
bleibend erweiterte, geschlängelte Gefässchen.
Zu diesen chronischen Melancholieen (mit cerebropathischem
Charakter, 8. u.) gehört aber auch eine sehr schlimme klinische Form, in
welcher Opposition und Negation sich personificirt haben und die Ver-
stimmung einen Grad erreicht hat, wo jeder Eindruck, jede Berührung,
jede Aenderung der momentanen psychischen Lage eine schmerzliche
Reaction herbeiruft; wo Lust zu Schmerz, Schmerz zu Lust wird, die
arme Creatnr will, was sie nicht soll, und soll, was sie nicht will.
Gewöhnlich bildet eine tief gesunkene Constitution, sehr oft eine erheb-
liche Atherose (mit Herzfehlern), eine vorgerückte Lebensepoche, in
frühem Jahren das äquivalente Element einer starken erblichen Bela-
stung — die körperliche Grundlage. Die eingesunkene gebrochene Hal-
tung der Kranken zeigt schon auf den ersten Blick, dass ein tiefes
Leiden ihnen den „Genickfang" gegeben, während aus den hohlen Augen
und lebensmüden Zügen der tiefste Seelenschmerz schaut. Aengstlich
und misstrauisch umherspähend, sind sie von einer beständigen innern
Unruhe getrieben, stehen immer auf dem Sprunge hinauszudrängen, ver-
sagen sich Speise und Schlaf, rütteln an den Thtiren, lassen sich durch
tausend fruchtlose Versuche nicht abschrecken, scheuen nicht Hitze und
Kälte, kehren sich so wenig an ein freundliches als an ein strenges Wort.
Sie widersetzen sich gegen Alles und Jedes, namentlich gegen das Essen,
wozu sie förmlich geschleppt werden müssen, essen nicht trotz ihres
Hungers, am ehesten noch, wenn man sie gewähren lässt und die Speisen
ruhig wieder abträgt, worauf sie oft gierig zwischen Thür und Angel
darauf losstürzen. So gewinnt man ihnen durch List und Täuschung
mancherlei ab; meist aber weichen sie nur der force majeure. Ihr
Anzug ist vernachlässigt, schmutzig; eine Toilette ist nur mit Gewalt zu
erzwingen. Durch die Zähigkeit und Gewandtheit ihrer Anstrengungen
und durch die rücksichtslose Hartnäckigkeit der Durchführung bilden sie
mit die schwersten Kranken, welche immer und immer wieder ein me-
chanisches An- und Eingreifen erfordern — so sehr auch ihr trauriger
Zustand die höchste Bedauerniss erregt und auf die humanste Behandlung
Anspruch erhebt. Oft sinkt die Stimmung der Kranken bis zur Ver-
zweiflung; oft gewinnt sie auch wieder eine gewisse Fassung und Ruhe.
Der Ideenkreis ist sehr enge, von ermüdender Einförmigkeit (Verloren-
sein, Heimdrängen, Bitten um „Gnade"). Dazwischen kommen Selbst-
vorwürfe, dass der Kranke Dies oder Jenes hätte thun oder unterlassen
sollen. In ruhigen Stunden wird über Druck auf dem Herzen, Angst,
Verwirrung, schreckliche Gedanken, dämonische Versuchungen, grosso
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Chronische Melanch. Klinische Typen. — Chron. hypoch. Melanch. 63
Mattigkeit, zeitweise auch Uber Gebörshallucinationen, geklagt. Die
Körperernährung wird in der Folge immer elender; es tritt bald jene
Anomalie der Blutcomposition ein, wo jede leise Contusion Blutextravasate
setzt. Othämatome sind bei diesen Kranken, selbst auf ganz leichte
Anlässe, nicht selten. Manchmal gelingt es durch eine ausserordentlich
umsichtige Pflege, welche besonders auf Hebung der Körperernährung
(Sondenftitterung) und Vermeidung des Decubitus abzielt, den Kranken
wieder langsam in die Höhe zu bringen, doch nie weiter, als bis zu
einer psychischen Heilung mit Defect; noch öfter aber lässt alle Mühe
im Stiche und der Kranke versinkt in unrettbaren Marasmus, oder er-
liegt einer intercurrenten Krankheit (Phlegmonen, Decubitus, Petechien
mit unstillbarem Nasenbluten; Suicidium). Klinisch ist bezüglich des
Verlaufs zu bemerken, dass sich: 1. manchmal ein vorübergehender,
alternirender Typus, und 2. zeitweilige subkataleptische Stuporphasen
einschieben. Prognostisch ist die Erfahrung zu beachten, dass selbst
eine Jahre lang dauernde Nahrungsverweigerung die schliessliche Re-
convalescenz nicht ausschliesst. —
Nosologisch bilden diese chronischen Melancholieen die klinischen und
pathologisch anatomischen Uebergänge zu den geistigen Cerebropathieen
aaf Grundlage einer primären Hirnatrophie. Viele der dahin ge-
hörigen Fälle bestehen aus einer Serie von Einzelerkrankungen (Paro-
xysmen), welche sich insgesammt auf eine Reihe von Jahren ausdehnen —
eine Art periodischer Melancholieen — , zunehmend qualitativ
schwerer werden und endlich in einen unheilbaren letzten Paroxysmus
auslaufen mit dem autoptischen Endbefund des genannten Charakters.
Sie beginnen mit einer einfachen oder hypochondrischen Melancholie,
welche in der Regel schon Anfangs in der starren Monotonie inhaltsloser
oder kindlicher Klagen die primäre geistige Beschränktheit (psychische
Schwäche an Stelle einfacher melancholischer Hemmung), und nach der
Qualität der Stimmungsreflexe (Herumwälzen auf dem Boden, unmotivirte
oder conträre Negation, perverse Antriebe, impulsive Raptus zur Selbst-
beschädigung) die tiefe „organische Belastung" des psychischen Sympto-
menbildes erkennen lässt. Anfangs folgt noch manchmal Genesung (voll-
ständig oder theilweise), selbst auf jahrelange Dauer. Aber, genauer
betrachtet, hat der Kranke selbst in günstigen Fällen eine Einbusse er-
litten: ein leiser psychischer Marasmus in Form eines geringem Interesses,
einer gewissen Unschlüssigkeit, eines unmotivirt zeitweilig gedrückteren
Wesens bleibt. Dann folgt wiederum ein melancholischer Paroxysmus,
bald kürzer, bald länger dauernd, vielleicht abermals mit relativer Heilung,
aber zurückbleibendem grösseren Defecte. Und so geht der Verlauf in
Etappen weiter, bis endlich der Kranke in einen Zustand depressiver
geistiger Schwäche einläuft, in welchem der Blödsinn Hauptsache,
die melancholischen Züge nur noch mitgebrachte Schablone sind. Oft
gelangt der Kranke in diesem noch zur Ausführung seines suieiden
Dranges.
Die chronische Form der hypochondrischen Melan-
cholie erwächst (wie die oben geschilderte einfache Form) mit Vor-
liebe auf neuropathischer Constitution (besonders hysterischer), und
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Specielle Melancholie.
auf masturbatorischer und uteriner Grundlage (chronischer Uterus-
Infarct mit profusen Katarrhen). Sie gehört deshalb auch grössten-
teils dem weiblichen Geschlechte an, befällt aber hier alle Alters-
stufen, namentlich junge, unverheiratete, erblich belastete und
anämische Mädchen; doch liefern auch junge Männer ein genügendes
Contingent.
Das Symptomenbild baut sich auf einen Status nervosus, gewöhnlich
mit „Spinalirritation" auf und trügt als specifische Charaktere: gedruck-
tes, manchmal grenzenlos trauriges Wesen, gesteigerte Empfindlichkeit
mit Neigung sich jedem Schraerzenseindruck maaaslos hinzugeben, Ver-
zagtheit, Willensschwäche. Körperlich ist der ganze sensible Nerven-
baum in hochgradigster Hyperästhesie, und die Kranken bilden die Vir-
tuosen auf dem nervösen Eropfindungsinstrumente. Jeder Zoll des Kör-
pers schmerzt, jeder Nerv wird peinlich gefühlt, für die Bezeichnung
des „Brennens", „Quirlens", „Spannens", „Pressens" u. 8. w. reicht kaum
der Sprachschatz des Gebildeten ans. Auch das ruhigste Denken ist mit
widrigen Empfindungen, mit ausstrahlenden Wärme- und Kältegefühlen,
mit Herzklopfen und selbst Angst verbunden. Gewöhnlich aber ist gar
kein ruhiges Denken möglich; die Gedanken drängen sich ungerufen;
Alles, was der Kranke sieht und hört u. s. w., erregt Bilder und Gedan-
ken, und diese wieder andere, und so mischen sich Bilder und Gedanken
und fuhren zu einem peinlichen Schwindel mit schmerzlicher Ermattung.
Lebhaft vorgestellte Empfindungen objectiviren sich sofort körperlich.
Bei Steigerung des Zustandes wächst die innere Unruhe „vor einem
neuen Gedanken" und der Bann der Launenhaftigkeit; die Kranken werden
immer mehr zur Resonanz einer jeden hysterästhetischen Regung. Sie
sind ganz vom Augenblicke beherrscht: jetzt ist es ein beliebiger Ein-
fall, jetzt eine zufällige GefUhlslage, jetzt ein bedeutungsloser Sinnes-
eindruck, jetzt eine leise Störung des GemeingefUhls, jetzt ein phanta-
stischer Sprung — welche die abnormen Sensationen aufregen und dann
die geistige Situation des Kranken jeweils mit zäher Strenge beherrschen.
Stunde um Stunde wird ein neues Klageregister gezogen: bald ist die
Nase zu eng, der Leib zu aufgetrieben, das Zimmer zu klein, die Luft
zu dicht, der Athem zu kurz u. s. w. Damit geht Hand in Hand ein
wachsendes BedUrfniss sich in dem schweren Leidenszustand gebührend
anerkannt und bemitleidet zu sehen. Dies führt einerseits zu einer immer
grössern Anspi uchsfUlle, welche die Umgebung rücksichtslos meistert,
andrerseits zu einer solchen gemttthlichen Verletzlichkeit, dass den Kran-
ken selbst die bestgemeinte Pflege nicht genügt Viele geberden sich
wie unleidige Kinder, wollen alle ihre Wünsche sofort erfüllt sehen,
kommen durch eine Kleinigkeit ausser Fassung, ziehen im folgenden
Augenblicke an sich, was sie erst abgewiesen hatten, verweigern mit
äusserstem Eigensinn den Gehorsam in Dingen, welchen sie sich bis dahin
gerne unterzogen hatten. Bei Andern entwickelt sich, damit gleichen
Schritt haltend, ein Gefühl des Verkanntseins und eine eben so ent-
schlossene Verbitterung über die Umgebung, endlich Trotz und Haas und
nicht selten feindseliges Auftreten gegen dieselbe, welche „doch nur
darauf warte, den Kranken zu verderben".
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Chron. hypochondr. Melanch. — invalide" (Organische) Melancholieen. 65
Bei wieder Anderen mischen sich mit den Gefühlen der Erbitterung
auch die der Sehnsucht nach Genesung, und damit weiter die Erinnerung
an die tiberstandenen Leiden, an die getäuschten Hoffnungen, an die nicht
erfüllten Versprechungen, und erzeugen reactiv Episoden melancholischen
Schmerzes, welcher bis zum heftigsten Weinen, oft bis zu krampfartigen
Erschütterungen des Körpers sich steigern kann. Bemerkenswerth ist,
dass es nicht selten und nicht schwer gelingt, den Kranken mitten aus
seinen mit Aufgebot aller Mimik begleiteten Verzweiflungsscenen durch
Anknüpfung eines interessanten angenehmen Gesprächs zu freien Aeusse-
rungen, lebhafter Conversation und heiterer Stimmung voll Vertrauen und
Hoffnung hinüberzulenken — den sterbenden Gladiator unvermerkt wieder
aufzurichten. Das Bewusstsein erhält sich daneben in einer auffällig con-
trastirenden Schärfe und Intaktheit. Der genannte Zustand kann Monate
und selbst Jahre (oft tagweise alternirend) andauern. Der Kranke bleibt
über die ganze Zeit ein unberechenbares Compendium nervöser Diagnosen
und Prognosen; nie ganz frei, immer etwas scheu und verzagt, geht er
von Tagen düsteren Weltschmerzes zu aufgeräumten, ja selbst gesellig
heiteren über; heute überströmend von Klagen, kann er morgen alle seine
Missempfindungen unterdrücken und auf die richtigen Anschauungen ein-
gehen, um in jähem Umschlage wieder zur alten Muthlosigkeit herab-
zusinken — und ebenso aufsteigend wieder in die Flittertage einer
überstürzten Genesungsfreude einzulaufen. Nicht so selten gehen auch
Drohungen von (oft ernst gemeintem!) Selbstmordhang mit einher. In
diesen proteusartigen Schwankungen, welchen deutlich eine hysterische
Signatur aufgedrückt ist, arbeitet sich in günstigen Fällen das Befinden
des Kranken zur Besserung hinauf: die Klagen werden seltener, die
Stimmung gefasster und gleichmässiger , das Aussehen componirter; es
stellt sich dauernde Freude an der Geselligkeit und Arbeitslust ein. Die
weniger begünstigten Kranken rücken unter wiederholten und zunehmend
schwereren Recidiven in hypochondrischen (auch secundären) Wahnsinn,
werden immer barocker in ihren Sensationen und schliesslich in ganz
neue Körper transformirt. Sie verfallen auf die unsinnigsten Selbst-
euren, essen heisshungerig Gras und Unverdauliches, anderemale ver-
weigern sie hartnäckig die Nahrung, oder nehmen sie nur, wenn man
sie ihnen in bestimmten Geschirren, oder an bestimmte Orte hinstellt;
nicht selten zeigen sich auch in der Folge Verfolgungsgedanken und
namentlich Vergiftungsfurcht. Die Einnahme des Essens sowie die Ver
richtung der Bedürfnisse erfolgt unter ganz verzwickten Körperhaltungen.
Dabei wird die Stimmung immer indolenter, oder misstrauisch feindselig,
nicht selten explosiv heftig (Raptus gegen sich und Andere, plötzliches
Zerstören i. Wieder Andere dieser chronischen hypochondrischen Melan-
choliker bleiben ihr Leben hindurch fast stationär, und schrumpfen nur
langsam zu beschränkten und immer engherzigeren Egoisten zusammen.
Hier knüpfen sich die Uebergänge zum chronischen (degenerativen) hypo-
chondrischen Irresein der Männer an. —
Es erübrigt nun noch ein Blick auf die Modifikationen, welche
das im Vorstehenden gezeichnete Symptomenbild auf Grundlage
eines invaliden Hirnlebens eingeht. Die vorigen Schilderungen
Schale, Geiateakraakheileo. 3. Aufl. 5
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Specielle Melancholie.
bildeten bereits die Uebergänge. Speciell aber gehören hierher
die Melancholieen auf klimakterischem (senilem) Boden, ferner die auf
alkoholischer, puerperaler, masturbatorischer, syphilitischer Grund-
lage und Entstehung. Alle diese klinischen Unterformen weisen spe-
cielle Nuancirungen des typischen Krankheitsbildes auf, worunter
einige einen praktischen Werth insofern besitzen, als sie zur Bildung
von ätiologischen Krankheitsgruppen befähigen. Symptomato-
logisch lassen die allgemeine n Charaktere der betr. Symptomen-
complexe sich darin zusammenfassen, dass das psychische Schema
der Melancholie um eine Stufe tiefer sich abspielt: der Inhalt (Wahn)
ist geistig schwächer und beschränkter; die Form resp. die Asso-
ciation der psychischen Acte mangelhafter und gehemmter; die
klinischen Einzelphasen sowohl in ihrem Beharren als in der Weise
der Uebergänge sind weniger „logisch" vermittelt, als vielmehr
wesentlich durch die Phasen des Nervenprocesses bestimmt. Der
Vorstellungsablauf ist erschwerter, oft förmlich erstarrt; der Vor-
stellungskreis ungleich reducirter als bei den rüstigen Melancholieen.
Die Wahngedanken werden alberner und füllen das Bewusstsein so
sehr aus, dass die ganze sprachliche Aeusserung mehr nur noch in
der wochenlang monotonen Ableierung desselben Satzes, derselben
fragmentaren Klagerufe besteht, woneben keine Correctur aufkommt,
ja nicht einmal percipirt wird. Mehr noch prägt sich dieser Zwang
in der immer starreren Negation der Kranken aus, in der „Negation
aus Negation", ohne klar bewusstes oder durch einen starken Affect
getragenes Motiv.
a) Senile Form. Die Kranken sind wie benommen, für die ein-
fachsten Dinge rathlos, sie widerstreben Allem, was man mit ihnen vor-
nimmt, wehren sich ziel- und planlos, sind confus wie Kinder; für sich
trippeln sie in beständiger Unruhe, durch ein dunkles Etwas getrieben,
was wohl peinlich empfunden, aber nicht erfasst wird ; nicht selten irren
sie in stupider Allangst rastlos und mit fliegender Hast umher, unter
allerlei schüttelnden, stossenden, reckenden Glieder- und Körperbewe-
gungen; oder sie rennen mit krampfhaft zurückgezogener Kopfhaltung,
nur mit dem Hemde bekleidet, im Zimmer auf und ab, und finden selbst
nicht einmal zum Essen eine kurze Ruhe; fortwährendes Jammern und
Stöhnen, oder abgebrochene kurze Ausrufe („ewig verloren!", „unheilbar!"
„tobsüchtig!") begleiten diese agitirten Sturm- und Drangperioden. In
den ruhigeren Stunden sind sie unzugänglich, theilnahmlos, ganz von
kleinlichem Egoismus erfüllt; in ihren kurzen Reden zu raisonnirender
Disputirsucht geneigt, sensoriell und psychisch hyperästhetisch, unzu-
frieden. Nicht selten brechen plötzliche Raptus von Gewalttätigkeit
gegen sich und Andere durch. Aus den Phasen dieses ruhigen Pessi-
mismus mit bornirter Rechthaberei — wobei die Ideen der absoluten Ver-
armung, des verschuldeten Ruins seiner Stellung und Familie die oberste
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„Senile" Form der organ. Melancholieen.
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Prämisse für den Kranken bilden — geht er immer wieder in die Auf-
regungszustände der schmerzlichen Gebanntheit mit den triebartig moto-
rischen Reflexen Uber. So zieht sich das Krankheitsbild unter Exacerba-
tionen und Remissionen wechselnd oft Monate lang hin. In günstigen
Fällen tritt unter zunehmender Ernährung nach und nach Ruhe und rela-
tive Erholung ein, welche sich auch befestigen kann. In ungünstigen
Fällen dagegen bleibt das psychopathische Schema; nur wird der Inhalt
affectloser, alberner. Die Kranken plappern unter ihrem heftigen Wider-
streben oft die barocksten Phrasen her, endlich reine Vociferationen.
Das ganze Gebahren wird immer mehr ein automatisch monotones. Die
Kranken stöhnen und jammern Tag und Nacht, stossen (bis zur Heiser*
keit) dieselben Schreilaute aus; dabei ziehen sie sich aus and an, sie
esseD, lassen sich spazieren führen u. 8. w. Nicht selten erholt sich dabei
das Bewusstsein in einem solchen Grade, dass die Kranken Uber Vieles
Auskunft zu geben vermögen, und Uber die Trostlosigkeit ihrer Lage
richtige Ansicht äussern; sie versichern sogar, dass sie geistig ganz klar
seieu, und nur durch ihre eigene Schuld und Gottverlassenheit so jammern
und gesticuliren mUssten. Gewöhnlich wird diesem ihnen aufgezwungenen
und für den Willensgang unerreichbaren automatischen Gebahren eine
dämonomani6che Allegorie unterlegt: „der Teufel macht es ihnen." Nicht
selten gehen Halluciuationen aller Sinne mit. Wird die blödsinnige
Schwäche grösser, so objectivirt sich das schmerzlich deprimirte Selbst-
gefühl in Vorstellungen, welche eine dem Kranken unfassbare Aende-
rung seiner selbst, der Aussenwelt, oder deren Negation bedeuten. Der
Kranke klagt, dass er taub, ganz binterfür, verrückt sei, dass alles zwei-
deutig, nichts ihm mehr klar sei was er sage; er wisse nicht mehr, ob
er ein Mannsbild oder Weibsbild sei; er sehe alles wie sonst; aber er
wisse nicht, ob es wahr sei; er behauptet, alles noch zu sehen und zu
hören, wie sonst ; aber seine Ohren seien verstopft. Er weiss nicht mehr,
wo er hingehört („ich bin ein herumirrendes Lamm, welches weder Stuhl-
gang hat, noch Wasser lässt"), kann Süss und Sauer nicht mehr unter-
scheiden. Er allein von Allen muss elend und matt und so kraftlos, dass
er nichts mehr leisten kann, ewig in der Welt herumlaufen. Er weiss
auch nicht mehr, was er redet in seiner Verwirrung. Manche Kranke
fragen in ihrer Rathlosigkeit nach der Belehrung Uber die einfachsten
Gegenstände (ist das ein Glas? sind das Hosen?); sie verlangen, dass man
sie hinaus8tos8e zu den wilden Thieren. Sterben sei das beste für sie.
Die ersehnte Erlösung durch den Tod rUckt auch manchmal unter zu-
nehmender Reduction der Körperernährung und Anämie heran (Decubitus,
Oedem, zeitweilige Fieberbewegungen, hypot>tatische Lungenaffectionen).
Anderemale ist unter günstigen Bedingungen (Assimilation einer kräftigen
Diät) auch eine relative Erholung zu einem natürlicheren Benehmen und
Stimmung wieder möglich. — Nimmt die senile Melancholie das hypo-
chondrische Bild an, so schrumpft mit der zunehmenden psychischen
Schwäche der Vorstellungsinhalt zu immer engeren stereotypen Kreisen
zusammen (Klage Uber Verstopfung, Uber den Magen u. s. w.), während
die Stimmung zu einer Verzweiflungsschablone sich einschränkt, und aus
dem immer kindischeren Gesichtskreise alle früheren Interessen und Her-
zensbeziehungen verschwinden. Die Krauken verknöchern förmlich zu
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Specielle Melancholie.
Egoisten und zugleich zu Jammersalen ihrer körperlichen Parästhesieen,
welchen Tag und Nacht keine Linderung mehr beschieden ist. Langsam
progressiv schreitet das Leiden fort, manchmal verschärft durch deli-
rante Angstzustände. Körperlich zeigen nicht selten Hemianästhesieen mit
peinlicher hypochondrischer Verarbeitung (oft fühlen solche Kranken die
Speisen nur auf einer Magenseite, glauben eine doppelte Afteröffnung zu
haben), verbunden mit einseitigen vasomotorischen KopfHuxionen und con-
tralateralen Bewegungsstörungen, die palpabel gewordene Hirnaffection an.
Diese Fälle bilden auch den klinischen Uebergang zu den psychischen
Cerebropathieen aus primärer Hirnatrophie (s. d.).
b) Neurasthenisch - torpide Form nach erschöpfenden Ex-
cessen oder schweren Consumptionskrankheiten (Typhus, Puerperium).
Die Kranken sind in höchstem Grade apathisch, sprechen nicht, oder
nur kurze, oft halb betäubte Antworten. Dazwischen fahren sie plötzlich
heftig auf, werden gewaltthätig oder widerstrebend. Man ftihlt aus ihrem
Benehmen die Schmerzgebundenheit durch eine direct organische Hem-
mung heraus, für welche das getrübte Bewusstsein keinen Kamen und
noch weniger eine Erklärung hat. Dabei sind sie nicht misstrauisch oder
feindselig. Sehr häufig verweigern sie lange Zeit die Nahrung; unbe-
wacht schiessen sie mit dem Kopf an die Wand oder lassen sich zum
Bett herabfallen, um im nächsten Augenblicke wieder stumpf schmerzlich
hinzukauern. Diese Raptus machen den Eindruck eines zeitweilig ent-
lastenden Reflexes, da die geistige Spannung bei der tiefen Bewusstseins-
störung nur schwer den Ausweg durch Worte zu linden vermag. Zeit-
weise wohl brechen einige lückenhafte, unklare Sätze heraus, welche auf
Wochen lang still getragenen Kummer, auf innere verzweiflungsvolle Angst
hindeuten. Dieser Zustand kann sich allmählich unter Besserung der Er-
nährung und entsprechender Medication (Morphium) lösen, und der Kranke
successive zu freieren Aeusserungen gelangen, in welchen er jetzt seine
Schuldwürdigkeit, seinen Entschluss zu sterben, oft unter Thränen be-
kennt, nicht selten auch wegen seiner unwillkürlichen Ausbrüche, die er
gleichwohl noch nicht lassen kann, um Verzeihung bittet. Thatsächlich
ist auch nach und nach eine allmähliche Heraufbesserung, und zwar durch
ein hallucinatorisches Stuporstadium, manchmal auch durch abwechselnd
träumerische und halb lucide Phasen hindurch, möglich. Andernfalls ver-
zehrt sich die Hirnkraft in der schmerzlichen Gedankenspanuung ohne
einen Abgleich, und der Kranke geht durch einen melancholischen Nihi-
lismus („wir haben nie existirt, ich bin nur Luft, es wächst nichts; die
Welt ist untergegangen; es gibt nur Himmel und Erde" u. s. w.) in eine
zunehmende psychische Schwäche über, welche eine eigentümliche Bei-
mischung von cerebraler Benommenheit und Betäubtheit beibehält. Der
Kranke gibt alles zu, er verneint, was er vorher bejaht hatte; das In-
teresse stumpft sich ab. Motorische Insuflicienzen (Nachschleifen des
Fusses, einseitiges Zitteruj stellen sich ein; auch Nystagmus, einseitiges
Schwitzen. Manche Kranke sprechen nur in der Inspirationsphase („rück-
wärts"), hie und da passend, häufiger sinnlos. Immer mehr treten auch
ethische EntartungszUge hervor (Feindseligkeit gegen alle natürlichen Be-
ziehungen, kleinlicher, niedriger Egoismus); ein unbeugsamer Suicidiums-
drang bleibt, und gelangt nicht selten jetzt noch zum Ziele.
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Neurasthen. torpide Form. — Masturbatorische Melancholie.
69
c) Masturbatorische Melancholie. Die anf onanistischer
Grundlage sich entwickelnde Melancholie zeigt ein mehrfaches klinisches
Bild. Die häufigste Form ist die hypochondrische aus der schranken-
losen Ausbeutung der neurasthenischen Spinalsensationen. Im Mittelpunkt
stehen vage Rückenschmerzen, Ziehen und Reissen in den Beinen, Be-
schwerden beim Uriniren, Neuralgieen der Genitalien (besonders Parä-
sthesieen der Urethra); später gesellen sich Kopfdruck, Unfähigkeit zu
denken, Schwindel, Vergehen der Augen, Herzpalpitationen, präcordialc
Gefühle, vasomotorische Erregungszustände, oft local (einseitig) hinzu,
endlich Angst und SelbstvorwUrfe. Die Stimmung ist verschieden: in
einem Falle Uberraschend affectlos (aber nicht zu trauen !) ist sie in an*
dem überängstlich, weibisch verzagt und dabei mit einem Zug von süss-
licher Zärtlichkeit vermischt (beständiger Drang die Hände Dritter zu
fassen, oder die eigene Hand zu geben, welche oft durch ihre kühle,
schweissige Feuchtigkeit erschreckt). Die populären Jugendschriften
liefern die autoritativen Scbreckcitate, deren Hauptgespenst die drohende
Tabes bildet. Ein menschenscheues Wesen, weil sie fühlen, dass Andere
ihnen das „von der Natur auf ihre Stirn gedrückte Siegel" ansehen
möchten, führt sie zur Einsamkeit und zur grüblerischen Selbstpeinigung:
dem täglichen Studium ihres Urins, behufs Untersuchung einer etwaigen
Spermatorrhoe , der sorgsamen Einregistrirung ihrer Pollutionen werden
Stunden gewidmet. Nun stehen zwei Wege der Weiterentwicklung offen:
a) der hypochondrisch- melancholische, in Genesung resp. Blödsinn; b) der
dämonomelancholische, in Genesung resp. Wahnsinn. Bei der ersten
Form sind die Hauptmomente des klinischen Bildes: trübe Stimmung, ab-
geschlossenes, grüblerisches Wesen mit eigensinnigem Trotz und gereiztem
Widerstand, episodischen Verfolgungs- und Grössenideen, Phasen von
grosser Aengstlichkeit mit Selbstvorwürfen; dazwischen plötzliche Raptus,
ausgehend von den Genitalempfindungen („wie wenn man Einen hin-
machen müsste"). Allmähliche sittliche Entartung, schamlose Mastur-
bation; bei Vorhalt obscönes Gegenverlangen. Unter unregelmässigen
Schwankungen zwischen bessern Zeiten (Krankheitseinsicht und Verspre-
chungen) und schlimmem (mit plötzlichen Antrieben zu beissen und zu
kratzen), immer tieferer Gemüthszerfall bei oft noch leidlich erhaltenem
Vorstellungsleben (speciell Gedäcbtniss) mit sinnlosen Einfällen, Vernach-
lässigung des Decorums und einem mechanischen In -den -Tag -leben.
Die zweite Form beginnt mit einer religiösen oder dämonomanen Me-
lancholie, ängstlicher Unruhe mit Körperzittern (wobei der Oberkörper
oft vorwärts gestossen, die Beine vorgeschleudert, die Achsein gehoben
werden u. 8. w.), peinliches Missbehagen mit stetem Betasten der Ge-
nitalien; dann Selbstvorwürfe, „dass sie die Nachkommenschaft verkürzt
hätten"; Furcht vor dem Himmel, Verzweiflung an der göttlichen Gnade.
In der Folge Tastsensationen (Zupfen) an den Genitalien, Teufelsvisionen,
Besessenheit wahn, Brausen, Klingen im Kopfe, Würgen im Halse, Dru-
cken und Brennen auf der Brust, Verdrehen der Glieder, Zerren und
Wühlen in den Geschlechtsteilen (so dass der Kranke sie oft wegreissen
will), Raptus zu Suicidiuro, zu Angriffen auf Andere, oder auch zu plötz-
lichem reflectorischen Gebahren: Brüllen, Schreien, rasendem Umsich-
schlagen mit dem Gefühl verdammt, allein, auf der Welt zu sein. Manch-
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70
Specielle Melancholie.
mal in jähem Uebergang jetzt abwechselnde himmlische Wonnegefühle;
dazwischen immer wieder die Empfindung, „dass der Teufel den Kranken
noch verrückt mache". Der Verlauf kann subacut (einige Wochen bis
Monate) sein, manchmal sich aber auch bis zu I — 2 Jahren hinausziehen.
Von bestimmendem Einflüsse auf denselben ist der Grad des körperlichen
Ernährungszustandes und namentlich die Entsagung der Onanie. Der
Krankheits verlauf ist immer ein sehr wechselnder, durch Besserungen
und jähe Verschlimmerungen ausgezeichneter: plötzlich wird der Kranke
wieder fassungslos verzweifelt (er ist wieder eine blutlose Hülle, er be-
kommt ein schwarzes Gesicht, der Teufel ist mit Allem, was noch Gutes
an ihm war, durchgegangen; er wird lebendig an Leib und todt an der
Seele begraben u. s. w.). In der Regel gehen acute Gastricismen mit.
Bei protrahirterem Verlaufe mischen sich Züge von Beeinträchtigungswahn
und Misstrauen gegen die Umgebung bei. Körperlich wird oft Impotenz
(gänzlich mangelnde Erectionen) und unwillkürlicher Samenabgang beim
Uriniren und Stuhl, bei reizbarerer Schwäche auch Tagespollutionen ohne
Wollustgefühl und unter furchtbarer Beängstigung des Kranken, beob-
achtet. Aber auch hier ist Genesung nach und nach möglich.
Eine andere, ebenfalls häufige Form beginnt mit religiöser Melan-
cholie mit Hallucioationen und einem impulsiven Gebahren, welcher sich
früh schon Züge von Wahnsinn und andererseits von ethischer Entartung
beimischen. Die Kranken fangen an zu „sinniren", brüten Tag und
Nacht über ihren Gebetbüchern, legen sich und ihren Angehörigen Fast-
und Bussübungen auf und ahnden jedes Uebersehen darin mit Härte, oft
barbarischen Misshandlungen. Sie gerathen immer mehr in schmerzliche
Gebundenheit, knieen stunden- und tagelang mit gefalteten Händen, ver-
weigern oft hartuäckig die Nahrung, vernachlässigen das Decorum, lau-
schen und gehorchen nur den „Eingebungen Gottes", welche sie in leich-
ten Körpererschütterungen oder in kleinen Kopf bewegungen u. s. w. ver-
spüren. In raschem Umschlag folgen auch hier oft heitere freie Stunden;
dann aber wieder apathische, resignirte Episoden oder Zeiten von stumpfer
Verzweiflung über ihre Sündhaftigkeit, deren Memento die Kranken an
ihrer abnehmenden „Naturkraft" fühlen. Mit dem peinlichen Gedanken-
drange verbinden sich allerlei spinale Sensationen, namentlich beklem-
mende über das Herz und Epigastrium.
Wieder Andere mühen sich in hartem Kampfe ab zwischen ihrem
guten Vorsatz und den höhnenden , oft direct blasphemischen Stimmen,
welche sie als „dämonische" ängstigen, um so mehr, als damit immer
die sexuellen Heizungen (oft mit Tages- Pollutionen) und eine peinliche
Hemmung alles Wollens eintreten. Das Gefühl, zum Schlechten, das sie
doch fliehen wollen, „getrieben" zu sein, bringt Anfangs Verzweiflungs-
scenen (mit Raptus), später stumpfschmerzliche Resignation. Die Gene-
sung ist bei dieser klinischen Form schwieriger, aber doch möglich unter
der oben bezeichneten Bedingung. Oft intercurriren manische Raptus von
nur wenigen Stunden Dauer und vollständiger Unbesinnlichkeit nachher.
Die protahirte Rcconvalescenz erfolgt mit Vorliebe unter der Form einer
hypochondrischen Melancholie mit gesteigerter Schmerzempfindlichkeit und
grosser Weichheit der Stimmung; oft spielen Verfolgungswahnelemente
mit Episoden von Misstrauen, Trotz und einem feindselig abstossenden
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Masturbatorische Melaucholie.
71
Benehmen gegen die Umgebung herein. In nicht zur Genesung ge-
langenden Fällen bildet sich dieser Verfolgungswahn immer breiter und
ausgedehnter aus und wird stationär. Es kann aber auch der Ausgang
in unheilbare Katatonie erfolgen.
Oder, endlich, die anfangliche Melancholie geht nach und nach
in blödsinnige Schwäche Uber, deren HauptzUge — neben der intellec-
tuellen Abnahme — ein grosser Wechsel in der Art und Richtung der
Bestrebungen, ein Herumgeworfenwerden in den verschiedensten Stim-
mungen, bildet; sagen wir kurz: in einem Schwachsinn hysteriformen
Charakters mit sittlicher Degeneration. Bald ausgelassen heiter, zu muth-
willigen Spässen, zu frivolen Reden aufgelegt, in obscönem Gebahren
sich gefallend, mit keckem Hohn gegen das Decorum — spielt der Kranke
auderemale wieder den Traurigen mit endlosen Klagen Uber körperliche
Zustände, welche aller Begründung entbehren. Zur einen Zeit anspruchs-
voll und maasslos in den Anforderungen, sinnlos in den Zumuthungen,
unbescheiden im Auftreten, ungeberdig bei jeder Zurechtweisung, reizbar
oder ausweichend bei jeder Berührung — ist er zur anderen gegentheils
still und in sich gekehrt, griesgrämig den Wänden nachschleichend, jede
Beschäftigung fliehend, im Benehmen barsch, trotzig, herausfordernd und
selbst gewaltthätig, nachlässig in seinem Aeusseru und bis zum Ueber-
maass gleichgiltig. Dieser letztere Zustand kann sich bis zur vollstän-
digen Abulie und zur Nahrungsverweigerung und zu einem Mutacismus
steigern, welcher selbst Uber Jahresfrist andauert. Bemerkenswerth sind
dabei die momentanen Uebergänge in belebtere und lucidere Phasen, wo-
bei jedoch das Ungeordnete und Launenhafte der Bestrebungen, das
Wechselvolle der Entschlüsse, die Albernheit der Einfälle, das Ungleich-
artige der gemüthlichen Reactionen das dauernde Charakteristikum blei-
ben. Man möchte oft glauben, dass die ganze Persönlichkeit in der Un-
willkUrlichkeit des scheinbar Willkürlichen untergegangen sei, wenn nicht
immer auch wieder leitende Ideen eines gradweise freieren, ja selbst gesun-
den Bewusstseins hereinspielten. Die Kranken machen den Eindruck der
„Verzwicktheit" und ähneln vielfach dem Gebahren hereditär Verrückter.
Damit gehen GemeingefUhlsstörungen Hand in Hand (Hohlsein im Kopfe,
alle möglichen und unmöglichen Spinalsensationen), enormes Mattigkeits-
geftthl; zeitweise auch Sinnestäuschungen. Oft Überraschen bei gebilde-
teren Naturen noch Reste aus früherer Zeit. Ohne eigentliche Wahn-
vorstellungen ist der Kranke ganz durch capriciöse Einfälle, welche die
Kraft fixer Ideen haben, dirigirt. Die barocksten Vorstellungsblitze bre-
chen zeitweise durch. Damit geht eine sittliche Entartung Hand in Hand
(seichte Freigeisterei, Lieblosigkeit, selbst Rohheit, gegen die Eltern);
gegen die Hausordnung, sowie gegen Gute und Härte verhält sich der
Kranke ablehnend, gleichgiltig, selbst trotzig. Im Verlauf der Zeit (Jah-
resfrist) kann es nach und nach gelingen die gröbsten Auswüchse der
krankhaften Verkommenheit zu mindern, und den Kranken durch ein ra-
tionelles Traitement moral wieder zu heben — immer vorausgesetzt, dass
die Onanie unterlassen wird, oder die gehäuften Pollutionen zurückgedrängt
werden können. Die Kranken werden nach und nach wieder theilneh-
mender, geordneter, sorglicher in den Aeusserungen , natürlicher in der
Stimmung. Im ungünstigen Falle (wenn die Kranken „Sclaven ihrer
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72
Specteile Melancholie.
Hände" bleiben) folgt ein träger, reactionsloser Blödsinn mit indiffe-
rentem, scheuem Wesen, langsamen, zögernden und kraftlosen Bewegungen,
zunehmender Verwahrlosung des Aeussern neben innerer Versunkenheit.
Sie stehen Tage lang an die Wand geklebt, oder sitzen mit übereinander
geschlagenen Beinen, häutig vor sich hin lachend, bald mehr bald weni-
ger laut, oder plötzlich um sich schauend mit sichtlicher Gereiztheit, leise
oder doch nicht so laut sprechend oder schimpfend, dass man sie ver-
stehen kann. Im ganzen Gebahren sind sie langsam, zögernd, sorglos.
Redet man sie an, so bedarf es in der Regel langer Zeit und unsäglicher
Mühe, bis endlich die Antwort über die zuckenden Lippen tritt, und dann
nur stossweise mit kraftlosem Ausdruck, häufig gewechselter Satzconstruc-
tion. Es dauert oft Monate, bis sie auch nur den Umkreis ihrer täglichen
Umgebung in ihren engen Ideenkreis aufnehmen und die Personen zu er-
kennen vermögen; selbst eingelernte und früher geläufige Kenntnisse
stellen sich nur abgeblasst und defect mehr ein. Nie treten mehr Her-
zensbeziehungen zu Anverwandten in Form eines entschiedenen Verlangens
hervor; Besuche machen so wenig Eindruck als freundliche Theilnahme
oder ernste Strenge. Hin und wieder gibt der Kranke als Motiv seiner
schüchternen Zurückhaltung an: dass Alle seine Gedanken wüssten, be-
vor er diese nur selbst ordentlich sich klar gemacht hätte. Immer mehr
wird das Bewusstsein dem Spiele des kranken Ideenganges unterworfen,
die ganze Aufmerksamkeit absorbirt, der Wille bis zur Indifferenz ge-
lähmt. Gegenüber den unablässig sich abwickelnden Gedankenreihen,
wobei die harmlosesten Wahrnehmungen einen Bezug auf die eigensten
und innersten Seelenzustände des Kranken erhalten, verhält sich der
Kranke immer mehr nur noch als stummer oder auch ärgerlich gereizter
Zuschauer. Der positive Boden weicht so unter seinen Füssen; er selbst
verfällt auf die absonderlichsten Einfälle, hält sich für heilig, seine Ver-
wandten für Kaiser oder Engel; es treten bestätigende oder weitere Of-
fenbarungen bringende Sinnestäuschungen hinzu. Interessant ist die ausser-
ordentlich grosse Sensibilität der Genitalien in manchen Fällen: der Kranke
sucht sie im Bade mit den Händen zu verbergen, legt sich immer halb
auf den Bauch und geräth beim Versuch einer Exploration in psychische
Reflexkrämpfe (Niederstürzen auf den Boden, Herumwälzen, hastiges
Strampfen, Kratzen mit den Händen, in den Haaren, forcirtes Ausspucken,
wildes Blickewerfen, Schnalzen mit der Zunge, Zittern am ganzen Leibe) —
theils mit, theils ohne Blasswerden oder gleichzeitige Pulsveränderung.
Es sind die Reactionen auf „unreine Gedanken", welche in ihm aufsteigen
und von Andern hätten erfahren werden können. Ohne über sein Befin-
den je von selbst zu klagen, sinkt der Kranke in immer tiefere geistige
Schwäche, wobei aber relative Besserungen nicht ausgeschlossen sind.
Nicht selten bildet auch eine Phthisis pulmonum den Abschluss des
Leidens. (Weiteres s. u. „cerebrospinalem Wahnsinn").
d) Auf 8 p e c i f i 8 c h syphilitischer Basis bildet manchmal eine schwere
hypochondrische Melancholie (Syphilidophobie) den Abschluss eines pro-
trahirten Leidens, welches Jahre zuvor zwischen Depressions- und Exal-
tationszuständen (letztere in Form der in „Intellect und Willen" aufge-
nommenen, allmählich degenerativen Manie mit Processkrämerei, häuslicher
Rohheit, Trinkexcessen) geschwankt hatte. Dabei sind körperlich keine
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Syphilitische Melancholie. — Melancholia attonita. 73
Zeichen eines tieferen organischen Hirnleidens vorhanden, nur heftige
Coogestionen und Kopfschmerz. Die finale Melancholie selbst trägt um
so ernster modificirte Symptome: furchtbare Angst mit schrankenlosen
Illusionen im Sinne des Wahns bei sonst erhaltenem Vorstellungsinhalt
und gesunden logischen Functionen, so dass die Kranken sehr zu dissi-
muliren verstehen; sodann namentlich einen impulsiven Mord- und Selbst-
morddrang, welchem der Kranke, indem er in jedem Stippchen „Condy-
lome" diagnosticirt, Uberall Fäulniss wittert, schrfcklich stinkt u. 8. w.,
sehr häufig zum Opfer fällt.
Die Melancholia attonita.
Die Einleitung bildet eine gewöhnliche Melancholie, deren Weiter-
entwicklung und höchste Steigerung nach körperlicher und geistiger
Seite der Status attonitus darstellt. Das Bewusstsein ist im höchsten
Grade gehemmt, Uberwältigt durch das schmerzliche Fuhlen, dabei
aber die Perception keineswegs aufgehoben, sondern gegentbeils oft
in überraschendster Weise geschärft. Aber der Kranke kann seinen
Wahrnehmungen keinen Ausdruck geben ; er bleibt in seinem un-
endlichen Wehesein schmerzgebannt, unbeweglich — attonisch.
Die einleitende Melancholie kann sowohl der activen als der
passiven Form angehören ohne besondere EigenthUmlichkeit, ausser
einer zunehmenden, oft bis zu hohen Graden fortschreitenden Anämie
und Abmagerung. Psychiscberseits greift immer mehr eine Negation
gegen jede Ansprache neben einer zerknirschten, immer mehr starren
Haltung Platz.
Bald stellt sich Mutacismus ein, oder es bleibt höchstens noch
ein monotones Hinlispeln des schmerzlichen Wabnbekenntnisses, meist
in abgebrochenen mit Weinen begleiteten Worten. Die Nächte sind
schlaflos und werden bald in den unbehaglichsten Attitüden, aus
welchen das absichtliche Verharren im Schmerz oder im Busszwang
herausschaut, manchmal in halb sitzender Stellung zugebracht, das
Kinn auf die Brust gepresst, um das „unwürdige" Gesicht zu ver-
bergen. Die zunehmende Hemmung des Bewusstseins, welche dieser
Besitz- Ergreifung der willkürlichen Musculatur durch den melancho-
lischen Affectgedanken parallel geht, macht sich hin und wieder den
Kranken empfindlich, so dass sie Uber ihre fehlende Orientirung
jammern, dass sie nicht recht wissen, wo sie sind, welche Menschen
sie umgeben. Trotz der Remissionen mit zeitweiligen freien Tagen
wächst die geistige Gebundenheit und motorische Spannung immer
mehr. Die Kranken, gewöhnlich lange zuvor schon der Bettlage
übergeben, beharren jetzt fast regungslos oder zitternd und bebend
in derselben Haltung, gebückt mit angepressten flectirten Armen
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Specielle Melancholie.
und pronirten Händen, Tag und Nacht; oder sie stehen mit ein-
förmiger stupid ängstlicher Miene hin, wo der Zufall oder fremde
Hand sie hinstellt, lassen theilnahmlos Alles um sich geschehen,
werfen höchstens einen ängstlichen Blick auf die Umgebung oder
zupfen an sich herum.
Aus dieser Stille und dem passiven Widerstreben mit gewalt-
samer Spannung der Musculatur heraus geht der Kranke nicht selten
zu wechselnden Graden schmerzlicher Aufregung und Ausbrüchen
des Jammerns und Verzweifeins Uber, und macht vom Seufzen, Stöhnen,
dumpfen Schmerzlauten, unverständlichem Jammern, unruhigem Hin-
und Hertrippeln bis hinauf zum angstvollen Brtillen, blinden ver-
zweifelten Toben, fassungslosen Gebahreu und zerstörungssüchtigen
Wüthen (Raptus gegen sich und Andere) alle Stufen durch. Gegen
die Nahrung tritt bald ein Widerstand auf, welcher die Sonden-
fütterung nicht umgehen lässt. Urin und Stuhl wird bis aufs Aeusserste
zurückgehalten. Manchmal macht sich die „conträre Negation" gel-
tend, indem der Kranke erst das Angebotene abweist, es aber beim
Versuch des Wegnehmens zu ergreifen sucht. Die Bewegungen der
Hände sind unsicher, schlecht bemessen, oft geradezu täppisch, durch
die motorische Spannung und psychische Hemmung unzureichend.
Die Affectstarre im Muskelgebiet ist namentlich in den Flexoren der
Arme und Beine und in der Gesichtsmusculatur, in welcher die Mimik
der Schuldhaftigkeit und Verzweiflung plastisch geworden, oft bis zu
hölzerner Härte und Unregsamkeit entwickelt, und nur sehr schwierig
und unter schmerzlichem Widerstande des Kranken vorübergehend
zu überwinden. Einem besonders heftigen Widerstand begegnet der
Versuch den gebeugten Kopf des Kranken aufzurichten. Die Sensi-
bilität bleibt dabei erhalten und gibt sich bei Prüfungen durch die
sich runzelnde Stirne, durch Zwinkern der Lider oder anrückende
Thränen kund. Spricht man theilnehmend oder aufmunternd zum
Kranken, so wird nicht, oder auch in schmerzlichen Thränen er-
wiedert. Manchmal jammert der Kranke schluchzend Uber die
„schlechten Gedanken", Uber seine Schuld und drohende Strafe.
Der Puls ist auf der Krankheitshöhe klein, härtlich (Arterie contra-
hirt), die Temperatur subnormal. Die Körperernährung sinkt, und zwar
trotz regelmässig eingeflösster Nahrung. Die Haut wird trocken, schilfert
sich ab; bei Frauen cessiren die Menses.
Nach in der Regel mehrwöchentlicher und selbst mehrmonat-
licher Dauer (ungünstige Fälle können selbst Uber ein Jahr sich hin-
ziehen) wird der Kranke etwas zugängiger. Die Starre nimmt ab.
In der Nacht wird der Kopf wieder auf das Kissen gelegt. Ab und
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Melancholia attonita.
75
za gelingt auch die Zuführung von etwas Nahrung. Der Kranke
sitzt allmählich wieder aufrecht, hält auch die Augen wieder offen.
Der schmerzlich verzogene Gesichteausdruck wird natürlicher. Körper-
gewicht und Aussehen nehmen zu, die Temperatur wird nach und
nach normal, der Puls voller. Bald werden schüchterne Anfänge
der Conversation gemacht. Aber es bleibt noch längere Zeit das
6cheue gedrückte Wesen, und namentlich die motorische Unbehilf-
lichkeit. Erst nach und nach löst sich der letzte Rest der Spannung
zur freien Beweglichkeit, der „Nacken" erhält wieder seine Function
als „Kopfträger". So geht der Zustand — bei Frauen manchmal
unter Wiedereintritt der Menses — in die Genesung Uber, ohne ein
anderes Zwischenstadium als das eines anfänglich etwas gehobenem
Wohlbefindens mit schwungvollerem Frohgefühl.
An die Attonitätsphase besteht vollständige Erinnerung: es ist
oft erstaunlich, in welch qualvollen Aengsten und gleichgestimmten
Hallucinationen sich während derselben die Kranken befunden, und
wie sie trotzdem daneben oft das kleinste Detail aus der Umgebung
wahrnehmen, theils richtig, theils wahnbaft umdeutet. Das über-
standene Weh der Gebundenheit wird als ein, namentlich durch die
gefühlten Muskelfesseln, grenzenlos gewesenes geschildert.
Bei nicht günstigem Verlaufe zieht sich der Status attonitus Uber
viele Monate und selbst Jahre hinaus (wobei übrigens zu bemerken ist,
dass selbst nach der Dauer von Uber Jahresfrist Genesung von uns be-
obachtet wurde); die tetanieförmige Spannung geht immer mehr in mo-
torische Schlaffheit über. Die Miene wird hängend und verliert mit der
weichenden Starre auch das geistige Gepräge. Der auf der Krankheite-
liöhe gespannt gewesene Puls wird monocrot, an den Extremitäten bildet
sich Cyanose aus. Es kann nun entweder in diesem Blödsinnszustand
das Leben erhalten bleiben und bei reichlicherer Nahrungsaufnahme auch
die Körperernährung sich heben. Oder aber es neigt sich der Zustand
zum Exitus letalis durch Marasmus oder durcli intercurrente Brustpro-
cesse, worunter Pneumonieen, acutes Lungenödem, ganz besonders auch
Hönde Phthise in erster Linie stehen. Des gelegentlichen Selbstmords
uoter den möglichen Ausgängen der Melancholia attonita ist bereits ge-
dacht worden.
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Die Manie. Allgemeines.
Die Manie. Allgemeines.
Literatur. Jacobi, die Hauptformen der Seelenstörungen. — Meynert,
österr. Gesellschft. für pract Heilkunde, 1671, und Anzeiger d. Gesellsch. der Aerzte
in Wien 1875. — Mendel, dieManie, Monogr. 1881 (mit Literatur). — Tiling,
Petersb. med. Wochenschr. 1681.
Mania gravis: Loewenhardt, Allg. Zeitschr. f. Psych. 25. — Zenker,
ibid. 33. — Stoelzel, Irrenfreund 77. — Lagardelle, J. de m6d. de Bord. 1680.
Mania recurrens: Witkowski, Berl. klin. Wochenschr. 1881.
Allgemein bezeichnet „Manie" eine Gesammterkrankung des
Seelenlebens nach motorischer Richtung, bestehend in einer krank-
haften Beschleunigung des Ablaufs der Vorstellungen, einer beschleu-
nigten Umsetzung der Bewegungs- Anschauungen in Handlungen, und
einer krankhaft gehobenen, oder aber gereizten, in ihrer Erregbar-
keitsschwellc abnorm wandelbaren GemUthsverstimmung. Aeusser-
lich ist der Zustand gekennzeichnet durch alle Grade der Unruhe
und vermehrten Geschäftigkeit bis hinauf zur höchsten motorischen
Entfesselung, vermehrtes und sich Überstürzendes Sprechen, rasch
wechselnde Mimik, unmotivirte Geberden und triebartige Actionen
— mit erhaltener logischer Association und psychischem Form-
charakter bis herab zur ungehemmten Ideenflucht und grob moto-
rischen Luxusleistungen. Innerlich als eine geistige Aufregung
verschiedener Grade, als eine gleichmässige Steigerung aller psy-
chischen Processe mit erleichterter Gedankenfolge, raschem Ent-
schliessen, schrankenlosem Selbstgefühle; auf höhern Entwicklungs-
stufen als Verwirrung aller Grade, abrupter widerspruchsvoller
Wechsel der Gemüthslage, ziellose Ueberstürztheit des Begehrens,
welches kein eigentliches „Wollen" mehr ausreifen lässt. Dabei
zeigt die Stimmung entweder eine wirkliche Heiterkeit mit flüchtiger
Wandelbarkeit in alle Nuancirungen und Gegensätze ; oder aber einen
gereizt zornigen Charakter; oder endlich eine vage Charakterlosig-
keit, welche von faselnder Beglücktheit bis zum Indiffereuzpunkte
in unvermittelten und flüchtigen Uebergängen hin und her schwankt.
Das Bewusstsein bleibt in den niedern Graden erhalten, wird aber
mit zuuehmender Raschheit der psychischen Processe unklar, von
wechselnder Helligkeit, ohne jedoch im Ganzen auf die Traumstufe
zu sinken: es wird hier Minutenbewusstsein ohne Continuität. Ge-
dächtniss und Wahrnehmungsfähigkeit sind verschärft, so lange nicht
die Raschheit des psychischen Ablaufs beide Functionen beeinträch-
tigt, resp. die krankhaft gesteigerten Innenvorgänge die Aufmerksam-
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Klinische Definition der „Manie". Anomalieen der Bewegungssphare. 77
keit und die Perception überhaupt unmöglich machen. In letzterem
Falle können in gleichem Schritte mit der Ausschaltung der hem-
menden Hemisphärenthätigkeit auch Sinnestäuschungen (Hallucina-
tionen und Illusionen) auftreten, aber stets nur als Begleitsymptome,
nicht als wesentliche stimmunggebende Elemente (Unterschied vom
acuten Wahnsinn). Die Manie ist eine acut, subacut, chronisch und
periodisch (resp. circulär) auftretende Erkrankung. Der typische
Verlauf ist anhaltend oder remittirend. Begleitet ist derselbe durch
vasomotorische und trophische Symptome. Der Ausgang der acuten
und subacuten Formen geschieht in Heilung oder in psychische
Schwäche, unter Umständen auch in den Tod durch Erschöpfung;
bei chronischen in Genesung (seltener), oder in relative Erholung
{Heilung mit Defect).
Analyse der Symptome.
Anomalieen in der Bewegung ssphure — Hauptsymptom. Alle
Kranken zeigen ein gesteigertes motorisches Sich -Entäussern: Be-
wegungs - Intentionen und ausgeführte Bewegungen (in Geberden,
Mimik und musculären Leistungen) sind krankhaft vermehrt.
Betrifft die Steigerung nur die Intentionen, oder, richtiger, die
geistigen Innervationsgefühle (I), so tritt Dies hervor in Plänesucht,
in einem Drange nach Ortswechsel, nach Aenderung der Beschäfti-
gung, nach Erweiterung des Besitzes (Kauflust). Die Kranken sind
in steter Unruhe, sie beginnen und vollenden nicht, sie gehen von
Einem zum Andern Uber, sie können Alles und wollen Alles und
finden nirgends Befriedigung. Die affective Rückwirkung führt zu
einem erhöhten Wohlgefühl mit Schaffensdrang, welcher seinerseits
wieder neue geistige Innervationsgefühle, neu vermehrtes Streben
erzeugt. Parallel geht in der Vorstellungssphäre eine gleiche Er-
leichterung des Vorstellungslaufs, eine Promptheit und Raschheit —
zugleich aber auch Unfertigkeit — des Urtheils. Erhält sich der
krankhafte Gehirnreiz auf dieser Stufe, so tritt der Kranke noch nicht
sofort aus der Norm seines individuellen Könnens heraus; er ist nur in
seinem Leistungsgefühle um mehrere Register höher eingestellt, und
bethätigt sein neues Können durch ungewohnte Steigerung seiner
Energie, zugleich aber auch seine krankhafte Propulsion durch plan-
lose Rastlosigkeit. In dem Genuss — wenn er überhaupt dazu kommt
— verschmachtet er bereits wieder vor Begierde. Bei Frauen kleidet
sich der manische Drang auf dieser Stufe sehr häufig in ein erotisch
kokettirendes Benehmen mit gesuchter jugendlicher Grazie und Putz-
sucht, oft auch in eine ästhetische Vielgeschäftigkeit mit Erfind ungs-
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Die Manie. Allgemeines.
reichthum, namentlich im Zeichnen, Malen, Herrichtung von Blumen
und Nippsachen; bei Männern im Aussinnen und Zurichten von Ver-
gnügungen, allerlei Scherzen und Picknicks mit selbst gemachten
Dichtungen, Verschönerungsplänen u. s. w., wobei jeder neue Tag
die Schöpfungen von zuvor wieder Uberbietet und umändert. Im
Beginn der Krankheit tritt namentlich ein Jagen nach aufregenden
Belustigungen, ein Hang nach Excessen, besonders in Baccho et
Venere, hervor.
Erweist sich in dem beschriebenen Modus der psychisch-moto-
rische Erregungszustand als eine gesteigerte Innervation der Gesammt-
persönlichkeit — gleichsam als die in Intelligenz und Willen aufge-
nommene, aber im Rahmen der socialen Bildungsformen sich erhaltende
Manie — so gestalten sich in andern Fällen (II) die musculomoto-
rischen Bewegungs-Anomalieen zu dem vorherrschenden Element im
manischen Krankheitsbilde. Dieselben behalten auch jetzt noch die
psychische Formung bei, werden aber Uberreich, luxuriirend; sie
erscheinen gleichsam als Selbstzweck. Einzeln betrachtet bewahren
sie dabei immer noch das Gepräge als „gewollte Acte", aber in
ihrer pauselosen Inscenirung, in ihrer ungehemmten ziel- und plan-
losen Reihenfolge erweisen sie sich als nicht intendirt, vielmehr
als directe Reizeffecte aus den psychomotorischen Hirnpartieen.
Der Kranke singt, jauchzt, pfeift, recitirt; er hUpft, springt, steht
auf und legt sich nieder, nimmt alle Attitüden an, macht mögliche
und unmögliche gymnastische Productionen. Die Sicherheit der
Ausfuhrung ist unübertrefflich. Die Mannigfaltigkeit der mimischen
Leistungen ist unerschöpflich, das ganze Gebühren aber zwecklos,
jede Secunde sich ändernd, als ob die Claviatar der eingelernten
und ausführbaren psychomotorischen Combinationen in directem An-
schlag auf und ab durchlaufen würde.
Dieses Schema kann noch auf eine (psychisch) tiefere Stufe herab-
treten, und die Aeusserungen des Kranken zu einem blossen Bewegungs-
spiel ganz abrupter fragmentarer Einzelacte gestalten. Waren es bis
dahin noch motorisch sinnvolle Geberden, welche sich ablösten, so sind
es jetzt einfach nur combinirte Muskelleistungen ohne physiognomiseben
Charakter: Schütteln des Rumpfes und der Glieder, Klatschen mit den
Händen, Schnalzen, Hin- und Herbeugen des Kopfes, Zusammenkauern
abwechselnd mit Aufschnelten des Körpers — ein kaleidoskopisches Spiel
von motorischen Leistungen, oft automatisch stundenlang wiederholt, ohne
seelisches resp. mimisches Gepräge, aber immer noch, einzeln betrachtet,
mit der Formung von combiuirt resp. assoeiirt arbeitenden Muskelgruppen.
Aus diesem Uberreichen Register von psychisch höher oder
tiefer gewertheten Bewegungscombinationen greift die Manie ihre —
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Die manischen Bewegungsanomal ieen nach ihren versch. klin. Formen. 79
anf den ersten Blick — auffälligste Signatar: jene in buntestem
Wechsel sich abspielende Scala von Acten, welche formell mehr oder
minder als „gewollte" Handlungen imponiren, und doch in der motiv-
losen Reihenfolge und der Zwecklosigkeit im Ganzen ihre „spon-
tane" Entstehung kundgeben. Damit ist das Wesen dieser (II.)
manischen Acte bezeichnet: sie erscheinen als freie, sind aber nicht-
intendirte, aufgedrungene. Diesen Charakter bewahren sie auch,
wenn sie in den Dienst eines Aflfects (z. B. eines zornigen) treten,
in der Maasslosigkeit der Ausführung, in der überstürzten Aufeinander-
folge, in der unbemessenen oft sich widersprechenden Combination,
welche nicht selten das Ziel vereitelt.
Ausgeprägter noch tritt der reflectorische Formcharakter in den
Bewegungen einer weiteren (III.) Gruppe von manischen Zuständen
entgegen. Handelte es sich bisher um eine einfach beschleunigte
Entbindung eingelernter Acte, so sind es nunmehr förmliche Be-
wegungsexcesse , „psychomotorische Convulsionen". Dieselben ent-
änssern sich meistens als blinde Zerstörungswuth , welche lawinen-
artig anschwillt und sich austobt — austoben muss — wie die
Muskelzuckungen bei Strychninisirung des Rückenmarks. Von einem
„Ziel" ist höchstens eine dunkle Ahnung vorhanden, und nicht vor-
bewusst, sondern als subjective Begleiterscheinung, als Perceptions-
geftihl aus den unendlich zahlreichen „Drängen" und Spannungen
in dem gereizten Motorium commune. Der „Zorn", welcher in diesen
stürmischen Entäusserungen zu Tage tritt, ist nicht ein primär ge-
wollter, sondern musculär gemachter. Beide, die Convulsion und
deren emotive Erfassung, sind die Wirkung eines organischen Hirn-
reizes. Darum finden sie auch kein Ende, weder durch direct psy-
chische, noch durch äussere mechanische Hemmung. Erst die all-
mähliche Begleichung des cerebralen Reizes bringt Nachlass des
psychomotorischen Krampfes, welcher wie die spinalen Convul-
sionen nur anfallsweise auftritt, freilich oft von tage- und selbst
wochenlanger Dauer (Furor, Mania gravis).
Endlich können in einer (IV.) Gruppe von Manieen die moto-
rischen Aeusserungen auch noch das Merkmal der psychischen (Ko-
ordination und Combination einbüssen: die Bewegungen werden zu
Cinzelacten, welche nicht bloss ziellos, sondern (als Bewegungs-
Ganzes betrachtet) unvollständig oder defect sind. Die motorischen
Actionen auf dieser Stufe bestehen nur noch in unbemessenen, stossen-
den Bewegungen der Extremitäten; die mimischen des Gesichts in
grimassirenden Zuckungen. Diese Form gehört den schwersten
Manieen an. Gemeiniglich fügen sich gleichzeitig oder in der Folge
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Die Manie. Allgemeines.
auch isolirte flüchtige tonische Spannungen und klonische Zuckungen,
später einzelne Insufficienzen und Paresen hinzu. Wir stehen mit
dieser motorischen Symptomenvariante bereits an der Grenze oder
im Gebiet grober, acut entzündlicher, Hirnaffectionen.
Anomaliecn in der Gemüthssphäre. Die Stimmung ist entweder
heiter, dabei empfindlich und wandelbar; oder aber gereizt zorn-
mUthig und dabei constanter. Die beiden Normen vertheilen sich:
jene auf die Gruppe der reinen (typischen) Manieen, diese auf
die (melancholischen oder wahnsinnigen) Furorzustände. Die Heiter-
keit der typischen Form fliesst aus dem primären Wohlgefühl ge-
steigerten Könnens und dem secundären eines erleichterten Ab-
laufs der psychischen Vorgänge. Damit geht Hand in Hand eine
ebenso grosse krankhafte Empfindlichkeit; jede leiseste Schranke,
jeder Widerspruch wird peinlich empfunden, ein absagendes Wort
führt zum Trotz oder zur kopflosen, mitunter auch feindseligen Ent-
gegnung. Die altruistischen Gefühle sind in der Regel gesteigert,
durch überschwengliche Beglückungsphantasieen erhitzt. Nie bleibt
die Stimmung eine dauernde: in die heiteren Regungen mischen sich
unmotivirt traurige, in die Freudeäusserungeu plötzliche Thränen-
ergüsse; ebenso lösen sich Sympathieen und Antipathieen ab; neben
der Kundgebung edlerer Gefühle gehen auch niedrige und kleinliche
einher, decentes und sogar prüdes Benehmen wechselt im nächsten
Augenblick mit frivolen Spässen. „In dem Register der Tobsucht
fehlt keine Taste." Immer ungeordneter wird in der Folge das
wirre Spiel, immer unberechenbarer die Aufeinanderfolge, immer
jäher die Uebergänge. Auf die tollste Lustigkeit folgt schmerzliches
Weinen; Freudenschreie, unbändiges Lachen und Heulen wirbeln
durcheinander; schmeichelndes Andrängen wechselt mit brutalem
Dreinschlagen , alle Affecte spielen ineinander oft nur in Minuten-
dauer; kaum begonnen, schlagen sie in das Gegentheil um. Nichts
ist hier beständig als der Wechsel.
Die Stimmung in den Furorzuständen ist hiervon eine ganz ver-
schiedene. Entweder andauernd zornig gereizt, oder mehr wechselnd
in Gegensätzen sich bewegend, ist sie theils die Wirkung eines
tiefen verhaltenen Affectkernes (eines schmerzlichen Motivs), theils
die directe Folge wechselnder Bewusstseinslagen mit bald freund-
lichem, bald feindlichem, gemüthlich anziehendem und abstossendem
Inhalt. Ist sonach die Stimmung der vorigen (typisch-manischen)
Form wesentlich eine direct psychische, ein Parergon der veränderten,
d. h. erleichterten geistigen Bewegung, so ist die der zweiten Form
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Aoomalieen der Gemüthssphare, Stimmung. Das manische „Lustgefühl". Sl
eine reactive, auf einem psychischen Umweg gewonnene. Dabei
können übrigens beide Normen zeitweise ineinander Ubergehen und
in demselben Krankheitsfall miteinander wechseln.
Bei manischen „Hyperästhesieen des Sexualsinnes" entsteht eine
cynische Stimmungslage mit verhülltem oder schamlosen Indecenzen
des Benehmens. Die Kranken entblössen sich, drängen sich sinnlich
an Andere an, machen selbst brutale lüsterne Angriffe; weibliche
Kranke nesteln auffallenderweise gerne Tage lang in den Haaren,
speicheln übermässig, salben sich mit allem Unrath ein.
In den schwereren Hirnreizzuständen der Mania gravis kann
die Stimmung eine anhaltend gereizte, feindselige sein, wie im Furor,
oft aber auch schwankt sie zwischen den Gefühlen von „Beein-
trächtigung", von Indolenz und dann wieder von „Himmelswonne"
flüchtig hin und her. Manchmal gehen die genannten Nuancen
phasenweise ineinander Uber, oft laufen sie nebeneinander her, und
fuhren den haltlosen Kranken durch die unvermittelten Gegensätze
von verzehrendem Weinen, schwelgender Heiterkeit, stumpfer Apathie.
Dabei muss hervorgehoben werden, dass auf dieser Stufe tiefen Hirn-
reizes der krankhafte Bewegungsdrang sich oft auch unabhängig von
der Stimmungslage erhalten kann. Beide Vorgänge spielen sich, ohne sich
zu berühren, neben einander ab : derartige Kranke zerzupfen, zerreissen,
beschädigen triebartig, sind dabei gemüthlich harmlos, und — wissen nicht,
warum.
Wie ist es mit dem Lustgefüh 1 des Manischen beschaffen? Ohne
Zweifel bezeugen die bramarbassirenden Aeusserungen , die Prahlereien
des Kranken eine gewisse Stimmungsgehobenheit, wie diese aus dem Weg-
fall aller Hemmungen ja nur begreiflich ist. Eine andere Frage ist, ob
dieses WohlgefUhl als eine wirkliche Freude, als positives Kehrbild
des melancholischen Schmerzes aufzufassen ist? Dem scheint nicht so zu
sein. Schon der rasche Ablauf der psychischen Processe, die vielfachen
unwillkürlichen Durchkreuzungen durch unangenehme innere und äussere
Eindrücke hindern eine klarbewusste und irgendwie dauernde Perception.
Wie furchtbar real, nach rück- und vorwärts im Blickfeld des Bewusst-
seins verlängert, erscheint dagegen der Schmerz in der Melancholie! In
der Manie ist die Lust keine wesentliche, keine primär vorhandene und
als Grundakkord bleibende, sie ist vielmehr eine immer neuerzeugte, das
Parergon der beschleunigten geistigen Mechanik, wie wir es oben nannten,
vielleicht auf Augenblicke positiv, stets aber nur vage, unbestimmt,
flüchtig. Darum tritt auch, sobald nur vorübergehend die erleichterten
Wollungen und die promptere Ideeubereitschaft nachlässt, sofort ein Ge-
fühl der Müdigkeit und Gedrücktheit ein — ein Beweis, dass jene exal-
tirten Stimmungslagen nicht für sich begrüudet, sondern nur Lichteffecte
der gereizten Vorderhirnfunctionen waren, ohne selbständige Motiviruug.
Sehr häufig drängt sich sogar in diese Ruhepausen ein depressiver Affect-
kern ein, dessen Spannungen nur deshalb während der Erregungsphasen
Sckttlo, GeistccknakbeUeu. 3. Aufl. G
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Die Manie. Allgemeines.
unbeachtet resp. ungeftthlt blieben, weil sich in den ungehemmten Bewe-
gungen immer wieder die ausgleichenden Reflexe fanden. Mit Recht spricht
man deshalb von einer „manischen Verstimmung" als der Stimmungs-
grundlage rüstiger und frischer Manieen. Bei chronischen und durch
Tiefergreifen des Hirureizes schwereren Stadien kommen mit der grösseren
Trübung des Bewusstseins diese in der Tiefe fortschwingenden, gemtltu-
lichen Spannungen nicht mehr zur Perception; in gleichem Schritte macht
sich jetzt auch ein wirkliches, aber zugleich auch krankhaft er-
höhtes Lustgefühl geltend, welches sich nunmehr aus den motorischen
Effectgefühlen — ohne Gegensatz — aufbaut und in gleichgestimmten
Vorstellungsallegorieen von Macht, Reichthum, einer höheren Persönlich-
keit u. s. w. sich vorübergehend fixirt.
In gewissen Fällen und Verlaufsstadien der Manie kommen end-
lich Störungen in den ethischen Gefühlen vor, theils dauernd und
für die betr. Krankheitsphasen (circuläre Manie) charakteristisch,
theils nur vorübergehend (Moria).
Diese Züge von manischer Moral insanity zeigen sich bald mehr harm-
los als Drang zu Schabernack, zum Necken und Spötteln, bald aber unter
der Maske routinirter Bosheit und Schadenfreude, als intrigante Beun-
ruhigung der Umgebung, bald endlich in einem eckcln Cynismus, nicht
selten noch verziert durch Unwahrheit und disputirende Rechtfertigungs-
sucht. Der psychologische Mechanismus liegt hier (zum Unterschiede von
der angeborenen Moral insanity) nicht in einem Defect der altruistischen
Gefühle, sondern 1 ) in dem krankhaft gesteigerten manischen Triebleben
(speciell der sexuellen Hyperästhesie); 2) in der verminderten resp. auf-
gehobenen geistigen Hemmuugsfähigkeit neben gesteigerter Erregbarkeit ;
und 3) in der (gleichfalls unbewusst sich einstellenden) untreuen Rcpro-
duetion, wodurch wiederauftauchende Vorstellungen nur modificirt sich
präsentiren, so dass die Kranken optima fide lügen müssen.
Störungen in der Vorslellungsthatigkeit.
Auch diese ist in den allgemeinen geistigen Erregungszustand
einbezogen. Reicher andrängende Vorstellungen mit entsprechend
prompter Umsetzung in Worte (profuse Geschwätzigkeit) geben sogar
das häufigste erste Anzeichen vieler manischen Zustände ab. Der
Kranke verfügt Uber eine ihm bis dahin ungewohnte Reproduction.
Alles, was er je erfahren und gelernt, steht parat vor seiner Erinne-
rung und zu prompter Diction; fremde Sprachen, welche er in ge-
sundem Zustande nur zögernd, weil mit Aufmerksamkeit und Vor-
sicht, zu üben vermochte, gehen jetzt anstandslos fliessend von Statten.
Mit jedem Wort, mit jeder Wahrnehmung treten alle nur möglichen
Bedeutungen und Nebenassociationcn ein: so wird der Kranke un-
geahnt schlagfertig in seinen Redeweisen, witzig durch die gestei-
gerte Reproduction, ein geistreicher unermüdlicher Unterhalter. An-
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Anomalieen der Voretellungssphäre. „Ideenflucht".
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fangs vermag das Ich den Andrang der Vorstellungen und deren
sprachlichen Umsatz noch leidlich zusammenzuhalten, obzwar auch
bald schon da und dort eine Bemerkung dem Kranken entschlüpft,
welche Takt und Klugheit zu unterdrücken geboten hätten. Mit
dem Sprechen gehen meist auch schriftliche Ergüsse Hand in Hand,
deren Länge unter der mangelnden Fähigkeit „sich kurz zu fassen"
riesengross anwächst. Die Schriftzeichen erhalten ungewohnten
Schwung und Grösse, das Papier wird nach allen Seiten über-
schrieben, weil immer wieder mehr „einfällt"; dabei nicht selten
beschmutzt, aber ohne dass es der Kranke in seiner Hast bemerkt.
Bei einer andern Gruppe von Kranken, oder auch auf einer
fortgeschritteneren Stufe wird der Vorstellungsdrang mächtiger und
der Ablauf rascher, so dass die einfallenden Gedanken in pauseloser
Reihenfolge zur Entäusserung kommen. Der Kranke spricht unauf-
haltsam, er perorirt in einer wahren „Zungentollheit"; dazwischen
singt er, jauchzt, stösst Schreie oder schallende Gelächter aus; end-
lich reinen sich nur noch Worte an Worte an (Vociferirung).
Analysirt man den Inhalt und Gang dieses „verbalen Deliriums", so
ergibt sich für die manischen Anfangsstadien, dass dasselbe keineswegs
ein verwirrtes ist, sondern gegentheils eine innere Gesetzmässigkeit im
Inhalt und auch der Reihenfolge der Vorstellungen bewahrt. Man ent-
deckt nicht selten eine hindurchziehende Färbung des Inhalts (nach ero-
tischer, zornig gereizter Richtung), wobei bestimmte Reproductionen
and (in unangenehmen Erlebnissen oder falschen Perceptionen beruhende)
VorBtellungsgruppen immer wiederkehren. Manchmal spielen auch gleich-
gefärbte Hallucinationen herein , wiewohl seltener als Uchte , denn als
Pseudohallucinationen , veranlasst durch besonders lebhaft aufsteigende
Worte und Gedanken-Reihen. Zahlreich sind namentlich auch die Illu-
sionen, welche sich oft auf alle Sinne beziehen.
Die formelle Gesetzmässigkeit in der „Ideenflucht", wie diese
manische Logorrhoe auch genannt zu werden pflegt, besteht in der
Aneinanderreihung der Vorstellungen — nicht durch eine primäre
heitere Verstimmung — sondern nach den logischen Associationen
der einfallenden Gedanken oder Worte. Mit einer geweckten Vor-
stellung kommen in der hemmungslos gewordenen geistigen Gedächt-
nisstafel auch deren Verbindungen in's Steigen, und so wird — bild-
lich gesprochen — die Ideenflucht durch diese gegliederten Rinn-
sale gelenkt. Fällt ein neues Wort, eine neue Vorstellung ein, so
wird sofort auch diese Bahn beschritten, aber immer mit noch an-
fänglicher Bewahrung eines mehr minder ausgesprochenen logischen
Zusammenhanges, wobei allerdings sehr häufig Zwischenglieder aus-
gelassen werden. Manchmal geht neben dem bunten Gewirr der
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Die Manie. Allgemeines.
Gedanken, welche sich selbst Uberlassen, von Augenblick zu Augen-
blick sich überstürzen, eine auffallend klare, ungetrübte Anschauung
der Umgebung einher, wenn die Vorstellungen auf irgend einen
Gegenstand gefesselt werden.
Sehr viel macht für die Gestaltung der Associationen die Bil-
dungsstufe des Kranken, seine gerade gegenwärtige Stimmung, und
besonders auch der jeweilige Ermüdungszustand des gereizten Vor-
stellungs-Organs aus. Dadurch eben gestaltet sich der Associations-
Modus, wie er sich in der Aufrufung neuer Worte und Reproduc-
tionen von einem gegebenen aus ausprägt, stets zu einem eminent
individuellen Vorgang, welcher je nach den nervösen Disposi-
tionen des Kranken wechselt, oft einen directen Weg beschreitet,
andere Male aber auch Rösselsprünge macht. Bei massiger Ideen-
flucht drängen sich nicht selten schlagende Witze, scharfe Urtheile
in die Unterhaltung ein; aber die ruhige Entwicklung der Gedanken
fehlt, es erfolgt ein plötzliches Ueberspringen, wobei dann der Zu-
hörer das Fehlende ergänzen muss. Oft genug bricht der Faden ab ;
aber ebenso oft nimmt der Kranke denselben plötzlich wieder auf,
und verfolgt ihn jetzt scharf und bestimmt.
Als sicher gilt, dass die Associationen um so logischer sind, je
rüstiger das Gehirn zu arbeiten vermag.
Mit dem Zurücktreten der logischen resp. iunern Verbindungen
und Zusammenhänge findet die Aneinanderreihung der manischen
Vorstellungen mehr, und endlich ausschliesslich, nur nach dem
äussern Verbände statt, d. h. nach der lautlichen Verwandtschaft,
der Assonanz. Bis zu einem gewissen Grade kann die Bevor-
zugung eines Lautklanges in den gewählten Worten auch schon neben
dem logischen Ideenflusse statthaben; so entstehen die „Gedichte"
vieler Maniaci, welche mit wenig Witz und viel Behagen blosse Reim-
hetzen darstellen. Auf dieser Associationsstufe ist der Lautscball
Alles, der innere Sinn wird untergeordnet, die Worte werden an-
einander geschweisst, je nachdem sie klingen: Hand, Wand, Schand,
Rand u. s. w. Manchmal greift übrigens auch der Zwang sprach-
licher Antithesen ein („goldenes Crucifix" — „silberner Sautrog",
„Judengurgel" — „Ochsenmagen"). Gehen endlich die möglichen
Worte aus, so treten assonirende Silben ein, und endlich als letzte
und unterste Stufe unarticulirte Laute (Zischlaute, Brummtöne, Thier-
schreie).
Bedenkt man, dass diese eben geschilderten Modificationen, nament-
lich der Form des manischen Deliriums, sich sehr häufig stufenweise
ablösen, indem sie gleichen Schritt halten mit der Schwere der Manie
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Stufenleiter der „Ideenflucht". Manische Verworrenheit. Grössenwahn. 85
resp. mit dem Tiefergreifen der geistigen Cerebralaffection , so erhellt
daraus weiter die hohe symptomatologische und diagnostische Bedeutung
dieser Metamorphose des „Worts".
Eine weitere Modification der ursprünglich logisch associirten
Ideenflucht kommt in gewissen chronisch gewordenen Manieen vor.
Hier können oft die ursprünglichen „Vorstellungskerae" der Anfangs-
stadien erhalten bleiben, zugleich mit Gereiztheit und Zornmüthigkeit
und den illusorischen Verkennungen; der Kranke bewegt sich Monate
hindurch in demselben scheltenden und feindseligen Verkehr mit der
Umgebung, oder führt seine täglichen lärmenden Selbstgespräche;
aber aus der profusen Eloquenz ist jeder logische Faden verschwun-
den. Es vermischen sich Reminiscenzen, Illusionen, halbfertige Wahr-
nehmungen, Reactionen gegen Sinnestäuschungen bunt durcheinander,
und bringen eine wirkliche Verworrenheit zu Stande. In der
Reeonvalescenz entwirrt sich dann der Knäuel, wie er sich einst
geschürzt hatte: erst hellen sich einige Bewusstseinskreise auf, dann
treten die Affectkerne (tageweise noch mit heftiger tobsüchtiger Ent-
äusserung) hervor, aber jetzt klarer; nach und nach corrigiren sich
die Sinnestäuschungen, falschen Wahrnehmungen — und endlich re-
construirt sich das alte Ich.
Nicht selten arbeiten sich die gehobenen Selbstempfindungen
des Kranken zu entsprechenden Vorstellungen der „Grösse" empor;
der Kranke ruft sich als einen „König", als „Bismarck", „Moltke" etc.
aus; oder er drapirt sich zu einem berühmten Sänger und Schau-
spieler, führt Rollen auf, singt Opern- Arien etc. In der nächsten
Stunde ist er wieder ein Anderer; ja, er pcrsiflirt sich und seinen
eben producirten Grössenwahn in einem schallenden Gelächter, oder
er vergisst seine Standeserhöhung in einem improvisirten Purzelbaum
oder in einem dargereichten Glase Wein. Alle diese Minutenconcep-
tionen steigen auf und zerplatzen wie schillernde Seifenblasen; auch
für sie ist „Nichts beständig als der Wechsel".
Darin liegt der wesentliche Unterschied des manischen Grössenwahns
gegenüber dem in den Aufregungsstadien der Paralyse oder des exal-
tirten Wahnsinns. Der Kranke hält nicht fest an diesen Einfallslaunen;
er gibt sie preis, wenn er sie auch scheinbar vertheidigt; ja, er fühlt
selbst, dass er damit nur spasst. Nicht selten genügt ein autoritäres
Wort des Arztes oder das kurze Selbstbesinnen des Kranken, um jene
zu zerstieben. Nie bildet sich ein wirklich neues Grössen- Ich; wie die
Bewegungsacte, wie die wechselnden Stimmungen, bilden auch diese Grös-
senideen nur oberflächliche, flüchtige Vorstellungsspiele, welche mit jeder
neuen Stimmungalage wieder zusammenfallen und untergehen. In Moria-
Zustanden haften sie oft etwas länger, sind aber auch hier im Grunde
nicht ernst gemeint.
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Die Manie. Allgemeines.
Anomalieen der sensorischen, sensibeln, motorischen und trophiscken
Functionen.
Die Sinnesempfindungen im Allgemeinen sind im Zustande der Hy-
perästhesie: alle Eindrücke werden intensiver, selbst peinlich, aufgenom-
men. Geräusche, einfallendes Licht, vermehren die Unruhe; der Schmerz
eines Furunkels kann in der Reconvalescenz wieder verstärkten Rückfall
bringen. Die speeifischen Empfindungen, namentlich aus der Genital-
sphäre, wirken mit gebieterischer Stärke. Wenn freilich mit der Fülle
der andrängenden Vorstellungen und besonders mit der Zunahme der Be-
wußtseinsstörung (Mania gravis) keine Perception mehr stattfindet, dann
kann der Kranke auch anästhetisch gegen Sinneseindrücke werden, nicht
minder gegen Hautwunden und Verletzungen, gegen eckelhafte Geschmäcke
und Gerüche. Der Drang vieler Kranker sich der Kleider zu entledigen
mag auf einem erhöhten innern Wärmegefühl beruhen.
Des im Ganzen nicht so sehr häufigen Auftretens ächter Hailucina-
tionen bei der reinen Manie wurde oben gedacht. Interessant ist die Ein-
leitung vieler remittirender und periodischer Manieen durch dieselbe
Sinnestäuschung. In protrahirten Fällen sind die Ilallucinationen häu-
figer, ebenso in den deliranten Phasen der Mania gravis.
Von sensibeln Störungen ist hauptsächlich das fehlende motorische
Ermüdungsgefühl zu erwähnen, in welchem — wenigstens zum Theil —
die Ausdauer der Kranken in ihren übermässigen Muskelleistungen zu
suchen ist. Die Motilität bietet in den fraglichen Fällen frischer Ent-
stehung und ohne tieferen Hirnreiz keine Abnormität. Der motorische
Leistun^scoe'fficient erscheint absolut erhöht zu sein, da die Kraftproben
oft ausser allem Verhältniss mit dem sonstigen musculären Können ste-
hen. Körperlich reducirte Kranke leisten oft Erstaunliches.
In den Hirnreiz-Manieen (Mania gravis) kommen auch selbständige
Motilitätsstörungen vor, so Pupillendifferenzen und trägere- Contraction der
Iris, Tremor, ungleiche Innervation des Gesichts, Störung der Mimik, con-
vulsivisclie und ataktische Erscheinungen in den Extremitäten.
Die sphygmographischen Radialis-Curven ergeben polymorphe Bilder.
In den melancholischen Tobsuchten erscheinen verstärkt tricrote, in den
ächten (heiteren) Manieen mehr dicrote Curven; in der Mania gravis tarde
und mouoerote Formen.
Die Temperatur zeigt bei der einfachen incomplicirten Manie, ohne
Hirnreiz, keine speeifischen Abweichungen von der Norm. Mässige Tem-
peraturerhöhungen (bis 3S° und etwas darüber) sind wohl auf die ge-
steigerte Muskelthätigkeit zurückzuführen. Ausserdem wirken viele acci-
dentelle Ursachen mit: so Erkältungen auf gelegentliche Temperaturver-
minderungen, Ooprostase auf intercurrente Erhöhung. Ohne solche Momente
ist eine stärkere Temperaturerhöhung stets das ominöse Zeichen einer
tieferen, über die Grenze des „reinen" Manie hinausgehenden Cerebral-
affection. So finden sich in den acuten Reizstadien der Mania gravis
solche Ubernormale Temperaturnummern, welche später in abnorm nied-
rige (bis 20,4 R. und 26,5 C.) übergehen. (Ueber die Temperaturverhält-
nisse im Delirium acutum maniacale s. dieses). Sehr häufig ist in allen
manischen Zuständen die locale Kopftemperatur erhöht, manchmal nur
einseitig. Merkwürdig ist die oft mit Zurücktritt der Kopfcongestionen
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Anomalieen der sensorischen, sensibeln, motorischen u. troph. Functionen. 87
sich einstellende Blässe und Gedunsenheit des Gesichts, welche sich aber
in der Regel bald ausgleicht.
Die Qualität des Pulses und die Frequenz sind noch viel wech-
selnder: bald klein, bald stärker entwickelt, oft an Carotis und Radialis
abnorm ungleich (dort sehr voll, hier klein), bald auffallend selten (so
in Nachlassstadien), bald sehr frequent, auch aussetzend, oft weich , an-
deremale gegentheils saitenartig hart (dies namentlich in palpabeln Hirn-
reizzuständen).
Das Körpergewicht nimmt regelmässig während des manischen
Paroxysmus — mit Ausnahme des circulären (s. dieses) — in mehr
minder erheblicher Weise ab, um mit der einleitenden Reconvalescenz
wieder zuzunehmen. Dabei spielen individuelle Verhältnisse (Nahrungs-
aufnahme. Schlaflosigkeit u. 8. w.) eine mannigfach modificirende Rolle.
Auch sonst ist der Gang beider Symptomenreihen nicht immer ein pro-
portionaler, sondern zeitlich oft verschobener (die Ernährungszunahme geht
der Reconvalescenz voraus u. 8. w.).
Constant sind in allen Manieen trophische Symptome vorhanden.
Bei den acuten Formen der „heiteren manischen Verstimmung" und spe-
ciell bei den Paroxysmen der Folie circulaire tritt als Regel ein grösserer
Turgor mit Weichheit und Feuchtigkeit der Haut hervor, welcher den
Kranken frischer erscheinen lässt; auch die Gesichtszüge werden reiner
und glätter, Jugendlicher". Die Haare kommen nicht selten in regeres
Wachsthum und werden pigmentirter im Gegensatz zu früher. — In den
schweren Manieen, namentlich den idiopathischen, wird dagegen die
Haut welk, faltig, trocken, die Epidermis oft massenhaft sich abschil-
fernd. Nicht so selten tritt auch allgemeine Furuncuiose auf; oft Pete-
chien und Decubitus. Die Verdauung ist in der Regel gestört. Ano-
malieen des Appetits (fehlender Appetit, anderemale Heisshunger) werden
selten vermisst. Der Stuhlgang zeigt keine bestimmte Aenderung. In
der Mania gravis intercurriren oft schwer stillbare Diarrhoen. In den
circulären Manieen ist gesteigerter Appetit und vermehrte digestive Lei-
stungsfähigkeit Regel.
Der Schlaf ist in sämmtlichen manischen Zuständen gestört, oft
durch Wochen und Monate lang. Nicht selten ist die Nachtzeit durch
schwere Träume erregt. Auch hier macht die circuläre Manie sehr oft
(nicht immer!) eine Ausnahme, insofern die Kranken nie besser und tiefer
zu schlafen behaupten, als in der Zeit der manischen Phase.
Ruhe
Therapie.
utische. Erste Indication ist wie bei der Melancholie:
geizten, leicht reiz- und erschöpf baren Gehirne! Diese
ich t. Abhaltung der störenden, unter Umständen
en von aussen; Beförderung des Schlafs; 2. Be-
|r« ;ndirect hervorgerufenen Fluxionen zum
ung.
tliche, bei der Therapie der Melan-
Maassnahmen, vor Allem Isolirung
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88
Die Manie. Allgemeines.
und ev. Bettruhe. Der Grad der notwendigen Isolirung richtet sich
nach der Intensität des vorhandenen Hirnreizes und der psychischen
Erregbarkeit des Kranken; je grösser diese, desto strenger muss
jene sein. Während bei den leichteren Fällen eine Einschränkung
des Kranken auf den Verkehr mit einer verständigen Umgebung neben
sorgfältiger Regulirung des Tageslaufes, pünktlicher Befolgung der
vorgeschriebenen Diätetik, Vermeidung aller erhitzenden Genuss-
mittel, Enthaltung von allem unnützen Verkehr mit der Aussenwelt
genügt, muss in schwerern Fällen der Aufenthalt im Zimmer, unter
Umständen im eigens hergerichteten, ordinirt werden. In der grössten
Mehrzahl der Fälle reicht hierzu die Pflege ausserhalb der Anstalt
nicht mehr aus. Wo aber alle erforderlichen Einrichtungen be-
schafft werden können, in administrativer Hinsicht sowohl als auch
in der persönlichen des passenden Wartepersonals und der ärzt-
lichen Leitung, sind wenigstens leichtere Fälle auch auswärts, zumal
in einem guten Spitale, zu behandeln (Schutz der Fenster, Thüren,
Wände, solides einfaches Mobiliar). Unter den somatischen Be-
ruhigungsmitteln stehen sodann Bäder wieder obenan, und zwar
hier in Form von verlängerten und manchmal auch von kurzen
kühlen Bädern.
Die verlängerten werden von 2 — 4 , unter Umständen von noch
längerer Dauer verabreicht (mit Eisumschlägen); die kurzen kühlen
in der Temperatur von IG— 14— 12° R. 8—10 Minuten lang gereicht,
wiederum mit Eisumschlagen und unter beständiger ärztlicher Controlle ;
während und nach dem Bade etwas Wein ; nachher Frottiren und Bett-
ruhe resp. Isolirung. Man vermeide Kopfdouchen! Die lauwarmen Bäder
passen hauptsächlich hei activem acuten Hirnreiz d. h. bei stark vor-
tretenden Fluxionszuständen; die kalten sah ich dagegen bei protrahirtern
Formen sehr wirksam, wobei eine revulsive (psychische) Wirkung mit
erzielt werden soll. Man sei bei letzteren sehr vorsichtig bezüglich des
körperlichen Kräftezustandes : grosse Schwäche, complicirende Herz- oder
Lungenaffectionen erheben Einsprache! — Bezüglich der Isolirung ist
gleichfalls sorgsamste Ueberwachung zu empfehlen , damit nicht der
Kranke sich selbst und seinem Bewegungsdrange überlassen auf Allotria
verfällt und — faute de mieux — in's Zerreissen, Schmieren oder gar
Kothessen geräth! Manches derartige manische „Artefact" Hesse sich
durch richtige Unterbrechung des Zimmeraufenthalts und temporäres Ver-
setzen des Kranken entweder zu Andern oder in eiuen geräumigen Spa-
zierhof vermeiden! — Bei unverbesserlichen Zerreissern ist für passende
Kleidung und Bettzeug zu sorgen. Dabei sorgsame Anhaltung zur Be-
achtung der Reinlichkeit!
Erfordern heftigere Fluxionszustände zum Kopf eine locale Be-
kämpfung, so ist diese nach den Regeln der inneren Medicin und
mit sorgfältiger Beachtung des jeweiligen Kräftezustandes zu leiten.
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Therapie. Somatische Indicationen.
89
Nie Aderlass! Eisumschläge, zeitweilige Hirudines (1 — 2 hinter die
Ohren) genügen. Daneben ev. Ableitungen auf die Ftlsse. Sehr
günstig wirken in vielen Fällen Priessnitz'sche Einpackungen, unter
gleichzeitiger Eisbehandlung auf den Kopf und nachher kühler Ab-
waschung mit folgender Frottirung (täglich wiederholt). Arzneilich
ev. Digitalis, und bei starken Wallungszuständen, namentlich manchen
Fällen von Mania gravis: Ergotin. Als Schlafmittel: Paraldehyd,
vorübergehend auch Chloral, Bier, abendliche Bäder; namentlich
bringt ein kaltes Bad oft mit der grössern Beruhigung auch Schlaf.
Bromkali und Opiate sind hier gleichfalls zu nennen; doch stehen
sie als Hypnotica in der Promptheit den oben genannten nach.
Manchmal ist dagegen eine specielle Indication für die letztge-
nannten Arznei Stoffe gegeben, so dass sie in der Serie der individuell
angezeigten Beruhigungsmittel in die erste Linie vorrUcken. Es ist dies
der Fall bei jenen manischen Zuständen, in welchen 1. ein sexueller
Factor vorhanden, sei's in der Richtung des Deliriums oder in perversen
(masturbatorischen) Drängen: hier ist Bromkali indicirt; oder 2. ein emo-
tiver Affectkern dem tobsüchtigen Gebahren zu Grunde liegt, sei's in
Form einer peinlichen Erinnerung (erlittener Aerger) oder einer bestän-
digen zornigen Reizbarkeit. Hierher gehören die melancholischen Tob-
sachtszustände und der Furor in seinen verschiedenen klinischen Formen.
Hier sind die Opiate königliche Curmittel, sowohl per os als per suppos.,
oder per inject, gereicht, und zwar nicht vorübergehend, sondern wie bei
der Melancholie methodisch.
Für gewisse Manieen mit vorwaltendem Bewegungsdrang und
tiefer Bewusstseinsstörung (Formen der Mania gravis) ist Hyos-
cyamin ein wirksames Beruhigungsmittel. Man kann nicht so selten
heftige Tob-Paroxysmen dadurch auf Stunden und Tage hinaus sistiren,
hin und wieder sogar coupiren. Die Bewusstseinsstörung selbst wird
dadurch nicht direct beeinflusst; die Kranken werden in ihrem (durch
das Mittel) musculomotorischen Elend nicht gerade wesentlich klarer,
aber ruhiger, und so einer geordneten Einwirkung zugängiger. In
gewissen Fällen folgt dann die sensorielle Aufhellung successive der
motorischen Beruhigung nach; meistens aber ist der Effect vorüber-
gehend, und das Arzneimittel muss in erhöhter Dosis wiederholt
werden.
Man sei übrigens vorsichtig mit diesem heroischen Alkaloid, dessen
chemische Zusammensetzung ohnehin keine verlässliche ist! Bei activen
Wallungen zum Kopfe, ebenso bei Herz- oder Lungenaflectionen oder
geschwächtem Kräftezustande wage man es nicht! Das Peinliche der
Anwendung wird vermehrt durch die Anforderung: keine verzettelten
kleinen, sondern mittlere oder selbst eine kühne grössere Dosis zu geben,
wenn man entscheidend wirken will. Betäubtes Wesen, ataktischer Gang,
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90
Die Manie. Allgemeines.
Heiserkeit, heftiger Schlundzwang sind neben der oft hartnäckigen Pu-
pillenerweiterung die gewöhnlich in den Kauf zu nehmenden Symptome ;
dabei Schwächerwerden des Pulses, Verlangsamung der Respiration, livide
Gesichtsfarbe u. s. w. Man beginne bei Frauen mit nicht Über 0,005 p.
dosi, und steige auf 0,008 — 0,01 und selbst noch etwas höher; bei
Männern kann man mit 0,01 beginnen und bis 0,015 und 0,02 vor-
sichtig steigen. Eine Tagesgabe genllgt ; unter Umständen mit kleiner
Supplementirung. Fortgesetzte Anwendung ist abzurathen; sicherer und
wirksamer ist die Darreichung in Pausen, je nach Bedarf, und wo mög-
lich nach jeweils erst wieder erfolgtem Aufhören der Intoxications-
zeichen. Die Darreichung per os scheint oft stärker zu wirken als die
subcutane.
Ad 3. Die Beachtung der Körperernährung ist eine höchst wich-
tige Indication, umsomehr, als zu der häufig mitgebrachten Blut-
armut und Magerkeit noch die gesteigerten Ausgaben durch die
beschleunigten psychischen Processe, durch die motorischen Muskel-
leistungen und durch die Schlaflosigkeit hinzukommen. Eine kräftige,
leicht verdauliche, an Eiweiss und Kohlenhydraten reiche Diät, mit
Wein und Bier, ist deshalb ein dringliches Erforderniss. Dabei ist
die Bulimie vieler Kranken zu berücksichtigen (sorgfaltige Ver-
kleinerung der dargereichten Speisen, häufige Darreichung von je-
weils nicht zn grossen Mengen), und manchmal auch — soweit es
angeht — individuelle Liebhabereien, deren Versagung Zornproteste
und Steigerung der Reizbarkeit hervorrufen würde. Der Appetit
vieler Maniaci ist geradezu erstaunlich, verdient aber in rationellen
Grenzen immer geziemende Beachtung. — Vieler Aufenthalt im
Freien in weiten Spazierhöfen; möglichst leichte zweckmässige Klei-
dung; Sorgfalt gegen die Einwirkung grosser Sonnenhitze.
Psychisch-, Ruhe und Abhaltung von Reizen! Der Verkehr mit
den Kranken sei wohlwollend, aber bestimmt (suaviter in modo,
fortiter in re!); er vermeide alles schroffe Entgegentreten, suche mehr
durch Ablenkungen und gewinnende Umwege, als durch directes
Fordern das Nöthige, und Alles stets mit ruhiger Geduld, zu er-
reichen. Ernst mit Milde, nicht befehlend, aber auch nicht ängst-
lich demonstrirend, alle Anreizungen disputirsüchtiger Kranker ver-
meidend, fest und consequent in den Anordnungen — sei die Sig-
natur des ärztlichen Tenors! Dabei sorgfältige Wahrhaftigkeit —
der Maniacus hat ein treues Gedächtniss! Aber der ärztlichen Con-
sequenz im Auftreten und Handeln bleibe alle Pedanterie ferne und
namentlich alles kluge Rechthaben! Man halte in seinen Anordnungen
nicht am Buchstaben, variire nach Bedarf; man übe gelegentlich die
tapfere Kunst des Schweigens, namentlich absichtlich provocirenden
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Therapie. Psychische Indicationen. — Behandlung der Unterformen. 91
Kranken gegenüber, scheue temporär selbst einen muthigen Rück-
zog nicht, und verstehe dem fliehenden Feinde goldene Brücken zu
bauen durch freiwillige (wenn auch vielleicht ad hoc unverdiente)
Gewährung kleiner Wünsche und Bedürfnisse. Bei zugängigen, trai-
tablen Kranken suche man den gesteigerten Bewegungsdrang in ge-
ordnetere Bahnen zu lenken durch Anhaltung zu Arbeiten im Hause,
in der Wäscherei, in den Gärten u. s. w. Bei allen Kranken, wo
es angeht, bestrebe man sich den Sinn für das Decorum zu wecken,
und gegen die niederziehende Gewalt der Krankheit aufrecht zu
erhalten! — Ist das Bewusstsein erst freier, so darf auch directe
Corrective, ja inuss unter Umständen geübt werden. Besonders
nachdrucksam muss diese, und zwar in Form einer ärztlich wohl
erwogenen Disciplin und Pädagogik, eintreten in den chroni-
schen und Schwäche-Manieen (Moria), wo sie den wichtigsten Theil
der therapeutischen Anstalts-Technik bildet.
Auf die einzelnen klinischen Unterformen Ubergehend, lassen sich
die wichtigsten therapeutischen Indicationen in Folgendem zusammen-
fassen:
a) Mania mitis und typica. Sorgsame körperliche und geistige
Diätetik mit möglichstem Abschluss von allen äussern Reizen. Meistens
sofort Spital- oder Anstaltsbehandlung nothwendig. Lauwarme, womög-
lich verlängerte, Bäder, bei höhern Graden der Unruhe auch ev. kurze
kalte; Beförderung des Schlafs, liebung des Kräftezustandes.
b) Furor. Anstaltsbehandlung unerlässlich. Zeitweilige Isoürung,
Opiate, methodisch, oder auch Morph.-Injectionen. Daneben Bäder wie
oben. Ev. intercurrirend Hyoscyamin. Ueberwachung des Kräftezu-
standes wie oben. Berücksichtigung ev. weiterer Indicationen (Sexual-
leiden, neurasthenische Constitution).
c) Mania gravis. Anstaltsbehandlung. Zeitweilige Isoürung.
Sorgfältige Eruirung etwaiger somatischer Grundlagen (Fötus); darnach
«pecielle Indicationen. Bäder wie oben, namentlich kalte. Priessnitz'sche
Kinpackungen mit Eisüberschlägen. HyoscyaminBehandlung. Bei ha-
bituellen Congestionen Blutegel. Sorgsame Ueberwachung des Kräfte-
znstandes, Wein, ev. zeitweilige erzwungene Bettlage, namentlich bei
Anämischen. Vorsicht wegen drohender Collapszustände oder rapider
Abmagerung mit Temperaturabfall : dann Methodus analepticus bei Bett-
läge mit Schutz gegen Wärmeverlust. Bei drohendem Uebergang in das
Delir. acutum Bettlage, Verdunkelung des Zimmers, möglichste Ruhe in
der Umgebung, fortgesetzte Eisbehandlung.
d) Die Behandlung der chronischen Manieen hat den ganzen
somatischen und psychischen Heilapparat (s. o.) in einer der jeweiligen
l'hase individuell entsprechenden Dosirung zu entfalten. Bei vorwie-
gendem psychischen Schwächecharakter mit eingewöhnten (schablonisirten)
Bewegungsexcessen: sorgsame zielbewusste Pädagogik neben Ableitung
durch leichte mechanische Beschäftigung; bei andauerndem Congestivzu-
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92 Specielle Manie.
stände znm Kopfe mit Stasenbildnng im Gesichte: tägliche verlängerte
Bäder, zeitweilige Hirudines; unter Umständen Anlegung einer Fontanelle
in den Nacken oder Einreibung der Tart. stib. Salbe auf den Scheitel;
bei Anämischen: zeitweilige Bettlage mit kräftiger Ernährung und Opium
in methodisch zunehmenden Gaben.
Specielle Manie.
Krankheitsbild. Verlauf. Ausgänge.
Auf Grundlage der im allgemeinen Theil entwickelten Gesichtspunkte
über die verschiedene Formqualität der krankhaften Bewegungsäusserungen
und der „Ideenflucht", und bei dem erfahrungsgemässen Parallelgang beider
Symptomenreihen mit der Qualität (Tiefe) der Hirnaffection lassen sich unter
gleichzeitiger Einbeziehung der zugehörigen somatischen Momente allgemein
zwei grosse Untergruppen der Manie aufstellen:
1. eine, in welcher — unter gradweiaer Bewusstseinsschonung — der
psychische Charakter in den Bewegungen und der logische in der Asso-
ciation im Wesentlichen erhalten bleibt; diese Gruppe verläuft körperlich
auch ohne (grob) motorische Symptome und ohne — oder höchstens ganz
geringe und vorübergehende — Teraperaturanomalieen; und 2. eine, in wel-
cher — unter primärer tiefer, eventuell bis zur Traumstufe verdunkelter,
Bewusstseinsstörung — die psychische Formqualität in den bezeichneten
Richtungen verloren geht, und gleichzeitig direct motorische Symptome,
sowie manifeste Störungen der Temperatur (Fieber; abnorm niedrige
Nummern) vorkommen.
Speciell lässt sich die I. Gruppe wieder in 2 Untergruppen son-
dern, je nachdem a) die psychomotorische Steigerung sich vorwiegend auf
dem Gebiete der höher combinirten Acte — der eigentlichen Hand-
lungen — bewegt, und ebenso auch die Reizung im „Ideen"gebiet in den
Grenzen der höheren, das „Ich" tragenden, Vorstellungsreihen sich hält:
als vermehrte und beschleunigte Strebungen, zugleich mit heiterer Stim-
mungslage; es ist die in Intellect und Willen aufgenommene Manie —
Mania mitis. Ein melancholisches Vorläuferstadium kann vorhanden
sein, aber auch fehlen. Genesung ist Regel. Grosse Neigung zur Perio-
dicität; und b) je nachdem die Reizung der psychomotorischen resp. Be-
schleunigung der vorstellenden Functionen zu einem selbständigen, von
einem Ich nicht mehr zusammengehaltenen Krankheitselemente sich ge-
staltet; dort als ziel- und planloser, unerschöpflich sich hervordrängen-
der Bewegungsdrang, hier als Ideenflucht aller Grade (logisch und asso-
nirend); dabei flüchtig wechselndes Stimmungsregister mit vorwiegend
heiterem Grundton. Der Krankheitsbeginn geht regelmässig durch ein
Stadium melancholicum hindurch. Genesung (auch bleibende) ist Regel —
typische Manie. Daran schliesst sich als schwerere Form der Furor
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Eintheilung der Manie. Charakteristik der Uoterformen. Mania mitis. 93
an, mit reflectorischem Formcharakter der Bewegungen; den einfach luxu-
riirenden, gleichsam spielenden, der vorigen Gruppe gegenüber sind diese
triebartig heftig, maasslos bis zum Convulsiven oder auch automatisch
Zwangsmässigen. Stets finden sich in der jagenden, oft ganz verworrenen,
Ideenflucht bestimmte Vorstellungs„kerne" melancholischen oder wahnsin-
nigen Inhalts. Die Stimmung, wenn auch vielfach wechselnd, ist eine vor-
wiegend gereizte („Zornmanieen"), oder eine gemischt depressiv-exaltirte.
Hallucinationen sind sehr häufig. Ein Stadium melancholicum kann vor-
hergehen, aber auch fehlen. Oft geht die Mania typica in den Grad des
Furor Uber. Genesung ist häufig, aber sehr gefährdet durch Recidive.
Unter der 2. Gruppe vereinigen sich sämmtliche palpable Hirnrciz-
zustände mit manischem Charakter, symptomatologisch theils unter dem
Bilde derselben Formqualität der Bewegungen wie der Furor, theils einer
noch tieferen (s. Allg.), und noch vermehrt um den Hinzutritt körper-
licher Symptome aus organischer (entzündlicher) Hirnreizung. Das Be-
wusstsein ist tief gestört, oft förmlich betäubt. Eine „Ideenflucht" ist
nicht vorhanden ; dafür zeitweise jagende Delirien. In den ruhigen Phasen
tritt psychische Schwäche aus Hirnerschöpfung hervor , oder ein vager,
oft gemischter Grössenwahn. Genesung ist seltener, Heilung mit Defect
die Regel; manchmal aber auch rasch letaler Verlauf „Organische"
Manieen — Mania gravis.
Die Mania mitis.
In der Regel geht ein Status nervosus mit Störungen des Schlafs
und der Verdauung, Kopfcongestionen und Obstipation, oder ein aus-
gesprochen depressives Initialstadium voraus, mit ängstlicher Unruhe
und Reizbarkeit. In allmählichem Uebergang zeigt der Kranke jetzt
eine Aenderung seiner Lebensweise und seines Temperaments: er be-
ginnt in bisher ungewohnter Weise Lebensgenüssen nachzugehen,
namentlich den Freuden der Venus und des Weins, oder dem Be-
suche geselliger Cirkel. Je rauschender die Fröhlichkeit, desto lieber;
er kennt keine Ermüdung, keine Rücksicht gegen sich, bald aber
auch keine gegen seine Umgebung. Zuspruch und Abmahnung prallen
wirkungslos ab an seinem gesteigerten Wohlgefühl; ernstliche Gegen-
vorstellungen erregen sein überlegenes Lächeln oder seine trotzige
Gereiztheit Bald kommen Conflicte, welche aber nur seinen Wider-
stand schärfen, oder die Betonung seines Selbstgefühls herausfordern.
In der Gesellschaft wird der bis dabin Zurückhaltende zum vorlauten
Wortführer; unbedacht und vorschnell mischt er sich mit seinen Reden
überall hinein, welche mit immer schärferen Accenten und lebhafter
Mimik begleitet werden, und nicht selten auch die übrige Körper-
musculatur zu stossweisen Mitbewegungen aufrufen. Schlagfertiger
Witz bei einem liebenswürdig aufgelegten Wesen lassen den begin-
nenden Kranken Anfangs noch überall willkommen erscheinen ; bald
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94
Specielle Manie.
aber beleidigt er durch Disputirsucht, Rechthaberei, unzarte, oft grobe
Aeusserungen, beantwortet harmlose Scherze sofort mit überstürzen-
den Duellforderungen. Mehr noch erregt der frivole Zug, welcher
nicht selten dem ganzen Auftreten sich beimischt, Aufsehen; auch
verdeckte oder offene Cynismen fehlen nicht, um das ganz veränderte,
im Charakter getroffene Wesen des Kranken kund zu thun. Dabei
ist aber nicht allein der gerade beschäftigte Vorstellungskreis in leb-
haftester Erregung, so dass der Kranke nicht genug Emphase den
Tagesvorgängen entgegenzubringen weiss, welche alle, selbst Lappa-
lien, für ihn eine von Anderen nicht geahnte Wichtigkeit bekunden
— auch die Erinnerung bis in ferne Jahre zurück steigt mit einer
Promptheit und Lebhaftigkeit auf, wie nie zuvor. Dem entsprechend
fühlt sich der Kranke in seiner Stimmung mächtig gehoben, wenn
auch die Heiterkeit das Maass noch nicht wesentlich überschreitet;
er ist nur so Uberaus wohl, gesund und thatkräftig, kennt nur Schaffens-
drang, will deshalb überall ordnen — bald aber auch meistern. In
rascher Folge tauchen immer neue Pläne auf, welche mit jedem Tage,
selbst jeder Stunde neu wechseln; Schwierigkeiten, Bedenken, finan-
zielle oder sonstige Hemmnisse existiren schon nicht mehr, der hem-
mungslos gewordene Wille schafft sich unbewusst seine Vorstellungs-
welt von Illusionen, welche sein Spiegelbild werden : Alles wird er-
reichbar. So werden Käufe und Verkäufe abgeschlossen, Summen
verschleudert, weil es in der rosigen Perspective des Kranken keinen
Misserfolg gibt und Alles glücken muss. Heirathsprojecte und Ver-
lobungen werden concipirt, dann leichten Herzens geändert und wieder
neu angeknüpft; nirgends ist Befriedigung, der Kranke verschmachtet
im Genuss vor Begierde. Dabei ist natürlich von einem Genuss
eigentlich keine Rede; was der Kranke wirklich geniesst, ist das
täuschende Gefühl seines potentiellen Könnens und der Abglanz seiner
mit der Raschheit der Einfälle wechselnden Phantasmagorieeu.
Je mehr die Krankheit zunimmt, desto mehr wächst die Hast
des in krankhafter Propulsion befindlichen Seelenlebens. Die Ge-
schwätzigkeit wird anhaltend und fast erdrückend. Erinnerungen
aus dem frühern Leben verweben und verschlingen sich mit unmittel-
baren Auffassungen aus der Umgebung; unerreichbare Erwartungen,
trügerische Hoffnungen, sonderbare Speculationen, ungemessene
Wünsche und Forderungen, schlechte Witze und boshafter Tadel,
unmässige Ueberhebung und trügerisches Selbstlob, ungesuchter Rath
und übel angebrachte Fürbitten — Alles drängt sich jetzt in buntem
Wechsel durcheinander. Die Rede wird abspringend und zerrissen,
die Aufmerksamkeit ist kaum auf Augenblicke festzuhalten. Dabei
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Mania mitis. Krankheitsbild.
— Mania typica.
95
kommen Wahnideen mit festerem Gepräge nicht auf, ebensowenig
Sinnestäuschungen. Die Stimmung wechselt zwischen Roseufarbe und
düsterer Verdrossenheit, selbst Gereiztheit; nicht selten bricht auch ein
schmerzliches Weinen durch, aus welchem ein unklares, manchmal
aber auch klar empfundenes Krankheitsgefühl herausschaut. Zu
andern Stunden ist der Kranke theilnahralos und gleichgiltig, jedoch
vorherrschend heiter oder nachlässig. — In diesen wechselnden
Phasen schwankt der Krankheitsverlauf, wenn er nicht in die
höheren Krankheitsgrade der typischen Manie Ubergeht, durch Wochen
und selbst durch einige (bis 4—5—0) Monate. Das körperliche Be-
finden zeigt dabei wenig auffalleude Aenderung, bei Frauen zeit-
weilige nervöse Beschwerden, oft kommen auch Congestiv-Zustäude
zum Kopfe, aber ohne Fieber. Die Körperernährung wird in der
Mehrzahl der Fälle (wohl durch den unregelmässigen Schlaf und
die in der allgemeinen Unruhe nicht immer genügende Nahrungs-
aufnahme) massig reducirt; in anderen Fällen bleibt das Körperge-
wicht gleich, in periodischen resp. circulären erhöht es sich, wie-
wohl nicht regelmässig (s. d.). Allmählich klingt die Aufregung ab,
oft durch eine hypochondrisch-melancholische, gewöhnlich aber durch
eine einfach depressive (ErmÜdungs-)Phase hindurch ; der Krankheits-
zustand geht in Genesung Uber.
Bezüglich des Vorkommens der Mania mitis ist zu bemerken, dass
sie der typischen Manie gegenüber relativ seltener ist, und ebenso selten
durch den ganzen Krankheitsverlauf als gleichbleibende Form sich erhält.
Gewöhnlich steigert sie sich zu höheren manischen Graden. Wo sie selb-
ständig auftritt und bleibt, bezeichnet sie häufig die manische Phase einer
uachmaligen circulären Psychose. Auch die Paralyse beginnt nicht selten
iu der Form der Mania mitis (modificirt durch den primären Blödsinn
namentlich auf ethischem Gebiete, und durch den Sopor, die Benommen-
heit, welche über die ganze Persönlichkeit des Anfaugsparalytikers sich
legt). — In selbständigem Auftreten kommt sie vorzugsweise neurasthe-
nischen Constitutionen zu, merkwürdig häufig nach geistigen Anstrengungen
'Eiamenarbeiteu).
Die Mania typica.
a) Leichtere Form. Die Entwicklung kann erfolgen: 1. aus
einem ausgesprochenen melancholischen Vorstadium von kürzerer
oder längerer Dauer; 2. aus der Mania mitis; 3. (seltener) nach
äusserst kurzen Prodromis (von einigen Stunden oder auch Tagen),
aus einem Status nervosus (nach plötzlichem Geinüths-Shok, Menses)
mit rasch ansteigender Exaltation direct in das typische Stadium
hinein.
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9G
Specielle Manie.
Der Kranke bietet das Bild einer zunehmenden motorischen und
geistigen Unruhe; er weint und lacht unmotivirt oder auf gering-
fügige Ursache, läuft hin und her, beginnt Arbeiten und lässt, kaum
begonnen, wieder ab; er beschwert sich, hat eine Menge Wünsche,
wird reizbar und zornig bei Versagung. Die wachsende Unruhe zieht
sich rascher oder langsamer (manchmal mit depressiven Intermissio-
nen) auch in die Nacht hinein; es erfolgt Schlaflosigkeit und bei
Tag eine Zunahme der Unruhe mit immer jäherem und grundloserem
Stimmungswechsel. Das Reden wird ein anhaltendes Schwatzen,
untermischt mit Singen, Pfeifen und Lachen; jede Rücksicht auf die
Umgebung hört auf; Blick, Mimik, Gestikulationen werden lebhafter,
die Bewegungen rascher und immer entfesselter. Der Kranke be-
ginnt in zweckloser Geschäftigkeit hin und her zu laufen, frisirt und
putzt an sich herum, und ist doch im nächsten Augenblicke wieder
so unsauber und nachlässig wie zuvor; er hüpft, tanzt, springt, macht
alle Jongleur-Künste. Dabei wird unter Lachen und Jauchzen Alles
erzählt, was ihm einfällt, sofort aber der begonnene Vorstellungsgang
bei einer neuen Wahrnehmung oder zufälligen Reproduction wieder
verlassen ; dann diese neue Vorstellungsreihe wieder in Worten durch-
jagt, jetzt wieder abgebrochen — bis endlich eine in immer ent-
fernteren und loseren Zusammenhängen ablaufende „ Ideenflucht " er-
reicht ist. Dazwischen lässt sich der Kranke durch Zurufe oder
irgend einen äusseren Eindruck wieder zu sich bringen; er gibt auf
Fragen kurze Antworten; aber gleich beginnt das alte Spiel wieder
von Neuem. Die umgebenden Personen werden verkannt, bald in
näheren, bald entfernteren Illusionen. Auch hier nimmt der Kranke
noch eine Zeit lang vorübergehende Correctur an, doch ohne Einsicht
Immer mehr löst sich das psychische Geschehen in Minuten -Acte
auf; mit dem stetig wechselnden Vorstellungsinhalt werden auch alle
Stimmungsregister durchlaufen: der Kranke jubelt, weint, schimpft,
droht, schmiegt sich an und schlägt um sich — ganz in der Ein-
gebung des Moments. Er ist der Spielball jedes einfallenden Ge-
dankens, jeder ans ihm oder an ihn herantretenden gemüthlichen
Erregung, der stricte Vollstrecker jedes motorischen Antriebs. Tritt
vorübergehend mehr Ruhe ein, so äussert sich meist ein gehobenes
Selbstgefühl, welchem aber jede Tiefe fehlt; es blitzen wohl vor-
übergehend auch Grössenideen auf von hoher Stellung, Macht, Reich -
thum u. s. w., aber ohne Nachhaltigkeit; sie werden polternd aus-
gerufen, um rasch (oft unter ironisirendem Lachen) wieder im rast-
losen Fluss der sich drängenden Vorstellungen unterzugehen. Auch
erotische Richtungen tauchen auf und nieder, nicht selten mit las-
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Maoia typica. Intercurrente acute Wahnsinns-Phasen. Weiterverlauf. 97
civen Scheltworten abwechselnd, manchmal mit brutalen Attentats-
versuchen. Auch Hallucinationen stellen sich oft ein, aber flüchtiger
Natur (sensorische Nebenschliessungen neben dem krankhaft ver-
stärkten psychischen Hauptstrom), und erhitzen vorübergehend die
Stimmung bis zur übermässigen Heiterkeit, zum tollen Jubel; oder
drücken gegentheils, im Inhalt wechselnd, jene zum zornigen Weinen
und Schelten herab — gehen aber gleichfalls ohne nachhaltige Wir-
kung im raschen Strom der Vorstellungen, welcher nichts Fixes duldet,
wieder unter.
Werden die Hallucinationen gelegentlich vorherrschend und gewinnen
dieselben festere Gestaltung, so dass sich darnach die Auffassung der Um-
gebung dauernd ändert und im Weitern eine wahnhafte Orientirung mit
Fälschung des Bewusstsein9 festgehalten wird, so ist das Gebiet der ty-
pischen Manie überschritten, und letztere in eine Piiase von „acutem hallu-
cinatorischen Wahnsinn" übergetreten. Sehr häuög bildet diese Metamor-
phose den Uebergang aus der initialen Depression in die eigentliche Manie,
und zwar ist es der dämonomane acute Wahnsinn, welcher mit Vorliebe
diese Vermittel ung Ubernimmt. Der Anfangs grübelnde oder mit Ge-
wissensscrupeln gedrückte Kranke glaubt sich von bösen Geistern um-
ringt, die ihn tödten wollen; Illusionen bestürmen ihn; bald mischen sich
freudige und gehobene (religiös-exaltirte) ein: der Kranke sieht seine
Rechtschaffenheit erkannt, und fühlt sich zum Richter erkoren; höhere
Antriebe heissen ihn predigen, singen; die Reden werden ungereimt, ab«
gerissen, die Ideenflucht nimmt zu; in der wachsenden Entfesselung der
motorischen Acte geht das hallucinatorische Traumspiel unter — und der
Kranke macht jetzt den typischen manischen Decursus weiter.
Im ferneren Verlaufe nimmt die verbale Ideenflucht zu bis zu
einer wirklichen Verworrenheit, bei welcher die Verbindungen nur
noch nach äusseren Assonanzen hergestellt werden. Oft geht auch
dieses Band verloren, und es bleiben nur noch aneinandergereihte
Worte aus zufälligen Einfällen, Wahrnehmungen, Reminiscenzen u. s.w.
bestehen. Dabei schwindet aber das Bewusstsein nie so, dass es auf
die Traum 8 tu fe sich verdunkelte; dasselbe kann wohl unklar und
getrübt werden in Folge der sich überstürzenden und gelockert zu-
strömenden Vorstellungen, in welchen das Ich sich nicht mehr zurecht
findet, — sowie aber der Sturm sich mässigt, stellt sich sofort auch
wieder die klarere, vorübergehend selbst besonnene, Situation her.
So kann sich der psychische Zustand durch Tage und Wochen
hindurch erhalten. Nach und nach tritt mehr Ruhe ein; der unge-
stüme Bewegungsdrang erhält immer mehr den Ausdruck eines vagen,
gesticulatorischen Spiels. Die Aufmerksamkeit ist wieder leichter
zu fesseln, das Benehmen wird freundlicher und gelassener. Manch-
mal werden jetzt auch subjective Klagen über körperliche Missgefühle
Scfc&l«, GeiBtaakrank halten. 3. Aufl. 7
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Specielle Manie.
geäussert. Der Schlaf wird besser, ebenso der Appetit; der Blick
klarer, die Miene componirter. Die Reimereien und profuse Ge-
schwätzigkeit lässt nach. Dann und wann schieben sich stillere und
ernstere Stunden ein. Der Weilerverlauf kann nun stattfinden:
1. unter allmählichem Nachlass bis in die Genesung. Dieses
geschieht im Uebergang a) durch einen Aufregungszustand mit psy-
chischer Schwäche, Moria (muthwilliges Wesen, barocke Einfalle und
Handlungen, emotive Reizbarkeit, s. u.); oderb) durch einen Zwischen-
zustand einfachen geistigen Torpors; oder aber c) durch eine (secun-
däre) Wahnsinnsphase hindurch mit Grössenwabn und Symbolisirungen,
oder mit Hallucinationen. Dieselbe kann einen stillen Charakter (ver-
schlossenes einsilbiges Wesen, BetUbungen, Lesen in religiösen Schrif-
ten u. s. w.) oder einen exaltirten (phantastische Kleidung, dünkelhaftes
Wesen, alberne Geschäftigkeit, Verkennen der Umgebung, launen-
hafte Stimmung) tragen;
2. zunächst in ein ruhiges (apathisches) Intermissionsstadium von
Tage-, oder auch einige Wochen-langer Dauer, worauf abermals ein
manischer Anfall folgt mit nachfolgender Ruhe, und so (vielleicht
nach mehrfachen Wiederholungen) mit endlichem Ausgang in Ge-
nesung (remittirende Form);
Symptomatologi8ch wechseln diese remittirenden Paroxysiuen hinsicht-
lich der Dauer, Intensität und der Länge des Intervalls. Dabei kann der
depressive Zug, welcher dem ersten manischen Anfall noch abwechselnd
beigemischt war, in den späteren Anfällen immer mehr verloren gehen,
und die letzteren reine („tolle") Exaltationszustände darstellen mit zweck-
loser Geschäftigkeit, übermtithigem Wesen, Raisonniren, bis endlich zu
dem ungereimtesten sinnlosen Gebahren mit Verworrenheit. Manchmal
bezeichnet das letzte manische Recidiv auch den Uebergang zur Gene-
sung; in anderen Fällen jedoch tritt diese erst ein, nachdem sich a) ein
längeres Stadium von wirklicher Melancholie, oder aber b) von tiefer
Stupidität (Apathie, betäubtem Wesen, secessus inseiis, Raptus) einge-
geschoben hatte.
3. in die schwerere Form der Manie (den Furor);
4. in chronische Manie;
5. in dauernde psychische Schwäche.
Diese „Heilung mit Defect" gibt oft ein klinisches Bild von eige-
ner Schattirung. Es ist ein beginnender Blödsinn ohne hervorstechende
speeifische Symptome, eine Indolenz, die sich Uber die ganze Persön-
lichkeit legt, eine Unklarheit und Unbestimmtheit des Wesens, aber ohne
eigentliche Verkehrtheit im Denken, eine allgemeine Zerstreutheit und
Ziellosigkeit, neben einer gutmtlthigen , freundlichen uud willigen Stim-
mung. Oft noch intercurriron störende Traume mit Resten aus der Exal-
tationsphase, welche mit der Stärke der Wirklichkeit den Kranken er-
greifen und ihn Tage lang beeinflussen. Auch ohne diese wird der Kranke
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Mania typica. Ausgange. — Furor. Krankheitsbüd.
99
zeitweise befangener, unbestimmt wandelbarer in seinen Aeusserungen,
gezwungen in Manieren und Haltung; nicht selten wird ängstliche Un-
ruhe geklagt, wofür der Kranke die kleinlichsten, oft sich widersprechen-
den Umstände als Begründung anführt. Vage hypochondrische Sensa-
tionen gehen mit. Die Stimmung wird zunehmend verdriesslicher. So
schreitet das Leiden progressiv weiter. Die Rede des Kranken verliert
immer mehr ihren bestimmten Charakter, sie wird zögernd oder hastig,
schnell abgestossen, abspringend, endlich verwirrt. Es treten fragmen-
tare Aeusserungen von Beeinträchtigung auf, nicht selten mit gereizten
Beschuldigungen gegen die Umgebung; oft kommen gewaltthätige Hand-
langen — wirkliche manische Recidiven — mit lebhaftem und zweck-
widrigem Muskelspiel. Aufregungen, ängstliche Anwandlungen, gutmü-
tige freiere Episoden wechseln. In den letzteren ist der Kranke zu
Allem zu bestimmen ; in den ersteren erhebt er gegen Alles Widerspruch.
Im Verlaufe (durch Jahre) nimmt die blödsinnige Abstumpfung immer
mehr zu. Dazu treten imperative Hallucinationen, welche aber — ausser
den Momenten der Aufregung — vom Kranken widerspruchslos assimi-
lirt werden. Durch Jahre hindurch bleibt sonst dieser ein stiller, harm-
loser Gast, welcher nie eine Klage laut werden lässt, nie einen Wunsch
oder Verlangen äussert, willig sich der Hausordnung unterzieht, und nach
gethaner Arbeit heiter — als ob er in der Anstalt seine Heimath de jure
besasse — mit den Andern sein Spielchen macht.
Die Genesung selbst kann eine dauernde sein, ist aber sehr oft
auch nur eine zeitweilige, worauf Recidive erfolgt mit progressiv
erschwertem Charakter. Für die klinische Symptomatologie ist be-
merkenswerth , dass sich diesen Rückfällen immer ausgeprägtere
Züge von Wahnsinn (Ueberhandnahme der Hallucinationen) oder von
geistiger Schwäche (triebartiges motorisches Gebahren mit Zerreissen
und Schmieren, zunehmende Stupidität) beimischen. Dazu werden
die Paroxysmen mit jeder neuen Wiederkehr auch gedehnter, und
schwieriger beilbar.
b) Die schwerere Form (der Furor). Die Entwicklung die-
ser Zustandsform erfolgt entweder 1 . direct nach nur kurzer Einleitung
auf eine einschneidende GemUthserschUtterung (Zornaflfect), oder auch
(bei tief neuropathischer, speciell epileptischer Anlage) anscheinend
von selbst, acut, ohne nachweisbare Ursache; oder 2. im Verlaufe
einer Mania mitis, welche sich namentlich oft in einem vorwiegenden
Drang zu kaufen, zu trinken u. s. w. äussert, und in raschem Anstieg
in die Krankheitshöhe übergeht.
Das klinische Bild besteht im Wesentlichen in einer Steigerung
der beschriebenen typisch-manischen Symptome, speciell der moto-
rischen. Während diese auf der Acme der vorigen Formen noch
als Einzelacte psychisch-geformt sich zeigten, treten sie hier in Form
mächtiger Explosionen oder eines blind triebartigen — reflectorischen
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100
Specielle Manie.
— Gebahrens auf, als unablässiges Zerstören, Zerreissen, Schlagen,
Schreien, Heulen, theilweise auch als stossweise automatische Acte.
Damit einher geht eine immer verworrenere Vorstellungsflucht mit
feindseliger Verkennung der Umgebung, und gemüthlich eine höchst-
gradige Gereiztheit oder eine verhaltene depressive Affectspannung,
welche sich in diesen krampfhaften Entladungen (sehr häufig mit
dem Ausdruck heftigen Zorns) anfallsweise entäussert Das Delirium
besteht aus Reproductionen, unklaren Wahrnehmungen und bunt ge-
mischten Einfällen, oft aus zusammenhanglosen Worten; darunter
besonders Serien von berühmten historischen Namen, mit welchen
der Kranke sich in Einem Athem identificirt. Hallucinationen feind-
seligen oder kränkenden Inhalts sind häufige Begleiter. Damit
wechseln Impromptu's mit herrisch gebieterischem Auftreten und
brüskem Widerstreben, geschraubtem, anspruchsvollem Wesen. Die
Kranken eilen in pauseloser Unruhe hin und her, sie schreien, de-
clamiren, reimen in sinnlosen Assonanzen, beachten keine Reinlichkeit.
Sie ziehen sich aus, laufen ohne jedes Decenzgeftthl nackt unter die
Andern, sie zerreissen die Kleider bis in die kleinsten Fetzchen,
zerstören Essgeschirre und Möbel; im Zimmer wickeln sie sich mit
Vorliebe in den zerzupften Matratzeninhalt ein, in welchem sie Tag
und Nacht herumwühlen. Das dargereichte Essen wird weggepustet.
Jeder Zuspruch ruft Erbitterung in schleunigster Reaction hervor.
Dabei ist die motorische Erregbarkeit aufs Höchste gesteigert Zu
den excessiven motorischen Leistungen gesellen sich noch eine Menge
von Mitbewegungen. Die „Zorn"-Paroxysmen können oft Tage und
selbst Wochen hindurch andauern (häufig mit neuralgischen Beklem-
mungsgeftlhlen über die Brust), und oft ganz jähe mit Anfallen von
heftiger Angst ganz unmotivirt abwechseln. Dabei bleibt als Grund-
zustand eine maasslos leidenschaftliche Aufregung, welche bald als
Frivolität und cynischer Muthwille, bald in rapidem Umschlag als
zerwühlender Schmerz, Heulen und stupide Angst sich äussert Die
Pupillen sind contrahirt, wenig beweglich, der Puls beschleunigt,
die Haut trocken. Oft starke Kopfcongestionen.
In einer klinisch gut begrenzten Untergruppe tritt an Stelle dieses
wirren kaleidoskopischen Spieles ein strengerer innerer Zusammenhang
sowohl in der Ideenflucht, als namentlich auch in der Erhaltung der
Grundstimmung, welche den auf's Höchste gestiegenen Affect ver-
zweifelnden Schmerzes oder des heftigsten Zornes darstellt, und diesen
Inhalt auch als Kern des jagenden Vorstellungsablaufs bewahrt. Das sind
die eigentlichen „melancholischen Tobsuchten", welche ausgehen von
einer erschütternden Emotion, und in Entwicklung und Form den moto-
rischen Reactionstypus des höchstgradigen Schmerzaffects — man könnte
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Furor. Krankheitsbild. „Melancholische Tobsucht"
101
sagen, den zum wirklichen organischen Hirnreiz gewordenen Affectein-
griff, welcher sich in stürmischen Reflexentladungen auatobt — beibehal-
ten und im klinischen Bilde darstellen.
Im acuten Anstieg einer peinlichen Unruhe wird rasch das manische
Stadium erreicht. Der innerlich gefolterte Kranke wirft sich auf den
Boden, er zerreisst die Kleider, zerrauft sieb, nennt sich den Schlech-
testen der Schlechten, schlägt erbarmungslos auf sich hinein, schreit seine
(erdichteten) Verbrechen und Sünden in Verzweiflungstönen hinaus, lftsst
sich in seinem raptusartigen Vernichtungsdrange kaum bändigen, bleibt
unzugängig auf jede Ansprache. Bei Fortdauer und Steigerung der Un-
ruhe wird jetzt der Vorstellungsgang immer abrupter; es mischen sich
Sätze von heterogenem Inhalt, manchmal Anklänge an Orössenwahn ein;
doch kehrt der Ideenfluss immer wieder in die Kategorie der Selbst-
anklagen und SelbstverwUnschungen zurück. Manchmal kommen auch
vorübergehende Ruhepausen, an welche sich aber gewöhnlich um so hef-
tigere motorische Entladungen anschliessen. Unter Zunahme der Puls-
frequenz, vorübergehend auch der Temperatur, und Wallungen zum Kopfe
können in schwereren Fällen sich Zeichen von noch intensiverer Hirn-
reizung einstellen: grimassirte Gesichtszüge, fest zugeklemmte Lider, auto-
matische Gesichtsbewegungen, Schlingkrämpfe, namentlich aber gesteigerte
Reflexerregbarkeit, so dass die Zähne des Kranken sofort Uber den ein-
geführten Löffel zusammenschlagen. In gleichem Schritte vollzieht sich
ein Perceptioneabschluss oder eine wahnhafte Verkennung der Umgebung.
Der Kranke tobt und rast einsichtslos gegen eigene und fremde Beschä-
digungen. Das sind dann lebensbedrohende Phasen, je länger sie an-
dauern. Meist gehen sie aber bald wieder vorUber, resp. zurück zu
uiedrigeren Reizgraden. Der Kranke wird ruhiger und zugängiger, gibt
naheliegende Antworten. Immer wieder brechen zeitweise motorische
Stürme mit furorartigen Entladungen hindurch. Der Kranke bewahrt
auch jetzt noch bei aller scheinbaren Milde eine Reizbarkeit, welche ihn
bei jedem versagten Wunsche „schwere Rache" androhen lässt. Oft schie-
ben sich Moria- Phasen dazwischen mit Neigung zu rohen Spässen, und
einem theils stillen, theils offenen Krieg gegen die Hausordnung. Im
Ganzen schreitet aber die Beruhigung fort, und nach Umfluss von kurzer
Zeit (einigen Wochen — Monate) wird die Genesung erreicht, gewöhn-
lich durch ein Stadium von Torpor, oder von weinerlicher (Schwäche-)
Depression. Die Erinnerung an den Uberstandenen Paroxysmus ist oft
nur unklar und summarisch.
Gar nicht so selten wächst diese Form einer reactiven Affecttob-
sucht aus einem wirkli chen Schuldbewusstsein aus dem Vorleben
des Kranken heraus, welches, lange im Innern verschwiegen und beschwich-
tigt, plötzlich durch einen neuen mahnenden Gemüthseindruck die sensi-
beln und vasomotorischen Affectbahnen Ubermächtig innervirt und hier
eine Spannung setzt, die, zum Unerträglichen gesteigert, im Furor sich
entlädt. Eine ReservatlUge, ein falscher Schwur kann so, wenn die Re-
miniscenzen wieder auftauchen, oder z. B. die kirchlichen Zeiten der Ge-
wissenserforschung herannahen, einen solchen melancholisch -manischen
Paroxysmus periodisch hervorrufen.
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102
Specielle Manie.
Die Zorn-Manieen der Anämischen und Neuropathiker (na-
mentlich weiblichen Geschlechts) erhalten häufig einen deliranten
dämonomanischen Charakter. Die innerlich gefühlte Aflfectspannung
(im Anscbluss an ein tief emotives Lebensereigniss) allegorisirt sich
in feindliche Wahngebilde, welche eine illusorische Verkennung der
Umgebung und gleichgestimmte Hallucinationen hervorrufen, mit
reactiven WuthausbrUchen, oder auch anhaltender, triebartiger mo-
torischer Entfesselung. Die Stimmung des Entwicklungs- und Höhe-
stadiums ist fast anhaltend eine gereizte, zornmüthige; erst im Ver-
laufe und in der Krankheitsabnahme spielt sie in den wechselvollen
Registern der ausgebildeten Manie.
Das Bewusstsein macht alle Phasen der Helligkeit durch, und
sinkt nicht selten anhaltend oder vorübergehend auf die Traumstufe
herab; mit der Verdunkelung und dem Abschluss nach aussen er-
höht sich die Stärke des hallucinatorischen Innenlebens. Eine Menge
körperlicher Gefühle (Mattigkeit und Reissen in den Beinen „als ob
sich das Fleisch von den Knochen löste", Würgen im Halse, Ste-
chen auf der Brust, Abnahme des Gehirns) bestürmen den Kranken
erst mit nervösen Peinigungen. Bald wandeln sie sich allegorisirt
in „Geistermächte" um, zerren als Dämonen am Leibe, zupfen an
dessen Genitalien, „verkrachen" in seinem Bauche, fahren als Ge-
rüche (manchmal als „farbige"!) zu seinem Munde heraus. Die
ganze Umgebung verwandelt sich. Jetzt treten neben den feind-
lichen Geistern, welche nicht selten in ihren allegorischen Trans-
formationen wechseln, auch gut gestimmte, freundliche auf; lascive
Delirien mischen sich mit erotischen, religiös gehobene Stimmungen
mit erregt melancholischen (dämonomanischen), und diese wiederum
mit finstern gereizten. Die abgerissenen Aeusserungen des Deliriums
bewegen sich auf der Acme der Krankheit nur in solchen Darstel-
lungen des Kampfes des ethischen Strebens mit dem aufgezwunge-
nen Bösen. Die gemüthlichen Spannungen, namentlich aber die auf-
tauchenden Reproductionen des peinlichen Erlebnisses, welches die
Krankheit veranlasst hatte und jenen spannenden Gemüthsdruck fort-
dauernd innervirt, entladen sich in zeitweisen oder selbst anhalten-
den Zorn-Explosionen, den eigentlichen Furor-Anfällen, in welchen
der Kranke sinnlos tobt und schreit, plan- und ziellos zerstört, ent-
weder gar nicht oder nur in der einen widrigen Stimmung percipirt,
und erst zur Ruhe kommt, wenn die cerebro-spinale Reflex-Convul-
sion sich durch temporäre Erschöpfung abgeglichen bat. Sehr oft
genügt der leiseste Anlass zur Wiederholung eines neuen, oft meh-
rere Tage und Nächte fortdauernden Anfalls. In ruhigem Stunden
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Furor. „Zorn^-Manieen. „Sexual"-Manieen.
103
sind die Kranken düster, einsilbig, gereizt, verschlossen, fuhren
Selbstgespräche oder machen abwehrende oder spottende Pantomimen,
verbeugen und bekreuzen sich, nehmen sonderbare Stellungen ein,
breiten die Arme zum Segnen aus, küssen den Boden, oder sie sammeln
in zweckloser Beschäftigung ohne Auswahl, schmieren, besudeln die
Wände, bis sie plötzlich wieder rücksichtslos auf die Andern los-
gehen, die Thüren zuschmettern, schamlos sich entblössen, in blindem
Drange umhereilen, Alles an sich reissen, und in zornigen Schimpf-
lauten und verwirrten Monologen (aus welchen sehr oft der von
früher her innervirende Affectkern herausklingt) sich expectoriren.
— Andere dagegen, namentlich weibliche Kranke, führen in pause-
loser Geschwätzigkeit ein Gemisch von richtigen und falschen Wahr-
nehmungen und namentlich phantastischen Minuten-Conceptionen vor,
mit oft rasch ersonnenen erotischen Aufschneidereien uud übertrie-
benen Entstellungen, welche die Kranken, wenn ernst ermahnt, sehr
oft selbst sofort wieder preisgeben.
Das ist namentlich das Krankheitsbild vieler Sexual manie en mit
zu Grunde liegenden Uterinaffectionen, Menstrualstöruugcn, früheren ero-
tisch-geschlechtlichen Erlebnissen, Liebesverhältnissen. Oft gehen speci-
fische Empfindungen vom Unterleib und den Genitalien, Ovarialschmerz,
diesen Furoranfällen voraus. Eine äussere Eigentümlichkeit dieser Se-
xualgruppen ist der Drang sich zu entblössen, cynische Geberden zu
machen, die Haare zu nesteln, Alles zu bespucken, und ganz besonders
die Sucht sich zu beschmutzen, und mit Speisen oder Urin und Koth
einzureiben. Die Ideenflucht ist in der Regel eine sehr grosse: Erinne-
rungen und Erlebnisse gehen mit richtigen Wahrnehmungen bunt durch-
einander, und machen oft den Eindruck einer vollständigen Verworrenheit.
Die Associationen sind in der Regel höchst banal und drehen sich mit
Vorliebe um fixe, sich ständig wiederholende Gegensätze („schwarz und
weiss", „hässlich und schön"), welche aber, genauer betrachtet, nur die
Kategoriecn für den innerlichen percipirten Kampf darstellen zwischen
„beseligender göttlicher Liebe" und dem „teuflischen Widersacher". Die
Kranken identificiren sich mit Christus, mit der Himmelsmutter; ihnen
entgegen steht eine höllische Umgebung; die Speisen sind Teufelsessen,
die Kleider teuflisch u. s. w. Dabei wildes Toben und Zerstören, wenn
auch nicht ohne lucide Momente. Die Furorparoxysmcn schliessen sich
oft an die Menstruationstermine an.
Klinisch symptomatologisch betrachtet sind diese soeben geschilder-
ten Formen keine reinen Manieen, sondern — je nach der Entstehung —
Manieen mit Wahnsinnselementen untermischt, oder aber direct manische
Wahnsinnszustände. Es existiren hier keinerlei feste Grenzen, sondern
die fliegendsten Uebergänge. Im Speciellen mischen sich auch die ge-
nannten Zustände so vielfach, dass in demselben Krankheitsverlaufe rein-
manische und wahnsinnig-manische Formen miteinander abwechseln kön-
nen. Es ist hier ein ganz ähnliches Verhältniss wie bei gewissen Varie-
täten der Melancholie auf invalider Grundlage (s. d.): hier wie dort stehen
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Specielle Manie.
die bezüglichen klinischen Symptomenbilder in der Mitte zwischen Me-
lancholie (Manie) und hallucinatorischem Wahnsinn, beiden zugehörig, aus
beiden ihre Elemente entnehmend. Eine tiefere nosologische Betrachtang
erkennt in diesem Vorkommen die allgemeine Neigung des invaliden Ge-
hirns „in den Wahnsinn zu schillern". Die Besprechung speciell dieser
Form des Furor, als einer manischen Abart, geschieht auch nur in Rück-
sicht auf die klinischen Fälle, bei welchen die manische Betonung
des Symptomenbildes vorwiegt, also a potiori (relative Selbständigkeit
der entfesselten psychomotorischen Acte, Vorherrschen der zornmlithigen
Stimmung — gegenüber der in Folge der leitenden Hallucinationen ka-
leidoskopisch wechselnden, im Uebrigen farblosen, des acuten manischen
Wahnsinns). Zur Vervollständigung ist übrigens dieser und namentlich
auch der primäre Verfolgungs- und Grössenwahn beizuziehen, welch1 letz-
terer in seiner manischen Form das Pendant des obigen Bildes, nur mit
überwiegendem Wahnsinnscharakter, darstellt.
Der Verlauf dieser Formen ist gewöhnlich ein schwieriger. Die
manische Aufregung hat zwar ihre Schwankungen und Remissionen,
aber meist nur in kleinen Breiten. Für directe Vorstellungen und
Belehrungen (bei der einfachen Manie so eindrucksvoll und wirksam
selbst auf der Krankheitshöhe!) bleibt der hier ungleich tiefer ge-
störte Kranke unzugänglich; auch gemüthliche Einwirkungen prallen
machtlos ab. Die Stimmung ist bald heiter exaltirt, bald düster,
einmal jubelnd ausgelassen und muthwillig, dann wieder indifferent
und staunend, bald bittend und resignirt, bald ängstlich befangen;
vorzugsweise aber bleibt der Grundton vorwurfsvoll und heraus-
fordernd — mit scheinbar unmotivirt sich vollziehenden Uebergängen.
In der Folge brechen aus dem umdüsterten Bewusstsein erst einige
Schlaglichter auf (der Kranke klagt über seine Kopfkrankheit, über
Angst, über den bösen Feind, der ihn wttthend mache); aber in der
Regel tauchen sie noch in der allgemeinen Verwirrung wieder unter.
Häufig werden neuralgische Symptome geklagt. Im Verlauf von
Monaten erst stellt sich grössere Ruhe ein; das triebartige motorische
Gebahren lässt nach. Manchmal tritt aber jetzt die verwirrte Ideen-
flucht erst recht hervor. Auch das Benehmen des Kranken ist lange
noch verkehrt (Herumlungern, In-die-Sonne-schauen, Anstarren von
Wänden, Theilnahmlosigkeit). Die Stimmung ist dazwischen un-
natürlich heiter, muthwillig. Allmählich macht sich aber doch mehr
sittlicher Ernst geltend. Der Sinn für natürliche Interessen, für
Familie und Heimath erwacht wieder. Der Kranke wird empfäng-
licher für edlere Genüsse; auch die Rede wird klarer, jedoch erst nur
oberflächlich; sowie man tiefer geht, wirbelt noch der verwirrteste
Grund auf, und damit auch die frühere Reizbarkeit, welche immer
noch periodische Explosionen setzt (versagter Entlassungswunsch!).
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Furor. Verlauf. Ausgange. — Moria.
105
In ruhigen Zeiten erzählen jetzt die Kranken von ihrem reichen
hallucinatorischen Innenleben während der Krankheitszeit; nicht selten
aber decken sie anch den veranlassenden depressiven Affect auf, welcher
sieb wie ein rotlier Faden durch die Krankheit hindurchgezogen, die ge-
reizte Stimmung unterhalten und die krampfhaften Wuthparoxysmen ver-
anlasst hatte.
Die Keconvalescenz muss schrittweise erkämpft werden und
zieht sich oft lange hinaus. Die Erinnerung ist entsprechend dem
Grad der Bewusstseinsstörung oft nur eine summarische ; viele Kranke
wissen nur noch von einer „Unruhe im ganzen Körper" zu erzählen,
worüber sie in einen solchen Zorn geratben seien, dass sie sich nur
durch Toben zu helfen gewusst hätten. Hebung des Körpergewichts
und der Ernährung begleiten dieselbe in gleichem Schritte. Manch-
mal setzt sich auch ein Paroxysmus aus mehreren periodischen An-
fällen, mit stupidem Intervall (stilles, wortkarges, kleinlautes Wesen),
zusammen. — Tritt keine Genesung ein, so geht der Zustand ent-
weder in 1. zunehmende psychische Schwäche mit zeitweiligen Furor-
paroxysnien, sehr oft mit Degenerescenzsymptomen (degenerative
Manie); oder 2. in chronische Manie; oder 3. in periodische Manie
(s. d.) über, mit anfänglichen Intermissionen, welche aber immer mehr
zu Remissionen werden, mit dem Charakter geistiger Schwäche und
krankhafter Reizbarkeit oder beigemischten Elementen von Verfol-
gungswahn. —
Die Manie auf der Grundlage psychischen Schwach-
sinns — die Moria der älteren Autoren — zeigt sich bei einer
1. Gruppe von Fällen als das Gemisch von einer modificirten Mania
mitis und von Furor. In den psychischen Grundzügen derselben
begegnen sich die psychische und motorische Aufregung, der anormale
Thätigkeitsdrang und die heitere Verstimmung der erstgenannten
Form mit der krankhaften Affectbereitschaft der zweiten: die Indo-
lenz des Blödsinns mit der Gemüthsreizbarkeit der Manie. Tolles
Gebahren, einfältige aufdringliche Geschwätzigkeit, nicht selten mit
der charakteristischen raisonnirenden Disputirsucht ; eine unbesorgte
nur in der Minute lebende Nonchalance der Stimmung mit plumpen
Spässen und unfläthigen Anspielungen; ein freches, muthwilliges
Gebahren mit sinnlosem, schallendem Gelächter oder grinsendem
Fratzenschneiden; ein Faseln in platten Redensarten oder in im-
provisirten dummen Fragen, welche zugleich als Antwort auf ernste
ärztliche Zurechtweisung dienen; dabei keine eigentlich gröberen
Ausschreitungen, sogar ein lenksames Wesen, so lange die Wünsche
des Kranken erfüllt werden ; auch keine Hallucinationen und Wahn-
ideen; dagegen zeitweise vage hypochondrische Klagen mit alberner
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106 Specielle Manie.
Motivirung — Das sind die Hauptzüge dieses manischen Blödsinns-
zustandes. Die Moria kommt in dieser Form bei imbecillen Indi-
viduen als selbstständige Erkrankungsform vor; bei invaliden Ge-
hirnen aber erscheint sie als Uebergangsstadium aus der typischen
Manie in die Genesung, oder auch als definitiver Endzustand eines
durch wiederholte manische Eingriffe bankerott gewordenen Gehirn-
lebens. Die relative, oft sogar beträchtliche Verstandesschonung,
namentlich im Beginn, bringt die Kranken nicht selten in Conflicte
mit dem Strafgesetz. Der Verlauf kann ein recht langwieriger sein,
insofern die ausserordentlich erregbaren und geistig schwachen Pa-
tienten überall mit der Wirklichkeit in Collision kommen, welche
sie jeweils durch manische Rückfälle büssen.
In einer anderen 2. Gruppe von Fällen erhält das klinische Bild
der Moria eine Beimischung von expansivem (fixem) Wahn — nament-
lich Christuswahn — und ebenso auch von zahlreichen Illusionen und
Hallucinationen, besonders des Gehörs und Gesichts. Die Krankheit be-
ginnt in der Regel brÜ9k, ohne auffällige Vorläufer, als eine allgemeine
psychische Aufregung mit perversen oder frivolen Streichen (unbefugtes
Zusammenläuteu von Kirchenglocken, Störung des Gottesdienstes oder
der öffentlichen Ordnung durch phantastische Kleidung und faschings-
gemässes tolles Gebahren), wobei ein leidlicher Grad von Besonnenheit
noch vorhanden, oder durch die Force majeure (Einschreiten gegen den
Kranken) aufgerufen werden kann. Die Stimmung vergleicht sich am
nächsten einer montirten Weinlaune, das Bewusstsein dem Niveau eines
Halbbetrunkenen. In der Folge wächst die Verwirrung und die bis zur
Uebermacht andringende Fülle und Macht der Sinnestäuschungen, während
das Bewusstsein sich traumartig verdunkelt und das Handeln des Krau-
ken in ein entfesseltes Spiel reflectorischer Acte bis zum Zerstören, Zer-
reissen und ziellos gewaltthätigem Gebahren — theils spontan, theils durch
Hallucinationen und illusorische Verkennungen geleitet — sich auflöst.
Stellt die vorige Form der Moria im Bild und im Verlauf ein Mixtum
von Mania mitis (auf schwachsinniger Grundlage) mit dem Furor dar, so
diese ein Gemisch von Mania mitis (resp. Moria) mit Mania gravis. In
der That wechselt der weitere Decursus episodisch zwischen den beiden
genannten Zustandsformen, und richtet sich namentlich im Endschicksal
nach dem Grad der intercurrenten Mania gravis- Anfälle. Ausnahmslos
ist der Verlauf ein länger dauernder, nie unter mehreren Monaten. In
günstigen Fällen tritt der Kranke „genesen", ja manchmal viel cultivirter
aus seinem Anfall — freilich in der Regel auch mit dem aufgefrischten
Patent auf Recidive. Aus den höheren und längeren Aufregungszustän-
den wird stets eine wesentliche Zunahme der Imbecillität in die „Gene-
sung" mit hinübergenommen.
Die Mania gravis.
Die unter der Eingangsdefinition hier untergebrachten Krank-
heitsbilder entsprechen in ihrer Mannigfaltigkeit zweifellos auch der
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Moria. — Mania gravis.
107
verschiedensten pathologisch -anatomischen Grundlage. Ein Theil
a) derselben ist wohl noch „functioneller Natur", wenn auch auf
Grundlage einer tiefen Ernährungsstörung des Gehirns mit Ausgang
in dauernde Functionsschwäche (Blödsinn) ; die andere b) dürfte da-
gegen sicher auf organischen Hirnreizzuständen beruhen, welche als
Uebergänge zu den palpabeln, subacuten und chronischen Meningeal-
nnd Cerebralaffectionen aufzufassen sind. Die Krankheitsgruppe der
Mania gravis bezeichnet somit auf unserem heutigen Standpunkte
noch einen weiten klinischen Sammelnamen.
Typus a. Die Prodromi dieser Gruppe bestehen in einem
gemischten Zustande von vager Depression und Verwirrtheit, unruhig
aufgeregtem Wesen mit planlosem Thätigkeitsdrang, abwechselnd mit
hypochondrischen oder melancholischen Anwandlungen auf Grundlage
einer primären tiefen Bewusstseinsstörung. Der Ausbruch der eigent-
lichen Krankheit erfolgt in raschem Anstieg durch Steigerung der
motorischen Unruhe, manchmal in Form eines brutalen Gewaltactes
gegen die Umgebung. Jetzt bleibt ein wildes Toben mit blindem,
sinnlosem Zerstörungsdrang neben anhaltender Betäubtheit. Der
Kranke beginnt zu faseln oder geht auf in triebartig motorischem
Gebahren, worin er unwählerisch im Schmutze wühlt, die Wände
abreibt, sich besudelt etc.
Von der Umgebung wird entweder Nichts wahrgenommen, keine
Frage beantwortet, oder aber Alles verkehrt, in beständig wechseln-
den Illusionen ; der Kranke lebt nur in der Minute ; er zerstört, zer-
reisst, zerzupft, verspielt sich mit den Fetzchen unter blödem Lachen,
oder mit der affectlosen Erwiderung: es seien Gold und Kostbar-
keiten. Er lebt ausser Raum und Zeit; er ist 1000 Jahre alt, und
doch in der nächsten Minute wieder er selbst; jetzt König, gleich
darauf wieder Bauer, — er fühlt weder den Sinn der einen noch
der andern Aussage, er redet, wie man ihn stimmt. Mit der gemüth-
lichen Indolenz wechselt eine zeitweilige höchstgradige Reizbarkeit
ab, so zwar, dass der Kranke wegen einer Lappalie, wegen eines
Angriffs auf seine Lumpen und Läppchen, auf die Steine, womit
er seine Taschen vollpfropft u. 8. w., in brutalste Gewaltthätigkeit
Ubergehen kann, um gleich nachher wieder in die alte Gleichgültig-
keit zurückzufallen. Jede neu begegnende Person ist verwandt mit
ihm; junge Leute begrüsst er als Vater und Grossvater; jeder Aus-
spruch ist Augenblicksconception auf der Grundlage unbesinniicher
Schwäche. In seinen faselnden Monologen schwatzt der Kranke von
„eingehauchter Gotteskraft", von fabelhaftem Reichthum (drei Tril-
lionen); dazwischen auch wieder von den Hexen und Teufeln, die
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Specielle Manie.
ihn plagen, die er sammt den „Räubern und Mördern" erlösen muss.
Die Sprache wird nicht selten unbeholfen und mühsam, jedoch ohne
eigentlich paralytischen Charakter. Die schon von Anfang an ge-
sunkene Ernährung leidet immer mehr Noth theils durch das un-
genügende Essen, theils durch das heisshungerige Verschlingen unter
eigener Zuthat von allerlei schmutzigen und unverdaulichen Ingre-
dienzen. Die Körpertemperatur sinkt auf subnormale Nummern
(8. Allg.). So dämmert der Kranke durch Monate dahin, ganz nur
in seinen Faseleien, einem wirren, durch melancholische und Grössen-
wahnsfragmente vermischten Vorstellungsleben befangen, welchem
jedoch auch lucidere Momente nicht fehlen. — Andere Kranke wieder
sprechen Monate lang gar nicht, äussern nur spontan ein unarticu-
lirtes Lachen oder stupides Heulen und arbeiten Tag und Nacht
ruhelos in ihrem sinnlosen Bewegungs- resp. Zerstörungstrieb weiter.
Sie genUgen sich , wenn sie nur immer für ihre Geschäftigkeit ein
geeignetes Object finden. — Wieder Andere dagegen gerathen in
ein ganz verkehrtes Gebahren: sie machen mitten aus ihrer Lethargie
heraus sonderbare Sprünge, nehmen eigentümliche Stellungen ein,
sehen in die offene Sonne, kleiden sich ganz barock etc. In der
Stimmung verbleibt gewöhnlich als Grundzug die heitere Indolenz
mit Interesselosigkeit für alle frühem Beziehungen, welche nicht
mehr für den Kranken existiren. Zeitweise kann die Stimmung auch
von stupider ausgelassener Heiterkeit bis zum dumpfen Trotze wechseln.
Nicht selten laufen Anfälle von blinder Gewaltthätigkeit unter, oder
auch Phasen von Singen oder lautem Peroriren durch Tage und
Nächte hindurch.
Der gewöhnliche Verlauf (acuter, letaler Verlauf 8. u.) ist ein sub-
acuter oder chronischer: 1. in Heilung mit Defect (mehr minder ausge-
sprochener Schwachsinn mit Reizbarkeit); 2. in apathischen Blödsinn.
In beiden Fällen hebt sich die Körperernährung; bei ungünstigem Aus-
gang manchmal unter überstürzt rapider Fettbildung (in 4 Monaten
46 Pfd. bei einem Falle meiner Beobachtung). Aber auch vollständige
Genesung ist nicht selten. Ich sah sie a) nach einem sehr ausgedehnten
Schwächenachstadium mit depressiver gereizter Verstimmung, Verkennen
der Personen, Illusionen des Geschmackssinnes, Angstanfällen, andauern-
dem heftigem Kopfweh mit zeitweiliger Stupidität — nach Monatsfrist
erfolgen. Andremale /*) ist das Uebergangsstadium zur Genesung durch
einen einfachen hochgradigen Blödsinn gekennzeichnet, mit Interesselosig-
keit gegen Alles, ausser der krankhaft gesteigerten Bssgier: die Kranken
lungern Tage lang auf den Bänken herum, lachen höchstens in alberner
Weise vor sich hin, oder vociferiren Unsinniges; doch taucht darunter
bald auch manches beachtenswerthe Fragment aus der ursächlichen Krank-
heitsanamnese auf. Ein dritter y) Verlaufsmodus geht durch das Zwi-
schenstadium von Moria in die Reconvaleacenz über. Hier bleibt nach
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Mania gravis. Krankheitsbild. Verlauf.
109
Abklingen der Manie — unter zunehmender Lucidität — noch wochen-
lang ein manischer Uebermuth mit der charakteristischen grossen Reiz-
barkeit, Ignoriren des Decorum und sehr oft einem kindisch sich ver-
spielenden Sammeltrieb.
Interessant ist speciell bei diesen manischen Unterarten die vorüber-
gehende Coupirung des sinnlosen motorischen Gebahrens durch Hyoscyamin
und die manchmal etappenweise (mit jeder neuen Gabe) sichtbare Be-
schleunigung der Reconvalescenz.
Typus b. Die Einleitung zu dieser Gruppe (der wirklichen
Hirnreizzustände) besteht in einem zerstreuten Wesen mit zunehmen-
der Vergesslichkeit und Ungeschicklichkeit in den geläufigsten Tages-
geschäften, und einer zwischen Heiterkeit, Gedrücktheit, Indolenz
motivlos abwechselnden Stimmung. Manchmal, besonders anf alko-
bolistischer Grundlage, können diese Prodromi auch fehlen und die
Manie fast plötzlich mit voller Stärke ausbrechen. Die manische Er-
regung selbst kann 1 . vornehmlich das Vorstellungsorgan betreffen und
mit einem Uberhitzteu verworrenen Gefasel von allerlei Grössenwahn-
tragmenten („Millionen und Milliarden", „Himmelskönigin", Überall
„Gold und Götter" u. s. w.) einsetzen, welche in jagendem Tempo,
dabei in tausendfacher Combination und mit einer duseligen Glück-
seligkeit recitirt werden. Mit den abrupten Grössenwabn - Delirien
wechseln in jähem Uebergang solche der Kleinheit, wobei die Kran-
ken schmerzerregt weinen und heulen, manchmal in kindischem
Jargon vociferiren. Gewöhnlich wechseln megalomane und mikro-
mane Stunden und Tage unregelmässig ab. Dabei besteht eine Ver-
worrenheit grössten Styls. Keine Spur irgend eines durchziehenden
Vorstellungskerns; dagegen jagen Einfälle aller Art, oberflächliche
Assonanzen, oft in abgehetzten Reimen, Illusionen, wirkliche und
erdichtete Worte, daneben aber auch richtige Perceptionen , bunt
durcheinander. Begleitend gebt mit eine ebenso fragmentare, in allen
Registern spielende Stimmung, und ein sinn- und planloser Tätig-
keitsdrang, oft mit Raptus von Gewaltthätigkeit. Der Puls ist zeit-
weise sehr frequent, die Temperatur sehr häufig bis 39", selbst
darüber, erhöht. Die Ernährung sinkt. Motorische Störungen fehlen
oft dauernd; keine Ataxie, keine Sprachstörung, nur hin und wieder
Myosis. Im Verlauf von Monaten und unter Remissionen bildet sich
eine immer ruhigere psychische Schwäche aus, mit Erhaltung von
gewissen automatischen Bewegungen (Sammeln, Reiben, Zerzupfen).
Psychisch hat diese Störungsform eine gewisse Aehnlichkeit mit den
luitialzuständen der Paralyse, von welcher sie sich nur durch den
Mangel der charakteristischen Motilitätsstörungen unterscheidet (manch-
mal können übrigens die letzteren auch noch nachrücken!). — Eine
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110
Spccielle Manie.
andere klinische Gruppe 2. ist charakterisirt durch ihren vorwiegend
deliranten Charakter mit massenhaften Hallucinationen aller Sinne.
Diese beginnt in der Regel acut (nach kurzen Vorläufern von Zer-
streutheit, morosem Wesen und Schlaflosigkeit) mit hallucinatorischer
Verwirrung und heftiger Aufregung und wiederum zeitweiligen Re-
missionen. Das Anfangsbild kann dadurch einen ausgesprochen re-
mittirenden Charakter, selbst mit tauschend luciden Intervallen, an-
nehmen. Die Aufregung selbst schwankt zwischen depressiv ängst-
lichen und exaltirten Phasen, der delirante Inhalt zwischen Vorstellungen
der Grösse, Verfolgung (Giftwahn) und Selbstbeschuldigung; nicht
selten auch der körperlichen Metamorphose (die Kranken haben einen
andern Kopf, vertauschte Körper, haben sogar mehrere Körper in
sich u. s. w.). Die Krankheit nimmt nun symptomatologisch einen
wechselvollen Verlauf, dessen gesetzlos sich combinirende psychische
Zustandsformen vornehmlich durch diese Regellosigkeit der Aufein-
anderfolge auf einen palpabeln organischen Hirnprocess hinweisen
(s. Cerebropathieen). Manische Exaltationen unter dem Bilde des
Furors (mit convulsiver Reizbarkeit, schreckhaften dämonomanischen
oder Verfolgungs - Hallucinationen) wechseln mit leichtern Formen
psychomotorischer Aufregung, oder andererseits mit zeitweiligen Stei-
gerungen bis in die perniciösen Reizzustände des Delirium acutum.
Das motorische System betheiligt sich bald durch fluchtige, grob
motorische Störungen (grimassirende Mimik, fibrilläre Zuckungen,
unharmonische, durch verstärkte Action der Antagonisten oder ein-
zelner Synergisten gestörte Bewegungen, Verdrehen und Aufwärts-
rollen der Augen u. s. w.). Dabei vollständige Incohärenz der Vor-
stellungen, welche oft nur noch in hervorgestossenen vereinzelten
Worten oder Wortfragmenten sich kund geben.
So tritt nicht selten schon nach kurzem Verlauf der Exitus letalis
ein unter Starrwerden der Züge, rapidem Zerfall des Gesichtsausdrucks
(Leichenphysiognomie), kleinem und sehr frequentem Pulse, Parese der
Schlingmusculatur, muldenförmigem Einsinken des Unterleibs, versatiler
Unruhe, unartikulirtem Schreien mit Gaumenton, Erweiterung der Pu-
pillen, zeitweiligem Trismus, abwechselnd mit Parese (bei der Section
Trübung und Oedem der weichen Häute mit partieller Verlöthung mit
der Corticalis). — In andern Fällen erfolgt der Tod unter zunehmendem
Sopor, faselndem Delirium mit vereinzelten halbluciden Momenten, un-
ruhigem Herumwälzen im Bette, abwechselnd mit Prostration, rascher
Erhöhung der Temperatur (40 .4) und enormer Respirations- (60) und
Pulsbeschleunigung (ICO— ISO). — Glücklicherweise wird in der Regel
diese Höhe des Hirnreizes nicht erreicht, und ist nach einigen Tagen die
drohende Katastrophe überwunden.
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Mania gravis. Ausgänge.
111
Manchmal tritt jetzt ein zeitweiliger scharf eingehaltener Typus
zwischen Tagen von starker manischer Aufregung und wiederum
relativer Ruhe ein. In den Remissionen, welche ganz unvermittelt
sich einstellen, macht sich eine Schwäche -Erregtheit geltend mit
vielen Wünschen, Redseligkeit, Plänemacherei. In den Exacerba-
tionen rückt eine traumartige Bewusstseinsverdunkelung ein mit Hallu-
cinationen sämmtlicber Sinne, GrÖssenwahndclirien (Gott, Kaiser),
furorartigen Ausbrüchen gegen die illusorisch verkannte Umgebung,
heftigem Zerstörungsdrang, und oft unbändiger sexueller Erregung
(Onanie). Der Steigerung der Eigenwärme (bis 39°) ist oben schon
gedacht worden. Nach und nach, unter stetem Wechsel von grad-
weise stärkeren und schwächeren manischen Paroxysmen und Fort-
dauer der Uallucinationen, greift eine zunehmende psychische Schwäche
durch, in welcher die Halluzinationen einen immer mehr imperativen
Charakter erhalten, oft in Vogel- und Menschenstimmen reden, höhnen
und necken, alle Ungereimtheiten zumuthen und zu heftigen tobsüch-
tigen Reactionen vorübergehend antreiben. Zu den Täuschungen der
höheren Sinne können sich auch noch Allegorisirungen aus spinalen
Hyperästhesieen aller Art gesellen (elektrischer Verfolgungswahn). All
mählich wächst der geistige Verfall; der Kranke wird ruhiger, aber
ganz dämmerhaft in seinem Bewusstsein, welches jetzt von zerfahrenen
Wahnvorstellungen der Grösse und der Verfolgung (Fürstenrang —
Jesuitenvcrfolgung — elektrischen Quälereien u. s. w.) ganz systemlos
angefüllt wird. Der Kranke bietet an ruhigen Tagen das Bild einer
hallucinatorischcn Verworrenheit mit einzelnen noch erhaltenen Resten
früherer Associationen; er kramt affectlos seine zerfahrenen Vor-
stellungen in endlosen confusen Schreibereien aus; an unruhigen Tagen
stellt er eine Art Marionette dar, an deren Fäden nach allen Seiten
gezogen wird (choreatische Verzerrungen des Gesichts und der Glieder,
dazwischen allerlei Zwangsstellungen und automatische Bewegungen)
bei tiefer Bewusstseinsstörung. Die geistige Schwäche wird immer
grösser und führt progressiv — oft unter alternirendem Wechsel von
manischen und apathischen Tagen — in unheilbaren Blödsinn, wobei
noch auf Jahre hinaus Remissionen und Exacerbationen, letztere mit
dem krampfhaft motorischen Automatenspiel, erhalten bleiben können.
--In andern Fällen geht die hallucinatorische Mania gravis nach
monatelanger Dauer in eine galoppirendc Paralyse über (s. d.).
Sämmtlichen Formen der Mania gravis droht — und zwar in allen
Verlaufsstadien — der mögliche Ausgang in letale Erschöpfung als Folge
der motorischen Ruhelosigkeit und der neurogenen Ernährungsstörung.
Es ist entweder der directe „llirntod", oder der irreparable „Banquerott
aus dem mit vollen Händen Zins und Capital gleich ausgebenden Wärme-
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112
Specielle Manie.
verlust" (Zenker), welcher den magern, blutarmen, motorisch abgehetz-
ten Kranken der definitiven Ruhe (innerhalb 5 — 15 Monaten) entgegen-
führt. Nicht so selten wird auch der Umweg durch eine extracerebrale
Erkrankung, mit Vorliebe eine Pneumonie, beschritten. —
Die chronische Manie kann sich aus jeder der vorbeschrie-
benen klinischen Hauptformen entwickeln, jedoch nur auf Grundlage
bestimmter ätiologischer resp. cerebraler Bedingungen.
So tritt die Mania mitis nur bei circulären Seelenstörungen in chro-
nischer Form auf; als solche kann sie über Jahresfrist währen, bis die
alternirende melancholische Phase oder das Intervall eintritt. Die Mania
gravis wird auf der Grundlage starker erblicher Belastung und nament-
lich nach mehrmaligen Recidiven chronisch, und geht dann in die dege-
nerative Manie (s. d.) Uber.
Auch die furiose Manie kann sich, wenn auch mit Ruhe-(Er-
8chöpfungs-)Pausen bei tief anämischer Constitution und namentlich
auf phthisischer Grundlage Jahre lang hinausziehen.
Die Entfesselung der Triebe, der Bewegungs- und Rededrang spielen
sich fort; zugleich greift eine immer umfänglichere Verkennung der Um-
gebung — je nacli zufälligen Einschlägen der regellosen Ideenassociation
— Uberhand, meistens auch ein fackelnder GrÖssenwahn, welcher bald
in diesem, bald in jenem Einfall sein vorübergehendes Genüge findet.
Darunter zieht sich eine beharrlich gereizte Stimmung hin, welche bei
jeder leisesten Entgegnung, ja selbst bei einer zufälligen unangenehmen
Reproduction sofort in einem Zornparoxysmus, oft von tagelanger Dauer,
sich entlädt, den Kranken nie zur Ruhe kommen lässt und so nicht selten
rasch dem Blödsinn zuführt.
Auch die typische Manie hat ihre chronische Verlaufs-Varietät.
Die individuellen Momente, welche die Abweichung der cerebralen
Hyperästhesie lange nicht gestatten und dadurch den Verlauf hinaus-
ziehen, sind theils lebhafte, immer wieder exaeerbirende psychische
oder somatische Neuralgieen (emotive Erinnerungen), theils wiederum
tiefe Constitutions-Anomalieen, namentlich hartnäckige Anämieen mit
Ernährungsstörungen, sexueller Abusus; bei Frauen profuse Menses.
Das Krankheitsbild schliesst sich ganz an das der typischen Manie
an, deren protrahirten Verlauf es darstellt. Die Kranken bleiben Uber
Jahresfrist in der psychomotorischen Erregung, in der Vorstellungsflucht,
in dem in allen Registern spielenden Stimmungswechsel. Dabei prägt
sich in der Entartung (tiefer stehenden Qualität) der psychischen Einzel-
symptome die zunehmende Schwere der Hirnaffection aus. Die Vorstel-
lungsflucht wird zur ungeordneten Verworrenheit, die früher formvollen
(„gewollten") Bewegungen erhalten den Charakter des Zwangsmädsigen,
Stossweisen, Automatischen; die Perception der Umgebung wird immer
unklarer und gefälschter, das Bewusstsein benommener und betäubter,
ohne vorübergehende Erholung zur Besonnenheit (Unterschied von der
„degenerativen Manie" s. Str., wo gerade die Lucidität des Bewußtseins
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Chronische Manie. Klinische Formen. Verlauf. Ausgänge. 113
neben dem krankhaft erregten Triebleben charakteristisch ist). Das
ganze Benehmen, alle Aeusserungen der Lust und Unlust erhalten etwas
Brutales (rohes Lachen), welches sich auch in den Gesichtszügen dauernd
wiederspiegelt. Endlich geräth der Kranke in einen eingewohnten Tages-
lauf, in welchem sich dieselben Vociferationen und Schreie, dieselben Gesti-
culationen, dieselben Verkennungen der Umgebung stets wiederholen. Die
Stimmung ist, entsprechend den ungeordneten und keiner äussern Cor-
rectnr zugängigen Einfällen, eine höchst wandelbare, oft kindisch heitere
oder gereizte; oft erotische. Das ganze Krankheitsbild enthält eine Bei-
mischung von blödsinniger Schwäche zu den manischen
Symptomen. Der Sinn für das Decorum geht verloren, der Kranke
entblösst sich rücksichtslos; er geht in schmutzigen und zerrissenen Klei-
dern einher; Ansprachen beantwortet er nicht, oder mit Tritten und
Stössen; er rafft zusammen, was er bekommt, namentlich Essgegenstände,
verschlingt dazwischen auch Ungeniessbares, verfällt in zunehmende Un-
redlichkeit, salbt sich mit Urin, Stuhlgang, Oel, Tinte u. s. w. ein (viel-
leicht gegen anästhetische Gefühle — einzelne Kranke wenigstens ver-
langen oft stärkende Dinge, weil sie sonst „Simpel" würden). Ohne
erkennbare Ursachen, ohne bestimmten periodischen Verlauf, stellen sich
in der Folge wieder Paroxysmen von triebartiger Heftigkeit ein, in wel-
chen die Kranken sich wild umherwerfen, speien, treten, massenhaft
ausspucken, zerreissen, wilde Brülltöne ausstossen. Dazwischen schieben
sich auch mildere Grade von Aufregung mit mehr Moria-ähnlichem Cha-
rakter und allerlei, oft choreiformen, GesticuUtionen. Zu andern Zeiten
wechseln manische stupide Phasen ab, wobei der umherlungernde Kranke
in dem steten Auf- und Zuknöpfen der Kleider, im stundenlangen Reiben
des Gesichts und der Hände, in seinen pauselosen Monologen aus den
verworrensten, durch wechselvolle unklare Affecte zusammengewürfelten
Vorstellungen immer noch die Elemente der „Manie" im Blödsinn her-
vortreten lässt. — In einer andern klinischen Varietät nimmt die sich
protrabirende typische Manie den Charakter des aufgeregten Wahn-
sinns an; es mischen sich immer mehr Sinnestäuschungen, und zwar
mit zunehmend imperativem Charakter, ein; der Kranke füllt sich mit
einem religiösen oder politischen Grössenwahn an und tritt demgemass
gebieterisch oder herausfordernd auf; er ist der vortrefflichste Mensch
der Welt. Christus u. s. w. Manchmal kommen diese wahnsinnigen Exal-
tationsphasen nur episodisch (zugleich mit Congestivzuständen zum Kopf j,
und werden in den freieren Zeiten nach Seite ihrer megalomanen Ueber-
schreitungen vom Kranken selbst in ärgerlicher Weise corrigirt („er wisse
gar nicht, wie dieses Zeug ihm immer wieder in den Kopf komme"); in
der Zwischenzeit bleibt eine unmotivirt wechselnde, in ihren Grundzügen
anspruchsvolle und höchst reizbare, disputirsttchtige Stimmung (Unterschied
von der „remittirenden Manie", wo die Intervalle ruhig, eher apathisch
und täuschend lucid sind).
In günstig verlaufenden Fällen tritt oft nach endlosen Paroxysmen
nach und nach Abspannung ein. Der Kranke wird weniger reizbar, lenk-
samer, die nächtliche Unruhe seltener; es wird Reinlichkeit beachtet.
Körperlich hat sich vor dieser beginnenden Erholung die mit den Paro-
xysmen bis dabin schwankende Körperernährung endlich definitiv ge-
Bcbflle. OeUtoekrukheiten. S. Aufl. b
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1U
Die psychischen Schw&chezustande.
hoben und nimmt täglich zu, oft unter einem wahren Wolfshunger des
Patienten. Die Züge werden geistiger. Ab und zu tauchen gemüthlichere
Kegungen, natürliche Interessen, Krankheitsbewusstsein auf.
Die Reconvalescenz ist in der Regel durch immer wieder aufflackernde
psychische Reizbarkeit und Empfindlichkeit eine schwierige, und erkämpft
ihre Fortschritte immer erst unter recidiven, wenn auch abklingenden,
Nachschüben. Aber allmählich wird doch die volle Genesung erzielt,
während gleichzeitig die Backen rund und frisch geworden sind. In-
teressant ist, wie oftmals jetzt bei der Selbstrecapitulation des Kranken
die Affectkerne sich aufdecken , welche durch den ganzen Krankheits-
verlauf (oft durch Neuralgieen gestützt) andauerten, und die falschen Per-
ceptionen und die krankhaft gereizte Stimmung bedingten. — Eine volle
Genesung kann noch nach anderthalbjähriger Dauer eintreten.
Die psychischen Schwächezustände.
Literatur. Kraepelin, Arch. f. Psych. 13. — Weiss, Compend. d. Wiener
med. Wochenschr. 16S3. — Forense Beurtheilung s. K rafft- Ebing etc. — Jastro-
w i tz, Allg. Zeitschr. f. Psych. 39.
Jede Psychose, auch die des rüstigen Gehirns, hat eine geistig
niederziehende Kraft. In dem Gemtithszwang der Melancholie, wel-
cher zur Hemmung des Denkens und zur Willenlosigkeit führt, wie
nicht minder in der schrankenlosen psychischen Entfesselung der
Manie liegt ein den Bestand des Seelenlebens schwer gefährdendes
Moment. Glücklicherweise ist in der Mehrzahl der frischen nnd
ersten Erkrankungen die grundliegende nervöse Störung eine (wenig-
stens in Grenzen) herstellbare. Sehr leicht kann aber bei invalider
Hirnanlage, oder bei häufiger Wiederholung, oder auch durch un-
günstige Umstände aus der Umgebung die Schädigung zu einer irre-
parabeln werden; so folgt eine dauernde Invalidität oder auch Ver-
nichtung des geistigen Hirnorgans als der natürliche Ausgang. Wir
sprechen dann im Allgemeinen von geistiger Schwäche.
Praktisch ist diese generelle Bezeichnung ein Sammelname für
eine reiche Mannigfaltigkeit an klinischen Symptomenbildern. Es
gibt nämlich eine jede der psychischen Primärformen ihrem nach-
folgenden Schwächezustand eine gewisse specifische Färbung mit,
so dass die verschiedenen Blödsinns-Arten mehr weniger beigemischte
Schattirungen bewahren, welche an den einstigen Ausgang und ur-
sprünglichen Krankheitstypus erinnern. Erst die vorgeschrittenen
Grade der geistigen Schwäche bringen eine Art Nivellirung zu
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Allgemeines. Psycholog. Analyse der „psychischen Schwäche". 115
Stande, aber in sehr vielen Fällen nicht ganz. So behalten die
ätiologischen Untergruppen der masturbatorischen Melancholie und
des sexuellen Verfolgungswahnes immer noch einige bestimmte
Nuancirungen ; der Blödsinn aus hysterischer, hypochondrischer,
epileptischer Anlage ist eigenartig gefärbt; der paralytische, kata-
tone, stupuröse Blödsinn sind in gleicher Weise ebenso von einander
verschieden, als wiederum in gewissen ZUgen übereinstimmend. Für
die beiden letzten Formen kommt auch noch die weitere und wichtige
Unterscheidung hinzu, dass hier der Blödsinn nicht immer nur das
Endstadium, sondern sehr oft nur Durch gangsphase im Gesammt-
verlaufe bildet.
Gleichwohl lässt diese grosse klinische Mannigfaltigkeit der Typen
und Formen den alle vereinigenden symptomatologischen Charakter
nicht übersehen. Dieser liegt in dem Zeichencomplex, den wir eben
unter „psychischer Schwäche" im Allgemeinen zusammenfassen.
Dessen psychologische Umschreibung und Analyse ist deshalb an
erster Stelle hier zu geben. In dieses Schema werden sich dann
zunächst die melancholischen und manischen Schwächezustände in
ihren erfahrungsgemäss häufigsten Typen einzuordnen haben, als
Unterform en.
Die psychische Schwäche ist aber nicht nur eine erwor-
bene, sondern in unendlich vielen Fällen auch eine angeborene
(Idiotismus), und, wenn erworben, nicht immer nur ein Folgezustand
vorausgegangener Psychopath ieen. Auch körperliche Krankheiten,
acute Infectionen in erster Linie, schwächende Einflüsse durch Ex-
cesse, Constitution -Anomalieen, können oft genug dieselbe direct
erzeugen.
Analyse der geistigen Schwäche. Man bezeichnet mit diesem
Namen die unendlich mannigfaltige Stufenleiter in der geistigen Leistungs-
fähigkeit nach abwärts (vom Normalmenschen bis zum Idioten), welche
als gemeinsames Merkmal eine Verminderung des geistigen Könnens —
herab bis zum gänzlichen Ausfall resp. Stillstand der psychischen Func-
tionen, einzelner oder aller, aufweist (der Idiotismus seibat bildet wieder
eine eigene Form und Mischung, s. d.). Diese Verminderung oder Hem-
mung kann in zweifacher Weise zustande kommen: 1. durch gradweise
Unthätigkeit — Trägheit — in den psychischen Functionen; oder 2. durch
abnorm gesteigerte Reizbarkeit der letzteren, als überstürzte Perception
und Reproduction, vorschnelle und schwankende Gefühlsbetonung, unfer-
tige und dadnrch gefälschte Apperception.
Beide Formen der „anergetischen" und „erethischen" geistigen
Schwäche, des „torpiden" und „reizbaren" Schwachsinns, werden uns
später bei der Betrachtung der Moral insanity (nur von einer anderen
Seite aufgefasst) wieder begegnen. Sind es dort, im Gebiete des aitt-
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116
Die psychischen Schwächezustände.
liehen Schwachsinns, die beiden gegensätzlichen Typen des moralischen
Idioten und des Ubererregbaren sinnlichen Affect menschen , so tritt uns
hier, beim intellectuellen Schwachsinne, einerseits der Typus der passiven
Dummheit entgegen mit ihrem selbst für die Götter übermächtigen Wider-
stand und unbesiegbaren Phlegma, und andererseits die bornirte Schwach-
köpfigkeit mit ihrem oberflächlichen und abspringenden, stets unfertigen,
bald kindisch albernen, bald charakterlos wandelbaren Wesen.
1. Der torpide Schwachsinn — die anerge tisch e geistige
Schwäche. Die einfachste Form ist die der allgemeinen geistigen Ab-
stumpfung resp. Torpidität auf allen Gebieten, a) intellectueil: Wahr-
nehmungen von aussen erfolgen gar nicht (niederste Stufe), oder in mehr
minder beschränktem Grade. Dieselben werden aufgenommen, gehen auch
Associationen ein, werden aber nicht oder nur spärlich resp. unzureichend
zu höheren Reihenbildungen verdichtet. Dadurch entsteht eine Armuth,
unter Umständen ein gänzliches Fehlen der Begriffe, der „Ideen". Das
höhere Denken vermag sich in der Regel nur bis zum praktischen Uti-
litätsstandpunkt zu erheben. Ideen von allgemeinerem Umfang werden
nicht gebildet. Wo sie vorhanden sind, sind sie angelernt, oder aus
früheren Tagen geistiger Activität noch geblieben, aber mehr nur noch
als trockene, angehängte Schemata. Viele Wahrnehmungen, welche
nicht unmittelbar praktisches (resp. sinnliches) Interesse haben, gehen ver-
loren. Daraus entsteht eine stets mangelhafte, oft ungetreue, Reproduc-
tion, das geistige Interesse, die „active" Apperception , fehlt ganz, oder
ist nur auf möglichst starke und häufig wiederkehrende oder sinnlich an-
sprechende Wahrnehmungen gerichtet. Dadurch wird das gesammte Denken
monoton, und so einseitig, dass der Vorstellungsinhalt eines jeden Schwach-
sinnigen wieder eine speeifische Welt für sich ausmacht. Durch die
Schwäche der Associationen und das Fehlen höherer „verdichteter" Be-
griffe bleiben auch widersprechende Vorstellungen haften, welche aus dem-
selben Mangel auch subjectiv geduldet bleiben. Die Kritik fehlt. Alle
intellectuellen Operationen vollziehen sich schwierig und langsam. Daher
auch der geringe Grad von geistiger Productivität bis herab zur abso-
luten Sterilität, bei entsprechendem Tiefstand des Interesses. — b) ge-
muthlich: dieselbe Torpidität der Gefühle. Höhere Gefühle werden nicht
ausgebildet. Das Mitgefühl für Andere (das „Mitleid") ist dem entsprechend
defect, oder fehlt ganz. Um so entschiedener rücken die egoistischen
Gefühle und Strebungen in den Mittelpunkt, und diese wieder nur nach
der Kategorie des sinnlich Angenehmen oder Unangenehmen. Wie die
Gefühle aber einerseits schwer erregbar sind und oberflächlich bleiben, so
haften sie auch nur, wenn sie das niedere Interesse des Subjects berühren ;
dann aber zähe. Bei dem Fehlen zügelnder höherer Vorstellungen ist
die Emotivität theil weise eine sehr grosse, jäh aufbrausende; der Affect
übermächtig. In tieferen Graden des Blödsinns fehlen aber auch diese,
und das Gemüth bleibt gegensatzlos in der Ruhe des Kirchhofs. — c) psy-
chomotorisch: primitives Handeln ohne Weitblick, ohne Uebersicht der
Folgen und somit ohne genügende Zielbewusstheit. Es kann ein Zweck
da sein, aber dieser ist nur auf die niedrigsten Normen, entsprechend dem
Stand des Vorstellungs- und Gemüthslebens, eingestellt. In diesem be-
scheidenen Kreis kann sogar die Auswahl der Mittel eine bis zu gewissen
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Psychologische Analyse der „psychischen Schwäche". 117
Graden schlaue und berechnete sein: scharfsinnige Bornirtheit, „Dumm-
Pfiffigkeit/' Bei emotiver Anlage ist das Handeln ungehemmt triebartig,
überstürzend impulsiv. Nach beiden Seiten mangelt demselben — grad-
weise — die Selbstbestimmung«- und Dispositionsfähigkeit.
2. Der reizbare Schwachsinn (psychische Schwäche mit ge-
steigerter Erregbarkeit). Ist psychologisch der Gegensatz der vorigen
Form, im thatsächlichen Endeflect aber das Analogon. Die Apperception
ist hier unstät, fackelig, umherirrend ; der raschen Auffassung entspricht
keine klare und ruhige Verarbeitung. Wohl erfolgt auch A6sociations-
bildung der Vorstellungen, aber Ubereilt oberflächlich, nach nur zufälligen
Merkmalen. Daher ist die logische Weiterbildung seicht, vorschnell, oft
falsch; die sich bildenden Begriffe sind entsprechend unklar, ungeordnet,
confus. Der endliche Bewusstseinsinbalt, bei der vorigen Form beschränkt,
ist hier ungleich breiter, aber nicht genügend vertieft, und nicht nach dem
innern Werthe der Vorstellungen abgestuft. Es bildet sich kein logischer
Aufbau, keine Hegemonie unter den Vorstellungen. Da sich ferner bei
der Rasch he it des Anbildens (in Folge der unruhigen Aufmerksamkeit)
Gleichartiges und Verschiedenes zusammengliedert, so werden die Schluss-
bildungen unsicher und incorrect, ja oft direct gefälscht. Auch hier re-
sultiren im Bewusstseinsinnern nach und nach Widersprüche, welche
aber bei der unsichern Kritik — denn Nichts ist fest und dauernd, Alles
vielmehr in steter Umbildung und Zersetzung — geduldet werden. Trotz
alles prunkenden Flitters ist ein solches Wissen arm, unverwendbar,
steril. In Folge des inneren Schwankens wird das Ich, als Träger der
höchsten Vorstellungsgruppe, selbst schwankend und häufig rathlos. Der
Drang sich zu erhalten uud zu stützen führt zu subjectiven Unterstellungen
d. h. zu vorschnellen Auslegungen, womit das Ich den (in Folge der in-
neren Hemmungslosigkeit) rascher und mächtiger aufstrebenden neuen Vor-
stellungen zu imponiren sucht. Daraus entsteht eine Uberwiegend sub-
jective Färbung der Auffassung und sehr oft eine falsche. Zugleich
aber — wie bei der apathischen Form — ein Selbst cultus des Ich, wel-
ches immer aufgerufen und beansprucht wird, mit jedem neuen Eindruck
sich unwillkürlich misst und auseinandersetzt. Ein geschraubtes, innerlich
haltloses und schwankendes, von jedem Eindruck bestimmbares und wirk-
lich gelenktes geistiges Wesen, welches Uberbeweglich und darum ohne
Festigkeit ist, bildet die a)intellectuelle Signatur eines solchen Schwach-
annigen. — b) gemttthlich: dasselbe Schwanken und stete Durchkreuzt-
werden von immer neuen, im Nu packenden, rasch verglimmenden, und
ebenso oft sich widersprechenden Gefühlen. Dadurch flatterhaftes Interesse,
Unfähigkeit sich zu bleibenden Allgemeingefühlen höheren Styls und in-
tellectuellen Inhalts heranzubilden. Statt dessen werden, gleichen Schritt
haltend mit der Erhöhung des dünkelhaften Selbstgefühls, die vagen und
egoistischen Kategorieen der Sympathie und Antipathie die massgebenden
Können. Wohl entwickeln sich auch Ansätze zu den höheren Gefühlen,
aber sie bleiben ohne Mark und Nachdruck, weil sie zu unbeständig sind.
— c) psychomotorisch : das Handeln ist primitiv, weil es durch Minuten-
gefühle, oft durch die Laune des Augenblicks dictirt ist. Auf leiden-
schaftlichem Untergrunde erfolgt es instinktmässig rasch, unbesonnen,
überstürzt. Es fehlt ihm im Momente der That die ruhige Abwägung,
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Die psychischen SchwächezuBtäcde.
der stille Kampf der Motive unter einander; es fehlen Überhaupt feste
Motive. Bei der gesteigerten Erregbarkeit ist Alles Krampf, Kitzel, Re-
flex, ohne Reflexion. Diese kann nachhinken, bleibt aber ohne Wirkung,
verpufft, wenn sie noch so enthusiastisch war. — Auch hier ist die freie
Selbstbestimmungs- und Dispositionsfäbigkeit, selbst bei formell intacter
facultas ratiocinandi — gradweise — eingeschränkt, und mehr minder er-
heblich geschadigt, unter Umständen ganz aufgehoben.
Ujischwer lassen sich in diesen beiden skizzirten Symptomenreihen
psychologische Grnndzüge und Complexe erkennen, welche oft und wieder-
holt in den klinischen Krankheitsbildern (früheren und späteren) uns ent-
gegentreten. So finden sich die psychischen Charaktere des erethischen
Schwachsinns im Temperament der Hysterischen, in den Reconvalescenz-
stadien der acuten Wahnsinnszustände, vorübergehend auch im Intervall
der Typosen wieder, während die Charaktere des phlegmatischen Schwach-
sinns in den Endstadien der Manieen und Melancholieen, und dauernd und
bis zu dem höchsten Grade fortschreitend im apathischen Blödsinn wieder-
kehren. Vollends das erbliche Irresein weist beide Formen in allen Stufen
und namentlich auch in der mannigfachsten Combination auf; denn die
apathische und die erethische Schwachsinnsform können klinisch sich auf
das Allermannigfachste verbinden und verflechten. Das Letztere tritt
namentlich im Idiotismus in seinen verschiedenen Typen uns entgegen.
Aber auch die Habitual formen der rüstigen Manie und Melancholie zeigen
— individuell casuistisch — in ihren Symptomenbildern so vielfache Züge
dieser „psychischen Schwäche", dass zumeist auf diesem beigemischten
Momente der unendliche klinische Symptomenreichthum beruht. Für die
klinische Analyse sowohl, als für die Prognose müssen diese Elemente
sorgsam ausgeschält, und bei der psychologischen Abschätzung der psycho-
pathischen Symptome getrennt gewogen werden. Bei dieser Abschätzung
ist jeweils der frühere Geisteszustand, soweit dessen Ausbildungshöhe
eruirbar, einzurechnen; denn es ist selbstverständlich, dass bei einstens
reicher geistiger Anlage ein späterer psychischer Defect weniger auffällig
für den ersten Blick entgegentritt (ist doch auch bei grossem Capital eine
Einbusse von einer kleineren Summe noch nicht sofort erkennbar !) als bei
einer dürftiger veranlagten oder entwickelten psychischen Existenz — und
doch darf auch dort ein kleines Minus nicht leicht genommen werden,
zumal wenn dasselbe in einer Einbusse an feinerem Fühlen, an früherem
Tact, an rascherer Arbeitskraft (wie im Beginn vieler Paralysen) sich
bemerklich macht.
Die speciellen Haupttypen, in welchen „geistige Schwäche"
als secundärer klinischer Symptomencomplex in Erscheinung tritt,
sind für die einzelnen Primärformen theilweise verschiedene. Es ist
ein wesentlicher Unterschied, ob es sich im Primärzustand um ein
mit Wahnideen, speciell mit Hallucinationen, angefülltes Bewusstsein
handelt, welches gerade durch diese immer mächtigeren und zahl-
reicheren fremden Elemente seinen Niedergang erleidet, „zersetzt"
wird ; — oder aber um ein in krankhafter Spannung erhaltenes oder
gegentheils krankhaft Uberproductives Seelenleben, welches nach und
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Klinische Typen. Der secundäre Wahnsinn.
119
nach seine Luxusausgabe nicht mehr zu decken weiss, und an Er-
schöpfung des Hirnorgans zu Grunde geht. Unter jenen Typus ge-
hören die anfänglich schon mit Wahnsinnselementen gemischten oder
in's Wahnsinnsstadium fortgeschrittenen Melancholieen; unter diese
die einfachen, aber mit verzehrender Angst einhergehenden langen
Depressionszustände, und ganz besonders die schweren und recidi-
virenden Manieen. Dort tritt uns deshalb im zugehörigen klinischen
„Scbwäche"-Bilde psychologisch die Zersplitterung der Ich-Einheit,
neben Uberwuchernden Sinnestäuschungen, als wesentlicher Charakter-
zag entgegen; hier dagegen der Torpor, die Apathie, auf dem theil-
weisen oder ganzen seelischen Gebiete. Es entgeht nicht, dass uns
im erstgenannten Symptomencomplex derselbe Typus begegnet, wel-
chen wir im „Wahnsinn" (namentlich in spätem Stadien und in der
hysterischen Abart desselben) kennen lernen werden. Man hat des-
halb diese Unterform auch als „secundären Wahnsinn" bezeichnet.
Als Vorbild der torpiden Form werden wir ebenso später den Stupor
d. h. die primäre Dementia wiederfinden, und dürfen somit darnach
flir diese zweite Gruppe die Bezeichnung des „secundären Blödsinns"
— Blödsinn s. str. — beanspruchen.
Selbstverständlich ist mit dieser Abtrennung und verschiedenen Be-
zeichnung nicht ein Wesensunterschied ausgesprochen. Beide Formen,
wie sie nosologisch zusammengehören, stellen im Grunde auch wieder die
beiden Typen des erethischen und torpiden Schwachsinns in concreter
klinischer Gestaltung dar. Sie gehen auch thatsächlich auf's Vielfachste
ineinander Uber: so der secundäre Wahnsinn in den eigentlichen Blöd-
sinn, sobald die affectiven Reflexe allmählich ausbleiben und mit der zu-
nehmenden „Rohe des Kirchhofs" auch die Wahngebilde immer alberner
d. h. intellectuell abgeschwächter werden. — Noch einige weitere Be-
merkungen sind hier einzufügen: 1. der secundäre Wahnsinn ist nur
theilweise d. h. nur für eine bestimmte Gruppe von ungeheilt ge-
bliebenen Melancholieen als deren Folgezustand zu betrachten; andere
Melancholieen gehen dagegen direct in Blödsinn Uber. Ebenso kann auch
unter individuellen Umständen auf eine Manie nicht der apathische Blöd-
sinn als Terminalstadium folgen, sondern ein secundärer bleibender Wahn-
sinn exaltirter Form (s. Manie). 2. Der secundäre Wahnsinn entweder
als bleibende Form, oder mit allmählichem Uebergang in Blödsinn kommt
nicht nur den vorgenannten Primärzuständen der Psychoneurosen zu, son-
dern auch, und ganz besonders, dem primären „Wahnsinn" ; ebenso schliesst
sich der secundäre Blödsinn den ungeheilt gebliebenen primären Zu-
ständen der genannten Gruppe an — freilich in beiden Fällen mit theil-
weisen Modificirungen. In diesem erweiterten Sinne ist die nachfolgende
Schilderung auch auf die später noch zu beschreibende Gruppe auszu-
dehnen, resp. diese letztere in ihren „Ausgängen" auf jene zurückzu-
beziehen.
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120
Die psychischen Schwächezustäode.
Der secundäre Wahnsinn — die hallucinatorische Verwirrtheit
Klinische Charaktere: Massenhafte Sinnestäuschungen ne-
ben intellectueller Zerfahrenheit, bei wachem Bewusstsein; Auf*
gehen in Raptus von Einfällen, plötzlichen Stimmungen und An-
trieben, oder auch indolente, zeitweise gereizte Stimmung; letztere
theils für sich bestehend, theils in Abhängigkeit von den Hallu-
cinationen; Auflösung der Bewusstseinseinheit mit schliesslichem
Untergang des Ich in verschiedenen, mitunter sich widerspre-
chenden, regellos sich ablösenden und verdrängenden Vorstellungs-
gruppen ; zunehmende psychische Schwäche auf allen Gebieten. Re-
mittirend-exacerbescirender, chronischer Verlauf in blödsinnige Ab-
stumpfung.
Krankheitsbild. Die Entwicklang des secundären Wahnsinns
geschieht aus primären acuten und chronischen Wahnsinnsformen
(incl. des hallucin. Stupors), und aus gewissen melancholisch- wahn-
sinnigen Zuständen (s. o.). Die Kranken verfallen einer immer um-
fassendem Goncentrirung auf ihre wahnhaften Innenvorgänge neben
einer schrittweise mangelhaftem unklaren Perception. Sie stehen in
indolenter Haltung, die Hände in den Taschen, die Mütze auf dem
Kopfe da, oder schleichen theilnabmslos herum, lachen oder sprechen
vor sich bin, oder nehmen allerlei sonderbare mimische Körperhal-
tungen ein, welche sie trotz Mahnung starr beibehalten, oder immer
wieder aufsuchen (Schütteln des Kopfes und Körpers, allerlei Han-
tirungen mit den Armen und Fingern, Grimassirungen u. s. w.) Im
Decorum sind sie bis aufs Aeusserste nachlässig, oder treiben auch
darin (z. B. mit der Behandlung der Excremente, des Speichels)
allerlei, durch Wahn bedingte, Perversitäten. Ihre sprachlichen
Aeusserungen sind zerstreut; oft können sie die einfachsten Fragen
nicht beantworten, oder antworten nur in denselben monotonen Sätzen.
Inhaltlich ist die Rede so verworren, dass gerade dieser Charakter-
zug klinisch sich als der ausgezeichnetste abhebt. Oft bejahen sie
Alles, andere Male reiten sie dieselben verfehlten Schlagwörter ab;
meist aber ist die Rede ganz sinnlos, mit selbstgemachten Umstel-
lungen von Silben, mit monströsen neugebildeten Worten vermischt.
Manche Kranke stehen nur ungern Rede, werden gereizt, wenn man
sie anhält ; Andere wieder plappern Tag um Tag ein und denselben
verbalen Gallimathias. Die Stimmung ist gleichgültig, farblos, sehr
oft aber auch finster und gereizt, oft sichtlich durch den Inhalt der
Hallucinationen beherrscht; andere Male (in den späteren Stadien)
losgelöst von letztern, und in ihren Uebergängen unverständlich.
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Klinische Typen. Der secund&re Wahnsinn.
12t
Das Denken ist entsprechend inhaltlos und incobärent; das Ich
macht alle Metamorphosen durch, oft in gleichem Schritte mit den
znfällig vorgedrängten Wahngedanken; manchmal fehlt aber auch
jeder begreifbare Zusammenhang für die verschiedenen Personen,
wofür der Kranke sich ausgibt: er ist gestorben und wieder aufer-
standen, bat vor Tausenden von Jahren gelebt, ist der Messias, der
WeltbeglUcker, und begnügt sich daneben mit seinen Tagesspiele-
reien. Ueber die ganze Auffassung der Umgebung zieht sich Eine
grosse Illusion, in deren Perception alle Widersprüche und Gegen-
sätze friedlich neben einander liegen. Nicht selten retten sich aber
— namentlich durch die mächtigen und regelmässigen Eindrücke
der Anstaltsordnung — einzelne richtigere Ideenkreise aus dem all-
gemeinen Chaos heraus, und der Kranke vermag in bescheidenen
Grenzen sich noch auf einem wirklichen Boden zu bewegen, wo
man ihn versteht und er sich mittheilen und nützlich machen kann.
Andere dieser Invaliden wissen sich künstliche Krücken zurecht zu
schneiden, mit welchen ihnen noch ein theilweiser Verkehr mit der
Aossenwelt möglich ist. Viele sind periodisch leidlich klar und zu-
gäogig, vermögen sich theilweise richtige Urtheile zu bilden, und
klar aufzufassen; zu andern Zeiten verlieren sie aber jeden Compass,
werden abspringend, widersprechend, verwirrt in den einfachsten
Antworten, und faseln nur in hergebrachten fragmentaren Gemein-
plätzen. In den freiem Zeiten Offnet sich denn anch sehr oft der
Einblick in das chaotische Innenspiel der wechselndsten und um-
fassendsten Sinnestäuschungen, der abnormsten Gefühle. Manche
offenbaren sich als Dämonomanen, welche an den verschiedensten
Körpertheilen böse Geister spüren; Andere reagiren gegen allerlei
allegorische Sensationen, deren peinliche Eindrücke sie durch ihre
pervers scheinenden Bewegungen, durch ihr Dehnen und Strecken,
durch ihr Spucken, durch ihre Einsalbungen des Körpers u. s. w.
auszugleichen suchen. Manchmal intercurriren Angstzufälle, andere
Male Paroxysmen von manischer Heftigkeit mit impulsiven Gewalt-
acten gegen sich oder Andere. Der religiös hallucinatorische Wahn-
sinn in dieser secundären Gestaltung bringt auch seine Paroxysmen
von Kasteiungen und Nahrungsverweigerung. Allmählich, bald in
gleicbmässigem Niedergang, bald in periodischen Verschlimmerungen,
schreitet die geistige Abstumpfung weiter, und rückt endlich immer
mehr in den apathischen Blödsinn ein, wobei aber die Hallucinationen,
nur immer fragmentarer, und die perversen Reflexe auf das motorische
Gebiet in automatischer Fixirung erhalten bleiben. Nicht so selten
geht aber Beides in der Apathie des Blödsinns unter.
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122
Die psychischen Schwächezustände.
Der Blödsinn s. str.
Der fast unendliche Formenreichthum, welcher sich auf diesem kli-
nischen Gebiete erschliesst, gestattet nicht eine erschöpfende Aufstellung
geschlossener Typen. Soweit letztere möglich, kommen sie an den be-
treffenden Stellen zur Schilderung: so beim katatonen, paralytischen ma-
sturbatorischen u. s. w. Blödsinn. Im Folgenden sollen nur die gene-
rellen klinischen Charakterzüge, wie sie sich aus einer Fülle von Einzel-
fällen und am häufigsten wiederkehrend ergeben, zur Darstellung kommen.
Jeder neue Fall bietet wieder neue Mischungen und Variationen. Im
Ganzen beherrscht die Eingangs dargelegte psychologische Scheidung der
psychischen Schwäche in eine „reizbare" und „torpide" Form auch hier
die Trennung. Wir unterscheiden darnach einen „versatilen" und einen
„apathischen" Blödsinn, wobei aber zugleich betont werden muss, dass
Detailzuge aus beiden Formen sich sehr häufig in denselben Bildern ver-
einigen, und somit die concreten Formen sehr selten „stylistisch" rein
sind. Bezüglich der Primärformen, auf welche sich die genannten Zu-
standscomplexe als Terminalstadien vertheilen, sind zu nennen : einfache
Melancholieen ; sodann vornehmlich die Gruppe sämmtlichcr (einfacher und
periodischer) Manieen, und der primären Dementia; theilweise reichen
auch die Ausgänge gewisser Wahnsinnsformen, vornehmlich des masturba-
torischen Verfolgungswahnes, in diese klinische Zeichencombinatiou hinein.
