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Buchhändler-Akademie.
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Buchhändler Akademie.
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Organ
für die Gefamtintereflen des Buchhandels
und der ihm verwandten Gejchäftsziveige.
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Begründet von h. Weißbach, fortgeſetzt von Karl Fr. Pfau.
— — —
VII. Sand
herausgegeben von
£udwig Hamann.
Leipzig 1896.
Verlag von Ludwig Hamann.
STANFDRD UNIVERSITY
LIBRARIES
STACKS
Sep 2 31973
g ylnio
Snbalt:
Unier Programm,
Dem Andenken Hermann Weißbachs von Karl Fr. Pfau. Seite 5—9.
Aus Goethe's Jugendzeit von G. Seite 10—23,
Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen bis zum
Tode des Großen Kurfürften (1540—1688) von Richard George. Seite 24, 63.
„Zur gefälligen Anſicht“ von Sr. Thieme. Seite 2333,
Ueber Buch-Auflagen von Karl Fr. Pfau. Seite 34-39.
Buch- und Mufifalienhändler von Ludwig Hamann. Seite 40—44.
Zwangloſe Rundſchau. Seite 45, 9, 143, 189, 231, 283, 330, 379, 424, 475, 522, 563.
Rudolf von Gottichall als Litterarhiitorifer und Nejthetifer von Dr. M. Braſch.
Seite 49—62,
Die Beihaffung einer öffentlichen Bibliothek. Seite 73-76,
Buchhandel und Volkswirtſchaft von Fr. Thieme, Seite 77.
Die internationale bibliograpbiiche Konferenz in Brüffel von L. . . ich. Seite 75—82,
Johanna Ambroſius, eine deutfche Volksdichterin von Richard George. Seite 8I— 89.
Neue Bücher. Seite 95, 140, 187, 227, 279, 335, 384, 427, 479, 527 567.
Guſtav Langenicheidt von Ed. Zernin. Seite 97—101.
Gerhart Hauptmann von Paul Kühn. Seite 102—117.
Stadt: und Bolfsbibliothefen in Nordamerika. Nah einem Vortrage des Herrn
Dr. Nörrenberg in Kiel. Seite 118—124.
Ein vergellener Erfinder von G. Hölicher. Seite 125—129,
Etwas über Zeitichriftenlieferung von ©. Temps. Seite 130-135.
ME. 3,50 von Otto von Yeirner, Seite 136-139.
Ueber Roefie und Naturwiſſenſchaft von Willy Aler. Kaftner. Seite 145—153.
Die Berdeutihung der Fremdwörter in unferen Jugend: und Bolfsichriften. Seite
154— 163.
Die Pioniere der Autotypie in Deutichland von Hermann Schnauß. Seite 164—173.
Yitterariiches Kaftentum von S. Wollerner. Seite 174—1832.
Künftler und Kunfthändler im Lenbach-Prozeß von Karl Fr, Pfau. Seite 183—186,
Der Märchendichter Muſäus und jein Garten von C. NReined, Seite 193—200.
Grinnerungen an Theodor Storm von Ludwig Pietih:Berlin. Seite 201—205.
Anton Philipp Neclam von Karl Fr. Pfau. Seite 206 - 212.
Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. Seite 213, 241, 289, 337.
Die Bolfsbibliothef zu Schweidnig von E, Nörrenberg. Seite 23—226,
Nom internatisnalen Sortiment von Heinrih Boyſen. Seite 251.
Das Buch und jeine Geihichte big zur Erfindung der Buchdruderfunft. Seite 257,
297, 348, 491, 542.
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” und die Berliner
Beitellanitalt von Karl Fr. Pfau, Seite 272, 321, 418, 468, 510,
.
Bedeutende PBerlagäunternehmungen: L Die Münchener „liegenden Blätter“,
Seite 305, 354.
Jakob Gafanova von Viktor Ottimann, Seite 368.
Die Bücherliebbaberei am Ende des 19, Aahrbunderts von Otto Mühlbrecht.
Seite 385, 433, 481, 533.
Bedeutende Verlagdunternehmungen: I. Die Modenwelt und die Jlluftrierte Frauen—
zeitung. Seite 401, 449.
Der Einkauf der Büder. Seite 409, 465, 519, 551.
Zum Andenken an Alois Senefelder von &, Hölſcher. Seite 458, 497,
Zur Gehilfeneramensfrage von A. Slaue, Hamburg. Seite 504,
Subjeftive und objektive Dichtkunft von Dr. Karl Pinn. Seite 529,
Zur Jubelfeier der Erfindung der Lithographie von Rudolf Schmidt, Seite 556.
Dormwort.
— — —
Mit dem nun vorliegenden Bande beſchließt die „Buchhändler—
Akademie” bereits dem achten Jahrgang. Galt e3 bis dahin noch mand)e
Schwierigkeiten zu überwinden, jo hat nunmehr der ftetig fich erweiternde
Kreis der Freunde unſeres Organs dasjelbe joweit gefichert, daß ein
immer weiterer Ausbau der Ziele der „Buchhändler-Alademie” angebahnt
werden kann.
Wir wollen nicht verfäumen, auch an diefer Stelle unjeren Freunden
den Dank für thatkräftige Unterftügung zu übermitteln.
Leipzig.
Die Medaktion.
gudbwig Hamann.
Anfer Programm.
—ñNii a
Wiffen ift Macht! Diefes geflügelte Wort gilt für jeden Stand,
in bejonderem Maße aber für den Buchhändler. Das Eigenartige des
buchhändlerischen Berufes erheilcht e3 mit gebieteriicher Notwendigkeit, daß
jeder Angehörige desjelben mit nie raftender Energie an der Erweiterung
feines Willens, feines fahmännilchen Könnens arbeitet. In jedem Stande,
in jedem Gewerbe findet das Streben nad) Erweiterung des Wiſſens fei-
nen geiltigen Niederichlag in der Fachlitteratur, bejonders in den Fach—
zeitfchriften.
Wie ſteht es nun aber im deutjchen Buchhandel? Gerade der Bud)-
handel hat neben den geſchäftlichen, neben den Handelsintereffen jo viele
geiltige Interefien, beide Kategorien find jo eng mit einander verwachlen,
daß gerade beim Buchhändler, dem faufmännifchen Vertreter der Litte—
ratur, die Fachliteratur eine jehr große Rolle in feinem Berufsleben
jpielen müßte. Dies ift jedoch nicht im entfernteften der Fall. Der
Buchhändler lieft mit regem Eifer eigentlih nur das „Börjenblatt“, das
jeiner ganzen Unlage nad) faft ausfchlieglih rein gefchäftlichen Zwecken
dient und im Wejentlihen außer dem bibliographiichen Teil nur buch-
händleriſche Injerate enthält.
Die Heinlichen Nörgeleien im „Sprecjaal” des „Börjenblattes“
fünnen ebenjo wenig das Wifjen des Buchhändlers vertiefen, wie defjen
Beilage, die „Nahrihten aus dem Buchhandel”, die ja gleichzeitig
auch an das Publikum abgegeben werden, einen Mittelpunkt fiir die ge-
ſamten geiltigen Interejjen des Buchhandels bilden können. Es joll und
fann daraus dem „Börjenblatt” kein Vorwurf gemacht werden; dasjelbe
ijt und wird. ftet3 ein Sufertions-Organ bleiben. Wohl aber ergiebt fich
hieraus die Thatſache, daß es dem deutſchen Buchhandel an einem
1
2 Unſer Brogrammı.
Fach-Organ fehlt, weldhes das buhhändleriihe Wiſſen in
jeinem ganzen Umfange widerjpiegelt.
In diefer Erkenntnis Haben ſich die Unterzeichneten entſchloſſen, Die
von Hermann Weißbach im Jahre 1889 begründete „Teutiche Buch—
händler-Afademie* vom 1. Auguſt diefes Jahres au wieder er-
ſcheinen zu laMen, und zwar unter dem allgemeineren Titel:
„Buchhändler - Akademie”,
ein Entſchluß, der den lebhafteiten Beifall der alten Freunde und Mit-
arbeiter des Blattes gefunden hat. Zu den alten Freunden und Mit—
arbeitern haben ſich neue gejellt, und mit frohen Hoffnungen richten wir
an den Geſamtbuchhandel die ergebenjte Bitte, unfer Unternehmen durd)
Abonnement zu unterjtügen, eine Bitte, welche nur ein geringes Opfer
erheiiht, da das Heft der monatlich erjcheinenden „Buchhändler-
Akademie“ nur 60 Bf. koſtet.
Werden die Angehörigen des deutjchen Buchhandels diejen geringen
Betrag für ein Fach-Organ übrig haben, welches die geijtigen und ge-
ſchäftlichen Intereflen in ihrer Gejamtheit wiederjpiegeln wird?
Wir hoffen es zuverfichtlich und werden, getreu dem Grundſatze, daß,
wer vieles bringt, jedem etwas bringt, den Juhalt der „Buchhändler:
Akademie“ jo reichhaltig geftalten, daß jeder Buchhändler, ſei er Prin-
zipal, Gehilfe oder Lehrling, Anregung und Belehrung in derjelben findet,
Das Programm der „Buchhändler-Afadenie* umfaßt die gefamten
geiftigen und gejchäftlichen Interefjen des Buch-, Kunſt-, Muſikalien—
und Zandlartenhandels, jowie auch das Gebiet des Lehrmittel-
handels; der Berleger, Sortimenter, Antiguar und Kom:
miſſionär joll durd ihre Lektüre in feinem praftiichen und theoretiichen
Willen und Können gefördert werden.
Die Praris (buchhändleriſche Gefhäftsführung, Buchhaltung, buch-
händleriſches Gejchäftsvorbild) in allen Geſchäftszweigen wird einen breiten
Raum einnehmen.
Der Berleger wird über die SFortichritte der Reproduktion -
technik auf der Buchdrud-, Lichtdrud- und Kupferdrucdprefje orientiert
werden und über Holzichneidekunft, Chemiegraphie, Phototypie, Yutotypie,
Photochromotypie, Autochromotypie, Photo Typographie, Lithographie,
Kupferſtich und Lichtkupferdrud Belehrung finden; die buchgewerblichen
Nebenzweige (Buchdrud, Galvanoplaftif, Buchbinderei u. ſ. w.) werden
eingehende Berücfichtigung erfahren; ebenjo die buchhändleriichen Rechts—
Unjer Programm. 3
fragen (geijtiges Eigentum, Verlagsrecht, Verlagsvertrag, Preßgeſetz).
Bejonders ausführliche Behandlung wird dem weiten Gebiete der Lit—
teraturgejhichte und Bibliographie, diejen für jeden Buchhändler
überaus wichtigen Wifjensfeldern, zu teil werden, ebenjo der Biblio-
thefen- und Handſchriftenkunde. Neben dem praftiichen Wiſſen,
welches für jeden Buchhändler bares Geld ift, joll der Sinn für die
idealen Interefjen unjeres Berufes, das Verftändnis für die Vergangenheit
durch Aufſätze aus der Geſchichte des Buchhandels und durch Buch—
Händler-Biographien u. |. w. gepflegt werden.
Ebenjo werden von nun an Wejen und Betrieb des Kunft- und
Mufikalienhandels, ſowie auch des Lehrmittelhandels im bejonderen, durch
von tüchtigen Fachmännern gejchriebene Beiträge eingehendere Darftellung
und Würdigung finden, wodurch der Wert der Buchhändler-Akademie bei
dem innigen Zujammenhange aller diefer verjchiedenen Zweige wejentlich
erhöht werden dürfte.
Für alle dieje Gebiete jtehen dem Herausgeber die Federn der be-
rufenjten Fachmänner zur Verfügung. Nur das Beſte foll geboten
werden, und jo hoffen er und ber unterzeichnete Verlag, daß das Wieder-
aufleben der Buchhändler-Afademie bei dem Gejamtbuchhandel jene Un-
terftügung finden wird, welche zur Durchführung des Unternehmens er-
forderlih ift. Nur wenn die weitejten Kreiſe der Berufsgenofjen es als
eine Ehrenpflicht betrachten, die „Buchhändler-Akademie“ durch ein
Abonnement zu unterjtüßen, können die Unterzeichneten das Unter:
nehmen in dem idealen Sinne ausführen, der ihnen vorjchwebt und der
auch das Biel des verewigten Hermann Weißbach war; darum fei e8
nochmals allen, die den Ehrentitel Buchhändler tragen, warm ang Herz
gelegt: abonniert auf die „Buchhändler-Akademie“ und helfet für
euer Theil an der Erhaltung eines Fach-Organs, das einen geiftigen
Mittelpunkt des deutihen Buchhandels bilden joll!
Sollte wirklich die „Buchhändler-Akademie” zugleich mit ihrem Be—
gründer tot und begraben jein? Schon in dem Titel ift gewifjermaßen
ein Programm vertreten. Der Sprachgebrauch verjteht unter „Akademie“
diejenigen Anstalten, welche ‚die höchſte Geijtesarbeit entweder um der
Wiſſenſchaft willen pflegen und üben, oder aber die Wifjenjchaft in den
Dienſt der praftiichen Wrbeit ftellen, jodaß die einfame und ftille Arbeit
des Denfers, des Forſchers, des Künstlers möglichit reihe Früchte bringe
zum Wohle der gejammten Menschheit. Sollte eine ähnliche wechſel—
jeitige Durchdringung von Willen und Können, von Wiffenjchaft und
Praxis nicht ein Organ finden in dem reife des Standes, dem in jeinem
Organismus das Verdienft der Vermittlung zwiſchen dem Produzenten
und Konſumenten im Gebiete der Literatur zugefallen ift? Weil wir an
1*
4 Unfer Programm.
dem Glauben fefthalten, daß der deutſche Buchhandel auf der Höhe feines
Berufs Steht, daß er das Bewußtfein von der Bedeutung und der Man-
nigfaltigfeit feiner Wufgaben im möglichft weite reife zu tragen hat,
wagen wir, die thatkräftigfte Unterftügung des Gejamtbuchhandels für
ein Sentralorgan im Rahmen einer Monatsrevue waczurufen.
Leipzig. Weimar.
Die Redaction: Die Verlagshandlung:
Kurl Fr. Pfau. Thiem & Limpricht,
—
Dem Andenken Hermann Weißbachs.
In dem Augenblid, wo die „Buchhändler-Akademie” zu neuem Leben
erwedt wird, ift es eine Ehrenpflicht, vor allem des Mannes in auf-
richtiger Dankbarkeit zu gedenken, der das Unternehmen 1884 ge—
gründet hat.
Hermann Weißbad (geboren 1844 zu Leipzig, jelbitändig jeit
1868) rief die „Deutihe YBuchhändler- Akademie” aus Berufsfreudigfeit,
aus innerem Herzensdrange ins Leben; er wollte dem deutichen Buch—
handel, dem jeder Schlag jeines Herzens galt, einen geiftigen Mittelpunkt
in diefem Blatt jchaffen, in dem fich die Ideen der Gejamtheit zu einem
jegenbringenden Ganzen Eryitallifieren, ein Organ, das den Angehörigen
des Buchhandels eine reiche Duelle der Anregung und Belehrung über
Theorie und Praris ihres Berufs in Gegenwart und Bergangenheit
bieten ſollte. Hoffnungsfroh jchrieb er im Herbſt 1883 die Worte
Platens an die Spihe jeines Programms:
„Daß jeder das, was er betreibt, verftehe, wag’ ich zu fordern, und
aus guten Gründen” — und er jchloß fein beherzigenswertes Programm,
das für alle Zeit die Grundlage der „Buchhändler-Akademie“ fein muß,
mit der Mahnung:
„Mein Bublitum, meine Abnehmer find die Standesfollegen; ihnen
. gilt meine ganze Anftrengung, ihnen widme ich mein Unternehmen und
meine Kräfte, mögen jie ihrerſeits e3 als eine Ehrenpflidht
betrahten, das Unternehmen zu ftügen und lebensfähig
zu erhalten.”
Und welchen Erfolg hatte diefer warme Appell an den Gejamtbuch-
handel deuticher Zunge? — Der Befiter einer der größten Sortiments-
buchhandlungen Berlins hatte nur ein fpöttiiches Lächeln, als er das
Rundſchreiben Weißbachs las, und verhöhnte den Lehrling, der als ein-
ziger von 12 Angeftellten der betreffenden Firma, auf die „Deutjche
Buchhändler-Akademie“ abonnierte! Dieſer thatjächlihe Vorgang war
leider ſymptomatiſch für die Aufnahme, die das Weißbach'ſche Unter-
6 Dem Andenfen Hermann Weißbachs.
nehmen im Buchhandel fand: die Herren Prinzipale verhielten fich in
ihrer Mehrheit ablehnend, im günftigften Falle gleichgültig; von den Ge-
bilfen fanden fi nur wenige, die es über fich gewannen, die 2 Pfennige
täglich zurüdzulegen, die zum Abonnement erforderlich waren, obſchon die
„Buchhändler-Alademie” einen guten Stamm von Mitarbeitern für fach-
wiſſenſchaftliche und litterariiche Artikel aufzuweilen hatte. Fürwahr,
ein bejchämendes Zeugnis für einen Beruf, der ſich ftets feiner idealen
Beltrebungen rühmt, für einen Beruf, deſſen Beſtimmung es ift, das
Bindeglied zwiichen der Gelehrten- und Schriftjtellerwelt und dem Publi—
fum zu bilden! Und doch thut ein Organ, wie die „Buchhändler-
Akademie” dem deutſchen Buchhandel not. Es ift für Prinzipale, für
Gehilfen und Lehrlinge geradezu ein Bedürfnis vorhanden für ein der—
artiges Unternehmen. Willen ift Macht, in jedem Berufe, und num erft
gar im Buchhandel mit feinen vorzugsweiſe geiftigen Interefjen!
In diefer Erkenntnis ftrebte Hermann Weißbach fort, unbekümmert
um den finanziellen Mißerfolg, unbefümmert um das überlegene Lächeln,
das man auf gewiller Geite für feine idealen Beſtrebungen übrig
hatte. Im den von ihm redigierten 6 Jahrgängen der „deutichen Buch—
händler-Alademie” hat er fih das jchönfte Denkmal errichtet. Sie find
eine unvergängliche Errungenjchaft, eine Fundgrube für jeden Buchhändler.
Sie bieten jedem Berufsgenofjen, gleichviel in welcher Stellung er ſich
befinden möge, eine Fülle der Anregung und Belehrung, und jeder Buch—
händler ift dem Mann zu dauerndem aufrichtigen Dank verpflichtet,
der die idealen Ziele jeines Berufs jo unentwegt im Auge hatte und
jelbjt vor den größten finanziellen Opfern nicht zurüdjchredte!
Die zweite groß angelegte Schöpfung, deren Vollendung der Ber-
ewigte leider nicht erleben jollte und die erit jebt durch den Unterzeich-
neten zu Ende geführt werden joll, ift die „Encyflopädie des ge-
jamten buchhändleriſchen Wiſſens“. Es erjchienen von derjelben
in den Jahren 1887—1888 fieben Lieferungen, dann mußte die Fort—
führung ausgejegt werden, weil der Abjak lange nicht den gehegten Er-
wartungen entſprach und weil die Fortjegung die finanzielle Leiltungs-
fähigkeit Weißbachs überftieg. Die „Encyflopädie” will ein Gejamtbild
des buchhändleriichen Wiſſens und Strebens in Theorie und Praxis geben;
fie ift ein groß angelegtes Wert, welches bisher fein Gegenjtüd in der
buchhändleriichen Litteratur hat, vor allem aber ift fie ein Beweis, wie
weit der Idealismus Weißbachs ging.
Die damals vorliegenden drei Bände der „Buchhändler-Akademie”
hatten dem Herausgeber große Opfer an Geld und Mühe gefojtet, denen
nur ein jehr geringer Erfolg gegenüberftand; und dennoch wagte fich der
treue Mann an die Ausführung diefes Foftipieligen Unternehmens, weil
Dem Andenfen Hermann Weißbachs. 7
er wußte, daß die „Encyklopädie des gefamten buchhändleriichen Wiſſens“
ein dringendes Bedürfniß für den deutichen Buchhandel war und weil
jein Optimismus es nicht glauben konnte, daß feine Berufsgenofjen in
Verkennung ihres ureigenften Interefjes ihren Blick hartnädig dem ver-
jchließen würden, was ihnen in diefem Werke geboten wurde.
Die weiteren litterarifchen Unternehmungen Weißbachs, welche der
Förderung buchhändleriſcher Berufsintereffen galten, fünnen hier nur in
Umrifjen angedeutet werden. Im erfter Linie ift der „deutiche Buchhändler-
Kalender“ zu nennen, der jeit 1880 alljährlich erſchien und bis auf den
heutigen Tag vielen Berufsgenoffen ein täglicher Begleiter und treuer
Berater it. AS ein ſehr praftiiches Hilfsmittel erwies fich die von
1883—86 in drei Auflagen erjchienene „Hilfstabelle des Sortimenters“,
ein nad) Materien geordnetes Verzeichnis der gangbarften Litteratur.
Die 4. Auflage diefes Werkes erichien 1889 als „Handfatalog des Sor-
timenters“ in erweiterter Form, ein Werk von eminent praftijcher Be—
deutung, wenngleich fich nicht leugnen läßt, daß diefe Auflage zum Teil
Unebenheiten enthält.
Bei der Heransgabe diefes Werkes, mit welchem die Bibliographie
in neue Bahnen geleitet wurde, ein Verdienſt, das Hermann Weißbach
ausſchließlich zuzuerfennen ift, mußte der Autor eine gehäjfige Konkurrenz
in ihrer ganzen Schärfe kennen lernen, die feinen ehrlichen, offenen Cha-
rafter aufs tiefite verlegte. — Ferner erjchienen in jeinem Verlage:
„Die Ausbildung des deutfhen Buchhandlungslehrlings”
(1885), „Verzeichnis deutjcher Konkurrenz-Verlags-Artikel“ von
Richard George (1889), „Rabatt-Berechner für Buchhändler”; von
periodiihen Veröffentlihungen: „Der antiquariihe Verkehr” (An-
zeigeblatt für Gejuch und Angebot), der „Litterarijche Merkur“ (1886
angefauft) und vorübergehend das „Bureaublatt für den deutjchen
Buchhandel“. eine „praftiihe Verſendungs- und Konti-
nmuationsliſte“ erjchien bis 1893 in 10 Auflagen.
Eine weitere Schöpfung Weißbachs war der „Allgemeine freie Ver—
leger-Berein”, den er 1875, ein Jahr nach feiner Ueberfiedelung von
Leipzig nad) Weimar (1. Januar 1873), gründete. Dem Bereine gehören
mehrere Hundert Mitglieder an; feine Beftrebungen find darauf gerichtet,
Ordnung und Pünktlichkeit im gejchäftlichen Verkehr herbeizuführen und
aufrecht zu erhalten, namentlich im Abjchließen der Conti und Zahlen
der Saldi. Die Leitung dieſer freien Vereinigung ohne Statuten lag
jeit der Gründung bderjelben in den Händen von Hermann Weißbach,
gewiß ein Beweis für die Achtung und das Vertrauen, welches er in den
weiteiten Kreiſen feiner Berufsgenoſſen hatte.
8 Dem Andenfen Hermann Weißbachs.
So war der wadere Mann nad den verjchiedeniten Richtungen für
die Intereſſen des deutjchen Buchhandels unermüdlich thätig, obgleid) der
finanzielle Erfolg nur wenigen feiner Unternehmungen bejchieden war,
als ihn der Tod ganz plößlid und unerwartet aus jeiner Arbeit her-
ausriß; am 30. Dezember 1889 verjchied er zu Weimar in Folge eines
Herzihlags im noch nicht vollendeten 45. Lebensjahre. Im Dezemberheft
1889 der „Buchhändler-Afademie” Hatte er noch feinen Abonnenten ein
legenbringendes neues Jahr gewünſcht. In den legten Monaten feines
Lebens Hatte er ſich noch mit großen Plänen und Gedanken getragen;
jo Hatte er durch ein groß angelegtes Kolportage-Unternehmen in den
weiteften Kreiſen des Volkes den Sinn für gute und bildende Litteratur
wachrufen wollen. Nun war dies alles und alles dahin, der umerbittliche
Tod Hatte ihn abgerufen mitten in der Sorge um feine Unternehmungen,
mitten in der Sorge für jeine Familie, die in ihn den liebenden Vater,
den treuen Sorger und Ernährer verlor. Mit der Familie trauerte jedoch
die große Zahl Derer, denen der Verewigte im Leben nahe getreten war;
denn Herrmann Weißbach war ein echter deuticher Mann, ein gediegener
Charakter, ein treuer Freund von jeltener Hilfsbereitichaft, die leider oft
genug gemißbraucht wurde.
Der deutiche Buchhandel verdankt dem raftlojen und unermüdlichen
Borwärtsftreben dieſes Mannes unendlich viel. Seine Lebensarbeit Hat
in mehr als einer Beziehung bahnbrechend und fruchtbringend gewirkt,
und wenn feine gejchäftliche Thätigkeit dennoch eine fortgejegte Kette
finanzielleer Mißerfolge war, jo ift die Erklärung dafür lediglich darin zu
finden, daß der größte Theil des Buchhandels eine ganz merkwürdige, ja
faft unglaubliche Verkennung der Zwede und Ziele zeigte, welche der
Herausgeber der „Buchhändler-Afademie” fich zur Lebensaufgabe gemacht
hatte. Die Verkennung des Unternehmens einerjeit3 und die damit ver-
bundene geringe Unterftügung des Buchhandels andererſeits haben das
Charakterbild Hermann Weißbachs in der Gefchichte des Buchhandels in
der Beurtheilung etwas fchwanfend gemacht; dem Manne iſt vielfach
eine jehr ungerechte und zugleich unberechtigte Beurtheilung widerfahren.
Durch diefe kurze Charakteriftit joll verjucht werden, das Bild des Ver—
ftorbenen richtig zu zeichnen und auch weiteren Kreiſen in zuverläjfiger
Weile zu überliefern,
Die von Hermann Weißbach gebrachten bedeutenden Opfer find aber
dennoch) nicht vergeblich gewejen: Seine Arbeiten haben den wadern Mann
überlebt; unter einer neuen Flagge werden fie dem Buchhandel erhalten
bleiben. In der Gejchichte des deutichen Buchhandels aber, der nicht nach
den Erfolgen und dem Gewinnft, jondern nach den Motiven und Ten-
denzen der Thätigfeit urtheilt, wird fein Name dereinſt neben den erften
Dem Andenfen Hermann Weißbachs. 9
Berufsgenofjen genannt werden! Und dies mit volljtem echt, denn
Hermanı Weißbach war jtet3 durchglüht von einem heiligen Feuereifer
für die idealen Interejjen jeines Berufes. Ihnen hat er mit ganzer Seele
gedient, ihnen hat er jeine beiten Mannesjahre und bedeutende Kapitalien
geopfert; darum Ehre jeinem Andenken!
Leipzig, Auguſt 1895. |
Karl Sr. Pfau.
oz
Rus Goethes Bugenözeit.*)
Briefe aus Frankfurt nad Leipzig.
(September 1768—Xpril 1770.) _
—
An Käthchen Schönkopf.
Frankfurt, September 1768.)
Mademoiſelle,
Hr. Goethe, dem bekanndt iſt, daß Scheere, Meſſer, und Pantoffeln,
diejenigen Mobielien ſind die am meiſten bey Ihnen auszuſtehen haben,
ſchicket Ihnen Hiermit, eine mittelmäfige Scheere, ein gutes Meſſer, und
Leder zu zwey Paar Bantoffeln. Sie find alle von gutem Stoffe, Dauer:
hafft, und mein Herr hat ihnen noch überdieß die möglichite Geduld an-
*) Anmerfung: Für den Buchhändler hat es einen befonderen Reiz, den
Pfaden nadhzufpüren, die der Altmeifter Goethe in der Buchhändlerſtadt Leipzig
einft als junger Student gewandelt ift. Die Goetheforihung fommt diejen Nei:
gungen auf das Bereitwilligfte entgegen; fie ift im Laufe der Zeit eine voll:
wichtige Spezialwiſſenſchaft geworden, die noch fortwährend Neues zu Tage fördert,
jeien es auch nur feine, alltägliche Einzelheiten, die gerade bei einem Geiftes-
heros, wie Goethe, des intimen Reizes nicht entbehren. Eine der neueften Erichei:
nungen der Goethelitteratur iſt die jeßt bei Karl Fr. Pfau in Leipzig heraus:
fommende Sammlung: Goethes Briefe. Mit Einleitungen und er:
Flärenden Anmerfungen beraudgegeben von Adolf Voigt. Die Ver—
lagsbuchhandlung hat uns den Abdrud eines fpeziell unfere Leſer intereffirenden
Abichnittes gütigft zugeftanden, nämlich die Briefe des Altmeifterd an Käthchen
(Annette) Schönfopf. Es war dies befanntlih die Tochter eines nad) Leipzig
übergefiedelten Frankfurter Gaftwirted, die im Nu das Herz des leicht entzünd—
lichen Studenten, der durch Schloſſer ihrem Vater als Gaft zugeführt worden
war, in Flammen geſetzt hatte. Das erfolgreiche Werben hatte aber den Glück—
verwöhnten, den Frauenberzen gegenüber jo Siegreichen, übermütig gemadt. Gr
begann, das anmutige Mädchen, das ihm ehrlich und aufrichtig ergeben war, zu
auälen und dem liebenden Tyrannen zu jpielen; und eines Tages erfolgte der
Bruch: Käthchens Herz war ihm endgiltig verloren, und er errang fich lediglich
das Recht freundichaftliher Beziehungen wieder. Diefer Lebens: und Xiebeser-
fahrung entfprang dann das Meine Schäferfpiel: „Die Laune des Verliebten” —
die einzige Arbeit, außer den „Mitfchuldigen”, die Goethe abgkſchloſſen von Leip-
jig mit hinwegnahm.
Aus Goethes Augendzeit. 11
befohlen, doc) aber glaubt ich nicht daß Klingen und Leder folange bey
Ihnen aushalten werden als er. Nehmen Sie mir’s nicht übel, ich ſage
wie ich’8 denke, drittehalbjahre das können Sie weder von einem Ban-
toffel noch von einem Mefier, noch von — das laſſ ich dahin geftellt
ſeyn — verlangen, denn graufam gehen Sie mit allem um was ſich unter
Ihre Herrichafft begiebt oder begeben muß. Zerreiſen und zerbrechen
fie alles, bis Dftern, da jteht Ihnen neue Waare zu dienten, und er-
innern Eie Sich manchmal, bey dieſen Kleinigkeiten, daß mein Herr noch
bejtändig wie jonjt Ihnen ergeben ift. Selbſt hat er nicht an Sie jchrei-
ben wollen, um jein Gelübde, nie vor dem erften eines Monats Ihnen
einen Brief zu ſchicken, nicht zu brechen. Mittlerweile, das iſt zwijchen
heut und dem erften October, empfielt er fich durch mich ganz ergebenft,
und ich nehme dieje Gelegenheit, mich Ihnen gleichfall3 zu empfelen.
Michel, ſonſt Herzog genannt,
nach Berluft feines Herzogtums
aber wohlbejtallter Pachter auf
des gnädigen Herren hochadeli-
hen Rittergütern.
An Käthchen Schönkopf.
Frankfurt am 1. Nov. 68.
Meine geliebteſte Freundin,
Noch immer ſo munter, noch immer ſo boshafft. So geſchickt das
gute von einer falſchen Seite zu zeigen, ſo unbarmhertzig einen Leidenden
auszulachen, einen Klagenden zu verſpotten, alle dieſe liebenswürdigen
Grauſamkeiten, enthält Ihr Brief; und konnte die Landésmännin der
Minna anders fchreiben.
Ich dande Ihnen für eine jo unerwartet jchnelle Antwort, und bitte
"Sie aud insfünftige, in angenehmen munteren Stunden an mich zu
denden, und wenn es jeyn fann an mich zu fchreiben; Ihre Lebhafftig-
keit, Ihre Munterkeit, Ihren Wit zu ſehen, ift mir eine der gröfiten
Freuden, er mag fo leichtfertig, fo bitter ſeyn als er will.
Was ich für eine Figur gefpielt habe, das weiff ich am beften, und
was meine Briefe für eine jpielen, das kann ich mir vorftellen. Wenn
man ſich erinnert, wie's andern gegangen ift, jo fann man ohne Wahr:
ſager Geift rahten, wie’3 Einem gehn wird; Ich binn’s zufrieden, es ift
das gewöhnliche Schikjaal der Verftorbenen, daß Überbliebene und Nach—
fommende auf ihrem Grabe tanzen.
Was macht denn unfer Principal, unſer Divedteur, unfer Hofineifter,
unfer Freund Schoenfopf?
Gedendt er noch manchmal an feinen erſten Ackteur, der doch Dieje
12 Aus Goethe's Jugendzeit.
Zeit her, in allen Luſt und Trauerſpielen, die ſchweeren und beſchweer—
lichen Rollen eines Verliebten und Betrübten, ſo gut, und ſo natürlich
als möglich, vorgeſtellt hat. Hat ſich noch niemand gefunden, der meine
Stelle wieder begleiten mögte, ganz mögte ſie wohl nicht wieder beſetzt
werden; zum Herzog Michel finden Sie eher zehn Ackteurs, als zum Don
Saſſafras einen einzigen. Verſtehen Sie mich?
Unſre gute Mama hat mich an Starckens Handbuch erinnern laſſen,
ich werde es nicht vergeſſen. Sie haben mich an Gleimen erinnern
laſſen; ich werde nichts vergeſſen. Ich dencke in Abweſenheit ſo gut als
gegenwärtig, dem Verlangen derer die ich liebe genüge zu tuhn. Ihre
Bibliotheck fällt mir ſehr offt ein, ehſtens ſoll ſie vermehrt werden, ver—
laſſen Sie Sich drauf. Halte ich gleich nicht immer was ich verſpreche,
ſo tue ich doch offt mehr als ich verſpreche.
Sie haben Recht, meine Freundinn, daſſ ich jetzt für das geſtraft
werde, was ich gegen Leipzig geſündigt habe, mein hieſiger Aufenthalt,
iſt ſo unangenehm, als mein Leipziger angenehm hätte ſeyn können, wenn
gewiſſen Leuten gelegen geweſen wäre, mir ihn angenehm zu machen.
Wenn Sie mich ſchelten wollen, ſo müſſen Sie billig ſeyn, Sie wiſſen
was mich unzufrieden, launiſch, und verdrüſſlich machte, das Dach war
gut, aber die Betten hätten beſſer ſeyn können, ſagt Franziska.
Apropos was macht unſre Franziska, verträgt ſie ſich bald mit
Juſten? Ich dencke's. So lange der Wachtmeiſter noch da war, nun da
dachte ſie an ihr Verſprechen, jetzt da er nach Perſien iſt, eh nun, aus
den Augen aus dem Sinn, da nimmt ſie lieber einen Diener, den ſie
ſonſt nicht mochte, als gar keinen. Grüſſen Sie mir das gute Mädgen.
Sie formaliſiren Sich über das ganz beſondere Compliment an Ihre
Nachbarinn. Was für Sie übrig bleibt? Was das für eine Frage iſt.
Sie haben meine ganze Liebe, meine ganze Freundſchafft, und das aller-
bejonderfte Compliment, ift doch noch lange nicht der taufendite Teil
davon, das willen Sie auch, ob Sie gleich zur Plage, oder Unterhaltung,
Ihres Freundes |: denn beydes heißt bey Ihnen einerley :) tuhn als ob
Sie es nicht wüfjten, wie Sie e8 in mehr Stellen Ihres Briefes getahn
haben, 3. E. in der Stelle vom Abſchied pp. das ich übergehe.
Zeigen Sie diefen Brief, und wenn ich bitten darf alle meine Briefe,
Ihren Eltern, und wenn Sie wollen, Ihren beiten Freunden, aber
niemand weiter; Ich jchreibe, wie ich geredet habe, aufrichtig, und dabey
wünjchte ich, daſſ es niemand, wer es faljch auslegen fünnte zu jehen
friegte. Ich bin wie immer, unaufhörlich ganz der Ihrige
IWGoethe.
Aus Goethe's Augendzeit, 13
An Käthchen Schönkopf.
Franckf. am 30. Dec. 68.
Meine bejte, ängjtliche
Freundinn
Sie werden ohne Zweifel zum neuen Jahre, durch Hornen die Nach—
richt von meiner Geneſung erhalten haben; und ich eile es zu beſtättigen.
Ja meine Liebe, es iſt wieder vorbey, und inskünftige müſſen Sie Sich
beruhigen wenn es ja heiſſen ſollte: Er liegt wieder! Sie wiſſen meine
Conſtitution macht manchmal einen Fehltritt, und in acht Tagen hat ſie
ſich wieder zurechte geholfen; diesmal war's arg, und ſah noch ärger
aus als es war, und war mit ſchrecklichen Schmerzen verbunden. Un—
glüd ift auch gut. Ich Habe viel in der Krandheit gelernt, das ich nir-
gend3 in meinem Leben hätte lernen können. Es ift vorbey, und ich biu
wieder ganz munter, ob ich gleich drey volle Wochen nicht aus der Stube
gefommen binn, und mich faft niemand bejucht, als mein Dodtor, der,
Gott ſey dand, ein liebenswürdiger Mann ift. Ein närriſch Ding um
ung Menjchen, wie ich in muntrer Geſellſchafft war, war ich verdrüfjlid),
jegt bin ich von aller Welt verlaffen, und binn Iuftig; denn jelbjt meine
Krandheit über, hat meine Munterfeit meine Famielie getröftet, die gar
nicht in einem Zuftande, fi), gejchweige mich zu tröften. Das Neujahrs-
lied, das fie auch werden empfangen haben, habe ich in einem Anfall
von grojer Narrheit gemacht, und zum Beitvertreibe druden laſſen. Uebri—
gens zeichne ich ſehr viel, fchreibe Mährgen, und binn mit mir jelbjt zu:
frieden. Gott gebe mir das neue Jahr was mir gut ift, das geb er uns
allen, und wenn wir nichts mehr bitten als das; fo fünnen wir gewiß
hoffen dafj er's uns giebt. Wenn ih nur biff in Apprill fomme, ic)
will mich gern hinein ſchicken laſſen. Da wird's befjer werden hoffe id),
bejonders fann meine Gejundheit täglich zu nehmen, weil man nun eigent-
lich weifj was mir fehlt. Meine Lunge ift jo gejund als möglich, aber
am Magen ſitzt was. Und im Vertrauen man hat mir zu einer ange-
nehmen vergnüglichen Lebensart Hoffnung gemacht, jo dajj meine Seele
jehr munter und ruhig ift. Sobald ich wieder beffer binn, werde ich
ausgehen in fremde Lande, und es foll nur auf Sie und noch jemand
anfommen, wie bald ich Leipzig wiederjehen joll; Inzwiſchen dende ich
nach Franckreich zu gehen, und zu jehen wie fich das franzöfiiche Leben
lebt, und um franzöfch zu lernen. Da können Sie Sich vorftellen was
ich ein artiger Menſch jeyn werde, wenn ich wieder zu Ihnen komme.
Manchmal fällt mir’s ein, daſſ es doch ein närrjcher Streich wäre, wenn
ih trug meiner jchönen Projeckten vor Oftern ftürbe. da verordnete ich
mir einen Grabftein, auf dem Leipziger Kirchhof, daſſ ihr doch wenigſtens
14 Aus Goethe's AJugendzeit.
alle Fahr am Johannes, als meinem Nahmens Tag, das Johannis
männgen, und mein Denfnal befuchen möge. Wie meynen Sie?
Empfelen Sie mich Ihren Eltern zu beitändiger Freundichafft ;
Küffen Sie Ihre liebe Freundinn, und danden Sie ihr für den Anteil
den Sie an mir nimmt; ich werde bald an fie jchreiben
Ihre Nachbarinn bedaur’ ich; jollte das nicht den gröſten Strid in
die Rechnung, des verliebten Paars machen? Die armen Leute! Sie find
in groffer Noth, und unfer Herr Gott mag ihnen Helfen oder nicht, jo
werden ſie's ihm nicht danden, das werden Sie erleben, und darıad)
jagen Sie: hat's Goethe nicht gelagt. Es ift gar zu ein gros Ding um
den Ehſtand Heut zu Tage, und fein’s von beyden, wenigitens gewiſſ,
Eins von beyden, hat nicht für einen Sechjer Ueberlegung. Heiliger
Andreas, fomm, und tuh ein Wunder, oder e8 giebt eine Sau. NB. daſſ
niemand den Articel fieht al wen er nüß iſt. Leben Sie wohl meine
Liebe, ich binn, kranck wie Gejund ganz der Ihrige
Goethe.
Frandfurt am 31. San. 1769.
Heute oder Morgen, es ijt einerley wann ich fchreibe, wenn Sie
nur erfahren wie's mit mir ift. Es muff beſſer in Leipzig jeyn als hier.
Es jchreibt weder Horn noch Sie, noch ein andrer; vielleicht habt ihr
Bälle und Faſſnachts Schmäuffe, zu der Zeit da ich im Elend fike.
Traurig Carnaval. Seit vierzehn Tagen, fig ich wieder feit. Im An—
fange diejes Jahres, war ic) auf Barole losgelaffen, das bifjgen Freyheit
ift auch wieder aus, und ich werde wohl noch ein Stüdgen Februar im
Käfigt zubringen. Denn Gott weis wenn’s alle wird, ich binn aber ganz
ruhig darüber, und ich Hoffe, Sie werden es auch jeyn. Den dritten
März binn ich jchon ein Halbjahr hier, und auch ſchon ein Halbjahr
frand; ich habe an dem Halbenjahr viel gelernt. Ich dende Horn full
die Zeit über auch mehr gelernt haben, wir werben einander nicht mehr
fennen, wenn wir einander twiederjehen. Gewiß Horn hat nicht halb fo
viel Luſt mich zu jehen als ich ihn. Der gute Menſch joll aus Leipzig,
und hat fein Blut gejpien. Das mag ſchwer jeyn. Sie find Jo luftig,
jagte ein ſächſiſcher Officter zu mir, mit dem ich den 28. Aug. in Naum—
burg zu Nacht aſſ, jo Iuftig und haben heute Leipzig verlaſſen. Ich
jagte ihm, unjer Herz wiſſe offt nichts von der Munterfeit unſers Bluts.
Sie jcheinen unpäſſlich, fing er nad) einer Weile an. Ich binn’s würk—
lich, verjegt ich ihm, und ſehr, ich habe Blut gejpien. Blut geſpien, rief
er, ia, da ift mir alles deutlich, da haben fie fchon einen grofen Schritt
aus der Welt getahn, und Leipzig mufjte ihnen gleichgültig werden, weil
fie es nicht mehr geniefjen konnten. Getroffen, jagt ich, die Furcht vor
Aus Goethe's Jugendzeit. 15
dem Verluſt des Lebens, hat allen andern Schmerz erſtickt. Ganz natür—
lich, fiel er mir ein, denn das Leben bleibt immer das erſte, ohne Leben
iſt kein genuſſ. Aber fuhr er fort, hat man ihnen nicht auch den Aus—
gang leicht gemacht. Gemacht? fragt' ich, wie ſo. Das iſt ja deutlich,
ſagte er, von Seiten der Frauenzimmer; Sie haben die Mine, nicht un—
bekanndt unter dem ſchönen Geſchlecht zu ſeyn. — Ich bückte mich für's
Compliment. — Ich rede wie ich's meyne, fuhr er fort, ſie ſcheinen mir
ein Mann von Verdienſten, aber ſie ſind kranck, und da wette ich zehen
gegen nichts, kein Mädgen hat ſie beym Ermel gehalten. Ich ſchwieg,
und er lachte. Nun ſagte er und reichte mir die Hand übern Tiſch, ich
babe zehen Thaler an fie verlohren, wenn fie auf ihr Gewiſſen ſagen:
E3 hat mich eine gehalten! Top jagt ih Hr. Captain und jchlug ihm
in die Hand, Sie behalten ihre Zehen Thaler. Sie find ein Kenner,
und werfen ihr Geld nicht weg. Bravo, jagt er, dann ſeh ich daſſ fie
auch Kenner find. Gott bewahre fie darinn, und wenn fie wieder gejund
werden, jo werben fie Nußen von diefer Erfahrung haben. Ich — und
nun ging die Erzählung, feiner Geſchichte los die ich verjchweige, ich ſaſſ
und hörte mit Betrübniff zu, und jagte am Ende, ich jey confundirt, und
meine Geſchichte und die Geichichte meines Freunds Don Saſſafras, hat
mich immer mehr von der Philojophie des Hauptmang überzeugt.
Unglüdliher Horn! Er hat ſich immer jo viel auf feine Waden ein-
gebildet, jet werden fie ihm zum Unglück gereihen. Laſſt ihn nur leben-
dig weg. Satt jehen könnt ihr euch noch an ihm, denn er ijt der lebte
Frauckfurter in Leipzig, der gerechnet wird, und wenn der fort, da könnt
ihr warten bifj ihr wieder einen zu ſehen kriegt. Doc tröftet euch, ic)
tomme bald wieder.
Du lieber Gott, jetzt binn ich wieder luftig, mitten in den Schmer-
zen. Wenn ich auch nicht jo munter wäre wie wollt ich's aushalten?
faft zwey Monat, an einem fort ganz eingejperrt.
Leben Sie wohl beite Freundinn, grüffen Sie Ihre Eltern, und
ihre Freundinn, nnd wenn Sie einmal fchreiben, jo berichten Sie mir
wie die Glieder der ehemahligen Sonntägigen Gejellihafft jetzt unter
einander ftehen. Lieben Sie mid)
frand oder gejund
bifj an den Todt
Ihr Freund Goethe.
Franckf. am 1ften Juni, 1769.
Meine Freundinn,
Aus Ihrem Brief an Hornen habe ic) Ihr Glück, und Ihre Freude
gejehen, was ich dabey fühle, was ich für eine Freude darüber habe, das
16 Aus Goethes Jugendzeit.
fünnen Sie Eich voritellen, wenn Sie Sich noch vorftellen können wie
jehr ich Sie liebe. Grüfjen Sie Ihren lieben Doctor, und empfelen Sie
mich Seiner Freundihafftl. Warum ich jo lange nicht gejchrieben habe,
das könnte wohl ftrafbar jeyn wenn Sie meine Briefe mit Ungebult er-
wartet hätten; das wuſſte ich aber, und drum jchrieb ich nicht, e8 war
bifiger eine Zeit für Sie, da ein Brief von mir jowenig Ihrer Aufmerd-
jamfeit wert) war als die Erlanger Zeitung, und alles zujammengenom-
men jo binn ich doch nur ein abgejtandner Fiſch, und ich wollte ſchwören
— Dodh ih will nicht ſchwören, Sie möchten glauben es wäre mein
Ernſt nit. Horn*) fängt an fich zu erholen, wie er aukam, war gar
nichts mit ihm zu thun. Er tft jo zärtlich, jo empfindjam für feine ab-
wejende Ariane, dajj es komiſch wird. Er glaubt im Ernfte was Ihr
Brief ihm verfichert daſſ Conjtantie bleich für Kummer geworden wäre.
Wenns auf’3 bleich werden ankommt, jo jollte man denden er liebte nicht
jtard denn er hat röthere Baden als iemals. Wenn ich ihm verfichre:
Fieckgen würde fi an ihrer Freundinn Erempel jpieglen, und nad) und
nach einjehen lernen pp, jo flucht er mir den Hals voll; und jchidt mid)
mit meinen Eremplen zum Teufel; er jchwört dafj die Buchſtaben der
Zärtlichkeit die feine mächtige Liebe in ihr Herz geichrieben unauslöſchlich
jeyn. Der gute Menſch bedendt nicht daſſ Mädgen Herzen nicht Marmor
jind, und daß fie aud) nicht Marmor jeyn dürffen. Das liebenswürdigite
Herz ift das welches am Tleichtiten liebt, aber das am leichtiten liebt ver-
gifit auch am leichtſten. Doc) er denkt daran nicht, und hat recht, es ist
eine gräfjlihe Empfindung jeine Liebe fterben zu jehen. Ein unerhörter
Liebhaber ift lange nicht jo unglüdlich als ein verlafjener, der erjte Hat
noch Hoffnung, und fürchtet wenigstens feinen Haſſ, der andre, ja der
andre — wer einmal gefühlt Hat was das iſt aus einem Herzen ver:
jtofjen zu werden das jein war, der mag nicht gerne daran denden ge=
ſchweige davon reden.
Conſtantine ift ein gutes Mädgen, ich wünſch ihr einen Tröſter;
feinen von den leidigen, die jagen: Ja, es ift nun einmal fo, man muſſ
ſich zufrieden geben; jondern jo einen Xröfter, der einem durch die Sadıe
tröftet, indem er einem alles wieder erjeßt was man verlohren hat. O
jie wird nicht lange eines mangeln. Geben jie drauf acht liebe Freun—
*) Aus dem erjten Briefe Horn’s, der anfangs April wieder nach Frankfurt
fam, an Kätchen Schönfopf: Goethe läht Sie grüßen, Mamſel! Er fieht immer
noch ungejund aus und iſt jehr ftipide geworden. Die Reichslufft hat ihn ſchon
recht angeſteckt. Jh muß machen, daß ich wieder wegfomme, ſonſt geht es mir
ebenfo und ich bin doch nody zu jung um ftiptde zu werden. Die Zeit wird mir
aber entjeglich lang, ob ich gleich jelten allein bin. Goethe fpricht, ich jollte mich
hängen, aber bier mag ich nicht; wenn ich flug geweſen wäre, jo hätte ich mich
in Leipzig hängen jollen,
Aus Goethe's Jugendzeit. 17
dinn, wenn Sie jemanden jehen ber fie jo führt, und mit ihr ſpazieren
geht, und — nun das willen Sie ja was alles dazugehört, woran man
merdt, dafj es nicht iuft ift; jo jchreiben Sie mir's, Sie fünnen Sich
leicht vorjtellen, warum e3 mich freuen wird.
Meine Lieder find immer noch nicht gedruckt, ich wollte Ihnen gerne
wenn fie fertig wären, ein Exemplar davon ſchicken; aber ich habe nur
niemanden in Leipzig dem ich es auftragen könnte Wenden Sie die
Paar Groſchen die fie foften werden an mich, und lafjen Sie manchmal
Petern eins jpielen, wenn Sie an mich denden wollen. Wie ich die
Lieder machte, da war ich ein andrer Kerl als ich ießt binn. Das arme
Füchslein! Wenn Sie jehen jollten, was ich den ganzen Tag treibe, es
ift ordentlich lächerlich.
Das Schreiben wird mir ſauer, bejonders an Sie. Wenn Sie es
nicht aparte befehlen jo friegen Eie feinen Brief wieder vor dem Dctober.
Denn meine liebe Freundinn ob Sie mich gleich Ihren lieben Freund
und mandmal Ihren beften Freund nennen, jo ift doch um den beiten
Freund immer ein langweilig Ding. Kein Menſch mag eingemachte
Bohnen ſolang man friihe haben kann. Friihe Hechte find immer die
beiten, aber wenn man fürchtet dafj fie gar verderben mögen, fo falzt
man fie ein, bejonder8 wenn man fie verführen will. Es muſſ Ihnen
doch komiſch vorfommen wenn Sie an all die Liebhaber denden, die fie
mit Freundſchaft eingejalzen haben, groje und Fleine, frumme und grade,”
ih muß ſelbſt lachen wenn ich dran dende. Doc Sie müſſen die Cor-
reſpondenz mit mir nicht ganz abbrechen, für einen Böcling binn ich doch
immer noch artig genug.
Apropos dafj ich's nicht vergefje, da jchide ih Ihnen was, machen
Sie mit was Sie wollen, entweder für Ste auf den Kopf, oder für
jemand anders um die Hände. Das Halstuch und der Fächer find noch
nicht um einen Fingerbreit weiter. Eehen Eie, ich binn aufrichtig, wenn
ich was mahlen will jo bleibt mir's im Halſe fteden. Nur in Frühlings-
tagen jchneiden Schäfer in die Bäume, nur in der Blumenzeit bindet
man Kränze, verzeihen Sie mir, die Erinnerung ift mir zu traurig, wenn
ih) das für Sie thun joll was ich gethan habe, ohme mehr zu jein als
ic binn. |
Ich habe Ihnen immer gefagt daſſ mein Schiejaal von dem Ihrigen
abhängt. Sie werden vielleicht bald jehn wie wahr ich geredet habe,
vielleicht hören Sie bald eine Nachricht die Ste nicht vermuthen. Grüßen
Sie Ihre lieben Eltern, und wer zu Ihrer Familie gehört. Empfelen
Sie mich dem Obereinnehmer. Ich binn jo viel als möglich
Ihr ergebeniter Freund
G.
2
*
18 Aus Goethe’ Jugendzeit.
Un Käthchen Schönfopf.
Franckfurt am 12 Dec. 1769.
Meine liebe, meine theure Freundinn,
Ein Traum hat mich diefe Nacht erinnert, daß ich Ihnen eine Ant-
wort jhuldig binn. Nicht als wenn ich es jo ganz vergejjen hätte, nicht,
als wenn ich nie an Sie dächte, nein meine Freundinn, ieder Tag jagt
mir was von Ihnen und von meinen Schulden. Aber es ijt ſeltſam,
und es ijt eine Empfindung die Sie vielleiht auc kennen werden, die
Erinnerung an Abwejende, wird durch die Zeit, nicht ausgelöſcht, aber
doch verdedt. Die Zerjtreuungen unſers Lebens, die Bekanntſchafft mit
neuen Gegenitänden, Furz jede Veränderung unſers Zuftandes, thun un—
jerm Herzen das was Staub und Rauch einem Gemählde thun, fie machen
die feinen Züge ganz unkenntlich, daſſ man nicht weiſſ wie es zu geht.
Tauſend Dinge erinnern mich an Sie, ich jehe taujendmal Ihr Bild, aber
jo ſchwach, und offt mit jo wenig Empfindung, als wenn ich an jemand
fremdes gebächte, es fällt mir oft ein, daſſ ich Ihnen eine Antwort
Ihuldig binn, ohne daſſ ich den geringiten Zug empfinde Ihnen zu
Ichreiben. Wenn ih nun Ihren gütigen Brief leſe, der jchon etliche
Monate alt ift, und Ihre Freundichafft jehe, und Ihre Sorge für einen
Unwürdigen da erfchröde ich vor mir felbft, und empfinde erft, was für
eine traurige Veränderung in meinem Herzen vorgegangen ſeyn muſſ,
daſſ ih ohne Freude dabey jeyn kann, was mich ſonſt in den Himmel
gehoben haben würde. Verzeihen Sie mir das! Kann man einem Un—
glüdlichen verdenden daſſ er fich nicht freun Ffaun? Mein Elend hat
mic) auch gegen das Gute ftumpf gemacht, was mir noc) übrig bleibt.
Mein Körper ift wieder hergeitellt, aber meine Seele ift noch nicht geheilt,
ih binn in einer ftillen unthätigen Ruhe, aber das heiſſt nicht glücklich
jeyn. Und in diefer Gelafjenheit, ift meine Einbildungsfrafft jo ftille,
daſſ ih mir auch Feine Voritellung von dem machen fann was mir ſonſt
das liebjte war. Nur im Traum erjcheint mir manchmal mein Herz wie
es ift, nur ein Traum vermag mir die ſüſſen Bilder zurüdzurufen, jo
zurüdzurufen dajj meine Empfindung lebendig wird, ih habe es Ihnen
ihon gejagt, diefen Brief find Sie einem Traum ſchuldig. Sch habe
Sie gejehen, ich war bey Ihnen, wie e8 war, das iſt zu jonderbaar als
daſſ ich e3 Ihnen erzählen möchte. Alles mit einem Wort, Sie waren
verheurahtet. Sollte das wahr jeyn? Ih nahm Ihren lieben Brief
und es ftimmt mit der Zeit überein; wenn es wahr ift, o jo möge das
der Anfang Ihres Glüdes jeyn.
Wenn ich uneigennüßig darüber dende, wie freut das mid, Sie,
Aus Goethe's Jugendzeit. 19
meine beſte Freundinn, Sie, noch vor jeder Andern, die Sie beneidete,
die Sich mehr dünckte als Sie, in den Armen eines liebenswürdigen
Gatten zu wiſſen, Sie vergnügt zu wiſſen, und befreyt von jeder Unbe—
quemlichkeit, der ein lediger Stand, und beſonders Ihr lediger Stand
ausgeſetzt war. Ich dancke meinem Traum daſſ er mir Ihr Glück recht
lebhafft gejchildert hat, und das Glüd Ihres Gatten, und jeine Belohnung
dafür daſſ er Sie glüdlich gemadt hat. Erhalten Sie mir feine Freund-
Ihafft, dadurch dafj Sie meine Freundinn bleiben, denn auch biſſ auf
die Freunde müfjen Sie jegt alles gemein haben. Wenn ich meinem
Traum glauben darf, fo jehen wir einander wieder, aber ich Hoffe noch
jobald nicht, und was an mir liegt will ich feine Erfüllung Hinauszufchieben
fuhen. Wenn anders ein Menſch etwas wider das Scidjaal unter-
nehmen fanı. Ehmals fchrieb ich Ihnen etwas räthfelhafft, von dem
was mit mir werden würde. iebt läßt ſich's deutlicher jagen, ich werde
den Ort meines Aufenthalts verändern, und weiter von Ihnen wegrüden.
Nichts foll mich mehr an Leipzig erinnern, als ein ungeftümmer Traum,
fein Freund der daher fümmt, kein Brief. Und doch merde ich, daß mid)
es nichts Helfen wird: Geduld, Zeit und Entfernung, werden das thun
was ſonſt nichts zu thun vermag, fie werden ieden unangenehmen Ein-
drud auslöſchen, und unſerer SFreundichafft, mit dem Vergnügen, das
Leben wiedergeben, daſſ wir uns nach einer Reihe von Jahren, mit ganz
andern Augen, aber mit eben dem Herzen wiederjehen werden. Bis da-
bin leben Sie wohl. Doch nicht ganz bifj dahin. Binnen Einem viertel
Jahre, jollen Eie nod) einen Brief von mir haben, der Ihnen den Ort
meiner Beitimmung, die Zeit meiner Abreife melden wird, und Ihnen
das zum Ueberfluff noch einmal jagen fann was ich Ihnen jchon taujend-
mal gejagt Habe. Ich bitte Cie mir nicht mehr zu antworten, laflen Eie
mir's durch meinen Freund jagen, wenn Sie noch was an mid) Haben
jollten. Es ift das eine traurige Bitte, meine befte, meine Einzige von
Ihrem ganzen Gefchlechte, die ich nicht Freundinn nennen mag, denn das
ift ein nicht bedeudtender Tittul gegen das was id) fühle. Ich mag Ihre
Hand nicht mehr jehen, jo wenig als ich Ihre Stimme hören mögte, es
ift mir leid genug daſſ meine Träume jo gefchäfftig find. Sie jollen nod)
Einen Brief haben; das will ich Heilig halten, und von meinen Schulden
will ic) einen Theil abtragen, den andern müſſen Sie mir noch nach—
ſehen. Denden Sie, wir fämen ja aus aller Konnerion wenn ich biejen
legten Bundt noch richtig machte. Das grofje Bud das Sie verlangen
jollen Sie haben. Es freut mich daſſ Sie dieſes von mir verlangt
haben, es ift das herrlichfte Gejchend das ich Ihnen geben könnte, ein
Geſchenck das mein Andenden am längjten am würdigſten bey Ihnen
erhalten wird. Sein Hochzeitgedicht kann ich Ihnen ſchicken, ich habe
2*
2% Aus Goethe's Augendzeit.
etliche für Sie gemacht, aber entweder, drudten Sie meine Empfindungen
zu viel oder zu wenig aus. Und wie fonnten Sie von mir zu einem
freudigen SFefte ein würdiges Lied begehren. Seit — ta feit langer Zeit,
find meine Lieder jo verbrüfflich, jo übel geitellt al3 mein Kopf, wie Sie
an den meiſten jehen fünnen, die jchon gedrudt find, und an den übrigen
auch jehen werben, wenn jie gedrudt. werden jollten.
Hagedornen und einige andere Bücher werde ich Ihnen ehiteng
ſchicken, möchten Sie ein Gefallen an dieſem liebenswürdigen Dichter
finden wie er es verdient. Uebrigens empfelen Sie mich Ihrer lieben
Mutter, dem nunmehr nicht mehr fleinen Bruder, der ohnezweifel ein
ftarder Mufidus geworden jeyn wird. Grüßen Sie mir alle lieben
Freunde, und erneuern Sie mein Andenden, einigermaffen um Sich her.
Leben Sie wohl, geliebtejte Freundinn, nehmen Sie dieſen Brief,
mit Liebe und Gütigfeit auf, mein Herz muſſte doch noch einmal reden,
zu einer Zeit, wo ich nur durch einen Traum von der Begebenheit be—
nachrichtigt war, die mir es hätte verbieten fünnen. Leben Sie taufend-
mal wohl, und denfen Sie manchmal an die zärtlichjte Ergebendeit
Shres
Goethe.
Srandf. d. 23. Jan. 1770,
Meine liebe Freundinn,
MWahrhafftig e8 war mein ganzer Ernft da ich meinen letzten Brief
ichriebe, feine Feder wieder anzufeßen, Ihnen zu jchreiben; Aber, es war
ſonſt auch offt mein ganzer Ernft, etwas nicht zu thun, und Käthgen
konnte mich es thun machen wie es ihr beliebte, und wenn die Frau
Dodtorin eben die Gabe behält, nad) ihrem Köpfgen die Leute zu gou—
verniren, jo werd ich auch wohl an Mad. Kanne jchreiben müſſen, und
wenn ich e8 aud) taujendmal mehr verichivoren hatte, als ich es gethan
habe. Wenn ich mich recht erinnere jo war mein lebter Brief einiger-
mafjen in einer traurigen Geftalt, diefer geht jchon wieder aus einem
noch munterern Tone, weil Sie mir bil) auf Oſtern Aufichub gegeben
haben. Ich wollte Sie wären fopulivt und Gott weil] was noch mehr.
Uber im Grunde jchiert mich's doch, das fünnen Sie fi) vorftellen.
Sch weifj nicht ob Eie die Bücher von mir befommen haben. Es
war nicht zeit fie einbinden zu laffen. Und das Heine franzöfiiche lafjen
Sie fi) refommandirt ſeyn. Sie haben eine Ueberjeßung davon, nnd
ih weil) doch daſſ Sie ein bifigen Franzöſch lernen.
Aus Goethes Jugendzeit. 21
Daſſ ich ruhig Tebe,: das ift alles was ich Ihnen von mir jagen
kann, und frisch und geſund, und fleifig, denn ich habe fein Mädgen im
Kopfe. Horn und ic find noch immer gute Freunde, aber wie e3 in der
Welt geht, er Hat feine Gedanden, und feine Gänge, und ich habe meine
Gedanden und meine Gänge, und da vergeht eine Tode und wir jehen
ung faum einmal,
Aber alles wohl betrachtet, Frandfurt binn ich nun endlich fatt, und
zu Ende des Merzens geh ich von Hier weg. Zu Ihnen darf ich nun
doch nicht kommen das merd ich; denn wenn ich Dftern käme jo wären
Sie vielleicht noch nicht verheurahte. Und Käthgen Schönfopf mag id)
nicht mehr jehen; wenn ich fie nicht anders jehen fol, ald jo. Zu Ende
Merzens geh ich alfo nach Strasburg, wenn Ihnen daran was gelegen
ift, wie ich glaube. Wollen Sie mir aud) nad) Strasburg jchreiben ?
Sie werden mir eben feinen Poſſen thun. Denn Käthgen Schönfopf —
nun ich weifj ia am beiten, dafj ein Brief von Ihnen mir jo lieb ift
als jonjt eine Hand.
Sie find ewig das liebenswürdige Mädgen, und, werden aud) die
Liebenswürdige Frau jeyn. Und ich, ich werde Goethe bleiben. Sie
willen was das heiſſt. Wenn ich meinen Nahmen nenne, nenne ich mich
ganz, und Sie willen, daſſ ich, jo lang als ich Sie fenne, nur als ein
Theil von ihnen gelebt habe.
Eh ih von hier weg gehe, jollen Sie das reftirende Buch befommen ;
und einen Fächer und ein Halstuch bleibe ich Ihnen ſchuldig bifj ich aus
Franckreich zurückkomme.
In Strasb. werde ich bleiben, und da wird ſich meine Adreſſe ver—
ändern wie die Ihrige, es wird auf beyde etwas vom Doctor kommen.
Bon Strasb. Ziehe ich nad) Paris, und Hoffe mich da jehr wohl
zu befinden, und vielleicht eine gute Zeit da zu bleiben. Und hernach —
das weiſſ Gott, ob daraus was wird. Nun auf Oſtern wird dann
hoffeutlih Ihre Verbindung vor fic) gehen. Eh nun wenn es Dftern
nicht ijt jo iſt's Michäl, und wenn es ja Michael nicht geichähe, jo häng
ich mich gewiſſ nicht.
Wenn ich Ihnen den Fächer und das Halstuch jelbft brächte, und
nod jagen könnte Mdlle S. oder Käthgen ©. wie fih’3 nun weiljen
würde. Eh nun da wär ich auch Doctor und zwar ein franzöfcher
Dodtor. Und am Ende wäre doch Fr. Dodtor C. und Frau Dodtor G.
ein herzlich Kleiner Unterſchied.
Inzwiſchen leben Sie jhöne wohl und grüffen Sie mir Vater Schön-
Kopf und die liebe Mutter und Freund Petern.
Mit Breitkopfs binn ich faft ans aller Connerion, wie mit aller
22 Aus Goethe's Jugendzeit.
Welt. Ich habe zwar, erft kurze Briefe, aber es ift mir nicht um's Herz
zu antworten,
Stenzel liebt noch den Riepel den Pegauer zum Sterben, mir kömmt
e3 einfältig vor, und ärgerlich, Sie können Sich denden warum.
Die Trauben find fauer jagte der Fuchs. Es könnte wohl nod)
gar am Ende eine Ehe geben, und das wär ein Spedtadel, aber ich
wüſſte doch noch eine Ehe, die ein noch gröfjerer Spedtadel wäre. Und
doc ift fie nicht unmöglich, nur unwahrfcheinlid.
Wir haben uns bier ſchön eingeriht. Wir habem ein ganzes Haug,
und wenn meine Schwefter heurahtet, jo muſſ fie fort, ich leide feinen
Schwager, und wenn ich heurahte jo theilen wir das Haus, ich und
meine Eltern, und ich Eriege 10 Zimmer alle ſchön und wohl meublirt
im Frandfurter Gufto.
Nun Käthgen, es fieht doc) aus als wenn Sie mich nicht mögten,
freyen Sie mir eine von Ihren Freundinnen, die Ihnen am ähnlichiten
ift. denn was foll das herumfahren. Im zwei Sahren bin ich wieder
dba. Und hernach. Ich habe ein Haus, ich habe Geld. Herz was be-
gehrit du? Eine Frau!
Adieu liebe Freundinn. Heut war ich einmal Iuftig, und habe fchlecht
gejchrieben. Adieu meine befte.
F. d. 26. Aug. 1769.
Meine liebe Freundinn,
IH dande Ihnen für den Anteil den Sie an meiner Gejundheit
nehmen, und ich muß Ihnen zum ZTrofte jagen, dafj das leute Gerücht
von meiner Srandheit, eben nicht jo ganz gegründet war, ich befinde
mich erträglich, Freylic manchmal weniger als ich es wünſchen mögte.
Sie fünnen Sich vorftellen daſſ es nichts als Indispofition war, warum
ih Ihnen jo lange nicht gejchrieben habe, vielleicht werden bald andre
Urſachen Sie abhalten mir zu jchreiben. Es ift jonderbaar, heut vor
einem Jahre jah ich Sie zum leßtenmal, es ift ein närriih Ding um ein
Jahr, was alles jein Geficht in einem Jahre verändert; ich wette wenn
ih Sie wiederjehen follte, ich fennte Sie nicht mehr. Vor drey Jahren
hätte ich gejchworen es wiirde anders werden als es if. Man ſoll für
nichts jchwören behaupt ih. Es war eine Zeit da ich nicht fertig werden
fonnte mit Ihnen zu reden, und iegt will all mein Wit nicht Hinreichen,
eine Seite an Sie zu fchreiben. Denn ich fann mir nichts denden was
Shnen angenehm jeyn könnte. Wenn Sie mir einmal fchreiben, dafj Sie
glücklich find, dafs Sie ohne Ausnahme glücklich find, das wird mir an—
Aus Goethe's Jugendzeit. 23
genehm jeyn. Glauben Sie das? Horn Fäfit Sie grüffen, er ift un:
glülicher als ih. Wie aber alles wunderlich ausgetheilt ift, jo Hilft
ihm feine Narrheit jehr zur Eur von feiner Leidenjchafft. Leben Sie
wohl liebe Freundinn. Grüffen Sie mir die liebe Muttter und Peter.
IH binn heute unerträglih. Wenn ich in Leipzig wäre, da ſäſſe ich bei
Ihnen umd machte ein Gefiht. Wie Sie fich dergleichen Spedtadel noch
erinnern können. Doc) nein, wenn ich ießt bey Ihnen wäre, wie ver-
gnügt wollte ich leben. D könnte ich die dritthalb Jahre zurückrufen.
Kätgen, ich ſchwöre es Ihnen liebes Käthgen ich wollte gejcheuter ſeyn.
©.
Buchdrud, Buchhandel und Wuchbinderei
in Berlin von ihren Anfängen bis zum Zode
des Großen Kurfürften (1540-1655).
Bon Richard George.
Der brandenburgisch-preußiche Staat war in den erften Jahr-
hunderten feines Beftehens fein bejonders günftiger Boden für die Litte-
ratur und die gewerblichen Gejchäftszweige, welche litterarijche Beſtrebun—
gen vorausſetzen. Erſt die 1539 durch Kurfürſt Joachim II. eingeführte
Reformation legte diefem Fürften die Notwendigkeit nahe, in Berlin für
einen Druder für feine neue Kirchenordnung zu forgen. Er gab am 20.
April 1540 dem Buchdruder Hans Weiß aus Wittenberg, der dort von
1525—1539 in feinem Berufe thätig war, ein Brivilegium. Noch in
demjelben Fahre erjchien im Duartformat die „Kirchenordnung | im Chur-
fürftentgum der Marken | zu Brandenburg, wie man ich | beide mit der
Leer und Gere | monien halten jol. | Gedruft zu Berlin im Jar MDXL.“
Der Hofbuchdruder Hans Weiß gab bereit8 1544 feine Offizin auf,
die fi) wahrjcheinlich nicht in der erhofften Weile rentierte, und kehrte
nah Wittenberg zurüd. Faſt volle dreißig Jahr war Berlin nun wieder
ohne Buchdruderei, gewiß ein Beweis dafür, daß die brandenburgijche
Hauptjtadt damals jeglicher litterariſchen Beſtrebung bar war. Der Kur-
fürft gab feine Drudaufträge nad Frankfurt a. D., wo Johann Eich—
horn 1567 ein Privilegium für die ganze Mark erhielt. Auch die wenigen
berliner Gelehrten der damaligen Zeit mußten außerhalb druden laſſen,
jo bei Hans Luft in Wittenberg, Runge in Damm u. |. w.
Erſt im Jahre 1572 errichtete der bekannte Leonhard Thurn:
eyjler zum Thurne auf Befehl des Kurfürjten Johann Georg wieder
eine Druderei in Berlin, und zwar im Grauen Klofter. Der Kurfürft
hatte Thurneyſſer im Frühjahre 1571 auf jeiner Huldigungsreije in
Frankfurt a. D. kennen gelernt. Er hatte Vertrauen zu ihm gefaßt, weil
diefer vieljeitige Mann die Kurfürftin Sabina von jchwerer Krankheit
geheilt Hatte. Thurneyſſer wurde kurfürſtlicher Leibarzt und Apotheker,
Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ıc. 25
verfaufte Amulette, ftellte Horojfope und forſchte nach dem Stein der
Weiſen, beherricht von dem verhängnisvollen Wahne jeiner Zeit, es fei
möglid), aus Queckſilber Gold zu machen. Diefer merkwürdige Mann,
der ein gelernter Goldjchmied war, war aber mehr als ein Charlatan;
er hatte fich bedeutende naturwiljenjchaftlihe Kenntniffe angeeignet und
machte ſich vor allem jehr verdient um die VBuchdruderkunft in Berlin,
twie überhaupt um die Gewerbethätigkeit und das Kunſthandwerk.
Der um 1530 in Baſel geborene Thurneyſſer fand nach einem wild-
bewegten Leben in Berlin eine dauernde Stätte. Um jeine Thätigfeit
bildete fi ein fürmlicher Sagenfreis. Oskar Schwebel jchildert ung die-
jelbe mit den Worten: „Eine jo vieljeitige Thätigfeit, wie Leonhard
Thurneyſſer fie entfaltete, mußte fich in einer Weile äußern, welche die
Berliner von 1573 nur überrrajchen fonnte. Auf dem alten Klofterhofe
blühten jebt ausländiihe Pflanzen, weithin ihren Wohlgeruch verbreitend,
und dort an der Kloftermauer lag ein Thierpark mit Geſchöpfen, wie man
fie noch nie zuvor in Alt-Berlin erblidt Hatte. Schen und ruhelos lief
dort ein Elen einher: die Berliner hielten den ſeltſamen Hirich für den
leibhaftigen Teufel. — Wie ftöhnten und ächzten zur Nacht die Drucker—
prefien! Was konnte dies unheimliche Geräusch wohl anders fein, als
vielgeplagter und verdammter Geifter Schmerzensruf? — Zur Mitternacht
aber, jo meinte man, erhoben fich die alten Franziskaner wiederum aus
ihren Grüften und fetten fich mit dem fremden Doktor zu Tiſche. Dann
weillagte ihm jener »Spiritus familiaris«, welchen er in einem Glaſe ge-
fangen hielt, von ferner Zukunft; dann wurde auch jener böje Geift frei,
der Menjchen Altfeind, welcher bei Thurneyfjer mitten unter Filchen in
einem Behälter im Wafjer lebte; mit einem Worte: es war ein gottlofes
Weſen im Klofter !“
Man erjieht aus diefen Worten, daß die Berliner ihrem zweiten
Buchdrucker nicht recht trauten, Auch feine Buchdruderfunft ftand bei
ihnen im jchlechtem Rufe; fie erichien jener Zeit als eine Schwefter der
geheimnisvollen Wiljenichaften der Aitrologie und Alchemie. Bei der
unheimlichen IThätigfeit, welche Thurneyfier ſonſt ausübte, darf man den
Berlinern dieſes Mißtrauen auch wahrlich nicht übelnehmen.
Wie man nun auch über die vieljeitige Thätigfeit des Wundermannes
Thurneyſſer urteilen mag, feine Verdienfte um die Buchdruderfunft in
Berlin find über jeden Zweifel erhaben. Thurneyſſer beichäftigte in
jeiner Offizin über 200 Arbeiter; er drudte nicht nur viel, jondern auch
funftvoll, und zwar in deutſcher, griechijcher, lateiniſcher und hebräiſcher
Sprade. Seine Schriften und Majchinen bezog er zuerit aus Witten-
berg, jpäter errichtete er eine eigene Schriftgießerei. Seine Anſtalt be-
Ihäftigte außer den Schriftjegern und Druckern tüchtige Holzichneider,
26 Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ꝛc.
Stempeljchneider, Schriftgießer und Buchbinder. Den größten Teil jeines
Papiers bezog Thurneyſſer aus Neuftadt-Eberswalde, wo 1532 eine Ba-
piermühle errichtet war, daneben auch aus Wittenberg, Leipzig, Nürnberg
und Bauten. Von feinen Gehilfen find uns die Namen Gregor Eber,
Michael Hentzke und Hans Schnellbolz erhalten. Won der Ausdehnung
der Thurneyſſer'ſchen Druderei legt die Thatjache Zeugnis ab, daß die—
jelbe 1577 440 Bogen lieferte.
Thurneyfjer war auch zugleich der erite Verlagsbudhhändler
Berlins; jeine Verlagsthätigkeit war namentlich) auf dem Gebiete der Ka—
lender-Litteratur eine jehr ausgedehnte; ferner lieferte er naturwifjenichaft-
liche Werke mit prächtigen Holzichnitten, Fabbaliftiiche Bücher in Verjen zc.
Zum Teil ſchrieb er diefe Werke jelbit, zum Zeil drudte er für namhafte
Gelehrte jeiner Zeit; auch der Kurfürft erteilte ihm größere Aufträge.
Widrige Familienverhältniffe verleideten Thurneyfjer den Aufenthalt
in Berlin; der fünfzigjährige Mann hatte in dritter Ehe die ſchöne Ma-
rina von Croaria geheiratet und wurde von ihr aufs jchmählichite hin—
tergangen. Er verließ Berlin für immer im Jahre 1584; bei jeinem
MWeggange mochte auch das Drängen des Kurfürften Johann Georg, nun
endlich feine goldverheißenden Verſprechungen zu erfüllen, mitgewirkt ha—
ben. Die weiteren Schidjale des merkwürdigen Mannes, deſſen medizini-
ſcher, phyfifaliicher und metaphufiicher Aberglaube eine allgemeine Schwäche
feiner Zeit war, find in Dunkel gehüllt; er joll, nach längerem Wufent-
halt in Italien, in einem Kloſter zu Köln a. Ah. geftorben jein.
Seine Druderei hatte Thurneyfjer ſchon 1577 an feinen gejchidten
Setzer Michael Hentzke für die geringe Summe von 1100 Thlr. verkauft;
diejer ftarb jchon 1580. Seine Wittwe brachte durch ihre Verheiratung
mit Nikolaus Volt aus Erfurt 1582 das Geſchäſt an den legteren. Vor—
übergehend war der gelehrte Rektor Hilden des Grauen Klojters, der
Schwiegerjohn von Bolt, Teilhaber der Offizin; er ging 1586 als Pro-
fefjor der griechiſchen Sprache und der Mathematik nad) Frankfurt a. D.
Auch Bolt folgte ihn dahin 1592, und wiederum war Berlin ohne eigene
Druderei, jo daß die Berliner ihre Hochzeitögedichte und Leichenpredig-
ten — darüber hinaus erftredte fi ihr Bedürfnis nicht — in Witten-
berg und Frankfurt a. D. herftellen laſſen mußten.
Wenige Jahre jpäter erfolgte die Gründung der Buchbinder-In—
nung in Berlin, die 1595, vor genau 300 Jahren, mit den Meijtern
Martin Löwenberg, Wolf Rofenberg, Sebaftian Heide und Kaspar Kalle
ins Leben trat. Die YBuchbinderei ift als Gewerbe im wejentlichen eine
Errungenschaft, die mit der Erfindung der Buchdruderfunft ich entwidelte;
als Kunft wurde das Bücherbinden jeit alten Zeiten von Gelehrten und
namentlich in den Klöftern geübt. Der erfte Buchbinder, der fi urfund-
Buchdrud, Buchhandel und Buchbinderet in Berlin von ihren Anfängen ꝛc. 27
ih in Berlin nachweiſen läßt, heißt Hennig; er ericheint 1518 und gab
an Bürgergeld 30 Grojchen, dazu ein Buch im Werte von einem Gulden.
Der zweite Berliner Buchbinder, Haus Schwifer, dürfte 1543 in Berlin
erichienen fein — jedenfalls angelodt durch die eingangs erwähnte Buch—
druderei von Hans Weiß aus Wittenberg. Weitere Buchbinder erſcheinen
dann im Gefolge Thurneyſſers in Berlin.
Eigentümlich ift nun, daß diefe Buchbinder nicht nur das Recht Hatten,
gebundene Bücher zu verfaufen, jondern dies auch als ihr Brivilegium
anjahen, und den eigentlichen Buchhändlern (Buchführern) ftreitig machten,
mit gebundenen Büchern zu Handeln. Ta fi) die Buchhändler nie
innungsmäßig organifierten, jo entwidelten fich zwilchen ihnen und den
Buchbindern erbitterte Kämpfe um den Handel mit gebundenen Büchern,
die ji) von einem Menfchenalter zum anderen hinzogen und in denen
Die Zandesherren vielfach auf Seiten der Buchbinder traten, die infolge
ihrer innungsmäßigen Organijation häufig im Vorteil waren.
Der erite Sortimenter Berlins dürfte Jörg Werner fein, der
1569 die Leipziger Mefje bejuchte; am 18. Oktober 1594 erteilte der
Kurfürft Johann Georg dem Buchhändler Hans Werner in Eöln an
der Spree — jedenfall einem Sohn von dem erftgenannten — ein
Privilegium, das Kurfürft Joachim Friedrich am 14. Dftober 1600 be-
ftätigte. „Derjelbe joll“, jo Heißt es, „zur Fortſetzung feiner beſſeren
Nahrung, auch zur Beförderung des gemeinen Nubens, auch von Kirchen
und Schulen, etlihe Bücher aufflegen und druden laſſen dürffen — jebes
Mal mit der Brofefjoren Unſrer Univerfität zu Frankfurt a. D. Bor:
willen und Zenſur und ein Privilegium erhalten, damit fie ihm nicht
nachgedrudt werden. Wer jeine Bücher ohne jeine Genehmigung nach—
drudt, zahlt 200 Thlr. fisfaliiche Strafe, wovon die eine Hälfte Unferer
Kammer, die andere an Hans Werner bezahlt werben joll, darf auch eine
Buchbinderei errichten mit eigenen Gejellen, falls die bisherigen Buch—
binder in Eöln und Berlin, welche ihm durch ihre Faulheit ſcha—
den, in ihrem Unfleiß fortfahren. Nachdem er fich auch ferner beflagte,
daß främbde Buchführer oftmals allhier fich unterftehen, außerhalb der
Wochen: und Jahrmärkte Bücher feihl zu halten, die doch Uns mit Un-
terthanenpflichten nicht verwandt, auch weder Schoß noch Steuern geben
und Ihme alfo fein Buchhandel mit Überfürung främbder Bücher ge-
ftopft werde, jo follen diesfal® Bürgermeiſter und Rathmänner der ob-
gemeldten beiden Städte Berlin und Eöln darauf jehen, daß er gleichwol
von denjelben auswärtigen Buchführern nicht übermadht und Ihme, Han-
ſen Werner, dasjelbe zu nachtheiligem VBorgange nicht gereichen möge;
jedoch joll er, Hans Werner, auch die Leute mit dem Kaufe feiner Bücher
zur Billigfeit nicht überjezen.” (Schluß folgt.)
„Sur gefälligen Anſicht.“
— — —
Die Beſtellung „zur Anſicht“ ſpielt im Buchhandel eine größere
Rolle, als in allen anderen Geſchäftszweigen. Und Niemand wird leugnen,
daß diefe Thatſache ihre innere Berechtigung hat. Niemand wird indeflen
auch beftreiten, daß fich inbezug auf diefen buchhändleriichen Gebraud)
Mißbräuche herausgebildet haben, deren Abftellung für den Buchhändler
dringend wünjchenswerth erjcheint, ohne daß die Einrichtung ſelbſt, die
fi in vielen Fällen als zwedmäßig und nothwendig erweilt, dadurch ge—
troffen oder vielleicht gar bejeitigt wird.
Die Mißbräuche, von welchen wir hier jprechen, find jedem Buch—
händler zur Genüge befannt. Welhem Waarenfäufer, der ſich eine
Waare zur Anficht kommen läßt, würde es wohl einfallen, diejelbe tage-,
ja wochenlang in Verwahrung zu halten, bevor er ſich über den Ankauf
oder Nichtankauf entjcheidet? Selten wird fie ihm der Verkäufer länger
als ein paar Stunden oder höchftenfalls, wenn die Natur der Waare es
geftattet, einen Tag überlaffen. Der Käufer findet das ganz in der
Ordnung. Wie ganz anders aber bei einem Buche! Da muß der be-
treffende Buchhändler oft froh fein, wenn er dafjelbe nach wochenlanger
Zögerung — manchmal vergeht fogar noch eine weit längere Zeit —
und nad mehrfahem Erinnern und Bitten zurüd erhält. Der Em-
pfänger denkt hier nicht im Entfernteften daran, daß er für die Dauer
der jo ausgedehnten Prüfungszeit dem Buchhändler die Möglichkeit der
anderweiten Verwertung des Eremplars entzieht, ja daß er oft, wenn es
fih um actuelle Sachen handelt, diejelbe ganz verhindert. Liegt doch in
legterem Falle jogar die Möglichkeit vor, daß ein erheblicher Theil der
Auflage eines actuellen Werkes (einer politischen Brofhüre ꝛc.) auf dieſe
Weile bei wirklichen und vermeintlichen Intereſſenten feftgelegt, dem
raſchen Bertrieb entzogen wird, da das Interefle an dem Gegenjtand des
Buches nad) Ablauf einiger Wochen vielleiht ſchon wieder erlojchen ift.
Dod damit ift nicht der einzige Uebelftand gekennzeichnet. Die Remilfion
der Biicher erfolgt vielfach nicht mur verfpätet und nad mühevollem
Zur gefälligen Anficht, 29
Drängen — es gehen deren jogar ganz verloren, während andere in
derangiertem Zuftande abgeliefert werden. Wieder andere werden vom
Empfänger jo gut es geht gelefen und dann erjt recht nicht gekauft, ja
manche Bücherinterefjenten lafjen fich eigens zu dem Zwecke Bücher zur
Anficht Ichiden, um des Kaufens überhoben zu jein. Dies geichieht be-
jonders in Fällen, in welchen das Interefje des betr. Beſtellers nur auf
eine Stelle eines Werkes gerichtet ift oder wenn er dajlelbe nur zum
Zwede der FFeititellung irgend einer Sache oder zum Nachſchlagen bedarf.
Was kann der Buchhändler gegen alle diefe Mißbräuche thun? Er
it anjcheinend jo gut wie machtlos dagegen. Vorſicht allein ſchützt ihn
nicht ausreihend, und das juriftifche, wenn auch nicht das moralifche
Recht, ift meiſtens auf Seiten des Kunden. Selbſt wenn unverlangte
Anfichtsjendungen in Frage kommen, jo ift zu erwägen, daß die Ge—
pflogenheit jolcher durchaus nicht ohne weiteres in das Gebiet der Be—
läftigungen des Publikums zu verweilen ift, vorausgejeßt, daß die Zu-
ſendung in gejchidter und zweckmäßiger und nicht finnlojer Weile ftatt-
findet. Wie oft erjcheint ein neues Werk, das uns im höchften Grade
interejfirt, ohne daß wir rechtzeitig von feinem Ericheinen Kenntniß er-
halten! Wie wichtig ift es ferner, nicht lediglich aus Tages- und Litte-
raturblättern über neue literarische Erjcheinungen informirt zu werden,
ſondern die für ung interefjanteften derjelben vor uns zu fehen, um nad)
dem äußeren Eindrud und einem flüchtigen Einblide ihre Bedeutung be-
urtheilen zu können, bevor wir uns zur Erwerbung derjelben entichließen.
Jeder Bücherfreund weiß mit uns, was die Vorlage von Anfichtswerken
für die Information und zwedmäßige Auswahl bedeutet, und daß fie je
mehr bedeuten muß, je geregelter und zielbewußter fie vor fich geht.
Trogdem jhüst den Buchhändler bei Anfichtsjendungen (d. h. für un-
verlangt gejandte) im Grunde nichts als das Gefühl des Anftandes des
Empfängers. Ein wahrhaft anjtändiger Mann wird fich nicht dazu her-
beilafjen, ein Buch zur Anſicht entgegenzunehmen, um es binterliftiger
Weile zu benutzen; ebenjo wird ein jolcher ein ihm zugegangenes Buch
in gutem Zuſtande zurücdgeben oder es mindeſtens — was ihm ja Feine
Mühe verurfaht — jo aufbewahren, daß er es dem nachfragenden Buch—
händler unbejchädigt wieder aushändigen kann. Aber irgend einen Rechts—
anfpruch vermag der Buchhändler auf die rechtzeitige Ablieferung ſowie
darauf, daß diejelbe in tadellofem Zuftande zu gefchehen hat, nur in
den wenigjten Fällen zu begründen. Zwar haftet jeder Privatlunde für
Anfichtsjendungen, und wenn er auch nicht gezwungen werben fann, fie
jelbft abzuliefern, jo hat er fie doch zum Abholen bereit zu legen. Auch
iſt er rechtlich zum Erſatz verpflichtet, wenn die Anfichtsjachen defekt ge-
worden find. Indeſſen, wie wirde man ihn anjehen, wenn er (befonders
30 Zur gefälligen Anficht.
in Keinen Städten) jein ohnedies bejchränktes Recht vorfommendenfalls
rigoros ausnußen wollte!
Für jo bedauerlicy wir diefen ungenügenden Schuß einer an fich wohl:
thätigen und der geiftigen Entwidlung nur förderlichen Inftitution erachten,
die Damit faft auf eine Stufe mit der frivolften „Kundenfeilerei” geftellt wird,
jo läßt fich) doch naturgemäß die Berantwortlichkeit einer Perſon für eine
ihr ohne Willen und Willen zugegangene Sache nicht ohne weiteres
rechtfertigen. Man kaun niemand zumuten, für etwas zu haften, ohne
daß er irgend eine Verbindlichkeit direft oder indireft übernommen hat.
Wenn man den bier in Betracht zu ziehenden Vorgang in anderer ſpitz—
findiger Weile auszulegen Anlaß nehmen will, jo könnte man freilich
Ihon in der bloßen Entgegennahme einer Anfichtsjendung durch den
Adreflaten eine Zuftimmungserflärung und Uebernahme der Haftpflicht
für den entgegengenommenen Gegenftand erbliden, doc dürfte ſchon aus
praktiſchen Rüdfichten Fein Buchhändler hierzu Neigung verjpüren. Für
ihn ift ja unfere Einrichtung nur jolange von Wert, als fie bei dem
Publikum populär ijt; der hartnädige Beitand auf wirklichen oder an-
geblichen Verpflichtungen des Empfängers würde jehr bald deren voll-
ftändige Unpopularität nach fich ziehen. Kein Menſch würde mehr eine
Anfichtsfendung in Empfang nehmen wollen, wenn er damit peinliche
Pflichten übernähme, und der hieraus entitehende Schaden wäre weit
größer als der aus der ftreng durchgeführten Entjchädigungspflicht etwa
erwachjende geringe Nutzen.
Letzterer Umftand bewirkt auch die faft vollftändige Machtlofigfeit
des Buchhändlers in Fällen, wo das gejegliche Recht fich auf jeiner Seite
befindet. Wir meinen dann, wenn er das Anſichtswerk dem Interejjenten
auf Beitellung oder infolge einer allgemeinen Webereinkunft übermittelt.
Eine derartige Uebereinkunft ift bereit in der bejahenden Antwort bes
Kunden auf die Frage, ob er Anfichtsfendungen entgegenzunehmen wünjche,
zu erbliden. Was riskiert aber der Buchhändler, wenn er gegenüber
jolchen Interefjenten zu peinlich) auf jeinen Rechten beiteht? Daß er jeine
Kunden verliert. Recht gute Kunden find ja oft zugleich die nadjläjfig-
ten. Der Buchhändler wird aljo nur in bejonders eflatanten Fällen
von feinen Rechten Gebrauch machen, mit faurer Miene wird er häufig
das unjcheinbar gewordene Eremplar entgegennehmen und höchſtens in
Bezug auf die fernere Beglückung nadhläffiger Perſonen die entiprechende
Borfiht walten Lafjen.
Was ſoll nun der Buchhändler thun, um fic) vor Schaden aus
diefer Einrichtung möglichjt zu jchügen? Die Einrichtung ganz fallen
lafien? Das würde praftiih nur in ganz vornehmen, über alle Gunft
und Ungunft des Publikums erhabenen Geſchäften durchführbar fein,
Zur gefälligen Anficht. 31
Auch ift der von uns beſprochene buchhändleriiche Gebrauch ja nicht blog
nüglich für die Bücherfreunde, er ift auch für den Biücherverfäufer von
hoher Wichtigkeit wegen des ihm innewohnenden Reklamezweckes. Nicht,
lediglich um feinen Kunden eine Annehmlichkeit zu gewähren, nimmt der
Buchhändler die Mühe der Zujendung, Abforderung und Abholung der
Bücher auf fi, ſondern hauptſächlich aus dem Grunde, durch die Vor-
lage die Kaufluft zu weden und das Iutereffeder Kunden an einzelnen
Büchern zu erregen. Ein Huger Buchhändler weiß wohl, welche hohe,
werbende Kraft ein interejfantes, bejonders aber für den Empfänger in-
tereflantes Buch bejigt, wenn man ihm Aug' in YMuge gegenüberfteht!
Erregt die Ankündigung oder Nezenfion eines ung inhaltlich zufagenden
Werkes den Wuuſch, dafjelbe kennen zu lernen, jo ruft der direkte Anblid
den lebhaften Wunſch des Beſitzes wach. Wie oft hat Echreiber diefes
ſich ſelbſt jchon im einer ähnlichen Situation befunden! Wie oft hat,
wenn der Entichluß, ein Werk nicht zu faufen, gefaßt war, der verlodende
Neiz des vor mir liegenden Buches nicht den Widerruf des Vorſatzes be-
wirft! So handelt es ſich aljo unjeres Erachtens für den Buchhändler
ausjchließlic um die Frage, wie der ihm und dem Publikum gleich nutz—
bringende Gebrauch von feinen Mißbräuchen zu reinigen, rejp. wie der-
jelbe jo zu gejtalten jei, daß der buchhändleriſche Nuten defjelben auf
das höchſte Maaß geiteigert, der eventuelle Schaden jedod) auf das mög-
liche geringite Maaß zurüdgeführt werde!
Die Löjung diejer Frage würde am beiten erreicht durch die allge-
meine Annahme beftimmter Regeln, die fich vielleicht im wejentlichen mit
den folgenden Vorſchlägen deden, und deren praftiihe Verwirklichung
bei der Einheitlichkeit und vorzüglichen Organiſation des gefamten buch—
händleriſchen Betriebes nicht jchwer fallen könnte. Die etwaigen wenigen
Ausnahmen würden nichts ändern und auch nichts jchaden. Was zum
grundjäglichen Gebrauch erhoben ift, wird auch feinerlei abjtoßende Wir-
fung ausüben und niemand verlegen können. Daher vermöchte auch der
Einzelne, ohne Schaden und Gefahr die Frage in jeinem Betriebe nach
ftrengen Grundfägen zu regeln, in Hinficht auf den durch die ftrenge
eracte Regelung gewährten Schuß das Verfahren viel weiter als bisher
üblich) auszubauen und dadurch den daraus zu ziehenden Gewinn erheb-
lic) zu fteigern. Lebteres dadurch, daß er aus der Verjendung von An-
ſichtswerken fein beiläufiges Gejchäft macht, jondern dabei vollitändig ziel-
bewußt und ſyſtematiſch zu Werke geht. Damit ift freilich nicht gemeint,
man jolle auf® Geradewohl und womöglich gar auf Grund des Adreh-
buchs jeden Bürger und Einwohner mit Büchern überjchütten, im Gegen—
theil bedingte das von ung empfohlene Verfahren eine geſchickte Auswahl
der Berjonen. Es würde ja aud) gar feinen Sinn haben, Leuten Bücher
32 Zur gefälligen Anficht.
auf den Hals zu jchiden, von denen man nicht einmal weiß, ob ihnen
irgend ein Intereſſe dafür innewohnt.
Die Art und Weile, wie der Buchhändler bei der Verjendung zur
Vermeidung von Schädigungen und Mißbräuchen verfahren kann, iſt
aber folgende: Er jtellt ein- für allemal die Bedingungen feit, unter wel-
chen er Bücher von Wert (zur Mafjenverbreitung bejtimmie Probe-
nummern u. ſ. w. find Hatürlich hier nicht einbegriffen) „zur gefälligen
Anſicht“ an Kunden oder ſolche, die e3 werden wollen, verjeudet. Dieje
Bedingungen finden ſich auf der Begleitnota zu den betr. Büchern abge-
drudt. Sie verpflihten den Empfänger in eriter Linie zu jorgfältiger
Aufbewahrung und Haltung der überjandten Werke, jowie zur Rückgabe
in vollfommen gutem Zuftande und innerhalb einer beftimmten, nicht
jelbjtändig, jondern nur nad) Vereinbarung mit dem Abjender eventuell
zu überjchreitenden Zeit. Dieſe wird ſich im Allgemeinen nicht über
14 Tage zu erjtreden haben, bei actuellen Erjcheinungen oder ſolchen
von größerem Werte oder irgend welcher augenblidlichen Bedeutung kann
die Zeit mötigenfalls bis auf 24 Stunden herabgejeßt werden. Den
Schluß bildet die Erklärung, daß der Empfänger mit der Uebermittlung
der Bücher einverjtanden jet und die Sachen unter den angegebenen Be—
dingungen entgegennehme, ſich auch für den Fall, daß ein Buch durch
jeine Schuld verloren geht oder minderwertig werde, zur Tragung des
entjtehenden Schadens verpflichte.
Berlangt nun eine dem Buchhändler nicht näher bekannte Perjon
ein Buch zur Anficht, jo läßt fich diefer eine obige Bedingungen enthal-
tende Empfangsbeicheinigung ausstellen; diejenigen aber, die von ihm
regelmäßig Bücher einer bejtimmten Art zur Anficht zugejandt zu erhalten
wünſchen, verpflichten ſich ein» für allemal auf die geltenden Beſtim—
mungen, auch in dem Falle, daß das Anerbieten von dem Buchhändler
jelbjt ausgeht. Schickt er aber Jemand unverlangt Sahen zur Anficht
zu, jo thut er am beiten, bei Uebergabe des Buches an den Empfänger
die höfliche Anfrage richten zu lajjen, ob derjelbe bereit fei, das Buch
zur Anficht entgegenzunehmen und dajjelbe nach Maßgabe der auf der
Begleitnota aufgedrudten Bedingungen gefälligft prüfen wolle. An
Demjenigen, der eine jo jelbftverftändliche leichte Verantwortlichkeit zurüc-
weilt, ift nichts verloren, auch wird der Verſender auf diefem Wege im
die angenehme Lage kommen, daß er nunmehr die Bücher von Perſonen,
welche ohnedies auf die betr. Sachen abjolut nicht reflektieren, auf der
Stelle und nicht erſt nach geraumer Zeit und vielleicht in nicht mehr
allzu guter Beſchaffenheit zurücddempfängt und dieſelben jofort weiter be-
ungen kann.
Man wird zugeben müſſen, daß die hier dem Publikum zugemuteten
Zur gefälligen Anficht. 33
Verpflichtungen nichts Verletzendes oder Beihämendes an fich haben,
noch irgendwie die Stellung des anftändigen Menjchen zur Sade im
geringjten verändern. Wohl aber gewähren fie dem Bicherabgeber den
notwendigen Schuß, und diefe Rückſicht ift unferer Meinung nach die
Deffentlichkeit der angenehmen und nützlichen Imftitution ſchuldig. Frei—
lich — gegen die gewiljenlofe Benugung irgend eines zur Anſicht be-
jtellten Werkes zum Nachichlagen oder zur flüchtigen, für den Zweck des
Beiteller3 hinreihenden Kenntnisnahme und die Darauf erfolgende Rück—
gabe des lediglich zur Vornahme dieſes Manövers geforderten Buches
Ihüßt feine Beltimmung. E3 muß dem Buchhändler überlaffen bleiben,
ſich durch weile Vorficht derartiger Polypen zu erwehren; meiſt findet er
fie bald genug heraus und hütet fich dann, ferner ihren eigennüßigen
Zweden zu dienen, wie er überhaupt nur dann mit der Zujendung fort-
fahren wird, wenn der daraus ihm erwachjende Gewinn den verurfachten
Bemühungen einigermaßen Rechnung trägt.
Größere Handlungen können recht gut auch die Verjendung einer
Anzahl von Büchern, Brojchüren ꝛc. durch diejenige von regelmäßigen
Meittheilungen erjegen, welche außer Preis und Titel den Inhalt der
Schrift andeuten und geeigneten Falles auf die Charalteriſtik derjelben
in den Zeitungen oder Fachblättern Bezug nehmen.
sr. Thieme.
u) =
Über Buch-Kuflagen.
Bon Karl Er. Pfau.
—Nif
„Bücher ſind Luxus“, ſagt der Verleger, weil ſeine Verlagskinder
ſo geringen Abgang finden; „Bücher ſind Luxus“, erklärt das Publikum,
das Bücher nur als Paradeartikel kauft. Die Klage des Einen mag
ebenſo berechtigt ſein, wie die Behauptung des Andern, oder genauer ge—
nommen: ein Jeder rechnet oder hat zu rechnen mit den jeweils gegebenen
Verhältniſſen. Man erſieht daraus, daß der Verleger in jedem einzelnen
Falle in Betreff der Auflagebeſtimmung eines Buches genaueſte Erwä—
gungen anzuſtellen Hat, wie viel Exemplare er glaubt druden laſſen
zu können, ohne ein bejonderes Rififo einzugehen.
Vielfach Herricht die Anſicht, die „Vorſicht“ des Verlegers befunde
fich darin, daß die Minimalauflage der unabänderlihe Grundjat der
Verleger-Caleulation fein müffe. Diefe Anficht als „grundjäglihe An—
ſchauung“ iſt völlig faljch, weil ihr feinerlei wirkliche Berüdfichtigung der
gegebenen Berhältniffe, jomit feine Ueberlegung zu Grunde liegt.
Die Berjchiedenheit des Inhaltes der Bücher jebt naturgemäß auch
verjchiedene Interejjenten- und Käuferfreile voraus, von denen der des
einen Buches ein großer, der des anderen ein fleinerer fein fann. Ein
wiſſenſchaftliches Buch, von einem Gelehrten nur für Gelehrte gejchrieben,
wird nur einer niedrigen Auflage, vielfah von nur einigen Hunderten
von Exemplaren, häufig einer noch Heineren bedürfen, um feinen In—
terefjentenfreis zu erjchöpfen. Ein anderes Werk dagegen, gleichfalls von
einem Gelehrten gefchrieben, das nicht allein für Kollegen, ſondern —
und vielleicht hauptjählid — für die jüngeren Anfänger der betr.
wiſſenſchaftlichen Richtung beftimmt ift, kann, bejonders wenn der Autor
einen Namen von Klang bereits beſitzt, ohne Rifito in größerer Auflage
gedruckt werden, weil beftimmte Ausficht vorhanden ift, daß das Bud)
einen gangbaren Artikel abgeben wird. Bedingt wird die höhere Auflage
Über „Buch:Auflagen“. 35
vielfach auch durc) das Autoren-Honorar, das bekanntlich bei berühmten
Autoren jehr in die Waagjchale fällt.
Handelt es ſich dagegen um ein ähnliches Werk aus der Feder eines
weniger berühmten Mannes, dann freilich kommen andere Gefichtspunfte
zur Geltung. Eine größere Auflage wäre in diefem Falle von vornherein
ein ganz verfehlter Griff. Hier muß das eigene Verftändnis des Ver-
legers die ihm am beiten dienende Grenze zu ziehen willen, hier muß die
Urteilskraft de3 Verlegers ſich bewähren.
Laſſen ſich in den hier genannten Fällen die Grenzen verhältnis—
mäßig leicht ziehen und einhalten, ſo ſind natürlich noch Dutzende anderer
Möglichkeiten vorhanden, mit denen der Verleger zu rechnen hat. Es
giebt Verlagsartikel, bei denen ſich entweder gar nicht, oder nur bis zu
einem gewiſſen Grade überſehen läßt, wie viel Abnehmer in Betracht
kommen. Hier beginnt das Riſiko des Verlegers, denn die Uebernahme
und Herſtellung eines Buches erfolgt auf gut Glück, auf Grund der
Wahrſcheinlichkeitsberechnung für einen mutmaßlichen Abſatz. Da indeſſen
die Wahrſcheinlichkeit nicht immer zur Wahrheit wird, und auch Erfah—
rung nicht immer für den Erfolg bürgt, ſo geht hieraus zur Evidenz her—
vor, daß jedes derartige Buch ein Riſiko in ſich ſchließt, einem Lotterie—
ſpiel gleichkommt.
Bei Feſtſtellung der Auflage kommen indeß auch noch andere Um—
ſtände in Betracht, die vor der Drucklegung berückſichtigt werden müſſen.
Das Buch darf weder zu teuer noch gar zu billig ſein, letzteres im In—
tereſſe der Koſtendeckung. Beſonders aber iſt zu überlegen, ob das Buch
für die Allgemeinheit beſtimmt iſt, ob es eine ausgedehnte Reklame ver—
trägt, ob alſo angenommen werden darf, daß ein größerer Abſatz erreicht
wird, wenn für eine umfaſſende Bekanntgabe in den Zeitungen, für Be—
ſprechungen ꝛe. Sorge getragen wird. Sind dieſe Fragen bejahend zu
beantworten, ſo darf es als ſelbſtverſtändlich angenommen werden, daß
auf eine größere Auflage Bedacht genommen werden kann.
Bei fachwiſſenſchaftlichen Büchern, deren Kundenkreis ſich ge—
nauer überſehen läßt, iſt die Auflagebeſtimmung eine weniger ſchwierigere,
denn hier liegen gewiſſe Grundlagen vor, und ausſchlaggebend hierbei iſt
zumeiſt der Verfaſſername.
Bei belletriſtiſchen und ſchönwiſſenſchaftlichen Artikeln iſt
die Auflagebeſtimmung gleichfalls von der Qualität des Autors abhängig.
Romane oder ſonſtige poetiſche Erzeugniſſe einer litterariſchen Größe
ſchließen faſt durchgängig irgend welches Riſiko aus, da der Abſatz ein
größerer oder ſehr großer ſein wird. Darnach wird ſich die Auflage—
beſtimmung richten. Bei Autoren zweiten oder dritten Ranges ſind die
Unterlagen für die Auflagebeſtimmung weſentlich andere und ſchwierigere:
3%
36 Über „Buch-Auflagen“.
bier fehlt ein feſt beftimmter Abnehmerfreis, mit dem unter allen Um—
jtänden gerechnet werden könnte. Hier ift zumeift nur mit dem Wohl-
wollen der Litteraturfreunde zu rechnen; dieſes it ein jehr ſchwankendes
und demgemäß gebietet das eigene Intereſſe dem Verleger, fich mit
einer geringeren Auflage abzufinden.
Anthologien, oder ähnliche für Geſchenkzwecke beftimmte Artikel
geben der Berechnung des Verlegers wiederum einen größeren Spielraum.
Hier ift die Höhe der Auflage ganz abhängig von der Individualität des
Berlegers, das heißt davon, wie jein Gejchmad ſich bei der Ausstattung
bethätigt. Denn von dieſer und dem Preiſe wird eine größere oder ge=
ringere Verbreitung abhängen.
GSelbjtverftändlich it eine höhere Auflage überall da, wo es
fih um actuelle Brochuren Handelt, die für Jedermann von Interefje fein
fünnen, bei denen e3 nur umfafjendfter Bekanntgabe bedarf, um zahlreiche
Käufer zu finden. Im diefem Falle würde es unferes Erachtens ein
großer Fehler jein, wollte man ſich mit einer kleinen Auflage begnügen.
Hier heißt es, mit Volldampf einjegen und die Gelegenheit henützen, etwas
zu gewinnen.
Sluftrieren wir diejes Beilpiel: Angenommen, es handelt ſich um
eine Brojchüre, von welcher mit Beitimmtheit ein größerer Abjab er-
wartet werden kann, jo ijt vor allen Dingen, und zwar im eigenen
Sntereffe des Verlegers, die umfafjendite Reklame nötig; nicht nur die
Hauptblätter in den größeren und großen Städten miüjjen ein Rezenfions-
Eremplar (nebjt Begleitjchreiben vulgo „Wajchzettel”) erhalten, jondern
es können die meilten deutschen Zeitungen — mit geringen Ausnahmen —
berückfichtigt werden, denn es ift nicht zu überjehen, daß auch unter den
Lefern der Provinzialzeitungen Perſonen mit beftimmten litterariichen Be—
dürfniffen gar nicht jo felten find und daß ein ſolches Bedürfnis geweckt,
genährt und geleitet zu werden verdient.
Diefer umfafjenden Reklame gegenüber muß natürlich Sorge dafür
getragen werden, daß überall im deutjchen Reiche das betr. Buch raid),
möglichſt jofort, bezogen werden fan. Dieje Möglichkeit bedingt wiederum
eine Mafjenverjendung jeitens des Verleger8 und — last not least —
alfo eine größere Auflage. Berleger &. nun ift ängftlich, oder jagen wir
„vorſichtig“ im bereits charakterijierten Sinne. Verleger 3. dagegen das
genaue Gegenteil. X. druct eine Keine Auflage von, jagen wir, 5000;
3. aber falfuliert mit einer Auflage von 20000 Eremplaren. Bon diejen
5000 jeßt X. rund 3000 Eremplare ab, bei einer geringen Reklame; jo
hat er 3. B. nur 200 Eremplare als TFreieremplare verfandt. Verleger
3. dagegen, welcher annähernd 2000 Eremplare an Zeitungen verjandt
hat, ftellt zur Dftermefle einen Abjak von ca. 12000 Exemplaren feit.
Über „Buch-Auflagen“. 37
Wie Stellt fih nun das Ausgabe: und Einnahme-Conto des X. zu jenem
von 3? Berechnen wir dies unter Zugrundelegung des Ordinärpreijes
von 75 Bf. für die Brofchüre.
Die Brofhüre umfaßt 4 Bogen 8%. Es zahlt alfo &. für feine
5000 Eremplare wie folgt:
20000 Bogen gleich 10000 ——— a Mk. 20 == Mi. 200
Zuſchuß 500 Bogen j j = „ 2
Sak und Drud für 4 Bogen ä Mt. 40 == „ 160
Umjchlagpapier, Satz ꝛc. . = „ 50
Honorar 4 Bogen à ME, 30 = „ 120
Buchbinderkoſten . . RE Een ea 7
Bertriebs- und Geſchäftsſpeſen Be Ber en ar
Sa. ME. 790
oder rund ME. 800.
Die Einnnahmen durch den on der 3000 Er. ergeben dagegen:
3000 Ex. à 5 PB... . . . = Mt. 2250
Nobatt O% -. » » «2 nen. me „ 1135
. Me. 1125
Überfhuß font . . . 2 2 22. 2... ME. 335
Di 1125. Mt. 1125
Hierbei ift aber zu beachten, daß die angenommene Abſatzſumme von
3000 Er. als jehr Hoch gelten muß. In 9 von 10 Fällen wird der
Abſatz ein geringerer jein, vielfach faum 50%, häufig noch weniger, von
der Auflagezahl betragen. Bei einem Abjab von beijpielsweile 2500 Er.
reduziert fi) die Einnahme von ME. 1125 auf (500: 75 Pf. = Mi. 375
abz. 50% = Mi. 187,50) ME. 937,50, bei 2000 Er. jogar auf ME.
750 — alfo auf faum foviel, um die Unkosten der 5000 Er. zu deden.
Bon einem Gewinn kann ſomit in jolchen Fällen jelten Die Rede jein,
und jo iſt es bejjer, bei ſolchen Gejchäftsprinzipien lieber die Herjtellung
einer derartigen Broſchüre zu unterlafjen.
Unders rechnet Kollege 3. Seine 20,000 Er. koſten ihm:
80,000 Bogen gleich 40,000 N amME20 = M
Zuſchuß 2000 Bogen . ; — „ 40
Sat und Drud für 4 Bogen ü DR. 90 = „ 360
Umjchlagpapier und Drud i = „ 200
Honorar à Mi. 40. . = „ 1%
YBuchbinderkoften . s a ne a
Bertriebs- und Geſchäflsſpeſen .. ,4680
un
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S
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38 Über „Buch:Auflagen“,
Durch die erweiterte Reklame wuchien für ihn die Chancen eines
größeren Abſatzes, und jo ift es ihm gelungen, 12000 Eremplare zu ver:
faufen. Wie ftellt fich hier das Refultat?
12000 Er. à 75 Pf. — ME. 9000
hiervon 50 % Rabatt = „ 4500, verbleiben fomit rund
Me. 4500. Hiervon ab
die Unfoften in Höhe von „ 2210, verbleiben ſonach rund
ME. 2290 als Gewinn.
Während Kollege X. nur 345 ME, gewinnt, heimft Kollege 3. einen
Gewinn von rund 2300 ME. ein bei einem Objekt, das für beide ein
Rififo war, von jedem aber faft diejelbe Arbeitsleiftung erforderte. Denn
daß die durch die erhöhte Auflage nötig gewordene Mehrarbeit feinesfalls
den Mehrgewinn abjorbiert, bedarf wohl feiner weiteren Begründung.
Keinesfalls aber kann der Gewinn von 345 ME. des Kollegen &. als
genügendes Aquivalent gelten für die ſeinerſeits aufgewendete Arbeits-
leiftung.
Das angeführte Beiſpiel ergiebt das Refultat des erſten Bertriebs-
jahres. Die weiteren ftehen noch aus und entziehen fich deshalb unjerer
Berechnung. Indeſſen kann fein Zweifel herrichen, daß Verleger Z.,
welcher, wie wir willen, eine Reklame in großem Stile einleitete, auch
für die Zukunft Hinfichtlich des Abſatzes größere Chancen hat als Kol-
lege X., welcher in befcheidenem Maße operierte.
Die Vorarbeiten des Verlegers 3. fihern ihm aljo auch in Zukunft
noch einen reichlicheren Gewinn, von welchen Berleger X. dagegen ſehr
wenig verjpüren wird. Endlich aber ift auch in Betracht zu ziehen, daß
die in der Brofchüre jelbjt bewirkte Injertion der übrigen im gleichen
Verlage erjchienenen Publikationen bei einem größeren Verkaufe natur-
gemäß eine ergiebigere und nachdrüdlichere fein muß, als bei einer ge-
ringen Verbreitung des Buches. Hierin liegt ein weiterer und Dauernderer
Gewinn. Verleger X., der mit demfelben Objekte operierte, fam mit eben
heiler Haut davon; Kollege 3. Dagegen gewann. Wer, fragen wir, hat
von beiden richtig jpefuliert? — Natürlich find die beiden angezogenen
Fälle nicht maßgebend für jede Broſchüre. Inhalt und Zeitverhältniffe
ſprechen Häufig mit, und fo wäre es andererfeit3 ganz faljch, wollte der
Berleger einjeitig nach der Schablone verfahren. Jeder beſonnene Ver—
leger wird ſich darüber klar fein, im welchen Streifen fich Abnehmer für
jeine Publikation finden, und darnach wird er feine eigentliche Berech—
nung aufitellen.
Daß endlich bei Beltimmung der Auflage auch die Art und Weile
der Ausftattung ins Auge gefaßt werden muß, bedarf wohl feiner bejon-
Über „Buch-Auflagen“. 39
deren Bedeutung. Der Berleger hat vor allem für ein gutes äußeres
Gewand zu forgen, für leicht leſerlichen Drud und fehlerfreien Sa,
jowie für gutes Papier, jodaß das Auge des Bücherfäufers ſchon durd)
das Äußere angezogen wird. Hat fo der Verleger bei Ausstattung feines
Berlagswerkes Sinn und Takt walten lajjen, dann wird auch der Sor-
timenter, der Geſchmack und Einficht genug befibt, jich gern für dag Ver—
lagsobjekt verwenden, fein Schaufenjter bereitwillig zur Auslage zur
Verfügung ftellen und auf dieſe Weije für den Abſatz wirken.
2
„Bud und Muſikalienhänoͤler.“
Winfe für die Praxis.
Von Ludwig Hamann.
Im Laufe der Zeit Hat fich der Mufifalienhandel immer fchärfer
vom Buchhandel getrennt und fich als jelbitjtändiger Zweig defjelben ent-
widelt. In Heinen und kleinſten Städten jedoch wird dieſe Trennung
wohl nicht vor ſich gehen Fünnen, weil bei den örtlichen Mufikverhält-
nifjen fi) eine reine Mufifalienhandlung noch nicht ventieren wiirde,
Vielmehr wird der Herr Kollege auch wohl noch „Kunſt“ und „Bapier“
nebenbei führen müſſen, um den Jahresumſatz auf die nötige Höhe zu
bringen. Es wird aljo mancher unjerer Berufsgenofjen zween und meh-
reren Herren dienen, und daß damit Schwierigkeiten verbunden find, wird
wohl ein jeder einjehen und mancher aus Erfahrung wilfen.
Der Chef einer ſolchen Buch-, Mufikalien-, Kunſt- und Bapierhand-
lung, verbunden mit LZeihbibliothef, Sournallejezirkel ꝛe, wie wir fie in
der Provinz zahlreich antreffen, hat ſich natürlich durch langjährige Praris
all’ die vieljeitigen Kenntniffe erworben, um in allen diefen Fächern Be-
jcheid zu wiſſen — wir wollen dies wenigitens bier vorausſetzen. Wie
aber ſteht e8 mit dem Perſonal? Der Sortimenter in der Provinzialftadt
wird wohl nur jehr ausnahmsweije einen jungen Mann finden, der neben
guten buchhändlerischen Kenntniffen auch entiprechendes Mufikalienver-
ftändnis hat, da bekanntlich die mufifalischen Elemente unjeres Standes
es meiftens vorziehen, fi dem reinen Mufifalienhandel zuzuwenden,
Ihon deshalb, weil fie dort durchichnittlich bejfer bezahlt werden. Es
bleiben aljo der „Buch, Muſikalien-, Kunſt- und Papierhandlung“ vor-
wiegend nur Buchhändler, die zumeiſt ohne bejondere muſikaliſche Be—
gabung und Schulung find, Mufitverftändnis alſo nicht beiten. Man
ſoll num nicht glauben, das Publikum der Heinen Stadt wäre in mufi-
falifcher Hinficht weniger anfpruchsvoll. Abgefehen von den doch aller:
orts vertretenen Fachleuten, giebt es in jedem Städtchen gewilje mufi-
Auch: und Muſikalienhändler. 41
kaliſche Kreiſe. Wenn aber dann trotzdem bei manchem „Buch- und
Muſikalienhändler“ am Platze die Nachfrage nach Muſikalien gering iſt,
ſo darf das durchaus nicht verwundern. Dieſer Mangel iſt die direkte
Folge der ungenügenden Zufriedenſtellung der Muſikalienkäufer. Durch
viele praktiſche Fälle ließe ſich das Geſagte leicht belegen. Wir wollen
nur einiges hier anführen. Kommt da jemand in den Laden und ver—
langt: „Schubert, Forelle.“ Eiligſt ſtürzt der befliſſene Jünger einer
ihm vollſtändig gleichgültigen Kunſt zu den Büchern über Fiſchzucht oder
Naturgeſchichte und ſchleppt alles herbei, was er in der Nachbarſchaft
Brehms fand. Die „Stumme von Portoriko“ und andere ſchöne Ver—
drehungen gehören ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. Und nun gar
erſt, wenn der nichts ahnende Buchverkäufer über Tonart einer Sonate,
Schwierigkeit eines Salonſtückes, Alt- oder Baßſchlüſſel u. ſ. w. gefragt
wird, ihm wird von alledem ſo dumm ...... Auch fommt weiter vor,
daß dem jungen Kollegen vom Sortiment viele der modernen Hauptopern
— von den Novitäten ganz abgejehen — nicht einmal dem Namen nad)
befannt find, geichweige denn die Komponiſten u. ſ. w.
E3 gehört ja nun freilich manches hiervon zur allgemeinen Bildung
und jedenfalls müßte jeder Notenverfäufer über ſolche Dinge uuterrichtet
fein. Das muſikaliſche Publikum jedoch ift, wie erwähnt, anfpruchsvoll;
und Wünjche und Fragen werden dort rege, zu deren Befriedigung und
Beantwortung entichieden ein gewiljes Maß von Mufitverftändnis erfor-
derlich ift, das außerhalb unferer „allgemeinen Bildung” liegt. So manche
Mufifliebhaber find bei Bedienung durch einen allzu eifrigen Kollegen in
helle Verzweiflung geraten und haben fi) in der Folge — „der Not ge-
borchend, nicht dem eignen Triebe” — an ein großltädtiiches Mufikjorti-
ment gewandt, wo fie eine ziwedentiprechendere Ausführung ihrer Bes
jtellungen erwarten dürfen.
Wie wäre nun diejen Mißftänden zu fteuern? Kann, jo fragen wir,
ein Buchhändler ohne mufifaliiche Begabung fich ſoviel Mufikverjtändnis
aneignen, als er zum prompten Bedienen des Publikums — worauf ja
alles anfommt — nötig hat?
Bei einigem Fleiß, bei Luft und Liebe zur Sache läßt ſich hier
manches erreihen. Wir wollen verfuchen, hier einige praktische Winfe zu
erteilen. Die Notenfenntnis bringt wohl jo mancher ſchon von der Schule
mit; iſt Dies nicht der Fall, jo wäre das Erlernen der Noten, das ja nur
einen geringen Zeitaufivand erfordert, die erjte Hauptbedingung. In un—
zähligen Liederbüchern, Harmonielehren, Klavierjchulen u. |. w. findet man
eine fürzere oder ausführlichere Belehrung über die Notenzeichen und
ihren Wert, und wer der Sache nur ein wenig Intereife entgegenbringt,
wird fich jchnell joviel Kenntnis angeeignet haben, als zum Leſen bez.
42 Buch- und Mufifalienhändler,
Erkennen und Bezeichnen der Notenjchrift gehört. Natürlich) wird man
damit die Noten noch nicht etwa fingen oder gar jpielen können, aber
das Erfordernis wird ja an den Notenverfäufer im Allgemeinen aud)
nicht geftellt. Neben der Kenntnis der Notenzeichen aber wird man fi)
über die Tonarten unterrichten müffen, um auf die Frage, ob ein Muſik—
ftüd in diefer oder jener Tonart gejchrieben oder zu haben ift, Auskunft
erteilen zu fünnen, Auch hierüber unterrichten uns die vorgenannten
Bücher, gewöhnlich in ihren fpäteren Kapiteln.*)
Dann wäre wohl noch die Frage zu berühren, wie man ein Mufif-
ftüd in Rückſicht auf leichtere oder ſchwerere Spielbarkeit abſchätzt. Zu—
meift urteilt der junge Muſikalienverkäufer mit richtigem Iuftinkt einfach
danach, ob die Notenblätter recht „schwarz“ ausjehen, d. h. recht viele
Sechzehntel und Zweiundbreißigftel und, wie bei Pianoforte-Noten, volle
Alforde vorfommen. Ein ſolches Muſikſtück hält er dann für ſchwierig
und im Allgemeinen wird fein Urteil vielleicht zutreffen. Es ift jedoch
in erfter Linie die Vortragsbezeihnung zu beachten, denn eine WViertel-
Note im „presto* wird jchneller genommen werben müſſen, wie eine
Actel-Note im „grave*. Man wird fid) alfo auch die Vortragsbezeich-
nungen, die vorwiegend italieniichen Urjprungs find, einprägen. Daneben
beachte man, daß ein Stüd gewöhnlich jchwieriger ift, wenn es viele Vor—
zeichen, 3. B. 4 oder 5 Kreuze u. ſ. w., hat; bie leichtefte Tonart ſomit
C-dur ift.
Anmerfung. Da die Darjtellung für den Laien, der fich jelbit unterrichten
will, oft Schwer verftändlich ift, wollen wir nicht verfäumen, bier furz einige
praftiihe Andeutungen zu machen, die man nad) Erlernung der Notenzeichen be:
rüdfichtigen follte, Man erfennt die Tonart gewöhnlich aus den am Anfange
eines Muſikſtückes ftehenden Notenerhöhungs: oder Notenerniedrigungäzeichen,
nämlich: + oder b, und da wird man fich vorerit die verjchiedenen Durtonarten,
wie man fie in den Büchern dargeftellt findet, einprägen müſſen. Es tft dabei
aber zu beachten, daß die den Durtonarten verwandten Molltonarten die gleiche
Vorzeihnung wie die erfteren haben, 3. B. Es-dur und C-moll je drei b, A-dur
und Fis-moll je drei # u. f. w. Die Unterfcheidung zwiſchen Dur und Moll it
für den Anfänger nicht gerade leicht, und man hilft fich gewöhnlich damit, daß
man die lebte unterste Baßnote auffucht und danach die Tonart beitimmt. Sclieht
3.2. ein Muſikſtück mit der Note d, fo tit daffelbe, wenn es zwei Kreuze als Vor:
zeichnung bat, in D-dur gefchrieben; hat diefes Mufifitüd aber ein b als Vor:
zeichnung, dann fteht es in D-moll, der verwandten Tonart von F-dur. Dieſe
Methode der Auffindung einer Tonart ift zwar nicht abfolut zuverläffig, weil
einige wenige Kompofitionen von der Regel, ein Stüd in der Anfangstonart zu
beichließen, abweichen. Indeſſen wenn ein Mufifalienhändler dieſe Methode be:
berricht, wird er faum in Verlegenheit fommen. Wer ganz fiher gehen will,
jtudiere in der Muſiklehre weiter nad, wie man den Grundafford eines Stüdes
und jomit die Tonart findet, eine Anweifung darüber bier zu geben, würde zu
weit führen.
Bud: und Muſikalienhändler. 43
Ueber die Schwierigkeit der Noten für einzelne Inftrumente ließ ſich
ebenfalls noch manches jagen, doc) beſchränken wir uns nur, darauf hin-
zuweilen, daß in den befannten Führern durch die Klaviermufif ein
reiche8 Material angefammelt ift, das ung über die hauptjächlichiten
Mufikalien für diefes Inftrument unterrichtet.
Weiter wäre noch dem jungen Mufitalienhändler ein häufiger
Konzert: und, wo dies möglich, Theaterbeſuch anzuraten. Hierbei iſt
aber nicht nur der Muſik jelber, fondern daneben aud dem Programme
bejondere Aufmerkjamfeit zu widmen. Die Erfahrung lehrt, daß das
Publikum vielfah auf die zum Vortrage gelangten Stüde zurüdkommt.
Daneben ift dann das Lefen der Kritifen, ſowohl der Lofalblätter, wie der
größeren Mufifzeitihriften, natürlih ebenfalls erforderlih, ſchon in
Rüdfiht auf die Novitäten. Es hieße nun Eulen nad) Athen tragen,
wollte ich endlich noch muſikwiſſenſchaftliche Bücher zum Studieren em—
pfehlen. Wer fich gedrängt fühlt, fich noch weiter in die Myſterien der
Muſik einzuweihen, der wird in den kritiſchen Schriften von Hanslid,
Kretichmar u. ſ. w. und in einer Mufitgefchichte genugſam Stoff hierzu
finden. Nur rate ih, eine Feine Mufifgefchichte zu wählen, denn die
didbändigen werden auch den Strebjamften ermüden, umfomehr, als zum
Verſtändnis der eingeflochtenen mufifalischen Theorie mufifaliiche Begabung
und praftiiche Kenntnifje gehören. Hat man fich aber durch Notenfennt-
nis, durch Öfteres Hören von Muſik und fpäteres Nachlefen der Kritiken
einen beftimmteren Begriff über das Weſen diefer Kunft verjchafft, dann
wird man bald beim erneuten Hören eines Stüdes demjelben ein grö-
Beres Intereſſe entgegenbringen; man wird eigne Kritik — die allerdings
immer zurüdhaltend bleiben muß — üben, und man wird daneben den
Geſchmack (und die Gejchmadlofigkeit!) des Publikums ftudieren.
Und nun komme ich zu einem Punkt, der nach praftiicher Erfahrung
von bejonderer gejchäftlicher Bedeutung für den Notenverfäufer ift. Ich
meine den gejellichaftlichen Umgang in muſikaliſchen Streifen.
Wer durch perjönliche gejellichaftlihe Eigenſchaften in die Kreife der
praftiihen Mufifer einzudringen vermag, erlangt für fich ſofort einen be-
jonderen Vorteil. Nicht nur, daß folche Beziehungen durch direkten Ab—
ja und Empfehlung gefhäftlich von größtem Nuten find, der aufmerf-
ame Mufifalienhändler wird auch für fein Mufikverftändnis durch manche
Unterhaltung profitieren. Er wird ſich auf diefe Weije bald ein, wenn
auch bejcheidenes, Urteil über den Wert und Unwert der Mufifalien bil-
den Fönnen und dem Wunjche des Publikums und der Geſchmacksrich—
tung u. |. w. näher fommen,
Bor Jahrzehnten, als der Markt des Buchhandels wie des Mufi-
falienhandel3 noch nicht wie heute überſchwemmt war, war eine Leber:
44 Buch- und Mufifalienhändler.
jicht auf beiden Gebieten zugleich noch eher zu ermöglichen, das Publikum
war auch noch weniger verwöhnt und anipruchsvoll. Heute aber liegt in
der Beherrſchung zweier an fich jo verjchiedener Materien, wie Bücher
und Mufik, eine große Schwierigkeit. Die Folge davon ift die Speziali-
fierung, wie fie ja auch jekt im YBuchjortiment immer weiter fortjchreitet
und zur gedeihlichen Gejchäftsführung bald von Nöten werden wird.
Im Hinblid auf den Vorteil der Spezialifierung können wir den-
jenigen Buchhändlern, die mufifaliiche Begabung haben und diefelbe durch
perjönliche Ausübung eines Inſtrumentes bethätigen, nur raten, ſich aus-
Ihlieglih dem Mufifalienhandel zuzuwenden. Die BVBerhältniffe Tiegen
dort ohne Frage günftiger wie im Buchhandel, und e8 wird dann ver-
hindert, daß, wie es jegt der Fall ift, foviel praftiiche Muſiker fich in
unjeren Beruf eindrängen. Daß die letzteren ihren Poften vielfach mit
größerem Erfolg vertreten, beweilt zur Genüge, daß beim Mufikalien-
handel Mufikverftändnis eine große Hauptjache bildet,
Wenn wir indeß dem Buchhändler, der Schon Mufikverftändnis be-
fißt, anraten, fih dem Mufikalienhandel zuzuwenden, weil es für ihn
danfbarer ift, jo müſſen wir daneben aber auch gleichzeitig konftatieren,
daß es bedauerlicher Weile nody an einer geeigneten, einigermaßen er-
Ihöpfenden Darftellung des Weſens und Betriebes des Mufikalienhan-
dels fehlt, die dem Befliſſenen Gelegenheit bieten fünnte, fich für dieſen
Spezialberuf vorzubilden.
Die „Buchhändler-Akademie“ Hat ſich neben vielen anderen auch dieſe
Aufgabe geftellt und wird nad) und nad) verjuchen, dieje thatſächlich
vorhandene Lücke auszufüllen. Wir ftellen diefen Gegenftand hiermit ge—
wiffermaßen zur Diskuffion und würden erfreut fein, wenn wir in Den
nächften Nummern eine Anzahl Meinungsäußerungen von Kollegen, die
in der Praris ftehen, bringen könnten. Denn die Zahl derer, die aus
diefer Materie Nuten zu ziehen vermögen, ift Feine geringe.
Dwanglofe Runoͤſchau.
Mit der „Buchhändler:Afademie” fol auch die „Zivanglofe Rundſchau“ wieder
auferftehen, die fich einft jo großer Beliebtheit erfreute. Dabei jet dem geneigten
Leſer gleih im Anfange verraten, daß der neue Rundſchauer mit den beiten Ab:
fihten an's Werf geht umd möglidit in die Fußſtapfen des alten treten will.
Item: man fann heutzutage, two die Oberflächlichfeit Trumpf tft, wo das paten:
tierte und privilegierte Mittelgut dominiert, nichts befjeres thun, als fih an ein
bewährtes altes Vorbild anlehnen. Zugleich fer auch hier mit zwei Worten das
‘Programm entwidelt, das für dieſe Rubrif feitgebalten werden joll: Die „Zwang:
loſe Rundſchau“ wird in der Hauptſache das Gebiet der Biographie und Biblio-
graphie berüdfichtigen und allen den Vorgängen Aufmerkfamfeit jchenfen, die mit
Buchhandel oder Yitteratur in engerem oder loferem Zuſammenhange ftehen,
dabei aber mehr fonftatierend und regijtrierend, denn fritifch gehalten fein. Im—
merbin wird fih der neue „Rundfchauer“ die Freiheit nehmen, ab und zu ein
eigenes Wörtlein hinzuzufügen, das feine ganz unmaßgeblidhe, höchſt jubjeftive
Anihauung darthut. Das Horoſkop rechtfertigt diefen Vorfaß: In den Auf:
erftehungsmonaten der Buchhändler:Afademie, dem Juli und Auguft, in denen
die vielen Kongreſſe und Verbandstage ftattfinden, wurde die Neigung, auch ein-
mal in die Debatte einzugreifen und zu einer „perjönlichen Bemerkung vom
Plate aus“ das Wort zu erbitten, mit geboren.
Warum grade der Juli und Auguft zu Kongreßmonaten fich herausbildeten,
darüber find fich die Gelehrten noch nicht einig. Vielleicht ift die große Hitze
daran jhuld. Die Sonne brütet am Himmel und jendet glühende Strahlen auf
die Erde hinab; in den Köpfen der winzigen Menfchlein drunten beginnen die
Mauferitoffe zu gähren (wie die Naturheilfundigen behaupten), und dadurch wer:
den mwahricheinlih die Anträge und Amendements für den Verbandstag flügge,
die bis dato noch unſchädlich ald Embryo fhlummerten. Da rüften fih die Hi:
ftorifer und die Dachdeder, die Schriftiteller und die Sntereffenten der Bled):
indujtrie, die Philologen und die Karnidelzüchter, die Sangesbrüder und bie
Schüsen — die ganze Welt ift fchier ein einziges Abgeordnetenhaus geworben.
Einer der Kongreffe, der und indbefondere intereffiert, fand vor einiger
Zeit in Halle a. ©. ftatl. Er war von dem Verein jüngerer Buchhändler
„Saldo“ in Hannover einberufen worden und galt der Begründung einer „ALL:
gemeinen Bereinigung der Buhhandlungägehilfen" Die Notwendig:
feit einer folden Korporation wurde daraus gefolgert, daß der „Verband“ mur
praktiſche (Wohlfahrts:) Zwecke verfolge, dagegen die idealen Berufs: und Stans
46 Zwangloſe Rundichau.
desintereffen nicht vertrete. Der Zweck der „A. V. d. 3.“ foll nah dem Pro:
grammentiwurf fein: Wahrung der Berufs: und Stanbesintereflen und freie Aus
ipradhe über ſchwebende Tageöfragen (u. a. Stellungnahme zur Yehrlingszüchterei,
zur Gebilfinnenfrage, zur UÜberfüllung des Gehilfenitandes, zu Gehilfeneramen
und Befähigungsnachteis); ferner Stellenvermittelung, verbunden mit Auskunfts—
ſtelle. Ihre Ziele will die Vereinigung durd Zentralftelle, Landesverbände und
Drtögruppen fördern. Bon 51 in betrat fommenden Lofalvereinen ſtimmten
34 dem Projekte bei, 11 verhielten fih abwartend und nur 4 lehnten direft ab.
Es wurde ein Jahresbeitrag von ME. 3,—- fejtgeicht, wofür „Unſer Blatt” als
Vereinsorgan gratis geliefert wird. Der Zentralvorjtand jest ſich zuſammen aus
den Herren: Steinbider (Vorf.) und Döring (Schriftf.), beide in Hannover, jowie
Thomas (Kaffenwart) in Leipzig.
Ein wenig fpäter wie der Gehilfentag in Halle fand in Heidelberg der
IV. Allgemeine deutihe Journaliſten- und Scriftjtellertag ſtatt. Er
geitaltete fih zu einer glänzenden, wabrbaft pompöien Feier, an der die ganze
Bevölferung Anteil nahm und die fih an die früheren Kongreiie in München
und Hamburg vollberehtigt anjchließt. Diefe Zufammenfunft der Helden der
Feder aus Nord und Süd hatte die Begründung des bereits in Hamburg be-
ichlojienen „Verbandes deutiher Journaliften: und Scriftitellervereine” zum
Zwed, welder ebenfalld die beitehenden Yofalvereine zufammenfaßt und gemein:
jame Intereſſen vertreten ſoll. Als jolche wurden geltend gemadt: Fragen des
Urheber: und Verlagsrechts, des Preß- und Preßſtrafrechts, Standeschre und
Standeöfragen, Alters:, Wittwen- und Waifenverforgungen. Mean erfiebt aus
diefer flüchtigen Skizzierung des Programmıes, daß dieſe neue Vereinsbildung
auch die Aufmerffamfeit ded Buchhandels in vollem Maße beanfprucen kann.
Möchten die „Intereſſen“, die hüben und drüben Bertretung finden, immer nur
gemeinfame fein und nie mit einander follidieren — zum Beiten der Litteratur
und ihrer Träger, als welche der Schriftiteller Sowohl wie der Buchhändler zu
betradten ift. Dem Berbande traten 18 jchriftitelleriiche Vereine bei, darunter
die angeſehenſten lofalen Korporationen, wie 3. B. die „Goncordia” in Wien, der
Verein „Yeipziger Prefle”, die Hamburger Bereinigung u. a. m. Der Berein
„Berliner Preſſe“ fehlt — ein Umſtand, der abermals darthut, daß der „Berli:
nismus“ der jchlimmite Partifularismus ift, den Deutſchland beſitzt.
(Sleichzeitig mit diefem Kongreife hielt in Heidelberg die „Benitonsanftalt
dbeutiher Journaliften und Scriftiteller (A. ®) in Münden“ ihre
ziveite ordentliche Generalverjammlung ab. Sie bejitt 500 Mitglieder und ver-
fügt nad faum zweijährigem Beftehen über ein fehr anjehnliches Vermögen. Die
Verhandlungen bieten für Außerhalbitehende nichts Bemerkenswertes weiter, Da:
gegen find für Buchhändlerfreife zivei Anträge von Intereſſe, deren eriter dem
Vorjtande zur Berüdjichtigung überwiejen, deren zweiter auf die nächſte Tages:
ordnung gelebt wurde. Es find die folgenden:
Antrag des Ortöverbandes Brünn: „Es werde feitens des Vorftandes der
Penſionsanſtalt ein Rundihreiben an alle Berleger und Autoren gerichtet, worin
diejelben gebeten werden, von jeder neu erichienenen Druckſchrift (Buch, Broichüre,
Zeitung u. |. iw.) ein fir allemal einen Betrag von 1 ME. an die Benfionsanjtalt
zu leiften,“
Antrag des Ortsverbandes Darmitadt: „Jene Werfe, welche nach dem be:
jtehenden Urheberrecht 30 Jahre nah dem Tode ihrer Verfaller drudfrei geworden
Zwangloſe Nundichau. 47
find, follen nicht mehr der unbeichränften Ausbeutung dur die Buchhändler
preiögegeben werden. Es ift dahin zu wirfen, daß von diejen Werfen von Seiten
der Verlagsbuchhändler ein feitzufegender Prozentia an die Benfionsanjtalt ent:
richtet wird.“
Über beide Anträge läßt fich reden, jobald fie an uns herantreten, Jeden:
falls wird der deutiche Buchhandel zu finden fein, wenn man an fein Billigfeits-
gefühl appelliert.
Ein Zufammenwirfen beider Faktoren, des Autors ſowohl wie des Bud)
händlers, wird immer dringender nötig. Welch’ großes, gemeinfames Gebiet
bildet nicht allein die Litterargefeßgebung und die „Litteraturpolizei.” Einer der
jenfationelliten Fälle im Neiche der letzteren ift wohl die Verurteilung des
Schriftſtellers Dr. Panizza, des Verfaſſers des „Liebeskonzil”, zu einem
Jahre Gefängnis. Man wird zugeben, daß, wenn Vorgänge von ſolcher Tra—
gik möglich ſind, Alle zuſammenſtehen müſſen, die nur irgendwie Beziehungen zu
Litteratur und Publizität haben, um Einfluß auf unſere Geſetzgebung zu erlangen.
Außerdem handelt es ſich nicht nur um ideale Güter, ſondern meiſt auch um be:
deutende reale Werte. Ein verurteilter Autor, ein fonfisziertes Buch — beides
find Dinge, die aud mit Zahlen in den Geſchäftsbüchern verzeichnet werden
müſſen. Panizza foll fich übrigens — nad Anſicht des Staatdanwaltes — eini-
ner D Gottesläjterungen jchuldig gemacht haben. Seine Verteidigung und das
Gutachten des im Prozefle ald Sahverjtändiger fungierenden Münchener Schrift:
jtellerö Conrad find jest in Broſchürenform erichienen.
Diefe Solidarität der Intereffen wird noch dadurch verftärft, daß die Fälle
fih mehren, wo der Scriftiteller Selbjtverleger und der Verleger fein eigener
Autor ift. Das ift fein Fehler, vorausgeſetzt, daß dabei etwas ordentliches her:
ausfommt — aus der Prefje und aus der Bilanz. Einer der erfolgreichiten
Selbitverleger it zur Zeit wohl der befannte Lerifograph Geh. Hofrat Prof.
Kürfchner, der jüngit fogar im Bericht der Älteften der Berliner Kaufmann:
Ihaft fungiert. Dort wurde in dem den Buchhandel betreffenden Paſſus (fiche
Börfenblatt Nr. 195) über die Nichtzünftigen und Bönhafen geflagt und dar:
gelegt, daß Kürſchner fein Feines Lerifon (wie auch jet feine Kriegsgeichichte)
mit Umgehung des Buchhandels durch Zeitungen und Gefchäfte vertreiben läßt,
Erfreulih ift das für den Buchhandel nicht, aber es läßt fi nichts Dagegen
thun. WVielleiht bewirken ſolche Erſcheinungen, daß fih der Buchhandel einmal
flar wird, ob gewifje Klagen über mangelnde Leiftungsfähigfeit (den Abſatz be:
treffend) berechtigt find? Und ob er vielleicht neue Bahnen einschlagen, mehr
faufmännifh im modernen Sinne (i Reklame, Reifende 20.) manipulieren muß?
Das ift gewiß eine ketzeriſche Anficht für diejenigen, denen der „Ordinärpreis"
Grundprinzip und unantaftbares Heiligtum bildet. Aber auf der andern Seite
fteht wieder Prof. Kürfchner, einjt Leiter einer der größten Buchhandlungen, ein
feiner, kluger und erfolgreicher Geihäftsmann. Und er behauptet, ohne den
Buchhandel erreiche er mehr, ala mit ihm... ..
Eigentlih wäre das ein präcdtiger Vorwurf für ein Preisausſchreiben.
Thema: „Der Ordinärpreis — Einkehr oder bleibt'3 beim Alten?” Wielleicht
nimmt fih dad der Verlag von Paul Beyer in ‚Leipzig ad notam, ber
unlängst das Ergebnis feines im Juli erlafienen Preisausſchreibens verfündigte.
Über den „Beruf des Buchhändlers“ gingen ihm zwölf Manuffripte ein, deren
Durhiicht und Prüfung die Herren Baul Baumann, Hofbuhhhändler in Deſſau,
48 Zwangloſe Rundicau.
N. Gebhardt in Fa. Renger'ſche Buchhandlung in Leipzig, G. Genfel in Grimma,
B. Hartmann in Elberfeld und Johannes Ziegler in Fa. Fr. Voldmar in Leip—
zig als Preisrichter zu übernehmen die Güte hatten. Der ausgejebte Preis wurde
der unter der Bezeichnung „Wer den Geifte dient, der dient der Welt“ einge:
fandten Arbeit zuerfannt. Ihr Verfaſſer iſt Herr Georg Hoelſcher in Köln
a. NH. Als nädhitbeite Arbeiten wurden bezeichnet: „Habent sua fata et manu-
scripta“(Verfaſſer Herr Anton Schwering i. H. Deutjche Verlagsanitalt in
Stuttgart) und „Nil sine magno vita labore dedit mortalibus“ (Berfaffer Herr
Martin Hoefer in London N.)
Dod ich will nicht vorgreifen — um mit Paula Erbswurit zu fpreden —
und überlafie e8 dem Kollegen Beyer füglich, feine Themata ſelbſt zu wählen;
ſchon deshalb, weil er vielleicht unverfänglichere vorziehen möchte. Auch ift mir
das jtrenge Gebot geworden, die erite „Zwangloje Rundſchau“ nicht zu lang aus—
zudehnen, Auf Wiederfehen denn das nädite Mal! R.
Rudolf von Gottfhall
als Litterachiftoriker und Kfthetiker.
— ——
Das Bild, welches wir uns von Gottſchall's litterariſcher Thätigkeit
ſeit mehr als einem halben Jahrhundert machen, würde in weſentlichen
Zügen lückenhaft und unvollkommen fein, wenn wir nur ſeiner poetiſchen
Thätigkeit, und nicht auch ſeiner ausgedehnten Wirkſamkeit auf dem Ge—
biete der litterariſchen Hiſtoriographie und Kritik gedenken wollten. Man
könnte dieſem Teile ſeiner Thätigkeit, dem er übrigens ſeinen ſchriftſtelle—
riſchen Ruf mit verdankt, die Rubrik geben: „Gottſchall in ſeinem Ver—
hältnis zur Wiſſenſchaft.“ Zur Wiſſenſchaft? Freilich iſt die Litteratur—
geſchichte heute weit mehr eine Kunſt als eine Wiſſenſchaft. Als Kunſt
jedoch angeſehen, iſt ſie heute ganz etwas anderes als die frühere „Litte—
rärhiſtorie“. Die zopfig-gelehrte alte Dame mutet ung, wenn man jo
einen ſtark beſtäubten Band von Eichhorn, Wachler oder Gräße zur Hand
nimmt, gar ſeltſam an inmitten der eleganten, mit aller Fineſſe der mo—
dernen Feder ausgeftatteten Salonſchönen: Der ſchwerfällige, graue
Schweinslederfoliant unter dem leichtgeſchürzten übermütigen Schwarm
der zierlichen Feuilletons ....
Gottſchall als Litterarhiſtoriker verdient deshalb eine nähere Be—
achtung, weil in ihm in der That ein gut Stück modernen Geiſtes zum Aus—
druck gekommen iſt. Er beſchreibt allerdings nur die litterariſche Entwicke—
lung Deutſchlands im 19. Jahrhundert. Die erſte 1854 in zwei mäßigen
Bänden erſchienene Auflage konnte natürlich nur von der „erſten Hälfte
des 19. Jahrhunderts“ sprechen. Das Werk ift aber ſeitdem auf vier
Bände angewachſen. Es iſt in die Breite gegangen, ob auch in Die
Tiefe, wollen wir jpäter jehen. Aber Gottichalls Selbitbeichränfung,
welche nur die litterariiche Entwidelung Deutjchlands im Auge hat, it
doch nur ſcheinbar; thatjächlich reflektiert fich der Prozeß des modernen
europätichen Geiſtes, der in allen heutigen Eulturländern jolidariich und
{0 ziemlich derjelbe tft, in diefen Bänden. Und Hierin befteht der uni—
4
50 Rudolf von Gottſchall als Litterarhiftorifer und Ajthetiker.
verjelle Charakter der Gottſchall'ſchen Geſchichtsſchreibung. Worin befteht
nun aber das Wejen diefer Modernität, al3 deren litterariichen Repräjen-
tanten Gottſchall ſich gern und oft in feinen Schriften dem Publikum
vorſtellt? Er thut es in bewußter Abficht, und zumal einem litterarifchen
Kollegen gegenüber, den er nicht mit Unrecht als feinen Antipoden an-
fieht. Die älteren Leipziger werden ſich des Eleinen unterjeßten Mannes
mit dem geiftvollen Kopfe und dem jelbftbewußten, Feen Litteratengeficht
noch erinnern. Es war Julian Schmidt, der in den fünfziger Jahren
mit Kuranda und Guftav Freytag in „Ichneidigepreußiichem” Sinne die
„Srenzboten“ hier redigterte. Gottjchall lebte damals in Breslau und
hauchte feinen Groll über das Scheitern der „glorreichen” Revolution
von 1848 in elegijch-pejfimiftiichen Liedern aus. Schmidt und Gottichall
haben das Gemeinfame, daß fie beide in ihren Univerfitätsjahren durch
das Feuer der dialektiſchen Philoſophie der Hegelihen Schule hindurch—
gegangen waren und den evolutioniftiichen Geift dieſer Lehre in Bezug
auf Staat und Gejellichaft, Kirche und Schule in fih aufgenommen
hatten. Hatten beide ja jogar denfelben Lehrer in der Philoſophie, Karl
Rofenkranz in Königsberg. Während aber Schmidt fich jehr bald „häu-
tete” und ing reaftionäre Lager überging, hatte unjer jchlefiicher Poet fich
mit der ganzen glühenden Sehnfucht des Jahrhunderts erfüllt und dieſer
Stimmung mit gewaltigem Pathos in einer Unzahl Dramen, Epen und
Igriichen Ergüffen Ausdrud gegeben. Er dünkte fi) Byron, Hobespierre
und — Don Juan in einer Perjon.
Es ift fein Zweifel, daß Gottichall, als er im Jahre 1854 jeine
„Deutihe Nationallitteratur” bei Trewendt in Breslau erjcheinen ließ,
auf dem Boden Jungdeutſchlands, des rüdfichtslofen Gegners der reaktio-
nären Romantik, ſtand. Man braucht nur feine ſchwungvollen Hymnen
auf die Führer des jungen Deutichlands, die begeilterten Apotheojen
(Börne's Tod, auf Heine, auf Sallet, Freiligrath, Lenau 2c.) in der
„Boetiihen Walhalla” vom Jahre 1842 (jpäter in die „Gedichte“ 1849
aufgenommen) zu lejen, um feinen Gegenjag gegen Julian Schmidt’s
nüchternphiliftröje, im Grunde aber durch und durch reaftionäre Auf—
fafjung unferer litterariichen Entwidelung zu verftehen, um zu begreifen,
daß Gottihall in den Jdeen und Stimmungen Jungdeutichlands wurzelte,
wenn er in der Vorrede zu feinem litterarbiftoriichen Werfe ſchrieb: „Die
Klaſſiker ſchufen uns die fünftleriihe Form nad antifem Vorbild und
mit humanem Geijte; die Romantiler zerftörten dieje Form wieder, um
die Phantafie von gegebenen Formen zu emanzipieren und die Dichtung
volfstümlich zu machen, verfielen aber dabei in eine chaotiſche Urpoeſie
und in die Abhängigkeit von nur jcheinbar volfstümlichen, mittelalterlichen
Überlieferungen. Ihr Streben, die Poeſie mit dem Leben der Gegen-
Rudolf von Gottichall als Litterarhiftorifer und Ajthetiker, 51
wart zu vermitteln, wurde von der modernen Richtung wieder aufge-
nommen, welche gleichzeitig im Ringen nach Fünftleriicher Vollendung an
unſere Klaſſiker anfnüpfte, Die Anerkennung des Grundſatzes, daß die
Poeſie nicht erperimentieren, jondern im Geiſte ihres Jahrhunderts dichten
jolle, um echte Volfstümlichfeit und ewige Dauer zu gewinnen, jchafft erft
die moderne Poeſie. Won der helleniichen Plaſtik überfommt fie die Klar—
heit der Form, von der romantijchen Innerlichkeit die Blüte des Gefühls;
aber fie verjöhnt beides auf dem neutralen Boden des rein Menjchlichen,
deffen Emanzipation eben der Geiſt diejes Jahrhunderts it. Sie kennt
weder Homer’3 Olymp, noch Dante's Hölle und Paradies — fie ftellt
den Menjchen auf feine eigenen Füße und jeine Kraft, jeine Schönheit
und jeine Größe wird ideal ohne tranjcendente Beleuchtung. So wird
die Humanität unferer Klaſſiker zur jchönften Blüte gezeitigt und das
Streben der Romantifer, die Poefie überall im Leben zu juchen, zur
Vollendung geführt. Die Vergangenheit wird durd) die Gegenwart be-
ftimmt, nicht die Gegenwart durch die Vergangenheit, deren Duft jo wenig
zur Poeſie gehört wie der myſtiſche Höhenrauch des Jenſeits. Das nächlte
Leben der Gegenwart zu jchildern, entadelt nicht mehr die Kunft; fie
gipfelt in ihrem Geiſte.“
Dies ift auch der äfthetiihe Katechismus der litterariichen Führer
des „Jungen Deutjchland”, der Gutzkow, Mundt und Wienbarg gewefen.
Aber wenn dieje gegenüber dem frommen Madonnentum der NRomantifer
der „Emanzipation des Fleiſches“, Gerechtigkeit widerfahren ließen, fo
weiß Gottichall aus der Dialektif der Hegel’ichen Philojophie, dag im
menjchlichen Leben — aud was das Diesjeit3 und Jenſeits betrifft —
nichts „abjolut” zu nehmen iſt. Was daher im Tone feiner gejchicht-
lihen Darftellung, mehr freilich noch in den jpäteren Auflagen, bei aller
Feſtigkeit jeiner eigenen, in religiöfen und politiichen Fragen durchaus
liberalen Überzeugung, jo wohlthuend berührt, dies ift eine gewiffe Re-
lativität der Auffafjung, die ihn den Parteien und Strömungen gegen-
über völlig gerecht erjcheinen läßt. Nur in einem Punkte fchien er un-
verjöhnlih zu fein; dies war gegenüber dem neudeutſchen Realismus
eines Guſtav Freytag, Berthold Auerbach, Otto Ludwig, Jeremias Gott-
helf u A., welcher auf den „KRosmopolitismus” Jungdeutichlands folgte
und der in Julian Schmidt einen fo fanatifchen und gewandten Für—
Iprecher fand. Dieſen neudeutichen Realismus, der, wie Freitag jagt,
„das deutſche Volk bei der Arbeit jucht”, hat Gottichall in jeinen wirklich
begabten Vertretern zwar vollauf und gerecht gewürdigt. Uber er ver-
mochte ihn doch nicht als den Gipfelpunft aller Poeſie anzuerkennen.
Das Höchſte, wozu es der Realismus bringen könne, ſei das Genrebild,
welches an feiner Stelle vollkommen berechtigt, aber, wo es den gejchicht-
4*
52 Rudolf von Gottfchall als Litterarhiftorifer und Äſthetiker.
lichen Geift vertreten und darjtellen joll, einjeitig und ungenügend jei.
Die Eleine poetische Genremalerei ſei nicht das Höchſte in der Dichtung,
die fih mit den höchiten Fragen der Menjchheit, mit den bedeutenditen
Kämpfen des Geiftes, mit den tiefften Empfindungen des Herzens be-
ihäftigt, die ihren Ausgang nimmt aus jenen Heiligtümern, in denen jeit
den ehrwürdigen Zeiten der Urwelt der Quell aller großen Dichtung ent-
iprang. Nur eine ſolche Poejie werde fich die Weihe echter dichterijcher
Urjprünglichkeit wahren. Dieje Antipathie Gottſchall's erjtredt ſich auch
auf den fulturbiftoriichen Roman, joweit er eben nur die äußerlichen
Seiten einer bejtimmmten Zeitperiode, jo zu jagen das hiltoriiche Koftüm,
zu Schildern beabfichtigt. „Ich verwerfe*, jagt er, „die Behandlung alles
nur antiquariich Intereffierenden, aller abgethanen Fragen der Menſch—
heit, alles Hiftorischen, dem die unmittelbare Beziehung zur Gegenwart
fehlt, das feinen Nerv unjerer Zeit eleftrifiert, und verlange vom Dichter,
daß er den Genius jeiner Zeit in jeinen Werfen erfaßt und widerjpiegelt.“
Das litterariiche Leben eines Volkes ſteht im innerjten Konner mit
jeinen politiichen, religiöjen, wiſſenſchaftlichen, Fünftleriiden und öfonomi-
ichen Zuftänden. Diele Erfenntnis, wejentlich ein Rejultat der Gejchichts-
philojophie unjeres Jahrhunderts, hat zur Folge gehabt, daß alle Littera-
turgefhichte nur vom kulturhiſtoriſchen Geſichtspunkte aus gejchrieben wer-
den darf. Es giebt feine Nationalpoefie eines Volkes ohne Zujammenhang
mit den fittlichen Zuſtänden desjelben, und dieſe hängen wieder mit den
jozialen Verhältniſſen zuſammen. So ilt denn die Gejchichte der Poeſie,
wenn fie nicht rein äußerlich äfthetiich gefaßt ift, weientlih auch Kultur-
geſchichte. Dieſer Aufgabe find fich jet die Hiftorifer mehr oder minder
bewußt, und auch Gottihall hat fich bemüht, ihr gerecht zu werden. Er
hat nicht nur die großen Syſteme der deutihen Philoſophie des 19. Fahr-
hunderts und deren Einfluß auf Wiſſenſchaft, Staat und Kirche, jondern
auch die nambafteren politiichen Hiftorifer Deutſchlands, ferner unjere
Kunſt- und Theaterverhältnijje, das Beitungswejen und den Buchhandel
und noch viele andere Seiten des öffentlichen Lebens in den Kreis jeiner
Darftellungen gezogen. Freilich ijt dies Alles in bejonderen Kapiteln
behandelt, zugleic) aber von einem höheren ſäkularen Gejichtspunfte aus
zujammengefaßt, von dem aus dieje einzelnen Seiten nur als lieder
eines höheren geiftigen Organismus erjcheinen, in welchem ji) das Ge—
jamtleben der Nation darſtellt. Solches ift aber nicht mehr bloße Litte-
raturgejchichte, Tondern Philojophie der Litteraturgeihichte, und dieſe
höchſte Entwidelung der litterariichen Hiftoriographie ift in vollendeter
Geſtalt erft in weiter Zufunft zu erwarten.
Es ijt übrigens ein imponierendes Gemälde, welches Gottſchall von
der litterariichen Entwidelung Deutichlands in diefem Jahrhundert vor
Rudolf von Gottihall als Litterarhiftorifer und Ajthetifer. 53
uns aufrollt: farbenreich, mit weiten Berjpektiven und überaus interefjant
und anziehend im Einzelnen. Wuc in der Gliederung und Gruppierung
des ungeheuren Material® wird das Werk von dem gleichnamigen jeines
Rivalen Julian Schmidt nicht übertroffen. Manche Partien des Gott-
ihal’schen Werkes, 3. B. die über die deutſche Philojophie und Poeſie
der dreißiger und vierziger Jahre, waren früher als Aufſätze in Brodhaug’
„Segenwart” erfchienen, und dieſe Teile find hier herübergenommen. Mit
dem Anwachſen des Stoffes jedoh und der Vermehrung der Auflagen
war nun der Berfafjer genötigt, den urjprünglichen Kern des Werkes
nach rüdwärt3 wie vorwärts weiter auszubauen, und diefer Umitand hat
in der Gruppierung der einzelnen Schulen und Richtungen in dem gei-
ftigen Leben des Jahrhunderts ein Feines räumliches Mißverhältnis her-
beigeführt. Doch ift dadurch die Durchfichtigkeit wie die Klarheit der
Überficht keineswegs beeinträchtigt. Man kann fich in diefem großartigen
Pantheon, wo unjere geiftigen Heroen, die Zeugen und Träger der Ge—
Ihichte unjeres Geiſtes, aufgeftellt find, ſehr bald orientieren.
Der 1. Band behandelt die Klajfifer und den Weimariichen Kreis.
Immer und immer fehrt man in dieje ftillen Räume wie in heilige von
Marmoritatuen geihmüdte Tempel mit Andacht ein. Die Auflöfung des
klaſſiſchen Ideals repräjentiert Hölderlin. Ein anderer nie gehörter Klang
dringt in den jtillen Götterhain: es find die patriotischen Lieder der Be—
freiungsfriege. Eine neue Zeit ift hereingebrochen; das Volk ift erwacht
und bejinnt ſich jeiner Vergangenheit. Die weitere Auflöfung des klaſſi—
ſchen Ideals vollzieht fich in den Schidjalstragifern: Werner, Müllner,
Houwald und Grillparzer. Der große Zeitgenofje der Weimaraner, Jean
Baul, der unter ihmen lebte, aber ihnen doch innerlich fremd und weit
mehr den Romantifern verwandt war, findet bei Gottichall in einer
meifterhaften Porträtſtizze Würdigung.
Nicht minder treffend geichildert und ihrem Weſen nach tief erfaßt
ift die Zeit der Romantik. Zunächſt die großen philojophiichen Führer
der. Zeit: Fichte, Schelling, Friedrich Schlegel, Schleiermacdher und Sol-
ger, jede diejer Geftalten eine reiche geiftige Individualität, von welcher
eine Fülle von Licht und Wärme auf die Dichter und — die Frauen
ausging; dann die Dichter jelbjt, wie der feinbefaitete und halb ſomnam—
bule Novalis, der vielfeitige und rezeptive Tied — der eigentliche „Litte-
rat” unter den Romantifern — der phantaftische Amadeus Hoffmann, ferner
Clemens Brentano, Achim von Arnim und de la Motte-Fougue, insbe-
jondere aber der unglücliche Heinrich) von Kleiſt, deſſen dichteriiche und
dramatiiche Größe eigentlich erft in den legten Dezennien zur rechten An-
erfennung gelangt it; und von den Poeten noch der germanifirte Däne
Ohlenſchläger: es find alles diejes fein gemalte Porträts, in zarten ge—
54 Rudolf von Gottichall als Litterarhiitorifer und Afthetiker.
brochenen Farben gehalten. Dann endlich eine Anzahl wifjenichaftlicher
und politiicher Charakterföpfe, welche nur aus der Atmojphäre der Ro—
mantik heraus verjtändlich find, wie: Friedrid von Gens, Adam Müller
und Ludwig von Haller, die drei Väter der politiichen Reaktion; ferner
die myſtiſchen Philojophen Franz von Baader und Heinrich von Schu-
bert, die Vorläufer des heutigen Spiritismus, nur weit tiefer, interejjan-
ter und geiltvoller; ein ebenfalls politiicher „Rüdwärtsler” war der da—
mals noch junge, jpäter aber jo einflußreich gewordene Halleiche Hiltorifer
Heinrich Leo, der große, aber reaftionäre Juriſt Savigny, der unjerm
Sahrhundert den Beruf zur Gejebgebung abſprach, der Icharffinnige kon—
jervative Nechtsphilofoph Julius Stahl, der fpätere Führer des preußifchen
Herrenhaufes, welcher einjt in Dei majorem gloriam das ruchloje Wort
ausſprach: „Die Wiſſenſchaft muß umfehren.” Daß aber Gottichall
Dichter wie Eichendorff und jogar Platen und Immermann gerade hier
an den Schluß als „die Auflöjung der Romantik” bringt, findet in der
Anordnung des Werkes feine Erklärung.
Das „Sunge Deutichland” füllt die erfte Hälfte des zweiten Bandes,
während die zweite Hälfte die wifjenichaftlichen, künſtleriſchen und publi-
ziftiichen Zuftände jener Zeit enthält. Die Skizze über die Dichter und
Schriftiteller des „Jungen Deutſchland“ ift die gehaltvollfte und gelun-
genfte Partie des ganzen Werkes. Hier konnte Gottſchall aus dem Vollen
Ihöpfen. Denn in diefem Boden wurzelt er jelbit. Was er hier lobt
oder verteidigt, gejchieht gewifjermaßen pro domo; denn er jelbjt in jei-
nem ganzen Schaffen, Streben und Irren ift nur Fleiſch von dem Fleiſche
der Gutzkow, der Mundt, der Heine ꝛc. Hier findet er auch die vollen
Töne, die feine Nachempfindung, mit welcher er in die jeeliiche Individu—
alität diefer Männer, denen congenial zu fein, ftetS fein höchſter Ruhm
war, eindringt. Uber gerade bei der Würdigung der Leiftungen und
Beitrebungen des „Jungen Deutichland“ fteht er in vollem Gegenjag zu
Sulian Schmidt und neuerdings zu Heinrich von Treitſchke, deren An-
griffe auf das „Junge Deutichland” nicht einmal Original, jondern nichts
als ein Plagiat aus Wolfgang Menzels Schriften find. Die Julirevo—
Iution und der deutjche Liberalismus, wie er durch den Hiftorifer Rotteck
und den Staatsrechtslehrer Welder repräfentiert wurden, bilden die Ein-
leitung zu einer litterariihen Bewegung, in welcher die politiichen und
jozialen Ideen die Haupttriebfräfte bildeten. Alle Poefie in diejer Epoche
war — mit wenigen Ausnahmen — Tendenzdichtung. Das politiiche
Lied ſtand — troß Goethe — im höchſten Anfehen. Aber diefe Tendenz-
Dichtung verliert ihre Einjeitigkeit, da fie von der Größe der ihr zu
Grunde liegenden dee gehoben und getragen wird. Es ift wahr (und
die Gegner haben nicht ganz unrecht), daß die künstlerische Form diejer
Rudolf von Gottfhall als Litterarhiitorifer und Äüſthetiker. 55
Dihtung vielfach zu wünjchen übrig läßt und nicht ganz abgeklärt er-
Iheint Uber die Geijtesfülle und die Fdeengewalt ift es, welche die
Formen zerreißt und erdrüdt und faum zur ruhigen Ausreifung gelangen
läßt. Denn das jogenannte „Junge Teutjchland“ reicht weiter, als bis
auf die politischen Tendenzlyrifer und Tendenzdramatifer diefer Schule;
nein, die ganzen radifalen Ausläufer der Hegelichen Philoſophie gehören
dazu. Es gehören ferner dazu Originale wie Fürſt Pückler-Muskau und
alle jene Adepten, welche in der Zerriffenheit des Lord Byronjchen Welt-
ſchmerzes jchwelgten oder in ihren Romanen der jozialen Anatomie der
George Sand nacheiferten, insbejondere die Sänger der Völkerbefreiungen
(Griehen, Polen), der Frauen» und Fudenemanzipation: fie alle zählen
zu dieſer Schule von Dichtern und Schriftitellern, welche die „Befreiung
der Menſchheit“ auf ihre Fahnen gejchrieben Hatte.
Sehr anerkennenswert ift es, daß Gottichall manche abjeits ftehende
GSeftalten, wie Arthur Schopenhauer, der zwar äußerlich vom Welttreiben
ſich zurüdgezogen hielt, durch die Macht feiner Ideen aber gewaltig auf
Litteratur und Kunjt einwirkte, in feine Darftellung hineinzog. Auch der
Hyperidealiftiiche Philojoph Krauje verdient die Beachtung, die ihm wegen
feiner Staats- und Gejellichaftslehre hier zu teil wird. — Gottichall hat
Recht gethan, dem großen franffurter Peſſimiſten Hier einen fo breiten
Raum einzuräumen. Hatte ja doch diefer mijogyne Einfiebler durch die
bloße Macht feiner Ideen große und weite Kreile im deutſchen Volke,
insbejondere die geijtige Ariltofratie, jowie die Künftlerwelt zu feinem
peifimiftiihen Evangelium zu befehren gewußt.
Ih gebe zu: ein gewiljer Stimmungspeifimismus lag ſchon — nad)
dem ganzen Gange der politischen Verhältniffe in den fünfziger Jahren —
ohnedies in der Luft. Aber Schopenhauer vertiefte diefe Stimmung und
gab ihr die philojophiiche Formel. Ein Denker von Tiefe und Geift, ein
Stilift, wie wir jeit Leſſing feinen zweiten hatten, fiel e8 Schopenhauer
nicht jchwer, ein Geſchlecht, das philoſophiſch müde und politisch enttäujcht
war, zu feinen geiltreichen Cynismen und funfelnden Antithefen herüber-
zuziehen. Wohl war das pejfimiftiiche Gift, das die geiltig Blafierten
mit Begierde einjogen, äußerſt pifant im Geſchmacke; aber wer weiß,
was aus der deutichen Volfsjeele geworden wäre, wenn fie nicht das
fräftigende Stahlbad der nationalen Kriege 1866 und 1870 hätte durch—
machen müffen. Schon Riehl in München jagt, daß gegen ſolche ſchwä—
chende Seelenkrankheiten ganzer Nationen, wie der Peſſimismus ift, eine
tüchtige politifche Erregung das einzige fräftigende Schuß: und Heilmittel
jei. Bei der alljeitigen Rezeptivität Gottſchall's für die geiftigen Zeit—
ftrömungen jchien es, als wenn aud) er der peffimiftiichen Bewegung nicht
Widerftand leiften werde. Und thatjächlich verdanken wir einige feiner
56 Rudoli von Gottichall als Litterarhiitorifer und Äſthetiker.
Ihönften Dichtungen diefem Zwieſpalt; aber doc fiegte in ihm das ge-
junde Element eines hoffnungsfreudigen Optimismus, wie e8 ihn jein
Schiller, den er wohl unter allen Tichtern am meiſten verehrt, gelehrt
hat. — Mit feinem BVerftändnis hat Gottihall auch die anderen Strö-
mungen innerhalb der deutichen Philoſophie, insbejondere die Ausläufer
der linfen Seite der Hegel’ichen Schule, welche auf die firchliche Entwid-
lung jo einflußreich waren (Strauß, Bruno Bauer, Feuerbach, Stirner),
erfaßt: jeder von ihnen ein jcharf gemeißelter Charakterfopf. Auch viele
andere Seiten des wifjenichaftlichen, künftleriichen und politiichen Lebens
des Jahrhunderts werden in den Bereich der Darftellung gezogen, „Mo—
derne Naturdaritellung“, „Die Stimmführer des Materialigmus“, „Adel
und Judentum in der Litteratur“, „Das moderne Unterrichtäwejen und
die Litteratur”, „Die deutſchen Höfe und die Poefie” u. |. w. find Ab—
Ichnitte, in denen Gottihall das allgemeine Kulturleben der Nation in
jeinen Beziehungen zur Litteratur darzulegen bemüht ift. Auf ein wirk-
liches nationales Gebrechen weiſt er mit jcharfen Worten bin, wenn er
in dem Sapitel „Das Franzoſentum auf der deutichen Bühne“ unfer
Nationallafter, die gedanfen- und kritikloſe Nachäffung der Kunft und
Litteratur des Auslandes, jelbit wo Dieje leßtere unjerer deutichen Eigen-
art widerjteht, mit Entrüftung kennzeichnet.
Die meilten Kapitel des umfangreichen Werkes find in ſich abge-
ſchloſſene, nach allen Richtungen Hin erichöpfende Monographieen von
iharf eindringender Charafteriftif, wie mancher Abjchnitt des 3. Bandes
(„Die orientaliihe Lyrik“, „Die öfterreichiiche Lyrif“, „Die politiiche
Lyrik“). Beiläufig bemerkt, ift hier die Trennung der öfterreichiichen von
der „politiichen“ Lyrik Doch etwas zu äußerlih; als ob die meilten Der
dort genannten Dichter, wie Grün, Meißner, Hartmann, Bed, nicht auch
„politische“ Lyriker gewejen wären! Auch die Einregiftrierung Jordans
und Hamerlings (die übrigens bier vorzüglich charakterifiert find) in Die
„philoſophiſche“ Lyrik hat immerhin etwas Bedenkliches: Hamerling, der
Großmeilter glühendfter Erotif, und Jordan, der redenhafte Nachdichter
der Nibelungen! — Bei anderen PBoeten, wie dem hochbetagten Robert
Reinid, Franz von Gaudy, Emanuel Geibel, bei Fräulein Annette von
Drofte-Hülshoff, wußte der Verfaſſer offenbar nicht recht, wo er fie un-
terbringen joll, und jo entitand die wenig charafteriftiiche Rubrik: „Dich:
ter verjchiedener Richtungen und dichtende Frauen“. Ähnlich verhält es
jih mit dem 7. Abjchnitt des 3. Bandes: „Epiſche Anläufe”. Da find
z. B. die märkiſchen Dichter Fontane und Scherenberg mit dem feucht:
fröhlichen Pfälzer Scheffel, der berliner Satirifer Glaßbrenner mit dem
geichichts-philojophiichen Hermann Lingg, Julius Wolff, der die alten
eptichen Formen nachahmt, mit dem urmodernen Paul Heyſe zujammen-
Rudolf von Gottſchall als Litterarhiftorifer und Afthetifer. 57
geftellt — und alles diefes unter dem wenig jagenden Titel „Epiſche An-
läufe”. Kann man bei Scheitel, Jordan, Scherenberg, Lingg wirklich nur
von „Anläufen“ jprehen? Daß Gottichall feine eigenen Epen („Die Göt-
tin“, „Carlo Zeno“, „Maja“), die doc) eine hoch idealiſtiſche philoſophiſch—
joziale und politiiche Tendenz zeigen, ebenfalls zu dieſen „Anläufen*
zählt, it in der That mehr als beicheiden. — Auch in der Charafteriftif
des Dramas der fünfziger, jechziger und fiebziger Jahre wollte es un—
jerem Litterarhiftorifer nicht gelingen, innerlichere, jchärfere und durch—
dringendere Einteilungen und Bufammenfafjungen der hierher gehörigen
dramatichen Autoren zu finden. Was it ein „originelle Kraftdrama”,
was eine „deflamatoriiche Jambentragödie“? Sagen diefe Hußerlichkeiten
etwas über die gemeinjame ethiihe Weltanſchauung der Dichter aus?
Bei Grabbe, Hebbel und Klein mag der Titel noch hingehen, obwohl fie
weit mehr als Schüler und Nahahmer Shafejpeares zu bezeichnen wären.
Aber Georg Büchner, Griepenterl, Fitger find doch wohl beſſer als die
Dramatiker des politischen Radikalismus anzufehen. Zutreffender jchon
ift, bei dem Mangel einer jchärferen und charakteriftiicheren Bezeichnung,
der Ausdrud „deflamatoriiche Jambentragödie“ für die älteren Theater-
dichter: Raupach, Michel Beer und Halm. Aber weder auf die Stoffe
noch auf die pſychologiſchen Konflitte der Dramen Weilen’s, Heyje’3 und
Groſſe's paßt mehr jene Bezeichnung Gewiß, ſolche Rubrizierungen
haben ihre großen Schwierigkeiten, jollen fie zutreffend jein und dem
Material nicht Gewalt anthun. Wir machen auch Gottihall deshalb
feinen Borwurf: denn er teilt hier das Schickſal mit allen Hiftorikern,
welche einen jo reichen und mannigfaltigen Stoff unter einheitliche Ge—
jihtspunfte zufammenfaffen wollen. — Selbft einem Meifter in der lit:
terarhiſtoriſchen Geichichtsfchreibung, wie Hermann Hettner, ift es nicht
überall gelungen, äußerliche Rubrizierungen ganz zu vermeiden, nament-
ih, wo e3 ſich darum handelt, eine Mannigfaltigkeit von Strömungen
und Berjönlichkeiten unter ein einheitliches Prinzip zujammenzufaffen.
So 3. B. findet ſich im 2, Buch des dritten Teils feines großen klaſſi—
ihen Werfes „Litteraturgefchichte des 18. Jahrhunderts“ ein die mannig-
faltigften und verſchiedenſten Materien in fich fchließender Abjchnitt unter
der Rubrik: „Das Zeitalter Friedrichs des Großen“. Uber bei aller Bo-
rufjomanie kann man doc nicht jagen, daß der Einfluß des Alten Fritzen
bis auf die Anafreontifer der Halle'ſchen Dichterichule oder bis auf Die
von Windelmann und Raphael Mengs angeregte antikifierende Kunſtbe—
wegung gereicht habe... . Oder läßt fih im Ernſt behaupten, daß die
Grenadiere und die Staatsräfon des großen preußiichen Königs die Ge-
Ihihtsauffafjung von Männern wie Sonnenfels, Iſelin, Möfer und Tho-
mas Abbt veranlaßt haben? Alſo man kommt ohne äußerliche Rubri-
58 Rudolf von Gottfchall als Litterarhiftorifer und Afthetifer.
zierungen in jolchen Werfen niemals aus. Diejes find undermeidliche
Tehler, welche mit dem noch mangelhaften wiljenichaftlichen Charakter
aller empirischen Hiltoriographie zufammenhängen.
Wir haben jchon oben bemerkt, daß Gottſchalls „Deutiche National-
litteratur”, welche nunmehr jchon (fie erichien im Dezember 1854) ihren
40. Geburtstag erlebt hat, im Laufe diefer Zeit äußerlich jtarf gewachſen
ift, da der Autor bemüht war, die litterariichen Bewegungen jeiner Zeit
jedesmal mit hineinzuziehen. Man kann diejes von Auflage zu Auflage
beobachten.
Selbjtverjtändlih Hat Gottihall nun aud das Bedürfnis gehabt,
unferer neuejten Litteraturftrömung gegenüber Stellung zu nehmen. Indeß
e3 iſt doch ein großer Unterjchied, ob man eine zeitgenöffiiche Bewegung
fritiich behandelt, wozu ein Kritifer von der Einficht Gottſchalls ficherlich
das Recht und die Pflicht hat, oder ob man dieje noch ganz unfertige
und wenig befinirbare, weil in ſich gejpaltene und unklare litterarijche
Bewegung, die ſich bald „Realismus“, bald „Naturalismus“, bald „Bes
rismus“ nennt, jchon als hiſtoriſche Thatſache anjehen foll.
Über es jcheint, als ob Gottichall beide Gefichtspunfte habe vereini-
gen wollen, und er hat darüber ficherlic in Konjegnenz feines litterar-
biftorijchen Prinzips gehandelt, überall die modernen Regungen des Volks—
geiftes nicht nur zu regiftrieren, ſondern fie auch auf ihre tiefern gejell-
Ihaftlihen Urſachen zurüdzuführen. — Im übrigen hat Gottſchall Recht,
wenn er den Anſpruch unſerer Realilten, ein neues modernes Prinzip in
die Litteratur eingeführt zu haben, zurüdweilt. Denn abgejehen davon,
daß die Väter dieſes angeblich neuen Prinzips nicht in Berlin, München
und Leipzig, jondern in Paris, Chrijtiania und St. Petersburg (Zola,
Ibſen und Tolftoi) wohnen, ift auch die ganze Neuheit diejes Naturalis-
mus jehr problematiih. Er hat, nur in verebelterer Form, zu allen
Zeiten und in allen Zitteraturen und zwar als „Realismus“ eriftiert, und
was jeine politijch-joziale Tendenz betrifft, jo hat, wie wir oben gejehen
haben, das „Junge Deutichland“ (1820—1860) diejelbe mit weit mehr
Seit und vor allem mit größerem dichteriihen Talent vertreten.
Die neueren und neueſten Dramatifer Deutichlands, wie Wilden-
bruch, Fitger, Fulda, Sudermann, Richard Voß u. a. behandelt Gott-
Ihall mit Gerechtigkeit. Er kennt ihre Schwächen und verjchweigt fie
auch nicht; aber er hebt auch ihre individuellen Vorzüge hervor. Mehr
in Bauſch und Bogen macht er den Schwarm der Schwank- und Poſſen—
verfafjer ab. Nur Guftav von Mofer gewährt er einen etwas größeren
Raum. Auch die deutihe Romanlitteratur der neueften Zeit jowie
das zahlreiche Genre der Novelliften findet eingehende Beachtung. Dem
in allen Zweigen des deutichen Waldes zwitjchernden Heer von Iyrijchen
Rudolf von Gottichall als Litterarhiftorifer und Afthetifer. 59
Sängern kommt er ermunternd entgegen. Insbejondere möchte er den
Frauenelementen in der heutigen Belletriftif billige Rüdficht angedeihen
laffen. In wohltduender Weile unterjcheidet ſich Hier der Kritifer Gott-
ihall von feinem Rivalen Julian Schmidt, deſſen abjprechende Manier
jelbft anerfannten Größen gegenüber fein Maß kannte. Wer denkt hier
nicht an die gerechte Züchtigung, die diefem einjt Ferdinand Laſſalle und
Lothar Bucher in den „Setzer-Scholien“ haben angedeihen lafjen? Gott-
hal dagegen ſucht in der Beurteilung der Dichter vor allem der Indi—
vidualität derjelben gerecht zu werden. Im jeder Dichtung fucht er in
eriter Linie Poeſie und Schönheit, und die etwaige politifche oder ſonſt
welche Tendenz kommt erft in zweiter Linie. Hier drängt der Dichter in
ihm den Kritiker in den Hintergrund. Auch unferer eigenen Gegenwart
gegenüber mit ihren politiichen Bejtrebungen und Tendenzen iſt der ehe-
malige Zyrtäus des Radikalismus verjöhnlicher geworden; er hat jchon
lange jeinen Frieden mit der Welt gemadt. Schon die jchwungvollen
Kriegälieder, durch die er unjere Siege von 1870,71 verberrlichte, zeugten
von einer längft bei ihm eingetretenen Änderung in der politifchen Ge-
finnung. Doch jei e8 zu Gottihalls Ruhme gejagt, daß er jeiner radi-
falen Vergangenheit immer jo viel jchuldig zu fein glaubte, daß er nie-
mals bewußt irgend welchen reaftionären Bejtrebungen jeine Feder ge-
liehen hat. Auch dieſe Genugtduung hat er, daß ein großer Teil der
Gedanken und Urteile feines litterarhiftoriihen Werkes in die öffentliche
litterariiche Meinung Deutſchlands übergegangen ift. Unzählige Kritiker
und Journaliſten wiederholen heute, was er über unjere Dichter und
Schriftiteller längft gejagt hat. Auch dieſes mag eine Art von Unjterb-
lichfeit jein, und wenn die Gegenwart feinem dramatischen und dichteriſchen
Schaffen nicht völlig gerecht wird, weil andere Tendenzen Plab gegriffen
haben, jo mag er ſich tröjten: die fünftigen Litterarhiftorifer werden ihm
einen beſſeren Bla anweiſen, als er jelbjt es in übermäßiger Bejcheiden-
heit in jeinem Werke gethan hat.
Unmittelbar mit jeiner Bedeutung als Litterarhiftorifer hängen Gott—
ſchalls Leiftungen als Kritiker und Efjayift zufammen. Wir jehen hier
von jeiner langjährigen Thätigkeit als Theaterkritifer an Leipziger Blät-
tern ab. Sein geübter litterarhiftorischer Blid, der in den dramatifchen
Stoffen und Formen die originale Erfindung jofort von der Nachahmung
unterjcheidet, das feine und doch fichere Gefühl für den wirkſamen Auf—
bau und die Kompofition der Stüde, vor allem aber der Bli für das
Echte und Poetiſche auf der Bühne gegenüber den rohen Effekten und
der bloßen theatralifchen Geſchicklichkeit: Alles diejes giebt feinem Urteile
beim Autor, beim darftellenden Künſtler wie beim PBublitum jenes An-
jeden, welches er unter den erſten Kritifern Deutjchlands genießt. Nicht
60 Rudolf von Gottſchall als Litterarhiftorifer und Afthetifer.
minder verftändnisvoll und feinfühlig war feine litterarifche Kritik, die er
Jahrzehnte Hindurch in den von ihm redigierten, im Verlage von %. A.
Brodhaus erichienenen beiden Monats- bez. Wochenſchriften „Unfere Zeit“
und „Blätter für litterariiche Unterhaltung” übte. Schon den eriten
Sätzen eines folchen kritiſchen Efjay fonnte man es anjehen, ob er der
Feder Gottichalls entftamme oder nicht. Ich möchte jagen: Der Kritiker
und Ejjayift Gottichall ging nie auf in dem von ihm behandelten Gegen-
ſtand; er jtand ſtets über demjelben, jet e8, daß er ein neues Dichtwerf
oder irgend eine litterariiche Verjönlichkeit behandelte. Wenn hier ber
Ausdrud erlaubt ift, jo möchte ich jagen: er behandelte das betreffende
Werk oder den betreffenden Yutor — „sub specie aeterni*. Und diejem
großen und weiten Blicke verdanken viele jener in mehreren Bänden
(„Porträt3 und Studien“, „Büften und Bilder”) gefammelten Efjays
ihre dauernde Bedeutung. Und der Gedanfenreife und Ideenfülle des
Inhalts entjpricht in diefen anziehenden und feffelnden Arbeiten die Form.
Bekanntlich Hat die Eſſayform bei uns noch nicht die Vollendung erreicht
wie in Frankreich und England. Arbeiten wie die von Macaulay oder
Hippolyte Taine find in Deutichland nur felten: Aber wern man auch
bei ung von einem fich erit bildenden, eine fünftleriche Form anitreben-
den Eſſay jprechen darf, jo wird man neben Hermann Grimm, Karl
Frenzel, Wilhelm Scherer und einigen anderen in erſter Linie Rudolf
von Gottſchall nennen müffen. Aber was leßterer in diejem Genre der
Kunftproja doch noch voraus hat, das iſt ein injpiratoriiches oder viel-
mehr ein dichteriiches Element in der Profa. Und dies zeigt ſich beſon—
ders in feiner jchöpferiichen Metaphernfunft, in feiner hohen bilderichaf-
fenden Kraft. Uber der Dichter tritt hier in den Dienft des Gedanfens,
dejjen abitraften Inhalt Gottihall in Bilder Fleidet, bei denen man eben—
ſowohl die Treffficherheit als die Anmut zu bewundern hat. Unjere
jüngeren Autoren können von dem Stilfünftler Gottihall noch viel, jehr
viel lernen ......... Man glaubt heute den Gipfel aller Stilkunſt
in einem halt- und formloſen Durcheinander, in einem möglichſt lebhaften,
aber auch möglichſt zuſammenhangsloſen Geplauder gefunden zu haben.
Damit haben wir ſelbſt die Auswüchſe des franzöſiſchen Feuilletons über—
troffen und haben zugleich die Grenze erreicht, bei der es nur noch eine
Umkehr giebt, nämlich zu einem logiſch klaren und gut diſponierten Stil.
Dieſelben ſtiliſtiſchen Vorzüge, dieſelbe anziehende und feſſelnde Diktion
bewährt Gottſchall in einigen neueren Sammlungen litterariſcher Eſſays:
„Totenklänge und Lebensfragen“ (1885) und „Studien zur neuen deut—
ſchen Litteratur“ (1892). Eine höchſt intereſſante kulturhiſtoriſch-drama—
turgiſche Studie iſt auch „Theater und Drama der Chineſen“ (1887).
Es zeugt von Gottſchall's erſtaunlicher Vielſeitigkeit und Arbeitskraft, daß
Rudolf von Gottſchall als Fitterarhiftorifer und Äſthetiker. 61
er noch bis vor Kurzem an der Spibe eines litterariichen Unternehmens
ftand, welches er viele Jahre Hindurh mit großer Umficht und Takt
leitete. Wir meinen das hiftoriihe Sammelwerk: „Der neue Plutarch“
(im Verlage von F. U. Brockhaus), von welchem eine Reihe von Bänden
erichienen ift und das im Wejentlichen umfangreiche Biographien von Staats-
männern, Gelehrten, Schriftitellern, Künftlern, berühmten Technikern und
dergl. enthält. Mit der Aufgabe der Redaktion der jchon oben genannten
Monats: und Wochenſchriften trat er auch von der Leitung dieſes Unter-
nehmens zurüd.
Wir haben oben vom Äjthetiter Gottſchall geiprochen. Dieſes Prä-
difat fommt ihm mit vollem Rechte auf Grund feines hervorragend äjthe-
tiichen Werkes zu: „Poetik. Die Dichtkunſt und ihre Technit.“ (2 Bde.)
Auch dieſes Buch Hat, wie die fünf Auflagen desjelben (Breslau bei Tre-
wendt 1882) beweijen, große Verbreitung gefunden und ijt neben feiner
„Rationallitteratur” jein zweites Lebenswerk. Beide Publikationen haben
eine innere Verwandtichaft: fie jind beide „vom Standpunkt der Neuzeit“
geichrieben, wie fie beide auch von einem ebenjo modernen wie univerjellen
Geift durchweht find. Wir haben früher jchon auf die erniten philojophi-
Ihen Studien hingewieſen, die Gottihall in früheren Jahren gemacht
hat. Nah zwei Richtungen hin haben diefe Arbeiten ihn beeinflußt:
nach der Auffaffung der hiſtoriſchen Entwidlung der Menjchheit und
nach der äjthetiichen Seite hin. Die Spuren jener Einwirkung trägt
jein nationallitterarisches Werk, während jeine „Poetik“ von der tiefjten
Erfaſſung der Natur und der Geſetze des Schönen und der Kunſt Zeugnis
ablegt. Doc verliert ſich Gottſchall, Dank jeiner lebendigen, farbenreichen,
dichteriſch durchhauchten Sprache, nirgends in nebelgraue Abjtraftionen.
Nichtsdeſtoweniger ift jeine Erfaffung der mannigfaltigen äſthetiſchen Ka—
tegorien und Begriffe ebenjo tiefgreifend als jcharf und lichtvoll prägifiert.
Man braudt z. B. nur den Abjchnitt über das „Tragiſche“ durchzuleſen,
um zu erfennen, daß Gottichall feinen Hegel, Viſcher und Roſenkranz
nicht vergeblich ftudiert hat. Im Übrigen ift das Verfahren in der
„poetif“ weder deduktiv noch aprioriftiih. Bei dem kaum faßbaren
Reichtum eines Gebietes wie diejes poetiiche und Fünftleriiche, hielt er es
mit Recht für bejjer, aus der unerjchöpflichen Fülle der Litteraturen zu
Ihöpfen, um Belege für das poetiiche Gejeh zu geben. Aber er begnügt
ſich nicht, wie die landläufigen „Poetiken“, mit Beijpielen aus der deut-
ihen poetischen Litteratur, jondern er jchöpft feine Zitate ebenjo aus
Homer und den griehiichen Tragifern, wie aus Dante, Calderon, Shafe-
ipeare und Goethe: Hier ift der Wunjch Goethe’3 nach einer Theorie und
Technik des poetischen Schaffens verwirklicht, die fich auf die Meifterwerfe
der Nationallitteraturen aller Zeiten und Völker, d. 5. der Weltlitteratur
62 Rudolf von Gottfchall als Litterarhiftorifer und Ajthetifer.
ftüßt. Und dann — was Hilft alle Belejenheit und alles äjthetijche
Denken, wenn man den Meijterwerfen nicht mit eignem poetiichen Em—
pfinden entgegenfommt? Auch in dieſem poetilchen Werfe hat der Dichter
Gottſchall feinen geringen Anteil an dem Erfolge desjelben.
Gottſchall fieht auf eine mehr als fünfzigjährige litterariiche Thätig-
feit zurüd. Faſt unüberjehbar und von mannigfaltigem Reichtum find
jeine Dicht- und Proſawerke. Und wenn nicht Alles gleich vollendet und
reif erjcheint, jo bedenfe man, daß Gottſchall's jchriftitelleriiche Indivi—
dualität, welche, jchnell angeregt, ebenſo jchnell produziert, das horaziiche
Wort „Nonum primatur in annum“ verſchmäht. Aber Schon diefe Schnel-
ligfeit und Bieljeitigfeit der Produktion, die mit den vorgerüdten Jahren
nicht abgenommen zu haben jcheint, zeugt doch von einer geijtigen Kraft,
die unter den deutichen Schriftitellern unjeres Jahrhunderts als eine un—
gewöhnliche bezeichnet werden muß.
Friedrich Viſcher Ipriht einmal von dem tragijchen Geſetz des Uni-
verfums. Zu den unausbleiblihen Wirkungen diejes Geſetzes gehört es
u. a. aud, daß wir Menſchen alt werden und meilt der Vergeſſenheit
anheimfallen. Aber wir können dem Verhängniſſe zuvorfommen, indem
wir unſer Thun und Treiben mit den höchiten ethiſchen Intereſſen des
Ganzen verbinden. Es bleibt Gottihall der Ruhm, daß jeine jchrift-
Itellerifchen Arbeiten niemals dem Kleinen und Gemeinen, jondern dem
großen Ganzen der Menjchheit zugemwendet waren und ſtets auf der Höhe
des Ideals fich hielten. In diefem Sinne hat er, jo oft er während jeines
40jährigen Aufenthaltes in Leipzig als öffentlicher Redner wie al3 Vor—
figender des „Schiller-Vereins” auftrat, die ſchönen Traditionen unſerer
Haffiihen Dichter und Denker verjtändnißvoll gehegt und gepflegt.
Dr. M. Brafd.*)
*) Nicht ohne ein Gefühl der Wehmut übergeben wir diefe Arbeit Moritz
Braſch's der Öffentlichkeit: Während der Drudlegung diefer Nummer raffte ein
plösliher Tod den Berfaffer dahin, der uns ein fo lebhaftes Anterefje an dem
Wiedererſtehen der „Buchhändler:Afademie” fundgab und uns ein ebenjo treuer
wie geichägter Mitarbeiter zu werden verſprach. In Dr. Morik Braſch verliert
die Philojophie einen ihrer vielieitigiten Vertreter, der fein reiches Wiſſen dazu
benußte, fie im beiten Sinne des Wortes zu popularifteren, verliert die deutiche
Bubliziftif einen der wenigen Gilayiiten, die auf litterarhiftorifchem Gebiete her—
vorragendes leilten. Möge ihm die Erde leicht fein!
>
Die Redaktion.
Buhdruk, Buchhandel und Buchbinderei
in Berlin von ihren Anfängen bis zum ode
des Großen Kurfürften (1540-1688).
Von Richard George.
— — — *
(Schluß.)
Die Buchhandlung von Hans Werner war bis zum Mai 1614 die
einzige in Berlin und „Jedermann allhier als ſehr billig bekannt“; das
Geſchäft Werners befand ſich an der Langen (Kurfürſten-) Brücke. Hans
Werner war ſtreng lutheriſch und weigerte ſich, calviniſtiſche Streitſchriften
in ſeinem Buchladen zu führen. Nachdem nun der Kurfürſt Johann
Sigismund ſich am 25. Dezember 1613 öffentlich zur Lehre Calvins
befannt, hielt er es für unumgänglich nötig, daß in Berlin eine Buch—
Handlung vorhanden war, die zur Förderung und Verbreitung der cal-
viniftiichen Litteratur ihre Hand bot. Er gab daher den beiden Buch—
bindermeiltern Hans und Samuel Kalle, den Söhnen des früher er-
wähnten Kaspar Kalle, am 10. Mai 1614 das Privilegium zur Errich—
tung einer zweiten Buchhandlung, deren Laden fih an der Stechbahn,
zwiichen der Brüderftraße und der jegigen Schloßfreiheit, dem Schloß
gegenüber befand. In dem interefjlanten Privilegium heißt es:
„Nachdem wir befunden, daß an guten, jonderlich aber an theologi-
ihen Büchern, die bei diejen Läuffen und Zeitten, da durch unnöthiges
Gezänk etlicher müßiger Theologen (da fie anders aljo zu nennen) Alles
in der Kirche und Gemeinde Gottes unruhigk und ihre gemacht wirdt, zu
haben, zu lefen und zu gebrauchen nützlich: in beiden unſeren Reſidenz—
jtädten wirklicher Mangel vorfiele: daß fi auch zudem Johann Werner,
der jonjten mit einem Privilegio des Buchführens Halb von Unjeren in
Gott ruhenden Eltern Hochlöblichſter Gedächtnus, auch Uns ſelbſten be-
gnadigt, dergleihen Bücher zu führen fich verweigerte; daß wir darauf
mit Unjeren lieben getrewen Hanjen und Samueln, den Kallen Gebrü-
dern, Bürgern in Unjerer Refident-Stadt Berlin, handeln laſſen, ſolch
64 Buchdrud, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen :c.
Bücherfüren auf fich zu nehmen, auch hiermit auf dem ifo einftehenden
Leipziger Oſtermarkt einen Anfang zu machen, welches Alles fie dann
gehorjamblich eingegangen: damit fie aber auch danachhero umb jo viel
weniger einigen Schaden ausjtehen oder gewartten dürffen: So wollen
Wir fie hiermit mannigklich joldhes ihres Buchfürens halb, da fie ſich
Uns zu unterthänigjten Ehren und Gehorjam aljo bequemen wollen, in
Unferen bejonderen Schuß und Schirm genommen, auch gegen mannigf-
lich defjelben Buchhandels Halb, noth und jchadlos halten. Wir wollen
ihnen auch ferner einen gelegenen Orth an Unjerer Rennbahnen allhier
vorm Schloß anweijen, auch jo viel Bretter und Holz als hierzu nöttigf
verreichen lafjen, damit fie einen Laden erbauen und jolche Bücher öffent-
lich dajelbiten feil haben fünnen. Auch joll niemandem außerhalb ihnen
beiden in vorgemeldten Unjeren Refidenzitädten Berlin und Cöln, der:
gleichen Bücher zu führen, feihl zu Halten oder zu verfauffen, nachgege-
ben, vergönnet oder verjtattet werden: Alles bei Berluft und Confiscation
der Bücher, jo offt diejem zuwider etwas gejchehe oder vorgenommen werde.
„Und haben Wir fie aud) ferners begnadighend befreyhet, indem es
abermals die Erfahrung geben, wie langjam es mit dem Binden der
Bücher, aus Mangel an Gejellen, hernachen ginge, auch aljo, daß öfters
Bücher über einen Monat bei den Buchbindern liegen bleiben müjjen,
daß fie, jo oft es Ihnen beliebig ift, ein paar Gejellen oder die ſonſten
nad Handwerfsgebrauch zugelaffen an Zahl jeyen, auf jo lange es ihnen
gefelligf, halten mögen.”
Diefe Urkunde ift in mehrfacher Hinficht interefjant; fie beweiſt ung
vor allem, daß der Kurfürft nicht mit Gewalt gegen die das Volk auf-
hegenden lutheriihen Geijtlichen vorgehen fonnte, jondern diejelben mit
geiftigen Waffen bekämpfen mußte, um der Lehre Calvin die Wege: zu
ebnen. Am 2. Februar 1615 gab der Kurfürjt den beiden Brüdern Kalle
noch die Zuficherung, daß nad) dem Ableben ihres hochbetagten gebredj-
lichen Konkurrenten das alte Wernerfche Privilegium erlöfchen jolle, und
daß fie, die Kalle, alsdann allein in Berlin den Buchhandel betreiben
follten. In der Mitte desjelben Jahres trat Samuel Kalle aus dem
Geſchäfte aus und widmete fi wieder ausſchließlich der Buchbinderei.
Hans Kalle, welcher durch die ihm vom Kurfürjten eingeräumten Vor:
rechte ftolz und übermütig getvorden war, erhielt darauf von einem ge-
wifjen Martin Guthe, der vorher in Magdeburg bei Kirchner bejchäftigt
gewejen war, den Antrag der Teilhaberichaft, welchen Hans Kalle in
einem „injurioriichen” Schreiben ablehnte. Darauf faufte diefer Martin
Guthe das Werneriche Geichäft für 2738 Gulden 17 Silbergrojchen, den
Gulden zu 20 Reichsgrojchen gerechnet, und der Kurfürit Johann Si-
gismund beftätigte, entgegen feinem Berfprechen am 1. Januar 1616,
Buchdrud, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ıc. 65
den Kaufvertrag und den Übergang des Wernerfchen Privilegs auf Mar-
tin Guthe.
Nachdem Berlin fieben Jahre ohne eine Druderei gewejen war,
berief der Kurfürſt Joachim Friedrich 1599 den bis dahin zu Damm
in der Neumark thätig gewejenen Buchdrucker Chriftoph Runge nad
Berlin, der für jeine Druderei wiederum die Räume des Grauen Kloſters
angewiejen erhielt. Chriſtoph Runge ftarb im Jahre 1607, ohne in Ber-
lin auf einen grünen Zweig gelangt zu jein. Seite Erben, von 1610 an
fein Sohn Georg allein (geitorben 1639), ſetzten das Geſchäft fort, das
die Stürme des 30jährigen Krieges nur mit Mühe und Not überjtand.
Während der Wirren des 3Ojährigen Krieges wurde nämlich das
bischen litterariiche Leben, welches ſich allmählid in Berlin entwidelt
hatte, faſt völlig erftidt Man hatte in dieſen jchweren Zeiten andere
Dinge zu thun, als Bücher zu kaufen, drucken oder einbinden zu laſſen.
Im Jahre 1625 erteilte Kurfürjt Georg Wilhelm am 29. September
freilih dem Georg Kelnter auf jein Anjuchen ein Privilegium, fich als
dritter Buchhändler in Berlin niederzulaffen, weil fi) Kelmer verpflich-
tete, „ſolche Bücher, Materialien und Werke zu führen und um einen billi-
gern Preis als bisher zu geben, die man bisher an diefem Ort um bil-
lige Bezahlung nicht Hat erlangen und überfommen können“. Es ift
jedoch wahrjcheinlich, daß diefer Georg Kelmer von dem Privilegium nie-
mals Gebrauch gemacht und ſich niemals in Berlin niedergelaflen hat.
Wie jehr die Gejchäfte der Buchhändler, Buchdrucker und Buchbinder da-
mals in Berlin darniederlagen, geht aus der Thatſache hervor, daß Kur-
fürft Georg Wilhelm, der durch feine ftändige Abwejenheit von Berlin
die geringen litterarijchen Bedürfniffe der Stadt noch vermindert hatte,
am 10. Augujt 1639 befahl, daß der Buchhändler Martin Guthe, dejjen
Unvermögenheit ihm befannt jei, in den Kontributionen herabgejeßt werde,
„da er in jeinem Handel faft nichts mehr erwerben fünne”. Das letztere
eriheint ung jehr erflärlich, wenn wir berüdjichtigen, daß 1637 von 845
Häufern in Berlin 168 leer ftanden, in 40 Peſtkranke waren und 30
von armen Witwen bewohnt wurden. Die Einwohnerzahl der beiden
Schweiteritädte Berlin und Cöln betrug faum noch 6000.
Tie Regierung Friedrih Wilhelms, des Großen Kurfüriten,
welche in allen Zweigen von Handel und Induſtrie jegensreich wirkte,
beförderte auh den Buchhandel und die eng mit ihm verfnüpften buch-
gewerblichen Berufe. Der Kurfürft machte es ſich zur Wufgabe, Die
Bücherjhäße der neu erworbenen Länder mit den bereit3 vorhandenen
Büchern in Berlin zu einer großen Bibliothek zu vereinigen: zwei Jahre
nad) dem Friedensichluffe (1650) ernannte er Joahim Hübner zum
furfürftlicden Bibliothefar und wurde jo der Begründer der großen kö—
u
66 Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ꝛc.
nigliden Bibliothek in Berlin. Diefe Gründung war naturgemäß
von großer Bedeutung für die Entwidelung des Buchgewerbes in Berlin.
Der Buchhandel wurde den „privilegierten Buchhändlern” damals
von zwei Seiten ftreitig gemacht: von den Buchbindern und den Buch—
drudern. Namentlich die erjteren find es, Die fich während der Regie-
rung des Großen Rurfürften mit befonderer Heftigfeit gegen die vermeint-
lichen Übergriffe ver Buchhändler im Bücherverfauf verteidigten. Die Buch—
binder hätten den leßteren den Handel mit gebundenen Bühern am
liebjten ganz entrifjen, da fie ihn als ein Vorrecht der Buchbinderinnung
betrachteten; und in der That geitatteten ihnen die Privilegien der frü-
heren Kurfürften den Handel mit Büchern. Sie wollten den Buchhänd-
lern nur den Handel mit jolchen gebundenen Büchern zugeftehen, deren
Einbände von berliner Innungsbuchbindern hergeftellt waren. Die Buch—
händler Hatten nah Anficht der Yuchbinder ſomit nur das Necht, mit
ungebundenen Büchern zu handeln. Da es an gejeglichen Beltimmungen
fehlte, welche den Wirkungskreis der verjchiedenen Geichäftszweige ab»
grenzten, waren erbitterte Kämpfe, welche fich fait durch zwei Jahrhun-
derte hinzogen, die unausbleibliche Folge. Dieje Kämpfe find bezeichnend
für die engherzige Auffafjung, die man damals in gewerblichen Dingen
an den Tag legte.
Es beitanden bis zum Jahre 1683 nur zwei Buchhandlungen in
Berlin: das Privilegium Guthes war (1648) auf Daniel Reichel aus
Wittenberg übergegangen; das Kalle'ſche Geihäft hatte Rupert VBölder
(1660) erworben. Reichel Elagte im November 1655 in Gemeinfchaft mit
Johann Kalle gegen den Buchhändler Johann Leber aus Hamburg, dem
am 22. November 1655 der Verkauf von Büchern in Berlin durch ein
furfürftliches Edit unterfagt wurde. Am 17. Dezember 1655 wurde auf
Neichel8 Beſchwerde dem Balthajar Mevius aus Wittenberg verboten,
„alhier in den Häufern herumbzulauffen, den SKatalogum feiner Bücher
zu präfentiren und Bücher zu verfauffen, wodurd jenem in jeiner Nah—
rung, wovon er Doc des Landes onera tragen muß — Eintrag gethan
wird — widrigenfalls du gemwärtig fein mußt, daß du mit Abnahme der
Bücher und anderer eremplariicher Straffe ohnfehlbar belegt werdeſt.“
Am 11. März 1669 wandten fi) die beiden Berliner Buchhändler
in einer Eingabe an den Kurfürjten, in welcher fie ſich über die unge-
bührliche Konkurrenz der Buchdruder und Buchbinder bejchwerten: „Die
biefigen Buchdruder und Buchbinder lafjen fih an ihren Drudereyen und
Buchbinden nicht genügen, fondern unterftehen fi auch dabey, Materien
und allerhand Bücher in allen Facultaten an großen und Eleinen, von
fremden Orten hereinzuverjchreiben, und gar an ihre Käufer und Läden
anzujchlagen, zu verhandeln und zu verfauffen, und wo alle Zeit nicht
Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ꝛc. 67
öffentlich, doch heimlich herumfenden, wie fich dann bißweilen außweiſet,
wen wir dergleichen ſachen auch befommen, weldhe von den Herren Kon-
fiftorialräthen zu führen verboten worden, jchon die ganze Welt davon
angefüllet iſt, und folcher Gejtalt mutmaßlichen, daß fie von Buchdruckern
und Bindern ausgebreidet jein werden. Da e3 doch gemeiniglich unß
impubdiret wirdt, als wen Sie auß unferen Laden fehmen? weil nicht
Sie, jondern wir mit Büchern zu handeln gnädigft privilegiret feindt;
fan auch zu Leipzig, Wittenberg und ſonſten nichts neues jo geihwinde
rauß fommen, fie haben e3 jchon beftellet, das es ihnen, jobald es nur
fertig, zugejchidet wirdt, und fonderlich die theologiſchen Streitfchriften.
Da fie ohnedem mit ihren Druden und Binden jo viel zu ihun haben,
daß Sie unjere Bücher nicht einmal befördern wollen, auch von fremden
Büchern, die außerhalb verjchrieben werden, genug zu binden befommen:
wie wir leider e8 in unferen Handlungen, daß wir faum unßer Lebens-
mittel erlößen, und nichts mehr faft weß verlangen können (?) gnug
erfahren, auch jonjten wan wir waß binden lafjen, woll in halbem Jahre
wegen Ihrer vielen Arbeit nicht befördert haben fünnen: daher e8 denn
fommt, daß nunmehr die Käuffer faft feine Materien von uns kauffen
wollen, fondern lieber bei die Buchbinder beftellen und verjchreiben Laffen,
damit fie joldhes deito eher gebunden befommen mögen, da den nicht
fleine Bücher wie fie ohnedem nebenft ihre Binderey an Eleinen Schul-
und Betbüchern, Kalender, Schreibtaffeln und dergl. jchön öffentlich ge-
bunden führen, jondern auch große und Heine Bibeln, Boftillen und
Commentarii in allen Faculteten mit unterlauffen.”
Die kurfürſtliche Antwort auf dieſes merkwürdige Schreiben, das
bezeichnend für die Engherzigfeit ift, mit welcher man damals die gewerb-
lihen Berhältnifje auffaßte, ift leider nicht erhalten. Der Hauptgrund,
daß das Bücher faufende Publikum fich den Buchbindern zuwandte, fcheint
jedoch gewejen zu jein, daß die beiden berliner Monopoliften die Bücher—
preiſe ungebührlich gefteigert haben. Um ihnen eine Konkurrenz zu ſchaf—
fen, erlaubte der große Kurfürſt dem Buchhändler Ehriftian Kirchner aus
Leipzig, jhon vierzehn Tage vor der Eröffnung der Märkte in die Refi-
denz Berlin und Eöln zu Fommen (20. März 1677) und dort Bücher
feil zu halten. Gegen diefe Erlaubnis proteftierten Reichel und Völcker
am 29. Dftober 1678; fie fagten, „Kirchner nehme ihnen das Brot vor
dem Munde weg, zumal jchon fieben Buchbinder und zwei Druder all-
bier, die alle mit den abgängigen Schulbühern und anderem handeln,
ungerechnet die durchreijenden Buchhändler, die heimlich verkaufen.“ Der
Große Kurfürjt befahl jedoh am 24. Januar 1679 die Durchführung
jeiner Verordnung, „geftalt nach dem Bericht feiner Räthe Chriſtoph von
Brandt, Poppen und Meinders vom 13. Mai 1678 die hiefigen Buch—
5*
68 Buchdrud, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ꝛc.
führer eine Theuerung mit den Büchern gemacht und gleichjam ein Mo-
nopolium eingeführt, welches Se. Churfürſtliche Durchlaucht nicht ferner
gejtatten wollen.”
Im Jahre 1680 waren die Meifter der YBuchbinderinnung jo erregt
über Rupert Völders Handel mit gebundenen Büchern, daß fie beichloj-
jen, für diefen nichts mehr zu binden. Diejer Boykott wurde jedoch nicht
durchgeführt: Meifter Lorenz Jonas und jeine beiden Söhne arbeiteten
troß de3 Übereinfommens für Völder. Die Innung erklärte daher die
Familie Jonas in Berruf, und die Gejellen, die noch ferner bei Jonas
arbeiten würden, für unehrlich. Jonas jtrengte beim Kammergericht eine
Klage gegen die Meifterihaft an, und die Meifter mußten im Oftober
1681 ihren VBerruf zurücknehmen und die Familie Jonas wieder für „ehr-
lihe Leute“ erflären. Bei dem Prozejje gelangte jedoch der Boykott zur
Kenntnis der Behörden, und das Kammergericht verurteilte alle Meifter,
auch die Mitglieder der Familie Jonas, zu Gelditrafen. Die Meiſter
jollten je 4 Thaler bezahlen, Jonas und jeine Söhne je 2 Thaler, ja
ſogar jämtlihe Buchbindergejellen je 2 Thaler; im Falle der Unvermögen—
heit jollte für jeden eine achttägige Gefäugnisſtrafe eintreten. Tie neun
Meiſter, denen diejes Urteil jedenfalls jehr unerwartet kam, richteten eine
demütige VBittichrift an den Großen Kurfürjten, der dann aud) die Strafen
niederjchlug, jo daß Meiſter und Gejellen frei ausgingen.
Der Streit mit Jonas hatte der Berliner Buchbinder-Innung
beiwiejen, wie wenig Macht fie über ein widerjpenftiges Mitglied ausüben
fonnte. Die Meiſter beichlofjen deshalb, ihre Handwerksartifel zu revi-
dieren und dem Landesherrn aufs neue zur Betätigung vorzulegen. Zu
einer Änderung des Statuts drängte namentlich auch die Erweiterung
Berlind. Es waren unter dem Großen Kurfürjten die Stadtteile Fried—
rihswerder und die Dorotheenftadt neu entjtanden, die mit Berlin
und Eölln nur in loſem Zufammenhang ftanden und eigne Magijtrate
hatten. Auf die Buchbinder, die fih dort niedergelaffen, hatte die Ber:
liner Innung feinen Einfluß, und es drohte in den neuen Nachbarftädten
ein Pfufchertum emporzufommen, welches die Berliner Innungsmeifter
ſchwer jchädigen mußte.
Die neuen Handwerfsartifel, welde die Wirkjamfeit der Innung
auch auf Friedrichswerder und Dorotheenftadt ausdehnten, find vom
15. März 1682 datiert. Sie wichen namentlih in den Anforderungen
an das Meijterftüf von den bisherigen Satungen ab und trugen in
diejem Punkte dem verfeinerten Geihmad des Publikums Rechnung. Die
Bahl der Gejellen wurde für Meifter ohne Lehrjungen auf drei feitgejekt;
war ein Lehrjunge vorhanden, jo durfte der betreffende Meijter nur zwei
Gejellen haben. Der Kurfürft betrachtete jedoch das von ihm unterzeic)-
Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ıc. 69
nete Statut nicht al3 in jeder Beziehung für ihn bindend. So gab er
am 4. April 1683 Martin Reujchel die Erlaubnis, einen Gejellen über
die ſtatuariſch Feitgejeßte Zahl zu halten. Auch das Kammergericht fehrte
fi) nicht an den Wortlaut des Statut3. Dem Hofbuchbinder Reufchel
war ein Lehrling aus der Lehre getreten, obgleich feine Lehrzeit nicht
völlig beendet war. Reuſchel weigerte ſich, den Jungen ausjchreiben zu
laffen, jo daß diefer das Kammergericht anrief. Es fam zu einem Ver—
gleih, nad) welchem der Junge gegen Zahlung von acht Thalern feiner
Lehrjahre losgejprochen werden jollte. Das Kammergericht bejtimmte je
doch ferner, „daß die ſonſt bei dergleichen Losſprechungen übel herge-
brachte Mahlzeit, als welche nur zum Schwelgen Anlaß giebt, unterlaffen
werden jollte, und dieferwegen von dem Jungen nichts eregieret werden
dürfte” (7. September 1683). Diejer Beichluß gereicht dem Kammer:
gericht zur Ehre, wenngleih er auch mit $ 30 des revidierten Statuts
im Widerjpruch fteht. Als ein gewiller Hasdorf Meifter wurde, wies
der Kurfürſt die Innung an, nur jolhe Meifterftüde von ihm zu ver:
langen, „die er leicht verwerten könne” (7. April 1687). Bei der Auf-
nahme Ehriftian Fiichers (1687) bejtimmte ein Kammergerichtsurteil, daß
die Meifter einen Teil feines Meifterftüds, die Median quarto Bibel,
für fünf Thaler in Zahlung nehmen müßten. Vorher hatte ein furfürft-
lihes Schreiben die Meifter darüber belehren müſſen, daß Fiſcher als
Hallenjer fein Fremder, jondern ein furfürjtlicher Unterthan fei, dem fie
die Aufnahme in die Innung nicht verwehren könnten (16. März 1687).
Dieje Entjcheidungen zeigen, in welchem Sinne der Große Kurfürſt
Handels- und Handwerkspolitit trieb. Er jchnitt die Zöpfe und Aus—
wüchje der Innungen und Zünfte überall mit ftarfer Hand ab und ſuchte
die leßteren in den Gejamtorganismus des Staates einzufügen. Zugleich
find diefe Handichreiben und allerhöchften Enticheidungen aber auch ein
harakteriftiiches Beijpiel dafür, wie Friedrih Wilhelm unermüdlich für
das Wohl jeiner Unterthanen thätig war, und wie er allerorts jelbjtthätig
eingriff. Daß der Kurfürft den Buchhändlern und Buchbindern auch ein
gutes Stüd Geld zu verdienen gab, haben wir bereitS erwähnt. Friedrich
Wilhelm war ein Liebhaber Schöner Einbände; nur der Tod hinderte ihn
daran, jeine jämtlihen Bücher gleichmäßig rot in Kalblederband einbinden
zu lafien. Der Kurfürft erteilte den Buchbindern jo große Aufträge,
daß er ſogar einmal in Verlegenheit fam, die Buchbinderechnungen zu
bezahlen. So konnte er im Jahre 1666, als die Buchbinderrechnungen
für die Bibliothek fi) auf 800 Thlr. angefammelt hatten, nur 432 Thlr.
al3 Abichlag darauf anweilen,
Gegen Ende der Regierung des Großen Kurfürften entbrannte der
alte Streit zwiichen den Buchbindern und den Buchhändlern aufs neue.
70° Buhdrud, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen zc.
Die Buchhändler Völcker und Reichel erlangten durch eine Bittjchrift,
daß die Behörden angewiefen wurden, den Buchbindern den Handel mit
Kupferftihen, Landkarten und rohen Materien zu unterjagen (d. d. Pots-
dam, 16. Februar 1685). Hiergegen legten die Buchbinder jofort Ver—
wahrung ein und machten den Buchhändlern aufs neue den Handel mit
gebundenen Büchern ftreitig. Auf die Beſchwerde der Buchbinder wurde
am 16. Januar 1686 dem Buchhändler Völcker befohlen, den Suppli—
fanten dur den Handel eingebundener Bücher feinen Eintrag zu thun
oder, wenn er Erhebliches dagegen einzuwenden hätte, jein Urteil zu fer-
nerer Verordnung abzuftatten. Wölder erhob Widerſpruch, und am
9. Februar 1686 erſchien die Verfügung, daß der Kurfürjt „wolle den
Supplifanten (Bölder) bei feinem privilegio gnädigft geſchützt wiffen und
befehle daher den Buchbindern, ſich hiernach gehorfamft zu achten und
ihm darunter feinen Eintrag zu thun und auch fi aller Anzüglichkeit
wider ihn zu enthalten.”
Der Kurfürft ftellte fich in diefer Verfügung auf die Seite der Buch—
händler, ohne jedoch genau die Handelsgebiete der ftreitenden Parteien
abzugrenzen. Er wollte, daß die Buchbinder und die Buchhändler fich
gegenfeitig feinen „Eintrag“ in ihrem Handel thun follten. Die Streitfrage
ſelbſt aber ließ er unentichieden, fie war auch ihrer ganzen Natur nad)
ſchwer zu löjen, jo einfach fie ung, die wir in den Anſchauungen der
Gewerbefreiheit groß geworden find, auch erjcheint.
Der Vergrößerung der Stadt Berlin zur Zeit des Großen Kurfür-
ften entjpricht die Vermehrung der Buchhandlungen nicht im entfern-
teften. Obgleich unter jeiner Regierung die oben erwähnten Stadtteile
neu erftanden und die Einwohnerzahl ſich von 6000 auf 20000 hob, er-
teilte er nur ein Privilegium zur Gründung einer neuen Budhhand-
lung, nämlih an Jeremias Schrey aus Frankfurt a. DO, am 3. No-
vember 1683. Gegen diefe Privilegierung erhoben natürlid) die bis-
herigen Monopoliften Reichel und Völcker Widerſpruch — wurden aber
abgewiejen. Kurz vor feinem Tode gab der Große Kurfürft dem Fried-
rich Bejeneder, einem gelernten Buchbinder, noch die Erlaubnis, die
erste Rupferftih- und Landfartenhandlung in Berlin einzurichten
(31. März 1688). Ein Beweis, wie jehr ſich das litterarijche Leben
unter diefem Fürſten gehoben Hatte, bilden die zahlreichen Eingaben um
Privilegierung von Buchhandlungen in Berlin, die jedoch bei dem ge-
ichlofjenen Widerftande der Inhaber der vorhandenen Firmen abjichläglic
bejchieden wurden, jo daß beim Tode des Großen Kurfürjten von eigent-
lihen Buchhandlungen nur die von Reichel, Völder und Schrey eriftierten.
Buhdrudereien gab es beim Tode des Großen Kurfürjten eben-
falls nur zwei, Nach dem Ableben Georg Runges (1639) übernahm
Buchdruck, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ıc. 71
erit deſſen Wittwe, jodann im Jahre 1643 fein Sohn Chriftoph das
Geihäft. Der lebtere hatte anfangs mit Geldverlegenheiten zu kämpfen,
gab feiner Buchdruderei aber bald einen bedeutenden Auffhwung Im
Februar 1648 erlaubte ihm der Große Kurfürft, den eignen Verlag in
jeinem Haufe zu verfaufen, „dafern ihm die Berliner Buchhändler ſolche
Werke umb einen billigen Preis abhandeln wollten.“ In demjelben Jahre
wurde ihm in anbetracht der jchweren Zeiten ein dreijähriges Moratorium
gegen jeine harten Gläubiger bewilligt. Der thatkräftige Mann überwand
jedoch die finanziellen Schwierigkeiten bald, und von 1655 an finden wir
ihn als Verleger einer in Berlin erjcheinenden Zeitung, die zunächſt nur
einmal wöchentlich herausfam. Die erjte Nummer diefer Zeitung trägt
den Titel vom Mai 1655: „B. Einfommende Ordinari- und Boft-
zeitungen“ Als Vorläufer dieſes regelmäßig erjcheinenden Wochen-
blatt3 find die Flugblätter, „Aviſen“ und „Relationen“ anzujehen, welche
die Runges jeit 1617 veröffentlichten. Eine Serie diejer „Avifen” — jo
nannte man damals die Zeitungen — erſchien jogar in regelmäßigen
Zwiſchenräumen; es läßt fich dies in den Jahren 1617, 1618, 1619,
1620, 1626, jowie 1632 nachweiſen, jodaß die ältefte Berliner Zeitung
dem Sabre 1617 angehört. Man nimmt an, daß der Kurfürftliche Boten-
meiſter Ehriftoph Friihmann und fein Bruder und Amtsnachfolger Veit
Friſchmann die älteften Jahrgänge diejer „Aviſen“ redigiert haben. Von
dem Zeitungsunternehmen Chriftoph Runges befinden ſich in der Kal.
Bibliothef zu Berlin Refte aus den Jahren 1655, 1665, 1666, 1676
und 1677. Die Zeitung hatte vielfach mit den Hindernifjen zu Fämpfen,
welche ihr die Zenfur und die Neflamationen auswärtiger Höfe in den
Meg legten. Am 5. März 1662 unterfagte der Große Kurfürft jogar
das Weiterericheinen der Zeitung, geftattete das letztere jedoch noch in
demjelben Jahre wieder. Seit 1665 erjchien das Blatt vier mal wöchent-
ih. Chriſtoph Runge ftarb 1681; er hatte die Schriftfaften jeiner Of—
fizin von 16 auf 94 vermehrt und die Zahl der Preſſen verdoppelt.*)
Bis 1664 war die Runge'ſche Buchdruckerei die einzige in Berlin.
Am 17. Juni diefes Jahres erhielt Georg Schulge aus Guben das
Privilegium zur Errichtung einer zweiten Druderei. Schulte lieferte die
Druckſachen für den Hof und die kurfürftliche Bibliothek und nannte fi
*) Das Runge'ſche Zeitungsunternehmen beftand bis 1721, in welchem Jahre
dem Buchdruder Johann Lorenz, dem Gefhäftsnachfolger der Witwe Runge,
der 1704 die Runge'ſche Druderei und den Zeitungsverlag übernommen hatte,
wegen fortwährender Konflifte mit der Zenfurbehörde die Konzeifion entzogen
wurde. Eine Fortiegung bildet im gewiſſen Sinne die noch heute beftehende und
blühende „Voſſiſche Zeitung“, zu welcher der Buchhändler Joh. Andread
Rüdiger 1721 die Konzeſſion erhielt.
72 Buchdrud, Buchhandel und Buchbinderei in Berlin von ihren Anfängen ıc.
„Shurfürftlich brandenburgiicher Buchdruder” oder auch „Hofbuchdruder” ;
von 1666—1669 fügte er feinem Namen die Bezeichnung „auf dem
Schlofje” Hinzu. Nach dem lebteren Hatte er nämlich feine Offtzin ver:
legen müſſen, damit die Herftellung der amtlichen Drudaufträge beſſer
überwacht werden fonnte.*)
Dies find im furzen Umriß die primitiven Anfänge, aus weldyen
fi) die buchgewerblichen Berufszweige in Berlin entwidelt Haben. Berlin
war, als der Große Kurfürft 1688 ftarb, eine Stadt von 20000 Ein-
wohnern und hatte nur 2 Drudereien, 3 Buchhandlungen, 1 Kunft- und
Landfartenhandlung und 15 Buchbindermeifter, die gleichzeitig die Bapier-
und Schreibmaterialienbranche mit vertraten. Aus diefen Bahlen ift er-
fichtlich, wie gering die literarischen Bedürfnifje jener Zeit waren, und
wie wenig der Sinn für die höheren geiftigen Interefjen entwidelt war.
*) Die Hofbuchdruderei beitand bis 1877, in welchem Jahre fie ald Deder:
ihe Geh. Oberhofbuchdruderei in den Belt des Deutichen Neiches überging.
Belier waren nad) Georg Schule: Ulrich Liebbert (1685 —1701), Johann Fried:
rih Bod (1701—1716), Chriſtoph Süßmilch (1716--1721), Gotthard Schlechtiger
(1721—1724), Daniel Andreas Rüdiger (1724-1736), Chriftian Albrecht Gaebert
(1736— 1755), Chriftian Friedrih Henning (1755—1765) und Georg Jakob Deder
und feine Nahfommen (1765-1877). Die Firma R. von Dederd Verlag in
Berlin iſt aus diefer Druderei hervorgegangen; fie ift jeßt im Beſitze von G. Schend.
2
Die Beldaffung einer öffentlihen Bibliothek.
u zu u 29 5 ws
Aber diefes Thema findet fi) in dem Organ des bekannten
Herrn dv. Egidy ein Aufſatz, der aus der Feder eines Fachmannes, des
Kieler Bibliothefard Dr. C. Nörrenberg, herrührt und der auch für
unjern Lejerfreis von Intereſſe ift. Hat doch der Sortimenter in der
Provinz alle Veranlaffung, die Errichtung einer öffentlichen Bibliothek
anzuregen und zu unterftügen. Wir nehmen daher Veranlafjung, einen
Teil jener Arbeit im Folgenden zu reproduzieren; unjere Leſer werden
Jicher die eine oder andere Anregung daraus jchöpfen.
* *
*
Wie ſchafft man eine öffentliche Bibliothek? Der Amerikaner jagt:
First appoint a librarian, man jtelle zuerjt einen Bibliothefar an. Der muß
ja als Fachmann alles können, und das übrige, nämlich das nötige Geld,
veriteht fich von felbft in einem Lande, wo jogar bei den jebigen jchlechten
Beiten in den erften zehn Monaten des laufenden Jahres vier Millionen
Mark von Privaten für öffentliche Bibliotheken vermacht oder geſchenkt
find. — Ein deuticher Stadtrat wird entgegnen: „Einen Bibliothefar ?
Dazu haben wir fein Geld; das kann ein Oberlehrer oder Hauptlehrer
nebenbei bejorgen.” Herr Stadtrat, Sie irren fih. Wenn mein Schneider
feine Sache noch jo vorzüglich verfteht, jo werde ich doch feine Stiefel bei
ihm bejtellen; und ein noch jo tüchtiger Pädagog oder Gelehrter ift darum
noch fein Bibliothekar. Selbft in Amerika, wo man angeblich heute Kaufmann,
morgen Anwalt und übermorgen Ingenieur jein kann, ftellen die Städte
nur gelernte — nicht gelehrte — Bibliothefare an; es giebt heute drüben
beinahe ein halb Dutzend Bibliotheksſchulen. Bibliothekar fein ift eine
Sache, die gelernt jein will, und wenn eine Stadt jährlich taufend Mark
Gehalt am Bibliothekar ſpart, jo mag fie ja nad) einigen Jahren zehn-
taufend verwenden, um von einem Fachmann Alles einrenfen und meu
ihaffen zu lafjen, was der Laie verdorben und unterlafjen hat. Eine
Bibliothek aus dem Friſchen anzuſchaffen, zu ordnen, zu Fatatogijieren
und die Buchführung anzulegen foftet weniger, als eine faljch geordnete,
74 Die Beihaffung einer öffentlichen Bibliothek.
verfehrt Fatalogifierte mit umordentlicher Buchführung in eine wohlver-
waltete umzuwandeln. Städte von zwanzig, dreißigtaufend Einwohnern
aufwärts, die jo und joviel Lehrer befolden und dazu vielleicht noch eine
höhere Lehranftalt unterhalten, die ſollten einen eigenen Stadtbibliothefar
haben, und zwar womöglich einen wifjenfchaftlichen: ausgebildet werden
jahraus jahrein genug junge Doktoren an den großen wiflenichaftlihen
Bibliotheken. Gehalt: Normaletat. Mehr als einen wiljenfchaftlihen
Beamten braucht eine Stadtbibliothef mittlerer Größe nicht, zweibrittel
bis dreiviertel der Verwaltung kann bejorgt werden von Beamten mit
anderer Vorbildung: Zeugniß für den einjährigen Dienst und womöglich
buchhändlerische Kenntniffe könnten die Vorbedingung fein, daneben na—
türlich bibliothefarische Fachausbildung. Aber da zeigt fi) ganz fraß die
Folge unſerer Rüdjtändigfeit im Bibliothefswejen: wo follen die Nicht-
jtudierten ausgebildet werden? Herr Oswald Dttendorfer in New-York,
als er jeinem Vaterſtädtchen Zwittau in Mähren die großartige Frei—
bibliothef jchenkte, ließ eine junge Dame nad) New-York fommen, in einer
dortigen Public Library ausbilden und ftellte fie dann in Zwittau an.
Das war das beite, was er thun fonnte: in Deutjchland bilden Die
wifjenichaftlichen Bibliotheken nur ftudierte Beamte aus, und an einer
Bolksbibliothef hätte fie nicht lernen können, was fie brauchte; am erjten
noch an der Stadtbibliothef zu Kafjel oder an der Rothſchild'ſchen öffent-
lichen Bibliothek zu Frankfurt a M. — In Amerika find befanntlic)
die Bibliothefsbeamten der Mehrzahl nach Beamtinnen, jo 3. B. an der
Aguilar-Bibliothef im dunfelften New-York; und ich kann es mir jehr
wohl vorftellen, wie die edle Anmut und der weibliche Takt von Miß
Louiſa S. Eutler auch dem rüden Anardiften ein gefittetes Auftreten
abgezwungen hat. Auch in Deutjchland jollte man, denke ich, weibliche
Beamte an Bibliotheken bevorzugen. — Entjcheidend bleibt immer die
gründliche praftiiche Ausbildung im Fach; und in Fleineren Städten
fünnen natürlich Perſonen, welche dieje haben und daneben Einjährigen-
oder Prima-Reife oder entiprechende Kenntniffe, die Bibliothek leiten.
Uber dabei bleiben wir: wo irgend möglich einen Bibliothefar im Haupt-,
nicht im Nebenamt.
Den Bibliothekar hätten wir alſo; jet heißt es: die Bücher zuſam—
men bringen. Nun wird der Bibliothefar zu den Leitern der höheren
und niederen ſtädtiſchen Lehranftalten, zum Magiltrat, zu den Hand-
werfervereinen, dem Kaufmännischen Verein, dem Gejchichtsverein, dem
Ürzteverein und zur Geſellſchaft Harmonie, oder wie fie heißt, gehen und
jagen: Denken Sie doch nicht, Sie befigen eine Bibliothef, wenn Sie
Ihre Bücher in einem abgelegenen Raum ftehen haben, in einer dunfeln
Ede, und Sie fünnen nur heran, wenn es grade dem Schul- oder Ber-
Die Beihaffung einer öffentlichen Bibliothek. 75
einsbibliothefar paßt, oder wenn grade der Wochentag und die Stunde
ift, die man als Bibliothefsitunde angejegt hat. Stellen Sie Ihre Bücher
in der Stadtbibliothef auf, da können Sie jeden Tag und jede Stunde
heran; dann erft bejiten Sie Ihre Bücher.
Wenn num die verjchiedenen Anftalten und Vereine nicht mit tiefer
Blindheit gejchlagen find, jo Hat die Stadt in furzer Zeit eine hübjche
Bibliothek zufammen, nämlich alle vom Bibliothefar ala brauchbar aus—
gewählten Bücher aus den obigen Sammlungen; die weniger wertvollen
werden vorläufig zurücgeftellt: befjer fünftaufend Bände guter Werke
gut fatalogifiert, ald noch fünfzehntaufend minderwertige dazu und alles
ſchlecht Fatalogifiert. — Das iſt ein wertvoller Grundftod, aber noch feine
abgerundete, in allen Fächern mit den standard works, den beiten, gründ-
lichiten, brauchbarjten Werfen ſyſtematiſch ausgeftattete Bibliothel. Zu
wiljen, welche Werke das find, ift Berufsſache des Bibliothekars, und
eine der wichtigiten.
Nun läßt er ein paar taufend Zettel herſtellen mit dem Vordrud:
Stabtbibliothef &.
Geſchenk von .......
Dieje Zettel zeigt er Abends im Klub vor und jpricht beifpielsweife:
„Herr Kommerzienrat, eben wird mir Hartleben's chemijch = technijche
Bibliothek, zweihundert Bände, vom Buchhändler billig angeboten; Sie als
Tärbereibefiger zc. 2c.; ich denke Ihnen nur eine Freude zu machen, wenn
ich zweihundert von diefen Zetteln mit ihrem Namen ausfülle und in die
Bücher hineinklebe.“ Wir hoffen, daß ebenjowenig der Kommerzienrat
nein jagt, wie die anderen Kröjuffe der Stadt, und daß der Vibliothelar
in kurzem die größten Lüden geftopft hat.
Er wird nun darangehen, einen Taufchverfehr einzurichten: die Stadt
drucdt jährli einen Verwaltungsbericht; fie wird ihn an jede deutjche
Stadt verjenden, die auch einen herausgiebt, und wird im Tauſch die
Berichte aller andern Städte empfangen. Dieje gehen ohne weiteres in
die Bibliothef. In der Stadt beitehen Leſezirkel: aus dieſen fichert ſich
der Bibliothelar die beiten Bücher und Journale, und jhließlich appelliert
er an ben Gemeinfinn Aller, die Bücher bejigen.
Was dabei herausfommen fann, zeigt das Beiſpiel der Kaſſeler
Stadtbibliothek, die infolge vernünftiger Verwaltung in der öffentlichen
Meinung ſchon jo beliebt geworben ift, daß fie in diefem Jahre binnen
wenigen Monaten mehrere Taujend Zuwachsnummern allein an Gejchen-
fen aufwies. — Der Reft muß dann aus dem regelmäßigen Anjchaffungs-
etat gedeckt werden, über deſſen Höhe ſich natürlich nichts allgemeines
jagen läßt. In Amerika ift faft überall der Beſoldungsetat höher, als
der Anihaffungsetat, und es mag hier wiederholt werden: was am le-
76 Die Beihaffung einer öffentlichen Bibliothef.
teren geſpart wird, das kann erjeßt werden durch freiwillige Beiträge;
was aber durch Sparen am Bibliothefar, in der Verwaltung gejchadet
wird, das ift fchwer oder gar nicht gut zu machen. Jeder, der an einer
alten Bibliothek arbeitet, hat Gelegenheit, in Syftem und Katalogen
ſchlechte Yaienarbeit früherer Generationen, die ihm teure Zeit und gute
Laune Eoftet, zu verwünſchen. — Angenommen, eine Stadt hat einen
jährlihen Bibliothefsetat von 3000 Mark, jo verwendet fie bejier 2000
Mark auf einen eigenen Bibliothefar und 1000 Markt auf Bücher, als
umgefehrt.
Wir Hatten bisher die Verhältniffe mittlerer und größerer Städte
im Auge; anders liegt es auf dem Lande: da hat die einzelne Gemeinde
ja nur bejcheidene Mittel und wird froh fein, wenn fie jährlid ein paar
Bücher kaufen und dem Lehrer, der nebenbei den Bibliothekar jpielt, jeine
Mühe überhaupt vergüten kann. Hier mag mun der Staat oder die
Provinz eingreifen, indem fie, wie der amerilaniiche Staat New-York, aus
der Zandesbibliothef ausgewählte Heine Bücherlammlungen von 80 bis
100 Bänden an die Landgemeinden auf die Wintermonate gegen mäßige
Gebühr verleihen, jogenannte Wanderbibliothefen. Aber was eine Gemeinde
allein nicht vermag, das bringen mehrere fertig, die fich zu einem Bibli-
othefsverband zufammenthun; und grade jegt zur rechten Zeit ijt der
hannoverjche Kreis Neuhaus a. d. Oſte mit einem Beifpiel vorangegan=
gen, das hoffentlich überall Nahahmung finden wird. Es ift nämlich
dort, wie der „Hannoverſche Conrier” berichtet, am 9. Dftober unter
dem Vorſitz des Landrats Heidborn die Errichtung einer Kreisbibliothek
beraten und beichloffen worden; fie jol ihren Sit in der Kreishauptftadt
haben, und auf dem platten Lande wird man vorläufig 18 Zweigitatio-
nen errichten.
Es läßt fich leicht ausmalen, wie die vorhandenen feinen Gemeinde-
bibliothefen der Kreisbibliothek an- und eingegliedert werden, wie man
einen gemeinfamen Katalog drudt, wie alle Bücher durch alle Orte des
Kreifes wandern und wie num die Kreiseingefeilenen auf einfachſte und
billigfte Weiſe mit Bildungsftoff veriehen werden. Dieſe Organifation,
wenn durchführbar, würde thatfächlich die Bibliothefsfrage auf dem Lande
löſen.
Buhhandel und Bolkswirtfdaft.
Bon Friedrich Thieme.
Howie die Kabinettspolitik der nationalen, jo muß der politiſche
Staat notwendig dem rein wirtichaftlihen weichen. Die menjchliche Ent-
widlung geht diefen Weg, und wir befinden ung bereits in der Über—
gangsperiode. Noch tragen unjere modernen Staaten vorwiegend einen
politiichen Charakter, aber doch bildet jegt ſchon die Wohlfahrt der ge-
jamten Bevölferung einen der wejentlichiten Faktoren der Regierungs—
funjt, wenn auch über die befte Art und Weile, diefe Wohlfahrt zu
fördern, die einzelnen Anjchauungen noch weit auseinandergehen. Wir
ſind jedoch bereits jo weit gediehen, daß wir auf dem Papiere eine ganze
Reihe von Entwürfen rein wirtſchaftlicher Staaten vor uns haben, teil-
weile derart ausführli und umfafjend, daß weiter nichts zu fehlen
ſcheint, al3 eben — die Verwirklichung.
Zwed aller Volkswirtſchaft und Volkswirtſchaftsphiloſophie ift es,
die Geſetze zu finden, nach welchen fich ein allen Interefjen gleichmäßig
günftiges Staatsgebilde fouftruiren läßt. Die herrichenden Klafjengegen-
läge und Mißſtäude inbezug auf den Beſitz erweden und nähren den
Wunſch nad einem materiellen und fittlichen Ausgleich, wobei naturge-
mäß derjenige Teil, welcher die Vorteile der jogenannten alten Gejell-
Ihaftsordnung genießt, diejelben ebenjo Hartnädig feftzuhalten verjucht,
als der andere Teil mittel3 einer neuen Ordnung der Dinge das Ge-
genteil erzielen will. Daher kommt es, daß faſt alle denkenden Menjchen
(und auch die meiften nicht denfenden) im diefem Streit um die wichtig-
jten Interefjen Partei ergriffen haben, daß die Worte „Volkswirtſchaft“
und „NRationalöfonomie” zu den meiltgejprochenen gehören und daß zur
Zeit alle Beitrebungen einen wirtichaftlicden Charakter mindeitens anzu-
nehmen juchen. Jeder Beruf, jeder öffentlihe Akt wird nad) feiner wirt-
Ihaftlihen Bedeutung gemefjen und ihm unerbittlic) feine Stellung im
ökonomiſchen Syitem angewiefen. Unter ſolchen Umftänden rechtfertigt
ih nicht nur der Verſuch, die Stellung des Buchhandels in und zur
Bolkswirtichaft einer Beleuchtung zu unterziehen, von ſelbſt, jondern es
78 Buchhandel und Volkswirticaft.
erjcheint jogar notwendig, auch diefen alten ehrwürdigen Hanbelszweig
im Lichte der modernen Anſchauung zu betrachten und den Rang für ihn
zu beanfpruchen, welchen er von rechtswegen einzunehmen berechtigt ift.
Ih jchide dabei voraus, daß ich in der Hauptjache, joweit die buchhänd-
leriihen Inftitutionen und Erfolge in Frage fommen, den deutichen Buch—
handel im Auge habe, daß aber meine Ausführungen mit wenigen Aus—
nahmen auf den Buchhandel im Allgemeinen Anwendung finden können,
auch betreff3 der allgemeinen wirtjchaftlichen Stellung und Wertung.
Da man unter Bollswirtihaft die wirtichaftlihe Gejamtthätigfeit
eines Volkes verfteht, jo bedarf die rein äußere Zugehörigkeit des Buch—
handels, der fich troß feiner Sonderart als eine Abzweigung des Handels
harakterifirt, gar Feiner Erörterung. In feiner Natur lag es, ſich eigen-
artig zu entwideln, fich Gejege und Beziehungen zu jchaffen, welche zum
Teil weit von denen de3 gewöhnlichen Handel abweichen. In dieſer
Hinficht zeigte fi) der Buchhandel fogar als ein wirtichaftliches Vorbild
für die übrigen Handelszweige, indem er es nicht nur verjtand, ſich troß
der feiner Zeit noch fehlenden Verkehrsmittel eine Organijation zu geben,
welche geradezu als das Muſter einer Berkehrseinrichtung zu preifen ift,
jondern auch frühzeitig dahin wirkte, für feine Angehörigen Inftitutionen
zu Ichaffen, die deren materielle Unterftüßung zum Zwede hatten. In
diefen beiden Ericheinungen offenbart fi allein jchon der hohe öfono-
miſche Wert des Yuchhandels, der dadurch nicht nur direft zum Förderer
und Betreiber wirtichaftlicher Beſtrebungen geworden ift, ſondern ſich auch
einen ehrenvollen Platz in der Entwicklungsgeſchichte der Volkswirtſchaft
gefihert Hat. Da ich ausſchließlich für Fachmänner fchreibe, brauche ich
auf die Organilation des deutihen Buchhandels jelbjt nicht näher ein-
zugehen; es genügt, an diejer Stelle auf ihren wirtichaftlihen Einfluß,
auf ihre Bedeutung als Kommunikationsmittel hinzuweiſen und die ein-
zelnen Thatjachen inſoweit zu berühren, als dies für die Abficht des Ver-
fafjers erforderlich erjcheint.
Durch diefe Organifation, deren Wirkſamkeit ſich, obwohl fie vor:
nehmlich für Deutfchland, Öfterreih-Ungarn und die Schweiz Gültigkeit
befigt, im Grunde auf die ganze zivilifierte Welt erftredt, wird der buch—
händlerijche Betrieb im weitejten Sinne geregelt. Alles, was mit der
Produktion, dem Verlag und Vertrieb von Büchern zujammenhängt, das
Preis- und Kreditwejen, die Verbreitung der Verlagswerke u. |. w. u. | w.
haben Berüdjichtigung gefunden und auch die idealen Zwecke einer Ge—
noljenichaft, als da find Wahrung der Standesinterefjen, Förderung der
Wohlfahrt feiner einzelnen Glieder, find nicht vernachläſſigt worden.
Durh alle diefe Maßregeln hat der Buchhandel eine Bedeutung gewon-
nen, deren Einfluß über das allgemeine Volfsleben hinaus tief im die
Buchhandel und Volkswirtichaft. 79
Familie hineinreiht. Es laſſen fih wohl faum Mittel finden, den Ber-
fehr untereinander und mit dem Publikum billiger und zuverläjfiger zu
geftalten, als diejenigen, welche im YBuchhandel zur Anwendung kommen,
bejonder3 dürfen wir in der Inftitution des Konditionsgutes die geradezu
meifterhafte Löſung der Frage finden, wie man Büchern und Drudjchrif-
ten am angemefjenjten und billigiten die allgemeinjte Verbreitung fichert.
Schon aus dem Gejagten erhellt, daß die wirtichaftlihe Bedeutung
des Buchhandels nicht lediglich auf rein praftifchen und materiellen, ſon—
dern in ebenjoldem Grade auf idealem Gebiete liegt. Nur ein Volt,
das eine hohe Allgemeinbildung befigt, ift empfänglid für die Wahrheit
wirtichaftlicher Gejete und Ideen und reif für eine wirkliche gerechte ſo—
ziale und ökonomiſche Entwidlung. Wer aljo die Allgemeinbildung des
Volkes hebt, der beteiligt ſich indireft an der Förderung feiner Wohlfahrt,
und wir dürfen wohl dreift behaupten, daß — obwohl die Litteratur im
engeren Sinne als der eigentliche Faktor diefer Förderung zu betrachten
it — die ungeheure Macht der Litteratur erit ganz durch den Buchhandel
entfaltet, die leßtere aljo durch die umfajjende vorzügliche Organijation
des Buchhandels erft völlig zu der erhabenen geijtigen Großmacht erhoben
wird, die fie geworden iſt. Das trefflihe Buch allein bricht fich nicht
immer Bahn, und jchon mancher hervorragende Denker und Dichter wäre
unbefannt und ungewürdigt verbittert ins Grab gejunfen, wenn nicht
buchhändleriſche Energie ihn unter Zuhilfenahme der großartigen buch-
händleriichen Organijation auf den Schild gehoben hätte. Dieje Organi-
jation ijt es auch, die jene bewunderungswürdige Ausdehnung des Bücher-
markte ermöglicht, durch welche jeder Gebildete in den Stand gejeßt
wird, jederzeit und überall der geijtigen Produktion der Welt mindeſtens
in ihren bemerfenswertejten Produkten zu folgen, die er wie in einem
Spiegel in dem Schaufenſter oder dem Laden eines guten Buchhändlers
in inftruftiver Konzentration erblidt. Der geiftige Markt wird auf dieje
Weile ununterbrochen offen, die Luſt an geiftigen und äjthetiichen Pro—
duften rege gehalten, jomit gleichzeitig den buchhändleriichen wie den all-
gemeinen Intereſſen gedient und ein doppelter wirtichaftlicher Zweck er-
reiht. Neben diejer mittelbaren Förderung der höheren Volksintereſſen
geht die unmittelbare durch den Vertrieb von Zeitjchriften und Journalen
einher, in denen in ftreng geordneter, bejtimmten Abjichten unterworfener
Form ein direkter Einfluß auf das Publikum mit demjelben doppelten
Endzwede verjucht wird.
Doch damit ift der ideale Nuten des Buchhandels für die Volks—
wirtichaft noch nicht erſchöpft. Außer jener indirekten Begünjtigung der
wirtichaftlihen Wohlfahrtsbeitrebungen haben wir auch eine direkte injo-
fern zu verzeichnen, al3 der Buchhandel nicht nur die Bildung im allge-
80 Buchhandel und Bolfswirticaft.
meinen, jondern gerade auch die volfswirtichaftliche Bildung im bejonderen
fördert. Vor allem in den lebten zehn Jahren hat fich die Zahl der
Schriften, Journale, Brofchüren und Werke, welche in irgend einer Form
wirtichaftliche Fragen und Probleme behandeln, ins Ungeheure vermehrt,
eine Ericheinung, von welcher der Buchhandel in demjelben Maße profi-
tiert wie das Publikum.
Der inneren wirtichaftlihen Bedeutung des Buchhandels entipricht
die äußere volltommen. Bejonders ſeit mit Einführung der neuen Ge:
werbeordnung für das Deutiche Reich der Buchhandel ein Freies Gewerbe
geworben ift, hat derjelbe nicht nur au Ausdehnung, jondern vor allem
auch an Bieljeitigkeit gewaltig zugenommen. Eine reiche Fachlitteratur
arbeitet ununterbrochen an der Hebung des Berufes und der Belehrung
der Jünger desjelben; die Zahl der buchhändlerischen Firmen betrug im
Jahre 1892 nad) Ausweis des „Adreßbuchs des deutichen Buchhandels“
nicht weniger als 7787, wovon auf das Sortimentsgejhäft 5107, auf
den Verlag infl. Zeitungsverlag 2482 und auf das reine Antiquariat
198 Firmen entfielen. Auf das Deutſche Reich allein kommen in 1196
Städten 5983 Handlungen.
Wie in allen andern Wirtjchaftszweigen vollzieht ſich auch im Buch—
händlergewerbe eine immer weiter gehende Spezialifierung der verfchte-
denen Thätigkeitärichtungen, wozu vor allem die ſich immer jteigernde
Produktion auf allen Gebieten der buchhändleriihen Thätigfeit Veran—
lafjung giebt. Die meiften Berufsangehörigen treiben entweder Verlag
oder Sortimentsgejchäft, Antiquariat oder Kommilfionsbuhhandel, Kol-
portagebuchhandel, Kunſt- oder Mufifalienhandel u. j. w., ja fogar inner:
Halb dieſer Abteilungen findet eine neue Verzweigung ftatt, indem mancher
nur Brojchüren, ein anderer nur wiljenjchaftliche Werke, ein dritter aus-
ſchließlich Belletriftif verlegt u. | w. E38 hieße Eulen nad) Athen tragen,
wollte ich an dieſer Stelle mich anſchicken, für diefe Behauptungen ſtati—
ftiiche Beweije zu erbringen, da die Hauptzahlen aus jedem Lerifon zu
erjehen find, ausführlicheres und für die Lejer wirklid) Neues enthaltendes
Material betreffend die Einzelbrauchen aber über den Zweck meiner Dar-
legung hinausgeht. Erwähnt jei noch, daß mit dem Buchhandel noch eine
Anzahl anderer Gewerbe in intimjter Verbindung jteht reip. in ihrer
wirtichaftlihen Bedeutung dur ihn gehoben wird, 3. B. die Buch—
druderei, Buchbinderei, die Malerei, Zeichnerei, Kylographie u. ſ. w. u. ſ. w.
Der Buchhandel wirkt daher befruchtend nicht nur auf die litterarifche,
jondern auch auf die künſtleriſche, kunftgewerbliche und gewerblidye Pro-
duftion. Sowie er jelbft international geworden ift, haben einzelne jeiner
vornehmiten Vertreter ihre Firmen zu wahrhaft nationaler Bedeutung
emporgejhwungen oder dieſelben durch Verjchmelzung in großartige
Buchhandel und Volkswirtſchaft. 81
Injtitute verwandelt, ihre Leiftungsfähigfeit dadurch natürlich verzehn-
fachend.
So jehen wir denn zur Zeit den Buchhandel auf einer wirtichaft-
lichen Stufe, von welcher man faum annehmen jollte, daß fie noch über-
Ichritten werden könnte. ein Einfluß kann faum nod wachen, feine
wirtichaftlihe Stellung faum noch bedeutender werden. Manche feiner
vornehmften Vertreter rechnen nicht mehr mit Taufenden, jondern mit
Millionen. Der Börjenverein der deutichen Buchhändler zu Leipzig befibt
ein Vermögen von 14 Million Mark. Die Höhe des Geſamtumſatzes
beläuft fih auf einen erheblichen Teil des nationalen Konjums. Der
Buchhandel repräjentiert jomit in der Bolkswirtichaft unferes Vaterlandes
einen bochanjehnlichen Gejchäftszweig, dem außerdem noch jeine ideale
Bedeutung als Kulturfaktor, als Förderer des geiftlichen und fittlichen
Lebens, als Verbreiter wirtihaftliher Bildungsmittel zur Seite tritt. Er
nimmt jeinen twohlverdienten Pla nicht allein in der Volkswirtſchaft
jelbjt, jondern aud) in der wirtichaftlichen Entwidlungsgeihichte ein. Ehre
Daher, dem Ehre gebührt! Möge er fortfahren mit gleichem Erfolg in
jeinen Bejtrebungen, zum Nutzen feiner Angehörigen jowie des Publikums,
zur Förderung und Berbreitung alles Guten und Nüglichen, zur Hebung
deuticher Bildung und Gefittung, und zur Ehre des deutichen Namens
und Geijtes!
—
Die internationale bibliographifhe Konferenz
in Brüffel.
Daß die Bibliographie jeit langer Zeit eine Art Wiſſenſchaft ge:
worden, weiß wohl niemand beſſer als unfere Kollegen. Schon der Blid
auf die Kataloge unſerer großen Barjortimente zeigt zur Genüge, welche
Summe von Arbeitsfraft und Wiſſen dazır gehört, dieſelben zujammen
zu ftellen, abgejehen von den Fundamentalwerken und jedem Berufs-
genofjen unentbehrlichen Verzeichniſſen, wie Hinrichs, Heinfius, Othmar,
Wolff's Vademeken 20. ꝛc. Allerdings find diefe Hilfsmittel in erjter
Linie für den Buchhändler berechnet, aber wie gerne greift jeder Ge—
lehrte nach denfelben, wenn er an fein Quellenftudium geht, und wie
vielen Eleineren und größeren Bibliotheken bat die in denjelben getroffene
ſyſtematiſche Anordnung nicht als Nichtichnur gedient! Das Eolofjale
Material, welches in vielen willenichaftlichen und öffentlichen Bücher—
Jammlungen aufgeitapelt Tiegt, ijt jedoch zu umfangreich, als daß in der
bisherigen Gliederung ohne bejondere Mühe beitimmte Werfe und gar
kleinere Abhandlungen leicht aufgefunden werden könnten, zumal falt jeder
Tag neue Spezialwiſſenſchaften zeitigt, was die Überficht nur noch mehr
erichwert. Die anfangs vorigen Monats in Brüſſel ftattgehabte inter-
nationale bibliographiiche Konferenz hatte ſich daher zur Aufgabe gemacht,
hier Ordnung und ein einheitliches Syſtem zu fchaffen. Zwar berühren
die getroffenen Vereinbarungen in erjter Linie nur Bibliothefare und die
Gelehrtenwelt, aber bei dem engen Zuſammenhange unjeres Berufes mit
diejer dürften diejelben auch Buchhändler in höchſtem Grade interejjieren.
Es handelte ſich darım, ein Syitem zu finden, in das die Bücher—
Ihäte der großen Bibliotheken gebradht werden können, und das dem
Spezialforjcher erlaubt. ohne Mühe und im furzer Zeit die ihm nötigen
Duellenwerfe zu finden. Das fand fi in der in Nordamerika und auch
vereinzelt in deutſchen Bibliothefen jchon feit Langem üblichen, von Melvie
Bewey zuerit angewandten Dezimalklaffifizierung Alle Wiſſenſchaften,
Fächer ꝛc. werden in 10 Gruppen eingetheilt und mit O, 1, 2, 3 u.j.w.
Die internationale bibliographiſche Konferenz in Brüſſel. 83
bis 9 bezeichnet. Jede Gruppe zerfällt wiederum in 10 Klafjen von 01,
11, 21, 31 u. ſ. w. bi3 91; jede Klafje wiederum in 10 Abteilungen,
beginnend mit 101, 201, 301 u. f. w. bis 901 u. ſ. w. Alles auf Me-
dizin bezügliche ift 3. B. in der Serie 610—619 enthalten, andere Wij-
ſenſchaften in einer entjprechend anderen Serie. Auf den erjten Blid
erjcheint dieje Einteilung etwas kompliziert, jedoch fonnte ich mich in der
Office beige de bibliographie in Brüffel perjönlich von der Zwedmäßig-
feit derjelben überzeugen. Das Syſtem wurde denn auch von der Ver—
fammlung einftimmig angenommen.
Seine eigentlihe Bedeutung gewinnt diefer Schritt für den Buch—
handel noch dadurch, daß gleichzeitig vereinbart wurde, an denſelben her-
anzutreten und ihn zu veranlajjen, jeine großen Sahresfataloge nach
demjelben Syſtem einzurichten, und ferner dadurd), daß die Anlegung eines
großen Kataloges unter Anwendung des Dezimaljyftems ein „Repertoire
bibliographique universel*, das die ganze Weltlitteratur von ihren erften
Anfängen bis in die neuejte Zeit umfafjen foll, definitiv beſchloſſen wurde.
Das gleichzeitig ins Leben gerufene „Institut de bibliographie“ foll ferner
in nächfter Zeit ein Blatt herausgeben, das für die gefaßten Bejchlüffe
in Privat- und namentlid) Buchhändlerkreifen Propaganda machen und
Anleitungen zur praftiihen Durchführung der Dezimalklaffififation ge-
ben wird.
Paris. i—d.
co
6*
Bohanna Ambroſius, eine deutfhe Bolksdichterin.
Kann das Kindchen noch nicht geh'n?
Hör’ ich öfters fragen,
Kann doch Schon alleine fteh'n,
„Lieber Vater” fagen!
Dod die Mutter lieft entzüdt
An des Kindes Sternen,
At im Hochgefühl beglüdt,
Dat es geh'n wird lernen.
So hab’ ich gefragt mein Herz:
Kannft denn noch nicht tragen
Deinen auferlegten Schmerz?
Kannſt doch „Vater“ fagen!
Schaue nur mit hellem Blid
Zu den ew’gen Sternen,
Und Du wirft Dein herb’ Geſchick
Lächelnd tragen lernen.
In dieſen ſchlichten Verjen liegt jene Herzensfreudigfeit, die im Him-
mel wurzelt. So empfindet ein Gemüt, welches dag Leben in feiner
ganzen Herbigfeit kennen gelernt hat, ohne daß die Bitterfeit zum Siege
über den im tiefiten Herzen wohnenden findlichen Frohſinn gelangt ift.
Es dokumentiert ſich aber in diejen anfchaulichen Verjen, die in vollende-
ter Kürze eine Reihe von anmutigen, gemütvollen Bildern vor unferem
geiftigen Auge hervorzaubern, nicht allein ein frommes Herz, jondern ein
gottbegnadetes Dichtertalent, und mit ftaunender Bewunderung muß e8
ung erfüllen, daß dieſe Tormvollendeten Strophen von einer jchlidhten
Handwerferstochter, von einer oftpreußiichen Bauersfrau herrühren, die
bis vor kurzem in Groß-Wersmeninfen bei Lasdehnen in ſchwerer Arbeit
ihr Feld bebaute und ihr Bauernhäuschen in Ordnung hielt.
Johanna Ambrofius (eigentlih Frau Voigt, geborene Ambrofius)
heißt die am 3. Auguſt 1854 zu Lengwethen im Kreiſe Ragnit geborene
Volksdichterin, deren Name jegt in aller Munde ift. Eie ift ein dharaf-
teriftiiches Beijpiel dafür, daß in unjerem Volke ein unerjchöpflicher Born
von Gemüt und jchlichtem Kunftfinn quillt, und zwar in jenen Volks—
Johanna Ambrofius, eine deutiche Volksdichterin. 85
ſchichten, welche fich der Gebildete nur zu oft als in völliger geiftiger
Trägheit erftarrt denkt, weil er fich in feinem Bildungsdünkel jcheut, mit
ihnen in nähere Berührung zu fommen Johanna Ambrofius hat eine
einflajfige Volksſchule vom fünften bis elften Lebensjahre beſucht; fie tft
eine jchlichte Tochter des Volkes, ein Kind ihrer oftpreußiichen Heimat,
und das Gefühlsieben des Volkes, die ganze Skala feiner Empfindungen
it es, welche ſich in ihren Liedern wiederjpiegelt. Aus dem reichen
Schage derjelben lafjen wir im Nachitehenden einige wenige folgen, da—
mit die Dichterin für fich felbit zeugen kann:
Der lebte Brief.
„Roc die Adreſſe“ tönt ed von den Lippen
Der armen, franfen, ſchwer geprüften Frau.
„Will erjt ein wenig von dem Tranfe nippen,
Der mir giebt Kraft, jonft fchreib ich nicht genau;
Bin auch mit Mühe nur dem Bett entitiegen,
Und Elopft das Herz fo ſtürmiſch und geſchwind,
Die Mutterliche wird noch einmal fiegen,
Ich ſchreib' ja an mein einzig Herzenskind.“
Die Feder in der Hand, fo hat man fie gefunden,
Daneben lag ein Brief, dem Auffchrift fehlt.
Der Tod hat Mutterliebe überwunden,
Auch Not und Armut, die oft heiß gequält.
Schlaf ruhig, treues Herz, Englein die lieben,
Die Dich zum ew'gen Schlafe wiegten ein,
Sie haben Deinen Brief zu End’ geichrieben
An Deines Kindes Herz mit Demantitein —
Das Frühſtücksbrot.
Einit fam in Regen und Sturmgebraus
Mein Eleiner Bub’ aus der Schul’ nah Hau,
Rief athemlos ſchon draußen her:
„Mutter! Gieb Brot, mich hungert ſehr!“
„Was? Haſt Du das ganze Ränzel geleert?“
Wahrhaftig, er hatte alles verzehrt.
Zwei Schnitte mit Butter, ein Aepflein rot,
Und ſolch ein Appetit, wie bei Hungersnot?
„Daß Dich, Du Kleiner, hat's ſo geſchmeckt?“
„Ja!“ tönt es leiſe. Im Buche verſteckt
Hält er die Augen; weiß wohl, daß er lügt —
Bis plötzlich die Wahrheit über ihn ſiegt.
Er ſtreichelt mir bittend über die Hand,
Das Auge ſo fragend mir zugewandt:
„O Mutter, ſchilt nicht; mein Frühſtücksbrot
Gab ich einem Jungen, er klagt' mir Not!“
„Hat feinen Biffen, ſechs Wocen lang
Der Vater ift tot, die Mutter jo franf;
86 ‘Johanna Ambrofius, cine deutiche Volksdichterin.
Drum gab ih mein Frühftüd dem Bettelfind;
War's bös oder gut, jo fag es geſchwind!“
Ich drüdte mit Thränen ihn an meine Bruft:
„Du haft gethan, mein Kind, wad Du mußt;
So wiſſe, nur den unfer Herrgott liebt,
Der reht vom Herzen den Armen giebt.“
„And follteft im Leben Du irren, mein Sohn,
Gott lenft Dein Geſaſick von feinem Thron.
Mit dem Brote, dad Du dem Knaben gereidt,
Gott einft Deine Fehler vergebend ftreicht.”
Mein Lieb.
So wie vom Strauh man Rofen bricht,
So gingft Du ein zur Ruh,
Dein Auge war mein Lebenslicht,
Mein Finger ſchloß es zu.
Sie klagten lang und hielten Wacht
Und füßten Deinen Mund,
Ich that es nicht, doch rang bei Nacht
Ach mir die Hände wund.
Sie brachten Blumen mit zur Bier
Und ihmüdten Dich gar fein,
Ich legt mein Herz zu Füßen Dir
Am falten Totenſchrein.
Sie pflanzten Dir 'nen Trauerbaum,
Daß ſchön ſich's drunter ruht,
Doch ich begoß den Weidenbaum
Mit meiner Thränenflut.
Dann ſetzten ſie ein Denkmal ſchön
Mit Namen, Jahreszahl,
In meiner Bruſt fteht ungeſeh'n
Ein flammend Totenmal.
Sie wandern oft zu Deinem Grab,
Ich ſitz für mich und wein',
Denn wie ich Dich geliebet hab' —
Das weiß nur Gott allein.
Das Herze auf.
O laß nur einen Vogelton
In Deine Bruſt hinein,
Gleich ſtimmt mit vollem Jubellaut
Die ganze Seele ein.
Den Duft von einer Blume nur
Nimm auf wie Gotteshauch,
Dann ſproſſen tauſend Blüten Dir
Im Herzensgarten auch.
Zu einem Stern am Himmelsraum
Richt' Deiner Seele Flug,
Dann haſt Du auf der weiten Welt,
Mein Kind, des Glücks genug.
Johanna Ambroſius, eine deutſche Volfsdichterin. 87
Das iſt echte Poeſie, die zu Herzen geht, da ſie einem reichen deut—
ſchen Frauengemüt entquillt. Kein leeres Reimgeklingel, keine angeleſene
Empfindung, ſondern eine ſtaunenswerte poetiſche Begabung haben wir
hier vor uns. Und unter welchen ſchwierigen Umſtänden hat ſich dieſes
ſchöne Talent entwickelt! Mit zwanzig Jahren vermählte ſich Johanna
Ambroſius mit einem armen Bauernſohn und führte an ſeiner Seite ein
Daſein in Kummer und Not, in harter mühſeliger Arbeit. Zwei Kin—
der, Marie, jetzt neunzehn, und Erich, jetzt ſechszehn Jahre alt, ent—
ſproſſen der Ehe und trugen zur Vermehrung der Sorgen um das täg—
liche Brot bei. Ein kleines Erbteil machte es den Eheleuten möglich, ein
Häuschen und ein Stück Feld in Groß-Weesmeninken anzukaufen. Aber
Not und Sorgen wichen nicht aus dem bäuerlichen Haushalt, und der
Schmerz über förperliche und jeeliiche Leiden rang fich los im Liebe.
Sohanna Ambrofius wurde, ohne daß fie es wollte oder wußte, zur Dich—
terin. Im Felde, im Garten, im Stalle, am Kochherde fonnte fie dem
inneren Drange nicht widerftehen, überall ſetzte jich ihre Gefühlswelt in
ſchlichte Lieder um.
Im Jahre 1884 entjtand ihr erſtes Gedicht, und ein ganzes Jahr:
zehnt verging, ehe die Volfsdichterin in weiteren Kreifen befannt wurde.
Ju der FFrauenzeitung „Bon Haus zu Haus” veröffentlichte Anny Wothe
zuerjt einige ihrer Gedichte; die „Gartenlaube“ brachte 1894 „Laßt fie
jchlafen!” Dies war der Dichterin eine große Freude, denn die „Gar:
tenlaube” und die PBoefieen von Karl Stieler und Fritz Neuter waren
die einzigen litterariichen Erzeugnifje, die jeit Jahren ihre Lektüre bildeten,
das einzige Bildungsmittel der einfamen, fräuflichen Frau, deren ſchweres
Los noch dadurd) an Tragif gewann, daß fie von ihrer Umgebung na—
turgemäß garnicht veritanden wurde. Niemand teilte ihre Intereſſen,
niemand hatte die gleichen Neigungen wie fie. Wenn fie einer befanuten
Frau eines ihrer Gedichte vorlag, fragte man fie: „Schriewe Se dat von
wo aff, oder wie mafe Se dat?‘ — So ſchwang die arme Frau noch
vor vier Fahren den Drejchflegel auf der Tenne, mähte das Gras mit
der Senje und band die Garben auf dem Felde, um daneben Luft und
Leid im Liede von ihrer Seele abzulöjen.
Im Herbſte vorigen Jahres bejuchte eine Dame die Dichterin aus
dem Volke, angeregt durch ihr Gedicht in der „Gartenlaube“. Dieje
Dame beichreibt ihren Beſuch mit den Worten:
„Ein Heiner Rettenhund ſchlug au, und über die Schwelle trat eine
bagere, fränfliche, dürftige Frau gebüdten Ganges mir entgegen; es war
Fohanna Ambrofius-Boigt. Nachdem fie mein Begehren fannte, führte
fie mid) ind Haus. Ic trat durch eine niedrige Thür in ein mehr als
einfaches Zimmer; es entbehrte jeglichen Schmudes und jeglicher Bequem
88 Johanna Ambrofius, eine deutiche Wolfsdichterin.
lichkeit, nur jauber war es, und nichts hätte jonft auf das Aſyl einer
Dichterin Schließen laſſen. Auf weiß beſcheuertem Tiiche ftand ein Tinten
faß mit genügender Tinte drin, und ein Federhalter lag daneben, dem
man e3 anjah, daß es ſich mit ihm fchreiben ließ und daß man mit ihm
ſchrieb. Lebteres mußte jedem Eintretenden auffallen, der weiß, wie ſchwie—
tig es ift, bei Leuten ihre® Standes in unferer Gegend brauchbare
Schreibutenfilien zu erlangen.
„Frau Voigt ſelbſt war jehr ärmlich gekleidet, ärmlich wie die ärmſte
AUrbeiterfrau bei ung auf dem Lande. Ein einfacher Rod, eine Jade,
und ein dunkles Tuch um den Kopf gebunden, trugen ficher nicht dazu
bei, mehr in ihr zu vermuten, als bei anderen ähnlichen Erjcheinungen;
dod nur wenige Minuten jpracd ich mit der eigenartigen Frau, jah ab
und zu ihr Auge bei unjerer Unterhaltung leuchten, und ich wußte, wen
ich vor mir hatte. Faſt zwei Stunden verbrachte ich bei ihr und konnte
mich faum losreißen von dem anregenden Geſpräch, das wir führten, und
al3 wir jchieden, jchüttelten wir uns die Hände, als ob wir Jahre lang
ein Leid und eine Freude mit einander geteilt hätten.“
Das Verdienft, Johanna Ambrofius „entdeckt“ und fie in die Litte—
ratur eingeführt zu Haben, gebührt Karl Schrattenthal. Er gab Weih—
nachten 1894 die erfte Auflage ihrer Gedichte heraus, die zehnte ift jo-
eben erjchienen*) — ein Erfolg, defjen fich) nur wenige Autoren in uns
jerer gerade der Lyrif jo ungünftigen Zeit rühmen können. Ihre Lieder
haben jomit einen Siegeslauf durch alle deutichen Lande angetreten, und
die ſchlichte oftpreußiiche Bauernfrau ift heute in aller Munde. Neben
der Anerkennung, welche fie gefunden, hat fich auch die ihr jo notwen—
dige pefuniäre Hilfe eingeftellt. Der Dichterin ift vom Kaiſer eine ſechs—
wöhige Kur in Bad Eljter und eine vierwöchige Nachkur am Vierwald-
jtädter See (Saalisberg) ermöglicht worden, um ihre ſtark angegriffene
Gejundheit zu Fräftigen. Während ihrer Abwejenheit wird ihr Häuschen
in Groß-Wersmeninfen durd) ein neues, gefundes, anjehnliches Heim er-
ſetzt. Die Mittel dazu haben mwohlthätige Hände gejpendet, welche jich
jegt, wo die Kenntnis ihrer Gedichte fait zum guten Ton gehört, aller-
orts regen. Eine große Herzensfreude ift e8 der armen, jchivergeprüf-
ten Frau, daß nun auch ihr jehnlichiter Wunſch in Erfüllung gehen wird
und ihr Sohn ſich auf Koften der Kaiferin dem Lehrerberuf widmen
fann. Von dem jchlichten Sinn, dem tiefen Gemüt und der echten Fröm—
migfeit der Dichterin iſt zu erhoffen, daß fie diefen Umſchwung in ihrem
Schickſal ohne Selbftüberhebung ertragen wird, und daß fie ftets Die
Ihlichte Volksdichterin bleiben wird. Zu ihrer Popularität wird der
*) Verlag von Ferd. Beyer in Königäberg i. Pr, Preis gbd. 4 ME.
Johanna Ambrofius, eine deutfche Volfädichterin. 89
Umftand jehr viel beitragen, daß ihre Lieder außerordentlich zur Kompo—
jition geeignet find. Bereits jebt liegt eine ganze Reihe von Kompofitionen
vor, einzelne Lieder haben ſogar eine dreifache muſikaliſche Bearbeitung
erfahren, jo das jchöne Lied „Mein Heimatland“, welches dieſe Skizze
beichließen mag:
„Sie jagen all, Du bift nicht ſchön
Mein trautes Heimatland,
Du trägit nicht ftolze Bergeshöh'n,
Nicht rebengrün Gewand;
An Deinen Lüften raufcht fein Aar,
Es grüßt fein Palmenbaum,
Dod glänzt der Vorzeit Thräne Flar*)
An Deiner Küfte Saum.
Und giebt dem König aud fein Erz,
Nicht Purpur, Diamant,
Ktlopft in Dir doch das treufte Herz
Fürs heilge Vaterland.
Zum Kampfe lieferft Du das Roß,
Wohl Tonnen Goldes wert,
Und Männer ftarf zum Schladhtentroß,
Die kräft'ge Fauft zum Schwert.
Und wenn ich träumenb dann durchgeh
Die düſt're Tannennadt
Und hoch die mächt'gen Eichen jch’
In königlicher Pradt,
Wenn rings erſchallt am Memelſtrand
Der Nachtigallen Lied,
Und ob dem fernen Dünenſand
Die weiße Möve zieht —
Dann überkommt mich ſolche Luſt,
Daß ichs nicht ſagen kann,
Ich ſing' ein Lied aus voller Bruſt,
Schlag froh die Saiten an,
Und trügft bu auch nur ſchlicht Gewand
Und feine jtolzen Höh'n,
DOftpreußen, hoch mein Heimatland,
Wie bift du wunderihön!"
2
Richard George.
*) Bernitein.
Dmwanglofe Runoͤſchau.
Pflichtſchuldigſt und mit all' der Eilfertigkeit, die einer beſcheidenen Mo—
natsſchrift zu Gebote ſteht, ſei hiermit gemeldet, daß in Leipzig, der Buchhandels—
zentrale, der erfte Schne: gefallen it. Ach balte das Greignis von meinem Stand:
punkte aus für wichtiger, als die cbenfallS vor kurzem eriolgte Schlußſteinlegung
des Reichsgerichtspalaſtes. Denn der erſte Schnee deutet an, daß das Weib:
nachtsgeichäft beginnt. — Die Tage, von denen es beim Gebilten und Markt:
belfer beißt: fie gefallen mir nicht, während ber Chef, ein wenig nervös, auf dem
Lagerboden die Munition prüft, mit der er das Bombarbement auf die Sorti-
menter in der Provinz zu eröffnen gedenft. Hat er feinen Feldzugsplan ent:
tworfen, dann heißt ed Baden und Fafturen fchreiben von früh bis in die fpäte
Nacht, dann gilt c8, die „Unzerreißbaren” und die Goldſchnittbändchen, die IGer
Almanace und Gejchenfiwerfe zu einer verlodenden Kollektion aufammenzuftellen,
um fie mit dem „effeftvollen Plafat für's Schaufenjter” und einem verbindlichen
Schreiben dem „sehr geehrten Herrn Kollegen” in Miesbach oder Schievelbein zu
„thatkräftiger Vertvendung“ A condition zu ftellen. Dann zeigt das Straßenbild
Leipzigd ein neues Gharafteriftifum: den Buchhändlerfarren. Yon früh bis Abend
rollt er durch bie Straßen; ber Leipziger Ordnungd: und Steuerbürger aber muß
ſcharf aufpaffen, daß er der deutſchen Litteratur nicht unter die Räder fommt.
Es ift dies die einzige Aufmerffamfeit, die er ihr zu widmen pflegt... .
Diefer erfte Schnee bringt eine gewaltige Umwälzung hervor, nicht nur im
Geſchäſtsleben, ſondern auch daheim. Die Nähe des Weihnachtsfeites macht fich
allenthalben bemerklich. Überall in den Zeitungen lieſt man Inſerate, die mit
den Worten beginnen: „Zur bevoritehenden Winterfaifon empfchlen wir .
Die zühtige Hausfrau aber umgiebt fih mit dem Schleier tieiften Seheimnifies,
fchließt eine Stube, zwei Kammern und eine Unzahl Truben und Käften herme—
tifch ab und beginnt mit den Weihnachtöarbeiten. Das find jene Föftlichen Tage
und Wochen, tvo dem Gheherrn mit fanfter Gewalt der Hausſchlüſſel in die Hand
gedrüct, der Überrod angezogen und er felbft zur Thür hinausgeichoben wird,
mit dem ftriften Befehl, vor dem Morgen des nächſten Tages der Gattin micht
mehr unter die Augen zu treten. Gnadenreiche, ſelige MWeihnachtözeit, wo man
wieder Junggefelle wird! Zu diefer Zeit ericheinen auch in den Frauenzeitungen -
Notabene, wenn fie Gratisinferate gewähren! — jene merkwürdigen Taukbofferten,
mit Hilfe derer die Hüterin des Haujes die Wirtihaftsfaffe möglichſt intaft zu
erhalten ſucht: „Ein noch gut erhaltener Koblenlöffel wird gegen ein Kanarien:
weibchen einzutaufhen geſucht.“ — „Eine ſparſame Hausjrau bittet um Rat, wie
man zerbrodene Lanıpencylinder nocd weiter verwerten kann.“ — „Wer taujcht
einen linken Glaceehandihuh gegen einen rechten um? Ich habe zufällig zwei der
eriteren im Befit. Moosröschen.“ — „Fin Band Gartenlaube mit dem Rontan
Zwangloſe Runt ſchau. 91
‚Boldelfe‘, an dem nur bier Fortſetzungen fehlen, iſt preiswerth zu verkaufen,
event. gegen ein Hundehaldband einautaufchen.“ — Und fo weiter, und fo weiler.
Hoffen wir, daß die Früchte diefer weifen Sparfamfeit dem Sortimenter in
den Schoß fallen, wenn er feinem langjährigen Kunden die vor Weihnachten üb-
liche Anfihtsjendung in's Haus ſchickt. Hoffen wir, fage ih! Denn es ift
eine alte Klage, daß der Deutiche den Kauf eines nüßlichen Buches als einen
Luxus betrachtet, der Hinter allen andern Bebürfniffen zurüdzuftehen hat, hinter
dem Stiftungsfeft, dem Theaterabonnement, dem Haustrunf und dem halben
Mille Havana mit Felir-Brafil-Einlage, Diefe Anfhauung bildet einen Krebs—
ſchaden im Geiftesleben des Volfes der Dichter und Denker, und ihr entgegen zu
arbeiten ift die Hauptaufgabe des Sortimenters in ber Provinz. Es muß daher
immer und immer wieber wiederholt werben, daß die dem Gejchmade der Kunden
angepaßte Anſichtsſendung eines der beften Mittel Hierzu ift. In unferer
vorigen Nummer bradten wir aus gejchäßter Feder eine Betrachtung über das
gerade jeht beim beginnenden Weihnachtsgeſchäft aftuelle Thema. Heute können
wir diefelbe noch ergänzen durch beachtenswerte Ausführungen, die wir im Be:
rihte des Schweizertiihen Handels- und Anduftrievereins bei dem Ka-
pitel „Buchhandel“ finden. Es heißt da:
„Es wird vielfach behauptet, die Einrichtung der Anfichtöfendungen, die weder
der englijhe noch der franzöſiſche Buchhandel fennt, verteure die Bücher, und
man braude fie nur abzuſchaſſen, um billigere Bücher zu befommen. Nun ift es
aber ficher nicht zu hoch gegriffen, wenn man annimmt, daß wohl drei Fünftel
des ganzen Bücerabjages durch Anfichtsjendungen erzielt werden. Man wird
daher zugeben müſſen, daß die nächſte Folge ihrer Abichaffung nicht ſowohl eine
Preisermäßigung auf den Büchern, als vielmehr eine ganz erhebliche Beſchränkung
der Bücherproduftion überhaupt fein würde. Man mag nun bona fide der An:
ficht fein, daß dies nicht gerade fehr zu bedauern wäre, Fommt aber jhon um
die Thatſache nicht herum, daß durch eine jolche Einſchränkung viele fleigige Hände
der Arbeit beraubt würden, Noch empfindlicher würden jedoch die Schriftjteller
dadurch betroffen werden, die Nufer im Streite gegen den jegigen Gejchäftsbetrieb
des Buchhandels. Mit den Anfichtsfendungen jteht und fällt daS Sortiment, wie
eö heute organijiert ift, bejonders die Großzahl der Buchhandlungen fleinerer
Städte, deren Bedeutung für die Pflege geiitigen Lebens in der „Provinz“ micht
gering anzufchlagen tft. Das Sortiment würde ſich in den größeren Zentren in
wenigen Händen konzentrieren und feinen Charakter auch infofern ändern, ala es
dann, Meijter der Situation, weber genötigt noch geneigt fein dürfte, mit ber:
jelben Aufmerfiamfeit wie jeßt den litterarifchen Bedürfniffen entgegenzufommen.
Aber auch im Verlag würde fich eine tiefgehende Wandlung vollziehen. Berliert
der Verleger den Sortimenter, ber die Bücherfäufer aufſucht, jo wird er nur noch
ſolche Werke übernehmen, deren Erfolg von vornherein als gefichert erſcheint —
was notorifch durdhaus nicht immer gleichbedeutend ift mit innerem Werte —
wogegen Autoren von unbefannten Namen und Werfe, die ihr Bublifum fuchen
müffen, nur noch ſchwer einen Verleger finden werden. Man glaube nicht etwa,
daß dies aus der Luft gegriffene Vorausfegungen feien: die litterarifchen Zuftände
in England und Franfreidh, die man und oft zur Nahahmung empfiehlt, belegen
fie fattfam. Es ift daher gewiß eine bedenkliche Verfennung der eigenen Inter:
eilen, wenn Litteraturfreunde und im befondern Schriftjteller mit den Gegnern
der beitehenden Organifation des Buchhandel3 in Deutichland und in der Schweiz
gemeinfame Sache machen.“
92 Zwangloſe Rundichau.
Der geneigte Leſer und Kollege wird diefe Darlegung jedenfall bei den mar:
kanteſten Stellen mit zuftimmendem Kopfniden begleitet haben, dem auch wir
aus voller Seele beipflichten. Indeß, wir wollen die Betradhtungen über die Lei-
ftungsfähigfeit des deutfchen Buchhandels im allgemeinen wie über die Anfichts:
fendung im bejonderen bier abbrechen — der Stoff ift ergiebig genug, um cine
Brofhüre zu füllen. Außerdem ftehen noch einige weitere Punkte auf unferer Ta:
gesordnung, die nicht übergangen werben dürfen. Zu diefen gehört der XVII. Kon:
greß ber Association littöraire et artistiqueinternationale, der gerade
geihloffen wurde, ald unfere vorige Nummer fih unter der Preſſe befand.
Die Association litt&raire et artistique internationale beichäftigt
fih mit dem Schuße des geiftigen Eigentums jeder Art und refrutiert fi aus
allen Kulturnationen. Bei ihrer Begründung war Deutfchland ganz weſentlich
mit beteiligt — unter anderen durch Berthold Auerbach — wie denn auch Guftav
Freytag lange Jahre hindurch zu den eifrigften Förberern des Anftitutes gehörte.
Trogdem hat fie jebt zum erften Male auf deutihem Boden getagt, und hierin
liegt ein nicht zu unterfhäßendes Moment. Gegründet 1878 gelegentlich der Pa:
rifer Weltausftellung und unter dem Ehrenvorfik Viftor Hugos, befteht ihr Haupt:
werf in der 1886 abgeichloffenen Berner Konvention zum Schuße geiftigen Eigen:
tumd. Die Anregung dazu ging 1882 in Nom von einem unferer Kollegen aus,
dem Bertreter des Börjenvereins der beutfhen Buchhändler, Dr. Paul
Schmidt Es braucht wohl nicht erft dargelegt zu werden, daß und warum ber
Buchhandel ein überaus lebhaftes Anterefie an der Thätigfeit diefer Korporation
bat. Die große Anzahl feiner Vertreter auf dem Dresdener Kongreß beweiſt dies
am beten. Die Berfammlung befhäftigte fih in der Hauptiache mit Fragen, die
fih auf die NRevifion der Berner Konvention beziehen, die nächftes Jahr in Paris
durd eine diplomatiihe Kommiffion vorgenommen werden fol. Leider haben ſich
von ber Berner Konvention die Staaten Rußland, Dänemark und Norwegen:
Schweden biöher noch ausgeſchloſſen. Die Vertreter derfelben verficherten indeß
unter großem Beifall, daß der Wunſch, diefe Ausnahmeftellung in Bälde zu be:
jeitigen, allgemein fei. Der erfte Tag, an dem die Begrüßungsreden vom Stapel
gelafien wurden, zeigte fo recht, wie international und zugleich wie vielumfaflend
die Aijociation ift. Es fprachen Vertreter der Schriftiteller: und Buchhändlerſchaft
Belgiens, ber Wiener Litteraten, der Dänen, der franzöfiihen Komponiften,
Scriftiteller, Architekten, Bhotographen, Buchhändler, der franzöftihen Gefellichaft
für vergleichende Geſetzgebung, bderfelben für England, der Pariſer Hiftoriichen
Gejellichaft; ferner Vertreter Griechenlands, Italiens, Norwegens, Schwedens,
Spaniens und Rußlands, des Bureau international in Bern, des Inſtituts für
internationales Recht in Laufanne, der beutichen Schriftiteller, Buchhändler und
Verleger, der Schriftiteller: fowie der Kunſtgenoſſenſchaft, der Berliner Preſſe, der
deutſchen Photographen, der Schillerftiftung u. a. m. Auf die pofitiven Ergeb:
nifje der Verhandlungen näher einzugehen, würde bier zu weit führen. Wir be-
gnügen uns, zu fonftatieren, daß in der Schlußfigung — wie wir einem Bericht
bon Leonh. Lier in den „Nachrichten aus dem Buchhandel” entnehmen — die Ge-
nugthuung über den verheißungsvollen Verlauf der Arbeiten, über die friedliche
Art der Förderung internationaler Sntereffen, fowie über die alle Erwartungen
übertreffende gaftliche Aufnahme der Kongreßteilnehmen voll zum Ausdruck kam.
In der That haben die fejtlihen Veranftaltungen des Dresdener Ortsausichufies,
fowie fpäter die wahrhaft vornehme Gaftlichkeit des Börfenvereins der Deutichen
Buchhändler bei einem Ausflug nad Leipzig nicht nur zur Hebung bes Anfehens
Zwangloſe Rundſchau. 93
des Kongreſſes nach außen, ſondern auch zur freundſchaftlichen Annäherung aller
Teilnehmer und damit zur Erleichterung und Förderung der Arbeiten weſentlich
beigetragen. Der nächſte Kongreß der Aſſociation ſoll 1896 in Bern ftattfinden,
Drei Tage, nahdem der Kongreß geichloffen, ftand im Börfenblatte eine
Todesnachricht, die vielleiht mandem der Teilnehmer ein Wort des Bedauernd
entlodt hätte, denn ber Verftorbene unterhielt mehr vielleicht wie ein anderer
Buchhändler internationale Beziehungen: Es war die Kunde von dem Ableben
Eduard Blochs in Berlin, des Begründers und langjährigen Inhabers der
eriten deutichen „Iheaterbuhhhandlung”. Eduard Bloch, deſſen Firma im Bud):
handel, in den Kreiſen dramatiſcher Schriftiteller wie in der Theaterwelt einer
beneidenswerten Popularität fich erfreute, wurde 1831 geboren, iſt alfo nur 64
Jahre alt geworden. Er übernahm 1857 die 1845 gegründete Laſſar'ſche Buch:
handlung in Berlin, nachdem er vorher ald Gehilfe dort gearbeitet. Trogdem ihm
nur geringe Mittel zur Verfügung jtanden, gelang es ihm, durch Umficht, Arbeit:
jamfeit und Thatkraft das Geihäft zur Blüte zu bringen. Beſonders erfolgreich
war er in feinem Theaterverlag, der neue, biäher nicht betretene Wege einſchlug
und namentlih ber Liebhaber:, Dilettanten: und Volksbühne zu dienen juchte,
Nahdem er im Jahre 1875 feinen Sohn Ludwig als Teilhaber aufgenommen
batte, zog er fich 1887 zur wohlverdienten Ruhe zurüd, Eduard Bloch iſt injofern
als Begründer des Spezialverlags der Theaterlitteratur anzuſehen, ala er in fei-
ner Verlags- und Sortimentsbudhhandlung einen Zentralpunft fchuf, wie er vor:
dem nicht beitand. Seine Theaterfataloge, deren wohl über 100 erichienen find,
geben eine jo jpezielle Iberficht über jedes einzelne Stüd, daß fie die Arbeit der
Auswahl auf ein überaus geringe Maß reduzieren und das bisher erforderliche
Durchleien einer ganzen Serie von Stüden gleichen Genres überflüffig machen.
Das Geheimnis ber Erfolge, die der Berftorbene unleugbar zu verzeichnen hatte,
tft das uralte, befannte: Es handelt fih darum, eine Spezialität zu finden, fich
in diejelbe zu vertiefen und fich lediglich auf fie mit allen Mitteln und Kräften
zu konzentrieren, Das gilt vom Buchhandel ebenfogut wie vom ganzen übrigen
Geichäftöleben. Von Jahr zu Jahr fann man im Buchhändleradreßbuch verfolgen,
wie biejer Prozeß immer mehr vor fich geht.
Da wir übrigens bei dem Kapitel „Adreßbücher“ angelangt find, fo fei bei
diefer Gelegenheit auf zwei Neuauflagen befannter Fachadreßbücher hingewieſen,
die joeben erichienen find. Die eine tft Perles' Adreßbuch des öſterreichiſch—
ungarifhen Buchhandels für 1895/96, das mit befannter Pünktlichkeit fich
meldet. Es bringt diesmal das Porträt Karl Prochaskas und enthält in zwei
Abteilungen der Rubrif Bud, Antiquar:, Kunft:, Mufifalien:, Landkarten, Schreib:
materialien:Handlungen und Leihbibliothefen in 510 (489 im Vorjahre) Orten
1616 (1571) Firmen, worunter 49 (55) Filialen. Auf die verihiedenen Kronländer
verteilen fih die Handlungen wie folgt: Böhmen an 117 (115) Orten 311 (300),
Bukowina an 10 (9) Orten W, Dalmatien an 5 Orten 10, Galizien an
40 Orten 113 (105), Kärnten an 6 (5) Orten 10, Krain an 2 (5) Orten 8 (9),
Küftenland an 6 Orten 30, Mähren an 34 (33) Orten 83 (86), Dfterreid
u. d. Enns an 33 (22) Orten 332, Oſterreich o. d. Enns an 12 Orten 31 (32),
Salzburg an 3 Orten 11, Schlejien an 10 Orten 31 (32), Steiermarf an
19 Orten 53, Tirol an 19 Orten 49 (52), Ungarn an 184 (170) Orten 477
(449), Kroatien an 18 (16) Orten 40 (31), Bosnien an 2 Orten 7 (6). Im
Zeitungs-Adreßbuche find Nachweiſe enthalten über 1840 der hervorragenditen
Sournale, die in 14 Spraden und in 298 Orten erfcheinen (Wien 554, Budapeft
94 Zwangloſe Rundſchau.
110, Prag 166), davon 1034 in deutſcher, 323 in czechiſcher, 187 in ungariſcher,
108 in polnticher, 67 in froatifcher und 121 in anderen Spraden.
Ein wenig Statijtif ift immer interejlant, und wir fonnten es uns nicht ver:
fagen, bier einmal ein paar Zahlen ſprechen zu laſſen. Beſonders fremdartig
berührt und Reichödeutfche das Zeitungsverzeichnis, gegen deſſen Nationalitäten:
reihtum die paar fremdſprachlichen (polnifchen, däniſchen und franzöfiichen) Blätter,
die wir befißen, vollftändig verihwinden, Wenn wir das Sperling'ſche „Adreß—
buch ber deutſchen Zeitjchriften und hervorragenden Tagesblätter“ —
die ander der Neuauflagen, von denen wir oben fpraden — zum Vergleiche
beranzieben, jo wirft ber Uinterfchied geradezu verblüffend. Es enthält von den
Tagesblättern allerdings nur eine Auswahl und macht feinen Anſpruch auf Boll:
ftändigfeit. Diefe letztere zu erreichen, hat fih Geh. Hofrat Prof. Kürſchner
in Eiſenach, der befannte Lerifograph, zum Ziele gelebt, der feit Jahren an einem
Verzeichnid der gefamten deutfhen Tages: und Fachpreſſe (auch der im Auslande
ericheinenden) arbeitet. Seinen legten Zirfularen zufolge wird dieſes Adreßbuch
in nicht allguferner Zeit der Öffentlichfeit übergeben werden — ein Riefenwerf,
wie es fih nur ein Kürfchner zu unternehmen getrauen fann. Jedenfalls wird
basjelbe von Allen willkommen geheißen werben, die irgendivie mit der Zeitungs:
welt Beziehungen unterhalten, auch vom deutſchen Buchhandel, der auf Profeflor
Kürfchner befanntlih nicht aut zu ſprechen iſt. Warum — das haben wir bereits
das borige Mal erörtert... .
Die Berfuhung, wieder da anzufnüpfen, wo wir vor vier Wochen fchon ein:
mal aufgehört, liegt bedenklich nahe. Ebenfo bedenklich ift das Ergebnis einer
Kontrole unseres Notizzettels für die „Zwangloſe Rundſchau“, auf dem noch eine
ganze Neihe von Punkten verzeichnet fteht, die hier Erledigung finden follten.
Die Möglichkeit, daß mir uns fucceffive in das dritte Heft der „Afademie“ hin:
einfchreiben, Liegt jo nahe, daß wir den Schlußrufen der verehrlichen Leſerſchaft
lieber zuvorfommen und für heute unfere Epiftel beenden wollen. Wir fchließen
aljo hiermit „wegen vorgerüdter Tageszeit”, wie esin unferen Volksverſammlungen
gewöhnlich heißt, und bitten um Nachſicht, wenn wir den geneigten Leſer gelang:
weilt haben follten — was übrigens das gute Recht jedes Autors ift. R.
Beridhtigung. In der „Rundihau” in voriger Nummer ift als Kaffırer
der in Halle gegründeten „Allg. B.:®.:Bereinigung” Herr Thomas-Leipzig
genannt. Das ift ein Verfehen. Gewählt wurde Herr Thomas in Hannover,
ber ſich übrigens feit Kurzem in Dortmund jelbitändig gemacht hat.
>
Heue Büder.
Was willft du werden? Die Berufsarten des Mannes in Einzel:
darjtellungen: Per Duchhändler (preisgekrönte Arbeit) von Georg Höl-
ſcher in Köln. Leipzig, Verlag von Paul Beyer, 50 Pf. ord.
Nicht ganz mit Unrecht ift man neuerdings mißtrauifch geworben gegenüber
den als preisgekrönte Arbeiten empfohlenen Reuerfheinungen. Sind die Preis:
ausihreibungen doch nachgerade zur Manie geworben, ein Feld für dem ftreben:
den Dilettantismus, fo daß bebeutendere Autoren jet im Allgemeinen mit ihrer
Beteiligung zurüdzuhalten pflegen. Aus ſolchem Grunde find bie Preisrichter
oft in der nicht angenehmen Lage, über eine Reihe ziveifelhafter Arbeiten fich den
Kopf zu zerbrechen, um fchliehlich der relativ beiten (d. h. immerhin einer ſchwachen
Leiftung) die Siegeöpalme, und, was die Hauptjace ift, die llingende Anerkennung
zu übermitteln. Übrigens trägt manches „Große Breisausfchreiben” den Stempel
plumper Reklame ſchon an der Stirn und dadurd wird unmittelbar der Verruf
folder Ausfchreibungen befchleunigt.
Um fo angenchmer und erfreulicher aber berührt es, einem SHeftchen zu be-
gegnen, dab zivar auch aus einer Wettbewerbung hervorgegangen iſt, das aber
nicht nur einen auf den Gebiete buchhändleriicher Fachlitteratur bereits befannten
Verfaſſer bat, fondern das auch als ein wirklich gutes und zivedmäßiges Orien—
tierungsmittel zu bezeichnen ift,
Der Berfafler, Herr Georg Hölfcher in Köln, giebt uns auf dem engbentefienen
Raume von 43 Oktavſeiten ein Bild des Weſens und Getriebes des deutjchen
Buchhandels, wie es anſchaulicher und getreuer faum darzuitellen ift. Beginnend
mit der erjorberlichen Borbildung zum Berufe, führt der Verfaſſer uns in die
Organifation und in die verfhiedenen Zweige des Buchhandels ein, und zwar in
jo anfhaulicher und natürlicher Weife, daß auch der erfahrene Kollege die ihm
längit befannten Sachen mit Befriedigung chen wird. Den Zweck des Buches,
dem Berufe Fernſtehende über die Anforderungen und die Eigenart des Bud:
bandel3 zu unterrichten, erfüllt dasfelbe in hohem Maße, ja man fann jagen,
es Äpricht aus der Arbeit die Tendenz, dem Buchhandel denjenigen Rang zu
wahren, den er zu behaupten ein Recht hat. „Wer dem Geiſte dient, ber dient
der Welt“. Mit diefem Motto auch führt der Verfaſſer feine Arbeit ein und
feine Ausführungen find getragen von diefer hoben Auffaffung des Berufes. Er
verfennt dabei nicht, daß diejeß ideale Streben auch mande Enttäufhung in ſich
birat, So Sagt er 3. B.: „Nicht alle Menſchen werben im Leben mit dem Griolg
belohnt, den ihnen dad Schickſal als das Ergebnis gerechten Strebens und treuer
Pflichterfüllung ſchuldet. Wenngleih man im Allgemeinen jagen kann, daf
96 Neue Bücher.
braudbare Buchhandlungsgehilfen ſtets noch gut bezahlte Stellen finden, daß
ihnen wenigftend auf die Dauer eine Anerfennung ihres Wertes nicht verjagt
bleibt, fo fann es doch vorfommen, daß ſelbſt die tüchtigften unter ihnen von
ſchlimmen Zeiten nicht verichont bleiben." Das Iebtere ift leider nur allzumwahr,
indefien berechtigt e8 und noch nicht, wie es jo mancher Kollege gern ſähe, jedem,
der fih dem Buchhandel widmen möchte, zugurufen: „Werdet alles andere, nur
nicht Buchhändler!" In welchem Beruj würde wohl nicht feitens der ihm An—
gehörigen in irgend einer Weiſe geflagt? ES fann uns aber mit Befricdigung
erfüllen, daß, um mit dem Verfaſſer zu reden, „der größte Teil derjenigen, die
einmal da8 Panier des Buchhandels ergriffen haben, ihm auch die Treue, trotz
jeiner pefuniär nicht günftigen Lage, bis ans Lebensende halten, Wenn in irgend
einem Berujsftand der Wert idealer Güter, deren Verluft fehr zu beflagen ift,
noc, anerkannt wird, fo geſchieht dies im deutichen Buchhandel von feinen beiten
Mitgliedern.”
An Yachlitteratur, die beſtimmt ift, den jungen Buchhändler in feinen
Beruf einzuführen, fehlte es ſicher nit, wohl aber an einem Scriftdhen, das
ben Fernftebenden und jenen, bie den Buchhandel fich als Lebensberuf erfüren
wollen, genügende und praftiihe Aufflärung geben könnte, Diefen Iöblichen
Zweck erjtrebte der Verfafler in feiner Arbeit, und es darf behauptet werden, daß
die letztere noch mehr hält als fie verjpricht, weil fie dazu angethan ift, dem
Buchhandel wirflih treue Anhänger zu werben und alle jene zu warnen, die
nur das Amüfante des Buchladens anlodt. Die Leute lernen daraus, daß im
Buchhandel doch ein gut Teil Arbeit ſteckt und das direkte „Handeln“ Hinter dem
Ladentiſche beinahe nebenjählih wird. Aucd der junge Buchhändler kann noch
manches aus dem Hejtchen lernen; ihnen fei es daher befonders empfohlen.
Guſtav Fangenſcheiot.
Ein Nachruf von Ebnard Zerniu.
—
In der zweiten Nachmittagsſtunde des 11. November 1895 wurde
zu Berlin, wo er geboren und gelebt, gewirkt und geftrebt hatte, ber
weitbelaunte deutihe Verlagsbuchhändler und Sprachforſcher, Profefjor
Langenjcheidt, von feiner irdiichen Thätigfeit abberufen. Nachdem er
kürzlich das 63. Jahr feines überaus thätigen Lebens zurückgelegt und
die legte Zeit defjelben hindurch mit langen und ſchweren Leiden gerungen
hatte, ift er in das beſſere Jenſeits hinübergejchlummert. Dort fchläft er
jest den langen Schlaf, der einft das Los jedes Menjchen ift und ruht
von jeiner Arbeit aus; er, der in dem irdiichen Leben ftet3 ein jo über-
aus thätiges und hochverdienftliches Wirken entfaltet Hatte.
„Aber jeine Werfe folgen ihm nach”, heißt es in der Bibel, und
darum jchiden wir uns an, den Leſern diefer den Intereſſen des deut-
ſchen Buchhandels dienenden Zeitichrift ein zwar gedrängtes, jedoch wohl-
gemeintes und wie wir hoffen auch zutreffendes Lebens- und Charafter-
bild des Hingejchiedenen Kollegen zu geben, der eine Zierde unjeres
Standes, ein tüchtiger Geihäftsmann und ein berühmter Gelehrter in
einer Berjon war, wie man das in folder Vereinigung jelten wiederfindet.
Johann Ludwig Gustav Langenscheidt war ein berliner Stadt-
find: er erblidte am 21. Dftober 1832 in der preußischen Refidenz das
Licht der Welt. Nachdem er eine gute Erziehung und Vorbildung er-
halten Hatte, wurde er für den kaufmännischen Beruf beftimmt und trat
als Füngling in ein Handlungshaus ein. Nachdem er mit glüdlichem
Erfolg jeine Lehrzeit beendet und während derjelben tüchtige faufmännijche
Kenntniſſe gefammelt hatte, die ihm auf feiner jpäteren Laufbahn jehr zu
ftatten kommen jollten, fühlte er den unmiderftehlichen Trieb in fich, Die
Welt, aber die große Welt, fennen zu lernen. Durd die Lektüre der
Schriften Seume’3 angeregt, unternahm er eine für die damalige Zeit
außerordentlich weite Fußreife von mehr als 1000 Meilen; er wanderte
durch Deutichland, Frankreich und Italien, jpäter fuhr er nach) England
über und jette auch dort jeine Wanderungen fort. Aber nicht Liebe zur
7
98 Guſtav Langenſcheidt.
Verſchwendung oder Neigung zum Wohlleben leitete ihn hierbei: im
Gegenteil befleißigte er ſich der größten Sparſamkeit und Einfachheit und
ſuchte mit einem Reiſe- und Zehrgeld von täglich einer Mark auszukom—
men. Auf dieſe Weiſe gewöhnte er ſich frühzeitig an Entbehrungen und
ſtählte den Charalter.
Etwa ein Jahr dauerte dieſe ſeine erſte große Reiſe. Während der—
ſelben nahm er jede Gelegenheit wahr, ſeine Fertigkeit in der Anwendung
der fremden Spraden — jo bejonders der franzöftichen und englischen
zu vermehren und erlangte hierdurch alle jene Annehmlichkeiten und Nor:
teile, welche für den die Landesipradhe beherrjchenden Fremden nicht aus-
bleiben. Durddrungen von der Überzeugung de3 auf diefe Weile ge-
wonnenen Nutzens, fam er bei der Rüdfehr in die Heimat auf den glüd-
lihen Gedanken, die jelbjt erlangten Vorteile auch indirekt feinen Mit—
menjchen zuzumenden, und zwar dadurch, daß er zur Erlernung zunächſt
der franzöſiſchen Sprache eine Unterrichtsweile aufitellte, welche jeinen
Landsleuten die Annahme eines bejonderen Lehrers unnötig erjcheinen
ließ. Diejer einmal von ihm erfaßte Gedanke verließ ihn nicht wieder
und feine Durchführung bejchäftigte ihn bejonders dann, als er zur Ab-
leiftung feiner Milttärpflicht in das preußische Heer als Freiwilliger ein-
getreten war. Es fojtete im ganzen etwa 4 Jahre erniter Arbeit, da
waren jeine „Unterrichtsbriefe zur Erlernung der franzöfiihen Sprache”
entworfen, aufgejegt und drudfertig gemadt. Ob Berjuche von ihm ge-
macht wurden, für jein Erftlingswerf einen Verleger zu finden, it von
uns nicht ficher in Erfahrung gebracht worden, jedod) wohl wahrjchein-
lich, jedenfalls find etwa in diefer Hinficht unternommene Schritte ohne
Erfolg geblieben. Damit war aber dem zwar noch jugendlichen aber
thatfräftigen Manne der Weg vorgezeichnet worden, den er nun jelbjt zu
gehen hatte.
E3 war im Fahre 1856 — Gustav Langenscheidt jtand damals
erft im 24. Lebensjahre —, als er jchon jeine eigene Selbjtändigkeit als
Verlagsbuchhändler begründete. Nachdem er die jchwierige Drudlegung
jeiner Arbeit mit zielbewußtem Sinn, mit Riejenfleiß und unentwegter
Thatkraft zu Ende geführt hatte, ließ er fie in feiner neuerrichteten Firma
„G. Zangenjcheidt zu Berlin“ erjcheinen. Seine Erwartungen in betreff
des Erfolges hatten ihn nicht getäuſcht: der Abſatz feiner Unterrichtsbriefe
wurde jehr bald ein recht bedeutender, jeine Unterrichts-Methode fand bei
Fachleuten Anerkennung und jeine Mühe jah ſich belohnt.
Natürlic) blieb fein reger Geijt bei dem erften Siege nicht jtehen:
er verjuchte nun daſſelbe Syitem der Briefe zur Erlernung fremder
Sprachen auf das Engliihe auszudehnen und bemühte fich hierbei ebenjo,
wie ihm dies bei der franzöfiihen Sprache gelungen war, die Mitwir-
Gustav Langeniceidt. 99
fung eines geeigneten Vertreters diefer Nationalität zu finden. Nachdem
er für das Franzöſiſche die Unterftügung feines Freundes und Lehrers,
des 1877 in Berlin verftorbenen Profeffors Touſſaint erlangt Hatte,
fand er in den Profefjoren Dr. Karl van Dalen (} 1879) und Henry
Lloyd (7 1864) vortrefflihe Hilfskräfte für die Bearbeitung der engli-
ſchen Unterrichtsbriefe. Mit Hilfe dieſer tüchtigen Sprachfenner bürgerte
jih nunmehr die „Touſſaint-Langenſcheidtſche Sprachlehrmethobe” in
Deutichland ein und gewann Anjehen wie Verbreitung.
Einige kurze Bemerkungen über diefe Methode dürften hier wohl am
Plate fein. Die Unterrichtsbriefe, von Spracdjfennern als „ausgezeichnet
bearbeitet” bezeichnet, haben im Franzöfiichen Atala von Chäteaubriand,
im Englischen Chriitmar Carol Charles Dickens zur Grundlage Sie
jind für den Selbjtunterricht bejtimmt, allein fie erfordern, wenn fie dem
nad) ihnen arbeitenden Schüler in der dafür angenommenen Zeit von
einem Jahr den erwarteten Nußen gewähren jollen, eine unausgejegte jtrenge
Arbeit. Es kommt leider öfters vor, daß fie nicht zum Ziel der Beherr—
ſchung der fremden Sprache führen, jedoch) nicht weil etwa ihre Anleitung
Mängel aufweiit, ſondern einfach weil es dem Schüler an Fleiß und
Beharrlichfeit mangelt. Dagegen haben fie dem, welcher es an dieſen
beiden jo wichtigen Eigenjchaften nicht fehlen läßt, vielfach ſchon die
wichtigiten Dienjte geleiitet.
Doch kehren wir zu Guſtav Langenſcheidt zurüd. Seine Unter:
richtsmethode gewann von Jahr zu Jahr größere Beliebtheit und zwar
in ſolchem Grade, wie er das jelbjt faum zur Zeit feines erſten Auf-
tretens angenommen haben wird. Weſentlich wurde das Ergebnis durch
die Unterftügung der Fachpreſſe gefördert, weldye mit großer Anerfen-
nung — wir erinnern uns hierbei eines jehr empfehlenden Aufſatzes der
„Allgemeinen Sculzeitung” aus den jechsziger Jahren — der neuen
Sprachlehrmethode fidy zumandte. Und als im Jahre 1874 die preußi-
Ihe Regierung unſern Gustav Langenjheidt durch Verleihung des
Brofefiorentitel3 auszeichnete, ftand fein guter Name auch in den Kreiſen
der Gelehrten feit. Im der Folge wurden den Zangenjcheidt’ichen Ber:
lagswerken auf zahlreihen Ausjtellungen von Lehrmitteln, welche der
rührige Berfafjer und Verleger fleißig beichidte, erjte Preiſe zuerkannt,
wie auch er jelbit durch Auszeichnungen in Gejtalt von Orden und Di-
plomen vielfad von fremden Staaten geehrt worden iſt. Sein Name
wurde im Auslande ebenjo befannt wie im Inlande und Hat fich bis auf
den heutigen Tag vortrefflich zu behaupten verftanden. Am 1. October
1895 feierte Guſtav Langenſcheidt das Felt des 25jährigen Beitehens
feines Unternehmens und konnte bei diefer Gelegenheit fich der mannig:
7*
100 Guſtav Langenſcheidt.
faltigſten Beweiſe aufrichtiger Teilnahme von Fachgenoſſen und Gelehrten
erfreuen.
Die Langenſcheidt'ſchen Unternehmungen, welche deren Leiter, der ſeit
etwa 30 Jahren bereits der Geſellſchaft für das Studium neuerer Sprachen
in Berlin angehört, jo kraftvoll in's Werk geſetzt hat und mit bewunderns⸗
werter Beharrlichkeit fortführte, werden von einem Kenner in folgender
höchſt anerkennenswerter Art gekennzeichnet:
„Alle Unternehmungen, welche Langenſcheidt auf feine Unterrichts-
briefe folgen ließ, ftehen auf dem Boden der neuſprachlichen Philologie
und bezweden den Ausbau des völlig in ſich abgerundeten Verlags; alle
tragen den Stempel der praftiihen Brauchbarkeit, zeugen von einem
außerorbentlichen Fleiße, einer gründlichen Beherrſchung des Stoffes,
einer geradezu phänomenalen Opfermwilligfeit, die Alles daran ſetzt, Voll:
fommenes oder wenigitens das zur Zeit Beſte feiner Art zu ſchaffen.“
Im Nachitehenden geben wir eine Kleine Zujammenjtellung ber hier
jo gelobten Werfe:
— — 1895 in 44. Aufl. erſchienen.
Deutihe Sprachbriefe von D. Sanders, 1895, 11. Aufl.
Wörterbuch der Hauptichwierigkeiten in der deutichen Sprache,
von demjelben, 26. Aufl. 1895.
Lehrbuch der deutſchen Sprache von D. Sanders in 3 Heften.
Für die franzöfiihen Unterrichtsbriefe wurde ein vortreffliches Wörter-
buch ausgearbeitet, nämlich das enchklopädiſche Wörterbuch der franzöji-
ihen und beutihen Sprade von 2. Sachs und E. Villatte, welches
unter der perjönlichen Leitung und nach den näheren Angaben von Prof.
Langenſcheidt zu Stande fam (9. Aufl. 1895). Aus demfelben wurde
jpäter eine kleinere Ausgabe, eine „Hand- und Schulausgabe” gebildet
(85. Aufl. 1895), welche in zwei Teilen nur 13’) Mark Eoftet, während
die große Ausgabe in zwei Bänden mit einem Supplementbande den
Preis von 95 |. Mark hat. Die neuen Auflagen wurden ftet3 nad) den
Ausgaben der franzöfiihen Akademie durchgejehen und verbeſſert, jowie
ald Stereotypauflagen gedrudt.
Nachdem diejes Wörterbuch jo gut ausgefallen war, hielt e8 Prof.
Langenſcheidt für eine feiner würdigften Aufgaben, ein Seitenjtüd für
die engliihe Sprahe zu Stande zu bringen. Eo unternahm er im
Sabre 1889, das encyklopädiiche Wörterbuch der engliichen und deutjchen
Sprahe von Ed. Murat der Öffentlichkeit vorzulegen und hatte das
Glück, die erite Hälfte desjelben — die Buchſtaben U—K enthaltend —
Ihon im Jahre 1894 zu vollenden, während die Fortſetzung der Zukunft
vorbehalten blieb und zum Zeil heute bereits wader gefördert ift.
Guſtav Langenicheibt. 101
Wir jchließen die Reihe diefer Unternehmungen mit der Anführung
ber jogenannten Langenſcheidt'ſchen „Notwörterbücher” für Engliſch und
Franzöfiich („Land und Leute in England“, „Land und Leute in Ame—
rifa*, Land und Leute in Frankreich“, außer Heineren Wörterbüchern),
welche ſich als bejonders praktiſch erwieſen haben.
Guſtav Langenjcheidt hatte ſchon frühzeitig eine Familie begründet,
er war mit Fräulein Bauline geb. Hartmann vermählt und hinterläßt
jein Geſchäft in befter Orbnung, das ihn wohl lange Beit überleben wird.
Er war als Gelehrter, Geichäftsmann und Menjch eine ganz eigenartige
Berfönlichkeit und hatte in der Regel den Erfolg für fich, was von man-
chem Pſychologen als natürliche Folge der Eharaktereigenichaften hinge—
ftellt wird, und gewiß mit Recht. Sein Charakter war gediegen: er galt
als ein ebenjo gerechter wie auf dad Wohl feiner Mitarbeiter bedachter
Borgeiegter. Seine Untergebenen haben ihm einen jchönen Nachruf ge—
widmet, mit defjen Wiedergabe wir hier jchließen:
„Seine bis and Ende unermübdliche Thätigkeit und fein ein
ganzes Leben hindurch bewiejener eijerner Fleiß werben ihn uns
für immer als ein leuchtendes, zur Nacheiferung anjpornendes
Vorbild erjcheinen laſſen. Ehre feinem Andenken!”
>
Gerhart Hauptmann.”
Bon Jaul Kühn.
I.
In der ganzen Litteraturgefchichte ift wohl faum ein Dichter fo hef⸗
tigen Angriffen und Verurteilungen ausgeſetzt geweſen, iſt wohl anderer—
ſeits kaum ein Dichter ſo maßlos geprieſen und in den Himmel gehoben
worden wie Gerhart Hauptmann. Eine übertrieben große Erregung be—
mächtigte ſich der Gemüter, als im Oktober 1889 Hauptmanns erſtes Drama
„Vor Sonnenaufgang“ durch die „Freie Bühne“ in Berlin zur Auffüh—
rung gebracht wurde. Die einen, die Anhänger der konſervativen Rich—
tung, denen es jchwer wird, fich über den ausgetretenen Weg der Tra-
dition im Litteratur, Kunſt und Leben hinauszubewegen, griffen ihn an
als einen Frechen Neuerer, als jungen, umnreifen Naturaliften, der mit
wollüftigem Behagen im Schmuße wühle und verurteilten ihn als ab-
iheulichite Ausgeburt entarteter Kunft. Die andern, Theoretifer und
PBarteifanatifer der litterariſchen Revolution, verherrlichten ihn als den
endlich erichienenen Mejfias des Dramas, der dazu berufen jei, das große
deutſche Charakterdrama, eine Bereinigung des antiken und Shakeſpeare—
hen Dramas zu jchaffen und damit eine jeit der Goethe-Schiller-Zeit in
unjerer Litteratur fortlebende Sehnjucht zu ihrem Ziele zu führen. Der
*) Der nachfolgende Artifel über Gerhart Hauptmann, der in jehr eingehen:
der Weiſe die geiftige und künſtleriſche Individualität des Dichters, wie fie ſich
in feinen Werfen ausfpricht, zur Daritellung bringt, tft uns von Herin Dr. P. Kühn—
Leipzig freundlichit zur Verfügung geitellt worden. Wir druden ihn um fo lieber
ab, da wir dem Artifel einen befonderen Wert deshalb beimefien, weil dem Bud)-
händler, der nicht nur gedanfenlos jeine Ware verfaufen, fondern mit Verjtänd-
nis feinen Beruf üben und dem Publikum ein zuverläffiger Natgeber fein foll,
aus demfelben das rechte Verjtändnis für den begabten Dichter, wie für die ganze
ernst ftrebende Kunitübung der Gegenwart erwachſen wird. Wir werden auch in
Zufunft bei biographiſchen Artikeln nicht nur auf das Allgemeine, jondern vor
allem auch auf die Fritiiche Unterfuhung der einzelnen Werke Wert legen.
Die Redaftion.
Gerhart Hauptmann, 103
Etreit der Parteien um Hauptmanus dichteriſche Perfönlichkeit iſt ge-
Ichlichtet. Alle, die eim echtes Gefühl für das Fünftleriich Bedeutende
haben, müfjen feine große Begabung anerkennen; er iſt ein großer, rei-
cher, Starker Tichter.
Wenn wir einen Dichter der Gegenwart zu beurteilen haben, müſſen
wir uns hüten, unſere äjthetiichen Anſchauungen und kritiſchen Urteile
durd die Schlagworte des Jdealismus, Realismus, Naturalismus, Sym-
bolismus und wie fie alle heißen mögen, trüben zu lajjen. Schlagwörter
find ihrer Natur nad) nur ein Tedmantel intelleftueller Faulheit, ein
willflommener Schmuck fruchtlojer Schablonenkritit und wahrer Erkenntnis
entichieden Hinderlih. Als das Ausichlaggebende in der Beurteilung und
Rangeinordnung dichteriicher Schöpfungen hat nicht Richtung und Schule,
jondern die größere oder geringere Macht der Verjönlichkeit, die fich darin
ausipricht, zu gelten. Um jo vernehmlicher werden wir die feelenbezwin-
gende Macht der Tichtung empfinden, je durchgearbeiteter, Elarer, um—
fafjender die Weltanſchauung des Dichters ift, je tiefer er die Labyrinthe
der menſchlichen Eeele zu erforjchen verjteht und je fähiger er ijt, mit
den Ffünjtleriich-technischen Mitteln feiner Zeit in menjchlichen Charalter-
gebilden voll Leben und Blut die jozialen und gejellichaftlichen Konflikte,
die politiihen Kämpfe, die nationalen Hoffnungen und Wünjche zur Dar-
jtellung zu bringen. Hauptmann ift unter den lebenden Dichtern der-
jenige, der diefe Aufgaben am volllommenften und nachdrücklichſten erfüllt,
In feinen Dramen fpiegeln ſich die vielverzweigten Beſtrebungen unjerer
Zeit am deutlichiten ab.
Bisher liegen uns von Hauptmann 7 Dramen und 2 Novellen vor,
die alle in der kurzen Zeit von 5 Jahren entitanden find, die auch die
Gegner gezwungen haben, zu diejem jcharf ausgeprägten Charakter Stel-
lung zu nehmen und eine ruhige, fachliche und eingehende Würdigung
des Dichters ermöglichen. Hauptmann hat durch dieje glänzende Reihe
jeiner Dichtungen bewiejen, daß er eine Dichternatur von unvermwüftlicher
Eigenart ift, die ftill und ficher ihre eigenen Wege geht.
1862 wurde Hauptmann geboren, in pietiftiicher Umgebung wuchs
er auf; früh zeigte fi) im ihm der Drang zum künſtleriſchen Schaffen ;
er glaubte zunächſt zur Malerei berufen zu jein; aber jeine Studien an
der Kunftafademie zu Breslau brachten ihm Enttäufchungen; er jattelte
um, ging nad) Jena und ftudierte unter Haedel Naturwifjenichaften. Er
widmete fich abermals, mehr aus perfönlichen ARüdfichten, der Künitler-
laufbahn und ging nad Stalien, um Bildhauer zu werden. Hier. ver-
taufchte er zeitweife die Bildhauerei mit der Dichtkunft, ohne Eigenartiges
und Bebeutendes hervorzubringen. Nach Deutſchland zurückgekehrt hielt
er fih bald in Dresden, bald in Berlin auf und trieb mit geteiltem
104 Gerhart Hauptmann.
Intereſſe Kunft und Wiſſenſchaft. Als 23jähriger trat er in die Litte-
ratur ein. Im Jahre 1885 erjchien das Promethidenlos, eine Dich-
tung in Ottaverimen. Der Held, ein Dichter, geht an jeinem Weltſchmerz
zu Grunde; von Verzweiflung gepadt zerichlägt er feine Leier an einem
Felſen und ftürzt fi in die Wellen. Die Dichtung ift gedanfenreich,
aber jugendlich unfertig, in der Sprache oft unbeholfen, voll grotesfer
Bilder, in der ganzen Anjchauungsweile und Darftellung verſchwommen,
unflar, abſtrakt. Der Charakter der Dichtung ift allen jpäteren Werten
Hauptmanns gerade entgegengejeßt.*)
Bier Jahre vergingen bis zum Erjcheinen des nächſten größeren
Werkes, feines erjten Dramas „Bor Sonnenaufgang”,**) durd) das
Hauptmann mit einem Schlag zum Führer der ganzen realiftiichen Be—
wegung in der Litteratur gemacht wurde. „Bor Sonnenaufgang” iſt die
erite wirflihe That der neuen Kunftübung. Won gährenden Ideen twogte
es allenthalben, in feiner Zeit war das Gefühl von der „Ummertung
aller Dinge” jo lebendig wie in der unfrigen; der entſcheidende Schritt
von der äjthetiichen Theorie zur befreienden Kunſtthat ließ lange auf ſich
warten. Bisher famen die Vorboten der neuen Kunſt aus dem Aus-
lande, Deutichland hatte noch nichts geleiftet, was einem Ibſen, einem
Zoljtoi, einem Zola auch nur annähernd an die Seite geftellt werden
konnte. Da erihien „Vor Sonnenaufgang” und die neue deutſche Kunft
hatte ihren Dichter.
So hervorragend und ausgeprägt die Individualität Hauptmanns
auch ift, jo jehr ift er doch auch von feiner Zeit, feiner Umgebung, feinem
„Milieu“ abhängig, jo daß wir nur auf dem Hintergrund der ganzen
naturaliftiichen Litteraturbewegung fein Bild Har und deutlich jehen fünnen.
Unbeichadet jeiner Eigenart hat Hauptmann alle Charakterzüge bes Zeit-
geiltes im fich vereinigt und faſt alle Faktoren, aus denen fi) das Kul—
turleben der Gegenwart zujammenjegt, haben in jeinen Dichtungen einen
Widerhall gefunden.
I.
Das jeit 2 Menjchenaltern raftloje YFortichreiten der Naturwifjen-
haften, die mächtigen Einwirkungen des Tarwinismus, die durch ihn
*) Der Dichter vernichtete feine erfte Dichtung nah Erfcheinen feines erjten
Dramas „Vor Sonnenaufgang”.
**) Alle Werke ©. Hauptmanns erfchienen im Verlage von ©. Fiſcher, Berlin:
Bor Sonnenaufgang 1889. 6. Aufl. 1893. Friedensfeft 18%. 2. Aufl. 189.
Einfame Menſchen, 1. und 2. Aufl. 1891, 5. Aufl. 1894. Die Weber, 1. Aufl. 1892,
13. Aufl. 1895. Dialeft:Ausgabe: De Waber. Kollege Crampton, 1. Aufl. 189,
2. Aufl. 1894. Der Biberpelz 189. Hannele 18%, Der Apoftel. Bahnwärter
Thiel 189,
Gerhart Hauptmann. 105
hervorgerufenen veränderten Anfchauungen des Weltbildes und des Men-
chen insbejondere, der Zuſammenbruch der jpefulativen Philojophie, die
erjtaunlichen Errungenschaften der Technik, die Entwidelung der Induftrie,
das Entitehen und Anjchwellen der Sozialdemofratie u. j. w. haben eine
Fülle von Problemen, Konflitten und tragischen Motiven geſchaffen, Die
ihre fünjtleriihe Darftellung heiſchten. Unjere Dichter Haben vor allem
von den Naturforichern gelernt und die erafte naturwiſſenſchaftliche Me—
thode, die feine jorgfältige Beobadjtung und Analyje auf die Dichtkunjt
angewendet. Die Arbeitsmethode eines modernen Dramatifers, die Art
zu fonzipieren und zu charafterijieren ift wejentlich verjchieden etwa von
der Urt wie Kleift, Hebbel, Grillparzer jchufen.
So war denn auch der deutſche Naturalismus vor allem ein Kampf
um eine neue Technik, die es vermochte, die leijeften individuellen Stim-
mungen, die leijejten charakteriftiichen Züge zum Ausdrude zu bringen.
Freilich wird des Guten oft zu viel gethan. Die Dichter können fich im
Häufen von Heinen und Heinften Zügen nicht genug thun. Auch Haupt-
mann iſt im diefer Hinficht zu weit gegangen; es wird der weitergejtal-
tenden Fantafie des Leſers nichts übrig gelaffen. Das find aber Heine
Auswüchſe; wir müffen jagen, daß durch die intimere Behandlung des
Wirklichen die Kunft, Dichtung wie Malerei, außerordentlic) gewonnen
Hat. Die ganze moderne Kunſt pflegt bejonders die charakteriftiichen
Formen und hat eine Vorliebe für die umjcheinbaren, wenig beachteten,
jomwie für die herben, rauhen, dem Gefühl zunächſt weh thuenden Erjchei-
nungen des Lebens, wodurch die Meinung erwect wurde, daß der Na-
turalismus nur am Häßlichen und Schmußigen jeine Freude hätte, eine
Meinung, die eine nur oberflächliche Kenntnis der litterariichen Erjchei-
nungen beweift. Eine für die Kunſt wichtig gewordene Lehre ift die von
dem Franzoſen Taine zuerſt theoretiich behandelte und in die Litteratur-
geſchichte eingeführte Lehre vom „Milieu“. Wir faſſen den Menjchen in
jeiner vieljeitigen und weitverzweigten Verflechtung mit der ihn umgeben-
den Wirklichkeit auf. Wir durchſchauen weit feiner die Abhängigkeit
unjerer geiftigen und fittlihen Entwidelung von den zahlreichen Einflüffen
unferer Umgebung. Im der Litteratur hat zuerft Zola dieſe Lehre in
der großartigiten Weile angewendet. Auch Hauptmanns Kunfttechnit
wurde durch fie weſentlich beitimmt. Die Schilderung des Milieus ijt
für den Dichter zu einer wichtigen Sache geworden. Das ftarfe Betonen
des Stimmungselementes auf dem gejamten Gebiete der Kunit, das ſich
Überbieten in der Anbringung kleiner Nüancen ift auf diefe Lehre zurück—
zuführen, wenn auch nicht ausichlieflih. Das verfeinerte, raffinierte
Seelenleben der gegenwärtigen Menjchen war mit der alten, einfachen
106 Serbart Hauptmann.
Koft nicht mehr zufrieden; es ftellte erhöhte Anſprüche an die Anſchau—
lichkeit und Intimität des künſtleriſchen Darftellens.
Vielfach hat fi) das Milieu in der Weile breit gemacht, daß Haupt:
gejtalten und Handlungen von der Schilderung desjelben überwuchert
werden. Eine große Gefahr ift diefes Überwuchern des Milieus natürlich
im Drama Auch in das Drama nämlich wurde der Grundjah der mehr
novelliftifch-epiichen Zuftandsmalerei, des möglichen Vermeidens von Ver:
widlungen, Spannungen, Höhepunften eingeführt.
II.
Hauptmanns dramatiiher Erſtling „Bor Sonnenaufgang“ führt
ung in feinem Grundproblem in die Nähe von Zolas „Aſſommoir“. Aber
auch Ibſens „Geſpenſter“ und Zolftois gewaltiges Drama „Die Madıt
der Finſternis“ zeigen deutlich ihren Einfluß. Wir werden in die ſchauer—
lichſten Interieurs einer jchlefiihen Bauernfamilie eingeführt: Der alte
Bauer erjcheint nur im Zuſtande viehiicher Trunkſucht auf der Scene;
feine Frau zweiter Ehe, ein geiles, lafterhaftes Weib, dic mit einem
jungen Nachbarn, einem brutalen, beſchränkten Gefellen, ein ehebrecheri-
ches Verhältnis unterhält, während fie gleichzeitig ihre zweite Stieftochter,
Helene, an ihn verkuppeln will. Im Haufe lebt außerdem ein gefinnungs-
lojer Lump und Streber, der Ingenieur Hoffmann, der des Geldes wegen
die älteſte Tochter Martha geehelicht; dieſe, Die nicht auf der Bühne er-
Iheint, deren Wimmern bei der Entbindung man aber im 5. Aft zu hören
befommt, ift dem Branntweinteufel verfallen, ift jelten nüchtern und hat
dieſe unfelige Leidenſchaft des Vaters auch ihrem erjten Kinde mitgeteilt,
das mit drei Jahren am Alkoholismus zu Grunde gegangen ijt. Nur
eine Gejtalt hat ſich auf dieſem Sumpfboden unbefledt erhalten: Die
zweite Tochter des Bauern, Helene, ein wunderbar reines, großartig aıt-
gelegtes Geſchöpf. Bon Verzweiflung gepadt über die fürdhterliche Lage,
in der jie fich befindet, macht fie ihrem gequälten Herzen Luft: „Alles
iſt mir egal! Schlimmer kann's nicht fommen; einen Trunkenbold von
Vater hat man, ein Tier, vor dem die — — die eigene Tochter nicht
jicher ift. Eine ehebrecheriſche Stiefmutter, die mid) an ihren Galan ver-
fuppeln möchte. Diefes ganze Tafein überhaupt. — Nein! ich jehe nicht
ein, wer mic zwingen kann, durchaus jchlecht zu werden. Ich gehe fort.
Sch renne fort — und wein Ihr mich nicht los laßt, daun . . Strid,
Mefler, Revolver! — mir egal! ich will nicht auch zum Branntwein
greifen wie meine Schweſter . . . . Mir egal; mir ganz egal — man
ift — man muß ſich ſchämen bis in die Seele nein. Man möd)te was
wifien, was fein, was fünnen — und was ift man nu? — — Hätte
mein gutes Muttelchen das geahnt, als fie — als fie beftimmte, daß ich
Gerhart Haupimann. 107
in Herrnhut erzogen werden jollte. Hätte fie mich lieber, mich lieber zu
Hauſe gelafjen, dann hätte ich, hätte ich wenigftens nichts Anderes fennen
gelernt, wäre in dem Sumpf hier auf — aufgewachſen. — Aber jo...”
In dieſe Familie tritt Loth ein, ein ehemaliger Studiengenofje Hoffmanns.