Allgemein klinische Zeichen,
a) Uas Bewusstsein und die inteltectuelhn Functionen. Grundzug
und patbognomisebes Symptom ist eine mehr oder minder tiefe
Schwächung aller Seelenfunctionen , entweder gleichmässig oder in
theilweise vermindertem resp. erhöhtem Grade, so zwar, dass eine
mehr oder weniger vollständige Aufhebung der geistigen Gesammt-
kraft daraus hervorgeht. Dabei ist kein Stupor oder ballucinatorische
Benommenheit vorhanden; der wache Mensch ist geistig verkürzt,
eingeschränkt, oder — in den äussersten Grenzen — zur blossen Vege-
tationsstufe herabgedrückt: ein psychisches Caput mortuum. Spe-
ele 1 1 sind Urtheil und Auffassung bedeutend geschwächt, oft gleich-
mässig bis zu dem Grade, dass keine Perception mehr klar, richtig,
und selbst geläufige Denkoperationen geschädigt oder aufgehoben
sind. Manchmal erfolgt dagegen die Auffassung verworrener, als sich
(in engen Grenzen) die Urtheilsbildung noch zu vollziehen vermag.
In höheren Blödsinnsgraden kann der Kranke selbst Uber die stehen-
den und eingewöhnten Anschauungen und Begriffe aus seinem Tages-
leben nicht mehr verfügen. Endlich kommen ihm selbst die einfach-
sten Denkkategorieen abhanden, oder werden ihm zum Verschwinden
unklar. Immer mehr bilden den Inhalt seines intellectuellen Besitzes
nur noch Trümmer bunt zusammengewürfelter Vorstellungsmassen;
das Bewusstsein löst sich in ein Haufwerk gestückelter Formen auf.
Die Associationen werden defect und erzeugen eine demgemässe
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Der Blödsinn. Allgemeines: Intellectuelle Functionen, Stimmung. 123
flache Logik durch einfache Juxtaposition zufälliger Vorstellungen,
ohne jede condensirte Begriffsbildung.
Stylprobe: Qott soll man fürchten, weil man zur Kirche muss.
Die Eltern muss man achten, weil sie Einem Schläge geben. Die Nase
braucht man, weil sie mitten im Gesichte steht u. s. w.
Das Gedächtniss ist meist in gleichem Grade geschwächt, manch-
mal aber daneben für gewisse Lebensabschnitte oder einzelne Wissens-
gebiete (Rechnen) in auffallender Schärfe erhalten. Die Rede ist
stossweise abgebrochen, incohärent oder in monotonen Gemeinplätzen
sich ergehend; in leichteren Fällen resp. Anfangsstadien, manchmal
aber auch Uber lange Jahre hinaus, verfügt der Kranke noch Uber
eine leidliche Diction, aber nur für gewisse Gebiete, und ist im Ver-
gleiche zu früher schwerfällig, unbeholfen und leicht verlegen. Viele
Kranke reden gar nicht oder sie antworten nur auf Suggestivfragen,
und hier entscheidet über die Antwort mehr der Zufall als die Ein-
sicht. Viele antworten nur noch „ja" oder „nein", oder gar nur in
einer der beiden Schablonen; bei Anderen fehlt das Bedürfniss zur
Mittheilung ganz; sie werden unruhig und ängstlich, wenn man sie
anredet, tappen mit verlegenen Bewegungen an sich herum, drehen
sich ab oder wiederholen die Frage (Echolalie). Formell schieben
sich oft allerlei selbstgemachte (gehörte) Worte ein; oder die Kran-
ken sprechen in Anakoluthieen, Viele in der Infinitivform des Zeit-
worts, oder von sich in der dritten Person. Inhaltlich schränkt
sich die Rede oft auf die banalsten Phrasen ein, ohne irgend eine
wahnhafte Beimischung. In anderen Fällen treten Reste des ursprüng-
lichen dämonomanen oder exaltirten Wahnes dazwischen; oder der
Kranke erzählt in freieren Momenten von allegorisirten Sensationen
aus seinem Körper -Innern, oder von seiner höhern Mission oder
seinen Reichthümern. Dieser blödsinnige Grössenwahn ist aber stets
matt, mehr phantastisches Spiel als Ueberzeugung , und lässt sich
durch Suggestivfragen nicht selten zu den höchsten Höhen beliebig
emporschrauben. Interessant ist, dass manche Blödsinnige in ihren
freien Zeiten von ihrer „frühern Geistesschwäche" erzählen, von
welcher sie aber jetzt genesen seien. Andere dagegen halten an
ihrer gegenwärtigen Verstandesschwäche fest, erzählen davon, wie
sie auch sonst alle Indiscretionen rücksichtslos auskramen. Je tiefer
der Grad des Blödsinns, desto fragmentarer die sprachlichen Mit-
theilungen, bis sie endlich auf einige hergebrachte Worte oder Sätze
sich reduciren oder ganz aufhören.
b) Stimmung und Willensrichtungen. Die Stimmung ist theilnahms-
log, apathisch, so, dass vorwiegend nach diesem Charakterzuge
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121
Die psychischen Schwäcbezust&nde.
der psychische Gesammtzastand bezeichnet wird. Der Nachlass der
affectiven Spannung ist es aucb, was in der Entwicklung des Blöd-
sinns aus dem zugehörigen Primärzustande das entscheidende Kri-
terium bildet. Der Wahn bleibt, aber erregt das Gemüth nicht mehr.
Diese „Apathie" nimmt mit fortschreitendem Blödsinn zu, und endet
in den höchsten Graden mit einer absoluten Erstarrung und Theil-
nahmlosigkeit, selbst für die Gefühle, welche dem Kranken einst
„das Leben gegeben" hatten. Namentlich erblindet auch das sitt-
liche Auge; die altruistischen Empfindungen schwinden in einem
immer mehr nur auf das Niedrig -Sinnliche sich concentrirenden
Egoismus; endlich erlahmt auch dieser, und der Kranke bleibt un-
empfänglich für Hunger und Durst, für Wärme und Kälte. Ohne
Hoffen und Wollen, ohne Klage und Schmerz verbringt er Tag um
Tag in derselben Indifferenz. Doch kommen auch in diesem Gebiete
die vielfachsten Abstufungen vor. In manchen, schon sehr dementen,
Kranken bleiben gewisse Richtungen ihres einstigen Gemtithslebens
lange Zeit auffallend geschont; es erhalten sich Züge von Pietät,
oder auch — auf niederer Stufe — gewisse Liebhabereien, welche,
angeregt, wie beim Kinde einer stürmischen Entfaltung fähig werden.
Aber sie bleiben ohne Entwicklungsfähigkeit und werden in der Folge
immer mechanischer und unklarer. Andere wiederum sind für Ernst
und Schmerz gleich biegsam, ohne dass ein tieferer Eindruck zurück -
bliebe. Zu Zeiten freundlich, äussern sie sich zu andern oft ganz
motivlos feindlich, gereizt, brausen in heftigem Zorne auf und ge-
rathen darüber nicht selten in einen Furor; oder sie werden gegen-
theils zeitweise unruhig in peinlicher Allangst, fürchten umgebracht
zu werden, fliehen und verstecken sich, oder machen sich allerlei
Unnöthiges zu schaffen, schrecken bei jeder Annäherung zusammen,
werfen aus geröthetem Gesichte ängstliche Blicke umher und wissen,
befragt, keinen Grund zu sagen. Nicht selten explodiren dann Raptus
von Gewaltthätigkeit gegen sich oder Andere. Durch alle Stadien
oder Grade dieses formenreichen Zustandes zieht sich ein schritt-
weises Uebergewicht seitens der sinnlichen Begierden und Triebe,
nachgerade so, dass deren Befriedigung noch die einzigen Hebel
bilden, von denen aus die träge psychische Maschine in Bewegung
zu setzen ist. Anderemale macht weder die Erfüllung noch die Ab-
sage der Essgier auf den Kranken einen erheblichen Eindruck. Spe-
ciell die letztere artet nicht selten in Gehässigkeit aus, der ge-
schlechtliche Drang in schamlose Masturbation oder plump -freche
Attentate. Manchmal schlagen auch beide Triebe perverse Rich-
tungen ein (Verschlingen von allerhand Ungeniessbarem, päderastische
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Der Blödsinn. Körperliche Begleitsymptome. Mimik. 125
Gelüste). Bei vielen Kranken treten anscheinend barocke, vielleicht
aber doch körperlich motivirte Dränge auf: z. B. sich plötzlich nackt
aaszuziehen, oder sich mit allerlei Unrath zu besalben, Urin und
Stuhlgang zu verspeisen u. s. w. Manche äussern periodisch oder
anhaltend einen oft unbezwingbaren Stehltrieb; Andere suchen, wo
sie können, mit dem Feuer zu «spielen u. b. w. Im Uebrigen liegt
der Wille darnieder. Die Krauken kauern oft Tag um Tag auf der-
selben Stelle, suchen sich in demselben Winkel niederzulegen, rühren
sich nicht, bleiben stehen, wo man sie hinstellt, halten die ange-
nommene Lage krampfhaft fest, und lassen sich aus derselben mehr
schleifen, als dass sie zu selbstwilligem Geben zu vermögen sind.
So in den apathischen Zuständen. — In den versatilen gegen-
theils ist eine plänlose Unruhe, eine ungeordnete psychomotorische
Aufregung ohne Ende, in welcher die Willensäusserungen des Kranken
aufgehen und sich ziellos zersplittern. Ist diese einmal nach einer
gewissen Richtung häufiger wiederholt worden, so verfällt sie leicht
der Beharrung und Fixirung. So entstehen die automatischen Acte,
das Stunden- und Tagelange einförmige Hin- und Herrennen in
einer genau bestimmten Wegstrecke. Ein Versuch den Kranken zu
hemmen, begegnet, wie beim apathischen der Zuspruch, nicht selten
einer zornigen Gereiztheit mit blinder maassloser Heftigkeit.
c) Körperliche Begleitsymptome. Motorische Störungen specifischer
Art sind dem einfachen uncomplicirten Blödsinn nicht eigen; wo sie
dazu treten, sei's in Form von Krämpfen oder Lähmungen, handelt
es sich um individuelle Himaffectionen mit Herdsymptomen. Die allge-
meinen Aenderungen des motorischen Verhaltens im Blödsinn liegen viel-
mehr im psychischen Theil der Motilität, und kennzeichnen sich als
Störungen der Mimik, Physiognomik, Gesammthaltung und der willkür-
lichen Bewegungen. Die hier in Wirksamkeit tretenden Verhältnisse sind
in ihrem speciellen Charakter und ihren physio- psychologischen Zusam-
menhängen noch lange nicht genügend erforscht, um jetzt schon entwickelt
werden zu können; ein Theil derselben wird, soweit möglich, bei den
motorischen Störungen des Idiotismus, welche vielfach auch für die tie-
feren Grade des apathischen Blödsinns gelten, zur Sprache kommen.
Hier sollen nur die wichtigeren nach ihrer klinischen Symptomatologie
kurz aufgeführt werden.
Die Mimik und Physiognomik bietet ausserordentlich viele
Typen, welche sämmtlich in der Stumpfheit der Gesichtszüge und der
Geistlosigkeit des Ausdrucks, in der Trägheit und Langsamkeit der mi-
mischen Bewegungen, oder aber gegentheils in dem choreatisch ungere-
gelten, Uberstürzten Vollzug der letzteren zusammentreffen (vgl. auch das
betr. Detail beim paralytischen und katatonen Blödsinn). Die Kopfhal-
tung ist in der Regel eine schlaffe („die Krankheit hat den Genickfang
gegeben"); der Kopf stark vorübergebeugt oder in die Achseln gezogen.
Der Ausdruck ist stumpfsinnig indifferent, die Züge sind hängend, oder
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126
Die psychischen Schwächezustande.
zeitweise durch einen Anflug von Schmerz oder schmerzlicher Freude
verzerrt ; anderemale „wahnwitzig" verzückt und fade lächelnd mit hinauf-
gezogenen Brauen und Stirnfalten, und stier fixirten Augäpfeln; der Blick
bald blöd hinausstaunend, bald anhaltend auf den Boden geheftet und miss-
trauisch sich vorstehlend; anderemale dagegen neugierig und gaffend, dabei
inhaltsleer und ohne Tiefe ; oft auch ganz fremdartig verwirrt. Bei passiv
mit den Kranken vorgenommenen Bewegungen werden nicht selten die
Bulbi von einer Seite zur anderen automatisch gedreht. Oft werden die Li-
der Monate lang geschlossen gehalten. An der Nase fehlt selten das charak-
teristische Schleimtröpfcben. Der Mund steht meist offen und secernirt über-
reichen dünnflüssigen Speichel. Auf der Stirn finden sich häufig Collectionen
von allerlei Acneformen, die Stirnhaut selbst ist oft gedunsen und verdickt,
mit zeitweilig stärkerer Schwellung. Neben vorübergehendem oder blei-
bendem Strabismus kommen nicht selten fliegende Zuckungen Uber das
Gesicht, oder ungleiche Innervation beider Gesichtshälften vor. Die Kör-
perhaltung ist bei den apathischen Zuständen eine gebrochene mit vor-
waltender Wirkung der Flexoren. Manche Kranke werden zeitweilig bild-
säulenartig starr, ohne und mit flexibilitas cerea. Andere machen perverse
Bewegungen, heben beim Gehen die Fils so so hoch, als ob sie Uber ein
Hindernis8 schreiten müssten, oder sie biegen und recken sich in allerlei
barocken Attitüden. Nicht selten begegnet man einer gesteigerten Re-
flexerregbarkeit der Planta pedis, so dass das Bein, wenn die Fussspitze
auf den Boden gesetzt wird, in clonischen Krämpfen rasch auf- und ab-
wärts geführt wird und tumultuarisch aufstampft. Die Körperernährung
wird gewöhnlich pastös, gedunsen, fettreich, die Haut zu Ausschlägen
und Decubitus geneigt; doch sind die trophischen Verhältnisse derselben
sehr verschieden: Verwundungen heilen in einem Falle außergewöhnlich
schwer, im anderen Uberraschend leicht. Oft bildet sich Lanugo aus. In
den späteren Stadien reducirter Blödsinniger wird die Haut oft per-
gamentartig dürr, atrophisch, reichlich sich abschuppend. Die vasomo-
torische Innervation ist stets erheblich geschädigt und neigt sich zur fort-
schreitenden Lähmung (Cyanose und Kälte der Extremitäten mit Oedem-
bildung). Der Puls ist manchmal auffallend beweglich. Der Harn zeigt
im Allgemeinen Abnahme im Gehalt des Harnstoffs und der Chlorate (im
Vergleich zur Nahrungsaufnahme).
Die Sensibilität ist bei den höheren Graden des Blödsinns immer
abgestumpft, namentlich bezüglich der Schmerzempfindlichkeit. Grosse
Furunkel werden oft unbemerkt getragen. Merkwürdig ist die perio-
dische Aufhebung der Sensibilität und der Reflexerregbarkeit in ge-
wissen Fällen, und ebenso die partielle, so dass die Kranken gegen
äussere schmerzbringende Agentien unempfindlich sind, und nur bei Kälte
heftig zusammenschrecken.
Krankheitstypen.
1 . Der versatile secundäre Blödsinn. Primärstadien aller Formen
gehen voraus, sehr oft ungeheilte Dämonomanieen mit ängstlicher
Aufregung, wovon nicht selten noch einzelne Reste erhalten bleiben.
Charakteristisch ist neben den Allgemein - Charakteren der blödsin-
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Der Blödsinn. Klinische Typen. Versatiler, apathischer Blödsinn. 127
oigen Miene und Haltung eine unbeherrschte, unruhige und unzweck-
mässige Beweglichkeit der psychischen und motorischen Aeusse-
rnngen. Die Kranken laufen umher, machen sich viel zu schaffen,
ordnen beständig an sich und Anderen herum, falten die Hände,
knieen nieder, küssen Personen und Gegenstände, halten nicht Stand
weder bei der Unterredung noch bei irgend einer Beschäftigung,
äussern die widersprechendsten und verkehrtesten Bestrebungen. Die
Stimmung ist eine kindisch weichliche, erschöpft sich in einer Menge
von Wünschen, Bitten und Klagen, aber alle ohne wirkliche Bedeu-
tung. Selbst die zeitweilige Angst, welcher die Furcht vor dem
„Bösen" zu Grunde gelegt wird, geht nicht aus einer tieferen Ge-
mtithsbewegung hervor, da alle begleitenden Erscheinungen fehlen,
and höchstens einige im Strome alberner Reden vorgebrachte Aeusse-
rungen darauf hinweisen. Der Grundzug der Stimmung ist Indiffe-
renz; der Kranke bleibt einen Tag wie den andern, lässt Alles mit
sich geschehen, kommt nie in Affect, ist nie heftig oder gewaltthätig,
stets freundlich und fügsam. Das Interesse ftir die nächstliegenden
Dinge, für einstige Herzensbeziehungen, ist geschwunden oder er-
beblich gemindert; einmal geäussert, gleitet der Kranke im nächsten
Augenblicke wieder darüber weg, um sich an einen kleinlichen
Wunsch oder eine gehaltlose Klage anzuklammern. Der Sinn für
das Decorum erhält sich dabei oft noch längere Zeit. Der Kranke
ist überaus zerstreut, vermag oft kaum auf Augenblicke seine Auf-
merksamkeit auf einen Gegenstand zu lenken: sofort schieben sich
immer wieder alberne Bemerkungen oder Bewegungen dazwischen;
wenn er aber wirklich aufmerkt, so tritt in jedem Perceptionsact die
Schwäche der Auffassung und des Denkens, die Unklarheit und Un-
fähigkeit zur geistigen Concentration hervor. Die sprachlichen Aeusse-
rungen enthalten eine Mischung völlig zusammenhangloser Vorstellun-
gen: Reste des Wahnes, Reminiscenzen , unmittelbare Auffassungen,
Wünsche, Klagen, Begehren — Alles wirbelt bunt durcheinander
and jagt sich gegenseitig. Der Kranke bleibt seiner nächsten Um-
gebung gegenüber fremd, kennt noch nach Monaten die täglichen
Umgangspersonen nicht, bleibt unbekannt mit den Ort- und Zeitverhält-
nissen. Oft spielen Sinnestäuschungen herein. Der Verlauf ist entweder
ein stationärer, oder geht allmählich in apathischen Blödsinn Uber.
2. Der apathische secundäre Blödsinn. Das Krankheitsbild
resp. die unzähligen Krankheitsbilder, welche sich aus den oben
beschriebenen Elementen zusammensetzen, lassen sich sehr schwer
zu einem bestimmten Typus vereinen. Jeder Einzelfall ist ein
Fall ftir sich, ein jeder eigenartig. Es gibt kein abgestufteres und
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128
Die psychischen Schwächezustände.
reicheres Detail in Form und Mischung und Ausbildungsgrad der
geistigen Schwächesymptome als diese anscheinend so monotonen
Blödsinnsformen. Auch der Verlauf zeigt vielfache Verschiedenheiten.
Selten ist derselbe ein anhaltend stationärer; er schreitet vielmehr
unmerklich zu immer tiefern Stufen fort Sehr häufig treten perio-
dische Aenderungen ein, manchmal in einer mehr oder weniger regel-
mässigen Abwechslung. So lassen sich nicht selten alternirende Phasen
von grösserer Torpidität und andererseits grösserer (relativer) Be-
lebtheit beobachten; in der einen lungert der Kranke nachlässig
herum, gibt keinen Bescheid, glotzt vor sich hin, lässt Stuhl und
Urin unter sich gehen — in der andern ist er mittheilender und reg-
samer, frischern und belebteren Aussehens, reinlich, fuhrt oft Selbst-
gespräche. Diese Verlaufsform kann sich noch schärfer in einem
Wechsel zwischen stumpfsinnigen und andererseits manisch - aufge-
regten Perioden ausprägen. In jener bietet der Kranke das gewöhn-
liche apathische Bild, in dieser wird er unruhig, die Züge werden
gespannt, das Auge leidenschaftlich belebt; er läuft viel hin und
her, schlägt die Thttren zu, wird unzugänglich, abstossend, ver-
wirrter, reizbarer, manchmal heftig und gewaltthätig. Diese wech-
selnden Zustände tragen durch ihre verschiedene Dauer, Kraft und
Ausdehnung oft ausserordentlich viele Nuancen in das sonst ein-
farbige Grundgemälde ein ; ebenso auch durch die Weise ihrer Auf-
einanderfolge. Bald gehen sie regellos in einander Uber, bald regel-
mässiger, manchmal bricht die Erregungsphase plötzlich aus, andere
Male tritt sie allmählich ein. Nicht selten nehmen die Paroxysmen
einen ziemlich gleichmässigen und bestimmten Verlauf ein.
In einem unserer Fälle wurde der Kranke jeweils erst reizbar, är-
gerlich, widerstrebend faul, der ohnehin frequente Puls steigerte sich an
Häufigkeit und Völle, der Kopf wurde congestionirt, die Stirne blauroth
und wie das übrige Gesicht mit einer Menge von Acneknoten und Pu-
steln bedeckt. Der Kranke sprach noch, und zwar richtig, war aber bei
Fragen unleidig. In rascherem oder langsamerem Uebergange kam er
in sein zweites Stadium, das „Lach"-Stadium. Er sprach nun kein Wort
mehr, brach dagegen in ein fast andauerndes, unbändiges Lachen aus,
welches er in Haufen von sich stiess, die Congestionserscheinungen dau-
erten fort, Katarrhe der Lider, der Rachen-, Nasen- und Luugenschleim-
haut stellten sich ein, die Pulsfrequenz nahm ab, und der Kranke ging
nach Verlauf einiger Tage in das dritte Stadium, das des Stupors, ein.
Zwischen diesem und dem vorigen war er zuweilen heftig, schlug plötz-
lich Scheiben ein und ging regelmässig der Ferse eines anderen Blöd-
sinnigen nach, wo dieser nur immer hingehen mochte. Bald aber sank
er in nahezu vollkommene Bewusstlosigkeit, wurde leichenblass, der Blick
glotzend, die Zuge hängend, der Gesichtsausdruck verrieth eine angst-
volle Erschütterung, der Kranke sass statuenartig da, Hess sich aus- und
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Apathischer Blödsiun. Krankheitsbild. — Therapie.
12!»
anziehen, füttern, war unreinlich. Der Puls sank auf 60, wurde voll
und schnellend. Plötzlich oder in allmählichem Nachlass hob sich auch
die Stimmung, und das Bild des früheren, relativ freieren, Blödsinns kehrte
wieder. Der Puls stieg auf SO, wurde klein und leicht wegdrückbar, die
Katarrhe schwanden, das Gesicht reinigte sich. Solche Anfälle dauerten
3—4 Tage bis zu eben so viel Wochen. Nach und nach rückten sie
immer näher zusammen. Für die Stuporphasen wurden ängstliche Hallu-
cioationcn zugegeben.
Nicht selten kommen auch im Verlauf des Blödsinns erfreuliche
Besserungen vor, wobei das Interesse in beschränkten Grenzen
wieder erwacht, der Kranke zugängiger wird, Theilnahme äussert,
und, richtig geleitet, zu nützlicher, wenn auch bescheidener Be-
schäftigung angehalten werden kann. Solche relative Besserungen,
selbst auf Jahre hinaas, kommen sogar bei tiefen Blödsiunszuständen
vor. Gar oft werden aber diese Lichtpunkte durch Rückfälle in
den Stumpfsinn wieder Uberholt.
Bei dämonomaner und melancholischer Grundlage sind die zeitweilig
auftretenden Angstzufälle sehr zu beachten: der Kranke beginnt plötz-
lich gegen jede Annäherung heftig zu widerstreben (oft in der Form der
conträren Negation, wobei er, am ganzen Körper zitternd, Alles ver-
spricht, nur nicht das von ihm Verlangte), verweigert hartnäckig die Nah-
rung und äussert nicht selten ernst gemeinten Selbstmorddrang. Viele
wachen in solchen Paroxysmen (rcactiv) allerlei sonderbare krampfartige
Bewegungen : sie lehnen sich gewaltsam rückwärts, zucken rhythmisch mit
den Lippen, den Augäpfeln und Lidern, stossen thierische Schreilaule
aus. Jeder, auch der mildeste Eingriff, erhöht die Angst zu einem furcht-
baren Grade. Die Kranken finden sich noch am Besten zurecht, wenn
man sie (wohl beaufsichtigt!) Uber diese Periode hinweg ganz gehen lässt.
Therapie.
Die Behandlung der Secundär- resp. psychischen Schwäche-
zustände fällt fast ausschliesslich den Anstalten zu. Gerade auf
diesem Gebiet entfalten sie ihre besonders segensreiche Wirkung, so
dass man deren rühmendste Auszeichnung in die geistig hebende und
fordernde Pflege der Unheilbaren setzen darf. Jedem, auch dem In-
validen, seine Stelle anweisen, wo er noch als bescheidenes Glied in
den Organismus sich einfügen kann ; wo er mit der Freude am kleinen
Wirken den noch glimmenden Funken seiner Selbstachtung wach
erhält ; wo er geistig sich abzulenken vermag, und am gemeinsamen
Werk theilnehmend auch in die vernünftige Wirklichkeit sich wie-
der eingewöhnt und dadurch die geistigen Krücken gewinnt, um
social zu bleiben und in der innern Anstaltswelt, jetzt seiner zweiten
Heimath, schaffend und auch geniessend sich zu bewegen: Das sind
in grossen Zügen die hohen Ziele und auch die Erfolge der indivi-
Sehttlo, G«Ut«akraokheit«n. 3. Aufl. (J
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130
Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
dualisirenden Anstaltsbehandlung. Daneben bleiben der somatischen
Therapie noch wichtige Anhaltspunkte genug. Bei der Unterwürfig-
keit dieser geistig hemmungslosen Existenzen unter körperliche Miss-
empfindungen, bei der emotiven Reizbarkeit, welche stets neue den
geistigen Niedergang befördernde AffectstUrme setzt, bei den inter-
currenten Angriffen auf das Hirnleben durch Fluxionen zum Kopfe,
Kreislaufs- und Verdauungsstörungen, Auämieen etc. sind der ärzt-
lichen Beobachtung und Therapie immer wieder neue Wege gewiesen,
um diätetisch und arzneilich einzugreifen und der hohen Aufgabe
„den sinkenden Menschengeist zu heben" gerecht zu werden. Speci-
fica, worunter man früher vor Allem den Phosphor rechnete, gibt
es nicht; dieselben liegen viel näher in der Anstaltsküche (sorgsame
individualisirende Diät), in der Tagesbeschäftigung, namentlich Feld-
arbeit der Kranken, und im Kopfe und Herzen des leitenden Arztes.
Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
Allgemeines über Wahnideen: Hagen, Studien 1870. — Ann. m£d. psych.
1881. — Magnan, Arch. deneur. 1881. — Spitzka, St. Louis Clin. Ree. 1880.
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me*d. psych. 1882 (Grössen-ldeeu). — Raggi, Arch. ital. 1884.
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singer, Arch. f. Psych. 1. — Westphal, Allg. Ztschr. f. Psych. 34. — Hertz,
Ibid. — Schäfer, Ibid. 30 u. 37. — Koch, Ibid. 30. — Leidesdorf. Psych.
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Dorpat 1879. — Fritscb, Jahrbücher der Psych. 1870. — v. Kraf ft-Ebing,
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Berl. klin. Wochcnschr. 1880. — Koch, Irrenfreund, 8. — Buch, Arch. f. Psych.
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Moeli, Char. An. VII. — Araadci u. Toniui, Arch. ital. 1883. — Muhr, Arch.
f. Psych. 0 (Anat. Befunde).
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cussion über ilie Gesichtshallucinationen im Verfolgungswahn iu den An. med.
psych. 1>81. — Kirn, Allg. Ztschr. f. Psych. 1807 (tabischer Verflgsw.).
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Theorie des letztern. 1859. — Marc, Geisteskrankheiten, übersetzt v. Ideler, sodann
die Eingangs genannten Lehrbücher (speciell v. Krafft-Ebing, Spielmann, Dagonet,
Maudsley).
Acuter hallucinatorischer Wahnsinn: Meynert, Jahrb. f. Psych. l8S0u.
<1. — Kraepelin, {über deu Einfluss acuter Krankheiten etc.) Arch. f. Psych. 11
u. 1 2, mit vollst. Literatur.
Gefangeneuwahnsinn: Moritz, Casp. Vierteljahrschr. 22. — Parrish, J.
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chosen weibl. Sträflinge). — Thomson, J. of m. sc. 1800 u. 1870. — Nicholsen,
Ibid. 1*573, 1S74 u. 1875 (Psychopathie der Verbrecher). — Baer, Gefängnisse, Straf-
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Psychologische Analyse des chronischen Wahnsinus.
131
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Monogr. 1837, u. Allg. Ztschr. f. Psych. 25 mit Lit. — Desgl. Emmi ugh aus, Psycbo-
pathol. p. 135. — Kandinsky, Kritische u. klin. Betrachtgn., Monogr. Berl. ISS5.
Der prlmttre chronische und acute Wahnsinn.
Der innerste Kern dieser grossen Krankheitsgruppe ist eine pri-
märe Störung im Vorstellungsleben entweder in Form einer Hem-
mung oder Förderung der Ich-Gruppe mit allegorisirender (illuso-
rischer) Apperception; oder aber einer Auflösung des Ich-Verbandes
durch jäh einbrechende und übermächtige Sinnestäuschungen. Nach
beiden Richtungen setzt die Genese des Processes einen begleitenden
logischen Defect, eine geschwächte oder mangelnde Kritik
and Reflexion, als wesentlich zugehörig voraus (Schwäche oder
Ausschaltung der Vorderhirnthätigkeit, wozu noch die verminderte
Hemmungsfähigkeit kommt, s. u.). Im ersten Falle bleibt das Ich
erhalten, wiewohl als ein gefälschtes, weil es dem Zwange der un-
bewusst sich vollziehenden Objectivirung jenes subjectivcn Hemmungs-
oder Förderungsgefühles erliegt; im zweiten wird das Ich verdunkelt,
weil die krankhaft erregten Sinnescentren das geistige Blickfeld ein-
nehmen und beherrschen. Im ersten Falle besteht somit das Wesen
der Störung psychologisch in einer Illusion oder falschen Apper-
ception ; im zweiten in einem hallucinatorischen Traumzustand. Jene
setzt das Wesen des chronischen primären Wahnsinns zusammen,
diese das Wesen des acuten.
Die chronische Form ist klinisch die schärfer umschriebene,
und muss als die eigentlich typische vorangestellt werden. Entgegen
der Melancholie und Manie, welche beide (speciell die erstere) eben-
falls psychologische Elemente eines gehemmten oder geförderten
Vorstellungsganges in sich enthalten, schliesst der Wahnsinn nicht
mit diesem Gefühle einer inneren Entfremdung oder einer inneren
Erweiterung des persönlichen Ich ab, sondern macht in Einem
darüber hinaus den Sprung in's Objective. Damit begeht er aber
einen grossen Trugschluss, insofern er eine innere Ursache in der
Aussenwelt sucht. Dass dieser Schluss (zunächst) in's Blaue sich
vollziehen kann, überhaupt psychologisch möglich wird, liegt darin,
dass der Wahnsinnige Uber das elementare Gefühl des Gehemmt-
resp. Gefördert- seins hinaus zur Apperception Ubergeht — übergehen
muss, weil (durch die Eigenart seiner Hirnerkrankung) das Ich in
seiner kritischen Kraft geschwächt und widerstandsloser geworden
ist. Im Apperceptionsgefühl liegt aber für das Ich das innere Local-
zeichen zur Objectivirung. Es handelt sich mithin in dem Trug-
9*
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132 Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
schluss, wodurch der Kranke eben zom Wahnsinnigen wird, am
einen primären Erkenntnissact. Die Illusion vollzieht sich in statu
nascenti und als psychologischer Zwang, unbewusst, wenn auch
getrieben durch das CausalitätsbedUrfniss (s. u.) Ist dieser erste illu-
sorische Erkenntnissact vollzogen, dann hört vorübergehend (für den
einen Act) das Gefühl des inneren Schwankens auf, kehrt aber wieder,
bis endlich der fertige Wahn ausgebaut ist (s. Wahnidee). Auch
jetzt noch, nachdem Ruhe auf dem ganzen Erkenntnissgebiet ein-
getreten, können in der Folge wieder Stimmungsanomalieen sich ein-
stellen, und zwar nach depressiver wie nach manischer Richtung;
aber deren psychologische Stellung und Bedeutung ist jetzt nur mehr
eine secundäre, reactive. Der psychologischen Entwicklung nach
befindet sich somit der Wahnsinnige in einer wesentlich anderen
Lage als der Melancholiker, so sehr auch im Anfang beide Processe
den gemeinsamen Weg dunkler Angst nehmen, und so häufig beide
von demselben psychischen Entstehungspunkt (z. B. einer GemUths-
bewegung) ausgehen. Während aber der Melancholiker gegenüber
der unerkannten kranken Gemüthsbedrängung sich concentrirt, und
schmerzgebeugt sich versch liessend die fremde Last auf sich nimmt,
öffnet sich mit dem Eintritt in den Wahnsinn der Bewusstseinsinhalt
— das Ich — dem fremden Eindringling (d. h. der krankhaften Illu-
sion); es appereipirt und weiss nun 1. um was es sich handelt, und
2. dass es seine eigene Existenz angeht. Der objectivirende Schluss
befreit somit den Wahnsinnigen von der Hemmung (Angst), an wel-
cher der Melancholische, den Stachel gegen sich kehrend, ermattet
(s.u.). Aber die Befreiung geschieht um den Preis der Einheit
des Bewusstseins. Das Ich des Wahnsinnigen ist entzweit. Er fühlte
im Beginn dunkel, dass er nicht mehr Er selbst ist, so wie früher;
jetzt ist er sich klar, dass er unter fremden Einfluss gerathen ist,
wenn ihm auch das Detail noch fremd ist; oder dass von aussen
ihm gesteckte Ziele — „Mächte" — an ihn herantreten. Dieser
Schluss ist unbewusst über ihn gekommen, nicht aus Reflexion er-
folgt. Es ist oben schon darauf hingewiesen worden, dass die Kritik
mangelt oder unterdrückt ist gegenüber der ausserordentlich lebhaft
aufstrebenden, weil mit objectivirendem („sinnlichem") Timbre ver-
sehenen neuen (Wahn-)Vor6tellung.
Beide Vorgänge setzen eine Verminderung der psychischen Hem-
mungsfähigkeit, eine reizbare Schwäche im geistigen Mechanismus
des Wahnsinnigen voraus, wodurch die neu eintretende gefälschte Wahr-
nehmung eine ungehinderte Masse associativer Verbindungen und einen
hemmungslosen Eintritt in das Blickfeld des Bewusstseins erzwingt; wäh-
rend andrerseits das begleitende phantastische Element, das leise inner-
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Psychologische Analyse des chronischen Wahnsinns
133
liehe „Mithalluciniren" (gleichfalls eine Folgewirkung aus den herabge-
setzten centralen Leitungswiderständen), die objectivirende Täuschung
erleichtert und vollziehen hilft.
Es entgebt nicht, wenn wir jetzt den soweit in der Bewusst-
seinsspbäre entwickelten Process weiter verfolgen, dass die gewonnene
Erkenntniss — die Wahnidee — sofort auch eine Einbusse an dem
geistigen Gesammtbesitz des Patienten bedentet. Scheinbar weiss ja der
Wahnsinnige jetzt ein Mehr, aber in Wirklichkeit ist er nur um eine
pereeptive Täuschung reicher; er bewegt sich, indem er seine ab-
normen Innengefttble nach aussen verlegt, in seinem eigenen Schatten,
und logisch in einem Cirkel. Aber das Bewusstsein hat ausser dem
verfälschten Zuwachs auch noch einen verfälschenden für
den übrigen Vorstellungsinhalt erworben. Denn die neue Vorstellung
identificirt sich, weil sie dem Ich nicht nur als klar, sondern —
mehr noch — als nach vor- und rückwärts aufklärend imponirt,
sofort und intim mit der obersten Vorstellungsgruppe; sie wird damit
inhaltlich immer mehr zur Prämisse für Denken und Wahrnehmen
überhaupt, und zugleich zur Tonangeberin für die Stimmung. Ein
neues Bewusstsein, anfangs kämpfend mit dem alten, wächst in dieses
letztere hinein und zersetzt es nach und nach. Dabei bleibt das
alte immer aber noch stückweise, oft zu einem grossen Theile und
oft auf lange Jahre, erhalten. Es ist für die typische chronische
Wahnsinnsform charakteristisch, dass sie eine sogenannte partielle
Bewusstsein ss törung heraus bildet, neben welcher der übrige
Tbeil des geistigen Geschehens (des gesunden Ich) sich noch zu con-
serviren vermag, und dass im gesunden und kranken Bewusstseins-
segment (im alten und neuen Ich) die formalen logischen Functionen
erhalten bleiben. In seinem Wahnkreis auf dem Monde, kann der
Wahnsinnige in den übrigen Wissensgebieten noch lange den früheren
Umfang und die einstige Klarheit bewahren und mit derselben
logischen Schärfe sich im Realen behaupten, mit welcher er seine
Fictionen dialektisch zu vertheidigen weiss. Dieselbe Logik fährt
fort nach aufwärts zu bauen, deren unbewusst geschehende Minir-
arbeit nach abwärts die geistige Existenz untergräbt. So kommt
Methode und System in den Wahnsinn — das zweite Cha-
rakteristicum (neben der Erhaltung des wachen Ich): richtige Wahr-
nehmungen und falsche Conceptionen reihen und verknüpfen sich,
beide als gleichscharf ausgeschnittene Figuren, und als gleichwerthige
Grössen im geistigen Blickfeld.
Die Erhaltung des alten Ich ist jedoch nicht eine wirkliche, wörtlich
zu nehmende. Im Grunde kann die Auseinandersetzung mit dem neuen
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131
Der "Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
Eindringling nur auf dem Weg des Compromisses erfolgen, indem das
alte Ich Zugeständniese macht. Darin liegt das psychische „Schwäcbe"-
Moment, welches jedem Wahnsinn, auch dem täuschend leistungskräftig-
sten, eingeboren ist. Anfangs vollzieht sich der Compromiss in der
Weise, dass das alte Ich in der Kategorie der neuen Wahnperception
auffasst und denkt ; später dadurch, dass es sich immer vollständiger von
dem kranken Gedankenkreise absondert. So theilt sich rascher oder lang-
samer der geistige Besitz: die ursprüngliche Persönlichkeit zerfällt, zwei
Seelen wohnen in derselben Brust, zwei Personen in demselben Kopf.
Eine dritte psychologische Form der Weiterentwicklung ist die Ausbrei-
tung des kranken Ich Uber das gesunde, die Aufsaugung der alten
Persönlichkeit durch die Schablone der kranken. Aber schon die An-
fänge des verhängnissvollen Decursus, in welchem noch die ursprungliche
Persönlichkeit in- und extensiv das Uebergewicht bewahrt, vollziehen sich
nicht ohne ernstere Neben- und Folgewirkungen. Gewöhnlich spielen
sich diese reactiv im GemUthsgebiete als periodische Depressionen oder
Aufregungen ab; in andern Fällen, bei minder starker Gemütsbewegung,
sucht sich das in's Schwanken gerathene, in seinem innersten Bewusst-
seinskern bedrängte, Ich durch Selbsthilfe (s. später) zu retten; ein häu-
figer und sehr verbreiteter — unbewusst geübter — Schutz des Ichbe-
standes ist die sog. „krankhafte Präcision" der Wahnsinnigen,
womit sie sich als die immer gleiche und unveränderte Persönlichkeit,
sich und der Umgebung gegenüber, zu sichern bestrebt sind, ängstlich
nach immer neuen Bestätigungen greifen, dass man sie nicht mit andern
Personen verwechsle. Aber auch dieses mühsame Bestreben hält nicht
immer vor, und schliesslich erfasst sich der Kranke als „Doppelgänger",
von denen der Eine „er selbst" ist, der Andere aber zu den „Verfol-
gern" hält (s. später auch unter den Zwangsacten, von welchen einige,
wie die „Such-Mauie", aus diesem „Verificationszwang" ihren psycholo-
gischen Ursprung nehmen).
Die acute Form bietet diesem eben beschriebenen Bilde gegen-
über auf den ersten Anschein wesentliche Unterschiede. Der Er-
haltung des Ich in der chronischen Form entspricht hier eine Ver-
dunkelung desselbeu; dem dortigen „Uber"scbarfen Wachsein corre-
spondirt hier ein Schwanken in der Bewusstseinshelle, welche vom
Dämmerhaften, ja selbst Traumartigen — oft in jähem Uebergang
von Stunden und selbst Minuten — bis zu gradweiser Lucidität hinauf-
geht, nie aber die eigentliche Klarheitsstufe erreicht, jedenfalls nicht
dauernd. Dort sind die logisch formalen Thätigkeiten geschont,
oft bis zum dialektischen Raffinement; hier fehlt dieses systemati-
sirende Band ; die Sinnestäuschungen sind desultorisch, in ihrem In-
halt gleich Traumbildern wechselnd. In demselben Zusammenhang
finden sich dort ausgesprochene und bleibende depressive oder
exaltirte Stimmungszustände ; hier dagegen fragmentare, abrupte,
bunt sich mischende, nicht selten sich widersprechende. Das Wesent-
liche aller differentiellen Momente liegt aber in der massenhaften
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Psych. Analyse d. acut. Wahnsinns. Klin. Differenzen o. Zusammenhange beider. 1 35
Entwicklung der Hallucinationen, der Einfälle, der plötzlich auf-
strebenden Stimmungen und Handlungsimpulse bei der acuten
Form — gegenüber den vergleichsweise seltenern, immer wieder
appercipirten und dadurch gleichmässig gefärbten Sinnesdelirieu in
der chronischen. Man kann sagen: bei dieser fest gegliederte
Ordnung, Alles in ein Schema (des Verfolgungs- oder Expansions-
wahnes) eingefügt und Eine Sprache redend; bei jener (der acuten)
Auflösung der Ich-Hegemonie in die Membra disjecta von kalei-
doskopischen Traumbildern, Einzelantrieben, proteusartig wechseln-
den Stimmungen.
Jedoch sind in den soeben gegensätzlich durchgeführten Unterschei-
dungen nur die Grenzfälle des acuten und chronischen Wahnsinns
gezeichnet. In der Mitte berühren sie sich und zeigen ihre klinische
Verwandtschaft, so zwar, dass eine, und zwar grosse, Gruppe der acuten
Form in Wirklichkeit nur die Wiederholung der chronischen darstellt.
Hier eröffnet ein echt syrabolisirendes Verfolgungsdelirium mit Sinnes-
täuschungen und gleichgefärbten appereeptiven Trugschlüssen die Scene,
Anfangs noch neben wachen und richtigen Wahrnehmungen; unter zu-
nehmender Bewnsstseinsverdunkelnng rückt ein deliranter geistiger Ex-
pansionszustand ein, mit religiös mystischem oder erotischem Inhalt; aber
das Ich bleibt sich dieses Traumspiels inne, und wenn es auch nicht die
wachen und die hallucinirten Perceptionen zu sondern vermag, so laufen
sie doch alle, systematisch verknüpft, in seinem Brennpunkt zusammen.
Das ist der acute Wahnsinn x«r' tifo /»,'»>; manchmal bleibt er in
diesem klinischen Rahmen, oft aber (z. B. bei intercurrenten, febrilen
Zuständen) Uberschreitet er denselben, indem die Hallucinationen über-
mächtig werden und inhaltlich wechseln, und tritt so in den weitern Kreis
der oben geschilderten Grenzfälle über. Aber auch der chronische Wahn-
sinn zeigt in seinem Verlauf oft genug Exacerbationen, welche sympto-
matologisch nichts Anderes darstellen, und auch sind, als die acute
hallucinatorische Wahnsinnsform, wie sie oben antithetisch gezeichnet ist.
Namentlich erfolgt die Einleitung oft mit einer derartigen hallucinatori-
schen Phase. Andrerseits geht der nicht geheilte acute Wahnsinn nicht
selten in einen chronisch-hallucinatorischen, theilweise auch systemati-
sirten, über. Mit Einschiebung dieser üebergänge verringern sich die
anfänglichen scharfen Gegensätze immer mehr und lassen ihre klinische
Verwandtschaft um so klarer hervortreten. Die ursprünglichen Grenz-
fälle liegen jetzt nicht einmal so weit entfernt als die Mania mitis und
Mania gravis, welche gleichwohl Einer klinischen Gruppe zugehören.
Immerhin ergehen sich mit der genauem Analyse der in dieses
ausserordentlich grosse — ich möchte annehmen grösste — Psychosen-
gebiet einschlägigen Fälle noch gewisse weitere Differenzpunkte, welche
gebieten die Grenzfälle klinisch scharf auseinander zu halten, und welche
zugleich die ausserordentliche Weite des Bogens zeigen, welcher die Ge-
sammtgruppe des Wahnsinns umschlies9t. Die chronischen Fälle reihen
sich nämlich symptomatologisch theilweise eben so nahe an die eigentlich
degenerative Verrücktheit an (ja leihen der letztern nicht selten ihre
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136
Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
klinischen Bilder), als die acuten an die Neuropsychosen (Melancholie
und gewisse Stuporformen mit Hallucinationen). Es ist wichtig dieses
Verhältniss zu betonen. So unterscheidet sich zwar im Allgemeinen der
acute Wahnsinn von der Melancholie sehr markirt durch die Unabhängig-
keit von einer primären krankhaften Stimmungsanomalie, welche bei der
Melancholie einleitendes, andauerndes und herrschendes psychisches Ele-
ment ist. Aber es gibt doch auch im acuten Wahnsinn eine dämono-
manische Gruppe, welche nicht allein von einem mächtigen depressiven
( panphobischen) Affect getragen ist, sondern auch durch ein echtes De-
pressionsstadium eingeleitet wird mit charakteristisch herabgesetztem
Selbstgefühl, depressiv gefärbten Hallucinationen und Illusionen. Das-
selbe nahe Verhältniss — sagen wir, dieselben fliessenden Uebergänge —
bestehen zum Stupor. Im Allgemeinen findet allerdings gegenüber der
am meisten typischen Stuporform (der attonischen) der acute Wahnsinn eine
scharfe Abgrenzung durch den Mangel des Perceptionsabschlusses und der
vollständigen Willenshemmung, wie sie beide für jene (Stupor) so charakte-
ristisch sind ; aber die hallucinatorische Form des Stupors (der sog. Pseudo-
Stupor) gliedert sich dafür wieder um so enger an eine Untergruppe des
acuten Wahnsinns an, welch letztere gleichfalls nur ein traumartiges Innen-
leben noch gestattet, höchstens vorübergehend durchbrochen durch Phasen
von Halbklarheit, oder vereinzelten luciden Momenten. Man könnte in der
That jene erst genannte Form eben so gut als die „stupuröse Form des
acuten Wahnsinns" bezeichnen, wie als „ballucinatorischen Stupor", zum
Theil auch nach Genese und Verlauf. So würde selbst der erweiterte
Betrachtstandpunkt nicht anzufechten sein, welcher im Allgemeinen die
gesammte acute Wahnsinnsgruppe als eine Wiederholung gewisser me-
lancholischer, manischer und stupuröser Psychoneurosenzustände in der
Traumphase des Bewusstseins zu erfassen d. h. zu definiren suchte.
Ebenso führen, wie erwähnt, von den chronischen Wahnsinnsformen
fliessende Uebergänge in die degenerative Verrücktheit. Die beiderseitigen
Krankheitsbilder sind symptomatologisch nicht selten nahe verwandt,
ja fast identisch (s. o.), so dass die klinischen Differenzen nur aus dem
Fehlen des „hereditären Habitus" herbeigeholt werden können. Denn
auch die Entwicklung des Leidens ist hier nicht selten eine frappant
identische. Von sehr beachtenswerter Seite (K rafft - Ebing» ist deshalb
auch die chronische Verrücktheit (i. e. chronischer Wahnsinn) im Ganzen
zu den degenerativen Psychosen geworfen worden, wohin sie aber meines
Erachtens trotz der so sehr häufigen Unheilbarkeit nicht gehört, so wenig
als die chronische Melancholie. Richtig ist und bleibt, dass die psy-
chische Degenerescenz unter dieser Flagge aufziehen kann, und zwar
zweifellos vergleichsweise öfter als unter dem Zeichen der andern Psycho-
neurosen (es müssten denn letztere als periodische Manieen oder
Melancholieen auftreten); aber es bleibt ein genügend grosses Gebiet von
Fällen reservirt, welche, wenn auch nahezu symptomengleich, doch nicht
„degeuerativ" sind. Vor allem legt trotz noch so grosser Symptomen-
congruenz der Verlauf des Leidens gegen die beabsichtigte Ver-
mengung Einsprache: der Verlauf ist bei allen erworbenen chronischen
Wahnsinnsformen ein cyklischer, aus innerlich d. h. physiologisch
begründeten Zusammenhängen verschiedener (manischer, melancholischer
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Der chronische Wahnsinn. Analyse der Symptome. Wahnideen. 137
u. g. w.) Zustandsphasen zusammengesetzter, während der der degenera-
tiven Nebenform im eminenten Sinne stationär, gesetzlos polymorph
ist, und — gegenüber dem langsamem oder raschern Abfall in demente
oder allgemeine Verwirrtheit (beim erworbenen Wahnsinn) — die Par-
tialität der Bewusstseinsstörung bewahrt mit gegenseitiger Verträglich-
keit des gesunden und kranken Ich.
Allgemeine Symptomatologie.
I. Der chronische (typische) Wahnsinn.
Analyse der Symptome.
a) Die Wahnideen. Formale Genese. Ihrer Entstehung nach
stammen sie entweder aus Vorstellungen (Wahrnehmungen, Worte,
Einfälle), oder aus Sinnes-Empfindungen aller Art, welche „allegori-
sirt" d. h. in die apperceptive Illusion des Ich (s. oben) aufgenommen
und in dessen Stimmung gefärbt „umgedeutet" werden. Genetisch
lassen sich danach die Wahnideen in 1. Vorstellungswahn und 2. Sin-
nenwahn unterscheiden. Die Entwicklung 1. der wahnsinnigen Vor-
stellung geht mit der der melancholischen parallel. Während aber
bei der letzteren die durch periphere Irradiation Ubermächtige krank-
hafte Stimmung den Eclaireur für einen passenden Erklärungsver-
such des (localisirten) Gemüthsdruckes bildet und für ein gedanken-
überfallt es Bewusstsein, so geht hier, beim Wahnsinn, die erste
Entwicklung des Wahns innerhalb des Ich selbst vor sich, zwar auch
aas einem treibenden Gefühle, welches aber intellectueller Natur ist
Es ist die Rathlosigkeit in Folge des innerlich erschütterten Existenz-
gefühls, die gefühlte Leere im Bewusstsein, welche den überstürzten
„Schluss in's Blaue" erzwang (s. oben), und, im Bestreben Sich-selbst
wieder zu erfassen, für den Augenblick das bedrohte Subject (das
Ich) durch Setzung des (falschen) Objects — scheinbar — rettete.
Dieselbe innere Unruhe, welche nur „Verification" will, erhält aber
auch, immer neu aus der Hirnkrankheit sich erzeugend, die unbe-
friedigte innere Spannung weiter.
Der wesentliche psychologische Unterschied in der Bedeutung der
Wahnvorstellung (als solcher) im Wahnsinn gegenüber der Melancholie
ist somit der, dass im ersteren der „Wahn" sofort schon gegeben ist,
wenn auch anfänglich nur als allgemeine Denkschablone — während er
in der Melancholie erst secundär hinzukommt. Dort ist er ein unent-
behrliches wesentliches Element, hier nur ein accidentelles, welches sehr
oft auch fehlen kann. Die Wahnerschaflfung an sich wirkt deshalb, wie
früher schon hervorgehoben wurde, im Wahnsinn eigentlich entlastend,
aufklärend, in der Melancholie dagegen belastend, nur erklärend.
Für den concreten Ausbau des Vorstellungs -Wahnes — für
die Ausfüllung der falschen Denk Schablone — wird nun diese innere
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138
Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
Spannung zum treibenden Moment Das schwankende Ich stellt sich
nämlich unbewusst auf eine aufklärende Wahrnehmung ein: aus
seinem inneren Missgeftlhle heraus beginnt es zu „ahnen" d. h. es
bereitet selbst die gesuchten Wahrnehmungen vor. Damit ist der
Einschlag fUr den falschen Knoten gegeben. Das ahnungslos „ahnende"
Ich lässt eben durch diesen unbewusst gespannten Innervationsstrom
der Aufmerksamkeit alle unklaren und schwachen Mitvorstellungen,
sofern sie von jenem berührt werden, zu klaren und mächtigen Wahr-
nehmungen anschwellen; zieht unbewusst — wenn einmal der Trug-
scbluss in die Objectivität eine bestimmtere Richtung angenommen —
alle Mithilfen nicht nur aus den beobachteten Dingen, sondern auch
noch hinter denselben hervor, um die gefühlte innere Lücke aus-
zufüllen. So gestaltet sich Das und Jenes aus der Umgebung, und
schliesslich Alles zu bedeutungsvollen „Symbolen". Das von jetzt
an „bewusst ahnende" Ich ahnt aber nicht, dass es in den diesen
überraschenden Funden nur unterlegte Gedanken zu Tage zieht,
und in der gewonnenen Aufklärung nur den fertigen Vorstel-
lungswahn geklärt hat. Dieser kann aus allen Wissens- und Er-
fahrungsgebieten inhaltlich hergenommen sein (s. später). Formell
drängt er immer mehr zur Ich - tragenden Vorstellungsreihe vor,
und sucht sich mit dieser zu amalgamiren, was oft plötzlich, blitz-
artig, anderemale aber erst nach neuen inneren Schwankungen sich
vollzieht.
Es entsteht nämlich nicht selten, sofern der neue Eindringling dem
alten Bewusstseinsinhalt zu sehr widerspricht, secundär eine Gemüths-
spannung, welche nur wieder als Reiz zur steten „Prüfung" des neuen
Fundes aufstachelt, und damit den Kampf mit dem Riesen Antheus
wiederholt — diesmal aber mit der eigenen Niederlage und mit dem
Siege des letzteren endet, weil bei der geschwächten Kritik und Reflexion
jede Berührung dessen Macht verstärkt. (Ueber die Entwicklung der
eigentlichen „Zwangsvorstellungen" zu Wahnvorstellungen s. das betr.
Capitel.)
Einfacher bietet sich 2. das Verständniss der Genese der Wahn-
vorstellungen in den Fällen dar, wo Reizungszustände im Gebiete
der höheren Sinne oder im Spinal- Grau (Hallucinationen, Hyper- und
Parästhesieen) auf das in leiser innerer Erschütterung begriffene
Sensorium einwirken (Sinnenwahn). Hier ist es die Macht des plötz-
lich auftauchenden Sinneseindrucks oder die bis dahin ungeahnte
Qualität des spinalen Reizes, wodurch langsamer oder rascher das
ahnende Ich aufgeklärt wird. Manchmal sind es erst elementare
centrale Sinneserregungen, welche in Gestalt von Wolken, Flämm-
chen, Windsbrausen u. s. w. das Ich Überraschen und „stutzen"
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Wahnideen. Formale Genese. Vorstellungswahn. Sinnenwahn. 139
machen. Aus den ungeformten Lichtnebeln krystallisiren sich aber
farbige Ringe, schwarze Punkte und Streifen und so stufenweise auch
Aaschauungsbilder heraus, welche durch das bereits „bestimmte" Ich
symbolische Bedeutung erhalten. Der Kranke ahnt jetzt und weiss
bald, wohin er seine Schritte lenken, von wo er fern bleiben soll.
In einer Reihe von Fällen erfolgt diese Mittheilnahme — diese Reiz-
Ubertragung auf die centrale Sinnesfläche — unabhängig von der
Affection im corticalen Apperceptionsgebiet und erst secundär: die
Vorstellungsstörung „bildet sich, im wahren Sinne des Wortes, in die
Sinne ein"; in anderen Fällen ist aber die hallucinatorische Reizung
der primäre Vorgang, welcher in seiner psychischen Wirkung die
kritisch geschwächte Intelligenz bannt und erst nach sich umstimmt.
Wir begegnen darin eigentlich nur einer Steigerung derselben sen-
soriellen Hyperästhesie, welche sich schon im ersten Krankheitsbe-
ginn als abnorm erhöhte „sinnliche Betonung" der Vorstellungen ein-
führte (s. oben). Es erscheinen dem Kranken schon einige Zeit vor
Ausbruch des Wahnsinns die Farben und Figuren in der Aussenwelt
ungewöhnlich schärfer und präciser, die gehörten Töne als uner-
wartet aufdringlich — gleichsam, als wenn sie ihn mehr angingen
als früher. Bei näherem Fixiren scheinen die Gestalten auf Bildern
und Gemälden aus dem Rahmen gegen das Auge des Beschauers zu
treten, ja sich zu bewegen. Die gesteigert empfundenen und zum
Theil ganz neuen spinalen Sensationen erregen erst eine hypochon-
drische Verstimmung, welche die ohnehin geschwächte Reflexion des
Kranken noch mehr hemmt, und damit gleichen Schritts den Process
der wahnhaften Allegorisirung der Sinnesempfindungen fördert. So
wird der „Sinnenwahn" fertig. In der überreizten centralen Sinnes-
fläche erhalten die ankommenden Empfindungen eine grotesk phan-
tastische Umformung; im Apperceptionsgebiet werden sie in die
„Schablone" der geahnten „Beeinträchtigung", „Grösse" hineinge-
zwängt. Dabei wirkt für die Specialisirung der Sinnenwahnideen
deren sinnlicher Timbre mit: die beklemmenden Präcordialsensatio-
nen werden in den Besessenheitswahn umgedeutet, die uterinen in
den Wahn der Gravidität (Mutter Gottes u. s. w.) allegorisirt. Aber
nicht allein centripetal als Matrix für Wahnvorstellungen fungiren
diese spinalen Hyperästhesieen, sondern auch „centrifugal" d. h. als
mitbegleitende periphere Localzeichen für intellectuelle Vorgänge; so
erhalten zufällige, mit solchen nervösen Tics zusammentreffende Wahr-
nehmungen, Einfälle, Reproductionen u. s. w. das jeweils „objecti-
virende Moment", so dass sie nicht als innerlich entstandene, son-
dern als von aussen (d. h. feindseliger Weise) dem Kranken bei-
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140 Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
gebrachte imponiren. Viele Wahnsinnige unterscheiden in der That
eigene und fremde Gedanken nur noch durch dieses Kriterium.
Das bedeutsamste, aber auch verhängnissvollste „Symbol" für den
Kranken wird das Wort in Form des Zwangsgedankens, des Einfalls,
der Hallucination. Als Träger des Begriffs im normalen Seelenzustande,
als Sammelpunkt einer unendlichen Fülle von Einzelvorstellungen, wird
es im Wahnsinn (und in der „Verrücktheit", s. d.) zum mächtigsten Zer-
streuungsapparat, je nachdem es zufällig in diese oder jene „Ahnung"
einschlägt, oft diese vollständig erfüllend und aufklärend, oft aber auch
das Ich im Anfang verblüffend, bis es das letztere endlich Uberwältigt
und ihm seinen „Sinn" aufdrängt. Bei noch mässigem Grade von intel-
lectueller Schwäche geschieht dies in logischer Weise d. h. durch den
Wortinhalt, welcher sich dem Ich aufzwingt; später sind es die Silben-
theile des Wortes oder schliesslich sein Lautklang, welcher durch wei-
tere Assonanzen gleichklingende Reproductionen weckt und dadurch ebenso
viele neue Vorstellungen, neue bestimmende Wollungen herbeiruft (so na-
mentlich zersplitternd und sinnverwirrend, wenn diese Assonanzen bei ge-
bildeten Kranken über mehrere Sprachen zu gebieten vermögen).
Inhalt der Wahnideen. In allen chronischen Fällen von
Wahnsinn haben die Wahnvorstellungen die Neigung zur logischen
Verknüpfung, zur Sy stematisirung. Diese erfolgt nach dem In-
halt der Wahnvorstellungen. Der Inhalt kann nun sein: a) hypo-
chondrischer, oder b) das Ich beeinträchtigender, oder c) das Ich
erweiternder Natur.
Die hypochondrischen Ideen im Wahnsinn zeichnen sich, gegenüber
den einfach hypochondrisch-melancholischen, durch das Groteske und Phan-
tastische ihres Inhalts und durch die plastische Evidenz nicht allein der
Sensationen selbst, sondern der aus den centralen Dys-, An- und Hyper-
ästhesieen geschlossenen „Thatsachen" aus. Dahin gehören : die Verkür-
zungen von Knochen, Verschiebungen von Organen, Herausnahme ge-
wisser Körpertheile, Umstitlpungen, Transferte von rechts nach links und
umgekehrt u. s. w. (Weiteres s. unter cerebrospinaler Wahnsinn). Die b)
das Ich beeinträchtigenden Wahnideen haben allermeist ein Verfolgtwerden
durch äussere Feinde zum Inhalt: Freimaurer, Jesuiten, Dämonen wech-
seln in der Rolle ab. Die Mittel des Angriffs" werden aus der Elek-
tricität, dem Magnetismus, den Laboratorien des Chemikers herbeigeholt
und beruhen — je nach ihrer unbewussten Auswahl — oft nachweislich
in den Qualitäten der Sensibilitätsanomalieen. Unter den spinal vermit-
telten figuriren die „sexual gefärbten" in erster Reihe: nächtliche An-
griffe auf die Hoden, „Aushaspelungen der Samenkanäle", „Andrückungen
von Dirnen" sind constant wiederkehrende Typen bei Männern ; Attentate
auf die Geschlechtsehre, unzüchtige Berührungen, nächtliche Begattungen,
Schwangerschaften u. s. w., die correspondirenden Wahnvorstellungen bei
wahnsinnigen Frauen. Die Hallucinationcn dieser Gruppe führen dieselbe
Sprache: einen beleidigenden, oft cynischen Inhalt. Die Gruppe c) ver-
einigt die Grössenwahnideen, und zwar religiösen, erotischen oder phil-
anthropischen Charakters: Gottbegnadigungen, Auserwähltsein zu hohen
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Inhalt der Wahnideen. Benehmen und Handeln. 141
Missionen (Messiaswahn) sind die Typen der ersteren; Heirathsträume,
idealer oder mehr sinnlicher Verkehr mit fictiven Geliebten die der zwei-
ten ; weltbeglllckende Entdeckungen und Erfindungen die Typen der dritten
Unterform. Auch hier gehen gleichgestimmte Hallucinationen mit; doch
präraliren für den beginnenden Verfolgungswahn die des Gehörs, dann
des Gefühls und Geschmacks, sehr häufig aber auch die des Getasts ; für
die mit Größenwahn einsetzende Wahnsinnsgruppe kommen auch Gesichts-
täuschungen neben denen des auch hier bevorzugten Gehörs. — Diese
verschiedenen Formen von Wahnideen vertheilen sich aber nicht etwa
getrennt nach einzelnen klinischen Gruppen, sondern sie combiniren sich
vielfach. Selbständig und den ganzen Krankheitsverlauf beherrschend
kommen die Verfolgungsideen im Beeinträchtigungswahnsinn vor, weniger
souverän sind die Expansionsideen in dem Grössenwahnsinn. Es gibt
wohl Fälle, in welchen sie den maassgebenden Inhalt dauernd bilden; aber
dies sind mehr nur die acuten und subacuten Formen dieser Gruppe.
Für gewöhnlich gehen auch beim Grössenwahnsinn depressive Wahnvor-
stellungen voraus, nicht selten ein förmliches Stadium bildend; an dieses
schliesst sich — wie die Fata morgana des verdurstenden Wüsten Wan-
derers — der Umschlag in das expansive Stadium mit gleichgestimmten
Wahnvorstellungen an. Sehr oft wechseln im späteren Verlaufe beide
Varietäten mit einander ab. Aber auch der primäre Verfolgungswahn
nimmt manchmal im Verlaufe eine Wendung in die entgegengesetzte Phase
und zeigt das Auftreten von GrÖssenideen. Die hypochondrischen Wahn-
ideen kommen als formgebender Inhalt vergleichsweise seltener vor ; häu-
figer bilden sie als solche Stadien innerhalb der übrigen Formen , so
namentlich als Anfang, manchmal, wiewohl seltener, auch während des
Krankheitsverlaufs; öfters dagegen wird im Ausgang, gegen die Recon-
valescenz hin, ein hypochondrisches Stadium bei constitutionellen Wahn-
sinnsformen (namentlich hysterischen, aber auch den originären) beobachtet.
Ganz besonders häufig tritt dasselbe bei sexueller, speciell masturbatori-
scher, Grundlage auf.
Klinisch sehr beachtenswert!! ist der remittirend - exaeerbescirende
Charakter der Wahnideen. Sie können auftreten und wieder verschwin-
den, ja sogar auf lange Perioden hinaus; sie können wieder einsetzen
in einfacher Form oder verstärkt durch lebhafte Hallucinationen; ja das
Bewusstsein kann sich unmittelbar nach einer überstandenen Phase —
mitunter sogar während einer solchen — zur kritischen Correctur vor-
übergehend erheben, um sofort bei der neuen Episode zur alten Urtheils-
sehwäche und kritischen Benommenheit herabzusinken. Auch fieberhafte
Krankheiten unterbrechen zuweilen das Spiel der Wahnvorstellungen, ja
sie können, wie intercurrente Typhusfälle beweisen, sogar ein vollständiges
Zurücktreten derselben, eine Heilung, bewirken (in einem meiner Fälle
heilte ein fieberhafter Magendarmkatarrh einen schweren subacuten Ver-
folgungswahn).
b) Benehmen und Handeln des Kranken. Hier knüpft sich zu-
nächst der Einfluss der Wahnideen auf das „Wollen" der Kranken an.
Manchmal Bind beide bis zu einem grössern oder geringem Grade
unabhängig von einander, so dass die intellectuelle Schädigung im
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H2
Der WabnsinD — Paranoia. Allgemeines.
Aeusaern gar nicht zu Tage tritt und nur der Affect vorübergehend
die Fesseln sprengt, wobei der innere Stachel der bis dahin stille
getragenen Verfolgung, oder aber im Pathos der Ueberlegenheit der
bis dahin dissimulirte Grössenwahn aufblitzt. Anderemale, und dies
ist die Mehrzahl der Fälle, gehen aber Wahnideen und äusseres Be-
nehmen Hand in Hand. Das letztere ist der ungeschminkte Aus-
druck des Innern. In wieder anderen Fällen findet zwar derselbe
wechselseitige Einfluss statt, aber die Beziehung tritt nicht so klar
zu Tage; zwischen Handlung und Motiv scheint vielmehr eine breite
Kluft zu liegen. Die erstere erscheint formal und an sich correct,
aber in ihrem Inhalt auffallend, oft geradezu unverständlich. Hier
klärt dann erst die tiefere Forschung den Zusammenhang und löst,
oft noch vom Schein -Motiv verdeckt, den Widerspruch, indem sie
den Grössenwahn (auffällige Wohlthätigkeitsspenden) oder den Ver-
folgungswahn (persönliche Schutzmaassregeln), oder den „Wort"zwang,
welcher zur äusserlich correcten, aber innerlich sinnlosen Handlung
ftthrte, enthüllt.
So kann ein Kranker plötzlich alle möglichen Dictionnaires sich kaufen
und endlich als wirkliches Motiv nicht den anfänglich behaupteten Wis-
sensdrang, sondern den Wortzwang in der Silbe „tik" offenbaren, welche
im Worte „Politik" zufällig ihm entgegentrat und haften blieb, und zu
deren Bekämpfung (d. h. um davon sich zu entlasten) er die Ankäufe
machte. Die Silbe „tik" war von der Assonanz „Dictionnaire" apperci-
pirt worden.
Sehr oft, namentlich in späteren Stadien, geht diese Umsetzung
der Wahnideen in Zwangsacte — dem Kranken selbst fühlbar —
unter dem Bewusstsein hindurch, ohne dass er einzugreifen und zu
hemmen vermag; zu andern Zeiten gelingt es ihm ganz oder theil-
weise entgegenzuwirken, und er freut sich dann ob seines „Triumphes".
Viele Kranke umgürten sich gleichsam mit einer Brustwehr von
eigens erdachten „Selbsthilfen" gegen solche Zwangsgedanken, deren
Entstehungsquellen sie kennen gelernt haben; doch hält der künst-
liche Schutz nicht immer vor, und der Kranke wird paroxysmen-
weise zu tumultuarischen Auftritten gegen die Umgebung in Form
von Schimpfworten, absichtlichen Kränkungen u. s. w. getrieben —
nicht als „gewollt boshafte Acte", denen diese Zorn-Entladungen oft
täuschend gleichen, sondern als Zwangsreactionen, wobei der Kranke
nicht anders konnte, wie ein Papagei sprechen, wie eine Maschine
handeln musste. Bei willensstarken Naturen dagegen bemerkt man
nicht selten den festen Entschluss des Kranken auch hemmend in
den Krankheitsmechanismus einzugreifen, so dass der Kranke nach
aussen hin durchaus componirt sich zu führen vermag. In vorge-
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Zwangshandlungen. Paralogie, Paraphasie, Paragraphie. — Stimmung. 143
rückten Wahnsinnsstadien bilden sich sehr oft automatische Zwangs-
stellnngen und Bewegungen, barocke Körperhaltungen und Verzer-
rungen zu einer habituellen Mimik aus — psychomotorische Zwangs-
vorstellungen, genauer: Reproductionen der früher geübten und in
das Gedächtniss der Nervenmaterie eingegrabenen Zwangsacte.
Hier ist auch die Paralogie und Paraphrasie sowie die Paragraphie
sehr vieler dieser Wahnsinnigen zu erwähnen. Neu erfundene Worte,
Umstellungen von Silben, neue Schriftzeichen, verschrobener Ductus der
Zöge, „bedeutungsvolle" (eigentlich sinnlose) Unterstreichungen, oft mit
verschiedener Grösse der Buchstaben, mit verschieden gefärbter Tinte —
sind häufige Aeusserungen dieser erkrankten geistigen Symbolik.
c) Die Stimmung. In der Uberwiegenden Mehrzahl der Fälle
ist diese im Beginne der Krankheit eine gedrückte oder wenigstens
eine zerstreute, entsprechend dem benommenen Bewusstseinszustand
and der ahnenden Spannung, wie sich die „von aussen" gefühlte
innere Aenderung aufklären werde. Ein ruheloses Wesen treibt den
Kranken, heisst ihn Lieblingsgewohnheiten und Verkehr meiden; ja
selbst die Familie kann weder seine Aufmerksamkeit noch sein Herz
mehr erfassen. Bald kommt peinliches Grübeln und damit Erhöhung
der Depression. Ist erst der „Wahn" appereepirt, so steigert sich
diese zur offenen oder verdeckten Feindseligkeit. Aber dieser Grund-
ton bleibt nicht constant; im Gegentheil — und ganz im Gegensatz
zur Melancholie — ist der grosse Wechsel der Stimmung sehr
häufig das auffallendste Symptom des (in seinen Wahnäusserungen
noch vorsichtigen und zurückhaltenden) Kranken. Zu einer Stunde
noch ziemlich natürlich, freundlich, theilnehmend, erkenntlich, kann
er in der folgenden finster, wortkarg, abstossend sein; von der weh-
müthigen Weichheit bis zum gereizten Trotze können alle Nuancen
in rascher Folge durchlaufen werden. Zu Zeiten ist die Stimmung
eine absolut unzufriedene, zieht aus jedem Worte, aus jeder Miene
und Geberde, aus dem heitern unbefangenen Treiben Anderer nur
das Gefühl der Kränkung, der Zurücksetzung, des bösen Willens.
Aber auch in den Stadien exaltirten Wahnsinns ist der Kranke nicht
eigentlich „glücklich". Er scheint wohl heiter und gehoben — Alles
ist ihm ja sichere Verheissung und Thatsache — aber der fortwir-
kende Reiz im Bewusstseinsorgan, welcher den Kranken immer weiter
„ahnen", nie wirklich ausruhen lässt, entzieht ihm das Gefühl tieferer
und namentlich dauernder Befriedigung. Erst mit dem Eintritt in
Geistesschwäche, wenn das „Rad" im Apperceptionsorgan stillsteht
und die bis dahin geschonten normalen Vorstellungskreise schritt-
weise reducirt sind, tritt das „vollkommen selige Gefühl der Befrie-
digung" ein — die erhöhte (Erschöpfungs-)Reaction des absterbenden
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144
Der Wahnsinn — Paranoia. Allgemeines.
Nerven (Arndt). Für das eigentliche höhere Gemüthsleben ist dem
typischen Wahnsinn ein Grundzag von Egoismus eigen, bald mehr,
bald weniger hervortretend, welcher die Kranken immer mehr von
der Welt und frühem liebsten Interessen abschliesst und sie altruistisch
hart macht
d) Somatische Begleitzeichen und Ursachen sind in bestimmter
und charakteristischer Form nicht vorhanden. Das vasomotorische Sy-
stem, welches in melancholischen und manischen Zuständen eine con*
stante Affection zeigte, ergibt für den ruhigen chronischen Wahnsinn
keine nachweisbaren Zeichen von Antheilnahme. Dagegen ist der letz-
tere die richtige Brutstätte — wie der Wahnideen und Sinnestäuschun-
gen — so auch der ausgedehntesten Sensibilitätsanomalieen ; ja er erhebt
sich in einer grossen Zahl von Fällen thatsächlich erst auf dieser vor-
bereitenden Grundlage, so zwar, dass diese sensibeln Begleiterscheinungen
wesentlich ihm d. h. der bezüglichen Hirnaffection angehören (s. cere-
brospinaler Wahnsinn). Die abnormen Gefühle im weitesten und engsten
Sinne, von den streng localisirten Neuralgieen bis zu den mehr diffusen
Verstimmungen des psychischen Gemeingefühls, bilden als „wahnbildende
Matrix" die steten und zugehörigen, wenn auch oft polymorph wechseln-
den körperlichen Begleitsymptome. In ihnen fixirt sich der „Verfolgungs-
wahn", wie sie dereinst die ersten „Angriffe von aussen" für das ahnend
suchende kranke Bewusstsein abgegeben hatten. Aber auch die wech-
selnden Stimmungen werden durch diese Sensationen geleitet: aus dem
Brennen in den Augen entstehen erst Thränen, daraus „Wehmuth" und
endlich „Zorn". — In erweiterter somatischer Beziehung sind als wich-
tige Begleitzeichen (resp. periphere Ursprungsstätten des Wahnsinns)
Uterinaffectionen und Menstruationsstörungen bei den Frauen zu nennen,
sexueller Abusus bei Männern und Frauen, die Involutionsphasen (Puber-
tät und Climacterium) bei beiden Geschlechtern, und namentlich die neur-
asthenischen Spinalzustände bei jungen, durch Masturbation geschwächten,
Männern und Frauen. In diesen sämmtlichen Fällen ist wohl die Affec-
tion des Lendenmarks mit der aufsteigenden und zum Theil reflectorisch
erzeugten Spinalueurose die somatische Folge, und für den sich aus-
bildenden Wahnsinn die mitwirkende Ursache. Für den acuten Wahn-
sinn sind bei Disponirten auch acute Krankheiten, namentlich Magendarm-
affectionen, nicht ohne wichtige Bedeutung. Eine grosse Rolle spielt die
erbliche Belastung, jedoch nicht sowohl nach Seite ihres degenerativen,
als vielmehr des einfach prädisponirenden Einflusses. Viele Patienten sind
in jeder Hinsicht geistig und gemüthlich gut veranlagte und entwickelte
Menschen.
Der Verlauf des Wahnsinns ist ein sehr mannigfaltiger. Für
den chronischen bildet der remittirend-exaeerbescirende die Regel.
Eine Reihe von Fällen geht nach einjährigem und noch längerem
Bestände allmählich in Genesung Uber, ein vergleichsweise grösserer
Theil in Heilung mit Defect. Andere wieder werden auf Jahre hinaus
stationär, bewegen sich aber doch in Schwankungen und zugleich in
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Verlauf. Therapie.
145
einem leisen Decursus nach abwärts in mehr oder minder hochgra-
diger psychischer Schwäche. Die klinischen Charaktere — die Wahn-
ideen nnd Hallncinationen — bleiben dabei erhalten, gestalten sich
dem intellectuell schwachen Ich immer befreundeter, werden zu
eigentlichen „Tages Gästen" (secundärer Wahnsinn, s.d.). Wesent-
lich für den Verlauf ist das Auftreten heftiger manischer Reactionen
(Furoranfälle) , wodurch der geistige Niedergang beschleunigt d. h.
mit jedem neuen Anfalle gefördert wird. Das Endstadium dieser ist
gewöhnlich ein wirklicher Blödsinn mit Resten der früheren Wahn-
ideen (s. die Einzelformen). Das Eintreten wichtiger Involutions-
Perioden (Climacterium) wirkt gleichfalls verschlimmernd, ganz be-
sonders aber sind es bei langer Krankheitsdauer die organischen
Hirnprocesse des Seniums, welche oft in brüsker Weise den Krank-
heitsverlauf (durch Apoplexie mit Folgezuständen u. s. w.) modificireu.
Sehr beachtenswerth ist der intermittirend -schuh weise Ver-
lauf vieler Wabnsinnsfälle. Die Krankheit setzt als Verfolgungs- oder
Größenwahn ein und corrigirt sich nach kurzer Zeit, so dass die Kran-
ken wieder genesen oder aber gebessert (ohne Krankheitseinsicht) ent-
lassen werden können. Nach kürzerer oder längerer Frist erfolgt ein
erschwerter Rückfall mit verlängerter Krankheitsdauer, welcher aber auch
wieder heilen und sich bessern kann. So kann sich der Turnus noch
mehrfach wiederholen, aber immer ernster und langwieriger, bis endlich
der letzte Anfall definitiv bleibt. Es können ferner Attonitätszustände
complicirend in den Verlauf eintreten (s. atton. Wahnsinn). — Ganz we-
sentlich kann der Verlauf durch individuelle Zwischenfälle (Nahrungsver-
weigerung bei Verfolgungswahn, tentamina suicidii) beeinflusst resp. ab-
gekürzt werden.
Therapie.
Die Behandlung des chronischen Wahnsinns verlangt Aufnahme
in eine mit allen Ressourcen versehene Irrenanstalt. Der Kranke
muss in eine neue Welt eintreten, welche die schädigenden Reize
von draussen nicht hat, und dabei positiv die seiner Individualität
genügenden Hilfsquellen (zusagende Beschäftigung, Feldarbeit, geistige
Ablenkung), und ausserdem noch die Mannigfaltigkeit besitzt, um
Aufenthalt und Beschäftigungs weise zu wechseln, wenn sie vom Wahne
inficirt dem Kranken unbehaglich werden. Der Wahnsinnige ist leicht
verwundbar und bewahrt tief, was ihn einmal verletzte: deshalb
sorgsam erwogene psychische Behandlung. Keine directe Wahn-
correctur, bis der Kranke genügend in seiner Reflexion erstarkt und
in seinem Vertrauen zum Arzte befestigt ist. Geduld will bei dem
Werke sein! Oft lässt sich in der Reconvalescenz durch Verschie-
bung der ersehnten Entlassung ein heilsamer Gegendruck gegen die
Schble, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 10
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H6
Der chronische depressive Wahnsinn.
letzten Reste des Wahnes ausüben; anderemale besorgt die Entlassung
stillschweigend diese Correctur durch die Eindrücke der Wirklich-
keit, welche der mittlerweile in sich zur Ruhe gelangte Kranke jetzt
anders aufzufassen vermag. In den selteneren Fällen ist eine wirk-
liche Einsicht in den Wahn zu erreichen; gewöhnlich ist es schon
ein sehr glückliches Resultat, wenn der Kranke denselben zu ver-
gessen oder wenigstens zu ignoriren lernt. Bei bestandenem Ver-
folgungswahn sei man übrigens vorsichtig und halte die Möglichkeit
der Dissimulation stets im Auge. Arzneilich hilft sehr oft Opium
(Morph.-Injectionen) die richtige geistige Nivellirung d. h. das Zurück-
treten der anomal überwiegenden Wahnvorstellungen zu unterstützen.
Daneben ist die sorgfältigste Beachtung aller körperlicher Anomalieen
(Ernährungs- und Circulationsstörungen , Neuralgieen, Uterinleiden)
angezeigt. Beim cerebrospinalen Verfolgungswahnsinn bildet die Be-
kämpfung der hier ausserordentlich häufigen Onanie einen wesent-
lichen Zielpunkt des ärztlichen Handelns; speciell gegen die Sensi-
bilitätsanomalieen sind Bromkali, Morphium, Elektricität, bydropath.
Behandlung in individueller Auswahl anzuwenden.
Der chronische depressive Wahnsinn.
a) Der Verfolgungswahn.
Klinisches Krankheitsbild.
Es lassen sich zwei grosse Typen unterscheiden, welche aber
aufs Mannigfachste in einander übergehen.
a) Die cerebrale Form. Der Anfang der Krankheit ist in der
Kegel ein allmählicher. Selbst wenn die eigentliche Scene mit einem
psychischen Sturm (Aufregung, Hallucinationen) beginnt, so bricht
dieser nicht in ein bis dahin gesundes Geistesleben ein (wie nicht
selten die verwandten acuten Formen), sondern stets in ein vorbe-
reitetes. Oft ist es ein einfacher Status nervosus, andere Male aber
eine ausgesprochene depressive Stimmung, welche die Krankheit ein-
leitet. Dabei ist das anfängliche in der Brust verschlossene Gefühl
der Verbitterung oft genug aus wirklichen herben Erlebnissen, aus
der berechtigten Enttäuschung eines redlich gewollten, aber unter einem
ewigen Unstern gestrandeten Strebens grossgezogen. — Der Kranke
kommt den Näherstehenden verändert vor ; er fühlt diese Aenderung
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a) Cerebrale Form. Klinisches Krankheitsbild.
147
wohl auch selbst, vermag sie aber nicht zu erklären. Das sind für
ihn schwere Zeiten, welche nicht selten den Gedanken an freiwillige
Lebensentsagung ihm nahelegen. Die innere Unsicherheit und Rat-
losigkeit — viele Kranke versichern direct, dass sie sich gar nicht
zu fassen vermöchten, dass sie nicht wüssten, was in ihrem Kopfe
sei — erzeugt Misstrauen und zunehmende Selbstisolirung. Bestän-
diges Grübeln, namentlich in religiösen BUchern, erfüllt die schein-
bare, mühsam zusammengehaltene Ruhe. Oft schon wird jetzt der
Appetit und Schlaf unwiederbringlich gestört; der Kranke magert
ab, fühlt sich auch körperlich elender und geistig sich immer mehr
ein Räthsel. Die Lösung des letztern durch den objectivirenden
Trugschluss und damit der Schritt in die eigentliche Krankheit hin-
ein kann nun auf die individuell verschiedenste Weise erfolgen. Oft
ist es ein starker Affect, irgend eine lebhafte Auseinandersetzung,
wozu dem immer reizbarem Kranken jeder Tag Gelegenheit in
Fülle bietet; er kennt von jetzt an Den, der ihm nicht wohl will.
Sehr häufig figuriren „Jesuiten und Freimaurer" als diese feindlichen
Attentäter; andere Male führt eine peinliche Erinnerung aus dem
Vorleben auf die Spur des gesuchten Verfolgers (s. u.). Oder es ist
eine Zeitungsnotiz, welche der Kranke auf sich bezieht, oder die
auffallend „spöttische" Miene irgend eines Vorübergehenden, ein
unerwartetes Husten oder Lachen oder Ausspucken, was ihm die
Situation klärt.
Nicht selten ist die Wahl des ersten Wahnobjects keine nur zufällige,
sondern steht vielmehr in engster logischer Verkettung. So bildet oft die
einstens still gepflogene Hoffnung (z. b. auf Verehelichung) den Inhalt der
ersten Wahnsinnsillusion, nur im verkehrten Spiegelbild: der empfundene
Nichterfolg wird jetzt zur absichtlichen Kränkung seitens jener einst be-
gehrten Persönlichkeit; die getäuschte Hoffnung (aus dem „Blick" eines
Dritten abgenommen) reflectirt sich als erste peinlich empfundene Beein-
trächtigung. Umgekehrt kann die innere Entzweiung, der Kampf zwi-
schen Pflicht und Leidenschaft, welchen ein „begehrter" erotischer Blick in
ein disponirtes Gemüth geworfen, zum directen Spiegelbild in Form einer
wahnsinnigen Illusion werden: der geduldete unsittliche Gedanke — zu
schwach zum Rückschlag in eine Melancholie — objectivirt sich als Ver-
folgung seitens Dritter (als sei der Träger jenes Blicks ein frivoler
Attentäter auf Frauenehre). Doch gibt es neben diesen, noch logischen,
Entstehungswegen auch ganz unbewusst bleibende, wo der Wahn toto
de coelo hereinblitzt.
Man macht sich nun Uber den Kranken lustig, sucht ihn zu
beobachten, zu kränken, oder aus seiner Stellung zu entfernen. Noch
rascher offenbart sich das „Gesuchte", wenn Sinnestäuschungen sich
zn dessen Eclaireurs machen. Sie kommen theils von selbst, theils
10*
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148
Der chronische depressive Wahnsinn.
(und sehr häufig) im Anschlags an einen alcoholischen Excess, ans
welchem der Kranke „Vergessenheit" zu schöpfen gewähnt hatte.
Manchmal sind es nur elementare: Brausen im Ohre, Flimmern vor
den Augen; in andern Fällen treten aber sofort fertige Hallucina-
tionen aus einem oder mehreren oder sämmtlichen Sinnesgebieten auf-
Der Inhalt der Stimmen ist allermeist Beschimpfung, Holm oder
Neckerei; der Inhalt der krankhaften Geschmacksperceptionen ein Gift-
wahn. Genetisch interessant ist die Angabe vieler Kranken, dass, sowie
sie sich nur an einen Namen, eine Thatsache erinnerten, die Stimmen
sofort den Faden weiter spännen, und daraus das „dümmste unbedeutendste
Zeug" machten; dass ihre (der Kranken) eigene Vorstellungen ihnen durch
die Stimmen entrissen, gleichsam vor dem Munde weggeschnappt würden.
Sowie sie an Etwas dächten, erschiene auch dessen Bild vor ihren Augen
leibhaftig. — Höchst interessant ist die Angabe, dass manchmal dem
Kranken durch das G e h ö r allerlei Bilder erzeugt werden, roheun-
geformte Massen, z. B. Steine, Holz, Metall, mit grosser Angstwirkung.
Andere im Gegensatze behaupten („ blaue") Stimmen zu sehen, und wollen
sie einfangen. Manchmal gehen dem Eintritt der Hallucinationen tage-
lange heftige Angstzustände voraus, welche mit dem Einbruch der Sinnes-
täuschungen sich legen, freilich nur um reactiv jetzt ebenso oft wiederzu-
kehren.
Es gibt eine Entwicklungsform des Wahnsinns, wobei die einleitende
psychische Verstimmung gar nicht besonders auffällt, und oft ganz nur
im Verhältniss der veranlassenden Ursache (tiefer Gemüthsaffect) einsetzt,
und erst eine plötzlich aufblitzende Sinnestäuschung den Kranken und
dessen Umgebung Uber den Ernst der Lage belehrt. In diesen Fällen
ist eigentlich die Hallucination das primäre Krankheitssymptom. Die-
selbe kann Anfangs vom Kranken noch richtig beurtheilt werden und auch
vorübergehend wieder zurücktreten; bald aber setzt sie wieder ein (zu-
nehmende Anämie und Agrypnie), und bleibt jetzt uncorrigirt (der Kranke
versichert, wenn er die Stimmen höre, „ganz taub zu sein").
Merkwürdig ist oft der barocke Inhalt solcher Primordialsinnesde-
lirien; so z. B. hört der Kranke beständig 3x11 = 12, und erkennt
in dieser Zumuthung eine schwere Beleidigung.
Nicht selten wechselt die Projection der Stimmen; oft kommen sie
aus nächster Nähe, anderemale aus der Ferne, so dass sie der Kranke
kaum versteht, und in aufreibender Pein sie doch zu belauschen sucht.
Manchmal werden gegentheils die Stimmen mit dem Näherrücken auch
inhaltloser.
Seltener brechen die Hallucinationen aus mehreren Sinnesgebie-
ten, und zugleich mit solcher Mächtigkeit ein, dass der Kranke auf
Stunden oder einige Tage acut verwirrt und in eine förmliche Traum-
welt vorübergehend versetzt wird. Er erlebt in diesen acuten Epi-
soden förmliche Theater- oder SpukstUcke, die man mit ihm auf-
fuhrt, geberdet sich in heftiger manischer Erregung oder in zitternder
Todesangst, wenn er sehen muss wie man ihn „metzelt" und „vier-
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a) Cerebrale Form. Klinisches Krankheitsbild.
•
theilt"; wenn Gesichte von geinen Widersachern und Freunden sich
um seine Vernichtung oder Beschtttzung streiten.
Eine Reihe von Fällen, vorzüglich mit starker invalider Hirnanlage,
setzen mit einer solchen acuten depressiven Wahnsinnsphase gleich zum
Beginn ein, und verlaufen erst nach Beschwichtigung der desultorischen
massenhaften Sinnestäuschungen in das chronische affectmatte Stadium.
Andere beginnen erst mit einer Mania mitis (Plänesucht, grosse Ge-
schwätzigkeit, gesteigerter Thätigkeitsdrang) ; sehr bald wird aber die
gehobene Heiterkeit der ersten Tage durch Verfolgungshallucinationen
gedämpft; es folgt eine gereizte Stimmung mit ZornausbrUchen und zeit-
weisen krampfartigen Angstzufällen, oft auch von perversen Acten als
Reaction auf die bedrängenden Sinnestäuschungen, manchmal mit ganz
verwirrter Ideenflucht — und erst hieraus klärt sich der ruhige Verfol-
gungswahn.
Wieder andere Fälle endlich verlaufen inremittirendem Typus,
indem nach anfänglicher acuter Wahnsinnsphase mit Hallucinationen sämmt-
licher Sinne (oft unter heftiger manischer Reaction) erst ein ruhiger Zu-
stand eintritt mit relativ lucidem Bewusstsein, wobei der Wahn aber
uncorrigirt fortdauert; nach längerer oder kürzerer Remission (eine bis
einige Wochen) kommt ein zweiter manisch-hallucinatorischer Raptus, und so
im Weiterverlauf noch mehrere, bis endlich der chronische Zustand bleibt.
Bei allmählicher Entwicklung ist es in der Regel erst Ein
Sinnesgebiet, welches mit seinen Täuschungen auf die Grübeleien
des Kranken antwortet, oder ihm plötzlich die schreckliche „Ahnung",
für die er bis dahin keine Lösung finden konnte, erfüllt: er ist das
Opfer einer Intrigue; man will ihn aus dem Wege räumen; der
Warnungsruf der Vögel hat ihm wie „geschwind, geschwind" ge-
klungen; kaum ist er rechtzeitig noch dem „Gifte" in Speisen und
Getränken entwichen. Manchmal folgen jetzt schon emotive Reac-
tionen; der Kranke steht abermals an der Schwelle einer Gewalt-
tat, oder er fordert erbittert den Schutz der Polizei. Oft aber ver-
schlie88t er auch noch die Entdeckung in sich, und forscht nach
neuen Beweisen. Diese lassen nicht lange auf sich warten ; ist ja
das Perceptionsgebiet unbewusst auf die Klangfarbe der bereits do-
rn inirenden Idee eingestellt, „gestimmt" (s. allg. Einleitung), so dass
nur die erwarteten Accorde wiederklingen. Dazu treten Reflex-
Illusionen und Symbolisirungen: die gefühlte Ahnung „wird ge-
schaut"; Alles um den Kranken ist „geändert", verhext, kleiner
gemacht, vertauscht; es kommt Thatsache Uber Thatsache, dass man
ihn nur vexiren und schädigen will. Waren es Anfangs Sinnes-
wahrnehmungen, welche, illusorisch umgedeutet, den apperceptiven
Trugschluss unterstützten, so hilft bald das „Wort" mit, oft ein bei-
läufig gehörtes, andere Male ein gelesenes, selbst ein zufälliger
Strassen- oder Orts- oder Personenname, um in unterlegter Umdeu-
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1-50
Der chronische depressive Wahnsinn.
taug (ja selbst nach seiner syllabären Zusammensetzung oder in
seiner Assonanz) die gesuchte Antwort, „die Erklärung" zu bringen
für das verzweifelt schwankende und nach einem zureichenden
Grunde ringende Bewusstsein. So, von den mannigfachsten Sinnes-
täuschungen, Träumen und innern Eingebungen unterstützt, klärt
sich endlich der fertige Wahn des Verfolgtseins ab. Jede neue
Beobachtung wird krampfhaft in das System hineingezerrt; endlich
erscheint die ganze Umgebung in zweifellos verdächtiger, be-
deutungsvoller Gestaltung. Der Kranke aber fährt fort mit allen
Mitteln seiner Logik zu argumentiren , dass er „geistesgesund" sei,
oder führt seine nicht abzuleugnenden nervösen Beschwerden als
weitere Beweise für die ihm böswillig zugefügten Schädigungen vor.
„Wenn ich geisteskrank sein soll, so bin ich es mit Verstand".
Der Kranke steht nun im Mittelpunkte eines Complottes, dessen
Ziel und Opfer er ist. Alles ist darauf berechnet ihn zu quälen
und in's Verderben zu ziehen. Durch verfängliche Fragen sucht
man ihn in die Irre zu führen, durch Vorspiegelungen seinem Glau-
ben abtrünnig zu machen, durch obscöne Reden seine Grundsätze zu
untergraben. Man gibt ihn für Den und Jenen aus, dichtet ihm
Schandtbaten an, verdächtigt ihn, häuft alle möglichen Verbrechen
auf ihn, treibt Spielwerk mit ihm. Durch seine innern Eingebungen
und Ahnungen, auf die er felsenfest baut, erhält er Aufklärungen
Uber seine innere bedrängte Lage, in welcher ihm manchmal so
sehr der Boden unter den Füssen weicht, dass er an seiner eigenen
Person zweifelt, ob er es Selbst oder ein Dritter sei.
So kann der Zustand sich auf Wochen, Monate, serfest viele
Jahre hinaus erhalten unter einem unberechenbaren Wechsel von
ruhigem und unruhigem Perioden und entsprechenden Stimmungs-
lagen, welche bald gereizt und misstrauisch , affectbereit, bald aber
gegentheils auch weich, weinerlich, unendlich verzagt sind. Manch-
mal ist der Kranke herrisch und widerstrebend, lehnt sich gegen
alle Anordnungen auf, hetzt und intriguirt; zu andern Zeiten verfällt
er einer passiven Resignation und Ermattung, zieht sich wochenlang
von den Andern zurück, bleibt anhaltend zu Bette liegen, schweigt
beharrlich, verweigert auch oft in nicht unbedenklicher Zähigkeit
die Nahrung.
In gleicher Weise variirt auch der Grad geistiger Klarheit.
Zeitweise lebt der Kranke ganz nur in seinen Wahngedanken, welche
längst die innersten Theile seines Selbst geworden sind; zu andern
Zeiten treten dieselben mehr in den Hintergrund, so dass der Kranke
nicht selten seine eigenen Zustände zu schildern vermag, oft in ver-
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ai Cerebrale Form. Klinisches Krankheitsbild.
151
kehrter Motivirung, manchmal aber auch in bewunderungswürdiger
Einsicht. Nur Uber den Zwang in seinem Denken und Fuhlen ver-
mag er nicht hinwegzukommen. — Andere Male ist die freiere Hal-
tung aber nur eine scheinbare. Beobachtet man den Kranken ge-
Dauer, so wird er doch trotz aller Correctheit von einem geheimen
vorberechneten Plane in der Fuhrung seines Tageslaufs, in der Aus-
wahl seiner Umgebung, seiner Beschäftigung, in seinem Thun und
Meiden geleitet. So äussert er nicht selten in verletzender Weise
onmotivirte Sympathieen und Antipathieen, weist Briefe als „unecht"
ab, meidet plötzlich die gewohnte Gesellschaft, weil ihm feindselige
Sticheleien gemacht würden; oder er wird da und dort betreten,
wie er vor sich hin Scheltworte lispelt oder Grimassiruogen macht,
als ob er erlittenen Hohn zurückgehen wollte. Andere Male dagegen
treten tagelang dauernde Anfälle von „Todesangst" mit Entweichungs-
versuchungen oder verzweifelter Selbsthilfe auf.
Sehr häufig schweigt der schon entwickelte Verfolgungswahn,
oder tritt wenigstens in seiner Macht zurück, wenn man den Kranken
in andere Verhältnisse bringt (s. u.), so oft bei der Versetzung in
die Anstalt. Andere Kranke üben diese Hilfe instinctiv selbst: sie
wechseln ihren Aufenthalt, Dienstboten ihre Plätze, und fühlen sich
mit dem Eintritt in die neue Umgebung sofort behaglich, oder we-
nigstens freier. Meist aber ist die Freude nur eine kurze. Sowie
der Reiz der Neuheit vorüber, steigt die alte Inficirung der Um-
gebung wieder auf, und spricht Alles wieder die alte Sprache: die
Verfolger sind nachgezogen! — Manchmal tritt aber eine wirkliche
Intermission ein, in welcher der Kranke auf kürzere oder längere
Zeit freier wird und wieder in seinen alten Wirkungskreis eintreten
kann; die Krankheit ist zurückgedrängt, aber doch nicht wicklich
öberwunden. Einsicht und Correctur bleiben dem Kranken versagt,
jeder ernstliche Versuch, ihn zu „überzeugen", erregt Unwillen und
Misstrauen.
Unter günstigen Verhältnissen kann die zurückgedrängte Wahn-
gruppe allmählich der Vergessenheit anheimfallen, und der Kranke
sich draussen wieder vollständig erholen. Es gibt Fälle, in wel-
chen diese Klärung sich auffallend rasch und auch mit wirklicher
Krankheitseinsicht vollzieht
Aber nicht immer geschieht Dies ganz und noch seltener dauernd.
In der Regel bricht früher oder später die alte Wunde wieder auf.
Oft genügt ein geringer Gemüthsaffect — und ein neuer Paroxysmus
(Aufgeben der bisherigen Berufsstellung, ruheloses Umherziehen)
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152
Der chronische depressive Wahnsinn.
schlie88t sich an, bis endlich, absatzweise nnd in Schüben, ein end-
lich permanenter Krankheitszustand erreicht ist.
Dieser äussert sich: 1. als sog. „Einfallswahnsinn", wobei der Kranke
immer mehr zum Automaten zerfahrener Gedanken und unmotivirter Raptus
wird. Die ungerufen sich aufdrängenden Gedanken, welche durch ihr
brüskes Auftreten sehr häufig als Pseudohallucinationen imponiren, bilden
oft auf Jahre hinaus die Quelle peinlichster Plagen für den Kranken,
um so mehr, als er darin den gefühlten Beweis des „von aussen Ge-
machten", der fortdauernden Vexationen erkennt. Die Zwangsantriebe
erhalten dabei nicht selten eine sehr bedenkliche Richtung gegen eigenes
oder fremdes Leben; oder aber 2. es entsteht ein secundärer halluci-
natorischer Wahnsinn, in welchem der Kranke ganz in dem Spiel der
immer schrankenloseren Sinnestäuschungen aufgeht. Die letzteren um-
fassen fortschreitend alle Sinnesgebiete: Funken- und Flammenerschei-
nungen wechseln mit einem Chaos der sonderbarsten Gestalten, welche
alle für den Kranken eine besondere Bedeutung haben. Dazu treten
Geschmacks-, Geruchs- und GefUhlstäuschungen fletztere besonders in der
Geschlechtssphäre). Der Kranke schliesst sich in einer Welt des Wahnes
ab, welche bald im Himmel, bald in der Hölle, bald in der Wirklichkeit
spielt, die barocksten Eingebungen einer entarteten, hemmungslosen
Phantasie theils mit richtigen, theils mit wahnsinnig umdeuteten Wahr-
nehmungen zum sinnlosesten Inhalte verquickt, und den Kranken imperativ
beherrscht. Eine Menge eigenartiger Selbsthülfen (Vor- und Rückwärts-
gehen, Gehen im Bogen, Wiegen und Schütteln des Kopfes, beständiges
Sichverbeugen, Sichverhtillen, Verschliessen der Ohren und Augen u. s. w.)
machen den Kranken zu einem zeitweisen Automaten. Nicht selten mischen
sich jetzt unter die Verfolgungsvorstellungen auch solche der Grösse,
des Glücks, der Begnadung vom Himmel.
Im Anstaltsorganismus werden solche chronische Verfolgungs-
wahnsinnige im Lanfe der Jahre oft trotz ihres ganz transscen-
denten Innenlebens noch recht nützliche Gehilfen und Arbeiter; man
räumt ihnen alles Aufregende aus dem Wege, beschäftigt sie in einer
ihnen zusagenden Weise, und erlebt so taglich den Segen dieser
geistigen Ablenkung und „Tonisirung". Der alte Wahn tritt zurück
— Anfangs und oft auf längere Zeit noch mit dem Reflex einer an-
dauernd gereizten Stimmung, welche bei der leisesten Berührung des
kranken Gedankenkreises explodirt, während der Kranke sonst sich
musterhaft, gelassen und correct verhält. Freilich fehlt jede corri-
girende Einsicht; eher gibt der Kranke Alles preis, als sich sein
Recht aus den Händen winden zu lassen. Zeitweilige „Ahnungen",
Traumbilder, welche sich zur Bedeutung von Gesichtstäuschungen
aufschwingen, bestärken ihn. Nach und nach klingt aber der Affect
aus, der uncorrigirte Wahn wird geduldet, kapselt sich ab wie ein
Sequester, und erlaubt dem geschont gebliebenen Theile des Seelen-
lebens eine desto freiere Beweglichkeit (s. u ). — Andere dagegen
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a) Cerebrale Form. Verlauf. Ausgänge.
153
fallen einem zunehmenden Schwachsinn mit Verwirrtheit und unregel-
mässig einsetzenden Aufregungsparoxysmen anheim. Sie werden
periodisch gereizt, aufbrausend, gewaltthätig , suchen (oft mit einer
bei ihrer sonstigen Geistesschwäche bewundernswerthen Raffinirtheit)
zu entweichen; oder sie werden temporär finster, abstossend, ver-
weigern die Nahrung, drohen mit Selbstmord. Manchmal wird dabei
Hitze im Kopfe mit Status nervosus geklagt. In der Folge werden
die Erinnerungen und Sinnestäuschungen zu noch sonderbareren, ver-
zwickteren Vorstellungen verarbeitet; dazu treten die heterogensten
Ideen in loser Ordnung, wie sie eben eine planlose Association und
der Contrast des Inhalts oder der Form, oder auch der unmittelbare
Eindruck einer Sinnestäuschung zusammengespielt hat aus dem Kreise
eines immer engern Vorstellungsgebiets — höchstens noch durch
die Schablone der „Beeinträchtigung der Persönlichkeit" locker ver-
bunden.
Stylprobe: „Die Kräfte würden (dem Kranken) entzogen; man
ziehe ihm daa Geblüt aus dem Kopf; er bekomme nichts zu essen; das
Essen sei kraftlos; man nehme ihm die Gedanken; diese führen in das
Holz (das der Kranke eben sägt), und fielen zerflossen als Sägspäne wieder
herunter; es seien Todsünden in dem Holz; sein Leben schlage wieder
aus; es fange an zu grünen, wie das Holz; er habe eben ein Naturge-
wissen; das sei schwach und zerbrechlich, wie Glas u. s. w." Manchmal
lässt sich noch ein einigermaassen associativer Faden im wirren Vorstel-
lungsspiel nachweisen, insofern die geäusserten ganz barocken Vorstel-
lungen und Gefühle sich als Reflexhallucinationen zufälliger Perceptionen
ausweisen; z. B. wenn Andere ausspucken, so schlüpft der Speichel in
ihn (den Kranken) hinein, und fällt ihm oben in den Kopf; wenn der
Nachbar Schnaps trinkt, so spürt der Kranke Feuer in seinen Eingeweiden;
die auf das Feld zum Düngen geführte Mistjauche läuft in ihn, in sein
geöffnetes Gehirn hinein; die Schweine, die er sieht, fressen aus seinem
Gehirn; Kühe, welchen er begegnet, brüllen aus letzterem heraus u. s. w.
Eine vernünftige Rede kommt bei dem Kranken nicht mehr auf.
Die sprachliche Form wird immer eigenthttmlicher, die Worte anders
accentnirt, Silben und Worte versetzt, fremde, schlecht gewählte
untermischt, oft am unrechten Platze, allerlei Wiederholungen und
Clausein eingeschoben u. s. w. Das Benehmen schwankt zwischen
träger Apathie, plötzlichen Aufregungen, und Neigung zu verkehrten,
und selbst gewaltthätigen , Handlungen. Interesse und Tbeilnahme
schwindet. Viele Kranke suchen oft für Wochen die Bettruhe auf.
Dazwischen treten, allerdings immer seltener, auch wieder freiere
Zeiten, in welchen eine mechanische Beschäftigung möglich ist.
Die bereits oben erwähnte eigenartige klinische Modifikation des Ver-
folgungswahnsinns, in welcher die Neigung und auch die Kraft des Kranken
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154
Der chronische depressive Wahnsinn.
besonders hervortritt zu dissimnliren, die Rolle des Angegriffenen mit
der des Angreifers zu vertauschen, gegen jede Zumutbung, als ob er
krank und der ärztlichen Behandlung bedürftig sei, zu protestiren — soll
hier noch kurz skizzirt werden. Es sind dies Fälle, welche nahe zum
Querulantenwahn hinüberleiten, sich von diesem jedoch durch die Passivi-
tät ihres Verhaltens unterscheiden; es fehlt ihnen das „manische" Ele-
ment der wirklichen Processkrämer. Sie greifen nur an, wenn man die
geistigen Kreise berührt, aus welchen die Imputation für eine seelische
Gestörtheit ihrerseits herzuleiten wäre : da werden sie sofort erst einsilbig,
tiberlegt, mäkelnd, endlich disputirsüchtig, rechthaberisch, aufbegehrend,
schroff abweisend. In ihrem zurückgezogenen ablehnenden Verhalten, und
ihrer gezwungenen aufrechten, oft forcirt vornehmen Haltung sind sie be-
ständig auf einen Angriff gefasst, welcher ihre Gesundheit verdächtigen
könnte. Mühsam, aber mit grosser Consequenz, verhalten sie den Trotz
und verbeissen den Zorn. Unbeobachtet ziehen sie das Gesicht in ernstere,
düsterere Falten, werfen mürrische Blicke um sich; in der Gesellschaft
stehen sie abseits mit verschränkten Armen, den Mund von einem höh-
nischen und verlegenen Lächeln umspielt. Im Verkehr sind sie unfreund-
lich, trotzig, zu dialektischen Klopffechtereien bereit; sie weisen jede neu-
trale Conversation ab, drängen gleich wieder auf die Frage ihrer „Deten-
tion" ein, wollen die juristischen Gründe wissen, pochen auf ihre geistige
Klarheit, auf ihre Freiheit und Selbständigkeit, und schliessen mit dem
Ceterum censeo des an ihnen begangenen „Justizmordes". Die ärztlichen
und amtlichen Belege für ihre Verbringung in die Anstalt erklären sie
sämmtlich für falsch und nichtswürdig. Dieser Zustand eines mehr nega-
tiven Wahnsinnsbildes — so positiv auch dessen Reflexe auf Stimmung
und Verhalten des Kranken sind — dauert oft Wochen und Monate.
Der Kranke spricht während dieser ganzen Zeit nichts grob Verkehrtes
und hält sich auch an die Ordnung. Für sich allein und unbeachtet
lacht er oft vor sich hin, weist aber jede Anfrage nach Hallucinationen
<auf welche er sichtlich reagirt) höhnisch ab. Alle Versuche in die Tiefe
des Wahnes zu dringen scheitern an seiner überlegten Vorsicht und Ver-
schlossenheit. Doch bricht dem Kranken, nachdem er umsonst auf die
Annahme seiner Gesundheitsbehauptung gehofft, endlich die Geduld. Er
wird heftig, barsch und gewaltthätig, schreitet zur Selbstjustiz gegen
harmlose andere Kranke und lässt jetzt ziemlich unverhüllt, im Gefühle
des Rechts und der inneren Genugthuung, die Andeutung fallen, „dass
er jetzt genug ausgehalten, dass er der feindlichen Partei nicht noch
ganz zum Opfer fallen wolle". Aber mit dieser Explosion ist's wieder
geschehen; es folgt kein normalerer FIuss in den Vorstellungen nach,
kein Wechsel und noch weniger eine Versöhnlichkeit in der Stimmung.
Man steht mit dem Kranken wieder auf dem alten Ötandpuukte, wie Mo-
nate zuvor; weder durch gemüthliches Anfassen, noch durch forcirte Be-
weisführung lässt er sich zu Geständnissen herbei. Oft intercurriren psy-
chische Reflexkrämpfe (convulsivische Bewegungen umschriebener Mus-
keln, plötzliches Hiuausschreien). In günstigen Fällen kann nach und
nach eine mildere Stimmung Platz greifen, die dialektische Schärfe ab-
brechen, der Kranke zugänglicher werden, so dass er jetzt mit einer ge-
wissen Natürlichkeit behauptet, dass er sich keiner Krankheit bewusst
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„Negativer" Verfolgungswahnsinn, b) Cerebrospinale Form. 155
sei, und jedenfalls im Leben draussen sich zu bewegen wissen werde.
Oft reussirt man, wenn man jetzt nachgibt, und dem fliehenden Feinde
goldene Brücken baut. Manchmal taucht nach der Entlassung der Wahn
auch dauernd unter. — Im anderen Falle wird er chronisch, und der Kranke
eine bleibende Negation der Hausordnung und jeder Annäherung. — Oder
aber: das System des passiven Widerstandes führt zur Nahrungsverwei-
gerung und zunehmender Entkräftung, und nicht selten, trotz Kunst-
hilfe, zum frühzeitigen letalen Ausgang. Oft intercurriren Angstzufälle
mit Stupidität und Spannungen in der Musculatur. Der conträre Wider-
stand bleibt trotz oft theilweiser späterer Krankheitseinsicht bis zum Le-
bensende. —
b) Die cerebrospinale Form. Die Einleitung dieser zweiten
Gruppe ist meist dieselbe, wie bei der ersten. Gewöhnlich geht
psychisch ein tiefes Misstrauen „gegen alle Menschen", und körper-
lich ein Status nervosus voraus mit Kopfdruck, ungeheurer Mattig-
keit, erschwerter Apperception und Reproduction , grosser geistiger
Erschöpf barkeit, Wechsel zwischen Activität und Abulie, und einer
darauf gegründeten hypochondrischen weinerlichen Stimmung.
Aetiologisch ist zu bemerken, dass ganz besonders sexuelle Excesse,
worunter Masturbation in erster Reihe, den nervösen Untergrund ab-
geben. Für sehr viele Fälle passt deshalb auch die ätiologische Bezeich-
nung: masturbatorischer Wahnsinn. — Statt der hypochondrischen
Depression kann auch ein melancholisches Vorstadium die Krankheit ein-
leiten: die Kranken klagen sich weinend und verzweifelnd grosser Sün-
den an, bald direct des begangenen Abusus, bald auch erdichteter Ver-
brechen; sie verlangen hingerichtet zu werden, kommen nicht zu Ende
mit der peinlich genauen Erzählung ihrer fictiven Selbstbeschuldigung.
In anderen Fällen debutirt die Krankheit mit einem cerebralen Verfol-
folgungswahn mit oder ohne Hallucinationen, sehr häufig mit Beachtungs-
wahn. Zahlreich kommen auch Zwangsgedanken vor, oft conträren In-
halts, so dass die Kranken allerlei cynische oder blasphemische Dinge
denken müssen.
Unter den nervösen Anfangssymptomen stehen cardiale Inner-
vationsstörungen (Herzklopfen, Beklemmungen, zeitweiliger Herz-
krampf), vasomotorische Rash's mit häufigem Wechsel der Gesichts-
farbe im Vordergrund. Das typische Gepräge erhält die Krankheit
durch das Hinzutreten cerebrospinaler Sensationen (richtiger Parästhe-
sieen), welche — allegorisirt — das ursprüngliche diffuse Unbehagen
des Kranken auf locale körperliche Grundlagen stellen (physika-
lischer Verfolgungswahnsinn). Die Gedanken werden „gestellt",
Arme und Beine vorübergehend immobilisirt, die Augen bald starr
gemacht, bald wieder beweglich, oder nach einwärts gedreht. Die
Muskelgcfllhle,. diese eingewöhnten Gradmesser jeder Bewegungs-
leistung, zeigen sich plötzlich verändert: ein abgerissener und auf
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156
Der chronische depressive Wahnsinn.
die Hand gelegter Knopf imponirt mit der Schwere einer Kanonen-
kugel. Am Abend noch rüstig für athletische Uebnngen, ftthlt der
Kranke am andern Morgen, „dass ihm alle Muskeln durchschnitten
sind". Der Körper wird vorübergehend „federleicht", der Kopf ist
bald frei und unendlich klar, bald wieder benommen wie „som-
nambul". Das sind gewöhnliche Anfänge. Da entdeckt der Kranke
plötzlich die Lösung des Räthsels: bei einem Gang Uber die Strasse
empfindet er, wie ein Vorübergehender ihn fixirt, und gleich fährt
eine Erschütterung durch seinen Rücken bis in seine Extremitäten
— es ist kein Zweifel, dass man ihn elektrisirt Die Passanten
tragen magnetische und elektrische Batterien in ihren Kleidern. Bald
geben auch in sein Bett galvanische Verbindungen; er kann nicht
mehr ruhig liegen; plötzlich zucken Funken oder heftige Schläge
durch ihn. Andere Male ziehen während der Nacht Empfindungen
durch seine Genitalien, als ob man „Proben" mit ihm anstellen,
Obscönitäten mit ihm treiben wolle. Frauen empfinden Coitus-Atten-
tate: es sind männliche Verfolger, vielleicht ein früher reflisirter
Geliebter, den die Kranke kannte, nicht wollte oder nicht heirathen
durfte. Oder es ist der „böse Feind", welcher in die Kranke ein-
gefahren und in irgend einem Körpertheile (so im Bauche bei Uterus-
Parästhesieen ; oder einer andern peripheren Nervenbahn entsprechend,
hier mit Vorliebe in den Intercostalbahnen „am Herzen") Wohnsitz
genommen. Jetzt ist es fortan „der Teufel", welcher die lästige
Empfindung und die damit zusammenhängende Vorstellung dem Kran-
ken beibringt; dieser „Dämon" in phantastisch- legendenhafter Gestalt
oder in bekannter Menschenform „presst ihm die Brust zusammen",
schnürt ihm den Hals zu, hemmt die Gedanken, oder „knechtet ihm
fremde ein, bannt ihn in Gedächtnisssperre", in „Mundsperre". Wenn
man den Kranken scharf ansieht, so fährt ihm sofort die Empfindung
durch die neuralgische Körperstelle; und umgekehrt, wenn die locale
Parästhesie sich einstellt, so fühlt er, dass man ihn ansieht und
beobachtet, seine Gedanken ihm „abziehen" und „herauslesen" will.
Bei lebhafterem eigenem „Ideengang" sieht er elektrische Funken
und spürt magnetische Strömungen, sogar solche, die sich auf Andere
überleiten. Immer ausgedehnter werden alle Sensationen auf äussere
Personen bezogen; die letzteren erweisen sich „freundlich" oder
„feindlich", je nachdem die ersteren dem Kranken angenehm oder
unangenehm sind. So wird die Verbindung zwischen Vorstellung
und peripherer Sensation immer inniger, immer zwangsmässiger.
Die Wechselbeziehung trifft namentlich auch für die Stimmung zu,
welche ganz nur Reflex wird und sich nicht selten in plötzliche
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b) Cerebrospinale Form. Klinisches Krankheitsbild.
157
Zornparoxysmen , oft mit Gewaltacten, entlädt gegen die als feind-
lich percipirte Umgebung. Hier spielen auch oft noch vasomotorische
Congestivzustände zum Kopfe mit: plötzliche „Wärmeausstrahlungen
vom Rücken oder einer neuralgischen Stelle am Thorax steigen zum
Kopfe und „erhitzen die Gedanken", so dass ein förmlicher „Vor-
stellungsschwindel" entsteht, und der Kranke vorübergehend kein
präcises Wort zu finden und keine Einzelerinnerung festzuhalten ver-
ma€ — „weil er immer auch alle verwandten Erinnerungen damit
durchdenken muss". Als Acte der Selbsthilfe werden dann alle
möglichen trippelnden und wiegenden gymnastischen Uebungen im-
provisirt, „um die Wärme wieder anders zu vertheilen".
Die spinalen Sensationen werden in der Folge noch zahlreicher
und mischen sich mit visceralen.
Hier einige der geläufigsten und bezeichnendsten: schmerzhaftes
Kitzeln, Gefühl, als ob Fische unter die Achsel schlüpften; als ob Nat-
tern bissen, ein brennendes Bügeleisen über den Bauch führe, Würmer
zwischen Haut und Fleisch sässen, als ob der Kopf angebohrt, in alle
möglichen Formen gezogen, als ob Glieder ausgerissen würden, als ob
man auf dem Kranken Holz säge, als ob er „am magnetischen Galgen"
hinge, als ob man magnetischen Sand auf ihn werfe, magnetischen Regen
*nf seinen Kopf giesse, die Samenkanäle ihm heraushaspele, das Blut auf-
und abpumpe, als ob eine Katze den Kranken inwendig schlecke und mit
den Haaren ausbürste, als ob der Körper auf Wasser schwämme; Aus-
pressen der Augen, Schwinden des Rückenmarks u. s. w.
Für den Kranken sind diese widrigen Empfindungen nicht einfache
Quälereien , sondern Verfolgungen durch den „bösen Geist". Manchmal
empfindet derselbe seine schlimmen (sinnlichen) Gedanken einseitig als
Druck in der Einen (linken) Schädelhälfte mit Verfinsterung des betr.
Auges, unter gleichzeitiger ärgerlicher Gereiztheit, während die „guten"
Gedanken nur rechts fühlbar werden, und zwar unter angenohmer He-
bung seines Muthes. — Damit einher gehen bei masturbatorischer Grund-
lage gehäufte, kaum zurückzudrängende Pollutionen, manchmal selbst
unter Tags und mit schliesslich fehlender libido. Frauen fühlen den
spontanen Abgang einer Flüssigkeit aus den Genitalien unter Wollust-
empfindungen, nachdem zuvor paroxysmal hallucinatorische geschlecht-
liche Insinuationen oder imaginäre „Andrückungen" an sie gemacht wur-
den. Dabei braucht Onanie nicht immer im Spiele zu sein.
Immer kommen jetzt auch Irradiationen auf die höhern Sinnes-
gebiete, namentlich auf Ohr und Auge.
Der „gefühlte" Verfolger kündigt sich auch durch Wispern und ge-
heimnissvolles Rauschen, durch bestätigende höhnende oder auch bedrohende
Worte (Bibelverse) an. Man vexirt den Kranken mit Spiegeln; der Verfolger
zeigt sich in Form einer Flamme oder einer Gluth, noch präciser in den
Contouren einer bekannten oder maskenhaft verhüllten, oder frivol nackten
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Der chronische depressive Wahnsinn.
Gestalt aus der Umgebung; manchmal entspricht merkwürdigerweise diese
centro-periphere Reizung nur dem einen Auge, während die Sehkraft des
anderen vermindert ist und alle Gegenstände nur verschwommen sieht.
Oft haben sich die Farben und Grössen Verhältnisse der Aussen weit ver-
ändert. Die gehörten Scheltworte kommen theils aus der Luft in das
Ohr, theils (und sehr häußg) aus der hyperästhetischen Körperstelle, so
aus dem Epigastrium, aus dem Unterleibe. Dort „schwatzt es" und treibt
dem Kranken das Blut in den Kopf u. 8. w. — In der Nase wird ein
stinkender Geruch empfunden nach Schwefel und Pech („wenn der Höl-
lengeist im Epigastrium sich zeigt"); selbst ganz barocke Gerüche nach
Enzian, Firniss, Petroleum, Sperma; alle Gegenstände stinken (riechen
nach Kalk u. 8. w.) ; auch der eigene Körper. — Aehnliche Täuschungen
im Geschmackssinn erregen Vergiftungswahn. Bemerkenswerth ist die
häufige Entstehung des letzteren auf Grundlage eines Gastricismus. Es
gibt ziemlich viele Fälle, bei welchen in diesem Znsammenhang der ganze
Verfolgungswahn mit Giftfurcht debutirt. Andere Kranken fühlen Aether
in ihren Mund fliessen, von da in's Ohr, und endlich in den Hoden u. s. w.
Nicht selten sind vertiginöse Anwandlungen , manchmal mit epileptoiden
Zufällen; bei hochgesteigerter sensueller und spinaler Hyperästhesie kann
sogar das Kritzeln eines Bleistifts, das Kehren der Zimmer einen Schmerz
hervorrufen, dass der Kranke „sich den Tod wünscht". Unschuldige Fra-
gen können ihn so erschrecken, dass sich „Herz und Kopf in ihm ver-
mischen" und er nicht mehr weiss, was man von ihm will. Anderemale
können beim kräftigen Anfassen der Haut tonische und klonische Zuckungen
auftreten. — Auch somnambule Zustände mit wandelnden Bildern, leb-
haften Farbenspielen, überschwenglichen „verklärten" Gedanken, beim Er-
wachen „eine nie geahnte Auffassung der Aussenwelt" werden beobachtet.
Die beschriebenen Symptome sind auch bei voll entwickelter
Krankheit nie in gleicher Stärke und Ausdehnung vorhanden. Viel-
mehr findet ein grosser Wechsel statt, oft local, so dass bald mehr
die obere, bald mehr die untere Körperhälfte heimgesucht ist; manch-
mal ist der Kranke „oben klar" und „unten steht er bis an den Bauch
im Nebel". Sehr variirend ist auch die Reaction dieser Parästhe-
sieen und Paralgieen auf Stimmung und Haltung. Solche Kranke
können zu Zeiten trotz ihrer Wahnideen natürlich geordnet, freund-
lich sein, selbst zeitweise einige Krankheitseinsicht äussern. Andere
Male aber, und oft in jähem Umschlag aus freiem GemUthszustande,
werden sie verstimmt, bitter gereizt (Masturbanten, namentlich nach
unfreiwilligen Pollutionen, welche auf vexatorische Essen- Zuthaten
geschoben werden), und gerathen nicht selten in leidenschaftliche
Heftigkeit, die sich bis zur Wuth und Gewaltthätigkeit steigern kann.
Auch in der scheinbar grössten Ruhe des misstrauischen Kranken
sind plötzliche impulsive Raptus (selbst Mordattentate gegen bis-
lang nicht gemiedene Personen) zn fürchten. Bei Frauen bringt der
menstruale Termin regelmässige Verschlimmerungen.
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b) Cerebrospinale Form. Krankheitobild. Verlauf.
159
Auf dieser Stufe angekommen, kann sich das Leiden wieder sachte,
zurtickbilden. An dem Rest des intact gebliebenen Vorstellungsbesitzes
rankt sich der Kranke anf und lernt, namentlich durch entsprechende Be-
schäftigung sich ablenkend, allmählich sich über sein Leiden zu stellen.
Dieses d. h. der Verfolgungswahn tritt immer mehr zurück, ohne aber
auch kritisch überwunden zu werden; namentlich dauern die Gehörshallu-
cinationen oft noch Monate lang fort. Das äussere Verhalten wird ge-
ordnet, nur bleibt der Kranke scheu und zurückgezogen. Nach und nach,
oft erst in Jahresfrist, tritt auch dieser Rest der Störung zurück — zwar
auch jetzt nicht durch Einsicht Uberwunden und aufgeklärt, aber ver-
gessen, weil wirkungslos geworden. Dem Genesenen drohen aber Reci-
dire, welche namentlich bei Fortdauer der Masturbation nie ausbleiben.
Der Weiterverlanf des Leidens ist, wenn nicht Heilung ein-
tritt, ein ausserordentlich mannigfaltiger, entweder in (eigenartige)
psychische Schwäche, oder in Degeneration. Bei den masturba-
torischen Fällen bildet sich in der Regel anf Grundlage der spinal-cere-
bralen und visceralen Gefühle ein hypochondrischer Wahnsinn auß.
Der Kranke fühlt seine Knochen verkürzt, das Mark aus denselben
gezogen, die Hände werden länger und kürzer, der Kopf erhält alle mög-
lichen Contigurationen (die Verfolger thun dies gelegentlich experimenti
causa, „um physiologische Hirnexperimente zu machen"), Wirbel werden
aus dem Rückgrat herausgenommen („die bösen Geister haben mich zu-
erst zu einem Simpel und dann bucklig gemacht"), die rechte und linke
Körperseite wird vertauscht, Nachts werden Körpertheile geraubt, andere
verstümmelt. Die Eingeweide verfaulen, im Gehirn plätschert Wasser.
Im Körper geht eine Theilung vor sich: „in der einen Hälfte concentrirt
sich das eigentliche Ich, in der anderen lebt nur ein halbtodtes Selbst-
bewusstsein". Manche Kranke versuchen dagegen allerlei Gegenmittel;
sie waschen sich mit Chemikalien, brennen sich mit der Cigarre, ätzen
sich die Körper-Foramina (Urethra, Anus) mit Höllenstein, schieben Watte
und Holz ein u. s. w. Andere dagegen trachten nach Verificirung ihrer
abnormen Organgeflihle ; sie maltraitiren sich, um sich zu Uberzeugen,
dass sie noch eine Brust oder eine Schulter haben. Dieser Drang kann
sogar eine lebensgefährdende Höhe erreichen, wenn der Kranke allen
Ernstes sich zu schiessen beabsichtigt, um zu sehen, ob er noch „eine
Brust wie andere Menschen" habe. In anderen Fällen kann merkwürdiger-
weise die Reflexion, dass „die Kugel ihm doch nichts anhabe, durch seinen
Kopf einfach wieder herausgehe", den Kranken vom letzten ernsten Schritt
zurückhalten. Das hypochondrische Stadium kann bald stärker, bald schwä-
cher durch Jahre hindurch persistent bleiben; meistens engt sich dabei
der Kreis der „beeinträchtigten" Organe eiu und bildet künftig einen
stereotypen Wahnkreis unter den übrigen, so besonders schadhafte Zähne
oder Haare, welche oft in charakteristischer Weise für die phantastische
Wahrnehmung des Kranken sich gewissermaassen „beleben", zu Zähnen
werden, welche sich im Munde „bekämpfen", oder zu „Zahn-Leichnamen"
absterben. Auch der „Magen" spielt eine grosse Rolle in dem hypochon-
drischen Elend des Kranken, welches sich in diesem Falle häufig mit Ge-
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lüO
Der chronische depressive Wahnsinn.
schmacks- und Geruchsillusionen (Verwesungsgeruch) verbindet und zeit-
weilig zu Nahrungsverweigerung führt.
Das Auftreten dieses hypochondrischen Wahnsinns kennzeichnet
jedoch nicht allein nur die masturbatorischen Fälle, und auch nicht
nothwendig nur die schwerere Verlaufsform. — Häufig vollzieht
sich der Fortschritt des Leidens unter zeitweiligen Fluxionszustän-
den zum Kopf und episodischen Manieen mit Furor -Charakter,
brutaler Gewaltthätigkeit, grimassirenden Gesichts- und choreiformen
Körperbewegungen, und einer fragmentaren assonirenden Ideenflucht.
Jeweils folgen dann Erschöpfungsperioden nach. So geht die geistige
Abschwächung etappenweise weiter. Nicht selten schieben sich
aber auch Stuporphasen ein, und der Weiter verlauf geschieht unter
dem Bilde des katatonen Wahnsinns mit Uebergang in katatonen
End-Blödsinn (s. d.).
In andern Fällen tritt kein vollständiger Stupor, sondern nur
ein Zustand von Mutacismus ein, mit Indolenz, Abulie und täglich,
oft in regelmässigen, z. B. viertelstündigen Pausen, wiederholten
Zwangsstellungen und -Bewegungen (Drehen im Kreise, Attitüde des
hockenden Frosches u. s. w.).
Andere bleiben, tagelang zusammengekauert, wie Fakire sitzen, um
mit „dem Magneten der Zimmerdecke" in Verbindung zu bleiben, halten
allerlei Jongleurstellungen ein, weil sonst die „elektrische Verbindung"
aufhört, und die Höllengeister Uber sie herfallen, sie an der Brust drücken,
Herz und Athem stellen u. s. w.
Oder endlich: es debütirt plötzlich ein Grössenwahn (bei
onanistischer Grundlage häufig religiösen Inhalts; s. u.).
Bei chronischem und incomplicirtem Verlaufe erhält sich der
spinale Wahnsinn auch auf Jahre hinaus im stationären resp. sachte
progressiven Gange, mit zeitweiligen Exacerbationen. Der Kranke
wird immer mehr der Wirklichkeit entfremdet, immer mehr zum
Spielball seiner Einfälle und seiner wechselnden Sensationen, welche
jeweils sofort in Wahngedanken oder Hallucinationen umschlagen
(secundärer Wahnsinn). Das Ich stellt künftig nur mehr noch den
Durchgangs- oder Minuten-Sammelpunkt für diese dar. Es ist ein
fließendes, immer wieder neues, geworden, ohne Continuität. (Inter-
essant ist, dass solche Kranke oft sich selbst als „Marionetten" be-
zeichnen, „aus welchen Andere machen, was sie wollen".) Nur für
die Vergangenheit bleiben noch eine Zeitlang geschlossene Vorstel-
lungs-Complexe ; aber auch diese bröckeln nach und nach ab.
Der Kranke lebt jetzt ausser Raum und Zeit, ohne Theilnahme und
Interesse. Die Stimmung ist ausserordentlich wechselnd: im einen Augen-
blick drohend und abweisend, ja unheimlich feindselig, überrascht sie im
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b) Cerebrospinaler Wahnsinn. Ausgänge. Degenerativer Wahnsinn. 161
nächsten durch ein blödes Lachen, eine motivlose Heiterkeit; die Haltung,
soeben noch verschlossen, misstrauisch , zu Thätlichkeiten geneigt, oder
doch unter einer gewissen Furcht zurückhaltend, kann in jähem Umschlag
wieder offen und zutraulich sein. Der urtheils- und gedächtnissschwache
Kranke wird in seinem lockeren psychischen Bestand nur noch durch die
Hallucinationen zusammengehalten, welche, Uber alle Sinne verfügend,
imperativ ihn beherrschen. Darunter stehen (auf masturbatorischer Grund-
lage) die des Gefühls in erster Reihe. In den immer zwangsmässigeren
Reactionen auf dieselben geht das Tagesgeschäft des Kranken auf (stän-
diges Betasten der Genitalien, Einsalben des Körpers mit Stuhlgang und
Urin, Einspeicheln der Speisen im Teller, stundenlanges Auspusten, Be-
klopfen verschiedener Körpertheile, Verstopfen der Nase und der Augen
mit Unrath — Alles, um sich gegen die obscönen Berührungen zu feien).
Endlich, wenn die Krankheit bis zur letzten Verlaufsgrenze sich
erschöpft, bleibt noch eine hallucinatorisch verwirrte oder auch
stumpfsinnige Dementia Übrig, in welcher sich, trotz der Indolenz,
der impulsive Charakter (namentlich Attentate auf Genitalien und
Augen) erhält. Es ist der eigentlich degenerative (meist ona-
uistische) Wahnsinn.
Dessen klinische Charakterzüge sind summarisch folgende: Der an-
fängliche spinale (physikalische) Verfolgungswahn ist mit zunehmender
geistiger Schwäche in einen religiösen Expansionszustand übergegangen
mit einem weichlich sentimentalen, durch allerlei salbungsvolle Gesten und
Pantomimen verschnörkelten Wesen, welches in einem Gemisch von Cul-
tusexercitien und erotischen Aeusserungen sich genügt (tagelanges Hände -
falten, einseitige forcirte Kopfhaltung, Küssen des Fussbodens, mystische
Reverenzen u. 8. w.). Die geistige Benommenheit ist eine tiefe und gibt
dem Eintritt von visionär hallucinatorischen Phasen ungehindert Raum.
Bemerkenswerth ist, dass in dem confusen Gebahren ein gewisser ver-
ständiger Zug mit einhergeht, und in der vagen Faselei stets auch rich-
tige Perceptionen unterlaufen. Es ist ein Gemisch von Traum und ober-
flächlicher wacher Lucidität. Während der letzteren besteht ein grosser
Hang zu metaphysischen Speculationen und schriftlichen Exposes Uber
Gott, Satan, Weltseele , Weltprincip u. s. w. Der Verlauf ist ein ausser-
ordentlich buntgemischter, mit jähen l'ebergängen aus einer Zu8tandspha.se
in die andere : religiöse Exaltation mit Zwangsstellungen und -haltungen ;
manische Erregtheit bis zum Zerstören, Schmieren, Urintrinken, Drang
den Andern die Genitalien zu küssen — wechseln mit klareren Episoden,
diese mit intercurrenten Stupcranfallen (starkes Speicheln, vasomotorische
Krampf- und Lähmungszustände); diese wieder mit hypochondrischen Pe-
rioden (der Leib verfanle u. s. w.). Endlich bleibt unter manifester Ge-
wichtszunahme ein hallucinatorisch verwirrter Blödsinn übrig, mit intel-
lectoeller und sittlicher Abstumpfung und einem triebartigen Gebahren
(Zusammenraffen von allem Ergreifbaren, Verschlucken von Steinen
«.s.w.), schmutzigstem Habitus, Vor -sich -Hinmurmeln von stereotypen
ganz verkehrten Sätzen, hastiger Essgier ohne zu kauen, trophischen
Störungen (Neigung zur Hämatombildung an den Ohren und am Kopfe,
Schftle, GeiaUftknnkheiton. 3. Aufl. 11
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162
Der chronische depressive Wahnsinn
am Hoden u. s. w.). — Der Verlauf ist oft ein relativ sehr rascher,
subacuter, in den Rahmen weniger Monate zusammengedrängt. —
Unter den Fällen dieser Gruppe, welche gegentheils bis zum Schluss
die logisch strengste Systematisation in der feindlichen Allegorisirung der
Gefühle und der Hallucinationen einhalten, und dabei auch das seiner
Situation klar bewusste Ich bewahren, ist besonders der Verfolgungswahn-
sinn, welcher auf Tabes dorsalis d. h. auf tabischen Spinalsensationen
manchmal sich aufbaut, hervorzuheben. Hier deckt sich in besonderer
klinischer Klarheit und Durchsichtigkeit der Parallelgang der (tabischen)
Sensibilitätsstörung einerseits und des physikalischen Verfolgungswahnes
andererseits auf. Jede spinale Parästhesie wird in elektrische Einwirk-
ungen, jede motorische Hemmungsempfindung auf Maschinen der Ver-
folger („gelegte Fussangeln") zurückübersetzt. Der Kranke vermag
schliesslich seinen Zustand in solcher Weise zu objectiviren und in sei-
nem allegorischen Spiegelbild so zu controlliren , dass jeder subjectiven
Aenderung des Befindens auch eine — physikalisch begründete — Aen-
derung im elektrischen Belagerungsapparat von draussen unterlegt wird.
Manche Kranke sind im Stande neben den dadurch ihnen aufgenöthigten
Abwehrplanen noch ein leidliches Stück seelisches Interesse für andere
Gebiete zu retten, und sich auch noch nützlich zu beschäftigen. Freilich
müssen für jedes Missgeschick im Arbeiten sofort die „Zauberer" wieder
herhalten! Bei Anderen aber nimmt das Misstrauen gegen aussen so über-
hand, dass der Kranke sich immer mehr abschliesst, bei Zumuthungen
und Ansprachen aufbraust, selbst impulsiv gewalttbätig wird, und endlich
in einem Stillleben untergeht, wo er nur noch mit seinen Hallucinationen
Verkehr und Zwiegespräche führt. Vorübergehend lässt er sich noch
aufrütteln, auch zu mechanischen Beschäftigungen anhalten ; in Wirklich-
keit aber lebt er nur noch dem immer verwirrteren, schliesslich für ihn
selbst unverständlichen Innenspiel der Hallucinationen, heiteren und är-
gerlichen Einfallen, welche sich durch Lachen, Schelten, zeitweilige zornige
Reactionen oder Widerstand gegen die Hausordnung, selbsterfundene Schutz-
massregeln gegen Localgefühle kundgeben.
Der Eifersuchtswahn bei Frauen — ein nicht seltenes kli-
nisches Bild im Climacterium oder bei localen Parästhesieen der Genita-
lien — ist gewöhnlich viel stationärer. Einmal erfasst und durch That-
sachen verificirt, wozu bereite Illusionen sich einstellen, bleibt er durch
Jahre hindurch auf gleicher Entwicklungsstufe; mit ihm Gefühlskälte und
feindselige Abneigung gegen den Ehemann. Aufgeregte Paroxysmen der
„gerechten Verachtung" intercurriren. Nach und nach folgt Nachlass
des Affects bei Unverbesserlichkeit des fixen Wahnes und zunehmender
geistiger Schwäche. Nicht selten treten jetzt hysterische Symptome (ner-
vöses Erbrechen, Husten, Krämpfe) in den Vordergrund des Krankheits-
bildes. Die Intelligenz erhält sich oft sehr lange auf einer leidlichen
Stufe, so dass die Patienten dem Uneingeweihten gar nicht als Kranke
imponiren, zumal sie fein zu dissimuliren verstehen. — Diese Special-
form kommt übrigens auf consÜtutioneller hysterischer Grundlage auch
temporär vor und kann als solche wieder zurücktreten, indem zu-
gleich die vaginalen Parästhesieen aufhören und die bis dahin unbefrie-
digten Coitusgefühle (welche zur Annahme einer Impotenz des Mannes
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TabischerVerfolggswahnainn. Eifersuchtswanhnsinn. SchwangerschafUwahns. 163
aus „anderweitiger Neigung und Gepflogenheit" geführt hatten) reparirt
werden.
Der Eifersuchtswahn bei Männern (Wahn der ehelichen Un-
treue Seitens der Frau) entsteht mit Vorliebe auf alkoholistischem Bo-
den (sexuelle Parästhesieen, verfrühte Impotenz in Folge der chronischen
Intoxication?), jedoch auch ohne diese specifische Genese. Die Wahn-
conception kann plötzlich auftreten, nicht selten nach einem erneuten AI-
koholexcess. Die gemtttbliche Rückwirkung führt sehr häufig zu furor-
artigen Zornparoxy8men , oft zu directen Gewaltthaten , theils gegen die
Frau, theils gegen den vermeintlichen Beleidiger der Hausehre. Der
Verlauf, auch hier meist ein chronischer, erfolgt manchmal schubweise.
Illusionen und Hallucinationen (vorzüglich des Gehörs) compliciren den-
selben und bauen sich oft zu ganzen Romanen auf, wogegen bei der
rabulistischen Dialektik des Kranken keine Einwendung aufkommt. Die
Kranken erschöpfen sich Anfangs in gerichtlichen Anklagen; abgewiesen
werden sie zu erbitterten Querulanten. Mehr und mehr aber tritt Indo-
lenz ein: der Kranke vergisst im Laufe der Jahre allmählich seinen
Wahn — freilich um den Preis seines feineren Gemüthslebens, speciell
der Anhänglichkeit an seine Familie; er schrumpft zum Egoisten herab,
welcher keine tiefere Empfindung, ja keine Nachfrage mehr nach den
Seinigen kennt. Manchmal kommen aber auch wirkliche Intermissionen
vor, und sogar spät, selbst nach Jahren noch, eine Heilung mit Defect,
so dasa in den mittlerweile geistig schwächeren und ruhigeren Kranken
wieder ein natürliches Interesse für die lange geschmähte Frau aufwacht,
und Uber den Wahntraum hinweg sich auch thätig kundgibt.
Dahin gehört auch der so häufige Schw anger Schafts wahn von
— in der Mehrzahl uterinkranken — Frauen; er steht in der Regel auf
dämonomanischem Boden („der böse Feind hat sie nächtlich Uberwältigt"),
und kann sich weiter in allen erdenklichen Richtungen einer mütterlichen
Phantasie (mit Geburt, Wegnahme des Kindes, oder aber in beständiger
Erwartung und Vorbereitung zur Niederkunft durch Anfertigung von Kin-
derkleidchen u. s. w.) hinausspinnen. So können die Kranken nach und
nach in demente Schwäche Ubergehen mit Erhaltung des Wahns, welcher
sich in Hätscheln und Pflegen von Kinderphantomen kindisch befriedigt. —
Es kommen aber auch Fälle von acuterem Charakter und Verlauf mit
dämononianen oder gegentheils erotisch- religiös gefärbten Hallucinationen
vor (namentlich im Climacterium) , welche günstig verlaufen, manchmal
durch den Eintritt der vorher cessirenden Menses corrigirt werden.
I ' Manische Form des Verfolgungswahns. In vielen Fäl-
len schlägt die protensartige Krankheit einen von den seitherigen
Arten abweichenden Verlaufs -Modus ein. Es ist oben schon der
nicht so seltenen initialen Manie gedacht worden, welche als
Gemttthsreaction auftritt, wenn der Kranke die empörende Thatsache
der gegen ihn inscenirten Verfolgung entdeckt hat.
Diese manische Gereiztheit und Zornmüthigkeit kann dabei den
zu Grunde liegenden Verfolgungswahn so maskiren, dass dieselbe zur
klinischen Signatur des Krankheitszustandes wird. Schon kurz nach dem
11*
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164
Der chronische depressive Wahnsinn
depressiven Stadium — in Folge des peinlichen Beachtungswahns —
kann der Uebergang sich vollziehen. Der erst noch menschenscheue,
Schutz suchende Kranke tritt aus sich heraus; er wird heftig und hart
gegen Frau und Kinder, missbandelt sie, wird bei Widerspruch gewalt-
tätig, ist dabei intellectuell zerstreut und benommen, macht dumme
unüberlegte Streiche. Diese Anfälle, oft mit Congestivzuständen und
Innervationsstörungen (leichtes Schielen, Tieferstehen des einen Mund-
winkels, plötzliche Gesichtszuckungen) verbunden, kommen anfänglich
nur in Pausen; in der Zwischenzeit ist der Kranke matt, hinfällig, jam-
mert wohl auch über das Vorgefallene. Bald aber rücken die paroxy-
stischen Perioden zusammen und bilden nun einen Zustand anhaltender
Gereiztheit und activen Misstrauens. Auf jede leichtere Veranlassung
folgt zornige Aufregung. Nach Abklingen dieser wird der Kranke je-
weils wieder ruhig, bleibt aber fortwährend in der Spannung des ver-
haltenen Affects. So zieht sich der Zustand durch Monate dahin, der
Kranke bleibt ein Noli me tangere. Zeitweilig führt er Selbstgespräche
gegen feindliche Stimmen oder Traumbilder, welche Tag und Nacht gleich
rasch sich einstellen, mit wachen Augen manchmal prompter, als mit ge-
schlossenen. Innerlich kämpft eine depressive Stimmung aus richtigem
Krankheitsgefühl mit einer vagen expansiven. Der Kranke ist ein ex-
plosionsbereiter Vulkan, düster mürrisch, dann wieder brutal aufbrausend,
anderemale wieder ironisch. Der Weiterverlauf kann ein günstiger sein
und zur ganzen oder defecten Heilung fuhren; andernfalls geht er nach
Jahren in einen Secundärzustand chronischen exaltirten (meist religiösen)
Wahnsinns über, oder aber in reizbaren Blödsinn mit abweisender Ver-
schlossenheit und entschlossenem Trotze gegen jede Annäherung oder
Ansprache und einem immer mehr nur auf „Stimmen"- Verkehr und auf
Befriedigung der sinnlichen Antriebe (Essgier, onanistische und selbst
päderastische Gelüste) eingeschränkten Egoismus.
Melancholische Form d. Verf. W. In analoger reactiver
Entstehung kann auch eine melancholische Verstimmung auftreten
und dem Wahnsinn ein ausgesprochen depressives Gepräge geben.
Die Kranken sind traurig, niedergedrückt über ihr Schicksal, sie
bangen vor gerichtlichen Verhandlungen und Strafen, welche die von
ihnen „beobachtete" oder „zugeflüsterte" Insinuation einer ehrlosen Hand-
lung nothwendig Uber sie bringen wird. Tentamina suicidii sind jetzt
nicht selten. Hält sich der Kranke noch leidlich aufrecht, so vermag
er sich doch nicht der wachsenden Verstimmung, der Qual der Schelt-
stimmen zu entziehen. Viele schliessen sich menschenscheu ab und bringen
Tage und Nächte in Weinen und Jammern, in Nahrungsverweigerung zu.
Oft kommen Paroxysmen von Verzweiflung mit imperativen Raptus von
Zerstörung, von Fortdrängen u. s. w. Der Kranke trägt jetzt ganz das
äussere Bild und Benehmen eines agitirten Melancholikers, nnd nur die
genaue Anamnese d. h. die Entwicklung des Leidens vermag den diagno-
stischen Springpuukt zu enthüllen. Der melancholische Wahnsinnige ist
nicht „schlecht", weil er sich „so fühlt" (wie der echte Melancholiker;,
sondern weil er es so hört, weil man ihn absichtlich und immer wieder
als einen schlechten Menschen „ansieht und behandelt"; er zeigt deshalb
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Manischer Verfolggswahnsinn. Melancholischer Verf. Complic. Grössenwahn. 165
auch keinen Affect der Selbsterniedrigung. Wochen und Monate lange
Episoden können so vorübergehen. Endlich kommen auch wieder ruhigere
Phasen, Hand in Hand mit den zurücktretenden Hallucinationen. Das
kann zu kürzern oder längern Remissionen oder selbst Intermissionen
mit richtigem Krankheitsgefühl fuhren; in den meisten Fällen kommen
aber Nachschübe mit erschwertem Charakter. Die ursprünglich beglei-
tende Gemüthsverstimmung wird in der Regel mit den Rückfällen schwä-
cher; um so mehr treten aber jetzt die Hallucinationen hervor und zwar
mit zunehmend imperativem Charakter. Die Kranken gehen vom pri-
mären in's secundäre Wahnsinnsstadinm Uber. Andere dagegen wandeln,
dem melancholischen Verlaufscharakter treu bleibend, in zunehmende
psychische Schwäche (unter Remissionen); die reactive Zornmütbigkeit
bleibt und unterhält die beständige Gemeingefährlichkeit dieser oft bis zum
Nihilismus verbitterten Kranken. (Ueber eine „abortive" Modifikation s. u.)
Complicirender Grössenwahn.
Eine wichtige klinische Weiterentwicklung des Verfolgungs-
wahnes tritt ein, wenn zu dem depressiven Moment noch ein ex-
pansives sich hinzugesellt, event. in das letztere Ubergeht: wenn
die gefühlte Beeinträchtigung sich in ein Gefühl der Erweiterung, die
Wahnvorstellungen der Unterdrückung und Verfolgung sich in Grössen-
ideen umsetzen. Dies kann klinisch auf verschiedene Arten sich
vollziehen. Erstens: der Grössenwahn tritt nach längerem oder
kürzerem Verlauf des Verfolgungswahns als dessen Compensation
auf (psychologisch liegt eigentlich in jedem Verfolgungswahn schon
die Wurzel eines Grössenwahns) ; der bisher verhöhnte und unter-
drückte Kranke fühlt sich durch eine göttliche Inspiration plötzlich
„erhoben und belohnt"; oder (in langsamer Wandlung) findet für
seinen jahrelang getragenen Schmerz endlich ein Gegengewicht in
der werdenden Ueberzeugung , dass er ein Fürstenkind sei. Dabei
können die seitherigen Schattenbilder abblassen: der Kranke feiert
(wenn anch nm den Preis seines frühem Ich) eine vollständige Neu-
geburt; oder aber: die alten Schatten- und die neuen Lichtbilder
(Verfolgung und Verherrlichung) können nebeneinander aufziehen,
um den Vortritt kämpfen, wobei bald die einen, bald die andern
das Uebergewicht erhalten. Es ist dabei bezeichnend, dass die
Vormacht in der Regel dem Verfolgungswahn verbleibt, weil dieser,
namentlich in dämonomaner Allegorisirnng (als „leibhaftiger Teufel")
Uber die ungleich stärkern Mittel der Gehörs-, Geruchs- und Getast-
täuschungen verfügt, während „Gott" nur in Gedanken, Ahnungen
und Traumgesichten sich offenbart
Manchmal wechseln beide sogar phasenweise mit einander ab, pe-
riodischer Verfolgungswahn (oft unter dem äussern Bilde resignirter Pas-
sivität und Nahrungsverweigerung) mit periodischem Grössenwahn.
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166
Der chronische depressive Wahnsinn.
In der wahnsinnigen depressiven Phase ist der Kranke sprachlos, hält
die Augen geschlossen, widerstrebt, lässt Alles nnter sich gehen — man
meint einen Blödsinnigen vor sich zu haben, wenn nicht der beseelte
Blick aus den verstohlen herumspähenden Augen Einspruch erhübe. Unter
allerlei sonderbaren halb automatischen Bewegungen (Kopfverdrehen,
Schaukeln der Beine, plötzliches Niedergleiten auf den Boden) beginnt
die freiere Episode, wo der Kranke arbeitet und besonnene Auskunft
gibt. Daran schliesst sich in oft jäher Steigerung die Grössenwahnsphase
meist religiösen Inhalts: gezierte Kleidung, Predigen, Commandiren, Pro-
phezeien u. s. w. Damit wechseln wieder die Zeiten des passiven Wi-
derstands; dann wieder Episoden des gesteigerten Selbstgefühls — und
so in vielfacher Wiederholung. Aus den leidenschaftlichen Reden des
Kranken, sowie aus dessen ruhigen Mittheilungen ergibt sich der Schlüssel
dieses polymorphen Krankheitsbildes. Beide differente Erscheinungsreihen
haben ihren gemeinsamen Schlusspunkt in dämonischen Wahnvorstellungen.
Der Kranke ist von den ursprünglich bösen und den spätem guten Gei-
stern abwechselnd „besessen"; der böse sucht ihn durch „Gefühle" zur
Sinnlichkeit zu verlocken, der gute zu Gott zu führen. Beide sitzen in
seiner Brust, und sprechen abwechselnd mit ihm und leiten ihn. Alle
Sinnesanschauungen und Hallucinationen gehen durch diese zwei Spectren
hindurch. In den Resignationsphasen übt der „Böse" seine Macht aus,
welcher der Kranke seine Hand nicht leihen will ; darum verschliesst er
die Sinne und rührt kein Glied. Sowie ihn aber der „göttliche Geist"
durchdringt, dann fühlt er sich als himmlischen General, als Heiland.
Im Weiterverlauf können manische Paroxysmen intercurriren (vgl. unter
„Zornmanie"), oder auch melancholische Phasen mit verzweifelnden Angst-
vorstellungen und triebartigen Handlungsreflexen (Ausstossen von Thier-
lauten, impulsiver Suicidiumsdrang). . Der Ausgang ist Genesung oder
secundärer Wahnsinn.
Zweitens: Der Grössenwahn entsteht nicht intuitiv (unbewu6st),
sondern vielmehr als logisches Schlussglied des seitherigen Wahn-
systems in der Weise, dass die Reflexion des Kranken über seine
jahrelange Duldung, über die bisher festgehaltene „Thatsache" eines
feindseligen Complotts hinausdrängt zu der Ahnung, dass er, der
Zielpunkt der zähen Verfolgungen, kein gewöhnlicher Mensch sein
könne, dass sicher noch Höhere und Mächtigere die Hand im Spiel
haben müssten, denen an seinem Untergange gelegen sei. Oft schliesst
das Wahnsystem damit ab; mit zunehmender geistiger Schwäche
gewinnt aber hier das expansive Moment immer mehr die Ober-
hand; der „Verfolgte" erfasst sich immer ausschliesslicher als den
unterdrückten Märtyrer einer grossen Sache, welcher von nun an
gern und freudig weiter dulden will.
Stets besagt diese (expansive) Art der Weiterentwicklung, in welcher
Form sie sich auch vollziehe, einen Wendepunkt zum Schwereren, wenn
auch nicht gerade immer zum Unheilbaren. — Die Weise des Eintritts
der Grössenwahnphase ist klinisch eine verschiedene. Sind Hallucina-
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Klinische Formen und Ausgänge bei complicirendem Grössenwahn. 167
tionen vorhanden, so mischen sich unter die „scheltenden" zeitweise
auch „schmeichelnde", unter die Drohungen auch Verheissungen oder
directe Zurufe, himmlische Gesichte; die seitherigen neuralgischen Be-
klemmungen weichen einem nunmehr aufgehobenen körperlichen Begren-
zungsgefUhle. Das kann bei ganz ruhigem Verhalten des Kranken statt«
finden ohne eine sonst zu Tage tretende Aenderung. Anderemale stellt
sich aber die GrÖ&senwahnepisode unter der Form eines acuten manischen
Paroxysmus ein, mit vasomotorischen Begleiterscheinungen. Der bis dahin
durch Verfolgungen gemarterte Kranke versinkt in einen „entrückten"
Zustand mit Verdunkelung des Bewusstseins, in welchem er mit der
Miene des Glücks allerlei mystische und symbolische Acte vornimmt und
nur durch orakelartige bedeutungsvolle Worte und Zeichen antwortet : er
wandelt jetzt im Licht, steht künftig unter einer höhern Macht; er
„glänzt" jetzt; dabei kann er die barocksten Handlungen vornehmen,
sich Haut abkratzen, einsalben — Alles nur als Symbol seiner neuen
Würde. Klingt der Paroxysmus ab, so bleibt der „gute Geist" über
oder in dem Kranken, welcher ihn von jetzt an leitet, sei's durch An-
triebe oder durch Zeichen, oder durch Worte, ja selbst durch jeweilig
promptes Erscheinen, so oft er eines Rathes bedarf, welchem dann blind
gehorcht wird. Die Gedanken „verschleiern sich", bis der gute Geist
hilft. Solche Phasen beglückten Grössenwahns können episodisch sich
wiederholen.
In einer letzten Reihe von Fällen endlich hat sich der depressive
Verfolgungswahn bis zur psychischen Erschöpfung abgespielt; der
Kranke kennt ferner keinen Ausgang mehr. Da erscheint dem rath-
losen Philotket der rettende Herakles: unter „erwärmenden" oder
„magnetischen" Durch ström ungsgefilhlen geht dem Verfolgten eine
neue Welt auf. Die Sonne, die Wolkenfiguren, die Vögelstimmen
offenbaren ihm die Verheissung, dass er nur habe dulden müssen,
um jetzt die Krone zu erreichen. Es ist die Fata morgana des ver-
durstenden Wüsten Wanderers ; wie diese kündigt die „neue Zeit"
dem Kranken den besiegelten geistigen Niedergang an.
Dagegen vermögen die vorerwähnten Episoden von acuten Grössen*
wahnmanieen (richtiger: zwischenläufigen acuten Wahnsinnsepisoden)
nicht so selten sich wieder auszugleichen, und selbst manchmal den an-
fänglichen Verfolgungswahn auf längere Zeit ganz zurückzudrängen.
Der endgültig transformirte „Heilige" oder „Prophet" geht dagegen
mit sammt seinen glänzenden Attributen in zunehmenden und bleibenden
Schwachsinn über. Dieser Decursus verläuft, je nach dem Wahninhalt,
auch ausserdem noch unter erschwerenden Folgen für die Handlungsweise
des Kranken, welcher hemmungslos nur unter der Wahndirective steht.
Dies betrifft namentlich die Schwächestadien mit ekstatisch religiösem
Charakter. Hier treten die Selbstpeinigungen, die unbarmherzigen Ver-
stümmelungen, die zähe Nahrungsverweigerung ein — Alles, um den
sündigen Leib abzustreifen und sich der unverhofften Gnade würdig zu
aeigen. Bei wachsender Demenz bleiben dann die „Erlöser" und „Welt-
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Der chronische depressfre Wahnsinn.
kaiser" mit ihren kindischen Lappen und Flitterputz übrig. Wendet
sich der expansive Umschlag in's Erotische, so erfolgen die Liebesromane
aus den nächtlichen Visionen der Geliebten, im Tagesleben die von der
höchsten Sentimentalität bis zum plumpen Cynismus sich bewegenden
Andrängungen und Belästigungen der illusorisch auserkorenen „Bräuti-
game". Der Name wird jetzt gewechselt, der Ehering abgelegt, ein
neuer Bund hat begonnen. Geschlechtliche Regungen und Reizungen zur
Masturbation befördern durch ihren schwächenden Einfluss den geistigen
Zerfall.
Für die klinische Uebersicht des mannigfachen Endschicksals
aller geschilderten Zustands- und Verlaufsformen ist bei einem solchen
an sich chronischen (oft durch Jahre protrahirten) Processe auch
noch der mitbegleitenden, körperlichen Vorgänge, speciell des Se-
niums mit seinen organischen Complicationen , zu gedenken. Bei
manchen dieser Kranken treten dadurch später in einer oder der
andern Art Hirnzufalle ein, namentlich Apoplexieen, welche den
jahrelang bestandenen Verfolgungswahnsinn in eine psychische Cere-
bropathie hinüberführen. —
Diesem schwersten Verlaufe stehen ausgleichend gewisse abortiv
verlaufende Fälle von melancholischem Verfolgungswahnsinn gegenüber,
welche gar nicht so selten im Verlaufe von mehreren Wochen zur Hei-
lung gelangen. Gewöhnlich handelt es sich um anämische Individuen,
noch dazu in ungeeigneter geistiger Umgebung, welche ihren Stachel
erlittener Beeinträchtigung oder Verfolgung nicht selten aus den Dornen
wirklicher Erlebnisse, roher Behandlung ziehen.
Eine andere häufige Vorbereitung wird durch eine auf chronischen
Magendarmaffectionen beruhende Neurasthenie mit hypochondrischer Ver-
stimmung beschaffen. Meist geben wirkliche (und Pseudo-) Hailucina-
tionen mit; oft sind es aber auch thatsächlich erduldete Kränkungen,
welche, lange verschluckt, endlich durch Association mit den hyperästhe-
tischen Unterleibssensationen den Boden für eine „objective" feindselige
Machtstellung gewinnen. Mit der Wahnconception verstärken sich sofort
auch die abdominalen Beschwerden, und reflectiren sich byperästhesirend
auf die verschiedensten Nervengebiete (Druck und Spannung im Kopfe,
Ueberlaufen der Augen, Bangigkeit auf der Brust, Appetitlosigkeit, Brennen
im Epigastrium u. s. w.). Durch Versetzung in ganz neue Verhältnisse
(Anstalt) resp. Behebung des Magendarmkatarrhs wird nicht selten Be-
ruhigung und geistige Correctur gebracht, welche sich mit zunehmender
Körperkräftigung befestigt. Die letztgenannten Fälle gleichen in mancher
Hinsicht, namentlich in der Acuität des Verlaufs, dem Gefangenenwahn-
sinn; das Unterscheidende liegt im hallucinatorischen Elemente, welches,
wenn Uberhaupt vorhanden, hier nicht primär auftritt und nicht als
maassgebendes formgestaltendes Krankheitselement, wie bei jenem. —
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Abortiver Verfolgungswahnsinn. — Der chronische expansive Wahnsinn. 169
b) Der chronische expansive Wahnsinn.
Wie der primäre Verfolgungswahn kann auch der Grössenwahn-
sinn entweder in einfacher oder in complicirter Gestalt (mit Hallu-
cinationen) auftreten. Inhaltlich unterscheidet man eine religiöse,
erotische, und eine philanthropische Unterform, von denen jede isolirt,
aber auch mehrere combinirt (die religiöse mit der erotischen) vor-
kommen. Auch im klinischen Auftreten und Verlauf, sowie in den
Endschicksalen, hat diese Gruppe sehr viel Verwandtes mit der
vorigen. Sie vertbeilt sich auf alle Lebensepochen (mit Vorliebe
auf Pubertät und Climacterium) und auf alle Ursachen (mit Vorliebe
auf sexuelle, besonders Masturbation). In ihrem Verlauf ist sie wie
jene exacerbescirend - remittirend. In ihrem Ausgang kann sie zu
dauernder Heilung oder mehr minder langer Intermission führen,
am häufigsten aber zur stationären Chronicität, zur Unheilbarkeit.
Diese letztere prognostische Signatur betrifft vorzugsweise die mit
Verfolgungs- und Grössenideen vermischten Fälle. Erblichkeit ist
häufig, aber lange nicht regelmässig; vorausgegangene schwächende
Momente (Sexualexcesse , Lactation, profuse Menses) sind sehr oft
ätiologisch zu verzeichnen.
Neben dieser erworbenen Form des expansiven Wahnsinns kommt
auch eine originäre vor (gerade wie beim Verfolgungswahn), welche
symptomatologisch zwar vielfach mit der erworbenen sich deckt, aber in
Entwicklung und Verlauf sich von letzterer ebenso unterscheidet, als die
Entartungspsycbosen von denen geistiger Vollentwicklung (s. Degene-
reacenzcharaktere). Die originäre Varietät bildet häufig das Endstadium,
die Folgeentwicklung, einer ab ovo vorhandenen geistigen Beschränktheit
mit religiöser Ueberschwenglichkeit.
Das klinische Symptomenbild kann fUglich sämmtliche Unter-
formen, welche wesentlich nur im Wahninhalt sich unterscheiden,
zusammenfassen.
Vorauf geht bei Vielen, namentlich in der Jugend (Pubertäts-
zeit) Erkrankenden, ein nervöses Temperament, eine Neigung zur
Hypochondrie und zum Grübeln. Es tritt eine schwärmerische Cult-
richtung auf mit zunehmender religiöser Ueberspannung, Drang zu
BussUbungen, Entschluss zur Weltentsagung, zum Klosterleben. Reli-
giöse Zweifel treten entzweiend entgegen und allegorisiren sich als
gute und böse Geister, welche miteinander im Kampfe liegen. Der
Sieg entscheidet für den „geistigen Schutzengel", welcher (bei mit-
begleitendem Sexualreiz) vorübergehend seine Rolle mit dem „herr-
lichen Geliebten" tauscht. Eine Aenderung des Wesens vollzieht
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170
Der chronische expansife Wahnsinn.
sich. Die junge Patientin zieht sich zurück, wird menschenscheu,
nächtelange religiöse LectUre und Kasteiungen schliessen sich an.
Immermehr zeigt sich, gleichen Schrittes, eine Abneigung gegen die
bisherigen Altersgepflogenheiten, gegen Eltern und Freundinnen;
ein Verkehr in Gedanken oder in offenen Hallucinationen mit dem
Gegenstand der „Sehnsucht" und der „Gnade" vermittelt ein bereit-
williges Aufgehen unter dessen Befehle. Symbolisirungen , welche
die Kranke bestärken, dass sie auf dem Wege zu ihrem Glücke sei,
vollenden den fertigen Wahn. Den Gehörs- und Gesichtstäuschungen
schliessen sich solche des Geruchs- und des Tastsinnes an. Es fol-
gen nächtliche hallucinatorische Roman- und Legenden -Erlebnisse;
die Personen der Umgebung werden feindlich oder freundlich ver-
kannt und nach der Richtung des Wahns appercipirt. Die Kranke
wird immer mehr der Wirklichkeit entrückt; manchmal kommen
jetzt ekstatische oder kataleptische Episoden mit innerer „Verzückung",
oder aber gegentheils mit dem mimischen Ausdruck büssender Selbst-
peinigung (verschränkte Gebetsattitüden) und darauf Rückkehr in
den verstärkten religiösen (oder erotischen) Wahnzustand. Auf diesem
Entwicklungsstadium kann die Krankheit stille stehen und sich zur
Besserung oder Genesung zurückbilden, zugleich mit dem spinal-
neuralgischen Reizzustand, welcher durch die Intercostalsensationen
(oder begleitende vasomotorische Hitzegefühle) die „beglückenden
Durchströmungen", die Reflexhallucinationen des erscheinenden Schutz-
geistes oder Geliebten vermittelt hatte. — Dieselbe klinische Ent-
stehung und endliche Zustandsform kann sich auch nach der Puber-
tätszeit (besonders auf hysterischer Grundlage und bei ledigen Per-
sonen) wiederholen.
Manchmal aber, zumal in reifern Jahren, vollzieht sich eine etwas
geänderte Entwicklung. Ausgesprochene depressive Stimmungen gehen
voraus, manchmal Glaubensscrupel, oft auch wirkliche Vorwürfe
wegen einer That im Vorleben, welche nicht die volle sittliche
Feuerprobe (jetzt in verschärfter Prüfung!) aushält Da fällt plötz-
lich ein Predigtwort oder ein biblischer Vers, oder ein Zug aus der
Miene des Priesters auf, und sofort ist Alles klar: das Wort, der
Bibelspruch bezieht sich auf den Kranken und nur auf ihn, ist
eigens für ihn gewählt, um ihm „Licht zu bringen in seiner Nacht".
Es tiberkommt ihn wie eine himmlische Gnadenspende oder auch
als erhebende irdische Verheissung, er solle zu Würden, Reichthum,
zu einer glänzenden Heirath aufsteigen. Durchströmungsgeftthle von
Friede und Glück ziehen durch ihn, er athmet frei vom früheren
Druck auf der Brust; er fühlt es und weiss es, dass Gott ihn zu
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Klinisches Krankheitsbild.
171
solcher Auszeichnung ausgewählt hat, zu seinem Gesandten, zum
zweiten Messias. Mit Einem Schlage spricht Alles um ihn dieselbe
Sprache ; nach rückwärts und nach vorwärts wird es hell und klar.
Ueberall regen sich Zeichen; alles gewinnt symbolische Bedeutung,
selbst die Speisen, die Kleider, jeder Zug im Benehmen der Um-
gebung. Was sich nicht sofort in dieser Richtung entschleiert, ist
gleichwohl mit weisem Zweck vorhanden und dem Kranken zuge-
sandt; Alles dient zu seiner Prüfung. Und dass er diesen Zweck
ahnt und erkennt, macht ihn glücklich in jeder Lage ; er ist in Allem
geführt und geleitet
Der Kranke lebt jetzt mit den Heiligen und Frommen als glück-
licher Bruder (Schwester), um mit ihnen zusammen alle Genüsse des
Fleisches zu tbeilen ; auch die Heiden und selbst die Thiere werden ge-
richtet vor seinem Richterstuhle. Sein reiner Blick lässt ihn sofort er-
kennen, wer Ansprüche auf Gnade hat; er Ubersieht die Welt: wohin
sich seine Gedanken richten, da stellt sich auch seine Aufgabe hin ; dort
ist Licht, dort das neue Jerusalem. Aber nicht kampflos ist ihm seine
hohe Stellung beschieden. Wohl steht er mit allen Geistern der Erde
in geheimem Rapport; aber nicht alle sind freundlich gesinnt. Auf dem
Wege einer geheimen Geistessprache, „durch die Masse und Unruhe der
ihm zeitweise zuströmenden Gedanken4' muss er immer auch den Wider-
spruch der Bösen erkennen, welche noch im Dienste des Satans stehen.
So wird er „durch die Gegensätze von innen und aussen" anhaltend ge-
plagt; er spürt an der „innern Hitze" den Zorn des Gerechten; aber er
hat seinen „treuen Geist", der in der Magengrube sitzt, und wenn er
auch leiden muss, so ist er doch der „reine Tempel Gottes" ; durch ihn
und seinen „göttlichen Saamen" werden alle Welten ihren Erlöser be-
kommen.
Mit fast noch sieghafterer Gewalt als der Wahn einer entdeckten
Verfolgung nimmt die zur Gewissheit gewordene Grössenidee von
der geistigen Persönlichkeit des Kranken Besitz. Mit heiterster
Stimmung und freudiger Hingabe wird jeder Willensact in deren
Dienst gestellt, wird Familie, Hab und Gut, jeder Lebensgenuss ge-
opfert, mit der Vergangenheit abgerechnet und gebrochen.
Der Kranke muss jetzt die Sünder bekehren, die Unreinen reini-
gen, die Philosophen, Freimaurer und Besessenen dem Glauben zuführen.
In schwülstigen poetischen Formen wird die göttliche Gnade gepriesen
and auf der Strasse an die Vorübergehenden gepredigt; Alles muss rein
werden. Nicht selten werden die Habseligkeiten verschleudert und im
Wohlthunsfanatismus verschenkt. Auch die Speise muss rein sein. Viele
Kranke verabscheuen jetzt das Fleisch, wollen sich nach der Legende nur
von Wurzeln nähren oder von Milch, „aber nur von einer Kuh und nur
aas einem Euter, das der Kranke selbst milkt", um, wie er hofft, dadurch
alle Schlacken seines früheren Menschen aus sich auszuscheiden. So zwingt
er auch Frau und Kinder (oft in gewalttätigster Weise) zum gleichen
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172
Der chronische expansive Wahnsinn.
Thun. — Beim erotischen Wahne werden bogenlange Briefe und senti-
mentale Ergüsse an die erträumten „Personen der Verheissung" gerichtet.
Grosse Geldsummen werden geopfert im wahnhaften Drang einer „huma-
nen Mission'*. Vermögen werden hingegeben, oder an der Roulette ver-
spielt, wenn eine Traumvision oder eine symbolische Auslegung die be-
reits anfahrenden „riesigen Geldsummen" angekündigt hatte.
In der Regel fördert diese Entwicklungshöhe der Krankheit
auch die wirklichen (und Pseudo-) Sinnestäuschungen.
So sieht der religiös Wahnsinnige, so oft er inbrünstig zu beten an-
fängt, einen Engel neben sich hinknien; in der Kirche bezeichnet ihm
die plötzliche Farbenpracht in den flackernden Lichtern, oder in der
Nacht ein Stern, welcher sich bis zur Grösse des Mondes vor seinen
Augen erweitert, das 8 eben sein jetziger Gedanke ein gottgeweihter ist.
Eine grosse Rolle spielen auch namentlich lebhafte Träume. Nie, wie
es scheint, wird auch Steigerung des Geschlechtstriebes vermisst.
Der Weiterverlauf kann ein ausserordentlich mannigfaltiger
sein, wenn er vielleicht auch den Formenreichthum des Verfolgungs-
wahnes nicht ganz erreicht. Es kann 1. die Krankheit von der er-
langten Höhe sich langsam znrlickbilden ; die Lichtfiguren tauchen
allmählich unter, der Kranke steigt jetzt aus den Wolken wieder auf
den Boden der Wirklichkeit. In den selteneren Fällen geschieht dies
mit Selbstcorrectur und Einsicht; meist ist der Wahn nur aus dem
Blickpunkt verschwunden, aber nicht überwunden. Der Kranke ist
zwar geordnet in seinem Tagesverhalten, aber gegenüber von früher
schärfer, schneidiger, unbiegsamer geworden, namentlich oft religiös
pedantischer und unduldsamer. So bleiben Viele unbewusst auf den
Schultern ihres untergetauchten Wahnes stehen. Es kann 2. der
Weiterverlauf ein schubweiser sein, und in periodischer Wiederkehr
den ersten Anfall wiederholen (oft mit Symptomengleichheit bis ins
Einzelne), bis endlich ein letzter Anfall stationär bleibt bis zum
Lebensende.
Nicht selten mischen sich bei dieser Verlaufsform auch Paroxysmen
von Verfolgungswahn gelegentlich dazwischen. Der Kranke wird in seiner
Gemüthslage das Gegentheil der früheren Anfalle, reizbar, heftig, miss-
trauisch. Oft schliesst dieses Schattenbild dauernd die früheren Licht-
bilderacte.
Oder 3. der Verlauf wird chronisch — der häufigste Ausgang.
Auch hier treten im Einzelnen viele Variationen auf. So können sich
a) nicht selten acut hallucinatorische Paroxysmen mit Steigerung zu
Ekstasen einschieben (der Kranke sieht niederfallende Regen von
Glückssternen; die Engel reichen ihm Zuckerbrod; er fühlt sich im
Paradies); oder zu andern Zeiten stellen sich b) Episoden von Nah-
rungsverweigerung ein, mit Mntacismus, Selbstkasteiung und Buss-
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Verlauf. Ausgange. „Negativer" expansiver Wahns. Subacute Varietät. 173
peinigung, oder auch von ernsten nnd rücksichtslosen Gewaltan-
drohungen nnd selbst thätlichen Angriffen auf die Umgebung —
„Alles zur grössern Ehre Gottes."
Es gibt keinen selbst- und gemeingefährlicheren Kranken als einen
religiös Wahnsinnigen aus dieser Periode. Eigener Mord und der Mord
Anderer („um mit deren Seele in den Himmel fahren zu können"), Selbst-
verstümmelungen (namentlich Attentate auf Hoden und Penis) sind häufig
auftauchende Krankheitswirkungen. Ja, Selbstkreuzigung ist mehrfach
erlebt worden.
Manchmal iutercurriren auch Paroxysmen, von Gastricismen oder
von sexueller Ueberreizung (Onanie) ausgehend, welche bis zu heftigster,
tagelanger Aufregung (Satyriasis) sich steigern, so dass der Kranke unter
den Aeusserungen des niedersten Geschlechtstriebes Personen anfallt, oder
sich unter Angstschreien auf dem Boden wälzt, während der Körper wie
von elektrischen Schlägen durchzuckt wird, das Gefässsystem fieberhaft
arbeitet. Auch diese Modification kehrt in brüsken Uebergängen manch-
mal periodisch wieder.
In andern Fällen c) tritt nach und nach ein ruhiger Zustand ein,
aber mit immer tieferer „Einbildung" des Wahnes in das gesammte
Seelenleben, namentlich auch in die Musculatur der Mimik und Phy-
siognomik. So arbeitet sich ein Status catalepticus heraus, in wel-
chem die Kranken wie „Säulenheilige" oder „indische BUsser" da-
stehen, Monate lang schweigen, um keine Ansprache oder Umgebung
sich bekümmern, ja selbst sich verhungern und erfrieren Hessen.
Damit wechseln dann wieder Phasen von freierer, motorischer Be-
weglichkeit ab; die Kranken vermögen wieder zu arbeiten und in
bescheidenem Grade sich nützlich zu machen. Sie theilen ihren
geistigen Besitz zwischen sich und ihrem „guten Geist", ihre Lei-
stungen zwischen einem mechanischen Tagewerk und ihrem inner-
lichen Missionsdienst. So können sie auf Jahre hinaus brauchbare
Glieder im Anstaltsorganismus bilden.
Wie der Verfolgungswahn liefert auch der expansive Wahnsinn einen
Typus für ein negatives klinisches Bild. Es sind chronische Kranke,
welche ihre Rechnung in sich abgeschlossen, aus dem äusseren Wider-
stande der ungläubigen Welt ihren inneren Talisman um so fester und
überzeugter gerettet haben, des Streites endlich milde, und in ihrem Be-
sitze um so glücklicher sind. Den Verkennungen der kurzsichtigen Um-
gebung, den mannigfachen und wechselnden Quälereien setzt er, „der
Gottmensch", nur eine ergebene und stille Resignation entgegen. Oft
kommt kein Wort der Klage über seine Lippen, kein Ausbruch heiliger
Entrüstung wird laut, kein Act der Rache wird vollzogen. Der Kranke
wehrt nur ab, was ihn bedroht, oder seiner hohen Würde nicht ange-
messen ist. Darum zieht er sich von der Gesellschaft zurück; darum
arbeitet er nicht, isst wenig oder gar nicht; darum lässt er sich ungern
in ein Gespräch ein ; man will ihn ja doch für einen „Narren" verzollen.
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174
Der chronische expansive Wahnsinn.
Andere Kranke d) dagegen sind streitbarer geblieben. Sie kön-
nen es nicht verschmerzen, wenn die Wirklichkeit sie hart anfasst;
sie werden gereizt und selbst zornig aufgebracht, wenn man ihnen
widerspricht, wenn sie etwas „Unheiliges" sehen müssen; ja Viele
brausen farorartig auf, wenn sie durch irgend ein unreines Zeichen
(Pollution, Menses) daran gemahnt werden, dass sie nicht schon
dauernd „reiner Geist" geworden. Bei grösserer psychischer Schwäche
klingt endlich der Wahn zu formalen Aeusserlichkeiten herab, zu
kindischen Draperieen, symbolischen Einrichtungen des Zimmers,
„bedeutungsvollen" Manieren, selbsterfundenen Worten und Schrift-
zügen. Der Abschluss ist 1. langsame Demenz mit partieller Ver-
standesschonung; 2. hallucinatorischer (Einfall-)Wahnsinn mit para-
phrastischer, paragraphischer und parergischer Verworrenheit; 3. chro-
nische Stupidität mit Status catalepticus , untermischt mit luciden
Stadien; 4. zunehmender Marasmus (namentlich bei constitutionellen
Leiden, Phthise), in Folge ungenügender Körperernährung. —
Diesem von Beginn an chronischen Verlauf steht auch eine sub-
acute Varietät gegenüber, wobei der exaltirte Wahnsinn (gewöhnlich re-
ligiösen Inhalts) unter der Form zugleich eines psychischen Aufregungs-
zustandes beginnt und weiter verläuft. Die männlichen Kranken sind
meist mehr minder hereditär belastet, weibliche Patienten noch ausser-
dem häufig anämisch, oder unregelmässig menstruirt. Gewöhnlich han-
delt es sich um geringer begabte, oder schwärmerische, leicht bestimm-
bare, von Jugend auf hochmüthige, rechthaberische, geistige Anlagen.
Bei der religiösen manischen Form geht in der Regel ein längerer De-
pressionszustand mit Grübeln, biblischer Leetüre, vermehrten Cultübungen
voraus. Der eigentliche Paroxysmus kann plötzlich auftreten, nicht selten
im Anschluss an ein kirchliches (Missions-) Ereigniss: die Kranken be-
ginnen zu predigen, sie proclamiren sich laut als die Auserwählten Got-
tes, berufen sich auf den inneren Geist, der sie treibe, oft direct auf
„höheren Befehl". Sehr häufig geschehen in dieser Phase Attentate ge-
gen Andere, namentlich auch sacrilegische Handlungen, weil sie allein
sich berufen fühlen das wahre Licht zu bringen, und das seitherige nur
„Satanswerk" bedeute. So weit gediehen kann sich der Zustand wieder
zurückbilden; bei weiterer Steigerung geht er in Moria über (s. d.). —
Die subacute erotische Exaltation verläuft unter dem Symptomen-
bilde der Mania mitis: erotische Andeutungen, „Zeichen" von Liebes-
bewerbungen seitens Dritter bilden den Beginn ; darauf Erwiderungen in
Briefen und Gedichten, auffälligere Toiletten; belebteres Wesen, lebhaf-
tere Conversation, immer um den einen Punkt einer bevorstehenden Hei-
rath sich drehend; Anfangs noch Dissimulation, endlich offenes glück-
strahlendes Bekenntniss an die Umgebung. Erfolgt jetzt keine Rückbildung,
so kritisirt sich auch diese Form durch ein ächt manisches Durchgangs-
stadium mit erotischer Grundlage: die Kranke wird pauselos geschäftig,
kleidet sich an und aus, und wieder an, wird immer phantastischer in
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Der acute Wahnsinn.
175
Toilette und Zimmerschmuck, die Stimmung flüchtig und reizbar; dabei
der wachsende Drang zu küssen, zu coquettiren und namentlich mit Blu-
men sich zu schmücken, Strausschen auszutheilen u. s. w. Nicht selten
steigert sich der Zustand bis in sexuale Manie (s. d.). Gewöhnlich
schliesst sich die beschriebene Form an wirkliche unerwidert gebliebene
Liebeshändel an; manchmal bildet eine reactive Depression mit Ver-
giftungswahn (Geruchs- und Geschmackstäuschungen) die Einleitung. (Wei-
teres 8. u. acutem sensuellem Wahnsinn, wozu diese Fälle den Ueber-
gang bilden, ähnlich wie die analogen beim chronischen Verfolgungswahn.)
Der acute Wahnsinn.
Krankheitsbilder. Verlauf. Ausgänge.
Der acute primäre Wahnsinn, Die klinischen Formen des hallu-
cinatori8chen Wahnsinns sind ausserordentlich mannigfaltige, sowohl in
ihrem klinischen Bilde, als in der Entstehung und dem Verlaufe resp.
den Ausgängen. Dem eigentlichen Krankheiteausbruch geht in der
Regel ein kürzeres oder längeres Prodromalstadium (Status nervosus)
voraus: Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, grillenhaftes, gereiztes Wesen,
Störungen des Appetits, Rash's zum Kopfe. Anedre Male bildet ein
vager Depressionszustand mit Präcordialdruck , Angst, Weinen, reli-
giösen Grübeleien die Einleitung. — Oft scheinen gegentheils alle psy-
chischen Prodromi zu fehlen, so namentlich im Defervescenzstadium
vorangegangener Fieberzustände. Die eigentliche Krankheit selbst
tritt darnach theils vorbereitet, theils plötzlich in Scene, sehr häufig
nach einem Gemüthsaffect (Gewitter), oder selbst mitten aus dem
Schlafe, welchen die Kranken noch anscheinend „wohl" begonnen
haben. Der Beginn erfolgt entweder 1. als heftige Angst mit Ver-
kennung der Umgebung und reactiven Zwangshandlungen (melancho-
lischer Typus), oder 2. als massenhafte Sinnestäuschungen feindlichen
oder fördernden Inhalts, welche, erst einige Zeit bekämpft, immer
mehr das Bewusstsein ausfüllen und in gesteigerten Reflexen auf
Stimmung und Handlung sich abgleichen (manischer Typus); oder
endlich: es verdunkelt sich das Bewusstsein in raschem Uebergang
aus dem Wachen zu einem Dämmerzustand, in welchem die Kran-
ken auf Stunden und Tage in einer visionärem Traumphase festge-
bannt resp. in wechselnde innere Situationen geführt werden, wobei
die Perception bald aufgehoben, bald vorübergehend klar, sogar ge-
schärft, bald illusorisch gefälscht sein kann. Nach dem Gesammt-
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176
Der acute Wahnsinn.
ein druck erscheinen demnach die Einen ruhelos panphobisch; die
Andern verzückt ekstatisch; wieder Andere träumerisch lucid, alle
Grade der Bewusstheit in unvermittelten Uebergängen und ohne
innerliche Continuität durchlaufend.
Gemeinsam liegt Allen eine acute, mehr oder weniger tiefe, an-
haltende oder re- resp. intermittirende Bewusstseinsstörung, und ein
bald logisch geordneteres, bald kaleidoskopisches Innenspiel von
Sinnestäuschungen und Einfällen zu Grunde.
Die Hallucinationen sind entweder von übereinstimmender
Färbung (so im acuten dämonomanischen Wahnsinn), oder aber
bunt wechselnde zusammenhanglose Impromptu's, aus depres-
sivem und expansivem Inhalte gemischt; bald phasenweise ab-
wechselnd, bald aber auch in unvermittelten und unverhofften Ueber-
gängen in einander spielend. Manchmal flechten sich auch allerlei
Einfälle hinein, welche an zufällige Reproductionen sich anschliessen,
und fast mit der sinnenfälligen Evidenz von Hallucinationen zu
phantastischen Romanen sich ausspinnen.
Die Stimmung ist in gleicher Weise mannigfaltig. Dieselbe
wird vom hallucinatorischen Innenspiel geleitet, wechselt mit diesem.
Bald heiter expansiv, in den erträumten Grössenideen schwelgend,
oder ekstatisch verzückt in glänzenden Visionen, ist sie in andern
Fällen depressiv bis zu den höchsten Graden der All -Angst und Ver-
zweiflung; oder aber träumerisch ruhig, nach aussen scheinbar in-
different, wenngleich innerlich bewegt. Manchmal ist die Stimmungs-
lage in der oder jener Richtung durch den ganzen Krankheiteanfall
andauernd, andere Male aber auch ausserordentlich wechselnd, von
einem Extrem in das andere jäh überspringend; in wieder andern
Fällen folgt dem anfänglich depressiven ein späteres exaltirtes Sta-
dium nach. Dabei bleibt — wie für den chronischen Wahnsinn, so
auch für den acuten — wesentlich und charakteristisch, dass die
Stimmung stets eine reactive ist, d. h. durch die Sinnestäuschungen
bedingt resp. unterhalten wird. Dieselbe behält deshalb auch immer
eine gewisse Flüchtigkeit, und setzt sich nur aus Einzelacten zusammen,
je nach dem Inhalt des hallucinatorischen Schatten- oder Lichtspiels ;
in der Zwischenzeit gleicht sie sich immer wieder zur Farblosigkeit
herab, oder hält sich in der ärgerlichen Gereiztheit oder verzagten
Rathlosigkeit des cerebralen Neurasthenikers.
Man kann mit einer gewissen Einschränkung sagen, dass sich im
acuten Wahnsinn die melancholischen und manischen Verstimmungen (nicht
minder auch der stupuröse Stimmungsmangel) wiederholen (s. Einleitg.).
Aber das psychologische Verhältniss der Stimmungsänderungen ist ein
I
Klinischer Charakter. Verlauf. 177
anderes als in der Melancholie und Manie. Hier ist die Verstimmung
eine primäre, im acuten Wahnsinn aber eine secundäre Folgewirkung —
in derselben Weise, wie beim manischen Wahnsinn die motorischen Acte
nicht „spontane" sind, sondern Reflexe der wechselnden Stimmungen und
Antriebe und vor Allem der kaleidoskopischen Sinnestäuschungen; speciell
bei dem melancholischen Wahnsinn fehlt die folgerichtige Logik der Wahn-
gebilde, welche nicht selten chaotisch und innerlich bis zur Verwirrung
widersprechend sind. Doch gibt es auch Fälle und Episoden, wo sie als
gleichgefärbte Schrecknisse vor das ahnende oder gehemmte Bewusstsein
treten. Nicht selten gehen übrigens die in Rede stehenden klinischen
Zustände in einander über: eine anfängliche Melancholie Steigertsich durch
Aufruf von überwuchernden Sinnestäuschungen in eine acute Wahnsinnsphase
(8. Melancholie), oder umgekehrt, ein acuter manischer Wahnsinn gelegent-
lich zu einer wirklichen Manie. Sonst aber ist nur die äussere Form bei
beiderlei Zustandsformen eine annähernd gleiche; der psychologische Auf-
bau bleibt, trotz manchmal verwandter Entwicklung, ein innerlich ver-
schiedener. So verhält es sich auch mit der stupurösen Wahnsinnsform im
Vergleich mit dem wirklichen Stupor. Die den letztern auszeichnende Wil-
lenshemmung mit dem Perceptionsabschluss nach aussen kann als Folge-
wirkung (psychisch-motorischer Reflex) eines primären hallucinatorischen
Wahnsinns auftreten (PseudoStupor) ; es können aber auch echte Stupor-
pliasen neben und mit diesen nur äusserlichen, d. h. transitorische Phasen
von wirklicher Dementia acuta abwechseln (und zwar innerhalb des-
selben Krankheitsverlaufs) mit scheinbarer resp. hallucinatorischer. Der
klinische Unterschied ist, dass jene für immer eine Lücke im spätem
Bewusstsein zurücklassen, diese dagegen eine ausserordentlich reiche
Traumerinnerung (s. Dement, ac). — Bei den dämonomelancholischen
Formen sind die — oft das ganze vielgestaltige Krankheitsbild durch-
ziehenden und „betonenden" — Affectkerne sehr bemerkenswerth. Als
schmerzliche Erinnerungen aus irgend einem frühem Erlebniss bleiben
dieselben oft lange Zeit unter dem Sturm der Hallucinationen und feind-
seligen Acte verdeckt, erhalten sich aber gleichwohl als wirksam (in der
Färbung jener, in dem zornigen Charakter dieser), und treten nicht
Seiten erst in der Reconvalescenz an das Tageslicht, wo sie dann oft die
ganze Krankheitsgenese überraschend aufklären.
Ebenso mannigfaltig, ja noch vielgestaltiger, ist der Verlauf.
Derselbe kann sich in peracuter und acuter Form von einigen Tagen
(Menstruationsphase) bis zu mehreren Wochen erstrecken; in pro-
trahirterer Form kann aber der Anfall auch Monate dauern, selbst
bis zu einem Jahre und noch länger, je nachdem (was hier beson-
ders häufig) immer wieder Nachschübe kommen, oder aber die
Lösung des ganzen Anfalls erst dnreh eine Reihe von physiologisch
zusammenhängenden (cy kl ischen) Zustandsformen sich vollzieht. Dieser
Verlaufsunterschied richtet sich namentlich darnach, ob der acute
Wahnsinn in einfacher oder complicirter Form auftritt — einfach,
wenn nur eine hallucinatorische Erkrankung in ihrer verschiedenen
Schüle, Geirt*8kr.Bkheiten. S. Aufl. 12
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173
Der acute Wahnsinn
klinischen Gestaltung und Stimmungsreaction vorhanden ist; com-
plicirt dann, wenn sich eine motorische und namentlich vasomoto-
rische Neurose (sog. Status attonitus) damit verbindet. Dieser engern
Untergruppe, welche nicht bloss neue körperliche Symptome einführt,
sondern auch die psychischen in wesentlicher Weise abändert, und
(durch die vasomotorische Mitaffection) einen vergleichsweise viel
protrab irteren (cyklischen) Verlauf bedingt, soll deshalb eine beson-
dere Besprechung (s. attonischer Wahnsinn) geschenkt werden. —
Die einfachen Formen verlaufen selten in dem anfänglichen Tempo
bis zum Schlüsse; gewöhnlich treten mehr oder minder lange Epi-
soden von andern geistigen Störungsformen (melancholische, manische
Zustände) dazwischen, theils als Stimmungsreactionen auf die impe-
rativen Sinnestäuschungen, auf die verwirrenden bunt wechselnden
Illusionen, theils als zugehörige Verlaufstadien aus vasomotorischer
oder neuralgischer Entstehung. Am häutigsten kommen Aufregungs-
zustände vor. Die Ideenflucht und sprachlichen Aeusserungen in
diesen tobsüchtigen Phasen können symptomatologisch ein Gemisch
von Grössen- und Verfolgungsdelirien darstellen, oder auch ein phan-
tastisches Gefasel von Einfällen, selbstgemachten Worten, anomalen
Associationen; die lautlichen Aeusseruungen können sich, oft in
raschem Uebergang, durch alle Stufen der Verworrenheit und Verbi-
geration bis zum zusammenhanglosen, rein noch assonirenden Deli-
rium steigern. In gleicher Weise kann der physiologische Charakter
der Bewegungen wechseln: während Mimik und Action für gewöhn-
lich nur die zugeordneten Reflexe auf die Einfälle und Trugwahr-
nehmungen darstellen, können beide sich in den schwerern Fällen
vom psychischen Inhalt emancipiren, und zu automatischen, von
letztern losgelösten Acten gestalten. Nach spätem Geständnissen sol-
cher Kranker lebten sie in einer von ihrem damaligen Gebahren ganz
verschiedenen phantastischen Situation, über welche hin sich ein zu-
sammenhangloses Spiel von mimischen Bewegungen, ungewollt und
unbewusst, ausgebreitet hatte. Ein Theil derselben mag wohl auch
durch (später vergessene) Motive veranlasst gewesen sein. — In den
Höhegraden stupider dämonomanischer Angst treten triebartige Unruhe
mit impulsiven Raptus und Zerstörungsdrang, manchmal choreatischen
Grimassirungen, monotone Bewegungen, andere Male perverse Hand-
lungen (Schmieren, Verzehren von allerlei Unverdaulichem) auf. Gegen-
über den manischen Entäusserungen schwerern Formcharakters kom-
men aber auch die mildern psychomotorischen Formen vor: grosse
motorische Geschäftigkeit, pauseloses Reden und Gesticuliren, Singen,
muthwillige Acte.
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„Einfacher" and „complicirter" acuter Wahnsinn. Ausgänge. 179
Somatisch begleiten den Krankheitsverlauf stets ausgesprochene
trophische und ci rotatorische Symptome. Vor Allem Abnahme der Er-
nährung mit Störungen der Verdauung und Assimilation, ungleicher Blut-
vertheilung, Aussetzen oder Unregelmässigkeiten der Menses (Menstruatio
nimia, membranacea), vasomotorischen Anomalieen, in schwereren Fällen
vorübergehende motorische Insuffizienzen, Divergenz des Blickes u. s. w.
Die anfanglich oft vorhandenen anomalen Kopfsensationen (heftiger
Schmerz, Krachen im Kopfe) verschwinden gewöhnlich mit dem Eintritt
der Störung.
Die Ausgänge der Krankheit sind in gleicher Weise mannig-
faltig. In der Regel erfolgt Genesung, und zwar gewöhnlich
durch ein mehr oder weniger langes und tiefes psychisches Schwäche-
stadium hindurch. War eine complicirende somatische Erkrankung
vorhanden (in erster Linie acute Magendarmaffectionen, gewisse post-
febrile Zustände u. s. w.), so kann die Genesung Hand in Hand mit
der somatischen Reconvalescenz erfolgen. Bei mitbegleitendem (resp.
vorausgehendem oder nachfolgendem) Menstruatious-Eintritt kann eine
acute Lösung stattfinden (aber nicht immer! s. Menstrualpsychosen).
Die Hysterie und Epilepsie ersetzen nicht selten ihre Krampfpar-
oxysmen durch plötzlich eintretende und wieder abbrechende acute
Wahnsinnsphasen.
Bemerkenswerth und interessant ist bei diesem Verlaufe das Ver-
halten des dominirenden Krankheitselements: der Hallucinationen. Bald
hören diese mit Einem Schlage auf; bald erkennt sie der Kranke als
Sinnestäuschungen an, sucht aber dabei raisonnirend noch die Berechti-
gung seines Wahns zu retten idass man doch in feindseliger Weise ihm
diesen krankhaften Zustand müsse beigebracht haben); bald endlich tönen
die Gehörstäuschungen sachte ab, klingen aus immer grössern Entfer-
nungen, werden nur mehr im Groben d. h. nicht mehr im Detail ver-
ständlich ; oder endlich sie dauern abgeblasst fort und werden neben den
richtigen Perceptionen immermehr ignorirt, bis sie schliesslich ganz ver-
stummen.
Die Erinnerung ist bald eine vollständig getreue, bald eine
theilweise defecte, manchmal aber auch nur summarische; nicht selten
fehlt sie ganz. Oft geht sie nur bis zum Beginn des deliranten Zustandes.
Der Kranke erkennt nur aus seinem schweren Kopfe, aus seiner ge-
drückten Stimmung und einzelnen Gesichtshallucinationen, dass er wieder
einen Anfall durchgemacht haben müsse.
Das Uebergang88tadium durch psychische Schwäche ist namentlich
bei der dämonomanisch- halluzinatorischen Gruppe sehr ausgeprägt. Das-
selbe trägt hier den ausgesprochenen Charakter der Hirnerschöpfung mit
gesteigerter Reizbarkeit (mangelnde Orientirung, Verkennen der Personen
im Sinne des frühern Wahnes, Misstrauen, Negation gegen die Umgebung,
Abulie, Zornmüthigkeit mit tagelangen Paroxysmen und Wiederauftreten
der Hallucinationen). Nach den stupurösen Formen bildet ein einfacher
Hirntorpor mit Gedächtnissschwäche und Gemüthsabstumpfung, aber ohne
12*
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180
Der acute Wahnsinn.
die gesteigerte affective Reizbarkeit, die Signatur der Uebergangsperiode.
Dabei laufen oft richtige Pcrceptionen und trotz des allmählich hellem
Bewusstseins uncorrigirte, nur nicht mehr emotive Sinnestäuschungen
recht lange neben einander her. Nach den Exaltationsformen kommen
beide genannten Typen vor, oft untermischt durch kurze Rückfallsepi-
soden. Manchmal bildet auch ein Stadium ruhigen, systematisirten Wahn-
sinns mit fixen Wahnvorstellungen, apperceptiven Trugschlüssen und Sym-
bob'sirungen den durch Monate hindurch protrahirten Ausgang zur Genesung.
Die Dauer des Einzelparoxysmus schwankt in denselben weiten
Breitegraden. Neben den Fällen von nur mehrstündigem Verlauf
stehen solche von Wochen, Monaten und selbst Uber Jahresfrist.
Alle acuten Wahnsinnsformen sind durch eine grosse Geneigtheit zu
Recidiven ausgezeichnet, so besonders die manischen ; hier setzt sich
manchmal der Einzelparoxysmus aus einer Serie von Anfallen zu-
sammen (8. o.).
Bei nicht günstigem Verlauf ist der Ausgang des einfachen
Wahnsinns wie der bei der Vesania typica: 1. in secundären hallu-
cinatorischen (resp. Einfalls-) Wahnsinn mit dem Charakter der
Verwirrtheit, anschliessend an das regel- und zusammenhanglose
Vorstellungsspiel auf der Krankheitshöhe; nnd 2. in zunehmende
geistige Schwäche bis zum apathischen Blödsinn (letzteres nament-
lich im Maassstab der Mitbetheiligung einer vasomotorischen Neu-
rose). — Bei hysterischer oder epileptischer Grundlage ist der zurück-
bleibende neurotische Grundzustand in die Ausgänge einzurechnen.
Beachtens werth ist, dass ein solcher hallucinatorischer Paroxysmus
manchmal einen Hysterismus — wie eine grosse Krise — bessernd
beeinflusst.
Specielle Symptomatologie. Es lassen sich nach Inhalt
und Form, speciell nach der Bethciligung des hallucinatorischen
Factors, folgende klinische Gruppen aufstellen:
1. der acute sensuelle (hallucinatorische) Wahnsinn —
die acute hallucinatorische Verrücktheit der Autoren;
2. der acute melancholische (dämonomanische) Wahnsinn;
3. der acute expansive manische Wahnsinn;
4. der acute stupuröse Wahnsinn — der hallucinato-
rische Stupor (s. dessen Schilderung als „Anhang" zur acuten
primären Dementia).
Erste Untergruppe.
Der acute sensuelle (hallucinatorische) Wahnsinn.
Krankheitsbild. Dasselbe stellt eine psychische Zustands-
form dar von acuter Entstehung und acutem Verlauf, dessen wesent-
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Klinische Special-Typen. Acuter exaltirter Wahnsinn.
1S1
liebste klinische Grundlagen primäre und plötzliche wahnhafte Con-
ceptionen oder Hallucinationen eines oder mehrerer Sinne sind, neben
theilweiser Lucidität, so zwar, dass die Beziehungen der Sinnes-
täuschungen oder illusorisch veränderten Wahrnehmungen zum Ich
erhalten bleiben, und das letztere reactiv in seiner Stimmungslage
sich gefördert und beeinträchtigt fühlt. Das Krankheitsbild wieder-
holt somit das Schema des typischen (chronischen) Wahnsinns in
acuter Form und abgekürztem Verlauf. Der Ausgang erfolgt sehr
oft durch ein manisches Stadium in Geuesung; oder aber in einen
secundären Wahnsinnszustand mit zunehmender geistiger Schwäche
unter Beibehaltung des hallucinatorischen Charakters. Der Verlauf
kann aus einem oder mehrereu, durch kürzere oder längere Perioden
getrennten, Anfällen bestehen, mit freier (resp. relativ freier) Zwischen-
zeit — remittirender und periodischer acuter Wahnsinn.
Typus a. Peracuter und acuter exaltirter (menstru-
aler) Wahnsinn.
Die im Ganzen seltene Störung befällt ausnahmslos nenropathisch
stark belastete, meist junge, Individuen. — Ohne auffällige Prodromi
geräth die Kranke um die Zeit der Menses, anscheinend plötzlich, in
einen geistig gehobenen Zustand, mit dem Wahn einer fürstlichen Ab-
stammung, der bevorstehenden Vermählung mit einem im Range gleich-
stehenden Bräutigam u. s. w. Kleidung, Haltung und Benehmen werden
darnach eingerichtet, die Umgebung in demselben Sinn umdeutet und
symbolisirt. Mit Eintreten der Periode resp. deren Nachlass schwindet
rasch der Märchenzauber, mit nachfolgender unklarer Erinnerung (die
Kranke spricht nicht mehr davon und lässt sich ungern daran mahnen).
Für die nächstfolgenden Tage bleibt noch ein schläfriges apathisches
Wesen. — In andern Fällen kann derselbe acute menstruale Anfall
sich auch über die Menses hinaus auf circa S — 14 Tage verlängern.
Die Kranke versinkt in einen ekstatischen Zustand mit gleichwohl fort-
dauernden Perceptionen. Die Umgebung wird illusorisch aufgefasst, von
überall her kommen Zeichen der bevorstehenden Erhebung oder Be-
glückung; gleichgestimmte Hallucinationen stellen sich ein. Episodisch
löst sich die innerliche Gebundenheit zu einer gehobenen Gesticulation,
zu dramatischen Haltungen, Singen. Declamiren, Küsse-werfen, Umarmung
der Umgebung; die Kranke nennt sich Mignon, der Ersehnte ist der
Wilhelm Meister u. 8. w. Der Paroxysmus, somatisch mit Schlaflosigkeit,
Congestivzuständen zum Kopfe neben Kühle der Extremitäten verbunden,
klingt gewöhnlich wiederum durch einen psychischen Müdigkeitszustand
mit nervösen Beschwerden ab, und hinterlässt nur summarische oder
lückenhafte Erinnerung an die Dämmerzeit. — In gleicher Weise wird
in acuter Entstehung und Verlauf auch Schwangerschaftswahn,
mit romanhafter Begründung und entsprechendem erotischen Verhalten
bei aussetzender Periode beobachtet. Auch dieser schwindet (namentlich
bei Wechsel der Umgebung) oft von selbst mit der folgenden Menstrual-
blutung.
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182
Der acute Wahnsinn.
Typus b. Subacuter manischer Grössen Wahnsinn.
In protrahirterem Verlaufe, nach acuter Entstehung, kann der pri-
märe Wahnsinn das typische Symptomenbild des exaltirten Wahnsinns
annehmen, und als scheinbare Manie mit gebieterischem Wesen, schranken-
losem (aber nicht nachhaltigem) Selbstgefühl, Ideenflucht, tumultuarischem
Gebahren sich in Scene setzen. Auch diese Kranken rekrutiren sich
aus der Gruppe der Neuropathiker, Hereditarier, mit übrigens sonst nor-
maler geistiger und körperlicher Entwicklung (politisch aufgeregte Zeiten
bilden eine besonders begünstigende Atmosphäre). Das Zustandsbild
der ersten Tage, in welchen die Kranken als Weltbeglücker, Reforma-
toren, Universalgenies auftreten, mit Aufgebot allen Scharfsinns ihre
Maschinen construiren, ihre hochfliegenden Probleme mit Ungestüm aus-
kramen, hat manchmal eine täuschende Aehnlichkeit mit dem Initial-
stadium der Paralyse, wird aber vor der Verwechslung mit dieser kör-
perlich durch die fehlende motorische Ataxie und psychisch durch
die durchgebildete Systematik, Consequenz und Stärke des Wahns, so-
wie durch den Mangel des eigentlichen paralytischen „Wonnegefühls"
geschützt. Die Stimmung ist eine sehr gehobene, anderemale zwischen
Hoffnung und Depression (durch Verkanntsein, böswillige Beeinträchtigung)
schwankende, bald indolente, bald anspruchsvoll gereizte; oft tritt sie
ganz zurück neben der rastlosen Gedankenarbeit, welche die GrÖssen-
conceptionen zur höchsten Leistungsgrenze hinaufschraubt, aber doch
immer noch in der Grenze des Erreichbaren bleibt, wenn auch Kritik
und Reflexion dabei sehr zu kurz kommen. Das Bewusstsein ist be-
nommen und vielfach durch Hallucinationen (Gottesstimmen, Verschlucken
des heiligen Geistes in Gestalt einer weissen Taube, goldene Kreuze
und Wolken am Himmel u. s. w.) und illusorische Verkennung der Um-
gebung getrübt. Körperlich steht Schlaflosigkeit mit Abnahme der Er-
nährung, ungleiche Blutvertheilung (Fluxionen zum Kopfe, neben kühlen
Extremitäten und contrahirter Radialis) im Mittelpunkt der Symptome.
Der Verlauf ist ganz gesetzlos; mit manischen Perioden, in welchen der
Kranke ein Spielball von Einfällen, raptusartigen Antrieben und reactiven
Stimmungen in Folge der Hallucinationen ist (Zerstören, Schmieren),
wechseln lucidere Phasen; mit dem Grössenwahn mischen sich im Ver-
laufe oft auch Verfolgungsideen. Der Uebergang in Genesung erfolgt
nach Wochen resp. mehreren Monaten, unter allmählichem Nachlass der
tobsüchtigen Aufregung, wobei erst der exaltirt - depressive Wahnsinn
breiter und deutlicher zu Tage tritt; in der Folge durch ein Erschöpfungs-
stadium hindurch in Form einer mehr minder langen geistigen Apathie
und Willenlosigkeit. Einzelne Hallucinationen und Wahngedanken dauern
oft noch bis in die Genesung uncorrigirt fort. Die geistige Erholung
kann eine vollständige sein mit lückenhafter Erinnerung, hat aber grosse
Neigung zur Recidive, mit der Gefahr eines jeweils bleibenden und sich
summirenden geistigen Defects.
Typ us c. Acuter und sub acuter hallucinatorischer Ve r-
folgungswahnsinn.