Er ift auf einer Etudienreife; er ift begeifterter Sozialift und damit be-
ichäftigt, eine deſtriptive Arbeit über die Lage der Grubenarbeiter in den
ſchleſiſchen Kohlenbergwerken abzufafjen. Hoffmann, der fid) gerade durch
Ausbeutung dieſer Arbeiter jeinen Neichtum erworben hat, jucht ihn von
feinen Anfichten abzubringen, Loth ift aber unerjchütterlih: er jtellt, was
feine Perſon betrifft, nur geringe Ansprüche und will feinen Ideen, um
derenwillen er im Gefängnis geichmachtet hat und des Landes verwiejen
ward, jein Leben zu weihen. Für feine Perſon hat er nur den einen
Wunſch, ein braves, geiftig und förperlich gejundes Mädchen fein zu
nennen; aber gefund muß fie jein, ferngefund, und auch von gejunden
Eltern abitammen; denn als unbedingter Anhänger der Vererbungstheorie
hält er es für ein Verbrechen, feinen Kindern Krankheiten zu vererben.
Loth, der außerdem noch ein unbedingter Abjtinenzler ift, und jeine An—
ſchauungen zur eimfeitigen Prinzipienreiterei emporjchraubt, lernt Helene
fennen und macht jofort einen tiefen Eindrud auf fie. Ihre liebens-
würdige Natürlichkeit gewinnt ihn, ihr reines enthufiaftiiches Gemüt fefjelt
ihn, während fie in ihm den erjten ehrlichen, Eugen, uneigennüßigen,
keuntnisreichen Menſchen trifft. Beide lieben fih. Er ift im Begriff,
fie heimzuführen, al3 er plößlich erfährt, daß Helene einer Potatoren-
familie angehört. Da er durch feine Nachkommenſchaft nur zur Verede-
lung des Menfchengeichlechts beizutragen entichloffen ift, hier aber die
Möglichkeit des Gegenteil3 nicht ausgefchlofien wäre, jo verläßt er die
verzweifelnde Helene, die jich, nachdem ihr das Gejchehene aufdämmert
und jie fich für rettungslos verloren halten muß, halb wahnfinnig mit
dem Hirichfänger ihres Schwagers tötet, indeß der von draußen herein-
tönende heiſere Gefang des aus dem Wirtshaus heimfehrenden trunkenen
Vaters ertönt.
Das Stüd ift, was die Durchführung und plaftiiche Ausgeitaltung
der Charaktere betrifft, ein Meiſterwerk. Welcher Unterjchied zwiichen
diefer ganz neuen, von Lebenswärme durchglühten Kunst mit ihrer Tiebe-
vollen Intimität der Beobachtung und den in Jamben tönenden Epigonen:
dramen. Alles, was Hauptmann jchafft, ſteht Har und deutlich da und
prägt ſich dem Gedächtnis feſt ein. Ohne Suchen nad Effekt, ohne
pomphafte Steigerung, wie die Natur felbit, läßt der Dichter die Vor:
gänge an uns vorüberziehen. Was joll man mehr bewundern, das
prächtige Lokalkolorit des fchlefiichen Bauernlebens, die Wahrheit des
Dialogs, die dem Leben mit peinlicher Eorgfalt abgelaufchte dialektijche
108 Gerhart Hauptmann.
Sprechwetje der einzelnen Perjonen, mit all ihren individuellen Schat-
tierungen und Wunbderlichkeiten ober die Zartheit und überlegene Meifter-
Ihaft, mit der der Dichter die feinften feeliichen Regungen der Liebenden
wie die tiefite Verfommenheit, die Lüfternheit und das freche Protzentum
Darzuftellen weiß.
Das Drama hat aber auch feine Mängel: Hauptmann nennt es ein
joziale8 Drama; aber der Titel ift, wie jchon Litzmann in jeiner Ge—
Ichichte des neueren Dramas bemerkt, irreleitend; die joziale Frage wird
zwar in langen Gejprächen erörtert, diefe haben aber mit dem dramati-
ihen Vorgang jelbft nichts zu thun, fie find nur eine äußerliche Zuthat,
der Hauptkonflikt jpielt ſich ausichließlich in der Familie ab; es fehlt dem
Drama alſo an Gejchlofjenheit der Handlung Hauptmann verfteht hier
noch nicht, Fünftlerifch zu fomponieren. Die Breite der Behandlung wirkt
noch ftörend. Das Milien nimmt in allen feinen Dramen, wie jchon
erwähnt, einen großen Raum ein. Das Drama wird zum novelliftiich
durchgeführten Sittenbildb_ Die Perſonen jcheinen lediglich um ihrer jelbit
willen da zu fein. Der Dichter ftrebt danach, jede in ihrer Wirklichkeit,
möglichft alljeitig erfaßt, hinzuftellen, genau jo wie fie im Leben fein
würde, ohne Hinzuthun, ohne Hinwegnehmen. Die ſzeniſchen Angaben
überwuchern oft die Worte der Perſonen. Ganze Seiten find, namentlich
in den erften Stüden, mit genauen Beichreibungen ausgefüllt. Nichts
erjcheint gleichgültig. Die Ausftattung des Zimmers, Geficht, Haar,
Wuchs, Teint, Stimme der Handelnden find ebenjo wie ihre einzelnen
Zebensäußerungen in möglichjter Vollftändigkeit angegeben. Cine fonder-
bare, durch Ibſen eingeführte Schrulle des Naturalismus ift das ängit-
lihe Vermeiden des Monologes, als eines Verftoßes gegen die Wirflih-
feit. & Stummes Spiel joll ihn erfegen. Aber dazu ift die Menjchenjeele
denn doc zu reich und das Mienenfpiel zu arm. D. Zubwig, der große
Dramatiker, jagt: „Die Entwidelung eines intereffanten Charakters ift
nur in Monologen möglich.“ Wie viel Künftlichleit muß in der „reali-
ſtiſchen“ Kunft aufgewenbet werden, um zu verhindern, daß der Menſch
längere Zeit allein bleibt. Sehr unangenehm empfinden wir 5. B. das
Fehlen des Monolog im lebten Akt von „Bor Sonnenaufgang“: Loth
Icheibet, ohne ein Wort zu jagen; ein paar klägliche Geberben jollen aus-
drücken, daß er von Schmerz faft überwältigt wird.
Der größte Mangel des Dramas ift die mißlungene Figur Loths.
Daß Loth die Geliebte verläßt, ja nicht einmal den Verſuch macht, fie
der verpeiteten Atmojphäre zu entziehen, ift nicht nur eine bobenloje
Gefühlsroheit, fondern auch vom rein theoretiichen Standpunkt der Ber-
erbungslehre unbegründet. Es ift gerade in der Geftalt Loths fein rech⸗
tes Leben, fie ift verſchwommen, unreif; das it um jo jchlimmer, als
Gerhart Hauptmann. 109
der Dichter offenbar Loth zum Träger feiner eigenen Anſchauungen ge-
macht hat, die Unreife aljo eine nicht beabfichtigte ift. Nüchtern und
ohne Lebenswärme hat der Dichter die legten Szenen, bejonders Loths
Entihluß und Abreife behandelt. Im öder Hoffnungs- und Troftlofigfeit
läßt der Dichter Zufchauer und Leſer. Die Kataftrophe wirkt um fo
grauenhafter, als das einzige erquidend reine Wejen inmitten dieſer
moraliſch verjumpften Bande zu Grunde geht.
IV.
Hauptmanns nächſtes Drama „Das Friedensfeſt“ kann als ein
Gegenftüd zu „Vor Sonnenaufgang“ angejehen werden. Der Vorwurf
ift im beiden Dramen derjelbe: auch hier eine durch und durch vermorjchte
Familie, mit allen möglichen Gebrechen ſchwer belaftet. Die Überzeugung
von ber gewaltigen Macht der Vererbung fpielt auch im Friedensfeſt eine
wichtige Rolle. Aber fie gilt dem Dichter nicht mehr für unüberwindbar;
die Liebesmacht des reinen Weibes vermag diejer erblichen Dämonen Herr
zu werben. Diesmal iſt der Belaftete der Mann, der erlöfende Befreier
ein Weib. Wir jehen in eine Familie, deren Mitglieder bejtändig in
Unfrieden leben: einen Vater, den Dr. med. Scholz, der durch piychiiche
und phyſiſche KrankHeitszuftände der Fluch jeines Haufes geworden iſt,
eine beſchränkte, kleinliche Mutter, eine verbitterte, altjungferliche Tochter
Auguite, einen hämiſch cyniihen Sohn Robert und einen Sohn Wilhelm,
der fi, durch äußere Verhältniſſe begünftigt, durch eine größere Energie
des Willen? und durch die bejeligende Liebe eines Mädchens aus dieſem
Sumpf berausgearbeitet hat. Die beiden Gatten haben bald nach der
Heirat getrennt gelebt, die Söhne find in ihrer Kindheit vom Water auf
das thörichjte erzogen worden. Es herricht bejtändig Streit, Gehäffigkeit
und Groll. Schließlich hat fich jogar Wilhelm, als er einft zum Stall»
knecht gemeine Dinge über die Mutter jagen hörte, dazu hinreißen lafjen,
den Bater zu jchlagen. Am jelben Tage haben Vater und Sohn das
Haus verlafjen. Der Vater führt ein ruhelojes Leben, der Sohn aber
lernt in der fremde ein Mädchen lieben, das wie ihre Mutter in allem
den geraden Gegenja zu jeiner eigenen Familie bildet. Sie find von
jener milden Heiterkeit, die aus ber eigenen Reinheit und dem Gutjein
mit aller Welt hervorgeht. Ihnen gelingt ed, Wilhelm zu einem Aus—
jöhnungsverjuch mit jeiner Familie zu veranlaffen. Um Heiligen Abend
joll das „Friedensfeſt“ ftattfinden. Zufällig fommt am jelben Tage auch
der Vater nad) Haufe; Wilhelm überwindet fi) und beide ſöhnen ſich
aus, Aber kaum ift dies geichehen, als aufs neue in einer meifterhaften
Szene ber Streit zwijchen den einzelnen Familienmitgliedern ausbricht —
ohne Wilhelms Schuld. Der Bater, jchon vorher kränklich, erliegt der
110 Serbart Hauptmann.
furchtbaren Aufregung, der ältere Bruder verläßt das Elternhaus, wäh—
rend der Dichter hoffen läßt, daß Wilhelm an der Hand des reinen,
liebenden Mädchens jenen Verhältniſſen entwächſt. (Mahn, G. Haupt-
mann und der moderne Realismus.)
Das Friedenzfeft Steht in geiltigem Zufammenhang mit Ibiens Ge-
ipenftern, in bezug auf die innere Üdereinftimmung der Weltanfchauungen;
die Lehre von der Vererbung, von der Unfreiheit des Willens ijt beiden
Dichtern zum poetiichen Eigentum geworden. Gin empfindlicher Mangel
des Dramas ift, daß wir über die eigentliche Urſache der unglückſeligen
Familienverhältuiffe nicht aufgeklärt werden: it fie im Mangel an gegen-
jeitigem Verſtändnis oder in finanziellen Schwierigfeiten oder in erblicher
Belaftung zu ſuchen. Robert, der ältere Sohn, jchildert die Familien-
geichichte folgendermaßen: „Ein Mann von vierzig Jahren heiratet ei
Mädchen von jechzehn und jchleppt fie in diefen weltvergejienen Winkel
Ein Mann, der als Arzt im türkischen Diensten geitanden und Japan
bereift hat. Ein Mann, der nod eben die weittragendjten Projekte
jchmiedete, thut fih mit einer Frau zufammen, die noch vor wenigen
Sahren feſt überzeugt war, man könne Amerifa als Stern am Himmel
jehen. Ja wirklich! ich jchneide nicht auf. Na und danach ift es denn
auch geworden: ein ftehender, fauler, gährender Sumpf, dem wir zu ent-
ſtammen das zweifelhafte Vergnügen haben. Haarjträubend! Liebe —
feine Spur. ®egenjeitiges Verftändnis — Achtung — nicht Rühran —
das it das Beet, auf dem wir Kinder gewachſen find.” Die großen
Vorzüge des Stüdes liegen Har vor Augen. Hauptmann vermeidet alle
Fehler der jambentünenden Buchdramatif. Keine Teklamation, fein lyri—
ſches Schwelgen in Schönen Gefühlen; als echter Tramatiker denkt Haupt-
mann, gleih Dtto Ludwig, in Seftalten: Alles ſetzt fich ihm in Rede
und Erjcheinung um, und in jedem Augenblide, deutlich bis ins Kleinſte,
mit Seite und Miene, fieht er feine Menjchen vor fich.
V
Ein Jahr nad) dem Friedensfeſt, 1891, erſchien das Trama „Ein-
ame Menſchen“, dag im jelben Jahre ſchon eine zweite Anflage erlebte,
auf den größeren Bühnen feiten Fuß faßte und die nachhaltigiten thea-
traliichen Erfolge zu verzeichnen hat. Das Stüd behandelt das uralte,
im Leben wie in der Dichtung ewig neue Thema: Die Liebe des Mannes
jieht jich zwilchen zwei Frauen geftellt. Im früheren Pramen waren es
zwei Herzen, zwiſchen denen er ratlos hin und her ſchwankte: ein ſanftes,
deutjches, blondes Gemüt und ein feuriges, wälfches, ſchwarzes Tem-
perament. Das moderne Drama jebt an die Stelle der Temperaments-
gegenſätze den Gegenſatz geiftiger Kulturen, der tiefeinſchneidende Bewe—
Gerhart Hauptmann. 111
gungen unjerer Zeit an typiichen Geftalten aufzeigt: die milde, deutſche
Hausfrau Käthe auf der einen Seite, die vom Leben der Zeit ganz er:
füllte, moderne Frau, die Züriher Studentin, auf der anderen. Johannes
wird an» und abgezogen durch das größere oder geringere Verſtändnis,
das jeiner Arbeit entgegengebradht wird. Johannes iſt ein nervöfer,
geiftvoller Gelehrter, von großem Wollen und ungewifjen Können, der
in dem Konflikt der Pflichten tragiich enden muß, weil er einer von den
Halben ift, eine feine jenfible Natur, die auf der Schwelle einer neuen
Zeit, an dem Konflift von alt und modern, Konvention und Freiheit,
zerbridt. Man hat dem Dichter vorgeworfen, daß der tragijche Ausgang
hätte vermieden werden Ffünnen, daß der Held als eine tapfere männ—
liche Natur diejen Konflikt überwinden mußte. Im diefem Vorwurf liegt
aber ein Mikveritändnis. Johannes Boderat ift jeiner ganzen Natur:
anlage nad) ein tragiicher Charakter; er iſt nicht, wie einzelne Kritiker
meinten, ein „genial angelegter Gelehrter“, er iſt eben gerade nicht der
Philoſoph, der ungewöhnliche Geijt, der er zu jein träumt. Hauptmann
will ihn nicht als bahubrechenden Denker Hinftellen; im Gegenteil, in dem
Zwiejpalt zwiihen Wollen und Können, in der Gereiztheit des Nerven—
iyitems, in den ohmmächtigen, Trampfhaften Verjuchen, eine bedeutende
Aufgabe zum Ziele zu führen, geht er zu Grunde, Der Tod, den er
im Müggelſee jucht, bleibt ihm allein noch übrig; der Konflikt, der in
jeinem Innern tobt, der ihm mit jeiner Natur ſelbſt gegeben ift, iſt un-
lösbar. Johannes ift im Haufe waderer, aber bigotter Eltern aufge-
wachſen; die kirchliche Erziehung haftet ihm noch an und tritt in Wider-
ftreit mit feinen wifjenschaftlichen Überzeugungen; er ſchwankt Hin und
her, jein Wille wird gelähmt, er kann e3 niemand recht machen, die
Frommen werfen ihm Unglauben und Pietätlojigfeit vor, die radikalen
Rationaliſten verdächtigen ihn als einen Halben und Kompromißler. Dieje
Gegenſätze fann er nicht in fich überwinden; er verliert jein geijtiges
Gleichgewicht. Seine Familie hat für jeine pjycho=phyfiologiichen Arbeitei
nicht das mindeſte Verjtändnis; jeine Frau Käthe, deren menschlicher
Wert in ihrem tiefen, reichen Frauengemüt liegt, „hat wenigitens nod)
den guten Willen“, aber fie hat fein jelbitjtändiges Urteil; als er nun
in Anna Mahr zum erjten Mal in feinem Leben ein Weſen findet, das
ihm geiltesverwandt ift, dag für jeine Arbeit ein jachliches Interejje hat,
fühlt er ſich im tiefften beglüdt. „Das ift ja wie 'ne Haide förmlich,
auf die's regnet.” Johannes jucht fie im Haufe feitzuhalten, obgleich)
jeine arme junge Frau unjäglich darunter leidet und jeine Eltern die
Trennung von der Mahr als Beweis jeines Pflichtgefühls fordern. Jo—
hannes jucht jeine Gefühle zu rechtfertigen und jeine meifterhaft wieder-
gegebenen Ausbrüche der Heftigkeit beweifen nur, wie jehr er ſich im Un-
112 Gerhart Hauptmann,
recht weiß. Er hat ſich aber ein Syſtem Eonjtruirt von ehelicher und
freundfchaftliher Liebe. Damit hat er ſich geichaffen, was in Ibſens
Wildente als „Lebenslüge” bezeichnet wird. „Nehmen Sie einem Durdy-
ſchnittsmenſchen die Lebenslüge, jo nehmen Sie ihm gleichzeitig das
Glück“ jagt Relling. Ihm wird fie genommen, durch die Eltern, durch
Anna, die ihn verläßt.
Die Einjamen Menſchen nähern fich in der Form, der knappen Be:
grenzung auf einen Vorgang, der Enthüllung jchwerer jeeliicher Kämpfe
mitten im jcheinbaren Frieden eines behaglich-bürgerlichen Haujes am
meisten unter allen Dramen Hauptmanns der dramatischen Weife Ibſens.
Dies Drama zeigt ferner eine jehr ftarfe Beeinfluffung durch Niekiche;
e3 ift in Bezug auf die piychologiiche Feinheit, die ſcharfe Erfaffung ver-
widelter Naturen ein Werk, das jeines Gleichen jucht. Wer das Glüd
einer guten Aufführung dieſes Mleifterwerks, z. B. durch das weimariiche
Schaujpiel-Enjemble, genofjen hat, wird es jein Lebenlang in der Erin-
nerung lebendig erhalten.
v1.
Das Gewaltigite, was Hauptmann bisher gelungen it, ift feine jo-
ziale Tragödie „Die Weber“. Der Dichter war dem lauten eben der
Großſtadt entflohen und Hatte jich im jeiner ſchleſiſchen Heimat im Rie—
jengebirge bei Schreiberhau ein Bauerngrundjtüd gekauft; hier fand er
wieder Fühlung mit dem Volke jeiner Väter. Den Stoff zu dem Drama
gaben die Vorgänge, die Mai und Juni 1844 im jchlefiichen Eulen-
gebirge, in Kaſchbach, Peterswaldau und Langenbielau geipielt haben und
über die Heinr. dv. Treitihfe im 5. Bd. feiner „Deutjchen Geſchichte im
19. Jahrhundert“ berichtet: „Im jchlefiichen Gebirge machten die ver-
zweifelten Weber offenen Aufruhr. Die Gewerbefreiheit hatte dies zunft-
freie Gewerbe zwar nicht unmittelbar gejchädigt, wohl aber mittelbar;
denn die Zahl der freien Hausweber war mit den neuen Reformgeſetzen
ftarf angewachien, desgleichen die Zahl der Kaufleute und Fabrifanten,
und der jcharfe Koufurrenztampf verführte die Unternehmer zu einer
graufamen Hartherzigkeit, die unter einem jo gutmütigen Menjchenichlag
teufliih schien. — — Dem Könige zitterte das Herz, als er bei feinen
Beluchen in Erdmannsdorf etwas — leider nur zu wenig — von diejem
Elend kennen lernte; er ließ dort und in einigen anderen Orten des Ge-
birges durch die Seehandlung große Spinnereien errichten, bei denen
mancher Unglüdliche unterfam. In Breslau bildeten die Grafen Dyhrn,
York, Zieten und der Dichter Guftav Freytag einen Hilfsverein, der ſich
bald in zahlreichen Ortsvereinen über die Provinz verzweigte. Das alles
vermochte nichts gegen den gräßlichen Jammer. Oberpräſident Mercer
Gerhart Hauptmann. 113
aber und jeine Regierungsräte wollten das Dajein eines Notitandes gar
nicht einjehen; fie glaubten feljenfeit an die Heilfraft der volfswirtichaft-
lihen Naturgejege, die durch Angebot und Nachfrage alles Heil von jelber
aufheben müßten und witterten jogar in dem Breslauer Hilfävereine ge-
meinjchädlihe Abfihten. — — Im Frühling 1844 hörte man in ben
großen Weberbörfern des Gebirges überall ein neues Volkslied, das
Blutgericht, fingen. An einem Junitage wurde das Haus der Firma
Zwanziger in Peterswaldau von den Webern zerjtört, und noch zwei
Tage lang hauſte das ergrimmte Volk, alles zertrümmernd, jelten rau-
bend, in den Fabriken der Nachbarorte. Und es war wirklich nur die
Raferei der Not, was diefe Tobenden verblendete; von den Echriften der
Kommunisten hatten die Armen, die ſich abends ihre falte Stube mit
einem Kienſpahn erleuchteten, nie ein Wort gelejen. Zu jpät erkannte
Merdel, wie gründlich er fic) über die Lage getäufcht hatte. Er eilte
jelbjt herbei; Truppen stellten nicht ohne Blutvergießen die Ordnung
ber, 83 Gefangene wurden abgeführt, die Hauptichuldigen zu jchweren
Strafen verurteilt.” Im Rahmen diefer hijtoriihen Vorgänge, die eine
erichredende Fülle des tiefjten menjchlichen Elends, der Hungerqualen
einschließen, hält fi) Hauptmanns Schaufpiel. Dieſe Weberaufftände im
Eulengebirge gehörten zu den Überlieferungen von Hauptmanns Familie.
Sein eigener Großvater hatte in jungen Jahren, ein armer Weber, wie
die Gejchilderten Hinter'm Webjtuhl gejejlen und mit den armen Brüdern
Not und Hunger geteilt. Die Erzählung diejer Erlebniffe ift der Keim
von Hauptmanns Dichtung geworden. So wirkt denn auch diefe wun—
berbare Dichtung des Mitleids wie ein eigenes erjchütterndes Erlebnis
des Dichters. Er hat der Not der Armen, dem Kämpfen und Ningen
der unteren Klaſſe nahe gejtanden. Hauptmann it der Dichter des
großen menjchheitumfafjenden Mitleids; das Mitleid ift die Triebfraft
aller jeiner Dichtung. Ein heiliges Erbarmen mit der leidenden Menſch—
heit geht durch all jein Schaffen und giebt jeinem objektiven Naturalig-
mus jenen ftarfen Zug von Perjönlichkeit, ohne den fein Kunftwerf groß
und wirkſam ift.
Hauptmann hat den gewaltigen Stoff jeiner „Weber“ in 5 großen
Bildern gruppiert und damit die Tableautechnif eingeführt. Zolas Ger:
minal, diejes größte Meiſterwerk eines jozialen Romanes, iſt Vorbild ge-
weſen, jelbjt in manchen Einzelheiten. Der erite Akt zeigt uns die Weber
dem Fabrikanten und jeinen Angejtellten gegenüber, den ganzen Drud,
Die unwürdige Lage, in der ſich die Arbeiter befinden, während zugleicd)
jhon in der Geitalt des „roten Bäder“ die Oppofition bedeutjam her—
vortritt. Im zweiten At bliden wir in das ganze Elend einer Weber-
familie hinein. Wieder zeigt ſich in einer neuen Figur die Oppojition,
8
114 Gerhart Hauptmann.
welhe im 3. Akt, in der Kneipe, ſchon zu einer allgemeinen Erregung
geftiegen ift, die fich in Thaten umzufegen fucht. „A jeder Meunſch hat
halt ne Sehnſucht“, jagt der alte Lumpenſammler zum Wirt, als die
Weberſchar revoltierend und das MWeberlied fingend abzieht. Der vierte
Alt zeigt den Ausbruch der Empörung. Der Fabrifant wird von den
rajenden Arbeitern verjagt, fein Haus demoliert. Der fünfte Aft führt
uns den alten Hilfe und feinen Sohn Gottlieb vor, die nicht minder
Not leiden als die andern, aber noc) ganz in der alten patriarchaliſchen
Auffaffung von der göttlichen Weltordnung im allgemeinen, jowie von
dem Verhältnis zwilchen Arbeiter und Arbeitgeber im jpeziellen befangen
find. Der Alte beruhigt fich bei den Worten: „Du (der Fabrifant) Hajt
hier deine Parte — ich drüben in jener Welt.“ Während draußen aber
die Empörung tobt, wird der Alte von einem durchs Fenſter jchlagenden
Schuß getötet. Tas Stück ſchließt mit der Niederlage der Soldaten.
Das Intereffe an den vor uns aufgerollten Bildern ift nicht auf
einen oder zwei Menjchen konzentriert; die Gefamtheit der notleidenden
Weberichaft jteht im Mittelpunkt. Eine Unzahl von Perjonen umfaßt
das Trama, fie fommen und gehen; fie alle find durch ein einheitliches
Band verknüpft; Hinter allen fteht die Beziehung auf den einen großen
Gedanken, der die zujammenfafjende Kraft des Ganzen ilt: die joziale
Idee. Die Weber haben feinen eigentlihen Helden oder befjer: der
Held ijt nicht eine Perſon, ſondern eine große, umfafjende Idee, die in
einem einzelnen armen Menjchenleben nicht ihren adäquaten Ausdrud
finden fann.
Die Weber find fein jozialdemofratiiches, jundern ein ſoziales Drama,
ein Stüd der leidenden Menjchheit; es ift fein Tendenzftüd, das einer
bejonderen Partei, einem bejonderen Parteiprogramm dienen will; auf
rein menjch ichem Untergrunde baut es fich auf. Beide Parteien, alle
Perjonen find ganz objektiv dargejtellt; für Niemand nimmt der Tichter
Partei. Fabrikant Dreißiger ift Fein jchlechterer Mann als die Weber;
der größte Teil der Arbeiter würde an des Unternehmers Stelle nicht
anders fein. Ohne Gehäſſigkeit und ohne Verzerrung geben „Die Weber“
ein gewaltiges Gejamtbild ſozialer Treibungen.
vn.
Wie im Friedensfeit Die Liebe des Weibes, jo bejiegt in der Kömödie
„Kollege Erampton” die Kindesliebe die dunklen Mächte der Selbit-
zeritörung und Selbſtverachtung. Crampton, ein Künftler von genialer
Beanlagung, fommt in den Formelzwang einer Brovinzialafademie. Die
Folge ift, daß er durch Leichtfertigfeit und ſtarken Alfoholgenuß feinen
Ruin herbeiführt. Er ift nur wider Willen afademifcher Profeſſor.
Gerhart Hauptmann. 115
„Pfeifen Sie auf die ganze Akademie!” ruft er dem jungen Strähler zu.
„Eine Akademie, das ift die Drefjur, das ift der jpaniiche Stiefel, das
it der Blod, das ijt die Uniform, das ift die Antikunft.” Die Herren
Kollegen Hafjen iyn; alle, bis herab zum ſchuftigen Pedell Janetzki, ver-
folgen ihn mit allerlei Tüden. Den immer tiefer finfenden, dem Trunk
vollitändig verfallenen Künftler, der jeinen Abjchied erhalten Hat, zu
retten ift das heiße Bemühen feiner herrlichen Tochter Gertrud, ſeines
Schülers Mar Strähler, der Gertrud liebt, und Strählers Gejchwifter.
Gertrud iſt das Licht und Wärme jpendende Sonnenſcheinchen in des
Künstlers Haufe. Er jagt von ihr zu Strähler: „Sie willen ja gar
nicht, was das für ein Kind it. Was das für ein Fluges, gejcheidtes
Köpfchen Hat. Wie gerecht diefes Kind, dieſes Badfiichchen denkt. Und
wie tapfer das Heine Mädchen jein kann. Sie ift zuweilen nicht gut
mit mir umgejprungen. Sie hat mir den Kopf gewajchen, jag ich Ihnen,
aber jie hat mich dafür auch herzlich geliebt. Sie hat mic) verteidigt
wien Eleiner Tiger.” Freilich recht zweifelhaft jcheint es, ob troß Diejer
Anftrengungen Tiebender Menjchen der Künftler gerettet wird; es ift ein
großer fehler des Stüdes, daß wir im Unflaren gelafjen werden, an
welchem Konflikt Erampton leidet, ob es ein rein äußerer oder der durch
feine Liebe zu bejeitigende innere Konflikt zwiſchen Wollen und Können ift.
VIII.
Anderthalb Jahre nach der Erſtaufführung des Kollege Crampton am
Deutſchen Theater in Berlin mit Engels in der Titelrolle, ging am ſelben
Theater im Sommer 1893 ein neues Luſtſpiel Hauptmanns, „Der
Biberpelz“ in Szene und im November deſſelben Jahres brachte das
Berliner Königliche Schauſpielhaus Hauptmanns gemütstiefſtes, jeelen-
vollſtes Werk, das Traumſtück „Hannele”. Wenn wir noch erwähnen,
daß Hauptmann gleichzeitig zwei feinſinnige Novellen „Bahnwärter Thiel“
und „Der Apoſtel“, zwei Kabinetsſtücke pſychologiſcher Detail-Beobachtung,
dem Publikum vorlegte, ſo dürfen wir ſagen, daß alle produktiven Kräfte
des Dichters in raſtloſer Thätigkeit ſind. Ueber den „Biberpelz“ iſt nicht
viel zu ſagen; es iſt als Drama verfehlt und ſteht durchaus nicht auf
der Höhe von Hauptmanns Können; es handelt ſich hier nicht um ein
Ineinandergreifen ſeeliſcher Konflikte, um die Entwickelung tragiſcher
Charaktere, noch auch um ein ſoziales Problem; der Dichter giebt hier
nur einige plaſtiſch und deutlich geſchaute Figuren aus der Gegenwart
wieder, z. B. die alte Frau Wolff, die am Tage Waſchfrau, des Nachts
die durchtriebenſte Gaunerin iſt, den geiſtig bornirten, dummſtolzen Amts—
vorſteher von Wehrhahn. Alle Perſonen ſind durch eine Diebsgeſchichte
nur ganz loſe verbunden; die ganze Geſchichte verläuft im ER Der
116 Gerhart Hauptmann.
Inhalt ift eine tragifomische Formulierung eines Friminellen Erlebnifjes,
das der bei Berlin an der Oberjpree einquartierte Dichter einft der De-
magogenriecherei eines ftreberhaften Amtsvorftehers zu verdanken hatte.
Und nun zu SHauptmanns jüßer, märchenhafter Traumbdichtung.
Publitum und Kritik ftanden dem Stück, das urjprünglih „Hannele
Matterns Himmelfahrt” hieß und jpäter den einfachen Namen „Hannele“
erhielt, zunächſt völlig ratlos gegenüber. Hauptmann hatte die Marke
eine Naturaliften, eines Wirklichkeitsfchilderers; er Hatte Betrunfenheit,
menjchlihe Werfommenheit und &emeinheit, die Neurafthnie und den
Hunger vorgeführt. Jetzt fam er plöglid mit einem Stück, in dem
Träume, PBhantafien und das ſchlimmſte von allem, der kindliche Jeſus—
glaube die Hauptrolle jpielten. Man bejchuldigte den Dichter in Find-
licher Borniertheit jpiritiftifcher und myjtiicher Anwandlungen und erging
fi in langen, völlig unnügen Debatten, ob der Dichter zum Chriftus-
glauben jeiner Väter zurüdgefehrt fei. Hannele ftellt den Fiebertraum
eines armen, noch nicht zur Jungfrau gereiften Mädchens dar, das, eine
mutterloje Waiſe, vom Stiefvater, einem eflen Trinker, gejcholten und
gemißhandelt, fi Hinwegjehnt über all die Mühſal und rauhe MWirklich-
feit ihres Lebens in das Land, da auch fie glüclich fein darf. Won Leid-
gefühl überwältigt, ift fie an einen Teich gegangen und halb bewußt,
halb unbewußt ins Wafjer gefunfen — der Herr Jeſus, ſagt fie, habe
fie gerufen. Kurz vor dem Ertrinfen aber ift fie gerettet worden. Jetzt
liegt fie im Armenhaus, von Fieberphantafien umfangen, im Sterben. All
die Gejtalten ihres jungen Lebens, all die Heinen Freuden und großen
Leiden ihrer kurzen Wallfahrt verbinden ſich mit ihrem Sehnen und
Hoffen. Aus der Religionsſtunde des guten Lehrers, aus den Heiligen-
bilderu des Kirchleins, aus den Volksmärchen, die fie von der Mutter
gehört, aus den geiltlichen Liedern, die fie in der Bewahranftalt gefungen
hatte, war der Phantafie des träumerischen Kindes eine himmlische Welt
aufgegangen, an deren Dafein fie glaubte und die fid) num in ihrem
Todestraum verwirklicht. Mit den Wunderaugen dieſes Kindertranmes
jehen wir auf die Bühne. Wir hören die fcheltenden Worte des betrum-
fenen Stiefvaters, wir hören die tröftenden Worte der verstorbenen Mutter,
die dem Hannele ihr Himmeljchlüffel bringt vom lieben Gott. Drei lichte
Engel geben ihr Kunde von jenem Land, wo alle Unraft, alle Wünſche
jchweigen, nur Ruhe wohnt und Frieden und unvergängliches Glüd.
Dann träumt fi) das fterbende Kind felber tot. Sie ift angethan mit
Ihönen jeidenen Gewändern und gläfernen Schuhen, den Eleinften im
ganzen Lande, und fie jchlummert in einem lichten Sarge. Leidtragende
rauen fommen herein, die Schulfinder mit dem lieben Lehrer Gottwald
an der Spihe fingen hell und far ein Lied des Paulus Gerhardt und
Gerhart Hauptmann. 117
bitten ihr alles ab, was fie ihr Wehes gethan, und Hannele will es aud)
ganz gewiß dem lieben Gott nicht wieder jagen: hinein aber Elingt die
Stimme eined Armenhänslers: „Sie ift eine Heilige.” Sie fieht ihren
Bater verzweifeln, weil er zum Mörder geworden an jeinem Finde, und
der Herr Jeſus, der ganz mit dem Lehrer Gottwald eins geworden, führt
das Hannele mit vielen jhönen und Fichten Engeln in den Himmel. —
Die Menjchen aber jagen, fie jet tot.
Hannele gehört zum Reinſten und Feinften, was je ein deutjcher
Dichter geichaffen Hat. Unſere ganze goldene Märchenwelt blüht in die-
jer zauberhaften Poefie zu neuem Leben auf. Welch’ reihe Entwidelung
unjeres Dichters in der kurzen Epanne von 5 Jahren, von Vor Son-
nenaufgang bis zum Hannele. In allen Stüden Hauptmanns finden
ſich Züge, die auf ein intenfives, intimftes Gefühlsleben, auf das deutiche
Gemüt, hinweiſen. Im Hannele kommt diefe goldene Gemütöfraft voll»
endet rein zum Ausdrud. Der Dichter befindet ſich im Vollbefig techni-
ſcher Fertigkeit, er hat gelernt, das Geiftige, Seelifche in Eonfreter Ver—
anſchaulichung, Fünftleriih zur Geltung zu bringen. Zwei im Dichter
vorhandene Richtungen, die jcharfe NRealiftik, die gewiſſenhafte Beobachtung
der Außenwelt und die Welt jeines Seelenlebens haben fich hier zuſam—
mengejchlofjen, zwei Faktoren, die erft in ihrer Gemeinjchaft das große,
unvergängliche Kunſtwerk ſchaffen können. Hauptmann fteht im 33. Le—
bensjahr, in einem Alter, in dem das Fünjtleriihe Schaffen noch im An-
fang zu ftehen pflegt. Noch vieles haben wir von ihm zu erwarten, noch
manche Überrafhung wird er uns bereiten. Ein umfangreiches Drama
aus dem Bauernfrieg, Florian Geyer, geht jeiner Vollendung entgegen
und joll im Beginn des nächiten Jahres auf dem Deutichen Theater in
Berlin, der „Hauptmannbühne“, feine Erjtaufführung erleben. Kann
auch über Hauptmann das letzte Wort heute noch nicht gejagt werden, jo
viel fteht feit, unfere nationale Litteratur hat er mit Schäben bereichert,
die unjere Zeit überdauern und die noch dem nächſten Jayrhundert Kunde
geben werden von dem Dramatiker mit dem reichen Herzen und dem
itarfen Können.
Stadt: und Bolksbibliotheken in Hordamerika.
Nach einem Vortrag
des Univerfitätsbibliothefar Dr. Börrenberg in Riel.*)
63 ift mehrfadh mit Anerkennung darüber berichtet worden, welche
große Sorgfalt man in Nordamerifa den öffentlichen Bibliothefen zu—
wendet und mit wie richtigem Beritändnis und praftiihem Blid man
darauf bedacht iſt, dieſe Anftalten jo einzurichten, daß fie eine wirkliche
Bildungsftätte des Volkes find. Eine jehr eingehend begründete Beſtäti—
gung diejer anerfennenden Urteile giebt uns ein Vortrag des Univerſitäts—
bibliothefard Dr. E. Nörrenberg in Kiel, den diejer verdiente Beamte vor
einigen Monaten in verjchiedenen Städten gehalten hat und der der wei-
tejten Verbreitung und Aufmerkjamkeit wert it. Herr Dr. Nörrenberg
bat 1893 die öffentlichen Bibliotheken der Vereinigten Staaten an Ort
und Stelle jtudiert und es ſich zur Aufgabe gemacht, mit nachdrüdlichem
Ernft dafür einzutreten, daß in Deutichland die öffentlichen Bibliotheken,
namentlich die jogenannten Woltsbibliothefen, die jett weder in ihrem
Beitande noch in ihrer Einrichtung ihrem Zwecke in der eritrebenswerten
Vollkommenheit dienen, nad) dem amerikanischen Vorbilde verbeſſert wer-
den. Es ijt feine Frage, daß es nicht nur im wohlverftandenen Interefje
des Buchhandels liegen wird, jondern auch zu feinen idealen Berufs-
pflichten gehört, ihn im diefem Streben mit möglichfter Anftrengung zu
unterjtüßen.
Nachfolgendes ift ein Auszug aus dem überall mit dem lebhafteften
Beifallt!aufgenommenen Bortrage:
Eine deutjche Voltsbibliothef, wie jolhe in unferen Städten einge-
*) Wir bringen hiermit einen weiteren Beitrag aus ber Feder von Dr. Nör—
renberg, der und mit einem dritten Artikel, den wir demnächſt folgen laffen wer:
den, gütigft zur Verfügung geftellt wurde. Wir verweiſen übrigens unfere Leſer
auf Dr. Nörrenberg’3 Werk: „Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und
Reform” (Kommiffionsverlag von Gnevkow & Hellhorn in Kiel) 1593 2. Aufl.
2 Bogen 8°, Preis 40 Pr. In demfelben find die bisher in Vorträgen erläuter:
ten Anfichten des Verfaflers ausführlich dargelegt.
Stadt: und Volfsbibliothefen in Nordamerifa. 119
richtet find, ift mit wenigen Worten zu bejchreiben: ein mittelgroßes
Zimmer, in einem Schulhaufe, eine Wand mit gefüllten Büchergeftellen
bejeßt; ein paar Mal in der Woche fann man die Bücher entleihen und
wechſeln; das ijt alles. Anders jteht es mit den Volfsbibliothefen in
Nord-Amerifa, denen man allerdings einen ganzen Vortrag widmen kann
und muß, um eine Vorftellung von ihrem Umfange und ihren Einrich-
tungen zu erweden. Laſſen Sie uns aljo einmal mit einander den
Atlantiſchen Ozean überfliegen, uns die Sache anzujehen!
In einer der mittelgroßen Städte der Vereinigten Staaten laſſen
wir uns in der Nähe des Stadtzentrums zur Erde hinab, bejteigen einen
juft vorüberfahrenden Straßenbahnwagen und fragen den Schaffner nad)
der „Stadtbibliothek“; denn dieje iſt auch die Volfsbibliothef. Der Kon-
dukteur weiß natürlich, wo fie liegt, und teilt uns auch mit, daß fie täg-
lih von morgens neun bis abends zehn Uhr geöffnet ift. Wir langen
bei dem Gebäude an und jehen gleich, daß die Bibliothek nicht etwa ein
Zimmer, jondern den ganzen ftattlihen Bau einnimmt; über dem Portal
leſen wir: „Öffentliche Bibliothek, frei für jedermann!” Wir treten ein
und gelangen zunächſt in das Zeitungs- und Zeitichriftenzimmer, einen
großen, eleftriich beleuchteten Raum. Rings um die Wände läuft ein
Pult, bedeckt mit Zeitungen, die nach den Gegenden des Landes georbnet
find; „Oſt“, „Weit“, „Sid“ ꝛc. lejen wir an den Wänden. Vor den
Pulten jtehen Iejende Leute, zumeift Handwerker und Urbeiter, welche
fih mit der Lektüre der Blätter ihrer Heimat bejchäftigen, ohne irgend
welche Koften davon zu Haben. Auch deutjche Zeitungen finden wir
unter den amerilaniichen und denjenigen aller Nationen. Der Saal
jelber ijt ausgefüllt durch Tiſche, bededt mit Hunderten von Zeitjchriften
aller Urt. Schilder zeigen an, was man auf den einzelnen Tijchen zu
juchen Hat, Familienblätter, philojophiiche, ſprachwiſſenſchaftliche, natur—
wiflenichaftlihe, handelswiffenfchaftlihe Zeitichriften, Frauenzeitungen,
Sportblätter u. ſ. w. Ohne zu fragen, ohne uns zu legitimieren, können
wir nehmen und lejen, was wir wollen; und find wir über irgend etwas
im Unklaren, jo ift die Dame — denn Damen fungieren hier zumeijt
ald Beamte — fofort bereit, uns aufzuklären. Sie teilt und u. a. mit,
daß die Zahl der auf den Tiichen liegenden Zeitichriften allein 384 be-
trägt, darunter 33 deutjche. Und doch befinden wir uns in einer mittel-
großen Stadt Amerifas. Wünſchen wir eine beftimmte ältere Nummer
irgend einer Zeitichrift, To jchreibein wir das Gewünschte auf, geben der
Dame den Zettel, und ſogleich wird es uns bejorgt.
Vom Zeitjchriftenraum begeben wir uns in den großen Lejejaal, wo
wir Leute aus allen Ständen und Klafjen beim Studieren und Lejen
finden. Hier figt jemand, der eine Gejchichte der Stadt jchreiben will:
120 Stadt: und Volfsbibliothefen in Norbamerifa.
um ihn gehäuft liegt das gejamte Material, das vom umfangreichen Fo—
Yianten bis zum kleinſten Brogrammzettel aufzubewahren jede amerifani-
ihe Stadt für eine Ehrenpflicht hält; dort fitt ein Nechtsanwalt, und
wieder an einer anderen Stelle ein Arzt, welche Fachwerke zu jchreiben
wünſchen und in der Bibliothef das erforderlihe Duellenmaterial finden.
An jenem Tiſche fit ein Zeichner; er will für ein Familienblatt einen
Artikel über die deutiche Armee illuftrieren. Mit Phantafiebildern aber
begnügt fich der Amerikaner nicht; fie müjjen genau fein. Hier in ber
Bibliothek findet der Zeichner Werke, in denen er fich über feinen Gegen-
ftand beſtens orientieren Tann, um durchaus getreue Bilder zu liefern.
Um einen anderen Tiich fitt eine Gruppe von Arbeitern, die eben einen
in demjelben Gebäude gehaltenen öffentlichen Nortrag gehört haben und
nun über das Gehörte weiter nacdhlefen wollen. In dem Saale jelber
ftehen an den Wänden ein paar Taufend Bände allgemeinen Inhalts,
Konverjationslerifa, Fach-Encyklopädieen ıc.
Will man Bücher benugen, die in den eigentlichen Bücherjälen auf-
geftellt find, jo findet man hierüber gedrudte Kataloge ausliegen, die nad)
Gegenftänden geordnet find. In der Stadtbibliothef zu Chicago enthält
3. B. ein Heft die Bücher aus dem Gebiet der jchönen Künfte, der Tech—
nologie im Gewerbe und den Naturwijjenichaften. Schlagen wir Tech—
nologie und Gewerbe auf, jo finden wir darin mehr als 100 Unterabtei-
lungen, jede mit einer größeren Zahl Bücher; jo zählt z. B. die Ab-
teilung Brauerei und Brennerei 45 Bücher auf, darunter 7 deutjche,
Gärtnerei 100 Bücher, die Gemüjegärtnerei außerdem noch 37, die Obit-
baumzucht 43 Bücher u. ſ. w., Eleftrotechnit 277, worunter allein 60
über eleftrijche Beleuchtung. Bei jedem Buchtitel findet man Buchſtaben
und Nummer, unter der es aufgeftellt ift, und wenn man das Buch Iefen
will, braucht man nur diefe auf einen Kleinen Zettel zu jchreiben, und
diefen einem der auffichtführenden Beamten zu übergeben, jo erhält man
nad ein paar Minuten das Gewünſchte.
Wer fich über die Rubrik des Katalogs, in der er das Gewünſchte
zu ſuchen hat, nicht Mar ift, findet es im Hauptfatalog, der nach einem
höchſt praftiichen alphabetiihen Syſtem eingerichtet if. Darin find alle
Bücher der Bibliothef auf Zetteln eingetragen und die Zettel dem Gegen-
ftande nach alphabetiich geordnet und in Meinen Schubladen aufbewahrt.
Will man 3. B. Bücher über Berlin haben, jo geht man an die Schub-
lade mit 3, blättert, bi8 man an das Wort Berlin kommt, und findet
dort alle Bücher, die die Bibliothek darüber befigt, auf dem Zettel auf-
geichrieben. — Der Hauptlatalog der Stabtbibliotyef zu Bofton, Der
größten in Amerika, wird jährlich um hunderttaufend Zettel vermehrt.
Wil man willen, welche Aufſätze über irgend einen Gegenjtand in
Stadt: und Volksbibliothefen in Norbamerifa. 121
Journalen und Beitichriften erjchienen find, jo giebt es dafür ein ge-
drudtes Gejamtregiiter über alle engliichen und amerikaniſchen Zeitichrif-
ten von 1802 bis 1892, das die amerifaniichen Bibliothefen gemeinjam
nach einheitlichen Plan und mit verteilter Arbeit gemadt haben. Diejes
Rieſenwerk ift 2400 Seiten großen Formats ftarf und enthält zirka
300 000 Nachweiſungen. Es ift ebenfalls ohne jede Vorkeuntnis zu be-
nugen und liegt jelbitverftändlich zum Nachſchlagen aus, Ein glänzendes
Zeugnis der vorzüglichen Organifation der Bibliothefen Amerikas. Der
Schöpfer defjelben ijt der Bibliothefar Dr. W. F. Poole, der die Chi—
cagoer Stadtbibliothef nah dem großen Brande organifiert hat und vor
wenigen Monaten gejtorben und unter riefiger Teilnahme der Bevölkerung
von Chicago begraben worden iſt
Wenn in der Tagesgeichichte beitimmte Fragen auftauchen, z. B. Die
Währungsfrage oder die Zolltariffrage, jo werden eigene Plakate ange—
fertigt, auf denen jämtliche, in der Bibliothek vorhandenen, auf die Frage
bezüglihen Werfe verzeichnet ftehen, jo daß dieje dann aljo noch viel
leichter zu finden und zu erlangen find. Die bei folder Gelegenheit
ſtarke Nachfrage nad) einem bejtimmten Kreis von Büchern wird aufs
ſchnellſte befriedigt.
Neben dem großen Leſeſaal befindet ſich das fogenannte Patentzim-
mer, worin die Schriften über alle neu patentierten Erfindungen aufbe-
wahrt werben und das namentlich von Handwerkern viel bejucht wird.
Das Batentzimmer in Chicago fand in einem Jahre allein 21 696 Be-
nußungen. Verzehnfacht man dieſe Ziffer nur, um die Zahl der Be-
nutzungen im PBatentzimmer der übrigen amerifantjchen Stabdtbibliothefen
vermutungsweife zu finden, jo läßt fich ungefähr abmefjen, welche Summe
von Intelligenz aus dieſem Raume allein hervorgeht.
Nach Befichtigung desjelben begeben wir ung mitteld Aufzuges nad)
dem im Erdgeichoß belegenen Zimmer für die leihweiſe Bücherausgabe
und bewundern dort die Schnelligkeit, mit der das Publikum abgefertigt
wird. Eine Ausftellung von Empfangsbejcheinigungen wird hier nicht
verlangt; die Vorzeigung einer Lejefarte, die jedem in der Stabt An—
jäffigen unentgeltlich ausgehändigt wird, legitimiert zum Bücherempfang;
ein Verfahren, bei dem die Bibliothel wider Erwarten wenig Bücher
einbüßt. Auf der Bibliothek in Chicago wurden im lebten Jahre 988 601
Bände an das Publikum ausgehändigt, von denen nur 50 nicht wieder
eingeliefert wurden.
Das Gebäude enthält jchließlih noch eine große Vorlefungshalle, die
für mehrere Hundert Perſonen Sitzplätze bietet und zu populär-belehrenden
Borträgen benugt wird. Zu dieſen Vorträgen gewinnt man gewöhnlich)
Univerfitätslehrer oder andere hervorragende Fachleute. Sie find gemein-
122 Stadt: und Bolfsbibliothefen in Nordamerita.
verftändlich gehalten und werden mit Übungsfurfen verbunden; während
ihrer Dauer läßt der Bibliothekar die ganze zugehörige Fachlitteratur im
Leſeſaal aufſtellen, damit ſie den Teilnehmern zur Ergänzung des in
Vorträgen und Übungen Durchgenommenen ſtets zur Hand iſt.
Um dem Bublitum die Entleihung von Büchern nod) zu erleichtern,
find an verichiedenen Stellen der größeren Städte Ausgabeerpeditionen
errichtet, jo daß die Entleiher nicht einmal den Weg zum Bibliothefs-
gebäude zu machen brauchen.
Das ift in kurzen Zügen eine Skizze einer amerifaniichen Stadt-
oder ſtädtiſchen Bolksbibliothef, wie fie in den meijten größeren Städten
ausfieht.
Über wenige Dinge ift in Amerifa die öffentliche Meinung jo ein-
hellig, wie über die öffentliche Bibliothek; jchon ihre verhütende Wirkung
Ichlägt man hoch an, da fie viele vom Herumtreiben ab- und vom Pfad
des Lafters oder Verbrechens fernhält; je bejuchter die Bibliothefen, je
leerer die Gefängnifje; indem fie gute Lektüre unentgeltlic) liefert, jchneidet
fie der Schundlitteratur die Wurzeln der Eriltenz ab. Aber fie thut
weit mehr als das: fie ift eine vollwichtige Unterrichts: und Bildungs-
anftalt; jie gilt als gleichberechtigte und unentbehrliche Ergänzung der
Schule Die Eule kann nur bis zu einem gewiljen Lebensalter ihre
Bildung jpenden, darüber hinaus giebt es feinen Zwang, fich weiter zu
bilden, die Schule hat dem angehenden Staatsbürger lefen und Bücher
benugen gelehrt; e8 muß aber dazu Gelegenheit da fein, und die bietet
die Öffentliche Bibliothek jedem in dem Maße, als ihm ein Drang nad)
Bildung innewohnt; fie bietet ihm allgemeine Bildung als Menſch und
Staatsbürger und Fachbildung für feinen Beruf, ob Gelehrter, ob Tech—
nifer, ob Arbeiter. Beſonders in Induſtrieſtädten fieht man die Intelli-
genz und Leiftungsfähigfeit der Techniker und Arbeiter gejteigert durch die
Bibliothek, und die Anficht jteht feit, daß feine ftädtiichen Ausgaben,
außer denen für die Schulen, ſich durch den gefteigerten Wohlſtand der
Etadt jo zurüdzahlen wie die Ausgaben für die Stabdtbibliothef.
Es ift in Amerika eine Ehrenſache jeder Stadt, eine gute Stadt—
bibliothek zu haben; die Bibliothek gilt für gleich notwendig mit Wajjer-
leitung, Beleuchtung und Parkanlagen; und die Steuern, mit denen die
Bibliothefen unterhalten werden, find überall durch Volksabſtimmung
eingeführt; nennt man doch die öffentliche Bibliothek „Die Univerfität des
Volkes“. In den meiften Städten ift die Stadtbibliothek das Zentrum
des geiftigen Lebens. Die Summen, die amerifanifhe Städte für ihre
Bibliothefen verwenden, kommen uns ungeheuer vor. 3. B. Worcefter,
Maſſ., eine Induftrieftadt von 84000 Einwohnern, bejigt ein altes und
ein neues Bibliothefgebäude im Werte von zujammen 700000 ME; das
Stadt: und Bolfsbibliothefen in Nordamerifa. 123
Sahresbudget der Bibliothek beträgt 100000 Mk., wovon 35000 zur
Anihaffung von Büchern verwandt werden. In dem Staate Maſſachu—
jetts, der etwa Halb jo viel Einwohner zählt als die Aheinprovinz, hat
faſt jedes Dorf eine öffentliche Gemeindebibliothef, und die Bibliotheken
diejes einen Kleinen Staates kaufen zuſammen jährlid für achtmalhun—
derttaufend Mark Bücher!! Dabei find die gelehrten Bibliothefen gar
nicht mitgerechnet!
Ebenjo fabelhafte Summen werden den öffentlichen Bibliotheken von
Privatleuten gejchenft oder vermacht. Viele Schenker find in ihrer Jugend
arm gewejen und motivieren ihre Schenkung damit, daß auch fie in ihrer
Jugend fi) in der öffentlichen Bibliothek die Kenntniffe und Bildung
erworben haben, die e3 ihnen möglich machte vorwärts zu kommen und
Ichließlich reich zu werden.
Auch die Staaten jelbit fürdern die Bibliothefen. In den öſtlichen,
am weitelten fortgejchrittenen Staaten bejtehen jtaatliche Bibliothekskom—
milftonen, die einen Fonds zur Verfügung haben und daraus folche Ge:
meinden unterjtügen, die nicht jehr bemittelt find, aber fich verpflichten,
jelbit die gleihe Summe (100 Doll.) für die Gemeindebibliothef aufzu-
bringen. Die Kommilfionen ſchicken auf Wunſch Fachleute an Ort und
Stelle, um die Bibliotheken einrichten zu helfen. Die Staatsbliothek von
New-York leiht außerdem den Gemeinden ausgewählte Sammlungen von
Büchern gegen geringe Gebühr. An derjelben Staatsbibliothek ift auch
eine Bibliothefsichule, auf der junge Leute zu Bibliothekaren ausgebildet
werden.
Die Bundesregierung in Waſhington läßt viele wifjenjchaftliche Werke
in Taufenden von Eremplaren druden und verjendet fie frei an die
Stadt- und Dorfbibliothefen ; 1893 hat fie mit Hilfe des Verbandes der
amerifanijchen Biblivthefare einen Katalog der 5000 beten Bücher druden
laffen, um Städten und Törfern, die eine Bibliothek neu anlegen wollen,
die Auswahl des Beften vom Guten zu erleichtern. Diejer Katalog ift
an Taujende von Behörden und Privatperfonen frei verfandt worden,
Das alles zeigt, wie die öffentliche Bibliothek als nationale Bil—
dungsanjtalt aufs engfte mit dem ganzen Geiftes- und Bildungsleben der
amerifanijchen Nation verfnüpft ift; jchon feit vierzig Jahren giebt es
dort eine ftarke Propaganda für die öffentlichen Bibliotheken, und immer
noch, von Jahr zu Jahr, macht diefe Bewegung, das Public Library
Movement, Fortichritte.
Mas jollen wir nun in Deutſchland davon lernen? Alles das, was
wir brauchen fünnen. So viel Geld wie die Amerikaner haben wir nicht,
aber wir haben jchon mehr alte Sammlungen von Büchern. Im deut-
ſchen Städten giebt es zahlreiche Bibliothefen, jogenannte öffentliche, in
124 Stadt: und Nolfsbiblisthefen in Nordamerifa.
Wirflichkeit aber nicht öffentliche; denn eine Bibliothek, die nur ein paar
Stunden der Woche offen ift, kann man nicht öffentlich nennen; und fo
liegen in vielen Städten Deutſchlands Hunderitaujende von Bänden un:
benußgt und verfehlen ihren Beruf. Die müfjen vor allem benutzbar ge-
macht werden durch verbefjerte Einrichtungen. Aber es ift nicht genug,
hie und da Bibliotheken und Leſeſäle einzurichten: die öffentliche Bibliothek
muß fi auch in Deutſchland den Platz erfämpfen als regelmäßige not-
wendige Bildungsanftalt, die in feiner Stadt fehlen darf. Schon um
der drohenden Konkurrenz Amerikas auf dem Weltmarft willen dürfen
wir fein Mittel liegen laſſen, die Leiftungsfähigfeit unjerer Nation auf
geijtigem und techniichem Gebiet zu heben; der Staat thut genug für
wiſſenſchaftliche Bibliothefen: es ift Sache der Provinzen, die Stadt: und
Landgemeinden zur Errichtung von Bibliotheken anzuhalten und fie darin
zu unterftügen; es iſt eine Ehrenpflicht der Reichen, dem amerifaniichen
Beijpiel zu folgen und durch große Zuwendungen dieje Anftalten zu für-
dern, deren Früchte doch allen denjenigen zukommen, durch deren Mit-
arbeit die großen Vermögen zujammengefommen find. —
Ein vergeffener Erfinder.
Von 6. Höälfder.
An 8. September d. 3. ift in dem Meinen Ort Krippen an ber
Elbe, der dem ſächſiſchen Kur- und Ausflugsort Schandau gegenüber
ltegt, ein müder Mann in die Ewigkeit Hinübergegangen, der wohl ein
bejjeres Echidjal verdient hätte, ala es ihm beichieden geweſen ift: der
SOjährige Mechaniker Friedrih Gottlob Keller, der Erfinder des
Holzihliffpapiers Freilich hat ihn feine Vaterjtadt Hainichen in Sadjen,
wo ein Jahrhundert früher der Dichter Gellert das Licht der Welt er-
blidt hatte, jchon längft mit dem Ehrenbürgerbrief erfreut und der König
von Sadjen ihm das Ritterfreuz des Albrechts-Ordens verliehen. Auch
eine vor zwei Jahren angebrachte Gedenktafel hat einen Felſen bei Krippen
nah ihm benannt, aber dem großen Publikum ift diefer Mann fait
gänzlich unbekannt geblieben. Und dennoch hätte gerade das große Publi-
fum Beranlafjung, mit Dank des Mannes zu gedenken, deſſen Erfin-
dung der Ausbreitung der Geiftesfultur den größten Vorſchub geleijtet
hat. Seine Erfindung mußte vorausgehen, ehe es möglich war, die un-
geheuern Bapiermafjen zu einem erſchwinglichen Preiſe zu erzeugen, welche
heute das Leje- und Bildungsbedürfnis befriedigen helfen.
Trotzdem hier nicht eine gelehrte Abhandlung über die Geſchichte des
Papiers gegeben werden fol, ift es nötig, einen knappen Überblick über
die Stoffe zu geben, welche unfern Voreltern das heutige Papier erjegen
mußten, um das Verdienſt Keller’3 würdigen zu können.
Belanntlih hat jene Pflanze, welche noch heute in Afrika und am
öftlihen Geſtade des Mittelländiichen Meeres aus Siümpfen und feichten
Gewäſſern ihren Stengel oft fünf Meter hoch erhebt, die Papyrusſtaude,
unjerm Stoffe den Namen gegeben. Aber der Erfinder des erjten eigent-
Iihen Papiers ift ein Zopfträger gewejen: Se. Ercellenz der Herr Mi-
nifter Zjan-Lün, der im zweiten Jahrhundert vor Chrifti Geburt den
Aderbau überwadte. Er ftellte aus Baummwoll-Bflanzenfajern einen Brei
ber, aus dem er auf ein ebenes Baftgeflecht jchöpfte, wie man heute noch
die Bogen des jog. Büttenpapiers herjtellt. Bon China aus verbreitete
126 Ein vergeflener Erfinder.
fi) diefe Erfindung im 6. Jahrhundert auf die Tartaren, welche mit den
von der Außenwelt ftreng abgejchlofjen lebenden Bewohnern des Reiches
der Mitte auf ihrem Kriegszug nach Oſten zujammenftießen; von ihnen
erlernten die Japaner das Verfahren der Erzeugung des Bejchreibftoffes.
Auf ihren Eroberungszügen wurden dann die Araber mit ihm befannt,
und 706 bradte ein Araber mit Namen Amru das erjte Papier nad)
Mekka. Bon hier verbreitete ſich die Kenntnis der Fabrikation durch das
ganze Morgenland, über Nordafrifa und Spanien. Das übrige Europa
erlernte erit durch) die Kreuzzüge, Ende des 12. Jahrhunderts, die bedeut-
fame Kunft. In Ravensburg errichtete ein Holbein 1270 die erite Pa—
piermühle in Deutſchland. Schon die Araber hatten ftatt der rohen
Pflanzenfajern baumwollene Lumpen zur Herjtellung des Papiers ver-
wandt, und dieſe wurden aud in den PBapiermühlen verarbeitet. Es
entwidelte fich eine neue Induftrie: in Stadt und Torf zogen die Lum—
penjfammler umher, wie man fie heute noch mit ihren buntbewimpelten
Wägelchen zuweilen findet.
Wenn ich übrigens jagte, daß die Erfinder des Papiers die Ehinejen
gewejen jeien, jo ift das nur injofern zutreffend, ald Europa aus ihrer
Erfindung zuerft Nuten gezogen hat. Die vor mehreren Jahren in El—
Fayım, der mittelägyptiichen Stadt Arfinve gemachten Funde, die unter
dem Namen ihres Erwerbers, des öfterreichiichen Erzherzog ald „Bapy-
rus Rainer“ befannt find und die aus mehr als 11000 Faszifeln be-
ftehen, haben unſere Kenntnis der Geſchichte des Papiers wejentlich er—
weitert. Diefe dem 8. bis 11. Jahrhundert vor Chriſti angehörenden
El-Fayumer Papiere find nad) den Unterſuchungen des Wiener Profejjors
Wiesner nicht aus Baumwolle, jondern vornehmlich aus Leinenhadern
bereitet worden. Aber dieje frühe Kenntnis der Ägypter ſcheint fich nicht
auf andere Völker ausgebreitet zu haben.
Wohl Hatten die Gebrüder Montgolfier in Annonay 1785 die Pa—
pierfabrifation durch Erfindung einer Siebform weiter entwidelt, wohl
war vier Jahre ſpäter die Chlorbleiche durch Berthollet zuerjt angewandt
worden, die Bapiermafchine und das „endloje” Papier durch einen Ar-
beiter der Didot’ihen PBapierfabrif in Eſſonne, Louis Robert, 1799 er—
funden worden, aber das ganze Mittelalter hindurch bis tief in unjer
Jahrhundert hinein blieb das Rohmaterial zur Papierherſtellung dasjelbe:
Lumpen aus Baumwolle, Leinen und Hanf. Freilich hatte Paſtor Schäf-
fer zu Regensburg um die Mitte des 18. Jahrhunderts umfajjende Ver—
ſuche gemacht, den immer mehr fich fteigernden Bedarf an Lumpen durch
andere Stoffe zu befriedigen, und es gelang ihm aud, aus allen mög—
lihen Pflanzenfaſern, jelbft aus kompaktem Holz, Bapier herzuitellen,
aber feine Verſuche fanden nicht die Anerkennung der damaligen „Fa
Ein vergeflener Erfinder. 127
männer”. „Mancher Bapierfabrifant”, jchreibt Wehrs im Jahre 1789,
„wird lieber über Qumpenmangel Hagen und feine Mühle feiern lafjen,
als daß er jelbit darauf denken jollte, aus etivad anderm als Lumpen
Papier zu machen.“
Immer fühlbarer wurde das Bedürfnis nach einem Erſatz für die
infolge der Nachfrage teurer werdenden Lumpen; da fam 1802 aus Eug-
land die Kunde, daß die Heritellung des Papiers aus Stroh gelungen
jei. Der Franzoſe Louis Piette verbejjerte das Verfahren wejentlich, aber
erit um die Mitte unferes Jahrhunderts gelang es, das Stroh chemiſch
und mechaniſch jo zu verarbeiten, daß e3 als Zujagftoff zu den Lumpen
Verwendung finden konnte. Gleichzeitig aber trat auch Keller mit feiner
Erfindung hervor.
Wie ſchon bemerkt, war Keller ein Sohn der Gellertjtadt. Hier war
er am 27. Juni 1816 geboren worden, um einem rechten Erfinder-Schid-
ſal entgegenzugehen. Seine erjte Bejtimmung war, Weber zu werden;
in jeiner freien Zeit aber ftudierte er die Gejete der Mechanik. Da las
er eines Tages im Leucht's polytechniihem Journal von dem Bedürfnis
eines Erjages für die immer mehr im Preiſe jteigenden Lumpen zur
Bapierbereitung. Der Gedanke, etwas zu dem Problem beifteuern zu
fönnen, ließ ihn nicht mehr los. einem Sinnen darüber fam der Zu—
fall zu Hilfe Man erzählt (was man übrigens aud) von dem oben-
genannten Schäffer ebenjo berichtet), daß er ein mal zugejehen habe, wie
Weipen zum Bau ihres Neftes Holzfafern von alten Dächern herbei-
Ichafften. Er unterjuchte das papierartige, weiße Weipenneft, das aus
gejajertem Holzitoff beſtand und bejchloß, Verfuche anzuftellen, aus Hulz-
fajern eine Papiermafje zu erzeugen. Dieſe Verſuche fallen in das Jahr
184), aber die eigentliche Erfindung, der Gedanke, durch Schleifen des
Holzes vertifal der Längsfafer den jog. Holzitoff zu erhalten, gelang ihm
erft drei Jahre jpäter zu verwirflihen. Ein Geſuch an die fächfifche
Staatsregierung um Gewährung einer Unterftügung des Mittellofen aus
Staatsmitteln wurde abjchlägig beichieden. Nun wandte er fi) an deu
techniſchen Leiter der Fiicher’ichen Papierfabriten in Bauten, Heinrid)
Bölter. Der in Völter’3 Gegenwart hergeftellte Holzitoff erregte die
Verwunderung des Fachmannes. Den Wert der Erfindung erkennend,
bot Völter dem Erfinder eine Entſchädigung für die Überlaſſung des
Geheimniſſes an und ſchloß mit ihm einen Vertrag. Gemeinſchaftlich
ſuchten die beiden nun um ein Patent nach, das ſie auch bald erhielten.
Keller war hocherfreut über dieſen Erfolg. In Kühnheide bei Marien—
berg Hatte er mit Aufopferuug ſeines Vermögens eine Mühle gekauft, um
jeine Erfindung zu verwerten, und jo ſah er einer glüclichen Zukunft
entgegen. Da traf ihn plöglih das Unglüd, Eine Hochflut riß die
128 Ein vergellener Erfinder.
Raditube feines Befistums hinweg, und num fehlten ihm die Mittel zum
Wiederaufbau. Als armer Maun verlieh er den Ort, wo er jein Glück
zu finden gehofft Hatte.
Die heutigen Mafchinen zur Herftellung des Holzitoffs oder Holz-
ihliffs beruhen, fofern fie fi) mit der mechanischen Verarbeitung (im
Gegenſatz zur chemiſchen) befajjen, noch auf demjelben Grundjaß, den
Keller anwandte. Er zerfajerte das Holz auf einem Schleifitein und ge-
wann jo die Gelluloje, die fi) zur Bapierfabrifation eignet. Es iſt
übrigens derjelbe Stoff, den die Alten in der Baummolle verarbeiteten.
Jede Pflanze erzeugt Celluloje, ja jie beiteht zur Hälfte aus diefer Zu-
ſammenſetzung von organifchen Stoffen wie Stärfemehl, Dertrin u. |. w.
Hieraus bilden ſich die Zellen, aus welchen ſich der Pflanzenförper auf-
baut. Zur Zeit der Entitehung der Zellen findet ſich die Celluloſe rein
vor; ſpäter wird fie Durch andere Körper, die jogen. Intercellular-Sub-
ſtanz verunreinigt. Dadurch nun, daß man den ganzen Holzitoff mit
den Verunreinigungen der Gelluloje zu Papier verarbeitete, erhielt man
ein erheblich jchlechteres Fabrikat ald das von Hadern erzeugte. Es war
brüchig, fonnte nur schlecht geglättet (jatiniert) werden, verlor durch län—
geres Lagern ſeine Feſtigkeit, nahm unter Einwirkung des Sonnenlichtes
eine gelbe Farbe an und eignete ſich dergeſtalt ſchlecht zum Beſchreibſtoff.
Um dieſen Übelſtänden abzuhelfen, wandte man ſpäter kompliziertere
Methoden an. Die Faſern der Nadelhölzer (Fichte, Tanne und Kiefer)
wurden durch Kochen in Natronlauge unter hohem Druck zu einer zu—
ſammenhängenden filzigen Maſſe umgewandelt, und auch dem dabei auf—
tretenden Ubelitand, daß die ſcharfen Laugen die Keſſelwände angriffen,
iſt ſeit einigen Jahren durch eine Erfindung von Dr. Salomon und Di—
rektor Brüggner bei der großen Papierfabrik zu Kunnersdorf in Schleſien
abgeholfen worden. Heute wird die Holz-Celluloſe durch Kochen, Aus—
waſchen und Bleichen von allen ihr anhaftenden, der Zerſetzung durch die
atmoſphäriſche Luft unterworfenen fremden Beſtandteilen befreit, und Das
mit Beimiſchung dieſer reinen Holzfaſer hergeſtellte Papier iſt von gleicher
Güte wie das reine Lumpenpapier.
Alle dieſe Verbeſſerungen ſeiner Erfindung erlebte Keller noch. Er
ſah, welche Früchte ſein Samenkorn brachte und hätte ſich wohl darüber
freuen können. Seine Erfindung ermöglichte es, daß z. B. die Millionen
von Beitungsnummern zu einem jelbjt für Minderbemittelte erſchwing—
lihen Preiſe alljährlich) hinausziehen können, Bildung und Gefittung ver-
breitend, Belehrung bietend und Unterhaltung gewährend bis in Die
Heinften Orte. Aber fein Lebensichidjal bot wenig Urjache zur freude.
Ihm brachte man nicht lärmende Dvationen, und der 70. Geburtstag,
den man in leßter Zeit jelbjt bei ganz mittelmäßigen Geiftern zur Gele-
(Fin vergejiener Erfinder. 129
genheit für phrafenreihe Huldigungen auserjieht, ging bei Keller, wenn
ich nicht ſehr irre, ganz unbeachtet vorüber.
Die Zeit des eriten erworbenen Patentes war verflojien, ohne daß
die Neuerung eines größeren Erfolges jid) zu erfreuen gehabt hätte.
Wohl forderte Völter den Erfinder auf, mit ihm das Patent auf fernere
Zeit zu erwerben, allein Keller war es nicht möglich, die nötigen Mittel
zu bejchaffen, und jo mußte er es Völter's Güte überlajfen, ihm vom
etwaigen Gewinn eine Entjhädigung zu zahlen. Völter nahm ſich der
Ausbeutung des Patentes emergiih an; er erfand 1854 eine Bapier-
maſchine, nad) deren Prinzip alle in Europa und Amerika befindlichen
Majchinen nocd jest gebaut werden, und während er jo große Einnahmen
erzielte, lebte Keller in dürftigen Verhältniſſen. Sein reger Geift wandte
ſich nun andern Dingen zu, und e3 gelang ihm noch mande Erfindung.
Er fonjtruierte fünftliche Blutegel, eine Steinnußknopfmaſchine u. a. m.
Aber alle jeine Mühen brachten ihm den erhofften Gewinn nicht, und
er blieb bis an jein Lebensende ein armer Mechaniker. Auf einmal,
1384, erinnerten ſich die PBapierfabrifanten jeiner und fchenkten ihm eine
Doje mit 4000 ME. Juhalt! Dann rafften fie ſich nochmals auf und
ließen 1893 den Slingelbeutel im deutſchen Reiche bei den Kollegen, bei
Verlagsbuchhändlern und WBuchhdrudereibefigern herumgehen. Und fiehe
da, mit Hilfe der vielen Millionäre unter den Bapierfabrifanten, die
Keller wahrhaftig eine lang gejtundete Dankesſchuld abzutragen hatten,
fam ein „Kapital“ von 21000 Mark zufammen. Wenn es Seller gelang,
diejes mit 4° anzulegen, jo verdanfte er aljo der Großherzigfeit der
deutihen Bapierfabrifanten das Gefchenf von 840 Mark jährlih! Fürwahr
ein dürftiger Lohn für das Verdienſt Keller’s im Vergleich zu dem Ber-
dienjt, welchen die Bapierfabrifanten aus jeiner Erfindung gezogen haben.
&=
=
Etwas über Beitfhriften- Lieferung.
— —
Es iſt nicht zu verkennen, daß die Zeitſchriften das Schmerzenskind
des Buchhandels ſind. Sie erfordern bei der Expedition ganz beſondere
Sorgfalt, ihretwegen muß die Zahl der Austräger der Sortimenter ver—
mehrt werden und nicht minder werden durch ſie die Frachtſpeſen ver—
größert. Weil die Zeitſchriften 1—2 Tage nach Erſcheinen ſelbſt in den
von Leipzig entferntejten Orten in den Händen der Abonnenten jein jol-
len, fünnen fie nicht mit dem billigeren Frachtgut, jondern müſſen mit
dem teureren Eilgut befördert werden; wenn dann nocd ein Prozentiat
für Berlufte, die wohl nirgends ausbleiben dürften, in Abzug gebracht
wird, dann ift thatjächlich der Verdienft des Sortimenters bei der” Liefe-
rung der Zeitichriften, jelbjt bei einer Rabattierung von 33"/s "o, gleid)
Null; die mit einem geringeren Rabatte gelieferten Zeitjchriften werfen
überhaupt feinen VBerdienft ab. Man wende dagegen nicht ein, daß die
Beitichriften Mittel zum Zweck jeien, d. h. daß die Abonnenten der Zeit-
ichriften auch font Kunden des Geichäfts wären. Um fi) von der Halt-
(ofigkeit diefer Annahme zu überzeugen, jehe man nur einmal die Lilten
der Abonnenten und diejenigen der Kunden durch — wie wenig werden
ſich diefe beiden deden! Was hat aud) 3. B. eine Schneiderin, welche
vielleicht auf 2—3 Modenzeitungen abonniert ift, ſonſt nocd für Bedarf
an Erzeugnifjen des Buchhandels!
In der That, die Beitichriften find für das geplagte Sortiment
eigentlih nur ein notwendige Übel, weiter nicht!
Wir wollen hier nicht an der vielgepriejenen Organifation des Buch—
handels rütteln; wir wollen bier auch nicht unterjuchen, ob diefe Heute
nod zeitgemäß iſt — dazu findet fich vielleicht einmal eine pajjendere
Gelegenheit. Aber joviel möchten wir fonjtatieren, daß bei nur einigem
guten Willen die Zeitfchriften-Verleger ohne Schädigung ihrer eigenen
Intereſſen dem Sortiment entgegenfommen, ihm das Zeitungsgeichäft zu
einem wenn auch nicht bejonders einträglicden, jo doch einigermaßen
erträglichen geitalten könnten.
Etwas über Zeitichriftenskieferung. 131
Bor Allem müßte der Rabatt auf Zeitihriften auf die Minimal-
grenze von 334 ° erhöht werden. Diejes dürfte jelbjt für Zeitjchriften
wie „Daheim“, „Illuſtrirte Zeitung” u. ſ. w. möglich jein, welche ihre
Haupteinnahme durch Injeratbeilagen erzielen, die dem Sortiment durch
das bedeutend gefteigerte Gewicht eine Unjumme von Fradt- und Kom—
miſſionsſpeſen verurſachen. Es ijt Schwer zu verjtehen, wie die Verleger
von Zeitſchriften, welche für ihren Anzeigenteil große Kapitalien einheim-
ſen, dem Sortimenter dafür die Frachtſpeſen aufbürden dürfen, ohne daß
diefer etwas Dagegen machen fann. Welchen Umfang die Injeratbeilagen
— von Weihnachts- und jonjtigen, bejonders reichhaltigen Injeratnum-
mern ganz zu gejchweigen — angenommen haben, mögen die folgenden
Stichproben zeigen: Die Nummer 1 des Jahrganas 1896 vom „Daheim“
enthält von 40 Seiten allein 14 Seiten Injerate A 108 viergejpaltene
Nonpareillezeilen A ME. 1,—, oder zujammen nominell ME. 6048 für
eine einzige Nummer; Nummer 2714 der „Sluftrirten Zeitung” enthält
von 34 Seiten 12 Imjeratjeiten A 148 fünfgejpaltene Beilen à ME. 1,—,
zujammen alfo nominell ME. 8880 —! Wenn diefe Zahlen auch nicht
die Netto-Einnahmen darjtellen, da nicht unbedeutende Beträge für Acqui—
jition und zu gewährenden Habatt abgehen, jo verbleibt den Verlegern
hiervon doc immerhin noch ein weites Sümmchen. Bei den „Fliegenden
Blättern“ mit ihren 8 Seiten Text und durchſchnittlich 16 Seiten Inſera—
ten wollen wir lieber nicht zu rechnen anfangen !
Indeß, die Frage der Einnahmen aus diejer Quelle fann ung gleid)-
gültig jein — der Cortimenter Hat feinen Teil daran; fie jollte nur illu—
jtrieren, wie ungerecht es ift, die Spejen dem Sortiment aufzubürden,
und ferner dem Verleger vor Augen führen, daß allein diefe Thatjachen
genügen müßten, um einen Teil dieſer Spejen durch eine höhere Rabattie-
rung von den Schultern des Sortiments auf die eigenen zu übernehmen.
Daß es möglich ift, dem Sortiment einen etwas größeren Nutzen zu über-
lajjen, Haben die Verleger der „Sartenlaube” vor einigen Jahren und
von „Über Land und Meer“ erjt Fürzlich bewiefen. Zum Schaden dürfte
die Heine Erhöhung des Ladenpreiſes unter gleichzeitiger Verbefjerung des
Buchhändlerrabattes Feiner der Zeitjchriften gereicht fein. Unverſtändlich
aber ijt es, wenn die Verleger von ſolchen Zeitjchriften, welche auf Kol-
portage angewiejen jind, den Ladenpreis erhöhen, dagegen den bisherigen,
durchaus ungenügenden Rabatt von 25 pCt. beibehalten (wie das „Unis
verjum”) und dann noch von „glänzenden Bezugsbedingungen“ im Pro-
jpeft ſprechen können; günjtig werden dieje erjt, wenn eine Kontinuation
erzielt wird, wie fie rechneriich leicht dargeftellt werden kann, in der
Braris aber gar nicht zu erreichen ift.
Wenn es für den Fleinen Sortimenter auch hart ift, ſich mit einem
9%
132 Etwas über Zeitichriften-Lieferung.
geringeren Nuten begnügen zu müſſen als jein mit großen Kontinuationen
begnadeter Kollege, jo ift immerhin die Steigerung des Nabattjates nicht
ungerechtfertigt; joll dieie doch den Sortimenter anfenern, jeine Konti—
nuationen zu erhöhen. Hierbei ijt nicht zu vergeilen, daß dieſe Thätig—
feit bedeutende Opfer an Zeit, Geld und Intelligenz erheiſcht und auch
erjt Früchte trägt, wenn die Staffel des ungünftigen Rabattes überwun—
den ist. Wenn die Rabattjfala mit 33’; pCt. anhebt und bis auf 50 pEt.
jteigt, dann fan auch das Sortiment hiermit zufrieden jein; zuviel darf
von den Berlegern billigerweife auch nicht verlangt werden, denn nicht
alle haben cine ſolch' geficherte, glänzende Poſition wie „Gartenlanbe“,
„Daheim“ und „Illuftrierte Zeitung“.
Um bei den Zeitjchriften wenigitens einen bejcheidenen Nutzen zu
erzielen, ift der Vorfchlag gemacht — und erfreulicher Weile Hat fich
jelbft Herr v. Lipperheide auf diefen Standpunkt gejtellt — bei denjelben
ein Beftellgeld zu erheben, und ihatjählih haben einige Städte bereits
einen Verfuch hiermit gemacht. Wie die diesbezüglichen Verſuche ausge:
fallen find, entzieht ſich unſerer Kenntniß; interejlant wäre es jedenfalls,
Näheres darüber zu erfahren. Aber ein neuer wunder PBunft tritt hier:
bei in Erſcheinung, ein Punkt, der leider nur durch die Mitwirkung der
Berleger gehoben werden kann, der aljo nad) den bisherigen Erfahrungen
wohl faum jemals gehoben werden wird.
Wir wollen hier nicht von der fat überall herrichenden, betrübenden
Uneinigkeit unter den Sortimentern jprechen, welche gleichfalls viel dazu
beiträgt, daß die berechtigten Wünſche des Sortiments beim Verlage fein
allzu geneigtes Ohr finden; wir wollen auch nicht ſprechen von der Kon-
kurrenz, welche dem Sortiment erwächlt jeitens der fich Buchhändler neu—
nenden und Durch die leipziger Buchhändlerfabrifen vermittelit eines ein—
zigen Briefes zu ſolchen geftempelten Gejchäftsleute aller Art — das find
Krebsſchäden des Buchhandels, deren Erörterung an diejer Stelle zu weit
führen würde. Eine noch viel ſchwieriger zu befiegende Konkurrenz taucht
vor uns auf, eine Konkurrenz, die von allen Angehörigen des Buchhan—
dels wie ein Mann bekämpft werden jollte, und die bei einem vwoirklichen
Zulammenhalten des Buchhandels auch unichwer bewältigt werden würde:
Das ijt der Boftzeitungs-Debit. Ws vor einer Reihe von Jahren
die Idee eines Poſtbuchamtes auftauchte und, wenn wir nicht irren,
jelbjt vom Regierungstiiche befürwortet wurde, da erhob der Buchhandel
jeine Stimme, und es gelang ihm, die Bewegung tot zu machen. Da-
mals jah der Verlag ein, daß jeine Intereffen gejchädigt worden wären,
wenn ihm ein jolch’ treuer Bundesgenofje, wie das Sortiment zur Ein»
führung jeiner Novitäten gefehlt hätte; damals hieß es: wir müffen das
Sortiment jtügen und erhalten! Warum ging man, wo der Beitpunft
Etwas über Zeitichriften:tieferung. 133
ver denfbar günſtigſte war, nicht einen Schritt weiter? Warum jchaffte
man damals nicht gleichfalls den PBoftzeitungsdebit ab? Doch, was vor
einigen Jahren verfäumt wurde, kann auch heute noch geichehen.
Durch die Poſt ift jede Zeitichrift des Inlandes zu dem gewöhn-
lichen, vom Verleger feitgejegten Ladenpreije zu beziehen, und nur wenn
der Beiteller die Zujendung (Beitellung) der Zeitjchrift in jeine Wohnung
wünscht, wird ein unbedentendes Bejtellgeld erhoben. Die im Auslande
ericheinenden Zeitichriften können mit einem Heinen Aufichlage ebenfalls
durch die Poſt bezogen werden; dieſer Aufichlag ift jo gering, daß der
deutjche Sortimenter, welcher zwei Kommijfionäre hierbei in Thätigfeit zu
jeßen gezwungen ift, abgejehen von der viel jchnelleren Lieferung der Poſt
auch im Preiſe mit dieſer nicht konkurrieren kann.
Der Bezug durch die Boft hat für die Abonnenten den großen Bor-
teil, daß Ddiefelben die Zeitjchriften viel jchneller erhalten als auf buch—
bändleriichem Wege. Die jo vorzüglich organifierte Poſt verfügt über ein
jo umfangreiches Austrägerperjonal, daß es ihr möglich ift, mit dem erjten
Beitellgange ſämtliche Zeitjchriftenabonnenten bedienen zu Fünnen, was
dem Sortimenter beim beiten Willen nicht möglich ift. Sodann erhält
der Sortimenter die Zeitjchriften per Eilballen, welche jchon jpäter am
Beitimmungsorte einlaufen als die gleichzeitig aufgelieferte Poft, auch
werden die Zeitichriften, welche bei der Poſt beftellt find, meiftens zur
jelben Zeit zur Post aufgegeben, zu welcher die für den Buchhandel be-
ſtimmten Eremplare den „Heinen“ Umweg über Leipzig antreten, wodurd)
mindeitens ein Tag verloren geht.
Das find unbeftreitbare Thatfachen, über welche wir uns nicht täu—
ſchen dürfen, die aber das prompt zahlende Publitum der Poſt zuführt
und dem Buchhandel entfremdet, und gerade diefes könnte der Buchhandel
gebrauchen. Wir wollen nicht behaupten, daß alle Zeitjchriftenabonnenten
des Buchhandels jchlechte Zahler ſeien — das wäre über das Ziel hin-
ausgeſchoſſen — aber daß Viele darunter find, von denen die fälligen
Abonnementsbeträge jehr langſam eingehen, und daß Vielen ein Kredit
eingeräumt werden muß, nur um überhaupt liefern zu dürfen — wer
möchte das zu bejtreiten wagen! Anders die Poſt: dieſe hält fich die
Kategorie der ſchlechten Zahler fern, fie liefert Alles, alfo auch die Zeit-
Ichriften, nur gegen Vorauszahlung. Auch bejorgt fie feine Probenum—
mern, hierzu ift der Sortimenter wieder gut genug. Will Jemand auf
der Poſt eine Zeitichrift beftellen, jo muß er diejelbe kennen, oder das
Riſiko tragen, falls fie nicht das Gewünfchte enthält; beim Sortimenter
dagegen wird von unbefannten Zeitichriften ftet3 vorerft eine Probenum-
mer bejtellt, welche dieſer in Anbetracht der zu erwartenden Beſtellung
und troßdem ihm die Beforgung Arbeit und Koften verurjacht, gratis
134 Etwas über Zeitichriften:Lieferung.
liefert, um nachher vielleicht zu erfahren, dab die Beitellung der Bolt
übergeben wurde. Nicht immer geht es jo — aber dod) häufig genug.
Dadurch ift das Sortiment thatjächlih zum Handlanger der Poſt und —
des Berlegers herabgemwürdigt.
Soll nun der Vorſchlag, daß die Sortimenter ebenfalls ein kleines
Beitellgeld erheben, durchgeführt werden, jo dürfte die größte Mehrzahl
der jeßigen Abonnenten, welche gerade deshalb jebt nicht bei der Poſt
beitellen, weil fie beim Sortimenter die Zeitjchriften ohne Aufichlag zu-
geftellt erhalten, gleichfalls die oben näher ausgeführten Vorteile des
Boftbezuges jehr bald erfennen und ſich der Poſt zuwenden; das Eorti-
ment hätte dann durch diefe Maßregel den Schaden.
Dagegen giebt e8 nur ein Mittel, nämlich die Aufhebung des Poſt—
debit3 für alle wöchentlich einmal oder jeltener ericheinenden Zeitichriften;
da diefe Mafregel, welche allein im Stande wäre, dem Sortiment in
betreff des Beitellgeldes freie Hand zu geben, aber nur aus der Initiative
des Berlegers hervorgehen könnte, fo ilt die Hoffnung auf Erfüllung
diejes nicht unberechtigten Wunjches leider feine jehr große.
Die Berleger haben fich bisher hiergegen gewehrt, ja eine Diesbezüg-
liche, jehr gemäßigt gehaltene Anregung, welche der Verfaſſer diejes vor
einigen Jahren zweds Aufnahme an das Börjenblatt jandte, wurde ala
nicht aufnahmefähig zurüdgefandt! Wenn ſolche den ganzen Buchhandel
der Provinz bewegende Fragen für das Börjenblatt nicht aufnahmefähig
find, dann ift es wirklich im Buchhandel weit genug gefommen! Warum
wurde die Aufnahme verweigert? Lediglich, weil es dem VBorftande des
Börjenvereines nicht konvenierte, daß die Verleger aufgefordert wurden,
einmal Chorgeift zu zeigen, die Standesgenofjen im Sortiment zu unter:
ftügen und zu jchüßen vor einer Konkurrenz, gegen deren Macht fie nicht
allein anfämpfen können!
Und dabei ift noch nicht ohne Weiteres erwiejen, daß der Verleger
thatfächlich Schaden erleidet, wenn er den Poftdebit aufhebt. Es ift nicht
anzunehmen, daß die guten Poftabonnenten, wenn fie erfahren, daß ihre
Beitichriften vom nächiten Vierteljahr ab nur noch durch die Sortiments-
buhhandlungen ihres Wohnfiges zu beziehen find, nun jagen jollten:
Dann geben wir das Abonnement überhaupt auf! Im Gegenteil, jebt
müfjen fiejelbft oder durch einen Boten auf der Poſt den kleinen Abon-
nementöbetrag einzahlen, während der gefällige Sortimenter darüber nad)
Beginn des Duartales eine Quittung ins Haus ſchickt. Bei der Bolt
muß das,Abonnement alle Vierteljahre durch Zahlung erneuert werden,
der Sortimenter erwartet feine ausdrüdliche Erneuerung des Abonne-
ments, jondern liefert bis zur Abbeitellung weiter, der Abonnent hat alto,
Etwas über ZeitichriftensLieferung. 135
nachdem er einmal jeine Beſtellung aufgegeben Hat, nichts weiter zu thun
— er erhält jeine Zeitichriften ſtets prompt weiter geliefert.
Da mit nur ganz wenigen Ausnahmen jämtliche Zeitichriften nur
gegen bar geliefert werben, jo ift der Verleger auch gegen etwaige Ver—
luſte gefichert.
Man jollte wirklih annehmen dürfen, daß die Verleger, jelbjt wenn
fie dem Buchhandel einen etwas höheren Rabatt einräumen müſſen ala
der Boit, diejes Feine Opfer bringen würden, um ſich eine danfbare
Kundichaft von der Ausbreitung und der Bedeutung des über ganz
Deutihland ausgedehnten, in jedem Heinen Orte anſäſſigen Sortiments-
buchhandels dienftbar zu machen! Die Poſt agitirt nicht für irgend eine
Beitichrift, wie e3 das Sortiment thut, fie nimmt nur Beſtellungen ent-
gegen und führt diefe gegen Barzahlung aus; das Sortiment würde ſich
aber für dieſes Entgegenfommen der Verleger erfenntlich zeigen und den
ihm durch Aufhebung des Boftdebit3 der Zeitjchriften zufließenden be-
deutenden Zuwachs durch freudige und energiiche Thätigkeit belohnen.
Sache der Kreis- und Ortsvereine iſt es, diefen Punkt, der vermöge
jeiner einjchneidenden Bedeutung für das geſamte Provinzialfortiment
wohl wert wäre, in wohlwollende Erwägung gezogen zu werden, energilch
aufzugreifen und durch eine umfichtige Agitation fr die Aufbefjerung und
Lebensfähigkeit des Sortiments einzutreten.*)
G. Temps.
*) Wir gaben dieſem Aufſatz ohne weitere Kritik Raum und bitten gegebenen
Falles um Gegenäußerungen. Die Redaktion.
—
Dh. 3,50."
* 2 *
Kine Nach-Weihnachtsgeſchichte zur Beherzigung vor Weihnachten.
Für Einige verfaßt von Otte von Leirner.
Es war am 28. Dezember des Jahres 1889. Der Nenner U. F.
H. Meyer, früher Beſitzer des von ihm jelbit begründeten Hauſes A. F.
H. Meyer — in der Gejchäftswelt als ff. bekannt — ſaß in feinem jo
genannten Arbeitszimmer. Es war natürlid) in „Renaiffance” eingerid):
tet, alles jehr reich geichnikt; die Sitgelegenheiten mit Leber überzogen,
die Wände ebenfalls; die Dede in Holztäfelung. Ein großer Bücher—
ſchrank vermochte die Hauptwerke aller großen Geifter zu faſſen, enthielt
aber nur Zigarrenfiften; ein grünjeidener Vorhang entzog dieſe aber den
Bliden alltägliher Menſchen. An dem einzigen, jehr breiten Fenfter ein
riefiger Schreibtiih; alle Gerätichaften waren aus Malachit, weshalb fie
U. F. H. Meyer niemals benutzte — in einer dunklen Ede jtand beichei-
den ein Tintenfläichchen und lag ein Federhalter gewöhnlichiter Art. Bor
dem Schreibtiich ein großes, filbern jchimmerndes Bärenfell, auf dem Fell
ein Zutherftuhl, auf dem Stuhl die wohlhabend abgerundete Gejtalt des
Herrn U F. H. Meyer; auf den dien Säulen der Beine ein Rundbau
von gebietendem Umfange, entzüdend im Schwunge der Linien, die fidh
janft nad) jener Stelle hin verloren, wo ein Hals hätte jein können —
jo aber jaß Kugel auf Kugel; die Kleinere den Kopf darjtellend. Aud)
bier alles in gemütvoller Abrundung, Kinn Nr. 1 und Nr. 2, die Wan-
gen, die Augen und die Naſe. Alles im Schimmer einer leijen, verflä-
renden Röte und durchgeiftigt durch volllommenes Selbitbehagen, durd)
jene Zufriedenheit, die uns alle Weltweilen von uralten Zeiten her als
das höchſte der Erdengüter hinftellen. Und A. F. H. Meyer war weile,
er durfte es fich bei jeinem Einftommen von 40000 ME. auch erlauben.
Ich bitte um Verzeihung, daß ich mich bei der Beſchreibung jeines
Außeren jo lange aufgehalten habe. Aber ein derartiges, in Form und
*) Aus „Laienpredigten“, Berlin, Schall & Grund,
Mt. 5,50. 157
Inhalt jo ſchön abgerundetes Dajein hat etwas ungemein Wohlthuendes.
Belonders für einen Dichter.
Herr Meyer entnahm einer Lade ein großes Bud), einer anderen cin
Päckchen jorgjam geordneter Rechnungen, unter denen allen „dankend er-
halten” jtand. Unbezahlte Rechnungen gab es für den Glüdlichen über:
haupt nit. Dann Holte er nicht ohne Mühe das Flächen und den
Halter aus der dunklen Ede, ftellte das erjtere neben das Maladit-Tin-
tenfaß und tete die Feder hinter das umfangreiche rechte Ohr, nachdem
er fie vorher bedächtig eingetaucht hatte.
Sodann entnahm er einem veritedten Fach eine große Geldſchwinge
und zählte das in ihr vorhandene Geld nad. Er hatte, als für Weih—
nachtsgejchenfe beftimmt, einen Betrag hineingelegt. Die, Ausgaben zu
dem Reit gerechnet, mußte fid) der volle Betrag ergeben. Er war jtets
gewohnt, daß es auf den Pfennig Eappte.
Und nun begann er feine Eintragungen Rechnung nad) Rechnung.
Für meine Fran.
Belzmantel . . . 2... ZU M.
Morgenrod von Berfon en
„Es tft unglaublich”, murmelte er, „was diefe Weiber verbrauchen!
Und gar für einen jolhen PBlunder, wie ein Morgenrod!”
Ein Delikateflenlorb . . . 2 2.2... 75 ME.
Ein befriedigtes Lächeln arbeitete fich bei diefer Eintragung durch
das Fett der Wangen. Er hatte lauter jolhe Sachen gewählt, die eigent-
li) nur er jelber bejonders gern af.
Eine Marzipantorte . . » » 2.40 ME
12 Baar Handihuhe. - ». » . . 60 .
Kleinigleten . » 2 2202000. 4850 „
Für meine Tochter:
Eiskoſtüm mit — und ii) 260 Me.
Balllled . . . .. 10 „
RE u en 6
Sortie de ball . . . 2 2. 2.2.0.0
„Sortie*, murmelte er und zug nachdenfend die Augenbrauen zujam-
men, jo gut es eben ging. „Was it denn das für ein Zeug? Wird
wohl aud) jo ein Kleidermumpig jein. 75 Mark! Wahres Sündengeld!“
Zwei Möpje aus ächter Bronze. . . 56 ME.
12 Paar Handidue . » » 2.2.60 „
Kaſten mit — u. J - ar
Bu... . 5 200: >;
133 ME. 3,50.
Sonftige Poſten.
Kleiderſtoffe für die beiden — . . 90 Me.
PBefferluhen . . . DE
Dem Portier... 40,
DIE DE: 5 #002 See
Dem Kutiher -. . . 2 2 2 220. „
Stubenmädden . . > 2 2.2.2.60 „
Chriftbaum-Auspuß . . . 2
Für 3 Wohlthätigkeits-Vereine ie 30 Dit. 0 ,
Bei dem Niederichreiben der lebten Ziffer nidte er auerkennend.
Nun begann er die Reihe zujammen zu zählen und rechnete die noch in
der Schwinge vorhandenen 19 ME. dazu. Mißmutig fchüttelte er das
Haupt: es fehlten an den 2000 ME., die er für die Weihnachtsausgaben
beftimmt Hatte, 3 ME. 50 Bf.
Er rechnete nochmals, und zum dritten Mal, juchte im Schreibtiich-
fache, ob fich vielleicht eine Rechnung verjchoben habe — alles vergeblich).
Wofür mochte er diefe 3 ME. 50 Pf. ausgegeben haben? Er fann und
ſann, aber er konnte fich nicht entjinnen. Wohl mußte es eine unbedeu-
tende Sleinigfeit fein, denn für dieſen Betrag befommt man ja nichts
Bernünftiges, aber was — was? Ein Anderer hätte vielleicht Teichtfinnig
bingejchrieben: „Noch etwas — 3 ME 50 Pf.” und die Rechnung ab-
geſchloſſen. Dazu war aber A. F. H. Meyer ein viel zu gediegener
Menſch, er mußte Kar jehen.
Nicht ohne Mühe erhob er fih und jchritt nach dem Elfenbeinfnopf
der eleftriichen Schelle.
Das Stubenmädchen jtedte den Kopf herein: „Herr Meyer befehlen ?”
„Meine Frau joll jo gut jein und herkommen.”
Einige Minuten darauf erſchien im Weihnachtsmorgenrod, ebenjo
rund gegliedert wie ihr Gatte, mit jehr gutmütigem Geſicht die Ge-
wünſchte, und er weihte fie in jeine quälenden Zweifel ein. Beide durch—
forihten nun die Rechnungen und dann ihr Gedächtnis, aber weder Heini
noch Malchen vermochten das Rätjel zu Iöjen.
Endlich meinte fie: „Weißte, Heini, vielleicht weiß es Lilihen. Ich
werde fie Dir herichiden.”
Und bald erichien auch Lilihen, etwas mißgeftimmt, denn fie war
eben im Begriff gewejen, eine Freundin abzuholen, um mit ihr nach der
Rouffeau-Injel zum Eislauf zu gehen. Die kleine Pelzmütze etwas jchief
auf dem Krauskopf, in der prallfitenden, pelzverbrämten Jade und dem
lächerlich winzigen Muff ftand fie da, jeder Zoll eine Erbtochter.
„Bas willſt Du denn, Bapa? Ich Habe wirklich nicht viel Zeit.“
Er mufterte fie wohlgefällig. Der Anzug war nicht billig, aber er
ME. 3,50. 139
ftand dem Töchterchen wunderbar zu Geſicht; zu den dunklen glänzenden
Augen und Brauen jhuf das helle Belzwerf einen Gegenjat, der den
Reiz des etwas feden Geſichts hob.
„Run?“ wiederholte fie mit fichtlicher Ungeduld.
Der Vater fette ihr die wichtige Angelegenheit auseinander uud
fragte ſchließlich, ob fie fich nicht noch eines Gegenstandes entfinne.
Sie lachte hell auf.
„Aber Papachen, wegen 3 Mi. 50 Bf. jo viel Lärm! Das it
wahrhaftig nicht chic!”
„Shic, was die! Ein Gefhäftsmann muß vor jeder Mark eine Ver:
beugung machen, ſonſt bringt er es nie zum Thaler. Jetzt höre zu!”
Er las ihr — ohne die Preije zu nennen — die Gejchenfe vor.
„Sit das Alles ?” .
„Sch weiß nichts jonft“, erwiderte fie ungeduldig. „Leb wohl, Bapa!“
An der Thür kehrte fie ſich plöglich um.
„Ach, ja! ja! Ich weiß. Noch das Bud).
„Richtig, das Buch“, wiederholte er mit leuchtenden Augen: „Die
Wallenfteiner von Bär.“
Lilihen lachte laut auf.
„Rein, die Bappenheimer von Wolff.“
„Ra, das iſt ziemlich gleich.“
Lili war verfchwunden, Herr U. F. H. Meyer aber, nun beruhigt
in feiner Seele, trug noch die Worte ein: „Ein Buch vom Antiquar
Sielius . . . . Mt. 3,50.“
>
Neue Vücher.
— —
Der deutſche Buchhßandel der Neuzeit und feine Arifis von
Auguſt Schürmann. Halle a. S. Verlag der Buchhandlung des Waiſen—
baufes. 1895. Preis DE 4,—.
Der Kampf, der auf allen Gebieten des öffentlichen Yebens entbrannt it,
nicht zulcht aus den sozialen Berbältniiien erwachſen, bat jo manche Ubel—
ſtände gezeitigt, und die weiterdenfenden Tritiich beanlagten Kollegen und fonitige
bejorgte Gemüter möchten diefe Mängel aus der Welt ſchaffen. &s ift aber mit der
Kritik des Beſtehenden immer eine gewagte Sade, wenn man nit im Stande
it etwas in Vorichlag zu bringen, deſſen Vorzüge jedermann klar vorliegen. Das
aber ift gerade im Buchhandel, der mit den fozialen Berbältniiien jo eng ver:
wachen tft, Sehr ſchwierig. Manche Phaſe bat unjer Beruf im Laufe der Zeit
schon durchgemacht und manche wird er noch zu überwinden haben. Die Beichleu:
nigung derfelben hängt von der Neformbeivegung ab und die Früchte, die dieſe
zeitigt, it: Die Zukunft unferes Standes. Der jpringende Bunft um den fich
ſchließlich aber doch alles drehen wird, iſt die Frage des Großbetriebes. Dagegen
ſind die Reibungen zwiſchen Verlag, Sortiment und Antiquariat, einſchließlich der
Scleudereifrage, nebenfählider Natur und werden in der Yöfung der eriten
Frage ihre Erledigung finden.
(5 liegt uns nun als ein neuer Beitrag zur Zeitgeichichte des Buchhandels
ein neues Bud von dem als Fahichriftiteller rühmlichit befannten Shürmann
vor. Die vielen Freunde des im ganzen Buchhandel vorteilhaft befannten Ber:
faſſers werden demielben dankbar jein für diefe neue Gabe. Nicht minder aber
der große Kreis der jüngeren Kollegen, dem die Dinge und Vorgänge, die Schür:
mann uns bier in der Haren liberfichtlichkeit daritellt, teilweiie nur unzuläng-
lich befannt, teilweife aber geradezu ein Moiterium find. Mit der Unparteilich—
feit, die wir bei Schürmann gewohnt find, finden wir in dieſem intereflanten
Buche eine Reihe der bedeutenditen Kragen, die unfer Berufsleben berühren,
analyfirt, nicht ohne daß der Berfafler uns als erfahrener Praktiker feine Mei:
nung dagegen ſtellt.
Das Buch gliedert jih in folgende Abteilungen: 1. Der deutiche Buchhandel
der Neuzeit. 2, Einleitung der Reform. 3. Die Statutenänderung des Börjen:
vereind. 4. Die PVerfehrsordnung. 5. Die Verlagsordnung.
(55 würde den und zugemeilenen Raum nun weit überjchreiten, wollten wir
auch nur den Verſuch machen, näher auf die Einzelheiten diefer Abteilungen ein:
zugehen, wir müffen uns vielmehr damit begnügen, dem Lejer unſer Geſamt—
urteil zu unterbreiten, ihm überlaflend, das Werk jelber eines näheren Studiums
ju würdigen. Der geichäftlichen Einzelheiten in dem Buche find fo viel und zu
Neue Bücher. 141
welcher Anficht, Herfömmlichkeit und Regel ließe fih nicht etwas jagen? Der
Streit um die verjdiedenen, von diejer und jener Seite immer wieder angefoch—
tenen buchhändlertihen Satungen und Uiancen nimmt wie natürlich einen brei
ten Raum des Buches ein und nicht mit Unrecht, denn hierin auf den gegen:
überjiehenden Seiten jachliche stlarheit zu bringen, ift dDurdaus von Nöten und
aus diefem Grunde ſchon iſt die Arbeit Schürmanns eine jehr verdienftlice.
Der Verfafler iteht auf dem Boden der alten Ordnung: der feftitehenden
Ordinärpreiie u. j. w., aber er zieht doch auch gerechterweiſe die Ideen der Jün—
geren in gebührende Berüdjichtigung. Daß das Urteil aber in allen Zufunfts-
fragen vorfidhtig abgewogen jein muß, erhellt wohl aus dem Umftand, daß eritens
der deutiche Buchhandel (jeine Organifation und jeine Ufancen) doch im Xaufe
der Zeit mannigfache Wandlungen durdgemadt bat, zweitens daß im Ausland
andere (ob beſſere wollen wir hier nicht weiter unterfuchen) Verhältniſſe herrſchen
und daß drittens, jollte einmal eine Neuerung eintreten, die Bewährung derjelben
doch ohne Frage von den zeitlichen VBerhältnifien abhängen wird, in denen dieje
Wandlung in’3 Leben tritt. Wir müflen dem Verfaſſer aber Dank wiſſen, daß
er feine fruchtloſen Hypotheſen aufitellt, fondern in allen Fällen mit den gegebe:
nen Thatiachen rechnet.
Abhandlungen, wie: Der Uriprung des Kundenrabattes, Modernes Anti:
quariat, Barfortiment, Schleuderei, Der deutihe Buchhandel ein biftoriiches Ge-
bilde, Die Verkehrsordnung, Die Nabattfrage, Verlagsordnung, Urheberrecht u. ſ. w.
werden wohl jeden Kollegen, dem das Bud mehr als „Waare“ gilt, intereffieren.
Möchten die Herren es aber nicht bei dem Intereſſe bewenden laſſen, möchten jie
diefes Bud einmal gründlich durdjitudieren, man würde dann nicht, wie das jeht
vielfah der Fall tft, jo viele Berufsgenojien finden, denen die Zeitfragen unjeres
Berufes bedauerlicer Weife noch unbefannte Dinge find. Hn.
Krieg und Sieg 1870/71. Gin Gedenkbuch herausgegeben von Dr,
D. v. Pilugf:Harttung. Verlag von Schall-Grund Berlin, geb. ME. 6.—.
Unter allen die großen Jahre 1870/71 zum Vorwurfe habenden Geſchichts—
werfen darf das hiermit angezeigte, ald die vornehmite Erſcheinung auf diefem
Gebiete gelten.
Sowohl an Umfang, wie Inhalt und Ausſtattung unterfcheidet fich dieſes
Werk weſentlich von den übrigen ähnlichen Erjcheinungen. Sein Umfang beträgt
an 750 Seiten Pradt-Quartformat. Sein Inhalt wurde nicht von einem Gin:
zelnen bergeftellt, der wohl oder übel dem gewaltigen Stoffe nicht überall ge:
wachfen wäre, jondern er wurde in eine Menge fachlich gefonderter Teile zerlegt,
und jeder einem dafür befonders geeigneten Bearbeiter überwiefen; faſt aus-
nahmslos Männern, welche den zu jchildernden Abſchnitt mit durchlebt hatten
und zwar in einer Stellung, die Urteil und Ilberblid ermöglichte. Der Mehr:
zahl nad jind die Herren Mitarbeiter Generäle, die hiſtoriſche Finleitung wurde
von Profeſſor Dr. v. Pflugk-Harttung, die Politik von Profefjor Flathe, Verfailles
und die Hauptquartiere von Profeflor U. v. Werner geichildert, der als Künitler
in der Umgebung des damaligen Kronprinzen von Preußen überall aus eriter
Quelle ſchöpfen konnte. Generallieutenant v. Boguslawski jchrieb „Die beider:
jeitigen Heere und Hilfsmittel.“ Die Mehrzahl der Abhandlungen darf als
geradezu bedeutend bezeichnet werden; fait alle enthalten vollfommen Neues,
Selbiterlebtes, Selbitbeobadhtetes. Ohne eine derjelben beionders hervorheben zu
tollen, verweifen wir nur auf die Abhandlung des Generals der Infanterie und
langjährigen bairiihen Kriegsminijters Herrn v. Heinleth, der als Generaljtabs-
142 Neue Bücher.
chef v. d. Tanns wie fein zweiter geeignet war, Die ſchweren Kämpfe gegen die
Loire-Armeen zu Schildern und deffen gemüt: und phantafievolle Daritellung
noch dadurch bejonderen Reiz und Wert erhält, daß es die lebte Arbeit des hoch—
verdienten Militaird war, die er, franf an ſchwerem Herzleiden, nicht mehr zu
vollenden vermochte. Die Ausftattung des Werkes ift überaus reidh und vornehm
zugleih. Herausgeber und Verleger haben ſich hier die Arbeit nicht leicht gemacht;
im Gegenteil, fie haben den Beweis geliefert, daß fie vor feiner Schwierigfeit
zurücdicheuten. Mit einem Worte „Krieg und Sieg 1870/71” bietet gleichzeitig
ein Spiegelbild der großen Zeit, in dem die beiten Kräfte aus Nord und Süd
zu einheitlicher Leiftung zufammengefaßt wurden, es ijt ein höchſt gediegenes
MWerf, würdig jeined großen Gegenitandes, unfraglid ein Werk von bleibendem
MWerte und der Sortimenter wird wohl daran thun, dem Werke feine bejondere
Aufmerffamkeit zu widmen, denn Krieg und Sieg ift ein Bud von dauernder
Gangbarfeit, ein Werf, das allmählich Gingang finden wird in jede Familie,
jede Bibliothef, mit einem Worte, es wird zu einem eiſernen Beitandteile einer
jeden gut national gefinnten Samilie werden müflen. Karl Sr. Pfau.
Dwanglofe Runoͤſchau.
Litterariiche Gedenktage und Ereigniſſe, wie fie ſich gerade in ben lebten
Wochen häuften, laden gewöhnlich dazu ein, Einfehr zu halten und den derzeitigen
Stand der Dinge einmal mit Fritiihem Bild au betrachten. Noch dazu, wenn
man in Leipzig refidirt, das ald Buchhändlerſtadt und Litteraturzentrum gilt,
wofür es vor undenklichen Zeiten einmal ſozuſagen allergnädigftes f. f, Trivileg
und Patent erhielt. Und erft redt, wenn man fontraftlich verpflichtet ift, dem
Leier allmonatlid eine „zwanglofe Rundihau” als piöce de resistance zu ſer—
vieren .. .
Nein, Leipzig ift jchon lange feine Lilteraturftadt mehr. Seine litterariiche
Kolonie, einft jo blühend und berühmt, ift entvölfert. Die Einen find geftorben
und verzogen, die Andern taugen nichts. „Nur eine hohe Säule zeugt von ver-
ihtwund’ner Pracht — aber fie tft auch ſchon geboriten, fie fchreibt Kritiken für
das Feipziger Tageblatt: Rudolf von Gottihall, der vor einem halben Jahr:
hundert mit „Liedern der Gegenwart“ in die deutfche Literatur eintrat. Man
glaubt gar nicht, wie viel in Leipzig verlegt und wie wenig in Leipzig gefchrieben
wird. Die Leipziger Verleger beziehen ihre Manuffripte von auswärts, wie die
Hausfrauen die holſteinſche Butter. Kleinparis jelbit, aber hat aufgehört, feine
Yeute zu bilden; e8 handelt mit Leder und Schweinsborften; ed wird MWeltftadt
und beihäftigt fih-mit Hebung des Meß- und Fremdenverkehrs; es treibt eine
beiendere Sorte Bolttif, die die Parteiführer in Berlin rein zum Verzweifeln
bringt; ed mufizirt und es fpefulirt in Bauftellen; und mie der ehrenfeſte alte
Leipziger Kramermeifter ausgeftorben ift, wie der Stabtjoldat und der gelbe
Ehaifenträger nur noch vergangene Größen find, jo ift auch der Leipziger „Litterat”
verihmwunden. Und mit ihm iſt die Zeit dahin, wo bejonders Wert darauf ge:
legt wurde, daß auf einem Vändchen Anfängerlyrif Leipzig ald Drudort genannt
war. Heute hat Pinneberg als Litteraturftadt genau jo guten Ruf und Klang,
wie Pleißathen.
Entſchuldigen Sie, id wollte nicht über das Thema „Leipzig als Litteratur-
ftadt” Sprechen, fondern über Dumasden Jüngeren, der amd. Dezember
in Marley gejtorben ift und den wir alle auf den Knieen gehalten haben. Ich
entiinne mich noch ganz genau der denfwürdigen Tage meiner LXehrlingszeit, da
ih, anſcheinend eifrig über die Geihäftsbücher gebeugt, zitternd vor Spannung
die „Sameltendame" las, die aufgeichlagen auf meinen Sinieen lag; das ging jo
lange, bis der gejtrenge Chef fie mir in einem unbewadten Augenblid hervor:
langte und empört an den Kopi warf. Bereitd damals wurde mir flar, daß der
Buchhändler in feiner Begeiiterung für schöne Litteratur nicht zu weit geben
darf, und daß es immer beffer ift, Bücher ;u verfaufen ftatt au lefen. Seitdem
habe ich mit der Gamelien-Dame ganz gute Geſchäfte gemacht, und ala ich dieſer
144 Amanglofe Rundichau.
Tage in der Zeitung las, dab nun auch des alten Dumas Sohn Alerander,
„der Teufelsjunge*, das Zeitliche gejegnet, fonnte ich mic einer gewiſſen Rührung
nicht eriwehren. Er gehörte übrigens zu den Peuten, die ein Ding mit feinem
rechten Namen nennen, und jeine graziögcirivole Kritik ſcheute ſich nicht einmal
vor dem „alien Dumas”, von dem er einjtinals behauptete: „Dein Vater iſt cin
großes Kind, das mir geichenft wurde, ala ich noch jehr jung war,” Die hiſto—
riſche Serectigfeit erfordert allerdings, hinzuzufügen, daß der „alte Dumas” ein
jebr Iuftiger Herr war, deſſen Lebenswandel noch in fpäteren Jahren dem Eohne
zumeilen ernite Bedenken einflößte Als treuforgender Sohn lad der junge
Tumas dem Alten denn auch oft genug die Leviten; aber das große Kind war
unverbefjerlich, und wenn der Junge jertig war, pflegte der Yater burichifos au
jagen: „Weißt Du was — nun borg’ mir noch fünf Franfs, dann find wir quitt!”
Was Dumas der Jüngere, außer der Erziehung feines Waters, noch weiter
für die Yitteratur geiban hat, darüber wolle man zujtändigen Ortes fih unter:
richten. Es giebt drei Haupiquellen dafür: den Brodhaus, den Meyer und den
Bierer. Ich balte mich nicht für verpflichtet, diefen Dreien bier Konfurrenz
zu machen.”
Das Gefühl der Wehmut, das mich jüngft beihlich, galt übrigens nicht blos
Dumas dem Jüngeren, jondern mehr nody der ganzen Zeit, der er angehörte.
Es war das jene Seit, wo Bücher noch gefauft und geleien wurden, die „gute
alte Zeit” für den Buchhändler. Mit welher Spannung erwartete man damals
„das neuejte Werf aus der Feder des berühmten N, N.“ MWocenlang war es
ihon vorausbeitellt, und von Denen, die fein Geld für Bücher übrig batten,
wurden die Yeihbiblioihefen geitürmt. Der Zufall will es, daß einige Wochen
vor dem Hinfcheiden der populätften Lieblinge der Leihbibliotheken (am 12,
Dftober) ein ihrer ehrivürdigften und älteften Bertreter jeinen 80. Ge-
burtötag feierte: Herr J. M. Schenf in Brag. Derjelbe ift Beſitzer wohl einer der
größten deutſchen Yeihbibliothefen. Denn er herricht über eine Armee von 7000) Bän-
den. Auf ihn beziche id mich, wenn ich von der „guten alten Zeit“ des Bud:
händlers jpreche, wenn ich meine ftile Wehmuth über den Heimgang des jüngeren
Dumas und der dur jeine Werfe gefennzeichneten Pertode motiviren will. Wie
oft mag der „alte Ehen!” die „Gamelien-Dame” oder den „Roman der Frau“
von dem Geftell beruntergenommen haben? Wie viel abgepriffene, mit Randbe-
merfungen verzierte Bändchen mag er durch neue erfeht haben.
Wei der Himmel, wie das zugeht! Wir jchreiben, druden und verlegen in
einem fort, aber die jchöne Litteratur faufen und lejen wollen nur noch wenige.
Dian bat auch ſchon vollauf zu thun, fein tägliches Zeitungsmenu gu bewältigen ;
dann fommen Sonnabends die illuftririen Hamiltenblätter mit der „Fortſetzung“
und den jchönen Bildern; in beitimmten Zwiſchenräumen erſcheint eine politifche
Slugichriit, deren jeniationellen Anhalt jeder fennen muß, der einen Stammtiich
beſucht und ſich zu den Gebildeten rechnet; und fchliehlich ift der Börfenbericht
oder das Armeeverordnungsblait, wo die vielen neuernannten Refervelteutenants
drinn ftehen, viel wichtiger ald irgend eine Dichtung, die lediglich Ideen enthält.
Da wir uns alle in mehr oder weniger auskömmlichen Berbältniffen befinden,
jo haben wir feine Ideen mehr nötig. Und da Ideen unſterblich find, fo blei-
ben jie unjeren Kindern unverloren, Bis dahin erhalten fie durch ihr Alter und
ihr Lager eine gewiſſe Patina, die jie ehrwürdig und ungefährlich genug macht,
nach hundert „Jahren in der Litteraturftunde der Sefunda oder Prima vorgetragen
zu werden.
Über Poeſie und RKaturwiſſenſchaft.
Bon Willy Alerander Kaſtuer.
Das Wort Naturwifjenichaft eröffnet Heute den Bli auf einen un-
endlichen Horizont. Heute. — Wir alle wifjen, wie erft in unferen Tagen
dieſe Wiffenichaft zu einer Macht geworden ift infolge einer glänzenden
Reihe epochemachender Fortichritte, wie fie heute das gefamte geiftige und
materielle Leben umſpannt und ihre Wirkungen überall machtvoll zum
Ausdrud bringt: auf religiöjem, fozialem, induftriellem Gebiete, ja endlich)
auch auf dem der Poeſie. Dieſes, ein Hleines Segment jenes umfafjenden
Horizontes, joll uns hier interejfieren Ohne die Prätenfion, die Bedeu-
tung und Mannigfaltigfeit der Beziehungen zwifhen Naturwifjenichaft
und Poefie völlig zu erihöpfen, wollen wir nur einige Betrachtungen an
diejed Verhältnis knüpfen. Dasfelbe ift eben auch ein Kampf der Inter:
eiten, wie er für alle Lebensgebiete zu jeder Zeit beftanden hat, aber wohl
nie heftiger geführt worden ift, als gerade heute. Die Phyfiognomie
unjeres Zeitalter iſt eine klare, falte, ausgeprägt vernünftige, und es
darf daher nicht Wunder nehmen, wenn die Poefie mit ihrem überirdi-
ichen Antlig Gefahr läuft, mißfannt und mißachtet zu werden. Nicht ala
ob von einem gänzlichen Verfall der Poefie die Rede wäre — die Dicht—
kunſt treibt noch reiche Blüten, genug, um dem das dumpfe Alltagsleben
mit Duft zu erfriichen, der nad) ihnen fragt, — allein es hat die jchöne
Literatur umjerer Tage doch recht eigentümliche Wege genommen, welche
von vielen bereits als Abwege bezeichnet worden find. Durch das Auf-
treten irgend einer neuen Großmacht ift bei allen poefiebegabten Völkern
die Dichtkunft auf das wejentlichite beeinflußt worden. Wenngleich über
dent Gewöhnlichen ftehend, hat fie fi) doch natıırgemäß nie eine völlig
unabhängige Stellung bewahren fünnen. Die Blüte der altklajfiichen
Dichtkunſt endete mit der politiichen Macht der Griechen und Römer; die
wilde, ftarfe, erhabene Poeſie der nordiſchen Völker verblih vor dem
neuen Herrſcher: dem Chriftentum; die reiche arabijche Volkspoeſie verlor
ihren Adel und ihre Kraft, als Mohamed Alleinherricher geworden war,
10
146 Über Poeſie und Naturwiſſenſchaft.
und die Dichter, welche jo ſchön und urkräftig von ihren drei großen
Idealen: Liebe, Krieg und Gaftfreundichaft gejungen, ihr Auge nur einzig
und allein auf den großen Propheten richten durften, Bei uns dagegen,
die wir in einer freieren und größeren geiltigen Sphäre erwachſen find,
konnte fich nach dem Ableben der Volkspoeſie die Kunftdichtung zu großen
und ſchönen, ja ewig dauernden Leiftungen aufſchwingen. Uns find Bar-
barenhorden, Heilige und Propheten feine Großmächte mehr; nur Die
einzige Wiſſenſchaft und die Kulturveränderungen, welche fie im Gefolge
bat, treten der Poeſie ala Großmacht entgegen. Es lohnt ſich nun wohl,
darüber nachzudenken, was die Poefie im Kampfe mit jener Macht ver-
loren, aber auch, was ſie darin gewonnen hat.
Zunächſt aljo jehen wir in dem Verhältnis der Poeſie zur Natur-
wiſſenſchaft die Stellung zweier natürlichen Feinde zu einander. Die
Wiffenichaft, welche das eleftriiche Licht — eine neue Prometheusgabe! —
für die Menfchheit erobert Hat, it im Prinzipe darauf gerichtet, jede
Dämmerung zu erhellen, die Irrtümer und Illuſionen zu zerftören. Da-
mit aber findet fie auch jenen holden Illuſionen den Krieg an, welche
das Lebenselement der Poefie find. Die Wiſſenſchaft will beweijen, die
Poeſie will täufchen, d. h. im edeliten Sinne Welch ein bedeutjamer
Teil des Lebensmarks wird der Poeſie im diefem Kampfe entzogen! In
den Zeiten des Pythagoras und Ariftoteles durfte die Wiſſenſchaft bereits
nit einem gewifien Stolz auf die Errungenichaften ihres Forſchens bliden,
aber das Gebiet der Poeſie blieb davon noch unberührt. Der ganze ge-
ftaltenreiche Götterhimmel gehörte ihr. ‘Freilich zeigen fich jchon bei Ari-
ſtophanes und anderen Dichtern, ja bei erniten Philoſophen Hier und da
Züge frivoler Skfepfis in Bezug auf die Götter des Olymps, aber fort
lebt die Dichtkunft in und mit ihren Göttern. Diefer große Apparat
erfüllt ihr hauptſächlichſtes Intereſſe: er iit ihr Lebensbedürfnis. Ja, in
unverwüftlichem Idealismus bereichert fie noch ihren Himmel, indem fie
Menſchen zu Halbgöttern erhebt. Das ganze Bolfsbewußtjein ift mytho-
(ogijch-poetiich. — Auch die alten Völker des Nordens fingen und jagen
in ihren Liedern, wie in der Edda, von ihren Göttern und Herven. Nicht
entfernt jo weit vorgeichritten in der Forſchung wie die Griechen und
Römer, betrachten fie doc) die Natur mit tiefem Blick und legen die Re-
jultate ihres Denfend und ihrer Forſchung in den grandiojen Gefängen
der Edda nieder. Die Völuſpaä ift gleihjam die Manifeltation eines er-
habenen naturforihenden Schauens. Wilhelm Jordan, welcher neuer-
dings eine vorzügliche Überjegung der Edda geliefert Hat, nennt dieſe
ehrwürdige Dichtung „eine Ruine, von der jo mancher Saal völlig zer-
jtört it, mancher andere nur über unwegſame Trümmer mit der Laterne
des Forſchers hinwegzuleuchten geitattet, um die Umriſſe aufdämmern zu
Über Poeſie und Naturwijienichait. 147
jehen von einigen noch nicht ganz verwitterten Göttergejtalten in den Ni-
Ihen der Wände”. Und welch bewunderswürdiger Tiefblid in die Kos—
mogonie thut fich auf zwiichen diejfen Auinen! In der Völuſpa ift das
Ehaos (gap-ginunga, „Gaffen der Gähnungen”) und die Bildung der
Weltkörper ähnlich gejchildert wie bet Hefiod und den orientaliichen Völ—
fern. Im „Bafthrudnismal” findet Jordan ein ahnungsvolles Zuſam—
mentreffen mit der ajtronomilchen Kosmogonie, „welche die Notation des
Urnebels eine Hauptrolle jpielen läßt bei der Bildung der Sonne, Pla—
neten und Monde”, Im „Grimnismal” endlich findet ji) unter andern
eine Strophe, welche abermals denjelben überrafchenden Tiefblict bekundet:
„Kübler“ heißt der Schild,
Der ſchirmend vor den Schein
Der Sonne gelegt iſt;
Denn ich bürge, dat die Berge
Und die Fluten sich eniflammten,
Dafern er fiele.
wozu der geniale Interpret bemerkt: „Wieder eine Berührung der mythi-
ichen Poeſie unjerer Vorfahren mit jüngsten Lehren der Naturwiſſenſchaft,
nach denen die Hüllen der Sonne nur etwa ein Viertel ihrer Wärme
ansitrahlen lafjen, jo daß ohne ihre Schirmung wirklich eine Weltbrand-
fataftrophe, wie die gejchilderte, für uns einträte.” So fehen wir ſchon
die Ahnen in ihren kosmogoniſchen Liedern mit der noch jungen Natur:
wiſſenſchaft Hand in Hand gehen.
Nachdem jedod eine neue Macht, die Lehre Chriſti, durch taujend
und abertaujend Geijter Hindurchgedrungen und infolge davon ihre ur—
jprüngliche Phyſiognomie mannigfach verändert, folgt auf den bunten,
lebensfriihen und durchaus poetischen Polytheismus des Heidentums eine
andere Form des Polytheismus: die firchlichen Dogmen von der Trinität
und die Scharen der Heiligen. Zuweilen gefördert, zuweilen gehemmt,
entwidelt ſich in diefer Zeit die Naturforfhung weiter, doch neben ihr
auch uneingefchränft die Poeſie. Nun hat jic ihr Gebiet noch ausgedehnt.
Unendli reich ftrömen ihr aus Vergangenheit und Gegenwart die Quellen
zu. Sie hat den chriftlichen Himmel, fie hat die olympiſchen Götter, fie
hat die Weltgeſchichte. Und in manchen großen Dichtungen des Mittel-
alter8 tritt alles dieſes vereinigt auf, jo im „Heliand“, „Muspilli”,
„Aleranderlied” u. a. Noch Hat die vorzüglich von den Mönchen ge-
pflegte Wiſſenſchaft nur wenig die Poefie beeinflußt. Naiv und ftaunend
blidt der Dichter in die Natur. Noch weiß er das wiſſenſchaftlich Er—
rungene wenig zu verwerten, außer in jener untergeordneten, von echter
Poeſie meift weit entfernten Gattung des Lehrgedichte. Erft im Morgen-
dämmern der neuen Zeit weiß Shafejpeare jeine Kenntnifje der Natur,
im weiteften Sinne des Wortes, für unfterbliche Züge feiner Werke nuß-
10*
er
148 Über Poeſie und Naturwiſſenſchaft.
bar zu machen. Er bedarf nicht mehr des religiöfen Apparats früherer
Litteraturperioden; er ſenkt jeinen Blick in die Tiefen des Kosmos und
erſchafft unvergänglih wahre Seelengemälde, wie den Hamlet und die
von den Piychologen bewunderte Geftalt des Lear. Die hriftlihe Poefie
war nur im ftande, ein großes Dichtungswerf hervorzubringen: die Di-
vina Comedia. Doch auch Dantes Gedicht konnte ſich nicht mit dem rein
religiöjen Elemente begnügen; er bedurfte zum vollen Ausdrud feines
Geiſtes eine Fülle Hiftorischer und philoſophiſcher Elemente. Nicht ent-
fernt kann ſich die chriftliche Poefie, was Reichtum und Gehalt betrifft,
mit der antifen mefjen, deren Mythologie ſich für die Kunſt weit frucht-
barer erweilt, als die mehr phantaftiichen als poetiihen Dogmen der
Kirche. Nun allerdings, im Fortichreiten der Zeit wurde manches diejer
Dogmen wanfend gemadt, und die oft wahrhaft poetiichen Sagen und
Geftalten der Bibel werden für die neuere Dichtung immer weniger
brauchbar. Schon durch die Forſchung über den Uriprung des Men-
ſchengeſchlechts verlor die Poefie eines ihrer liebiten Themata. Das Bild
Hiftoriicher Figuren der Bibel wird ebenfall3 durch die Forſchung be-
richtigt. Der Tichter muß bereit3 einen größeren Teil feiner Motive der
Wiſſenſchaft opfern. In der klaſſiſchen Periode unſerer Tichtung lebt
noch die antife Mythologie fort; aber auch fie hält dem ſteptiſchen Geifte
der fortichreitenden Zeit nicht jtand. Endlich ift der ganze Himmel ent-
völfert, und die Kunft it genötigt, auf dem realen Boden des Lebens zu
wandeln. Hier aber darf fie fih nod in das bunte Gewand der Ro—
mantif leiden. Doch bald lenkt fih von dem holden Spiele romantischer
Poeſie die Aufmerkſamkeit der Menſchen auf große Dinge und Worte,
welche plöglich, von der Wifjenichaft gefunden, durch die Welt tönen:
Chemie, Utomlehre, Speftralanalyfe, Evolutionstheorie. Ein Dichter wie
Goethe tritt in die Neihen der Naturforicher, und bald ift das Intereſſe
der Welt geteilt zwiichen großen Namen der Poeſie und großen Namen
der Willenichaft: Humboldt, Darwin, Mendelejeff ꝛc. Die Menjchheit ift
nicht mehr naiv. Die Morgenröte einer neuen Beit ift aufgegangen.
In diefem Lichte, von dieſer Zeithöhe herab erbliden wir nun jenen
unendlichen Horizont, von dem im Anfange unjerer Betrachtung die Rede
war. Das Gefühl, welches diefer Anblid giebt, kann fein anderes als
das des Stolzes jein. Der Jugend ſchon wird diejes Eelbftbewußtjein
einer mächtigen Raſſe anerzogen, und mit dem fortichreitenden Alter tre-
ten immer mehr „Zeitfragen” an uns heran, deren Beantwortung eben
bon jenem Machtgefühl des Fortgejchrittenen, des Überlegenen gefordert
wird, Auch der Dichter fol in den Dienft der Fragen feiner Zeit tre-
ten; er foll nicht mehr verweilen bei dem Überwundenen, er foll womög-
fh der Zukunft vorgreifen und den Menschen, ftatt ihnen zu erzählen,
Über Poefie und Naturwiſſenſchaft. 149
was war, ihnen prophetiich zeigen, was fommen wird. Vor allem von
dem zu ungeheurer Bedeutung emporgewachlenen jozialen Problem wer-
den aud) die Kräfte des Dichters gefordert, und faft gerät diejer in die
Gefahr, über den zeitlichen Problemen die urewigen zu vernachläffigen,
welche den umverlierbaren idealen Schab der Menjchheit bilden: Gott,
Natur und Liebe, die „ewigen Drei“, wie Rückert jagt, die Weltfreude
und das Weltelend, welches wohl niemals feinen erlöfenden Meſſias fin-
den wird, die Seelenfämpfe des dentenden und ftrebenden Geijtes, Das
immer und ewig Die Welt nad) denjelben Gejegen Bewegende. Die zeit:
lihen Brobleme entipringen aus ganz jpeziellen jozialen Verhältniſſen,
aus vorübergehenden Kulturerjcheinungen. Mit dieſen Zeitproblemen
num hat der moderne Dichter zu rechnen. Es iſt aber vielleicht der Zwei—
fel nicht unberechtigt, ob der Inhalt unjerer Zeit überhaupt zu poetiichem
Ausdrud geeignet ift. Und wenn wir unter „unjere Zeit” das eijerne
Sahrdundert, das Zeitalter der Maichinen, verjtehen, wer wollte nicht bie
Einbuße zugeben, welche die Poeſie gerade durch den praktischen Fort—⸗
Ihritt erlitten hat. Das Alpha und Omega der Poefie: die Liebe, wie
gefährdet iſt dieſes Schoßkind des Dichters, jeitdem Naturforicher und
Bhilojophen im Intereſſe der Wiſſenſchaft uns den Begriff der Liebe als
den Geſchlechts⸗-Inſtinkt geläufig gemacht haben, Dem Troubadour und
jeiner ganzen Zeit, ihnen kam diejer Begriff in der Dichtung noch nicht
zum Bewußtſein. Für den modernen Menjchen bedarf es bereit3 ber
bewußten Überwindung, um fi) unbefangen der Schilderung Ihwärme-
rifcher Liebe hinzugeben, und folglich Hat auch der Dichter ein größeres
Aufgebot poetiicher Kraft nötig, um den durch die Jahrhunderte gereiften
Menſchen in den Bannkreis jeiner Jllufion zu zwingen. Zum Glüd aber
hat die Natur den Menjchen, und ſelbſt den nüchternften, mit einer ge—
wiſſen Illuſionsfähigkeit ausgeftattet, ja ein Bebürfnis der Jlufion fo
tief im ihm hineingelegt, daß e3 einer großen ZTichterfunft wohl immer
gelingen wird, auf diefe Naturanlage des Menſchen in einem gewilfen
Grade zu wirfen. So groß ift ja jenes Bedürfnis, daß ohne dafjelbe
da3 Leben faum erträglich wäre. Wenn alle illufionslos die nadte, kalte,
häßlihe Wahrheit — das Idol der fonjequenten Naturaliften — jehen
würden; wenn fich ein jeber bei der Betrachtung menfchlicher Körper:
ihönheit die chemiſchen und phyfiologijchen Vorgänge im Organismus
vergegenwärtigte; wenn jeder, voll des pofitiven Naturwiſſens, beim An—
blid des Meeres im Geiſte die widerlichen Geſchöpfe jähe, die es birgt;
wenn jeder beim Gedanken an einen geliebten Toten im Grabe das Ber-
jegungsprobuft ſich vorftellte, wo bliebe jedes große, jchöne, begeifterte
Gefühl, wie könnte man leben, ohne bei jedem Gedanken zu jchaudern
vor einem Kosmos voll brutaler Vorgänge, welche aber in der That das
150 Über Roche und Naturwiſſenſchaft.
Wirklihe find. Die Illuſion unterftüßt den Selbjterhaltungstrieb; fie
verleiht Enthufiasmus; fie giebt den Leben Reiz und Wert; fie macht
den Soldaten tapfer im Felde und läßt uns mit erhebender Empfindung
aufichauen zu dem freundlichen Abendftern, ohne zu denken, daß der Planet
Venus ebenfalls, wie unjere Erde,"eine Bürde des Elend3 durd) den Welt-
raum trägt. Seitdem die Weltbetradhtung, im Gegenjab zum Altertum, eine
wiljenjchaftliche geworden, find uns auch alle Leidenjchaften der Menichen-
bruft Naturericheinungen. Wir Haben gelernt, jelbft das Lajter, das
Berbrechen als Naturphänomene anzujehen, und die Lehre vom Atavismus
hat der dichterifchen Darftellung neue Probleme geliefert. Ja, wir find
jo objektiv geworden, daß fid) die neue Schule, oder wenigitens ein Re-
präjentant derjelben, Julius Hart, in dem Vorwort zu jeiner Gedichts-
jammlung „Homo sum“, gar zu dem Baradoron verirrt, die Lyrik der
Zukunft als eine objektive zu charakterifieren. Man könnte ebenfo gut
von jubjektiver Dramatik reden, was denn die äfthetiichen Begriffe aller
vergangenen Jahrhunderte auf den Kopf ftellen hiefe. Gewiß können
Iyriiche Dichtungen mehr oder weniger jubjektiv gefärbt jein, aber nur
aus völliger Verfennung des Wefens der Lyrik fanıı man die Forderung
ausichlieglicher Objektivität an fie ftellen. Gut, betrachten wir aud) die
Poeſie als Naturphänomen! Daun aber erfenne man die Geſetze der
Poeſie ebenfalls als Naturgefege an, welche als ſolche unabänderlich find.
Man fieht in allen diesbezüglichen Tendenzen der Neuzeit das Be—
jtreben, der Poefie zum Erſatz defjen, was fie nun einmal thatſächlich
verloren hat, neue Gebiete zu erobern. An fich ift diejes Beſtreben ja
gerechtfertigt, und wenn auch auf diefem Wege manche Verirrung möglich
wird, die Zukunft muß und wird die Irrtümer berichtigen und den Künft-
ler immer wieder auf die ewigen Probleme zurüdführen. Ein Gewinn
an dauerndem neuen Befig wird ung trogdem bleiben, jchon durd) die
reifere Weltanfhauung, zu der die Menfchheit gelangt. Denn da der
Makrokosmos unendlich ift, da dem forfchenden und finnenden Geifte das
Welträtjel nie völlig enthüllt werden Kann, wird die Poeſie ewig von der
erhabenen Myſtik der Schöpfung leben. So lange etwas da ift, das ſich
nicht beweijen läßt, jo lange lebt die Poeſie. Lady Blennerhafjet jagt:
„Die Schönheit des Sonnenuntergangs, die Heiligkeit des Schmerzes, der
Edelmut eines Negulus find Dinge, die fich nicht beweiſen laffen.” Hier
fteht die Poefie in ihrem Reiche ſouverän da, und die Wifjenjchaft läßt
ihr Gebiet achtungsvoll unangetajtet. „Wifjenfchaft”, wie Karl Hillebrand
ſich äußert, geht auf die Erkenntnis der Welt umd ihres urſächlichen Zu-
jammenhangs; fie zerftört das individuelle Leben, um deſſen Gejege, d. h.
das den individuellen Erſcheinungen Gemeinfame zu finden. Die Kunſt
int Gegenteil fucht die Welt zu erkennen und zu deuten, indem fie Die
Über Poeſie und Naturwifienichaft. 151
Einheit des individuellen Lebens erfaßt und reproduziert; fie eliminiert
das Allgemeine, um das Bejondere beffer zu faflen, und im Beſonderen
wieder das Zufällige, damit ihr das Wejentliche Hlarer werde. Da nun
aber das Allgemeine blos eine Abjtraftion unjeres Verſtandes ift, das
wirkliche Leben fi nur im Beſonderen äußert, jo folgt daraus, daß Die
Kunft, in einem Sinne, wahrer ift als die Wiſſenſchaft“. So können
wir auch, ganz bejonders mit unjerem Hinblid auf die Natur, behaupten,
dag die Kunft kein Gegeuſatz zur Natur jein fol, vielmehr: Die Kunft
iſt Höhere Natur! Es ift, als ob dem Menfchengeiite die Fähigkeit
zur Kunſt gegeben worden, um ihm einen Schritt weiter in die Unend-
lichkeit des Seins zu ermöglichen, indem die Kunit da anfnüpft und Neues
Ieiftet, wo die Leiftungen der Natur in ihren Erjcheinungen nach großen
Geſetzen aufhören. Die Natur hat Farben und Klänge von wunderbarer
Mannigfaltigkeit; fie vermag diejelben zu großer, freilich nur dem Auge
des gebildet denkenden Gejchöpfes erfennbarer Schönheit zufammenwirken
zu laſſen. Diejes jedoch immer nur in Grenzen, welche allein die Kunft
zu erweitern, bis zu einer gewiffen Unendlichkeit auszudehnen vermag.
Wirre Töne erklingen im Kosmos: der Wind ſäuſelt oder heult, der Berg-
ftrom brauft, das Meer raufcht an die Klippen; aber erft wenn ber
Menſch, wenn der Dichter davon redet, erhält diefe wilde Muſik einen
Sinn. Der Geſang des Vogels nähert ſich erjt ſozuſagen ftammelnd einer
höheren Schönheit, bis endlich die künſtliche Muſik alle ungeordneten
Klänge zufammenfaßt, um von höheren Sphären Kunde zu geben. Die
Sprade, durch Jahrtaufende hinaufgebildet, leiftet den Gejchöpfen zunächſt
nur Dienfte für die Bedürfniffe der Natur, für das Leben des Tages:
erjt das dichteriiche Wort zeigt höhere Leiftungen und führt in das Un-
endliche. Vermöge welcher Kraft aber ijt die Kunft imftande, die Natur in
diejem Sinne fortzufegen? Vermöge der Schönheit. Der Schönheit,
welde nur dem menschlichen Geiſte in aller Glorie leuchtet. Der Schön-
beit, welche allein uns über das Gemeine erhebt. Die Kunft, welche
nit nad) Schönheit ftrebt, jinft unter die Natur herab. Heute wird
freilich daran gearbeitet, diejes äfthetiiche Poftulat zu bejeitigen. Das
radifale Vorgehen nad) diefer Richtung aber, wohin joll es führen? Man
achte doch nur überall die natürlichen Grenzen der Dinge und Begriffe!
Der Fonjequente Naturalismus, welcher dieje Grenzen überjchreitet, kann
ih unmöglid für die Poeſie fruchtbar erweilen. Ein gemäßigter Rea-
lismus jedoch, der ja die berechtigte Forderung, jih an das Wirkliche zu
halten, erfüllt, wird fich auch mit dem verfühnen können, was einft Ge—
je war: Das Wahre joll der Künftler Schön darftellen fünnen. Denn
die Kunſt hat nicht ein, jondern zwei höchſte Gefege: Schönheit und
Wahrheit, welche einander neben-, nicht untergeordnet find.
152 Über Poeſie und Naturwiſſenſchaft.
In unjern Tagen iſt es jchwer, im Kampfe der Meinungen diejen
Standpunft zu behaupten. Solange aber der Realismus die urewige
Kunftforderung achtet, jo lange der realiſtiſche Künſtler die Straft befigt,
jenes Problem in feinen Werfen zu löfen — und es ift zu löſen —,
jolange wird der Realismus als zeitgemäße Kunftform auf den Namen
Kunſt Anſpruch verdienen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß wir bei unſerer Betrachtung
des Verhältniſſes von Poeſie und Naturwiſſenſchaft auf den Realismus
zu ſprechen kommen, welcher das rechte Kind unſeres Zeitalters iſt. Der
Realismus tritt dem Princip der Wiſſenſchaft: zu beweiſen, ſchon ſehr
nahe, während wir die ſchöne Täuſchung als das Recht der Poeſie er—
kannten. Das ſtolze Bewußtſein des Wiſſens, die Scheu vor der naiven
Hingabe an einen holden Wahn ſpricht energiſch aus den neuen Kunſt—
tendenzen. In der That hat der Begriff Poeſie durch den Fortſchritt
unſrer Zeit einen eigentümlichen Inhalt, ja faſt eine Modifikation erhal-
ten. Einft war es das jchöne Bild, welches man liebte; einjt war es
das ſchöne Wort, worin der Dichter jeine Macht offenbarte, womit er
die Seele rührte und den Geift erfreute. Heute muß es das Wort bes
wirflihen Lebens fein, welches die Seele erihüttern und erjchreden ſoll.
Zur Zeit, als man die Poeſie im Gewande des Verſes liebte, durfte
Lord Byron die Macht jeines Geiftes in Schönen Worten ausleben. Im
unjern Tagen hat die Proja voll berechtigte Herrichaft neben dem Verſe
erhalten. a, nicht nur die höhere Profa, jondern jogar die Broja des
Naturaliften, der den Alltagsjargon der gemeinen Welt in oft recht uner-
quidlicher Weiſe wiedergiebt. Aber find Zolas Werfe, die gewiß von
großer Dichterkraft zeugen, im eigentlichen Sinne Boefie? Höchſtens nur
in der Erweiterung de3 Begriffs, den die heutige Bewegung beanſprucht.
Der vorhin citierte geiftvolle Karl Hillebrand bemerkt in feinem Ejjay
„Vom alten und vom neuen Roman“: „Die gejamte jchöne Litteratur
des Abendlandes von Homer bis auf Goethe ift durch eine tiefe Kluft
von der neueren gejchieden, deren Erzeugnifje trob aller Berjchiedenheit
eine frappante Familienähnlichkeit an der Stirn tragen, mit anderen
Worten, die Menjchen, Autoren wie LZejer, haben dreitaujend Jahre lang
die Aufgabe der ſchönen Litteratur anderd aufgefaßt, al3 wir es jeit Hun-
dert Jahren thun“,
Es kann hier nicht unfre Aufgabe jein, jpeziell auf die Wirdigung
des aud) für die Zukunft jo bedentfamen Realismus einzugehen, worüber
das letzte Wort noch von feiner Seite geſprochen worden ift. Dies er-
forderte eine Betrachtung für fih. Wägen wir jedoch) ſchließlich rejümie-
rend den Berluft und Gewinn ab, den die Poeſie in unjern Tagen er-
fahren, jo jehen wir dem erfteren vorzüglich in der großen Einbuße, welche
Über Poeſie und Naturwiffenicait. 153
die naive Illuſion erlitten hat. Der Gewinn aber dürfte als ein nicht
minder großer geichäßt werden, wenn wir den weiten, freien, ſich immer
mehr ausdehnenden Horizont betrachten, der fi) dem modernen Menjchen
eröffnet. Iſt es doc nun grade das Gebiet der Natur, das fi immer
weiter und herrlicher vor ung aufthut, ein Gebiet, welches das echte
Mutterland der Poeſie für alle Völker und Zeiten war und bleiben wird.
Das moderne Leben entfernt uns wohl von diefem Mutterlande, aber
der naturwijjenichaftliche Geift unferes Zeitalters führt uns auch immer
wieder dahin zurüd, jodaß wir es nun mit andern Augen betrachten, als
unjre Vorfahren. Lohnend wäre e3 jebt, jpeziell den naturbetrachtenden
Geiſt in den Dichtungen der modernen Weltliteratur zu betrachten. Allein
dieſe Unterjuchung würde ung zu weit führen. Es jei nur beiſpielsweiſe
bingewiejen auf Lord Byrons grandiofe Naturbilder im Don Juan,
Ehilde Harold, Cain, auf Shelleys Prometheus und jeine Iyriichen Ge—
dichte, welche fih mit der Natur bejchäftigen: The sensitive Plant, the
Cloud u. a, endlid) auf Goethes herrlihe Dichtungen, welche er uns
unter der Kategorie „Gott und Welt” gejchenkt hat. Solche poetijchen
Schäße verdanken wir einzig der durchaus modernen Naturanfchauung,
die Goethe mit folgenden Worten Fennzeichnet: „In welch veizendem
Lichte erjcheint diefer unendliche Reichtum des Makrokosmos, in defjen
Elementen ich ein ungeheure Epos erkenne, in deſſen Pflanzenreih mir
die ſchönſten Töne der Lyrik entgegenklingen in deſſen Tierwelt ſich
jeglihe dramatiſche Thätigkeit durcyeinander drängt! — ein Schaufpiel
ohne Ende, ewiger Stoff der größten That und Bewegung, Kampf und
Berjöhnung, Leben und Tod — alles in jo großartigen Verhältniſſen,
daß der einzelne, welcher mit jeinem Syftem hinzufommt, den Maßſtab
in feinen Ständen plößlich nicht mehr ſieht“. Ob der dichtende Geift die
Ratur pantheiftiih vder mit dem Blicke neuer, zukünftiger Philofophen
anſchaut: Die Bewunderung und Berehrung des gewaltigen Weltgeheim-
niffes kann durch die Forſchung nur genährt werden. Während noch
die Dichter des Haffiichen Altertums nur flüchtige Blicke auf die Natur
warfen und nichts wußten von der tiefen geiftigen Verſenkung in dieſelbe,
wozu ung das jenen noch unbefannte Gefühl des verlorenen Eden3 auf-
fordert: quillt dem echten Dichter der Gegenwart und Zukunft ein ewiger,
immer reicher jprudelnder Strom aus dem großen Geheimnis der Natur.
Beim Ausblid auf die Zukunft dürfen wir daher der Entwidlung des
Snterejjenfampfes ohne Bejorgnis zujehen. Das Rejultat wird der Ge-
winn neuer Ideale neben den ewigen Problemen jein, welche feine Wij-
jenfchaft uns rauben kann. Sie mag ruhig fortfahren, zum Nuten der
Menſchen zu beweilen; die Unmöglichkeit aber, jemal® den ganzen
Kosmos zu beweilen, verbürgt das ewige Leben der Poefie.
Die Berdeutfhung der Fremoͤwörter in unferen
Bugend- und Bolksfhriften.
caßÿt tief uns, innig uns verſenken
In unfrer Sprache Wunderquell
Saft deutich uns fühlen, deutſch uns denken
And deutſch nur reden, Mar und heil!
Die leidigen Fremdwörter! Wir wollen nicht davon reden, wieviel
Unheil fie oft im Munde eines jogenannten „Gebildeten” anrichten, wie-
viel Erkenntnis und gute Lehren fie dem Ungebildeten verjchleiern und
wieviel Taufende guter Werke fie großen Kreifen vorenthalten u. ſ. w., jon-
dern wir wollen hier einmal Stellung nehmen gegenüber der Thatſache,
daß wir Deutiche doch wohl allen Grund haben, unjer Deutſchtum auch
in der Sprache unjerer Väter zu erhalten und da die meiiten Fremd—
wörter in unferer Sprache durchaus überflüjfig find, warum jollen fie nicht
durch deutſche Ausdrüde erjeßt werden? Seit vielen Jahren arbeitet
der Allgem. deutſche Sprachverein, dem eine Reihe bedeutender Männer
angehören, an der deutſchen Sprachreinigung, und wenn auch der Er-
folg noch nicht allgemein wahrnehmbar, jo hat der Verein doch in ber
Stille manchen Schritt vorwärts gemacht und durd das thatkräftige Ein-
treten einzelner feiner Mitglieder, 3. B. im Poftwejen — Staatsjefretär
Dr. v. Stephan ift Ehrenmitglied des Vereins — manchen jchönen Er-
folg erzielt.
Auch der Buchhandel jollte diefer Bewegung mehr Beachtung ſchenken.
In der Zeitjchrift des Allgem. deutichen Sprachvereins 1895 Nr. 6—8
ift num ein Beitrag von W. Idel (Wermelskirchen) abgebrudt, der jehr
viel Bezug auf den Buchhandel hat, jo day wir nicht unterlaffen möch—
ten, der Arbeit hier eine nähere Beachtung zu ſchenken. Es handelt ſich
um die Verdeutjchung der Fremdwörter in umjeren Jugend» und Bolfs-
Schriften.
Nach einer Einleitung, in der der Verſaſſer darlegt, daß fein Auf—
jag die Ausarbeitung reſp. Slarlegung eines Antrages des Zweig-
*) Aus dem Gedicht: „Unſere Meutteriprache” von del.
Die Berdeutihung der Fremdwörter sc. 155
vereins an den Geſamtvorſtand ift und ſich darüber verbreitet, was er
unter Jugend- und Volksichriften verjteht, fchreibt er u. U. Folgendes:
Sollen die Bücher und Schriften, welche eine gute Schüler- und
Volksbücherei enthält, den Zweck erfüllen, welchen wir bei der Gründung
einer ſolchen verfolgen, jollen fie dag ureigene deutſche Volkstum hegen
und pflegen und das nationale Bewußtjein Ffräftigen, jo müſſen fie durch—
aus einer wichtigen Forderung genügen: fie müfjen in gutem und reinem
Deutſch geichrieben fein, damit fie einesteils völlig verjtändlid find und
andernteild® das deutſche Sprachgefühl nicht jchädigen und verbilden.
Viele Schriften genügen aber diefer Forderung nicht, ſondern fie verlegen
und verbilden das Sprachgefühl, find teilweife unverftändlich und ber
Erziehung zum echten Deutſchtum nicht förderlich infolge ihres zuweilen
bedenklihen Inhaltes, ihrer aufregenden, nervenkitzelnden Darjtellungs-
weile und ihrer unedlen, verwelichten Spradye. Damit wir uns jedod)
feiner Übertreibung jchuldig machen, jei zugegeben, daß mehrere echte
Volfsichriftiteller wie Guſtav Schwab, W. DO. von Horn und Tyerdinand
Schmidt, um nur einige der befannteften zu nennen, eine Sprache reden,
welche dem Bolfe und der Jugend durchaus verſtändlich und von Fremd-
wörtern ziemlich rein gehalten ift. Bieten ja auch unjere großen Klaſſiker
in ihren bejten Werfen das reinfte Deutich, jo daß man jagen Fönnte,
die Reinheit der Sprache entipreche in dev Regel der Güte des Inhalts.
Tie Zahl der auszumerzenden Fremdwörter und ausländiichen Re—
densarten ift bei den verjchiedenen Verfafjern und bei diejen wieder in
ihren verjchiedenen Werken jehr ungleih. Bei Franz Hoffmann oder
Guſtav Nierit z. B. kommt, wie uns eine Unterjuchung gelehrt hat, in
der einen Erzählung nicht ein Dugend Fremdwörter vor, wogegen eine
andere ein halbes Hundert und weit mehr aufweilt. Die Zahl ber
Fremdwörter hängt vielfad mit der bejonderen Art des behandelten
Gegenftandes zujammen und ift auch je nad) dem Umfange der Schriften
als gering oder groß anzujehen.
Um einen ungefähren Begriff von der Menge der entbehrlichen
Fremdwörter zu geben, welche die genaue Durchficht von dreißig Schrif-
ten geringeren Umfangs von Oskar Höder, Franz Hoffmann, Guftav
Nierig, Ferdinand Schmidt u. a. ergab, führen wir nur an, dap allein
63 Wörter fid) fanden, welche mit A beginnen.
Auch ein anderes müfjen wir noch erwähnen, da es für Die von uns
vorzujchlagende Bearbeitung der Jugendichriften von Belaug it. Verfaſſer
hat nämlich eine größere Anzahl von Schriften aus der Schülerbibliothet
jeiner Schule von Duartanern und Tertianern auf Fremdwörter hin
durchſehen laſſen, und dabei faın dag Überrajchende zu Tage, daß über
40 deutiche Ausdrücke als Fremdwörter aufgejchrieben wurden, 3. B. ätzend,
156 Die Verdeutſchung der Fremdwörter ıc.
Bodenlufe, Borg, Fiichreufe, Felleiſen, Flaujen, Hageitolz, Brlod, Schlappe,
Sumpflache, Zofe. Daraus läßt ſich der Schluß ziehen, daß die Jugend-
Ichriftiteller nicht jelten über die Köpfe ihrer Leſer Hinwegreden und durch
unerflärte, jelten vorfommende deutjche Wörter die Zahl der unveritande-
nen Ausdrüde beträchtlich vermehren. Neben den Fremdwörtern wird
man auch jelten auftretende deutjche Bezeichnungen und Ausdrüde in den
Sugendichriften und gewiß aud in ben Volksichriften erflären oder er:
jegen müfjen, wie e3 3. B. in den Lejebüchern von Hopf und Baulfief
im Anhange geſchieht.
Welche gewaltige Arbeit zu bewältigen ſein wird, wenn dem Antrage
entſprochen werben ſollte, möge die Aufzählung der bekannteſten Jugend—
und VBolksichriftiteller dartgun, von welchen einige über Hundert Schriften
verfaßt haben; wir nennen: Willibald Aleris (W. Häring), Berthold
Auerbach, Rihard Baron, Ferdinand Bäßler, Ferdinand Brunold, Lud—
wig Bechftein, ©. Chr. Dieffenbad). Emil Engelmann, Wilhelm Fiicher,
Emil Frommel, Fr. Gerjtäder, Otto Glaubrecht, Jeremias Gotthelf, U.
W. Grube, Fr. W. Hadländer, W. Hauff, 3. B. Hebel, W. Herchenbad),
Oskar Höder, Edmund Höfer, Franz Hoffmann, W. D. von Horn, Frieb-
rich Jacobs, Hermann Kletke, Fr. Ad. Krummacher, Franz Kühn, Julius
Lohmeyer, Hermann Mafius, Guftav Nierig, Wilhelm Dfterwald, Franz
Dtto, Guftav Blieninger, Wilhelm Raabe, Robert Reinid, Frig Reuter,
PB. 8. Rofegger, Richard Roth, Karl Ruß, Heinrich; Schaumberger, Chri-
ſtoph von Schmid, Hermann Schmid, Ferdinand Schmidt, ©. H. von
Schubert, Guftav Schwab, Karl Stöber, Julius Sturm, Karl Tanera,
Hermann Wagner, Karl Weife, Franz Wiedemann, — ferner die Schrift-
ftellerinnen Siabella Braun, Clara Eron, Amelie Godin, Thekla von
Gumpert, ®. Heimburg, Clementine Helm, Ludovika Hejeliel, E. Mar-
litt, Marie von Nathufins, Luiſe Pichler, Frida Schanz, Johanna Spyri,
E. Werner, Dttilie Wildermuth.
Dies Verzeichnis macht feinen Anſpruch auf Bollftändigfeit; unjere
großen Klaſſiker find abfichtlih nicht aufgeführt. Die „Geſchichte der
deutichen Jugendlitteratur” von U. Merget, 3. Aufl, herausgegeben von
Dr. Ludwig Berthold (Berlin 1892, Plahn), jowie der von der Gefell-
ihaft für Verbreitung von Bollsbildung herausgegebene „Mufterlatalog
für Vereins», Bolfs- und Schulbibliothelen” (Hannover-Linden, &. Manz)
geben einen Begriff von der Menge mehr oder minder gediegenen Leſe—
ftoffes, welcher der Jugend und dem Volke geboten wird. In dem
„Muſterkatalog“ find weit über 3000 Schriften angegeben, von benen
etwa der dritte Theil auf Jugendſchriften entfällt. Nimmt man nur 30
als Durchichnittszahl der in jedem diefer Werke zu verbeutichenden
Fremdwörter an, jo würde fich die Geſamtſumme ſchon auf 90— 100000
Die Verdeutihung der Fremdwörter ir. 157
belaufen, wenn nicht die geläufigiten Fremdwörter in den meiften Werken
wiederfehrten, wodurd die Berechnung erjchwert wird.
Ver joll nun die mühevolle und langwierige Verdeutichungsarbeit
übernehmen, wenn fie überhaupt in Angriff genommen werden fol? Die
Kraft eines einzelnen Menjchen reicht für fie nicht aus noch auch Die
eines Heinen Vereines, in dem ja bekanntlich) doch faſt alle Arbeit von
einigen wenigen Mitgliedern, oft gar von einem einzigen Mitgliede be-
jorgt wird. Es müßte eine wirklich dazu berufene Genoſſenſchaft gebildet
werden, um jene Niefenarbeit zu erledigen, wenn nicht Schon eine ſolche
beftände, — und das iſt der allgemeine deutiche Sprachverein. Seine
Sache ift es, es entipricht feinen Beftrebungen, die genannte Verdeut—
Ihungsarbeit auszuführen; ja, feine Erfolge werden erft dadurch weit-
gehend und nachhaltig für die Folgezeit, was fie aus vielen Gründen,
deren Klarlegung uns zu weit führen würde, bisher nicht waren. Bon
dem älteren lebenden Gejchlechte, welches mit der Fremdwörterei aufge-
wachen iſt, Hat man auch eine durchgreifende Befjerung Feineswegs zu
erwarten. Unſere Hoffnung beruht daher auf der Jugend. Sorgt der
a. d. Epradjverein an feinem Theile dafür, daß von ihr die Fremdwör—
ter möglichit ferngehalten, daß alle deutjchen Bücher, welche fie in Die
Hand befommt, von den ausländiichen Ausdrücden gereinigt werben, fo
darf er von dem fünftigen Gejchlechte erwarten, daß es die Reinheit der
Mutterſprache als heiliges Vermächtnis unverjehrt erhält. Die uns wün-
ſchenswert ericheinende Ungeübtheit der Jugend und des Fünftigen Ge-
ſchlechts im eigenen Gebrauche der Fremdwörter braucht die Kenntnis
der Bedeutung etwa vorfommender Fremdwörter durchaus nicht auszu-
ihließen: ſorgt doch für ein folches Verftändnis der fremdipradjliche
Unterricht in den höheren Schulen und die Erklärung der häufigften und
unentbehrlidyiten Fremdwörter in allen, auch in den Volksſchulen; fie
bildet eben einen bejonderen Abſchnitt in der Lehre von der Nechtichreibung.
In der Verdeutſchung unjerer Jugend- und Volksichriften hat der
a. d. Sprachverein das befte Unterpfand für die Erreihung der von
ihm angejtrebten Ziele. Wie ihm die Verdeutſchungsarbeit am ehejten
zukommt, jo ift fie für ihm auch am dankbarften. Sicher kann man es
zudem einen großen SFortichritt nennen, wenn von der Verdeutſchung ein-
zelner Wörter, wie fie unjere bisher veröffentlichten Verdeutſchungs—
Wörterbücher aufweijen, zut Berdeutihung ganzer Säbe und Schriften
übergegangen wird. Denn in Wörterbüchern die bloße Üebertragung ein-
zelner Wörter außer dem Zufammenhange mit anderen vor3 Auge zu
führen, hat für unjere Beftrebungen einen ähnlichen Erfolg, als wenn
man zur Erlernung einer freinden Sprade nur die Wörter einzeln, los
gelöſt aus dem Tebensvollen Zufammenhange, auswendig Ternen wollte,
158 Die Verbeutichung der Fremdwörter sc.
anftatt ihre Bedeutung im Sabganzeı leicht und umverlierbar zu erfafjen
und die derart eingeprägten Wörter jpäterhin mit anderen gelernten twie-
der zu einem neuen lebensvollen Sabganzen zu verbinden und finngemäß,
aljo ſynonymiſch richtig zu verwenden. Es thäte uns eben ein Verdeut—
ſchungsbuch not, worin jedes Fremdwort in den verichiedenften Wendun-
gen und Auffaffungen verdeuticht vorfüme! Der Gejamtvorftand des
Sprachvereins könnte eine Anzahl ihm geeignet erjcheinender Berjonen
auswählen und diefer Ausichuß könnte dann eine Muswahl der in Frage
fommenden Jugend» und Volksſchriften treffen und die Neihenfolge feit-
jeben, in welcher die Verdeutfchungsarbeit an den Werfen der verſchie—
denen Berfafler ftattfinden joll. Wenn wir hier von den „gangbarften“
Jugend- und Boltsichriften jprechen, jo möchten wir den Begriff „gang-
bar” hier im Sinne von vielgelefen) nicht zu eng gefaßt willen und
nicht andere einichlägige Schriften ausſchließen, welche viel gelejen zu
werden verdienen, aber erjt in den lebten Jahren erichienen find. Wir
denken bier z. B. an die Werfe von Karl Tanera, welche bejonders ge-
eignet jind, das nationale Bewußtjein zu Fräftigen. Hinfichtlich der „Ent-
behrlichkeit” vieler Fremdwörter mag es verjchiedene Anfichten geben;
doch wird unjeres Erachtens darüber unschwer eine Einigung zu erzielen
jein. Jedenfalls dürfte es ratſam fein, nicht allzuftreng vorzugehen.
Gehen wir nun zu der Frage über: Wie foll die Verdeutſchung ge-
ichehen? Bei der Beantwortung derjelben möchten wir vier Fälle unter-
Icheiden: Die Verdeutihung wird als Fußnote unter dem Tert angebradht;
2. jie wird in Klammern hinter das Fremdwort gejebt; 3. das Fremd-
wort wird im Texte verdeuticht und aus Achtung gegen der Verfaſſer in
einer Fußnote angegeben; 4. die Verdeutichung wird einfach an die Stelle
des Fremdwortes gejeßt und Tebteres ganz ausgelajjen.
Die eritgenannte Art der Verdeutſchung erjcheint uns notwendig in
den Fällen, wo das Fremdwort oder die ausländiiche Redensart als
fennzeichnend jtehen bleiben muß, z. B. bei wörtlich angeführter Rede,
in der die Weglafiung oder Ergänzung durch die deutſche Übertragung
die Schilderung der Eigentiimlichkeiten der redenden Perſon abſchwächen
und jchädigen wirde. Hierhin rechnen wir beifpielsweile das Kauder—
welich des Riccaut de la Marliniere in Leſſings „Minna von Barnhelm“
(4. Aufzug, 2. Auftritt), ferner mehrere Außerungen Friedrichs des Gro-
Ben in Franz Hoffmanns „Ehre Vater und Mutter“ (Stuttgart, Schmid
und Spring), 3. B.
„sh glaube, Er wäre beinahe ein cbenio guter maitre de plaisir!) wie Ge:
neral,. — — Ja, Meflteurs?), General werden tft nicht To leicht wie Sie alle
wiſſen, darum babe ich allen Neipeft?) vor unſerm Wirte uſw.“
j 1) Feſtordner, Vergnügungsrat; ) meing Herren; 9%) Achtung (bier iſt Die
liberfegung am Ende überflüflig.)
Die Verbeutichung der Fremdwörter ꝛc. 159
Dieſes Beiſpiel könnte auch als Muſter dienen zu der zweiten Art, die
Verdeutſchung anzubringen, nämlich der Anfügung in Klammern hinter
dem fremdländiſchen Ausdrucke, wenn dieſer kurz iſt und nur ein Wort
oder einige Wörter enthält. Ein anderes Beiſpiel dieſer Art ſei auge—
führt aus den vielverbreiteten „Schwarzwälder Dorfgefchichten” von
Berthold Auerbach (Stuttgart 1884, Cotta). In der Geſchichte „Nach
dreißig Jahren“ Heißt e8 im zweiten Teile („Der Tolpatich aus Amerika“):
Wenn der Amerikaner ein Haus buildet (baut), will er auch eine gute view
(Ausfiht) haben; davon verſteht dad people (Rolf) hier nichts. (Band IX,
S. 157.)*)
Die Anwendung der Klammern hinter dem umentbehrlichen Fremdwort
empfiehlt fi) aud in Erzählungen oder Beichreibungen, in welchen ein
bejtimmter Stand eine Rolle jpielt, dejjen Titel und Benennungen nod)
nicht allgemein verdentjcht find, z. B. in Schilderungen aus dem Solda-
tenleben. Da wird man gewiſſe Ausdrüde wie General, Major, Regi-
ment, Bataillon, Divijion jogar einfach jtehen laſſen müfjen; es würde
jich freilich empfehlen, zum befjeren Verſtändniſſe für ſolche, welche nicht
gedient haben, ein Verzeichnis von kurzen Erklärungen der betreffenden
Ausdrüde zu Anfang oder am Schlufje der Schrift anzubringen. Hier:
her gehören auch die jogenannten Provinzialismen oder „Landwörter“
(Leibniz), welche nur in gewiſſen Gauen oder Landichaften gebraucht wer-
den und der Nede eine örtlihe Färbung geben. In dem Volksbuche
„Käthi, die Großmutter“ von Jeremias Gotthelf kommen 3. B. die Aus-
drüde „häßig“ (= ungehalten), „Zängizyt” (= Langeweile) und „lätz“
vor, dem in der von uns vorliegenden Ausgabe (Berlin 1889, Julius
Springer) das Fremdwort „fatal” als Erklärung beigegeben iſt.
Zu wünjchen iſt ferner, daß fremdſprachlichen Wahlſprüchen am Kopfe
einzelner Kapitel oder auf dem Titelblatte die Überjegung beigefügt werde.
Drittens kann man die Verdeutſchung im Texte anbringen und das
Fremdwort, auch wenn es entbehrlih iſt, aus Achtung gegen den Ber:
faſſer als Fußnote angeben. Als Beijpiel wählen wir eine Stelle aus
Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ (Berlin, W. Herb):
Nur zwei Dinge waren mir in dieſer Schule quälend und unheimlich uſw.
Das eine war die düftere Weile des Strafriters’), in mwelder die Schul-
zucht?) gehandhabt wurde. Es lag dies teils noch im Geifte der alten Zeit,
an deren Grenzen wir jtanden, teils in einer befonderen?) Liebhaberei der
Berfonen, und ftimmte*) übel zu dem übrigen guten Ton. Es wurden aus:
gejuchte peinliche und entehrended) Strafen angewendet auf dies zarte Lebens:
alter, und es verging fait fein Monat ohne feierlihe Strafvollitredung®) an
irgend einem armen Sünder. (Il, S. 9.)
’) friminaliftiiche Weile; ) Schuliuſtiz; 9) Privat:; 4) barmonierte; °) in:
iamierende; ) Exektution.
*) Die eingeklammerten Überſetzungen fehlen in der Urſchrift.
160 Die Verdbeutichung der Fremdwörter ꝛc.
Die vierte und lebte Form der Verdeutſchung, bei welcher man rüd-
jichtslo8 das Fremdwort ganz ausläßt, ſetzt das Einverftändnis des Ver-
leger8 und des Verfafjers oder feiner Erben voraus,
Es joll nun durchaus nicht gejagt werden, daß man, wenn es irgend
eine Jugend» oder Volksihrift von Fremdwörtern zu jäubern gilt, nur
die eine oder nur die andere der angeführten Arten der Verdeutichung
anzuwenden bat; nein, gewöhnlich wird man je nad) dem vorkommenden
Fremdworte ober der auftretenden ausländiichen Redensart die Verdeut—
Ihung in diefem Falle jo, in jenem Falle anders anbringen. Zu ver-
geffen ift nicht die Erklärung der jelten gebrauchten deutſchen Ausdrüde,
welche dem unerfahrenen Leſer leicht ala Fremdwörter erjcheinen.
Wollten wir nun an einer einzigen Jugendichrift als an einem
Mufterbeifpiele unjere Verdeutſchungsweiſe zeigen, jo würden wir in Ver—
legenheit geraten, eine Schrift zu finden, in welcher alle oben angegebenen
Fälle oder doch die meilten derjelben vorfommen. Und fänden wir wirf-
(ih eine folche, dann würde zu viel Raum beaufprucht, um die vollitän-
dige Bearbeitung derjelben an dieſem Orte vorzuführen. Zudem glauben
wir annehmen zu dürfen, daß der geneigte Xejer nach unjeren bisherigen
Darlegungen faum mehr im Zweifel über unfere Behandlungsweife jein
wird. Ob unjere Vorjchläge allgemeine Billigung finden, bleibt freilich
abzuwarten.
Nehmen wir jedoh an, der a. d. Sprachverein Habe ſich von der
Notwendigkeit einer Verdeutſchung der fraglihen Schriften überzeugt und
in der als beiten anerkannten Weile die Verdeutichungsarbeit an einer
Anzahl jener Schriften ausgeführt, jo fragt es ſich, wie fie nußbar ge-
macht werden jol. Nach unjerer Meinung würde alsdann der Gejant-
vorjtand oder der Berdeutihungsausichuß, wenn Werke ſchon verjtorbener
Scriftiteller in Frage fommen, — und dieje empfiehlt es fich zuerft in
Angriff zu nehmen — ſich an den betreffenden Verleger und an die
Erben des Verfaſſers wenden mit der Bitte, die gemachten Verdeutſchun—
gen in der nächſten neuen Auflage zu verwerten. Handelt es fich um
Werke noch lebender Schriftiteller, jo wäre dieſen gegenüber dasjelbe
Verfahren einzuſchlagen und die weitere Bitte hinzuzufügen, bei neuen
Werfen die fremden Wörter und Ausdrüde nad Thunlichkeit auszufchließen.
Daß diefe Verhandlungen in jehr zarter Weile geführt werden müfjen
und ftellenweile kiglich fein fünnen, wollen wir uns nicht verhehlen. In—
dejlen Haben jchon etliche Schriftiteller, u. a. Guftav Freytag, in neuen
Auflagen ihrer Werke die entbehrlichen Fremdwörter durch deutſche Aus-
drüde erjegt, was gewiß rühmend anzuerkennen iſt, wie es auch Berlags-
handlungen giebt, welche den von ihnen beichäftigten Schriftitellern die
möglichfte Vermeidung der Fremdwörter zur Pflicht machen. Noch iſt
Die Verdeutſchung der Fremdwörter ww, 161
der Tall ins Auge zu faſſen, daß ein Wert (30 Sabre nach) dem Tode
des Verfaſſers) freigegeben ift. Da könnte der a. d. Spradpverein
die Herausgabe einer neuen, ſprachlich gereinigten Auflage
veranlajjen oder jelbjt in die Hand nehmen und dadurch ſowohl
ſeine Beſtrebungen unmittelbar fördern als auch ſich eine er—
giebige neue Einnahmequelle verſchaffen. (2) In Beziehung auf
Zeitſchriften und Tagesblätter muß es mit der Bitte au die Schriftleitung
jein Bewenden haben, die Fremdwörter thunlichjt fernzuhalten.
Wir find zu Ende gelangt mit unjeren Vorjchlägen. Sie auszu⸗
zuführen iſt gewiß keine leichte Sache; man wird uns beiſtimmen, wenn
wir ſie eine Rieſenarbeit nennen im Hinblick auf die gewaltige Menge
der ſprachlich zu reinigenden Schriftwerke. Aber ſie wird unſeres Er—
achtens gleichwohl in abſehbarer Zeit zu bewältigen ſein, wenn alle taug—
lichen und verfügbaren Kräfte ſich in den Dienſt der guten Sache ſtellen
oder zur Mitarbeit gewonnen werden.
Was wird nun der Erfolg der glücklich ausgeführten Verdeutſchung
der Fremdwörter in allen hervorragenden Sugend- und Volksſchriften
fein? Welchen Einfluß werden die ſprachlich gejäuberten Schriften in
Zukunft auf ihre Lefer ausüben? Wir glauben antworten zu dürfen:
Wie die betreffenden Schriften in der Form deutſcher geworden find,
werden fie auch vorteilhafter auf das Sprachgefühl des Leſers einwirken
und ihm einen gegen ehemals wertvolleren, weil unvermijchten und un—
verfälichten Schatz deutſcher Sprachgebilde überliefern. Der Leſer wird
bei der Einkleidung eigener Gedanken das Sprachkleid dem gewonnenen
Sprahichage entnehmen und fi in Wort und Schrift einer reinen,
Maren, echtdeutjhen Ausdrucksweiſe befleißigen. Neben feinem Sprad)-
gefühl wird fein Geſchmack derart gebildet werden, daß er an den Er-
zeugnijien der Schundlitteratur nicht nur feinen Gefallen findet, jondern
dab fie ihn abjtoßen, ja anefeln. Schon jet ftellt Brofefjor Neyer in
jeiner Schrift: „Entwidelung und Organijation der Volksbibliotheken“,
die erfreuliche Thatjache feit, „daß fait ausnahmslos Werke ohne tieferen
Gehalt ſich trog Reklame (Anpreifung) nur kurze Zeit halten.” Künftig
werden ſolche Machwerfe noch weniger Liebhaber finden und wird ſich —
das hoffen wir — unſere VBorausjagung erfüllen:
Dann flieht die Füge, die Gemeinheit,
Die fremdes Wort ald Mantel fucht,
Und mit der Mutterfpradhe Reinheit
Kehrt wieder alte deutiche Zucht.
E3 dürfte im ganzen von der Verdeutfchung der Jugend- und Volfs-
Ihriften eine Stärkung des deutſchen Volkstumes, eine Kräftigung des
nationalen Bewußtſeins zu erwarten fein.
11
162 Die Verdeutichung der Fremdwörter ?ꝛc.
Ohne die bejtändige Unterftügung durch die Erzieher von jung umd
alt, ohne die Mitwirkung der maßgebenden Berjönlichkeiten in Familie
und Schule, in der Kirche und vielleiht auch im Heere werden indes alle
Bemühungen des a. d. Sprachvereins eitel jein. Bon der Familie be-
ionders, in deren Schoße das kleine Menjchenfind, und zwar namentlid
durch die Mutter, mit den Hauptgebilden der Mutterſprache befannt ge
macht wird in einem Alter desjelben, wo die Beeinfluffung am größten
und ungehemmteiten und das geiltige Wachstum am bedeutendften iſt, —
von der Familie darf man vielleicht und möchten wir am meijten für
unfere Beftrebungen erhoffen. Zudem nehmen wir die Reinigung der
deutichen Schulbücher von entbehrlichen Fremdwörtern als Vorausjegung
und als eine Notwendigkeit an, welcher bald entiprochen wird. Endlich
jei der Tagesprefje nicht vergeſſen, ohne deren Mithilfe alle unjere Arbeit
nur den halben Erfolg haben würde. eder redliche Mitarbeiter joll uns
willfommen jein, denn nur durch die (noch mehr zu wedende) allgemeine
Teilnahme und die alljeitige Förderung der guten Sache fann das und
vorſchwebende Ziel erreicht werden.
Die Erfüllung unjerer Hoffnungen und Wünjche wird allerdings der
Zukunft vorbehalten bleiben, da die jebige Jugend herangewachſen und
zum echten Deutjchtum herangebildet jein wird.
Soweit der Herr Verfaſſer. Wie der Buchhandel fih dazu jtellen
dürfte, läßt fich natürlich nicht von vornherein jagen. Indeſſen ift wohl
jiher, daß viele Verleger gern bei Neuauflagen dem Verein ent:
gegenfommen würden, umſomehr, als fie dann auf Empfehlung des Ver-
eins rechnen dürften.
Die vielen bezifferten Erklärungen wollen uns aber als ein Unding
ericheinen, teils, weil das Leſen eines jolden Buches jehr ermüden würde
(wenn man die Erklärungen beachtet) teils, weil das Buch dadurd ge
wiljermaßen zu einem jprachlichen Lehrbuch wird — und ob dann die
Jugend daran großen Gefallen findet, wagen wir zu bezweifeln. Dort
aber, wo ein qutes- deutjhes Wort am Plabe, mag das Fremdwort wei:
hen und wo es jih um Achtung für den Verfaſſer handelt, mag die
Überſetzung in Klammer folgen. It das Fremdwort aber in allzugroßer
Anzahl vertreten, dann jehe man, wenn irgend welche Rückſichten gegen
den Verfaſſer obwalten, lieber ganz von der VBerdeutichung ab.
Der deutſche Buchhandel hat Schon oft ideale Beitrebungen unter:
ftüßt, er wird auch hier bereit jein, den FFortjchritt zu fürdern. Um jo
überflülfiger aber müſſen wir es erachten, daß auch hier wieder die Ab-
jicht vorhanden ilt, dem Buchhandel gegebenen Falles ins Handwerk zu
pfuſchen.
163
Die Berdeutichung dev Fremdwörter ꝛc.
Die „neue ergiebige Einnahmequelle” dürfte fich in Bezug auf Ju—
gendichriften, bei denen heute die äußere Heritellung neben dem Text,
und der entiprechende buchhändlerische Vertrieb eine jo große Rolle ſpielen,
nicht jo glänzend geftalten, wie vielleicht der Herr Verfaſſer meint.
Hn.
>
Die Pioniere der Hutotvpie in Deutfchland.
Von Hermann Schaan.
— — —
Vie Autotypie in ihrer jetzigen Vollkommenheit bildet uuſtreitig eines
der wichtigiten Slluftrationsmittel, denn die drei großen Vorzüge, welche
fie dem Holzichnitte gegenüber bejigt: Die abjolute Treue der Wiedergabe,
die jchnelle Herftellbarkeit jowie die verhältnigmäßig geringe Koftjpielig:
feit, ermöglichen es dem Buch- und Zeitungsverleger, von der Anwen—
dung von Sluftrationen den ausgiebigiten Gebraud) zu machen; er erhöht
dadurd den Wert wie den Reiz feiner Berlagswerfe wejentlih, ohne day
es nötig wäre, Diejelben deshalb zu einem erheblid höheren Breije zu
verfaufen. In allen Fällen, in denen der rein künſtleriſche Wert des
Bildes nicht in Frage fommt, leiſtet die Antotypie, jei cd, daß eine Zeid)-
mung, ein Gemälde oder eine photographiiche Naturanfnahme als Vorlage
benußt werden ſoll, die vorzüglichiten Dienste; die Slluftrierung gewiſſer
wiljenjchaftlicher oder technischer Werfe dürfte ohne Heranziehung der
Autotypie überhaupt nicht möglich fein. Hieraus erhellt, daß der Buch:
händler alle Urjache hat, ich mit dem Wejen dieles Jlluftrationsverfah:
rens vertraut zu machen, und bejonders dem VBerlagsbuchhändler wird es
Vorteile bringen, wenn er ſich über die Fortjchritte auf dem Gebiete der
photographiichen Preffendrudverfahren im allgemeinen, joweit fie praktiſch
anwendbar find, unterrichtet. Wir Hoffen, über diejelben au Ddiejer
Stelle von Zeit zu Zeit berichten zu fünnen, und machen hiermit den
Anfang, indem wir — gewilfermaßen als Einleitung zu der Beſprechung
der photomechaniſchen Berfahren — den geichäßten Lejern Diejenigen
Männer in Wort und Bild vorführen, welche ſich um die Einführung
und Vervollkommnung der Antotypie in Deutichland in beionderem Maße
verdient gemacht haben.
Unfere Skizzen machen durchaus feinen Anſpruch auf Vollſtändigkeit,
wir wiſſen vielmehr jehr wohl, daß außer denjenigen, deren wir hier ge-
dacht haben, noch mancher andere Fachmann verdient hätte, in das Be—
reich unjerer Betrachtung gezogen zu werden (die Unterlaſſung geſchah
nicht abfichtlich, jondern weil es uns in den anderen Fällen wicht möglich
Die Pioniere der Autotvpie in Deutichland, 165
war, die notwendigen Unterlagen zu erhalten), doch hoffen wir, daß die
Mitteilungen auch jo wie fie find, einiges Interefje erregen werden.
Die Schwierigkeiten, welche zu befeitigen waren, um die Autotypie
tebensfähig zu machen, Schienen bis vor ungefähr 15 Jahren faft unüber—
windlich zu fein. Das größte Hindernis bildete dabei der Umftand, daß
e3 nötig war, die homogenen Halbtöne und Tonübergänge des Aufnahme-
gegenftandes in ein teils aus ganz durchlichtigen, teild ganz undurchſich—
gen Flächenfomplexen beftehendes Negativ umzuwandeln, denn nur, wenn
diefe Bedingung erfüllt wurde, war es möglich, ein Kliſchee Herzuftellen,
welches in der Buchdruderpreije, im welcher die Farbe über Die ganze
Druckfläche gleihmäßig aufgetragen wird, verwendet werden Fonnte.
Dieſes Ziel wurde auf verjchiedenen Wegen zu erreichen verjucht,
teils durch mechanische Körnung der Drudihicht, teils durch Zugrunde—
fegung gewiſſer chemifcher Erjcheinungen, durch welche das Bild während
der Belihtung unter dem Negattv auf der Gelatinefchicht fürnig entwidelt
wurde, teils auch durch Aufjtreuen von Harzitaub auf die nach der Be-
lihtung mehr oder wenig Flebrig gebliebene Gelatineſchicht der Platte,
aber alle diefe Methoden, jo finnreich fie zum Teil ausgedacht waren,
hatten nur geringen praftiihen Wert. Erſt von der Zeit au, da es ge
lang, genügend feine Lineaturen auf Spiegelglas herzustellen und dieje
Slasrajter während der Aufnahme des Halbtonnegativg in zwedentipre-
hender Weiſe zur Auflöjung der Halbtöne zu verwenden, datirt der Auf-
ſchwung und die induftrielle Verwendbarkeit der Autotypie.
Allerdings waren auch nicht gleich mit der Einführung diefer Glas—
rafter alle Schwierigkeiten bejeitigt; es zeigte fich vielmehr in der Praris
bald genug, daß das neue Verfahren noch in verjchiedener Beziehung ver-
vollfommmet werden mußte, wein es fonkurrenz- und leiltungsfähig wer-
den jollte, aber dieje Vervollflommmung ließ nicht lange auf fid) warten;
die Fortichritte, welche die Autotypie machte, waren ganz augenfällig
und ſchon nach wenigen Jahren war das Verfahren jo weit gebracht
worden, daß es Drude zu liefern vermochte, welche bezüglich der Kraft
in den Schatten und Weichheit der Übergänge getroft mit guten Licht-
druden verglichen werden konnten.
Diefes Schöne Ergebnis ift vornehmlich dem unermüdlichen Eifer der
Fachmänner und Foricher, deren Porträts wir hier veröffentlichen, zu
verdanfen.
I. Georg Meiſenbach sen.
Derjelbe ift am 27. Mai 1840 zu Nürnberg geboren. Er bildete
ih ala Kupferitecher aus und leiftete als ſolcher insbeſondere in Archi-
tefturftichen Hervorragendes,
166 Tie Rioniere der Autotbpie in Deutichland,
Im Jahre 1876 führte er, indem er zugleih nach München über-
jiedelte, dajelbjt die Zinfographie ein, die er zu Hoher Vollendung brachte.
Im Jahre 1881 verband er fich mit dem Architekten Joſ. Ritter von
Schmaedel, um die von ihm begonnenen Verſuche, mit Hilfe von Rajtern
auf photochemiſchem Wege Buchdrudfliichees direkt nach tonigen Drigi-
Georg Meifenbach sen.
nalen, wie Photographien, Tufchzeihnungen ꝛc. herzuftellen, in größerem
Maßſtabe zu betreiben.
Wie befannt wurden dieje Verjuche mit Erfolg gekrönt, jo da mit
Beginn des Jahres 1882, nachdem das Verfahren in allen Ländern pa-
tentiert worden war, an die Vffentlichfeit getreten werden konnte.
3. v. Schmaedel taufte das neue Verfahren „Autotypie”, wohl wiljend,
Die Rioniere der Autotvpie in Deutschland. 167
dat dieſe Bezeichnung dasjelbe nicht volljtändig dedt, aber dennoch daran
tefthaltend, weil diefes Wort für den praktischen Gebrauch ſich vorzüglich)
eignete, indem es ſowohl ald Haupt: wie auch als Zeit: und Eigenjchafts-
wort verwendet werden fonnte, ein wichtiges Moment für die Verwendung
im Spradgebraud).
G. Meiſenbach begründete zur Einführung des Verfahrens mit
3. v. Schmaedel die Firma Autotypie-Compagnie, deren gejchäftliche Lei-
tung 3. v. Echmaedel übernahm Er verblieb in der Firma bis zum
Jahre 1891, zu welcher Zeit er, veranlaßt durch ein jchweres Leiden, von
dem er ſpäter glüdlicher Weile wieder vollftändig hergejtellt wurde, ſich
aus dem Geſchäfte zurüdzog, in das nun fein Sohn Aug. Meiſenbach jr.
eintrat. Im Jahre 1892 verband fich die nunmehr Meiſenbach & Co.
benannte Firma mit der Firma Riffartd & Co. in Berlin. Heute bejitt
die Firma Meijenbah Riffarth & Co. drei große, nad) den neueſten tech—
niſchen Erfahrungen eingerichtete Inſtitute in Berlin, München und Leip—
zig. Über die rapide Entwicklung des autotypiſchen Verfahrens, das
heute bereits eine Weltinduſtrie genannt werden kann, ſind die hiſtoriſchen
Daten bekannt.
II. Zoſ. Bitter v. Schmaedel.
Der Mitbegründer der Firma Autotypie-Compagnie in München und
Teilhaber der Firma Meiſenbach Riffarth & Co. in München, Berlin
und Leipzig, Joſ. Ritter v, Schmaedel, ift am 10. Januar 1847 zu Re—
gensburg geboren.
Derjelbe machte nach Abſolvierung der Vorſchulen ſeine Studien am
Polytechnikum zu München und widmete ſich zunächſt der Architektur.
Nach ſeiner Rückkehr vom Feldzuge 187071, in welchem er bei Orleans
im Dezember 1870 als Offizier verwundet wurde, führte er ſowohl in
Münden wie im bayerischen Oberlande eine Reihe größerer und Heinerer
Bauten aus, durch die er jich einen geachteten Namen in feinem Fache
erwarb. Im Jahre 1874 wurde er zugleich artiltiicher Leiter des Baye-
riihen Kunftgewerbe-Bereing, inftallierte als folher im Jahre 1876 Die
große, epochemachende Deutſche Kunft- und Kunftgewerbe-Ausftellung zu
München und beteiligte fi) von da an bis heute fait an allen großen
Ausftellungen und Feftveranjtaltungen Münchens an leitender Stelle.
Zugleich entwidelte derjelbe eine umfaſſende jchriftitelleriiche Thätigkeit
jowohl in der Tages- wie in der Fachprefje, übernahm während mehrerer
Jahre die Redaktion der Zeitichrift des Bayerischen Kunſt- und Gewerbe-
Vereins und gab im Jahre 1881 beim 7. Deutichen Bundesſchießen die
erite reich illuftrierte Schützenzeitung heraus, welche für alle ſpäteren, der—
artigen Publikationen ſowohl bei den Schüßen- wie auch bei den Turn—
168 Die Pioniere der Autotvpie in Deutichland.
feften zum Vorbilde wurde. Bei Gelegenheit der Herausgabe diejer Feſt—
zeitung fam 3. v. Schmaedel in Berührung mit G. Meiſenbach sen.,
deffen Verſuche zur Herjtellung autotypiicher Drucdplatten jein Interefie
derartig erregte, daß er fich jofort, die hohe Bedeutung des Verfahrens
erfennend, mit ihm zum Ausbau und zur Einführung diefer Technik verband.
of. Nitter v. Schmaedel.
3. dv. Schmaedel war berufsgemäß von da an faſt ausſchließlich auf
graphiichem Gebiete thätig. Er verfertigte die erſten brauchbaren mit
Diamanten gezogenen Rafter auf Glas, und zwar in Größen von 80 cm
im Quadrat; eine für die damaligen Mittel und Erfahrungen bervor-
ragende Leiftung. Er arbeitete raftlo8 und mit großen Opfern an der
Propaganda: Einführung und Verbefferung der Autotypie und führte ein
Die Pioniere der Autotypie in Deutfchland. 169
eigenes Verfahren für typographiichen Farbendruck unter ausichließlicher
Verwendung autotypiicher Platten ein, das einen hohen Grad von Boll:
fommenheit erreicht hat und bis heute noch bei Verwendung von 4L—5
Drudplatten als das jicherite und leiltungsfähigite zu bezeichnen ift. Das-
jelbe findet immer mehr Verwendung und die Chromotypie nad) Schmae—
ER,
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Auguft Meifenbach jr.
del Syjtem bildet gegemwärtig eine Hauptabteilung des Münchener Hauſes
der Firma Meijenbad) Riffarth & Eo.
Infolge feiner ſchriftſtelleriſchen Ihätigfeit und jeines Hervortretens
im öffentlichen Leben Münchens wurde ihm das ganz bejondere Vertrauen
zu teil. Es gelang ihm, als er vor acht Jahren zum erjten Präfidenten
des Münchener Iournaliften- und Schriftitellervereing, al3 welcher er bis
170 Die Pioniere der Autotypie in Deutichland.
heute noch fungirt, erwählt wurde, in furzer Zeit die gejamte Preſſe aller
Parteien in dem genannten Vereine zufammenzuführen.
Große Xerdieufte erwarb er fih um die gejamte deutſche Journa—
liſten- und Schriftitellerwelt als I. Bräfident des glänzend verlaufenen all:
gemeinen Deutichen Journalilten- und Schriftitellertages in München 1893.
Seinen Bemühungen ift mit in erſter Linie die jegensreiche Begrün-
dung der Benfionsanftalt deuticher Journaliften und Schriftiteller zu ver-
danken, deren Leitung in feinen Händen liegt und die vorzüglich projperiert.
Eine Reihe hoher Auszeichnungen find die Beweije der Anerkennung,
welche die vieljeitige Thätigkeit v. Schmaedels aud) an den höchſten Stellen
gefunden hat. Er ift Ritter des königl. bayeriichen Michaelis-Ordens
1. 8. ä. O., Inhaber der goldenen Ludwigsmedaille für Kunft und
Wiffenichaft, Ritter des fgl. bayerischen Militärverdienftordens II. KL.
Inhaber der Feldzugsmedaille 187071, Ritter des öfterreihiichen Franz—
Fojephsordens 1. Kl. und Inhaber des Offizierskreuzes der italientichen
Krone.
II. Auguſt Meilenbad jr.
der Sohn des Herrn Georg Meiſenbach, ift am 4. November 1865 zu
Nürnberg geboren. Er trat nad) Abjolvierung der Handels- und Real—
ſchule zur Ausbildung in den graphiichen Fächern in das Gejchäft ſeines
Vaters ein und begab ſich im Jahre 1889 zur Vollendung jeiner Fach—
jtudien nach Amerifa, wo er ſich eingehend über die dortige Technik in:
formierte. Nach jeiner Rückkehr und nad) dem NRüdtritte feines Vaters
wurde er Teilhaber der Firma Meiſenbach & Co. und jpäter der ver:
einigten Firma Meiſenbach Riffarth & Co.
Durch die Einführung der amerikanischen Verfahren und die Ber-
bejjerung der photographiichen Methoden bei Herjtellung der autotypijchen
Negative erwarb jich derjelbe große Verdienfte um den Aufſchwung der
Firma Meijenbah Riffarth & Co., der er als würdiger Nachfolger feines
Baters feine ganze Kraft in hervorragendem Maße widmet.
IV, Zakob Ausnik.
Jakob Husnik, Sohn eines Förfters, bejuchte die deutiche Realſchule
in Prag und begab ſich 1857 auf die Malerafademie dafelbit, wo er bis
1859 jtudierte, und nad) Antwerpen in die Malerafademie übertrat, wo
er 1'/e Jahr lang verweilte. 1862 malte er mehrere Altarbilder in
Böhmen, einige Porträts und zwei größere Genrebilder für die Ausitel-
lung. 1864 wurde er als Profeljor des Zeichnens auf dem Realgym—
nafium in Tabor ernannt, wo er auch in der Stenographie und in der
franzöfiihen Sprache Unterricht erteilte.
Tie Pioniere der Autotppie in Deutichland. 171
In jeiner früheren Zeit befaßte er jich leidenschaftlich; mit praftifchen
Studien der Chemie und mit der Photographie. 1867 erzeugte er Pho—
tographien mit gewöhnlichen Metallen, indem er rotes Blutlaugenjalz mit
Leim und doppeltchromjaurem Kali vermijchte, auf Bapier auftrug, trodnete
und unter einem Negativ kopierte. Die Kopieen wurden zuerjt gut ge-
wajchen, um die Salze aus den Lichtern zu entfernen, aber dann, je nad)
der Farbe, die er erzielen wollte, verichieden behandelt. So ergab die
"Prof. Jakob Susnik.
Behandlung mit Eijenjalzen ein intenfiv blaues Bild von den jchönften
Halbtönen. Wurde die Kopie in eine Bleilalzlöjung auf längere Zeit
gelegt, wieder ausgewäfjert und mit Schwefelammon behandelt, erhielt er
ein jchönes dunfelbraunes Bild, und wenn er Ddiejes abermals in eine
ſchwache Eiſenchloridlöſung legte, jo verwandelte fi) das braune Bild in
ein blaues, und wurde diefer Vorgang rechtzeitig unterbrochen, jo rejultierte
ein Bild, deſſen ſchwächſte Schatten (alfo die Lichter) blau, die tieferen
172 Die Pioniere der Autotypie in Deutichland.
Schatten aber braun wareı, was namentlich für Landſchaften jehr jchüne
Wirkung gab. 1869 erfand er den Lichtdrud und verfaufte das ganze
Verfahren und das Recht der Ausübung an Joſ. Albert in München,
der jedoch dabei nur die Konkurrenz bezahlte, da er jelbit die gleiche Er:
findung gemadt hatte und belangreiche Proben jeiner Arbeit aufweilen
fonnte. (Darüber befitt er noch den Notariatsvertrag.)
1873 wurde er nad) Wien zur E. k. Staatsdruderei berufen, um
dort den Lichtdrud und die Photozinfographie mit Hilfe jeines photo:
lithographiichen Übertragungspapieres einzuführen. Er verblieb dafelbit
Edm. Saillard.
3 Jahre, und erfand zu jener Zeit die Heliographie mit Hilfe des Big:
mentprozejjes, wobei zuerjt Relief3 gemacht und galvanoplaſtiſch abgeformt
wurden. 1876 fehrte er nad) Böhmen zurück, indem ihm die Profeſſor—
jtelle am 1. böhmiſchen Staatsrealgymnafium in Prag angeboten wurde,
wo er auch verblieb und jofort an die Herausgabe einiger Werke fchritt.
Das erfte war: „Das Gejamtgebiet des Lichtdrucks“ (1877), welches eine
Lücke in der deutjchen Litteratur ausfüllte. Nachher folgte: „Die Helio-
graphie“ (1878).
In Prag errichtete Husnif eine photozinkfographiiche Anjtalt und
Die Pioniere der Autotvpie in Deutichland, 173
führte die erften Reproduftionen in Böhmen ein. Die Kunflanitalt ver:
größerte fi allmälig und e3 wurden viele Verbejjerungen gemacht. Spä-
ter jchrieb Husnik noch: „Die Zinfägung“ und „Die Reproduftionsphoto-
graphie”. Im Jahre 1888 ging er in Penſion, um feine Gejundheit zu
ihonen, und arbeitete in Compagnie mit feinem Schwiegerfohn Arthur
Häusler im Gejchäft, welches ftet3 mehr und mehr fi) vergrößerte.
1889 erfand er die Leimtypie und Neliefsdedel für Wafjerzeichendrud.
Eriteres Verfahren wird nicht mehr ausgeübt, da die Leimklischees in
einem Jahre jo hart und brüchig werden, daß man fie nicht mehr be-
nützen kann; aber die Neliefsdedel erfreuen fi in allen großen Papier:
fabrifen einer großen Anwendung, und bis jet werden fie nur von der
Firma H. & H. gefertigt. Im Jahre 1893 vervollfommmete er mit fei-
nem Sohne, E. d. PH. Iaroslav H. den Dreifarbendrud, den die Firma
5. & 9. jeit einem Jahre in großem Maßſtabe ausübt und auf welchen
fortwährend die Aufträge majjenhaft einlaufen. 1893 erfand Husnif die
Gelatinereliefs für die Kraftzurichtung, welche durch Reibung von der
belichteten Seite des Gelatinepapier3 entwicdelt werden. Das Verfahren
it patentiert, und mit jedem Kliſchee werden Reliefs geliefert.
V. Edm. Gaillard.
Einen ihrer thatkräftigſten und erfolgreichſten Vorfechter fand die
Autotypie in Edm. Gaillard. Derſelbe fertigte ſchon Anfang der 80er
Jahre Autotypien in Kornmanier. Seit dem Jahre 1883 produzierte er
ſolche mit Benutzung von Lineaturen.“) Schwierigkeiten, die hiermit ver—
bunden waren, führten ihn ſchnell dazu, aus Lineaturen transparente
Netze herzuſtellen und dieſe bei den Negativaufnahmen zu verwenden. Er
fopierte auch einfache Halbtonnegative durch rechtwinkelig übereinander
gelegte Kopieen von Lineaturen, die mit Gelatine abgezogen waren. Fort—
geſetzte Verſuche, tadelloſe Lineaturen zu erzielen, veraulaßten Gaillard
im Jahre 1891, ſolche direkt auf Glas zu ziehen; die großen, damit ver—
bundenen Anlagekoſten wurden Urſache, daß er ſeine bez. Produkte auf
den Weltmarkt brachte. Ende 1892 erſchien deſſen erſte gedruckte Offerte
von Glaslineaturen. Die bez. Fabrikation hat ſich ſo ausgedehnt, daß
die Firma Gaillard z. Zt. Glaslineaturen und Glasnetze in 9 verſchiede—
nen Hauptſyſtemen, jedes in vielfachen Variationen, fabriziert; dieſelben
werden teils auf Grund gezogen, teils in Glas geätzt, teils auf photo—
graphiſchem Wege erzeugt. Dieſe Fabrikation führte dazu, daß Gaillard
das Mikrojfop „Vagus“, ein Freihandmikroſkop zur Unterſuchung großer
Platten, Eonjtruierte, das für alle Neproduftionsphotographen ein unent—
behrlihes Handwerkszeug bildet.
*, Ginige der frübejten Ergebnijie der Gaillard'ſchen Arbeiten wurden von
Verfafler im 1. Jahrgange der „Buchhändler: Afademie” veröffentlicht,
&itterarifhes Kaftentum.
— — —
Als im Jahre 1884 Franz Hirſchs Litteraturgeſchichte auf dem
Büchermarkt erſchienen war, wurde ſie von Karl Bleibtreu im „Magazin
für Litt.“ ein „unzweifelhaft bedeutendes, in gewiſſem Sinne epoche—
machendes Werk“ genannt und mit folgendem enthuſiaſtiſchem Lobespäan
begrüßt: „Die Schilderung der mittelhochdeutſchen Poeſie iſt ein Meiſter—
werf, herrlich ilt das Kapitel über Quther, trefflich das über Ulrich von
Hutten, ausgezeichnet jind die Betrachtungen über die Romantifer; —
troß meiner Einwürfe — die bejte aller bisherigen (Litteraturgejchichten)
bleibt fie doch!” — In der „Beitichrift für deutjches Altertum ꝛc.“ ließ
ih) aber Prof. Elias Steinmayer alfo vernehmen: „Wie jemand, der
Scherers Litteraturgeichichte fennt, es über fich zu gewinnen vermocht hat,
ein jo klägliches Machwerk zujtande zu bringen, als welches ſich das vor-
liegende Buch auf jeder Seite dokumentiert, läßt ſich faum begreifen....
Der Berfafjer weiß nicht, was er thut; aber aufrichtiges Bedauern ver-
dient derjenige, welcher aus diejer Litteraturgejchichte feine Kenntniffe zu
Ihöpfen verurteilt ift!“ -
Ich traute faum meinen Augen. Wie? — rief ih — iſt es mög:
ih, daß zwei nur halbwegs gebildete Leute über ein und dasjelbe Bud
Äußerungen zum beften geben, welche den diametralften Gegenjat bilden?
Kopfihüttelnd griff ic) nad) weiteren Nezenfionen und fand in den „Göt—
tingiichen gel. Anzeigen“ Steinmayers Urteil durch Friedr. Vogt vollauf
bejtätigt, während die übrigen „günftigen” Beſprechungen eine chromati-
Ihe Tonleiter der Lobhudelei ergaben. Ich geitehe, daß mich gelinde
Berzweiflung erfaßte. Nichts liegt mir ferner, als die Integrität des
Urteils jener beiden Herren bezweifeln zu wollen. Es hält aber jchwer,
angefichts diefes Fritiichen Tohumwabohu über die Zulänglichkeit der menid:
lichen Urteilsfrait überhaupt, ſpeziell aber über die Nüglichfeit und Not-
wendigfeit der Kritik fi) der allerpeifimiftiichten Empfindung zu erwehren.
Und dies ift beileibe nicht das einzige Beiſpiel. Jeder, der nur ein
Bud) in jeinem Leben geichrieben, fünnte auf diefes Thema die drolligiten,
Litterariiches Kaſtentum. 175
reizendften Hiftörchen erzählen. Wie ergößlich ift beiſpielsweiſe die Ver—
wunderung Bleibtreus, der a. a. Orte Hirjchs Urteil, welcher ihm eine
hohe Iyrijche Begabung zujpricht, Leixners Ausſpruch entgegenhält, welcher
ihn einen bedeutenden PBrojaichriftiteller nennt, „aus dem jedoch nie ein
Lyriker werden könne” — ! Oder Gutzkows wutjchnaubenderjAusfall in
jeinem „Dionysios Longinus“ gegen Ebers' vergötterten Roman „Homo
sum*, der ihn „zu erjtiden drohte!” Ich brauchte wahrlich ftatt aller
weiteren Grörterungen bloß zwei Rezenfionen desjelben Werkes einander
gegenüberzuftellen und die ganze Jämmerlichkeit der deutjchen Kritif müßte
den Lejer vor Augen treten. Wenn ich dies nicht thue, jo find es einzig
nur die Raumverhältniſſe dieſer Zeitichrift und die Abneigung gegen per-
jönlihe Angriffe, die mich davon abzuhalten vermögen.
Sp weit ift eg alſo gefommen! Man denke fich nun den hHarmlojen,
unbefangenen Laien, der ſich über Wert oder Unwert eines Buches zu
unterrichten wünjcht, man denke ſich den Ausländer, der einmal die viel-
gerühmte deutjche Kritik fennen zu lernen begierig ijt, — wie arg werden
dieje enttäufcht jein! Daß den deutjichen Sritifern alles eher, als ihre
objektive Überzeugung die Feder führt, daß vielmehr ihr freie Urteil
längft durch das Vorurteil verdrängt worden und ihre Kritit nunmehr
aus bijjigen Bemerkungen oder ſchamloſen Kobeserhebungen jtatt jachlicher
Ausführungen beiteht, werden jie bald einjehen. Und mit diejer Einficht
wird ſich aufrichtiges Bedauern und Mitleid paaren, — Mitleid mit den
deutihen Schriftitellern, welche, nachdem fie ein Dubend jolcher hirnver—
wirrender Nezenfionen gelejen, jo klug bleiben, als wie zuvor, und an-
itatt die Kritit als ihre Lehrerin und Führerin zu verehren, für fie nur
ein Lächeln der Verachtung haben, — Mitleid mit dem deutſchen Schrift-
tum und dem armen Publikum, die alles Halts und aller Stübe bar,
ſich jelbjt überlafien find; — Mitleid endlich mit der deutjchen Druder-
ſchwärze, welche zu jo würdelojem Treiben mißbraucht wird.
Und fragen wir nun, wie dies alles jo gefommen, jo werben wir
die Antwort lediglich nur in troftlofen Parteiverhältniffen zu juchen ha—
ben. Die Phalanx der deutichen Kritifer Hat jich in zwei feindliche Lager
geipalten, deren eines die Gelehrten, das andre die Belletriften („Schrift:
fteller von Fach“) bilden, Jede diefer Parteien zerfällt in einzelne Bar-
teihen und Fraktionen, die einander bejtändig in den Haaren liegen.
Jede hat ihre speziellen Organe, ihre eigene Schreibweije, ihren eigenen
Rezenfionsmodus. Die einen jchreiben gründlich, gediegen und ernit, die
andern oberflächlich, flüchtig und jpielend, die einen jchreiben einen
meiſt trodenen, ledernen Stil, die andern juchen ihre Auslafjungen mit
Humor und geiftreihen Apergus zu verbrämen; die einen jchreiben nur
für enge Fachkreife, die anderen für das große Publikum und geben fic
176 Yitterariiches Kaſtentum.
deshalb Feine Mühe, die volle Objektivität zu wahren, während die an:
dern jtreng jachlich zu jein fich bejtreben; die einen klammern ſich an Die
Vergangenheit feſt und treiben mit einzelnen Perjönlichkeiten einen mehr
als erlaubten Kultus, während die audern nur für die Gegenwart (oder,
wie fie ſchön jagen: die „Jetztzeit“) leben und von hiſtoriſcher Entwick—
lung nicht hören wollen. Wie man fieht, jind die Gegenjäge recht ſchroff,
fie verjhärfen ſich aber jedesmal gewaltig, jobald das rege litterariiche
Leben eine Kollifion nicht mehr vermeiden läßt. Wehe dann dem „Schrift:
jteller von Fach“, der über ein wiſſenſchaftliches Thema zu jchreiben
wagt, wehe dem deutſchen Profeſſor, welcher über breunende litterariſche
ragen der Gegenwart ein Wort mitzureden ſich erfühnt! Gleich erjcheint
in den Organen der Gegenpartei eine Flut von Nezenfionen, die ihre
VBoreingenommenheit mehr oder minder zu bemänteln ſuchen, immer jedoch
von jpigen Bemerkungen und hämiſchen Anjpielungen triefen. Diejenigen,
die gegen ihre Fachgenoſſen die mildeite Nachficht walten lajjen, werden
plöglich blind für die Vorzüge des betreffenden Werkes, fie jehen nur die
Schattenjeiten desjelben und rufen dem fremden Gindringling „procul
abeste profani!* entgegen. Die einen verlachen das jeichte Feuilleton:
Geſchwätze, die andern bejpötteln die Profefjorenweisheit und Scul-
meifterei ihrer Gegner. Und erlaubt ihnen die Berühmtheit oder Be-
liebtheit der leßteren nicht aus der Durtonart zu reden, dann werden fie
weich und miürbe, bedauern, daß ein jchönes Talent fich jo leichtfinnia
zerjplittere zc., — was dann erneute Ausfälle gegen die „Kathedermänner“
zur Folge hat, „die ſich die Wiſſenſchaft gepachtet Hätten“ und was der-
gleichen Artigkeiten mehr jind. Allein diejes Zeter- und Mordiogeichrei,
diejes geheuchelte Bedauern der Gegner bewirkte bloß, daß das fragliche
Werk den Parteigenoſſen des Verfajjers doppelt willfommen und natürlich
in dem rofigiten Lichte ericheint. Die unerbittlichjten Ariltarche werden
auf einmal die Milde und Nachficht jelber und rufen den Gegnern freude-
trunfen Correggios Worte, daß „auch fie Maler jeien” entgegen. a,
fie laffen jich jogar herbei, wader die Reflametrommel zu rühren und
übertreffen darin die berüchtigiten Verleger. Und damit berühren wir
eben einen der heifeljten, wundeiten Punkte der heutigen Kritik. An
Stelle der Unparteilichfeit ijt blinde Parteilichfeit getreten, ftatt zu be-
lehren und zu bejjern, appelliert fie an die niedrigften Triebe, an Zanf-
ſucht umd Neid. Natürlich bezieht ſich das Gejagte vornehmlich auf ſolche
Schriften, die zur Entfachung der Barteileidenichaft Anſtoß zu geben ver-
mögen, Daß e3 auch in anderer Hinficht um die deutjche Kritik nicht
am erfrenlichiten jteht, iſt ſchon des öfteren hervorgehoben worben und
müßte in nenerliher Darjtellung über den Rahmen diefer Skizze hinaus-
führen.
Litterariiches Kaſtentum. 177
Einen gewifjen Antagonismus zwiſchen dem gelehrten und ungelehrten
Deutichland Hat es immer gegeben. Er wird durch die oben dargelegten
Gegenjäge bedingt und begründet. Gleichwie der jchöngeiftige Dilettant
den feftgejchlofjenen, allen äußeren Aufputz verjchmähenden Gelehrten ver-
abicheut, kann es der wahre Gelehrte nie dulden, daß ihm ein Unberu-
jener (Berzeihung dem Worte) ins Handwerk pfuſcht. Ein Unberufener,
d. h. derjenige, dem die nötigen Spezialjtudien abgehen, der, weil er ſich
mit der Wiſſenſchaft nur vorübergehend beſchäftigt, ſich auf dem Laufen—
den nicht erhalten kann und daher das Publikum nur irreführt und
täuſcht. Und außerdem, wie oft kommt es vor, daß, was der Gelehrte
geſäet, der ſchriftſtellernde Dilettant erntet oder (ſiehe die Feuilletons der
politiſchen Tagesblätter) das in mühſamer Arbeit Errungene, um es dem
Leſer mundgerecht zu machen, verwäſſert und zerbröckelt! So weit iſt
alſo jener Antagonismus gerechtfertigt oder wenigſtens erklärt. Bedauer—
lich bleibt es aber, wenn derſelbe ſich in leeren Kathederneid wandelt,
wenn einem Manne, der geniale Geiſteskraft mit tiefer Gelehrſamkeit und
gründlichem Fleiße verbindet, bloß deshalb, weil er durch Fügung des
Zufalls keine Lehrkanzel inne hat, Anerkennung und Aufnahme in die
Gelehrtenrepublik verweigert wird. Dann wird jene an ſich berechtigte
Abneigung zu pfäffiſcher Unduldſamkeit, deren Gifthauch allen Fortſchritt
im Keime erſtickt und zur Verzopfung der Wiſſenſchaft ſelber führen muß.
Leider ließe ſich hierfür ſo manches betrübende Beiſpiel zitieren. Wie
bitter hat ſich beiſpielsweiſe Schopenhauer ſein Lebenlang über die Miß—
gunſt der deutſchen Profeſſoren beklagt, die hartnäckig an dem Grundjage
feſthielten, daß nach Kant, Fichte, Schelling, Hegel nur noch das Katheder
die Heimſtätte der Philoſophie ſein könne. Und hat man ſich denn nicht
entblödet, ſelbſt gegen Darwin dasſelbe thörichte Argument ins Feld zu
führen? Darüber kann man freilich mit Fug und Recht ſchamrot werden
und nur neuerdings die Überzeugung ſchöpfen, daß Abneigung gar zu
nahe an Vorurteil und dieſes an blinden Fanatismus grenzt.
Wie ganz anders war dies im vorigen Jahrhundert! Zwar wurde
auch damals mißtrauiſch über die Achſel angeſehen, wer ſich auf ein Ge—
biet wagte, das ihm bisher fremd geweſen, „denn nach ſeinem Wunſch
ſich gut und gleichförmig bedient zu ſehen, verlangt das Publikum an
jeden, daß er in ſeinem Fache bleibe“ — und dies hat auch Goethe, von
dem dieſe Zeilen ſtammen, ſelber erfahren müſſen, als er ſeine Schrift
über die „Metamorphoſe der Pflanzen“ von dem getreuen Göſchen ohne
irgend einen Grund zurückgewieſen erhielt. Allein von einem Katheder—
dünkel, von einer Profeſſorenzunft, war nicht der leiſeſte Schatten zu
ſehen; im Gegenteil: wer ernſt, ehrlich und unverdroſſen nach Wahrheit
ſtrebte, war eines freundlichen Willkomms und fördernder Unterſtützung
12
178 Litterariſches Kaſtentum.
ſicher. Stand doch Goethe ſelbſt mit jo manchem deutſchen Profeſſor in
gelehrtem Briefwechſel und die Prof. Gottſched, Gellert, Bodmer und
Haller, ihrerzeit hervorragende Gelehrte, ſtanden mit dem Publilum in
lebhafteſtem Wechjelverkehr. Erft im Laufe der Zeit trat eine Einjchrän-
fung und jtrenge Abjonderung der einzelnen Wifjensgebiete ein. Männer
von jo umfajjendem Wirkungsfreis wie Jakob Grimm und Wild. v. Hum-
boldt wären heute faum noch zu finden, und fänden fie jich, dann wür—
den fie mit jcheelen Augen angejehen werden und müßten den Vorwurf
vernehmen, fie jeien litterariiche Überalle, die ihre Anlagen verjchleudern
u. dgl, mehr. Andrerſeits ward das in jedem Wiſſenszweige angehäufte
Material jo groß, daß man, um es zu bewältigen, nur ausſchließlich in
einer Richtung fortarbeiten mußte Wer fi der Wiſſenſchaft weihte,
mußte auf alle andern Berufsarbeiten verzichten und wer nicht im vorn-
herein mit Glüdsgütern gejegnet war, der mußte jchweren Herzens der
Wiſſenſchaft entjagen: jo kam es, daß die Begriffe Gelehriamfeit und
Lehramt immer mehr zujammenfielen und jene unheilvolle Spaltung un:
vermeidlid) wurde. Allerdings ift die Einführung dieſes Prinzips der
Urbeitsteilung auch nicht ohne gewilje Vorteile: die deutichen Gelehrten
gingen nun mehr in die Tiefe, verjenkten fich liebevoll ins Einzelne und
brachten die deutiche Wiffenihaft zu ungeahntem Aufſchwung und domi-
nierender Stellung in Europa.
Wohlgemerft: die deutiche Willenichaft, nicht die einzelnen Wiſſens—
zweige. Denn wenn es ji auch nicht leugnen läßt, daß die Natur:
wiſſenſchaften durch dieſes Vertiefen in das Sleinleben der Natur viel
gewannen, jo ift anderjeits die klaſſiſche Philologie in ein bedauerliches
Alerandrinertum verfallen. Der alte Bödh Hatte nicht ganz Unrecht,
wenn er der Philologie als folder alle Berechtigung zum jelbjtändigen
Dafein rundweg abſprach, denn eine Altertumswiljenjchaft in jo weiten,
ihönem Sinne, wie fie der große Fr. Aug. Wolff oder Humboldt vor
Augen hatten, iſt heute nur ein idealer Begriff mehr geworden. Statt
deſſen verfiel man in Feinliche Wortflauberei und mißhandelt die armen
Klaſſiker mit Editionen und Kommentaren — natürlih zum größten Er-
gößen des abjeitöjtehenden Laien, der ich dabei jehr jeltiam an Helena
gemahnt fühlt, welche aus Fauſts Armen entihwindend nur die Gemwän-
der in jeiner Hand zurüdläßt. Doppelt beflagenswert ift e8 jedoch, daß
die Haffiihe Philologie ihre Fangarme auf ein Gebiet ausgeftredt hat,
auf welchem fie am wenigften wünjchenswert ift: auf das der deutſchen
Ritteraturwifjenichaft. Es giebt faum einen Wiſſenszweig, welcher jo ſehr
der engften Fühlung mit dem Volke bedürfte, wie dieſer. Der Litterar-
biftorifer erforicht ja das Geiftesleben feiner Nation, er wuchert mit
ihrem teuerjten Gute, ihrer Litteratur; er ift Daher ihr (der Nation) vor
Litterariſches Kaſtentum. 179
allen Rechenſchaft ſchuldig. Auch er ſoll, wie der Geſchichtsſchreiber, in
gewiſſem Sinne Lehrer und Richter ſeines Volkes ſein, nicht aber, ein
„odi profanum vulgus“ auf den Lippen, ſich vornehm in fein dumpfes
Gelehrtenjtübchen einjchliegen. Heute ift dies alles freilich nur zu einem
frommen Wunjche mehr geworden. Als unter dem Einflujfe der Ro—
mantif die altdeutihen Studien in Angriff genommen wurden, fiel es
no niemandem bei, auf diejelbe die kühle Seziermethode der Hajfiichen
Philologie anzuwenden. Man leje nur Wilhelm Schlegels Berliner Vor—
lejurgen oder Uhlands Walther-Biographie und man wird leicht erfennen,
daß die Sprach- und Litteraturdenkmäler der Vorfahren noch als ein koft-
bares Vermächtnis mit Pietät und Liebe behandelt wurden. Das Titte-
raturſtudium wurde noch als ein integrierender Beitandteil der Litteratur
jelbft betrachtet und demgemäß zögerten auch die hervorragendften Ger-
manilten, wie Grimm, Simrod, Wadernagel, Lachmann, Ettmüller*) nicht,
on der Litteratur jelbjt fig mit mehr oder minder wertvollen Gaben zu
beteiligen ; andere Litterarhiftorifer, wie Menzel und Gervinus, nahmen
an dem Geiftesleben ihres Volkes regeften Anteil. Doch Gervinus jchon
bezeichnet die Wendung. Er ging von der Anficht aus, daß in Goethe
und Händel das nationale Geiftesleben feinen Höhepunkt erreicht habe
und riet daher am Schluſſe feiner (ſonſt trefflichen) Litteraturgejchichte
dem deutjchen Volke an, es möge nunmehr nad) jo erfolgreicher Arbeit
längere Zeit ausruhen, um nicht den Wert des Erreichten Durch wertlofe
Schöpfungen herabzumindern. Sein Beilpiel wirkte anftedend. Noch
heute — und es ift bereits ein halbes Jahrhundert her — jtehen die
deutichen Gelehrten auf dem Standpunkte des geiftreichen, jedoch einjeitig
befangenen Frankfurter Profeſſors. Sie ignorieren die Gegenwart oder
iprechen fich gelegentlich über ihre Hervorbringungen geringichäßend aus
und ſchwärmen dafür für die gute alte Beit. Selbjt der unvergeßliche
Scherer konnte fih von diefer Voreingenommenheit nicht [osreißen: in
jeinem herrlichften Werfe kehrte er ja der modernen Dichtung den Rüden,
weil er fürchtete, die Darftellung derjelben müßte ſich wie ein „zerjtreuter
und zeritreuender Anhang” ausnehmen. Da haben wir alfo die alte,
barode Anſchauung Gervinus’ neu aufgewärmt und obendrein im Xerte
(S. 20, 632) durch Klagen über den Verfall der deutichen Litteratur
befräftigt. Arme Epigonen!
Um nun für das mutwillig Aufgegebene Erſatz zu finden, erfand
man eine neue Wifjenichaft: die deutſche Philologie. Philologie — nicht
etwa in dem umfafjenden Sinne Jakob Grimms, der in allen Richtungen
*) Übrigens ift einer der Führer der germaniftiigen Wiſſenſchaft, Karl
Bartich, ſ. 3. als formgewandter, nicht fonderlich origineller, doch gemütreicher
Iprifer herborgetreten.
12*
180 vitterariiches Kaftentum.
die geheimften Regungen des germanijchen Geiftes zu erfaſſen verjtand,
jondern nach dem Mufter der Elaffiihen Philologie, der man es glüdlic
abgudte, wie ihre Jünger ſich räufpern und jpuden. Man durchforjcht
nun emfig Handſchriften und Quellen, fchreibt Kommentare und Glofiare,
ediert die alt- und mittelhochdeutſchen Dichter („Klaſſiker“ nennt man fie)
zu jo und jovieltem Male und jchreibt unverdauliche Abhandlungen über
die „Stellung von Subjekt- und Prädikatsverbum in Heliand“ u. dgl.
Ja, man geht jogar jo weit, diejelbe Methode an meuere Dichter anzu-
wenden: auch hier parallelifiert und anatomifiert man, zerpflüdt die jchönfte
Blume und zerfajert unbarmherzig das organiſchſte Kunftwerf. Wohin
das führt, beweiſt aber am deutlichjten eine der legten, geiitvolliten Ar-
beiten Scherer (Goethe-Jahrb. V), in welcher er durch blendende Be-
weisführung im Anfangsmonologe des Fauſt einen „unlösbaren Wider-
ſpruch“ nachwies. Und derjelbe einjeitige Kultus der Vergangenheit mußte
auch naturgemäß zur maßlojen Vergötterung einzelner Berjönlichkeiten
führen. Weil man Goethe als den Edpfeiler, den Markitein der deut-
ihen Dichtung anfieht, glaubt man fich berechtigt, jeden Wäjchezettel,
jeden Geichäftsbrief aus jeiner Hand zur fojtbaren Religuie aufzubaujcen
und über den großen Unfterblichen einen Wuſt von Büchern zu jchreiben,
welche die Lektüre feiner Schriften einfach überflüjjig machen.*) Im diejer
Beziehung haben ſich namentlich die beiden Goethewürmer Dünger und
v. Zoeper (die, beiläufig bemerkt, einander dennoch immerfort im den
Haaren liegen) eine traurige Unsterblichkeit erworben.
So weit fonnte, wer nicht im vornherein „fachmäßig“ gedrillt war
und einigen gejunden Geichmad jich bewahrte, den Herren nicht mehr
folgen. Es bildete ſich meben der gelehrten, eine zweite, volfstümliche
Ritteraturgeichichte heraus, deren Jünger (Gottſchall, Leirner, Hirſch, Ad.
Stern u. dv. a.) zu jenen in bewußten Gegenja traten. Sie behandeln
mit Vorliebe die Litteratur der Neuzeit, legen an die Schriftiteller früherer
Zahrhunderte (wohl der lieben Abwechslung halber) den alleritrengiten
Maßſtab an, Tuchen ihre Daritellung durch allerlei Beiwerfe (Zitate,
Polemik, Wige) interefjanter zu machen und ftreben nad) einer gefälligen,
finnlich belebten Sprache. Leider laſſen ihre Produfte faum weniger als
*) Hier zwei kräftige Ausiprücde darüber:
„Bei unferen Diodfuren Goethe und Schiller und mit ihnen als Vorläufer
Shakeſpeare leijtet die Phraje Unglaubliches. Alle drei find die Leitfaden für die
Behandlungsweiſe der praftiichen Aithetif nn Die Kathederwelt ift von
dem Pathos diejer Namen wie fasziniert... . Der gelunde Menichenveritand
bat über Goethe feinen Ausweg mehr... . Bei welcher Nation kommt der—
gleichen vor?“ (Gutzkow.)
„Bis dahin glaubten wir, Goethe ſei ein Poet, nachgerade erkennen wir
daß Goethe eine „Wiſſenſchaft“ it.“ «Hier. Lorm.)
Yitterariiches Kaſtentum. 181
alles zu wiünjchen übrig. In der Behandlung älterer Partieen legen fie
eine manchmal ganz eritaunliche Unwiſſenheit an den Tag, weil fie über
die Ergebnifje der neueren Forihung naturgemäß mit Fühler Vornehmheit
hinweggehen; in zahllojen Abjchweifungen und Interjeftionen macht fich
der Mangel einer methodiichen Geiftezjchulung, in der einjeitigen Begei—
fterung für Kraft- und Originalgenies (Lenz, Grabbe, Büchner u. a.),
der Mangel einer äjthetiichen Durchbildung unliebjam geltend. Peinlich
wirft aber ihr pomphafter Wortihwall, aus dem nicht jelten eine er-
ihredende Inhaltslehre ung entgegengähnt; peinlich natürlich für den ein-
fihtigen Leſer, welcher fi) durch gezierte Rhetorik nicht beraufchen Täßt,
jondern aud „anerkannten Größen“ jfeptiich auf die Finger zu Elopfen
wagt. „Den leichten Schaum müßiger Gedanfen nimmt unjere Haupt:
und Heldensprache nicht auf” — jagte einmal Leibniz und das mögen
ſich dieſe „Größen“ gejagt fein laſſen. Daß bei diejer Hohlheit ihrer
Schriften das ſtolze Selbitbewußtjein, mit dem die Herren auftreten und
über achtungswerte Gelehrte voreilig den Stab bredjen, jchlechterdings
fomiich erjcheinen muß, brauche ich nicht erſt zu verfichern. Trotzdem
ihre Wiſſenſchaft auf Abwege geraten, find dennoch erniten, ehrlichen
Forſchern, wie die deutichen Germanijten, effefibuhlerische Belletriſten
noch faum würdig die Schuhriemen aufzulölen. Ich jage: effeftbuhleriiche
Belletriften und bin gern zu erweilen erbötig, daß die meilten ihrer Bü—
her „nicht deshalb gejchrieben find, damit man draus etwas lerne, ſon—
dern damit man wilje, daß der Verfaller was gewußt habe“ (Goethe).
Oder jprechen etwa gaufleriiche Salbadereien, wie Diejenigen eines König
e. t. q. nicht aller Litteraturgejchichtsichreibung Hohn? Und Tafjen fich
das irrlichterierende Geiftreicheln, die fampfesluftige Teilnahme an den
Geiftesichlachten der Gegenwart und die Händeljucht der übrigen Herren
derjelben Schule mit dem Berufe eines Gelehrten, der jein Volk zu bilden
und zu lehren Hat, vereinbaren? Nein, das heißt doch über das Biel
binausgejchofien.
Ein inniger Wechjelverfehr zwiſchen Gelehrten und ihrer Nation,
frendige Mitteilung und Verbreitung wiſſenſchaftlicher Errungenjchaften,
Vermeidung aller zopfigen Floskeln, effeftloje Anmut der Darftellung ver-
bunden mit Würde und ernſtem Belehrungseifer — dies alles, zu einem
ihönen Ganzen verknüpft, it und bleibt unjer deal! Auf dem Gebiete
der deutjchen Litteraturforihung jcheinen dieſe Forderungen nun endlich
in Erfüllung zu gehen. Wilhelm Scherers Litteraturgejchichte, Erich
Schmidts Lejfingbiographie und das von Kürjchner herausgegebene Mo-
numentalwerf wenden ſich an die weiteften Kreiſe des deutichen Volkes
mit. dem Beftreben, die Ergebnilje der Wiſſenſchaft zu popularifieren.
Mögen fie die Vorboten und die Gewähr einer bejjeren Zufunft jein!
182 Pitterartiches Kaſtentum.
Leider it damit noch nicht alles erfüllt: der Produktion der Gegenwart
ftehen ja die deutjchen Gelehrten noch immer Fühl bis ans Herz hinan
gegenüber! Sie, die Beſten ihrer Nation, die, auf dichteriichem Gebiete
nicht thätig, nicht wie die anderen felber Partei find, die vermöge ihrer
biftoriich-äfthetiichen Kenntniffe eher als die andern die dichteriiche Pro—
duftion zu leiten geeignet wären — fie haben für die Erzeugnifje der
Neuzeit nur Spott und überlegenen Hohn, ohne zu bedenken, daß die
Objekte ihres Spottes nad) Verlauf einiger Jahrzehnte zu Gegenftänden
tieffinniger Unterfuchungen werden. Wir verfennen die Schwierigkeit
eines jolhen Unternehmens wahrlich nicht, wir begreifen, daß es ungleich
leichter ift aus idealer Ferne zu urteilen, — allein, bis die deutichen Ge-
lehrten zu jener „Ferne“ gelangen, wird ihnen die Litteratur ſchon wie-
der vorauseilen, wird das jet noch Gährende abgeklärt jein und eine
der jet ringenden Strömungen — vielleicht zum Nachteile der Poeſie —
längit den Sieg davongetragen haben. Dielen Verfall aber zu verhüten,
die Dichteriiche Produktion von den Höhen der Theorie herab zu leiten
und zu fördern, dem Schönen und Wahren zum Durchbruch zu verhelfen
den Unberufenen jedoch energiih: „manum de tabula!“ zuzurufen, —
das ift der deutſchen Litteraturgelehrten Heiligite Pflicht. Nur thörichte
Selbittäufhung und Hoffart können diefer Pflicht fich entziehen! Aller:
dings müßte man, um das erwünjchte Ziel zu erreichen, das Gezänfe der
Heineren Fraktionen und „Schulen“, die ja auch Heute den Fortichritt
der Wiſſenſchaft merklich hemmen, vor allem jchlichten.
5. Wollerner.
>
Künftler und Kunfthändler im Fenbach-NYrozeß.
— — —
Auch die Kunſt vermag nachzuweiſen, daß ſie ihre Schickſale hat;
nicht nur die Künſtler allein. Dieſe Thatſache ging zur Evidenz hervor
aus dem vielgenannten und erſt kürzlich zum Abichluß gebrachten Len—
bad Prozeß, der während 24 Jahre die Einwohnerjchaft Münchens
etwas in Aufregung erhalten, ja das Intereffe der ganzen gebildeten Welt
in Anſpruch genommen bat. Nichts, natürlicher wie das; ein Künftler,
der der Öffentlichkeit angehört, der für die Allgemeinheit jchafft, der darf
zum Voraus ſich verfichert halten, daß ſich auch die Allgemeinheit mit
den ihn betreffenden Vorgängen beſchäftigt, daß fie mit Intereſſe deren
BWeiterverlauf bis zu einem gewiſſen Abſchluß verfolgt.
Dies alles ließ ſich vom Lenbach-Prozeß jagen. Ein Künftler von
ſolch hervorragender Begabung wie Lenbach, der uns die unvergleichlich
Ihönen und getreuen Porträts unferes Bismard ſchuf, ein ſolcher Künft-
ler hat ſich im eigenen Intereſſe fernzuhalten, was ihm und feinem Namen
nur irgend wie von Nachteil jein fünnte; dies hätten wir auch vom Maler
Franz von Lenbach gewünjcht, und, jeien wir, -aufrichtig, mit Bedauern
erfüllte es uns, als diefer unerquidliche Fall zur Öffentlichkeit gelangte.
Wir hätten vielmehr gewünjcht, und ficherlic) wäre es im Intereſſe von
Lenbachs gewejen, er hätte hoheitsvoll, von der hohen Warte des Schönen
herab, die Vorgänge paſſieren lafjen, ohne irgend weld Aufheben! von
der Geſchichte zu machen, ruhig und ſpurlos wäre dieſe vorübergegangen;
der Ruhm und die Bedeutung von Lenbachs hätte in kurzer Zeit die ent-
ftandenen Gerüchte ꝛc. überftrahlt: die Erhabenheit hoher Denkungsart
würde ihm völlig zuerfannt worden jein.
Warum wir dies alles jagen und noch dazu an diejer Stelle, ift
äußerft einfah. Für und Buchhändler Hat der Fall darum ein bejon-
deres und höheres Intereſſe, weil einer unjerer Berufsgenofjen, ein als
Kunfthändler und Verleger wie litterarijch gleichverdienter Kollege mit in
den Prozeß verwidelt gewejen if. Darum auch können wir nicht umhin,
den Berlauf und den Abſchluß des Prozeſſes hier an dieſer Stelle in
nähere Betrachtung zu ziehen.
184 Künſtler und Kunſthändler im Lenbach-Prozeß.
Wir ſetzen voraus, daß die Entſtehungsgeſchichte des ganzen Prozeſſes
unſeren Leſern bekannt bezw. noch im Gedächtnis iſt. Dennoch wollen
wir dieſe kurz wiederholen: Der Verkauf einer größeren Anzahl Skizzen
des Malers Frz. von Lenbach bildete vor einigen Jahren bald Etadt-
geipräd in München. Die Einen erflärten den Verkauf als Folge finan-
zieller Schwierigkeiten Lenbachs; die Anderen fuchten den Verkauf ſich
dadurch zu erklären, daß Lenbach Berwandten, denen eine finanzielle Zu:
wendung vielleicht von nöten war, dieſe Skizzen eigentümlich, zur eigenen
Verwendung überlajjen hatte Die Fülle der zum Verkauf gelangenden
Skizzen, das öffentliche Feilbieten derjelben, ließ jeden etwa entjtehenden
Zweifel unterdrüden, daß es fich hierbei um unrechtmäßige Verkäufe han-
deln könne. Die Skizzen fanden reißenden Abjab; fie wurden gut be-
zahlt, rührten fie doch von Franz von Lenbach her. — Dem Maler jelbit
blieben dieje Verkäufe nicht unbekannt; ja es ift mit Beſtimmtheit nad)-
zuweilen, daß er davon Kenntnis hatte. Indeſſen Lenbach reagierte nicht
hierauf; er verhielt ſich ſchweigſam und ruhig ließ er den weiteren Ber:
fauf gewähren. Da auf einmal raffte er fich auf; er erftattete Anzeige,
es wurde Anklage erhoben und der Prozeß begann; das war vor etwa
24 Jahren.
Barum das Lenbah that, ift uns und vielen vielleicht mit uns
ein Rätjel: ob die Furcht vor jeinem finfenden Anjehen ihn zu diejem
Schritt bewog, wir wiſſen es nicht; Thatſache ift, daß er ein Jahr lang
ruhig duldete, daß die Skizzen (wie er jelbjt jagte: vor 30 Jahren ge-
malt), beim Neubau feines Hauſes ausgeräumt wurden zum Zweck des
Einjtampfens.
Bon 50 Käufern alter Lenbach'ſcher Skizzen auf verjhimmel-
ten Bappendedeln und Leinwandfegen (unter den Käufern Damen
des höchſten Adels!) wurden ca. 15 — und darunter Künftler und wohl-
habende Privatleute — in Anklagezuftand verjegt wegen Hehlerei!
Bon diefen 15 wurden nah Schluß der Vorunterfuhung 11 aus-
geihieden, jodaß jomit die Anklage auf 4 Perſonen, welche als am meiſten
belaftet fchienen, hängen blieb. Die Namen der 4 Angellagten find:
Frd. A. Adermann, Carl Lapp, D. Heinemann und Herm. Heinemann,
Jämmtlich angejehene Bürger der Stadt München.
Diefe hatten ebenjo wie viele andere — und ihr Geſchäft als Kunit-
händler brachte das ja mit ſich — eine Anzahl diefer an ſich ganz wert-
(ofer Skizzen erworben, fie teilweije mit dem Lenbach'ſchen Namen ver:
jehen, bezw. fie, wie das im Kunfthandel ja üblich, mit dem erforderlichen
Sammlervermerf verjehen. Was ein Sammlermerfmal ift, weiß jeder
Kunftantiguar, jeder Kunftauftionator.
Darauf ſtützte fich die Anklage wegen. Hehlerei_ und. Urfundenfäl-
Kimitler und KRunfthändler im Lenbach-Prozeß. 185
chung! Es Liegt num nicht in unſerer Abficht, den Verlauf des Prozeſſes
in jeinen Einzelheiten zu reproduzieren, ganz abgejehen davon, daß, wenn
die 2 Jahre dauernde Unterfuchung und 6 Tage währende Schlußver-
handlung zu einer Verurteilung gelangt wäre, thatſächlich ein nenes Ge—
jet geichaffen worden wäre: „Nach dem Tode eines Künftlers darf man
das genaue Monogramm des Künftler8 daraufjegen, zu Lebzeiten des—
jelben aber darf der Sammler oder Händler nicht mal jein Sammler:
merkmal anbringen.“ Diejer Anjiht des Staatsanwalts, der eben erſt
zum Amte zugelaffen worden war, hat der Gerichtshof fich nicht ange-
ſchloſſen und mit gutem Rechte, denn Niemandem wird die Inkonſequenz
diefer Behauptung entgehen. —
Sp mußte der Gerichtshof zu einem freiiprechenden Urteil gelangen,
ein Urteil, das dem Volksbewußtſein entiprach, ein Urteil, das den Mit-
gliedern des Gerichtähofes zur größten Genugthuung und Ehre gereichen
muß: zu der Genugthuung, fid) unabhängig und erhaben über die jtarren
Buchſtaben des Gejebes zu fühlen, und frei nach eigenem Ermejjen und
nücdhternfter Auffafjiung das Bewußtjein des wahren Rechts jprechen zu
lafien. — Il y a encore des juges .. en Allemagne —.
Hierbei ift übrigens einzufchalten, daß ein Bild (Gemälde oder Zeich-
nung) überhaupt feine Urkunde ijt, und wo feine Urkunde ift, kann
auch Feine Urkundenfälichung ſein. Es giebt auch fein Geſetz, wonach es
verboten wäre, den Namen eines Künftlers auf jein Bild zu jchreiben
(wie dies bei allen Nachläfien geichieht). Iſt nun gar das Bild oder die
Skizze echt, jo wird durch Aufichrift des Künſtlernamens erft recht nicht
gefäljcht, es wird damit nur die Echtheit bejtätigt und erhärtet. Eine
echte Ware kann niemals gefälicht werden durch bloße Aufjchrift des
Namens.
Uber abgejehen vom reinen prozejjualen Verlauf interejfiert uns die
ethiiche Seite des Prozeſſes. Ermwägen wir wohl: ein etwa 24 Jahre
fang dauernder Prozeß endet mit Freiſprechung, nachdem noch in der
Schlußverhandlung Zuchthausftrafen von 24—14 Jahren beantragt wur:
den! Und diejer 24 Jahre lang währende Prozeß richtet fich gegen
Perſonen, die viele Jahrzehnte lang in Ehren gejchäftlich wirkſam gewejen
find! Das ift höchſt beflagenswert.
Es ift z. B. allgemein bekannt, daß der Kunjthändler Fr. Ad. Ader-
mann ſich vielfache Verdienfte auf den verichiedenften Gebieten”ertworben
hat. AS energiicher und äußert thätiger Verleger großer Verlagsunter-
nehmungen bat er ungemein fruchtbringend und fürdernd auf die Mün-
hener Kunft im Befonderen, auf die Fünftlerifchen Verhältnifje_im Allge-
meinen eingewirkt und ebenjo befannt ift es, daß es feinem unentiwegten
Drängen und Kämpfen, das fchließlich zum Siege führte, zu verdanken
186 Künitler und KRunithändler im Lenbach-Prozeß.
iſt, wenn unjere Fünftleriichen Beziehungen zu Amerika in geordnete Bahnen
gebracht worden find, daß es jein alleiniges und ausjchliegliches Verdienſt
it, wenn heutzutage die Rechte der Künftler und Kunftwerfe im neuen
Weltteile geihügt und gefichert find. Diefem emjigen Wirken, das eine
umfaffende litterarijche Thätigkeit erforderte, jchließt ſich ein ehrenhaftes
Borleben, eine 3Ojährige jelbjtändige Thätigkeit an, und wenn wir hinzu:
fügen, daß ein trautes Familienleben ihn mit Weib und Kindern um-
Ichließt, jo wird jeder zugeben müfjen, daß ein ſolcher Mann, der neben:
bei in den beiten wirtichaftlichen Verhältniſſen fich befindet, einer ehren-
rührigen That einfach unzugänglih it. — Und doch mußte es dieſem
Manne noch paſſieren, in einen ſolchen Prozeß verwidelt zu werden,
mußte ihm, der jich feinem Lebensabend allmählich zuneigt, die Plage
eined zweijährigen Hinausziehens aufgebürdet werden! Das ift tragiid
im wirfliden Sinne des Wortes.
Aber Recht muß Recht bleiben. Der Prozeß führte zu einer glän-
zenden Rechtſprechung: frenetiichen Beifall widmete das Wolf, das fid
vor dem Gerichtshofe angeftaut hatte, den Freigejprochenen, und der Volks—
mund gab ihnen auch äußerlich die Ehre wieder. — Und als Adermann
vor dem Urteilsjpruche die Worte ausſprach: „Schnelles Handeln Iiegt
in meinem jchnellen Wejen, in meiner jchnellen, ftarfen und entjchlofjenen
Arbeitskraft; nicht Unwahrheit, jondern zu große Aufrichtigkeit, Offenheit
und Leichtgläubigkeit ift mein Charakterzug. Angeſichts diejes altehrwür-
digen Saales, in welchem ich jehr oft als Obmann der Gejchworenen
fungierte, jage ih: Gott ift gerecht! Laſſen Sie mich Heute ruhig nad)
Haufe gehen”, jo müfjen wir jagen, daß ſolche Worte einem unlauteren
Munde nicht entfließen, daß fie ein flanımendes Zeugnis eines reinen
Herzens find, an dem verleumderiiche Worte wirkungslos abprallen müſſen.
Barl fr. Pfau.
>
Heue Bücher.
Die Buchhändlerifße Buchführung und ihre Bilanz in ein:
fachſter praftiich-fpitematiicher Weile von Ludwig Lehnen, Buchhändler, Neumied
a. Rhein und Leipzig, Heufers Verlag (Louis Heufer). Preis Mf. 1,20 no.
Die buchhändleriſche Fachlitteratur ijt bereits mit einer ganzen Anzahl von
Anleitungen zur Buchführung gefegnet und es läßt fich nicht leugnen, daß mander
praftiihe Gedanke, manche Neuerung daraus den jüngeren Kollegen genüßt bat.
Wenn man bedenkt, daß in jo manden fleinen Buchhandlungen die Belaftung und
Verrechnung in einer jo primitiven Weije von ftatten geht, daß man die Bezeich—
nung „Buchführung“ unmöglich dafür anwenden kann und wenn man daneben be-
denkt, daß diefe „kleinen Häufer“ doch auch etivas an der Überproduftion von Lehr:
lingen beteiligt find, dann muß man zugeben, daß für Mittel zum Selbftunterricht
geforgt werden muß, damit der neue Jünger unferes Berufs auch ein tüchtiges
Mitglied unferer Gejellichaft werde. Bon befannteren Fachichriftitellern liegen uns
bereit3 gute Arbeiten vor, aber auch diefe Neuerſcheinung verdient Beachtung, be:
ionders, weil fie den Schwerpunft auf die Bilanz legt. Mit der Bilanz fteht es in
manchen Geſchäften recht ihlimm. Wir wollen damit nicht gerade jagen, daß das
Ergebnif einer regelrechten Bilanz bei den ichlechten Zeiten ein trauriges Refultat
erzielen würde, jondern daß eine regelrechte Bilanz in jehr vielen Geihäften gar
nicht zu Wege gebracht wird. Warum? Der Berfafler meint erſtens in unzweck—
mäßiger Buchführung und zweitens im Mangel an der nötigen’ Zeit. Das ift ſchon
rihtig. Wenn aber der Herr Verfaſſer meint, fein Syſtem würde, nachdem die
„Buhführungen anderer Fadhichriftfteller noch wirklich viel Unpraftiiches und
Unnötiges gelehrt“, die Herren Kollegen aus ihrem alten Zuftande aufrütteln, dann
wird er fich doch wohl etwas täufchen.
Die vorhandenen Anleitungen zur Buchführung waren gewiß auch ſchon dazu
angethan, einen: ftrebfamen stollegen durchaus damit vertraut zu machen und troß:
dem machen die meiften Kollegen ihre „Buchführung nach eigener Art”.
Ein Umftand, der dem Sortimenter die Buchführung, und bejonders die Bilanz,
jo ungemein erfchwert, ift, daß der Ktleinfram und das Konditionswelen;nidht nur
alle Zeit abforbieren, jondern daß auch viele rein buchhändleriiche Praftifen gewiſ—
jermaßen einer regelrechten Buchhaltung zuwiderlaufen, und da ift jo manchem, Sor-
timenter auch bei den „praftifchen“ Methoden die Yuft vergangen. Im, Übrigen
giebt eö eine Menge größerer Firmen, die jogar die doppelte Buchführung in praf:
tifcher Weife eingerichtet haben, allerdings mit einem ziemlichen Koſtenaufwande.
Wir erfennen an, daß der Verfafler jih Mühe gab, in feiner Darftellung leicht
faßlich zu bleiben und befonders fomplizierte Methoden nicht in Anwendung bradite,
ob aber fein Buch viele der älteren Herren Kollegen für ſich gewinnen mwird, bleibt
fraglich. Hn,
188 Reue Bücher.
Der Sorrektor von Hermann Neubürger. 3. Auflage 18%. Paul
Baumann, Deifau. Preis 1 ME. ord.
Die erite Auflage dieſes Buches erſchien Anfang der vierziger Jahre und die
weite Auflage machte ſich bereits 1843 notwendig, ein Zeichen, dak das Bud) ſ. 2.
begehrt twurde. Nun hat es der Sohn des Verfaſſers unternommen, das Werkchen
von dem Staube des Alters zu befreien und es in neu bearbeiteter und teilweiſe
erweiterter Ausgabe herauszugeben,
Die ganze Anlage tit praftiich, jie verrät den Fachmann und fönnen wir das
Werfen daher beitens empfehlen. Gin Buchhändler, der über die allgemeinen
wpographiichen Regeln nicht verfügt, wird oft in Verlegenbeit geraten, Wer ſich
daher entiprechend unterrichten will, dem wird das Buch einen guten Dienit er:
weiien, X.
Bei der Redaktion der „Buchhändler-Akademie“ gingen ferner zur Beſprechung
ein und werben im nächiten Hefte Perüdfichtigung finden:
Gefhichte der Berliner Buchßbinder:-Innung von Baul Richter.
Berlin 189%. ME. 3,50.
Streifzüge in Boskana, an der Riiviera und in der ro
versce von Victor Ottmann. Mit 125 Jlluftrationen. 10.—12. Taufend. Ber:
lin 1896, Verlag des Vereins der Bücherfreunde, Schall & Grund. Brod. 6,— ord.
Aus tieffter Seele. Gine Blütenlefe deuticher Lyrik, herausgegeben von
Adolf Bartels. Yahr, Moris Schauenburg. Geb. 3,— ord.
Dmwanglofe Hundfdan.
Weihnachten! — Wir Buchhändler haben in geichäftliher Hinſicht uniere
eigenen Anſichten über die Weihnachtszeit. Wir find nicht zufrieden, wenn mir
uns nicht in den Wochen vor dem Feſte abplagen und müben können, wenn uns
nicht vergönnt iſt die flaue Zeit eines dreiviertel Jahres im letzten Quartal mett:
zumachen. Wir freuen uns, da wenigitens auf furze Zeit im Jahre das große
Publikum ſich flüchtig für Yitteratur intereffiert, weil ein verhältnismäßig gutes
Bud immerhin das — billigite Weihnachtsgeſchenk ift, dad man in dieſer praftijch
gervordenen Welt auftreiben fann, Im Allgemeinen zieht der Buchhändler — ab:
geieben von den wenigen Jugendichriftenverlegern — nicht verhältnismäßig den
Nugen, den bie rege Geſchäftszeit vielleicht erwarten läßt. Mit der Bewäl—
tigung der ungebeuren Arbeit, die jich auf eine furze Zeit zufammen drängt,
wahren auch entiprechend die Unfoiten, bejonders auch die ſich immer mehr ver:
teuernde Reklame. Ob die Zeitungen, die vielleicht willen, daß ſich die Sortimenter
bis in die Naht hinein plagen müſſen, wohl aus reiner Dienichenfreundlichfeit und
Mitleid uns das Weihnachtsgeſchäft in diefem Jahre erleichterten?
Das wäre allerdings in dieſer Zeit des geichäftlichen Realismus ein idealer
vichtblid.
Aber man jcheint dodh im Großen und Ganzen dieies Mal mit dem
Weihnachtsmarkt zufrieden geweſen zu fein. Daß Heutzutage fein Menſch mehr
Prachtwerke faufen will, haben wir auch in diefem Jahre wieder erfahren.
Das liegt aber weniger am Mangel an Geldüberfluß beim Publifum, als an
der Göttin Mode. Sie geftattet jetzt nicht, daß der Prunktiſch mit Prachtwerken
belaftet wird und die ihönen Prachtbände — man jollte paſſender Prachteinbände
jagen, denn der Einband ift die Hauptſache — etwa in den Schranf ftellen? Das
wäre doch ewig Ichade! Haben wir einmal eine Gejellichaft zu Haufe, die wir am
Abend durch ichöne Werke unterhalten wollen, dann ſchicken wir zu unferem Buch:
händler, bei dem wir in ber Yeihbibliothef und dem Journalzirfel abonnirt find
und laſſen uns div. beſſere Prachtwerke auf kurze Zeit zur Anficht fommen. „Die
Herrihaft habe nichts paſſendes gefunden“, mit diejer Bemerfung befommt man
dann am anderen Tage die Sendung nicht gerade befier zurüd, denn ſolche über:
Hüffigen Sachen jind einer praftiichen Hausfrau ja überhaupt nur im Wege.
Die illuftrierte Kriegslitteratur fol zum friedlichen Weihnachtöfefte viele Käufer
aefunden haben, aber mande unſerer berühmten Jahres-Schriftſteller haben nicht
wie gewünicht „gezogen“.
Aus dem Kreife unferer Gollegen find auch wieder einige, denen es im Leben
vergönnt war aus der Allgemeinheit herborzutreten, abberufen worden in ein
befieres Jenſeits. So ftarb am 1. Dezember in Deſſau nad längerem Leiden
Julius Leopold Voß, früher in Leipzig, Inhaber der 1791 durch Voß & Leo be:
190 Amwangloie Rundſchau.
gründeten Firma, die er 1865 allein übernommen hatte. Am 14. Dezember ichied
Carl Habel in Berlin aus dieſem Leben. Gr hatte 1868 dort einen Verlag unter
jeinem Namen gegründet und vereinigte damit 1871 denjenigen von Charifius.
Durch feine Sammlung von Vorträgen „Deutiche Zeit: und Streitfragen“ bat er
jih um die Popularifierung der Wiſſenſchaft verdient gemadt. Weiter am 15. De-
zember ſtarb Hugo Hölzel, Chef der Firma Ed. Hölzel in Wien, die am 1. Januar
1885 in feinen Beſitz übergegangen war. Wir befchränfen uns heute auf feine Ber:
dienste um den beutichen und öfterreihiihen Buchhandel im Allgemeinen binzu-
weten, und veriprechen unferen Lelern im einer der nächſten Nummern einen aus—
rührlicheren Artikel über Hugo Hölzel zu bringen.
Während das Weihnachtsfeſt allen Genügfamen ein „Glück im Winkel“ be:
ichert, hatte Herr Sudermann uns jolches vorher ſchon auf der Bühne: des Leipziger
Stadttheaters dargeboten und wir können mit Freuden fonitatieren, daß Suber:
mann „fortichreitet”. Das „Glück im Winkel” hat gefallen. Es war wieber mal
eine künftleriiche That gegenüber der Mache Blumenthal und Genoſſen, die jo oft
das Nepertoir beherrichen.
Wir wollen bier feine lange stritif über das Bühnenwerf, das für uns jedoch
Bedeutung wegen feines mutmaßlichen buchhändleriichen Erfolges haben wird, vom
Stapel laſſen, fünnen uns jedoch nicht verjagen, ein Stüdchen „ſchneidige Kritik”
aus der Niederichlef. Zeitung unjeren Leſern zum Beſten zu geben. Der Theater:
berichterjtatter jchreibt: „Gr bat ihr (feiner Frau) nie in einer wilden Stunde ſo—
zuſagen das Hemd von der Seele geriffen, nie ift fie röchelnd vor jeiner Kraft ge-
fegen, und er ift nie triumphierend vor ihrem Taumel geitanden.“ Nun fommt in
das Haus der Freiherr von Rödnis, „der richtige Junker, wie er nicht jein jo:
roh, frech, ſtrotzend von Gefundheit, mit Hieben hinter den Knechten, mit Zoten
hinter den Mägden her, rauchend von Begierden, taufend Teufel im Yeibe; Kraft
funfelt in feinen Augen, Kraft ichlenfert in feinen Gejten, Kraft knarrt in feiner
Stimme”. Dieſer Kavalier thut es Frau Wiedemann an. „In einer gierigen,
athemloſen Szene, in der man die Brunft jchnauben zu hören glaubt, jpringt das
Tier auf fie los, und jeßt weiß fie, wonad fie fo lange in irren Wallungen geledyzt
hat. Jet bat fie zum erften Male den Mann gefühlt.” Das ift entichieden ſchön
geſagt, ift originell und nicht aus den Redaktionsfingern gelogen.
Der Buchhändler macht jeine Inventur ja erjt zur Oſtermeſſe, indeſſen wird
wohl mancher Firmeninhaber ſich auch beim Jahresabſchluß einmal jeine Wertpojten
des Geſchäfts durch den Kopf aehen laſſen. Da findet er dann auf feinem Gut:
haben einen eigentümlidhen Bolten, den er „Idealwert“ nennt, und bem man in
diefen triften Zeiten mit Miftrauen begegnet. ES ift aber auch erichredlidh, wie
oft heute buchhändteriiche Idealwerte verſchwinden. So ilt 3. B. in Paris die
große Verlagshandlung Dentu aufgelöft worden. Der Reftbeitand an Büchern,
der auf 1600000 res. veranichlagt war, wurde für 80000 Fres. losgeichlagen.
Ähnliche Preife find kürzlich auch beim Ausverkauf eines anderen großen bortigen
Verlages erzielt worden. Seit 20 Jahren bat fih übrigens die Büchererzeugung
in Frankreich verboppelt, eö werden jest 22000 bis 23000 Bücher alljährlich ver-
legt. Beſonders zahlreich find die Romane.
Ya beim Romanverlegen und =jchreiben findet mancher, wie man im Folgenden
jieht, feine Rechnung nidt; jo lefen wir im Hildesheimer Volksblatt die Mit-
teilung, daß die auf dem Wege der Imangsvollftrefung unter den Hammer gefom-
mene reichhaltige Bibliothef des befannten Schriftitellers und ehemaligen föniglich
bannoverfchen Regierungsrats Oscar Meding (Gregor Samarom) in den Befik ber
Zwangloſe Rundichau.' 191
Buchhandlung Kranz Borgmeyer in Hildesheim übergegangen iſt. Noch eine
unerfreulihe Nachricht können wir unferen Leſern nicht vorenthalten. Das Kol:
portage-Buchhandlungs:Groffo:-Geihäit Gebr. Rubinſtein in Wien, Mailand,
Barcelona und Budapeit hat fallirt. Wie bedeutend die Firma war, geben uns bie
hoben Zahlen der Nournalfortießungen an. 100000 Hefte Gartenlaube, 120 000
Hefte Buch für Alle, 100000 Hefte Zur quten Stunde u. ſ. w. hat dieſe Firma
jährlich abgeiekt.
Aber wir haben für umfere Leſer auch erfreuliche Nachrichten. Es iſt nicht
jelten, daß ein Kollege von uns unter die Schriftfteller und Dichter gebt und in
ſolchem Kalle findet er mwenigitens für nicht unterzubringende Lyrik gleich in ſich
jelber einen fulanten Berleger. Aber daß ein Buchhändler jih ald Dramatiker
entpuppt, das kommt jeltener vor. Herr Dr. Paul Langenicheidt, Verlagsbuchhändler
in Berlin, bat ein vieraftige8 Schaufpiel „Gährung“ betitelt verfaßt, das nad) den
und vorliegenden Kritifen eine recht erfolgreihe Aufführung im Barmer Stadt:
theater erlebt bat. Der General-Anzeiger für Elberfeld:Barmen, 3. 12. 95, jchreibt:
Es war eine ſchöne, gewaltige Leiitung, welche uns Herr Direftor Mauthner in
vorstehendem Schauſpiel bot, von deſſen Verfaſſer man wieder einmal jagen fann,
daß viele berufen, aber wenige ausermwählt find. Herrn Dr. Langenscheidt können
wir bereit3 nach dieſer feiner erften Bühnenarbeit mit vollem Recht zu diefen Aus:
erwählten zählen; denn feine dramatiihe Mufe bat uns in der vorftehenben
Schöpfung fo viel Schönes und Gutes gebradt, daß die vielen Hervorrufe, welche
die begeiitert jubelnden Zuhörer dem talentierten jungen Dramatiker fpendeten, eine
wohlverbiente Auszeihnung waren. Der techniich vollendete und durchaus originelle
Aufbau des Stüdes und die Entwidlung der dramatiichen Steigerung bis zum
Schluffe des dritten Aktes iſt überrafhend. Die Attichlüffe find teild fein empfun-
den, teils effeftvoll ausgearbeitet. Die einfache, auf rein menſchlichen Gefühlen
aufgebaute Handlung zeigt uns den Konflikt zwiſchen den Herrichergelüften eines
deipotiihen Vaters und dem Selbitändigfettsdrange feines älteften Sohnes, in deſſen
Seele das Ringen nad) Freiheit jo mächtig, die Gährung fo ftarf wird, daß er dem
jorgenlofen Wohlleben im väterlichen Haufe den Rüden fehrt und mutig den Kampf
ums Dafein ohne jremde Hilfe aufzunehmen gedenft.e Wie der Autor dies in
padender Weije ausgearbeitet hat und durchführt, wollen wir nicht weiter verraten,
Der Dialog fließt ihm ungemein leicht und mühelos aus der Feder, Flingt natür-
ih und originell, niemals jchwerfällig und geiucht, troß der darin enthaltenen Ge:
dankenſchwere.
Da kann der Herr Verfaſſer zufrieden, und der Buchhandel auf ſeine weiteren
Erfolge geſpannt ſein.
Wir wollen uns aber heute noch einmal weiter umſchauen und zwar nach Eng:
land hinüberbliden.
Die eigenartigen Zuftände im engliihen Buchhandel, io ichreibt der
Allgem. Anz., haben zu einer Krifis geführt, welche, wie man bereits mit einiger
Sicherheit vorherfagen kann, wahrſcheinlich mit dem vollftändigen Ausjterben des
englifchen Provinzial-Buchhandels endigen wird. Noch wenige Jahre vielleicht und
der Typus des Landbuhhändlers wird aus England verichtwunden jein. Mehr
Gelehrter als Kaufmann, jah er in der faſt uneigennüßigen Ausübung feines Be-
rufed ein ehrenvolles Amt und fuchte feine Aufgabe mit voller Hingabe und ehr-
licher Überzeugung darin, feinen Kundenkreis mit der beften und paffenditen getiti-
gen Nahrung zu verjehen. Heutzutage ſchon find in England dieſe mohlbelefenen
Buchhändler jelten geworden, die für ihre Kunden, deren Geihmad fie genau kann—
192 Zwangloſe Rundichau.
ten aus ber neu erichienenen Litteratur das Beite ausfuchten und ſich auch durd
einen höheren Gewinn nicht verkoden ließen, ein — ihrer Anficht nach — geringes
Werk zu empfehlen. Mit ihnen gebt ein wichtiger Faktor des geiitigen Lebens im
engliihen Wolfe verloren.
Die KrifiS ging von der Hauptitadbt aus. Während der legten zwanzig Jahre
bat ſich Die Zahl der Buchhandlungen in London, troß des gewaltigen Bevölferungs:
zuwachſes, vermindert. Neun oder zehn Geſchäfte gingen zu Grunde und wurden
nur durd vier neue erſetzt. Die Krifis breitete fih nah und nad über gan;
Großbritannien aus, und nun giebt es, wie geichrieben wird, thatſächlich ichon eine
ganze Anzahl von bedeutenden Städten in England, die auch nicht eine einzige
Buchhandlung befigen, welche diejes Namens würdig wäre. Die litterarifchen Neu-
heiten find in den Schaufenjtern großer Bazare auögeitellt, die Nadel und Faden,
Handſchuhe, Spielzeug und Küchengeräte verkaufen. Es liegt auf der Hand, dat
der Buchhandel im Wettbewerb mit dem Warenhandel den Kürzeren zieht, umſo—
mehr, als der Berfauf von Büchern nah Anficht des Kaufmanns feine weiteren
Kenntniffe erfordert, als den Preis des Buches einfach abzuleien, was jeder Lehr—
ling bejorgen fann, während die erfabreneren Angeitellten ihre Thätigkeit Dem ein:
träglicheren VBerfaufe anderer Waren zu wibmen haben.
Der Grund diefer Bücherfrifis Itegt ohne Zweifel nur in der übergroßen Bor:
jiht der Londoner Verleger. Diefelben feilihen zwar nicht mit den Schriftitellern
um das Honorar, aber um ſich für die großen Opfer zu entſchädigen und zugleich
um jedes Rififo zu vermeiden, ftellen fie den Preis des Buches jo hoch, daß jie
ihon mit einer eriten kleinen Auflage vollitändig gebedt find. Allerdings ind
diefe Bücher fajt immer glänzend ausgejtattet, aber diejer äußere Luxus rechtfertigt
einen jo hohen Preis nicht, der z. B. für Werfe der Geichichte, Kunſt oder Littera-
tur, bie in Deutichland vielleicht 6-8 Marf foften würden, 30-40 Marf beträgt.
Die erſte Auflage, welche nie mehr als taufend Gremplare umfaßt, wird von ben
Yejefabinetten und einer fleinen Zahl von Litteraturfreunden gekauft, und erjt, wenn
das Werk fihtlihen Erfolg zeigt, wagt man eine neue billigere Auflage. Bei die:
ſem Verfahren finden Schriftiteller und Verleger auf jehr bequeme Weiſe vollauf
ihre Rechnung, aber der arme Buchhändler fommt dabei zu furz. Der Berleger,
deſſen Koften genau berechnet find, iſt nicht in der Lage, auf neue Werfe, die nur
mit einer Auflage von taufend Exemplaren berausfommen, dem Sortimenter ben:
jelben Rabatt zu gewähren wie auf Bücher, die von jebem Autorrechte befreit find
und deren Drudf ohne große Koſten beliebig erneuert werden fann. Aber das eng:
liſche Publikum jieht eben leider nicht ein, warum es den hohen Skonto, den &
bei billigeren Büchern erhält, bei teueren Werfen nicht genießen fol. Der Buch—
händler muß fih die Kürzung gefallen laflen, die feinen Nuben faft aufzehrt, und
es bleibt ihm, wie die Erfahrung zeigt, Schließlich nichts übrig, als feinen Laden
zu ſchließen. — Das find freilich ſchlimme Zuſtände. Aber follte nicht der Grok:
betrieb, der auch den deutichen Buchhandel zu bedrohen jcheint, Die erjte Urſache jein?
Solche Nachrichten von dort werden diejenigen unjerer deutſchen Kollegen, die
gegen bie bewährte Organilation unferes heimiſchen Buchhandels jo gern das große
Wort führen, nicht bejonders befriedigen. Der Buchhandel befindet fich in einer
Krifis. Das bat uns neulih Herr Schürmann ja erjt wieder gelehrt. Möge das
neue Jahr befriedigender werden, in diefem Sinne rufen wir unſern Leſern ein
„Fröhliches Neujahr“ zu! Hn.
Der Märchendichter Muſäus und fein Garten.
Bon C. Beinerk.
Hm öftlihen Ende Weimars, dort wo die Kegelbrüde die Ilm über-
ſpannt und fich ſchräg gegenüber die Façade des Schiller- und Goethe-
Archivs erhebt, jteigt zwilchen Gartenanlagen und Bergwald eingebettet
ein jchmaler Fußpfad zur Höhe Er bildet gewifjermaßen die Sehne
eines Bogens, welchen die nach Tiefurt führende Fahritraße macht und
wird von den nach dort promenierenden Fußgängern mit Vorliebe benußt,
um in fürzeiter Zeit die Höhe und mit ihr die Kaftanienallee zu gewin-
nen, welche Ilmathen mit der einftmaligen Sommerrefidenz der Herzogin
Anna Amalia verbindet. Je weiter der Wanderer diefen Pfad verfolgt,
deito mehr tritt hinter ihm das Bild der freundlichen Nefidenzitadt aus
jeinem Rahmen, das großherzoglihe Schloß, die Kirche Sankt Pauli, in
deren Frieden einft das Wort Herders von „Licht, Liebe und Leben” er-
tönte und weiter nad) Norden der Jakobskirchhof, wo Schiller feine erfte
Auheftätte fand. Der Park mit feinen wechjelvollen Partieen, mit den
Orten ftiller Mitteilung zwiſchen Goethe und feinem fürftlihen Jugend—
freunde zieht fich recht3 in der Richtung nach Belvedere hin, von unten
aber wie ein leijer Nachklang der unfterblichen Lieder, die bier einft ge-
jungen wurden, raufchen in leifen Rythmen die Wellen der Ilm herauf.
Wenn der Thormwärter noch feines Amtes wartete, jo würde er ung
aus dem Schatz der Überlieferung manches wiſſenswerte über diejenigen,
weldhe einjtmals diefen Pfad gewandelt find, mitteilen können, wie bier
vorbei in den luftigen Tagen von Weimar die Zahl der fröhlichen Gäfte,
welche Karl Auguft3 Mutter an ihren Mujenhof berief, vorübergezogen,
wie ihnen die bunte Menge, jo oft die Veranitaltung eines Parkfeites
mit Theater und Illumination Gelegenheit bot die Schauluft zu befriedi-
gen, folgte und dann in ftillee Mitternacht beim WUuseinandergehen das
Geplauder der heimfehrenden Herren und Tamen vom Hof — in ben
Ausrufen: Welch köftlicher Tag wie entzüdend — on ne part point de
Tiefurt on s’en arrache in ber Ferne verflang. Er würde ung aber
13
194 Der Märchendichter Muſäus und fein Garten.
auch von einem Mann erzählen, der nicht minder oft diefen Weg gegan-
gen ift, zuweilen um ebenfall® der Fürſtin, deren ganzes Wohlwollen er
genoß, nahe zu fein, öfter jedoch der Berufsenge zu entfliehen und oben
auf der Höhe der Altenburg in feinem wohlgepflegten Garten von den
Sorgen und Mühen auszuruhen, die ihm das Leben in nicht zu knappem
Make darbot. Die vier Schläge der Schloßturmuhr, welche Nachmittags
den Schülern des Gymnasium Guilielmo Ernestinum die Stunde ber
Freiheit verfündeten, weckten aud in jeiner Bruſt einen freundlichen
MWiederhall. Der vornchmite Teil feiner Pflichten war erfüllt und nun
drängte es ihn hinaus nach dem ftillen Erdenwinfel, wo zahlloje Blumen-
augen ihren Pfleger anlachten und die Mujen vertraulich fich zu ihm
gejellten.
Unter dem Arm einige Holzicheite, in der einen Hand das Kaffee—
fünnchen, in der anderen die Pfeife, jo Jah man ihn, freundlich den Bür-
gern von Weimar begegnend, dem Kegelthor zuwandern; und frug man
den Wächter defjelben, wenn er nad) vertraulihem Gruß dem originellen
Mann nachblidte, nad) deſſen Namen, jo erfuhr man von ihm, daß es
Profeſſor Mufäus fei, der nach feinem Garten gehe, um fid) bei einer
Taſſe jelbft zubereiteten Kaffee von den Strapazen des Schuldienftes zu
erholen. Tag für Tag, jo lange das Wetter günftig war, folgte er die—
fer liebgervordenen Gewohnheit; Vogelſaug und Sonnenſchein war jeinem
heiteren Naturell unerläßlices Bedürfnis und nirgends geftalteten ſich die
holden Bilder jeiner Phantafie leichter als in den Stunden ftiller Be-
Ichaulichkeit, welche er oben auf der Höhe der Altenburg zubrachte.
Lenken aud) wir die Schritte dahin und treten mit ihm ein in jein
Heines Tuskulum; werfen wir aber auch gleichzeitig einen flüchtigen Blick
auf den Lebenslauf des jchlichten Mannes, damit wir ein volles Ver—
ftändnis für feine Eigenart, jowie für die Größe der Weisheit finden, mit
welcher er die Höhen und Tiefen feines Lebens auszugleichen und fich
den Frieden desjelben zu wahren wußte.
Johann Earl Mufäus, welcher am 29. März 1735 ala Sohn eines
Zandrichters in Jena geboren wurde und neunzehn Jahre ſpäter wieder
als fröhlicher Student in die liebliche Mufenftadt an der Saale einzog,
hatte zu feinem Lebensberuf die Theologie gewählt. — Nach viertehalb-
jährigem Studinm, welcdes ihm, trogdem es nicht ausichließlih dem
Streben nad) Gottesgelahrtheit, jondern auch der Aufgabe gewidmet war,
fi) durd) litterariiche Beſchäftigung eine größere Gewandtheit des jprach-
lichen Ausdruds anzueignen, die afademiihe Würde eines Magijters
brachte, verließ er das traute Jena wieder, zunächſt um Aufenthalt in
Eiſenach bei feinen Eltern zu nehmen und ein Jahr ald Kandidat des
Predigtamtes zu wirken, dann aber, um fich nach Farnrode, einem Dorf
Der Märchendichter Muſäus und fein Garten. 195
bei Eiſenach, zu begeben und ſich dort um die erledigte Pfarritelle zu
bewerben. Die Vorjehung, dieſes mal durch ein Kollegium ftarrföpfiger
Bauern vertreten, hatte e8 anders beſchloſſen. Der brave Kandidat hatte
dadurch, daß er fich mit den Fröhlichen gefreut und einftmals in Gegen-
wart einiger Gemeinderäte getanzt hatte, in den Augen derjelben den
Nimbus paftoraler Würde vollftändig eingebüßt; fie mweigerten fich ihn
ald Pfarrer anzunehmen und Muſäus, obgleich feine Vorgejegten ihm
ihre unveränderte Gunjt erhielten, hatte an der einmaligen Wirkung dieſes
„vox populi“ genug und fein Verlangen, fich derjelben ein zweites mal
auszujegen. Er rejpeftierte die Volksſtimme als Gottesitimme, kehrte der
Theologie den Rüden und wendete fih unter Wiederaufnahme feiner lit—
terariichen Studien der Philologie und pädagogiichen Beitrebungen zu.
Damals jchon hatte Lejfing den Kampf gegen den Schlendrian und
die Nachäfferei des Franzoſentums eröffnet, auch der junge Goethe begann
bereitö die allgemeine Aufmerkjamfeit auf ſich zu lenken und ein frijches,
lebendiges Regen des deutichen Geiſtes machte fi) auf allen Gebieten
der Litteratur geltend. Das war ganz die geeignete Zeit, einem vor—
urteilsfreien Mann Gelegenheit zu geben, feine Kräfte zu bethätigen und
mit Fritiicher Schärfe das Gute in den litterariichen Erjcheinungen von
dem Unnatürlichen, Geſchraubten derjelben trennen zu lernen. Muſäus
fühlte ſich dazu berufen und fein erjter literarischer Verſuch, eine Tra-
veitie des engliichen Romans „Grandiſon“ von Richardjon, mit welcher
er das überhandnehmende Unweſen der Nachäfferei romanhafter Cha-
taftere und der krankhaften Empfindjamkeit geißelte, gelang vollftändig;
er wurde jo beifällig aufgenommen, daß der bejcheidene Verfaffer, weicher
jeinen Namen nicht genannt hatte, von feinem Verleger veranlaßt wurde,
eine zweite Auflage vorzubereiten. Auch dieſe fand die befte Aufnahme
und wenn troßdem von da ab der am litterariichen Himmel jo hell auf-
gegangene Stern unſeres Muſäus allmählich; wieder erbleichte, war es
wohl weniger eine demjelben feindliche Konftellation des Gefchmades als
die perjönlichen Verhältniſſe desjelben, welche der Entwidelung feiner
litterariijchen Wirkſamkeit Stillitand geboten. Schon 1763 war er näm-
ih als Pagenhofmeiſter an den weimariſchen Hof berufen und fieben
Jahre jpäter mit dem Titel eines Profeſſors am Gymnafium dafelbit an-
geftellt worden. Der freundliche Lebenswechſel, welcher ihm nicht allein
Brot, jondern auch in den Beſitz einer liebenswürdigen Gattin brachte,
ftrahlte heller in jein Inneres al3 Ruhm und Anerkennung und wir
finden es begreiflid, wenn diejem Erfolge gegenüber Mujäus verzichtete,
einen noch größeren auf anderem Gebiete zu erreichen. Jahre des reinjten
Glückes, welches derjelbe in der Pflege feiner Familie und ftrenger Aus—
übung feiner Beruföpflichten genoß, zogen von da ab an ihm vorüber
13*
196 Der Märchendichter Muſäus und ſein Garten.
und die Sorgen, welche bei feiner färglichen Beſoldung unausbleiblich
waren, mußten erjt eine beträchtliche Höhe erreichen, ehe fie jeinen Gleich-
mut ftörten und den hellen Blid des ewig heiteren Mannes trübten.
Aber auch dann verlor er den Mut nit. Wie einft die Feder nad)
dem Farnroder Mikerfolg ihn vor Not und Bedrängnis fchüßte, wurde
fie auch jegt wieder feine treue Helferin. Hat das Publikum die Spenden
des Yünglings einiger Aufmerkſamkeit wert gehalten, jagte er ſich, jo
wird es vielleicht auch Geihmad an den Epätfrüchten des männlichen
Beritandes finden; er nahm die unterbrochene litterariiche Thätigfeit zum
zweiten mal auf und regte die Echwingen feines Geiftes, die, wie er bald
merkte, noch nicht an Kraft verloren hatten.
Zwanzig Jahre früher war es die Satyre feines „Grandifon der
zweite”, mit welcher er der Entartung des Gejchmades zu Leibe ging;
jegt war es ein ähnliches Werk, die „Phyſiognomiſchen Reifen”, in denen
er ſich ſchalkhaft ironiſch über Lavaters „Phyfiognomiiche Fragmente zur
Beförderung der Menſchenkenntnis und Menſchenliebe“ ausſprach. Der
Erfolg war aber auch dieſes mal ein ungleich größerer. Drei Auflagen
wurden in zwei Jahren vergriffen, der Verleger wurde ein reicher und
der anſpruchsloſe Verfaſſer, der bei dieſer Gelegenheit ſein Inkognito
nicht aufrecht zu erhalten vermochte, ein berühmter Mann. Sein Haus
wurde von Verehrern, die ſeine Bekanntſchaft machen wollten, nicht leer
und ſein Söhnchen, welches die Beſucher wohl zu taxieren wußte, lam
oft und öfter in die Lage, der Mutter zuzuraunen: da fommt "wieder
einer, der den Papa loben will.
Diejer Ruhm wurde ihm aber leicht; wenig drüdte er ihn und faum
vermochte er die Grundpfeiler jeiner individuellen Empfindung zu erjchüt-
tern. Der Erfolg genügte ihm, weil er ihm ausreichende Mittel für den
Unterhalt jeiner Familie brachte, er war damit zufrieden. Der errungene
Ruhm erfreute ihn, weil er, feinem eigenen Ausſpruch nad, nimmer ge—
hofft Hatte, in der Buchjchniglergilde zünftig zu werden und fein fröb-
liches Temperament bildete ein zu großes Schwergericht in jeinem Gemüts-
(eben, als daß jene Unarten „Anmaßung und Überſchätzung“, welche ge-
rade aus dem bejten Boden jchnell wie Unkraut hervorichießen, die Ober-
hand hätten gewinnen können. Er blieb der heitere hHarmloje Mujäus,
deſſen Gegenwart nach allen Seiten Wohlbehagen verbreitete. Die wei-
marer Bürger, von denen er mande jchon in feinem Garten bewirtet
hatte, Tiebten ihn und bei den höchſten Herrichaften, namentlich jeiner
Fürftin Amalia, war er wohl gelitten. Gutmütig und allezeit aufgelegt
da mitzuwirken, wo es galt der Heiterkeit einen Tempel zu bauen, war
er bei allen ein gern gejehener Gaſt. In Tiefurt und Etteröburg fpielte
er Komödie mit und in dem Hans Sachsichen Faftnachtsjpiel ließ er ſich
Der Märchendichter Muſäus und jein Garten, 197
jelbjt von dem Narrenarzt Goethe die Narrenpüppchen poffierlich quäfend
aus dem Bauche jchneiden.
Am verehrungswürdigiten war er aber Doch bei jeinen PBenaten, im
eigenen Haus oder draußen in jeinem Garten vor dem Thor. Wir be-
figen noch eine poetijche Epiftel, mit welcher er ſich an jeinen Erftgebore-
nen wendet und ihn zum Dolmeticher feines Glüdes und feiner Wünſche
für die Mutter macht. Sie beginnt:
„Hör’ an, mein Iteber, fleiner Sohn,
ich merfe, Du verjtehft mich ichon,
Und weißt wohl, daß bei jpäter Nacht
Dein Bater emfig Verſe madıt.
Nun, diefe, wenn fie fertig find,
Verwahre Du, mein liebes Kind,
Bid morgen früh der Himmel graut,
In Deinem Bett, dann werde laut,
Und wenn Mama davon erwadt,
Und freundlich Dir entgegenladht,
So reich’ dies Blatt, der Liebe Pfand,
Ihr hin mit Deiner fleinen Hand
Und läch'le ihr jo himmliſch ſchön,
So ſanft, — Du wirft mid) wohl veriteh'n, —
Daß fie beim erjten Morgengruß
Durch Did Entzüden fühlen muß.
Ein jchöneres Zeugnis feiner liebenswürdigen Gejinnung eriftiert
faum und in ihm tritt uns die ganze Fülle des Bewußtſeins entgegen,
welches er von der Größe jeines häuslichen Glüdes und des Beſitzes einer
geliebten Frau im fich trug. Wir mögen aus ihm erjehen, wie unbe-
rührt der Grundzug jeines Findlichen Gemütes durch den Wandel äußerer
Verhältnifje geblieben war und dabei ein Verſtändnis für die Gleich-
mäßigfeit der Fortdauer liebgewordener Gewohnheiten gewinnen, die nichts
von dem Ehrgeiz zeigen, welcher fich bei berühmt gewordenen Männern
nur allzu oft darin äußert, daß fie jchleunigft den bequemen Alltagsrod
ausziehen und dafür in die Montur gejchraubter Vornehmthuerei ſchlüpfen.
Seine Lebensanſchauung und Gewohnheiten blieben diejelben und jo
opferte er auch diejenige nicht, welche ihn mehr zum Typus eines gemüt-
lihen Spießbürgers als zu dem eines vornehmen Ritter vom Geifte machte.
Nah wie vor jeßte er die originellen Wanderungen nach jeinem
Garten fort und, dem Schwan von Pejaro gleich, welcher jechzig Jahre
nah ihm auf die Zubereitung einer Paſtete ebenjo ſtolz war wie auf die
Kompofition jeines Tancred, kannte er feine größere Freude, als wenn
ein Vorübergehender jein Eldorado betrat, jeine Aurifel, den prächtigen
Neltenflor und die Güte jeines Mokka lobte.
Hier verbrachte er die jchönften und weihevolliten Stunden feines
198 Der Märdendicdhter Muſäus und jein Garten.
Mannesalterd. Wie Goethe fein Gartenhäuschen pries und fi darin
unter den bejcheideniten Verhältniffen wohl befand, jo war ihm das
jeinige, welches ihm die gute Anna Amalia hatte ausmöblieren laſſen,
wert und wie erjterer mit Behagen die wichtigen und unwichtigen Er—
eigniffe feiner Gartenidylle forgfältig notierte, jo trug auh Mufäus in
jein Gartenjournal alle größeren und kleineren Begebenheiten, die er da—
jelbft erlebte, ein. Darinnen, heißt e8 unter anderem, iſt gebucht viel
jonderbares Wohlbehagen, das er mit der geliebten Frau und feinen
Kindern hier empfand, manche Stunde, die er im Kreile jeiner Freunde
heiter verbrachte, aber es find auch thränenfeuchte Stellen darin, wie fol-
gende: Bei verichloffener Thür gearbeitet und viel geweint, weil der liebe
Guſtel (der jüngere feiner Söhne, welcher frühzeitig ftarb) ſeit geitern
mit einem heftigen Fieber befallen worden.
Muſäus jelbft hatte damals kaum den Weg der Genejung betreten.
Als Mitarbeiter verjchiedener gelehrter Zeitungen, der Gothaijchen, ſowie
der Allgemeinen Deutichen Bibliothek, in der fein bewährter Wig mit
Erfolg gegen die ungeichidten jentimentalen Nahahmer von Goethes
Werther zu Felde zog, hatte er feine Kräfte überſchätzt. Seine Gejund-
heit war der Laſt der litterarifchen Arbeiten, welche er, um jeine Berufs-
pflichten nicht zu verlegen, erjt nach dem Abendefjen vornahm und bei
einer Taſſe Falten Kaffee und einer Pfeife Tabak fortjegte, unterlegen,
und nur langjam vermochte er fi) von der Krankheit zu erholen, welche
die Fortdauer feines Lebens in Frage zu ftellen fchien. Freund Hain,
defien Laune und Willfür er fünf Jahre jpäter in einer reizenden Satyre
der Art beleuchtete, daß er eine Reihe von Kupfern, welche der Künftler
3 R. Schellenberg in Winterthur herausgegeben und auf welchen der
Tod die Menichen in den verichiedeniten Situationen des Lebens über-
rajcht, bald in PBrofa, bald in Verfen kommentierte, hatte aber Erbarmen
mit ihm. Teils wußte er wohl, daß die Hauptaufgabe jeined Lebens
noch nicht gelöft war, teils hatten ihm vielleicht auch die Worte gerührt,
mit welchen ihn der Iaunige Poet erfuchte, den ablaufenden Wechjel jeines
Lebens zu prolongieren. Er entband ihn gnädig von feiner Gefolgichaft
und gewährte ihm noch fieben köſtliche Jahre, die er mit jeiner geliebten
Gattin verleben, in deren Nerlauf er ſtill behaglich zwifchen feinen Blu—
men ihr Werden und Vergehen ſchauen durfte. Wader hat er fie ge-
nüßt, im Dienfte der Menjchheit thätig zu fein, noch mit mancher köſt—
lichen Frucht feines Geiftes, die oben im Garten auf der Altenburg ge-
reift war, erquicdte er diejelbe und dort zum Teil ift vermutlich auch Das
Meiſterwerk entftanden, welches feinem Leben, fröhlich und heiter wie es
gewejen, einen gleich würdigen Abſchluß verlieh.
Schon kurz nach feiner Genejung hatte er dasjelbe in jeinem ge-
Ter Märchendichter Muſäus und jein Garten. 199
liebten Gartenhäuschen, an deſſen innerer Thür fein Doltordiplom, als
ein öffentliches Dokument einfach mit vier Nägeln befeftigt war, begonnen
und bereitS von 1782 ab erjchien die erfte Auflage desjelben unter dem
Titel „Volksmärchen, ein Leſebuch für große und Heine Kinder“. Was
er furz vorher an eine freundin, Frau Gildemeijter in Duisburg, ge-
ihrieben, daß er dem Zuge der Zeit, welche wieder Geſchmack an Feeerien
finde, folgen d. 5. Ammenmärchen, die er aufitugen und noch zehnmal
wunderbarer machen werde, herausgeben wolle, führte er aus, und die
Hoffnung der lieben Frau, daß das Werk ein Iufrativer Artikel werde,
ging Dank der Beicheidenheit, welche fie nährte und der Meifterichaft,
welche der Schöpfung ihren Stempel aufdrüdte, in Erfüllung. Gleich
nad ihrem Erjcheinen erregten die Märchen einen wahren Beifallsiturm,
das allgemein fich geltend machende Verlangen, fie kennen zu lernen,
fand in mehreren fich raſch folgenden Auflagen einen beredten Ausdrud
und bereit3 1791 erjchien die erjte der immer zahlreiher auftauchenden
Überjegungen in fremde Sprachen. Dieſe Kinder des Frohſinns und
der heiterjten Zaune verdienten aber aucd im vollen Maße dieje freund-
liche Aufnahme, denn urwüchſig wie ihr Schöpfer — Muſäus entlieh
das grundlegende Material den breiteiten Schichten des Volkes, das Heißt,
er ließ es fich durch Kinder, alte Weiber und einen invaliden Soldaten,
die er oft um fich verfammelte, zutragen — war aud) das Behagen,
welches fie durch die Fülle geiftreicher Bemerkungen, durch die Lebendig-
feit ihrer Handlung, vor allem durch die feine Satyre, mit der fie ge-
jättigt waren, hervorriefen. Während man bisher gewohnt war, poeti-
ihe Erzeugniffe diefer Art nur durch den dichten farbenreihen Schleier
einer überjpannt romantischen Darftellung zu betrachten, ftellten fich dieje
Kinder der Mufe in der furzgejchürzten Tracht der Gegenwart dar. Der
freifinnige Geift des vorigen Jahrhunderts wehte friſch und erquidend
den Leſer an und der beißende Wiß, welcher ſich in ihnen ausſprach, wir
erinnern nur an die erjte Legende von Rübezahl, in welcher der Ber-
faſſer zahlreiche Seitenhiebe auf die damalige Juftizpflege austeilt, ver-
Ihaffte der liebenswürdigen Schöpfung auch in die Kreiſe des deutjchen
Publikums, deren Intereſſe ſonſt weniger durch das kindliche Lallen einer
Märhendichtung zu erweden ift, Eingang.
Leider war e3 der lebte Flügelichlag, den der Genius des menſchen—
freundlihen Dichters that. Ein nachfolgendes Werk „Die Bearbeitung
der hochets{moraux von Monget”, welches nach jeinem Tode unter dem
Titel „Moraliiche Kinderflapper für Kinder und Nichtkinder“ erichien,
und welches er noch auf feinem legten Krankenlager jchrieb, konnte er
nicht mehr vollenden. Freund Hain, mit dem er kurz vorher noch jeine
Nedereien getrieben Hatte, verftand dieſes Mal keinen Spaß, er ging nicht
200 Der Märdendichter Muſäus und fein Garten.
an ber Thür des Dichters vorbei, jondern trat ein und nahm demſelben
am 28. Oktober 1787 fanft und leicht die Bürde des Lebens ab. — —
Hundert und mehrere Jahre jind ſeitdem dahingegangen und die all:
gewaltige Zeit, welche Berge ablöft und Thäler füllt, Hat manchmal aud)
die Märchen unſeres Mujäus, das Kleine grüne Eiland, was ſich eigen:
artig aus den Fluten unferer deutſchen Litteratur abhebt, in Vergeſſenheit
geraten laſſen. So oft es aber aud die Wellen eines feindlichen Ge-
Ichmades überſchwemmt haben, immer wieder hat es fi) aus demjelben
erhoben, immer wieder die Fernftehenden zur Einkehr aufgefordert, ſowie
diejenigen, welche es betreten, durch die Anmut feiner Reize entzüdt.
Und darum, wenn Du jemals, geehrter Leſer, Deine Schritte nach Wei-
mar lenkſt, um erinnerungsfroh an den Stätten zu weilen, von denen
aus eine neue Morgenröte den geiftigen Horizont unjerer Nation überftrahlt
hat, vergiß nicht, auch dem Andenken des bejcheidenen Mannes, dejien
wir heute gedacht haben, ein Stündchen zu weihen und die Bläße zu be-
judhen, weldye an den Höhepunkt und das Ende jeines Erdenwallens er-
inneren. Gehe zunächſt hinaus auf den ftillen Friedhof St. Jakob, wo
er die lebte Ruhe fand und noch heute das Denkmal jteht, was ihm
einſtmals ein Ungenannter errichten ließ und lenke dann die Schritte zur
Höhe, um den Garten zu betreten, der einft jeine Feine Welt bedeutete,
Seit 1824 zwar im Bejit einer geichloffenen Gejellichaft, der „Erholung“,
welche ihn, nachdem er durch die Munifizenz Carl Auguits eine wejent-
lihe Vergrößerung erfahren hat, als Sommerlofal benußt, ift er dod
für Dich Fein verſchloſſener. Wie man in Weimar durchweg gewohnt ift,
den gebildeten Fremden als Ehrengait zu behandeln, jo wirft aud Du
freundliche Aufnahme finden und der Genius des Ortes Dir die Stunde
nit allzu lang werden laſſen, welche Du bier verlebit. Grüße die
traute Stätte, der man die jchönen Worte gewidmet hat:
Die Wirflichkeit entflieht aus biefen Räumen,
Der ernfte Amtöberuf,
Hier, wo ein Dichter einst in fel’gen Träumen
Nur heit're Märchen fchuf,
grüße auch das heiter lächelnde Geficht des Mannes, dejjen Züge in
plajtiicher Treue von einem Sodel neben dem Gejellihaftshaus in das
fröhliche Treiben jehen, vor allem aber, wenn der Zauber der Erinnerung
Dich erfüllt, gedenfe der Worte Goethes:
Die Stätte, die ein guter Menſch betrat,
ift eingeweiht,
Nah Hundert Jahren Hingt jein Wort
Und feine That bem Enkel wieder.
Erinnerungen an Zheodor Htorm.
Bon Ludwig PBietfy— Berlin.
Ende der fünfziger Jahre war Theodor Storm von Potsdam an
das Gericht des Städtchens Heiligenftadt im Eichsfelde verjeßt worden.
Bon dort aus empfing ich nad) längerer Korrefpondenzpaufe im Früh—
iommer 1861 einen, fein gegenwärtige Leben, deſſen Schauplag und
defien Menfchen, wie Storm's Beziehungen zu ihnen, eingehend und le—
bendig fchildernden Brief des alten Freundes. Er drang zugleich in mic,
doch endlich einmal ihn und die Seinen dort zu bejuchen und bei ihnen
einige Sommerwochen in dem grünen „Borlande des Harzes’ zu ver-
leben. Es fügte fich fo glücklich, daß ich das Unternehmen wirklich zur
Ausführung bringen konnte. Ich fuhr auf der Eifenbahn bis Göttingen
und, nach kurzem AufentHalte in der hübjchen Stadt an der Leine, im
Boftwagen in das bergige waldreiche Land hinein.
Spät im Abenddunfel erſt jah ich die Hausdächer und die Kirchtürme
Heiligenftadt3 von der lebten Höhe des Weges unten im Thalfeffel vor
mir liegen, zu dem nun der gelbe Poſtwagen hinabraſſelte. Seltjam
fremd muteten mich die jchläfrigen Gafjen des alten Städtchens mit ihren
beiheidenen niedrigen Häufern im fladernden trüben Lichte der wenigen
Laternen an. Uber als ich endlich aus meinem Kaſten geflettert und zu
Storm’3 naher Wohnung gelangt war, wo er und Frau Conſtanze mich
mit erquidender Herzlichkeit empfingen, war jede Empfindung des Fremd-
jeins freilich jehr bald verjhwunden und ich fühlte mich zu Haufe, wie
nur in meinem eigenen Heim. Storm’s Buben und Mädchen, die mic)
zuerft mit den großen hellblauen Augen till verwundert mufterten, wur-
den jehr bald zutraulich und meine guten Freunde,
Für mich begann dort in Storm’3 Wohnung, in der die Stadt um-
gebenden Berglandichaft, und im Verkehr mit den Storm nächitjtehenden
Menſchen eine Reihe goldener Tage ungetrübten Glücks. Mit wahrem
Entzüden erfüllten mich die täglichen Wanderungen bald mit Storm
allein, bald mit ihm, feiner geliebten Frau und jeinen älteren Spröß-
202 (Srinnerungen an Theodor Storm.
lingen, durch jene Felder und Wälder und zu diefen Höhen hinauf. Die
Bewegung, die friiche, etwas herbe, durch den Duft der Fichtenwaldungen
gewürzte Bergluft, der Anblid der an Anmut und Schönheit nicht eben
reihen, aber doc charaktervollen, jchlichten und ernjten Landſchaft und
das „laute Denfen mit dem Freunde”, das Lejfing als einen der beften
Genüſſe preiſt, hatten gleichen Anteil daran.
Zu Storm und feiner Familie gejellte ſich dort in Heiligenjtadt noch
eine zweite, die ihm hier befreundet worden war, die des Heiligenftädter
Landrats v. Wufjow, eines Bruders des Generals dieſes Namens und
nahe verwandt mit der dv. Goßler'ſchen Familie. Frau Adelheid v. Mühler,
die vielgenannte Gattin des jpäteren Eultusminifters, war jeine Muhme.
Mehrere Jahre nach diejer Zeit wurde Alerander als Geheimer Ober:
regierungsrat in dass3Minifterium nach Berlin berufen.
Das Haus v. Wuſſow's, das „Königliche Landratsamt”, wie feine
Giebelinichrift lautete, lag zwiichen einem großen blumen- und fruchtreihen
Vor- und Hintergarten dicht vor dem Thor der Stadt, hart an der Land-
jtraße, der jchweren dunfeln Mafje des Mbergs und feinen Nebenhöhen
gegenüber. Un jenen rücjeitigen Garten grenzte das den Abhang zum
Thal der Leine bededende große Gartengrundftüd des Bruderd von
Theodor Storm, des Kunftgärtners Dtto Storm, der fich hier angefiedelt
und verheiratet hatte; — eines im Gegenſatz zu jenem, meift mißmutigen,
verftimmten, mit Gott, Schidjal und Menſchen unzufriedenen, alle gleid;
mäßig der Ungerechtigkeit anklagenden Mannes, Jenſeits der am Land-
ratshauje, oder genauer: dem Vorgarten, nad) rechts und links bin vor-
über führenden Chauffee an der fie hier freuzenden Thüringer Landitraße,
die drüben zum Mberg anjtieg, lag das hübſche Landhaus des Bruders
von Frau dv. Wufjow, des Hauptmanns a. D. v Byern.
Beide der Storm’schen befreundeten Familien waren in hohem Grade
gaftlih und gejellig. In beiden fah ich mich wie ein guter alter Be—
fannter aufgenommen und verlebte in dieſen Kreifen mit Storms gemein-
jam in ihren Gärten, ihren Villen und auf den gelegentlichen Ausfahrten,
Tages: und Abendpartieen zu den verjchiedenen näheren oder entlegene-
ren Zielen der Umgebung, viele gute, reich erfüllte frohe Stunden wäh.
rend dieſer Sommerwocen.
Von nicht geringerem Reiz und Eindrud aber waren für mich aud
jene trauten ftillen Stunden, die ih in Storm's Haufe mit dem Freunde
und der herrlichen Frau in nie abreißendem Gejpräche von dem, was
unferen Seelen das Liebite, Teuerfte, Wichtigſte war, beim Thee oder
Glaſe Wein, verbrachte. Oder jener, in denen er aus jeinen Lieblings:
werfen, aus Mörike's Dichtungen, aus Frig Reuter's eben damals er-
ſchienenen erften Schriften, wie „Hanne Nüte“, aus Tied oder Eichendorff
Erinnerungen an Theodor Storm, 203
oder aus den furchtbaren, den Hörer mit Graufen überriefelnden, un-
heimlihen Hexen- und Geſpenſtergeſchichten einer Englifchen und einer
Deutihen, von 2. Bechſtein verfaßten, Sammlung von folchen vorlag,
Ich zeichnete dabei entweder an meiner Kopie auf dem Holzitod, an für
Storm zum Gaſtgeſchenk beftimmten Kompofitionen zu Grimm's Kinder:
und Haus-⸗Märchen — hatte er doch jo großes Wohlgefallen daran ge:
funden! — oder an einem Bildnis Conftanze’s, das ihre groß- und doch
jo feingefchnittenen Gefichtsformen und die, von breiten Lidern und langen
dunklen Wimpern weich beichatteten, tiefen mächtigen grauen Augen, wie
es und allen damals dünkte, nicht übel auf dem Papier wiedergab. Er
lad in feinem jchleswigichen Dialekt und feinem zarten Stimmflange alles
rein Lyriſche, Empfindfame, leife Verfchleierte, Ahnungsvolle, in Gedichten
und Proja immer mit ganz bejonders eindringender Wirkung vor. Aber
ebenjo vortrefflich verjtand er das derb Humoriftiiche, bejonders das in
dem ihm von Kindheit auf vertrauten und gewohnten Platt Gejchriebene,
zu interpretieren und herzliche Heiterkeit damit zu erweden. Beiden Gat-
ten war zu allen anderen Gaben auch die des Gejanges verliehen, Frau
Conſtanze ein jchöner, voll und ſametweicher Alt; Storm jelbit ein heller,
Hangvoller Tenor. Wie beider Singefunft vor ftrengen Fritiichen Rich—
tern beitanden Haben würde, vermag ich mit Beftimmtheit nicht zu jagen.
sh weiß nur, daß der Klang ihrer Stimmen mir ſtets jo wohlthuend
war, wie mir ihr Vortrag in hohem Maße ausdrudsvoll und immer der
poetiihen Abficht des Dichterd und Komponiften glüdlich entjprechend
erichien.
Immer meine ich noch manche ihrer Lieder, Arien und Duette, be-
jonder® aus Schumanns „Der Roje Bilgerfahrt”, wie fie mir damals
in jenen bejcheidenen, traulichen Räumen von Gonftanze und Theodor
gejungen wurden, mit finnlicher Deutlichkeit in der Seele nachklingen zu
hören. Mit der häuslichen Wirtfchaft und Ordnung wurde e3 von bei-
den nicht allzu genau genommen. Aber diefer Mangel wurde reichlich
durch jo viele andere höhere, geiftige und gemütliche Vorzüge erjett, daß
ih perjönlich wenigftens ihn faum als folden empfand. Die Kinder
wuchſen in voller Freiheit auf. Im Vertrauen auf ihre gute Natur kam
das, was man fo Erziehungsmaßregeln nennt, niemals bei ihnen zur
Anwendung. Die drei Jungen, Hans, Ernft und Carl, wurden vom
Vater als feine Freunde und Kameraden behandelt, mit denen er jelbit
Dinge beſprach und erörterte, welche man gemeinhin vor Knabenohren
nicht zu berühren pflegt. Dieje Art der Erziehung und der Behandlung
der Kinder ift immer ein etwas gewagtes Experiment. Wenu fein Un-
heil daraus erwächſt, können Väter und Kinder von Glüd jagen.
Der zart- und feinfinnige Poet ſchloß in Storm's Natur den tüd)-
204 Grinnerungen an Theodor Storm.
tigen praftiichen Suriften nicht aus. Er verftand es, jeinen Amtspflichten
jederzeit gewiffenhaft zu genügen, und fand doch Stimmung und Muße
in hinreichendem Maße, um jeine Freunde und alle die zahlreichen Ver—
ehrer feiner Poeſie, auch während feines Aufenthaltes und feiner Richter-
thätigfeit in Heiligenftadt durch manche neue, tief empfundene, ftimmungs-
und anmutvolle, funftreich dDurchgearbeitete Erzählung, manches vollendete
lyriſche Gedicht zu erfreuen. Nicht felten waren es genug in feiner Rid-
tereigenjchaft gemachte Beobachtungen, Erlebnifje und Erfahrungen, die
ihm jehr brauchbare und wirkſame Motive und charakteriftiiche Züge zu
jeinen Novellendicgtungen gaben. Die gänzlich unter der geiftigen Herr-
ſchaft des Fatholifchen Klerus ftehende, meift von der harten Laſt der
Lebensnot niedergedrüdte arıne Bevölkerung des ichsfelbes, mit der
Storm durch fein Amt vielfach in nächfte Berührung fam, bot dem Fu:
riften wie dem Dichter nur zu reichliche Gelegenheit zu Einbliden in die
„NRachtfeiten der Menjchennatur”, welche jich unter jenen beiden Bedin-
gungen am üppigiten zu entwideln pflegen.
Storms feines piychologifches Kabinetjtüd „Veronika“, die halb hu:
moriſtiſche Kleinftadtgeichichte „Drüben am Markt“, wenn ich nicht irre
auch „Viola tricolor“, „Späte Rojen” und wohl noch eine und die an:
dere Heine Erzählung waren während des bisherigen Aufenthalts in Hei-
ligenftadt entftanden und veröffentliht. Des Freundes dortige Eriftenz
Ihien ganz dazu geartet, ihn volllommen zu befriedigen. Dort war er
vor den verwirrenden, Zeit und Stimmung zum dichteriichen Schaffen
raubenden Einflüfjen des aufgeregten Großftadttreibens glücklich geborgen.
Seinem Bedürfnis des geijtigen Verkehrs mit verjtändnisvollen und herz:
lich ergebenen Freunden und Familien war durch v. Wuſſows und an-
dere gebildete Männer und Häujer des Städtchens genügt. Das Glüd
in der eigenen Familie war durch nichts getrübt und er genoß es in
vollen Zügen. Und es mangelte ihm bier auch dag nicht, was ihm immer
als eine der unentbehrlichjten Bedingungen des Behagens am Dajein und
der Zufriedenheit damit erjchien: die praktische und muſikaliſche Thätigfeit
als allbeliebter Leiter eines von ihm gegründeten Geſangvereins von Herren
und Damen. Mit diefem, durch ihn gejchulten und für jeine Aufgaben
begeilterten Chor hatte er im Winter feine Liebling3oratorien von Haydn
und Schumann in einem dazu gemieteten Gaftlofal zur wohlgelungenen
Aufführung gebradt. Mit ihm auch jah und Hörte ich Storm an einem
Ihönen Auguftabend in einer Waldlichtung in der „alten Burg“ ein Chor:
gejangsfonzert im Freien veranftalten, das auf die ganze umhergelagerte
Heiligenftädter Gejellichaft einen begeifternden Eindrud machte und in mir
noch bi8 auf den heutigen Tag eine freundliche Erinnerung zurüdge:
laffen Hat.
Grinnerungen an Theodor Storm. 205
AN das Gute und Liebe, was ihm das Leben in Heiligenftadt bot,
erfannte Storm willig an. Er ſchien es wohl zu fühlen, daß dieſe Zeit
eine bejonders glüdliche für ihn je. Uber das tiefe Heimmeh nad) der
„grauen Stadt am Meere”, nad) feinem Hujum, feinen Eltern, feinem
Baterhaufe und der ganzen jchleswigichen Sippe konnte dadurch fo wenig
aus jeinem Herzen getilgt werden, wie der Schmerz um das Gejchid der,
wie e8 damals den Augenſchein Hatte, hoffnungslos der däniſchen Herr-
ihaft und Gewalt preisgegebenen Elbherzogtümer. Won jedem jommer-
lihen Ferienbejuche in jeiner dortigen Heimat kehrte er zugleich neu er
quikt und erfriicht, aber doch auch wieder mit dem verjchärften Schmerz-
gefühl der Trennung, des Verbanntjeins von dem geliebten Mutterboden,
in dad Heiligenftädter Bergland zurüd.
>
Anton Philipp Reclam.
Bon Karl fr. Pfau.
. Wer den Beften jeiner Zeit genug
Sethan, der bat gelebt für alle Zeiten.“
Immer jeltener werden zur Zeit im deutfchen Buchhandel die typi-
ſchen Geftalten, deren Anblid uns jo oft zur Verwunderung und Ber-
ehrung Hingerifjen hat. Ja, fie werden merklich jeltener, und mit auf-
richtigem Bedauern fonftatieren wir diefe Thatſache. Stetig verliert der
Buchhandel — und nicht diefer allein — von feinem patriarchaliſchen
Charakter und mit Wehmut erfüllt es ung, wenn, wie fürzlich mitgeteilt
wurde, in einem Fabrikgeſchäft der Chef nicht mal mehr jeine Leute fennt!
Ein ſolcher Zuftand ift leider jymptomatisch für die Zukunft: Wrbeiter
und Arbeitgeber entfernen und entfremden fich immer mehr und mehr
und bei einer jolhen Sadjlage darf man ſich nicht wundern, wenn aud
das gegenjeitige Vertrauen auf immer jchiefere Bahnen gelangt. Hierin
Mandel zu jchaffen wäre eine ebenſo dankbare wie lobenswerte Aufgabe
in der Erfüllung jozialpolitiicher Pflichten. — Woraus ſich diejer Verfall
erklärt, ift unschwer zu beantworten. Dünfel und Hochmut haben den
Menichen in hohem Maße erfaßt, Egoismus und Niedertracdht find an
die Stelle einer freien, frohen und teilnehmenden Meinung getreten, In-
telligenz und geiftige Überlegenheit haben feinen Wert mehr, nur das
Geld it der Wertmejjer des Menjchen in den Augen der — Bieder-
männer. — Inmitten jolcher Verhältnifje erfüllt e8 ung mit bejonderer
Freude, einer Ausnahme zu begegnen, die fi) abhebt von den üblichen
Gepflogenheiten, die über das Durchſchnittsniveau weit hinweg ragt, die
uns auf die einleitenden Worte rücbeziehend, noch den Typus der alten
Schule charakteriſierte. Dieſe Ausnahme bildete Anton Philipp Re
clam, der erft jüngjt, am 5. Januar 1896, ſich hinüber ins befjere Jen-
jeitö begab, deſſen irdiſchen Pflichten und Beitrebungen der Tod ein Ziel
Anton Philipp Reclam. 907
ſetzte. Wir kannten diejen alten, ehrwürdigen und geiltig außergewöhn-
lich thätigen Greis ſeit langen Jahren; jo ift e8 denn uns ein aufrich-
tiges Bedürfnis, dem von uns verehrten Manne bier an dieſer Stelle
unjern Tribut zu zollen, indem wir das Lebensbild deſſelben unjern
Leſern näher bringen.
Anton Philipp Reclam wurde am 29. Juni 1807 zu Leipzig ge-
boren als ältefter Sohn des Buchhändlers Karl Heinrih Reclam. Im
Jahre 1823 begann Anton Philipp feine buchhändleriiche Thätigfeit durch
Eintritt al3 Lehrling in die Handlung des mit ihm — mütterlicherjeits
— verwandten Friedrich Vieweg in Braunjchweig. Bei dem geiftig hoch—
ftehenden Buchhändler Vieweg fand der junge Mann eine väterliche Auf-
nahme und die anregendite Thätigkeit, denn die Handlung Viewegs, ala
Schwiegerjohn Campe's, genoß damals einen mit Recht begründeten
guten Auf. Die Thätigkeit im Haufe Viewegs war von den nachdrück—
fihften Einwirkungen auf den Jungbeflifjenen; wir gehen faum fehl mit
der Behauptung, daß dort feine eigentliche Neigung und Liebe zum Ver-
fegerberuf gewect, genährt und gefördert wurde. Unmittelbar nach Be-
endigung der Lehrzeit trieb ihn fein innerer Drang zur Selbitändigteit,
und jo jehen wir ihn denn jchon 1828, aljo kaum 21jähria, als Inhaber
des „Litterariichen Muſeum“ in Leipzig, einer mit einem Journal: Lefe-
zirfel verbundenen Leihbibliothef. Indeſſen diefe monotone Geſchäfts—
arbeit genügte dem aufjtrebenden Jüngling nit. Kaum erlaubten es
nur einigermaßen feine Mittel verlegeriih aufzutreten, führte er diefen
Entihluß aus und jein erſtes von ihm erworbenes Manujffript war
eine Überjegung aus dem Franzöſiſchen. Dieſer erſte Verſuch verlegeri-
Iher Thätigfeit muß ermutigend auf ihn eingewirft haben: jchon im
Sahre 1837 verkaufte er das „Litterariiche Muſeum“ und wandte fich
jest unter der Firma „Philipp Reclam jr.” dem ausschließlichen Verlags-
weien zu. Mit der Aufnahme einer rein verlegeriichen Thätigfeit begann
Reclam nun eine jehr eifrige und thätige Produktivität, die ihm wejent-
lid erleichtert wurde durch den im Jahre 1839 — mit Freundesmitteln
— bewirkten Ankauf der gutfundierten Haack'ſchen Druderei. Die natür-
liche Selbjtändigfeit, die er fich hierdurch fremden Auftraggebern gegen-
über ſchuf und das Beitreben, möglichit für das eigene Geſchäft zu ar-
beiten — ein Prinzip, das jeitend der Firma bis heutigen Tages fait
ftrifte durchgeführt wird — waren von der glüdlichiten Einwirkung auf
die innere Ausgeftaltung des Verlagsgejchäfts und die Früchte des Er-
folges traten bald zu Tage in Gejtalt einer ganzen Anzahl neuer Ber-
lagsunternehmngen.
Wir nennen davon nur die verjchiedenen „Bibelausgaben“, das
Schmibtiche Franzöfiich-deutihe Wörterbuch. Ebenſo erſchien bei R. in
208 Anton Rhilipp Reclant.
den Jahren 1842—48 „Dettingers Charivari”. Gleichzeitig verlegte er
auch eine Reihe liberaler Schriften über Öfterreich und die öfterreichiichen
BZuftände, die ihn in arge Konflikte mit der öfterreichiichen Regierung
verwidelten und die fogar joweit gingen, daß den Verlagserzeugnifjen R.’s
der Vertrieb in Ofterreich unterfagt wurde. — Diefe bitteren Erfahrungen
und Hemmniſſe vermochten aber AR. weder jhwanfend noch unmutig zu
machen; vielmehr waren fie für ihn infofern von einem gewiſſen Nuten,
als er feine Thätigkeit mehr Fonzentrierte, daß er fich bejtrebte, durd)
neue, das Ganze umfaljende Unternehmungen von dauernder Gangbarkeit
zu ſchaffen.
Hervorzuheben find unter diefen durchweg ftereotypierten Werfen die
lateinischen und griechiichen, von Koch herausgegebenen Klajfiter-Ausgaben,
Mühlmanns weitverbreitetes lateiniſches Schulwörterbuch, ferner, gewiſſer—
maßen als Vorläufer der billigen Klaffifer-Ausgaben, Shafejpeares Werke,
die, nebenher bemerkt, einen enormen Abſatz erzielten, und eine Reihe
anderer Verlagswerke. Dieje reiche und umfajjende Thätigfeit hatte na-
turgemäß auch einen bedeutenden Aufihwung des Geichäfts zur Folge.
Die bisherigen Räumlichkeiten erwiejen ſich bald als unzulänglich und jo
fiedelte R. im Jahre 1862 in das von ihm hauptſächlich Für Gejchäfts-
zwede erbaute Haus in der Dörrienftraße Nr. 4 über. Der bereits er-
wähnte enorme Erfolg der Shafejpeare-Ausgabe übertrug ſich auch auf
die anderen billigen Klaffifer, welche Reclam unmittelbar nach dem im
Sabre 1867 in Kraft getretenen Gejeb, wonach die Werfe aller jeit 30
Jahren und länger verjtorbenen Autoren Gemeingut der Nation wurden,
ins Leben rief. Wir nennen davon nur Schillers, Goethes, Leſſings,
Hauffs Werke u. U.
In diejen jo erfolgreichen Verlagswerken find nun ficherlich aud) die
Anfänge für ein anderes, ja das größte Verlagsunternehmen Reclams zu
juchen: Wir meinen die im Jahre 1867 begonnene „Univerjalbibliothef“,
einem Sammelwerfe, das ſich von Anfang an die Yufgabe jtellte, die
Werke großer Dichter und Denker durch einen niedrigen Preis allen
Schichten des deutſchen Volkes zugänglich zu machen. Diejes Unterneh-
men, anfänglich mit recht jcheelen Augen betrachtet, fonnte aber in der
Folge nicht ignoriert werden, jchon darum nicht, weil das Publikum dieſe
Unternehmungen verlangte. Gegenwärtig find diefe typiſch gemordenen
gelben Heftchen in ungezählten Millionen von Eremplaren verbreitet umd
auf der ganzen gebildeten Welt heimiſch geworben.
Das Geheimnis diejes beijpiellojen Erfolges iſt einmal in dem wirk—
lihen Bedürfnis nach ſolch billigen Ausgaben zu juchen, zum andern in
der Thatjache, daß Reclam mit einem ungemein weitjchauenden Blicke
diejem Bedürfnis Rechnung zu tragen wußte. Der Erfolg diefes Unter:
Anton Philipp Reclam. 209
nehmens jteht wohl im Buchhandel einzig da; feine der verjchiedenen
Konkurrenz- Ausgaben kann fich bez. der Popularität und des Umfanges
meſſen, feine jteht auf jo feftem Grunde al3 die Reclam'ſche Univerjal-
bibliothet. Reclam bejchränfte fich Hierbei nicht ausſchließlich auf die ſo—
genannten Klaſſiker.
’ — CET TEE TE
2 — — *2 ER
8 —— “ N ———
“
Er erweiterte den Rahmen, indem er alle wiſſenſchaftlichen Dis-
ziplinen, alle populär-wiljenjchaftlihen Gebiete in das Unternehmen
hineinzog und es in gewillem Sinne zu einer auf breiteiter
Grundlage ruhenden Encyklopädie ausgeitaltete. Won diefem Gefichts-
punkte aus betrachtet hat die Univerjal-Bibliothef auf die Verbreitung
14
210 Anton Philipp Reclanı.
von Wiſſen und Bildung in ganz bebeutender Weile eingewirkt, denn
alles, was menschliches Willen und Bildung an Leje- und Xehritoff ver
langen, fand eine Stätte in Reclams Univerjalbibliothel. Einen zuver-
läffigen Beleg für diefe Ausführungen liefert der bekannte grüne Ber-
lagsfatalog, der, nad) Materien geordnet, erkennen läßt, weld un-
gemein reges Urbeitsgebiet ſich R. in feiner Univerſalbibliothek gejtellt
und in der That auch erfüllt hat.
Der bedeutende Abſatz diejes Unternehmens und des übrigen Verlags
hatte ganz naturgemäß auch eine rapide Vergrößerung der Geſchäftsloka—
Iitäten zur Folge, bejonders in Hinficht auf die Druderei, bei welcher
eine Vermehrung der Schnellprejjen ſich als unumgänglich notwendig
heraugitellte. Das eigene Geſchäftshaus reichte für dieſe Vergrößerung
nicht aus. Reclam erwarb das Nebenhaus und baute es feinen Zwecken
entjprehend um. ber bald waren jämtliche Räumlichkeiten mit den
enormen Qagervorräten gefüllt und eine weitere räumliche Ausdehnung
innerhalb der Gebäude nicht mehr möglich).
Reclam war nun vor die Alternative geftellt worden, entweder ein
weitere Nachbarhaus anzufaufen, oder den Gedanken eines Neubaues in
Erwägung zu ziehen. Er entichloß ſich für den leßteren, indem er ein an
der Kreuzitraße gelegenes größeres Areal anfaufte, und Hier jenen ge
waltigen und erjt neuerdings wieder erweiterten Neubau aufführte, ber
in jeiner zierlich einfachen architeftonischen Schönheit zur Stätte jeiner
weiteren Wirkſamkeit wurde,
Seit dem Jahre 1837 dient dieſes impojante Geichäftshaus den
Zweden der Weltfirma, die ihrer ganzen Anlage nach räumlich und in-
nerlid einer jtetigen Weiterentwidelung und Ausdehnung entgegengeht,
denn fir Jahre hinaus ijt die Firma bereit mit Hunderten von neuen
Vertragsabſchlüſſen verjorgt, eine Thatjache, die gleichzeitig auch den
Weiterausbau der Univerjalbibliothef um Hunderte von weiteren Num-
mern gewährleiſtet. So ilt das anfänglid) bejcheiden ausjehende Unter-
nehmen zu einer Höhe gelangt, die der Urheber diejes Gedankens zwei-
fellos jelbjt nicht geahnt, viel weniger erwartet hatte. Auf diefem Unter-
nehmen baute fi die Weltfirma auf.
Neclam hat mit bewunderungswürdiger Ausdauer jeine Univerjal:
bibliothek gefördert; er verwuchs allmählich ganz mit derjelben und bis
zu jeinem Tode leitete er in Verbindung mit feinem einzigen Sohne Hans
Heinrich das Geſchäft. Feſt begründet jteht das von ihm gejchaffene
Geichäftshaus da und feine Schöpfung wird, um mit unjerm Dichter:
fürjten zu reden, noch nah Hundert Jahren dem Enkel in Wort und
That wieder klingen. —
Us Menih war Reclam ein bicderer, aber derber Charakter. Aber
Anton Philipp Reclam. 211
trotz ſeiner ſcheinbaren Rauheit beſaß er ein warmes und mitfühlendes
Herz, das beſonders ſeinem inzwiſchen auf faſt 150 Perſonen angewach—
ſenen Perſonal gegenüber zum ſchönſten Ausdruck gelangte. Sie alle
blickten mit Liebe und Verehrung zu ihm auf und nichts iſt bezeichnender
für die Wertſchätzung dieſes Mannes, als die Worte, die ein Angeſtellter
des Geſchäfts ſeinem entſchlafenen Chef am Sarge nachrief:
„Im Namen des Geſchäftsperſonals lege ich dieſen Kranz am Sarge
unſeres dahingeſchiedenen Chefs nieder als ein Zeichen des Dankes für
die allzeitige Gerechtigkeit und Güte, die der Verſtorbene uns Untergebenen
bewieſen hat, und als ein Zeichen unſerer aufrichtigen Verehrung.
Der Entſchlafene hat ein langes Leben hindurch raſtlos geſchafft
und Erfolge erzielt, wie ſie ſelten einem Manne zu teil werden. Aber
das Märchen vom „Glück haben“ findet hier feine Anwendung. Durch
eigene Kraft, nur dur unermüdlichen Fleiß und eine eijerne Energie
hat jo Großes erreicht werden fünnen. In diejer Hinficht wird uns Ar-
beitern der Werftorbene ſtets ein leuchtendes Vorbild fein. Sein An
denken werden wir in hohen Ehren halten wie bisher, jo in aller Zu-
funft. Das gelobe ich im Namen aller.“
Nah einer faſt 7Ojährigen Thätigkeit ging der treue, regſame
Mann hinüber zu den Vätern, woher eine Rüdkunft nimmer erfolgt.
Seine Beitattung trug einen tieferniten Charakter und angeſichts des
Geihaffenen war wohl die zähe Energie zu verwundern, mit welder R.
jeine Ziele verfolgte gegenüber den mannigfachſten Fehden und Anfein-
dungen, die bekanntlich jedem bejchieden find, der energiich und zielbewußt
jeine eigenen Bahnen zu wandeln verfteht. — Und angefochten iſt R.
in nicht geringem Maße, bejonderd der angeblich geringen Honorare
wegen, Die er den Autoren zahlte und des nachteiligen Einfluffes wegen,
den jeine billigen Ausgaben zur Folge gehabt Haben jollen. Uber wer
fich jelbft vertraut, jcheut feine Konkurrenz, und jo find vielfache Anfein-
dungen lediglich nur niedrigen Gefinnungen entiprungen.
Ein auf fo breiter Grundlage ruhendes Unternehmen, wie die Uni-
verſalbiblothek, jchloß es im fich ſelbſt aus, jedes neue Bändchen als
„Schlager“ zu bezeichnen. Viele, viele Nummern haben fich über einen
relativ mäßigen Abjag nicht hinaufgefchwungen, während andere wiederum
einen Riefenabjag Hatten und noch haben werden. Inwieweit nun Die
Klagen diejerhalb begründet find, wollen wir hier nicht unterjuchen.
Seine Rechnung fand R. ganz gewiß; dazu war er ein viel zu gediege-
ner Geſchäftsmann. Undererjeits läßt ſich wohl nicht ableugnen, daß R.
lediglich nur das gethan hatte, was andere vor ihm und jpätere nad)
ihm thun werden: er beftrebte fich, ein ftrengrechnender Geſchäftsmann
zu fein. Groß ift die Zahl von Autoren, die darnad) ftrebten, zugelafjen
14*
212 Anton Philipp Reclam.
zu werden zur Reclam-Gemeinde und wer jpätere Wiederfehr übt, kann
jo jehr betrübt nicht von dannen gegangen fein.
Reclams Name ift ein Univerjal-Begriff geworden. Univerjal ift
auch die Bedeutung der Schöpfung geworden und fein Erbe und Sohn,
Hans Heinrih Reclam, hat das gütige Gejchid zu preilen, das ihm eine
ſolch ſchöne und edle Aufgabe übertrug! An ihm und feinen Nachfolgern
it e8, das Vermächtnis des Vaters zu wahren und zu mehren im An-
denken des Mannes, der zu einem echten und rechten Pionier für Bildung
und Willen geworden iſt.
Die Entftehung der Schreibkunft und die Briefe
der Arzeit.
—— —
I. Entſtejung und Entwicklung der Schreibkunſt.
Alle Völker verlegen die Erfindung der Schreibfunft in die Zeit zu-
rüd, wo die Menjchheit noch in unmittelbarer Verbindung mit den Göt-
tern ftand. Nur von diejen fonnte eine jo herrliche Gabe gekommen jein.
Ein Engel, jo erzählt der jüdische Gefchichtichreiber Joſephus, habe den
Menihen ein aſtronomiſches Buch vom Himmel gebracht, daraus habe
Seth jchreiben gelernt und habe jpäter mit feines Sohnes Hilfe den In-
halt dieſes Buches auf zwei Pfeiler eingerigt. Die Ägypter wollten ihre
Hieroglyphen vom Heiligen Thot, dem Fremdlinge aus Ajjur, erhalten
haben, der im grauen Altertum beinahe alle Formen des religiöjen Kul-
tus gejchaffen haben joll; laut arabiichen Sagen joll dagegen Adam jchon
die Kunſt, auf an der Sonne getrodneten Ziegelfteinen zu jchreiben, ge-
fannt haben.
Die germaniihe Eage kennt verjchiedene Schrifterfinder; zuerit Odin,
der als Erfinder der Runen auch Fimbultyr heißt. Ein anderer Er-
finder ift Rigr, der den Jarl die Runen kennen lehrt: Zeitrunen und
Zufunftsrunen.
Die iranische Sage bezeichnet den König Tahmurath (d. h. der große
Räuber) allerdings nicht als den Erfinder der Schrift, aber als den, der
die Schrift den Dämonen (azhis dabaka) entrifen habe. Die Schrift
war von guten Geiftern erfunden worden, aber in die Hände der Dä-
monen gefallen, welche fie den Menjchen bis zu Tahmuraths Zeit vorent- _
hielten. Bon Tahmuratd wird ferner erzählt, daß er Leoparden und
Falken zähmte und zur Jagd abrichtete, die Haustiere mit Stroh und
Korn füttern und Zeug aus der Wolle der Tiere weben lehrte, Hühner-
zucht einführte und große Gebäude errichtete,
Einen ähnlichen Namen treffen wir in Südamerika, wo die Einge-
borenen ſcheu an den Feljeninjchriften (die fie für göttliche Emanationen
214 Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
halten) vorbeigehen und ohne fie anzujehen, leije den Namen Tehmehri
flüftern.
Die mexikaniſche Cage erzählt, die Echrift fei vom Gotte Ketſalkoatl
erfunden worden, der auch als Herr bes Aderbaues und der Metalle
angebetet wurde. Ketſalkoatl ift „die beflügelte Schlange“.
Nah der chinefiichen Sage wurde die Schrift von Fohi erfunden,
der in China auch zuerft die Kultur ausgebreitet haben fol. Im „Buch
der taujend Worte“ heißt Fohi „der Herr des Drachen, der Kaiſer des
Feuers, die Obrigkeit der Vögel, der König der Menfchen“.
Von Indien liegen feine direkten Sagen vor; ein chinefiicher Schrift:
jteller, Huen-Thſang, ein Buddhiſt, jchreibt die Erfindung der indiichen
Schrift dem Gotte Fan, d. h. Brahma, zu.
Die babyloniihe Sage nennt als Erfinder der Schrift den Dannes,
ein Weien, halb Fiih halb Menſch, das bei Tage die Menichen alle
Künfte und Willenichaften Iehrte, fi) aber während der Nacht ins Wal:
jer zurückzog. Sardanapalus nennt in einer Infchrift, die er für feine
Bib:iothek verfaßte, Nebo und Tasmit als die Götter, die feinen Vor—
vätern die Schrift gelehrt hätten.
Die Äägyptiiche Sage nennt, wie gejagt, Thot als Erfinder der Schrift;
von ihm wird erzählt, daß er die Sprade und alle Wiſſenſchaften er-
funden, die Menschen Taktik, Plaſtik und Fechtkunſt gelehrt, die Stellung
der Sterne, wie auch die Harmonie und das Wejen der Töne ftubdiert
und den Olbaum erfunden habe.
Bei den griechiihen Forſchern ſelbſt herrichten jehr verjchiedene
Meinungen über die Erfindung der Schreibfunft und ihrer Einführer in
Griechenland. Sie wurde bald Orpheus, bald Mujaios, bald Linos, bald
dem Argiver Palamedes, der während des trojaniidhen Krieges gelebt
haben joll, zugeichrieben, bald Cecrops, bald Kadmos, der dieſe Kunit
von den Phöniziern nach Griechenland gebracht haben jol. Daß bie
Kunjt des Schreibens von den Phöniziern den Griechen mitgeteilt wor:
den, jcheint übrigens deutlich aus der ſowohl in der Form als aud) in
den Benennungen zwilchen den griehijchen und phöniziichen Buchſtaben
obwaltenden Ähnlichkeit hervorzugehen.
Wie manche Ereigniffe der Kinderjahre dem Manne lebendig in der
Erinnerung bleiben, jo erhielten fi) auch die Ereignifje aus der Urzeit
der Kultur in der Erinnerung der Völker und bildeten den Kern ihrer
Sagen. Natürlich können diefe Sagen feinen Anſpruch auf unbedingte
Glaubwürdigkeit machen, da einerjeits vieles faljch verftanden, einjeitig
ausgedeutet und dadurch faljch überliefert wurde, und andererjeit3 Be
obachtungen und Lehren von abitrakter Natur mit hiftorischen Ereignifjen
vermilcht und jo Menichen zu Göttern und Naturkräfte zu Menjchen ge
Die Entitehung der Schreibkunſt und die Briefe der Urzeit. 215
macht wurden. Doch wäre e3 thöricht, diefer Schladen halber den ganzen
wertvollen Inhalt der Mythen vollftändig zu verwerfen. Im Gegenteil,
im Intereſſe der Aufklärung ſollen wir alle Erfahrungen, welche bie
Wiſſenſchaft der neueren Zeit ung an die Hand giebt, dazu verwenden,
die über den Verhältnifjen unjerer Vorväter jchwebenden Rätſel zu löſen.
Wenn alfo die Sage den Göttern die Erfindung der Schrift zu-
ichreibt, jo jollte der Forſcher dieſe Tradition nicht als Narrheit bei Eeite
ſchieben: Die Gottesideen entitanden im menſchlichen Gebirne, und aus
derjelben Quelle ging die Schrift hervor. Sit alſo die Schrift göttlichen
Urjprungs, jo ift fie auch uralt; denn fie ift mit der urzeitlichen Kultur
und Religion eng verknüpft.
Werden nun beitimmte Namen mit dem Entftehen der Echrift in
Verbindung gebracht, jo befommt die Forſchung feiteren Grund und Bo-
den; denn die Namen der Vorzeit find nicht jo willkürlich gewählt wie
die der Neuzeit, jie find Begriffe, die von den Philologen glei Körpern
anatomiſch unterjucht werden fünnen.
Wo das gejprochene Wort zuerſt Schrift wurde, weiß man in-
defien nicht.
John Evans jpricht die Behauptung aus, daß die Schreiblunft im
Steinalter unbelannt gewejen und daß man bis jet noch feinen Fund
gemacht habe, der uns vom Gegenteil überzeuge.
Wenn die Geichichte des geiltigen Entwidlungsganges der Menich-
heit Har vor ung läge, wenn wir an ihrer Hand die verjchiedenen Reli-
gionsiyfteme bis in die Urzeit zurücd verfolgen könnten, dann würden
wir auch leicht eine chronologiiche Überficht über die Geſchichte der Schrift
geben können. Aber jogar die Anfänge der in verhältnismäßig neuerer
Beit entftandenen Religionen find jo jehr in Dunkel gehüllt und mit den
eigentümlichiten Mythen umgeben, daß man jogar auf Data mißtrauijch
wird, welche ſich den Anſchein Hiftorischer Fakta geben. Darum müfjen
wir, anftatt daß ung die Kultur» und Religionsgeihichte Material zur
Geſchichte der Schrift liefert, bei letterer jelber nad) Fingerzeigen über
hiftoriiche Ergebniffe ſuchen. — Die politiihe Geſchichte hat übrigens
mit der Gejchichte der Schrift Ähnlichkeit. Indien, China, Amerika haben
auch in ihrem Echriftiwejen eine felbitändige Entwidlung durdygemacht,
unabhängig von der vorderafiatiichen Kultur, die auf Griechenland, Rom
und die germaniichen Völker überging und zeitweile das Ezepter der
Präponderanz in die Hand eines jeden dieſer Völker legte. Nur diejer
Geift der europäiſchen Ziviliiation läßt ſich genetiſch nachweilen, aber er
umfaßt nur einen Heinen Bruchteil der vieltaufendjährigen Gejchichte der
Menſchheit, wie auch die Entwicklung der phöniziichegriechiich-römijchen
216 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
Alphabetichrift nur einen ganz geringen Teil der allgemeinen Gejchichte
der Schrift bildet.