Der Beginn ist eine aente Benommenheit des Sensoriums in Form
von Rathlosigkeit, Staunen, triebartigem Gebahren (Fortlaufen); daran
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Subacuter manischer W.; acuter halluc. Verf.-W.; acuter depress.-exalt. W. 183
schliesst sich ein rasch wachsender Aufregungszustand mit feindseligem
Verkennen der Umgebung und Sinnestäuschungen.
Nicht selten verläuft wiederum das menstruale periodische Irresein
unter diesem Symptomenbilde. Gewöhnlich geht eine sensuelle Hyper-
ästhesie (grössere Empfindlichkeit gegen alle Sinneseindrlicke) kurz vor-
aus; dann folgen Hallucinationen feindseliger Art (in der Regel des Ge-
hörs) mit reactiver Angst, Misstrauen, zorniger Gereiztheit. Statt der
Sinnestäuschung kann auch ein wiederkehrender Zwangsgedanke (z. B.
Angst vor dem Eindringen eines wüthenden Hundes), verbunden mit illu-
sorisch feindseliger Umdeutung der Umgebung und dämmerhaftem Bewusst-
seinszustand den Wahninhalt bilden. Der Inhalt der Hallucinationen ist
ein sehr mannigfaltiger, aber, wie es scheint, ein in gewissen Grenzen
ätiologisch-typischer. So bedingt der acute und subacute Verfolgungs-
wahn auf masturba torischer Basis in der Regel sexuell gefärbte
Hallucinationen. Die Kranken hören Zoten und cynische Aufforderungen
sich zuflüstern, man „telephonirt Kuppeleien'' in sie hinein; man will sie
durch forcirten Coitus erschöpfen und sie dann als Selbstmörder behan-
deln u. s. w. In weiterer logischer Ausgestaltung wird eine „elektrische"
Verfolgungstheorie construirt. Alle Zimmerwände sind akustisch gemacht
durch Maschinen, Uberall her tönen ihnen Lästerungen oder Verhöhnungen,
namentlich auch Belächelungen ihrer angeblich verminderten „Potenz"
(s. u. Typus g). — Im acuten Trinkerwahnsinn bilden Gehörs- und
namentlich auch Gesichtstäuschungen (beschimpfende Zurufe, Bilder von
eindringenden Soldaten mit blanken Waffen, gehörte Schüsse u. 8. w.) den
häufigsten Inhalt des Krankheitsbildes (s. n. Alkoholismus). — Beim acu-
ten Gefangenenwahnsinn sind die Stimmen «gewöhnlich verspotten-
den oder neckenden oder auch beängstigenden Inhalts (neue Strafandro-
hungen). Beim Weiterverlauf des letzteren kann entweder Genesung
(gewöhnlich durch Versetzung in gemeinsame Haft) erfolgen, oder aber
ein chronischer Secundärzustand mit Hallucinationen und reizbarer gei-
stiger Schwäche.
Typus d. Acuter depressiver, und sodann expansiver
Wahnsinn.
Nicht selten ist der acute Anfall des sensuellen Wahnsinns aus zwei
Phasen zusammengesetzt, einer depressiven und einer expansiven, welche,
ganz wie im Verlauf des typischen Wahnsinns, sich ineinander transfor-
miren. Die depressive Phase verläuft unter dem äusseren Bilde melan-
cholischer Gebundenheit mit hallucinatorischen Angstparoxysmen, in wel-
chen der Kranke die Schrecken der Hölle oder einer drohenden Hinrichtung
sieht, seinen Körper in tausend Theile sich trennen und auseinanderfliegen
fühlt, Centnersteine auf seinem Herzen spürt, welche ihm den Athem be-
nehmen. Der Eintritt der expansiven Phase (dieser stiefmütterlichen
Barmherzigkeit, welche die Krankheit selbst übt!) kann nun unter ver-
schiedenem Modus in Scene treten. Eine häufige Form ist 1. dass die
letztere unter zunehmender Bewusstseinsverdunkelung als ein hallucina-
tori8ch deliranter Traumzustand sich vollzieht, aus welchem nur noch
vereinzelte und stets unklare, illusorisch gefärbte Beziehungen mit der
Aussenwelt stattfinden. Der hallucinatorisch gefolterte (verspottete, be-
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184
Der acute Wahnsinn.
drohte) Kranke hört jetzt Stimmen vom Himmel, welche ihm Ersatz für
das erlittene Unrecht, Begnadigung, Erhöhung oder (namentlich bei
sexueller Entstehung) Vereinigung mit der Geliebten etc. verheissen. Oft
kommen Steigerungen zur Ekstase unter dem äusserlichen Bilde der ka-
tatonen Stupidität. Der Kranke hält Tage lang die Augen geschlossen,
folgt mechanisch dem Zuge äusserer Gewalt, behält, einem Automaten
gleich, einförmige und gezwungene Stellungen bei, leistet gegen Alles
passiven Widerstand, geht zögernd zu einzelnen Gesten und Bewegungen
meist religiöser Symbolik über, rafft sich dann plötzlich auf, um lautlos
und ziellos da und dorthin zu drängen und dann in die frühere Mono-
tonie wieder zurückzusinken. — Es kann aber 2. aus dem unklaren me-
lancholischen Depressionszustande sich die Fata morgana einer GrÖssen-
hallucination (Messias) abheben, und, während der „böse Geist" seinen
Sitz im Körper behält, sich als „guter Geist" gleichfalls darin fest-
setzen. Der Kranke entwickelt sich sachte zu zwei Naturen in sich, er
erhält eine böse und eine gute, und bewahrt als „dritte" eine „Verbin-
dungsnatur" ; Alles in ihm wird zwischen den freundlichen und feindlichen
Mächten getheilt, sogar die Geschlechtstheile ; von dem Centnerstein des
Herzens löst sich eine Hälfte ab, „wird leicht wie der Fittig einer Taube",
und erhält den Namen „Gott" eingeschrieben ; die guten und bösen Gei-
ster ringen fortan miteinander. Dieser Zustand kann chronisch werden,
und ziemlich bald in eine Secundärform übergehen mit Erhaltung der be-
zeichneten Elemente (gewöhnlich unter dem Bilde des religiösen Wahnsinns).
— Oder 3. die genannte (expansive) Phase geht in acutem Verlaufe in eine
acute reactive Manie Uber. Auch hiebei finden zahlreiche Varietäten statt.
Es kann dieselbe a) unter dem Bilde einer Mania mitis verlaufen mit (reactiv)
beglückter Stimmungsgrundlage (Singen, Declamiren, affectvoll patheti-
schem Gebahren in Miene und Haltung, mit mystischer Symbolisirung in
den Geberden); so beim Wahnsinn auf hysterischer oder sexueller, beson-
ders masturbatorischer Entstehnung. Oder aber b) der Eintritt der exal-
tirten Phase vollzieht sich unter dem Bilde des manischen Furors (s. d.) :
es ist die emotive Rückwirkung aus der innerlichen Bedrängniss durch
den Kampf des bösen und guten Princips (heftiges, gereiztes Wesen,
Wahn des Verhextseins, massenhafte Hallucinationen, Thier- und Geister-
spuck, Engelserscheinungen, endlich wüthendes Zerstören, „um Schutz
und Hilfe zu suchen"). — Bezüglich des Verlaufs und der Aufeinander-
folge des depressiven und manisch- hallucinatorischen Stadiums kommt ne-
ben dem directen Uebergange beider Phasen auch noch die Modification
vor, dass beide durch ein apathisches Zwischenstadium (mit Vaso-
parese) getrennt sind ; so namentlich bei stark invaliden Gehirnen, durch
Potus oder durch Insolation. — Der Ausgang ist Genesung; aber nicht
immer direct, sondern a) nicht selten durch eine nochmalige depressive
Walinsinnsphase mit den schreckhaften Hallucinationen hindurch; oder
aber tl) durch ein längeres Stadium (2 — 3 Monate) von systematisirtem
sensuellem Wahnsinn mit neuralgischen Allegorisirungen. Im ungün-
stigen Falle (oder nach häufigen Recidiven) folgt ein hallucinatorischer
Secundärzustand mit partieller Geschontheit des Bewusstseins und allmäh-
lichem Uebergange in psychische Schwäche.
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Acuter, gemischt depressiv- expansiver Wahnsinn.
183
Typus e. Acuter, gleichzeitig depressiv-expansiver
Wahnsinn.
Erschöpfungszustände des Gehirns, namentlich geistige Ueberarbei-
tongen, gehen voraus. Der Kranke fühlt Anfangs nur vag und dumpf
eine Aenderung in seiner Denkarbeit (eine „Einmauerung, eine Durch-
ächüttelung und Durchschauerung" des Gehirns); rasch objectivirt sich
diese zur „Thatsache", dass eine „Verfolgung" gegen ihn im Spiele sei.
Jetzt sofort grosse Angst, die sich aber besänftigt durch „Anzeichen",
dass eine höhere Mission, eine „Prüfung" im Spiele sei. Jede Wahr-
nehmung wird auf diese Ahnungen hin geprüft, die Miene, die Worte,
die Kleidung der Vorübergehenden; depressive und freudig gehobene
Stimmungen lösen sich ab, je nach den „Zeichen", den freundlich zu-
sprechenden, oder aber tadelnden Sinnestäuschungen. Oft verliert der
Kranke trotz der Uberraschenden Zauberwelt seine Orientirung nicht; er
weiss sich Tage lang noch leidlich gut zu führen, wozu er allerdings eine
immer mühevolle geistige Präcision braucht. Endlich unterliegt die
mühsam zusammengehaltene Kraft, und es tritt zunehmend ein Traumzu-
stand ein, aber ohne gefühlten Uebergang. Das Ich bleibt sich daneben
seiner geläufigen Beziehungen zur Umgebung bewusst; es geht nicht unter
in den Spielen der Fata morgana. Das GrössengefUhl, das Wissen der
„Begnadigung, der hohen Mission", bleibt erhalten, die neuen Concep-
tionen sind nach diesem Inhalt geordnet und bis in's Kleinste „verständ-
lich" und bedeutsam. Oft spielen auch wirkliche Wachträume episodisch
dazwischen; aber das Ich verwirrt sich nicht dauernd, es findet sich im-
mer wieder zurecht in den vorgegaukelten „Schlössern", „auf den Schif-
fen", neben den grossen Männern aus früheren Jahrhunderten, welche
plötzlich in unvermittelten und lebendigen Rapport mit dem Kranken tre-
ten. Bei noch höherer Steigerung des Leidens kommen jetzt auch ener-
gische affective Stimmungen mit motorischen Entladungen: der Kranke
bietet vorübergehend das Bild eines Furors, äusserlich mit planlosem
Entäusserungsdrang und einer Ideenflucht, welche zusammenhanglos und
unverständlich erscheint, weil sie nur Bruchstücke des ausserordentlich
intensiven inneren Traumlebens hervortreten lässt. Nach und nach, oft
aber auch Uberraschend schnell (nach dem ersten Bade), folgt motorische
Beruhigung und beginnende psychische Lucidität. Aber lange bleibt in
der Regel noch ein Zustand von geistigem Torpor mit zähe klebenden
Wabngedanken und gemüthlicher Indolenz mit Reizbarkeit (die Zeichen
des erschöpften Gehirnlebens!) zurück. Auch der Drang zu „Deutungen"
zieht sich manchmal noch lange in die Reconvalescenz hinein. Letztere
erfolgt oft mit rapider Zunahme der Ernährung. Die Genesung aus die-
ser Form ist in der Regel eine vollständige; doch gleichen sich die letzten
Wahnvorstellungen oft erst lange nach der Entlassung des Kranken in
die Auasenwelt ab; nicht selten erst nach stossweissen Recrudescenzen.
Die Dauer der Krankheit erstreckt sich auf einige Tage, aber auch auf
Wochen (1 — 2 Monate). In ungünstigen Fällen bleibt ein chronisch hal-
lucinatorischer Wahnsinn, in welchem der Kranke immermebr zum Mi-
nutenspiel seiner Eingebungen und Symbole herabsinkt, jede Sinneswahr-
nehmung mit den fabelhaftesten Zuthaten versetzt erhält (abgeschnittene
Menschenköpfe in den Speisen), und endlich in dieser Traumwelt dauernd
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186
Der acute Wahnsinn .
untergeht, unter zeitweisen melancholischen oder manischen oder wahn-
sinnig-dementen Reactionen (alberne Kleidung oder Gebahren) mit para-
phrastischer Verworrenheit.
Typus f. Acuter hypochondrischer Wahnsinn.
Die Entstehung ist, nach vorausgegangenem Status nervosus mit
ängstlicher Grübelei, oft ausserordentlich rasch — mit Einem Schlage.
Eine zufällige Begegnung, eine Zeitungsnotiz, ein Gespräch, eine peinliche
körperliche Sensation, lässt oft plötzlich den fertigen Wahnsinn empor-
schiessen. Mit Einem Male wird dem Kranken sein Verhängniss klar:
er hat eine Brust von Stein, ein verschobenes Herz, einen dislocirten Magen.
Tiefe Depression bis zur Regungslosigkeit oder zu verschränkten Kör*
perhaltungen (motorische Reflexe auf die abnormen inneren Organgefühle)
beherrscht den willenlos gewordenen Kranken. Die sensibeln Allegorieen
schaffen nun einen wahren Phantasiekörper: der Kehldeckel ist herabge-
fallen, der Hals an einem Band aufgehängt; das Essen fällt in den Brust-
raum, die Flüssigkeiten in den Herzbeutel. Die Lunge hat sich auf einen
Quadratzoll zurückgezogen und ist durchlöchert, das Rückenmark ist aus-
gelaufen ; der Kranke hält sich für unzerstörbar durch alle Elemente ; nach
dem quasi-Tod leben und zucken seine Nerven in der Luft fort u. s. w.
Nahrungsverweigerung, Misstrauen gegen die Umgebung, starre Resig-
nation, neben einem seufzenden Klagedrang, plötzliche Raptus von Gewalt-
thätigkeit setzen das nun folgende, oft durch Wochen hindurch ein-
förmige, Krankheitsbild zusammen. In langsamer Abnahme, oft aber
gegentheils auch überraschend schnell (nach Typbus, geheiltem acuten
Magen darmkatarrh) hebt sich der psychische Bann, und tritt die Genesung
ein. Sehr oft kommen auch hier früher oder später fast „photographisch
gleiche" Recidiven; andere Male Anfälle von acutem Verfolgungs- oder
exaltirtera Wahnsinn (Plänesucht, gesteigertes Selbstgefühl mit Reizbar-
keit, Stimmungswechsel, Neigung zu „Deutungen und Ahnungen"; auch
zu Excessen) ; oft wechseln alle diese Zustandsbilder periodisch mit ein-
ander ab; mit jahrelangen Intermissionen.
Typus g. Acuter (subacuter) cerebrospinaler Wahn sinn.
Endlich stellt auch der cerebrospinale Wahnsinn sein Contin-
gent zur acuten (resp. subacuten) Verlaufsform. So namentlich gern auf
alkoholistischer Grundlage. Voraus geht ein 8tatus nervosus (Schwarzsehen
vor den Augen, Hitze im Kopfe, Ziehen im Körper, schlechter Schlaf mit
ängstlichen Träumen, präcordiale Sensationen) mit „Ahnungen", dass „Ver-
dächtiges" geplant werde. Nun plötzlicher Ausbruch, oft in Einer Nacht:
Visionen von guten und bösen Geistern, welche mit ihren Angriffen an
den neuralgischen Punkten einsetzen, und so vom Kranken Besitz nehmen.
Die Qualität der Geister wird jeweils aus den hemmenden oder erleich-
ternden Körperempfindungen gemerkt; darnach gestaltet sich die feind-
liche oder freundliche Reaction des Kranken. Im Verlauf führen beide
im Körper des Kranken ihren „neuralgischen" Kampf weiter ; der Kranke
sucht den „Guten" (die ihm vollen Athem geben) durch Gebet zu dienen,
während er die „Bösen" durch Gegenwirkungen (Aderlässe an den Füssen,
Aufkratzen) abzuleiten bestrebt ist. Aus allen Körperwinkeln „spricht"
und „deutet" es; der Kranke ist in seinen ürtheilen (was gut und recht,
was er thun oder lassen soll) nur noch von den Geistern bestimmt, die
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Acuter hypochond. W. ; ac. cerebrospin. W.; acuter melanch. Wahnsinn. 187
er einathmet — oder ausspeit, sobald er an einem Stieb in der Herzge-
gend merkt, dass er einen „bösen" verschluckte. Die Stimmung ist eine
wandelbare, reactiv heitere, oder gedrückte. Ganz allmählich nimmt die
Zahl der Geister ab, die Gefühle vermindern sich und treten zurück, die
vernünftige Einsicht kommt zum Durchbruch. Im Verlauf von einigen
Monaten ist der Kranke genesen.
Zweite Untergruppe.
Der acute melancholische Wahnsinn. Vorausgehender Status ner-
tosus oder wirkliebe (melancholische) Depression; dann rascher Um-
schlag in eine hallucinatorische Traumwelt mit Erhaltung resp. Aus-
bildung der schmerzlich gefühlten Beziehungen zum Ich; daneben
Fortdauer der Perception mit illusorischer Umdeutung nach derselben
Richtung; manchmal episodische Expansionsdelirien; acuter, subacuter
oder protrahirter Verlauf unter mehr oder minder tiefem Dämme-
rungszustand, oft mit jähem Umschlag in lucidere Phasen; Raptus-
anfälle von stupider agitirter Angst. Schliesslich Uebergang in
1. Genesung, oft in rascher Lösung; anderemale durch ein mehr oder
weniger langes geistiges Erschöpfungsstadium mit Nachklang der
melancholischen Grundstimmung; langsame Correctur mit lückenhafter,
meist nur summarischer Erinnerung; 2. in unheilbare Geistesschwäche.
a) In den leichteren Formen bildet ein Vorstadium von gemütblicber
Depression mit unschlüssigem, ungeschicktem theilnahmlosen Wesen die
Einleitung. Unvermerkt, oft ahnungslos in der Stille der Nacht, oder
nach einem Gemüthsaffect, oder nach einem schreckhaften Naturereigniss
(Gewitter) stellen sich Sinnestäuschungen ein, bald vereinzelt und leise
sich anmeldend, bald aber auch mit überwältigender Macht das Bewusst-
sein verdunkelnd. Drohende Rufe, schreckhafte Gesichte, das jüngste
Gericht, Modergeruch u. s. w. steigen auf. Jetzt folgt eine reactive Un-
ruhe, der Kranke wälzt sich anhaltend und lautlos im Bette, springt
wieder heraus, wirft sich auf die Kniee, ringt die Hände (oft bis sich
Excoriationen bilden), klammert sich starren Blickes plötzlich an einen
Dritten an, drängt dann wieder hinaus, ist unempfindlich gegen Berüh-
rungen. Alles um ihn hat sich verändert, Sonne und Mond haben ihren
Glanz verloren, alle Farben sind ausgelöscht; Todte wandeln leibhaft um-
her; Uberall sind Mahnungen und Zeichen für immer grössere Schreck-
nisse. Manchmal erleichtert sich der zum Tode geängstigte Dulder in
einem Strom von Thränen, oder er sucht in irgend einer Selbstpeinigung
Entlastung, oder er bricht in eintönige Schmerz- und Hilferufe ans, welche
er automatisch Tag und Nacht wiederholt. So kann in weiterer Steige-
rung sich vorübergehend eine „manische" Reactionsphase abspielen; ande-
remale schliesst sich gegentheils eine Episode der Selbstzerknirschung an,
mit krankhaftem Drange zu Tag und Nacht fortdauerndem Beten, so dass,
nur um keine Minute nachzulassen, die Nahrung verweigert und jede
Ansprache von aussen mit heftigster Negation oder mit Heulen erwiedert
wird. In der Regel gehen lebhafte Sensibilitäts-Anomalieen (Parästhesieen
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188 Der acute Wahnsinn.
des Herzens und der Intercostalbahnen, Beschwerungsgeftthle im Körper)
mit einher. Damit hängen oft im Weitern die psychischen Reflexkrämpfe
zusammen, welche sich in Grimassiren des Gesichts, Zukneifen der Augen,
rhythmischem Vorwärtsschleudern der Arme, Schütteln des Oberkörpers,
An- und Abziehen der Beine u. s. w. kundgeben; auch auf den Vagus
treten die Reflexe Uber, und rufen Anfälle von Laryngismus stridulus
und geändertem Respirationstypus hervor, während der (gleichsinnige)
Krampf in den Gefässnerven die Blutwelle unterdrückt und einen kleinen,
in der Frequenz wechselnden Puls zu Stande bringt. Treten nicht kata-
tone Phasen ein (was häufig der Fall), so kann sich schon nach einigen
Wochen der Dämmerzustand unter Zurücktreten der Hallucinationen, Neu*
ralgieen und des vasomotorischen Krampfes lösen. Der Kranke beginnt
sich zu orientiren, die Aussenwelt wird wieder wie sie war, „nicht mehr
so verdreht und umgestellt." Unter Zunahme der Ernährung folgt nun
ein mehr weniger langes Correcturstadium mit Nachlass der Angst. Bei
Frauen wirkt oft der Eintritt der Menses kritisch. Genesung ist die
Regel, aber die Prognose durch Recidivfähigkeit eingeschränkt.
b)Die schwereren Formen des primären melancholischen
Wahnsinns gehören der „dämonomanischen" Grnppe an. Der Verlauf
derselben ist höchstens subacut, meist aber auf Monate ausgedehnt,
entsprechend der Tiefe der Hirnaffection, resp. der Tiefe der aus-
nahmslos hier vorhandenen Anämie (nicht selten mit Suppressio
mensium). Der Kern des ausserordentlich mannigfaltigen Symptomen-
bildes ist eine furchtbare Angst mit schreckhaften Hallucinationen
und Illusionen, Verdunkelung des Bewusstseins, heftiger emotiver Re-
action, gewöhnlich unter dem Bilde eines stupiden Furors.
Das Prodromalstadium ist oft unscheinbar, eine mehr weniger auf-
fällige gemüthliche Verstimmung mit vagen nervösen Symptomen (Ziehen
und Reissen in den Gliedern). Um so jäher erfolgt der Krankheitsaus-
bruch, manchmal wiederum ganz plötzlich während der Nachtruhe, welche
der Kranke noch ahnungslos angetreten (in einem meiner Fälle nach
einem Rausche, wodurch der Kranke seinem geschwundenen Kraftgefühle
wieder hatte aufhelfen wollen). Nicht selten geht auch eine kurze Phase
religiösen Wahnsinns mit Christus- Visionen, lautem Predigen voraus. Oft
eröffnet sofort eine brüske Handlung (Gewaltact) neben sofortiger tiefer
Bewusstseinsstörung, welche nur einzelne Fragmente eines hallucinatorisch-
dämonomanen Traumlebens (Teufel, Hexen) hervortreten lässt, zugleich
mit heftiger Angst, die Scene. Der Kranke bietet das Bild einer stupiden
Verwirrung; die Umgebung wird verkannt, oft in feindlichster Weise
brutal angegriffen. Furchtbare Aufschreie, blinder Zerstörungsdrang,
wechseln ab mit ängstlicher Hilflosigkeit. So kann das Krankheitsbild
sich durch Wochen hindurch erhalten, wobei nur der jäh eintretende Um-
schlag in lucidere Phasen mit Ruhe, scheu misstrauischem Wesen, und
einer vollständig fehlenden Orientirtheit Uber Lage und Umgebung eine
scharf contrastirende Abwechslung bilden. Immer aber drängt sich wieder
der Sturm der Hallucinationen (namentlich des Gehörs und Gesichts, dann
aber auch der übrigen Sinne) vor, und erzeugt wieder die stupide Pan-
Dgle
Acuter melanch. Wahnsinn: leichtere und schwerere Form.
139
phobie mit den Raptus und dem triebartig 'perversen Gebahren. Die
All-Angst kann oft eine conträre sein, indem der Kranke beim Anblick
i. B. einer dargebotenen Speise aufschreit, etwas Anderes wünscht —
sofort aber beim Vorsetzen des Gewünschten in dieselbe Angstäusserung
und Negation geräth. Das Delirium besteht theils in Erwiederungen auf
die schreckhaften, beständig wechselnden und quälend imperativen Sinnes-
täuschungen, theils in verwirrten Reproductionen, oft auch in zäher Fest-
baltung einzelner, barocker Einfalls- Worte (z. B. Butterfass). Unter den
dämonoraanen Inhalt mischt sich nicht selten auch ein lasciver, erotischer;
anderemale ein religiöser. Oft stellen sich choreatische Gesichtsverzerrun-
gen, Grimassirungen ein. Die tiefe Bewußtseinsstörung bleibt, ebenso auch
das kaleidoskopisch wechselnde Spiel von deliranten und lichtem Episoden.
In den schwersten Fällen werden in dem tobsüchtigen Reactionszustand die
höchsten Grade des Furors erreicht: sinnloses Zerstören, Schmieren, Kopro-
phagie, vollständige Verwirrung, mit selbstgemachten sinnlosen Worten
oder nach zufälligen Assonanzen. Unter allmählichem Zurücktreten fast
aller bewussten Vorgänge geben sich die Kranken einem kindischen
Spiele, und den barocksten Verkehrtheiten aus den unklarsten Motiven
hin: sie verstopfen sich Ohren und Nasenlöcher „damit der Wind nicht
hindurchblase", ziehen sich nackt aus, wollen Alles (das Hemd vom Leibe)
an Andere verschenken, starren stundenlang gegen die Wand, sehen lange
Zeit in die offene Sonne, arbeiten mit verschlossenen Augen, sägen den
Holzbock zusammen, onaniren schamlos u. s. w. Die Körperernährung
sinkt; oft intercurirt Polyphagie und Polydipsie, Hyperidrosis. Nach und
nach kommt mehr Ruhe und langsam aufdämmernde Klarheit. Aber die
Angst erhält sich, oft in einem Grade, dass beim Anblick einer als feind-
selig verkannten Person convulsive Reactionen entstehen. Ebenso hart-
näckig bleibt die illusorische Auffassung der Umgebung, welche von den
Kranken selbst nach raonatelangem Aufenthalt noch nicht erkannt wird.
Manchmal folgt jetzt ein vielwöchentliches Stadium der Hirnerschöpfung
nach, in welchem sie unthätig herumsitzen, zu Allem angehalten werden
müssen. Wiederholt noch ballen sich die verschiedenen psychischen Ele-
mente zu einem ausgesprochenen dämonoraanen Wahne zusammen; aber
allmählich ohne die frühere Stupidität. — In andern Fällen dauert über
dieses Stadium eine körperliche und geistige Unbehaglichkeit und Empfind-
lichkeit fort, welche durch die unschuldigsten Eindrücke oft aufs Unan-
genehmste berührt wird, und bei directem Widerspruche stundenlange
Zornparoxysmen mit sofortigem Rückfall in die hallucinatorische und illu-
sorische Verwirrtheit hervorruft. Die Kranken laufen plötzlich wieder
unruhig hin und her , halten sich von ihren „dämonischen Verfolgern"
in abgemessener Ferne, stehen auch dem Arzte nicht Rede u. s. w. Bei
Frauen bezeichnen die wieder eintretenden Menses jeweilige Etappen zur
Besserung. Aber diese zieht sich in der Regel lange hinaus. Hin und
wieder muss sich die Kranke förmlich zur richtigen Orientirung zurück-
erziehen, oft durch unablässigen Fragezwang und Verificationsbestrebungen.
Mit vieler Mühe und meistens erst durch ein nochmaliges aufgeregtes
Schwächestadium hindurch (Disputirsucht, albernes Gefasel, stupider Trotz)
arbeitet sich allmählich ein feststehender Vorstellungskern und damit be-
ginnende Orientirung heraus. Manche Kranke müssen jetzt ihr „Ich" erst
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190
Der acute Wahnsinn.
wiederfinden, und sprechen erst noch einige Zeit per „Du" von sich; die
Stimmung bleibt noch lange kleinmtithig, weinerlich, ängstlich, verlegen,
unsicher; die Haltung schwach, albern, kindisch und wiederum apathisch;
im Benehmen wechseln Gereiztheit, grillenhafte Laune mit planlosen stür-
mischen Bestrebungen. Oft erfolgt die volle Aufklärung mit Krankheits-
einsicht erst nach der Entlassung und zu Hause. — Statt dieses protra-
hirten Uebergangsstadiums mit Schwäche und zornmüthiger Reizbarkeit
führt auch manchmal ein Zustand religiöser Expansion mit Bekehrungs-
drang zur letzten Stufe der Reconvalescenz.
Die letztere ist stets durch Hebung der tiefen Anämie, Zunahme der
Körperernährung, oft in einer den früheren Stand weit Uberschreitenden
Weise gekennzeichnet. — Die Recidivfähigkeit ist zumal bei Fortdauer
schwächender Einflüsse (sexuellem Abusus, Masturbation, Menstruatio
nimia) eine relativ grosse. Bei ungünstigem Verlaufe bleibt ein chroni-
scher Secundärzustand mit Hallucinationen zurück, zugleich mit Nachlass
oder Abschwächnng des emotiven Elementes und nicht selten mit be-
schränkter theilweiser Erholung. — In schweren Fällen kann aber auch die
dämonomanische Unruhe und Angst auf Jahre hinaus chronisch werden,
und der Kranke Tag um Tag und Nacht um Nacht seine Schreie, sein
rastloses (schliesslich automatisches) Gebahren, seine Abwehr gegen die
Stimmen, seine Proteste, oder auch seine Verwünschungen gegen sich
wiederholen, mit dem immer gebieterischem Drange den „Teufel", mit
welchem er sich längst identificirt hat, auf alle Weise zu schädigen.
— Ein weiterer Ausgang endlich ist ein nachfolgender, progressiver und
schliesslich apathischer Blödsinn. Derselbe kann sich direct an das
acute Wahnsinnsstadium anschliessen ; dies namentlich dann, wenn letzte-
res mit starken Fluxionen und heftiger reactiver Mania (gravis) verlaufen
war. Dieser Blödsinn besteht symptomatologisch nicht in einer einfachen
Abschwächung der Geistesfunctionen , sondern in vorwiegender Stupi-
dität, welche an Hirndruck (vielleicht Hirnödem?) denken lässt. Der
früher ängstlich unruhige Kranke steht jetzt in zusammengebrochener
Haltung unverrückt in der Ecke, den Kopf auf die Brust gesenkt (manch-
mal so stark, dass die gezerrten Nackenmuskeln sich entzünden, und die
Beuger des Halses sich verkürzen); er nimmt keine Notiz mehr von den
Vorgängen um ihn, antwortet nicht, oder nur mit einer stummen Thräne ;
bei stärkerem Drängen bricht er in einige kurze und unleidige Bemer-
kungen aus (im Sinne seines melancholischen Verfolgungswahnes): dass
alle an ihm plagten, dass doch nichts recht sei, was er thue. Jeder wolle
es anders haben, er komme nicht mehr daraus, es heisse immer, er sei
ein Teufel und solle umgebracht werden u. s. w. Dabei wird die Nega-
tion immer grösser ; so kann der Kranke im Attonität übergehen. Nicht
selten wirkt eine zu dieser Zeit energisch eingeleitete Therapie (wieder-
holt schon die Einreibung des Schädels mit Tart. stib.) in dieser Phase
günstig: der Kranke wird darnach regsamer, mittheilender, lenksamer.
Er hält zwar an seiner „Besessenheit" fest, (welche sich noch lange in
allerlei Paralgieen und Parästhesieen in seinem Körper fixirt), arbeitet
sich aber nach und nach zu einer grösseren Klarheit hindurch. Bei un-
günstigem Verlaufe wird aber die Stupidität chronisch mit blinder Nega-
tion gegen jede Annäherung Dritter, so dass oft bei harmlosestem Anlasa
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Acuter manischer Wahnsinn.
eine verzweifelte reflectorische Abwehr erfolgt. Endlich tritt Indifferenz
und zunehmende Passivität ein, so dass der Kranke auf Jahre hinaus wie
ein Kind gepflegt werden muss. Diese Endstadien fallen vielfach mit
denen aus der acuten hallucinatorischen Dementia (s. d.) zusammen.
Dritte Untergruppe.
Der acute manische Wahnsinn. Acute Entstehung, theils aus dem
gesunden Leben heraus (bei erblich sehr Disponirten, nach einem
tiefen Affecte), theils nach einem längern oder kürzern Status ner-
vosus, meist mit nur vager, seltener mit ausgesprochen depressiver
Stimmung (s. u.). Geschwächte Körperconstitution mit Anämie, be-
sonders auf hysterischer (onanistischer) Grundlage disponiren. Frauen
wiegen vor (Menses, Puerperium). Sofort im Krankheitsbeginn zahl-
reiche Hailucinationen mit entsprechender Bewusstseinsverdunkelung;
dann rasch zunehmende Unruhe bis zur Jactation und Verwirrung,
unterbrochen durch lucide Phasen. Keine heitere Verstimmung; Ge-
rn Uthslage im Gegentheil indifferent, im Einzelnen durch plötzliche
Antriebe oder den Inhalt zufälliger Hailucinationen bestimmt, wie
diese flüchtig und wechselnd. Incohärenz der sprachlichen Aeusse-
rungen, Vorherrschen der Assonanzen vor der logischen Association.
Lückenhafte und summarische Erinnerung. Acuter oder subacuter
Verlauf in Genesung; oft rasch, und zwar direct oder nach inter-
currenten körperlichen Affectionen (Furunculosis , Menses); seltener
langsam durch ein Zwischenstadium von einfacher oder complicirter
geistiger Schwäche hindurch. Mit der Reconvalescenz Zunahme der
Körperernährung, Regulirung der vorhanden gewesenen körperlichen
FunctionsstöruDgen (Menses). Ausgleich der vasomotorischen Symptome.
Neigung zu Recidiven, bei gewissen Formen zu unregelmässiger Pe-
riodicität.
Das Prodromalstadium wird nicht selten 1. von einem einfachen
Status nervosus gebildet. Anderemale 2. geht eine kurze manische Er-
regung mit massiger Ideenflucht, hochdeutscher Sprache, grosser Begehr-
lichkeit und Geschäftigkeit voraus. Bei wieder anderen Kranken 3. leitet
eine acute Rathlosigkeit mit hypochondrischer Unruhe die Scene ein:
grosse Mattigkeit, Abgeschlagenheit, „Wuseln" und Zucken in den Augen,
Stechen im Kopfe, innerliches Frösteln, plötzliche Stösse in den Armen,
Furcht, dass das Blut vergiftet, dass fremde Substanzen dem Körper bei-
gemischt seien u. s. w. Jetzt brechen massenhafte Hailucinationen ein
und fahren rasch einen Strudel der Verwirrung herbei.
Der Kranke steht fast plötzlich mitten in einer Traumwelt, verkennt
die Umgebung, äussert nur noch verwirrte Worte oder Angst, dass er
selber oder ein Angehöriger sterben müsse u. s. w. Die Unruhe steigert
sieb, es kommen herrische Rufe oder Scheltreden. Der Kranke ist in
einer Stunde träumerisch heiter, in den andern gereizt, dann wieder
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Der acute Wahnsinn.
schläfrig, befangen oder indolent. Die Mimik und Geberden stellen ein
Kaleidoskop von choreiformen Bewegungen und fragmentaren Acten dar.
Zerfahren und jeden Augenblick neu, sind die motorischen Aeusserungen
wahre Minutenacte, inscenirt durch die beständig abwechselnden Hallu-
cinationen und Gefühle (Staubempfindungen auf der Haut), durch plötz-
liche Antriebe, auch Raptus von blinder Heftigkeit. Dazwischen treten
Episoden eines sinnvolleren Gebahrens: der Kranke ergeht sich in ero-
tischen oder religiösen (Cultus-) Geberden und Stellungen, nimmt auch
Grandezzahaltung an, schlingt und knüpft seine Kleider zu immer neuen
Phantasiecostümen ; aber Alles in überstürzter Hast und Flüchtigkeit, in
momentan aufblitzenden Einfällen. Das Bewusstsein ist benommen; oft
bis zum Perceptionsabscbloss und zur Worttaubheit verdunkelt. Zeitweise
sind die Kranken stupid, wie betrunken; sie rennen an Hindernisse an,
ohne sie zu bemerken; dann aber treten auch wieder — und oft in
jähem Umschlag — lucidere Phasen auf, in welchen der Kranke näher
gelegene Fragen zu percipiren und richtig zu beantworten vermag, die
Umgebung wahrnimmt und auch geordneter sich verhält. Den wechseln-
den Graden der Bewusstheit entsprechend sind die sprachlichen Aeusse-
rungen bald abrupte, monoton ausgerufene Worte, bald sinnlose Assonanzen,
vorübergehend auch Reminiscenzen, Lieder oder selbsterfundene Einfalls-
conceptionen, welche gesungen oder pathetisch declamirt werden; dazwi-
schen aber auch kurze lucide Sätze.
Mit zunehmender Bewusstseinsstörung kann die Qualität der moto-
rischen Bewegungen bis zur Reflexstufe sinken und das Symptomenbiid
dem Typus der Mania gravis sich nähern. Jetzt tritt ein ruheloses Ver-
stellen der Zimmergegenstände ein, ein Aus- und Anziehen der Kleider,
in höhern Graden ein rücksichtsloses Zerstören, Schmieren u. 8. w. Sehr
oft gehen Congestivzustände nach dem Kopfe, Erhöhung der Kopf- und
Körpertemperatur, Enge der Pupillen, manchmal Zittern und einseitige
Deviation der Zunge, Aftergeräusche am Herzen mit einher.
Die Reconvalescenz erfolgt oft 1. auffallend rasch nach 1 — 2 Wochen
(manchmal wirkt auch hier ein Gastricismus kritisch), ist aber durch
grosse Neigung zu Recidiven gefährdet und unterbrochen. Diese Fälle
acuten exaltirten Wahnsinns sind dadurch die hauptsächlichsten Vertreter
der „remittirenden" Manieen. Nicht selten erfolgen mehrfache Recidiven
Schlag auf Schlag. Die Zwischenzeit ist durch ein ruhiges Erschöpfungs-
stadium mit Torpor und Indolenz (peinliche Träume) gekennzeichnet. —
Andremale 2. wird die Genesung erst durch eine längere Uebergangs-
periode von geistiger Schwäche mit kindischem Wesen und grösserer
Reizbarkeit (Moria), oder aber einem Zustand völliger Unorientirtheit und
Rathlosigkeit erreicht. Der befangene Kranke mit dem staunenden Ge-
sichtsausdruck und dem halb schüchternen Wesen gleicht erst noch einem
„vom Himmel Gefallenen'', wie der Volksmund sagt. Bald verlegen, bald
ohne Grund auffahrend, bald sich zurückziehend, bald trotzig die Stirne
bietend, ist er lange Zeit ganz unberechenbar, macht sinnlose Bemer-
kungen, zittert vor Angst, oder macht plötzlich sonderbare SprUnge und
Gesten, ist in einer Minute unterthänig und zudringlich, in der nächsten
drohend und abstossend. Führt die Moria nicht direct in die Genesung,
so kann sich noch eine torpide Depressionsphase mit Versündigungswahn
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Acuter manischer Wahnsinn. — Therapie.
nnd gewaltthätigen Impulsen einschieben, welche, wie jene, nur sehr
langsam in der Reconvalescenz abklingt. — Die Erinnerung ist hier
stets defect, oft nur summarisch; manchmal ist sie ganz gefälscht und
bleibt so bis tief in die Genesung hinein, wo dann erst Correctur statt-
findet. Bis dahin wird die Lücke durch allerhand Reminiscenzen aus der
Traumzeit ausgefüllt, halb wirklich, halb mehr aber erdichtet, oft mit
gänzlicher Verdrehung der damals halbwach gemachten Wahrnehmungen.
In andern Fällen endlich werden aus der Traumzeit lange romanhafte
nnd phantastische Erlebnisse erzählt: riesige Kämpfe mit Schlachten-
donner und grässlichem Blutbad, Reisen in andere Himmelskörper, Ver-
wandlungen u. 8. w. oft mit eigenthümlichen Verwebungen aus der illu-
sorisch aufgefaßten Umgebung (Uebergänge zum hallucinatorischen
Stupor). —
Ausser diesen in der Regel auf wenige Wochen beschränkten Formen
gibt es aber auch länger dauernde, welche auf mehrere Monate
sich erstrecken können. Hysterische Constitution disponirt; die typischen
Symptome sind: acute Entstehung; rasche tiefe BewusstseinsstÖrung mit
wechselnder Lucidität; illusorische Verkennung der Umgebung, gänzliches
Aufgehen in Antriebe und Einfälle (Hallucinationen sind oft spärlich);
grillenhafte, flüchtige Stimmungslagen; perverser Bewegungsdrang (Schmie-
ren, Zerreissen u. s. w.) neben Neigung zu Schabernak und albernem
Komödienspiel; phantastische Aufschneidereien, romantischer Minuten-
Grössenwahn in allen Registern umspringend; grosse Reizbarkeit, ab-
wechselnd mit farblosen Stimmungsphasen. Regelloser abrupter Verlauf
zwischen Aufregungen und Abspannungen in allen Graden der Lucidität
schwankend. Längeres Uebergangsstadium von reizbarer Schwäche, oft
plötzlich aufblitzende Grössen- und Verfolgungsideen. Vasomotorische
Störungen, intercurrente Fluxionen, Anämie. Allmähliche Genesung unter
vielfachen (immer schwächern) Recidiven.
Therapie.
Der acute Wahnsinn richtet sich in seinen therapeutischen Indi-
cationen ganz nach den für die acut manischen, melancholischen,
dementen (acute Erschöpfungs) Zustände gültigen Regeln. Dabei ist
der Thatsache, dass hier sehr häufig körperliche Ausgangspunkte
resp. Begleitaffectionen vorhanden sind, entsprechend Rechnuug zu
tragen; so sind namentlich acute gastrische Zustände, Menstrualstö-
rungen, Uterinleiden, acute Anämieen als wesentliche Indicationen
zu berücksichtigen. In der Regel ist die Versetzung in die Anstalt
nicht zu umgehen; sie ist um so wirksamer, je früher sie erfolgt
In der Anstalt ist die richtige Vertheilung zwischen Isolirung und
Aufenthalt in Gemeinschaft der Andern eine wichtige tägliche Auf-
gabe für den Arzt. Grundlage für die Entscheidung muss die Er-
keontniss bilden, dass man es in allen diesen Zuständen mit er-
schöpften Gehirnen zu thun hat, welche der Ruhe und der sorg-
samsten Abbaltuug aller Reize bedürfen — in erhöhterm Grade noch
SchflU, Geisteskrankheiten. X Aal 13
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im
Der acute Walinsini).
als die einfach manischen Kranken. Bald schadet die fortgesetzte
Isolirung, bald reizt den in illusorischen Verkennungen befangenen
Kranken die noch so harmlose Umgebung: hier muss von Stunde
zu Stunde neu entschieden werden. Sobald es geht, suche man den
Kranken zu einer leichten, nur seine Aufmerksamkeit leitenden Be-
schäftigung zu gewinnen, aber stets mit Maass! Jede leise Ermüdung
kann rächen! Die launenhafte Empfindlichkeit des Kranken erfor-
dert Berücksichtigung in Form eines zielbewussten Nachgebens;
Widerspruch erbittert. Psychische Correcturversuche verschiebe man,
bis das Gehirn des Kranken mit dessen sichtlich gehobener Ernäh-
rung genügend erstarkt ist. Solange im acuten Stadium die Illusionen
fortdauern, sei man mit Berührungen der Aussen weit (Briefe, Be-
suche) höchst vorsichtig. Ist dagegen die Körperernährung wieder
zur Norm hergestellt und der Kranke zu einer genügenden geistigen
Klarheit und Selbstflihrung gefördert, so dass im orientirten Bewusst-
sein nur noch die alten Reste des einstigen Wahnspucks uncorrigirt
fortbestehen, dann versuche man die Entlassung in passende Aussen-
Verhältnisse; in der Regel vollzieht jetzt die Wirklichkeit den letzten
Schritt zur Aufklärung und Genesung. Somatisch ist ausser
etwaigen Special-Indicationen die Hebung der Kräfte Hauptindication
(Diät, Schlaf, Bäder, milde Hydrotherapie). Bei geschwächtem, vor-
zugsweise durch anhaltende Reizbarkeit sich äusserndem Hirnleben,
wirken fortgesetzte kleine oder mittlere Opiumgaben oft vortrefflich
tonisirend. — Prognostisch halte man stets die leichte Möglichkeit
der Recidive und das häufige Auftreten in einer Serie kurzdauernder
Anfälle im Auge. Bei Frauen verdient das Verhalten der Menses
sorgsamste Berücksichtigung.
Der attonische Wahnsinn (die Katatonie) stellt der Behand-
lung im Wesentlichen dieselben Indicationen ; spcciell der stupuröse
Zustand und die katatone Dementia verlangen die sorgsamste robo-
rirende Behandlung wie bei der acuten Dementia. Bilden doch mit
dieser letztern die genannten Phasen die klinischen Haupttypen für
Hirnanämie, wahrscheinlich mit consecutivem Oedem. Daher Bett-
lage, Wein, ev. baldige Sondenfütterung. Alle directen Kopfreize,
wie Douchen oder Ableitungen mit Tart. stib. Salbe, sind im An-
fange sorgfältig zu meiden. Dagegen beachte man die zeitweiligen
vasomotorischen Fluxionen, ev. massige dieselben mit Eisumschlägen.
Im katatonen Blödsinn, welcher sich oft wochen- und monatelang
hinauszieht, sind wiederum kleine oder mittlere Opiumgaben oft von
unschätzbarer tonisirender Wirkung. Daneben sorgsame Ueber-
wachung des Kranken gegen Selbstbeschädigung und individualisi-
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Der attonischo Wahnsinn
— die Katatonie.
195
rende psychische Therapie. Auch hier ist nicht selten langsame
Neuerziehung nöthig. Die Bekämpfung der vasomotorischen Paresen
wird durch faradische Pinselung, lauwarme Bäder, häufige Hand-
bäder, wirksam unterstutzt. Selbstverständlich ist dieser umfassende,
nach den wechselnden Zustandphasen immer wieder zu modificirende
Heilapparat nur in einer Anstalt zu entfalten. Bei secundärem ka-
tatonen Blödsinn vorsichtige, nach Bedarf wiederholte Kopfdouchen.
Der attonische Wahnsinn — die Katatonie.
Literatur. Kahl bäum, Die Katatonie. Monogr. 1874. — Rust, Katatonie.
Inang.-Di88. 1879. — Kiernan, AI. a. Neurol. 18*2. — Derselbe, Detr. Lancet.
tS94. — Jensen, Alle. Encycl. d. Wiss. u. Künste (Ersen u. Gruber) 2. Serie, Bd. 24.
— Hammond, Am. J. of neur. a. psych. 18S3.
Die Katatonie ist eine specielle Erscheinungsform des acuten
hallucinatorischen Wahnsinns und dadurch gekennzeichnet, dass als
wesentliches Krankheitselement eine motorische Spannungsneurose
sich einstellt, bald anhaltend, bald fluchtig intermittirend, während zu-
gleich das Bewusstsein durch Hallucinationen und Illusionen Uberfüllt,
sich vor den Perceptionen von aussen mehr oder minder vollständig
abschliesst. Die motorische Starre kann noch einen physiognomischen
Charakter beibehalten, und als solche einen „plastisch gewordenen"
Wahngedanken darstellen (Fecht-, Prediger-, Kreuzigungs- Attitüde),
oder aber eine rein „organische" sein, ohne geistige Formung (kata-
leptisch oder tetanoid). Der psychische Zustand kann dem entspre-
chend entweder inhaltlich auf der Traumstufe des acuten Wahnsinns
bleiben, oder aber auf die des wirklichen temporären Blödsinns
(Stupors) herabsinken. Aus beiden Phasen ist vollständige geistige
Erholung möglich, in letzterem Falle durch einen eigenartigen
Schwächezustand mit zeitweiligen katatonen Reminiscenzen hindurch.
Der Verlauf ist stets ein cyklischer, von bedeutender Betheiligung
des vasomotorischen Systems begleitet (eine echte Psychoneurose) ; er
geht durch wechselnde Aufregungs-, Depressions-, Starrheitszustände
hindurch, welche in ihrer physiologischen Verknüpfung und Folge
(wie es scheint) an den Verlaufsgang der vasomotorischen Neurose
gebunden sind. Der Ausgang ist Genesung oder bleibende (eigen-
artige) Geistesschwäche. — Klinisch lassen sich die verschiedenen
Typen der Katatonie am einfachsten nach der grundliegenden Wahn-
13*
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Der attonische Wahnsinn — die Katatonie.
sinnsform sondern. Ich unterscheide demnach eine expansive und
eine depressive Katatonie (religiösen oder dämonomanen Inhalts), an
welche sich noch eine dritte Gruppe mit grundliegendem hysteri-
schem Charakter anschliesst.
Die letztere, eine sehr hänßge Verlaufsform des hysterischen Wahn-
sinns, ist in der Regel durch ein manisches Aufregungsstadium eingeleitet.
Körperlicherseits handelt es sich immer um invalide (angeborene oder
erworbene) Constitutionen, meistens mit mehr minder ausgeprägter Anämie;
eine ausserordentlich wichtige Rolle spielt ätiologisch die Onanie. Jüngere
Individuen sind mehr disponirt als ältere; schon die Pubertätszeit liefert
ein ansehnliches Contingent. Das weibliche Geschlecht Uberwiegt in der
Zahl der Erkrankungen.
Erste Untergruppe.
Religiös-expansive Form. Den Anfang der Krankheit bildet ent-
weder direct ein acuter religiöser Wahnsinn, oder es geht erst eine
hypochondrische Phase voraus, mit grossem Klagenreichthum , zeit-
weiliger Aengstlichkeit, Unruhe, Selbstvorwürfen. Der Kranke wird
in der Folge stiller, wortkarg, zieht sich zurück, widmet sich Tage
und Nächte lang der Kastei ung und endloser Gebetübung. In mono-
toner Wiederholung werden dieselben Bibelworte oder Verse aus-
gesprochen, bald in abweisendem, strafendem Tone gegen die Um-
gebung, bald prophetisch predigend; bei Einsprache erfolgt sofort
die pathetische Berufung auf die höhere Mission, welche dem Kranken
verliehen ist. Schon jetzt zeigt manchmal der mimische Aasdruck
eine auffallende Härte und zeitweilige Starrheit der Züge — der
vorausgeworfene Schatten des spätem Acme-Zustandes. Oft liegt
der Kranke auf Stunden unbeweglich, ohne zu reden oder zu essen,
im Bette; beim Erwachen beginnen Verwünschungen gegen die sünd-
hafte Umgebung, oder monotone Recitationen frommer Sprüche.
Dazwischen stellen sich zeitweilige Congestivzustände zum Kopfe
ein (abwechselnd mit Blässe des Aussehens, kleinerem ungleichen
Pulse) ; dabei starke Schweisse und zunehmende gastrische Symptome.
Der psychische Zustand bewegt sich immer mehr in jähen Sprüngen
zwischen exaltirter Heiterkeit mit verworrenem Declamiren und
Singen, und andrerseits einer angstvollen Unruhe. Oft folgen sich,
in flüchtigem Wechsel, Anfälle von Starrheit, Angst und Exaltation.
Vorübergehend innervirt der religiöse Wahngedanke den gesammten
mimischen Ausdruck : der Kranke liegt stundenlang mit ausgebreiteten
Armen da und bedeutet nachher, dass er die Kreuzigung habe be-
stehen müssen, und Christus jetzt gleich sei. Episoden von gestei-
gertem und herabgedrücktem Selbstgefühle wechseln, und damit die
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Klinisches Krankheitsbild. Religiös-expansive Form.
197
conträrsten Geberden und Acte: Hüpfen, Springen, stundenlanges
Hinknieen, absolute Schweigsamkeit, rasches Auffahren mit impro-
visirtem Predigen. Kein Zuspruch vermag mehr Eingang zu finden.
Der Kranke geht immer mehr in einem wahnhaften Innenleben, in
dessen Bann nun auch Sinnestäuschungen aller Art einrücken, unter.
Er steht plötzlich in kataleptischem Zustande da, oder bleibt in
irgend einer Attitüde (nach einem himmlischen Lichtbild greifend)
im Bette liegen; jede Berührung vermehrt die Steifigkeit der moto-
rischen Haltung. Bei der Untersuchung zeigen sich die Muskeln des
Stammes und die mimischen, wie aus Holz geschnittenen, Züge nicht
in ihrem einfachen Tonus, sondern in mehr oder minder hochgradiger
Spannung, wobei an den Extremitäten bald die Extensoren, bald die
Flexoren überwiegen. Oft wechselt die Starre an beiden Muskel-
groppen im Verlaufe von Stunden ab ; der Kranke ist bald steif und
ausgestreckt wie eine Statue, bald in den Ellbogen flectirt, so zwar,
dass der Widerstand schwer zu überwinden ist, und bei passiven
Bewegungen sich fühlbar erhöht Die Kiefer sind durch Trismus
geschlossen, die Lider so fest auf einander gepresst, dass sie oft
ödematös werden. Andere Male, und oft wiederum nur im Umfluss
von Stunden, ja selbst ganz unerwartet rasch, kann die bis dahin
hölzerne, gespannte Muskulatur wieder schlaff sein: das Gesicht be-
kommt einen maskenartigen leeren Ausdruck, die Arme und Hände
bangen herab, und sinken, wenn erhoben, nach dem Gesetz der
Schwere nieder. Dazwischen kehren aber die plastischen Attitüden
immer wieder, so dass der Kranke plötzlich wie ein lebendes Bild in der
oder jener geschraubten Pose fixirt erscheint — in Wirklichkeit dem
Bann eines neuen oder stereotypen Wahngedankens folgend, welcher
hemmungslos in die Muskulatur sieb „einbildet". Manchmal entbehrt
übrigens die Zwangshaltung auch eines mimischen Gepräges. Die
Pupillen sind in der Regel erweitert.
Die Sensibilität ist in den höchsten Graden des Status attonitus er-
loschen, d. h. es treten äusserlich keine Reflexe hervor; subjectiv ist die-
selbe aber oft noch vorhanden (s. u.) und nur durch negative Willens-
erregungen im Dienste des Wahnes gehemmt. Anderemale fehlt bei
schwächern Eingriffen die Reaction, tritt aber bei stärkeren in irgend
einem benachbarten Nervengebiet (z. B. Thränensecretion bei Nadelstichen
um die Lippen» hervor, nicht selten auch in einer motorischen (oft ziel-
losen) Explosion. Bemerkenswerth ist, dass sehr oft der Kranke eine
exaete Erinnerung an diese sensibeln Prüfungen, gegen welche er ganz
indolent erschien , bewahrt. Auf Kitzeln wird in der Regel prompter
reagirt. Die circulatorischen Verhältnisse erfahren in der Attonität aus-
nahmslos eine wesentliche Aenderung. Nach anfänglichen Fluxionen zum
Kopfe prägt sich zunehmend eine Vasoparese aus, mit Kleinwerden des
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Der attoniscbe Wahnsinn — die Katatonie.
Pulses, peripherer Cyanose, und Neigung au localen Oedemen (manchma
Conjunctival-Ocdem). Auch in dem vasoparetischen Stadium tauscht sich
der kleine Puls mit zeitweise vollem, gespanntem. Die Ernährung sinkt
regelmässig. Allermeist ist jetzt künstliche Nahrungszufuhr nothwendig.
Auf der Hübe der vollentwickelten Krankheit bleibt das Bewußt-
sein oft durch Wochen hindurch annähernd oder ganz auf der Traum-
stufe mit entsprechendem Abschluss der Aussen -Perception. Um so
reicher entfaltet sich ein hallucinatorisches Innenleben (Stimmen von
Gott, Gesichte) ; doch können auch einzelne dämmerhafte, meist illu-
sorisch umdeutete Wahrnehmungen sich einmischen. Zeitweilig sogar
überrascht plötzlich eine ganz richtige Perception mit planvoll be-
messener Entäusserung. Alle Phasen der Bewusstheit spielen in ein-
ander, wenn auch die traumartig gebundene die maassgebende bleibt.
So kann der Kranke bald apathisch daliegen , bald umspielt ihn ein
Lächeln, oder er macht irgend eine unerwartete Geberde: das Auge be-
lebt sich, der Mund öffnet sich zu einem religiösen Spruch; plötzlich
tritt ein verblüffender Ausruf hervor. In gleicher Weise bleiben sensible
ftusserliche Reize, oder auch eindringliche Fragen, oft lange unbeantwortet;
plötzlich ftber, zu einer andern Stunde, kann ein zufallig gesprochenes
Wort in dem scheinbar ganz benommenen Kranken einen Starm heftig-
ster Erregtheit, ja selbst schlagender Ironie, hervorrufen.
Der Kranke muss in diesem motorischen Spannungszustande
allermeist im Bett gehalten werden, wo er halb sitzt, oder in allerlei
verzwickten Stellungen, oft mit peinlich verschränkten rechtwinklig
gebeugten Beinen verharrt. Hebt man ihn aus dem Bette, so bleibt
die ganze Körpermasse in der eingehaltenen Starre; der Kranke
hilft selbst nicht mit; die motorische Spannung verstärkt sich beim
Anfassen oder dem Versuch einer passiven Bewegung. Dabei an-
haltender Mutacismus. Dagegen löst sich auch jetzt die Starre
immer wieder episodisch von selbst, und kehrt auch spontan wieder.
Interessant ist, dass aufgenöthigte Attitüden (z. B. das Falten der
Hände zum Gebet) dem (wie bypnotisirten) Kranken sofort die zuge-
hörige Stimmung beibringen: der bis dahin Schweigende recitirt jetzt
plötzlich einen Bibelspruch u. 8. w. Doch gelingt das Experiment nicht
immer, was wohl mit der wechselnden Bewusstheit zusammenhängt.
Letztere verbleibt in ihren Oscillationen auf den verschiedensten
Helligkeitsstufen; sie kann oft künstlich durch Einwirkung von
aussen zu höherer Intensität belebt werden. So lässt sich der
regungslos daliegende Kranke erst leicht zur Hälfte Uber den Bett-
rand schieben; jetzt aber, halb im Freien schwebend, beginnt er
sofort mit sichtlich activem Aufgebot von Muskelkraft zu äquilibriren ;
versagt letztere nach und nach, so fällt die starre Körpersäule nicht
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Klinisches Krankheitsbild. Religiös-expansive Form. 199
herab, sondern läget sieh vorsichtig herabgleiten, oder der Kranke
schiebt sich jetzt langsam nnd wohl bemessen wieder in die sichere
Gleichgewichtslage im Bette zurück. — Sehr bemerkenswert!] sind
die plötzlichen Gewaltacte, welche die Starre durchbrechen können.
Oft nur als zerstörende Raptus oder Zerreissen von Bettzeug, explo-
diren sie andere Male in Form gefährlicher Angriffe auf -die Um-
gebung, oder auch als rücksichtslose Selbstverstümmelungen (nament-
lich Attentate gegen die Genitalien).
In der Regel ist anhaltender oder intermittirender Speichelfluss vor-
handen. Die Körpertemperatur hält sich vorzugsweise Morgens erheblich
anter der Norm (36 — 37 in ano). Das Körpergewicht sinkt zunehmend,
oft sehr bedeutend. Der Urin zeigt reichliche Sedimente. Der Stuhl ist
verstopft; die Menses cessiren.
Auf dieser Höhe bleibt die Krankheit Wochen und selbst Monate
lang. Löst sie sich, so geschieht dies erst nach voraufgegangener
Besserung in der Körperernährung. Dann stellen sich erst seltenere,
allmählich immer häufigere Zeichen von wiederkehrender psychischer
Belebtheit ein. Der Blick, die Miene wird natürlicher, ausdrucks-
voller. Die geistige Negation nimmt ab; der Kranke beginnt zu
essen, lässt sich zur Reinlichkeit anhalten. Meistens steigert sich
die einmal eingeleitete Belebung erst zu einer ungeordneten psycho-
motorischen Erregung mit choreatischem Charakter. Die Fessel vom
Sprachgebiet löst sich, geht aber auch erst durch ein vociferirendes
Uebergangsstadium hindurch, gebildet aus Alliterationen und Asso-
nanzen, und untermischt mit Lach - Paroxysmen oder krampfartig
vorgestossenem Aufschreien. Nach und nach klären sich fragmen-
tare Sätze mit Grössenwahnsphrasen (Füret, höherer Geist, Refor-
mator) ab. Charakteristisch ist der pathetisch declamatorische Ton,
mit welchem diese noch unzusammenhängenden, meist sinnlosen und
nicht selten monoton wiederholten Sätze und Worte recitirt werden.
Es ist nicht die heitere Lust des Maniacus, nicht die chicanirende
Bosheit des periodisch Tobsüchtigen, mit welcher diese Sprachergtisse
erfolgen, sondern ein hohles declamirendes Pathos, nicht selten mit
allerlei theatralischen Attitüden begleitet. Mimik und Physiognomik
bewahren immer noch die Neigung zu plastischen Einbildungen; aber
die Neurose spielt bereits eine Stufe höher — mehr im Psychischen,
im Vergleich zur krampfhaft tetanischen Spannung auf der Krank-
heitshöhe. Es ist übrigens interessant, dass einzelne Nachklänge
der Spannungs-Neurose nicht selten bleiben und sich in die Recon-
valescenz hinein ziehen, so z. B. flectirte Haltung eines oder des
andern Fingers bei sonst wiedererlangter Dexterität der Hände im
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Der attonische Wahnsinn — die Katatonie.
Allgemeinen. Bei weiblichen Patienten schliesst sich die Reeon-
valescenz gern in etappen weisen Vorschüben an die Menstruations-
terniine an.
Der Verlauf in die Genesung ist stets ein allmählicher, durch
häufige, stunden- oder tagelange, katatonische Nachzügler unter-
brochen. Oft schieben in der Folge sich noch Episoden von Auf-
regung mit Verbigeriren , pathetischem Declamiren u. s. w. ein. So
wird schrittweise, unter häufigen, aber stets ktlrzern und psychisch
freiem Rückfällen die endliche volle Genesung erkämpft.
Aber der Verlauf ist nicht immer so günstig. Häufig führt er direct
oder nach wiederholten (manchmal durch Jahre getrennten) Recidiven
nach und nach in unheilbaren chronischen Wahnsinn mit zunehmender
Verblödung. Auch in diesem Secundärzustand erhalten sich in der Regel
noch partielle Krampfzustände in einzelnen Muskelgebieten. In schwerem
Fällen bleiben die Kranken sogar als einseitig oder doppelseitig contracte
und vertracte Körperfiguren übrig, welche mit zugeklemmten Augen, oft
krampfhaft grimassirt, dabei mit beständigem Speichelfluss jahrelang bis
ins Kleinste gepflegt werden müssen, äusserlicb, als indolente Schweiger,
wie Idioten, erscheinen, aber dennoch innerlich zweifelsohne über ein
mannigfach erhaltenes Geistesleben noch verfügen — bis endlich eine
Lungenphthise (die häufigste Todesursache) das bedauernswerthe Dasein
ab8chliesst. (Weitere Verlaufs-Modificationen s. bei den folgenden Unter-
gruppen).
Zweite Untergruppe.
Depressive (dämonomane) Form. Ist das einleitende Stadium ein
hallucinatorischer Verfolgungswahn, so ist die dämonomanische Fär-
bung auf depressiver Stimmungsgrundlage mit heftigen, meist im-
pulsiven, Angstzufällen das häufigste klinische Bild. Die Kranken
(es sind meist Uterinkranke Frauen, oder durch sexuellen Abusus
geschwächte, anämische junge Individuen) sehen Alles verändert
(„schwarz"; was „links" ist, „rechts"); sie werden unruhig, schlaflos,
weinen viel, klagen oft Uber Frösteln, abwechselnd mit Congestionen,
weiden sehr schreckhaft, verzagt, sensuell hyperästhetisch, äussern
hypochondrische oder melancholische Klagen (über Sündenschuld,
Verlorensein), welche nicht selten ohne tiefern Aflfect und mit er-
müdender Umständlichkeit vorgebracht werden (s. masturb. Melanch.
und cerebrospin. Wahnsinn). Zunehmende Schwere im Kopfe führt
zu einem Dämmerzustande, in welchem die Kranken immer abge-
schlossener gegen die Umgebung, endlich ganz vor sich hinstaunend
werden, höchstens fragmentare Aeusserungen („Teufels"wabn) vor
sich hin lispeln. Jetzt treten lebhafte Sinnestäuschungen auf (Vi-
sionen von Hexen , Thieren u. s. w.) ; zugleich versinkt der Kranke
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Klinisches Krankheitsbild. Daniornjmaiie Form.
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mit offenen Augen in ein faselndes, ganz abruptes Einfallsdelirium,
in welchem er halb träumerisch allerlei ungeheuerlichen Unsinn re-
citirt (dass er Hunderte von Jahren alt sei, dass er eine Schlange
gewesen, dass er als ein Hund geboren worden, dass er Judas sei,
dass sein Körper mit federnden Maschinen, mit Elektricität gefüllt
sei u. s. w.). Oft brechen heftige Raptus von Zerstörungsdrang, von
plötzlichen monotonen Aufschreien, oder auch von impulsiven An-
griffen gegen sich oder gegen die Umgebung durch.
Andere werfen sich, im Schweisse gebadet, im Bette herum, speien
und beissen, treten um sich, brüllen in unarticulirten Tönen, heulen ab-
gerissene Worte religiösen oder drohenden Inhalts hinaus, verweigern
Speise und Trank und sinken oft plötzlich in bedrohliche Callaps-Zustände.
Der Puls ist frequent, die Temperatur kann bis gegen 39° steigen.
Nach und nach werden die Gesichtszüge gespannter, hölzerner,
regungsloser. Die conträre Negation der Kranken gegen Ansprachen
oder Zumuthuugen von aussen wächst. Unter zunehmender Träg-
heit des Pulses und Ungleichheit der Blutvertheilung (Fluxionen zum
" Kopfe mit vollem Carotidenschlag neben Kälte der Extremitäten und
fadenförmiger Radialis) rückt die psychomotorische Starre heran,
und beschlägt auf Stunden und Tage, bald allgemein, bald localer
beschränkt, das Muskelgebiet. Damit wechseln wiederum allerlei
plastisch fixirte Attitüden ab (Stellungen eines Fechters, eines knieen-
den Beters, eines declamirenden Schauspielers). Andere stemmen
die Füsse stundenlang senkrecht in die Höbe, tasten damit die Wand
ab, während die Finger an die Genitalien gekrallt oder in den After
geschoben und die Züge in erschreckender Verzerrung gehalten
werden. Versucht man die Spannung passiv zu corrigiren, so wächst
die Starre; manchmal bricht auch der Raptus einer explosiven
Abwehrgeberde durch — aber Alles unbemessen, ziel- und planlos.
Unter Nahrungsverweigerung, vasomotorischer Parese, Ptyalisnius,
vollendet sich das Höhestadium des katatonen Stupors. Der Blick
wird glotzend, durch die obern Lider verdeckt, die Stirn in Falten
gezogen, die Haltung schlaff, vorn Uberhängend, die obern Extremi-
täten sinken herab, der Gang des Kranken wird schiebend, alle Be-
wegungen träge, energielos und plump, der Gesichtsausdruck roh,
leer und befangen. Ab und zu treten barocke Verschlingungen der
Arme und Beine auf, welche sich sofort tixiren: die Kranken balan-
ciren, wie Kautschukfiguren, oft durch Stunden hindurch. Zu einer
Ortsveränderung passiv veranlasst, hüpfen sie in ihren verschränkten
Attitüden automatisch weiter; oder wälzen sich hin und her, wenn
sie zur Erde fallen ; oder verstricken sich in einem möglichen und
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Der attonische Wahnsinn — die Katatonie.
unmöglichen Geberdenspiel („Geberden Verrücktheit" möchte man es
nennen), bis sie plötzlich wie festgewurzelt liegen bleiben. Dabei
ist bemerkenswerth , dass sich alle diese Verkehrtheiten nicht etwa
mit einer ungestümen Unruhe, sondern meist in ruhiger Gemächlich-
keit, mit einer ungeheuren Stimmungsapathie, abwickeln. Andere Male
wechseln automatisch wiegende und schüttelnde Bewegungen, in
stundenlanger Monotonie ausgeführt, damit ab. Dann kauern die
Kranken auch wieder wie leblos auf dem Boden und sind, wenn
erhoben, nicht im Stande, sich auf den Beinen zu erhalten. Bekommt
man sonst den Eindruck, als ob jede Willensintention sofort den
vorhandenen Muskelkrampf verstärke, oder eine conträre Spannung
auslöse (so namentlich beim Versuch passiver Bewegungen), so schei-
nen jetzt alle psychomotorischen Bewegungsbilder vorübergehend
vergessen zu sein.
Interessant sind wiederum die Schwankungen in der Helle des
Bewusstseins. Bald ist vollständiger Perceptionsabschluss vorhanden,
bald ein Dämmerzustand mit dämonomaner Verkennung der Um-
gebung; bald endlich ein leidlich lucider Zustand, so dass auf ein-
fache Fragen kurze Antworten eintreten. Alle diese Phasen wechseln
imberechenbar, wie in einem Kaleidoskop, manchmal von Stunde
zu Stunde.
Auf dem Boden des so geschwächten Bewusstseins schiessen oft die
verschiedenartigsten Hemmungen und Erregungen auf, welche nirgends
einen einheitlichen Schlusspunkt finden und eine, mit der Minute oft
wechselnde, psychische Situation schaffen. Bald sind es unmittelbare
Sinneseindrücke , welche durch falsche Apperceptionen den Anlass zu
irrigen Vorstellungen und falschen Verknüpfungen geben; bald Täuschun-
gen eines oder aller Sinne, welche das spärliche Bewusstsein absorbiren;
bald und vorzüglich sind es Störungen des Gemeiugefühls, in welchen
der Kranke aufgeht; bald sind einzelne abgerissene Erinnerungen, um-
gestaltet durch die Bewusstseinslage, die treibenden Motoren; bald be-
herrschen unklare Gefühle, plötzlich aufsteigende Dränge, sinnlose Stre-
bungen die ganze Persönlichkeit. Als Spielbali aller dieser meist com-
binirten psychischen Hebel steht der Kranke nur selten in bewussten
Kreisen; er repräsentirt vielmehr einen instinktmässigen Reflexautomaten.
Je nachdem man den einen Hebel anzieht, finden die mannigfachsten
psychischen Wechsel statt, welche aber nicht immer rasch abklingen,
sondern oft Tage und Wochen dauernde Situationen schaffen. Der Kranke
imponirt als ein Blödsinniger eigenthümlicher Art; er spricht oft wochen-
lang kein Wort, lässt Alles willenlos mit sich geschehen, obwohl er das
Nöthigstc an sich manchmal noch freiwillig besorgt, verharrt dazwischen
anhaltend in seinen sonderbaren katatonen Stellungen. Nur ab und zu
spannen ihn intercurrente Hallucinationen zu lebhafterer Reaction au.
Gewöhnlich leiten sich damit die lucidern Bewusstseinsepisoden ein. Die
motorische Reaction kann verschiedene Grade durchlaufen: von den ein-
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Klinisches Krankheitsbild. Dämonomane Forin.
203
fachsten psychischen Reflexbewegungen (wie sie oben schon beschrieben
wnrden) bis hinauf zum geläufigen Schelten, zur stürmischen Gewaltthat
und zur überlegten Rachsucht. Das Streben, bei abnehmendem halluci-
natorischem Drang sich von der schmerzlichen Spannung zu entlasten,
kann blinde, fast thierische Wuthausbrüche vorübergehend entfesseln.
Manchmal erfährt man aus den abrupten Aeusserungen des betäubten
Kranken, dass während dieser Periode zwei Vorstellungen ihn leiten: die
eine, dass man ihn umbringen wolle, die andere, dass er dem bösen
Geiste verfallen sei. Diesem feindlichen Princip stellt sich bald himm-
lische (hallucinatorische) Hülfe entgegen, verderbende und erlösende Offen-
barungen bestürmen ihn, nicht selten mit noch andern, irdischen, Sinnes-
täuschungen (Giftfurcht, Fluchtangebote u. s. w.).
Anderemale combiniren sich die wechselnden Bewusstseinsphasen in
Form von längern Perioden. Die katatone Episode wechselt mit Auf-
regungszuständen , in die Mitte zwischen beiden Zuständen schiebt sich
eine Phase von grösserer oder geringerer Besonnenheit. Die Erregungs-
paroxysmen beginnen dabei gewöhnlich damit, dass mitten aus der Atto-
nität heraus ein zweckloses Muskelspiel mit Fratzenschneiden, Augenrollen,
einförmigen Bewegungen einzelner Glieder (Stampfen mit den Füssen,
Anschlagen einzelner Körpertheile an die Wand) mit fast convulsivischem
Rhythmus anhebt, woran sich dann die freiem Bewegungen allgemeiner
Aufregung anschliessen in Form triebartiger Acte, planloser motorischer
Entfesselung. Zwischenherein, und oft Uberraschend plötzlich, kann der
Kranke wieder der Umgebung sich nähern, verhältnissmässig besonnen
sich äussern und Wunsch nach Heilung aussprechen.
So verbleibt der Zustand oft durch Tage und Wochen, während
die Ernährung des Körpers immer tiefer herabgeht, und die Zeichen
der vasomotorischen Parese, nur durch Kopffluxionen unterbrochen,
andauern.
Beim Fortschritt in die Reconvalescenz, welche alsbald oder schon
früher durch Hebung des Körpergewichts sich anzeigt, tritt zunächst
die motorische Spannung zurück. Häufig (wie wenn diese erst durch
Umschlag in eine zu hoch bemessene Erregtheit ihre Lösung zu
finden vermöchte) geht der Zustand erst wiederum durch eine cho-
reatische Unruhe hindurch, in welcher die Kranken Tage lang sich
herumwälzen, sich zur Erde und von den Bänken stürzen lassen,
Purzelbäume schlagen, ohne irgend eine Beschädigung zu empfinden,
reiben, schmieren, Alles zu sich stecken. Die Rede besteht in einer
chaotischen Aneinanderreihung von Worten, oft mit Fremdwörtern,
oft mit Diminutiven vermischt Koch immer müssen die Kranken
jetzt getragen, gewaschen, gefüttert werden. Manchmal folgt nun
nochmals eine dämonomelancholische Phase, aber bereits logischer in
ihrem Inhalt, und mit höchstens episodischer motorischer Spannung.
— In andern Fällen fehlt dieser manische Uebergangszustand , und
der Attonitätsstatus löst sich durch ein Stadium von mürrisch -feind-
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Der attonische Wahnsinn —
die Katatonie.
seliger Negation mit brüsker Abwehr gegen jede Ansprache, Neigung
zu zerstören, sich zu zerkratzen, die Kleider zu zerreisseu. Die
eigentliche Genesung tritt immer nur langsam ein, indem die Kran-
ken Schritt um Schritt wieder zur Wirklichkeit müssen zurückerzogen
werden. Oft gehen verstärkte und häufigere Herzbewegungen, an-
haltende starke Schweisse mit einher, auch Wallungen zum Kopfe.
In noch andern Fällen wechseln acute Phasen von Verfolgungswahn
(Gedankensperre, Gedankenablesen, totaler Willenszwang durch die „prü-
fenden*' feindlichen Mächte; dabei intercurrente imperative Haliucina-
tionen) mit Anfällen von katatonem vasomotorischem Stupor und reactiv
hallucinatorischer Manie in cyklischer Wiederholung ab. Die Krankheit
kommt oft auf Monate und Jahre hinaus zum Schweigen, und im Intervall
klingt höchstens noch ein matter Verfolgungswahn hindurch, welcher
aber den anscheinend genesenen Kranken nicht hindert wieder in seinen
Beruf temporär zurückzukehren. Diese Form, nicht selten mit periodi-
schen Trinkexcessen im Zusammenhang, führt in ihrem auf Jahre hinaus
protrahirten Gesammtverlauf nicht zur vollen Genesung, sondern durch
polymorphe Recidiven in chronisch hallucinatorische Verwirrtheit, oft mit
intens urrenten katatonen Phasen und wiederum monatelanger manischer
Aufregung. —
Eine interessante Modification bilden einzelne dämonomane Ka-
tatonieen auf spinal -sensibler Grundlage, indem die motorische Span-
nungsneurose sich genau in eine zeitliche Nachfolge (vielleicht auch
physiologische Abhängigkeit) zu bestimmten Neuralgieen setzt,
deren motorische Reflexe sie darzustellen scheint.
Die Starre beschlägt hier ein Muskelgebiet nach dem andern, oft
sprungweise, und stets im Anschluss an zuvor lebhaft gewesene Neural-
gieen. Diese Anfangs partiellen Tetanieen werden immer verbreiteter,
vertheilen sich aber ungleich auf die beiden Körperhälften, so dass die
Gesichtszüge, die Extremitäten einseitig verzogen, ein Arm steif, der an-
dere gebogen und angepresst, eine Thoraxseite abgeflacht (in Folge der
einseitig gespannten Muskulatur) erscheinen kann. Diese Zustände kön-
nen im Verlaufe der katatonen Phase wechseln, indem die partielle Te-
tanie wandert, hier nachlässt, dort neu auftritt Gleichzeitig sinkt die
Ernährung und treten die oben besprochenen trophischen und vasomoto-
rischen Störungen auf. Bemerkenswerth ist die Ein- resp. Mitwirkung
dieser motorischen Zustände auf das mit Eintritt der Starre modificirte
krankhafte Bewusstsein. Während dieses im Anfang der Krankheit den
gewöhnlichen Inhalt eines (neuralgischen) Verfolgungswahnes geboten
hatte, sinkt es mit Eintritt der motorischen Neurose nicht einfach nur auf
die Traumstufe, sondern es erhalten sich Wechselwirkungen zwischen der
Starre und dem verdunkelten Bewusstsein in Form der gefühlten moto-
rischen Hemmungen. Diese werden im Sinne des Wahnes allegorisirt,
der Kranke fühlt (nach späterem Geständniss), dass er steif und regungs-
los wird, und empfindet diese peinliche Beschränkung als einen Eingriff
des „bösen Geistes", welcher ihn förmlich jetzt in Beschlag genommen
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Klinisches Kranklieitsbild. „Spinal-sensible" Unterform. 205
and verzaubert habe, die Sprache ihm „einstelle", seine Arme verdrehe
und verziehe. Das Gefühl des Ueberwältigtseius stellt die inneren Wil-
lensregungen des Kranken immer ausschliesslicher in den Dienst der mo-
torischen Starre, und hilft diese verstärken. Der Kranke, im Gefühl seiner
Ohnmacht, hört Befehle, dass er unregsam liegen bleiben müsse, dass die
Welt untergehe u. s. w. Die katatone Phase dauert auch hier oft Wo-
chen und Monate; säe kann sich successive wieder vollständig lösen,
in Genesung Ubergehen und eine detaillirte Erinnerung zurücklassen. Es
können aber auch die motorischen Spannungen sich theilweise erhalten
resp. zeitweise wiederkehren, und durch ihre centripetalen Erregungen
immer verhängnissvoller in die Ausgestaltung und Fixirung des dämono-
manen Bewusstseinsinhalts eingreifen. Dies geschieht durch den mit der
fortschreitenden geistigen Hirnerkrankung immer prompteren Zwang der
Allegorisirung (die Umgebung „macht" dem Kranken die motorischen
Ie8chränkungen, die Verzerrungen des Gesichts und der Glieder); daran
schliessen sich Reflexhallucinationen mit Zorn-Raptus (feindliche Personen
setzen sich Nachts auf das Bett des Kranken, verkrümmen ihm die Glie-
der, hemmen ihm die Sprache, schrauben ihm den Kopf zusammen u. s. w.).
In raschem Fortschritt neigt sich die Krankheit durch diese tobsüchtigen
Erregungszustände mit immer gebieterischeren Hallucinationen und blitz-
schnellen Zornaffecten hindurch in die tieferen Grade der psychischen
Schwäche. Der Kranke macht dabei nicht den Eindruck eines Blödsinns
durch Mangel der intellectuellen Energie, als vielmehr den der Ueber-
wältigung in Folge des immer umfänglicheren Ausfalls der cerebralen Hem-
mungen. Es ist in gewissem Sinne das natürliche Experiment infracorticaler
Hyperästhesie mit Ausschaltung der hemmenden Hemisphärenthätigkeit.
Alle Sinneseindrücke werden gesteigert und als lästig (feindlich zugefügt)
empfunden, und erregen sofort die ungehemmten Affecte des Begehrens, des
Schmerzes, der Wuth. Dabei ziehen sich die aus den früheren Krank-
heitsstadien erworbenen Neigungen und Antipathieen, die dämonoroanen
Illusionen, oft untermischt mit erotischen Perceptionen, hindurch. Die
raschen und ungehemmten , bei der sensuellen Hyperästhesie oft bis zum
Furor gesteigerten Affecte bringen psychisch eine immer tiefere Verworren-
heit, motorisch eine Convulsibilität der Glieder, abwechselnd mit tonischen
Spannungen der letzteren zu Stande, welche auf Jahre hinaus chronisch
wird, und eine bemerkenswerthe Unterart von agitirtem Blödsinn ausmacht.
Die Zwangsbewegungen des gereizten enthirnten Frosches bilden, wie
oben schon angedeutet, das Schema zum klinischen Verständniss.
Hier ist noch eine weitere klinische Modification dieses kata-
tonenBlödsinns auf cerebrospinal-neuralgischer Grundlage einzu-
schalten.
Solche Kranke bieten oft auf Monate (und selbst über ein Jahr hin-
aus) das Bild stupider Unruhe mit Unordnung der Bewegungen, welche
theils als typisch choreatische, theils als klonisch krampfhafte, theils als
gewollte imponiren — aber weder das Eine, noch Andere, oder höch-
stens vorübergehend sind — vielmehr im Wesentlichen Reflexacte auf
die zahllosen abnormen Sensationen darstellen. Sie vollziehen sich im-
perativ, mit der Autonomie und dem Zwange des irren Willens; nicht
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2on
Der attonische Wahnsinn — die Katatonie.
einfach nur automatisch (wie die oben besprochene convuLsive Geberden-
„Verrücktheit", welcher sie äusserlich vielfach gleichen). Die Augenlider
werden fest zusammengeklemmt, wo möglich noch mit Armen und Hän-
den bedeckt; der Kopf auf eine Seite und abwärts verzogen, der Ober-
körper in derselben Richtung gehalten, die Beine in den Knieen leicht
gebogen, die Füsse nach einwärts gerichtet — so laufen die Kranken
mit schweren schleichenden Schritten bis zu einem Widerstande, Uber
den sie, wenn möglich, hinweggehen, oder aber, zurückgeworfen, die
frühere Bahn wieder einschlagen. Dabei schneiden sie Grimassen, schlen-
dern den Kopf nach allen Richtungen, hüpfen wie Frösche, lassen sich
auf den Boden fallen, kauern mit zugewendetem Gesiebte hart an die
Wände oder liegen auch in irgend einer erzwungenen Stellung oder Hal-
tung unregsam da, bis sich irgend eine unliebsame Person nähert, wo-
rauf sie in die frühere Unruhe gerathen, oft heftig auffahrend (gegen
fictive Vorwürfe : „ich bin kein Menschenfresser"), oder thierische Brumm-
laute ausstos8en. Beim Essen machen sie erst allerlei Bücklinge und
Segnungen, fassen den Teller, heben ihn rasch in die Höhe, drehen ihn
im Kreise und lassen ihn plötzlich sammt dem Inhalte herabfallen, wo-
rauf sie, nach mehrfacher Wiederholung des Schauspiels, hastig einige
Löffel zum Munde führen und, ohne zu kauen, hinabschlingen, oder über
den Tisch weg wieder herausspeien. Damit wechseln auch wieder luci-
dere Phasen, wo sie gesprächig, freundlich, selbst zur Arbeit verwend-
bar werden, in ihren Bewegungen sich edler geben , ihr Aensseres in
Ordnung haben, freilich stets einen frivol-läppischen Zug beibehalten.
Die Bestrebungen behalten in der Regel eine sehr niedere Richtung (na-
mentlich ungeheuere Essgier). In der Unruhe werden stotternd und be-
bend nur abgerissene Sätze, oft monoton wiederholt, ausgestossen , wäh-
rend in den lucideren Phasen die Antworten gut, selbst witzig sind.
Wenn es nun einmal gelingt in den Kranken tiefer einzudringen resp.
ihn unter allerhand zögernden Andeutungen und öfteren Widerrufen zu
veranlassen aus sich herauszutreten, so entdeckt man einen ausserordent-
lich ausgedehnten Wahn, in welchem der Kranke steht und unter
dessen Directive er das ganze barocke Gebahren unternehmen muss. Da
enthüllen sich Täuschungen aller Sinne bald angenehmer, bald un-
angenehmer Natur. Der Kranke selbst ist durch irgend ein Ereigniss
seines Vorlebens befähigt „Uebernatürliches" zu sehen. Er erklärt jetzt,
dass er die Augen schliesse, weil ihm das Licht „Scheine" macht. Diese
„Scheine" sieht er bei Tag und Nacht, er sieht sie „Uberall" (nur nicht
im Schlafe), sie ziehen ihn „mit magischer Stärke" in die finsteren Win-
kel. „Er soll aber die Scheine sehen" befiehlt ihm eine Stimme von
oben. Die „Scheine" bedrücken ihn bald auf dem Herzen, bald erleich-
tern sie ihn. Dieselben repräsentiren „Gestalten und Erscheinungen guter
und böser Natur". Die letztern sind „der Teufel", welcher in ihm wohne,
und bald den, bald jenen Körpertheil als Quartier aussuche. Dadurch
entstünden seine Körperhaltungen, weil jener ihn frech bald auf diese,
bald auf jene Seite dränge, „wie wenn ihm Kugeln angehängt wären";
der Teufel „schmeisse" ihn förmlich (daher die hüpfenden Bewegungen).
Auch in die Knochen fahre er ihm, so dass der Kranke ganz steif da-
liegen müsse. Im Innern des Kranken tobt der Kampf gegen den Bö-
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Klinisches Krankheitsbild. Hysterische Form. ;„Katatone" Manie. 207
sen, der sich „wüst geberde", während das gute Princip zur Geduld
mahnt. Oft kommen in diesem Sinne auch „heilige" Gestalten zum Tröste
und zur Aufmunterung. Bei geschlechtlichen Reizungen stellen sich da-
gegen auch wieder sexuelle Versuchungen ein („Mädchen, welche sich
über die ganze Länge des Körpers andrücken"). Manchmal beunruhigt
auch das Sprechen Dritter, „wodurch der Teufel im Kranken noch grösser
wird"; das wird dem Kranken „zuleid" gethan (daher die rücksichts-
lose Heftigkeit gegen die Umgebung). Im Essen werden manchmal Staub,
Ameisen u. 8. w. geschmeckt. So wird der Zustand nach und nach dau-
ernd (in wesentlichen klinischen Punkten identisch mit einer Ausgangs
form des onanistischen primären Wahnsinns, s. diesen).
Dritte Untergruppe vorwiegend auf hysterisch constitutioneller
Grundlage.
Die Einleitung wird hier in der Regel (s. übrigens auch Typ. VIII
des hysterischen Wahnsinns) durch ein kürzeres oder längeres de-
pressives Vorstadium gebildet, entweder mit diffus neuralgischem
Charakter, oder auch mit Zwangsgedanken und hypochondrischen
Grübeleien. Daran schliesst sich sehr häufig ein Exaltationsstadium
an, welches in seinem klinischen Charakter viele hysterische Züge
trägt, in seiner vollen Entfaltung aber eine specifische Signatur zeigt,
30 dass man dasselbe gewissermaassen als „katatone Manie" aus-
zeichnen kann.
Der Umschlag in die Aufregung geschieht jäh, gewöhnlich unter
Voraufgang eines gereizten rechthaberischen Wesens mit Wortspal-
tereien, deren wechselnd barocker Inhalt zeitweilig die Stimmung
und Gedankenrichtung zwangsmässig beherrscht. Rasch steigt jetzt
mit der Aufregung die geistige Zerfahrenheit. Der Kranke verfällt
einem phantastischen Gebahren voll toller Einfälle und alberner
Streiche. Er macht den Eindruck eines angeheitert Betrunkenen mit
Declamiren und Witzereissen und einer Amnesie für das Decorum,
welche an beginnende Paralyse erinnert. Erhöhtes Selbstgefühl
wechselt mit Verzagtheit, bombastische Wortprahlerei mit unmoti-
virter Angst und Lebensüberdruss. Der Kern und die Signatur des
aufgeregten Gebabrens ist aber eine wirkliche geistige Erschöpftheit
und Schwäche; der nachfolgende Blödsinn wirft bereits seine Schatten
voraus. Auch bei massiger Unruhe tritt eine grosse Benommenheit
des Bewnsstseins , ein auffallender Mangel an Energie und Compo-
nirtheit zu Tage. So kann der Kranke vorübergehend richtigen Be-
scheid geben, geräth aber plötzlich in sinnlose Verworrenheit, welche
bei den wechselndsten Affecten den gleichen kindischen Inhalt und
Ausdruck bewahrt. Jeder launenhaften Willkür wird Folge gegeben;
das Benehmen zersplittert sich in eine Reihe zusammenhangloser
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208 Der attoniscbe Wahnsinn — die Katatonie.
Acte, welche auf Vorhalt sophistisch vertbeidigt werden, obwohl die
Zwecke der kleinlichen Begehren nicht selten sich aufheben. Dann
kommen auch wieder Pausen von ruhigerer Fassung, jedoch mit Er-
haltung des gehobenen Selbstgefühls und des Dranges sich geltend
zu machen, sich aufzuspielen. In raschem Uebergang mischen sich
depressive Episoden ein mit gänzlich niedergehaltenem Selbstbewusst-
sein, mit religiöser Zerknirschte eit und Drang zur Busse; anderemale
gereizte und dann wieder indifferente Stimmungen ; aber alle Nuancen
nur vorübergehend, ohne Ordnung und Gesetzmässigkeit. Die tob-
süchtige Exaltation gewinnt bald wieder die Oberhand, theils nur in
leisen Schattirungen des physiognomischen Ausdrucks, theils rasch
ansteigend zur Beweglichkeit allgemeiner manischer Erregtheit: lautes
pathetisches Predigen, rasches Anherrschen der Umgebung, spitzfindig
selbstgefälliges Disputiren, oder verzwickte, aber wichtig betriebene
Grübeleien. Der Kranke wird jetzt der typische Grössen wahnsinnige:
tiberall findet er Symbole und Allegorieen oder auch göttliche Winke;
er beschäftigt sich mit dem Perpetuum mobile, wühlt sich in phrasen-
reiche Theorieen über die höchsten Probleme ein — und dies Alles
in unvermittelten Uebergängen, rasch wechselnd, nicht selten auch
mit lucidern Zwischenpausen. Der Puls wird kleiner, der Kopf oft
enorm congestionirt, während die Extremitäten (Hände) kühler wer-
den. Zeitweilig melden sich Zwangsstellungen, anderemale motorische
Raptus an; bald wird der Kranke jetzt auch in steifem Daliegen
mit tonischer Spannung der Muskulatur betroffen, ekstatisch, und nur
in monotoner Recitation von einzelnen Satzfragmenten, worunter eigens
gemachte Worte und namentlich wieder Diminutiva (Ludwiglein u. s. w.)
ebenso auffällig als charakteristisch sind. Immer mehr verdunkelt
sich das Bewusstsein, während in gleichem Schritte die motorische
Neurose sich ausbreitet. Zunächst mehr psychomotorisch in Form
der Statuenstellung: Fechter, Büsser, Pfarrer u. s. w. erscheinen wieder,
in wechselnden Typen, oft durch Stunden hindurch; dabei besteht
Mutacismus, theilweise durch pathetisches Declamiren unterbrochen.
Die Perception fehlt entweder ganz, oder besteht in tratimartig um-
deuteten, unklaren Wahrnehmungen. In der nächsten Stunde kann
das Bild wiederum ein ganz geändertes sein.
Unter plötzlichem Rash zum Kopfe wirft der Kranke jetzt angst-
voll den Kopf nach der oder jener Seite, besieht sich von oben bis unten,
betastet sich, streicht sich den Bart, spreizt die Beine, legt die Arme
aus, geht einige Schritte vor- oder rückwärts, um plötzlich wie ange-
mauert stehen zu bleiben, fängt in aller GemUthsruhe an sich in der
Gegenwart Anderer auszuziehen, sich die Kleider zu zerreissen, allerhand
Unverdauliches in den Mund zu stecken — Alles ohne den leisesten Laut
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Klinische« Krankheitsbild. „Hysterische4' Form.
209
von sich zu geben. Aber urplötzlich springt er wieder auf und davon,
beginnt mit steigendem Drange das lebhafteste Geberdenspiel, wobei alle
Affectschattirungen und die entfesselte Bewegungslust in buntester unge-
ordneter Folge zum Ausdrucke kommen. Oft sind es nur ganz kurze
und rasche Explosionen und Ausrufe ; ein Sprung, ein Stoss — und der
Kranke sinkt wieder still zusammen, oder es bricht ein Sturm gewaltig-
ster furor-artiger Entäusserungen mit Mutacismus, oder auch mit gänz-
licher sprachlicher Verworrenheit aus, worauf erst nach Stunden Er-
schöpfung folgt.
Das Krankheitsbild wird in seinem folgenden Verlauf immer
unberechenbarer, zusammenhangloser. Ruhepausen mit Hindämmern
und localen klonischen Krämpfen (Augenzwinkern, Mundverziehen,
Schnüffeln) wechseln ab mit monotonen choreaartigen Bewegungen
(Purzelbäumen u. s. w.), beharrliches Schweigen und stupuröse Abulie
mit theatralischen Zwangsstellungen und verworrenem Rededrang;
zerstreutes, zerfahrenes Wesen, wobei der betäubte Kranke sogar
seine Persönlichkeit vergisst, wechselt mit bebender Angst, partiellem
nnd allgemeinem Körperzittern bei starr gehaltenen Augäpfeln ; diese
wieder mit halbfreien Zuständen, in welchen der Kranke in abge-
rissenen Sätzen, selbstgemachten Worten, Apostrophen, seltsamen
Wendungen vor sich hinspricht.
Der Inhalt ist ein buntes Gemisch von Reminiscenzen, Lesefrüchten,
verdeckten Andeutungen auf den frühem und gegenwärtigen Zustand;
bald aber auch nur ein reiner Wortschwall. Bemerkenswerth ist dabei,
d&ss sich der Vorstellungsablauf nie überstürzt und immer coupirt bleibt,
auch wenn er rascher geht, ja, zeitweise liegt der Kranke förmlich in
sprachlichen Geburtswehen, bis tropfen- und stossweise die Aeusserungen
zn Tage kommen.
Unter Kleinerwerden des Pulses und zunehmender Gesichtsblässe,
unter Hervortreten der Gesichtsvenen und peripherer Vasoparese
rückt das eigentlich katatonische Bild immer mehr in den Vorder-
grund. Der Kranke liegt stundenlang unregsam zu Boden, lässt
passive Bewegungen mit sich machen, reagirt nicht, oder nur ganz
betäubt anf sensible Reize, speichelt viel, spricht nicht mehr; zeit-
weise treten traumartige Bewegungen der Extremitäten auf.
Diese Phase bezeichnet den Höhepunkt des Leidens. Sie kann
von einigen Wochen bis mehrere Monate dauern. Löst sich die
Spannung, so tritt zunächst wiederum ein ähnlich barockes Geber-
denspiel, wie im Anfange, auf, als Ausdruck fragmentarer Innenvor-
gänge: phantastische Stellungen und Körperhaltungen, abwechselnd
mit motorischen Raptus ; dann wieder träumerische Ruhe ; zu andern
Stunden Verbigeration oder Echolalie. Noch immer erfolgen Rück-
schläge in vorübergehende motorische Starre und Mutacismus. So
SchftU, aeutosknakhaitoii. 3. Aufl. 14
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210 Der attonische Wahnsinn — die Katatonie.
wechselt der Zustand kaleidoskopisch hin und her, bis unter Hebung
der Ernährung und Circulation und allmählichem Schwinden der
Vasoparese eine zunehmende Klärung des Bewusstseins und Percep-
tionsfähigkeit eintritt. Jetzt folgen oft nochmals manische Erregungs-
phasen wie anfangs mit erhöhtem Selbstgefühl, verzwickter Mimik,
pathetischem Declamiren. Die eingeschobenen motorischen Ruhe-
pausen verlaufen aber allmählich ohne Muskelstarre. Zwischen die
wechselvollen Zustände treten jetzt auch freiere Stunden und Tage,
an welchen der Kranke frei aufathmet, sich heiter und ziemlich natür-
lich zeigt, und besonnen zu antworten vermag.
Die Erholung des Bewusstseins erfolgt stets sehr langsam und
muss Schritt um Schritt erkämpft werden. Der Kranke hält sich
lange noch nur mit sichtlicher Anstrengung in den geordneten Ge-
leisen; immer hemmt ihn noch Etwas in seinem geistigen Mecha-
nismus, und wenn man ihn schon frei glaubt, so macht er oft noch
seine sonderbaren Seitensprünge mitten in die Verworrenheit. Auch
die Stimmung schwankt noch lange zwischen Sympathieen und Anti-
pathieen, und schafft blitzähnliche Affecte. Letztere fixiren sich manch-
mal, so namentlich die Zornparoxysmen zu stundenlangem Dastehen
mit geballten Fäusten. Alle möglichen und unmöglichen Attitüden
werden oft wieder durch probirt, abwechseld mit automatischen Acten
(Streichen mit der Hand), oder monoton wiederholten convulsiven
Bewegungen (Schleudern der Arme, Zurückschnellen des Kopfes).
Unter die freien Intervalle schieben sich noch immer zeitweise halb-
träumerische Phasen.
Endlich klärt sich das Bewusstsein immer mehr. Manchmal geht
das psychische Orientirungsgeschäft nun erst noch durch eine Phase
mit Zwangsgedanken und peinlicher Präcision hindurch. Aber auch
diese wird überwunden. Jetzt fehlt noch die Erinnerung an die
katatone Zeit, während die an die vorangegangene sich rasch her-
stellt. Die Aufhellung auch der ersteren bildet den Schluss der Ge-
nesung, wobei die Kranken wiederum oft die interessantesten Ent-
hüllungen machen: wie sie von Hallucinationen in einem wahren
Traumleben gehalten worden seien, wie sie Alles um sich verwan-
delt gesehen, auf keinem Punkte mehr die psychische Lage beherrscht
hätten, dass für alle, auch die barocksten, Antriebe innere Motive
sich ihnen untergeschoben hätten. Der Mutacismus wird dabei oft
auf innere Gewissensbisse zurückgeführt, die freudige Aufregung auf
phantastische Apergus, die katatone Starre auf Ahnungen, dass der
Tod bevorstehe, oder auf die Empfindung, als ob der Kranke unter
einer Champagnerflasche gestanden, ja selbst eine solche gewesen
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Klin. Krankheitsbild. Hysterische Form. Ausgänge. Secund. katatoner Blöds. 211
sei ; dass der Kranke sich gerne in die Steifheit gefügt hätte, damit
man ihn für todt halte und hinausschaffen könne; das Einschlagen
z. B. des Zeigefingers wird auf Rettungsbestrebungen gegen Versin-
kende (Visionen) bezogen. Nach den Angaben einzelner Kranker
erfolgte der Umschlag in die visionäre Traumwelt plötzlich, mit Einem
Schlage.
Manchmal recurrirt die katatone Manie innerhalb Jahresfrist,
oft mehreremale, bis endlich ein blödsinnig stupider Zustand mit
Verbigeration dauernd bleibt.
Bei ungünstigem Verlauf bildet sich auch ein chronischer Secundär-
zustand aus in der Form fortschreitender Auflösung der Bewusstseinsein-
heit in zerfahrene Einfälle, Antriebe, momentane Stimmungen, — der
Typus des unheilbaren hysterischen Wahnsinns. — Es kann aber auch
nach unregelmässigen Schwankungen zwischen freiem und attonischen
Phasen die psychische und motorische Gebundenheit chronisch werden:
der Kranke verharrt nun Tag um Tag in Mutacismus und motorisch-
mimischer Starre, womit nur der lebhaft umherschweifende, wenngleich
gläserne Blick seltsam contrastirt. Dazwischen treten Raptus von plötz-
licher Heftigkeit und zorniger Gereiztheit, namentlich wenn der Kranke
zu irgend einer ihm unangenehmen Action (Kleiderwechsel) aufgefordert
wird* Ortsveränderungen gehen, wenn auch nur auf Aufforderung, leich-
ter von statten; sie geschehen aber ganz mechanisch; der Kranke läuft
und bleibt stehen, wann immer man ihn anhält Gang und Mimik, Glieder-
und Kopfhaltung bewahren auch bei diesen freieren Aeusserungen stets
eine gewisse Spannung. Die vasomotorische Parese wird permanent (eis-
kalte blaue Extremitäten) und daneben ein nicht zurückzudrängender,
periodisch massenhafter Ptyalismus. So kann der Zustand in eine secun-
däre katatone Dementia übergehen, welche Jahre lang, bis an
das Lebensende, dauert. Auch jetzt noch, in der vollständigen Passivität
der Stammmuskulatur, wobei die Kranken fast beständig auf dem Fauteuil
oder im Bett gehalten werden müssen, keinen Laut mehr von sich geben,
und wie Kinder zu pflegen sind, erhält sich ein attonischer Zustand in
Form zeitweiliger localer Streckungen und Contracturen, einseitigen Ge-
sichtsverziehungen, Spasmus der Lider. Der Tod erfolgt durch Maras-
mus oder (sehr häufig) Phthise.
Die acute primäre Dementia.
Literatur. (Stupor) Gambarri, Gazz.lombard. 16ß4. — Dagonet, Ann.
meM. psych. 1972. — laguet. Dem. simple prim. 1672. — Newington, J. of
m. sc. 1S7-1. — Witte, Arch. f. Psych. 8. — Binswangen Charitö Ann. VI. (na-
mentlich über prim. Dem. ohne Stupor). — Schüle, Allg. Zeitschr. f. Psych. 38. —
Fritsch, (pseudaphasische u. hallucinator. Verwirrtheit) Jahrb. f. Psych. 1680.—
Hughe», Alienist. 1SS2.
14*
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212
Die acute primäre Dementia.
Die klinische Zustandsform des „Blödsinns", welche uns bisher
nur als Aasgang der ungeteilten Primärformen, der Melancholie,
Manie und des Wahnsinns begegnete, kann selbst auch primär
auftreten und zwar in einer von jener secundären mehrfach und
nicht unwesentlich verschiedenen Gestaltung. Ein erster Unterschied
liegt in dem Tempo der Entstehung: während diese beim secundären
eine chronische ist, ist sie hier eine acute, selbst peracute. Ein
zweiter Unterschied liegt in der Weise der Entwicklung und im
gegenseitigen Verhältniss der psychischen Elemente des Symptomen-
bildes: während der secundäre Blödsinn schrittweise erreicht wird
unter Lähmung des emotiven Elements der Psychose (der affectiven
Spannung in der Melancholie) neben anfangs noch leidlich, ja oft
reich erhaltenem Vorstellungsinhalt — ist hier, bei der primären
Dementia, die Herabsetzung der int eile ctuellen Leistungskraft,
der psychische Hirndruck im Ganzen, das auszeichnende Symptom
(Uber die zweifache Weise der klinischen Erscheinung mit und ohne
Stupor 8. u.). Die stupurösen Formen speciell haben noch die weitere
klinische Besonderheit, dass sie auch für ihre chronischen ungeheilten
Secundärzustände meistens einen Rest dieses geistigen Hirndruckes,
als eine Art leisen Sopors, dauernd beibehalten. Eine nicht gerade
durchgreifende, aber doch erwähnenswerthe, Differenz der acuten
Blödsinnszustände gegenüber den chronischen liegt ferner in dem
relativ häufigen Vorkommen von convulsiven Raptus, gegenüber dem
friedlich monotonen und apathischen Charakter der secundären gei-
stigen Schwäche.
Unter sich symptomatologisch betrachtet, scheiden sich die Fälle
des acuten Blödsinns, je nachdem die intellectuelle Schwächung oder
temporäre Sistirung der psychischen Functionen im wachen Be-
wusstseinszustande sich vollzieht, oder in einem schlafähnlich
gebundenen. Der einfachen Trägheit in den Associationen,
Schwäche des Gedächtnisses und Gemüthsstumpfheit dort entspricht
hier ein nicht minder vollständiger Mangel der Perception, der
Stimmung und des Wollens, neben einer gradweisen Betäubtheit bis
herab zur Bewusstlosigkeit, zugleich mit Aufhebung der Sensibilität
und selbst der spinalen Reflexe. In einer umschriebenen Unter-
grnppe finden wir diesen Sopor-artigen Zustand während des ganzen
Verlaufs noch mit einer ausgesprochenen vasomotorischen und einer
motorischen Neurose (tonische Spannung der Muskulatur, geändertes
elektrisches und mechanisches Verhalten der Muskeln) — einem Status
attonitus — verknüpft. Beide Zeichenreihen halten gleichen Schritt
mit der Tiefe des psychischen Schlafzustandes. In der andern
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Klinische Eintheiluug.
213
finden wohl noch gradweise Wahrnehmungen statt, auch noch ver-
einzelte hallucinatorische Innenvorgänge, aber auch nur im Rahmen
der allgemeinen Bewusstseinsverdunkelung.
Es ergeben sich somit nach dem soeben bezeichneten Haupt-
moment — dem Verhalten des Bewusstseins — zwei grosse Haupt-
gruppen der primären Dementia: in der einen ist ein schlaf ähnlicher
perceptions- und actionsloser resp. dämmerhafter und partiell träu-
mender Bewusstseinszustand das normgebende Symptom, mit all-
mählichem Aufwachen in vorübergehende oder bleibende Dementia
(stupuröse Form); in der andern aber ein wacher primärer Blödsinn
mit gradweise abgestufter geistiger Leistungsfähigkeit bis zur Nullität
(primäre Dementia ohne Stupor). Jene bildet die Uebergänge zu
den acuten Wahnsinnszuständen, diese zum secundären Blödsinn nach
den Primärformen. Im Speciellen theilt sich a) die stupuröse
Form weiter in eine 1. attonische (mit begleitender motorischer
Spannungsneurose), und 2. eine stupid- hallucinatorische. An
die Untergruppe 1. schliesst sich der postmanische Stupor, an die
Untergruppe 2. der hallucinatorische (PseudoStupor) als Anhang. Daran
reiht sich als Hauptgruppe b) die primäre Dementia ohne
Stupor.
Bezeichnet man a potiori mit „Stupor" schlechthin die eine der hier-
her gehörigen Gruppen (die attonische), so muss zwischen einem „orga-
nischen" und „psychischen" Stupor unterschieden werden. Der Typus
„psychischer" Form ist durch den „hallucinatorischen Stupor" (s. Anhang)
repr&sentirt , welcher klinisch ebenso nahe dem acuten Wahnsinn ange-
hört, als der attonische dem wirklichen Blödsinn. Die Aehnlichkeit
beider Zustände ist deshalb nur eine äusserliche, dem „Stupor* -Habitus
entnommene, und auch hier keine vollständige, insofern der organischen
Form (dem wirklichen Stupor) ausser der Attonität noch die Vasomotorius-
Neurose zukommt, welche der hallucinatorischen Form fehlt. Nicht min-
der sind aber auch die grundliegenden Elemente, und namentlich die
Entwicklung des Stupors in beiden Typen verschieden. Bei dem ersten
— unserer primären Dementia — bildet ein wirklicher acuter Blödsinn
den Kern der Krankheit; bei dem zweiten (dem hallucinatorischen
Stupor) ist die physisch-motorische Gebundenheit nur die Folge eines
Wahrnehmungsabschlusses aus innerlichem „Schauen". Die mangelnde
Initiative und Erregbarkeit ist also dort das Wesen, hier nur ein ein-
zelnes physisches (Reactions-)Sympton. Diese Unterscheidung ist fest-
zuhalten auch für diejenigen Fälle echten d. h. organischen Stupors, in
welchen zeitweilige Hallucinationen dazwischenlaufen (wie namentlich
manchmal im Beginn). Am schärfsten zeigt sich aber die Differenz
beider Zustände im Krankheitsverlauf, und in den Ausgängen: dort
(bei der organischen Form) dauert der Stupor über den ganzen Anfall
und erfordert nach Ablauf eine wirkliche Neuerziehung des acut blöd-
sinnigen Kranken; hier bildet der Stupor in der Regel eine kürzere
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214
Die acute primäre Dementia.
oder längere Episode, aus welcher die Rückorientirung oft plözlich, oder,
wenn langsamer, in gleichem Schritte mit dem Rückzüge der Hailucina-
tionen und Illusionen erfolgt. Dort handelt es sich m. £. W. um einen
organisch bedingten (wenn auch nur vorübergehenden) geistigen Defect,
hier um eine psychisch motivirte Hemmung. — Für die differentielle
Diagnose zwischen attonischem Stupor und attonischer Melan-
cholie, welche durch die Attonität eine gewisse äussere Aehnlichkeit
haben, aber sonst grundverschiedene Processe darstellen, ist maassgebend:
beim attonischen Stupor peracute Entstehung; bei der attonischen Melan-
cholie eine allmähliche Entwicklung aus der Melancholie; dort blöde
schlaffe Gesichtsmaske mit halb geöffnetem Munde und meist profuser
Salivation; hier starre, angst- und schmerzvoll verzerrte Züge; dort pro-
fuse Schweisse mit tardem, ausserordentlich wechselndem Pulse, hier
trockene spröde Haut mit contrahirter Arterie; dort Unfähigkeit zur Nah-
rungsaufnahme aus Blödsinn und Willenlosigkeit, hier absichtliche Nah«
rungsverweigerung aus Wahn; dort Hautanästhesie ausSopor, hier schweig-
same Duldung des richtig empfundenen Schmerzes aus melancholischem
Schuldgefühl; dort Secessus inscii, hier krampfhafte (willentliche) Zurück-
haltung; dort zeitweise attonisch starre, zeitweise schlaffe Muskulatur
mit Neigung zu Katalepsie und Flexibilitas cerea, hier tonisch flectirte
Haltung des Rumpfes und der Arme, in welcher sich der ängstliche, oder
sich selbst erniedrigende Affect verkörpert; dort keine Erinnerung an
die Zeit der wirklichen Bewusstseinsleere, hier peinlich exaetes Gedächt-
niss an die Zeit eines mit allen drohenden Schrecknissen überfüllten Be-
wußtseins. Ueber die differentiellen Unterschiede zwischen katatonem
Wahnsinn resp. katatoner Dementia und stupid - hallucinatorischer De-
mentia 8. d. —
a) Die acute primäre Dementia mit Stupor
(organischer Stupor).
1. Die attonUche Form. Der attonische Stupor ist ein subacut
oder acut einsetzende geistige Hirnlähmung mit den klinischen Sym-
ptomen aufgehobener psychischer Thätigkeit (Perceptionsabschluss,
Stimmungsmangel, Abulie), in den höchsten Graden auch mit An-
ästhesie und Fehlen der spinalen Reflexe. Damit gehen einher eine
vasomotorische Neurose (locale Fluxionen, wechselnde Innervation
des Herzens, Vasoparese), sodann ein sog. Status attonitus in der
Muskulatur (mit Aenderungen in der galvanischen und idiopathischen
muskulären Erregbarkeit); ausserdem gewisse allgemeine und locale
trophische Störungen, vor Allem Gewichtsabnahme. Nach kürzerer
oder längerer Dauer Uebergang in allmähliche Genesung mit ganzer
oder theilweiser bleibender Amnesie an die Stupor-Phasc ; oder aber
Niedergang in Blödsinn, entweder direct oder durch zwischenlaufende
Aufregungszustände.
Die Vorläufer der Krankheit sind hypochondrische Grübeleien,
namentlich bei vorausgegangenen sexualen Säfteverlusten, oder auch
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Klinisches Krankheitsbild. Attonische Form (Organischer Stupor). 215
ein vager neurasthenischer Znstand. Manchmal fehlen diese Zeichen;
der Kranke gilt als gesnnd bis zn dem veranlassenden Gemttths-
affect, an welchen sich sofort ein benommenes, zerstreutes Wesen mit
depressiver Stimmung und Neigung zum „Simuliren" anschliesst.
Bei genügend vorgearbeiteter (nervös-anämischer) Disposition kann
ein erschütternder Affect auch direct in den Stupor überführen.
Die Einleitung bilden in der Regel cerebrale Reizsymptome, unstete
Erregtheit mit verworrenem Tag und Nacht fortdauerndem Sprechen
(Sttndenschuld) auf Grundlage einer zunehmenden geistigen Betäubt-
beit Manchmal steigert sich die Unruhe zu vorübergebender Pan-
phobie mit abrupten Delirien und Jactation, so dass der gepeinigte
Kranke keine mechanische Selbstbeschädigung wahrnimmt. — Oder
aber: es geht gegentheils die anfängliche ängstliche Befangenheit direct
in einen immer benommenem Zustand Uber mit mangelnder Initiative,
sodass der Kranke sehr bald schon zu den einfachsten Handlungen an-
gehalten, geschoben werden muss. Jetzt treten in rascher Folge locale
attonische Zeichen auf: Offenhalten des Mundes, Ausstrecken der
Arme und Beine. Das vasomotorische System nimmt in plötzlichen
Rash's zum Kopfe Antheil unter Beschleunigung der Pulsfrequenz,
und nicht seltener Erhöhung der Temperatur bis 39" und darüber
(in einem Falle vorübergehend 40,4). Die vollen Carotiden über-
wiegen auffallend Uber die kleine Radialis. Oft contrastiren jetzt
schon küble, röthlich-blaue Hände mit dem gerötheten Gesicht und
der injicirten Conjunctiva. Stundenweise ist die Anästhesie und der
Perceptionsabschluss vollständig; dazwischen oft dumpfes Kopfweh
und Erbrechen. Schliesst sich nicht sofort der bleibende Stupor an,
so können jetzt noch vorübergehende Erholungen zur Lucidität sich
einschieben; es kann selbst nach nur mehrtägiger Dauer der be-
gonnene Stupor sich wieder zurückbilden. Schreitet aber der Zu-
stand weiter, so beschlägt die motorische Neurose immer allgemeiner
die Muskulatur des Gesichts und Stamms, während alle bewussten
Seelenäusserungen verschwinden. So bildet sich der vollendete Sta-
tus attonitus heraus: vollständige geistige Regungslosigkeit, Mangel
jeder Initiative, schlaffe ausdruckslose Gesichtsmaske mit fast be-
ständigem Lidschluss (dabei oft tagelangem Blinzeln), Zurücktreten
der Schmerzreflexe (am längsten erhält sich die Reaction auf Kitzeln) ;
Verminderung der Sehnenreflexe, Erhöhung der mechanischen Er-
regbarkeit der Muskeln ; schlaffes Daliegen mit halbflectirten Armen
und ausgestreckten Füssen, welche in einem mittleren Muskel- und
Gelenktonus verharren, ohne eigentlich, oder nur zeitweise, rigide zu
sein, und passiven Bewegungen leicht nachgeben; jede angenommene,
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216 Die acute primäre Dementia.
wenn auch unbequeme, Lage zeigt Beharrung ohne Ermttduogszeichen.
Der äussere Perceptionsabscbluss und innere Schlafzustand können
manchmal sofort vollkommen sein, so dass kein Eindruck von aussen,
keine Regung von innen heraus sich kenntlich macht; andere Male
aber tritt zeitweilig noch ein Lispeln einzelner Worte, ein plötzlicher
motorischer Raptus, aber ziel- und planlos zu Tage. Bei anämischen
Personen, namentlich Mädchen, bleiben gewisse neuralgische Punkte
trotz des Stupors in lebhafter Activität, so dass ein Druck auf die-
selben (Intercostalbahnen) oft gentigt, um die schlaffe oder hölzerne
Miene zu einer miraisch weinerlichen vorübergehend zu beleben und
betäubte Abwehrbewegungen herbeizuführen. Bei Männern ist das-
selbe bei irritable test beobachtet
Unter Abnahme der Frequenz und zunehmender Tardität des
Pulses nimmt die geistige Regungslosigkeit immer zu; der Anfangs
staunende Blick wird leer, gläsern; der Kranke lässt Alles passiv
mit sich vornehmen, sich in jede Lage bringen. Die Initiative ist
verschwunden, das Essen muss gereicht werden, die Excremente
gehen unwillkürlich ab. Die Pupillen sind in der Regel erweitert,
oft ungleich. Immer mehr bilden sich jetzt die vasomotorischen
und trophischen Symptome aus (s. u.). Die Gesichtszüge werden
hängend, ausdruckslos, die Kopfhaltung schlaff, aus dem halbgeöff-
neten Munde fliesst profuser Speichel. Nicht so selten stellen sich
auch zeitweise einseitige Inner vationsstörungen ein, sodass eine
Augenspalte weiter, eine Gesichtshälfte straffer, eine Körperseite
steifer als die andere erscheint — Erscheinungen, welche im Ver-
laufe wechseln, verschwinden und wieder eintreten können. Ebenso
wechseln Schlaffheit und vorübergehende stärkere Spannung im
Muskeltonus. Die Rückkehr aus passiv aufgenöthigten Stellungen
erfolgt träge. Zeitweise werden die in den Knieen flectirten Beine
heraufgezogen.
So kann der Zustand Wochen und selbst einige Monate sich
hinziehen. Bei günstigem Verlauf tritt nach und nach Besserung
einzelner Symptome ein. Es regen sich vereinzelte Actionen (ein-
fachere, sodann complicirtere Muskelacte); aber vorerst scheinbar
motivlos und unzugänglich auf Anreize von aussen. Dieselben sind
erst eckig, unbeholfen. Die „spontan" ausgelöste Bewegung hat noch
Neigung zum Verharren. Ab und zu werden unverständliche Worte
gelispelt Immer schieben eich Rückfälle in den attonischen Zustand
dazwischen; doch allmählich tritt jetzt bei passiven Bewegungen
eine leise psychische Gegenwirkung ein. Die Ernährung hebt sich,
der Puls wird entwickelter, die periphere Cyanose nimmt ab. Der
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Klin. Krankheitsbild. „Organischer" Stupor. Verlauf.
217
Kranke hält jetzt auch manchmal die Augen offen und scheint den
Vorkommnissen der Umgebung zu folgen; aber noch ganz theil-
nahmlos und mit den frtthern schlaffen Gesichtszügen. Die Unrein-
lichkeit wird seltener. Die abnorm weiten Pupillen reduciren sich
mehr auf die Norm; auch die einseitigen Innervationsstörungen des
Rumpfes gleichen sich nach und nach aus. In der Folge treten
auch vereinzelte deutliche Intentionsbewegungen auf, aber vorerst
noch unsicher und wenig bemessen; erst langsam werden sie kräf-
tiger und zielvoller.
Bei vorausgegangenem hochgradigen Stupor müssen erst alle com-
plicirtern Muskelbewegungen (Treppensteigen, weibliche Handarbeiten)
wieder eingelernt werden. Es kommen Reconvalescenzen vor, in welchen
der Kranke erst auf allen Vieren krabbelt, ehe er in aufrechtem Gange
wieder normale Ortsveränderungen vornehmen kann.
Denselben Process einer wirklichen Neu-Erziehung müssen
auch die geistigen Functionen durchmachen; es vergehen manchmal
Wochen, bis die Kranken wieder sich zu orientiren vermögen. Inter-
essant ist dabei die zeitweilige Durchgangsphase, welche das in
tiefem Schlafe befangen gewesene Ich mit seinem Vorstellungsinhalt
zu bestehen hat.
Da treten erst wochenlange Selbstgespräche des Kranken auf, in
welchen eine zufällig geweckte Vorstellungsreihe nach der andern, erst
in oberflächlicher, dann in immer mehr logischer Association abläuft, —
eine die andere nach sich ziehend — wie eine erstarrt gewesene Wasser-
masse, welche schmelzend in Fluss geräth. Lange ist noch keine Hege-
monie im Vorstellungsablauf (kein „Ich") bemerkbar; der Kranke selbst
spricht von sich noch in dritter Person.
Die Stimmung ist dabei Anfangs indifferent, erst nach und nach
wird dieselbe für unangenehme Reproductionen oder äussere Ein-
drücke afficirbar, und meist dann in explosiver Weise. Besonders
lebhafte Einfälle können in endlos wiederholte Zwangsgedanken
oder auch in (Pseudo-) Hallucinationen sich umsetzen. Manchmal
kommen auch motivlose Zornwallungen mit plötzlicher Gewalttätig-
keit gegen sich ödere Andere. Nicht so selten kann der transi-
torische Erregungszustand sich zu einer Reihe von manischen Zer-
störungsacten steigern; andere Male, namentlich bei jtingern Indivi-
duen, werden Aufregungsstadien mit dem Charakter der Moral Insanity
(brutale Neckereien, schamwidriges Benehmen, Schmieren) als kurze
Durchgangsphasen beobachtet.
Erst langsam kämpft sich in diesen schweren Fällen die Ge-
nesung durch; in leichtern vollzieht sich der Uebergang vergleichs-
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218
Die acute primäre Dementia.
weise rascher; bie und da auffallend rasch, so mit Eintritt der bis
dabin cessirenden Menses.
In schwereren Fällen bleibt für die ganze Uberstandene Krankheit
ein vollständiger Erinnerungsdefect zurück; in leichtern erhalten sich
einzelne Erinnerungen, aber nur an den Anfang des Stupors (wie es
plötzlich im Kopfe ganz todt geworden und der Körper nicht mehr habe
bewegt werden können), und besonders an die Zeit der Lysis (erst ganz
fremdartige Perception der Umgebung mit Verkennungen, mühsames Sich-
Orientiren, Einlernen der frühem Dexterität). Für die Krankheits höhe s
bleibt immer Amnesie. —
Bemerkenswerth ist, dass in demselben Verlauf wiederholte
Stupor-Anfälle (einmal in demselben Monate in zwei auf einander
folgenden Jahren) auftreten und jeweils in Genesung übergehen
können.
Ist mittlerweile die Körperernährung wesentlich gestiegen, so kann
der zweite Anfall, obwohl für sich mit (graphisch d. h. nach den Wä-
gungsergebnissen) derselben quantitativen Reduction des Körpergewichts
einhergehend, dennoch milder und mit abgekürzter Reconvalescenz ver-
laufen, trotz des gleichen klinischen Symptomenbildes und einer an-
nähernd gleichen Krankheitsdauer.
Geht die acute Dementia in chronische Uber, so sind ver-
schiedene Verlaufsarten möglich.
Es kann sich 1 . ein erregter Blödsinn anschliessen mit vollständiger
Amnesie für die seit dem Stuporeintritt vorgekommenen Erlebnisse. Der
Kranke erwacht und lebt weiter in dem zurückdatirten frühem Bewusst-
seinskreis; er fühlt nicht die mittlerweile vorgegangene Veränderung in
und um sich, äussert auch früher für ihn passende Wünsche und Stre-
bungen, aber Alles abgeblasst, ohne Energie, schablonenartig. Das In-
teresse, gegenwärtiges und früheres, schwindet. Die Reproductionen
werden mehr mechanisch abgeleiert. Der Kranke lebt affectlos, aber
gleichwohl reizbar, nur noch in der Minute. Mit zunehmender intellec-
tueller Verblödung wird der Vorstellungsinhalt immer ärmer, reducirter,
schliesslich dem Kranken selbst unverständlich. Der Sinn für das De-
corum sinkt; intercurrente Congestivzustände zum Kopfe (manische Raptus)
beschleunigen den Weg zum apathischen Blödsinn. — Oder aber: 2. es
bleibt eine chronische Stupidität zurück, eine Art geistigen Dämmer-
lebens, in welcher der Kranke für Nichts mehr Sinn hat, weder für
Gegenwärtiges noch für Vergangenes, weder Dieses noch Jenes mehr
versteht, oft sein nächstes Vorleben, seine Familie nicht mehr kennt, ja,
selbst sein eigenes Ich-Bewusstsein preisgibt („ich bin nichts, weiss nichts,
verstehe nichts, Alles ist nichts"). Interessant ist dabei die manchmal
isolirte Erhaltung einzelner früherer Kunstfertigkeiten (Kartenspielen,
Singen u. s. w.). Dieser Blödsinn kann sich bis zu gewissen Graden
wieder zurückbilden und der Kranke auf einem bescheidenen geistigen
Niveau Jahre lang erhalten werden. — Oder endlich: 3. es schliefst sich
nach einer protrahirten manischen Uebergangsphase (Moria) ein leidlich
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Klinisches Krankheitsbild. „Organischer" Stupor. Ausgänge. 219
lucider Zustand an, mit anscheinendem Wiedergewinn der frühem Per-
sönlichkeit; aber die „Blume" ist hinweg aus dem geistigen Leben, der
Sinn fllr Höheres, der Tact, ist verloren gegangen, und jenes selbst um
einige Marken tiefer eingestellt, wenn auch keine wesentlichen Lücken
herausgebrochen sind. Langsam verlauft dieser Zustand, und zwar trotz
der trügerisch gebesserten Körperernährung (auch trotz der wiederge-
kehrten Menstruation), nach und nach in immer grössere psychische
Schwäche. —
In einem Falle (29 jähriges, erblich nicht belastetes, vollsinniges,
aber zeitweilig dem Trunk ergebenes Mädchen) trat nach einer tiefen
Gemüthsbewegung einige Tage ein sinnlos aufgeregtes Gebahren, übrigens
ohne jegliches Zeichen einer entzündlichen Cerebralaffection, ein — und
8 o f o r t nachher ein stupid blödsinniger Zustand. Die Kranke staunte
vor sich hin, trippelte herum, sprach nichts, als „ja" und „nein". Die
Gesichtsmuskulatur, sowie die Zunge und Hände zitterten stark; fehlender
Patellar- und Triccpsreflex , erhaltenes Fussphänomen. Sie appercipirte
die nächstliegenden Dinge, wusste sich aber nicht zu orientiren. Schon
einige Tage später verstand sie auch die einfachsten vorgehaltenen Gegen-
stände nicht mehr, blieb z. B. bei Annäherung einer Scheerenspitze gleich-
gültig, lächelte höchstens blöde. Nach Umfluss von G Wochen 10 Kilo
Abnahme am Körpergewicht, trotz reichlicher Nahrung, leidlichem Schlaf
und gänzlich mangelndem Affecte. Vorübergehend Temperatursteigerung
bis 3S°; dazwischen auch wieder 36,5. Nach 8 weitern Wochen ist
Patientin eine vollständige psychische Null; sie dämmert vor sich hin,
muss gefüttert werden wie ein neugeborenes Kind. Hin und wieder zeigt
sich ein ausdrucksloses Grinsen. Die Haut verliert ihren Turgor; zeit-
weilige legale Schweisse. 4 Wochen später: fortdauernde Gewichtsab-
nahme, Unreinlichkeit, zeitweilige automatische Bewegungen. Nun kommen
wiederholt Erstickungskrämpfe, plötzlich Apnoe, welche Anfangs unter
Application des farad. Pinsels wieder gehoben werden. 8 Tage später:
Collaps ohne erschwerte Respiration ; Exitus letalis. — Die Autopsie zeigte :
hochgradige primäre Atrophie der Stirn- und Temporalwindungen, und
chronische diffuse Encephalitis neben Hydrops ventricul. — (Hierher ge-
hört auch der im Journ. of ment sc. 1881 referirte Fall von Bonville).
Anhang. Der postmanische (anergetische) Stupor tritt nach
gewissen Fällen von Mania gravis auf. Die einleitende Manie ist
durch sehr tiefe Betäubtheit, hallucinatorische Verwirrung oder
blinden Furor, Congestivzustände gewöhnlich mit Temperaturstei-
gerung (bis 39°) ausgezeichnet. Die Dauer ist in der Regel nur
eine kurze, wenige Tage bis 1—2 Wochen. Der sofort mit der
Ruhe eintretende Stupor zeigt verschiedene klinische Bilder : es kann
ein vasomotorischer Stupor, ganz wie der vorbeschriebene, sich ein-
stellen, bald mit, bald ohne Attonität. Die Bewusstseinsstörung ist
jedoch selten eine so vollständige; es finden immer noch Beziehungen
mit der Umgebung in Form einzelner (mehr oder minder klarer)
Perceptionen statt. Ebenso ist selten ein Stimmungsmangel wie im
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220
Die acute primäre Dementia.
echten Stupor vorhanden ; der Kranke erscheint wohl apathisch, aber
mit einem Zug ängstlicher Depression oder feindlichen Misstrauens
In gleicher Weise kann auch die vasomotorische Neurose fehlen,
oder unbedeutend ausgeprägt sein. Dagegen trifft die Reduction der
Körperernährung, der Mutacismus, die Nahrungsverweigerung bei
beiden Formen zusammen, zum Theil auch die Passivität des Ge-
sammtverhaltens, welche übrigens beim postmanischen Stupor, ent-
sprechend der activern innern Stimmungslage, einen Zug von con-
trärer Negation beigemischt trägt.
Unzweifelhaft liegen diesen individuellen Nüancirungen des klinischen
Bildes theila einfache Erschöpfungs-, theils Hirndruckzustände anatomisch
zu Gründe, mit allen möglichen Mischungen und Uebergängen. Der
„Hirndruck" kann oft ein so grosser sein, dass der wie ein Klotz da-
sitzende Kranke den Eindruck macht, als ob er einen Keulenschlag auf
den Kopf erhalten hätte, und dass plötzlich auf ihn eindringende sensible
Reize Reöexzuckungen durch den ganzen Stamm hervorrufen — wie beim
Thierexperimente nach vollzogener Enthirnung.
Unter diesen verschiedenen grundliegenden Verhältnissen ist der
Verlauf des postmanischen Stupors ein sehr verschiedener. Einfache
Formen mit psychisch motivirter Attonität, aber ohne mitbegleitende
Vasoparese, verlaufen in der Regel günstig, wenn auch mit sehr
langer Reconvalescenz. Die „Hirndruck"- Fälle mit der grossen
Stupidität und Gefässlähmung (eiskalte Extremitäten, welche selbst
gegen feuchte lauwarme Einpackungen reactionslos bleiben) treten
in der Regel ihren successiven Niedergang zum apathischen Blödsinn
an — freilich nicht ohne vorübergehende lucidere Zwischenzeiten,
in welchen die Kranken Uber quälende Hallucinationen (Schimpf-
worte, Verfolgungen) und über peinliche Kopfgefühle klagen („man
solle ihnen den Kopf zermalmen"). Dabei Bulimie, heftiger Mastur-
bationsdrang. Manche wachen aus ihrem geistigen (Gehirn-) Schlaf
intervallär zum Niveau einer einfachen mechanischen Arbeitsfähig-
keit auf. Aber die intercurrenten Fluxionen zerstören jeweils die
leise wieder gehegten Hoffnungen. Manchmal schliesst eine Phthise
oder ein Darmkatarrh nach Jahresfrist das schwere Leiden.
2. Die stupide (hallucinatorische) Form. Diese Gruppe bildet eine
klinische Mittelstellung zwischen dem echten Stupor und der folgenden
Gruppe der primären Dementia ohne Stupor. Nach Seite der Bewusst
seinsstÖrung, welche auch hier das primäre und maassgebende Symptom
bildet, mischen sich traumartige und halblucide Phasen; es ist eine Art
blödsinnigen Dämmerzustandes, kein vollständiger Perceptionsabschhiss
ohne Innenleben, wie in der vorigen Gruppe, sondern ein halbwaches
oder selbst zeitweise waches Bewusstsein, aber auf der niedersten Stufe
der Function, kaum zureichend für die nächstliegenden Wahrnehmungen
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„Postmanischer" Stupor. — Stupid-hallucin. Form der prim. Dem. 221
uod einfachsten Reactionen; ein Zustand ungeheuerster Verlangsamang resp.
Hemmung der intellectuellen, gemtlthlichen und psychomotorischen Thä-
tigkeit. Gleichwie beim echten Stupor ist also das gedämpfte und ver-
schwommene Wahrnehmen nicht durch ein abnorm gesteigertes Innenleben,
welches die Reize von aussen abhält, bedingt (wie dies beim psychischen
resp. hallucinatorischen Stupor der Fall), sondern durch eine primäre
Betäubtheit des 8ensoriums, durch eine Functionsschwäche der gesammten
geistigen Hirntbätigkeit. Die dazwischen laufenden Sinnestäuschungen
sind nicht selbständige und formgebende Krankheitselemente, sondern
mehr minder zufällige Begleiterscheinungen — in psychologischer Um-
schreibung ausgedrückt: vereinzelte Reactionen der centralen Sinnesfläche
ohne perceptiv verarbeitende und associirende Thätigkeit des (functions-
schwachen) Grosshirns. Dieselben sind deshalb hier, im Gegensatz zum
hallucinatorischen stupiden Wahnsinn (dem PseudoStupor), auch stets nur
fragmentar und abrupt, während sie bei dem letztern ebenso zusammen-
hängende Romane, ja oft förmliche Traumerlebnisse bilden. In derselben
Weise erheben sie sich , den ausserordentlich plastischen Formgebilden
des letztern gegenüber, sehr oft nur zur schattenhaften Gestaltung einer
sog. Pseudohallucination d. h. der „Objectivation" automatischer und alo-
gischer Gedankenvorgänge in Folge des Torpors der Reflexion.
Gleichwohl bestehen zum stupiden und namentlich zum attonischen
Wahnsinn vielfache und sehr fliessende Uebergänge, deren sichere Ab-
grenzung klinisch nur ermöglicht wird für die reinen Fälle und nur
durch den Gesammtcharakter a potiori: hier (bei der primären Dementia)
more or less absence of cerebration, dort traumartiges Innenleben;
hier motorische Apathie aus demselben Innervationsmangel, dort Atto-
nität oder aber paradoxes Gebahren, „Geberdenverrücktheit" aus Sinnen-
wahn. Eine weitere Differenz bringt der Verlauf beider Zustandsformen
herbei , welcher hier einen einfach aufwärts oder abwärts steigenden
Gang einhält, dort aber einen aus allen psychischen Zustandsformen
gemischten polymorphen und dabei cyklisch zusammenhängenden.
Voraus geht manchmal eine der Umgebung auffällige Zerstreut-
heit des Wesens und Schwäche des Gedächtnisses. Die bis dahin
heitern Mädchen oder jungen Männer werden in ihrer Stimmung
gedämpfter, vorübergehend deprimirt oder theilnahmslos. Niemand
kennt die Ursache (Gemüthsbewegungen , Ueberarbeitungen , Nacht-
wachen, Chlorose, Menstruationsstörungen); die Kranken am wenig-
sten selbst, so wenig sie ihren eigenen geänderten Zustand wahr-
nehmen. Nun überrascht plötzlich eine grundlose Aufregung, welche
unter der Hülle einer manischen Beweglichkeit sofort einen riesigen
Zerfall der Persönlichkeit erschreckend offenbart. Die Kranken
faseln, tischen allerlei träumerische Einfälle auf (glauben plötzlich
in fremden Ländern, im Himmel zu sein, beten, halluciniren gelegent-
lich), Alles mit ungeheurer Indolenz, ohne sich zu verwundern, im-
provisiren auch einen Raptus, brutal und einsichtslos, lachen blöde
wenn sie zur Rede gestellt werden, oder geben ein läppisches Ein-
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222
Die acute primäre Dementia.
falls-Motiv an. In diesem unklaren verschwommenen Wesen, ohne
Consequenz und Ueberlegung, rein nur in der Minute wachend oder
träumend, ohne verbindende Association, dämmern sie hin.
Bringt man sie zu einer Antwort, so geben sie sehr oft und immer
wieder Kopfschmerz an, aber sie wissen ihre Klagen nicht zu verdeut-
lichen, so wenig sie selbst ein Bedürfniss zu Mittheilung äussern. Die
gesprochenen Sätze sind abrupt, unklar, unfertig („ich weiss selbst nicht —
ich bin einmal" — „da macht der etwas vor — ich weiss nicht, wie's
mir ist" u. s. w.). Oft kramt der Kranke affectlos die barocksten Ein-
fälle aus (,Jetzt werden wir verbrannt" — „der dort ist das Kind Je-
sus"). Bald schon wissen sie auch ihren Aufenthaltsort, selbst ihren Na-
men nicht mehr. Vorübergehend kann sich diese Stupidität, in welcher
sie zum Essen u. 8. w. angehalten werden müssen, zu stärkerer und an-
haltender motorischer Erregung steigern. Sehr oft sind es Angstreflexe
auf Hallucinationen ; die Kranken schreien plötzlich „Feuer", suchen in
blindem Drange zu entfliehen, oder sie wiederholen raptusartig lebens-
gefährliche Angriffe gegen die Umgebung, welche sie nicht kennen oder
sehr oft verkennen ; oder endlich sie erschöpfen sich in sinnlosen Drängen
(blasen aus Leibeskräften stundenlang mit aufgeblähten Backen u. s. w.).
Kleidung und Decorum wird nicht mehr beachtet Manche hängen Tage
lang an der Thürklinke, stürzen sich in blindem Drange hinaus, wieder-
holen dabei indolent und mechanisch dasselbe Wort, dieselbe perverse
Phrase. Oft schieben sich auch wirkliche depressive Momente dazwischen,
in welchen die Kranken fortverlangen, oder in kläglicher, weinerlicher
Manier, mit kindischem Jargon, eine Selbstbeschuldigung vorbringen, aber
auch nur wie geistesabwesend, in unklaren, verworrenen, oft unvollendeten
Sätzen. Die Stimmung erhebt sich nicht bis zur Stärke des Affects. Sie
achten nicht die Temperaturunterschiede, kennen Uberhaupt nicht mehr
die kleinste Fürsorge für sich; sie stürzen halbangezogen ins Freie und
stellen sich mit blossen Füssen in den Schnee — so zerstreut, rath- und
reactionslo8 , wie vorher im Zimmer; oder sie trippeln stundenlang mit
unsicherem Schritte eine kurze Wegstrecke hin und her mit steifer ver-
legener Armhaltung und vornüberhängendem Kopfe, tippen gelegentlich
mit den Händen auf den Boden, um diese oder jene Kleinigkeit aus dem
Schmutze zu heben, in den Mund zu fuhren und dem Spiel der Kau-
muskeln zu überlassen. Manchmal gelingt es durch irgend eine Näscherei
oder dargereichtes Obst sie auf eine Stunde zu beruhigen; aber dann
bleiben sie wiederum theilnahmlos sitzen ; reicht man ihnen eine leichte,
gewohnte Handarbeit, so wissen sie nichts anzufangen. Zu Allem, was
sie beginnen, müssen sie angetrieben werden, und nur langsam zögernd,
oft eher auf ein barsches als auf ein freundliches Wort, setzt sich die
träge Maschine in Bewegung. Nicht selten hört das ohne Kraft und
inneren Trieb inscenirte Handeln mit dem letzten Worte, welches zu sei-
ner Aufmunterung gesagt wurde, wieder auf. Auf Anrede geräth der
Kranke in sichtliche Verlegenheit und in unzweckmäßige zitternde Be-
wegungen, erhebt fragend den stieren Blick, wechselt auch die Farbe,
spricht aber nichts, oder bewegt höchstens und fast automatisch die Sprach-
werkzeuge, ohne einen Laut zu produciren, oder von inneren Vorstellungen
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Stupid-hallucinat. Form der prim. Dementia. Verlauf. 223
geleitet zu sein. Seltener nur wird ein leises Lispeln oder ein „Ja" oder
„Nein" vernehmbar, letzteres häufiger als ersteres. Weder die gewählte
Verschiedenheit in Ton und Ausdruck, noch die Schwere oder Leichtig-
keit des Inhalts vermögen einen Eindruck zu machen, oder wenigstens
eine passende Reaction hervorzurufen: er bleibt stumm und hölzern.
Auch die gemüthlichen Interessen sind untergegangen; weder die Lieb-
kosungen, noch die Thränen der Angehörigen beleben die „Bildsäule"
zu einer Action, das gläserne, zerfahrene Auge zu einem „Blick". Ein
Druck scheint auf dem Gehirn zu lasten — auch nach den injicirten
Conjunctivae, dem überwiegenden Carotis- Pulse, dem warmen, zur Tran-
spiration geneigten Kopfe zu schliessen, und dieser Druck lastet, aller
ärztlichen Einwirkungen spottend, oft unverändert durch Wochen und
mehrere Monate.
In günstigen Fällen, welche hier glücklicherweise durchaus nicht
selten sind, bricht nun allmählich eine sichtliche Hebung der ge-
sunkenen Ernährung durch; das Aussehen wird besser. Nach uud
nach nimmt der Kranke auch an der Arbeit Theil, Anfangs noch
mehr zuschauend als mitwirkend, ohne Kenntniss des Zweckmässigen
und ohne Energie. Allmählich regulirt sich der bis dahin ausser-
ordentlich trüge Stuhl; oft wirkt in diesem Stadium auch eine
massige Opiumgabe wahrhaft als „Tonicum" des geschwächten Ge-
hirns. Die Spannung der Züge lässt nach, die Haltung des Kranken
wird freier, Interesse und persönliche Zuneigung stellen sich ein.
Der Kranke gibt Antwort, stellt auch bald selbst Fragen, freut sich
über ihm ertheiltes Lob. So wird fortschreitend das Benehmen
immer natürlicher. An die Stelle des frühern Schweigens tritt so-
gar nicht selten jetzt eine kindische Geschwätzigkeit. Der Kranke
lernt immer mehr sich zu orientiren. Befangenheit und Schwäche
des Urtheils bleiben Anfangs noch lange Zeit zurück, weichen aber
nach und nach der wiederkehrenden frühem Klarheit und Sicher-
heit. Im Verlauf von Monaten — Schritt um Schritt — wird die
Genesung erkämpft.
Bezüglich der Erinnerung an die ttberstandene Krankheit variiren
die Angaben der Kranken bedeutend. Manche wissen Uber den Ausbruch
der Krankheit und das Aufthauen aus dem Stumpfsinn wünschenswerthes
Detail zu erzählen — was aber zwischen diesen Zeiträumen liegt, ist wie
ein vergessenes Traumleben an ihnen vorübergegangen. Andere dagegen
wissen auch aus dieser Phase zu berichten und erzählen jetzt, „dass sie da-
mals ohne Gedächtniss und Empfindung gewesen, dass sie keine Worte
mehr gefunden, dass sie Alles hätten glauben müssen, was an wirren Ge-
danken durch ihren Kopf gegangen". Im Verlauf von 3—4 Monaten kann
die Genesung — und dauernd — erreicht sein.
Ist der Verlauf nicht günstig, so vollzieht sich fortschreitend
der Niedergang zum chronischen definitiven Blödsinn. Die geistige
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Die acute primäre Dementia.
Persönlichkeit zerfällt in Einzelacte unter der Form von zerstreuten
Einfällen, unmotivirten Antrieben und einer zwischen Apathie und
plötzlichen Aufwallungen schwankenden unklaren Gemüthsstimmung.
Auch hier geht (darin verschieden vom secundären Wahnsinn) stets
ein leiserer oder tieferer Sopor — eine begleitende Stupidität — mit.
So kann der Krankheitszustand jetzt schon für dauernd abschliessen.
— In andern Fällen treten unregelmässig, und ganz zusammenhang-
los, Episoden von Furor (Hallucinationen, Zorn-Raptus) dazwischen.
Dann folgen ebenso regellos wieder Stupiditäts- Phasen, manchmal
mit nächfolgender (betäubter) Moria. Mit jedem neuen Anfall ist
ein weiteres Stück geistigen Capitals unwiederbringlich verloren.
Die Verblödung (nach Seite des Kopfes wie des Herzens) schreitet
voran. Viele Kranke vergessen dauernd, wie sie geheissen haben,
sie leben ausser Raum und Zeit, behaupten tausend und noch mehr
Jahre alt zu sein, gestorben und wieder auferstanden zu sein. —
Andere bilden sich zu einer stationären Blödsinnsform aus, in wel-
cher sie in ihrem Vorstellungskreis ganz in der Zeit und Weise, wie
vor ihrer Erkrankung, beharren: sie fahren fort als Kaufleute täg-
lich ihre Waaren, ihren Gewinn und Verlust zu berechnen; die Zeit
und die Umgebung geht an ihnen spurlos vorüber; sie verstehen
nichts mehr davon, bekümmern sich auch um nichts mehr; sie ver-
sinken im Nichtsthun oder in der Monotonie eines längst verlebten
Vorstellungskreises und gemüthlich in einer Indolenz, welche nur
noch für Befriedigung der Leibesbedürfnisse Raum hat. — Wieder
Andere wenden sich einer nichtssagenden Vielgeschäftigkeit zu,
welche treffend als „Form ohne Inhalt" bezeichnet wurde. Sie
üben sich in einen mechanischen Tagesdienst ein, d. h. in ceremo-
nielle Schablonen ohne Werth und Wirkung, postiren sich an die
Thüren, machen devote Complimente an die Ein- und Austretenden,
versehen allerlei nichtssagende Functionen. Andere exerciren reli-
giöse Cultus-Geberden, bekreuzen sich, knieen hin und erheben sich
— Alles in endloser mechanischer Wiederholung. In ihren schrift-
lichen Auslassungen leisten sie Kinderbriefe oder verbalen Gallima-
thias. — Auf noch tiefern Stufen versinken sie endlich in mecha-
nisches Verspielen: sie werden Sammler, denen man jeden Abend
ihre Taschen leert, damit sie dieselben am andern Tage mit der alten
Emsigkeit wieder füllen; oder aber sie verfallen auf automatische
Bewegungen, Strecken und Beugen der Extremitäten, Herumwälzen
des Körpers, GrimasBirungen, Sicb-selbst-Schlagen, fangen ihre Aus-
leerungen auf, schmieren sich ein, verzehren allerlei Unratb (Sand,
Koth , Käfer u. s. w.). Auf dieser Stufe des apathisch gewordenen
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Stupid-ballucin. Form. Ausgänge. — Pseudo- (psychischer) Stupor. 225
*
Blödsinns gesellen sich auch die schamlosen Entäusserungen des
Sexualdranges in Form cynischer Angriffe oder rücksichtsloser Ma-
sturbation hinzu. Besonders zu beachten sind auch für dieses spätere
Stadium die unregelmässig periodischen Raptus von Gewalttätigkeit
(Zerstörungen oder drohende Attaken auf die Umgebung, ohne jedes
Vorzeichen und verständliche Motiv). Weiteres s. u. apath. Blöds.
Von körperlicher Seite haben sich mittlerweile längst sehr be-
achtenswerthe trophische und circulatorische Zeichen aufgethan. Oft schon
nach Dauer von kaum wenigen Wochen bemerkt man eine Überhandneh-
mende Vasoparese in Form der bläulichen, kalten, leicht schwitzenden
Extremitäten. Daneben gehen aber in der Regel auch temperaturerhö-
bende Fluxionen zum Kopfe einher, besonders in den intercurrenten Er-
regungsphasen. Viele Kranke erhalten dadurch ein gedunsenes, braun-
röthliches Aussehen mit Plumpheit der Gesichtszüge und einem zunehmend
stumpferen, oft geradezu brutalen Ausdruck. Auffallend ist daneben oft
der glänzende, eigentlich gläserne, inhaltsleere Blick. (Weiteres s. u.
apath. Blödsinn.)
Anhang. Der hallucinatorische Stupor. (Psychischer Stu-
por; stupider, hallucinatorischer Wahnsinn.) Neuropathische Anlage.
Invalides Gehirn. Nach einem Vorstadium von psychischer Reizbar-
keit mit Erschöpf barkeit, manchmal mit depressiver Stimmung und
primärer geistiger Benommenheit tritt eine Bewusstseinsverdunkelung
bis zu illusorischer Verkennung der Umgebung und einem lebhaften
hallucinatorischen Innenleben ein, mit Willenstorpor und mehr oder
weniger vollständigem (äusserlichem) Stimmungsmangel. Uebergang
in die Genesung theils direct, theils durch ein manisches Zwischen-
stadium mit psychischer Schwäche (Moria).
Die genannte Psychoneurose kommt seltener in reiner und so präg-
nanter Form vor, dass sie für die Signatur des Krankheitszustandes a
potiori maasagebend wird; häufiger erscheint sie als mehr weniger lange
und öfters sich wiederholende Episode in constitutionellen psychischen
Neuropathieen (Hysterie).
Die Vorläufer sind ein gesteigerter Status nervosus, nicht selten
mit sexuellen Reizzuständen, oder (bei Mädchen) menstrualen Stö-
rungen. Depressive Gemüthsaffecte wirken als fördernde Gelegen-
heitsursachen. Anomalieen der Stimmung, namentlich depressive mit
uiotivlosem Weinen, abwechselnd mit Reizbarkeit, Eigensinn, bizarren
Einfällen und Begehrungen, andere Male aber auch eine vage me-
lancholische oder hypochondrische Gemüthslage bilden die Einleitung.
Damit geht ein chlorotischer Körperzustaud mit langsamer Ernäh-
mngsabnahme Hand in Hand. Der Uebergang in den Stupor ge-
schieht allmählich, kann aber auch (namentlich bei Recidiven) rasch
erfolgen. — Der Stupor selbst charakterisirt sich durch Apathie,
Schale, GeisVwVrankbeiteo. 3. Aufl. 15
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226
Die acute primäre Dementia.
Abulie mit Negation, und einem mehr oder weniger tiefen geistigen
Dämmerzustand, welcher aber nie bis zur Stufe der vollen Perceptions-
losigkeit herabsinkt. Die Kranken sitzen herum, ohne Beschäftigung,
äussern kein Interesse für die Umgebung, weichen jeder Bewegung
aus, lachen viel vor sich hin, beachten kein Decorum, sind wider-
strebend gegen Nahrungsaufnahme, An- und Ausziehen, werden ge-
legentlich bei Zuspräche auch heftig, bleiben indolent gegen Auf-
munterung oder Zurechtweisung. Hin und wieder, bei stärkerem
Eindringen, werden Aeusserungen laut, welche das ausgedehnte
hallucinatorische Innenleben und gänzliche illusorische Verkennen
der Umgebung kundthun.
In den Speisen sind Mistkäfer; die zerschnittenen Fleiscbstücke sind
belebt und bewegen sich ; auf der Hand kriechen Schlangen und veran-
lassen die schüttelnden, oft automatisch träumerischen Abwehrbewegnngen ;
die Umgebung stinkt, in die Ohren sind unreine Ingredienzien gestrichen,
die Zunge gibt Giftgeschmack u. s. w.
Dabei bleibt die Stimmung anscheinend indolent und sind die
Kranken schlaff und regungslos, wenn man sie nicht anredet, oder nicht
ein innerer Antrieb sie zum Lächeln oder zu irgend einem gelispel-
ten Worte bringt. Die Reinlichkeit wird nicht beachtet, ebenso wenig
die Fürsorge für die Kleider. Initiative und Interesse fehlen. Der
Kranke beharrt durch Wochen hindurch in diesem Dämmerzustand.
Die Innervation der Muskeln zeigt keine Anomalieen (s. u.); auch
Puls und Temperatur nicht. Die Sensibilität ist erhalten, das Aus-
sehen blass, die Körper-Ernährung sachte zurückweichend. Sonstige
trophische Störungen und Lähmungserscheinungen (Salivation) wer-
den nicht beobachtet Oft steigern sich die perversen Empfindungen
bis zum Gefühl, dass Körpertheile fehlen, oder statt des eigenen
Kopfes ein falscher aufgesetzt sei. Auch diese innern Wahrnehmungen
gehen meist reactionslos in der unermesslichen Schlaffheit, welche
selbst zu wochenlanger Bettsucht führt, unter. In andern Fällen
folgt aber ein reactiv manischer Zustand, gewöhnlich in Form eines
gereizten Furors mit triebartigen Entäusserungen und einem zwischen
zorniger Gereiztheit und weinseliger Heiterkeit schwankenden Stim-
mungswechsel.
Nach kürzerer oder längerer Dauer (Wochen, aber auch meh-
rere Monate) tritt nach und nach Ruhe und Klarheit ein, oft lang-
sam (s. u.), andere Male plötzlich, oft sofort dauernd, andere Male
transitorisch auf Stunden , und dann sofort wieder durch neues Ver-
sinken in die Traumphase abgelöst. Mittlerweile hat sich das ge-
sunkene Körpergewicht und die Ernährung gehoben, in der Regel
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Pseudo- (psychischer) Stupor. Krankheitsbild. Verlauf. 227
in steiler Curve. Diese letztere setzt ihren Anstieg fort, auch wenn
(bei langsamer Reconvalescenz) die manische Uebergangsphase sich
einschiebt. Dieses Zwischenstadium besteht in der Regel in einer
Aufregung mittleren oder auch nur massigen Grades mit dem Cha-
rakter der Moria (zuweilen mit Chorea).
Heitere muthwillige Stimmung mit Neigung zu allerlei Schabernack,
rastloser Handlungsdrang mit beständigem Wechsel der Beschäftigung,
Zerstreutheit mit Hingabe an bizarre Einfälle, gewöhnlich mit grosser
Reizbarkeit und emotivem Wesen, so dass auf jede Einsprache oder
einen versagten Wunsch sofort kindischer Trotz und Starrsinn, andere-
male aber auch rasch aufbrausender Zorn erfolgt; Disputirsucht oder ge-
hässiges Zuwiderhandeln mit alberner Auflehnung gegen das Gebot oder
Verbot — sind die wesentlichen Züge.
Nach und nach, meist erst nach Wochen, gleicht sich dieselbe
unter weiterer Besserung der Ernährung und Blutmischung (bei
Mädchen nach Regulirung der retardirten resp. cessirenden Menses)
unter vorsichtiger psychischer Behandlung in die Genesung ab. Die
Erinnerung an die durchlebte Stupor- Phase ist eine oft bis in die
Einzelnheiten getreue; man erstaunt dabei über das bizarre Traum-
leben, welches die Kranken geführt haben.
Eine solche Patientin reiste in andere Welten oder im Fluge durch
audere Länder; vor ihr entstanden Städte und versanken; über die Erde
weg flog sie zur Sonne und wurde von göttlicher Wonne durchglüht;
dann bildete sie als Centrai-Sonne den Mittelpunkt des „Alls", an wel-
ches die anderen Wesen „wie magnetisch" sich angliederten u. s. w. An-
deremale wandelt sie sich in Thiere um, bald in Blindschleichen, dann
in Löwen oder in einen Mammuth, in dessen Gestalt sie der Sintfluth bei-
wohnte, und anschwimmende Leichen abzuwehren hatte. Alles um sie
lebte: Heere von Soldaten, klein wie Käferchen, aber aufs Vollstän-
digste equipirt , „sogar mit Blechmusik" zogen sie in ihrem Zimmer auf,
und schlüpften behend in die Poren ihres Körpers ein. Von sich selbst
hatte sie bald richtiges Bewusstsein, bald fühlte sie sich in allerlei
Körper- und Seelenwandlungen. Am merkwürdigsten imponirten ihr die
eigentümlichen illusorischen und hallucinatorischen Spiele während des
Stupors: sie sah die eintretenden Personen, aber in beständig neuen
Masken; plötzlich konnten dieselben ganz verwesen in Luft oder ver-
glimmen in feuriger Lohe, oder auch in „schwarzer Lethe" zerrinnen —
vorübergehend zur empfindlichen Trauer der Kranken. Die Illusionen
im vorgesetztem Essen waren geradezu haarsträubend: abgeschnittene
Menschenköpfe, „flehende Augen", Zungen, Leichentheile ; dann aber
auch wieder Schlangen und Würmer krochen täglich Uber ihren Speise-
teller. — Aus der Zeit des sich lösenden Stupors wird namentlich die
Erinnerung an die ersten, wieder richtigen Wahrnehmungen aufbewahrt,
welche Anfangs noch neben jenen Schattenfiguren einherliefen, aber doch
wirksam blieben. So wissen manche Kranke getreu und lebhaft von dem
ersten nachhaltigen psychischen Eindruck zu erzählen, von einem freund-
15*
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228
Die acute primäre Dementia.
liehen Wort, einer ihnen erwiesenen Aufmerksamkeit (Blume), woran sie
sich wieder zur Wirklichkeit emporrankten und fortschreitend sich selbst
wiederzufinden vermochten (s. Melanch.).
Es gibt nun auch noch gewisse Fälle von hallucinatorischem
PseudoStupor mit Status attonitus in Form vorübergehender allge-
meiner oder localer kataleptischer Zustände (minutenlanges Auf-
heben des Armes, tage- und wochenlange Schief haltung des Kopfes;
Einschlagen oder Ausstrecken eines oder mehrerer Finger u. s. w.)
und gleicher Verlaufsform wie die vorbeschriebene. Es ist klinisch
bemerkenswerth , dass bei diesen Uebergängen zum echten Stupor
die mitbegleitende vasomotorische Neurose fehlt, oder nur als Träg-
heit und Schwäche der Circulation (welche hier ebenso gut einfaches
Symptom der allgemeinen Anämie sein können) angedeutet ist.
b. Die acute primäre Dementia ohne Stupor. Diese zweite Haupt-
gruppe steht bezüglich der Häufigkeit ihres Vorkommens der vorher be-
schriebenen (mit Stupor) zweifellos nach. Doch sind die mittelgradigen
Zustände immerhin in postfebrilen Zuständen, namentlich nach schweren
Infectionskrankheiten wie Typhus und Variola, und speciell im Puerperium,
noch ziemlich häufig. Die extremen und zugleich acut resp. subacut ver-
laufenden Fälle durften dagegen sehr selten sein (Bins wanger). Zahlrei-
cher sind die Fälle von primärer hochgradiger Dementia mit chronischem
Verlauf, worunter die nach Kopfverletzungen ätiologisch in erster Reihe
stehen.
Als postfebrile Psychose stellt die primäre Dementia den acuten
Erschöpfungszustand des Gehirns nach dem consumirenden Fieber-
process dar. Die Kranken sind motorisch und psychisch aufs
Aeusserste geschwächt. Sie sitzen tagelang herum, ohne ein Wort
zu sprechen; die Wahrnehmungen sind ihnen unklar und selbst in
der einfachsten Form unverständlich. Sie wissen sich nicht in ihrem
Aufenthalte zu orientiren, und müssen gepflegt werden wie Kinder.
Die leichtesten Rechenexempel misslingen; manche Kranke ver-
sichern, dass sie Anfangs sogar ihren Namen nicht mehr gewusst
hätten. Die Stimmung ist indolent oder weinerlich. Mit zunehmen-
der Körperkräftigung tritt die psychische Reconvalescenz ein, und
erholt sich der Kranke aus seinem transitorischen Blödsinn wieder
in den allmählichen geistigen Vollgenuss des Status quo ante. Manch-
mal geht dieser Weg zur Genesung erst durch zwischenlaufende
manische Erregungszustände hindurch. Andere Kranke behalten
auch nach der Genesung noch auf Jahre hinaus eine geistige Er-
schöpfbarkeit und geringere Widerstandsfähigkeit.
Hierher gehören auch die in der Literatur aufgeführten Fälle von
primärer acuter Dementia nach Strangulationen, sowie nach Kohlenoxyd-
gas- Vergiftungen. Ich vermag dieselben um eine Beobachtung zu er-
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Klin. UebergäDge zwiscb. psych, u. org. Stupor. — Prim. Dem. ohne Stupor. 229
weitem. Ein 4 6 jähriger, erblich nicht belaateter Mann, gerieth aus
psychischen Ursachen in beginnende Melancholie, in welcher er einen
Erhängungsversuch machte, aber noch rechtzeitig abgeschnitten wurde.
Heftige Convnlsionen und ein Zustand stupid-manischen Gebahrens durch
mehrere Stunden folgten der gelungenen Rettung. Von nun an war
der Kranke blödsinnig, und zwar machte er den Eindruck eines
Paralytikers mit ungleichen Pupilleu, ungleicher Innervation der Gesichts-
züge, steifem Gange, verlangsamter Sprache. Letztere führte der Kranke
selbst auf die überstandenen Krämpfe (nach dem Erhängen) zurück. Der
psychische Zustand war der einer vollständigen Indolenz mit weiner-
lichem Wesen, geschwächtem Gedächtnis und Urtheil, raschem unmoti-
virtem Umschlag der Stimmung von euphorischem Wohlbehagen in kin-
disches Weinen. Der Kranke wusste sich nicht auf unmittelbare Vor-
gänge zurückzuerinnern, und sagte wiederholt selbst: er sei blödsinnig.
Nach Umflus8 von 8 Monaten langsam beginnende Besserung mit
allmählichem Uebergang in Heilung, aber bleibendem leisem De-
fect. Später, nach Jahren, Recidive mit Uebergang in Unheilbarkeit. —
Auch die psychischen Schwachsinnszustände , welche im Gefolge der
Cachexia strumipriva auftreten, dürften hier einzureihen sein. —
Unter den Graviditätspsychosen sind namentlich die milderen
Fälle relativ häufiger. Man trifft nicht selten nach einem Partus
mit starkem Blutverlust und nachfolgender angreifender Lactation
(besonders bei ungenügender Ernährung oder nach Gemttthsbewe-
gungen) primäre geistige Schwächezustände ganz acuter Entstehung,
welche direct das Bild einer ausgeprägten Dementia darbieten.
Meist sind es die versatilen Formen des Schwachsinns : die hoch-
gradig anämischen Kranken gerathen nach kurzem Vorstadium eines ge-
steigerten Status nervosus mit Schlaf losigkeit in Unruhe; sie wissen sich
in ihrer Umgebung nicht mehr zurecht zu finden, kennen Kind und Mann
nicht mehr, haben keinen Sinn für die einfachsten Anforderungen des
Decorum, müssen gepflegt und zur Beachtung der Reinlichkeit und Ein-
nahme der Nahrung angehalten werden. Ohne jede Schätzung einer
Gefahr machen sie lachend die waghalsigsten Experimente, sie verzehren
ohne Sättigungsgefühl, was ihnen in die Hand kommt, nehmen weg, was
sie sehen, und stecken es ein. Dabei vermögen sie kaum auf die ein-
fachste Frage Antwort zu geben, sie widersprechen sich ohne es zu
merken, finden die einfachsten Worte nicht mehr, machen die barocksten
Umschreibungen (Pseudaphasie), verkennen die Personen (und zwar immer
wieder anders, je nach ihren Einfallen), leben — wach — ausser Raum
und Zeit.
Andere scheinen ihre Vergangenheit ganz vergessen zu haben, leben
barmlos und unbekümmert in den Tag hinein, haben keine Frage und
keine Antwort. Für sich bilden sie bald ein Perpetuum mobile (wobei
sie stundenlang im Kreise herumlaufen, dieselbe Melodie pfeifen, son-
derbare Bewegungen mit Kopf und Händen machen, bei jeder Annähe«
rang oder Berührung sich schütteln oder grimassiren j ; bald kauern sie
in den Ecken umher, bespucken den Boden, schreien oder lachen gele-
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230
Die acute primlre Dementia.
gentlich hinaus, leben nur in Minuteneinfällen, in welchen sie sich ver-
spielen, oft kindisch, oft mehr in der Form einer neckischen oder brutal
plumpen Moria. Dazwischen treten auch dann und wann einzelne Hallu-
cinationen ohne System und Ordnung, welchen die Kranken bald indiffe-
rent sich hingeben, bald aber auch durch panphobische oder gewalttä-
tige Reactionen antworten. Oft halten sie stundenlange Monologe in
wechselnden Sing- und Brummtönen; anderemale sind sie in tagelangeil
Schweigen versunken und widerstreben heftig. Der Verlauf kann ein
günstiger sein (durch die Moria hindurch mit zunehmendem psychischen
G ehalt und Hemmungsvermögen), nicht selten aber auch ungünstig (Onanie)
zu dauernder blödsinniger Abstumpfung.
Seltener ist die acute apathische Form des Blödsinns. Der
Binswanger'sche Fall bietet eines der wenigen bis jetzt bekannten
und zugleich eclatantesten Beispiele.
Eine Frau von 30 Jahren, ohne erbliche Belastung, mit guter
Schulbildung, aber von dissolutem zugleich kümmerlichem Lebenswandel,
wird schwanger und gerätb (gegen Ende) nach einer flüchtigen Aufre-
gung (lautes, unarticulirtes Schreien, verworrenes Sprechen) in einen Zu-
stand tiefster geistiger Abstumpfung, in welchem sie ihren Namen, ihr
Alter nicht mehr weiss, die einfachsten Gegenstände verwechselt, meist
nur mit irgend einem gerade einfallenden Worte oder aber mit Brummen
antwortet, nicht einmal an die inzwischen erfolgte Niederkunft sich er-
innert, die dahinzielenden Fragen bald bejaht, bald verneint. Körper-
licher8eits war Kühle der Extremitäten, sehr herabgesetzte Aesthesis,
unwillkürlicher Urinabgang vorhanden. Die Kranke erholt sich einige
Wochen nachher unter gleichzeitiger Hebung des sehr herabgesetzten
Körpergewichts allmählich wieder zur Besserung ihrer geistigen Fähig-
keiten auf den Status quo ante; bleibt aber ohne Erinnerung an die
durchlebte Zeit der Erkrankung. —
Dieser Beobachtung einer directen, ohne Stupor, eingeleiteten pri-
mären Demenz, welche sich von dem sonst Symptomengleichen, apathisch-
secundären Terminal-Blödsinn nur durch Heilbarkeit unterschied, kann
ich zwei weitere aus meiner hiesigen Beobachtung anführen. Die erste
betrifft mehr einen partiellen acuten Blödsinn — eine primäre Ge-
föhlsabstumpfung und Abulte mit theilweiser Amnesie und vollständiger
intellectueller Interesselosigkeit, gleichfalls im Gefolge des Puerperiums.
Eine junge, in sehr angenehmen Verhältnissen glücklich lebende verhei-
rathete, Frau war im Anfang der zweiten Schwangerschaft vorübergehend
leicht melancholisch afficirt, aber später wieder geistig wohl geworden.
Da begibt sie sich in einem der letzten Graviditätsmonate, nachdem sie
heftige Leibschmerzen gefohlt hatte, auf das Closet und legt sich nach-
her, ohne dass der Umgebung das Mindeste aufgefallen wäre,
zu Bett. Am dritten Tage, nachdem die Kranke ganz zufrieden und
ohne Klage sich im Bette gehalten, bemerkt man Blutspuren. Der her-
beigerufene Arzt constatirt eine vor einigen Tagen stattgefundene Nie-
derkunft, welche, wie die spätere Untersuchung erwies, auf dem Abort
sich vollzogen hatte. Die Kranke, welche im Moment der Niederkunft
nicht bewusstlos war, aber das Vorgefallene vergessen hatte,
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Primäre Dementia ohne Stupor.
— Therapie.
231
blieb auch nachher vollständig indifferent. Sie war oberflächlich heiter,
aber abuliscb, bekümmerte sich um Nichts, nahm Alles wahr, gab rich-
tige Antworten, und hielt nur auf ihre Bettlage. Sie war sehr anämisch.
Nach vorübergehender scheinbarer Besserung durch eine Zerstreuungs-
reise stellte sich mit dem Widereintritt der Menses derselbe acut blöd-
sinnige Zustand abermals ein. Erst eine mehrmonatliche Cur in einem
Asyl befreite sie jetzt dauernd aus der geistigen Abstumpfung, und stellte
ihre frühern psychischen Fähigkeiten in vollem Umfang wieder her.
Der zweite Fall ist durch seine Anamnese bemerkenswerth. Ein
junger Mann wurde durch den heftigen Knall einer unerwartet neben
ihm losgehenden Kanone aufs Tiefste erschreckt und büsste zugleich sein
Gehör ein. Sofort nach diesem Ereigniss trat eine Umänderung seines
Wesens ein: früher freundlich, wurde er jetzt düster, menschenscheu, ge-
reizt, wollte nicht mehr arbeiten; auf Zuspruch benahm er sich heftig
und gewaltthätig. In der Folge progressive und rapide Zunahme des
Blödsinns: allgemeine Theilnahmlosigkeit, starrsinniger Widerstand, zeit-
weiliges Schimpfen mit Andeutungen von Verfolgungswahn (Gehörshailuc.) ;
Verstösse gegen das Decorum, Gehässigkeit. Unaufhaltsamer Zerfall in
bleibenden apathischen Blödsinn. — Daran schliessen sich die acuten
primären Dementia-Zustände aus Kopfverletzungen an (s. die Monogr.
von Sehlager, Krafft-Ebing und die neueste Bearbeitung von Hart-
man n, Aren. f. Psych. 15).
Therapie.
Die Behandlung des attonischen Stupors ist eine symptoma-
tische: Bettruhe, Sorge für genügende Ernährung, für Reinlichkeit.
Manchmal genügt die Darreichung kräftigen Leguminosen-Schleims
(Peptonchocolade) mit dem Löffel, welchen man vorsichtig bis gegen
den Zungengrund vorschiebt, anderemale ist die Sonde nöthig. Für
Reinhaltung des Mundes ist bei dem starken Ptyalismus durch Aus-
spülung mit Kali chlor. Sorge zu tragen. Pflege der Haut durch lau-
wanne Bäder (Seifenbäder). Grosse Sorgfalt beim Wechseln der
Bettwäsche, da ein festeres Anfassen des Kopfes mit der flachen
Hand schon genügen kann ein Othämatom zu erzeugen. Von Zeit
zu Zeit Probung, ob nicht hinter der äusseren Stupormaske bereits
einige Perception wiederzukehren begonnen hat: dies geschieht durch
Application leichter Hautreize (Kitzeln, passive Gliederbewegungen
u. 8. w.), welche wiederholt werden, sowie sich einige Reaction
seitens des Patienten zeigt. Unter sorgfältiger Berücksichtigung der
nervösen Erschöpfbarkeit des Kranken wird die Wiederholung in
grösseren Pausen fortgesetzt. Oft versagt der Versuch nach anfang-
lichem Gelingen wieder, und man muss aufs Neue zuwarten ; andere
Male aber, besonders wenn bereits der Fortschritt der Körperernäh-
rung, die Hebung des Pulses, zeitweilige spontane Bewegungen des
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232
Die acute primäre Dementia.
Kranken den Nachlass des Hemmungszustandes ankündigen, werden
die Reactionen des Kranken immer ausgiebiger, zielvoller, mit sicht-
lichem Affect begleitet. Nicht selten gelingt es so die leise be-
gonnene Reconvalescenz zu beschleunigen, und den Kranken mehr
minder rasch zur Perceptionsfdhigkeit zurückzuführen. In anderen
Fällen vollzieht sich diese Rückkehr mit Besserung des somatischen
Zustandes von selbst. Die nun folgende Erholungs- oder Reactions-
periode ist nach psychischer und somatischer Seite aufs Sorgfältigste
ärztlich zu leiten. Der wieder erwachende Kranke ist entweder
schwachsinnig ruhig und indolent, oder schwachsinnig aufgeregt und
reizbar. In beiden Fällen gilt es: die kleine geistige Kraft zu
schonen, sie methodisch langsam zu üben ohne Uberanzustrengen,
sie gemüthlich anzuregen ohne zu reizen. Es gilt nichts Geringeres
als die Rückerziehung eines einsichtslosen, oft eigensinnigen, auf
directen Widerspruch oft convulsivisch reagirenden Kindes. Bei ge-
steigerter Reizbarkeit Xeres mit kleinen Gaben Opium; häufige lau-
warme Bäder; Gewährung kleiner Aufmerksamkeiten, von Esswün-
schen u. s. w. Daneben körperlich umfassende Methodus roboraus
(China, Malz-Extract, Bettruhe, Diät, Sitzen im Freien u. s. w.);
sachter Wiederbeginn einer leichten, vorerst mehr mechanischen Be-
schäftigung. Grosse Vorsicht mit Besuchen der Angehörigen, oder mit
Briefen! Diese Reconvalescenzzeit ist oft auf lange Wochen hinaus
eine grosse Geduldsprobe für den Arzt; der Kranke muss förmlich
Schritt um Schritt wieder in die frühere Norm eingewöhnt werden;
andere Male vollzieht sich die Rttck-Orientirung rascher. Der Ge-
nesene muss einige Zeit noch Quarantäne in der Anstalt halten. —
Die hallucinatorisch-stupide Form verlangt neben sorg-
samer somatischer Pflege (Diät, Schlaf) möglichste Beruhigung gegen
die verwirrenden Einwirkungen der Hallucinationen. Gegen diese
wirkt wiederum Opium sehr oft zurückdrängend; bei Widerstand
des Kranken in subcutaner Form. Nimmt die acut demente Be-
täubung zu, dann sorgfältige Aufsicht gegen mögliche Selbstbeschä-
digung des Kranken (Verschlucken!), für regelmässige Besorgung
von Urin und Stuhl, gegen intercurrente Congestionen (Bäder, Hiru-
dines, Ableitungen; bei Frauen Beachtung der event. cessirenden
Menses). Wird der Zustand chronisch, zeigt sich livide und gedun-
sene Gesichtsfarbe, event. Stirnödem, dann sind in Pausen wieder-
holte Ableitungen angezeigt; mehrfach erwies sich uns jetzt die
Einreibung der Brech weinsteinsalbe sichtlich günstig; bei reactiven
Aufregungszuständen sind Bäder und Opium indicirt Sobald es
angeht und die Körperkraft es zulässt, muss sofort mit der Rttck-
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Das hysterische Irresein.
233
erziehung des Kranken begonnen werden, welcher oft noch lange
in seinen Sinnestäuschungen sich verspielt: eine individuell ange-
paßte Beschäftigung führt auch hier am sichersten in die Wirklich-
keit ein. — Bei Frauen sind die Menseszeiten sorgsamst zu beauf-
sichtigen (Bettlage).
Der anergetische Stupor erfordert, frisch entstanden, Ruhe
(psychisch und körperlich), Uebung der Ernährung, sorgsamste Abhaltung
aller Reize, Bekämpfung intercurrenter Fluxionen. Wiederholt leisteten
mir methodisch Priessuitz'sche Einpackungen mit Eisbehandlung des Kopfes
gute Dienste. Die Nahrungsverweigerung kann vorübergehend Sonden-
gebrauch erfordern. In spätem protrahirten Stadien (wenn alle fluxionären
Reizerscheinungen vorUber) sind zeitweilige Kopfdouchen ein sehr wirk-
sames Mittel; ebenso faradische Pinselung. Daneben Erziehung zu kör-
perlicher Beschäftigung mit Muskelbewegung (Massage unter Umständen).
Während der ganzen Stuporzeit ist sorgfaltige Beaufsichtigung (gegen
etwaige Raptus von Gewaltthätigkeit) Uber den Kranken zu führen.
Das hysterische Irresein.
Literatur über Hysterie im Allgemeinen siehe Jolly, d. Handb. 12,
mit ausführt. Literatur.
Hysterisches Irresein: Morel, I.e. — v. Krafft-Ebing, Lehrb. II.
— Hyster. Epilepsie: d'Olier, Ann. m£d. psych. 1881. — Richer, Monogr.
Paris ISS I . — F6re, Arch. deNeur. 1882. — Huchard, Ibid. — Dobie, Brain
1SS2. — Mabille, l'Enceph. 1S83. — Bourneville et Bonnaire, Arch. de
Neur. IS84 (bei einem jungen Manne). — Aetiologle: Skene, Arch. of med. III.
u. Schm. Jahrb. 186 (Zusammenhang mit weiblichen Sexualerkrankgn.). — Opera-
tive Therapie: Maenner, Deutsche allgem. Wochenschr. 1881 (Castration mit
Erfolg). — Landau u. Reimak, Zeitschr. f. kliu. Med. VI (gegen). — Goodell,
Am. Journ. of Ins. 1S82 (theilweise erfolgreich). — Flechsig, Neurol. Centrlbl.
1>S4. (Erfolg). — Richter, Berl. kl. Wochenschr. 188U. (psych. Therapie bei mo-
tor. Störungen). — Culerre, Ann. me\l. psych. 18S0. (Metallotherapie).
Neuere Epldemieen: Chiap, G. e F. Franzolini, Riv. Bper. V. —
Tamburini, Ibid. — Colin, Ann. d'hyg. publ. isso.
Die Grundlage der hierher gehörigen ausserordentlich formen-
reichen psychopathischen Zustände bildet das sog. „hysterische Tem-
perament" d. h. der in succum et sanguinem übergegangene byste-
risch-neuropatbische Charakter. Dieser letztere kann entweder die
Weiterentwickelung und Vollendung der hereditären Neurose (s. d.)
bilden, oder aber erworben sein in Folge eines invalid gewordenen
Nervenlebens , wobei gewisse Sexual- und Uterinzustände von er-
fahrungsgemäss wichtigem Einflüsse sind.
a) Das hysterische Temperament. Bezeichnen wir in Kürze
dessen Signatur, so lautet diese in klinischer Hinsicht: gesteigerte
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234
Das hysterische Irresein.
Erregbarkeit mit Schwäche; in physiologischer: Ueberwiegen
der Reflexthätigkeit Uber die cerebralen Hemmungsfunctionen neben
erhöhter Convulsibilität der infracorticalen (sensoriellen und sensibeln)
Centren; in psychologischer: krankhafte Gemtithsreizbarkeit
neben Willensschwäche, gesteigertes Phantasieleben ; endlich in psy-
chophysischer: abnorme Minderung des intracerebralen Leistungs-
widerstandes, Erniedrigung der Empfindungssch welle, Discontinuität
der höchsten psychischen Wellenlinie (des bewussten Denkens, Em-
pfindens, Strebens). Die krankhafte Gemtithsreizbarkeit und gestei-
gerte reflectorische Erregbarkeit (1) stehen für unsere Betrachtung im
Kern des klinischen Bildes. Die Kranke wird durch jeden sensibeln
Eindruck abnorm tief und nachhaltig beeinflusst, und zwar sowohl
durch körperliche Empfindungen als durch gemüthliche Emotionen.
Dabei stehen die beiden letzteren so im Zusammenhang und Wechsel-
wirkung, dass jede GemUthsbewegung abnorm leicht durch den „sen-
sibeln Nervenbaum" zittert, und sich in irgend einem Locus dolens
fixirt, oder vasomotorische Stürme aufruft. Durch dieses associirte
periphere Moment vollzieht sich aber eine Bindung des centralen
psychischen Factors, so zwar, dass das Ich sich von den erlittenen
Gemtithseindrilcken abnorm schwer mehr befreien kann, von den-
selben „organisch" beherrscht bleibt. Bei der gesteigerten Reflex-
thätigkeit treten mit den Hyperästhesieen auch motorische Convul-
sionen in dieses Associationsverhältniss: die Emotion, der peinliche
Gedanke, löst jetzt auch einen Krampfanfall aus, nicht selten unter
hallucinatorischer Begleitung und entsprechender Verdunkelung des
Bewusstseins; oder aber es entsteht eine plötzliche Verwirrtheit mit
perversen Acten, aus welchen erst ein längerer Schlaf wieder zur
Lucidität und Selbstflihrung zurückleitet (s. unten „hyster. Irres.").
Hallucinatton, Neuralgie (im weitesten Sinne), Krampf bleiben —
einmal geweckt — in der besprochenen „psychischen Function"; sie
bilden den gefühlten Wiederhall für das gereizte Gemüth, bald aber
auch die Signale, welche, von anderwärts aufgerufen, rückwirkend
dem Ich die associirte Stimmung zuführen und aufdrängen ; sie wer-
den Resonanzboden und tonangebende Stimmungsclaviatur zugleich.
Diese directe und unmittelbare Abhängigkeit vom körperlichen Befin-
den — des Gemüths von den Nerven — erzeugt eine ausserordentlich
labile Gemüthslage, ein stetes Schwanken, eine (geistig unmotivirte,
körperlich begründete) Launenhaftigkeit. Diese ist der z w e i te Haupt-
grundzug im Temperament der Hysterischen. Die Umgebung und
Eindrücke werden unter die unerbittlichen Kategorieen von Augen-
blickssympathieen oder -antipathieen gestellt und darnach das Han-
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Hysterischer Charakter (Temperament).
235
dein entschieden. Für das prüfende Urtheil ist kein Platz; an die
Stelle der „Reflexion" ist das „Reflex"handeln getreten. Kommt
die Reflexion nach, so dringt sie nicht bis znr Einsicht der Kranken
in ihr unüberlegtes Benehmen durch ; anch auf dieser Stufe beharrt
die dominirende Macht des nervös reizbaren Gemüthes, welches den
„Verstand" höchstens zur nachträglichen Rechtfertigung für das un-
überlegte (in Wahrheit: organisch aufgezwungene) Benehmen zulässt.
Aber diese logisch unbegreiflichen» anziehenden und abstossenden
Neigungen begegnen sich ausserdem noch in einem Oontrastspiel :
oft wird geradezu für die antipathische, abstossende, entschieden ; je-
doch für gewöhnlich nicht absichtlich, sondern auch wieder in Folge
eines nervösen „Muss" — diesmal, weil die anfängliche Scheu vor
dem Widerlichen eine convulsive Neigung wachruft in Form des
„Kitzels", und so gerade das Widerliche in den Sinnesempfindungen,
das Barocke und Paradoxe in den Strebungen der Kranken anzieht.
Ohne Zweifel wurzelt in dieser physiopsychologischen Verkettung zum
grossen Theile die wunderliche Sucht dieser Kranken nach Origina-
lität, der unwiderstehlich prickelnde Hang zum Widersprach, zum
Nörgeln und Disputiren — dieser dritte Hauptzug im hysterischen
Wesen. Daran d. h. an diese unwillkürliche Verkettung knüpft sich
endlich aber auch die bewusste Reflexion der Kranken über diese
Eigenart und der schliessliche Hang nach Auffälligkeiten, die schlecht
verhüllte Absichtlichkeit sich um jeden Preis „interessant" zu machen.
Ausserdem bringen auch Viele, namentlich solche mit originär neuro-
patbischer Anlage, einen gewissen Zug erhöhten Selbstgefühls mit,
welcher sie von jeher ebenso empfindlich gegen die Frictionen
des Lebens als eingebildet in ihrer eigenen Werthschätzung macht.
Es ist eine verhängnissvolle Erfüllung des alten Spruchs: dass der
Mensch das Maass der Dinge sei — wenn dieser Maassstab seine
schwankenden Pole in der jeweiligen Stimmunglage kranker Ner-
ven trägt!
Daraus resultirt der nie fehlende Egoismus dieser Kranken —
der vierte Charakterzug. Gewohnt immer auf sich zu achten, aber
auch immer wieder an ihren Körper gemahnt durch die krankhaft
gesteigerte nervöse Empfindlichkeit, machen sie auch den Anspruch,
in ihrer Leidensflllle als „Dulderinnen" entsprechend anerkannt und
berücksichtigt zu werden. Während sie in ihren Rechten sich
immer höher steigern, vergessen sie ihrer Pflichten gegen die Um-
gebung: sie vernachlässigen ihre Berufsaufgabe, werden unempfind-
lich für das Leiden Anderer, indolent für die grossen Ereignisse des
Tages.
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236
Das hysterische Irresein.
Aber der Proteus der Krankheit erschöpft sich nicht in dieser
Richtung der erwähnten Charakterzüge. Oft ist gegentheils eine
Ueberbethätigung altruistischer Gefühle und Strebungen vorhanden;
die bis dahin nur auf sich zurückgezogene Kranke beginnt Werke
der Wohlthätigkeit zu üben, vermag sich darin nicht genug zu thun.
In der That darf die jetzt oft unermüdliche Bethätigung, an sich
und durch die Weise wie Jene plötzlich sich und ihr tausendfaches
„Weh und Ach" vergessen konnte, manchmal ihres Gleichen suchen.
So finden sich namentlich auf dem Gebiete der Krankenpflege solche
staunenswerthe Leistungen hysterischer Kranker, welch letztere kurz
zuvor noch als Convulsionäre den Rath des Arztes auf schwere Proben
gestellt hatten. Gewiss liegt diesen hysterischen Grossthaten viel-
fach ein egoistischer Zug — das Streben anerkannt und bewundert
zu werden — zu Grunde; aber für alle Fälle ist dies auch wieder
nicht zutreffend. Es gibt ohne Zweifel darunter viele edle Naturen,
welche nur durch ein hohes, echt sittliches Streben der Krankheit
ihr Können abrangen — im wahren Sinne „durch die Macht des
Gemütbs ihrer krankhaften Empfindungen und Gefühle Meister wur-
den." Freilich leider nur vorübergehend; denn in der Regel folgen
auf diese Parforceleistungen rächende Ermattungen — ein weiterer
Charakterzug im hysterischen Temperament, welches überall und
immer den Gegensatz des „Stetigen" repräsentirt , auch darin die
Krampfnatur bewahrend: erst Ueberleistung, dann Erschlaffung, und
zwar meist in periodischen Schwankungen wechselnd.
Den verhängnissvollsten Eingriff in das Gemüthsleben übt die
Hysterie durch ihre Schädigung der moralischen resp. ethischen Ge-
fühle im engeren Sinne. Glücklicherweise betrifft dieser Charakter-
zug nur einen Bruchtheil der Fälle und zwar die schwersten Grade,
so dass derselbe im psychischen Symptomenbilde das eigentlich
degenerative Element des hysterischen Charakters darstellt. In seinen
Grundzügen, richtiger in seiner negativen Entfaltung, lag derselbe
bereits im Egoismus der Kranken (s. oben) ausgeprägt. Doch betraf
er hier vorwiegend nur die sittliche Schwäche, den Mangel alt-
ruistischer Gefühle und Neigungen als Folge der krapkhaften Con-
centrirung aufs eigene Ich. Hier aber tritt er activ auf in der Form
moralischer Perversion — als krankhafte Bosheit, Verlogenheit, Ver-
läumdungssucht, Cynismus — und macht diese Kranken mit Recht
in ihrer Familie unmöglich, in der Anstalt, dem einzigen Deteutions-
orte, gefürchtet.
Eine besondere Erwähnung verdienen die nicht selten ganz auoroalen
Sexualgefühle. Die bezüglichen Verirrungen (Masturbation, conträre Se-
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Hysterischer Charakter (Temperament)
237
xnalempfindung, Amor lesbicus u. s. w.) werden auf keinem invaliden Ner-
vengeistesleben häufiger betroffen, als auf dem phantastisch schranken-
losen, überreizt erregbaren der Hysterie. Namentlich ist auch des,
glücklicherweise nicht so häufigen, krankhaft gesteigerten normalen Ge-
schlechtstriebes zu gedenken, welcher disponirte Mädchen und selbst in
glücklicher Ehe lebende Frauen zu Messalinen werden lässt. Ich kenne
Fälle, wo bereits auf der Hochzeitreise Fluchtversuche mit Männern aus
zufälliger Begegnung gemacht; wo geachtete Frauen Liaisons ohne Wahl
anknüpften und in unersättlicher Gier jede Würde opferten. Interessant
ist, dass dieser ethisch perverse Trieb manchmal nur periodisch auftritt
mit noch andern geistigen und auch nervo» - trophischen Begleitzeichen
eines krankhaften Exaltationszustandes. Oft arbeitet sich in der Folge
ein langsam zunehmender chronischer Eifersuchtswahn heraus (welcher
forense Wichtigkeit bekommen kann durch Attentate auf den Ehemann
resp. Geliebten) mit oft frappirender Schonung der übrigen geistigen Per-
sönlichkeit (s. Moral Insanity und Erotomanie unter Zwangshdlgn.).
In diese Rubrik gehört namentlich auch die Tendenz der Kran-
ken ihre Leiden zu Ubertreiben, zu simuliren oder zu dissimuliren,
je nachdem es ihrem krankhaften Drange zum Wichtigthun entspricht
Für die klinische Würdigung dieses Symptoms der ethischen Depra-
virung sind zwei Momente in Betracht zu ziehen: das eine liegt auf dem
Gebiete des krankhaft gesteigerten Empfindungslebens und rückt für den
ärztlichen Beurtheiler die „unmoralische" Handlungsweise dieser Kranken
unter die Classe der Reflexacte, bei denen ein anomaler Drang (Sexual-
empfindung) zur gebieterischen Erfüllung treibt, weil das cerebrale Hem-
mungsvermögen geschwächt ist. Die Kranken reagiren hier als Kinder.
Ein zweites Moment ist die Uberwuchernde Phantasie dieser Hysterischen,
wodurch sich die sinnlichen Reize in Nacht- und Tagesträume Ubersetzen,
in Romane', welche in das wache Bewusstsein hineinwuchern, Wahrheit
und Dichtung, Erlebnisse und Sehnsuchtsgedanken zu Einem Gusse ver-
einigen und den Kranken als Wirklichkeit imponiren. FUr die classische
„Bosheit und Rachsucht" der Hysterischen ist die depressive Gemüths-
gmndlage nicht zu Übersehen, der leise oder offene Verfolgungs- oder
Beeinträchtigungswahn aus dem Gefühle der Gekränktheit und der feh-
lenden Geltung — welcher die Kranken bitter macht, ihrer Brust den
Haas und ihrer Zunge den Stachel leiht. Zur „Lügenhaftigkeit" der Hy-
sterischen kommt als ein weiteres Moment hinzu, dass auf dieser Krank-
heitsstufe die Reproductionen sich nicht mehr treu und echt einstellen,
sondern nur mehr weniger gefälscht, aber ohne dass die Kranken es
merken. Diese „lügen" deshalb nur scheinbar; in Wirklichkeit thnn sie
es optima fide; sie selbst sind die Getäuschten (s. auch Mor. Ins.).
Dieser Punkt führt uns zur kurzen Betrachtung des Vorstellungs-
lebens im Status bystericus. Neben und auf Grund einer reichen
intellectuellen Begabung und Ausbildung, welche namentlich an Leb-
haftigkeit der Entfaltung, an Raschheit und vielseitiger Gewandtheit
den gesunden Zustand oft weit Ubertrifft , besteht eine krankhafte
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Das hysterische Irresein.
Neigung zu allerlei Barockheiten, zur Beschäftigung mit den ent-
legensten Wissensgebieten, und in Allem eine Methode der Erfassung,
welche ungleich mehr in die Breite als in die Tiefe geht, neben
philosophirendem Aufputz oft recht ungeschickt in der einfachsten
Logik bleibt — Geistreichthun und Beschränktheit in Einer Person.
Die ästhetischen „Blaustrümpfe" beziehen ihr grösstes Contingent
aus den Reihen der Hysterischen. Ausser dieser Schiefheit und
Disharmonie der Entwicklungsrichtung im Allgemeinen — welche
übrigens kein Grundzug, wenn auch sehr häufiges Vorkommniss ist;
viele Hystericae sind Typen einer wirklichen echten Geistesbildung
— kommen specifisch krankhafte Mißsverhältnisse im Vorstellungs-
leben vor und auch Neigung zu wirklichen formalen Störungen (s. o).
Zu den erstem gehört das abnorme Ueberwuchern der Phantasie
Uber die intellectuellen (reflectirenden) Functionen; zu den letztern
die grosse Disposition der Hysterischen zu Zwangsvorstellungen. Die
gesteigerte Phantasiethätigkeit dieser Kranken zeigt sich in der Ge-
neigtheit zu bilderreichen Perceptionen, namentlich zur Allegorisi-
rung von Sinnesempfindungen (die Hyperästhesieen, speciell der Vis-
ceralnerven, liefern hierzu ein sehr dankbares Material), ferner zu
lebhaften Träumen, zu Illusionen und Hallucinationen, zu Wach-
träumen, welche schliesslich beliebig d. h. willkürlich von dem
Kranken zu produciren sind. Am meisten und verhängnissvollsten
tritt aber die Macht der Phantasie zu Tage in der Fähigkeit der
Kranken, Leidenszustände — spontan concipirte oder an Andern be-
obachtete — in Wahrheit sich „einzubilden", so dass sie in der
Folge selbst daran wirklich leiden.
Hieher gehören ans früheren Jahrhunderten die Stigmatisirungen,
aus unserer Zeit die epidemisch auftretenden d. h. gegenseitig abge-
lauschten Zuckungen und Krämpfe, nicht minder aber auch die zauber-
haften, plötzlichen Genesungen, welche bekanntlich oft auf harmlose In-
gredienzien erfolgen, wenn nur die Phantasie mit dem Zukunftsbild sicher
eintretender Heilung erfüllt ist.
Die Zwangsvorstellungen (s. d.) sind theils emotiver, theils in-
tellectualer Natur; sie treten bald als harmlose Schrullen auf, bald
aber auch als furienartige Mächte, welche die Kranken zu allerlei
albernen und unsinnigen Handlungen, nicht selten zu Selbstschädi-
gungen oder zu Beleidigungen der Umgebung, ja zu förmlichen ma-
nischen Reactionen treiben können, weil die Kranken des lästigen
Eindringlings nicht mehr los werden, und zwar trotz klarer, kritischer
Einsicht. Die Geneigtheit zu Wachträumen macht die Kranken zu
periodischen Deliranten, als welche sie in wachem Zustande allerlei
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Hysterischer Charakter. — Hysterisches Irresein.
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Erdichtungen als eigene Erlebnisse auftischen, oder in zeitweilige
Ekstasen verfallen, mit mystischem Geisterverkehr.
Die Handlungsweise der Hysterischen im Allgemeinen richtet
sich nach den im Vorstehenden geschilderten Prämissen resp. Ab-
änderungen im intellectualen und GemUthsleben. Es erhellt daraus,
in wie vielfacher Weise im Einzelnen die EntSchliessungen und
Handlungen beeinflusst, und von der Norm abweichend modificirt
werden müssen, welchen schädigenden Einflnss namentlich die ge-
steigerte Gemüthsreizbarkeit und Reflexerregbarkeit mit Ueberrum-
pelung oder convulsiver Ausschaltung der Reflexion ausübt.
Dadurch bekommt das Handeln der Hysterischen einen so auszeich-
nend emotiven und krankhaft überstürzten Charakter. Viele Acte erfol-
gen aber rein nur zwangsmässig d. h. sie gehen ganz unter dem Be-
wuastsein hindurch. Die Kranken versichern oft in aller Ruhe, dass sie
wie in einem Traumzustande manchmal Sachen thun müssten, wofllr
sie absolut kein Motiv kennten; sie spürten einfach nur die Empfindung
des Müsse ns, könnten aber die Ausführung beim besten Willen nicht
hemmen, „ähnlich wie Maschinen". Für die besonders bevorzugten Hand-
lungsrichtungen, wenigstens in gewissen Stadien des Status hystericus, ist
namentlich auf die ethisch perversen Gefühle speciell vom Sexualgebiet
aus hinzuweisen. Sie bilden die mächtig treibenden Factoren für manche
abenteuerliche That dieser Kranken, welche bald mit dem romantischen
Aufputz einer schrankenlosen Phantasie ausgerüstet nur wohlberechnetes
Aufsehen erregen soll, bald aber auch durch die unterstützende Dialektik
eines raffinirten Verstandes zu einer erschreckenden cause celebre führt.
Die Kriminalstatistik aller Länder (einer der berühmtesten Fälle bleibt
wohl der von La Ronciere) liefert Belege für das auf diesem Gebiete
Mögliche — eigentlich unmöglich Geglaubte.
Für das „normale" Wollen und Handeln der Hysterischen ist
namentlich an die mehrfach schon betoute Periodicität zu erinnern,
in welcher die psychische Curve dieser Kranken schwankt; so be-
wegt sich denn manches einst viel versprechende Streben im steten
Wechsel von Leistungskraft (oft Ueberleistung) und Ermattung, und
zerrinnt an diesem aufgedrungenen organischen Zwange.
Körperlicherseits gehören zum Status hystericus alle die be-
kannten Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen, sowie die sensorischen, va-
somotorischen und trophischen Affectionen, wie sie der hysterischen Neurose
eigen sind. Für die Entstehung der eigentlichen Irreseinszustände sind
darunter die sensibeln und vasomotorischen Anomalieen am wichtigsten.
Besonders hervorzuheben , als oft Jahre lang vorausgehende Schatten
grosser Ereignisse, ist die sehr häufige heftige Migräne vieler Hysteri-
scher, ebenso der menstruale Paroxysmus, welcher nicht selten von der
Pubertät an ein wiederkehrendes wirkliches Kranksein bildet. —
b) Das hysterische Irresein selbst ist ein ausserordentlich man-
nigfaches. Es kann acut oder chronisch, vorübergehend oder dauernd
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Das hysterische Irresein.
auftreten. Symptomatologisch kann es alle klinischen Zustands-
formen annehmen resp. durchlaufen — enthält doch der Status hys-
tericus die Elemente zur Manie, zum einfachen und katatonischen
Wahnsinn, zur Verrücktheit und zum Blödsinn, — leiht aber jeder
dieser Erscheinungsweisen ein mehr oder minder specifisches Gepräge,
so dass es bis zu einem gewissen Grade eine „ätiologische" Krank-
heitsgruppe bildet. Schon die einfache gradweise Steigerung des
hysterischen Temperaments nach Seite der Gemttthserregbarkeit und
cerebrospinalen Hyperästhesie setzt einen klinischen Zustand zu-
sammen, welchem wir bereits bei der Schilderung der Melancholie
unter einer chronischen Abart der hypochondrischen Form begegnet
sind (8. d.). Eine zweite klinische Form, welche in gewissem Sinne
gleichfalls eine Steigerung des hysterischen Temperaments darstellt,
ist das hystero- epileptische Irresein.
Die Veranlassung ist in der Uberwiegenden Mehrzahl der Fälle ein
Schreck, wornnter namentlich (bei jungen Mädchen) sexuelle Attentate
eine hantige Rolle spielen. Vorausgegangene körperlich schwächende und
physisch degenerirende Momente, namentlich Masturbation, theilweise auch
Excesse im Dienste der Venus vulgivaga, disponiren.
Bei genügendem Affectchok kann sich unmittelbar ein allgemeiner
Krampfinsult mit Bewusstseinsverdunkelung und Delirium einstellen. An-
deremale ist es der Reiz der menstrualen Ovulation, oder auch die Irri-
tation von einer schmerzhaften Narbe aus, in deren peinliche Empfindung
sich zugleich ein nagender Gram verwebt — welche den ersten Paroxysmus
einleitet. In einer weiteren Gruppe endlich ist keine dieser accidentellen
Schädlichkeiten nachzuweisen, und der hystero-epileptische Insult stellt sich
als die einfache Folgeentwicklung der hysterischen Gesammtconstitution dar
(8. o.), nachdem transitorische Paralysen, sensuelle Anästhesieen, Hyper-
ästhesieen , periodische Ruhe und Aufregung u. s. w. Jahre lang voraus-
gegangen waren.
Der Krampfanfall tritt entweder plötzlich oder nach kurzen Prodromis,
wobei die Kranken still werden, stieren Blick bekommen, manchmal auch
weinen, Uber heftigen Stirnkopf-(Ovarial )Schmerz klagen, in Scene. Der
Insult selbst kann nun auftreten: 1. in Form der bekannten hystero-epi-
leptischen Convulsionen mit Hiustürzen, Um-sich-Schlagen, Grimassiren des
Gesichts, Beissen, Spucken u. 8. w., wobei aber die motorischen Entäusse
rungen nicht einfach nur Reflexacte, sondern zugleich das deutliche psy-
chische Gepräge eines dämonomanischen Wahnes resp. der Abwehr gegen
feindliche Verfolger oder llallucinationen darstellen. Manchmal trägt
das Chorea magna- artige Gebahren die Form von blindheftigen Angst-
handlungen als Reaction auf schreckhafte Delirien. Oder aber 2. der
Anfall bildet einen förmlichen tobsüchtigen Wuthparoxysmus mit gewalt-
tätigen Tendenzen gegen sich oder die Umgebung (psychisches Aeq tri-
valent für den hysterischen Krampfparoxysmus, wie die Mania furiosa für
den epileptischen Insult). In einer oder der andern Erscheinungsweise
ist der Anfall begleitet von Delirien resp. von plötzlicher illusorischer
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Ilystero-eplleptisches Irresein. Krankheitsbild. Verlauf 241
Verkennung der Umgebung, wobei der delirante Inhalt oft mit einer pein-
lichen Genauigkeit (selbst bis auf die vorgebrachten Scheltworte) die Er-
innerung an den ursächlichen Affectchok wiederholt. Die „Verfolger"
erscheinen in allegorisirter Gestalt als „Teufel" oder „Dämonen". Da-
zwischen tauchen aber auch halblucide Momente auf, in welchen die
Kranke auf Fragen richtig antwortet, gehörte Worte verdreht, daran so-
fort zornige oder schmerzliche Ausbrüche knüpft, die Entrüstete, die Ver-
zweifelte, die Märtyrerin spielt — um, wenn die mimische Sprache ver-
sagt, in ihrem Krampfspiel sich weiter auszutoben. Druck auf die Ovarien
erhöht (manchmal gegentheils sistirt) die „krampfige" Aufregung. Nach
flberstan de nem Anfall, welcher bis zu einigen Stunden (oft in mehreren
Acten mit eingeschobenen Ruhepausen) dauern kann und ohne Tempe-
raturerhöhung verläuft, folgt ein stupuröser Erschöpfungszustand mit ge-
müthlicher Depression und grosser Reizbarkeit, welcher nur langsam wie-
der in die Norm abklingt. Die Erinnerung ist eine summarische und
reicht gewöhnlich nicht über den Anfang des Anfalls hinaus. Für die
Anfallshöhe, bei stärkeren Attaken, besteht Amnesie (Uebergang zu den
epileptischen Zuständen). Bei keiner der hysterischen Psychosen treten
früher und beschwerender, als bei dieser, die perversen — ethisch dege-
nerativen — Symptome hervor, und bilden einen chronisch protrahir-
ten Irreseinszustand, welcher zu den ernstesten der gesammten klinischen
Psychiatrie gehört. Das hysterische Temperament nach der schwersten
Seite seiner Entwicklung bricht sich Bahn und verbindet sich mit den
immer bereiteren Krampfattaken, so zwar, dass diese jeden versagten
Wunsch, jeden unbefriedigten Anspruch, endlich jede kleinste Verletzung
der gesteigerten Empfindlichkeit der Kranken begleiten. Gemeinsam wer-
den alle diese „Kränkungen" schliesslich nur mit der Einen Sprache eines
convulsiven Anfalls beantwortet; ein einziges Wort genügt, um die
Kranke zu unbändiger motorischer Entfesselung und der affect vollsten
Verwirrung zu bringen, so dass sie toto de coelo zu toben beginnt, Alles
zerschlägt, rücksichtslos gegen sich und Andere wüthet. Das sind die
mit Recht so gefürchteten chronischen hystero- epileptischen Kranken. In
der Zwischenzeit sind sie meist anscheinend timide, betreiben aber hinter-
rücks um so reger das Geschäft der Verhetzung, der Verläumdung und
Ränkesucht. Gelingt es, durch die schwierigste aller Therapieen solche
Kranke nach und nach aus ihrer „Convulsibilität" zu befreien und „zu-
rück-zu-erziehen", so werden sie nicht selten wieder sich und der Aussen-
welt, zu bescheidener Functionsleistung zurückgegeben; meistens droht
aber die Recidive. Bei nicht günstigem Verlaufe bleiben sie die schwere
Crux jedes Anstaltslebens und gehen nach und nach in psychischer Schwäche
unter. Dabei können die früheren tobsüchtigen Attaken in Anfälle von
temporärer Stupidität sich transformiren , in welchen die Kranken eine
rudis Moles bilden mit plumpem Gesichtsausdruck und mehr minder voll-
ständiger psychischer Gebundenheit (namentlich Gemüthsstumpf heit) ;
manchmal blitzen auch jetzt noch furiöse Raptus auf ; merkwürdigerweise
aber kommen auch bei jahrelangem Verlaufe d. h. wiederholten Recidiven
mit progressiv schwererem Charakter noch „Heilungen", natürlich mit
entsprechendem psychischen Defect, vor.
Schftl«, G einUek rank hei tea. 3. Aufl. 16
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Das hysterische Irresein.
Zu den häufigsten acut auftretenden Irreseinsformen der Hyste-
rischen gehören die Dämmerzustände und Ekstasen, welche,
einmal „eingelebt", eine ausserordentlich zähe Persistenz annehmen
können, so dass deren Eintritt nicht nur an immer kürzere perio-
dische Schwankungen im Nervenleben geknüpft ist, sondern in dag
Willensbelieben der Kranken gestellt wird (spontaner Hypnotismus).
Die Ekstase — Visionszustand — besteht in einem temporären Per-
ceptionsabschluss nach aussen und Concentrirung der Aufmerksamkeit auf
hallucinatorische Innenvorgänge. Sie hat verschiedene Stufen, entspre-
chend dem Grade der Perceptionsfähigkeit, welch letztere theils nur ver-
mindert, theils aber auch 'ganz aufgehoben ist. Alle diese Grade und
Stufen gehen in einander Uber. Intercurrirend kann die Ekstase bald
vorübergehend auf Grundlage eines einfachen hysterischen Temperaments
auftreten, bald als Theilerscheinung (transitorisches Symptom) verschie-
dener hysterischer Irreseinszustände. So complicirt sie den dämonomanen
und erotischen Wahnsinn, ganz besonders aber die acuten hallucinatori-
schen Formen. Der Eintritt kann plötzlich oder in raschem Anstieg der
Bewusstseinsverdunkelung erfolgen. In den Anfällen selbst besteht katalep-
tische Starre mehr minder hohen Grades, ohne und mit Flexibilitas cerea
(manchmal, bei leichteren Anwandlungen, werden träumerische monotone
Actionen vorgenommen), die Augen sind starr auf einen Punkt geheftet
oder auch fest zugekniffen, die Pupillen weit, manchmal in hippusartiger
Bewegung. Dabei mehr minder vollständige Anästhesie (selbst der Con-
junetiva), oft marmorartige Blässe, anderemale aber auch gegentheils con-
gestionirter Kopf, tarder, seltener, oder aber klopfender frequenter Puls.
Die Dauer des Zustandes kann einige Augenblicke oder auch Stunden
betragen ; die Rückkehr zur Besinnung erfolgt theils durch kräftiges An-
rufen, oder Hautreize (kaltes Wasser), oder gewaltsames Oeffnen der Li-
der; oft geschieht das Erwachen unter heftigem Grimassiren des Gesichts,
Seufzen, winselnder Abwehr gegen jede Berührung. Der Inhalt des in
der Ekstase „Geschauten" wird nicht selten sorgfältig von den Kranken
verborgen gehalten; anderemale erfährt man aus den Bekenntnissen der-
selben oder aus ihren singend recitirten Faseleien während des An-
falls, dass sie in Verbindung mit himmlischen Geistern, mit Abgeschie-
denen, mit ihrem „heiligen Schau-Bräutigam" sich gefühlt, oder in wan-
delnden Decorationen aus richtigen Wahrnehmungen und phantastisch aus-
gesponnenen Bildern, in welchen sie selbst — „wachend" — mitmachten,
gelebt hätten. Diese Anfälle können in grösseren Zwischenräumen, manch-
mal auch täglich vorkommen; dieselben können im chronisch hysterischen
Irresein längere Phasen bilden, welche kommen und gehen, hie und da
aber auch nach Monate langem Bestehen für die übrige Krankheitsdauer
verschwinden.
Die hysterische Melancholie. Der klinische Typus entspricht im
Grossen und Ganzen der gewöhnlichen Melancholie, und bietet oft
nur dieser entsprechende klinische Bilder. Gewöhnlich sind aber
auch charakteristische hysterische Züge beigemengt.
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Dämmerzustände. Hysterische Melancholie.
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Als solche möchte Ich bezeichnen: a) wesentlich stärkeres Hervor-
treten des mitbegleitenden neuralgischen Elements, gegenüber der „rü-
stigen" Melancholie. Die zahlreichen, sehr prägnanten Sensibilitätsstö-
rnngen unterhalten nicht bloss einen sehr lebhaften Circulus vitiosus,
sondern schaffen auch einen Status hypochondriacus neben und zu dem
melancholischen, welcher oft phasenweise mit letzterem abwechselt. Die
hypochondrisch-melancholischen Klagen selbst sind maasslos übertreibend
nnd zugleich phantastisch-überschwänglich, oft mit verblüffenden sprach-
lichen Bezeichnungen und Vergleichen (hereinragender Zug von Verrückt-
heit!). Die Kranken sind „ausgehöhlt", sie „verbrennen innerlich"; sie
haben ein Schwächegefühl, als ob sie „wie ein Fackeltanz innerlich aus-
löschten" ; anderemale fühlen sie sich „dick werden wie ein zugebundener
Schwartenmagen" u. s. w. b) Unvermittelt impulsive Raptus melancho-
lici sind hier relativ viel häufiger, als in der gewöhnlichen Melancholie.
Manchmal stellen sich auch paroxysmelle Zwangsbewegungen ein : wirbel-
artiges Herumrutschen auf dem GesBss, Nickkrämpfe mit dem Kopfe,
Grimassen mit dem Gesichte. Oft gehen starke vasomotorische Fluxionen
zum Kopfe mit Herzpalpitationen und sehr hoher Pulsfrequenz mit einher.
Dabei oft jäher Umschlag in eine componirtere Stimmung, oder umge-
kehrt aus dieser in die motorischen Raptus, c) Zeitweilige Anfälle von
Lach- und Weinkrämpfen, Globussensationen, Ischuria, oft mitten in das
melancholische Pathos hinein, d) Sehr bereites Auftreten von Hallucina-
tionen, namentlich von Reflexhallucinationen. e) Polymorpher Wechsel
verschiedener psychischer Zustandsformen ; dabei in fragmentarer Ausbil-
dung und jähen Uebergängen; so namentlich im Krankheitsbeginn. Auf
vage melancholische Unruhe folgt unversehens ein kurzer Furor; dann
kommen Intermissionen, darauf (ganz atypisch) wieder Aufregungsphasen,
bis endlich nach mehrwöchentlichem Krankheitsverlauf die definitive Me-
lancholie sich ausgebildet hat. f ) Die depressive Stimmung ist selten so
constant und consequent wie in der rüstigen Melancholie; sie ist gegen -
theils meist schwankend und trägt einen inneren Widerspruch in sich:
dicht neben dem thränenreichen Weltschmerz liegt ein hastiges Interesse
für Vergnügen, neben dem „Sttndergefühl" eine begehrliche Anspruchsftllle
und persönliche Empfindlichkeit; Grossthun durch Verschenken u. s. w.
g) Erhaltung der hysterischen TemperamentszUge im melancholischen
Krankheitsbilde: forcirte Uebertreibung des Schmerzes, absichtliches
Schmerzbehagen, Demonstrationssucht, Bedttrfniss nach Anerkennung der
„Scbmerzberecbti^ung", bei verletzter Empfindlichkeit Hass gegen den Arzt
(Klage Uber Vernachlässigung), Neigung zur Intrigue u. s. w. h) Grosse
Geneigtheit zu Zwangsvorstellungen (namentlich obseönen und blasphemi-
schen Inhalts), plötzliche Impromptu'«, mit welchen sofort unter Thränen
coquettirt wird (z. B. dass Angehörige plötzlich gestorben seien u. 8. w.).
In einer eigenen hochinteressanten Gruppe von hysterischen Melan-
cholieen kommen mit den Zwangsgedanken auch Zwangsbewegungen und
krampfhaft hervorgestossene Worte (oft im sinnlosesten Kauderwälsoh)
vor, bei Erhaltung des Be wusstseins. In der Zwischenzeit ist die
(der) Kranke deprimirt, weil sie sich in Folge dieses aufgedrungenen Zwanges
bebext glaubt. Die Anfälle gehen aura artig von irgend einer Körper-
steile aus, gewöhnlich vom Unterleib, beginnen mit dem Gefühle des Blä-
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244
lJas hysterische Irresein.
hens, des Luftausstossens ; dann „steigt es herauf" in den Kopf, worauf
ein dramatisches Intermezzo mit Vociferiren , sinnlosem Gesticuliren,
Schreien in allen Thierlauten (Bellen, Um-sich-beissen) sich anschliesst.
Die Kranken proclamiren oft selbst ihre „Hundswuth". Sie bilden viel-
fach noch die ergiebigen Objecte für Exorcismen. — In einer andern
bemerkenswerthen Beobachtung hatte eine obscöne Berührung bei der
geschädigten Frau (Climacterium) erst heftige Selbstvorwürfe und dann
eine hysterische Melancholie nach sich gezogen, deren psychischer Kern
eine genitale Erinnerungshallucination — in Form der bestän-
dig gefühlten obscönen Handbetastung — bildete.
Die hysterische Manie. Ein Theil der hierher gehörigen klini-
schen Formen verläuft unter den Typen des acuten manischen Wahn-
sinns, beziehungsweise des wahnsinnigen Furors; manche verlaufen
periodisch als Mania menstrualis, andere unregelmässig periodisch
als Aequivalente hysterischer Krampfanfälle (acute Erotomanie mit
Raptus von Zerstörungsdrang, Ideenßucht, wechselnder Bewusstseins-
lucidität, polymorpher Stimmung u. s. w.). — Eine zweite Reihe
hysterischer Manieen schliesst sich symptomatologisch mehr an die
typischen Manieen an, jedoch mit einigen auszeichnenden (annähernd)
specitischen Charakteren.
Letztere dürften etwa darin gelegen sein : a) in der Hegel sind nicht
die luxuriirenden Bewegungen, sondern die Ideenflucht das am meisten
hervortretende Symptom (pauseloses Schwätzen, Vociferiren, Verbigeriren);
b) die „Ideenflucht" erfolgt vorwiegend nicht nach logischen Associationen
oder nach Assonanzen, sondern besteht in abrupten Einfallen und kalei-
doskopischen Wortvermengungen, wovon oft ein beliebiges herausgegriffen
und förmlich zu Tode gehetzt wird. Oft stundenlanger „Frage-Zwang"
in Monologform, oder auch als Dialog mit Halluzinationen.
Stylprobe: Wer rechnet Regenbogen? Wer zimmert Aepfel?
Wer hat Köpfe zu verlieren und Knöpfe zu zählen? Herr Kaiser,
wer hat die Ehre auf einem Schiffe Luftballon zu tanzen ? Herr Papst,
wer ist Ihr unterer Schiffsagent und Thierbändiger? Wie heisst Ihr
schönster Maler? 1. 2. 3. Geben Sie mir das Licht 10 mal, 25 mal,
95 mal, 1000 mal u. s. w.
c) Die Halluciuationen sind zahlreicher als in der typischen Manie,
aber nicht so Überwiegend und auch nicht so imperativ als im manischen
Wahnsinn. Ihre Färbung ist keine stetige, meist depressiv- exaltirt ge-
mischte. Sehr oft werden sinn- und associationslose Worte zugerufen.
d) Die Stimmung ist flüchtig, in Extremen umspringend, enthält aber einen
durchgehenden Grundzug von Disputirsucht und grillenhaftem Eigensinn.
e) Sehwankende Bewusstseinshelle wie im manischen Wahnsinn — in
einer Stunde lucid, in der nächsten dämmerhaft oder hallucinatorisch ver-
dunkelt, f) In den motorischen Aeusserungen geht Willkürliches und
Unwillkürliches regellos und abrupt durcheinander (Zerstören von Gegen-
ständen, Dreinschlagen, stürmisches Liebkosen, kindische Einfälle, zwangs-
mässige Marionettenbewegungen , schauspielerisches Coquettiren u. s. w.).
g) Mitbegleitender Globus, Pica, vasomotorische Rash's.
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Hysterische Manie. Hysterischer Wahnsinn
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Der Verlauf dieser Formen ist in der Regel protrahirt (mehrere Mo-
nate), und geht erst durch ein Stadium aufgeregten hysterischen Tempe-
raments hindurch. Recidiven mit znnehmend erschwertem Charakter sind
häofig. —
Der hysterische Wahnsinn (Verrücktheit). Keine der bisher be-
sprochenen Formen des hysterischen Irreseins ist so nahe mit dem
hysterischen Temperament verknüpft, als gerade die Paranoia.
Man kann dieselbe theilweise als die naturgemässe Weiterentwick-
lung und Ausreifung der hysterischen Anlage bezeichnen, und somit
in gewissem Sinne als die typische Erscheinungsweise des hysteri-
schen Irreseins.
Typus 1 wandert in die originäre Verrücktheit (s.d.) über,
deren directe Vorfrucht der constitutionelle Ilysterismus bildet. Der
spätere Verrücktheitszustand stellt im Wesentlichen die „Hypertrophie"
des hysterischen Charakters dar.
Typus 2 wird durch den hypochondrischen Wahnsinn
gebildet (s. d.). Auch dieser Verlauf bildet nur die Weiterentwicklung
der hysterischen Anlage. Charakteristisch ist wiederum die phantastische
Cmdeutung der hysterischen Sensationen (Einschrumpfung von Innen-
organen, Dislocationen, Fehlen und Schwinden derselben u. s. w.). Manch-
mal schliesst sich eine exaltirte Transformation an, oft aber auch gegen-
theils eine tief depressive Reaction. Interessant sind die Reflexillusionen
dieser hysterischen Hypochonder: weil sie sich im Kopfe hohl fühlen,
so sind auch die andern Personen „Simpel" geworden ; weil sie abnorme
Sensationen in ihrem Rücken haben, so hat sich auch die Umgebung in
„Bucklige" und „Krüppel" umgewandelt.
Ein 3. Typus ist von eminent chronischer Natur und besteht kli-
nisch aus der excessiven Steigerung der hysterischen Launenhaftigkeit,
der Sucht nach barockem demonstrativem Gebahren, der Unterwürfigkeit
unter allerlei Einfälle — auf der weitern Grundlage eines der Welt sich
immer mehr entfremdenden Egoismus. Es sind die Gegenbilder der ein-
gefleischten männlichen Hypochonder. Dadurch entstehen die häuslichen
Störenfriede, die unsocialen, anspruchsvollen, unerschöpflich klagereichen,
dabei grillenhaften Virtuosinnen der sensibeln Nerven, welche sich für
jedes Zusammenleben unmöglich machen, schliesslich eine Einsamkeit sich
gründen, in welcher sie ihren phantastischen Erfindungen nachhängen
und ihren barocken Einrichtungen (verzwickte Toiletten) leben. — Viele
erhalten lange ihre geistige Klarheit.
Ein 4. Typus ist vager Verfolgungswahn, inhaltlich wechselnd und
ohne Systematisirung, gewöhnlich mit erotistischen Richtungen verquickt,
auf Grundlage einer launenhaft schwankenden, meistens gereizten Stim-
mung, und eines in lauter Einfälle und Antriebe zerfahrenen geistigen
Lebens. Häufig gehen Hallucinationen mit einher. Das Krankheitsbild
im Ganzen trägt die Züge einer Moria: beständig wechselnde, in allen
Extremen umspringende Gemüthslage, grosse Reizbarkeit mit rücksichts-
loser Reaction, sittliche Schwäche u. s. w., intercurrente manische An-
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2iC
Das hysterische Irresein.
fälle (oft periodisch menstrual). Dazwischen auch wieder lacide, ge-
mtlthlich componirte Phasen. Der chronische Krankheitsverlauf besteht
aus einer Reihe unberechenbar, in den schroffsten Uebergängen, an ein-
ander gereihter Episoden. In den erotischen Phasen besteht gewöhnlich
grosser Drang zur Masturbation. Genesung ist möglich, aber Recidive-
fäbigkeit gross. Bei ungünstigem Verlauf Untergang in immer grössere
psychische Schwäche mit Erhaltung des gezeichneten Typus.
Der 5. Typus wird von den acuten „abortiven" Wahnsinnszustän-
den in Form von plötzlichen Zwangsgedanken gebildet. Die
Paroxysmen begleiten manchmal die Menstrualepoche, können aber auch
ausserhalb derselben auftreten (s. acuter Wahnsinn, Typ. I). Es kann
sich aber auch ein protra hirter Irreseinszustand mit paroxysmenweise
auftretenden Zwangsgedanken, -Empfindungen, -Impulsen, ev. auch im-
perativen Hallucioationen neben begleitender Lucidität, später mit reac-
tiven melancholischen, manischen und stupid-blödsinnigen Episoden her-
ausbilden. Beginn mit Eifersuchtswahn, abwechselnd mit stürmischer
Libido; in der Folge transitorische Furoranfälle gegen den Ehemann
(Beissen, Treten, gemeine Schimpfworte), oder Zerstören von Gegenständen
der Umgebung bei erhaltenem Bewusstsein. Mit den impulsiven Raptus
(Menses) wechseln zerknirschte Reueperioden. Immer umfänglichere Aus-
bildung des psychischen und psychomotorischen Krampfzustandes (Gri-
massirungen des Gesichts, plötzliches Herumspringen auf Möbel u. s. w.),
theatralische Selbstbeschädigungen, Einstechen von Nadeln in's Gesicht
u. s. w. mit sofortiger Rückkehr zur Besinnung und Beherrschung, sowie
ein gebietendes Wort gesprochen wird oder eine autoritäre Person eintritt
Die Phasen der Depression bestehen oft in wochenlanger Bettsucht mit
Indolenz gegen Familie und gegen sich; anderemale in monotonem Reci-
tiren derselben Selbstvorwürfe Uber verlorenes Leben, mangelnde Selbst-
zucht; nicht selten geht ein kleinlicher Geiz mit einher. In den Exal-
tationsperioden sentimental gehobenes Selbstgefühl mit überschwenglichem
Unternehmungsdrang (Dichten, Componiren u. s. w.) — bis plötzlich
wieder eine „Krarapfattake" dazwischen blitzt, um so verletzender für
die Umgebung, als die Kranken im Maass ihrer Kränkungen sich kaum
genügen zu können scheinen, am schmerzlichsten aber für die letztern
selbst, welche wissen, wie wehe sie thun und — es doch nicht hemmen
können. Hin und wieder freilich behaupten sie, gar nicht mehr zu
wissen, was sie thaten. Der geschilderte Zustand kann (durch Besserung
des Uterinleidens?) insofern sich mildern, als die Attaken seltener werden,
oder aufhören, und der periodische Wechsel zwischen Exaltation und
Depression, obwohl bleibend, doch in seinen grellen Contrasten sich
mildert. Der Zustand kehrt wieder in die Grenzen des hysterischen
Temperaments zurück. Bei nicht günstigem Verlaufe werden die Zwangs-
gedanken zum fixen Wahn mit zeitweiligen reactiven Paroxysmen und
beständig drohenden impulsiven Raptus, neben einer tieferen Gemüths-
abstumpfung. Die Gefühle für die Familie schwinden, ein niedriger
Egoismus greift uro sich, die Sorge für das Decorum geht unter (lässige
Toilette, Unredlichkeit). Sehr häufig, unter wachsender Fettsucht, nimmt
die geistige Schwäche auf allen Gebieten zu; dabei erhält sich manch-
mal noch lange ein spielendes Interesse für frühere Liebhabereien ; nicht
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Hysterischer Wahnsinn. Klinische Typen.
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selten aber auch ein intriguanter Zug mit Neigung zu Entstellungen und
rechtfertigender Dialektik (hysterische Degeneration).
Der 6. Typus verläuft im Symptomenbilde des katatonischen Wahn-
sinns, entweder nach dessen dämonomanischer Form, oder nach dem
Typus des hallucinatorischen Stupors. — Die Einleitung ist entweder:
1. eine allmähliche, aus einem schon länger dauernden Hysterismus mit
tiefer Anämie heraus (in 2 meiner Fälle spielten dabei Sorgen um ein
vorhandenes Uterinleiden eine grosse Rolle ; bei beiden fiel merkwürdiger-
weise der Beginn der acuten psychischen Erkrankung mit der Einleitung
der gynäkologischen Cur zusammen); ein vager Depressionszustand mit
vorwiegend farbloser Stimmung und abulischem Wesen, zeitweilig unter-
brochen durch barocke Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, leitet
die Scene ein. Oder 2. es kann ein hypochondrisches Stadium mit zeit-
weiligen hysterischen Krampfanfällen und sonstiger Lucidität des Be-
wußtseins vorausgehen, mit centralen Gemeingeflihlstäuschungen und
Reflexhallucinationen (die Kranke sieht ihren Kopf im Spiegel falsch auf-
gesetzt, die Nase translocirt u. s. w.), und nach kurzem Zwischenstadium
(mit rathloser Aengstlichkeit, zerstreutem Wesen) in den Stupor Uber-
gehen. Oder endlich 3. die Entwicklung der Psychose erfolgt nach einem
Prodromalstadium hallucinatorischer Verwirrung mit Giftfurcht und Nah-
rungsverweigerung und heftigem Widerstand gegen jede Annäherung ; an
dieses schliesst sich sofort der Stupor an.
Es scheint fUr die katatonen Wahnsinnsfälle von ausgeprägt hyste-
rischer Grundlage charakteristisch zu sein, dass sie sowohl in den Vor-
ais in den Nachstadien der eigentlichen Stuporphase einen ausserordent-
lichen Polymorphismus von jäh in einander umspringenden klinischen
Zustandsformen darbieten: Grübelsucht mit peinlichster Scrupulosität und
massiger Depression wechselt mit hallucinatorischen Phasen; diese mit
Zwangsgedanken, Symbolisirungen ; die letztere Phase wieder mit deli-
rantem Fabuliren; darauf kommt wieder eiae melancholische, vorwiegend
abulische Episode mit sentimentalen Contrastschätzungen (sie selbst sind
schuldbeladen und klein; die Andern erklärte Tugendideale); dann wieder
lucide, in welchen die Kranken mit peinlichst detaillirten Krankheits-
mittheilungen sich ermüden — und so schwankt der Zustand hin und
ber, bis endlich Nahrungsverweigerung, Mutacismus und Attonität heran-
rückt. Der Stupor selbst zeichnet sich häufig durch eine starke Be-
gleitung von motorischen Krampferscheinungen aus: klonische und to-
nische Zuckungen manchmal bis zu Opisthotonus; dann heftige Rash's
zum Kopfe mit gesteigerter Pulsfrequenz, manchmal auch Temperatur-
erhöhung.
Löst sich der Stupor, welcher oft durch äusserst lebhafte Halluci-
nationen innerlich belebt ist (Elektricitätsempfindungen und magnetische
Strömungen), so ist in manchen Fällen für lange Zeit eine grosse psy-
chische Schwäche vorherrschend, mit Zwangsantrieben, automatischen,
stundenlang sich ableiernden Bewegungen, Verkennen der Personen, ab-
soluter Rath- und Hilflosigkeit, wobei die (der) Kranke durch zufällige
äussere Wahrnehmungen (Verkennungen) gebieterisch dirigirt, oft in den
verzwicktesten Stellungen lange festgebannt wird. Dabei wechselt das
klinische Bild von Stunde zu Stunde. Bald Mutacismus mit dämmerhaften
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Das hysterische Irreseln.
Acten (welche kaum begonnen, wieder durch contrXre durchkreuzt und
vereitelt werden), bald stufenweise Lucidität, bald ein Aufgehen in Mi-
nutenantrieben und -Stimmungen. Die (der) Kranke gleicht einer auto-
matischen Drahtpuppe. Zorniges Aufbrausen, sentimentale Freundlich-
keit, träumerische Phasen, moriaartige Tändeleien wechseln wie wandelnde
Bilder. Manchmal schwindet auch das Bewusstsein der eigenen Person
(er ist gestorben, redet von sich nur noch per „Er")« Dann kommt
auch wieder natürlicheres Verhalten, aber in steter Gefährdung eines jähen
Umschlags in blödes Lachen, confuses Fabuliren. Die Hallucinationen
dauern während dieser Zeit lebhaft fort. Der Uebergang in die Ge-
nesung, stets durch Hebung der Ernährung angekündigt, ist oft ein sehr
rascher („es ist mir, wie wenn eine Binde von den Augen gefallen wäre");
die Reconvalescenz meist aber noch durch allerlei Steigerungen des ur-
sprünglichen hysterischen Charakters vielfach unterbrochen. Recidive
mit erschwertem Symptomenbilde ist nicht selten. — Bei ungünstigem
Verlauf (wozu übrigens auch noch die Typen des katatonen Wahnsinns
einzusehen sind) bildet sich entweder a) ein chronischer Stupiditätszu-
stand heraus, untermischt mit dämmerhaften Angstparoxysmen und im-
pulsiven Raptus, und allmählichem Niedergang in apathischen Blödsinn
(Fettwerden, Fettschweiss im Gesicht); oder aber b) ein chronischer ex-
pansiver Wahnsinn. Die Entwicklung dieses letztern Zustandes geht durch
ein poststupuröses Blödsinnsstadium mit ungeheurer Rathlosigkeit und
conträrer Negation hindurch. Die intendirten Handlungen erfolgen nur
staccato, die Willensimpulse selbst schlagen sofort in Hemmung um, so-
wie man die zögernde Kranke durch Beihülfe fördern will; oder aber
der erhobene Arm greift rasch und plötzlich zu — gewöhnlich mit Ver-
fehlen des Zieles. So sind auch die ersten Antworten, wenn die Kranken
aus ihrem monatelangen Mutacismus erwachen, zögernd, unsicher, ver-
legen, dann plötzlich hastig überstürzend; aber sofort wieder innehaltend.
Bald überrascht auch ein treffendes witziges Wort. Im Ganzen lebt aber
die Kranke noch in Einfällen und launenhaft wandelbaren Stimmungen.
Anscheinend harmlos und zufrieden, kann sie auch plötzlich mit einem
improvisirten Selbstschädigungsversuch überraschen. Aber unter dem
äusserlich widerspruchsvollen Gebahren — anscheinend ohne Interesse
und Theilnahme, von Indolenz zu Zornausbrüchen unvermittelt Ubergehend,
und dann wieder zu einem lieblich schmiegsamen Wesen — setzt sich
doch allmählich die frühere Persönlichkeit wieder zusammen (artisti-
sche Fähigkeiten, Ciavierspiel u. 8. w. werden wieder begonnen); aber es
scbliesst sich jetzt auch der Grössenwahn auf: die Kranke ist ein
Kind von fürstlicher Abkunft, ist geadelt u. s. w. In der Folge können
sich beide Gebiete neben einander abgrenzen, und so eine Heilung mit
Defect zu Stande bringen. Es kann aber auch der Wahn activ werden,
und durch die ständigen Aufregungen und Conflicte die Kranke einem
immer ausgebreitetem secundären Schwächezustand zuführen.
Der 7. Typus endlich umfasst die Fälle von chronischem, unheil-
barem Hysterismus mit Degenerescenzsymptomen.
Es lassen sich dabei zwei Unterformen unterscheiden, wovon die
eine a) als eigentlich degenerativer Wahnsinn, die zweite b) als primärer
hysterischer Blödsinn kurz zu bezeichnen ist.
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Chronisch degenerativer hysterischer Wahnsinn. 249
Untergruppe a. Chronisch degenerati ver hysterischer
Wahnsinn.
Meistens hereditäre Anlage. Hysterische Charakterzlige in der see-
lischen Entwicklung von Jugend an; auch Zwangsgedanken, Raptus me-
lancholici. Früh entwickeltes Geschlechtsleben mit Neigung zu Selbst-
befriedigung, mitunter auch zur Perversität. Oft glänzende, aber einseitige
intellectuelle Begabung. Krankheitsentwicklung entweder acut (nach
eingreifenden Gemtithsbewegungenj: Aufregung, Schlaflosigkeit, exaltirtes
Wesen, in der Form der Mania mitis, zeitweilige hysterische Krampf-
anf älle, bald primordiale Verfolgungshallucinationen ; in der Folge brüsker
Wechsel zwischen manischen und depressiven (luciden) Phasen. Oder
aber: allmähliche Krankheitsentfaltung ohne schroffen Uebergang
aus dem hysterischen Charakter heraus, zunehmend schärfere Ausprägung
des „impulsiven Charakters" in EntSchliessungen, Ansichten, Handlungen;
kitzelnde Neigung zum Contrast mit gebieterischer Unterwürfigkeit unter
einen periodisch wiederkehrenden Wechsel in Sym- und Antipatliieen, in
der Wahl der Lebensweise, der Toilette, der Umgebung, der Liebhabe-
reien. Immer fertigere Herausgestaltung eines periodischen Typus,
auf dessen Acmestadien die sog. Krisen entfallen, während die Intervalle
wenigstens Anfangs noch leidlich lucid bleiben. In den Krisen heftiges
Aufwirbeln der Zwangsgedanken und Zwangsimpulse: Verfolgungs- und
Grössenideen (namentlich aber erstere), Hallucinationen und Illusionen,
gesteigerter Reproductionsdrang, plötzlich gewechselte Sym- und Anti-
•patbieen — beherrschen die Kranke, wann und wie sie einfallen, und
wirken imperativ. Je nach dem Inhalt folgen heftigere oder mildere
Furorreactionen (Zerstören von Gegenständen, stundenlange Aufschreie,
Angriffe auf die Umgebung, oder beleidigende Kränkungen, Schmähungen
aller Art in Worten und endlosen Briefen). Zunehmend steigert sich der
Gedankendrang bis zur acuten Verwirrung, manchmal bis zum Verlust
des PersönlichkeitsgefUhls, so dass, oft in heftigem Zornproteste, in Allem
Verifikationen gemacht werden. Sonst erhält sich, mit Ausnahme dieser
Höhestadien, das Bewusstsein mit einer merkwürdigen Lucidität. Die
Kranke weiss ihre Verkehrtheiten und beurtheilt sie sogar richtig; aber
sie kann ihr triebartiges Zerstörungswerk nicht hemmen, noch ihre In-
vectiven in sich verschliessen ; sie muss pervers handeln und sprechen
„wie ein Papagei". Nicht selten gehen gesteigerte sexuelle Dränge (Ent-
blößungen, Masturbation, perverse Neigungen) mit einher; körperlicher-
seits Fluxionen zum Kopf mit eiskalten Händen, Schlaflosigkeit. Form
und Dauer der Krisen wechseln, selbst in demselben Krankheitsverlaufe.
Manche werden auch durch unendliche Abulie, Schlafsucht, Neigung zur
Unredlichkeit u. 8. w. mit raisonnirender Dialektik, Rückwärtsgrübeleien
mit unerschöpflichem Verificationszwang ausgefüllt. Hin und wieder
scbliessen sie sich an die Menses an. Auf die Uberstandene Krise folgt
tiefe Abspannung, Bettsucht, reuevolles Nachempfinden; in andern Fällen
tritt aber gegentheils Euphorie ein, wie nach einem reinigenden Ge-
witter. In der Folge werden die Intervalle immer gedrückter und be-
lasteter, die Kranke unausgesetzt schwerer krank, wenn auch daneben
oft die Krisen selbst an Intensität einbüssen.
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250
Das hysterische Irresein.
Untergruppe b. Primäre hysterische Dementia mit De-
generation.
Nach dem Alter der Betroffenen (jüngere Individuen) und den klini-
schen Grundzilgen dürfte diese Untergruppe eine Modifikation der acuten
Dementia resp. der Dementia praecox (s. hered. Neurose) bilden. Hit
der acuten Dementia hat sie auch die zwei Verlaufsarten gemein: sie
beginnt nämlich sowohl mit acutem hallucinatorischem Stupor, als auch
ohne solchen — als directes Stillestehen der bis dahin befriedigenden, ja
hoffnungsreichen, geistigen Entwicklung, mit rapidem hemmungslosem Nie-
dergang. Die Form des psychischen Schwächezustandes ist darnach ent-
weder eine chronische Stupidität mit Dämmerzustand und Hallucinationen,
oder aber eine Art wachen Zerfalls, dessen Signatur die ungeheuerste
gemüthliche Indolenz und sittliche Apathie ist, während die intellectuellen
Functionen noch leidlich, oft auffallend, wenigstens partiell, geschont
bleiben können. Das Charakterisirende für den hysterischen Ursprung
ist die Erhaltung des hysterischen Charakters auch im Blö(hinn: schwan-
kende Bewusstseinsincidität, Neigung zu Zwangsgedanken, polymorpher
Stimmungswechsel auf Grundlage einer sittlichen Degeneration, einer wirk-
lichen Verrohung aller ethischen und socialen Eigenschaften; dazwischen
treten allerlei hysterische Tics und Krampfzufälle, oft in den Aequivalenten
eines vorübergehenden Furors. Ueberraschend ist oft der ungemein jähe
Zusammenbruch des geistigen Aufbaues: schon aus der ersten hallucina-
tori8chen Attake gehen die Kranken mit der fertigen Dementia hervor.
Sie haben sich, ihre Gemüthsbeziehungen, ihre Lebensziele, ja selbst ihre.
Würde vergessen, sie tändeln nur noch in stossweisen Anläufen einer sog.
Beschäftigung, zerzupfen und zerschneiden plan- und ziellos, oft unter
schallendem Gelächter. Zu anderen Zeiten sitzen sie schweigsam herum
mit niedergeschlagenen Augen, mit hängender Gesichtsmaske, müssen ge-
pflegt werden wie Kinder. Dazwischen treten die widersprechendsten
Impulse raptusartig auf : Zuschlagen, Beissen — und sofort wieder Küs-
sen, grobe Verletzungen des Decorum — und dann wieder Singen und
Ciavierspielen in einförmig mechanischer Wiederholung derselben zufäl-
ligen musikalischen Reminiscenzen. Zornige, zärtliche, affectiv heftige
Scenen wechseln mit abulischem Dasitzen — Alles abrupt, unmotivirt.
Dann folgen auch wieder blöde Attentate gegen sich, wobei Alles ohne
Wahl verschluckt wird, was die Kranke vorfindet. Nicht selten klingt
durch die fragmentaren , vor sich hingelispelten Sätze ein „erotischer"
Zug; anderemale wird stundenlang still und laut mit Stimmen verkehrt.
Immer mehr geht die Kranke in ihrem zerfahrenen, von Sinnestäuschungen,
Illusionen, Einfällen und plötzlichen Antrieben geleiteten Innenleben auf.
Für frühere Erinnerungen, für die Forderungen des Tages ist kein Ver-
ständni8S, für die einstigen Regungen des Herzens kein Interesse mehr
vorhanden. Das stumpfe Hindämmern wird höchstens noch durch unmoti-
virtes Lachen oder unverständliche Geberden, verworrene Worte und Aus-
rufe, flüsternde Monologe mit allerlei dramatischen Pantomimen zeitweise
belebt. Oft scheiden die Menstrualtermine noch bestimmtere psychische
Perioden ab; aber auch diese Marke verwischt sich allmählich. Die
Kranke muss längst zur Nahrung und Reinlichkeit angehalten werden.
Der apathische Blödsinn ist ein stationärer, nur noch von zeitweiligen
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Degenerative hyater. Dementia. — Therapie.
251
Raptus von Schreien, Zerstörungs- und blindem Selbstschädigungsdrang
in trauriger Abwechslung unterbrochen.
Therapie.
Bezüglich der Behandlung der Hysterie, welche die Grundlage
für die der hysterischen Psychosen bilden muss, wird auf das ein-
schlägige Capitel dieses Werkes verwiesen. Im Folgenden finden
deshalb nur die allgemeinen Gesichtspunkte, und nur soweit sie auf
unser specielles Gebiet Bezng haben, summarische Erwähnung. Da-
neben ist auch die Therapie der Melancholie, Manie u. s. w. einzu-
sehen, welche hier sich wiederholt, mit der erweiterten Indication
der zu Grunde liegenden constitutionellen Neurose.
a) Somatische. Die hier in Betracht kommenden Indicationen
richten sich nach der individuellen Ursache des hysterischen Nerven-
leidens. Diese ist nie eine einfache, sondern stets combinirte; in
der Regel handelt es sich 1. um Anomalieen der Blutbildung und
Ernährung; 2. um eine mehr minder entwickelte genitale Neurose;
3. um hereditäre oder erworbene spinale oder cerebro-spinale Neur-
asthenie. Je nach der verschiedenen Mischung dieser Componenten
im Einzelfall ist auch die Therapie eine individuell verschiedene;
stets müssen aber sämmtliche beachtet und bald gleichzeitig, bald
nach einander in den umfassenden Curplan einbezogen werden.
Hierher gehört das grosse Capitel der Therapie der Chlorose
und Anämie nach den Regeln der innern Medicin, mit der beson-
deren Betonung, dass sehr oft nur eine lange und unentwegt fort-
gesetzte Behandlung zum endlichen Ziele fuhrt. Sorgsame Auswahl
namentlich der Eisenpräparate, mit specieller Berücksichtigung der
individuell oft sehr delicaten Empfindlichkeit ist unerlässlich. Ver-
dauungsverhältnisse, menstruale Zustände u. s. w. sind, wie über-
haupt, so namentlich in der hysterischen Neurose für den speciellen
Curplan in genaue Berücksichtigung zu nehmen. Nur keine Scha-
blone ! Damit Hand in Hand muss eine umsichtig regulirte roborirende
Diätetik gehen. Für einzelne Fälle, namentlich von nervöser D\rs-
pepsie, ist die Playfair'Mitchell'sche Behandlung zu versuchen (Jolly),
wenn auch mit individuellen Modifikationen des täglichen Nahrungs-
Pensums. Bei schlaffen hysterischen Melancholieen verdient die
Massage eine besondere Beachtung, ebenso die allgemeine Faradi-
sation (s. u.). Sind spinale Hyperästhesieen vorwiegend ausgeprägt,
so leistet die galvanische Behandlung des Rückens oft sehr gute
Dienste. Galvanische Eopfbehandlung geschehe vorsichtig! Auch
wir erlebten durch dieselbe in einem Falle das Auftreten dauernder
Gebörshallucinationen. Eine milde Kaltwasserbehandlung entfaltet,
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252
Das hysterische Irresein.
wenn anders zulässig, bei allgemeiner Atonie und psychischem
„Schmerzbehagen" ihre geistig-körperlich kräftigende Wirkung. Bei
Frauen sorgsame Beachtung der Menstruationszeiten, namentlich der
Menstruatio nimia mit ihren schwächenden Folgen! — Bezüglich des
zu erwartenden Erfolgs roborirender Cur- Methoden muss übrigens
stets im Auge behalten werden, dass viele Chlorosen Hysterischer
„nervösen" Ursprungs sind.
Sehr häufig liegt den hysterischen Psychosen (und zwar aller
Formen, besonders aber der Wahnsinnsgruppe) eine genitale Neu-
rose, ausgehend von einem Leiden der Sexualorgane, zu
Grunde. Damit schliesst sich eine ev. gynäkologische Behandlung
in den Curplan ein.
Die Ermittlung, wo diese indicirt ist, fällt oft nicht leicht. Sie
trifft zusammen mit der Frage: wo ist ein sexuelles Localleiden vor-
handen? Die Antwort wäre einfach, wenn man eine ev. gynäkologische
Untersuchung schlechthin preisgeben dürfte. Aber diese ist in jedem
Falle eine Sache ernster Erwägung. Nach meiner Ueberzeugung darf
man sich nur auf feste oder wenigstens höchst wahrscheinliche Indica-
tionen hin zu einer solchen entschliessen, und nur in denjenigen Fällen,
wo man das volle Vertrauen der Patientin bereits erworben hat, und deren
Zustimmung sicher ist. Zwangsmaassregeln (Chloroformirungi zu diesem
Zwecke sind zu verwerfen und höchstens bei vitaler Indication zu recht-
fertigen; sonst warte man geduldig zu, bis die Kranke selbst einwilligt,
und auch dann sei man vorsichtig, ob nicht dieselbe Nebenabsichten,
die sie später in lasciver Weise ausbeutet (bei hysterischer Moral In-
sanity), damit verbindet. In diesem letzteren Falle werde, wenn die Un-
tersuchung ärztlicherseits absolut geboten, eine Wärterin mit beigezogen.
Wann aber erscheint eine Exploration überhaupt angezeigt? Die In-
dicationen können aus somatischen und aus psychischen Symptomen her-
genommen werden. Zu den ersteren gehören alle aus der Gynäkologie
bekannte Zeichen: profuse Menstruation, eitriger, blutig tingirter Fluor,
uterine und abdominelle Sensationen, welche mit Grund auf ein Locallei-
den zu beziehen sind, vaginale Hyperästhesieen u. s. w. Zu den zweiten
sind vorwiegend erotische Vorstellungsrichtungen (oft in untermischt dä-
monomaner Maskirung), Schwangerschaftswahn und namentlich sexuelle
Verfolgungsideen zu zählen. Ein sicherer Rückschluss a priori besteht
übrigens in letzterem Falle nie, höchstens ein wahrscheinlicher; aber die
Gründe könuen aus fortgesetzter Beobachtung so dringlich werden, dass
die Annahme eines „allegorisirenden" Zusammenhanges immer gerechtfer-
tigter erscheint und damit die Pflicht einer Verificirung durch örtliche
Untersuchung. In diesem Sinne gilt das bekannte Wort: „dass das durch
das Speculum einfallende Licht manche Hysterie aufkläre" auch heute
noch. Die hier am häufigsten in Betracht kommenden Zustände sind
chronische Infarcte mit Orih'cialgeschwttren, Endometritiden, Lageverände-
rungen des Uterus mit und ohne Verwachsungen der Vaginalportion
u. s. w. Die Behandlung dieser Zustände hat nach gynäkologischen Re-
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Therapie. Genitale Localbehandlung.
253
geln zu erfolgen. Der Erfolg auf die iradiirte Spinalneurose, auf Regu-
lirung der Menses, der Verdauung und im Weitern auf Gemüthsstimmung
und Haltung der Patientin ist oft ein eclatanter, Schritt um Schritt ver-
folgbarer; aus dem allmählichen Zurücktreten gewisser sexueller Wahn-
ideen ergibt sich, dass die Localbehandlung thatsächlich gegen diese, in-
dem sie ihnen den somatischen Boden entzog, den Angriff führte. Für
künftig wird auch die operative Gynäkologie nach den neuerdings von
He gar speciell für die Castration festgestellten Indicationen in ernstliche
Erwägung zu ziehen sein; nur werden derartige grössere Eingriffe, ab-
gesehen von der sorgfältigen individuellen Auswahl, nicht zu spät
resp. erst, wenn der krankhafte Circulus vitiosus bereits tief in das Ner-
vensystem sich eingeschlichen hat, vorzunehmen sein. Vielleicht, dass
wir von der operativen Gynäkologie auch noch die radicale Bekämpfung
der Hyper- und Parästhesieen der Pndendalnerven , welche so oft dem
ärztlichen Können die schwierigsten Aufgaben stellen und für die ratio-
nelle Behandlung vieler hysterischer Psychosen unzweifelhaft von der
entscheidendsten Bedeutung wären, noch erhoffen dürfen. Hartnäckige
Masturbation, nymphomanische Paroxysmcn und möglicherweise ausgebil-
dete Wahnsinnsformen bauen sich auf den dadurch vermittelten Sensationen
auf. Bis jetzt stehen uns dagegen nur interne und locale Behandlung
mit Bromkali, Suppositorien aus Opium und Bromkampher, örtliche An-
wendung von 1 — 2°/o Carbolwasser, Bestreichungen von 1 0 0 o Calabarin-
lösung, gelegentliche Aetzungen der Clitoris, neben kalten Klystieren,
Kleiensitzbädern u. s. w. zur Verfügung, theils mit, theils ohne, theils
mit nur vorübergehendem Erfolg.
Die Behandlung der vorhandenen neurasthenischen Grundlage
richtet sich nach den hieflir geltenden therapeutischen Grundsätzen.
In die Hauptrolle theilen sich milde Kaltwasserbehandlungen und
elektrische Curen (s. o.).
b) Psychische. Die Grundzüge sind wesentlich dieselben, wie
sie für die „reizbare Schwäche" im Allgemeinen gelten (siehe die
frühem Capitel), nur mit einzelnen, aus dem psychischen Wesen des
hysterischen Charakters sich ergebenden Modifikationen. Kurz re-
sümirt dürften es folgende sein. Aufgabe ist: die gesteigerte geistige
Erregbarkeit mässigen, und den Willen sowohl nach seiner hemmen-
den als nach seiner activ energischen Richtung zu kräftigen. Um
dieses bei der Kranken zu erlangen, muss der ärztliche Einfluss ein
möglichst autoritativer werden. Dazu gehört unbedingtes Vertrauen,
und um dieses zu gewinnen, muss der Arzt volle Theilnahme und
Verständniss der Kranken entgegenbringen. Die Kranke muss sich
aussprechen können und dürfen, aber nicht in einseitiger Gewährung
ihres Klagedranges, sondern sofern es der Arzt nach dem jeweiligen
Gemüthszustande für räthlich zur Beruhigung findet. Neben dem
geduldigen Abhören der Klagen muss auch eine gelegentliche Nicht-
beachtung oder nur summarische Behandlung (tröstend, wohlwollend,
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254
Das hysterische Irresein.
aufmunternd) ihre wohl erwogene Stelle im ärztlichen Cnrplan finden.
Dagegen werde jeder Zweifel oder jeder Übel angebrachte Scherz
Seitens des Arztes vermieden! Wird die demonstrative Hingabe der
Kranken an ihr Schmerzbehagen zu gross : dann ernstlicher Zuspruch,
ev. Verbot zu klagen, weil die Gewährung desselben schade. Da-
neben sorgsame individuelle Ablenkung durch Arbeit (mechanische:
als Haus- oder Gartenbeschäftigung; oder intellectuelle: als ernstere,
die Aufmerksamkeit und das Urtheil [nicht die Phantasie!] anregende
LectUre). Den schwankenden Grillen werde eine von unerbittlicher
sittlicher Strenge getragene Directive entgegengesetzt, den wechseln-
den Einfällen ein zielbewusstes festes, aber in der Gonsequenz nicht
einseitig starres Handeln. Es gilt oft die ganze Kunst der Erziehung
eines launischen, reizbaren Kindes. Aber die verbale Pädagogik
werde cum grano salis geübt, weil sie gar oft reizt und den Wider-
spruch verstärkt; selbst die als nöthig erkannte thatsächliche
(z. B. Gebot des Aufstehens, der eigenen Mithülfe) geschehe stets
mit Rücksicht auf die reizbare Schwäche der Kranken, welche auf
ein kräftig consequentes Anfassen nicht selten mit einer verstärkten
psychischen Hemmung antwortet. So werden manche, namentlich
tief anämische, Hysterische durch directe Anrufe an ihr Mithelfen-
müssen in ein noch grösseres Nichtkönnen versetzt, und sind erst
auf Umwegen (dadurch, dass man ihre Schwäche zuerst bis ins
Kleinste berücksichtigt und anerkennt) zu Anfängen eigener Initiative
und Activität zu gewinnen. — In der Wahl der Curpläne, nament-
lich der medicinischen, werde stets auf die Impressionabilität der Kran-
ken gebührende Rücksicht genommen, so dass aus der Schablone
kein Bedürfniss entstehe (Vorsicht in der Gewöhnung an Narcotica !j.
Speciell für die hysterische Melancholie auf der Grundlage einer
„schlaffen Faser" sind die allgemeine Faradisation und die Massage sehr
werthvolle Unterstützungsmittel ex indicatione morbi; ebenso temperirte
Einpackungen mit kalten Abwaschungen. Bei den acuten Raptuszufallen
mit Kopffluxionen , welche oft noch den Menses sich anschlieasen : fort-
gesetzte Eisbehandlung, Chapman'sche Rückenkühler. Bei einigermaassen
schwererer Ausbildung der Psychose ist Anstaltsbehandlung unumgäng-
lich nöthig. Das Letztere gilt ohne Einschränkung von den verschie-
denen Wahnsinnsformen. Manische Zufälle, welche oft nach 1 — 2
Wochen vorübergehen, können unter günstigen Bedingungen ausserhalb
der Anstalt zu behandeln versucht werden und heilen so nicht selten.
Dagegen gehören die Moral-Insanity-Fälle sämmtlich, und möglichst bald,
in Asylpflege. Die hystero-epileptoiden Zufälle können, wenn sie leich-
terer Art sind, durch Spitalbehandlung (ja manchmal zu Hause) mit Er-
folg bekämpft werden (Bromkali in fortgesetzter Anwendung) ; bei schwe-
rerer Form aber und namentlich bei starker Ausbildung des hysterischen
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Das epileptische Irresein.
255
Charakters ist die Versetzung in das „Traitement inoral" der Anstalt un-
erläßlich. In mehreren der schwersten Fälle dieser „crux nosocomiaüs"
führte eine methodische Morphiumbehandlung (Injection jeweils im ersten
Beginn der Podromi applicirt) neben entsprechendem sonstigen Curregi-
men zur dauernden Genesung.
Das epileptische Irresein.
Literatur. H. Hoff mann, Beobachtungen über Seelenstör. u. Epil. 1859. —
Falret, de l'6tat ment. des epil. 186u. — Delasiauve, TraUe* de PepÜ. 1854. —
Morel, Gaz. hebd. 1801. — Kussel Reynolds, Die Epilepsie. 1865. — Samt,
Arch. f. Psych. 5 u. 6. — Gnauck, Ibid. 12. — Sommer. Ibid. 11. — Furstner,
Ibid. 13. — Sommer, Ibid. 10 (Befunde am Ammonshorn). — Thomsen u.
Oppenheim, Ibid. 15 (sensor. Störungen). — F. Fischer, Ibid. 15. — Pick,
Ibid. (Verhalten d. Bewusstseins). — Discuss. sur l'epil. larvee, Ann. m6d. psych.
1673. — Le Grand du Saulle, Etüde mld. leg. 1877. — v. Krafft-E hing,
AUg. Ztschr. f. Psych. 34. — Weiss, Ibid. 35. — Witko wsky, Ibid. 37. — Weiss,
Psych. Stud. aus Leidesdorf's Klinik. 1877. — Sander, Berl. kl. Woch. 1873.
- Binswanger, Ibid. 1878 (Epileps. vasomot.). — Moeli, Ibid. 1882. — F.
Fischer, Ibid. 1884 („photogr. Gleichheit44). — Witkowsky, Allg. Ztschr. f.
Psych. 41 u. Neur. Centralbl. 1884 (gegen Fischer; ferner über comatöse Zustände
der Ep.). - Weiss, Wien. med. Woch. 1876. — Leidesdorf, Ibid. 1881. —
Mendel, Deutsche Zeitschr. f. prakt. Med. 1877. — Pick, Epilept. Irres, in Eulen-
lurg's Realeucycl. — W itkowsky, Naturf. Vers, in Bad. 1879.— Greppin, Diss.
Basel 1884. — Echeverria, Consid. clin. snr la fol. ep. Congrcs int. Paris 1878-80.
— Christian, Ibid. — Otto, Arch. f. Psych. 5 (Bromkali-Cur). — Stark, Allg.
Ztschr. f. Psych. 31 (Bromkali). — Wildermuth, Berl. klin. Woch. 1884 (Osmium-
säure). — Fürsorge für Epileptische und epileptische Irre: Le Grand du
Saulle, Ann. meu. psych. 1879. — Lunier, Ibid. 1881. — Jolly, Allg. Ztschr.
f. Psych. 38. — Derselbe, Arch. f. Psych. 13. — Pelman, Allg. Ztschr. f. Psych.
39. — Kind, Ibid. 40. — F. Fischer, Ibid. — Rieger, Ibid. 41 (gefähr). Epi-
lept.). — Derselbe, Irrenfreund. 1885 (Epilept. Anstalten). — Wildermuth,
Zbchr. f. d. Behdlg. Blöds. u. Epilept. Jahrg. IV u. V. — Derselbe, AUg. Ztschr.
f. Psych. 40 (Anstaltsbehandlung). — Jugendliche Epileptiker: Krelin, AI. a.
Neur. 18S2.
Die Thatsacben, auf welche sich die Aufstellung eines „epileptischen
Irreseins" als einer — nach Entwicklung, Verlauf und Symptomatologie —
eigenartigen klinischen Gruppe grtlndet, sind folgende:
1. Acute Irreseinszustände schliessen sich oft unmittelbar in typi-
scher Weise an epileptische Krampfanfälle an und wiederholen sich mehr
weniger regelmässiger Weise nach jedem Krampfanfall, resp. nach einer
Gruppe von mehreren rasch aufeinander folgenden Insulten (typisches
postepilepti8ches Irresein) ;
2. solche Irreseinszustände können statt eines Krampfanfalles eintreten
(Aequivalente);
3. in weniger typischer Weise kommt es auch vor, das dieses Irre-
sein dem Krampfanfalle vorangeht, resp. zwischen mehrere Insulte sich
einschiebt, oder dass das Irresein von Krampfanfallen unterbrochen wird;
oder endlich: dass ein Krampfanfall das erstere abschliesst.
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25G
Das epileptische Irresein.
Dabei ist aber eine sichere Beziehung zwischen Häufigkeit und In-
tensität der Krampfanfälle einerseits und Irresein andererseits nicht fest-
zustellen.
4. Bei Epileptikern, deren Leiden sich in einer oder der anderen
Weise mit psychischen Störungen verbindet, bildet sich im Verlaufe eine
geistige Stimmungslage mit bestimmten intellectucllen Anomalieen und
sittlichen Defecten aus, welche habituell wird, und in den meisten
Fällen in vollständige Demenz tibergeht. Man bezeichnet dieselbe —
analog dem hysterischen Temperament — als epileptischen Charakter.
Dieser sowohl als auch der nachfolgende Blödsinn bewahren eine typi-
sche und vielfach speeifische Eigenart.
Die Art der Entstehung und weitem Entwicklung des epilep-
tischen Irreseins ist gewöhnlich die, dass an die von früher Jugend
bestehende oder zur Pubertätszeit ausgebrochene Neurose sich sachte
der epileptische Charakter (s. u.) anschliesst; daran nach längerer
Zeit (mehreren Jahren) das Irresein, und an letzteres nach und nach
der Blödsinn. Dieser Typus zeigt Übrigens vielfache Modificationen.
So kann a) der epileptische Charakter schon von Kindheit an in
einzelnen Erscheinungen vorhanden sein, und auf dieser Grundlage
in späterer Zeit sich der motorische Insult und das Irresein erheben;
oder b) es besteht ein angeboruer Sehwachsinn mit epileptischer
Reizbarkeit, welcher später (oft erst Decennien nachher) seine Weiter-
entwicklung in wirkliche Epilepsie mit psychischer Transformation
durchmacht. Sehr häufig haben solche Kinder in den ersten Lebens-
jahren an Convulsionen (oft Meningitis) gelitten. Am seltensten ist,
dass ein Epileptiker von Kindheit an vollständig gesund war, sich
normal entwickelte, keine somatischen und psychischen Abnormitäten
zeigte, und erst in der Jugend an epileptischen Krampfanfällen mit
psychischen Störungen erkrankte (s. u.).
Bezüglich des zeitlichen Erscheinens dieses Irreseins sei noch die
Möglichkeit erwähnt, dass ein psychischer Paroxysmus der ersten Krampf-
attake vorausgehen kann. Dagegen vermögen wir der Auffassung, dass
Irreseinsanfälle , welche in ihrer Entstehung, ihrem Verlauf und ihrer
Symptomatologie den epileptischen gleichen, an Stelle der Krampfanfalle
Uberhaupt treten, und nur dadurch (ohne sonstige Erscheinung) ihre
Zugehörigkeit zur epileptischen Erkrankung sollen beanspruchen dürfen
(„psychische Epilepsie"), nicht beizustimmen. Wohl aber können Irreseins-
anfälle als Aequivalente von Krampfparoxysmen bei einem Individuum
beobachtet werden, welches ausser den ersteren noch andere Erschei-
nungen der epileptischen Erkrankung (Petit mal u. s. w.) aufweist.
Das acute typische Irresein kommt gewöhnlich bei Kranken
mit seltenen, aber heftigen Krampfaufällen vor, während bei Epilep-
tikern mit rudimentären Anfällen (allein oder abwechselnd mit voll-
ständigen) das klinische Bild sich in mehreren theilweise ganz indi-
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Klinische Symptomatologie. Der postepileptische Stupor. 257
viduellen Modificationen bewegt. Der Zeitraum, innerhalb dessen
die vier Factoren der epileptischen Erkrankung — Krampfanfälle,
epileptischer Charakter, Irresein, Demenz — nach einander in die
Erscheinung treten, ist ebenso wechselnd wie die Aufeinanderfolge
der letztern im Einzelfalle. Manchmal schon in einigen Monaten sich
bis zur vollen Demenz entwickelnd, können andere Male Jahre ver-
gehen, bis die ersten Zeichen des Schwachsinus anrücken, und wie-
derum weitere, bis dieser langsam zum Blödsinn fortgeschritten ist.
Oft kürzt ein rascher Tod im Status epilepticus unter gehäuften An-
fällen jäh den Verlauf ab. Diese letztere Wendung kann sich auch
während des ausgebildeten, durch Jahre bestandenen Irreseins plötz-
lich vollziehen. Nicht selten liegt ein ansehnlicher Zeitraum zwi-
schen dem ersten Krampf- und Irreseinsanfall. Die Insulte können
manchmal von selbst längere Zeit (Monate, Jahre) vollständig auf-
hören oder nur äusserst selten eintreten — und plötzlich mit erneuter
Heftigkeit und Häufigkeit einbrechend rapid zum Tode führen, wäh-
rend das Irresein in der anfallsfreien Zeit fortbestand. Mit der zu-
nehmenden Demenz verwischt sich gewöhnlich das typische Krank-
heitsbild, wenn sich immer auch noch, wie ehedem, die Paroxysnien
an den Krampfanfall anschliessen. Daneben protrahirt sich häufig
jetzt das Irresein und zeigt höchstens noch geringe Steigerungen
durch den motorischen Insult; in der Folge werden aber auch diese
Exacerbationen nicht mehr beobachtet, und es tritt ein Gemisch von
Schwachsinn, epileptischem Charakter und Irreseinsbruchstücken zu
Tage. Bemerkenswerth ist das bei diesen epileptisch Blöden oft
6ehr lange erhaltene Krankheitsgefühl.
Klinische Symptomatologie. Diese entwickelt sich am
einfachsten von der Betrachtung des postepileptischen Irreseins aus.
Für letzteres lassen sich zwei Typen aufstellen:
1. Der postepileptische Stupor. An einen oder mehrere Krampf-
anfälle schliesst sieb unmittelbar, oder durch einen kurz dauernden
Schlaf vermittelt, ein mehr oder weniger tiefer Stupor an, in welchem
der Kranke in regungslosem oder taumelndem Mutacismus verharrt,
auch leise sinnlos vor sich hinschwatzt, manchmal Assonanzen an
einander reiht, auf Fragen nicht oder durch einen traumhaften Blick
reagirt, automatische Bewegungen macht, gegen jede äussere Be-
rührung sich wehrt, plötzlich gegen seine Umgebung in blinder Weise
gewaltthätig wird. Die Lösung des Stupors geschieht gewöhnlich
nur allmählich, kann aber auch plötzlich erfolgen, insbesondere dann,
wenn ein neuer Krampfanfall dazwischen tritt. Auf der Höhe des
ßtupurösen Dämmerzustandes, oder auch erst nachher, kann der
Schal«. Geiateskrankheiten. 3. Aufl. 17
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258
Das epileptische Irresein.
Kranke die schreckhaftesten Delirien äussern. Der nachherige gänz-
liche Erinnerungsdefect beweist die tiefe Bewusstseinsstörung wäh-
rend der Stuporphase. Uebrigens erstreckt sich die Gedächtnis-
lücke selten auf die ganze Dauer der letztern (dies nur bei sehr
acuten und kurzdauernden Anfällen). Gewöhnlich wissen sich die
Kranken einzelner Vorgänge, wenn auch nur dunkel und traumhaft,
zu erinnern; der blinde Gewaltact selbst bleibt nicht selten ver-
gessen, während merkwürdigerweise kleine Zufälligkeiten, unbedeu-
tende Begleiterlebnisse, stückweise in der Erinnerung reproducirt
werden können. Interessant und eigentümlich ist, dass oft im Ver-
lauf des Stupors, und während anscheinender Lucidität, das Vorgefal-
lene richtig reproducirt wird — - und nach Lösung des Stupors wiedeT
untertaucht, um jetzt für die Erinnerung unerreichbar zu bleiben. Da
übrigens der Grad der Bewusstseinsstörung innerhalb desselben Stupor-
anfalls stufenweise wechselt und auch im Ganzen ein verschiedener
ist, je nach den einzelnen Anfällen, so ergeben sich daraus unzählige
Modifikationen der Erinnerung im Einzelfall.
Für gewöhnlich weiss der Kranke nach dem Ablauf des Stupors,
dass etwas mit ihm vorgegangen ist. Er fühlt sich körperlich unwohl,
ermattet, schläfrig, hat keinen Appetit, klagt Über Kopfweh oder Schwin-
del; manchmal befällt ihn dann eine tremorartige Muskelunruhe. Die
Notwendigkeit, sich Uber sich selbst, Ort und Zeit zu orientiren, zeigt
ihm, dass er einen krankhaften Zustand durchgemacht hat. Wenn nun
dieses Ereignisa und damit die Notwendigkeit sich auszukennen häutiger
wiederkehrt, lernt er allmählich, dass er Zufällen unterworfen ist, von
denen er nachher keine, oder nur eine summarische Erinnerung hat.
Der tiefe Stupor dauert gewöhnlich nur einige Stunden oder
Tage; zögert er sich (als Dämmerzustand s. u.) über Wochen und
Monate hinaus, so wechselt er meistens gradweise sehr erheblich.
% Das acute poslepileptische ängstliche Delirium mit raisonniren-
dem Charakter und hallucinatorischer Erregung (Grand mal intellec-
tuel, Falret).
Nach einem oder mehreren Krampfanfällen verfällt der Kranke
plötzlich, oder nach einem kurzdauernden Intervall von allgemeinem
Unwohlsein (häufig nach mehrstündigem Schlaf), in die heftigste
ängstliche Erregung; er stürzt in blindem Ungestüm, mit fast thie-
rischer Gewalt, auf seine Umgebung los, beisst, tritt, spuckt, demo-
lirt Alles, rennt mit dem Kopfe gegen die Wand, sucht sich auf jede
Weise zu schädigen, schreit, lärmt, verbirgt sich. Der Kopf er-
scheint stark geröthet, die Pupillen wechseln (häufig erweitert), die
Conjunctivae sind stark injicirt, die Augen thränend, der Blick starr;
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Das acute postepileptische ängstliche Delirium (Grand mal Intellect.). 259
dabei vermehrte Speichelabsonderung, starkes Klopfen der Carotiden,
beschleunigter Puls mit ungleichen vollem und schwächern Schlägen.
Erhöhung der Temperatur ist gewöhnlich nicht nachweisbar. Nach
einigen Stunden oder wenigen Tagen verfällt der Kranke wieder
in einen mehrstündigen Schlaf, aus welchem er durch einen kurz-
dauernden Stupor oder Angstzustand zum Status quo ante zurück-
kehrt. Er fühlt sich jetzt krank, klagt über Kopfweh, grosse Er-
mattung, hat viel Durst und nimmt langsam wieder Nahrung zu sich,
die er während seines deliranten Zustandes verweigert hatte. Die
Erinnerung an das Vorgefallene ist in diesen Fällen eine äusserst
mangelhafte. Wohl erinnert sich der Kranke im Allgemeinen an den
Inhalt der Delirien und Hallucinationen, aber nicht auch an die beglei-
tenden Vorgänge (wie und warum er in das Isolir-Zimmer gebracht
wurde, wie lange er dort war). Die Orientirung erfolgt mehr weniger
rasch. — Die Delirien sind wie beim Stupor ängstlicher, schreck-
hafter Natur, ebenso die Sinnestäuschungen. Die Kranken sehen
Gott, Engel, Teufel, schwarze haarige Männer, welche gross und
klein werden ; Frauen mit weissen Kleidern und schwarzen Kränzen,
reissende Thiere, Lichtflammen und dann plötzliche Dunkelheit; sie
glauben im Himmel, in der Hölle zu sein, sehen schneien, regnen,
Fäden vor den Augen, Nebel u. 8. w. , hören singen, Musik, Schelt-
worte, Drohungen, Klopfen an der Thür, Donnern, Schiessen u. s. w.,
haben krabbelnde, kriechende, hauchende, schmerzhafte u. s. w. Sen-
sationen auf der Haut und manchmal auch auf den Schleimhäuten;
Geftthle, als ob sie in der Luft schwebten; schmecken und riechen
die widerlichsten Dinge. Religiöser Inhalt ist vorherrschend. Eine
yerschiedengradige concentrische Gesichtsfeldeineugung begleitet diese
postepileptischen Irreseinszustände (s. u.).
Während der Stupor bei öfterer Wiederholung grosse Verschie-
denheiten bezüglich seiner Dauer und seines Grades zeigt, tritt gegen-
theils bei dem acuten postepileptischen Delirium eine mehr oder
weniger vollständige Gleichheit der sich wiederholenden Anfälle,
sowohl bezüglich des Verlaufs als der Symptomatologie entgegen.
Varietäten. Beide Typen — der Stupor und das Delirium —
kommen nicht immer in der geschilderten, scharf ausgesprochenen Form
vor, sondern zeigen in ihrer Erscheinungsweise, Dauer, und der Art des
Verlaufs zahlreiche grössere und kleinere Modificationen. So kann, an
den Stupor anknüpfend, a) die sprachliche Keaction in folgenden
Formen auftreten: 1. als vollständiger Mutacismus; 2. als leises unver-
ständliches Lispeln; 3. als sinnloses Plappern mit Wiederholung von
Silben, Worten oder Assonanzen; 4. als schwatzhaftes Raisonniren;
5. als ein auffallend erschwertes Sprechen mit Verwechslung und Ver-
17*
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2G0
Das epileptische Irresein.
schlucken einzelner Silben. — b) Die activen Bewegungen sind ent-
weder vollständig gehemmt, oder verlangsamt und trage, oder aber
geschehen in Form monotoner Zwangsacte; oft zeigt sich leiser Tre-
mor, taumelnder Gang, Rückwärtsgehen, Kreis-Gang u. s. w. — In ver-
schiedenster Form können c) automatische Handlungen und plötzliche
Gewaltthätigkciten zum Ausdruck kommen (s. u.), letztere gewöhnlich
als Reactionen auf die sehr beängstigenden oder religiösen imperativen
Delirien.
Das Bewusst8ein ist stets tief gestört. Gleichwohl darf aus
der nachherigen Amnesie nicht ohne Weiteres auf eine vollständige
Bewusstlosigkeit (wie beim epileptischen Krampfanfall) geschlossen
werden. Die spätere Reproduction des deliranten Inhalts legt hier-
gegen Verwahrung ein, und deutet, sowie auch das Vorhandensein
der Reflexe, auf ein gewisses Erhaltenbleiben des Bewusstseins hin.
Es treten überhaupt in dieser Richtung die verschiedensten Verhält-
nisse auf. So kann ein vollständiges Fehlen der Erinnerung für
einzelne Handlungen auf Stunden, ganze Tage und Wochen hin*
aus constatirt werden — gleichsam eine partielle und temporäre
Latenz der Selbstbesinnlichkeit. Dass es sich nicht um ein voll-
ständig erloschenes Bewusstsein handelt, beweist u. A. die Fähigkeit
der Kranken, in diesen Zuständen zweckmässige Handlungen vor-
zunehmen. Was auf dem Bewusstsein während dieser Zeit lastet,
was ihm theilweise Besonnenheit gestattet und doch die Rückbesin-
nung verwehrt, wissen wir nicht, und vermögen es auch von den
Kranken später nicht zu erfahren. So können Kranke auch plötz-
lich fortlaufen, um an einem fremden Orte erst zu „erwachen", ohne
sich die mindeste Rechenschaft geben zu können, warum und wohin
sie entwichen sind. Andere ziehen sich während des Tages aus,
legen sich nieder, und sind nach einigen Stunden erstaunt, dass sie
sich zu Bett befinden. Auch von der während dieser somnambulen
Acte verstrichenen Zeit haben die Kranken keinen Begriff ; dieselbe
kann auf Tage und Wochen sich erstrecken, und der Reconvalescent
erst auf dem Wege mühevoller und langsamer Orientirung an äus-
sern Anhaltspunkten sich die ergänzende Anschauung erwerbeu. Im
Anfang kommt ihm nur Alles fremd vor; allmählich wird er sich
bewusst, dass Etwas mit ihm vorgegangen, was in seiner Erinnerung
fehlt; und so gelingt es ihm nach und nach, mit allen äussern und
innern Hilfen, schrittweise die Lücke zu überbrücken. Es kommt
auch vor, dass zeitlich und örtlich falsch pereipirte Dinge in die-
ser illusorischen Weise bei beginnender Lucidität noch erin-
nert werden, und dass nach Ablauf des ganzen Paroxysmus die
Erinnerung fehlt. Ein vollständiger Ausfall der Erinnerung trifft na-
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Verhalten des Bewusstseins, der Erinnerung. Verh. des Irreseins zu d. Insulten. 26 1
mentlich für Gewaltacte häufig zu (s. o.). So Ut es Thatsache, dass
im epileptischen Irresein Morde, Selbstmordsversuche, brutale Noth-
zachtsversuche u. s. w. verübt werden, wofür der Kranke später
vollkommen amnestisch bleibt.
Die Art dieser Gewaltacte hat etwas Specifisches. Dieselben
erfolgen momentan, werden mit blinder Gewalt und äusserster Heftig-
keit gegen die Umgebung ausgeführt, mag diese ein belebtes Wesen
sein oder ein zufälliger Gegenstand. Zahlreiche Beispiele von Selbst-
verstümmelung lassen auch schliessen, dass der Schmerz nicht zu
jener Empfindung kommt, wie beim normalen Bewusstsein.
Nach der Art des Verlaufs und der Beziehungen dieses Irreseins
zu den Krampfanfällen , sowie nach der Symptomatologie hat man
verschiedene Formen unterschieden. Unsere Darstellung ist vom
postepileptischen ausgegangen, d. h. von jener typischen Form,
welche sich unmittelbar an den Insult anschliesst, und durch tiefe
Bewusstseinsstörung, ängstliche Delirien und Hallucinationen, hoch-
gradige Erregung mit raisonnirendem Charakter, kurzdauernden Ver-
lauf, plötzlichen Beginn, raschen Abschluss und verschiedenartige
somatische Begleiterscheinungen charakterisirt ist. Allein auch der
Stupor ist ein postepileptisches Irresein, und kommt überhaupt nur
im Anschluss an Krampfanfälle vor. Das erstgenannte Irresein da-
gegen kann auch als Aequivalent d. h. ohne vorhergegangene
Krampfanfalle an Stelle derselben auftreten. Die Frage, ob es Fälle
gibt, in welchen dieses Irresein den epileptischen Krampfanfällen
unmittelbar vorhergehe, wird verschieden beantwortet, weil man die
Möglichkeit nicht beobachteter Krampfanfälle immer im Auge hat
Sichergestellt ist übrigens dieses Vorkommen für das protrahirte und
recidivirende epileptische Irresein.
Diese verschiedenen Thatsachen müssen hervorgehoben werden, da
auf denselben unsere von der geläufigen Eintheilung des epileptischen
Irreseins abweichende Auffassung beruht. So typisch das postepileptische
(delirante) Symptomenbild, so ist dasselbe doch als solches nicht allein
nur postepileptischer Natur; ohne sich klinisch zu ändern, zeigt es sich
wandelbar in seiner Beziehung zum Insult; m. a. W.: wir treffen den-
selben Zeichencomplex in der Nachfolge wie im Vorausgang resp. als
Ersatz des Krampfanfalls. Damit aber trennen wir uns von der seit-
herigen Eintheilung in ein prä-, postepileptisches Irresein und Aequivalent;
oder: wenn wir eine oder die andere der Bezeichnungen annehmen, so
drücken wir damit nur verschiedene formelle Beziehungen (zeitliche
zum Insult), nicht aber eo ipso auch klinische Differenzen aus. Ebenso
venig können wir den Inhalt der Delirien (schreckhaft -ängstlich oder
aber religiös exaltirt) als normgebend anerkennen, da derselbe ohne jeden
Einfluss auf den Verlauf des einzelnen Zustandsbildes ist. Es bleibt uns
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262
Das epileptische Irresein.
deshalb nur der allgemein-symptomatologische Standpunkt
als Grundlage für unsere Specialgruppen des epileptischen Irreseins übrig.
Darnach, also rein symptomatologisch , unterscheiden wir fol-
gende Erscheinungsweisen des epileptischen Irreseins, resp. tritt letz-
teres auf:
1. als Stupor (s. o.).
a) mit tiefer Bewusstseinsstörung, ohne nachherige Erinnerung;
kurze Dauer.
b) mit traumhafter Bewusstseinsstörung (Dämmerzustand), nach-
folgender, theilweiser Erinnerung in der geschilderten Weise;
verzögerter Verlauf.
c) Uebergangsformen zwischen a) und b) und zwischen diesen
und den andern Formen des epileptischen Irreseins (klinische
Varietäten nach Sprache und Bewegungsstörung s. o.).
2. als acutes hallucinatorisch es Delirium (s. o.) mit
schreckhaften, angstvollen Sinnestäuschungen, furibunden reactiven
Wuthanfällen gegen die Umgebung, tiefer Bewusstseinsstörung. Dauer
von einigen Stunden bis zu 3 — 14 Tagen. Plötzlicher Beginn und
rascher Abschluss. Verlauf remittirend, scheinbar lucide Phasen
wechseln mit tief betäubten. Häufige Recidive.
3. als protrahirte Dämmerzustände von wochen- und
monatelanger Dauer mit traumartiger Bewusstseinsstörung, beängsti-
genden Delirien und Hallucinationcn, grosser Reizbarkeit und dadurch
bedingter Gewaltthätigkeit, lebhaften Nachtträumen, welche halluci-
natorische Plastik und Nachwirkung auf das Tagesleben behalten,
äusserst langsamer Lösung, summarischer RUckerinnerung. (Diese
Stupiditätszustände kommen insbesondere auch durch Bromkalium
hervorgerufen vor.)
4. als manische Erregungszustände vom Charakter des
Furors oder der Mania gravis, von wochen-, monate- und jahrelanger
Dauer mit tiefer Bewusstseinsstörung, hochgradiger Gereiztheit, Nei-
gung zu blinder Gewalt gegen sich und gegen Andere, ängstlichen
und religiösen Delirien, ebensolchen Illusionen und Hallucinationen,
mit und ohne Remissionen von verschiedener Intensität und Dauer.
Diese Erregungszustände entstehen gewöhnlich acut, und bilden oft
den Uebergang zum Blödsinn.
5. als heitere Erregung mit traumhafter Bewusstseinsstörung,
vereinzelten Hallucinationen religiösen oder ängstlichen Inhalts, kin-
discher Reizbarkeit, mit blödsinniger Schwäche gemischt, auf Wochen,
Monate und Jahre sich hinziehend, mit Uebergaug in tiefen Blödsinn.
Symptomatologlsche Erscheinungsweisen des epileptischen Irreseins. 2G3
6. als plötzlich eintretende Angstzustände meist von sehr
schwerem Charakter mit traumhaftem Bewusstsein, grosser Reizbar-
keit, Drang zu Selbstmord, zu Gewaltacten, meist ohne sie auszu-
führen, zum Umherirren u. 8. w., von sehr kurzer bis zu mehrtägiger
Dauer.
7. als momentane, in wenigen Minuten vorübergehende Ab-
senzen mit anscheinend zweckmässigen (automatischen) Handlungen
und vollständiger Amnesie.
Hieher gehören jene Anfälle von impulsivem Davonlaufen, momen-
taner Gewalttätigkeit, planmassiger Päderastie und andern sexuellen
Handlungen, von plötzlichem Drange zu Homicidium oder Suicidium ; aber
auch die harmlosen Acte des Einkaufens, Stehlens u. s. w.
(Mit diesen letztern Zuständen sind die gelegentlich im Gefolge von
Berauschungen auftretenden,* anscheinend luciden, später vergessenen
Triebacte in Beziehung zu setzen [s. Alkoholismus], sodann die plötzlichen
perversen Sexualacte [Entblössungen der Genitalien vor Kindern, nym-
phomanische Raptus], bei hereditär Belasteten ohne frühere und spätere
epileptische Krampfanfälle, wovon Anjel Arch. f. Psych. 15 erzählt.)
An diese das epileptische Irresein x«r' l^ox^v zusammensetzenden
Erscheinungsformen sind
8. die gewöhnlichen Habitualformen der Melancholie, Manie
und des Wahnsinns anzureihen, welche nicht selten in ihrer typischen
Gestalt und ohne jede modificirende Einwirkung Seitens der epilep-
tischen Erkrankung in deren Gefolge auftreten. In andern Fällen
mischen sich (bei intcrcurrentem Wahnsinn) aber auch Bewusstseins-
störungen bei, welche an jene des epileptischen Irreseins erinnern.
Somatische Begleiterscheinungen.
a) Steigerung der Körper temper atur kommt bei den Irreseins-
anfällen mit schwerer Bewusstseinsstörung vor, ist aber häufig an das
gleichzeitige Eintreten von Krampf insulten gebunden. Mit der Erhöhung
der Körpertemperatur lässt sich eine deutliche Beschleunigung der Puls-
frequenz nachweisen. Die Qualität der Pulswelle zeigt nichts Charakte-
ristisches. — b) Deutlich ausgeprägte Fluxionszu stände nach dem
Kopfe. — c) Verhalten der Pupillen. Dasselbe ist während der
Krampfin8ulte bei den einzelnen Epileptikern verschieden. Bei schwerer
Epilepsie erweitern sich zunächst die Pupillen während des tetanischen
und klonischen Stadiums etwas ; dann kommt eine rasch wechselnde Ver-
engerung und Erweiterung, und schliesslich bleibt die letztere maximal
und reactionslos , um mit der allmählichen Rückkehr des Bewusstseins
wieder zur Norm zurückzukehren. Schliesst sich ein acuter postepilep-
tischer Anfall an, so bleibt gewöhnlich die Erweiterung auch während
des letztern. Andere epileptische Zufälle verlaufen ohne Einfluss auf
die Pupillen und sodann auch der acute psychische Paroxysmus. — d)
Verhalten des Gesichtsfeldes. Nach den neuesten Untersuchungen
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261
Das epileptische Irresein.
von T b o m 8 e n und Oppenheim kommt die sensorische Anästhesie,
speciell die concentrische Gesichtsfeldeinengung (welch1 letztere übrigens
nicht constant zu sein scheint) mit oder ohne cutane Sensibilitätsstörung
unter 2 Formen bei Epileptischen vor: 1. als passagere Anästhesie
und zwar: a) nach einem epileptischen Anfall mit nachfolgender Be-
wusstseinstrübung; b) nach einem Insult mit sich anschliessender De-
pression, emotiver Reizbarkeit und Bewusstseinslucidität ; c) nach Aequi-
valenten und Abortivanfällen. Dieselbe fehlt dagegen ganz nach rein
motorischen Krampfanfällen. — 2. als stationäre Anästhesie bei lang-
jährigen, meist etwas schwachsinnigen Epileptikern (merkwürdigerweise
scheint sie bei jugendlichen zu fehlen); dieselbe tritt unabhängig
vom Anfall und von der Art desselben auf; d) begleitende Kopf Sen-
sationen (bohrende, reissende Schmerzen theils im Hinterkopf, theils
in der Stirne; Gefühle des Summens, Sausens, Krabbeins, Knisterns; des
Wackeins des Gehirns im Schädel, wie wenn Kugeln im Kopf herum-
fahren; Schwindel); e) das Verhalten der Menses ist bezüglich des Auf-
tretens motorischer Insulte und anschliessender Psychosen ein sehr ver-
schiedenes: manchmal findet diese Coincidenz statt (periodisches epilep-
tisch • menstruales Irresein) ; noch häufiger aber ist kein bestimmter
Zusammenhang nachweisbar, und die Menstrualzeit kündigt sich nur durch
grossere psychische Zornmüthigkeit an.
Der epileptische Charakter und epileptische Blödsinn
zeigen viele individuelle Spielarten bei Erhaltung eines typischen
Gesammtbildes. Generell stellt der erstere einen psychischen Ent-
artungszustand dar, ähnlich dem hysterischen, dessen Signatarzug
neben und vor dem intellectuellen ein sittlicher Defect, eine eigen-
artige Moral Insanity, bildet.
Nirgends tritt der Egoismus eines psychisch Gestörten deut-
licher hervor, als beim Epileptiker auf dieser Erkrankungsstufe. Er
lebt nur für sich und verliert das Gefühl für andere Menschen
(insociable). Nichts kann ihn stören in der pedantischen Regelung
seiner Bedürfnisse. In jedem leisesten Widerstande oder Hinderniss
erkennt er sofort eine feindselige Hemmung, einen Feind, welchen
er rücksichtslos aus dem Wege zu räumen sucht. Was Andere
wünschen, ist ihm ganz gleichgiltig, sofern es nicht seine eigenen
Wünsche berührt oder stört. Wichtig und von Bedeutung ist ftir
ihn nur, was seine Person betrifft; alles Andere hat keine Berech-
tigung zur Existenz. Vom Nachgeben ist keine Rede. Tritt ihm
Jemand in den Weg, so genügt ein geringfügiger Anstoss zum heftig-
sten Zornausbruch uud zur brutalen zermalmenden Gewaltthat (ab-
scheuliche Schimpfworte, blindwUthende Misshaudlungen, Tödtungen).
Andere Dritte dagegen, welche den Kranken nicht contrariiren, oder
ihm momentan willfährig sind, werden mit den höchsten Lobes-
erhebungen überschüttet. Eine nachherige Einsicht in seine Hand-
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Somatische Begleiterscheinungen. — Der epileptische Charakter. 265
lungsweise fehlt ihm vollständig. — Auch gegen seine Opfer ergeht
er sich gewöhnlich noch in schimpfender und raisonnirender Weise mit
Erörterungen Uber Recht und Unrecht. So kommt es, dass er sich
von der Welt zurückgesetzt und verachtet glaubt (auch wirklich ge-
mieden ist), und in der Folge immer mürrischer und misstrauischer
wird. Ein erst leiser, schliesslich offener Verfolgungswahn thut sich
auf. Unbegründete Beschuldigungen über Misshandlungen seitens
der Umgebung, Verdächtigungen wegen Entwendung des Eigenthums
u. s. w. werden zu stehenden Klagen und bei jedem Anlass vorwurfs-
voll geäussert. Ueberall glaubt der Kranke besser behandelt und
geachtet worden zu sein, als gerade von seiner augenblicklichen
Umgebung. Steigert sich das Zerwürfniss mit der Aussenwelt, so
droht er sofort mit Selbstmord, welcher für ihn die gleiche Bedeu-
tung hat, wie eine beliebige andere körperliche Nöthigung. Er führt
denselben auch sofort impulsiv aus, in directer Consequenz seines
Aergers oder seines physischen Unbehagens.
Eine Epileptische hatte sich erhängt und wurde noch kurz vor dem
Eintritt des Todes abgeschnitten. Als sie wieder zu sich kam, gab sie
als Motiv zur That mehrtägige Stuhlverstopfung an — und war durch
ein Klystier sehr erfreut, und sofort mit dem Leben wieder versöhnt. —
So vermag auch oft eine kleine Vergünstigung, ein Brief, eine Blume,
eine Cigarre u. s. w. den Kranken wie im Umschlag aus hoher emotiver
Erregung wieder zur Ruhe, ja selbst in freundliche Stimmung überzuführen.
Das Verhalten der Epileptischen gegenüber ihren körper-
lichen Beschwerden steht mit dieser impulsiven Handlungsweise
und speciell mit der triebartigen Entschlossenheit, womit sie oft bei
Bagatellen Uber die Gewohnheit des Daseins hinwegschreiteu, in
schroffem Widerspruch. Wenn der Kranke heute sich für vollständig
gesund ausgibt und die grössten Pläne ausspinnt, kann er morgen
zu Bett liegen wegen eines unbedeutenden Schmerzes, dem Arzte mit
weitschweifender Umständlichkeit und Pedanterie für jede kleinste
Missempfindung anliegen, und die Fürsorge wie für einen Todt-
kranken beanspruchen. Allen unbehaglichen Gefühlen legt er die
grösste Wichtigkeit bei, und verlangt deshalb in empfindlicher Weise
die Aufmerksamkeit seiner Umgebung und besonders des Arztes.
Einsicht in seine Krankheit fehlt dem Epileptiker vollständig.
Es ist bekannt, dass Kranke häufig ihre Krampfunfälle in Abrede
stellen, und ihre Umgebung, welche dafür einstehen will, als Lügner
bezeichnen. Viele gehen noch weiter; sie behaupten zeitweise, Uber-
haupt nicht krank zu sein, und weisen mit Selbstüberhebung und
gesteigertem Hochgefühl auf ihre ausgezeichneten Leistungen hin.
Gehen sie an eine Arbeit, so zeigen sie für den Anfang zwar oft
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26G
Das epileptische Irresein.
einen übertriebenen Eifer, welchem aber die Beständigkeit und nicht
minder auch die innere Befriedigung fehlt. Der Kranke arbeitet
bald überhaupt nur mehr um äussere Belohnung; bald verweigert
er die Arbeit ganz, weil man sie zu niedrig taxirt und zu schlecht
belohnt, gegenüber den nach seiner Meinung viel geringem Leistungen
der Umgebung. Andere dagegen bleiben unverdrossene und aus-
dauernde Arbeiter, sofern man sie ganz gewähren lässt und nichts
hineinredet, ja sie nie tadelt. — Eine besondere Eigenschaft des
epileptischen Charakters ist das Familien-Lobreden. Sie selbst und
die Ihrigen sind die tugendhaftesten Menschen, welche nie genug
zu preisen sind. Ebenso häufig und bezeichnend ist die übertriebene
Ausübung äusserer Religionsformen. Gott, Christus, Maria sind die
Kamen und Betheuerungen, welche immer im Munde geführt werden;
in der Kirche sind namentlich die exponirtesten Plätze beliebt, ohne
dass der Kranke dabei die mindeste Rücksicht auf einen möglichen
Krampfzufall nimmt. — Das Triebartige — diese auszeichnende
Eigenschaft der epileptischen Handlungsweise — tritt namentlich
auch in dem geschlechtlichen Leben in seiner rohen Nacktheit
zu Tage. Insbesondere leisten weibliche Epileptische hier oft Un-
glaubliches, und wissen dabei mit allem Aufgebote boshafter Lüge
zu dissimuliren. Onanie ist sehr verbreitet, auch perverse und con-
träre Sexualempfindung (s. d.). Manchmal wird auch vollständiger
Mangel des Geschlechtstriebes mit heftiger Abneigung gegen jeden
Geschlechtsverkehr beobachtet. — Eine besonders zu erwähnende
Eigenschaft der Epileptischen im Anstaltsleben ist die Neigung zu
Complotten gegen die Umgebung, so wenig sie auch sonst zu har-
moniren wissen (Unterschied von andern Wahn- und Blödsinnigen).
Für sich bleibt der Epileptiker, zerfallen mit der Welt und inner-
lich ohne Halt, der Spielball seiner Augenblicks - Erregungen und
Impulse (hierin den Hysterischen verwandt), und unberechenbar wie
diese. Wechselvoll und unbeständig, einigen sich seine Acte und die
Launen seines Benehraens nur in dem Momente einer steten Krieg-
führung mit der Umgebung, in einem Leben voll Bitterkeit, Miss-
trauen und Collisionen. So wird das „difficile ä vi vre" von Falret
verständlich.
Daneben gibt es aber auch Kranke, welche diese Züge einer
eigenartigen ethischen Degenerescenz nur in schwächern Andeu-
tungen (rudimentär) enthalten, und ausser diesen noch eine weitere
Gruppe, welche davon ganz frei bleiben, bei ihrem Schwachsinn eine
gewisse Gutmüthigkeit bewahren und nie in heftige Erregungen ge-
rathen.
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Die epileptische Demenz.
— Tatholog.-anat. Befunde.
2G7
In der Mehrzahl der Fälle kommt es schliesslich zur epilep-
tischen Demenz. Der Typus dieser tritt besonders prägnant bei
jenen Patienten zu Tage, welche einst auf hoher intellectueller Stufe
standen, und einem rapid progressiven Niedergange verfielen. Die
Perception ist auffallend erschwert und verlangsamt, die Erinnerung
an das soeben und früher Vergangene defect. Damit ist eine immer
mangelhaftere Anknüpfung an frühere Ideenassociationen gegeben.
Der reducirte Kreis von Vorstellungen bildet mit den oberflächlichen
neuen Perceptionen für den Kranken den Maassstab seines Urtheils.
Die formalen logischen Gesetze können dabei erhalten bleiben ; allein
die vielen Defecte und der Mangel jedes erweiterten und vertieften
Gedankenganges schwächen und verfälschen immer mehr die psy-
chischen Leistungen. Als letzte Hilfe bleibt schliesslich nur noch
die Anlehnung an früher geübte und mit der Zeit mechanisch ge-
wordene Regeln. Charakteristisch ist, wie im Beginne der Demenz
die Defecte der Erinnerung, der Begriffe u. s. w. in stockender und
stotternder Weise durch umständliche Beschreibung der einfachsten
Dinge auszugleichen gesucht werden. In diesem psychologischen
Verhalten liegt eine diesen epileptischen Blödsinn auszeichnende
Besonderheit, welche nur bei minder gebildeten Kranken und bei
langsamer Entwicklung nicht so prägnant in die Erscheinung zu
treten vermag. Individualität, Charakter der Erkrankung und Ver-
lauf bilden ebenso viele Modifikationen im Einzelfalle. So kann bei
sehr protrahirtem Verlauf eine zeitweise erschwerte Perception mit
kaum merklichen Erinnerungslücken und Ausfall einzelner Begriffe
und Vorstellungsreihen lange den einzigen vorausgeworfenen Schatten
der bereits begonnenen und unaufhaltsam progressiven Dementia
bilden. — Dunkel noch ist die Pathogenese dieses Blödsinns, welcher
manchmal ausserordentlich rapid sich entwickelt, andere Male trotz
der zahlzeichsten jahrelangen Grand-Mal-Anfälle sich nicht einstellt.
Bezüglich der pathologischen Anatomie ist auf die Epilepsie
im Allgemeinen (Bd. XII des Handbuchs) zu verweisen. Die häufig vor-
gefundene Atrophie eines oder beider Ammonshörner ist u. E. nicht als
specifischer Befund, sondern als Theilerscheinung der allgemeinen Atro-
phie des Gehirns aufzufassen, wobei allerdings bis jetzt unerklärt bleibt
a) warum die Ammonshörner vorzugsweise und zuerst von dieser Atrophie
ergriffen werden, und b) warum die letztere häufig nur das Ammonshorn
Einer Seite beschlägt. Constant finden sich in chronischen epileptischen
Psychosen die Hirnhäute afficirt in Form von Verdickung rcsp. sul-
ziger Aufquellung, und zwar ist speciell die äussere (Arachnoideal-)Schicht
ergriffen. Die Affection ist am stärksten in der Umgebung der Gefässe;
nicht selten finden sich neben den letztern noch Reste kleiner Apoplexieen
(in Form eingesprengter gelber Punkte), jedoch nur auf der Convexität.
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268
Das epileptische Irresein.
Topographisch bemerkenswert!! (vgl. Paralyse) ist, dass sich die lepto-
meningitische Affection hier mit anscheinend constanter Vorliebe an den
Bereich des convexen Theils des Scheitel- und Stirnlappens, speciell
entlang der Fossa Sylvii hält (Wildermath). Die Hirnrinde an diesen
Stellen ist verschmälert, die Furchen verbreitert (cystische Degeneration
mikroskopisch nachgewiesen). — Seltener, und nur in weitgediehenen
Fällen, finden sich Veränderungen an der Dura; häufiger dagegen cir-
cumscripte Transparenzen des Schädeldachs, entsprechend den sulzig ge-
quollenen Piastellen. —
Die wichtigen forensen Beziehungen der epileptischen Geistesstö-
rung sind in den betr. Lehrbüchern nachzusehen. Hier soll nur ein
Zweifaches knrz Erwähnung finden: 1. der A Ugem ein Charakter vieler
epileptischer Acte: das unvermittelte Auftreten und das Impulsive
der Ausfuhrung. Während der Epileptiker beide Momente mit der ver-
wandten Handlungsweise der Hysterischen theilt, kommt bei ihm noch
als specifische Zuthat das triebartige Ungestüm hinzu, womit er
stiehlt, mordet u. s. w. ohne Effectbewusstsein und Effectgefuhl, bis ihm
eine äussere überwältigende Schranke hemmend entgegentritt. Diesen
gegenüber sind nicht minder wichtig 2. die anscheinend normalen Hand-
lungen in manchen psychisch-epileptischen Paroxysmen, für welche nach-
her volle Amnesie besteht. Letztere ist und bleibt das wichtigste und
entscheidende psychologische Kriterium für wirkliche Epilepsie; nur sind
die verschiedenen Modi derselben im Einzelfalle einzurechnen (s. o.). —
Die Behandlung eines epileptischen Irreseinsanfalls erfordert
fast immer ein Asyl, für die frischen und acuten ein entsprechend
eingerichtetes Spital, für die chronischen und häufig recidivirenden
die Irrenanstalt. Der Kranke muss in erster Linie abgehalten wer-
den sich und Andere zu beschädigen. Bei der oben chrarakterisirten
Natur des Handelns und der in der Regel tiefen Bcwussteeinsstörung
ist zunächst Isolirung nöthig. Wegen der Gefahr des Selbstmords,
des Triebs zur Verstümmelung, sowie einer Verletzung durch das
plötzliche Eintreten eines Krampfanfalls muss der Kranke ständig
beobachtet resp. geschützt werden. Ist der Paroxysmus ein rasch
vorübergehender, so ist auch die Isolirung nur entsprechend kurz
nothwendig; bei protrahirterm Verlauf gibt der vorhandene Reiz-
zustand oft Anlass zu längerer resp. nach Bedürfniss wiederholter
Isolirung. Oft genügt die einfache Bettlage in einem gemeinsamen
Sehlafsaal. Für die Fälle mit Gefahr der Selbstbeschädigung ist
eine Polsterzelle sehr wünsebenswertb.
Die Bekämpfung starker Congestionen nach dem Kopfe ist, so
lange das acute Erreguugsstadium andauert, meist unmöglich. Da
jedoch diese Zustände gewöhnlich rasch vorübergehen, oder durch
einen oder mehrere Krampfanfälle unterbrochen werden, so ist erst
der passende Moment abzuwarten für Application von Eis, ableitende
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Forense Gesichtspunkte. — Therapie.
269
Mittel, Blutentziehungen, lauwarme Bäder mit Umschlägen. Ist das
Erregungsstadium hochgradig, oder zieht sich dasselbe längere Zeit
hinaus und ist dadurch Gefahr für das Leben vorhanden, so sind
Narcotica indicirt. Am raschesten und sichersten wirkt eine Chloral-
do8is von 2— 3 Gramm (per os ev. per anum); Morphiuminjectionen
haben gewöhnlich keinen Effect Die Wirkung des Bromkaliums ist
für diese bedrohliche Situation eine zu unsichere und zu langsame;
dagegen wird dasselbe nicht selten mit Vortheil mit Chloral ver-
banden.
Im Uebrigen fällt die Behandlung des epileptischen Irreseins
mit jener der idiopathischen Epilepsie Uberhaupt zusammen. In
erster Linie muss auf die Beseitigung der motorischen Insulte hin-
gearbeitet werden (vgl. hierüber Epilepsie Bd. XII).
Gelegentlich ist anzuführen, dass nicht selten die Compression eines
Aasgangspunktes der Aura oder auch der Carotiden, ferner Verschlucken
von Salz, von etwas Wein, einen drohenden Anfall zu coupiren vermag.
Psych ischerseits bildet die Reizbarkeit der Epileptiker die wich-
tigste Indication (daher meistens Asylbehandlung unerlässlich!). Die
gesammte Lebensweise, das Maass der geistigen Arbeit, die (vor-
wiegend vegetabilische) Diät sind sorgfältigst zu regeln; daneben
sind Alcoholica und Tabak möglichst zu vermeiden. Eine ange-
messene körperliche Beschäftigung mit viel Aufenthalt im Freien ist
ungemein heilsam. Zwischen Thätigkeit und Ruhe ist das richtige
Verhältniss herzustellen.
Im Speciellen sind von unverkennbarem Nutzen manche hy-
dropathische Curen, wobei als erste Regel gilt, dass sie individuell
angepasst und mit Energie und Ausdauer längere Zeit fortgeführt
werden: temperirte Waschungen, feuchte Einpackungen mit nach-
folgender kalter Douche auf den Kopf; einfache Douche (10— 15 °R)
anf den Kopf; im Sommer Flussbäder. Die Douche werde vorsichtig
applicirt, nur als Regendouche, und von höchstens 10—15 Secunden
Dauer (mit Berücksichtigung auch der Schultergegend, um tiefe
Inspirationen zu erzielen); nach der Douche starke Frottirung des
Körpers und speciell des Kopfes. Die Haare müssen zu diesem
Zwecke kurz geschnitten werden.
Worauf die erfahrungsgemäss gute Wirkung dieser Procedur beruht,
ist physiologisch nur so zu erklären, dass wir im Momente der Appli-
cation der kalten Douche auf den Kopf einen Zurücktritt des Blutes von
den äusseren Theilen zum Gehirn und einen Ausgleich nach aussen durch
das nachfolgende starke Frottiren erzielen. Die Normirung der Circu-
lation wird durch die künstlich hervorgerufenen tiefen Inspirationen be-
günstigt
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270
Das epileptische Irresein.
Die Brompräparate erfreuen sich immer noch der vorzugs-
weisen Berufenheit als Specifica. Deren Anwendung steht deshalb
unter den Arzneimitteln in erster Reihe. Die Tagesdosis schwankt
von 6-8—12—15 gr. pro die, wobei aber die Wirkung bezüglich
der Intoxication (Bromismus) individuell sorgsam zu überwachen ist
(s. u.). Die Grösse der Dosis und die methodische Anwendung
(„wie das tägliche Brod") ist es, was in schweren Fällen so viele
glänzende Erfolge gebracht hat und fortan sichert
Unter der Wirkung dieses Mittels hören: a) nach einiger Zeit die
Krampfanfälle und mit ihnen die psychische Störung vollständig auf; der
epileptische Charakter und die consecutive Demenz bilden sich zurück;
oder aber b) es treten die motorischen Insulte zurück, oder vermindern
sich, während das Irresein in gleicher oder etwas modificirter Weise fort-
dauert; oder c) die Krampfanfälle und das Irresein werden seltner,
kommen aber plötzlich mit um so grösserer Heftigkeit und Häufigkeit;
oder d) die Krampfanfälle hören vollständig auf, dagegen setzt jetzt da*
Irresein mit desto stärkerer Intensität und in protrahirtem Verlaufe ein;
oder e) es entwickelt sich mit dem Aufboren der Insulte und des Irre-
seins eine so tiefe Apathie, dass Bromkali ausgesetzt werden muss; da-
mit kehrt aber jetzt der frühere Zustand zurück; f) die eben genannte
Apathie entwickelt sich nur bis zu einem mässigen Grade und bildet
sich von selbst wieder zurück; nun erfolgt auch das Aufhören der In-
sulte und des Irreseins, aber nur auf eine beschränkte Zeit; g) Krampf-
anfälle und Irresein werden durch das Mittel in keiner oder kaum be-
merkenswerter Weise beeinflusst; h) manchmal ist selbst in veralteten
und hereditär belasteten Fällen noch eine günstige Wirkung des Brom-
kali zu constatiren — vorausgesetzt, dass es sich nicht um einen in früher
Jugend durch Epilepsie erworbenen Blödsinn handelt.
Warum andere Brompräparate, wie Bromuatrium, Bromammo-
nium weniger wirksam sind, ist nicht festgestellt. Dagegen wissen
wir, dass eine Verbindung der letztgenannten Präparate mit Brom-
kalium oft sehr förderlich ist, indem dieselbe die unangenehmen
Nebenwirkungen des Bromkaliums allein nicht hat.
Die Toleranz gegen die Brompräparate, insbesondere gegen das
Bromkalium ist eine individuell sehr verschiedene. Manche Kranke
können das Mittel Jahre lang in grosser Dosis unbehelligt fortsetzen;
Andere bekommen bald die bekannten Digestionsstörungen (wogegen Ein-
nehmen der Bromlösung in Zuckerwasser mit Nachtrinken von Milch em-
pfehlenswertli), Schwäche und Verlangsamung der Herzaction, körperliche
und geistige Erschlaffung, welche selbst gefahrdrohend werden können;
oder Exantheme mit Geschwüren, hochgradige Störungen der allgemeinen
Körperernährung u. s. w. Bei noch höhern Graden der Intoxication
treten psychische Exaltationszustände auf, oder auch eine unheimliche
Betäubtheit des Sensoriums mit Ataxieen in Gang und Sprache, Erinne*
rungsdefecten , Hallucinationen. Diesen unangenehmen Nebenwirkungen
des sog. Bromismus begegnet man durch zeitweilige Verminderung der
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Therapie. — Die „jugendlichen Epileptiker".
271
Tagesdosis, durch Combinirung der Brompräparate; speciell der Brom-
acne durch gleichzeitige« Darreichen von Sol. Fowl. Plötzliches Ab-
brechen des Mittels muss wegen Gefahr des 4tat du mal vermieden
werden.
Führen die Brompräparate nicht zum Ziele, so wird oft mit
grossem Yortheil mit Atropin abgewechselt; in andern Fällen sind
beide Mittel zweckmässig zu combiniren, namentlich auch in frischen
Fällen. — Wildermuth fand nach nutzloser Brombehandlung wie-
derholt osmiumsaures Kali (10 — 20 mgr. p. die, in Pillenform) von
einem zweifellosen Erfolg begleitet; auch die Reizbarkeit nach den
Anfällen wurde herabgesetzt und die intellectuelle Schwäche ge-
bessert. In einem Fall dagegen minderten sich dabei die Anfälle;
aber es trat jetzt ein psychischer Erregungszustand auf.
In sehr seltenen Fällen erlebt man auch eine spontane Heilung
des (noch frischen, auf wenige Anfälle erst beschränkten) epileptischen
Irreseins mit bleibender Dauer. — Interessant ist die von Fischer ge-
machte Beobachtung, wonach eine schwere nnd tief eingewurzelte epilep-
tische Psychose durch einen intercurrenten Typhus in einen hallucinato-
rischen Wahnsinn, ganz nach dem Typus des hysterischen überging
mit zeitweilig jetzt auftretenden, echt hysterischen, Krampfattaken,
und von da in vollständige und dauernde Genesung. —
Anhang. Die jugendlichen Epileptiker erfordern wegen
ihres theilweise von dem vorbeschriebenen verschiedenen Verhaltens
eine gesonderte Besprechung. Gemeinsam ist auch ihnen (welche
die Krampfneurose vor oder während der Pubertätszeit erwerben)
a) eine chronische Psychose — eine Art epileptischen Charakters,
nnd b) ein acutes Irresein, welches bald an die Insulte sich an-
scbliesst resp. vorausgeht oder die letztern ersetzt, bald unabhängig
intervallär oder aber vor dem Beginn resp. nach dem Aufhören der
gpecifischen Krampfanfälle auftritt.
a) Die chronische Psychose der jugendlichen Epileptiker. Nach
Wildermuth's Schätzung sind höchstens 20— 25 °/o der letztern
als geistig intact zu bezeichnen, und auch unter diesen steht die
Mehrzahl an der Grenze geistiger Gesundheit. Sie verdanken viel-
leicht ihr günstigeres Geschick dem relativ erst spätem Eintritt der
schädigenden Krampfneurose (nach dem 5. Lebensjahre). In je
früherm Alter letztere auftritt, desto grösser ist die Gefahr, desto
früher der Eintritt des Idiotismus.
Diese jugendliche epileptische Idiotie zeigt als Hauptsymptom eine
psychische Schwäche anergetischer Form. Namentlich ist der Ablauf der
Vorstellungen ausserordentlich verlangsamt. Sehr häutig sind gewisse
Bizarrerieen damit verbunden: Sammeltrieb, Freude an bestimmten Be-
wegungen, an wehenden, flatternden u. s. w. Gegenständen. Es kommen
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272
Das epileptische Irresein.
alle Grade vor, vom leichtern bildungsfähigen Schwachsinn bis zum voll-
ständigen Blödsinn. Die letztern haben keine speeifischen Merkmale; da-
gegen zeichnet die erstem eine auffallende Abnahme des Ge-
dächtnisses für längst Vergangenes in hohem Grade aus, neben einer
sonst leidlich noch erhaltenen Intelligenz, ja oft als eine fast selbständige
Functionsstörung. Ebenso charakteristisch, und in scharfem Gegensatz
zur Idiotie aus andern Ursachen, ist auch hier das Vorhandensein eines
oft recht lebhaften Krankheitsgefühls, nicht bloss bezüglich der
„Anfälle", sondern speciell auch des psychischen Verhaltens (vgl. 8. 257).
Ob an eine vorausgegangene Epilepsie sich ein psychischer Zu-
stand anschliessen werde, entscheidet sich in der Regel im Zeitraum
von 1—2 Jahren nach Auftreten der erstem. Wohl aber leitet gegen-
theils sehr oft eine psychische Veränderung den Ausbruch eigent-
licher epileptischer Anfälle ein, wenn letztere auf vorausgegangene
Traumen oder auf Infectionskrankheiten (worunter Scarlatina voran-
steht) nachfolgen. Diese vorausgeworfenen „geistigen Schatten" be-
stehen theils in intellectueller Abschwächung, theils in einem auf-
geregten ängstlichen Wesen, oder auch in einer auffälligen Hastigkeit
des Benehmens (manchmal mit choreaartigen Zuständen); in andern
Fällen in grosser Reizbarkeit und Zornmütbigkeit, welche sogar bis
zu Angriffen auf die Umgebung führt. Nach mehr oder minder
langem Bestand dieser prämonitorischen Charakteränderung brechen
dann die Insulte aus.
Viel häufiger ist jene dagegen eine consecutive, als Nachwirkung
der bestehenden Krankheit auftretend. Verschieden vom Erwach-
senen scheint hier, in der Jugend, die Häufigkeit der Anfälle
nicht ohne Einwirkung auf den Eintritt der chronischen Psychose
zu sein. Die letztere d. h. die typische Charakteränderung pflegt
in der Pubertätszeit zu beginnen. Sie erstreckt sich nach intellec-
tueller und nach ethischer Seite, führt dort zu einem zunehmenden
Schwachsinn, welcher in der Regel erst die Function des Gedächt-
nisses beschlägt (s. o.), später allgemein wird; hier zu einer beson-
dern Form moralischer Entartung.
Die bis dahin folgsamen, zuthunlichen Kranken werden mürrisch,
widerstrebend, ungesellig, streitsüchtig; allmählich pietätslos, endlich roh,
gewaltthätig (Misshandlung von Thieren, von Gespielen, Geschwistern).
Es ist bemerkenswerth und für die organisch krankhafte Natur dieser
psychischen Umwandlung bezeichnend, dass diese Charakteränderung in
gleicher Weise — und gleich unaufhaltsam — in der liebevollen Pflege des
Elternhauses, wie unter der rationellen und consequenten Erziehung der
Anstalt, oder in den kümmerlichen Verhältnissen des Proletariers sich
vollziehen kann. Von dem moralischen Defectzustand des gewöhnlichen
Idioten unterscheidet sich diese epileptische Depravation durch ihre emi-
nente Activität, dnreh den Grundzug der Gewalttätigkeit, welcher
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Die jugendlichen Epileptiker. Charakteränderung.
273
ihr innewohnt, und namentlich auch durch die relative Erhaltung der
Intelligenz. Der epileptische Charakter scheint sich sogar mit Vorliebe
die Fälle auszusuchen , in welchen die Intelligenz eine wesentliche Ein-
busse noch nicht erlitten hat. Im Speciellen lässt sich eine schwerere
nnd eine leichtere Form des epileptischen Charakters unterscheiden. Die
erste re entwickelt sich in der oben bezeichneten Richtung des Verküm-
merns und endlichen Untergangs der altruistischen Gefühle weiter bis zu
den Höhegraden der Moral Insanity; aus ihr wachsen später die gefähr-
lichen Epileptiker auf. Die zweite bleibt zunächst auf der Consolidirung
einer mürrischen, misstrauischen Stimmungsgrundlage stehen, und bewahrt
neben krankhaften Antipathieen ein sonst gutmUthiges Wesen. In der
Folge fallen aber die Träger einem Beachtungswahn anheim (Verspottung
durch Andere); sie werden unsocial und nicht selten brutal gewaltthätig.
Die dadurch entstehenden Misshelligkeiten, verbunden mit der krankhaften
Unfähigkeit sich consequent zu beschäftigen, machen die Kranken ar-
beitsscheu und führen Viele dem Vagantenthum zu. So entstehen die
„epileptischen Bummler". — Interessant ist der Einflus9 der socialen
Stellung auf diese letztere Gruppe. Während die der untern Klassen,
ohne äusseres Correctiv und inneres Steuer, in der Regel früher oder
später zu Landstreichern und Gewohnheitsdieben werden und als solche
der Justiz zuwandern, entwickeln sich die social besser situirten Kranken,
welchen das gute Beispiel ihrer Geschwister, die Würde der elterlichen
Stellung zum lebendigen Aufblick verblieben ist, nach der Art hebe-
phrener Prahlhänse. Sie tragen sich mit phantastischen Zukunftsplänen,
lieben die Weltklugen zu spielen, mit wissenschaftlichem Flitter zu para-
diren, in der Politik zu kannegiessern, bleiben aber unfähig zu jeder
gründlichen Erlernung, nnd verlaufen endlich kläglich in dem traurig-
komischen Contrast ihrer Grossmannssucht mit ihrer wirklichen geistigen
Impotenz. Bei weiblichen Kranken stellt sich nicht selten ein ausge-
prägter Hang zu sentimental -tragischem Wesen ein: die Kranken ge-
fallen sich in der Rolle der Leidenden, tragen auch mit Vorliebe die
vermeintlichen Kränkungen seitens der Umgebung mit der Miene der
unschuldigen Dulderin vor, fallen aber gelegentlich mit sehr unzarten
Schimpf- und Räsonnirparoxysmen bedeutend aus der Rolle. — Ein bei-
den Geschlechtern zukommender Charakterzu^, welcher auch erst in den
Pubertätsjahren aufzutreten pflegt, ist die „klettenartige Aufdringlich-
keit" dieser jugendlichen Epileptiker, wodurch sie ohne Rücksicht auf
Ort, Zeit und Stimmungslage ihres ausgesuchten Opfers mit eintöniger
Beredtsamkeit endlose Klagen, oder auch völlig affectlos unendliche Erzäh-
lungen über ganz gleichgültige Dinge vorbringen. — Auch die demon-
strativ-religiöse Färbung des Charakters (grundverschieden von der
naiven echten Frömmigkeit des Kindesalters) pflegt in den Pubertätsjahren
sich aufzu9chlie8seu.
Bemerkenswerth für alle diese Charakterzüge ist I . dass sie oft ausser-
ordentlich rapid sich entwickeln, und 2. dass sie in vielfachen Zusammen-
hang mit den Insulten treten und darnach zahlreiche Schwankungen zeigeu.
Vergleicht man diese chronisebe Neuropsychose mit den ein-
zelnen Formen der grundliegendcn Epilepsie, so lassen sich durch-
Scbüle, GeiataikrankUeiUn. 3. Aufl. IS
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274
Da« epileptische Irresein.
greifende Unterschiede d. h. constante psychische Varietäten nicht
auffinden. Doch bleiben immerhin einige beachtenswerthe Nuancen.
So entspricht a) der typischen Epilepsie (ausgebildete Krampfanfälle
mit völliger Bewusstseinsstörung; allgemeine tonische und klonische
Convulsionen ; petit mal; meist völlig dunkle Aetiologie) das Vor-
kommen sämmtlicher oben skizzirter intervallärer Störungen; da-
gegen der b) Epilepsie mit Hemiparese (i. e. halbseitige Affection
der Pyramidenbahnen; klinisch: erst halbseitige, dann allgemeine
Zuckungen, complete Bewusstseinsstörung oder petit mal; häufigste
Ursache: Scharlach) ein mittlerer und hochgradiger Schwachsinn
mit weniger typischer Charakterdegeneration; während die c) corti-
cale Epilepsie durch psychische Intactheit resp. mässige psychische
Schwäche ausgezeichnet ist. Eine vierte Gruppe d) lässt sich noch
anfügen, welche in grosser Gleichartigkeit eine Annäherung an die
allgemeine Paralyse darbietet.
Jedoch vorwiegend in den somatischen Zeichen: hochgradige Coor-
dinationsstörung in der Sprache, Schrift, untern Extremitäten, weniger in
den Armen und Händen. Auch die Aetiologie (geistige Ueberanstrengung,
Kopfcontusion) trifft zu. Die psychischen Symptome beschränken sich
auf die progressive Demenz, welcher aber die für die klassische Para-
lyse specifischen Detailzeichen (Grössen wahn u. s. w.) fehlen. Auch der
„progressive" Charakter ist ein begrenzter; derselbe entwickelt sich nur
bis zu einem gewissen Grade, bleibt aber dann stehen (Aehnlichkeit mit
gewissen alkoholischen Paralyseformen). Darin und in der sehr langen
Dauer liegen weitere Unterschiede gegenüber der klassischen Form. —
Die epileptischen Anfälle, welche zu diesem klinischen Typus führen,
sind sehr schwere typische; petit mal ist vorhanden; die geistige Ab-
nahme eine sehr rapide; die Form der (acuten) psychischen Störung ist
Stupor mit gelegentlichen Erregungszuständen.
Beachtenswerth ist das Verhalten der motorischen Insulte zu den
Veränderungen im ethisch- psychischen Charakter. Dasselbe ist sehr
verschieden. Der epileptische Charakter kann sich entwickeln a) gleich-
zeitig mit häufigem und schwerern Anfällen (d. h. bei Verschlechte-
rung des Leidens); b) beim Gleichbleiben der motorischen Symptome,
und c) nach wesentlicher Besserung, ja Sistirung der letzteren.
b) Die intercurrir enden acuten psychischen Störungen bei jugend-
lichen Epileptikern. Allgemein kann behauptet werden, dass schwere
acute Formen selten sind; namentlich scheinen die Zustände furi-
bunder Manie (bei Erwachsenen so häufig) bei den jugendlichen
Epileptikern zu fehlen. Für die Entwicklung sämmtlicher inter-
currenter Psychosen ist wiederum die Pubertät die entscheidende Zeit
Bezüglich des Verhaltens derselben zu den Insulten lassen sich
etwa 3 Gruppen aufstellen:
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Die jugendlichen Epileptiker. Intercurrente acute Irreseinsanfalle. 275
a) Es treten zeitweilige psychische Störungen auf, aber ohne
einen deutlichen zeitlichen Zusammenhang mit den Krampfattaken
resp. mit einer besonderen Häufung oder Intensität der letztern. Sie
kommen in unregelmässiger Weise vor, ohne Insulte, oder letztere
einleitend, oder denselben nachfolgend. Die klinischen Formen sind
acutes hallucinatorisches Delirium, und Dämmerzustände mit reli-
giösem Delirium.
Die Kranken werden zeitweise stiller, träumerischer, oder versinken
in einen Zustand von tiefer Stupidität, in welchem aber oft noch ein
Schimmer von Perception bleibt. Während desselben reges hallucinato-
risches Traumleben (Gesichte von Engeln, schwebenden Figuren, himm-
lischen und höllischen Geistern). Aus diesem gehen sie theils allmählich
wieder in das gewöhnliche Verhalten über, oder aber durch ein Zwischen-
stadium von Aufregung und Gewalttätigkeit mit Hallucinationen, welche
aber nicht schreckhaften Inhalts sind. Manchmal trägt die Erregungs-
phase einen gehobenen Charakter mit „Gott"hallucinationen.
b) Die Psychose resp. pathologische Stimmungsänderung steht
mit den Anfällen in Zusammenhang, aber ohne dass sich zwischen
prä- und postepileptischer Periode ein klinischer Unterschied machen
Hesse.
Der Kranke befindet sich — und zwar wiederholt sich dies jedes-
mal in ziemlich gleichmässiger Weise — 1 — 2 Tage vor oder nach dem
Anfall resp. während der ganzen Zeit einer Anfallsgruppe in einer krank-
haften Stimmung (streitsüchtiges, mürrisches, begehrerisches Wesen),
welche allmählich wieder in das normale Verhalten übergeht. Das Be-
wusstsein bleibt dabei erhalten und fehlt nur in den Krampfattaken.
c) Die psychische Aenderung ist an den Anfall gebunden und
tritt deutlich prä- oder postepileptisch auf. Diese beiden Phasen
wiederholen sich jeweils typisch, so dass man nach der einen oder
anderen deutlich erkennen kann, ob der Kranke eine Krarapfattake
gehabt oder eine solche bekommen werde (bemerkenswerther Unter-
schied gegenüber dem Erwachsenen!).
Hier kommen eine Menge Varietäten und Abstufungen vor. Im
Ganzen kann gesagt werden, dass das jugendliche Gehirn vom einzelneu
Anfall weniger afticirt wird als das des Erwachsenen. Lang anhaltender
Stupor ist sehr selten, nicht minder eine wirklich ausgebildete postepi-
leptiscbe Psychose, worunter die furibunde Manie ganz zu fehlen scheint
(8. o.). In der Regel handelt es sich nur um fragmentare Psychosen
d. h. um Stimmungsänderungen. Unter diesen kann eine depressive Phase
der Krampfattake vorhergehen und eine euphorische dem Insult folgen,
oder auch umgekehrt (letzteres übrigens seltener). Bemerkenswerth ist
die gleichmässige Wiederholung des einmal angenommenen Typus. Der
Inhalt der präepileptisch depressiven Phase ist entweder hypochondrischer
Natur (Leib verfault, Zähne fallen aus), oder mehr ein melancholischer,
oder endlich gereizt zornmüthiger, mit Selbst- und Gemeingefährlichkeit.
IS*
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276
Das epileptische Irresein.
Die euphorische Phase besteht in gutmttthiger Zuthunlichkcit und schwach-
sinniger Zufriedenheit. Prognostisch wichtig ist der übereinstimmend
schwere Charakter dieser Gruppe; der therapeutische Erfolg erweist sich
allermeist = Null, oder als höchstens sehr unbedeutend.
d) Die psychische Störung tritt als Aequivalent ein.
Hier finden die vielfachsten Variationen statt. So kann a) die Krank-
heit mit acuten psychischen Anfällen 'von ganz kurzer Dauer (Davon*
springen, plötzliche Heftigkeit) einsetzen, und nach und nach in typische
(motorische) Epilepsie Ubergehen. Oder (1) die typischen Insulte ver-
schwinden, und an deren Stelle treten periodische Erregungszustände
(Zerreissen, Zerstören, Wegwerfen, zweckloses Stehlen ; oder aber wider-
wärtiges, streitsüchtiges, arbeitsscheues Wesen). Manchmal bleiben die
Insulte, scheiden sich aber in starke und schwache; an die letztern
schliessen sich traumartig hallucinatorische Erregungszustände an, während
die erstem durch ein leicht soporöses Stadium in Euphorie übergehen.
Interessant sind die Fälle, in welchen nach Zurücktreten der Insulte
psychische Erregungszustände eintreten, welche später mit der Wieder-
kehr der motorischen Attaken wieder verschwinden.
Auch im Verlauf des jugendlichen epileptischen Irreseins können
intercurrirend hysterische Anfälle mit Vociferationen, Grand mou-
vement und charakteristischem psychischem Verhalten auftreten. Die-
selben kritisiren sich durch mehrtägigen nachfolgenden Sopor.
Therapie.
Die somatische (arzneiliche) Therapie ist nach den für die er-
wachsenen Epileptiker besprochenen Indicationen m. m. einzurichten.
In psychischer Hinsicht ist auf Berufswahl und Beschäftigung der
jungen Kranken die sorgsamste Rücksicht zu lenken. Als Grund-
satz gilt hier, dass für Alle, welche in einem erheblichen Grade an
dieser Krankheit leiden, ein gelehrter resp. höherer technischer Beruf
sich nicht eignet; am besten ein Handwerk, welches Beschäftigung
zu Hause gestattet (Buchbinder, Korbmacher, Mechaniker, Gärtner,
Oekonomen). Es ist gut dies den Eltern vorher zu sagen, um ihnen
eine Reihe schmerzvoller Enttäuschungen, fehlgeschlagener Hoff-
nungen zu ersparen, und alle die nutzlosen Experimente zu verhin-
dern, welche auf die ganze Entwicklung des Kranken den ungünstig-
sten Eiufluss äussern. Namentlich hüte man sich die Eltern auf
die Entwicklungszeit des Kindes in der Pubertät zu vertrösten;
keine einzige dieser Versprechungen erfüllt sich; denn die Pubertät
ist ja gerade die Keimstätte für die Entfaltung dieser schrecklichen
Neurose. Machen die eiuzelnen Anfälle oder das psychische Ver-
halten den regelmässigen Besuch einer öffentlichen Schule unmöglich,
dann ist (ganz glänzende Verhältnisse vielleicht abgerechnet) die
Verbringung in eine Anstalt angezeigt
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Das hypochondrische Irresein.
277
Die letztere muss neben geregeltem ärztlichem Dienst Gelegenheit
geben a) zur Erwerbung guter Volksschulkenntnisse, b) zur Ausbildung
in geeigneten Gewerken, und c) zu vieler Bewegung im Freien und ge-
regeltem Turnunterricht. (Ueber die nöthigen Requisiten vgl. die citirten
Aufsätze von Wildermuth.) Psycbiatrischerseits ist das Postulat auf-
zustellen, dass Anstalten für Epileptische unter ärztliche Directiou zu
stehen kommen. Diese ist hier so nothwendig wie bei Irrenheilanstalten,
und nothwendiger als bei Irrenpflegeanstalten. Es ist eine dringende
Pflicht des Staats diese hochwichtige Aufgabe, welche an Wichtigkeit
der übrigen Irrenfürsorge nicht nachsteht, seinerseits in die Hand zu
nehmen!
Das hypochondrische Irresein.
Literatur s. beiJolly, d. Handb. 12. — Le Grand du Saulle, Gaz. des
höp. 1681. — Zur nenrasthenfschen Unterform: Beard, Nervenschwäche. —
Chambard, l'Enceph. 1882. — Tuczek, Allg. Ztschr. f. Psych. 39. — v. Holst,
Mooogr. 1883. (Behandlung).
Unter Hypochondrie versteht man eine psychische Neurose
auf Grundlage einer Hyperästhesie der Empfindungsnerven einzelner
oder aller Organgebiete, und mit der Wirkung eines dadurch gesetzten
Zwanges auf das gesammte Seelenleben. Dieser äussert sich intel-
lectuell in der anhaltenden Concentrirung der Aufmerksamkeit auf
das leidende Empfindungsgebiet, in der Gemlithssphäre als Ver-
stimmung und Angst, und nach Seite des Willens als Unruhe und
Aufregung neben zunehmender Apathie fUr die ausserhalb des kör-
perlichen Schmerzgebiets liegenden Reize und Anregungen.
Es entgehen nicht die in dieser nosologischen Umschreibung gele-
genen und tatsächlich vorhandenen, vielfachen Beziehungen zur Melan-
cholie, und andererseits zur Hysterie. Mit ersterer theilt die Hypochon-
drie dasselbe Grundelement einer psychischen Hyperästhesie und die
reactive Verstimmung; mit letzterer den Reflexzwang, welcher die jewei-
lige seelische Disposition ganz nur an die irritirte sensible Nervenfaser
bindet. Noch eine andere Eigentümlichkeit verknüpft die hypochon-
drische Neurose mit den beiden vorgenannten und ausserdem noch mit
gewissen Formen des Wahnsinns: die prompte Wechselwirkung zwischen
peripherer „Neuralgie" und dem psychischen Centrum, und ebenso zwi-
schen diesem und dem Empfindungsgebiet, wodurch centrale Gefühle sich
in letzteres „einzubilden", zu wirklichen körperlichen Sensationen sich
zu gestalten vermögen. Wir begegnen deshalb der hypochondrischen
Neurose auch gelegentlich unter der Form der Melancholie und des
Wahnsinns. Zwischen hysterischem und hypochondrischem Charakter ist
vollends im Gebiete des „körperlichen Weheseins" keine nosologische
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218
Das hypochondrische Irresein.
Unterscheidung zu ziehen. — Die gesonderte Besprechung an dieser Stelle
will der Thatsache Rechnung tragen, dass der hypochondrische Seelen-
zustand sehr oft auch für sich auftritt, als selbstständige Neurose, welche
zwar in Melancholie oder Wahnsinn übergehen kann, nicht selten aber
auch in ihrem klinischen Habitus verbleibt resp. in psychische Schwäche
tibergeht. Als solcher bildet das hypochondrische Irresein neben dem
hysterischen und epileptischen eine besondere psychische Constitution*-
erkrankung, und mit den letzteren zugleich eine eigene Form der geistigen
Degenerescenz.
Analyse der Symptome und Krankheitsentwicklung.
1. Psychische Hyperästhesie auf dem Empfindungs-
gebiet — Hauptsymptom. „Der Hypochonder ist der Virtuose auf
den sensibeln Nerven." Alle körperlichen ReizeindrUcke werden ge-
steigert empfunden. Bald ist es nur ein bestimmtes Gebiet, wel-
ches diese gesteigerten Schwellenwerthe besitzt, bald der sensible
„Nervenbaum" in allen Zweigen, anhaltend oder auch zeitweise nach
einzelnen Provinzen wechselnd. Begünstigt sind erfahrungsgemäß
die Unterleibs- und Genitalnerven, deren Eindrücke besonders ein-
schneidend vom Sensorium erfasst werden. Die Empfindungen sind
aber nicht nur gesteigert, sondern sehr häufig auch qualitativ —
parästhetisch — geändert; sie imponiren dem Kranken als neu, un-
gewohnt, unfassbar, keiner Bezeichnung zugänglich.
Der Hypochonder fithlt eben nicht nur die Allen geläufigen Verstim-
mungen in gesteigertem Grade, sondern thatsächlich auch ganz specifische,
dem normalen Empfindungskreise sonst verschlossene. So kann das für
den gesunden Menschen unfühlbare Verdauungsgeschäft sich für den Hy-
pochonder in eine Welt der eigenartigsten Sensationen aus der Peristaltik
des Magens und der Gedärme, welche er deutlich mitempfinden muss,
auflösen. Die häufig der hypochondrischen Neurose zu Grunde liegende
Neurasthenie läset keine Körperbewegung zu Stande kommen, ohne eine
schmerzliche Mitempfindung; ja selbst die stille Arbeit des Denkens wird
unangenehm, oft sogar schmerzlich pereipirt; nicht minder aber ebenso
auch die körperliche oder geistige Ruhe. Die Sinneseindrücke gestalten
sich zu peinlichen Geräuschen, Lichtblitzen u. s. w.
Aber es bleibt nicht einfach bei dieser sensibeln und sensoriellen
Hyperästhesie. In den Blickpunkt des Bewusstseins eingetreten,
bleiben die Empfindungen haften, fesseln die Aufmerksamkeit und
knüpfen sich, indem sie zugleich in beängstigender Weise das Ge-
müth erregen, an gleichsinnige Vorstellungen an. Der Kranke wird
zum grüblerischen Philosophen seines verstimmten Empfindung«-
Instruments. Er findet in den bestürmenden Sensationen etwas Be-
achtenswerthes, was ihn mit Grund beunruhigen muss. Nun hilft die
Phantasie oder die emsig cousultirte Lectüre zur Vollendung des
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Analyse der Symptome und Krankheitsentwicklung.
279
Wabnschlusses. Der aufgetriebene Magen lässt ..innere Hämor-
rhoiden" oder gar noch Schlimmeres vermuthen , der zeitweilige
Rückenschmerz die heranschleichende Tabes, der „Kopfdrack" das
leise sich vorbereitende Hirnleiden diagnosticiren. Nnn wird weiter
geforscht, beobachtet und verworfen, verbessert und wieder neu
entdeckt: der geistig- körperliche Cirkel schliesst sich zu einer fllr
den Kranken immer zweifelloseren Thatsache. Entspricht der aus-
legende Gedanke ganz und einzig der Qualität des körperlichen
Gefühls, so regt sich andrerseits dieses letztere immer und sofort
neu, sobald nur die befürchtete Vermuthung leise anklopft. So wird
der geistige Zwang und die „Schablone" fertig, welche sich nun
mit täglich frischem Krankheitsinhalt anfüllt. Damit ist's aber jetzt
auch um die Ruhe des Kranken geschehen: zur sensibeln Hyper-
ästhesie kommt nun auch die des Gemüths; der Kranke wird traurig,
und verfällt einer zunehmenden Angst In dieser Phase des Leidens
geht der Hypochonder mit dem Melancholiker zusammen ; jener bleibt
nur realer in den subjectiven Beweisgründen seiner Resignation oder
Verzweiflung, während dieser mehr aus der Metaphysik seine Er-
klärung holt. Manchmal gehen thatsächlich beide Zustände auch
zeitlich in einander Uber: erst ist der Kranke ein hypochondrischer
Melancholiker, später der Gemüthsgedrückte aus Sündenschuld. Der
Zwang des krankhaften Fühlens bleibt derselbe. Der definitive
Hypochonder verbleibt aber im Bann seiner körperlichen Miss-
empfindungen und Befürchtungen. Er ist krank, schwerkrank, un-
heilbar. Die jeweilige Beschaffenheit des Stuhlgangs, das Eintreten
oder Fehlen irgend einer erwarteten Empfindung wirft unerbittlich
die Tagesloose für seine Stimmung. Dabei erblasst, wie beim Me-
lancholiker, das Gemüth8intere88e fllr Alles ausserhalb der krank-
haften Gefühlskreise Gelegene. Für sich ängstlich, überbesorgt,
wird der Kranke gegen Andere gleichmütig; der krankhafte Selbst-
Ciilt führt zum Egoismus, und dieser nach und nach zu einer voll-
ständigen Gemüthsverknöcherung, zur endlichen Theilnahmlosigkeit
selbst für die Familie, für den Beruf, für alles Ideale. Nur für die
Anerkennung seiner berechtigten Klagen bewahrt der Kranke eine
feine, fast gesteigerte, ja reizbare Empfindung, und ebenso auch für
den Neid gegenüber Anderen, Gesunden (gleichwie beim Melancho-
liker gegen Glückliche).
Doch ist dieses Verhalten nicht ausnahmslos : es gibt viele jahrelang
und schwer geprüfte Hypochonder, welche in der Stille zu dulden wissen,
und in ihrer Brust und ihrem äusseren Benehmen Manches von dem ein-
stigen „göttlichen Feuer" zu retten vermögen; sie bleiben bei aller Un-
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280
Das hypochondrische Irresein.
liebenswürdigkeit, die sie nun einmal begehen müssen, gelassene und ge-
duldige Menschen, und dabei dankbar und vertrauend.
2. Das Vorstellen ist verlangsamt bei innerer UeberfUllung —
wie beim Melancholiker. Die gesteigerten Sensationen erzwingen
sich und binden die Aufmerksamkeit; die dazu „gestimmten" Vor-
stellungen werden aufgesogen und angebildet, die übrigen laufen
träger ab, oder stagniren. Daher die Monotonie des Vorstellens,
welche schliesslich zu immer grösserer Oede des intellectuellen Be-
sitzes führt, weil jeder zur Uauptgruppe nicht passende Complex
verdunkelt und gehemmt wird, und ein neuer nur unter unangenehmen
Hirnempfindungen vorzudringen vermag, so dass die psychische
Hyperästhesie immer aufs Neue wieder geweckt wird. Wenn nicht
(durch Uebergang in Wahnsinn) gefälschte Vorstellungen sich ein-
mischen, so kann der Gedankeninhalt des Hypochonders auf Jahre,
selbst durch das Leben hindurch, qualitativ geschont bleiben. Stets
bildet sich aber mit der immer grössern Stagnation auch eine all-
mähliche geistige Abschwächung ein, welche nach und nach in Blöd-
sinn Ubergehen kann.
Aber auch in diesem Seelengebiete gibt es Helden, welche trotz des
niederziehenden Zwanges der lästigen OrgangefUhle und deren Beäng-
stigungen tapfer auf der Höhe ihrer intellectuellen Schaffungskraft sich
zu halten vermögen.
Steht die Hypochondrie auf erblich belasteter oder neurasthenischer
Grundlage, so erschließt sich auf dem grüblerischen geistigen Boden sehr
oft ein Heer von Zwangsvorstellungen, mit und ohne BerUhrungsfurcht;
sehr häufig mit Vorstellungsschwindel (Platz-Angst).
3. Die Willenssphäre als Reflex der abnormen Gemuths-
lagen uud peinlich aufgedrungenen Stimmungen ist, wie diese, tief
geschädigt. Ueberempfindlich und reizbar auf der einen Seite, unter-
liegen auf der andern die Kranken einer schwächlichen Weinerlich-
keit; selbst rüstige Männer werden oft in „ihren Thränen lebende
Wasserpflanzen". In ihren Paroxysmen, welche oft chronisch sind
und Jahre dauern können, erschöpfen sie sich durch eine rath- und
fassungslose Unruhe, welche keine Befriedigung kennt. Wohl schei-
nen sie manchmal nach einer geduldigen ärztlichen Abhör getröstet
und ermuthigt, aber der „Wurm in ihrem Gehirn" stirbt nicht.
Nach aussen suchen Viele ihrem Schmerze einen möglichst osten-
sibeln Ausdruck zu geben; sie schleppen sich in zusammengebrochen
müder Haltung, die Hände am Bauche oder den Genitalien, herum, for-
dern mit dem wehmüthigsten Blicke uud dem schmerzlichsten Gesichts-
ausdruck das allgemeine Mitleid heraus, legen sich viel hin, vermeiden
die mindeste Anstrengung, stöhnen, seufzen, schluchzen für sieh, oder
sowie Jemand in ihre Nahe kommt. — Stärkere Naturen wissen ihre
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Analyse der Symptome. Körperliche Begleitzeichen. 281
würdevolle Haltung zu bewahren und aufrecht zu bleiben, und nur die
gramdurchfurchte Stirne und das umwölkte Auge im bleichen, missfar-
bigen Gesichte treten als stumme Zeugen der inneren Leiden hervor.
Aerzte über Aerzte werden consultirt; mit dem Genuss sich
auszusprechen vermehrt sich die Begierde. Die Bereitwilligkeit, in
den Tod zu gehen, statt dieses Daseins Schwere weiterzutragen,
wird zur stehenden Redensart, welche glücklicherweise nicht gerade
häufig sich in die That umsetzt; aber doch oft genug, um die
sorgsamste Ueberwachung des Arztes zu rechtfertigen. Ein täg-
lich und stündlich vorgesagter Gedanke vermag auch eine krank-
hafte Feigheit zum Verhängniss zu treiben, zumal bei der Emotivität
dieser gemüthsschwachen Menschen! Unbefriedigt durch ärztliche
Curen und die versuchten Geheimmittel, durch die Elektricitäts*
und Wasserkünste, wird der Hypochonder endlich zum Selbstarzt
Nun beginnt die Medicina crudelis selbstersonnener Quälereien. Der
Stuhlgang wird täglich aufgefangen und analysirt, der Urin beob-
achtet, dabei wacker Pulse gezählt, die Kleidung nach jedem
Thermometerstand genau regulirt, mathematisch abgezählte Zimmer-
gymnastik getrieben („um das Blut bald nach ein-, bald nach aus-
wärts zu leiten"), Uber Pollutionen sorgsam Buch geführt, mit
Hebeln und Schrauben zu deren Bekämpfung geschritten, allen
„Bacterien" in Speisen und Getränken peinlichst aus dem Wege ge-
gangen — der ganze Tageslauf geht schliesslich in einem Register
von scharf abgewogenem Thun und Lassen auf. Der Kranke dieses
Grades wird für seinen Beruf, für die Umgebung immer mehr todt,
und lebt, ein Verschollener, nur noch sein selbstgezimmertes künst-
liches Dasein.
Aber auch hier gibt es Ausnahmen ! Mit bewundernswerter Selbst-
hilfe schaffen sie sich allerlei geistige „Krücken" (sie ordnen täglich ihren
gesammten Zimmerbestand in neuer und systematischer Anlage, fegen
und scheuern u. s. w.), und beschwichtigen dadurch jeweils für den Tag
ihre krankhaften Sensationen, so dass sie fllr einige Stunden frei und
wieder zu „Menschen" werden.
Körperliche Symptome, a) Sensibi litätsstöruugen. Hieherge-
hört das ganze Heer von Hyperitsthesieen und Neuralgieen, wie sie na-
mentlich den neurasthenischen Syraptomencomplex zusammensetzen. Da-
runter treten besonders hervor: die Klagen Uber Kopf, Rücken, Unterleib,
Kopfdruck in allen Formen, Kopfweh, vor Allem aber Schwindel (nicht
immer in „drehender" Form, sondern oft, als ob die Kranken in ein
Loch herabträten, oder mit dem Körper schwebten); sodann peinliche
BegleitgefUhle bei geistigen Arbeiten (beim Sich-Besinnen u. s. w.); para-
doxe Sensationen im Kopfinnern (als ob ein Rad drin gehe, Waschseile
aufgespannt wären, Theile fehlten); im Rücken: rasche Ermüdung, Amei-
senkriechen, elektrische Sensationen, Kreuzschmerz mit Irradiationen Uber
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282
Das bypochoudrische Irresein.
Beine und Blase, allmählich aufsteigend in die Brustgegend, mit Inter-
co8talschmerzen, Occipitalneuralgieen, Trigeminus3chmerz. Sensorielle Hy-
perästhesie, besonders des Gesichts und Gehörs mit grosser Neigung zu
phantastischer Umbildung; ausserordentlich gesteigerter Geruch- und Ge-
schmacksinn (z. B. gegen Pfeffer). — Spinalanästhesie und -Analgesie ist
vergleichweise seltener (Taub- und Eingeschlafensein der Extremitäten),
häufiger dagegen Verminderung der sensoriellen Functionen (trüberes
Sehen besonders bei Fixation, mit Flimmern vor den Augen, stumpferes
Gehör, beides oft bis zu transitorischer Blindheit oder Taubheit auf Tage
hinaus). — b) Motilitätsstörungen. Krämpfe local (Wadenkrampf),
und manchmal allgemein in Form von (hysterischen) Zuckungen, Muskel-
„Pulsationen", epileptoide Anwandlungen (Schwindelgeflihle und wirk-
liches zeitweiliges Umsinken mit Ohnmacht); oft Tremor am ganzen
Körper. Von Lähmungen beobachtete ich wiederholt solche der Stimm-
bänder. — c) Vegetative und trophische Anomalieen. Schmer-
zen im Magen und in den Gedärmen, speciell in der Herzgrube, so dass
die Kranken das Kleid nicht zukuöpfen können, die aufgelegte Hand
nicht ertragen, sich nicht bücken, nicht im Bett umdrehen können; pein-
lich gefühlte Peristaltik mit oft gänzlicher Sistirung des Denkens wäh-
rend der Verdauung, und umgekehrt sofortige Verdauungsstörung bei
geistiger Anstrengung nach dem Essen (Flatulenz, beschleunigter Stuhl-
gang, Schmerz im Epigastrium); krampfhafte Contraction einzelner Darm-
partieen mit Aufgetriebenbeit (Herabsinken der Gedärme), hartnäckige
Obstipation mit froschlaichähnlichem Schleimabgang, oft zwischenläufigen
Diarrhöen. Sehr häufige Hämorrhoidalentwicklung. Ungleicher Appetit;
oft Bulimie ohne Sättigungsgefühl. Gestörter Schlaf, öfteres Aufwachen
mit Gedankenjagd, häufiges Alpdrücken. Vermehrte Pollutionen, Ano-
malieen der Poteuz. — d) Vasomotorische Störungen. Ungleiche
Blutvertheilung, Kälte der Extremitäten, fliegende Hitze, Rash's zum
Kopfe, gesteigerte Neigung zur Transspiration, klopfende Pulsationen im
Kopfe, Ohr , Fingern , Unterleib u. s. w. Anomalieen der Temperatar-
nerven der Haut: peinliche Frostgefühle. Sehr häufig Herzklopfen, oft
intermittirender Herzschlag, Respirationsbeklemmungen (Asthma, trockener
Husten).
Verlauf und Ausgänge.
Die Hypochondrie ist stets eine chronische, auf Jahre, nicht
selten auf das ganze Leben sich erstreckende Krankheit. Der Be-
ginn ist in der Regel ein allmählicher. Ein allgemeiner körperlicher
Schwächezustand (welcher seine Entstehung, sowie die künftigen
neuropsychischen Fäden vorzüglich aus den beiden Centren a) ge-
störter Verdauung, b) anomaler Geschlechtsfunction bezieht), oder
Spinalirritation, oder endlich cerebrale Neurasthenie (s. u.) gehen in
der Regel Jahre lang voraus. Nicht selten kann aber bei entspre-
chender neuropsychischer Disposition auch ein acuter Beginn ein-
setzen (gerade wie auch bei neuralgisch vorbereiteten Melancholieen):
irgend eine Gemüthsbewegung, die Furcht vor Cholera, der Schreck
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Verlauf und Ausgänge. Hypochondrischer Wahnsinn.
283
eines jähen Todesfalles scbliessen durch den Affectvorgang
selbst die bis dahin getrennten Glieder (eines peripheren Nerven-
leidens und eines hyperästhetischen psychischen Organs) zn der Kette
zusammen, welche von nun an die psychischen Bewegungen mehr
oder weniger an die nervösen Wellenbewegungen vno xovÖQiag an-
knüpft. Der Gang der einmal manifesten Krankheit ist für gewöhn-
lich ein exacerbescirend-remittirender : nach längern oder kurzem
Intervallen, in welchen der Kranke sich wohl und rüstig fühlt, kehrt
der alte Jammer wieder, nicht selten in der Form einer tief schmerz-
lichen Rückwirkung auf das Gemttthsleben (intercurrente hypochon-
drische Melancholie; s. d.). — In andern Fällen geht die Krankheit
nach kürzerer oder längerer Dauer in Wahnsinn Uber. Dieser kann
entweder in der Richtung des gewöhnlichen Verfolgungswahns sich
ausbilden, indem die unfassbaren und so aufdringlichen Sensationen
(weil sie eben so ungewohnt sind) von sich aus den Weg zum
Ich - entzweienden Trugschluss (als seien sie von aussen gemacht)
nehmen; oder es entwickelt sich ohne Verfolgungsideen ein speci-
fisch hypochondrischer Wahnsinn, indem der logisch unlösbare Rest,
welcher jeder körperlichen Empfindung anhängt, phantastisch apper-
cipirt und ohne Reflexion zur wirklichen Thatsache erhoben wird.
So entsteht für den Kranken ein neuer Phantasie Körper an Stelle
des bisherigen.
Der Kranke klagt, dass ihm „Knöpfe" im Leibe herumziehen, dass
ihs Herz in die Hypochondrien herabsänke, die Eingeweide durch den
Hodensack herausträten; die Därme sind eingeschnurrt, der After ver-
trocknet; er spürt sogar schwarzb raunen Stuhlgang die linke Seite
des Leibes herablaufen u. s. w. Der Hodensack ist mit Holzklötzen ge-
füllt, und dann plötzlich wieder leer ; die „Venen" sind überfüllt ; durch
die Schläfen blasen Winde; nirgends ist mehr Absonderung; der Kranke
verdorrt bei lebendigem Leibe; der Kopf ist zu klein, das Hinterhaupt
zu gerade, das Herz klopft zu stark u. s. w.
Neben dieser chronischen kommt auch eine acute Modification
vor (S. 186). — In andern Fällen bleibt die Hypochondrie bestehen
und geht, fortan noch unter Schwankungen, in endlichen Blödsinn
über. Dabei kann sich der hypochondrische Wahn bis zu einem
gewissen Grade „abkapseln", und einer noch leidlichen Regsamkeit
der geschont gebliebenen übrigen Seelenthätigkeit Raum geben.
Solche Kranke gedeihen bei den bescheidenen Ansprüchen der ihnen
individuell angepassten Einrichtung des Asyllebens vortrefflich, füllen
auch noch manchmal eine nützliche Stelle aus, während sie, in den Kampf
nm's Dasein gestellt, verloren sind. Andere dagegen gehen in kindischer
Sorge um ihren Corpus auf; sie grübeln über jede Kleinigkeit, consul-
tiren täglich über eine Warze, berichten Uber jeden verstopften Schmeer-
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2U
Das hypochondrische Irresein.
balg, controlliren stundenlang vor dem Spiegel ihr Aussehen, verlangen
immer neue Rechenschaft Uber das Heilverfahren u. 8. w. Damit treten
wechselnde Affecte in Scene: die Kranken äussern Unzufriedenheit, Wi-
derstreben, drängen fort. Manche lassen jetzt gelegentlich einen „ Ver-
folgungswahn" durchblicken. Andere wieder dringen zu einem wahnhaft
gesteigerten Selbstgefühl mit Grössenwabn vor — wohl als Rückschlag
auf schmerzliche innere Verletztheit wegen der ungenügenden Anerken-
nung ihres Leidens. Merkwürdig sind die oft plötzlich und abrupt auf-
tretenden Grössenideen oder beliebigen mystisch „bedeutungsvollen" Ein-
falle aus dem Munde solcher, bis dahin nur „körperlich" philosophirender
Kranker. Andere bekommen zeitweilige stupide Angstzufälle mit oft
heftigem Selbstmorddrang.
So kann unter Besserungen und Verschlimmerungen, mit immer
wieder eingestreuten freiem Zeiten, der Zustand sich protrahiren,
periodisch sich mit neuen Masken zudecken (Melancholie, Wahn-
sinnsphasen, Aufregungszustände), endlich auch stationär bleiben,
oder aber — bei entsprechender Grundlage — mit der originären
Verrücktheit (als einer Erscheinungsweise der letztem) gleichen Ver-
laufsweg und Ausgang nehmen. Nicht selten schliesst jetzt noch ein
Suicidium brüske ab.
Ein anderer Ausgang ist in ein organisches Himleiden (Atrophie),
zu welchem eine tiefe umfassende Hypochondrie nicht selten das
erste Stadium, sehr oft auch das bleibende Krankheitsbild liefert
(8. Cerebropathieen).
Die syphilitische Hypochondrie siehe unter den invaliden Melan-
cholieen (S. 72). —
In unserem nervenreichen und „nerv"armen Zeitalter, dessen Sig-
natur die Neurasthenie auf allen Gebieten darstellt, tritt immer mehr
ein Specialtypus von Hypochondrie hervor, welcher sich zu einem geschlos-
seneren klinischen Bilde abzurunden beginnt. Derselbe ist eine psychische
Form (Erscheinungsweise) der sog. cerebralen Neurasthenie, und be-
gegnet mir immer häufiger unter den Folgezuständeu geistiger Ueberan-
strengung, speciell nach den monotonen Arbeiten vielbeschäftigter Cassen-
beamter. Dessen Symptomenbild ist kurz folgendes:
In der Conversation fühlen sich die Kranken trüb und müde; sie
haben das Gefühl, als ob sie nicht recht bei der Sache wären, „wie in
einer Art Halbschlummer". Sprechen sie eine Ansicht aus, so überkömmt
sie die Angst, ob sie nichts Ungereimtes gesagt haben. Sie versprechen
sich leicht und verlieren leicht den logischen Faden. Die Auffassung
ist stumpfer, oft unendlich mühsam, zerstreut, die Erinnerung unvollstän-
dig, abgeblasst, nach Tageserlebnissen oft so, als ob Monate und Jahre
dazwischen lägen. Für sich fühlen sich die Kranken in einer bestan-
digen Unsicherheit, kommen Uber das Detail nicht hinweg, müssen oft
verificiren, nur um das Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Sie werden
durch Kleinigkeiten, die ihnen zufällig begegnen, so gestört, dass sie ans
dem Concept kommen, und nicht eher fortfahren können, als bis das An-
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Cerebral-neuraathenisches Symptomenbild.
— Therapie.
285
stoss gebende Ding entfernt, oder aber lange und scharf beobachtet wor-
den ißt. Thun sie dies nicht, so gelangen sie über Unklarheit und Zweifel
nicht hinaus. Aeusserer Zwang gibt vorübergehend grössere Sicherheit.
Die Auffassung der Aussenwelt ist fühlbar stumpfer, die Dinge „packen
nicht". Einen Ueberblick zu erhalten fällt ausserordentlich schwer, und
erfordert stets stückweises Auffassen oder einen höchst quälenden Ge-
dankengang. Beim Lesen ist ein beständiges Recapituliren nöthig. Leich-
ter geht es bei lautem Lesen. Manchmal wird aber gegentheils ein erst
klar gewesener Gedanke trübe, sowie der Kranke den Versuch der näheren
Betrachtung oder des Aussprechens unternimmt ; auf diese Weise können
logisch völlig ausgedachte Pläne unter dem Fixirpunkt der Aufmerksam-
keit wieder verschwinden, und die ganze Arbeit muss neu begonnen
werden. Der Kranke hat dabei oft das Gefühl, als ob er wie im Halb-
scblafe sich befände. Bei rasch wechselnden Gegenständen kommt so-
fort Unruhe in alle Nerven. Dies wirkt wieder auf den Kopf zurück,
und alle Gedanken beginnen jetzt sich zu jagen. — Im Gcmüthsleben ist
Angst und Unsicherheit das am meisten hervortretende Symptom.
Alles vollzieht sich mit Angst, das Alleinsein, das Alleinrcisen, das Auf-
machen von Schubladen, das Auspacken von Paketen u. s. w. Bei son-
nigem Wetter ist die Angst gewöhnlich geringer als an trüben nebligen
Tagen. Mit der Angst stellt sich in der Regel Gedankenverwirrung ein
(der Kranke muss oft plötzlich auf gewohntem Wege stehen bleiben und
sich besinnen, wo er sei), und körperliche Auftreibung des Leibes und
peinlicher Afterzwang. Die Angst ist dem Kranken so aufsässig , wie
ein „böses Gewissen". Gegen sonst liebgewohntc Dinge stellt sich Ab-
neigung und Eckel ein. Das frühere Interesse schwindet. Daneben greift
eine weiche, bange, weinerliche Stimmung immer mehr um sich. Alles
rührt den Kranken sofort zu Thränen, so namentlich Musik. Immer Öde
und schwankend in seinem innern Selbstgefühl, verfällt er einem Hang
zum Grübeln und Brüten, so dass er für den Umgang mit andern immer
unfähiger wird. Er geht Tage lang, in seine Gedanken versenkt, in sei-
nem Zimmer auf und ab, und ist überrascht, wie schnell die Zeit ver-
schwunden ist. — Dazwischen treten aber auch klarere Momente , so bei
anderweitigen körperlichen Schmerzen, oder bei stärkeren Emotionen.
Beim Schreiben sind viele Kranke ruhiger, als beim Lesen. Bemerkens-
wertb ist , dass spontane geistige Thätigkeit mitunter wohlthuender em-
pfunden wird, als reeeptive.
Therapie.
Die Behandlung der ausgesprocheneu hypochondrischen Psychose
muss nach den für die Hypochondrie im Allgemeinen und Speciellen
giltigen Grundsätzen geleitet werden (siehe den betreffenden Ab-
schnitt in diesem Werke). Je nach dem „centralen Brennpunkte"
der hypochondrisch-melancholischen Klagen und Empfindungen wird
bald der Magen und Darmkanal, bald die Sexualsphäre (Pollutionen
und Folgezustände), bald endlich eine allgemein spinale oder cere-
brospinale Neurasthenie als Mittelpunkt des speciellen Curregimens
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286
Das hypochondrische Irresein.
sich darbieten. Die Behandlung dieser einzelnen Varietäten hat nach
den Regeln der innern Medicin zu geschehen. Im Medicationsstyl
ist möglichste Einfachheit zu empfehlen. In die wirkliche Therapie
wird mit Vortheil eine zeitweilige Schein-Therapie eingefügt, um
den Kranken nicht zu sehr unter die Schablone zu gewöhnen. Haupt-
sache ist und bleibt die psychische Behandlung, welche in den
GrundzUgen ganz nach der für die Hysterie giltigen einzurichten ist.
Nicht selten ist ein wenigstens temporärer Asyl -Aufenthalt für den
rathlosen hypochondrischen Melancholiker sehr rathsam; dieser ge-
winnt dabei in der Regel wieder so viel innere Kraft und Zuversicht,
um draussen den Kampf mit seinem schweren Leiden wieder wirk-
samer bestehen zu können. Zu dauernden Anstaltsgästen sollen aber
nur die schwersten Formen des eigentlichen hypochondrischen Ma-
rasmus werden, und müssen es, wenn Neigung zu Suicidium vor-
handen ist. Aber auch bei diesen ist ein zeitweiliger Entlassungs-
versuch oft mit Erfolg begleitet, wenn man sich entschliessen kann
dem Kranken seine massigen „Morphium"-Krücken für draussen
zu belassen, mit deren Unterstützung er nicht selten sich zu einem
kleinen bescheidenen Wirken wieder frei zu machen vermag.
Die Behandlung speciell der neurasthenischen Form der Hypo-
chondrie verlangt eine ausserordentlich sorgsame geistige und körper-
liche Diätetik, wie sie am besten in einer gut geleiteten Curanstalt
geübt wird. Nach der Entlassung bildet eine rationelle Einrichtung
der Lebensweise die wichtigste Indication, um Recidiven vorzubeugen;
doch sei man vorsichtig einen bis dahin thätigen und arbeitsgewohn-
ten Menschen schlechthin zum Aufgeben jedes Berufs zu veranlassen:
der jähe üebergang zur Passivität erzeugt nicht selten Melancholie
und ein vorzeitiges Senium ! Der Kranke vermeide wohl Congestio-
nirung seines Gehirns durch Beschäftigung, nicht aber zugleich die
ihm nothwendige cerebrale Erfrischung durch eine zusagende, nicht
überanstrengende Thätigkeit! Er lerne die grosse Kunst des Maass-
haltens und der Selbstbeschränkung. Das „Du sollst den Sabbath
heiligen" hat auch einen tiefen Sinn für die praktische Lebens-
philosophie.
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Die periodischen, circulären und alternirenden Psychosen. 287
Die periodischen, circulären und alternirenden
Psychosen.
Anhang: Mens t rua 1- Psy ohosen.
Literatur. Periodisches Irresein : Esquirol II, 1G8. — Morel,
Traite Alb. — Fair et, Malad, ment. — Spielmann, Diagnostik 324. — Focke,
Ztschr. f. Psych. 5 (nach Malaria.) — Koster, Ibid. IG. — Kirn, Ibid. 2G.
er selbe, Die periodischen Psychosen, Monogr. 1878. — Mendel, Manie
I.e. — Neftel, (period. Melanch.) Ccntralbl. f. med. Wissensch. 22. — Koster,
Ueber die Gesetze des periodischen Irreseins etc. Monogr. 1882. — Bechterew,
Petersb. med. Woch. 1879 (Verhalten der Temp.). — Hurd, Am. J. of Ins. 1882
(Behandlung).
Circulftres Irresein: Kirn, I.e. — Koster, I.e. — Emmerich, Ueber
cykl. Seelenstörungen, Schm. Jahrb. 1Ü0 (Literatur). — Huppert, Ibid. 1877. —
Falret. Bull, de l'acad. de meU 1854 T. 19. u. Arch. gön. 1879. — Baillarger,
Ann. me'd. psych. 1854. — Derselbe, Ibid. 188u. - Ball, Ibid. 1880. — L, Meyer,
Arch. f. Psych. 4 (Literatur). — Dittmar, Ueberregul. u. cykl. Geistesstörungen,
Bonn 1877. — Hughes, AI. and Neur. 18SU (nach Malaria). — Schäfer, Neur.
Ctrlbl. 1SS2. — Doutrebente, An. med. psych. 1S82. — Ritti, Ibid. (körperl.
Symptome). — Derselbe, Trait<5 clinique etc. Paris 1881. — Foville, Brain
1*82. — Karrer, Allg. Ztschr. f. Psych. 37. — Hjertstroem, Schm. Jahrb. 201.
— Kahlbaum, irrenfreund. 1882. — Tonnini, Arch. ital. 1883.
Menstrualpsychosen: Schlager, Allg. Ztschr. f. Psych. 15. — Schroe-
der, Ibid. 30 u. 21. — v. Krafft-Ebing, Arch. f. Psych. 8 (Literatur). — Ellen
Powers (Dissertat. sub ausp. Forel) 1883 (mit sehr ausführt. Liter.). — Cabarde,
l'Enc^ph. 1883. — Algeri, Arch. ital. 1884.
Darunter versteht man Psychopathieen von verschiedener klini-
scher Form, deren Auftreten nicht in einem einzelnen Anfall,
sondern in wiederkehrenden Paroxysmen (derselben oder modificirter
Artung) besteht, welche zeitlich getrennt sind durch ein relativ
lucides Intervall, aber klinisch zusammenhängen als sich wieder-
holende resp. abwechselnde Acte eines unausgesetzt geisteskranken
Zustandes.
In rein periodischer Wiederkehr treten namentlich gewisse melan-
cholische und manische Symptomencomplexe auf als periodische Melan-
cholieen und Manieen. Verbinden sich beide in directer Aufeinander-
folge (Melancholie — Manie, oder umgekehrt) und zwar in cyklischer
Wiederkehr und mit lucidem Intervall, so entsteht die symptomatolo-
gische Abart des „circulären Irreseins". In diese letztere Verbindung
können auch der Stupor und der exaltirte Wahnsinn als klinische Aequi-
valente eintreten. Beide Arten des cyklischen Irreseins, das periodische
und das circuläre, setzen eine invalide Nervenanlage voraus, welche in
den meisten Fällen eine hereditäre, in seltenern eine erworbene ist.
Der Verlauf beider Formen ist in der Regel ein protrahirter,
auf Jahre, ja selbst auf das ganze Leben ausgedehnt. Die Einzel-
Anfälle können bei der Wiederholung typisch („photographisch")
dieselben bleiben; meistens aber erschweren sie sich, je öfter sie
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283
Die periodischen Manieen.
wiederkehren, und erhalten dann sehr häufig einen degenerativen
Charakter — letzteres um so leichter, wenn die periodische oder
circuläre Verlaufsform auf dem Boden eines protrahirten hysterischen
oder epileptischen Irreseins ersteht Als „ functionelle " Neuropsy-
chosen können beide Formen heilen, die circuläre viel schwieriger
als die rein periodische. Klinisch kommen beide Formen getrennt
vor, aber nicht selten auch wieder in der Weise verbunden, dass der
periodische und der circuläre Typus im Verlauf desselben Krank-
heitsfalles mit einander abwechseln.
Die nur „scheinbare" oder „theilweise" Lucidität des Intervalls ist
charakteristisch für die eyklischen Psychosen ; dieses wesentliche Moment,
welches die letzteren übrigens mit den remittirenden Manieen gemeinsam
haben, trennt die periodischen Formen von den einfachen „Recidiven".
Dass die Trennung übrigens keine absolute, beweist die allmähliche
Uebergangsfähigkeit von anfangs recidivirenden Manieen in später fii
periodische. So setzt auch manchmal ein späterer circulärer Cyklus mit
einer einfachen Melancholie, und nachfolgender Manie ein; dann kommt
eine jahrelange Pause, und jetzt erst erwacht der funeste Cyklus. Für
diese prognostische Würdigung ist namentlich der klinische Charakter
des ersten melancholisch-manischen Anfalls (Melancholie ohne Wahnvor-
stellungen und Hallucinationen; ausgeprägtes selbstständiges mani-
sches Nachstadium mit Folie raisonuante) sehr bedeutungsvoll. Nach dem
wichtigen Verhalten des Körpergewichts stehen die periodischen Manieen
näher bei den einfachen, als die circulären; doch ist auch dieser Factor
nicht durchgreifend und noch weniger corfstant (s. u.).
Die periodischen Psychosen.
a) Die periodische Manie. Die Entwicklung knüpft mit Vor-
liebe an die hereditäre Neurose an, oder weist wenigstens ein stark
neuropathisches Vorleben auf. In den erworbenen Fällen spielen
Onanie und Kopfverletzungen eine besondere Rolle. Reizbarkeit
und Zornmüthigkeit in der Charakteranlage wird in der Mehrzahl
der Fälle angegeben; manchmal ist neben dieser hochentwickelten
Emotivität eine in den Schuljahren hervortretende intellectuelle Träg-
heit nicht zu verkennen (s. hered. Neurose). Fehler in der Er-
ziehung, namentlich falsch angebrachte und rücksichtslose Strenge,
mögen von erheblichem Belang sein dafür, dass eiue schlummernde
Prädisposition — gleichsam als Reaction für die verschluckten Turä-
nen uud Verunglimpfungen — gerade diese Richtung einer erst-
maligen und später recidivirenden Zorn-Manie einschlägt. Andere-
male entwickelt sie. sich in milderer Form aus jenem hereditären
Naturell, welches neben Neigung zur Phantasterei eine gewisse
Grossmannssucht in die Wiege gelegt bekam. Aber auch hier geht
dem wirklichen Ausbruch erst ein aufregender Kampf mit der
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Klinische Typen.
289
„unverständigen" Umgebung in der Form fortgesetzter Gemttths-
bewegungen voraus.
Man wird nicht fehlgehen, wenn für den ersten Paroxysmus
stets ein kürzeres oder auch länger dauerndes depressives Stadium
angenommen wird. In ihrem „innern Kampf und äussern Streit"
werden die Kranken verbittert, reizbarer; Lust und Freude ver-
gehen ihnen; sie fühlen sich schwach und matt, träumen viel, ge-
rathen manchmal in starke Schweisse, Kopfcongestionen , neben
kalten Extremitäten; werden endlich plötzlich ängstlich und ein-
geschüchtert. Viele suchen durch Aenderung des Wohnorts, durch
raptusartigen Wechsel ihres Berufs dem ewigen Aerger, welcher
sich durch Brennen und Unruhe in der Magengegend peinlich fixirt
und den Schlaf stört, zu entgehen. Oft gestaltet sich der einleitende
Status nervosus zu einem wohl charakterisirten melancholischen
Bilde mit Klagen über Denkunfahigkeit, Verschuldung und Willen-
losigkeit, Todessehnsucht. Bei Andern wieder verschärft sich das
Gefühl des innerlichen Schwankens zum Trotz und zur aufbrausenden
Heftigkeit; wieder Andere greifen zur beruhigenden Flasche. Mit
dem letztern Moment ist eine sehr häufige Entstehungsart des ersten
manischen Anfalls bezeichnet: die Kranken werden Dipsomanen.
Sie berauschen sich unsinnig und vermehren mit der Alkoholisirung
die ohnehin verminderte Widerstandsfähigkeit ihres Gehirns: die
Empfindlichkeit und Reizbarkeit steigern sich, bei der geringsten
Entgegnung ist die Zorn-Manie, der Furor, fertig. Das ist eine
klinische Form des ersten Anfalls. Die Symptomatologie entspricht
im Wesentlichen der früher geschilderten: die Kranken werden
rücksichtslos brutal in ihren Anforderungen, maasslos heftig in ihrer
Erwiederung; Gewaltthätigkeiten aller Art, Misshandlung oder Be-
drohung von Personen und Sachen, Feuergefabrdung, wuthartiges
Zerstören entfesselt sich lawinenartig; man glaubt oft einen Epilep-
tiker vor sich zu haben. In der Regel begleitet ein Verfolgungs-
wahn, welcher seine Motive aus den erlittenen Beeinträchtigungen
holt, den psychomotorischen Krampfan fal 1 ; mau merkt aber der
Fadenscheinigkeit und Kleinlichkeit der Motive sofort die Schwäche
an, welche die „Gründe" nur als vorgeschobene verräth, als ex
post angehängte Rechtfertigungsversuche für einen aus unbewusster
Nöthigung erfolgten Handlungszwang. Unter günstigen Umständen
(Versetzung in die Anstalt) erfolgt nicht selten in kurzer Zeit, oft
schon nach einigen Tagen, die Beruhigung, vorerst noch ohne
Krankheitseinsicht, welch' letztere aber in dieser Periode meistens
noch nachfolgt
Sch&le, GeifUrtraakhaiten. 3. Aufl. 19
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290
Die periodischen Manieen.
In andern Fällen bricht nach mehrstündiger grosser Müdigkeit
und Erschöpfung eine plötzliche (oft religiös gefärbte) Verwirrtheit
aus mit Verkennen der Personen, untermischt mit freieren Zeiten,
in welchen der Kranke über Dumpfheit und Taubsein im Vorder-
kopfe klagt, mit rascher Steigerung zum Toben und Zerstören und
allen Erscheinungen der Mania gravis. Gewöhnlich gehen hier sehr
bald auch Sinnestäuschungen mit (Scheltstimmen, Obscönitäten, bäss-
liche Gerüche, Thierfratzen u. s. w.). Bemerkenswerth ist dabei,
dass der Kranke trotz der kühnsten Sätze und Sprünge, womit er
die verschiedensten Vorstellungsreihen durchläuft, doch in der Regel
seine Besinnung nie ganz verliert — das bedeutungsvolle Zeichen
der ungleichmässigen Vertheilung zwischen intellectuellem und
motorischem Delirium, welches bereits den Keim der spätem
psychischen Entartung offenbart. Die Aufmerksamkeit ist in dieser
Zeit für keinen Gegenstand festzuhalten; Tag und Nacht dauert die
geschwätzige Unruhe fort. Manchmal begleitet eine anhaltende
schmerzliche Verstimmung und eine stupide Angst diese Paroxysnien:
die Kranken fürchten umgebracht, erwürgt zu werden; sie sehen
es den Gesichtern der Personen an, dass diese Feindliches gegen sie
im Schilde führen, und bemessen darnach instinctiv ihre Ent-
äusserungen. Nicht selten werden die manischen Angstparoxysmen
auch durch Hallucinationen aller Sinne (neckische Stimmen, Spinn-
webe und allerlei Unrath im Essen, Pferdestaub im Bette, Schlangen
im Halse u. s. w., bei onanistischen Individuen auch parästhetische
Genitalsensationen) unterstützt. Im ganzen Benehmen tritt sehr oft
von Anfang an eine erschreckende Brutalität hervor.
Es gibt aber auch Fälle, in welchen der Rest der Besonnenheit
auf der Höhe des manischen Anfalls gauz untergebt, der Kranke, voll-
ständig abwesend und bodenlos verwirrt, von einer Stimmung in die
andere geworfen wird. Erst ausgelassen, heiter, singend, jubilirend,
jauchzend, Jedermanns Freund und Bekannter, zu trivialen Witzen auf-
gelegt — wird der Kranke plötzlich äusserst gereizt und heftig, schimpft,
brüllt, droht, zerstört, ist ganz unnahbar; dann wieder in kindischer Ge-
schäftigkeit sammelnd, mit allem Flitter spielend, klettert er Uberall hin-
auf, verstellt Alles, macht die sonderbarsten Gesten durcheinander, schaut
in die offene Sonne, lebt ausser Kaum und Zeit.
Die Uebergangszeit zur Ruhe kann manchmal in raschem Um-
schlag, andremale aber auch langsamer, durch ein Stadium von eitler
Selbstüberschätzung mit Grössen wahn (namentlich religiösen Inhalts)
erfolgen. Ab und zu trägt selbst der ganze manische Paroxysmus
dieses „verrückte" Gepräge. Der Kranke geberdet sich in seinem
rücksichtslos herrischen Auftreten als Reformator, will Eisenbahnen
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Klinische Typen.
29t
und Kriege abschaffen, faselt in verworrenster Weise von Adam
und Eva, von Lucifer u. s. w., verkennt Personen und Umgebung
in Minutenblitzen.
Doch lässt er nicht selten seine vagen Träumereien und Behaup-
tungen bei eindringlichem Nachfragen alsbald wieder fallen. Hält, wie
gewöhnlich, die Ideenflucht dazwischen ein massigeres Tempo ein, so
werden Bibelstellen, Liederverse, Sprichwörter, goldene Kegeln, Beleh-
rungen, Reminiscenzen, Reflexionen Uber die verschiedenartigsten Gegen-
stände, wie sie dem Kranken eben in den Wurf kommen, alberne Be-
hauptungen, triviale Anspielungen, oft ins Ironische und Sarkastische
übergehend, zusammenhangslos durcheinandergeworfen. Ideen Uber Land,
Menschen, Gesetze, Religion, Begattung, Kindererziehung, Unterricht,
Landwirtschaft u. s. w. stehen gesellig nebeneinander, und werden iu
sinnlosem Gallimathias in den Selbstgesprächen des Kranken ausge-
kramt.
Dies die zweite klinische Form.
Die dritte nimmt im Wesentlichen das Bild der Mania mitis
an. Gehobenes Selbstgefühl, Plänemacherei, Heirathsgedanken,
(Kauflustl), sinnlose Geschäftigkeit (Sammeln), Wichtig- und doch
eigentlich Nichtsthun, grosser Wechsel der GemUthslage mit reiz-
barer Verstimmung — sind die vortretenden Züge. Dazu kommt
eine dienstbereite raisonnirende Dialektik, welche aus Allem und
für Alles Entschuldigungen und Rechtfertigungen zu holen weiss,
eine förmliche „Beweiswuth" mit nergelnder Disputirsucht. Dieser
Zustand erhält sich manchmal durch den ganzen Paroxysmus ; andere-
male aber steigert er sich im Laufe weniger Tage. Der Gesichts-
ausdruck wird verwirrter, das Auge steif und glänzend; der Kranke
beginnt mit Kopf und Händen lebhaft zu gesticuliren, ohne Unter-
lass zu sprechen; die Rede steigert sich zu einem enormen Ge-
dankendrange, so dass die Kranken in Wahrheit das Herz auf
der Zunge tragen, Nichts verschweigen, mit ihren Bekenntnissen
(nicht selten intimen!) sich an Jeden herandrängen und in die pein-
lichste Unruhe gerathen, wenn sie sich nicht aussprechen können,
aufdriuglich die Umgebung corrigiren und belehren, ungereimte
Fragen stellen, hochtrabende Sentenzen um sich werfen, Bibelsprüche
verschwenden u. s. w.; oder sie queruliren ihre Umgebung mit der
Betonung ihres Rechtsstandpunkts, stellen sich Jedem als Opfer der
Justiz dar, verdächtigen Behörden und Anverwandte, behalten in
Allem das letzte Wort. Jeder Einfall wird „gebucht"; vorher findet
der Kranke keine Ruhe, keinen Schlaf. Dasselbe Ungestüm bricht
auch in das Wollen ein: jeder Wunsch drängt zur Erfüllung, und
inuss erfüllt werden , selbst wenn die Einrede Dritter vorübergehend
angenommen wird. Der Kranke ist der speeifische Schwätzer, der
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292 Die periodischen Manieen.
rücksichtslose Meisterer, der unerschöpfliche Advocat der Umgebung.
Die Stimmung ist für gewöhnlich sorglos, heiter, leicht geschürzt
bis zum Cynismus, gutmüthig. Dazwischen schieben sich Zeiten
von Verstimmung mit scheinbarer Abspannung, manchmal selbst mit
einiger Krankheitseinsicht, ein. In der Folge kann sich dieser
manische Zustand bis zur Verwirrtheit steigern; oder es können sich
bei erhaltener Lucidität perverse Richtungen einschieben, so nament-
lich ein Drang sich mit grösster Indiscretion in die Verhältnisse
Anderer zu mischen, und dieselben moralisch zu verurtheilen. Die
anfänglich in Putzsucht sich genügende erotische Richtung tritt in
unverhülltern Formen, endlich als cynische Nymphomanie auf, nicht
selten mit gebieterischem Drange zur Entblössung und zur Mastur-
bation. Dabei geräth der Kranke in eine zunehmende Reizbarkeit;
immer steht beim geringsten Entgegentreten ein Zorn-Affect bereit,
sehr häufig bis zum rücksichtslosesten Schimpfen, selbst Zerstören.
Der Kranke ist missgestimmt im Gefühle seiner Krankheit. Interessant
ist die oft paroxysmal auftretende Sym- oder Antipathie gegen ge-
wisse Personen (Ehefrau resp. Ehemann).
Diese dritte Form ist symptomatologisch oft bis in die kleinsten
Züge identisch mit der manischen Phase in der circulären Manie. Die
Uebergänge in die freie Zwischenzeit sind mannigfaltig. In einer Reibe
klingt die Aufregung schrittweise ab; in einer zweiten geht der Paro-
xysmus erst durch ein längeres hypochondrisches Stadium hindurch, wel-
chem aber in der maasslosen Uebertreibung der nervösen Beschwerden
und der Wichtigthuerei der exaltirte Charakter erhalten bleibt
In einem vierten Typus schliesst sich an die belebtere Periode
zunächst eine längere Phase von psychischer Gebundenheit — an
die motorisch exaltirte eine motorisch gehemmte — an, aus welcher
nur stossweise einzelne der frühern Erscheinungen hervorbrechen.
Der Kranke verharrt dann lange Zeit in irgend einer Stellung oder
Lage, führt plötzlich eine vereinzelte Bewegung aus, stösst ein Wort
hervor, thut einen Schrei, lacht gellend auf, verzerrt das Gesicht
— um sofort wieder in die frühere Einförmigkeit zurückzusinken.
Aus dieser kann er wieder in die frühere Erregungs Periode zurück-
kehren, oder aber bald in rascher, bald allmählicher Lösung der
Spannung in das Intervall übergehen (s. u.).
Man könnte diesen vier klinischen Typen noch einen fünften
anreihen, bei welchem sich ein ausgesprochener ch oreati sc her
Zug durch die Qualität der manischen Entäusserungen hindurch-
zieht — zerfahrene, abrupte, stossweise und unmotivirte Gesticola-
tionen an Stelle der coordinirten triebartigen Handlungen in den
einfachen manischen Symptomenbildern.
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Juveniler Typus. — Intervall.
293
Der Kranke kann nicht ruhig stehen bleiben; er wechselt öfters das
Bein, dreht den Stamm, wendet den Kopf, verdreht die Augen, ist selten
eine Minute ruhig. Dazwischen fahren plötzliche Raptus von Zerstörungs-
drang (Fenstereinschlagen u. 8. w.). Diese klinische Modifikation wird na-
mentlich bei jugendlichen Periodikern in der Pubertätszeit (manch-
mal mit gleichzeitiger Entwicklungshemmung in den Genitalien) beobach-
tet. Das Bewusstsein ist dabei ganz leidlich lucid, die Stimmung massig
düster oder reizbar. In der Folge kann sich der geschilderte Typus
umbilden , und den regelrechten manischen Formcharakter annehmen :
nach einleitender Verstimmung, Trägheit, Schweigsamkeit, unaufgelegtem
schläfrigem Wesen kommt ein urplötzlicher Ausbruch von gereiztem,
heftigem Schelten mit Neigung zu allerlei verkehrten Streichen bis zu
blinder Zerstörungswut!^ mit Drang zu schmieren u. s. w. Die Stimmung
ist dabei oft deutlich in zwei Perioden unterschieden : anfanglich (in der
ersten Hälfte des Anfalls) ausgelassen heiter und exaltirt (Singen, Pfei-
fen, selbstgemachte Worte , Zoten u. s. w.), in der zweiten weinerlich,
schmerzlich gereizt, mit Fluchen, Schelten, Jammern, kindischem Heulen.
Interessant ist die Beobachtung in einem unsrer Fälle, wo in der Zeit
der einleitenden Depression (mit Neuralgieen und Reflexkrämpfen) die
Sprache einen um den andern Tag ausblieb, und periodisch auf Stun-
den sich ein unruhiges Spiel mit den Fingern einstellte.
Die Intervalle bieten in gleicher Weise grosse symptomato-
logische Unterschiede. Zeitlich schliessen sie sich entweder direct
an den Paroxysmus an; oder aber es schiebt sich erst noch eine
Stupiditätsphase als Uebergang ein (in einem Falle beobachtete ich
ein kurzes Zwischenstadium von Moria mit dämonomanen Angstzu-
fällen). In dem ersten Falle kann der Abfall entweder ein brtlsker
sein, oder aber ein allmählicher.
Interessant ist beim successiven Uebergange der Kampf des krank-
haften Dranges mit dem einrückendem gesunden Bewusstsein. Der Kranke
gibt sich Mühe das eben Gehörte festzuhalten — und plötzlich schneidet
ein Unsinn die richtige Antwort auf halbem Wege ab; oder der Kranke
müht sichtlich sich ab in das richtige Geleise einzulenken, und nahe daran,
wird er von einem mächtigen Eingriff wieder auf die Seite geworfen.
Ihrem formellen Charakter nach richten sich die Intervalle im
Allgemeinen nach dem Krankheitsstadium und nach der Intensität
des vorausgegangenen manischen Paroxysmus; im nähern Detail nach
der individuellen Grundlage des Krankheitsfalles. Je früher im
Krankheitsverlauf d. h. je weniger Paroxysmen vorausgegangen, je
milder die letzteren verliefen, desto freier gestalten sich c. p. die
Zwischenpausen. Man wird die letztern in den ersten Zeiten oft
nicht von den Nachstadien einfacher Manieen zu unterscheiden ver-
mögen, so wenig als der erste Paroxysmus immer mit Sicherheit
als ein künftig periodischer sich erkennen lässt. Von einem eigent-
lichen „Intervall" kann deshalb auch füglich erst nach dem Ablauf
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21)4
Die periodischen Manieen.
zweier oder dreier Paroxysmen die Rede sein. Nicht selten bietet
dasselbe im Anfange auch Nichts weiter dar, als einen einfachen
neuropathischen Zustand, wie er ,der hereditären Neurose (dieser
„Vorfrucht" zu den periodischen Manieen) eigen ist. Freilich bleiben
in der Regel frühe schon einzelne Nachwirkungen des Anfalls haften
und zwar namentlich in Form eines misstrauischen Wesens, welches
überall Beeinträchtigung wittert, und Uber eine abnorme Reizbarkeit
und Affectbereitschaft verfügt. Anfänglich klingen auch diese Reste
wieder ab, und der Kranke erscheint wohl. Gleichwohl entdeckt
man bei tieferem Eingehen bald eine gewisse, wenn auch leise in-
tellectuelle Torpidität, welche sich in etwas erschwerterem geistigen
Arbeiten kundgibt. Iu anderen Fällen dagegen tritt ein auffallend
räsonnirendes Bestreben hervor, für die perversen Acte während der
Krankheit eine Ausrede oder einen plausibeln Grund vorzuführen.
Krankheitseinsicht ist nicht da, wohl aber Krankheitsgefühl.
Die in der manischen Phase aufgetretene Neigung zu Trinkexcessen
ist in der Regel jetzt verschwunden; der Kranke wird sogar über-
trieben mässig; doch gibt es auch Fälle (der obigen vierten Form),
wo jetzt erst, im Intervall, eine gesteigerte Trink- und Geschlechts-
lust sich regt (Reaction gegen Schwächegefühle). Mit der zunehmen-
den Schwere, Zeitdauer (Länge) und auch der Zahl der Paroxysmen,
ändert sich der psychische Charakter des Intervalls, und erhält ein
immer ausgesprocheneres krankhaftes Gepräge. Dieses tritt mit
jedem neuen Anfalle verschärft hervor. Das Erste, was nothleidet,
ist die Gefühlssphäre : hier greift eine immer markantere Abstumpfung
um sich, zuerst der höhern sittlichen Gefühle (der religiösen und
ästhetischen), und dann auch weiter der socialen. Feinfühlige Men-
schen werden roh; sie gefallen sich in Plattheiten, oder sie werden
apathisch, verlernen Rührung und Mitleid — „die Blume ist hinweg
aus ihrem Leben". Gleichzeitig, wenn auch durchaus nicht gleichen
Schritt haltend (der ungleiche Gang ist vielmehr Regel), sinkt die
intellectuelle Energie und gibt einer Verstandesabstumpfung Raum,
welche bei den schwersten Fällen nach und nach bis zum Blödsinn
fortschreitet.
Hatte der Anfang die Höhe der Mania gravis erreicht, so stellt das
Intervall einen Zustand acuter Hirnerschöpfung dar, in welchem der
Kranke sich in der Umgebung nicht mehr zu Orientiren weiss, für die
einfachsten Dinge unschlüssig, in seinem Benehmen ziel- und planlos ist,
und erst mühsam sich leidlich erholt.
Die Zeitdauer des Intervalls ist eine nach den Einzelfällen ver-
schiedene. Sehr häufig steht sie in annähernder Proportion zur
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Intervall. Klinische Varietäten. — Weiterverlauf.
295
Dauer des vorausgegangenen Anfalls, aber nicht immer (s. u.j. Die
Erinnerung ist bald nur eine summarische, oder selbst fehlend; bald
aber auch bis ins Kleinste getreu, und gibt als solche nicht selten
den Grund ab für innere Vorwürfe und ein GefUhl der Beschämtheit,
welches zartere Naturen oft auf längere Zeit den Verkehr mit der
Umgebung meiden lässt.
Die weitere Entwicklung und Ausgestaltung der einmal begon-
nenen Krankheit erfolgt nun an der Hand immer wiederkehrender
manischer Anfälle, welche geschieden sind durch kürzere oder län-
gere Intervalle. Bezüglich der Form dieser successiven Paroxysmen
finden mancherlei klinische Verschiedenheiten statt. Es können
1. die einzelnen Anfälle sich durch die grösste Einförmigkeit und
Regelmässigkeit auszeichnen, so dass der nachfolgende oft bis in
kleine Detailzüge die Symptome des vorausgegangenen wiederholt.
Letzteres betrifft namentlich die Anfänge, welche sehr häufig photo-
graphisch gleich sind, so zwar, dass der aufmerksame Kranke selbst
den Beginn eines Anfalls zu diaguosticireu lernt.
So beobachtete ich einen Periodicus, dessen erste Warnung für das
aufziehende Gewitter die Erscheinung eines graueu Vogels war, den er,
der bis dahin Ahnungslose, plötzlich neben sich gewahrte. Um sich in
seiner Bestürzung (denn er kannte allmählich die peinliche Vorbedeu-
tung!) zu vergewissern, suchte er denselben mit der Mütze zu fangen;
aber siehe, der Vogel war nicht zu erhaschen, sondern immer neben der
Mütze zu sehen. Nun wusste der Mann sofort, wie er daran war; er
ging heim, bestellte seiu Haus, und meldete sich direct zur Wiederauf-
nahme in die Anstalt. — Andere Kranke fangen zu singen, zu musi-
ciren, zu zeichnen an; wieder Andere treiben plötzlich gesteigerten reli-
giösen Cult. Andere endlich werden empfindlicher, klagesüchtiger, nament-
lich begehrlicher, und auch hier oft genau im Gebiet stereotyper, ihnen
sonst fremder Wünsche. Eine letzte Gruppe fängt an zu trinken. Einer
unsrer Kranken steckte sich jeweils vor Beginn des Paroxysmus ein
Federchen auf den Hut — ganz unscheinbar; und wie Vieles sagte das
harmlose Ding auf Monate voraus!
Interessant ist die Selbstbeobachtung eines ärztlichen Collegen über
den Anfallsbeginn: Es sei ihm allmählich geworden, wie wenn er sein
Vorderhirn spürte, wie wenn eine Spannung dort bestünde, fast so, als
ob er es sehen könnte. Er verliere die Stimmung, und gerathe in
einen Redefluss mit Drang zum Schwatzen von allen Kleinigkeiten; dann
werde er disputirsüchtig, beweiswüthig und zunehmend reizbar. Jetzt
Hyperästhesie des Gehörs, mangelnder Schlaf, und dafür unter Tags ein
träumerischer Zustand ; Schmerzgefühle im Kopfe, aber nur „psychische",
keine „periphere". Dann anrückendes Wohlgefühl mit gesteigerter gei-
stiger Arbeitskraft und Leistung; dazwischen depressive Zwangsempfin-
dnngen (als ob er enthauptet wäre, und der Kopf auf dem Abtritt läge);
dasselbe „Spaltungsgefühl" seiner Persönlichkeit begleite ihn durch den
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296
Die periodischen Manieen.
ganzen Paroxysmus. — Auch im Intervall sei er nicht der natürliche
Mensch ; er spüre zwar wachend keine geistige Aenderung als höchstens
etwas Müdigkeit; aber dafür sei der Schlaf geändert; er sei zu „persön-
lich" im Schlafe; er träume nie, sondern er denke schlafend; während
im gesunden Schlafe die Persönlichkeit zurücktrete, so sei bei ihm (in
der Zeit des Intervalls) gerade das Gegentheil der Fall: er sehe sich,
und trete immer handelnd auf.
Es kann aber auch 2. der nachfolgende Paroxysmus zwar „den-
selben Faden aber in höherer oder niedrigerer Nummer" darstellen,
d. h. auf eine Mania mitis eine Mania gravis, oder umgekehrt,
folgen. Gewöhnlich, wenn auch nicht regelmässig, wird mit der
vermehrten Wiederkehr der Anfälle deren klinischer Charakter ein
schwererer.
Letzteres geschieht, indem a) die Bewusstseinsstörung mit jedem
Anfalle zunimmt, der beschleunigte Vorstellungsablauf sich zur Verwor
renheit steigert, delirante Episoden mit Hallucinationen sich einschieben;
oder b) indem der sittliche Entartungscharakter der Manie sich immer
stärker ausprägt (s. degenerative Manie); oder endlich c) indem sich
dem manischen Symptomenbilde immer mehr Züge von secundärem Wahn-
sinn beimengen. Zu den motorischen Exaltationsäusserungen des Singens,
Jauchzens, Schreiens treten unarticulirte Thierlaute (die Kranken bellen
wie Hunde, wiehern wie Pferde); statt der früheren manischen Geschäftig-
keit und Handlungsvirtuosität stellen sich jetzt triebartige Zwangsbe-
wegungen ein : die Kranken trippeln, tanzen mit den sonderbarsten Gesten,
scharren mit den Füssen, bleiben plötzlich mit gespreizten Beinen stehen ;
dann galoppiren sie, wenn man sich ihnen nähert, wiegen sich auf einer .
Seite, als ob sie umfallen wollten, sprechen in albernen, absichtlich ver-
drehten und verschränkten Reden, oft unter einem aberwitzigen, ver-
zwickten Lächeln. In der Folge bildet sich die verschrobenste sinnlose
Ideenassociation aus.
Sprachprobe: Ich bin kein Gaul, kein Aufseher; ich muss
in Strassburg den Feldzug mitmachen; der Kaiser wird nicht umsonst
gesagt haben, der Mond ist ihm hinter die Ohren gegangen u. s. w.
Ich heis8e bald so, bald anders; ich bin der Sohn des Kurfürsten,
habe Sonne und Mond im Munde, die Bilder des Kaisers im Leibe;
ich bin unter einem Glase abgestanden; der Kurfürstentisch hängt an
mir; ich habe die wahre Natur durch den Mensa -Tisch verloren,
welcher mir durch den Sonnenstich in den Leib gejagt wurde; der
Kurfürst Elias ist in meinem Leib gestorben; ich habe die Natur
eines Kindes, den Mund eines Affen bekommen u. s. w.
Manchmal mischen sich auch Züge von hypochondrischem Verfol-
gungswahnsinn darunter.
Auch die Intervalle werden im Verlauf psychisch immer belasteter.
Die Kranken werden nie mehr reconvalescent. Sie kommen wohl
wieder aus dem Paroxysmus hinaus; aber sie bleiben im günstigsten
Falle ein geistiges Phlegma. So kehren sie heim, um oft beim
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Weiterirerlauf. Ausgänge.
297
ersten Anpralle der Wirklichkeit wieder zu straucheln. In ihrem
Geschäfte werden sie untüchtiger, endlich unfähig; in der Familie
finden sie sich nicht mehr zurecht, umso weniger, als sie gemüthlich
fremd geworden sind. In der Anstalt dämmern sie von einem Paro-
xysmus zum andern hin, ohne Interesse, ohne Wunsch, ohne Klage,
höchstens mechanischen Ansprüchen genügend. — Andere wieder,
freilich nur die selteneren Fälle, vermögen hier unter Abhaltung aller
Reize ihr Intervall zu verlängern, und so sich wieder bis zu einer
gewissen geistigen Leistungshöhe zu erholen. Dagegen kürzt sich
bei solchen, welche aus der Uberstandenen Manie eine zunehmende
geistige Reizbarkeit überkommen haben, die kaum errungene Ruhe-
pause oft jäh wieder ab, und schlägt in einen neuen Paroxysmus um.
Je länger und öfter wiederholt, desto leichter setzt sich dieser in
Scene. War Anfangs noch ein entsprechender Affcct-Chok nöthig ge-
wesen, so genügt allmählich die leiseste Contrariirung, ja ein einziges
unangenehmes Wort; endlich selbst eine harmlose Aenderung der Tages-
ordnung (eine Festlichkeit, ein Besuch, ein weiterer Spaziergang, ein
Glas Uber den Durst, ein körperliches Unwohlsein), um sofort wieder
den Sturm zu entfesseln. Der Volksmund spricht vom Eintiuss des
„Mondwechsels" (s. später). Manchmal sind selbst nicht einmal solche
leichteste Reize mehr nachzuweisen : der Anfall bricht nach kürzerer
oder längerer Ruhepause aus, „wie wenn der Wind ihn anbliese", und
endet so auch „als ob man einen Schleier wegzöge". Bemerkenswerth
ist, da&s hin und wieder ein manischer Paroxysmus in der remittirenden
Form auftreten , und sich aus einer Serie von 2 — 3 tägigen Einzelan-
fällen mit zwischenläufigen Ruhepausen zusammensetzen kann.
Dagegen vermag in gewissen Fällen das Intervall sich auch auf
Jahre und selbst auf viele Jahre auszudehnen, so dass man an eine
relative Heilung denken möchte. Aber das Damoklesschwert
bleibt auch nach Umfluss eines Decenniunis noch über einem solchen
Periodicus aufgehängt, und erweist thatsächlich jetzt noch seine Gegen-
wart. Doch sind auch wirkliche und dauernde Genesungen verbürgt
(Kirn), und zwar sind es namentlich die kürzeren manisch hef-
tigem Paroxysmen, welche diese seltene bessere Prognose abgeben.
Jedoch selten genug! Man sei deshalb übervorsichtig mit der
Prognose! So sah ich in einem Falle erst die 2 — 3 Wochen dauern-
den periodischen Anfalle schwinden ; nun aber trat an Stelle des bis
dahin immer ruhigen Intervalls erst zornige Gereiztheit, und dann ein
zunehmender Einfallswahnsinn mit perversen Drängen, welcher nach und
nach in dauernden apathischen Blödsinn Uberging. — Einmal sah ich Ge-
nesang nach Typhus erfolgen, und zwar fiel die Lysis beider Zustände
genau zusammen. — Sehr interessant ist auch der von mir beobachtete
Verlauf einer mehrjährig typischen periodischen Manie (mit Moral Insanity
gemischt) durch eine periodische Melancholie hindurch in
dauernde Genesung.
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2!>8
Die periodischen Melancholieen.
Die periodische Manie kann sieb, wenn ungebeilt, auf Jahre
und Jahrzehnte oder auf das ganze Leben erstrecken. Oft werden
— unter günstigen Aussenverbältnissen — mit den höhern Jahreu
die Anfälle seltener, und verlaufen in flachern Hügeln; aber nicht
immer. Nicht wenige Kranke bleiben in einem letzten Paroxysmal
als chronische Maniaci dauernd hängen.
Körperlicherseits sind sämmtliche Begleitsymptome, wie sie bei
der Manie zur Sprache kamen, auch hier aufzuführen. Namentlich stimmt,
wie oben schon erwähnt, das Verhalten des Körpergewichts ganz zu den
bei der Manie vorkommenden Befunden. Der Beginn des Paroxysmus
wird sehr häufig durch starke Kopfcongestionen mit Schläfrigkeit und
eigentümlich steifem Blick gekennzeichnet. Bei den kurzen Paroxysmen
gibt nicht selten der Eintritt der Menses die Auslösung ab. Der Kopf
ist auf der Höhe der Krankheit oft roth, gedunsen und heiss, später
blass und gedunsen; die Pupille enge, der Blick während des Paroxys-
mus manchmal schielend. Constant scheint bei den heftigen manischen
Paroxysmen die erhöhte Ausscheidung von Uraten zu sein, welche durch
Reizung des Blasenhalses manchmal die gesteigerten sexuellen Reize
(Onanie) bedingen.
b) Die periodischen Melancholieen entbehren der z. Th. scharf
geschnittenen klinischen Signatur, welche die Manieen kennzeichnet,
und nicht selten schon beim ersten Anfall eine Wahrscheinlichkeits-
diagnose stellen lässt. Die allgemeinen nosologischen Charaktere
sind dieselben wie bei den Manieen: Ueberwiegend häufig erbliche
Anlage, rascher Beginn und oft ebenso brüskes Aufhören; die letztern
Momente treten mit häufigerer Wiederholung der Anfälle um so
prägnanter hervor („oft von einem Tag zum andern gesund und
krank"). Die in Betracht kommenden klinischen Formen sind so-
wohl die der agitirten als der ruhigen resp. passiven Melancholie,
und zwar mit der Auszeichnung, dass Sinnestäuschungen in der Regel
fehlen, ebenso Wahnvorstellungen: es sind allermeist ganz reine
Depressionszustände aus dem Gefühl Nichts leisten zu können ; damit
verbunden: allgemeine Abulie, Bettsucht, tagelanges Seufzen mit
Vernachlässigung aller persönlichen Fürsorge. Manchmal schliesst
sich in der Folge ein Versündigungswahn an, oft in Form schmerz-
licher Resignation, seltener als active Melancholie mit Angst, Ten-
tamen Suicid. und Nahrungsverweigerung. Körperlicherseits gehen
gewöhnlich anämische Zustände mit Gastricismen mit einher, oder
(bei den agitirten Formen) Fluxionen zum Kopf mit heftiger Gefäss-
erregung, Neuralgieeu. Nie fehlt Abnahme des Körpergewichts.
Die chronischen, langgestreckten Anfälle verlaufen oft nur unter
dem Bilde a) einer beständigen Angst, welche bald inhaltslos ist,
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Klinische Bilder. Entwicklung. Verlauf. Auggänge.
299
bald in hypochondrischer Weise sich um die Befürchtung der Un-
heilbarkeit und qualvollen Leidens bewegt; oder b) einer ebenso
ausdauernden Unzufriedenheit mit der Umgebung, mit der Kost»
Wäsche, Bedienung, und in täglichen Nergeleien in Folge des innern
Unbehagens. Moral Insanity in Form boshafter Gehässigkeit, Intri-
guenlust u. s. w., wie sie die protrahirten manischen Zustände aus-
zeichnet, fehlt hier. Das Bewusstsein bleibt lucid, die Stimmung
natürlich dankbar und zartsinnig. Nur mit zunehmender psychischer
Schwäche, welcher die Kranken mit jedem neuen Anfall langsam
zusteuern, schliesst sich auch der unzertrennliche Egoismus auf.
Nach Aufhören des Anfalls tritt entweder ein ruhiges Intervall
ein, welches eine relativ viel normalere Leistungsfähigkeit, und auch
zeitlich viel länger gestattet, als nach den entsprechenden mani-
schen Zuständen ; oder: es folgt eine Periode gesteigerter Lebens-
und Schaffenslust, welche sich aber ganz in der Breite einer natür-
lichen Reaction erhält. Bezüglich des zeitlichen Eintritts der Par-
oxysmen trifft nicht selten dieselbe „astronomische" Regelmässigkeit
ein, wie bei den periodischen Manieen; viele Kranke können sicher
rechnen, dass sie mit Eintritt eines bestimmten Monats, der heissen
Jahreszeit u. s. w. in ihre obligate Schwermuth verfallen. Oft bleibt
aber nur die latente Disposition zurück, welche erst noch eines
äussern Anstosses bedarf, um activ zu werden; dazu genügen dann
allerdings oft leichte Veranlassungen (Festlichkeiten, Besuche). Der
Weiterverlauf ist auch hier im Wesentlichen wie bei den manischen
Typosen. Ein Theil der Fälle zieht sich durch das ganze Leben
hin, selten aber in sich wiederholender Gleichheit der Anfälle;
manche werden im Verlauf milder und dabei protrahirter , andere
dagegen auch milder und kürzer; ein grosser Theil aber erschwert
sich in erheblicher Weise, geht aus der einfach apathischen Form
von anfänglich monatelangcr Dauer in ein chronisches Irresein auf
Jahre hinaus über, complicirt sich dabei mit Hallucinationen, Zwangs-
gedanken und -Impulsen (Suicidium!), oder auch mit Zügen von
Verfolgungs- resp. Grössenwahn, unter Fettzunahme des Körpers. —
Wieder andere aber heilen auch, namentlich juvenile Formen, mit
dem Eintritt in ein höheres Lebensjahrzehut.
Der schweren Form chronischer (hirnatrophischer) Melaucholieen,
welche oft periodisch und in wachsender Verschlimmerung mit jeder neuen
Anfallsetappe verläuft, ist S. 63 gedacht worden.
Die cireulttren Geistesstörungen.
Vorleben und Entwicklung fällt in der Mehrzahl der Fälle ganz
mit den periodischen Psychosen zusammen. Es ist wiederum die
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Die circulären Psychosen.
hereditäre Grundlage, und zwar nicht immer nur in Form einfacher
Prädisposition, sondern der Belastung mit greifbaren „Stigmata he-
reditatis", welche wie dort die Einleitung bildet Hatte die perio-
dische Manie an die im hereditären Charakter vorhandene Reizbar-
keit und Emotivität angeknüpft, deren Excess in Form pathologischer
Steigerung sie in gewissem Sinne bildete: so entfaltet sich die cir-
culäre Störung aus jener Eigenart der Nervenfunctionen in der erb-
lichen Neurose, welche wir als „convulsive" kennen lernen werden,
d. h. als ein Schwanken zwischen gesteigerter Thätigkeit und abnor-
mer Erschöpfung — an Stelle einer continnirlichen Leistungs-Curve.
Dieser Wechsel zwischen „Krampf und Erschlaffung" bildet ohne
Zweifel das physiologische Vorbild für die spätere Abwechslung von
Exaltation und Depression; nur, dass beide alternirende Phasen jetzt
zu vollständigen klinischen Zustandsformen — als Manie und Me-
lancholie — entwickelt sind. In dieser Genese beginnt die circuläre
Psychose manchmal ihren manifesten Bestand schon zur Pubertäts-
zeit, nachdem die Kindheit und Jugend dieser Kranken schon auf
Jahre zuvor den besprochenen Zickzackgang in der nervösen Energie
und auch in der gemtithlichen Stimmungslage eingebalten hatte.
Aber diese „Invalidität" nervösen Functionirens kann — freilich in
vergleichsweise viel seltenern Fällen — auch erworben werden,
wie denn thatsächlich die circuläre Psychose auch ohne erbliche
Anlage vorkommt (so nach tiefen Gemüthsbewegungen mit anämi-
scher oder kachektischer Blutbescbaffenheit, oder als vorübergehen-
des und selbst definitives Stadium im Verlauf eingewurzelter constitu-
tioneller Neuropsychosen hysterischen und epileptischen Charakters).
In diesem genetischen Zusammenhang ist oben bereits der anfäng-
lich nicht • cyklisch veranlagten Melancholieen gedacht worden , welche
fUr's Erste noch mit einer Manie abschliessen , dann in ein jahrelanges
Wohlsein Ubergehen, später aber wieder ausbrechen und jetzt cyklisch
weiter verlaufen. Dabei ist hier nachzutragen, dass der so erworbene
Typus nicht immer dauernd bleibt, sondern manchmal nach Ablauf
mehrerer Cyklen noch in definitive Genesung Ubergehen kann.
Interessant ist ferner die Entwicklung der cyklischen Psychose aus
einer ursprünglich periodischen (8. oben). Es gibt gewisse Manieen der
letzteren Form, welche durch ein Gemisch von tiefster Depression oder
Exaltation (oft im UmHuss von nur einigen Stunden jäh in einander Uber-
gehend) sich auszeichnen. Hier kann eine allmählich strenge Sonderung der
beiden gegensätzlichen Stimmungsphasen sich ausbilden, und der Weiter-
verlauf von jetzt an in dieser abwechselnden (circulären) Reihenfolge
verbleiben.
In kleinem Maassstab — nicht als selbstständige Krankheitsform
in zwei klinisch differenten Typen, sondern nur als abgeänderter
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Allgemeine Symptomatologie. Entwicklung.
301
Verlaufs-Modus einer bestehen bleibenden Psychose — kommt dieser
Wechsel zwischen „Krampf und Erschlaffung" auch sonst vor, so
namentlich in gewissen Depressionszustanden. Man bezeichnet den-
selben hier als „alternirenden Typus", und versteht darunter die
Verlaufsart einer Melancholie, wobei abwechselnd der eine Tag psy-
chisch krank, der andere mehr oder weniger geistig frei ist. Das
kann durch lange Jahre hindurch sich erhalten, und ein Symptom
eines unheilbaren Zustandes abgeben (s. u.) ; der alternirende Typus
kann aber auch nur vorübergehend auftreten, und mit günstigem
Ausgange gewisse Reconvalescenz - Stadien begleiten (so besonders
in gewissen senilen Zuständen).
Das circuläre Irresein besteht in seiner typischen Form
aus der Aufeinanderfolge von:
1. einer Exaltationsphase,
2. einer Depressionsphase, und
3. einer „freien" Zwischenzeit, dem Intervall. Unter den Exal-
tations-Zuständen steht klinisch die Manie in erster Reihe der Häufig-
keit; in zweiter der aufgeregte Grössen Wahnsinn. Die Depressions-
phase verläuft stets unter dem klinischen Bilde der Melancholie.
Diesen zwei Gruppen steht eine dritte gegenüber, in welcher das
eine Stadium durch einen Zustand von aufgeregtem Stupor, das
andere durch einen apathischen Depressionszustand repräsentirt ist
Das Intervall ist entweder in präciser Ausgestaltung als „freie"
Zwischenzeit vorhanden, oder aber nur rudimentär in Form der
sachte ausklingenden vorhergegangenen Krankheitsphase (Melancholie
oder Manie); nicht selten kann dasselbe, namentlich bei rascher
Aufeinanderfolge der Paroxysmen, auch ganz zum Ausfall kommen,
so dass an das Ende des melancholischen Stadiums sich sofort das
manische anschliesst und umgekehrt*). Die Oombination resp. zeit-
liche Aufeinanderfolge der psychischen Hauptstadien ist eine ver-
schiedene: es kann die Melancholie den Reigen beginnen, oder aber
die Manie. Ersteres scheint das häutigere Vorkommnise zu sein.
Nach meinen Erfahrungen bin ich geneigt zu bestätigen, dass bei
melancholischem Krankheitsbeginn sehr oft die Initialmelancholie — den
später wiederkehrenden Paroxysmen gegenüber — die stärkste Intensität
zeigt. Doch kann ich das jetzt nachfolgende Intervall nicht auch für
das längste und geistig freieste erklären. Es kann auch auf die an-
fängliche Melancholie sofort der manische Paroxysmus folgen, und als
Drittes erst das Intervall (s. u.).
•) Baillarger unterscheidet darnach eine folie ä double forme gegenüber
der folie circulaire s. str.
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302
Die circulären Psychosen.
Bezüglich der Stärke der Ausbildung kann eine Phase die an-
dere bedeutend überragen. So ist sehr oft die melancholische ausser-
ordentlich stark ausgeprägt, und die manische verläuft in mildester
Form. Anderemale liegt der Hauptaccent auf der manischen, welche
bis in schwere Grade sich entwickelt, während die melancholische
sich nicht Uber ein gewisses mittleres Maass erhebt. Dann aber
können auch wieder beide Phasen eine analoge Entwicklungshöhe
aufweisen. Alle diese verschiedenen Modi können selbst im Ver-
laufe desselben Krankheitsfalles wechseln.
Ebenso verschieden ist auch die Art resp. Schnelligkeit der
Entwicklung. Regel scheint zu sein, dass der häufigen Wiederkehr
auch die Leichtigkeit des Ausbruchs proportional geht: in spätem
Paroxysmen geschieht der Umschlag nicht selten in wenigen Stunden,
in einer Nacht, ja selbst manchmal noch schneller (in einigen
Minuten in Fällen von circulärem Stupor). Der Anfangsparoxys-
mus dagegen, sei er manisch oder melancholisch (namentlich der
letztere), bereitet sich aus längerer Hand vor.
Eine weitere Spielart ist die, dass eine Zeit lang d. h. im Anfange
der Erkrankung die manische Phase brüsk in die depressive timschlägt,
und im spätem Verlauf umgekehrt die depressive brüsk in die exal-
tirte; während jetzt die manische sachte in das Intervall ausklingt,
und dieses allmählich sich zur Depression vertieft.
Klinisches Symptomenbild.
a) Die virculäre Manie. Diese kann, wie die periodische, in
leichterer und schwererer Form vorkommen; während aber für jene
die schwereren Formen die häutigeren sind, so findet für die circuläre
das Umgekehrte statt. Die Mania mitis ist der charakteristische
Typus, und zwar ganz in der für die periodischen Formen besproche-
nen klinischen Artung. Als neu, und dem circulären Modus vielleicht
ausschliesslich zugehörig, tritt hier eine so milde Varietät dieser in
„Intellect und Willen" aufgenommenen Manie auf, dass dieselbe fast
als Mania mitissima bezeichnet werden dürfte. Die Kranken dieser
Kategorie zeigen eine Erhöhung ihrer normalen Persönlichkeit nur
um ein minimales Register: sie sind belebter, unterhaltender und
unternehmender, liebenswürdiger im Wesen, heiterer in der Stimmung.
Sie fühlen sich wohl, wie seit lange nicht mehr, sehen frischer und
jugendlicher, unternehmender aus, und kennen kein grösseres An-
liegen, als ihre „Gesundheit" Jedermann gegenüber zu rühmen.
Ihre geistigen Leistungen erhalten das Relief weittragender für die
Menschheit bedeutungsvoller Thaten; ihr Umgang adelt, oder aber
lässt sie nur „geistig bedeutende" Menschen um sich ausfinden.
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Die circuläre Manie. Klinische Typen.
303
Manche entwickeln eine ausgiebige und wohllautende Singstimme.