Ebenjo wie es jeßt unter den gebildeten Völkern Redner giebt, die
im Parlament, im Reichdtage oder in Volksverſammlungen Stunden lang
jehr klar und logiih reden können, die aber faum im Stande find, ihren
Gedankengang eben jo klar und zutreffend auf dem Papier zu firieren,
weil das Anreihen von Buchſtabe neben Buchſtabe einen verwirrenden
Einfluß auf ihren Gedanfengang ausübt; während umgekehrt Gelehrte,
Die durch diejes ruhige WUneinanderreihen der Schriftzeichen auf dem
Papier Meijterwerfe an Stil und Genie fchaffen, in ihrem Gedanfengang
ſogleich unficher und verwirrt werden, wenn fie anftatt der ſtummen
Beichen die lebendigen Züge der Zuhörer vor fich jehen oder wenn fie
dem lebhaften Auditorium gegenüber feine Zeit finden fünnen, mit prü-
fender Überlegung den Bau ihrer Süße zu ordnen; — jo gab es aud
Völker, bei welchen durch die Übung des mündlichen Verkehrs die Schreib:
funft von der Sprachfertigfeit niedergedrüdt wurde, während bejonders
bei den Chinejen die Ausbildung ihrer Sprache durch den Fraftvollen
Ausbau ihrer Wortbilder Schaden litt. Andererfeits mußte die Kenntnis
von Zeichen und Schrift verloren gehen, wenn der Geift fich nicht über
die Notdurft des täglichen Lebens erhob; denn jo lange der Schall des
Wortes hinreichte, brauchte man feine Echrift, um ſich vermittelft er-
Örternder Korreipondenz verjtändlich zu machen.
Es mußte alfo ein Bedürfnis für die Schrift vorhanden jein, wenn
fie fi) entwiceln jollte; ein mächtiger Herricher mußte über viele Stämme
zu gebieten haben, die er nur durch jchriftliche Befehle leiten konnte, —
ein Prieſterſtamm mußte durch Reichtum und Macht des Volkes Gelegen-
heit haben, von Nahrungsjorgen unberührt für die Wiffenichaft zu leben,
Traditionen zu jammeln und das Religionsiyftem zu ordnen; da zeigte
fi) die Notwendigkeit, der Nachwelt das Gefundene jchriftlidy zu Hinter:
lafjen, damit der Fund nicht verloren gehen, fondern wachſen und zu:
nehmen möge So jehen wir die Schrift als Offenbarung immer mit
den Religionsiyftemen eng verbunden, was die Sagen von den Büchern
des Thot und die in Chaldäa ausgegrabenen Ziegelſtein-Inſchriften be-
weilen. So breitete ſich die hebräiſche Schrift mit dem Pentateuch aus,
die griehiihe mit den Gejängen Homers, die Davanagari-Schrift mit
der Brahma-Lehre, die Bali-Schrift mit dem, Buddhismus, die ſyriſche
Eitrangelo-Schrift mit dem Evangelium, die arabijche Neskhi- Schrift mit
dem Korän, die römische Schrift mit der Vulgata, die cyrilliiche Schrift
mit der Bibelüberjegung des Eyrill u. j. w.; die zwiſchen dieſen liegen:
den nationalen Schriften find Überbleibjel, die von vergangener Herrlid-
lichkeit zeugen, wie die Ruinen zerfallener Paläſte.
Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 217
Die heiligen Schriften der Indier, Chaldäer und Ägypter führen zu
der Vermutung, daß die Priefterfaften zuerft auf den Gedanken gefom-
men, zur Bewahrung ihrer Heimlichkeiten und zur Stärkung ihrer Macht
Nachrichten über Ereignifje und Anordnungen durch vereinbarte Zeichen
einander verftändlich zu machen. In der Urzeit wedten jtet3 Mißtrauen
und Furcht das ungeduldige Verlangen, alles zu wiljen und zu erfahren,
was vor fich ging, teil$ um jchneller den Grund zur Herrichaft zu legen
oder um fie zu behaupten, teil$ um neue Anordnungen zu treffen oder
zu neuen Eroberungen zu jchreiten.
Falt bei allen Völkern, die fi, wenn aud) nod) jo wenig, über den
wilden Zuſtand erhoben haben, finden wir Verjuche, durch materielle
Objekte oder, bei einem höheren Bildungsgrad, durh Bilder und Zeichen
das Andenken an gewiffe Ereigniffe zu bewahren. So verwahren die
Dfien, ein kaukaſiſches Bergvolf, Kopf, Hörner und Zähne der gejchlad;-
teten Tiere, alte leidungsftüde, Waffen und andere Gegenjtände in einer
gewiljen, vom Häuptling feftgeftellten Ordnung in Häufern und Kirchen,
dieje jollen an bemerkenswerte hiſtoriſche Ereignifje erinnern. An Feſt—
tagen werden dieſe eigentümlichen Chronifen dem Wolfe vorgezeigt und
erflärt. Auch durch Bäume, Steinhaufen und Altäre, die man nad) den
betreffenden wichtigen und bemerfenswerten Ereignifjen benannte, juchte
man oft das Andenken an lehtere wach zu erhalten.
So geſchah es auch in dem älteften Zeiten bei den Juden. Als
Laban zu Jakob fam und ein Bündnis mit ihm jchloß, nahm er einen
Stein und ftellte ihn als Wahrzeichen auf, und jein Bruder that auf
jeinen Befehl dasjelbe. Man nannte die Steinhaufen Gilead und Laban
jagte: Diefer Haufen jet heute Zeuge zwilchen mir und dir (1. Mo).
31, 46). — Die Heere Aleranders des Großen errichteten auf jener Stelle
am Fluſſe Hypharis (jet Byas), 600 Meilen von Maledonien entfernt,
wo fie umfehrten, um ſich wieder der Heimat zuzuwenden, zur Erinne-
rung an dieſes Ereignis zwölf turmhohe Altäre.
Auf weit höherer Stufe als diefe rohen Denkzeichen, welche nur das
Gedächtnis auffrischen follen, au fich jelber aber jeder weiteren Bebeu-
tung entbehren, jteht die Knotenſchrift. Sie ift eine wirkliche Schrift
und verdient diefen Namen; denn fie joll den Lejer nicht an etwas erin-
nern, was er jchon weiß, jondern ihn etwas neues lehren und neue Vor:
ftellungen in ihm erweden. Der Knoten wird auch jett noch häufig ala
Nachhilfe für das Gedächtnis angewandt. „Mache einen Knoten in dein
Taſchentuch“, rät die Mutter der Tochter, wenn fie einen ihr erteilten
Auftrag nicht vergeflen joll. Die Halme oder Ruten, die im Mittelalter
ald Zeichen des Beſitzes dem übergeben wurden, der ein Eigentum an—
trat, hatten Knoten; fie hießen im Veroneſer Formelbud): „Festuca no-
218 Die Entitehung der Schreibfunit und die Briefe der Urzeit.
data“. Noch lange, nachdem die lateinijche Sprade bei den Germanen
Eingang gefunden hatte, halfen fich die Zeugen einer Übereinkunft, die
nicht jchreiben konnten, damit, daß fie eigenhändig an die Urkunde einen
Knoten machten (und noch heute zeichnen derartige Schhriftunfundige an—
jtatt ihres Namens ein F unter das Schriftftüd, das eigentlich) nichts
anderes als die alte Rune + naud „Knoten“ iſt). Diefe Sitte war jo
allgemein, daß jelbjt ein Zeuge, der eigenhändig und vollitändig unter-
ichrieb, außerdem noch einen Knoten machte, und daß in der erjten Hälfte
des Mittelalterd das Wort „Knotenmacher“ (nodatores) diejelbe Bedeu—
tung hatte, wie dad Wort „Zeugen“.
Die Zauberer der Finnen und Lappen hatten Riemen oder Stride,
in welche fie drei Knoten machten, damit behaupteten fie, den Wind zu
beherrſchen. Noch im 16. Jahrhundert boten fie den an ihrer Küjte
landenden Seefahrern an, ihnen auf dieje Weile für Geld Wind zu
machen. Sobald fie den eriten Knoten auflöften, jollte ein mäßiger Wind
auffteigen; wenn fie den zweiten Knoten löften, ſollte der Wind ftarf
blajen, und wenn der dritte aufgelöft wurde, jollte ein Sturm entitehen,
in welchem fein Seefahrer fein Fahrzeug mehr zu fteuern vermochte.
Deshalb hielten die Friefen, wenn fie Knoten im Tauwerke fanden, jolche
für Zauberfnoten, die in böſer Abficht geknüpft worden waren; fie jcheu-
ten ſich auch, fie zu berühren und glaubten, der, welcher auf einen Kno—
ten trete, jei dem Untergange verfallen. — Auch in nenerer Zeit machten
unjere Wunderdoftoren und Krankenbeſprecher Knoten über den Kranken
und gruben jolche jpäter ein (am liebften an einem Kreuzwege), in der
Meinung, daß der, welcher darüber hinweg ginge, die Krankheit mit fich
fortnehmen würde. — Mit bunten Bändern wird der Blumenfranz ge-
bunden, mit Band der Totenfranz; die Nornen webten die Totenbänder
und hatten die Knoten unſchädlich zu machen, obſchon dieje andererjeits
auch Verſuchung bedeuteten. Einer der älteften nordiſchen Götter, Kwa—
Eir, entdedte in der Aſche Lofis verbrannte Schlingen und lehrte Die
Ajen, eine folhe zu knüpfen. — Nätjel werden „gelöft“, als ob fie
Knoten wären; und die Priefter haben die Macht, „zu binden und zu
löjen“. — Die Gürtel der Urfulinerinnen mußten zehn Knoten haben,
die zehn QTugendfnoten, nach den zehn Kapiteln der Klofterregel: Keujch-
heit, Klugheit, Demut, Glaube, Andacht, Gehorſam, Armut, Geduld,
Gottesfurdt und Mitleid. — Nicht nur Gefangene bindet man, durch
den Händedrud entjteht auch ein FFreundichaftsbund. Die Bedeutung Des
gordiichen Knotens war wie befannt: Der, welcher ihn löſt, joll Herr
über Afien werden. — Als der perfiiche König Darius gegen 500 v. Chr. ©.
den Soniern befahl, zwei Monate lang an der Tonau auf ihn zu warten,
fonnte er ihnen feinen anderen Kalender mitgeben, als einen Riemen mit
Die Entitehung dev Schreibkunſt und dic Briefe der Urzeit. 219
60 Knoten, von welchen fie jeden Tag einen löſen follten. — Kotebue
hatte auf feiner Reife um die Erde auf der Inſel Dtdra einen Garten
angelegt, den er bei jeiner Abreije einem feiner Freunde unter den Ein-
geborenen überließ. _ Dieſer machte jofort aus Pandanenblätter zwei
Knoten, welche ihre beiden Namen bedeuteten und hängte fie an der
Umfriedung des Gartens auf. Mit folchen Knoten, welche man dort oft
on Bäumen, Einzäunungen 2c. findet, bezeichnet man den Namen ber
Beliger. In Mexiko und Peru hatte man diefe Knotenſchrift in ein
funftreiches Syitem gebradt. Die nebartigen Schnurflechten enthielten
oft ganze Schriftiyiteme; und Erzählungen, Gejete, hiſtoriſche Urkunden
wurden auf diefe Weile vor dem Vergeſſen bewahrt.
Noch Heutzutage machen die indianiihen Hirten auf den Cordilleren
dad Verzeichnis ihrer Herden in dergleichen Knotennegen, die fie Duip-
pos nennen. Die Kunft, in einer jolchen Knotenfchrift ganze Sätze aus—
zudrüden, ift gegenwärtig aber nur noch jehr wenigen Eingeborenen be-
kannt, und dieſe halten ihre Wiſſenſchaft vor den Europäern jorgfältig
geheim. Zichudi hatte während jeines Aufenthalts in Peru viele ber-
artige Duippos ausgegraben und fogar die Bedeutung derjenigen fennen
gelernt, welche noch heute bei den Hirten Bunas in Gebrauch find. Er
beichreibt dieje folgendermaßen: Der Quippos befteht aus einem Haupt-
ftrid, an welchen verjchiedene Nebenfchnüre angeknüpft find. Auf die
erite Nebenjchnur ſetzten fie gewöhnlich die Stiere, auf die zweite Die
Kühe, dieſe wurden wieder eingeteilt in jolche, welche Milch geben und
in Kühe, die nicht gemolfen werden; die folgenden Schnüre enthielten die
Kälber nah Art und Geſchlecht, dann famen die Schafe in mehreren
Unterabteilungen, die Anzahl der getöteten Füchle, die Menge des ver-
brauchten Salzes und endlih das umgelommene Vieh. Auf anderen
Duippos fteht das Ergebnis der Herde an Mil, Käſe, Wolle u. J. w.
Jede Rubrik wird durch eine bejondere Farbe oder durch eine abweichend
geflochtene Schnur angegeben. — Auf gleiche Weije wurden die Kriegs—
heere in älteren Beiten aufgerechnet; auf eine Schnur wurden die Stein-
Ihleuderer, auf: eine andere die Lanzenträger, auf eine dritte die Keulen—
träger u. j. w. mit ihren Offizieren und Unteroffizieren gejeßt; in ähn-
liher Ordnung wurden die Kriegsrapporte abgefaßt. Unter den Farben
bezeichnete rot die Soldaten, gelb Gold, weiß Silber, grün Saat. Jeder
einfache Knoten bezeichnete zehn, jeder Doppelfnoten hundert, jeder drei—
fach gefnüpfte taufend, zwei einfache Knoten neben einander bedeuteten
zwanzig. Der Abjtand der Knoten von der Stammijchnur war von
größter Wichtigkeit, wie auch die Reihenfolge der einzelnen Nebenjchnüre;
denn das Hauptobjeft wurde ſtets auf die erfte Nebenjchnur, der Stamm-
ſchnur zunächit, gejegt umd dann die übrigen Gegenstände ihrer Wichtig:
220 Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
feit nach in abfteigender Reihenfolge. Das Wort Quippos oder Khipus
bedeutet jowohl „Inüpfen” wie „Knoten“, jcheint aber das umgewandte
Pa-kwa (die acht Knoten, das ältefte Achtzeichen-Alphabet) der Chineſen
zu fein; in China hieß es pron (Schnur).
Nahe verwandt mit diefen Duippos, aber dennoch von eigentümlicher
Art, find die Wampum- oder Mujchelgürtel der nordamerifaniichen In—
dianer, der Leni-Renapen, der Huronen, der Jrofefen und anderer Stämme.
Diefe Mufchelgürtel beftehen aus Mufchelichalen von weißer, brauner,
violetter oder ſchwärzlicher Farbe, welche in Heine, ovale Stüde gejchliffen,
durchbohrt und auf eine Schnur, einen dünnen Lederriemen oder einen
Stahldraht aufgereiht werden. (Ähnliche Steine find aud) in Frankreichs
uralter Erde aufgefunden worden; ein Beweis dafür, daß diefe Mufchel-
Ihnüre auch einmal in Europa einheimijch gewejen find. Die Mujcheln
waren jo hochgeſchätzt, daß fie bei den Indianern früher auch die Stelle
des Geldes vertraten; daran erinnert auch der Umstand, daß bei den
Chinejen noch Heute das Bild der Mufchel „Reichtum“ bedeutet. Da
Muſcheln manchmal jchwer zu erlangen waren, wandte man an ihrer
Stelle auch Holzitüde an, doc find letztere verſchwunden, ſeitdem der
Handelsgeift der Engländer die Indianer mit zierlich polierten Muſchel—
jtücden verfah. — Mehrere diefer Schnüre wurden zu einem Gürtel ver:
einigt, der 3 bis 6 Schnüre enthielt, die Gürtel waren von abmwechjeln-
der Länge, oft 5 Ellen, häufig auch einen Faden lang. Die Färbung
der Muscheln Hatte ihre Bedeutung: Dunkle gaben Bedenklichkeit und
Härte zu erkennen, ſchwarze, und noch mehr braume und violette warnten
vor Gefahr und enthielten eine ernjtliche Ermahnung, die beinahe an
Drohung grenzte, oder aud einen nachdrüdlichen Verweis, weiß zeugte
von Güte und verſprach Wohlwollen, Friede und Freundichaft, rot ver:
fündete ſtets Krieg, denn rot war die Kriegsfarbe; mit einen roten Bei:
hen zuſammen mit einer Tabafsrolle forderte man die Stämme zur Teil:
nahme an einem Feldzug auf. Diefe Mujchelbänder wurden von den
Häuptlingen jorgfältig in einem Beutel, in einer Taſche oder einer Kiſte
verwahrt; fie bildeten das Reichsarchiv und erzählten den Nachkommen
von den Thaten der Vorväter. Diejes Staatsarchiv wurde den Stammes-
genofjen von Zeit zu Zeit von den Unterrichteten erklärt. Ein oder ein
paar mal im Fahre verjammelten fich die gelehrigen Jünglinge und die
Söhne der Angejehenjten im Stamme; Efjen und Trinten wurde mitge-
bradt; das Archiv Teerte man auf ein großes Stüd Rinde oder eine
Dede aus, und die vorrätigen Urkunden wurden in bejtimmter Ordnung
ausgebreitet. Dann nahın ein Redner die einzelnen Gürtel auf und er:
Härte die Bedeutung eines jeden, indem er dabei mit ernftem Nachdrud
die Worte wiederholte, welche bei Übergabe des Gürtels ausgeſprochen
Die.Entitehung der Schreibkunſt und die Briefe der Urzeit. 29]
worden waren. Viele Gürtel dürften doppeljeitig gewejen jein; denn es
wird erzählt, daß bei vielen der Ausdeuter den Gürtel umgedreht habe,
wenn er mitten in jeine Rede fam, und da hatte es fi dann um einen
mweientlihen Punkt gehandelt.
Auf Hebräiich heißt der Knoten agudda, aud) akad „binden“, und
die älteften Einwohner von Babylonien, die Akkader, werden in der Reil-
ſchrift durch eine Reduplifation bezeichnet, deren einfache ;Form einen
Knoten bedeutet; überhaupt macht die Struktur der babylonischen Keil-
ihrift den Eindrud, als ob fie weniger auf einer Bilder-, als auf einer
Knotenſchrift beruhe, jo daß nicht die Form der Zeichen, jondern viel-
mehr die Anzahl und Stellung der Striche den Begriff andeutete. Die
Chineſen kannten ja die Anotenjchrift, und ihr pa-kwa (der umgefehrte
Quippon) ift Knoten ähnlih. Das Knotenbinden eritierte alſo nicht
nur in Peru, es war in der ganzen Welt befannt; aber die Knoten-
ihrift hat in Peru ihre höchite Ausbildung und ihren letten Zufluchts-
ort gefunden.
Dieje Schriftart, welche dazu dienen jollte, ſich durd materielle Ob-
jefte mit Anweſenden zu unterhalten, war in ihrer Anwendung gar zu
beihränft und unbequem, in ihrer Bezeichnungsweile gar zu unbeitimmt,
als daß fie auf die geiftige Entwidlung des Volkes einen bedeutenden
Einfluß Hätte ausüben und eine Litteratur möglich machen können. —
Erit als man die Gegenjtände mit ihrem Bilde zu bezeichnen begann,
wurde die Schrift ein Kulturelement.
„Der im abſtrakten Denken noch nicht geübte Menjch mußte fich in
der Zeit, da die Mythen entitanden, notwendigerweiſe alles ala Bild
denken“, jagt Kolb. In der That ift auch nichts jo natürlich und bietet
fi nichts dem einfachen, wenig entwidelten Verſtand gleihjam jo von
jelbit dar, wie der Gebrauch von Bildern, um Vorftellungen von Gegen-
jtänden zu ermweden.
Der Menſch iſt ein geborener Zeichner, wie er auch ein geborener
Redner iſt. Eine ihm innewohnende Neigung treibt ihn, die ihn umge-
benden Dinge abzuformen; dies zeigt fich jchon früh beim Kinde. Die
funftlojen Figuren, welche es, jobald es ein jpitiges Gerät, eine Feder
oder dergleichen erfafien fan, auf die Wände, in den Sand oder auf
Papier fritelt, zeugen zur Genüge von diejer, allen Völkern gemeinjamen
Neigung. Wenn wir die Abbildungen vergleichen, welche verjchiedene
wilde Stämme in Nordamerifa von Menihen, Tieren, Pflanzen ꝛc. ma—
hen, jo verwundern wir uns über die jchlagende Ähnlichkeit diefer Zeich-
nungen mit denen, die wir in einem Alter von 7 oder 8 Jahren zu
machen pflegen. Dieje Ähnlichkeit ift jo groß, daß fie jogar berühmte
Gelehrte irre geführt Hat. Allbefannt iſt 3. B. die Geichichte von dem
222 Die Entitebung der Schreibfunit umd die Briefe der Urzett.
berühmten „Livre des Sauvages“, dem Buch der Wilden, welches Abb:
Domenceh, der mehrere Jahre unter den Rothäuten lebte, für ein indiani:
ſches Werk von bedeutendem ethnologiihem Werte hielte, während es fi
zeigte, daß es nichts anderes war, als ein Heft, das der Sohn eines
deutſchen Farmers mit ungeübter Hand mit unbeholfenen, Elumpigen
Zeichnungen vollgefrigelt Hatte.
Dieſe Ähnlichkeit, die allen Erſtlingswerken des menſchlichen Geiftes
eigentümlich ift, hat uns ſchon überraſcht, als wir die Aufmerkjamfeit
auf die an dem verjchiedeniten Punkten der Erde eingejammelten Wert:
zeuge und Steinwaffen lenkten. Sie jegt uns nicht weniger in Erftau-
nen, wenn wir die Schriftiprache bei wilden, ja jogar bei ziemlich weit
vorgeichrittenen Völkerſtämmen betrachten. Ihren fämtlichen Verſuchen
liegt diejelbe Abficht zu Grunde: Den Gedanken zu verkörpern, zu ma-
terialifieren und, wenn möglich, für ewig feitzuhalten. Sie wollten alle
einen Erſatz für die Sprade ſchaffen und die Gedanfen nicht nur für
den gegenwärtigen Augenblid, fondern für alle Zeiten firieren und zur
Anſchauung bringen.
Fortſetzung folgt.)
>
Die Bolksbibliothek zu Schweioͤnit.
Bon C. Hörrenberg.
Be a
Die Überzeugung, daß öffentliche Bibliotheken ebenſo notwendige
Voltbildungsanitalten find wie die Schulen, bricht ſich in Deutichland
jegt mehr und mehr Bahn, nachdem fie in England und Amerika jchon
feit Jahren feftiteht und zur ‘Folge gehabt Hat, da dort fajt Feine mitt-
[ere oder gar größere Stadt ohne öffentliche Bibliothek iſt. In Deutfch-
land haben bekanntlich die meilten größeren und alten Städte Stadt:
bibliothefen mehr gelehrten und Volksbibliotheken ganz populären Cha-
rafter8; beide Arten von Bibliotheken meift mit unvolllommenen Be—
nußungseinrichtungen. Die engliſch-amerikaniſche Bibliothek zeichnet ſich
aus zunächit durch das Niveau der Bücher, welches zumeift höher iſt als
dag der gewöhnlichen deutichen Wolfsbibliothef, ohne jedoch dem der ge-
lehrten Bibliotheken gleich zu fein; ferner durch praftiiche und Liberale
Benubungseinrichtungen: Leſeſäle frei und reichlich geöffnet, vorzügliche
Kataloge, liberale und einladende Benubungsbedingungen. In diejen
Punkten müjlen wir dem ausländiichen Vorbilde folgen, wenn wir Fort—
ichritte machen wollen; jede einzelne Gründung einer Bibliothek, die fich
jenen Vorbildern nähert, ift mit Freuden zu begrüßen.
Das Verdienſt, in diefer Richtung einen tüchtigen Schritt vorwärts
getan und eine Volfsbibliothet Höheren Grades gegründet zu haben,
gebührt den Bürgern der Stadt Schweidnig. Es war der Profeſſor an
dem dortigen Gymnafium, Dr. 2. Hübner, der den Plan zuerit faßte
und verfocht und zunächſt den dortigen Gewerbeverein dafür interejfierte.
Es war dem lehteren gerade Damals von Breslau aus eine andere Idee
nahegelegt worden, die Errichtung von Haushaltungsichulen für Fabrik—
mädchen, und diefer Plan hatte viele Freunde. Es ift aber ein Zeichen
von der überzeugenden Kraft der Bibliotheksidee, daß in der entjcheiden-
den Eigung des Vereins diefe den Sieg davontrug und der Gewerbe-
verein beichloß, die Bibliothek mit allen Kräften zu fürdern. Es wurde
beihlofjen, Agitationsgelder zu bewilligen, 800 ME. zur erjten Einrichtung
224 Die Rolfsbibliotbef zu Schweidnitz.
herzugeben und die Vereinsbibliothef und die gewerblichen Fachzeitichriften
der fünftigen allgemeinen Bibliothek zu überlafien Ein Ausführungs-
fomitee wurde eingejegt, beitehend aus dem Erſten Bürgermeifter, einem
Stadtrat, einem Mechaniker, einem Rechtsanwalt, einem Fabrikbeſitzer
und einem Rentner, das Komitee verjtärkte ſich aus allen reifen der
Stadt und im November erjchien in den Zeitungen, unterzeichnet von
94 Bürgern (worunter 27 Handwerker, 6 Arbeiter, 9 höhere Beamte;
u. a. der Landgerichtspräfident) ein Aufruf, in welchem es hieß:
„Beiltige Nahrung ift Für den Menjchen mindejtens ebenjo wichtig
wie leiblihe.. Wem daher fein umd feiner Mitmenjchen Wohl am Herzen
liegt, der muß für Beichaffung gelunder Geiftesfoft jorgen.”
„Dieſen Zwed verfolgen in eriter Linie die Freibibliothefen. Die
hohe Bedeutung derjelben hat man in anderen Ländern, namentlich in
England und Amerika, längit begriffen, und dort für Gründung von
Freibibliotheken Großartiges geleiftet. Neuerdings gejellt fih Deutſch—
land diejen Ländern zu, und in vielen Städten entwickelt fich ein reger
Eifer für diefen wichtigen Gegenftand. . ..
Die Schweidniger Volksbibliothef joll täglich für das Publikum ge:
öffnet und mit einem LQejezimmer verbunden jein. Sie joll ebenjowohl
Unterhaltung wie Belehrung gewähren und Jedermann nach Vollendung
der Tagesarbeit geiltige Erholung bieten. Allen ohne Unterjchied joll die
Bibliothek etwas Anregendes bieten, zur Freude am Guten und Schönen
anregen und zur wahren Geijtes und Herzensbildung, zur Vermehrung
der Kenntnilje und zur Läuterung der Anfchauungen und damit zugleich
wejentlih dazu beitragen, daß die verichiedenen Klaſſen des Volkes in
ihrem Bildungsftande fi immer mehr nähern.“
Der Aufruf bittet jodann um Geldbeiträge, einmalige und dauernde,
um Bücher und Zeitihriften,; mit welchem Erfolge, das zeigt ſich im Ver—
laufe der nächſten Monate; in Eurzer Zeit iwaren 2400 ME. gezeichnet,
für eine Stadt von 25000 Einwohnern eine anerfennenswerthe Summe;
im August v. 3. Hatte man 2000 Bücher zujammen und Hoffte, im
Dftober mit einem Beitande von ca. 2500 Büchern eröffnen zu können;
der Erfolg hat aber die Erwartung weit übertroffen, denn Anfang Sep-
tember waren bereit# 4300 Bände zujammen und vor dem 1. Dfto-
ber fam man noch auf 5000. Bon allen Seiten waren die Bücher
herbeigejtrömt: der Stadtverordnietenvorfteher ſchenkte 147 Bände deut-
cher und englifcher Klaifiter, ein anderer Herr ein Konverjationzlerifon ;
der evangeliiche und der fatholiiche Gejellenverein gaben ihre Bibliotheken,
je 409 Bände, an die zu jchaffende Volksbibliothek ab, in richtiger Wür—
Digung der Thatjache, daß ihnen diefe Bücher nun viel beſſer zugänglid
würden, als bisher. Der deutiche Buchhandel, in dem es manche Köpfe
Die Volksbibliothek zu Schweidnitz. 2935
giebt, die von den Volksbibliotheken eine Beeinträchtigung des Abſatzes
an Privatperſonen fürchten, zeigte ſich in zwei der namhafteſten Vertreter
des Verlages gerade entgegengeſetzter Anſicht. Das Bibliographiſche In-
ſtitut und Reclam in Leipzig ſchenkten beide eine namhafte Zahl ihrer
Verlagswerle, erſteres 600 Bändchen Meyers Volksbücher und Shake—
ſpeare und Leſſing in 9 und 7 großen Prachtbänden; ferner iſt Ausſicht
vorhanden, daß die jetzt völlig brach liegende Ratsbibliothek in die all-
gemeine Volksbibliothek aufgehen wird.
Selbft von jenſeits des atlantifchen Ozeans erfuhr die leßtere Unter-
tügung und Aufmunterung. Herr Oswald Ottendorfer, Beſitzer der
New-York Staatszeitung, hat nämlich vor einigen Jahren in feinem Ge-
burtsort, dem Meinen Städtchen Zwittau in Mähren, eine ganz nad
amerikaniſchem Vorbild großartig eingerichtete Volksbibliothek mit einem
Koftenaufwand von 25000 ME. errichten und einrichten laſſen und mit
einer in Amerika gejchulten Bibliothefarin und mit Betriebögeldern aus—
geitattet. Die Dttendorferiche Bibliothek war nun in den Schweidniger
Beitungen mit Bezug auf das dort geplante Unternehmen gejchildert wor-
den in einem Artikel, den man dem Stifter in Newyork zujandte. Als
Antwort jandte Herr DOttendorfer nad) Schweidnig 250 ME, damit von
dort aus Jemand eine Studienreife nach Zwittau unternehmen und die
dortigen vorbildlichen Einrichtungen ftudieren und für Schweibnig ver-
werten könne. Die Sendung war begleitet von einem längeren, ſehr an-
tegenden und aufmunternden Schreiben, in welchem Herr Dttendorfer
ausdrüdlich hervorhob, daß er durch die Zwittauer Bibliothef vorbildlich
für Deutichland und Defterreich habe wirken wollen.
Nachdem nun das Unternehmen durch die gejchenkten Bücher und
die gezeichneten Summen vorläufig gefichert ſchien, mietete der Biblio-
theläverein vom 1. Juli ab in günftiger Lage eine Parterre-Etage, die
eine Dienftwohnung für die Bibliothekarin enthält und für die Bibliothek
jelbft noch drei Räume,
Ein zweifenftriges Zimmer dient als Bücherraum; es ift durch eine
Schalterthür mit dem Entree verbunden, wo die Bücher in Empfang ge-
nommen werden. Das Lejezimmer ift ein jehr ſchöner dreifenftriger
Raum; alle drei Räume find abends durch Gasglühlicht hell erleuchtet.
Bücherausgabe findet ftatt an Wochentagen von 12—1 Uhr mittags und
von 6—7 Uhr abends, an Sonn- und Feiertagen von 12-1 Uhr mit-
tage. Das Lejezimmer ift dagegen täglich geöffnet von 11—1 und von
6—9, aljo wöchentlich 35 Stunden.
Im Lejezimmer wird eine große Anzahl eitfchriften und Beitungen
ausliegen; der Gewerbeverein legt mehrere technifche und funftgewerbliche
Zeitſchriften aus, die Redaktion einer Zeitung allein etwa 20 illuftrierte
15
226 Die Volköbibliothef zu Schweibnik.
und andere Zeitichriften, die ihr zur Empfehlung zugeichidt werden und
für die es nicht leicht ein wirffameres Empfehlungsmittel giebt, als Aus—
liegen in einem Öffentlichen Leſeſaal; ferner werben Beitungen ausliegen
von allen politiihen Richtungen, viele derjelben unentgeltlich von Den
Erpeditionen geliefert. Das Lejezimmer ift fehr wohnlich ausgeftattet;
es enthält 24 Sitzplätze, ein Geftell für Zeitichriften, ein anderes für
Konverjationslerifa und andere Nachichlagewerfe, ferner einen großen
Glasſchrank für Prachtwerke, Kunftwerfe und Zeichnungen, die nur im
Lejezimmer ausgegeben werden.
So fieht alfo das junge Unternehmen, getragen und gefördert von
allen Schichten der Bevölkerung, von allen politiichen Parteien, einer
zweifellos überaus jegensreichen und fruchtbaren Zukunft entgegen. Was
bei anderen Volfsbibliothefen lähmend gewirkt und manchmal den Er:
folg ganz vereitelt hat: mangelhafte Benugungs-Einrichtungen, das ift
hier vermieden; die Ausleiheftunden find zahlreich, die öffentlichen Stun:
ben des Lejezimmers noch zahlreicher, Feine jchwerfälligen Beſtimmungen
ichränfen die Benußung ein, die noch bejonders erleichtert werden wird
durch den praktischen Katalog nach amerifanishem Vorbild, an dem jebt
die Damen von Schweidnig in freiwilliger Arbeit helfen; es jcheint, dak
Schweidnig nad kurzer Zeit Urjache hat, jtolz zu jein auf eine Anftalt,
wie fie manche größere Stadt nicht beiibt.
oz
Heue Büder.
Streifzüge in Woskana, in der Wiviera unb in der Fxo⸗
vence von Victor Ottmann. Berlin, Schall & Grund. Brod. 6,—.
Tosfana! Riviera! Provence! Diefe Worte genügen, um uns ein herrliches
Stüd Erbe vorzuzaubern, das die Natur in einen blühenden Garten verwandelt
und mit mannigfaltigften Schönheiten überjchüttet hat. Victor Ottmann führt
ums durch dieſe Gefilde, Schritt für Schritt, originell plaudernd, erflärend und be-
ratend. Wir ſchwanken, follen wir dem Buche als Unterhaltungs: und Reifebefchrei-
bung oder ald Wanderbuch den Preis zuerfennen. Wir bemerken, daß ed uns nad
beiden Seiten bin jo voll befriedigt hat, daß wir unjerem Führer uneingeſchränktes
Yob nicht vorenthalten können.
Wir freuen uns über die freimütige Ausdrucksweiſe, über die eigenen Anfichten
und die Art der Betradtung von Land und Stadt und nehmen umfolieber einmal
einen litterariihen Purzelbaum in den Kauf, als uns ber Verfaſſer verrät, daß er
Humor befißt. Er zollt auch der Pilanterte ihren Tribut, ohne bie Grenzen zu über:
ihreiten. Die Kulturgefhichte im Vorübergehen zu ftubieren, das tft nicht fo leicht,
wie es eben erjcheint; es gehört dazu ein geübtes Auge, eine offene Kritik, eine Liebe
zum Grforjchen des Vergangenen, ein Verſenken in die Zuftände, die und umgeben,
und ein Herz für ben Pulsſchlag des Volkslebens.
Victor Ottmann ift ausgerüftet mit ſolchen Gaben, und baher fünnen wir
jeinem Buche auch ein längeres Leben vorausfagen, als den alltäglichen Reife:
beihreibungen im allgemeinen beſchieden tft, die möglichit entfernt von den Orten,
die fie behandeln, verfaßt find. Die vielen Jlluftrationen gereichen dem Buche nicht
nur zum Schmud, fondern fie tragen aud viel zur Erflärung und Belehrung bei.
Daß einzelne der Bilder die gewünſchte Klarheit vermiffen lafſſen, liegt ſcheinbar
an der photographiichen Uebertragung ber vielleicht am ſich nicht beſonders fcharfen
Vhotographien, von denen der Papierton in der Reproduftion mit zur Geltung
fommt. Aber jolche einzelnen fleinen Mängel fallen nicht ind Gewicht, wo es ſich
darum handelt, den Wert eines Buches feitzuftellen; es ſei daher beitens empfohlen,
Das Buch des Firiedens von Jul. B. Ed. Wundfam. Bern. Neu:
famm u, Zimmermann. Brod. 2,50.
Unfer Yahrhundert hat manche Kampfideen aber auch Friedensideen hervor:
gebracht. Es tft ohne Frage etwas Schönes um bite Friedensfrage. Freilich wird
es wohl immer bet ber Frage ober bee bleiben, denn ber Kampf ift ja zu
ſehr in der Natur begründet, als daß alle Weisheit und Disputierfunft ihn
ihn nun aus ber Welt jchaffen könnten. Die Wiſſenſchaft will neuerdings behaup-
ten, daß der Kampf unfere Kultur überhaupt hervorgebracht hat, und fie begründet
es damit, daß bie niedrige Kulturftufe der Auftraliihen Völker nur eine Folge
15*
228 Neue Bücher.
davon fei, daß die Urbewohner dort, wo es feine die Menichen bebrohenden Tiere
giebt, nicht wie in Afien und Europa zum Kampf mit ben Beitien gezwungen wor—
den ſeien. Dieje Begründung tft nicht von der Hand zu weiſen. Aber wir leben
auch nicht mehr in ſolchem Lirzuftande, und wenn aud viele große Geifter nit an
den ewigen Frieden glauben wollen, jo iſt e8 doch etwas Schönes um eine folche
Idee, und ſchon deshalb verdient die Beitrebung Beachtung und Unterftügung, weil
fie Scharfe Kritif anlegt an manche zu mißbilligenbe Zuſtände der Gegenwart. Das
Bud, das uns hier vorliegt, tft beitimmt, Propaganda zu maden, und wir müflen
dem Verfaſſer das Lob erteilen, daß er es verftanden bat, ein Buch zu jchaffen,
welches uniere Sympathie erwedt. Bertha v. Suttner legt nicht die Waffen nieber,
fondern fämpft hier gleich auf den eriten Blättern für ihre Sade. Das Buch ent:
hält eine Reihe gediegener Aufſätze, die das Intereſſe eines jeden Gebildeten, auch
wenn er Referveoffizter ift, nicht entbehren werben. Die bebeutendften Helden und
Heldinnen diejes Friedensfampfes werden uns übrigens im Bilde vorgeführt und
zwar in geihmadvollen reproduzierten Portraits. Wir haben das Bud mit großem
Intereſſe geleien.
Geſchichte der Berliner WBucßbinder-Innung. Feſtſchrift zur Zu:
belfeier des 300jährigen Beſtehens der Innung von Baul Ricdhter:Berlin.
Berlin 189%. Mk. 3,50.
Mie mit den Buchdrudern, fo find wir Buchhändler auch mit den Buchbindern
in mancher Hinficht verbunden und aus ſolchen Gründen intereffiert auch uns der
Werdegang einer ſolchen bedeutenden Innung.
Vom Geburtätag derielben 159% bis zur Gegenwart iſt eine gewaltige Spanne
Zeit, wenn fie im ihren Cinzelheiten verfolgt wird. Wir müflen jagen, es tit ein
intereifantes, biftortiches Bild, das das Buch vor uns aufrollt, das eigenartige
Leben, das fich in den Zünften herausbildete und das uns aus manden Hiftorien
jo eigenartig anmutet, finden wir auch in dieſer Innungsgeſchichte. Ein Kampf
im Kleinen und im Großen, aber eine ftetige Fortentiwidelung. — Das Bud ift
vornehm audgeftattet und lieſt ſich bis auf die ftatiftifchen Einſchaltungen u. f. m.
gut. Der Stoff iſt alfo nicht, wie fo oft bei derartigen Publikationen, allzu
troden behandelt.
Deutfhe Burgen und Hchlöffer im Schmuck der Dichtung .
Don Rudolf Edart. Braunſchweig. C. A. Schwetſchke & Sohn.
Wer viel in den deutichen Gauen umber gejtreift ift und das Buch mit In—
tereife lieſt, macht gemwiffermaßen im Geijte noch mal eine Wanderung und zwar
auf Flügeln des Geſanges. Manche dichteriiche Perle ift in dem Buche verwahrt.
Dafielbe bietet fich als Fleines, hübiches Geichenfwerf; auch zur Anfhaffung für
Schul: und Bolfsbibliothefen ift es fehr au empfehlen.
Früßlingsklänge. Gedichte von Mori Gutmann. Mäbhr.-Oftrau
Julius Kittl.
Mit mehr oder weniger Berehtigung macht jest alle Welt Gedichte. Wir
fönnen dem Verfaſſer auch diefe Berechtigung nicht abfprechen; dieje Poefien —
das find fie immerhin — aber zu veröffentlichen, dazu war ber Verfafler noch nicht
beredtigt. Es ift ja vielleicht ein erhebendes Gefühl, wenn man ſich gebrudt fiebt,
fommen aber dann Kritifen, dann fieht man ſich gebrüdt; auch dem Herrn
von Gutmann wird es fo gehen. Warum jchreibt er aber au Verſe wie:
O fürdte niht Wer jenes Heil empfunden,
Der lebt im Banne feiner Poefie,
Neue Bücher. 229
Solch’ helle Flamme, bie ein Herz entzunden,
Verliſcht im Sumpfe der Gebanfen nie.
„Entzunden“ ift jehr gut; es tft jedenfalls im „Sumpfe ber Gedanfen“ ent:
ftanden, Leider wird durch dieſe Poefie das Herz des Leſers nicht entzündet. Cs
find aber immerhin einige mwirflich poefievolle Stellen in dem Büchlein, vielleicht
iſt alſo no Hoffnung für die Zufunft vorhanden. Nach diejer Gabe müflen wir
aber urtheilen,, der Verfaſſer lebt Ieider ein paar Jahrhunderte zu jpät.* Die Aus:
ſtattung, bie die Liebeskind'ſche imitieren will, läßt im Drud und Einband viel
zu wünjchen übrig.
Bußßändler Kalender. Begründet von H. Weißbach. Fortgeſetzt von
tudwig Hamann. XVII. Jahrg. für 1896. Leipzig. Ludwig Hamann, Sn
ed. ME. 1,60, Leber Mf. 2,—.
Der neue Jahrgang von dem altbewährten Weißbach'ſchen Buchhändler-Kalender
liegt uns, bearbeitet vom jegigen Verleger, Ludivig Hamann, vor. Wir freuen ung,
zum Boraus Fonftatieren zu fönnen, daß biefer neue Jahrgang hinfichtlih der Be:
arbeitung und Ausftattung ſich ſehr vortheilhaft von feinen letzten Vorgängern
unterſcheidet. Der inhalt tft ein fehr reichhaltiger, wie an der folgenden Wieder:
gabe zu erfehen ift. Er enthält u. A.: Prozent:Ummwandlungstabelle; Münzen und
Gewichte, Wegemaße; Poſt- und ZTelegrammverfehr; Gorrefturtabelle; Fachzeit⸗
ihriften; Nachrichten über die Vereine, den Verband und Gehilfenvereinigung;
Stellenvermittelung; Kündigungsverhältniſſe; Städteſchau; die wichtigiten Beſtim—
mungen des Preßgeſetzes; buchhändleriſche Statiftif; berühmte Pſeudonyme; bebeu:
tendfte Erfindungen; die Geihmwinbigfeit; das Finanzweſen u. v. a.
Fügen wir noch hinzu, daß die einzelnen Beiträge, was überaus wichtig iſt,
durdaus zuverläffig bearbeitet, daß das Papier feft und der Drud jehr fauber
ift, last not least, aber auch der Einband nichts zu wünfchen übrig läßt, jo bedarf
eö wohl feiner bejonberen Empfehlung mehr, um unfere Berufögenoffen zu er:
muntern, das einzig brauchbare Buchhändler-Jahrbuch Fräftig durch ee
zu förbern,
Wie ich meinl Sortiment begründete und 2 Jahre erfolgreich
habe. Von einem alten Sortimenter. Leipzig. Karl Fr. Pfau, Geb. Mt. 1,—
bar.
Das obige Büchlein, der Feder eines ehemaligen Sortimenters entitammenb,
ſoll nüglihe Winfe und Ratichläge, die ein jeder, der fich jelbitändig zu machen
gebenft, beherzigen muß, geben. Wir halten das Heftchen aber natürlich nur be-
ftimmt für ſolche Kollegen, denen es nicht vergönnt war, fich in der Praxis mit
den einſchläglichen Verhältniſſen vertraut zu maden. Ein ala Sortimenter wohl-
habend gewordener Mann gehört im Buchhandel zu den GSeltenheiten; dem Ber:
faffer ift dies geglüdt und jo können unb wollen wir ihm daher das Recht
durdaus nicht abfprechen, feine Erfahrungen weiteren Kreifen befannt zu geben.
Vielleicht bietet diefes Buch den Anftoß, in Sortimenterfreifen mehr Mammon an:
wijammeln. Der Zmed bes Büchleind wäre dann im höchſten Grabe erreicht
und dadurch der etwas hohe Preis gerechtfertigt. R,
Unter dem Titel: „Gemfer-@ier.” Alpin-Humoriftiiches in Wort und Bild“
erichien foeben im Verlage der Yof. Köfel’ihen Buchhandlung in Kempten ein
reizgenbes Büchlein, dad vor allem in alpin-touriftiichen Kreifen, dann aber auch
überall, wo noch Sinn für echten, ungefünftelten, herzerquidenden Humor vorhanden
ift, günftige Aufnahme verdient. Wie der Herausgeber bemerft, jollen die „Gemfen:
230 Neue Bücher.
Eier” den in ben einzelnen Alpenvereinsieftionen reichlich aufgeipeicherten, aber nur
in kleinen Kreiſen veröffentlichten Humor weiteren Kreifen zugänglich machen; alſo
ber vor Jahren ſchon von R. Baumbad in feiner heute noch gern gefehenen Samm—
lung „Enzian“ vertirklichte Gedanke findet hier feine Auferftehung, und wie wir
gleich beifügen Fönnen, in verjüngter und verfchönerter Form. Die „Gemſen-Eier“
bieten nämlich nicht blos inhaltlih wahre Perlen friſchen, natürlihen Humors
und erreihen barin ihren oben genannten Vorgänger, fonbern fie übertreffen den-
jelben noch meit in der vornehmen äußeren Ausftattung und durch Außerft zahl:
reiche, vorzüglich gelungene Yluftrationen, die den beten Zeichnungen ber „lie:
genden Blätter” nicht nachſtehen. Der außerordentlich billige Preis von M. 1.20
für das 7 Bogen ftarke, ſchmucke Büchlein fichert demfelben gewiß bie weitefte Ver:
breitung. Wir haben felten ein fo Iuftiges Büchlein in der Hand gehabt und find
daher überzeugt, daß fich basjelbe ohne weitere Empfehlung Bahn bridt. Die
Ihon erwähnte vornehme, techniſch hervorragende Ausftattung macht auch der Ber:
lagsbuchhandlung alle Ehre.
>
Dmwanglofe Yundfdan.
Fin jedes Jahr zeitigt in diefer oder jener Hinficht doch bemerfenswerte Bor:
fommniffe und Entfchlüffe, ſodaß der Rundichauer am Ende dejjelben nie in Ber:
legenheit gerät, feine Betrachtungen anzuftellen. Der YJungbuchhandel ift es dies:
mal, der unjere Betrachtung auf fich zieht. Er hatte im verfloffenen Sommer
ſich gewiſſermaßen ermannt und hat das ſchon längſt gehegte Beftreben, einen
engeren Zufammenfhluß der Mitglieder zu ermöglichen, in greifbarere Form ge-
bradt. Es find nun aber viele Monde dahingegangen und man hat eigentlich
noch nicht einen praftiichen Vorſchlag — das allgemeine Programm fünnen wir
nicht als jolchen bezeichnen — vielmeniger noch Thaten verlauten laſſen. Woran
mag das liegen? Wir Buchhändler find doch eine einigermaßen intelligente Ge-
jellihaft, woran liegt es, daß wir aber mit ſolchen Vereinäbeftrebungen nicht vor:
wärt3 fommen?
Es will mir jcheinen, als ob die Urjachen doch tiefer liegen als dort, wo fie
im Allgemeinen gejucht werden. Man behauptet, die Kollegen wären zum größten
Zeil interefjelos, fie hätten feine Ahnung von der Tragweite jolcher gemeinnützigen
Beftrebungen u. ſ. w.
Das ift ja leider nur allzumwahr, aber joviel ich erfahren fann, war der ganze
Vereinigungsapparat aber noch garnicht jo recht in Funktion. Dean begnügte
ih damit, einftiweilen Reden zu halten und die zu veröffentlichen. Leider enthielten
diejelben immer nur wieder das Programm, aber feine pofitiven, praftiichen Maß:
nahmen, und ohne jolde läßt fich nun ſchlechterdings nichts bewirken. Aus den
Reihen der Prinzipale, unter denen glüdlicherweife viele fi ein Herz für ben
Jungbuchhandel bewahrt haben, würde der Gehilfenichaft mander Mitfämpfer für
da3 Standesinterejie zu Hülfe eilen, wenn nur in irgend einer Form erft ein
praftiiher Vorſchlag in Frage gezogen würde. Der Zweck ber Vereinigung:
a) Vertretung der Mitglieder gegenüber dem Publikum, den Behörden u. f. w.
bei allen berechtigten Forderungen und Beichwerben,
b) E£oftenfreier Rechtöbeiftand in allen Sachen, bie mit der Ausübung bes Be-
rufs zufammenhängen,
c) koſtenloſe Stellenvermittelung,
d) Unterftügung ber Mitglieber bei Stellenlofigfett,
e) Förderung der fachwiſſenſchaftlichen Bildung, insbeſondere der Lehrlinge,
f) Einwirkung auf gerechte, zeitgemäße Regelung der Arbeitsbedingungen,
g) Unterftügung aller beftehenden Rohlfahrt3-Einrihtungen (insbeſondere des
Allg. D. Buch. Gehilfen- Verbandes),
it ein folder, ben jeder Prinzipal in Gemeinjchaft mit feinen Gehilfen verfol-
gen kann.
Ich will nun nicht verhehlen, daß die einzelnen Punkte dieſes Programms
232 Zwangloſe Rundſchau.
recht dehnbarer Natur ſind, und die Befürchtung manches Chefs, daß, wenn die
Vereinigung einmal erſtarkt iſt, fie auch leicht ind Extreme verfallen und dem
„Arbeitgeber“ eine bedrohliche Macht werden fönnte, nicht ohne Weiteres von der
Hand weiſen. Indeſſen dürfte nach der ganzen Entwidlung der budbänd:
leriſchen Verhältniffe der Hoffnung Raum gegeben werden, daf, wie im Buch:
handel überhaupt bie ibealen Elemente ftet3 die leitenden waren, fo aud in der
Gehilfenihaft der Kampf um die realen Güter an der Grenze Halt maden wird,
die die gejchäftliche Ausnahmeftellung unſeres Standes gebietet.
Wir find nun einmal nicht auf Rofen gebettet. Geringer Verbienft, aber
deftomehr Arbeit — wird auch der Jungbuchhandel mit in den Kauf nehmen
müfjen. Aber wünfchen wir der Vereinigung regere Anteilnahme in allen Kreiien
des Buchhandels und entſprechende Erfolge.
Der tiefer liegende Grunb aber, weswegen die Bereinigung noch nicht pro-
grammmäßig bervortrat, fcheint uns auch darin mit zu liegen, daß man nicht ge:
nug Rüdfiht auf die zu erfchließende finanzielle Ouelle nahm. Ohne Geld ift heute
aber nichtö zu wollen auch nicht mehr in derartig angelegten Vereinsbeftrebungen.
Nun, gönnen wir ben leitenden Elementen der Vereinigung Zeit! Vielleicht
wird mit der Zeit noch Alles,
Wenn wir Buchhändler mit Kennermiene gelegentlich die verichiebenen Litte-
raturberihte anfehen — es foll jelten vorfommen — dann müſſen wir mandhmal
doch den Kopf ſchütteln über die fich miberfprechende Kritif der von uns in ben
Handel gebraten Geiftesnahrung. Die letzte Zeit ift, wie man behaupten will,
auf dramatiſchem Gebiete ereignißreich geweien. Sudermann hat faft überall mit
feinem Glück im Winfel gefallen, Nun kam Hauptmann mit feinem Thomas
Geyer und fiel durd. Und alsbald fommt Wildenbruh und erzielt mit feinem
König Heinrih IV. einen glänzenden Erfolg. Es war in den lebten Jahren
ſchwer, den Wert des Erfolgs der modernen Realiften abzumägen. Auch jest
Ihmanft das Zünglein der Wage recht bebenflih bin und her. Wir Buchhänd-
ler find aber natürlih mit unferer Kritif zurüdhaltend, wir warten erit, ob das
Publifum fauft. Das Nichtgefaufte halten wir dann für klaſſiſch und das übrige
taugt nad unferen Begriffen nichts. Aber ich wollte mich ja einmal mit ber
fonderbaren heutigen Kritif befafien und ein paar Antipoden vorführen.
Da jchreibt 3. B. Ernft Edler v. d. Planik unter dem verlodenden Titel
„Ein Wendepunkt“ in Leipzig. n. N., nahdem er den Thomas Geyer von Haupt:
mann in einem voraufgegangenen Artifel „verarbeitet” hat, u. A. Folgendes:
„Mit ber viel gepriefenen „Moderne” geht es reißend abwärts. Nicht daß es
ber Niederlage Gerhart" Hauptmanns bedurft hätte, deifen eifengewappneten „Florian
Geyer” unter dem mwahnfinnigen Berzweiflungsgebrüll feiner Anhänger man Elir:
rend zu Boben fchmetterte, nicht da Brahm, der Führer der Mobdernen, mit ber
Kaltblütigkeit eines va banque fpielenden Feldherrn feine letzte Rejerve, Mar Halbe
mit der „Lebenätwende” auf dem Banier, in bie Breiche geworfen und nad aber:
maliger Niederlage die weiße Fahne aufgezogen und erflärt hätte: „Nun fommt
Hugo Lublinger (alfo Einer, der biäher nicht zu den Modernen gerechnet wurde)
daran“, Nein! Die „Moderne“ bat eine noch viel größere Schlappe zu verzeichnen,
als das hilfloſe Verbluten ber eigenen Truppen. Es ift ber fiegreihe Einzug des
idealen Realismus im „Berliner Theater“ unter feinem Bannerträger Emit
Wildenbruch.
Die erſte Aufführung von Wildenbruchs „König Heinrich” iſt ein
Ereignis nicht nur für Wildenbruh und feine Freunde, fonbern für bie beutiche
Zwangloſe Rundſchau. 233
Theatergeſchichte überhaupt. Sie bedeutet nicht nur die Rückkehr des begabteſten
unſerer heimatlichen Dramatiker zur Sache des geſunden und veredelten Realis—
mus, ſondern die endgültige Löſung der Frage, auf welcher Seite das Heil des
deutſchen Dramas zu ſuchen iſt.
Gerade in Wildenbruch verkörpert ſich wie in feinem zweiten Dichter das
Schwanfen, Wägen und Wählen unjeres nervöfen Zeitgeſchmackes zwiſchen Idealität
und naturaliftifcher Realität. Erft wenige Jahre find dahin — man fehrieb bereit3
die „I“ im unferen Jahresdaten —, dat Wildenbruh alle Miene machte, in das
Lager des Naturalismus überzugehen. Lebterer hätte wahrlich nicht die Ichlechteite
Aquifition mit Wildenbruh gemacht, denn feine „Haubenlerche”, jein „Meiſter
Balzer”, feine „Sifernde Liebe” und jein „Wanderndes Licht” können aus dieſem
Geſichtswinkel betrachtet mit in die erjte Reihe dieſer naturalifierenden Kunit:
erzeugniſſe geitellt werben. Nun fehrt Wildenbruch plöhlich mit flatternden Fahnen,
unter der raufchenden Mufif feiner Engelsburgftürmer dahin zurüd, von wo er
ausgezogen iſt, auf die Stätte dcs vaterländiihen Dramas,
Und wie er zurüdfehrt!
Es wäre ein Unrecht, den Modernen das Verdienſt zu beitreiten, daß Wilden:
bruch in ihrer Schule etwas gelernt habe; aber als Elarblicdender Künftler greift
er mit ficherer Hand die glänzenden Metallförner aus ihrem Quodlibet von guten
und verrücten Ideen heraus und läßt die Schladen, wo fie Itegen. Sein Natura:
lismus war, wie fich jet mit einem Male zeigt, feine Laune, feine Konzeifion; er
war ihm lediglich Übergang und Berjuchsitation. Aber die Art und Weiſe, wie er
die dort erworbenen Elemente des modernen Naturalismus in feiner neueften Dich:
tung läutert und flärt und zu einem veredelten Realismus verſchmilzt, beweiſt, daß
Wildenbrud feine Lehr: und Wanderjahre nun definitiv hinter fich hat und als
vollendeter Meiſter uns entgegentritt.
Der ungeheuere Erfolg, den Wildenbruh am Mittwoch mit feinem „König
Heinrich” errang, war ein unbeftrittener und unbedingter. Es war eine bichteriiche
That, an der Niemand, auch der verbifienfte, perfönliche Feind — jo Wildenbrud
einen haben follte — zu rütteln tagte.
Wie nah einer langen Wanderung an Pfüsen und Sümpfen vorüber ſich
plöglih der Ausblif auf einen kryſtallklaren, von deutichen Eichen umraufchten
Bergiee eröffnet, jo wirkte dieſes großartige Werf auf den Beſchauer. Weld ein
Kontraft zwiſchen den betrunfen umberturfelnden Rittern Gerhart Hauptmann’s
und dieſen Föniglichen Geftalten eines Heinrich und Gregor VIL bei Wildenbrud!
Dort ein blödes Gefindel, dad durch fünf Afte in der unflätigften Weiſe ſchimpft
und frafehlt und wie eine Scafherde fih hin und ber fchieben läßt, bier ein
Königsfohn — jeder Zoll ein Fürft — und ein Plebejer — jede Faſer ein Genie,
aber ein Genie de3 Fanatismus, der ſelbſt einen deutichen König auf bie Knie
nieberziwingt. Bei Hauptmann eine durd 4 Stunden binfiechende Handlung, die
feinen Zollbreit vorwärts fommt, bei Wildenbrud ein Drama, das wie Wetter:
fturm über bie Bretter bahinbrauft. Wenn jemald eine Parallele, gezogen auf
biftoriihem Boden, geeignet war, Kraft und Schwäche zweier Kunftrichtungen in
das grellfte Licht zu ftellen, jo waren es biefe vom Schieffal unmittelbar neben ein:
ander gerüdten Premieren „Florian Geyer“ und „König Heinrich”.
Jene feine Ironie, wie fie nur der Zeit und dem Zufall eigen iſt, aber mwollte
68, daß gerabe auf dem Gebiete des hiftoriihen Dramas, das ebenio mie die
Hiftortenmalerei von den Anhängern der „Moderne“ am Meiften mit Hohn über:
goffen wurbe und dem nahezu jede fünftlertiche Berechtigung abgeiprodhen wurde,
234 Zwangloſe Rundichau.
der Entſcheidungskampf zwiſchen der genialifirenden Verherrlihung des Yumpen-
tums und der inneren Verödung einerſeits und der poetischen Verförperung menſch⸗
liſcher Ideale andererſeits ausgefochten werden follte.
" Nach der Niederlage Hauptmann’ hatten die Anhänger jeiner Richtung ihre
ganze Hoffnung auf Halbe's „Lebenswende“ geſetzt und mit überftürzter Eile hatte
man im „Deutichen Theater” die Proben geförbert, um möglichft rafch den ungünfti-
gen Eindrud zu verwiſchen. Leider wurde er nicht verwiſcht, jondern verichmiert.
Halbe's „Lebenswende“ iſt nicht zu einer dichteriichen, wohl aber zu einer realen
Lebenswende für die deutiche Muſe geworben, allerbings mit einer naturaliftiichen
Unterlage, die fih Halbe nicht hatte träumen Laffen.
Halbe nennt fein Werk gar nicht unglüdlih „Tragifomödie” und wenn es
auch an Wolzogen’s „Yumpengejindel” nicht heranreicht, jo findet ſich doch bei Halbe
eine Reihe von Scenen, mit denen er nicht ungeſchickt diefen Titel gu rechtfertigen
weiß. Ein junger energiicher Techniker jchafft ſich aus eigener Kraft, ohne viel
rechts und links zu bliden, eine Exiſtenz; ein verbummelter Student, das Prototyp
gewifler „moderner“ Elemente, fajelt ben ganzen Abend von einer Anderung jeiner
Tebensführung, ohne dazu zu fommen, eine alternde Jungfer wirft ſich der Reihe
nach jämmtlichen männlichen Berfonen des Stüdes an den Hals und ein albernes
Mädchen madht es ihr nach und verlobt fich auf höchit erbauliche Weile. Das tft
der Anhalt der Lebenswende.
Diefe Handlung iſt indeilen für Halbe nur ein Vorwand, um darin jeinen
naturaliftiihen Kleinfram auszupaden und jeine Figuren mit grellen, caricierend
wirkenden Farbenklexen zu betupfen. In den zehn Minuten, fo lange e8 fih wie
Improviſation anfieht, macht ſich das gar nicht übel, wird aber dann für jeden
jehr langweilig, der nicht etwa dahinter fommt, daß Halbe mit feiner Tragicomödie
überhaupt nichts Poſitives jchaffen wollte, ſondern nah Art unjerer mit Pinſel
und Balette arbeitenden Symboliſten nur ein verzerrtes Spiegelbild unjerer mo-
dernen Zuſtände andeuten wollte. Ein ewiges Gefafel auf der einen Seite, eine
ununterbrodene Männerjagd auf der anderen und mitten darin wie ein feld im
brandenden Meer der einjam ſchaffende Dann, der auf Weib und Lebensgenuß
verzichtet, dafür aber der einzige ift, der die Entwidlung der Menjchheit fördert.
Die Symbolik tft nicht übel. „Ein fämpfender Dann“ nennt Halbe den Ginzigen.
68 ift das letzte Wort, ehe der Vorhang fällt. Daß Halbe, der Verfafler der
„Jugend“, in diefem ſymboliſchen Sinne arbeitete und wohl einen Dramen-Zyklus
dabei im Auge hatte, der dad Werben bes Menihen überhaupt behandeln follte,
geht aus ber Frage und Antwort des „fämpfenden Mannes“ hervor, wenn er beim
Weggange des fajelnden Studenten jagt:
„Weißt Du, was da hinausging?“
Nun?“
„Meine Jugend.“
Trotz dieſer feinſinnigen Anlage, die leider von dem größten Teile des nur zu
bald gelangweilten Publikums nicht geahnt wurde, trotz der zum Teil ſehr glüd-
lichen Stimmungsmalerei und einem nicht unlebendigen Dialog, fonnte das Wert
jeinem Schidfale nit entgehen. Es war weniger das perjönlidhe Können bes
Dichters, als die unglüdliche prinzipielle Grundlage, auf der er jein Stüd aufge:
baut hatte, was den Bau zum Wanfen bradte. Selbjt bie Galerie, die fonft im
„Deutschen Theater“ unter dem Beifall der naturaliftiihen Barteigänger wie ein
Reſonanzboden dröhnt und zittert, gab nur ſehr ſchwache, bald ſich verflüchtigende
Salven ab. Es ging wie ein bangenbes Ahnen fommenber großer Greignifie
durch den Saal, Und das Ereigniß fam. Es hieß „König Heinrich!““
Zwangloſe Rundichau. 235
Dies die eine Kritif. Nehmen wir nun aber die „Breslauer Zeitung” ber, ba
belehrt uns ein Berliner Yournalift K—r u. a. in folgender Weife:
„Gerhart Hauptmann, der echte Weltausfchnitte immer zu geben beflifien iit,
wollte auch im „Thomas Geyer“ einen Weltgeihichtsausfchnitt echt geben. Sein
Wahrbeitögefühl zwang ihn dabei, den Luther und den Götz von Berlichingen, ba fie
einmal in die Sphäre feines Stüdes griffen, als ben wirklichen Luther und den wirf-
lichen Göß zu geben. Luther tritt nicht auf, aber er wird als das gezeichnet, wofür ihn
neuere Geſchichtsbetrachtung anfieht: als einen Dann, der vor den wichtigsten fozialen
Dingn Halt macht. „Der Luther verjtehet die Läufte nit“, fagt Karlftatt im
Drama; fanatiſch ruft er, Luthers einftiger Lehrer: „Der Luther ift dem Teufel auf
den Schwanz gebunden; vor faum zween Wochen hat er's in Drud laffen ausgehen
und wiber Fürften unb Herren gewütet: ‚erihlagen Euch die Bauern nit, jo müfjens
andre thun‘. Heute jpeiet er Mord und Brand wider die Bäurifchen aus: man foll
in fie jtechen, jchlagen, würgen. Man foll die Büchſen laffen in fie faufen.“ Er
jet ein Mann, der „heute jüß redt und morgen ſauer“. In dieſem berben Urteil
fommt manded auf Rechnung ber fubjeftiven Heftigfeit des umhergehetzten jozial:
priefterliden Eifererd. Der Andere, Götz, welcher perfönlich eingeführt wird, ift
nit der Goetheihe großherzige Kämpe, fondern der Wahrheit gemäß ein Mann
Heinliher Beweggründe; nicht ein Rede, jondern ein furzes Männlein, ein „Ruf:
fnaderlein”; nicht allgebietend, fondern „im eigenen Haufen nit viel meh denn ein
armer Gefangener. Er darf nit feine Notdurft verrichten, es ift einer dabei, ber
ihm aufpaßt.“ Diefe Berichtigungen find gewiß Feine Heldenthaten. Das Drama
fönnte dieſe Berichtigungen enthalten und dennoch ganz jchlecht jein. Sie zeigen
nur einen leitenden Grundſatz. SKiünftlerifch weit belangvoller iſt Hauptmanns un:
erhörte Kraft allgemeinen hiſtoriſchen Anempfindens.
Gr bat fih bier in eine verjunfene Welt eingelebt; in einer Weije, die bei-
ipiellos ift. Es will nichts bedeuten, daß die Bußendichtung unſrer Tage fich jeht
zehnmal erbärmlicher anfieht, als ſchon zuvor; aber auch Guftav Freytag beginnt
recht harmlos zu ericheinen; und die deutiche Romantif mit ihrer fpielerifchen, ver-
ihönenden Auswahl mittelalterlicher Beftandteile verblaßt vor diefer umfaffenden,
ihlihten Wiederbelebung. Ein naturaliftiih gejchulter Blick ift hier durch den
Staub von Jahrhunderten, durch ganze Erbihichten gedrungen, und eine geftaltenbe
Meifterhand hat tote Zeitläufte erſtehen laſſen. Der Dichter redet die Sprade jener
Epoche genau fo, wie er im „Biberpelz“ die Sprache der märfifhen Schiffer, wie
er in ben „Webern“ die Sprache ber jchlefiichen Gebirgler redet. Nicht blos die
grammatifche Sprache (auf deren dialektiſch fubtilfte Feinheiten er immerhin ver:
zichten mußte), ſondern auch ihre begrifflihe Sprade. Der Vorſtellungskreis, das
Seelenleben dieſer längft verfaulten Körper wirb mit einem Schlage Far. So tft
alles geweſen! rufen wir verblüfft. Zum erjten Male fpürt ber moderne Menjch
die Leiben, dad Wollen, das Hoffen ber Brüber, die vor drei Jahrhunderten fämpften
und unterlagen, ganz gegenwärtig und als bie jeinen. Die Auferftandenen nahen
uns, wir erfennen in ihnen uns jelbft, und wir hören fie fprechen: das biſt Du.
Eine ganze Zeit getreu heraufbeichtworen zu haben und an dieſer beftimmten Zeit
dad Allgemeine, dad Meenichenverbindende, dad Ewige fihtbar gemacht zu haben:
das bildet die Größe Hauptmanns in dieſem koloſſalen Werk.
Denn koloſſaliſch ift es angelegt. Eine ganze Bewegung, ein empor: und
abtwärtöflutender Menfchheitsakt, ein Maffenringen und Maffenunterliegen tft fein
Gegenftand. Diefe Sache, nicht Florian Geyer, wird zum Helden. Es dreht fich,
mie in ben Webern, alles um einen Kampf für Freiheit gegen Unterbrüdung. Die
236 Zwangloſe Rundſchau.
Unterdrückten ſind diesmal Bauern, die Unterdrücker Adel und Pfaffen. Wer in
den Webern das Tendenzſiück eines Sozialiſten ſah, kann hier beſchämt erkennen,
wie der Dichter ganz und gar kein abgeſtempelter Parteigreis iſt. Wenn man im
Florian Geyer überhaupt eine Tendenz herausklauben will, wird man höchſtens auf
eine monarchiſche ſtoßen. „Unſer Fürnehmen“, ſagt Geyer, „ſtehet allein darauf,
dem Kaiſer ſeine alte Macht wiederzugeben unverkümmert von Pfaffen und Für—
ſten.“ Geyer will einen Volksherrſcher; inmitten ber Beſitzloſen ruft er: „Wenn
der Kaiſer die Läufte verftünd; hie find feine Bundsgenoſſen.“ Aber diefe Beſitz—
(ofen, die Bauern, weden nicht in ähnlihem Maße mie bie Weber dad Mitleid,
ihr Elend wirb nicht gezeigt; oder do nur zum Schluß, als es ſchon das Elend
der Befiegten tit. Sie find nicht allein die Helden; die ganze Bewegung bletbt
Held. Und jo tft alles ſymphoniſch gehalten. Die Weberſymphonie hat nur das
Mittelmaß gegen biefen gigantifhen Organismus, der, außer dem Troß, von mehr
als ſechzig differenzierten Menſchen gebildet wird. Hauptmann wählt nicht bas
Verfahren Schillerö, der für feine Friedland: Tragödie bie nieberen Elemente in
einem Vorſpiel abthut und dann nur die Führer zeigt, nach Gorneilleihem Vorgang
bier ein Nebeneinander von Politif und Liebe bietend, Hauptmann zeigt den Geyer
nie allein, nie auögefleidet; immer im Zuſammenhang mit ber ganzen Maflen:
bewegung; eö giebt ſechs Mieienbilder, und hier tritt der Einzelne wenig hervor.
immerhin: Dieje eine Geftalt hebt fich von der Maffe fenntlih ab. Es iſt
ein „freier Franke“, ein Teutjeliger, einfacher, ungelehrter Edelmann, der freitwillig
die Sache der Bauern zur feinen gemacht hat, eine fchlichte Natur, ein Menſch, dem
ein „brennendes Recht durch das Herz fließt”; ein Krieggmann, dem theoretifieren
überflüffig fcheint, der aber beicheidenfte Hochachtung vor der Wiſſenſchaft hegt und
für fünftleriihe Dinge, inmitten der Rauheit der Zeit fich einen frohen Blid ge:
wahrt hat; mild und ftarf und großberzig, nicht frei vom Aberglauben des Jahr:
hundert, aber den Zeitgenofien an Einficht und jelbftlofer Sachdenklichkeit über:
legen; mit Humorzügen auögeftattet, vor allem von einer unbebingten Freiheitlich-
feit auch im Einzelnen der Lebensführung, fein Familienhoder, jondern ein Anti—
philtfter und von einer gewiſſen irreligtöfen Kühnheit. Er kämpft für eine heiligſte
Sade, die von feinen Mitführern in den Kot getreten wird, und er fällt für fie.
Er hat hervorftechende Seiten, er ift eine runde Geftalt, aber neben ihm giebt es
ungezählte andere, die zugleih mit den Maflen ihrer Schatten auf ihn mwerfen.
Tellermann tritt hervor, fein wild baraufgängerifcher Waffengefährte, der durch ben
bloßen Anblick der Geiftlichkeit in Raferei gerät; der humorhaft rührende mwadere
alte Löffelholz, jein Feldichreiber; der menjchlich-gemütliche greife Rektor Beien-
meyer; der verzweifelte, gehebte, zuletzt kraftlos-nervöſe Karlitatt; der dicke verioffene
Bauernführer Jacob Kohl; das feige Schandmaul Flammendecker; ber ſchlimm
opportuniftiiche Grumbach, Geyers verräteriicher Schwager; die ganze Schaar ber
führenden Freunde und Gegner; ber beitialtfch-fraftvolle Landsknecht Schäferhans;
dazu Epifodengeitalten wie das erjchütternde, hyſteriſch plärrende Bauernweiblein,
das fich religiöfem Wahnfinn zu nähern beginnt, weil man ihren Sohn geblenbet
bat; Geyerd Zeitmagb Maret, eine wortfarge, herbe, derbe Lagergeitalt, der Augen:
und GSinnentroft Geyers, ihm blind ergeben; Grumbachs auffahrende, frauenhaft
jelbftfüchtige Gattin; der zech- und fpielfreubige, rohe Schärtlin — und mie fie alle
außerdem in ftaunenämwerter Fülle ericheinen. Glänzend zeigt fidh wieder Haupt:
manns Kraft, ſcharf umrifiene Geftalten maſſenweiſe aus dem Ärmel zu ſchütteln.
Der Dichter läßt in einem bewegten Vorſpiel die entichloffene, erbitterte
Stimmung bes Abela gegenüber der evangeliich freiheitlihen Bauernbewegung er:
Zwangloſe Rundſchau. 237
kennen. Im Neu-Münſter zu Würzburg tritt dieſe Bewegung leibhaftig vor den
Hörer, ein frühlingsgleicher, friſcher Hoffnungshauch, Werdensfreude ſtrahlt aus
dieſem erſten Akt, der nach mannigfachen, ſtürmiſchen Verhandlungen um die Füh—
rerſchaft — Geyer, der Sieger von Weinsberg, wird nicht oberſter Leiter, ſondern
nur ein Mitglied des Kriegsrats — mit einer leidenſchaftlichen Szene ſchließt: in
einem Kreidekreis auf der Kirchenthür ſtoßen die Freiheitsmänner der Reihe nach
ihre Meſſer, jeder mit einem beſonderen Fluch — „allen Schindern und Schabern
des Volls mitten ins Herz“, „allen pfäffiſchen Königen und königlichen Pfaffen
mitten ins Herz“, „allen Fuggern und Welſern mitten ins Herz“, „der deutſchen
Zwietracht mitten ind Herz“. Der zweite Akt, in Kratzers Gaſthaus zu Rotenburg,
fährt in dem glänzenden, allgemeinen Stimmungsfolorit fort, bringt eine erregte
Szene zwifchen Geyer und dem landsknechtiſchen Lümmel Schäferhans, welcher den
Rarlitatt roh bebrängt hat und von Geyer zu Boden gehauen wird; die ſelbſtſüchtig—
thörihten Führer haben hinter Geyer Rüden einen Angriff unternommen und eine
furdtbare Niederlage beraufbeihworen; ſchon jet fieht Geyer ein, daß das Spiel
verloren ift, und er till fich todtraurig zurüdziehben. Aber noch einmal — im
dritten Akt — läßt er fich bereit finden, die tobgemweihte Sache in die Hand zu
nehmen, weil die Horde feldherrenlos ift; zuvor hat er eine furdtbare Auseinander:
fegung mit den Mitführern. „Den beiten Handel, die edelſte Sache, die heiligfte
Sade . . . eine Sade, die Gott einmal in Eure Hand geben hat und vielleicht
nimmer — in Euren Händen iſt geweit wie ein Sauftall... Das Allerheiligite
habt Ahr Herumgezerrt auf Euren Gelagen, darüber gerülpfet und gefoßet mit
Euren Zechgeiellen ....“ Es geht weiter abwärts, ohne Geyerd Schuld; erſchüt—
ternd ift der Untergang bes getreuen Tellermann, und eine geniale Nachtizene, in
welcher Geyer mit den legten Helfern der guten Sache den legten Becher trintt,
zeigt in tieffter Tragif einen ſeltſam ergreifenden gebanfenvollen, verſunkenen Ster:
benshumor, Mufif und Wein befiehlt der untergehende Mann, aber Schluchzen
bewältigt ihn, als der Bänkeljänger, nichts ahnend, das alte, verbreitete Lied vom
Florian Geyer anftimmt. „Trink, Du Schlack!“ hat er vorher zur Marei gefagt,
deren Haar er „in zwei Strähnen wie Zügel” faßt; und dann: „Dein Haar tft mir
Iteber wie das der allerjeligften Jungfrau.” Dann rüftet er fich zum Untergang.
Eine unbeichreibliche, tiefmenichlich and Herz padende Stimmung ſchwebt über diefer
ihwermutsvoll großartigen Shafeipeareihen Szene. Und büfter großartig ift aud)
der Schlußaft, der Nachts auf Schwager Grumbachs Schloß ſpielt. Der zu Tode
gehetzte Geyer hat fich Hinaufgeichleppt, um eine Stunde Raft zu finden; und bier
wird er verraten. Die angetrunfenen Ritter ftehen vor dem innerlich linbefiegten
wie bie Hunde um ben Hirih, fie wagen ſich nicht an ihn, aber aus dem Hinter:
grunde fchießt der Schäferhand, ein brutaler Hund, um Gelbeswillen mit jeiner
Armbruft nah dem Helden; der fchreit noch einmal übermenfhlih auf in tiefiter
Bein und finft vornüber aufs Antlitz; gierig fällt der Landsknecht über ihn ber,
um ihm bie Waffenrüftung auszuziehen. Da Iefen die Adligen auf feinem Schwert
die Inſchrift: mulla crux, nulla corona.
So menſchlicher Szenen wie dieſe giebt es viele, und ed mag dad Drama aud)
zu ſtark im Pragmatiichen ſtecken geblieben jein, was ihm die Theaterwirfung
raubte: allein um diefer Züge willen wäre e3 eine große, nicht vergängliche Did:
tung — aud wenn e3 durch feine lapibare Anlage nicht ſchon ein in Europa heut
einzigartiges Kunftiwerf wäre, Die Gegner, die eine Niederlage Hauptinanns aus:
pofaunen, gleichen den perjönlicen Gegnern Geyers. Hier hat einer, ſelbſt wenn
er wirklich im einzelnen fehlgegriffen haben follte, noch tm Fehlen geſiegt. Ein
238 Zwangloſe Rundihau.
gental Irrender iſt mehr wert als zehn talentuolle Korrekte. Aber die Dichtung
vom Florian Geyer, das dürfen mir hoffen, wird auch der Bühne fünftig nit
verloren ſein.“
Hoffen wir, daß beide Kritifer für ihren Feuereifer durch den weiteren Erfolg
ihrer Schußbefohlenen belohnt werden. Das würde ihnen, wie den Autoren, ben
Theaterdireftoren und auch ben Berlegern recht fein.
Da wir einmal bei den Verlegern angelangt find, wollen wir nicht zu ermwäh-
nen vergeilen, daß nah Mitteilung der „Nahrichten“ ein internationaler Verleger:
Kongreß zu erwarten fteht. Der „Cercle de la Librairie“ in Parts bat die Vor:
ftände der verfchiedenen nationalen Buchhändler-Vereinigungen zu einem internatio:
nalen Berleger:Kongreß eingeladen, der in der erften Hälfte des fommenden Juni
in Parts ftattfinden fol. Auch an den erſten Vorſteher bes Börfenvereind der
deutichen Buchhändler ift eine Einladung gelangt und ſowohl in betreff einer per:
jönlichen Beteiligung, als auch der Abordnung von Delegierten angenommen wor:
den (j. Börfenblatt f. d. D. B. 1896 Nr. 10). Nachitebend das „Reglement“ bes
Kongreiies und eine vorläufige Tagesordnung.
Reglement.
Die erite Zufammenfunft des internationalen Verleger-Kongreſſes wird in der
erften Hälfte des Monats Juni 1896 in Paris eröffnet werden.
Diefer Kongreß ift durd den Cercle de la Librairie veranftaltet. Es fönnen
an demjelben nur Buch-, Muſikalien- und Kunftverleger ſowie ſolche von periodi:
ſchen Zeitichriften (Revuen, Magazinen, illuftrierten Journalen) aller Länder teil-
nehmen, ebenjo Delegierte von DVerlegervereinen aller Länder.
Die erjte Verfammlung des Kongrefied wird drei oder vier Tage dauern; täg:
lich finden zwei Situngen ftatt.
Das Programm und die Tagesordnung werden jpäter dur den geichäftsfüb-
renden Ausihuß des Kongreſſes veröffentlicht werben. Diefer hat feinen Sit im
Cercle de la Librairie zu ®aris, 117 boulevard St. Germain.
Auf diefem Kongreß fjollen nit nur alle auf die Ausübung bes Verleger:
berufes bezüglichen Fragen behandelt, ſondern auch gemwifje Fragen, betreffend litte—
rarifches und fünftleriiches Eigentum, in ihren Beziehungen zum Verlage betrad
tet werben.
Ein Entwurf folder Fragen ift diefem Reglement beigefügt.
Diejenigen, welche jich für dieſen Kongreß intereffieren und gewiſſe Fragen
jelbft oder durch andere behandelt willen mollen, werden dringend gebeten, ihre
Wünſche dem Ausſchuſſe mitzuteilen. Diefer wird unter den ragen biejenigen,
welche die Tagesordnung bilden follen, auswählen und fih mit den Teilnehmern,
welche über dieſe Fragen ſchriftlich Berichte einzureihen wünjchen, verftändigen.
Die Berihte müſſen in franzöfifcher Sprache abgefaßt und an den Vorfigenden
des Ausſchuſſes ſpäteſtens bis 1. April 1896 eingeichieft werben.
Ale durch den Kongreß veranlaßten Koften werben von bem Cercle de la
Librairie getragen.
Das Bureau des Kongrefies wird, wie folgt, gebildet:
Ein franzöſiſcher Präfident,
Bizepräfidenten, bie verfchiedenen Nationalitäten angehören,
ein franzöſiſcher Generaljefretär,
Sefretäre, die verichiedenen Nationen angehören.
Der Präfident und ber Generaliefretär werben vorher durch ben geichäftäfüh-
Zwangloſe Rundſchau. 239
renden Ausſchuß ernannt, damit ſie ſogleich für die Organiſation des Kongreſſes
Sorge tragen können. Die anderen Mitglieder des Bureaus werden von dem
Kongreß gewählt.
Der Kongreß wird vor Abſchluß ſeiner Arbeiten die Nation bezeichnen, von
welcher die zweite Zuſammenkunft veranſtaltet werden ſoll, ſowie den Zeitpunkt
dieſer Zuſammenkunft.
Fragen, welche geeignet ſind, von dem Verleger-Kongreß behandelt
zu werden.
1) Anwendung des metriſchen Syſtems bei der Beſtimmung der Formate.
2) Verpflichtung zur Hinterlegung der Pflichtexemplare ſeitens des Verlegers.
3) Eigentum an Zeihnungen, welche zur Jlluftrierung eines Werkes gedient haben.
4) Litterarifche oder fünftleriihe Nachbildung von Gemälden, Porträts, Photo—
graphieen.
5) Bezieht ſich das Veröffentlichungsreht eines Werkes auf die Perfon oder die
Firma des Verlegers?
6) Recht des Verlegerö bei Veröffentlihung von Briefen, welche ein biftorifches
Intereſſe haben oder Gemeingut find.
T) Recht des Verkaufs von Klifchees.
I) Recht, Auszüge, ausgewählte Stüde oder Bruchſtücke mit oder ohne Nennung
des Verfaſſers und Verlegers zu veröffentlichen.
9 Gemeinfames internationales Vorgehen der verichiedenen Buchhändlergenoiien-
ſchaften zur Erzielung neuer Beitritte zur Berner Übereinkunft.
10) Können Artikel, welche in Zeitungen oder in periodischen Zeitichriften erichtenen
find, ohne Genehmigung des Autord oder Verlegers abgedrudt oder über:
jet werben?
11) Darf die Wiedergabe eines litterarifhen Werkes vermittelit öffentlicher Vor—
lefung ohne Einwilligung des Autors oder Berlegers ftattfinden?
12) Abihaffung der Zölle auf die Erzeugnifje des Buchhandels,
13) Abfhaffung der Zollgenfur in Rußland und in der Türkei.
14) Über fingirte Auflagen.
15) Verpflichtung zur Angabe der Jahreszahl oder zur Anbringung eines Vermerks
„Soeben gedruckt“ behufs genauer Datumsbezeichnung.
16) Annahme eines Poftulats auf Zulaffung von 5 Kilo: Boftfollis im Verfehr mit
allen Rändern des Weltpoſtvereins.
17) Hat der Verleger das Recht, nad einer gewiſſen Friſt, während welcher ein
Werk feinen Abjak mehr findet, die Klischees zu zerftören oder das Werk
nicht mehr neu zu druden?
Auh in letzter Zeit find uns zwei verdiente Berufögenofjen durch den
Tod entriffen worden: Friedrich Wilhelm Ebner in Ulm und Anton
Philipp Reclam in Leipzig. Dem „Ulmer Tageblatt” entnehmen wir Fol:
genbes:
„Briedrih Ebner war geboren am 15. Auguft 1826 als der ältefte Sohn des
Buhhändlers Jakob Friedrich Ebner hier. Den Buchhandel Iernte er in Nürnberg
und war längere Zeit in Paris thätig. Nachdem er kurz vorher das väterliche Ge-
ſchäft übernommen hatte, verheiratete er fih im Sommer 1856 mit der älteften
Tochter des Beſitzers der oberen Bleiche, Regine geb. Heinrich, mit der er im Jahre
1881 im engſten Familienfreife die filberne Hochzeit feierte. Sein Gefchäft brachte
der unternehmendbe, tweitausichauende, mit erftaunlicher Arbeitäfraft und zäbefter
240 Zwangloſe Rundſchau.
Energie ausgerüſtete Mann zu bedeutender Blüte. Zahlreich ſind die Werke welt—
lichen und geiſtlichen Inhalts, die aus ſeinem Verlage hervorgingen. Im Jahre
1878 hat er das „Ulmer Tageblatt“ erworben und der Entwickelung desſelben aus
den beſcheidenen Anfängen heraus ſtets das lebhafteſte Intereſſe gewidmet. —
Der Trauerfall iſt um jo erſchütternder, als er ganz unerwartet und über:
raſchend eingetreten ift. Unſer Herr Verleger, der fich während des legten Sommers
einer ungetrübten Geſundheit erfreuen durfte, hatte den Herbſt über in Badenmeiler
und Baden-Baden Aufenthalt genommen, von wo er anfcheinend im beiten Wohl:
befinden am Dienstag den 17. Dezember hierher zurüdfehrte. Nach jener Ankunft
aber machte ſich ein Rheumatismus bemerflicy, der eine Herzaffeftion zur Folge
hatte, und dieſe nahm einen jo rafchen Verlauf, daß die Lebenäfräfte jchon am
Samstag Abend (21. Dezember) verzehrt waren. Es ift ein fchwerer Verluft, von
dem die Familie wie auch das ausgedehnte Geſchäft durch den Hingang ihres
Hauptes betroffen worden find; allzu früh Hat die umerbittliche Hand des Tobes
dem an Arbeit und Erfolgen reihen Leben ein Ziel geftedt.“
Mit dem befannten Begründer der Univerfal:Bibliothef beichäftigt ſich ein
eigener Artikel unferer Zeitichrift, jo daß wir und bier nur auf die Mitteilung,
daß das Ableben dieſes verdienten Mannes im 89. Lebensjahre am 5. Januar in
Leipzig erfolgte, beichränfen.
Der 31. Januar d. %. ift in fofern noch für den Buchhändler von Bedeutung,
al an dem Tage Friedrich Rückert dreißig Jahr tot ift und feine Werte
jomit Gemeingut des Volkes werben.
Die Entftehung der Schreibkunft und die Briefe
der Arzeit.
(Fortjegung.)
Die Schreibtunft hatte verjchiedene Phafen durchzumachen. Nach
der Knotenjchrift kam die ideographijche, die Begriff: oder Bilderſchrift;
daraus entwidelte fich die phonetiiche, die Ton- oder Lautichrift, und
zwar zuerſt als Eyllabar- (Silben-) ſchrift und jchließlich als alphabetische
Laut oder Buchſtabenſchrift. Im dieſer leßteren erreichte die Schreibkunft
ihre höchſte Entwidelungsitufe.
Auf der Stufe der ideographiichen Schrift beſchränkt ſich der Menfch
nur darauf, die organiichen oder unorganijchen Dinge, deren Begriff er
verfinnlichen will, bildlich darzuftellen, z.B. ein Pferd, einen Berg, einen
Baum. Dies ift die eigentliche oder konkrete Bilderſchrift.
Neben der konkreten Bilderjchrift fteht natürlich die ſymboliſche.
Hier werden die abftraften Begriffe ebenfall® durch Bilder dargeftellt
und zwar durch die Bilder derjenigen Gegenftände, die der menjchliche
Geift in eine Jdeenverbindung mit jenen abjtraften Begriffen zu jeßen
gewohnt ift und die diefen deshalb als Symbol dienen fünnen. So be-
zeichnet ein Vogel die Schnelligkeit, ein Fuchs die Schlauheit, eine fich
in den Schwanz beißende Schlange die Ewigkeit, ein Szepter die Macht ıc.
Bon dieſer Schreibweife bis zur phonetiichen oder Lautjchrift ift nur
ein Schritt, wenn aud fein Heiner. Nun enticheidet der Gleichklang.
Hier werden, bejonders bei abftraften Begriffen, die Bilder nad) der Ähn—
lichfeit des Wortflanges gewählt. Der Rebus entiteht, der recht eigentlich
den Übergang von der ibeographifchen zur phonetifchen Schreibweife be-
zeichnet.
Die Wilden Amerikas geben viele Proben diefer Schriftart. Mehrere
derjelben Hat Tylor in feiner Arbeit „Die Urgejchichte der Menjchheit”
als höchſt überrafchende Beiſpiele angeführt.
Die bei den mexikanischen Infchriften angewandten Zeichen jcheinen
16
242 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
aus einer Zufammenftellung von Eymbolfragmenten gebildet zu jein, die
man urſprünglich in ungerjtücdter Form anwandte. Das Volk, welches
fie madjte, ift offenbar dem polyjynthetiichen Grundjage gefolgt, der den
indianischen Sprachen ein jo eigentümliches Gepräge giebt (die Agluti-
nation; die Anglo-Amerifaner nennen dieſe zujammengeleimten Worte:
Bund: Words oder Wortbündel).
Den Schritt von der reinen Bilderjchrift zur Laut- oder Wortichrift
haben, wahrjcheinlich ganz unabhängig von einander, die beiden älteften
Kulturvölker, die Äghpter und Chinejen, gethan. Im der weiteren Ent-
widlung hat ſowohl die Hieroglyphen-, wie die Keiljchrift Anſätze zu einer
gemischten Eilben- und Buchſtabenſchrift aufzumeiien, die fich nad) der
glaubwürdigen Annahme der Forſcher bei den Phöniziern allmählich zu
der aus zweiundzmwanzig Zeichen bejtehenden Buchſtabenſchrift ausbildete,
die fich jeitdem über die ganze zivilifierte Welt ausgebreitet hat. In
allen diefen Epochen aber merkt man, wie die Schrift ſich vorzugsweiſe
im BZujammenhang mit der Religion entwidelte und beinahe ausjchließlic
Eigentum der Briejter war.
Zu den Elementen, aus denen ji die Schrift entwicelte, gehören
nicht nur Knoten und eingeribte Figuren, jondern auch Malereien. Die
alten Aztefen in Merifo waren ein eigentliches Malervolf, und ihre Mei-
sterichaft im Abbilden von lebenden und toten Gegenjtänden war wohl
die erjte Urjache, daß fie die phonetiichen Bezeichnungen vernachläffigten
und fie höchitens bei Eigennamen anwandten. Sie jhäßten den Eindrud,
den die bildliche Darftellung des Gegenjtandes auf das Faſſungsver—
mögen macht, zu hoch und die Wichtigkeit der Darftellung des Wort
Hanges zu niedrig.
Man follte auch die WBilderjchrift der Briefmaler während des 14.
und 15. Jahrhunderts nicht außer acht laſſen, da fie in ihrer Art und
für ihre Zeit eigentümlich ift. Dieje Bilderjchrift, welche in Anwendung
fam, weil die große Majje feine andere Schrift deuten fonnte, rührt von
der Fatholiichen Priefterjchaft her, die ſich Feine Gelegenheit entgehen lieh,
Kleine, in Bilderform abgefaßte Andachtsbücher unter dem Volke zu ver-
breiten. Die Berfertiger diefer Artikel hießen Briefmaler, ſpäter Brief-
druder und Sluminiften. In Deutichland und den Niederlanden ent:
ftanden zahlreiche Gilden derartiger Kunjtverwandten; in ihnen hat man
die unmittelbaren Vorgänger der Buchdruderfunft zu juchen, denn fie
haben zuerft Schrift in Holztafeln gejchnitten und diefe auf Papier oder
Bergament abgedrudt. — (Ein feiner Zeit weit befannter Briefmaler war
Hans Rofenplüt, der auch ald Meiiterfinger großen Ruhm erwarb.)
Als weiteres Beijpiel, wie die Bilderjchrift auch in jpäterer Zeit noch
in Europa angewandt wurde, möge folgendes dienen. Im 17. Jahr—
Die Entſtehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 243
hundert gab es in Paris ein allbefanntes Wirtshaus, defjen Aushänge-
Ichild folgende Darftellung trug: Ein Haus, daneben ſaß ein dicker Türke
mit einem roten, langen Barte, darüber eine Sonne, in einiger Entfer-
nung davon waren im Bordergrunde ein Fußgänger und ein Reiter an-
gebracht. Tas Ganze jollte dem Publikum jagen: Dies iſt das Wirts-
haus zum gefärbten Barte, gehört dem Herrn Sonne, wo Wegfahrer für
ſich und ihre Tiere Verpflegung finden können.
Die Schrift der Chineſen iſt in ihrem Entwidlungsgange in der
ſyllabiſchen Phaſe ftehen geblieben; die alphabetische hat fie nie erreicht.
Die hinefiihen Schriftzeichen, die fich im Laufe der Zeit und befonders
durch die Anwendung des Pinjeld als Schreibwerkzeug jehr verändert
haben, zerfallen in zwei Abarten: in die den Wortflang angebenden, pho-
netiichen Hieroglyphen und die, die Bedeutung angebenden, Determinativ-
zeihen. So bedeutet die Hieroglyphe „Türe“ in Verbindung mit dem
Determinativ „Ohr“: „hören“. Diejelbe Hieroglyphe, „Thüre“, drückt
aber, wenn fie mit dem Determinativ „Herz“ verbunden ift, „Rummer”
aus. — Die Hinefiihen, ausſchließlich ſymboliſchen Schriftzeichen kann
man daher ebenjo leiht in Cochinchina, Japan und Korea benugen; die
Bewohner all diefer Länder können Worte damit verbinden, welche die—
jelben Begriffe ausdrüden, obgleich die dieſe Begriffe ausdrüdenden Laut-
gruppen in jedem diejer Ränder andere find. Ein Japaneſe kann alfo
3. B. die chineſiſchen Schriftzeichen begrifflich „verftehen“ lernen, ohne fie
lautlich „leſen“ zu können. Won diefem merkwürdigen und abjonderlic)
Hingenden Faktum fünnen wir ung einen Begriff machen, wenn wir an
die in der ganzen zivilifierten Welt befannten römijchen und arabijchen
Bahlzeihen denken. Die durch fie veranſchaulichten Begriffe find in der
ganzen Welt diejelben, während ihre Namen bei jeder Nation anders
lauten. So bedeutet 3. B. das Zeichen X oder 10 überall eine Zehn,
aber die Namen, womit dieje Ziffer benannt wird, find jehr verjchieden
von einander. Bei dem Griechen lautet das Beichen „dexa“, beim La-
teiner „decem“, beim Schweden „tio“, beim Engländer „ten“, beim Ita—
liener „dieei“, beim Franzojen „dix“ u. ſ. w.
Die jebige Schrift der Chineſen beruht auf einer alten Bilderſchrift
(ku-wen), als deren Erfinder Thjan-fe genannt wird, der ungefähr im
Jahre 2650 v. Chr. ©. gelebt haben und Minifter oder Hiltoriograph
(Bormerker) des gelben Kaiſers gewefen fein ſoll. Der chinefiihe Ar-
chäologe Wei-tjan jagt darüber: „Beim gelben Kaijer galt es einmal,
Dinge zu erfinden, zu bilden und einzurichten. Dies wurde dem Tſiü—
jun und dem Thſan-ke aufgetragen. Diefe erfanden die Zufammenfügung
der Schrift und erjegten hierdurdy die Schnüre mit den Knoten." — Die
Zeichen desfKuwen, ſoweit fie fi auf Urnen und in alten u er⸗
244 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Lrzeit.
halten, haben mit denen, die fi) auf den Wänden der älteren ägyptijchen
Denkmäler finden, viel Ähnlichkeit, fie ftimmen fogar im Lautwerte mit
den ägyptifchen Hieroglyphen überein, bejonder8 wenn man die Zautver-
ſchiebungen und den Umftand in Betracht zieht, daß Ägypten und China
nicht in direkter Verbindung ftanden, jondern die äußerften Grenzen eines
Zentrums waren, in welchem fich die Bilderſchrift bis zu einer gewiſſen
Stufe entwideltee — Die Kompliziertheit diefer Schriftformen muß in-
defien, da diefe auf feinen beftimmten Geſetzen beruhten, in dem weitver-
zweigten Reiche eine Schriftzeriplitterung hervorgerufen haben, weldhe das
Leſen jehr erjchwerte und Mißverjtändnifje Hervorrief. Deshalb ericheint
die Nachricht glaublih, daß der Kaiſer Syuan-wan, der 827 bis 781
v. Chr. ©. regierte, den Reichshiftorifer Tjeu beauftragt habe, mit jeinen
Gehilfen zu einer Sichtung und Vereinfachung des Schriftbeftandes zu
ſchreiten. Diefe Männer oröneten die Schriftbilder in 15 Reihen und
ſuchten durch Abwerfen der überflüjfigen Verzierungen die Schrift leichter
und fließender zu machen; der Kaijer ließ dann andere Gelehrte das
Borgelegte prüfen nnd das, was jomit gejammelt und feitgeftellt war,
zur allgemeinen Nachachtung in Marmorpfeiler einrigen. Durch die
Schriftreform des Tſeu war eine fanoniihe Schrift feitgeitellt, die dem
Regierungsmitgliedern als Geſetz galt; dieje Bedeutung hat fie noch bis
zur jeßigen Zeit beibehalten, und der Herausgeber des zweitaujend Jahre
alten Wörterbuch8 Swe-wen jagt mit Recht: „Ohne Kenntnis der Schrift:
zeichen kann man nicht in das Herz der Weiſen ſehen (in ihren Geift
eindringen), ohne das Tſwan kann man die Bedeutung der Schriftzeichen
nicht ergründen.” Mit diefer Tiwan-Schrift jchrieb der berühmte Philo-
ſoph Kunstie, der jpäter Kun-fu-tſe (der König der Lehrer) genannt wurde
und 550—479 v. Chr. ©. lebte, jeine Werke, welche die Grundlage der
noch heute lebendigen philofophiihen und religiöfen Anſchauungen der
hinefiihen Gelehrten bilden. Auch Confucius (Kun-fu-tſe) erklärte eine
Änderung der Schriftzeichen für eine der wichtigſten Regierungsangelegen-
heiten des Reiches, weshalb eine Abänderung oder Verbefjerung nieman-
dem als dem Kaijer gejtattet jein ſolle. — Nachdem die Ehinefen im 2.
oder 1. Jahrhundert vor unjerer Beitrechnung mit der Erfindung des
Papiers vertraut geworden, entſtand jo nad) und nad) das „Kyai“, d. h.
die heutige chinefiiche Bücherſchrift. Die chineſiſche Schrift dient als
allgemeines Korrefpondenzmittel in den umfangreichen Provinzen diejes
großen Reiches und wird auch in Japan und Annam gebraudt; es tft
natürlich, daß fie in den verjchiedenen Ländern in verjchtedenen Dialekten
gelejen wird, wie man z. B. das Latein in Skandinavien, Deutjichland,
Frankreich, England u. j. w. verjchieden ausjpricht.
Die Schrift, deren Erfindung man Fohi zujchreibt, welcher ca. 2941
Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 245
v. Chr. ©. Iebte, iſt die Pa-kwa⸗Schrift. Wenn man jagt, daß Fohi
hierdurch den Gebrauch von Schnüren mit Knoten erjeßt habe, jo kann
dies fein Irrtum fein, da die Formen der Pa-kwa⸗Schrift offenbar Bil:
der von Knotenteilungen in verjchiedenen Längen und Zufammenftellungen
find. Wenn es von Fohi heißt: „Indem er die Augen in die Höhe hob,
jah er die Figuren des Himmels, indem er fie ſenkte, ſah er die Vor—
bilder, welche auf Erden nachzuahmen waren; er betrachtete die verjchie-
denen Formen der Vögel und der vierfüßigen Tiere, jowie die Eigentüm-
lichfeiten und verjchiedene Produktion der Erde, ſowohl die Körper in der
Nähe, welche er greifen konnte, als entfernte Gegenftände, die er beftim-
men fonnte; er fing an zu ziehen die acht Kwas oder Symbole in Zeich—
nungen, um zu durchdringen die Wahrheit der göttlichen Weisheit, wie
die Natur unbeweglich und beweglich, von wo fie aufhört nachzugeben,
und von da, wo fie der Kälte wiberfteht und in ihnen durch Zwilchen-
räume die Eigentümlichkeit aller Wejen zu beftimmen, die Figuren der
See, der Berge, des Windes, des Donnerd und der Kälte“, — jo iſt
damit feine eigentliche Bilderjchrift gemeint, jondern die Feſtſtellung der
vorgenannten Zeichen.
Thſan-ke's Zunamen Tjün-Sun (Verbreiter der religiöfen Gejänge)
jpielt auf den Hüftenftern an, der mit dem ägyptilchen Sterne Sirius
identisch fein dürfte. Im Jahre 2782 v. Chr. ©. hatte in Ägypten das
nur jedes 1460. Jahr eintreffende Ereignis ftattgefunden, daß der Sirius:
Stern am 1. Thot (20. Zuli) gleichzeitig mit dem Anfang der Über-
Ihwemmungsperiode aufgegangen war, und es ift höchſt wahrjcheinlich,
daß von diejer Zeit das bewegliche ägyptilche Jahr feinen Anfang nahm.
In China markierte diefer Stern ſowohl die Einführung der Schrift
(2650 v. Chr. ©.), als die kurz vorher geichehene Einführung des 60jäh-
rigen Jahrescykflus, welcher, unjeren Jahrhunderten entiprechend, eine
Zuſammen ſchmelzung der babylonishen Tezimal- und Duodezimaliyiteme
it, Die Firierung feſter Beitepochen war eine Arbeit, welche vieles For:
jhen, zahlreihe Beobachtungen und große Kenntnifje in der Mathematik
vorausſetzte.
Unter dem Namen „Ko⸗-teu“ oder „Froſchwürmerſchrift“ verſtanden
die Ehinefen eine Schriftart, deren Linien gewunden waren und Snoten
bildeten; derartige Namen gab man indefjen auch anderen alten Schrift-
igftemen, und man fommt dadurd auf die Vermutung, daß die Vilder-
Ichrift überhaupt im Gegenfaß zu den regelmäßigen Strichen der Pa⸗kwa—
Schrift diefen Namen, ebenfo wie auch den Namen „Vogelſpurſchrift“
erhielt, ungefähr wie man aus Scherz ſolche Schriftformen in unjerer
Sprache „Krähenfühe” nennen würde.
Die Bewohner Japans follen in älteren Zeiten eine Bilderjchrift be-
246 Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
ſeſſen haben, aber ihre Litteratur begann erft, als fie mit China in Be-
rührung kamen, im 3. Jahrhundert unjerer Zeitrechnung. Die reichen
Kenntnifje der gelehrten Chineſen imponierten den japaniſchen Herrichern,
darum juchten fie chinefiiche Gelehrte an ihren Hof zu ziehen. Diele
brachten natürlich ihre chinefiichen Bücher mit, und fo gelangte die chine-
fiihe Litteratur in Japan zur Herrichaft, ähnlich wie im Mittelalter unter
dem Einfluß der Kirche die lateinische Sprache und Litteratur herrichten. —
Da aber die fremde Sprade nur Eigentum der gebildeten Klafjen wer-
den konnte, jo trugen die VBuddhapriefter, welche im achten Jahrhundert
nah Japan kamen, Sorge dafür, auch dem Bolfe eine Litteraturjchrift
zu ſchenken. Wie fie in China verfucht Hatten, aus chinefiichen Wort-
zeichen eine phonetifche Schrift zu bilden, jo ftrebten fie auch in Japan
diejem Ziele nach, und bier erleichterte ihnen die mehrfilbige Sprache dieje
Aufgabe wejentlich, befonders weil die japanischen Silben meiſtens mit
Bokalen ſchließen. Auf diefe Weife dürfte die Manyolanna-Schrift (Die
Schrift der zehntaufend Blätter) entftanden fein, welche diejen Titel nach
einer, mit chinefiichen Lautzeichen gejchriebenen Gedichtiammlung, Ma-
nyofin, trägt.
Die Umftändlichkeit der chinefiihen Kyai-Schrift muß die Urjache
dazu gewejen jein, daß der Bubbhapriefter Simo-Mitfino Mabi, der jpäter
unter dem Namen Kibino-Daifi oder Kibi berühmt wurde, und welcher
fich feiner Ausbildung halber während 20 Jahren (er jtarb im Jahre 775
v. Chr. ©.) in China aufhielt, eine Vereinfachung der Zeihen vornahm
und jomit die Schriftform bildete, die den Namen „Katafanna” führt,
d. 5. „entlehnte Bruchteile zur Lautbezeihnung“.
Im Jahre 809 wurde von zwei Buddhaprieftern, Gomioo und Kofai,
ein anderes Syllabarium, „Firafanna“, eingeführt. Wenn gejagt wird,
daß Gomioo 12 Zeichen und Kokai die übrigen aufgeftellt habe, fo ift es
wahrjcheinlich, daß erjterer wunderbarer Weiſe eine Buchftabenjchrift ein-
zuführen ſuchte; denn die japaniiche Sprache befteht aus 12 Lauten:
a, e, i, o, u, k, ſat, m, f, r, n. Dieſe Buchftabenjchrift ſcheint keinen
Anklang gefunden zu haben, und deshalb dürfte Kokai wieder zum Syl-
labarium zurücdgefehrt fein. Die Schriftform der Firafanna-Schrift ift
die der chineſiſchen Thjao-Schrift, aber fie ift viel einfacher, als die Thjao-
Manyolanna; in vielen Fällen hat fie nur die Thjao-Form der Katalanna-
Schrift; in anderen find die Formen der Manyolanna-Schrift in Thjao-
Schrift übertragen. |
Der Erfinder der Yamatokanna⸗Schrift ift unbekannt, die Schrift ift
eben nur eine Abart der Firalanna-Schrift und der Thjao-Form der
Manyokanna⸗Schrift. Yamatokanna bedeutet „japaniihe Schrift”. —
Zyak⸗ſew war ein Bonze an der Pagode Jenfiri, der im Jahre 1001 nad)
Die Entjtehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 247
Japan 309, dort fünf Jahre blieb, fich einen Auf ala Schönichreiber er-
warb und ein Syllabarium für die japanische Sprache ausarbeitete. —
Die beiden lettgenannten Schreibarten find indejjen weniger im Gebraud,
als das Katafanna und das Firakanna.
Die babyloniſch-aſſyriſche Keilfchrift erinnert Tebhaft an die japaniſche
Firafanna-Schrift, obſchon lettere beinahe ebenjo viel Jahrhunderte nach
dem Anfange unjerer Zeitrechnung entitand, wie die andere vor demjelben,
beide aljo Fahrtaufende auseinander liegen; aber gemeinjam iſt beiden der
Gebrauch fremder Wortbilder und die Einmiihung fremder Wortbilder in
der Weile, daß dieje wie erratijche Blöcke die gleihmäßige Silbenichrift
durchbrechen.
Man vermutet, daß die Keiljchrift eine Erfindung der turaniichen
Urbewohner des Landes zwilchen Euphrat und Tigris (eines Zweiges der
mongolifchen Rafje) ſei. Die urfprünglichen Formen waren feine Seile,
jondern Stride. Eine derartige Injchrift, die fich erhalten hat, rührt vom
Könige Urofh her, der in Ur von 2093 bis 2070 v. Chr. ©. Herrichte,
und fie lautet: „Beltis, feine Gemahlin, hat Urofh, den frommen Herrn,
König von Ur und König des Landes Akkad, veranlaßt, ihr einen Tempel
zu bauen“. Uber außer diefem Affadvolfe werden auch die Sumerier
als Erfinder der Keiljchrift genannt. „Die Keilfchrift, wie auch alle
Kultur und Religion im Euphrat-Gebiete, ſtammt zunächſt von einem
vorjemitifchen Volke, den Sumeriern”, jagt ein Mutor. Wann die von
Rordoft einwandernden Semiten zum erjten Male mit den Sumeriern in
Berührung kamen, davon weiß man nichts mit Beſtimmtheit. Doc muß
ihon ca. 1500 v. Chr. ©. das Sumerijche eine tote Sprache gewejen
fein, die aber (wie bei uns das Lateiniiche) in den babylonifchen und
jpäter in den aſſyriſchen Prieſterſchulen bis ing 6. Jahrhundert v. Chr. G.
eifrig gepflegt wurde.
Ihrem Urfprunge gemäß trug die affadijche Keiljchrift in ihrem
zweiten Entwidlungsftadium vorzugsweije einen ideographiichen Charakter,
d. h. fie beftand aus Zeichen, welche Begriffe ausdrüdten; dieſe Form
findet fich bejonders in den aſtrologiſchen Berichten, welche die Ajiyrer
aufbewahrt haben. Dieſe Schrift vereinfachte man nachträglic; immer
mehr und mehr, jodaß gewiſſe, allgemein gebräuchliche Abkürzungen
zuerft Worte und jpäter Silben ausdrüdten. Da man als Schreib-
material einen Grabftichel benugte, womit man in einen weichen Stoff,
gewöhnlich Thon, ritte, jo war die einfachite Art, dieje Abkürzungen
zu Wege zu bringen, die, daß man gerade Striche zog, die vermittelft
ungleiher Zufammenftellungen die einzelnen Begriffe ausdrüdten, und
da die dreiedige Spitze des Grabfticheld dieſen Strihen die Form
eines Keil gab, jo hat diefe Schrift hiernach den Namen Keilſchrift er-
248 Die Entjtehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit
halten. Davon erijtierten zwei Arten: Eine ältere, die man anariſch
nennt, eine Begriffs- oder Wortjchrift, welche von den Babyloniern auf
die Meder, die alten Perjer und Aſſyrer übergegangen war, und eine
jüngere, ariſch genannt, eine Silbenjchrift (oder ſogar Buchſtabenſchrift,
beſonders wenn die mehrfach aufgeftellte Anficht richtig ift, daß die Ver-
Ihiedenheit der Konfonantlaute vor gewiſſen Vokallauten aud) Verjchieden-
heiten in der Ausſprache zur Folge Habe), welche von dem vornehmiten
unter den alten ariichen Völkern, den Perſern, während ihrer Glanz-
periode benußt wurde und eine Verbejjerung des babylonifchen Syſtems
darjtelt. — Die Sprade der älteften Keilſchriftmonumente bei Berjepolis
ift das Zend. Ihn Muftaffa, ein gelehrter mohamedanischer Perſer, defjen
Ausſprüche der Verfaſſer des Fihrijt-ul-Rutub bewahrt Hat, Führt die
Screibfunft der Perjer auf die älteften Zeiten zurüd. Dzemſid, Ba—
warasp, Fredun ſollen die eriten geweſen jein, die gejchrieben haben,
doch, meint er, iſt die Anwendung der Schrift nicht bejonders häufig
gewejen, ehe Zoroafter auftrat und den Zend-Aveita verfaßte. — Oppert
Ichreibt dem Könige Eyrus die Erfindung der perfiichen Keilſchrift zu
und jchließt dies daraus, daß die Zeichen, welche den Namen diejes Kö—
nigs bilden, für ihn jchmeichelhafte Attribute find; aber in diefem Falle
müfjen wir aus demjelben Grunde zur Anficht fommen, daß die Schrift
nur auf Befehl des Cyrus von babyloniichen Prieftern aufgejtellt wurde
und daß die Schmeichelei nur von diejen herrührt. Nur eine eingehende
Kenntnis der Keiljchrift, wie die babyloniichen Prieſter fie beſaßen, konnte
eine ſolche Auswahl treffen, ebenjo dürfte auch ein fremdes Ohr die feinen
Klangunterfchiede mit geringerer Beſtimmtheit aufgefaßt haben.
Die perfiiche Keilfchrift erhielt fich bis zur Zerſtörung des perfiichen
Reiches durch Mlerander; nach dem Sturze der Achmeniden ijt fie voll-
ftändig verſchwunden. Man hat fie nur auf Infchriften der perfiichen
Könige gefunden. Man muß deshalb jehr bezweifeln, daß fie Eigentum
des perfilhen Volkes gewejen. Es iſt im Gegenteil wahrjcheinlicher, daß
die perfiichen Könige diefe Schrift teild wegen ihrer genauen Lautbezeich-
nung vorzogen, teild aber auch, weil fie die Form der chaldäiichen Schrift
befaß, den Babyloniern jchmeichelte und den perfiichen Königen den Nim—
bus Iegitimer Nachfolger der alten babyloniihen Herrſcher gab. Aus
ähnlichen politifchen Gründen fehen wir in Ägypten griechiiche Herricher
die alte Hieroglyphenfchrift kultivieren, und ſelbſt die mächtigen römijchen
Cäſaren ließen ihre Namen in Hieroglyphenjchrift den Denfmälern einmeißeln.
Wie China die Kulturfonne war, von der die umberwohnenden Völ-
fer ihre Bildung empfingen, jo wirkte auch Babylonien veredelnd auf die
umberwohnenden Afiyrer, Meder, Berjer, Araber und Juden ein, welche
ihre Kultur von Babylonien herleiten. Noch weit in das Altertum hin“
Die Entjtehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 249
ein war die Weisheit der Chaldäer berühmt, und ein Zeil der babyloni-
ihen Sage, wie die Erihaffung der Welt, der Sündenfall, Kain und
Abel, der babyloniihe Turmbau und die Sündflut, find in die heiligen
Bücher der Juden und dadurch in das Chriftentum übergegangen. Von
der chaldäiſchen Aſtrologie zehrten die europäiihen Völker bis vor noch
nicht allzu ferner Zeit, und fie it die Mutter der Aftronomie geworden,
die und den Himmelsraum erichloß und dadurch den Nebel des Wahn-
glaubens vor unjeren Augen zerftreute, der freie Bildung und gefunden
Fortſchritt hinderte. — Die Nachwelt hat den Babyloniern nicht nur die
Anfangsgründe der phyfifaliihen und aſtronomiſchen Wiſſenſchaften zu
verdanken, jondern auch die Uranfänge der Maß, Münz- und Gewichts—
beitimmung und der Buchſtabenſchrift.
„Die Buchſtabenſchrift“, jagt ein Schriftfteller, „it eine Erfindung
der babylonischen Priefter, und ihre einfachen Keile — die Bezeichnung
der verjchiedenen Laute — bilden den entichiedenften Gegenjaß zu den
Ihwer zu bandhabenden und verwidelten Bilderzeichen der Chineſen und
Ägypter“. Wahrfcheinlich ftammt die phöniziiche Schrift auch von Ba-
bylonien; jedenfalls ift fie nur eine Formenverbefjerung, feine neue Er-
findung. Sie ſchloß den Charakter der Polyphonie (Vieldeutigkeit) aus.
Die Broben dieſer babylonischen Buchſtabenſchrift, welche man bis jeßt
gefunden Hat, kommen meijtens auf Ziegeln oder Thonzylindern vor, Die
hart gebrannt worden waren, nachdem man die Schriftzeichen in den noch
weichen Thon-eingeritt hatte. Solche Täfelchen und Zylinder fand man
in den Ruinen von Babylon. Auch auf altafiyriichen Gemmen (gravierten
Edelfteinen) finden fich ſolche Schriftzeichen.
Die Gedichte der Juden ift troß ihrer breitjpurigen Zeitbücher
(Chroniken) in Dunkel gehüllt, die alten Hauptorte ihres Kultus Tagen
in Samaria. — Im babylonishen Talmud Heißt e8: Nachdem den Is—
raeliten das Gejet in hebräiſcher Schrift und in der heiligen Sprache ge—
geben war, ſoll es ihnen in neuerer Zeit von Eſſra in aſſyriſcher Schrift
und aramäiſcher Sprache gegeben worden jein. Die aramäijche Sprache,
die in Mejopotamien gejprochen mwurbe, ift mit dem Hebräiſchen nahe
verwandt. Die Formen der aramäiſchen Schrift, die neben Keil-Injchrif-
ten auf babylonischen Ziegeljteinen gefunden worden ift, aber außerdem
auch in jelbftändigen Inſchriften, und nicht allein in Babylonien und
Aſſyrien, ſondern auch ſogar in Ägypten vorkommt, zeigen neben vielen,
mit der phönizifchen und famaritanischen Schrift übereinitimmenden For—
men auch viele jeltjamen Eigentümlichkeiten. Man kann annehmen, daß
die aramäiſche und phönizische Schrift Schweiternformen eine® Stammes
find. Dabei müfjen wir ung daran erinnern, daß die Keiljchrift nicht
die urſprüngliche Schrift der Aſſyrer war, ſondern in ähnlicher Weile
250 Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
von der babylonifchen auf die affyriihe Sprache überging, wie die chine-
ſiſche Schrift auf die japanische Sprache.
Für die ältefte Periode der phönizischen Gefchichte, welche auch Die
vorfidonische genannt und gewöhnlich ala bis zum Jahre 1500 v. Chr. ©.
reichend angenommen wird, lafjen fic Feine ficheren hronologiihen Daten
gewinnen. Wenn Grote recht hätte, jo wäre zur Zeit des Homer und
des Heſiod (850—776 v. Chr.) die Buchſtabenſchrift noch unbekannt ge—
wejen. Über jebt haben die von Schliemann in großem Maße vorge-
nommenen Ausgrabungen in den Ruinen der alten Stadt Troja ein mit
Hülfe der Töpferjcheibe hergeftelltes Thongefäß zu Tage gefördert, worauf
ſich eine wahrjcheinlih mit trojaniihem Schreibzeug hHergeftellte Buch—
jtabeninjchrift befinde. Homer fang eine Iliade ungefähr 700 Jahre
nah Trojas Fall. Tiefe Schriftart hätte aber in Troja ſchon lange vor
der Zeit Homers eriftiert. — Die Schlußfolgerung fteht alfo in direktem
Widerſpruch mit der Behauptung des Gejchichtsjchreiberd Grote. —
Außerdem it vor einigen Jahren im früheren Lande Moab eine Inſchrift
des Königs Meja aufgefunden worden, der im 9. Jahrhundert v. Chr.
Krieg gegen die Juden führte. Diefer fogenannte Mefaftein ift eine der
älteiten Buchjtaben-Infchriften, die man bisher gefunden hat. Die phö-
niziſche Schrift jchließt fich in ihrer älteren Form nahe an die moabitiiche
und in ihrer jüngeren an die jamaritanishe an. Dieſes Schriftiyften
war anfangs nur auf das Land Kanaan beihränft; denn weder nördlich,
öftlih noch jüdlich davon finden wir ähnliche Syfteme. Im Norden die
cybriſche Silbenihrift, im Dften die Keilfchrift und im Süden die
ieroglyphenichrift.
Hieroglyphenſchrif (Fortſetzung folgt.)
>
Dom internationalen Sortiment.
Eine Betradhtung von Heinrich Boyfen.
Vohl für jeden jungen Buchhändler, dem es wirklich ernft ift mit
der Erfüllung feines Berufes, der weiter ftrebt, ift e8 ein geheimer, aber
darum nicht weniger ſehnſüchtiger Wunſch „ins Ausland.“ Dieſer dem
ganzen deutjchen Volke in hervorragendem Maße eigene Zug ift aber für
den Buchhändler von befonderer Bedeutung. Wem würde auch nicht durch
die Bücher — vorausgejegt, daß fie ihm mehr find, als bloße Ware —
durch ihren mannigfaltigen Inhalt, durch die oft zauberhaft ſchönen, oft
traurig Öden Länder, die fie ihm vormalen, wem würde da nicht der Wunjch
ind Herz gelegt, fie zu fehen, ihre Sitten und Anſchauungen ihrer Völker
näher kennen zu lernen, tiefer und tiefer in die Strömungen einzudringen,
die unjere Zeit bewegen! Und wahrlich, gerade jet leben wir in einer
Zeit der Gährung, die nicht nur im politifchen und ſozialen Leben ſich
abjpielt, jondern die vor allem auch die Litteratur in neue Bahnen gelenkt
Hat oder lenken will. Gerade vom Auslande ift diefe Ummwälzung zu
uns herübergefommen rejp. hat dort ihre Hauptvertreter und Apoſtel ge-
funden. Es dürfte dem jungen Buchhändler daher wohl nichts näher
liegen, als diefe Strömungen an der Duelle zu ftudieren, d. 5. ins Aus—
land zu wandern. Wohl ift e8 auch in Deutichland möglich, fich mit
alle dem gerade durch die Bücher befannt zu machen, aber es ijt eine
feftftehende Thatſache, daß man die eigene Anſchauung voll überzeugt und
bejonder# auch der Wettbewerb, den man im Auslande beobachten kann,
in hervorragendem Maße anregt. Schon die fremde Sprache an und für
ih, die Schönheiten ihrer Litteratur voll und ganz und ebenjo wie die
heimiſchen verftehen zu können und auf fich einwirken zu laſſen, werden
dem Eifer eines jeden jungen Buchhändlers neue Nahrung zuführen.
Und wenn er dann noch gar in ein Gejchäft internationaler Richtung
eintritt, wenn er fieht, welche Schäte die Weltlitteratur darbietet, da wird
ed wohl jelten einen ftrebfamen jungen Mann geben, der die fich hier
ihm aufthuenden vielen Quellen unbenutzt vorüberfließen laſſen wird,
252 Nom internationalen Sortiment.
Dazu aber find vor Allem vieljeitige Sprachkenntniffe erforderlich
und zwar bejonders eine jehr gründliche der franzöfiihen und eng—
lichen Sprade. Es ift darunter nicht nur jene Kenntnis zu verjtehen,
die man ſich in der Schule angeeignet hat, jondern hier iſt eine gründ-
liche Vertrautheit mit der lebenden Sprache nötig, Die franzöftiche
Korreipondenz nimmt im internationalen Sortiment die erjte Stelle ein.
Hier handelt es fich nicht nur um die landläufigen Berjchreibungen von
Büchern, deren Titel und Verleger man genau angeben fann, jondern
der Korreipondent muß aus der Beitellung ficher erjehen laffen, was man
winjcht, jo daß man auch das Richtige erhält, wenn der genaue Titel unbefannt
ift. Es werden beim Yuchhändler, wie e8 auch in Deutichland Häufig
vorfommt, nicht nur Bücher verlangt. Der Buchhändler muß alles das
bejorgen, was das Publikum glaubt, von ihm erhalten zu können, als
da find: Mufikalien, Lehrmittel, amtliche Veröffentlihungen in bezug auf
Erfindungen, Erlaſſe, Bekanntmachungen, Preisausjchreiben und was der-
gleichen mehr if. Daß hierzu eine umfafjende Kenntnis der betreffenden
Sprache notwendig ift, liegt Mar auf der Hand. Außerdem wird die
franzöſiſche Sprache nit nur in Frankreich gejprochen, jondern in jämt-
lichen romanischen Rändern ſowohl, ala auch in der Türkei und dem tür-
fiichen Afien, in Ägypten jowie den jüdamerifanifchen Staaten gilt die-
jelbe als das herrjchende Idiom. Da Franzöfiich ferner die Sprache
der Diplomatie ift, jo ift eine große Anzahl Menjchen verpflichtet, ſich
mit derjelben zu bejchäftigen, jo daß nach franzöfiicher Litteratur in allen
Ländern Nachfrage ift.
Nicht weniger wichtig ift die englische Sprache, das lehrt jchon ein
Blick auf eine Karte unjerer Erde, denn feine Sprache hat eine ſolche
Verbreitung wie gerade die engliſche; hervorgerufen ift diefe Verbreitung
ja durch die weite Ausdehnung der engliichen Kolonien in allen Teilen
unferes Planeten. Auch find die Vereinigten Staaten von Nordamerika
nicht zu vergefjen, deren ſchönwiſſenſchaftliche Litteratur in ihrer Bedeu—
tung zwar erft im Entftehen begriffen ift, deren Anteil an der wijjen-
Ichaftlichen Litteratur, befonders in bezug auf Naturwiljenichaften, Indu-
jtrie und Technif aber ſchon recht anſehnlich it.
Als die dritte im Bunde gejellt fich Hierzu unjere eigene Mutter—
ſprache und zwar ift fie nicht die geringfte in demjelben. Unjere Jahr:
hunderte alte Litteratur, unfere Vorherrſchaft auf dem Gebiete der Natur-
wifienfchaften, bejonders der Chemie und anderen Gebieten, machen ein
Studium derfelben für viele Ausländer unumgänglich notwendig. Außer⸗
dem iſt diejelbe für den Buchhändler noch um jo wichtiger dadurch,
daß wir deutfche Buchhandlungen rejp. internationale Gejchäfte in deut-
ſchem Beſitz in allen Ländern finden. Diejer letztere Punkt möchte vielen
Vom internationalen Sortiment. 253
eine jo tiefere Kenntnis der fremden Sprachen überflüffig erſcheinen
lafjen; das ift aber ein Irrtum, denn die Anjprüche in ſolchen Gejchäften
find jehr umfafjende. Wir fommen zum Bezug der Bücher.
Wohl giebt e8 auch im internationalen Sortiment noch, oder viel-
mehr jchon, das jo bequeme „über Leipzig“. Aber dies hat hier doc)
nur eine jehr beſchränkte Gültigkeit. Nehmen wir an, ein Petersburger
Sortimenter beftellt etwas aus New-York „über Leipzig”. Im beften
Falle geht der Zettel ein oder zwei Tage nach Eintreffen in Leipzig nad
New-York weiter und dort wird das Buch, vorausgejeht, daß es in
New-York erjchienen oder dort vorrätig ift, in der nächiten Sendung,
aljo Ende der Woche, nach Leipzig abgeihidt. Dort nad) drei Wochen
eingetroffen, wird es dem Petersburger Haufe mit nächiter Eiljendung
zugehen. Angenommen, alles Elappt aufs beite, jo werden doc) vom Tage
der Beftellung bis zum Datum des Eintreffend mindeftens acht Wochen
vergehen, während bei direftem Bezug das Buch in ca. vier bis fünf
Wochen am Platze fein dürfte. Da der Kommiſſionär außerdem bei Bezug
über Leipzig unbedingt mehr Spejen berechnen muß, als bei direkter Zu-
jendung, jo ift der Weg nicht nur nicht viel billiger, jondern auch noch
viel länger. Aber hier handelt es fich nicht jo jehr um Bücher, die man
auch event. über Leipzig beziehen könnte, jondern vielmehr darum, den
Ichnellften und verhältnismäßig billigſten Weg einzujchlagen. Der mathe-
matiſche Grundjag: „Die gerade Linie ijt die kürzeſte Verbindung zweier
Punkte“, hat auch beim Bezug ausländijcher Litteratur eine große Gültig-
keit. Er ift jedoch nicht ohne Ausnahmen. Der direkte Bezug vom Ver—
leger wird in allen den Fällen der billigere fein, wo es fi) um größere
Summen handelt, in welchem Falle aljo entweder Konto-Eröffnung vom
Berleger zu erlangen iſt, oder aber bei Hinzurechnung aller Speſen —
und zwar find die Koften für Einjendung des Betrages, die für Heine
Summen oft unverhältnismäßig groß find, nicht zu überjehen — diefelben
doch geringer und die Schnelligkeit größer jein werden, als bei indireftem
Bezuge durch den Kommijfionär. Trotzdem wird auch hier häufig der
etwas teurere aber dafür ficherere Weg durch befannte Firmen reſp. durch
den betr. Vertreter einzufchlagen fein, und iſt jomit der Gedankenarbeit
des betr. Gehilfen großer Spielraum gelajjen. Der Bezug beutjcher
Bücher wird natürlich, ebenjo wie der anderer Sprachen, ſehr häufig in
regelmäßigen Eilfendungen vorfichgehen können, wenn eben der Abjag
für diejelben jo bedeutend ift, daß ein wöchentlicher oder noch häufigerer
Expreßverkehr lohnend ift.
Was nun das Lager betrifft, ſo läßt ſich hierüber kaum etwas Be—
ſtimmtes in bezug auf Sortierung und Syſtem ſagen. Es richtet ſich dies
vollſtändig nach der Eigenart eines jeden Geſchäftes, nach der Ver—
254 Vom internationalen Sortiment.
breitung der Kenntnis einer fremden Sprache im betr. Rande, daß dies
in jedem Falle anders zujammengejeßt jein wird. Trotzdem werben ein-
zelne Werke, z. B. die Klaſſiker der Hauptkulturjtaaten, wohl überall zu
finden jein. Ein internationale8 Sortiment ohne die Werfe von Goethe,
Schiller oder auch Lejjing und Heine, ohne Voltaire, Roufjeau und and.
in den billigen und doch guten Ausgaben von Firmin-Didot; Dante,
Petrarca, Manzoni u. j. w. in Hoepli's oder Lemonnier’3 Ausgaben,
Don Quichote und Gil Blas aus Garnier’3 Verlag, Shafejpeare, Byron
und Didens in Original» oder Tauchhnig-Ausgaben und was derartige
Werfe mehr find, ein Geſchäft ohne diefe dürfte wohl jchwerlich zu finden
jein. Aber auch die modernen Strömungen der Litteratur werden in
ihren Hauptvertretern meiftens angetroffen und zwar im Überjegungen
jowohl als auch in den Originalen, jo 3. B. Hauptmann, Sudermann,
Wildenbruch, Rider Haggard, Meredith, R. 2. Stevenjon, Daudet, Mau-
paſſant, Zola, Björnſon, Ibſen, Barrili, d’Annunzio, Fernan Caballo,
Perez Galdos u. and. mehr.
Hier ift es vielleicht am Plate denen, die ſich etwas mit der Welt
literatur bejchäftigen wollen, einige Zitteraturgejchichten zu empfehlen.
Einen fehr guten Überblid gewähren die Werke von Scerr') und
Karpeles?), beide mit Jluftrationen reichlich) ausgeftatte. Zum eingehen:
deren Studium der franzöſiſchen Litteratur dürfte das Werk von Engels?) von
gutem Nuten fein, obgleich e8 vorzuziehen ift, Werfe der betr. Sprache,
die gleichzeitig die Kenntniſſe derjelben fürdern, daneben zu benutzen.
Da ift nun das Buch von G. Lanjon*), „bistoire de la litterature fran-
gaise“, in dem bei den neueren Autoren die Hauptwerfe mit dem Jahr
ihres eriten Erjcheinens angegeben find, jehr zu empfehlen. Ein dem
Buchhändler bejonders nübliches Buch, das Ende vorigen Jahres erjchien,
aber leider Schon vergriffen jein foll, ift Gilbert, E., le roman en France
pendant le XIX® sidcle?) ein Seitenjtüd zu Milke's Buch über den deut-
ihen Roman.
Für die engliiche Litteratur find zuerjt das Buch von Engels?),
das ſich, ebenjo wie die franzöſiſche Litteraturgejchichte, durch ein
Hares Urteil und einen guten, unterhaltenden Stil auszeichnet, jedod
an Genauigkeit etwas zu wünjchen übrig läßt, jowie der Grundriß
') Scherr, Ioh., illuftr. Geſch. d. Weltlitt. 9. Aufl. 2 Bde. Stuttg. 18%,
Franck'ſche V. Bh.
2) Karpeles, G., allg. Geſch. d. Litt. 2 Bde. Berlin 18W—9. Grote.
2) Engels, Ed., Geſch. d. franz. Litteratur. 3. Aufl, Leipz. 1891. Eliſcher
*) 3me 6dit. Paris 1895, Hachette.
5, Naris 1895, Plon.
°, Engels, Ed, Geſch. d. engl. Litteratur, 3, Aufl. Leipzig 1891, Eliſcher.
Bom internationalen Sortiment. 955
von Koerting!) zu erwähnen. Im engliicher Sprache dürfte das Buch
von „Shaw, The Student’s English Litterature“?) von Nuten jein, das
freilich die allerneuefte Litteratur nur ungenügend berüdfichtigt. Über
die lebte Zeit giebt es überhaupt kaum etwas, es fei denn der Band
2000°) der Tauchnig-Edition, jowie dad Buch von Oliphant, The Vic-
torian Age of English Litteraturet), ein in elegantem Engliſch gejchrie-
benes® Buch, das jedoch mehr der Unterhaltung als regelredhtem Stu-
dium dient.
Was die übrigen Sprachen anbetrifft, jo wird wohl in den meilten
Fällen die Überficht in einem der Werke über die Weltlitteratur genügen,
für bejonderes Studium wären zu erwähnen: Mestica, Manuale della
letteratura italiana nel secolo XIX; Garcia, historia de la litteratura
espanola del XIX siglo; Brunnetiere, le Roman Russe u. and. m.
Ebenſo wie in Deutſchland bilden fih auch im internationalen Sor-
timent immermehr einzelne Spezialgejchäfte heraus, ein Vorgang, der dadurch,
daß die Bedürfniffe und Anfprüche des Publikums immer größer werden,
notwendig und unvermeidlich it. Wie jchwer wird es jchon für das
einzelne Geichäft, die deutjche Litteratur aller Gebiete in feinen Rahmen
aufzunehmen, wieviel jchwieriger, ja, geradezu unmöglich wird es für
den einzelnen Menjchen, der Weltlitteratur im weiteren Sinne Herr zu
werden. So jehen wir denn die großen Spezialgeichäfte wie Kalvary
& Co. für Philologie, TFriedländer & Sohn für Naturwifjenichaften,
Hirihwald für Medizin, Mittler & Sohn für Militär, Puttlammer &
Mühlbrecht für Jurisprudenz, Wasmuth für Architektur u. and. m. ent-
ftehen, die in ihr Bereich die Litteratur aller Völker ihres jpeziellen Ge-
biete8 ziehen. Wir haben abfichtlih nur Firmen aus einer Stadt ge-
nannt, um zu zeigen, wie weit eine jolche Zeilung ſchon auf einem ver-
hältnismäßig Heinen Gebiete vorjichgegangen ift, für das große Gebiet
der Kulturſtaaten ließe fich die Anzahl ganz ungemein vergrößern.
Was den Vertrieb der Bücher im internationalen Sortiment angeht,
jo ift derjelbe faft durchweg mit dem in jedem größeren Geichäfte Deutſch—
lands übereinjtimmend, jo daß darüber faum etwas Neues zu jagen wäre.
Daß der Offerte ein verhältnismäßig größerer Anteil dabei zuzumeifen ift,
als der Anfichtöverjendung, liegt an dem großen geographiſchen Umfange
des Gebietes, das gewöhnlich in betracht zu ziehen ift.
Es erübrigt nım noch zu erwähnen, daß mit jehr vielen internatio-
1) Koerting, G. Grundr. d. engl, Litt, 2, Aufl, Münfter 1893, Schoeningh.
9) London 18%. Murray.
) Morley, H., Of Engl. Literature in the Reign of Victoria. Leipzig 1881.
Tauchnitz.
*) 2 vols. London 1892. Percival.
256 Vom internationalen Sortiment.
nalen Sortimenten des Auslandes auch noch ein Kommiſſionsgeſchäft für
die Bücher der betr. Spradhe verbunden ift. Da diejes vollftändig auf
dem Buchhandel des betr. Landes beruht, jo wäre dasjelbe bei Beipre
hung der Eigentümlichkeiten des außerdeutichen Buchhandels zu erörtern
und dürfte hier füglich übergangen werden. Daß eine eingehende Schil-
derung des Buchhandels fremder Länder von ungemeinem Interefje für
ung jein würde, fteht wohl außer Frage, würde diejelbe und doch aufer
anderem vielleicht auch in den Stand ſetzen, zu begreifen, weshalb wir jo
hohe Preiſe für die Bücher einzelner Länder bezahlen müſſen.
Wer einmal draußen in der Fremde gemwejen ift und den ganzen
Betrieb und die oft großartigen Verhältniffe aus eigener Auſchauung
fennen gelernt hat, dem wird matürlich manches erflärlih, was daheim
noch unverftändlich erjcheint. Und wenn auch mancher nicht gerade mit
irdischen Schäben aus der Fremde heimfehrt — denn die glänzend be
zahlten Stellen find auch im Ausland nur jpärlich gejäet — Erfahrun-
gen wird er mitbringen, und die repräfentieren in unjeren heutigen Tagen
doch auch ein Kapital!
5
Das Bud) und feine Geſchichte bis zur Erfindung
der Buchoͤruckerkunſt.
1. Das antike Buhwmelen.
Das geiftige Leben des Haffiichen Altertums Tonzentrierte ſich in
drei Städten, in Athen, in Mlerandrien und in Rom. Gerade über den
Bücherhandel in Athen bejigen wir nur fpärliche Nachrichten. Den Be-
ginn einer eigentlichen Literatur kann man ohnedem erft von dem Beit-
punft an datieren, da die Griechen ihr Papier aus Ägypten erhielten.
Wohl zeitigte der griechische Geiſt in der Periode zwiſchen den Berfer-
kriegen und dem peloponnefifchen Kriege feine ſchönſten Früchte, allein zum
litterariichen Mittelpunfte Griechenlands wurde Athen erft fpäter durch
jeine großen Dichter und Schriftfteller, und jo jehen wir dag erfte Auf-
treten von Bücherhändlern dort in den Beginn des 5. Jahrhunderts fallen.
Da blühte denn auch ſchon eine volfstümliche Litteratur und die Bücher—
händler, die zugleich auch die Abjchreiber waren, aljo Sortimenter und
Verleger zugleich, hatten viel Arbeit. Hier wie in Rom und in Aleran-
drien bildete das Hauptmaterial für die Bücher der Papyrus, und es ift
eine immerhin bemerkenswerte Erſcheinung, daß gerade die Griechen, deren
Litteratur auch heute noch mächtig genug auf unfer ganzes geiftiges Leben
wirkt, das Material zu deren Verbreitung von einem fremden Stamme
entlehnen mußten. Hatte man vorher, wie ja die noch heute erhaltenen
Dokumente allüberall am bdeutlichiten zeigen, auf Stein, manchmal auch
auf Holz geichrieben, das man freilich dann aud) gelegentlich bis zur
Dünne des Papiers brachte, jo hatte man darin doch feine Garantie für
die Erhaltung jolcher litterariſcher Erzeugnifje, die von allerhand natür-
lichen Einflüflen in ihrer Eriftenz abhängig gemacht wurden. Bezog
man die Holztafeln mit weißer Farbe und firierte darauf die Schrift mit
dem Farbitift oder dem Pinfel, oder hatte man für den täglichen Ge-
brauch Tafeln, die, mit Wachs überzogen, fich mit Hilfe eines eifernen
Griffels leicht beichreiben ließen, wobei einem dann noch Korrekturen und
17
58 Das Ruh und feine Gefchichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
Abänderungen frei ftanden, jo hatte man doch noch fein Material gefun-
den, deſſen unzerjtörbaren Fortbeitand man hätte mit Sicherheit annehmen
dürfen, das alfo die Dienfte unjeres Papieres geleiftet hätte. Auch nicht
das Palmblatt, das damals jchon, wie noch heute, in einigen Gegenden
Aliens als Schreibmaterial benußt wurde, zeigte bemerfenswerte Vorteile.
Man jchneidet, um aus der Palme joldhes Schreibmaterial zu gewinnen,
aus ihren Blättern die geeignetften Stüde heraus, und diefelben werden
dann, nachdem fie getrodnet und mit DI eingerieben find, als Schreib-
material benußt. „Das Blatt“, leſen wir im Buch der Erfindungen, „er
innert nicht im geringften an Papier, ſondern ftellt eine glatte graugrüne
Schindel dar. Meiftens ift die Schrift nur mit einem ſcharfen Inſtru—
mente eingerigt, trotdem aber ganz gut lesbar, da das bloßgelegte Innere
durch den veränderten Saft einen dumkleren Ton hat, als die Oberhaut.
Sonft wird aud, um die Schrift mehr hervortreten zu lafjen, eine
Schwärze in die vertieften Züge eingerieben, und wieder andere Manu—
jfripte find mit einer harten, glänzenden Schwärze zierlih mit dem
Pinjel gemalt und jo aufgejegt, daß die Buchſtaben fich auffallend über
die Fläche erheben. Die Blätter werden mit Schnüren zufammengeheftet
und erhalten Dedel aus Holz oder koſtbaren Stoffen, zuweilen reich
gefhnigt und mit Gold und Edelfteinen reich verziert. Überhaupt muß
man jolche Werke der Schreib- und Verzierungskunft, die in europätjchen
Bibliothefen und Mufeen nicht ganz jelten find, gejehen haben, um an
die Möglichkeit jo feiner und zierlicher Schriftzüge zu glauben. Es giebt
jolde Werke, die viele hundert Jahre alt find. Wuch für den Privat-
verfehr dient auf Ceylon noch das Palmblatt, und zwar das Blatt der
Taliputpalme. Und jelbft die englische Regierung bedient fich diejes
Screibmaterials: fie läßt die Verordnungen darauf ſetzen, die fie für die
Eingeborenen gibt und läßt auch dergleichen Briefe auf ihren Boftämtern
annehmen. Die Benugung des Palmblattes bejchränkte fih in alten
Zeiten nicht bloß auf Indien, jondern wurde auch von den weftafiatijchen
Völkern und Ägypten geübt.“
Sreilich genügte dann aber ein ſolches Material nicht, wo es galt,
ein umfangreicheres Schriftftüd in möglichft vielen Eremplaren zu publi-
zieren. Es läßt fich über die an dieſes Bedürfnis fich knüpfende
Benugung von Tierhäuten al3 Schreibmaterial, wie wir fie nun im
Pergament kennen lernen, betreffs ihres erjtmaligen Auftretens nichts
Näheres berichten. Es ift hier nicht der Ort, auf den gelehrten Streit,
welche Stellung das Pergament und fein Konkurrenzartitel, der Papyrus,
gegen einander einnehmen, näher einzugehen. Th. Birt in feinem Buche:
„Das antife Buchweſen in feinem Verhältnis zur Litteratur“ glaubt mit
Sicherheit annehmen zu dürfen: „daß die Einführung des Bergamentes
Das Bud und jeine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt. 259
in das griechische Schriftweien fpeziell Bergamum verdankt wurde, und
daß jeine Fabrikation und fein Export gerade bejonders diefer Stadt
angehörte, jowie den Nilmündungen Fabrikation und Erport der Charta”,
Jedenfalls aber ſtand in der Häufigkeit der Benutzung weit über dem
Pergament, das wohl nur zu jehr umfangreichen Werken verwendet
wurde, das Bapier, d. h. das aus der Bapyrusftaude gewonnene Schreib-
material. Intereffant mag es fein, den Bericht des römiſchen Natur-
forſchers Plinius über dieſe Pflanze und die Art ihrer Verarbeitung zum
Bapier zu hören: „Ehe wir Agypten verlaffen”, jchreibt diejer, „müſſen
wir von der Papierjtaude reden, weil hauptſächlich der Gebrauch des
Papiers ung die Mittel an die Hand gibt, Kenntniffe zu erwerben und
der Bergefjenheit zu entziehen. Das Bapier fol, wie M. Warro berichtet,
durch den Sieg Aleranders des Großen, al er Alerandrien in Ägypten
erbaute, erfunden fein; vorher hatte man es nicht gefannt, jondern erſt
auf Palmblätter, jpäter auf das Baft gewifjer Bäume gejchrieben; hier-
auf die Öffentlichen Urkunden auf Heinere Rollen, dann die Privatnach—
rihten auf Leinwand oder auf Wachs getragen; daß aber jchon vor dem
trojanijchen Kriege die Schreibtafeln in Gebrauch geweſen find, finden
wir bei Homer angeführt. Nach Varro eriftierte aber damals noch nicht
all das Land, das wir jet Ägypten nennen (er jagt nämlich, die Pa-
pierftaude wächſt nur im jebennytiichen Diſtrikt Sais), fondern wurde
jpäter erft durch den Nil angeſchwemmt; denn feiner Angabe nad) mußte
man von der Inſel Pharus aus, welche jebt durch eine Brüde mit
Aerandrien verbunden ift, einen Tag und eine Nacht lang gehen, um
ans feite Land zu kommen. &benderjelbe erzählt, daß bald darauf, als
die Könige Ptolemäus und Eumenes wegen ihrer Bücherfammlungen eifer-
jühtig auf einander wurden und Btolemäus das Papier zurücdhielt, die
Schreibhäute zu PBergamum erfunden jeien. Nachher aber konnte fi
jeder ohne Unterjchied eines Gegenjtandes bedienen, der die Menjchheit
unfterblich gemacht Hat. .
Die Papierftaude wählt in Agypten an jumpfigen Orten oder in
ftillftehenden Nilwaſſer, welches nach jeinem Austreten Teiche bildet, in
denen das Wafjer nicht über zwei Kubitus tief iſt. Die Wurzel wächſt
ſchräg, ift armdid, dreiedig und treibt einen dünnen, höchſtens drei Ku—
bitus Hohen Schaft, deſſen Spite aber einen Strauß bildet, der weder
Samen trägt, noch irgend einen andern Nuten gewährt, al3 daß man die
Götter damit befränzt. Die Wurzel gebrauchen die Bewohner als Holz
und nicht bloß zum Brennen, jondern auch zur Verfertigung nüßlicher
Geſchirre.
Man bereitet nun daraus das Papier, indem man die Pflanze mit
Hilfe eines ſpitzen Inſtruments in äußerſt dünne und möglichſt breite
17*
2650 Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
Häute zerteilt. Das beſte fommt aus der Mitte und von da ab nad)
Ordnung der Spaltung. Ehemals Hieß dasjenige, welches bloß zu reli-
giöfen Schriften beftimmt war, das heilige, jett benennt man es aus
Schmeichelet gegen den Kaiſer Auguftus mit jeinem Namen, ſowie die
zweite Sorte nad} feiner Gemahlin Livia. Daher Hat jet das heilige
den Dritten Rang befommen. Die nächite Sorte, von dem Orte feiner
BVerfertigung das amphitheatraliiche genannt, wurde in der finnreichen
Werkitätte des Yannius zu Rom durch bejondere Handgriffe dünner ge-
macht, dadurch eine der beiten Sorten und mit dem Namen dieſes Mannes
bezeichnet. Was dieje Umarbeitung nicht erlitten hatte, behielt jenen alten
Namen amphitheatraliiches. Hierauf folgt das jaitiiche, jo genannt von
der Stadt, wo es in größter Menge und zwar von den jchlechtejten
Schnittjeln bereitet wurde. Noch näher der Rinde ift das leneoliſche,
welches den Namen von einem benachbarten Ort hat, und das jchon nad)
dem Gewichte, nicht nach der Qualität verfauft wurde. Das Badpapier
taugt nicht zum Schreiben und wird bloß zu Umjchlägen für anderes
Papier, jowie zum Einwideln der Ware gebraucht, daher hat es auch den
Bunamen von den Kaufleuten befommen. Nach diefen kommt das Pa—
pier von der äußerſten Rindenjubftanz, welches Binſen ähnlich ift, und
nur zu Striden taugt, die der Feuchtigkeit ausgeſetzt find.
Alles Papier wird auf einer Tafel mittel Nilwaſſer bereitet; das
trübe Wafjer vertritt dabei die Stelle des Leims. Zuerſt Flebt man ein
abgelöftes möglichſt langes Blatt, an welchem zu beiden Seiten die
Schnittjel entfernt find, auf die Tafel, legt dann eine Lage der Quere
nad) auf, preßt hierauf das Ganze und verbindet fie unter einander, in-
dem man bei den beiten anfängt, und bei dem jchlechteften aufhört. Nie-
mals find mehr als 20 Bogen in einer jolchen Rolle.
Die Breite des Papieres ift jehr verichieden; das befte ift 13, das
heilige 11, das ſommianiſche 10, das amphitheatralifche 4 Finger breit,
das jaitische noch ſchmäler, Hält auch die Hammerjchläge nicht aus, und
das Padpapier mißt nicht über 6 Zoll. Außerdem berüdjichtigt man
bei dem Papier die Dünne, Teftigkeit, Weiße und Glätte. Die erite
Sorte, die auguftiiche, hat der Kaijer Claudius verändern laſſen, denn es
war zu dünn, um dem Drude der Feder zu widerjtehen. Zudem jchlug
e3 duch, jo daß man befürchten mußte, auf der anderen Seite etwas
ausgeitrichen zu jehen, und ſah auch, weil es ſehr durchicheinend war,
nicht Schön aus. Man gab ihr daher eine Unterlage von der zweiten
Haut und machte aus der erften Haut Gewebe. Auch feine Größe hat
man vermehrt. Das Regalpapier war einen Fuß breit und einen Ku—
bitus lang, allein man jah den Nachteil davon ein, weil man durch Ab-
reißeng eines Blättchens viele Bogen befchädigte. Daher zog man das clan-
Das Bud und feine Geſchichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 261
diſche Bapier allen anderen vor, bei Briefen hielt man noch das auguſtiſche
in Ehren; das livianiſche hat fein Anſehen als zweite Sorte behalten.
Das rauhe Papier wird mit einem Zahne oder einer Mujchel ge-
plättet, aber die Schrift hält fich nicht lange darauf. Geplättetes Papier
zieht weniger an und glänzt mehr. Die Näfje, welche ihm zuerjt aus
Radläffigkeit gegeben wurde, wirft nachteilig darauf ein, und dies zeigt
fi) beim Draufichlagen mit dem Hammer oder auch durch den Gerud),
wenn noch weniger Sorgfalt dabei verwandt if. Das fledige erfennt
man am Anjehen, die Streifen aber an den Stellen, wo es zum mmen-
geleimt ift, und wenn es gleich einem Schwamme Feuchtigkeit einjaugt,
jo fließt die Schrift aus. Soviel Betrug findet dabei ftat. Man hat
nun die Arbeit es zu verleimen von neuem.
Der gemeine Leim wird aus dem feinften Mehle mit fiedendem
Waſſer und etwas wenigem Eſſig bereitet, denn der Tijchlerleim und das
Gummi find zu zerbrechlich. Noch beſſer thut man, wenn man fich des
durchgejeiheten Waſſers von gejäuertem Brote bedient, denn auf dieſe
Weiſe fommt am wenigften Unreinigfeit darunter; auch ift dies befjer als
Leinſamenſchleim. Aller Leim darf nicht älter und nicht frijcher als einen
Tag jein. Hierauf wird das Papier mit dem Hammer dünn gejchlagen,
nohmal3 durch den Leim gezogen, wenn es fich gerunzelt hat, geebnet
und wiederum gejchlagen. Durch dieſe Bearbeitung haben fic die Schriften
von der Hand der Grachen Tiberius und Cajus, welche ich bei Pom—
ponius Secundus, einem hochberühmten Dichter und Bürger gejehen habe,
jo lange gehalten.
Auch die Bapierftaude mißrät zuweilen, und man jah fich ſchon unter
der Regierung des Tiberius aus Mangel an Papier veranlaßt, von
Seite des Senates Schiedsrichter zur Verteilung desjelben zu ernennen,
jonft wäre das ganze Leben in Verwirrung geraten.“
Wenn uns jo der römijche Naturforicher einen ausführlichen Bericht
über die Herftellung des Papieres giebt, jo läßt fich daraus ſchließen,
wie fi) allmählich defien Gebrauch ausdehnte, und wie zu feiner Zeit
der Buchhandel ein ſchon ziemlich entwidelter war.
Freilich blieb daneben das Pergament, defjen Bogen man falzte und
wie etwa unſere Bücher in Eleinerem oder größerem ‘yormate heftete,
immer noch im Gebrauch, obgleich ihm die damit verfnüpften weit höheren
Koſten Feine jolche Ausdehnung gaben, wie dem Papier. Die bei ein-
zelnen Schriftftellern erwähnten Bücher auf Leder, Leinwand oder gar
Seide, find wohl nur als Ausnahme anzufehen.
Derjelbe Plinius berichtet und ſodann auch über die Tinte, die man
im Altertum gebrauchte: „Den beiten Kienruß liefert die Fichte Taeda.
Man verfälicht ihn mit dem Ruße aus Ofen und Badftuben, deſſen man
262 Das Buch und feine Gefchichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
fich zum Bücherjchreiben bedient“, und berichtet des ferneren, daß Schreib-
tinte, die man mit einem Aufguß von Abjynthium verjege, die Mäuje ab-
halte. Einen immerhin intereffanten Beitrag dagegen liefert Winkelmann
in feinem „Sendjchreiben von den herkulaniſchen Entdeckungen“, wo er
berichtet: „Die Tinte der Alten war nicht jo flüjfig, wie die unjerige
und war nicht mit Bitriol gemengt. Diejes kann erſtlich aus der Farbe
der Buchftaben geurteilt werden, welche ſchwärzer noch als die gleichjam
in Liften verwandelten Schriften find, wodurd das Leſen derjelben jehr
erleichtert wird. Denn wenn es vitriolifche Tinte wäre, würde diejelbe
die Farbe zu viel im Feuer verändert haben und gelb geworden jein,
wie es die Tinte in allen alten Handichriften auf Pergament if. Daß
die Tinte der herkulaniſchen Schriften nicht flüffig geweſen, zeigt die Er-
habenheit der Buchftaben, welche fich entdedet, wenn man ein Blatt hori-
zontal gehalten, im Licht befiehet; es find dieſelben alle vom Papier
erhaben, folglich war diefelbe mehr der chineſiſchen Tinte ähnlich und
eine Art von Farbe.” Und ebenjo weiß uns derſelbe Forſcher auch noch
von dem Schreibinftrument der Alten bemerkenswerte Detaild zu geben:
„Das Werkzeug zum Schreiben war eine jogenannte Feder von Holz oder
Rohr, wie unfere Schreibfedern gejchnitten, und zwar mit einem etwas
langen und nicht ausgehöhlten Schnabel. Eine ſolche Feder aus Bux—
baum, wie es jcheinet, hat fich erhalten, aber ijt verfteinert, umd eine
andere fiehet man auf einem Gemälde, an ein Tintenfaß gelehnt, dieje
Icheinet aus den Gliedern, an derjelben gezeichnet, von Rohr zu jein. Eine
andere Feder hält eine weibliche Figur von gebrannter Erde in der Hand,
und bier und auf einem gefchnittenen Steine des Poſchiſchen Muſeums
fiehet man, daß die Alten die Feder ebenjo wie wir gefaflet haben. Der
Schnabel muß ſehr fpigig geweſen jein, denn die Buchſtaben find fein
gezogen; da aber die Feder ohne Spalte war, konnte man den Bud
ftaben nicht jo viel Licht und Schatten geben, als mit unferen Federn
geichehen kann; es unterjcheiden fich die Züge ſehr wenig mit Stärke
oder Dice.“
Sind wir nun mit Hilfe unjerer alten und neuen Autoren jo genau
über Bapier und Schreibmaterial unterrichtet, jo mag fich jederman zu-
nächſt die Frage ftellen, wie diefe Gegenftände nun zur Herftellung des
Buches benutzt wurden. Gewöhnlich wurde das Papier in 4—6 Zoll
breite Kolummen abgetheilt und zwiſchen denſelben wahrjcheinlich mit roter
Farbe Linien gezogen, welche dem Schreiber den für die Buchſtaben ge-
währten Raum anwieſen. Man beichrieb gemeiniglic” das Papier nur
auf der einen Seite und färbte die andere Seite mit cedrus oder Sa—
franfarbe zum Schute gegen Mäufe und Ratten. War das Bud
zu Ende gefchrieben, beſchreibt Beder, jo wurde dann erjt vermuthlich am
Das Bud und feine Geſchichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 268
legten Blatte oder Streifen der Stab oder die Röhre befeftigt, um welche
es gewidelt werden ſollte. Dieje Röhren, welche an den Herculanifchen
Rollen fichtbar find, ftanden auf feiner Seite über die Rollen hinaus,
fondern ihre Enden lagen in der Fläche der Eylinderbafis. Es wurde
ferner dur) das Rohr ein Stäbchen geftedt, das gleichſam dem Eylinder
zur Achſe diente, und an beiden etwas über die Fläche hinausftehenden
Enden derjelben wurden elfenbeinerne, goldene oder gemalte Knöpfe be-
feftigt. Vorher aber wurde die Bafis der Rolle oben und unten jorg-
fältig bejchnitten, mit Bimftein geglättet und ſchwarz gefärbt. Um bie
Rolle ficherer vor Beihädigung zu bewahren, wurde fie dann in ein Per—
gament gewidelt, das äußerlich mit Purpur oder auch mit Gelb gefärbt
war. Endlich Fam noch der Titel hinzu, der auf einen ſchmalen Streifen
Papyrus oder Pergament mit Hochroter Farbe gejchrieben war. Sollte
dann freilich eine ſolche Rolle, die manchmal auch noch auf der erjten
Seite das Bildnis ihres Verfafjers zeigte, auch bequem und handlich fein,
jo durfte fie feinen übermäßigen Umfang haben. Anfänglich, ehe fich
der Buchhandel weiter entwidelt hatte, ſetzte man auch Rollen von ganz
bedeutendem Umfang an. Unter den ägyptiichen Papyrusrollen findet
man ſolche von 21, ja jogar von 42 Meter Länge. Lebtere würden die
ganze Odyſſee aufnehmen können, und in der That Hat man auch in
Griechenland Rollen bejefjen, welche den ganzen Homer, den ganzen Thu-
fydides enthielten. Auch aus der römiſchen Litteratur werden Bücher
von bedeutendem Umfang erwähnt. Allein Rollen von jo großem Um—
fang waren in mehr als einer Hinficht unpraktiih. Da man beim Leſen
die Rolle in Händen hielt und abwidelte, jo war ein großes Volumen
zum Halten jehr unbequem; nicht minder war das Zurüdrollen gelejener
Rollen, das Auffuchen einer einzelnen Stelle u. dgl. jehr mühſelig. So
erflärt fich der bekannte Ausspruch des Callimachos „Ein großes Bud)
ift eine große Laſt“. Ihm und feinen Kollegen von der alerandrinijchen
Bihliothet verdankt man höchſt wahricheinlich die Neuerung, die Buch—
rollen auf einen mäßigen Umfang zu bejchränfen; jei es nun, daß fich
der Schriftjteller die fertige Rolle vom Bapierfabrifanten Faufte, jei es,
daß er fich diefelbe nach feinem Bedarf jelbit aus den einzelnen unver-
bundenen Blättern zufammenfegte, er konnte in jedem Falle über ein
Marimum aljo nicht hinausgehen. Was dieſes Marimum anlangt, jo
galt ein folches nicht unterfchiebslos für alle Litteraturgattungen; viel-
mehr waren für die einzelnen Gattungen verjchiedene Buchmaxima oder
Formate üblih. Man wählte nämlich für leichtere Lektüre, wie Poefien,
Romane, Briefe u. ſ. w. kleinere Rollen, welche bequem zu handhaben
waren; für Proſaſchriften Hiftorischen oder ſonſt wiſſenſchaftlichen Inhalts
nahm man umfangreichere Volumina. Man berechnete nun den Umfang
264 Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruderkunft.
eines Buches in der Regel nicht wie bei und nach Seiten, obgleich auch
dies zuweilen vorfam, jondern nad Zeilen, und zwar nicht bloß bei poe—
tiihen Werfen, wo eine ſolche Zählung fi von jelbjt ergab, jondern
auch in Proſaſchriften. Da nun jedes Blatt die gleiche Anzahl Zeilen
hatte, jo waren die Uutoren leicht imftande, den Umfang ihrer Werfe
genau zu konſtatieren, und verjchiedene Schriftfteller haben aud) am Schluß
eines Buches ausdrüdlich die Zeilenzahl notiert; auch die Bibliothefare
trugen dieje auf den Endjeiten der Rollen ftehenden Ziffern in ihre Ka—
taloge ein. Indeſſen jcheinen nicht diefe Vorteile gerade die Veranlafjung
zu der jogenannten ftihometriichen Zählung gewejen zu fein, vielmehr ift
diejelbe offenbar aus den rein praftiichen Tendenzen der Buchhändler und
Abjchreiber hervorgegangen. Der Buchhändler beitimmte nad diefen
ſtichometriſchen Vermerken den Ladenpreis der Eremplare, und der Ab-
Ihreiber wurde nach der Beilenzahl honoriert. Im Edikt des Diofletian
werden für 100 Zeilen gewöhnlicher Schrift 40 Denare als Lohn an-
gegeben (ungefähr 90 Pfennige); das galt aber natürlid nur für einen
freien Arbeiter und abjchreibende Sklaven erhielten jelbftverftändlich gar
feine Bezahlung. Auch für die Länge der Zeile gibt ed, ungeachtet daß
auch größere oder Fleinere Formate vorlommen fonnten, eine bejtimmte
Norm; es ift dies der daktyliiche Herameter, welchen man auch für die
Proja als Normalzeilenmaß beibehielt und auf ungefähr 35 Buchſtaben
oder 16 Silben berechnete. Von dieſen Vorausfegungen aus hat ſich die
ungefähre Marimalgröße des antifen Buches ermitteln laſſen. BDiejelbe
beträgt, die ältere Litteratur ausgenommen, beim Poeſiebuche ungefähr
1000 Beilen, beim Proſabuche jcheinen 1500—2000 Zeilen Durchſchnitts⸗
größe gerechnet zu jein; es famen aber viel bedeutendere Werke bis über
4000 Zeilen vor.” (Baumeifter, Denkmäler des klaſſiſchen Altertums,
Bd. 1.)
Wenn uns nun unjer Berichterftatter bis jeßt nur über das gejchrie-
bene Buch bei den Alten erzählt, fo darf fich daneben wohl auch die
Frage erheben, ob nicht auch ſchon im klaſſiſchen Altertum die Spuren
einer Kunft, die mit unjerem Buchdruck Verwandtichaft oder Ahnlichkeit
hatte, zu finden jeien. Und in der That war jchon im frühen Altertum
die Tyertigfeit, Schriften oder jonftige Zeichen in Holz zu jchneiden und
auf die Weije mit einer Farbe oder in irgend eine weiche Mafje abzu-
druden, nicht unbelannt. Man kannte aber jchon damals die beweglichen
Buchſtaben, man benußte ſolche, aus Elfenbein gejchnikt, jelbit bei den
Königen als eine Art von Lejemafchine, und noch der heilige Hieronymus
führt Diefelben an. Daß man freilich) dann die Anfänge einer jolchen
Kunft nicht weiter verfolgte und fie ausbildend am Ende zum Buchdrud
gelangte, ift auffallend, und zwar um jo mehr, al3 wir da und dort bei
Das Bud und feine Geſchichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 265
einem jener Autoren wohl dem Gedanken hieran begegnen; allein nirgends
die Spur eines Verſuches, jolchen auch praftiich auszuführen. Dagegen
finden wir öfters jchon eine Art von Budilluftration erwähnt, und Bli-
nius weiß in jeiner Botanik von einem jener Autoren zu berichten, die
ihre Bücher mit Abbildungen verjehen haben. Freilich urteilt er hier
nicht jehr günftig über diefe Methode: „Zeils jei die Malerei trügerijch,
teils verlaffe bei jo zahlreichen Farben, bejonders in Bezug auf Nad)-
ahmung der Natur, den Kopierenden nicht jelten das Glück“. Weit
günftiger fpricht er fich über die Methode des M. Varro aus: „Daß es
vormals enthufiaftiiche Verehrer in Bildern gegeben, beweijen Attikus,
jener treue Freund des Cicero, der darüber ein Buch jchrieb, und M.
Berro, welcher die nette Einrichtung traf, feinen zahlreichen Schriften nicht
nur die Namen von 700 berühmten Berjonen, fondern auch ihre Bild—
niffe einzuverleiben, und dadurch verhinderte, daß ihre Geftalten verloren
gingen, oder der Zahn der Beit feine Wirkung auf die Menjchen aus-
übte. Varro hinterließ und dadurch ein jelbft von den Göttern zu be-
neidendes Geſchenk, denn er machte jene Perjonen nicht bloß unsterblich,
fondern gab auch die Möglichkeit an die Hand, fie in alle Länder zu
verjenden, damit fie überall gegenwärtig ſeien und auch verjchlofjen wer-
den könnten.“
Wir haben das Buch und feine Herftellung bis hinaus auf jeine
fünftlerijche Ausftattung bei den Alten verfolgt, um ung nun mit den
Leuten zu befaflen, in deren Händen die Herftellung und Verbreitung
desjelben lag, das heißt mit den Buchhänblern Roms und Griechenlands.