Alle schlummernden Talente, namentlich bei weiblichen Patienten,
treten auf; eine besonders beliebte BethUtigung ist ein unerschöpf-
liches Anfertigen von Blumen und allerlei Nippsachen, oft in den
Phantasie vol Uten und originellsten Erfindungen. Auch in die Haare
werden Blumen geflochten, für Augenlider und Wangen allerlei kos-
metische Färbungen verwendet; die Kleider in selbst erfundenen,
recht auffälligen Moden aufgebauscht. Bei Männern tritt grosse Lust
nach sinnlichen und zerstreuenden Genüssen (Rauchen, Billardspielen)
hervor. Die kreuz und quer geschriebenen Briefe sind endlos durch
die überströmende Fülle des Details, nicht selten ohne stylistische
Interpunction. Andere Patienten reisen ohne Unterlass, und blühen
auf unter den Reisestrapazen. Bei Manchen gewinnt die beginnende
Erregung bald einen ausgesprochen erotischen Charakter: der ältere
Hagestolz stellt sich auf FreiersfUsse , die climacterische Frau putzt
sich und kokettirt ohne Rücksicht auf Anstand und Würde. Aller-
meist tritt aus diesen Formen, wenn auch noch in milder Prägung,
der bekannte Charakterzug hervor, welcher in der weitern Entwick-
lung gleichmässig die periodischen und so auch die circulären Zu-
stände begleitet: ein leiser sittlicher Defect. Behagen an der Ver-
legenheit Anderer, Lust zu mäkeln und zu kritisiren, der Umgebung
etwas anzuhängen, überlegenes Selbstgefühl mit einem schranken-
losen Cultus des Ich, im Umgang gelegentlich auch einmal eine
Noth- oder Verlegenheitslüge — das sind Pinselstriche, welche auch
in dieses graziöse Maniebild sich einschwärzen , freilich oft sehr
verdeckt, weil die Kranken sich zu beherrschen und im Nothfall
fein zu „raisonnircn" wissen. Sehr viele dieser circulären Fälle,
welche nicht zu höhern Stadien sich entwickeln, betreten nie die
Schwelle eines Asyls: sie spielen sich Jahre, ja selbst das ganze
Leben lang, in der Stille des Familienlebens ab, oder bleiben in
der Laufbahn des einsamen Gelehrten oder Künstlers, welcher perio-
disch zwischen Phasen von productiver Schaffenslust und misan-
throper, weltschmerzlicher Abulie bin- und herschwankt, und nicht
selten dadurch, trotz grosser Begabtheit, eflfectlos zerrinnt. Steigern
sich die Symptome, so kommt bis ins Einzelne das unter der perio-
dischen Manie geschilderte Bild der Mania mitis zur Entfaltung, auf
dessen Schilderung hier verwiesen werden kann.
Die diagnostische Unterscheidung zwischen einfacher and circulärer
Mania mitis stützt sich vorwiegend auf dieses begleitende Moment der
reizbaren Moral Insanity. Dazu kommt noch die ungleiche Vertheilung
der manischen Erregung zwischen Intellect- und Willenssphäre: in den
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Die circulären Psychosen.
circulären (wie auch in den periodischen Formen) überwiegt in der Regel
das Delirium der Acte Uber das der Vorstellungen.
Die Stimmung ist beweglich und wandelbar, vorherrschend guter
Laune (doch fehlen auch Momente nicht, in welchen die Kranken
auf Stunden förmlich zusammenbrechen, „weil sie wirklich so tief
unglücklich seien"); oft spielt ein neckischer Muthwille durch, stets
aber eine grosse Empfindlichkeit und Verletzlichkeit mit Neigung
zu gereizten Ausbrüchen.
Selten bleibt es auf dieser Stufe. Die Aufregung nimmt in der
Hegel bald zu. Eine muthwillige Heiterkeit und profuse Geschwätzig-
keit stellt sich ein und damit zugleich ein unstäteres Wesen, ein
wechselnderes Begehren, eine grössere Reizbarkeit. Der Kranke
fuhrt jetzt das grosse Wort, wird leicht ungeduldig, hat täglich neue
Wünsche und Bedürfnisse, lebt leichtfertig in den Tag hinein, ge-
räth beim leisesten Anlasse in Zornausbrüche und Balgereien. Dies
das eine klinische Bild.
Das andere stellt ganz analog der schwereren Form der perio-
dischen Tobsucht eine allgemeine hochgradige Manie dar, mit enor-
mem Bewegungsdrang (planlose Geschäftigkeit, Abreiben der Wände,
triebartige Bewegungen, Springen, Turnübungen, sinnlose Zerstörun-
gen u. s. w.), Uberfluthender Geschwätzigkeit, Reden voll von Selbst-
überschätzung und eiteln phantastischen Prahlereien; dazwischen
maasslose Bitterkeit mit Drohen und Schelten, brutalem Fortver-
langen u. s. w. Auch hier treten , namentlich im Verlauf späterer
Paroxysmen, die Züge der Moral Insanity bald in erschreckender
Weise hinzu, als: krankhafte Bosheit, frivoler Cynismus u. 8. w., wie
sie die sogenannte „degenerative Manie" kennzeichnen (s. Moral Ins.).
b) Der circuläre Wahnsinn trägt expansiven (religiösen oder
politischen) Charakter, und enthält keine oder nur matte Verfol-
gungsideen.
Die Einleitung wird in der Regel von einer manischen ErregUDg
gebildet. Der Kranke beginnt zu kaufen , zu trinken , den Spaß-
macher zu spielen, mit seiner finanziellen Leistungsfähigkeit zu prahlen.
Bald verräth er aber seine „geheime Mission": er ist heimlich bei einem
fürstlichen Hause oder der Diplomatie aecreditirt, und hat wichtige
politische Aufgaben. Orden werden vorgezaubert, welche sich der Kranke
gekauft hat und zur Beglaubigung vorzeigt; phantastische, selbsterdichtete
Romane über frühere Carrieren und politisch wichtige Dienste werden
dabei aufgetischt, aber nicht an Jedermann (wie es der richtige Maniacus
oder Paralytiker thut), sondern nur an auserwahlte Vertrauenspersonen
als Ausdruck persönlicher Huld und Confidenz. Mit diesem fixen Wahne
weiden bald alle Tagesereignisse in Beziehung gesetzt, er — der Kranke
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Der circuläre Wahnsinn. — Die melancholische Phase. 305
— ist der eigentliche, wenn auch in der Stille sich haltende, Faiseur;
Documente mit Siegeln und Emblemen (natürlich selbstfabricirte) bilden
den stets bereit gehaltenen Beleg. Ueberzeugt, wie er von seinem Wahne
ist, überhört er lächelnd jeden Einwand; er sieht bald nur noch Gläu-
bige um sich. Bei der Zeitungsnachricht eines hohen Todesfalls legt er
sofort Trauerkleider an; bei gespannten politischen Situationen ver-
schwindet er plötzlich auf einige Tage, und kommt dann, den Arm in
der Schlinge, zurück: er war mittlerweile berufen einen mysteriösen
politischen Ehrenhandel im Duelle auszufechten ; daher die Armwunde.
Und dabei zeigt er eine alte Narbe auf, oder ein frisches Panaritium!
Merkwürdig ist das Doppelbewusstsein in vielen dieser Krankheitsphasen.
Während der Kranke in den erlogensten Phantasieen mit dem Aufgebot
seiner raisonnirenden Dialektik sich ergeht, kann er zu einer andern
Stande in seiner Berufsarbeit leben, als Advocat seine Acten bearbeiten,
ja sogar plaidiren ! Bezüglich des Krankheitsbewusstseins habe ich es
erlebt, dass ein solcher sehr intellectueller Patient, als er zufällig mit
seinen gekauften Orden auf einem Spaziergang einem Vorgesetzten be-
gegnete , vor der Begrüssung rasch seinen per nefas „ besternten " Rock-
umschlag zuknöpfte, und erst als er wieder allein sich fühlte, seiner'
Decorationsfreude offenen Ausdruck gab. Grosse, selbst verschwende-
rische, Ausgaben, Uniformirungen nach dem Schnitte der erträumten
Rangstellung etc. bilden nach aussen die Kundgebungen des Wahnes; doch
weiss der Kranke auch mit diesen Demonstrationen nach Bedarf Maass
zu halten. So sehr er sich aber auch, wo es gilt, zu beherrschen weiss,
um so unbeschränkter macht sich gegen Untergebene, und namentlich
gegen die eigene Familie, eine hochfahrende Härte und Heftigkeit gel-
tend, welche nicht selten rücksichtslos roh und selbst gemein wird.
So hält sich der Zustand Wochen oder auch Monate lang, und
klingt wie die Form a) entweder langsam oder manchmal brüsk in
die negative Phase ab.
Diese letztere kann, wie Eingangs angedeutet, «) die Melan-
cholie, oder aber ß) das Intervall mit erst nachfolgendem Depressions-
stadium sein. Folgt sofort die Melancholie nach, so hat diese nicht
selten bereits Wochen zuvor ihren Schatten vorausgeworfen, indem
der damals noch manische Kranke plötzlich ohne Motiv ins Weinen
ausbrach, und stundenlang Uber sein „Unglück" wehklagte.
a) Die melancholische Phase stellt in ihrer typischen Ge-
staltung das Bild der gewöhnlichen Melancholie dar, und zwar in
einer so scbulgerechten reinen Form, wie sie isolirt kaum vorkommt.
Die passive Form ist wohl die häufigere. Die Kranken ziehen sich
aus der Gesellschaft zurück, werden verzagt und wortkarg, schüch-
tern im Benehmen; es ist ihnen Alles recht, wie es geht und ist;
die geistigen Beschäftigungen geschehen nur noch mechanisch, ohne
tiefern Ernst ; über das ganze Wesen legt sich eine gewisse geistige
Müdigkeit, ein energieloser, schwächlicher, unentschlossener Grund-
Schttle, Q«Ut«Bkn!ikheiUm. 3. Aufl. 20
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806
Die circularen Psychosen.
zag. Andere werden selbst ganz unregsam, statuenartig; sie ant-
worten kaum, seufzen und weinen viel, müssen zu Allem angebalten
werden, leisten manchmal gegen jede Ansprache blinden Widerstand.
Kräftige Singstimmen in der Erregungszeit bringen jetzt nur heisere
dünne Fisteltöne heraus. Viele verweigern die Nahrung, oder neh-
men dieselbe nur unter Nöthigung. Andere suchen das Bett auf, und
sind wochenlang nicht zum Aufstehen zu bewegen. Wieder Andere
sind byperscnsibel und leicht verletzlich, so dass sie aus jedem
Zuspruch Thränen ziehen. In ihren Klagen steht das unendlich
schmerzliche Gefühl der Willenlosigkeit obenan; sie sind zu nichts
mehr nütze, sie sehen nur, wie die Andern zu arbeiten und zu
wirken vermögen; für sich sind sie ohne Kraft und Willen.
Dies trifft namentlich für die kleinen taglichen Sorgen und Wirrnisse,
„für die Nadelstiche des Alltagslebens" zu ; Uber diese wissen die Kranken
oft nicht hinwegzukommen, während sie merkwürdigerweise für grössere
Fragen und Entschliessungen vorübergehend sich noch aufzuraffen ver-
mögen.
Im Kopfe ist es leer und öde, die Gedanken gehen nicht mehr;
die Kranken fühlen sich unermesslich schwach und geistig elend.
Nur der Schmerz über dieses Elend erfüllt sie und um so drücken-
der, als sie in eine hoffnungslose Zukunft schauen müssen, welche
für sie keinen Ausweg mehr hat, oft gar „durch ihre eigene Schuld".
Andere wieder erfassen ihren Schmerz materieller; sie sehen sich
in selbstverschuldeter Armuth und finanziellem Ruin; vor einigen
Tagen noch mit Ausgaben von Tausenden leichten Herzens spielend,
zählen sie jetzt die Kartoffeln zu den Mahlzeiten.
Sehr oft begleitet eine Menge nervöser Sensationen die schmerzliche
Verstimmung, namentlich Neuralgieen und ue urasthenische Allgemein-
gefühle (Kopfdruck, furchtbare Müdigkeit, Palpitationen). Dabei werden
dieselben nicht einfach nur als lästig, soudern in der denkbar quälendsten
Form, „unnatürlich peinlich", und sogleich mit den übertriebensten Be-
fürchtungen empfunden.
Die activen Formen bewegen sich in der bekannten ruhelosen
motorischen Entäusserung auf Grundlage aller erdenklichen Selbst-
vorwürfe. Oft schelten sich die Kranken in ihrem gesunkenen Selbst-
gefühle als „Missgeburten" und „Mondkälber", als „Versehen der
Natur". Sie kauen sich die Finger ab, zerkratzen und peinigen sich.
Viele schleichen gebückt einher, und wimmern mit Fistelstimme.
Eine reiche Scala kliuischer Bilder wird mit den Einzeltypen aus-
gefüllt. Besonders, und dies namentlich gegen die manischen Phasen
hin, fehlen auch ganz leichte Depressionszustände nicht, in wel-
chen die Kranken nur Uberempfindsam, krittelig und nergelnd sind,
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Die „circulare Melancholie". Das Intervall.
307
bald in schmiegsamer Hilfsbedürftigkeit und unerschöpflichem Klage-
reichthum, bald aber auch in einer Verbitterung gegen sich und
Andere, welche der Geduld der Umgebung schwere Proben setzt
(die Kost ist ihnen zu schwer, die Luft zu dicht, der Lärm im Hause
zu gross, die Behandlung nicht freundlich genug, und dabei die
Kosten zu theuer u. 8. w.).
Neben diesen allgemeinen Verwandtschaftszügen bewahren diese cir-
culären Melancholieen einige auszeichnende symptomatologische Eigen-
heiten gegenüber den gewöhnlichen typischen: 1. es kommen fast nie wirk-
liche Hallucinationen vor, sondern höchstens Pseudohallucinationen, und
auch diese nur vorübergehend ; 2. es finden sich sehr häufig Wahnsinus-
züge (Symbolisirungen, Verfolgungsideen mit romanhaften Conceptionen
wie im hysterischen Irresein) beigemischt; ebenso 3. Züge von Moral In-
aanity (degenerative Melancholie): das innere Wehegefühl reflectirt sich
in ausgesuchten Kränkungen und Anklagen der Umgebung, in demon-
strativen Selbstmorddrohungen, gelegentlichen Wuthattaken u. s. w.
Bemerkenswerth ist, dass nicht selten ein melancholischer Par-
oxysmus durch einen plötzlichen erschütternden Gemüthseindruck
(Nachricht vom Tode Angehöriger) abgeschnitten wird.
ß) Das Intervall kann symptomatologisch dreierlei Formen
bieten: 1. es setzt die voraufgehende Phase fort in nachklingender
melancholischer oder manischer Färbung, aber mit zuuehmender
Lucidität und Annäherung an den Normalzustand; oder 2. es stellt
ohne ausgesprochene Färbung ein geistiges Erschlaffungsstadium dar.
Ein leiser Sopor legt sich über die Persönlichkeit des Kranken,
welche jetzt „wie abgedämpft, weil weniger individualisirt" erscheint;
das ganze psychische Wesen ist träge, unendlich müde, ohne Ini-
tiative, die Stimmung muth- und theilnahmslos, mit einem Zug leiser
Verstimmtheit oder selbst Depression; die Haltung schüchtern und
verzagt, das Handeln mühsam, ohne Nachdruck, und rasch sich er-
schöpfend. Schliesst sich das Intervall in dieser Form direct an
eine vorausgegangene Manie an, so erhält es nicht selten durch be-
gleitende Reue- und Schamgefühle Uber die vorausgegangenen und
(bis ins Detail erinnerlichen) manischen Licenzen einen ausgeprägten
melancholischen Zug (s. o.), so dass man oft nicht weiss, ob der
Kranke sich in einem Intervall, oder in der melancholischen Phase
befindet. Im Verlauf von Monaten arbeitet sich immer mehr die
frühere Persönlichkeit wieder heraus, ohne aber je die einstige Kraft
und Frische zu erreichen. Die Stimmung namentlich bleibt in einer
Art Dämmerung — aus dem Schatten der letzten Vergangenheit
und dem Dunkel der ungewissen Zukunft. Diesem Typus steht ein
dritter gegenüber, in welchem mit der ruhigen Phase ein vollständig
20*
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008
Die circul&ren Psychosen.
neuer Mensch beginnt, ohne anknüpfende oder nachwirkende Erinne-
rung an die verflossene Exaltation. Dafür ist diese mit der nächst-
folgenden Erregungsperiode um so näher verbunden, so zwar, dass
in dieser erst das Gedächtniss an die frühere, und jetzt oft bis in
die kleinsten Details erwacht — wiederum einer Art Doppelbewusst-
sein, wie in gewissen alternirenden Melancholieen.
Ist die Krankheit durch Ausprägung dieser Einzelphasen defi-
nitiv gebildet, so besteht der Weiterve r lauf in deren cyklischer
Wiederholung. Es ist oben schon bemerkt worden, dass bezüglich
der Aufeinanderfolge der Componenten eine sehr reichhaltige Ver-
schiedenheit obwaltet; ebenso bezüglich der Dauer und des Eintritts
der Einzelanfälle (speciell Uber letztern Punkt s. u.). Das Endschicksal
ist folgendes. Entweder 1. es bleibt der verhängnissvolle Cyklus
Uber die ganze Dauer oder wenigstens den grössten Theil des Lebens
bestehen.
Dabei muss der Modification Erwähnung geschehen, dass die anfäng-
lich scharf alternirenden manischen und melancholischen Episoden im
Verlaufe manchmal zu weniger präcisen und reinen sich umgestalten,
und in den mannigfaltigsten Schattirungen in einander übergehen können.
So kann an Stelle des tief depressiven Typus ein Zustand von mässiger
Abspannung und Ermüdung treten, oft mit richtiger Kritik über die ge-
schehenen Ausschreitungen in der Aufregungszeit; dann kann wieder —
fast als Ironie darauf — eine Exaltation in Form von ungeordneter Leb-
haftigkeit und Possenreisserei folgen, wobei der Kranke (echt verrückt)
sich Mühe gibt allerlei barocke Verkehrtheiten nach aussen treten zn
lassen, und dasselbe verzwickte Spiel auch in der folgenden torpiden
Phase wiederholt, indem er sich an- und auskleiden und selbst füttern
lässt, und statt zu sprechen allerlei symbolische Gesten eines Stummen
nachahmt. Der Weiterverlauf schliesst in diesem Falle mit einem Zu-
stand allgemeiner Verwirrung (Vorsichhinsprechen und •Lachen, barocke
Kopf- und Körperhaltungen, Zwangsbewegungen) und endlichem Unter-
gang in einem stillen apathischen Blödsinn ab.
Oder 2. es tritt bei günstigen Verhältnissen (vor Allem in
der Ruhe des Anstaltslebens) ein immer mehr sich protrahirendes
Intervall ein, mit dem Charakter einer langsam zunehmenden geistigen
Schwäche und bleibender Geneigtheit zur Recidive; oder 3. es
schliesst sich ein dauernder manischer oder melancholischer Zustand
an, mit allmählichem Versinken in Demenz. Der Maniacus bildet sich
zur chronischen degenerativeu Form aus (s. u. „Mor. Ins."), der
expansiv Wahnsinnige zum phantastischen Reformator und typischen
Anstalts- Querulanten; beide Zustände können aber auch in eine
chronische Melancholie auslaufen, in welcher der Kranke Jahre lang
im Bett liegt, auf jede Ansprache weint, allen Verkehr nach aussen
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Das Intervall. „Degenerative Melancholie". — Der circuläre Stupor. 309
ängstlich abbricht, in eine Art hyperästhetischer Stumpfheit sich
einbannt, und nur in einem selbstgeschaffenen egoistischen Tages-
programm, worin oft die Fürsorge für Waschen und Reinlichkeit
fehlt, sieb schliesslich beruhigt und abfindet. Dabei können alle
Herzensbeziehungen, namentlich aber die intellectuellen Functionen,
Urtheile, sich lange in einer gewissen Ungetrübtheit erhalten, welche
mit der Abulie (in Allem, was Uber die enge Sphäre des Tages-
pensums hinausliegt) im schroffsten Widerspruche steht. Der Krauke
fühlt dies selbst; aber er hat nur vermehrte Thränen für jede Auf-
munterung. Man könnte diesen Ausgang als eine besondere Unter-
art von degenerativer Melancholie (S. 306) bezeichnen. — Es
kann endlich auch 4. eine wirkliche Genesung eintreten.
Ein zwar sehr seltener Ausgang, welcher aber um 60 bemerkend
werther ist, als er selbst bei einer klassischen Folie circulaire (mit ein-
leitender speeifischer Moral-Insanity-Manie) ein oder das andere Mal glü-
cken kann, sogar auf schwer hereditärer Grundlage.
c) Der circuläre Stupor. Hierunter reihe ich eine Gruppe
cyklischer Psychosen ein, deren Paroxysmen aus der Verbindung
resp. Aufeinanderfolge einer aufgeregten und einer athenischen Stupor-
Phase bestehen, mit nachfolgendem Intervall. Den vorbesprochenen
Formen gegenüber zeichnet sich diese Gruppe durch die Kürze
sowohl der Anfälle als des Zwischenstadiums aus (einige Tage bis '
1 — 2 Wochen), sowie durch den ausserordentlich jähen Umschlag
der einen Phase in die andere (manchmal während des Sprechens,
des Gehens). Die aufgeregte Stupor-Pbase verläuft entweder unter
dem Bilde einer stupiden Manie mit tiefster Bewusstseinsstörung
und plötzlichen Raptus — 1. Unterform; oder als aufgeregter hallu-
cinatorischer Stupor mit grosser Angst, Verkennen der Personen,
und heftigen motorischen Reactioncn von Gewaltthätigkeit —
2. Unterform.
Die 1. Unter form entsteht in der Regel auf stark belasteter
Grundlage. Der Ausbruch erfolgt unter heftigem Congestiv-Zustand
zum Kopfe, localen Schweissen und jagenden Pulsen; dabei wird
der Kranke rasch, oft wie mit Einem Schlage, der Wirklichkeit
entrückt, beginnt zu schreien, um sich zu schlagen, wild zu zer-
stören. Es ist das einleitende Bild eines peracuten Furors, welcher
manche Aehnlichkeit mit dem epileptischen hat.
Die 2. Unterform stellt einen hallucinatorischen Dämmer-
zustand dar, mit stupider Angst, Illusionen und Hallucinationen,
untermischt mit theilweise richtigen Wahrnehmungen; träumerische
Acte wechseln in jähem Umschlag, und regellos, mit lucidern, moto-
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Die circulären Psychosen.
rische Raptus mit choreatischen Bewegungen, coordinirten Krämpfen,
dann wieder mit Singen, Vociferiren u. 8. w. Manchmal fehlen
Sinnestäuschungen, nnd der aufgeregte Dämmerzustand spielt sich
in einer Reihe somnambuler, perverser Acte ab (Verstellen von
Gegenständen, Fortwerfen derselben durch das Fenster), bei fast voll-
ständigem Perceptionsabschluss.
In beiden Fällen bricht nach kurzer Dauer, in welcher eigent-
lich keine Zunahme der (bereits in der Acme einsetzenden) Auf-
regung stattfindet, der stupurös-manische Zustand ab. Unter den
Erscheinungen der Vasoparese (kühle Hände, Kleinwerden des
Pulses) und starkem Speicheln wird der Kranke stupid apathisch,
verharrt in Zwangsstellungen, lässt die Excremente unter sich gehen,
widerstrebt gegen jeden Eingriff, antwortet bei eindringlicherem Zu-
setzen mit Thränen. Darauf folgt, oft scharf abgeschnitten, das
eigentliche Intervall, welches in verschiedenen Graden der Lucidi-
tät sich bewegt, immer aber einen gewissen Zug von leisem Sopor
bewahrt, ohne je die Helligkeit des Bewusstseins, wie bei den andern
circulären Formen, zu erreichen. Die Erinnerung ist eine stufen-
weise, stets defecte, oft fehlende.
Der Weiterverlauf ist ein wechselvoller, nach meinen Beob-
achtungen stets zur Chronicität resp. Unheilbarkeit sich neigender.
Dabei werden die Paroxysmen nicht selten um die apathische
(katatone) Phase verkürzt, so dass der erregte Stupor direct in das
Intervall Ubergeht. Dieses gestaltet sich zu einem immer tiefern
psychischen Schwächezustand mit Betäubtheit und gemttthlicber
Indolenz.
Letztere wird nicht selten gegen den Paroxysmus hin jeweils durch
Züge von Reizbarkeit oder aufgeregte Moral Insanity vorübergehend be-
lebt: die apathischen Kranken werden plötzlich unsocial, schlagen Andern
das Essen oder Arbeitsgegenstande aus der Hand, lachen blöde, erzählen
Zoten, entblössen sich u. s. w.
Die typischen Anfälle erhalten sich dabei oft mit einer fast
umthematischen Genauigkeit (s. u.) ; anderemale aber verwischen sie
sich, und gehen in unregelmässig periodische Erregungszustände
eines mittlerweile stationär gewordenen Blödsinns über.
Zeitliche Gruppiruny der Paroxysmen in den periodischen
und circulären Psychosen.
Es ist längst den Beobachtern aufgefallen, dass der Eintritt der
einzelnen Phasen in den beiden Gruppen nicht nur im Allgemeinen
ein cyklischer ist, sondern dass derselbe sich oft in einer Art fast
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Zeitliche Gruppirang der Paroxysmen (Einzelphaaen). 3 1 1
astronomischer Regelnlässigkeit einstellt, und dass die Dauer der
Einzelphasen die einmal angenommene Zeitspanne oft mit mathe-
matischer Genauigkeit einhält. Man hat die Ursachen dieser interes-
santen Erscheinung in siderischen Einflüssen gesucht, und namentlich
die Mondsphasen dafUr verantwortlich gemacht. So beachtenswerth
diese, namentlich von Koster neuerdings wieder urgirte Hypo-
these auch ist, so dürfen doch auch die terrestrischen Erscheinungen
nicht unterschätzt werden. Ohne Zweifel spielen nämlich auch sub-
jective Momente aus dem Individual-Leben, aus der Umgebung und
den Aussenverhältnissen des Kranken eine gewisse und oft grosse
ätiologische Rolle. Mehr als uns lieb, wiederholt sich die Erfahrung,
dass eine genesene entlassene Maniaca mit dem Eintritt in eine ihr
nicht zusagende Situation draussen sofort recidiv wird, und so, nach
mehrfacher Wiederholung, endlich spontan periodisch wird. In
gleicher Weise bringt bei gebesserten Kranken, welche „Meer und
Stürme längst hinter sich lassend" eines jahrelangen Intervalls sich
freuten, irgend eine Ausbiegung vom jahrelang eingelebten Tages-
lauf (plötzlicher fremder Besuch, Betheiligung an einem Feste) den
anerwarteten Rückfall mit. Der manchmal plötzlichen Sistirung der
melancholischen Phase durch eine zufällige Gemüthserschütterung
ist oben schon gedacht worden. So gibt es irdische Schädlichkeiten
genug, welche erfahrungsgemäss ausreichen, ohne dass wir nöthig
hätten nach den „Sternen" zu greifen. Gleichwohl bleibt daneben
eine Reihe beglaubigter Thatsachen von einem regelmässig
periodischen Einsetzen des Einzelanfalls „ganz aus der Gesund-
heit heraus" feststehen, und ebenso von einer oft Uberraschend
gleichen Zeitdauer der Einzelphasen und des Intervalls. Die Ur-
sachen dieser regelmässigen pathologischen „Wellenbewegungen",
deren physiologischen Typus bekanntlich der Menstruationsvorgang
darstellt, sind uns bis jetzt dunkel, sowie nicht minder die Kennt-
niss des auslösenden Modus selbst. Verschiedene Thatsachen scheinen
dafür zu sprechen, dass bald vasomotorische (Fluxionen), bald nervös-
reflectorische Einflüsse (periodische Neuralgieen) als Zwischenglieder
im Spiele sind. Ohne hier in Hypothesen über die ev. letzte Ursache
einzutreten, soll im Nachstehenden als Beitrag zu den klinischen
Thatsachen, soweit sie die aufgeworfene Frage berühren, eine
Reihe von bei uns gemachten Beobachtungen Uber Eintritt, Zeit-
dauer und Aufeinanderfolge der einzelnen Phasen in den ver-
schiedenen Circulärformen angefügt werden.
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312
Die circularen Psychosen.
Ad periodische Psychosen.
NB. Der graphischen Uebersichtlichkcit wegen werden in den folgenden Tabellen
die manischen resp. stupuros aufgeregten Cyklen mit Cursiv-Züfern , die melancholi-
schen re«p. stupurös attonischen mit fetten Ziffern , die Intervalle mit halbfetten Ziffern
in den eingeschriebenen Zahlen, welche Tage- resp. Wochen- re«p. Jahreszeitraunie
bezeichnen, ausgedruckt.
1. Q — r. 1. Aufnahme. November. P. 4 M.
J. 2'/a Jahre.
2. Aufnahme. Juli. (Ursache: Verlobung.) P. 4 M.
J. 8 M.
Ist cir- r i Jahr später Verheirathung. Jetzt einige Zeit Depression,
culär !
gewor- | 3. Aufnahme. Juli. (Vermögensverluste.) P. 6 M. mit nach-
den l folgender mehrmonatl. Depression; J. 4 Jahre.
4. Aufnahme. Mai. (Geschäftsei' Weiterung.) P. 6.
Während des Intervalls abermals Recidiv mit Aufnahme
in einer auswärtigen Anstalt.
Perio-
dische <
Manie.
5. Aufnahme. Juni. (Keine specielle Ursache.) P. 8.
J. IV2 Jahre.
6. Aufnahme. Octbr. (Keine specielle Ursache.) P. mehrere
Monate, dann Abgleich in eine ruhigere phlegraat. Phase,
welche bis jetzt andauert (seit 4 Jahren).
2. W— r. 1. Aufnahme. Decbr. (Keine Ursache.)
1\ 8 Tage.
J. 5 Jahre.
2. Aufnahme. Juli. P. 8 Tage. . .
J. 4 Wochen. ( le,chte Form>
August. P. 8 Tage.
J. 4'/i Wochen.
jetzt depressiver Zustand mit Uebergang in Reconvalescenz.
Nach 3 Jahren:
3. Aufnahme. Juni. P. 4 Tage. Ii-,, r,
J. 4>, Wochen.} Ie,ch,e Form'
P. 17 Tage (schwere Form).
Nach 3 Monaten Pause:
4. Aufnahme. Octbr. P. 4 Tage.
J. 5 Wochen.
P. 8 Tage,
seit 14 Jahren frei.
3. K— r. 1. Aufnahme. Novbr. (Ursache: verunglückte Speculation.)
P. 14 Tage (schwere Form).
1 Jahr später:
2. Aufnahme. Novbr. P. 16 Tage. | .
I 7 iw l 8chwere Form m,t
P. 16 Tage'. | Frössen« - Ideen.
leichte Form,
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Zeitliche Gnippirung der Paroxysmen.
313
3. K— r. 10 Jahre spater:
3. Aufnahme. März. (Ursache: Gemüthsbewegungen.)
P. 6 Wochen.
Im Intervall nach Hause, hier rascher Umschlag in Manie.
Mai. — In der Anstalt bald wieder ruhig.
Juli — 31. August. P. 6 Wochen (schwere Form, gleich
wie die seitherige).
Im September l Woche scharf alternirender Typus; bald
über den andern Tag, bald zwischen Morgen und Nach-
mittag, bald zwischen Tag und Nacht.
Octbr. u. 1 P. 6* Wochen. (Mania gravis, brüsker Um-
Novmbr. J J. 4 Wochen. schlag.)
Decmbr. P. 3 Wochen.
J. 4 Wochen.
Im Januar und Februar je 3 Wochen heftigsten Heim-
drängens; (manisches Äquivalent); nachher Ruhe und
Intervall.
Nach ti Monaten:
4. Aufnahme. Novbr. (Ursache: Process.) P. 4 Wochen.
Nach l'/i Jahren:
5. Aufnahme. Febr. (Keine Ursache.) Nun folgen sich die
Paroxysmen und Intervalle:
8. 4. || 4. 6. || 4. 3. || 3. 4. J 0.
jetzt apathisches Intervall mit Entlassung.
6. Aufnahme. Febr. (Keine Ursache.)
3% 6. f| 4. 1. 8 3% 3'/->. || 4. 4.
3% 1. || 2. 2. || 2. 2. ||
subcut. Morph.-lnject.;
die folgenden Paroxysmen werden durch erhöhte metho-
dische Morphiumgaben coupirt.
Im indolenten apathischen Stadium entlassen.
Nach mehreren Jahren:
7. Aufnahme. April. 4 wöch entliche Paroxysmen resp.
Intervalle (ohne Morphium).
Nach kurzer Entlassung:
S.Aufnahme. Juli. Einige Zeit hält sich noch der Typus,
dann verwischt er sich unter Chloral- und später
Hyoscyaminbehandlung, und wird ganz unregelmässig.
Besteht als solcher noch fort.
Es kommen hier ausserordentlich zahlreiche und eigenartige Verlaufs-
varietäten vor. So kenne ich einen Fall (nicht hereditär), bei welchem
jahrelange Satyriasis der im 30. Lebensjahre beginnenden Erkrankung
vorausging. Jetzt initiale Melancholie, erst mit Aspermatismus und zu-
nehmender Aphrodisie; dann manischer Paroxy^raus mit Trinkexcessen,
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314 Die circularen Psychosen.
brutaler Gewalttätigkeit, paradoxen Behauptungen, grosser Reizbarkeit
und Unzufriedenheit. Diese Aufregungszustände wiederholten sich jahre-
lang erst unregelmässig, nachher in regelmässigen, jeweils 8 — 10 Tage
dauernden und allmonatlich sich einstellenden Perioden. Darauf — nach
im Ganzen 16 jähriger Krankheitsdauer — Stillstand und relatives Wohl-
befinden mit nur noch jeden Monat eintretenden 2 — 3 tägigen melan-
cholischen Anfällen; auch diese verloren sich nach und nach, und
der Kranke blieb von da an anfallsfrei.
Ad circttläro Formen.
Manisch-melancholische Gruppe.
1. H — n. Das in diesem Fall besonders hervorragende melan-
cholische Stadium dauert:
1866 vom 11. März — 1. Juni
1867 = 19. Juli — 16. Octbr.
1S68 = 10. April — 8. Juli
1869 = 30. August — 26. Novbr.
1870 = 10. August — 14. Novbr.
1871 = 15. Mai — 5. August
1872 = 14. Febr. — 25. April
1873 = 12. August — 1. Decbr.
1S74 = 8. August — 2. Decbr.
1875 = 7. Septbr. — l. Decbr.
1876 = 18. Mai — 15. Juli
1S77 = 11. Febr. — S. Mai
1878 = 22. Septbr. — 25. Jan. 1879
1879 - 16. Juni — Ende Novbr.,
dann Pause;
1SS3 = 16. Juni — 9. Septbr.
1884 = 31. Juli — Ende Novbr.
2. G— ck. Prävalirende m a n i s c h e Paroxysmen, oft bis zur Mania
gravis; dieselben dauerten:
1579 vom 1. Septbr. — 11. Novbr.
1580 : 3. April — 29. Mai
ß j : 25. April — 15. Mai
lbbl\ = 29. Octbr. — 26. Novbr.
1S82 = 12. Octbr. — 31. Decbr.
ic J » 22. Januar — 12. April
23. Septbr. — 19. Novbr.
3. L — r. Dieselbe manisc u - prävalirende Form:
1879 vom 3. Octbr. — 7. Febr. 1880
1SS1 * 27. Januar — 13. April
18S2 = 9. März — 14. Juni
9. Januar — 3. März
1 1. Octbr. — 21. Novbr.
1SS3
{:
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Zeitliche Gruppirung der Paroxysmen (Einzelphasen).
315
circu-
läreAn-^
fälle
4. L— k. Erst circuläre, dann periodisch-manische Erkrankung.
1. Aufnahme mit 16 Jahren. (Ursache: ausser erblicher An-
lage sehr starke Onanie.) Beginnt im Februar 1852 mit
melanchol. P. 2!/2 Wochen; dann
J. 2 Wochen ; dann
manischer M. 2 Wochen ;
jetzt Intervall 2 Monate; dann
2. 2. 2. (jeweils Wochen).
Jetzt 1 V2 Jahre Pause ohne vollständige geistige Gesund-
heit. Onanie hatte in gleicher Weise fortgedauert.
2. Aufnahme. Januar 1854 beginnt mit
2 Wochen. 16 Tage. 4 W. 18 T. 8 T. einige Tage.
8 T. Jetzt Melancholie, in welcher Entlassung.
3. Aufnahme. November 1856 mehrmonatliche sehr
schwere (degenerative) Manie;
dann Intervall: abwechselnd zwischen manischen und
melancholischen Phasen. Dipsomanie.
4. Aufnahme. Mai 1865 mehrmonatliche schwere Manie
(bis September);
dann lucides Intervall.
Von jetzt an nur periodisch-manische Anfälle, jeweils durch
starke Trinkexcease eingeleitet; die stärksten derselben entfallen alljähr-
lich auf die Monate
April — Mai — Juni.
Zerfall in Blödsinn.
Circulär-stupuröse Gruppe.
5. St— r. P. 19 Tage. Atton. Stupor mehrere T«se.
J. 4 Wochen.
circu- P. 77 Tage. Atton. Stupor mehrere Tage.
läreAn- J. mehrere Wochen,
fälle P. 3 Tage. Atton. Stupor 12 Tage.
Nachher:
P. 4 Tage. J. 4 Wochen.
Von jetzt periodische manische Anfälle ohne Stupor; P. dauert
jeweils an 3 Wochen.
6. X — g. Circulärer Stupor, welcher Anfangs getheilt ist in die
ball negatorische und attonische Form; später aber vorwiegend einen Zu-
stand von Stupidität mit Verkennen der Personen und impulsiven Raptus
darstellt. Die Dauer der Stuporanfälle ist:
1 879. 14. Juni — 5. Juli; 20. Juli — 13. August; 19. December —
S. Februar 1 SSO. Dazwischen ruhige Intervalle mit beschränk-
tem kindischem Wesen.
1880. 26. Februar — 17. März; 14.April — 9. Juli; 12. Juli —
28. Juli; 8. August — 26. October.
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316
Die circulären (alteruirenden) Psychosen.
immer
mit ein-
18S1. 6. Januar — 18. März; 10. Mai — S. August; 3. October —
10. October; 2. November — 23. November.
1882. 11. März — 4. April; 18. April — 15. Mai; 28. Mai —
19. Juni; 7. Juli — 24. Juli; 8. August — 28. August;
12. September — 5. October; 28. October — 7. November;
21. November — 6. December; 26. December — 0. Januar
1883.
1S83. 21. Januar — 15. Februar; 4. März — 5. April; IC. April —
24. Juli; 3. August — 21. August; ? September — 7. No-
vember (unsicher); 26. November — S.April 18S4.
1884. 15. April — 1. Mai; 15. Mai — 8. Juni; 21. Juli — .
7. H — ch. Circulärer Stupor. Schwere erbliche Belastung. Be-
ginn mit 30 Jahren. P. Anfangs zusammengesetzt aus a) einer aufge-
regten Stuporphase, ß) einem depressiv-stupiden Nachstadium, einem
freiem Intervall. Im Verlauf fällt Phase p aus.
Dauer der «-Stuporphasen:
11. 14. 11. (sämmtl. Tage); jetzt 3 Wochen Intervall,
10. 12. ( do. ); jetzt wieder 3 Wochen In-
tervall,
MM se 16' jetzt wieder 3 Wochen In-
^" nl tervall,
nur «-Stupor und Intervall: 12. 11. 10. 16. //. 13. 17. 10. 17. 11.
ö Wochen. 17. 12. 12. 17. 10. 10. 4. 19. 11. 13. 7. 10. 11. 17. 7. 15.
10. 14. 12. 13. 12. 10. 14. 10. Von jetzt 4 Wochen lang über-
den andern Tag alternirender Typus. 14. 4. Jetzt wieder
5 Tage täglich alternirender Typus; sodann eine Phase von je 2 bessern
resp. 2 schlimmem Tagen nacheinander. Nun IG ( höchstgradiger Stupor,
in welchem künstliche Ernährung nöthig; starke Salivation; Secessus inscii);
14 (recht befriedigende Lucidität); 13. In Privatpflege entlassen.
Die alteruirenden Psychosen.
Unter dieser Bezeichnung werden Psychopathieen zusammen-
gefasst, deren wesentlicher Charakter in einem zwischen einzelnen
bessern und schlimmem Tagen regelmässig abwechselnden Verlaufe-
typus besteht. Man könnte auch sagen: der Verlauf bewegt sich
typisch zwischen Exacerbation der Grundkrankheit und einem Inter-
vall, beide in Form von kürzester Dauer, gewöhnlich 1 Tag, oder
den Bruchtheil eines Tags, eventuell auch 2— 3 Tage. Eine Gruppe
der soeben betrachteten cyklischen Stuporformen hat hierfür schon
das klinische Beispiel geliefert; aber auch in der manisch-melancho-
lischen Gruppe sind Fälle bekannt, welche in 3tägige Paroxysmen
sich gliedern, wovon 1 Tag auf die manische Unruhe, 1 auf die
melancholische Depression und 1 weiterer auf das Intervall ent-
fallen. Dieses Verhältniss kann im Weiterverlauf wiederum sich
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Symptomatologie.
317
ändern, so dass die Einzelphasen jetzt 1 bis 2 Wochen währen, bald
mit Einhaltung, bald mit Ueberspringen des Intervalls; es kann aber
ebenso gnt der anfängliche Typus mit den kurzen, auf 1 oder höch-
stens 2 Tage eingeschränkten Phasen, beide schroff in einander über-
gehend, im spätem Decursus der Krankheit wiederkehren.
Der specifisch alternirende Typus d. h. der regelmässige Wechsel
zwischen 1 freien und 1 gestörten Tage kommt einer sehr grossen
Anzahl von psychischen Krankheitszuständen zu. So tritt der be-
zeichnete Verlaufsmodus häufig im hysterischen und epileptischen,
namentlich aber im paralytischen Irresein auf, in letzterem jedoch
stets nur anfallsweise und vorübergehend, wenn auch oftmals zähe
sich wiederholend. In der hysterischen Psychose, speciell in den
sog. Dämmerzuständen, ist die Kranke am gestörten Tag unruhig,
in blinder Entäusserung wechselnder psychomotorischer Einfälle; am
folgenden Tage still, apathisch, träumerisch. Jn den alternirenden
Stadien der Paralyse, welche namentlich in der Anfangszeit der
Krankheit manchmal vorkommen, schwärmt der Kranke am ersten .
Tag von seinem gehobenen Wohlgefühl, von der Vortrefflichkeit
seiner Umgebung „fUr deren Ruhm er nicht genug Hände zum Be-
schreiben hat", und am nächsten verwünscht er mürrisch, was er
Tags zuvor in den Himmel erhoben hatte.
Besonders häufig tritt der alternirende Typus (episodisch) in der
hypochondrischen Abart der Paralyse auf: am heitern Tage von be-
wundernswerthem Gedächtniss, Uberströmend von Reden mit höchst ge-
steigertem Selbstgefühle und in athemloser Bewegung — sitzt der Kranke
am trüben Tage mit geschlossenen Augen da, will nicht essen, ist
widerstrebend, fühlt sich von derselben Hallucination verfolgt, hat keine
Zunge, keinen Magen, kurz kein Organ, nach welchem man fragt; ist
er selbst nicht mehr, ist längst gestorben u. s. w. Am heitern Tage
ist der Puls 100—120 mit etwas erhöhter Hauttemperatur; am trüben
SO— 90, sind die Hände kalt und bläulich.
Aber auch in der Reconvalescenz mancher Melancholieen, nament-
lich auf seniler Grundlage, kommt vorübergehend ein alternirender
Typus vor: 1 Tag ist der Kranke heiter im Vorgefühl der Genesung
und nach herrlichem Schlafe; den folgenden Tag verzagt, ob der
Zukunft hängend, und oft schlaflos trotz kräftiger Narcotica. Mit
dem Herannahen der Genesung klingt der Typus ab, und weicht einem
continuirlich fortschreitenden Wohlbefinden.
Dauernd, und zwar oft auf Jahre hinaus, gestaltet sich der
beschriebene Verlaufsmodus vorzugsweise in gewissen chronischen
Melancholieen. Derselbe bietet hier zweifellos ein Symptom der Tiefe
des organischen Hirnleidens; er ist in der Regel unangreifbar für
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.'318
Die circulären (alternirenden) Psychosen.
die antitypischen Arzneimittel, höchstens, dass er manchmal vorüber-
gehend zurücktritt (merkwürdig oft bei jeder neu angewendeten
differenten Arzneicor oder durch Besuche), um bald in alter Stärke
wiederzukehren. Die Melancholieen , in welchen ein alternirender
Typus (und hier wohl als degeneratives Zeichen) sich ausprägt, sind
climacterische oder senile, und zwar, soweit meine Beobachtungen
reichen, auf Grundlage von sexuellen Excessen (Onanie) und Uterin-
leiden. In einem Fall war die alternirende Melancholie die Vor-
läuferin einer spätem hypochondrischen Paralyse. Manchmal zeigt
der Beginn der Krankheit den besprochenen Typus noch nicht; es
sind gewöhnliche agitirte Melancholieen mit ausgeprägten (organischen)
Angstzufällen, und erst allmählich fixirt sich der Wechsel zwischen
freien und schlimmen Tagen; Anfangs nur vorübergehend, in der
Folge aber wiederkehrend, und endlich mit bleibender Dauer. Der
Typus selbst kann ein kalendarisch-regelmässiger sein, so dass sich
im Anfang der Woche genau die luciden und die gestörten Tage
. ausrechnen lassen ; er kann aber auch in der Folge sich modificiren,
manchmal in 2 aufeinanderfolgenden schlimmen und ebenso vielen
nachfolgenden guten sich abspielen; dann auch wieder in 1 •/« schlimmen
und {h guten; anderemale in regelmässig sehr schlimmen Morgen
mit jeweils freien Nachmittagen; oder endlich je l Tag mit früh
beginnender langer Depression und 1 darauf folgenden mit später
einsetzender und nur kurz dauernder Verstimmung. Bei sehr pro-
trahirtem Verlaufe kann der Typus zeitweise verschwinden und
wiederkehren; es kann auch ein lucides Intervall ohne jede Spur
eines Wechsels (Typus) auf Wochen hinaus sich einfügen, und der
verhängnissvolle Turnus nachher Wiederbeginnen.
Beide Phasen, die freie und die kranke, gleichen sich manch-
mal bis aufs Kleinste; sowie sie auch manchmal genau zu derselben
Tagesstunde beginnen. Andere Male ist nur beim ersten Eintritt des
Typus der „gute Tag" ein exaltirt heiterer, und der „böse" ein me-
lancholisch verzweifelter; später aber unterscheidet sich der gute
vom bösen nur durch ein Minus von Melancholie (welche jetzt über
beide Tage sich ausdehnt), um noch später durch einen apathischen
neben einem melancholischen ersetzt zu werden. Starke psychische
Ablenkungen können nicht selten den Eintritt des Paroxysraus um
eine oder mehrere Stunden verschieben. Aber auch ohne solche
kann der unruhige Tag einmal später gegen Morgen, ein anderes
Mal schon um Mitternacht beginnen. Regel scheint übrigens zu sein,
dass der schlimme Tag zeitlich viel früher einsetzt (oft um mehrere
Stunden) als der gute. Auch Arzneimittel (Chloral, Hyoscyamin)
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Körperliche Begleitsymptome der cyklischen Psychosen.
319
vermögen den Typus zu beeinflussen, aber stets nur vorübergehend,
und stets mit gesteigerter Nachfolge des zurückgedrängten Anfalls-
tages. Dio Kranken selbst bewahren ein höchst genaues Gedächt-
niss an den schlimmen Tag ; sie beben vor demselben in Erwartung,
und bitten nicht selten flehentlich um Schutz und Hilfe. Der paro-
xysmale Tag besteht in der typischen Wiederkehr desselben Angst-
actes, welchen manchmal somatisch die Symptome einer höchstge-
steigerten Vagus-Neurose begleiten: frequenter kleiner Puls, höchst-
gradiger Lufthunger, Glottisparese mit heisern Schreien; dazu kommen
triebartige Reflexacte bald in Form von Sich -Schlagen, Haar- Aus-
raufen, Teut. Suicidii, oder in Gewaltthätigkeiten gegen Andere, in
Schimpfworten und selbst Blasphemieen — sämmtlich Befreiungs-
dränge aus der ungeheuren innern Beklemmung. In andern Fällen
verläuft der schlimme Tag farbloser, und besteht nur in monotonem
Jammern, Selbstvorwürfen und nicht selten automatischen Geberden
(in-die-Hände-Klatschen, sich-Schlagen, Grimassiren, Hin- und Her-
rennen u. s. w.). Am ruhigen Tage sind die Kranken gedrückt, ver-
zagt, kleinmüthig, aber ruhig. Manchmal kann die Stimmung aber
auch in eine heitere Exaltation umschlagen.
In einem unserer Fälle war langjährige und auch in der Krankheit
fortgesetzte Onanie die anamnestisch und auch von der Kranken selbst
zugegebene Ursache der alternirenden Melancholie gewesen; bei der
Section fand sieb cystöse Degeneration beider Ovarien (neben Pacchy-
meningitis externa, Craniosklerose und massiger Hirnatrophio bei einer
"5jährigen Frau).
Körperliche Begleitsymptome.
Als solche kommen sensible, vasomotorische und ganz besonders tro-
phische Störuugen in Betracht. Die sensibeln betreffen die melancholische
Phase, und bestehen in den verschiedensten Sensibilitätsanomalieen : Kopf-
druck, perverse Kopfgefühle (namentlich eine peinliche Oede und Leer-
heit des Schädelinnern), sodann Neuralgieen und Parästhesieen aller Art,
theils allgemein, theils mehr umschrieben. Nicht selten bezeichnen ty-
pisch wiederkehrende Neuralgieen (der Intercostalnerven oder der Zähne)
den drohenden Wiedereintritt des depressiven Paroxysmus. Oft bildet
dann der ausgedehnteste und in den grellsten Farben gefühlte neurasthe-
nische Symptomencomplex, gewöhnlich hypochondrisch umdeutet, die Ein-
leitung oder auch den Inhalt der nachfolgenden Melancholie. Nicht selten
erwachen damit auch sexuelle Irritationen und reizen gebieterisch zur
Selbstbefriedigung — bei sittenstrengen Naturen ein steter Selbstvor-
wurf und der Kern ihrer subjectiven Selbsterniedrigung. Eine grosse
Kolle spielen bei manchen Kranken die lästigen HautgefÜhle, namentlich
Staubempfindungen, wodurch sie zu tagelangem Waschen und Abkratzen
der Wände, Aufscheuern des Fussbodens gedrängt werden. Die vasomo-
torischen und circulatorischen Symptome halten keinen gesetzmässigen
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320
Die circularen Psychosen.
d. h. für die einzelnen Phasen charakteristischen Gang ein; im Allge-
meinen ist die manische Phase durch lebhaftere Gefässthätigkeit und
raschere Herzaction, durch gerötheten Kopf, manchmal auch durch ver-
änderte Innervation der Mimik, durch sonderbare Parästhesieen (als ob
Pulverkörner im Kopfe zersprängen, als ob Brust und Bauch leer und
nur mit der Haut überspannt wären) ausgezeichnet; die melancholische
dagegen durch einen trägen und seltenen Puls und grössere Geneigtheit
zu Kühle der Extremitäten. Doch kommen auch in Erregungsstadien
sehr oft intercurrente vasomotorische Krampfzustände, Neigung zu Ohn-
mächten mit Frösteln und kaltem Schweisse vor, besonders nach Gemtiths-
bewegungen (erregbare vasomotorische Schwäche). Die schwereren Ma-
nieformen verlaufen regelmässig mit beschleunigter Gefässthätigkeit und
Congestionen zum Kopfe. In den attonischen Phasen der circulären Stu-
porformen entwickelt sich der vasoparalytische Charakter oft bis zur
Oedembildung an den Extremitäten mit monoerotem Pulse; doch inter-
curriren auch hier Fluxionen zum Kopfe. — Höchst interessant sind die
trophischen Störungen. Diese haben theils localen, theils allgemeinen
Charakter, und betreffen in letzterem Falle die gesammte Körperernäh-
rung. Local treten sie in gewissen, die Erregungsphasen begleitenden
Hautausschlägen (namentlich Prurigo) zu Tage, vereinzelt auch in der
Beeinflussung des Haarwachsthums und selbst der Haarfärbung: man hat
Grauwerden der Kopfhaare in der Melancholie mit Rückbildung zum brü-
netten Habitus und dichterem Haarwuchs in der Manie (u. zwar in re-
gelmässig wechselnder Aufeinanderfolge) beobachtet. Manchmal cessiren
gewohnte Effluvien, z. B. Eiterungen mit dem Beginn der Melancholie,
und fliessen wieder mit Eintritt der psychischen Erregungsphase.
Wichtiger noch sind die Aenderungen des Aussehens und des Kör-
pergewichts. Die Kranken erscheinen im manischen Stadium , jünger",
die Wangen zeigen auffallende Frische, Gang und Haltung gewinnen eine
mit den Altersjahren contrastirende Elasticität. Der ganze Mensch ist
im vegetativen Turgor oft um Decennien hinaufgerückt. Ebenso gehen
auch alle Functionen prompt von Statten, namentlich ist der Schlaf oft
von grösster Regelraässigkeit; Appetit und Verdauung sind vortrefflich.
Dem entsprechend steigt auch die Cnrve des Körpergewichts: innerhalb
einer oder mehreren Wochen kann der Kranke um 10 oder 20 und noch
mehr Pfunde zunehmen. — In der melancholisch en Phase findet das
gegenthcilige Verhältniss statt: es vollzieht sich eine Gewichtsabnahme
und zwar oft nicht weniger rapide, als die Zunahme in der manischen
Periode; steile Curvenabfälle, oft um 10 Pfund in einer Woche, sind
wiederum nicht selten. Der Appetit ist jetzt vermindert, oder wird, wenn
vorhanden, aus Gründen der psychischen Depression nicht befriedigt. Der
Schlaf ist unregelmässig, unbefriedigend; oft ist es ein dämmerndes Wach-
bleiben, in welchem der Kranke sich peinvoll zwischen Sich-selbst- Ver-
gessen und aufgezwungener halber Lucidität hindurchkämpft. Viele Kranke,
welche in der Manie polyphag waren , leiden jetzt an Polydipsie. Das
kurz zuvor noch blühende Gesicht wird blass oder missfarbig, welk und
alt. — Mit der neuen Paroxysmusreihe wiederholt sich das beschriebene
trophische Spiel, uud so fort durch Jahre, bis endlich das protrahirte In*
tervall mit dem stationären oder sachte zunehmenden Schwächezustaud
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Körperliche Begleitsymptome. Körpergewicht.
321
eintritt, woran sich das vegetative Leben gewöhnlich mit Zunahme der
Obesitas, oft bis zu wahren Fettmonstren betheiligt.
Man hat aus diesem Befunde, welcher namentlich die in längeren
Phasen (und in der milderen Form) sich abspielenden d. h. die eigent-
lich klassischen Fälle der circulären Manie auszeichnet, auf eine „Tro-
phoneurose" geschlossen, welche den psychischen Hirnzustand begleite,
und höchst wahrscheinlich einen nicht - vasomotorischen Ursprung habe,
insofern die Circulationsverhttltnisse in den beiden Phasen nicht dieselben
Gegensätze zeigen. Diese Annahme ist sehr wahrscheinlich,
wenn auch die exacte Begründung erst noch zu liefern ist, und zwar
dorch sorgfältige Stoffwechseluntersucbungen d. h. die vergleichende Be-
rechnung aus Ein- und Ausfuhr. Aber auch so bleibt es unbestreitbar,
dass die Zunahme des Körpergewichts nicht nur in einfachem Verhältniss
mit der eingenommenen Nahrungsmenge und der täglichen Ausgabe (psy-
chische und motorische Aufregungen!) steht; zweifellos müssen noch neu-
rotische Verhältnisse ausserdem mitwirken. Aber wie weit? ist erst zu
prüfen. Das eben erwähnte Verhalten ist übrigens kein ausnahmsloses.
So gibt es nicht wenige circuläre Fälle, welche gegentheils in der Manie
eine Gewichtsabnahme zeigen, und umgekehrt in der Abspannungsperiode
eine Gewichtszunahme. Vielleicht mag hier die Ursache in der ungenü-
genden Nahrung wälirend der manischen Erregtheit und Vielgeschäftigkeit
gelegen sein, und andererseits das erspriessliche Gedeihen in der mit der
nötigen Ruhe genossenen Kost in der Phlcgmazeit. Aber die Gewichts-
curven, auch diejenigen, welche in das obige Schema passen, sind nicht
so einfach. Genauer analysirt, findet sich in der Exaltation der Curven-
gipfel nicht schlechthin nur stetig ansteigend, sondern aufs Mannigfachste
zerklüftet, in Hebungen und Senkungen eingetheilt. Ferner correspon-
dirt durchaus nicht immer das Maximum der Erregung mit den höchsten,
und die Acme der Depressionen mit den tiefsten Punkten des (Gewichts-)
Cnrvenverlauf8. Vieles hängt ohne Zweifel an dem individuellen Tem-
perament: emotive, in beständigen Affectstürmen explodirende Naturen
werden sich schwieriger gegenüber der trophisch fördernden Neurose im
manischen Paroxysmus verhalten, als temperamentsruhige und dabei in ir-
gend einem Grössenwahn heiter schwelgende, keinen Widerspruch em-
pfindende Oykliker. Manchmal bricht die Ernährungscurve auch schon
jähe ab, während die Exaltation noch eine Zeit lang fortdauert: es sind
die vorausgeworfenen „Reflexe und Schatten" analog den melancholischen
Anwandlungen, welche oft auch schon auf Stunden hinaus sich in die
manische Heiterkeit einschieben (s. o.).
Die knrzen schweren Manieformen verlaufen sämratlich unter
Abnahme des Körpergewichts, hierin Ubereinstimmend mit den analogen
periodischen Paroxysmen. — In den circulären Stuporformen mit kurzen
Anfällen und kurzen Intervallen richtet sich die Körpergewichtscurve an-
scheinend gar nicht nach dem Cyklus der psychischen Symptome; nur
wenn der Stupor, und zwar in seiner attonischen (vasoparetischen) Modi-
fication, länger dauert, sinkt auch die Curve und verharrt pari passu auf
ihrem Depressionsniveau (verminderte Nahrungsaufnahme?)
Schale, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 21
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322 Die menstrualen (periodischen) Psychosen.
Anhang-. Die menstrualen Psychosen. Es gibt eine Reihe
periodischer Psychosen, welche sich an die Menstruationstermine an-
schliessen, bald an den Eintritt der Menses selbst, bald an die prä-
menstrnale resp. postmenstrnale Zeit. Die auf das Prämenstrium
entfallenden sind wahrscheinlich die zahlreichsten. Nach den kli-
nischen Formen vertheilt, sind es in der ersten Reihe psychische
Aufregungszustände, und zwar Manieen mit dem Charakter des Furors
(8. Sexual-Manieen) ; nach dieser Form kommen einfache Exaltations-
zustände, mehr mit dem Charakter der Mania mitis, und ausgezeichnet
besonders durch grosse Reizbarkeit und schnippisches disputirsüch-
tiges Wesen, mit Neigung zu Gewalttätigkeit. In zweiter Linie
sind acute dämonomane Wahnsinnszustände zu nennen, mit schreck-
haften Hallucinationen, depressiver Stimmung, Raptus zur Selbstbe-
schädigung, zwischenläufigen stupurösen Phasen, zeitweiligen Däm-
merzuständen. Die Übrigen nun noch zu nennenden psychopathiscben
Zustandsformen stehen in der Zahl erheblich hinter den vorgenannten
zurück; es sind: 1. acuter exaltirter Wahnsinn; 2. acuter Verfolgungs-
wahn mit Hallucinationen und Zwangsgedanken; 3. acute Anfälle
von Melancholie mit heftigen neuralgischen Symptomen, Lebensüber-
druss, manchmal mit homiciden Impulsen; 4. kataleptische Anfälle
mit Stupor; 5. hysterische und epileptische Zufälle; 6. Dipsomania
men8trualis periodica (Krafft-Ebing), und 7. Rleptomania men-
strualis periodica (Ellen Powers).
Wie der Beginn (im Verhältniss zur Menstruationsphasej ein
wechselnder, so ist es auch die Dauer dieser Paroxysmen. Manch-
mal beginnen sie brtlsk einige Tage vor den Menses, resp. mit oder
nach denselben; andere Male werden sie erst durch nervöse Sym-
ptome, Schlaflosigkeit, Kopfcongestionen eingeleitet Ebenso ver-
schieden ist der Ausgang. Bald hören sie scharf abgeschnitten, nach
einigen Tagen, auf; bald ziehen sie sich an S— 14 Tage hinaus.
Dabei kann in demselben Krankheitsverlauf eine anfänglich post-
menstruale Psychose zu einer menstrualen oder prämenstrualen sich
umgestalten; es kann ferner der Paroxysmus mit jeder Periode sich
einstellen, oder aber eine und die andere Uberspringen, oder end-
lich nur alle paar Monate einsetzen. — Das Intervall ist theils psy-
chisch frei, theils durch ausgesprochene nervöse Symptome oder
leicht melancholische Verstimmung gedrückt. In letzterem Falle
kann ein circuläres Krankheitsbild entstehen.
Darunter ist ganz besonders interessant jene Modification , wo das
Intervall in zwei scharf geschnittene Hälften getheilt ist, von denen die
eine tief melancholisch, die andere furorartig- manisch sich gestaltet; die
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Klinische Symptomatologie. — Einfluss der Menstruation im Allgemeinen. 323
genannten beiden Phasen können dabei mit einer bis auf die resp. Ein-
trittstunde (Tag, Nacht) regelmässigen Periodicität einsetzen.
Der Weiterverlauf und das Endscbicksal dieser menstrualen
Psychosen zeigt in gleicher Weise die vielfachsten Unterschiede.
Wohl in der grössten Zahl der Fälle ist der Ausgang ein günstiger,
wodurch sich diese Gruppe wesentlich von den gewöhnlichen Typosen
unterscheidet. Die Anfälle kommen immer milder und dauern kürzer;
endlich bleiben sie ganz weg; und zwar verlaufen die einfach pe-
riodischen wie die circulären mit melancholischem Intervall meist
in derselben Weise günstig. Die circulären mit melancholisch -ma-
nischem Intervall schlagen nicht selten erst einen Umweg ein durch
einen quotidianen oder alternirenden , endlich ganz unregelmässigen
Typus; dann kommt eine anhaltende Ruhe-Phase, anfänglich noch
mit Apathie, welche nach und nach in die Reconvalescenz Ubergeht.
— Es kann aber auch eine anfänglich periodische Menstrualtypose
in ein chronisches protrahirtes Irresein Ubergehen, oder endlich in
ein definitives periodisches resp. circuläres der schweren Form.
Die körperlichen Begleitsymptome sind unbeständig, wie es scheint
auch bei den prämenstrualen und postmenstrualen Psychosen verschieden.
Dort Uberwiegen die activen Fluxionszustände zum Kopfe, gewöhnlich
mit gesteigerter Pulsfrequenz und nicht selten mit leichten Temperatur-
steigerungen; Neuralgieen, Spinalirritation sind sehr häufig; anderemale
wird auch Hyperidrosis beobachtet. Hier dagegen stehen anämische
Zustände mit kleinem, oft auch frequentem Pulse, ungleiche vasomotori-
sche Blutvertheilungen (Rash's) im Vordergrunde, wozu häufig wiederum
neuralgische Beschwerden treten.
Bemerkenswerth ist das Verhalten der Erinnerung, welche in der
Regel nur eine ungenaue, summarische ist. Doch findet sich hin und
wieder auch eino klare Rückschau. In Fällen auf ausgesprochener neur-
asthenischer Grundlage beobachtet man auch die kritische Lösung des
Anfalls durch einen tiefen Schlaf mit nachfolgender totaler Amnesie (s.
transitor. neurasth. Psychosen). —
Nachsatz. Zahlreicher als diese „periodischen" Menstrual-
Psychosen sind die periodisch im Gefolge der Menses auftreten-
den Verschlimmerungen bereits bestehender Seelenstö-
rungen.
In der Regel stellen sich sowohl bei Melancholieen als bei Manieen
transitorische Exacerbationen des Krankheitszustandes ein, und zwar
wieder prä- resp. postmenstrual, oder während des Monatsfiusses selbst.
Manchmal sind es besonders die „letzten Tropfen", welche einen beson-
ders peinigenden, von den Kranken selbst gefühlten und reactiv weiter
verwertheten Reiz ausüben. Namentlich steht auch der Verfolgungswahn
unter diesem verschlimmernden Einfluss der Menstruation, besonders bei
complicirenden Uterinleiden und mitbegleitender Hyperästhesie des n. pu-
21*
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Ü24
Die menstrualen (periodischen) Psychosen.
dendus. Unter gesteigerten perversen Empfindungen in den Genitalien
nehmen hier die Wahnvorstellungen den Inhalt sexualer Verfolgungen an,
und veranlassen reactive Zornmanieen mit stürmischen Raptus von Zer-
störungswut oder Gewalttätigkeit. Auch die hysterischen Psychosen
zeigen regelmässig menstruale Verschlimmerungen, nicht selten unter
Kopftiuxionen mit Pulsfrequenz und psychischer Gesammterregung 7 oder
als Dämmerzustände mit automatischen Bewegungen, imperativen Raptus
zur Selbstbeschädigung. Remittirende Manieen und acute Wahnsinnsformen
wählen sich mit Vorliebe die Epochen zum Wiederausbruch aus. — Die
gewöhnlichen periodischen und circulären Seelenstörungen empfinden gleich-
falls sehr häufig den menstrualen Einfluss. So fällt (bei kurzen melan-
cholisch-manischen Anfällem nicht selten der Beginn der Aufregungsphase
in die zweite Hälfte des Intervalls, so zwar, dass die Höhe des mani-
schen Paroxysmus mit dem Beginn der Menstruation zusammentrifft. Doch
ist dies nicht durchgängig, ja selbst in demselben Krankheitsfälle nicht
bleibende Regel; es kann vielmehr der geschilderte anfängliche Typns
sich in der Folge verschieben und die Depressionsphase mit der Men-
struation coincidiren. Interessant ist dabei die mir von G. Burckhardt
mitgetheilte Beobachtung, dass bei Goincidenz der Menstruationszeit mit
der manischen Phase die Menses hellroth fliessen, beim Zusammentreffen
mit der Depressionszeit aber entschieden viel dunkler. — Des Verhält-
nisses der Menstruation zu den Psychosen im Allgemeinen sei hier
nur andeutend gedacht. Die genauere Erwägung dieses Einflusses ge-
hört in die Aetiologie. Klinisch lässt sich nur sagen, dass die verschie-
densten Variationen hierin vorkommen. Oft bricht die Psychose mit dem
Eintritt der Menses aus (so manchmal mit den ersten) ; anderemale schliesst
sie sich an eine Suppressio an, wobei nicht selten noch Zwischenglieder
(Gemüthsbewegungen) sich einschieben. Nicht selten kommt die Recon-
valescenz mit dem Wiedereintritt cessirter Menses mit Einem Schlage;
anderemale etappenweise fortschreitend mit jeder neuen Menstruation; oft
bringt eine Epoche einen wesentlich besseren und die nächstfolgende wie-
der einen schlimmeren Zustand. Es können aber gegentheils die Menses
nach langer Gessation wieder eintreten, ohne die geringste psychische
Rückwirkung; so wie sie auch nicht selten ohne jeden Einfluss während
einer Psychose ungestört andauern. Nosologisch liegen die Verhält-
nisse zweifellos sehr complicirt und individuell verschieden. Ein Theil
der Fälle dürfte unter die Reflexpsychosen gehören, ausgehend vom Ova-
rialreiz; ein zweiter hängt aber entschieden mit den vasomotorischen
Fluxionen im Gefolge des Menstruationsvorganges zusammen; ein dritter
(so namentlich viele prämenstruale) dürfte sich nach dem Typus der
„Wellenbewegung" im weiblichen Körper (II e gar, Reinl) einrichten; ein
vierter endlich, wohin ein grosser Theil der postmenstrualen Psychosen
(und zwar der nicht-fluxionären) gehört, ist entschieden auf die direct
anämisirende Wirkung des Blutverlustes zurückzuführen.
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Das Delirium acutum. 325
Das Delirium acutum.
Literatur. Brierre de Boismont, M£m. de l'acad. de me"d. 11; l'union
mW. 3. — Calmeil, Maladies inflammat. Paris 1S59. — Engelken, Allg. Ztschr.
f. Psych. 8. — Jensen, Ibid. 11. — Schüle, Ibid. 24 u. 25. — Delasiauve,
Ann. med. psych. T. 4. — Laurent, Ibid. T. 9. — Lunier, Ibid. T. 12. — Fo-
ville, Nouv. dict. de rn^d. etdechir. 1669. — Pauli, Dissertat. Bonn 1879. — L.
Meyer, Vircb. Arch. (acute tödtl. Hyst.). — Jehn, Arch. f. Psych. 8 (mikrosk.) —
Derselbe, Allg. Ztschr. f. Psych. 37. — Derselbe, Dtsche. med. Wochenschr.
27. — Mendel, Berl. klin. Woch. 1879 (gegen). — Sioli, Arch. f. Psych. 10 u.
11. — Furstner, Ibid. 11. — Sioli, Berl. klin. Woch. 1860 (mit Discussion). —
Voppel, Irrenfreund 1861 (Tubercul.). — Bin s wanger, Charit^ Ann. VI. —
Grethe, Inaug. Diss. (sub. ausp. Westphal) 1881. — Bernhard, Allg. Ztschr. f.
Psych. 40. — Peli, Arcb.it. 1685 (Literatur). — Delirium acutum meiancholicum:
Majorfi, Arch. ital. 1883. — Delirium acutum in der Paralyse: Foville,
Ann. med. psych. 1882. — Anatomie und Nosologie: Jolly, Arch. f. Psych. 11
(Fettemlohe in den Lungen). — Briand, Arch.deNeur. 1683 u. Monograph. 1863
(sub. ausp. Magnan; Reduction der Blutkörperchen, „Bacillen" im Blut, fettige Mus-
keldegen.).— Deecke, Am. Journ. of Inian. 1881. — Rezzonico, Arch.it. 1884.
— Hertz, Allg. Ztschr. f. Psych. T. 39 (Enge der foram. incalaria und emmissaria).
— Therapie: S Olivetti, Arch. ital. und Iliv. sper. 1880 (Ergotin).
Das Delirium acutum ist z. Z. noch eiu Sammelname für eine
Reihe von klinischen Symptomencomplexen, welche Ubereinstimmen
in der Tiefe und prognostischen Gefährlichkeit der zu Grunde lie-
genden Hirnaffection, in der (meist) plötzlichen Entstehung und dem
acuten Verlauf. Dieselben können theils für sieb, theils im Gefolge
schon bestehender Psychosen auftreten. Die zugehörigen Krankheits-
bilder trennen sich im Speciellen in 2 Haupttypen: 1. in den einer
intensiven Hirnreizung mit congestiver Grundlage; und 2. in den
einer acuten Hirnerschöpfung «auf anämischer Basis. Beide Typen
besitzen als wesentliche klinische Charaktere: tiefe Bewusstseins-
störung in Form stupuröser Zustände, abwechselnd mit träumerischen
und selbst halbluciden; schwere, direct cerebrale (nicht psychisch
vermittelte) Schädigungen der Motilität; vasomotorische und tro-
phische Störungen. Die „Hirnreiz"-Gruppe 1. zerlegt sich wiederum
in zwei Untergruppen: die erste a) repräsentirt das klinische Bild
eines reinen activen Hirnreizes von acutester Entstehung, manisch -
convulsivem Charakter, hoch febrilem und dabei charakteristisch
remittirendem Verlauf; die zweite b) stellt ein aus Hirn-Torpor mit
Reizsymptomen gemischtes Bild dar (mit Ueberwiegen des erstem),
von minder acuter und stürmischer Entstehung, melancholisch -stu-
pidem Charakter, mässig febrilem oder fieberlosem Verlauf. Noso-
logisch reiht sich die Untergruppe a) der activen acuten Meningeal-
(Hirn-) Hyperämie; die Untergruppe bj der activ- passiven Hirncon-
gestion mit Uebergang in Hirndruck ein.
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32G
Das Delirium acutum.
Dieser „Hirnreiz"-Gruppe gegenüber repräsentirt die Gruppe 2.
den klinischen Typus acuter anämischer Hirnerschöpfung: tiefe Be-
wusstseinsstörung aus Inanition mit fragmentar delirantem Charakter
(ohne bestimmten Inhalt), motorischer Adynamie, Oblongata- Lähmung,
afebrilem Verlauf.
1. Die irritativen Formen, die „H irnreiz"-Gruppe.
a) Das Delirium acutum maniacale. Der hierunter begriffene
Symptomen- Complex entsteht acut oder peracut auf Grundlage einer
Constitutionen invaliden (neuropathischen) Gehirn-Constitution, oder
eines durch schwächende körperliche Processe erschöpften Gehini-
lebens ; oder endlich intercurrent auf dem Boden einer bereits be-
stehenden psychischen Cerebral-Affection. Die Signatur des Krank-
heitszustandes ist die einer intensivsten Gehirnreizung. Das Sympto-
menbild zeigt psychisch: tiefe Bewusstseinsstörung resp. aufgehobene«
Bewusstsein mit incohärenter Ideenflucht; heftige motorische Jacta-
tion, untermischt mit (convulsiven) Bewegungen; remittirendes, mehr
oder minder hochgradiges Fieber, mit activen Congestivzuständen zum
Kopfe ; in der Regel rascher letaler Ausgang (acute Hirnerschöpfung),
sehr viel seltener in chronische cerebrale Functionsschwäche (Blöd-
sinn). Der Verlauf ist peracut, innerhalb weniger Tage, höchstens
einer Woche.
Symptomenbild, a) In den idiopathischen Fällen beginnt
die Krankheit entweder plötzlich ohne auffällige Vorboten, oder sie
scbliesst sich an ein kurzes Prodromalstadium an, mit allgemeinem
Uebelbefinden , gesteigerter Reizbarkeit, unmotivirt abwechselnder
Stimmung und vagen nervösen Allgemeinsymptomen, Schlaflosig-
keit, intensivem Kopfschmerz.
In der Regel sind heftige Gehirnstrapatzen vorhergegangen: ent-
weder mclir körperlicher Art, durch Insolation, Potus; oder geistig als
Ueberarbeitung (Examenstudien) mit Nachtwachen, oder als erschütternde
gemüthliche ArTecte, unter Umständen auch als heftige 8chmerzen (Pana-
ritiura) in der Reconvalescenz aus einer andern Psychose.
Nach wenigen Tagen zunehmender Unruhe und Verwirrung,
untermischt mit anfänglich noch luciden Zwischenpausen, eilt die
Krankheitsentwicklung rasch zur vollen Höhe. Das Krankheitsbild,
nach dem ruhelosen Gebahren der Kranken und ihrem pauselosen,
sehr bald incohärenten Sprechen beurtheilt, macht auf den ersten
Anblick den Eindruck der acuten Mania gravis höhern Grades, na-
mentlich auch bezüglich der leisem oder stärkern Betäubtheit, welche
über der ganzen Erscheinung des Kranken liegt. Anfangs werden
die Perceptionen noch aus der Umgebung geholt; es erfolgen auch
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Manische Fora. Klinische Symptomatologie. 327
einige kurze passende Antworten; aber alle Wahrnehmungen spinnen
sich sofort ins Traumhafte hinein und spielen sich delirant weiter
(s. u.). Anfangs tritt auch noch ein rascher, echt manischer Stim-
mungswechsel entgegen: der Kranke scherzt, lacht, droht, greift an;
aber sehr bald schon kommt gar keine ausgeprägte wache Stimmung,
nicht einmal auf Minuten mehr, zu Stande, sondern nur mehr träu-
merische, kaum percipirte und flüchtige Regungen, welche auf
Stunden hinaus oft einer stupiden Indifferenz, neben und unter dem
Bewegungssturm , Raum geben. Körperlicherseits ist der Puls be-
schleunigt, die Temperatur gesteigert, manchmal nur über 38°; in
peracuten Fällen aber auch , und sehr bald schon , Uber 39 °, ja bis
41 °. Der Kranke dämmert bereits in schwankendem Gange und mit
zunehmender Rastlosigkeit umher, ziel- und planlos, wirft Bettstücke
weg, entblösst sich, wischt die Wände ab, stösst jede Annäherung
zurück, schlägt das Essen weg. Er gibt jetzt keine oder höchstens
nur ganz betäubte Antworten. Das verworrene Delirium hat ent-
weder einen drohend gereizten, oder ängstlichen Inhalt. Der Kranke
faselt von Feinden und Vernichtung, von Himmel und Teufel, von
Schuften und Verfolgern; dazwischen auch von Gnade und himm-
lischem Königreich; dann wieder von Sünde und Weltuntergang.
Dabei kann ein Wort, eine Silbe, durch alle möglichen und unmög-
lichen Assonanzen hindurch gehetzt werden, oft in verschiedenen
Sprachen, um zuletzt in sinnlosen alliterirenden und assonirenden
Resten sich zu verlieren:
Julieltna — Guitarra — et moi et toi — Grille — nous sommes
chez vous — etsch — en droit — moi — monsieur — Müllerchen —
Drillerchen — Allmächtiger Vater für die Gigolagaga gaga — ja ja —
brillant — gagerlaga — moi, toi — oui, oni, non, non — griffige,
pfiffige u. 8. w.
Oder der Kranke äussert ein verwirrtes Chaos von Wörtern und
Ausrufen auf Gesichts- und Gehörs- Hallucinationen, von fragmentaren
Sätzen, ohne die Umgebung weiter als höchstens in träumerischen
Minutenblitzen und kaleidoskopischen Illusionen wahrzunehmen.
Immer mehr nimmt jetzt die Unruhe zu; der Kranke ist fast nicht
mehr im Bette zu halten; er vociferirt unaufhörlich trotz des aus-
getrockneten Gaumens; dazwischen mengen sich Zisch- und Schnalz-
laute; endlich werden nur noch unarticulirte Töne oder Geräusche
— nicht gesprochen mehr, sondern vorgestossen. Sucht man ihn
festzuhalten, so entdeckt man eine bedeutende Hauthyperästhesie mit
gesteigerter Reflexerregbarkeit, so zwar, dass unter der Hand sich
die Muskeln des erfassten Armes contrahiren, die Extremität steif
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328
Das Delirium acutum.
wird, der Rumpf in vorübergehende tonische Starrheit geräth. Aber
auch von selbst, ohne vorausgehenden äussern Hautreiz durch An-
fassen, zucken flüchtige Streckkrämpfe durch den Körper und durch
die Extremitäten, wie elektrische Stösse. Die Gesichtszüge werden
hölzern, gespannt, dazwischen auch wieder schlaff, maskenartig;
plötzlich aber in choreatische Grimassirungen verzerrt. Die Bewe-
gungen der Arme erhalten einen stossenden, convulsiven Charakter;
andere Male spielen die Hände wieder an den Bettstücken, zupfen
am Körper herum, greifen unruhig nach den Zähnen, der Zunge u.s.w.,
oder beschreiben träumerisch symbolische Luftzeichnungen und Luft-
schriften. In der Ruhe sind die Arme meist tonisch contrahirt, fest
an den Thorax angepresst, die Hände geschlossen, geballt mit ein-
gekrallten Fingerspitzen. Nach kürzern oder längern Pausen eines
stupiden ruhigen Daliegens bricht plötzlich der Redestrom wieder los
in den verworrenen Alliterationen, Assonanzen und Wortfragmenten,
während die Stimme immer mehr einen näselnden Ton annimmt.
Oft treten jetzt automatische Schüttel- und Stossbewegungen der
Arme auf, oder Hin- und Herwerfen des Rumpfes, Gesichtsverzer-
rungen, Schnauzkrämpfe — Alles in fast pauseloser Aufeinanderfolge,
und so stürmisch, dass der in Schweiss gebadete Kranke sich zu
erschöpfen droht. Die Nahrungsaufnahme erfolgt bei den zugeknif-
fenen Lippen um so schwieriger, als bei Einführung des Löffels so-
fort Trismus entsteht, und beim Eingiessen der Flüssigkeit resp. bei
Berührung der letztern mit der Mundschleimhaut reflectorisches Aus-
spucken folgt ; einmal begonnen, spielen sich die blasenden, jappen-
den, saugenden Mundbewegungen auf Stunden hindurch weiter. Durch
das rücksichtslose Anschlagen der hin- und hergeschleuderten Extre-
mitäten werden diese in der Regel sehr bald über und über mit
Contusionen und Suggillationen bedeckt. Der Urin, meist eiweiss-
haltig, wird zurückgehalten oder ins Bett gelassen. Der Stuhl ist
meist verstopft. Die Zähne werden bald fuliginös ; in der Lidspalte
sammelt sich eitriges Conjunctivalsecret. Die Pupillen sind bald
verengt, hald mittelweit, oft ungleich, stets in der Reaction träger.
Der Patellarreflex bleibt erhalten. Das Fieber verbleibt Uber die
ganze Zeit auf hohen Nummern, 39° — 40°— 41 °, und zeigt die be-
achtungswerthe EigenthUmlichkeit, dass es in ausserordentlich sprin-
genden Temperaturen, oft im Umfluss von einigen Stunden und noch
kürzer, in Differenzen von einigen Graden herab bis zu 3S resp.
37—38° sich bewegt. Nicht minder schwankt die Helligkeit des
Bewusstseins in den überraschendsten Breiten: vom tiefen Sopor bis
zu leidlicher (nie vollständiger) Lucidität, und Dies in denselben
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Manische Form. Symptomatologie. Verlauf.
320
jähen Uebergängeii. Das Gesicht ist bald glühend heiss, bald blass,
die Hände und Vorderarme auf Stunden hinaus oft kirschroth.
So zieht sich unter Exacerbationen und Remissionen der Zustand
mehrere Tage (bis 1 resp. 1 yji Wochen) hin. Ab und zu tritt mehr-
stündiger Schlaf ein, aber mit häufigem Aufschrecken; auch die
Nahrungsaufnahme erfolgt dazwischen befriedigend; der Kranke
kennt auf Momente Personen aus der Umgebung: man glaubt in die
Reconvalescenz eingetreten zu sein. Aber leider ist in der Uber-
wiegenden Mehrzahl der Fälle diese Hoffnung nur eine trügerische.
In der Regel ohne markante Zwischenfälle (wie solche in Form
apoplektiformer Insulte beobachtet sind) geht der vorübergehende
Stupor der ersten Tage in immer anhaltenderen Sopor über. Lang-
samer oder schneller beginnt sich eine zunehmende Hirn- resp. Herz-
Lähmung vorzubereiten. Trotz des calor mordax am Körper werden
Hände und Füsse, auch die Nasenspitze, kühler, Hände und Lippen
leicht eyanotisch. Die borkig belegte Zunge zittert, wird beim Vor-
strecken höchstens noch bis zwischen die Zähne gebracht, oder bleibt
in der Mundhöhle liegen; die Nasenflügel sinken ein. Der Kranke
beginnt zu collabiren; der Blick wird matt und gebrochen; der
Hautturgor nimmt ab. Oft zeigt sich früh schon Decubitus. Der
Puls wird jetzt ungleich, oft aussetzend, ebenso auch die Respi-
ration. Die eingeflössten Flüssigkeiten werden im Munde umherge-
gurgelt, und dann wieder herauslaufen gelassen: der Schling-
apparat fängt an seine Dienste zu versagen. Subsultus tendinum
stellt sich ein. Die Lider senken sich halb über die leise hin- und
herrollenden oder starr fixirten, prallen Bulbi; oft einseitig stärker.
Der Kranke lispelt nur noch Unverständliches vor sich hin, reagirt
für gewöhnlich auf keine Frage mehr. Auch jetzt noch können die
täuschenden Remissionen sich einschieben, in welchen der Kranke
einzelne deutliche Worte spricht, sogar Esswünsche stammelt; aber
es sind nur noch letzte Lichtfunken. Ziemlich häufig macht sich
sub finem eine Anschwellung der Submaxillardrüse bemerklich, bei
deren Palpation der Kranke schmerzlich das Gesicht verzieht Er
collabirt immer mehr; das Sehnenhüpfen nimmt zu. Secessus inscii,
oft in Form von Diarrhoen, treten auf; bei Frauen zeigt sich manch-
mal blutiger Abgang ex vagina. Ueber das Gesicht spielen fortan
leise krampfartige Zuckungen. Die Finger greifen träumerisch an
den Bettstücken oder den Wänden herum ; ab und zu hebt sich auch
automatisch ein Arm oder ein Bein. Die Respiration wird zunehmend
frequenter, bis auf 60. So rückt, nicht selten unter Tracheal-Rasseln
und abundanten Schweissen, der Exitus letalis heran, gewöhnlich
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330
Das Delirium acutum.
unter scharfem Anstieg der Temperatur. Vereinzeltemale sind auch
finale Convulsionen beobachtet worden. — Ausser diesem langsameren
Hirntod kann auch ein rascherer „Herz"-Tod (es ist die Erschöpfung
des „abgehetzten Wildes") die Scene beschliessen.
Geht die Krankheit nicht in den Tod über (was aber nur bei
leichtern Graden zu erhoffen ist, und auch dann noch selten genug),
so folgt unter Ermässigung sämmtlicher Hauptsymptome der Rück-
gang. Das Fieber nimmt langsam ab, die motorischen Actionen
werden wieder zielvoller und psychisch geformter; die verworrene
Ideenflucht gewinnt nach und nach wieder einigen innern Zu-
sammenhang; die luciden Bewusstseinspbasen dehnen sich aus. Die
begonnene Reconvalescenz muss nun noch ein mindestens mehr-
wöchentliches Stadium eines acuten Blödsinns durchlaufen, welches
nach leichtern Attaken sich wohl wieder zurdckzubilden vermag
(ob ganz?); nach vollentwickeltem Delirium acutum aber (nach
meinen Beobachtungen) immer zu chronischer Geistesschwäche führt.
Dazu ist einzurechnen, dass auch nach begonnener Reconvalescenz
ein neuer plötzlicher Anstieg auf die Krankheitshöhe möglich ist,
welcher in diesem Rückfalle tödten kann.
b) Das Delirium acutum, welches nicht selten die allgemeine Para-
lyse, manchmal schon in den Anfangsstadien, zu jähem Abschlnss bringt,
besteht in einer acuten Steigerung der oft noch mässigen Exaltation zu
einer incohärenten Ideenflucht (Gemisch von traumartigem Gefasel: Grössen-
wann, Schuldideen, Himmelswonne, Todesschrecken, halb lucide Percep-
tionen, tiefe Stupidität), triebartiger motorischer Unruhe mit blinder Jac-
tation (Anstossen an alle Hindernisse), zunehmendem Muskeltremor in den
Extremitäten, starkem fibrillärem Zucken der Gesichtsmuskulatur. Dabei
rapider Collaps. Die Augen werden tiefliegend, halbweit; der Blick matt;
in der Lidspalte sammelt sich gelblicher Schleim; Zunge und Lippen
werden trocken, borkig belegt, rissig. Der Kopf ist heiss, der Puls be-
schleunigt, klein; calor mordax bis zu 41°. Rasch treten mussitirende
Delirien mit gemischten Hallucinationen und einer erschöpfenden Unruhe
hinzu. Flüssigkeiten werden hastig genommen, können aber bald nicht
mehr geschluckt werden. Die Stupidität und der allgemeine Zerfall
nehmen zu ; Meteorismus und Retentio urinae stellen sich ein, sehr häufig
auch zerfliessende Schweisse. Der Tod erfolgt unter den Symptomen
einer rasch zunehmenden Hirnlähmung, oder auch von den Lungen aas
(lobuläre Pneumonieen).
c) Das Delirium acutum melancholicum (stupurosum). (Theil-
weise „delusional Stupor", Newington).
Die Erkrankung entsteht hier nicht so peracut, wie die vorige
Form, und ist stets durch ein besser charakterisirtes Vorläuferstadium
(depressiven Inhalts oder einer allgemeinen Rathlosigkeit mit Angst)
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Delir. ac. maniac. in d. Paralyse. — Melanch.-stupuröse Form. Krankheitsbild. 331
eingeleitet. Der psychische Allgemeincharakter ist der einer mit
Hirnreizsymptomen gemischten Stupidität, jedoch so, dass letztere
vorwiegt Ebenso vereinigen sich in den motorischen Symptomen
Ataxieen und partielle Lähmungen mit zeitweiligen tonischen Krampf-
zuständen. Im Speciellen steht dem acut manischen Bilde der
vorigen Form hier ein ebenso ausgesprochenes melancholisches
gegenüber: depressive Stimmung neben und unter der sensoriellen
Betäubtheit, stupide Angstzufälle mit reactiver Unruhe, unter Um-
ständen ein fragmentarisch hallucinatorisches Traumleben. Der Con-
gestivzustand zum Kopfe, dort ein fluxionärer im höchsten Grade
activer, trägt hier die Zeichen der Passivität, der Hirnstase. Die
Temperatur, dort sehr erhöht, ist hier normal oder nur wenig Uber*
normal. Dagegen treten beide Formen wiederum in den springen-
den Temperaturen, ebenso auch psychisch in dem wechselvollen,
zwischen luciden und traumartigen Phasen schwankenden Verlaufe
zusammen. Das Krankheitsbild, dort der Typus höchster psychisch-
motorischer Aufregung, ist hier vorwiegend das einer erregten
Stupidität, einer unter gelegentlichen Reizsymptomen sich vollziehen-
den Lähmung (Tod durch innere „Hirnstrangulirung", Hirndruck).
Die Prognose ist besser als bei der vorigen Form, aber immer noch
ernst genug; der Verlauf protrahirter (eine bis mehrere Wochen).
Das melancholische Delirium acutum ist die acute cerebrale Con-
sumptions- Krankheit der reifern und höhern Jahre und auf mehr con-
stitutioneller Grundlage (Climacterium, Puerperium, Lactation); die mania-
cale Form dagegen die der j Ungern Lebensperioden und auf Grundlage
von directen heftigen Hirnreizen (geistige Ueberanstrengungen, Insolation,
Potus, 8. oben).
Die Einleitung der Krankheit ist in der Regel eine längere,
ausnahmsweise aber auch kürzere, selbst nur mehrtägige. Dieselbe
stellt das Bild einer tiefen cerebralen Asthenie dar: ängstliche Rath-
loBigkeit mit Kopfdruck und Schlaflosigkeit, gesteigerte Empfindlich-
keit fUr äussere Eindrücke. Nach anfänglichen vagen, hypochondri-
schen Klagen, wobei aber sofort die geistige Benommenheit befremdet,
tritt bald eine ängstliche Unruhe ein, namentlich Nachts, oft ganz
unerwartet, triebartig. Der Kranke hat nirgends Ruhe, klammert
sich krampfhaft Uberall an, setzt jedem Eingriff heftige Negation
entgegen. Alles erschreckt ihn, die Umgebung, jedes Geräusch. So
lange er noch mehr bei sich ist, bringt er zerstreut allerlei klein-
liche Anklagen gegen sich oder Selbstvorwürfe vor; oder er be-
schwert sich, dass man ihn vergiften, bestehlen wolle. Dazwischen
treten wieder die lucidern Stunden mit leidlicher Besinnung, in wel-
chen der Kranke auch Trost entgegen nimmt, aber dabei auffallend
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332
Das Delirium acutum.
confus und apathisch bleibt Immer wieder bricht aber die Angst
los, nnd zwar mit dem Charakter zunehmender Betäubtheit Nah-
rungsverweigerung stellt sich ein, aus Giftfurcht Bald nehmen die
Gesichtszüge einen schlaffen, hölzernen Ausdruck an, vorwiegend
auch einen krampfartig verzerrten (forcirtes Aufsperren des Mundes,
grasses Anklotzen mit den Augen, zugleich mit der Neigung zu to-
nischer Beharrung, oft auf eine Reihe von Minuten). In gleicher
Weise gestalten sich die Abwehr-Reactionen gegen innere Traum-
vorgänge und ängstliche Hallucinationen zu allerlei Körperverschrän-
kungen, Drohgeberden, Grimassirungen. Dem Versuch eines passiven
Ausgleichs stellt sich Seitens des Kranken ein reÜectorischer Wider-
stand entgegen. Der Uebergang in den 8 tu porösen Zustand erfolgt
oft allmählich, oft aber auch rasch aus einem Angstparoxysmus
heraus. Jetzt verharrt der Kranke in stumpfem Daliegen mit starren
offenen Augen, theils, wie es scheint, in regungslosem Schlafzustand
(ohne innere und äussere Perception), theils, und wohl noch öfter,
in der mehr oder weniger tiefen Dämmerungsphase eines angstvoll
oder verworren Träumenden. Diese wird oft genug durch plötzliche
ziellose Entäusserungen (Herausspringen aus dem Bette, stupide An-
griffe auf die Umgebung) unterbrochen. Alle diese Acte tragen den
Eindruck einer dumpfen Angst mit Abwehr, aus hallucinatorischen
Eingebungen. Dazwischen werden einzelne Worte (Stindenschuld,
Gift, Verfolgung u. s. w.) oder abrupte Sätze desselben depressiv-
ängstlichen Inhalts hingelispelt. Zu einer andern Stunde, und un-
vermittelt, erhebt sich aus der Traumphase das Bewusstsein wieder
zu einer Halbklarheit, in welcher der Kranke umherschaut und
deutlich einzelne Perceptionen (meist illusorisch umdeutete, jedoch
auch richtige) zu machen vermag. Andere Male wiederholen sich
panphobische Anfälle mit triebartiger Unruhe und nachfolgender
Rückkehr in den Stupor. Die motorischen Acte tragen das Gepräge
der Adynamie; sie sind träge, oft zitterig, ataktisch, insufficient; in
der Ruhe sind die Muskeln bald schlaff, bald gespannt anzufühlen.
Oft sind die Arme matt, herabfallend, und zu gleicher Zeit die
Beine steif. Oder es ist eine Gesichtshälfte in Contractur, die andere
schlaff, uud wiederum zeitweilig fibrillär zuckend. Die Sensibilität
der Haut ist herabgesetzt oder fehlt ganz; die Hyperästhesie -und
die gesteigerte Reflexerregbarkeit (wie im Delirium acutum mania-
cale) wird hier vermisst. Die Gesichtsfarbe ist bald roth, mit einem
Stich in's Bläuliche und injicirter Conjunctiva, bald ist das Ausseben
dagegen blass. Die Anfangs normale oder mässig febrile Tempe-
ratur sinkt manchmal während der Stuporphase auf subnormale
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Melancholisch- Btupuröse Form. Verlauf. Ausgänge.
333
Kammern, behält aber die charakteristischen Schwankungen bei
(37,5—37,2—36,-37,6-37,3 bei anhaltender Bettlage und motori-
scher Ruhe). Anderemale verharrt dieselbe auf den tiefern Nummern,
bis complicirende körperliche Vorgänge (Furunkeln, Decubitus, Pneu-
monieen) einen neuen Anstieg bedingen. Der Puls ist zeitweise
schwach und klein, nicht selten ungleich ; anderemale dagegen auch
voll und hart Die Frequenz ist eine mässige (höchstens etwas Uber
100, manchmal gegentheils auch selten), und lässt den Parallelgang
mit der Temperatursteigerung vermissen. Das letztere Verhältniss
trifft auch für die Respiration zu, welche selbst bei den febrilen
Anfangsstadien selten über 30 p. M. steigt. Oft intercurriren massen-
hafte Schweisse, aber meist nur in localer Ausdehnung. Die Blut-
fttlle der Haut ist überhaupt eine ungleiche, oder gestaltet sich im
Verlauf zur ungleichen Vertheilung, so dass oft das Gesicht cyano-
tisch livid und warm, die Füsse und Hände dagegen kühl sind.
Nie fehlen gastrische Symptome. Die Zunge ist stets dick gelblich
belegt, mit Neigung zum Austrocknen; so auch die Lippen. Dabei
starker Foetor ex ore. Constant ist auch eine hartnäckige Obsti-
pation. Der Leib ist brettartig gespannt (durch Contraction der
Recti), nicht selten muldenförmig eingezogen. Stets tritt schon in
den ersten Krankheitstagen eine obstinate Nahrungsverweigerung
ein, deren Ursache Anfangs vielleicht noch in depressiven Halluci-
nationen, in der Folge aber wesentlich in motorischen Innervations-
störungen des Schlingapparats (Krampf-, später Lähmungszustände)
begründet ist.
So verharrt der Zustand in charakteristischem Wechsel zwischen
Besserung und Verschlimmerung, zwischen tiefem Sopor und halb-
lucidem Stupor, durch Tage und selbst durch einige Wochen. Neigt
sich die Krankheit zur Reconvalescenz, so ist die Besserung immer
durch eine deutliche Hebung der Ernährung, kräftigern, regelmässi-
gem Puls, normale Temperaturnummern, spontane Stühle angekündigt.
Die Bewegungen werden kräftiger, ausgiebiger ; es tritt eine natür-
liche Mimik mit geistigem Formgepräge ein; die luciden Bewusst-
aeinsphasen gewinnen an Klarheit. Im Verlaufe von Wochen wird
die Genesung erreicht, in der Regel durch ein melancholisches
Schlussstadium hindurch, in welchem die Ideen der Sündhaftigkeit,
des Bestohlen-seins nochmals hervortreten, aber nur mehr vereinzelt,
und immer mehr durch die realen Wahrnehmungen corrigirt. An
den Uberstandenen Krankheitszustand bleibt nur eine summarische,
unklare Erinnerung.
Geht die Krankheit, wie leider noch häufiger, nicht in Genesung
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334
Das Delirium acutum.
Uber, so sind zwei Ausgänge möglich: 1. in chronische geistige
Schwäche mit melancholischer Färbung; oder aber 2. in den Tod.
Der letztere tritt ein a) unter den Zeichen des zunehmenden Hirn-
drucks (Oblongata- Lähmung): der Puls wird ungleich, aussetzend,
frequenter, die Respiration unregelmässig, oft ausgesprochen cepha-
lisch, die Schlingfunction immer defecter, und endlich durch Gaumen*
parese unmöglich; die bis dahin oft ungleichen Pupillen erweitern
sich; der Sopor nimmt zu, bis derselbe kampflos in den Tod über-
geht. Oder aber b) es erfolgt das letale Ende durch intercurrente
ProcesBe, auf Grundlage tieferer trophischer Störungen (Abscesse,
Decubitus, colliquative Diarrhoen, Pneumonieen u. s. w.).
2. Die Inanitionsformen. Das Delirium acutum
anergeticum s. paralyticum.
Das hierher gehörige Krankheitsbild tritt nicht acut wie das mani-
sche, und nicht subacut wie das melancholische, auf. Stets gehen viel-
mehr längere Prodromi voraus, welche psychisch eine entwickelte
Dämonomanie oder hypochondrische Depression zum Inhalt, körperlich
einen anämischen Zustand mit Ernährungsschwäche und nervöser Er-
schöpfung zur Grundlage haben. Es sind invalide Melancholieen ohne
rüstigen Affect, oft sogar mit ausgesprochener Apathie, und physische
Typen einer nervösen Consumptiou, eines nahezu banquerotten Ernäh-
rungshaushalts.
Manchmal wird der Beginn der Krankheit durch eine stupide
Aufregung gebildet, mit planlos unbesinnlichem Gebahren (Entwei-
chen, unmotivirtes Zerstören), worauf erst das depressive, melancho-
lische Stadium nachfolgt, hie und da mit Hallucinationen , welche
bald gebieterisch auftreten (als „Stimmen Gottes"), bald aber nur
als matte und wirkungslose Licht- und Schattenbilder nebenhergehen.
Dabei ist das Bewusstsein für den nächstliegenden Kreis von Wahr-
nehmungen oft noch längere Zeit leidlich frei. Die Stimmung ist
unberechenbar wechselnd, wenn auch vorzugsweise gedrückt, oft
tief melancholisch , so dass die Kranke schmerzlich weint (z. B. in
der Application eines Klystiers den Raub ihrer Unschuld bejammert).
In der Folge wird das Bewusstsein immer dämmerhafter und schwankt,
oft im Wechsel von Viertelstunden, zwischen wachern und traum-
artigen Phasen, welch letztere aber hier einer intercurrirenden Syncope
näher stehen als dem Stupor. Während der Kranke eben noch per-
cipirte und auf Fragen oder eine Aufforderung erwiederte, wird
plötzlich der Blick wie halb gebrochen, die Miene starr und regungs-
los, der halb offene Mund bleibt geöffnet — und erst nach einigen
Minuten erwacht die Besinnlichkeit wieder (oft unter einem Seufzer),
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„Inanitions"form. Krankheitsbild. Verlauf. Ausgange.
335
so dass der Kranke mit der Umgebung jetzt wieder zu coinmuni-
ciren vermag. Ebenso wechseln auch die sprachlichen Aeusserungen
zwischen leidlich richtigen Antworten, und andererseits einem ver-
worrenen lispelnden Gefasel ; oder — in den Stuporpausen — einer
vorübergehenden Sprachlosigkeit. Die Körperernäbrung ist reducirt,
der Puls klein, mässig frequent; die Extremitäten kühl. Bald stellt
sich Nahrungsverweigerung ein und nach motorischer Seite eine
zunehmende Schwäche und Hilflosigkeit, so dass die Kranken ausser-
halb des Bettes zusammenbrechen, beim Aufsitzen sofort zusammen-
kauern, den passiv erhobenen Kopf auf die Brust sinken lassen.
Nur in den ersten Tagen der Krankheit erscheint die mangelnde
Nahrungsaufnahme als eine durch melancholische Hemmung oder
hallucinatorischen Befehl bedingte. Im Fortschritte des Leidens
rücken immer mehr die Zeichen einer wirklichen motorischen Läh-
mung im Schlingapparat ein: die Anfangs psychisch motivirte Ab-
stinenz wird zur organisch-paralytischen. In gleichem Schritte wird
die erst noch betäubte Abwehr gegen die (künstliche) Beibringung
von Nahrung immer mehr zur willenlosen Passivität; die Kranken
halten automatisch den Mund geöffnet, lassen ohne Widerstand jede
Operation Uber sich ergehen; dabei Retentio urinae, Secessus inscii.
Das Bewusstsein ist jetzt aufs Tiefste gestört; der Kranke percipirt
nur noch träumerisch, oder gar nicht; die Bewegungen werden ziel-
los flatternd, oder erfolgen reflectorisch, unbewusst. Die zeitweiligen
sprachlichen Aeusserungen sind selbstgemachte assonirende Silben
oder sinnlose Wortcombinationen.
Sprach probe: gagaga — bebeleb ; oder sinnlose Wortcombinationen :
grüner Rock — rothe Fäden — blaue Blätter — graue Lilien — der
Rosenkranz noch einmal — samrat den Ochsen — mit der Mistgabel —
blaue Ohrenlappen — rothe Ohrenringe — Kasten für einen Halsknopf
— mit meinem Ochsenriemen — da hab ich im Nachtgebet — so fang
ich Ratten u. s. w.
Oft dauern diese Monologe Tag und Nacht fort. — Dazwischen
erhalten sich die charakteristischen Schwankungen: in einer Stunde
apathisch und perceptionslos , kann d^er Kranke zu einer andern
leidlich lucide sein, und einige passende Antworten zu Stande bringen.
Manche geben jetzt an, dass ihnen die Worte und die Bewegungen
„gemacht" würden, ohne dass sie wüssten, warum? Letztere be-
stehen in oft Tag und Nacht hindurch fortgesetzten Handtierungen
(Herumzerren des Bettzeuges, „fortwollendes" Herausdrängen), wobei
weder der mangelnde Effect, noch eine etwaige Beschädigung be-
achtet wird. Eine wirkliche Stimmung fehlt; selbst die gelegent-
lichen Offenbarungen des Kranken, dass er keinen Kopf, keinen
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33G
Das Delirium acutum.
Magen habe, todt sei, innerlich austrockne — gehen ohne sichtliche
Reaction vorüber. Die Temperatur ist jetzt meist subnormal, der
Puls klein, die Haut schlaff, bald spröde, bald klebrig schwitzend.
Unter zunehmender Abmagerung, hochgradiger Anämie, Neigung zu
raschem Decubitus, Katarrhen der Bronchien und der Blase, neben
dick belegter trockener Zunge, bässlichem Foetor (manchmal auch
Ptyalismus) zerfallen die Kranken innerhalb 1 — 2 Wochen; sie
rutschen im Bett zusammen, liegen apathisch mit tief eingesunkenen
Augen, geöffnetem Munde da, wiewohl nicht ohne eine zeitweilige
dumpfe Perception der Umgebung. In regellosem Verlaufe und
trügerischen Remissionen gehen sie in der Regel im Verlauf von
mehreren Wochen dem Tod durch Inanition, oder durch intercur-
rente Processc (lobuläre Pneumonieen, Phlegmonen, Diarrhoen u. s. w.)
entgegen.
Oefter aber gelingt gerade bei dieser (Inanitions-) Deliriumsform
auch die allmähliche Erholung. Der Kranke, Uber die kritische Acme
seines Erschöpfungszustandes hin weggebracht, beginnt wieder von
selbst zu essen; der Puls wird kräftiger; die Temperatur steigt
wieder mehr zur Norm auf. Es bleibt nun noch längere Zeit ein
geistiger Schwächezustand mit dem verworrenen Vociferiren (manch-
mal Echolalie, tagelanges Nachahmen von Thierlauten), schlaffer,
hängender Gesichtsmaske, planlos vagen Gesticulationen. Das
Schlucken, und nicht minder die feinern combinirten Bewegungen
mit den Händen müssen oft förmlich wieder eingelernt werden,
ähnlicherweise, wenn auch mit zeitlich rascherem Erfolge als nach
dem primären Stupor. Doch verfliessen bis zu voller Genesung
immer mindestens einige Wochen, unter starker Steigung der Körper-
gewichts-Curve.
Pathologische Anatomie. Der Hirnreizgruppe I des Deli-
rium acutum entspricht ein hoch- resp. höchstgradiger Blutreichthum des
Gehirns und der weichen Häute incl. des Rückenmarks. Derselbe zeigt
sich als mehr minder intensive Hyperämie der Meningen, der Corticalis,
der MarkBubstanz, der Ganglien, der venösen Blutleiter, der knöchernen
Schädeldecken. Mit diesem Befund Hand in Hand gehen seröse Durch-
feuchtungen der verschiedensten Grade, welche sich auf die Häute und
das Gehirn vertheilen. Auf Durchschnitten zeigt sich die Hyperämie
bald in zonenartiger bläulich violetter Färbung der Corticalis, bald mehr
in Form insel förmiger Plaques, welche durch Rindengrau unterbrochen
sind. Die Marksubstanz hat gleichfalls eine violette Beimischung und
lässt bei Transversalschnitteu siebförmig eine Menge kleinster dunkler
Bluttröpfchen hervortreten ; die Meningen sind bald bis aufs Feinste arte-
riell ramificirt (oft mit weissen Randsäumen der korkzieherförmig gewun-
denen Gefässe), bald mehr in ihrem veuösen Theile hyperämisch, so dass
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Pathologisch-anatomischer Befund.
337
diese in prall gefüllten geschlängelten Wülsten sich Uber die Oberfläche
ausbreiten. Auch die Ventrikel zeigen in der Regel hochgradige Injec-
tion, manchmal mit kleinen Ecchymosirungen, und Vermehrung der intra-
ventriculären , oft röthlich gefärbten Flüssigkeit. Auch das Spinalgrau
nimmt an dieser theils allgemeinen, theils plaqueweisen Hyperämie Antheil.
Dieso generellen Erfunde modificiren sich nun beträchtlich nach den
Einzelfällen, resp. (wie es scheint) nach dem Grade der vorhanden ge-
wesenen Hirnreizung, und dann auch nach dem Krankheitsstadium. Ver-
gleicht man eine grössere Reihe von autoptischen Ergebnissen, so drängt
sich die Erkenntniss auf, dass es sich bei der in Rede stehenden Gruppe
zwar Ubereinstimmend um eine abnorme Blutüberftillung des Gehirns, im
Einzelnen aber bald mehr um active, bald mehr um passive Con*
gestion handelt. Im Zusammenhalt mit den klinischen Symptomenbildern
entfallen die activ byperämischen Zustände vorwiegend auf die Unter-
gruppe a) , die passiven mehr auf die Untergruppe b) , wobei aber die
zahlreichen klinischen Uebergänge nicht ausser Betracht zu lassen sind.
8odann hat auf den autoptischen Erfund das mehr minder vorhandene
Hirnödem einen wesentlichen Einfluss, und muss bei der epikritischen Ab-
schätzung entsprechend in Betracht gezogen werden. Wahrscheinlich muss
dieser Factor speciell für die Erklärung der bald mehr continuirlichen, bald
mehr nur inselförmigen („rosig geflammten, gesprenkelten") Corticalis-
Röthe eingerechnet werden; darauf fuhrt schon die nähere Betrachtung
der interpolirten Partieen von Rindengrau, welche oft deutlich gequollen,
transparent, aussehen. Sodann wechselt der hyperämische Befund örtlich,
je nach der verticalen und transversalen Richtung der SchnittfUhrung.
Am häufigsten scheinen die innersten Corticalis- und anstossenden ober-
sten Marklager besonders stark hyperämisch zu sein, während schichten-
weise nach abwärts die seröse Hirndurchfeuchtung überwiegt. Doch ist
dies nicht Regel; man trifft auch Fälle von Uberwiegendem Oedem in den
obern Marklagern und Abnahme desselben gegen die Basis hin resp. stärker
hervortretendem Blutgehalt in dieser letztern. — Auch auf den topogra-
phischen Territorien längs der Oberfläche ist der Befund bezüglich der
hyperämischen Vertheilung ein sehr wechselnder. Das Kleinhirn ist meist
in die Hyperämie einbezogen, dagegen die Medulla oblongata und der
Pons in der Regel blass und ödematös. — Die Hirnconsistenz in den
Marklagern ist trotz des Oederas gewöhnlich zähe und klebrig, mit nach-
ziehenden Gefässen auf Querschnitten.
Den möglichst reinen Fällen der Inanitionsforra 2 entspricht ein
vorwiegend anämischer, bezw. ödematöser Zustand des Gehirns, wobei die
Hemisphären prall gewölbt, turgescent sind (mit auf Durchschnitten reich-
lich austretenden Blutpunkten), der Hirnstaram dagegen wiederum stärker
Ödematös ist. Auch hier zeigt sich die Innenschicht der Corticalis in um-
schriebenen Partieen leicht geröthet, manchmal mit weicherm Gefüge.
Die Meningen sind stellenweise venös hyperämisch, dann und wann mit
blutigen Suffusionen durchsetzt, und in der Regel in toto ödematös.
Die in der neuesten Zeit hervorgehobene Enge der Foramina iugu-
laria (Hertz; ich traf denselben Befund auch in einem meiner jüngsten
Fälle) dürfte als mechanisches Moment für die Zurückhaltung einer ab-
normen BlutfUlle im Gehirn, welche im Weitern zu dessen „Stranguli-
Schftle. GeiaUakrankhtiten. 3. Aufl. 22
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1
338 Das Delirium acutum.
rung" führen könnte, erheblich werden, wenn (wie in meinem Falle) noch
bedeutende Schädelverdickungen mit Verschluss der ausführenden (venö-
sen) Knochenkanäle hinzutritt. Vielleicht ist nicht minder wichtig die
individuelle Leistungsgrenze des vasomotorischen Systems im Gehirn,
wodurch (bei angeborner Schwäche) eine Relaxation der Gefässe bedingt
werden kann, welche den Ausgleich einer höhergradigen Hyperämie im
Schädelinnern nicht mehr zu bezwingen vermag, und dadurch (besonders
noch in Verbindung mit einem der eben genannten mechanischen Momente)
die venöse Hirnerstickung herbeiführt.
Von Fürstner ist der interessante Befund von colloider Muskel-
degeneration in mehreren Fällen von Delirium acutum, ohne gleichzeitig
markanten Hirnbefund, mikroskopisch constatirt worden.
Die mikroskopische Untersuchung der Corticalis bestätigt
— nach meinen Erfahrungen — für die manische Gruppe den Befund
einer hochgradigen activen und passiven Hirnhyperämie mit ungleicher
localer Vertheilung; Auswanderungen von Blutkugeln ins Parenchym (von
Leidesdorf beobachtet) konnte ich nur einmal bei Delirium acutum im
Verlaufe einer allgemeinen Paralyse beobachten. Dagegen ergab sich
mir eine auffallende Maceration der Neuroglia, daran kenntlich, dass sich
die Ganglienkörper mit ihren zahlreichen Ausläufen schon bei der ein-
fachsten Zerzupfung des frischen Präparats (und nach eintägigem Ein-
hegen in Kali bichrom.) in einer solchen Zahl und Intaktheit aus dem
Zwischengewebe auslösen, wie es sonst erst nach längerer künstlicher
Macerirung der Fall ist. Die Neuroglia selbst zeigte sich stark mit
Serum resp. Lymphe imbibirt; ebenso waren die Arachniden in der
Nähe der hyperämischen Ge fasse mit derselben opaken mattglänzenden
Flüssigkeit gefüllt. Hochgradige Schwellung der Saftzellennetze durch
die ganze Corticalis, wodurch ein wirkliches „ Ebranlement u der einge-
schlossenen Nervengebiete wahrscheinlich wurde, hat sich in einem frühern
Befund dargeboten; in einem weitern Falle des heftigsten maniakalen
Delirium, bei einer Intermittens-Dyskrasie, wurde Melanämie im Gehirn
constatirt. — Diesen positiven Erfunden bei Delirium acutum stehen nun
auch vielfach beglaubigte negative entgegen; doch dürften diese — nament-
lich bezüglich der Frage der corticalen Hyperämisirung — so lange nicht
als vollgiltige Gegenzeugen aufgeführt werden, als nicht die weitere eines
etwa bestandenen Oedems, welches die vorhanden gewesene Gefassinjec-
tion verdrängte, jeweils für den Einzelfall entschieden ist. (Neuere For-
scher wollen Blutveränderungen und die Anwesenheit von Bacterien con-
statirt haben, s. Lit.). —
Sollen wir Uberhaupt eine klinische Zustandsform „ Delirium acu-
tum" beibehalten? Diese Frage ist in Form des Einwands in neuerer
Zeit wiederholt gestellt, von competenter Seite als berechtigt erklärt
(Mendel, Jollyj, und darnach die Existenzberechtigung einer besondern
Krankheitsform verneint worden. Man hat hierfür namentlich hervorge-
hoben, dass unter der genannten Bezeichnung ganz heterogene Processe
zusammengefasst würden: diffuse Hirnerkrankungen, intoxicatorische De-
lirien, manische und melancholische Processe u. s. w., und hat nament-
lich auch frühere und spätere Auslassungen meinerseits als nicht in ge-
genseitiger Uebereinstimmung befinden wollen. Gleichwohl bin ich mir
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Pathol.-anat. Befund. — Klin.-symptomat. Existenzberechtgg. d. Delir. acut. 339
bewusst meinem ursprünglichen Standpunkt getreu geblieben zu sein.
Ich behaupte auch heute noch, dass das Delirium acutum keine Krank-
heit sui generis ist; auch ich halte fest, dass dasselbe auf eine Reihe
Ton acuten Hirnaffectionen und Neuropsychosen sich vertheilt; ich ver-
kenne auch nicht die nahen Zusammenhänge der irritativen Gruppe mit
gewissen Formen der Mania gravis, der melancholischen mit gewissen
acuten fieberhaften Stuporanfallen. Aber damit ist m. E. nicht auch
die Wesenseinheit der genannten Processe dargethan. Symptomatologisch
fehlen der peracuten Mania gravis die convulsive Art der motorischen
Störungen, die gesteigerte Reflexerregbarkeit, die charakteristische „ Ideen-
flucht4*, die hochgradige primäre Stupidität, speciell aber die Remis-
sionen im Krankheitsverlauf, wie sie dem Delirium acutum so eigentüm-
lich sind. Acute febrile „Stupor "-Phasen beobachtete ich in schweren
activen Melancholieen ; aber sie traten plötzlich ein, und schoben sich
ebenso rasch wieder aus — hierin wirklich einem Status epilepticus ver-
gleichbar, welchem Fürstner neuerdings das Delirium acutum Uber-
haupt nosologisch gleichstellen wollte (wie mir scheint, mit Unrecht);
jene Stupor-Episoden modificiren auch nicht in so entscheidender Weise
den Krankheitsverlauf, dass dieser dadurch plötzlich zu einem lebensge-
fährlichen wird und im günstigsten Falle dauernde Nachwirkungen setzt,
wie das Delirium acutum. Es ist nun allerdings zuzugeben, dass wir,
wie in allen psychischen Zustandsformen, so auch hier Uebergänge be-
obachten ; dass speciell die Mania gravis unter gewissen, uns unbekannten
Bedingungen in das für das Delirium acutum charakteristische Sympto-
menbild sich „steigern" kann. Aber auch diese Thatsache kann unmög-
lich einen Einwand gegen die Aufstellung eines gesonderten klinischen
Symptomen Verbandes abgeben. Denn feststehend bleibt trotzdem die
klinische Eigenartung des letztern (nach Qualität der Einzelsymptome,
sowie nach ihren Verbänden, und ihrem Verlauf), welche der Mania
gravis als solcher nicht zukommt, und ferner die Thatsache, dass mit
dieser Modifikation sofort auch eine ganz veränderte Prognose ge-
geben ist. Von der theoretischen Berechtigung abgesehen, liegt in
der Aufstellung des Delirium acutum als einer gesonderten psychischen
Zustandsform auch noch ein grosser praktischer Vortheil; es ist die
Signatur der G e f a h r , welche prognostisch verlässlich sich einem
jeden Krankheitsfall aufprägt, in welchem diese Symptomen* Combination
und diese Symptomen- Qualität auftritt, sei es, dass sie selbstständig und
direct entsteht, oder als Episode resp. Ausgang sich in den Verlauf eines
acuten Wahnsinns, einer idiopathischen Manie, oder einer Paralyse einflicht.
Vielleicht liegt die Zeit nicht ferne, dass das Delirium acutum
auch sein anatomisches Bürgerrecht zu legitimiren vermag, wenn,
woran ich nicht zweifeln möchte, die manische Form als eine active
Flnxionshyperämie (acute Erschöpfung), die melancholische als ein relaxa-
tiver Congestionstorpor mit Stasen- und Oedembildung (Erstickung des
Hirnlebens), und die paralytische als ein anämischer Inanitionszustand des
Gehirns endgiltig sich erweisen. Dann wird sich auch immer mehr muth-
maassen resp. begreifen lassen, welche Psychosen-Formen nach ihrer so-
matischen Grundlage sich zu einem oder dem andern dieser Ausgange
eignen resp. zu steigern vermögen. Bis dahin aber möchte es nicht zu
22*
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Das Delirium acutum.
rechtfertigen, und noch weniger zu empfehlen sein, schon aus dem an-
gezogenen praktischen Gesichtspunkte nicht, auf einen auch in seinem
klinischen Bilde so geschlossenen Symptomen-Complex zu verzichten ; denn
obwohl die klinische Specifitat nicht an wesentlich neuen Zeichen hängt,
sondern vornehmlich an einer Modification und Combination ge-
gebener Symptome — so macht doch die Scharfe und Eigenart dieser und
deren übereinstimmender Verlauf die quäst. Zustandsform sicher diagno-
sticirbar, und praktisch so verwerthbar.
Therapie.
Die Behandlung der beiden Gruppen des Delirium acutum hat
wesentlich verschiedene Indicationen zu erfüllen. Bei der ersten,
der irritativen Form, steht die Bekämpfung der activen Fluxionen
und der passiven (gemischt activ-passiven) Hyperämieen in erster
Linie; bei der zweiten, der asthenischen (paralytischen) Form, die
Bekämpfung der Inanition. Dort ist die antiphlogistische, hier die
roborirende Methode Hauptindication. Aber auch bei der ersten Gruppe
kann die Hebung des körperlichen Kräftezustandes, zumal wenn
Nahrungsverweigerung d. h. Unfähigkeit der Nahrungsaufnahme ein-
tritt, zur gebieterischen Anzeige werden.
Specicll ist für alle Formen Bettruhe unerlässlich, wenn nöthig
erzwungene; daneben sorgsamste Abhaltung aller Reize von aussen.
Daher Isolirung in einem verdunkelten Zimmer, mit Beachtung der
grösstmöglichen Stille der Umgebung. Eisblasen auf den Kopf,
häufig Eisstückchen in den Mund, kühle Ueberschläge über den
Leib, unter Umständen temperirte Bäder. Erträgt es der Kräfte-
zustand, so dürfen im Anfange auch kleine locale Blutentziehungen
nicht gescheut werden. Ableitungen auf den Darmkanal. Bei sehr
heftigen Fluxionen wirken Einspritzungen von Ergotin nicht selten
ermässigend. Die Nahrungseinflössung geschehe löffelweise (sehr
concentrirte Fleischbrühe mit Ei) und sehr häufig, mit steter Be-
rücksichtigung der gesteigerten und durch die Ansprache der Mund-
und Schlingmuskulatur noch mehr erhöhten Reflexerregbarkeit.
Nährklystiere. Bei beginnender Adynamie Champagner, Moschus.
— Bei der anergetischen Form ist neben der Bettruhe auch die Er-
haltung der Köperwärme, bei Insufficienz des Schlingacts Sonden-
fütterung unerlässlich. Man zögere mit letzterer nicht! Daneben
Waschungen mit Wein; bei drohendem Collaps Kampher- und Aether-
injectionen. Die lebensbedrohliche Schwäche kehrt nicht selten un-
erwartet wieder; deshalb fortgesetzte Vorsicht! Bei deliranter Un-
ruhe ex inanitione leistet nicht selten Xeres mit einigen Opium-
tropfen, mehrmals täglich gereicht, sowohl zur Beruhigung (Schlaft
als auch zur Förderung des Kräftezustandes gute Mithülfe.
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Die typische Paralyse. 341
Die typische Paralyse.
Literatur. Ausführt. Literatur bei Krafft-Ebing, Allg. Ztachr. f. Psych.
1866, ferner bei Hitzig, D. Hdb. Bd. 11. — Dazu die neueren Specialwerke von
Voisin: TraUe" de la paralysie g^n. des ali£n6s. 1879, von Mendel, Die progressive
Paralyse der Irren 18S0; ferner in Wernicke's Lehrb. d. Gehirnkrkhten. III. —
Rosenthal, Paralys. progr.Pami^tnik.tow.lak. warsz. 1879. — Neuere Special-
arbeiten: Conrulsionen: Westphal, Arch. f. Psych. 5. — Baillarger, Ann.
mM. psych. 185S. — Zacher, (auch üb. motorisches Verhalten nach Convulsionen,
Sehstörungen, vasomot. Störungen, Hautreflexe) Arch. f. Psych. 14. — Bechterew,
Petersb. med. Wochenschr. 18S1 und Arch. f. Psych. 14. — Eickholt, Allg. Z. f.
Psych. 41. — Pupillen: Thurnam, Journ.ofm.se. 1880. — Sprache: Kussmaul,
Störungen der Sprache, p. 206. — Brosius, Allg. Ztschr. f. Psych. 14. — Zenker,
Ibid. 37. — Voisin, Arch. gen. 1876. — G all opain, Ann. m£d. psych. 1876. —
Sehrift und Lesen: Rabbas, Allg. Ztschr. f. Psych. 41. — Rieger, Würzb.
Sitzungsber. 1884. — Knlepbünomen: Westphal, Arch. f. Psvch. 8. — Claus,
Allg. Ztschr. f. Psych. 38. — Fischer, Arch. f. Psych. 11. — Mickle, Journ. of
m. sc. 1882. — Spitzka, Am. J. of neur. a. psych. 1883 (Sehnenreflexe). — Seh«
Störungen und Ilulliu Inationen: G. Ludwig, Allg. Ztschr. f. Psych. 13. —
Wendt, Ibid. 19 u. 25. — Westphal, Arch. f. Psych. 1. — Klein, Psych.
Stud. aus Leidesdorfs Klinik. — Mickle, Jour. ofment.se. 1881 u. 82. — Fürstner,
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gleichung: Williams, Med. Times a. Gaz. 1867. — Gibson, J. of in. sc. 1868.—
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Ibid. 1884. — Trophifcche Störungen: Bonnet, l'Enceph. 5. — Klinisches:
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Arch. f. klin. Med. 1877. — Kiernan, (Kleptomanie) Journ. of nerv. a. ment. dis.
1881. — Weiss, Wien. med. Wochenschr. 1SS3. — Lizar et (plötzlich eintretende
centrale Ermüdung als Anfangs symptom), Revue me"d. de l'Est 1884. — Howard,
Am. J. of neur. etc. 1883. b) Remissionen (Intervalle): Christian, Ann. me"d.
p6ych. 1880. — Andruzky, Kowalewsky 's Centralbl. 18S3. — Hammond, J. of
n. a. ment. dis. 1883. — Boettger, Allg. Ztschr. f. Psych. 34. — Krafft-Ebing
(forense Bedeutung) in Friedreich's Blättern (mit Literatur), c) Varietäten des
Verlaufs: Hoestermann, Allg. Zeitschr. f. Psych. 32. — Schüle, Ibid. 1876.
— Baillarger, Ann. med. psych. 1877. — Derselbe, Ibid. 1880 (Beginn mit He-
miplegie). — Ders., Ibid. 1881 (vorausgehendes Stad. congest. mit Aphasie u. Aura).
— Foville, Ibid. 1881. d) Circuläre Paralyse: Lafitte, Ann. mäd. psych.
I SS2. — Bigot, Ibid. 1SS3. — Laehr, Allg. Zeitschr. f. Psych. 39. — Benno,
Ibid. 39. — Pathologische Anatomie: s. Hitzig, 1. c. u. Emminghaus,
Psychopathologie (mit ausführl. Literatur). Neuere Arbeiten: Tuczek, Neu-
rolog. Centralbl. 1883 u. Beiträge zur pathol. Anatomie u. zur Patbolog. der Dementia
par. Monogr. 1884.— Mendel, Neurol. Centralbl. 1882 u. Berl. kl. Woch. 1883. —
Baillarger, Ann. meU pBycb. 1882. — Rey, Ibid. — Claus, Arch. für Psych.
12. — Amadei, Riv. sper. 18*3. — Binswanger, Jenaer Sitzgsber. 1884. —
Beziehungen des Rückenmarks, klinisch und anatomisch: Westphal,
Vircb. Arch. 39 u. Arch. f. Psych. 12. - Simon, Arch. f. Psych. 1 u. 2. — v. Ra-
benau, Ibid. 3. — L. Meyer, Ibid. — Tigges, Allg. Zeitschr. f. Psych. 29.
(s. auch „modif. Paralyse'4). — Frauenparalyse: Sander, Berl. klin. Woch.
1970. — v. Krafft-Ebing, Arch. f. Psych. 35. — Jung, Allg. Zeitschr. f. Psych.
35. — Frit sc h, Wiener med. Pr. 1879. — Sioli, Char. Ann. IV. 1877. - Adam,
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342
Die typische Paralyse.
Thöse, Paris 1ST9. — Coloritch, Inaug.-Diss., ref. v. Regis in TEnc£ph. 1S83. —
Sepil Ii, Riv. sper.lX. 1883. — Nosologie in derParalyse: Spitzka, Chic.
Med. Revue 1881. — Loggia (übers, von Workman im Alien, a. >eur. 18S3>. —
Wann, Bost. med a snrg. Journ. 1879. — Baillarger, Ann. m£d. psych. 1883.
— Therapie: L. Meyer (Ung. stib. Einreibungen), Berl. klin. Woch. 1877. —
Ders., Ibid. 1SS0. (Replik gegen Haunhorst, Ibid. Nr. 13). — Oebeke, Allg.
Zeitschr. f. Psych. 5S. — Geheilte Paralysen: Calmeil, Tratte" p. 286. —
Baillarger, Ann. m6d. psych. III, t. IV. — Nasse, Irrenfreund 1870. — Schüle,
Allg. Ztschr. f. Psych. 32. — F 1 emming, Irrenfreund 1877. — Stölzner, Ibid.
— üauster, Psych. Centrlbl. 1876 u. Jahrb. f. Psych. 1879. — Oebeke, Allg
Ztschr. f. Psych. 36. — Ann. möd. psych. 1879. — L. Meyer, Berl. klin. Wocb.
1878. — Tuczek, 1. c.
Die klassische Paralyse.
Die klassische Paralyse ist ein chronischer, selten subacuter,
Krankheitsprocess, welcher symptomatologisch aus einer Verbindung
geistiger und körperlicher (motorischer) Krankheitszeichen besteht,
mit dem Charakter des fortschreitenden Zerfalls: einerseits in Blöd-
sinn, andererseits in mehr oder minder vollständige Lähmung. Im
Beginn des Leidens symptomatologisch ausserordentlich mannigfaltig
d. h. unter verschiedenen psychischen Zustandsformen auftretend,
und zugleich in der Prävalenz theils der psychischen, theils der
motorischen Zeichenreihe wechselnd, zeichnen sich alle Fälle psy-
chisch durch eine primäre geistige Schwäche — die meisten auch
durch den speeifischen Grössen wahn — aus, und motorisch durch
den charakteristischen Decursus aus erst psychomotorischen (corti-
calen) Defecten in schliessliche palpable Ataxie und Lähmung spi-
nalen Charakters. Aetiologisch bilden in der Regel directe cerebro-
spinale Erschöpfungszustände und vasoparaly tische centrale Hyper-
ämieen die Grundlage des Leidens; von biologischer Seite tritt
biezu — als prädisponirend — das Stadium des vollkräftigen Hirn-
lebens, der „Turgescenz" des Gehirns (30—45 Jahre beim Mannet.
Erblichkeit spielt häufig mit. Die Paralyse in ihrer ausgebildeten
klinischen Form ist vorzugsweise eine Krankheit der Männer; die
ungleich seltnere Frauenparalyse zeigt häufig ein modificirtes Sym-
ptomenbild. Der Verlauf der typischen Fälle ist ein zickzackfbr-
miger, zwischen Exacerbationen und Remissionen (manchmal bis zu
täuschenden Intermissionen) schwankender. In den spätem Verlaufs-
stadien mischen sich dem Krankheitsbild immer mehr die somati-
schen Zeichen der nunmehr palpabel gewordenen (d. b. in Atrophie
Ubergegangenen) diffusen Hirnkrankheit bei. Der weitaus häutigste
Ausgang ist der Tod; Genesungen sind ausserordentlich selten, jedoch
in der kleinen vorhandenen Zahl verbürgt. (Ueber die anatomische
Diaguose s. u.)
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Allgemeine Symptomatologie. Intellectuelle Störungen. 343
Analyse der Symptome.
Das Bewusstsein (als wache Gesammtresultante der psychi-
schen Ich-Functionen) ist ausnahmslos tief gestört, und zwar nicht
etwa nur auf Grundlage einer specifischen Vorstellungsanomalie
(Grössenwahn), sondern zuvor schon durch eine universelle geistige
Schwäche. Schon von den ersten und unscheinbaren Krankheits-
anfängen an liegt ein leiser Sopor über der kranken Persönlichkeit
— mag diese sonst in geistigen Einzeläusserungen noch so nahe an
das Bild der vorhergegangenen gesunden Tage anknüpfen. Der
Charakter ist ein anderer — leichter bestimmbar — geworden, und
Dies neben und trotz der im Einzelnen (namentlich intcllectuell) noch
intact ablaufenden Functionen, trotz der anscheinenden und that-
sachlich oft noch lange vorhandenen Correctheit in den geistigen
Einzelleistungen. Die höchsten erworbenen Vorstellungsreihen, die
Vorschriften der Moral, der Pflicht und guten Sitte, der Achtung
Anderer und der eigenen Würde — sind noch vorhanden, aber
wirkungsloser geworden. Die gemüthlichen Regungen, welche das
Ich einst zum „fremden Selbst erweitert" hatten, erschlaffen und
engen sich kleinlich auf die eigene Persönlichkeit ein; Schönheits-
sinn und Mitleid verlieren ihre belebende Wärme für das Vorstellungs-
leben. Und der Kranke merkt es nicht! Schrittweise und
unversehens greift die Schwäcbuug auch in die Mechanik des engern
Vorstellungslebens ein: die Fähigkeit sich zu concentriren (aufzu-
merken) beginnt leise Noth zu leiden, und, daran anschliessend, die
einstige Geübtheit logisch gegliederte, längere Gedankenreihen zu
bilden (zu reflectiren); daneben können kurze und alt eingewohnte
Ideenverbindungen noch prompt gelingen. Allmählich, oft recht
frühe schon, treten auch Gedächtnissdefecte zu Tage: der Kranke
vergisst wichtige Maassnahmen, und zwar oft gerade solche, welche
durch lange Berufsübung am meisten gewohnt waren, und macht
sich nichts daraus, wenn er an seinen Lapsus gemahnt wird. Er
fühlt ihn nicht!
Dabei ist psychologisch bemerkenswerth, dass der Kranke, welcher
„den Balken im eigenen Auge" nicht gewahr wird, manchmal den
„Splitter" im Auge seines Mitpatienten entdeckt und richtig zu beur-
tbeilen vermag.
Bald lockert sich jetzt auch das Gefüge der erworbenen und
erlernten Vorstellungsassociationen; da und dort fallen dem Kranken
geläufige Begriffe und Worte aus; er stockt im Flusse seiner Rede,
geht von Einem aufs Andere über, weil ihm überall der Faden
bricht. Er lernt auch nichts mehr; neue Wahrnehmungen finden
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344
Die typische Paralyse.
keine Apperception , oder keine richtige. «Die allgemeinen Denk-
kategorieen des Raums und der Zeit stehen nicht mehr sicher; der
Kranke vergreift sich im Datum, in der Abschätzung der Tageszeit,
des Ortes, wo er sich befindet. Er erkennt Personen, die er täg-
lich sah, nicht wieder; weiss ihren Namen nicht mehr, verwechselt
dieselben. Damit und neben dem leise fortschreitenden Zerfall des
vorhandenen Besitzes schwindet immer mehr das Verständniss für
die Wirklichkeit, zugleich aber auch die Fähigkeit für Urtheil und
Kritik; neben dem progressiven Blödsinn ist jetzt die Grundlage
vorbereitet für das Aufblühen des Grössenwahns. Dessen Cha-
raktere, speciell in der klassischen Paralyse, sind: die Unmittelbar-
keit der Entstehung, die sinnliche Plastik, das Unmögliche und oft
barock Groteske des Inhalts und — dem Verrückten gegenüber —
das Umspringen der Grössenideen, endlich deren Wandelbarkeit, oft
auf die nichtigsten Einwände.
In Einem Athemzuge werden Tausende von Millionen verschenkt,
„Tonnen von Caviar und Berge von Buttersemmeln commandirt", und im
nächsten Augenblicke wieder vergessen. Inhaltlich wird Alles, was die
Erinnerung birgt, was die zufällige Wahrnehmung bringt, jeder Einfall,
in den „organischen Multiplicator" eingeschaltet, und daraus, unter Auf-
gebot der krankhaft Uberheizten Phantasie, die chaotisch wechselnde
Grössenwahnsgallerie geformt. Aus dem Himmelsgewölbe werden die
Sterne herabgenommen und als goldene Kugeln wieder eingesetzt; Uber
alle Gebirge der Welt werden Eisenbahnen gelegt und im Nu in den
Mond hinaufgeführt; der Kranke hat die Atmosphäre gepachtet und lässt
sich jeden Zug Athmungsluft von den Andern mit einer Million bezahlen;
er selbst ist Milliarden Jahre alt, besitzt Tausende von Frauen, bevöl-
kert in seiner riesigen Potenz die ganze Welt täglich neu ; er belebt alle
Abgeschiedenen; er hat Alles gedichtet und geschrieben: Homer, Dante
und Shakespeare sind nur Pseudonyme seiner unendlichen Person; er ist
Gott, ja Obergott, vor welchem „der gewöhnliche Gott auf die Kniee
fallen müsse". Von einer „Methode im Wahnsinn", welche der acut
Wahnsinnige, trotz alles Schwelgens in seinen oft auch maasslosen Be-
glückungsideen beibehält, ist beim Paralytiker keine Spur zu entdecken.
Je höher man fragt, desto höher versteigt sich der Kranke, wird aber
in demselben Maasse alberner und kindischer, und vor Allem systemloser
in seinen Conceptionen. Durch eine erbetene Cigarre mit Streichhölz-
chen lässt er sich vom höchsten Flug wieder in die Wirklichkeit zurück-
führen, und bleibt glücklich, wie vorher.
Diesem „expansiven" Grössen walin steht ein „depressiver", dem po-
sitiven ein nihilistischer, gegenüber, ebenso schrankenlos in der Form,
ebenso ungeheuerlich in phantastischer Uebertreibung; in gewissen Fällen
aber insofern realer, als er sich häufiger auf hypochond rische Sen-
sationen aufbaut. Es ist eine Art „Mikromanie", jener vorher beschrie-
benen „Megalomanie" gegenüber. Die Kranken — mit Verdauungsstö-
rungen — fühlen ihren Magen zugenäht und verstopft, ihren Mund und
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AUg. Symptomatologie. Grössenwahn. Störungen der Gemttthsfunct. 345
After geschlossen, das Körperinnere mit Eiter erfüllt; sie sind winzig
klein, weigern sich zu Tische zu sitzen, weil kein Stuhl für sie hoch
genug ist; sie fühlen sich in allen vertracten Körperformen (z. B. drei-
eckig); sie haben keinen Kopf, keine FUsse, können nichts essen und
verdauen, weil die Gedärme fehlen, weil die Löffel zu gross, die vorge-
setzte Suppe u. s. w. ihrer Kleinheit gegenüber ein unendliches Meer vor-
stellt, in welchem sie zu ertrinken fürchten; aus dem Nabel entbinden
sich Schachteln mit Nürnberger Spielsachen u. s. w.
Anderemale enthalten die mikromanen Wahnperceptionen eine me-
lancholische Färbung: die Kranken sind die Ausgeburten der Hölle,
unermessliche Scheusale ; Alles, was sie geniessen, ist der hässlichste Un-
rath ; sie selbst befinden sich in Nacht und Finsterniss u. s. w.
BemerkenBwerth , und ein wichtiger Beleg fUr die unreflectirte
(organische) Entstehung dieser Stimmungs- und Bewussteeinslagen ist
der rasche Umschlag der expansiven in die depressive Phase.
Ganz jählings stürzt der Kranke mit seinen ätherischen Himmels-
wonnen in die ebenso grundlose Tiefe; erst noch „Obergott", ist er jetzt
der Verdammten Einer geworden (Meschede). Es können beide Phasen
im Zeitraum von nur einer Stunde wechseln, oder auch typisch im Verlaufe
desselben Tages: Morgens die expansive, Abends die depressive. Die letz-
tere bringt oft brüske Raptus von Selbstmorddrang mit sich.
Die Gemüthsfunctionen zeigen eine gleich tiefe Schädigung
wie die des Vorstellungslebens, ja vielleicht noch eine mächtigere,
wenn die von Anfang der Krankheit schon vorhandenen moralischen
Defecte — die egoistische Charakteränderung, der erblindende Sinn
für das Ideale, für Würde und Decorum — eingerechnet werden.
Aber auch die Stimmung ist vom Beginn an krankhaft In der Regel
ist es eine allgemeine Euphorie, ein erhöhtes Wohlgefühl, welches
die Krankheit einleitet — eine furchtbare Ironie der Natur, welche
dem Kranken das Trugbild aller innerlichen Wonnen vorhält, wäh-
rend sie an ihm den unaufhaltsamen Ruin seines geistigen Besitzes
vollzieht; ihn in maasslosem Selbstgefühl sich wiegen lässt, während
er im geistigen Banquerott zusammenbricht! Die Kranken sind Uber-
glücklich, gesund wie nie zuvor, und im Gefühl einer körperlichen
Leistungskraft, welche sie alle Excesse aufsuchen lässt. Bei dem
abgestumpften Sinn für Das, was sich ziemt, werden alle diese Nei-
gungen und Bethätigungen des beginnenden Paralytikers zu ebenso
vielen groben Verstössen gegen den Anstand, gegen die eigene und
Familienwürde (brutale Debauchen in Venere und Baccho). Aller
Kummer der Vergangenheit ist weggewischt; die Pflicht des Tages
macht auf den gemüthsschwachen Kranken keinen Eindruck mehr.
Er erträgt Alles spielend, sofort mit der Nonchalance des Blödsin-
nigen: die Trauer der Angehörigen, die Trennung von denselben,
den Abschied aus dem liebgewohnten Lebensberuf.
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31G
Die typische Paralyse.
Diese Gefühlskalte nimmt mit den vorgeschrittenen Leidensstadien
za, nicht aber ohne manchmal noch spät zu einer wohlthuenden Wärme
vorübergehend belebt werden zu können. (Ueber differentes Verhalten
dieser affectiven und ethischen Functionen in gewissen ünterformen der
Paralyse 8. u.)
Neben der Indolenz des Gemtttbs geht in der Regel eine nicht
minder grosse Reizbarkeit einher; ein versagter Wunsch kann den
bis dahin harmlosen, freundlichen Kranken in zornige Wuth und
brutale Gefährlichkeit versetzen. In der Weise des Ausbruchs dieser
Affecthandlungen, in der unendlichen Rücksichtslosigkeit, ja Gemein-
heit des einst feingebildeten (und intellectuell noch leidlich geschonten)
Kranken, in den Misshandlungen von Frau und Kindern enthüllt sich
erschreckend der gemüthliche Defect. Vielfach fallen auch Conflicte
mit dem Strafgesetze gerade in diese Anfangszeit der Krankheit (s. u.).
Nach der That ist jeweils Alles sofort vergessen ; es zeigt sich keine
Reue, weil der Kranke seine Rohheit nicht merkt, nicht fühlt.
Mit zunehmendem Fortschritt des Leidens nimmt die Gemtiths-
verblödung immer zu, und erreicht dieselben äussersten Grade, wie
der intellectuelle Blödsinn. Doch ist dieser Gang nicht ein voll-
ständig congruenter; manchmal verbleibt eine gewisse schwachsinnige
Gutmüthigkeit, oft aber gegentheils, oder abwechselnd, eine raotiv-
lose Reizbarkeit (der lawinenartige Reflex eines zeitweiligen innern
Unbehagens) mit Raptus von grausamer Gewaltthätigkeit gegen sich
und Andere.
Wie mit dem Grössenwahn die nihilistischen Ideen, so lösen sich
mit der Stimmungs - Euphorie auch depressive Gemüthszustände ab,
und zwar nicht selten in einem gleich jähen Umschlage. Dieselben
können bald einen ausgesprochen melancholischen Inhalt haben, sehr
oft aber auch einen hypochondrischen. Manchmal tritt ein alter-
nirender Typus darin auf (s. u.). Aber auch Stunden von richtigem
Krankheitsgefühl fehlen nicht; es gibt Paralytiker, welche zeitweise
Uber ihre Unheilbarkeit klagen (ein ärztlicher College sogar Uber
die „Atrophie des Gehirns"); oder es folgt auf eine euphorische
Phase ein wochenlanges Stadium schmerzlicher Gedrücktheit, mit
Weinen und übertriebener Aengstlichkeit, wobei der Kranke peinlich
seinen Urin beschaut, seinen Speichel aufbewahrt und untersucht,
über eine nächtliche Pollution in Verzweiflung geräth.
In Fällen von Paralyse ohne specilischen Grössenwahn (primäre De-
mentia s. u.) kann eine allgemeine Ruhelosigkeit der Stimmung mit stets
bereiten Thränen neben hypochondrischer Aengstlichkeit, welch letztere
sich mit vager Genesungshoffnung immer selbst wieder beschwichtigt, die
Stimmungsgrundlage durch den grössten Theil des Krankheitsverlaufs
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Allg. Symptomatologie. Störungen der Wilensspbäre. Forenses. 347
bilden; erst gegen Scillase erfolgt der Umschlag in eine untröstliche Hoff-
nungslosigkeit.
a) Die Störungen der Willenssphäre sind grösstenteils in der
Schilderung der vorstehenden Vorstellungs - und Stimraungsano-
malieen gegeben. Es sind Acte der krankhaften Reizbarkeit (des
pathologischen Affects), sowie nicht minder des expansiven oder
depressiven Grössenwahns, oder endlich der blödsinnigen Schwäche
(theils auf Grundlage einer ungezähmten sinnlichen Triebrichtung,
theils einer Urtheilslosigkeit, welche „Mein und Dein" verwechselt),
oder endlich einer idiotischen Bosheit und Rachsucht. In allen For-
men ist die krankhafte Handlungsweise psychisch motivirt, bald be-
wnsst, bald erst ex post (raisonnirend); sehr oft treten die Motive
nicht über einen dunkel gefühlten Drang heraus, wofür der Kranke
keine Rechtfertigung weiss.
Auf allen diesen Wegen begegnet der Paralytiker dem Strafgesetz,
und in der That dürfte ausser der Epilepsie und dem Alkoholismus keine
andere Geistesstörung eine ebenso grosse Menge crimineller Acte liefern.
In den erregten Stadien des Krankheitsanfanges sind es namentlich die
Conflicte mit der Polizei, die Ruhestörungen, die Verletzungen des An-
standes, die öffentlichen Beleidigungen, welche den Kranken compromit-
tiren; oder andererseits die maasslosen Verschwendungen, die sinnlosen
Verkäufe, die phantastischen Unternehmungen. Dann kommen die An-
griffe auf fremdes Gut und Leben, die Brandstiftungen aus kindischer
Rache, „um Bettwanzen zu vertreiben", oder „um Kartoffeln im Zimmer
zu braten"; die plumpen, frechen Diebstähle, die Betrügereien aus al-
berner Profitsncht, endlich die Inceste ans gesteigertem Sexualdrang, wel-
cher, Anstand und Würde vergessend, zur nackten Schamlosigkeit (Noth-
zucht, Entblössungen auf öffentlicher Strasse, Vergehen an Kindern u.s.w.)
herabgesunken ist. Auch die Morde sind nicht selten, manchmal wegen
Bagatellen, ja selbst in Form anscheinend motivloser brüsker Attentate.
Auch die nicht so seltenen Suicidien sind hier einzureihen, gleichfalls
kurzer Hand, in impulsiven Raptus, unternommen.
Mit dem fortschreitenden Blödsinn wird die Qualität der
psychischen Handlung immer mehr zur triebartigen Schablone: die
Kranken fallen einem Sammeltrieb anheim, in welchem sie sich
täglich mit Steinchen, Scherben und allerhand Unrath die Taschen
füllen, um sie am Abend ausleeren zu lassen, und am andern
Morgen ihre kindische Spielerei, hinter welcher sie allerdings die
Anhäufung von Gold und Pretiosen erblicken, neu zu beginnen;
sie stecken nicht minder auch fremdes Eigenthum ein, oder tragen
es offen fort, weil sie nichts dabei denken. Hypochondrisch melan-
cholische Paralytiker verweigern auch gelegentlich, und oft recht
intensiv, die Nahrung. Andere gegentheils verfallen in ihrem ver-
blödeten Grössenwahne auf allerlei perverse Acte: sie verschlucken
348 Die typische Paralyse.
was ihnen in die Hand kommt, oder schicken sich an sich aus
dem Fenster zu stürzen, „weil sie Engel geworden und Flügel be-
sässen."
Auf eine localisirte Affection höherer corticaler Coordinationscentren
sind wohl die triebartigen Actionen vieler Kranker: das tage- und wochen-
lange Abreiben der Wände, das Scheuern am Körper, die automatischen
Greif- und Webebewegungen u. s. w. zu beziehen.
b) Motorische. Hier kommen zuerst die psychomotorischen
Störungen der Sprache, Schrift und Mimik in Betracht. Alle
drei, besonders die zwei ersten, sind in einer charakteristischen,
theilweise pathognomonischen Weise in der Paralyse verändert. In
der Stufenleiter dieser Aenderungen legen beide zugleich den fort-
schreitenden Störungsgang des Paralyse- Processes im Allgemeinen
klar: wie der destructive Angriff zuerst auf die psychische, dann
auf die psychomotorische Qualität dieser combinirten Bewegungs-
acte erfolgt, und endlich die grob motorische Läsion (die Lähmung)
übrig lässt, nachdem die Corticalis-Affection zu einer Tiefe gediehen
ist, welche keine „psychischen", sondern nur mehr „organische"
Reactionssymptome noch ermöglicht.
So besteht die Aenderung der Sprache im ersten Beginn in einem
einfachen Häsitiren (einem psychischen Schwanken), weil die Asso-
ciationen sich nicht mehr mit der früheren Promptheit einstellen. In der
Folge kommt eine erst leise, dann immer deutlichere Störung in der for-
mellen Leistung des Hypoglosso-Facialis-Gebietes hinzu, welche sich in
einer Einbusse an Geschmeidigkeit und Geläufigkeit der Sprache und
namentlich auch an dem Metall der Stimme kundgibt. Eine Reihe von
Worten wird noch ganz prompt gesprochen ; dann kommt plötzlich eine
kleine Stockung der Articulation , eine flüchtige Convulsion der Zunge.
In der Folge treten Umsetzungen und Ellipsen von Silben ein, nament-
lich bei zusammengesetzten Worten — wohl in Folge von Gedächtniss-
defecten im Wortbilde. — Im Weiteren macht sich die psychische (Sil-
benstolpern) und von nun an auch grob-motorische Schwerfälligkeit kennt-
lich in dem forcirteren Aufgebot von muskulärem Kraftaufwand: als
convulsivische Mitbewegungen der Lippen- und Mundmuskeln, dann des
Gesichts, sogar der Arme; oder aber: es werden die übrigen Gesichts-
partieen und selbst die Arme durch Aneinanderpressen der Finger steif
gehalten — als arbeiteten sie auf die schwere Leistung hin die Zunge
zu beherrschen. Aus derselben halb bewussten, halb unbewussten Inten-
tion im Verein mit der zunehmenden Anarthrie bildet sich allmählich
eine Ummodelung von Vocalen und Consonanten aus, je nach den beque-
meren d. h. articulatorisch leichteren Uebergängen (z. B. ü statt u, oa
statt a), nicht selten auch in dem Einflicken von Vocalen zu demselben
Nothbehelf (Sch— e— wa— ger statt „Schwager"). Endlich bilden sich
die gröberen anartbrischen Störungen immer herrschender aus: so im
Rederhythmus (Pausen im Sprechen, präcipitirtes Hervorstossen von Wor-
ten, oft förmliche Sprachexplosionen); sodann Tremuliren der Stimme
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Allg. Symptomatologie. Störungen der Sprache, Schrift. 349
(durch musculäre Insuffizienzen in den Stimmbändern, im Velum und im
Ansatzrohr) ; endlich gellende und meckernde Stimme, und am Schlags an-
arthrische Aphasie mit Zungenlähmung bis zu vollständiger Sprachlosig-
keit und Ersatz durch unarticulirte Laute.
Merkwürdig ist die zeitweilige manische Aphasie (Wernicke) ge-
wisser Paralytiker, welche darin besteht, dass unter entsprechenden mono-
tonen Gesticulationen dieselben sinnlos verdrehten Worte hinausgeschrieen
und in ewiger Wiederkehr förmlich „zu Tode gehetzt" werden.
Sprachprobe: Ich blase , wenn ich geblasen habe , dann
höre ich mit Blasen auf; ich will die Katzen anblasen, auch sechs
Pferde können blasen; wenn die Kühe blasen könnten, dann könnten
die Scharfschützen auch blasen; wenn ich kein Kalbfleisch bekomme,
dann kann ich nicht blasen, und wenn ich nicht blasen kann, dann
ist Alles aus. Man ruft mir: blase! blase! Weisst du, wie man blasen
muss? Sag, was du willst, wenn du nur blasen kannst; o blase doch!
Alles muss geblasen werden; das Blasen hört nicht auf, wenn ich einen
Rausch habe, dann ist Blasen das Beste u. s. w.
Intercurrente Zufälle im Einzelverlaufe können in der mannigfaltig-
sten Weise abändernd auf diesen Stufengang einwirken und einen be-
schleunigten Decursus herbeiführen. So bleibt nach einem stärkeren An-
fall von Convulsionen in der Regel mindestens eine kürzere oder längere,
amnestische Aphasie (oft in charakteristischer Weise mit Ausfall der Sub-
stantiva, wofür der Kranke in den begriff liehen Umschreibungen sich zu
verdeutlichen abmüht); anderemalc verfügt er Tage lang nur über Ein
Wort, womit er Alles bezeichnet; oder endlich: er befindet sich über
mehrere Stunden oder Tage in einem verbalen Delirium. Immer bleibt
nach diesem ersten Chok durch einen paralytischen Anfall eine, wenn auch
leise, Zunahme der Sprachstörung zurück. Auffallendes Erhaltenbleiben
der Sprache neben den progressiv weiter entwickelten übrigen Symptomen
kommt bei der typischen Form nicht vor; ich beobachtete es bei der
syphilitischen und tabischen Paralyse ; in einem Falle aus letzterer Kate-
gorie sprach der Kranke anhaltend ein forcirtes Hochdeutsch, mit ganz
eigenartiger Accentbetonung.
Die Aenderungen in der Schrift verfolgen den gleichen Decursus
aus dem Kreis anfänglich bloss „psychischer" Defecte in schliesslich „or-
ganische" d. h. grob motorische. Im Beginn finden sich Auslassungen
von Worten in Folge der unsicheren Vorstellungsassociationen ; später
Silbenellipsen, so dass einzelne Worte verstümmelt werden, oder auch
Silbenverdoppelungen und Silbenumstellungen (die Analogie des corticalen
„Silben8tolpern8"). Im weiteren Verlaufe, oft auch gleichzeitig, erschei-
nen graphische (ataktische) Störungen, welche sich kundgeben a) in einem
Tremolo einzelner Buchstaben, indem die bis dahin sicher schreibende
Uand plötzlich (in Folge einer leisen Zuckung) aus der Linie fährt und
dem Buchstaben ein „Zickzack" anhängt; nach und nach vertheilt sich
dieses „winklige" Ausfahren auf immer mehr Schriftzeichen; b) in einer
ungleichmässigen Schrift, wobei die einen Buchstaben abnorm gross, die
andern klein werden und zugleich im Ductus der Buchstaben selbst ver-
doppelt angesetzt wird. Schliesslich werden die letzteren ganz eckig,
bilden nur noch aneinandergereihte Zickzacks — das Schlusstableau gra-
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350
Die typische Paralyse.
phischen Zerfalls eines auch innerlich „verwaschen" gewordenen Schrift-
bildes.
Ins psychische Gebiet der „Schrift" und Sprache gehörig sind hier
die sehr interessanten und vielfach charakteristischen Paragraphieen
und Paralexieen einzelner Paralytiker (namentlich auch beginnender)
kurz zu erwähnen. Diese Kranken lesen (ohne im Geringsten aphasisch
zu sein) ganz falsche Worte (besonders mehrsilbige werden entsetzlich
verdreht), können vorgesprochene nur verstümmelt niederschreiben, letz-
tere nicht wiederlesen ; 8ie vermögen nur noch in bescheidenen Grenzen
mechanisch zu zählen, und straucheln bei den einfachsten Rechenopera-
tionen, wozu intellectuelle Combination gehört (Rabbas, Rieger).
Die rein motorischen Störungen haben nicht die specifische
Bewertbung, wie die vorgenannten psychomotorischen; sie kommen
vielmehr der klassischen Paralyse gerade so, wie der modificirten
(ans primär palpabeln Hirnaffectionen) zu.
Störungen im Gang, Haltung, Bewegungen u. 8. w.
Dieselben combiniren sich aus den directen Folgen der anatomischen
Läsion resp. Fnnctionsstörung und aus hinzutretenden Compensations-
bewegungen. Die erstem sind Anfangs ausgesprochen ataktische —
mangelnde Coordination ; die zweiten bestehen in einer verstärkten
Innervation einzelner Muskeln und Muskelcombinationen, zum Zwecke
der Gegenwirkung und Stützung. Dadurch erhalten die Actionen
der Fttsse beim Gehen (analog wie die Bewegungen der Lippen-
und der Gesichtsmuskulatur beim Sprechen) ein convulsives Gepräge.
Die Beine „schlurfen" und werden stossweise vorgeschleudert; zn
gleicher Zeit nimmt aber der Rumpf entweder eine vorwiegend flec-
tirte Haltung (watschelnder, nickender Hahnenschrittsgang), oder
eine Neigung zur extendirten an (Grandezza, Parade-, Schlittschuh-
läuferschritt, Zenker). Bei raschem Anhalten oder Umdrehen er-
folgt Schwanken, ein Ueberwerfen nach einer Seite, oder auch ein
Umstürzen. Aus der anfanglichen Ataxie wird allmählich Parese
und Paralyse in Form eines breitspurigen, plumpen, unbeholfenen,
endlich ganz versagenden Ganges. Ebenso sind auch die Bewegungen
der oberen Extremitäten Anfangs rein ataktische, aus psychischen
Defecten in den Bewegungsanscbauungen und in den motorischen
Associationen zusammengesetzte : der Kranke verfügt noch Uber eine
ansehnliche Muskelkraft, während er schon seine Kleider nicht mehr
ordentlich, oder nur mit verstärktem Willensimpuls, zuknöpfen kann.
Fortschreitend wird das Zittern und die Unsicherheit stärker (das
anfänglich leise Muskelzittern lässt sich namentlich durch das auf-
gelegte Ohr deutlich hörbar machen) ; endlich wird mit dem Fort-
schritt der Krankheit die Hand vollständig ungeschickt und kraftlos.
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Allg. Symptomatologie. Störungen im Gang (Sehnenreflexe), Zunge. 351
Nicht so selten bilden sich in der Folge da und dort Contrac-
turen oder vorübergehende Athetose in einzelnen Fingern aus ; oder
auch, es gesellt sich jetzt secundär Muskelatrophie aus aufgehobener
Function dazu; in andern Fällen treten locale Muskelzuckungen,
zeitweises Emporschnellen einer Extremität ein. Die Gesichtsinner-
vation wird ungleich d. h. einseitig stärker und das Gesicht verzogen;
nach und nach bilden sich dadurch, und wohl auch in Folge der
secundären Muskelatrophie, einseitige Verflachungen der Gesichts-
falten (namentlich in der Stirne) aus. Oft steht eine Augenbraue höher,
als die andere; ebenso die Oberlippe. Umschriebene Zuckungen sind
nicht selten, namentlich in den Nasolabialfurchen.
Das Verhalten der Sehnenreflexe ist verschieden; einen typi-
schen Befund gibt es nicht. Eine Steigerung derselben im Beginn der
Krankheit ist nicht selten, und zwar ohne jeweils vorhandene Lateral-
sklerose. Bei begleitender Erkrankung der Hinterstränge fehlen, wie
auch sonst, die Sehnenreflexe (s. tabische Paralyse); doch scheint der
Ausfall erst auf einer gewissen Erkrankungshöhe aufzutreten (s. sp.). So
zuverlässig im letzteren Falle der diagnostische Rückschluss gelingt, so
wenig lässt sich bis jetzt der Befund der Sehnenreflexe im Allgemeinen
mit der Art und Intensität der anatomischen Gehirnvorgänge in der Para-
lyse in irgend eine Beziehung setzen. — Auch das Verhalten der elek-
trischen (farad. u. galvan.) Erregbarkeit der Nerven und Muskeln
im Paralyseprocess ist ein zu verschiedenes und wandelbares, um irgend-
wie sicher diagnostisch (bis jetzt) verwerthet zu werden. Ein nicht sel-
tener Befund ist Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit der Nerven
nach vorausgegangener Steigerung. Häufiger noch findet sich eine Dif-
ferenz in der quantitativen elektrischen Erregbarkeit beider Körperseiten,
besonders in den Peronei. Qualitative Erregbarkeitsänderungen kommen
bei D. p. nur vor, wenn sich mit derselben eine Erkrankung der vor-
deren grauen Substanz oder der vorderen Wurzeln des Rückenmarks
verbindet.
Die Störungen in der Z u n g e bestehen in einem ataktischen
Zittern beim Herausstrecken, so dass die Zunge beständig aus der
Führungslinie schwankt, in leisem Tremolo zurück und dann wieder
vorwärts zuckt, und von dem Kranken nur durch Fixiren mit den
Zähnen in leidlicher Ruhe erhalten werden kann. Dieses wichtige
(vielleicht speeifische) Verhalten zeigt sich meist schon unter den
ersten Krankheitssymptomen. In der Folge wird das Zittern durch
Hinzutreten fibrillärer Zuckungen noch verstärkt. In den spätem
Stadien nimmt die Beweglichkeit der Zunge schrittweise ab ; manch-
mal kann sie nicht mehr aus dem Munde bewegt werden; nicht
selten tritt auch hier zur Parese noch muskuläre Atrophie.
Die anfänglich ataktische Störung der Stamm- und Extremitäten-
moskeln schreitet bis zur vollständigen Lähmung fort, sodass
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352
Die typische ParalyBe.
der Kranke, unfähig zum Geben, Stehen und zu jeder Arm- und
Handbewegung, zu einer vollständigen Moles iners wird. In gleichem
Schritte erhöht sich die spinale Reflexerregbarkeit, so dass leiseste
periphere Reize eine wahre Muskelanarchie auszulösen vermögen.
Mimik. Der Blick ist im anfanglichen Erregangstadium der Para-
lyse glänzend, funkelnd, animirt; später wird er matt, gläsern, inhalts-
leer (durch Divergenz der Angenaxen). Die Lider sinken in den spätem
Stadien oft herab und geben dem Gesichte ein schläfriges Aussehen; zu
andern Zeiten sind sie gegentheils weit aufgerissen, bei contrahirten Fron-
tales. Merkwürdig ist die manchmal zu beobachtende Paramimie, so dass
die Kranken bei Freudeäusserungen einen weinerlichen Gesichtsausdruck
bekommen; hin und wieder ist der letztere über längere Zeit anhaltend
vorhanden (bei complicirenden schweren Rttckenmarksaffectionen, speciell
des Bulbus). Gegen Schluss der Krankheit werden die Züge grob und
träge, schlaf? und hängend, der Ausdruck harmlos und einförmig; viele
Kranke haben für die Freude nur noch ein ganz unbeherrschtes Lachen,
für die Aufmerksamkeit ein glotziges Staunen, für die Verdriesslichkeit
auch nur eine Nuance; bei ruhiger Gesichtslage sieht die Maske wie aus
Holz geschnitten aus, während dagegen beim ängstlichen Affect sich die
Züge zu einem erschreckenden, furchtbaren Anblick spannen und verzerren.
Pupillen. In der weitaus grössern Hälfte aller Paralyse-Fälle
ist die Reaction der Pupillen träger, und sind letztere selbst ein-
seitig weiter. Manchmal wechselt ausserdem noch die Form und
die Pupille wird verzogen, und zwar theils für eine längere Zeit-
dauer, theils nur für den Umfluss einiger Stunden. Oft tritt bei den
acuten Kopf-Rash's im Verlaufe der Paralyse ganz plötzlich eine
sehr starke Mydriase auf, welche mit Nachlass der Wallung sich
wieder zurUckbildet. Anderemale fehlt die Reaction auf Licht, tritt
aber bei der Accomodation (Bewegung der Augenaxen) ein: so bei
begleitenden Spinal- und Optionsaffectionen ; oder aber umgekehrt:
es fehlt die Reaction bei der Convergenz, dieselbe ist aber für Licht
erhalten, so bei Erkrankung des oculomotorischen Bündels im me-
dialen Pedunculus (Wem icke). In manchen Fällen endlich wird
auch Myosis beobachtet, mit fehlender Reaction auf Lichtunterschiede
(in einem meiner Fälle blieb diese das einzige restirende Symptom
nach sonst vollständigem Rückgang der übrigen Symptome). — Bei
Complicationen können sich auch locale Oculomotorius- und Abducens-
Paresen einstellen.
Die Störungen in der Stimm-Muskulatur sind oben bereits
kurz erwähnt worden. Es sind Fälle beobachtet, in welchen der
Verlust einer ehedem schönen Singstimme das erste eintretende
Krankheitszeichen bildete. Sonst wird die Stimme oft näselnd, oder
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Allg. Symptomatologie. Mimik; Pupillen; Zunge; Deglutition ; Convulsionen. 853
guttural, in ihrem Timbre meckernd, kreischend, zeitweise auch
gaiiz heiser.
Störungen der Deglutition(Zenker). Dieselben theilen sich in
i. Coordinationsstörungen der Lippen- und Backenmuskulatur mit
Unbehilf lichkeit der Kaubewegungen und tibercompensirenden Mitbewe-
gungen; 2. mangelhaft beherrschte Aspiration mit Verschlucken beim
Trinken; 3. Insuffizienzen des Velum — alle drei Momente aus geschwäch-
ter Facialis-Innervation ; 4. masticatorische Coordinationsstörungen durch
Fnnctionsdefecte im Quintus; 5. Hypoglossnsstörungen in Form mangel-
hafter Bissenbildung, mit verlangsamtem Hinabschlucken bei ungenügendem
Absen luss des Isthmus; 6. Hyperästhesie, oder gegentheils Anästhesie, in
der Mundschleimhaut (Quintus- und Olossopharyngeusgebiet), mit Trismus
und Oesophagealspasmus; 7. stufen weises Erlöschen der Reflexaction und
der Emporbewegungen des Kehlkopfes mit mangelhaftem Verschluss des
Ostium laryngis — das praktisch wichtigste Vorkommniss in den End-
stadien der Paralyse, oder intercurrirend nach epileptischen Anfällen.
Ein ausserordentlich häufiges motorisches Symptom ist das Zähne-
knirschen, bald nur vorübergehend (oft schon in den Anfangsstadien),
bald aber auch durch Wochen hindurch anhaltend.
Störungen in der Urinentleerung treten theils als Ischurie,
theils als Incontinenz — und zwar vorübergehend, oder (in den
Schlussstadien) dauernd — auf.
Eine sehr wichtige Zeichengruppe endlich bilden die sog. pa-
ralytischen Anfälle — die Convulsionen. Abgesehen von
den vielen individuellen Variationen lassen sich nach Form und
Ausdehnung zwei Gruppen unterscheiden, welche symptomatologisch
wesentlich different sind, nach der Prognose ein verschiedenes Ver-
halten zeigen, und höchst wahrscheinlich auch eine verschiedene
cerebrale Entstehung haben.
Bei der ersten Gruppe handelt es sich bloss um klonische (oft mit
Voran sgang tonischer) Krämpfe in umschriebenen Muskelgebieten des Ge-
sichts oder der oberen Extremitäten, mit Erhaltung des Bewnsstseins, so
zwar, dass der Kranke während der Convulsionen noch leidlich zu per-
cipiren und kurze passende Antworten zu geben vermag. Die zweite
Gruppe dagegen umschliesst mehr minder allgemeine (oft aus erst par-
tiellen entstehende) tonische und klonische Zuckungen, mit vollständiger
Ausschaltung des Bewusstseins und in der Regel hochgradig gesteigerter
Reflexerregbarkeit. Die Krämpfe können einseitige sein und in Absätzen
sich in gleicher Weise wiederholen, oder aber von einer auf die andere
Seite übergehen; oft kann krampfhafte Beugung der oberen mit Streckung
der gleichnamigen unteren Extremität eintreten. Der Anfall beginnt ge-
wöhnlich im Facialisgebiet und in den Drehern des Nackens; die para-
lytischen Muskelgebiete sind die hauptsachlich ergriffenen. Die Beein-
flussung der Respiration erfolgt bei dieser zweiten Gruppe ganz analog
dem specifisch epileptischen Insulte. Der Puls ist frequent (jedoch nicht
regelmässig; manchmal auch nur 60 — 70 und von ungleicher Stärke);
Schal«, Geirtwkrtakheiten. 3. Aufl. 23
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354
Die typische Paralyse.
die Temperatur oft stark erhöht; reichliche Transspiration, namentlich im
erhitzten Gesichte, geht mit einher. Variirend können auch allgemeine
tetanische Krämpfe mit klonischen abwechseln, und ein mehrstündiges
kataleptisches Nachstadium folgen; anderemale treten Anfälle von hef-
tigstem allgemeinem Zittern ein. Diese Grand -mal -Anfälle sind in der
Regel von Vorboten, häufig auch von Nachsymptomen, begleitet. Zu
den Vorboten gehört gesteigerte Unruhe des Kranken mit stärkeren mo-
torischen Störungen und 'einem benommenen Wesen; sehr häufig sind
auch Congestiverscheinungen, Zähneknirschen, manchmal Aphasie nachzu-
weisen. Unter den Nachsymptomen steht Sopor mit partiellen Paresen
resp. mono- und hemiplegischen Paralysen (oft mit andauernden fibril-
lären Zuckungen und Sprachstörungen, Aphasie, Worttaubheit) in erster
Reihe; es kann aber auch ein manischer Zustand mit triebartigem Zer-
störun^sdrang und Gefährdung gegen sich und andere nachfolgen. Höchst
selten tritt eine interkurrente Besserung ein (s. u.). Auch mehrwöchent-
liche starke Polyurie ist beobachtet. Sehr interessant ist das zeitweilige
Auftreten von automatischen combinirten Handbewegungen, welche voll-
ständig wie „gewollte" imponiren nach einem solchen Krampfanfall (s. o.).
An sich und in Beziehung zum Gesammt verlaufe der Krankheit
bedeutet ein grosser paralytischer Anfall stets eine bleibende Etappe
nach abwärts in der fortschreitenden psychischen und motorischen
Lähmung. Die Anfälle können sich bis zu 48 in 24 Stunden wieder-
holen; es kann aber auch bei wenigen sich bewenden, und in diesen
wenigen der Tod erfolgen.
Interessant sind dabei die manchmal dazwischen tretenden freieren
Remissionen. Nach mehrstündigen (leichteren) Convulsionen kann der
Kranke wieder umhergehen, ruhig sprechen, ohne sich an das Voraus-
gegangene im Geringsten zu erinnern, Cigarren rauchen u. s. w.; dann
kann nach mehrstündiger Pause sich ein allmählicher Sopor mit sterto-
röser Respiration entwickeln , mit Unempfindlichkeit der Haut , nahezu
vollständig aufgehobener Reflexerregbarkeit und Pupillenreaction ; dann
nach einer Reihe von Stunden wieder freie Zeit über einen Tag und mehr;
dann wieder Aufregung und Convulsionen; dann wieder Sopor, freie
Zeit u. s. w.
Bei starken Convulsionen erfolgt nicht so selten Zerbeissen der
Zunge, selbst einzelne Male bis zu völliger Continuitätstrennung und
Verlust eines grössern Stückes (welcher sich theilweise narbig aus-
gleicht, sogar mit Wiederkehr eines beschränkten Sprach Vermögens).
— Der nach dem epileptiformen Anfall gelassene Harn ist oft (nicht
immer) ei weiss haltig.
Was den muthmaasslichen Sitz der beschriebenen Anfälle im Gehirn
betrifft, so sind die der ersten Gruppe wohl unzweifelhaft direct cor-
ticaler Natur. Wahrscheinlich ist auch für die zweite Gruppe — das
Grand mal — dieselbe Localisation zu beanspruchen (schon nach der
Natur der Folgesymptome, speciell der Paralysen); aber als viel ausge-
dehntere HirnrindenarTection. Möglicherweise handelt es sich bei diesen
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Allg. Symptomatologie. Convulsionen, apopleküf. Anfalle. 355
am vasomotorische Reflexe grossen Stils von infracorticalen (Budge'schen
oder Not h nage l'schen) Krampfcentren aus. Die Ursache der auslösenden
Reize kann entweder peripher gelegen sein — erfahrungsgemäss ver-
mag eine Ueberftlllung der Blase oder des Mastdarms einen Anfall her-
vorzurufen, eine passive Bewegung, ein stärkeres Anfassen der hyper-
ästhetischen Haut nach einem Anfall, die sofortige Recidive zu bewirken —
oder central durch directe Einwirkung der im Gehirn aufgespeicherten
und durch die degenerirten Geftlsse nicht prompt wegzuschaffenden lym-
phatischen Stoffe (Burckhardt).
Seltener als die eben geschilderten paralytischen Convulsionen
sind die zeitweilig intercurrirenden apoplektiformen Anfälle.
Dieselben treten manchmal schon unter den Vorboten der Krankheit
auf (Paralysis congestiva s. u.), häufiger aber erst in den spätem
Stadien. Man trifft hier oft Kranke, welche ohne auffällige voraus-
gegangene Bewusstseinsstörungen plötzlich mehr oder minder ver-
breitete Paresen oder Paralysen — im Gesichte oder auf einer
Extrem itätenseite darbieten. Dieselben gehen in der Regel rasch
wieder vorüber. Sie können aber auch in Form von leichten Hemi-
paresen dauernd werden. Sehr bemerkenswerth ist, dass beinahe
ausnahmslos niemals Gontracturen (wie bei gewöhnlichen Apo-
plexieen) nachfolgen.
Die anatomische Ursache bilden höchst wahrscheinlich plötzliche intra-
cranielle Druckschwankungen in Folge von Störungen in der Vertheilung
des Liq. cerebrospinalis. Manchmal sind vielleicht auch einseitig stär-
kere Atrophieen in den motorischen Corticalisfeldern (Parencephalieen),
namentlich für die dauernden Hemiparesen, verantwortlich zu machen.
Wirkliche blutige Apoplexieen kommen, wie es scheint, der „typischen"
Paralyse nicht zu, sowie auch bei den in Rede stehenden Anfällen der
klassische apoplektische Insult fehlt.
c) Sensorielle und sensible Störungen. Erregungszustände in allen
Sinnesgebieten unter der Form von Hallucinationen sind nicht so
selten, am seltensten vielleicht die des Gehörs. Die letztern, wenn
sie vorkommen, haben keinen speeifischen Inhalt (Scheltworte,
Drohungen, Versprechungen, Musik, Thierstimmen). Häufiger sind
in den manischen Perioden die Visionen, welche vielen gewalttäti-
gen Acten der Paralytiker zu Grunde liegen. Geruchs- und Ge-
schmackstäuschungen mögen den häufigen Vergiftungswahn bedingen,
vielleicht in ihrer angenehmen Kehrseite auch die „Ambrosia"- und
„Nektar"- Genüsse, welche die Kranken aus den gewöhnlichsten Ess-
gegenständen zu kosten vorgeben. In den spätem Stadien erlöschen
die Functionen der zwei letztern Sinnesgebiete, mit dem fortschrei-
tenden Blödsinn Hand in Hand gehend, so zwar, dass die Kranken
für die hässlichsten Geschmäcke und Gerüche keine Empfindung
23*
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356
Die typische Paralyse
mehr haben. Interessant nnd bemerkenswerth ist, wie das paraly-
tische Krankheitsbild selbst dnrch die oft zahlreichen nnd mannig-
faltigen Sinnestäuschungen so wenig modificirt wird (Unterschied von
den andern mit Hallucinationen verknüpften Psychosen, speciell auch
vom Alkoholismus).
Von hohem klinischen Interesse sind die eigentümlichen Sehstörungen
gewisser Paralytiker (mit complicirenden Herdsymptomen im Hinterhaupts-
lappen, Fürstner). Die Sehstörung besteht darin, dass die Kranken den
vorgehaltenen Gegenstand zwar sehen, aber nicht psychisch erkennen
können. Sie sind also auf einem oder beiden Augen „seelen"blind. Die
betr. Fälle, welche stets vorgeschrittenen Krankheitsstadien angehören,
können wieder in Besserung, oder aber in totale Blindheit (Rindenblindheit)
tibergehen. Der Augenspiegelbefund ist normal. — Auch eine eigenartige
Asymbolie ist nach paralytischen Anfallen beobachtet worden (Wer-
nicke), wobei die Kranken — nach ihrem Gesammtverhalten zu ur-
theilen — zu sehen, zu hören und zu tasten vermögen, aber nichts desto
weniger die Fähigkeit, die sinnlich percipirten Dinge wiederzuerkennen
(zu „appercipiren"), eingebüast haben. Daher die grosse Rath- und Wil-
lenlosigkeit dieser Kranken nach einem solchen Anfalle, welche oft
Wochen lang dauert, bis sie wieder so viel Erinnerungsbilder aufgefrischt
haben, um sich wieder orientiren zu können.
Von sensorischen Reizzuständen im Acusticus im Verlauf der Para-
lyse ist die Beobachtung aus der Krankheitsgeschichte des Componisten
Schumann zu bewahren, wornach sich bei dem Patienten oft urplötzlich
ein bestimmter Ton einstellte, aus welchem sich immer weitere Melo-
dieen, und schliesslich ganze Ouvertüren entfalteten.
Die Sensibilität ist stets mitergriffen. Zwar im Beginne
weniger, so dass in diesem Momente eines der noch verlässlichsten
differentiellen Merkmale gegenüber dem chronischen Alkoholismus
gelegen ist — um so entschiedener aber im Verlaufe der Krankheit.
Manchmal tritt Anästhesie und Analgesie aber schon recht frühe au£
und bildet dann nicht selten die Grundlage für grössenwahnsinnige
Allegorisirungen (Federn am Körper, Engels-Metamorphose). In den
späteren Stadien erreicht die Gefühlsabstumpfung einen so hohen
Grad, dass die Kranken umfängliche Hautentzündungen (Phlegmonen,
Carbunkel) gar nicht merken, dass sie Attentate auf die feinstnervigen
Körpertheile machen, ohne den mindesten Schmerz zu äussern. Die-
selbe Anästhesirung erstreckt sich auch auf die inneren Schleimhänte,
und wird bald für die Urethra (bei Handhabung des Catheterismus)
wichtig. — Ein allgemein vorkommendes Symptom, namentlich im
Beginn und prämonitorisch, ist Kopfschmerz, besonders vorne,
theils diffus, theils halbseitig, und besonders nach geistiger Anstren-
gung (Geinüthsbewegung) hervortretend.
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Sensorielle and sensible, vasomotorische and trophiscbe Störungen. 357
Die sexuellen Functionen sind im Beginne der Krankheit (in
den Erregungsphasen) in der Regel erhöht, und bilden durch die oft
schamlose Weise ihrer Befriedigung sehr häufig den Ausgangspunkt der
compromittirendsten Handlungen, und namentlich auch crimineller Acte.
Später erlischt mit zunehmender Lähmung der anormale Drang und auch
die Function (unwillkürliche Pollutionen bei erschlafftem Gliede, Samen-
abgang bei Harn und Stuhlgang).
d) Vasomotorische und trophische Störungen. Zu den vasomo-
torischen Störungen gehören: stunden- und tagelange Fluxionen zum
Kopfe mit Papillen Verengerung, Röthung des Ohres und der betr.
Gesichtshälfte mit vollem, weichem, sehr frequentem Carotidenschlag
(oft mit Schinerzhaftigkeit des obern Halsganglions auf Fingerdruck ;
dies namentlich in convulsiven Anfällen). Manchmal sc h Hessen sich
plötzliche Hals- und Gesichtserytheme mit bedeutender Temperatur-
erhöhung an einen vorangegangenen leichten Alkohol-Reiz an. Sel-
tener sind Eruptionen von Zoster und auch Bronzed skin beobachtet
worden. Oft überrascht eisige Kälte der Extremitäten, manchmal
mit profusem Schweisse (letzterer nicht selten nur partiell, oder auch
einseitig) und tiefer sensorischer Benommenheit. Oft wechseln vaso-
motorische Krampf- und Lähmungszustände miteinander ab. Das
Körpergewicht ergibt für die ruhigen Schlussstadien eine Zunahme
(„Fettsucht" der Paralytiker).
Ueber die Temperatur Verhältnisse schwanken die Angaben. Scheidet
man die Einzelfälle aus dem Sammelnamen der „Paralyse" genauer, so
wird sich für die typischen Fälle keine dauernde Temperaturerhöhung
ergeben — accidentelle Zustände ausgenommen (vasomotorische Fluxionen,
Coprostasen, Decubitus u. s. w.). Dieses Moment scheint mir so wichtig,
dass ich darnach u. A. die reinen und andrerseits die modificirten (resp.
im Verlauf sich durch encephalitische und leptomeningitische Aflectionen
complicirenden) Fälle trennen möchte. Acute Hirnzufälle (Gonvulsionen)
bringen Temperaturerhöhung. — Bei vorgeschrittenen und in der Körper-
ernährung sehr reducirten Kranken finden sich in den manischen Erregungs-
zuständen (mit Neigung zum Sich-Entblössen und zur Unreinlichkeit) nicht
selten starke Temperatur ab fälle bis zu 34 und 3u° C. Agonal sind bei
marantischen Kranken Temperaturen sogar bis zu 22° C. beobachtet wor-
den; gegentheils hier aber auch wieder neuroparalytische Steigerungen
bis 42° C. und darüber.
Der Harn erleidet im Demenzstadium eine Abnahme im Volu-
men und der absoluten Menge an Harnstoff und Chloriden, unter
Zunahme des spec. Gewichts und vermehrter Neigung zur Alkales-
cenz. Der Phosphor- und Schwefelsäuregehalt desselben steigt in
der Periode des abnehmenden Körpergewichts trotz stärkerm Appetit
und fehlender Temperaturerhöhung. — Die Knochen, und darunter
namentlich die Rippen, werden — wohl in Folge des Verlustes von
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Die typische Paralyse.
Kalksalzen — brüchiger und fracturiren leichter. — Sehr häufig
entstehen bei den „dyskrasischen" und allen mechanischen Schäd-
lichkeiten sich aussetzenden Kranken Othämatome, sehr selten
Rhinhämatome. — Parenchymatöse Muskeldegenerationen
mit Hämorrhagieen (im Transversus abd.) sind gleichfalls beob-
achtet, wenn auch nur selten. Höchst interessant sind auch die
(allerdings nicht häufigen) Blutaustritte in die Haut in der Form
von Purpura, von grossen Blutblasen, von profusem Nasenbluten,
von „Blutschwitzen" hinter dem Ohre, endlich von Decubitus acutus
(trotz sorgsamster Reinlichkeitspflege). Auch Pemphigus acutus kommt
vor. Hartnäckige Blasenkatarrhe mit pyelitischen Affectionen sind
häufig, und meistens wohl die Folge von Urinretention. Etwas sel-
tener, aber doch noch zahlreich genug, sind ausgedehnte Haut-
Phlegmonen mit Neigung zu raschem brandigem Zerfall. Der
Decubitus chronicus führt manchmal zu Knochen -Cari es, sogar mit
contiguirender Entzündung der Rückenmarkshäute. — Ganz besonders
sind hier auch die häufigen Lungen hypostasen mit Entwicklung
lobulär pneumonischer Herde zu erwähnen, welche oft sehr rapid
sich entwickeln — ein Symptom der nachlassenden Vagusinnervation
der Lunge. — Auch die Haut geht trophiscbe Veränderungen ein,
indem sie in spätem Stadien oft trocken, spröde und leicht ab-
schuppend wird. Das Haar ergraut leicht, oder nimmt eine ganz
ungewöhnliche Farbennuance (Stich ins Grünliche) an; oft erscheint
Canities praematura, theils allgemein, theils partiell. Der Puls ent-
wickelt sich successive zu tarderm Charakter, übrigens ohne sphyg-
mographische Specifität.
Klinisches Krankheitsbild.
Die ausserordentliche Mannigfaltigkeit der klinischen Bilder, na-
mentlich auch nach Beginn und Verlauf, nöthigt zur getrennten Be-
schreibung. Ich stelle das am meisten typische Bild voran. Das-
selbe umfasst diejenigen Fälle, welche mit wesensgleicher Aetiologie
denselben Beginn und einen in den Hauptsymptomen gleichen kli-
nischen Verlauf zeigen, welche sich fast so ähnlich sind wie ein Ei
dem andern; daran knüpfen sich dann die anderen Typen entweder
als Modifikationen dieses ersten, oder als eigentliche Varietäten.
1. Typisches Bild. — Manische Form.
Der Beginn der Krankheit vollzieht sich still und geräuschlos in
Form einer immer auffallenderen Charakteränderung, wie sie oben ge-
zeichnet wurde. Der sonst gewissenhafte tüchtige Mann kommt etwas
weniger gut mit seinen Berufsgeschäften zurecht; sein Gedächtniss
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Specielle Symptomatologie. Manwche Form.
339
strauchelt; gewohnte, ja auffallenderweise sonst geläufigste Dinge voll-
ziehen sich fUr ihn schwerer. Zugleich wird die Stimmung reizbarer;
der geringste Widerspruch bringt ihn ausser sich, und entfesselt sofort
eine zornige Wallung, in welcher der Kranke seine eigene Selbstachtung
und zarte Herzensrttcksichten brüsk bei Seite setzt. Er wird heftig,
ja roh, gegen seine Angehörigen, ungezogen gegen seine Vorgesetzten.
Dabei ist intellectuell noch keine Einbusse zu bemerken, wenn man
die zeitweiligen Gedächtnisspausen abrechnet; Urtheil und Wissen
entfalten sich noch in der frühem Promptheit. Doch aber entdeckt
der tiefere Blick einen Allgemein-Zug von Apathie, welcher
sich über die geistige Persönlichkeit ausbreitet; der Kranke ist im
Ganzen stumpfer geworden : weniger Initiative, geschwächtes Interesse,
abnehmende FeinfUhligkeit — und dies Alles, ohne dass der Kranke
selbst es merkt. Er behauptet sogar gesunder wie je zu sein, und
wird bei der leisesten Insinuation des Gegentheils aufgebracht. Die
Stimmung ist heiter, nonchalant, oft duselig weinselig. Zwar fehlen
bei manchen Kranken auch zeitweilige trübe Stunden nicht, in welchen
sie ihren Defect gegenüber von früher fühlen, selbst vorübergehend
Einsicht äussern; aber Das geht vorUber. Schlaflosigkeit und allerlei
Missbehagen im Kopfe wird nicht lange schwer genommen, obwohl
der Kopfschmerz nicht selten heftig ist. Dabei ist wiederum be-
merkenswert!], dass Manche, welche in frühern Jahren oder jetzt, im
Beginn, an heftiger Migraine gelitten, sich mit dem wirklichen Ein-
tritt des verhängni 88 vollen Leidens erleichtert und schmerzfrei flihlen.
Bedenklicher wird für die Umgebung der Zustand des Kranken, wenn
die Gedächtnissdefecte, die Gemüthsschwäche, und die Verstösse gegen
das Decorum auch gegenüber der Aussenwelt zu Tage treten, wenn
der Kassenbeamte plötzlich seine Schlüssel stecken und ohne Wei-
teres sich wieder zurückgeben lässt, oder wenn der bis dahin wür-
dige Familienvater öffentliche Häuser ungenirt aufsucht, der feine
Gesellschafter plötzlich Zoten auftischt — und von alledem bei Vorhalt
wiederum nichts merkt, sondern höchstens in affectvollem Proteste auf-
fährt Nicht selten sind zu dieser Zeit schon leise motorische Defecte
nachweisbar, vor Allem in der Sprache (Häsitiren, Silbenstolpern), in
der Schrift (Wort- und Silben-Ellipsen); die vorgestreckte Zunge zittert
(s. o.) ; ungleiche Gesichtsinnervation und vasomotorische Kopffluxio-
nen intercurriren ; Pupillendifferenz tritt auf. Auch Conflicte mit der
Polizei und ernstere mit dem Strafgesetz werfen oft genug die bang-
sten Ahnungen und Schrecken schon in diese Periode.
Auf dieses einleitende — richtiger erste — Stadium der Krank-
heit folgt nun in der Regel eine manische Episode. Diese spielt sich
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360
Die typische Paralyse.
gewöhnlich zuerst in Form einer Mania mitis ab, mit dem Gehoben-
sein der Gesammtpersönlichkeit, dem gesteigerten Selbstgefühl, der
Euphorie, der Plänesacht und Kauflust. Aber bald klärt der para-
lytische Grössenwabn mit der Unendlichkeit des Inhalts, mit
der schrankenlosesten (oft poetischen) Phantasie als vorstellender
Form, und mit seiner absoluten Evidenz als Handlungsnorm des
Kranken — die Sachlage auch für die bis dahin ahnungslose Um-
gebung. In der That hat der Kranke damit bereits die riesige Höhe
der Bewusstseinsstörung beschritten; aus seinen Überschwenglich eu
Projecten schaut dieselbe Grössendimension seines Blödsinns. Nicht
selten werden in diesem Stadium Vermögen verschleudert, weil ja
des erträumten Reich tbums kein Ende. Erschüttert in seinen erwor-
benen Vorstellungsassociationen, unfähig für neue Perceptionen, dabei
absolut kritiklos, verfällt er immer tiefer in seine deliranten Ideen.
Tage und Wochen lang lebt er — wachen Sinnes — in der Welt
seiner Phantasieen. Er verspielt sich dabei wie ein Kind, beglückt
Über sein mit flitterhaften Fetzen drapirtes Costtlm, über seine ein-
gesammelten Kleinodien. Anderemale bricht er in tagelange Zorn-
tobsucht aus, wenn man seinen unsinnigen Begehren in den Weg
tritt. Aber auch von selbst steigert sich die Mania mitis oft zur
Mania gravis; mitten unter den Faseleien von Millionen und den
stolzen Ausrufen seines Weltkaiserthums beschäftigt sich der Kranke
mit sinnlosem Zerstören und Zerreissen, mit Schmieren und selbst
Kothessen — unter seiner Hand wandelt sich der hässlichste Schmutz
in Gold und Leckereien. Dazwischen treten auch wieder lucidere
Momente, und neben diese wiederum regellose Paroxysmen des heftig-
sten Tobens und blinder convulsiver Gewaltthätigkeit. Die Stim-
mung ist mit der Minute wechselnd: heiter und überglücklich, mit
jedem Dritten sich verbrüdernd, wird sie in jähem Umschlag ge-
bieterisch oder feindselig. Ebenso wechselt aber auch die Euphorie
und das maasslose Selbstgefühl mit verzehrender Hypochondrie und
Kleinheitswahn. Der „Gott" und „Kaiser" in einer Stunde ist in
der folgenden oder am andern Tage ein fluchbeladener Sünder oder
ein „armer Teufel" ; der „Uebergesunde" ein „rettungslos Kranker",
ein „in seinen Organen Verfaulter". Treten in diesen Paroxysmen
Hallucinationen auf, so nehmen diese in der Regel die Färbung der
Beeinträchtigung an: die Kranken schmecken Aasgeruch und Gift in
den Speisen, sie hören Schaffotandrohungen, sehen abgeschnittene
Köpfe, und reagiren mit der Angst des Verzweifelten auf jede Be-
gegnung mit den vermeintlichen Verfolgern. Man möchte einen epi-
leptischen Grundzug im psychischen Gebahren dieser hallucinatorisch
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Specielle Symptomatologie. Manische Form. Verlauf. Remissionen. 361
aufgeregten Paralytiker durchfühlen. Homi- und Suicidium sind nicht
selten, oft unerwartet raptusartig. Anderemale ziehen die wechselnd-
sten Sinnestäuschungen wirkungslos an dem umdämmerten Bewusst-
sein vorüber; die Kranken sind trotz ihrer rollenden Augen bald
wieder zufrieden, und lassen sich durch jede leichte Version ablenken.
In gleichem Schritt haben in der Regel die motorischen
Störungen mittlerweile zugenommen. Das Silbenstolpern ist
stärker, die Mitaction der Mundmuskulatur bei den forcirten Sprach-
intonationen zu einem begleitenden ataktischen Zittern geworden.
Die beschriebenen Defecte in Schrift und Gang nehmen gleichfalls
ihren charakteristischen fortschreitenden Decursus. Die Körper-
ernährung reducirt sich unter der oft Tag und Nacht fortdauernden
Aufregung, und der zeitweise geringen, oder ttberhastigen , oder
mit allerlei Ingredienzien vermengten Nahrungsaufnahme. Bei Gift-
wahn wird nicht selten das Essen vorübergehend ganz verweigert,
an euphorischen Tagen dagegen maasslos hinabgeschlungen. Oft
intercurriren vasomotorische Fluxionen; auch epileptiforme Anfälle
können jetzt dazwischentreten.
Merkwürdig und klinisch beachtenswerth ist das nicht seltene zeit-
liche Divergiren im Auftreten der specifischen psychischen Symptome
(Grössenwahn-Exaltation) und der motorischen Zeichen. So gehen manch-
mal die letztern längere Zeit voraus; in anderen Fällen ist das manische
Grössenstadium schon in voller BlUthe, und man kann nur erst schwierig
leise Sprachstörung oder Lippenataxie entdecken; speciell der „Gang"
hält oft sehr lange untadelig Stand. In wieder anderen Fällen schreiten
wieder beide Symptomen-Reihen pari passu voran.
Das manische Erregungsstadium selbst zeigt in Stärke und Dauer
eine ausserordentliche Variation in den Einzelfällen. So sehr der
Verlauf bis hierher einen oft bis in's Kleinste gleichen Symptomen-
kreis zeigt, so vielfach differiren die weitern Schicksale. Es kann:
1. das manische Stadium in seiner milden Form überwiegen und
nur vorübergehend sich zur Mania gravis steigern, aus welcher es
dann in ein Schwächestadium abfällt. Dieses letztere kann als erste
Etappe des definitiven Blödsinns dauernd werden, und gewöhnlich
unter wiederholten manischen Nachschüben, schrittweise, zu den
tiefern Schwächestufen vorschreiten; oder 2. es erfolgt aus dem
postmanischen Blödsinn eine langsame psychische und motorische
Erholung, welche sogar nicht selten eine Genesung vortäuschen
und sich auf Monate und selbst Jahresfrist ausdehnen kann. Es
sind dies die sogenannten Remissionen der Paralyse (s. u.),
bei deren klinischer Beurtheilung stets zu erwägen ist, dass der
Kranke eine empfindliche Einbusse durch den Anfall erlitten haben
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362
Die typische Paralyse.
kann, aber gleichwohl auch jetzt noch mit seinem Vermögen zu
glänzen vermag, sofern er zuvor reich an natürlichem geistigen
Capitale gewesen ; oder es kann 3. auf die Mania mitis oder gravis
eine melancholische Phase folgen mit dem charakteristischen Klein-
heitswahn, Selbstbesch'ädigungen, kindischer Hilflosigkeit, Nahrungs-
verweigerung; beide genannte Phasen können in der Folge mit
einander abwechseln (s. hypoch. Paralyse); oder endlich 4. es dauert
die manische Exaltation Jahre lang in wechselnder Intensität fort,
und geht beim Nachlass in das apathische Schlussstadium Uber. In
letzterem Falle rückt in das manische Symptomenbild der Blödsinn
schrittweise immer stärker herein: der Grössenwahn verliert seine
poetische Race, und wird immer kindischer.
Bemerkenswerth ist, dass die Kranken oft auf Jahre dieselbe Zahlen-
hyperbel, z. B. 80,000, beibehalten: sie sind 80,000 Jahre alt, haben
Su,000 Bände geschrieben, besitzen 80,000 Länder und Orden u. s. w.
(s. oben „manische Aphasie").
Endlich bleibt nur noch ein blöder Optimismus übrig. Die Vor-
stellungsassociationen werden trümmerhaft, so dass nur noch Worte
und dürftige Satzfragmente an einander gereiht werden; die Hand-
lungen werden triebartig automatisch (Schmieren, Sammeln); endlich
verlieren die motorischen Entäusserungen ihr psychisches Formge-
präge ganz, und der Kranke gesticulirt nur in schleudernden und
schlenkernden Bewegungen, ohne allen mimischen Ausdruck oder
accomodirten Zweck — automatischen Drahtpuppen ähnlich. Sprach-
lich tritt allmählich sinnloses Vociferiren auf, mit allen möglichen
und unmöglichen Modulationen der Stimme (s. o.). Complicirende
epileptiforme oder apoplektiforme Anfälle sind als weitere Varietäten
des Bildes längst und wiederholt dazwischen getreten (mit ihren oben
beschriebenen Nachwirkungen) ; doch gibt es auch sehr viele klassische
Paralysen ohne die genannten Insulte.
Das Schlussstadium ist das der definitiven und bleibenden
psychischen und motorischen Lähmung. Der Kranke wird zum
blödsinnig- apathischen Phlegma. Ohne Interesse, ohne Initiative,
ohne erwärmendes Gefühl schrumpft er immer mehr zur vegetativen
Maschine herab. Seine Tagesarbeit ist automatisches Sammeln, oder
sonst eine plan- und ziellose Entäusserung : Abreiben der Wände,
des Bodens, Zerzupfen von Kleidern u. s. w. Wird ihm entgegnet,
so erwiedert er reflectorisch brutal. Doch glimmen ab und zu auch
noch Fünkchen einer gemüthlichen Empfänglichkeit aus diesen aus-
gebrannten geistigen Kratern auf: eine Weihnachtsbescheerung bringt
ein freudiges Lächeln, oft die Thräne eines fühlenden Verständnisses
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Spec. Symptomatologie. Manische Form. Ausgänge.
303
hervor. Für freundliche Aufmerksamkeiten belohnt nicht selten ein
Druck der Hand. Motorisch ist der Kranke immer machtloser ge-
worden; er fällt ohne Unterstützung um, und muss sorgsam wie ein
Kind geleitet werden. Die Sprache ist zum anarthrischen Lallen ge-
worden. Die Blase versagt ihren Dienst. Katarrhe melden sich.
Pie Dysphagie gebietet sorgfältiges Ueberwachen der eingeflössten
Nahrung, welche nur noch in vorsichtiger Verkleinerung, bald nur
noch flüssig, beizubringen ist. Ab und zu rücken locale Paresen an,
welche bald wieder vergehen, bald auch bleiben. Der Kranke ist
so anästhetisch, dass er Wunden und Contusionen nicht mehr fühlt.
Viele zerkratzen sich die Haut, bohren sich mit den Fingern am
Auge, zerren am Penis bis zu groben Verletzungen. Decubitus stellt
sich ein, selbst bei sorgsamster Reinlichkeit und Wechsel der Bett-
lage (wenngleich eine genaue Beaufsichtigung, möglichst unter Druck-
vermeidung der bedrohten Körperstellen, prophylaktisch Vieles ver-
mag!). Immer mehr greift eine sich ausbreitende Vasoparalyse Platz,
mit Kälte der Extremitäten, lividen Wangen, elendem Pulse, zeit-
weiligem und endlich bleibendem Oedem der Füsse und abnehmen-
der Körpertemperatur. Endlich erfolgt der einzig erlösende Tod;
in der Regel entweder 1 . an Marasmus mit marantischer Thrombose ;
oder 2. an Senkungs-Pneumonie, gewöhnlich mit lobulären Herden ;
oder 3. an Convulsionen ; 4. an Delirium acutum; 5. an acuter Hirn-
lähmung mit frappanten Temperaturanomalieen und den Symptomen
des acuten Hydrocephalus internus; oder endlich 6. an acciden-
tellen Krankheiten, unter welchen Pneumonie (selten Phthise), Pleu-
ritis in Folge von Rippenbrüchen, Decubitus mit Septhaemie, Cystitis
und Pyelitis, ausgedehnte gangränöse Hauptphlegmonen in erster
Reihe stehen. Nicht selten sind auch Verschluckungen aus Dysphagie.
— Ueber „Genesungen" s. unten.
2. Klinisch-symptomcUologische Varietäten.
a) Das Krankheitsbild kann von Beginn an den oben geschilderten
hypochondrisch deliranten Charakter annehmen, mit fehlenden,
oder nur schwach angedeuteten (oft erst finalen) Grössenideen, andere-
male aber mit abwechselndem typisch entwickeltem Exaltationsstadium.
a) Aus einer prodromalen Zerstreutheit und Vergesslichkeit, verbun-
den mit reizbar affectivem Wesen, entwickelt sich eine ängstliche Ver-
stimmung mit nihilistischen Wahnvorstellungen (der Körper ist vernäht,
tu klein, ohne Ein- und Ausgangsöffnung, die Augen laufen aus; der
Kranke hat Niemanden mehr, muss verhungern, bei lebendigem Leibe
verwesen u. s. w.), mit ungleichen Pupillen, leichten Paresen im Gange
und der Zunge, Zittern der Hände, schmerzhafter Hyperästhesie, ge-
steigerter Reflexerregbarkeit. Der genannte Wahnkreis, verbunden mit
364
Die typische Paralyse.
grenzenloser Depression und der Rathlosigkeit des jetzt schon manifesten
Blödsinns, bleibt nun bestehen, und schreitet unter dem hypochondrisch-
melancholischen Bilde, nicht selten in alternirendem Typus, weiter, mit
immer universellerem Nihilismus, stupid ängstlichem Widerstreben, furcht-
barer Angst (dass durch die Excremente das Leben und die Gedanken
abgingen u. 8. w.) — bis endlich unter geistigen und körperlichen Re-
missionen nach und nach, oft auch rapid, ein Marasmus mit Vasoparese,
oder Convulsionen , Decubitus, allgemeine Furunculose mit Pyämie, die
Scene schliessen — hypochondrische Paralyse. Dabei ist Deiner-
kenswerth, dass manchmal die psychischen Lähmungserscheinungen von
den motorischen und sensibeln ungleich Uberholt werden, so dass der
körperlich schon ganz gebrochene und anästhetische Kranke noch Aber
Familienverhältnisse zu sprechen und theilweise richtige Krankheitsein-
sicht zu äussern vermag. Es gibt Fälle, in welchen während des Krank-
heitsverlaufs eine vollständige Klarheit Uber die Entwicklung des Leidens
erhalten bleibt
Oder aber ß) die hypochondrische Modification bildet einen Act, und
zwar den ersten, des Dramas, schliesst mit einer Remission, und nach
dieser setzt ein klassisches exaltirtes Grössenstadium ein. Dieses kann
nun bis zu Ende bleiben, oder nochmals mit der hypochondrischen Form
abwechseln (circuläre Paralyse).
In einer y) Modification endlich setzt die Krankheit mit einem Ver-
folgungswahn mit Täuschungen aller Sinne (und den charakteristischen
motorischen Zeichen) ein; im Verlauf baut sich auf die hallucinatorischen
und illusorischen Missempfindungen eine umfassende (echt paralytisch ge-
färbte) Hypochondrie auf, unter Fortdauer des Verfolgungswahnes und
der Uallucinationen. Im Verlaufe schieben sich einzelne Züge von para-
lytischem Grössenwahn ein, bleiben aber — den hypochondrischen gegen-
über — viel maassvoller, weniger fixirt, und wechseln mehr. Die Stim-
mung ist vorwiegend eine verdrossene und unzufriedene, dabei wandelbar,
leicht weinerlich ; das Gemtlth erhält sich in seinen frühem edeln Zügen
und Regungen, selbst gegenüber den Anfechtungen der Sinnestäuschungen,
auffallend geschont Das Gedächtniss dagegen zerfällt ganz; Personen-
verwechslung. Die Willensäusserungen determiniren sich immer mehr
auf das zähe Festhalten verkehrter Bestrebungen. Successiver geistiger
Marasmus und Lähmung mit intercurrenten, manchmal ansehnlichen, Re-
missionen.
b) Die Krankheit beginnt mit dem gewöhnlichen Prodromal-
stadium der Zerstreutheit und reizbaren Verstimmtheit, wobei eine
allgemeine geistige Schwäche prägnant im Vordergründe steht,
mit Verlangsamung der intellectuellen Leistungen.
Dabei ist bemerkenswert!), dass ein verhältnismässig gesundes Urtheil,
soweit es die gewöhnlichsten Verhältnisse betrifft, oft durch eine längere
Zeit, sogar neben tiefen und groben „Schnitzern" im Denken, sich er-
halten kann. Auch die GemUthsseite des Seelenlebens bleibt — ganz
im Gegensatze zum typischen Verhalten — oft noch vergleichsweise lange
conservirt, und behält neben der leichten Bestimmbarkeit und dem nn-
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Spec. Symptomatologie. Hypochondrische Paralyse; primär demente Form. 365
motivirten Wechsel der Stimmung (der kindischen Laune) ein grosses
Wohlwollen und eine zarte Rücksicht bei, welche in wohlthuender Weise
lange noch die ursprungliche Humanität des Kranken und den Adel seines
Herzens erkennen lassen. Auch bei dieser Varietät können psychische
Exaltationsphasen sich einschieben, aber doch nur in vergleichsweise be-
scheidenem Maasse. Dies gilt namentlich vom Grössenwahne , welcher
sich hier nur in sehr massige Höhen versteigt (reiche Heirath, ansehn-
licher Güterbesitz), und bei entgegengehaltenen Vernunftgründen sich vor-
übergehend, oft bis zur Tiefe der Wirklichkeit, ermässigen läset. Die
Kranken benehmen sich auch ruhig und geordnet, fügen sich in die Haus-
ordnung, sind zu Allem bereit, freundlich im Umgang, reinlich in der
Kleidung, aber ganz ohne Interesse, nur die Andern gewähren lassend.
Die Sprache ist gedehnt, langsam, stotternd; die Zunge zittert in charak-
teristischer Weise und weicht seitlich ab; die Pupillen sind träge und
ungleich, die Innervation des Gesichts hängend, der Stand der Beine ge-
spreizt , der Gang unsicher, grosses Müdigkeitsgefllhl u. s. w. Die ma-
nische Phase (wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann)
vollzieht sich in einem unbestimmt wechselnden, kleinlichen und erfolg-
losen Drängen und Streben, in einer gesteigerten Geschäftigkeit, wobei
der Kranke tausenderlei unternimmt, aber nichts fertig bekommt, weil er
Alles zerstreut, abspringend, unüberlegt, ungeschickt angeht. Viele brau-
chen Stunden zur Erstellung ihrer bescheidenen Toilette, machen dasselbe
Geschäft zehnmal des Tages, mustern täglich ihre Briefschaften, Effecten,
arrangiren ebenso oft ihr Zimmer, behandeln jeden Gegenstand mit lächer-
licher Aufmerksamkeit und Subtilität. Dazwischen kommen hypochon-
drische Sorgen Uber jede Bagatelle, worüber sie dieselbe drangvolle Aengst-
lichkeit äussern. Zu anderen Zeiten schieben sich Perioden von grösserer
oder geringerer Hemmung und Aufhebung alles Geistigen ein : da stehen
die Kranken lange auf Einem Flecke, starren ins Blaue, verharren halb
angezogen in sonderbaren Attitüden, reagiren auf keinerlei Ansprache,
lassen willenlos mit sich geschehen, was nöthig ist, oder leisten passiven
gereizten Widerstand.
Rasch zunehmende Indolenz mit colossalen Verstössen gegen
Anstand und Sitte (schamloses Sich - Entblössen auf offener Strasse,
blödsinniges Stehlen n. s. w.), Parese in Armen und Beinen, in der
Sprache — ohne eigentlich ataktischen Charakter — ist gleich im
Beginn, oder sehr bald nachher, nachzuweisen. So schreitet der
Zustand progressiv voran (in manchen Fällen ausserordentlich lang-
sam), psychisch immer höhern Blödsinnsstufen, körperlich einer immer
umfänglicheren Lähmung zusteuernd. Nicht so selten kann aber
auch (und zwar vergleichsweise häufiger als in der typischen Pa-
ralyse) eine namhafte Besserung mit theilweiser Krankheitseinsicht,
und bedeutender Ueduction der Grössenideen eintreten, so dass der
Kranke dieselben für gewöhnlich zu unterdrücken vermag.
Eine andere Verlaufsmodification dieser Unterart zeigt im Ganzen
keinen psychischen Exaltationszustand ; namentlich fehlt jede specifische
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36G
Die typische Paralyse.
Grössenidee; nur eine blödsinnige Euphorie — das Gefühl eines glück-
lichen Seins — erhellt subjectiv die zunehmende geistige Umnachtung.
Zeitweilige vasomotorische Krampf- resp. Lähmungszustände mit glühend
heissem Kopfe (Temperatur bis 41°) und eiskalten Extremitäten inter-
curriren; in anderen Fällen dagegen schieben sich (manchmal in perio-
dischen Intervallen) Aufregungszustände ein mit Optimismus, oder auch
mit delirantem Toben und Zerstören und tiefer Benommenheit des Be-
wusstseins. Der Tod erfolgt unter den gewöhnlichen Ausgängen der
Paralyse, worunter acute Hirnlähmung und Convulsionen, manchmal auch
Apoplexieen, bevorzugt sind.
Nicht so selten täuscht der Anfangsverlauf dieser b) Variation eine
Schwäche- Melancholie mit vager Verstimmung, weichlichem, thränen-
bereitem Wesen und grosser Rathlosigkeit vor, während die moto-
rischen Symptome vorerst verdeckt bleiben. Die Unfähigkeit leichte
Briefe zu schreiben, einfache Zahlen zu addiren, Lapsus memoriae etc.
lassen aber bald den Blödsinn aus dem Krankheitsbild herausschauen.
Oft laufen stupid-manische Erregungszustände dazwischen, nach deren
Abklingen jetzt erst die Parese auftritt und oft so rasch zunimmt,
dass der nunmehr declarirte Paralytiker in wenigen Wochen dem
letalen Ausgange entgegen galoppirt.
Nach acuten fieberhaften Krankheiten tritt manchmal ein acuter
Blödsinn mit acuter Ataxie auf, welcher wieder in Heilung Ubergeht. Einen
solchen Fall beobachtete ich im Nachstadium von Variola. — Häufiger tritt
nach Typhus, und zwar im vorgeschrittenen Reconvalescenzstadium, eine
chronische „Paralyse" auf in der vorbeschriebenen modificirten klinischen
Form: Gemüthsstumpfheit, Interesselosigkeit, Mangel an Initiative, kin-
dische Pläne, welche nicht gerade hochgehen, aber doch im Missverbält-
niss mit der Situation des Kranken stehen, Ungeschicklichkeit im Ge-
schäfte, Verlust des Decorum, inhaltlose Geschäftigkeit, negirendes Ver-
halten, hypochondrische und nihilistische Ideen (es gibt nichts in der Welt,
weder Tag noch Nacht, Alles ist zu gross oder zu klein, zu eng oder
zu weit, der Kranke hat keinen Kopf, keine Augen u. s. w.); Zerfall der
Ernährung. Die motorischen (paralytischen) Symptome treten erst spat,
manchmal sogar erst ganz am Schluss des Krankheitsverlaufs ein (ge-
spreizter Gang, langsame und undeutliche Sprache, Zittern der Zunge,
fliegende partielle Muskelkrämpfe, Blasen- und Mastdarm-Paresen). Auf-
fallend ist in manchen Fällen die lange Erhaltung des Gedächtnisses. —
Auch viele der schwereren Kopf-Trauma-Psychosen wandeln das geschil-
derte Krankheitsbild ab (s. auch die Psychosen nach Kohlenoxydvergiftung
und Strangulation, unter der primären acuten Dementia S. 228).
3. Varietäten im klinischen Verlauf.
a) Der Krankheitsbeginn kann statt des stillen und geräusch-
losen Prodromalstadiums mit sehr ausgesprochenen vasomotori-
schen Attaken — Fluxionen zum Kopfe mit apoplektiformen
Anfällen, heftigem Kopfweh, Aphasia fugax, Zufallen der Ohren;
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Spec. Symptomatologie. Varietäten im klinischen Verlauf. 367
oder mit vasomotorischem Gefässkrampf (Eiseskälte der Extremitäten,
Ohnmachtsanwandlungen) — - einsetzen, woran sich direct das manische
Grössenstadium anschliesst. — In einer Anzahl von Fällen gehen
gewisse motorische Symptome (Sprachhemmungen) den psychi-
schen längere Zeit voraus; doch dürfte für die genauere Beobach-
tung hierbei eine, wenn auch noch so leise, psychische Schwäche
(Gedächtnissdefect) nie fehlen.
In einem Falle meiner Beobachtung trat ohne alle und jede Vor-
zeichen ein plötzliches Starrwerden des bis dahin gesunden Mannes auf,
so dass derselbe den Löffel nicht mehr aus der Suppe zu heben ver-
mochte, und erst durch Bestreichen mit Essig wieder zu sich und zu der
Empfindung kam, als ob er aus einem schweren Schlafe erwacht sei.
Darauf einige Tage volle Componirtheit ; nachher zunehmende Reizbarkeit,
dann Plänesucht, und jetzt erst leiser Beginn der motorischen Störungen.
Dieser Varietät steht eine andere gegenüber, die sog. Lunier-Bail-
larger'sche Paralyse, in welcher das ausgesprochene psychische Bild
die Scene eröffnet, mit kaum schwacher Andeutung motorischer Symptome
(in der Sprache), und erst allmählichem Einrücken der charakteristischen
Bewegungsstörungen.
b) Der Anfang der conclamirten Paralyse erfolgt nicht als selbst-
ständige und erste Erkrankung, sondern als Folgestadium einer
vorausgegangenen andern Psychose, entweder direct oder
mit zwischenliegendem längeren oder kürzeren euphorischen Inter-
valle. Die vorausgegangene Psychose kann dabei entweder 1.
keine Andeutung auf die nachfolgende Paralyse enthalten; oder
aber 2. es finden sich bereits Anfangs leise motorische Symptome
(Pupillenungleichheit, unsicherer Stand auf den Beinen, leises Schwan-
ken beim Aufstehen, aber intacte Sprache!).
Als solche einleitende Acte des spätem definitiven Dramas sind be-
obachtet: Manie, hypochondrische Melancholie mit grosser psychischer
Reizbarkeit, Verfolguugswalinsinn. Ich beobachtete in demselben Verlaufs-
zusammenbang auch initiale Melancholie mit grosser Indifferenz und einer
bis zur schmerzlichsten Verzweiflung gehenden Rathlosigkeit bei jeder
Leistungsansprache, und leisen motorischen Symptomen ; darauf folgte eine
psychische Reconvalescenz von mehrern Monaten, wobei nur die Pupillen-
differenz blieb; dann Rückfall von Melancholie, aber jetzt mit ganz stu-
pidem Charakter und heftigstem Selbstmorddrang, mit denselben immer
noch schwach ausgeprägten motorischen Begleitzeichen. Nun abermalige
vollständige Erholung von fast einem Jahre. Darauf Ausbruch einer ma-
nischen Paralyse mit Grössenwahn und galoppirendem Verlauf.
c) Der Verlauf kann ein auf viele Jahre langgestreckter,
oder gegentheils kurzer sein (mehrere Monate). In letzterm Falle
können Convulsionen (als Ursache) dazwischen treten, oder aber
complicirende acute Hirnzufälle (Hämatome); oder: es steigert sich
368
Die typische Paralyse.
die manische Erregung in das Delirium acutum; oder endlich: der
gesammte Paralyseprocess entwickelt sich zum galoppirenden Ver-
lauf (durch acute Leptomeningitis , s. Cerebropath.) , oder scbliesst
durch einen rapiden Marasmus ab.
d) Es kann nach einem anfänglichen länger oder kürzer (einige
Wochen resp. Monate) dauernden Grössenwahnsinnsstadium mit den
charakteristischen motorischen Störungen in der Sprache, in der
mimischen Innervation, in der Pupille u. s. w., ein successiver Nach-
laB8 der Erscheinungen folgen, mit Rückkehr in einen geistigen
Normalzustand (s. u.), welcher nicht selten sogar Krankheitseinsicht
aufweist
Derselbe unterscheidet sich aber von der tadellosen Gesundheit
intellectuell durch eine wenn auch oft nur leise geistige Müdigkeit,
durch rasche Erschöpf barkeit, durch die fortdauernde Neigung des Re-
convalescenten seine Verhältnisse, Kräfte und Kenntnisse, wenn auch io
bescheidenem Maasse, zu überschätzen; gemüthlich durch Oberfläch-
lichkeit und leichtere Beweglichkeit, oft durch eine rührselige Stimmungs-
weichheit; charakterologisch durch Minderung der Männlichkeit, der
Gesetztheit im Benehmen und Auftreten. Sprachstörungen können in ge-
mindertem Grade dabei fortdauern — in einem meiner neueren Fälle
blieb eine beiderseitige Myosis persistent — aber in ganz seltenen
Fällen nach und nach gleichfalls verschwinden. Das sind die geheilten
Paralysen, welche sich bis jetzt erst auf sehr vereinzelte Beobachtun-
gen beschränken, gleichwohl aber wenigstens die Möglichkeit einer
Restitutio bezeugen.
In beschränkterm Grade erfolgt die Rückbildung der Krank-
heitssymptome nicht so selten und zwar in den verschiedensten
Epochen des Verlaufs, gewöhnlich nach der Initial - Manie ; aber
selbst noch manchmal nach der viel spätem Nihilismus - Periode.
Die Kranken bleiben in einem ruhigen Schwachsinnszustand, meist
mit depressiver Stimmung und einem eigensinnig reizbaren Wesen;
arbeiten sich aber unter günstigen Verhältnissen noch weiter zu
einem ruhigen gelassenen Benehmen mit beschränkter Krankheits-
einsicht und Leistungsfähigkeit in ihrem Berufe hinauf. Das sind
die sog. lucida Intervalla der Paralyse. Dieselben stellen
keine eigentlichen Intermissionen, sondern nur Remissionen der
Krankheit dar.
Der Kranke ist während derselben nicht als gesund, und forens nicht
als imputationsffihig zu betrachten. Diese Remissionen sind nicht immer
leicht zu erkennen, namenlich dann nicht, wenn die initiale Manie nur
das „paralytische" Gepräge im Allgemeinen, nicht aber zugleich auch die
charakteristischen Bewegungsstörungen dargeboten hatte.
Die Verlaufsdauer des paralystischen Processes ist eine ver-
schiedene. Nach ziemlich übereinstimmenden Beobachtungen ist sie
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Spec. Symptomatologie. Lucida iutervalla. Verlauf. - Pathol. Anatomie. 369
überwiegend in die Frist der ersten zwei bis drei Jabre einge-
schlossen. Es gibt aber auch Fälle von 5 — 6jähriger Dauer, sowie
gegentbeils andere von nur mebrmonatlicbem Verlauf (s. o. und unter
„modificirter Paralyse").
Selbstverständlich spielen in der Krankheitsdauer, ausser inter-
currenten innern Erkrankungen oder möglichen UnglUcksereignissen,
auch die von der Cerebralaffection selbst bedingten Zufälle eine
grosse Rolle (apoplektiforme und epileptoide Convulsionen).
Pathologische Anatomie.
a) Makroskopisch.
1. Verdickung des Schädels — Hyperostose, theils allgemein,
theils vorwiegend die Glastafel betreffend, hier oft in Form warziger
Osteophyten mit reicher Canalisirung; an der Schädelbasis dagegen sehr
oft osteoporotischer Schwund (durch Druck des Schädelinhaltsj.
Die Dura ist fast regelmässig verdickt und fest mit dem Schädel-
dach verwachsen, oft so, dass sie nicht mehr, oder nur mit Zerreissung,
gelöst werden kann. Die Innenfläche ist theils intact, glatt und glänzend,
theils aber auch mit aufgelagerten zarten fibrinösen oder rosigen Häut-
chen streckenweise belegt.
2. Diffuse Trübung und Verdickung der Leptomenin-
gen, ausgehend von der Umgebung der Gefässe, meistens ohne Adhä-
sionen an die unterliegende Corticalis, oder letzteres nur auf kleinere herd-
weise umschriebene Strecken. Manchmal finden sich in der Pia entweder
oberflächlich, oder in das Gewebe eingeschlossen, knötchenförmige An-
häufungen von Epithelzellen (Epithelgranulationen). In den weissen oder
weiss-gelblichen Verdickungen sind manchmal kleine Stecknadel- bis hirse-
ko rüg rosse Herdchen von derber Consistenz eingesprengt. Die verdickte,
in toto oft milchglasartig transparente Pia ist — den unterliegenden
atrophischen Windungspartieen entsprechend — fast ausnahmslos zu-
gleich der Sitz eines mehr minder hochgradigen Oedems. Die Piaaffection
betrifft vorwiegend Stirnhirn (oft mit Uebertritt auf die Orbitalfläche),
Centraiwindungen, meist auch noch iuclus. der obern Parietalwindung
und der ersten Temporal windung; die übrigen Windungen des Scheitel-
und Hinterlappeus, sowie des Temporallappeus, sind in der Regel mit
einer zarten Pia bekleidet. In den Anfangsstadien überwiegt der activ
congestive Zustand der weichen Häute : in den spätem Stadien, und mit
Zunahme der Trübungen, wird die Blutfülle geringer und vorwiegend
venös, oft mit geschlängelten dicken Venen durchzogen.
3. Atrophie des Gehirns (in vorgerücktem Stadien) und zwar
in überwiegender Häufigkeit nur in dem Bereich der eben beschriebenen
Piaverdickuugen: Stirnhirn und Central Windungen sammt oberer Tem-
poral- und Scheitelwindung bieten die für Atrophie beanspruchten Cha-
raktere der Verschmälerung, Kammverschärfung, Kerbung der betreffen-
den Gyri mit entsprechender Verbreiterung der Sulci. Treffen damit
Einsiukungen der in ihrem Volumen reducirten Gyri unter das Niveau
der Übrigen zusammen, so entstehen umschriebene, mit Piaödem ausge-
Schftle, GeusUwkrankheitea. 3. Aull. 21
370
Die typische Paralyse.
glichene Parencephalieen. Sehr häufig ist eine Hemisphäre atrophischer
als die andere ; oft sind einzelne Windungen oder Windungspartieen in
auszeichnendem Grade betroffen (klinisch topographisch wichtig !). Atro-
phie der übrigen Windungen der Convexität kommt auch vor, aber ver-
gleichsweise selten, und nie so bevorzugt, als die der genannten, vorzugs-
weise das Pyramidengebiet umfassenden Partieen. Manchmal finden sich
in der Rinde kleine Cystchen. In einzelnen Fällen ist die Rinde dünn
und weich, und lässt sich ganz oder schichtenweise von der verhär-
teten Marksubstanz abheben. (Bai 11 arg er, Rey.) — Das Gewicht
des Gehirns kann von 1350 (bei Männern resp. 1200 bei Frauen) bis
auf 1200 resp. 1000 herabsinken. Als Folgezustand der Stabkranz-
atrophie findet sich in den Endstadien regelmässig Erweiterung der
Ventrikel mit Hydrocephalus internus, und sehr gewöhnlich
auch Granuli rung des Ependym's (oft chagrinartig und reibeisen-
förmig wie eine „Katzenzunge"). Die Plexus sind nicht selten cystös,
manchmal psammomatös, entartet.
4. Myelitis — bald total, bald nur in den Hinterseitensträngen,
bald auch noch in Verbindung mit Myelitis des grauen Kerns. Auch
graue Degeneration. der Hinterstränge wird hie und da beobachtet. Sehr
oft ist Leptomeningitis spinalis zugegen. — Was die Beziehung der spi-
nalen zur cerebralen Affection anlangt, so ist hier ein allgemeiner Modus
nicht festzustellen; wahrscheinlich sind es zum grössten T heile se-
cundäre Degenerationen von bestimmten cerebralen Ernährungscentren
aus, welche durch den Paralyseprocess in Ausfall gekommen sind; viel-
leicht dürfte man an die Ausschaltung der psychomotorischen Rinden-
centren denken, obwohl der Nachweis der Körnchenzellen bis über die
Basalgangl ien hinauf noch nicht gelungen ist. Zum anderen Theil
sind aber zweifellos auch idiopathische Spinalprocesse im Spiel, und zwar
sowohl secundäre (von den Leptomeningitiden ausgehend), als auch pri-
märe, in Form chronisch myelitischer Herderkrankungen mit secundarer
Entartung durch Leitungsunterbrechung.
b) Mikroskopisch.
Die Veränderungen in der Corticalis betreffen in den verschiedenen
Stadien, speciell in den Schlussstadien: 1. die Gefässe; 2. die Gan-
glien und feinsten markhaltigen Nervenfasern; 3. die Giia-
u> Anfangsstadien der Krankheit und Krankheitshöhe:
1. Die Gefässe: a) Hyperämie; und zwar betrifft die Blutfillle
vorzugsweise die Innenzone der Corticalis; b) Erweiterung des Gefäas-
lumens, bald allgemein, bald umschrieben als aneurysmatische Verände-
rungen des Gefäs8rohre8; c) Verdickung der Gefässwände mit bestäubtem
oder aber opakem Aussehen, nicht selten mit Beeinträchtigung des Ge-
fässlumens; d) Vermehruug der Gefässkerne, Durchsetzung des Gefass-
rohres mit Rundzellen (eingewanderten Leukocyten?) mit nachfolgender
theils fettiger, theils colloider, theils pigmentöser Umwandlung.
2. Die L y m p h b a h n e n sind mit Leukocyten und vereinzelten
rothen Blutkörperchen, sehr oft auch mit Hämatoidinkugeln , mehr oder
weniger angefüllt und überfüllt; so namentlich an den Theilungsstellen
resp. Astwinkeln der Gefässe. — Es ist zu bemerken, dass nicht alle
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Pathologische Anatomie. Mikroskopische Befunde. 371
Corticalispartieen die beschriebenen mikroskopischen Veränderungen zei-
gen, und auch nicht gleichmässig; neben stark veränderten Stellen finden
sich angrenzend viel weniger afficirte, selbst anscheinend normale. Am
stärksten ergriffen erweisen sich in der Regel die Stirn- und Centrai-
windungen.
ß) In den Endstadien der Krankheit zeigen sich die histo-
logischen Weiterentwicklungen dieser eben beschriebenen Befunde:
a) Anämie der Gefässe durch Beeinträchtigung des Lumens in Folge
von Gefässwandprocessen und interstitiellen sklerosirenden Gliavorgängen;
b) Verengerung der Gefässlumina durch Ilypertrophirung der Ge-
fässwand, partielle Gefässobliteration in Folge von fibrillärer Entartung
und colloiden Embolieen; umschriebene oder ausgedehntere fettige und
pigmentöse Degenerationen der protoplasmatischen Gefässröhren und der
eingelagerten Rundzellen (Fettkörnchen -Kugeln; jedoch erst in den tie-
feren Hirnpartieen und von da an nach abwärts vorkommend);
c) hochgradige Erweiterung der Lymphbahnen bis zu klaffenden
Lücken (etat crible\); in weiter gediehenen Fällen mit Folgewirkung auf
das Corticalispareuchym, in welchem sich durch die Lymphstauung stellen-
weise ein grobporöses Maschenwerk (löcherigem Käse vergleichbar) bildet,
welches oft bis zu makroskopisch wahrnehmbaren Cystchen sich erweitert
mit eingespannten Septa; daneben Druckrarefaction der Hirnsubstanz;
d) zunehmeuder Belag mit Pinselzellen ; Vergrösserung der Saftzellen
mit protagonartiger Umwandlung des Inhalts. In den letzten Endstadien
Schrumpfung der Spinnenzellen mit derber und glänzender werdendem
Contour und Fortsätzen;
e) die Ganglien zeigen alle Bilder des molekularen Zerfalls und der
Schrumpfung: Untergang des Kernkörperchens, bestäubtes Aussehen, pig-
mentöse und schollige Entartung, Sklerosirung, Vacuolenbildung. — Die
markhaltigen feinsten Nervenfasern der Rinde schwinden schon in früheren
Stadien der Krankheit, und zunehmend mit deren Fortschritt (Tuczek).
Die G 1 i a zeigt in den Anfangsstadien der typischen Paralyse keine
Aenderung. Später wandelt sie sich um in eine homogene, mattglänzende
Masse, mit Untergang der lichtbrechenden, molekulären KUgelchen (Ver-
mehrung der Kittsubstanz, Untergang des höher organisirten Eiweiss-
stoffes). Die homogene Grundmasse kann sich in Fasern zerspalten und
der Glia stellenweise ein filzartiges Ansehen geben. Auch die Arach-
niden können in den Endstadien des paralytischen Hirnschwunds eine
sichtliche Vermehrung erreichen; daneben finden sich in der Regel zahl-
reiche Kerne mit geringer Protoplasmaschicht (ausgewanderte Leuko-
cyten?). Vielleicht reichen die gegen Schluss immer zahlreicheren Amy-
loidkörper auf denselben Ursprung zurück.
Einzelnemale ist „colloide" Degeneration der Corticalis (Glia und
feinste Gefässe) beobachtet worden, vornehmlich in der hypochondrischen
Paralyse ; auch graue Degeneration resp. Sklerose des subcorticalen Mark-
streifens (Meschede, Tuczek).
Die beschriebenen Veränderungen des Markschwundes der Nerven-
fasern mit Einstreuung von Körnchenzellen, Amyloidkugeln, Verdickung
und Sklerosirung der Gefässe und der Glia lässt sich auch durch die
Marklager des Grosshirns in den Linsenkern (StreifenhUgel), und durch
2i*
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372
Die typische Paralyse.
HirD8chenkel und die Pyramidenbahn nach abwärts in das Rückenmark
verfolgen.
Im Kleinhirn ist Sklerosirung der Purkinje'schen Zellen beob-
achtet worden.
Im Rückenmark findet sich gewöhnlich Myelitis der Seiten- und
Hiuterstränge in wechselnder Ausdehnung und Configuration ; es kommen
die Bilder der abwärts steigenden Degeneration, der primären Myelitis
und der consecutiven aus Leptomeningitis, bald rein, bald gemischt, bald
strangweise, bald mehr unregelmässig localisirt vor (s. auch „tabische
Paralyse").
Peripher vorgefundene Veränderungen sind nicht constant. Ver-
fettung des Herzmuskels, Hämatombildung in Stammmuskeln wird gelegent-
lich beobachtet. —
Versuchen wir aus den reichhaltigen pathologisch -anatomischen
Befunden diejenigen Thatsachen zu resumiren, welche zu einer ab-
schliessenden Diagnose und im Weiteren (mit den klinischen) zu
einer nosologischen Charakteristik der Paralyse (in ihrer
klassischen Form) zu verwerthen sind, so begegnen wir: makro-
skopisch einer chronischen Ernährungsstörung des Gehirns und
theilweise auch des Rückenmarks mit Ausgang in Atrophie und mit
(secundärer) Betheiligung der Hirnhäute; mikroskopisch in den
Endstadien des vollentwickelten Leidens einem Schwund der corti-
calen Ganglienkörper und der Associationsfasern, zugleich mit Dege-
neration der Gefasse und (secundärer) Umwandlung bezw. Vermehrung
der gliösen Elemente.
Nehmen wir die klinischen Thatsachen und die Momente aus
der Aetiologie und Biologie zur Vervollständigung noch hinzu, so
charakterisirt sich der Paralyseprocess klinisch und ätiologisch
als eine auf der Lebenshöhe des Individuums sich vollziehende früh-
zeitige Involution, und zwar eines Uberreizten, functionell turges-
cirenden Gehirns; anatomisch als ein allgemeiner Atrophirungs-
Vorgang, speciell der Rinde, und zwar in bestimmten Abschnitten des
Grosshirns, mit Zerfall der Nervenelemente, secundärer Gliaverdich-
tung, den Residuen stattgehabter Fluxionen und Lymphstauungen im
Gehirn und in den Häuten.
Man hat sich gewöhnt für alle diese Befunde summarisch
die Bezeichnung einer „Periencephalitis chronica diffusa" einzuführen,
ist aber den Beweis schuldig geblieben, dass es sich um eine primär
entzündliche Natur des anatomischen Processes handelt
Geht man vorurteilslos an die Analyse der Befunde und zwar
aus den entscheidenden Anfangs- und Höhestadien der Krankheit,
so vermag man nur 1. einen congestiven Zustand der Hirnrinde, und
2. die Zeichen einer mehr oder minder vorgeschrittenen Atrophie
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Versuch einer Nosologie.
373
der nervösen Elemente zu erkennen. Eigentliche Reizungs Vorgänge
an diesen und an der Glia sind nicht vorhanden, oder nur bei in-
dividuellen Complicationen. Die Degeneration der Ganglien, der
Schwund der Nervenfasern, die histologische Umwandlung der Zwi-
schensubstanz unterscheiden sich nicht wesentlich von den Involutions-
vorgängen des senilen Gehirns, welche wir auch nicht als entzünd-
liche auffassen. Die Verdickung und Trübung der Pia kann ganz
gut als Folge der chronischen Hyperämieen und der Lymphstauungen
erklärt werden, ohne dass man eine primäre chronische „Meningitis"
zu unterschieben nöthig bat, wogegen auch die klinischen Zeichen
(Temperatur) Bedenken erheben, noch mehr aber die makroskopische
Thatsache, dass gar nicht selten jeder gewichtigere Befund an den
Meningen überhaupt fehlt, trotz zweifelloser typischer Paralyse.
Für einen Theil von Fällen dürfen wir nach dem Sections-
ergebniss direct die Einreihung unter die senil-atrophischen Zustände
beanspruchen. Sie repräsentiren ein Senium praecox in den Jahren
cerebraler Vollkraft; bei diesen erscheint die Paralyse als eine kli-
nische Form der Degenerescenz, wozu oft genug die Keime in allerlei
anomalen charakterologischen Eigenschaften schon im Vorleben vor-
handen waren. — Ein anderer, und zwar grösserer, Theil von Para-
lysen lässt aber eine schlechthinnige Vermischung mit den Alters-
Involutionen nicht zu. Bei diesen ist in allen Stadien des Leidens
eine Betheiligung des Gefässsystems in Form einer starken Con-
gestionirung mit Dilatation der kleinsten Gefässröhren, und zuneh-
mend (in den spätem Stadien) einer Ueberschwemmung der subadven-
titialen Lymph räume, neben Degeneration der Gefässwandung, nach-
zuweisen. Für die genannte Gruppe muss deshalb neben dem atro-
phirenden Nerven- Vorgang auch noch dieser erheblich congestive
berücksichtigt d. h. eingerechnet werden. Beide stehen ausserdem
auch noch in zeitlichem Zusammenhang — die fluxionären Zustände
leiten die Krankheit ein — und höchst wahrscheinlich in einem
noch viel wichtigeren causalen. Der abnorme Congestivzustand des
Gehirns führt consecutiv zu der Ernährungsstörung, welche in Atro-
phie ausgeht. Soweit bewegt sich die Epikrise ganz auf dem Boden
der nekroskopischen und klinischen Thatsacben. Nun gibt uns aber
die mikroskopische Untersuchung noch einen Befund an die Hand,
welcher vielleicht auf die tiefere Ursache hinweist, wodurch
jene anfängliche Congestion zu einer dauernden, und so pernieiösen,
wird. Dieser Befund bezieht sich auf die veränderten optischen
Eigenschaften der Gefässröhren (bestäubtes hyalines Aussehen), mit
den nie fehlenden massenhaften Diapedesen weisser und ebenso auch
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374
Die typische Paralyse.
rother Blutzellen. Es ist vorerst noch Hypothese, welche aber m. E.
volle Berechtigung hat, wenn ich aus dem erwähnten Befunde auf
eine abnorme Beschaffenheit der feinsten Gefässröhren
schliesse, und in dieser die Ursache für die Störung der Exosmose,
und im Weiteren für die Verstopfung der Lymphräume durch aus-
gewanderte Blutelemente — mithin das physiologische Mittelglied für
den Congestions- und speciell Degenerationsvorgang erkenne.*)
Die Einbeziehung einer krankhaften Wandbeschaffenheit der
Gefässe — sei sie angeboren oder erworben — führt uns nun einen
Schritt tiefer zur allerdings gleichfalls erst hypothetisch möglichen
nosologischen Erfassung des Paralyseprocesses. Die klassische
Paralyse, sagten wir oben, ist das Senium praecox eines abnorm
veranlagten, oder aber Uberleisteten Gehirns. Diese Definition lautet
jetzt: der paralytische Vorgang stellt in Form eines geschlossenen
klinischen Bildes die Reactionsweise eines absterbenden Gehirnlebens
dar, und zwar als Effect einer Schädigung in der physiologisch-
chemischen Function derGefäss-Protoplasmarohren, mit nachfolgender
lnanition und endlichem Untergang des Organs. Diese Invalidität
resp. Vulnerabilität der Gefässwände bildet m. E. den letzten
und eigentlichen Ausdruck für die vereinigten ätiologischen, klinischen
und anatomischen Ergebnisse; in ihr erkenne ich bei den hereditären
Fällen die präexistirende (physiologische) Grundlage, bei den
andern die erworbene (pathologischej für eine widerstandlos zum
Zerfall neigende Hirnorganisation ; nach beiden Richtungen aber den
genetischen Ausgangspunkt für die deletäre Gestaltung der fluxio-
uären Hirnprocesse, speciell für die frühzeitige Involution. Die hohe
Wichtigkeit einer anomalen Sympathicusthätigkeit in ihrer Folge-
wirkung auf die wechselnde Hyperämisiruug des cerebralen Gefäss-
gebiets, und dadurch zugleich auf die histologische Textur der (sehr
empfindlichen) Gefässwand selbst, werden uns auf derselben Grund-
lage jetzt verständlich (Tgl. die Experimente von Cohnheim).
Nosologisch möchte ich darnach den Paralyseprocess definiren
als: „eine perniciöse Neurose der psychischen und psychomotorischen
Hirnpartieen (Carotidcn- Ernährungsgebiet), welche auf einer ange-
borneu oder erworbenen Vulnerabilität der intracerebralen Gefäss-
wände, ätiologisch auf einer fluxionären Hirntiberleistung beruht
(nach beiden Seiten durch anormale Thätigkeit des Hals-Sympathicus
♦) Sehr interessant sind in dieser Beziehung die Experimente Mendol's,
welcher Huude durch wochenlang fortgesetzte Drehbewegungen (Hirncongestio-
nirung) künstlich „paralytisch" machte.
Paralyse der Frauen.
375
begünstigt und unterhalten), und anatomisch fast ausnahmslos den
degenerativen Zerfall des Hirnorgans mit sich führt." —
Die Paralyse der Frauen darf, obwohl vielfach bezweifelt,
als ein sicheres klinisches Vorkommniss bezeichnet werden. Nur ist
sie zweifellos . sehr viel seltener als bei den Männern, 1:7; nach
meinen Beobachtungen des letzten Decenninms steht sie in einem
noch viel kleinern Procentsatz. Ihre Hauptziffer fällt auf eine spä-
tere Lebensepoche als beim Mann (10— 50 Jahre); auch in der Aus-
wahl der Bevölkerungsschicht ist sie von der männlichen Paralyse
verschieden, indem sie sich vorzugsweise aus den ärmeren Klassen
recrutirt, während jene bekanntlich die besser situirten heimsucht.
Unter den Ursachen sind, wie bei jenen, congestionirende Hirn-
erschöpfungen ("sexuelle Excesse) aufzuführen, sodann Kampf ums
Dasein (Kummer, Sorge), und ganz besonders die Wirkungen des
Climacteriums oder der Menstrualstörungen.
Das klinische Bild ist im Wesentlichen dasselbe wie bei Män-
nern, zeigt aber in der Regel Modifikationen. Diese bestehen vor Allem
darin, dass, entgegen der massgebenden manischen Paralyseform bei
männlichen Kranken, hier die ruhige Demenz mit den verblassten oder
nur zu bescheidener Höhe sich versteigenden Grössenideen den leiten-
den Typus darstellt. An Steile des verzehrenden Feuers in den phan-
tastischen Conceptionen ist hier mehr die stille Gluth getreten; die Un-
endlichkeitsformel, welche beim männlichen Grössenwahn das Universum
umspannte und in multiplicatorischen, immer weitern Kreisen sich bewegte,
ist hier zur blöden Euphorie ermässigt, welche im glücklichen Sein, in
schönen Kleidern, vielen Kindern, herrlicher Gesundheit u. s. w. sich be-
gnügt. Doch gibt es auch einzelne Fälle mit Annäherungen an den ersteren
(männlichen) Typus; aber sie bilden die Ausnahme; ganz erreicht wird
die Phantasiekraft der männlichen Leistungen, wenigstens nach meinen
Beobachtungen, nicht. Dementsprechend ist auch der Verlauf ein ver-
gleichsweise milderer, lange nicht so turbulenter, wie bei den Männern;
es kommen wohl auch manische Phasen vor, aber viel moderirter in
der Stärke und kürzer in der Dauer. Der Verlauf ist überhaupt pro-
trahirter; während er sich dort in 3 Jahren durchschnittlich abspielt,
ist hier die annähernd doppelte Dauer die Regel. Die motorischen Stö-
rungen sind im Wesentlichen dieselben; doch Uberwiegt der paralytische
Charakter Uber den convulsiv-ataktischen. Remissionen sind im Ganzen
seltener, ebenso aber auch die epileptoiden und paralytischen Anfälle,
wiewohl diese nicht immer fehlen. Ganz selten werden dieselben im An-
fangsstadium getroffen; die „congestive" Form (s. d.) ist deshalb aus der
Frauenparalyse auszuscheiden. Auch die Hallucinationen sind seltener
als in der männlichen Paralyse. Krankheitsbild und Verlauf tragen den
Charakter eines mehr minder geräuschlos sich vollziehenden verfrühten
Seniums, welchem aber (klinisch und autoptisch) der — gemässigte —
Uuxionäre Charakter erhalten bleibt.
376
Die typische Paralyse.
Therapie.
Ein Specificum gegen diese höchst gefährliche trophische Neurose
eines in der biologischen Turgescenzperiode begriffenen, aber durch
Ueberconsumption erschöpften Gehirnlebens gibt es bis heute nicht;
auch kein Abortivum. Gleichwohl bleibt es eine hochwichtige Auf-
gabe unentwegt den Kampf gegen dieses furchtbare (in statistischer
Zunahme begriffene) Leiden, welches die Geisel unserer Zeit ist, auf-
zunehmen. Dies kann aber wirksam nur in den Anfangsstadien
geschehen; daher die Wichtigkeit einer genügend frühzeitigen Dia-
gnose! Die Indication ist: tonisiren ohne zu reizen, die cerebrale
vasomotorische Affection, ev. den fluxionären Hirnzustand bekämpfen.
Das wichtigste Curerforderniss ist Ruhe. Der beginnende Para-
lytiker werde sofort aus seiner beruflichen Thätigkeit enthoben, und
ungesäumt einem Asyle übergeben. Am besten eignen sich dafür
die ländlich gelegenen, in welchen bei der nöth igen Isolirtheit auch
die Gelegenheit zu vieler Bewegung in freier Luft ev. Gartenarbeiten
gegeben ist. Neben der Ruhe und einem sorgfältig regulirten Tages-
lauf, mit Abhaltung aller emotiven Einwirkungen, werde eine kräftige,
aber milde und reizlose Diät eingehalten. Dazu passt ein mildes
hydriatisches Verfahren mit Vermeidung von Kopfdouchen, Verbot
des Rauchens und der Alcoholica (letztere höchstens bei körperlich
Geschwächten in medicinischen Dosen zulässig), Vorsicht gegen Son-
nenhitze; Regulirung des Schlafs. Peinliche Abhaltung aller soma-
tischen und psychischen Reize muss der Grundzug der Behandlung sein.
Die speci eilen Indicationen richten sich nach dem Einzelfall.
Ist Neigung zu activen Fluxionen vorhanden, so werde diese sorg-
samst bekämpft: Bettruhe, blande Diät, Derivantien, Eis, Bäder mit
Umschlägen, Fussbäder, zeitweilige Blutegel hinter die Ohren. Bei
mehr anhaltender activ- passiver Hirncongestion (nach vorausgegan-
genen Excessen) ist die täglich durch 1 — 2 Stunden fortgesetzte Eis-
behandlung neben unerschütterlich einfachstem diätlichem Regimen
angezeigt. Von Arzneimitteln verdient Seeale nach dieser Richtung
Beachtung; unter Umständen auch Jodkali. Verräth der ganze Ha-
bitus (Aussehen, Carotis-Puls, Injection der Conjunctiva, Kopfdruck,
unruhiger Schlaf mit Träumen) die dauernde Hyperämisirung, so er-
wäge man ernstlich die Anwendung eines Haarseils ev. die vorsich-
tige Einreibung von Tart. stib. Salbe auf den Scheitel ; ermuthigende
Erfahrungen darüber stehen nicht mehr vereinzelt. — Bei Schlaf-
losigkeit werde Chloral möglichst gemieden, jedenfalls in fortgesetzter
Anwendung.
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Therapie.
377
Ist der anämische Charakter beim Patienten vorherrschend, sind
erschöpfende Debauchen vorausgegangen oder auch geistige Ueber-
anstrengung, so passt neben der geeigneten roborirend reizlosen Diät
(mit etwas Wein und Bier) der arzneiliche Gebrauch von Chinin mit
Eisen, Arsenik, ev. mit oder ohne kleinere Gaben von Opium. Hier
ist es auch, wo die Anwendung des constanten Stroms durch den
Kopf (vorsichtig mit Rheostat, kurze Sitzungen) ihre Erfolge zu ver-
zeichnen hat. Die Kranken fühlen sich darnach wohler, schlafen
besser, die geistige Leistungskraft scheint sich sachte zu heben, die
motorischen Störungen (Sprache) mindern sich. Wenn auch nicht
Heilung erzielt wird, so belohnt doch nicht selten eine erfreuliche
Remission. Mit der Kopfgalvanisation wird mit Vortheil die der
Wirbelsäule (aufsteigend 1 — iy« Min.) verbunden.
Ist mit einer oder der andern Behandlungsweise ein Erfolg
(selbst nur ein mässiger oder wenigstens den Krankheitsfortschritt
hemmender) erzielt worden, so lasse man den Kranken noch mög-
lichst lange nach psychischer und somatischer Richtung Quarantäne
halten ! Ein einziger Excess — und bei dem vulnerabeln Gehirn ge-
staltet sich schon ein mässiger alkoholischer oder sexueller Reiz zu
einem solchen! — kann das mühsam Erreichte vernichten. Auch
mit der Rückkehr in den Beruf werde solange als möglich gezögert.
Mit Vortheil schliessen sich in der Behandlung jetzt Villegiaturen
(massige Höhen-Curorte, Seeluft ohne Bäder) an.
Ist erst eine manische Attake mit dem specifischen Grössen-
wahn eingetreten, so mindern sich mit den prognostischen Aussichten
auch die Chancen einer noch wirksamen Therapie. Doch lässt sich
auch hier durch sorgsamste Abhaltung aller Reize und Bekämpfung
des fluxionären Kopfzustandes nicht selten noch eine Eindämmung
des Aufregungszustandes erreichen, so zwar, dass nachher eine
Remission folgt. — Letztere bildet erst recht die Aufgabe der ein-
gehendsten körperlichen und geistigen Ueberwachung Seitens des
Arztes, nach Maassgabe der Eingangs entwickelten Grundsätze.
Vor Allem ist Trennung von der Familie reap. Verhinderung des
ehelichen Verkehrs sowohl für deu der Schonung bedürftigen Patienten,
als für die zu erwartende Descendenz unerlässücb. Diese sehr schwie-
rige Aufgabe, meist noch erhöht durch die gebotene Fürsorge wegen
möglicherweise finanziell schädigender Regungen von Grössenwahn (Käufe,
Vertragsabschlüsse), lässt auch jetzt einen Asylaufenthalt (wenn auch
unter freieren Formen) nicht umgehen. Freilich bildet der Eigenwille
des sich gesund fühlenden Kranken, verbunden mit seiner Reizbarkeit,
oft genug ein schwer zu überwindendes Hinderniss. Hier muss die Au-
torität des Arztes in richtiger psychisch -individualisirender Weise klug,
aber fest, eintreten.
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378
Die psychischen Cerebropathieen.
Die spätem Stadien der fortschreitenden Krankheit erfordern
durchaus den Aufenthalt in einer mit allen Ressourcen (Feldbeschäf-
tigung) ausgestatteten Anstalt. Die Indicationen richten sich nach
den einzelnen Krankheitsphasen, immer unter entsprechender Berück-
sichtigung des so besonders vulnerabeln Paralytiker-Gehirns. Werden
die motorischen Störungen stärker, so wächst die Aufgabe des Arztes
und des Wartepersonals. Abgesehen von der Hilflosigkeit durch den
immer erschwertem Gang u. s. w. erfordern die anrückenden Insufß-
cienzen im Schlingapparat, in den Functionen der Blase und des
Mastdarms eine tägliche, ja stündliche, einsichtsvolle Ueberwachung.
Bei der hypochondrischen Form ist die Gefahr der Selbstbeschädi-
gung sehr zu berücksichtigen. Nimmt die Lähmung überhand und
wird der Kranke bettlägerig, so ist Alles zur Vermeidung des De-
cubitus und der Senk-Pneumonieen aufzubieten. Blasenkatarrhe er-
heischen regelmässigen Katheterismus. In diesen Secundärstadien
sei die Kost eine roborirend reizlose (Alles fein zerhackt), und
werde durch Darreichung von Bier und kräftigem Wein unterstützt.
Die psychischen Cerebropathieen (modificirten
Paralysen).
Literatur. Coraplicireude PacchymeningUta: Ausführliche Literatur bei
Huguenin, d. Handb. Bd. XI. — Fürstnor, Arch. f. Psych, 8. — Arndt, Virch.
Arch. 52. — Savagc, Jour. of ment. sc. 1884. Paralyse nach Herderkrankung-en
( Apoplexieen): Mendel, Deut, med Wochenschr. S Jahrgg. — Foville, Ann.
med. psych. 1 ss«» u. Sl. — Eickholt, Arch. f. Psych. 12. — Speciell nach Ca-
pillarapoplexieeu: L. Meyer, Arch. f. Psych. 1. — Arndt, Virch. Arch. 51
• namentlich mikroBk. Befund). — Savage, J. of m. sc. 1832. — Bei multipler
Sklerose s. betr. Literatur; ferner Schultze, Arch. f. Psych. 11. — Raynaud,
Gaz. des hop. lssi. — Greiff, Arch. f. Psych. I i. — Bei Dementia senilis com-
plicata: Marc»*, Kecherches etc. de la di'mence senile 1S<>3. — Wille, Allg. Z.
t. Psych. 30. — Weiss, Psychosen des Seuiums. Wien. med. Pr. ISsii. — Sepilli
v Riva, Riv. sper. 1880. - de la Cullerre, Ann. med. psych. 18S3. — Bei Ge-
hirntumoren: Rey, Ibid. 18*2. — Field, Lanc. 1871». — „Tabische" nnd
„spastisohe" Irrenparalyse: s. oben bei Literatur der typ. Paralyse; ausserdem:
Micklc, Lancetl*84. — Mills, J. of nerv, a ment. dis. 1 >ss3 (Tabes). — Gnauck,
Perl. klin. Wochenscbr. 18M)(Lateralsklerosc). — Zacher, Arch. f. Psych. 13 u. 15
(spastischer Symptomencomplext. — Moeli, Char. Ann. VI. — Syphilitische Para-
lyse: Virchow, Arch. 15, Geschwülste II. — lleubner, Luetische Erkrankung
der Hirnarterien 1S74 (Literatur); Ders., d. Handb. XI. — Esmarch u. Jessen,
Allg. Ztschr. 1. Psych. 14. — L.Meyer, Ibid. 18. — Westphal, Ibid. 20. —
Wille, Ibid. 2S. — Schule, Ibid. 28. - Rinning, Ibid. 37. — Schale, Sec-
tionsergebnisse 1874. — Erlemeyer, Luetische Psychosen, II. Aufl. 1879 (Literatur).
— Mendel, Berl. kl. Woch. l*7i). — Charcot u. Gombault, Arch. de phys.
1873. — Foville, Ann. med. psych. 1 ST9. — Discuss. des rapp. eutre la syph. et
la paral. gen., Ibid. — Ball, Ann. et Bull, de la soc. de m6d. de Gand tSSl. —
Mickle, J. of m. sc. 1879. — Ü bersteiner, Wien. med. Woch. 1883. — Schulz,
Neurol. Centbl. 1883. — Kiernan, Alien, and Xeur. 1883.
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Subacute uud galoppirende Paralyse.
379
a) Meningo-Perienccphalitis chronica und subacuta, oder Encepha-
litis subacuta: Manie mit Grössenwahn und motorischen Störungen
mit Uebergang in Blödsinn unter paralytischen Reizsymptomen.
Allgemeines Krankheitsbild. Die erste Einleitung er-
folgt nicht selten ganz wie bei der gewöhnlichen Paralyse (Reizbar-
keit mit brutaler Reaction, GemUthsstumpfheit neben dicht daneben
liegender Weinerlichkeit), und nimmt erst nach und nach ein stürmi-
scheres Verlaufstempo an. Sehr häufig imponireu aber die Kranken
schon im Prodromalstadium durch starke cephalische Beschwerden
(namentlich Schwindel und heftiges Kopfweh; manchmal geht Jahre-
lang intensive Migräne voraus), und geistig durch eine aussergewöhn-
lich starke Benommenheit, grobe Gedächtnisslückcn, Verstösse gegen
das Decorum, und eine intellectuelle Zerstreutheit, welche selbst
mässige Leistungen im eingewöhnten Berufe nicht mehr gelingen
lägst. Frühe schon zeigen sich heftige Congcstivzustände; der Kranke
flieht die Sonnenhitze, wird nach kleinen Alkoholmengen unver-
hältnissmässig rasch und tief berauscht. Die heitere Grössenwahns-
episode der typischen Paralyse wird übersprungen, oder steigert
sich, kaum betreten, zur Mania gravis. Diese bildet unter Tag und
Nacht fortdauerndem wildem Toben und vernichtendem Zerstörungs-
drang die erste Phase der eigentlichen Krankheit. Gewöhnlich,
wenn auch nicht immer, sind jetzt schon die motorischen Störungen in
Sprache, Gang, Handbewegungen, Pupillen, in auffallend verstärktem
Grade ausgeprägt. Das Bewusstsein ist sehr tief benommen, so dass
der Kranke keine Umgebung beachtet, keine Frage zu beantworten
vermag, auf Ansprachen mit plumper Heftigkeit eindringt, Alles unter
8ich gehen lässt, ruhelos an den Wänden umhergreift, oder automatisch
Schreilaute ohne Sinn ausstösst. Dann und wann tritt auch ein frag-
mentarer Grössenwahn dazwischen: Kaiser — Millionen — Gold —
Diamanten, aber nur in träumerisch abgerissenen Worten, ohne ver-
bindende Association. Damit wechseln in jähem Umschlag Angst-
paroxysmen, mit dem bangen Aufschrei eines Verfolgten, ab. Der
Kranke kommt in einen panphobischen deliranten Zustand; er ver-
kriecht sich, verweigert die Nahrung, macht in blindem Drange ver-
zweifelte Angriffe, vermuthet überall Gift. Auch in diesen negativen
Aeusserungcn dieselbe Unklarheit, Verworrenheit, rasch sich ver-
wischende Flüchtigkeit. Das Bewusstsein bleibt anhaltend tief be-
täubt, dämmerhaft, höchstens mit etwas lucidern, aber nie eigentlich
klaren Phasen wechselnd. In der Regel begleitet den heftigen mani-
schen Sturm eine sehr beschleunigte Herzthätigkeit, warmer Kopf,
frequenter, dicroter Puls und Erhöhung der Temperatur (bis zu 39"
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380
Die psychischen Cerebropathieeo.
und noch darüber); jedoch kommen auch Congestivzustände ohne
Temperaturerhöhung vor. Wenn jetzt im Verlauf von Tagen oder
einigen Wochen sich ein Nacblass einstellt, so ist der fertige Blöd-
sinn da, gewöhnlich noch nicht in der apathischen Form, sondern
in der einer beständigen, triebartigen, plan- und ziellosen Unruhe.
Die motorischen Störungen, gemischt aus Lähmungs- und Reiz-
symptomen, nehmen rasch Uberhand; die Sprache wird durch die
hochgradige Ataxie der Zunge und durch krampfartige Mitbewe-
gungen der Lippen-Muskulatur schon jetzt schwer verständlich. Auch
in der Ruhe fliegen beständig leise Zuckungen, oder plötzliche Stösse,
Uber einzelne Gesichts- oder Stammmuskeln hin; nicht selten geräth
der Körper vorübergehend in ein allgemeines Zittern. Es ist, wie
wenn das gesammte motorische System neben zunehmender Insuffi-
cienz in einem Reizzustand unterhalten würde, welcher durch inter-
mittirende schwächere oder stärkere Convulsionen einzelner Muskeln
oder Muskelbündel sich wieder begleicht. Intercurrent brechen auch
Insulte von epileptiformen Zuckungen ein, welche weder nach moto-
rischer noch psychischer Seite sich von denen der gewöhnlichen
Paralyse unterscheiden. Die Temperatur bleibt oft auf lange Wochen
eine erhöhte, meistens mit abendlicher Steigerung. Zeitweise schie-
ben sich immer wieder manische Erregungszustände in den Krank-
heitsverlauf ein, mit dem triebartigen, „convulsiven" Charakter der
motorischen Acte und unter andauernd tiefster Benommenheit Der
Vorstellungsgang wird immer öder, defecter, und bietet bald nur
noch ein Gemisch von vereinzelten Fragmenten kindischer Grössen-
ideen und starren Resten eines affectlosen Verfolgungswahnes dar.
Heiter vergnügt oder stumpf gleichgültig plappern die Kranken diese
monotonen Vorstellungsreihen her, deren Sinn sie nicht mehr ver-
stehen. Mit den Erregungszufällen wechseln auch Phasen von Stupor
ab. Andremale treten unter congestivem Sturme, bedeutender Tem-
peratur-Erhöhung und raschem Collaps die Zeichen des Delirium
acutum ein, und führen die Krankheit zum letalen Ende. Bei ruhi-
gerem Verlaufe stellt nach den manisch-congestiven Anfällen wohl
immer wieder ein Nacblass sich ein, aber stets unter Einrücken auf
eine tiefere Stufe des Blödsinns und der Lähmung. Eigentliche „Re-
missionen" wie in der typischen Paralyse treten hier nicht auf; folgt
einmal eine Pause, so ist es nur eine Etappe im zunehmenden Blöd-
sinn. In der Regel treten früher oder später (oft schon nach wenigen
Monaten) tiefe trophische Störungen ein; die Kranken magern trotz
reichlicher Nahrung zu Skeletten ab ; oftmals kommen auch heftige,
fast unstillbare Diarrhöen. Auf diesem Wege oder durch einen der
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Galoppirende Paralyse. Patholog. Anatomie.
andern, bei der gewöhnlichen Paralyse namhaft gemachten Schluss-
processe (vom Gehirn oder von den Lungen ans) schliesst sich die
Scene, manchmal schon nach Wochen oder nach einigen Monaten.
Das gesammte Krankheitsbild stellt einen symptomatologisch acnt
verlaufenden Paralysenprocess dar, weshalb demselben auch die Bezeich-
nung der „ galoppirenden Paralyse" gegeben wurde. Die klinische Eigen-
art, gegenüber der typischen Paralyse, liegt aber nicht nur in der Rasch -
heit des Verlaufs, sondern auch in dessen Abkürzung. Die Anfangs-
stadien der Normalparalyse fehlen hier ; der Beginn tritt sofort mit einem
manischen Anfalle von der tiefern psychischen Formqualität, wie diese
dort erst in spätem (Blödsinns) Stadien zu Stande kommt, in Scene.
Ebenso ist der Verlauf d. h. die Aufeinanderfolge der einzelnen Phasen
absolut regellos, der typischen Paralyse gegenüber. Die häufigen anhal-
tenden Febricitationen weisen auf einen activen cerebralen Reizvorgang
hin, welcher sich auch in dem Verhalten der Muskulatur in der Ruhe
(selbstständiges fibrilläres Zucken) ausspricht. Nicht ein schrittweiser
Degenerationsvorgang, nicht eine fortschreitende Reduction der erreichten
psychischen und psychomotorischen Entwicklungshöhe, nicht ein stufen-
weises Herunterrücken aus der feinen geistigen Form in das erst Unge-
schickte und endlich grob Täppische motorischer Defectleistungen tritt
uns hier entgegen, wie in der klassischen Paralyse, sondern ein von
vornherein brüsk einsetzender organischer Destructionsprocess; nicht eine
functionelle Hirnerschöpfung unter dem Bilde eines in Zuckungen abster-
benden Nerven, sondern eine quasi- traumatische Vernichtung der gei-
stigen Hirnelemente, unter dem Bilde einer mehr minder acut verlaufen-
den destructiven Meningitis und Encephalitis. Die „organische Belastung"
der Elemente im psychischen Symptomenbilde ist nicht minder charakte-
ristisch, als der gekürzte acute Verlauf im Ganzen. Letzterer zeigt auch
keine verständliche Folge der einzelnen Stadien mehr: die entzündliche
Hirnkrankheit, als solche, bestimmt deren Gang allein. Nicht selten schliesst
eine acute Meningitis mit Nackenstarre, Delirien, Sopor den Krankheits-
verlauf ab. — Bezüglich des Anfangs ist noch zu bemerken, dass manch-
mal, wie bei der congestiven Form der gewöhnlichen Paralyse, ein apo-
plektiformer Insult, oder ein Anfall von Convulsionen die erste Einlei-
tung bilden.
Das pathologisch anatomische Bild ergibt: a) Die Befunde
einer subacuten Meningo-Periencephalitis. Grauweissliche Verdickung der
Lepto-Meningen (die Arachnitis Bayle's), mit da und dort eingesprengten
gelblichen Plaques eines acutem Reizprocesses , und diffuser reichlicher
lymphatischer Durchtränkung; die Exsudate nehmen mit Vorliebe die Um-
gebung der Gefässe ein. Starke arterielle Injection der Meningen. Die
weichen Häute haften in grösster Ausdehnung an der Gehirnoberfläche an,
und zwar vorzugsweise längs der Stirn-, Central- und oberu Scheitelwin-
dung, und längs der Umgebung der Sylvi'schen Spalte. Die Hinterhaupts-
windungen und die Basis, sowie die Medianfläche, sind meist (nicht immer)
frei. Nicht selten findet sich in den Fällen, welche gegen Krankheits-
schluss ein Delirium acutum gezeigt hatten, die Steigerung der Meningitis
zu einer acut eitrigen Entzündung. Die abgezogene Pia lässt an den Ad-
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382
Die psychischen Cerebropathieen,
härenzstellen eine geschwürige blutende Wundfläche an der Corticalis
zurück. Die Windungen turgesciren in frischen Fällen. Das ganze Ge-
hirn ist nicht selten geschwellt. Die Corticalis selbst ist in den frischern
Krankheitsstadien verbreitert, roth, mit einem Stich in's Bläuliche, aber
nicht gleichmässig, sondern gefleckt, streifig, mit blassern Inseln durch-
setzt, zuweilen eigentümlich „schimmernd und glitzernd * vom Glanz der
colloiden Substanzen (L. Meyer). Die Consistenz ist vermindert, jedoch
nicht gleichmässig; oft finden sich erweichte neben verhärteten Stellen.
Auch das Übrige Gehirn ist bluterfüllt, namentlich die Basalganglien. In
den Hirnhöhlen Granulirung des Ependyms und Ansammlung einer ge-
trübten Flüssigkeit. — Derselbe hyperämische Befund betrifft auch das
Rückenmark, sowie dessen Häute, letztere gewöhnlich nur an der die
hintere Markhälfte umgebenden Partie.
Mikroskopisch findet sich pralle GefässfÜllung, Ausweitung und
Vollpfropfung der Lymphscheiden mit Leukocyten und sehr vielen rothen
Blutkugeln; die Gefasswände sind opak, oft deutlich verdickt, und mit
prall gefüllten und vergrösserten Spinnenzellen bedeckt; letztere bilden
oft lange Züge durch die Glia. In der Umgebung der Ge fasse findet sich
stellenweise die anschliessende Glia wie verwaschen, und durch lympha-
tische Exsudationen abgedrängt. In dieser theilweisen Abtrennung neben
der an andern Partieen derbem Verbindung durch die aufsitzenden hyper-
plastischen Spinnenzellen (letztere sind namentlich stark in den subpialen,
und äussern Corticalislagern vertreten ) scheint die Thatsache der starkern
Anheftung einerseits, und der ausgiebigen Ulcerirung des Corticalis-Stra-
tum's andrerseits beim Abheben bedingt zu sein. An den Capillaren und
den Uebergangsgefässen zeigen sich Wucherungen von sehr vollkommen
entwickelten „Zellen" (keine Kernproliferationen), oft mit fibrillären Fort-
sätzen, und so mächtig die kleinsten Gefässe umscheidend, dass deren
Lumen sogar theilweise zum Verschwinden kommt. Später tritt hyaline
und fettige Degeneration auf. Die Ganglien zeigen da und dort trübe
Schwellung; in spätem Stadien Schrumpfung und Zerfall. — Es kann
aber auch bei dieser acuten Paralyse b) der anatomische Process die
Hirnhäute intact lassen, und als parenchymatöser, encephalitischer Pro-
cess nur die Innenschicht der Corticalis und die Hirnhöhlen in diffus
entzündliche Affection ziehen. Hier zeigt sich keine Spur einer iepto-
meningealen Verdickung ; auch die äussere Corticalisschicht ist weissgrau,
kaum verändert; dagegen die innere vollständig erweicht und ausseror-
dentlich stark geröthet. Neben stärkster GefHssentwicklung resp. Hyper-
ämie mit den obigen Veränderungen der Gefässröhren, der Lymph- und
Saftbahnen fehlen hier oft auch capilläre Apoplexieen nicht. Meschede
beschreibt auch für diese acuten Fälle „aufgeschwellte, erweichte und
mit Fettkörnchen erfüllte Nervenzellen".
Unter diese Gruppe der subacuten Paralysen möchte ich auch
jene Fälle der anhaltenden Mania gravis rechnen, bei welchen eine
primäre blödsinnige Schwäche mit tobsüchtiger Aufregung und Ver-
wirrung, faselndem Grösseuwahn, Sinnestäuschungen, blindem Zer-
störungsdrang, und sinnlos perversem motorischem Gebahren die
wesentliche psychische Symptomengrappe bilden. Die motorischen
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Paralyse durch Pacchymeningitis modificirt.
383
Störungen treten daneben ungleich schwächer in die Erscheinung.
Plötzlich klärt ein Anfall von allgemeinen Convulsiouen, welcher
nicht selten sofort letal ausgeht, anderemale Schlag auf Schlag sich
wiederholt, über die tiefe organische Hirnkrankheit auf; die Autopsie
weist die vorbeschriebenen Zeichen der Meniugo-Periencephalitis
nach (vgl. S. 110 und 111).
Die Kranken sind unbezwingbare Zerstörer, wozu sie Hände und
Füsse und Zähne gebrauchen, machen die verkehrtesten Handlungen
(laufen, tanzen, klettern ohne jede Rücksicht auf Gefahr, wühlen im Un-
rath, tragen diesen mit dem Munde zusammen, verbeissen, was sie er-
haschen können, verschlingen ohne Auswahl), sind unreinlich, sprechen
anhaltend, oder schreien verwirrte fragmentare Reden, selbstgemachte
Worte u. s. w. Tag und Nacht hinaus. Darunter eine Fluth von Grössen-
ideen : sie sind Kaiser und Könige, Erzengel, wollen sich mit Gott messen
(„wer grösser sei" u. s. \v.), pissen goldene Uhren u. s. w. Absolute Un-
orientirtheit über ihre Lage, über Zeit und Raum. Rohes brutales Be-
nehmen. Stimmung schwankt zwischen den Extremen heiterer oder ge-
reizter Exaltation und schaler Indolenz. Gehörs-, Gesichts- und Gefühls-
täuschungen (häufig wiederkehrende Klagen, dass der Kranke Nachts von
den Geistern geschlagen werde). Allmählich bedeutender Rückgang der
Ernährung. Jetzt auch nach und nach motorische Zeichen: Ungleichheit
der Pupillen ; die Rumpfmuskulatur ist in einer gewaltsamen, tetanusar-
tigen, aber durchaus willkürlichen Spannung; Oberlippe beim Vorstrecken
der Zunge oft leise erbebend; Sprache schnell und gut, Gang sicher und
behende. Im Verlauf von Monaten allmählich Ruhe, aber gleichbleibende
Verwirrung und geistige Schwäche. Auch in der Ruhe noch blödsinnige
Geschäftigkeit (Sammeln, kindisches Spielen und Tändeln, Zerstören).
Dabei nimmt auch jetzt noch der Umfang der motorischen Störungen
nicht sichtlich zu. Gang und Sprache bleiben ungehemmt. In manchen
Fällen findet sich choreatisches Zittern des ganzen Körpers oder einzel-
ner Theile mit Steigerung der Reflexerregbarkeit. Die paralytische Ver-
blödung nimmt ihren Decursus weiter, oft unter zwischenlaufenden mani-
schen Phasen. Plötzlich allgemeine Convulsionen ohne nachweisbare
Ursache. Mittlere Krankheitsdauer: 1 — 2 Jahre.
b) Complicirendc Pacchymeningitis. Bei der ausserordentlichen
klinischen Mannigfaltigkeit in der Ausdehnung, dem Sitze, der Ein-
trittszeit der genannten Dural -Erkrankung lässt sich ein auch nur
einigermaassen constantes Symptomenbild nicht geben. Selbstver-
ständlich lässt (schon allgemein) die das paralytische Bild modificirende
Ursache einen verschiedenen Eingriff erwarten, je nachdem es sich
um ein Plus von Reizsymptomen, ausgehend von dem duralen Ent-
zündungsvorgang, handelt, oder aber um Effecte des Hirudrucks,
herrührend von einem umfangreichen Hämatom. In der Praxis kom-
men beide Reihen allerdings meistens gemischt vor. Aber auch die
Veränderungsfähigkeit eines paralytischen Symptomenbildes (als Re-
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384
Die psychischen Cerebropathieen.
action eines degenerirenden Gehirns) wird speciell gegenüber den Wir-
kungen des raumbeschränkenden Blutergusses eine andere sein müssen
bei einem nahezu noch intacten Hirnvolumen, als bei einem bereits
atrophisch erheblich reducirten. Während im erstem Falle schon
durch kleine Vorgänge relativ grosse Effecte erzielt werden können,
wird im letztern unter Umständen die lähmende Wirkung gar nicht
zur Entfaltung kommen, wenigstens nicht in Form eines brüsken
Insults.
Nach meinen Erfahrungen sind es im Grossen und Ganzen
zwei Typen von durch Pacchymeningitis complicirten Paralysen.
Der erste Typus entwickelt sich wie eine gewöhnliche Paralyse,
und die Modification beginnt erst mit dem Auftreten der Hämatom
anfalle; der zweite dagegen zeigt gleich vom Beginn an ein ab-
geändertes Symptomenbild. Auffällig ist aber auch in vielen Fällen
des ersten Typus das Fehlen oder die vergleichsweise nur matte
Entwicklung der Grössenwahnsphase ; dafUr stehen die Vergcsslich-
keit, die geistige und gemüthliche Schwäche, die Euphorie des Blöd-
sinns im Vordergrund. Der zweite Typus führt sofort im Anfang
der Krankheit eine sehr auffällige Stupidität in das psychische
Symptomenbild ein: die Kranken dämmern herum, sind nicht bloss
geistig apathisch, sondern förmlich schlummersüchtig, unbesinnlich.
Manche sehen aus wie mit einer Keule aufs Haupt geschlagen. Sie
zeigen oft frühe schon ein allgemeines Körperzittern, sehr erhöhte
Sehnenreflexe und eine gesteigerte Reflexerregbarkeit, wie beides
der Normal - Paralytiker erst in spätem Verlaufsstadien darbietet.
Der apathische Blödsinn scheint schon an den Krankheitsbegiun
vorgeschoben zu sein, und zwar nicht in der Form „wacher" gei-
stiger Schwäche mit dem kindisch albernen Wesen, sondern in der
eines stupiden Halbschlafes. Sind bei der ersten Modification erst
einige pacchymeningitische Anfälle eingetreten, so sinken auch diese
Kranken (oft ausserordentlich rapid) auf das Nullitäts- Niveau der
zweiten Form herab. Entsprechend der tiefen Blödsinnsstufe treten
— und dies schon frühe — nicht die charakteristischen amnestischen,
und erst feinem, articulatorischeu Sprachstörungen ein, sondern viel-
mehr die schweren anarthrischen Formen; manche Kranke werden
sehr bald schou dauernd aphasisch. Die Aufregungszustände, welche
sich regellos in den Krankheitsgang einschieben, sind manische
Phasen eines stumpfen Blödsinns: triebartiges, sinn- und planloses
Zerreissen und Zerstören, Schmiereu, unarticulirtes Schreien und
Brüllen. Bei den Kranken der zweiten Form findet sich sehr häufig
eine beraerkenswerthe Pulsverlangsamung (bis 36). Letztere tritt in
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Paralyse durch Pacchymeningitis modificirt.
385
charakteristischer Weise manchmal nach den Hämatom-Insulten ein.
Die Papillen sind verengt, nicht selten bis zar Grösse eines Steck-
nadelkopfes, nnd gegen Beschattung unempfindlich; sie erweitern
sich oft selbst auf Atropin nicht, oder nur spurweise. Die Erholung
nach den pacchymeningitischen Anfällen hält sich in der Regel in
viel bescheidenem Grenzen als nach den apoplektiformen oder epi-
leptoiden Zufällen der gewöhnlichen Paralyse; meistenteils bezieht
sie sich nur auf langsame Besserungen der Motilität; aber der Blöd-
sinn bleibt, oder hat wesentlich zugenommen. Sehr wichtig ist das
Auftreten von Stauungspapille, meist einseitig, hie und da aber
auch doppelseitig.
Die eigentlichen pacchymeningitischen Zufälle erfolgen theils
in Form von stupider Aufregung, theils als apoplektisch convulsive Insulte.
Beide Formen können sich auch mit einander verbinden , die Convulsionen
an das Erregungsstadium sich anschliessen. Dieses letztere besteht ge-
wöhnlich in einem triebartigen Bewegungsdrang, oft mit anhaltendem An-
schlagen des Kopfes an die Wand, verworrenem Faseln, Kopfcongestionen,
Pulsfrequenz, profusen Schweissen. Der Insult dagegen zeigt Gesichts-
blässe , Pulsus cephalicus oft mit Respiratio cephalica, und convulsiveu
Zuckungen tonischer und klonischer Art, welche in einigen Punkten sich
von denen der gewöhnlichen Paralyse unterscheiden (FUrstner). Am häu-
figsten scheint die tonische Deviation des Kopfes nach einer Seite vor-
zukommen, zugleich mit Nystagmus, sodass die Bulbi von auswärts be-
ständig bis gegen die Mittellinie der Lidspalte hin und her oacilliren. Die
Zuckungen der Extremitäten sind abwechselnd tonische und klonische,
theils einseitig, theils doppelseitig; besonders gerne greifen sie von einer
auf die andere Körperseite über. Sehr beachtenswerth sind die „gewollt
und zweckmässig" aussehenden Bewegungen, welche die Kranken oft stun-
denlang machen (Uerumgreifen am Bettzeug, am Hemde, im Gesichte;
wohl zweifellos als directe ReizeÄecte der motorischen Rindencentren).
Sehr häufig stellen sich locale oder ausgedehntere Zuckungen bei halbluci-
dem (nicht aufgehobenem) Bewusstsein ein. Damit intercurriren oft voll-
ständige Hemiplegieen, welche stets nur langsam durch ein Stadium von
grösster Ungeschicklichkeit sich ausgleichen, nicht selten aber auch dau-
ernd bleiben. Manchmal kommt (bei Fortschritt der Blutung über den
Schläfelappen) auch noch brüske Aphasie, bei Uebertritt auf die Basis
contralaterale Anästhesie hinzu. Temperaturerhöhung im Anfang ist sehr
häufig, aber nicht regelmässig.
Der Weiterverlauf ist bald successive abwärtsgehend (mitunter
galoppirend, unter rascher Abmagerung, Purpura, Fnrunculosis) , oder
durch eine Reihe von neuen Insulten unterbrochen. Die Remissionen,
wie in der klassischen Paralyse, scheinen zu fehlen. Von den Ausgän-
gen sei speciell der durch Marasmus in Folge verschiedener anderweitiger
Hämatombildnngen (Zwerchfell, Rippenpleura, Bauchserosa) erwähnt (in
zwei Beobachtungen).
Schftlo, Geiatwknnkheiten. 3. Aufl. 25
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886
Die psychischen Cerebro'patbieeii.
c) Die primäre Hirnatrophie. Auch hier ist die Reichhaltigkeit
der unter diese anatomische Diagnose einzureihenden klinischen
Krankheitsbilder eine so grosse, dass eine Allgemeinschilderung nicht
möglich ist. Ich beschränke mich deshalb auf die Aufführung der
mir unter einer grÖ68ern Anzahl von Fällen vorgekommenen Typen.
Nach der anatomischen Diagnose trenne ich dieselben in: 1. primäre
Hirnatrophie ohne Reizerscb einungen (diffuse chronische Sklerose);
und 2. primäre Hirnatrophie mit Reizerscheinungen. Die erste
Untergruppe bildet die Vermittlung zwischen der typischen Paralyse
und der Dementia senilis; die zweite leitet Uber zu der plaque-
förmigen Sklerose, und zu den encephalitischen und apoplektischen
Herderkrankungen.
1. Die primäre Hirnatrophie ohne (entzündliche) Reiz-
erscheinungen.
1. Typus. Wohl in ihrer reinsten Form beginnt die primäre
Hirnatrophie mit einer melancholischen oder hypochondrischen
Verstimmung senilen Charakters (Wahn verhungern zu müssen). Die hypo-
chondrische Richtung führt zu peinlichster Grübelei, mit maasslos ängst-
licher Uebertreibung und geradezu monströsen Befürchtungen (weisse
Luftbläschen in dem Urin imponiren als Stärke-Zucker, daher Diabetes-
furcht ; Nasenschleim als Hirnausfluss). Psychische Symptome : Mühe die
Gedanken zusammenzubringen, Hemmungen, Versagen des Gedächtnisses,
ausserordentlich rasche geistige Ermüdung. Daneben Dumpfheit und Wüst-
heit im Kopfe; beim Gedankenconcentriren das Gefühl „als ob man mit
einem stumpfen Messer in Holz schneiden wolle"; Ziehen und Spannen
im Hinterkopf; Schwerhörigkeit und Augenschwache; Vergehen der Ge-
danken beim Augenschluss; pappiger übler Geschmack, Völle des Leibes;
Mattigkeit und Zerschlagenheit der Glieder. Nicht selten barocke Zwangs-
gedanken und Localgeftihle z. B. von Trompetenstössen an einzelnen Kopf-
gegenden u. 8. w. Peinlich ängstigendes Gefühl einer totalen Aende-
rung. Patient will in nichts mehr der alte Mensch sein. Sehr häufig
krankhafte Schlafsucht, besonders wenn der Kranke wach bleiben will,
also unter Tags; oft in eigenthUmlichster Form veranlasst z. B. bei Be-
rührung der Nasenwurzel. Daneben fehlt Nachts der normale Schlaf; beim
Einduseln oft sehr beängstigende Stösse und Zuckungen, sodass der Kranke
zusammenschreckt und momentan Gefühle im Hirne bekommt „als ob er
sofort verrückt wäre \ Sensorielle und sensible Hyperästhesieen, wo-
durch der Kranke nicht das leiseste Geräusch mehr erträgt, doppelt hört,
seine eigene Stimme im ganzen Körper resoniren spürt; mit furchtbaren
Angstanwandlungen („ Kainsangsf); Zittern am ganzen Körper. Daneben
aber auch sensorielle und sensible Anästhesieen und Parästhesieen.
Die Speisen schmecken süsslich, wie Uberzuckert, während andere Ge-
schmacksempfindungen wie abgedämpft sind. Auch die Temperaturem-
pfindung ist abnorm: abwechselnde Kälte- und Hitzegefühle, oft so, dass
der Kranke wiederholt unter Tags die Kleider wechseln muss; halbsei-
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Paralysen aus primärer (nicht-entzündlicher) Hirnatrophie. 387
tige Kältegefühle, „oft bis zur Erfrierung", selbst im Hochsommer. In
der Folge perverse Hantsensationen, als ob Sch weiss daran herabliefe
(ohne objective Grundlage). Nach und nach kommen auch pelzige und
prickelnde Gefühle in den Fingern, abnehmende Locomotionsgefühle, so
dass der Kranke zum Stock greifen musa; intercurrente Schwindel- und
Betaubtheitsanwandlungen, als ob er auf die Stirne fallen müsse. Nach
und nach „Abnahme des Bewusstseins M, während früher „nur die Gedan-
ken abgenommen hätten Anwandlungen von Traumzuständen unter Tags
unter das Wachen herein. Geistige Arbeit ist schliesslich gar nicht mehr
möglich. Die Stimmung ist überaus wechselnd, immer sehr weich und
abhängig, bald zerknirscht und hingegeben, bald stumpf und gleichgültig,
bald ärgerlich gereizt und trotzig, meist kopflos verzagt und kindisch
muthlos, nie eigentlich schmerzlich affectvoll. Immer mehr sinkt sie zur
Fassungslosigkeit herab. Oft zeigt sich in der Stimmungslage ein alter-
nirender Typus. Der Verkehr mit dem Kranken ist durch das krittelige
Wesen, welches sich mitunter ziemlich unzart auslässt, und durch den
krankhaften Eigensinn, welcher den verkehrtesten momentanen Eingebun-
gen folgt, ein zunehmend schwierigerer. Körperlich wird der Kranke
immer invalider. Häufige Klage, als ob die Glieder, namentlich die Arme,
„wie an einem Hampelmann herabhingen". Oft Empfindung, als ob die-
selben „ganz gelockert", „flüssig" würden. Langsam zunehmender gei-
stiger und körperlicher Zerfall; nicht selten aber mit Pausen relativer
Erholung. Tod gewöhnlich durch einen intercurrenten acuten Hirnpro-
cess (Paccbymeningitis), oder durch Pneumonie, oder Apoplexie (Suicid.!).
2. Typus. Die andere Form ist vorwiegend hallucinatorischen
Charakters auf Grundlage einer stupiden Bewusstseinsstörung und einer
tief depressiven (nihilistischen) Stimmung. Sie schliesst sich an die hallu-
cinatorische primäre Dementia an, ist symptomatologisch im Wesentlichen
deren Wiederholung, nur mit qualitativ tieferem (organischerm) Charakter
der psychischen Symptome, und complicirt mit bleibenden, mehr minder
ausgesprochenen, motorischen InnervationsstÖrungen in der Mimik und den
intendirten Bewegungen. Sie beginnt mit Schlaflosigkeit, Zerstreutheit,
träumerischem Wesen, Vergesslichkeit, Raptus von perversen Acten;
dann Halhicinationen bald eines, bald mehrerer Sinne, mit immer mehr
imperativem Charakter. Jäher Umschlag in Stimmungsextreme; die schroff-
sten Gegensätze gehen in einander Uber, ohne dass eine Nachwirkung bleibt.
Conträres Verhalten bei Ansprachen, mit Steigerung der motorischen Ne-
gation bei Zuspruch; bei Gewahrenlassen Nachlass der Spannung. Für
sich absolut rathlos, untersteht der Kranke nur der Directive seiner ge-
bietenden Sinnestäuschungen, deren crasseste Zumuthungen er auszuführen
strebt (gefährliche Acte!). In der Folge bunt wechselnde Stimmung
(schwachsinnige Euphorie mit verzehrender Verzweiflung; manchmal auch
hier die abenteuerlichsten hypochondrischen Quälereien, wie oben und
in der typ. Paralyse). Wahnsinnige Ideen-Agglutinationen nach dem Modus
zufälliger Wahrnehmungen oder Erinnerungen, faselnde Monologe, zu-
nehmende Stupidität und Amnesie. Die einfachsten eingelebten Gewohn-
heiten des Essens und des Sichanziehens bedürfen der Nachhilfe und
grossen Zeitaufwandes. Motorische Schwäche nimmt mit der psychischen
zu, während die Hallucinationen pari passu übermächtig werden. Zerfall
25*
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38S
Die psychischen Cerebropathieeo.
der Körperernährung. Tod vom Gehirn ans, oder durch einen Lungen -
process.
3. Typus. Auch der primäre chronische Wahnsinn stellt
sein Symptomenbild unter die klinischen Erscheinungsformen der primä-
ren Hirnatrophie. Ein Zustand von Depression mit heftigen Angstexplo-
sionen leitet häufig die Krankheit ein. Darauf folgt, als Erschöpfungs-
phase auf den vorausgegangenen Reizzustand, eine Episode von Stupidität,
und zwar gleich mit den Zeichen tiefer Betäubtheit (nicht einfacher Hern'
mung): Vergessen der einfachsten Tagesgewohnheiten, plumpe Verstösse
gegen das Decorum u. s. w.; zeitweise können auch lncidere Phasen da-
zwischen laufen. Der nunmehr nachfolgende und definitive Verfolgungs-
wahn trägt generell die Züge des gewöhnlichen Wahnsinns ; im Einzelnen
aber die charakteristischen Modificationen durch die Cerebropathie (speciell
des organischen resp. atrophischen Hirnprocesses). Zu Grunde liegt, und
durch alle Phasen des ausserordentlich mannigfaltigen Krankheitsbildes
verfolgbar, ein tiefes universelles Misstrauen (beruhend wohl auf dem
innerlich percipirten Schwanken des geistigen Existenzgefühles), mit gros-
ser Angst und Rastlosigkeit; daraus und aus dem innerlich gefühlten
Zwiespalt zwischen dem kranken und dem noch gesunden Bewusstseins-
antheil baut sich allegorisch der erst vage, in der Folge aber systema-
tisirte Verfolgungswahn auf, in der Regel ausgefüllt durch centrale Sen-
sibilitätsanomalieen. Dem „functionellen" primären Wahnsinn entgegen,
mit seinem psychologisch abgewogenen Verhältniss zwischen Wahnelement
und Reaction, und logischer Folge der aufeinanderfolgenden Znstands-'
phasen — zeigt das Krankheitsbild des „organischen" Wahnsinns nur frag-
mentare und dabei gegensätzliche Krankheitsacte, ohne psychologisch ver-
mittelten Uebergang und ohne Ausgleichung: auf der einen Seite stehen
Unruhe und Unstätigkeit neben einem reizbaren und empfindlichen, brutal
rücksichtslosen Wesen, und auf der andern grosse Befangenheit und Hem-
mung, geistige und körperliche Müdigkeit bis zur stupiden Indifferenz und
Abulie. Zwischen diesen Extremen schwankt das Tagesbild hin und her,
in buntem jähem Wechsel, nicht selten in einem Gemisch beider, dazwi-
schen auch wieder mit lucideren, gemüthswärmeren Phasen durchsetzt.
Das Bewusstsein ist tief benommen, der Kranke ganz das Spiel seiner
Einfälle, welche in demselben widerspruchsvollen Gegensatz sich bewe-
gen , nicht selten auch in sinnlos extravagirenden Gegensätzen sich ver-
flüchtigen. Es sind Zustände, welche theils an die degenerativen Formen
der hysterischen Verrücktheit, theils an die Paralyse sich anlehnen, von
beiden aber klinisch ebenso scharf sich sondern. Dabei intercurriren im-
perative Hallucinationen , Hyperästhesie der Haut (wie in den vorigen
Fällen), ein zeitweiliges eigentümliches Zittern einzelner Muskeln oder
-Partieen (wohl in Folge geänderter d. h. theilweise ausfallender Innerva-
tion), Zittern der Zunge, trophische Störungen der Haut. Progressiver Fort-
schritt in geistigen Schwachsinn, unter immer mehr alberner und kritik-
loser Ausbreitung des Verfolgungswahns auf die kleinlichsten Verhältnisse.
4. Typus. Ist die primäre Hirnatrophie mit besonders hervortre-
tender Betheiligung einer chronischen Ependymitis der Ventrikel und
starker Wasseransammlung in denselben (Hydrocephalus internus) com-
plicirt, so entsteht sehr häufig eine modificirte Paralyse in Form eines pri-
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Paralysen aus primärer Hirnatrophie mit intercurr. entzundl. Encephalitis. 389
mären Blödsinns, welchem jahrelange Amaurose (wohl durch Druck-
schwund des Chiasma in Folge des erweiterten Infundibulums) vorausgeht.
Der allmählich einrückende Blödsinn verbindet sich mit fortschreitender
motorischer Paralyse (nicht Ataxie). Manchmal ist die geistige Umnach-
tung durch einen vagen, faselnden Grössenwahn etwas erhellt. Zähne-
knirschen scheint hier ein häufigeres Symptom zu sein, früher eintretend
und andauernder als in den sonstigen Paralyse fällen. Der Abwärtsgang'
in Apathie des höchsten Grades ist gewöhnlich durch stupide Aufregungs-
zustände unterbrochen.
2. Die primäre Hirnatrophie mit intercurrenten
entzündlichen Reizerscheinungen.
Das Krankheitsbild ist hier ein nicht weniger mannigfaltiges
als bei der vorigen Form, entsprechend der verschiedenen und ver-
schieden starken Localisation des Hirnprocesses. Je nach dem mehr
diffusen, oder aber ausserdem auch noch localen Auftreten des letz-
teren; je nach der vorwiegenden Betheiligang des Gehirns, oder aber
der ev. Mitaffection der Häute; endlich je nach der ev. Verbindung
mit (d. h. umschriebener Steigerung zu) Herdaffectionen — muss
selbstverständlich das klinische Symptomenbild die mannigfaltigsten
Züge und Verlaufsarten darbieten. Es lassen sich deshalb auch nur
einzelne generelle Züge namhaft machen; im Speciellen ist jeder
EiDzellfall nur für sich und aus sich selbst nach den allgemeinen
Grundsätzen der Hirndiagnostik zu beurtbeilen.
Von psychischer Seite besteht symptomatologisch noch die meiste
Uebereinstimmung unter der hierher gehörigen Casuistik. Allermeist setzt
das Leiden mit einer primären Dementia ein: Nachlass des Interesses,
der Leistungsfähigkeit, des Gedächtnisses. Nicht selten übt der gefühlte
Einbruch der geistigen Schwäche einen Rückschlag auf das Gemüthsleben
des Kranken in Form einer melancholischen Depression, welche aber
durch ihre Inhaltlosigkeit, und durch den matten Affect sich sofort mehr
als wirkliche psychische Abnahme, denn als Hemmung ausweist. Bei
stärkerer vasomotorischer Erregbarkeit können vorübergehende Ohnmachts-
anwandlungen, oder aber Aphasieen, anderemale (bei heftigen Congestiv-
zuständen) auch Aufregungen daz wischenlaufen, mit dem stupiden trieb-
artigen Charakter der Mania gravis. Soweit ist der Beginn gewisser
Varietäten der allgemeinen Paralyse oft nicht unähnlich; dazu kommen
schon sehr bald motorische Störungen, namentlich in der Sprache (Bradi-
phasie), breitspuriger Gang, ungelenke Handleistungen — alle diese De-
fecte aber sofort mit echt paralytischem Charakter. Nicht wenige
Kranke haben auch zeitweiliges Krankheitsbewusstsein. Echter Grössen-
wahn, wie in der klassischen Paralyse,, wird nicht beobachtet; allermeist
fehlt derselbe ganz; anderemale erhebt er sich nicht über ein „glückliches
Sein" oder ein vages delirantes Faseln in den (fiebernden) Erregungszu-
ständen. Die begonnene geistige Schwäche schreitet nun progressiv weiter,
oft überraschend schnell, so dass nach wenigen Monaten bereits eine tiefe
390
Die psychischen Cerebropathieen.
Blödsinnsstufe erreicht ist. Das mehr minder rasche Tempo ist bedingt
durch die dazwischenrufenden acuten CerebralzuBtände, welche klinisch
bald unter dem Bilde eines fieberhaften Stupors, bald einer stupiden Manie,
bald heftiger Wallungszustände mit Delirien und Panphobie, bald schmerz«
hafter Reuralgieen und localer Krampfzustände (Zwerchfellskrämpfe.
Schlingkrämpfe), oder Anfällen von choreatischen Bewegungen verlaufen.
Nach jedem derartigen Insult nimmt der Blödsinn und motorisch die Läh-
mung zu. Ab und zu treten auch wieder zeitweilige, aber immer nur
höchst bescheidene, Erholungen ein.
Im motorischen Gebiete tauchen umschriebene, an Intensität und
Ausdehnung wechselnde, Krämpfe und Lähmungszustände auf: Schüttel-
krämpfe in der einen oder andern Extremität, „raideur" der Muskeln
abwechselnd mit Schlaffheit , flüchtige Contracturen, choreatische Bewe-
gungen in einem oder beiden Armen, anderemale automatische (aber g e-
formte) Bewegungen mit den Händen, temporäre Schiefstellungen des
Kopfes, der Augen (mit Strabismus), alle möglichen Pupillendifformitäteo,
bald vorübergehend, bald bleibend, oft vor und nach den Anfällen ver-
schieden; Abnahme resp. Ausfall und dann auch partieller Wiedereintritt
der Sehnenreflexe; Anästhesie und Analgesie, gleichfalls in überraschender
Weise wechselnd. Manchmal zeigt sich auch einseitiger Verlust des Ge-
ruchs, oder des Gesichts (Atrophie der Pupillen), mit Hemianopsie und
Farbensinnstörungen. Oonstanter dagegen scheinen zwei Symptomenreihen
zu bleiben: die sehr gesteigerte Reflexerregbarkeit der Haut, und die
starke Betheiligung des vasomotorischen Systems (ungleiche und sehr
wechselnde Blutveitheilung Uber den Stamm und den Kopf, mit endlich
immer ausgeprägterer Vasoparese der Hände und Füsse). Gegentiber der
klassischen Paralyse ist der Verlauf ausserordentlich wechselvoll, und in
der Aufeinanderfolge der Einzelphasen und der Gestaltung der Einzel-
symptome ganz unberechenbar. Die Betheiligung des trophischen Systems
findet in derselben Weise und Ausdehnung, wie bei der allgemeinen Para-
lyse statt; doch tritt hier, dem intensiven Charakter des organischen Pro -
cesses entsprechend, die Muskelatrophie viel entschiedener und regel-
mässiger auf als dort, manchmal schon frühzeitig.
Als Anhang zu c) sei hier die Hirnatrophie mit localen
Erweichungsherden oder Apoplexieen (Capillarektasien und
miliaren Herden) oder auch mit multipeln Sklerosen angereiht
Dabei kann wiederum die Beziehung der erstem zur Herd-
erkrankung eine primäre oder eine secundäre sein. Im ersten
Falle geht eine diffuse cerebrale Allgemeinerkrankung voran, in
deren Verlauf später die Herderkrankung auftritt; im zweiten ist
die Herderkrankung das primäre Symptom, und an diese d. h. an
deren FolgezustUude schliesst sich secundär die allgemeine Atrophie
an. Darnach unterscheiden sich die klinischen Bilder: 1. als primärer
Blödsinn mit progressiver Parese, mit intercurrenten Hemiplegieen
und Apoplexieen; 2. Apoplexie mit secundärem Blödsinn; 3. Blöd-
sinn mit allgemeiner fortschreitender Lähmung, untermischt mit localen
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Paralysen au3 schwerer Dementia senilis.
301
Paresen; 4. hallucinatorischer (magnetischer) Verfolgungswahn3inn;
mit Allegorisirung der „rheumatischen" Sensationen und progressiver
Demenz mit Parese (vgl. S. 364, y).
Die beiden ersten Gruppen (1 und 2) werden vorzugsweise ge-
deckt durch die formenreiche Gruppe der atheromatösen Encephalitis.
Vor Allem gehören hierher die Altersprocesse , welche unter dem
Sammelnamen der schweren Dementia senilis zasammengefasst
werden (mit fortschreitender Lähmung).
Der eigentlichen Krankheit geht ein Stad. prodrom. voraus, gebildet
aas körperlichen und psychischen Symptomen. Zu den erstem gehören
die Zeichen eines diffusen Hirnreizzustandes, verschieden je nach der
Natur und dem Sitz der durch Atherose bedingten Circulationsstörung,
und untermischt mit allgemeinen Sehwächeaymptomen: Kopfweh, Schwin-
del, Schlaflosigkeit, allgemeinem Unbehagen, Fro3t- und UnruhegefUhlen,
namentlich in den Füssen, zuckendem Puls mit den Zeichen vermehrter
arterieller Spannung (Ei weiss im Urin); zu den letzter n enorme Ver-
gesslichkeit, so dass selbst die Tageszeiten verwechselt werden, rasche
geistige Ermüdung, unleserliche Schrift mit Schreibfehlern und Wortellip-
sen, getragen durch ein weinerliches, hilfloses Wesen mit Uberaus grosser
Verletzlichkeit und Reizbarkeit; oft geht auch ein zunehmender Geiz mit
Menschenscheu vorher. Die eigentliche Krankheit kann nun entweder
mit einer acuten Geistesstörung, meistens im Sinn einer aufgeregten Melan-
cholie mit Wahnvorstellungen nnd Hallucinationen (Wahn des Bestohlen-
werdens, sogar ihres geistigen Hirnbesitzes!), manchmal auch in Gestalt
einer verzehrenden, maasslos oft übertreibenden Hypochondrie (Wirbel
dislocirt, alle Körpertheile auseinander gerissen, Muskulatur geschrumpft,
Fleisch vom Gesicht genommen, intercurrente völlige Blindheit) beginnen;
oder in Form einer primären Dementia (Rücksichtslosigkeit, Verletzung
des Anstandes, Vergesst ichkeit, Lähmung in Gang und Sprache, enormer
Easgier, Anflug von mattem Grössen wahn, abwechselnd mit Depression,
saccessive zunehmendem Blödsinn mit Paralyse, manchmil mit langsamer
Opticusatrophie) ; oder endlich: motorisch durch einen apoplektischen
Anfall mit Hemiplegie (Aphasie), selten durch epileptiforme Convulsionen.
In der Regel schreitet die Erkrankung nach psychischer Seite (zunehmen-
der Blödsinn), sowie nach somatischer (neue dazwischentretende Lähmungs-
anfälle) progressiv weiter. Es kann aber dieser Verlauf besonders im
Anfang noch durch sehr bemerkenswerthe Aufregungszustände regellos
durchkreuzt und unterbrochen werden: so entsteht eine zwecklose Ge-
schäftigkeit (besonders mit den Kleidern und der Wäsche u. s. w.), mit
zeitweiliger Verstimmung (Diebsfurcht!), Brummen unl Schelten, wie bei
einem unartigen Kinde; aber selten mit Heftigkeit. Vermag die Erre-
gung noch in einer höhern geistigen Sphäre sich abzuspielen, so treten
gelegentlich perverse Handlungen zu Tage, worunter namentlich klepto-
manische und erotische Antriebe eine social oft sehr bedenkliche Aus-
schreitung bringen. Die Conflicte mit dem Strafgesetz sind nicht selten.
Spricht der krankhafte Hirnreiz dagegen mehr die psychomotorischen und
niedern Centren an, so können auch brutale Manieen auftreten, mit Ver-
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392
Die psychischen Cerebropathieen.
worrenbeit und planlosem Zerstörungsdrang. Fehlen die Aufregungszu-
stände, und verläuft die Krankheit in depressiver Richtung weiter, so
verräth sich auch, hierbei der tiefere organische Hirnreiz in den triebar-
tigen Angstzufallen, Zwangsvorstellungen und motorischen Raptus, welche
oft zu Gewaltthaten führen. Findet eine Motivirung der Angst statt, so
ist diese dem Grade der Hirnstörung entsprechend läppisch und kindisch
(ein Kranker aus meiner Beobachtung brachte Nächte hindurch in Angst
aus dem unbesiegbaren Zwangsgedanken hin, dass er früher einmal ein
Hemd verkehrt angezogen habe!); zunehmende Sinnestäuschungen. Wille
macht die richtige Bemerkung, dass oft diese ganze melancholische Sce-
nerie mit den verkehrten Handlungen nur Nachts spiele, während der
Kranke unter Tags kaum Abweichungen von seinem gewohnten Verhal-
ten zeige; manchmal wird darin ein alternirender Typus beobachtet.
In einer wie in der andern Verlaufsart zielt der endliche Verlauf
zur definitiven Geistesschwäche, mit zunehmender motorischer Lähmung.
Die Kranken werden immer theilnahmloser, vorübergehend stupid (Hirn-
druck in Folge der atheromatösen Circulationsstörungen), schlafen oft ein,
zeigen eine allgemeine Betäubung. In den freiem Zeiten sind sie reizbar,
raisonnirend, ärgerlich, unzufrieden, widerstrebend, und dabei von Minute
zu Minute vergesslich. Sie vergessen nicht selten ihren eigenen Namen,
oder lehnen denselben auf Vorhalt zornig ab, führen mit ihrem Spiegel-
bild ernstliche Selbstgespräche, trinken behaglich schmunzelnd ihren Urin
u. s. w. Die Sprachstörung ist, entgegen der typisch-paralytischen, nicht
von der ataktischen, sondern glossoplegischen Form : wie wenn die Kran-
ken Brei im Munde hätten. Grösser noch sind die Associationsstörungen ;
kein Satz, selbst nicht der einfachste, vermag mehr grammatikalisch durch-
geführt zu werden; nach wenigen Worten stockt der Vorstellungsgang;
dann schiebt sich nach einer Pause ein weiteres Satzfragment vor, und
so gehen die sprachlichen Anakoluthieen weiter. Oft wird das Wort
nicht gefunden, oder kann nicht ausgesprochen werden, weil die Zunge
temporär ganz ungefüge ist (dadurch grosse Verstimmung mit zorniger
Reaction !). Manchmal versucht der Kranke durch hieroglyphische Zeichen
seinem Sprachdefect schriftlich abzuhelfen. Neben der Agraphie besteht
oft Alexie und Paralexie. — Immer mehr schreitet der intellectuelle und
namentlich auch sittliche Zerfall (perverse Acte) voran; nicht selten in-
tercurrirt noch eine Zeit lang ein alberner monotoner Grössen wann; der
Kranke muss schliesslich zur Reinlichkeit gemahnt und gefüttert werden,
und sinkt immer mehr zum Schlafzustande des Säuglings herab.
In diese continuirliche Verlaufscurve nach abwärts treten nun
noch die mannigfachsten motorischen Krampf- und Lähmungs-
zufälle: epileptoide, apoplektische , hemiplegische, apbasische An-
fälle — bald vorübergehend, bald auch bleibend. Auch Anomalieen
der Sensibilität schieben sich ein und Aenderungen der Sehnenreflexe,
theils zeitweilig, theils dauernd. Trotz grosser Gefrässigkeit magert
der Kranke ab, bis endlich ein neuer Schlaganfall, oder Decubi-
tus, oder Cystitis, eine Pneumonie, das reducirte Dasein (welchem
übrigens oft überraschend freie Lichtblicke nicht fehlen) abschliesst.
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Paralysen aus Apoplexieen, aus dissemenirter Sklerose.
393
Beim Hirntod machen sich bei dieser Form besonders häufig auch
die Veränderungen des Athmungstypus geltend (cephalische Respira-
tion, Cheyne-Stockes'sches Phänomen).
Die Dauer der Krankheit ist eine sehr verschiedene. Es gibt
peracut in mehreren Wochen tödtlich verlaufende Fälle. In andern können,
selbst nach schweren Insulten, befriedigende Remissionen (von Monaten)
eintreten. In der Regel aber ist die Krankheit andauernd, und verläuft
innerhalb 1—4 Jahren.
Die Blödsinn-Lähmungszustände, welche nach Apople-
xieen (Embolieen) auftreten, verhalten sich je nach dem dauernden
oder abwechselnden Ueberwiegen von Hirnreizvorgängen, oder aber
zunehmendem einfachem Hirnschwunde, symptomatologisch verschie-
den. Wesentlich wirkt natürlich auf die Gestaltung des individuellen
klinischen Bildes Ort und Tiefe des apoplektischen Herdes, und nicht
unwesentlich auch der biologische Reifezustand d. h. die vitale
Leistungsfähigkeit des Gehirns mit
In einem Falle von Apoplexie bei einem jungen Manne (in Folge
einer heftigen Erhitzung auf Grundlage einer frühem schweren Kopfver-
letzung) sah ich bleibende Hemiplegie mit zunehmender Geistesschwäche
folgen, wobei Anfangs ein acut ballucinatorischer Wahnsinn (durch mehrere
Wochen) ausbrach, später ein bleibender Verfolgungswahn, mit grosser
Reizbarkeit, zeitweisen Kopffluxionen und allerlei perversen Sensationen.
Der letztere führte später zum Morde des behandelnden Arztes. — Bei
einem 57 jährigen Manne beobachtete ich 2 Jahre nach einer Apoplexie
zuerst eine gesteigerte Reizbarkeit und darauf eine Uber l Jahr dauernde
Mania gravis, mit blinden motorischen Excessen , bodenloser Verwirrung,
triebartig sinnlosem Gebahren, bedeutender Abmagerung. Jetzt ein Sta-
dium von spielendem und faselndem Grössenwahn (Kaiser, Millionen). Nach
mehreren Monaten trat ein manisches Schwächestadium (Moria) auf ; hier-
auf nochmals kurze Recidive von Mania gravis, mit Uebergang in ruhigen
Blödsinn. Aus diesem erfolgte, unter Hebung der Körperernährung, eine
allmähliche, aber schliesslich vollständige und bleibende geistige Ge-
nesung.
Mit dem Stillestehen und Ausheilen der apoplektischen Hirn-
verletzung kann auch Stillstand und relative Heilung der psychischen
Schwäche, mit ernstlicher Besserung der Lähmungserscheinungen
eintreten (s. o.). Dies sind die klinischen Uebergangsfälle zu den
traumatischen Psychosen.
d) Die Encephalitis mit dissemenirten sklerotischen Herden bildet
ihrerseits den natürlichen Uebergang zu den syphilitischen Psychosen.
Die psychischen Störungen bei der klassischen Hirnrückenmarks-
aklerose verlaufen gewöhnlich unter dem Bilde einer krankhaft gestei-
gerten Reizbarkeit, unmotivirtem Stimmungswechsel, grosser Weinerlichkeit,
Gedflcbtnissschwäche , deliranten Einfällen mit Hallucinationen, Anwand-
394
Die psychischen Cerebropathieeo.
lungen von Verfolgungsangst, zwischenläufiger schwachsinniger Euphorie,
albernem GrÖssenwahn — progressiv (manchmal auch in rapidem Abfall)
bis in die höchste Stupidität. Die höheren ethischen Gefühle bleiben in
der Regel lange, oft dauernd, geschont. In einzelnen Fällen sind auch
melancholische Depressionszustände mit Tentamen suicidii verzeichnet;
in andern folgte auf das depressive Stadium heiterer GrÖssenwahn mit
Selbstüberschätzung. Für die differentielle Diagnose sind die somatischen
Zeichen der multipeln Sklerose (locale Paresen mit Steifheit, Intentions-
zittern, Zungenlähmung u. s. w.) beizuziehen.
Die von mir beobachteten Fälle von progressivem Blödsinn mit Läh-
mung auf der Grundlage einer Encephalitis mit Capillarektasieen
und miliaren Herden waren beide durch einen anhaltend sehr hohen
Betäubungszustand mit intercurrenten motorischen Herderscheinungen und
apoplektischen Anfällen ausgezeichnet. Mit der Stupidität wechselten
Erregungszustände mit blindem Zerstörungsdrange ab. Schliesslich wurde
die tiefste Stufe des apathischen Blödsinns mit allgemeiner Parese, neben
localen Lähmungen, erreicht. — Der L. Meyer'sche Fall (zugleich der
erste in dieser Hinsicht beobachtete) entwickelte sich aus Melancholie
mit epileptoiden Angstzufällen zu einem geistigen Schwachsinn, mit mo-
torischer Parese im Hypoglossus und Facialis und Abstumpfung des
Schmerzgefühls, wie bei der progressiven Paralyse.
e) Psychische Cerebralleiden unter der klinischen Form des progres-
siven Blödsinns mit Lähmung, bedingt durch Neubildungen im Gehirn
werden hier bloss der Vollständigkeit wegen angeführt, da sich eine all-
gemeine Symptomatologie nicht einmal in groben Umrissen geben läs-?t.
Sitz des Tumors, Grösse, Wachsthumsschnelle, complicirende mechanische
Folgewirkungen u. s. w. machen jeden Fall zu einem individuellen. Das
ausserordentlich polymorphe, regellos verlaufende, gewöhnlich aus diffusen
und Herderscheinungen gemischte Bild zeigt wohl im Allgemeinen die
Symptome eines mehr oder minder raschen Blödsinns (allgemein und par-
tiell) mit den mannigfachsten Lähmungen ; dazwischen aber stupid manische,
delirant hallucinatorische und auch lucidere Phasen. Selbst das Paralyse-
bild ist wiederholt bei Tumoren beobachtet worden, manchmal anhaltend,
in andern Fällen vorübergehend, bis dann plötzliche Insulte und locale
sprungweise Lähmungen, ophthalmoskopische Erscheinungen u. s.w. die
Specificität des atrophirenden Hirnleidens aufklärten, lieber die speciellen
diagnostischen Gesichtspunkte s. Bd. XI d. Hdb.
f) Complicirende Rückenmarkserkrankungen. Die hier in Betracht
kommenden spinalen Processe sind: graue Degeneration der Hinter-
stränge (Tabes, „tabische Paralyse"), Lateralsklerose (spastische
Paralyse), fleckweise Degeneration der Hinter- und Seitenstränge,
centrale Myelitis, Syringomyelie.
Ein bestimmteres allgemeines Krankheitsbild lässt sich auch
für diese verschiedenen coraplicirenden Spinalprocesse nicht geben.
Am ehesten noch bilden die „tabischen Paralysen" eine klinisch ge-
schlossene Gruppe. Aber auch hier differiren die Syraptomenbilder
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Paralysen aus capill. Apoplexieen; Hirntumoren; „tabische" Paralyse. 395
wesentlich nach der Eintrittszeit der Tabes, insofern diese dem para-
lytischen Hirnprocess bald vorausgehen, bald nachfolgen kann (s. u.).
In beiden Fällen kann das cerebrale Bild das einer gewöhnlichen
Paralyse sein, und die spinalen Tabessymptome sich einfach dazu
summiren. Sehr oft aber, namentlich bei vorausgehender Tabes,
können die durch die letztere gebrachten Zeichen klinisch im Vor-
dergrunde stehen bleiben, und die cerebralen nur erst unbestimmt
\sich kundgeben.
Nach den einleitenden charakteristisch rheumatoiden Schmerzen (sehr
oft auf Grundlage derselben) bildet sich ein hypochondrischer Zustand
aus, welcher schrittweise in Dementia übergeht, während die immer um-
fassenderen Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen den Fortschritt der Tabes
nach oben, und das Hinzutreten von anarthrischer Aphasie den Ueber-
griff des Leidens speciell auf den Med. oblong, darlegen. Der Verlauf
dieses tabischen Blödsinns ist oft ein sehr rascher; in anderen Fällen
treten aber gegentheils auch oft unerwartete, jahrelange Remissionen nach
psychischer und körperlicher Seite ein. — Das psychische Bild, welches sich
auf der Tabes aufbaut, zeigt aber nicht selten eine mannigfaltigere Gestal-
tung und Entwicklung. Dasselbe setzt a) mit Verfolgungswahn (s. S. 1 62)
ein, welcher seine Allegorieen aus den spinalen Sensibilitätsstörungen be-
zieht; oder b) es treten erst manische Anfälle auf mit gemischtem de-
pressiv exaltirtem (GrÖssen-)Delirium, woran sich erst Genesung und dann
nene Nachschübe, oder aber ein hypochondrisches Schwächestadium an-
schliesst, mit progressiver Dementia. Interessant sind die temporären
Besserungen des Blödsinns und der Ataxie, oft ganz plötzlich, auf Tage
oder Stunden hinaus. Dafür ist andererseits der Verlauf der Fälle durch
häufigere Convulsionen unterbrochen als die gewöhnliche Paralyse. Der
ataktische Charakter der Bewegungsstörungen mit den Aenderungen der
Sehnenreflexe (s. typ. Paralyse) bleibt, neben der progressiv einrückenden
motorischen Paralyse, das auszeichnende Symptom.
Als eine besondere Modification tabischer Dementia hat Simon einen
Zustand von progressivem Blödsinn mit Lähmung beschrieben, in welchem
die Dementia und die Tabes gleichzeitig einsetzen. Die erstere hat
die Eigenart der senilen Form: Vergesslichkeit, Hang zu träumerischen
Faseleien, kindisches, sehr reizbares Wesen mit Anstreifungen an einen
albernen fragmentaren Grössenwahn, frühzeitige Bulbärsymptome , An-
ästhesie und Analgesie. Simon fand in seinem Falle hochgradige Sklero-
Birnng der Marksubstanz des Grosshirns neben stahlblauer Verfärbung
der Corticalis, graue Degeneration der Hinterstränge, Körnchenzellen-
Myelitis der Seitenstränge.
Für die Epikrise ist zu beachten, dass manchmal p. m. Degeneration
der Hinterstränge bei Paralyse sich findet ohne intra vitam bestandene
Ataxie und Sensibilitätsstörungen. Letztere Zeichen scheinen demnach erst
bei genügendem Markröhrenschwund zu Tage zu treten (Westphal). Die-
selbe Vorsicht gilt auch manchmal für die Diagnose einer Lateralsklerose,
welche trotz der vorhanden gewesenen spastischen Symptome fehlen kann
(Zacher).
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39G
Die psychischen Cerebropathieen.
g) Psychische Cerebralleiden durch Encephalitis syphilitica.
Wenn schon die vorstehenden Hirnaffectionen Einsprache erhoben
gegen den Versuch ein nur einigermaassen typisches Symptomenbild der
zukommenden psychischen Störung zu entwerfen, so ist bei der Hirnlues
die Schwierigkeit eine noch erheblich grössere. Seit wir wissen, dass
die letztere sowohl diffuse als auch locale Producte setzt und ausserdem
noch aus beiden Richtungen gemischte, so müssen wir gefasst sein, allen
den vorhin beschriebenen Untergruppen im Detail der syphilitischen En-
cephalitis wieder zu begegnen. Ein Blick auf die pathologisch-anatomischen
Vorkommnisse im Groben zeigt, dass dies auch nicht anders sein kann.
Wir treffen hier Knochenprocesse am Schädel, eigenartige Meningitiden
und Encephalitiden, theils rein, theils wiederum in Verbindung mit Herd-
erkrankungen, letztere bald ans einfacher Erweichung, bald aus einer
Arterienerkrankung hervorgehend, und diese wiederum bald umschrieben,
bald diffus; ferner noch die specifisch gummösen Neubildungen und die
partiellen Gehirnskierosen. Dabei spielen sich alle diese Vorgänge theils
mehr im chronischen, theils im acuten Tempo ab, wodurch noch neue
und noch verwickeitere Entstehungs- und Abänderungsbedingungen für
die klinische Erscheinungsweise gegeben sind. Es begreift sich daraus
das Proteus-ähnliche der Krankheitsbilder, von welchen nicht zwei Fälle
einander genau gleichen, und so auch weiter die Abneigung vieler Be-
obachter aus diesem Embarras de richesse noch ein „specifisches" heraus-
zuschälen, welches einigermaassen Anspruch auf gesonderte Existenz hat.
So wichtig nun diese letzteren Bedenken im Allgemeinen auch sind,
und so gegründet der Einwurf gegen den Versuch einen präcisen Schul-
typus im Gebiet der syphilitischen Cerebropathieen aufstellen zu wollen,
so gingen dieselben doch zu weit, wenn damit jede Berechtigung bestritten
werden wollte, einen generellen Rahmen um die grössere Anzahl dieser
Symptomenbilder zu ziehen, und innerhalb dieses wenigstens diejenigen
Nuancen herauszuheben, welche mit einer gewissen Häuf igkei t wieder-
kehren, und tbatsächlich die syphilitische Gruppe von verwandten aus-
zeichnen. Dass die hierher gehörigen Fälle sämmtlich unter einer oder
der andern Form der sog. modificirten Paralysen verlaufen, dürfte nicht
zu bestreiten sein, und wird auch von den Gegnern der „Specifität" zu-
gegeben. Damit wird der weitere klinische Rahmen umschrieben. —
Dafür darf nun gegentheils eingeräumt werden, dass die Hirnlues unter
Umständen auch als typische Paralyse verlaufen kann, allerdings (wenig-
stens nach meinen Beobachtungen) viel seltener, als man lange Zeit
annahm, wo man sogar alle Paralysen schlechthin auf eine speci fische
Entstehung zurückleiten wollte. — Aber auch innerhalb dieses engern und
weitern Rahmens heben sich gewisse klinische Nuancen heraus, theils
im somatischen, theils im psychischen Gebiet, theils endlich nach Richtung
des Verlaufs. Es gibt, wie ich behaupten möchte, einen specifischen
luetischen Blödsinn, welcher höchstens nocli mit gewissen alkoholischen
Formen einige Aehnlichkeit hat; es gibt gewisse Eigenheiten im Verhalten
der motorischen Störungen , wenn auch nicht regelmässig nachweisbar ;
und endlich gewisse Besonderheiten im Verlaufe, gegenüber den typischen
und den sonstigen modificirten Paralysen. In diesen Momenten liegt für
mich das Specifische der „syphilitischen" Paralyse, wo sie vorkommen,
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Paralysen aus Encephalitis syphilitica.
397
was allerdings nicht immer der Fall ist. Selbstverständlich darf die Dia-
gnose auch nie von den andern diagnostischen Hilfen absehen, welche von
der innern Medicin für dieses Specialgebiet geleistet werden (s. Heubner,
d. Handb. XI).
Im allgemeinen Krankheitsbilde können motorische und
psychische Symptome theils einzeln, theils vereint, die Scene er-
öffnen. Die psychischen selbst scheiden sich wieder in Läh-
mungs- und Reizsymptome. Der Lähmungscharakter ist der häufigere.
Eröffnet ein primärer Blödsinn die Scene, so besteht dessen Aus-
zeichnung und Eigenart 1. in seiner auffallend raschen Entwick-
lung (mit den übrigen diffusen d. h. uncomplicirten Hirnatrophieen
verglichen), und 2. in seiner ungleichen Ausdehnung resp. Verthei-
lung auf die einzelnen intellectuellen Functionen. Neben der allge-
meinen und intensiven geistigen Schwäche treten locale Defecte
auf, in Form des Verlusts einzelner Fähigkeiten — partielle psychi-
sche Ausfallserscheinungen — als ob der Kranke dieselben nie be-
sessen hätte. Gebildete Kranke verlernen das Rechnen mit den 4
Species, vergessen eine ihnen früher geläufige fremde Sprache; wie-
der Andere verlieren, fast isolirt, die Anschauung (Beurtheilung) des
Maasses und der Entfernungen (Erlenmeyer). Der syphilitische
Blödsinn besteht nicht in einer ebenmässigen Abnahme oder Auf-
hebung der geistigen Fähigkeiten, sondern als ein eminent partieller,
wenngleich sofort sehr tiefgreifender Zerfall dieser oder jener geisti-
gen Energie. Dieses Cbarakteristicum überträgt sich auch auf die
höhern psychischen Leistungen. Dazu kommt als weitere Eigenart
3. dass eine solche schwache Seite im krankhaften Charakter sich
zeitweise wieder verliert, um eine andere herauszukehren (sprung-
weiser Defect). So können sich Witz und Bornirtheit, Gemüth-
lichkeit und Brutalität, Bescheidenheit und Prahlerei, zarte Sitte und
rohes, oft unanständiges Wesen neben einander lagern, resp. ab-
wechseln. — Beginnt die Dementia nicht primär, so ist sie nicht
selten von hypochondrischer (syphilit) Melancholie (s. d.) eingeleitet,
während gleichzeitig körperlicherseits die specifische Kachexie und
Chlorose sammt den nie fehlenden Neuralgieen (besonders Kopf-
schmerzen) die erweiterte diagnostische Grundlage abgeben. Dieses
hypochondrische Vorstadium , welches unter Umständen Monate und
selbst Jahre (nach meiner Beobachtung) einnimmt, kann oft zu den
furchtbarsten, echt cerebralen, Angstzufällen führen, und den Kranken
einem unbezwinglichen Selbstmordtrieb in die Arme führen (s. Melanch.).
Damit geht, bei einmal entwickelter Krankheit, derselbe Mangel an
Krankheitseinsicht Hand in Hand, wie dieser auch der specifischen
398
Die psychischen Cerebropathieen.
Paralyse eigen ist, ebenso dieselbe Hingabe an die Producte einer
ungezügelten Phantasie, dieselbe schwachsinnige Beurtheilung der
nächsten Verhältnisse und der eigenen Lage, dieselbe Lockerung des
Gedankenganges, Unmotivirtheit des Stimmungswechsels mit der Rück-
sichtslosigkeit und Leichtfertigkeit und den groben Grenzverletzungen
des Geziemenden, dieselbe psychische Zerfallenheit, trotz einem oft
noch längere Zeit aufblitzenden (partiellen) geistigen Glänze. Auch
der Grössenwahn gibt manchmal dem paralytischen nichts nach,
wenn er allerdings auch öfter sich nur auf eine blödsinnige Heiter-
keit reducirt, welche zur Täuschung über den Krankheitszustand,
und zu kritiklosem Aufgehen in der Minute, ohne Wunsch und
Klage, führt.
Mit dem Blödsinn verbinden sich nun bald motorische Sym-
ptome, und zwar theils mit dem primären Charakter der Lähmung,
theils aber auch in Form der Ataxie und der krampfhaften Hem-
mungen ; auch hier wie in den analogen Anfangsstadien der Paralyse.
Die Sprachstörung ist demgemäss bald mehr die ataktisch-paralytische,
bald mehr die glossoplegisch-bradyphasische. Die Arm- und Fussbe-
wegungen werden plump, unsicher. Die Entwicklung der motorischen
Störungen gegenüber den psychischen ist übrigens oft eine auffallend
mässige. — In der Regel haben mittlerweile die verdächtigen Neur-
algieen, die Dolores osteocopi (heftiger Kopfschmerz) namentlich
Nachts sich festgesetzt, bald die psychische Störung begleitend, bald
mit dem brüsken Einsatz der letztern eine Zeitlang zurückweichend.
Nicht selten melden sich um diese Zeit auch Sehstörungen an (in
einem Falle meiner Beobachtung ging eine centrale Amaurose 1 Jahr
der geistigen Krankheit voraus). — Treten jetzt keine stürmischen
Zeichen auf, so kann der Process in progressiver Verschlimmerung
der psychischen und motorischen Zeichen seine weitere Entwicklung
nehmen. In der Regel aber schieben sich bald auch motorische
Herdsymptome ein. Es treten Ptosis und Strabismus, vorübergehende
Aphasie, oder klonische Krämpfe in den Extremitäten auf (sprung-
weise, ohne anatomische Continuität!), und verschwinden wieder
flüchtig. Sehr häufig wechselt auch die psychische Scenerie: an
Stelle der blödsinnigen Indolenz rückt eine heftige Manie mit den
einschneidenden Bewusstseinsdefecten , wie sie der Paralyse eigen
sind; oder auch ein acutes Delirium, in letzterem Falle mit oft rasch
tödtlicher Wendung. Oder aber: es durchzucken apoplektiforme und
epileptoide Anfälle das bis dahin monotone Krankheitsbild, und lassen
neben gleichzeitig tieferer Verblödung vorübergehende und dauernde
Hemiplegien zurück.
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Paralysen aus Encephalitis syphilitica.
399
Anderemale können die genannten Krampfattaken auch den Ver-
lauf beginnen (wie bei der congestiven Paralyse). In derselben
einleitenden Function tritt auch oft eine Manie auf, mit der imma-
nenten Dementia, gerade wie bei der typischen Paralyse, und auch
mit demselben Grössen wabnscbarakter, so dass das „specifische"
Bild im Ganzen und Einzelnen (hier auch in der Entwicklung) mit
dem typischen zusammenfällt — wenn nicht die begleitenden moto-
rischen Symptome Einsprache erheben.
Letztere behalten in gut ausgeprägten Fällen — neben dem
sprungweisen Auftreten und flüchtigen Verschwinden (Wunderlich)
— den gemischten Lähmungs- und Reizcharakter (locale Paresen
und Contracturen). Mit den grob motorischen Insulten wechseln An-
fälle von Sopor mit traumartigem Halbschlummer, Schwindelanfälle,
Zitterkrämpfe wie bei multipler Sklerose. Zu den Lähmungen ge-
sellen sich auch noch immer ausgedehntere sensible und sensorielle
Störungen (Amaurose s. o.). Nicht selten schiebt sich gelegentlich
wieder ein syphilitisches Exanthem ein, oder specifische Knochen-
processe. Mitaffectionen des Rückenmarks zeigen sich in Aenderung
der Sehnenreflexe, Auftreten von Decubitus, Cystitis. Das Heer der
damit einrückenden körperlichen Zeichen (neurotischer und trophischer
Natur) setzt sich, je nach der individuellen Grundlage, mehr aus den
einschlägigen finalen Symptomen aus der typischen, oder aus denen
der modificirten Paralysen zusammen.
Auch in die Gestaltung des Verlaufs sind alle Ergebnisse und mög-
lichen Zwischenfälle aus derselben polymorphen pathologisch-anatomischen
Unterlage einzurechnen. Für einen Theil der syphilitischen Paralysen
stimmt der Verlauf ganz mit dem der klassischen Uberein, sowohl der
gewöhnlichen, als der acuten Form, und der Varietäten; dabei ist aber
der syphilitischen Paralyse in der Regel eine ungleich längere Ver-
laufsdauer eigen (sogar bis zu 20 Jahren), wie sie bei der typischen nicht
vorkommt. Sodann werden bei der ersten (der specifischen) manchmal
plötzliche Wendungen aus schweren Krankheitsstadien zu einem täu-
schend guten Befinden beobachtet, wie dies der gewöhnlichen (klassi-
schen) gleichfalls nicht eigen ist; ein Verhältniss, welches vielleicht in
der bekannten Flüchtigkeit auch anderer luetischer Hirnzustände (Läh-
mungen) sein Analogon findet. Dabei sind eigentliche Remissionen nicht
so häufig, wie bei der gewöhnlichen Paralyse, obwohl solche auch vor-
kommen, sogar bis zur Höhe der Kränkheitseinsicht und bis zur wieder-
gewonnenen Festigkeit und Sicherheit in den Muskelbewegungen, auch
der feineren. Es gibt sogar solche scheinbare Reconvalescenten, welche
durch ihre Haltung, durch das Feuer ihres Geistes und die Innigkeit ihres
Gemüths gelegentlich förmlich entzücken. In der Regel aber bleibt der
remittirende „specifische" Paralytiker in vermehrtem Grade, als der ge-
wöhnliche, in diesen Nachlasszeiten geistig geschädigt; viel mehr als Dieser,
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400
Die psychischen Cerebropathieen.
welcher ja so oft als gesund imponirt, fährt Jener fort da und dort sich
Blössen zu geben; er bleibt, vergleichsweise, viel schwacher in seinen
beruflichen Leistungen, periodisch gedrückt, übelgelaunt; kurz: er trägt
das Siegel seiner gewissen Krankeit viel prägnanter mit sich fort Die
Remissionen haben gewöhnlich eine mehrmonatliche Dauer.
Pathologisch-anatomisch sei hier des makroskopischen Fund-
reichthums nur kurz gedacht. Vom Pericranium (Periostitis syphilitica)
und Schädelgehäuse beginnend, sind einerseits die hyperplastischen
Knochenprocesse mit den Osteomen, andererseits die ostitischen (gum-
mösen) auch bei unseren luetischen Psychopathieen nicht selten, manch-
mal mit vollständiger Perforation der Schädelkapsel und secundärem Ueber-
tritt der Entzündung auf die Hirnhäute. — Im Gebiete der Hirnhäute
sind es die bekannten diffusen und circumscripten Verwachsungen der-
selben unter sich, sowie mit dem Schädeldach und der unterliegenden
Corticalis. Ob auch die circumscripte fellartige Verdickung der Arach-
noidea als specifisch gelten darf, muss erst noch weiter bestätigt werden.
— Im Gehirn selbst wie auch in den Hirnhäuten, wo besonders ihre
Entwicklung an den Nerven-Foramina bedeutsam ist, sind dann Gumma
bildungen in ihren verschiedenen Formen und Consistcnzgraden die Reprä-
sentanten der syphilitischen Einwirkung. Ausserdem aber auch die um
8chriebenen Erweichungsprocesse , theils in der Corticalis, theils in der
Marksubstanz; dissemenirte Sklerosen in Form von eingesprengten „blau-
grauen" Herden an der Hirnbasis (L.Meyer). Die specifische Arterien-
Veränderung Heubner's (von Neuern wieder bestritten) soll in einem
charakteristisch kleinzelligen Wucherungsprocess zwischen elastischer Mem-
bran und Intima (bestimmt unterschieden vom atheromatösen Vorgang) be-
stehen, und zur allmählichen Beeinträchtigung und schliesslichen Aufhebung
des Gefässlumens fuhren.
Zur Frage einer mikroskopisch nachweisbaren Encephalitis specific*
kann ich aus eigenen Beobachtungen den Fund einer hochgradig schwie-
ligen Verdickung und förmlich faserigen Einscheidung der klein-
sten Gefässe beitragen, wie dies in Fällen der gewöhnlichen Encephalitis
nicht vorkommt. Der Befund verglich sich annähernd mit dem in der
narbigen Umgrenzung alter apoplektischer Herde, nur dass derselbe hier
frei und streckenweise vorkam. — In demselben Sinne ist vielleicht auch
die enorme Vermehrung der Arachniden in der grauen Substanz bei einem
meiner Fälle von Myelitis syphilitica zu deuten. — Einmal fand ich weit
verbreitete hyaloide Gefässdegeneration in der Corticalis.
Therapie.
Die Behandlung der modificirten Paralysen ist im Wesent-
lichen dieselbe wie die der typischen, nur mit den durch die je-
weilige Hirnaffection speciell gebotenen Abänderungen. Die letztern
richten sich nach den Vorschriften der innern Medicin. Die galop-
pirende Paralyse hat die zwei Indicationen a) der Bekämpfung
des acuten (entzündlichen) Hirnreizes, und b) der drohenden Kräfte-
consumption in erhöhtem Maasse zu berücksichtigen.
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Der Alkoholismus and die alkoholiatischen Psychosen.
401
(Eisbehandlnng, Bettlage, verdunkeltes Zimmer, feuchte Einpacknngen
mit Eisumschlägen , zeitweilige hirud. Anfangs milde Diät, Milchcuren,
bald aber kräftige, leicht verdauliche Kost, Fleisch mit Wein und Bier,
Opiate, unter Umständen Ergotin, kräftige Ableitungen auf den Scheitel,
den Nacken, die Küsse.) Sie ist nur in einer Anstalt zu vollziehen.
Bei der tabischen Paralyse ist die niitbegleitende Tabes
nach den für diese geltenden Indicationen in Angriff zu nehmen
(constanter Strom). — Die syphilitische Paralyse indicirt Jod-
kali, wenngleich leider dessen Wirkungen auch nur selten den ge-
hegten Hoffnungen entsprechen. Andere antisyphilitische Curen (Ein-
reibungen, subcutane Einspritzungen) dürfen nur unter sorgsamer Be-
rücksichtigung des Kräftezustandes unternommen werden. Ist der
Kranke nicht störend oder gefährlich, so kann auch eine Badecur
(Aachen) unter sachverständiger Beaufsichtigung und Leitung in Er-
wägung treten.
Der Alkoholismus und die alkoholistischen
Psychosen.
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402
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Die klinische Betrachtung der Alkoholpsychosen geht mit Vor-
theil von der Naturgeschichte der einfachsten Form der Alkoholver-
giftung, des Rausches, aus. Man hat aus dem Symptomenbild und
Verlauf des letztern eine „kurze und abstracte Chronik der Geschichte
des Irreseins" herausgelesen. Richtiger ist wohl dieser Ausspruch
auf die Aehnlichkeit des Rausches speciell mit der „Paralyse" zu
beschränken. Auch so ist die Parallele noch interessant genug.
Sehen wir dabei von den erwägenswerthen Folgerungen ab, welche
diese Analogie für die nosologische Auffassung des wirklichen Pa-
ralyse-Processes nahe legt — der Rausch bringt dessen acute tran-
sitorische Wiederholung zu Stande, ohne jeden Entzündungsvorgang,
nur functionell durch acute Intoxication ! — so ergibt die That-
sache der individuellen psychischen Verschiedenheit des Rausches
(bald Depression, bald Exaltation), und die weitere der unendlich
verschiedenen Grössenmengen des erforderlichen Alkoholgiftes sehr
beachtenswerthe Grundlagen für das Verständniss der Alkoholpsy-
chosen überhaupt. Beide Erfahrungen zeigen, dass aller Effect in
erster Linie auf die individuelle Hirnconstitution ankommt, und in
zweiter auf die Stärke der chemischen Schädlichkeit (Schnaps
wirkt ungleich verderblicher, als Bier oder Wein, und unter jenem
wieder die Amylverbindungen schlimmer als die Aethylpräparate,
und diese schlimmer als die Methylderivate). Aber auch die indi-
viduelle Hirnconstitution schwankt zu verschiedenen Lebensepochen
und unter differenten physiologischen Bedingungen: was zu Zeiten
grösserer Rüstigkeit gut ertragen wurde, kann in den Tagen einer
stärkern nervösen Ergriffenheit schon zur krankmachenden Schäd-
lichkeit werden, und den Rausch zu einer wirklichen transitorischen
Seelenstörung umgestalten (s. pathol. Rauschzustände).
Ungleich häufiger treten die Wirkungen fortgesetzter Trink-
excesse auf das geistige Nervenleben auf. Dieselben können in
zweifacher Weise zu Stande kommen, in der Form: 1. einer plötz-
lichen acuten Himaffection, als Ausdruck summirter Giftwirkung des
Alkohols, weniger wohl der direct chemischen, als wahrscheinlich
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Allgemeines.
103
der vasomotorischen; and 2. als chemische Durchseuchung des ganzen
Organismus, als sog. Alkoholkachexie, wiederum in chronischer oder
intercurrenter, acuter Form. Jene ist das einfache Ergebniss wieder-
holter und sich summirender tiefer Berauschungen, ohne eine bleibende
Dyskrasie; diese dagegen stellt den Ausgang einer systemati-
schen Schädigung sämmtlicher nervöser und vegetativer Func-
tionen dar, mit gewissen deletären Organerkrankungen. Es begreift
sich, dass beide Erscheinuugsreihen in dem Sinne zusammengehören,
als sie die häufige Stufenleiter im Niedergang des Gewohnheits-
trinkers darstellen: die zweite als die Weiterentwicklung der ersten.
Aber die Aufeinanderfolge ist keineswegs eine noth wendige und
immer zutreffende. Es kann vielmehr die erste Stufe erreicht wer-
den, und das geschwächte Nervensystem nach einer oder mehreren
nervös- toxischen Krisen wieder zur Norm sich zurückbilden ; andrer-
seits kann die chronische Säuferdyskrasie sich primär entfalten, ohne
den Umweg durch jene wiederkehrenden acuten Vergiftungen zu
nehmen.
That&achlich ist auf der ersten Stufe der Alkoholismus unter ge-
wissen Bedingungen noch heilbar, und erst auf der zweiten in seinem
Ausgang besiegelt; es kann aber dieses Endschicksal als Stigma dege-
nerationis auch schon den ersten Entwicklungsstadien mitgegeben sein.
Dürfen deshalb beide Stufen auch theoretisch unter der Bezeichnung des
Alcoholismus chronicus zusammengefaßt werden, so ist praktisch doch
deren Trennung festzuhalten. Entsprechend sind auch die klinischen
Symptomenbilder, wie sie in reinster Form den beiden genannten Stufen
zukommen, theilweise verschiedene: so gehört der acute alkoholistische
Wahnsinn vorzugsweise der ersten Stufe an, und nur untergeordnet und
vorübergehend der zweiten; dagegen beschränkt sich der chronische
Säuferwahnsinn, Delirium tremens, und die alkoholistische Paralyse nur
auf die zweite d. h. den Alcoholismus chronicus s. str.
Ein Ueberblick über die Seelenstörungen im Gefolge des fort-
gesetzten oder gewohnheitsgemässen Abusus spirituosorum hat aber
noch von einem weitern Gesichtspunkte auszugehen. Die sämmt-
lichen einschlägigen Psychosen sind mit den eben genannten Formen,
wenn diese immerhin auch von den frühern oder spätem Stadien
des Alkoholismus bevorzugt werden, lange nicht erschöpft. Es kom-
men vielmehr alle in der Pathologie des Irreseins gekannte und
früher abgehandelte Habitualformen auf der Grundlage dieser Intoxi-
cation vor: Manieen, Melancholieen und acute Demenzen, neben und
mit den erwähnten acuten und chronischen Wahnsinnsformen. Sym-
ptomatologisch tritt nun der wichtige Unterschied hervor, dass ein
Theil derselben ein scharf bestimmtes, in seinem Detail immer
wiederkehrendes klinisches Bild zeigt, während die andern im All-
20*
404 Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.
gemeinen und auch vielfach im Speciellen mit den verwandten
Formen aus anderer Entstehung zusammenfallen (s. u.). Es lassen
sich somit specifisch „alkoholistische" Psychosen unterscheiden von
solchen, in welchen der Alkohol bloss mitwirkendes Element ist,
während er dort formgebendes ist. Unter die specifischen Formen
gehört der acute Trinkerwahnsinn und das Delirium tremens (beide
vielleicht im Wesentlichen derselbe Störungsvorgang, jener in einem
durch fortgesetzten Abusus spirituosorum vorübergehend tiberreizten,
dieses in einem durch eine chronische Intoxication dauernd ge-
schwächten Gehirn); sodann der Alcoholismus chronicus s. str. Zu
den nicht- specifischen Formen sind die alkoholistischen Melancho-
lieen, Manieen, Paralysen und chronischen Wahnsinnszustände zu
stellen.
Es muss hier übrigens sofort bemerkt werden, dass die Uebereinstim-
mung der Potusmanieen und Potusmelancholieen mit den gewöhnlichen
Habitualformen nur für eine gewisse Klasse von Fällen zutrifft. In diesen
lässt sich in der That symptomatologisch kein Unterschied finden. Da-
gegen trägt ein anderer Theil so bestimmte Differenzen, wenn
auch nur in kleineren, aber charakteristischen Zügen, dass die „alkoho-
listische Signatur" unwidersprechbar ist. Wahrscheinlich vermag die
Wirkung des Giftes, wenn sie tief und lange genug stattfand, ein dau-
erndes Gepräge zu geben (s. später). Ganz besonders tritt diese Dif-
ferentia specifica auch in gewissen Fällen von alkoholistischem chronischem
Wahnsinn, und zum Theil (dafür aber um so wichtiger !) bei der Alkohol-
paralyse hervor.
Unsere Schilderung geht zunächst zur ersten Gruppe über.
a) Die specifischen Alkohol-Psychosen. Unter diesen sind in erster
Linie die pathologischen Rauschzustände zu erwähnen.
Diese können: 1. der somatischen Sphäre angehören, und als ein
übermässig frühes Auftreten des paralytischen Endstadiums der Be-
trunkenheit sich darstellen. Das betr. Individuum kann schon nach
einem unverhältnissmässig geringen Alkoholgenuss zusammenstürzen,
und auf Stunden hinaus die hochgradigste Bewusstseinsstörung dar-
bieten; dabei sind alle Zeichen der acuten Alkoholintoxication vor-
handen (weite und starre Pupillen, starke Kopffluxionen, oft auch
krampfhaftes Zucken der Glieder). Nach einem tiefen Schlafe er-
wacht der Kranke mit dem üblichen Katzenjammer, in vollständiger
Amnesie an die Vorgänge des alkoholistischen Insults.
Diese Form acuter Intoxication betrifft namentlich Reconvalescenten
(Typhus), oder temporär nervös Aufgeregte, nach heftigen Gemüthsbewe-
gungen und besonders beim Aufenthalt in einer erhitzenden, Fluxionen
fördernden Umgebung. Es gibt aber auch eine angeborene Intoleranz
gegen Alcoholica, welche zu dieser „Ivresse convulsive" befähigt.
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Patholog. Rauschzustände. Acuter Trinkerwahnsinn
405
Wichtiger sind 2. die in der psychischen Sphäre sich abspielen-
den krankhaften Rauschzustände. Als disponirend sind wiederum
accidentelle oder angeborne Schwächezustände zu nennen, mit erreg-
barem Vasomotoriu8 (Neigung zu Kopfhyperämieen). Die hier auf-
tretenden acuten Psychopathieen sind: a) transitorische Furorzustände;
b) Anfälle von transi torischem alkoholistischem Verfolgungswahn mit
heftiger manischer Aufregung, und c) Raptus melancholici, nament-
lich in der Form von Selbstmordsattentaten oder Tödtungen Ton
nahen Angehörigen (im „besoffenen Elend"). Die transitorischen
Manieen können sich in zweifacher Form abspielen: 1. mehr par-
tiell: als plötzlich während des Trinkens (oder sofort nachher) aus-
brechender impulsiver Drang zu irgend einer Gewalttätigkeit, na-
mentlich zur Brandstiftung, nicht selten gegen die eigene, mühsam
errungene Habe; und 2. mehr allgemein: als plötzlicher Wuth-
anfall mit sinnlosem Toben und Zerstören von Gegenständen, auch
vernichtendem Eindringen auf Personen. Der Anfall dauert in beiden
Fällen nur ganz kurz (eine bis mehrere Stunden), schliesst manch-
mal mit einem kritischen Schlafe, andere Male mit einem Stadium
erschöpfter Betäubtheit ab. Charakteristisch ist die stets nur sum-
marische, oder auch ganz fehlende Erinnerung an das Vorgefallene.
— Der peracute transitorische Verfolgungswahn (s. d.) mit schreck-
haften Delirien und verzweifelten motorischen (gleichfalls sehr be-
drohenden) Reactionen setzt manchmal nicht unmittelbar an den
Alkoholgenuss, sondern erst einige Stunden später ein, und entsteht
theils spontan, theils nach einer Gelegenheitsursache (Zorn, Angst).
Alle diese pathologischen Rauschzustände haben in praxi eine ausser-
ordentlich hohe forense Wichtigkeit. Zur richtigen Beurtheilung muss
nochmals betont werden, dass ihre Entstehung sich nicht immer an einen
wirklichen Trinkexcess anschliesst, sondern sehr häufig (bei entsprechen-
der geschwächter Disposition) an relativ mässigen Alkoholgenuss. — In
forenser Hinsicht ist auch sehr bemerkenswerth, dass gewisse Personen,
oft nach Einverleibung von nur wenig Alkohol, für einen mehr minder
langen Zeitraum in einen Zustand kommen können, in welchem sie mit
anscheinendem Bewusstsein und Urtheil handeln (Käufe absch Hessen), mit
nachfolgender vollständiger Amnesie an diese Vorgänge
(Wright u. A.).
Die wichtigste und häufigste Form ist
der acute Trinkerwahnsinn.
Die Entstehung desselben bilden durch Tage oder Wochen voraus-
gegangene alkoholische Excesse (gewöhnlich in Wein, oder in Bier und
Wein). Der acute Wahnsinn bildet so den einfachen kritischen Abscbluss
eines alkoholischen Uebergenusses, dessen Unternehmer aber noch nicht
Gewohnheitstrinker sind. Dies ist der gewöhnliche Fall. Wenn die Krank-
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406
Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.
lieit im Verlauf des ausgesprochenen Alcoholismus chronicus auftritt, was,
wenngleich seltener, auch vorkommt, so entfallt sie nur noch auf die
Anfangsstadien der genannten Kachexie (Magenerscheinungen, Gemüths-
Verstimmung, Tremor massigen Grades). Die vorgeschrittenen Schwäche-
Stadien der letztern „kritisiren" sich nicht mehr in der einfachen Form des
acuten Trinkerwahnsinns, sondern in der modificirten des Delirium tremens.
Die Erkrankung stellt klinisch einen acuten hallucinatorischen Wahn-
sinn dar, welcher allgemein nach Form, Entwicklung und Verlauf ganz
mit den analogen aus anderer (hirn-invalider) Entstehung Ubereinstimmt.
Speciell für die Alkoholgenese charakteristisch sind: die Plastik und
der übereinstimmend schreckhafte und zugleich impera-
tive Charakter der Sinnestäuschungen, welche einen oft bis ins De-
tail gleichen, und bei Individuen aller Altersstufen und Bildungsgrade
wiederkehrenden Inhalt darbieten (Figuren, Rufe, und namentlich auch
elementare Hallucinationen als : Schiessen, aufsteigender Rauch, fliessende
Blutströme). Fast immer ist den Täuschungen auch ein geschlechtlich
obseöner Inhalt beigemengt, aber nicht als cynischer Reiz, sondern als
bevorstehende körperliche oder sittliche Schädigung (Drohung mit ehe-
licher Untreue, geplante Attentate auf geschlechtliche Verstümmelung).
Seltenerzeigt sich Elektricitätswahn, dagegen hin und wieder gegen Schluss
der deliranten Phase ein vorübergehender Exaltationawahn. Grundzug der
Stimmung ist furchtbare Depression mit Verzweiflungsangst und den ge-
fährlichsten reactiven Raptusanfällen. Das Bewusstsein ist stets tief ge-
stört, manchmal vorübergehend aufgehoben. Der Verlauf ist acut in ein-
maligem Paroxysmus, oder aber remittirend in wiederholten Nachschüben.
Der Ausgang ist 1. Genesung (Suicid!); 2. Rücktritt auf die Stufe der
chronisch alkoholistischen Constitution, ev. auf den schon zuvor bestan-
denen chronischen Verfolgungswahn.
Krankheitsbild. Der Ausbrach erfolgt entweder sofort nach
einem schweren Excess (Reihe von solchen), oder nach einem Zwischen-
raum von mehreren Tagen. Im letzteren Falle erscheint das Wesen
des Kranken verändert: er ist gedrückter, misstrauischer, reizbarer
geworden. Mit Vorliebe bricht der Wahnsinn unmittelbar nach Ab-
führung des Betrunkenen, im Haftlocal, aus. In der Regel treten
die ersten Erscheinungen Nachts auf. Eine zunehmende Masse von
leib- und wesenhaften Sinnestäuschungen stürmt auf den Kranken
ein. Er sieht Feuerscheine, hört Schiessen; auf der Strasse sammeln
sich Leute, deren steigeudes Getümmel ihre feindliche Absicht gegen
den Kranken kundgibt. Er hört die Tritte von Gensdarmen, welche
ihn holen wollen. Mau verlangt, ihm Ruthenstreiche geben zu dürfen,
oder ihn nackt auf die Strasse zu schleppen. Oefters folgt jetzt
schon ein Gewaltact (Suicid. Versuch, Flucht aus dem Fenster, Ver-
theidigungsschüsse mit Pistolen, Zertrümmerungen von Zimmergegen-
ständen). Der Kranke tobt und rast, greift jeden Eindringenden
lebensgefährlich an. Kommen Augenblicke von Ruhe, so schrecken
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Acuter Trinkerwahiisinn. Klinische Varietäten. 407
drohende oder strafende Geister das schlummerlose Auge: nehen
den Kranken legt sich still und schweigsam eine weisse Person
mit einem Schwert; sowie er aufsteht, hebt sich auch diese und
„fuchtelt" mit dem Schwerte. In dem Kopfkissen rasBeln lebendige
Heuschrecken und Käfer; aus der Luft dringt Schwefelgeruch oder
Steinöldampf; am dargereichten Brod zeigen sich schwarze Flecken,
am Boden des Wasserglases ein verdächtiges Pulver. Eine All-
Angst foltert den Kranken, welcher oft von Beulen bedeckt und
blutüberströmt, aber keiner Wunde achtend, sich unter allen Zimmer-
Möbeln versteckt, nur um Ruhe zu suchen. Aber er findet sie nicht
Er hört auch bald seine Angehörigen um Hilfe nach ihm rufen: man
will ihnen Arme und Füsse abhacken, den Bauch aufschlitzen; er
sieht Ströme Blut durch das Zimmer wallen. Manchmal erscheint
auch der leibhaftige Teufel, äfft ihn in allen Masken, hält ihm Straf-
predigten, und entrollt den Ausblick auf die Hölle. Feuergluthen
peinigen den Kranken; seinem Fluchtdrange versperrt sich die Thlire;
sie ist zu eng, das Schloss geht nicht mehr auf. Und während er
so rastlos umhergetrieben wird — eine Stunde eine Ewigkeit! —
muss er hören, wie seine häusliche Ehre verloren geht, wie die Ver-
fuhrer seiner Frau schon zum Fenster hereinsteigen, wie sie ihn aus-
lachen und ihm mit Amputation seines Penis drohen n. 8. w. Da-
zwischen mischen sich oft auch blasphemische Worte, welche der
Kranke verzweifelnd nachsprechen muss.
In anderen Fällen hat das Delirium einen religiösen Inhalt:
Stimmen und Gesichte lassen das Ende der Welt herannahen, die Hölle
und die Gräber öffnen sich; dazwischen tauchen auch obseöne Orgien auf;
unter die richtigen Wahrnehmungen mischen sich illusorische; der Kranke
lebt in zwei Welten, welche durch die Hallucinationen in Einklang ge-
zwungen werden, eine die andere ergänzend; Sündergerichte werden ab-
gehalten, schreckliche Strafen verkündigt; der Kranke sieht und fühlt
diese an sich vollzogen; heftige manische Reaction. — In einem dritten
Typus sind die ersten Zeichen hypochondrisch -melancholischen
Inhalts: der Kranke verbringt Nächte und Tage in übertriebener Angst
wegen seiner körperlichen MissgefUhle, und meint sich auf den Tod vor-
bereiten zu müssen, vorerst ohne Hallucinatiouen. Die Angstzustände treten
anfallsweise ein. In der Zwischenzeit ist der Kranke ruhig, düster, stumpf
vor sich hinbrütend. Plötzlich bricht jetzt der acute Verfolgungswahn
mit Sinnestäuschungen in der geschilderten Weise aus. Die Hallucina-
tionen können manchmal auf Einen Sinn (Gehör) beschränkt bleiben.
Sind die Schrecken der Nacht vorüber, so folgt meist ein Tag
der Abspannung, wo der Kranke zusammengebrochen unter den wir-
belnden und jagenden Erinnerungen daliegt, weint, nicht selten Speise
und Trank verweigert, aber dabei leidlich klar ist Andere Kranke
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408
Der AlkoholismuB und die alkoholiatischen Psychogen.
dagegen äussern in der Zwischenzeit einen weinlaunigen Galgen-
humor, prahlen mit ihrem siegreichen Nachtabenteuer. Aber schon
in der folgenden Nacht ändert sich die Scene; der Geisterspuk be-
ginnt von Neuem und mit ihm die Angst, so dass manche Kranke
um körperliche Beschränkung bitten. Sie versichern sogar, dass sie
das Trughafte ihrer Wahngebilde einsehen. Aber gleichwohl erfolgt
der nächtliche Anprall mit gleicher gebieterischer Macht, mit glei-
chem Vernichtungsdrang gegen das eigene oder fremde Leben (es
gibt kaum einen selbst- oder gemeingefährlicheren Kranken !). So kann
es mehrere Tage bis zu 1 oder 2 Wochen fortgehen ; dann werden
die Nächte ruhiger, die Hallucinationen treten zurück, und unter
allmählichem Nachlass stellt sich Klarheit und summarische, selten
genauere, Erinnerung ein. Der Kranke ist genesen.
Anderemale klingen zuerst die geformten Hallucinationen ab, und die
elementaren bleiben noch einige Nächte und Tage (Steinrollen, Aechzen
u. 8. w.). Endlich verschwinden auch diese.
In wieder anderen Fällen schliesst sich an den ersten Paroxysmus
ein ruhiges Nachstadium an, mit Verstimmung, geistiger Verwundbarkeit,
grosser Unterwürfigkeit unter die Gewalt zufalliger Vorstellungen, Launen-
haftigkeit und Unbeständigkeit. Nachts kehren Träume wieder, welche
den Kranken mit der Gewalt der Wirklichkeit erfassen. Manche Kranke
gehen deshalb an die Gerichte mit Beschwerden über die erlittenen Be-
drohungen. Dann folgt wieder ein mehrtägiger Angstanfall mit denselben
Sinnestäuschungen, darauf wieder Ruhe, und dann abermals Paroxysmus,
und so weiter durch eine Reihe von Wochen (bis zu einigen Monaten).
Nach endloser Wiederholung bleiben endlich die Paroxysmen aus; die
„Angst" geht im Verlauf in ein schreckhaftes Wesen über; nach und
nach kehrt nachgiebige freundliche Stimmung und Klarheit wieder.
Merkwürdig sind die oft mitten unter den schreckhaftesten Delirien
auftauchenden kindischen Zwischenrufe, z. B. : „Rumbidibum" ; „Pantoffel-
schuh" ; „die Engel haben rothe Strümpfe an". — Die Complementärfarben
„roth" und „grün" spielen überhaupt eine auffallend grosse Rolle, auch
„weiss" und „schwarz". Einzelnemale schilderten die Kranken einen
durchgemachten Kampf zwischen den „Teufeln und guten Geistern",
welch letztere ihnen in der ärgsten Schreckenszeit Math zusprachen nnd
Rettung verhiessen. — Bei den protrahirteren Fällen zeigt sich stets eine
periodische Intensität der Sinnestäuschungen. — Als eine Modification
beobachtete ich wiederholt einen acuten magnetischen Verfolgungswahn,
mit heftigen Angstzufällen und Hallucinationen; hier waren locale An-
ästhesieen nachweisbar. Hie und da gingen auch Auraempfindungen, vom
Epigastrium aus, mit einher, sowie paralytische Sensationen (glühende
Eisen in den Beinen u. s. w.); Ausgang nach mehreren Monaten in Heilung.
Das Körpergewicht der Kranken sinkt während der Paroxysmen,
um sich nachher wieder zu heben; der Puls ist in der Regel be-
schleunigt; oft Fluxionen zum Kopfe; die Temperatur manchmal
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Chronischer alkoholifttischer Verfolgungswahnsinn.
409
etwas erhöht. Gastrische Zustände mit Obstipation sind regelmässig
vorhanden. —
Der ehronische alkoholistisehe Yerfolgungs- (Grössen-) Wahn
hat wesentlich dieselbe Stellung zu dem vorangegangenen Spirituosen-
missbrauch, wie der acute; er gehört sowohl der leichteren als der
schwereren Stufe des Alkoholismus an, vielleicht der letzteren häu-
figer. Viel öfter als beim acuten finden sich deshalb charakteristische
motorische und namentlich sensible Störungen, welch letztere auch sehr
häufig die Grundlage für die Wahnailegorieen abgeben. So ist speciell
der fast typische Wahn der ehelichen Untreue oft auf nachweisbare Ano-
malieen der Potenz und Illusionen des Geschlechtssinnes (Frigidität) zu-
rückzuführen. Besonders aber ist der die meisten Fälle begleitende ethisch-
degenerative Zug und der primäre intellectuelle Schwachsinn auf Rechnung
des chronischen Alkoholismus zu setzen. In diesen beiden Zeichen, welche
schon die Anfänge der alkoholistischen Gruppe begleiten, liegen wichtige
und verwerthbare Kriterien gegenüber den gewöhnlichen chronischen
Wahnsinnsformen, in deren sonstige Typen auch die alkoholistisehe ein-
schlägt. Eine fernere Besonderheit der letztern ist, dass Sinnestäuschungen,
und zwar schreckhaften Charakters, nie fehlen ; darunter sind die des Ge-
hörs die vorwiegenden und häufigsten ; in zweiter Linie die des Gesichts,
und in dritter die des Getasts. Dem Inhalt scheint stets eine sexuelle
Färbung beigemischt zu sein (so namentlich bei den Gehörstäuschungen :
Vorwürfe über angedichtete Inceste, Androhungen von Castration, Eier-
stocksexstirpation (!) bei der Ehefrau oder den Kindern ; Hilferufe der
Frau wegen Nothzuchtsattentaten u. s. w.). Dieselbe inhaltliche Färbung
wiederholt sich auch in den häufig wiederkehrenden Gefühlstäuschungen:
dass dem Kranken das Glied „ausgepumpt" werde, dass er durch Ma-
schinen gelähmt werde u. 8. w. Mit der intellectuellen Schwäche hängt
das weitere auszeichnende Moment zusammen, dass die Wahnvorstellungen
selten so logisch streng systematisirt sind, wie dies beim gewöhnlichen
chronischen Wahnsinn Regel ist. Der Ausgang in Dementia erfolgt ver-
gleichsweise rascher (unter häufigen manischen Reactionsperioden), und
bis zu den tiefsten Graden des Blödsinns (während beim nicht- alkoholi-
stischen der geistige Niedergang in der Regel langsamer und allermeist
nicht so ausgiebig sich vollzieht).
Der Beginn hat nichts Specifisches: er kann, wie bei den ge-
wöhnlichen Formen, allmählich und in logischer Entwicklung aus
den Lebensverhältnissen des Kranken heraus erfolgen; oder aber
nach einem kurzen Anfall von acutem Wahnsinn; oder endlich direct
und ohne Zwischenglied nach einem heftigen Rausche (bei genügender
constitntioneller Vorbereitung). Inhaltlich ist der alkoholistisehe Ver-
folgungswahn selten ein ausschliesslich depressiver; sehr oft schlägt
er im Verlauf in Grössenideen (Missionswahn, fürstliche Verwandt-
schaft) um. Die religiös exaltirten Vorstellungen führen mitunter zu
saerüegischen Thaten oder andern Ausbrüchen einer rücksichtslosen
Gemüthsrohheit; der „ideale" Zug des gewöhnlichen religiösen Wahn-
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410
Der AlkoholiBmus und die alkobolistischen Psychosen.
sinns fehlt hier ganz. Die intercurrenten Aufregungszustände tragen
häufig raisonnirenden Charakter, in den spätem Phasen die Züge
der degenerativen Manie.
Neben dem chronischen depressiven Wahnsinn kommt aber auch
der primär exaltirte auf alkoholistischem Boden vor: auf einen
heftigen Trinkexcess folgt Aufregung mit Grössenideen (Besitz von
Millionen, extravagante Pläne); unter remittirendem Verlauf (Klepto-
manie!) bildet sich ein chronischer Exaltationszustand mit fixen
Wahnideen und raschem Uebergang in geistige Schwäche aus. —
Hin und wieder geht dieser Modification auch ein melancholisches
Einleitungsstadium mit Tentamen Suicidii in unmittelbarem Anschluss
an den Trinkexcess vorher. Im Verlauf der Zeit kann der Wahn
zurücktreten, und einen Zustand chronischer Geistesschwäche zurück-
lassen, in welchem der Kranke noch für leichtere Arbeiten — manch-
mal mit überraschend conservirter Intelligenz — für lange befähigt
bleibt. Treten dagegen weitere alkoholische Schädigungen ein, so
wiederholen sich in der Regel manische Anfälle, mit um so be-
schleunigterem Verlaufe in apathischen Blödsinn. Genesung wird
nicht beobachtet, wohl aber Remissionen.
Der chronische Alkoholismus.
Darunter versteht man den chronischen Vergiftungszustand des
Gesammtorganismus in Folge des anhaltenden und langsamen Miss-
brauchs der Spirituosen, die systematische Durchseuchung
des Körpers, welche sich in einer immer tiefer greifenden Schädigung
der psychischen und körperlichen Functionen, und endlich in der
Degeneration beider — mit palpabeln anatomischen Residuen in den
Central- und sämmtlichen vegetativen Organen, und in Anomalieen
des Bluts und der Excrete — dauernd und progressiv ausprägt.
Die Entwicklung kann langsamer oder rascher erfolgen, manch-
mal nach endlosen Rauschanfällen mit ihren warnenden, aber über-
hörten, Folgezuständen ; anderemale ganz schleichend, so dass der
Kranke neben seinen anhaltenden Excessen noch sein Geschäft zu
besorgen vermag, bis plötzlich der unterhöhlte Boden unter ihm zu-
sammenbricht.
Schon das Aeussere dieser Gewohnheitstrinker trägt, bei aller
individuellen Mannigfaltigkeit, typische Züge. Fettsüchtig und schlaff und
gedunsen ernährt, mit weingrltnem aufgetriebenem Gesichte, prall gefüll-
ten hervortretenden Augäpfeln, stark injicirter Conjunctiva, wässerigem
mattem Blick, unregelmässigem kleinem, meist frequentem Pulse, katar-
rhalisch afticirteu, viel zähen Schleim secernirenden Schleimhäuten, be-
legter Zunge, trockener (wegen Verstopfung der Überfüllten Schmeerbälge)
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Chronischer Alkoholismus. Somatisches Bild.
411
matt glänzender Haut — bieten sie be'i anch noch ansehnlicher körper-
licher Rüstigkeit das Bild einer tief geschädigten Constitution. In der
Folge wird das Aussehen welk, gelbbraun, verfrüht greisenhaft, die Mi-
roik grob; die Körperernährung nimmt ab, oft bis zur schlotternden Ma-
gerkeit ; die Haut wird trocken, runzeliger, zur Furunkelbildung geneigt,
bedeckt sich kleienartig mit Epidermisschüppchen ; jede leichte Contusion
lässt Blutextravasate zurück. Nach den einzelnen Functionen vertheilen
sich die nach und nach (bald rascher, bald langsamer) auftretenden toxi-
schen Folgen: a) auf die Verdauung: als chronischer Magenkatarrh
mit Wasserkolk, unvollständiger Digestion ; b) auf den Stoffwechsel:
Anomalieen der Ernährung (s. o.i, hydrämisch fettbildende Dyskrasie,
Vermehrung des Fibringehalts des Blutes, später „Blutdissolution" (s. o.) ;
Herzschwäche, im Verlauf Fettdegeneration des Herzens, der Leber, der
Nieren, der Intercostalmuskeln ; c) auf das Nervensystem: als sen-
sible Störungen : gesteigerte Reflexerregbarkeit, Hyperästhesieen (schmerz-
haftes Brennen in der Haut, bohrende Schmerzen in Muskeln und Kno-
chen; Kitzeln und Prickeln, Pruritus, Kopfdruck, Schwindel, allgemeiner
uud localer Kopfschmerz); daneben oder auch damit abwechselnd Hyp-
algie und Anästhesieen, theils umschrieben (an den Füssen, oft mit dem
Gefühl, als ob der Kranke auf Kautschukballen ginge; sodann in den
Vorderarmen und Händen, so dass der Kranke einen erfassten Gegen-
stand plötzlich nicht mehr fühlt); theils einseitig als Hemianästhesie, zu-
gleich mit Temperaturerniedrigung; als sensorielle Störungen: Abnahme
der Sehschärfe, Verschwimmen der Objecto, mangelhafte Induction von
Farben, Amblyopie und Amaurose, Abnahme der Hörschärfe mit subjec-
tiven Geräuschen. In den schwersten Fällen als Epilepsie, und verschie-
dene, in der Regel combinirte, Spinalerkrankungen (Myelitis, Sklerose,
diffus und strangförmig, graue Degeneration); vasomotorisch: als Con-
gestivzustände zum Kopfe (oft stärker im nüchternen Zustand), Frost-
anfälle; d) auf das Muskelsystem: als motorische Schwäche verschie-
denen Grades, und namentlich Tremor. Letzterer kann entweder localisirt
auftreten (Accomodationsmuskel), oder als allgemeines Zittern mit einzel-
nen, oft vorübergehenden, spastischen Contracturen : der Kopf wird in
zitternden Bewegungen von vorn nach rückwärts geschaukelt; der Thorax
und die Beinmuskeln gerathen beim Stehen in convulsive Bewegungen,
sowohl automatisch, als namentlich bei leisen äusseren oder psychischen
Erregungen; die Zunge zittert im Ganzen und in einzelnen Partieen,
weicht oft nach einer Seite aus; wird sie länger vorgestreckt, so erfol-
gen leise Mitbewegungen und flüchtige Zuckungen der nächsten Muskeln,
und endlich geräth der ganze Kopf bald in ein schwaches Wackeln nach
rechts und links, vor- und rückwärts, bald in rotatorische Bewegungen;
beim mechanischen Zug an dem Unterkiefer spannen sich die Massateren ;
oft ungleiche Innervation der Gesichtshälften und Pupillen. Die Sprache
ist erschwert, bradyphasisch, oft ganz undeutlich, jedoch (verschieden vom
Paralytiker) in a 1 1 e n Buchstaben, und nicht durch Verschlucken von Sil-
ben wie bei jenem, sondern durch allgemeines Tremuliren; merkwürdig
ist die oft rüsselförmige Contraction des Mundes beim Sprechen, ohne
Lippenataxie; andereraale ist aber gerade die letztere sehr stark. —
Die sexuellen Functionen sind im Anfang der Krankheit nicht selten
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112
Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.
maassloa gesteigert, später vermindert (Sterilität beider Geschlechter, Im-
potenz).
In geistiger Hinsicht sind die Schädigungen womöglich noch tiefer.
Sie zeigen sich intellectuell als Minderung des Gedächtnisses,
Schwäche des Urtheils, Dürftigkeit der Phantasie, Interesselosigkeit; in
ethisch.er und affectiver als Abnahme der natürlichen und sitt-
lichen Gefühle, nicht selten mit Perversität und fortschreitend bis zur
vollständigen moralischen Entartung (Verbrechernatur); als krankhafte
Reizbarkeit und Zornraüthigkeit, oft bis zur blinden Wuth auf kleinste
Anlässe. — Auf diesen psycho-pathologischen Elementen baut sich ein
eigenartiger alkoh olistische r Ch ar a kter auf, m. m. nachfolgendem
Typus :
Der werdende Gewohnheitstrinker beginnt sein Geschäft zu vernach-
lässigen, und frequentirt dafür das Wirthshaus. Hier wird er neben dem
zunehmenden Zecher der immer frechere Renommist. Zu Hause Miss-
handlungen der Frau, gesteigerte sexuelle Zumuthungen. Wachsende Ar-
beitsscheu, zunehmende Kälte und Plackereien der Familie; Gleichgiltig-
keit gegen sein sinkendes Ansehen ; ständige Unruhe, welche den Kranken
im Hause herum- und von da wieder ins Wirthshaus drängt Hier und
in der Familie fortgesetzter Streit und Hader ; vermehrtes Bedttrfniss nach
der „Flasche". Jetzt oft tagelange Betrunkenheit, alle Getränkesorten
untereinander. Der Eingangs gezeichnete Habitus beginnt sich auszu-
prägen, namentlich auch bald Tremor in Zunge und Händen. Allerlei
Missgefühle im Kopfe, Störungen der Sinnesorgane, Frostgeftihle, Appetit-
losigkeit. Die Erscheinungen psychischer Schwäche brechen überall durch,
und zwar im nüchternen Zustand noch bestimmter. Jüngst erlebte Tbat-
sachen verschwinden, Einnahmen werden vergessen, Bestellungen doppelt
und dreifach gemacht, eigene Behauptungen verleugnet und widerspro-
chen. Im Geschäft widersinnige Anordnungen. Unfähigkeit, die einfach-
sten Combinationen zu Stande zu bringen, unrichtige Buchungen u. 8. w.
Der Kranke kann im Gespräche dem einfachsten Gedankengang nicht
folgen, hat keine Gründe mehr, kommt bald in sinnloses Gefasel oder
renomraistischen Wortschwall. Dabei halt- und grundloses Schwanken in
den verschiedensten Tonarten der Stimmung: bald düster bis zum Lebens-
Uberdruss, bald ausgelassen heiter, bald kleinlaut und wortkarg; bald
hoch zu Boss, heftig bis zur Raserei, redefluthend ; in einer Stunde zer-
knirscht und voller Selbstvorwürfe, in der nächsten trotzig und voll Ueber-
hebung, jedoch ohne leitenden Tenor und Motivirung. Verhältnissmässig
noch bedeutender leidet die Willenskraft Noth. Der Kranke vermag sich
nicht aufzuraffen, obwohl er fühlt, daas der Boden überall unter ihra
bricht. Bildsam wie Wachs, lässt er sich durch alle Eindrücke bestim-
men; aber es haftet nichts und bleibt nichts bestehen — als der Hang
zum Trinken. Die Energie zur Selbsterhaltung und zur Versorgung der
Familie ist längst gebrochen, die Kraft zum sittlichen Aufschwünge ge-
lähmt: heute säuft er, misshandelt aufs Schnödeste seine Frau; morgen
bittet er auf den Knieen um Verzeihung; trinkt einen Tag wenig oder
nichts und geht mit Eifer an die Arbeit — aber schon am Nachmittag
wird gelungert und wieder getrunken. Jetzt zerfliesst er in Thränen
über irgend eine gute Handlung, von welcher er eben gehört, im nach-
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Chronischer Alkoholismus. Psychisches Bild. Klinische Folgezustäode. 413
sten Augenblick prügelt er Weib und Kind; jetzt pocht er auf seine
Selbstständigkeit und Bürgerehre, will sich nichts vergeben und — kurz
darauf beugt er sich wieder dem nächstbesten Worte, unterwirft sich
jedem fremden Willen.
Der chronische Alkobolismus, bis zu diesem Höbegrade ent-
wickelt, ist schon schwere psychische Krankheit, nicht mehr Rausch
und Katzenjammer allein. Dessen weitere klinische Schicksale sind
nun ausserordentlich verschieden. Es kann:
a) Auf jeden nachfolgenden Rausch sofort (oft mit der Regel-
mässigkeit des Experiments!) ein manischer Ausbruch (s. u.), oder
ein Raptus von Furor folgen; namentlich kehrt ein unwiderstehlicher
Trieb zur Brandstiftung typisch wieder;
b) es kann eine periodische, besonders auf die Nächte ent-
fallende, Aufregung eintreten in Form von Sinnestäuschungen und
massenhaften Illusionen (Bulldoggen, Eisbären im Zimmer), manchmal
bei voller Besinnlichkeit und ganz ohne Angst; andere Male aber
mit lebhaften Schreckträumen (Verfolgungen durch schwarze haarige
Hunde), mit deliranten, schlaftrunkenen Handlungen (Zerstörung von
Gegenständen, Gewaltthaten, Suicidium) — agitirter Alkoholismus;
c) es können manische Zustände von acutem und protrahirtem
Verlaufe dazwischen treten;
d) es können melancholische Zwischenstadien intercurriren
(8. u.);
e) es bildet sich der chronische alko holistische Ver-
folgungswahnsinn (s. o.) heraus;
f) es können transitorische Anfälle von tiefer Bewusstseins-
störunginit Sinnestäuschungen sich einstellen — Delirium tremens.
Wie Eingangs bemerkt, erkenne ich in diesem letzteren die Wieder-
holung des acuten Wahnsinns, nur auf der hier tieferen Cerebrationsstufe,
wie sie der chronische Alkoholismus geschaffen hat.
Das Delirium tremens.
Krankheitsbild. Der Eindruck und die Entwicklung dieses
in seinem klinischen Bilde, sowie im Verlaufe, specifischen Sympto-
niencomplexes erfolgt auf mehrfache Weise. Stets gehen schwere
Trinkexcesse , besonders im Schnaps (Absynth) voraus. Gleichwohl
schliesst sich das Delirium tremens seltener direct an einen speciellen
Rausch an (der Kranke kommt eigentlich aus fortgesetzter Betrunken-
heit nicht mehr heraus), sondern an die plötzliche Alkoholentziehung
(Haft); oder aber der Ausbruch erfolgt während des fortgesetzten
Bacchanals, ganz unerwartet, in einer Nacht; besonders häufig tritt
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414
Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.
derselbe im Gefolge epileptischer Insulte ein (s. n.), entweder sofort,
oder nach kurzem stupurösem Intervall ; im letztern Falle setzt sich
die postepileptische Betäubtheit ununterbrochen in den deliranten
Zustand fort. Es kann aber auch ein Aufregungszustand mit schreck-
haften Sinnestäuschungen, ganz im Bilde des acuten alkoholistischen
Wahnsinns, die Scene einleiten und nach einigen Tagen in das cha-
rakteristische Delirium Ubergehen.
Der Kranke wird unruhig, wankt herum, sucht zu entrinnen,
rückt an den Zimmergegenständen, schreit abrupte Worte hinaus,
gewöhnlich abwehrenden oder schimpfenden Inhalts, und Dies Alles
in einem mehr oder minder stupiden Bewusstseinszustande. Er
dämmert wie im Traume umher, lässt sich kaum zur einfachsten
Antwort bringen; er weiss nicht, wo er ist, stiert den Fragenden an.
— Andere werden im Krankheitsbeginne geschwätzig, mischen sich
tölpisch in Alles ein, wissen sich dabei aber nicht Uber die einfach-
sten Dinge zu orientiren, oder vergessen sofort wieder, was sie so-
eben gehört und bereitwillig zugestanden hatten. Der Ausbruch des
eigentlichen Deliriums entfällt in der Regel auf die Nachtzeit. Der
Kranke schreckt auf, beginnt ruhelos umherzulaufen, zu rufen, vor
sich hin zu sprechen ; oft auch drängt er ungestüm fort, wird heftig
beim Entgegentreten. Dabei ist, wenigstens Anfangs, die Angst oft
noch grösser als die Blödigkeit. Jetzt bricht eine wachsende Fülle
von Sinnestäuschungen aus, welche mit der höchsten Lebendigkeit
der Gestaltung einen beständig wechselnden, nur fluchtig dauernden,
dabei phantastisch - märchenhaften oder barocken Inhalt vereinen.
Systemlos, unzusammenhängend, oft in den curiosesten Sprüngen
einer entfesselten Phantasie, Mögliches und Ungeheuerliches, Erlebtes
und Erträumtes bunt durcheinander mengend — so blitzen die Phan-
tasmen auf, wie ein Lichtspiel auf ein gehemmtes Bewusstsein.
Dabei sind aber doch gewisse Richtungen im Inhalt wiederkehrend,
wenn sie sich anch in der unlogischsten Weise mischen und stets ver-
drängen, so dass eben in dieser Mischung der specifische Charakter des
Deliriums sich ausprägt. Dabei ist der Gesichtssinn in erster Linie be-
vorzugt; nach diesem kommt der Tastsinn, und dann die Übrigen. Es
erscheinen :
a) Thiergestalten, und zwar vorzugsweise kleine (Ratten, Fliegen,
schwarze Käfer mit langen Beinen); jedoch fehlen auch grosse nicht
(Ochsenherden, Thiere mit langen Hälsen); b) elementare Gebilde, und
zwar sämmtlich von „glänzendem Aussehen" : Feuerscheine, Sternenregen,
Springbrunnen, Goldspangeu, silberne Ringe, glänzende Ketten, glühende
Drähte, Heubundel u. s. w. ; ferner farbenreiche und in zugleich in steter
Bewegung befindliche Erscheinungen, wie Maskeraden und Processionen ;
sodann c) Gefllhlshallucinationen: Haare und Brosamen im Bett, Draht
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Delirium tremens.
415
in der Haut, abgebrochene Zähne im Munde, Quecksilber im Körper,
Löcher im Kopfe (mit der Reflexhallucination, dass der Kranke auch an
den Anderen solche Löcher sieht) u. s.w. — In der Sphäre des Ge-
rachs und Geschmacks treten Verunreinigung der Luft (Vitrioldünste aus
Wandritzen) und der Speisen auf; in der des Gehörs werden Scheltrufe,
oder (namentlich häufig) lascive Aufforderungen, oder gegentheils auch
Beschuldigungsrufe wegen gröbster sexueller Vergeben, auch Majestäts-
beleidigung, geklagt. Auch hier, und zwar noch mehr als beim acuten
Trinkerwahnsinn, schieben sich oft ganz barocke Worte und Zwischen-
rufe ein.
Dazu treten eine Fülle der mannigfaltigsten Illusionen, deren
Inhalt ebenfalls in stetem Flusse sich ändert, wenn sie auch mit Vorliebe
sich um der Erkrankung unmittelbar vorausgehende Ereignisse drehen.
In diesem Chaos von deliranten Wahrnehmungen bringt der
Kranke die ersten Nächte hin, worauf manchmal noch leidliche
Tage folgen, in welchen er sogar seinen Geschäften nachgehen kann.
Bald aber zieht sich der stupid delirante Zustand auch in die Tage
hinein. In der einen Stunde schläfrig, seinen Traumgestalten nach-
hängend, kämpft der Kranke in der folgenden in blinder motorischer
Reaction dagegen an. Immer aber bleiben die absolut schlaflosen
Nächte die Zeit der schwersten Stürme. Nicht selten kann man
den Kranken Morgens mit Contusionen über den ganzen Körper,
oder mit einem helmähnlichen Hämatom über dem Kopfe und der
Stirne antreffen, welches er sich durch Anschlagen an die Wände
beigebracht, wenn er den „feurigen Hengsten, die nach ihm mit den
Hufen schlugen", ausweichen wollte. Dazwischen schieben sich auch
klarere Stunden, wo er harmlos in seiner Umgebung sich umschaut,
als ob er nicht erst den Furien seiner Phantasie entronnen wäre;
wo er mit kindischer Heiterkeit über Lappalien lacht, an leichten
Spielen Theil nimmt, „ganz gut und wohl" sich befindet, obwohl er
in der Regel vor Erschöpfung und agitirtem Muskeltremor kaum
aufzustehen vermag. Manche Kranke stecken sich plötzlich in einen
Galaanzng, weil sie fürstlichen Besuch empfangen sollen. Aber mitten
aus diesen lucidern Momenten kann er wieder einem Traumbild an-
heimfallen: das Zimmer, die Personen, werden plötzlich andere, und
er merkt nicht die ihm mitgespielte Täuschung; er befiehlt und ruft
an, wie wenn er zu Hause oder im Kreise seiner Zecher sässe; oder
er belustigt sich, wie „plötzlich eine Maus in das dargebotene Trink-
glas schlüpft". In gleicher Weise kann er aber auch mitten aus
dem Spiel einen ernsten Selbstmordversuch machen, oder auf Stunden
wieder in vollständige Stupidität sinken, so dass er auf keinen An-
ruf mehr reagirt, oder höchstens ziel- und planlose Entäusserungen,
oft monotone Bewegungen macht, beständig wischt und zupft, als
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416 Der Alkoholismuß und die alkoholistischen Psychosen.
ob er „Haare" oder „Garn und Fäden" von sich abwischen wollte.
Dieses Minutenbewusstsein mit stetem Wechsel der verschiedensten
Helligkeitsgrade, dabei mit fliessenden Uebergängen der halbluciden
und träumerischen Phasen (wie die Bilder einer Laterna magica), ist
sehr charakteristisch für das Delirium tremens. Dabei bleibt selbst
für die klarsten Momente die ungeheure Urtheilsschwäche , welche
den Kranken alle ihm zugemutheten Phantastereien kritiklos hin-
nehmen lässt. Die Stimmung ist indolent oder ängstlich, oft auch
staunend und verwundert, je nach dem Inhalte der Täuschungen;
sie ringt sich aber nicht zu dem starken, und noch weniger zu dem
dauernden Affect des acut Wahnsinnigen auf, sondern bleibt wandel-
bar und stets grenzenlos matt und stumpf, selbst wenn der Kranke,
aus seinem Delirium vorübergehend erweckt, von den „Abgründen"
erzählt, die sich soeben neben ihm aufgethan, oder von den „vielen
Schüssen, die er soeben in seinen Kopf erhalten" („gestern haben
Sie mir den Kopf weggemacht, oder war's vorgestern ?"). Auch seioe
Gegenhandlungen sind nur unbemessene Raptus, welche in der näch-
sten Stunde oft wieder vergessen sind.
Die körperlichen Erscheinungen sind: Pulsfrequenz, manchmal bis
148 und 160, ohne, oder aber mit nur kurzer und massiger, Temperatur-
erhöhung (38—39); heftige, klebrige Schweisse, vermehrter Tremor (ein
vorgehaltener Bleistift wird mit aller Gewalt angefasst), starker Magen-
katarrh mit dick belegter Zunge ; Eiweiss im Urin ist beim einfachen De-
lirium tremens selten, relativ am häufigsten nach vorausgegangenen epi-
leptischen Insulten. Sehr oft findet sich Bronchialkatarrh, manchmal auch
Furunkelbildung Uber die Haut. Die Pupillen sind starr und weit. Häufig
zeigt sich ungleiche Innervation des Gesichts (durch einseitige Contractur) ;
Ptosis. Sehr gewöhnlich wird in freieren Momenten Uber heftigen Schwin-
del geklagt; viele Kranke taumeln, so dass sie ohne Unterstützung hin-
stürzen. Die Schmerzempfindung liegt ganz darnieder; selbst über die
schwersten Contusionen wird von selbst keine Klage geführt (s. o.).
Die Dauer des Deliriums ist eine verschiedene; sie kann: a) nur
einen oder mehrere Tage, manchmal in alternirendem Typus, dauern,
und dann in raschem Umschlag in Genesung übergehen. Die Krise
geschieht durch einen tiefen Schlaf, wonach der Kranke erst noch
benommen aufwacht, bald aber (im Verlauf mehrerer Stunden) ganz
zu sich kommt. Er ist jetzt müde und abgeschlagen, wüst im
Kopfe. Der Puls sinkt, oft unter die Norm, der Tremor lässt nach.
Gewöhnlich erfolgt jetzt die Erholung (unter Abnahme des Magen-
katarrhs und Zunahme des Körpergewichts) rasch — bis auf die
frühere Schwächestufe des habituellen Alkoholismus. Die Erinne-
rung ist in der Regel summarisch, mauchmal ganz defect (nament-
lich hinsichtlich des Gedächtnisses für die Krankheitszeit), erholt sich
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Delirium tremens febrile. Alkoholistische Pseudoparalyse.
417
jedoch nach und nach (wenn auch nicht immer). In sehr wenigen
and nur in leichten Fällen ist sie bis in's Detail getreu. — Es kann
aber b) die Reconvalescenz nicht durch Krisis, sondern durch Lysis
erfolgen, und dauernd erst durch ein hallucinatorisches Nachstadium
(für eine Reihe der folgenden Nächte) erkämpft werden, während
die Tage zunehmend lucider werden; oder der Kranke tritt c) erst
auf einige Tage noch in einen halbbetäubten Zustand mit schwach-
sinniger Begehrlichkeit und blödem Grössenwahn; oder endlich d) es
können mehrere Anfälle von Delirium sich wiederholen, ohne, oder
auch mit gleichfalls sich wiederholendem, epileptischem Insult. In
der Zwischenzeit ist der Kranke stupid scblafsüchtig und ausser-
ordentlich ängstlich, so dass er oft mitten in der Nacht Fluchtver-
suche macht.
Die Prognose ist für alle diese Varietäten eine gute, wobei Übri-
gens die verschlimmernde Wirkung der Recidiven auf den zurückbleiben-
den Alcoholismus chronicus einzurechnen ist.
Ein weiterer schlimmer Ausgang ist der in das fieberhafte Deli-
rium tremens. Das letztere stellt die schwerere Form des einfachen dar,
zugleich mit lebensbedrobendem Charakter. Die Hauptsyui} * ne sind
dieselben; nur ist starkes Fieber (bis 42° mit sprungweisen issionen
bis 3S,2°), und eine vergleichsweise noch tiefere Bewusstseinsstörung zu-
gegen. Die Muskelstörungen bestehen hier nicht nur in einfachem Tre-
mor, sondern zugleich in zeitweiligen convulsiven Stössen und Schlägen
durch die gespannte Muskulatur, in heftigen partiellen Zuckungen durch
den Facialis, Deviationen des Kopfes, Nystagmus. Sehr häutig intercur-
riren epileptische Zufälle. Albuminurie scheint regelmässig vo/handen zu
sein. Der Verlauf ist peracut, und sehr oft tödtlich durch Erschöpfung,
mit Temperaturabfall oder Convulsionen (Pneumonie). In nicht letalen
Fällen Lysis nach S— 14 Tagen. — Das Delirium tremens febrile kann
auch primär als solches auftreten. Bei der Autopsie: hochgradige Hirn-
hyperämie mit ödematöser Durchtränkung, manchmal capilläre Apoplexieen.
gj Es kann der Alcoholismus chronicus in seiner Entwicklung
ein paralytiformes Bild annehmen, oder aber -in eine eigenartige
Form der progressiven Paralyse übergehen (Alkoholparalyse). Im
erstem Falle ist die „Paralyse" nur eine Erscheinungsweise des Alco-
holismus chronicus, ist nicht progressiv, wieder besserungsfähig und
selbst heilbar; im zweiten ist die Paralyse eine wirkliche (wenn-
gleich modificirte), und theilt das Endschicksal mit dieser.
Der paralytiforme Alkoholismus hat eine chronische
und eine subacute Entstehung. Der psychische Schwachsinn und
die motorischen Störungen in Locomotion und Sprache, wie sie dem
gewöhnlichen Alkoholismus Uberhaupt eigen sind, bilden gleichsam
die Vorfrucht für diese besondere klinische Entwicklungsrichtung.
8chftU, GeUtdikrankbeitoo. 3. Aufl. 27
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418
Der Alkobolismus und die alkoholischen Psychosen.
Während darüber bei der chronischen Form oft mehrere Jahre ver-
gehen, vollzieht sich in den andern Fällen die Genese innerhalb
mehrerer Monate: Trinkexcesse mit manischen Ausbrüchen nach
jeder starken Berauschung, hierauf in rascher Folge verkehrtes
Reden, allgemeine Aufregung, Selbstüberschätzung, riesige Essgier,
unsicherer Gang und Sprache, alkoholische Constitution. Bei der
chronischen Entstehung bildet gewöhnlich der Trinkerverfolgungs-
wahn (mit Hallucinationen) die Einleitung und das bleibende psy-
chische Symptomenbild, woran sich die motorischen Insuffizienzen,
neben den theilweise noch fortdauernden alkoholistischen Motilitäts-
störungen, angliedern.
Die klinischen Symptome weisen beachtenswerthe Differenzen gegen-
über der klassischen Paralyse auf. Das wichtigste Unterscheidungsmerk-
mal, welches übrigens auch der Alkoholparalyse (s. u.) zukommt, ist die
Combination von paralytischen Symptomen und von alkoholistischen. tfo
ist stets, wenn auch oft in geringerem Grade als vorher, Muskeltremor
neben den motorischen Lähmungserscheinungen vorhanden; nie fehlt ferner
idiopathische Muskelschwäche; stets sind sensuelle und sensible Störungen
des Alcoholismus chronicus, und ebenso auch vegetative (Alkoholhabitus)
zugegen. Hallucinationen sind vergleichsweise viel häufiger als in der
gewöhnlichen Paralyse, und zwar mit nächtlichen Exacerbationen (wie-
derum alkoholistische Eigenart); nicht selten sind dieselben specifischen
Inhalts (Untreuewahn). Sodann ist das Gesammtbild sowohl des pseudo-
paralytischen Alkoholismus, als auch der eigentlichen Alkoholparalyse in
der Regel nicht das klassische Paralysebild, sondern das raodificirte des
primären Blödsinns mit Lähmung (paralytische Ataxie). Jedoch verschieden
von diesem (und zwar sowohl von dessen primär dementem, als vom hypo-
chondrischen Bilde) kommt der Paralyse des Alkoholismus das ethisch-
degenerative Moment als ein wesentliches, und gleich von Anfang
bestehendes Symptom zu. Während dort der Adel des Herzens und der
Gesinnung so oft noch rührend den intellectuellen geistigen Zerfall durch-
leuchtet, so sind h i e r die sittlichen Bedürfnisse sofort erheblich geschwächt,
die sinnlichen entsprechend gesteigert. Das Gedächtniss ist manchmal
noch leidlich erhalten, in andern Fällen aber sehr nothleidend , so dass
der Kranke von einer Stunde zur andern vergisst. Manchmal sind par-
tielle Gedächtuissdefecte vorhanden. Die geistige Kraft im Ganzen ist
stets ausserordentlich blöde und abgestumpft, namentlich bezüglich der
Beurtheilung der eigenen Lage. Der Kranke schickt Briefe ohne Wohn-
ortsangabe zur Post, und ist auf Vorhalt nicht im Mindesten betroffen,
„da man ja den Empfänger schon ausfindig machen werde". Nach monate-
langem Asylaufenthalt verkennt er noch die Personen, gibt oft allerei
träumerische Einfälle zum Besten, lässt sie auf Einwände Dritter fallen,
tischt sie aber gleichwohl wieder auf. Die Stimmung ist gleichmässig zu-
frieden, apathisch leicht bestimmbar, unvermittelt vom Weinen zum Lachen
zu bringen, ganz wie beim Gewohnheitstrinker. Dabei ist der Kranke
rücksichtslos nonchalant, vegetirt herum, ohne Sinn fllr das Deeorum,
verrichtet öffentlich seine Bedürfnisse, lebt in der Minute. Der Grösscn-
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Alkobolistischc Pseudoparalyse. Alkoholistische Paralysen. 419
wahn ist mässig, bewegt sich mehr nur in bescheidenen Grenzen der blöd-
sinnigen Euphorie, und entbehrt der propulsiven Kraft und plastischen
Gestaltung, wie in der klassischen Paralyse.
Einmal konnte ich bei einem behäbigen Gewohnheitstrinker mit
massig entwickeltem Tremor nach einem tiefen Gemüthsaffect einen acutea
Exaltationszustand beobachten, mit allen Charakteren der klassischen
Paralyse, namentlich auch mit dem specifischen Grössen wahn. Der Fall
verlief acut in Genesung; ein leichter alkoholistischer Tremor blieb erhal-
ten, daneben natürliches Dankgeftlhl und Krankheitseinsicht, nur nicht
auch subjective „ätiologische" Aufklärung. — Diese Fälle bilden die
Uebergänge zu den paralytischen Nachstadien nach febrilen Infections-
krankheiten (Variola). — In einem zweiten Falle waren wohl einige
der wesentlichsten psychischen Züge aus dem Paralysetypus in das alko-
holistische Krankheitsbild binUbergenommen (echter Grössenwahn, ethischer
GemUthsdefect, Urtheilsschwäche) ; aber die motorischen Symptome fehlten,
und der psychische Kraftzustand blieb anhaltend Uber dem Niveau der
Paralyse. Es folgte wesentliche und dauernde Besserung.
Der Verlauf des paralytischen Alkoholismus ist in der Regel ein
subacuter, und gegenüber den nicht- toxischen Formen ein günstiger.
Auf der Entwicklungshöhe angekommen, schreitet er unter passen-
den Verhältnissen (Anstalt) nicht weiter, sondern bildet sich (nach
einigen Monaten bis einem Jahre) zum Status quo ante, selbst mit theil-
weiser Krankheitseinsicht, zurück; manchmal allerdings auch mit
bleibendem grösserem psychischem Defect. Mitunter kehren nach
einiger Zeit mitten in einem sehr befriedigenden Zustande plötzlich
psychische Absenzen in Form grober Rücksichtslosigkeiten u. s. w.
wieder. Doch auch diese können sich verlieren. Die motorischen
Störungen sind gleichfalls bis zu kleinen Resten rückbildungsfähig.
Der Ausbruch von Lungentuberkulose scheint manchmal günstig (hirn-
entlastend) auf die Reconvalescenz zu wirken. In anderen Fällen
kann aber gegentheils der plötzliche Eintritt von Hirnzufällen (Con-
vulsionen) dem Krankheitsverlauf eine rasche Wendung zum Schlim-
men geben. — Recidiven, manchmal unter der Form schwerer, mit-
unter auch rasch letaler Maniecn, sind die Wirkungen neuer Trink-
excesse. — Verschieden von dieser intercurrenten Modification ist:
die alkoholistische Paralyse ein definitiver Ausgangszu-
stand des chronischen Alkoholismus, und von entschieden progres-
sivem Charakter. Die dahin entfallenden klinischen Bilder gehören
sämmtlich den psychischen Cerebropathieen („Blödsinn mit Lähmung")
an, und vertheilen sich anatomisch auf die Meningitis-, Pacchyme-
niogitis- und Encephalitis-Gruppe, ohne oder mit Tabes spinalis.
Die Entwicklung der hierher gehörigen Formen ist eine ebenso man-
nigfaltige als die spätem klinischen Typen selbst, von welchen kaum
zwei Fälle exact einander gleichen. Die oben betonte Combinirung des
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420
Der Alkoholismus und die alkobolistischen Psychosen.
alkoholistischen und des (hier) cerebropatkischen Symptomenbildes in Einem
Krankheitsfall, so dass beide Reihen theils neben einander vorkommen
(s. o.), theils abwechseln, ist als differentielles Moment gegenüber den
Fällen aus nicht - toxischer Entstehung festzuhalten. Eine fernere (nur
nicht allgemein zutreffende) Eigenthümlichkeit der alkoholistischen Paralyse
ist das häufige Vorkommen von Herdsymptomen (Opticus- Atrophie, ein-
seitige Lähmung, Schlaganfälle), merkwürdigerweise oft ohne erklärenden
autoptischen Befund. In der stets chronischen Genese gehen manchmal
intercurrente Manieen mit religiösem Grössenwahn und Versündigungs-
ideen voraus, ebenso Anfälle von Delirium tremens. Die Neigung zu
Convulsionen ist bei einem Theil der Fälle eine gesteigerte; manchmal
bleibt das Bewusstsein dabei erhalten. Die motorischen Störungen er-
weisen sich als ausserordentlich complicirte: aus dem Hirnleiden, aus
spinalen Affectionen, aus dem Alcoholismus chronicus, und oft noch aus
den Wirkungen psychischer Selbstcompensation. Häufiger, wie es scheint,
als sonst gehen bei der alkoholistischen Paralyse die psychisch-paralyti-
schen Symptome (namentlich der starke Blödsinn) längere Zeit den mo-
torischen voraus. Dabei ist der Grössenwahn in der Ruhe Anfangs noch
sehr bescheiden, und wächst erst später, wenn allmählich auch die moto-
rischen Zeichen eingerückt sind, zu den verstiegenem Höhen kritikloser
Schwäche. Intellectuellerseits überrascht oft, wie ein alberner Grössen-
wahn und richtige Schätzungen dicht neben einander liegen. In einem
Falle beobachtete ich längere Zeit heftige Gliederzuckungen, wie von elek-
trischen Stössen, worüber der schon sehr demente Kranke selbst Klage
führte. Eigenartig ist die manchmal vorkommende choreiforme Aufregung
solcher alkoholistischer Paralytiker: sie bleiben keinen Moment in
Ruhe; bald sitzen sie, bald stehen sie, dann nehmen sie den Hut ab,
setzen ihn wieder auf, legen den Kopf links, dann rechts, nehmen alles
Ergreifbare in die Hand, lassen es wieder fallen, dann räuspern sie sich,
trinken, wischen sich ab, streichen überall an sich herum, blasen das Licht
aus u. 8. w. — Der Verlauf ist mehr als bei den analogen (nicht-toxi-
schen) Formen durch Remissionen gekennzeichnet; dabei haften nicht
selten die motorischen Störungen zäher als die psychischen. Im Uebrigen
und allgemein ist die Prognose gleich düster, wie bei jenen.
h) Der Weiterverlauf des Alcobolismus chronicus, soweit der-
selbe nicht durch die vorgenannten Zwischenfälle oder specielle Ent-
wicklungsrichtungen bestimmt wird, ist ein wesentlich stationärer.
Als solcher kann er sich selbst aus höhern Graden wieder sachte
zurückbilden (Abstinenz des Schnapses vorausgesetzt), und der Kranke
wieder ein leidliches Dasein zurückgewinnen. Weitaus die über-
wiegende Mehrzahl der Kranken — Sklaven ihrer Kehle! — geht
aber unrettbar dem körperlichen und geistigen Verfall entgegen. Ihr
Schicksal ist entweder eine Reihe von periodisch auftretenden acu-
ten Psychosen (Delirium tremens- Anfälle, Manieen), mit dem Folge-
zustande einer progressiven Verblödung; oder die psychische Ent-
artung unter allen dahin gehörigen geistigen Typen. Ein Theil
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Weiterverlauf des Alcoholismus chronicus.
421
wandert zu den Dipsomanen; ein anderer bleibt im chronischen Ver-
folgungswahne stecken, und entwickelt sich (oft nach wiederholten
Remissionen, welche speciell dieser Form nach Jahresfrist noch zu
Theil werden) zu allgemeinen hallucinatorischen Wahnsinnigen; wie-
der Andere werden Vagabunden und Querulanten, und unverbesser-
liche Candidaten für die Criminal- Justiz; oder enden als sittlich blöd-
sinnige Verbrecher oder Selbstmörder. Das specifisch „toxische"
Element des Alkohol zieht sich für den aufmerksamen Beobachter
durch alle diese Secundärstadien; von der körperlichen alkoho-
listischen Constitution und deren Folgewirkungen in diesem Stadium
(Fettdegeneration der Innenorgane, Atherose) abgesehen, bleibt stets
einer oder der andere der wiederholt betonten Charakterzllge nach-
weisbar, und fixirt die ätiologische Natur des Krankheitsbildes. Selbst
in der bunten Täuschungswelt des chronisch-wahnsinnigen Halluci-
nanten erhalten sich sehr häufig noch die „rotben" und „blauen"
Folien, auf denen sich die bald flächenhaften, bald körperlichen Bilder
mit ihrer packenden Plastik abzeichnen; die enorme Leichtigkeit
der hallucinatorischen Erregung und ebenso die polymorphe „märchen-
hafte" Eigenart der Sinnesbilder (aus dem Delirium tremens) ver-
bleibt auch noch dem Alkoholisten dieser Secundärstadien, welcher
zu halluciniren im Stande ist, wann er will, aber doch nicht auch die
Phantasmen zu bestimmen vermag (wie sich beispielsweise beim
einfachen Lidschluss erst „ein Gesicht" zeigt, dann „ein Hase, dann
ein Rosenstock"). So treten, immer mit irgend einer specifischen
Schattirung, sämmtliche Zustandsformen der speciellen Psychopatho-
logie im Verlauf des chronischen Alkoholismus auf; die tiefern Blöd-
sinnszustäude aber, wie es scheint, erst auf dem Umweg d. h. als
directe Folgewirkungen intercurrenter acuter Cerebralaflfectionen, be-
sonders der schweren Manieen. — Neue, und nicht minder mannig-
faltige Modifikationen des Verlaufs werden durch acute Hirninsulte
(Apoplexieen mit ihren Folgezuständen), oder durch chronische con-
stitutionelle Erkrankungen in Folge der Alkoholconstitution (Nieren-
affectionen, Diabetes) eingeführt. Glücklicherweise ist an sich die
Lebensdauer dieser durch Schuld oder Schicksal (oder auch beides!)
rettungslos Verkommenen eine relativ kurze, und hebt dadurch und
durch die häufig frühzeitig eintretende Sterilität den möglichen Fluch
der Vererbung auf. —
Die (s. oben c u. d) im Gefolge alkoholistischer Missbräuche auf-
tretenden Manieen und Melancholieen entbehren z.Tb. des mehr
minder specifischen Gepräges, welches die seither betrachteten Stö-
rungsformen darboten. Gleichwohl fehlen auch hier sehr oft be-
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422
Der Alkoholismus und die alkoholistiscben Tsychosen.
6timmte Nuancirungen nicht, welche die ätiologische Signatur fest-
halten.
Die alkoholistischen Manieen zeichnen sich aus a) durch
rasche Entstehung und raschen Verlauf mit tiefer Bewusstseinsstö-
rung (Betäubtheit), häufigen Sinnestäuschungen und Illusionen, trieb-
artig perversem Gebahren, Mischung von Indolenz und stumpf zor-
niger Gereiztheit, mit gelegentlich blind heftigen Reactionen. Für
diese, vielleicht zahlreichste, Gruppe sind der Furor und die Mania
gravis die generellen Typen.
Typisches Bild. Allgemeinerscheinung eines ziemlich Angetrun-
kenen. Grosse geistige und körperliche Trägheit, Schlummersucht, Hin-
brüten, Staunen, Geistesabwesenheit. Damit wechseln Aufregungszustände
verschiedener Art und Grades, alle mit dem Charakter grosser Schwäche.
Kindische zwecklose Spielereien, Tändeln an den Kleidungsstücken, phan-
tastische Costumirung (besonders auch mit barocken Albernheiten , wie
z. B. Verbinden des Gliedes, abnorm festes Zubinden der Strümpfe und
des Ilalstuchs), Drang zum Verstellen der Gegenstände, zum Wühlen im
Schmutze, zum Zerstören, läppisches Complimentiren gegen den Arzt,
neben brutalem Benehmen gegen andere Kranke, auch oft tagelangem
Schreien und excentrischem sinnlosem Gebahren; anderemale zudringliches
Wesen mit albernen Fragen und ungereimten Bemerkungen. Absolute
Unorientirtheit Uber die Situation; Nachahmen von andern Kranken. Da-
zwischen ruhige, halblucide Zeiten, aber ohne Fähigkeit zu einem geord-
neten Gespräche. Intercurrente Andeutungen eiues verschwommenen Ver-
folgungswahns. Gesichtshallucinationen, Magenkatarrh, Tremor. Nach
mehreren Wochen Zurücktreten der Aufregung. Jetzt melancholisches
Nachstadium auf der Grundlage grosser psychischer Schwäche mit schreck-
samem Wesen und weinerlicher, thränenrühriger Stimmung. Tremor und
Magenkatarrh dauern fort. Allmählich zunehmende Ernährung, Erweite-
rung des geistigen Gesichtskreises, heiterere und natürlichere Stimmung.
Reconvalescenz. — Die peracuten Manieen schliessen sich manchmal direct
an eine tiefe Berauschung an, und können zu Raptus lebeubedrohender
Heftigkeit (Mordattaken auf die Umgebung), sinnlosem Wüthen und Zer-
stören führen. Der Anfall hat so manchmal einen vollständig epileptoid-
manischen Charakter. Es können auch mehrere Raptusanfälle nach ein-
bis mehrtägigen Ruhepausen (düsteres, unheimliches Wesen mit unruhigem
Schlafe und grosser Gereiztheit, bei übrigens leidlicher Lucidität) auf
einander folgen, und erst darauf dauernde Klärung des Bewusstseins ein-
treten. Die Erinnerung ist bald nur eine summarische, bald eine genaue;
manchmal corrigirt sie sich erst langsam; anderemale ist sie sofort nach
überstandenem Raptus eine prompte, verdunkelt sich aber nachher, und
oft dauernd, wieder (forens wichtig !).
Eine andere Gruppe b) ist dagegen charakterisirt durch ein
milderes Tempo des Verlaufs und eine geringere Störungstiefe der
psychischen Functionen. Bewusstsein und Besinnung bleiben bis zu
einem gewissen Grade erhalten; die Handlungen sind wohl krank-
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Alkoholistische Manieen.
423
baft überstürzte, aber formell mehr minder correcte; sie tragen das
Gepräge eines primären Schwachsinnes (tolle Fastnachtstreiche, muth-
willige Störungen der bürgerlichen Ordnung), und sind belebt durch
einen massigen Grössenwahn.
Typisches Bild. Eine raisonnirende Disputirsucht, welche alle
Vorkommnisse weiss brennen will, gänzliche Einsichtslosigkeit in den
eigenen Zustand, oft mit Andeutungen von Verfolgungswahn. Gesteigertes
Selbstgefühl („als ob die Andern die Narren wären und er der Gescheidte"),
weibische Geschwätzigkeit, welche mit beschränkter Zähigkeit den bereits
auf den Wirthsbänken einstudirten Text hundertfach auskramt — sind die
speeifischen Charakterzüge. Die Stimmung bewahrt die eigentümliche
Weichlichkeit und Beweglichkeit des Trinkers, manchmal auch eine bis zur
Brutalität explodirende Reizbarkeit; sie geht in raschestem Umschlag vom
Lachen zum Weinen über, behält aber bei allem Wechsel den Grundzug
von Indifferenz oder Schwäche bei. Der Kranke, eben noch der alberne
Schwätzer und Prahlhans, ist im nächsten Augenblicke still und Schlich-
tern; eben beherzt und lärmend, kann er gleich darauf die Miene ver-
ziehen, allerlei schwachsinnige Klagen vorbringen, in Thränen ausbrechen,
„weil er keinen Vater und keine Mutter mehr habe". Glüht erst der
Alkohol nicht mehr in den Adern, so benimmt sich der Kranke — das
Raison nire ii abgerechnet — ganz verständig. In der Regel bricht bald
die gesunde Anschauung wieder durch, gewöhnlich jetzt mit der Schwäche
des reuigen Sünders, welcher mehr preisgibt, als man haben will. Der
Kranke bekennt jetzt offen Alles, was man verlangt, wird zunehmend
still, ängstlich, kleinlaut, so dass man oft mehr Mühe hat ihn aufzurich-
ten, als ihm Besserung an's Herz zu legen.
Sehr häufig haftet auch das äussere Sigillum alcoholicum dem Krank-
heitsbilde, dessen Typus hier die Moria ist, an: gedunsene Ernährung,
geröthetes Gesicht, injicirte Conjunctiva, ungleich innervirte Gesichts-
halften, Tremor linguae et oris, Zittern der Hände, eigenthümlich schie-
bender, schlottriger Gang.
Eine dritte Gruppe c) zeigt die Charaktere der degenerativen
Manie, und ist im Grunde ein sittlicher und (oft vergleichsweise
geringerer) intellectueller Blödsinn mit periodischer oder auch chro-
nischer Aufregung, perversen Drängen und Handlungen (sehr oft
geschlechtliche Angriffe, Unzucht mit Kindern, Diebstähle, Brand-
stiftung, Misshandlungen der Familie.)
Dieser kurz skizzirte Rahmen umfasst ein unendlich reiches Detail
von Einzelbildern und Combinationen der einzelnen Formen. So kann der
Furor mit Hallucinationen als einfacher Anfall mit Anschluss an einen
Trinkexcess verlaufen, und damit abschliessen ; es kann aber auch der
Paroxysmus aus einer Reihe von kurz dauernden manischen (ganz glei-
chen) Krisen mit zwischenlaufenden Remissionen sich abspielen. Ebenso
kann die Mania gravis als anhaltender Paroxysmus auftreten; oder aber
gegentheils von so häufigen und langdauernden Verstimmungen und Angst'
zufallen begleitet sein, dass der manische Kranke periodisch sich als Me-
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42 t
Der Alkobolismu8 und die alkoholistischen PsychoseD.
lancholiker darstellt. — Auf die delirante Manie kann ein Stuporzustand
mit vasomotorischer Parese folgen, aus welchem der Kranke durch einen
transitorischen Blödsinn sich in die Reconvalescenz durchkämpft, oder
aber (in sehr interessantem Umschlag der Gefassinnervation) noch durch
ein Stadium von mehrtägigen Kopffluxionen mit grosser motorischer Be-
weglichkeit und schrittweise abklingendem Stupor hindurchgeht, um jetzt
erst, auf diesem physiologischen Umweg, zu genesen. Interessant ist eine
meiner ophthalmologischen Beobachtungen, wonach sich in der Stupor-
phase die Venen der Papillen sehr breit und platt, die Arterien dagegen
verschmälert zeigten; mit Eintritt der Reconvalescenz stellte sich das nor-
male Grössen verhältniss wieder her. Die Mania gravis kann sich nicht
selten peracut zur lebensgefährdenden Höhe des Delirium acutum stei-
gern. Gemeinsam für alle alkoholistischen Manieen ist die leichte, immer
zunehmende Fähigkeit zu Recidiven; schliesslich genügt dazu jede leichte
Berauschung. Doch gibt es auf der andern Seite auch wieder dauernde
Genesungen. — Diesen klinisch wohl charakterisirten Formen stehen ver-
schwommene Krankheitsbilder gegenüber, welche nur vorübergehende
und vereinzelte manische Züge aufweisen , aber kein fertiges typisches
Bild zusammenbringen, und als Steigerungen des alkoholistischen psycho-
pathischen Charakters aufzufassen sind: so geht der Kranke nicht selten
in eine Phase von krankhafter Weichlichkeit und zerknirschter Stimmung
über, und aus dieser in einen Zustand von frivoler Exaltion und weinseliger
Heiterkeit mit Neigung zu Cynismen und Possen — aber mit vollständig
erhaltener Lucidität; daraus allmähliche Rückkehr zur Gemessenheit und
Besonnenheit. —
Die Melancholieen auf alkoholistischer Entstehung verrathen
ihre Abkunft durch die eminente Gemüthsschwäche und Panphobie,
abwechselnd mit weinerlicher Verzagtheit (erstere motivlos, letztere
ohne Mark und Nachdruck), oder gleichfalls durch den torpiden
Charakter mit Gemüthsstumpfheit, thränenreichem, weichem Wesen,
grosser Willenlosigkeit, enormer Gedächtnissschwäche und Schwer-
besinnlichkeit. Beide Varietäten, die acute und die chronischtorpide,
sind durch Raptus von Gewaltthätigkeiteu (gegen sich oder Andere)
bedroht. Dabei Hyperästhesie der Sinne, häufige Hallucinatiouen
(mit Vorliebe schwarze Figuren, nächtliche Feuer- und Brand-
Visionen), transitorische Aufregungsphasen, Schwindelgefühle, Muskel-
schwäche, Frostempfinduugen, Zittern (manche Kranke bitten, mitten
aus ihrer Angst und Verdammungsfurcht heraus, kniefällig um eine
alkoholische Herzstärkung!). Der Verlauf in der zweiten Form
nimmt leicht einen protrahirten Charakter an, mit bleibender Geistes-
schwäche; doch kommen auch nach längerer Dauer noch Genesungen
vor. Recidiven siud häufig. —
Die Alkoholepilepsie ist eine Folgewirkung des Alcoho-
lismus chronicus. Klinisch ist sie besonders bemerkenswerth durch
die an die epileptischen Insulte sich häufig anschliessenden Anfälle
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Alkoholistische Melancholieen. — Epilepsieen. Therapie.
425
von Delirium tremens (schwererer Form). Die Vorläufer sind die-
selben wie beim letztern. Der Insult selbst folgt mit Vorliebe auf
einen Trinkexcess oder auf eine voraufgegangene Gemüthsaufregung.
Relativ oft trifft im Gefolge eines Anfalls (deren nicht selten mehrere
im Verlaufe eines Tages sich wiederholen) das letale Ende ein. —
Auch aus dieser toxischen Epilepsie bilden sich nicht selten Trans-
formationen in psychische Aequivalente heraus.
Aber auch ohne vorausgegangene Krampfanfälle können „epileptoide"
Dämmerzustände im Gefolge einer tiefen Berauschung auftreten, welche
namentlich forens sehr wichtig werden können, da dieselben mitunter mit
scheinbar zweckmässigen Handlungen verlaufen (s. o. patholog. Rausch-
zustände). Als solche können sie auch die directe Einleitung eines De-
lirium tremens bilden, wie die motorischen Krampfanfälle.
Therapie.
Die pathologischen Rauschzustände bilden wegen ihres transi-
torischen Charakters seltener den Gegenstand psychiatrischer Behand-
lung. Die acuten und chronischen Wabnsinnstormen erfordern Ho-
spital- resp. Anstaltsbehandlung nach den für die verwandten Zustände
gültigen Indicationen. Der chronische Alkoholismus eignet sich ftir
die Trinkerasyle, deren zunehmende Erstellung eine dringende
Bedtirfnissfrage unsrer Zeit ist. Für die geringem Grade, welche
nicht selten besserungs- und selbst heilungsfähig sind, müssen die
socialen Reformen, wie sie eben in verschiedenen Ländern angestrebt
werden und zum Theil segensreich schon ins Leben gerufen sind,
eintreten. Hier berührt sich die psychiatrische Therapie mit einer
der wichtigsten socialen Aufgaben der Gegenwart. — Speciell das
Delirium tremens bedarf der sorgfältigsten Hospital- oder
Anstaltsbehandlung. Hauptindicationen sind: Kräfteerbaltung und
cerebrale Beruhigung. Nach beiden Richtungen entspricht die Bett-
lage unter ständiger Beaufsichtigung; bei tobenden Kranken ist eine
Polsterzelle (nach Bedürfniss verdunkelt) ein dringendes Requisit.