Sehen wir uns zuerft in Athen und in Griechenland um, jo finden wir
bier, wie jchon oben furz erwähnt, nur wenige Nachrichten und jpärliche
Anhaltspunkte. TFreilih wäre es bei einem Volke wie die Griechen,
denen Kunſt und Wiljenfchaft wie felten einem anderen als eine der wich—
tigiten Lebensfragen erjchienen, geradezu auffallend, wenn fie ſich weniger
ald die Römer um bie Verbreitung der Schriften ihrer Autoren gefüm-
mert hätten. Sehen wir als den Ausgangspunkt alles geiftigen Lebens
in Griechenland die erhabene Geftalt des Homer, mit deſſen Weiterleben
in jeinen Gefängen durch allerhand Abjchriften ſich namentlich Pififtratos
ein nicht genug zu ſchätzendes Verdienft erworben, jo erbliden wir neben
ihm als feinen Jünger in der Förderung des geiftigen Lebens Plato, und
erfahren aus den Berichten feiner Zeitgenofjen und Schüler, mit welchem
Fleiß und welch peinlicher Sorgfalt fich diefer der Ausarbeitung feiner
Schriften widmete. Er jelbft dachte freilich von dem Beruf des Schrift-
fteller8 und des Buchhändlers nicht allzu Hoch, und die Ießteren ſelbſt
ſcheinen in Griechenland erft dann eigentlich zu einer richtigen Bedeutung
gelangt zu jein, als die Schriftfteller felbft in ihren Schriften eine
266 Das Buch und feine Gefchichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
Duelle auch bes materiellen Gewinnes entdedt zu haben glaubten. So
finden wir denn aud von dem Auftreten der Sophiften an, die eine
populäre Richtung in der Litteratur anbahnten, eine weit häufigere Er-
wähnung von Büchern und Bibliotheken. Beiſpielsweiſe jcheinen fich die
Schriften des Protagoras aus Abdera einer ziemlich ftarfen Berbreitung
erfreut zu haben, und Athenäos berichtet von bedeutenden Bücherfamm-
lungen, welde der Archont Euffeide® und der Dichter Euripides ange-
legt hatten. Natürlich waren es vor allem wieder die Hajfiichen Schrift-
fteller und unter ihnen al3 der erjte wiederum Homer, die in feinem
griehiihen Haufe fehlen durften, und daneben her liefen auch, wie heut-
zutage, Bücher, die allen möglichen praftiichen Lebenszweden dienten.
Wir erfahren von Kochbüchern, Anftandsbüchern, Anekdotenfammlungen,
Rezeptbüchern u. a. m. und wenn wir uns, an biejes ftarfe litterarijche
Bebürfnis bei den Griechen uns Haltend, zu der frage wenden, von wen
und auf welche Weiſe diefe Bücher verbreitet wurden, jo erbliden wir in
dem antiken griechiſchen Buchhändler einen Mann, der aus dem Geſchäft
des Abjchreibens ein einträgliches Gewerbe machte, und dadurch, daß er
oft eine ganze Anzahl von Schreibern beichäftigte, die alle zugleich einem
Vorleſer nachichrieben, auch ziemlich hohe Auflagen in verhältnismäßig
kurzer Zeit berzuftellen imftande war. Für eine ſolche Herjtellungs-
weile liefern uns die griechiſchen Autoren ziemlich viele Anhaltspunfte.
So reifte Hermodoros, ein Schüler Platos, nad) Sizilien, um dort bie
neuen Schriften feines Lehrers zu verkaufen, und daß mit Büchern auch
ein bedeutender Erporthandel getrieben wurde, willen wir von Xenophon,
der in Salmydefjus an der rumeliſchen Küfte unter den Kaufmannsgütern
neben allerhand Hausgerätjchaften auch Bücher erblidte. Und bei Arifto-
phanes lejen wir jchon von dem „Büchermarkt” in Athen, wenn es in
den „Vögeln“ Heißt: „Fürs erſte flattern alle in der Früh nad) dem
Aufftehen, wie wir, zur Atzung; dann fallen fie insgejamt in den Bücher⸗
markt ein und warten dort die Volksbeſchlüſſe ab“. Mit den öffentlichen
Staatsſchriften, ſagt GL, dem wir im wejentlichen in diejer Darftellung
folgen, wurbe überhaupt ein lebhafter Handel getrieben, und es gab
fliegende Buchhändler, die dergleichen in der Stadt Eolportierten und aus»
riefen, wie der Händler mit Voltsbeihlüffen in demjelben Luſtſpiel, der
fih mit den Worten einführt: „Ich bin Gejegeshändler und gekommen,
um Euch neue Gejege zu verkaufen”, daneben zogen auch Bettelprieiter
und Wahrfager herum, welche Traktätchen voll magijcher Spruch- und
Gebetformeln vertrödelten, wie Euripibes jagt: „vieler Bücher blauer
Dunft“. Für die Zeit Alexander möge Hier noch folgende Anekdote
aus Zenong Leben von Diogenes und Laertes ftehen: „AS er, ſchon 30
Jahre alt, nad) Athen gekommen war, jaß er einft bei einem Buchhändler.
Das Bud und feine Geſchichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 267
Diefer las gerade das zweite Buch von Xenophons Memoiren des
Sokrates vor, und erfreut fragte Zenon, wo ſolche Männer zu finden
wären. Da num in diefem Augenblide Sokrates vorüberging, zeigte ihm
der Buchhändler denjelben mit den Worten: Diejfem jchließe dich an.“
Zugleih kann man hieraus abnehmen, daß die Buchhändler noch dadurch
Käufer anzuloden juchten, daß fie in ihren Lokalen, die jedenfalls wie
die Werkftätten anderer Handwerker, müßigen Leuten aller Klaſſen zur
Zuſammenkunft dienten, Stüde aus ihren vorrätigen Werfen vorlafen.
Leider lajjen uns die griechiichen Autoren betreffS des gewöhnlichen
Breifes des Buches mit einer Auskunft ganz im Stiche. Derjelbe richtete
fi wohl hauptjächlich nach) dem Einkaufspreis des Papiers, allein wenn
wir hierüber auch bei Demofthenes die Notiz finden, daß ein Stüdchen
Papier zu einer Schuldverfchreibung um 3 Pfennige gelauft wurde, jo
find wir doc im ganzen nur auf Vermutungen angewiefen. Was wir
von Bücherpreifen bei Autoren finden, das bezieht fi) zumeiſt auf jeltene
oder umedierte Autographen und ijt deshalb ungeheuer hoch. So ließ
Blato, erzählt wiederum Göl, durch Tion von Syrafus die Bücher des
Pythagoräers Philolaos um 2500 Thaler kaufen; allein Philolaos war
derjelbe, der etwas von der pythagoräifhen Dogmatik veröffentlichte und
der Berfauf war noch nebenbei an gewiſſe Bedingungen geknüpft. Für
die 34075 Zeilen des Platonikers Speufippus zahlte Ariſtoteles nad)
defien Tode 4715 Thaler. Die von Athen entlehnten, aber nicht wieder-
gegebenen Urjchriften der drei großen Tragifer erſetzte Ptolemäos Euer-
getes durch einen Schuldnachlaß von 23500 Thaler. Aus ſolchen Preijen
einen Schluß auf den gangbaren Wert der Bücher in Griechenland zu machen,
wäre ebenjo, al3 wollte man fichere Bücherpreije für die römijche Zeit
daraus entnehmen, daß dem Naturforjcher Plinius für feine Exrzerpten-
ſammlung von jemand 20000 Thaler geboten worden find, oder daß
der Grammatiker Andronitus PBompilius fein Hauptwerk aus Armut um
1150 Thaler losſchlug. Auch in diefen Fällen waren die Käufer feine
Buchhändler, jondern Schriftiteller oder Bewunderer. Davon ferner, daß
der Verleger dem Autor ein Honorar gezahlt habe, ift gar feine Rebe,
und man kann fich bei der herrichenden Gewerbefreiheit auch nicht gut
denken, wie das litterarifche Eigentumsrecht der Abfchreiber zur Geltung
babe kommen können, ohne welches natürlich jede Honorarzahlung nur
infofern nicht ganz unbillig gewejen wäre, als der erfte Verleger ven Be-
fig der korrekten Urjchrift feinem Konkurrenten gegenüber voraus hatte. Ereilte
die Bücher das Schidjal der Makulatur, jo wanderten fie zum Krämer,
bejonder8 zum Weihrauchhändler. Bon dem Dichter Anarandides wird
berichtet, daß er alle jeine durchgefallenen Stüde zu Weihrauchdüten ver-
dammte. Da der PBapierftreifen — wie oben ſchon gejagt — bloß auf
268 Das Bud und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
der einen Seite bejchrieben wurde, jo pflegten wohl auch, wie in Rom,
die reinen Seiten von ausgemerzten Büchern in den Schulen vollge-
Ichrieben zu werden. Auch war das Nilpapier von folder Haltbarkeit
und die Tinte jo wenig ätzend, daß ſich die Schrift mit einem Schwamm
auswilchen und das Papier noch einmal brauchen ließ. Noch jei endlich)
bemerkt, daß bei der Schwerfälligfeit der Vervielfältigungsart die Littera-
riichen Novitäten doch ziemlich ſpät in entfernte Gegenden gelangt zu
fein jcheinen. Im Jahre 413 kannte man auf Sizilien noch nicht die
Dramen des bereit? 441 zum erften male befränzten Euripides und die
gefangenen Athener, welche Bruchftücde derfelben aus dem Gedächtnis
rezitieren konnten, follen infolge deſſen beſſere Behandlung erfahren, ja
jogar zum Teil die Freiheit erhalten haben. Wir haben freilich kaum
den Namen eines einzigen griechischen Buchhändlerd erhalten befommen,
ja wir bemerken zu unferem Erftaunen, daß ihr Beruf in Athen feines»
wegs zu den jehr ehrenvollen gehörte. Häufige Unredlichkeiten in dem—
jelben, jchlechte Handjchriften oder betrügerifcherweife hergeftellte Kopien,
die man als Driginale verkaufte, und ähnliche wenig reelle Kunftgriffe
Ihadeten dem allgemeinen Anfehen und fcheinen jogar einem Theopomp die
Beranlafjung gegeben zu haben, die Buchhändler mit den Sardellen-, Obft-,
Feigen-, Leder-, Mehl- und Löffelhändlern auf eine Stufe zu ftellen!
Einen weit Mareren Einblid als in den griechijchen Buchhandel er-
halten wir in ben der Nömer, ja wir finden dort, nachdem Rom ein-
mal mit helleniicher Bildung auf allerlei Wegen vertraut geworden war,
Ihon eine ziemlich forgfältig ausgearbeitete Organifation, fo etwas wie
eine Trennung von Verlag und Sortiment vor. Erwähnen wir als bie
ältefte Buchtaberne Roms diejenige, in welche ſich Clodius rettete, neben-
bei, und bemerken, daß wir diefe Notiz dem Cicero entnehmen, jo führt
und der Name dieſes Autors auch fofort zu dem erften römijchen Ber-
leger, zu Eiceros Freund Attitus, und die da und dort in deffen Schriften
verftreuten Notizen Iaffen auch erkennen, daß fchon in Eiceros Jugend-
zeit der römische Buchhandel ein ziemlich ausgedehnter war, daß Aitifus
als Verleger in Rom felbft eine ziemliche Anzahl von Konkurrenten hatte.
Mag diefer wohl urfprünglid nur für feinen Privatgebrauch gearbeitet
haben, jo dehnte er doch als fpefulativer Kopf feine Arbeiten immer mehr
aus, und da er in der Ausgabe der ihm anvertrauten Werke mit ganz
bejonderer Sorgfalt verfuhr, jo mag ihm wohl neben Cicero noch mancher
andere Autor den Verlag feiner Werke angeboten haben. Neben diejem
Attifus nennen wir aus der Zeit der augufteichen Dichter die Socii
fratres; wir lernen unter der Regierung Domitians einen Buchhändler
namend Tryphon kennen, der das erhaltene große Werk Quintilians
herausgab, und von dieſem in feiner Dedifation als deſſen moralifcher
Das Buch und jeine Gefchichte bis zur Entitehung der Buchdruderfunft. 269
Urheber angeredet wurde. Derjelbe Mann jcheint Martiald Verleger ge-
wejen zu fein, obgleich gerade diejer Dichter feine Werke auch noch bei
anderen Buchhändlern untergebracht zu haben jcheint. Daneben lief dann
die ganze Schar jener ungebildeten Buchkrämer ber, die au in Rom
den Stand zu einem feineswegs jehr ehrenvollen machte.
Meift lagen die römischen WBuchhändlerläden am Forum, in ber
Nähe der Kurie, jo das Geichäft der eben erwähnten Brüder Socius,
während Duintus Pollius Balerianus und Atreftus Sekundus ihre Bücher
gegenüber dem Forum Cäſars im jogenannten Argiletum verkauften.
Später fand man die meiften Buchhändlerläden in der Sigillenftraße
und in der Schuhmadhergaffe. Mit dem Laden jelbft jtand gewöhnlich
die Offizin, in welcher fi) das Perſonal des Buchhändlers, die Abjchreiber
und die Buchbinder, befanden, in Verbindung, obgleich bei kleineren Ge-
ihäften beides wohl auch in einem Lokale vereinigt gewejen fein mag.
Hatten ſich in früherer Zeit, da die litterariichen Bedürfniſſe noch feinen
jo bedeutenden Umfang angenommen hatten, die Buchhändler jelbft mit
dem Anfertigen von Kopien befaßt, jo mußten nun bei der wachjenden
Ausdehnung des Verkehrs Abichreiber gewonnen werden, die bejonders
auf folche Arbeiten eingeübt waren. Freilich läßt fich dieſe allgemein
bekaunte Anficht nicht unzweifelhaft beftimmt nachweijen, und Haenny
beiſpielsweiſe beftreitet diejes alles in feinem Büchlein „Schriftfteller und
Buchhändler im alten Rom” aufs entichiedenite. Ebenjo find wir über
die Auflagehöhe der römischen Schriften nicht in Sicherheit, und es mag
wohl Hauptjächlich von dem Belieben des Buchhändler abgehangen Haben,
in wie viel Abichriften er ein Werf verbreiten wollte, wenn er es nicht
gar vorzog, erjt mit einer kleineren Anzahl die Stimmung des Publikums
zu erforjchen, und dann erft die Auflage zu bejtimmen. Freilich, um
einigermaßen ein Buch unter das Publikum zu bringen, mußten mindejtens
1000 Eremplare hergeftellt werden, und wir befigen hierfür einen be-
ftimmten Anhaltspuntt in der Angabe, daß Regulus den Nefrolog
ſeines frühe verftorbenen Sohnes in einer Höhe von 1000 Exemplaren
verbreiten ließ. Keineswegs ift aber damit gejagt, daß dadurch dem
litterariſchen Bedürfnis volllommen genügt wurde. Außer Rom
ftanden ja dem Buchhandel auch noch die Provinzen offen, und man
jandte mit Worliebe dorthin die Nejtauflagen von Werfen, die in
ber Hauptftadt den Reiz der Neuheit bereit3 verloren hatten. So waren
namentlich an Mittelpunften der Provinz, wo fi) das geiftige und litte-
rariiche Leben der Hauptſtadt wiederjpiegelte, Buchhändler etabliert, die
den Vertrieb der aus Rom kommenden Bücherwaren übernahmen, und
wir wiſſen beifpielsweife, von Lugdunum und Vienna, daß dort ber
Buchhandel Iebhaft betrieben wurde. Und mit Rüdjicht auf die Provinz
270 Das Bud und jeine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft.
redet ja wohl Horaz jein Buch an: „Teuer wirft du Nom fein, bis
dich der Jugend Reiz verläßt; jobald du beginnft, von den Händen der
Menge begriffen, dein Anjehen zu verlieren, wirt du ſchweigſam träge
Motten mäften, oder nad) Utifa fliehen, oder als Gefangener nad) Zerida
gejandt werden“, „Wer ſich,“ ſchildert Birt, „den Buchbedarf der damaligen
gebildeten Gejellichaft zu vergegenwärtigen jucht, dem belebt fich notwen-
dig das Getriebe des antiken Büchermarktes ins wunderbare. Die
Bapierfabriten Ägyptens werfen monatlich, wöchentlich taufende fertiger
Rollen ind Ausland, insbejondere nah Rom. Die Bibliopolen kaufen
fie per Ladung und lagern fie in Speichern. Die Werkftätten der Ber-
vielfältigung verfammeln große Sklavenjcharen, und alle geübten Hände
folgen gemeinfam dem gejchwinden Diktat, in welchem ein Autor den
andern ablöſt. Andere lejen Korrektur, die Glutenatoren jorgen für Ein-
band und Titel. In der Taberne aber liegt das fertige Buch nun aus,
den Neugierigen lodend, und es findet ſich Hier leje- und plauderluftig
die jchöngeiftige Welt, mit Xitteraten, Gelehrten und Buchkennern die
blafierten Müßiggänger der Highlife. Enthufiasmus führt hierher, oder
Neugierde oder bloßer Sport. Hier wird ein Virgilbuch für den Schul-
bedarf um ein par Pfennige erhandelt, dort die neuefte der Novitäten
vorgelejen, gefauft oder weggeworfen, hier Unjummen verjchleudert für die
vorgebliche Driginalrolle eines Cato Lucilius Demofthenes oder Thufy-
bides, dort eine Mafjenbeitellung gemacht von Büchern zur Dekoration der
neuen Billa.” So jah es in Rom aus und fo geftaltete fi) das Leben
des Buchhandels aud in den anderen Städten, die in Gejchäftsverbin-
dung mit der Hauptftadt ftanden, Da waren es neben ben beiden oben
genannten namentli) auch noch die berühmteren Stubdienfite, wie
Alerandrien, Karthago, Tarſus, Antiochia, Smyrna, Apollonia, Majfilia,
Üben . a Ja an den Häfen der Seeſtädte fand man bie
Buden der Buchhändler, und wenn es heute eine Modekrankheit iſt, eine
prächtige, aber wohlgemerkt, nie benußte Bibliothek zu befiten, jo wird
e3 fih im alten Rom nicht anders verhalten haben. Neben den Biblio-
manen, die den zeitgenöffiihen Satirifern reichlihen Stoff bieten
mochten, waren natürlich vor allen anderen die Bibliotheken, deren in
Rom. allein von Auguſtus bis Hadrian neunundzwanzig eingerichtet
wurden, Kunden der Buchhändler. Doc gab es auch unter den Privat-
leuten reiche Männer genug, die es ſich zur Pflicht machten, gelehrte
Werke zu faufen, oft aus Intereffe, oft auch, wie oben jchon angedeutet,
nur aus bornierter Eitelleit und ohne jebes Sachverſtändniß, deun das
Leſen war namentlih in Rom ja Mode. Für die Mahlzeit und für
das Bad, für das Einjchläfern und für die Reife hatte man feine Bücher
bei fi, und ein charakteriftiiches Beiſpiel für die Lejewut des Römers
Das Buch und feine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 271
bietet der jüngere Plinius, der in Mijenium bei dem die Veiupfataftrophe
begleitenden furchtbaren Erdbeben ruhig feinen Cicero las, Und weil
befanntlich Zahlen beweijen, jo mag hier angeführt werden, daß beijpiels-
weile Perjeus, obgleich noch jung, 700 Bücher Hinterließ, während ein
Grammatiker Epaphrodites deren 30 000, und ein Serenus Sammonikus
gar 62 000 beſaß. Ein armer Mann wie Martial dagegen verfügte
höchſtens über eine Bibliothek von 120 Bänden.
Knüpft fih hieran naturgemäß die Frage, wie ſich denn im
alten Rom der Preis eines Buches gejtellt habe, fo läßt fich Hier
feine Durchſchnittsnorm aufitellen.
(Fortiegung folgt.)
>
Die Begründung der „Korporation der Berliner
Buchhändler“ und die Berliner Beftellanftalt.”)
Bon Karl Er. Pfau.
Die „Korporation der Berliner Buchhändler“ ift die erite größere
Bereinigung gewejen, die fich innerhalb des Berliner Buchhandels gebil-
det hat. Verſuche zur Begründung einer ſolchen wurden zwar ſchon
früher gemacht, aber feiner führte zu dem erwünjchten Ziele, vielleicht
weil der Berliner Buchhandel im erſten Drittel diejes Jahrhunderts über-
haupt von zu geringer Bedeutung war — e3 gab im Anfang diejes
Jahrhunderts nur 35 Buchhandlungen in Berlin — und weil es darum
gemeinjame Interefjen nicht oft zu vertreten gab, vielleicht auch weil Die
damals geltende Gejetgebung der freien Bereinsbildung hemmend ent-
gegentrat.
US dann aber in den langen FFriedensjahren nach den Befreiungs-
friegen der Handel wieder erftarkte, als in Berlin, bejonder® nad) der
im Jahre 1810 erfolgten Gründung der Univerfität, die hervorragenditen
Gelehrten fi) zufammenfanden und fi auf allen Gebieten ein reges
geiftiges Leben entwidelte, als endlich durch den Bau der Eiſenbahnen,
bie Berlin zum Mittelpunfte eines fich fchnell entwidelnden weitverzweig-
ten Verkehrsnetzes machten, dieje Stadt auch für den auswärtigen Buch—
handel eine erhöhte Wichtigfeit gewann, da ftellte fi mit der wachſenden
Bedeutung des Berliner Buchhandels auch naturgemäß die Notwendigkeit
nach einer gemeinjamen Interefjenvertretung ein, |
Der erite Impuls wurde im Jahre 1845 gegeben, als nad Erlaß
einer neuen preußiichen Gewerbeordnung der Vereinsbildung fih günfti-
gere Ausfichten eröffneten. Eine größere Zahl Berliner Buchhändler trat
damals zujammen, die eine Kommijfion mit der Ausarbeitung eines
*) Der vorliegenden Studie liegt die vorzüglich bearbeitete Feftichrift des Herrn
Ernſt Vollert (Mitinhaber der Weidmann'ſchen Buchhandlung) zu Grunde, deren
Benutzung und ber verehrte Herr Verfafler gütigft geftattet hat. D. R.
Die Begründung ber „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc. 273
Statut? beauftragten, das jämtlichen Berliner Buch-, Kunft:, Mufifalien-
und Zandlartenhändlern zur Prüfung und Beratung vorgelegt, und das
dann das Grundgejek für die zu bildende Buchhändler-Innung werden
follte. Die Beitrebungen waren damals auf eine Innung gerichtet, weil
eine folhe in dem Rahmen der damaligen Gejeßgebung am erjten Aus-
ficht auf behördliche Anerkennung hatte und damit eine gewiſſe Bürgjchaft
dafür bot, daß man durch dieje Vereinigung Einfluß auf die allgemeinen
Angelegenheiten des Berliner Buchhandels gewinnen werde.
Der „Entwurf zu einem Statut für Die Innung der Berliner Buch—
händler” wurde von Dr. Morig Beit ausgearbeitet, darauf von einem
Geſamtausſchuß und danach von einer größeren Verfammlung in vier
Sigungen am 25. und 28. Juni und 2. und 15. Juli beraten und viel-
fah geändert. Die Buchhändler Wild. Befler, TH. Chr. Fr. Enslin,
Georg Reimer, Hermann Schulge und Morig Veit wurden alsdann be-
auftragt, jämtliche Berliner Berufsgenoffen für den 23, Auguft zu einer
Beratung des Entwurfs fowie der zur Begründung einer Buchhänbler-
Innung erforderlichen weiteren Maßnahmen einzuladen. Dieje Einladung
erfolgte unter dem 15. Juli, und in ihr war die Bitte um baldige Ab-
gabe einer Erklärung ausgejprochen, ob man an der anberaumten Be-
ratung teilnehmen werde oder nicht. Die Mehrzahl diefer Erflärungen
lautete zuftimmend, und jo trat denn die Verſammlung am 23. Auguft
zufammen; fie bejchloß durch Annahme des Statut die Begründung der
Innung und beauftragte den Ausſchuß, die behördliche Anerkennung nach—
zujuchen. Dies geſchah mittelft Schreibens an den Berliner Magiftrat,
nnd obgleich die beteiligten Behörden ſich durchaus entgegentommend
zeigten, bedurfte e8 doch voller zwei Jahre, um die behördliche Geneh-
migung und Beftätigung zu erlangen. Mittlerweile aber begannen die
politiſchen Stürme des Jahres 1848 und mit ihnen wurde die Berliner
Buhhändler-Innung jang- und Hanglos begraben. Die lebte in den
Alten befindliche Nachricht ift die Mitteilung des Magiftrat3 an Dr. Veit
vom 6. Nov. 1847, daß er den Statutenentwurf der Potsdamer Regie-
rung zur Beftätigung überjandt habe; von diejer ift die VBeftätigung unter
dem 19. April 1848 beim Minifterium beantragt worden, aber ein Be—
ſcheid ift von bier aus nicht mehr ergangen.
Inzwilchen Hatten fich aber neben dem bereits jeit dem Jahre 1845
beftehenden „Ubrechnungsverein“, der für die jährlich zweimal ftattfindende
Abrechnung der Berliner Buchhändler unter einander zu jorgen hatte,
im Jahre 1846 die „Bereinigung zur Begründung der Beftellanftalt”,
1847 der „Berein für gemeinjame PBoftjendungen nad) Leipzig“ und 1848
die „Anftalt Berliner Verlags- und Sortimentsbuchhändler zur gemein-
ſchaftlichen Bücherſendung nach Leipzig“ gebildet, und da dieſe erfplitte-
18
274 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
rung fi) in drüdender Weile fühlbar machte, trat man im Juli 1848
dem Gedanken einer allgemeinen Bereinsbildung von neuem nahe. Die
Ausarbeitung eine Statutenentwurf3 wurde wiederum einer Kommiſſion
übertragen, die aus R. Gaertner, W. Herb, I. Lehfeldt, E. S. Mittler,
G. Reimer, H. Schulte und M. Simion beftand, und diefe verjandte
dann unterm 24. Sept. folgendes Einladungsichreiben an die Berliner
Berufögenofjen: „In der Verfammlung vom 20. Juli d. $. hat eine An-
zahl hiefiger Buchhändler (33) den Beichluß ausgeiprochen, eine Korporation
zu bilden und alle hiefigen Buch-, Kunft- und Mufikaltenhändler zur Zeil-
nahme aufzufordern. Bon derjelben Verfammlung find die Unterzeich⸗
neten mit dem Auftrage beehrt worden, auf Grund des im Jahre 1845
den Behörden übergebenen Entwurfs ein Statut für die Korporation der
Berliner Buchhändler abzufaflen. Das Ergebnis dieſer Arbeit legen wir
hiermit zur Prüfung vor und laden Sie zugleich ein, in einer am 11. Df-
tober d. J., nachmittags 34 Uhr, im Engliſchen Haufe ftattfindenden
Hauptverfammlung diefen Entwurf dur ihre Beihlußnahme zum grund-
gejeglihen Statut für alle diejenigen zu erheben, welche fortan zur hie-
figen Buchhändlerforporation gehören wollen. Nach vollzogener Beratung
und Annahme desjelben ſoll jofort zur ftatutenmäßigen Wahl eines Vor—
ftandes, eines Hauptausſchuſſes und eines NRechnungs- und Wahlaus-
ſchuſſes gefchritten werden.” Die Verfammlung am 11. Oktober wurde
von Lehfeldt geleitet, und in ihr gelangte die Durchberatung der Statuten
bis 8 18; in einer zweiten Verſammlung am 18. Oftober, wieder unter
dem Borfite von Lehfeldt, wurde fie zu Ende geführt, und da in ihr die
Statuten auch in ihrer Gejamtheit angenommen und ſomit die Korporation
begründet wurde, jchritt man in einer dritten Verfammlung am 1. No—
vember unter Lehfeldts Borfit zur Wahl des Vorſtandes. Es wurden
gewählt: Georg Reimer, Vorfteher; 3. Lehfeldt, Schriftführer; R. Gaertner,
Schatzmeiſter; M. Simion, ftellvertr. Borjteher ; W. Herb, ftellvertr. Schrift-
führer; &. Neimarus, ftellvertr. Schagmeijter; &. W. F. Müller, €. 9.
Jonas, Dr. Barthey zu Mitgliedern des Hauptausſchuſſes; U. Förftner,
G. Hempel, 3. Springer zu Mitgliedern des Rechnungs: uud Wahlaus-
ſchuſſes. Bis zum 2. November traten der Korporation 57 Mitglieder bei.
In Nr. 106 des Börjenblattes vom 8. Dezember 1848 gab der
Borftand dem Gejamtbuchhandel Kenntnis von der Begründung der Kor-
poration und veröffentlichte zugleich ein Werzeichnis derjenigen Berufs-
genofjen, die fie begründet Hatten.
Das Beitreben, der Bereinigung die Rechte einer gejeglichen Kor-
poration zu erringen, wurde in der Folge wiederholt angeregt unb zu
‚erlangen gejucht; leider vergeblich. Erſt mit dem Jahre 1873, nachdem
die Beichränfungen des Gewerbebetriebes aufgehoben worden waren, ge
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ıc. 275
lang e8 den Bemühungen Alerander Dunders, die Anerkennung der
Korporation und damit die Verleihung der Rechte einer juriftiichen Per—
jon zu erlangen und damit zugleich erlangte die Korporation auch einen
Einfluß in Berlin, der allein es ermöglichte, fördernd und weiterjtrebend
einzugreifen in das Wejen und den Betrieb des Berliner Buchhandels.
Welche Schöpfungen die Folge diejes freien Regiments waren, das weiß
jeder Berliner Buchhändler, wir meinen den Ausbau der „Berliner Be—
ftellanftalt”.
Schon im Auguft des Jahres 1846 Hatte der Herausgeber des in
Berlin erjcheinenden „Organ des deutjchen Buchhandels oder Norbdeutiche
Buchhändler-Zeitung”, H. Burchhardt, bei den Berliner Buchhandlungen
die Errichtung einer Beftellanftalt angeregt, und diefer Plan war einer
Kommijfion, beftehend aus Karl Heymann, E. H. Jonas, E. S. Mittler,
Herm. Schulte und Julius Springer, zur Prüfung übergeben worden.
In dem darüber erjtatteten Gutachten vom 7. September 1846 gelangte
die Kommilfion merkwürdigerweiſe zu einem negierenden Urteil, da fie
glaube, „daß fich die Anftalt wegen der hohen Beiträge, die die einzelnen
Firmen zu leisten haben würden, und die fich je nach dem Umfang der
Geſchäfte auf jährlich 8—50 Thlr. belaufen könnten, in der beabfichtigten
Weile nicht werde ins Leben rufen laffen.” Weiter hieß es in dem Ur—
teil: „Unter diefen Umftänden konnten wir denn auch den ung mitge-
teilten Plan keineswegs bevorworten, jo leid es uns auch that, ein für
die Gejamtheit jo nmügliches Unternehmen gänzlich von der Hand weijen
zu müffen. Diejes Bedauern ward aber nicht allein von Ihrer Kommif-
fion ausgeſprochen, e8 wurde auch von vielen Kollegen geteilt, mit denen
das Projekt beiprochen wurde, und es ift von einem derjelben folgender
Vorſchlag ausgegangen, der uns praltiſch und leicht ausführbar erjcheint,
und der am 1. Öftober d. J. ins Leben treten fol. Wir beehren ung
Ihnen die Grundzüge desjelben anbei vorzulegen.“ Der Vorichlag ging
dahin, zunächſt nur eine Anftalt zu begründen, die fich mit der Sortie-
rung der ihr von den Teilnehmern überwiejenen Buchhändler-Skripturen
aller Art beichäftigt, namentlich aljo der Verlangzettel, Rechnungs-Ab-
Ihlüffe, Zirkulare, Kouverts und fonftiger Papiere ꝛc. ꝛc. in kurzer
Plan für die Organifation diefer Anftalt folgte, und am Schluß hieß es:
„Die Vorteile diefer Anftalt jpringen bei der großen Weitläufigfeit unferer
Stadt fo in die Mugen, daß es für unfere verehrl. Herren Kollegen feiner
Entwidelung derjelben bedarf. Allerdings ift ein gemeinfames Beitreten
aller Berliner Buchhandlungen zu diefer Beftellanftalt nötig; wir Halten
uns aber auch überzeugt, daß fich Feiner der geehrten Herren bei einer
jowohl dem Allgemeinen, als gerade auch jedem Einzelnen von uns zu
gute kommenden Mafregel ausichließen wird. Bei einer Betriebsweiſe,
18*
276 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler" ꝛc.
wie wir fie ung erlaubt haben vorzufchlagen, wird es möglich, die Ver—
langzettel dem einzelnen Verleger in den beitimmteften Terminen ficher
zugehen zu laſſen; werden diefelben dann zu gleich beftimmten Zeiten von
den Berlegern erpediert und die Pakete dem Boten, welcher zu dem nächſt—
folgenden Termine zur Beftellanftalt geht, und der auf feinem Wege bei
ber größeren Anzahl der Sortimentshandlungen und Kommiſſionäre vor-
über muß, mitgegeben, jo gelangt das Bejtellte auch zu den beftimmteften
Terminen regelmäßig an jeine Beltimmung. Der Erfahrung wollen wir
noch überlaffen, ob und wie diefe Anftalt ung in Bejorgung von Four:
nalen, Paketen und ſonſt nüßlich werden kann.“
Diefes Projelt fand in diefer Form die regite Anteilnahme und
Unterftügung. Eine vorläufige Umfrage ergab die jofortige Bereitwillig-
feit von 76 Firmen zum Beitritt, und nachdem die Kommilfion noch eine
Situng abgehalten hatte, wurde auf den 28. September eine General-
verjammlung der Berliner Buchhändler einberufen, die die Begründung
der Beitellanjtalt endgültig beihloß und den Beginn ihrer Wirkſamkeit
auf den 15. Dftober 1846 feſtſetzte. Bon diefem Tage an aljo datiert
die Begründung der Berliner Beſtellanſtalt. Die Leitung dieſer neuen
Snftitution wurde dem Buchhändler H. Burchhardt übertragen, der fie
nach einer ihm zu erteilenden Injtruftion zu führen Hatte. Als Entidä-
digung für feine Arbeit und für die ihm entjtehenden Unkosten jollten
ihm neben freier Wohnung die Beiträge der Mitglieder zufließen. Jeder
Teilnehmer hatte jährlih 2 Thlr. und außerdem für jeden Kommittenten
74 Sgr. zu zahlen. Der Austauſch der der Beltellanftalt zugehenden
Schriftitüde und Pakete (es jollten verfuchsweile auch kleine Pakete bis
zum Gewicht von einem halben Pfund zugelafjen werden), die jede Hand-
lung von der Beitellanjtalt abholen laſſen mußte, konnte täglich zweimal
erfolgen, und H. Burchhardt war verpflichtet, alles auf der Beitellanftalt
Eingegangene vormittags bis 11 und nachmittags bis 5 Uhr zur Abholung
bereitzuhalten. Die Beauffichtigung über die Anftalt führten zwölf auf
ein Jahr gewählte Mitglieder des Vereins, die fich alle vierzehn Tage
ablöften. — Nachdem alsdann am 10. Dftober mit H. Burchhardt ein
Vertrag zunächſt bis zum 1. Oftober 1847 abgeſchloſſen war, begann
diefer jeine Thätigfeit am 15. Oktober in dem Haufe Königftraße Nr. 13.
Der Gejamtbuchhandel erfuhr von diefer zunächſt nur Berliner In—
tereſſen verfolgenden Inftitution durch folgende Mitteilung Julius Sprin-
gers im Börjenblatt*), die wir, da fie charakteriftiich ift für den damali-
gen Geift, der im Berliner Buchhandel herrichte, im vollen Wortlaut
folgen laſſen: „Die Zentralifation, in welche Berlin durch die von Hier
*) Börienblatt 1846, S. 1264.
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc. 277
ausgehenden und auf hier zufammenftrömenden Schienenwege gelangt ift,
und welche von Jahr zu Jahr fi noch vergrößern wird, hat ihren Ein-
Muß auch auf den hiefigen Buchhandel erftreden müfjen. Wir verdanken
diefem Einfluß ohnftreitig die große Anzahl neuer Verlagshandlungen am
Plage, welche in den lebten zwei Jahren hier entftanden und welche be-
müht find, den Schaffungen des Geiftes, die in diefem vermehrten Ver—
fehre mit vermehrt und gefteigert werden, die jchügenden Flaggen zu
leihen, unter denen diejelben in die weite Welt des Buchhandels hinaus—
fegeln. Neben diejer Vermehrung des Berliner Verlagshandeld, durch
welche Berlin einer der Haupt-Verlagsorte des deutichen Buchhandels
überhaupt geworben, hat jene Zentralifation auch namentlih und noch
bedeutender den hiefigen Platz als Kommiffionsplat gehoben. Die Hand-
lungen um Berlin und an den von hier ausgehenden Eijenbahnen werden
bei der Schnelligkeit, mit welcher jebt jede Beichaffung des Abſatzes be-
jorgt fein will, genötigt, fich in Berlin einen Kommijfionär zu Halten,
und neben ihren Beziehungen von Leipzig auch gleiche von hier eintreten
zu laffen. Ja jelbft noch weiter entfernte, ſelbſt ruffiihe Firmen haben
diefe Notwendigkeit erkannt, und wir find überzeugt, daß ihnen mit der
Beit immer mehr noch folgen werden.
„Durch dieſe Umftände ift der Verkehr im Berliner Buchhandel jelbft
ein ſehr gefteigerter, größerer geworden. Bei der Ausdehnung der Stadt
aber und den weiten Dimenfionen von einer Handlung zur andern in
ihr, auch ein ſehr jchwieriger und viel mühjamerer, als in dem eng zu—
ſammengedrängten Leipzig. Das haben die Kommilfionäre und Verleger
bier zu fühlen angefangen und erkannt, daß hier Erleichterungen gejchaffen
werden müſſen.
„Sehr bald dachten die hiefigen Buchhändler aljo au, um den Ber-
fehr unter fich zu erleichtern, an eine zu gründende „Beftellanftalt“, wie
fie Leipzig hat. Es wurde ein Komitee erwählt, welches die Sache zu
regeln Hatte, und man vereinigte ſich dahin, eine „Beſtellanſtalt“ vorzu-
Ihlagen, bei der von den Beitretenden alle für den hiefigen Buchhandel
und deſſen Kommittenten bejtimmten Skripturen und Pakete bis ". Pfund
abgegeben, dort von einem Angeftellten in gewiljen Terminen jortiert und
von den Beteiligten alsdann abgeholt werden jollten.
„Der Beitritt zu der gedachten „Beitellanftalt” zeigte fich jo zahl-
reich, daß diefelbe nun in einem im Mittelpunfte der Stadt der PBoft
gegenüber belegenen Lokale mit dem 15. Dftober verjuchsweile auf ein
Jahr ins Leben getreten und Herrn Heinrich Burchhardt, dem Redakteur
deö Organs für den deutſchen Yuchhandel, die Leitung nach einer ihm
erteilten Inftruftion, bei der auch gerade das Antereffe der über Berlin
beziehenden Handlungen beachtet wurde, übertragen ift.
278 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
„Freilich haben einige Berleger ihren Beitritt der Anftalt verweigert
und Hierdurch namentlich den Hiefigen Kommiſſionärs ihre Gejchäft noch
erjchwert; indeß hoffen wir, wenn das Inſtitut ſelbſt in dem erjten
Probejahre feines Beſtehens fich den Intereſſen der Berliner Verleger
und Kommilfionärs ſowohl als denen der Kommittenten entjprechend be-
währt haben wird — und dies wird der Fall fein, wenn der Einzelne
dem Prinzip der Beftellanftalt regelmäßig nachkommt — jo werden auch
die jetzt noch Nicht-Beigetretenen ſich anjchließen. Hat es ja aud) in
Leipzig lange gewährt, ehe die jämtlichen Handlungen dort der Beftell-
anftalt beigetreten find: Neuerungen haben ftet3 ihre Gegner, überwinden
ſolche aber, jobald fie fich als gut erweilen. Wir wiederholen, daß wir
leßtere8 auch von der Berliner Beftellanftalt hoffen, mit welcher der
Berliner Buchhandel fich jedenfalls einen Halt gegeben, was bei den jo
vielfach auseinander gehenden Verhältniſſen des Hiefigen Platzes immer
von Wert ift und von dieſem Gefichtspunfte aus wohl verdient hervor-
gehoben zu werden!“ (Fortjegung folgt.)
>
Jeue Büder.
Ver Dournal:Lefezirkel. Vorteilhafiefte Art der Einrichtung und des
Betriebes. Bon Friedr. Streifler. 3. verm, und verb. Auflage. Leipzig,
Sellmann & Henne. 60 Pf. bar.
Das vorliegende, bereits in dritter Auflage erichtenene Büchlein darf aufs
wärmfte empfohlen werden, denn es stellt den Stoff in einer anregenden und was
befonderd wichtig tit, in einer äußerſt überfihtlihen und inftruftiven Weife dar.
Alle diejenigen Berufögenofien, welche einen Journal-Leſezirkel bereits pflegen, ober
einen ſolchen erft neu errichten wollen, werden aus dem Streißler'ſchen Leitfaden
erheblichen Nuten und Vorteil ziehen können, denn bier wird alles vorgetragen,
was nötig ift zu willen und was zu befolgen ift, um eine jolche Einrichtung nub:
bringend zu geftalten.
Leipzig. K. Fr. P,
Mllele aus’n Dorfe. Heitere Geihichten in nordböhmiſcher Mundart von
Prof, Hans R. Kreibich.
Der Humor tummelt fih gern auf dem Gebiete der Dialeftdihtung aus und
er bat unftreitig dort große Triumphe gefeiert. Das Urfprüngliche, daS den Humor
umkleiden muß, findet ja im Dialekte die beite Stütze.
Das vorliegende Fleine Bändchen birgt wirflich heitere Gefchichten, die uns
wohl über eine Stunde hinweg fcherzen können. Wir glaubten erjt, daß uns bie
nordböhmiſche Mundart Schwierigkeiten bieten würde; man lieft fich jedoch hinein
und bie Grflärungen unterftügen uns dabei. Schon die erfte ſchaurig-heitere Ge—
ſchichte „Eine Murdthot” reizte unfere Lachmusfeln und fo auch die folgenden Er:
zählungen und Gedichte, N,
Das Bilfen des Buch und Mufikalienfortimenters. Cin
Notiz-Tafhenbud. Iglau, Hans Blumenthal’s Selbitverlag. Preis ME. 1,50.
Die dee, die diefem Büchlein zu Grunde liegt, — dem Lehrling die Sorti-
mentöfenntniffe bildlich einzutrichtern, iſt jedenfalls originell und da die Ausführung
der Jlluftrationen gut und es auch am erflärenden Terte nicht fehlt, fo vermag
mander Neuling feine Kenntniffe zu fördern, wenn ihm die Anſchauung in ber
Praris nicht geboten ift. Ihm die Praris zu erjehen, das ift natürlich nicht mög:
lich und kann auch wohl nicht Abficht des Autors geweſen jein. Den Untertitel
Notiztafhenbuh halten wir aber für durchaus unzutreffend und gerabezu irre
führend, denn die 15 beigehefteten weißen Blätter und der Bletjtift können doch
wohl fein ſogen. Notiztaſchenbuch vorftellen. E.
Die Halbmonatirift für Dichtfunft und Kritik „Deutſches Pichterbeim“
(begründet 1880 durh Paul Heinze in Dresden, feit 1893 herausgegeben durch
Adalbert v. Majerszky in Wien) enthält in ihrer Nummer 4 die Auffäge: Zwei
280 Neue Bücher.
Sökendämmerungen. Von Ridard Mayr. (gFortſetzung.) — „Fortunat“, ein
Volksſchauſpiel von Jul. Groffe (3. Fortiegung.) — Gedichte von J. E. Poritzky,
Richard Mayr, Leo Grünftein, Ottilie Stebenltit, Otto Michaeli, Lisbeth Schmidt,
9. Hermann, Guſtav Richter, Elh Hruſchka, Fr. Ruſtemeyer, %. E. Köhler-Hauſſen,
Heinrih Niedner, Anna Liebhold, Hermine Gaffry, Margarete Berg, Ida Baer,
Lotte Gerhard, Rudolf Gärtner, Gherhard Ritter v. Weittenhiller, Robert Braun:
Ihweiger, Richard Braungart, Yo von Doorädel:Xodfov, Mar Alfred Lange;
ferner ausführliche Beiprehungen folgender Bücher: „Bohemiens“ von Konrad
Telmann, „Neue Gedichte“ von Kerl Buſſe, „Träume” von Karl Bulle, „Fremde
und Vaterland” von Franz Herold, „Die Tochter des Wucherers“ von Arnim Wer:
herr, „Gebichte” von Wilhelm Hoſäus, „Yarenopfer” von Rene Maria Rilke u. ſ. w.
Jexikon der deutſchen Pichter und Profaiften des neun:
zeßnten Sabrbunderfs. Bearbeitet von Franz Brümmer, Bierte neu=
bearbeitete und ftarf vermehrte Auögabe. Lfg. 14, à 20 Pf. Leipzig, Philipp
Reflam jr.
Für den Buchhändler ift es oft von Wert, fih über die Perfonalien u. |. w
irgend eines Dichters näher zu unterrichten, und da biejes Lerifon auch Kitteratur=
angaben bringt, jo dürfte es fich jehr wohl für die Privatbibltothef der Kollegen
eignen.
Die Zahl der Bibliographien, die bei früheren Auflagen fich bereits auf 3400
erhöht hatte, ift jebt auf 4900 gewachſen, und auch fonft fcheint die Umgeſtaltung
in Hinficht der Fortführung, Erweiterung und Verbeiferung der Artikel, foweit die
Stichproben ein Urteil ermöglichten, eine vorzügliche zu fein. Wir fünnen das be:
mwährte Lerifon den Kollegen, wie zum Vertrieb, fo auch zum eigenen Gebrauch
empfehlen. H.
Allgemeine LJitteraturgefchichte von Dr. Peter Norrenberg. Zweite
Auflage, neubearbeitet von Dr. Karl Made.’ 1. Bd. ME. 5.—. Münfter i. W.,
Ad. Ruſſel's Verlag.
Wer fih intimer mit dem Studium der Litteratur befaifen will, der muß,
wenn er bie bebeutendften Werke der proteftantifchen Litteraturbiftorifer berüdfich-
tigt hat, auch zu Werfen greifen, die den fatholiichen Standpunkt vertreten. Nicht
nur die Religion im Allgemeinen, jondern auch die einzelnen Konfeffionen haben
auf die Litteratur ihren Einfluß ausgeübt und mande großen Werke find unver:
ftändlih, wenn fie nicht von ihrem eigenen Standpunfte betrachtet werden. An
dererfeitö ift auch eine Kritif in der Beleuchtung katholiſcher Anſchauung überaus
intereffant und lehrreich und Norrenberg, der feine Sprade troß feiner abgeidhlof-
fenen Anſichten in geſchickter Weife mäßigt, darf auch der Anerkennung feiner ge:
diegenen tillenichaftlichen Arbeit in außerfatholifchen Kretien ficher fein. Der uns
jett in 2. Auflage vorliegende erfte Band, der die Litteratur ded Orient, Hellas,
Rom und die Ausläufer der altlateiniihen Dichtung enthält, tft im Sinne bes Ver:
faſſers von Dr. Karl Made bearbeitet. Wir miüffen natürlich die weiteren Bände
abwarten, um ein abſchließendes Urteil über das Werk zu geben, für ben Fatholi:
ſchen Leier ift dasſelbe aber unbedingt zu empfehlen. Die Ausftattung ift eine
folide; und ber Preis für ben 500 Seiten ftarfen Band ME. 5.— ord. ein fehr
wohlfeiler. Th.
Aus tieffter Seele. Eine Blütenlefe deutſcher Lyrik. Herausgegeben von
Adolf Barteld. Lahr, Mori Schauenburg. Leinwand-Goldſchnitt. ME, 3,—
Wir haben Anthologien in Hille und Fülle Zur Herftellung gehört eritens
Neue Bücher. 281
ein verlodenber Titel, zweitens eine einigermaßen geichicdte Zufammenftoppelung
von Gedichten, drittens eine effeftuolle Ausstattung. Wenn biefe drei Bunfte er:
füllt find und für das Produft ein niedriger Preis verlangt wird, dann haben
wir ein verhältnismäßig gangbares Bud, das neben Polko, Dichtergröße und
Zettel, Edelweiß fonkurriert.
Der Verleger bietet aber in vorliegender Anthologie für den geringen Preis
bon M. 3— ſchon ein anfehnliches Geſchenkwerk, dad den Käufer wohl ſchon durch
den reihen Illuſtrationsſchmuck — dreißig Dichterbildniffe von Erdmann Wagner
— feffelt. Auch die Auswahl der Gedichte verrät die fundige Hand. Der Drud
ift fauber und forreft und bleibt uns nur noch übrig, über ben Einband zu ur:
teilen: er iſt geihmadvoll; nicht goldüberladen. Wir raten ben Kollegen alſo
gelegentlih bei Verlangen von Anthologie nach diefem Schauenburg'ſchen Artikel
zu greifen. L,
%baläna, die Jeiden eines Buches. Von Karl Weitbredt.
Zweite Auflage. Stuttgart, Verlag von Ab. Bonz & Co. Preis broſch. M. 2,—
Weitbrecht berichtet uns hier über das Schickſal eines Bändchen Iyrifcher Ge:
dichte, die den Namen Phaläna tragen. Er beſchreibt uns die Leiden des Buches,
die darin befteben, daß es auf feiner endlofen Wanderung „zur gefl. Anſicht“ im
beſchmutzten, ramponierten Zuftande fi immer wieder zum Sorttmenter zurüd:
findet und ſchließlich ein folches zmweifelhaftes Eremplar bem entrüfteten Berfafler
nnter bie Dichterhände gerät. Der lebtere ift nun über das Schtefal, das dem
Kind feiner Mufe widerfährt, ganz entſetzt, während wir erfahrenen Verleger und
Sortimenter ſolche Vorgänge bei lyriſchen Gedichten ala ganz felbftverftändlich
halten. Der pſychologiſche Teil der Erzählung ift dem Verfaffer indeſſen recht gut
gelungen, bejonders gefallen uns einige feiner männlichen Typen, während feine
Frauengeftalten fich teilweife etwas zu fühlich gaben. Ein friiher Humor aber
durchzieht das Buch und die Sprache ift durdaus ſchön. Wünſchen wir biefer
zweiten Auflage eine Folge.
Hulturgefhichte in ihrer nafürliden Entwidelung Bis zur
Gegenwart. Bon Friedbrih von Hellwald. 4. Auflage. Leipzig. P.
Frieſenhahn.
Dieſe, nunmehr in 4. gänzlich neubearbeiteter Auflage erſcheinende Kulturge:
ihichte bringt uns die rührige Verlagshandlung in einem äußerſt vornehmen und
reich illuftrierten Gewande.
Eine Reihe hervorragender Gelehrte haben ihre Wiſſenſchaft in den Dienft
bes Werkes geftellt und fomit ift Gewähr geleiftet, daß die einzelnen Teile des
Buches reip. bie einzelnen Forichungsgebiete nach dem heutigen Stande der Willen:
ſchaft fortgeſetzt und berichtigt werben.
Unter den Mitarbeitern finden wir Namen wie: M. von Brandt, Profeffor
Dr. Ludwig Büchner, Privatdocent Dr. Auguft Conrady, Rubolf Gronau, Gymn.:
Direftor Dr, W. Deede, Prof. Dr, Ludwig Geiger, Prof. Dr. Hypp. Haas, Staats:
ardhivar Dr. DO. Henne am Rhyn, Prof. Dr. A. Holm, Privatdocent Dr. Paul
Horn, Prof. Dr. A. Kaufmann, Prof. Dr, S. Lefmann, Prof. Dr. A. Mogk, Dr.
Mar Nordau, Prof. Dr. M. Philippfon, Dr. H. Schäfer, Privatbocent Dr, F.
Schwally, Brof. Dr. W. Soltau ꝛc. Alles Autoritäten, die für eine gebiegene
Vollendung bed Werkes bürgen. Die und vorliegenden Lieferungen (1—3) behan-
deln die Urzeit, die joctalen Geſetze, Volkstum und Gefchichte, die Morgenröte ber
Kultur, Europa’3 Vorgeſchichte, Kultur, Urfprung und Alter der Hinef, Kultur zc.
282 Neue Bücher.
Wir werben bei Beſprechung der folgenden Lieferungen noch näher auf das bebeu-
tende Werk eingehen. | Sp.
Konventionelle Sügen im Buchhandel. Allerlei Unverfrorenheiten
von Xanthippos, Leipzig, 8. Hamann. Broich. 1,60, geb. 2 Amt.
Der ungenannte Verfafler führt eine fcharfe Feder, mit ſatyriſcher Beige durch—
hechelt er den Buchhandel, geißelt Verleger, Sortimenter, Kommiffionäre ꝛc. in
gleih äbender Weile wie er den Autoren und Kritict zu Leibe geht. Wer ben
Buchhandel verstehen will, muß den Ausführungen bes Verfaſſers zuftimmen, es
ift thatfähhlih mandes faul im Staate Dänemark. Aber daran freilich wirb auch
das vorliegende Buch nichts ändern, denn wir „eingefletiihhte Buchhändler” laſſen
uns fo ohne weiteres nicht belehren und befehren. Es wird eben, um mit bem
Berfafler zu reden, „kräftig“ weiter getwurfchtelt. Bücher, wie die „Konventionellen
Lügen” find, und das tft wirklich eine Seltenheit, wirflih und wahrhaftig felten.
Denn die Wahrheit „denken“ giebt e8 viele Leute; aber „jagen“? das jteht auf
einem anderen Blatt. Der Berfaffer jagt nun die Wahrheit, rügt in wahrhaft un=
verfrorener Weife alle Unzuträglichfeiten und befennt mit einem Freimut jeine
Orfenheit, um die er zu beneiden tft.
Ein altes Wort jagt, daß „gute“ Bücher nicht immer viel gelejen werben.
Bon diefem Buche aber erwarten wir mit Beftimmtheit die Beitätigung bes
Gegenteil, ja wir behaupten, daß es feinen Siegeözug durch alle Buchhändlerber:
zen machen wird, von benen die meijten erflären werden „ber Dann bat Recht“ —
leider; die wenigften werden in ihrem Optimismus ſich über das Bud jtellen und
fagen: unfer Buchhandel ift doch ein fublimes Produft unferer Zeit, ald melden
der Verf. ihn hinftellen will, Wer ſich erfennen will und vor Allem Neigung bazu
bat, der leſe dad Bud; er wird feine helle Freude daran haben, wenn in ihm aud
zumeilen das Gefühl auftauchen wird, daß der Verfafler hier und da perſönlich ge-
mworben fein könnte. Aber wer andererjeit3 den harmloſen Plauderton veritebt,
wer dem Empfinden des Verf. nachfühlen fann, der wird auch ba nicht ſchmollen,
wo er mit etwas ftarfer Touche aufgetragen bat. Karl Fr, Pf,
2
Dwanglofe Runoͤſchau.
Mit berechtigtem Stolz bliden wir Buchhändler auf unfere, wie wir meinen,
geichloffene Korporation und auf die bewährte Organifation unſeres Buchhandels.
Es wäre aber entichieden zu weit gegangen, wolle man behaupten, baß Idealzu—
ſtände geichaffen feien und daß wir und nun für alle Zeiten mit den gegebenen
Verbältniffen begnügen müßten. Freilich ftehen eine Reihe Kollegen auf dieſem
Standpunkte und laffen fi auch nicht irritieren, wenn man darauf hinweiſt, daß
die Welt um uns herum jtetig fortichreitet. Andere Zeiten, andere Lieder. Wir
halten ja einen gefunden Konfervativismus natürlich nicht nur für berechtigt, ſondern
jogar für heilfam. Nichts befto weniger hätten wir aber gewünscht, daß feitens
der beteiligten Kreife die verjchiebenen noch offenen Berufäfragen fortdauernber
ventiliert würben und daß endlich erniter an der twirtichaftliden Hebung unferes
Standes gearbeitet würde, als es und ber Fall zu fein ſcheint. Die buchhändleri—
fhen Lebensfragen find heute recht erniter Natur und erheiſchen ein planvolles
Ausarbeiten unferer Geſchäftsverhältniſſe. Gewiß find die Errungenschaften unſe—
res Standes nicht geringmwertig anzufchlagen, gewiß hat der Börfenverein und mit
ihm mandhe bedeutenden Berufögenofjen viel, jehr viel erreicht. Aber es giebt noch
fehr viel mehr zu thun und, wie es neuere Zeitverhältnijje verlangen, die idealen
Werte des Buchhandels in praftifche zu verwandeln, um dadurch manche Mit-
glieder unferes Standes pekuniär ficherer zu ftellen. Es ift nichts Neues, daß
aus den Kreifen ber Buchhändler Angriffe gegen den Börjenverein gerichtet wer:
den, wie der nachfolgende vom „Verband freier deutſcher Buchhändler”, der folgen:
ben Wortlaut hat:
„Unter der Bezeichnung „Verband Freier Deutſcher Buchhändler” ift im Ge:
heimen eine Anzahl Buchhändler zufammengetreten, die e3 fih zur Aufgabe geitellt
haben, eine freie, den heutigen Zeitverhältnifien entſprechende Entwidelung bes
deutfchen Buchhandels anzustreben. Die Mitgliederzahl des Verbandes hat bereits,
obgleich eine beſondere Agitation noch nicht entfaltet worden ift, die Höhe von 63
erreicht, ber beite Beweis, daß dieſe Bewegung auf einer gefunden Bafi3 ruht.
&3 bedarf, wie wir glauben, feiner befonderen Erörterung, um bie Beredtigung
der Verfolgung deö angegebenen Zieles darzulegen. Jeder rührige und vorwärts
ftrebende Buchhändler, gleichviel ob Verlags: oder Sortimentsbucdhhänbler, kennt
in zahlreichen Fällen leider nur zu genau bie Feſſeln, welche durch die Maßnahmen
bes Börſen-Vereins die freie Entfaltung feiner wirtſchaftlichen Thätigfeit einengen.
Der „Verband Freier Deutiher Buchhändler“ will nun diefe Feſſeln aus dem
Wege räumen, er will bie Hemmniſſe bejeitigen, welche fich einer freien Entwide-
lung des beutichen Buchhandels entgegenftellen. Der Verband hat den Zweck,
unter vollfter Ausnußung aller Vorteile, welche ber Börjen:Berein dem Buchhandel
bietet, gegen jene Maßnahmen bed Börſen-Vereins anzufämpfen, bie nicht nur dem
284 Zwangloſe Rundicdhau.
geiunden Menſchenverſtand, fondern auch dem Anhalt und Geiſt ber mobernen,
die ungehinderte Bewegungsfreiheit des Einzelnen gemwährleiftenden Gejeßgebung
(Gewerbe-Ordnung) zumiberlaufen. Der Verband will das vornehmite Recht bes
Kaufmanns, die Handeläfreiheit, ſchützen, ein Recht, welches dem faufmänniich den
fenden Buchhändler von denjenigen unterbunden wird, welche ji in dem Irrtum
befinden, daß eine Beihränfung der faufmännifchen Freiheit für das Wohl bes
ganzen Standes der Buchhändler unerläßlich iſt.
Die Mitglieder ded Verbandes find der Anficht, daß das Wohl ihres Standes
nicht in Beichränfungen, fondern vielmehr in der freien Bethätigung der durd bie
deutiche Gewerbe⸗Ordnung feitgelegten geſetzlichen Beitimmungen zu finden tit.
Das Obijeft des Buchhandels, das Buch, iſt für ben Buchhändler eine Ware,
der vorurteilöfreie, auf der Höhe der Zeit ftehende Buchhändler tft ein Kaufmann
wie jeder andere. Nur eine volle Ausnügung ber gejeglich garantierten Hanbels-
freiheit fann dem geſamten Stande ber deutihen Buchhändler fürberli jein. Der
Buchhandel kann fih unmöglih durch Sonderbeitimmungen der Entwidelung
unſeres wirtichaftlichen Lebens entziehen. Dieſer Entwidelung muß er folgen,
wenn fich nicht ſchwere Schädigungen des Standes jelbit und insbefondere einer
großen Zahl feiner Mitglieder einjtellen jollen.
Diefe Erwägungen find die Urjache geweſen, daß der „Verband Freier Deut-
iher Buchhändler” fich gebildet hat. Es handelt fi alfo feineswegs um einc
Sprengung des Börjen-Vereins, fondern lediglich um eine energiiche Befämpfung
derjenigen Maßnahmen bes Börſen-Vereins, welche geeignet find, eine freie Ent:
widelung des beutihen Buchhandels hintanzuhalten,
Wir rihten nun an Sie bie ergebene Anfrage, ob Ste geneigt find, dem „Ber:
band Freier Deutiher Buchhändler” beizutreten. Wir betonen ausdrüdlid, dab
Ihnen aus einer Beitrittserflärung feinerlei Nachteile erivachen können, ba ſowohl
die Namen ber gegenwärtigen ala aud ber weiterhin beitretenden Mitglieder ftreng
geheim gehalten werben.
Das vorliegende Zirkular wird ſämtlichen Buchhändlern Deutichlands über:
fandt. Es iſt ſomit zu erwarten, daß die Zahl der Verbandsmitglieder in kürze—
iter Zeit derartig fteigen wird, daß eine feite Organifation ſich ermöglichen laſſen
wird, die ihren Mitgliedern einen Rechtsſchutz gegen alle Angriffe bes Börſen-Ver⸗
eins bietet,
Wir bitten, Ihre Beitritts-Erflärung oder etwaigen Anfragen an Herrn €.
Deuticher, Berlin W., Stegliger Straße 7, zu richten, welcher die Korrefpondenzen
an den Vorſtand weiter beförbert.
Wir bemerken nochmals ausdrücklich, dab im Falle Ihres Beitrittö Ihr Name
auf das Strengite geheim gehalten wird. Die Mitglieber-Kiften find nur dem
Borjtande zugänglich, jo daß die Wahrung des Geheimniffes abfolut gefichert tft.“
Wir find nicht im Zweifel, woher diefe Winde wehen. Es find die „billigen“
Leute in Berlin, die bie Bücher zur „Ware“ ftempeln wollen. Natürli find
Bücher Ware, aber immerhin eine beionbere, doch anderen Berhältntfien unterwor-
fene ald Beinfleiber oder Sauerkraut. Und wenn die Herren auf ſolche Voraus—
ſetzungen ihre Sache aufbauen, da find wir gewiß, daß ihr Vereinsproduft ſchon
während des Entftehens wieder in fich zerfallen wird. Bebeutungsvoll ericheint
uns aber, daß diefer Angriff von Berlin fommt und wir gehen wohl nicht fehl,
wenn wir annehmen, daß eine gewichtigere Frage im Hintergrunde ſchwebt, mit
der man zu geeigneien Zeiten vielleicht erſt herbortritt. Wir meinen ben Gentral=
punft, der bis dahin auf Leipzig ruht, nad Berlin himüberzuziehen. Wir wiſſen
Zwangloſe Rundidau. 285
ja, wir find in Leipzig fpröbe, viel fpröber als gut ift und wir bürfen uns nicht
wundern, wenn von anderer Seite unfere Schwächen benußt werden. Wir ge
jtehen offen, wenn bie „reinen“ Sortimenter unter fih zuſammen treten wür:
ben, jo wie die Verleger einesteild und die Kommijfionäre andernteild zuſammen—
getreten find, ein gejunberes Verhältnis gefunden würbe, als wir es jebt haben,
Die Geheimbünbelei ift natürlich unliebfam, ob fie berechtigt tft, bei der Macht,
die der Börfenverein jekt in Händen hat, ift eine andere Frage, denn manche Ge:
heimbündelet hat die Geſchichte glorifiziert. Erit die Refultate geben den Aus:
ſchlag in der Beurteilung und zumeilen heiligt der Zweck denn doch die Mittel,
Etwas komiſch berührt übrigend der beruhigende Paſſus: „Es handelt ſich alſo
keineswegs um eine Sprengung bed Börjenvereins!” Ei! das läßt tief bliden! —
Warten wir einmal ab, was und die nächſte Zeit in biefen Sachen bringen
wird, —
Hermann Subermann, der ſich twieberholt In den Dienit der Wohlthätigfeit
jtellte, hat im Stuttgarter Buchhandlungsgebilfenverein einen Vortrag zum Beften
ber Witttven: uud Waiſenkaſſe des Allgemeinen deutſchen Buchhandlungsgehilfen—
verbandes gehalten, deſſen pefuniärer Erfolg in M. 1200 beſteht. Gewiß eine
danfenswerte Zuwendung.
Aus Berlin fam die Trauerbotihaft, daß Fritz Borftell, der fih um die Ent:
widelung des Leihbibliotheksweſens beſonders verdient gemacht hat, am 2. Februar
aus dieſem Leben abberufen ift. Er war jeit 1863 Mitinhaber der Nicolai'ſchen
Buchhandlung, der jeit dem Jahre 1870 auch Borſtell's Neffe, Hans Reimann, als
Teilhaber angehört. Die Gründung des „Lefezirfels“ ſowie der Ausbau deflelben
tft eigenes Verdienſt Borftel’3 und er hat daneben das Glück gehabt, den vollen
Ertrag feiner Idee bei Lebzeiten zu genießen. Als Tiebenswürdiger Charafter von
allen Kollegen und Belannten verehrt, befleidete er eine Reihe Ehrenämter, denen
er allezeit bilfbereit und mit Pünftlichfeit vorftand, jo daß man fich feiner dank:
bar erinnern wirb.
Unfere Volfsvertreter beraten jest für den Buchhandel ſchwerwiegende Para:
graphen und da ift es intereffant, die Auslafjung der Preſſe über jolde Fragen
zu vernehmen. So ſchreiben 3. B. die „EN. N.” unter der Überfchrift Gewerbe:
novelle und Buchhandel:
Ohne Sang und Klang ift die Gemwerbenovelle, die vor einem Jahre jo Ieb:
bafte Meinungstämpfe hervorrief, vom Reichstage in eriter Leſung erlebigt wor:
den, ohne daß man es für notwendig bielt, die ſchwierige und in ihren fozialen
Wirfungen noch faum genügend geprüfte Materie noch einmal einer Kommiffion
zur Durdberatung zu überweiſen. In dem Reichstage mag für die Haltung ber
Wunſch maßgebend gemweien fein, möglichit ſchnell etwas Pofitives zu Stande zu
bringen, um nicht immer wieder den Vorwurf beraufzubeihwören, daß er feine
Arbeitszeit in leeren Rebereien verzeitele. Nun mag ja zugegeben werben, daß bie:
ſer Wunſch gerechtfertigt ericheinen muß, aber zweifelhaft ift es doch, ob gerade
die Gemwerbenovelle fich zu einem foldden Experimente eignet, Denn troß der lan-
gen Sigungen, die im vorigen Jahre abgehalten wurden, war man in ben wichtig-
ften Fragen noch zu feiner Einigung gelangt, hatte man in zweiter Leſung Be
Ihlüffe gefakt, die denen ber erften Lejung volllommen engegengejeßt waren.
Die jebt vorliegende Novelle aber bildet lediglich das Reſultat eines Kompromiſſes,
welches zwiſchen ber Regierung und dem Gentrum abgeidhloffen wurde, fie beruht
auf einer möglichft eingehenden Berückſichtigung der Anträge, die einft die Herren
Gröber und Hite im Neichätage eingebradt haben.
286 Zwangloſe Rundichau.
Man wird mit der Tendenz, bie der Gewerbenovelle zu Grunde liegt, vollitän-
dig einverftanden fein können, man wirb mit ber Regierung der Meinung fein
müffen, daß dem jeßhaften Bürgertum ein Vorteil einzuräumen jei vor dem fluf-
tuierenden Teile ber Gelellihaft, vor jenem Haufierertum, das mit Recht als ein
Krebsihaden in unjerem wirtichaftlihen Leben bezeichnet wird. Aber wie man
auf der einen Seite nicht vergeflen darf, ba auch bier ein Unterſchied befteht zwi—
ſchen jenen armen, rechtlichen und arbeitiamen Leuten, die nur die Produkte ihres
eigenen Fleißes feilbieten und fih und den Ihrigen ein kümmerliches Brot jchaffen,
und jenen Anderen, die oft wertlofes Zeug verkaufen und im Haufierertum nur
das Mittel zu einem redtlihen und bequemen Gelderwerb erbliden wie man
etwa darauf Rüdficht nehmen muß, daß allein im Eichöfelde mehr als zweitaufend
Familien gezwungen find, fi von dem Handel im Umherziehen zu ernähren, jo
folte man auch fich forgfältig hüten, in der ſchönen Abficht, den Mittelftand zu
ſchützen, in mißverftänblicher Auffaffung gerade biefem Mittelftande ſchwere Wun—
den zu fchlagen. Man bat in der Gewerbefommiffion dem Weinhandel gewifje
mildernde Umstände zugebilligt, man bat auch in der Gewerbenovelle gewiſſe Rüd-
fihten walten lafien, indem man dem Bunbesrath bad Recht überließ, in gewiſſen
Fällen Ausnahmen zuzulaffen, aber man bat troß aller Einwendungen fi mit
voller Schärfe gegen einen blühenden Zweig des Erwerbslebens, gegen den Bud:
handel gekehrt und hat Beitimmungen in das Geſetz aufgenommen, die eine voll:
ftändige Umwälzung und eine ſchwere Erfchütterung dieſes angejehenen Berufes be:
deuten. Daß ber „Reifende” im Allgemeinen zum „Haufierer” berabgebrüdt wird,
dak auch die Taufende von ehemaligen Offizieren, die durch die Kolportage für
Lerifons oder Pracht- und wiſſenſchaftlichen Werten fich ihr Brot verdienen, mit
dem wenig anbeimelnden Haufierernamen bedacht werben, mag ja noch hingehen,
Brot ſchmeckt dennoch für. Aber es ift die Möglichkeit, dasfelbe zu erwerben, für
zahlloje ehrliche Leute jo gut wie aufgehoben, wenn der Reichstag die Novelle im
ihrer jeßigen Faflung annimmt — man raubt dem Ginen das Brot, ohne es dem
Anbern zu fichern!
Nah Artikel 8 der Novelle joll dad „Aufſuchen von Beitellungen auf Waren,
fomweit nicht der Bundesrat Ausnahmen zuläßt, nur bei Kaufleuten ober joldhen
Perſonen geicheben, in beren Gewerbebetriebe Waren ber angebotenen Art Ber:
wenbung finden.“ Gegen bieje Beftimmung hat ſchon im vorigen Jahre innerhalb
der Kommiifion ber Vertreter von Leipzig im Reichätage einen verzweifelten Kampf
geführt, und ebenjo wie die einzelnen Vereine von Kolporteuren haben fich alle
großen deutſchen Verlagsfirmen in Eingaben und Betitionen gegen die Einführung
einer Mafßregel gewendet, bie auf den Buchhandel direkt ruinds wirken muß. Wir
nennen nur einige weltbefannte Firmen, denen man wohl ſchwerlich zutrauen wird,
daß fie unfittliche Produkte oder ſozialiſtiſche Brandſchriften verteilen und bie dem:
nah mit aller Energie Front machen gegen bie neuen Paragraphen, jo aus Leipzig
F. A, Brodhaus, Spamer, Reclam, Payne, Wilh. Engelmann, Breitfopf & Härtel,
Teubner, €, A. Seemann, Dunder & Humblot, Emit Keil, ferner Cotta in Stutt:
gart, Flemming in Glogau, Trewendt in Breslau, Weidmann, Bong, Lipperheide
in Berlin, die hochfonfervative Firma Belhagen & Klafing in Bielefeld und un—
zählige Andere. Es finden fich die Verleger von Zeitichriften, Lerifon-linterneb-
mungen, Prachtwerken, religiöfer Litteratur zufammen, um dagegen zu proteftieren,
dat man in bem Kampf gegen den „Schauerroman” fie ſelbſt und ihre weitichidh"
tigen Betriebe fchädige oder gar vernichte,
Es unterliegt feinem Zweifel, daß die Bildungsbebürfnifie des Volfes in ber
Zwangloſe Rundſchau. 287
Hauptſache durch den Reiſehandel befriedigt werben, daß nad wie vor für alle
Jene, die ji zum Auffuchen eines Bücherlabens nicht entfchließen wollen, ebenfo
wie für einen jehr großen Teil des Landes, wo in Fleinen Städten und Dörfern
Buchhandlungen nicht vorhanden find, nicht nur für die bort verftreuten Höher—
gebildeten, jonbern auch bei ber großen Maſſe ein Bedürfnis nad) perfönlichem An-
gebot des Leſeſtoffes vorhanden ift. Der Kolportagehandel ſucht feine Abnehmer
in Kreifen, beren Angehörige faum je eine Buchhandlung betreten werben, und
wenn bas auch beim Neifebuchhandel nicht der Fall iſt, fo Liegt es wieder in deſſen
Eigenart, daß er ber Befriedigung von Bebürfniffen nachgeht, die erft durch ein
direfted Angebot zum Leben erweckt werben müflen, was durch ben jeßhaften Sorti-
mentsbuchhandel nur in feltenen Fällen gefchehen kann. Es ift einleuchtend, daß
das Preisgeben diefer Ermwerbsart den Umſatz und damit die Erzeugung von
Schriftwerfen einſchränken und den Beteiligten das Brot ſchmälern oder ganz rau:
ben muß. Vor Allem ift nicht zu vergeflen, daß gewiſſe, großangelegte Unterneh:
mungen, daß jebe gute Familienzeitſchrift, jedes Konverfationslerifon nur bei großem
Abjak in jener Vollkommenheit hergeftellt werben fann, bie man bisher mit Recht
den Erzeugnifien des beutihen Buchhandels nahrühmt. Die fittlihe und er:
zieheriſche Bebeutung aber, die mit der Verbreitung guter Ritteratur ſich verbindet,
liegt auf der Hand: Wo man lieft und forjcht, da gewinnt die Häuslichkeit an
Behagen und das Familienleben nimmt an innerem Gehalt und Stetigfeit zu.
Man will „den Mitteljftand ſchützen“. Wir greifen einen beftimmten Zweig
der Litteratur heraus und zwar mit Abficht die religiöfe Litteratur, die allein 3
Zehntel des gefamten Kolportagehandel3 umfaßt. Von einem evangeliichen Pre:
digtbuch haben allein 2 Reiſegeſchäfte 75000 Eremplare umgejekt, von ber Bayne-
Ichen Bibel wurden über 100000 Exemplare, von ber großen Doréſchen 50000 ver:
breitet, bad große fatholifche Gebetbuch von Goffine, die Heiligenlegenben, bie einen
jtehenden Artifel der Kolportage bilden, find zu Hunberttaufenden umgejeßt worden,
die katholiſche Buchhandlung von Scafitein u. Ko. in Köln erflärt geradezu; „Wir
beichäftigen ca. 20 Kolporteure und bemerfen, daß wir im vorigen Jahre auch nicht
ein einzige® Gremplar durch Sortimenter haben abjeten fönnen.” Wem würde
nun das Geſetz Nutzen bringen? Sie fträuben ſich mit aller Macht gegen bie ihnen
zugedachte „Wohlthat”. Den Kolporteuren, Reifenden, Papierhändlern, Buchbin-
dern, Xylographen, Galvanoplaftifern, Buchdruckern, Schriftitellern, Künftlern?
Site würden ihr Brot verlieren. Dem Bublifum, dem der Bezug feiner Lektüre
erſchwert und verteuert wird? Wohl kaum. Ziemt es fich aber, in unferer Zeit
des wirtjchaftlihen Niederganges weite Kreife der Bevölkerung in ihrem völlig
fegitimen Erwerbe jo fchwer zu beeinträchtigen, ohne damit der anderen Seite
einen nennenswerten Nutzen zu ftiften? Es iſt ſtatiſtiſch nachgewieſen, daß in
Deutſchland allein im Reiſe- und Kolportagebuchhandel 48432 Perſonen mit einem
Einfommen von 53102400 Mark beichäftigt find, die in der Zufunft auf der Straße
liegen werben — wird man biefe Leute mit ihren Familien fünfttg auf Staats-
penfion übernehmen, wie einft bei der PBerftaatlihung der Eifenbahnen bie
Direktoren?
Mißſtände find ja, das ift gar nicht zu leugnen, im Haufierertum in großer
Zahl vorhanden; im Buchhandel aber haben fie fich kaum gezeigt, und wo fie her:
bortraten, war dad Strafrecht fompetent. Namentlich befteht, um Dies zu wieder—
holen, eine Konkurrenz von Reifenden gegen die Handlungen Eleinerer Ortichaften
Ihon deshalb nicht, weil die Buchhandlung in diefen überhaupt nicht vertreten ift.
Die Buchhandlungen in ben mittleren Stäbten aber betreiben zumeiſt bie Kolpor:
288 Zwangloſe Rundſchau.
tage: ober Reiſegeſchäft ſelbſt als einträglichen Nebenzweig und in großen Städten
liegen bie Gebiete deö Sortiments: und Kolportagehändlerd in Bezug auf Kunb-
fchaft, Betriebäweife und Gattung der Waren jo weit auseinander, daß von einer
Konkurrenz nicht die Rede fein kann. So weit aber eine foldhe Konkurrenz that-
fählich vorhanden iſt, da beruht fie doch auf dem legalen Beitreben jedes Staats:
bürgers, fich feinen Unterhalt auf den fi ihm darbietenden erlaubten und anjtän-
digen Wegen zu erwerben. Übrigens giebt es feit Jahren nirgends weniger Kon:
furfe, ald in bem Sortimentsbudhhandel.*) Darum darf man wünſchen und hoffen,
daß ber Reichstag fich nicht durch die albernen Redensarten vom „Schauerroman“
übertölpeln laffen, dba er nicht mit faltem Blute eine große Induftrie ruiniren
wird, fondern daß er im zweiter Leſung ſchon in den Artikel 8 die Beitimmung
aufnehmen wird, daß Drudjahen, andere Schriften und Bildwerke auszuneh—
men find.“
Und weiter leſen wir noch kurz vor Drudlegung diefes Heftes:
„Zu pofitivem Thun ift der Reihätag nur mit der Abfertigung der Gewerbe:
novelle gelangt. Die dritte Leſung mag noch redaktionelle Anberungen bringen,
wie fie ja in ber zweiten Beratung ſchon angefündigt wurden, im Übrigen aber
wird man jebt die enbgiltige Geftalt des einftigen Geſetzes volljtändig beurteilen
fönnen. Seitdem fie zum erften Dale an den Reichätag gelangte, hat fie ſich ent-
fchieden zu ihrem Vorteil verändert. Bor allem tit es erfreulich, daß die Beſtre—
bungen der Herren Gröber und Hitze vollftändig mißlungen find, in ſolchem
Maße fogar, daß fchlieglih das Zentrum felbit im Verein mit den Konfervativen
Anträge aufnahm, die die beiden ‘Parteien im vorigen Jahre auf das Heftigite
befämpft hatten. Vor Allem ift von einem blühenden Gewerbe, von dem Bud)
handel, eine ſchwere Gefahr abgemwendet worden. Es iſt eine einfache Dankespflicht
feftzuftellen, dab das Hauptverbienit an diefem Gelingen bem Vertreter Leipzigs im
Reihätage, Herrn Profeifor Hafie, zufommt. Sein Antrag ift es gewefen, den mit
einer ganz unweſentlichen Mobifilation die Rechte und das Zentrum aufgenom:
men baben, von ihm rührt auch der Vorſchlag ber, für beftimmte Gegenden oder
Gruppen von Gemwerbetreibenden Ausnahmen zu jtatuteren. Mit Recht bat Abg.
Haffe betont, daß das Xeben zu vielgeftaltig ift, um durch generelle Beſtimmungen
die Dinge fo zu treffen, daß fein Zweig unbillig behandelt wird. Indem er bie
Form angab, in ber biefer Auffaffung Rechnung getragen werben konnte, jchuf er
die Brüde zu einer Verftändigung, die auf ber einen Seite das Zuſtandekommen
der Novelle ermöglichte, während auf der anderen Seite die Gefahren um ein Be:
deutendes verringert werben. ebenfalls ift num endlich auch für zahlreiche Kreiſe
eine Gewißheit geichaffen; ob einem eben jein Schidfal erfreulich ift, kann ja
fraglih jein, aber das Hangen und Bangen ijt vorüber, und dad Gewerbe fann
fih auf die neuen Verhältnifje einrichten, Seht wird der Reichätag die Aufgabe
haben, fich etwas eifriger als in ben letzten Tagen mit bem Etat zu beichäftigen,
er muß bis zum 1. April fertiggeftellt werben und die Ojterferien ftehen bevor!
*) Wir haben Gründe bies zu bezweifeln.
>
Die Entflehung der Schreibkunft und die Briefe
der Arzeit.
(Fortſetzung.)
Es iſt bewieſen, daß die Ägypter ihre Wortbilder nicht zu Laut⸗
zeichen zu vereinigen wagten, ohne ihnen in den meiſten Fällen Begriffs—
bilder als Erklärungszeichen beizufügen; einmal aber muß der Verſuch
gemacht worden fein, dieſe Lautzeichen ohne Erklärungszeichen zuſammen—
zuſtellen, und als es ſich zeigte, daß man ſie auch ohne dieſe leſen konnte,
fand der Verſuch Nacheiferung. Der ſchon damals beſtehende lebhafte
Handelsverkehr führte die Kunde davon nach anderen Ländern, und die
Buchſtabenſchrift machte von dieſer Zeit an jede Wort- oder Silbenſchrift
unnötig.
Bon den Phöniziern ging die Buchſtabenſchrift zuerit auf die He-
bräer über, dann auf die Griechen und die übrigen europäiſchen Völker.
Die den germaniihen Völkern eigentümliche Buchſtabenſchrift ift unter dem
Namen Runenjchrift befannt. Die Runen, jagt Bagge, jcheinen ein
Schriftſyſtem zu jein, welches während des erjten Jahrhunderts v. Chr.
in einem jüdgermanischen Stamme ausgebildet wurde nad) einer römijchen
Schriftform, welche die Germanen von einem der am Nordabhange der
Alpen wohnenden celtiihen Stamme erhalten haben mochten.
Über die Erfindung der flaviichen Schrift duch Cyrillus erzählt
Khrahre, ein bulgariiher Mönd: „Im alter Zeit Hatten die Slovenen
feine Bücher und feine Buchftaben zum Schreiben. Sie waren Heiden
und laſen und loften mittelft Zeichen und Einjchnitten Nachdem fie das
Ehriftentum angenommen hatten, jahen fie die Notwendigkeit ein, ihre
Zuflucht zu den griechischen und lateiniſchen Zeichen zu nehmen, um ihre
von Regeln entblößte Sprache jchreiben zu fünnen. Der heilige Con—
ftantin, der Philofoph, Eyrillus genannt, ſchuf ihnen 835 n. Chr. ein
Alphabet von 38 Buchftaben, von denen einige den griechiichen ähnlich
find, die andern die dem Slaviſchen eigentümlichen Laute bezeichnen.“
19
290 Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit,
Hieraus geht ohne Zweifel hervor, daß die Slaven Runenzeichen hatten,
aber nicht damit jchrieben, jedenfalls waren dieje Zeichen Wortzeichen, fie
verstanden nicht, einen einzigen Zautwert davon abzulöfen, lieber quälten
fie fih ab, mit einem fremden unvolllommenen Alphabet ihre Sprache
zu jchreiben; denn die fremden Zeichen hatten für fie nur einen Laut—
wert, feine Begriffsbedeutung Mit Staunen vernahmen die Slaven,
daß ihre Zeichen ebenjo gut Zautzeichen fein konnten, wie die griechijchen,
und die Entdeckung war gemacht. — Hier haben wir überhaupt die Lö-
fung des Rätſels der Buchftabenichrift; jo erfand der unbelannte Jude
das hebräifch-phöniziiche Alphabet, jo entjtanden die perfilchen, tatarischen,
ſyriſchen, arabifchen, indischen Schriften, auf diefe Weiſe wurbe in Grie-
henland die Buchſtabenſchrift eingeführt. — Es waren „Erfindungen“,
man fand das plöglich wertvoll, woran man biöher täglich achtlos vor-
beigegangen war; wie Millionen den Blitz einjchlagen jehen und nur ein
einziger, Franklin, dadurch auf den Gedanken des Blitzableiters kam; wie
man in China und Deutichland den Typendrud erfand, während die
Römer längft mit Typen gejpielt hatten, ohne auf den Gedanken zu fom-
men, damit zu druden. |
Wie jehr die Erfindung der Schrift fi) in das Dunkel des Alter-
tums verliert, zeigt die ägyptiiche Schrift. Im den Pyramiden bei Gizeh,
welche vor 6000 Jahren von dem Herrichern der vierten Dynaſtie errichtet
wurden, findet man die Hieroglyphenſchrift bereit? in berjelben Weile
ausgebildet, wie zur Zeit des Unterganges der ägyptiſchen Religion im
Anfange unferer Zeitrechnung. Schon in den Pyramiden von Gizeh fin-
den wir ferner eine zweifache Schriftform, nämlich die mit künſtleriſcher
Sorgfalt ausgeführten Bildzeichen, welche die Griechen ſo charakteriſtiſch
„Hieroglyphen“, d. h. „Heilige Eingrabungen“, und die flüchtig gemalte
Schrift, die fie „hieratiſche“ oder Priefterfcrift nannten. Es ift offen-
bar, daß die Denkmäler Ägyptens uns über die Entftefung der Hiero-
glyphen volllommen im Dunkeln laffen. Ehe man daran denken konnte,
jolhe Bauarbeiten wie die Pyramiden herzuftellen, mußten die Wiflen-
haften einen hohen Grad erreicht haben, mußte die Schreibtunft voll-
ftändig ausgebildet und vom Zifferſyſtem getrennt fein. Während die
Hieroglyphen zu Infchriften auf Tempelmwänden und Monumenten dien-
ten, benußten die Priefter die hieratiiche Schrift zu ihren profanen Auf-
zeichnungen. Die hieratiſche Schrift verhält fich zu den Hieroglyphen
wie eine flüchtige Handichrift zu unferer Drudjchrift, und jo wenig je-
mand, der nur Drudichrift lefen Kann, eine flüchtige Handfchrift zu ent-
ziffern vermöchte, fo wenig konnte ein Ügypter, der nur die Hieroglyphen
kannte, die hieratiſche Schrift Iefen. — Aus der hieratifhen Schrift ent-
widelte fi nad) und nad) die demotifche (die Volksſchrift) oder die epi-
Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 291
ftolographifche (die Briefſchrift), welche als eigener Duftus zuerft im 8.
Jahrhundert v. Chr. ©. auftrat. In diefer Schrift tritt der Lautcharak—
ter noch mehr in den Vordergrund, nur wenige Silben- oder Wortzeichen
wurden beibehalten. — Wer fich eingehender über die Entitehung der
Schreibkunſt unterrichten will, den verweilen wir auf Karl Faulmanns
„Geſchichte der Schrift” (Wien, Peſt, Leipzig, U. Hartleben’s Verlag),
welcher die in diefem Kapitel enthaltenen kurzen Angaben zum größten
Teil entnommen find.
Wir Ichließen diejes Kapitel mit einigen Angaben über das Alter
der älteften Religionsbücher.
Der Religiongftifter der Perjer, Zoroafter, der Verfafier des Bend-
Aveſta, Tehrte gegen das Jahr 2234 v. Chr.
Die vier Veda-Bücher der Brahminen entjtanden im 17. oder 16.
Jahrhundert v. Chr. und die aus zwölf Büchern beftehende Gejebfamm-
lung des Manu jol einige Jahrhunderte jünger fein.
Moſes lehrte ungefähr 1515 v. Chr.
Die Götterlehre der Griechen, welche jpäter aud) von den Römern
angenommen wurde, behandelte Homer ungefähr im Jahre 950 v. Chr.
in feinen weltberühmten Gejängen.
Siddharta ftiftete die Buddha-Lehre im Jahre 588 v. Chr.
Kon-fu-tje, welcher die kanoniſchen Bücher der Chinejen ſchrieb,
wurde im Jahre 551 v. Chr. geboren.
Der Koran der Islamiten und die Edda der Germanen entitanden
in der zweiten Hälfte des erjten Jahrtaujends nach Chriftus.
II. Der Verkehr
durch die Schrift vor Entfichung des Briefen.
Wie das Korrefpondenzmittel „Feuer und Rauch” dasjenige durch
„Ruf und Schrei” abgelöft hat, um jeinerjeit3 wiederum durch die „flie-
genden Boten” erjeßt zu werden, jo find letztere durch die Schrift ab-
gelöft worden.
Ein jolcher Verkehr durch „Ruf und Schrei” oder durch „Feuer und
Rauch”, der zwiſchen befreundeten Nachbarvölfern verabredet oder von
den Häuptlingen angeordnet wurde, verdantte jeinen Urſprung ohne Zwei-
fel dem dringenden Bedürfnis, zwedmäßige und wirkungsvolle Mittel
ausfindig zu madhen, um die Stammesverwandten und Verbündeten bei
feindlichen Überfällen, Aufftänden oder ähnlichen Ereigniſſen ſchnell zur
Hilfe herbeizurufen.
Der Verkehr durch Auf und Schrei enthielt wohl das Weſentliche
19
292 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
der Botſchaft, war aber feiner völligen Öffentlichkeit und allgemeinen
Berftändlichkeit wegen unzwedmäßig. Deshalb folgte ihn der durch Feuer
und Rauch; aber diejer fette wieder das ganze Land in Bewegung,
während er gleichzeitig wegen der Unvollftändigkeit und Undeutlichkeit der
Botichaft leicht Verwirrung und Mißverftändniffe verurſachte. Folglich
mußte man auf Mittel finnen, welche ohne unnügen Lärm ein Ereignis
befannt machten und den Befehl und Willen des Negenten jo rajch als
möglih in die Ferne trugen. Beſtimmte Boten erfüllten in gewiſſen
Fällen, wo die Mitteilungen nicht durch eine zeitraubende Umftändlichkeit
erſchwert wurden, wohl ihren Zweck; aber damals wie jetzt konnte man
durch mündliche Übermittelung eine Botichaft, ganz bejonders wenn e3
fih um geheime Aufträge handelte, faum eraft und ausführlich an ihr
Biel gelangen laſſen.
Unter ſolchen Umftänden wies in der Zeit ber Schriftlofigkeit die
mit jo großem Erfolge betriebene Viehzucht auf die Taube ala eine höchſt
brauchbare Botin hin; aber obſchon dadurd die unbequeme Öffentlichkeit
vermieden wurde, was in vielen Fällen von großem Nuten war, jo
fonnte doch das Bedürfnis nah Mitteilung nicht vollftändig befriedigt
werden, weil die Mangelhaftigfeit der Botſchaft noch fortbeftand, jo lange
das Teuer- oder Rauchfignal durch nichts weiter als durch die Geftalt
der Taube oder höchſtens durch ein paar vorher verabredete ſymboliſche
Zeichen erjegt werden konnte. Dieſem Mangel mußte abgeholfen werden,
und mit Hilfe der Webefunde, deren Anfänge in jene Zeit fallen, ließ
fi dies verhältnismäßig leicht bewerkftelligen: Verſchieden gefärbte, ſpä—
ter verjchieden geknotete Schnüre, welche an die Füße der Taube be-
feftigt wurden, traten in Thätigkeit. Damit juchte man die von der
Taube zu übermittelnde Nachricht näher zu beftimmen und dem Empfänger
die Möglichkeit eines genaueren Verjtändnijjes an die Hand zu geben.
Die Schrift ftammt von den Botichaften durch Vögel ber. Zuerſt
begnägte man fi damit, durch ein geheim verabredetes Symbol oder °
Zeichen mit Hilfe des Vogels eine Nachricht zu verbreiten, ein Olblatt
war das Sinnbild des Friedens, eine rote Blume das der Liebe u. j. m.
Uber bald genügten diefe ſymboliſchen Zeichen nicht mehr, bejonders wo
es fih um Geheimhaltung der Nachricht handelte. Da kam die Schnur
mit verjchiedenen Farben, verichiedenen Flechten und verjchiedenen Kno-
ten zur Hilfe, die nur der Abjender und der Empfänger deuten Tonnte.
Dieje Knoten wurden die Duelle der Schrift. Die verjchieden gefärbten
Schnüren, mit denen verichiedene Begriffe verbolmetjcht wurden, find bei
den Webern entitanden. Die älteften Aderbauer haben ſich diefer Schrift
bedient; und daß fie auch in Mittelafien im Gebrauch war, bezeugt die
Sage vom gorbiihen Knoten. Die erſte chineſiſche Schrift beſtand aus
Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 293
Schnüren mit Knoten; ob das Garn weiß oder rot war, ob der Knoten
oben oder unten jaß, wie viele Knoten oben und unten, wie viele Fäden
in einem jolchen Knoten waren, in welcher Ordnung fie auf einander
folgten, durch dieſe verſchiedenen Kombinationen wurden die Gedanken
ausgedrüdt. Nur die, welche den Schlüffel dazu beſaßen, konnten eine
derartige Schrift leſen. Die Chinejen bewahrten das Geheimnis diejer
Schrift forgfältig und erft auf dem Totenbette vertraute der Water es
jeinem 2ieblingsjohne an. In der Tatarei, in Weftafrita und auf den
Südjee-Injeln fieht man nicht felten Eingeborene, die ſich diefer uralten
Art der Gedankenmitteilung bedienen.
Die fefundäre Art des prae⸗ideographiſchen Stadiums der Schrift,
d. 5. die zujammengebundenen, mehrfach verfnoteten Schnüre, kamen
allmälig ohne Vermittelung der Taube in Gebraud. Je nad) der ver-
ſchiedenartigen Beichaffenheit der Knoten, ihrem Abſtande von einander
und der Verbindung der einzelnen Schnüre mit einer Hauptjchnur erhiel-
ten die Zeichen verjchiedene Bedeutung.
Amerika ſcheint zuerft das Land geweſen zu fein, nad) welchem die
Einwohner der anderen Erdhälfte flüchteten, wenn die Verfolgung ihnen
das Leben im Heimatlande unerträglich machte. Bei vielen amerifanijchen
Völkern haben fi) Traditionen erhalten, laut welchen ihre Vorfahren
nah der neuen Welt eingewandert fein jollen. Es jcheint deshalb na-
türlih, daß wir in Amerika Kulturformen erhalten finden, die fich in der
alten Welt ſchon längft überlebt haben. Dahin gehört der Gebrauch ber
zufammengelnoteten Schnüre, von deren früherer Anwendung in Afien
und Europa jeßt nur noch Sagen umd vereinzelte Gewohnheiten zeugen.
Die größte Verbreitung fanden diefe Knotenſchnüre unter der Inka—
herrſchaft in Bern, wo fie noch zur Zeit der ſpaniſchen Eroberung in
vollem Gebrauch waren. In jeder Stadt gab es einige bejonders ange-
ftellte Knotenbinder, Duipposcamaios, welche die Duippos zu knüpfen
und zu erflären verftanden. So ungenügend diefe Knotenſchrift auch
war, jo Hatten doch während der Blütezeit des Inkareiches die angeftell-
ten Schrifttundigen eine jehr große Fertigkeit im Entziffern der Knoten;
dennoch aber glückte e3 ihnen nur felten, einen Quippos ganz ohne münd-
liches Kommentarium zu Iefen. Dazu mußte immer ein kundiger Bote
mitgejchiclt werden, bejonders wenn der Duippos aus einer weit entlege-
nen Provinz kam, oder wenn er fi) auf Volkszählungen, Tribute, Krieg
u. j. mw. bezog. „Zur Bezeichnung von Geld- und dergleichen Geſchäften,
ebenjo bei poetischen Mitteilungen bedienten fich die Peruaner des Duip-
pos mit derjelben Leichtigkeit, als ob fie beſſer ausgebildete Schriftzeichen
beſeſſen hätten“, jagt ein Autor.
Um ein Bild des pojtalen Verkehrslebens zur Zeit der Blüte der
294 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
Knotenfhrift zu erhalten, müfjen wir die Verhältniffe bei den nordame-
rikaniſchen Indianerftämmen betrachten, die ſich dieſes Korrefpondenzmit-
tels bedienen. Bei Unterhandlungen über Krieg und Frieden, bei Ver-
tragichlüffen u. j. w. fpielt der Wampumgürtel eine wichtige Rolle. Dieje
von den Indianerweibern angefertigten, aus Schnüren und Mufchelichalen
zufammengejegten und mit allen möglichen Figuren verzierten Bänder
Ihidt man an die anderen Stämme, um ihnen Wünjche, Forderungen
und Bedingungen mitzuteilen. Diefe Wampumgürtel dienen als öffent-
lihe Urkunden und jollen die Worte des Boten beftätigen; denn ohne
mündlihe Erklärung find fie, wie die Quippos, felten ganz verftändlich.
Hatte in einer feierlichen Berjammlung der von einem anderen Stamme
abgejandte Redner etwas Wichtiges befannt gemacht, jo ſchloß er mit der
Überreihung des Wampumgürtels: „Zur Bekräftigung meiner Rede foll
ih diejen Wampumgürtel überreichen“. Der antwortende Kontrahent
reichte dem Redner dann einen ähnlichen Gürtel als Gegenficherheit. Die
fontrahierenden Vertreter der Stämme hielten während der Unterhand-
lungen jeder ein Ende ded Wampumgürtels. Gab man den Wampum-
gürtel zurüd, jo bedeutete dies, daß man auf die Forderungen und Dar-
legungen nicht eingehen wolle, und damit war die Verhandlung fofort
abgebrochen.
Beim Entjtehen der ideographiichen Schrift verjchwanden die Kno—
tenſchnüre allmälig. Ehe der Papyrus zu Schreibmaterial verarbeitet
wurde, ritzte man die Gedanken auf alles ein, was irgendwie dazu paj-
jend erſchien, auf Stein, Schiefer, Blei, Zinn, Kupfer, Holz, Knochen,
geglättete Rindenftüce, Palmenblätter, die man teils ganz, teils in Strei-
fen verwandte, auf Häute, jowohl ungegerbte, als gegerbte; man gravirte
auf Ziegel mit Federn, oder mit Eijenftiften in weichen Thon, den man
erft nachher zu Biegeln brannte, in welchen dann die Schrift unauslöfch-
lich haftete.
Amerika ift das Haffiiche Land der Bilderjchrift, Hier tritt fie ung
noch rein und unverfäljcht entgegen. — Auf feiner Reife im Jahre 1860
fand 3. 3. Tihudi im Kloſter Kapakahwana am Titikafee eine Tierhaut,
worauf mit Nachtichattenjaft eine Bilderſchrift gezeichnet war. Der Er-
finder dieſer Schrift joll ein noch in dieſem Jahrhunderte lebender Ay-
mara-Indianer Namens Juan de Dios Apaſa gewejen fein. Zu den
merfwürdigiten Schriften der Indianer gehört die des Milmal-Stammes,
der im franzöfiihen Kanada wohnt und eine zeichenreiche Hieroglyphen—
ſchrift befikt, welche einmal Gemeingut aller kanadiſchen Stämme war.
Bor der Ankunft der Europäer jchrieben die Indianer dieſe Zeichen in
Steine oder in Baumrinde mit Pfeilen, jcharfen Steinen oder anderen
Inftrumenten, Es war Gewohnheit, ſolche Schreiben an die Indianer
Die Entjtehung ber Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 295
anderer Stämme zu jenden und von diefen auf gleiche Weife Antwort zu
erhalten; die Häuptlinge pflegten auf diefe Art Zirkulare an ihre Mannen
zu ſchicken; viele Indianer befiten in ihren Wigwams eine Art Biblio-
thef von Steinen und Rindenftüden, und die Mebizinmänner bejigen
große Manufkripte in diejen Charakteren, welche fie über kranke Berjonen
lefen. — Der ſüdliche Nachbar der alten Aztefen in Merifo, das Maya-
volt in Yulatan, Hatte eine nicht weniger ausgebildete Kultur, als Die
Azteken, feine Schrift jcheint eine kurſive Wortſchrift gewejen zu jein.
Leider ift der größte Teil ihrer Bücher von den ſpaniſchen Mönchen ver-
brannt worden. Mit Recht kann man inbefjen annehmen, daß dieſe
Schrift, infofern es fi um Nachrichtenjendungen, aljo um poftalen Ver—
fehr handelte, auf demjelben Material zur Anwendung fam, wie die Bil-
derichrift des Mikmakſtammes.
Wenn auch im griechiichen ſowohl wie im jyriichen das Wort „Buch“
gleichbedeutend mit Baft oder Rinde war, fo ift es doch bewiefen, daß
die Griechen zuerft auf Stein fchrieben, fjelbft das Wort yoagyeır hat
etwas rigendes in der homeriſchen Bedeutung und etwas Fraßendes im
Tone Das Wort ſtammt von einem Verbum her, das einrigen, gravieren
bedeutet. Das griechijche biblos wie das lateiniſche liber bedeuten beide
urſprünglich Baft oder Rinde, und erft durch die Verwendung der damit
bezeichneten Stoffe zu Schreibmaterialien erhielten dieſe Wörter die Be:
deutung Buch. Die Namen Bibel und Bibliothek find in alle zivilifierten
Sprachen übergegangen.
Regentenliften, Geſetze und Siegesberichte wurben in Stein gemeißelt,
und bei den Berjern, den Ägyptern und bei vielen anderen alten Völkern
gab es eigene Beamte zur Pflege dieſer Reichsannalen.
Neben zahlreichen gerigten Injchriften enthalten die aſſyriſchen Auinen
auch folche, die vor dem Brennen vermittelft Holzformen in die weiche
Biegelmafje eingedrüdt worden find. — Affurbanihabal (Sardanapel VI.)
ftarb 647 v. Chr. Unter feiner Regierung joll die große, aus Thon:
tafeln beftehende Bibliothek entftanden fein, welche Layard in den Ruinen
von NRiniveh entdeckt Hat und die fich jet im britiichen Muſeum befindet.
Mit Schrift verfehene Ziegelfteine findet man in Babylon Hauptjächlich
in den Mauern der großen Königsburg (heute EI Kafr genannt), doch
auch an anderen Orten, jelbft außerhalb der Stadt in den Ruinen von
al Hymer. Die Biegelfteine find aus feinem Thon, ftarf gebrannt, mej-
jen ungefähr einen halben Fuß im Geviert und find etwas über einen
Zoll did. Stet3 findet man fie mit der Schriftjeite nach unten liegend,
ein Beweis für die Sorgfalt, die man für ihre Erhaltung beobachtete. —
Auch in Ägypten hat man, wie in Babylon, Ziegelfteine mit eingebrücten
Inſchriften gefunden,
296 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
Sowohl die babyloniiche Sage wie die Edda erzählen von vergrabe-
nen Steintafeln, die nach der Sündflut wieder aufgefunden wurden.
Nach 4. Moſes 5, 23 ſoll man auch auf Schiefer oder einer ähn-
fihen Steinart gejchrieben haben.
In Steintafeln grub Mofes feine Geſetze ein, und Jahrhunderte lang
müſſen ſolche Steintafeln die eingerigten Gebote bewahrt haben. Doc
ſcheint auch jchon zu jener Zeit ein bequemeres Schreibmaterial ange-
wandt worden zu fein. Bon Mojes jelbit erzählt man, daß er die Aus—
wanderung der Israeliten bejchrieben habe, und auf einer anderen Stelle
befiehlt ihm Gott: „Schreibe dies zur Erinnerung in ein Buch”. Deſſen
ungeachtet war auch noch in jpäteren Zeiten nichts Ungewöhnliches, Schrift
in Stein einzurigen. Hiob ruft einmal aus: „Ad, daß meine Reden
geichrieben würden! Ach, daß fie in ein Buch geftellet würden! Mit eifer-
nem Griffel auf Blei, und zum ewigen Gedächtnis in einen Fels gehauen
würden,“ (Hiob 19, 23 und 24.)
(Fortſetzung folgt.)
—
Das Bud) und feine Geſchichte bis zur Erfindung
der Ruchoͤruckerkunſt.
Fortſetzung.)
Vir folgen, um uns über dieſe immerhin intereſſante Frage zu
informieren, gern der trefflichen und eingehenden Darſtellung Gölls
hierüber: „Der Preis der Bücher in Rom, ſchreibt dieſer, war
natürlich nach Kalligraphie, reicherer Ausſtattung, Korrektheit, Alter,
Format, ſehr verſchieden. Wären fie koſtſpielig geweſen, jo hätten
ſie nicht ſo verbreitet ſein können, und daß ſie im ganzen für die
damaligen Verhältniſſe nicht zu teuer waren, geht auch aus den
wenigen Stellen hervor, die uns direkte Bücherpreiſe nennen. Da haben
wir zuerſt ein Gedicht in den „Wäldern“ des Statius, in dem der
Dichter gegen einen Freund über ihre beiderjeitigen, aus Büchern beftehen-
den Satırrnaliengefchente jcherzt: „Wollen wir einmal zufammenrechnen,”
ichreibt er, „mein Buch war purpurn, aus neuem ‘Papier, mit zwei
Knöpfen verziert und koſtete mich, außerdem daß e3 von mir war, zehn
Affe (50 Pf.). Du ſchenkſt mir ein von Motten benagtes, durch Moder
morfches, es verdiente von libyſchen Dliven zu triefen, oder Weihrauch
vom Nil oder Pfeffer zu bewahren, oder nach byzantinischen Pöllingen
zu duften, und das nicht einmal deine Worte enthält, jondern des alten
Brutus läffige Perioden, getauft aus der Maffe eines unglüclichen Bücher-
höfers, für nicht mehr als einen verichlagenen AB.” Wir wifjen freilich
nicht, wie groß das Geſchenk des Statius gewefen ift, aber billig bleibt
der Preis immer, jelbft für den Werth des Einbandes allein. - Etwas
deutlicher drückt fi; Martial an mehreren Stellen über den Verkaufs—
preis jeiner Epigramme aus. Zuerſt weilt er im erften Buche einen zu-
dringlichen Menjchen, der ihn immer mit der Witte verfolgt Hatte, ihm
feine Gedichte zum Durchlefen zu leihen, an die Adreſſe des Buchhändlers
und fügt Hinzu: „Vom erften oder zweiten Sache wird er dir für fünf
Denare (4 M. 30 Pf.) den Martial geben mit Bernftein geglättet und
mit Purpur geſchmückt“. Nun läßt fich freilich weder darüber ftreiten,
ob dieſes Epigramm erft fpäter vom Dichter, der doch matürlich den
298 Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
Verkaufspreis nicht wiſſen konnte, in das erfte Buch eingefchaltet worden
jei oder ob Martial mit dem epigrammaton libellus gar nicht das erfte
Bud, fondern die vor dieſem edierten Xenia und Apophoreta gemeint
habe. Im eriten Falle bezöge fich die Summe auf 119 Epigramme und
wäre noch mäßig. Daffelbe erite Buch enthält aber noch eine andere
Preisbeftimmung. Der Dichter ruft nämlich einem litterariichen Eigen-
tumsverwechäler zu: „Du irrft, habgieriger Dieb meiner Schriften, wenn
du glaubft, ein Dichter werden zu können, um den Preis, den die Ab—
ſchrift koftet und ein geringer Einband. Des Publitums Beifall befommt
man nicht für 6 oder 10 Eefterzen (1,30 M. oder 2,20 M.).“ Wie—
wohl auch Hier jchwerlich das erfte Buch gemeint ift, jondern das früher
veröffentlichte, oder Martial noch einen Durchſchnittspreis angeben will,
jo kann man in der erftgenannten Summe den Preis einer Pracdhtaus-
gabe, in der legten den einer Auflage für das Volk erkennen.
Am beftimmteften äußert ſich aber Martial über die billigfte Ausgabe
ber Zenien. „Den ganzen Schwarm der Zenien in dieſem ſchwachen Werfchen
wirft du um 4 Seſterzen (88 Pf.) zu kaufen befommen. Bier find nod)
zu viel, es könnte die Hälfte koften, und der Buchhändler Tryphon würde
nod Gewinn haben.” Diejer Preis ift jehr billig, denn die Zenien be-
ftehen außer den 3 Eingangsepigrammen aus 124 Diftichen und füllen
beinahe einen heutigen Drudbogen. Freilich mag auch das Kopieren den
Abjchreibern ſehr jchnell von der Hand gegangen zu fein, dann möchte man
faum die „Stunde“ wörtlich nehmen, wenn der Dichter unter den guten
Gründen für die Kürze des einzelnen Buches Folgendes angibt: „Erftens,
weil ich weniger Papier brauche, zweitens, weil ber Buchhändler dies in
einer Stunde fertig bringt, und nicht zu viel Zeit auf meine Scherze
verwenden wird“. Wer follte glauben, daß zu 93, zum Zeil ziemlich
großen Sinngedichten mit 546 Verſen nicht mehr Zeit erforderlich geweſen
wäre. Es wären dann auf die Minute 9 Verje gefommen. Wenn man
aber nad einem Durchichnittspreis für den ganzen Martial jucht, jo
nehme man die wohlfeilen Xenien mit der erwähnten Volksausgabe des
eriten und zweiten Buches zufammen. Das Ergebnis der Durdjchnitts-
rechnung wird fih dann ungefähr auf 1,50 ftellen, und man könnte jo
eine billige Ausgabe ſämtlicher 14 Bücher auf 7 Thaler ſchätzen, einen
Preis, der, wenn man für die einzelnen Einbände die Hälfte in Abzug
bringt, gering genug ift. Die Prachtausgabe dagegen wäre nicht unter
20 Thalern zu haben gewejen. Zu des Grammatiferd Gellius Zeit
faufte deſſen Kollege Fidus Optatus das zweite Buch der Aeneide für
20 Goldftüde (ca. 137 Thlr.) und das ganze Epos wäre hiernach auf
1644 Thaler zu ftehen gelommen, Freilich war es ein uralte® Eremplar,
das der Käufer für autograph hielt.”
Das Bud und feine Gefhichte bis zur Entftehung der Buchdruderfunft. 299
Können wir aljo eine definitive Angabe über den Preis eines Buches
nicht machen, jo find wir noch mehr im Unklaren, wenn wir uns über
das Verhältnis zwifchen Verleger und Autor, insbejondere über Die
Honorarfrage zu orientieren fuchen. Haben wir ja doch hierbei vor allem
andern zu beachten, daß die Stellung des römischen Literaten eine ganz
andere war, al3 wir nad) unjeren modernen Begriffen anzunehmen ge-
neigt find. Läßt fich für diefelbe überhaupt bei ung ein Vergleich finden,
jo haben wir eher an das Verhältnis unſer mittelalterlichen Dichter zu
denken, deren Hauptbelohnung für ihre poetiichen Leiftungen nicht in
einem gejhäftsmäßigen Honorar, jondern in freiwilligen Gaben und Ge—
Ichenfen der Fürſten, die fie fich eben durch ihre Lieder zu Gönnern ge-
wonnen hatten, beftand. So mahnt es uns betjpielsweile an das Leben
Walther von der Vogelweide, wenn wir erfahren, daß Mäcenas feinem
geiftreichen Freunde Horaz ein Landgut zum Geſchenk gemacht habe, und
Vergil wurde von feinen Gönnern Mäcenas, Auguftus, Varius fo reich—
lich beichentt, daß er ein beträchtliches Vermögen Hinterließ. Freilich
gehören dann hierbei Thatjachen, wie diejenige, daß ihm einft Oftavian für
jeden Vers einer Stelle in feiner Aeneis 10000 Sefterzen = 725 Thaler
auszahlen ließ, weit eher in das Kapitel weiblicher Poetenſchwärmerei,
als in das einer vernünftigen Patronſchaft. Durch ſolche Gaben mußten
fih dann freilich die Autoren dafür ſchadlos halten, daß ihnen von
Seiten ihrer Verleger noch nicht die Spur eines Honorars zugelommen
zu fein jcheint. Wenigftens finden wir in Ciceros Briefwechjel mit feinem
Verleger Attikus keinerlei Andeutung über diefen Bunkt, auch Duintinian
ſcheint etwas wie eine Honorarforderung gar nicht zu kennen, und jo
ſcheint Juvenals Klage in jeinen 7 Satiren:
Dann tft euer Bemühen frudtbringender, die ihr Geſchichte
Schreibet? es heifchet die Zeit daS mehr und es heifchet des Ols mehr,
Denn bier fehlet das Maß, es erhebt das taufendite Blatt fich
Allen und wächſt und madet fie arm durch die Menge Papieres;
Alfo gebeut Unmaſſe des Stoff und der Werfe Geſetz es.
Doch was bringet’3 für Saat? was trägt ber geöffnete Boden?
Gibt Hiftorifern wer, was bed Tagblatt3 Leſern er gäbe?
volltommen berechtigt zu fein und jcheint nebenbei dadurch, daß von einem
Honorar auch nicht mit einer Silbe gejprochen wird, zu beweilen, daß
man ein folches überhaupt nicht Fannte,
Sudt man unter ben römijchen Dichtern nach einem Autor, der
eine Sluftration für diefe an und für ſich dürftige Lage der römischen
Dichter bietet, jo finden wir eine folche in Martial, der, feinem Charakter
nad) ein niebriger Schmeichler, aus feinen poetischen Gaben möglichjt
viel Nuten zu ziehen fuchte, ein Streben, unter welchem freilich nicht
300 Das Bud und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchbruderfunft.
feine Verleger, jondern allein feine Leſer und feine Schüßlinge zu Teiden
hatten. Dieſen tritt er immer wieder und wieder mit ziemlich deutlichen
Anjpielungen auf ein von ihm erwartetes Honorar nahe, und insbejondere
der Schluß des elften Buches jeiner Epigramme:
Wenn auch, dünkt mich, du ſatt des fo langen Büchelchens fein fannit,
Forderſt du, Lefer, von mir einige Diftichen noch.
Lupus jedoch will Zins und die tägliche Speife die Knaben,
Gruß dir, Du fchweigit, merfft nichts, Leſer? fo lebe nur wohl.
deutet doch ziemlich unverblümt darauf Hin, daß er von dem aljo an-
geredeten Lejer nicht bloß Lob, ſondern auch Elingenden Lohn erwartet,
da ja doch ein etwa vereinbartes Buchhändlerhonorar diefen mehr oder
weniger illujoriich gemacht hätte. Zudem kannte man ja in Rom ebenjo
wenig wie ein Honorar auch ein gejeglich gejchüßtes Autorrecht: „Troß
des ausgedehnten Gejchäftsbetriebes findet fich keine Spur der Anerfen-
nung einer Art von DVerlagsrecht, gejchweige denn, daß dieſes durch
ein Geſetz geſchützt, der Nachdruck, oder vielmehr die Nachſchrift durch
ein jolches verboten gewejen wäre. Es findet ſich aud) nirgends eine Spur,
noch weniger eine Klage, daß man hier eine etwaige Verlegung von
Eigentumsrechten für denkbar gehalten habe. Einmal konnten einer ſolchen
Verlegung große Auflagen vorbeugen; dann ließ fi) der mutmaßliche
Erfolg und Abſatz eines Buches ziemlich genau nach dem Beifall be-
rechnen, welchen es bei dem in Rom vor jeiner Vervielfältigung üblichen
öffentlichen Vorleſen fand; endlich aber mag, wie Birt ſehr richtig ver-
mutet, unter den Handjchriftenhändlern das freundfchaftliche Ubereinkom—
men beitanden haben, einander feine neuen Verlagsartifel nachzujchreiben,
wie ein folches bezüglich des Nachdrudes noch heutzutage vielfach unter
den Berlegern derjenigen Länder üblich ift, welche einander feinen gejeß-
lihen Schuß gegen leßteren gewähren, wie z. B. England und die Ber-
einigten Staaten.“ (Rapp a. a. D. ©. 11.)
Unſere Schilderung des römiſchen Buchhandels befaßte fi Haupt:
ſächlich mit der Zeit der Kaiſer, eine Periode, in der durch das Zufammen-
ftrömen aller Bildungselemente in der Hauptftadt in dieſer fich ein geiftiges
Leben entwidelte, da8 wohl einen andern Anblid gewährte, als etwa das
in Athen, aber doc) auch reich genug war, um allen denen, die mit ihm
in Berührung famen, Nahrung und Anregung zu geben. Und jene ge-
waltige Revolution, die mit dem Erjcheinen des Chriftentums in den
Gang der römischen Geichichte eingriff, die, die Welt umgeftaltend, all-
mählih auch die altrömifche Bildung verbrängte und eim neues Neben
ſchuf, fie drüdte auch dem Gegenftand, den wir hier behandeln, dem
Buchhandel, ihren Stempel auf und jchuf ihn in einer Weife um, bie
ihn ihren Zwecken dienftbar machen jollte.
Das Buch umd feine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 301
2. Das mittelalterlige Suhwmefen.
Über das in all feinen Grundlagen wankende und morjche Heiben-
tum brach) die rauhe und ungefüge Kraft der Barbaren herein. Lang—
jam, im Anfang bedrüdt und verfolgt, dann geduldet und endlich gejeß-
lich beftätigt, hatte fi) das Chriftentum Bahn gebrochen. Gewaltig
rangen der alte und der neue Geilt mit einander, noch ftanden neben
den chriftlichen Gotteshäufern die heidnischen Tempel, und noch fcharten
fih um dieſe eine Anzahl von Getrenen, die nicht? willen wollten von
einer Religion des Kreuzes, die in den Chriſten verrüdte Schwärmer
ſahen und fpottend auf die Todesſehnſucht derjelben, auf ihre Freude
am Märtyrertum blidten. Und mit Ingrimm jahen fie, daß dort, wo einft
eine heitere Götterwelt in jeligem Genießen gelebt, nun fich der junge
Stamm erhob; fie verjtanden den Gott nicht, der blutend am Kreuze
hing, und verftanden nicht die gewaltige Lehre, die aus feinem Munde
gefommen! Aber fie brach fich mächtig Bahn, und ob man auch zähe
feft halten wollte an feinem Glauben, aus der Weiber und der Kinder
Munde mußte man die Kunde vom gefreuzigten Chriftus vernehmen, und
vor feinem Bilde ſanken die heidniſchen Götterfcharen zujammen in mejen-
Iojen Dunft, aus dem fich wachſend und alle Welt mit feinem Liebes-
glanz erquidend, die Geftalt des Meſſias erhob!
Wir wiffen aus der Gejchichte, mit welchen Mitteln man das Ehri-
ftentum befämpfte. Sah man im Anfang in der Heinen Schar nur ver-
rüdte Juden, die wohl bald würde zum alten Gehorjam zurüdtehren,
wenn erft einmal ihr Anführer gerichtet jei, jo mußte man bald gewahren,
daß gerade deſſen Tod jeine Anhänger in ihrem Glauben nur feftigte,
und daß feine Lehre von Mund zu Mund gehend immer mehr Jünger
gewann. Und meinte man dann mit Feuer und Schwert gegen dieſelben
wüten und fo das Übel im Entjtehen erſticken zu können, jo ſah man
bald, daß das Ehriftentum auch der brutalften Gewalt trogte, man mußte
fih am Ende zu einem Vergleich verjtehen, und jein eigenes Eriftenzrecht
dem neuen Glauben gegenüber zu beweifen ſuchen. Und es läßt fich mit
Leichtigkeit aus der Gejchichte erjehen, daß in dieſen Zeiten das geiftige
Leben immer neue Blüten tried. Mußte man ja bald aud) unter der
jungen Gemeinde ber Chriften Spaltungen und Dogmenitreitigfeiten kon-
ftatieren, und alle die Streitjchriften hinüber und berüber, zwiſchen Ehri-
jten und Chriſten, zwiſchen Juden und Chriften, zwilchen Ehriften und
Heiden, boten dem römiſchen Buchhandel, der fi glüdlih durch alle
die Zeiten der Verfolgung und Not gerettet, nun ein neues Feld Der
Thätigkeit. Aber wie ic) am Schlufje des vorhergehenden Kapitels be-
merkte, er wurde nun einer Macht dienftbar, die feinem ganzen Weſen
302 Das Bud und feine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
eine andere, eine weit ernjtere Geſtalt gab, ihm aber auch eine weit
größere Bedeutung im öffentlichen Leben verlieh, als dag zuvor der Fall
gewejen war.
„Erſt der Sturz des Gotenreiches“, jagt Kapp, „begrub die reiche
antike Welt von Schönheit, Kraft und Geift in Schutt und Aſche; erft jet
zertrat der ſchwere Fuß des Barbaren und zertrümmerte die rohe Fauſt
des eindringenden Eroberer3 die taufendjährigen geiftigen Schätze Roms
und mit ihnen zugleich diejenigen der ganzen damaligen gebildeten Welt.“
Rom jelbit bot einen traurigen Anblid: „die fünfmal in einem furzen
Beitraume durch Krieg eroberte Stadt hatte das Äußerſte gelitten.
Hunger, Schwert und Peſt hatten die Bewohner in Scharen dahinge-
rafft; ſamt und ſonders zu einer Zeit von den Goten aus der Stadt
getrieben, waren fie darauf wieder, doch nicht mehr in gleicher Anzahl
zurüdgefehrt, um von neuem den Wechjelfällen des Krieges ausgejegt zu
fein. Wir fünnen die Einwohnerzahl Roms nad Beendigung desjelben
freifich nicht mit Beſtimmtheit angeben, aber nach den Berechnungen der
Wahrfcheinlichkeit dürfte fie mit 50000 Seelen wohl eher zu hoch als
zu niedrig angejchlagen werden, denn die Erſchöpfung Roms war zu
feiner Zeit, ſelbſt nicht in der Periode des fogenannten Exils der Päpite
zu Avignon größer, al3 nad) Beendigung des Gotenkrieges. Weder Gold
noch Silber war in der Stadt zu finden, es ſei denn in den Kirchen;
der Privatbefig mit allen jeinen Rechten an ſolchen römijchen Kojtbar-
feiten des Altertums und der Kunft, welche den Vandalen und den
Goten Totilas entgangen fein mochten, war durch die Not der Belage-
rungen und die Erprefjung der habjüchtigen Griechen völlig verſchwunden,
und die übrig gebliebenen Römer erbten von ihren Vorfahren faum mehr
als die nadten verwüfteten Wohnungen oder die Eigentumsrechte auf
entfernte Befigungen und nahe der der Campagna, welche, ſchon jeit
dem dritten Jahrhundert öde, nun völlig in eine menjchenleere Wüſte ver-
wandelt war, von der auch der letzte Kolone durch den Krieg mußte ver-
jagt oder getötet worben fein. Der damalige Zuftand Roms ſpiegelt
fih geradezu an dem allgemeinen Zuftand Italiens nach dem Goten-
friege ab, und ihm zu fchildern verzagen wir und befennen, wie ein
ruhiger und gründlicher Gejchichtsfchreiber über jene Epoche es gejagt
bat, daß die menfchliche Seele in fich nicht die Kraft zu finden vermöge,
joviel Wechjelfälle des Glücks, ſoviel Vernichtung von Städten, Flucht
von Menjchen, Mord von Völkern nur mit dem Gedanken zu umfafjen,
geſchweige denn mit Worten zu erichöpfen. Italien war meift mit Leichen
und Trümmern beftreut, von den Alpen bis nad Tarent; der Hunger
und die Beft, den Spuren des Krieges folgend, hatten ganze Landſchaften
völlig zu Einöden gemacht, und des Kaijers Juftinian Name wird unter
Das Buch und feine Gefchichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt. 303
den SKönigen, deren Ländergier und Ehrgeiz die einfältigen Völker fich
zum Opfer hingaben, immer eine ber erften Stellen einnahmen. Prokopius
bat e3 unternommen, die Zahl der durch die griechiſchen Kriege Umge-
brachten zu berechnen, aber er verzweifelt den Sand am Meere zu zählen.
Für Afrika rechnet er fünf Millionen, und weil Stalien dreimal größer
war, als jene ehemals vandaliihe Provinz, jo meint er, es fei der Ber-
Iuft im Verhältnis beträchtlicher gewejen. Iſt dies gleich eine Über-
treibung, da das damalige Italien jchwerlich mehr als fünf Millionen
Einwohner zählen konnte, jo ift es doch offenbar, daß es mindefteng den
dritten Teil davon durch Kriege, Seuchen und Hunger verlieren mußte.”
(Gregorovius a. a. DO. ©. 561 ff.)
Die germaniihen Stämme traten die geiftige Erbſchaft Italiens an.
Nach einer Zeit, in der beinahe alle geijtige Thätigkeit gelähmt geweſen,
in welcher der Kampf ums Dajein den einzelnen, wie ganze Völferjchaften
bis auf3 äußerfte angeftrengt, finden wir die Spuren einer litterarifchen
Thätigkeit erſt langſam wieder auftauchen, und diesmal unter Berhält-
niffen, die einen charakteriftiichen Unterjchied von der früheren Periode
bilden! Wir Haben bei der Darftellung des römischen Buchhandels ge-
fehen, wie derfelbe mitten in der Öffentlichkeit feinen Sig aufſchlug, wie
in Rom und in Italien das litterariiche Leben beinahe jämtliche Kreiſe
der Bevölkerung in jeinen Bereich zog, und wie Buchhändler und Autoren
fih in dem Streben geeinigt hatten, ihre Produkte durch eine möglichjt
hohe Auflage in alle Weltgegenden zu verbreiten. Sie boten freilich
eben auch Stoffe, die nicht allein den Gelehrten, die auch den Mann
bes Volles anzogen und erfreuten, ihre Litteratur griff mitten hinein ins
volle Menjchenleben und zwang jo die ganze Nation, foweit fie nur
irgendwie auf Bildung Anfpruch machen wollte, das litterarifch-geiftige
Altertum und feine Refultate zu einem wejentlichen Faktor ihres Lebens
zu machen. Wir haben noch in der erjten chriftlichen Zeit darauf hin—
gewiejen, was auch hier noch eine reiche Litteratur ins Leben rief und
zur Teilnahme an bderjelben veranlaßte. — Nah den Stürmen ber
Völkerwanderung bot die Welt ein anderes Bild und den Mittelpunkt
des geiftigen und politiichen Lebens bildete nicht der Kaiſer, jondern eine
Macht, die in ihm nur ihren erften Diener erblidte: die Kirche. Sie
regierte die Welt. In ihren Händen liefen Fäden zufammen, aus denen
fi) die Gefchichten der Völker jpannen, und ihre Völker fühlten fich
auf der Höhe, zu der fie fich emporgejchwungen, berufen, in allen Dingen
das entjcheidende Wort zu jprechen. Und jo jehen wir bald auch die
ganze geiftige Bildung des Mittelalter in feinen Anfängen durch fie be-
dingt und beherrfcht; wir gewahren in den Klöftern ein reiches, freilich
auch einfeitiges und dem Leben des Volles abgewandtes litterariiches
304 Das Bud und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft.
Schaffen, und müfjen ung hier erft heimijch machen, wenn wir die Spuren
des Buches, die wir in den Stürmen der vergangenen Jahrhunderte ver-
Ioren, wiederfinden wollen! Und wir finden es wieder, freilich in mannig-
fach veränderter Geftalt; aber mit ftaunender Verwunderung jehen wir
bier eine Farbeufreube und einen ſchmückenden Kunjtjinn ſich entfalten,
den wir nimmermehr bei diejen weltabgejchievenen Menjchen gejucht
hätten, gleich als wollten fie fi) für das, was fie vermißten, einen fröh-
lichen Erfa in ihrer Kunft jchaffen! Und wollte die Pracht der kirch—
lihen Bauten nicht allein die Machtſtellung der Kirche zeigen, jondern
auch auf des Menſchen Sinn und Gemüt fefjelnd und befangend ein-
wirken, jo jollte das farbenreihe Buch mit feinen zierlihen Miniaturen,
Initilen und Bignetten nicht nur das jeines heiligen Inhalts allein
würdige Gewand bilden, fondern auch des Lejerd Auge feſſeln und ihm
Gottes Wort zu feinem liebſten Schage machen.
(Fortſetzung folgt.)
>
Bedeutende Berlagsunternehmungen.
TE:
Die Müncener „Sliegenden Blätter“.
— —
Als im Jahre 1844 geräuſchlos, ohne jede Ankündigung die erſte
Nummer der „Fliegenden Blätter“ von Braun & Schneider in München
mit dem unfterblichen „Mehemet Ali, der der Welt entjagt, ſich aber eines
bejjeren befinnt und wieder umfehrt” erjchien, wer mochte wohl ahnen,
daß noch ein halbes Jahrhundert jpäter diejelben Blätter der volliten
Blüte fich erfreuen und über die ganze Welt in einer Auflage verbreitet
jein würden, welche fein anderes humoriſtiſches Batt in Deutjchland aud)
nur annähernd erreicht hat. Und doch, wenn man die neuefte Nummer
der „liegenden Blätter” mit der erjten vergleicht, findet man bei allem
Fortſchritte in Drud, Papier, künſtleriſcher Ausftattung und Reichhaltig-
feit des Inhalts den Grundcharakter des Blattes unverändert und man
fann jagen, die „liegenden“ haben nicht nur ihren alten anjpruchslofen
Kopf — die befannte Titelvignette mit dem Seifenblajen machenden Nar-
ren, dem Minnejänger mit der Harfe, den beiden ſchwärmeriſchen Ritter-
fräuleind und den zwei Gnomen — beibehalten, fie haben auch ihr Weſen
unverfälicht alle die Jahre her bewahrt, troß aller Einflüffe der Zeit und
ihrer Anſchauungen. Es ift derjelbe, über den Strömungen de3 Tages
ftehende, harmloſe, herzerquidende Humor, derjelbe ideale Zug, diejelbe
glückliche Miſchung von Poefie und Wit in Tert und Illuſtration, welche
die „Fliegenden Blätter” vor allen andern ähnlichen Zeitſchriften aus—
zeichnen und fie zu Lieblingen des deutſchen Volkes gemacht haben.
Troß diejer über der Tagesmeinung ftehenden, objektiven und idealen
Haltung find fie der getreuefte Spiegel der Gegenwart und zwar in dem
Grade, daß ein Kulturhiftorifer jpäterer Jahrhunderte, wenn alles andre
zu Verluft gehen würde, aus einem fompletten Exemplare der „liegenden
Blätter” einen genauen Einblid in die Sitten, Moden und Anjchauungen
unferer Zeit ſich verjchaffen könnte. z
306 Bedeutende Verlagsunternehmungen,
Als im Jahre 1893 mit einer prächtigenfJubiläumsnunmer der 100.
Band der „Fliegenden Blätter“ begonnen wurde, verwandelte ſich die
Münchener NRedaktionsftube in einen mit Blumenfträußen und Balmen
prächtig geſchmückten Feitraum. Der Regent von Bayern überjandte mit
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 307
jeiner Gratulation dur einen hohen Beamten Auszeichnungen an bie
Herren Julius Schneider und Kaspar Braun, und wohl die ganze ge-
bildete Welt gedachte dieſes Tages.
Und warum? — Aus vielen Gründen. Zunächſt giebt es wohl
faum etwas deutjcheres im periodiihen Schrifttum, als die „Fliegenden“,
etwas was jo traulic) und heimatlich anmutet, wie der Geift, der fie
beherrijcht: goldechter Humor das ureigenſte Erbteil der germanijchen Raſſe.
Seit fünfzig Iahren find fie die vornehmfte Äußerung des Begriffes
Humor gewejen, die liebenswiürdigite
Inkarnation des „heiligen Lachen“,
dad die Herzen warm macht und
frei. Wigblätter Schießen und jchoj-
jen wie Pilze aus der Erde und
vergingen und vergehen wieder rings
umber. Die „Fliegenden Blätter“
haben allgemad) in des Wortes wei-
teftem Sinn den Erdfreis erobert
und troßdem find fie dem Geiſte
nad) immer die Alten geblieben.
Sie haben ſtets Fünftleriih und
fittengefchichtlicd; ihre Zeit wieder-
gejpiegelt, aber der Spiegel jelbit
blieb immer der gleiche, das Klare
helle Glas wie der Rahmen. Und
diefer edle Konjervatismus ift wohl
das Hauptgeheimnis ihres Erfolges.
Die „liegenden Blätter” thun nicht
mit in dem Tollen und Hajten un-
jerer Zeit, fie erzählen nur davon
mit einem Lächeln, das immer Illuſtration von K. Braun,
freundlich ift, mit einem Spott, der
nie verlegt. Und diefer Ton thut uns abgejagten und vielverlegten Neu-
zeitmenjchen jo wohl und ift uns jo gejund. Wie manchen Unfug, den
die fulminantejten Polemifer der Tagesblätter nicht aus der Welt Schaffen
fonnten, hat ein luftiger Pritjchenichlag des Humors in den „liegenden
Blättern” bejeitigt! Und in den Offizierfafinos, deren Frequentanten in
jeder Nummer ob ihrer Eroberungsluft und Schneidigkeit gehänfelt find,
werden die Blätter an jedem Freitag geradejoviel umftritten wie in den
Börfen-Cafes, deren Stammgäſte fie perfiflieren, in den Bierkneipen, deren
Helden fie um ihre Schwerfälligfeit und ihren Durft oft belachen. Auf
dem Familientiiche läßt man fie ruhig liegen — auch wenn vierzehn-
20%
308 Bedeutende Verlagsunternebmungen.
jährige Badfischchen im Zimmer find — in den „SFliegenden“ fteht nichts
Unrechtes! Wieviel hunderttaujfenden Kranken, die durch langdauerndes
Siechtum um die Geduld gebracht, haben fie die jchleichenden Stunden
verfürzt, wie manchem vom Lebensgetriebe weitab vom Baterlande Ber-
ichlagenen haben fie die Heimat mit ihren heiteren und erniten Dingen
wieder vors umflorte Auge gezaubert und waren ihm ein Gruß aus der
Heimat gerade jo, als hätte er ein deutjches Lied gehört oder einen Trumf
von deutſchem Wein gethan.
Und was jollen wir Buchhändler jagen? Zum regelrehten Beitand
eines Zeitichriften-Ballens gehört eine Kontinuation der „liegenden“ und
in nicht geringe Aufregung wird Chef und Perſonal verjett, bleibt einmal
Illuſtration von 8. Braun,
gerade diejes Päckchen durch Verſchulden des Herrn Kommijfionärs aus.
Während der erpedierende Gehilfe oder Lehrling jo manches interefjante
Blatt eiligft unbejehen dem Abonnenten zuweiſt, kann er es fi) nicht
verjagen, einen Blick, wenn auch nur flüchtig, in die neueiten „Fliegen—
den” zu werfen.
Seltjamerweije find die „sliegenden Blätter” aber aud) den Aus—
ändern bejonders lieb! Oft genug wurde eine franzöfiiche Ausgabe der-
jelben gewünſcht — ein Ding der Unmöglichkeit, denn man fann jchon
den Witz jchwer überjeben und num gar den Humor! Und noch dazu
vom Deutjchen ins Wäljche. Aber item, in den Barijer Boulevard-Gafes
find die „Fliegenden“ ein vielbegehrtes Ding, troß der großen franzöfi-
Ihen Meijter der Karikatur, die fie dort haben, von den Iujtigen Pichüt-
tiiten des „Journal amusant“ Etop und Mars, und wie fie heißen, bis
Bedeutende Berlagsunternehmungen. 309
zu den grimmigsjatiriichen Chroniften des Weltitadtlafters Forain und
Genofjen und zu dem graziöjen Cheret und zu Willette und den Anderen
aus dem Bannfreis des „Chat noir“, um deren Art Schon bedenklich der
Berwejungshaudh vom Ende des Jahrhunderts weht.
Es war ein glüdlicher Griff, welchen der unvergeßlihe Kaspar
Braun im Vereine mit jeinem freunde Friedrich Schneider j. 8. gethan
hat und der Geift, der jeinen unvergleichlichen Slluftrationen innemwohnte,
hat belebend und fruchtbringend gewirkt und eine neue Welt des Humors
geihaffen, wie fie vorher in Deutjchland nicht exiſtierte. Wir erinnern
nur an das Gedicht: „Eduard und Kunigunde” (Tert von Fr. Schnei-
der, Sluftration von K. Braun), an „Rinaldo Rinaldini”, die verjchie-
Illuſtration von Wilhelm Buſch.
denen „Broletarier”, an „Eijele und Beijele”, und man wird zugeben
müffen, daß hier ein neuer Ton angejchlagen ward, der im Herzen des
deutichen Volkes das lebhafteſte Echo fand, der bis heute nachklingt und
unzählige frohe Geifter zu reichem bunten Leben erwedt hat. So war
Kaspar Braun nicht nur der Schöpfer der „liegenden Blätter”, ſondern
der Urvater ganzer Generationen humoriftiicher Zeichner, von denen frei-
ih faum einer feine geniale Unmittelbarfeit erreicht hat.
Was die Väter glücklich ins Leben gerufen, jegen noch heute die
Söhne derjelben glüdlich fort und der beiden Gründer ältejte Söhne,
Julius Schneider und Kajpar Braun, find noch heute Inhaber der
blühenden weltbefannten Firma. Vom gleihen Plate, dem früheren
Dult- jetzt Marimiliansplabe aus, wo fie ihren erjten Flug gewagt, fliegen
ihre Blätter auch noch Heute in alle Welt hinaus und das einfache Haus,
310 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
aus welchem jo viel Humor und Geift hervorgegangen, hat jein Ausjehen
bis in die neuefte Zeit beibehalten. Diejer fonjervative Sinn ift ein wejent-
licher Grundzug der „liegenden Blätter“ und ließen ſich aus dem kleinen
Redaktionsftübchen viele Belege dafür mitteilen, wozu wir vielleicht ein
andermal Raum und Gelegenheit finden.
Kajpar Braun und Friedrih Schneider verftanden es, jofort einen
Kreis der tüchtigften litterariſchen und artiftiichen Mitarbeiter um ſich zu
vereinen, von denen freilich viele ſchon ebenſo wie die beiden erjten Her—
ausgeber mittlerweile heim⸗
gegangen find. Wir nen-
nen hier aus der Zahl der
artiftiichen Mitarbeiter nur
Namen wie M. v. Schwind,
Spigweg, H. Dyd, Rein-
Hardt, Franz Bocci (Staat3-
hämorrhoidarius), M. Hai:
der (Iagdbilder), A. Mut-
tenthaler, E. Fröhlich, Heil,
H. König, H. Schmolze,
Franz Seitz, Feodor Dieb,
Wilhelm Buſch, Wilhelm
Diez, F. Schröder, W.
Lichtenheld, Löffler, M.
Aamo, F. Barth, deren
geiftvolle meifterhafte Illu—
jtrationen eine Reihe von
Bänden der „Fliegenden
Blätter“ ſchmücken. Einige
Proben ihrer Zeichenkunft
Illuſtration von Mori von Schwind. fügen wir diefem Artikel
ein. Auch nur eine Furze
Würdigung der Thätigkeit der Genannten würde weitaus die Grenzen die-
jer Arbeit überjchreiten. Von den Meiftern, welche ſchon bei Beginn der
„liegenden Blätter” thätig waren und noch heute thätig find, ſei hier
Profeflor E. Ille genannt, welcher eine Reihe von Jahren Mitredakteur war
und noch heute an der Redaktion beteiligt ift, und dem die „Fliegenden
Blätter” viele der geiftvollften Illuftrationen verdanken. Aus der über
260 Nanıen zählenden Reihe von Kiünftlern, welche in der Zeit von 1844
bis 1890 für die Verlagshandlung von Braun & Schneider thätig waren,
feien noch hervorgehoben: H. Knab, Heinrich Lang, Fr. Lofjow, U. von
Ramberg, Ferdinand NRothbart, Weigand und Andreas Müller.
Bedeutende Verlagsunternehmungen, 311
Auch an litterariſchen Mitarbeitern fehlte es den „Fliegenden Blät—
tern“ nicht. Da iſt zunächſt unter denen, welche leider nicht mehr leben,
Franz Trautmann zu nennen, als einer der älteſten, deſſen gemütvolle
Erzählungen aus alter Zeit wir in den „Fliegenden Blättern“ und der
„Hauschronik“ beginnen ſahen, dann der geiſtvolle Craſſus (Kraßberger),
der witzige Verfaſſer der Grafſchen Reiſebriefe und köſtlicher Judengeſchich—
ten, Brendel, der gemütvolle, als Dialektdichter unerreichte Franz von
Kobell, nicht minder der
unſterbliche V. Scheffel, der
früh heimgegangene C. Stie-
ler und der geiſtvolle Mar—
tin Schleich. Auch Emanuel
Geibel hat manche Perle
ſeiner Gedichte zuerſt in
den „liegenden Blättern“
ericheinen lafjen. Wir nen-
nen weiter nur aus dem
Gedächtniſſe und ohne be—
jondere Auswahl an litte-
rariſchen Mitarbeitern alter
und neuer Zeit: Felix Dahn,
Herm. Lingg, Friedr. Bo—
denftebt, Wilhelm Herk,
Oskar v. Redwitz, H. Sei-
del, Fr. Xav. Seidl, 4.
Müller, 2. Bauer, F. Hoffs,
Roderih, ©. Walk, M.
Barak, Edwin Bormann,
E. Peſchkau, Schmidt-Ea-
banis, A. Silberſtein, F.
Brentano, L. Kaliſch, Sa— Illuſtration von K. Spitzweg.
cher Maſoch, Dr. Märzroth,
G. Seuffer, E. M. Vacano, Theobald Groß, Eichrodt, v. Miris (Franz
Bonn), W. Herbert, Trojan, Eckſtein, M. Weber, B. Young und
Martin Greif.
Wenn es indeſſen auch nur einzelne hervorragende Mitarbeiter ſind,
welche vorzugsweiſe und regelmäßig den geiſtigen Stoff liefern, ſo kann
man doch ſagen, daß ſeit Jahrzehnten das ganze deutſche Volk an den
„Fliegenden Blättern” mitarbeitet. Da iſt fein Alter, keine Stellung vom
Minifter und Geheimrat bis zum Gymnafiaften, vom General bis zum
Einjährig-Freiwilligen, vom berühmten Gelehrten und Brofefjor bis zum
312 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
einfachen Landjichullehrer, vom TFabrikbefizer bis zum Handlungsdiener,
der nicht Beiträge für die „liegenden Blätter” geliefert hätte. Auch
das ſchöne Geſchlecht ift zahlreich vertreten und wenn aud) vorzugsweije
der Lehrer, der Student, der Offizier, der Kaufmann es find, welche Bei-
träge liefern, jo fehlt doc) auch nicht der Geiftliche, der Gelehrte, der
Illuſtration von Heil.
Naturforjcher wie der einfache Handwerker und Arbeiter. Daß jeder aus
dem ihm nächjtliegenden jchöpft, ift dabei jelbjtverftändlich und mag als
eine intereffante Thatfache hervorgehoben werden, daß 3. B. die Juden-
wige zum größten Teil ſemitiſcher Abftammung find.
Ale diefe zahllojen Einjender geben, mas ihnen das Leben geboten
hat und da bekanntlich wirklich vorgefommene Wite meiſt befier find, als
die erdachten, jo ergibt fich von ſelbſt, daß die meijten der in dem „Flie—
313
Bedeutende Verlagöunternehmungen.
Bedeutende VBerlagsunternehmungen.
314
Illuſtration von E. Harburger.
Bedeutende VBerlagsunternehmungen. 315
genden Blättern“ erjcheinenden Schnurren und Scherze den Vorzug der
Natürlichkeit und Wahrheit Haben, welcher fie allgemein verftändlic) und
allgemein wirkſam macht. Iſt es doc) feit langen Jahren in allen Ge—
jellichaftskreiien Gewohnheit geworden, faft bei jedem komischen Vorfall,
bei jedem Iuftigen Erlebnifjje, bei jedem guten oder jchlechten Wibe, der
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Illuſtration von A. Hengeler.
gemacht wird, zu jagen: das wäre etwas für die „Fliegenden Blätter“.
Durch dieje lebendige Anteilnahme der ganzen Nation find die „Fliegen—
den Blätter” zum Sammelplate des ganzen deutjchen Humor und ihre
96 Bände zur Fundgrube desjelben geworden, aus welcher alle andern
Witzblätter bewußt und unbewußt jchöpfen. Wie die „liegenden Blät—
ter“ ihre Mitarbeiter nach taujenden zählen, und über ganz Deutſchland,
316 Bedeutende Berlagsunternehmungen.
ja man fann jagen über die ganze zivilifierte Welt verbreitet find, jo
fennt die Geographie faum einen Ort von einiger Bedeutung, aus wel—
chem nicht im Laufe der Jahre der eine oder der andere Beitrag an die
Redaktion gelangt wäre. Es ließe fich über diefe Einjendungen und die
fie begleitenden Briefe des Komiſchen und Erniten viel jagen und wäre
für einen jogenannten Brieffajten, in welchem ſich regelmäßig jolche, Die
fi) gleichzeitig ald „langjährigen Leſer“ der „liegenden Blätter” empfeh-
len, Antwort erbitten, obwohl dieje Blätter nie einen Brieffaften hatten,
unerjchöpfliches Material geboten. Nur wenige diejer Einjender beichrän-
fen fi auf die Mitteilung von ein oder zwei Beiträgen, viele bringen
Illuſtration von v. Nagel.
jolhe gleich dutzendweiſe, ja einzelne pflegen Woche für Woche 50—100
Wibe zu liefern. Und welche Handichriften, Bapierformate, Skizzen und
Zeihnungen fommen da zum Vorſchein, von der Sturmflut Iyrijcher Ge-
dichte zu fchweigen, welche Woche für Woche in wahrhaft bedenklicher
Weile über die Redaktion hereinbrechen. Es ift geradezu oft unglaublich,
was als für die „liegenden Blätter“ geeignet angeboten wird und in
welcher Selbittäufchung ſich viele befinden! Daß unter den mafjenhaften
Einjendungen in der Regel unzählige Sachen find, welche längft in den
„liegenden Blättern“ erjchienen, iſt ganz natürlich und nicht jelten fügt
e3 der Zufall, daß ſolche Wite zum zweiten und drittenmale wirklich ge—
bracht werden, da es ja geradezu unmöglich ift, ſich Hiervor durch das
Gedächtnis allein zu ſchützen. Eine oft geradezu überrajchende Erjchei-
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 317
nung it aber da8 wahrhaft epidemijche Auftreten einzelner Wibe, welche
dann, als ob fie in der Luft lägen, im Laufe weniger Tage aus den
entferntejten Gegenden und Ortichaften dutzendweiſe gleichlautend ein-
gejchicft werden. Zuweilen wirft auch ein Humoriftiicher Gedanke an-
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Illuſtration von E. Reinide,
ftedend, in weldyer Beziehung wir nur an jene zahllofen Klapphornverſe
erinnern dürfen, die infolge des erjten, von den zwei in das Korn gehen-
den Knaben, entjtanden find.
Es iſt nun feine geringe Aufgabe, aus diejen monatlich die Zahl
von taujend weit überjchreitenden Einjendungen, deren Qualität leider
318 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
nicht entfernt die Quantität erreicht, jo viel Brauchbares herauszufinden,
um den wöchentlichen Bedarf jeder einzelnen Nummer damit deden zu
fünnen. Denn, wenn auch die ganze Menge von Einfällen, Bilderideen,
Witzen, Gedichten, Erzählungen, humoriftiihen Aufjägen und Abhand-
lungen von mehreren gelejfen, geprüft und begutachtet wird, jo fällt doch
die jchließliche Entjcheidung über Annahme oder Ablehnung des einzelnen
dem Redakteur zur Laſt und e3 bedarf des unermüdlichen Fleißes, des
Taktes und der Umficht, welche Julius Schneider feit Jahren bewährt,
um dieſe jchwierige Aufgabe glücklich zu bewältigen. Man fieht eg wahr-
lich jo einer Nummer des Blattes nicht an, weldhe Summe von Arbeit
dazu erforderlich iſt, fie herzuftellen. Bei dem Grundjaße der „Fliegen—
den Blätter”, in Bild und Wort nur jenen Humor zu pflegen, der all-
Illuſtration von L. Zopf.
gemein menjchlicher Natur ift und fih von allem Religiöfen und Politi-
ichen fern hält, bei der Ängſtlichkeit, mit welcher fie fi) als deutſches
Familienblatt hüten müfjen, irgend etwas zu bringen, was in ſittlicher
Beziehung Ärgernis erregen oder auch nur den Anjtand verlegen könnte,
ift e8 gerade in unſerer Zeit Feine leichte Aufgabe, immer das Richtige
zu treffen.
Und wenn es nur damit gejhehen wäre, das Gebotene zu fichten
und das Brauchbare auszuwählen — aber da iſt noch manche Ände—
rung in Wort und Ausdruck, manche Korrektur in Form und Vers zu
veranlaffen und vorzunehmen, um die Terte jo feitzuftellen, wie fie in
den Rahmen der Blätter pafjen. Nun fehlt aber noch immer die Illu—
jtration und wenn es aud) den „Fliegenden Blättern“ nie an ausgezeich—
neten Kräften jeder Richtung gemangelt hat, jo will doc) wohl erwogen
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 319
fein, was Ddiefem oder jenem Kiünftler entipricht und welcher von den
artiftiichen Mitarbeitern bejonders geeignet ift, zu dieſem Texte die ent-
Iprechenden Illuftrationen zu liefern. Im diejer Richtung fteht nun aller-
Illuſtration von A. Mandlid,
dings Julius Schneider nicht nur eine langjährige Erfahrung ſowie fein
Kompagnon Kaspar Braun zur Seite, fondern er wird auch von feinem
Bruder Hermann Schneider in wirkſamſter Weife unterftüßt, und ift es
deſſen Thätigkeit in bezug auf die artiftiiche Leitung der „liegenden
320 Bedeutende Verlagäunternehmungen.
Blätter“ vorzugsweile zu danken, daß diejelben jene Fünftleriiche Höhe
erreichten, die wir an ihnen jo freudig bewundern. Gelbit ausübender
Künftler von hervorragender Bedeutung ift Hermann Schneider wie fein
zweiter befähigt, die Fähigkeiten und Leiftungen jeiner Kollegen richtig
zu beurteilen und auf dieſelben anregend und belebend zu wirken. Am
16. Juni 1846 zu München geboren, erhielt er jeinen erjten Unterricht
im Zeichnen von H. Dyd, bejuchte dann die Akademie, wo fih Morit
Schwind feiner annahm, bis er im Jahre 1866 in die berühmte Piloty-
ſchule trat. Es iſt hier nicht der Platz, alle die vortrefflichen Bilder auf-
zuführen, welche Hermann Schneider in rajcher Reihenfolge ſchuf und
mit denen er fich einen der geachtetiten Namen unter den Münchener
Künftlern erwarb. Als Beichner für die „liegenden Blätter” hat er
verhältnismäßig wenig geliefert, um jo bedeutender find jedoch feine Ver—
dienfte um die Stellung, weldje diejelben als Kunftblatt jeit Jahren ein-
nehmen.
Daß bei einem illuftrierten Blatte wie die „liegenden“ der Schwer-
punkt auf die Jlluftrationen zu legen ift, kann wohl nicht bejtritten wer-
den und ſei es darum gejtattet, Joweit der Kaum es ermöglicht, über die
vortrefflichen Kräfte eine Feine Heerſchau zu halten, welche unter den
noch lebenden Künftlern für die „Fliegenden Blätter” thätig waren und
zum größten Teile e3 noch find.
An der Hand unſerer Probebilder wird es dem Lejer möglich werden,
die Art des künſtleriſchen Ausdruds, der Auffaffung, der Techniken u. . w.
diefer Illuſtratoren erkennen und unterjcheiden zu lernen und wenn der
Buchhändler in anderen Werfen einer Jluftration diefer Künſtler begegnet,
wird er die Individualität leichter Feititellen können.
(Schluß folgt.)
>
Die Begründung der „Korporation der Berliner
Buchhändler“ und die Berliner Reſtellanſtalt.
Von Karl Sr. Pfau.
(Fortießung.)
Die neue Einrichtung fand, wie natürlich, nicht gleich allen Beifall.
Berichiedene Stimmen erhoben fich dagegen, die der Anftalt ein jähes
Ende prophezeiten. Allein troß aller diefer Befürchtungen bewährte fie
fih binnen kurzer Beit fo jehr, daß man bereit nad) Jahresfrift, im
Dezember 1847, einen wichtigen Schritt zu ihrer weiteren Ausgeftaltung
thun konnte, indem man beichloß, in Verbindung mit der Beftellanftalt
vom 1. Januar 1848 an eine gemeinjame tägliche Poſtſendung von Skrip-
turen u. j. w. von und nad) Leipzig einzurichten. Es wurde zumächft
ein Direkter Austauſch zwilchen der Leipziger und der Berliner Beftell-
anftalt ins Auge gefaßt; da fich aber die „Deputation des Vereins ber
Buchhändler zu Leipzig“ im einem Schreiben vom 4. November diejem
Plane hauptjählih aus Rüdfiht auf das „jehr zarte Verhältnis, das
zwilchen der Bolt und der Leipziger Beftellanftalt beftände”, nicht geneigt
zeigte, hielt man unter den Leipziger Kommilfionären Umfrage und ver-
ftändigte fich ſchließlich mit I. ©. Mittler*) über die Übernahme der
Kommilfion. Auch die Leitung der Poftanftalt wurde Burchhardt über-
tragen und in einem Reglement vom Dezember 1847 feitgejegt, welche
Dbliegenheiten er zu erfüllen Hatte $ 1 beftimmt: „Herr Burchhardt
hat von jedem dem Inſtitute beigetretenen Mitgliede durch die betreffenden
Mappen täglid mit Ausnahme der Sonn- und Feittage bis 6 Uhr abends
für Leipzig bejtimmte Beiſchlüſſe in dem Lokale der Beſtellanſtalt anzu—
nehmen und das folchergeftalt Gefammelte in ein Paket zu vereinigen,
welches franko zur Poſt zu geben ift, ſodaß dasſelbe mit dem Yrübzuge
*) Die Kommiſſion der Beftellanftalt ift dieſer Firma dauernd verblieben.
Seitdem letztere am 1. Januar 1877 mit der Firma %. Voldmar vereinigt wurde,
ruht die Vertretung der Anftalt auch heute noch in deren Händen,
322 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
der Eifenbahn des nächften Tages abgehen kann;“ und $ 3: „Herr Burd-
hardt verpflichtet fich, jeden Nachmittag zu der zu ermittelnden Stunde
der Ankunft der Leipziger Fahrpoſt das von Leipzig eintreffende, an ihn
adreifierte Paket abholen zu laffen und den Inhalt desjelben jofort in
die Mappen der Interefjenten zu verteilen. Das am Sonntag Nachmit-
tag antommende Paket läßt Herr Burchhardt Montag früh 8 Uhr ab-
holen.” Für diefe neue Mühewaltung erhielt Burchhardt jährlih 75
Thlr. und fofern das Gejamtgewicht mehr wie 3000 Pfund betrug, für
jede 100 Pfund darüber weitere 24 Thlr.
Die Vorteile der gemeinfamen Erpedition von und nad) Zeipzig
iprangen bald jo jehr in die Augen, daß man ſchon im Januar 1848
daran ging, auch eine Bereinigung zu gemeinfamer Baketjendung nad
Leipzig zu begründen. Im einer Verjammlung am 20. Januar erfolgte
die Konftituierung diejes Vereins unter dem langen Namen „Anftalt Ber-
liner Berlagd- und Sortiments-Buchhändler zur gemeinfchaftlichen Bücher-
jendung nad) Leipzig (Berliner Speditions-Anftalt)*, der alsbald 48 Fir-
men beitraten.
Diefe Speditionsanftalt, die fünfmal in der Woche die Sendungen
ihrer Mitglieder als Frachtgut nach Leipzig jandte, beitand zunächſt jelb-
ftändig neben der Beitellanftalt; zum Erpedienten wurde der Markthelfer
G. Kuſch beftellt und die Leipziger Kommiſſion gleihfall3 der Firma J.
G. Mittler übertragen. Eine Vereinigung beider Anftalten war von
vornherein in Ausficht genommen, und fie erfolgte, al3 nad) Begründung
der „Korporation der Berliner Buchhändler” dieſe jämtliche Berliner Ver-
fehrsanftalten übernahm und unter die Oberleitung von H. Burchhardt
ftellte. Räumlich wurden fie jchon am 1. Oktober 1848 in dem Haufe
„Bla an der Bauakademie“ Nr. 3 zufammengelegt, von wo die ber-
einigte Beitellanftalt am 1. DOftober 1850 nad Adlerftraße Nr. 5 über-
fiebelte. Die Anftalt begann ihre Thätigfeit am 1. April 1848, und am
4. April meldete J. ©. Mittler aus Leipzig das Eintreffen ber erften
Sendung.
Im November 1848 gingen, wie jchon gejagt, die verjchiedenen An-
ftalten auf die neu begründete Korporation über, deren Schagmeifter,
R. Gaertner, die Aufficht über fie übernahm. Ihm erteilte der Vorſtand
den Auftrag, in Gemeinjchaft mit dem Hauptausfhuß ein Reglement über
die Benutzung der Anftalten auszuarbeiten; dieſes wurde vom Vorftande
und dann auch von der Hauptverfanmlung der Korporation am 5. März
1849 genehmigt, womit die Begründung und Organifation der Beſtell⸗
anftalt als abgeſchloſſen betrachtet werden darf. In den „Reglements
für die buchhändlerijchen Korporationsanftalten zu Berlin“ heißt es:
„Mit der Begründung der Berliner Buchhändler-Korporation find die
Die Begründung ber „Korporation der Berliner Buchhändler" x. 393
verjchiedenen gejchäftlichen Anftalten für den buchhändleriichen Verkehr
bierjelbft der Korporation überantwortet und die Verwaltung dem Bor-
ftand derjelben übertragen worden“; und über die einzelnen Anftalten
wird gejagt:
I. Abrechnung. Die perfönliche Abrechnung hat den Zwed, die Be—
rechnung und Saldierung unter ben hieſigen Buchhändlern zu
regeln und zu vereinfachen.
U. Beftellanftalt. Die Beftellanftalt hat den Zwed, die Vermitte-
lung von Betteln, Briefen u. |. w. unter den hiefigen Buchhänd-
lern zu erleichtern. Sie bejchäftigt fi mit der Sortierung der
ihr von den Teilnehmern überwiejenen Buchhändler-Skripturen
aller Urt und ftellt diejelben zur Abholung für die Adrefjaten
bereit.
Poſtanſtalt. Die Boftanftalt hat den Zwed, eine gemeinjchaft-
liche tägliche Pojtbeförderung von und nach Leipzig für hiefige
Buchhändler zu bewirken.
IV. Badanftalt. Die Anftalt hat den Zwed, Kleinere für Leipzig
bejtimmte Pakete ihrer Teilnehmer an jedem Wochentage zujam-
menzupaden und das jolchergeftalt an Gewicht hinreichend große
Kollo mitteljt der Eiſenbahn von hier nad) Leipzig zu befördern.
II.
—
Preußen ſtand in den Jahren nach 1848 unter dem Druck der Ver—⸗
fafjungsfämpfe, in denen die Staatsverwaltung die Zugeftändniffe, die
ihr die revolutionäre Bewegung im Jahre 1848 abgerungen hatte, mög-
lichſt rüdgängig zu machen ſuchte. Preſſe und Buchhandel wurden hier-
bei in ganz beſonders jchwere Mitleidenjchaft gezogen, und wie die Gefeh-
gebung immer neue Maßregeln zur Beichränfung freien Gedankenaus—
taujches erfand, jo war aud) die Korporation als einzige größere Vertretung
des preußiichen Buchhandels immer wieder zur Abwehr gezwungen, eine
Aufgabe, der fie, unermüdet durch viele Mißerfolge, in nicht genug an-
zuerlennender Weije gerecht geworden ift.
Unter jo bdrüdenden Berhältniffen führte der Buchhandel damals
nur ein ftille® Dafein, und es wird daher nicht wunder nehmen, daß
auch die Entwidelung der Beitellanftalt faft drei Jahrzehnte lang ſich
nur in bejcheidenen Grenzen vollzog. Wie einfach das Inftitut zunächſt
überhaupt eingerichtet war, zeigt ein Brief Burchhardts an den Vorftand
ber Korporation vom 2. Juni 1851, in dem er wiederholt um Gasbe-
leuchtung für das Gejchäftslofal bittet. Es heißt dort: „Es ift diefe ein
zu notwenbiges Requiſit, was von jedermann anerfannt worden ift, ber
fih von der bisherigen ſchlechten Erleuchtung nicht nur überzeugt, ſondern
auch gejehen Hat, mit welchen Unannehmlichkeiten es verbunden ift, mit
21°
324 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
einer Heinen Handlampe von Tiſch zu Tiih laufen zu müfjen, ohne den—
noch hinreichende Helle zu haben” Man braucht die Phantafie nicht
ſonderlich anzuftrengen, um ſich danach ein Bild von der äußeren Er-
ſcheinung der damaligen Beftellanftalt zu machen. Dabei war der Ber-
fehr in ihr aber doc im rajcher Zunahme begriffen, denn jchon am
14. Upril 1850 berichtet Yurchhardt: „In immer umfangreicherer Weije
vermehrten fich die Arbeiten. Mit jedem Monate traten neue Teilnehmer
der Anftalt bei, und mit ihnen neue Arbeit. Aus der Bettelanftalt ift
eine Paketanſtalt geworden, denn abgejehen von den bedeutend vermehrten
Betteln und Skripturen aller Art, die hin- und zurüdgehen, werden außer
Journalen Novas, ja jogar Remittenden gejandt, ſodaß die Fächer nicht
mehr ausreichen, um alles zu Bejorgende hineinzubringen.“
Auch die Voftanftalt wurde in immer größerem Umfange von den
Berliner Handlungen benußt; in einem Briefe vom 1. Juni 1856 be-
richtet der Leipziger Kommiſſionär, 5. &. Mittler, hierüber: „Schon im
vorigen Jahre, jo auch in letter Mefje, teilte ich Ihnen mit, wie die Be-
ftellanftalt jchon jeit längerer Zeit von dem urjprünglich beſtimmten Zweck,
eine Beförderungsanftalt für Skripturen zu fein, fih mehr und mehr ent-
fernt und namentlich zu gewiſſen Jahresabichnitten mehr eine ſolche für
Bücherpafete geworden ift. Zahlen jprechen dafür am beiten, ich führe
deshalb: das Totalgewicht der durch mich in den lebten Jahren erpedier-
ten Sendungen nachitehend an. Dieje betrugen: 1852 5228 Pfd., 1853
5715 Pfd., 1854 6410 Pfd., 1855 7973 Pfd., 1856 bis heute, alfo erft
fünf Monate und in der ftillen Zeit des Jahres, jchon über 3400 Pfb.,
während im vorigen Jahre in denjelben fünf Monaten das Totalgewicht
nur 2950 Pfd. betrug.” — Im gleichen Jahre wurden durch die Pad-
anftalt 700—800 Zentner nad Leipzig befördert und eine dauernde
Steigerung ließ fich in den folgenden Jahren nachweiſen. Im Übrigen
aber blieben die Einrichtungen der Beftellanftalt bis zum Jahre 1879
faft gänzlich unverändert.
Im Jahre 1852 beichloß der Vorftand, ein amtliches Verzeichnis der
Mitglieder der Korporation und der Beftellanftalt mit ihren Kommitten-
ten in Plakatform herauszugeben. In gleicher Weije erjchien dies Ber-
zeihnis alljährlich bis 1868; von da ab erhielt es die Geftalt eines
Buches und den Titel: „Hülfsbuch für den Berliner Buchhandel“, das
jeit 1891 eine jehr danfenswerte Erweiterung erfahren bat, und in dem
man jede Auskunft über die Firmen und die gejchäftlichen Verhältnifje
des Berliner Buchhandels findet.
Zum 1. Oftober 1854 fündigte H. Burchhardt wegen jeines jchlech-
ten Gejundheitäzuftandes und vorgerüdten Alters feine Stellung als
Leiter der Beftellanftalt. Nunmehr übernahm G. Kufch, der zweite Be-
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc. 325
amte der Anftalt, die Leitung derjelben. Burchhardt follte die erhoffte
Ruhe nicht mehr finden, denn er ftarb, noch ehe er feine Stellung nieder-
gelegt hatte, im September 1854. Das Andenken diefes Mannes, ber
einft die Anregung zur Begründung der Beftellanftalt gegeben hat, wird
im Berliner Buchhandel nicht vergefien werben.