Daneben kräftige reizlose Diät mit Wein; milde Laxantien. Sehr
wohlthätig wirken Bäder mit Umschlägen. Zur Beruhigung und
Erzielung von Schlaf ist Chloral (2—3—4 Gramm) das beste Mittel;
doch reiche man es nur, wenn keine Herzschwäche droht; in zweifel-
haften Fällen ist Paraldehyd gefahrloser (1 — 0 Gr.) Daneben, und
namentlich auch für die Nachbehandlung, ist Opium sehr empfeh-
lenswert!].
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426 Das hereditäre Irresein.
Das hereditäre Irresein.
A. Allgemein pathologischer Excurs.
Literatur : Erblichkeit im Allgemeinen. Morel, Traite des dlgeneresc, u.
de l'here'dite' morbide progr. Arch. gen. 1667. — Prosper, Lucas, Traite* philo-
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R6gis, l'Enceph. 1883 (Vererbung d. Psychosen im Allg. u. Spec). — De ecke, Am.
Journ. oflus. 1881 (Anatomischesi. — Benedicts Monographie über Verbrecher-
gehirne. — Derselbe, Wien. med. Pr. 1SSU. — Flesch, Würzb. Sitzungsberichte
1 SSO —8t (Verbrecbergehirne) und Monograph. 1SS3. — Ferrier, Brain 1882.—
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Ebing in Friedreichs Blättern 1SCS. — Le Grand du Saulle, deutsch von
Stark, Monographie 1S74. — Todi, Arch. ital. 1881 (neuropath. Constitut). —
Andriani, la Psychiatria 18S5 (degenerat. Psychos.) — MarandonduMontyel
(Folie avec conscience) Arch. de Neur. 1882, u. Euc<5ph. 1883. — „Impulsives Irre-
sein": Pohl, Jahrb. f. Psych. IV. — Gauster, Maschka's Handbuch (mit Lite-
ratur). — Zwangsvorstellungen: v. K rafft- Ebing, Beiträge zur Erkenn tniss
krankhafter Gemüths-Zustände 1S67. — Derselbe, über formale Störungen des Vor-
stellens, Vierteljahrsschr. für gerichtl. Medicin 1 S70 (Literatur). — Morel, Desire
¬if 1866. — Falret, Anu. m6d. psych. 1866 (Folie raison.). — Buccola, Riv.
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laladle du doute et du toucher: LeGrandduSaulle, lafoliedu doute 1875.
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lancolie perplexe) Arch. g6n. de mäd. 1880. — Kussel (Fall von Heilung) Alien, a.
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sanlty: Pinel, TraUe" philosopbique. — Prichard, Treatise. — Esquirol, Mo-
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(Folie rais.). Ann. m£d. psych. 1866 u. 1867. — Solbrig, Verbrechen und Wahn-
sinn ISO". — v. Krafft-Ebing, Lehre vom moral. Wahnsinn (Monogr.). — Ders.:
Friedreichs Rl. 1871 (Literatur) u Allg. deutsche Strafr., Zcitg. 1872. — Stolz, Allg.
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— Bini, ibid. 1881. — Try de, Schm. Jahrb. Bd. 189. — Lykke, Bidrag etc. Iiiaug. -
Diss. 1870. — Holländer, Jahrb. f. Psych. Vi. — Hughes, AI. and Neur. 18*»2. —
Savage, Journ. of m. sc. 1881. — Gasquct, ibid. 1882. — Manning, ibid. 1882. —
Weiss, Wiener med. Wochenschr. 1883. — Funaioli, Arch. ital. 1884. —
Goldsmith, Am. J. of ins. 1^83. — Workm an , ibid. — Querulantenwabnsinn :
v. Krafft-Ebing, Allg. Zeitschr. f. Psych. 35 (mit vollständiger Literatur). Jahrb.
f. Psych. 1884. — Sponholz, Erleumeyers Centralbl. 1880. — Originäre Verrückt-
heit: Suell,Allg Zeitschr. f. Psych. 22. — Sander , Arch. f. Psych. 1. — Rauch,
die primordiale Verrücktheit 1883. — Burr, Am. J. of Ins. 1883.— Deecke, Am J.
oflns. 18>5. — ContrSrc Sexualempfiadung (Zusammenstellung nach v. K raff t-
Ebingl. a)Männl. Individuen betr.: Gas per, klin. Novellen, u. Lehrb. d. gerichtl.
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Eintbeilung. Corollarien aus der „Erblicheits"lehre.
427
Med. p. 170 (7. Aufl.); — Westphal, Arcb.f. Psych. 2; — Schminke, ibid. 3. —
Scbolz, Viertelj. f.ger. Med. 19. — Gock, Arch.f.Psych. 5; — Servacs, ibid. 6. —
Westphal, ibid. — Stark, Allg.Zeitschr. f. Ps.31. — Liman(Casp.Lebrb. ti.Aufl.,
FallZastrow); — v. K rafft- Ebing, Arcb. f. Psych. 7. — Le Grand du Saulle,
Ann. me\i. psych. 1S7G. — Tama ssia, Riv. sper. 1878. — v. Kraf ft-Ebing, Allg.
Zeitschr. f. Psych. 38, u. Lehrbuch, II. Aufl. p. 85. — Sterz, Jahrb. f. Psych. Bd. III.
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1884.— v. Kraf ft-Ebing, Jabrb. f. Psych. 1885. - b) Weibl. Individuen betr. :
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— Wise, AI. audNcur. 1883. — Cantarano, Zeitschr. la Psycbiatria 1S83. —
Agoraphobie s. d. betr. Art. in Eulenburg's Realcncyclop. (Westphal) mit Lit.
Zur eingehenden Darlegung dieses wichtigen klinischen Capitels
ist es unerlässlich die Erörterung einiger allgemein -pathologischer
Ergebnisse vorauszuschicken. Diese sind: I. anthropologischer Natur
und enthalten die Thatsachen der „Erblichkeit" d. h. erblichen Ueber-
tragung, und II. klinischen Inhalts, worunter einige der wichtigsten,
für das hereditäre Irresein fast specifischen Elementarstörungen ge-
hören: a) Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen (impulsive
Acte), und b) eigenartige psychische und sensuelle Anomalieen im
Gebiete des Geschlechtslebens (die „conträre Sexual-Empfindung").
An diese nothwendigen Prolegomena schliesst sich die Besprechung
der „hereditären Neurose" an, als des gemeinsamen Baumes, dessen
Aeste sich im Weitern in das a) einfache, und ti) degenerative erb-
liche Irresein spalten.
Der klinischen Schilderung der Gruppe a) ist als Anhang das „transi-
torische Irresein" angeschlossen.
% Corollarien aas der „Erhllehkelts"lehre.
Wir sind, was wir sind, nur zum kleinern Theile durch uns; zum
grösseren sind wir das Werk unserer Ahnen. In diesen d. h. in deren
geistigen uud körperlichen Erlebnissen führten wir Alle unser Vorleben,
und Jeder von uns hat in seinem wirklichen Leben wesentlich (Viele aus-
schliesslich) die begonnene Geschichte seines Stammbaumes weiterzuführen.
Für die krankhaften Seelenzustände zumal steht die Vererbung im Mittel-
punkt der vorbedingenden und erzeugenden Ursachen. Von der familien-
weisen Vererbung gewisser Charaktcreigeuthümlichkeiten („Tic's und
Spleen's"), bis hinauf zur Durchseuchung ganzer Stammbäume mit Gei-
stesstörung und Idiotismus, zieht sich eine zusammenhängende Stufenleiter,
in welcher die verhängnissvolle Mitgift der Eltern oder Seitenverwandten
an die Kinder oder Enkel in allen Spielarten und Stärkegraden auftritt.
1 . Die Erscheinungsweisen der erblichen Uebcrtragung gruppiren sich :
a) hinsichtlich der Form. Diese ist in der Mehrzahl der Erkran-
kungsform in der Ascendenz gleich, d.h. auf eine Melancholie der El-
tern folgt in der Descendenz wieder eine Melancholie, oft mit den glei-
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428
Das hereditäre Irresein.
chen Wahnvorstellungen und Neigungen; namentlich kann der Selbst-
mord in erschreckendster Weise hereditär sich fortpflanzen. Aber auch
Neuralgieen, theils als solche, theils in psychischer Transformation, können
durch mehrere Glieder der Descendenz hindurchgehen; ja selbst Hallu-
cinationen. — Neben der formgleichen hereditären Uebertragung gibt es
aber auch eine gleich werthige. So kann eine Neuralgie in der As-
cendenz unter einer neuralgischen Krampfform epileptoiden Charakters
in der Descendenz wiederkehren, oder habituell hereditäre Kopffluxionen
des Vaters in einer Apoplexie des Sohnes (progressiv hereditäre Ueber-
tragung; s. 8p.).
b) Hinsichtlich der Zeit des Auftretens. Diese fällt oft in merk-
würdigster Weise mit dem Zeitpunkt, in welchem auch die Erkrankung
in der Ascendenz debütirte, zusammen (ähnlich wie in vielen Fällen von
Phthise). Anderemale ist, je nach der Stärke des hereditären Virus, der
Ausbruch post- oder anteponirend.
c) Hinsichtlich des Geschlechts des U eher trag enden und des Ergrif-
fenen. Am meisten ist die Descendenz gefährdet bei doppeltem Kinflu68
der Eltern, d. h. wenn beide krank waren ; bei einseitiger Erkrankung
Uberwiegt der mütterliche Einfluss; für Uebertragung speciell des Selbst-
mordes der väterliche. Erkrankungen eines der beiden Eltern vor der
Pubertät (besonders Chorea und Epilepsie) sind für die Descendenz sehr
beunruhigend.
2. Nicht nur die ausgesprochenen Geistesstörungen vererben sich,
sondern Nerven- und Geistes- und Hirnkrankheiten stehen in der wech-
selseitigen Beziehung gegenseitigen Ersatzes, gegenseitiger Uebergangs-
fähigkeit in der Descendenzreihe. So kann eine Generation an Seelen-
störung leiden, die zweite an Chorea und Epilepsie; in die dritte rücken
wieder Melancholiker und Maniaci ein. Nach den neuesten Uetersuchungen
von Ball und R6gis hinterlassen Geistesstörungen ein specielles „Krank-
heitssiegel" auf die Nachkommenschaft; dasselbe verwahrt in sich: Gei-
steskrankheit, Nervenkrankheit, Hirnaffection, Alkoholismus, Lungen-
phthise — als Mitgift und Erbtheil für die Descendenz. Diese traurigen
Lebensgeschenke vertheilen sich im Einzelnen: a) in den paralytischen
Familien besteht eine grosse Geneigtheit speciell zu HirnafTectionen ; b) die
Familien mit einfacher Seelenstörung bilden d. h. tragen und erzeugen
wieder eine „Wahnsinns-Diathese" ; c) die Epileptiker hinterlassen Dis-
position zu Hirnleiden, besonders in der Kindheit; eigentliche Epilepsie
ist dagegen sehr selten in der Descendenz; d) Hysterismus erzeugt eine
nervöse Diathese; der Alkoholismus eine Disposition zu Hirnkrankheiten
(wiederum besonders in der Kindheit) und zur Lungenphthise.
3. Das hereditäre Gift hat eine Neigung zur generationsweise ver-
stärkten Wirkung d. h. zur fortschreitenden Deteriorirung der Nach-
kommenschaft — analog der sich steigernden Giftwirkung des septisch
infieiitcn Blutes. Man spricht deshalb von einer einfachen und von
einer degenerativen erblichen Uebertragung — je nachdem die De-
scendenz bloss in (klinisch und prognostisch) gleichen oder gleichwerthi-
gen Formen erkrankt; oder aber in progressiv schwereren mit Neigung
zur Degenerescenz (s. d.), oder endlich zu psychischen und körperlichen
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Corollarien aus der „Erblichkeits"Iebre".
429
Defectzuständen (Idiotismus). Anthropologisch unterscheidet man von dem-
selben Standpunkte zwischen einfacher Prädisposition und Uber-
tragener erblicher Krankheit. Unter „Prädisposition" ist ein
durch Erblichkeit verpflanzter Schwächezustand des Organismus zu ver-
stehen, wodurch derselbe zwar noch nicht derb greifbar ausserhalb der
physiologischen Grenze gestellt ist, wohl aber eine so geringe Wider-
standsfähigkeit (Anpassungsvermögen) besitzt, dass er selbst durch Reize
in noch normaler Breite zur wirklichen Krankheit gebracht, weiter-
entwickelt wird. Es sind die „psychisch-kränklichen" Naturen, welche ge-
sund bleiben, so lange körperlich und geistig nur bescheidene Ansprüche
an sie gemacht werden — sonst aber auf Schritt und Tritt Gefahr laufen
zu straucheln. Für den Laienblick unterscheiden sie sich oft nur durch
eine grössere Zartheit von dem mittleren Durchschnittsmenschen; dem
Arzte aber entgeht unter der Hülle einer gesteigerten Erregbarkeit mit
Schwäche die leise nervöse Kachexie nicht, welche den Gesundheitszustand
dieser „organisch Belasteten" zu einem labilen, der strengsten Ueber-
wachung bedürftigen, ausprägt. Pubertät, Menstruationsbeginn, Gravidität,
Puerperium bilden ebenso zahlreiche als meist unvermeidliche Strandungs-
klippen für diese durch Heredität „Invaliden", deren Zahl, wenn erst
eine exaete Statistik möglich, den weitaus grössten Theil unseres psy-
chiatrischen Gebietes uv spannen dürfte, und deren psychische Charak-
teristik theilweise die Sirnatur unserer Jetztzeit ausmacht. — Unter
„übertragener erblicher Krankheit" verstehen wir eine durch
Erblichkeit ab ovo anomale oder defecte psychisch-nervöse Constitution,
deren Mangel entweder nur ein physiologischer ist (Disharmonie im
Zusammenwirken, krankhafte Reizbarkeit der einen, neben Schwäche der
anderen Geistesfunctionen , verzögerte Entwicklung); oder welche noch
ausserdem eine anatomische (morphologische) Missbildung (vor Allem in
Kopf- resp. Gehirnentwicklung) aufweist. Man denke hier an den nament-
lich von Rokitansky, Brehmer, Beneke beschriebenen „phthisischen
Habitus", an die angeborenen Hypotrophieen des Herzens und der grossen
Gefässe bei diesem und bei constitutionellen Anämieen (Virchow) u.s. w. —
Verhältnisse, welche gewiss auch bei der Disposition zu anomaler Hirnernäh-
rung eine grosse Rolle spielen, und in dieser Bedeutung schon durch die
erfahrungsgemässe Abwechslung von Phthisis, Geistesstörung, Epilepsie
u. 8. w. in der Descendenz zur Anerkennung gebracht sind. Während
somit bei der einfachen Prädisposition nur das functionelle geistige Gleich-
gewicht labiler d. h. zu Störungen geneigter ist, wobei aber in der Regel
noch eine accidentelle Schädlichkeit dazu treten muss — liegt bei der
Übertragenen erblichen Krankheit die später manifeste Geistesstörung schon
im Wurfe, und vollzieht sich progressiv und in einfach naturgemäßer Ent-
faltung aus der ersten Anlage. Während ferner dort die Kindheit und
Jugend (leichte Schattirungen abgerechnet) nahezu die des sich entwickeln-
den Normalmenschen sind, so sind hier dagegen beide schon durch eine
Reihe deutlich anomaler psychischer und nervöser Erscheinungen getrübt.
Während endlich dort die späteren Krankheitsbilder im Wesentlichen
dieselben sind, wie die aus nicht-erblicher Anlage, so sind hier die kli-
nischen Symptomencomplexe je charakteristischer auch desto speeifischer,
und zwar sowohl in der psychologischen Gestaltung, als namentlich auch
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430
Das hereditäre Irresein.
im Verlaufe (s. „hereditäre Neurose")« Damit hängt ganz nahe auch die
Thatsache zusammen, dass bei den einfach Prädisponirten das seelische
Gesammtgepräge dasselbe ist, wie bei normaler Anlage ; bei den erblich-
Kranken dagegen ist die psychische Signatur eine durchaus eigenartige:
es sind in ihren Typen ganz eigen begabte, zum Theil neue Menschen-
naturen, und können in dieser ihrer abnormen Mischung und Combination
nur aus ihrer Individualität verstanden werden, so namentlich die sittlich-
defecten Menschen (vgl. Moral Insanity).
4. Jedoch darf die Lehre von der fortschreitenden Entartung keine
8chlechthiuige Allgemeingiltigkeit beanspruchen. Morel noch hatte die
verschiedenen Umbildungen des hereditären Irreseins als eine fortschrei-
tende Entwicklung zu immer schwereren und schliesslich unheilbaren Zu-
ständen gelehrt (von den leichten psychischen Verstimmungen und Tem-
peramentsänderungen, welche noch in die Breite der Gesundheit fallen,
bis herab zur angeborenen Idiotie, innerhalb vier Generationen). Diese
Lehre, so unbestreitbar viel Wahres sie enthält, hat gleichwohl im De-
tail der Kritik nicht Stand zu halten vermocht. An der Hand der Sta-
tistik ist nachgewiesen (Tigges), dass die erbliche Disposition a) eine
ausserordentlich erhöhte Anlage zu Geisteskrankheiten schafft; b) das Er-
kranken in einem früheren Lebensalter verschuldet; und c) nach spä-
terer Erkrankung auch eine grössere Neigung zu Recidiven bewirkt. Da-
gegen lässt sich d) fUr die grosse Mehrzahl der Hereditarier ein besonderes
(gleichsam immanentes) Princip der Entartung, entgegen den nicht -erb-
lichen Fällen, nicht anerkennen; e) auf hereditärem Boden entstehen Gei-
steskrankheiten zwar leichter, sind aber c. p. auch heilbarer; f) die Le-
bensgefahr in Folge der Geisteskrankheit ist eine geringere. Es muss
übrigens zu diesen Sätzen einschränkend bemerkt werden, dass zur Lö-
sung der vorliegenden Frage die Statistik allein nicht maassgebend sein
darf; ein entscheidendes Wort spricht namentlich die Erziehung mit
Als sicher dürfte nach meinen Erfahrungen anzunehmen sein, dass Con-
stitutionen gewordene nervöse oder psychische Anomalieen der Eltern
viel wahrscheinlicher in einer progressiv schlimmeren Form bei den Kin-
dern wiederkehren, als eine einmalige, wenn auch schwerere, psychische
Gehirnaffection bei sonst normalem Geistesleben. So ist es eine wirklich
vielfach beglaubigte Thatsache, dass Bizarrerieen des Charakters oder ein
leichter, aber eingewurzelter Hysterismus der Mutter viel funester be-
züglich der Vererbung wirken, als ein Anfall rüstiger Melancholie oder
Manie. Auch die sittliche Artung der Eltern ist als hochwichtig ein-
zurechnen — hier greift die sociale Ethik entscheidend in die Erblich-
keitslehre herein: — immoralische und speciell verbrecherische Gesinnung
erschwert in verhängnissvollster Weise eine sonst vielleicht nur zur Prä-
disposition reichende Vererbung, und führt progressive Entartung herbei.
Daher d. h. aus dieser zweifachen Befruchtung durch ein psychisches
und ein moralisches Uebel zieht der Alkohol- und Opiummissbrauch seine
verheerende Macht auf die Descendenz. Verbrechen und Wahnsinn, phä-
nomenologisch so nahe verwandt, haben auch ätiologisch theilweise eine
gemeinsame Wurzel ; viele der schwersten Verbrecher besitzen die durch
Geisteskrankheit am meisten belasteten Stammbäume! Ein hochwichtiger,
namentlich forenser, Ausblick knüpft sich an diese Th atsache, welche
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Corollarien aus der „Erblicbkeits"lehre. 431
eine grosse Reihe, und zwar gerade der empörendsten, Verbrechen unter
anthropologischen resp. psychiatrischen Schutz stellt.
5. Diesem dtisteren Bilde der Vererbung steht glücklicherweise die
andere Thatsache gegenüber, dass der erbliche Zusammenbang zwischen
der Erkrankung der Kinder und der Eltern kein bedingungslos not-
wendiger ist. Nicht alle Krankheitskeime aus der Ascendenz kommen
zur Entfaltung; andererseits können neue gesunde Keime eingeführt wer-
den, welche die Wirkung der schlimmen abzuschwächen oder auszuglei-
chen vermögen. Manchmal ist diese Besserung der Hirnanlage nicht so-
fort, sondern erst nach Umzüchtung durch mehrere Generationen zu
erreichen. Der Fortpflanzung der tiefsten Entartungen setzt die Natur
selbst durch Sterilität ein Ziel. Sehr Vieles kann bei ungünstig veran-
lagten Existenzen auch eine verständnissvolle Erziehung (s. o.), welche
ohne Schablone und Pedanterie nicht allein auf Kopf-, sondern auch auf
Herzensbildung abzielt, bewirken — dies ist der Punkt, an welchem die
Pädagogik, richtig aufgefasst und gehandhabt, in ihrer hohen Wich-
tigkeit mit der Erblichkeitslehre zusammenhängt. Sorge vor Ueberbür-
dung im Lernen, richtige Charaktererziehung, rationelle körperliche und
geistige Diätetik vermögen hier ein Grosses in der Remedur! Auch die
strenge Ueberwachung im Heirathen resp. das Abrathen bei Constitu-
tionen neuropathischen, hereditär schwer belasteten, Individuen gehört
hierher.
Nach dem Erblichkeitsgesetz müssen wir die Gleichheit des Partus
mit dem Parens d. h. der Erzeugten mit beiden Eltern als Regel be-
zeichnen. Dieser idealste Ausdruck kommt aber in der Natur nicht vor.
Als die empirisch häufigste Form erscheint vielmehr die Artung des Kin-
des nach einem der Eltern, und zwar in der Weise der gekreuzten
Vererbung; d. h. der Sohn artet mehr auf die Mutter, die Tochter auf
den Vater (Necker — Stael, Agrippina — Nero). Daran schliesst sich die
indirecte Vererbung an: die erbliche Uebertragung erfolgt aus einer der
Seitenlinien auf die Kinder (Cäsar — Octavianus; Gustav Adolph — Karl XII.).
Als dritte Form erscheint die rückfällige Vererbung von den Gross-
eltern auf die Enkel und die Enkelinnen (Atavismus: Philosoph Men-
delssohn — Musiker M.: Zoonom Darwin — Charles Darwin). Das Ri-
eh arz'sche Gesetz der geschlechtlichen Kreuzung der körperlichen und
geistigen Attribute des Zeugenden, wodurch das Geschlecht eine dem
Geschlechte des prädominirenden Parens entgegengesetzte wird, mit der
Folgerung: dass darnach schon die gleichgeschlechtliche Vererbung als
eine Anomalie zu betrachten ist — ist mittlerweile nicht unwidersprochen
geblieben (Roth). Alle unsere äusseren und inneren Eigenschaften sind
vererbbar, sogar manchmal ganz individuelle Eigenschaften (Seidigitismus,
krustenartige Epidermis; oder erworbene, wie Nägelkauen u. s. w.) Da-
bei ist aber festzuhalten, dass nur die Möglichkeit dieser erblichen
Uebertragungen für den Einzelfall feststeht, nicht aber die Notwendig-
keit. Die sehr verwickelten Bedingungen hiefür sind uns grösstentheils
noch unbekannt. Ausser den psychischen spielen auch die terrestrischen
der Bodenbescbaffenheit und des Klimas, und ganz besonders die persön-
lichen (Lebensweise), eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ganz beson-
ders aber kommt
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Das hereditäre Irresein.
6. der Zeugungsact in Betracht. Im Rausch erzengte Kinder
sind erfahrungsgemäS8 nicht selten epileptisch. Wie weise und weitsich-
tig handelte darin die bekannte Vorschrift Lykurg's! Können nicht
ebenso auch gemtithliche Verstimmungen beider Ehegatten, gegenseitige
Abneigung u. s. w. nachtheilig auf die Frucht wirken? Das bekannte
Sprichwort von der Schönheit und geistigen Begabung der „Kinder der
Liebe" hat m. m. eine physiologische Bedeutung. Die Annahme scheint
sicher (wenigstens nach Erfahrungen an Thieren), dass der männliche
Einflu88 während des Begattungsactes auch Uber den letzteren hinaus auf
andere Ovula „impressionirend" wirken kann.
7. Die statistische Häufigkeit der erblichen Uebertragung hat bis
jetzt noch sehr ungleiche Ergebnisse geliefert. Dieselben schwanken von
Vio — 9 io (Moreau). Maudsley hält die Zahl über «/4 und unter »/* für
die nach seioen Beobachtungen zutreffende; ähnlich Brierre. Hoff-
mann (Schwetz) berechnet 55 pCt., Esquiro 122,5 pCt. in der Salpetriere
und 5G,8 in seinem Institut; Hagen 28,9; Tiggos über 40 pCL Bezüg-
lich des Geschlechts überwiegen die Frauen.
II. Klinische allgemein-pathologische Grundlagen.
a. Zwangsvorstellungen und Zwanysacte.
Man versteht unter Zwangs Vorstellungen plötzlich und un-
willkürlich auftretende, den vorhandenen Ablauf durchkreuzende Vor-
stellungen (Worte oder ganze Sätze), welche dem momentanen Bewusst-
seinsinhalt fremd gegenüberstehen, aber um so energischer sich in dem
Blickpunkt der Aufmerksamkeit festhaften, und unerreichbar bleiben
für Kritik und Reflexion, bis sie von selbst wieder untertauchen.
Es lassen sich verschiedene Formen und Genesen dieser Zwangs-
vorstellungen unterscheiden, welche auch eine verschiedene psycho-
logische und klinische Werthung der letztern bedingen, je nach
1. dem Verhalten des Bewusstseins; 2. der Stimmung; 3. dem psy-
chologischen Charakter des Phänomens selbst; 4. dem klinischen
Auftreten, ob isolirt, oder mit Reflexen auf das Gemüths- und Hand-
lungsgebiet; 5. den begleitenden körperlichen (nervösen) Zeichen.
Darnach richtet sich auch das verschiedene Weiter- Schicksal dieser
elementaren Störung, namentlich deren Eintreten in andere Sympto-
mencomplexe, wodurch erst ein eigentliches „Irresein" entsteht (was
die Zwangsvorstellungen an sich noch nicht sind).
Ad 1. Verhalten des Bewusstseins. Man kann für den
reinsten und eigentlichsten Typus der Zwangsvorstellungen als Regel
aufstellen: dass das Bewusstsei n dabei lucid ist. Der Kranke
pereipirt nicht bloss die sein Denken so jäh durchbrechende Störung,
sondern er macht diese eigens zum Object seines logisch klaren
Nachdenkens; er versucht alle Hilfen und Gegenmittel, um des Ein-
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Zwangsvorstellungen. Verhalten des Bewusstseins. Der Stimmuug. 433
dringlings Herr zu werden. Diese Operation setzt voraus, dass der
Kranke den eingedrungenen Gast als einen ihm fremden und lästigen
erkennt — ganz verschieden von der „Wahnvorstellung", mit welcher
gegentheils der Kranke sich identificirt.
Jedoch steht die „Zwangsvorstellung" mit dem „Wahne" nicht noth-
wendig in einem dauernden Gegensatze. Das anfangliehe „Stutzen" des
Bewusstseins kann nach und nach aufhören und der Kranke sich mit
dem Zwangsgedanken versöhnen, ja denselben in seine übrigen Associa-
tionen aufnehmen. Damit fällt die Schranke ; die ursprüngliche Zwangs-
vorstellung ist zum wirklichen Wahn geworden. Aber auch ohne diese
langsam umstimmende und endlich siegreiche Wirkung eines mächtigen
Zwangsgedankens kann das Bewusstsein bei genügender geistiger Impres-
8ionabilität (kritischer Schwäche) frühe schon, und gleichsam freiwillig, dem
insinuirenden neuen Gedanken sich unterordnen, so namentlich in der hy-
sterischen Verrücktheit: liier vermag eine zufällige Wahrnehmung gleich-
gestimmte Reproduktionen zu wecken, welche auf Stunden hinaus den
Bewusstseinskreis ausfüllen und sogar Reflexillusionen bewirken. So kann
z. B. das Bild eines Gestorbenen irradiirend auf alle Todeserlebnisse in
der Erinnerung Übergreifen, so dass alle diese Bilder wach werden und
linge nicht wieder vorschwinden, ja, dass die Kranke an fremdem Orte
und mit voller Kritik stundenlang alle Vorübergehenden auf die Aekn-
lichkeit mit jenen Abgeschiedenen prüfen muss.
Ad 2. Verhalten der Stimmung. Diese ist nach zweifacher
Seite in Erwägung zu ziehen: a) primär — in ihrem Eiufluss auf
die Genese des Zwangsgedankens, und b) secundär — in ihrer Nach-
folge (Reaction) auf die pereipirte Gedankenstörung. Nach der pri-
mären Seite lassen sich emotive und nicht-emotive Zwangs-
vorstellungen unterscheiden. Die „nicht-emotiven" d. h. diejenigen,
welche nicht von einer AfFectgrundlage getragen sind, bilden den
eigentlich echten und speeifischen Typus, wie derselbe namentlich
für die hereditäre Neurose charakteristisch ist. Hier spielt also
primär keine Stimmungsanomalie mit, sondern ganz wie aus heiterm
Himmel bricht die fremde Idee in das ahnungslose Bewusstsein
herein: das Ich muss plötzlich irgend eine ganz Uberraschende, mit
dem übrigen Contexte der Vorstellungen gar nicht zusammenhängende,
vielmehr oft aufs Grellste contrastirende Vorstellung denken (ein
Schimpfwort, eine Blasphemie u. s. w.), oder auch einen Unsinn,
anderemale eine compromittirende Handlung.
Oft sind die Einfälle (wirkliche Gedanken-Tic's) ganz ausserordentlich
harmlos, z. B. Zahlen zwang: gesprochene Worte nach ihren Silben oder
Buchstaben zu zählen; irgend eine angeschaute Zahl auf gewisse Eigen-
schaften (Theilbarkeit) zu prüfen; oder Lese zwang: zufällige Worte,
Strassenuamen, Aushängeschilde u. s. w. immer auch rückwärts zu buch-
stabiren.
Schttle, Qouteskrankheiten. 3. Aufl. 2$
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434
Das hereditäre Irresein.
Die „emotiven" Zwangsgedanken resultiren dagegen immer aus
einem vorbereitenden Status nervosus mit depressiver Grundlage.
Oft sind es geradezu beginnende Melancholiker, welche in ihrer
peinlichen Rathlosigkeit nach einer Ursache ihrer Stimmungsänderung
fahnden: da zuckt die Erinnerung eines grauenvollen Ereignisses auf,
oder die zufällige Erzählung eines solchen — und der erschütternde
Gedanke bleibt, vom depressiven Affect ergriffen, haften. Zwar
stimmt das überraschte Ich nicht sofort zu der schrecklichen Zu-
muthung; es folgen Anfangs noch innerliche Entrüstungsscenen; aber
das Ich muss den aufgezwungenen Gedanken nachdenken, bis dieser
immer mehr zum seinigen gemacht (appercipirt) ist, ein Vorgang,
welcher sich in der Regel durch die Verknüpfung der betreffenden
Schreckvorstellung resp. Erinnerung mit einem neuralgischen Schmerz-
gefühle vollzieht (s. Melancholie). In veränderter Weise kann sich
die Stimmung an der Genese der Zwangsvorstellung auch so be-
theiligen, dass auf der nervösen Grundlage und unter einem mässigen
Affecteindruck zunächst eine Zwangsempfindung sich einschiebt
— gewöhnlich ein neuralgisches Beklemmungs- und Schmerzgefühl,
und erst daraus der Zwangsgedanke explodirt (meist in Form eines
Befehls: „bring dein Kind um" u. s. w.). Auch hier steht das
Bewusstsein dem bestürmenden Schreckgedanken erst fremd und
grauend gegenüber; aber dieser kämpft mit der begleitenden Gefühls-
waffe (der neuralgischen Sensation), und siegt endlich durch diese
mächtige Hilfe, wie sehr auch die abstracte Einsicht und Kritik da-
gegen ankämpfen.
Dieses Verhältniss führt weiter zur b) secundären Betheiligung der
Stimmung, insoferne der Inhalt der Zwangsvorstellungen, oder allein schon
das bedrückende „Muss" des fremden Gedankens auf die Gemüthslage
zurückwirkt; worüber unter 4. das Nähere.
Ad 3. Psychologischer Charakter der Zwangsvorstel-
lung. Dieser liegt allgemein in der Bewerthung der betr. Vor-
stellung, in deren abnorm erleichtertem Aufsteigen Uber die Schwelle,
mit jeweiliger brüsker Hemmung des übrigen Vorstellungslaufs. Im
Einzelnen besteht aber ein wichtiger und folgenreicher Unterschied
unter diesen „agrammatischen" Eindringlingen. Die eine Gruppe
repräsentirt fixe Sätze oder Satztheile (Worte), welche sich ungerufen
und ungewollt eindrängen und unassimilirt bleiben; dieselben können
dabei stereotypen oder wechselnden Inhalt haben. Die andere
dagegen umfasst Vorstellungen oder Apperzeptionen, welche zwar
aufgesogen, aber sofort nachher in einen Wirbel von dadurch ge-
weckten (nähern und fernem Associationen) zerstreut werden.
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Zwangsvorstellungen. Einfache und convulsive (Grübelsucht). 435
Dort besteht das Wesentliche der Störung in dem festen Keil, wel-
cher sich in das Denken einschiebt; hier gegentheils in der Unbestän-
digkeit der neuen Vorstellung, welche sich nicht fixirt, sondern sofort
zerfliesst. Dort ist Hemmung des Vorstellungsflusses durch mechanische
Unterbrechung; hier durch chemische Auflösung des Wortes als des Sam-
melpunktes condensirten Denkens. Vom Standpunkte des Ich betrachtet,
befindet sich dieses bei der ersten Gruppe der Zwangsvorstellungen in
einer Situation von stets neuen Hindernissen oder lixen Barrieren, welche
beliebig in den Vorstellungsgang sich einschieben; bei der zweiten da-
gegen in einem Zustande von Qedankenschwindel durch die sich beständig
erweiternden Associationskreise, in welche die ursprüngliche Vorstellung
vor dem Blickpunkt der Aufmerksamkeit sich auflöst.
Die erste Gruppe umfasst die einfachen Zwangsvorstellungen,
die zweite die Grlibelsucht. Jene stellt eine Anomalie des Vor-
stellens dar, wobei Satzeinschiebsel mit vorwiegend barockem, lächer-
lichem, manchmal aber auch beängstigendem oder kränkendem In-
halt sich eindrängen; es ist eine Art Chorea des Vorstellungslebens.
Diese aber findet ihr Analogon mehr in eine Art von Vertigo mit
intellectueller Convulsibilität (s. v. v.!). Beide Arten können von
emotivem oder nicht- emotivem Charakter resp. Genese sein. Die
nicht-emotive Grübelsucht erscheint klinisch unter dem Bilde des
sog. krankhaften Fragezwangs. Ohne treibende Angst, ohne
jede Affectbewegung wandelt sich für den Kranken eine beliebige
Vorstellung in eine „Schraube ohne Ende" um, so dass sie nach
allen — mit Vorliebe transcendenten — Richtungen in endlose Pro-
bleme sich zersplittert, welche sich alle in Frageform aufdrängen.
Z. B. das Wort: „schön". Wie viele Arten von „schön" gibt es?
Ist naturschön und kunstschön identisch? Gibt es überhaupt objectiv
Schönes, oder ist Alles nur subjectiv schön ? Wodurch unterscheidet sich :
gedankenschön und farbenschön; bücherschön und kleiderschön u. s.w.?
Der betr. Kranke brachte es auf 40 und mehr Arten von „schön". —
Oder: es müssen alle Speisen und Getränke unter die Kategorieen von
„gut" und „schlecht" untergebracht werden, alle Lebensmittel in „ge-
fälscht" und „echt", alle Lotterieloose in „gewinnungsfähige" und „un-
sichere" eingetheilt werden.
Die emotive Grübelsucht ergeht sich in der Aufstellung von
allen möglichen und unmöglichen Consequenzen , welche aus einer
zufälligen Beobachtung sich extrahiren lassen, immer mit den pein-
lich gefühlten Folgen „wenn es wirklich so oder anders wäre".
Z. B. eine Farbe erregt sofort den Gedanken an deren chemische
Zusammensetzung; daraus weiter die Angst, dass Jemand, der jene nicht
kenne, unter der möglichen Wirkung der Farbe Schaden nehme, ja, dass
Der oder Jeuer bereits diesen Schaden genommen hätte; bald erscheinen
wirklich in den Gesichtszügen der Betheiligten deutliche Vergiftungs-
2S*
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43G
Das hereditäre Irresein.
Symptome, an den eigenen Händen Spuren des Giftes, ja, da und dort schon
Zeichen von weiterer Uebertragung durch fahrlässige Berührung u. s. w.
Manchmal kann das Gefühl einer plötzlichen und primären
Hemmung im Vorstellungsablauf und die Reflexion dar-
über eine Störung erzeugen, welche alle Merkmale der Zwangs-
vorstellung besitzt, wie diese brüsk das Denken unterbricht, unge-
wollt und fremd und überaus peinlich dem Bewusstsein sich entgegen-
stellt, und dabei in ihrem subjectiven Charakter für das Ich erhalten
— bewusst — bleibt. Diese bei Neuropathikern nicht so seltenen
Zustände sind um so interessanter, als sie die Mitte zwischen Zwangs-
vorstellung und allegorisirter Empfindung (wie in der Melancholie)
einhalten.
Mitten in den geregelten Vorstellungsablauf schieben sich unter dem
Gefühl gewaltsamer Hemmung plötzlich Bruchstücke und Gruppen von
Gedanken ein, welche die Reflexion über das momentane psychische Ge-
schehen, Uber die augenblicklich jetzt thätigen Seelenfunctionen zum In-
halt haben. Mit unwiderstehlich hastigem Drange muss der Kranke dem
krankhaften Zuge seiner Gedanken folgen, die sich mit unaufhaltsam ge-
steigerter Schnelligkeit abwickeln, bis sie in ein verworrenes Chaos ver-
dämmern. Die zunehmend sich verwirrenden Vorstellungsbilder ballen
sich im geistigen Sehfeld zu „dunkeln Wolken" zusammen, welche sich
immer näher rücken, bis die erleuchteten Kreise auf einem immer klei-
neren Punkte zusammengedrängt werden, welcher endlich, auch von den
„Wolken" erdrückt, die vollständige Hemmung des Denkactes beschüesst.
Dieses ganzen Vorganges bleibt der Kranke sich während des Geschehens
bewusst, kann denselben aber in keiner Weise hemmen oder modificiren.
Leichtere Vorstellungsleistungen, z. B. gewöhnliche Conversation , sind
neben und trotz jenes Gebundenseins möglich; nur die höhere intellec-
tuelle Thätigkeit ist die gehemmte. Das Ueberspringen des normalen
Ideenganges auf die verderblichen Geleise geschieht zufallig und unwill-
kürlich, meist auf dem Wege einer flüchtigen Ideenassociation. Oft sind
gewisse Tagesstunden besonders begünstigend. Manchmal schleichen sich
die Hemmungen sogar in das Traumleben ein. Alle Anstrengungen mit
der Energie der Bewusstheit jene lästigen Wolken zu zerstreuen und
das geistige Gesichtsfeld aufzuhellen, sind vergeblich, und beschleunigen
höchstens den hastigen Ablauf und die darauf folgende hemmende Span-
nung und Unruhe. Der Kranke muss warten, bis sich die Hemmungen
wieder von selbst lösen, bis der Anfall vorUber ist. Sehr oft sind es
Zufälligkeiten (Besuch, Spazierengehen), welche den Anfall rasch been-
digen. Die Analogie der Paroxysmen mit Tic's von wirklichen Zwangs-
vorstellungen liegt nahe, nicht minder aber auch die Annäherung an die
Hallucinationen, obwohl auch gegenüber diesen wesentliche Unterschiede
bestehen bleiben. Am besten noch könnte man den Vorgang vielleicht
als „sensorische Zwangsempfindung" bezeichnen.
Zu den sensorischen Zwangsempfindungen gehören auch jene Fälle,
wo der Kranke sich zeitweise „wie von einem Wirbelwind erfasst durch
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Sensorische Zwangsempfindungen. Emotive u. nicht-emotive Zwangsvorstllg. 437
die Luft tragen fühlt". Diese Anomalieen nahern eich noch entschie-
dener, als die vorigen, den Hallucinationen (des Muskelsinnes), während da-
gegen jene transformirten Zwangswahrnehmungen, wobei ein Kranker jeden
Morgen sein ruhig schlafendes Kind „mit einer klaffenden Halswunde im
Blute daliegen sehen muss", die Uebergänge zu den Illusionen in ge-
wissen melancholischen oder acuten Wahnsinnszu standen bilden. In mehr
harmloser Weise kehrt derselbe Zustand in Zwangstäuscbungen des Per-
ceptionsgebietes wieder, wornach einer Kranken jeder in ihre Theater-
loge eintretende Herr „als mit unter dem Arme hervorgestrecktem Kopf
erschien. So sind alle Uebergänge und Zusammenhänge gegeben.
Speciell an die schon früher (8. Wahnsinn) erwähnten Doppelempfin-
dungen des Ich (die Doppelgängerei) reiht sich ein analoger Vorgang im
äusseren Wahrnehmungsgebiet an. Derselbe besteht darin, dass bekannte
Persönlichkeiten als „zwei" oder „drei" percipirt werden, von denen die
eine als die richtige d. h. mit dem früheren Erinnerungsbilde stimmende,
die andere aber als eine nur ähnliche Erscheinung erfasst wird. Diese
sensorische Illusion führt weiter zur Zwangsvorstellung der „Doppel-
gängerei der Umgebung", und kann im beginnenden Wahnsinn zur Grund-
lage für eine hypothetische Verwechslung „Vertauschung", „verbreche-
rische Unterschiebung" der eigenen und fremder Personen werden.
Ad 4. Klinisches Verhalten der Zwangsvorstellungen
bezüglich ihres a) isolirten Auftretens, oder b) ihrer Verbindung mit
Reflexen auf die Gemüths- und Handlungs-Sphäre.
Beides kommt vor. Für die nicht- emotiven (theoretischen)
Zwangsvorstellungen ist das isolirte Auftreten Regel. Als solche
zeigen sie sich bei neurotisch (hereditär) Disponirten, manchmal schon
im zarten Kindesaltcr, und zwar sowohl in einfacher als in vertigi-
nöser Form. Eine sehr gefährdete spätere Zeit ist die Pubertät;
sodann weiter das Puerperium, das Climacterium; ferner nach
gehäuften Pollutionen (Onanie). Auch in sehr vielen, auf invalider
Nervengrundlage entstehenden Psychosen, namentlich hysterischen
oder gewissen melancholischen, können vorübergehend Zwangsvor-
stellungen isolirt auftreten; entwickeln sie sich, wie nicht so selten,
weiter zu momentaner Ueberherrschuog des Bewusstseins und einem
zwangsmässigen reactiven Handeln, so entstehen die acuten Wahn-
sinnskrisen, die Anfälle von sog. abortiver Verrücktheit. Manchmal
kommen sie episodisch vor (Wochen und Monate), und brechen oft
plötzlich ab „wie mit einem Knack"; andere Male dauern sie durch
viele Jahre, ja selbst durch das ganze Leben. Oft schliessen sich
bei langem Bestand noch weitere psychopathische Symptome an,
so dass dann ein wirkliches Irresein nachfolgt, in welchem
die Zwangsgedanken, und zwar in vertiginöser Form, die Hauptrolle
spielen (s. Maladie du doute).
Noch häufiger als isolirt kommt das in Rede stehende psycbo-
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438
l>as hereditäre Irresein.
pathiscbe Symptom mit combinirten Reflexen auf die emotive und
motorische Seelensphäre vor. Eines der häufigsten Begleitsymptome
ist die Angst. Eine krankhafte Aengstlichkeit geht Uberhaupt dem
periodischen Eintritt der Anfälle voraus. Die Kranken fühlen sich
müde und unschlüssig, schwankend und rathlos oft für die einfach-
sten Dinge. Sie kommen aus der Furcht nicht heraus; die Angst
lässt keinen festen Gedanken, noch weniger eine Entsch Hessling
reifen — so verfallen die Kranken in immer complicirtere Selbst-
hilfen, aber ohne die gehoffte Beruhigung, weil trotzdem der Ge-
danke in seiner unruhigen Oscillation bleibt, immer neue Irradiationen
wirft.
So führt beispielsweise die Furcht der Mutter, dass ihre Kinder sich
erkälten könnten, zum übermässigen Besetzen der Kleider mit Knöpfen,
endlich zum Zustopfen jeder noch übrigen Oeffnung mittelst Sicherheits-
nadeln; nun aber kommt der Angstgedanke, ob die so Geschützten nicht
zu warm hätten? ob sie sich nicht verweichlichten? Mit jedem neuen
Zweifel wird die Unruhe vermehrt, mit jeder neuen Anstrengung die end-
lose Schraube weiter getrieben. Besonders verwirrend und beängstigend
wirkt der Anblick — Manchen schon nur der Gedanke — au Glasscher-
ben, Nähnadeln, oder gar Zündhölzchen, deren Beseitigung oft bis zu den
feinsten Stäubchen des Zimmerbodens eine tägliche Sisyphusarbeit bildet.
Die Kranken müssen beständig prüfen und verificiren, um wenigstens
auf Augenblicke ihre treibende innere Unruhe zu beschwichtigen. Aber
es wiederholt sich nur der Kampf mit dem Kiesen Antäus, welcher
durch Berührung mit der Krde immer neue Kraft gewinnt. So ist es
auch mit dem Sich-Aussprechen und Klagen, womit der Kranke seinem
gepressten Herzen Luft zu machen sucht: spricht er darüber, so verliert
er sich ins Endlose; schweigt er, so wächst die Beklemmung; vor dem
„Scbweig"zwang, wie vor dem „Sprech"zwang — wie er seine Lage
selbst bezeichnet — schwindelt es ihn.
Diese täglich und stündlich wiederholte Pein führt bald zu
einer Angst in zweiter Potenz: der Kranke empfindet, wie er sagt,
schon „die Angst vor der Angst", und sucht dem Gespenst bald
durch alle Gegenmittel (mechanisch und intellectuell ausgeprobte)
aus dem Wege zu gehen. Hat auch nur die leiseste Regung be-
gonnen, so zieht es ihn rettungslos in den Abgrund der Krise hinab.
Diese besteht in dem vorübergehenden Verschwimmen der Gedanken,
in einer Ueberfluthung durch die möglichen und unmöglichen Con-
sequenzen der Angst Vorstellung, mit dem unendlichen Wehegefühl
eines zur vollen Passivität verdammten Bewusstseins.
Dieser „Krampf'' wird in der Kegel mit einer Steigerung aller seu-
sibeln und vasomotorischen Hegleitsymptome der Zwangsvorstellung, na-
mentlich mit vermehrter Herzthätigkeit, Kopf- und Präcordialdruck be-
gleitet. Derselbe dauert bis zu mehreren Stunden, lässt nach und beginnt
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Zwangsvorstellungen. Die „Krisen". — Zwangshandlungen. 439
wieder. Nicht selten löst er sich rascher durch reflexmotorische Ent-
äusserung (Hin- und Herrennen, Gesticuliren , Grimassenschneiden , auto-
matische Geberden und Acte aller Art). Bei intercurrenten Erregungs-
zuständen kann auch ein reactives Wohlgefühl vorübergehend auftreten,
so dass der Kranke mit einer Art gehobener Befriedigung auf seine
Zwangslcistungen, als auf eine verdienstvolle Arbeit, schaut.
Damit betreten wir das Gebiet der Zwangshandlungen.
In der Mehrzahl der Fälle sind diese die psychologische Folge der
Zwangsvorstellungen, und bezeichnen deren gesetzmässige Weiter-
entwickelung. Dahin gehört das Verrammeln der Fenster mit Stricken
bei der Zwangsvorstellung des Hinausstlirzens ; das Verbannen aller
Messer und Scheeren bei dem Zwangsgedanken der möglichen Ver-
wundung durch dieselben; dahin auch die Vermeidung gewisser
Berührungen (namentlich Metall, Thürklinken) aus Furcht vor Grün-
span; dahin endlich das endlose Waschen der Hände oder der
Essgegenstände bei der Zwangsvorstellung anklebenden Schmutzes,
des Berührtseins durch Mäuse etc.; schliesslich die vielfachen Zwangs-
bewegungen beim Sitzen, das automatische Schütteln der Kleider
hei sexuellen Empfindungen, besonders bei der Angst sich onani-
stischen Frictionen auszusetzen.
Etwas modificirt gehört dahin auch die Zwangsentwendung von weib-
licher Toilette (Schürze , Schuhe u. 8. w.), um in deren Anblick sich
sexuell zu begeistern und onauistisch zu reizen (Jastr o witz).
Aber die Zwangshandlung ist nicht immer und nothwendig nur
die Folge einer klar bewussten Zwangsvorstellung, so wenig als
jede Zwangsvorstellung zu einem motorischen Handlungsreflex sich
umsetzen muss.
So ist es bemerkenswerth, dass manche Zwangsvorstellungen statt
des überstürzten Umschlags in eine Zwangshandlung eher eine verstärkte
motorische Hemmung, eine Art Krampf, erzeugen. Dahin gehört das
linkische und läppische, oft geradezu impotente, Verhalten nervös reiz-
barer Menschen in Situationen von Verlegenheit. Bei Andern sind es ge-
wisse Idiosynkrasieen, welche ihnen selbst unerklärlich bleiben (z. B. der
Anblick gläserner Trinkgefässe auf dem Tische), und sie im Moment der
intendirten Action (z. B. beim Einscheuken u. s. w.j förmlich ataktisch
machen, oder ganz lähmen.
Stets wird als Mittelglied zwischen Zwangsgedanke und Hand-
lung, als physio-psychologische Bedingung des Ueberganges beider,
die treibende resp. auslösende Kraft von Sensibilitäts Störungen
d. h. ZwangsgefUhleu einzuschalten sein. Für die emotiven Zwangs-
gedanken ist diese Bedingung mitgegeben. Aber auch den nicht-
emotiven kann sie sich zugesellen, sowie jene reactiv d. h. dem Ich
lästig und peinlich werden (s. ad 5). Manchmal stehen bestimmte
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440
Das hereditäre Irresein
Zwangshandlungen in einer nähern Beziehung zu speciellen Zwangs-
empfindungen, als deren befreiende Reflexe. Barocke, ja rätsel-
hafte motorische Aeusserungen vieler Kranker erhalten dadurch
physiologischen Zusammenhang.
So ist nicht so selten mit dem höchsten intellectuellen Hemmungs-
gefühl ein Schmerz im Hinterkopfe vorhanden, welchem der Kranke dnreb
Rückwärtsbeugungen des Kopfes, durch Kratzen und Streichen Linderung
verschallt. Anderemale gelingt ihm dasselbe Experiment durch eine be-
stimmte z. B. forcirt aufrechte Haltung, oder durch rasches pendelartigea
Gehen, wahrend andere Rumpf- oder Extremitätenbewegungen, z. B. rasche
Wendungen, oder aber Vorwärtsbeugen des Kopfes die Zwangsempfin-
dung nicht heben, sondern gegentheils verstärken. Auf vergeistigterem
Gebiete versieht oft bei sensuellen Hyperästhesieen (belästigende Sinnes-
eindrücke aus der Umgebung) ein Wechsel in der Zimmereinrichtung, na-
mentlich in der Stellung der Möbel, oder auch eine alle Mode absichtlich
verhöhnende Kleidung denselben Act der Selbsthilfe. Manchmal muss
(bei Feingebildeten!) auch ein derbes Schimpfwort oder ein gut gemeinter
Rippenstoss an Jemanden aus der Umgebung herhalten, um dem peinli-
chen innern Schwanken und Grübeln reflectorisch Entlastung zu bringen.
Man beachte aber auch, dass in demselben logischen Zusammenhang ein
ernstes Tentamen suicidii, nicht selten mit Erfolg, als Befreier von der
übermenschlichen Pein solcher Zwangsgedanken, ungeahnt sich einstellen
kannl
Soweit sind die Zwangsacte correcte Folgewirkungen kranker
intellectueller Vordersätze, mag die Form derselben auch noch so
original, ja bizarr sein. Es gibt nun bei Neuropathikern noch eine
Gruppe von Handlungen, welche ganz das Gepräge von gewollten
haben, aber, so weit wir es übersehen, vollständig unwillkürlich
sind. Der Kranke weiss keinen Grund dafür; er muss sie eben
thun, selbst gegen seine eigene Ueberzeugung, und wenn er allen
Inconsequenzen sich aussetzte. Dabin gehören zunächst gewisse
harmlose Schrullen: allerlei Papierschnitzel, Ohrenschmalz, ab-
geschnittene Fingernägel sorgsam aufzubewahren; ja, es werden
Fälle erlebt, in welchen Kranke ihre Excremente iu gleicher
Weise conservativ behandeln, selbst todte Thiere wochenlang auf
ihrem Leibe herumtragen, ganz unempfindlich gegen den Verwesungs-
geruch. Aber auch der sog. instinetive Selbstmord gehört
hierher, welche nicht selten mehrere Glieder derselben Familie ohne
jeden zureichenden Grund hinwegrafft, merkwürdigerweise oft in
demselben Lebensjahre (wie ich in einem Fall beobachtete, sogar
zu derselben Jahreszeit, bei drei Söhnen). Die erstgenannten, mehr
harmlosen oder unästhetischen, Zwangsacte kommen oft nur tempo-
rär resp. periodisch vor, und verschwinden wie sie eingetreten
waren. Dahin gehört auch die periodisch auftretende „Such-Manie",
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Zwaugshandlungeo. „Impulsive" Acte. Psycholog. Mechanismus. 441
wobei die Kranken zeitweise plötzlich das ganze Haus bis zur letz-
ten Schublade durchstöbern, neu ordnen und ebenso oft wieder um-
ändern; sodann die „Wasch-Manie", mit dem Drange eines endlösen
Waschens und Putzens (merkwürdigerweise oft abwechselnd mit
Idiosynkrasie gegen Reinlichkeit). Auch der zeitweilige Aneignungs-
trieb einzelner Neuropathiker , welcher namentlich auf Cigarren-
Requisiten, Federmesser u. s. w. gerichtet ist, dürfte hier einzureihen
sein. Gemeinsam allen diesen „Drängen" ist das gebieterische
Mus8, ohne und selbst gegen die bessere Einsicht des luciden Be-
wusstseins, oft bei hochentwickelter Geistesbildung.
An diese eben besprochenen Zwangsacte, und speciell. an den
„instinctiven Selbstmordtrieb" reihen sich nun noch mehrere gleich-
geartete Handlungsäusserungen, welche als impulsive zusammen-
gefasst werden.
Die psychologische Analyse derselben hat von dem normalen Mecha-
nismus der „Tbat" auszugehen, dessen Grundzüge sind: Kampf der ver-
schiedenen Motive (Vorstellungen), je nach ihrer Qualität und Quantität
(d. h. ihrem intellectuellen und Gemüthswerthe); schliessliches üeberge-
wicht der stärksten Vorstellung durch das endgiltige Ueberwiegen ihres
treibenden Gefühlstons; Reflex von diesem aus auf die combinirten Be-
wegungsbilder. Je nach Art und Ort des störenden Eingriffs treten ver-
schiedene Bedingungen für eine krankhafte Handlung ein: I. es können
die in abwägenden Kampf tretenden Vorstellungen eine abnorme Beweg-
lichkeit haben, d. b. der intellectuelle Factor des Handlungsvorganges zu
schnell oder zu langsam ablaufen; oder aber 2. es ist das treibende Ge-
fühl, die Gefühl8betonung (physiologisch: die Function der mitschwingen-
den sensibeln Nervenbahn) krankhaft abnorm, wobei wiederum in der
Erfahrung zwei Möglichkeiten gegeben sind: es findet a) eine quantitativ
Ubermassige Innervirung statt, welche stürmisch zum Handlungsretlex treibt,
ohne die vollständige intellectuelle Zwischenkette aufzurufen; oder aber
b) eine krankhaft geänderte resp. defecte Gefüblsbetonung, in der Weise,
dass die selbstsüchtigen Tendenzen gegenüber den altruistischen Gefühlen
abnorm reizbar, und, wenn aufgerufen, überwiegend stark sind; oder aber:
dass die letztern mehr weniger fehlen, resp. in ihrer Innervation wirkungs-
los bleiben (s. Moral Insanity). Die äussere Form der Handlung kann
darnach bald mehr dem Typus der „gewollten" Acte, bald mehr dem
Reflextypus der Affectentäusserung entsprechen. Ebenso verschieden ist
der Zustand des Bewusstseins, welcher in den weiten Grenzen zwischen
Lucidität und plötzlicher, mehr weniger vollständiger, Trübung bis herab
zu deliranter Verdunkelung schwanken kann. — Nicht minder differirt die
Erinnerung an die vollbrachte Tiiat. Bald vollständig vorhanden, ist sie
in andern Fällen nur dämmernd; oft fehlt sie sogar ganz (ohne dass
aber daraus schlechthin der bestimmte Rückschluss auf Fehlen des Be-
wusstseins vor und während der That abgeleitet werden dürfte; letztere
kann nachträglich erst vergessen worden sein!). Sehen wir von den
Moral-Insanity-Acteu des sittlichen Idioten ab, so handelt es sich bei den
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442
Das hereditäre Irresein.
sog. impulsiven Thaten des Hereditariers im Wesentlichen um krankhaft
überstürzte Handlungen. Diese geschehen a) aus plötzlicher neural-
gischer Beklemmung (oft mit hallucinatorischer Begleitung); oder b) als
Zwangsacte aus jener unerklärlichen „convulsiven" GemUthsdisposition,
welche nach Art des Kitzels die Lust am Schaurigen, Gefürchteten er-
regt, und mit der Contrastwirkung der wachsenden Pein, wovon nicht
loszukommen ist, sich bis zur Höhe eines unbemessenen Handlungsreflexes
steigert; oder aber c) aus einem peinlichen Vorstellungsschwindel mit
Angst, welcher, die Reflexion überspringend, zur Entäusserung drängt.
Gewisse impulsive Dränge, wie der Stehltrieb, sind wohl auf directe or-
ganische Motive aus der psychischen Cerebralaffection zurückzuführen, in
deren Natur wir noch nicht eindringen können. Interessant ist für dieses
Hereinragen des pathologischen Hirnlebens im Allgemeinen — direct ia
die Formgestaltung der impulsiven Handlung — die Beobachtung
Morel' s : dass der Epileptiker anders mordet als der Hypochonder, und
dieser anders als der Alkoholist und der Paralytiker (s. u.).
Sofern das Bewusstsein bei der impulsiven Handlung erhalten ge-
blieben, verhält sich die letztere wie eine Zwangsvorstellung (nur hier
im psychomotorischen Gebiet), mit allen diese charakterisirenden Eigen-
schaften. Sie entsteht plötzlich, bricht — in der Regel ausser allem
logischen resp. „gewollten" Zusammenhang — mit ihrem Bewegungsbild
in das Bewusstsein ein, welches mit seinem übrigen Inhalt ihr fremd ge-
genüber steht; drängt langsamer oder rascher sich empor, bis sie durch
die begleitenden, in Folge des ungehemmten Steigens anschwellenden
Innervationsgefühie ihre gewaltsame Entäusserung findet — über den
„Kopf" des Kranken hinweg. Nicht selten empfindet das Bewusstsein
dabei nur den dunkeln, unwiderstehlichen Drang „pousse malgrö lui";
anderemale gehen sensorielle Reizungen (Licht- oder Feuersignale, impe-
rative Halluciuationen) mit einher.
Die praktisch und namentlich auch forens in Betracht kommenden
impulsiven Acte sind: der Stehltrieb, der Brandstiftungstrieb, der Mord-
und Selbstmordtrieb und die (periodische) Trunksucht. Sie alle haben
das Gemeinsame, dass sie auf neuropathischer Grundlage beruhen, welche
eine angeborene (hereditäre Neurose), oder erworbene (constitutionelle
Neurosen: Hysterie, Epilepsie, Hypochondrie, Kopfverletzungen, schwere
organische Hirnleiden, Paralyse, postapoplekti.sche Atrophie, Alkoholismus)
sein kann. Das Auftreten der Zwangshandlung geschieht paroxysmell,
wobei dieselbe sich entweder an einen Angstanfall , oder einen Insnlt
(Epilepsie) oder an einen Excess (Rausch) anschliessen, oder endlich peri-
odisch auftreten kann (Dipsomanie).
Nur in diesem Sinne d. h. unter Miteinbeziehung eines weitern
(d. h. allgemeinen) psychischen Hirnleidens, als Grundlage, kann man
von einem „impulsiven Irresein" reden. Auch noch in andern Psycho-
pathieen, als den oben genannten, kommen impulsive Acte vorübergehend
vor (menstruales Irresein); niemals aber als i so Ii rte Symptome auf dem
Boden einer sonstigen Geistesgesundheit. Dass man deshalb von einer
Mordmonomanie, einer Pyromanie u. 6. w. als einer partiellen und nur
auf diese eine impulsive Richtung beschränkten Störung nicht reden kann,
darf heute als ausgemacht gelten. Vielmehr wird in jedem „mononia*
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Die „Monomanioen"-Frage. — Stebl-, Brandstiftungs-, Mordtrieb. 443
nen" Acte ausser dem krankhaften Triebe auch noch die weitere cere-
bropathische Grundlage (in einer der bezeichneten pathologischen Rich-
tungen) aufzufinden sein, und sie muss im gegebenen Falle sich finden,
wenn anders die krankhafte Natur der incriminirten Handlung erwie-
sen werden soll. — Wenn aber damit auch praktisch die frühere Mo-
nomanielehre als erledigt zu betrachten ist, so ist doch die Frage nach
deren theoretischer Berechtigung noch nicht zugleich auch mit ent-
schieden, freilich in einem wesentlich andern Sinne. Es bleibt nämlich
immer noch das Problem: warum diese Hirnaffection unter den möglichen
Zwangsentäusserungen gerade die eine, und immer wiederkehrende, Form
wählt; warum z. B. der Stehltrieb so speci fisch mit epileptischen (para-
lytischen) Zuständen; der Drang zur Brandstiftung so Uberaus häufig mit
alkoholistischen Excessen; der ,, Mordtrieb" mit dem durch Onanie com-
plicirten Hirnleiden sich verbindet? Hier scheinen doch gewisse „cere-
brale Idiosynkrasieen" — im psychologischen Terminus: „specifische Mono-
manieen" — mit im Spiele zu sein.
a) Der „Stehltrieb" tritt namentlich in verschiedenen Episoden
der epileptischen Neurose auf, sehr oft als Vorläufer von epileptischen
Erregungszuständen oder eines Krampfinsults. Charakteristisch ist das
Triebartige seiner Entäusserung : 1. der Kranke macht die denkbar ver-
wegensten Einbruchsversuche, er taucht rastlos in den verschiedensten
Localitäten und Ortschaften auf, ohne Rücksicht auf das Entdecktwerden ;
und 2. er stiehlt ziel- und planlos, ohne Wahl, das Nächste Beste, nicht
selten Zweckloseste, was er gar nicht brauchen kann, ja, was ihn an
seinem Entkommen hindert, so dass er nicht selten dadurch sich selbst
fängt. Er stiehlt, „weil er stehlen muss". Nicht selten wird auch das
Gestohlene sofort wieder weggeworfen, verschenkt, oder zerstört. Der
moralische Idiot stiehlt dagegen aus „convulsiver" Ueberwältigung neben
Mangel an sittlichen Pflichtbegriffen, so wie er etwas Begehrenswerthes
sieht. — Noch sehr der Aufklärung harren jene merkwürdigen Kranken
(8. o.), welche schon das Interesse B ergmann 's, früher dasjenige Galla
aufriefen: wohlhabende, gebildete und gesittete Personen empfinden eine
unwiderstehliche Lust, gewisse Gegenstände (Federmesser, Cigarrenspitzen
u. 8. w.), wo sie deren nur ansichtig werden können, einzustecken und
mitzunehmen. Ist dieses nicht wiederum ein Fall der oben betonten spe-
cifi8chen „Idiosynkrasie" gewisser Gehirnorganisationen?
b) Der Brandstiftungstrieb tritt am häufigsten in manischen
Erregungsphasen des alkoholistischen Gehirns auf, sodann auch bei jugend-
lichen Personen von imbeciller Hirnanlage, vornehmlich in der Pubertät
(bei masturbirenden jungen Neurasthenikern , oder bei jungen Mädchen
zur Menstruationszeit). Die Form seines Auftretens ist entweder ein Zwangs-
gedanke, oder eine imperative Hallucination (elementarer Art: plötzlicher
Flammenschein, oder in Stimmenform: „Leg Feuer an!").
c) Der Mord trieb betrifft 1. gewisse schwere, hereditäre Neuropa-
thieen, namentlich auf hysterischer Basis; 2. erworbene, auf sexueller bezw.
onanistischer Grundlage. Auch diese Form schliesst sich mit Vorliebe an
vorausgegangene Zwangsvorstellungen (der Dolch Macbetb's!) an; andere -
male ist der Drang vermittelt durch kitzelnde Gefühlsperversitäten. Be-
rühmt bleibt nach letzterer Richtung der durch Marc erzählte Fall von
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Das hereditäre Irresein.
dem Dienstmädchen, welches beim jedesmaligen Entkleiden des ihr anver-
trauten Kindes den unwiderstehlichen Antrieb fühlte „ein Stück von des-
sen weissem Fleisch abzuschneiden1'. Maudsley kannte eine 72jährige,
hereditär belastete Dame, welche paroxysmen weise den Drang spürte
ihre zärtlich geliebte Tochter zu erwürgen. Die Intervalle waren durch
reactive verzweiflungsvolle Depression Uber diesen, von der Kranken tief
verabscheuten, zeitweiligen Zwang ausgefüllt. — In manchen Fällen von
melancholischer Verstimmung auf neurasthenischer (spinalirritativer) Grund-
lage gibt eine periodisch sich verschlimmernde Neuralgie die Auslösung
zu dem homiciden Impulse ab, unter gleichzeitiger Bewusstseinshemmung,
welche bis zur Bewusstlosigkeit sich steigern kann — Raptus neuralgi-
cus. Allermeist steht übrigens der „Mordtrieb" auf wahnhafter Basis,
besonders auf persecutorischem und religiösem Wahnsinn, und auch hier
sind die Onanisten am gemeingefährlichsten. — Der impulsive Selbst-
mordtrieb tritt besonders in der Melancholie und dem Verfolgungswahn-
sinn (auf hereditärer oder Constitutionen neuropathischer Grundlage), und
im menstrualen Irresein in die Erscheinung. Er bezieht seine Waffen aus
dem ganzen „Arsenal des Todes", ohne Wahl, ohne Ueberlegung. Nicht
selten behält der Kranke keine oder nur eine summarische Erinnerung
an den gemachten Versuch; anderemale ist er vor und nachher anschei-
nend ganz harmlos; in wieder andern Fällen bricht die That aus einem
stupid unheimlichen Brüten heraus, welches ein kenntliches Memento auf
die Stirn des Kranken legt, unerreichbar für allen Zuspruch, für Bitten,
für versuchte geistige Ablenkung. Sowie sich der Kranke unbewacht
glaubt, wird er sofort unruhig, die Augen sprühen, er sucht mit explo-
siver Wildheit zu entspringen, um seinen Drang zu erfüllen. Dies kann
sehr oft conspectu omnium geschehen, wobei der Kranke, wenn er noch
im Momente der Ausführung ergriffen wird, mit den convulsiven Abwehr-
bewegungen eines Rasenden reagirt. Viele beissen sich in die Schlag-
adern des Vorderarms (sogar mit Ausreissen des Fleisches}, Andere suchen
sich an jedem Nagel aufzuhängen, sich in gefüllte Badwannen zu werfen,
aus dem Fenster zu stürzen, den Kopf zu zerschellen, sie beissen Stücke
aus Gläsern und Tellern, um sich zu verschlucken, verschlingen Steine,
Nadeln, Nägel, Schlüssel, Leinwandfetzen, suchen sich in das Ofeufeuer
zu stürzen, werfen sich plötzlich unter vorübergehende Wagen (Eisen-
bahnzüge).
d) Die Dipsomanie vertheilt sich auf eine Reihe von hysterischen,
hypochondrischen, neurasthenischen und periodischen Psychosen. Prädis-
ponirend wirken bei Frauen die Gravidität und das Climacterium. Nach
dieser verschiedenen Grundlage ist auch das zeitliche Auftreten und die
klinische Form des Paroxysmus verschieden. Während auf der Grund-
lage der genannten constitutionellen Neurosen die Anfälle in verschieden
langen Zwischenräumen auftreten, erscheinen sie auf periodischer Grund-
lage mit der Regelmässigkeit dieser Psychopathie. Sehr oft schliessen
sie sich dabei an die Menstrualparoxysmen an (s. o.). Recht häufig bil-
den sie die Einleitung einer nachfolgenden (periodischen) manischen Phase.
Auf neurasthenischem Boden geben die bis zu einem gewissen Höben-
grade summirten UnbehaglichkeitsgefUhle den Ausschlag zur Entstehung
des Anfalls. Oft leiten auch heftige Neuralgieen (Zahnschmerz) den letz-
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Zwangshandlungen. Dipsomanie. Erotomanie.
445
tern ein. Der Kranke, welcher bis dahin in gewohntem Tageslauf, mit-
unter ganz abstinent, ja sogar mit entschlossener Abneigung gegen Spi-
rituosen gelebt, fällt plötzlich in einen psychischen oder nervösen Erre-
gungszustand. Er spürt eine ängstliche Unruhe oder Palpitationen, Kopf-
druck, Appetitlosigkeit ; der Schlaf wird schlechter, die Stimmung ängstlich
deprimirt oder ausserordentlich reizbar. Manchmal zeigen sich ausge-
sprochene Symptome einer Sympathicusneurose (Pupillenänderung). Dann
wird zur Flasche gegriffen, und ohne SättigungsgefUhl (oft noch mit ver-
minderter cerebraler Widerstandsfähigkeit gegen die toxische Wirkung)
fortgetrunken bis zur tiefsten Berauschung. Darauf kommt ein oft 1 bis
2tägiger Schlaf, mit nachfolgendem betäubt mürrischem Wesen und den
gastrischen Folgen des stattgehabten Abusus. Psychisch tritt, wenigstens
im Anfang, ein moralischer Katzenjammer ein, mit einschneidender Reue
und aufrichtigem Ekel vor der erniedrigenden Debanche. Im Weitern
führt die Krankheit in die Folgezustände des Alcoholismus chronicus,
namentlich bei Complication mit den acuten Insulten des Delirium tre-
mens; oder aber sie theilt die Weiterschicksale der periodischen Manieen,
deren Theilerscheinung sie bildete. Die Anfangs geistig freien Intervalle
werden oft im Verlauf durch ein eigentümlich scheues, ängstliches Wesen,
mit einem Anflug von Gedrücktheit und ^Selbstständigkeit, ausgefüllt.
(Interessant war mir in einem Falle das regelmässige Eintreten des An-
falls jeweils 4 Wochen bei einem hereditär nicht veranlagten, aber durch
schwere Lebensschicksale zum Trinken getriebenen jungen Manne. Gleich-
zeitig mit dem Auftreten eines vagen Verfolgungswahnes stellten sich,
neben den oben geschilderten nervösen Symptomen, Hämorrhoidalknoten
und Abgang eines froschlaichähnlichen Schleims ein, wobei dem Kranken
der Schweiss oft tropfenweise von der Stirn floss. Mit dem Eintritt der
Aufregung hörte der Schleimfluss auf. Jetzt erfolgte mehrtägiges Saufen
mit zunehmender sinnloser Heftigkeit; dann 4 wöchentliche Euphorie. Ge-
wöhnlich am Sonntag kehrte dann der Turnus wieder.) — Bei gewissen
Moral-Insanity-Zu8tänden kommen auch Trinkexcesse vor, welche aber
nicht periodisch d. h. in Anfällen sich einstellen, sondern nur, wenn der
sittlich haltlose Kranke Gelegenheit zum Trinken bekommt: dann wird
sinnlos fortgetrunken, so lange das Geld oder der Stoff reicht. Letztere
sind die eigentlichen Potatoren, die Gewohnbeitssäufer: gewordene,
oder ab ovo sittliche Schwächlinge, und als solche von den eigent-
lichen Dipsomanen, welche aus organischem Zwange excediren, zu unter-
scheiden.
e) Die Erotomanie — der krankhaft gesteigerte Sexualtrieb — kann
entweder ein (in natürlicher oder masturbatorischer Form) einfach er-
höhter, oder aber ein perverser sein (Violation, Bestialität, Leichenschän-
dung, Sodomie und Päderastie, Amor lesbicus, conträre Sexualempfindung).
Wie die vorgenannten anomalen psychischen Triebrichtuugen . so kann
auch die Erotomanie nur als Theilerscheinung einer bereits bestehenden
oder sich entwickelnden Psychopathie auftreten: so in der Manie, in der
activen Melancholie (hier als unbezwinglicher Masturbationsdrang, Leichen-
schändung), im spinalen Verfolgungswahn , in der Dementia, speciell im
Idiotismus, und in der Paralyse. Aber in gleicher Weise kann der krank-
haft gesteigerte Sexualtrieb auch eine mehr isolirte psychopathische Er-
416
Das hereditäre Irresein.
scheinung bilden, und das Symptom einer angeborenen (oder erworbenen)
sittlich defecten Constitution darstellen, entweder als Nymphomanie, Saty-
riasis, oder in einer der obigen Perversitätsformen. Als solcher kann
derselbe periodisch auftreten (hier sehr häufig prä- oder postmenstraal,
auch postconuptial), oder anhaltend (charakterologisch) in Form eines be-
ständigen sinnlichen Ritzels, welcher sich bald zu einer cynischen Denk-
und Gefühlsrichtung ausgestaltet, bald aber sich in Zwangsgedanken gel-
tend macht, so dass selbst die heiligsten Gedanken sich nur auf der Folie
eines beständig innerlich angeschauten oder gedachten physischen Sexual-
actes abzuzeichnen vermögen. Bei edlern Naturen fuhren diese Zwangs-
gedanken, welche manchmal bis in die Pubertät zurückreichen, sehr oft
zu schweren reactiven Melancholieen. Bei mehr „convulsiver psychischer
Anlage" entstehen daraus gewisse Formen der Maladie du doute. Als
ein besonders sich vordrängender psychopathischer Zug erscheint die Eroto-
manie im hysterischen Charakter, hier manchmal schon bei jungen Mäd-
chen als uncorrigirbare Liebelei, oft mit andringlichem männersUchtigem
Wesen, selbst mit direct schamlosem Verlangen oder Sich-Hingeben. Die
intellectuelle Sphäre kann dabei die Charaktere einer mehr minder aus-
geprägten geistigen Schwäche bieten, welche aber an sich oft wenig
markante Auffälligkeiten zeigt; in andern Fällen — und deren Kennt-
niss ist namentlich social und forens höchst wichtig — ist die Intelli-
genz in Wirklichkeit qualitativ intact, zeigt jedoch, zugleich
mit der Gemüthssphäre, eine charakteristische Steigerung der Erregbar-
keit, zugleich mit einer durch jeden Eindruck ungehemmt bestimmbaren
Schwäche. Es handelt sich m. a. W. um Hysterische oder Here-
ditarier mit reizbarer Moral Insanity. Nicht selten sind locale
Genitalveränderungen nachzuweisen (Ovarial- resp- Hodenaffectionen, Vagi*
nal- oder Pudendalhyperästhesieen , Uteruserosionen). Erworben wer-
den kann die Erotomanie, als Symptom, in spätem neurasthenischen oder
psychopathischen Zuständen durch sexuelle Excesse, verbunden mit einer
sittlichen Erschlaffung in Folge der Orgien einer corrupten Phantasie. Doch
scheinen auch hier angeborene Dispositionen eine Rolle zu spielen. —
Die conträre Sexualempfindung findet unten ihre getrennte Besprechung.
Unter den vertiginösen Zwangsvorstellungen verdient eine besondere
Hervorhebung die bei Neuropathikern immer häufiger aufgefundene „Platz-
angst", die Agoraphobie, d. h. die Zwangsvorstellung einen freien Platz
nicht, oder nicht allein, Uberschreiten zu können, mit einer daran sich
knUpfenden, bis zur „Krise" sich steigernden Angst. Ausser einem „freien
Platze" erwecken auch geräumige Kirchen, oder Säle, anderemale mit
vielen Menschen angefüllte Räumlichkeiten, dieselbe Schwindelvorstellung.
Diese wird in der Regel durch ein im Unterleib beginnendes und nach
dem Kopfe aufsteigendes Wärmegefühl eingeleitet, oft mit intensivem
Herzklopfen, woran sich unter Ausbruch von kaltem Sch weiss ein Seit-
wärtsziehen des Kopfes mit allgemeinem Zittern, ein verwirrendes, endlich
lähmendes Furchtgefühl anschüesst. Manchmal genUgt schon ein plötz-
licher schriller Sinneseindruck, die optische Wahrnehmung einer weiten
Perspective, ja selbst schon der Gedanke an eine solche, zuweileu das
lebhafte Gefühl der Einsamkeit oder das deprimirende plötzlicher Ver-
legenheit zur Erzeugung des „psychischen Schwindels", welcher körper-
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Agoraphobie. Körperl. Begleituymptoine. — Conträre Sexualempfindung. 447
lieh in muskulären Tremor, ja selbst in vollständige Muskelohnmaclit
ausläuft. Interessant ist dabei, dass auch enge Strassen das Angstgefühl
erwecken, sofern plötzlich eine grössere Menge von Passanten auf den
Kranken zukommen. Unter allen Umständen wird der Eintritt desselben
durch sonnige Beleuchtung des Terrains begünstigt; bei Nacht bleibt
es aus. —
Ad 5. Unter die Begleitsymptome der Zwangsvorstellungen gehören
sensible und vasomotorische Störungen, gewöhnlich allgemeinen Charakters,
wie diese den sog. Status nervosus oder auch das klinisch reiche Bild
der Spinalirritation zusammensetzen. Es sind hauptsächlich neuralgische
Symptome (darunter besonders Kopf- und Präcordialdruck) , sodann cir-
culatorische (unregelmässige Herzthätigkeit und Herzklopfen, Dyspnoe),
unangenehme Sensationen in Klicken und Gliedern, vasomotorische Rash's,
oder gegentheils Kältegefühle. Die sexuellen Empfindungen sind manch-
mal gesteigert, in andern Fällen aber Uber die Zeit der Paroxysmen er-
loschen, so dass der Kranke an der Wiederkehr der erstem das Auf-
hören der letztern erkennt. In den Zwischenzeiten treten namentlich die
Zeichen der anämischen Constitution zu Tage, manchmal auch trophische
Störungen (Abmagerung oder gegentheils starker Fettansatz). Grosses
Ermüdungsgefühl mit Appetitlosigkeit und Dyspepsia nervosa bildet sehr
oft die Einleitung, und begleitet auch den Paroxysmus oft auf Monate
hinaus; dazu gesellt sich hartnäckige Schlaflosigkeit. In einem Falle
beobachtete ich, dass heftiges Gähnen in den Exacerbationen der Zwangs-
vorstellungen Erleichterung brachte. Obstipation ist nicht selten. Bei
Frauen wird hin und wieder ein Infarctus uteri mit Geschwürsbildung und
Fluor getroffen, dessen erfolgreiche Behandlung sichtlich günstigen Ein-
fluss auf den Verlauf des Leidens äussern kann. Die Menses bringen in
der Mehrzal der Fälle vorübergehend Verschlimmerung. —
Unter conträrer Sexualempfindung (Westphal) versteht
man eine Anomalie des Geschlechtssinns, welche in der Liebe des Man-
nes zum Manne, resp. des Weibes zum Weibe ihre natürliche und
einzige Befriedigung rindet. Dieselbe kann sich als ideale Schwärmerei,
oder als physische Perversität (obseöne Berührungen , mutuelle Onanie,
seltener Päderastie) entäussern, gewöhnlich als beides. Der geschlecht-
liche Drang ist ein gebieterischer, dem normalen Bedürfniss gegenüber
gesteigerter; er umfasst Sinnen und Denken der leidenden Persönlich-
keit, so dass diese unglücklich ist (oft wirklich melancholisch wird), bis
sie den Gegenstand ihrer Sehnsucht gefunden, oder nach einer Trennung
wiedergefunden. Manche sind von der Anomalie ihrer Eigenart über-
zeugt, können aber dessenungeachtet nicht davon lassen; Andere aber
halten ihren Drang für den „natürlichen", und foltern sich in der Gewis-
senspein ab, sich einer Rechtsordnung gegenüber zu wissen, welche als
sträfliche Unnatur brandmarkt und bestraft, was ihnen unbesiegbarer und
eingeborner Trieb ist, dessen Erfüllung sie ebenso beglückt und kräftigt,
als die Entbehrung sie verzweifeln macht. Gegenüber dem Umgang mit
dem andern Geschlechte sind sie ruhig, eiseskalt; gewöhnlich bringen sie
es nicht einmal zu einem physischen Actus, oder die Erection wird nur
auf dem Umweg vermittelt, dass sie an einen „schönen Mann" d. h. au
den Gegenstand ihrer perversen geschlechtlichen Sehnsucht denken. Die
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US
Das hereditäre Irresein
Ejaculation in diesem Falle bringt aber keine Befriedigung, oder höchstens
eine ungenügende („der Onanie vergleichbare"); während die mannmänn-
liche Umarmung geistig die höchste Wonne, und physisch eine erfrischende
Stärke verleiht. In einem Falle beobachtete ich sogar fehlende Samen-
ergiessung bei Umgang mit Frauen, neben gänzlich fehlender Libido; wäh-
rend dem jungen Mann andrerseits der Qedanke an den „Geliebten" schon
genügte, um eine vollkommen befriedigende Pollution herbeizuführen.
Manchmal steigert sich der „Gedanke" zur Hallucination eines schö-
nen Gesichts, oder auch — in cynisch niedriger Form — der Genitalien,
welche Tage lang sich in den Blickpunkt stellt. Oft weicht der Schlaf,
bis dem gebieterischen Drange durch Onanie genügt ist, wobei sich der
Kranke bald in die Rolle des Mannes, bald in die des Weibes (aber
immer nur in der Phantasie einer gleichgeschlechtlichen Umarmung) ver-
setzt. Bei nicht Wenigen geht so das Geschlechtsleben in Pollutionen
auf, theils freiwilligen, theils unbewussten im Traume (oft mehrere in
der Nacht), wobei regelmässig nur in der wachen Sinnesrichtung geträumt
wird. Die Intelligenz ist nicht selten wohl erhalten, oft sogar fein ent-
wickelt; die Träger dieses anomalen Dranges leben in Amt und Würde,
tüchtig in ihrem Berufe, Manche selbst in (natürlich peinvoller) Vernunft-
Ehe — und daneben in dem unbeschwichtigten abnormen Drange und der
ständigen aufregenden Sorge wegen eines möglichen Conflictes mit dem
Strafgesetze, dessen Bestimmungen sie als unvereinbar mit ihrer Indivi-
dualnatur, und deshalb als hart und ungerecht empfinden. Dieser als
„fürchterlich" geschilderte Kampf zwischen socialer Pflicht, Angst vor
Schande, und andererseits ihrem Verhängniss, führt die Unglücklichen
nicht selten zu Selbstmord. Der psychische Tenor im Benehmen und
Aeussern kann bei dieser Klasse der „Urninge" ein vollständig normaler
sein, so dass dem Uneingeweihten keine Ahnung wird über die innere
tiefe Kluft: der Habitus ist der eines wohlentwickelten Mannes in Stimme
und Haltung, in Kraft des Auftretens, in Haar- und Bartwuchs. Bei An-
dern dagegen verräth der psychische Charakter ein entschieden feminines
Gepräge: schon von Kindheit aufsind Puppen die Lieblingsbeschäftigung;
auch für die Jünglings- und Mannesjahre bleibt eine Vorliebe für weib-
liche Handarbeiten (Sticken, Kochen) und eine entsprechende Interessen-
neigung (Moden, Toilette). Sie haben ein weichlich sentimentales Wesen,
fühlen sich selbst „mehr Weib als Mann", siud fast durchgängig von
einer Ruhrseligkeit, welche durch den leisesten Anlass (Schauspiel ) in
Thränengüsse versetzt wird. Bei einer weiteren Gruppe endlich zeigt
auch der äussere Habitus eine gewisse feminine Signatur: in der For-
mung der Brustbüate, in der Stimme, dem geringen Bartwachsthum, der
stärkeren Entwicklung des monsVeneris; oft geht auch eine entsprechende
Toilette, eine koquette Eitelkeit, eine Vorliebe für Kleiderziererei Hand
in Hand ; in den extremsten Fällen sogar ein künstliches Nachahmen der
Frauenbüste bis zum Tragen weiblicher Kleidung. In diesen höheren
Graden der conträren Sexualempfindung leidet auch die intellectuelle Seite
tiefer mit : es finden sich hier alle Stufen des Schwachsinns, zugleich neben
ausgesprochener Moral Insanity (cynische Geistesrichtung, welche aller
religiösen und sittlichen Ordnung in frivoler Weise den Krieg erklärt,
oft mit der verschrobensten „philosophischen" Motivirung). Eine gewisse
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Conträre Sexualempfindung.
449
Zahl von originär Verrückten verfällt auf diese Specialität. Haben sie
den Gegenstand ihrer „Liebe" gefunden, so leben sie durch freie beider-
seitige Entschliessung (wenn der Geliebte auch den „Vernünftigen", wie
sie sich oft nennen, zugehört) mit diesem in „glücklicher Ehe"; sie schwär-
men und dichten, versinken in Todessehnsucht, wenn das zärtliche Ver-
hältniss gelöst wird, oder gerathen in die furchtbarste Leidenschaft, wenn
sie Grund zur „Eifersucht" wittern. Andere begnügen sich mit einem
käuflichen „Dioning", und fallen, ertappt oder denuncirt, dem Strafgesetze
anheim i§ 175 d. Strafgesetzbuchs). — Körperlich ist ausnahms-
los eine neuro- oder psychopathische Anlage mitbegleitend. Isolirt, bei
sonst vollkommen geistig Gesunden, kommt das erwähnte Phänomen nicht
vor. In der Uberwiegenden Mehrzahl der bis jetzt bekannten Fälle ist
erbliche Belastung verzeichnet, und eine bis auf frühe Lebensjahre
nachweisbare Neurasthenie (Spinalirritation), mit Neigung zu Fluxionen,
geringer Resistenz gegen Alkohol, periodisch schwankender nervöser Lei
stungscurve, oder temporärer Verstimmung mit Reizbarkeit und impulsi-
ven Neigungen. Viele zeigen das „neuropathische" Auge, den schwim-
menden, languescirenden Blick. Bemerkenswerth ist, dass Einzelno dieser
„Urninge" nach mann-weiblichem Geschlcchtsact sich ebenso nervös ge-
schwächt und angewidert fühleu, als nach Ausübung des Actus in ihrem
Nnne körperlich erfrischt und geistig gekräftigt (s. o.); nach eigenem Ge-
ständniss werden Manche erst durch diese Erfahrung auf ihre specifische Be-
dürfnissnatur aufmerksam. Bei den originären Fällen wird keine äussere
Anomalie der Genitalien beobachtet (ab und zu Kryptorchismus}, mir
functionell eine abnorme Reizbarkeit (tagelange Erectionen und präcipirte
Pollutionen). — Die conträre Sexualempfindung ist allermeist angebo-
ren, und stellt als solche ein psychopathisches Symptom neben den
andern der hereditären Neurose dar; nicht selten ist sie mit ausge-
sprochenen sonstigen Degenerescenzzeichen verbunden. Der abnorme Trieb
regt sich dann gewöhnlich mit der Pubertätsentwicklung, nachdem Jahre
zuvor schon heftige Masturbation, oder ein Hang nach körperlicher An-
drängung au Altersgenossen (Küssen von Schulkameraden, Sehnsucht die-
selben nackt, oder auch nur deren Genitalien zu erspähen) vorangegan-
gen war. Dieselbe kommt aber auch als erworbenes Symptom im
Gefolge von constitutionellen Psychopathieen vor, worunter hysterische
und originäre Verrücktheit, und das epileptische Irresein (s. d.) voran-
stehen. Hier ist sie theils bleibend, theils temporär (Menses). In einem
dieser erworbenen Fälle, wo der Kranke (junger Mann) in vollständige
Nachahmung der Frauentracht (Haarscheitelung, künstlicher Busen) ver-
fallen war, fand ich p. m. Atrophie der Hoden; jahrelange Onanie war
vorausgegangen.
Die Thatsache des Vorkommens der beschriebenen Geschlechtsauo-
malie, als des oft markantesten Zeichens einer anomalen resp. defecten
nervös-geistigen Anlage, ist namentlich auch in forenser Beziehung von
höchster Bedeutung. Ohne damit entfernt die ekeln Verirrungen eines
abgelebten Cynismus exculpiren zu wollen, ist es nicht minder Pliicht
die wirklichen Träger der conträren Sexualemplindung, dem heutigen
Gesetze gegenüber, unter anthropologischen Schutz zu stellen. Die Be-
sch ai«, GeisU.kr.mkheiten. 3. Aud. 2<J
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450
Das hereditäre Irresein.
mühungen v. Krafft-Ebing's in dieser Richtung, speciell nm eine,
unserer wissenschaftlichen Erkenntniss gebührend Rechnung tragende,
Aenderung des § 175 des deutschen Reichsstrafgesetzes verdienen alle
Berücksichtigung (s. Jahrb. f. Psych. 18S5. VI. Bd.).
Therapie.
Die Behandlung hat kein Specificnm aufzuweisen, wodurch wir
den Zwangsvorstellungen, diesem partiellen „Krampf" im Seelenleben,
entgegenwirken könnten. Dieselbe kann deshalb nur eine sympto-
matische und indirecte sein: es gilt vor Allem die neurasthenische
Grundlage nach den hierfür geltenden Indicationen zu bekämpfen, unter
genauester Individualisirung. Dabei muss Grundsatz der Behandlung
bleiben: alle und jede, selbst die kleinste, körperliche und nervöse
Anomalie (gastrische Zustände, sexuelle Anomalieen, Pollutionen, Neur-
algieen, anämische Constitution, Fluxionszustände) zu beachten; nicht
selten gelingt es auf diese Weise doch endlich den Zugang zur Kräfti-
gung des Hirnlebens zu finden. Bei Frauen ist namentlich die Beseiti-
gung etwaiger Uterinleiden oft von sichtlich bestem Erfolge. Der zweite,
nicht minder wichtige, Factor ist der psychische. Hier gilt es vor
Allem dem Kranken Muth und Selbstvertrauen zu gewinnen. Eine
Beruhigung kann ihm schon durch die Versicherung werden, dass
allermeist die Anfälle des peinlichen Leidens, auch der Maladie du
doute und du toucher, paroxysmenweise verlaufen, und von der
Natur selbst durch oft jahrelange Ruhepausen unterbrochen werden.
Mit der directen (logischen) Bekämpfung dieser perversen Gedanken-
krämpfe, dieses „Vorstellungsschwindels", sei man vorsichtig, wenn
man nicht vor der Dialektik des Kranken erliegen will. Man weiche
auch der kitzelnden Neigung des Patienten nach Aussprache und
seiner Beweiswutb, so gut es geht, aus, und zwar mit der summa-
rischen Versicherung, dass es wieder besser mit ihm werde. Viele
Kranke nehmen den Rath, dass sie sich vor den Gedankenkreiseln
nicht fürchten, dass sie dieselben über sich ergehen lassen sollten,
des sichern endlichen Sieges eingedenk — dankbar und mit Nutzeu
entgegen. Kann man sie zu einer ablenkenden, sie interessirendeu
Arbeit gewinnen, dann ist viel gewonnen. Oft unterstützt Morphium
oder Opium, Brom, Chinin, Zincum valerian. das Curregimen we-
sentlich; man kann die betr. Mittel je nach Umständen fortgesetzt
(methodisch) reichen, oder ad hoc in den Krisen, und dann in ver-
stärkter Gabe. Gegen Schlaflosigkeit Paraldehyd. Auch milde hydro-
pathische Proceduren wirken nach körperlicher wie nach geistiger
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Die hereditäre Neurose. Klinische Charakteristik.
451
Seite tonisirend; ebenso Reisen in verständiger Begleitung (Gebirgs-
aufentbalt, Seeluft).
Der Querulantenwahn (s. u.) erfordert immer die Anstaltsbe-
handlung, und zwar werde mit der Aufnahme hier am wenigsten gezögerti
B. Die hereditäre Neurose nach Entwicklang und Verlauf.
Anhang: Die transitorischen Seelenstörungen.
Die klinische Charakteristik des hereditären Temperaments ist:
cerebral eine gesteigerte psychische Erregbarkeit, mit Vorherrschen
der Phantasie und Neigung zu Delirien; spinal eine erhöhte Reiz-
fähigkeit unter der Form von vermehrter Empfindlichkeit, abnormer
Irradiation cerebraler Impulse und längerer Resonanz der mitge-
teilten Erregung; sensoriell eine Disposition zur Hyperästhesie,
mit Steigerung bis zur Hallucination; vasomotorisch eine anomal
lebhafte Mitbetheiligung bei psychischen Erregungen (Affecten) und
bei körperlichen (Intoleranz gegen Spirituosa). Auf dieser Grund-
lage baut sich ein psychischer Habitus auf, mit demselben
Grundzug einer gesteigerten Erregbarkeit mit Schwäche: emotiv als
krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit mit Sympathieen und
Antipathieen, und einem zwischen excessiver Sentimentalität und
Stumpfheit umspringenden, vorwiegend nervös motivirten Stimmungs-
wechsel; intellectuell als Disharmonie der einzelnen Energieen
mit grosser Neigung zu Zwangsvorstellungen; psychomotorisch
als gesteigerte Energie neben Willensschwäche, als verpuffender En-
thusiasmus bei fehlender Ausdauer, oder jäher Umschlag in collaps-
ähnliche Ermattung; als Signatur der ganzen Persönlichkeit:
eine defecte oder unharmonische, widerspruchsvolle Charakteranlage
und Ausbildung.
Alle diese Existenzen sind ab ovo krank d. h. eigens, anomal, ge-
artet. Wie ihre geistig- körperliche Entwicklung eine mangelhafte resp.
ungleiche ist, so auch der Abschluss, entweder in Form eines frühzeitigen
geistigen Todes (Dementia praecox), oder durch Uebergang in dauernde
geistige Störung mit eigenartigen Nuancirungen des klinischen Bildes, und
einem besondern Verlaufscharakter.
Krankheitsbild und Verlauf.
Schon die Kindheit dieser Hereditarier zeigt die soeben voraus-
geschickten Charakterzllge. Es sind wehleidige, reizbare und zorn-
miithige Kinder, oft bis zu convulsivem Gebahren, grillenhaft, lau-
nisch, manche schon mit einem frühen Hang zur Einsamkeit und zu
2'J*
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Das hereditäre Irresein.
phantastischen Träumereien. Selten sind sie echt heiter, höchstens
zeitweilig unbändig ausgelassen; es ist, als ob der Schatten künftiger
schwerer Tage schon auf ihnen lastete. Manche beunruhigen durch
stete körperliche Kränklichkeit; während der Dentition erschrecken
sie durch Convulsioncn, bei der leichtesten fieberhaften Erkrankung
durch Neigung zu Delirien. Von dem beseligenden Kinderglück,
von dem Frohsinn im Schoossc des Vaters, am Herzen der Mutter,
tritt Weniges zu Tage; manche äussern Indifferenz, ja Kälte gegen
Eltern und Geschwister. Hin und wieder überrascht, verfrüht, eine
intellectuellc Entfaltung, welche den Kinderjahren weit vorauseilt;
der fehlende „kindliche" Typus wird durch diese Altklugheit noch
viel schärfer fühlbar. Andere aber sind gegentheils tarda ingenia,
und bilden die undankbare Mühe des Lehrers. Sie lernen schwer,
sind in ihren Aufgaben unendlich pedantisch, und werden rathlos
und unfähig, sowie man sie in ihrem einmal angenommenen, pein-
lich gewissenhaften Arbeitsgange stört. Immer mehr tritt eine Un-
gleichheit in der Anlage zu Tage — neben einseitiger Begabung für
Sprachen eine auffällige Bornirtheit für andere Fächer, besonders
Mathematik, oder auch für Naturgeschichte (defecte Anschauungs-
fähigkeit) — im Lernen eine unverbesserliche Zerstreutheit, ein
Schwanken zwischen Fleiss und Faulheit, welches seinen tiefem
Grund in einer nur periodischen Leistungskraft, abwechselnd mit
nervöser Erschlaffung, aufzeigt. Aber selbst die fleissigern Perioden
werden selten durch einen wirklichen Gewinn belohnt; der noch so
vielseitigen Bildung fehlt allermeist die Harmonie, und seitens des
Ich's der Ueberblick. Dem Detail des Wissens mangelt das tiefere
geistige Band. Neben leichtem und raschem Lernen steht oft ein
promptes Vergessen. Schon in frühen Jahren zeigen sich unver-
standene Regungen des Geschlechtstriebs, sehr häufig in Form spon-
taner wollüstiger Empfindungen, oder eines angenehmen Kitzels beim
Anblick von körperlichen Züchtigungen („Beriechen" der Schulruthe
mit nachfolgenden Erectionen, bei Kindern von 9 Jahren). Auch
andere Zwangsgedankeu, namentlich schauerlichen Inhalts, oder quä-
lende Schuldbeziehungen zu irgend einem ernsten Familienereigniss,
selbst Suicidiumgedanken (wirkliche Tentamina!) können Platz grei-
fen. Frühzeitige Masturbation. Schon jetzt können Episoden wirk-
lichen Irreseins (gewöhnlich in Form von depressiven Zwangsge-
danken) sich anmelden. In andern Fällen bleibt Ruhe bis zur
Pubertätszeit. Au dieser ersten Klippe stranden nicht Wenige dieser
Hereditarier: ein Theil wandert zu den Hebephrenen (s. d.); ein
anderer iu Dementia acuta (praecox).
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Die hereditäre Neurose. Weiterentwickig. Dementia acuta praecox. 453
Sie erlahmen in dem Interesse für ihren Beruf, kündigen ohne Motiv
ihre Stellung, verlegen sich auf professionelles Nichtsthun, auf tagelanges
Herumlungern und Cigarrenrauchen , werden unendlich zerstreut, nach-
lassig, eigenwillig, fallen durch ein unbegründetes Lachen unangenehm auf.
Privatim treiben sie sich in den heterogensten Studiengebieten herum,
lesen — kaum den Knabenschuhen entwachsen — Bücher über Geburts-
hilfe und Seelenstörungen, Uber Strafgesetz und Politik, namentlich aber
auch philosophische Schriften. Confus in ihrem Urtheil, sind sie gleich-
wohl mit Allem fertig, zuversichtlich bis zur Rücksichtslosigkeit, selbst-
gefällig, Alles belächelnd. Ein alberner Selbstcultus, durch einen in-
stinctiven Grössenwahn getragen, beginnt sich breit zu machen. In ihrem
Auftreten werden sie herrisch, in ihrem Aeussern hoffärtig zugestutzt. Die
Pietätsbegriffe schwinden; eine dünkelhafte Rechthaberei mit grosser Heftig-
keit bei Widerspruch — oft aber auch unmotivirt, in periodischen Stei-
gerungen — greift Platz. Scenen von Gewalttätigkeit kommen. Un-
vermerkt blitzen barocke Grössen- und Verfolgungsideen auf, anfangs zu-
sammengestückelt, allmählich aber in systematischem Ausbau zum vollen
Wahnsinn sich abrundend. Die wirkliche geistige Leistungsfähigkeit
schrumpft oft in Jahresfrist zum bescheidensten Können zusammen ; einst
hoffnungsvolle strebsame Jünglinge vermögen jetzt kaum mehr einem me-
chanischen Abschreiber-Dienst zu genügen.
Wieder Andere wandern in Besserungsanstalten oder in Irren-
asyle, nachdem irgend ein impulsiver Act (Brandstiftung) sie mit
dem Gesetz entzweit, und zugleich zur richtigen Erkenntniss ihres
Seelenzustandes geführt hatte. Bei Vielen geht mit der Pubertät
das hereditäre Temperament in das ausgesprochen hysterische oder
hypochondrisch- melancholische Uber, und bringt in dieser Metamor-
phose die originäre Anlage zur Reife. Es gibt derartige sensible
Unterleibsvirtuosen, welche, kaum den Knabenjahren entwachsen,
alle Aerzte consultiren, jeden Sommer ein neues Bad besuchen und —
nie gesund sind. Bei der schwersten Form hereditärer Mitgift, der
ethisch degenerativen, enthüllt gerade die Pubertätszeit die „instinc-
tive Bösewichts"-Natur (s. Moral Insanity).
Nicht Wenige der Disponirten vermögen diese erste Klippe zu
umschiffen. Dafür kommen jetzt weitere und nicht minder gefähr-
liche. Der Kampf ums Dasein rückt an, und lichtet die Reihen
dieser psychischen Schwächlinge. Wo sie es im Leben und im Be-
rufe versuchen, straucheln sie. Nirgends dauern sie aus, überall
finden sie Mängel, oder werden selbst in ihrer Uubrauchbarkeit er-
probt. Unzufrieden und misstrauisch Uber den ewigen Misserfolg,
nehmen nicht Wenige das Gefühl der Beeinträchtigung oder des er-
littenen Unrechts aus ihren Niederlagen mit, und stellen sich damit
selbst auf den Weg in den Verfolgungswahusinn (s. u.). Andere
(Masturbanten) gerathen in erotische Verrücktheit. Ein weiterer Theil
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Das hereditäre Irresein.
entwickelt sich, des verunglückten Treibens müde, zu Bummlern
und Vagabunden, bis sie nach jahrelangen Kreuz- und Querztlgen
und zahllosen Abstrafungen sich endlich dem Irrenhause für dauernd
zuwenden. Noch Andere werden Sonderlinge und Misanthropen,
darunter Manche in barmloser Art, indem sie in der Stille ihren
Uebergang in originäre Verrücktheit mit irgend einer Grössenwahns-
schrulle durchmachen, und damit psychisch abschliessen. Nicht We-
nige aber fallen dabei einem zunehmend verbitterten Verfolgungs-
wahnsinn anheim, ziehen sich menschenscheu zurück, fuhren das
unsinnigste Leben der Entbehrung, wechseln jahrelang kein Hemd,
drohen in Schmutz und Unrath zu verkommen — bis auch sie end-
lich in die rettende Hand des Asyls gelangen. Hier leben sie nicht
selten wieder auf; die sittliche Verkommenheit, neben welcher manch-
mal noch eine Uberraschende Verstandesschärfe haushält, vermag
sich unter der Corrective der Hausordnung wieder leidlich zu er-
holen; aber selten nachhaltig und meist nur äusserlich. Sie bleiben
im Grunde moralische Lumpe, verknöchern dabei zu Egoisten, theils
nach dem Typus der Hypochonder, theils als Zwangsvorstellungs-
Candidaten mit Berührungsfurcht (s. d.).
Der grössern Zahl aber vermag auch die Anstalt nicht mehr ihre
helfende Hand zu bieten: sie sinken unaufhaltsam in immer grössere
psychische Schwäche, vor Allem des Willens und des Gemüthslebens,
nach und nach aber auch der intellectuellen Functionen herab. Abge-
schlossen für sich, jede Gesellschaft meidend, unfähig sich der Umgebung
anzupassen, unschlüssig in ihrem Thun, stetig eines Anstosses von aussen
bedürfend, nur noch in ihrem Gedächtniss und in den erworbenen Urtheilen
leidlich frei , steril für jede Erweiterung ihres Wissens, dabei zeitweilig
von Sinnestäuschungen oder Anwandlungen von Grössen- oder Verfolgungs-
wahn aufgerüttelt — gehen sie sachte in den geistigen und sittlichen
Schlaf ein, welcher sich auch äusserlich in ihrer gebrochenen Haltung
und ihrem vornübergebückten Gang traurig verkörpert.
Wieder Andere machen im Rahmen ihrer individuellen Erkrankung
das ganze Compendium der psychischen Habitnalformen durch ; aber
sehr oft in ganz unklarer klinischer Ausprägung und in mannigfach-
ster Combinirung, so dass der Krankheitsfall in allen Formen und
Farben schillert.
Spielt sich das erbliche Irresein mehr in dem engern Rahmen der
melancholischen oder manischen Habitualform ab, so vermisst auch hier
eine schärfere Beobachtung gewisse auszeichnende klinische Züge nicht.
So ist die gpeeifisch hereditäre Melancholie charakterisirt durch die häu-
fige Disproportion zwischen dem melancholischen Affect und melancho-
lischen Gebahren: während beim rüstigen Gehirn die beiden genannten
Momente in einem adäquaten Reflexverhältniss stehen, ist beim Heredi-
tarier das emotive Element oft schwach gegenüber dem triebartigen Selbst-
Die hereditäre Neurose. Klinische Charaktere der „hereditären" Psychosen. 455
morddrang. Die specifische hereditäre Manie trägt in gleicher Weise
nicht selten ein primäres Schwachsinns-Element in sich: die geistige Stö-
rung spielt sich bis zu einem gewissen Grade losgebunden von der
Persönlichkeit des Kranken ab, und zeigt auch bei verhältniss-
mässig ruhigem Ablauf einen sehr ungeordneten Mechanismus der
psychischen Elemente. Ferner: steigert sie sich auasergewöhnlich rasch
zur Mania gravis resp. zum immer mehr reÖectorischen Charakter der
manischen Bewegungen (gegenüber den coordinirten), und intellectuell zur
Verworrenheit gegenüber der einfachen manischen Ideenflucht. Sehr oft
mischen sich auch melancholische und manische Züge, namentlich wenn
sie sich vorwiegend im Bereich des Gefühlslebens abwickeln, in einer so
bunten, abrupt Uberspringenden Weise, dass nie eine bestimmtere Ab-
rundung des Krankheitsbildes zu Stande kommt. Dazu kommt ferner für
die hereditäre Melancholie und Manie der sehr leichte Uebergang in
delirante Phasen (grosse Neigung zu Hallucinationen ; in der Melan-
cholie oft transitorische Episoden von ganz abruptem Grössen Wahnsinn),
und die — bei einigermaassen protrahirterem Verlauf — stets sich ein-
schwärzenden Züge von Verrücktheit. Sehr selten sind die klinischen
Bilder rein (s.u.). Auszeichnend ist endlich noch: das relativ früh-
zeitige Auftreten der genannten psychischen Krankheitszustände und
die sehr oft gehäufte Combination (zwei und mehrere manische Paroxys-
men innerhalb desselben Anfalls), manchmal in periodischer Wieder-
kehr, mit successiver Verflachung der CurvenhÖhe gegen die Genesung
hin — ohne oder auf nur leiseste äussere Veranlassungen.
Es muss hier, recapitulirend, der allgemeinen klinischen Physiognomik
des hereditären Irreseins, gegenüber den Psychosen des rüstigen Gehirns,
gedacht werden. Diese Charakteristika sind: Polymorphismus des klini-
schen Verlaufs, jäher Anstieg und Abfall des Paroxysmus sowohl im
Ganzen (unvermittelt rasche Entstehung und brüskes Aufhören), als auch
ebenso jäher Uebergang der einzelnen Zustandsphasen innerhalb des An-
falls; speciell für Melancholie und Manie (ausser den oben angeführten
klinischen Charakteren) oft unvollständige oder nur fragmentare Ausbil-
dung der Einzelphase mit besonderer Entwicklung des „impulsiven" Ele-
ments, neben auffälliger, wenn auch nur relativer, Geschontheit des In-
tellects; progressiver Uebergang in geistige Schwäche. Grosse Neigung
zu Recidiven, oder ausgesprochen periodischer Verlaufscharakter (dauernd
oder vorübergehend).
Für männliche Hereditarier dieser Jahre bis zum Beginn des
dritten Jahrzehnts ist die Thatsache nachzutragen, dass Manche bis
zu diesem Termin wohl ihre physische, nicht aber ihre charaktero-
logische Reife erreicht haben. Sie machen die durchgreifende Aende-
rung des Gefühlslebens in dieser „Mauserungszeit" nicht durch, und
lernen deshalb auch das erwachende Kraft- und Selbstgefühl des
Mannes nie kennen. Sie werden nicht Weib, aber auch nicht Mann,
und behalten immer eine an das Feminine anstreifende Aengstlich-
keit und Skrupulositat bei. Sie haben Sinn und Gefühl für das
„Ewig- Weibliche", aber kein geschlechtliches Interesse. Sehr geneigt
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45G
Das hereditäre Irresein.
zu Zwangsgedanken, welche sie nicht selten von Kindheit auf ken-
nen, wandeln sie in der Regel von einem melancholischen Anfall
mit Lebensüberdruss in den andern; jeder brüske Affect wirft sie
nieder; intellectuell können sie ihre Anlagen nicht ausbilden und
verwerthen, da auf jede Anstrengung eine neurasthenische Krise folgt.
Die Jahre des Lebenszeniths sind für den Hereditarier nur in
soweit mehr gefährlich, als bei seiner geistigen Widerstandsschwäche
alle Ansprüche des Daseinskampfes tiefer einschneiden. Bei be-
lasteten Frauen ist speciell das Puerperium eine schwere Klippe
(Melancholie, acuter Wahnsinn, Delir. acut.); bei disponirten Män-
nern droht um diese Zeit der chronische cerebrale Erschöpfungs-
zustand der allgemeinen Paralyse: manchmal nach den convulsivi-
schen Zuckungen eines exccntrischen Lebens, welches durch unzählige
Compromittirungen, durch sociale und politische Charakterlosigkeit
sich erst bankerott gemacht hatte; in nicht seltenen Fällen aber
ohne brüske Schädlichkeiten, sondern vielmehr als directe Weiter-
entwicklung, als das Senium praecox, der originär defecten Anlage.
Besonders häufig aber kommt auch auf dieser Altersstufe der chro-
nische Wahnsinn zum Ausbruch.
Unpraktisch und ohne Berechnung in ihrem geistigen wie im öko-
nomischen Haushalt, unklar in ihrem Willensdrang, welcher ihre oft guten
Kräfte und edeln Bestrebungen in ein unerspriessliches Vielerlei zer-
splittert, ohne Schwerpunkt in ihren Neigungen, dabei von gesteigertem
Selbstgefühl — ist der Zusammcnstoss mit der unerbittlichen Wirklich-
keit, mit dem Ernste des Lebens, für Viele unvermeidlich. Sie empfin-
den, Gefühlsmenschen, wie sie sind, mit sentimentalen und phantastischen
Träumereien die harte Anfassung der Wirklichkeit als eine „Verletzung",
deren Ursache sie in äusserer Verfolgung suchen und auch finden (s. o.).
Dies kann Schritt für Schritt, aber auch in Einem Anfalle sich vollziehen.
Die klinische Form kann ein einfacher Vcrfolguugswahnsinu sein, oder
auch ein mit Exaltationsideen gemischter (s. orig. Verrücktheit), mit oft
raschem Zerfall in verwirrte Dementia.
In andern Fällen meldet sich wiederum die Maladie du doute
an; auch der Querulantenwahnsinn. Noch grösser ist die Zahl der
periodischen und circulären Psychosen als Weiterbildung der here-
ditären Neurose in diesem Lebensjahrzehnt.
Endlich bilden Climacterium und Senium die letzten und mit
die günstigsten Etappen für die Entwicklung (resp. Abschluss) der
hereditären Neurose. Die Involutionsphasen des Gehirns werden
Evolution.sepochen für den anomalen geistigen Keim. Wiederum ist
es die Maladie du doute, welche jetzt in den Vordergrund tritt; oder
die hereditäre Psychose insceuirt sich als hypochondrischer Maras-
mus, oder als impulsive Melancholie; in mächtiger Zahl auch als
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Die hereditäre Neurose. Ausgänge.
— Transitorische Psychosen.
457
chronisch depressiver oder exaltirter Wahnsinn. In einer letzten
Gruppe endlich findet das durch Erblichkeit invalide Gehirnleben
seinen Schlusspunkt durch frühzeitige Cerebropathieen (Apoplexieen
U. 8. W.).
An die Betrachtung der Entwicklung und des Verlaufs der heredi-
tären Neurose muss eine klinisch wichtige Bemerkung angeschlossen wer-
den. Wenn die daraus entstehenden Psychosen theils durch die Eigenart
ihrer Symptome , theils durch den Verlauf eine besondere Gruppe dar-
stellen, so finden sich thatsächlich dieselben auszeichnenden Charaktere
auch bei einer Reihe von sog. constitutionellen Psychosen resp. psychi-
schen Hirnleiden, welche nicht angeboren, sondern erworben sind (durch
sexuelle Excesse, tief schädigende Blutanomalieen, schwere Anämieen,
vorausgegangenen Typhus, Alkoholismus, Kopfverletzungen). Hier kann
im Einzelfalle nur die Anamnese, welche bei der hereditären Gruppe die
zurückreichenden Belastungszeichen nachweist, die differentielle Diagnose
abgeben. —
Als Anhang möchte ich hier die transitorischen Seelen-
störungen anreihen.
Mania t r ansltoria.
Literatur, v. Krafft-Ebing, Mania transitoria. Monogr. 18G5. — Der-
selbe, transitorische Störungen des bclbstbcwusstseins 1 SÖS. — Derselbe, Irren-
freund 1S71. — Schwartzcr, transitorische Tobsucht. Monogr. 1S75 — Pick,
Prager med. Wochenschr. 1S79 — Nctolitzki, Ibid. — Mendel, 1. c. —
Tamassia, Riv. sper. 1 SSO. — Kicruan, Journ. of meut. sc. 1 SSO. — Reich,
Berl. klin. Wochenschr. 1 ss I . — Transitorische neurasthenische Psychosen:
v. Krafft-Ebing, Irreuireuud 18S3. — Engclhoru, Erlenmeyer» Centralbl. 1SS1.
Dieselben entstehen zwar nicht immer auf hereditärer Grund-
lage, aber doch sehr häufig, und zeigen — was für den Anschluss
au dieser Stelle entscheidender — in ihrer klinischen Gestaltung
einige der Wesenseharaktere des erblichen Irreseins, so namentlich
das Brüske der Entstehung und des Abschlusses. Diese wichtige
Verlaufseigenthümlichkeit hat sich bei der Gruppe der transitorischen
Psychosen so prägnant ausgebildet, dass der Ausbruch der Krank-
heit nicht nur ein rascher, sondern ein urplötzlicher ist, und
ohne eigentliche Vorläufer, auch ohne Entwicklung, direct mit der
Acme einsetzt: bei der transitorischen Manie, dem Typus dieser
Gruppe, steht der Kranke im Moment des Ausbruchs sofort auch
auf der Höhe tobsüchtiger Verwirrung und motorischer Explosion.
Ebenso scharf wird für die meisten dieser Fälle der Abschluss durch
einen tiefen Schlaf bezeichnet, mit nachfolgender Amnesie, und so-
fortigem Uebertritt in Wohlsein oder in einen kurzen Status nervosus
mit rascher Erholung.
Bei den Fällen von nicht- hereditärem Ursprung findet sich eine
aus8ergewöhnliclie Erschöpf barkeit des Gef ässnerven - Systems, mit Nei-
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458 Das hereditäre Irresein.
gung zu Kopffluxionen, verzeichnet. Diese vasomotorische Schwäche hält
sich manchmal lange verborgen, bis relativ geringfügige Gelegenheits-
ursachcn (Stubenhitze, mässiger Potus, Affect-Chok) sie zur Wirksamkeit
bringen, und mit dem plötzlichen Rash zum Kopfe auch sofort die volle
transitorische Psychose in Scene setzen. Gerade die typischen Fälle der
sog. transitorischen Manie gehören den nicht-hereditären an, und betrafen
bis dahin „gesunde", wenigstens nervös nicht grob auffällige Individuen,
mit theilweise (bis dahin) latent gebliebener Congestiv-Anlage. Bemer-
kenswerth ist, dass Männer eine ungleich grössere Disposition zu dieser
besondern Erkrankungsform haben, als Frauen, und in auffälliger Häufig-
keit junge Soldaten.
Klinisch-symptomatologisch lassen sich transitorische Fälle von
Manie (Furor), acutem delirantem Wahnsinn, und von hallucinatori-
schem Stupor unterscheiden. Auch stupuröse Dämmerzustände mit
und ohne exaltirten Wahn sind beobachtet (s. u.). Die wichtigsten
Formen sind die beiden ersten, und darunter wiederum die tran-
sitorischen Manieen.
Unter diesen versteht man kurz dauernde Anfälle von peracu-
tem Furor ; mit wuth- oder zornartigen motorischen Explosionen, von
triebartigem, reflectorisch-zwangsmässigem, oft convulsivem Form-
charakter in den Bewegungen; mit begleitenden Kopffluxionen und
tiefster Bewusstseinsstörung, feindlicher Verkennung der Umgebung
oder auch gänzlicher Perceptionslosigkeit; mit einem jähen Abschluss
durch einen kritischen Schlaf, und nachfolgender vollständiger Am-
nesie an den Anfall selbst.
Der letztere bricht peracut aus, gewöhnlich nach kurz dauern-
den Vorzeichen. Als solche erscheinen: vager Kopfschmerz, Wallungs-
zuständc zum Kopfe, sensorielle Hyperästhesie; oder ein stilles,
schweigsames, benommenes Wesen. Hin und wieder sinkt der Kranke
unter Starrwerden der Augen bewusstlos zusammen, und steht, wie-
der zu sich gekommen, sofort in der vollen Höhe des Paroxysmus.
Andere Male bricht dieser, ohne vorausgegangene Syncope, mitten
aus einem bis dahin unauffälligen Verhalten des Kranken (aus einem
erst ruhigen, ahnungslosen Schlafe) aus. Mit Einem Schlage steht
der Kranke — erwacht er — in einem Zustande voller U nbes inn-
lich keit; er rollt die Augen, vociferirt, schreit, singt, predigt
Dabei ist die ganze Muskulatur in drohender Spannung. Entweder
von selbst in rapider Entwicklung, oder durch eine harmlose Anrede,
oder auch durch ein Wort des Vorwurfs geweckt, bricht der moto-
rische Sturm los: bald in ungeordneten, convulsiven Bewegungen,
in Heulen, Brüllen und Zähneknirschen, Zerreissen der Kleider,
schüttelnden und stossenden Gesticulationen; bald aber in einer
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Mania transitoria. Typisches Bild.
459
blinden Zornwuth, welche unter übermässiger Muskelleistang maass-
und ziellos sich austobt, Alles vernichtet, was in den Weg kommt,
fllr ihren entfesselten Drang keine Schranke findet, und nur durch
grosse Uebermacht gebändigt werden kann. Dazwischen kann manch-
mal vorübergehend eine leise Pause sich einschieben: der Kranke
wird etwas gelassener, fasst unklar einiges Nächstliegende auf ; plötz-
lich aber fällt er wieder in das ungestüme Toben zurück, während
der Kopf anhaltend stark geröthet, der Puls voll und frequent, die
Herzbewegung stürmisch bleibt, und der Körper mit reichlichem
Schweisse bedeckt wird. Nach kurzer Dauer (2 Stunden bis 1—2
Tage) stellt sich Erschlaffung ein, unter Zurücktreten der vasomoto-
rischen Erscheinungen ; es erfolgt ein mehrstündiger, bald natürlicher,
bald aber auch todähnlicher Schlaf, aus welchem der Kranke lucid,
und ohne jede, oder höchstens ganz dämmerhafte Erinnerung an das
Vorgefallene erwacht. In der Regel verwundert er sich jetzt über
seinen veränderten Aufenthalt (Spital), und weiss in seinem Gedächt-
uiss nur noch an einige Vorläufersymptome (Kopfweh u. s. w.) an-
zuknüpfen. Damit ist der Anfall vorüber, und kehrt in vielen Fällen
nicht wieder. Die Genesung bleibt auch für die Folge dauernd
erhalten.
Dies das typische Bild des als Mania transitoria zusam-
mengefassten Zeichencomplexes.
Dabei kommen eine Reihe von klinischen Varietäten vor: a) bezüg-
lich des Krankheitsbeginn 8. Nicht selten knüpft dieser an einen
tiefern Gemütbsaflect, an einen verschluckten Gram oder Aerger und eine
dadurch bewirkte leise Depression an, welche sich aber nicht in eine
schmerzliche Verstimmung reflectirt, sondern nur in ein gemüthlich reiz-
bareres, zerstreutes Wesen. Bemerkenswerther Weise bricht auch der
Anfall nicht in Folge des fortgesetzten NachgrUbelns, gleichsam als An-
sturm der absichtlich gerufenen Geister hervor, sondern gegentheils un-
erwartet, selbst vom Kranken ungeahnt; manchmal nach einem heitern,
gemüthlichen Wein -Abend, ohne eigentlichen Trinkexcess. Die „ver-
schluckten Thränen", der verschwiegen getragene Affect, hatten hier
langsam die vasomotorische Aflection vorbereitet, welche, soweit gediehen,
eines nur massigen Alkoliolreizes (manchmal selbst nur einer grössern
Hitze und Dumpfheit der Stubenluft) bedarf, um die verhängnissvolle
acute Kopfcongestion auszuwirken. — b) bezüglich des Krankheits-
verlaufs. Dieser besteht in der Regel nur aus einer sich überstür-
zenden Reihe reflectorisch-triebartiger Acte, bei einer wachen Unbesinn-
licbkeit resp. gänzlichen Bewusstlosigkeit; der Anfall hat nach motorischer
und sensorieller Richtung einen ausgesprochen epileptoid-convulsiven Cha-
rakter. Nun gibt es aber Fälle, in welchen episodisch (namentlich im
Beginn der Wuth-Attake) von Seite des Bewusstseins noch ein leiser
Schimmer mitgeht, so zwar, dass der Kranke seinen nach aussen gewor-
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4G0
Das hereditäre Irresein.
fenen Vernichtungstirang mit den Worten begleitet: „jetzt bring' ich Einen
um"; oder: „Du musst hin sein". So furchtbar bedeutsam dieser Ruf
für das nun folgende Zerstörungswerk auch sein mag, so ist er doch
keineswegs nach seinem Inhalt vom Kranken klar erfasst; denn die Wuth-
Handlung bleibt in gleicher Weise, wie bei der rein convulsiven Explosion
in den typischen Fällen, eine ziel- und planlose, nur Reflex, ohne
jedes Anzeichen ciues wirklichen Vorbedachts. Es ist, wie beim Goltz-
schen „Quack"- Versuch, ein unbewusster Reflex auf das Sprach- Centrum,
ausgehend von dem KraftgefUhl aus den plötzlich toniscb-innervirten Mus-
keln und der blitzähnlichen Perception der durch diese Körperhaltung
aufgedrungenen Drohungsgeberde, c) bezüglich des Ausgangs. Aus-
nahmslos schliesst dieser mit einem kritischen Schlaf ab. Nicht immer
ist aber damit auch die dauernde Genesung gesichert. Es erfolgen häufig
Nachschübe der Furor-Anfälle, und zwar bald in kürzeren, bald in län-
geren Pausen (remittirender transitorischer Furor). In der Zwischenzeit
sind die Kranken amnestisch für die Zeit des Anfalls, aber geistig klar,
wenn auch müde und erschöpft, dabei gewöhnlich mürrisch, Übellaunig,
etwas scheu und verlegen. Es kann nun ein zweiter und ein dritter, ja
wiederholter Paroxysmus folgen, wobei die Anfälle selbst (wenn auch in
den Grundcharakteren der Kopffluxionen, der tiefen Bewusstseinsstörung,
dem abschliessenden Schlafe und der Amnesie sich gleichbleibend) doch
inhaltlich, und auch in der Intensität, bedeutende Unterschiede aufweisen
können. So kann auf einen ersten Paroxysmus mit Schreien, Singen und
wechselnden aber harmlosen Drohgeberden später ein mässiger Furor- An-
fall mit Zerreissen der Kleider, Umsichschlagen, Beissen u. s. w. folgen,
und darauf ein vernichtend heftiger mit der schwersten Gefährdung der
Umgebung. Mit der Häufung der Anfälle ändert sich aber manchmal
der Krankheits - Charakter auch nach Seite des Intervalls und des End-
Ausgangs: so kann der Kranke nach mehreren Paroxysmen plötzlich in
der Zwischenzeit moralisch perverse Züge auf Grundlage einer massigen
psychischen Exaltation (Moria) aufweisen, welche erst mit einem folgen-
den Anfalle wieder ausgetilgt werden, und aus dieser heraus ihren Ueber-
gang in definitive Genesung finden. Einigcmale beobachtete ich auch
eine längere Mania gravis im Anschluss an mehrere vorausgegangene
transitorische Furor-Anfälle. —
Nahe verwandt, und vielfach mit der Mania transitoria s. str. zusam-
mengeworfen, sind die peracuten manischen Wahn sinnszustände.
Klinisch stellen dieselben transitorische Dämonomanieen dar, mit zahl-
reichen schreckhaften Sinnestäuschungen bei traumartigem Bewusstsein,
und heftigsten Angstreactionen im motorischen Gebiete. Der Ausbruch
der Krankheit ist ein ebenso jäher wie bei der eigentlichen Manie; ge-
wöhnlich erfolgt er Nachts aus einem bis dahin guten Schlafe. Der
Kranke fährt auf und befindet sich sofort in einer Traumwelt; alle
hallucinatorischen Schrecknisse bedrängen ihn, „Teufel ringsum" — und
dagegen kämpft er verzweifelnd und bis zur eigenen oder fremden Ver-
nichtung. So kommen hier neben den homiciden auch vielfache suicide
Raptus vor. Kopffluxionen sind sehr oft zugegen, aber lange nicht so
regelmässig, wie bei der manischen Form. Nicht selten ist sogar Ge-
sichtsblässe, oder ein Wechsel zwischen dieser und Rash Zuständen vor-
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Mania transitoria. Klin. Variet. — Peracuter manischer Wahns, u. Stupor. 461
lianden. Dagegen fehlt nie eine erhebliche Beschleunigung der Herz-
tätigkeit, dem Höhepunkt des Angstaffectes entsprechend. Die Pupillen
sind nicht selten stärker erweitert, manchmal nur einseitig. In einer sehr
grossen Anzahl von Fällen finden sich intercostale Neuralgieen vor, deren
Exacerbationen mit dem Ausbruch des transitorischen Wahnsinnsanfalles
zusammentreffen , so zwar, dass die Annahme einer wirklichen „Reflex-
Psychose", vom Locus dolens aus, sich aufdrängt (Raptus nenralgicus, s. d.).
Manchmal ist eine vollständige Spinal-Irritation vorhanden, mit Schmerz-
haftigkeit der verschiedensten Nerven-Druckpunkte und allgemeiner Haut-
hyperästhesie und gesteigerter Reflexerregbarkeit (Ausbeisscn eines Stücks
aus einem in den Mund gereichten Löflei). Die Qualität der stürmischen
Abwehr- oder Angriffsbewegungen kann dabei in gewissem Grade eine
instinetiv bemessene sein — reactive Angst- oder Verzweiflungsgeberden
in höchster Steigerung ; oder aber sie erreicht auf der Höhe des Anfalls
auch nur wieder die Stufe des reflectorisch Zwangsmässigen, und die
„Handlung" stellt, wie in der transitorischen Manie, nur eine ziellose Ent-
ladung, richtiger „Entlastung" aus dem dunkeln Gefühl einer unermess-
liehen Bedrängtheit dar. Hier schieben sich manchmal Phasen von rein
convulsiven Bewegungen (Verdrehungen der Arme und des Kopfes, Gri-
massirungen, schnellende Vor- und RUckwärtskrümmungen des Körpers,
tetanische Streckungen, abwechselnd mit Flexoren- Krämpfen) dazwischen.
Oft treten auch flüchtige Episoden von deliranter Verkennung der Um-
gebung auf, mit Spucken, Lachen, neckischem Vcrsteckspielen im Bette,
Kecitiren u. s. w. Der Anfall schliesst, wie bei der transitorischen Manie,
mit einem kritischen tiefen Schlafe ab; aber nicht so typisch. Manchmal
ist der Schlaf unruhig, unterbrochen, und der Kranke dennoch am Morgen
lucider; oder aber der Nachlass, zugleich mit Aufhellung des Bewusst-
seins, bereitet sich schon vor dem Schlafe vor, und letzterer bildet nur
die Vollendung der begonnenen Krise. Auch darin besteht gegenüber
den typisch-manischen Fällen eine Nuancirung, dass die Einzelerkrankung
hier viel häufiger aus einer Serie von Anfällen zusammengesetzt ist,
bis endlich die Genesung folgt. In den Intervallen bewahrt der Kranke,
wie dort, vollständige Amnesie, zugleich aber auch, wenigstens einige
Tage nach dem Anfall (oft aber auch durch Wochen) bei sonstiger
Lucidität noch ein reizbares, eigensinniges, kindlich empfindsames, oder
auch finsteres, weinerlich misstranisches Wesen. — Wie auf die ge-
häuften transitorischen Furor- Anfälle manchmal eine wirkliche Mania
gravis folgt, so kann der peracute manische Wahnsinn zu einem nach-
folgenden subacuten dämonomanen Verfolgungswahn die Einleitung bilden
(jedoch seltener).
Einen peracuten transitorischen Stupor auf hallucinatori-
scher Grundlage beobachtete ich einmal bei einem erblich belasteten,
mittelmässig begabten, aber bis dahin gesunden jungen Mann in Inter-
vallen von ca. S Tagen. Grössere körperliche Aufregung war voraus-
gegangen. Nach einleitendem Kopfschmerz, Benommenheit und Präcor-
dialdruck stellte sich unter starken Kopfcongestionen ein stupuröser Zu-
stand ein, mit Perceptionsabschluss (nur bei heftigem Geräusch reflectorisches
Zuck en, mit träumerischen fragmentareu Aeusserungen dämonomanen In-
halts); dabei gelegentliche Zuckungen und Herumschleudern der Arme,
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162
Das hereditäre Irresein.
Schütteln des Kopfes, stierer schwärmerischer Blick, ruhiger Puls, nor-
male oder aub normale Temperatur. Der Uebergang in das Intervall er-
folgte nach 1 — 2 tagiger Dauer sehr rasch und vollständig; nachher
Amnesie. In der Zwischenzeit war der Kranke lucid, arbeitsfähig; nur
zeigte er gegenüber von früher mehrfach ein kindischeres zerstreuteres
Benehmen, und redete oft albern. Die Paroxysmen wiederholten sich ca.
10 Wochen lang in immer längern Intervallen und ohne äussere Veran-
lassung; dabei nahmen sie an Tiefe der Bewusstseinsstörnng succesive
ab, und verliefen endlich von selbst in Genesung. Der Kranke blieb
dauernd in jeder Hinsicht gesund. Von Epilepsie oder Hysterie war
weder vor- noch nachher das mindeste Zeichen aufzufinden; auch schwä-
chende Einflüsse waren nicht vorhergegangen. Dagegen war die Mutter
des Kranken epileptisch gewesen und an Epilepsie verstorben.
Soll man die klinische Sonderstellung der besprochenen tran-
sitori6chen Psychosen aufrecht erhalten? Ich möchte diese bis heute
noch vielfach umstrittene Frage b e j a h e n d beantworten. Für die Exis-
tenzberechtigung, speciell der „transitorischen Manie", liegen in den oben
besprochenen Charakteren des ganz speciiischen Krankheitsbeginns (so-
fortige Acme) und ebenso auch des Krankheitsabschlusses (kritischer
Schlaf mit Amnesie und sonstiger Lucidität), neben dem peracuten Ver-
lauf und den begleitenden vasomotorischen Kopferscheinungen, triftige
Anhaltspunkte; durch diese sondert sich die besprochene Gruppe scharf
von allen sonstigen Manieen ab. Nur die Manie der Epileptiker könnte
in Concurrenz treten ; aber auch diese ist ja, den übrigen Manieen gegen-
über, eine specifische, und ihrerseits wiederum th eil weise, ganz ent-
scheidend durch das Intervall, von der transitorischen verschieden.
Schwieriger dürfte die zweite der oben besprochenen Formen abzugrenzen
sein, welche die fliessendsten Uebergänge einerseits zu den acuten Psy-
chosen in fieberhaften Krankheiten (ganz besonders zu den psychischen
Aequivalenten der Febris intermittens) und andrerseits zu den Insulten
im hystero-epileptischen Irresein aufweist. Aber gerade in dieser grossen
Gruppe nimmt sie durch ihre, mit der transitorischen Manie gemeinsamen
Grundzüge (Beginn, Schluss) eine strengere Sonderstellung ein. Dies
wenigstens vorläufig und aus praktischen Gründen; denn nosologisch —
das ist auch meine Ueberzeugung — wird die jetzige Trennung nur ein
Uebergang zur Wiedervereinigung sein, unter dem Gesichtspunkte, dass
wir diese transitorischen Formen als bestimmte cerebrale Modifi-
cationen der grundliegenden Allgemeinzustände (der hereditären, neur-
asthenischen Neurose) werden begreifen lernen. Die nie fehlende vaso-
motorische Kopfhyperämie bei der manischen Gruppe, die selir
häufige Coincidenz mit Neuralgie en bei der zweiten, der reflexartige
Formcharakter in den Bewegungen , die intercurrenten vasomotorischen
Gefässkrämpfe neben jeweils prägnant hervortretenden neuralgischen
Schmerzpunkten — geben beachtenswerthe erste Fingerzeige für dieses
spätere Verständniss einer Pathogenese ab. Aber vorerst ist die Tren-
nung durchaus noch festzuhalten, weil diese wenigstens die sowohl kli-
nisch als forens hochwichtige Thatsache ausdrückt: dass es peracute
Seelenstörungen gibt, mit grösster klinischer Symptomenverwandtschaft
zu epileptischen und hystero-epileptischen Zuständen, welche aber gleich-
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I
Acutes Irresein, mit Asthma alternirend. — Transit, neurasthenische Psychosen. 463
wohl weder vor- noch nachher den mindesten Anhaltspunkt zur
Annahme ei ner vorhandenen wirklichen Epilepsie oderHy-
sterie abgeben. —
In diese Gruppe der transitorischcn Seelenstörungen gehören, wenn
auch den bisher besprochenen etwas ferner stehend, die mit Asthma
abwechselnden acuten hallucinatorischen Irreseinszustände, auf welche in
neuester Zeit wiederholt aufmerksam gemacht wurde. In einem hier beob-
achteten Falle waren (bei einem Soldaten, früher schon engbrüstig und
mehrfach bämoptoisch) erst asthmatische Symptome aufgetreten; darauf
Wiederherstellung. Nach drei Tagen Beengung mit Schleirarasseln; wieder-
um Besserung. Nach 14 Tagen Präcordialdruck, Kopfweh, Engigkeit
ohne objectiv nachweisbaren Lungenbefund; dagegen jetzt sehr starker
linksseitiger Intercostalschmerz. Iu der Nacht dämonomanischer Anfall
mit Teufelsvisionen, Singen und Predigen, Nahrungsverweigerung, gestei-
gerte Reflexerregbarkeit, kalte Hände und Füsse, einseitig erweiterte
Pupillen, leises Vorsichhinsprechen, Perceptionsabschluss, Puls 64. Nach
vier Tagen wieder bei sich: vollständige Amnesie. Jetzt vierwöchent-
liche Pause bei geordnetem äusserem Verhalten; Patient ist müde, er-
schöpft, wortkarg, weinerlich; ab und zu noch Engigkeit mit Rasselge-
räuschen. Als diese vergehen, wiederum Paroxysmus in mässigem Grade.
Patient bekommt, nachdem er einige Stunden zuvor stiller und gedrück-
ter gewesen, und wieder enger geathmet hatte, plötzlich das Aussehen
eines Wechselfieberkranken im Frostanfall: beschleunigte, erschwerte Re-
spiration, seltener Puls, verstärkter Herzchok, mässige Cyanose, auffallend
kühle Hautdecken, sehr lebhafter Intercostalschmerz. Nach wenigen
Stunden Anfall vorüber. Vollständige Amnesie. Nun noch zeitweilige
schwache Anfälle von Engigkeit. Genesung.
Krafft-Ebing hat unsere Kenntniss dieser transitorischen Irre-
seinszustände noch durch mehrere wichtige Beobachtungen erweitert. Er
fand bei Leuten, welche nach geistigen oder körperlichen Ueberanstren-
gungen und gewöhnlich unter dem mitwirkenden Einfluss von Affecten
cerebral-neurasthenisch geworden waren, plötzliche Ausbrüche von tran-
8itorischer Geistesstörung, und zwar unter dem Bilde von „stuporartigen
Dämmerzuständen", theils mit „Angst", theils mit dem Wahne der „Stan-
deserhöhung". Bei den letzteren Fällen waren sogar acute motorische
Ataxieen vorhanden, welche auf den ersten Blick an beginnende Paralyse
mahnen konnten , sich aber gleichfalls aus dem cerebralen Iuanitions-
zustande ableiten Hessen. Trübung des Bewusstseins bis zur Bewußt-
losigkeit, Erinnerungsdefecte, Ausfallserscheinungen in den sensorischen
Functionsgebieten bis zur Aufhebung der Apperception, Verlust der Sprache
und Bewegungsanschauungen , Angst, einige delirante Vorstellungen —
waren die psychischen Zeichen des klinischen Bildes. Theilweise war
vorausgehend vasomotorischer Gefässkrampf nachweisbar. Die beobach-
teten Fälle endeten nach L'mfluss mehrerer Tage (durch Lysis) in Ge-
nesung und bleibende geistige Lucidität. Amnesie war in allen Fällen
vorhanden. Ausser den vieldeutigen Anfällen von Äugst mit Schweias-
ausbrucb und Syncope war auch hier ein bestimmtes Zeichen, welches
auf Epilepsie hätte schliessen lassen, nicht auffindbar. Ich selbst beob-
achtete bei einem erblich belasteten Recruten, nach heftiger Anstrengung
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464 Das hereditäre Irresein.
und einem acuten Gastricismus, einen peracut eintretenden Raptus suicidii
mit nachfolgendem mehrwöchentlichem stupurösem Dämroerungszustand,
ohne Angst und ohne Amnesie; allmähliche Reconvalescenz nach 14 Tagen.
Den Uebergang von den seither betrachteten transitorischen Psy-
chosen zu den acut verlaufenden gewöhnlichen Irreseinsformen
bilden gewisse acute Wahnsinnszustände, specicll aus der sensuellen Gruppe,
welche raenstruale Entstehung und eine nur über die Katamenieu sich
erstreckende Verlaufsdauer haben. Dieselben sind am angegebenen Orte
besprochen, und linden hier bloss der Vollständigkeit wegen ihre An-
fuhrung. Klinisch sind diese peracuten Psychosen vor Allem durch die
fehlende resp. gradweise geringere Amnesie von der oben ab-
gehandelten Gruppe der „transitorischen" abzutrennen. — Zu letzteren
dagegeu gehört wohl der interessante Fall von plötzlicher temporärer
Amnesie (Aphasia amnestica) bei einem neurasthenischen Hereditarier nach
einem heftigen GeroUthseindruck, mit raschem Uebergang in Genesung —
wovon Danilo (Merzejewsky Wjestnsk ISbl) erzählt.
Therapie.
Die Behandlung der hereditären Psychosen weicht in keinem
wesentlichen Punkte von der der erworbenen Psychopath ieen ab;
nur ist die ausserordentliche Labilität der psychisch -nervösen Con-
stitution ganz besonders zu beachten; daher grosse Vorsicht in den
geistigen Zumuthungen an die reconvalescenten Kranken, neben
sorgsamster Abhaltung aller Reize, bis die Genesung genügend er-
starkt ist.
Die Erziehung nervös belasteter Kinder ist mit besonderer
Sorgfalt, namentlich in der Pubertätszeit, zu Uberwachen. Frühe
Bekämpfung der nervösen Empfindlichkeit (kalte Waschungen), Be-
vorzugung objectiver Wissensgebiete (Anschauungsunterricht), Aus-
wahl der Lectüre, Schutz des jugendlichen Gehirns gegen Ueber-
bürdung, Vermeidung des Tabaks, der Alcoholica, genügender Schlaf
— seien leitende Ilaupipunkte für den Pädagogen! — Die Frage der
Ve r he irathung erblich belasteter Personen ist eine sehr schwierige,
und lässt sich nur individuell entscheiden. Im Allgemeinen lässt sich
sagen, dass einfache hereditäre Prädisposition keinen Gegengruod
abgibt; wohl aber muss eine nachweisliche hereditäre Degeneration
(tiefe constitutionelle Neuropathie bis in die Kindheit zurückreichend,
Periodicität, Zwangsgedankeu u. s. w.) die ernstesten Bedenken des
Arztes rechtfertigen. Es wird Fälle geben, wo er pflichtgemäss ab-
rät h, in minder schwer gravireuden wenigstens nicht zurät h.
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Killfaches hereditäres Irresein. Muladie du doute.
465
C. Das einfache hereditäre Irreseln.
Irresein aus Zwangsvorstellungen (Maladie du doute et du toucher).
Eine Zwangsvorstellung an sich macht noch keine psychische
Störung aus, so wenig als eine Hallucination. Nicht wenige Menschen
sind durch solche heimgesucht, vermögen sie aber zu beherrschen,
wenn auch nicht zu unterdrücken. Dies gilt namentlich von den ein-
fachen Zwangsvorstellungen, auch von manchen harmlosen der verti-
giuösen Form. Sowie aber eine depressive Gemtithsreaction (bei den
stationären) oder eine ängstlich rathlose (bei der Grübelsuckt) hinzu-
tritt, und, was in der Regel nicht ausbleibt, Zwangsacte oder Willens-
hemmungen folgen, so ist der Beginn einer wirklichen Seelenstörung
gegeben.
Acut und mehr nur transitorisch treten hier und da bei Neur-
astbenikern gewisse barocke Zwangsvorstellungen ein, rütteln einen
heftigen Schreck- oder Affectsturm auf, führen wohl auch zu einigen
metaphysischen Zwangsreflexionen, tauchen aber nach einigen Stun-
den oder Tagen wieder unter, um auf Jahre, selbst auf das ganze
Leben hinaus sich nicht wieder zu zeigen. Nicht selten liegen diesen
Krisen acute gastrische Verstimmungen (cessirende Hämorrhoidalblu-
tung) zu Grunde.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die „Grübelsucht"
von chronischem, wenn auch ausgesprochen remittirendem Charakter.
Nach einem hypochondrisch - nervösen Vorstadium, manchmal aber
auch ohne nachweisbare Einleitung, tritt plötzlich — toto de coelo —
ein Zwangsgedanke ein, welchen der Kranke nicht mehr losbekommt.
Manchmal liegt dieser im „Wurf", d. h. in der Directive der Auf-
merksamkeit, welche eifrig nach einer ErgrUndung der (neurasthe-
nischen) Unbehaglichkeit gesucht hatte und endlich — zufällig —
irgend ein Wort hört, einen Namen liest, eine Beobachtung macht,
welche zu passen scheint. Damit ist der „Zwang" fertig, und die
Gemüth8ruhe dahin. Sofort verbindet sich eine wachsende Angst mit
der neuen Entdeckung, und, um der Angst zu entfliehen, ein Drang
zu neuem Grübelu. Die intellectuelle und gemUthliche Unruhe nimmt
zu, dort als Zwang immer neue Fragen zu stellen und verificirende
Antwort zu holen, hier als gesteigerte Rathlosigkeit.
Der Kranke weiss nicht mehr sich zu helfen: das ewige Fragen
bringt ihm keine befriedigende Autwort; aber das Schweigen be-
ruhigt ihn noch weniger; er kann es nicht halten. So fragt er denn
wieder, immer besorgter, und endlich in klopfender Angst: dass er
Sc b AI e, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 30
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4<JG
Das hereditäre Irresein.
am Ende ein Wort hören könnte, welches ihn nicht beruhigte, und,
zähe festhaftend, seine Unruhe nur vermehrte. Er lechzt nach Trost;
aber er muss fürchten nur neues Gift darin zu finden.
Mittlerweile ist schon Arzt um Arzt berathen worden, Bad um
Bad frequentirt; und doch was helfen die Curen? Soll das Wasser
kälter, oder nicht vielmehr wärmer angewandt werden? Wann soll
gefrühstückt, waun und wie die körperliche Bewegung angewandt
werden ? Ueberall nur Fragen und peinliche Skrupel ! Jede Bemer-
kung aus dem Munde eines Dritten fordert neue Vergleiche heraus
und bringt neues Schwanken; der Kreis der Augstgedanken erwei-
tert sich. Wenn er — der Kranke — diese Erwägungen für sich
zieht, und Andere nicht: ist er nicht Schuld, wenn diese sich dann
Schädigungen durch ihre Unwissenheit holen? Zu den hypochon-
drischen Gedanken treten jetzt auch melancholische, in Form von
Vorwürfen und Selbstanklagen über Feigheit oder sträfliche Gleich-
gültigkeit. Nun geht die Schraube weiter; an die Selbstquälereien
des Tages und der Stunde reiht sich der gleich peinliche Rückblick
auf die Vergangenheit: Uberall Unterlassungen und Pflichtwidrigkeit.
Der Kranke wird immer verzweifelter; er kann bald auch an seine
Geburt, an seine Eltern nicht mehr denken, ohne ihnen und sich zu
fluchen. Kalter Schweiss Uberfällt ihn; es kommt zu Herzpal pitatio-
nen und Ohnmachtsanwandlungen, nirgends ein Ausweg — er muss
sich den Tod geben.
So ziehen sich in unermesslichem Weh die Wochen dahin; der
Kranke foltert sich in den conträrsten Anschauungen Uber einen
Gegenstand; er wird in seinem Urtheil ganz abhängig von den äus-
seren Eindrücken, und diese auferzwungene Aenderung seiner Ge-
danken, diese peinlich gefühlte Abhängigkeit seines Gehirns von
aussen bedrückt ihn, und macht ihn absolut rathlos und schwan-
kend. Er kommt aus der Angst nicht mehr heraus. In den un-
ruhigen Stunden leidet er Folterqualen, und in den ruhigeren ist er
erschöpft und bangt vor den möglichen neuen Schrecken: in sich
Verwirrung, ausser sich verwirrende Wahrnehmungen. Die aus deu
Mienen und Worten der Umgebung gefühlte Bedrohung seiner müh-
sam zusammengehaltenen Selbstdirective macht ihn immer menschen-
scheuer und verbitterter. Zur Verzweiflung Uber sich kommt nun
auch das vollendete Misstrauen gegen Andere.
Es folgen nun Tage von höchster Gereiztheit, in welchen die
Mücke an der Wand ihn ärgert. Und wenn er nur in seinen „be-
rechtigten" Klagen festzubleiben vermöchte! Aber kaum hat er seiner
Beschwerde Luft gelassen, so beginnt sofort auch wieder das ängst-
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Einfaches hereditäres IrreseiD. Maladie du doute.
•1G7
liehe Schwanken, ob nicht seine Ansprüche zu gross und gar für die
Anderen zum Nachtheil seien? — und das Gefühl der „Berechtigung"
ist wieder dahin. Von der Erbitterung Uber die Anderen wendet er
sich zur Verachtung Uber sich selbst.
Aber noch ist die volle Höhe des Leidens, dessen innere Qual
durch die täuschende Correctheit eines luciden Verstandes Uberdeckt
ist, nicht erreicht. Unzählige Krisen sind über den Kranken mittler-
weile hinweggegangen; aber sie sollen von nun an nicht bloss als
Wirklichkeit, sondern auch als Schreckbilder der Phantasie wirken.
Der Gedanke an den möglicherweise kommenden Zwangsgedanken
wird zur Zwangsvorstellung zweiter Potenz. Die tausendfach ausge-
standene Angst wird im Rück- und Vorausblick zur gedoppelten
Zwangsempfindung: zur Angst vor der Angst! Sie Uberschleicht den
Kranken in den ruhigsten Stunden, schreckt ihn mitten in der Con-
versation, im Theater, beim Spiele auf; umsonst, dass er ihr ent-
fliehen will. Die ideelle Angst lässt die wirkliche heraufziehen; der
Kranke ermannt sich, will lieber still halten. Aber hat er denn jetzt
recht gethan? Neuer Skrupel und — Krise.
So ist es auch mit den Zwangsgedanken der verschleuderten Zünd-
hölzchen , der offen gelassenen Fenster oder Ofenklappen u. s. w. Da
wird nachgesehen und geprüft, und, kaum gethan, ist der Zweifel wieder
da; und so wird fortgefahren zu verificiren und — zu grübeln. Oft
bringt Verrammeln der verpönten Oeffnungen die subjective Gewissheit,
dass nichts offen sein könne; aber dann kehrt sich die Angst in's Ge-
gentheil um, ob diese Clausur jetzt die richtige? Ob nicht neue und
grössere Uebelstande dadurch geschaffen seien? Es hilft auch nicht,
dass Andere nachsehen; könnten diese sich nicht getäuscht haben?
Manchmal nützt dagegen Eines über die drohende Angst hin-
weg: die ruhige Fassung mit dem Entschluss fester Resignation —
komme was da wolle; was liegt daran? Gelingt es unter diesem
philosophischen Quietiv die Gedanken sachte anderwärts zu concen-
triren (Beschäftigung) oder reflexmotorisch abzulenken (Spaziergang
u. s. w.) , so wird nicht selten die drohende Krise vermieden oder
abgeschwächt.
Immer geht auf dieser Stufe der Krankheit ein mehr minder aus-
gesprochener Status nervosus mit einher: Kopfdruck, epigastrische Be-
klemmung, vasomotorische Zustände, gastrische Verstimmungen u. 8. w.
Peinlich ist namentlich bei vielen Kranken die Schlaflosigkeit, bei An-
dern die Obstipation und Appetitlosigkeit.
Allmählich meldet sieb, in günstigen Fällen, Besserung an, bald
nach Wochen, bald erst nach Monaten. Der Kranke sagt sich selbst,
dass er sich um zu viel bekümmere, was eigentlich Andere anginge,
30*
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468
Das hereditäre Irresein.
und nicht ihn selbst. Aber er kann seiner Einsicht lange nicht zu
einem wirksamen Vorsatz verhelfen: immer wieder kommen Rück-
fälle, oft in der alten Schwere.
Die fortschreitende Reconvalescenz zeigt sich daran, dass die
Zwangsgedanken, wenn sie wieder sich einstellen, mit abnehmender
Aflfectstärke verlaufen. Aber auch diese Regel hat ihre zahlreichen
Ausnahmen. Körperlich bessert sich der Schlaf und besonders die
Verdauung. Jetzt bleibt auf kürzere oder längere Zeit ein ängst-
liches, empfindliches und reizbares Wesen; der Kranke ist durch
seine Kritteligkeit und Unleidlichkeit noch ein recht schwieriger Gast.
Immer mehr tritt an Stelle der Aengstlichkeit eine einsichtsvolle Vor-
sicht, wenn auch oft noch in unnöthiger Ausdehnung. An ihr rankt
sich der Kranke wieder allmählich zum Vertrauen zu Sich herauf.
Eine „Selbsthilfe" wendet er auch jetzt noch an, indem er Uber ge-
wisse Dinge (die er fürchtet) nicht fragt, der Erzählung von Un-
glücksfällen u. 8. w. aus dem Wege geht, Zeitnngslectüre meidet. So
arbeitet er sich wieder in die Genesung, welche (soweit es die vor-
handene nervöse Anlage gestattet) eine vollständige sein kann. Nicht
selten ist der Kranke nach einem derartig glücklich bestandenen Par-
oxysmus wohler, als Jahre zuvor.
Zwischen diese protrahirteren Fälle und die zuerst angeführten
acuten sind jene zu stellen, in welchen die Krankheit in schubweiseu
oder periodischen Paroxysmen auftritt, mit oft jahrelangen Intervallen,
und in dieser remittirend-exaeerbescirenden Weise durch das ganze
Leben hindurch dauert.
Bei dem letztbezeichneten Verlaufe können verschiedene Varie-
täten — Weiterentwicklungen der Grundkrankheit — stattfinden. Dies
geschieht in mehrfacher Weise (s. Allg.), gewöhnlich aber in zwei
klinischen Typen: 1. indem die Zwangsvorstellungen zu Zwangs-
handlungen und darunter besonders zu einer eigenen Form negativer
(„Hemmungs"-)Acte führen; und 2. indem der Zwangsgedauke zur
fixen Wahnvorstellung wird, mit depressiver Reaction (Zwaugsgedan-
ken-Melancholie).
Ad 1. Hier gehören zunächst jene Fälle von Maladie du doute, in
welchen die Kranken „zur Selbsthilfe" sich in eine automatische Tages-
beschäftigung einbauen, um durcii diese selbstgewählte Zwangsarbeit sich
von ihrem Gedankendrang zu entlasten. Frauen strickeu täglich von
Morgens bis Abends kleine Beutelchen in allen Farben und Zeichnungen;
Männer schneiden sich unverdrossen Dutzende von Spazierstöcken, alle
von derselben Form und Grösse; andere malen dieselben monotonen Fi-
guren, oder schreiben Hefte voll mit denselben Buchstaben u. s. w.
Sodann aber ist hier jene Reihe von Zwangsacten resp. Zwangs-
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Einfaches hereditäres Irresein. Maladie du toucher.
469
*
Unterlassungen aufzuführen , welche psychologisch auf dem Gedanken
einer möglichen Verunreinigung beruhen und aus dieser Angst zur Ver-
meidung gewisser Objectberührungen schreiten (Mala die du toucher).
Der Kranke ist dabei nicht selten von der Unsinnigkeit und Lächer-
lichkeit seines Thuns durchdrungen; aber er kann nicht anders. Be-
schmutzte Strassenstellen bannen ihn schon aus der Ferne gebieterisch
zum Stillstehen, damit er dieselben ja nicht berühre, oder veranlassen
ihn Umwege zu machen; aber auch so vermag er von der Furcht, ob
nicht doch etwas Unreines an seine Stiefel oder Kleider gerathen sei,
nicht loszukommen. Oft ist es auch der Angstgedanke einer möglichen
Schädigung durch gewisse Gegenstände, welche deren Berührung pein-
lich meiden lässt. So kann der Anblick einer an ein Haus gelehnten
Leiter eine beklemmende „BerUhrungs"furcht erzeugen, und sogar irra-
diirend über die eigene Sorge hinaus sich noch zur vervielfachten Angst
einer möglichen Verunglückung Dritter durch dieselbe „Berührung" er-
weitern. Dabei bleibt es nicht bei der einfachen Handlungshemmung: je
stärker die Furcht, desto heftiger die dämonische Kraft der Anziehung
durch den gefürchteten Gegenstand. So begegnet es in diesem inneren
Kampf und Streit nicht selten, dass der rathlose Kranke geradezu in
das gefürchtete „Unglück" hineinzurennen impulsiv sich getrieben fühlt —
nur um einmal Ruhe zu bekommen.
Unter den besonders gescheuten Berührungsgegenständen figurirt na-
mentlich Metall (Thürklinken) und Glas. Der Kranke weiss sich in seiner
Noth dagegen oft nicht anders zu retten, als dass er sich von einer zwei-
ten Person begleiten und unterstützen lässt — nur um nicht der sonst
unvermeidlichen Krise zu verfallen.
Der Ausgang dieser Varietät, der Maladie du toucher, ist in der
Regel ein ungleich ernsterer, als bei der einfachen Maladie du doute.
Die Kranken gehen in ihren Grübeleien und ihrer „Schmutz"fnrcht ganz
auf, und in gleichem Schritte für die Aussenwelt verloren. Ihre mono-
tone Sisyphusarbeit besteht Tag um Tag im Reinigen der Zimmer (wo-
bei manchmal sogar der Bodenstaub mit der Zunge abgeleckt wird),
im hundertfachen Waschen der Hände, im ewigen Bürsten und Schüt-
teln der Kleider, in einer täglich wiederholten, immer pedantischeren und
kleinlicheren Regelmässigkeit in Anordnung und Aufstellung der Zim-
mergeräthe, mit peinlicher Verbannung aller gläsernen und metallenen
Objecte. — Manchmal gelingt es dem schwer geprüften, übrigens ganz
lucid gebliebenen, Kranken von selbst seinem ermüdenden Sclavendienste
einige freie Stunden abzugewinnen. Aber eine einzige, von ihm unbeab-
sichtigte, Aenderung in der gewohnten Pedanterie des Wohnzimmers (Ver-
schieben eines Buches oder Papiers auf dem Tische) genügt, um den
Kranken sofort in Verwirrung und Beklemmung zu bringen. Nur durch
immer vollständigeren Abschluss von Aussen und Einbau in die eigene
Welt weiss er sich noch vor der Gefahr täglich und stündlich wieder-
holter Krisen zu retten. Die Meisten verarmen dabei zu traurigen Egoi-
sten ; Andern dagegen gelingt es ausser der geschonten Intelligenz auch
noch ein leidliches, wiewohl immer matteres, Geraüthslebeu zu bewahren.
Ein eigentlicher Blödsiun tritt nicht ein. — Die Fälle mit Zwangsvorstel-
lungen, welche sich aus der hereditären Neurose in die hysterische weiter
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470 Das hereditäre Irresein.
entwickelten, theilen in ihrem Vorlaufe das Schicksal dieser (s. hyster.
Irresein).
Ad 2. Der Uebergang gewisser Zwangsgedanken in Wahnvorstel-
lungen vollzieht sich unter gleichzeitiger Umwandlung der klinischen Zu*
standsform in eine wirkliche Melancholie. Die ausschlaggebende depres-
sive Stimmung — der melancholische Affect — ist dabei die naturgemä&se
gemtithliche Reaction durch und in Folge der Zwangsvorstellung. Dies
findet namentlich in den Fällen statt, in welchen der Inhalt der letzteren
den weiteren Schluss auf eine Selbstanklage enthält, so besonders bei
bla8phemischen Zwangsgedanken. — In anderen Fällen bleibt die Zwangs-
vorstellung als solche, d. h. als fremder Eindringling bestehen, und der
depressive Affect entwickelt sich aus dem endlichen VerzweiflungsgefUhl,
dieses schreckliche Alter Ego nicht mehr los zu werden (so bei den Er-
innerungen von Schauererlebnissen, oder bei dem Zwangsgedanken: der
Urheber eines vorgekommenen Verbrechens zu sein).
Anhang. Der Querulanten -Wahnsinn — das Irresein der
Proeesskrämer.
Die Entwicklung dieser Krankheitsgruppe, zugleich einer der
klinisch bestcharakterisirten, geschieht meistens aus der hereditären
Neurose, und setzt an dein unvertilgbaren, man möchte sagen: ein-
gebornen Misstrauen an, welches viele dieser Existenzen von Haus
aus begleitet. Sehr häufig, ja in der Regel, reicht auch ein origi-
närer sittlicher Defect in die Genese der Krankheit hinein, ein StUck
Moral Insanity, welche den Träger von jeher eine eigenartige
Rechtswelt hatte schaffen lassen: einen Cult schrankenlosen Egois-
mus mit entsprechend reducirtem Rechtsgefühl für Andere, und da-
neben eine durch dünkelhaftes Selbstgefühl getragene geistige
Beschränktheit, welche in die Aufstellung von rechtfertigenden
Scheingründen für die selbstsüchtigen Rechtsbestrebungen ihre Stärke
zu setzen gewöhnt war. Die Vorgeschichte dieser Processer enthüllt
meist ränke- uud streitsüchtige Charaktere von Jugend auf, Thu-
nichtgute, welche von jeher Alles besser wissen wollten, eine um
die andere Erziehungsanstalt oder Lehrstelle quittirten, weil sie
Uberall Händel bekamen, jeden Widerspruch als frechen Eingriff in
ihre Rechtssphäre brutal zurückwiesen, und rücksichtslos auf ihrem
„Schein" beharrten. Andere wieder Hessen früher weniger in ge-
müthlicher als in intellectueller Richtung ihre defecte Aulage her-
vortreten; sie zeigten sich als flatterhafte Hospitanten in allen
Berufsgebieten, nirgends sich gründlich orientirend, in Allem Etwas
und doch Nichts im Ganzen, ihr seichtes Wissen durch desto grös-
J by Google
Querulanten- Wahnsinn.
471
sere Zuversicht und Beredtsamkeit verhüllend. Bei diesen bedarf
es in der Folge erst noch eines Anpralls au die harte Wirklichkeit,
um ihre Luftschlösser zerstört zu sehen — während die erstem in
regelmässiger Weiterentwicklung ihrer krankhaft hyperästhetischen,
brutal negirenden Charakteranlage zum Schiffbruch gleichsam prä-
destinirt sind. Beide stürzen gleichmässig auf den ersten äussern
Bankerott in die Illusion einer widerrechtlichen Beeinträchtigung
durch Machinationen, Intriguen von aussen; sie werden verfolgungs-
wahnsinnig.
In den typischen Fallen wird diese Vorgeschichte nie vermisst wer-
den. — Jedoch sind stark belastete hereditäre Stammbäume nicht immer
aufzudecken; in diesen (wenigen) Fällen ergeben sich die gleich werthigen
erworbeneu Schädlichkeiten für eine degenerative geistige Hirnentwick-
lung: Kopfverletzungen , acute Hirnaffectionen, alkoholistische und ganz
besonders onanistische Excesse. — Bei sehr vielen der angegebenen Fälle
sind direct anch die Stigmata hereditatis (namentlich pathologische Schä-
delbildung) äusserlich wahrnehmbar.
Nicht alle Fälle debütiren übrigens mit einem ersten erlittenen
Misserfolg, in welchem sie passiv die Angegriffenen, Beeinträchtig-
ten spielen. Je nach der Richtung und Energie der immanenten
Moral Insanity können sie auch - gleich Anfangs die Angreifenden
sein; sie gebahren sich hart und widerrechtlich gegen Untergebene,
greifen rücksichtslos in deren Rechtssphäre ein, und stehen activ
und mit offener Waffe dem Einspruch der Billigkeit und Gerechtig-
keit, welche thatsächlich von ihnen gekränkt worden sind, gegenüber.
Ob aber erst passiv oder activ, ob erst unterliegend oder sofort
rechtsstörend, treffen Beide in dem Punkte zusammen, wo ihr Selbst-
gefühl — richtiger, ihr vermeintliches Rechtsbewusstsein — eine äussere
Schranke findet. Von jetzt an gehen sie beide gleichmässig zum Angriff
über: die passiven in dem Wahne des Verfolgtseins, die activen in dem
Gefühl der widerrechtlichen Kränkung; beide in gleicher Weise getrieben
durch diesen „Zwangsgedanken", und erhitzt durch ihr krankhaftes Selbst-
gefühl. Es liegt ein manisches Element, ein Zug von rücksichtsloser,
alle Hindernisse überspringender Gewalttätigkeit in dem nunmehr begin-
nenden Vorgehen, uud gleichzeitig ein Grundzug unermesslicher geistiger
Schwäche, insofern der Kranke in immer neuen dialektischen Floskeln
sich behagt, die docli bei nur einiger Reflexion zerstieben müssten, und
(echt wahnsinnig) am Scheine sich unbefriedigt abmatten muss.
Auf die erste Niederlage vor Gericht erfolgt nun die erste que-
rulante Reaction. Der Kranke, in seineu Rechtsanspruch verbohrt
uud durch dessen Abweisung verbittert, schreitet zum Recurs, und
verfolgt diesen auch durch alle zugängigen Instanzen. Dabei wird
oft die fein abgewogene Taktik befolgt, in Nebensachen sein „Vor-
gehen" anzuklagen; aber der scheinbare Rückzug geschieht nur,
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472
Das hereditäre Irresein.
um desto schärfer im Hieb auszuholen, und schliesslich den Gegner
auch für das eben eingestandene „Unrecht", als ein provocirtes, ver-
antwortlich zu machen. Jede neue Niederlage, weit entfernt ihn
zur Besinnung zu bringen, schärft nur seinen Widerstand und seine
Angriffslust. Tritt er eine Freiheitsstrafe an, so verbringt er diese
mit endlosen Beschwerdeschriften, welche alle nur Variationen des-
selben Themas sind: er ist im Rechte, alle Andern im Unrechte.
Kaum entlassen, setzt er seine Sisyphusarbeit ruhig fort; zum Zwangs-
gedanken tritt nun auch sein beeinträchtigtes „Rechtsgefühl" als
Zwangsimpuls; er fühlt sich bald nicht nur berechtigt, sondern
geradezu verpflichtet, die Sache nicht ruhen zu lassen, „um dem
Rechte auch der Andern zum Siege zu verhelfen". Das erst unter-
drückte Selbstgefühl schlägt jetzt in ein exaltirtes um und erweitert
sich: der Kranke weiss sich jetzt als Vorkämpfer für die Sache
aller rechtlos Bedrängten; er streitet für die „Menschenrechte".
Mit diesem verstärkten manischen Impulse kommt nun auch
der anfänglich erst in der Stille gehegte Verfolgungswahn zur rech-
ten Wirksamkeit: der Kranke muss nicht nur für sein und der An-
dern Recht kämpfen, — er muss auch seine „Feinde" und die gegen
ihn geschilderten Intriguen entlarven. Dadurch wird der stille Groll
zum offenen Feldzug gegen Beamte, Richter, Zeugen. Nun häufen
sich die Eingaben und Recursschriften mit Anklagen und Ehren-
beleidigungen; von einer Instanz wird die andere beschritten; jede
Niederlage und gerichtliche Busse erhöht die Processwuth und die
gereizte Verstimmtheit. Das Sachliche in der anfänglichen Klage
tritt immer mehr gegen das persönlich Gehässige zurück; an die
Stelle der anfänglichen Gründe rücken Sophismen und rabulistische
Düfteleien; die Ehrfurcht vor dem Gerichte artet immer mehr in
Zänkerei und rohe Verunglimpfung der („sittlich unempfindlichen")
gerichtlichen Personen aus; die Moral Insanity in ihrer reizbaren
Form bestimmt Rede und Schriftausdrnck des Kranken.
Sehr oft täuscht den Laien jetzt immer noch die raisonnirende Dia-
lektik und der wirklich oft nicht ungewöhnliche Scharfsinn, womit der
Kranke seine vermeintlichen Reehtsgründe vorzuführen weiss. Aber was
heisst diese erhalten gebliebene formale Logik gegenüber der that-
säcliüchen Hornirtheit, womit der Kranke ad absurdum vorgeht, wenn er
wirklich Uberlegen könnte? Wie kindisch schwach nimmt sich die Reclits-
verfechtung einer Bagatelle aus — gegenüber der ungleich grösseren Ein-
busse an idealem und materiellem Kesitzthutn, welche ihm jeder neue un-
glückliche Instanzenzug vor Augen führt! Wie reimt sich die rohe und
oft geradezu gemeine Schreibweise mit seiner sonstigen Bildungsstufe;
wie die religiösen Phrasen mit den niedrigsten Schimpfworten; wie seine
grobe Angriffsweise mit seiner eigenen Ueberempfindlichkeit zusammen?
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Querulanten- Wahnsinn.
173
Er handelt eben so, weil er so handeln muss, consequent, aber mit fal-
schen Prämissen, nnd unbesonnen, weil er organisch getrieben ist, und
zweckwidrig, weil seine Einsicht gestört, sein sittliches Empfinden defect,
und Denken und Fühlen dazu noch manisch „getrieben" sind.
Nicht so selten kann das gekränkte angriffsbed Urftige Rechts-
gefUhl anch zu einer criminellen That führen, in Form eines Atten-
tats auf die vermeintlichen Bedrücker. Es gibt thatsächlich wenige
gefährlichere Kranke, als einen verfolgungswahnsinnigen Querulanten.
Eine Reihe von Homicidien sind in der forensen Literatur verzeichnet.
Mit dem Fortschritt der Krankheit kommen nun auch die con-
creten Illusionen, wie sie dem Verfolgungswahn eigen sind. Der
Kranke greift zu „Symbolisirungen" von Thatsachen, die er im
Sinne seiner fixen Idee umdeutet. Vorgänge in der Gerichtsver-
handlung, gereizte Worte des Richters oder der Zeugen, endlich die
barmlosesten Nebendinge gewinnen bei ihm Gewicht und erhalten
„Bedeutung". Jetzt wird er immer zäher in seiner Verteidigung,
immer berechtigter in seinem Vorgehen; denn Alles redet nur die
Eine Sprache seiner widerrechtlichen Verunglimpfung, der allge-
meinen Verschwörung gegen ihn. Sehr häufig tritt hinter dieser
dunkeln Folie die heitere eines exaltirten Wahnsinns auf: der Kranke
fühlt sich als Werkzeug Gottes, welches für das göttliche Recht ein-
zutreten und zu kämpfen hat; er proclamirt laut, dass er lieber auf
dem Schaffote sterben, und jeden Augenblick dazu bereit wäre, als
zu widerrufen- („was Lüge wäre"), oder nachzulassen in seiner gros-
sen Mission.
Es kann sich so ganz das Symptomenbild des originär Verrückten
aufschliessen im Gewände des Processkramers. Fülle dieser Modification
zeigen dann auch den intellectucll erfassten Grössenwahn: sie dünken
sich als Prätendenten, als reiche Erbschaftscandidateu. In der Schrift
finden sich die charakteristischen Unterstreichungen neben den Stylproben
verschrobener, verzwickter Inductionen (der originären „Paralogik'), manch-
mal eines widerspruchsvollen bombastischen Unsinns. Intercurrent köunen
auch Hallucinationen auftreten, theils als Gesichte, theils als aufmunternde
Stimmen.
Der ethische Zerfall wird im Weiterverlauf immer grösser. Jede
neue Demüthigung steigert die affective Reizbarkeit, und diese ge-
nügt sich bald nicht mehr mit den einfachen Angriffen auf die „in-
famen" Urtheilssprüche (welche in den Augen des Kranken „unsitt-
lich" und damit rechtlich unverbindlich sind), und deren Verkündiger;
sie schreitet nun auch zur boshaften Lüge und Verleumdung, welche
keine Grenze mehr kennt, und schliesslich gegen den gesammten
Rechtsstaat und dessen höchsten persönlichen Träger den Krieg er-
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•474
Das hereditäre Irresein.
klärt. Von den Schmähungen gegen die Richter („welche die fremde
Ehre rauben, um die eigene Blosse zu decken"), oft während der
offenen Gerichtsverhandlung, wird zur Majestätsbeleidiguug Uber-
gegangen; auf die Worte folgen offen verkündete, gefährliche Droh-
ungen. Eine Haftstrafe zieht die andere nach. Das Gefängniss
schreckt längst nicht mehr ab, selbst das angedrohte Irrenhaus nicht,
weil der klagebedürftige Kranke „dort die Gelegenheit habe, seine
Querelen vor Leuten vorzubringen, die ihn anhören inüssten". So
übermächtig und blind ist die Streitsucht nur des Streites wegen!
Für die Weitergestaltung der Krankheit selbst bringt der An-
staltsaufenthalt zunächst keinerlei Aenderuug; der Kranke fährt
wirklich gerade so wie draussen mit seinen endlosen Schreibereien,
Recbtsprocessen, Dcnunciationen fort; Anfangs guter Stimmung, weil
er fest auf baldigste gesundheitliche Freisprechung und dann vereinten
Sturmlauf, zugleich mit seinen ärztlichen Verbündeten, gegen die
Rechtsunterdrücker draussen rechnet. So wie aber weder das er-
hoffte Gesundheitsattest, noch das Trutzbündniss sich einstellen will»
wird die Angriffsfront des Kranken gewendet, und gegen Arzt und
Wärter vorgegangen.
Da kommen die Klagen und Eingaben über widerrechtliche Frei-
heitsberaubung, über Briefunterschlagung, falsche Berichterstattung nach
aussen; alle einst geübten Titulaturen (Lügner, Diebe, Betrüger, Schur-
ken) werden jetzt gegen die Anstaltsvorstände hervorgeholt; mit andern
Unzufriedenen wird Chorus gemacht, bald in der Stille des rabulistischen
Winkeladvocaten, bald als öffentlicher Ankläger, namentlich bei Besuch
von Fremden. Briefe werden geschmuggelt, an Wärtern allerlei Corrup-
tion versucht, jeder kleinste Mangel im Ordnungsdienst gebucht und dann,
verdreht oder maasslos übertrieben, zu ewigen Querelen aufgebauscht
Die bei zugangigen Kranken heimlich untergrabene Anstaltsdisciplin wird,
wo möglich, zu einer Offensive zu treiben gesucht, auf welche sie in bos-
hafter Freude ihre anscheinend nun vollberechtigte BeschwcrdcfUhrung
aufbauen; gelegentlich wird bei einem zufälligen Streite Dritter vom
Querulanten absichtlich dreingeschlagen — „um abzuwehren", wenn er
sich rechtfertigen soll, in Wahrheit aber, um hinterlistig ein Delict zd
schaffen, aus welchem in perfidester Weise neues Capital geschlagen
wird. Kaum treibt eine erregte, verfolgungswahnsinnige „Moral Insa-
nity" hässlichere Zeichen zu Tage, als diese überlegte Bosheit alter Que-
rulanten. Angriffe auf das Leben der Acrzte und Wärter, auf den Be-
stand der Anstalt (Brandstiftung) sind an der Tagesordnung; nicht minder
raffinirte Entweichungen. Bei energischem Entgegentreten seitens der
Hausordnung wird auch episodisch mit einer Zorntobsucht, mit brutalem
Zerstören, unbeugsamem Trotz, Nahrungsverweigerung geantwortet.
Iu anderu Fällen ist der Verlauf innerhalb der Anstalt günstiger.
Die Kranken setzen wohl durch Jahre hindurch ihre Proteste fort,
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Querulanten- Wahnsinn. — Originäre Verrücktheit. 475
pochen unentwegt auf ihre Rechte; aber der Nerv des einstigen
Affects erlahmt allmählich, und sie werden nachgerade harmlose
Protestler, welche zwar ihre hochtönenden Phrasen fortan im Munde
fuhren, aber durch ein energisches Wort des Arztes, durch eine
Cigarre, eine Prise u. 8. w. sich jeweils wieder begütigen lassen.
Es ist der Decursus in progressiven Schwachsinn, welcher diesen
Husserlich günstigem klinischen Verlauf zeigt. Nicht so selten können
solche Kranke im Verlaufe der Jahre noch zu mehr minder nütz-
lichen Functionären im Anstaltsdienst erzogen werden. Bei charak-
terschwUchern Naturen vollzieht auch der immer härter gewordene
innere Kampf ums Dasein, die unerbittliche Noth, in welche sie
sich in der Länge selbst gestürzt haben, den Uebcrgang zur Ruhe;
die Kranken bleiben unbekehrt, werden aber, in ganz neue Ver-
hältnisse versetzt, fügsamer. Bei einer Reihe von Fällen erzwingt
endlich die Natur selbst diese milde Wandlung: es gibt solche
Processer, welche bis zum Senium sich nur mit ihrem Rechtsphan-
tom herumschlugen und jetzt mit der Involution des Gehirns (zumal
wenn die überhandnehmende Atherose dessen Energie noch mehr
lähmt) als senile abgearbeitete Melancholiker den Rest ihres ab-
gehetzten Daseins im Irrenhause beschliessen. Wieder Andere raffen
sich, durch den Druck der Wirklichkeit nach und nach eines Bes-
sern belehrt, im Leben draussen von selbst wieder zu einer andern
Thatsphäre auf — im Ganzen sehr seltene Fälle; aber sie kommen
vor, namentlich bei jüngern Individuen.
Ich kenne einzelne Fälle, in welchen Jahre lange Querulanten wie-
der zur ( stillen) Resignation auf ihren „gekränkten Rechtstitel" gelaugten,
und jetzt brauchbare Verwendung in ihrem oder einem anderen Berufe
zu finden vermochten.
Secumlär und accidentell tritt der Querulantenwahn nicht selten epi-
sodisch in gewissen Phasen des gewöhnlichen depressiven oder exal-
tirten Wahnsinns, namentlich der periodischen Manie, auf.
D. Die originäre Verrücktheit.
Damit bezeichnen wir jene Gruppe von typischem Wahnsinn,
welcher nicht, wie der erworbene, ein Product einer spätem nervösen
Affection darstellt, sondern aus eiuer anormalen Anlage herauswächst,
indem die ursprüngliche geistige Excentricität und Disharmonie sich
Uber die weitesten zulässigen Grenzen hinaussteigert (Hypertrophie
des hereditären oder hysterischen Charakters). So bei übrigens
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47G
Die originäre Verrücktheit.
geistvoll angelegten Naturen. Das klinische Symptomenbild kann
aber auch eine Form des Niederganges (ein Senium praecox) karg
veranlagter, originär beschränkter Existenzen darstellen, welche ihre
„Atrophie" bald als Verfolgungswahn, bald als täuschenden Grössen-
wahn erfassen (meist gemischt). Die originäre Verrücktheit kann in
einfacher Form verlaufen (so auf Grundlage einer beschränkten gei-
stigen Mitgift mit Torpidität); oder aber mit Hallucinationen sich
compliciren (so bei geistig lebhafter, phantastischer Anlage oder auch
bei erworbener Cerebralasthenie). Die Hallucinationen können, wie
beim Wahnsinn, die primären und grundlegenden Elemente des de-
pressiven oder expansiven Wahnes abgeben; viel häufiger aber steigt
dieser als eine „Eingebung" aus der Tiefe des unbewussten Seelen-
lebens auf (Primordialdelirien). Die secundär hinzutretenden Sinnes-
täuschungen vollenden dessen Ausgestaltung. Die Störungsform ist
chronisch, als Ganzes unheilbar, insofern immer der kranke Rest
bleibt, nicht selten aber aus Paroxysmen zusammengesetzt, welche
einzeln heilen können, aber in der Regel erschwert wiederkehren.
Symptomatologie.
Das Vorlaufstadium der Krankheit muss bis in die Jugend,
nicht selten bis in die Kindheit zurückdatirt werden (s. hereditäre
Neurose).
Die Anlage ist sehr oft aus der Ascendenz vererbt, aber durchaus
nicht immer. Missgriffe in der Erziehung (Unverstand bornirt bochmüthiger
Eltern) spielen manchmal eine ebenso grosse Rolle; auch politische Zeit-
Strömungen können für leicht erregbare nrtheilsschwache Köpfe zur Klippe
werden.
Es sind eigenartige Kinder und Jünglinge „nicht wie andere
Buben und Mädchen", wie die Laien und besorgten Eltern meist
richtig beobachtet haben. Ohne die kindliche Heiterkeit und Ge-
selligkeit, sind es im Gegentheil stille in sich verschlossene Träumer
und Grübler, welche sich früh schon in phantastischen Luftschlössern
behagen; sind sie begabt, so ist es in der Regel einseitig (wenn
auch hier oft aussergewöhnlich). Andrerseits repräsentireu Viele
wahre Ingenia tarda. Gemüthlich fallen sie auf durch ihre Indolenz,
oder gegentheils durch hypersentimentales, oft erschreckend reizbares
Wesen. Der Schlaf ist frühe schon durch lebhafte Träume gestört,
welche nicht selten in das Wachsein hinüberspielen und schwer sich
corrigiren. Manchmal werden Nachts somnambule Zustände beob-
achtet, oder selbst ekstatisch visionäre Anwandlungen unter Tags,
wobei allerlei Ahnungen kommender Grösse vor der heiss erregten
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Originäre Verrücktheit. Beginn. Körperliche Begleitzeichen. 477
Phantasie aufsteigen, eine „heilige" Luft weht, und unter Durch-
8trömung des ganzen Körpers eine unendliche „Klarheit" den jugend-
lichen Schwärmer „durchleuchtet".
Sehr häufig trifft man Chorea. Das körperliche Wachsthum ist oft
tadellos, das Aussehen blühend. In der grossen Mehrzahl fallen aber
frühe schon organische Difformitäten auf: verschobener Schädelbau mit
einseitiger Abflachung resp. einseitig hydrocephalischer Wölbung, rhom-
bische und kielförraige Kopfform, ungleiche Entwicklung der Jochbogen,
der Orbita, Schmal- und Steilheit des Gaumens, Staphylombildung mit
Doppelsehen, Schielen u. s. w., ungleiche Gesichts-Innervation, mangelhafte
Ohr- Entwicklung, Assymmetrie der beiderseitigen Körper-Entwicklung,
ungleicher Stand der Hoden (Weiteres s. bei Idiot.). Die Zähne sind oft
sehr hinfällig. Nicht selten zeigt sich Scrophulose; bei Vielen sind in
frühen Jahren Hirnaflectionen vorausgegangen ; manchmal findet sich ein-
seitige Blindheit von Geburt aus mit diffuser Glaskörpertrübung und
Atrophie der Chorioidea. Bei Andern besteht grosse Geneigtheit zu De-
lirien (oft mit Convulsionen), welche bei den leichtesten fieberhaften Er-
krankungen sich einstellen. Der Geschlechtstrieb, gleichen Schritt hal-
tend mit antieipirter psychischer Entwicklung, erwacht auffallend früh,
und führt schon vor der Pubertät zu kindischen Liebeleien (oft mit bom-
bastisch romanhaftem Schwulst der Diction), oder zu der noch grössern
Gefahr der Masturbation.
Vorübergehend tauchen frühe schon Zwangsgedanken auf, nicht
selten auch Anwandlungen von „Berührungsfurcht". Auch ein un-
motivirtes ängstliches Wesen, häufig mit hypochondrischer Richtung,
wirft besorgnisserregenden Schatten, um so mehr, als der jugend-
liche Frohsinn daneben nicht zum Durchbruch kommt. Beunruhigen-
der noch wirkt die Entdeckung, dass manchmal auch moralische
Defecte sich äussern: Lust am Lügen, am Verheimlichen, am Ent-
wenden, an Thierquälerei. — Nun kommt die schwerste Krise: die
Pubertät. In nicht wenigen Fällen unterbricht diese brüsk die in-
valide Gehirnentwicklung, und führt eine Dementia praecox (s. erbl.
Neurose) herbei; in andern kommt es zur Hebephrenie (s. Idiotismus);
in wieder andern bricht wirkliche Seelenstörung aus, und zwar häufig
in Form eines acuten manischen Wahnsinns.
Massenhafte Sinnestäuschungen, unklarer Grössenwahn, vermischt mit
VersUndigungsgefühlen, mystische Symbolisirung, jäher Stimmungsumschlag
von den „Wonnen des Himmels" zu den „Tiefen der Hölle", vom „Hei-
ligen zum Teufel", intercurrente kataleptische Zustände, vasomotorische
Neurosen, vermehrte Pollutionen u. s. w.
Mit zurückgelegter Pubertät kommen, wenn anders keine Resi-
duen aus dieser Zeit verbleiben, oft längere Jahre der Ruhe und
einer fortschreitenden geistigen Entwicklung. Die Kranken vollenden
Gymnasien und Universitäten, excelliren nicht selten, bleiben aber
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478
Die originäre Verrücktheit.
stets — und immer ausgesprochener — Menschen sui generis. Ge-
müthlich bleiben sie Uberempfindlich, und oft wie Kinder verletzbar.
Dem ganzen Gebabren klebt ein demonstrativer Zug an, namentlich
ein leicht bereites Pathos, neben Gemüthsschlaffheit und Energie-
losigkeit. Viele, welche die Gelehrten- oder Künstlerlaufbahn er-
wählten, bringen es zu keinem Examen und zu keiner Anstellung;
sie schwanken von einem Wissensgebiet zum andern, bleiben nie
stetig, sei es, weil ihr Interesse rasch verpufft, oder weil sie sich
von der Materie nicht befriedigt, oder auch von der Umgebung nicht
genug gefördert glauben, und deshalb in überlegenem Schmollen sich
behagen.
Die Charaktertypen sind so zahlreich — jeder Kranke ist eigentlich
ein Typus für sich — dass eine erschöpfende Allgemeinschilderuug nicht
möglich ist. Hier sind einige der häufigsten: Reiche Bildung und viel
Wissen in die Breite (weniger in die Tiefe); geistreiches Wesen und nocli
forcirteres Geistreich th un, verblüftende Ideenassociation oft in eigenartigen
„Rösselsprüngen"; Vorliebe für Allgemeinplätze und profuse Wortmacherei,
original barocke Einfälle ; überschwenglich in Lob und Tadel, bald naiv,
bald blasirt, in einer Minute sentimental, in der andern derb — und
dies Alles in jähen Uebergängen und buntem Geraisch; in Conversatiou
und Briefen oft geistreich und daneben wieder beschränkt,' raisonnirend
ohne Raison; Vorliebe für hochtrabende gesuchte Redensarten; beim Wider-
spruch verlegen zu einer armseligen Dialektik greifend; stolz auf Prin-
cipien und darin starr und unbeugsam , und daneben ein Spielball von
Launen und Einfällen ; im Leben gutmüthige Sonderlinge , welche sich
theils in dieser „überlegenen" Rolle gefallen, und in der Gesellschaft
zu glänzen suchen, theils aber gcgentheils den Umgang mit Andern mei-
den, ihr ganzes Thun in das möglichste Dunkel hüllen, gern Schleich-
wege betreten, und bei der ihnen stets unliebsamen Anrede unter schönen
Grüssen und Bücklingen, unter einem übertünchten Wesen, ihre innere
Unsicherheit, Hast und Unruhe, die Haltlosigkeit und Zerfahrenheit ihres
Denkens zu verbergen suchen.
Ein anderer Typus: Bornirt geistreiches Wesen, selbstgefällig und
eitel in geschraubter Diction und affectirter Kleidung; gehobenes Selbst-
gefühl, welches mit einem Pessimismus (aus geistiger Uebcrlegenheit)
coquettirt; Neigung zu philosophischen Speculationen mit eigenem System;
einseitiges Sich-fest-Rennen in Einer Idee mit gewaltsamster dialektischer
Verwerthung derselben; Anhänger der unnatürlichen Sexualbefriedigung,
ohne jedoch deswegen die Ehe zu meiden; in letzterer, und trotz der-
selben, Cultus der sexuellen Perversität.
Ein dritter Typus ist (namentlich bei Mädchen): zurückgezogenes
Wesen und krankhaft gesteigerte religiöse Uebungen, Vorliebe für das
Mystische, affectirt prüdes Wesen in der Ehe, welche entweder mit phan-
tastischer Exaltation oder auch gegentheils mit Resignation eingegangen
wird; gleich anfangs oder bald nachher sexuelle Kälte mit überspannten
Keuschheitsideen.
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Charaktertypen. Klinische Formen.
479
Ein vierter Typus: stürmische Jugendzeit mit tollen Excessen, nach-
her Umschlag in Entsagung mit forcirten geistigen Arbeiten durch Tage
und Nächte; dann wieder müssiges Schlendern mit entmuthigeuder Selbst-
kritik; Schwanken in der Berufswahl ; Gemüthsindolenz; selbstgefälliger
Sarkasmus; sociale und politische Unreife mit ebenso entzündbarem als
rasch verglimmendem Enthusiasmus; gänzlich fehlende Selbstzucht; Un-
erziehbarkeit durch die Erfahrungen des Lebens; endlich zunehmende
Misanthropie aus dem Gefühl des Verkanntseins — Helden in der Phantasie,
Kinder in der Wirklichkeit.
Ein fünfter Typus, und ein sehr häufiger, ist endlich der Hysteris-
inus bei Männern und bei Frauen.
Körperlich begleitet alle diese Kranken ein mehr oder weniger aus-
gesprochener Status nervo8U8, häufiger Kopfschmerz, Neuralgieen, Spinal-
irritation, erhöhte vasomotorische Erregbarkeit mit grosser Geneigtheit
zu Nasenbluten; bei» jungen Männern gesteigerte Pollutionen, Anomalieen
der Potenz.
Der Beginn der Krankheit kann unbemerkt in der Stille sich
vollziehen, oder aber geräuschvoll unter tobsüchtiger Erregung in
Scene treten. Im ersten Falle bildet ein träumerisches Grübeln oder
ein emsiges Nachschauen in allerlei Büchern die Einleitung; der
Kranke fühlt, dass Etwas in ihm vorgehe, und will sich darüber
Aufklärung holen. Andere Male hat er direct an den Mienen und
Blicken einer vorübergehenden Dame die Gewissheit erhalten, dass
sie in Liebe für ihn schwärme, ihn heirathen wolle; oder ein Ma-
donnabild hat ihm ein „Zeichen" für eine besondere Mission zuge-
winkt. Einwendungen und Gegenvorstellungen werden Anfangs noch
entgegengenommen, aber nur halbgläubig; bald wird jede derartige
Insinuation abgewiesen, oft mit drohendem Affect So rückt der
Kranke rascher oder langsamer, oft mit Einem Schlage, in die
fertige Krankheit. Diese kann als einfacher Beeinträchtigungs-
oder Grössenwahn verlaufen; oder aber, mit Hallucinationen com-
plicirt, als eine dieser beiden Formen. Am häutigsten tritt aber das
klinische Bild in einer Mischung beider auf: als depressiver Wahn-
sinn mit Grössenideen, resp. exaltirter Wahnsinn mit Verfolgungs-
wahn (je nach dem klinischen Vorwiegen des einen oder andern
Elements).
Für die klinische Charakteristik der beiden erstgenannten ein-
fachen Formen ist das a.a.O. entworfene Symptomenbild inaassgebend.
Dasselbe enthält für die originären Fälle nur noch die Züge aus der
hereditären Neurose (s. d.) beigemischt. Aus letzterer, welche Eingangs
schon für viele Fälle als directe Vorfrucht bezeichnet wurde, lässt sich
nicht selten die ev. spätere Erkrankungsform direct ableiten, und in
ihrer individuellen, depressiven oder exaltirten, Richtung verstehen. So
wandert die ab ovo geistig schwächliche und ängstliche Natur nach
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480
Die originäre Verrücktheit.
ihren Misserfolgen im Daseinskampfe zu den Misanthropen und Verfol-
gunga- Verrückten, während der sentimentale Schwärmer und Phantast
schon von Jugend auf seinen Don Quixote mitbringt, welcher ihn ohne
Krise — in natürlicher Entwicklung — zum exaltirt-verrückten Roman
tiker ausgestaltet. Eine specielle Betrachtung erfordert hier deshalb
nur noch die dritte Form der gemischten Verrücktheit, um so mehr,
als sie für die originären Fälle die eigentlich typische ist.
Gemischt depressi v-exaltirte Verrücktheit. Das an-
fängliche Entwicklungsverhältniss der beiden genannten Wahnele-
mente ist individuell sehr verschieden. Es kann 1. das exaltirte
Stadium vorangehen. Dem einsamen GrUbler ist das gesuchte
„Licht" aufgegangen: er hat irgend eine Stelle in einem alten
Buche, ein Bild oder eine Zeitungsanzeige aufgefunden, welche nur
auf ihn passt, eigens für ihn hereingesetzt ist; er ist zu Hohem
geboren und bestimmt, hat ein grosses Vermögen zu erwarten, be-
deutende Ehrenstellen; ja, er ist, ohne dass er es seither gewusst
hat, von hoher Geburt und Abstammung, ein untergeschobenes fürst-
liches Kind. Viele legen sich deshalb den Adel bei und verlangen
die geziemende Titulatur. Aber die ungetrübte Freude Uber diese
berückenden Conceptionen bleiben dem Kranken nicht lange be-
schieden. Wie diese ohne bewusste Association und Motiv aus dem
Unbewussten aufgetaucht sind — toto de coelo dastehen ; andere
Male vielleicht noch oberflächlich an wirkliche Erlebnisse resp.
frühere Vorstellungen sich anlehnend — so steigen jetzt aus der-
selben unbewussten Quelle auch Verfolgungsgedauken auf: Verdäch-
tigungen seines Namens, oder Befürchtungen, dass man ihm, dem
Begnadigten, feindlich gesinnt sei und Übel wolle wegen seiner Be-
vorzugung; er ist ein vertauschtes Fürstenkind, aber eine Iutrigue
hat die Hand im Spiele; seine Widersacher haben ein Interesse
daran, dass die Sache nicht herauskomme. Daran baut sich ein
Beachtungswahu auf. — Es kann aber 2. der Verfolgungswahn den
ersten Act des Dramas bilden, und erst im Verlauf dieses sich das
Grössenelement („unter einem Wonnegefühl, als ob der Kranke fliegen
könute") hinzufügen; und endlich 3. können beide Richtungen mit
einander hervortreten, neben einander einhergehen, zeitweise sich
mischen oder verdrängen, abrupt in einander überspringen, jedoch
ohne dass die eine dauernd die andere zu Uberwältigen vermöchte;
in ihrer einzelnen reactiveu Wirkung bald Seligkeit Uber das Ge-
müth legen, bald erbitterte oder resignirte, zu Allem entschlossene
Depression.
Viel rascher und einschneidender, auch häufiger, gestaltet sich
die Krankheitseutwickluug durch die Anwesenheit von Hallucinatio-
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Gemischt depressiv-exaltirte Form. Krankheitsbild. Klinische Typen. 481
nen. Da hört der bis dabin nichts ahnende, höchstens nervöse und
reizbare Kranke plötzlich ein Wort sich nachrufen (es kann ein
Schimpfname, oder gegentheils ein Hinweis auf seine Grösse sein;
allermeist spielen sofort beide Timbre's in einander): es ergreift ihn
mit der Macht einer Offenbarung. Nicht selten kämpft der Kranke
Anfangs noch mit der Kraft seiner bessern Ueberzeugung dagegen
an; dauern aber die Stimmen fort und kehren die „Gesichte" wie-
der, so verwirren sich rasch die Gedanken; er sieht jetzt bald auch
bestätigende Symbole, während sein Selbstgefühl im Kampfe der
freundlichen und feindlichen Inspirationen und Andeutungen sich
höher und höher hebt: die Verfolger müssen zu Boden geworfen
werden (nicht selten werden kurzer Hand auch Gewaltacte geplant) ;
oder der Kranke will sie in ihrer Ohnmacht gewähren lassen; denn
deren Machinationen werden ja bald entlarvt, und ihm dadurch eine
nur noch grössere Folie gegeben. Sagt die „schlechte" Stimme
zum Kranken, dass sein Untergang verschworen sei, so tröstet die
„gute", dass Gott ihn nicht verlassen werde in seiner Noth — und '
der Kranke beruhigt sich, dass auch „dieser Kelch an ihm vor-
übergehen werde".
Ueber die Detailgestaltang dieser ganz in der concreten Individua-
lität wurzelnden Krankheitaform entscheidet der specielle geistige Fonds
im Einzelfalle, sowie Uber den grotesken Inhalt der Grössenideen die
specielle Wissensstufe; dieser wird aus allen Gebieten, oft aus entlegenen
historischen Zeiträumen, bald deductiv, bald inspirirt, hergeholt.
Handelt es sich um Fälle von originärer geistiger Beschränkt-
heit (einseitige Begabung mit Verschrobenheit), welche ihren Aus-
gang in diese Combination von Grössen* und Verfolgungswahn neh-
men, so schaut in der Regel schon bald der manifeste Blödsinn
durch alle flitterhaften Wahnconceptionen und durch das noch so
mysteriöse Gebahren hindurch. Diese werden in den Asylen die
„Fürsten und Kaiser", welche ständig ihre „goldenen Kleider" und
Kronen verlangen, jeden Tag einen Sack Geld erhalten, Millionen
von Soldaten parat stehen haben u. s. w., und nichts desto weniger
nach Absagen ihres Sprüchleins wieder gemüthlich ihren Weg weiter
nehmen, von der Zeichnung ihres Wappens und Stammbaumes ver-
gnügt zur Feldarbeit gehen.
Dahin gehören auch die „Narren" von altem Schrot und Korn, jene
Typen ewiger Heiterkeit und Gutmüthigkeit, voll Ueberschätzung und
Selbstgefälligkeit, jene Effecthascher und Possenreisser, Grosshanse und
Aufschneider, welche Tag aus Tag ein sich ihrer kindischen Spielerei,
einer albernen Ziersucht hingeben, profuse Schwätzer und lebhafte Decla-
Schfkle, Geisteskrankheiten. 3. Anfl. 31
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■182
Die originäre Verrücktheit.
mateurs ibrer „blauen" Erlebnisse, beständig zufrieden in ihrer zweck-
losen Geschäftigkeit, jedem ernsten Treiben abhold, unverdrossene Sammler,
welche stundenlang in ihren Papierschnitzeln mit wichtiger Miene herum-
stöbern, überall ihr kindisches Spiel anheben (hämmern, putzen, schmie-
ren), zu jeder Inconvenienz Seitens der Andern den Lachchor bilden,
eine Stunde mit ihrer Gesundheit und Stärke prahlen, in der andern dem
Arzt mit endlosen unbegründeten Klagen über nichtige Beschwerden
anliegen, in ihrer Sprache vom ernsten Pathos in frivole Cynismen über-
springen — dabei keine eigentliche Wahnvorstellung oder Sinnestäuschung
äussern, über ein leidliches Gedächtniss verfügen, aber im engsten Ideen-
kreise sich herumtummeln, schwach im Urtheil, noch schwächer in ihrem
sittlichen Gefühl; dabei harmlos, nie gewaltthätig oder verletzend, zwar
rasch aufbrausend, aber ebenso leicht (durch eine Pfeife, Cigarre u. s. w.)
wieder bestimmbar.
Anders bei einer reichern nnd geschultem psychischen Anlage.
Da entstehen ausserordentlich mannigfaltige, und namentlich durch
ihren langen Verlauf reiche Krankheitsbilder. So vermögen manche
Kranke bald schon ihre Wahnideen in sich zu verschliessen , und
verrathen dieselben nur an einzelne ausgewählte Personen ; auch die
Regungen ihres Grössenwahnes wissen sie normalen Kategorieen
unterzuordnen; ihre hohe Protectionsstellung wird nur im Sinne
einer allgemeinen Wohlthätigkeit, wenn auch mehr aus „Drang",
denn aus „Reflexion" verwerthet. Solche Kranke verrathen oft nach
aussen d. h. dem Laien gegenüber kaum etwas Anomales, obwohl
sie fortan im Dienste ihres expansiven Wahnes stehen, und alles
Mögliche und Unmögliche aus ihrer LectUre, besonders aus der
sensationellen Tagespresse, im Sinne ihres Verfolgungswahnes ver-
arbeiten. — Bei Andern dagegen bricht gleich im Anfang eine mehr
oder weniger starke Aufregung hervor; sie schreiben Hunderte von
Briefen, lassen sich Abzeichen ihrer verheissenen Würde machen,
nehmen ein überlegenes herrisches Benehmen an, brausen rücksichts-
los auf, werden dann wieder plötzlich sentimental weich, machen
Proclamationen und Proteste mit mystischen Andeutungen, gefallen
sich in schwülstigen Redensarten, dichten und reimen — um daneben
immer mit der Schärfe einer einseitigen Logik jedem Einwand, na-
mentlich jeder Zumuthung einer Krankheit, zu begegnen. Bis zu
einem gewissen Grade wissen sie fein zu dissimuliren ; nur wenn
sie contrariirt werden (dann aber um so maassloser), bricht der
Grössenwahn durch, gewöhnlich mit einer Fluth von symbolischen
Beglaubigungen, welche unbemerkt und unter der Hülle des äussern
Decorum sich ankrystallisirt hatten. Manchmal fällt aber auch nur
eine gewisse Vornehmheit und Steifheit der Haltung auf, eine Nei-
gung sich zu putzen und Toilette zu machen, eine oft ernst nach-
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Gemischt depressiv-exaltirte Form. Weiterverlauf. Ideenassociation. HandelD. 483
denkende, mit plötzlichem Lächeln wechselnde Miene. Nicht selten
kann nach Umflnss von Monaten ein solcher Paroxysmus, welcher
unter Erregungen und Abspannungen ganz regellos verläuft, wieder
bis zum Rest d. h. dem bleibenden eigenartigen Charakter und
Originalwesen abklingen. Wirkliche Krankheits einsieht wird dabei
Dichterreicht; sehr häutig aber besteht doch ein Krankheitsgefühl.
Die Wahnvorstellungen tauchen unter, bleiben jedoch uncorrigirt.
Wohl darum ist auch Recidive, namentlich bei dem misstrauischen,
reizbaren Wesen dieser Kranken, sehr häufig.
Ist der Verlauf sofort zur dauernden Chronicität angelegt, so
arbeitet sich der Kranke, unter partieller Schonung oft eines sehr
grossen Theils seines Bewusstseinsinhalts und seiner logischen Fähig-
keit, immer tiefer in seine „verrückten" Conceptionen hinein. Nach
rück- und vorwärts wird jetzt sowohl Erinnerung als auch Zukunfts-
perspective nach dem herrschenden Wahne corrigirt, und Alles in ein
System gefügt. Neue Stammbäume werden angefertigt, alle Wahr-
nehmungen eigenartig umgedeutet, und dies mit Hilfe einer gleich-
falls immer individuellern Logik — einer wirklichen Paralogik
— für welche die Causalität immer mehr nach dem äussern Zu-
sammentreffen der zufälligen Nachfolge zweier Vorstellungen, als
nach der inhaltlichen Verwandtschaft, und sofort fertig, sich
vollzieht. Es tritt das post hoc gebieterisch an Stelle des wirk-
lichen Motivs.
Die Ideenassociation wird eine so abstruse, dass sie für einen Dritten
nicht mehr verfolgbar, endlich unverständlich ist. Hier, in diesem vor-
gerückten Krankheitsstadium , finden namentlich jene (s. v. v. !) Orgien
des „Worts" als Lautbildes statt, jene Spielereien mit Silben und Asso-
nanzen, welche ebensoviele heterogene Begriffe wachrufen und die Kran-
ken auf Tage hinaus in einen förmlichen Schwindel von Gedanken, Er-
innerungen, Vergleichen u. s. w. gefangen halten. So erklärt ein Kranker:
„Calvarienberg" = Cal i. e. Calle (hebr.) Braut; vari = war, i = Ignaz
(des Kranken jüngster Bruder), en = „Russland" (Aufenthaltsort seines
Bruders). Dazwischen mengen sich selbstgemachte Worte und Bezeich-
nungen von eigenartiger Verzwicktheit. So erwachsen literarische Leis-
tungen, welche, obwohl in deutschen Ausdrücken geschrieben, keinen
einzigen verständlichen Satz mehr enthalten. Reicht auch das selbster-
fundene Wort nicht mehr aus, so treten eigens gemachte graphische Zei-
chen, Ringel, Punkte, allerlei Schnörkel ein, um den „Gedanken" zu ver-
sinnbildlichen.
Für das Handeln des Kranken werden Einfälle, plötzliche Stim-
mungen, Sympathieen und Antipathieen zu den immer mehr und zwangs-
mässiger leitenden Normen, neben und mit den schrankenlos gebietenden
Uallucinationen. Der Kranke darf jetzt nur sprechen und essen, je nach
der innern Eingebung, je nach dem erhaltenen „Zeichen", dem Stande
31*
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481
Die originäre Verrücktheit.
der Sonne, nach einem zufälligen Traume u. s. w.; oder er muss schwei-
gen, an den oder jenen Ort hinstehen , diese oder eine andere Stellung
einnehmen. Dazwischen kämpfen die „guten" und die „bösen" Mächte
um ihn; er bekommt täglich neue Verheissungen, aber auch neue War-
nungen. Der ungelöste Zwiespalt erzeugt reactiv schmerzliche Verstim-
mungen mit rathloser Unthätigkeit und nicht selten mit ernstem Lebens-
überdruss.
Sehr oft schieben 6ich hypochondrische Phasen ein (manche
Fälle beginnen gleich zu Anfang mit solchen), in denen der Kranke
vom bösen Geiste sich „geschwärzt" fühlt, und in seiner Kürper-
form verschoben, mit ungleichen Gliedern, einseitigen Verkürzungen,
Verkrümmungen, dislocirtcn Organen — ganz wie bei den analogen
Fällen in dem erworbenen Wahnsinn.
Körperlicherseits finden sich die mannigfachsten sensibeln, vasomo-
torischen und trophidchen Begleiterscheinungen. Alle Arten von Par-,
Hyper- und Anästhesieen (vorübergehende Beklemmungen), ungleiche Blut-
vertheilung und locale Congestivzustände, un regelmässige Menses, hyste-
rische Lähmungen und Coutracturen, Lanugo im Gesichte, frühzeitige (oft
partielle) Canities.
So kann sich die Krankheit unter Besserungen und Verschlim-
merungen, welche nicht selten eine annähernde Periodicität ein-
halten, durch Jahre, oft bis zum Schlüsse des Lebens, hinziehen.
Der Grössenwahn, zeitweise stark und anspruchsvoll, kann zu andern
Zeiten limitirt, ja periodisch sogar widerrufen werden. Viele Kranke
bewahren durch alle Prüfungen hindurch ihr leidlich, ja oft ein-
seitig voll geschontes, Bewnsstsein; manche bleiben gute Gesell-
schafter, treffliche Spieler, geübte Musiker, gewandte Reimdichter.
Manche imponiren als originelle Denker, und erhalten sich durch
ihre eigenartige Auffassung, durch gelungene Folgerung, strenge
Unterscheidung, genaue Diction, ernste Haltung, einen philosophi-
schen Anstrich.
Tiefer betrachtet, bleiben aber Alle ein Mixtum compositum von
Verstandesschärfe, und wiederum von Verrücktheit und von blödsinniger
Schwäche — theils neben einander auf den verschiedenen Urtheilsge-
bieten, theils zeitlich nach einander, je nach der Disposition ihrer schwan-
kenden geistigen Functionscurve.
Bei nicht Wenigen erhält sich auch ein gemüthlich liebenswür-
diges, sociales Wesen. Manche wenden eine tiefgehende Sympathie
gewissen Thieren zu, namentlich Vögeln, die sie nicht nur auf-
opfernd und hingebend pflegen, sondern in mystischem Cult ver-
ehren (eine Patientin aus meiner Beobachtung suicidirte sich nach
dem Tode ihres Lieblings-Canarienvogels). — Bei Andern dagegen
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Gemischt depressiv« exaltirte Form. Ausgänge.
185
schrumpft das Gefühlsleben zu einem immer verknöchertem Egoismus
zusammen, verbunden mit zunehmender Menschenscheu, Gemüths-
rohheit und einer leidenschaftlichen Reizbarkeit, so dass der ge-
ringste Widerspruch oder eine ungelegene Zumuthung einen Affect-
sturm entfesselt. Andere werden indolent und apathisch. — Daneben
trifft man auch wieder Fälle an, wo der einmal durchgemachte
Paroxysmus zurücktritt und die Kranken sich erholen (ihr Naturell
abgerechnet), und ihrem Berufe, ihrer Familie auf Jahre, selbst
dauernd, wiedergeschenkt sind.
Ist mit dem ersten oder einem der folgenden Anfälle die Bahn
des Niederganges beschritten (was übrigens in keinem Falle be-
stimmt zu prognosticiren ist), so ist der Decursus in der Regel ein
allmählicher, etappenweise stationärer.
Die Reste des ehemaligen Verfolgunga- oder Grössenwabnes erhal-
ten sich; aber der Kranke verweilt nur noch mit geringem Nachdruck
bei denselben, und sucht durch schlechte Witze und fade Bemerkungen
den ungünstigen Eindruck bei Andern zu verwischen. Diese Witzeleien
werden manchmal zur Sucht, bald als beissende Satire, bald als Ironie,
oder herausfordernde Ostentation, und lassen in der muthwilligen Laune
doch immer wieder das krankhaft gehobene Selbstgefühl durchfühlen.
Dazu gesellt sich ein streitsüchtiges, rechthaberisches Wesen. Diese Klasse
der Verrückten wird nach und nach zu den chronischen Winkeladvocaten
der Andern, während sie für sich zu maasslosen Schreibhelden werden,
welche alle Papierstückchen, Bücher, Zeitungen, Wände mit ihrem immer
verschrobenem Gekritzel vollfüllen. Die Stimmung schwankt zwischen
den Extremen einer vorwaltenden Gereiztheit und stumpfen Gleichgültig-
keit; die höhern Interessen sinken. Daneben spielen allerlei Sinnestäuschun-
gen fort mit immer ideenärmererm bizarrerm Inhalt, selten von impera-
tivem Charakter, meistens ohne tiefere Nachwirkung. Nicht wenige Kranke
fühlen die zunehmende Verwirrung ihres Gedankenganges selbst, aber
ohne schmerzlichen Affect. Manchmal treten dagegen ausgesprochene
melancholische Phasen in brüskem unvermitteltem Uebergang dazwischen:
die Kranken werden plötzlich verstimmt, ziehen sich in die hintersten
Winkel zurück, wo sie Tage lang mit ernster, gespannter Miene, nieder-
geschlagenem, thränenfeuchtem Blicke dastehen, misstrauisch werden,
schlecht schlafen und essen (unter gastrischen Störungen), und ihre
Düsterheit mit allerhand Einfällen, selten mit zureichenden Gründen, mo-
tiviren.
Schrittweise abwärts bewegt sich das ganze geistige Getriebe
immer mehr nur noch in den eingelebten Bahnen — täglich die
alten Klagen oder Wünsche, aber mit abklingendem Affect. Das in
seinem tiefsten Innern schwankende Ich hilft sich Uber seine innere
Leere und Unsicherheit immer nothdürftiger hinweg durch den Drang
nach steten „Verificationeu", oft mit Fragezwang, und zur Stütze
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4SI)
Die originäre Verrücktheit.
seiner Orientirung durch eine peinliche Präcision in allen Anord-
nungen des Zimmers und des immer mechanischem Tagesganges.
Alles wird geprüft, wieder geprüft, durch hunderterlei Kreuz- und
Querfragen sicher gestellt. Die geistigen Aeusserungen werden flacher
und unbestimmter, der Kranke rathloser und immer kleinlicher; er
widerspricht sich und widerruft gemachte Angaben, zweifelt an seinen
Aussagen. Durch die innere Unsicherheit und die zunehmenden Ge-
dächtnissdefecte laufen in seinen Reden und Behauptungen immer
bedenklichere Licenzen unter.
Auch der Sinn für das Decorum beginnt Noth zu leiden. Trotz der
äussern Zucht und Ordnung gehen die feinern socialen und ästhetischen
Rücksichten immer mehr verloren; die Kranken sinken zum banalen
Sinnengeniisa herab, essen ohne Wahl und mit grosser Ueissgier, mastur-
biren gelegentlich, verstecken ihren Stuhl in Kleider und Schubladen
u. s. w. Das intellectuellc Leben, welches in inhaltlich und formal wohl
erhaltenen Resten oft noch lange der ohnmächtige Zeuge des unaufhalt-
samen Zerfalls gewesen, geht allmählich in blödsinnige Abstumpfung ein.
Der Kranke wird bis zur Unverständlichkeit verwirrt; er beginnt mit
läppischen Bildern und Zeichnungen sich zu vergnügen, schreibt viel
unsinniges Zeug zusammen, macht Tage lang dieselben sinn- und end-
losen Zahlenrechnungen, treibt allerlei verkehrte Handlungen (legt sich
oft der Länge nach auf den Boden), gesticulirt viel u. 8. w. Zwischen-
hinein wird er nicht selten noch gereizt und plötzlich gewaltthätig. In der
Regel aber behagt er sich in seiner Gemüthsruhe, in welcher er auch
oft harmlos zerreisst und zerstört. Oft erhellt noch ein blöder Grössen-
wahn, mit den barocksten Einfällen, auf einige Zeit die heraufziehende
geistige Umnachtung. Im Laufe der Jahre löscht aber auch dieses letzte
Irrlicht aus; die Kranken sinken zum Kinde herunter, und noch unter
dasselbe. Unbekümmert und auch ohne Verständniss für die Umgebung,
selten mehr durch Worte, sondern nur durch Gesten (ein freundliches
Nicken, ein herablassendes Lächeln) sich äussernd, messen sie Jahr aus
Jahr ein dieselben Abtheilungsräume ab, folgen mechanisch wie ein Uhr-
werk demselben eingelebten monotonen Tageslauf, so dass man die Ge-
schichte von Lebensjahrzehnten nicht bündiger geben könnte, als durch
die lapidaren Worte: „er ass, trank, schlief, schnupfte und starb".
Bei erotischer Wahnrichtung schieben sich nicht selten sexuelle
Perversitäten in den ernsten Krankheits verlauf. Die Kranken fühlen
sich in das andere Geschlecht metamorphosirt (entsprechende Ge-
berden und Kleidung, Nachahmung von Frauenbüsten). Endlich
schliesst eine — wirklich erlösende — körperliche Krankheit das
Drama ab (Phthise, Apoplexie).
Mit dem Eintritte der finalen Lungenphthise wird oft noch eine
Quelle von hypochondrischen Klagen eröffnet, wogegen die frühem ent-
sprechend in den Hintergrund treten. Gleichzeitig greift eine Art schmerz-
licher Resignation durch, unter deren Quietiv der Kranke, vom Stand-
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Das degenerative erbliche Irresein
— die Moral Insanity.
487
punkt des Ueberwundenen aus, weniger lebhaft mehr gegen seinen
Wahn reagirt, und als stiller Dulder nur noch um Schonung und Gnade
bittet. —
Die Behandlung kann nur in einer Anstalt durchgeführt wer-
den, und hat bei dem polymorphen Wechsel der Zustandsbilder die-
selben Indicationen wie letztere, wenn sie nicht- originär auftreten.
Nicht selten werden die Kranken nach einem temporären Asylaufent-
halt wieder auf Jahre hinaus „ganz patent".
£. Bas degenerative erbliche Irresein — die Moral Insanity.
Unter dieser Bezeichnung sind alle Krank heitszustände zusammen-
gefasst, in welchen ein Mangel oder eine Perversion der ethischen
Gefühle (mit entsprechenden Handlungen), neben einer mehr oder
weniger erhaltenen Intactheit der intellectuellen Sphäre, das vorwal-
tende klinische Symptom bildet. Der „sittliche Blödsinn" ist an sich
keine selbstständige Krankheitsform; derselbe erhält vielmehr erst kli-
nische Grundlage und Boden durch den concreten psychischen Zustand
(resp. Cerebralaffection), auf welchem er erwächst. Als solche kennen
wir gewisse manische Zustände, namentlich von periodischem oder
circulärem Charakter, hysterische, alkoholistische, paralytische, epi-
leptische und traumatische Psychosen. Bei allen diesen kann vor-
übergehend oder dauernd die in Rede stehende sittliche Schwäche
form gebend, nnd bis zu einem gewissen Grade unabhängig von dem
gegentheils oft auflallend geschonten Verstände, auftreten, als eine
Modificirung des Symptomencomplexes ; man spricht dann von einer
mit Moral Insanity complicirten Manie, oder von einer in Moral In-
sanity Ubergegangenen hysterischen, manischen u. 8. w. Seelenstörung.
Die Nomenclatur verfuhrt dabei wie bei gewissen Entwicklungsweisen
des Delirium acutum : wie dieses letztere sich an verschiedene psycho-
pathiscbe Zustände anschliessen, aber auch ebenso primär in Scene
treten kann — in beiden Fällen und Entstehungsweisen aber als
so Ich es einen klinisch geschlossenen und im Verlauf übereinstim-
menden Symptomencomplex darstellt — so ist es auch bei der Moral
Insanity der Fall. Ausgehend (nach der einen Form) von einer here-
ditären Neurose, welche bereits die wesentlichen Züge des späteren
Krankheitsbildes mitbringt, bildet sie die einfach natürliche Weiter-
entwicklung jener Anlage. Dieser typischen, reinen, Gruppe steht die
erworbene Moral Insanity gegenüber, welche in dieser Gestalt (theil-
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488
Das degenerative erbliche Irresein —
die Moral Insanity.
weise) zugleich die degenerativen Formen der zugehörigen Psycho-
neurosen vereinigt: in dieser zweiten Gruppe ist auch die intellectuelle
Sphäre, der vorausgegangenen klinischen Entwicklung entsprechend,
inhaltlich mehr oder minder gefälscht (s. u.). Aber die Wahngedanken
sind auch hier nicht tonangebende Motive für das perverse Handeln,
sondern theils nur vage, die Stimmung begleitende und allegori sirende
Schemata (gewöhnlich als Verfolgungswahn), theils den anomalen
ethischen Empfindungen und Drängen angehängte Erklärungen. Es
können übrigens auch die erworbenen Zustände nach dem ersten
Typus einer wahnfreien allgemeinen „psychischen Schwäche" (s. d.)
verlaufen.
Zum psychologischen Verständniss muss hier vorausgeschickt werden,
dass die Wurzel unseres sittlichen Fuhlens — die Befähigung zum „Mit-
leid" — mit unserem inneren Selbst zusammenhängt, und als eigentlicher
Kern unseres Individualcharakters uns angeboren ist. Was wir sittlich
sind, bringen wir mit; was wir sittlich werden, ist das Werk der
äusseren Umstände: des Lebens und speciell der Erziehung. So unend-
lich viel diese vermag, so kann sie doch nie jenen Kern ändern; sie
kann wohl hemmen und einschränken, durch die Motive der Belohnung
oder Bestrafung eine Richtschnur für das praktische sittliche Auftreten
des Einzelnen schaffen ; aber die unbewusste Werthschätzung im sittlichen
Gefühle, d. h. jene innere Nöthigung, wornach wir den Gedankeninhalt
nicht mehr nach dem Utilitätsprincip , sondern an unserer menschlichen
Bestimmung messen — vermag Erziehung allein nicht zu schaffen. Ob
wir altruistisch oder egoistisch zu fühlen vermögen, ist im Wesentlichen
nicht unser Werk, sondern unsere Mitgift. Es gibt aber darin erfabrungs-
gemäss in gleicher Weise Stiefkinder der Natur, wie in der intellectuellen
Begabung: den Genie's der Humanität stehen die sittlichen Idioten gegen-
über. Es ist oben angeführt worden, dass die grundliegenden Defectzustände
auch erst erworben werden können, gerade wie eine Farbenblindheit an-
geboren oder durch ein Hirnleiden acquirirt sein kann. Bildlich gespro-
chen, ist die geistige Netzhaut dieser Menschen anästhetisch, und letztere
in Folge davon ethisch blind. Auszeichnend ist dabei die relative Un-
abhängigkeit dieses Symptoms von der (in der Regel) ungleich geringeren
Schädigung des Vorstellungslebens. Der Verstand — schlechthin als lo-
gische Function aufgefasst — ist, von seinem Inhalt abgesehen, formell
intact, und vornehmlich darin gestört, dass der oft nicht geringe Scharf-
sinn im Schlepptau der perversen Antriebe oder Neigungen hängt, und
trotz seiner Leistungskraft unfähig ist wirksame Gegenmotive zu erzeu-
gen. Es ist die sog. raisonnirende Denkstörung, wobei der Intellect zum
„Advocatus diaboli" der anomalen Gemüthsrichtungen erniedrigt ist. Von
diesem Standpunkte aus erscheint das oft glänzende Rechtfertigungsplai-
doyer so recht als ein Zwangspensum, dessen der Verstand sich ent-
ledigen muss, und seine scheinbare Schärfe im Grunde als eine geist-
reiche Bornirtheit; er muss einfach gutheissen, was der kranke Wille dic-
tirt hat. — Es gibt nun freilich im Gebiet dieser sittlichen Defectzustände
auch eine Menge wirklich Schwachsinniger in allen Graden und
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Allgemeines — klinisch und psychologisch.
489
Nuancen der Imbecillität: intellectuelle Idioten neben den sittlichen.
Aber in bemerken 8 werther Weise überragt in der Regel auch bei diesen
tiefsten Entartungsgraden der ethische Mangel den intellectuellen. Viele
solcher Kranker sind theoretisch in ihrem Katechismus sehr gut zu Hause ;
sie wissen viele erbauliche Sprüche herzusagen Uber Das, was man thun
und lassen soll — aber praktisch stehlen und lügen oder morden sie;
sie besitzen wohl die abstract ethischen Vorstellungen, aber diese sind
concret nicht erregbar. Mit diesem letzteren Moment ist ein noch näherer
Punkt für das psychologische Verständniss vieler Moral Insanity-Fälle be-
zeichnet. Der sittliche Defect äussert sich in der Unerregbarkeit, in der
mangelnden Gefühlsbetonung der ethischen Vorstellungen. Letztere sind
also nicht immer nur fehlend ; sondern sie können gegentheils vorhanden,
aber praktisch im gegebenen Momente nicht verwendbar sein. Dieselben
sind nicht reactionsfähig, d. h. sie vermögen im Kampf der Motive nicht
aufgerufen zu werden. Es ist ein abstractes Wissen, aber kein „Wissen
durch Mitleid", wodurch allein wir sittlich zu fühlen und zu handeln
vermögen.
Diesem psychologischen Modus des sittlichen Blödsinns steht nun
ein zweiter gegenüber, welcher nicht auf einem Mangel oder einer
Stumpfheit der ethischen Gefühle sich aufbaut, sondern vielmehr auf
einer übergrossen emotiven Reizbarkeit, so dass in der Ueberstürzung die
höheren sittlichen Urtheile nicht zu Stande kommen, oder aber gegenüber
den lebhaften egoistischen Drängen keine wirksame Geschäftsbetonung zu
gewinnen vermögen. Charakterologisch treffen hier grundlegend zusam-
men: 1. ein Uberwiegender Drang nach äusserem Schein und Geltung,
getragen von eitler Selbstüberschätzung; 2. eine reizbare Verletzlicbkeit
bei Versagung eines Wunsches mit leidenschaftlicher und rücksichtsloser
Reaction: hyperästhetisch für die eigene Person, anästhetisch für die
Andern; 3. ein anscheinend intactes Vorstellungsleben, welches aber nur
zu raisonnirender Dialektik sich zu erheben weiss, sonst seicht und ober-
flächlich ist, seine inneren Widersprüche nicht corrigirt, in schönen Phra-
sen flunkert, in allen Gebieten herum dilettirt — aber nach produetiver
Richtung steril und zerfahren ist. Es sind die psychologischen Prämissen,
wie sie sich in dem 3. und 5. und namentlich 7. Typus des hysterischen
Irreseins (s. d.) aus der constitutionellen Neurose heraus entwickelten, und
als reizbare Moral Insanity das Wesen der hysterischen Degene-
ration ausmachen. Oft treten dieselben nur periodisch (resp. circulär) in
die Erscheinung. Als ständige Folie geht ein universelles Misstrauen mit
einher, welches sich vorübergehend in einem exstapitirten Verfolgungs-
wahn auslassen kann.
Ueber körperliche Symptome, speciell Schädelanoma-
lie en 8. Idiotismus u. orig. Verrücktheit.
Krankheitsbild.
Die Entwicklung der angeborenen Form zeigt von früh auf das-
selbe Symptomenbild wie die hereditäre Neurose; nur mischen sich
hier bald schon die Zeicheu aus der perversen (defecten) ethischen
Anlage bej. Es sind nicht bloss eigensinnige, launenhafte, übermässig
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490
Das degenerative erbliche Irresein
— die Moral Insanity.
egoistische, sondern im wahren Sinne „unkindliche" Kinder. Sie
zeigen keine Pietät gegen die Eltern, keine Anhänglichkeit an die
Geschwister, kein Mitgefühl für Thiere; Belobung oder Bestrafung
geht an ihnen vorUber. Zuspruch macht sie verstockter oder lässt
sie gleichgültig. Frühe schon zeigt sich ein unheimlicher Zug nach
dem Schlimmen und Verbotenen, welcher verschärft wird durch die
immer raffinirtere Art der Begehung. Lüge und Verstellung, worin
das Kind trotz der besten Erziehungsiii übe sich oft Uberraschend vir-
tuos zurecht findet, werden Mittel zum Zweck; für Zufriedenheit oder
Trauer der Eltern besteht keine oder nur ganz flüchtige Empfindung,
dagegen ein um so entschlossenerer Trotz, wenn energische Besse-
rungsversuche gemacht werden. Immer kommen neue Rückfälle.
Nicht selten erschrecken frühe schon schwerere Charakterzüge : Nei-
gung zum Stehlen, Bosheiten, ja selbst Grausamkeit gegen andere
Gespielen. Der Knabe, welcher einen Kameraden wegen eines leich-
ten Streites ins Wasser warf und den fast Ertrinkenden nochmals vom
rettenden Ufer wegstiess, hatte schon P ine Ts Aufmerksamkeit er-
regt. — Die Schule bringt keine oder nur oberflächliche Aenderung.
Ist der junge Patient intellectuell schwach begabt, so wird dieser
Defect nunmehr an den fruchtlosen Anstrengungen des Lehrers ent-
hüllt. Sind geistige Anlagen da, so zeigen sich in diesen auch ent-
sprechende Fortschritte. Aber die geistige Entwicklung erweist sich
bald als eine verhängnissvoll ungleiche: neben einseitiger Begabang
steht eine unverbesserliche Beschränktheit, neben der (oft auffallen-
den) Fähigkeit für einzelne Fächer bleibt eine Dummheit für die
einfachsten Dinge. Nicht selten zeigt sich jetzt schon ein perio-
discher Zug im Entwicklungsbild: Episoden von Interesse und gei-
stiger Lebendigkeit wechseln mit Phasen einer plötzlichen Faulheit,
ja Stupidität. Mit den erweiterten geistigen Beziehungen verschärft
sich der ethische Defect, namentlich bei den reizbaren Naturen. Sind
die Kinder bis dahin nur durch periodische Indolenz die schlechten
Beispiele gewesen, so werden sie jetzt bei strafendem Entgegentreten
zu Feinden der Disciplin, bald in offener Auflehnung, bald in heuch-
lerischer Minirarbeit. Was sie einzig noch eine Zeit lang einschränkt,
ist die Furcht. Aber auch darüber schreiten sie weg und drohen
bald mit Repressalien, namentlich mit Selbstmord, wozu sie nicht
selten theatralische Vorbereitungen in Scene setzen, um bange zu
machen und sich interessant. Zu demselben Zwecke werden Krank-
heiten (Blutspeien) simulirt. In das sterile, durch keine höheren Ziele
namentlich durch keine Herzensbeziehungen geleitete, Gemüthsleben
tritt immer mehr eine Verbitterung gegen die Umgebung oder eine
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Krankheitsbild. Entwicklung. Irresein der Bummler und Vagabunden. 491
einfältige Eitelkeit ein. Beide befestigen sich zu bleibenden und trei-
benden Motiven des zunehmenden Egoismus. Gegen Eltern und Men-
toren wird Krieg geführt, gegen die Umgebung der Aufsehen er-
regende Bramarbas gespielt.
Manchmal scheint allerdings die Prahlsucht, welche die Kranken zu
sinnlosen Geldverschleuderungen und zu einer förmlichen Schenkwuth
treibt, mehr aus dem inneren Gefühl der Schwache und dem BedUrfniss,
an Andere sich anzulehnen, ihren Ursprung zu nehmen. Bemerkenswerth
ist die manchmal isolirte Triebrichtung auf den Besitz gewisser Gegen-
stände (Portemonnaie^, Photographieen), welche oft hundertweise, sei's
mit eigenem, sei's mit erborgtem Gelde zusammengekauft werden, um un-
benutzt dann in einer Ecke zu verstauben.
Im Uebrigen wird gelogen und verleumdet — ein ungarischer
Sensationsprocess aus den jüngsten Tagen hat einen solchen trau-
rigen Helden wieder zu Tage gefördert — manchmal auch ein cri-
mineller Act begangen, welcher den Irrsinnigen als jugendlichen Ver-
brecher vor die Assisen führt. Von jetzt an bleiben bei den Meisten
die Conflicte mit dem Strafgesetz auf der Tagesordnung (Diebstähle,
Vagabondage, Brandstiftungen).
Das Irresein der Bummler und Vagabunden recrutirt seine
Mannschaft aus diesen moralisch defecten Menschen, und zwar gibt es
deren eine nicht kleine Zahl, welche ihr ganzes Leben diesem professio-
nellen Sport widmen, unbelehrt durch die noch so zahlreichen Gefängniss-
strafen und Erduldungen. Meist wird noch allerhand sonstiger Schwindel
mit betrieben, namentlich die Annahme falscher Namen, mit allerlei roman-
haften Erdichtungen über ihr Vorleben — deren Wahrheit für den
Psychologen darin besteht, dass dieselben, ihrem Kerne nach, ein Ge-
mische von Verfolgungswahn und Grössenideen enthalten, vielleicht halb
Einfall, halb Mache darstellen, aber mit der Ueberzeugungskraft des Wahn-
sinns für deren Träger ausgerüstet sind. Eher Noth und Entbehrung
und gerichtliche Strafen, als ein Jota des erträumten Stammbaumes auf-
geben! Allermeist trägt auch das Aeussere dieser unglücklichen Stief-
kinder des Schicksals die Merkmale der Degenerescenz in Gesichtsinner-
vation und Schädelbau (s. diese). Bei sehr vielen der hieher gehörigen
Krankheitsbilder wird das klinische Endschicksal durch Alkoholismus, dem
sie verfallen, mitbestimmt.
Auch hier tritt wiederum das periodische Moment bei manchen
dieser Kranken zu Tage. Nicht anhaltend kehrt sich die instinetive
Bösewicbtsnatur heraus, sondern nur zeitweise, aber dann rücksichts-
los und triebartig, ohne jede Erwägung der möglichen Consequenzen,
ja sogar der Selbstschädigung. Der manische Drang wird zum ge-
bieterischen Impulse, gehäufte Vergehen, sinn- und zwecklos, werden
ins Werk gesetzt, und das Krankhafte des perversen Handelns durch
dasselbe manisch erregte Vorstellen (in Form der raisonnirenden Dia-
lektik) rabulistisch zu vertuschen gesucht
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492
Daa degenerative erbliche Irresein
— die Moral Insanity.
Fast ein jedes Vorleben dieser durch ihre Krankheit unseligen
Störenfriede jeder häuslichen und bürgerlichen Ordnung enthält eine
Aufzählung der in bester und erwogener Absicht unternommenen Cor-
rectionsversuche an diesen Kranken. Sie wandern von einer Lehr-
stelle zur andern, von einem Erziehungsinstitut zum zweiten und
dritten, von da wieder — reumüthig und mit allen Vorsätzen — ins
Elternhaus. Dann beginnt der alte Turnus wieder, gewöhnlich mit
demselben Misserfolg. Immer sind „die Andern" daran schuld; sie
selbst, auf der That ob ihrer Apathie und Interesselosigkeit ertappt,
rechtfertigen sich durch Ausfluchte wegen erfahrener Übelwollender
Behandlung, oder auch wegen hypochondrisch aufgebauschter Körper-
beschwerden.
Tritt dann mit den Pubertätsjahren (oder schon früher) auch das
sexuelle Moment in Bewusstsein und Streben des Kranken, so wer-
den weitere verhängnissvolle Wege erschlossen. Ausser cynischer,
oft geradezu bestialischer Befriedigung in natürlicher Weise, brechen
sich sehr häufig masturbatorische Excesse oder perverse sexuelle
Richtungen Bahn (Päderastie, Sodomie, Nothzuchts vergehen), und er-
öffnen neue Conflicte mit dem Strafgesetz.
Das Mannesalter findet den unreifen Charakter des hereditären
Neurotikers vor, verschärft durch egoistisch genusssttchtige Tendenzen
mit rücksichtslosem Befriedigungsdrang. Dasselbe erschliesst die Ge-
wohnheitssäufer, Spieler, Spectakeimacher, Processkrämer.
Intellectuell imponiren viele dieser Defect- oder Entartungsmenschen
noch als „ganz correct", manche sogar als raffinirt schlau ; aber die
Schärfe des Verstandes bleibt auch jetzt nur eine scheinbare, eminent
einseitige, das Urtheil vorgefasst, sehr häufig durch die egoistischen Prä-
missen eines vagen Verfolgungs- oder Eitelkeitswahnes dictirt, und nur
nach formaler Seite geschont. Bei nicht Wenigen wuchert Hand in Hand
mit der geistigen Beschränktheit eine um so schrankenlosere Phantasie
und abenteuerliche Plänesncht (Streifzttge im amerikanischen Urwald,
Jagden auf Löwen u. s. w.). Nicht selten entdeckt man auch Reproduc-
tionsfälschungen (wie bei den Hysterischen), einen unbewusst sich ändern-
den Bewusstseinsfocus, von welchem die Wahrnehmungen und Urtheile
und damit auch die Stimmung eine beständig wechselnde Beleuchtung
erhalten. So erklärt sich manche Gesinnungslosigkeit und Lügenhaftig-
keit dieser Menschen als eine durch die Störungen in den Associationen
ihnen auferzwungene.
Zahllos sind auch hier wieder die Gesetzesübertretungen, un-
zählig die häuslichen Wunden, welche dem ehelichen Zusammen-
leben durch den indolent apathischen, oder aber flatterhaft reizbaren,
egoistisch leidenschaftlichen Kranken geschlagen werden. — Soldaten
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Krankheitsbild. Pubertätsjahre. „Reizbare Form" bei Frauen. 493
machen eich fortgesetzter Insubordinationen schuldig, wogegen die
schärfsten Disciplinarstrafen nicht aufkommen.
Speciell für weibliche Kranke bildet der Eintritt in die Ehe die
verhängnissvollste Etappe für die Entfaltung des sittlichen Gemüthsdefects,
gewöhnlich in seiner reizbaren Form. Leichtsinnig und nur durch Ge-
nus8sncht und Eitelkeit verlockt, wird der ewig bindende Schritt voll-
zogen; aber schon die Flitterwochen streifen die Maske ab. Man erlebt
es, dass bereits auf der Hochzeitreise Fluchtversuche inscenirt werden
— um die Erfüllung von Bagatellen zu erpressen. Gegen Gravidität be-
steht eine sofort dem Manne offen mitgetheilte Abneigung; tritt erstere
dennoch ein, so wird die „Mutterliebe" in Form zorniger Aufwallungen
und Verwünschungen gegen den Mann und das zu erhoffende Kind ge-
äussert. Nach der Niederkunft wird unverhohlene Gleichgültigkeit gegen
das Kind geübt; leichten Herzens wird es einer beliebigen Amme Uber-
geben, weil „die Mutter" nichts „von ihrer Schönheit einbüssen will".
Aber als Mittel für die Erreichung egoistischer Zwecke kommt das Kind
wiederum sehr gelegen : wird von jetzt an ein Wunsch von Seiten des Man-
nes versagt, so erfolgt als Repressalie offene Misshandlung des Neugebore-
nen, oder selbst Androhung von dessen Tödtung. Derselbe Turnus kehrt,
nur verschärft, in den folgenden Schwangerschaften wieder. Die Gewiss-
heit einer neuen macht die „Mutter" erst wüthend, danu gegen den Mann
drohend, wobei lachend die tiefsten Kränkungen, nicht wiederzugebende
Cynismen, ausgesprochen werden. Und dabei ist die Kranke stets die
Zurückgesetzte, vom Manne so schlecht Behandelte, dass sie ihre Revanche
in Verleumdung desselben bei Dienstboten, im Ausplaudern ehelicher Ge-
heimnisse zu nehmen sich nicht verwindet! Sie ist immer im Recht; ihre
raisonnirende Dialektik bleibt unerschöpflich im Aufstellen erlogener, im
Verdrehen wirklicher Thatsachen. Bodenlose Verschwendung, oft mit
Hilfe von Entwendungen, unsinniges Anhäufen von kostbaren Kleidern,
ein Modeleben nach den barocksten Einfällen, schrankenlose Eitelkeit mit
der Sucht sich als „Jugend" hervorzuthun — füllt das Tagesbewusst-
sein, welches für den Rückgang des Vermögens, für die tausenderlei
schmerzlichen Scenen im Hause, für den Ruin alles Familienglücks keinen
Raum hat. Die Kranke fühlt es nicht. Auf ernstliche Entgegnungen
und Versagungen wird mit Selbstmord gedroht, ein- oder das anderemal
auch eine Entweichung in Scene gesetzt, um heimgeholt das alte Lied
wieder zu beginnen. Die Kinder werden nicht erzogen, oder durch das
leidenschaftliche Wesen verzogen; herzlos wird ihnen die Verbitterung
gegen den eigenen Vater eingeflösst. Nicht so selten greift bei der liber-
tinen Persönlichkeit, welche für sich jede Freiheit beansprucht, und nicht
selten in ihren Zornwallungen androht „in ein Bordell sich aufnehmen zu
lassen", gegen den Mann ein Eifersuchtswahn Platz, welcher sich nicht
scheut im geeigneten Momente zum Revolver zu greifen, und ernst ge-
meinte Angriffe zu machen. Mit den Erregungsperioden lösen sich Phasen
von Abspannung ab, in welchen die Kranke sich misstrauisch abschliesst,
die Melancholische spielt — manchmal diese aber auch wirklich ist.
Denn nicht immer, ja glücklicherweise in den selteneren Fällen,
wird die nach dem Leben gezeichnete obige Entwicklung bis zur
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494 Das degenerative erbliche Irresein — die Moral Inaanity.
äussersten Grenze abgewartet. Allermeist greift in dieser oder jener
Weise die beschränkende Hand ein, entweder als strafende Themis,
oder als rettendes Asyl. Aber hier oder dort kommt die perverse
Triebrichtung nicht zur Ruhe ; auch unter den hemmenden Schranken
der Hausordnung lässt sich der dämonische Drang nicht zügeln, das
geftihlsstumpfe Phlegma nicht beleben. Die Kranken bleiben die in-
dolenten oder geschworenen Feinde des Zusammenlebens; sie intri-
guiren und wühlen, heucheln und trotzen, versuchen pietätlos das
äusserste Mittel des Widerstandes, sind erfinderisch in der berech-
neten Täuschung, verwegen im offenen Sich-Auf lehnen, und bilden
dadurch die schwerste Plage eines Anstaltslebens. Für ihr perverses
Gebahren, für gelegentliche Schädigungen Anderer empfinden sie
keine Reue — sie bleiben stumpf und gleichgültig, oder „im Recht".
Die Krankheit selbst macht im Weiterverlauf, und ganz beson-
ders unter dem Zwang der unerlässlich gewordenen Freiheitsberau-
bung, nicht selten einen geänderten Decursus. Die häufigste Modi-
fication bilden intercurrente Manieen. Diese können sich entweder
auf einem höheren psychischen Niveau abspielen, und in rastlosem
Drange nach eigenmächtigen Eingriffen in die Anstaltsordnung, in
das Privatleben der anderen Kranken, in die Vorschriften des Arztes
sich entäussern, dabei getragen von Selbstüberschätzung, von einer
durch Launen und Einfälle geleiteten reizbaren Verstimmung, und
einem gemüthlosen, oft brutal rohen Egoismus. Oder aber: die krank-
hafte Erregtheit spielt sich eine oder einige Stufen tiefer ab — als
ein cynisches Gebahren, als ein Drang zu zerstören, zu schmieren,
Andere zu schädigen, und dies nicht in der triebartigen Weise einer
entfesselten Bewegung mit entsprechender Verwirrung und senso-
rischer Betäubtheit, sondern gegentheils mit dem Anschein der üeber-
legung, der geschäftigen und dabei in immer neuem Raffinement sich
behagenden Bosheit. Immer nämlich — und Das ist für diese Zu-
stände bezeichnend — bleibt der Verstand bis zu einem gewissen
Grade inmitten dieses perversen Treibens erhalten; aber in der Regel
nur, um ex post in verkniffener, oft recht windiger Dialektik das zu
rechtfertigen, was er zuvor nicht hemmen konnte (s. oben). Es kann
keine herbere Satire auf das „freie" Wollen geben, als diese anschei-
nend correcten, zielbewussten und zäh vertheidigten Acte des auf-
geregten moralisch-Blödsinnigen: unter der Maske gewollter Bosheit
sind sie die aufgedrungenen Reflexe einer gereizten Verstimmung,
eines psychomotorisch krankhaft erregten und ethisch geschwächten
Gehirnlebens. So bildet auch die nachträglich rechtfertigende Dia-
lektik nur die traurige Persiflage auf die „Stärke" eines bloss for-
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Krankheitsbild. Die „degenerativen" Manieen. Ausgange. 495
malen Verstandes, welcher keine wirklichen Motive, geschweige
Gegenmotive, aufzubringen vermag, sondern nur fingirte, und mit
aller seiner Klügelei und imponirenden „Gescheidtheit" nur den un-
geheuren auch intellectuellen Blödsinn verdeckt, welcher die
grobe, ihm mitgespielte, Täuschung nicht merkt.
Es ist hierbei zu bemerken, dass diese manischen Zustände ausser
der eben geschilderten Entwicklung (auf originär defecter Gemüthsgrund-
lage) auch erworben werden können, und zwar als Wirkungen resp.
Ausdruck einer cerebralen Degeneration, sei diese aus gehäuften An-
fällen einer gewöhnlichen Manie, oder durch eine mehr specifische con-
stitutionelle Schwächung (Alkohol-Sexual-Excesse) allmählich erst heraus-
gebildet. Auch viele circuläre Manieen verlaufen unter dem beschriebenen
Bilde ; ebenso gewisse periodische Typosen (s. d. ). Ich möchte diese ein-
schlägigen Zustände sämmtlich als degenerative Manieen zusam-
menfassen, wobei die Bezeichnung „Manie" nur den kurzen Ausdruck für
das äussere Bild und die innere krankhafte Aufregung abgeben soll, aber
das Wesen des Zustandes in dem „degenerativen" Momente gelegen bleibt :
in der theilweisen Erhaltung des Intellectes neben dem Delirium der
Handlungen, und speciell in dem sittlichen Schwach- oder Blödsinn. Die
bezüglichen klinischen Zustände zeichnen sich sämmtlich auch durch ihre
polymorphe Gestaltung und ihren gewöhnlich periodischen Verlauf aus
(8. „Degenerescenz" unter heredit. Neurose).
Das fernere Krankheitsbild dieser degenerativen Erregungszu-
stände umfasst die Weiterentwicklung der betrachteten psycho-patho-
logischen Elemente.
Die internirten Kranken verbleiben — oft auf Monate und Jahre —
in der psychomotorischen Aufregung mit allen Entäusserungen eines raffi-
nirten Cynismus: sie zerreissen, schmieren, treiben schamlos Obacönitäten ;
und dies nicht nur aus dem Heiz der Selbstbefriedigung, sondern auch
um damit Andere zu verletzen und zu kränken. FUr sich verschlucken
sie unter lachender Renommage Steine, Glas, lebendige Käfer u. 8. w.,
um den Arzt zu beunruhigen und ihm MUhe zu machen. Die Stimmung
ist frivol oder mnthwillig boshaft, und stets mit ihrer Spitze gegen die
Umgebung gerichtet; das Benehmen hinterlistig, lügenhaft, heimtückisch
— heute Intrigue und offene Chicane, Morgen lammfromme Heuchelei.
Keine ethische Verirrung liegt zu ferne, um nicht gelegentlich geübt zu
werden. Ausser der eigenen Frivolität in Wort und That werden auch
andere Kranke zu verleiten gesucht (zur Untergrabung der Hausordnung,
aber auch zu sexuellen Excessen); daneben wird gestohlen und frech ge-
leugnet oder brutal verhöhnt; hilflose Kranke werden im Vorübergehen
gestossen, bis aufs Blut gekniffen, oder an den Haaren gerissen ; Andern
die Kleider oder Speisen in hässlichster Weise (hinterrücks) beschmutzt
oder zerstört. Mit offenen und verdeckten Waffen wird gegen jede auf-
keimende bessere Richtung Krieg geführt, Zuspruch wird mit Lachen,
ernsthafte Entgegnung mit Spott, mit Zuschlagen und gefährlichen Be-
drohungen erwidert. Der Zustand verläuft exacerbescirend - remittirend ;
in den Remissionen tritt gewöhnlich eine gewisse Abspannung mit
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Das degenerative erbliche Irresein —
die Moral Insanity.
Indolenz auf — manchmal fehlt selbst ein leises Krankheitsgefühl mit
serviler (berechneter!) Dank- Aeusserung gegen die Anstalt nicht. Mit
jedem Rückfalle schwinden diese letzten Reste natürlicher Gemttths-Re-
gungen mehr und mehr, und die Kranken werden zur wahren „Pest"
eines Asyllebens. In seltenen Fällen gelingt es noch den perversen mo-
torischen Drang in geordnetere Bahnen zu leiten ; aber der geistige Zer-
fall wird in der Regel dadurch nicht aufgehalten, sondern nur verzögert
(freilich schon ein Gewinn!). — Anderemale spielen sich die Einzelan-
fälle der manischen Moral Insanity in grösseren, durch Jahre getrennten
Pausen (periodisch) ab.
Ein anderer Ausgang der Moral Insanity ist in chronischen Ver-
folgungswahnsiDn. — Nicht selten treten auch acute hallucinatorische
Episoden auf. — In wieder anderen Fällen endlich bleibt das Krank-
heitsbild für das ganze Leben stationär (resp. langsam fortschreitend
zum Blödsinn); durch die äussere Dressur des Anstaltsmechanismus
und dessen innere sittliche Disciplin und Leitung werden die schlim-
men ethischen Richtungen im Zaume gehalten; so findet, innerlich
und äusserlich gestützt, mancher dieser Kranken in dem vielgliedri-
gen Organismus des Asyls ein Plätzchen, wo er sein bescheidenes
Können einigermaassen nutzbringend noch verwerthen kann. Viele
erlangen dabei im Laufe der Zeit eine wirkliche Besserung, so das*
sie ein geordnetes Leben auch draussen wieder zu führen vermögen,
wenn auch als bleibende geistige Invaliden.
Eine richtige und erfolgreiche Behandlung kann nur in einer
Anstalt stattfinden. Dieselbe muss eine ebenso sorgsam psychische
(ärztlich -pädagogische), als eingehend somatische sein. Bezüglich
der ersteren gelten die früheren, speciell bei der Hysterie aufgestell-
ten Gesichtspunkte ; nach Seite der letzteren werde keine körperliche
Functionsstörung für zu gering genommen ; die erfolgreiche Cur man-
cher tief gehenden Anämie (namentlich mit Menstruationsstörungen
und Sexualreizen) hebt nicht nur die intellectuelle, sondern auch die
temporäre sittliche Schwäche! Angeborene und bleibende sittliche
Idioten werden am besten dauernd in die Welt eines ländlichen Asyls
(Irreucolonie) verpflanzt; dort können sie auf der Höhe der Menschen-
würde gehalten werden, finden als die bedauernswerthesteu aller
Sterblinge ihr Recht, und andrerseits die sociale Gesellschaft den ihr
gebührenden Schutz (Verhütung von Delicten und namentlich auch
von Descendenz!).
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Der Idiotismus. 497
Der Idiotismus.
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(multiple tuberöse Sklerose). — Kirchhoff, ibid. 13. — Reinhard, ibid. (Idio-
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ceph.) — Schale, Allg. Ztschr. f. Psych. 26 (Porenceph.). — Richter. Ibid. 38
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Woch. 1882 (Schrift). — Scholz, Viert. 1. ger. Med. Bd. 36 (forens). — Speciell
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Ibid. 8. - Bischoff (Helena Becker), Abhdl. d. bayr. Akad. d. Wiss. II. Cl. 11. —
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Stuttgart (Vogt, Virchow, Ecker) 1872. — Friederich, (Bertha Rämer) Monogr.
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Krankh. des Kindesalters; G erhardt, Haudb. der Kinderkrankh. 5. — Anatomisch
und speciell über Schädelwachsthum: v. Gudden, Experimentalstudien, Arch. f.
Psych. 2, und Monographie München 1874; ferner Virchow's und Welcker's
bezügl. Arbeiten etc. — Pathologisch-anatomisch: Meynert, psychopath. Veran-
lagung (krauiologisch), Jahrb. f. Psych. 1S79. — Speciell Ober Hebephrenie:
Kahlbaum und Hecker, Virch. Arch. 52; Irrenfreund 1877. — Sterz, Jahrb.
f. Psych. 1879. — Fink, Allg. Zeitschr. f. Psych. 37.
Darunter versteht man summarisch sämmtliche Zustände der
angeborenen oder in früher Jugend erworbenen psychischen Defecte.
Die Versuche einer Eiutheilung idiotischer Zustände können
ausgehen 1. vom rein psychologisch-klinischen Standpunkt; 2. von
dem Bestreben durch Zusammenfassen der psychischen und phy-
sischen, namentlich kraniologischen, Merkmale „natürliche Familien"
zu bilden.
Die Versuche, vom ätiologischen Standpunkt aus eine schärfere Ein-
theilung zu gewinnen, siud hier, wie auch in den übrigen psychischen Hirn-
Schule, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 32
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Der Idiotismus.
affectioneu, noch als verfrühte und gekünstelte zu betrachten; wohl aber
kann der ätiologische Gesichtspunkt (wie dort) zur Nuancirung einzel-
ner Unterabtheilungen benutzt werden. — Eine Eintheilung ausschliess-
lich von der Sprache aus lässt sich nicht durchführen, weil wir es bei
den Idioten durchaus nicht bloss mit intellectuellen Störungen zu thon
haben.
Psychologisch klinische Eintheilung.
Da es sich bei sämmtlicben Zuständen der Idiotie um Hemmung
der psychischen Entwicklung handelt, so liegt es nahe eine Ein-
theilung in der Art zu versuchen, dass man, entsprechend den ein-
zelnen Formen normaler Entwicklung, einzelne Stufen geistiger Hem-
mungsbildung unterscheidet. Für einen grossen Theil der IdioteD,
die „Schwachsinnigen" in dem unten zu definirenden Sinne, ist dies
bis zu einem gewissen Grade auch möglich.
Für die tiefststehende Form der Idiotie, den „idiotischen Blöd-
sinn", Hesse sich aus den empirischen Krankheitsbildern eine Ana-
logie mit der kindlichen Entwicklung nur in gezwungener Weise
beiziehen.
Der fundamentale Unterschied zwischen anergetischer und ere-
thischer Schwäche lässt sich durch sämmtliche Stufen der Idiotie
hindurch verfolgen, wenn auch oft nur spurweise. Am schärfsten
ist er ausgeprägt in der hochgradigen Form des idiotischen Schwach-
sinns, weniger in den mittlem und leichtern Formen und im Blöd-
sinn. Aber auch bei jenem gibt es Fälle, welche nicht ganz leicht
zu rubriciren sind. So findet oft ein fortgesetzter Wechsel der Vor-
stellungen, eine beständige Ablenkung durch äussere Eindrücke statt;
der Kreis der Vorstellungen, in welchem, wenn auch in fortwähren-
dem Wechsel, der Kranke sich bewegt, ist so klein, dass derselbe
trotz (vielmehr in Folge) der erethischen Unruhe ein „anergetisehes"
Gepräge erhält.
1. Der idiotische Blödsinn.
Dunkles Triebleben. Fehlendes Bewusstsein; Sprachlosigkeit.
Nur unarticulirte Aeusserungen von Lust- und UnlustgefUhlen, welche
lediglich von grobsinnlichen Eindrücken abhängig sind. Keine Apper-
ception. Automatische Bewegungen. Das ganze motorische Ver-
halten hat den Charakter einfacher Reflexaction. Gedächtnis*, Vor-
stellung von Raum und Zeit nur spurweise. Unfähigkeit zu weiterer
Entwicklung. Zwischen dem blödsinnigen Kranken und dem psy-
chischen Normalmenschen fehlt die Brücke intelligenten Verkehrs
auch von einfachster Form.
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Psycbolog. klinische Eintheilung. — Der idiotische Blödsino. 499
Klinische Symptome.
a) Das Selbslbewusstsein fehlt ; die Perceptionsfähigkeit ist ent-
weder gleichfalls fehlend, oder auf die primitivste Stufe eingestellt
(höchstens Wahrnehmung fllr grelle SinneseindrUcke). Das Gedächt-
niss ist, wenn Uberhaupt vorbanden, in derselben Weise rudimentär
(manchmal primitives Wiedererkennen von Personen, oder Erinnerung
an Aufbewahrungsorte für Näschereien). Manchmal zeigt sich etwas
Sinn für musikalische Töne. Das intellectuelle Leben fehlt
vollständig; die Kranken können nicht lesen und schreiben, vielleicht
bis auf 10 zählen. Bezüglich des Sprach de fects ist bemerkens-
werth, dass einzelne Kranke in den ersten Jahren Sprechversuche
machten, aber das Errungene in der Folge wieder einbüssten. Sie
gebrauchen dann noch einzelne Worte in sinnlosem unverstandenen
Geplapper (manchmal mit dem Tonfall eines rasch redenden Men-
schen). Die vicariirenden sprachlichen Aeusserungen bestehen, wo
sie vorhanden, in unarticulirten Lauten (Schreien oder kläglichem
Aechzen), welche zur Unlustbezeichnung mitunter verstärkt vor-
gestossen werden. Geruch und Geschmack ist sehr oft vollständig
fehlend, so dass die Kranken alles Hässliche anstandslos verschlingen
oder benagen.
b) Haltung und motorische Functionen. Der Gesichtsausdruck
bietet die verschiedensten physiognomischen Typen, mit oft propor-
tional wohlgestalteten Zügen, aber einer desto grellern geistigen
Leerheit. Manchmal ist eine primitive mimische Begleitbewegung
für Lust- und Unlustgefllble zu bemerken. Interessant ist, dass der
Gesichtsausdruck des Schlafenden oft ein überraschend ange-
nehmer und freundlicher ist, während die wache Miene nur eine
schlaffe Maske zu Stande bringt. Manche zeigen choreatische Stö-
rungen im Gesicht oder in der Körperhaltung, Andere eine allgemeine
Unruhe in allen Gliedmaassen; wieder Andere athetotische lebhafte
Gesticulationen in den Händen, wiegende Bewegungen mit dem Ober-
körper, Krämpfe im Kopfnicker etc. Die coordinirten Körperbewe-
gungen fehlen oft ganz, so dass der Kranke zu hilflosem Daliegen
verurtheilt ist; anderemale sind dieselben für die einfachen Greif-
und Essbewegungen vorhanden. Einzelne Kranke lassen sich beim
Gehen nachziehen, wie gewisse Betrunkene. Nicht selten ist die
motorische Kraft vermindert bei Spannung der Körpermuskulatur.
Hin und wieder findet sich partielle Muskelatrophie mit Lähmung,
oder Tremor, oder Intentionszittern. Viele zeigen partielle Contrac-
turen oder Klauenstellung der Hände. Sie müssen zu allen Bedürf-
nissen angehalten, gefüttert, an- und ausgezogen werden. Sehr oft
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Der Idiotismus.
versagen die Sphincteren den Dienst; manchmal ist auch der Schling«
apparat defect (s. u. körperliche Begleiterscheinungen).
c) Affective Seile. Auf der tiefsten Stufe werden Lust- und Un-
lustgefühle nicht unterschieden; es besteht völlige Indolenz; die Miss-
stimmung äussert sich nur durch heftigeres Schreien (s. o.), die
Euphorie durch Ausstossen von unarticalirten andern Tönen (Schnur-
ren), zugleich mit automatischen Bewegungen (Hin- und Herwiegen).
Auf höherer Stufe findet auch der Zorn einen reflectorisch-mimischen
Ausdruck (Umherwälzen auf dem Boden); bei heftigem Schmerz
quellen Thränen hervor. Gemüthliche Anhänglichkeit besteht nicht,
oder nur in rudimentärster Form.
Der Verlauf ist entweder continuirlicb, oder durch periodische
Exacerbationen von Erregung unterbrochen. Die letztern bestehen
in Zunahme der motorischen Unruhe, oft mit indifferentem Geplapper,
anderemale mit zornmüthig klingenden Schreien und Vermehrung
der automatischen Bewegungen. Da und dort zeigt sich dabei auch
Erbrechen mit ruminirenden Mund- und Schlundbewegungen.
2. Der idiotische Schwachsinn.
Ueber der vorhin skizzirten tiefsten Stufe einer nahezu völligen
Negation intellectueller Vorgänge und geistiger Entwicklung steht
die unendlich variable Gruppe des Schwachsinns, mit jener durch
manche Abstufungen verknüpft, und nach oben allmählich Ubergehend
in die gleichsam noch physiologische Dummheit und Beschränktheit.
Das Charakteristische für sämmtliche Formen des idiotischen
Schwachsinns ist gegeben in der Thatsache des pathologischen
Abschlusses der psychischen Entwicklung, des Stehen-
bleibens derselben vor Erreichung der psychischen Vollkraft. Damit
ist nach unten und oben die Grenze gegeben. Der Blödsinnige ent-
wickelt sich Überhaupt nicht, da bei ihm ein bildungsfähiges Ich
nicht zur Anlage kommt. Letzteres geschieht beim Schwachsinnigen;
es bildet sich eine Persönlichkeit, welche bewusst mit der Aussen-
welt in Beziehung tritt und eine Verständigung mit dieser, wenn
auch auf einfachste Art (durch Worte oder Geberdeu) ermöglicht.
Die Hemmung der Entwicklung kann nun auf verschiedenen Stadien
erfolgen, und daraus ergeben sich die weiteren Unterabtheilungen
des Schwachsinns.
Wir unterscheiden a) den Schwachsinn höheren Grades (nicht bil-
dungsfähig); und b) den Schwachsinn mittleren und leichteren Grades
(bildungsfähig'. In die erste Gruppe gehören die Entwicklungs-
hemmungen auf einer Stufe, welche dem frtlhen Kindesalter bis zum
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Der idiotische Schwachsinn, a) hochgradige, nicht bildungsfähige, Form. 501
3—4. Lebensjahr entspricht. Die zweite Gruppe umfasst alle zwischen
dieser Grenze und den allmählichen Uebergängen bis zum Normalen
liegenden Fälle.
Diese Unterscheidung ist weniger willkürlich, als es anf den ersten
Anblick erscheinen dürfte. Die Grenze zwischen dein frühen und dem
reiferen Kindesalter stellt eine der wichtigsten und am schärfsten mar-
kirten Schwellen dar, welche die geistige Persönlichkeit in ihrem Wer-
den zu überschreiten hat. Als Markstein zwischen beiden Epochen steht
die Entwicklung des höchsten psycho-physischen Vorgangs, der Sprache,
welche gerade in dieser Zeit aus dem kindlich naiven Stadium in die
volle grammatikalisch-syntaktische Ausbildung einzutreten beginnt. Auch
praktisch ist diese Unterscheidung insofern begründet, als in jener ersten
Periode der Kindheit wohl von Erziehung, Disciplinirung, nicht aber von
Unterricht im engeren Sinne die Rede sein kann. Dementsprechend sind
die Schwachsinnigen, deren Entwicklung vor Ueberschreitung der ersten
Kindheit Halt macht, auch als nicht-bildungsfähig im Sinne der gewöhn-
lichen Unterrichtsziele zu bezeichnen. Bei dieser Vergleichung einzelner
Stadien der normalen Entwicklung njit den verschiedenen Abstufungen
des Schwachsinns darf natürlich nie vergessen werden, dass wir es für
gewöhnlich hier nicht nur mit gleichmässigen Hemmungsbildungen zu
thun haben, sondern meist auch noch mit theilweisen Entwicklungsexcessen
(neben der Hemmung im Ganzen), und ferner mit psycho-pathologischen
und neuropathischen Complicationen verschiedenster Art, wodurch uns
nicht ein reines harmonisches, sondern fratzenhaft entstelltes Abbild ge-
sunder kindlicher Entwicklung vorgeführt wird.
a) Der hochgradige, nicht bildungsfähige (idiotische)
Scb wach sinn. Geistige Entwicklung bleibt auf der Stufe des
frühen Kindesalters zwischen 1. und 5. Lebensjahr gehemmt. Sprache
mangelhaft, namentlich in grammatikalisch - syntaktischer Hinsicht
unentwickelt; häufige Mogilalieen. Unterschied zwischen der ere-
thischen und anergetischen Form des Schwachsinns deutlich aus-
geprägt: erstere überwiegend, und nicht selten verbunden mit pe-
riodischen Erregungszuständen. Anklänge an das Phantasieleben
normaler Kinder. Gewisse Disciplinirung ist wohl möglich; der
eigentliche Unterricht scheitert aber an der mangelhaften Concen-
tration bei den Erethischen, an dem oft mit einer gewissen drolligen .
Bonhommie gepaarten Phlegma der Anergetischen. Höchstens An-
schauungsunterricht möglich. Ethische oder religiöse Vorstellungen
fehlen.
Klinische Symptome,
a) Intel/ectuclie und affective Functionen. Die Kranken kennen
einfache Gegenstände der Umgebung und wissen sie mit Namen zu
benennen; sie erkennen dieselben auch wieder auf Abbildungen.
Die anergetischen Kranken äussern dabei weder Interesse noch
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Der Idiotismus.
irgend einen Trieb nach Thätigkeit, während die erethischen eine
oft lebhafte Wahrnehmung bekunden, welche aber momentan immer
wieder abgelenkt wird, und so durch fehlende Concentration resultat-
los verpufft. Viele wissen ihren Namen nicht, während Andere
diesen und auch noch die weitern von ihren Angehörigen kennen;
Leistungsfähigere vermögen auch bis zu bescheidenen Zahlen zu
zählen, verwirren sich aber, sowie nur die kleinste Abweichung in
der mechanisch eingelernten Reihenfolge ihnen zugemuthet wird.
Bemerkenswerth ist der Drang zu Imitationen Anderer und zeitweise
zu täppischer Simulation, interessant auch das eigenartige Phan-
tasieleben einzelner Kranken, welche bis zu märchenhafter Alle-
gorisirung der Umgebung (zeitweilige Hallucinationen) und zur ernst
gemeinten Anthropomorphose von Puppen führt. Viele wissen auch
sich niedlich zu verspielen. Gemtithlich erheben sie sich nicht über
entschiedene, und dann mit aller Grellheit ausbrechende, Lust- und
UnlustgefUhle, welche oft unmotivirt und in raschem Wechsel sich
aufdrängen. Für die Umgebung bewahren sie eine gewisse Anhäng-
lichkeit, welche aber nie tiefer gebt. Vereinzelte, weiter entwickelte
Kranke zeigen einen Zug von Freundlichkeit und Anfänge socialer
Regungen; sie sind gutraüthig und gesellig. Im Allgemeinen sind
sie unterrichtsunfäbig; doch lassen sie sich in richtiger Pflege in
eine gewisse Ordnung eingewöhnen.
Die Sprache ist mangelhaft, höchstens auf wenige Sätze be-
schränkt, welche in ungrammatikalischer Form vorgebracht werden.
Beliebt ist die Infinitivform beim Sprechen. Der Wortschatz ist sehr
spärlich, und besteht oft nur in Substantiven und Interjectionen.
Viele Kranke sprechen als Antwort die vorgesprochenen Sätze nach,
aber ohne Verständniss; Andere schieben stehende Flicksätze ein;
wieder Andere wiederholen echolalisch das zuletzt gesprochene Wort
einer Frage. Interessant sind die sehr häufigen articulatorischen
Störungen und die ausgleichenden Nothbehelfe.
Manchmal werden Buchstaben verwechselt, anderemale die vorderen
Silben von Wörtern abgeworfen (und zwar merkwürdiger Weise nur, wenn
die Kranken spontan sprechen, wahrend sie beim Kachsprechen so-
wohl Buchstaben als Silbeu richtig artikuliren). Oft werden Worte mit
mehreren Consonanten durch Umgestaltung mundgerecht gemacht: z. B.
„Grangruft" statt „Frankfurt". N wird oft ausgesprochen — gn, z = I,
t = d, sch = gg u. s. w.
b) llaltumj und motorische Functionen. Hier begegnen wiederum
alle Typen : mikrocephale, kretinoide, bis herauf zu normaler Kopf-
bildung, mit stumpf- blöden oder choreatisch unruhigen, immer wech-
selnden Gesichtszügen. Währende Einige ein beständiges euphorische«
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Der idiotische Schwachsinn, b) mittlere und leichtere Grade.
503
Lächeln in der Miene tragen, schauen Andere stets mürrisch , un-
heimlich lauernd aus. Da und dort begegnet man auch einer
„Nussknacker"-Phy8iognomie, oder einem „Igel"-Typus mit vorwärts
gestrecktem Kopf und rüsselartiger Mundbildung. Die Haltung ist
schlaff, oder gegentheils zappelig und in steter Unruhe, mit hastigen
Mitbewegungen bei einer unerwarteten Frage. Der Gang ist in der
Regel unsicher, holperig, schleifend oder „quaddelnd", trippelig,
das Stehen bei geschlossenen Augen unsicher; die Coordinations-
bewegungen der obern Gliedmaassen mangelhaft und ungeschickt
(s. u. körperliche Begleiterscheinungen).
c) Sensorische und sensible Functionen häufig intact oder nicht
gröber gestört (s. u.).
Der Verlauf ist ein stationärer, sachte abwärts zielender, oder
durch unregelmässige Erregungsphasen theils spontan, theils auf
äussere Anlässe unterbrochen (Raptus von Heftigkeit mit Zerstörungs-
drang, Zerkratzen). Je nach der Entwicklung der Idiotie im Einzel-
falle bleiben die Kranken, wenn sie vorher eine normale geistige
Entwicklung begonnen, auf der kindlichen Stufe, in welcher ihnen
durch die Hirnkrankheit Halt geboten wurde, stehen; oder sie schla-
gen jetzt langsam einen retrograden Gang ein, verlernen auch allmäh-
lich das wenige Erworbene wieder. Andere dagegen lassen sich in
bescheidenem Umfange bessern, so dass sie wenigstens zu einfachster
mechanischer Thätigkeit verwendbar werden, bleiben aber gleichfalls
dann stille stehen. (Ueber Complicationen mit Epilepsie s. u.).
b) Der idiotische Schwachsinn mittlem und leich-
tern Grades. Lässt sich bei der vorigen Gruppe (des hochgradigen
Schwachsinns) die Stufe, auf welcher die psychische Entwicklung
zum Stillstand kam, in ein verhältnissmässig genaues Analogon mit
der normalen kindlichen Entfaltung setzen und dadurch zeitlich
ziemlich scharf präcisiren, so ist dies bei den mittlem und leichtern
Graden des Schwachsinns nicht in derselben Weise möglich; die
Menge der Uebergänge zum normalen Verhalten ist hier zu gross.
Trotzdem bleibt die Thatsache der Entwicklungshemmung bestehen.
Der Kranke überschreitet die Schwelle der frühen Kindheit, um
dann oft in relativ kurzer Zeit den Höhepunkt seiner Entwicklung,
welche im Ganzen sich auf der Stufe G— 12 jähriger Normalmenschen
bewegt, zu erreichen. Einzelne Züge mögen sich ändern, sexuelle
Reguugen, normale oder perverse sich einschieben — im Grossen und
Ganzen bleibt der Kranke sich gleich, s. z. s. „photographisch"
gleich. In gewissem Sinne altern diese Kranken nicht, sie bleiben
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Dtr Idiotismus.
kleine Jungen mit bärtigen Gesichtern, im Ganzen zufrieden, im
Einzelnen neubeglückt durch jede kleinste Abwechselung im All-
tagsleben. Ihr Ehrgeiz ist befriedigt, sie glauben die Höhe der
Erwachsenen erreicht zu haben, wenn ihnen eine Cigarre gestattet
wird, oder wenn sie per „Sie" angeredet werden.
In psychologischer Hinsicht ist zu bemerken, dass, während bei
der vorigen Gruppe die erethische Form des Schwachsinns über-
wiegt, bei der jetzigen der anergetische Typus die Scene beherrscht.
Die Apperception, die Anknüpfung associativer Verbindungen ist
ungemein verlangsamt, vollzieht sich aber im Ganzen in logischer
Weise, so dass es wenigstens für den grössern Theil der hierher-
gehörigen Fälle ermöglicht wird gewisse, für die einfachsten Lebens-
verhältnisse ausreichende, Vorstellungsreihen zu gewinnen und aus-
zubauen. Nie aber reicht diese Befähigung auch weiter bis zu
einem selbstständigen Auftreten über solche einfache und regelmässig
vorgeschriebene Geleise hinaus. Die treibende Macht des mensch-
lichen Ringens und Strebens — der Kampf ums Dasein — wird
den Geistesinvaliden dieser Signatur stets unberührt lassen. Damit
hängt die, wenn psychologisch auch erklärliche, aber immer wieder
Uberraschende Thatsache des vollständigen Mangels des
Krankheits- resp. Defectgefühls zusammen, welchem wir
gerade bei diesen leichtern Schwachsinnsformen begegnen. Wir
wundern uns, weshalb diese Idioten, welche in der Anstalt recht
gut zur Arbeit zu verwenden sind, welche Jugendfreunde, Geschwister
in selbstständigen Stellungen sehen, beinahe nie das Bedürfniss
äussern sich ebenfalls selbstständig und von der fortwährenden Lei-
tung unabhängig zu machen. Gelegentlich wohl, mehr raptusartig,
taucht einmal auch dieses Verlangen auf ; aber sehr rasch findet sich
der Kranke wieder in den regelmässigen Gang des Anstaltslebens, in
welchem jeder Schritt vorgezeichnet ist.
Nach gemüthlich-ethischer Seite zeigt sich der Defect
mindestens ebenso stark als nach intellectueller (ein noch ver-
schärftes Pendant zu den im spätem Alter schwachsinnig gewor-
denen Epileptischen!). Es gibt keinen grössern, keinen beschränktem
Egoisten, als den Idioten. An dieser Thatsache ändern, wie Wil-
dermut h versichert, auch die üblichen sentimentalen Anstaltsbe-
richte nichts. Gegenüber der so oft als Dogma vertretenen Ansicht
von der „gemütblichen Tiefe", ja sogar dem „wahrhaft religiösen
Sinn" der Schwachsinnigen dürfte zu bemerken sein, dass ein Theil
der mittlem Formen des Schwachsinns allerdings ein gewisses lie-
benswürdig anschmiegendes Wesen zeigt, welches aber nicht tiefer
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Idiotischer Schwachsinn. Allgemeinsymptome. Klinische Typen. 505
wurzelt, und „ganz an das artige Wesen eines Hündchens erinnert,
welchem
So freut sich die Mehrzahl dieser Idioten, wenn z. B. ein Mitkranker
stirbt, in der Hoffnung auf den nicht alltäglichen Aspect eines Leichen-
begängnisses. — Analog verhält es sich auch mit dem „religiösen Sinn",
von welchem in den Idiotenanstalten der Inneren Mission so viel die Rede
ist. Nach den Erfahrungen der trefflichen Anstalt in Stetten eignen
sich übrigens die schlichten Erzählungen der Bibel überhaupt aus päda-
gogischen Gründen schon sehr gut als Ausgangspunkt für den Unter-
richt dieser Kranken, sowohl in intellectueller als ethischer Hinsicht.
Anhänglichkeit an die Familie ist im Allgemeinen sehr massig
ausgeprägt. Vollständig aber fehlt jener Geist trotzigen kamerad-
schaftlichen Bewusstseins, welches bei gesnnden Jungen ein Haupt-
capitel im Ehrencodex bildet. Es gibt hier keine mit der Persön-
lichkeit verwachsene ethisch-religiöse Vorstellungen, es gibt keinen
kategorischen Imperativ; sondern häufig nur eine ethische Indolenz,
nicht selten periodisch belebt durch einen triebartigen Hang zum
Verbrechen, wogegen nur anzukämpfen ist, so lange der Kranke
in dem strengen Geleise und in der Ueberwachung einer Anstalt
sich bewegt. Die Lehren der Ethik und Religion bedeuten für ihn
nicht mehr als die Vorschriften der Hausordnung.
Aus diesem mangelnden Gefühl der socialen Verpflichtung erklärt
sich auch der beschränkte Thätigkeitstrieb und zum grossen Theil die
fehlende Langeweile dieser Kranken. — Gesteigerter normaler
Geschlechtstrieb gehört, nach Wildermuth's Versicherungen, zu
den seltenen Ausnahmen bei den Idioteu; dagegen ist Onanie ziemlich
verbreitet, und wahrscheinlich auch perverser Sexualtrieb.
Von Sprachstörungen ist für diese Gruppe geradezu charakte-
ristisch : das „verwaschene Sprechen", das Abwerfen einzelner Silben ;
daneben kommen Mogilalieen vor, sowie Unrichtigkeit im Gebrauch
adverbialer Bestimmungen. Hier finden sich auch die Fälle, in wel-
chen die sprachliche Störung in einem auffallenden Gegensatz zum
sonstigen psychischen Verhalten steht — ein Zustand, welcher an
die erworbene Aphasie der intelligenten Erwachseneu erinnert.
Von der so oft gepriesenen einseitigen Kunstfertigkeit der Idioten
kann nur in ganz ausnahmsweise seltenen Fällen die Rede sein. Viele
solcher Leistungen entpuppen sich bei näherer Prüfung doch nur als
sehr massige, fast kindische Operate.
Klinisch lassen sich folgende Typen absondern:
1. Anergetheher einfacher Schwachsinns -Typus. Intellectuelle
Verkümmerung, gewöhnlich verbunden mit schlechter physischer
Entwicklung und anämischen Zuständen. Mit dem kümmerlichen
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Der Idiotismus.
Vorstell angsieben gebt eine völlige Farblosigkeit der affectiven Spbäre
Hand in Hand. Die Kranken sind ganz indolent, zeigen weder aus-
gesprochene Sympathieen noch Antipathieen. Es sind die enfants
arrieres, welche meist erst nach vielen Unterrichts versuchen in die
Anstalten kommen, und hier ein nicht undankbares Material für
sachgemässen geduldigen Unterricht bilden.
Sie kennen die Umgebung, haben ein gutes Namen- und Personen-
gedächtniss, lernen lesen und schreiben, einfache Zahlenverhältnisse ver-
stehen. Dabei äussern sie aber keinen Thätigkeitstrieb, keine Lange-
weile, kein Verlangen ihre Lage zu ändern. Zu leichteren Arbeiten
lassen sie sich gut verwenden. Sie sind meist gesellig und gutmtithig.
2. Schwachsinns -Typus mit Grdssenwahn. Die Kranken dieser
Gruppe bilden den Uebergang zwischen der vorigen anergetischen
Form und der folgenden erethischen. In ihren intellectuellen Lei-
stungen stehen sie kaum höher als die vorigen, zeigen aber eine
grössere Lebhaftigkeit der Apperception. Mit einer gewissen Sucht
sich vorzudrängen verbinden sie eine Art läppischen Grössenwahns:
der Eine macht Gedichte, der Andere Predigten u. s. w. Oft sind
es reine Aeusserlichkeiten, z. B. der Besitz einer Uniform, welche
ihrem albern geschraubten Selbstgefühl die genügende Folie abgeben,
um ihr ganzes Bewusstsein zu erfüllen. Nach aussen machen diese
Kranken einen kläglich komischen Eindruck. Vor denen der vorigen
Gruppe haben sie immerhin den Besitz eines gewissen Phantasie-
lebens voraus.
Sie lernen lesen, schreiben, rechnen, zeigeu selbst Vorliebe für ge-
wisse Beschäftigungen. In ihrem Wesen sind sie theils moros und zän-
kisch, theils gemüthlich und zufrieden; bei Widerspruch oft heftig und
zornig.
3. Erethischer Schwachsinns -Typus. Diese Gruppe enthält die
bei den mittlem Schwachsinnsgraden selten prägnant vorkommenden
erethischen Formen. Sie bilden nach unten den Uebergang zu den
entsprechenden Formen des hochgradigen Schwachsinns; an Stelle
papageiartigen Wiederholens tritt hier ein albernes Geplapper und
ein beständiges Durchkreuzen der Rede durch incohärente, oft ganz
heterogene Gegenfragen.
In ihrem Wesen täppisch und unruhig, erzählen sie beständig, und
oft die unbedeutendsten Dinge, mit Geschrei und Lebhaftigkeit. Da ihre
Aufmerksamkeit beständig von einem Punkte zum andern abspringt, ist
der Unterricht sehr schwierig. Sie lernen wohl lesen und schreiben;
auch einfache Zahlenbegriffe und einige religiöse Kenntnisse sind ihnen
beizubringen. Aber schon die Erlernung eines einfachen Handwerks ist
in Folge ihrer ruhelos fliehenden Aufmerksamkeit in der Regel nicht
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Idiotischer Schwachsinn. Klinische Typen.
507
möglich. In Benehmen und Haltung sind sie sehr zu possenhaften Ücber-
treibungen geneigt; Manchen fehlt auch ein gewisser Zug von Ver-
schmitztheit nicht. Viele vermögen gar keinen Zeitbegriff zu gewinnen.
Bei unerwarteten Fragen gerathen sie in verwirrte Verlegenheit, aus
welcher sie sich aber nicht selten in drolliger Weise durch Ueberspringen
auf ein anderes Thema zu helfen wissen. Für eine neue Situation, als
die eingewöhnte, haben sie keine Orientirung. Die Sprache ist verwaschen,
vielfach pleonastisch, durch falschen Gebrauch adverbialer Bestimmungen
verdorben („grad' hab' ich die Milch geholt wirklich als"). Trotz völliger
Harmlosigkeit und einer gewissen freundlichen „Zuthunlichkeit" fehlt
ihnen jede tiefere gemüthliche Erregung; trotz jahrelang regelmässigem
Kirchenbesuch gewinnen Viele nicht einmal den einfachsten Gottesbegriff;
sie wollen nicht sterben, und glauben es auch nicht. — Manche zeigen
periodisch auftretende Verstimmung mit zerstörenden Raptus, und nach-
folgenden Anklängen an primitive Reue mit Weinen.
4. Aphatischer Schwachsinns-Typus. Diese Gruppe umfasst eine
Anzahl von Fällen, in welchen eine auffallende, oft bis zur Apbasie
gehende, Sprachstörung vorhanden ist, und zwar in scharfem Con-
trast gegen das übrige, nicht schlecht entwickelte, geistige Leben.
Hierher gehört ein Theil der von Griesinger als „kleine drollige
Käuze" aufgeführten Kranken, mit theilweise inakro-, theilweise ini-
krocephaler Kopfbildung.
In ihrem Wesen nicht unintelligent, gelehrig, pünktlich, gesellig,
aufmerksam auf die Vorgänge der Umgebung, zum Theil recht leidlich
geschickt in Handarbeiten, in Lesen und Schreiben (Rechnen oft mangel-
haft), in ihrer geistigen Signatur bald mehr zum apathischen, bald zum
eretbischen Typus sich hinneigend — zeigen sie sämmtlich erhebliche
Sprachstörungen. Gewöhnlich werden beim Vorsprechen sämmtliche (oder
fast sämmtliche) Buchstaben richtig von ihnen «nachgesprochen; dagegen
beim Wortesprechen erfolgt ein mehr oder minder starkes Stammeln,
wobei die Consonanten mit Vorliebe durch einen zwischen n und gl lie-
genden Laut ausgedrückt werden. Manche Kranke empfinden ihre lin-
guale Unbehilflichkeit mit einem gewissen drolligen Missbehagen, und
suchen die defecte Aussprache durch eine lebhafte Mimik und Physio-
gnomik auszugleichen.
5. Moral Insunüy -Typus. Hier ist der ethische Defect dem in-
tellectuellen nicht nur gleich werth ig, sondern tritt vor letzterem
prägnant in den Vordergrund. Die Symptome der Moral Insanity
beherrschen die Scene, und zwar sehr oft mit periodischem Cha-
rakter des Auftretens,
Die Kranken dieser Gruppe kennen die einfachsten Lebensbeziehun-
gen, haben auch Schulunterricht im Erfolg durchgemacht. Sie verfügen
über einen gewissen Fonds von mechanischem Wisserf, welchem aber
jeder tiefere und namentlich idealere Zug fehlt. Sie sagen ohne Be-
fremden eingelernte ethische Sprüche her, gegen welche sie sich kurz
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508
Der Idiotismus.
vorher durch die That in plumpster Weise verfehlt, und fühlen den
Widerspruch nicht. Sittlichkeitsvergehen und namentlich Diebstähle bil-
den die Kategorieen der hier am häufigsten vorkommenden Delicte. Oft
zwecklos, werden die letztern nichtsdestoweniger sehr oft mit vielem
Raffinement ausgeführt. Onanie ist sehr häufiger Begleiter.
6. Hebephrener Schwachsinns-Typus. In dieser Gruppe sind ge-
wisse Fälle von jugendlichem Irresein vereinigt, welche Schwachsinn
zur Folge hatten oder mit demselben complicirt sind.
Hierher gehören erblich in der Regel stark belastete Kinder, welche,
nach erst normaler Entwicklung in den ersten Jahren, schon frühe und
ohne nachweisbare Ursache Anwandlungen von Depression und Exaltation
zeigen, manchmal selbst als monatelange Aufregung mit Verworrenheit
und Hallucinationen. Darauf folgt meist noch Genesung. Aber die kleinen
Patienten sind geistesträger und auffallend gemüthsstumpfer geworden,
oder gegentheils unstät in ihrem Wesen, abspringend in ihrer Aufmerk-
samkeit, ohne Ausdauer und Fassungskraft. Ein primärer anergetischer
oder erethischer Schwachsinn hat Platz gegriffen und lässt sie intellec-
tucll auf kindlicher Stufe stehen, ohne Fähigkeit zu einer wenn auch
noch so bescheidenen Ausbildung. Auf leise körperliche (gastrische)
Störungen erfolgen sofort hallucinatorische Erregungszustände; bei jungen
Mädchen erschliesst sich mit Eintritt der Periode eine menstruale Psy-
chose mit oft typischer Wiederkehr. Aber auch bei den so disponirten
Jünglingen, welche mit IG Jahren oft noch einem 12jährigen gleichen,
stellen sich periodische oder cyklische Aufregungszustände ein, meist
mit kurzer Dauer (8—14 Tage) und mehrwöchentlichera Intervall. Die
manischen Phasen zeigen Annäherung an gewisse Typen der Erwachsenen
(s. d.): albernes, verwirrtes Faseln mit marionettenartigen Bewegungen
und fratzenhaftem Gesichterschneiden , spasshaftes muthwilliges, begehr-
liches Wesen, voll sinnloser Pläne und bramarbassirendem Pathos. Damit
wechseln hypochondrisch-ftngstliche Episoden ab. — Ein anderer Typus
zeigt periodische Zornmüthigkeit mit verbaler und thätlicher Bedrohung
der Umgebung und allen Zeichen einer manischen Moral Insanity. In
der Regel tritt nach und nach der Cyklus zurück, und es bleibt das
immanente schwachsinnige excentrische Wesen, oder aber eine finstere
zornmüthige Reizbarkeit; in beiden Fällen mit starkem Gemüthsdefcct.
Sehr häufig gehen sexuelle Perversitäten (starke Onanie) mit einher.
Auch Anfälle von Maladia du doute finden sich bei Schwachsinnigen
dieser Kategorie vor; in einem Falle traten sie im Anschluss an eine
allgemeine Ratlosigkeit auf, als der Kranke fühlte, dass er seinem Be-
rufe nicht gewachsen sei. —
Die eigentliche Hebephrenie, das pubische Irresein, wie es von
Kahl bäum und Heck er gezeichnet wurde, mag hier seine Stelle finden,
obwohl es nicht immer auf idiotischer Basis erwächst, dafür aber in der
weitaus grössten Mehrzahl der Fülle zu einem bleibenden Schwachsinn
führt. Erblichkeit spielt ätiologisch die hervorragende Rolle; nach ihr:
Onanie und Kopfverletzungen; wesentlich mitwirkend ist extremer For-
malismus und Pedanterie in der Erziehung. Allgemein lässt sich der
Krankheitsvorgang, welcher diese eigenartige Zustandsform der Hebe-
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Hebepbrenie. — Körperliche Complicationen der Idiotie. 509
phrenie herbeiführt, als ein störender Eingriff in die eben erst (durch
die Pubertät) in Bildung begriffene neue geistige Entwicklungsstufe auf-
fassen, wodurch „ein Zerfahren des noch leicht zerfliesslichen geistigen
Inhalts bewirkt wird , und dessen edelster Theil verloren geht. Der
Krankheitsprocess setzt der geistigen Weiterentwicklung eine Grenze,
und bringt eine eigenthümliche Art des Schwachsinns hervor, welcher
als Inhalt nur die todten Elemente jener eben erlebten Entwicklungsphase
birgt. Dabei erstarren gewissermaassen die kämpfenden Elemente in der
Stellung, als ob sie noch stritten". Im Speciellen ist der Krankheits-
beginn durch ein melancholisches Prodromalstadium eingeleitet. Die
traurige Verstimmung ist aber keine tiefe und wechselt unmotivirt; es
scheint, als ob der Kranke damit spielte oder kokettirte. Zwischen die
düstern Stunden schieben sich ganz abrupt auch heitere, voll Lachens
und albernen Scherzen. Die schärfsten Gegensätze berühren sich un-
mittelbar neben einander. Dabei greift ein bizarres Gebahren Platz, mit
Neigung zu allerlei ziel- und planlosen (oft anscheinend boshaften) al-
bernen Handlungen. Andere Kranke vagabundiren. — Eigenartiger noch
sind die formalen Störungen im Vorstellen, speciell in Schrift und Sprache.
Jene enthält eine Menge von Anakoltithieen, und eine Weitschweifigkeit
der Diction (Styl des „Carlchen Miessnik"), wobei gewisse Wendungen
und Phrasen förmlich „zu Tode gehetzt werden". So auch beim Spre-
chen, welchem ausserdem der beliebte Gebrauch von Provinzialismen und
Lauten aus dem jüdischen und Officiers-Jargon neben einer poetisch ge-
zwungenen phrasenreichen Diction eine ganz specifische Eigenart gibt.
Bemerkenswerth ist auch das Gefallen der Kranken an allerlei bizarren
Einfällen und phantastischen Aufschneidereien. Grundton und Wesen des
skizzirten Krankheitsbildes bildet ein unverkennbarer Schwachsinn ere-
thischer Form, welcher in der Folge immer mehr dem anergetischen zu-
steuert. Dazwischen kann nochmals eine Pause von längerer oder kür-
zerer „Genesung" sich einschieben; in der Regel brechen aber neue
Aufregnngszustände (mit dämmerhaftem Bewusstseinszustand, triebartigen
Raptus und Hallucinationen) früher oder später wieder aus, und führen
den allmählichen geistigen Niedergang herbei. — Ich sah auch eine tiefe
hypochondrische Phase intercurriren (Onanie), in welcher der jugendliche
Patient einem Tent. suicidii erlag.
Die körperlichen Complicationen der Idiotie.
a) Epilepsie — in 30% aller Fälle (nach den Erfahrungen in S t e tt e n).
Bemerkenswerth ist, dass die Epilepsie, wo sie nur als Complication der
Idiotie auftritt, verhältnissmässig leicht psychisch ertragen wird. Wesent-
lich verschieden ist dagegen die Bedeutung der Epilepsie, wo sie als
Ursache der Idiotie fungirt. Hier ist deren Einfluss ein perniciöser und
zwar um so mehr, je früher dieselbe auftritt (von den im 1. — 2. Lebens-
jahr Befallenen wurden 50% blödsinnig idiotisch und nur 10% bildungs-
fähig); s. S. 271.
b) Spinale Störungen (spastische Paralyse).
c) Hemipurese aus partieller Hirnatrophie mit Muskelatrophie und
Contracturen — Motorische Coordinationsstörungen, ohne aus-
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310
Der Idiotismus.
gesprochen locale oder überhaupt diagnosticirbare HirnafFection, finden sich
überaus häufig in allen idiotischen Schwachsinnsformen; schon einfache
Bewegungen (wie zum Essen) müssen mit vieler Mühe und Geduld ein-
gelernt werden. Ganz besonders zahlreich vertreten ist aber die Un-
sicherheit im Gehen und Stehen, mit theils schlürfendem, theils „quad-
delndera" Gang, und ausgiebig plumpen Balance-Bewegungen. Romberg-
sches Symptom ist sehr häufig; ebenso laterale motorische Ungleichheit
(gewöhnlich mit Differenzen in den Sehnenreflexen), auch ohne sonstige
halbseitige Störung. Chorea- Bewegungen, in Form von Mitbewegungen
im Gesichte und leichter Unruhe in den Händen, sind gleichfalls verbreitet
( t mal auch halbseitig, ohne deutliche Hemiparese).
d) Monoparesen. Tremor. Bulbäre Erscheinungen. Die Monoparesen
finden sich in Form isolirter Lähmungen einzelner Muskelgruppen (in
1 Fall ungleiche Gesichtsinnervation bei mangelhafter mimischer Action
beiderseits; unvollkommene Function des Buccinatorius, Herabhängen des
Unterkiefers, Unfähigkeit die überaus schwer bewegliche Zunge heraus-
zustrecken; Schlingdefecte, hochgradige Anarthrie beim Sprechen mit Aus-
werfen von Gonsonanten in Nasal-Timbre, t = tn, 1 und m = ng, k un-
gefähr wie ong, r = ch). — Nicht selten findet sich die Monoparese
auch in Form einer beiderseitigen Ptosis, neben Ungleichheit der Facial-
Innervation. Der Tremor zeigt sich als fortwährendes Schütteln des
Kopfes, als Zittern der Arme und Beine; manchmal Intentionszittern bis
zur Stärke athetotischer Bewegungen. — Leichte Bulbärsymptome fin-
den sich auch bei vielen höherstehenden Idioten.
e) Weit seltener als die Störungen auf dem motorischen Coordina-
tionsgebiet sind die der sensibeln und sensoriellen Sphäre. Der
Tastsinn ist bei der überwiegenden Zahl der Idioten erhalten, ebenso das
Muskelgefühl und der Temperatursinn. Am häufigsten noch ist die Ver-
minderung der Schmerzempfindung. Selten fehlt der Geruchssinn ganz;
dagegen kommen Parästhesieen desselben öfters vor. Auch das Gehör
zeigt selten erhebliche Störungen (das schlechte Hören der Idioten ist
meist psychisch bedingt). — Grobe Veränderungen im Augenhintergruud
sind gleichfalls nicht sehr häufig.
f ) Von allgemeinen Ernährungsstörungen kommt am häufigsten Scro-
phulose und Anämie vor, und damit zusammenhängend die Tuberculose.
— Acute gastroentritische Störungen intercurriren nicht selten. — Inter-
essant ist das relativ geringere Schlafbedürfniss der meisten Idioten, und
die geringere Disposition zu Delirien bei fieberhaften Erkrankungen.
g) Degenerationszeichen, a) Missbildungeu am Ohre: auffallend
plumpe Modelliruog; abgeflachte, henkelartig abstehende Ohren; auf-
fallende Asymmetrie in der Modellirung der Ohrmuschel ; das „abge-
stutzte" Ohr bei Aztekenköpfen; ,1) am harten Gaumen und Unterkiefer:
Spaltbildungen; sehr starke Wölbung (kielförmig) mit convergirenden
Zähnen; sehr flacher Gaumen mit prominirendem Zwischenkiefer; auf-
fallender llochstand der Mittelpartie des Unterkiefers gegenüber den seit-
lichen; y) an den Zähneu: Schmelzdefecte (Caries) ; Schiefstand mit
seitlichem Uebereinandergreifen ; 6) der Haut: ausserordentlich starke
Faltenbildung; derbe Verdickung namentlich über der Stirn und Supra-
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Die Sch&delformen und die „natürlichen Familien". 511
Orbitalgegend; Hemiatropbia facialis; c) an den Genitalien : Kryptorchis-
mus. Die Häufigkeit der Degenerationszeichen bei Idioten belauft sich
auf 75<Vo (Wildermuth).
Die Schädel formen der Idioten und die „ natürlichen
Familien".
Die Bestimmung der Schädelformen der Idioten d. b. die Be-
urtheilung, ob ein Schädel pathologisch sei oder nicht, ist, von den
extremen Fällen abgesehen, desshalb nicht leicht, weil es an einer
genügend grossen Untersucbungsreihe von Schädeln zweifellos nor-
maler Kinder auf den verschiedensten Entwicklungsstufen fehlt.
1. Mikroccphale Schädelformen. Diese unterscheiden sich
a) als typische Mikrocephalie. Aztekenköpfe. Charak-
teristisch: Abflachung des Hinterhaupts, fliehende Stirne, zwischen
Stirn und Nase keine Einsenkung; kiel förmige Verschmälerung nach
vorn (jedoch nicht immer deutlich); Längenwachsthum des Körpers
zurückgeblieben.
Anatomisch scharf umschrieben, lässt sich klinisch kein — in seinem
Habitus — entsprechend abgeschlossener Typus zu dieser Grnppe auf-
finden. Bemerkenswerth ist, dass unter den zugehörigen 9 Kranken der
Anstalt zu Stetten Keiner blödsinnig ist; 3 gehören dem hochgradigen
Schwachsinn an, 6 den mittleren und leichtern Formen.
b) als proportionale Mikrocephalie. Charakteristisch: alle
Schädeldurchmesser sind ziemlich gleichmässig reducirt.
Klinisch lassen sich mit dieser anatomischen Gruppe zwei in ihrem
Habitus etwas scharfer markirte Typen in Beziehung setzen: a) kleine
eiförmige Köpfe, hübsch gerundet, sämmtliche Durchmesser verkleinert,
Stirnprofil gegen Nasenrücken abgesetzt. Deren Träger sind: erethisch
Blödsinnige und Schwachsinnige aller Grade; aber selbst in den leich-
tern Formen stets mit schweren Cerebralstörungen complicirt (hochgra-
dige Sprachstörung, ßulbärsymptome) ; ß) stark brachycephaler Schädel,
hoch, hauptsächlich im Längsdurchraesser reducirt. Deren Träger sind:
hochgradige Schwachsinnige, mit raschem Stimmungswechsel von täppischer
Zärtlichkeit zu störrischem Eigensinn, disciplinirbare, aber nicht bildungs-
fähige, hereditär schwer belastete, mit Sprachlosigkeit oder höchstens ru-
dimentärer Sprache behaftete, zu kindischem Nachahmungstrieb befähigte
Fälle; dabei sehr starke Coordiuationsstörung der untern Extremitäten,
unsicherer Gang ohne ausgesprochene Paresen, plumpe breite Zunge, rohes
Mienenspiel, derbe Gesichtshaut.
2. Makrocephule Schädel formen. Hierher gehören die hydro-
cepbalen und cretinösen Typen.
Klinisch: Alle Formen des Blödsinns und Schwachsinns vertreten.
Anergetischer Charakter; meist complicirt mit erheblicher und mit dem
übrigen psychischen (bildungsfähigen) Verhalten contrastirender Sprach-
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512
Der Idiotismus.
Störung. Sonst fehlen Coordinations- und motorische Anomalieen. Da-
gegen kühle Haut und Zwergwuchs vorhanden. Die Gruppe der äusserst
gemUthlichen komischen „Dollpatsche" gehört hierher.
3. Normale Schädelformen. Hierher gehören die „progenaeen"
Schädel L. Meyer's, und die individuellen Wachsthums- Anomalieen
durch vorzeitige Synostosen. Dabei ist nicht selten der Gesichts«
ausdruck mehr oder minder intelligent. Die anatomischen Spielarten
sind, ausserordentlich zahlreich.
Viereckige, im Längsdurchmesser verkürzte Schädel; Hinterhaupt
wie ein Wulst hervorgedrängt, so dass man es mit der hohlen Hand so
einschliessen kann, als ob man das blossgelegte kleine Gehirn nmfasste
(Synostose der Lambdanaht); starke Orthognathie. Ferner die Schädel-
Skoliosen, die Verschiebungen und Verbiegungen, einseitigen Abflachun-
gen u. s. w. An den letztern Anomalieen nehmen auch viele Originär-
Verrückte Theil. — Von den Idioten zeigt übrigens ein sehr grosser Theil
(namentlich die mittlem und leichtern Schwachsinnsformen) keine erheb-
lichen Abweichungen im Schädelbau.
Tabellarische Znsammenstellung der Insassen von Stetten nach
den Schädelformen:
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127
In der pathologischen Anatomie beschränke ich mich auf
einige neue, bis jetzt nicht publicirte Heiträge, welche ich der
Freundlichkeit Wildermuth's in Stetten verdanke.
1) Multiple tuberöse Sklerose der Hirnrinde (cf. Brück-
ner, Bourneville). M. A. IG Jahre, rechtzeitig geboren, körperlich
normal sich entwickelnd; im Beginn der psych. Entwicklung durch ein
unruhig aufgeregtes Wesen neben intellect. Schwäche auffallend. Schul-
besuch nicht ganz ohne Erfolg. Vom 3. Lebensjahre epileptoide Zufälle,
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Patholog. Anatomie. — Multiple tuberöse Sklerose der Hirnrinde. 513
zunächst in Form von Zuckungen in den Extremitäten mit leichter Be-
wusstaeinsstörung ; nach und nach ausgesprochene Insulte, welche in
Gruppen von 2—3 Attacken sich alle paar Wochen wiederholen. 1 SS t
gute Ernährung, rechtsseitige Gesichtsatrophie, plumpe weit abstehende
Ohrmuscheln, flacher Gaumen, kein Strabismus, keine Parese, keine
Sensibilitätsstörung. Gehör linkerseits vermindert. Sprache langsam, häsi-
tirend, nicht stotternd. Gehen normal; Stehen bei geschlossenen Augen
unsicher. Psychisch: massiger Schwachsinn mit langsamer Appercep-
tion. — Vor den epileptischen Anfällen hochgradige zornmUthige Reiz-
barkeit mit Neigung die Umgebung zu insultiren (auf Grund illusorischer
Umdeutungen). Nach den Anfällen grosse Euphorie, „Heiterkeit ohne
inneres Behagen". Anfälle kommen nur Nachts, ohne Aura, beginnen
mit Schrei; allgemeine, rechts stärkere Convulsionen ; auf der Höhe der-
selben starke Gesichtsinjection. Nachher Schlafsucht. Amnesie. Im Jahre
1880: 59 Anfälle; 1881: 65; 1882: 72. Vom 26. Jan. 1883 gehäufte
Anfälle mit starker Temperatursteigerung, Schlinglähmung, Sopor, Tod.
Autopsie: Schädel blutreich, Nähte erhalten. Starke Injection der
Häute, letztere schwer abziehbar. Ueber dem linken Hinterhauptslappen
und dem rechten oberen Scheitellappen ein flächenhafter Bluterguss. G e -
hirn: Gewicht 1390. Bei vorsichtiger Betastung der Hemisphären stösst
man an verschiedenen Stellen auf knorpelharte Indurationen, ohne dass
die Form der Windungen verändert wäre. Nur am Fuss der rechten
1. Frontalwindung findet sich eine prominirende Partie; hier auch Adhä-
sion der Pia. — Windungsconfiguration normal, nur vielfache secundäre
Furchung. — Auch die indurirten Stellen sind von dem übrigen Con-
tinuum durch secundäre Furchung abgetrennt; auf ihrer Höhe zeigen die-
selben eine seichte s. z. s. nabeiförmige Einziehung. Ausserdem ist die
Oberfläche meist glatt, glasurartig. — Die Leptomeningen, mit Ausnahme
der erwähnten Stelle, leicht abziehbar. — Linke Hemisphäre: hin-
tere Cent.-W. verschmälert; fiss. centr. geradlinig, einmal scharf recht-
winklig sich biegend. Windungen normal. Frontallappen: im vordem
und hintern Drittel der 1. Front.-Wdg. je 1 sklerosirte Stelle. Die
2. Front.-Wdg. in eine Reihe hinter einanderliegender, harter, durch Ein-
schnürungen getrennter Knoten verwandelt; Fuss der 3. Front- Wdg.
nicht hart, aber derb elastisch. Ausserdem Sklerosirung an einem mittlem
Windungszug der medialen Partie des Stirnhirns, am untern Scheitel-
läppchen und im Lob. praecentr. Rechte Hemisphäre: Central Win-
dungen breiter als links; Fiss. interpariet. mündet direct in die Foss. Sylv.
— Sklerosirte Stellen finden sich: 1. in der Mitte und dem medialen
Ende der hintern Central-Wdg. ; 2. im mittlem Drittel der l. Front.-Wdg.;
3. am basalen Ende der 3. Front. -Wdg. ; 4. in der medianen Partie des
oberen Scheitelläppchens; 5. am vordem Ende der 3. Temp.-Wdg.; 6.
am Anfang der 1. und 2. Occip.-Wdg.
Consistenz des Gehirns, namentlich im Stabkranz, fester als normal.
In der Umgebung der sklerosirten Stellen leichte gelbliche Verfärbung.
— Die Sklerosirung entspricht wesentlich der grauen Substanz, ist
auf dem Durchschnitt glänzend weiss, derb , zeigt an einzelnen Stellen
deutliche Faserung, und ist gegen die Markmasse durch eine schmale
gelbbräunliche Leiste abgegrenzt. An einzelnen Stellen erstreckt sich die
Schal«, Geisteskrukhoiten. 3. Aufl. 33
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514
Der Idiotismus.
Sklerosirung nur auf die tiefem Rindenpartieen , während peripher ein
grauer Saum erhalten bleibt. — Im Marklager der rechten Hemisphäre
zerstreute punktförmige Suggillationen. — Mittelhirn, Zwischenbirn, Klein-
hirn, Medulla ohne Sklerosirungen; das Gewebe erscheint hier normal.
2. M i k r oce p hali e. Asymmetrie der H emisphären. Ano-
malie der Windungen, schwache Entwicklung des Balkens
Fig. I.
(vgl. Fig. 1 und 2i. A. I). 4 Jahre alt, 8 Monat-Kind, Anfangs mit
Eselsmilch und Cognak ernährt , später mit Ammenmilch. Anscheinend
Fig. 2.
normale psychische Entfaltung; im Lebensmouat eclampt. Convulsionen
(Erblassen, tunische Krämpfe in Armen und Beinen), welche später als
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Pathol. Anatomie. Asymmetrie der Hemisph. Anomalie der Windungen. 515
eigenthtimliche Streckbewegungen (auf Berührungen) wiederkehren. Dürf-
tiges elendes Aussehen. Völlig hilflos; kann nicht stehen und sitzen;
keine Spur eines psychischen Lebens. Klägliches Aechzen ohne deutliche
Unterschiede für Lust oder Unlust. Bei jeder Berührung eines Körper-
theils opisthotonische Streckkrämpfe, links mehr als rechts; mit Sistirung
der Respiration und Cyanose. Tod an katarrh. Pneumonie. Autopsie;
Schädelumfang horiz. 40 cm.; Längsumfang 27; Ohrscheitellinie 27 cm.;
linke Hälfte schwächer gewölbt; Nähte mit Ausnahme der Stirnnaht er-
halten; dünne Knochen, theilweise transparent. — Dura mater nicht
verwachsen. — Leptomeningen stellenweise ödematös, getrübt und da
und dort mit Rinde verwachsen. Gehirn: Gewicht 625. Rechte
Hemisphäre (Fig. 2): Centraiwindung weit nach rückwärts liegend
(6,9 cm. von Spitze des Stirnlappens, resp. 5,7 von der Spitze des Hin-
terhauptlappens); geht gabiig getheilt direct in die Foss. Sylv. über.
— I. Fiss. temp. reicht nur bis an die Grenze vom hintern und mittlem
Drittel des Schläfelappens; I. Temp.-Wdg. kammförmig verschmälert.
Im Uebrigen zeigt die Windungsanlage keine erheblichen Abweichungen.
— Linke Hemisphäre (Fig. 1): Centraifurche tief eingeschnitten,
ziemlich senkrecht, oben gabiig sich theilend, mündet direct in die Foss.
Sylv. — Stirnlappen: Anordnung der Windungen ziemlich genau wie rechts,
nur zeigt sich der Fuss der III. Windung kammartig verschmälert, tief-
liegend, d. h. von benachbarten Windungszügen Uberragt; der vordere
Theil stellt eine plumpe, vorn durch einen Querschnitt scharf abgesonderte
Masse dar ('s. Abbildg.). — Schläfelappen ganz atypisch : die Parallel-
spalte mündet in die Fosaa Sylv. aus; die Basis des Lappens nach
hinten ist durch eine tiefe, von der Einmündung der Rolando'schen
Furche aus nach hinten und unten verlaufende Spalte vom Hinterlappen
getrennt.
Die GrössendifTerenz beider Hemisphären ist auch in den grossen
Ganglien, namentlich im Thalamus, sichtbar (1. kleiner als r.J; ebenso
in der Pyramide.
Der Balken stellt eine Uberaus dünne, hautartige, auf dem sagittalen
Durchschnitt nur schwach inarkirte Masse dar. Commiss. med. auf-
fallend breit und dünn. — Ammonshorn verkümmert. — Ventrikel mässig
erweitert; Ependym verdickt. — Tract. opt. dext. und n. opt. sin. plat-
ter und schmäler als der der andern Seite. — Corticalis leicht bläu-
lich transparent. In der Markmasse der Windungen strangartig weisse Par-
tieen neben der gelblich gefärbten, etwas transparenten, Umgebung.
3. Schwachsinn leichteren Grades. Epilepsie. Hydro-
ceph. cong. Atypie der Windungen, speciell der Centrai-
furche (vgl. Fig. 3). W., 10 Jahr alt, Zangengeburt, von jeher grosser
Kopf; Gehen erst später erlernt, langsame psychische Entwicklung; vom
5. Jahr epileptisch. Sehr erregbar; Schulbesuch nicht ohne Erfolg. Keine
schwereren motorischen oder sensiblen Störungen. Keine coordin. Sprach-
störung. Stirbt nach der Aufnahme an Scarlatina.
Autopsie: Exquisit hydrocephalischcr Typus (horiz. Umfg. 57;
Längsumfang 37; grösste Breite 16; Längsdurchmesser 19; Are. supra-
orb. — Protub. oeeip. r. IS; 1. 18,5; Distanz der Stirnhöcker 4,0; der
33*
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516
Der Idiotismus.
Proc. zygom. lü; des Meat. aud. ext. 12,5; Breite des Sept. orb. 2,5;
Gesichtslänge 1 1,2; Gesichtshöhe S; Gesichtsbreite 6; Schädeldach gleich-
massig verdünnt; Nähte, ausgenommen Stirnnaht, erhalten; Dura mater
normal, nicht verwachsen. Leptomcningen verdickt, getrübt, theilweise
adhärent, sehr injicirt. Im Arachnoid.-Raum, namentlich der Basis, viel
Serum. Ueber der 1. Kleinhirnhemispbäre findet sich eine von den
weichen Häuten umschlossene cystenartige Bildung, welche mit dem
Subarach.-Raum nicht commnunicirt, und zu einer Compression der 1.
Kleinhirnhemisphäre geführt hat. —
Fig. 3.
Gehirn: Gewicht 1550; Windungen abgeplattet, breit und plump.
— Rechte Hemisphäre: Centraifurche nicht sehr tief. Dieselbe
mündet oben nicht in die Me dianapalte, sondern kerbt nur den
untern Rand der I. Front. -Windung ein, so dass diese mit dem Scheitel-
läppchen continuirlich zusammenhängt. Die Centraifurche scheint direct
in die Foss. Sylv. überzugehen, jedoch zeigt sich in der Tiefe noch einen
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Patholog. Anatomie. Atypie der Windungen (Centralspalte). 517
Abschluss durch einen schmalen Windnngsbogen. Interparietalspalte ist
tiefer als die Rolando'sche Furche.
Linke Hemisphäre: etwas kleiner als rechte. Centraifurche
reicht hier nur bis in die Mitte der II. Front.- Windung, so dass diese und
die erste sich in den Scheitellappen fortsetzen (Rückkehr zum hori-
zont. Furchungstypus?). Nach unten geht sie in die Foss. Sylv. Uber.
Fiss. interpar. sehr tief und gut entwickelt. — L. Ammonshorn abgeplattet.
Ventrikel sehr erweitert, enthalten circa 1 50 grm. helles Serum. Ependym
stark verdickt. Commiss. med. bildet einen weissen, runden Strang, un-
gefähr von der Dicke des Oculomotorius. — Grosshirnganglien, beson-
ders der Thalamus, links breiter als rechts ; ebenso Pyramide. — Link,
hint. Vierhügel kleiner als rechts. — In Medulla und Kleinhirn ausser
der oben beschriebenen Compression nichts Abnormes. —
Betreffs der Veränderungen am Schädel ist die Beobachtung von
Interesse, dass bei Idioten sehr selten Fälle vorkommen, in welchen
die pathologische Hirnveränderung als Folge prämaturer Nahtsynostosen
anzusehen wäre (Wildermuth). — Complete Obliteration der Nähte fand
sich nur bei einem 9jährigen epileptischen Knaben mit erethischem Schwach-
sinn höheren Grades. — Bei einem makrocephalen Schädel (49 cm. Um-
fang) waren sämmtliche Nähte, auch die Stirnnaht, erhalten (Cystenbil-
dung im rechten Hinterhaupt-Scheitellappen).
Der Schwund des Gehirns (aus irgend welcher Ursache) wird aus-
geglichen 1. durch gleichmässige Verdickung der Schädelknochen, meist
verbunden mit Sklerosirung ; 2. durch Ausdehnung (oft bis zu einem
enormen Grad) der lufthaltigen Nebenräume der Nase und des Mittel-
ohrs. Diese beiden erwähnten Compensationen allgemeiner oder partieller
Hirnatrophieen scheinen häufiger vorzukommen, als die durch entsprechen-
den Ausgleich mit Liquor.
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REGISTER.
Abdomen beim Delirium acutum me-
lancholicum 333.
Ableitungen beim Delirium acutum
340. — bei Epileptischen 26S. 269.
Abmagerung beim Delirium acutum
paralyticum 336. — bei Dementia se-
nilis (schwerer Form) 392. — bei
pacchymeniogitischen Zufällen 385.
— bei der psychischen Meningo-
Periencepbalitis chron. 380.
Abscesse bei Delirium acutum melan-
chol. 334.
Absenzen im epileptischen Irresein
263.
Abstumpfung, allgemein gei-
stige, als Form d. torpiden Schwach-
sinns 116.
Abulie beim circularen Irresein 309.
— bei Dementia (attonischer Form)
214. — bei Melancholie (periodischer
Form) 298. — , seelische, bei Melan-
cholikern 29. — bei Stupor (halluci-
natorischer Form) 225. 226. — bei
Verfolgungswahn 155. — bei Wahn-
sinn (chronisch-degencrativem hysteri-
schen) 249, (dumonomanisch-halluci-
natorischem) 179, (hypochondrischem)
160, (der hystcrisch-katatoneu Form)
247.
Abwehr-Reactionen gegen innere
Traumvorgänge beim Delirium acutum
melancholicum 332.
Aderlass, Unterlassung dess. in der
Manie SS.
Aetherinjectionen beim Delirium
acutum paralyticum 340.
Aetzungen der Clitoris zur Behand-
lung der Hysterie 253.
Affe et starre bei Melanchia attonita
74.
Agoraphobie 446.
Agraphie bei Dementia senilis 392.
Agrypnie bei Verfolgungswahn 149.
Albuminurie bei Delirium tremens 417.
Alexie bei schwerer Dementia senilis
392.
Alkoholepilepsie 424.
Alkoholgenuss, Verbot dess. bei
Paralyse 376.
Alkoholismus 401. — agitirter 413.
— , chronischer 15. 410. — , paralyti-
iormer 417. — , Therapie dess. 425.
— , Veranlass, z. Eifersuchtswahu 163,
z. Wahnsinn (cerebrospinalem) IS6.
Alkoholparalyse 417.
Alkoholpsychosen 401. — , speci-
tische 404.
Allegorisirungcn, damonomane, bei
Grössen wann 165. — bei Gehirnatro-
phie 391. — in der Melancholie 36.
55. — , sensible, bei acutem hypochon-
drischem Wahnsinn 186.
Alternirende Psychosen 316. — , al-
ternirender Typus ders. 317. — , Ver-
lauf ders. 317.
Amaurose bei primärer Hirnatrophie
389.
Amnesie beim epileptischen Irresein
263. — , hereditäre 463. — im hystero-
epileptischen Anfall 241. — bei patho-
logischen Rauschzuständen 404. —
bei d. tran8itorischen Seelcnstörungen
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Register.
519
457. — beim Wahnsinn (peracutem
manischen) 461. [390.
Analgesie bei primärer Hirnatophie
Anämie, angeborne 429. — in Bez. z.
attoniscben Dementia 215.—, Behand-
lung ders. bei Hysterie 251; bei Me-
lancholie 46. — beim Delirium acutum
paralyticum 336. — in Bez. z. hyste-
rischen Katatonie 247. — bei Idioten
502. — bei Mania (typica) 112. — bei
Melancholie 54. 298. — bei primärer
Gehirnatrophie 390. — , Ursache des
Delirium acutum paralyticum 334. — t
Veranlassung zu intellectueller u. mo-
ralischer Schwäche 496. — bei Ver-
folgungswahn 149. — bei Wahnsinn
174. 188. 191. 196.
Anaesthesia psychica dolorosa>5.
Anästhesie bei attonischer Demen-
tia 214. 215. — in der Ekstase der
HyBterie 242. — bei Gehirnatrophie
(primärer) 386. 390. — in der Manie
Mi. — bei Melancholie 37.
Anarthrie bei Paralyse 348. — bei
der psychischen Pacchyraeningitis 381.
— bei psychischen Rückenmarkser-
krankungen 395.
Angst zustände bei den alternirenden
Psychosen 319. — beim Blödsinn
(apathischen) 129. — beim Delirium
acutum melancholicum 331. 332. —
— bei der Dementia senilis 392. —
beim epileptischen Irresein 263. —
bei Gehimatrophie (primärer) 388. —
bei Grössenwahn 166. — bei Hypo-
chondrie 285. — , Localisirung ders.
bei der Melancholie 36. — bei Me-
lancholie 26. 36. 55. 298. — als Par-
ergon des Reflexactes 26. — bei den
periodischen Mauieparoxysmen 290.
— bei der psychischen Encephalitis
syphilitica 397. — bei der psychischen
Meningo-Periencephalitis chron. 379.
— bei Stupor 309. — bei Trinker-
wahnsinn (acutem) 407. — beim Ver-
folgungswahn 155. — bei Wahnsinn
(acutem dämonomanen) 17 8, (acutem
melancholischem) 1S8. 189, (halluciua-
torischem) 176. — , wichtiges psychi-
sches Symptom der Melancholie 26.
— als Zwangsvorstellung 437.
Anomalieen der Constitution als Ur-
sache psychischer Schwäche 115. —
in der Sphäre der Vorstellungen 29.
Anstaltsbehandlung bei Blödsinn
129. — bei epileptischem Irresein 286.
— bei Hypochondrie mit Neigung zu
Selbstmord 286. — jugendlicher Epi-
leptiker 276. — bei Manie 91. — bei
Melancholie 47. — bei Paralyse 378.
— bei psychisch. Schwächezuständen
129. — bei Wahnsinn 145. 193. 195.
Antiphlogosc beim Delirium acutum
340.
Apathie bei Blödsinn 123. — bei
geistiger Schwäche 119. — bei Me-
lancholie 25. bei Paralyse 359.
362. — bei der psychischen Pacchy-
mengitis 3S4.
Aphasie bei Hirnatrophie 389. — bei
Paralyse 319. 354. 366. — bei der
psychischen Pacchymeningitis 384. 385.
Apoplektiforme Anfälle bei Para-
lyse 355. 362. 366. — bei der schwe-
ren Dementia senilis 391.
ApopTexieeu mit nachfolgenden Blöd-
sinn- LähmuDgszuständen 393.
Ap pe reeption, allegorisireude , bei
Wahnsinn 131. — der Paralytiker 356.
— bei Schwachsinn 116. 117, (idioti-
schem) 504. — Wahnsinn 131, (acutem)
180, (acutem melancholischem) 187,
(hallucinatorischem) 175, (secundärem)
120.
Appetit bei circulärer Manie 87. —
bei epileptischem Irresein 258. — bei
Melancholie 39
Arbeitsscheu jugendlicher Epilep-
tiker 273.
Arzneimittel, Einfluss ders. auf die
alternirenden Psychosen 318.
Association beim Blödsinn 122. — in
der Manie S4.
Asylpflege bei Blödsinn 283. — bei
Epilepsie 26S. — bei hypochondrisch.
Irresein 286. — bei Hysterie 254. —
bei Melancholie 47. — bei Paralyse 376.
Asymbolie bei Paralitikern 356.
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520
Register.
Ataxie beim Delirium acutum melan-
cholicum 331. 332. — bei Paralyse
342. 350. 351. — bei der psychischen
Meningo-Periencephalitis chronica 379.
Athetotische Bewegungen bei Idiotie
499. — bei Melancholie (chronischer)
62. — bei Paralyse 351.
Atrophie der Hoden bei contrarer
Sexualempfindung 449. — der Pupil-
len bei primärer Hirnatrophie 390.
A tropin bei epileptischem Irresein 271.
Attonitätsphase bei Melancholie 75.
A tt onitäts zu st ände bei chronischem
Wahnsinn 145.
Augen bei Delirium acutum manicale
329. 330. - bei Wahnsinn 179.
Augenspiegelbefund bei Paralyti-
kern 356.
Aztekenköpfe Idiotischer 510.
Bäder bei Delirium acutum 340, tre-
mens 425. — bei Dementia acuta
(8tupid-hallucinatorischer) 232. — beim
epileptischen Irresein 269. — bei Pa-
ralyse 376. 377. 401. — in der Ma-
nie 88. — bei Melancholie 40.— bei
Stupor 231. 232. — bei Wahnsinn
(acutem manischen) 194.
Beeinträcbtigungswahn bei der
masturbator. Melancholie 70.
Beklemmungen in der Magengegend
und im Schlünde bei der Melancholie
33. 56.
BerOhrungsfurcht bei originärem
Verrucktsein 477.
Beschäftigung bei epileptischem Irre-
sein 269. — bei hysterischem Irresein
sein 254. — der Melancholiker 47. —
bei Paralyse 376. 378. — bei Stupor
232. 233. — bei Wahnsinn (acutem
manischen) 194. [387.
Betäubtheit bei primärer Hirnatrophie
Bettruhe bei Delirium acutem 340.
— bei Melancholie 41.
Bettsucht bei Melancholie 298. 306.
Bewegungsdrang in der Mania gra-
tis 81.
Bewusstheit, Beziehung ders. zur
Seelenstörung 3.
Bewusstsein, Ausflösung der Einheit
dess. 6. — bei Blödsinn 122, (idiotisch.)
498. — beim circulären Irresein 308.
— bei Delirium acutum 325. 326,
maniacale 328, melancholicum 332,
paralyticum 334. 335, tremens 414.
417. — im epileptischen Irresein 25S.
260. 262. 263. — , Gradmesser für die
Tiefe einer Cerebralaffection 9. — bei
Gehirnatrophie (primärer) 387. — bei
Hysterie 234. 240. 242. — bei Idiotie
499. — bei Katatonie 195. 198. 202.
208. 210. — bei Manie 76, (hysteri-
scher) 244, (periodischer) 290. 293.
296, (schwerer) 107. 110. — bei Me-
lancholie 137, (attonischer) 73, (hy-
pochondrischer) 65, (hysterischer) 243,
(periodischer) 298. — bei Moria 106.
— bei Paralyse 343. 360. 366. — bei
der psychischen Meningo-Periencepha-
litis chronic. 379. — bei Schwachsinn
(reizbarem) 117. 118. — bei Stupor
(circulärem) 309. 310, (hallucinatori-
schem) 225, (postmanischem) 219. —
bei Trinkerwahnsinn (acutem) 406. —
bei Wahnsinn 120. 132. 133. 134. 135.
137. 176. 182. 183. 188. 192. 197.249.
305. — bei der Zorn-Manie 102.
Bier bei Behandlung der Paralyse 378.
Blödsinn 122. -, apathischer 108.
127. 180. 190. 224. 230. 250. — nach
Apoplexieen 393. — nach Delirium
acutum 330, (maniacale) 326. — , epi-
leptischer 262. 264. 267. — bei Ge-
hirnatrophie 389. — , hypochondri-
scher 283. — , idiotischer 498. — , in-
tellectueller, bei Moral Insanity 495.
— ,katatoner207. —.klinisches Krank-
heitsbild dess. 122. 126. — bei Me-
lancholie (masturbatorischer) 72. —
in Bez. z. Moria 105. — bei Para-
lyse 342. 347. — nach Paralyse 362.
365. — , primärer 95. 212. — bei psy-
chischen Cerebralleiden 15. 394. —
durch psychische Meningo-Perience-
phalitis ebron. 380. — als psychischer
Schwächezustand 7. — , Therapie
dess. 129. — transitorischer 228. — ,
Verlauf dess. 129. - , versatiler 122.126.
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Register.
521
Blutbeschaffenheit, Verbesserung
ders. beim hallucinatorischen Stupor
227. — bei der Hysterie 251.
Blutentziehungen beim Delirium
acutum 340. — beim epileptischen
Irresein 269. — bei Paralyse 376. —
bei der stupid-hallucinatorlschen De-
mentia acuta 232.
Blutextravasate bei der chronischen
Melancholie 63. — in die Muskeln
bei Paralyse 358.
Brandstiftungstrieb bei chroni-
schem Alkoholismus 413. — , heredi-
tärer 443.
Brech weinsteinsalbe bei stupid-
hallncinatorischer Dementia acuta 232.
Bromkali zur Behandig. des hysteri-
schen Irreseins 253. 254, der Manie
89, der Melancholie 42. 44.
Brom praparate zur Bebandlg. des
epileptischen Irreseins 270.
Bronchialkatarrh beim Delirium
acutum paralyticum 336. — beim De-
lirium tremens 416.
Brustkrankheiten bei attonischer
Melancholie 75.
Bulbäre Erscheinungen bei Idiotie
510.
Calabarinlösungen zur örtlichen
Behandlung der Hysterie 253.
Carbolwasser zur örtlichen Behand-
lung der Hysterie 253.
Caries der Knochen bei Paralyse 358.
Carotidencompression zur Coupi-
rung eines epileptischen Anfalls 269.
Castration zur Behandlung der Hys-
terie 253.
Centrainervensystem, Beziehung
dess. zur Seelenstörung im Allge-
meinen 2. 4.
Cerebralinnervation, Bez. ders. z.
den Leistungen der Sinnesfunctionen
in der Melancholie 33.
Cerebraileiden, psychische 19. —
durch Encephalitis syphilitica 396.
— unter der klinischen Form des pro-
gressiven Blödsinns mit Lähmungen,
bedingt durch Neubildungen im Ge-
hirn 394. — der Hereditarier 457.
Cerebropsychosen 17. 378.
Charakter, alkoholischer 412. — , epi-
leptischer 264.
Charakteranlage, Bez. ders. zur
periodischen Manie 288.
Charaktero lo gis che Reife bei
männlichen Hereditariern 455.
Chinin bei Melancholie 46. — bei Para-
lyse 377.
Chi oral im Delirium tremens 425. —
beim epileptischen Irresein 269. — bei
Melancholie 41. — bei Paralyse 376.
Chlorose, Behandig. ders. bei Hyste-
rischen 251.
Chorea, Beziehung ders. z. periodi-
schen Manie 292. — Coraplicat. der
Epilepsie in der Jugend 272. — bei
originärem Verrücktsem 477.
Choreaartige Bewegungen beider
circulären Form des Stupor 310. —
bei Idiotie 499. 510.
Circuläre Geistesstörungen 299.
— Entwicklung ders. 300. — , zeit-
liche Gruppirung der Intervalle und
Paroxysmen ders. 314.
Circuläres Irresein 301. — , De-
pressionsphase dess. 301. — , Exalta-
tionsphase dess. 301. — , freies Inter-
vall dess. 301. — , Symptome dess.
302. — , Verlauf dess. 308.
CirculationsBtörungen in der Ka-
tatonie 197. — im Wahnsinn (chro-
nischen) 146.
Collaps im Delirium acutum mania-
cale 329. 330. — bei psychischer
Meningo-Periencephalitis chron. 380.
Conjunctiva im Delirium acutum
328. 332.
Constitution, geschwächte nervöse,
bei cerebralen Schädlichkeiten 10.
— , neuropathische , Bez. ders. zur
hypochondrischen Melancholie 63. — ,
Störungen ders. bei Manie 112.
Contracturen bei Idiotie 499. — bei
Paralyse 351.
Contusionen im Delirium acutum
maniacale 328.
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522
Register.
Convulsioneu im Delirium acutum
325. 326. 330. — , epileptische, bei
der schweren Dementia senilis 391.
— in den ersten Lebensjahren, Bez.
ders. zum epileptischen Irresein 256.
— in der Hysterie 234. — in der Manie
79. — bei Melancholie 56. — bei Para-
lyse 353. 354. 363. 366. — bei der
psychischen Meningo- Periencephalitis
chronic. 380.
Coordinationsß töruugen bei Idio-
tie 499. 503. 509. — bei Paralyse 350.
Cretinismus, Complic. der Idiotie 511.
Cyanose beim Blödsinn 126. — im
Delirium acutum maniacale 329. —
der Extremitäten bei Melancholia
attonita 75.
Dämmerzustand, geistiger, im
Delirium acutum 327. 332. 334. — bei
Dementia acuta 22o. 222. — bei er-
schöpfenden Geburten 229. — bei epi-
leptischem Irresein 262. — beim hy-
sterischen Irresein 242. 247. 248. 250.
— jugendlicher Epileptiker 275. — in
der Manie 104. 108. 111. — bei men-
strualen Psychosen 322. — bei psy-
chischer Pacchymeningitis 384. — bei
Stupor 226. 257. 309. 310. — im
Wahnsinn (attonischen) 200. 202. 209,
(secundärcu) 120.
Dämonomanie 102. — , Bez. ders. z.
Delirium acutum auergeticum 334.
Dämono raelanchol ie 32.
Decubitus bei Paralyse 35S. 363. —
im Delirium acutum (maniacale) 329,
(melancholic.) 33-1, (paralytic.) 336.
Defecte, psychische 497. — bei
Encephalitis syphilitica 397. — bei
Wahnsinn 131.
Degeneration, Complic. der Idiotie
510. — der Hintcrsträngc bei psychi-
schen Hückenmarkserkrankungen 394.
— bei Verfolgungswahn 159.
Delirien bei Furor 100. 102. — bei
Gehirnatrophie (primärer) 390. — ,
halluciuatorische, jugendlicher Epi-
leptiker 275. — bei Mania gravis 93.
1 10. — bei Paralyse 366. — bei psy-
chischen Rauschzuständen 41)5. — bei
Trinkerwahnsinn (acutem) 456. — bei
Verfolgungswahn 149. — bei Wahn-
sinn (acutem) 178.
Delirium acutum 16. 325. — , Äti-
ologie dess. 325. — anergeticum 8.
paralyticum 334, (Symptome dess.)
334, (Verlauf dess.) 335. — , Behand-
lung dess. 340. — bei Encephalitis
syphilitica 398. — , hallucinatorisches,
beim epilepischeu Irresein 262. — ,
hysterisches 210. — , Inanitionsformen
dess. 334. — , irritative Formen dess.
326. — maniacale 84. 110. 326, (Sym-
ptome dess.) 326. 330, (Verlauf dess.)
329. — melancholicum s. stupurosum
330, (Symptome dess.) 331, (Unter-
scheidung dieses vom D. ac. mania-
cale) 331, (Verlauf dess.) 333. — , mi-
kroskopischer Befund des Gehirns
bei dems. 338. — bei Paralyse 363.
— , pathologischer Gehirnbefund bei
dems. 336. — , postepileptisches ängst-
liches 258. — bei der psychischen
Meningo -Periencephalitis chron. 380.
— tremens 413. — bei Alkohol-
epilepsie 424. 425. — , Dauer dess. 410.
— fieberhaftes 417. — , Krankheits-
bild dess. 413. — , Prognose dess. 417.
— , Therapie dess. 425.
Dementia, acute primäre 211. — , atto-
nische 214. — , Behandlung ders. 231.
232. — nach circulärem Irresein 308.
— , chronische (Verlauf ders.) 218. — ,
degenerativ-hysterische 250. — , epi-
leptische 267. — beim hypochondri-
schen Wahnsinn 161. — , katatone
211. — , Krankheitsbild ders. 212. —
als Psychose des invaliden Gehirns 12.
— , senile, schwere 391. — , stupid-
hallucinatorische 220. — , ohne Stupor
228. — , stuporöse 177. 214. — , tabi-
sche 395. — bei Trinkerwahnsinn
(acutem) 409. — , Verlauf ders. 216.
223.
Dcnkthätigkeit des Blödsinnigen 122.
Depressionszustände im circulären
Irresein 307. — bei Delirium acutum
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Register.
523
331, (anergeticum) 334. — bei Me-
lancholie (circulärer) 306, (periodischer
298. — bei den menstrualen Psychosen
322. — bei Paralyse 364. — als Typen
geistiger Schwäche 119.
Derivantien bei Paralyse 376.
Deviation des Kopfes bei pacehyme-
ningitischen Zufällen 365.
Diät bei Blödsinn (apathischem secun-
därem) 130. — bei Delirium acutum
340. — bei epileptischen Irresein. 209.
— bei hysterischen Irresein 251. —
bei Manie 68. 90. — bei Melancho-
lie 41. 45. 47. — bei der neurasthe-
nischen Form der Hypochondrie 286.
— bei Paralyse 376. 377. 37S. — ,
roborirende, bei der hallucinatorisch-
stupiden Form der primären Dementia
232. — beim Wahnsinn (manischen)
194.
Diarrhöen im Delirium acutum (ma-
niacale) 329, (melancholicum) 334,
(paralyticum) 336. — bei Mania gra-
vis 67. — bei der psychischen Meningo-
Periencephalitis chron. 3S0.
Dipsomanie, Heredität ders. 444. —
menstrualis periodica 322.
Dissimulation bei Eifersuchtswahn
162. — bei Verfolgungswahn 153.
Dolores osteocopi bei Encephali-
tis syphilitica 398.
Dura mater, Veränderungen ders. bei
Paralyse 369.
Durstgefühl nach einem postepilep-
tischen Delirium 259.
Dysästhesieen bei Melancholie 31.
Echolalie bei Blödsinn 123. — bei
Katatonie (hysterischer) 209.
Egoismus der Epileptiker 264. — der
Hypochondrischen 279. — derllysteri-
schen 235. 246. — der Idioten 504.
— bei reizbarem Schwachsinn 117.
Eifersuchtswahn bei Frauen 162.
— bei Männern 163. — , temporärer
162.
Einbildung des Wahns 173.
Einfallswahnsinn 152.
Eis bei Congestionen Epileptischer 268.
— im Delirium acutum 340. — in
der Manie 8S. 89. — bei Paralyse 376.
— bei den Raptusanfällen Hysterischer
254. — bei vasomotorisch. Störungen
im Wahnsinn 194.
Eisenpräparate bei Hysterie 251 . —
bei Melancholie 46.
Ekelempfindung der Melancholiker
34.
Ekstasen bei hallucinatorischem
Wahnsinn 176. — der Hysterie 242.
Elektricität bei Hysterie 251. 253. —
bei katatonem Blödsinn 195. — bei
Melancholie 44. 48. 254. — bei Para-
lyse 377. 401.
Encephalitis mit Geistesstörung
379. — , atheromatöse bei Gehirnatro-
phie 391. — , mit Capillarektasieen
394. — , complic. mit Rtickenmarkser-
krankungen 394. - , Diagnose ders. 394.
— , diffuse 15. — durch Neubildungen
15. 394. — , sklerosirende 15. 393.
— , specitische 400. — , suhacute 379.
— , syphilitische 15. 396. — s. auch
Meningo-Periencephalitis chronic.
Ependyraitis, chronische, bei pri-
märer Hirnatrophie 3hb.
Epilepsie 12. — , alkoholistische 424.
— , Bez. ders. z. Paralyse (hallucina-
torischer) 360. 361. — , Complic. der
Idiotie 509. 515.
Epileptiforme Anfälle in der Jugend
275. 276. — bei Paralyse 362. —
Zuckungen bei psychisch. Meningo-
Periencephalitis chronic. 380.
Epileptischer Charakter 204.
Epileptisches Irresein Erwachse-
ner 255. — , alternirender Typus dess.
317. — , Auftreten (zeitliches) dess.
256. 257. — , Behandlung dess. 26s.
— , Beziehung dess. zu den epilepti-
schen Krampfanfällen 255. 201. — ,
Entstehung und weitere Entwicklung
dess. 256. — , Erscheinungsformen
dess. 262. — , forense Beziehung dess.
266. — , pathologische Anatomie bei
dems. 207. — , postepileptisches 255.
257. — , Symptomatologie dess. 257.
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521
Register.
— , Varietäten des postepileptischen
259. — in der Jugend 271. — ,
acute psychische Störungen bei dems.
274. — , Beziehung des jugendlichen
zu den epileptischen Insulten 274. — ,
Charakteränderung beiden». 272. 273.
— Häufigkeit der Anfälle dess. 272,
— , prä- und postepileptisches 275. — ,
Therapie dess. 276. — , Unterscheidung
dess. von der typischen Epilepsie 373.
Erblichkeit, s. Heredität.
Erbrechen bei attonischer Dementia
acuta 215. — bei Idiotie 500.
Ergotineinspritzungen im Deli-
rium acutum 340.
Erinnerung im circulären Irresein 307 .
308. — nach Delirium acutum melan.
chol. 333. — nach Dementia (mit Hal-
lucinationen) 223, (mit Stupor) 218. —
im epileptischen Irresein 258. 259. 260.
262. 267. — bei Furor 101. — des
Hypochonders 285. — nach einem
hystero- epileptischen Anfall 241. — in
der Manie 90. 94. 95. — bei Stupor
(circulärem) 310, (hallucinatorischem)
227 . — bei Wahnsinn (acutem) 179.181.
Ermüdung bei Hirnatrophie (primärer)
386. — nach einem postepileptischen
Delirium 259.
Ermüdungagef Ohl, motorisches, in
der Manie 86.
Ernährung bei Blödsinn 126. — im
Delirium acut, paralyt. 335. — bei
Dementia (hallucinatorisch - stupider
Form) 232. — bei Furor 105. — bei
Hysterie 251. — bei Idiotie 510. —
bei Manie 95. 109. 113. — bei Me-
lancholie 38. — bei Paralyse 361. 372.
— bei Stupor (attonischem) 231, (hal-
lucinatorischem) 226. 227. — bei Wahn-
sinn 194. 199. 203.
Ernährungsschwäche, Veranlas-
sung zum Delirium acut, paralytic. 334.
Erotomanie, Heridität ders. 445.
Erotische Verrücktheit 174. —
bei Masturbanten 453.
Erregbarkeit, Steigerung der moto-
rischen bei Furor 100.
Erschlaffung, geistige, im circu-
lären Irresein 307. — bei primärer
Gehirnatrophie 386.
Erschöpfung, cerebro- spinale, Ur-
sache der Paralyse 342. — durch Fie-
berprocesse als Ursache der primären
Dementia 228. — nervöse, Veranlas-
sung zu Delirium acutum paralyt. 334.
— perniciöse des Gehirns, Ursache
von Seelenstörung 19. — stuporartige
nach einem hystero-epileptischen An-
fall 241. — bei Wahnsinn (acutem
manischen) 193.
Erweichungsherde, locale bei Hirn-
atrophie 390.
Erytheme an Hals und Gesicht bei
Paralyse 357.
Erziehung, Bez. ders. z. periodischen
Manie 288. — , Einfluss ders. auf he-
reditäre Psychosen 430. — nervös be-
lasteter Kinder 464.
Essgier Blödsinniger 124.
Ethischer Defect, Bez. dess. zu epi-
leptischen Irresein 272; zur Moral In-
8anity467. 489. 495 ; zum Querulanten-
wahnsinn 470. 473; zur Seelenstörung
im Allg. 20.
Exaltation im Wahnsinn 113, (sub-
acute erotische) 174.
Excesse, Bez. ders. zur Melancholie
(neurasthenisch-torpiden Form) 68 ; z.
Verfolgungswahn 148. — Hangz. dens.
bei Manie 78.
Extremitäten beim Delirium acutum
(maniacale) 326, (melancholic.) 332,
(paralytic.) 335. — , bei pacchymenin-
gitischen Zufällen 385.
Farbensinnstörungen bei primärer
Hirnatrophie 390.
Fettzunahme im chronischen Stadium
der alternirenden Psychosen 321. —
im Verlaufe der Hysterie 246.
Fieber beim Delirium acutum 325. 326.
328. — , Irresein durch dass. 228. —
bei Manie 92.
Flimmern vor den Augen bei Ver-
folgungswahnsinn 146.
Fluxionen, vasomotorische bei Me-
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Register.
525
lancholie 37. — nach dem Kopf, s.
Kopfcongestionen.
Foetor ex ore beim Delirium acutum
(melaochol.) 333, (paralytic.) 336.
Folie circulaire 87.
Forense Untersuchung Geistes-
kranker 3.
Formgestaltung der impulsiven Acte
Hereditarier 442.
Fragezwang krankhafter, Hereditarier
442.
Freiheitsberaubung, Einfluss ders.
bei Moral Insanity 494.
Furor 92. 98. — bei Dementia acuta
(mit Hallucinationen) 224. — , epilep-
tischer bei Stupor (circulärem) 309.
— , Krankheitsbild dess. 99. — , ma-
nischer 184. — , melancholischer 5S.
101. — Paroxysmen de68. 100. 101.
103. — , Reconvalescenzstadium dess.
105. — , Verlauf dess. 104. — bei
Wahnsinn 165. 189.
Furu neulose, Complic. des Delirium
acutum 333; der Manie 87; pacchy-
meningitischer Zufälle 385.
Oaloppirende Paralyse mit Geistes-
störung 381. — Behandlung ders. 400.
Gangran der Haut bei Paralyse 363.
Ganglien, Veranderg. d. corticalen d.
Gehirns bei Paralyse 371. 373.
Gastricismus beim Delirium acutum
333. — bei Melancholie (masturbato-
risch.) 70. — beim Verfolgungswahn
158.
Gaumenparese beim Delirium acu-
tum melanchol. 334.
Gaumenspalten, Complicat. mit Idio-
tie 510.
Geburten, Ursache von primärer De-
mentia 229.
Gedächtniss 6. — bei Alkoholismus
chronicus 418. 424. — beim Blödsinn
123. — im Delirium tremens 416. — bei
Furor 101. — bei Manie 90. 94. —
bei primärer Hirnatrophie 386. 389.
bei schwerer Dementia senilis 392. —
bei Verfolgungswahn 148; s. auch In-
tellect.
Gedanken drang der Melancholiker
25. 30.
GefäsBveränderungen des Gehirns
bei Paralyse 370. 371. 372. 373. 374.
— bei der psychischen Meningo-Pe-
riencephalitis chron. 380.
Gefangenenwahnsinn, acuter 183.
Gefühlsphäre bei Manie (periodischer)
294. — Melancholie 23. 25. 32. 50.
— bei Schwachsinn (torpidem) 116.
— bei Wahnsinn (chronisch depres-
sivem) 159.
Gehirn, psychische Leistungskraf t dess.
bei Melancholikern 31. — , Psychosen
des defect veranlagten 15. 19; des in-
validen 12. 17; des rüstigen 12. 14. 17.
Gehirnaffectionen, Bez. ders. z. See-
lenstörung im Allg. 4. — bei Delirium
acutum 325. — , Heridität ders. bei
Cerebralpsychosen 428. — durch Hypo-
chondrie 284. — bei Manie 78. 107.
110. 112. — bei Verfolgungswahn 168.
Gehirnauämie bei der Inanitionsform
des Delirium acutum 337.
Gehirnatrophie, primäre mit Geistes-
störung 386. — mit Hallucinationen
387. — bei Hypochondrie 264. — mit
localen Erweichungsherden oder Apo-
plexieen oder multiplen Sklerosen 390.
— bei Melancholie 63. 386. — bei
Paralyse 369. 372. 373. — mit Reiz-
erscheinungen (entzündlichen) 389. —
ohne Reizerscheinungen 366. — mit
Wahn 388.
Gehirndruck bei acuter primärer De-
mentia 212. — im Delirium acutum
melanchol. 334. — im postmanischen
Stupor 220.
Gehirnentwicklung, Bez. ders. zur
Seelenstörung 2.
Gehirnerschöpfung, anämische als
Ursache des acuten Delirium 16. 325.
326. 331. — bei Manie (periodischer)
294. — nach Wahnsinn (acutem me-
lanchol.) 189, (dämonomanisch-hallu-
cinatorisch.) 179.
Gehirngebiete, höhere, Bez. der
relativen Functionsbeziehung ders. zur
Seelenstörung 2.
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526
Kegister.
Gehirnhäute, Veränderungen ders.
bei epileptischem Irresein 267, bei Pa-
ralyse 372. 373.
Gehirn hyperämie im Delirium acu-
tum durch üirnreizung 336, tremens
febrile 417. — bei Paralyse 16. 372.
373.
Gehirnlähmung im Delirium acutum
329. 330. — bei Paralyse 363. 366.
Gehirnödem bei Delirium acutum
(Inanitionsform) 337.
Gehirnreizung in der Manie 81. 93.
— bei schwerer Dementia senilis 39 1 .
— , Ursache des acuten Deliriums 325.
326.
Gehirn - Rückeumarkssklerose,
psychische Störungen bei ders. 393.
Gehirnstase bei Delirium acutum me-
lanchol. 331.
Gehirntorpor bei acutem Wahnsinn
179.
Gehirnveränderungen beim epilep-
tischen Irresein 267. — bei Idiotismus
512. 514. 515. — bei der psychisch.
Mcningo-Periencephal. 361.
Gehörsstörungen Melancholiker 34.
— Paralytiker 356.
Geis tess ch wache durch schwere De-
meutia senilis 392.
Geistesstörungen, acute als Beginn
der schweren Dementia senilis 391.
— , altemirende 316. — , circuläre 299.
— , periodische 288. — , Wesen ders. 3.
Geistiger Zwang bei Seelcnstörung 2.
Gemüthsaffecte beim Delirium acu-
tum (paralytic.) 334. — , heftige als
Ursache circulärcr Psychoseu 300, von
Delirium acutum (mauiacale) 326. —
bei Hypochondrie 277. 279. 2S2. — bei
Hysterie 234. 246. 247. — beim idio-
tischen Schwachsinn 506. — beim Idio-
tismus 500. 502. 504. — bei Manie
SO. 292. 293. 304. — bei Melan-
cholie 23. 34. 305. 306. 307. — bei
Paralyse 345. 360. — bei reizbarem
Schwachsinn 117. — , Ursache hallu-
cinatorischen Stupors 225.
G e n i t a 1 n e r v e n bei hypochondrischem
Irresein 27 S.
Gereiztheit, zornige des Melancho-
likers 49.
Geruchssinn der Idioten 510. — der
Melancholiker 34.
Geschlecht in Bez. z. Heredität psy-
chischer Leiden 428; Katatonie 197.
200; Manie (circulärer) 303; Melan-
cholie 50; Paralyse 342.
Geschlechtsorgane, Behandlung der
Störungen ders. bei der Hysterie 252.
— , Betasten ders. in der Melancholie
69. -, Bez. ders. zur Hysterie 233.
— der Idioten 510. — bei Verfol-
gungswahn 156.
Geschlechtstrieb, Ausartung dess.
in Masturbation bei Ulödsinn 124. —
Epileptischer 266. — bei Hypochon-
dern 282. — der Idioten 505. — bei
Manie (periodisch.) 294. — bei Melan-
cholikern 39. 70. — bei Paralytikern
357. — s. auch Sexualdrang.
Geschmacksstörungen bei ballucin.
Stupor 226. — in der Melancholie 33.
34.
Gesichtsfarbe bei alternirenden Psy-
chosen 320. — bei Delirium acutum
329. 332. — Hypochondrischer 285.
— Hysterischer 242. — bei Katatouie
196. 209. — bei Paralyse 357. 363.
— bei Stupor (hallucinatoriscb.) 226.
— im Verfolgungswahn 155.
Ge8ichtsfeldciuengu ng, concen-
trische beim epileptischen Irresein 259.
263. 264.
Gesichtsinnervationbei Idiotie 5 1 o.
— bei Paralyse 359. 365.
Giftwahn im Verfolgungswahn 148.
Glia, Veränderungen ders. bei Para-
lyse 371. 372. 373. 374.
Globussensationell bei hysterischer
Manie 244. — bei hysterischer Me-
lancholie 243.
Glottiskrampf bei alternirenden Psy-
chosen 319.
Grand mal intellectuel 258.
Gravidität, Abneigung gegen dies, bei
Moral Insanity 493. — , Bez. dere. z.
Dipsomanie der Frauen 444; z. Here-
ditat des Irreseins 429.
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Register.
527
Graviditätspsychosen 229.
Grössenwahnl65. — bei Blödsinn 122.
— , disseminirter im chron. Wahnsinn
141. — , erotischer 169. — bei Gehirn-
atrophie (primärer) 389. — der Hypo-
chondriker 284. — , der Hysterischen
248. 249. — in der Manie 85. 109. 112.
290. — in der Melancholia agitata 59.
— , monotoner bei schwerer Dementia
senilis 392. — , originärer 169. — «para-
lytischer 342. 344. 360. 364. 365. 368.
382. 384. — , philanthropischer 169.
— bei der psychisch. Meningo-Perien-
cephaliÜ8 chron. 379. — , religiöser
169. — , subacuter manischer 182. —
im "Wahnsinn (chronisch.) 140, (hypo-
chondrisch.) 160.
Grabelsucht 465. — , emotive 435.
Haarkrankheiten bei Paralyse 358.
Haarseil bei Paralyse 376.
Hämatombildung im degenerativen
Wahnsinn 161.
Hände beim Delirium acutum 329.
Hallucinationen, Bez. ders. zur
Seelenstörung im Allg. 12. — bei De-
lirium acutum 327. 330. 331. 334. —
bei Dementia (acuta) 217. 231, (seni-
lis) 391. — bei Eifersuchtswahn 163.
— bei Encephalitis 393. — im epi-
leptischen Irresein 258. 262. — bei
Furor 100. — des Gehörs bei Melan-
cholie 63. — bei Grössen Wahnsinn 166.
— bei Ilebephrenie 50i>. — , hereditäre
455. — bei Hirnatropbie (primärer)
387. — bei Hysterie 234. 238. — in
der Katatonie 198. 202. 203. — in der
Manie 77. 86. 93. 97. 99. 110. 244.
290. — bei Melancholie 34. 35. 55.
58. 67. 75. 243, (auf alkoholischer
Grundlage) 424. — bei Moral Insa-
nity 496. — bei Moria 106. — in der
Paralyse 364. — im Stupor (circulä-
ren) 309. — im Trinkerwahnsinn 407.
— im Verfolgungswahn 146. 149. 154.
163. 245. — in der Verrücktheit (ori-
ginären) 476. 4SI. — im Wahnsinn 120.
134. 136. 141. 161.170.176.177.179.
181. 183. 187. 191. 247. 249. 460. —
der Zorn-Manie 102; s. auch Sinnes-
täuschungen.
Harn bei Blödsinn 126. — im Delirium
acutum maniacale 328. — in der Kata-
tonie 199. — in der Manie 87. — nach
einem paralytischen Anfall 353. 354.
— bei Paralyse im Demenzstadium
357.
Harnblasenkatarrh im Delirium
acutum paralytic. 336. — bei Para-
lyse 358. 363.
Harnblasenlähmung bei Paralyse
363.
Hautblutungen bei Paralyse 358.
Hautentzündung, Complic. der Me-
lancholie 63. — bei Paralyse 358.
Hautexantheme, Complic. der Me-
laucholie 63. — bei Paralyse 358.
Hautpflege bei Behandlung der Melan-
cholie 45.
Hautreize bei Behandlung des atto-
nischen Stupor 23 1 . — in der Ekstase
der Hysterie 242.
Hebephrenie 508. — bei originärer
Verrücktheit 479.
Hemianästhesie bei Melancholia se-
nilis 68.
Hemianopsie bei primärer Hiruatro-
phie 3U0.
Hemiatrophia facialis, Complicat.
der Idiotie 510.
Hemiparese, Complicat. d. Idiotie 509.
Hemiplegieen bei Hirnatrophie 3»)().
— bei pacehymeningitischen Zufällen
385.
Hereditäre Neurose, Behandlung
ders. 464. — , Entwicklung u. Verlauf
ders. 451.
Hereditäres Irresein 426. — , de-
generatives 487. — , einfaches 465.
Hereditäres Temperament 451.
Hereditüre Uebertragung 427. — ,
degenerative u. einfache 428. — , ge-
kreuzte 431. — , indirecte 431. — ,
rückfällige 431. — , wechselseitige Be-
ziehung ders. zwischen Gehirn-, Gei-
stes- u. Nervenkrankheiten 42$.
Heredität, Bezug ders. z. Amnesie
463; z. circulären Irresein 330; z.
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528
Register.
Gröasenwahn 169; z. Hebephrenie 508;
z. hereditären Uebertragung 428. 429 ;
z. Hypochondrie 2S0 ; z. Hysterie 233.
249; z. Manie 112.288; z. Melancho-
lie 27. 298; z. Paralyse 342. 374; z.
Seelenstörung im AUg. 4; z. Wahn-
sinn 174. 182; z. Zeugung 431. — ,
forense Bedeutung den. 430.
Hereditätslehre 427.
Herz als Locus dolens bei Melancho-
likern 27.
Herzgeräusche bei acutem mani-
schem Wahnsinn 192.
Herzhypertrophie, erbliche Ueber-
tragung ders. 429.
Herzklopfen bei Melancholikern 33.
— im Verfolgungswahn 155.
Herzl&hmung beim Delirium acutum
329. 330.
Homicidium, Motive dess. in der Me-
lancholie 27.
Hydr ocephalus bei Idioten 511.515.
— internus, Complicat. der primären
Hirnatrophie u. Ursache von Demen-
tia paralytica 388.
Hydrotherapie bei anergetischem Stu-
por 233. — beim epileptischen Irre-
sein 269. — beim hysterischen Irre-
sein 251. 253. 254. — bei Paralyse
376. — bei Wahnsinn (acutem mani-
schen) 194.
Hyoscyaminals Beruhigungsmittel in
der Mania gravis 89. 109.
Hyperämieen, centrale vasoparaly-
tische als Ursache der Paralyse 342.
Hyperästhesie, cerebrale bei Manie
112. — im Delirium acutum mania -
cale 327. — der Hypochondrischen
278. 280. — der Hysterischen 234.
— in der Manie 86. — bei Melan-
cholie (hypochondrisch.) 64. — bei
Paralyse 363. — , sexuelle in der Ma-
nie 81. 82. — der Sinnesnerven bei
Hirnatrophie (primärer) 386. 388, bei
Manie (transitorischer) 458, bei Me-
lancholie 34. 424, bei Verfolgungswahn-
sinn 183, bei Wahnsinn 139. — spi-
nale bei Mania gravis 111. — bei
Wahnsinn (chronisch.) 139.
Hypnoti8mus, Bez. dess. zur Hyste-
rie 242.
Hypochondrie 277. — , acute 282.
— bei attoni8chem Stupor 214. — ,
chronische 282. — , Complicat der
originären Verrücktheit 484. — beim
epileptischen Irresein in der Jugend
275. — bei Katatonie (depressiver) 200.
— , neurastheniscbe Form ders. 2S4.
— bei schwerer Dementia senilis 391.
Hypochondrisches Irresein 277.
— , alternirender Typus dess. 317. — .
Entwicklung u. Symptome dess. 278.
— , Therapie dess. 285, (psychische)
286. — , Uebergang dess. in Wahnsinn
283. — , Verlauf u. Ausgänge dess.
282.
Hysterie, Complication des Eifer-
suchtswahn der Frauen 162. -, Bez.
ders. z. Hypochondrie 277.
Hysterische Degeneration 247.
Hysterisches Irresein 233. 239. — ,
acutes 239. — , chronisches 248. — ,
chronisch-degeneratives 249. — , The-
rapie dess. (gynäkologische) 252, (psy-
chische) 253, (somatische) 251.
Hysterisches Temperament 233.
— , Steigerung dess. 240.
Hystero-epileptisches Irresein
240. — , Behandig. dess. 254.
Iactationen beim Delirium acutum
(maniacale) 326. 328. 330.
Ich-Bewusstsein der Idioten 505. —
in der Manie 85. — bei psychischer
Schwäche 1 19. — bei Seelenstörung 6.
— im Wahnsinn 120. 131. 132. 135.
160. 181. 185. 189.
Ideenassociation in der depressiv-
exaltirten Verrücktheit 483.
Ideenflucht im Delirium acutum ma-
niacale 326. 330. — im Furor 104.
— in der Manie 83. 92. 96. 112, (hy-
sterischen) 244. — in der Melancho-
lie 58. — in den Sexualmanieen 103.
— im torpiden Schwachsinn 116. —
im Verfolgungswahn 156. — im Wahn-
sinn 182. 1S7. 191.
Idiotismus 15.497. — als angeborene
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Register
529
psychische Schwäche 115. — , Com-
plicat. dess. 509. — , klinische Sym-
ptome de 88. 499. — , pathologischer
Befund bei dems. 512. — , psycholog.-
klinisch. Eintheilg. dess. 49 8. — ju-
gendlicher Epileptiker 271. — , Scha-
delformen bei dems. 511. — , Verlauf
dess. 500. 503.
Illusionen im Delirium acutum 327,
tremens 415. — im Eifersuchtswahn
163. — beim epileptischen Irresein
260. — der Hysterischen 238. 249. —
in der Manie 77. 83. 96. — Melan-
choliker 27. 34. 55. 60. — Paralytiker
364. — bei Stupor (circularer Form)
309. — bei Syphiüdophobie 73. — im
Wahnsinn 136. 18*, (chronischer Form)
120.
Imitationen der Idioten 502.
Impotenz bei der masturbatorischen
Melancholie 70.
Impulsives Irresein 442.
Inanition beim Delirium acutum (pa-
ralyt.) 336.
Indolenz bei Eifersuchtswahn 163. —
bei idiotischem Schwachsinn 499. 506.
— im Intervall der circularen Form
des Stupors 310. — nach Mania gra-
vis 1U8.
Inf ectionskrankhe iteu, Bez. ders.
z. primärer Dementia 228, z. Ausbruch
epileptischer Anfalle in der Jugend
272.
Innervationsstörungen bei attoni-
schem Stupor 216. — bei primärer
Hirnatrophie 3*7 — bei Verfolgungs-
wahnsinn 155. 164.
In tellectuelle Störungen im Alko-
holismus chronic. 409. 412. — im
Blödsinn 122. 123, (idiotischen) 498.
— bei conträrer Sexualempnndung
448. — in Dementia acuta 212. 221.
224, senilis (schwerer) 392. — bei
Hypochondrie 280. — Hysterischer
238. — bei Idioteu 498. 499. — ju-
gendlicher Epileptiker 271. 272. — in
der Manie (periodisch.) 294. — in der
Melancholie (circular.) 3(»6. 309. — bei
Moral Insanity (erworbener) 488. —
Soh ttle, Geuteaknuikheiton. 3. Aufl.
in der progressiven Paralyse 342. 343.
359. 364. — bei psychischer Meningo-
Periencephalitis chron. 379. 380. —
im Schwachsinn (idiotischen) 501.
Intentionszittern der Idioten 499.
Intercostalneuralgieen in der Me-
lancholie (Behandlung) 44. — im Wahn-
sinn (chron. expansiven) 170.
Intervalle der alternirenden Psycho-
sen 318. — des circularen Irreseins
305. — des hereditären Irreseins 462.
— der Manie (period.) 293. 294. 296.
297. — der Melaucholie (periodisch.)
299. — der meostrualen Psychosen
322. — des Stupor (circulare Form)
310. — , zeitliche Gruppirung ders. in
den circularen u. periodischen Psy-
chosen 312.
Intoxication, acute bei Rauschzu-
standen 404.
Invalides Gehirn, Bez. dess. z. See-
lenstörung 12. 19. — Veranlassung z.
Delirium acutum 326; Melaucholie
(hypochondrisch.) 57. 65; Sexualma-
nieen 104; Stupor 225.
Jodkali bei syphilitischer Paralyse 376.
401.
Irradiation der Sinne bei Verf olgungs -
wann 157.
Irresein, alternirendes 287. 316. —
der Bummler u. Vagabunden 491. — ,
circulares 2«>7. 301. 314. — , degene-
ratives erbliches 487. — , einfaches
hereditäres 405. — , epileptisches 255,
(in der Jugend) 271. — , hereditäres
426. — , hypochondrisches 277. — , hy-
sterisches 233. 239. — , hystero-epilep-
tisches 240. — , impulsives 442. — ,
men6truales 322. — , periodisches 287.
312 — der Processkrämer 470. —
aus Zwangsvorstellungen 465.
Irrthum, Unterscheidung von Seelen-
störung 3.
Ischurie bei der hysterischen Melan-
cholie 243.
Isolirung zur Behandlung des epi-
leptischen Irreseins 268, der Manie
87, des Wahnsinns (acuten mani-
schen) 193.
34
530
Register.
Kamp her, Injectionen dess. im Deli-
lirium acutum (paralytic.) 340. — bei
Melancholie 41. 48.
Kataleptische Anfälle in der Ek-
stase der Hysterie 242. — beim men-
Btrualen Irresein 322.
Katatonie 195. — , depressive 196.
— , hysterische 196. 247. — nach ma-
sturbatorischer Melancholie 71. — ,
Unterscheidung ders. von Dementia
(stupid-hallucinatorisch.) 214.
Katheterismus bei Paralyse 37S.
Klanenstellung der Hände der Idio-
ten 499.
Kleinhirn, Veränderungen dess. nach
Paralyse 372.
Kleptomania menstrualis periodica
322. — im primär exaltirten Wahn-
sinn durch Alkoholismus 410.
Kly stiere zur Behandlung der Hyste-
rie 253.
Knochenbrüchigkeit bei Paraly-
tikern 35S.
Körpergewicht im Furor 105. — in
der Manie 87. 95. — in der Melan-
cholie 22. 298. — im Trinkerwahn-
sinn (acuten) 408.
Körperhaut, Beschaffenheit im Deli-
rium acutum 329. 336. — , Falten-
bildung ders. bei Idioten 510.
Körpertemperatur im Delirium ar-
cutum 327. 330. 336. — bei Demen-
tia attonita 215. — im epileptischen
Irresein 259. 263. — im Furor 101.
102. — bei Hirnatrophie (primärer) 386.
— bei Hysterie (katatonischer) 247. —
in der Katatonie 109. 201. — bei Manie
86. 92. 108. — bei Melancholia attonita
74. — bei pacehymeningitischen Zu-
fällen 385. — bei Paralysis progressiv.
357. 363. 366. — in der psychisch.
Mcningo-Periencephaliti8 379. 380. — ,
subnormale im Delirium acutum me-
lanchol. 332. 333. — im Wahnsinn
192.
Kohlenoxydvergiftung, Ursache
von primärer Dementia 228.
Kopfbildung der Idioten 502.
Kopfcongestionen bei Alkoholpsy-
chosen 405. — im Delirium acutum
326. — im epileptischen Irresein 263.
— bei Furor 100. — in der Manie 88.
93. 298. — in der Melancholie 38. 73.
298. — bei menstrualen Psychosen
322. — bei Paralysis progresa. 357.
359. 366. — bei psychischer Meningo-
Periencephalitis chron. 379. 380. —
bei Stupor (circulärer Form) 309. —
bei Verfolgungswahn 164.
Kopfschmerz im Beginn des Deli-
rium acutum 326. — beim epilepti-
schen Irresein 264. — bei Manie (pe-
riodischer) 290. — nach einem post-
epileptischen Delirium 259. — nach
einem postepileptischen Stupor 258.
— bei Paralyse 356. 359. 366. — im
Verfolgungswahn 155.
Kopfsensationen beim acuten Wahn-
sinn 179.
Kopfverletzungen, Bez. ders. zur
primären Dementia 228. — , Veran-
lassung zu Manie (periodischer) 288.
Krämpfe im Delirium acutum (mania-
cal.) 328. — in der Dementia senilis
392. — , epileptische 256. 258. 268.
— der Idioten 499. — bei Melancholie
63. — bei primärer Hirnatrophie 390.
— im Stupor (cirulären) 309. — , toni-
sche und klonische in der Paralyse
353.
Krankheitsentwicklung der Psy-
chosen 10.
Kryptorchismus, Complicat. der Idio-
tie 510.
Künstliche Ernährung im Delirium
acutum 340. — bei Katatonie 198. —
der Idioten 499. — bei Melancholie
45. 63. — bei Stupor (anergetischem)
233, (attonischem) 216. 231.
Lachkrämpfe bei der hysterischen
Melancholie 243.
Lähmungsorscheinungen nach
Apoplexieen 393. — im Delirium acu-
tum melancholic. 331. — bei Demen-
tia senilis 391. — bei Encephalitis
syphilitica mit Geistesstörung 397. —
bei Idiotie 499. 510. — bei Paralyse
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Register.
53 L
(progress.) 364. 365. — bei psychi-
schen Cerebralleiden 15. 394. — bei
der psychischen Meni ogo- Periencepba-
litis chron. 380. — , spinale als Ur-
sache von GeistesstöruDg 342.
Laryngismus stridulus beim acuten
melancholischen Wahnsinn 188.
Lateralsklerose des Rückenmarks
mit Geistesstörung 394.
Launenhaftigkeit bei Hysterie 234.
— bei hysterischem Wahnsinn 245.
Lebensalter, Bez. dess. z. alterniren-
den Psychosen 318; z. circulären Psy-
chosen 300; z. Delirium acut. 331;
z. epileptischem Irresein 256. 271; z.
hereditären Neurose 451; z. idioti-
schen Schwachsinn 500. 501. 508; z.
Manie (circulären) 303; z. Melancho-
lia hypochondrica 64; z. Seelen Störung
4; z. Wahnsinn 181; z. Zwangsvor-
stellung bei neurotisch-hereditär Be-
lasteten 437.
Lebensweise für den Hypochonder
286. — , Regulirung ders. bei epilep-
tischem Irresein 269.
Leetüre, anregende zur Behandlung
der Hysterie 254.
Lesen eines Hypochonders 285.
Lesezwang 433.
L epto -M e n i n g en, Veränderungen
ders. durch Paralyse 368. 369, durch
psychische Meningo- Periencephalitis
chronic. 381.
Lippen, Beschaffenheit ders. im Deli-
rium acutum 330. 333.
Lobuläre Pneumonie beim Delirium
acutum 330. 336. — bei Paralyse 358.
363.
Logorrhoe, manische 83.
Lucida In tervalla in der Paralyse
368.
Luftcurorte für Paralytiker 377.
Lungenphthisis, Bez. ders. z. Alko-
holiBmus 419. — als Folge der origi-
nären Verrücktheit 486. hereditäre
Folge u. Ursache von Geistesstörung
428.
Lustgefühl, manisches 81.
Lymphräume des Gehirns bei Para-
lytikern 370. 371. 372. 373. 374. —
nach psychischer Meningo - Perience-
phalitis chron. 362.
Magendarmaffectionen beim De-
lirium acutum 333, tremens 416. — ,
Eintiuss ders. auf den hypochondri-
schen Melancholiker 57, auf den Wahn-
sinn 144. 159. 168. — in der Melan-
cholie 44. 298.
Makrocephalie der Idioten 511.
Maladie du doute 456. 465. 468. — du
toucher 465. 469.
Manie 76. -, acute 77. — bei Alko-
holismus chronic. 413. 421. — , Aus-
gänge ders. 98. 105. 111. 114. — , cir-
culäre 77. 82. 91. 302. 314. 320. 321.
— , chronische 77. 112. — , Definition
ders. 76. — , degenerative 105. 112. 495.
— im Delirium acut. 326. — in der
Dementia senilis 391. — , Einteilung
ders. 92. — bei Encephalitis syphi-
litica 398. — im epileptischen Irre-
sein 262. 263. 275. — , furiöse 99. 112.
— , gravis 79. 81. 89. 91. 106. — , hallu-
cinatorische 97. — , hereditäre 457. — ,
hysterische 244. — , idiopathische 87.
— , katatone 207. — , Kraukheitsbild
ders. 93. 95. 106. 109. 112. 244. 459.
— bei Meningo-Periencephalitis chro-
nic. 379. — , menstruale 322. — mitis
91. 93. — in der Paralyse 358. 367.
— , periodische 77. 288. 312. — durch
psychische Schwächezustände 105. 115.
— , remittirende 98. 119. — , Stupor
nach ders. 219. 309. — , subacute 77.
— , Symptome ders. 77. — , Therapie
ders. (psychische) 90, (somatische) 87.
— , transitorische 459. — typica 9t.
95. — bei Verfolgungswahn 149. 160.
163. -, Verlauf ders. 94. 97. 104. 108.
110. 113. 245. 459.
Marasmus bei Hereditariern 456. —
— Hysterischer 240. 246. bei Melan-
cholie 63. 75. — nach pacehymenin-
gitischen Zufällen 385. — bei Paralyse
363. 368. - bei Wahnsinn (chronisch.)
174.
Massage bei anergetischem Stupor 233.
34*
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532
Register.
— bei Hysterie 25t. — bei hysterischer
Melancholie 254.
Masturbation bei conträrer Sexual-
empfindung 449. — bei Melancholie
69. — bei Moral Insanity 492. — bei
originärer Verrücktheit 477. — bei
Verfolgungswahn 155. 183. 190.
Melancholie 21. — activa 24. 51. — ,
acute 49. — agitata 48. 5b. — bei Al-
koholismus chron. 420. 424. — , alter-
nirender Typus ders. 317. 318. — atto-
nita 51. 73. circuläre 35. 305. 314.
— , chronische 49. 01. — , dämonomane
51. — , Definition ders. 22. —, degene-
rative 307. 309. — im Delirium acu-
tum 330. — beim epileptischen Irre-
sein 263. 275. — errabuuda 24. —
bei Hebephrenie 509. — , hereditäre
427. 454. 456. — , hyperchondrische
48. 56. 63. 277. — , hysterische 242. —
bei Katatonie 200. — , klimakterische
60. — , Krankheitsbild ders. 23. 48.
64. — , masturbatorische 69. — , men-
struale 322. — , neurasthenisch-torpide
68. — , organische 65. — bei Paralyse
345. 362. 367. — passiva 24. 48. 51.
54. — , periodische 63. 298. — perse-
cutoria 51. — religiosa 51. — , senile
48. 57. 60. 66. — , sexuelle 48. — Sim-
plex 47. — stupida 24. — , Symptome
ders. 23. — , syphilitische 72. -, The-
rapie ders. (psychische) 46, (somati-
sche) 40. — torpida 51. — , Unter-
scheidung der attonischen von attoui-
schem Stupor 214. — , Verlauf ders.
53. 55. 57. — mit Wahnsinn coinpli-
cirt 119.
Meningealaf f cetionen bei Mania
gravis 107.
Meningitis in den ersten Lebensjahren,
Bez. ders. z. epileptischem Irresein 256.
Meningo- Pcricncephalitis chro-
nica u. subacuta (psychische)
379. -, Krankheitsbild ders. 379. — ,
pathologischer Befund bei ders. 381,
(mikroskopischer) 382. - .Verlauf ders.
380.
Mcnorrhagieen, Gefährlichkeit ders.
in der Melancholie 39.
Menstruale Psychosen 322. — ,
Symptome ders. 322. — , Verlauf ders.
323.
Menstruation, Bez. ders. z. Dementia
acut, attonit. 2 1 8 ; z. epileptischen Irre-
sein 264; z. d. Furorparoxysmen 103;
z. Heredität 429; z. hysterischen Irre-
sein 239. 240. 250. 252; z. Manie 1 12;
z. Melancholie 39. 74; z. Schwanger-
schaftswahn 163; z. d. Sexualmanieen
103 ; z. Stupor (hallucinat.) 225; z. Ver-
folgungswahn 158; z. Wahnsinn 144.
174. 179. 181. 188. 190. 191. 194. 199.
Meteorismus bei Delirium acutum 330.
— bei Melancholie 36.
Migräne, Bez. ders. z. Paralyse 359.
— der Hysterischen 239. — bei der
psychischen Meningo-Periencephalitis
chron. 379.
Mikrocephalic der Idioten 511.
Mimischer Ausdruck im Blödsinn
125. — im Delirium acutum 328. 329.
330. 332. 334. — in der Dementia acuta
attonit. 215. 216. — Hypochondrischer
281. — Hysterischer 240. 242. - der
Idioten 499. 502. — in der Katatonie
196. 198. 201. 203. — in der Manie
291. — bei Melancholikern 33. 39. —
bei Paralytikern 351. 352. 368. — im
postepileptischen Delirium 258. — im
Wahnsinn 14:*.
Mitbewegungen bei Idiotie 503.
Mond, Einfluss dess. auf die circulären
und periodischen Formen des Irreseins
311.
Monomanicen 442.
Monoparesen, Complicatioo d. Idiotie
510.
Moral Insanity 487. — , manische
82. — , reizbare 489.
Moralische Störungen im Alkoho-
lismus chronic. 412. 419. — bei Blöd-
sinn 124. — in der Dementia (degene-
rativ-hysterisch.) 250, (senilis) 392. — ,
hereditäre Uebertragung ders. 430. 454.
— Hysterischer 236. 237. — , Irresein
durch diese 487. — bei Manie 291.
296. 303. — bei Melancholie 68. 71.
307. — bei Paralytikern 359. 365. —
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533
im Trinkerwahnsinn (acuten) 409. — ,
Unterscheidung ders. von Seelenstö-
rung 3. — bei Verfolgungswahn (hy-
sterisch.) 245. — im Wahnsinn 168.
189.
Moralität, Bez. ders. z. hereditären
Uebertragung 430.
Mord trieb hallucinirender Paralytiker
361. Heredität dess. 443.
Moria 82. 105. — bei Dementia acuta
224. — nach hallucinatoriscbem Stu-
por 225. 227. — bei Wahnsinn (acutem
manisch.) 192.
Morphium zur Behandlung des epi-
leptischen Irreseins 269; des hyste-
rischen Irreseius 255. — bei Melan-
cholie 41. 43. 48.
Morphinismus 43. — , Entwöhnung
dess. 43.
Moschus bei beginnender Schwäche
im Delirium acutum 340.
Motorische Kraft bei Idiotismus 499.
Motorische Störungen bei Alkoho-
lismus 4 IS. — bei Blödsinn 125. —
im Delirium acutum 325. 328. 332. 335.
— bei Epileptikern in der Jugend 274.
— bei Hypochondrie 282. — bei Hy-
sterie 239. - bei Idioten 499. 503. —
in der Manie 77. 79. 86. 96. 110. 112.
— in der manischen Phase der Hy-
sterie 244, der subacuten Paralyse 3S2.
— in der Melancholie 68. 74. — bei
Paralytikern 350. 361. 362. 363. 365.
368. — im postepileptischen Irresein
260. — bei Meningo-Periencephalitis
chron. 379. 380. — bei Rückenmarks-
erkrankungen 395. — im Stupor 310.
Mundausspülungen bei attonischem
Stupor 231.
Mundbeweguugen im Delirium acu-
tum 328.
Muskelatrophie bei Hirnatrophie
(primärer) 390. — bei Idiotie 499. —
bei Paralyse 351.
Muskeldegeneration, colloide bei
Delirium acutum 3:t$. — , parenchyma-
töse durch progressive Paralyse 35S.
Muskel starre im Delirium acutum
maniacale 325. — bei Katatonie 195.
197. 198. 200. 204. 20«. - in der Manie
292. — in der Melancholia atton. 73.
— im Wahnsinn 143. 173.
Muskelzuckungen im Delirium acu-
tum 330. — in der Manie 80. — bei
pacehymeningitischen Zufällen 385. —
bei Paralyse 351. — bei der psych. Me-
ningo-Periencephalitis chronic. 380.
Mussitirende Delirien 330.
Myelitis bei Paralyse 369. — bei
Rückenmarkserkrankungen 394.
Nährkly stiere im Delirium acutum
340.
Nahrungsverweicherung im Deli-
rium acutum 327. 328. 329. 332. 333.
335, postepileptischen 259. — in der
Katatonie 201. — bei Melancholie 27.
33. 74. — bei Meningo-Periencepha-
litis 379. - bei Paralyse 347. 361. —
im Stupor 220. 247.
Narbe, schmerzhafte, Veranlassung zu
hysterischem Krampfanfall 240.
Narcotica bei epileptischem Irresein
269. — bei Melancholie 41.
Natürliche Krankheitsgruppen
497.
Nervenaction, Bez. ders. zur psychi-
schen Leistung 1.
Nervenfasern, Veränderungen ders.
durch Paralyse (progressiv.) 371. 373;
bei der psychischen Meningo-Perien-
cephalitis 382.
Nervenkrankheiten, wechselweise
Vererbung ders. mit Geisteskrankhei-
ten 428.
Nervensystem, Bez. des Ernährungs-
zustandes dess. z. Seelenstörung 2.
Neu-Erziehung nach Delirium acu-
tum 336. — nach Dementia acuta 217.
233. — Hysterischer 241. — nach Stu-
por (attonischem) 232.
Neuralgieen bei alternirenden Psy-
chosen 319. — , Bez. ders. z. Katotonie
(dämouomanen) 204 ; z. Wahnsinn (ce-
rebroBpinalen) 186. — , hereditäre 428.
— bei Hiruatropbie (primärer) 390. —
der Hysterischen 234. — bei Manie 112.
— des Melancholikers 36. 37. 44. 56.
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534
Register.
69. 29S. 306. — bei Wahnsinn (acatem)
146.
Neuralgische Punkte anämischer
Personen im Stupor 216.
Neurasthenie bei alternirenden Psy-
chosen 319. — , Beseitigung ders. bei
Hysterie 253. — der Hereditarier 456.
— der Hypochondrischen 278. 280. —
der Melancholiker 306. — im Stupor
(attonischen) 214. — , Veranlassung
zu chron. Wahnsinn 144. — bei Ver-
folgungswahn 16S. — bei Wahnsinn
(acutem) 176.
Neuro pathische Prä dis position
14. — bei defect veranlagtem Gehirn
20. — zu Delirium acut. 326. — zu
hallucinatorischem Stupor 225. — , he-
reditäre durch Hysterie 428.
Neuropsychosen, Bez. ders. z. acu-
tem Wahnsinn 136.
Neuro se, erworbene 14. 457. — , here-
ditäre 15. 18. 427. 451. — , vasomoto-
rische, bei acutem Wahnsinn 178. ISO.
Nosologie des Hirnprocesses 4.
Nymphomanie 292.
Nystagmus bei der neurasthenisch-
torpiden Form der organischen Melan-
cholie 68.
Oblongata-L ah m u n g im Delirium
acutum 326. 334.
Obstipation bei acutem Trinkerwahn-
sinn 409. — bei Dementia acuta 223.
— im Wahnsinn (attonischen) 199.
Oedeme bei Blödsinn 126. — der Füsse
bei Paralyse 363. — des Gehirns nach
Mania gravis 110. — in der Katatonie
198. — der Knöchel und Füsse in der
Melancholie 37.
Ohnmacht in der Paralyse 367.
Ohraffcctionen, illusorische des Me-
lancholikers 35. — in der Paralyse 366.
— bei Verfolgungswahn 148.
Ohrmissbildungen bei Idioten 510.
Onanie bei Epileptikern 266. — , Ver-
anlassung ders. z. Manie 288; z. ma-
sturbatorischen Melancholie 69; z. Me-
lancholie mit alternirendem Typus 318;
z.Wahnsinn (attonischen) 190.
Opisthotonus bei der katatonen Hy-
sterie 247.
Opium im Delirium tremens 425. — bei
Dementia acuta 223. 232. — bei kata-
tonem Blödsinn 194. — bei Manie 89.
— bei Melancholie 41. 42. 48. — bei
Paralyse 377. — bei Wahnsinn 146.
194.
Originäre Verrücktheit 475. — , Be-
handlung ders. 487. — , Formen ders.
478. — , gemischt depressiv - exaltirte
480. — , Symptomatologie ders. 476.
— , Verlauf ders. 483.
Osmiumsaures Kali bei hysterischem
Irresein 271.
Othämatom, Entstehung dess. bei Be-
handlung des attonischen Stnpor 231.
— bei Melancholie (chronisch.) 63. —
bei progressiver Paralyse 358. — im
Wahnsinn (chronisch, depressiv.) 161.
Ovarialschmerz im Beginn von
Furoranfallen 103. — im hysterischen
Krampfanfall 240. 241.
Pacchymeningitis mit Geistesstö-
rung 15. 383. — , Anfälle ders. 384.
— , Complicat. der primären Hirnatro-
phie 387. — , paralytisches Symptomen-
bild ders. 384.
Panphobiebei Hirnatrophie (primärer)
390. — bei Melancholie 424. — bei
Stupor (attonischem) 215. — bei Wahn-
sinn 176. 188.
Parästhesieen der Hypochondrischen
278. — der Idioten 510. — der Melan-
choliker 28. 63. — vor dem Raptus
melancholicus 56. — , sexuelle bei ma-
sturbatorischer Melancholie 69; im
Wahnsinn 156. 163. — , spinale im Ver-
folgungswahnsinn 162. — im Wahnsinn
155. 158. 1S7.
Paragraphie bei progressiver Paralyse
350. — im Wahnsinn 143.
Paraldehydim Delirium tremens 425.
— bei Manie 89. - bei Melancholie 41.
Paralexie bei Dementia senilis 392. —
bei progressiver Paralyse 350.
Paralgicen bei Verfolgungswahn 158
Paralogie im Wahnsinn 143.
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Register.
535
Paralyse, modificirte 17. 378. — ,
alkoholis tische 419. — • durch Apo-
plexieen 393. 394. — , Behandlung ders.
400. — nach Delirium acutum 330. —
bei Dementia senilis 391. — bei disse-
minirter Sklerose 393. — durch En-
cephalitis syphilitica 396. — , galop-
pirende III. 381. — aus Hirnatrophie
(primärer) 386. 389. — durch Hirn-
tumoren 394. — durch Mania 95. 382.
— durch Pacchymeningitis 383. — ,
spastische 3i>4. — , subacute 382. — ,
tabische 394. «-, typische 341.
Behandlung ders. 376. — , Bez. ders.
16; z. Meningo - Periencephalitis chro-
nic. 379. 381; z. den Geisteskrankhei-
ten — , Dauer ders. 368. — der Frauen
375. — , hypochondrische 362. 363.
364. — , klassische 342. — , klinisches
Krankheitsbild ders. 358. — , klinisch-
symptomatologische Varietäten b. ders.
363. — , manische Form ders 358. — ,
Nosologie ders. 372. — , paralytischer
Anfall 354. — , pathologischer Befund
bei ders. (makroskop.) 369. 372, (mi-
kroskop.) 370. 372. — , Remissionen
ders. 361. 364. 368. — , Symptome ders.
343. — , Verlauf ders. 366.
Paralytischer Anfall 354.
Paralytisches Irresein, alterniren-
der Typus dess. 317.
Paranoia 130.
Paraphrasie im Wahnsinn 143.
Paresen bei Hirnatrophie 390. — bei
Paralyse 363. 365. 366.
Paroxysmen der alternirenden Psy-
chosen 317.318. — des Blödsinns (apa-
thischen secundaren) 138. — des cir-
cularen Irreseins 301. — im Eifer-
suchtswahn 162. — des Furor 100.
— im Grössen wahn 166. 182. — der
Manie 63. 99. 111. 113. 289. 290. 295.
296. 298. 458. — der Melancholie 298.
307. — des menstrualen Irreseins 322.
— des periodischen Irreseins 101. 468.
— , remittirende, in der Manie 96. —
des Verfolgungswahnsinns 151. 164.
— in der Verrücktheit (originären)
476. 482. 485. - des Wahnsinns 120.
172. 173. 174. 179. 181. 183. -, zeit-
liche Gruppirung ders. in den circu-
lären u. periodischen Psychosen 310.
Partus, Verhältnis8 dess. z. Parens 431.
Patellarsehnenref lex im Delirium
acutum 328.
Periencephalitis chronica diffusa
bei progressiver Paralyse 372.
Periodische Psychosen 288. — ,
zeitliche Gruppirung der Intervalle u.
Paroxysmen ders. 312.
Perverse Handlungen nach Demen-
tia acuta 224. — in der progressiven
Paralyse 347. 348. 360. — im Wahn-
sinn (chronisch depressiven) 161.
Petechien der Haut in der Manie 87.
P h antasie im hysterischen Irresein 238.
Phlegmone beim Delirium acut, para-
lytic. 336.
Phthisischer Habitus, Erblichkeit
dess. 429.
PhthiBis pulmonum, Complic. der
masturbatorischen Melancholie 72.
Pleuritis, Complicationen der Para-
lyse 363.
Pneumonie, Complicat. des Delirium
acutum 334 ; der Hirnatrophie (primä-
ren) 367; der Paralyse 363.
P olyurie bei progressiver Paralyse 354.
Postfebrile Psychosen 228.
Pr&cordiale Sensationen des Me-
lancholikers 36. 54. 69.
Pseudohallucinationen iu der Me-
lancholie 35. — bei Verfolgungswahn
152.
PseudoStupor 177. 213. — hallucinat.
mit Status attonitus 228.
Psychiatrie, Aufgabe ders. 4.
Psychischer Habitus, Erblichkeit
dess. 451.
Psychische Schw achezustände
114. — , Behandlung ders. 129. — in
der Dementia acuta 229. 230. - Hyste-
rischer 250. — in der Katatonie 195.
210. — , klinische Typen ders. 116. 126.
— bei Moral Insanity 488. — des
Paralytikers 362. 365. — bei Verfol-
gungswahn 159. 165. — im Wahnsinn
179. 164.
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Ö3G
Register.
Psychische Störungen bei jugend-
lichen Epileptikern 274.
Psychologische Analyse der gei-
stigen Schwäche 115.
Psychomotorische Störungen bei
progressiver Paralyse 348. — in der
Manie 77. — fm Wahnsinn 178.
Psychoneurosen, Classification ders.
17.
Psychosen im Allgemeinen 4. — , alko-
holistische 401. — , alternirende 14.
287. 316. — durch Cerebropathieen
17. 19. 378. circuläre 14. 287. 299.
— bei defecter organo - psychischer
Constitution 15. 18. 19. — , degenera-
tive erbliche 15. 487. — , Entwicklung
ders. 10. 13. — , erworbene 300. — ,
febrile u. postfebrile 17. 228. — , func-
tionelle 15. — , hereditäre 14. 426. 451.
— des invaliden Gehirns 12. 17. 19.
— bei organo - psychischer Vollent-
wicklung 14. 17. — , periodische 14.
287. 288. — durch perniciöse Erschö-
pfungszustände des Gehirns 17. 19. —
des rostigen Gehirns 12. 14. 17. 18. — ,
Symptomenqualität ders. 9. — , transi-
torische 457. — , traumatische 393. — ,
Veranlassung z. Delirium acutum ma-
niac. 326. — , Verlauf ders. 10. 13.
Pubertät, Einfluss ders. auf das epi-
leptische Irresein 271. 276; auf die
ethischdegenerative Hcreditätsneurose
453; auf die Hereditätspsychosen 429;
auf Zwangsvorstellungen 437.
Puerperium, iiez. dess. z. Heredi-
tätspsychosen 429. 456; z. manischen
Wahnsinn 191; z. Zwangsvorstellun-
gen 437.
Puls, Bez. dess. zu den alternirenden
Psychosen 317. — bei Blödsinn 126.
129. — im Delirium acutum 327. 329.
330. 333. 334. 336, tremens 416. —
beim Eintritt der Paroxysmen alter-
nirender Psychosen 319. — in der
Ekstase der Hysterie 242. — im epi-
leptischen Irresein 259. 263. — bei '
Furor IUI. — in der Katatonie 201.
208. 209. 247. — in der Manie S7.
109. — bei Melancholie 37. 60. 72. 74.
— bei pacchymeningiti8chen Zufallen
385. — bei. Pacchymeningitis 384. —
des Paralytikers 353. 358. 363. — bei
psychischer Meningo- Periencephalitis
chronic. 379. — bei Stupor (attoniseb.)
215.216. - im Trinkerwahnsinn (acut.)
408. — im Wahnsinn 188.
Pupillen im Delirium acutum 328.334,
tremens 416. — beim epileptischen
Irresein 263. — bei Hirnatropbie (pri-
märer) 390. — in der Mauia gravis
110. — bei Paralyse 352. 357. 359.
363. 365. 367. 368. - bei psychischer
Meningo -Periencephalitis chron. 379.
— im Wahnsinn 192.1
Purpura bei pacehymeningitischen Zu-
fällen 385.
Pyelitis bei Paralyse 363.
Querulantenwahnsinn 470. — , Be-
handlung dess. 451. — , Bez. dess. z.
chronisch - depressiven Wahnsinn 154.
— , erworbener 471. — , manischer 471.
Verlauf dess. 473.
Raptus, convulsiver, bei Dementia
acuta 212. — zu Gewaltakten in der
masturbator. Melancholie 69, im Ver-
folgungswahn 158. — , manisch-hallu-
cinatorischer im Verfolgungswahn 149.
— melancholicus 55. 56. 243. 405. — ,
motorischer bei epileptischem Irresein
262; in der Hysterie 241. 246 ; bei psy-
chischen Cerebropathieen 392. — bei
Stupor (circulär.) 309. 310. — Buicidü
56. 464. — des Trinkerwahnsinns (acu-
ten) 406. — im Wahnsinn 178.
Rauchen, Einschränkung dess. bei
Melancholie 45.
Reactions formen eines invaliden Ge-
hirns 8, eines rüstigen 11.
Recidive alkoholischer Manieen 424.
— des Blödsinns (apathischen) 129. —
des circulären Irreseins 308. — des
epileptischen Irreseins 261. — der Hy-
sterie 24 1 . — der invaliden Psychosen
19. — der Manie 93. 99. 245. — der
Melancholia agitata 59. — der Moria
106. — , Neigung zu dens. bei erblicher
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Register.
537
Disposition 430. — des Verfolgungs-
wahnes 165. — des Wahnsinns 180.
182. 186. 188. 190. 191. 194. 200.
Reflexerregbarkeit im Blödsinn 126.
— bei Delirium acutum 327. — bei
Hysterie 234. — bei Pacchymeningitis
(psychisch.) 384. — in der Paralyse
363. — im postepileptischen Irresein
260. — im Wahnsinn 175.
Reflexhandel n der Hysterischen 235.
Reflexkrämpfe, psychische, im
Wahnsinn 154. 188.
Religiöse Grübeleien, Veranlass^.
z. Wahnsinn 175.
Remissionen der Paralyse 361. 364.
368.
Respiration cephalische bei Dementia
senilis 393. — bei Delirium acutum
329. 333. 334. — bei Melancholie 38.
Retentio urinaeim Delirium acutum
330. 335. — bei Paralyse 358. — et
alvi bei Melancholie 74.
Rheumatoide Empfindungen,
Veranlassg. z. Melancholie 49.
Rückenmarkserkrankungen mit
Geistesstörung 394.
Ruckenmarksveränderun gen
durch Paralyse 372.
Rüstiges Gehirn, Bez. dess. zur See-
lenstörung 12. — , Psychosen dess. 12.
14. 17.
Salz zur Coupirung eines epileptischen
Anfalls 269.
Sauf erdyskrasie, chronische 403.
Satyriasis im Wahnsinn 173.
Schadelformen der Idioten 511.
Schädelverdickung durch Paralyse
369.
Schlaf im Delirium acutum 329. — bei
Hirnatrophie (primärer) 386. — bei
Manie . 93. — bei Wahnsinn (acutem
hypochondrischen) 186.
Schlaflosigkeitbei Hypochondrie 282.
— bei Melancholie 39, Behandlung
ders. 41.
Schlingfun ction bei Delirium acut.
329. 330. 333. 334. 335. — bei Idiotie
500. — bei Mania gravis 110. — bei
Melancholie 39. — bei Paralyse 353.
363.
Schmerzen, heftige, Ursache von Deli-
rium acutum maniacale 326.
Schnupfen, Einschränkg. dess. bei
Melancholikern 45.
Schreck, Veranlassung von Hysterie
240, von Melancholie 34.
Schrift nach Dementia acuta 224. —
Paralytiker 349. 361. — jugendlicher
Epileptiker 274.
Schuldbewusstsein, wirkliches, Ver-
anlassg. von Furor 10 1.
Schwachsinn anergetischer einfacher
505. — , angeborener, Bez. dess. z.
epileptischen Irresein 256. — , apha-
tischer507. — , eretischer 118. 506. —
mit Grössen wahn 506. — , hebephrener
508. — , idiotischer 500. 501. 503. 515.
— jugendlicher Epileptiker 272. 274.
— , moralischer 507. — , phlegmatischer
118. — reizbarer 117. — torpider
116.—, versatiler nach erschöpfenden
Geburten 229.
Schwäche, psychische 115. — ,
anergetische u. erethische 1 1 5, (in der
Idiotie) 498. 504. — nach Delirium
acutum 330. 334. 336, postepilepticum
259. — , erworbene 115. — nach Manie
98. — in der Melancholie 54, (Folge
ders.) 22. — bei Paralyse 342. 359.
364. 367. — , reizbare im Wahnsinn 132.
— bei Stupor (circulärer Form) 310.
Schwangerschaftswahn 163. — ,
bei peracut. u. acut, exaltirt. Wahn-
sinn 181.
Schweisse, abundante, im Delirium
acutum 328. 329. 330. 333, tremens
416. — bei Paralytikern — 357.
Schwindel bei Encephalitis syphili-
tica 399. — im epileptischen Irresein
264. — bei Hirnatrophie (primärer)
387. — nach einem postepileptischen
Stupor 258. — bei der psych. Me-
ningo-Periencephalitis chron. 379.
8crophulose, Complic. der Idiotie 51 0.
Seeale cornutum bei Paralyse 376.
Sedativa bei Melancholie 41.
Seelenstörungen, Begriffsbestim-
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538
Register.
mang ders. 1. — , Eintheilung ders. 6.
— als Gesammtaffection der Indivi-
dual-Seele 3. — , Heilung ders. im
Allg. 4. — als Mit-Effect organischer
Gehirnleiden 4. — , Nosologie ders. im
AlJg. 3. — , transitorische 457.
Seeluft bei Paralyse 377.
Sehnenreflexe bei attonischem Stu-
por 215. — bei Pacchymeningitis (psy-
chisch.) 384. — bei Paralyse 351.
Sehstörungen Paralytiker 356.
Selb8tbewusstsein der Idioten 505.
— bei Seelenstörung 6.
Selbstgefühl des Melancholikers 28.
29. — im Wahnsinn 136. 182.
Selbstmordtrieb 440. 444. — bei
conträrer Sexualempfiudung 448. —
im Delirium tremens 415. — beim Ein-
tritt der Paroxysmen alternirender
Psychosen 319. — bei Encephalitis
syphilitica 397. — bei epileptischem
Irresein 261. 263. 268. — , hereditärer
428. — bei Hirnatrophie (primärer)
387. — bei Hypochondrie 284. — bei
Melancholie 27. 52. 57. 68. 69. 75.
— bei Moral Insanity 490. 493. — ,
neurotisch Belasteter 452. — bei Pa-
ralyse 345. 361. — im Trinkerwahn-
sinn 406. 410. — im Verfolgungswahn
melancholischen 167. — im Wahn-
sinn 145.
Selbstverstümmlung im epilepti-
schen Irresein 261. 268. — im hysie-
rischen Irresein 246.251. — im men-
strualen Irresein 322. — in der Para-
lyse 363. — im Verfolgungswahn 167
— im Wahnsinn 173.
Senil-atrophiBche Zust&nde bei
Paralyse 373.
Senium, Entfaltung hereditärer Neu-
rosen in dems. 456.
Senium praecox, Bez. dess. z. ori-
ginären Verrücktheit 476; z. Paralyse
373. — hereditär Belasteter 456.
Sensibilitätsstörungen bei Alko-
holismus chronic. 409.416. — bei alter-
nireuden Psychosen 319. — bei Blöd-
sinn 1 26. — im Delirium acutum 332.
— in der Dementia senilis 392. — im
epileptischen Irresein 261. — bei Hira-
atrophie (primärer) 388. — bei Hypo-
chondrie 278. 281. — bei Hysterie 239.
— der Idioten 510. — in der Katatonie
197. 209. — bei Manie 86. — bei Me-
lancholie 22. 31. 33. 35. 55. 72. 243 306.
— der Paralytiker 356. — bei Rücken-
markserkrankungen 395. — im Wahn-
sinn 140. 144. — bei Zwangsvorstel-
lungen und Zwangsacten 439.
Sensorielle Störungen im Alko-
holismus, chron. 41 8. — im Delirium
tremens 415. — der Idioten 510. — bei
Manie 86. — bei Melancholie 33. 36.
37. 56. 306. — bei Paralyse 355. —
im Wahnsinn 157. — s. auch Sinnes-
täuschungen.
Sexual drang nach abgeheilter De-
mentia acuta 225. — , angeborener 445.
— im chronischen Alkoholismus 41 1.
— bei Eifersuchtswahn der Frauen
162. — bei Hysterie 237. 249. — bei
Paralytikern 347.
Sexualempfindung, conträre 447.
— , angeborene und erworbene 449. — ,
forense Bedeutung ders. 449. — , Here-
dität ders. 427.
Sexualmanieen 103. — , Compiicat.
ders. mit Wahnsinn 175.
Sexuelle Einflüsse bei Grössenwahn
169. — bei Moral Insanity 492. — bei
originärer Verrücktheit 477. 486. - bei
Trinkerwahnsinn (acutem) 406. 409. —
bei Verfolgungswahn 155. 168.
Sexuelle Reize bei Hysterie 236. —
bei Melancholie 39. — , Veranlassg. zu
hallucinat. Stupor 225.
Simulation bei Hysterie 237.
Sinnenwahn 137. 138. 139.
Sinnestäuschungen im Alkoholis-
mus chronic. 409. 413. — im Delirium
tremens 4 1 4. — bei Dementia acuta 22 1 .
250. — im epileptischen Irresein 259.
262. —bei Hirnatrophie (primärer) 386.
— bei Hypochondrie 283. — in der
Katatonie 200. 202. 206. —in der Manie
77. 85. 113. - bei Melancholie 33. 37.
— bei Paralyse 344. 345. 355. 356.
360. 361. 364. 382. — bei Stupor 226.
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Register.
539
— im Trinkerwahnsinn 406. 408. —
— im Verfolgungswahnsinn 152. 153.
157. — im Wahnsinn 131. 140. 147.
172. 175. 189.
Sklerose der Hirnrinde bei Idioten
512.
Somatischer Zustand bei alterniren-
den Psychosen 319. — bei Blödsinn
125. — im Delirium tremens 416. 417.
— bei Hypochondrie 281. — jugend-
licher Epileptiker 274. — bei Manie
86. 88. 113. — bei Melancholie 38. 75.
— bei menstrualen Psychosen 323. —
bei originärer Verrücktheit 477. — bei
Stupor (circulärer Form) 309 — bei
Wahnsinn 144. 168. 179. — bei Zwangs-
vorstellungen. 447.
Somnambule Zustande bei originä-
rer Verrücktheit 476.
Sopor bei Delirium acutum 328. 334.
— bei Dementia acuta 212. — im In-
tervallstadium circularer Psychosen
307. 310. — bei Pacchymeningitis 384.
Spannungsneurose, motorische
bei Dementia acuta 212. — bei Kata-
tonie 195.
Spastische Paralyse, Complic. der
Idiotie 509.
Speichelfluss im Delirium acutum
336, postepilepticum 259. — in der
Katatonie 199. 201. 211.
Sphinkterenlähmung bei Idiotis-
mus 500.
Spinale Störungen, Complic. der
Idiotie 509.
Spinalirritation bei Hypochondrie
282. — bei Melancholie 64. 69. — im
Wahnsinn (chronisch.-depressiven) 1 55.
157. 162.
Spinalneurose, Ursache von
Wahnsinn 144.
Spinalreflexe bei attonischem Stu-
por 214.
Sprachfertigkeit in der Manie 82.
Sprachstörungen bei Alkoholismus
chronic. 411. — Blödsinniger 122. —
im Delirium acut. 327. 328. 335. —
bei Idioten 498. 499. 501. 502. 505.
— jugendlicher Epileptiker 274. — bei
Manie 84. 96. 108. - Paralytiker 348.
36t. 362. 363. 367. 368. — nach
postepileptischem Irresein 259. —
bei psych. Meningo - Periencephalitis
chronic. 379. 380. — im Verfolgungs-
wahn 153. — im Wahnsinn 191.
Stehltrieb Blödsinniger 125. — Here-
dität dess. 443.
Sterilität durch AlkoholiBmus chronic.
412. — bei Fortpflanzung erblicher
Entartung 431.
Stimme eines Paralytikers 352.353. 362.
Stirnkopfschmerz im Beginn des
hystero-epilepti8chen Insultes 240.
Strabismus bei primärer Hirnatrophic
390.
Strangulationen, Veranlassung zu
primärer Dementia 228.
Stupidität bei Hirnatrophie (primärer)
388. — bei Wahnsinn 174. 190.
Stupor, apathischer 225. 310. — , atto-
nischer 214. — , Behandlung dess. 227.
231. 233. — , circulärer 309. — , Com-
plicat. der primären Hirnatrophie 390.
— bei Delirium acut. 332. — , Diagnose
dess. 213. 214. epileptischer 262.
— , hallucinatorischer 225. — , hyste-
rischer 247. 250. -in der Katatonie 195.
201. 202. 205. — , menstrualer 322. — ,
organischer 214. — , postepileptischer
257. — , postmanischer (anergetischer)
219. — bei psych. Meningo -Perience-
phalitis chron. 384. — , recidivirender
in der Reconvalescenz der Dementia
acuta 218. — , transi torischer 463. — ,
Verlauf dess. 216. 220. 226. 258. — im
Wahnsinn 119. 136. 160.
Submaxillardrü8e, Anschwellung
ders. bei Delirium acutum 329.
Subsultus tendinum bei Delirium
acutum 329.
Such-Manie 440. — der Wahnsinnigen
134.
Suppos itorien zur Behandlung der
Hysterie 253.
Sympathicus, anormale Thätigkeit
dess. bei Paralyse 374. 375.
Syphilidophobie 72. [394.
Syringomyelie mit Geistesstörung
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540
Register.
Tabes spinalis mit Geistesstörung
394. — , Veranlassung z. Verfolgungs-
wahnsinn 162.
Tabische Paralyse 294. — , Behand-
lung ders. 401.
Tartarus stibiatus- Salbebei Para-
lyse 376.
Tetanus im Delirium acutum 328. —
in der Manie gravis 110. — Paraly-
tiker 354.
Thrombose, marantische, bei Para-
lyse 363.
Tobsucht melancholische bei Furor
100. — bei ParalyBe 382.
Torpor bei psychischen Schwächezu-
standen 119. — nach Wahnsinn 185.
Tracheairasseln im Delirium acu-
tum 329.
Träume im epileptischen Irresein 262.
— im hysterischen Irresein 238. —
des Melancholikers 25. — im Wahn-
sinn 172.
Transitorische Seelenstörungen
457. 462.
Traumzustände, hallucinatorische
im Wahnsinn 131. — der primären
Hirnatrophie 387.
Tremor im Alkoholismus chronic. 411.
415. 416. 419. — bei psychischer Hirn-
erkrankung 8.
Trinkerverf olgungs wah u 418.
Trinkerwahnsinn, acuter 183. 405.
-, Krankheitsbild dess. 406.
Trismus 8. Tetanus.
Trophische Störungen bei alterui-
renden Psychosen 320. — bei Blödsinn
126. — im Delirium acutum 325. 334.
— bei Dementia acuta 214. 225. —
des Gehirns in der Manie 107, in der
Melancholie 31. — bei Hirnatrophie
(primärer) 387. — bei Hysterie 239.
— bei Manie 86. 87. 95. 112. — bei
Melancholie 33. 37. 51. 55. 63. 67.
— bei Paralyse 35". — bei psychisch.
Meniugo-Periencephalitis chronic. 380.
— bei Verfolgungswahn 155. — bei
Wahnsinn 140. 161. 178. 186. l^J.
Tuberculose, Complicat. der Idiotie
518.
Typhus, Bez. dess. zur primären De-
mentia 228. — , Paralyse nach dems.
366. — , Wahnsinn nach dems. 186.
Ue beranstrengung, geistige als Ur-
sache des Delirium acutum maniacal.
326.
Umherirren bei epileptischem Irresein
263.
Umschläge im Delirium acut. 340. —
bei epileptischem Irresein 269. — bei
Melancholie 48. — bei Paralyse 376.
U nbesinnlicbkcit in derMania tran-
sitoria 458.
Unterkiefer - Missbildungen bei
Idioten 510.
U n t er 1 ei b s Sensationen, hyper-
ästhetiBche, Veranlassg. zu hypochon-
drischem Irresein 278; zu Wahnsinn
16S.
Urate, Ausscheidg. ders. bei den Par-
oxysmeu des periodischen Irreseins 29?.
Urtheilsschwäche im Delirium tre-
mens 416.
Uterinaffectionen, Veranlassung z.
alteruirenden Psychosen 318; z. hypo-
chondrischer Melancholie 04; z. Se-
xualmanieen 103; z. Wahnsinn 144.
Variola, Bez. ders. zur primären De-
mentia 228. — , Blödsinn mit Ataxie
nach ders. 366.
Vasomotorische Störungen bei al-
ternireuden Psychosen 319. — bei
Blödsinn 126. — im Delirium acutum
325. 333, tremens 416. — bei Demen-
tia acuta 214. 225. — bei Grössenwahn
167. — bei Hirnatrophie (primärer) 389.
— bei Hypochondrie 282. — bei Hy-
sterie 239. — bei Manie 86. 244. 459.
— bei Melancholie 22. 33. 37. 56. 69.
243. 2US. — bei Paralyse 357. 361.
363. 366. 367. — bei Stupor (circu-
lärer Form) 309. 310. — , Ursache func-
tioneller Psychosen 4. — bei Verfol-
gungswahn 155. 157. 162. — bei Wahn-
sinn 160. 161. 170. 179. 184. 195. 201.
203. 20i>.
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Register.
5-41
Verbigeration bei Katatonie (hyste-
rischer) 209.
Verblödung, progressive bei Alkoho-
li8mus chronic. 420.
Verbrechen, Bez. dess. z. Wahnsinn
430.
Verbrechenstrieb der Idioten 505.
508.
Verdauungsstörungen in der Manie
87. — bei Melancholie 38. — bei Hy-
pochondrie 278. 282.
Vererbungsgesetze 427.
Verfolgungswahn 146. — , acuter
149. — , alkoholischer 405. 40*. 409.
— , cerebraler 146. — , cerebro-spinaler
155. — , Complicat. dess. mit Grössen-
wahn 165. — bei Dementia senilis 391.
— der Epileptiker 265. — , hallucina-
torischer 141. 182. — hereditär Dis-
ponirter 453. — bei Hirnatrophie (pri-
märer) 388. — , hypochondrischer 284.
— bei hysterischem Irresein 245. 249.
— , klinisches Krankheitsbild dess. 146.
155. 166. — , manischer III. 163. — ,
melancholischer (35. 164. — , menstrualer
322. — nach Moral Insanity 469. — ,
negativer 154. — Paralytiker 364.
367. — , periodischer 165. — , physi-
kalischer 155. 161. — bei psychisch.
Meningo-Periencephalitis chron. 379.
380. — , remittirender Typus dess.
146. — , spinaler 155. 161. — , tabischer
162. — , transitorischcr alkoholistischer
405. 407. -, Verlauf desB. 152. 159.
168.
Verificationszwang 134. 485.
Verletzungen, Anlass zu epilep-
tischen Anfällen in der Jugend 272.
Verrücktheit, abortive 437. — , Bez.
ders. z. chronisch. Wahnsinn 15. 136.
— , gemischt depressiv-exaltirte 480.
— , hysterische 245. — katatone 202.
originäre 245. 475.
Verwirrtheit im Delirium acutum 327.
— , hallucinatorische 120. — , manische
85. — bei Paralyse (subacut.) 382.
— bei psychisch. Meningo-Perience-
phalitis 379. — bei Wahnsinn 180.
Vociferiruüg bei Manie 83.
Vorderhirn-Functionen, Bez. ders.
zu den Psychosen u.Neuropsychosen 1 1 .
Vorstellungsanomal ieen bei Furor
100. — hereditär Belasteter 436. —
bei Hypochondrie 280. — in der Ma-
nie 82. 85. 93. — in der Melancholie
29. 30. 31. 58. — bei Paralyse 343.
360. 262. 263. — im Verfolgungswahn
157. — im Wahnsinn 131. 139.
Vorsteliungswahn 137.
ärmegefühl, erhöhtes in der Manie
86.
Wahn, expansiver (fixer) bei Moria 106.
— , fertiger 132. — , melancholischer 51.
Wahnideen 1 37. —, Combinirung der
einzelnen Formen im Wahnsinn 141.
— bei Dementia senilis 391. — , Ein-
tlus8 ders. auf den Willen 141. — ,
Genese ders. 137. 138. — des Grössen-
wahns 140. — , hypochondrische 140.
141. — , Inhalt ders. beim Wahnsinn
140. — bei der Melancholie 31. 32.
— der organischen Melancholieen 66.
— , remittirend-exaccrbescirendcr Cha-
rakter ders. im Wahnsinn 141. — des
Verfolgtwerdens 140.
Wahnsinn 130. — , acuter 131. 134.
175. — , acuter cerebrospinaler 186. — ,
acuter depressiver u. dann expansiver
183. — , acuter gemischt depressiv-
exaltirter 1 85. — , acuter exaltirter 181.
— , acuter halluciuatorischer 182. — ,
acuter hysterischer 1S6. — , acuter
manischer 191. — , acuter melancho-
lischer 187. — , acuter sensueller 180.
— , Aetiologio dess. 131. 134. — durch
Alkoholismus 405. 410. 420. — , atto-
nischer 195. -, Behandlung dess. 145.
193. — , Benehmen u. Handeln des
Wahnsinnigen 141. — , Bez. dess. z.
physiologischen Traumleben 6. — ,
cerebraler 146. — , cerebrospinaler
1 55. 1 86. — , cerebrospinal - neural-
gischer 205. chronischer 131. 137.
388. — , chronischer depressiver 146.
— , chronischer expansiver 169. — , cir-
culärer 304. 307. — , degenerativer
161. — , depressiver (dämonomanischer)
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542
Register.
97. 183 200. 322. — bei epileptischem
Irresein 263. — , erworbener 137. — ,
expansiver 106. 183. — , hallucinato-
rischer 97. 148. 180. 182. 225. — he-
reditär Disponirter 456. 457. — , hypo-
chondrischer 159. 186. 283. — , hypo-
chondrisch - hysterischer 245. — , hy-
sterischer 196. 207. 245. 247. 249. — ,
klinisches Krankheitsbild dess. 146.
155. 165. 169. 175. — , manischer 97.
113. 160. 163. 191. -, masturbatori-
scher 155. — , melancholischer 31. 51.
59. 164. 187. — , menstrualer 1SI. — ,
negativer 154. 173. — , negativer ex-
pansiver 173. — , onanistischer 161.
— , peracuter 181. — , peracuter ma-
nischer 460. -, religiös -expansiver
196. — , remittirender 149. — , secun-
därer 120. — , spinaler 204. — , Stim-
mung in demB. 143. — , stupuröser
177. — , Symptomatologie dess. (all-
gemeine) 137, (specielle) 180. — , Un-
terscheid^ dess. von der Melancholie
132. 136. — , Ursachen dess. 144. — ,
Vererbung der Prädisposition zu dems.
428. — , Verlauf dess. 136. 144. 152.
159. 168. 172. 175. — , Zwangshand-
lungen in dems. 142.
Wahnvorstellung 137. 138.— s. auch
Wahnideen.
Wasch-Manie 441.
Wein zur Behandig. des attonischen
Stupors 232, der Melancholie 45, der
Paralyse 378. — zur Coupirung eines epi-
leptischen Anfalls 269. — bei Schwäche-
zustanden im Delirium acutum 340.
Weinkrämpfe bei hysterischer Me-
lancholie 243.
Willensstörungen bei Blödsinn 125.
— in der Dementia senilis 392. — bei
Hypochondrie 280. — in der Manie
79. — in der Melancholie 29. 70. — bei
Paralyse 347. 364. - bei Stupor 177.
Wortzwang im Wahnsinn 142.
Zahlenzwang 433.
Zahnaffe ctionen im Delirium acu-
tum 328.
Zahnmissbildungen bei Idioten 510.
Zeit sinn, Schwinden dess. in Mania
gravis. — im Wahnsinn (hypochondri-
schen) 160.
Zeugungsact, Bez. dess. zur Heredi-
tät 432.
Zerstörungsdrang im Delirium acu-
tum 334, postepilepticum 258. — bei
Dementia acuta 225. — Hysterischer
241. 246. 249. 251. — jugendlicher
Epileptiker 276. — in der Katatonie
199. 201. — in der Manie 304. — ,
Paralytiker 360. 366. 382. 383. — im
Wahnsinn 168.
Zittern bei Encephalitis syphilitica
399. — bei Hirnatrophie (primärer)
386. 388. — der Idioten 499.510. — der
Paralytiker 354. 363. — bei psychisch.
Meningo- Periencephalitis 380. — bei
psych. Pacchymeningitis 384.
Zorn-Manieen 93. 102. — , Complic.
der Paralyse 360.
Zornparoxysmen bei Furor 100. —
beim Verfolgungswahnsinn 156.
Zunge, Beschaffenheit ders. im Deli-
rium acutum 329. 330. 333. 336. —
bei Paralyse 351. 354. 359.
Zwang, geistiger 2. 133. 205. — bei
Hypochondrie 279.
Zwangsacte 432. 439. — , impulsive
441. — bei Melancholie 35. 56. 58.
— , physiologischer Mechanismus ders.
441. — , scheinbar gewollte 440. — bei
Verf olgungswahnsinn 152.— bei Wahn-
sinn 132. 142. 161. 175.
Zwangsbewegungen bei alterniren-
den Psychosen 319. — bei Blödsinn
(idiotischem) 498. -- im Delirium
acutum 328. 329. 335. — in der Manie
111. — bei Melancholie 243. — bei
paccby meningitischen Zufällen 358. —
bei Paralyse 347. 354. 362. — bei post-
epileptischem Irresein 260. 262. —
bei psych. Meningo -Periencephalitis
chron. 379. — im Wahnsinn 143. 247.
249.
Zwangsempfindung 434. — , senso-
rische 436.
Zwangsgedanken beim hereditären
Irresein 465. - bei Melancholie 32
4
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Register.
49. — , Uebergang ders. in Wahnvor-
vorstellungen 470. — bei Verfolgungs-
wahn 155. — im Wahnsinn 142.
Zwangshandlungen s. Zwangsacte.
Zwangsvorstellungen 432. — bei
Dementia senilis 392. — , emotive u.
nicht-emotive 433. — bei Hirnatrophie
(primÄrer) 386. — bei Hypochondrie
543
280. — der Hysterischen 238. 246.
249. —.klinisches Verhalten ders. 437.
— bei Melancholie 55. 243. 299. — bei
menstrualem Irresein 322. — psycho-
logischer Charakter ders. 434. — , verti-
ginöse 446. — bei Wahnsinn 143.
183. 247.
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Dniok von J. B. Hirsch fftld iu Leipzig.
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COUNTWAY LIBRARY
HC 2b
A D