Sein Nachfolger, &. Kuſch, Hat dag Amt bis zum 1. April 1877
verwaltet; als dann zunehmende Kränklichkeit und Schwäche ihm die Er-
füllung feiner Pflichten unmöglich machten, wurde er auf Beichluß des
Borftandes mit einer jährlichen Penfion von 1000 Mark in den wohl-
verdienten Ruheſtand verfegt. Im Jahresbericht vom 29, Oktober 1877
jagt der Vorfteher: „Seit der Begründung unferer Korporation hat die—
fer treue, zuverläffige Arbeiter unausgeſetzt in unferem Dienfte geftanden,
und da nun fein hohes Alter und die infolge deſſen abnehmenden Kör-
perfräfte und Beranlafjung gaben, ihm zum 1. April d. 3. den Austritt
aus dem über 26 Jahre durchaus tadellos geführten Amte anzuempfehlen,
jo bielt der Vorſtand es für angemefjen, dem Kuſch eine Sahrespenfion
von 1000 Mark zu bewilligen.“ Kuſch verzog nach Rathenow, wo er
am 4. September 1880 verftorben ift.
An jeine Stelle trat als Leiter der Beitellanftalt Otto Feindt, der
bereits jeit dem 1. Dftober 1860 al3 zweiter Beamter der Beftellanftalt
thätig war, und der das Amt noch heute verwaltet. Feindt hat die Ent-
widelung der Anstalt zu ihrem jegigen Umfange mit durchlebt und bie
Neuerungen bes Vorftandes mit Umficht und Geſchick in die Praxis über-
geführt. Seine treue Pflichterfüllung fand feitend des Vorſtandes der
Korporation ehrende Anerkennung, als er im Jahre 1885 auf eine fünf-
undzwanzigjährige Thätigfeit als Beamter der Korporation zurüdbliden
fonnte.
Am 1. Dftober 1858 mußte die Korporation ihre alten Geſchäfts—
räume in der Adlerftraße Nr. 5 verlafien. Da die Beitellanftalt wegen
des täglichen Verkehrs vieler Menjchen und bejonders einer großen Zahl
oft recht unruhiger Laufburjchen ein angenehmer Mieter nicht war, jo
war das Finden eines neuen Unterfommens ftet3 mit befonderen Schwie-
rigfeiten verknüpft. Sie überfiedelte in die Unterwafjerftraße Nr. 8, ver-
309 aber bereit3 am 1. April 1862 nach der Ablerftraße Nr. 9. Am
1. Dftober 1868 mußte wieder umgezogen werden, und biesmal ging es
nad der Sraufenftraße Nr. 41 am Dönhoffsplag. Am 1. April 1875
erfolgte alsdann die Verlegung der Beftellanftalt nach Mohrenitraße
Nr. 58, wofelbft man nunmehr ausreichende und pafjende Unterkunft
glaubte gefunden zu haben. Der ftet3 wachjende Verkehr auf der Anftalt
aber und bejonders die in Ausficht genommene Anſchaffung eigener Pferde
zwang am 1. April 1886 nochmals zu einer Verlegung der Anftalt, Es
326 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
wollte nicht gelingen, mehr im Mittelpunkte der Stadt geeignete Unter-
funft zu finden, und fo nahm denn der Vorſtand ſchließlich in der Linf-
jtraße Nr. 29 an fich ſehr geeignete Räumlichkeiten in Ausficht, deren
Lage aber doch der Hauptverfammlung im Oftober 1885 jo ungünitig
ſchien, daß fie dem Mietsvertrage ihre Genehmigung verjagte. Daraufhin
legte der Vorſtand jein Amt nieder; er wurde jedoch in einer alsbald
einberufenen außerordentlihen Hauptverfammlung, die ſich mit dem vor-
geihlagenen Gejchäftslofal einverftanden erflärte, wiedergewählt, und nun—
mehr erfolgte am 1. April 1886 die Überfiebelung der Veftellanftalt nach
der Linkitraße, von wo fie hoffentlich ihren legten Umzug in dag eigene
Heim bewirkt Hat.
Eine für den gefamten Verkehr ungemein wichtige Neuerung war im
Jahre 1867 die Einführung des neuen Tarif im deutichen Poſtverkehr,
ber das Zehn-Bfennig-Borto für Briefe ſchuf. Es war vielfach, auch im
Börjenblatt*), darüber geklagt worden, daß die Schnelligkeit der Lieferung
im Buchhandel nicht den Forderungen entipräche, die man bei den jeßigen
Berfehrseinrichtungen zu ftellen durchaus berechtigt jei, und bejonders
drüdend wurde e3 empfunden, daß Beitellungen auf Berliner Verlag
meift vierzehn Tage auf fi warten ließen, wie noch in einer Eingabe
bes Vereins der beutichen Sortiment3-Buchhändler vom 26. Mai 1873
an den Vorftand der Korporation des näheren ausgeführt wird, ein Übel-
ftand, an dem gerade in jener Zeit eine außerordentlich nachläjfige Spe-
dition auf der Berlin-Anhalter Bahn einen Hauptteil der Schuld trug.
Um nun wenigftens bie Beit zu erjparen, welche die Beitellungen auf
dem Wege über Leipzig unnüß verbrauchten, beichloß der Vorſtand der
Korporation im Februar 1868, die Wirkfamfeit der Beitellanftalt derart
zu erweitern, daß allen auswärtigen Handlungen, wenn fie auch nicht
duch einen Kommilfionär in regelmäßigem Verkehr mit Berlin ftehen,
freigeftellt werden follte, ihre an verjchiedene Berliner Verleger gerichteten
Beitellungen in einem Briefe direkt an den Gejchäftsführer der Anftalt
einzufenden, der die Zettel jofort zu verteilen hatte. Wie H. Kaijer in
feinem Vorſtandsbericht im Dftober 1868 mitteilt, „hat der Erfolg den
Erwartungen des Vorftandes durchaus entiprochen. Dieſe Einrichtung ift
den Wünjchen vieler auswärtiger Kollegen jo richtig entgegengelommen,
daß fich ein gewifier Kreis von Handlungen gebildet hat, weldye jeitdem
die Berliner Verfchreibungen den Berlegern ftet3 auf diefe Weiſe zukom—
men laſſen“. Eine ganz wejentliche Beichleunigung erfuhr der Berfehr
zwiſchen Berlin und Leipzig, als im Jahre 1873 die Spebitionsfirma
A. Warmuth in Berlin einen direkten Bücherwagen zwilchen beiben
*) Börfenblatt 1867 ©, 3208. 3335, 1868 ©, 304.
Die Begründung der „Korporation ber Berliner Buchhändler” ꝛc. 397
Städten einrichtete. Diefer ging zunächft nur einmal wöchentlih, am
Mittwoh von Berlin und am Donnerstag von Leipzig; aber ſchon im
Herbit desjelben Jahres wurde auch Sonnabends ein Wagen von Berlin
abgelafjen, und jet verkehrt der Bücherwagen bereits jeit Jahren täglich
in beiden Richtungen.
Mit dem Jahre 1878 ging die Zeit des verhältnismäßig ftillen und
beihaulichen Daſeins für die Beftellanftalt zu Ende. Hatte fie bisher
nur im Sleinverfehr gute Dienjte geleitet, jo wurden ihr jet Aufgaben
geitellt, die weit über den Rahmen hinausgingen, den man fich urfprüng-
Ih für ihre Wirfjamfeit gedacht hatte, und deren Löſung eine völlige
Umgeftaltung des Inſtitutes herbeiführte.
II.
Daß die Beſtellanſtalt nicht nur eine nützliche, ſondern vielmehr eine
notwendige Einrichtung geworden war, hatte ſich längſt erwieſen, und er-
wies fi) nach 1870, als Berlin einen nie geahnten Aufihwung nahm,
immer mehr. Schon im Jahre 1868 ſchrieb H. Kaijer über den Wert
des Inftitut3 für den Berliner Buchhandel: „Mit der wachlenden Be-
deutung Berlins als Verlags- wie ald Kommilfionsplag, namentlich aber
mit der ftet3 zunehmenden Zahl biefiger Interefienten, ift die Beſtell—
anftalt gerade für den Iofalen Verkehr zu einer Notwendigkeit geworden,
während fie bei der Begründung nur als ein nicht ganz zweifellojer
Berjuch anzufehen war; ja fie ift in ſolcher Weile notwendig geworden,
daß das etwaige Aufhören derjelben jedem Einzelnen eine jehr fühlbare
Mehrausgabe für Boten u. |. w. auferlegen würde.” Je mehr nun das
außerordentlihe Anwachſen der Bevölkerung Berlins eine immer größere
Ausdehnung der Stadt zur Folge Hatte, defto mehr erwies es fich als
eine Notwendigkeit, daß die Beſtellanſtalt, jollte fie ferner noch von erheb-
lihem Nutzen fein, nicht nur eine Zentralftelle für den Zettelaustaufch
ſondern für den gejamten buchhändleriichen Verkehr überhaupt werden
mußte, und die Anregung zu dieſer außerordentlich jegensreichen Erwei-
terung gegeben zu haben, ijt das Verdienſt Albert Goldſchmidts.
Am 30. September 1878 verjandte diejer ein gebrudtes Rundſchrei⸗
ben, in dem er eine ganze Reihe von Neueinrichtungen für die Beitell-
anftalt in Anregung brachte, die hauptfächlih die Anbahnung eines di-
reften Verkehrs auswärtiger Verleger mit Berlin bezwedten, und deren
eine war: „Bon auswärts bei der Beftellanftalt eingehende Paketjendungen
an Mitglieder der Anftalt zur Verteilung zu bringen und die gelöften
Barbeträge direft an den Verleger zu jenden.“ Im der den Anträgen
beigegebenen Begründung beißt es: „Die Einrichtungen des buchhänd-
328 Die Begründung der „KRorporation der Berliner Buchhändler” ıc.
leriſchen Verkehrs zwiſchen Berlin und Leipzig find feit Jahrzehnten faft
unverändert geblieben. Bon Leipzig aus werden wir wohl niemals eine
Anregung erhalten, unjere Verkehrsverhältnifje zu ändern, denn die Leip-
ziger Herren Kollegen find hierin jehr fonjervativ, und dies mit vollem
Recht. Ob es aber auch dem Berliner Buchhandel frommt, in diejen
Berkehrs-Einrichtungen immer und immerfort alles beim alten zu lafjen,
ift ganz gewiß zu verneinen.“ Nachdem dann die Vorteile auseinander-
gejegt find, die Leipzig vermöge feiner bevorzugten Stellung als Bentral-
punkt des deutihen Buchhandels genießt, heißt es weiter: „Im deutichen
Buchhandel wird feine Stadt durch die herrjchenden Einrichtungen jo be—
nadhteiligt wie Berlin. Keine andere Stadt hat demnad jo viel Grund,
in den jet üblichen Verfehrsverhältniffen eine Anderung eintreten zu
lafien, wie unjere Stadt.
„Eine plößliche totale Veränderung der angegebenen Verfehrsverhält-
nifje für den Berliner Verlagsbuchhandel würde dadurch eintreten, daß
die Berliner Verleger erklärten, von einem beftimmten Zeitpunkte ab ihren
Verlag zu den Netto» rejp. Barpreijen nur „franfo Berlin“ rejp. mit
einem Aufichlage, der die Unkoſten für Emballage, Fracht und Kommif-
fionsgebühren dedt, nach Leipzig zu liefern. Die auswärtigen Sortimen-
ter würden durch eine ſolche Erklärung veranlaßt werden, auch in Berlin
einen Kommilfionär zu nehmen und die Vorteile für Leipzig würden ſich
zum Teil mit auf Berlin übertragen. Ich glaube wohl, daß der Berliner
Berlagsbuchhandel mächtig genug fein würde, einen ſolchen einftimmig
gefaßten Beichluß zum Segen der buchhändleriſchen Entwidelung unferer
Stadt durchzuführen. Ich glaube aber nicht, daß es möglich fein wird,
die Verleger Berlins in einer jo wichtigen gejchäftlichen Angelegenheit zu
einem einjtimmigen, jeden Einzelnen bindenden Beichluffe zu veranlafjen.
Ih möchte deshalb nicht zu einem derartigen Radikalmittel raten, um fo
weniger, al3 von demjelben nur die Verleger Vorteil haben würden, für
die hiefigen Sortimenter aber fein Nuten entitehen würde. Wohl aber
önnte ohne Anwendung eines jo durchgreifenden Mittel durch eine ſach—
gemäße Erweiterung der Befugniffe und Pflichten unferer Berliner Be-
ftellanftalt den auswärtigen Kollegen der Verkehr mit Berlin erleichtert
und dadurch dem Berliner Gejamtbuchhandel jo manche Spejenrechnung
erjpart werden. Und bierzu anzuregen, ift der Zwed biefer Zeilen.“
Die Bedeutung der Goldichmidtichen Anträge war fo einleuchtend,
daß der Borjtand der Korporation fogleich beſchloß, ihrer Durchführung
näher zu treten und fie zur Begutachtung dem Hauptausſchuſſe überwies,
Diejer begann feine Beratungen unter dem Vorſitze von Paul Barey
und unter Hinzuziehung mehrerer bejonders jachverftändiger Mitglieder
der Korporation am 14. Januar 1879, und führte fie in zwei weiteren
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc. 329
Sigungen am 28. Januar und 5. Februar zu Ende. Zu Grunde lag
jegt eine veränderte Vorlage U. Goldſchmidts, deren erfter Antrag lau-
tete: „Die Beitellanftalt übernimmt die Verteilung von Paketen, welche
ihr von biefigen oder auswärtigen Buchhändlern für Mitglieder der An-
ftalt franfo zugehen.” H. Kaiſer und 2. Simion erftatteten ausführliche
Referate und auf Grund diefer und eingehender Beratungen einigte fich
der Hauptausihuß dahin, dem Vorftande folgenden Beſchluß zu empfeh-
len: „Die Befugniffe der Beitellanftalt find dahin zu erweitern, daß die—
jelbe fortan auch Pakete hiefiger Buchhändler für Mitglieder der Anftalt
und ſolche ausmwärtiger Sortimenter annimmt, welche in Berlin einen
ftändigen Kommiſſionär haben.” Dies Ergebnis der Beratungen bes
Hauptausichufjes teilte Paul Parey dem Vorftande in einem Bericht vom
13. Februar mit, in dem der wenigſtens vorläufige Ausichluß von Bei-
Ihlüffen ausmwärtiger Firmen wie folgt begründet wurde: „Der Ausſchuß
in feiner Majorität verfannte keineswegs, daß auch dieje Erweiterung der
Befugnifje der Beitellanftalt für einen jpäteren Zeitpunkt ein zu erftre-
bendes Biel fein könnte, da es evibent, daß für den ganzen Berliner
Buchhandel große Beträge an Fracht und Leipziger Spejen dadurch er-
[part werden würden. Der Hauptausihuß glaubte aber, daß zur Zeit
nit zu überjehen fei, welche Erforderniffe von Arbeit und Raum an
die Berliner Beitellanftalt dadurch geftellt würden, daß es ſehr jchwer
jei, vorweg dem entiprechende Organijationen zu jchaffen, und daß alfo
erit an der Hand der mit der Beförderung der Berliner Pakete gemachten
Erfahrungen ein jo weittragender Beſchluß gefaßt werben follte.“
(Fortjegung folgt.)
>
Dmwanglofe Runoͤſchau.
Die rührigen Berliner haben den beutihen Buchhandel wieder mit einem
intereffanten Zirfular erfreut, das wir auch Bier regiftrieren müffen. inter dem
nn „im März“ teilt uns der „Verband freier beuticher Buchhändler“ folgen:
es mit:
„Auf unfer vor Kurzem an fämtliche Buchhändler Deutichlands verjandtes
Zirkular, in welchem unfer Verband zum Beitritt aufforberte, ift uns eine fo große
Anzahl von Beitrittö-Erflärungen zugegangen, daß unfere Erwartungen bei weiten
übertroffen find. Unfere Anregung tit nicht nur auf fruchtbaren Boden gefallen,
fie hat, wie aus dem größten Teil der Zufchriften hervorgeht, eine geradezu enthu:
fiafttiche Aufnahme gefunden. Diefe Thatfache ift für und ber beſte Beweis, daß
wir uns auf dem richtigen Wege befinden. Wir werden auf diefem einmal be:
tretenen Wege unbeirrt fortfchreiten, wir werben, unterftüßt von einer achtung—
gebietendben Zahl von Berufögenofien, den Kampf gegen Kurzfichtigfeit und
gänzliche Verkennung der heutigen Zeitverhältniffe weiterführen, bis wir unfer
Ziel, alle Felleln zu befeitigen, welche eine freie Entwidlung bes beutichen
Buchhandel unmöglid machen, erreiht haben. Da hervorragende Firmen
fih rückhaltlos den Beftrebungen des Verbandes angeſchloſſen und weitgehendite
Unterftügung zugefagt haben, und ferner, wie ſchon erwähnt, die Zahl der Bei:
trittserflärungen eine überrafchend große tft, fan an dem Erfolge unferer Beitre-
bungen nicht mehr gezweifelt werben. Der „Verband freier Deutfcher Buchhän d⸗
fer“ bildet bereits eine Macht und wird als Macht auftreten, fobald die fefte
Organtjation vollendet ift.
Es tft und unmöglidh, bie an uns ergangenen zum Teil fehr ausführlichen
Zuſchriften einzeln zu beantworten, Wir bitten Sie baher, fich vorläufig mit fol:
genden allgemeinen Mitteilungen begnügen zu wollen. Wir beabfichtigen, demnächſt
eine General:Berjammlung einzuberufen, über deren Ort und Termin Ahnen zur
rechten Zeit eine Benahrichtigung zugehen wird. Der General:Berfammlung wird
ein Statuten-Entwurf, ſowie ein allgemeiner Organtfationsplan zur Beihlußfaflung
vorgelegt werden,
Der Amel ded Verbandes ift in unferem erjten Zirfular bereitö klar ausge-
fproden. Der Verband will auf der Grundlage unferer Gefeßgebung feinen Mit:
gliedern einen Rehtsihus gegen jene Maßnahmen des Börſen-Vereins bieten,
welche, den wirtſchaftlichen Anſchauungen der Gegenwart zumwiberlaufenb, eine freie
Entwidlung des deutfchen Buchhandels in unnatürlicher Weije einzubämmen ſuchen.
Das bisherige Vorgehen bed Börſen-Vereins gegen zahlreiche Berufsgenoſſen bietet
genügende Handhaben, um auf dem Wege bed Geſetzes in nachdrücklichſter und
ohne Zweifel erfolgreichiter Weile dagegen anzufämpfen. Da der Einzelne in ben
meisten Fällen nicht in der Lage tft, einen derartigen Kampf durchführen zu fönnen,
Zwangloſe Rundfhau. 331
will unfer Verband für jedes feiner Mitglieder eintreten und ihm einen foftenfreien
Rehtsihug gewähren. Der Verband übernimmt die Verpflichtung, bie Rechte der
Mitglieder gegen alle ihren Geichäftsbetrieb ſchädigenden Maßnahmen bed Börfen:
Vereins durch hervorragende Rechtöbeiftände wahren zu laffen und bie Prozeſſe bis
zur letzten Inſtanz durchzuführen. Insbeſondere wird ſich der Rechtsſchutz aud
auf die gerichtliche Geltendmachung von Entſchädigungsanſprüchen erſtrecken, um
unſere Mitglieder vor materiellen Einbußen, die ihnen durch Maßnahmen des
Börſen-Vereins erwachſen find, zu bewahren.
Gerade zur rechten Zeit kommt nun bad Gefeh über ben unlauteren Wett:
bewerb, deſſen $$ 9 und 10 unferen Beitrebungen eine wejentlihe Stütze zu bieten
geeignet find. Das Gefeh hat vor einigen Tagen bie Kommiffion paffirt; es läßt
fih mit Sicherheit erwarten, daß bafjelbe den Kommiffionsbefchlüffen gemäß im
Plenum zur Annahme gelangen wird. Die $$ 9 und 10, welche ſich auf den Ver:
rath von Geſchäftsgeheimniſſen beziehen, haben nad dem Kommtifionsbericht fol-
gende Faſſung erhalten:
9
Mit Geldftrafe bis zu breitaufend Mark oder mit Gefängnis bis zu einem
Sabre wirb beitraft, wer ald Angeftellter, Arbeiter oder Lehrling eines Geſchäfts—
betriebes Geichäfts: ober Betriebögeheimnifie, die ihm vermöge bed Dienftverhält:
niſſes anvertraut oder fonft zugänglich geworben find, während ber Geltungsdauer
des Dienftverhältnifies unbefugt an Andere zu Zwecken bed Wettbeiwerbes ober in
der Abjicht, dem Inhaber des Gefchäftäbetriebes Schaben zuzufügen, mittheilt.
Gleihe Strafe trifft denjenigen, welcher Geſchäfts- oder Betriebögeheimniife,
beren Kenntnis er durch eine ber im Abjah 1 bezeichneten Mitteilungen ober durch
eine gegen bad Gefeh ober bie guten Sitten verftoßende eigene Handlung erlangt
Hat, zu Zwecken bed MWettbewerbes unbefugt veriwertet oder an Andere mitteilt.
Zumiderhandlungen verpflichten außerdem zum Erſatze des entftandenen Schadens,
Mehrere Berpflichtete haften als Geſamtſchuldner.
$ 10.
Wer zum Zweck bes Wettbewerbed e3 unternimmt, einen anderen zu einer un:
befugten Mitteilung ber im $ 9 Abſatz 1 bezeichneten Art zu beftimmen, wird mit
Geldftrafe bis zu breitaufend Marf oder mit Gefängnis bis zu einem Sahre
beftraft.
Daß diefe Paragraphen auch auf buchhändlerifche Verhältniffe zutreffen, kann
feinem Zweifel unterliegen; durch biejelben wird aber die Spionage, mit beren
Hilfe der Börfen:Verein allein zum Ziele gelangen kann, gründlich unterbunden.
Zum Schluß müffen wir noch bem Vorftand des Börſen-Vereins unferen
beften Dank dafür ausfprechen, daß er unferen Beitrebungen durch den Artikel in
Nr, 49 des „Börfenblatt” eine, wenn auch unfreimillige, aber um fo nachdrück⸗
lichere Unterſtützung hat angebeihen laſſen. Wenn ber Borftand des Börfen-Ber:
eins glaubt, mit einigen allgemeinen Rebensarten eine Bewegung, wie bie von dem
„Berbanbe freier Deuticher Buchhändler“ in's Leben gerufene, abthun zu können,
jo befindet er fih in einem Irrtum. Die überaus ſchwächlichen Ausführungen
des erwähnten Artikels beweifen klar und deutlich, daß ber Vorſtand nicht in ber
Lage tft, durch Thatſachen den Inhalt unferes eriten Zirkulars zu widerlegen.
Eine derartige Behandlung dieſes für ben gefamten deutſchen Buchhandel eminent
wichtigen Gegenftandes kann unferen Beftrebungen mur förderlich fein. Der Artikel
fpriht von einer „Kleinen aber rüdfihtslofen Minderheit“. Dieſe Bezeichnung
trifft nur in einem Punkte zu, nämlich, was Rüdfichtlofigfeit anbelangt, denn auf
332 Zwangloſe Rundichau.
Rückſichtsloſigkeit kann eben nur mit Rüdfihtslofigkeit geantwortet werben. Im
Übrigen kann von einer Heinen Minderheit feine Rebe mehr fein; wir hoffen biel-
mehr, und haben volle Berechtigung dazu, daß wir fehr bald mit einer großen
Mehrheit dem Börfenverein werben gegenübertreten fünnen.
Unfer Grundfaß ift e8, ohne Überftürzung die Organifation bes Verbandes in
die Wege zu leiten. Wir bitten Sie daher, vorläufig von obigen Mitteilungen
Kenntnis zu nehmen; über alle weiteren Schritte werden wir Ihnen ſtets recht-
zeitig Nachricht geben.“
Wir billigen den Ton dieſes Zirkulars nicht in allen Teilen. Der Verband
nennt fi ein „freier”. Ginftweilen ift er dad noch nidht. Er will e8 werben
und zwar glaubt er ſich der Tarnfappe der Anonymität bedienen zu müflen Wir
verjtehen dieſe Rüdficht auf fich felbft, glauben aber, daß nun aud die Zeit gefom-
men jei, daß bie leitenden Geiſter einmal mit offenem Viſir fämpfen. Ober jollten
zuviele der Aufagen mit der Bedingung verfnüpft fein, erft das nähere „Wie” und
„Was“ zu erfahren. Und nicht zulest mit „Wem“, denn man möchte doch gerne
wiffen, in welcher Geſellſchaft man fich befindet. Wir felber waren fo neugierig
und haben eine folche bedingte Zuſage gegeben, denn wir find der Meinung, es
bat nicht nur jeder Kollege das Recht ſondern fogar die Pflicht, von allen Be:
ftrebungen im Buchhandel Kenntnis zu nehmen, — audiatur et altera pars — und
dann erft zu entfcheiden, ob für oder wider. Wir haben Feine Urſache, eine ſolche
Bewegung kurzweg mit einem verfrühten Urteil abzuthun. ft diefe Bewegung auf
falden Bahnen, dann fann fie fiherli mehr Unheil anrichten, als vielleiht man=
es Börjenvereinsmitglied fich träumen läßt, ift fie aber auf richtiger Fährte —
und darauf hinzumirfen ift Pflicht eines jeden Kollegen —, jo wirb fie fiher manche
Beruföfrage jchneller Löfen, ala dies nad) dem Gang ber Verhältniſſe dem Börſen—
verein möglih war. Es ift ja etwas Schönes um bie Traditionen und mit Trauern
wird mander foldhe Ideale begraben. Aber bie vorwärts brängende Zeit nimmt
nun einmal wenig Rüdfiht auf das Hergebradte, Bon manden Seiten wird
allerdings mit Recht bezweifelt, ob bie billigen Leute — wie wir und gewählt aus-
brüden wollen — nun befonders geeignet waren, gerabe reformierend im Bud:
handel zu wirfen und mir fünnen ben Gegnern audy nicht verdenken, in ber Not-
wehr Hiebe nad diefer Seite zu erteilen. Wem aber bie Zukunft unfered Berufes
am Herzen ltegt, wir meinen bie Ehre unſeres Stande und bie wirtichaftliche
Hebung feiner Mitglteber, ber muß ſolche Zeichen ber Zeit erniter nehmen.
Wenn fih der Moft auch ganz abfurb geberbet,
Es giebt zulegt doch noch 'nen Wein.
Hoffen wir, daß er und gut bekomme.
Das Geipenft eined Buchdruckerſtreils hat und auch wieder einmal geängitigt,
aber mie es fcheint, wird die Sache doch wohl im Sanbe verlaufen. Die Bud:
brudergebilfen, unter denen doch noch ein gewifier Korpägeift herricht, haben es
übrigens either verftanden, ihre Pläne mit einer gewiflen Entichlofjenheit zu ver:
fehten. Den Grund können wir darin fucdhen, daß nit nur die jozialbemofra-
tiſche Partei Hinter diefen Leuten ftedt, fondern daß befonbers in den Reihen biefer
Guttenbergjünger fehr viele überzeugte Sozialdemokraten marſchieren. &3 wäre
nun ungerecht, wollte man mande Mißſtände, bie der alte Tarif aufweiſt, über:
fehen, und wollte man andererfeitö nicht anerkennen, daß auch bie Arbeit im Bud:
druckereigewerbe und beionderd am Setzkaſten mühjelig und im Verhältnis zu man:
chem anderen Gewerbe nicht beſonders Iohnend ift. Aber ziehen wir einmal eine
Parallele zwiſchen den Buchbrudergehilfen und den Buchhandlungsgehilfen. Abge-
Zwangloſe Rundſchau. 333
ſehen davon, daß der Buchhändler vermöge ſeiner geſellſchaftlichen Stellung zu
ganz anderem Aufwand genötigt iſt, als ber Setzer, verdient ber letztere unverhält⸗
nismäßig mehr. So erhält z. B. ein Durchſchnittsſetzer, dem ſeine Vorbildung
doch ungleich weniger gekoſtet, in Leipzig an einfachem Wochenlohn (ohne Über—
ſtunden) ca. 30 M., dad macht monatlich ca. 135 M. In ber „Provinz“ Liegt das
Verhältnis freilich nicht allerorts jo günftig Was erhält nun ein Buchhändler,
ein „Durdfchnittägehilfe"? Wir greifen fehr hoch, wenn wir 90 M. annehmen.
Dazu hat der Buchdruder nicht nur feine abgegrenzte, auf etwas über neun Stun:
den bemefiene Arbeitszeit, jondern er befommt bie Überſtunden zu erhöhter Tare
auf Heller und Pfennig bezahlt, während der Buchhändler, wie aus ber Städte:
ihau des Buchhändlerfalenders für 1896 hervorgeht, offiziell durchſchnittlich 10
Stunden — binter verjchloffener Thür aber leider Gottes 14 aud 18 Stunden —
arbeitet. Mit wenig Ausnahmen tft den Chefs aud nicht einmal ein Vorwurf zu
maden, denn die Geſchäfts-Verhältniſſe find vielfach nicht gerabe rofig. Unſer
Idealismus muß uns eben immer wieder über die Mühſeligkeiten unferes Berufes
binwegtröften. Ich weiß aber nicht, ob der Umftand, daß die jüngeren Geifter im
Buchhandel mit ihrer gegenüber dem allgemeinen Kaufmanndftande geringen Be-
foldung deshalb zufrieden (oder doch nicht?) find, mweil fie an einem Erfolg gemalt:
thätiger Maßnahmen zweifeln, oder zu vernünftig find, dadurch evtl. unfern ganzen
Beruf zu fchädigen, ober ob ed nur Mangel an Korpsgeiſt ift. Es ift ja ficher, daß
ein etivaiger Streif von Buchhandlungägehilfen eine äußerſt komiſche Seite haben
würbe, denn um die Sache nahbrüdliher zu machen, müßte man doch mit den
Herren Marfthelfern Hand in Hand gehen. Das find ja eigentlich die Leute, die
bie große Konfufion, die doch zu einem richtigen Streif notwendig tft, erft ins
Werk ſetzen fönnen. Lächeln Ste nicht, meine Herren Kollegen. Es giebt eine
Reihe Firmen, in denen bie Gehilfen getroft auf unbegrenzte Zeit nad Kairo ober
zum Norbpol gondeln könnten, bleibt nur der Markthelfer in Funktion, die Säule
des Haufes am Plabe, dann fann ed gar nicht fchief gehen.
Als paffendfte Zeit für einen Buchhandlungsgehilfen-Streik ſchlage ich übrigens
bie Tage während eined Buchdruderftreifs vor, da ift ja dann eo ipso weniger zu
thun, ba fällt ein Buchhandlungsgehilfen-Streif gar nicht auf.
Intereſſant ift, daß jetzt alle größeren Verleger jelbit ftreifluftig find, fie wol:
len, fobald fich die begehrlihen Buchdrucker rühren, nicht mehr bruden laſſen; es
fehlt nun nur nod ein ftreifendes Publikum, das fich verpflichtet, bei Konventio-
nalftrafe nicht mehr Bücher zu faufen noch zu lefen. Ob wohl die neugebadenen
Tertianer fih an dem Streik beteiligen werben?
Aber wir müffen doch noch einmal die ernſte Seite unferer Betrachtung in
Berüdfihtigung ziehen: die Lage unferer Gehilfenihaft. Es rühren fich wieder
reformierende Getiter, dad Gehilfen: bezw. Lehrlingd:Eramen kommt wieder auf’3
Tapet. Die Mitteldeutihe Buchhandlungsgehilfenvereinigung hat ſich an die Kreis—
vereine gewandt und dieſe ſchon vielfach wieder ventilterte Frage angeregt. Soviel
befannt geworben tft, hat aber zu dieſer außerſt ſchwierigen Frage nur der Buch:
bändler:Berband Hannover:Braunfdhweig Stellung genommen und zwar in fol:
gendem einftimmig angenommenen Antrag:
„Die Hauptverfammlung des Buchhändler:Berbandes Hannover-Braunihmweig
fteht der Eingabe der Mitteldeutihen Buchhandlungs-Gehilfen-Bereinigung ſym—⸗
pathiſch gegenüber und beichließt, fofort durch Einfeguug einer Commiſſion aus 5
Mitgliedern der Frage für unfern Verband praftiih Folge zu geben. Der Kom:
miffion wird die Pflicht auferlegt, ihre Arbeit den Hanbeläfammern in Braun=
334 Zwangloſe Rundihau.
ſchweig und Hannover vorzulegen refp. mit den dortigen Syndiken Fühlung zu
nehmen, auch fofort mit den betreffenden Handeläfammern in Verhandlung zu
treten, bie bezwecken, den Buchhanblungslehrlingen unferes Bezirfed den Mitbeſuch
ber kaufmänniſchen Fortbildbungsanftalten zu ermöglichen in ber Rüdfichtnahme auf
bie beſonderen Anforderungen unferes Berufes,“
Wir erfennen in folder Kundgabe unbedingt den guten Willen einfichtiger
Chefs, ihr Möglichftes zur Hebung des Jungbuchhandels beizutragen, und bie Ge-
bilfenichaft wird Urſache haben, dankbar alle Maßnahmen zu unterftügen, die ge
eignet erjcheinen, eine Beflerung herbeizuführen. Auf ein Examen nad antibi-
luvianiſcher Methode ſetzen wir allerdings feine Hoffnung, wohl aber ließe ſich
vielleicht noch ein Modus finden, um diejenigen Elemente aus dem Buchhandel
auszuſcheiden, die unfähig ſind, unſeren Stand zu vertreten. Wir denken dabei
nicht zuletzt an bie ſogen. Selbſtverleger und Viktualien verkaufende Buchſorti—
menter. Nicht nur bad Anſehen unſeres Standes leidet unter ſolchen Verhältniſſen,
ſondern letztere führen auch eine direkte Schädigung herbei. Was ſoll dad Publi—
fum 3. B. denken, wenn es in ben „Dresbener Nachrichten“ (18. März 1896) fol:
gende Inſerat Iteft: Federgewandter Mann, welder ein Manujfript zu einem
Bude ſchreiben oder zufammenftellen kann (aus verſchiedenen Büchern zufammen:
fegen), wird geſucht. Solche, welche darin geübt, bevorzugt. Offerten unter „Ma—
nuffript” poftlagernd.
Natürlich iſt dad auch fo ein Verleger, ber dad Manuffript pfundweiſe kauft.
Wir werben bie Bewegungen im Jungbuchhandel, ſowie im myſteriöſen „Ber:
band freier beutfcher Buchhändler“ in unferem Blatte verfolgen und zu geigneer
Zeit Stellung zu biefen Fragen nehmen,
>
Heue Bücher.
SBakelpeare’s bramatifche Werke. Ueberſetzt von Schlegel & Tied.
Im Auftrage der Deutichen Shafefpeare-Gefellichaft herausg. und mit Einleitungen
verjehen von Oechelhäuſer. Ler.-:Oftav. Elegant in Leinwand gebunden. Mit
Holzihnitt-Portrait als Titelbild. Preis M. 3,—. Stuttgart, Deutſche Ber:
lags⸗Anſtalt.
Der ganze Shakeſpeare für 3 Mark. Unter den Klaſſikern des Auslandes iſt
keiner uns Deutſchen ſo vertraut und hat keiner einen ſo großen Einfluß auf unſere
Litteratur ausgeübt, als Shakeſpeare. Von der Sturm- und Drangperiode an bis
heute iſt er jedem deutſchen Dramatiker Vorbild und Ideal geweſen; neben den
Dramen Goethe's und Schiller's machen die ſeinen ſtets die vollſten Häuſer, und
deutſche Forſcher ſind es geweſen, welche ihr Verſtändnis vor allem gefördert haben.
Dieſe Begeiſterung für Shakeſpeare wäre nicht möglich geweſen ohne eine ganz vor:
zügliche Uebertragung, die und das Original, foweit e8 überhaupt möglich ift, er:
fest hätte. Bekanntlich it fie das große Verbienft von A. W. v. Schlegel und
Ludwig Tied. Schon vor ihnen haben Bürger und Schiller, nad ihnen bie erften
unjerer Sprachkünſtler als Ueberfeger fih an Shakeſpeare verfucht, feiner von ihnen
mit foldem Glüde, ald Schlegel und Tied. Wenn man in Deutichland von
Shafefpeare jpricht, jo benft man unmillfürlich an diefe beiden mit, wenn man in
deutſcher Sprache Verſe des großen englifhen Dichters zitiert, jo gefchieht e8 nur
in feiner Meberjegung. Ste ift die marfigfte und zugleich die wortgetreuefte, durch
fie allein iſt Shafeipeare auch zu einem unferer Klaffifer geworben. Es ift daher
mit Freude zu begrüßen, daß bie deutiche Shakeſpeare-Geſellſchaft, welche ſchon fo
große Verdienfte um die Shafefpeareforfhung fi erworben, jebt auch bem Aermſten
bie Erwerbung biefer Ueberfegung möglich zu maden ſucht und ihren Präfibenten,
Wilhelm Dehelhäufer, beauftragt hat, eine billige Ausgabe zu veranftalten, bie jebt
mit einer Lebensbeſchreibung Shafeipeare'3 ala Vorwort und einer befonderen Ein
leitung zu jedem Drama zu bem überaus billigen Preife von nur 3 Mark elegant
gebunden erſchienen iſt. Es wird allgemein als eine Geſchmackloſigkeit angefehen,
bei einem Buch neben feinem litterariihen Wert aud von feiner äußeren Erjcei-
nung zu fprechen — bier tft es durchaus geboten. Ein Werk, das ein Familten-
ſchatz jein fol, muß auch entiprehend audgeftattet fein, einen anhaltenden Gebrauch
ertragen können unb bie heute bei faft jedem ſchon übermäßig angeftrengten Augen
möglichft ſchonen. Es ift anzuerfennen, daß die deutſche Verlagd-Anjtalt alles ge-
than hat, um billigen Anfprüchen gerecht zu werden. Das Papier ift feft, ber Drud
flar, der Einband elegant und folive. Es ift deshalb ihr ſowohl als der Heraus:
geberin ein guter Erfolg wohl zu wünfchen und empfehlen wir biefe neue billige
Shakeſpeare-Ausgabe auf das lebhafteſte.
336 Neue Bücher.
$gudwig XIV., ber Sonnenfönig in Bild und Wort, ift der Titel eines
hodhinterefianten hiſtoriſchen Prachtwerkes, von dem die erfte Lieferung foeben im
Verlage von Schmidt & Günther in Leipzig erſchienen if. In hocheleganter
Ausstattung wird dad Werk ca. 550 Tertilluftrationen, Vollbildertafeln, Karifa-
turen und Autographen enthalten. Das Haffiiche Jahrhundert Frankreichs in einem
fo überreichen Bilderihmud vorgeführt zu ſehen, iſt dem Geſchichtsfreund bisher
noch nicht geboten worden. Wir glauben, daß diefem Unternehmen wohl der gleiche
Erfolg beichieden fein wird, wie dem in demielben Verlag erjchienenen Werf über
Napoleon I. in Bild und Wort.
Ziken Bolt. Plattdeutihe Dichtung von Karl Gildemeifter. Gebr.
Büchting's Verlag in Hamburg. Geb. M. 2,—.
Ketelbeuters. Plattdeutihe Gedichte von Karl Gildemeifter. Ebend.
Geb. M. 1,25.
Die plattdeutiche Muſe hat einen ſchweren Stand, nachdem der unvergekliche
Fris Reuter des Menſchen Luft und Leid in unübertrefflicher Weife in feinen Werfen
verewigt hat. Nur felten will e8 einem feiner Nachfolger gelingen, ſich Anerken—
nung zu verihaffen. Wir wollen Gilbemeifter als tief empfindenden Dichter, der
auch die Form beherricht, unjer Rob nicht verfagen, aber feine Stoffe fönnten bier
und bort andere fein. Die plattdeutihe Sprache hat ihre eigene Poefie, will man
eine fremde Poeſie ded Stoffes hineintragen, macht man einen Fehlgriff und fol-
cher Vorwurf trifft gumeilen ben Dichter. Im Vebrigen gefielen und mande Ein:
zelheiten jehr, aber jenen Humor, den uns der Dialeft vergoldet, ſpendet der Dichter
zu ſparſam; e8 muß ja aber auch ernjte Bücher geben. Die Ausftattung ift jehr
gut. Sp.
Bibliotheca Philologiea oder vierteljährliche fuftematiiche Bibliographie auf
dem Gebiete der klaſſiſchen Philologie und Altertumswiſſenſchaft, ſowie der Neu:
philologie in Deutichland und dem Auslande neu erichienenen Schriften und Zeit-
fhriften — Aufſätze. 18% Heft 1-3. M. 3,—. Göttingen, Vandenhoed &
Ruprecht.
Bibliotheca Theologlea oder vierteljährliche ſyſtematiſche Bibliographie aller
auf dem Gebiete ber (wiſſenſchaftlichen) Evangeliihen Theologie in Deutichland
und dem Auslande neu erſchienenen Schriften und wichtigeren Zeitichriften — Aufſätze.
1894 Heft 4 und 189% Heft 1-3. M. 5,40. Ebenda.
Diefe vorzüglichen Bibliographien bedürfen feiner bejonderen Empfehlung.
Der gute Ruf der Firma, die diefe Publikationen herausgtebt, bürgt für den wiſ—
fenfchaftlihen Wert.
Die Entſtehung der Schreibkunft und die Briefe
der Arzeit.
LITT EEE
(Schluß.)
Auf dem Berge Hong in der chineſiſchen Provinz Sſy⸗tſchuan wird
man noch deutlich die Überbleibſel einer Inſchrift gewahr, die mit ſechs
Zoll großen Schriftzeichen in die Klippe eingehauen iſt und aus dem
Jahre 2189 v. Chr. ſtammen ſoll.
Tafeln aus Blei, Zinn und Kupfer waren in Griechenland im Ge—
brauch.
Bei den alten Hindu wurden die älteſten Urkunden mit Ölfarbe auf
Birkenrinde gejchrieben; und auch die alten Deutichen follen anfangs das-
jelbe Schreibimaterial benußt haben. — In Indien haben jchon ſeit lan—
gen Zeiten die Blätter von zwei PBalmenarten, der Schirmpalme und der
Tücherpalme, die Stelle des Papiers vertreten.
Die chinefiiche Regierung vertaufchte die Knotenſchnüre gegen Bam—
bustafeln; „fie dienten den hundert Beamten der Regierung dazu, Auf:
ficht über das Volk zu üben.“
Daß Schon in uralten Zeiten Leber ala Schreibmaterial verwandt
wurde, geht aus einer Injchrift am Tempel bei Denderah hervor, welche
bezeugt, daß diejer Tempel nach einem alten Plane erbaut worden, der
auf eine zubereitete Biegenhaut gezeichnet war und aus der Zeit des
Pharao Chufu (Cheops, ungefähr 3700 v. Ehr.) herftammte.
Die Israeliten hatten zu Davids Zeiten aufgerollte Bücher aus Tier-
bäuten, und auch die Sonier in Kleinafien fchrieben auf ungegerbte Schaf-
und Ziegenfelle, an denen fie nur die Haare entfernt hatten.
In Indien und jpäter bei Juden, Perjern, Griechen und Römern
wurden bie fein zubereiteten und bejchriebenen Häute auf einen dünnen
Stab gerollt, deſſen hervorjtehende Enden (Hörner, Umbilien) bemalt,
verfilbert, vergoldet, mit Elfenbein eingelegt oder jogar mit edelen Steinen
geihmückt waren. Häute oder Felle wurden gewöhnlicd) bei umfangreichen
Schriften angewandt,
22
358 Die Entjtehung der Schreibfumit und die Briefe der Urzeit.
Bu gelegentlichen Heineren Notizen verwandte man Blätter, Rinde
oder Holztäfelhen. Solche Holztäfelhen waren lange in die Römerzeit
hinein allgemein im Gebraud und wurden meift jo dünn wie ein Spahn
bergeftellt. Sie wurden entweder mit weißer Farbe überzogen, in wel-
chem Falle fie „Album” hießen, oder mit einer binnen Wachsſchicht. Auf
erftere jchrieb man mit dem Farbenſtift oder dem Pinjel, auf die anderen
wurde die Schrift mit einem jpiken Eijengriffel (stylus) eingerigt, ber
zuweilen fo groß und jpig war, daß er bequem als Dolch gebraucht wer:
den konnte. Am Hinteren Ende trug diejer Griffel meift eine flache, bei-
nahe löffelfürmige Scheibe, mit welcher etwaige Tyehler in dem Wachs
wieder glatigeftrihen und auf dieſe Weile ausgelöfcht werben konnten.
Die Wachstafeln hatten den Vorteil, daß man die alte Schrift durch Er-
wärmen des Wachjes über einer Flamme wieder auslöjchen und fo Die
Tafel wieder neu bejchreiben konnte. Die leere, vollfommen geebnete
Wahsflähe wurde „tabula rasa“ genannt. So konnte man auf diejen
Tafeln die Schrift leicht und bequem einrigen. Über erjt in jpäterer Zeit
nahmen die Buchitaben, damit man fchneller jchreiben konnte und mehr
Raum erjparte, Heinere und rundere Formen an. So entftandb neben
der urjprünglichen Unikaljchrift die Kurfivfchrift, neben dem großen das
jogenannte Heine Alphabet. Doc zeigen die römischen Wachstafeln noch
nicht ein eigentliches „Eeines” Alphabet, jondern eine eigentümliche aus
den Unilalbuchftaben (unjeren „großen“ lateiniſchen Leitern) gebildete und
ſchwer zu Iefende Kurfivichrift. Ein Schreiben konnte aus mehreren fol-
hen Tafeln beftehen. Wenn das Schriftjtüd fertig war, wurden die Tafeln
mit Leinwand umwidelt und am Rande mit einem Wachsfiegel verjchlofjen.
Gegen Ende der Regierung Tſin's jcheint man ſich im chinefiichen
Heere auch auf dem Marſche ſolcher Holztafeln zum Schreiben bedient
zu haben. „Die geflügelten Holztafeln flogen gemeinfam umher.“
Daß die Heinen Wachstafeln ſchon vor dem trojanichen Kriege im
Gebrauch geweien, finden wir bei Homer.
Die Werke Homers jollen aus einer Bibliothek von Wachstafeln be-
ftanden haben.
Plinius gebrauchte ebenfalls ſtets Wachstafeln.
Diejes Verkehrsmittel ift auch mehrfach poetijch behandelt worden,
jo Heißt e8 3. B.:
„Wenn dich die Jungfrau bis heut’ auch nicht fennt noch, jo zeige doch, Fleine
Tafel, die Kunde ihr an, bie du ihr treu überbringft.“
Der:
„Daß die beichwerliche Wahsichrift die fommende Zeit nicht verdüjtre,
Hüll' ih in Elfenbeins Schnee ſchwärzliche Lettern dir ein,“
Auch die beweglichen Dokumente waren bei den Alten lange Zeit
Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 339
jehr maffiver Natur. Solon (639 v. Ehr. geboren) ließ jeine Geſetze
auf Holzaylinder einrigen und öffentlich aufftellen.
Das äußerſt jchwere und ermüdende Schreiben oder Eingraben mit
dem Griffel in das Blatt oder die Wachstafel führte jchon Früh darauf,
mit einem zwedmäßig zugeichnittenen Schilfrohr zu jchreiben, deſſen Spike
in eine Art Tinte getaucht wurde, die man teils aus dem jchwarzen Blute
des Zintenfiiches, teild aus dem Saft der wilden Maulbeere, oder auch
aus einer Miſchung von Leimwaſſer mit Ruß ober Zinnober zubereitete,
Mit dem zunehmenden Bebürfnis nach jchriftlichen Mitteilungen und
mit der weiteren Verbreitung der Schreibfunft ging natürlich die Ver—⸗
volllommnung der Schreibmatertalien Hand in Hand,
Die wichtigfte Erfindung auf diefem Gebiete war entſchieden bie der
Bapyruszubereitung. Die Heimat des Papyrus, dieſes eleganteiten und
leichteften Schreibmaterial3 des Altertums, ift natürlich im Zentrum und
Urſitz des alten Schreiberwejens, in Ägypten zu fuchen.
Der poſtale Verkehr durch die Schrift vor Entjtehung des eigent-
lichen Briefes wurbe vorzugsweije durch Schnellläufer und Durch reitende
Boten vermittelt: Der Kurier entitand.
3. Die Briefe der Arzeit.
Zange bevor Briefe auf gerollten Häuten und auf Wachs⸗ und Holz
tafeln vorfamen, ftand die Zubereitung des Papyrus in hoher Blüte.
Die hauptſächlichſte Duelle unferes Wiſſens über die Zubereitung bes
Papyrus ift Plinius (hist, nat. XIII, 11—13).
Die Bapyruspflanze (Cyperus Papyrus) ijt eine Binfenart, die vor-
zugäweije im Nilthale gezogen wurde. Die Pflanze jcheint in Ägypten
nicht einheimiſch geweſen zu fein, wie fie auch jet dort völlig verjchwunden
ft. Nach alten Abbildungen zu jchließen, glich die ägyptiiche Bapyrus-
pflanze einer noch jegt in Nubien vortommenden Art. Von den Arabern
wurde fie fpäter nach den Sumpfgegenden Siziliend verpflangt.
Die Zubereitung des Bapyrus war kurz folgende: Man zerlegte den
Pflanzenftengel mit einem jcharfen Inftrument, ſodaß man die inneren
Häutchen abziehen fonnte, deren jeber Stengel bis an zwanzig ergab;
auf diejelbe Weile verfuhr man mit den Häutchen der biden Wurzel.
Die jo gewonnenen feinen Schichten legte man auf einer angefeuchteten
Tafel neben einander und eine zweite Schicht freuzweije darüber. Dann
wurde das Ganze mit Nilwaffer übergoffen, wodurch der Pflanzenftoff
fi auflöfte und die nutzloſen Beftandteile ausgejchieben wurden. Durch
Preſſen wurden dann die Lagen feit mit einander verbunden. Wahr-
Icheinlich gab man dem Stoff mit einer Art von Pflanzenleim noch grö-
22*
340 Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit.
Bere Haltbarkeit. Nach dem Preſſen betrug die Dide der Lagen kaum
mehr, al8 das Doppelte unjeres gewöhnlichen Schreibpapierd. Nachdem
man das jo gewonnene Papier an der Sonne getrodnet hatte, glättete
man es mit einem Zahn oder mit Bimftein. Die Breite und Länge des
erhaltenen Stoffes beruhte aljo auf den Dimenfionen der Tafeln, worauf
er zubereitet wurde, doch kam der Bapyrus gewöhnlich in langen und
jchmalen Streifen in den Handel. Einen derartigen Streifen nannten
die Griechen Außkos.
Auf Papyrus jchrieb man mit Schilfrohr, das ähnlich wie unfere
Federn zugefchnitten war, und gewöhnlich mit ſchwarzer, aus Ruß und
Gummi zubereiteter, zuweilen aber auch mit roter, grüner oder purpur-
farbiger Tinte. Konnte das Schriftftüd nicht auf einem einzigen Bapyrus-
ftreifen Pla finden, jo wurde ein zweiter darangeffebt u. f. f., worauf
der ganze fo zujammengejegte Riemen um eine aus Holz, Elfenbein oder
Metall gearbeitete Rolle gewidelt wurde. Ein größeres Werk nahm ver-
ſchiedene Rollen (volumina) in Anfpruch, und bei größeren, in Bücher
oder Gejänge eingeteilten Schriftwerfen, füllte jede diefer Hauptabteilungen
gewöhnlich eine ſolche Rolle. Durd Eintauchen in Zedern- oder Bitro-
nenöl ſchützte man die Bücherrollen vor Motten und anderen jchädlichen
Inſekten.
In der älteſten Papyruszeit ſchrieb man gewöhnlich von rechts nach
links. Später ſchrieb man eine Zeile von rechts nach links und die fol—
gende umgekehrt von links nach rechts, ähnlich wie man beim Pflügen
die Ackerfurchen zu ziehen pflegt; darum nannte man dieſe Schreibweiſe
„ochſenwendig geführt“ (gried.: Bovorgogyndor). Auf dieſe Weiſe waren
noch die Geſetze Solons gejchrieben ; aber ſchon zur Zeit Herodots jchrieb
man nur noch von links nach rechts, welche Art ſeitdem — wenigjtens
bei den abendländiichen Völkern (denn die Semiten jchreiben befanntlich
immer noch von recht? nad) links) beibehalten wurde. Die Geftalt der
Zeilen richtete fich nach der Form der Schreibflähe, auf welde man
ichrieb, jo daß, wenn dieje vielleicht rund war, auch die Zeilen freisförmig
wurden, gewöhnlich aber bildeten fie, wie bei uns, grade und parallele
Linien. In den älteren Schriften wurden die Worte nicht von einander
getrennt, ſondern die Schriftzeichen liefen ohne Unterbrechung, ohne Zwi—
ichenräume fort, bis der Vers oder der Saß zu Ende war, was durch
einen Punkt angedeutet wurde. Andere Saßzeihen kannte man nicht.
Selbft die griechiichen Aecente finden fih erjt im zweiten Jahrhundert
vor unjerer Zeitrechnung.
Der Papyrusftoff breitete ſich bald von Ägypten über alle Kultur-
länder der alten Welt aus. In Griechenland verdrängte er, wie Herodot
(®. 58) erzählt, vollftändig die vorher gebräudlichen Häute und erhielt
Die Entjtehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 341
fi) bis in das 12. Jahrhundert n. Chr. im Gebrauch, wo er allmälig
von dem billigeren Papier verdrängt wurde.
Alerandrien war der Hauptfiß der Papyrus-Induſtrie. Die ganze
alte Welt bezog Jahrhunderte lang ihren Bedarf an Papyrus von Uleran-
dria. Ein Ausfuhrverbot der Ptolemäer gab die Veranlaffung dazu, daß
man in der Feinafiatischen Stadt Pergamos der Zubereitung von Häuten
zu einem handlichen Schreibmaterial wieder vermehrte Aufmerkſamkeit
ſchenkte. So entftand das Pergament, das nad) dem Drte feiner Her-
ftellung benannt ivurde. Als König Eumenes II. (197—158 v. Chr.)
in Bergamos jeine große Bibliothek anlegte, joll der Neid der Ptolemäer,
welche hierin eine gefährliche Rivalin ihrer Weltbibliothet erblidten, in
dem Grade erwedt worben fein, daß fie die Ausfuhr von Papyrus aus
Ägypten ganz verboten. Notgebrungen griff man nun in Pergamos zur
alten Weife, Häute zuzubereiten, wobei das Verfahren dergejtalt verbejert
wurde, daß das neue Produkt fich bald als Charta pergamena einen
großen Auf erwarb. Diefer Stoff ließ fich fogar, was beim Papyrus
nicht der Fall war, auf beiden Seiten befchreiben, ein Fortſchritt, welcher
beſonders auf die Form der Bücher von großem Einfluß wurde. Sehr
verbreitet, aber ganz irrig ift die Annahme, daß das Pergament aus
Ejelshaut gemacht worden fei oder noch gemacht werbe. Bei den älteften
Pergamenten findet man nur Häute von Schafen, Ziegen und Lämmern
als Material verwendet. Ein befonders feines Pergament, welches aber
natürlich nur zu kürzeren Schriftftücden dienen konnte, gaben die Häute
ungeborener Lämmer; jpäter wurden Pferdehäute und Kälberfelle ver-
wandte, Shakeſpeare läßt Hamlet fragen: „Is not parchment made of
sheep skins?“ worauf Horatio antwortet: „Ay, my Lord, and of calves
skins too.“ Das Pergament haben wir als Träger der Schrift während
der Übergangsperiode zu betrachten, in welcher die Wogen der Völker—
wanderung die alte Kultur in Stüde ſchlugen und neben vielen anderen
Errungenschaften der Haffiichen Zeit auch die Schreibkunft beinahe voll»
ftändig unter den Trümmern ber alten Kultur begruben.
Es iſt bewiefen, daß im 2. oder 1. Jahrhundert v. Ehr., als die
Chineſen ihr Papier erfanden, die Ägypter ihren Papyrus ſchon Jahr:
taufende lang bejefjen hatten. Die Hieroglyphenfchrift war die Monumen-
talſchrift der alten Ägypter, der Stein war ihr Schreibmaterial, der
Meißel ihr Schreibinftrument, und nur bejonders heilige Texte, wie z. B.
die Auszüge aus dem Totenbuch, die man den Verftorbenen mit in’8 Grab
gab, wurden in Hieroglyphenfchrift auf Papyrusrollen gemalt. Die
Kurfivformen der hieratiihen Schrift aber brachten — wie fie jelber erjt
durch ein leichteres Echreibmaterial bedingt worden — die Bereitung des
Papyrus in Flor.
342 Dice Entftehung der Schreibfunft und die Briefe ber Urzeit.
Diodorus Siculus (lib., cap. 48) fpricht von einer Menge von
Büchern, welche unter dem Fuße einer Bildfäule des Oberrichters Liegen,
die im Grabgewölbe des ägyptiichen Königs Dfymandyas in Theben
(2300 v. Ehr.) aufgeftellt ſei.
Die Sündflut ſoll nach dem hebräiſchen Tert 2253, nad dem ja-
maritanifchen 2903 und nad der Septuaginta 3134 Jahre v. Chr. ©.
ftattgefunden haben, alfo ungefähr zu der Zeit, als die Bücherſammlung
im Grabgewölbe des Dfymandyas zu Stande gefommen war.
Folglich muß die vorfündflutliche Eriftenz des Briefes in Ägypten
bezweifelt werden. Inwiefern er in anderen Ländern beftehen konnte,
mag ihre chronologiſche Gedichte und der Stand ihrer Kultur bezeugen.
PB. D. Bäckſtröm führt in feinen „Zeitbildern” an: „Die älteften
Kulturvölfer traten jo früh auf, daß keine Forjchung den Zeitpunkt ihrer
eriten Kulturanfänge ausfindig machen konnte, weber für die im öftlichen
Alten anfäffigen Chineſen, noch für die Hamiten im nördlichen Afrika.
Dieje älteiten Kulturen gelangten auf einen relativ hohen Grad der Voll
fommenheit, behielten beftändig eine überwiegend materielle und formelle
Richtung bei. Diefe Richtung zeigt fich bei den betreffenden Völkern in
einer ſtarken Neigung zu allem, was zur materiellen Vervollkommnung
beiträgt und zugleich in dem geringen Sinn für das Ideale; in einem
ſtark ausgebildeten Formalismus in Religion und Staatöwejen, aber ohne
wahrhaft religiöjes oder politifches Leben, in der ſtarken Zähigleit, in
der Bewahrung des Beſtehenden bei wenig oder gar feinem Streben nad
neuen Berhältniffen, — genau wie wir es noch heute in der chinefiichen
Kultur finden, die nicht wie die hamitiſche unter der Einwirkung jpäterer
Kulturvölker verſchwunden if. — Aber noch ein Jahrtaufend nach den
Hamiten — aljo um das Jahr 2000 v. Ehr, — traten im fübweftlichen
Aien die Semiten mit einer ganz anderen, gerabe entgegengejehten Ge—
mitsart auf. Bei den Hamiten überwog bie materielle Richtung, bei den
Semiten die ibenle. Erftere hatten vorzugsweiſe die exakten Wifjenjchaften
und Kenntnifje gepflegt, waren aber im allgemeinen höchſt proſaiſch, wo—
gegen letztere fich immer mit Vorliebe den Schöpfungen der Bhantafie
wibmeten. Die Größe der Semiten lag darin, daß fie im religiöfen Ge-
fühl und in dem Sehergeift, welcher Gott ahnt, den übrigen Kulturvöl⸗
fern des Altertums bedeutend überlegen waren; auch find die drei Reli—
gionen, welche auf bie Kultur des menjchlichen Gejchlechts den größten
Einfluß gehabt haben, — die moſaiſche, die chriftlihe und die muhame-
daniſche, — alle von den jemitiichen Völkern ausgegangen. — Ungefähr
gleichzeitig mit den Semiten im weftlichen finden wir bie ariſchen Völler
im mittleren Afien, von wo fie fich teils ſüdlich nach der weſtindiſchen
Halbinfel, teils weftlih nach den Ländern im Norden und Norbweiten
Die Entftehung der Schreiblunft und die Briefe der Urzeit. 343
von den Semiten ausbreiteien. Sie waren an Organifationskraft den
Semiten weit überlegen und wetteiferten mit den Hamiten. Im Gegen-
ja zu den Hamiten jowohl als den Semiten war die Richtung der ari-
ſchen Völker überwiegend Friegerifch, und es dauerte lange, ehe fie Sinn
für friedliche Beſchäftigung zeigten. Deshalb traten fie als Eroberer auf,
und die erfte Weltmacht, die perfiiche, war ihr Werk.“
Die älteften Kulturzentren lagen am Nil, Hoangho, Euphrat nnd
Ganges. Soweit die vorhandenen Denkmäler und Urkunden eine Schluß-
folgerung zulaffen, nahm die Staatenbildung am Nil im fünften, am
Hoangho und Euphrat im vierten und am Ganges im dritten Jahrtauſend
dv. Ehr. ihren Anfang.
Das eigentlich hiſtoriſche Zeitalter der chineſiſchen Chronologie be-
ginnt mit Kaifer Yao im Jahre 2357 v. Chr. Seit diefer Zeit haben
die Chineſen Aftronomie getrieben, fie haben nun über 6000 Jahre lang
das Himmelsgewölbe ununterbrochen obferviert und die Sternfunde für
die erjte aller Wifjenfchaften angejehen; trogbem aber haben fie weder in
der Theorie, noch in der eigentlichen Kunft der Beobachtung irgendwie
Bedeutendes erreicht. — Eine Infchrift des Kaiſers Yü vom Jahre 2205
v. Ehr. ift ein nicht anzutaftendes Dokument über den damaligen Stand
des Schriftwejens in China; Yü ließ diefe Infchrift nach Trockenlegen
des Landes in eine Klippe auf der Spige des Berges Joslu-fun eingra-
ben. — Bon den alten Völkern find die Chinejen das fleißigjte; auch
wurden fie, was die rationelle Bebauung und Ausnugung des Ader-
bodens betrifft, von feinem anderen übertroffen.
Es giebt nur wenige Länder des Altertums, welche die Aufmerkjam-
feit des Geſchichtsforſchers jo ftarf und mit jo gutem echte auf fich
ziehen, wie Babylonien. Wenn auch die Wunderdinge, welche die Schrift-
fteller des Orients und des Dccidents einmütig von jeiner Hauptftadt er-
zählen, noch jo jehr übertrieben wären, fo weift doch das Land an ſich
Merkwürdigkeiten auf, durch die es fich vor allen anderen Ländern Afiens
auszeichnet. Kein anderes Land der Erde hat troß der zahlreichen, ver-
heerenden Stantsumwälzungen, die es erlitten hat, und troß der vielen
verwüftenden Züge barbarijcher Eroberer, denen es ausgejeßt war, doch
eine jo ununterbrochene Reihe großer und blühender Städte befefjen, die
man jtet3 wie der Phönir verjüngt aus der Aſche und den Auinen ber
Verwüftung wieder erftehen ſah. Im den älteften Urkunden des Menfchen-
geichlecht3 prangt ſchon der Name Babylon als ber erfte Sit eines bür-
gerlihen Gemeinwejens und als Wiege der Kultur (Genef. 10, 8—10).
— Unabhängige babylonijche Königreiche eriftierten 3000—2000 v. Chr.
In Nipum, der Baterftadt der Chaldäer, war damals jchon ein großer
Zeil der babylonijchen Literatur entftanden,
344 Die Entitehung der Schreibfunit und die Briefe der Urzeit,
Herodot (2, 44) erzählt, daß die Hauptjtadt der Phönizier, Tyrus,
mit ihrem alten Herkulestempel jchon im Jahre 2700 v. Chr. erbaut
worden jei.
Sp weit zurüd, wie bie hiſtoriſche Forſchung ſich erſtreckt — und
die neueren Entdeckungen haben ſie in viel weiter entlegene Zeiträume
zurückgeführt, als man früher geahnt hat — findet man bei den Ägyptern
eine uralte Kultur, einen hochſtehenden Ackerbau, ein kunſtreiches Be—
wäſſerungsſyſtem, volkreiche Städte, die Stammſitze der verſchiedenſten
Gewerbe waren, koloſſale Denkmäler, welche von langjähriger Ausübung
der Baufunft und von großer Fertigkeit in den mit diefer verwandten
Gewerben und Künſten zeugen; außerdem ein völlig ausgebildetes Gemein-
wejen und eine wohlgeordnete Verwaltung. — Wie die Götterlehre der
Ägypter entitanden ift, weiß man nicht, da fie fchon beim Beginn ihrer
geichichtlichen Zeit bis auf einige Einzelheiten völlig ausgebildet war.
Wahrſcheinlich war fie urjprünglid ein Sonnenfultus, was mehr oder
weniger deutlich aus den meisten ihrer Mythen hervorjchimmert.
Schon während der eriten Dynaftie des Manetho, 5004 vor unjerer
Ara, fol man Pyramiden aufzuführen angefangen haben und diefe Form
der Grabdenkfmäler der Könige oder anderer, dem föniglichen Gejchlecht
angehörender Berfonen Hat fich in Ägypten noch bis ungefähr 2000 v. Ehr.
erhalten. Noch jetzt fieht man in der Nähe des früheren Memphis Über-
refte von 67 ſolcher Grabdenkmäler von verjchiedener Größe, von 20—460
Fuß Iotrechter Höhe. Dieſer Größenunterfchied war nicht im voraus
beitimmt oder beabfichtigt, jondern hing von der Regierungszeit der be-
treffenden Könige ab. Jeder König fing nämlich ſchon während des
erften Jahres feiner Regierung mit der Erbauung feines Grabmals an.
Die Pyramide wurde zuerft nur 20—40 Fuß hoch gebaut. Sie enthielt in
ihrem Innern die Grabfammer, und die Bafis ihrer vier Seiten maß un-
gefähr ein Dritteil mehr als die lotrechte Höhe. War der Yau jo weit
vollendet, dann wurde jedes Jahr ein neuer Steinmantel um das ganze Ge-
bäude herum gelegt, bis jchließlich die Grabmäler der Könige, die unge-
wöhnlich lange regierten, die außerordentliche Größe erhielten, die noch
heute das Staunen der Nachwelt erwedt. Nachdem der König geftorben
und jein Sarkophag in die Grabkammer gebracht war, füllte man die leeren
Räume zwilchen den treppenartigen Ubjägen, welche durch diefe Bauart
entjtanden waren, mit fchrägen Steinplatten aus, fo erhielt die Pyramide
auf allen Seiten glatte Flächen von polirtem Granit. Die befannteften
Pyramiden find die beim Dorfe Gizeh, 5 Stunden weftlich von Kairo.
Un die uralte Einwanderung von Afien jchließt fich die Hochwichtige
und in viele verjchiedene Theorien zerfallende Frage über das Alter der
Kultur des Nilthales und ihr Verhältnis zu der mittelafiatiichen Kultur,
Die Entitehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 345
Augenjcheinlih find die Har vorliegenden Berührungspunfte beider Zivi-
liſationskreiſe; nicht weniger augenſcheinlich ihre ſcharfen Unterſchiede.
Agypten weiſt z. B. folgende Eigentümlichkeiten auf: es weiß nichts von
einer Sündflut, welche in den Sagen aller aſiatiſchen Völker eine große
Rolle ſpielt, es beſitzt ebeuſowenig die bei den Aſiaten ebenfalls allgemein
verbreitete Vorſtellung von vier Weltteilen, es hat anſtatt der ſiebentägi—
gen Woche die zehntägige und ganz andere aſtronomiſche Zykeln. Dagegen
ftimmen Maße und Gewichte vollftändig mit den babylonijchen überein.
Das Erblühen eines Handelsftandes wurde in Ägypten durch das
Holierungsiyftem verhindert, das die Ägypter bis zur Zeit Pſametichs
(Ende des 7. Jahrhundert? v. Chr.) in allen Punkten durchführten. Erſt
um dieje Zeit tritt Ägypten aus feiner Abgeſchloſſenheit Heraus und öffnet
fi den thätigen und wißbegierigen Griechen.
Für die vorjündflutliche Eriftenz des Briefes jowohl in China als in
Babylon ſpricht die hohe Kultur, die diefe Länder ſchon zu jener Zeit er-
langt hatten. Wahrjcheinlich aber ift die eigentliche Urheimat des Briefes
Agypten, weil doch jowohl infolge der allgemeinen Kulturentwidlung als
aud durch die Erfindung des Bapyrus die Bedingungen gegeben waren,
unter denen ein Briefwechjel entitehen und Bedeutung gewinnen Fonnte.
Der römische Schriftiteller Plinius unterjchied und definierte den
Brief nad) dem Schreibmaterial. Als Briefe (epistolae) wollte er nur
ſolche jchriftlichen Mitteilungen anjehen, die auf Bapyrus gejchrieben waren.
— Die Bapyrusbriefe wurden, wie auch die auf Häute gejchriebenen
Schriftftüde auf Stäben oder Rollen aufgerollt. Die lakedämoniſchen
Stab» oder Rollbriefe bejchreibt Plutarchos im Lyjander (cap. 19).
Welcher der ältefte Hiftoriich beglaubigte Brief fei, darüber find die
Anſichten verichieden.
Divdorus Siculus jagt (lib. II, cap. 18): Vor Ausbruch des Krieges
zwilchen Semiramis, der Königin von Aſſyrien und Babylonien, die nach
ihrem Gemahl im Jahre 2058 dv. Chr. die Regierung antrat, und dem indi-
ſchen König Stabrobätes ließ diejer durch feinen Gejandten der Königin
ein Schreiben (grammata) überreichen, worin er fie des Leichtfinng zieh
und mit einem Eibe verfidherte, daß er fie würde an’3 Kreuz jchlagen
laſſen, wenn er als Sieger aus dem Streite hervorgehe. Ein verächtliches
Lächeln war die einzige Antiwort der Königin auf diefen Drohbrief (epistolae).
Der Wortlaut des Briefes war: „Unjchuldiges Blut wird durch den gren-
zenlojen Leichtfinn der Semiramis in Strömen vergofjen, doch wiſſe, daß
Stabrobätes feft entjchloffen ift, an dir das unjchuldig vergofjene Blut zu
rächen. Fällſt du in meine Hände, fo lafje ich did and Kreuz nageln.”
Aus dem Buche Ejther lehren wir, daß Ahasverus (wahrſcheinlich
Xerxes 1., altperfiich: Khſchyarſcha), König von Perfien, aus Verdruß über
346 Die Entitehung der Schreibfunit und die Briefe der Urzeit.
den Ungehorjam ſeines Weibes Vaſhti Briefe in alle Provinzen feines aus:
gedehnten Neiches jandte. „Da wurden Briefe ausgefandt in alle Länder
des Königs, in ein jegliches Land nad) feiner Schrift und zu jeglichem Volt
nad) jeiner Sprache, daß ein jeglicher Mann ber Oberherr in jeinem Haufe
ſei, und ließ reden nad) der Sprache feines Volks.” (Ejther 1, 22).
Hellanicus, Tatianus und Clemens Mlerandrinus, wie auch nad) ihnen
der Rechtsanwalt (the barrister at law) William Roberts in feiner „Hi-
story of letterwriting from the earliest period to the fifth century“
ſuchen glaubhaft zu machen, daß die Erfindung des Briefes der Königin
Atoffa, der Tochter des Cyrus und Mutter des Xerxes, zuzujchreiben jei;
fie war zuerft mit Cambyjes und jpäter mit Darius Hyftaspes vermählt,
In Homers Ilias (VI. Gejang) wird Bellerophon erwähnt, ber von
König Proitas zu jeinem Schwager Jobates gejandt wurde mit einer Tafel,
worauf für den Überbringer verderbliche Zeichen eingegraben waren.
(Bellerophon, Sohn des Königs Glaucis in Korinth, entfloh, von einem
unabfichtlichen Brudermorde befledt, zu einem jeiner Verwandten, dem
König Proitos in Argos, Da Proitos’ Gemahlin, die Königin Anteia
(oder Stenobia) eine jtrafbare Neigung zu dem Jüngling faßte, befahl
Proitos ihm, nad) Lycien zu reifen und dem Könige Jobates einen Brief
zu überliefern, worin der Empfänger defjelben aufgefordert wurde, den
Jüngling fofort nad) feiner Ankunft umbringen zu lafjen.)
Man nimmt an, daß Homer’3 Ilias ungefähr 1000 Jahre vor
der chriftlichen Ära verfaßt worden, alfo ungefähr zu der Zeit, als der
weile Salomo lebte. Die heilige Schrift erwähnt indefjen das Briefichreiben
wejentlich früher. Schon David fchrieb einen Brief an Joab und jchidte
ihm denfelben durch Urias. (David, verliebt in Bathjeba, die Frau des
Urias, jchidte ihren Mann mit einem hinterliftigen Briefe zum Heere,
damit er dort den Tod finde, und heiratete, nachdem Urias wirklich durch
diefen Verrat gefallen war, die jchöne Wittwe.) Ungefähr 140 Jahre
jpäter jchrieb die Königin Jezebel Briefe im Namen Ahabs, ſchloß fie
mit feinem Siegel und fandte fie an die Älteften.
H. M. Melin jagt in feinem „Handbuch zur Altertumslehre”: Die
älteften Briefe, welche die Weltgejchichte kennt, find der unglüdliche Urias-
brief in der Gejchichte Davids und der ungefähr gleichzeitige, von dem
großen griechiihen Dichter Homer erwähnte Bellerophonbrief.
In jeiner Arbeit „Her Majesty’s Mails“ behauptet William Lewins,
daß Zirkularbriefe ſowohl in der heiligen, als der profanen Geſchichte des
Altertums vorfämen, aber die Königin Jezebel bleibt doch die erſte Brief-
jchreiberin, die er kennt.
Firdufi läßt den König Kaikans in der grauen Sagenzeit einen Brief
an die Fürſten von Majenderan jchreiben:
Die Entftehung der Schreibfunft und die Briefe der Urzeit. 347
„Ein Schreiber malte, in ber Kunſt geivandt,
Auf Seide einen Brief mit fihrer Hand.”
Sapho bichtete im 7. Jahrhundert v. Chr. ein Rätjel, deſſen Löfung
wir dem Leſer überlajjen:
Es giebt ein Welen, deffen zarte Brut
Im falt’gen Kleide jeiner Mutter ruht:
Und jind die Kleinen auch ber Stimme bar,
Dringt ihre Sprache dennod wunderbar
Zu allen Menſchen, die fie hören follen,
Bon Land zu Land und dur der Woge Grollen;
Selbft der Entferntefte vernimmt fie noch,
Gr hört fie nicht, und er verfteht fie doch.
Wie beſchwerlich und umftändlich der Briefwechjel im Altertum und
noch während ber langen Zeit, bis er jeine jetige Volllommenheit erreichte,
war, können wir uns vorftellen, wenn wir erfahren, daß in der katholiſchen
Welt des 10. und 11. Jahrhunderts jeder, der leſen und jchreiben konnte,
galgenfrei war; diefe Galgenfreiheit nannte man „Beneficium clericorum“.
Die menichlihe Kultur gleicht der Ebbe und Flut und ift beftändig
in Bewegung: Aus Heinen Stämmen entftehen große Reiche, mit dem
Reichtum ftellt fi) der Genuß ein, mit dem Genufje die Keime des Nie:
derganges und der Spaltungen, und das ftolze Gebäude zerfällt jchließlich
in Trümmer, während ſich in anderen Ländern dafjelbe Spiel wiederholt.
Wie die rohe Hand eines römischen Kriegerd mit einem Schwerthieb
das reiche Seelenleben eines Archimedes vernichtete, jo haben beftändig
rohe Kriegerhorden hundert- und taufendjährige Kulturarbeiten im Blut
ertränft und im Schutte begraben, und verzweifelnd müßten wir uns
jeder Mitarbeit an dem Aufbau der Kultur enthalten, wenn uns die Ge-
ſchichte der Schrift nicht die troftreiche Gewißheit böte, daß in diefem
anhaltenden Wechjel zwiichen Kultur und Barbarei doch im ganzen ein
Borwärtsjchreiten bemerkbar ift, und wie durch die Erbrevolutionen an-
ftatt der untergegangenen Pflanzen und Tiere neuere und beſſere Orga-
nijationen im Kampf um's Dafein entitehen, jo gehen auch aus ben
Revolutionen und Evolutionen der menfchlichen Geſellſchaft ftet3 höher
organifierte Gejchlechter hervor.*)
*) Der vorſtehende Artikel ift mit Erlaubnis der Verlagshandlung dem Werte
„Zeitbücher ber Weltpoft”" von Nils Yacobfon entnommen,
>
Das Bud) und feine Geſchichte bis zur Erfindung
der Ruchoͤruckerkunſt.
(Fortiegung.)
Das Bapier im Mittelalter.
Treten wir num freilich der Entwidlung des Buches in dieſer feiner
Phaſe entgegen, jo dürften wir, ehe wir uns auf feine künſtleriſche Aus—
ftattung und feine Verbreitung einlafjen, aud) hier wiederum erft darauf
zu achten haben, welches Material man zu feiner Herftellung benutte.
Haben wir im Altertum ſchon als Stoff für litterariihe Aufzeichnungen
aller Urt neben dem allgemein gebräuchlichen Papier von Pergament
auch Stoffe wie Holz, Stein, Metall fennen gelernt, fo treten uns Die-
jelben nun auch im Mittelalter wiederum entgegen. Selbſt dem Gebraud)
von Wachötafeln, die aus hölzernen, manchmal aus befonders reich ge-
Ichnigten elfenbeinernen Platten bejtanden, die durch Bänder buchfürmig
verbunden, meiſt am Gürtel getragen wurden, begegnen wir noch im
Mittelalter, und wenn dieſe Art der Vervielfältigung auch verhältnis-
mäßig am früheften verſchwand, jo hat fie ſich dod an einzelnen Orten,
jo in Halle, bis 1783 und in Schwäbiih Hall bis ins Jahr 1812 er-
halten. Das am meiften benußte Material blieb aber auch im Mittel-
alter das Pergament, nachdem das anfangs aus Ägypten bezogene Papier,
deſſen Fabrikation dort auch nach der Eroberung des Landes durch Die
Araber fortgejeßt wurde, wegen feiner geringeren Dauerhaftigkeit mehr
und mehr außer Gebrauch gelommen war. Zudem hatte das Pergament
den Vorteil, daß man es auf beiden Seiten beichreiben Fonnte, und daß
man für jeine Zubereitung nicht an einen eigenen Ort gebunden war,
Das feinſte Pergament Tieferten die Häute neugeborener Lämmer, zumeift
wurde es aber aus Kalb-, Schaf» und Ziegenhäuten gefertigt, teils in
Klöftern, teild durch zünftige Handwerksmeiſter, an welche jett noch der
Name der Pergamentengafje in Erfurt erinnert, Zu bejonders Toftbaren
Das Bud und feine Geſchichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunjt. 349
Manufkripten färbte man diefen Schreibftoff purpurn und bejchrieb ihn
oft mit goldenen und filbernen Kapitalbuchjtaben. Die herrlichiten Denk—
mäler mittelalterlicher Kalligraphie find ung in derartigen Handichriften
erhalten, vorzüglich in Abjchriften des Pſalters und der Evangelien; vor
allen ausgezeichnet ift in diefer Art der Codex argenteus in Upſala,
und das jet im Mufeum des Louvre befindliche prachtvolle Evangelium,
welches Karl der Große felbit 781 durch Gottſchalk Hat fchreiben laſſen.
Kit immer war das in den Handel gebrachte Pergament jogleich zu
verwenden: der Schreiber mußte es häufig vor dem Gebrauche noch ab-
haben und mit Bimftein glätten, dann wurde es aufgejpannt, durch den
Zirkel der Abftand der einzelnen Linien beftimmt, und leßtere mit Hilfe
eines metallenen Griffel3 und Lineals eingedrüdt. (Bud) d. Erf. I. ©. 47.)
Uber auch dieſer Stoff, dem wir die Erhaltung einer Anzahl der
wichtigsten litterariſchen Erzeugnifje verdanken, follte im Anfang des 8.
Sahrhundert3 wiederum von einem andern verdrängt werden, der wohl
auch mit dem Namen „Papier“ bezeichnet, doch von dem aus der Bapyrus-
ftaude hergeftellten Material vollkommen verjchieden if. Denn nod
immer hatte man nicht den Stoff gefunden, der jo billig in der Her—
ftellung gewejen wäre, daß man ihn zum allgemeinften Gebrauch hätte
verwenden fünnen, und erjt als zu dem oben angegebenen Beitraume das
Baummollenpapier in Europa auftrat, bot fi) in diefem ein Schreib-
und Vervielfältigungsmaterial, wie man es jchon lange hätte brauchen
können. Auf welche Weiſe dasjelbe zu ung gefommen, darüber fehlen
fihere Nachrichten; ob die Araber, bei denen wir e3 vorfinden, durch
eigene Beobachtung dazu kamen, die Baumwolle anftatt anderer Pflanzen-
fafern zur Bapierfabrifation zu verwenden, oder ob fie hier, wie jo
manchmal nur die WVermittlerrolle zwijchen Europa und dem äußerften
Dften gejpielt haben, muß unentjchieden bleiben. „Chineſiſche Quellen“,
ſagt Kapp, dem wir Hier folgen, „laſſen die Chineſen in ältefter Zeit
auf Bambustäfelhen fchreiben, deren noch eine Menge in Pagoden auf-
bewahrt werden follen; und ganz dünne Holztäfelchen mit Schriftzeichen
und Lackmalereien dienen noch heute in Japan als Buchzeichen, während
ih in Cochinchina die primitive Sitte erhalten hat, auf Palmblätter zu
ſchreiben. Aber auch Seidenpapier, wirklich aus Seide bereiteter Schreib-
ftoff, jol benugt worden ſein. An die Stelle der jchwerfälligen Bambus-
tafeln und der teuern Seide brachte Thai-lun im Jahre 153 n. Chr. das
erite Pflanzenpapier. Er ließ Baumbaft, Hanffajern, ferner alte Gewebe
und Fiichnege in Waſſer weichen und verwandelte fie endlich Durch
Rühren und Stampfen in eine breiartige Mafje, aus welcher er Papier
formt. In der Folge wurden die mannigfachiten Pflanzenbejitandteile
in gleicher Weife ausgenugt, aber die größte Bedeutung hat die unter
350 Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft,
der Rinde ber Bambusihößlinge liegende Faſer erlangt und behalten,
während in Japan, wohin die Kenntnis der Papierfabrilation gegen Ende
des 6. Jahrhunderts von Korean aus gelangt fein joll, eine Maulbeer-
ftaude, Brussonetia papyrifera vorzugsweije benußt wird, Das Schöpfen
des Papiers ift da wie dort noch ausjchlieglih Handarbeit, und bie
Arbeiter befigen ein unvergleichliches Gejchid darin, genau bie erforber-
liche Menge der Mafje auf die Form zu bringen und jenes Berfilzen
der Faſern zu bewirken, welche dem Papier der DOftafiaten bei jo geringer
Stärke jo große Feſtigkeit verleiht.”
Wann das Linnenpapier aufgetreten, konnte bis heute noch nicht mit
Beſtimmtheit feitgeftellt werden. Won deutjcher, von italienischer und von
Ipanifcher Seite wurde Anſpruch auf dieſe Erfindung gemacht, ohne daß
man über die Berechtigung der Unfprüche ins reine gekommen wäre.
Man könnte den Urjprung des älteften Liunenpapiers bis ins 13. Jahr-
hundert zurüd verfolgen, eine Rechnung von 1301 in Lyon, Unterjuchungs-
alten gegen die Tempelherren im Parijer Archiv, eine Urkunde des Bi-
ſchofs von Cammin von 1315, zeigen jämtliche dieſen Stoff, ohne daf
man doc daraus irgend einen Anhaltspunkt gewinnen könnte. Im we—
jentlichen freilich bleibt fich die Verwandlung bes Rohmaterials in Papier
bei Baumwolle wie bei Leinwand gleich, und den Unterjchied bildet nur
die Hinzunahme eines neuen bejjern Rohftoffes; dieſer Fortſchritt Tag
ebenjo jehr im Wejen der Sache jelbft, daß wohl kaum anzunehmen ift,
man habe denjelben Jahrhunderte lang gar nicht praftiich verwertet, eine
Annahme, die freilich dann erft den richtigen Wert hätte, wenn ſich bie
Behauptung einiger Gelehrten, daß die meiſten arabijhen und andere
morgenländilche Schriften auf Linnenpapier gejchrieben jeien, in ihrer
Nichtigkeit nachweiſen ließe.
Ebenſo iſt man noch durchaus nicht im klaren bezüglich der erſten
Papierfabriken in den verſchiedenen Ländern. Die Bemerkung, daß na-
mentlich deutſche Städte, in deren Nähe ſich auch damals jchon Papier-
mühlen befanden, trogdem nocd ihren PBapierbedarf im 15. Jahrhundert
aus Stalien und Frankreich bezogen, läßt e8 zweifelhaft erjcheinen, ob es
damals ſchon bei ung zum Schreiben geeignetes Papier gab. Die Stabt
Görlitz, deren älteftes Stadtbuch von 1306 noch auf Pergament, das
ältefte Achts- und Vergleichbuch von 1342 aber auf Papier gejchrieben
ift, bezog 1376 bis 1426 Bapier aus Venedig, anfangs das Buch zu
24 Groſchen, jpäter Das Nies zu 40 Groſchen. Straßburg, wo um bie
Mitte des Jahrhunderts die Eriftenz einer Fabrik nachgewieſen ift, deckte
noch lange feinen Hauptbebarf aus Frankreich und Italien. Das Fardel
(fardeau) oder der Ballen — 27 Nies aus ben genannten Ländern hatte,
wenn er burch das Stadtgebiet durchgeführt wurde, 5 Schilling Tranfit-
Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 351
gebühr zu zahlen; die Stabttare betrug für das Nies größeren Formats
4 Pfennige, Heinen Formats 2 Pfennige, bei deutihem Fabrikat für das
Fardel 28 Pfennig. Der Schaffner von S. Thomas daſelbſt zahlte
1387 für 4 Buch großes ftarkes Papier 2 Schilling, 1432 für 3 Buch
desjelben 18 Schilling, für ein Nies Heineres 1423 8 Schilling, 1443
10 Schilling, 1446 10 Schilling 6 Pf. Im der Frühzeit des Buchdrucks
wurde 1 Ballen gedrudten gleich 2 Ballen weißen Papiers gerechnet.”
(Rapp, a. a. D. ©. 229.)
Bon maurischen Bapierfabrifen in Spanien werben Zativa, Valencia,
Toledo genannt. Die erſte italieniihe Papiermühle findet man in der
Mark Ancona bei dem Schloſſe Fabriano, und ihre Eriftenz läßt fich
etwa vom Jahre 1340 an feititellen. In Deutjchland findet man Bapier-
mühlen, die mit Hilfe griechifcher und italienischer Werfmeifter angelegt
und betrieben worden fein jollen, etwa vom gleichen Beitpuntt an. So
finden wir 1326 eine joldye bei Mainz, 1347 eine andere bei München,
1390 erijtierte eine Bapiermühle in Nürnberg, 1398 in Chemnitz. Ob
die zu Anfang des 14. Jahrhunderts von den Gebrüdern Frik und Hans
Holbein eingerichtete Mühle in Ravensburg eine Papiermühle gewefen,
läßt fich nicht beftimmt jagen. Um 1497 werden daſelbſt die Papierer
Cunrat, Peter und Stengeli und ein Papierhuß (Papierfabrik) erwähnt.
Auf jeden Fall bleibt aber der Familie Holbein, aus welcher aud) die
großen Maler diejeg Namens hervorgegangen fein jollen, das Verdienſt,
die Bapierfabrifation in Deutihland in Schwung gebradt zu haben.
Ihr wird die Erfindung der Mejfingfiebformen zugejchrieben, ihrem Bei—
ſpiel das rafche Entitehen anderer Mühlen in Süd- und Mitteldeutich-
land, 1356 in Leesdorf in Niederöfterreih, 1420 in Liegnit, 1440 in
Bajel, 1443 in Bauben, vor 1450 in Straßburg, 1468 in Augsburg,
1498 vorübergehend in Leipzig durch Dominicus Guthe oder Ponalaus
Epinal, mit dem Beginn des 16. Jahrhundert? in Sachſen und Thürin-
gen (durch die Familie Schaffhirt und Keferftein) u. ſ. f. Im Augsburg
wurden 1519 von feiten der Kämmerei an dortige Bapiermacher gezahlt
für 55 Nies ftarfes, 14 Ries dünnes Papier und 4 Ries Median 79
Gulden 1 Pfund 15 Scillinge.” (Rapp, a. a. D. ©. 224 ff.)
Es mag bier, nun einmal von der Fabrikation des Papieres Die
Rede ift, jo weit fie zur Gejchichte des Buches gehört, noch mit einigen
Worten der Waflerzeichen gedacht werden, deren Urjprung und Zweck
freilich auch heute noch Gegenftand mannigfacher Debatten iſt. Wohl
hatte jchon vor einem Jahrhundert Breitkopf in Leipzig darauf binge-
wiejen, daß die Waflerzeichen nur höchſt unficher den Ort der Papier-
fabrif beftimmen, allein diefe irrige Anficht hat ſich doch noch ziemlich
lange fortgepflanzt, und erft neuerdings ift man zu ber Annahme gelom-
353 Das Bud) und feine Geihichte bis zur Entitehung der Buchdruckerkunſt.
men, daß die Waflerzeichen, die urſprünglich wohl Fabrikmarken gewejen
fein mögen, im Lauf der Zeit doch mehr und mehr nur Kennzeichen ge-
wiffer Bapierjorten und deren Formate gewejen jeien. Gehen wir etwas
näher auf dieje Zeichen ein, jo finden wir in den Papieren, weldhe Dürer
zu feinen Zeichnungen benußt hat, das Nürnberger Wappen (ſenkrecht
geteilter Schild, in der linken Hälfte desjelben Reichsadler, die rechte
Hälfte ſchräg geftreift). Ferner das Wappen von Schwabenhaufen in
Oberbayern (wagerecht geteilter Schild, oben Bärenkopf, unten gewellt),
das Augsburger Wappen (den Tannenzapfen), ferner ein Schild mit einem
Mohrenkopf, vielleicht Lauingen an der Donau, der Geburtsort des Al—
bertus Magnus. Ein Turm it das Wappen von Ravensburg. Daneben
find noch bejonders verbreitet oder merfwürdig: Die Gloden um die Mitte
des 14. Jahrhunderts in Oberitalien, dann in Südfrankreich, Deutjchland
u. ſ. w., Schlüffel einzeln, zwei neben einander, zwei gefreuzte, kommen
im 14. Jahrhundert in Nordfraukreich auf und werden im 15. allgemei,
Die Armbruft, ferner der gejpannte Bogen mit einem Pfeil find zuerft
in Nordfrankreich nachgewiejen, und jcheinen fich von dort nach den ver:
Ichiedenen Himmelögegenden verbreitet zu haben, ebenjo der Anker, wäh-
rend der Krug im 14. Jahrhundert in einfacher Zeichnung beginnend,
dann mit Blumen, Kronen u. ſ. w. ausgeftattet, und endlich unter Lud—
wig XIV. zu einem reichverzierten Prachtgefäß fich ausbildend, vorwiegend
franzöfiiche Marfe bleibt, doc aber au in England vorlommt. Dem
Rad begegnet man um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Oberitalien;
in Frankreich kommt es zumeift als das mit Widerhafen bejeßte joge-
nannte SKatharinenrad vor. Die offene Hand oder der Handſchuh, ge-
wöhnlic in Verbindung mit einem Kreuz, einer Roſette, einer Krone, —
Kardinalshut, Königskrone, Kaijerfrone, Stadtmauer, Stadtthor, Turm,
Stern, Schiff, Kleeblatt, Rojette, die gebräuchlichiten Waffen und Werf-
zeuge, das Hüfthorn, Wappen- und Haustiere, die Granatblüte mit Blättern,
die Birne mit Blättern u. a. m. find wohl in allen Rändern gebräud)-
lich gewejen. Won jeltenen und originellen Marken wäre zu verzeichnen:
das Veronikatuch (1399), die Mönchskapuze, das Weberjchiffchen (14.
Sahrhundert), der Leopard mit untergeichlagenem Schweif (1406), der
Dubdelfad (1413), der tbronende Papſt (1456) und die, wie es jcheint,
letzteres Bild Tarrifierende grinjende Figur mit einem Krummſtab (1499),
der Schubfarren mit einem Krug ftatt des Rades (1459), zwei kämpfende
Affen (1457), ein Pilger mit einem Szepter (1459), Blitze unter einer
Krone (1482), ſämtlich Franzöfiih — die Sirene (zuerft norditalieniſch
ungefähr 1361). (Rapp a. a. DO. ©. 235.)
Wenden wir uns von der Trage nad Fabrikation des Papiers
im Mittelalter num noch zu den Schreibmaterialien, die bei Herftellung
Das Ru) und jeine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft, 353
der mittelalterlihen Schriftwerfe in Betracht famen. Schrieb man auf
die Wachstafeln mit dem Griffel aus edlerem und roherem Metall, der
manchmal auf das funftfertigite verziert war, jo benußte man zum
Schreiben auf das Pergament oder das Papier im Anfang des Mittel-
alter das ſchon im Altertum gebräuchliche Schreibrohr, das freilich
dann bald von der Feder verdrängt wurde, die mit Hilfe des Feder—
meſſers aber erjt zum richtigen Gebrauch zugefchnitten werden mußte.
Daneben jcheinen allerdings auch in einzelnen Fällen Metallfedern vor-
gefommen zu fein, und ebenjo dürfte eine Art von Bleiftift, den man
hauptſächlich zum Ziehen der Linien benußte, im Gebrauch gewejen fein.
Die Tinte, die man benußte, jcheint nach den alten Handichriften von
einer ganz vorzüglichen Beichaffenheit gewejen zu jein, wurde aber mit
dem 13. Jahrhundert, wo die Schreibfunft immer allgemeiner wurde,
auch ſchlechter. Man bewahrte diejelbe in einem Schreibzeug auf, das
meiltens aus einem einfachen Horn beitand, welches durch eine Öffnung
im Screibepult gejtedt wurde, und in feiner erweiterten Form mand)-
mal aud einen Behälter für das Schreibrohr und die Feder zeigte.
Daß neben der Tinte aud) die verjchiedeniten Farben, und unter ihnen
mit Vorliebe die rote, jowohl zur Verzierung als auch zur Hervorhebung
der Schrift in Anwendung fam, ift ja befannt und an jeder mittelalter-
lichen Handſchrift deutlich zu jehen.
Die Erweihung diejer Farben nun ift es, die uns auf ein weiteres
jehr reichhaltiges Element in der Herjtellung des mittelalterlichen Buches
führt, auf die oben jchon kurz erwähnte, und bier etwas ausführlicher
zu behandelnde fünftleriiche Ausjtattung des Buches in feinem Text und
in jeinem Einband.
(Fortiegung folgt.) -
Bedeutende Berlagsunternehmungen.
——in —ñ— ——
T.
Die Münchener „liegenden Blätter“.
Schluß.)
Zu den geiſtvollſten Illuſtratoren zählen in neuerer Zeit Carl
Gehrt und Simm. Während, um aus der Weihe der neueren artijti-
Ihen Mitarbeiter nur die hervorragendften zu nennen, Erdmann Wagner,
Albrecht, Bauer, Flashar, Gräb, Kirchner, Mandlid, René Weinide,
Stud, Wahle und Zopf in mehr farbig gehaltenen Illuſtrationen die
moderne Welt wiedergeben, find Schließmanns typiihe Konturenzeich-
nungen in ihrer charakteriftiichen Beitimmtheit einzig daftehend und bilden
zu jenen einen wohlthuenden Gegenjaß.
„ber wo bleiben Stauber, Oberländer, Steub, Meggendorfer,
Hengeler, Harburger, v. Nagel, Schlittgen, Emil Reinide und Vogel—
Plauen?” wird mancher ungeduldige Leſer fragen.
Wir beginnen mit dem bedeutendjten aller Jlluftratoren der „Flie—
genden Blätter“, dem allgemein als Meifter erjten Ranges in feinem
Face anerkannten, geiftvollen U. Oberländer. Derjelbe ift am 1. Oftober
1845 zu Regensburg geboren, fam jedoch jchon als Kind nah München,
wo er feine Jugendzeit verlebte. Oberländer follte Kaufmann werden,
glüclicherweije aber fiegte des Sohnes Neigung über des Vaters Pläne
und er widmete fich der Kunft. Im Jahre 1861 ward auch er Biloty-
ſchüler. Seit Jahrzehnten ift Oberländer al3 treuer Mitarbeiter der
„liegenden Blätter” thätig. Ein zweiter Hogarth, geißelt Oberländer
die Thorheiten und Laſter der Zeit und kämpft mit dem Blitze des Hu-
mors gegen den Ungejhmad und jede Unfitte der Gegenwart. Seine
Zeichnungen wirken nicht mur erheiternd, fie find meift zugleich eine ernite
Mahnung und behaupten einen weit über die engen Schranken der Ge—
genwart hinausreichenden Wert für immer. Die harmoniſche Durchbil—
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 355
dung bis ins Heinfte Detail, die vollendete Ebenmäßigfeit des Ausdruds
harafterifieren ebenjo, wie die geniale Auffafjung und der tiefe Gedanken
reihtum, den vollendeten Künftler und Meifter, der, hoc über taujend
anderen vor ihm und neben ihm jtehend, mit Zug und Recht al3 der
erſte Humoriſt Deutjchlands bezeichnet werden fann.
Sluftration von René Reinide,
Oberländers Richtung verfolgt mit Glüd Emil Reinide, am 20. No-
vember 1859 zu Zerbſt in Anhalt geboren, ein Schüler der Dresdener
Akademie. Schon frühzeitig jpürte R. den Drang, nicht nad) Modellen,
Sondern nach dem frichen Leben des Volkes feine Studien zu machen,
und da er im Jahre 1880 nad) München übergefiedelt war, führten ihn
23*
356 Bedeutende Berlagsunternehmungen.
die Umstände von jelbjt zu den „Fliegenden Blättern”. Lebenswahrer
Humor, kräftige Charakteriftit und eine friſche Auffafjung, Die nicht ängjt-
lih vor jeder Übertreibung zurüdichredt, zeichnen jeine Illuſtrationen
bejonders aus und laſſen Reinicke als einen vortrefflichen Repräjentanten
des „Luſtigen, wahrhaft Komijchen“ erjcheinen.
Auf dieſem Gebiete Teiftet auch Lothar Meggendorfer vorzügliches,
obwohl jeine Jlluftrationen in den „liegenden Blättern“ nach unjerer
Anſchauung von dem übertroffen werden, was Meggendorfer in jeinen
unvergleichlichen Bilderbüchern für die Kinderwelt bietet. Geboren am
6. November 1847 zu Münden, Schüler der dortigen Akademie, ift
Illuſtration von M. Flashar.
Meggendorfer in der Hegel auch) der geiftige Autor feiner Illuftrationen
und der Erfinder der tollen Einfälle, die er in jeiner naiven, wirkſamen
Weiſe zum Ausdrud bringt. Iſt feine offene, einfache Sprache auch zu—
nächſt für Kinder verjtändlich, jo freut fich doc) auch der Erwachſene an
derjelben, und mag der Kunſtkritiker hin und wieder die Achjeln zuden,
Meggendorfer hat die Lacher auf feiner Seite, und das ift für einen
Humoriften jeiner Art die Hauptjache.
Edmund Harburger ift ein Malerhumorift. Bei ihm überwiegt
aber entihieden die Charakterifti. Auch Harburger follte Kaufmann
werden und iſt Künftler geworden, was ihm nur mit Hilfe feines
Bruderd möglich wurde. Geboren am 4. April 1846 zu Eichftädt, ver-
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 357
brachte er die Zeit jeiner erjten Jugend in Mainz, bis es ihm gelang,
im zwanzigjten Lebensjahre nach München zu fommen und ein Schüler
W. Lindenjchmits zu werden. Harburg Bilder finden raschen Abſatz
und feine fernigen Sluftrationen in den „Fliegenden Blättern” find ſtets
edel im Vortrag und gemütvoll im Gedanken. Mit befonderer Meifter-
Ichaft verfteht er im Sinne der alten Niederländer Zecher und verkom—
mene Genies darzuftellen, obwohl ihm auch Frauengeftalten und Szenen
aus der feinen Welt trefflich gelingen.
In dieſer letzteren Richtung find Schlittgens Illuftrationen in den
„liegenden Blättern“ tonangebend geworden. H. Schlittgen im Jahre
1859 zu Roitzſch, Provinz Sachſen, geboren, bejuchte nur vorübergehend
Akademien, weil ihn die Not des Lebens zwang, jchon frühzeitig durch
Slluftrationen jein Brot zu verdienen.
Sein Wunſch, Mitarbeiter der „Flie—
genden Blätter” in München zu wer-
den und dorthin ziehen zu können,
ging raſch in Erfüllung. Zu Pfing-
ſten 1882 erichienen jeine erjten Zeich—
nungen in den „liegenden Blättern“
und hatten einen durchichlagenden Er-
folg, fo daß viele jofort anfingen, in
Schlittgens Manier zu zeichnen.
Schlittgen diente al3 Bayeriſcher Sol-
dat, welche Zeit ihm hinreichend Ge—
legenheit zu Studien für feine Offi-
we zierd- und Soldatenbilder gab. Im
Illuſtration von Schliezmann. Jahre 1884 ftubierte er in Seebädern
das Leben der feinen Welt, verlebte
einen Winter in Berlin und hält fih nun feit Jahren in Paris auf,
wo er bei Boulanger und Lefebure Studien in der Malerei treibt, ohne
darum den „liegenden Blättern” feine bedeutende Kraft zu entziehen.
Sein Streben, bei feinen Zeichnungen eine volle, maleriiche Wirkung zu
erzielen, weshalb er auch bei dem einfachjten Wibe die handelnden Figuren
ftet3 mit vollem Hintergrunde umgiebt, ift von dem beften Erfolge be-
gleitet und die Eleganz, mit welcher er bejonders das „ewig Weibliche”
darzuftellen verfteht, hat den Zeitgeſchmack volljtändig getroffen.
Der liebenswürdige und Fünftleriih jo überaus vornehme René
Reinide entnimmt jeine Stoffe oft der vornehmen Gejellichaft, wenn aud)
nicht jo ausſchließlich wie Sclittgen. Was Feinheit de3 Tones, Zartheit
der Lichtverteilung und maleriihe Duftigkeit der Technik betrifft, Hat
Reinide nur in Einem einen Rivalen, in dem erft in den lebten Jahren
358 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
auftauchenden Horadam, der feine Zeichnungen, d. h. Wafjerfarben,
Grijaillen mit wahrhaft unendlicher Liebe durchbildet. Die beiden liefern
wirklich faft nur in jeder Hinficht vollendete Kunftwerfe ab, find bei aller
Nealiftit immer anmutig und gefällig und entzüdende Frauenköpfchen
lachen bejonders oft aus Rene Neinides Bildern.
Da ift Erdmann Wagner, der mit feiner ein wenig ans Rokoko ge-
mahnenden Zierlichfeit und Grazie das Familienleben jchildert, da iſt der
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Illuſtration von H. Schlittgen.
ebenfalls immer graziöſe und in feiner Formengebung ſtets photographiſch
korrekte Zopf mit den reizenden Frauen- und Kindergeſichtern, da iſt
Albrecht, der das moderne Leben in lebendigen Situationen vorführt.
Die Domäne der Illuftrationen aus dem Soldatenleben, welche früher
W. Diez in meifterhafter Weije verwaltete, ift in den letzteren Jahren
auf einen jeiner Freunde, den f. b. Major a. D. Ludwig von Nagel,
genannt van Ds, übergegangen. Schon im Jahre 1861, damals nod)
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 359
aktiver Ravallerieoffizier, zeichnete Nagel „Skizzen für Reiterei“, zu deren
Lob wir nur die Thatſache erwähnen wollen, daß fein Geringerer, als
Meiffonier, der Nagel in Landshut beſuchte, nach Einficht derjelben ihn
leider vergeblich aufforderte, jein Schüler zu werben. Aus dem Feldzug
1870/71, den Nagel ala Chevaurlegeroffizier mitgemacht, brachte derfelbe
ein bortreffliches Slizzenbuch mit, welches 1874 bei Hanfſtängl in Mün—
Alluftration von Th. Grätz.
hen in photographiicher Reproduktion erjchienen ift. Die genaue Kennt-
nis des Pferdes, welche er ſich in feinem militärischen Berufe angeeignet,
im Vereine mit einer außergewöhnlichen, fünftleriichen Begabung machten
Nagel zum Pferdezeichner eriten Ranges.
Der treuefte und ältefte Mitarbeiter der „Fliegenden Blätter” ift
wohl Karl Stauber, der jchon in dem erjten Bande vertreten und jeitdem
ununterbrochen für die „liegenden Blätter“ thätig ift, ſodaß diejelben
360 Bedeutende Berlagsunternehmungen.
etwa 8—9000 Jlluftrationen feines in jeder Richtung bewährten Stiftes
enthalten mögen. Wir erinnern nur an die Slluftrationen zu den Graf»
ihen Weijebriefen, an Blaumeier und Nanni, und wünſchen dem jchon
in hohem Lebensalter jtehenden, noch immer arbeitsfriichen Künjtler noch
eine lange dauernde Produftionskraft.
Nächſt ihm hat wohl die meisten Slluftrationen für die „liegenden
Blätter” Fritz Steub geliefert, welcher an Originalität und jpielender
Überwindung aller Schwierigkeiten in Bezug auf Kompofition wie an
komiſcher Wirkung B. Buſch am nächſten fteht. Ohne irgend einer ftar-
ren Manier zu verfallen, hat er in zahllofen, jelten feinen Namen tra-
Illuſtration von Fr. Steub,
genden Jlluftrationen eine feltene Fülle von Kraft und Talent entwidelt.
Er gehört zu jenen glüdlichen Zeichnern, die feine Modelle bedürfen, um
lebensvolle Gejtalten hervorzubringen, und die ihrer Phantafie noch einen
Spielraum gönnen, ohne darum an Charakteriftif und Wahrheit einzu—
büßen. Darin zeigt ji auch A. Hengeler als Meiſter. Das ift friicher,
herzerquidender Humor! Da herricht noch Leben und Geift, der ſich nicht
ängftlih an die Wirklichkeit Hammert und troß feines freien Fluges doc)
das Wahre und Charakteriftiiche zu treffen verfteht!
Und nun — last, not least — Hermann Vogel! — Die „Fliegen-
den“ nennen ihn mit Stolz und Freude den Ihrigen und in der That
haben fie vielleicht jeit langer Zeit feinen Mitarbeiter gehabt, deſſen
Bedeutende Verlagöunternehmungen. 361
inneres Wejen dem Geijte, der dieje Blätter leitet, jo homogen ift, wie
das jeine. Er jteht in feiner Kunft etwa zwilchen Mori von Schwind
und Adrian Ludwig Richter, die reiche, glänzende Phantafie, den edlen
Formenfinn des Erjten, mit der tiefen Gemütsinnigfeit, den familiären,
anheimelnden Ton des Zweiten verbindend. Ein Gedankenmaler, ein
Illuſtration von Hermann Bogel:Plauen.
Bilderpoet, ein feſſelnder Fabulierer wie fein zweiter. Er fteht im in-
timften Verkehr mit den Naturgeiftern, er verjteht was die Tiere reden
und was der Maler erlaujcht und mit diefen Sonntagskindergaben iſt er
ein Märchenerzähler geworden, der Alt und Jung bezaubern muß. Seine
Gnomen und Elfengeftalten, feine plaudernden und agierenden Tiere,
feine niedlichen Kinder und gemütlichen Alten, wie innig und finnig ſpricht
362 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
das ung an! Hermann Vogel hat neben feinem Gefühl für Stil ein
großes Kompofitionstalent und arbeitet feine Kompofitionen jo liebevoll
durd), daß auch die Heinften, landſchaftlichen Details, die Pilze im Moos,
die Blüten an den Bäumen, die Farnkräuter im Waldjchatten eine ganz
beitimmte, wohl berechnete Rolle in jeinen Bildern jpielen.
Auch Allegoriiches weiß er mit viel Wit und Geift zu geben, meiſt
aber ijt Vogels Humor harmlos und naiv und aus der Hälfte jeiner
Bilder klingt das luftige Lachen des Kobolds, der eben einen Schelmen-
jtreich verübt. Hermann Vogel wurde als der Sohn eines Baumeiſters
in Plauen geboren, eines Funftbegabten Mannes, den ein freundlicheres
Lebensihidjal vielleicht jelbjt zum bedeutenden Künftler gemacht hätte.
Co hieß e8, den golde-
nen Boden des Hand-
werks bebauen. Her:
mann Vogel hat zuerit
jtudiert und ward dem
Beruf der Rechtsgelehr-
jamfeit bejtimmt. 1873
fam er nad) Leipzig auf
die Univerfität, hörte
hier die kunſtgeſchicht—
lichen Kollegien bei Over-
bed Springer und Jor—
dan aber lieber als Pan—
deften und jeßte es denn
ſchließlich auch durch,
daß er in Dresden ſich
an der Akademie dem
Kunſtſtudium widmen Illuſtration von v. Gebr.
durfte. Die Akademie
gewährte ihm aber bald wenig Befriedigung — ein Sap, den man wohl
in alle Biographieen wahrer Künftler einfügen kann, deren Talent jemals
auf einer Akademie in ſpaniſchen Stiefeln einererziert wurde. Vogels
reihe Phantafie drängte zu eigenem Schaffen und der einzige unter den
afademifchen Lehrern Dresdens, zu dem den jungen Maler geiftesver-
wandtes Streben zog, hatte ein Jahr vorher fein Lehramt niedergelegt
— Ludwig Ridter.
In die reizloje Kälte des Antikenſaals verbannt, wäre des jungen
Malers Talent unter den Vorurteilen und Gypsfiguren verdorben — da
verichaffte ihm ein Freund von dem Verleger Dtto Spamer den Auf:
trag, das jeßt befannte Wert W. Wägners nordijch-germanijche Helden-
Bedeutende Berlagsunternehmungen. 363
jagen mit zahlreichen Jluftrationen zu verjehen. Wogel verließ die Alka—
demie, der junge Zeichner wurde befannt und begehrt, die Aufträge häuf-
ten fih. Den feinen, innerlihen Künſtler erfennt man freilih in den
SAuftrationen zu „Gudrun“ und zur Nibelungenfage noch nicht, aber
Vogels außerordentliches Kompofitionstalent iſt in jenen Arbeiten jchon
deutlich erkennbar. Frohnarbeit war's freilich, Doch e8 folgte wenigſtens
ein Auftrag dem andern. 1876 machte Bogel, wie er ſelbſt launig er-
zählt, in Berlin bei U. v. Werner den jchwachen Verfuch, wieder einen
Lehrer zu gewinnen, kehrte aber erleichterten Herzens um, als er den
Künstler nicht zu Haufe traf. 1877 fah er Stalien. In der hand—
werfsmäßigen Produktion, die Vogel um's Brot betrieb, fühlte er feine
fünftleriiche Energie nad und nach bedenklich ſinken und jein Talent
wäre wohl ftarf verflaut, wenn nicht wie durch einen Zufall namhafte
Kiünftler, wie Thumann, Woldemar Friedrich, Einficht in feine Mappen
befonmmen und ihn zu neuem, fruchtbaren Schaffen ermutigt hätten. Er
fing an, wieder fleißig nad) der Natur zu arbeiten, und fo fam er jchließ-
lich über alles Dilettantifche hinaus und ward das, was er heute ift, ein
echter Künftler. Hermann Vogel it Junggeſelle geblieben. In einem
idylliich gelegenen Häuschen, das er fich in Loſchwitz bei Dresden gebaut,
lebt er, den die „zsliegenden“ erft jeit einigen Jahren für fid) gewonnen
haben, eine Urt von weltjcheuem Einfieblerleben und ift wohl der einzige
Meitarbeiter des Blattes, welchen die Herren Braun & Schneider nod)
niemal3 von Ungeficht zu Angeficht jahen. Seine Jlluftrationen zu der
vor etwa zwei Jahren von gleicher Firma herausgegebenen Prachtausgabe
der Gebrüder Grimmjchen Märchen, vielleicht das überhaupt jchönfte und
foftbarjte Märchenbuch, das je gedrudt worden ift, werden Vogel! Na-
men der Nachwelt in glänzender Weile erhalten. Dieſe Slluftrationen
find fongeniale Nahdichtungen von einer Poeſie und Anmut, die noc)
fein anderer in diefem Genre übertraf.
Wie die „liegenden“ in ihrem Bilderſchmuck die Entwidlung der
deutichen Zeichenkunſt jeit einem halben Jahrhundert darftellen, jo illu-
ftrieren fie auch die Gejchichte der Holzichneidefunft in diefer Epoche,
Nur ein Heiner Teil des Publikums mag eine Ahnung haben, welchen
enormen Aufwand von Kunft, von Zeit und Mitteln gerade dieſer Teil
des redaktionellen Betriebes beanſprucht, wie lange es dauert, bis ber
Druder das fertigitellen kann, was der Zeichner entworfen hat. Und
wieviel mißglüdt! In den Schränken der Redaktion lagern zwiſchen drei-
bis viertaujend Holzftöde, die nie verwendet wurden — das mag einen
Begriff geben von der Zahl derer, die wirklich zur Verwendung famen.
Anfangs — und noch viele Jahre wurde in fräftiger Strichmanier ge-
zeichnet und demgemäß in Holz geichnitten und gleich in den erften Jah:
364 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
ren des Beitehens des Braun & Schneiderjchen Verlags kam die xhlo—
graphiihe Kunft zu hoher Blüte. Die Fakfimilefchnitte nach Kaspar
Braun, nah Schwind, nad) Lichtenfelds oft jehr malerisch und ftimmungs-
voll gehaltenen Zeichnungen, nach Busch und Anderen, legen davon Zeug:
nis ab. Hervorragende Holzichneider waren: Hans Rehle, Bernhard
Götz, Franz Kreuzer, Nikol. Knilling, EChriftian Ruepprecht, Joſ. Blanz,
Joh. Schwarz, Aug. Unger, Mar Diemer, Karl Hauer, Jakob Gehring,
Theodor Knefing, Joſ. Knilling, Ludw. Ruepprecht, Richard Kleyſch, 9.
Schneider, Moritz Wittig, W. Hecht, Paul Theuerforn, Wilhelm Maiich,
Lindemann, Häusler, E. Schempp. Dieje Künftler waren zum Teil im
xylographiſchen Atelier von Braun & Deffauer, dann in der Werkitatt
von Braun & Schneider und zum kleinen Teil außerhalb des Ateliers
thätig. Heute betreibt meines Willens die Firma feine eigentliche xylo—
graphiiche Anftalt mehr. Der erjten Blüte der Holzichneidekunft, die
jelbftverftändlih über den Rahmen der „liegenden“, der Bilderbogen
und ähnliche Verlagswerfe hinaus der deutſchen Kunft ihre Früchte trug,
folgte in den jechziger Jahren ein merkliher Verfall und wir jehen da
manches Kunftwerk des Zeichner von Xylographen bedenklich zugerichtet.
Aber eine neue Blüte entitand der edlen Kunft, die fih an immer jchwere-
ren Aufgaben übte, die heute für dieſe ihre Aufgaben kaum mehr eine
Grenze ihres Vermögens kennt. Die Zeichner überbieten fi in immer
jubtileren, immer zarten, farbig getönten Vorbildern und die Xylographen
halten Schritt. Die feine Holzichnittmanier, welcher der Künftler nicht
mehr die Strichjtärfen und Strichlagen, jondern in weich und breit ge
baltenen Grijaillen nur mehr die Tonwerte vorjchreibt, hat ſich zu einer
Teinheit, einem Raffinement entwicelt, die für fich allein ſchon des Ken—
ners ganzes Entzüden bilden.
Das ift nicht mehr in das fernige Buchsbaumholz gejchnitten, das
ift nur mehr gerigt und es gehört ſchon ein fcharfes Auge, meiftens aber
die Lupe dazu, um auf dem Holzjtod die feinjten Unterjchiede von Er-
höhungen und Bertiefungen noch zu untericheiden. Die Zufälligkeiten,
welche bei der PBinfelführung des aquarellierten Vorbildes entftanden, die
Eigenart des Bleiftiftitriches, das zartefte hingehauchte Tönlein in Luft
und Wolfen werden von den Meiftern des Tonſchnitts heute wieder:
gegeben, jeder Eigenart des Künftlers wird Rechnung getragen und doch
bleibt der Vortrag des XKylographen fein und leicht. Das Beſte, was
in den „Fliegenden“ am Holzichneidefunft zu ſehen ift, darf man dem
Beiten, was franzöfiihe und amerifaniiche Holzichneider leiften, heute
mindeſtens ebenbürtig jchäßen.
Unter den erſten Künftlern des Tonfchnitts find gegenwärtig zu
nennen die beiden Schlumpredt, Konr. Strobel, D. Krefje.
Bebeutende Verlagdunternehmungen, 365
Auch von den früher genannten Kylographen arbeiten viele auch zur
Zeit noch für die „Fliegenden”. Manches Bild braucht Wochen, bis es
vollendet ift und die foftbaren Holzichnitte werden mit 3—400 Marf
bezahlt. In der Herftellung der Holzichnitte Hat ſich im Laufe der Zeit
manche Veränderung ergeben. Früher mußten die Künftler direft auf
den Holzftod zeichnen — und zwar natürlich alles „verfehrt” — jo, daß
„rechte Hand, linke Hand, Beides vertaujcht“ war — jeit geraumer Zeit
hilft die Photographie über dieſe leidige Verpflichtung weg. Früher wur-
den die Bilder der „liegenden“ direkt vom Holzftod gedrudt; jeit Mai
1835 werben allgemein Galvanos zum Drude angewendet, eine Notwen-
digkeit, die fi aus der ungeheuer wachlenden Auflage der „liegenden“
ergab. Die Galvanoz ftellt die E. Mühlthalerſche kgl. Hof-Buch- und
Kunftdruderei in München her, die auch den Drud der „liegenden
Blätter” — wie der „Kunſt unjerer Zeit” — jeit Jahren beſorgt. Ne-
benbei gejagt beanjprucht der Drud jeder Nummer volle acht Tage, denn
mit der Blitzzuggeſchwindigkeit, mit welcher unfere Tageszeitungen durd)
die Preſſe fliegen, Tann ein ſolches Blatt nicht gedrucdt werden. In
legter Zeit werden Wutotypie und einfache Zinkographie für geeignete
Borbilder bei den „liegenden Blättern“ häufig angewandt und die außer-
ordentlich) vorgejchrittene Entwidlung der photochemilchen Techniken läßt
diefe Verfahren auch die Wirkung fünftleriiher Reproduktionsarten bei-
nahe erreichen.
Uber das Hauptvervielfältigungsmittel unjeres Blattes bleibt doch
das edelite und jchönfte, das es für ſolche Zwede überhaupt gibt, der
Holzichnitt, des alten Dürers markige, urdeutſche Kunft, die charaktervollite,
ehrlichjte von allen graphiichen Techniken, die leider freilich heutzutage
von den meilten illuftrierten Wochenzeitungen der unfeligen, Alles über:
ftürzenden Aktualität zu Liebe oft jchmählih mißbraucht wird. Holz
ſchneiden ift eine ernfte, innerliche, beichauliche Kunft, ein Ding, das
Liebe braucht und Zeit. Was „bis vorgeftern” fertig werden muß, für
das find im Grunde die Buchsbaumplatten zu gut.
Vieles, was zuerjt die „Fliegenden Blätter” brachten, hat der Ver—
lag von Braun & Schneider wieder zu wertvollen Sonderausgaben ver-
einigt, jo die militäriichen Scherze in „General Rockſchöſſels Erinnerun-
gen” und „Im Frieden“, die Iuftigen Balladen und Romanzen, befannt-
lich aud eine Spezialität der „liegenden“ in „Hagebutten“, Haiders
BZeihnungen in „Die Jagd in Bildern“, 2. v. Nagels Bilder im „Na-
gel-Album”, das Juriftiihe im „Vademekum für Iuftige und traurige
Juriſten“, dann famen „Quftige Jagd“, „Zuftiger Sport”, „In der Som-
merfriſche“, „Novellen-Baftete”, „Unfere Frauen“, „Jocusus hebricosus“,
ein medizinisches Vademekum und noch vieles Andere. Noc würden die
366 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
über hundert Bände der „liegenden“, die bereits vorliegen, für Dutzende
von ſolchen Ertraausgaben in Wort und Bild wertvollen Stoff bieten.
Der redaktionelle Betrieb der „liegenden Blätter“ ift von über-
rajhender, wahrhaft patriarchaliiher Einfachheit. Die Poſt bringt täg-
ih einen riefenhaften Einlauf von Wigen und Erzählungen, von Ge:
dichten und Anderem, was von den Verfertigern als für die „Fliegen—
den“ würdig erachtet wurde. Manche jchiden ganze Stöße von Witzen
zugleih. Der ganze Einlauf zirfuliert nun zunächſt bei einer Heinen
Zahl von Intimen des Haujes, die über tauglih und untauglich ihr
Botum abgeben. Das jo Gefichtete wird in der Redaktionsftube jelbit,
in der nur die Herren Kaspar Braun jun., Julius Schneider und defien
Bruder Hermann Schneider thätig find, weiter verarbeitet oder zu litte-
rariſcher Verarbeitung an Mitarbeiter hinausgegeben. Die Jlluftratoren
werden je nach der Art der Aufgabe aus dem künſtleriſchen Generalitabe
der Blätter ausgewählt, und wenn dieſe ihre Arbeiten abgeliefert haben,
wieder die Holzichneider bejtimmt. Das Zujammenftellen jeder Nummer
erfordert mehrtägige Arbeit und forgjamfte Überlegung, und ein paar
Wochen, bevor fie erjcheint, muß die Nummer auc) fchon gedrudt fein.
Belanntlic) erjcheinen die „Fliegenden“ an allen Pläßen Europas an-
nähernd gleichzeitig, in Amerifa acht Tage jpäter.
Im Gründungsjahre 1844 betrug die Abonnentenzahl der „Fliegen:
den” jchon an 2000, 1846 17000, 1856 war die Zahl der Abonnenten
wieder auf 7—8000 zurüdgegangen — die „politiiche Epoche” der „Flie—
genden Blätter” —, 1873 auf 20000 gefommen, 1882 auf 42000, 1889
auf 80000, 1893 zur Jubiläumszeit auf 95000. Die Pakete der Yubi-
läumsnummer, die nad) Leipzig gingen, brachten zwei Pferde nicht aus
dem Berlagsgebäude heraus, man mußte zwei weitere dazujpannen.
So blüht denn heute das Werk, zu dem deutſcher Geift, deutiches
Gemüt und deutiche Kunft vor fünfzig Jahren den Grund gelegt haben,
jo friih und reich wie fein ähnliches Unternehmen in weiten Umkreis,
die Freundichaft der ganzen gebildeten Welt begleitet es, in Palaſt und
Manfarden ift es gekannt und willlommen! Mögen die „Fliegenden
Blätter“ ſich jo weiter entwideln bis zu ihrer Säfularfeier und darüber
hinaus.
So lange der gute Geift von 1844 in dem Haufe wohnt Hinter
dem Schillerdenfmal am alten Dultplat zu Münden, kann's nicht feh—
len. Und der gute Geift von 1844 wird dort gar treu und wohl ge
pflegt — und wird feine Getreuen auch weiter führen zu immer jchöne-
ren Siegen und ihre Botichaft in immer fernere Winfel der Erde tragen,
„denn der Humor ijt wunderthätig.“
Pedeutende Verlagsunternehmungen. 367
Der Buchhandel aber ift dem Haufe Braun & Schneider dankbar
für das zu jo jchönen Erfolgen gediehene Unternehmen, der deutjche
Buchhandel aber insbejondere ift ftolz auf feine „Fliegenden Blätter“ .*)
*), Wir folgten in unferem Artikel den Aufläßen in „Kunft für Alle“ VI,
Jahrg. Heft 2 und 3 (Verlagsanitalt für Kunft und Wiljenichaft in München) und
„Die Kunft unferer Zeit“ V. Jahrg. Heft 5 und 6 (Franz Hanfftängl's Kunftver-
lag in Münden) und fagen ben genannten Firmen, jowie den Herren Braun &
Schneider) auch an diefer Stelle für ihr freundliches Entgegenfommen und gütige
Erlaubnis verbindliditen Danf.
ID
- ru)
Bakob Safanova
Sbevalier von Seingalt.
Ein kulturgefhichtliher Aufjag von Mirter Ottmann.*)
Der Titel diejes Aufjages erweckt vielleicht Gedanken, die der Name
Sajanova unwillkürlich wachruft. Diefer Name ift nicht nur für das
große Publikum, jondern auch für den überwiegend größten Teil der
litterariichen Welt mit ganz beftimmten Vorftellungen verknüpft, er ift
ein Name und ein Programm, und die vorzüglihiten Nummern dieſes
Programms heißen zügelloje Genußſucht und kraſſer Aynismus. Der
Name Caſanova gilt gewifjermaßen als der Superlativ des Namens Don
Juan, als die grotesfe Verzerrung eines Faublas, er fteht auf dem Co-
dex librorum prohibitorum an erjter Stelle und wird von feujchen, aber
unlitterariihen Zugendwächtern zu Boccaccio, Straparole, Aretin und
anderen übermütigen Schriftjtellern geworfen.
Es thut mir aber wirklich leid, wenn ich dieſen oder jenen im jeinen
Hoffnungen enttäufhen muß. Ich will e8 nämlich glei) im voraus ja-
gen, daß ich nicht von jenem Caſanova erzählen will, der in den ſchlech—
ten Winfelausgaben feiner berüchtigten „Memoiren“ ein jo eminent lieder-
liches Leben führt, jondern daß ich vielmehr einen flüchtigen Blick auf
das wunderbar reiche Leben des geſchichtlichen Caſanovas eröffnen
möchte, nicht des Caſanovas der Hintertreppen und der Alkoven, jondern
des Sajanovas, der ein ebenjo gefürchteter, wie gern gejehener Abenteu-
rer, ein Freund und Berater der Füriten, eine ganz außergewöhnlid)
begabte Natur, ein in gleicher Weile gelehrter wie wißiger Schriftfteller
und jchlieglih ein Weltmann vom Scheitel bis zur Sohle war, ja, wie
Theodor Mundt jagt, der größte Weltmann neuerer Zeiten. „In den
Waffen geübt, in Ehrenhändeln ein unerjchrodener, gefürchteter Gegner,
dort Mars und bier Adonis an den ZToilettentiichen der Damen, im Ball-
ſaal graziöjer Tänzer, im Laboratorium erfahrener Chemiker und grü-
*) Nach einem Vortrag im „Palm“, Verein jüngerer Buchhändler in München,
Jakob Caſanova. 369
belnder Adept, auf der Landſtraße Ehrenretter bedrängter Frauenzimmer,
im Walde Schatzgräber, ein Eingeweihter in die magiſchen Geheimniſſe
der Kabbala, an der Pharaobank ein unüberwindlicher Feldherr, ſo mutet
er und an wie die menſchliche Verkörperung des heiß erſtrebten Perpe-
tuum mobile. Wohin er aud) kommen mag, bildet er überall fogleich
ben Mittelpunkt der interefjanteften Beziehungen, wird er der Held des
Tages und beichäftigt die Gemüter reger als irgend ein wichtiges politi-
jches Ereignis. Und was man aud an ihm tabeln mag, das eine muß
man anerkennen, daß er in all den zahlreihen Stürmen jeines Lebens
niemals die edle Haltung des Ritters verloren hat, und daß jelbft feine
niedrigiten Lafter einen großen phantaftiihen Zug zur Schau tragen.”
Es iſt eine merfwürbige Erſcheinung, daß dem Lebensgange des jo
viel, meiſtens allerdings heimlich gelejenen Autors jo geringe Teilnahme
entgegengebracdht wird und daß nur die Freunde gejchichtlicher Forſchung
e3 der Mühe wert erachten, durch die dide Schmußfrufte, mit der fich
ber Verfaſſer der berüchtigten „Memoiren“ der Nachwelt präjentiert, ihm
auf die Haut und noch tiefer auf Herz und Nieren zu dringen und feinen
Organismus zu analyfieren. Durch das, was es zugleich anzieht, wird
das Gros der Lejer auch abgejchredt, nämlich durch die große Objcönität
bes Autors; gerade um diejer willen ziehen fie ihn an's Tageslicht
und werfen ihn wieder beijeite, wie man eine zwar farbenprächtige,
aber giftige Pflanze wegwirft. Aber für den Freund der Kulturforfchung
und für ben, der den Menjchen nicht nur um feiner Tugend willen
ihäßt, eriftiert der Begriff des Anftößigen nicht; er muß, wie der Bo—
tanifer die Giftpflanzen jammelt und beftimmt, die Lafterhaften jo gut
wie die Edlen mit der gleichen, objektiven Ruhe unter die Qupe nehmen.
Der Menſch ift das Produkt feines Bodens und feiner Zeit, wir
lönnen ihn nicht von Ort und Beit losgelöft betrachten, ohne ein Zerr-
bild zu erhalten. Caſanovas Leben fällt mit feinen Blütejahren in bie
Beit des Rokoko, in jene interejjante Epoche, die ihren Kindern durch
den merkwürdigen Kontraft zwilchen der zügellojen Freiheit des Indivi—
duums und den ftarren Regeln der Konvention ihren Stempel aufdrüdt.
Die Gejellihaft bes Rokoko, fchreibt Karl Frenzel, beruht nicht auf ber
Freiheit der jchönen Menfchlichkeit, fondern auf dem Zwange des Schid-
lichen, des Delorums. Der anftändige Menſch hat in diejer künſtlichen
Welt gewiſſe Pflichten und Rüdfichten zu erfüllen: feine Sache ift eg,
diejelbe in Einflang mit feinen Gefinnungen zu bringen; immer unter
allen Umftänden haben fie den Vorrang: Du kannt die Götter und bie
Könige verjpotten, aber du bift der Sklave des Dekorums.
Wir fehen, daß felbft ber ftärffte und freiefte Geift diejer Zeit, Vol-
taire, nicht umbin Tonnte, der Konvention feine Reverenz zu machen und
24
370 Jakob Gafanova.
dem Zwange des Deforums feine eigene Lehre wenigſtens äußerlich zum
Opfer zu bringen.
Diejer vielgeftaltigen, bunten Gejellichaft des Rokoko hat Caſanova
in jeinen „Memoiren” einen Spiegel vorgehalten, der uns mit plaftijcher
Schärfe ein wahrhaft photographijch genaues Bild des Lebens im vorigen
Jahrhundert Liefert.
Was der geiftvolle Hiftorifer Berthold, der erfte Gelehrte, der fich mit
dem Abenteurer wifjenjchaftlich beichäftigte, in feinem 1846 erjchienenen
Verf: „Die geichichtlichen Perjönlichkeiten in Caſanovas Memoiren“ *)
von legteren jagt, nämlich daß fie das vollendetfte, ausführlichite Gemälde
nicht allein der fittlihen AZuftände des 18. Jahrhunderts, ſondern auch
der Spiegel de Staatslebens in jeinen individuellften Zweigen, der
Kirche, der Denkweiſe der Nationen, der Vorurteile der Stände, der Ab—
drud der Philoſophie, aljo des innerjten Lebens des Zeitalters feien, Das
trifft genau den Kern der Sache.
„Wir möchten behaupten — jagt Berthold — daß wenn alle ande-
ren Schriftwerfe zur Kenntnis des 18. Jahrhundert? verloren gingen,
wir in Caſanova hinlänglichen Stoff beſäßen, um die unausbleibliche
Notwendigkeit einer allgemeinen Umwälzung zu ermeſſen. Wer hat wie
er die Verſunkenheit und Fäulnis der höheren, der ſogenannten gebildeten
Geſellſchaft, den gedankenloſen Leichtſinn, den Übermut und die heraus—
fordernde trotzige Verneinung der privilegierten Stände gegen die unver—
äußerlichen Güter der Menſchheit, die geſpreizte Geiſtesarmut und Er—
bärmlichkeit und Unnatur des Rokokozeitalters, dargeſtellt? Wer mehr die
Entwürdigung des Volkslebens, die nervloſe Zahmheit der durch geiſtlichen
und weltlichen Deſpotismus geſchreckten Bürger? Die Verworfenheit der
Fürſten, die Inhaltsloſigkeit der Politik, die ſchmachvollen Windungen der
Diplomatie, den Mißbrauch der Richtgewalt, den Dünkel der Staatslen⸗
ter, den Betrug einer gewifjenlojen Finanzkunſt, einer gierigen Goldkocherei
und Diamantenjchmelzerei, die Käuflichkeit der Umtsgewalt und die Bru-
talität der Machthaber? Welcher Geichichtsjchreiber, der nicht ausſchließ—
lich ſolche Geſichtspunkte gewählt hat, lehrt ung fo jchlagend, in welchem
Grade Unglauben der Kirchenfürften höhnend den Himmel entgötterte;
wie der Klerus in den Ländern des alten Belenntnifjes und die vornehme
Welt der erneuten Kirche, wetteifernd in jchnödem Witze und in Verach—
tung des Heiligften, die Befriedigung der Selbftfucht und des verfeinerten
Sinnengenufjes als Göben auf den Thron erhoben; und dennoch die
Menge in dumpfer Unfreiheit erhalten wollten? Wie diefe emanzipierten
Freidenker, welche Gott aus ihrer Seele verbannten, vor dem Teufel und
*) Berlin, Alerander Dunder. Vergriffen.
Jakob Caſanova. 371
bämoniichen Gewalten erbebten und dem unfinnigften Aberglauben in
Kuechtesfurcht fich hingaben als pottwerte Beute gaufelnder Geifterbanner
und verjchmigter Magifer? Endlich, wer läßt jo deutlich durchbliden,
daß nicht der vermeſſene Zweifel einiger philoſophiſchen Köpfe fich ver-
ſchworen hatte, die Gemüter mit Gleichgiltigkeit, mit Verachtung und Haß
gegen die bejtehende Autorität der Kirche und des Staates zu erfüllen,
fondern daß längft dieje Autoritäten fich jelbft vernichtet hatten, und daß
die Schule der Encyklopädiften nur in ein blendendes Syftem brachte,
was grundjäglich längft im Leben fich feitgejtellt?
Dies 18. Jahrhundert alfo lehrt ung Caſanova gründlich anfchauen,
ein Zeitalter, vor deſſen Wiederkehr wir ung freuzigen und ſegnen müſ—
jen, war gleich ein Friedrich) und ein Joſef darin.”
Berthold Hat übrigens an Hand der Quellenforſchung nachgewiefen,
daß Caſanova durchaus nicht, wie man jo vielfach) annimmt, ein gewifjen-
loſer Hiftoriograph war, jondern daß es unter den Hunderten von ge-
ſchichtlichen Zügen, die er anführt, kaum ein halbes Dutzend gibt, in denen
er irrt, und faum einen, in dem er einer geflifjentlichen Fälſchung über-
führt werden kann, und daß feine Flunferei und Aufichneiderei fih nur
auf das Gebiet galanter Abenteuer bejchränfen.
Sch gebe nunmehr die Daten aus Caſanovas Leben, muß mich aber
dabei auf eine knappe BZujammenftellung bejchränten, wie es der enge
Rahmen diefer Abhandlung erfordert.
Jakob Eajanova, Chevalier von Seingalt, wie er fich infolge einer
fouveränen Selbjtadelung zu nennen beliebte, wurde im Jahre 1725 am
2. April als älteftes von 5 Geſchwiſtern zu Venedig geboren. Er hat
fi in feinen Memoiren des Weiten und Breiten über feine Vorfahren
ergangen, jedoch in der ihm eigentiimlichen ausjchmüdenden Weile; that-
jächlich erjcheint jeine Herkunft in einem ziemlich verjchleierten Lichte, Die
Eltern waren ein vagabundierendes Schaufpielerpaar und die gefamte
nächfte Umgebung harmonierte in bezug auf geniale Liederlichkeit mit den
würdigen Erzeugern. Die vornehme Ahnenjchaft, von der unjer Held
erzählt, ſchwebt in der Zuft, und ob er fich mit Recht aus einem fpani-
ſchen Batriziergejchlecht herleitet, wollen wir billig dahingeftelt fein lafjen.
Die Zeitläufte, in denen Caſanova das Licht der Welt erblidte,
waren wecjelvoll und unruhig. Venedig, die urältefte Republik der chrift-
lien Welt, war nach vierhundertjähriger ruhmvoller Vergangenheit in
die fette Phaſe ihres Beſtehens getreten, fie zählte bereits nicht mehr zu
den europäifchen Mächten; die Regierung war Hug genug auf ehrgeizige
Pläne zu verzichten und bejchränfte fich darauf, das Beitehende zu wah—
ven, in demjelben Maße freilich war fie verderbt genug, die im Innern
gährende Oppofition mit allen Mitteln und Kniffen einer raffinierten,
24*
372 Jakob Gafanova,
macchiavelliſtiſchen Taltik zn unterbrüden. Das Bild, wie es dieſer fter-
bende Staat zu jenen Zeiten bot, deckt ſich genau mit ben charafterifti-
chen Ericheinungen aller dem Untergang geweihten Staatskörper: nach
außen prunfender Glanz und Pochen auf frühere Macht und Größe, im
Innern üppige Selbftbetäubung, Verjchwendung, Raffinement der Genüffe,
rückſichtsloſes Verfolgen der Sonderinterefjen, dabei eine, gegen die heim-
liche Gährung der Unzufriedenen und Ehrgeizigen gerichtete, übertriebene
Strenge der regierenden Körperichaft. Nicht nur die Patrizier, fondern
auch das niedere Bürgertum war mit Fäulniskeimen durchjegt, die Aus-
jchweifung ging durch alle Klaſſen und man konnte thun und lafjen, was
man wollte und was der Geldbeutel geftattete, wofern man nur der Re-
gierung nicht läftig fiel. Venedig war das Iodende Ziel für die reichen
Bergnügungsfüchtigen aller Länder, nirgends gab es jo verführerijche
Kurtiſanen wie bier, nirgends wurden jo auserwählte theatraliihe und
mufifaliiche Genüffe geboten, nirgends entwidelte fich 3. 3. des Karnevals
unter dem Schuße der Masfenfreiheit ein jo ausgelafjenes tolles Treiben
als in der glänzenden Lagunenftadt. Die Regierung war, wie gejagt,
faft mehr als tolerant, fie ließ der Freigeifterei wie der Ausjchweifung
bie Zügel jchießen und verbat fi nur das eine, daß man Zweifel an
ihrer politiichen Weisheit hegte oder auch nur den Schein von Umtrieben
erwedte. Im welch unheimlich energijcher Weile fie gegen Verbächtigte
vorging, weiß man aus der befannten, in Schrednis gehüllten Einrich-
tung der Staatsinquifition. Eine tyrannijchere, allerdings im fubjeltiven
Sinne faft ftet3 gerechte, vom Schleier der Romantik verhüllte Vehme
hat wohl nirgends in der Welt jo wie hier gewaltet und ihre Wege mit
Blut gefennzeichnet. Caſanova hatte in jpäteren Jahren Gelegenheit, die
furchtbare Rache des gereizten Rates der Zehn am eigenen Leibe zu ver-
jpüren und unter den glühenden Bleivächern des Dogenpalaftes über bie
Wechſelbeziehungen von Macht und Recht nachzudenken.
Die Ungebundenheit der Sitte blieb natürlich nicht ohne Einfluß auf
unjeren Helden. Schon in die erfte Dämmerung jeines Bewußtſeins
fielen die Iodenden Bilder der Üppigkeit, und wenn ihn auch das wan-
bernde Leben jeiner Eltern bereits im zarten Alter nad Lifjabon und
anderen Etädten führte, jo waren e3 doch lediglich die Eindrüde des far-
benprächtigen italienijchen Lebens, die in feiner jungen Seele haften blie-
ben. Er erhielt noch zwei Brüder: Franz, der als Schlachtenmaler zur
Berühmtheit gelangte, und Johann, der jpätere Direktor der Dresdener
Maler-Alademie. In Padua wurde Caſanova die erjte Erziehung zu teil.
Er erzählt, daß er bis zum neunten Jahre blöde war, aber jo jchlimm
muß es nicht gewejen fein, denn wir wiſſen, daß er fich jchon früh eine
geläufige Kenntnis der lateiniſchen Sprache und große Beleſenheit in
Jakob Gafanova. 373
lateiniſchen Schriftftellern aneignete, ſowie auch in jeber anderen Beziehung
höchſt frühreif war. In welcher Weife er fpäter feine litterarifchen
Kenntniffe vervolltommmet hat, das beweilen feine Memoiren, die mit ge-
lehrten Zitaten reichlich gejpicdt find. Da es damals einen Büchmann
und andere Bitaten- Sammlungen noch nicht gab, fo konnte nur ein jorg-
fältiges litterariiches Studium feine zahlreichen Sentenzen ermöglichen.
Es mutet uns wie ein fchlechter Wi an, wenn wir hören, daß
Caſanova für den geiftlichen Stand beftimmt war und fich diefem Berufe
auch mit großer Luft widmete. Er ftudierte anfänglich die Nechte, trat
dann in Venedig in Ordensdienfte, wurbe aber als junger Abbate, nad)-
dem man feine verjchiedenen Liebeshändel durchſchaut hatte und erkannt,
daß bier in Wahrheit der Bock zum Gärtner gemacht war, in Unter-
juhungshaft genommen, dann aus dem geiftlihen Stande verftoßen und
aus der Republik verbannt. Er ging nad) Neapel, dann nad) Rom, wo
er beim Kardinal Aquiva als Sekretär Anftellung erhielt, aber bald wie-
derum infolge von Liebeshändeln verabjchiebet wurde. Wchtzehnjährig
fehrte er nad) Venedig zurüd und trat als Soldat in die Dienfte der
Republif, avancierte bald zum Fähnrich und begleitete als folcher 1743
den venezianiihen Gejandten nah Konftantinope. Auch hier paffierte
ihm das, was ihm jchon öfter paffiert war und auch in Zukunft noch)
oft pajfierte: er wurde entlafjen und jah fich genötigt, in einem Lande,
deſſen Sprache er nicht kannte, mittellos, aber ftet3 guten Mutes, feinen
Unterhalt zu fuchen. Auf abenteuerliche Weife gelangte er mit einer Ko—
mödiantentruppe, die er zujammenjcharte und als deren Direktor er figu-
rierte, nach Korfu, über weldhe Inſel damals ein ſouveräner Sultan
berrichte, den er für fich zu gewinnen verftand und bei dem er ſich an—
ſcheinend hübſch bereichert. Aber auch Hier hielt es ihm nicht lange, er
machte es, wie zahlreiche Theaterdireftoren es nad ihm auch gemacht
haben, er ließ feine Truppe im Stih und kehrte nach Venedig zurüd,
wo er wiederum ganz verarmte und in der Not das Gewerbe eines wan⸗
dernden Biolinipieler8 ergreifen mußte. Ein glüdlicher Zufall brachte
ihn bald wieder in die Höhe, indem es ihm gelang, ben reichen Senator
Bragadia bei einem Überfall zu beſchützen. Bragadia nahm ihn an Kin-
desitatt an und ftattete ihn fo reichlich mit Gelb aus, daß er feiner
Wanderluſt fröhnen konnte und fich unter zahlreichen Abenteuern in
Italien, Frankreih, Deutſchland und Öfterreich umbertrieb. Als er 1755
nach Venedig zurückkehrte und fich nicht mehr der Zuneigung Bragadias
erfreute, erregte er durch feine fchlimmen Streiche, auch angeblich durch
Gottesläfterungen und andere NReate den Unwillen des Senats, der ihn
al3 läftigen, unruhigen Geift ſchon Tängft auf dem Kerbholz hatte. Es
ftand ihm mit Hilfe einflußreicher Freunde zwar frei, noch rechtzeitig Die
374 Jakob Caſanova.
Flucht zu ergreifen, aber er glaubte in ſeinem Kraftgefühl der Regierung
trotzen zu können und blieb in Venedig, wo man ihn denn eines
Morgens im Namen der Staatsinquiſition verhaftete.
Was jetzt folgt, die 16monatliche qualvolle Gefangenſchaft im Dogen-
palaft und die waghalfige Flucht, das ift von Caſanova in feinen Memoiren
in wahrhaft dramatifch bewegter Weile gejchildert und durch die Son-
derausgaben ber betr. Kapitel (auch die Reclam’sche Univerjalbibliothef ent-
hält diefe Abjchnitte) in den weiteften Kreifen befannt geworden. Es jcheint
thatfächlih der Fall zu fein, daß bie über ihn verhängte Haft ein Akt
barbariicher Gewaltthätigkeit war, denn wie ſehr ſich auch der Nat der
Zehn bemühte, aus den beſchlagnahmten Papieren die Berechtigung zu
einer Anklage zu konftruieren, jo gelang es ihm doch während der ganzen
15 Monate nicht, auch nur die Einleitung zu einem Prozeß zu ermög-
lichen. Caſanova entkam aljo glüdlic) den Bleikammern und reifte nach
Paris, wohin der Auf feiner Streihe und feiner merkwürdigen Flucht
ihm vorausgeeilt war und wo ihn die genußfüchtige und fenjationsluftige
Geſellſchaft mit offenen Armen aufnahm. Jetzt begann feine Glanzzeit,
er benebelte einflußreiche Perfonen förmlich durch feine Überlegenheit und
fein chevaleresfes Auftreten, außerdem ftand er in dem Aufe, das Ge-
heimnis der Alchymiften entdedt, den Stein der Weifen oder die rote
Tinktur gefunden zu haben. Er ließ ſich in vielerlei Spekulationen ein
und machte jo glänzende Geſchäfte, daß er binnen 2 Jahren mehrfacher
Millionär wurde und den Haushalt eines Fürften führte. Da er ftets
ein bon gargon und von fürftlicher Freigebigkeit war, fo fiel es ihm nicht
ſchwer, in den Kreiſen der wiljenjchaftlichen ebenjo wie in der höfiſchen
und galanten Welt eine bedeutende Rolle zu jpielen. Er hätte aber nicht
Caſanova jein müſſen, um feine Millionen mit derjelben Schnelligkeit
wieder einzubüßen, er verlor oft Hunderttaufende in einer einzigen Nacht
am Spieltiih. Es trieb ihn nady Holland, dann nad) Stuttgart, wo er
wiederum viel Unglüd Hatte, und auch nach München. Seine Schilde-
rung von München ift gerade nicht ſehr fchmeichelhafl. München war
damals eine Meine Refidenzftadt mit ſchmutzigen Straßen und höchft lang—
weiligem Leben: das einzige, was er der Erwähnung für wert erachtet,
ift das Preyſing'ſche Palais. Er z0g weiter nad) der Schweiz, wo ihn
einige vorurteilsloſe und reiche Damen wieder in die Höhe brachten, dann
nah Marjeille, Genua, Florenz und Rom; hier geſchah das faft Un-
glaubliche, daß ihn der Bapft 1760 zum Chevalier von St. Lateran und
zum apoftoliichen PBrotonotar ernannte,
Nach einem Aufenthalt in Neapel ging Caſanova nad Florenz, ent-
führte hier ein Mädchen und wurde vom König von Portugal mit einer
Milfion zum Augsburger Kongreß betraut. Daun ging er nad) Paris
Jakob Cafanova, 375
und London, aber den nüchternen Engländern trieb er es jo toll, daß
man ihm den Prozeß machte und daß er nur um ein Haar dem Galgen
entging. Er juchte jet jein Glüd in Berlin, aber vergeblich, denn Fried-
rich der Große, mit dem er fonferierte und dem er das Projekt einer
Kadettenanftalt auseinanderjegte, war doch eine zu mißtrauiiche Natur,
als daß er mit dem vieljeitigen Venezianer paktiert hätte. Jet erwählte
er Rußland zu jeinem Qummelplag und wandte fi) nad Peteröburg
und Warjhau. Ein Duell mit dem einflußreichen General Branidi, dem
er durch den Unterleib jchoß, vertrieb ihn auch aus dieſer Stadt; er ging
über Dresden und Prag nad) Wien, aber man verbot ihm bier, wo da—
mals ein puritanisches Regiment herrichte, den Aufenthalt, wahrjcheinlich
aus Bejorgnis um das GSeelenheil der Frauen. Zum dritten male ließ
er fich in Paris nieder, wurde aber durch eine lettre de cachet jchnell
vertrieben. Sein Stern war eben im Sinken begriffen, feinen Projekten
traute niemand mehr, fein oppofitioneller Geift beäugftigte die Regierun-
gen, fein jchrantenlojes Bedürfnis nad) Liebeleien brachte die betrogenen
Ehemänner auf, furz und gut, es litt ihn an feiner Stelle, und
wenn er früher aus reiner Abenteurerluft umhergejchweift war, jo mußte
er jet wie Ahasver wandern, weil fich ihm alle Thüren verfchlofjen.
Auh in Spanien, das er nunmehr beglücdte, erwartete ihn nichts
als Unheil, das er zum größten Zeil durch fein leidenjchaftliches Tem—
perament herausforderte; er unterhielt nämlich ein Verhältnis mit ber
Geliebten des Vizekönigs und wurde dafür 6 Wochen in ber Eitadelle
von Barcelona eingeferfert, dann verbannt. In Süd-Franfreih machte
er die Belanntichaft des berüchtigten Balfamo aus Palermo, genannt
Caglioftro, der damals gleich ihm Europa in Aufregung verjeßte, und
zog dann kreuz und quer durch Italien, bald in diejer, bald in jener
Stadt Glück und Händel ſuchend. Müde des Umherſchweifens flehte er
nun den Senat von Venedig an, ihm die Rüdkehr zu geftatten; er er-
wirkte nad) vielem Bemühen auch die Erlaubnis, aber e8 währte natür-
lich nicht lange, und er überwarf fich mit dem ganzen venezianifchen Adel,
indem er einen fatirifchen Roman veröffentlichte. Abermald mußte der
alternde Abenteurer fein Bündel fchnüren und ruhelos ganz Europa durch⸗
wandern, verzehrt von ehrgeizigen und phantaftiichen Plänen, verjtimmt
durch jein Mißgeſchick, zürnend mit fi) und der ganzen Welt, bis ihm
in Teplig Graf Waldftein begegnete, der ſich nebft feinem Freunde, dem
Fürften von Ligne, außerordentlich lebhaft für Caſanova intereffierte und
ihm den Vorſchlag machte, auf feinem Schloffe in Dur Wohnung anzu-
nehmen und alchymiſtiſche Studien mit ihm zu treiben. Das war im
Jahre 1785. Caſanova acceptierte das Angebot und wurde gräflicher
Bibliothefar in Dur. Mit dem Augenblick, wo er in das alterögraue
376 Jakob Caſanova.
Wallenſteinſchloß einzog, war die Rolle des Abenteurers ausgeſpielt, und
dieſer Mann, der jahrelang die ziviliſierte Welt in Atem gehalten hatte,
ſiechte jetzt langſam und ruhmlos dahin wie ein kleiner Penſioniſt.
Seine letzten Lebensjahre ſind merkwürdiger Weiſe ziemlich in Dun—
fel gehüllt, ja wir wiſſen nicht einmal, wann er geſtorben iſt, wahrſchein—
ih 1798 oder 99, nach anderen Angaben aber auch 1800 oder 1801,
nach münblicher Überlieferung ſogar erft 1811, was aber ganz unwahr-
Icheinlich ift. Auch jeine Grabftelle ift nirgends zu finden.
Der fürperlihe Cafanova war von dem Augenblid an, wo er in
Dur einzog, vollftändig gebrochen, der geiftige aber raffte ſich jegt in
der idyllischen Ruhe des alten Schlofjes von Neuem auf und entfaltete
eine ganz erftaunliche Fruchtbarkeit. Nicht nur daß er mit allen irgend-
wie namhaften Perjönlichkeiten in jchriftlihem Verkehr ftand — ich er-
wähne nur das eine, daß im Schloßarchiv von Dur ca. 6000 Briefe an
Caſanova, jowie die Abjchriften feiner Korrejpondenzen liegen — er ver-
faßte auch eine Unmenge gelehrter Gelegenheitsichriften, von denen jeboch
nur wenige im Drud erjchienen, während die meisten noch im Archiv
liegen und wohl auch nie and Tageslicht gelangen werden, weil die jetzi—
gen Oberhäupter der Familie Waldftein fich allen Herausholungsverjuchen
gegenüber ablehnend verhalten. Diefe Manufkripte gewähren nad) einer
Schilderung des Romanfchriftftellers Lucian Herbert, der fie zu Anfang
der 70er Jahre zu Geficht befam, einen merkwürdig baroden Anblid, weil
fie ein jprechendes Bild von der quedfilbernen Natur ihres Verfaſſers
find. Alles interejfiert, alles bejchäftigt ihn. Vorzüglich find es mathe-
matifche Probleme, die ihn nicht zur Ruhe kommen lafjen, die Verdop⸗
pelung bes Kubus, die Duadratur des Zirkels und ähnliche ins Phan-
taftiiche ſchlagende Theorieen jcheinen ihn geradezu zu quälen. Bon der
Mathematit jpringt er auf die Gejchichte, er verfaßt Hiftorijche Streit-
Ichriften, bombardiert die Fürften mit Reformplänen und NRatjchlägen,
legt fich für die Sache Polens leidenjchaftlic ind Zeug und befennt fich
in anbetracdht der franzöfiichen Revolution immer mehr zur Partei der
Ariftofraten, er, der früher der größte Freigeift und Skeptifer war. Sein
Haß wendet ſich nicht nur gegen Mirabeau und Robefpierre, jondern
auch gegen Voltaire und die Encyklopädiiten. Dann find es die Fragen
der Philoſophie und Theologie, die ihn täglich beichäftigen, und das alles
treibt er gewiflermaßen nur jo nebenbei, während feine Hauptarbeit die
Niederichrift der Memoiren ift.
Das Manufkript der Memoiren befindet fich im Beſitz der Firma
F. 4. Brodhaus in Leipzig, es ift aber nicht vollftändig, die legten un-
veröffentlichten Bände müfjen in irgend einem Archiv vergraben liegen.
Was die Memoiren Litterarifch jo wertvoll macht, ift gerabe der Umftand,
Jakob Caſanova. 377
daß der Verfaſſer nicht die Abſicht gehabt hat, ſie herauszugeben, daß er
alſo ſein Leben darin ohne jede Retouche behandelte und ohne den Vor—
ſatz, Jemand zu belügen. Wie viele andere Schriften Caſanovas ſind die
Memoiren in einem ziemlich mittelmäßigen Franzöſiſch niedergeſchrieben.
Sie wurden zum erſten male im Jahre 1821 bei Brockhaus im Umfang
von 12 Bänden veröffentlicht, jedoch verſtümmelt unter Weglaſſung der
bedenklichſten Stellen; einige Jahre ſpäter folgte eine franzöſiſche Aus-
gabe und 1850 erft die vollftändige deutfche, 18 Bände umfafjende Aus-
gabe. Lebtere, von Buhl bearbeitet und kommentiert, bei Hempel in
Berlin erjchienen, ift die einzige unverftümmelte; alle fpäteren Ausgaben,
jo namentlich die jet am meiften vertriebene von Radeſtock in Leipzig,
find aus preßgefeglichen Gründen verftümmelt und auch höchſt miferabel
bearbeitet.
Ich erwähne noch kurz die übrigen Schriften Caſanovas, die ſämtlich
außerordentlich jelten find. Da ift vor allem der fünfbändige Roman
„leosameron, ou histoire d’Edouard et d’Elisabeth, qui passerent qua-
tre-vingt-un ans chez les Megameickes“, erjchienen in Brag 178890,
eine phantaftiich-philojophiiche Gejchichte, die die Erlebnijfe eines in den
Mittelpunkt der Erde verichlagenen Paares jchildert, ferner eine dreibän-
dige Gejchichte der polnischen Wirren: „Istoria delle turbulenze della
Polonia dalla morte di Elisabet Petrowna fino alla pace fra la Russia
e la Porta ottomana“ (Graz 1774), eine breibändige Rechtfertigungs-
jchrift des venezianiichen Senats: „Confutaziano della storia del governo
veneto di Amelot de la Houssaye““ (Amfterdbam 1769), eine vierbändige
Überfegung der Ilias in ottave rime (Venedig 1778), die „Histoire de
ma fuite des prisons de la R£publique de Venise qu’on appelle les
Plombs“ (Prag 1788, deutiche Ausgabe Halle 1823), ſchließlich verjchie-
dene wifjenjchaftliche Streitichriften, wovon ich eine bisher noch ganz un—
befannte, in Form eines offenen Schreibens an den Profeſſor der Rechte
ber Univerfität Göttingen, Leonhard Snetlage, gerichtete kürzlich entdeckt
babe. Es ift dies eine umfangreiche, jehr herbe und leidenſchaftliche Kri-
tif von Snetlages „Nouveau Dictionnaire frangois, contenant les ex-
pressions de nouvelle cröation du Peuple frangois ete.“, erjchienen 1797
(ohne Drudort, offenbar in Wien), aljo vielleicht die legte Schrift bes
ftreitfüchtigen alten Bibliothelars von Dur.
Denn je älter er wurde, deſto unausftehlicher geftaltete ſich Caſa—
novas Charakter, er zerfiel mit der ganzen Umgebung, juchte mit allen
Händel, fühlte ſich überall beleidigt und geriet jchließlich in einen Zu—
ftand, der vom Duerulanten- und Berfolgungswahnfinn nicht jehr unter-
Ichieben war. Seine Verleger, feine Sritifer, feine Freunde und jogar
feine Wohlthäter überjchüttete er aus dem geringfügigften Anlaß mit einer
378 Jakob Caſanova.
Flut von Schimpfereien. Der Graf und feine Hausgenoſſen waren ver-
nünftig genug, die Nefriminationen bes kindiſch werdenden Greijes von
der humoriſtiſchen Seite aufzufaffen. Der ſchon erwähnte Herbert, der
das Archiv durchforſcht hat, erzählt und, daß die lateiniſch abgefaßten
Anklagejchriften, die Caſanova wegen des unartigen Benehmens irgend
welcher Bedienten für das Durer Gericht niederjchrieb, ganze Stöße aus-
machen. Die Briefe Caſanovas aus den lebten Lebensjahren tragen alle
das eigentümliche Datum: „Im Jahre der äußerten, der erichöpften Ge-
duld!“ Seine Geduld wurde auch endlich wirklich erfchöpft, und in fei-
nem Aberwit verließ er eines Tages Dur und floh vor feinen eingebil-
deten Berfolgern nad) Weimar und Berlin. Wohin er fam, wurbe ber
unglüdliche Mann jedoch verlacht und vor die Thüre geſetzt, und in voll»
jtändig abgeriffenem Zuftande kam er ſchließlich völlig gebrochen zum
Grafen Waldftein zurüd, ber nobel genug war, um fo zu thun, als ob
gar nichts gejchehen wäre. Caſanova jtarb in Dur; wann, wie gejagt,
weiß fein Menſch. Im Sterbematrifel der Durer Dechantei fteht aller-
dings der Eintrag: „Herr Jacob Caſſaneus, ein Venezianer, katholiſcher
Religion, ftarb im Durer Schloffe am 4. Juni 1798 im 84. Lebens-
jahre“, aber daß diefem Vermerk feine dofumentarische Bedeutung inne-
wohnt, beweift nicht nur die falſche Schreibweile Caſſaneus ftatt Caſa—⸗
nova, jondern auch die Thatjache, daß unfer Held 1725 geboren wurde,
mithin 1798 erft 73 Jahre alt gewejen fein konnte.
Ih ſchließe meinen Aufſatz mit der Schilderung, die der Fürft von
Ligne von Cajanova entwirft: „Er wäre ein fchöner Mann, wenn er
nicht unjchön wäre! Er ift groß gewachſen wie Herkules, fein Teint ift
afrikaniſch, feine Augen find zwar voll Geift, aber immer ſprühen daraus
Erregtheit, Unruhe und Unwille, wodurch fein Anjehen etwas wild wird.
Weil es leichter ift, ihm zornig als zufrieden zu machen, fieht man ihn
weniger lachen, als lachen machen. Er ift übrigens ein wahrer Born
der Weisheit, aber er citiert zu oft den Horaz. Seine geiftige Begabung
und fein Wi haben attiiches Salz. Er ift gefühlvoll und dankbar, wenn
man aber nicht das Glüd hat, ihm zu gefallen, jo wird er boshaft, mür-
rich und Höchft unangenehm. Mit einer Million könnte man einen auf
feine Koften gewagten Scherz nicht wieder gut machen!”
>
Dwanglofe Rundfdan.
Die Oſtermeſſe ift wieder einmal glüdfich überwunden. Die Angſt, bie fo
mander Sortimenter hatte, wenn es ihm an Dedung mangelte und alles blinbe
Disponieren, Saldieren oder aud das Rettungdwort: „Stimmt nicht” nicht half,
fie ift vorüber. Diefe Sorge teilt aber der Sortimenter auch reichlich mit jo
mandenm Berleger. Hat biefer doch oft feine Ahnung, was ihm zur Oftermeffe
wohl gezahlt werben wird, nur Hoffnungen hat er, die natürlich nur dazu da find,
ihn zu täufchen. Zum Glück weiß aber der Verleger wenigſtens, was er zu bezahlen
bat und nun fommt das Heer der Papierlieferanten, Druder, Buchbinder, Xylo⸗
graphen u. f. w. und verlangt den fälligen Sold. Der Berbienft biefer, unferer
verwandten Berufögenojfen, die fi mit liebenswürdiger Anhänglichkeit an uns
berandrängen, hängt nicht von dem Rififo des Buchvertriebs ab, daher haben bieje
Leute auch wirklich ungemifchte Oſtermeßfreude, die und Buchhänblern nicht zu teil
wird. Gott fei Dank find aber aud viele unferer Herren Kollegen vom Sortiment
und Verlag fo geitellt, daß fie der Ausfall von ein oder mehreren Oſtermeſſen nicht
in ihrer Rube ftören fann, wenigſtens nicht in ber geichäftlihen. Ihre perfönliche
Ruhe ſetzen fie ganz gern einmal aufs Spiel, indem fie fern von Muttern den
„Leipziger Oſtermeßrummel“ — ein bezeichnender Ausdrud — mitmadhen. Mir
bat jemand, ber auch wieder einmal mit dageweſen ift, einen köftlichen Bericht über
das diesjährige Oſtermeßfeſt eingeſchickt, den ich hier meinen Leſern auftifchen muß:
. . . Zunächſt fteht ja feft, daß die Hauptverfammlung, die ja eigentlich Nebenſache ift,
wieder äußerft anregend war, natürlich fchliefen — ungehörigerweiſe — wieder eine
Reihe Mitglieder den Schlaf der Gerechten. Die Verfammlung verlief alfo ben
Berhältniffen entiprehend. Man will jogar Schnardhen gehört haben — aber bies
Vorkommnis ift wohl zu entichuldigen und zurüdzuführen auf einen wenig mäßig
verlebten Vorabend in dem intereffanten Pleifathen, oder gar ben jonftigen Stra:
pazen der Reife. Die herrliche Afuftit des großen, prädtig gefhmüdten Saales
ließ bie einzelnen Schläfer ungeſtört fi) auf die fünftigen Genüffe ftärfen und trug
außerdem dazu bei, bie Rebeblüten nicht allzufehr zur Entfaltung zu bringen, brit:
tens aber verhinderte fie einer event. energiihen Oppofition überhaupt ihre Weis:
heit anzubringen, denn während man vorerſt nur die Bewegung bes Mundes eines
jeweiligen Rebners fah, den inhalt feiner Rebe aber erft aus einem Berichte bes
Börfenblattes vernehmen fonnte, fo hatte die Oppofition wieder einmal den Anſchluß
verfäumt.
Die Nachrichten aus dem Buchhandel wurden zu Grabe geläutet und noch
einige weitere Selbitverftänblichfeiten beſtätigt. Dann fam am Nahmittag das
Gantateefien, für teuered Geld eine annehmbare Mahlzeit, nichts außergemöhnliches,
nichts, was wir nicht ſchon bei Muttern oder auf einem Schüßenfefte gegeſſen
hätten, aber es tft ja auch billig, die Karte koſtet M. 5.—, 2 M. rechnen wir fürs
380 Zmanglofe Rundihau.
Eſſen und 3 M. für die Mufif, Leider hört man dieſelbe nicht, daran tft wieder
einmal bie famoje Afuftif, Die dem Saale mangelt, Schuld. Wir fehen bie Mufi:
fanten mit ihren Fibelbögen in der Luft herumfuchteln und fünnen uns ungeftört
unferem Geſpräche mit unferem, bereits heiteren, Tiſchnachbar hingeben. Von Zeit
zu Zeit tönt ein Trompetenitoß durch den Saal. In der Mitte bes letzteren erhe⸗
ben ſich die Kollegen und ftoßen unter Schwenfen ihrer Gläſer unartikulierte Laute
aus. Auch wir benuken wieder einmal bie Gelegenheit, ein Glas ex zu trinken,
indem wir einige Male „Hoch“ rufen. Es fcheint alfo jemand, der unter ber Kanzel
jeit einigen Minuten unter heftigſten Geftifulationen den Mund bewegte, — ob er
wirklich Worte geiprochen hat, läßt ſich bei ber herrlichen Afuftif des Saales nicht
fonitatieren — ein Hoch audgebradht zu haben. Diefelbe Sache wiederholt ſich noch
verſchiedene Male, dann wirb der Kampf heftiger, ein Gewühl von Stimmen, Bra:
tendampf, Gläferflingen, dazwiſchen das Knallen der Champagnerflaichen, beutich
und franzöftich wild durcheinander.
Bon Zeit zu Zeit ertönen Schlachtgeſänge durch die Reihen, taftlos, wie üblich.
Das Klagelied auf ben lintergang ber „Nachrichten“ (geitorben an Entkräftung
am 3. Mat 1896) ift famos, wir laſſen es bier folgen:
Letzte Nachricht, die und blühte, Bei des Tages wüſter Hebe
Fahre wohl! Dein Amt ift aus; Sudt ich oft vergeblih Ruh;
Denn ber Borftand, deiner mübe, Dann, vertieft in deine Schäße,
Macht bir jebo den Garaus, Nidt ein Stündchen id — — — bir zu!
Deine fanfte, ftille Tugend, Konntft du, troß der eignen Heftung,
Die dich gleich dem Veilchen ſchmückt, Nicht auf eignen Füßen ftehn?
Half dir nit; in früher Jugend Daß du hinfiechſt an Entfräftung,
Wirft du ſchonungslos gefnidt! Muß ich mit Betrübnis fehn.
An des Börienblattes Bujen Do getroft! Dein Lefefutter
Wardſt du mütterlich genährt, Bleibt uns, endigt auch bein Lauf;
Ob auch Stürme dich umblufen, Denn dich frißt die eigne Mutter
Niemals hat dich das geitört. Wieder mit Behagen auf.
Mit der frömmiften Denfart Milli Unfichtbar in ihren Spalten
ZTränfte dich der Ausſchuß ſacht — Lebſt du fröhlich weiter fort,
Aber ah! Du warſt nicht billig —
Teures Beiblatt, gute Nacht!
Nie von Mord und Todſchlag ſprachſt bu,
Niemals ſchwoll bir fred der Kamm,
Und nun wirſt bu— was verbrachſt du? —
Hingeſchlachtet wie ein Lamm!
Einft mit Paufen und Trompeten
Wies man freubig auf dich hin;
Und nun gebit bu fachte flöten —
Ya, da liegt Mufife drinn!
Ad, wie viele Kampfesmüben
Haft du täglich nicht erquidt;
Mit wie himmliſch ftillem Frieden
Haft du Groß und Klein beglüdt!
Bilt hinfort nicht ungehalten
An jo mandem großen Ort;
Doch wenn auch die Schergen töten
Deinen zarten Körper breift,
Deine Seele geht nicht flöten
Und unſterblich ift dein Geift!
Börjenblatt, Buchhändlerleibblatt,
Wenn bu auch dies Kind gebarft,
Lab das abgeſchiedne Beiblatt
Und fei wieber, was bu warſt!
Zu den Tagen alten Glanzes
Kehre wieber unverteilt,
Sei nur Eines, ſei ein Ganzes,
Und auf ewig ungeteilt!
Eine Walküre, ein ewig junges Blumenmäbdhen, umgürtet mit bem ganzen
Stolz ihrer Jungfräulichkeit, fie wagt fich unter die Männer, Sie jchreitet, weiß
gekleidet in der Farbe der Unſchuld (ob fie das nötig hat?), mit ihren Kindern
Zwangloſe Rundichau. 381
Floras einher. Dem meinverflärten Auge ericheint fie in dem Kampfgewühl ala
ein „Mädchen aus ber Fremde“. — Aber jebt läßt der Kampf nad, der Speftafel
wird freilich noch immer größer, aber die Reihen lichten ſich ſchon bedenflih und
Rauchwolken fteigen auf aus ben in Aſche zerfallenden Havannas und Pfälzern.
Hier und dort ſchwankt ein Kollege, ber fich hinaus rettet an bie frifche Luft. Dann
wird's ftill, der Wirt zählt die Taufenbmarkficheine, 800 Teilnehmerfarten a 5 ME,
madt 4000 ME,, durchſchnittlich Mann 10 ME. Wein, madt 8000 ME. Wein,
in Summa 12000 ME, der Jahresumſatz bed Fleinen Sortimenterd, Aber unfer
Programm ift nod nicht zu Ende. Der Reſt des großen Tages wird von unter:
nehmungäluftigen Kollegen vortrefflih in dem meßvergnügten Pleißathen vertingel:
tangelt. Am näditen Morgen werben in Katerftimmung einige größere Etablifje-
ment unficher gemacht unb des Mittags geht“ man zur allgemeinen Kommittenden⸗
abfütterung beim Herrn Kommifftonär.
Das Eſſen tit dort natürlich beffer wie das am Gantatefonntag und ſchmeckt
relativ billiger, jo lange man nicht an Spefen und Meßgeichenfe denkt, auch ber
Wein iſt gut. Abends geht es in den Kryitallpalaft zum humoriftifchen Herren:
abend. Es war wirflich ein vorzügliches Programm, ich meine das papierne, das
man am Gingange des Saales erhielt, von Melly-München gezeichnet und von
Röder in Leipzig reproduziert.
Aber was darin jtand. Br! — Im vorigen Jahre hatte man Mitglieber bes
Stabdttheaterd gewonnen; dieſes Mal hatte man, dem fortichreitenden Zeitgeihmad
zu entiprechen, Klowns, männliche, weibliche und fähliche (Schweine 2c.) gewählt.
Ob das mun gerade ein Programm für Buchhändler war, die biefe „Spezialitäten“
bereitö an den Abenden vorher in ben übrigen „Tingeltangeln“ genoſſen hatten,
bleibt noch zu entſcheiden. Heiter genug war der Klimbim und bejonders lachten
wir Jünger bes folportierenden Merkurs, als von dem Podium herab das Wort
ertönte: „Jetzt hat die Schweinerei ihren Höhepunft erreicht.“*) Natürlich ahnte der
Dann, der auf der Bühne mit feinen Ejeln, Hunden und Schweinen arbeitete,
nicht, daß man feinen klaſſiſchen Ausdruck auch auf die Litteratur beziehen kann.
Die feurige Eonfuela Tortajada hat manchem Kollegen den Kopf verbreht und The
Sultans (Ableger der Barrifions) haben mit ihren Gancand, bei denen man nur
Beine und Beinchen ſah — eine dieſer Unholdinnen überichlug fi fogar mit gro=
Bem Effekt — manches buchhändlerifche Gemüt bewegt. Die intereilanten Stel-
lungen der Damen gaben entfhieden manchem Verleger Vorbilder für intereffante
Titelumfchläge fenfationeller Brofhüren. Auch hier läßt fich das obige Citat von
ben Höhepunfte anwenden. Das einzig buchhändleriihe an dem Abend war, daß
ein dicker Humorift nad einem Konzept ein Kouplet „O unfchuldiges Vergnügen“
fang und darin bie Buchhändler beleuchtet wurden, die bejonbers bie Fleinen dunk—
len Gafjen bevorzugen. Der alte Wit fommt jedes Jahr, man wartet jchon fürm:
lid darauf. Höher hat fich der Leipziger Buchhändler-Humor nicht verfteigen kön—
nen und man fonnte benterfen, wie entjeßlich peinlich e8 dem Amüfierungsfomitee
war, als programmmäßig eine dankbare Seele ſich erhob, bie in zündender Rebe
die Veranftalter des Abends durch ein „Hoch“ feierte, in das die dafür bezahlte
Kapelle programmmäßig einftimmte! Ja, das war peinlich, peinlich wie die ver-
renkten Beine der Tänzerinnen. Aber geladht hat man, und das mag ber Mehr:
zahl genügen.
Der Montag bot das alte Bild, Hie und da Flagte ein Verleger, hie unb ba
*) Berzeihen Sie das harte Wort!
382 Zwangloſe Rundſchau.
lachte ſich einer ins Fäuſtchen. Daß dieſer oder jener wieder einmal pünktlich die
Zahlungsliſte, aber — o Ironie — kein Geld geſchickt hatte, wurde auch konſtatiert.
Im Übrigen ift die bedeutungsvolle Zeit nun wieder ohne ſonderliche Bedeutung
vorbeigegangen.“ Soweit mein Berichteritatter.
Der Buchhändlerverband „Kreis Norden“ war mit dem Vörſenblatt in offene
Fehde getreten. Hinüber und herüber flogen bie geiſtigen Geſchoſſe in Form von
angreifenden und abmwehrenden Artikeln und warum? Das „Börjenblatt” hatte
einen jo großen Überfluß an interejlanten, alle Kollegen erjreuende und belehrende
Artikel, daß es nicht imſtande war, einen fürzeren Aufſatz, an deſſen Abdrud ver:
jchiedenen Kollegen gelegen war unb ber bereits von anderen buchbändlerischen
Blättern als drudfähig erachtet und veröffentlicht war, noch in jeinen Spalten
unterzubringen. Daran ſchloß fich aljo eine Polemik und in der legten Ausein—
anderjegung befommen nun auch die armen „Nachrichten“ noch ein Geleitäwort:
„Armes Kind, Homunculus aus der NRetorte an der PBlatoftraße, aljo jo lange
follft du noch galvanisch behandelt twerden, um dir den Schein von Leben zu geben,
das du doch nie beieffen haft? Doch wenn bie Qual endlich ausgerungen jein
wird, wenn bie Begräbnidgloden läuten, bann werben wir mitfühlend ausrufen:
„Srnft begleiten ihre Trauerjchläge
Einen Wanderer auf dem lekten Wege,
Ah die Nachrichten, die teuern —
Sa, teuer find fie allerding3 geweien! Beinahe 14000 ME. nur für Lange:
weile — dafür hätte man in ber That etwas Befleres haben können! Doc, was
macht's, wir haben es ja dazu. Verdient doch der reiche Börjenverein jährlich allein
etwa 1500 ME. an dem Bogen „Angebotene Stellen“. Den armen Teufeln von
Gehilfen, welche ftellenlos find oder ftellenlos werden, brauchen wir ja nur etwas
mehr abzunehmen, fo daß jtatt der ca. 100 pCt., die der Poſten jetzt einbringt,
fünftig es 200 pCt. find, dann wird ber Verluft bald eingebradt fein.“
Die Leute „von de Waterfant” können wirklich unangenehm werden. Den
„armen Teufeln“, die Bezeichnung gefällt mir, ift man nun großmütig entgegen
gefommen. Zehn Pfennig foftet die Zeile im „Stellengeſuch“, und auch das Teil:
abonnement ift billiger geworden. Wir find aljo auf dem beiten Wege vernünfti:
ger Reformen und des wollen wir und von Herzen freuen. Noch etwas anderes
Grfreuliches können wir berichten:
Der Bau eines Buchgewerbehauſes ift in ber unter Vorſitz des Herrn
Dr, v. Hafe abgehaltenen achten ordentlichen Generalverfjammlung des Zentralver:
eins für das gefamte Buchgewerbe einftimmig beichlojien. Schon in der Haupt:
verjammlung vom 29. Oktober 1894 fand dieſes Unternehmen im Prinzip die voll:
ftändige Zuftimmung ber Mitglieder, jebt, nachdem der Vorſtand des Zentralver:
eins fich eingehend mit der Durdführung diefes Planes beichäftigt und der Ber:
einsjefretär, Herr Generaltonful Carl B. Lord in einer ausführliden Denkſchrift,
in welcher auch Herr Architekt Hans Euger die architektonische Löſung der Bau-
frage behandelte, die Verwirflihung diejes Gedankens als volltommen ausführbar
bezeichnete, hat das Projeft nunmehr nach den Beichlüffen der Generalverfammlung
eine greifbare Geftalt angenommen. In erjter Linie joll das neue Buchgeiverbe:
haus idealeren Zwecken dienen, es foll dem deutſchen Buchgewerbemufeum und ber
Sahresausftellung ein angemefjenes, feites Heim bieten. Aber nicht allein wird bei
bem Bau des Buchgewerbehaufes der dem Zentralverein ans Herz gewachſenen
idealeren Intereſſen: Buchgewerbemufeum, Jahresausftellung, gelegentliche Ausſtel⸗
lungen für befondere Zwecke, Leſe- und Zeichenzimmer, Vorträge u, dgl. in aus:
Zwangloſe Rundihau. 383
giebigiter Weife gedacht werben müſſen, fondern auch die materiellen Intereſſen
werben im Buchgewerbehauje vertreten fein, durch eine permanente Ausftellung von
buchgewerblihen Mafchinen und Fabrifaten aller der buchgemwerblichen Gefchäfte
und Kunftanftalten, deren Aufgabe es ift, ein Druckwerk zu erzeugen, möge dies
nun ein Buch, eine Zeitung, eine Accidenz aus ber zahllojen Dannigfaltigfeit jol-
cher, eine Landkarte, ein Kunftblatt, in einem der vielen Verfahren, die heute zur
Verwendung fommen oder fortwährend entitehen, fein. Hier ſollen fowohl bie gro:
Ben deutjchen, in Leipzig domizilierten, als die engeren ſtädtiſchen buchgewerblichen
Genoſſenſchaften der Buchdrucker, Schriftgieher, Buchbinder, Bapierfabrifanten mit
ihren VBerlammlungsräumen und Bureaus, ihren Sit haben. Man ftellt ſich den
ganzen Kompler des Buchhändlerhaufes und des Buchgewerbehaufes als ein mäch—
tiges Gildenhaus der ſämtlichen Buchgewerbe vor.
Zulegt genannt, aber Allem voranftehend, muß die Gutenbergähalle des Buch:
gewerbehaufes das Monument in fich fallen, das am Gutenbergäfefte in Leipzig
am 24. Juni 18% bejchlojjen und bereits dur eine nationale Pfennig-Subffrip-
tion in erfolgreicher Weiſe ins Leben gerufen ſei. Diejes wird bier in einer buch—
händleriſchen Ehrenhalle, inmitten der herrlichiten Erzeugniſſe ber buchgeiverblichen
Künſte aller Völker und Zeiten, auf das fruchtbringendite wirken und einen ſtrah—
lenden Ebeljtein bilden, von dem hoffentlich für Jahrhunderte helles Licht und be-
lebende Wärme ausftrömt.
Für den Bau der Buchgewerbehalle, die in eine innere und äußere Verbindung
mit dem Buchhändlerhaufe des Börfenvereins der deutſchen Buchhändler gebracht
werben wird, dürften ungefähr 800000 DE. aufzubringen jein gegen Abgabe einer
Hupothef bis 450000 DIE. und gegen Ausgabe von Iprozentigen Anteilicheinen bis
zum Betrage von 350000 Mf, Bon biefen Anteilicheinen ift bereitö in einer Woche
ohne nennenswerte Anregung die ftattlihe Summe von 215000 ME. von 23 Xeip-
iger buchhändlerifchen Firmen gezeichnet worden. Einem in der nächſten außer:
ordentlihen Hauptverfammlung zu wäbhlenden, aus zehn Mitgliedern bejtehenden
Bauausſchuß wird die weitere Durchführung des Planes übertragen werben.
X.
2
Heue Büder.
Das Mufeum. Anleitung zum Genuß der Werfe bildenber Kunft. Her:
ausgegeben unter Mitwirkung von Wilhelm Bode, Reinhard Rekule v. Strabonik,
MWoldemar dv. Seiblik und anderen Fahmännern. Berlag von W. Spemann in
Berlin und Stuttgart. In Lieferungen & 1 M. (Jährlich ca. WO Lieferungen.)
Wenn ein berartiges Unternehmen ins Leben gerufen wird, dann heiten ſich
daran immer glei eine Reihe Hoffnumgen; der Autor hofft, daß ihm fein Werf
jo gelinge, daß er Ehre damit einlegt, deögleichen der Verleger, der Sortimenter
hofft auch ein Feines Geihäft damit zu machen und das Publifum hofft, daß bie
folgenden Hefte das Probeheft womöglich übertreffen. Alle diefe Hoffmungen haben
fih zum Teil ſchon erfüllt oder werben fich ficher erfüllen, Der Berleger, von
dem man nur treffliche Leiftungen gewohnt ift, hat mit diefem Unternehmen nidt
nur eine gute buchhändleriiche Idee verwirklicht, fondern es erfüllt auch eine ful-
turelle Aufgabe, indem es die Kunſtſchätze der Welt im beiten Sinne popularifiert.
Wir haben an diefen Werken noch feinen Überfluß und der Sortimenter hat hier
Gelegenheit, ein Werk thatfräftig durch Vertrieb zu unterftügen, das ſich aud in
feinem Intereſſe als ein danfbares erweiien wird. Auf den reichen Inhalt der
einzelnen Blätter fonımen wir gelegentlich des Erfcheinens der jpäteren Hefte zurüd,
wir wollen heute nur fonjtatieren, daß die Reproduftionen vorzüglich, zumeilen
muftergiltig find, FE.
Mafgeber für Sehülerbüchereien. Gin Verzeichnis geeigneter Jugend:
ihriften, herausgegeben von den Lehrlörpern der Volks- und Bürgerichulen in
Leipa. Verlag von Joſ. Hamann in Leipa in B. Preis 70 Pf. 40 Kr. öſtr. W.
Es mag nicht leicht fein, aus der Fülle des Gebotenen auf ben jo beichränften
Raum eine pafiende Auswahl zufammen zu ftellen, aber weshalb erweiterte man
das Feld nicht ein wenig, für einen guten Ratgeber zahlt man gerne etwas mehr.
In der geſteckten Grenze ift die Auswahl allerdings ganz treffend, wenn man be:
fonders öjterreichiiche Verhältniſſe mit in Berüdfichtigung zieht, und jo wird es
immerhin manden einen Dienft ermweifen. Hoffen wir, daß bei einer Neuauflage
die fleikigen Herausgeber uns noch etwas Vollkommeneres bieten. T.
>
Die Büderliebhaberei
(Bibliopbilie — Bibliomanie)
am Ende des 19. Jabrbunderfs.
Bon Otte Mühlbrecht.
Anter dem obigen Titel ift unlängst im Verlage von Puttkammer
& Mühlbrecht in Berlin ein Buch erjchienen, das nicht nur das Inter—
eſſe des gejamten litterarischen und gebildeten Publikums zu erwecken ge-
eignet ift, jondern das auch für den im Berufe ftehenden Buchhändler
in mehr als einer Hinficht von hervorragender Bedeutung ift.
Der Berfaffer hat fi) die Aufgabe geftellt, die Aufmerffamfeit der
Bücherfreunde darauf hinzulenfen, in welcher Weife die Bücherliebhaberei
im Auslande, namentlich in England und Frankreich, betrieben wird und
zu einer ähnlichen Pflege derjelben auch bei uns eine Anregung zu geben.
Denn e3 fehlt in Deutjchland keineswegs an reichen Leuten, die ſich
den Zurus der Bücherliebhaberei jehr wohl gejtatten fünnen, dagegen
fehlt es vollitändig an Vereinigungen, welche fich die Förderung diejer
Liebhaberei planmäßig zur Aufgabe machen müfjen, ſoll diejelbe fich ge-
deihlich entwideln. Es beitehen ja auch bei uns Vereine von Bücher—
freunden, aber dieſe verfolgen ganz andere Zwede, als die Bibliophilen-
Klubs in England und Frankreich, fie beichäftigen fi) nur mit der mo-
dernen Litteratur. Und doch verdient auch die ältere Litteratur in dem
Lande Gutenberg’3 eine größere Pflege, als ihr gegenwärtig zu teil wird.
Durch liebenswürdiges Entgegentommen des Herrn Berfajjerd, wo—
für wir auch an diefer Stelle unfern Dank abitatten, find wir in Der
Lage, unferen Lejern zwei bejonders interefjante Kapitel vorzuführen, die
wir nachftehend folgen lafjen. Wir verfehlen nicht, auf das Geſamtwerk
empfehlend hinzuweiſen mit dem Bemerfen, daß unfere anerfennende Kri-
tif, die wir dem Werke angebeihen laffen müfjen, in der Aufnahme die-
ier Kapitel begründet ift.
25
386 Die Bücherliebhaberet ıc.
1. Geſchichtliche Grundlagen.
Der Rahmen diejer Abhandlung erfordert eine Beſchränkung auf die
Erzeugniffe der Buchdruckerkunſt, ausgefchloffen ift demnach das Bücher-
wejen des Altertums wie des Mittelalters, wie entwidelt auch zu jenen
Beiten das Handjchriftenweien bereit? war. Dagegen läßt ſich die Er-
wähnung ber Holztafeldrude, der Xylographa, als der unmittelbaren
Borläufer der Typographie nicht umgehen. In der erften Hälfte des
fünfzehnten Jahrhunderts war es ſchon vielfach gebräuchlich, Holzplatten
in der Größe der Bücher derartig mit dem Mefjer oder Stichel zu be-
arbeiten, daß man entweder die Zeichnungen oder den Zert tief eingrub,
oder die Drudlinien erhaben ftehen ließ und deren Umgebung hinweg—
ſtach. Als früheftes mit Jahreszahl verfehenes Zeugnis folcher Holztafel-
drude kennt man einen großen Ehriftoph (eine bildliche Darftellung des
heiligen Chriftoph, welcher das Jeſuskind auf der Schulter durch das
Meer trägt, darunter eine auf das Bild bezügliche Injchrift mit Jahres-
zahl) vom Jahre 1423, welchen der berühmte Kunfthiftorifer v. Heineden
in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der Bibliothek der ehemaligen
Karthaufe Burheim bei Memmingen, auf die Innenjeite der hinteren
Dede einer Handichrift vom Jahre 1417 (Laus Virginis) geflebt aufge-
funden Hat. Ob diefe Drude mit Hilfe einer Prefje erzeugt oder ver-
mittelft eines Reibers hergeftellt waren, hat ſich mit Gewißheit nicht feft-
jtellen lafjen. Bon den Büchern, welche ala Holztafeldrude ohne Abbil-
dungen gebrudt worden, find die befannteften die jogenannten „Donate“,
die damals beliebteften Schulbücher, ein kurzer Auszug in Fibelform aus
der Sprachlehre des römijchen Grammatikers Aelius Donatus. Auf
einen jolchen Donatus bat man in Holland lange den Anſpruch auf die
Priorität der Erfindung der Buchdruderfunft gegründet, indem man be-
hauptete, Eofter in Haarlem habe lange vor Gutenberg einen Donatus
mit beweglichen Lettern gedrudt, Doch ift nirgends erwieſen, daß ber
Drud diefer an vielen Orten gebräuchlihen Donate längere Zeit jchon
vor Gutenberg ftattgefunden habe, während feitfteht, daß man fich ber
Holztafeln noch lange nach Erfindung ber beweglichen Typen bediente.
Man ſcheint fogar von typographifch Hergeftellten Donaten Überdrude auf
Holz gemadt und die Platten dann nad) diejen gejchnitten zu haben,
ähnlich unjerem heutigen Stereotyp-Berfahren, was ſchon damals den
Drudern mande Vorteile gewährte. Die meift einjeitigen Blätter
der Holztafeldrude pflegte man mit den leeren Seiten aneinander zu
Heben, doch eriftieren auch aus ber Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
doppeljeitige Tafeldrucke. Nachweislich kommen Xylographa bis 1475,
1482, ja jogar noch 1504 vor. In jener Zeit, wo ber Buchdruder auch
jein eigener Schriftgießer fein mußte, und es dem Formfchneider wohl⸗
Die Bücherliebhaberet ıc. 387
feiler zu ftehen kam, ein einzelnes Kleines Buch in Holztafeln anzuferti-
gen, als fich deshalb eine Buchdrucker-Werkſtatt anzujchaffen, darf eine
jo jpäte Anwendung des Holzdruds auf Schrift nicht befremden. Fal-
fenjtein giebt in jeiner vortrefflihen „Geſchichte der Buchdruckerkunſt“
eine genaue Beichreibung von 30 der bervorragenditen Holztafeldrude,
begleitet von Fakjimile-Abdrüden der Abbildungen, welche den Werfen
beigefügt find. Es ergiebt ſich daraus nicht nur die hohe Bedeutung
diefer Werke für die damalige Zeit, fondern auch die hochentwidelte Tech-
nit dieſes Drud-Verfahrens, das ja eigentlich mit ziwingender Konjequenz
auf das Druden mit beweglichen Lettern Hinführen mußte. Der Ruhm,
den lebten entjcheidenden Schritt zu dieſem Verfahren gethan zu haben,
gebührt Gutenberg. Doch iſt ihm diefer Schritt nicht leicht geworden,
und er hat das 203 jo vieler Erfinder teilen müfjen, felbft von der Er-
findung wenig Nutzen gezogen und wenig Freude daran gehabt zu haben.
Sohannes Gutenberg, der Erfinder der YBuchdruderkunft, ftammt
aus dem Gejchlecht der Mainzer PBatrizierfamilie Gensfleifch, die fich bis
Ende des Ddreizehnten Jahrhunderts zurücdverfolgen läßt. Man nimmt
an, daß er 1400 (nad) Anderen 1398) in Mainz geboren wurde. Bon
feiner Jugend weiß man nicht. 1420 war er infolge eines in der Stadt
ausgebrochenen Aufjtandes gezwungen zu fliehen. Wo er die folgenden
vierzehn Jahre zugebracht, ijt nicht befannt, jein Name taucht zuerft wie-
der 1434 in Straßburg auf, wo er ſich nachweislich zwei Jahre darauf
mit dem Schneiden von Edeljteinen und dem Schleifen von Spiegeln be-
ſchäftigte. Im Jahre 1436 ſchloß er mit Johann Riffe einen Vertrag
zum Betriebe einer „geheimen Kunft“, in welche Gejellihaft dann noch
Andreas Drigehn und Anton Heilmann aufgenommen wurden.
Dieje geheime Kunjt war die Buchdruderkunft, wie ich bald ergab. Denn
als nad) Dritehn’s Tode im Jahre 1438 die Gefellihaft aufgelöft wurde,
verlangten dejjen Brüder Georg und Claus von Gutenberg, daß er fie
entweder als Gefellichafter aufnehmen oder ihnen eine Abſtandsſumme
von 100 Gulden zahlen jolle. Es kam zum Prozeß, im Verlauf deſſen
eine Menge von Zeugen vernommen wurde, der damit endigte, Daß Gu—
tenberg den Erben Drigehn’8 15 Gulden herauszahlen mußte. Bei die-
jen Zeugenvernehmungen finden die Kunft des Buchdruds mit beweglichen
Lettern und die Ausdrüde „Preſſen“, „Formen“ und „Drude” zuerft
und wiederholte Erwähnung. Dieſer wichtige Umjtand war bis 1745
unbefannt geblieben, in welchem Jahre Wenkler und Schöpflin in dem
alten „Pfennigturm” in Straßburg die Prozeßakten entdedten. Der Text
diefer Alten ift von Schöpflin in feinem Werfe „Vindiciae typographicae“
veröffentlicht. Diefer wichtige Tert ift dann von Allen, die ſich jpäterhin
mit der Geſchichte der Erfindung der Buchdruckerkunſt beichäftigt haben,
25*
388 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
in der willfürlichften Weiſe interpretiert, je nachdem die Betreffenden für
oder gegen Gutenberg Partei nehmen wollten. Gutenberg blieb noch
einige Jahre in Straßburg und fehrte 1445 oder 1446 nad) Mainz zu-
rüd, wo er ſchon 1443 ein Haus „Zum Jungen“ gemietet hatte, um dort
jeine Preſſen aufzuftellen. Die von ihm bis dahin angeftellten Berfuche
hatten viel Geld gefoftet und ihn mit verfchiedenen Mitarbeitern zufam-
mengeführt, jo auch mit Brocop Waldvoghel, der um's Jahr 1444
in Avignon Verſuche mit der von Gutenberg abgejehenen Kunft anftellte.
Gutenberg’ Vermögen war, als er nad) Mainz kam, wieder einmal er-
ſchöpft, und er jah ſich dadurch gezwungen, 1450 mit dein reichen Main-
zer Johann Fuft einen Vertrag zu jchließen, deffen Tert uns ebenfalls
erhalten geblieben ift. Fuſt ftredte Gutenberg die Summe von 800
Gulden vor zur Beihaffung der für die Druderei nötigen Utenfilien und
Inftrumente, und weitere 300 Gulden zur Dedung der Unfoften wie
Gehalt, Miete, Heizung, Papier, Tinte ꝛc.
Man war übereingefommen, daß bei Auflöjung der Gejellichaft Gu-
tenberg an Fuft 800 Gulden zurüdzahlen ſollte. Anfänglich jcheinen fich
die Beiden auf das Druden mit Holzplatten bejchränft zu haben, erft
1452 oder 1453 gingen fie zum Druden im größeren Maßftabe mit be-
weglihen Lettern über, wobei dann ihr Gehilfe Peter Schöffer bebei-
tende Berbefferungen im Schnitt der Buchftaben vornahm. Um dieje
Zeit, man nimmt das Jahr 1455 an, erjchien das erfte ung befannt ge-
wordene, leider undatierte Erzeugnis von Gutenberg’3 Druderprefje, die
jogenannte 42zeilige Bibel, der bald darauf eine 36zeilige folgte. Auch
bier in Mainz geriet Gutenberg im Jahre 1455 in Prozeß mit jeinem
Mitarbeiter Fuft, er verlor den Prozeß und damit fein ganzes Drud-
material, das in Fuſt's Händen blieb. Diejer verband ſich darauf mit
dem fehr tüchtigen Peter Schöffer, und dieſe beiden drudten dann ge-
meinschaftlih mit Gutenberg's Materialien und Preſſen das berühmte
„Pſalterium“ vom Jahre 1457, das erſte Drudwerf der Welt, welches
jowohl dur die Namhaftmahung des Druders und des Drudortes, wie
dur) die Bezeichnung des Jahres und des Tages jeiner Erjcheinung nicht
nur eine vollftändige Datierung, jondern auch die früheften eingebrudten
Snitialen enthält, und an Schönheit derjelben nur von wenigen typo—
graphiichen Erzeugniffen unferer Tage übertroffen wird. Diejes foftbare
Dokument ift nicht ſowohl ein eigentlicher Pjalter, als vielmehr ein Bre-
viarium, und enthält weder eine vollftändige Sammlung der Pſalmen,
noch dieje in ihrer gewöhnlichen Ordnung, jondern mit Antiphonien, Re-
Iponforien, Kollekten u. j. w. vermiſcht und nach der Folge der Sonn—
und Feſttage, an welchen fie im Chore abgefungen wurden. Die Schic-
jale diefer Hier genannten Gutenberg-Bibel, ſowie des Pjalteriums wer-
Die Bücherliebhaberei ıc. 389
den und weiterhin noch mehrfach beichäftigen, es jei hier nur ihrer Ent-
ſtehungsgeſchichte gedacht.
Fünf Jahre jpäter, am 14. Auguft 1462, vollendeten Fuft und
Schöffer den Drud der erften vollftändig datierten Bibel, zwei Bände in
Großfolio, welche wegen dieſes Umftandes, mehr aber noc wegen ihrer
inneren typographiichen Schönheit unter allen gedrudten Bibeln den höch—
ften Rang einnimmt. Kurz nad) Vollendung diejes Prachtwerkes, in der
Nacht vom 27. auf den 28. Dftober 1462, wurde die Stadt Mainz durch
Adolph von Najjau, der mit dem Erzbiſchof Diether von Iſenburg
in Fehde Tag, erobert, geplündert und in Brand geitedt, wobei auch die
Offizin zerftört ward. Die zahlreichen Gehilfen derjelben zerftreuten fich
nach allen Seiten, und trugen fo, obgleich fie eidlich zur Geheimhaltung
des Kunftgeheimmifjes verpflichtet waren, die Kunft des Buchdrucks in
nahe und ferne Länder. Fuſt und Schöffer ſetzten ihrerſeits die Druderei
nad der SKataftrophe fort, nach Fuſt's Tode im Jahre 1466 drudte
Scöffer allein mit großem Erfolge weiter, namentlich theologische und
fanoniftiiche Werke, auch die Sachſenchronik (1492) und Breydenbach's
Reijen (1486), bis zu feinem 1503 erfolgten Tode; fein Sohn hat dann
das Geſchäft noch bis 1531 fortgeführt. Das Druderzeichen der Offizin,
das älteſte befannt gewordene, find zwei durch eine Schlinge mit einander
verbundene an einem Aſt hängende Schilde. Gutenberg’3 Thätigfeit war
nie von eigenen Erfolgen begleitet, der finanzielle Ruin war wiederholt
der Lohn jeiner Arbeiten, es läßt fich deshalb auch nicht feftitellen, was
er jelbit und allein geleiftet hat. Nach feinem Prozeſſe mit Fuft verließ
er Mainz und fiedelte nah Eltville an den erzbifchöflichen Hof über, two
er in der Zeit vom 4. November 1467 bis zum 24. Februar 1468 ge-
ftorben jein muß. Beſtimmtes über feine legten Lebensjahre, fowie über
feinen Tod ift nicht befannt geworden, der große Erfinder ftarb arm und
finderlos,
Er Hat fich jelbft nie als den Erfinder der Buchdruderfunft bezeich-
net, jeine Zeitgenofjen aber erwiefen ihm einftimmig diefe Ehre, und
während des fünfzehnten Jahrhunderts ift dieſelbe niemals bejtritten.
Erſt im fechzehnten Jahrhundert, als die Bedeutung der Buchdruckerkunſt
mehr und mehr erfannt wurde, fanden fich Städte, die für ſich die Pri—
orität der Erfindung reflamierten, jo Straßburg für Mentel, Bamberg
für Bfifter, Mainz für Fuft und Schöffer, Caftaldi für Feltre, und in
der zweiten Hälfte des jechzehnten Jahrhunderts Haarlem für Eofter.
Ale diefe Anfprüche werden aber heute nicht mehr ernjt genommen, fie
find zurüdzuführen auf die Menge von Mitarbeitern und Gehilfen,
bie Gutenberg hatte, und die als feine Jünger die Verbreitung feiner
Kunft ſich angelegen fein ließen. Am zäheften hat Holland für Coſter
390 Die Bücherliebhaberei ıc.
gekämpft, nachdem aber van der Linde vor einigen Jahrzehnten in fei-
nem Werfe „De Coſterlegende“ nachgewiejen hat, daß der vielgenannte
angebliche holländiſche Erfinder Coſter thatfächlich niemals gelebt hat,
feitdem Hat man zwar das ihm in Haarlem errichtete Denkmal nicht be-
jeitigt, aber fi) doch darein ergeben, daß Holland auf den Ruhm dieſer
Erfindung feinen Anſpruch mehr erheben fann.
Bon hervorragenditer Bedeutung unter ben älteften Erzeugniffen der
Buhdruderkunft find die Aldinen; fo nennt man die Drude aus den
Dffizinen der venetianischen Druderfamilie Manutius (auch Manuzzi,
Mannucci, Manucci), Der Begründer derjelben, Aldus M., errichtete
1494 die erjte Druderei in Venedig, er ift der Begründer des Ruhms
jeines Gejchlechtes und nad ihm werben feine Werke Aldinen genannt;
fie find durch inneren Wert wie äußere Ausftattung gleichmäßig ausge—
zeichnet; man zählt unter ihnen 28 erfte Ausgaben (editiones principes)
griechiicher und römischer Klaſſiker, Hervorragend durch zuverläffige Kor-
reftheit de3 Druds, und in der Geſchichte der Buchdruckerkunſt epoche-
machend durch die eigenartigen Typen, die Aldus dafür erfand.
Das Hohe Anfehen, defien fich die Aldiner Ausgaben von jeher er-
freut haben, beruht, was ihnen zur bejonderen Ehre gereicht, mehr auf
den reellen inneren Vorzügen, als auf den vorhandenen äußeren Schön:
heiten. Denn bei aller Originalität der Typen, einer dünnen Kurfiv-
Ihrift, die von den Aldinen mit Vorliebe jowohl fiir die lateinischen, wie
die italienischen Tertausgaben verwendet wurde, haben dieſe doch für das
Auge wenig Angenehmes, fie jtehen in ihrer Erſcheinung z. B. den jpä-
teren franzöſiſchen Drucken nach. Aber die im Äußeren ſo beſcheidenen
Bücher haben hohen Wert durch den korrekten Druck und das zur Ver—
wendung gelangte vorzügliche Papier, und Die Bergamentdrude find ge»
radezu unübertrefflich ſchön. Insbeſondere find es die griechiichen Aus—
gaben, welche den Ruhm der Manutius’ unvergänglich machen und na-
mentlich des Älteren, Aldus, der felbft ein unermüdlicher Gelehrter und
Beförberer der Studien der griechiſchen Litteratur war. Es find jedoch
dieſe griechijchen editiones principes, obgleich fie von den Gelehrten ftets
jehr gejucht und in den Bibliotheken forgfältig gehütet waren, meiftenteils
nicht jo jelten, wie viele lateinifche Ausgaben der Aldiner Preſſen. Diefe
Ausgaben, z. B. der Virgil von 1501 und der von 1505, wie der Horaz
von 1501 waren damals zum Gebraud für die ftudierende Jugend be-
ftimmt, wurden ftark fonjumiert und find infolgedeſſen beinahe ganz ver-
Ihwunden. Bon den griehischen Ausgaben verdienen eigentlich nur noch
die Gallomyomachia und die Scholien des Nicander, nebft dem Diogco-
ride8 von 1499 die Bezeichnung „jehr felten“. Selten find von den
Aldinen auch noch eine Anzahl von Werken und Flugichriften von unter
Die Bücherliebhaberei :c. 391
georbnetem Intereſſe, welche während eines Jahrhundert? aus den Prefjen
der Manutius’ nad) und nach hervorgegangen find, ohne wirklichen inne-
ren Wert und deshalb würdig, eigentlich nur der Vergefienheit anheim
zu fallen. Uber fie behaupten fich trogbem als wertvoll, weil fie eben
zur Bollftändigkeit jeder Manutius-Sammlung unentbehrlich find. Die
DOffizin blieb über 100 Jahre im Befit der Familie, nach) dem Tode des
vierten Inhabers derjelben ging fie im Jahre 1597 ein. Das Druder-
zeihen der Manutius’ war ein Anker, um ben fich ein Delphin Ichlingt.
Die Beliebtheit, deren fich die Aldiner Ausgaben vom erjten Erjcheinen
an erfreuten, hatte den Übelftand zur Folge, daß ſchon im Anfange des
ſechszehnten Jahrhunderts ſchlechte Nachdrucke davon durch die Giunta’s
veranftaltet wurden.
Die Giunta (auch Junta, Giunti, Zonta) waren gleichfall3 eine
berühmte alte Buchdruderfamilie, welche für Florenz dasjenige waren, was
die Manutius’ für Venedig. Sie ftammte nicht, wie man behauptet hat,
aus Lyon, jondern aus Florenz, und begründete anfänglich zu Venedig
und Florenz, jpäter zu Lyon, endlich zu Burgos, Salamanca und Ma-
drid ſowohl Buchhandlungen als Drudwerkftätten. Der erſte, Lucan-
tonio ©., fiedelte 1480 von Florenz nad) Venedig über, gründete dort
eine Buchhandlung und verband damit 1510 eine Buchdruderei. Die
Thätigkeit feiner Nachlommen in Venedig läßt ſich durch mehrere Ge—
ichlechter bis 1657 verfolgen. Der bedeutendfte der G. war Filippo (geb.
1450, geit. 1517), der in jeiner Offizin in Florenz den Ruhm der ©.
zu höchſter Blüte führte, er war es allerdings auch, der die Aldiner Aus-
gaben nachdruckte. Sein erfter datierter Drud erjchien 1497, die „Epi-
tome proverbiorum“ des Zenobius, ferner zeichnete er fich durch die Her-
ausgabe griechischer, lateiniſcher und italienischer Klaſſiker aus, alle mit
ihönen Typen gedrudt, meift im Oktav-Format. Die Florentiner Offi—
zin beitand bis etwa 1623. Die Thätigfeit der weitverzweigten Familie
in den oben genannten Orten erftredt fi) bis in das Ende des fiebzehn-
ten Jahrhunderts. Das Druderzeichen der Giunta ift eine von zwei
flügellojen Engeln getragene heraldiiche Lilie, deren drei Blätter von vier
natürlichen Lilienftengeln eingefaßt find; die Drude der Venetianer Linie
tragen außerdem meiftens die Yuchftaben L. A. (Zucantonio).
Ich wende mich nun einer Druderfamilie zu, deren Preßerzeugnifie
durch ihre fchöne typographiiche Ausführung eine beinahe populäre Be—
rühmtheit erlangt haben, einem Gejchlecht, defjen Name auch bei Laien
einen guten Klang hat, dem der Elzevier (auch Elfevier, Elzevirius).
Dieje berühmte holländifche Buchhändler- und Buchdruderfamilie ift von
1592, zuerft in Leyden (bis 1712), dann in Amſterdam bis 1681 thätig
geweien. Der Stammvater der Familie, Ludwig E. (geb. 1540, geſt.
392 Die Bücherliebhaberei :c.
1617) war Buchhändler und zugleich Pedell bei der Umiverfität in Ley-
den, fein Name als Druder fommt zuerjt im Jahre 1592 auf einer von
PB. Merula bejorgten Ausgabe des Eutropius vor. Er hinterließ zwei
Söhne, Matthys und Agidius. Jener erjcheint als Buchdruder, als Nach—
folger des Vaters in Leyden, diefer betrieb im Haag einen Buchhandel.
Die vier Söhne des Matthys, durch welche der berühmte Name diejer
Familie gefeftigt ift, waren: Iſaak, Abraham, Bonaventura und Jakob.
Das Druderzeihen des alten Ludwig war zuerft ein Engel mit einem
Bud) in der einen und einer Fadel in der anderen Hand, fpäter ein Adler
auf einer Säule, ein Bündel von 7 Pfeilen in den Klauen haltend, mit
der Devije „concordia res parvae crescunt“, die Devije der holländiichen
Republik. Den Ruhm des Gejchlecht3 begründete Iſaak E., der von 1617
bis 1628 als Druder in Leyden thätig war; er führte als Druderzeichen
eine Ulme, welche von einem Rebſtock voller Trauben umjchlungen wird,
mit einem Einfiedler und den Worten „non solus“, welches Zeichen auch
jeine Nachfolger führten. Die Handlichkeit und Billigkeit der gleichmäßig
gut ausgeftatteten Durodez- Ausgaben machten die Elzevier-Drude von vorn—
herein jehr beliebt. Können die Ausgaben auch dem Borwurfe der In—
forreftheit nicht entgehen, jo jtehen fie doch an Eleganz der Typen,
Schönheit des Papiers und Anordnung des Sabes, wenn man die grie-
chiſchen und hebräiichen Drude des Stephanus in Paris ausnimmt, feinen
Büchern nad, die zu gleicher Zeit und zu gleichem Zwede in anderen
Ländern erjchienen find.
Man jchätt heute noch befonders die Sammlung der Kleinen Repu—
blifen („res publicae“), d. h. ſtatiſtiſche Nachrichten über verjchiedene ein-
zelne Länder, eine Kollektion, für welche die Elzevierd am 15. Mai 1626
von den Generaljtaaten von Holland ein Privilegium erhielten; dann Die
Yateinifchen Klaſſiker und auch Ausgaben moderner Schriftiteller der da-
maligen Zeit. Jeder Band der Duodez-Ausgaben von etwa 500 Seiten
foftete bei Ericheinen einen holländiichen Gulden, Die jchönften Erzeug-
niffe der Leydener Preſſen waren die 1634 bis 1636 erjchienenen Aus-
gaben des Livius, Tacitus, PBlinius, Cäjar und Birgil: der Ausgabe des
lebteren von 1636 wird allerdings der Vorwurf großer Inkorreftheit ge-
madt. Da die Elzeviere Univerjitätsbuchdruder waren und als jolche
eine anfehnliche jährliche Unterftügung bezogen, jo nahmen fie Rüdficht
auf die Leydener Orthodoren, und ließen nicht wenige ihrer Drudwerfe,
die bei der Geiftlichfeit hätten Anſtoß erregen können, unter faljcher Firma
ericheinen. Das hat die Elzevier-Ausgaben zum Gegenſtande gründlichiter
Forihungen und Unterfuchungen verjhiedener Gelehrten gemacht, doch find
dieſe vertwidelten Fragen wohl noch immer nicht völlig gelöft.
Denn wie die Elzeviere einerſeits Verlagsartifel in Brüffel, Lüttich
Die Bücherliebhaberet ꝛc. 393
und Amſterdam heritellen Tießen, die als Drudorte und Verleger Namen
trugen, die niemals eriftiert haben, jo waren die Elzeviere andererjeits
mit ihrer Firma gern bereit, die Baterfchaft von in anderen Städten her-
geitellten Büchern zu verjchleiern, deren Druder oder Verleger ſich ans
Gründen mancherlei Art nicht offen dazu befennen mochten. Daher ift
e3 nicht immer leicht, einen echten Elzevier von einem unechten zu unter-
jcheiden, wennjchon das vortreffliche Werk von A. Willems*) große Klar-
heit über die verjchiedenen Ausgaben gebradjt hat. Es feien hier nod)
die Meilterwerfe aus der Amfterdamer Zeit erwähnt, daS „corpus juris
eivilis“ in Folio, 2 Bände, 1663, und die franzöfiiche Bibel in Folio,
2 Bände, 1669. Das Druderzeichen aus dem Ende diefer Zeit war ein
Dlbaum, unter dem links eine Eule, rechts Minerva fteht, mit der Ägis
in der einen und einem Buche in der anderen Hand, die Devije lautet:
„ne extra oleas“. Die Zahl der Elzevier-Ausgaben beläuft ſich auf reich-
lih 2000. In den legten 50 Jahren ift der Wert der Elzeviere nicht
im gleihen Verhältnis gejtiegen, wie dies bei Werfen anderer Art der
all gewejen. Wenn indefjen einmal der feltene Fall eintritt, daß ein
unzweifelhaft echter Elzevier uneingebunden und gar völlig unbejchnitten
irgendwo zum Borjchein kommt, jo verbreitet fich eine Aufregung unter
den Bibliophilen und es tritt jofort eine fcharfe Konkurrenz, und in deren
Folge erhebliche Preisjteigerung des betreffenden Bandes ein.
In der Gejchichte der Elzevier-Ausgaben find die jonderbariten Preis-
erfjcheinungen vorgefommen; e3 jei mir geftattet, ein Beiſpiel davon hier
mitzuteilen**), zugleich al3 Probe moderner Pretsfteigerungen. Die Of-
fizin drudte im Jahre 1655 in Leyden eine neue Ausgabe eines damals
ganz unbedeutenden, ziemlich inhaltlojen Buches, betitelt: „Le Pastissier
frangois“ in Fleinem Duodez-Format, VI und 252 Seiten. Diejes Buch,
das fein Sammler des fiebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts in jeine
Bibliothek aufgenommen haben würde, war durch den Gebrauch) der In—
duftriellen, für die es beſtimmt war, der Paftetenbäder, völlig abjorbiert
und wurde nicht neu gedrudt. Es wurde infolgedejjen felten, und man
fam zu der Anficht, daß feine Elzevier-Sammlung von einiger Bedeutung
dieſes Buch entbehren dürfe. Dieſer Ruf befonderer Seltenheit hat ſich
nun allerdings vermindert, nachdem Willem in feinem vorher citierten
Werke ungefähr 30 Exemplare des Buches nachgewiejen hat mit Angabe
der gegenwärtigen Beſitzer derjelben. Uber bevor dies befannt wurbe,
hat ein erbitterter Kampf um das Werk, jo oft es vorfam, unter den
Bibliophilen ftattgefunden. So figuriert ein Eremplar, von Montefjon
abjtammend, von Trauß-Bauzonnet reich eingebunden, in der Auftion der
*) Les Elzevier. Histoire et annales typograph. Brurelles 1880, 8,
*) G. Brunet, du prix des livres rares. Bordeaux 189,
394 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
Buchhandlung 2. Potier in Paris (März 1870) mit dem Preife von Fr.
2910, dann in der Auktion Bentzon (April 1875) mit Fr. 3255 und
wurde im März 1877 in Paris für Fr. 2200 nochmals verkauft. Ein
anderes Eremplar aus der Bibliothek von La BVilleftreur galt im April
1872 Tr. 1200, war im Kataloge von Fontaine in Paris 1874 mit fr.
3000 angejegt und befindet fich heute im Beſitz des Herzogs von Chartres.
Ein drittes Eremplar wurde im April 1847 in Paris für Fr. 325
verfauft; nachdem es von Trauß-Bauzonnet reich eingebunden, ging es
auf der Auktion Gemenit (1867) an den Londoner Buchhändler Boone
für Fr. 1050 über.
Ein anderes Eremplar, ebenfalld von Trauß eingebunden, war von
Fontaine 1875 in feinem Kataloge mit Fr. 4500 angejegt. Ein weiteres
Eremplar wurde von der Firma Bacdelin-Deflorenne in Paris im No-
vember 1876 für Fr. 5500 verkauft, und endlich hatte die Firma Mor-
gand & Fatout noch) ein Eremplar in Italien entdedt, das in ihrem Kata—
loge mit Fr. 10000 angeſetzt und dafür verkauft wurde. Wohlverſtanden
ein inhaltlich ganz belangloſes Buch etwa im Range unſerer beſſeren Koch—
bücher, aber es war „jehr jelten“ und man bedurfte feiner für die Elze-
vier-Slollektionen!
Man wolle aus diefem Beifpiele nicht folgern, daß die Elzevier-Aus-
gaben im allgemeinen, jelbft die befferen davon, bejonders felten jeien.
Keineswegs, aber was fie trogdem jehr gejucht und wertvoll machen kann,
das ift eine gute Erhaltung derjelben, namentlich des Schnitte; eine
Linie mehr oder weniger hoch und breit macht einen großen PBreis-Unter-
ſchied. So gehören denn biefe Heinen, für den Gebrauch jo handlichen,
ſchönen Drude, bei ihren, einem mittleren Reichtume angepaßten mäßigen
Preifen als fogenannte „Seltenheiten” zu den unter den Bibliophilen
am meiften verbreiteten, wozu ſich Jeder gern befennt, der nicht für einen
Bibliomanen gelten will. Eine der erften Fragen, die man an Jemanden
zu richten pflegt, der in dem Rufe fteht, ein Liebhaber jchöner Bücher
zu fein, ift die, ob er Elzevier-Ausgaben befigt. Es verlegen fich denn
auch immer wieder aufs neue Liebhaber darauf, Elzevier-Kolleftionen zu-
fammen zu bringen, die doch niemals ben Wünſchen entfprechend volljtändig
fein können, und in denen nur zu oft die Quantität die Qualität ber
Bücher überwiegt. Um joldy’ eine Sammlung zu vervollftändigen, werden
oft hohe Preife für Bücher gezahlt, denen diefe Ehre gar nicht zufommt.
Und doch verdient eg feinen Tadel, wenn die Phantafie und der Ehrgeiz
der Sammler fich darauf faprizieren, Alles, fei es gut oder fchlecht, in
ihrer Hand zu vereinigen, was ein berühmter Druder gejhaffen hat, wenn
von reichen Leuten das Gold mitunter pfundweije für Bücher von wenigen
Blättern Umfang gezahlt wird aus dem einzigen Grunde, weil bie Titel-
Die Bücherliebhaberet ꝛc. 395
blätter den Anker der Aldinen oder das Druderzeichen der Elzeviere tra-
gen, oder weil fie bejonders „jelten“ find. Denn das Bedürfnis, diefe
Leidenschaft zu befriedigen, ift wohl das unfchuldigfte, dag ein gebildeter
Mann haben kann; dieſe Leidenschaft hat viel dazu beigetragen, ſonſt un-
bedeutende Bücher wieder in Umlauf zu bringen, und fie hat mehr als
ein wichtiges Dokument dem Staube der Vergefienheit entrifjen, und zum
Nuten der Menjchheit wieder an das Tageslicht befördert.
Neben den Gejchlechtern der Manutius’ und Elzeviere verdienen in
erfter Reihe genannt zu werben die Etiennes (au Eitienne), die in
Frankreich während 170 Jahren die typographiiche Kunft in ganz hervor-
ragender Weiſe gefördert haben. Das Haupt derjelben, Heinric) Etienne,
verwandelte jeinen Namen nad) der Sitte der damaligen Zeit in das la-
teiniſche Stephanus, welcher Name dann von feinen Nachkommen weiter:
geführt wurde; er war von 1509 bis 1520 in Paris als Druder thätig
und förderte manches bedeutende Werk zu Tage. Bon den 17 Mitglie-
dern diefer großen Buchdruderfamilie ift der Herborragendfte Robert
Stephanus, der von 1526 bis 1559 thätig war, anfänglich zu Paris.
Er drudte Hauptfächlich theologische und philologiſche Werke, jo 1532 eine
Ihöne Ausgabe der lateinischen Bibel, für die er neue gejhmadvolle Typen
erfand, die lange Zeit als ein Mufter von Schönheit galten. Aber dieje
Bibel z0g ihm die Verfolgung der Sorbonne zu, gegen die ihn nur die
Protektion des Königs Franz I. zu ſchützen vermochte, der ihn das Ver—
Iprechen geben ließ, ohne Zuftimmung der katholiſchen Fakultät feine re—
ligiöfe Schriften mehr zu druden. Er wandte fi nun den griechifchen
und römiſchen Klaſſikern zu, und ſchuf die wegen ihrer Korrektheit beliebten
Ausgaben des Duintilian, Plinius, Zuftin, Cäfar, Eutrop, Lucan, Am-
mian, Marcellin, Sueton, Herodian, Valerius Marimus, Horaz, Virgil,
Juvenal, Eufebius und Div Kaffius, vor allem aber den berühmten, 1532
erichienenen „Thesaurus linguae latinae*.
Als Anhänger der von Deutfchland ausgegangenen Glaubensbewegung
war er der franzöfiichen Geiftlichkeit fchon lange verhaßt und deren Ver—
folgung ausgeſetzt. Als er nun 1545 wiederum eine neue Ausgabe jeiner
Bibel erjcheinen ließ, ſah er fein Leben in Paris bedroht, und floh des—
halb im Jahre 1551 nach Genf, wo er zur reformierten Kirche übertrat,
eine neue Offizin gründete, und bis zu feinem Tode 1559 noch eine Menge
vortrefflicher Werke drudte. Sein Sohn Henricus Stephanus jehte das
Geſchäft fort, geriet aber in Geldverlegenheiten und nahm eine jährliche
Unterftügung der Augsburger Fugger an, wofür er fich auf jeinen Druden
bis 1568 bezeichnete al3: Ill. viri Hulrichi Fuggeri typographus. Er
jegte den Thefaurus feines Vaters fort und ließ ihn 1572 neu erfcheinen.
Die übrigen Mitglieder des Gejchlecht3 reichen nicht an die Bedeutung von
396 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
Robert und Henricus heran; der letzte, Robert III., ftarb 1674, achtzig
Sabre alt, erblindet im Hotel de Dieu in Paris. Die Leiftungen dieſer
ausgezeichneten Familie hat der berühmte Bibliograph A. Renouard in
jeinen „Annales de l’imprimerie des Etiennes“, Parid 1838, 8., vor-
trefflich gejchildert, au) Mittaire's „Historia Stephanorum“, London
1709, ijt bemerfenswert, und der jchönen griechiichen Type der Etienne
hat Bernard ein befonderes Werk gewidmet: „Les Etiennes et les types
grecs de Francois J.“, Paris 1856,
Bon den ſchönen Ausgaben der berühmten Drudereien aus den ver-
Ihiedenen Jahrhunderten find die Erzeugnifje der Aldiner und der Elze-
viere beinahe die einzigen, von denen Sammler. allenfalls noch Kolleftio-
nen bilden. Und doc) verdienten auc) die Etiennes, jowohl wegen des
litterariichen Wertes wie der Schönheit ihrer Drude halber, eine jolche
Huldigung. Bielleiht bringt man ihnen jpäter einmal den Boll der
Dankbarkeit dar, und fteigen dann auch wieder die gegenwärtig jehr nie-
drigen Preiſe derjelben zu den höheren Werten, die fie eigentlich niemals
hätten einbüßen jollen.
Sn England genießt neben den bisher genannten berühmten alten
Buchdruderfamilien der erfte Buchdruder Englands das größte Anſehen:
William Garton. Garton (geb. 1421, geft. 1491) erhielt bei einem
reihen Kaufmann in London eine gute Ausbildung in allen Zweigen bes
Handel. Im Jahre 1442 wurde er als defjen Agent nad) den Nieder-
landen gejandt, lebte jeit 1450 in Brügge und zeichnete ſich durch feine
Gewandtheit jo aus, daß König Eduard IV. ihn beauftragte, einen Han-
delsvertrag mit dem Herzog Philipp von Burgund abzujchließen. Nach
1468 erjcheint er im Gefolge Margaretha's von York, der Schweiter
Eduards und Gemahlin Karls des Kühnen, und überjeßte auf deren Ber-
anlaffung feit 1469 die damals jehr beliebte Sagenfammlung des Hoffaplans
Raoul le Fevre „Recueil des histoires de Troyes* in das Englijche,
übernahm aud) 1471 den Drud des Werkes, nachdem er die Kunſt wahr-
ſcheinlich bei Ulrich Zell in Köln erlernt. Er hatte joviel (Freude an- der
Buchdruderkunft gefunden, daß er einen vollitändigen Apparat fich ver-
Ihaffte und damit nad) England zurückkehrte, wo er in der Weitminfter-
Abtei in London die erfte engliſche Druckerei errichtete. Das erite, aus
feiner Offizin 1474 hervorgegangene Buch führt den Titel „The game
and playe of the chesse“, es ift eine von Caxton jelbit nach dem fran=
zöſiſchen Texte des befannten urjprünglich lateiniſch gejchriebenen Werkes
von Sacobus de Geffolis bearbeitete Überjegung. Carton war dann bis
zu feinem Tode 1491 als Überjeger und Druder noch unermüdlich) thätig.
Wie groß auch fein Verdienft um die Einführung und Verbreitung Der
Die Bücherliebhaberei ıc. - 397
Buchdruckerkunſt in England ift, jo halten jeine Werke doc feinen Ver—
gleich mit anderen Druden feiner Zeit aus.
Neben diejen führenden Gejchlechtern im Reiche der Typographen,
die wir im Vorhergehenden kennen lernten, giebt es noch verjchiedene, die
ebenfalls Ausgezeichnetes in ihrem Berufe leifteten, wenn auch ihre Ver-
dienste nicht jo bahnbrechend gewirkt haben, wie bei den bisher genannten.
Einer der hervorragenditen Männer unter den erften Drudern in Deutſch—
land ift der befannte Anton Koberger (auch Koburger, Coberger, geb.
1440, gejt. 1513), der von 1470 bis 1513 in Nürnberg eine Buchdruderei
betrieb und Ausgezeichnetes leiftete. Ein Freund der Wiſſenſchaft und
Kunft, angejehen, reich und gelehrt, wußte er jeinem Geſchäfte eine ſolche
Ausdehnung zu geben, daß ihn ſchon feine Zeitgenofjen den „König der
Buchdruder” nannten. In feiner Offizin waren täglich vierundzwanzig
Preffen im Gange und über hundert Gefellen als Seter, Korrektoren,
Druder, Buchbinder, Pofjelierer und Illuminiſten beihäftigt. Zugleich
Buchhändler, unterhielt er in Nürnberg, Frankfurt a. M., Venedig, Ham-
burg, Ulm, Augsburg, Bafel, Erfurt und Wien und an anderen Orten
offene Gefchäfte mit bejonderen Faktoren, und ließ daneben noch in aus—
wärtigen Drudereien 3. B. in Bajel bei Johann Amerbah und in Lyon
bei Jakob Sacon für feinen Verlag druden. Er jelbjt verwendete als
Druder beinahe ausſchließlich die gothifche Type und legte einen ganz
bejonderen Wert auf Illuſtrationswerke, für die er die tüchtigften Holz-
jchneider anftellte. Korrektheit und Eleganz zeichnen alle jeine Werke
aus, deren man über zweihundert zählt. Unter feinen Korreftoren waren
Männer wie Friedrich Piftorins und Johann Bedenhaub, und von feinen
Holzjchneidern fein Mich. Wohlgemuth, Albrecht Dürer's Zehrmeifter, und
Hleydenwurf genannt, die unter anderm eine 1483 in deutſcher Sprade
erjchienene Bibel in groß Folio illuftrierten, die Lichtenberger die jchönfte
aller alten deutſchen Bibeln nennt, ebenſo Schedels „Weltchronit” vom
Jahre 1493. Anton Koberger ftarb 1513, er hinterließ von zwei Gat-
tinnen fechsundzwanzig Kinder, einer feiner Söhne jegte das Gejchäft
fort, die Firma erlofch aber ſchon im Jahre 1532. Wer fich für das
Leben und Wirken diejes bedeutenden Mannes, der im fünfzehnten Jahr-
Hundert das größte Verlagsgefhäft von europäiichem Rufe allein und mit
kräftiger Hand führte, näher intereffiert, den verweije ic) auf Die aus-
gezeichnete Monographie unferes Kollegen Dr. Oscar von Haje über die
Koberger*), die eine vortreffliche Darftellung des deutichen Buchhandels
in der Zeit des Überganges von ber jcholaftiichen Wiſſenſchaft zur Re—
formation enthält.
*) Oscar v. Hafe, Die Koberger. 2. neubearb. Aufl. Leipzig 1885. 8,
398 Die Bücherliebhaberei :c.
Und neben SKoberger ſei auch jeines ebenjo tüchtigen Zeitgenoſſen
gedacht, de8 Johannes Froben (geb. 1460, gejt. 1527). Zu Hammel-
burg in Franken geboren und auf der hohen Schule zu Baſel ausgebil-
det, war er erit als Korrektor in den Offizinen von Johann Amerbach
und Hans Petri von Langendorff thätig und gründete darauf 1491 in
Bajel eine eigene Druderei. Sein erjter Drud war nad) damaliger Sitte
eine lateinijche Bibel, darauf folgten das von feinem Freunde Erasmus
von Rotterdam bejorgte griechiich-lateinische Neue Teftament in Folio,
Duart und Duodez, fein Auguftin und mehrere andere Kirchenväter und
Klaſſiker. Froben war einer der erften in Deutfchland und der Schweiz,
ber Geſchmack und Genauigkeit der technijchen Ausführung mit einer glüd-
lichen Auswahl guter Schriftjteller zu verbinden wußte; er wendete bei
jeinen Druden mit Vorliebe die von Aldus Manutius erfundene Form
der lateinischen Schrift, jowohl die gerade (antiqua), wie die geneigte
(eursiv) an. Seine Drudwerfe erregten bei Erjcheinen die Bewunderung
der Bücherläufer wegen des von ihm verwandten jchönen Papieres und
des forreften Drudes. Froben war ein tüchtiger Druder und Gelehrter
zugleich, fein Haus war der Sammelplag aller gebildeten Männer von
Bajel und mit auswärtigen Gelehrten ftand er im regiten freundichaft-
lichen Berfehr. Erasmus von Rotterdam ließ bei ihm jeine Werfe in
neun Foliobänden erjcheinen, und Fein Geringerer als Hans Holbein zeich-
nete und jchnitt die Titeleinfaffungen und Randverzierungen feiner Bücher.
Sein Druderzeihen war eine Taube auf einem mit zwei gefrönten
Schlangen ummwundenen Stabe.
Hier ſei auch ein anderer Deutjcher genannt, der gleich Froben die
Gutenberg'ſche Kunft im Auslande zur Geltung bradte: Sebaftian
Gryphius (geb. 1493, geit. 1556). Aus Reutlingen gebürtig, fam er
jung nad) Lyon, war dort von 1524 bis 1556 als Druder thätig, und
gab über 300 Werke heraus, herrlihe Drude, wozu er mit Vorliebe die
AUldiner Kurfivfchrift verwendete. Er drudte Hebräiih, griehiih und
lateinifch, wenig aber franzöfiih. Seine berühmteiten Werfe find der
„Ihesaurus linguae sanctae“ von S. Pagninus (1529) in hebräiſcher
Sprade und eine lateinische Bibel in Folio von 1560, dieſe hat den
jtärfften Typenjchnitt, der bi dahin befannt war, eine ſcharfe, große und
gut gerundete Antiqua; fie bildet einen der jchönften Prachtdrucke, die bis
zu jener Beit von der heiligen Schrift erjchienen find. Sein Sohn Anton
Gryphius jehte das Geichäft fort und wußte den Ruhm feines Vaters
aufrecht zu erhalten.
Um die Mitte des jechzehnten Jahrhunderts that fih in Antwerpen
eine Druderei auf, die nicht nur alle zeitgenöffiihen Drudereien in Hol-
land und Belgien verdunfelte, jondern, der Großartigfeit der Offizin wegen,
Die Bücherliebhaberet :c. 399
allgemein als ein Weltwunder angeftaunt wurde, e8 war Chriftoph
Plantin (geb. 1514, geſt. 1589). Zu Montlowis unweit Tours in
Frankreich geboren, mit Sprachfenntniffen und anderen Wiljenjchaften aus»
gerüftet, erlernte er wahrjcheinlich in einer der berühmten Pariſer Werf-
ftätten die Typographie, machte alsdann, um fich darin zu vervollfomm-
nen, viele Kunftreijen, Tieß fich in Antwerpen, der damals durch Gewerb-
fleiß und Handel blühenditen Stadt, 1549 als Buchbinder nieder, erregte
durch jeine fünftleriich ſchönen Lederarbeiten Aufjehen, und eröffnete 1555
eine Buchdruderei und Verlagshandlung, welche bald einen Umfang er-
reichte, dem eine ähnliche nicht an die Seite geftellt werben konnte. Im
allen damals in Europa bekannten Sprachen konnte bei ihm gebrudt wer-
den, denn bei Plantin waren alle Lettern zu finden. Seine Drude ge-
hören noch jet zu den typographiichen Meiſterwerken und zeichnen ſich
ebenjo durch äußere Eleganz der Typen und des Papieres, wie Durch
größte Korrektheit aus.
Eines feiner jchönften Werke ift die im Auftrage der ſpaniſchen Re—
gierung bergeftellte Bolyglottenbibel in fünf Sprachen, von 1569 bis 1572
erjchienen, 8 Foliobände jtark, über deren Drud der gelehrte ſpaniſche
Theologe Montanus die Aufficht führte, und die ihm von Philipp II. den
Titel eines Königlihen Arhitypographen verſchaffte. Dieſe Bibel be-
gründete den Ruhm und den Reichtum feines Hauſes. Die Zahl feiner
Verlagswerfe betrug über 1500. Das Geſchäft gehört zu den wenigen,
die aus jener Zeit fich in derjelben Familie bis in unjere Tage erhalten
haben, die Firma Plantin-Moretus erlojch erſt 1876, als die Familie
das Geichäftshaus mit allen darin enthaltenen Foftbaren Einrichtungen
und Sammlungen für mehr als eine Million der Stadt Antwerpen fäuf-
lich überließ. Dieje hütet jetzt das Muſée Plantin als eine Sehenswiür-
digkeit erften Ranges, feine andere Stadt der Welt dürfte ein jo wohl
erhaltenes, reich ausgeitattetes Patrizierhaus aus dem Mittelalter aufzu—
weifen haben, deſſen hochinterefjante Sammlungen von der größten Be—
deutung, auch für die Entwidelungsgefchichte der Buchdruderkunft find.
Das Druderzeihen der Blantins war eine Hand, die einen ausgejpannten
Birfel hält, mit der Devije „labore et constantia“.
Man kann nicht von den hervorragenden Typographen des jechzehn-
ten Sahrhunderts reden ohne dabei auch des „Bibeldruckers“ Hans
Zufft (geb. 1495, geft. 1584) zu gedenken. Als ein wandernder Buch—
drudergejelle nach Wittenberg gelommen, wurbe er von dem Prior des
dortigen Auguftinerflofters, Eberhard Brißger, bald hierher bald dorthin
geſchickt, um Heinere Drude auszuführen, bis er 1523 feine eigene Offizin
in Wittenberg errichtete. Es ging ihm anfangs fünmerlih und feine
Druderei nahm erft im Jahre 1534 einen lebhaften Aufjhwung, als
400 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
Martin Luther ihm den Drud feiner deutſchen Bibelüberfegung anver-
traute, welches Werk er dann 1541, 1545 und 1546 in jchnell auf ein-
ander folgenden neuen Auflagen druden mußte. Da der große Refor-
mator auch feine Haus- und Slirchenpoftille und faſt alle jeine übrigen
Werke bei ihm druden ließ, jo hob fich fein Geichäft zu ungewöhnlicher
Höhe und erwarb ihm ein bedeutendes Vermögen. Mit dem Bibeldrude
allein waren viele Jahre lang täglich drei bis vier Preſſen ausichließlich
beichäftigt, und man hat berechnet, daß in einem Zeitraum von fünfzig
Sahren gegen 100000 Bibeln aus feiner Offizin hervorgegangen ſeien.
Man nannte ihn deshalb den „Bibeldruder“. Seine Drude find nicht
reich ausgejtattet, aber der Sat ift jorgfältig, forreft und jauber gedrudt.
Sein Druderzeihen war ein von zwei Händen gehaltenes und von zwei,
in die eine Hand beißenden Schlangen umringeltes Schwert mit einem
Herzen an der Spitze.
(Fortjegung folgt.)
oo
Bedeutende Berlagsunternehmungen.
—
II.
Die Modenwelt
und die Illuftrierte Srauenzeitung.
Gine der hervorragendften buchhändleriichen Unternehmungen der
legten Dezennien ift unftreitig Die „Modenwelt”. Wenn man fid) heute
bei der Wertmejjung oder Abſchätzung einer Eortimentsbuchhandlung nad)
den ontinuationen erkundigt, jo wird in eriter Linie mit die „Mo-
denwelt” genannt, und im den meijten Gejchäften wird fie wohl neben
der „Sartenlaube” überhaupt den größten Abonnentenftamm aufweijen.
Gelegentlich des fünfundzwanzigjährigen Beitehens der „Modenwelt“
bejchenfte die Berlagsbuchhandlung von Franz LZipperheide in Berlin am
1. Oftober 1890 den Buchhandel mit einer Feitjchrift, die aus unterrich-
teter Feder uns den Werdegang diefer Zeitichrift von ihrem Entitehen an
vor Augen führt und zugleich ung die Entwidelung der Mode in „Hun—
dertfünfzehn Jahre Koftinngejchichte in Modenbildern” darlegt. Wir kön—
nen unſere Xejer nicht beijer über diefe Zeitjchrift unterrichten, als daß
wir uns tertlih an die von Friedrich Melford und Frik Bürmann ver:
faßten Beiträge der Feitjchrift halten, jo weit fie nicht von der Zeit über-
holt find. Wir entnehmen den intereflanten Ausführungen Folgendes:
„Wohl auf wenigen Gebieten menschliher Thätigkeit tritt der Um—
ſchwung, wie er fich im Laufe der legten Jahrzehnte vollzogen hat, jo auf:
fällig zu Tage, al3 auf dem der Litteratur unferer illuftrierten Zeitjchrif-
ten. Nicht nur, daß ihr Inhalt ein vieljeitigerer, die Ausftattung wejent-
lich befjer geworden ijt: auch ihre Ziffer Hat fich außerordentlich vermehrt.
War es vor fünfundzwanzig Jahren nur eine bejcheidene Anzahl von
Blättern, die dem Publitum Unterhaltung und Belehrung vermittelte, jo
wird dem Lefer von heute, angefichts der Fülle des Gebotenen, die Wahl
26
402 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
ſchwer. Diefer Vermehrung der Unterhaltungs-Beitjchriften, im bejonderen
der illuftrierten, find die Modenzeitungen nicht in demjelben Maße ge-
folgt. Zwar find aud fie nicht auf demjelben Punkte ftehen geblieben;
manches neue Unternehmen ift zudem in die Konkurrenz eingetreten, aber
nur wenige haben fi im Kampfe um's Dajein behaupten fünnen. Der
Grund dafür liegt wohl zumeift in den bejonderen Schwierigkeiten, welche
mit der weitverzweigten Leitung und der mühjamen SHeritellung eines
Modenblattes verknüpft find, wenn ein ſolches den Anſprüchen von heute,
ja auch nur denen vor einem Vierteljahrhundert genügen joll.
Die Modenzeitungen haben eine hervorragend Eulturgejchichtliche Be—
deutung. Um neuere und neueſte Koftümgejchichte zu ftudieren, wird man
vorzugsweile fich an die Modenzeitungen zu halten haben. Die übrigen
Duellen verjiegen mehr und mehr, jo daß wir heute auf dem Bunte
angelangt find, daß die hohe Kunſt von der zuverläjfigen Darftellung des
* —— * * ( > , s Adi wu — 2 re
— Auuſtritie Beitung für Toilelle und Handarbeiten, &—
Äußeren des Menjchen fich faft gänzlich abgewandt hat, derfelbe jei denn
Soldat oder Bauer.
Ein Borläufer der Modenzeitungen jehr hoher Abjtammung ijt ein
Journal in kleinem Oktavformat, das zu Lyon feit 1679 erjchien: „Mer-
cure galant dedie A Monseigneur Le Dauphin“. Im eigner Berjon gab
König Ludwig XIV. das Privilegium dazu in einer Ratsſitzung: „Par
grace et privilege du Roy donne à Saint Germain en Laye le 31 De—
cembre 1677. Sign“ par le Roy en son Conseil, Jun Quieres. Il est
permis A J. D. Ecuyer, Sieur de Viz‘, de faire imprimer par Mois un
Livre intitul& Mercure galant etc.“ Herr von Vize übertrug fein Bri-
vilegium auf Thomas Amaulry zu Lyon.
Die Beichreibung der Hochzeit einer franzöfiihen Prinzeſſin mit dem
Könige von Spanien unter genauefter Angabe jämtlicher, bei diefem Feſte
getragenen Toiletten machte den Anfang. Dazu wurde ein Bild Der
Prinzejjin mit ihrer langen Schleppe gegeben, in Kupfer geftochen von
U. Trouvain. Diejes ift das erfte Modenbild.
Im nächſten Jahrgange des Mercure finden wir bereits den erjten
Bedeutende Verlagdunternehmungen. 403
Pariſer Modenberiht. Wie lange das Journal erjchienen, ift uns un—
befannt. Jedenfalls dauert es jehr geraume Zeit, bis ung wieder etwas
von Modenfupfern begegnet. Bekannt find ung nur: Costumes Francais
pour les Coeffures depuis 1776. Wir befiten davon 17 Blatt, und man
fann in denjelben das Unternehmen bis etwa 1782 verfolgen.*) -
Mit 1775 beginnen die Miniatur-Darftellungen neuer Moden in den
befannten Almanachen und Tajchenkalendern, die — wenn auch in 3. T.
wejentli anderer Form — im gothaiſchen Hoffalender fich bis auf un-
jere Tage erhalten haben.
Sodann ift es wieder ein franzöfiiches Unternehmen, das unjere
Blide auf ſich zieht: Cabinet des modes, ou les modes nouvelles. Paris
1785—1793. Dann folgt das Bertuch’iche Journal des Lurus und der
Moden, Weimar 1786—1827, und mehr und mehr fließt von da ab das
Material ung zu.
Die Lejerin von 1865 traf im allgemeinen ihre Wahl zwijchen zwei
Modenblättern, denen fich die allgemeine Gunst zugewandt hatte, dem
damals im XI. Jahrgang erjcheinenden Bazar und der Victoria, welche
in ihrem XV. Jahrgange jtand, aber doch von dem erjtgenannten Jour—
nal überflügelt worden war. Neben diefen beiden gab es noch die drei
Stuttgarter Blätter: Allgemeine Mufterzeitung, XXU. Jahrg., Frauen-
Beitung, XIV. Jahrg, und das Pariſer Damenkleider-Magazin, XVII.
Sahrg., jorwie die beiden Hamburger Zeitichriften: Jahreszeiten, XXIV.
Jahrg, und Die Mode, XIII. Jahrg.
Eine bejondere Stellung nahm die Allgemeine Moden-Zeitung (Leip—
zig) ein, die damals jchon ihren LXVII. Jahrgang begonnen hatte, und
die bis heute unverändert weiterbefteht. Weit mehr der litterarijchen
Unterhaltung als dem eigentlichen Gebiete der Mode ſich widmend, be-
ſchränkt fie ihren illuftrierten Teil auf die Beigabe von Modenkupfern.
So thaten es auch die „Jahreszeiten“ mit ihrer bejonderen Ausgabe „Die
Mode”, während die anderen obengenannten Blätter Mode und Hand-
*) Mit Bezug auf die Lipperheide’ihe Sammlung für Koſtümwiſſenſchaft.
26*
404 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
arbeiten auch durch Holzjchnitt vorführten, daneben aber die Unterhaltung
pflegten gleich den Pariſer Vorbildern.
Da trat ein neues Unternehmen hervor, das neue Bahnen einidhlug:
Die Modenwelt. Bon litterariichem Inhalt ganz abjehend, wollte diejelbe
einzig und allein Mode und Handarbeit pflegen, ein Gedanke, den bis
dahin noch fein Verleger gefaßt hatte, der aber in feiner Originalität die
Keime des Erfolges barg; konnte doch das Journal jo feine ganze Kraft
auf das eine Gebiet fonzentrieren; zudem erſchloß es ſich durch den nie-
drigen Abonnementspreis die weiteften Sreife.
Durch Rundichreiben vom 6. September 1865 wurde der Buchhan—
del von dem bevorftehenden Erjcheinen der Modenwelt, Illuftrierte Zeitung
für Toilette und Handarbeiten, durd) die Verlagsbudhhandlung von Franz
Lipperheide in Berlin in Kenntnis gejeht, nachdem die Gründung diejer
Firma am 15. Auguft defjelben Jahres erfolgt war. Die erjte Nummer
/ nn r — *
— —
wa.
des neuen Modenblattes, deijen Gefchäftsräume ſich Victoriaftraße 12 be-
fanden, jollte am 1. DOftober zur Ausgabe gelangen. Der Preis war
anf 10 Sgr. vierteljährlid — bei vierzehntäglihem Erſcheinen — feft-
geftellt. Die Wirkung diefer erjten Ankündigung im Buchhandel war
eine durchichlagende. Das Erjcheinen der neuen Zeitjchrift, welche an
Fülle des Inhalts mindeitens das Gleiche zu bieten verjprechen konnte,
wie die Schon bejtehenden Modenzeitungen, und die troß des geringen
Abonnements-Preiſes dem Buchhandel erhebliche Vorteile gewährte, wurde
allgemein aufs Freudigite begrüßt. Schon am 22. September mußte der
Verleger um einen Aufſchub für die Erpedition der in ungewöhnlicher
Anzahl verlangten Proben der erjten Nummer vom 1. Oktober 1865 nach—
juchen, und gleichzeitig konnte er feititellen, daß die Zahl der im voraus
beitellten Abonnements, fünf Tage nad) Verſendung des Brobeeremplars,
bereit3 3000 betrug. Der Erfolg des Blattes jchien jomit gefichert, und
in der That war er es. In einem NAundjchreiben vom 30. November,
acht Wochen nach Erjcheinen der erjten Nummer, ftattete die Verlags-
handlung dem deutjchen Buchhandel ihren Dank für jeine eifrige Ver—
Bedeutende VBerlagsunternehmungen. 405
wendung ab. E3 wurde eine Kontinuation von 14500 Exemplaren ge-
zählt, welche bis Ende Dezember auf 16945 ftieg, ein in der Journal—
geichichte noc) nicht verzeichneter Erfolg. Das zweite Quartal des I. Jahr:
ganges (das erite des Jahres 1866) brachte eine weitere Erhöhung bis
auf 24959 Abonnenten. Das dritte Quartal begann mit gleihmäßigem
Steigen, dody warf der Krieg von 1866 jchon feine Schatten voraus,
Es jhloß mit nur 24488 Eremplaren ab, während die höchſte Abonnen-
tenzahl im Mai bereit3 25393 betragen hatte. Den niedrigjten Stand
erreichte die Kontinuation im Auguft (21112 Expl.), doch machte ſich bis
zum Quartalsſchluß wieder eine, wenn auch nur geringe Steigerung (bis
auf 21252 Erpl.) bemerkbar. So vermochten die politiihen Verhältniſſe
nicht allzu erheblich den Gang des neuen Unternehmens zu hemmen, und
mit dem neu geregelten Berhältnijien des Waterlandes nahm aud) die
Modenwelt einen neuen Aufjhwung. Das Dftober-Quartal des neuen
——
sd Geillustreerd Tijdschrift voor Modes en Handwerken. Am
(II.) Jahrganges erreichte bereit wieder die Zahl von 24 954 Eremplaren
und das erite des Jahres 1867: 29951. —
Daß ein Journal, welches fo raſch und in jo hohem Maße die Gunft
des deutichen Publikums fid) erobert hatte, auc im Auslande auf Erfolg
zu rechnen haben würde, durfte man vorausjehen. Waren bereits vor
Ericheinen der erſten Nummer Verbindungen mit ausländiichen Verlegern
angefnüpft, jo daß die Modenwelt von Anfang an in drei Sprachen er-
ſcheinen fonnte, jo erhielten diefe Beziehungen noch im Laufe des erjten
Jahres eine größere Ausdehnung. Den von vornherein gewonnenen Aus—
gaben: L’Illustrateur des Dames (Paris) und The Young Ladies’ Jour-
nal (London) folgten, am 1. Sanuar 1866, die holländijche De Bazar
(Haag), die italienische Il Mondo Elegante (Turin), am 1. Juli die dä-
niſche unter dem Titel Dagmar (Kopenhagen). Eine amerikaniſche Aus—
gabe mit engliihem Terte unter dem gleichen Titel Die Modenwelt (New-
York) erihien von Auguft 1866 ab. Diejer jchloß fich im gleichen Mo-
nat die ſpaniſche El Correo de la Moda (Madrid) an und am 1. De-
zember die ruffiiche Mody i Nowosti (St.-Betersburg), welche im Sep-
tember 1868 den Titel Modny Sswet (Modenwelt) annahm. Am 19,
406 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
Januar 1867 trat die polnische Ausgabe Tygodnik Mod (Warſchau) und
am 15. Mai des gleichen Jahres die ungariſche A Divat (Peſt) Hinzu).
Den vorläufigen Beſchluß machte zu Paris am 1. Dezember 1867 die
eigene franzöfiihe Ausgabe La Saison, nachdem die Beziehungen zu dem
Illustrateur des Dames im Dezember 1866 aufgehört hatten. So waren
bis Ende 1867, kaum zwei Jahre nad) der Begründung des deutjchen
Driginalblattes, zehn Ausgaben in fremden Sprachen ins Leben getreten,
mit welchen die Schöpfungen der Modenwelt fait über den ganzen Erd-
freiß verbreitet wurden. —
Der IV. Jahrgang der deutichen Ausgabe hatte (September 1869)
mit einer Ubonnentenzahl von 72127 abgejchloffen. Im Juni 1870 war
diejelbe auf 98928 geftiegen. Da brachte der Ausbruch des deutjch-fran-
zöftihen Krieges abermals einen naturgemäßen Rüdgang; im Oftober
hatte die Modenwelt einen Stand von nur noch 82 110 Abonnenten zu
verzeichnen. Bon da ab hob fi) das Journal wieder allmälig und
ihwantte bis zum März 1871 zwiichen 90—92000. Erft nad) dem de-
finitiven Friedensihluffe vom 10. Mai 1871 trat wiederum eine regel-
mäßige Steigerung ein, welche das Blatt noch in demjelben Monate auf
100000 Eremplare bradhte. Der Jahrgang 1870/71 ſchloß im Septem-
ber mit einer Abonnentenzahl von 102145. Die franzöfiihe Ausgabe
La Saison hatte den Ereignifjen inzwiichen weichen müfjen; fie erſchien
vom 16. September 1870 ab unter der Firma der Berliner Berlagshandlung.
Den Kriegsjahren folgten nun Zeiten erfreulicher Weiterentwidelung.
Im April 1871 wurde eine Ausgabe der Modenwelt mit großen farbigen
Modenkupfern in's Leben gerufen, welche rajch ein zahlreiches Publikum
gewann.
Ende 1871 mußte ſich die Verlagshandlung entichließen, veranlaßt
durch die allgemeine, gerade billige Blätter jehr hart treffende Verteue—
rung des Heritellungsmaterials wie aller Zebensbedürfnifje, den Viertel—
jahrspreis von 10 Sgr. auf 124 Sgr. zu erhöhen. Die Abonnentenzahl
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 407
bewegte ſich trogdem gleihmäßig aufwärts; die Auflage betrug damals
165000. Zu der für die Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 von
dem damaligen deutjchen General-Bojtdirektor, jetzigen Staatsjefretär Dr.
von Stephan veranftalteten Sammlung deutjcher Zeitungen wurde die
Modenwelt als Abjchluß gewählt.
Mit dem 1. Januar 1874 entiprad) die inzwilchen in das eigene
Haus Potsdamerjtraße 38 überfiedelte Verlagshandlung — vom 1. April
1867 bi3 30. September 1873 war deren Sit Potsdamerſtraße 116a —
den allgemeinen Wünjchen nad) einer „Ausgabe der Modenwelt mit Un-
terhaltungsblatt”, nachdem fie zuvor die beften künſtleriſchen und jchrift-
ftelleriichen Kräfte für legteres gewonnen hatte. Es war die „Slluftrierte
Frauen-Zeitung“; die Heine Ausgabe koſtete vierteljährlich 25 Sgr., die
große, mit 36 farbigen Modenkupfern jährlih, 1 Thlr. 12% Sgr. Gleich
der Modenwelt nahm auch diejes Unternehmen raſch einen bedeutenden
Aufihwung. Im Dftober 1874 wurde die Kupfer-Ausgabe der Moden
welt mit der großen Ausgabe der Sluftrierten Frauen-Zeitung vereinigt,
und am Schluß des I. Jahrganges zählten die große und kleine Ausgabe
derjelben jchon 14558 Abonnenten. .
Am 1. April 1879 führte die Illuſtrierte Frauen-Zeitung eine An—
derung ein: den Erſatz der bisherigen folorierten Stahlftihe durch kolo—
rierte Holzſchnitte. War man bis dahin der Meinung gewejen, die ent-
ſchiedenere Art des Holzichnittes - im Vergleich zum Stahljtiche, deſſen
Wirkung als zarter galt — könne im Verein mit Farben feine gute Wir-
fung ausüben, jo wurde dieſe Anficht durch die eingejchlagene Neuerung
widerlegt. Die farbigen Holzichnitte erreichten nach und nad) die heutige,
aquarellartige Vollendung und fanden auch in den ausländiichen Aus-
gaben allgemein eine günftige Aufnahme. Im übrigen bezeichnete das
Berlafjen der alten Wege einen großen Fortichritt. Die langwierige
Drudherjtellung der Stahljtihe war durch ein rajcheres Herjtellungsver-
fahren erjeßt, welches es ermöglichte, auch in bezug auf die farbige Dar-
jtellung, dem thatjächlichen Eintritt einer neuen Mode voranzueilen.
408 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
Nach einer im März des Jahres 1887 vorgenommenen Umformung
der IJlluftrirten Frauen-Zeitung in die „Zluftrirte Zeit“, welche ſich jedoch
nicht als zwedmäßig erwies, wurde mit dem 1. Dftober 1887 der alte
Titel wiederhergeftell. Der Unterhaltungsteil der Illuſtrirten Frauen-
Zeitung follte fortan wieder vorzugsweile der deutichen Frau gewidmet
jein. Die inzwiichen abgeänderte Erjcheinungsweije von 52 Nummern jähr-
lid wurde indes beibehalten, der Inhalt aber durch 8 Ertrablätter, deren
die Modenwelt jeit 1867 jchon Hin und wieder gebracht hatte, und 8
farbige Mufterblätter für künftleriiche Handarbeiten jährlih vermehrt.
Die große Ausgabe erhielt noch 16 farbige Tonbilder.
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Im Januar 1890 wurden die öſterreichiſchen Stempelverhältniſſe
Veranlaſſung zu einer nochmaligen Umbildung der Illuſtrirten Frauen—
Zeitung. Vom January 1890 ab erſcheint ſie in Halbmonats-Heften, und
von da ab ſtattet die Verlagshandlung das Blatt noch glänzender aus
al3 zuvor, indem fie jedes Heft in einem farbigen Umfchlag mit ftets
wechjelndem Modenbilde giebt. So iſt die Illuftrirte Frauen-Zeitung,
heute in ihrem XVII. Jahrgange jtehend, zu Dem geworden, al3 was fie
fi) aucd dem oberflächlichen Beſchauer jchon darbietet, zu einem Moden-
und Unterhaltungsblatt großen Stils, mit einer Anzahl von Abbildungen
(jährlih an 3000), wie fie fein anderes Blatt, innerhalb oder außerhalb
Deutichlands, auch entfernt nur bietet.
(Fortſetzung folgt.)
Der Einkauf der Büder.
Eine Darftellung für junge Sortimenter.
KT
Die Tätigkeit jedes Kaufmannes und fomit auch die des Sorti-
menter3 zerfällt naturgemäß in den Einkauf und in den Verkauf der Ware.
Wohl in feinem faufmännichen Berufe ift das Geſchäft des Ein-
faufens ein jo jchwieriges wie bei dem Sortimentsbuchhandel. Unjere
Bücherlerita jchwellen von Jahr zu Jahr mehr an von der Fülle der
litterariihen Produktionen, und jeder Tag bringt neue Erjcheinungen auf
den Büchermarkt. Aus diefer Unzahl hat der Sortimenter nun zu wählen,
und das Sprichwort, Wahl madt Qual, trifft Hier im volliten Umfange
zu, jo daß eine bedeutende Fach- und Sachkenntnis dazu gehört, weni
der Sortimenter fich durch feine Beſtellungen nicht jchädigen joll.
Bei der Auswahl der Bejtellungen zergliedern fich die zu beftellenden
Bücher naturgemäß in drei Kategorien:
1) Ältere Erſcheinungen.
2) Novitäten.
3) Gelegenheitsfäufe.
In die Lage, ältere Erjcheinungen in großem Umfange zu beftellen,
fommt der Sortimenter zumächjt bei feiner Etablierung. Es ift dabei die
Örtliche Lage und der Kundenfreis zu berücjichtigen, auf welchen der An-
fänger bei jeiner Gejchäftsgründung rechnet. Sehr gute Dienite leiften
bei der Auswahl der Beftellungen die Lagerfataloge der Barjortimenter;
namentlih der von F. Voldmar und 8. F. Köhler in Leipzig, Es
find bibliographiiche Mufterwerfe, eben jo Eorreft wie praftiih. Dieje
Kataloge, die in feiner Sortimentsbuhhandlung fehlen dürfen, find aud)
bei den Aufnahmen zur Zager-Ergänzung, welche dem Weihnachts- und
Dftergeichäfte vorausgehen, jehr gut zu benugen. Bei der Auswahl der
Beitellungen älterer Erjcheinungen aus anderen Gebieten der Litteratur
leiiten die Schlagwortfataloge die beiten Dienite.
Diejelben Schwierigfeiten wie die Beſtellung älterer Litteraturerjchei-
nungen, ja noch größere bietet die Auswahl der Novitäten. Das
„Börjenblatt für den deutjchen Buchhandel”, dieſes Hauptorgan, welches
410 Der Ginfauf der Bücher.
in feinen Spalten das Leben und Treiben der gefammten Buchhändler-
welt wiederfpiegelt und welches namentlich der Sortimenter alltäglich aufs
genaueſte ftudieren follte, bringt in jeder feiner Nummern die Anzeige
einer ganzen Reihe von joeben erichienenen und künftig ericheinenden Büchern,
welche, wenn man den Worten der Verleger glauben wollte, alle dringend
zur Ausfüllung einer Lüde in der Litteratur notwendig waren. Zu
diejen Anzeigen gejellen ſich die Unzahl der Proſpekte, mit denen der
Berlagshandel den Sortimenter überfchüttet, und aus diefem umfang:
reihen Material hat der lettere nun die Novitäten auszumählen.
Um dieje Auswahl vorzunehmen, ift natürlich eine genaue Kenntnis
des Kundenkreiſes notwendig. Wer feine Theologen, Ärzte, Architekten
u. ſ. w. zu jeinen Kunden zählt, hat naturgemäß für Medizin, Theologie
und Bauwiljenjchaft feinen Abſatz. Es giebt aber jehr viele Neuigkeiten,
die jih nicht an ein beftimmtes Publikum wenden, und die auf Käufer
in allen Ständen und Beruföfreifen zu rechnen haben — dahin gehören
die Unterhaltungsichriften, populär gejchriebene geographiiche, hiſtoriſche
und naturwifjenichaftliche Werke u. j. w. Dieje Schriften bieten dem
thätigen Sortimenter ein jchier unabjehbares und unbeſchränktes Abjap-
feld, durch deſſen erfchöpfende Ausnugung er viel verdienen kann.
Bei den Anzeigen in den buchhändlerischen Geichäftsorganen und den
Projpekten darf ſich der Sortimenter durch die verlodenden Titel nicht
irre leiten lafjen; um bei der Auswahl ficher zu gehen, ift eine bedeu-
tende Kenntnis der Schriftitellerwelt erforderlich; daneben ift es nament-
li die Verlegerwelt, über die der Sortimenter informiert jein muß. So
hat ji) der Sortimenter bei einem Werke, das bei F. U. Brodhaus oder
©. Hirzel erjchienen, gar nicht zu fragen, ob dasjelbe gut jei; dafür
bürgt jchon der Name des Verlegers. Er hat hierbei vielmehr nur noch
zu überlegen, ob das betreffende Werk bei ihm auf Abjag rechnen könne.
Die von ung aufgeftellte dritte Kategorie der Bucheinkäufe find die
Gelegenheitsfäufe. Es find dies meift Werke, deren Verleger bei
denjelben nicht zu ihrer Rechnung gekommen find und nun, um aus dem
verfehlten Unternehmen noch etwas herauszufchlagen, den Reſt der Auflage
zu einem jehr billigen Preiſe an den Sortimenter, vielfach durch Ver—
mittelung der fogen. Reſt- oder Groß-Antiquariate, ablafjen. Der legtere
kann mit diefen fogen. Ramfch- Artikeln, die oft einen jehr gediegenen
Inhalt haben und deren urjprünglicher Ladenpreis gewöhnlich zu hoch
angejegt worden, unter Umftänden jehr gute Gefchäfte machen. Es dürfte
dies namentlich zutreffen, wenn die Artikel aus einer Konkursmaſſe jtam-
men. Beim Ankauf derartiger Ramſchſachen ist jedoch große Vorſicht am
Plate; denn in vielen Fällen war es nicht der zu hohe Ladenpreis, fon-
dern die innere Wertlofigkeit des Buches, welche den Abſatz desjelben zu
Der Einfauf der Bücher. 411
einem den Berleger nicht befriedigenden gejtaltete. Schlechte Bücher kann
(und ſollte!) jedody der Sortimenter nicht in großen Maſſen abjegen, und
jei er auch in der Zage, diejelben ganz billig zu liefern. Am rentabelſten
find Ramjchartifel, welche fi) zu SFeft- und Konfirmationsgejchenfen eignen,
ſie müſſen äußerlich aber nicht etwa unanſehnlich geworden fein.
Ehe wir auf die Beziehungen zwijchen Verleger und Sortimenter
übergehen, müfjen wir den im Buchhandel üblichen Bezugs- und Lie-
ferungsmodus beſprechen, wobei wir uns an Das bereit3 genannte
Schürmann’sche Werk anfchließen werden. E3 ift zwilchen Verlags—
und Sortimentshandel ein dreifacher Bezugs- und Lieferungsmodus üblich:
1) pro novitate und & condition,
2) in feiter Rechnung,
3) gegen bar.
Die Unterjheidung zwiſchen pro novitate und & condition ift nur
nomineller Art; pro novitate gilt für Neuigkeiten, & condition für ältere
Artikel; die Lieferungsnorm ift jedoch für beide Kategorieen die gleiche.
Sämtlihe Sendungen pro novitate und à condition werden dem
Eortimenter bis zur Leipziger Oſtermeſſe zur Verfügung geftellt; an Die:
jem Termin muß er die in einem Rechnungsjahre (d. H. die zwiſchen 1.
Januar und 31. Dezember) erhaltenen Nova- und Konditionsjendungen
entweder bezahlen oder zurüdjenden (remittieren) oder in neuer Rechnung
vortragen (disponieren), fall3 der betreffende Verleger dies zuläßt.
Bei den in feiter Rechnung bezogenen Artikeln ift jede Remiſſion
ausgejchlofjen; fie müfjen zur Oſtermeſſe bezahlt werden. Die Barbezüge
müfjen bei Übergabe an den Kommijfionär oder, wenn der Verleger und
der Sortimenter in demjelben Ort wohnen, bei direlter Präjentierung
bezahlt werden.
Die für das Lager und für beftimmte Kunden erforderlichen Beftel-
lungen trägt der Sortimenter in ein Beſtellbuch ein, das am beiten
folgende Form hat:
Oktober 1897.
s Besteller E E F | Titel | Verleger
4 | utite| Büchmann, Gefl.Worte, mit Goldschn.| Haude & Spener
Hofrat Springer! 1 Hübner, Spaziergang, Volksausg.| F. Volckmar
'B[l2| Schillers Werke, 9. Aufl, Friedberg & M.
Frl, Ploss 1 Haek, Der Kuss. Hamann,Leipzig
Dr.Keil,Brannenstr, | 2 Baumgarten, Über das Schöne. | Mittler & Sohn
5 1110 Andersen, Bilderbuch. G. Grote
—1 | Gervinus, Gesch. d. dtsch. Dichtg.! W. Engelmann
wiederholt v. 14.9, ‚1 !Roder, Ungarische Briefe, 1. |E.L.Morgenstern
f.Hrn.Lehmann 2 English Theatre No. 5, 6, 8. |Friedberg & M.
412 Der Einfauf der Bücher.
In dieſem Beftellbuche find die eingegangenen Sendungen durd)
einen Strich zu Fennzeichnen; fehlt ein Werk beim Verleger, jo ift in die
zweite Rubrik zu jchreiben: „Erjcheint in 14 Tagen“ u. ſ. w.; ift fein
Beiteller in der zweiten Nubrif, jo ift die Sendung für das Lager be-
jtimmt. —
Seine Beftellungen macht der Sortimenter auf dazu gedrudten Ge—
Ihäftsformularen und zwar:
1) auf Berlangsetteln.
Das bejte Format für diejelben ift IL><7 cm; als Schrift wählt
man einfache Antigua; das Papier kann dünn fein, darf jedoch nicht
ſchlechter Qualität fein; Wahlzettel dazu zu verwenden, wie man es
häufig findet, verbietet einfach der Auſtand.
Berlangzettel- Formulare,
Von
verlangt durch Herrn F. Volckmar—Leipzig
Bitterfeld, den 2. Januar 1897.
PAUL NEUMANN,
Spezialität: Wissenschaftliche Litteratur. |
à cond., fest, bar, nur wenn mit erhöhtem Rabatt. |
| Im Nichtlieferungsfalle bitte ich um gefl. Antwort.
| Es werden nur tadellose Exemplare angenommen.
Von Herr...........
erbittet durch Herrn H. Urtel in Leipzig
Bitterfeld, den 27. Oktober 1897.
PAUL NEUMANN.
à cond., fest, bar, wenn billiger.
Der Einkauf der Bücher. 413
Die BVerlangzettel können außerdem noch eine ganze Reihe von Be-
merfungen enthalten; größere Sortimente lafjen vielleicht am Fuße druden:
„NB. Auf der Faktura bitte das Folio des Beſtellbuches ..... zu ver⸗
merken.“ Wer in Stuttgart, Wien u. ſ. w einen Sommilfionär hat,
muß Ddiejen natürlih nennen. Ein Vermerk, dem man häufig begegnet,
ift: „Zur Bolt; zur Fuhre; mit Eilballen”; ferner: „Wenn in 6 Mo-
naten feine neue Auflage erjcheint”. Bar, wenn billiger bedeutet: ftatt
25 0 mit 33° lo; jtatt 33’): 90 mit 40 90.
2) auf Wahlzetteln.
Dieje läßt der Verleger als eins jeiner Bertriebsmittel Heritellen.
Sie ericheinen in bejonders dafür beftimmten Fachblättern als Inſerate
oder fie werden von den Verlegern als Zirkulare verjandt.
Wahlzettel- Formulare.
a. Mit vorausgehender Anzeige über Titel, Umfang, Preis, Bezugs-
bedingungen u. j. w.
In meinem Verlage erscheint demnächst:
Andresen, Aug., Populäre Sternkunde. 3. verm. Aufl., 2,50 M. ord., 1.70 M.
netto, 1.50 M. bar; auf 6 ein Freiexemplar.
Ribbach, Weltgeschichte. 15 M. ord., 10 M. netto, 9 M. bar; eleg. gebd.
20 M. ord., 14 M. netto, 13 M. bar; auf 6 ein Freiexemplar.
Söhle, Volkswirtschaft. 12 Lieferungen à 1.20 M. In Rechnung mit 33'/, ®/,,
bar mit 40 %,, Freiexemplare 11/10. (Lief. 2 und folg. nur fest.)
Ich bitte auf nachstehendem Zettel zu verlangen.
Berlin, 4. August.
Aug. Ranke.
Von Herrn Aug. Ranke in Berlin verlange
bar | fest |äcd.
i Andresen, Ropuläre Sternkunde. 3. Aufl.
Ribbach, Weltgeschichte.
Söhle, Volkswirtschaft. 1. Lief.
— do. do. 2. und folg. Lief.
| Ort: Firma:
Bei der Benußung eines derartigen Wahlzettel hat der Sortimenter
die gewünjchte Anzahl in die betreffenden Rubriken, ſowie jeine Firma
und das Datum der Beitellung einzutragen. Dit eine der Rubriken durch
einen Strich bezeichnet, jo gilt fie natürlich für das betreffende Werf nicht.
414 Der Ginfauf der Bücher.
b. Ohne vorausgehende Anzeige würde diefer Wahlzettel auch die
Preis- und Rabatt-Angaben u. ſ. w. enthalten.
3) auf Büdher-Zetteln.
Dieje werden bei direkten Beitellungen durch die Bolt benußt; fie
müjjen ungefähr die Größe einer Poftkarte haben; das Bapier zu den-
jelben muß annähernd diejelbe Stärke wie eine ſolche befiken; vor allem
darf auf der Vorderjeite die Bezeichnung „Bücherzettel“ nicht fehlen, jo
daß die Vorderjeite folgendermaßen ausfieht:
Bücherzettel.
Die Boft befördert diefe Bücherzettel für 3 Pf., falls diejelben den
beitehenden VBorichriften genügen und als handjchriftlichen Vermerk nur
den Titel des bejtellten Buches und das Datum der Beltellung enthalten.
Die Rückſeite ift jomit jo einzurichten, daß der Kopf derfelben alles ent-
hält, was bei einer Bücherbeftellung gejagt werden muß; ein gejchidt ab-
gefaßter Kopf ift im ftande, manche gewöhnliche Boftkarte, und jomit
manches Mal zwei Pfennige zu eriparen, und fann der Kopf eher ein
— — — — — — — — — — — . —
der 9
erbitte durch Herrn L. A. Kittler in Leipzig -— durch Herrn Paul Neff in
Stuttgart — direkt per Post in 5 Kilo-Paketen — per Eilfuhre — per (tüter-
zug — roh — broschiert — gebunden — möglichst gebunden — zu den er-
haltenen ... Exemplaren noch wiederholt vom ... — antiquarisch wenn gut
erhalten.
A condition — fest — bar, wenn mit erhöhtem Rabatt
Bitterfeld, 189 . Paul Neumann.
— — — — — — — — — — — — — — — —
Der Einkauf der Bücher. | 415
Beim Ausjchreiben der Verlangzettel find gewiſſe Negeln zu beob-
achten, die wir nunmehr folgen lajjen. Daß ein Verlangzettel deutlich
und leſerlich ausgejchrieben werden muß, bedarf wohl kaum der befonderen
Hervorhebung. Wird ein Buch in Furzer Zeit zweimal vom Verleger
bezogen, jo hat man vor die Unzahl der Eremplare das Wort noch zu
jeben, da der Verleger ſonſt leicht einen Irrtum auf feiten des Sorti—
menter8 vermutet und den Zettel mit dem Vermerk zurücgehen läßt:
„Sandte Ihnen bereits am... .“
Bleibt ein beftelltes Werk ungebührlich lange aus, jo ift bei der er-
neuten Beitellung Hinzuzufügen: „Wiederholt vom .. . .”, da der Ver—
leger jonft leicht Doppelt expediert. Defekte werden beftellt, „als Defekt
in Weber, Lehrbuch der Weltgefhichte 1. Bd., 1. Bog., 12;* Hat in
einer Sendung ein Buch oder eine Lieferung gefehlt, fo beftellt man „als
gefehlt an Ihrer Sendung von... ..
1 Hellwald, die Erde und ihre Völker, Lief. 4.”
Eilige Beltellungen werden auf den Verlangzetteln durch den (ge-
wöhnlich mit Blauftift gejchriebenen Vermerk) „empfohlen“ gekennzeichnet;
der Kommijfionär des Sortimenters läßt derartige Artikel dann in Leipzig
einholen, während alle anderen an den üblichen Auslieferungstagen der
Verleger verabfolgt werden. Bemerken wollen wir, daß die Wahl- und
Berlangzettel bei feiten Beftellungen und bei jolchen pro novitate und
a condition in den Händen der Verleger al3 Belege zurücbleiben; die
Barzettel werden hingegen dem Paket beigegeben, damit der Kommiffionär
de3 Sortimenterd die Bar-Pakete einlöft. Was die Aufbewahrung der
Berlangzettel anbetrifft, jo ift den Geichäftsinhabern zu empfehlen, daß
fie diejelben wie alle Gejchäftspapiere, die den Charakter eines Dokumen—
tes annehmen, unter Verſchluß nehmen. Es ift dies bei den Verlang—
zetteln umjomehr anzuraten, da mit ihnen ein Mißbrauch ohne Fäl-
Ihung des Namens möglich ift.
In unjerer Darftellung haben wir weiter oben angedeutet, daß der
Sortimenter feinen Novitätenbedarf wählt auf Grund jorgfältiger Lektüre
des Börjenblattes und der bei ihm eingegangenen Proſpekte u. |. w.
Dies entipricht dem überwiegend herrichenden Gebraudh. Daneben ver-
jendet der deutiche Verlagshandel jeine Novitäten vielfach auch unver-
langt, und die Rechtsverhältnifje, die fi) aus Diefem jchwankenden Ge—
brauche ergeben, find ſehr unſichere. Diejenigen Sortimenter, welche
wählen, jprechen dies durch ein w vor ihrer Firma im Adreßbuch aus;
vielfach erbitten fi) die Sortimenter nur Novitäten bejtimmter Litteratur-
gebiete aus. Es wird dies im Adreßbuch gewöhnlich in die Worte gefleidet:
„Im allgemeinen wähle ich; doch erbitte ich Theologie, Philojophie,
416 Der Einfauf der Bücher.
und Naturwiſſenſchaft in 4facher Anzahl, Haffiihe und moderne Philologie
in Zfacher Anzahl.“
Die Streitigkeiten bei unverlangten Novajendungen find darauf zu-
rüdzuführen, daß der Sortimenter, weldyer ab Leipzig die Spejen für
die an ihn gelangenden Sendungen zu tragen hat, dieſe erheblichen Fracht—
koſten jcheut und bejtrebt ift, fie auf ein Minimum zurüdzuführen. Viele
Sortimenter wollen ſich auch durch die Erklärung, daß fie wählen, gegen
den unfinnigen Mafjenverfand gewifjer Verleger ſchützen und drohen des—
. halb im Adreßbuch und im Börjenblatt mit jofortiger Remiſſion und
Spejennachnahme bei unverlangten Novafendungen, weilen auch wohl
ihren Kommiſſionär an, jolcher fogleih in Leipzig die Annahme zu
verweigern.
Die Anfihten der bewährteiten Fachmänner gehen über die rechtliche
Eeite der unverlangten Novajendungen jehr weit auseinander. Wengler
jagt in feinem „Ufancen-Soder”, daß alle Sortimentshandlungen „zur
Annahme von Novitäten verpflichtet find, welche ſich jolche nicht verbeten
haben“, doc) bezieht fic) der Ausdrud „Nova annehmen“ nur auf ein
Eremplar. Schürmann vertritt das gerade Gegenteil des Wenglerjchen
Prinzips; der Sortimenter braucht nach ihm überhaupt nichts Umverlang-
tes anzunehmen; er kann Novitäten für den einzelnen Fall oder aud) ein
für alle Mal beitellen, fie fi) aber auch ein für alle Mal verbitten. Die
Annahme einer Sendung ift ftillichweigende Gutheißung derjelben und
Unterwerfung unter die buchhändleriichen Ujancen. Bemerkenswert it,
dag Schürmann die Verwendung des Sortimenterd für Novajendungen
mehr als ein Recht als eine Verpflichtung Hinftell. „Der Sortimenter
fann die A condition erhaltenen Sendungen jeinem Lager einreiben, ohne
fih um den Abſatz zu bemühen; er kann fie auch unausgepadt lafjen,
und von vornherein zur Verfügung des Verlegers ftellen, ohne diejem
eine Notiz über jein Verfahren jchuldig zu fein.“ Nach Weidling „it
jede Handlung berechtigt, mit Spejennachnahme das ihr unverlangt zu-
gegangene zurüczujenden unter beifolgender Anzeige der Ablehnung.“
Nah Bolm hat jeder Verleger, der an Firmen unverlangt.Nova jendet,
die fi) durch ein w im Schulz dagegen erflärt haben, die Folgen dafür
zu tragen; nad) ihm ift der Sortimenter gar nicht zur Rückſendung einer
unverlangten Sendung verpflichtet, jondern hat fie nur aufzubewahren.
In diefem Sinne wurde vor einigen Jahren eine gerichtliche Ent-
ſcheidung gefällt, durch die ein Verleger abgewiejen und in die Gerichts-
foften verurteilt wurde. Der Sortimenter hatte die unverlangte Sendung
acceptiert, weigerte ſich jedoch, jie bei der Oſtermeſſe zu verrechnen und
Der Einkauf der Bücher. 417
behauptete, er ‚habe fie dem Verleger auf Buchhändlerweg zur Verfügung
gejtellt.*)
Angeſichts diefer fich widerfprechenden Gutachten von Rechtsautori-
täten wird der deutiche Buchhandel gut thun, in der Frage der unver:
langten Novafendungen zu berüdfihtigen, daß er eine Berufsgenofjenihaft
it, welche auf gegenfeitigem Vertrauen und gegenjeitiger Achtung ruht,
der Sortimenter wird weiter fommen, wenn er unverlangte Novafendun-
gen einfach bei der nächften fich darbietenden Gelegenheit remittiert mit
einer höflichen Ablehnung, als wenn er Grobheiten, wie: „Entjinne mich
nicht, etwas aus Ihrem Verlag beftellt zu Haben; wo ijt der Ver—
langzettel?” anwendet und die Spefen berechnet. So unliebjam es für
den Sortimenter fein muß, wenn er „Unverlangtes” erhält, jo it dag
eigenmächtige Handeln des Verleger wenn nicht immer zu verzeihen, doc)
zu verjtehen, wenn man bedenkt, wie läjfig viele Sortimenter bejtellen.
Sm übrigen wird derjenige Verleger, auf den der Sortimenter in anderer
Beziehung angewiejen iſt, etiwaige berechnete „Spejen für unverlangte
Sendung” bei irgend einer ſpäteren Barbeftellung mit nachnehmen. Man
fommt alſo mit Höflichkeit entjchieden viel weiter ala mit einem äußeren
Zwangsmittel. Der Verleger hingegen jollte zu dem deutſchen Gorti-
menter das Bertrauen haben, daß er die Fähigkeit und den Willen zur
Wahl der Novitäten befißt und follte feinen Berufsgenofjen nicht mit
Mafjenjendungen, für die er feine Verwendung hat und haben fan,
beläjtigen.
*) Vergl. „Deutiche Buchhändler-Akademie“ 2, Bd. S. 50-53; ferner 4. Bd.
S. 104 und 4. Bd. S. 78-80, Wir haben dieje jehr lefenswerten Artikel
bei unjerer Daritellung zu Rate gezogen.
(Fortſetzung folgt.)
12
22
Die Begründung der „Korporation der Berliner
Buchhändler“ und die Berliner Beftellanftalt.
Bon Barl fr. Pfau.
(Fortjegung.)
Im Verlaufe der nunmehr im Schoße des Vorftandes der Korpo-
ration unter weiterer Hinzuziehung des Hauptausſchuſſes gepflogenen
Berhandlungen fam man jchlieglich nicht nur wieder auf den Goldjchmidt-
ſchen Antrag zurüd, jondern man ging noch einen jehr bedeutenden Schritt
über ihn hinaus und legte zulegt einer außerordentlichen Hauptverjamm-
lung am 17. März 1879 den Antrag zur Beſchlußfaſſung vor: „Die
Beitellanftalt nimmt für ihre Mitglieder und deren ftändige Kommittenten
auc Pakete, welche ihr von bier oder auswärts franfo zugehen, ohne
Gewichtsbeihränfung an, ſammelt diefelben und läßt fie regelmäßig an
die Adrefjaten ausfahren.” Zu dieſer Erweiterung des Goldſchmidtſchen
Antrages hatte wohl W. Herk die Beranlaffung gegeben, der im Haupt-
ausſchuſſe erklärte, ihm jchienen die Vorſchläge nur annehmbar, wenn fie
erweitert würden in der Weile, daß die angefammelten Pakete den ein-
zelnen Mitgliedern zugefahren würden. Die Hauptverfammlung nahm
den Antrag an, und die Folge diefes Beſchluſſes war jener außerorbent-
lihe Aufihwung des Verkehrs auf der Beftellanftalt, der im Verlaufe
eined Jahrzehnts in leßter Konjequenz zur Erbauung des Buchhändler-
haujes geführt hat. Nähere Beitimmungen über die Bafetausfuhr wur-
den durch ein von der Hauptverfammlung am 27. Dftober 1880 geneh-
migtes Reglement feitgeftellt, das beftimmt, daß in der Regel alle bis 6
Uhr nachmittags bei der Beſtellanſtalt aufgelieferten Pakete am nächſten
Tage zur Ausfuhr gelangen follen. Die Beitellanftalt wurde jet fo
vollfommen der Mittelpunkt des Berliner buchhändleriichen Verkehrs, daß
mehr und mehr jede andere Art der Beförderung in Wegfall fam, jo daß
die meiften Berlagshandlungen jet nur no in Ausnahmefällen ihre
Boten zu den Sortimentshandlungen zu jchiden Haben. Wenn lebtere
Die Begründung der „Korporation ber Berliner Buchhändler” c. 419
trotzdem eilige Beftellungen auch heute noch von den Verlegern abholen
lafjen müſſen, jo find dies doch nicht jo viele, daß ihre Boten, die fie
für den Verkehr mit ihren Kunden täglich ausjenden müfjen, fie nicht
leiht auf ihren gewöhnlichen Gängen abholen fünnten. Welche Erleich-
terung und welche Erjparung an Soften dies bedeutet, Teuchtet ein, wenn
man fi den Umfang des täglihen Verkehrs und die Entfernungen ver-
gegenwärtigt, die diefer Verkehr zu durchlaufen hat.
Die Durchführung diejes Beſchluſſes häufte auf den VBorftand der
Korporation, deren Vorjteher B. Brigl und deren Schapmeifter E. Paetel
waren, jowie auf die Angeftellten der Beitellanftalt eine außerordentliche
Arbeitsloft. Es galt nicht nur, die Erweiterung der Beitellanftalt ins
Leben zu rufen und alle die Einrichtungen zu treffen, die ein jo völlig
neuer Betrieb erforderlich machte, es galt auch, das Widerftreben mancher
Berliner Handlungen gegen die Benugung der PBaketbeförderung zu über-
winden, und dann bejonders Verbindungen mit den auswärtigen Ver—
legern und Sortimentern anzufnüpfen, um dieſe zur direkten Franko—
lieferung ihres Verlages an die Berliner Handlungen und deren Kom—
mittenten ſowie zur direkten Sendung ihrer Berliner Remittenden durch
Bermittelung der Beitellanftalt zu veranlafjen. Ein durchſchlagender Er-
folg hat diefen Bemühungen nicht gefehlt, wenn er auch nur allmählich
fi) eingeftellt hat; befjer wie alles andere beweijen dies die Mitteilungen,
die der Jahresbericht für 1891/92 des Vorftehers der Korporation über
ben Verkehr der Beftellanitalt mit auswärtigen Handlungen madt. Im
ganzen wurde von auswärts eingetroffenes Gewicht befördert: 202612 kg,
davon waren Neuheiten und Fortjegungen 100599 kg und Remittenden
102013 kg. Wie groß bei legteren die Spejenerjparnis ift, zeigen inter-
eſſante Berechnungen zweier Berliner Verlagshandlungen, die der Schap-
meilter, ©. Baetel, in jeinem Bericht für das Jahr 1880/81 mitteilt,
Danach betrugen die Unkojten bei dem Umwege über Leipzig 6,16 rejp.
8 Bf. für das Kilo, während fie fi) bei dem direkten Empfang durch
die Beitellanjtalt auf nur 1,67 reſp. 1,74 Bf. ftellten.
Dem auswärtigen Buchhandel wurde die Neuerung durch folgendes
Rundichreiben vom 3. Juni 1879 mitgeteilt: „Die Korporation der Ber-
liner Buchhändler hat in ihrer außerordentlichen Hauptverjammlung vom
17. März c. beichloffen, die Berliner Buchhändler-Beftellanjtalt verſuchs—
weile jo zu erweitern, daß diejelbe alle Pakete, welche ihr für Berliner
Buchhandlungen oder deren Kommittenten franfo zugehen, regelmäßig
(auf Koften der Empfänger) ausfahren läßt.
„Indem der unterzeichnete Vorſtand fich hierdurch beehrt, Sie von
diejem wichtigen Beſchluſſe in Kenntnis zu jegen, hofft er, daß der deut-
Ihe Buchhandel die Wichtigkeit und Tragweite unjerer neuen Einrichtung
27*
40 Die Begründung der „Rorporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
für Berlin und alle nördlich von Leipzig gelegenen Städte nicht unter-
Ihäßen wird. Die hiefigen und die durch einen Kommiſſionär hier ver-
tretenen Firmen werden alle Sendungen jchneller und billiger als bisher
erhalten, jchneller, weil der Umweg über Leipzig ober wenigjtens Der
Aufenthalt in Leipzig gejpart wird, und billiger, weil die Leipziger Koften
für Emballage und Rollgeld zc. fortfallen.
„Die von unjerer Korporation beſchloſſene neue Einrichtung wird
leicht durchzuführen fein, wenn die geehrten auswärtigen Handlungen ung
darin entgegenfommen wollen, daß fie bei allen Sendungen — es jeien
Novitäten, gewöhnliche Auslieferungen oder Remittenden — ſoweit Dies
irgend möglich ift, die für Berlin beftimmten Pakete von den übrigen
Beiſchlüſſen ausjcheiden und direkt an die hiefige Buchhändler-Beitellanftalt
ſenden lafjen.
„Wir hoffen umjomehr, daß Sie der Bitte Ihrer Berliner Kollegen
nachgeben werden, als ja Ihre Sendungen dadurd früher in den Befit
der Empfänger gelangen als bisher und Sie unſtreitig dadurch fich die
norddeutichen Firmen zu bejonderem Danke verpflichten werden. Ihnen
jelbft erwächft durch die neue Einrichtung weder ein Nachteil, noch irgend
welche Unkoften, da ſelbſt eine etwaige, wohl nur jelten eintretende ge-
ringe Erhöhung der Frachtſätze reichlich aufgerwogen wird durch die er-
iparten Unkoſten an Rollgeld und Einſchlag in Leipzig.”
Diefer Aufforderung leiftete alsbald eine ganze Anzahl auswärtiger
Handlungen Folge — ſchon vom Juli 1879 bis September 1880 gingen
35670 kg ein — aber es bedurfte unabläffiger Bemühungen des Vor—
ftandes, um in immer weitere Kreije die Überzeugung zu tragen, daß
man mit dem erwünfjchten Entgegenfommen feineswegs nur die Interejjen
der Berliner Buchhändler, ſondern in gleichem Maße auch die eigenen
fördern würde. Auch der Hauptausihuß Hat fich im Jahre 1884 auf
Anregung von Franz LZipperheide eingehend mit der Frage beichäftigt, in
welcher Weile die direfte Sendung auswärtiger Verleger nad) Berlin ge-
fördert werden könnte. Es wurde nachgewiejen, daß von Beitichrijten-
verlegern nad Wien und anderen öſterreichiſchen Städten, dann an Die
Bereinsjortimente in Breslau, Frankfurt und Olten durch Frankolieferung
Vorteile gewährt würden, deren ſich Berlin bisher nicht zu erfreuen Habe.
Ein danfenswertes Entgegentommen zeigte die Firma Franz Lipperheide
jelbjt, die fich bereit erklärte, unter gewifjen Bedingungen ihre Moden-
zeitungen, die in Leipzig gedrudt und ausgeliefert werden, für die Ber—
liner Handlungen direft an die Beftellanjtalt zu liefern; ihr folgten Die
Bazar-Aktien-Gejellihaft und andere große LBeitichriften-Berleger, und
heute ſtehen bereit3 23 auswärtige Verlagshandlungen in regelmäßigen
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” :c. 421
Berkehr mit der Berliner Beitellanftalt, denen natürlich, ſoweit fie nicht
in Leipzig anfälfig find, gleichfalls die Leipziger Spejen erjpart werden.
Um ſich bejonders diejen Firmen für ihr Entgegenkommen erfenntlic)
zu zeigen, beſchloß der Borftand im Jahre 1888, die Beftellauftalt zu
einer Sammelftelle für Remittenden Berliner Sortimenter an ſolche Hand-
lungen zu machen, mit denen der Vorjtand ſich über direkte unfrankierte
Zujendung verjtändigt hatte. Die Sortimenter fonnten auf diefem Wege
ihre Remittenden völlig koſtenlos zurüdjenden, während andererfeit3 aud)
die auswärtigen Verlagshandlungen die Spejen in Leipzig erjparten. Bon
diejer zwedmäßigen Einrichtung ift überrajchender Weile bisher nur ein
jehr mäßiger Gebrauch gemacht worden.
Die Erweiterung der Beitellanftalt rief übrigens eine ganze Reihe
von Artikeln im Börjenblatt hervor, in denen mit 3. T. geradezu leiden-
Ichaftlicher Erbitterung gegen fie angefämpft und die Handlungen außer-
Halb Berlins bejchiworen wurden, den böjen Berlinern nicht zu Willen
zu fein. Man wolle dort nichts weiter, ald „Bortofreiheit für Berlin“
und „jeder Berleger macht ſich durch Annahme der Berliner Vorſchläge
zum offenen Feinde unferer gegen die Schleuderei gerichteten Beſtrebun—
gen, denn er arbeitet den in Berlin zahlreich vorhandenen Schleuderfirmen
durch Übernahme eines großen Teiles ihrer Gejchäftsipefen geradezu in
die Hände, und er unterjtübt das, was er im Intereſſe feiner joliden
Verbindungen unmöglich machen jollte. Es ift wohl zweifellos, daß der
deutiche Berlagsbuchhandel in jeiner Gejamtheit ſich ablehnend gegen die
Berliner Borjchläge verhalten wird. Wir haben fein Interefje daran, daß
in unjerer buchhändleriijhen DOrganijation ein Kommilfionsplag neben
Leipzig neu erftarfe, der wohl die legterem Orte anhaftenden Nachteile
und zwar in erhöhten Maße bringen wird, niemals aber die durch Leip-
3198 zentrale Lage gewährleifteten Vorteile nur einigermaßen zu erjeßen
im ftande ijt.“*)
Diefe Prophezeiung fommenden Unheils für den deutichen Buchhan—
del hat ſich nicht erfüllt, der Schleuderei ift durch die neuen Einrichtungen
fein Vorſchub geleiftet worden, und der deutiche Verlagsbuhhandel hat
fi) nicht ablehnend gegen die Berliner Vorjchläge verhalten; wohl aber
ift ‘den beteiligten auswärtigen Firmen jowohl als auch bejonders den
Berliner Eortimentshandlungen aus ihrer Durchführung eine nicht un=
wejentlihe Speſenerſparnis erwachſen, ein Vorteil, der bejonders letzteren
bei dem harten Ringen im Kampfe ums Dajein wohl zu gönnen ift.
Über die neuen Einrichtungen ſprach fich der Vorfteher der Korpo-
ration, B. Brigl, in feinem der Hauptverfammlung am 23, Oftober 1879
eritatteten Bericht wie folgt aus:
y Bvörſenblatt 1879 S. 19.
422 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc.
„Auf Grund der dem Vorftande erteilten Ermächtigung find jeit dem
15. Juni die der Beftellanftalt überlieferten Gakete zu den Ihnen be-
kannten Tariffägen den Adrefjaten regelmäßig täglich) zugefahren worden.
„Die Mitglieder des Vorſtandes, wie wenig ſelbſt fie auch gerade
bei den Vorteilen der Erweiterung beteiligt fein mögen, haben, je eifriger
fie fi) mit leßterer bejchäftigt — und es hat wahrlid an Konferenzen
im legten Jahre nicht gemangelt — dejto mehr ſich in dem Glauben be-
jtärkt, daß der weitere und planmäßige Ausbau des Goldſchmidtſchen
Projekts dem Berliner Buchhandel zum dauernden Segen gereichen wird,
ja gereihen muß. Die Vorteile, welche bei Fortbeftand und MWeiterent-
widelung der bejchloffenen Erweiterung dem Berliner Sortiments⸗, Ver:
lags- und Kommiſſions-Buchhandel erwachlen, liegen jo Mar auf der
Hand, daß man glauben follte, fie könnten von niemand mehr überjehen
werden. Wenn unfere geehrten Korporationsgenofjen von der Tragweite
und Wichtigkeit der neuen Einrichtung ebenjo wie der VBorftand überzeugt
find, dann ift in demjelben Moment auch deren Eriftenz für alle Zeit
gefichert. Der Berliner Buchhandel braucht nur Vertrauen in feine Kraft
und fein Können zu haben und zu wollen, das heißt, fich zu gemein-
jamem Handeln emporzufhwingen, jo wird und fann der Erfolg nicht
augbleiben! Der in Ausficht ftehende Preis ift doch wahrlich hoch genug,
um es gerechtfertigt erjcheinen zu laffen, daß der Berliner Buchhandel
fih ohne ängftliche Rückſicht auf die leicht erflärlichen Gegenbeftrebungen
auswärtiger Kollegen zu einem außergewöhnlihen Vorgehen entichließt.
Es kann ja kaum ausbleiben, daß mit der Zeit dann auch die hiefigen
Buchdrudereien und Buchbindereien mehr und mehr neue Belebung und
Anregung erhalten, und daß die Rückwirkung davon dem Berliner Buch—
handel zu gut fommen muß.
„Hier, wo wir auf dem Boden der rein gejchäftlichen Interefjen
ftehen, ſcheint es wenig angebracht, die thatfächlich jebt erreichte Bedeu—
tung des biefigen Buchhandels und feine dringenden Bedürfniſſe anderen
Rückſichten unterzuordnen; nur des entichloffenen Willens, diefen Bedürf—
nifjen gerecht zu werden, bedarf es, und die Probe wird ficher gelingen!
„Das Eine fteht wohl bei allen feit, daß — da bei einem Abholen
der Pakete der geordnete Betrieb der Beitellanftalt in Frage geftellt wäre
— ber Berjuh mit der Paletausfuhr einmal gemacht werden mußte.
Der Borftand darf nicht behaupten, daß andere ihn nicht vielleicht mit
größerem Geſchick ausgeführt hätten, er darf aber getroft die Verficherung
geben, daß er nad) jeinem beiten Wiffen alles zu thun beftrebt war, was
die nach feiner Anficht jegensreiche neue Einrichtung zu fördern vermochte.”
Wie der Bericht weiter ausführt, haftete der neuen Einrichtung nod)
der eine Mangel an, daß zunächft die Beförderung von Barpafeten aus-
Die Begründung der „Korporation ber Berliner Buchhändler“ ꝛc. 423
geichloffen blieb; aber auch diefe würde man beranziehen können, jobald
die Paketausfuhr nicht nur ein Verſuch, jondern eine dauernde Einric)-
tung bliebe. Diejer Anregung folgend, ftellte der unvergeßliche Fr. Bor-
ftell noch in derjelben Hauptverfammlung den Antrag, auch den Austaufc
von Barpaketen durd die Beſtellanſtalt bewirken zu lajjen. Er wurde
angenommen und damit das letzte Glied in die Kette der Berliner buch-
händleriſchen Verkehrseinrichtungen eingefügt.
Der Vorſtand glaubte jetzt noch einen Schritt weitergehen zu kön—
nen, indem er mit größeren Städten, in denen ſich Vereinigungen von
Buchhandlungen befanden, einen direkten Verkehr von Korporation zu
Korporation einzurichten verſuchte. Es wurden Verhandlungen angelnüpft
mit dem Mitteldeutihen YBuchhändlerverband in Frankfurt, der den Plan
mit lebhaftem Intereſſe aufnahm, mit den buchhändleriſchen Vereinen in
Breslau, Stuttgart, Münden, Hamburg u. ſ. w. Ins Leben getreten
ift nur für furze Zeit ein direkter Verkehr mit dem Frankfurter Vereins-
fortiment. Die Echwierigfeiten, die fich einer allgemeineren Verwirklichung
diefer Idee entgegenitellten, waren jedoch zunächft noch jo groß, daß von
ihrer Ausführung einftweilen Abftand genommen werden mußte.
(Fortſetzung folgt.)
eo,
Dwanglofe Rundfdan.
Die unheimlich heißen Tage, die uns die Sommermonate beicheren, bringen
auch dem Buchhandel die Schöne flaue Zeit, die nad der Mühe und Plage der bes
wegten Oſtermeſſe doppelt wohlthuend erfcheinen. Während des Winters haben
wir unzählige fleine Arbeiten, die in der eiligen Zeit nicht bewältigt werben fonn=
ten, uns für den Sommer aufgeipart und jeßt bei der drüdenden Schwüle, in ber
jelbit unfere guten Volfsvertreter im Reichstage, ſoweit fie fih nit ſchon in bie
Bäder verfrümelt haben, nah Luft fchnappen, jetzt wird auch nicht viel im „Auf
arbeiten” geleiftet. Im Gegenteil, man ift frob, wenn das täglich erforderfiche
Benfum erledigt ift. Die Vorfichtsräte im deutſchen Buchhandel machen in diefen
Tagen wohl ihre Inventur, um fich zu überzeugen, daß beim Handeln mit bedrud:
tem Papier (nicht zu verwechſeln mit unbedrudtem, das in der Regel guten Ge:
winn abmwirft) fein Gold zu graben ift. Hat fi aber der Herr Prinzipal über:
zeugen fönnen, daß doch ein paar Taufend Marf gut gemadht wurben, — troß
der fchlehten Zeiten — dann macht er eine Badereife nah Dftende oder Konnewitz.
Die Buhdruder haben wieder einmal ihren Willen durchgeießt und zwar ohne
Rüdfiht auf den arbeitgebenden Buchhandel, der neue Tarif iſt bewilligt.
Auf der vor einigen Tagen in Berlin abgehaltenen Hauptverfammlung bes
Deutihen Buchhruder: (Prinzipal:) Vereins verſuchte nach der fait einjtimmigen
Annahme des neuen Tarifs, Herr Dr, v. Hafe, in letter Stunde nochmals auf die
Gefahr hinzuweiſen, die aus dem neuen Tarife für dad Verlagsgeſchäft entitehe.
Demgegenüber hatte der Vorftand des Deutfhen Buchdruckervereins eine Refolu:
tion eingebradt, die auch angenommen wurde und bie in ihrem erjten Teile wie
folgt lautet: „Der Borftanb des Deutihen Buchbrudervereins ſpricht mit Rüdficht
auf die in ber Tarifangelegenheit mit den Verlegern entitandenen Meinungäver:
fchtebenheiten nach eingehender Beratung die Hoffnung aus, daß der Buchhandel,
nachdem die Hauptverfammlung des Deutihen Buchdrudervereins bie der Gehil—
fenfchaft gemachten Bewilligung genehmigt hat, feine abweichende Stellung verlaſ—
fen möchte.“ Nah Annahme diefer Refolution erklärte Herr Dr. v. Haje unter
dem Beifall der Berfammlung, daß die Buchhändler in Anbetraht der Situation
ihre bisherige Haltung aufgäben.
Wie wir Schon früher ausführten, fönnen wir uns nicht ohne weiteres einver-
ftanden damit erflären, daß ein Erwerbszweig wie ber ber Buchdrucker vermöge
feiner Organtifation auf Koften eines anderen Erwerbszweiges, mit dem er in
gegenfeitiger Abhängigkeit fteht, feine Pofition erhöht. Wir haben dargelegt, daß
der abhängige Buchdruder beffer verforgt ift, ald der abhängige Buchhändler und
jetzt verfchiebt fich das Verhältnis noch mehr zu Ungunften des Buchhändlers.
Man fünnte vielleicht einwenden, daß ja die Buchhändler auch ihrerfeits durch
einen meiteren Drud auf das Publikum ſich ihr Recht verichaffen könnten. Wer
Zwangloſe Rundichau. 425
aber die heutigen Verhältniſſe objeftiver beurteilt, der wird leicht erfennen, mas
feitend der Buchhändler auch ſchon energiich betont wurde, daß heute fchon mit
einem Hochdruck feitens des Buchhandels gearbeitet wird, ber eine weitere Anſpan—
nung nicht verträgt, daß in dem Intereſſe der MWifjenfchaft, wie unferes Standes
vielmehr die Frage näher rückt, die Buchherftellung mit allen Mitteln der Technik,
Setzmaſchinen u. ſ. w. zu fördern,
Ueber einen hübſchen „Record“ in der Papierfabrifation: In zwei Stunden
aus einem Baum eine Zeitung zu machen, lefen wir im „Grafenauer Anzeiger”:
Am 17. April wurde in der Papierfabrif Elfenthal bei Grafenau der Verfuch ge:
madht, aus Holz, das noch auf der Wurzel ftand, in möglichit furzer Zeit Papier
und im Anſchluſſe daran eine verfandtfertige Zeitung herzuſtellen. Der Notariats:
verweſer Bott in Grafenau hat über diefen Vorgang eine notarielle Betätigung
abgefaßt, in der es heißt: „Mit den Fabrifanten Arthur und Kurt Menzel be:
gab ih mich zunächſt in den der Stadt nahe gelegenen Staatswald Frauenberg.
Dafelbit wurden, um 7 Uhr 35 Minuten Vormittags beginnend, drei Bäume ge:
fällt und diefe nach der Papierfabrik befördert. Hier wurden die Bäume auf der
Gircularfäge in 50 Gentimeter lange Stüde gejchnitten, hierauf auf der Schäl:
maſchine entrindet und auf ber Spaltmaſchine gefpaltet. Das fo vorbereitete Holz
wurde nunmehr mittelft eines Aufzuges der Holzichleiferei zugeführt und die vor:
handenen 5 Schleifapparate mit dem Holze beſchickt. Der durch die Holafchleif-
apparate gewonnene Holzitoff wurde einem Holländer zugeführt und in diefem durch
Zuteilung verichiedener anderer Materialien für die Papiermaſchine präparirt.
Nahdem diefer Prozeß vollendet, wurde der im Holländer befindliche flüffige
Stoff in einen eifernen Bottich abgelaffen und die Bapiermafhine in Gang ge:
fest. Um 9 Uhr 34 Minuten Vormittags wurde mir der erfte Bogen bes fertigen
Papiers übergeben und hat jomit der ganze Proceß vom Fällen des Holzes im
Walde angefangen bis zur Vollendung des eriten fertigen Bogens 1 Stunde 59
Minuten gedauert. Mit einigen Bogen diefes Papiers begab ih mich in Beglei-
tung der Herren Menzel mit Chaife in die 3%, Kilometer von der Papierfabrif
Elſenthal entfernte Buchdruderei des Herrn Karl Morſak in Grafenau und über:
gab die Bogen zum Drude, Um 10 Uhr Vormittags hatte idy ein Eremplar ber
Nr. 32 des „rafenauer Anz.“ vom 18. April 1896 in der Hand. Es hat fomit
einer Zeit von 2 Stunden 35 Minuten beburft, um aus Holz, weldhes um 7 Uhr
35 Minuten no auf der Wurzel ftand, eine Zeitung herzuſtellen.“
Am 1. Juni ift im Alter von 53 Jahren der Verlagsbuchhändler Hofbudh:
druder Kommerzienrat Garl Grüninger in Stuttgart geftorben. Den „Nach—
richten“ wird über den Verblichenen folgendes mitgetheilt:
Garl Grüninger fonnte auf ein thatenreiches Leben zurüdbliden. Seinem
unermüblichen Fleiße, feiner einnehmenden Perfönlichkeit und fahlichen Tüchtig:
feit ift eö gelungen, die Stuttgarter K. Hofbuchdruderei Zum Guttenberg, die er am
1. Juli 1867 erworben hat, zu einer großen geihäftlihen Blüte emporzubringen.
An feinem Verlage erjhienen und werden auch weiter ericheinen: die Neue Mufif:
Zeitung, die Muftfaliihe Augendpoft, dad Echo vom Gebirge (Fachblatt für
Zifherfpieler), F. G. Wiecks Deutſche Jlluftrierte Gewerbezeitung und das Allge:
meine Kirchenblatt für das evangelifche Deutichland. In Meb gründete Kommer:
zienrat Garl Grüninger im Jahre 1871 die Lothringer Zeitung und die Gazette de
Lorraine und erwarb ſich um bie Verbreitung und Feitigung des Deutichtums in
Elfaß-Lothringen hervorragende Verdienſte, die vom Kaiſer Wilhelm IL durch
Verleihung des Kronen:Orbens III, Klaffe anerfannt wurden. Im Auguft dieſes
426 Zwangloſe Rundichau.
Jahres wird bie Ueberſiedelung ber beiden Meter Zeitungen in ein eigenes Haus
ftattfinden, und zugleich follte das Feſt des 2bjährigen Beſtehens des Meber Un-
ternehmen jtattfinden. Der edle Gründer desfelben follte es leider nicht erleben.
Man empfindet dies um fo Ichmerzlicher, als er ein wohlmwollender Chef jeiner
Bebienfteten war, von benen mehrere in Stuttgart und Me ein Vierteljabrhundert
bei ihm angeitellt blieben. — Daß die Buchdrudereien des Kommerzienrats Carl
Srüninger typographiih Bedeutendes leiſteten, beweilt eine Reihe von Ehren:
diplomen, goldenen und jilbernen Medaillen, die ben Grzeugnifien derjelben
bei Welt: und Landesausftellungen zuerfannt wurden. Garl Grüninger wurbe
außerdem für fein felbitlojes, humanitäres Wirken und für feine verbienft-
volle Teilnahme am öffentlichen Leben in Stuttgart durch Perleihung bes
Friedrichsordens I, Klaffe ausgezeichnet. — Alle, die dem waderen Berblichenen
im Leben naheitanden, rühmen bie Liebenswürdigfeit feiner Umgangsformen, den
feinen Taft feines teilnahmsvollen Herzens, den vornehmen Gemeinfinn, mit dem
er mwohlthätigen Inftituten feine Thätigfeit widmete, ſowie den regen politischen
Eifer, mit dem er bie Intereſſen der Deutichen Partei vertrat. Sein Andenken
bleibt und, die wir ihn feiner Herzensgüte wegen liebten und feines erlefenen
Charakters wegen ſchätzten, unvergehlih! Die Erbe ſei ihm leicht!
Wir wollen unfere Heutige Rundihau mit der Befanntgabe jchlieken, daß der
Verlag der Buchhändler:Afademie mit dem erſten Juli vierzehntägig ericheinende
„Mitteilungen für den Jungbuchhandel“ herausgiebt, die den Abonnenten der
Buchhändler: Akademie ohne Erhöhung des Abonnementäpreijes gratis ald Beigabe
geliefert werben.
Die „Sphinr”, Verein jüngerer Buchhändler in Hamburg:Altona, hat „Die
Buchhändler: Afademie” zu ihrem VBereinsorgan gewählt.
>
Heue Büder.
Wapoleon IT, zu Saufe. Von Friedrid Mafion.
An dem regen Verlage von Schmidt und Günther, Leipzig, hat jeit geraumer
Zeit eine Serie von Werfen über Napoleon I., feine Umgebung und jein Reid zu
ericheinen begonnen. Dieſe Werfe haben ſich rajch die Gunſt bes beutichen Leſe—
publifums erobert und einen Erfolg erzielt, wie ihn in unferer nicht gerade fauf:
fräftigen Zeit nicht viele Neuerfcheinungen auftweifen können. — Dem eriten
Bande diefer Serie „Napoleon I. und die frauen“ von Fr. Mafjon folgte in bes
reits zweiter Auflage „Napoleon I. zu Haufe”, ebenfalld von Fr. Maffon. In dieſer
Arbeit jchildert der Autor in feiner gründlichen Art den Tageslauf des Kaifers in
den innern Gemäcdern der Tuilerien. Folgen wir dem in feinem Baterlande und
auch in Deutſchland fo raſch beliebt gewordenen Verfaſſer bei feiner Wanderung
durch den Kaiſerpalaſt, in dem er Beicheid weiß wie fein Zweiter!
Nah einer intereffanten und geiftreihen Abhandlung über die Etifette, ihren
Wert und Zweck im allgemeinen, über die franzöfifche Etikette, insbeſondere bie
des Kaiferreihs, führt Maſſon uns in feiner anfhaulichen, die Aufmerkfamfeit bes
Leſers ſtets feſſelnden Weife in neun Abteilungen das Leben bes Kaiſers an Sonn:
und MWocentagen vor. — Aus diefen Schilderungen tritt und das Bild des nim:
mer raftenden Herrſchers Iebendig und anfchaulich entgegen, uns Allen in feinem
Tleiße, feiner Ausdauer ein nachahmenswertes Beispiel, AU feine phyſiſchen Be:
dürfniffe hat Napoleon auf ein Minimum beichränft, und biefem Minimum wird
er gerecht, wenn es ihm paßt; ber Schlaf, der Hunger, ber Durft, fie müſſen fich
nah ihm richten, er hat fie fih unterthan gemadht. Wenn über den Bäumen bes
Tuilertengartens längst tiefe Nacht lagert und die gute Stadt Parts in bunten
Träumen ruht, find die Fenſter des Faiferlihen Kabinetts noch erhellt. Der Kaifer
fist im Schlafrod, um den Kopf turbanartig ein feidenes Tuch gewunden, über bie
Berichte feiner Minifter gebeugt, ftudiert die Marfchrouten und Quartiere feiner
Armeen, oder biftiert noch feinem Sefretär.
Die für den Sicherheitädienft um die Perfon des Kaiferö beftimmten Beamten
find nicht zahlreih und vereinigen ſich hauptfählich um die „inneren Gemächer“
be3 Kaiſers, acht keineswegs große Räume, Unter dem erſten Kaiferreich gab es
feine Garde bu Korps:Kompagnien oder dergleihen. Den äußeren Sicherheitädienft
verfahen Truppenteile der alten Garde, den innern die Adjutanten, Pagen, Kam:
merbiener. Quer vor dem Schlaffabinett des Gebieters jchlief der Leibmamelud, —
Napoleon ſtand bei Zeiten auf, ſechs Stunden Schlaf genügten ihm. Gewöhnlich
war er beim Erwachen wohlgelaunt und jcherzte mit feinem erſten Kammerbiener
Sonftant, den er mit Wohlthaten überhäufte. Dennod nahm diefer nicht Anftand,
1814 aus yontainebleau zu bdefertieren, indem er obenbrein noch eine bebeutende
428 Neue Bücher.
Summe Geld und Juwelen mitgeben hieß. Bald ericheint auch Gorvifart, der
erjte Arzt des Kaiſers, tüchtig in feinem Fach, aber von loderen Sitten, ein alter
Cyniker. Die Kurierpoſt wird geöffnet, und dann beginnt die Toilette, der große
Sorgfalt gewibmet wird; der Kaifer hält außerordentlich auf NReinlichfeit und Sau—
berfeit,. Bor allem liebt er das Bad und vermißt es fchmerzlich, wenn er ed im
selde oder auf Reifen entbehren muß. Für gewöhnlich trug Napoleon die Uniform
der Grenadiere und Jäger zu Pferde der Garde mit dem Großkordon der Ehren—
legion. In den Taſchen fehlten nie eine Schnupftabafdofe, cine Bonbonniere mit
Antspaftillen, das Taſchentuch; eine Uhr trug er felten, ®eld nic bei fih. Punft
neun Uhr ift die Toilette beendet, der Kaifer verläßt die inneren Gemächer, der
offizielle Tageslauf beginnt.
In den anſtoßenden Räumen haben fich die höheren Palaftbeamten und Herren
vom Dienst aufgeftellt. Hier geht es ſehr troden zu; der Kaiſer ſpricht nur über
Dienitangelegenbeiten und trifft feine Dispofitionen für den Tag. — Hierauf folgt
die „grande entree“; die erſten des Staates, die faiferlihen Prinzen, Miniſter,
Marichälle machen ihrem Herrn und Gebieter ihre Aufwartung. Alle dieje Wür—
denträger find in Gala und bieten ein farbenreiches, intereflantes Bild. Die hohe
Seiftlichfeit in ihren roten oder violetten Schillernden Soutanen, der Erzkanzler in
Violett, der Erz:Oberichatmeiiter in Schwarz, die Marichälle in Blau, dazwijchen
Rheinbundfürften in der Uniform ihrer Truppen, Der Kaiſer hat für jeden einige
fragen und ebenfo tie dieſe müflen auch die Antworten fnapp und treffend fein.
Sein getwaltiger Geiſt ift überall, von einem Gegenſtand jpringt er zum andern
über. Hat er Grund, über einen feiner Minifter fehr unzufrieden zu fein, fo muß
der Arme oft vor allen Anweſenden die Strafrede feines Souveräns in Empfang
nehmen, und zart find die Ausdrücde gerade nicht, die bei folden Gelegenheiten
fallen. — Hat der Kaiſer feine Würdenträger entlaffen, fo beginnen die Privat:
audienzen; meift handelte es ſich bier um Bittfteller. Napoleon ftand an den
Kamin gelehnt, gegen den er fortwährend mit dem Haden eines feiner Schube
flopfte. Seine Augen, vor denen jo Mander gezittert, waren forſchend auf ben
Eintretenden gerichtet. Auch bier ftellte er kurze auf den Grund gehende Fragen,
Fragen, die mandhmal wenig böflih waren und von Damen nicht felten übel ge:
nommen und heftig beantwortet wurden. Bald waren es Geldunterjtüßungen,
Benfionen, bald Zurückberufung von Verbannten oder Begnadigung von Gefan—
genen, was man erflehte. Die meiften der Bittjteller verließen mit erleichtertem
Herzen bie Tuilerien; bejonders freigebig war Napoleon mit Geldgeſchenken. Ueber
die Perſönlichkeiten der Bittſteller ſagt Maſſon:
„Sin Staunen würde durch die Welt gehen, wenn die Liſte der Damen und
Herren veröffentlicht würbe, welche zu diefen Privataudienzen in den Tuilerien zu:
gelafien und deren Bittgefuche meift bewilligt wurden. Da waren außer ben
‘Bringen des Hauſes Bourbon (einige waren darunter, die laufende und bedeutende
Unterftüßungen bezogen), viele Repräfentanten alter Adelsfamilien, welche der Güte
des Kaiſers allein die llberweifung von Gütern und Grundjtüden verdanfen, welche
fie noch heute beſitzen und welche ihren Reichtum bilden.”... .
Inzwiſchen wartet das Frühſtück, welches man im Antihambre in Gefäßen
mit kochendem Waſſer warm bält. Endlich wünſcht der Kaifer zu frübftüden.
Man dedt eine Art Gueridon von Mahagoni und jerviert das Frühftüd, Napoleon,
dem ber Balaftpräfeft in feinem mit Silberſtickereien geihmüdten amarantjarbenen
Rode vorantritt, fett fih zu Tiſche; der erfte Küchenmeiiter ferviert ihm, Der
Kaifer fpeift haftig und wenig elegant, in 8 Minuten ift er fertig. Man bringt
Neue Bücher. 429
ihm auch wohl feinen Sohn, den Fleinen König von Rom, mit dem er fcherzt und
um die Wette lacht. Auch die Kinder feiner Verwandten ließ er fich zuführen und
fcherzte mit ihnen, obgleich diefe, weniger an ihn gewöhnt, feine Nedereien in ihrem
findlihen Sinn oft recht übel nahmen. Den Kindern überhaupt war ber Kaiſer
ſehr zugethban und fonnte ihnen nichts abſchlagen, was man fi manchmal zu
Nutzen machte. — Außer den Kindern wurden beim Frühftüd auch Gelehrte und
Künftler empfangen. Unter diefen waren es befonders bie ehemaligen Gefährten
des ägyptiſchen Feldzuges, vor allen Denon, der „Generaldirektor der Mufeen, welcher
dem Kaifer in die befiegten Länder folgte und in den eroberten Städten die beiten
Stücde der Mufeen für das „Nusée Napoleon“ „requirierte”. — Sit das Frühſtück
beendet, fo begiebt fih Napoleon für einige Augenblide in die Gemächer ber Kai-
ferin, wirft fih in einen Seffel und beginnt gewöhnlih ihon nah einer furzen
Unterhaltung einzuniden. Doch bald ermannt er fi; die Arbeit ruft, vor ihr
muß alles zurüdtreten. Er eilt in fein Kabinet, fchnallt den Degen ab, den er
auf den erften beiten Stuhl wirft, und bie Arbeit beginnt.
Ders Arbeitöraum iſt mittelgroß. Die Bilder an Dede und Wänden ftammen
aus den lebten Zeiten des Königtums. inmitten des Zimmers fteht ein ftattlicher
Schreibtiih, an den Wänden befinden ſich Büchergeitelle. Außer einer ſchönen
Standuhr iſt eine Reiterftatue Friedrich des Großen von Preußen ber einzige
Kunftgegenftand im Zimmer. Diele Statue hat der Kaifer ausdrücklich gewünscht
und oft ruhen feine Blicke darauf. An einem Fenfter hat fein Privatjefretär,
auch „Portefeuille-Sekretär“ genannt, feinen Pla, Mit ihm verkehrt Napoleon
intimer und vertrauter tie mit feinen Miniftern oder fonft irgend einem Befannten.
Keinem Fremden ift es erlaubt, das Arbeitäfabinett zu betreten. — Bi3 1802 war
Bourienne Privatfefretär des Kaifers, nach diefem folgte Meneval bis 1813 und
als lebter bis zur Verbannung nad St. Helena Fain. Bourtenne ift befannt durch
feine Memoiren, die, obgleich viel als Quellenwerf benußt, doch nichts weniger als
immer wahrheitögetreu find. Sein Nachfolger war bei weiten nicht fo intelligent
unb gewandt wie jener, beſaß dafür aber einen eifernen Fleiß, unbedingte Ver:
ſchwiegenheit und Rechtichaffenheit, Eigenſchaften, welche ihn dem Kaiſer ſehr wert
machten. Auch er hat wie fein Nachfolger Fain Beiträge zur Geſchichte feiner Zeit
binterlaffen. Der Privatfefretär hatte feine Wohnräume nahe denen bes Kaiſers
und war zu einem wahren Klofterleben verurteilt. Für ihn gab es feinen Urlaub,
fein Ausgehen, feine Außenwelt, er mußte ftets bei der Hand fein, Das Vertrauen
und die Gunft feines hohen Herrn, ſowie die reiche Bejoldung mußten ihn für
alles diejes entichädigen, An das Arbeitäzimmer grenzten das topographiiche Ka—
binett und Bibliothefsräume. Dem erjteren jtand Oberſt Boule d'Albe vor, einer
der bedeutendften Männer feines Faches. Er war für Napoleon ber Realtfator der
Karte und wußte auf jedem Terrain Beſcheid. — Obeleben erzählt uns von dieſem
Dffizter, der troß feiner Verdienite nur langjam befördert wurde, daß berjelbe
nit davor zurüdfchredte, bei Gelegenheit heftige Worte ſeines Souveräns ebenjo
beitig zurüd zu geben. — Der Katjer legte einen außerordentlichen Wert auf gute
Kartenwerfe und kaufte dergleichen ftet3 an, mochten die Werke auch noch fo
teuer jein.
Nicht mindere Sorgfalt verwandte der Kaiſer auch auf die Einrichtung und
Ergänzung feiner Bibliothef. Seit den Zeiten des Konfulatö bi3 1807 war jein
Bibliothefar NRipault. Der Nachfolger, Barbier, war „eine wandelnde Bibliothek“;
er fannte jedes Buch, wußte über Alles Beicheid, fonnte jede Frage beantworten. —
Bon bejonderem Intereſſe für uns Buchgefellen ift es, zu erfahren, wie ein Na—
430 Neue Bücher.
poleon zu den beiten Freunden bes Menſchen, zu den Büchern ftand! Maſſon
fagt darüber: „Er läßt alle anſchaffen, die erfchienen, behandelt fie aber ohne jede
Rückſicht, lediglich als Arbeitäbandwerfzeug. Die Einbände find meiſt von Kalb:
leder und haben einen Stempel mit dem failerlihen Wappen und dem Namen ber
Bibliothek, zu der fie gehören, alles überaus einfach. Die einzigen befjer eingebun=
denen Bücher find Dedifationen, oder folche, welche uriprünglich zu Gefchenfen be—
ftimmt waren: handelt e8 fih darum, den Glanz des Kaiferthrones zu betonen, fo
wird nichts geipart. Es waren 3. B. jene Werke, welche auf feinen Befehl in der
faiferlihen Druderei bergeitelt und beftimmt waren, fremden Souveränen über:
reicht zu werden, jo vorzüglich ausgeftattet, daß fie dreift mit Allem verglichen
werden fünnen, was die „Eönigliche Druderei” an Prachtwerken zu Stande gebracht
hatte, . .“ — Für Brofhüren, Romane ꝛc. befanden fich ſogar im faiferlichen Reiſe—
Wagen eigene Taſchen. Zum Auftrennen der Seiten benußte ber Kaiſer feine Finger.
Gefiel ihm ein Bud nicht, jo flog e8 zum Wagen hinaus, und wenn die Pferde
feines Gefolges es nicht zeritampften, wurde es von den nädhjitfolgenden Soldaten
ala willfommener Fang aufgefiiht. Napoleon hatte eine fchlechte Handichrift, die,
wenn er fehr in Eile oder großer Aufregung war, geradezu unleferlich wurde. Er
fchreibt daher auch verhältnismäßig wenig felbft, jondern diftiert meijt, im Gemache
auf und abgehend, Je mehr es in das Thema hineingebt, deſto jchneller entiirö:
men die Worte jeinem Munde. Die Feder des Sefretärs haftet über das Papier,
mit den Zeichen einer nur dem Schreiber verjtändlihen Schnellichrift den Gang
der Gebanfen feſthaltend. Dieſe Schrift wird dann ipäter übertragen und bie
Ausdrüde und Sätze abgefeilt. Für jedes Minifterium ift ein eigenes Portefeuille,
welches fortwährend zwiichen Tuilerien und Minifterium unterwegs ift. „Ich bin
‚geboren und gemacht für bie Arbeit”, fagte Napoleon einmal und dieſes denft er
auch von feinen Miniſtern und Staatöbeamten. Er jtellt außerordentliche Anfor:
derungen und fennt bier feine Rüdjichten.
Um 6 Uhr ift die Zeit des Diners; aber es wurde oft gar 7 oder 8 Ubr, ehe
der Kater erihien. Das Diner war verhältnismäßig einfadh; es dauert nur 15
Minuten und wird gewöhnlid von dem Fatjerlichen Paare allein eingenommen,
Nah demielben empfing Napoleon aus ber Hand der Kaiferin eine Tafle Kaffee
und verſchwand dann wieder in jeinem Kabinett. — Zu den gewöhnlichen Abend»
geiellichaften erſchien er mandhmal nur furze Zeit, unterhielt ſich mit diefer oder
jener Hofdame, ober jpielte mit einer feiner Schweitern eine Partie Tric-trac.
Konzerte liebte er jehr, befonderd Vokalmuſik.
Anders iſt der Tageslauf am Sonntage. Der Kaifer, welcher fich mit der Zeit
immer mehr in feinen Gemädern vergrub, mußte des Sonntags wenigſtens jich
feinen Unterthanen zeigen. Aber auch an diefem Tage verläht er Die Gemächer erjt
gegen Mittag und begiebt fi mit der Kaijerin zur Kapelle, um die Meſſe zu
hören. Beide durdichreiten mit ihren glänzenden Gefolgen die Prunfgemäder bes
Palaſtes und nehmen Pla in ihrer Loge. Die Kapelle ift gedrängt voll Menjchen,
jedem ift der Zutritt geftattet; die kaiſerliche Hausfapelle intoniert eine ihrer be-
rühmten Meilen. Rechts und links vom Altar fteht Gewehr bei Fuß ein Garde:
grenabier, Sobald der Hof feine Pläße eingenommen hat, ericheint unter Voran:
tritt eines Zeremonienmeiſters ber zelebrierende Priefter. Die Kaiferin Joſephine
kniet in tiefer Andacht, der Kaifer fteht mit über der Bruft gefreuzten Armen
während ber ganzen Handlung, er ſieht, ohne eine befondere Frömmigkeit zur Schau
zu tragen, außerordentlich ernft und feterlih aus, — Nach Beendigung der heili—
gen Meile begiebt fih das Kaiferpaar in die Prunfgemächer zurüd, Hier brängt
Neue Bücher. 431
fi eine dichte Menge zur Audienz. Jeder fühlt eine gewiſſe Angſt oder Beflem:
mung und mander jonjt unerfchrodene Mann erblaßt, wenn das lautjchallende
„Vempereur“ der Thürhüter den Eintritt des Gemwaltigen fundgibt. Gin jeder ift
zu biefer Audienz zugelafien, der eine Uniform trägt, ober über ein Hoffleib ver:
fügt, Die verjchiedenften Anläffe führen diefe bunte Menge zufammen. Das
burddringende Auge des Kaifers durchfliegt die Reihen; er grüßt nach allen Seiten,
ſpricht mit diefem ober jenem, ben er auszeichnen will ober von dem er Auskunft
zu haben wünſcht, nimmt Bittfchriften entgegen u. ſ. w.
An die Audienzen ſchließt fich gewöhnlich die Parade, diefes glänzende Schau:
jptel, dad die PBarifer mit immer neuer Begeifterung erfüllt, von dem fich bis auf
ben heutigen Tag die zahlreichiten Epifoden, Anekdoten und Beichreibungen erhalten
haben. Napoleon hielt darauf, daß die fremden Diplomaten von den Fenſtern der
Staatögemäder aus biefem im Hofe ber Tuilerien ftattfindenden Schaufpiele bei-
wohnten, denn dasſelbe jei „für Freund und Feind belehrend“. — Das Diner war
um ein Weniged reicher wie an ben Wochentagen; an bdemfelben nahmen bie in
Paris anweſenden Mitglieder der Faiferlihen Familie teil; eö dauerte felten länger
wie eine DVierteljtunde. Nach der Mahlzeit vermweilte der Kaifer im engeren Zirkel
in den Gemäcdern der Kaiferin, wenn nicht große Hofgejellihaiten oder Theater:
vorjtellungen vorgeiehen waren, —
So zeigt Mafjon in farbenreichen, abgeichloffenen Bildern, wie Napoleon Iebte
und waltete in jeiner Reſidenz. Das Dargebotene feffelt um jo mehr, da biefe
Materien in unjeren Geſchichtswerken bisher weniger eingehend behandelt wurden,
und daher viel des Neuen geboten wird. Den Meiſten ift Napoleon wohl nur be:
fannt, auf dem Kopfe ben berühmten fleinen Hut (der übrigens gar nicht jo beſon—
berö Fein war), in hoben Reiterjtiefeln und grauem Mantel, auf jchnellem Roß,
umqualmt von Pulverdampf; hier lernen wir ihn kennen in ſeidenen Strümpfen
und Schnallenſchuhen, wie er ſich bewegt auf dem Parkett der Tuilerien. — Dieſes
zweite Werk Maſſons hat auch, wovon man das erſte nicht ganz freiſprechen kann,
pikante Anſpielungen und Schilderungen vermieden, und zwar mit Recht, denn
durch Derartiges leidet bie hiſtoriſche Würde und man wird an gewiſſe
galante Memoiren-Reiſe-Lektüre erinnert, mit der die Maſſon'ſchen Sachen durchaus
nichts gemein haben. — Für den Forſcher ift es von Intereſſe, daß ſich manche
Angaben des Verfaflers mit den Berichten Odelebens decken. Aus mancherlei
Gründen iſt anzunehmen, daß Maflon die betreffenden Angaben nicht von dieſem,
jondern aus andern Quellen hat! — Die zwölf in das Werf eingeitreuten Voll:
bilder F. von Myrbachs find mit feinem Verftändnis und großer hiftorifcher Treue
ausgeführt und ergänzen ben Tert vortrefflih. Da es fich um feine troden=hiftori:
ſche Publikation, jondern um eine populär gehaltene Arbeit handelt, find die bei:
gegebenen Bilder der Reproduktion rein zeitgenöffiicher Abbildungen vorzuziehen.
Die Übertragung ift wieder in gewandter Weife von Oskar Marichall von Bieber-
ftein beforgt, und find chauvintjtiiche Ausfälle und Redewendungen, falls folche der
Urtert aufweiſen jollte, ſpurlos ausgemerzt.
Es iſt gleich freudig zu begrüßen, daß die Verlagshandlung derartige Werke
dem deutſchen Leſepublikum zugänglich macht, und daß letzteres, wie die häufigen
Auflagen beweiſen, dieſelben gegenüber jo manchen belletriſtiſchen Eintagäfliegen
zu ſchätzen verſteht! —
Kempen (Rhn.). O. B.
432 Neue Bücher.
Viel G'fühl. Gedichtln und Gejhichtn in altbayriiher Mundart von
Joſef Feller. 3. Aufl. Verlag der Joſef Feller’ihen Buchhandlung in Chem:
nit. Geb. 2,—.
Frifch 0’ zapft! Neue G'ſangle in altboariiher Mundart von Joſef
Keller. 2. Aufl. Ebend. Geb. 2,50.
Wir begegneten dem Namen Feller jchon öfter und jedes mal haben wir und
über feine prächtigen Naturfinder gefreut. Da iſt fein Peſſimismus, der uns das
Herz zufammenfrallt, nein, da ijt urwüchſiger Humor, der uns das Herz aufladen
läßt. Welchem von den beiden Bändchen jollen wir den Vorzug geben? Keinem,
fie gefallen uns alle beide zu gut. Feller thut Recht daran, jeine Leute, die er im
jüddeutichen Volfston fprechen läßt, nicht modern hochdeutſch empfinden zu laſſen,
ein Fehler, in den leider jo viele Dialeftdichter verfallen. Die Kollegen jollten
die Bücher einmal felber leſen, fie werden fie dann von jelber recht viel empfehlen.
Sp.
Der praßtifhe Buch: und Mufik-Sortimenter. in Handbud)
für Buchhandlungs-Gehilfen, namentlih für alle Jene, welche erit die Lehre ver:
lafien, in furzen Abriffen nad praftiihen und langjährigen Erfahrungen, mit vie-
len Illuſtrationen und inftruftiven Formularien ausgeftattet, den neuejten Fort:
ſchritten entiprehend zufammengeftellt von Hans Blumenthal, Verlags: und
Sortiment3:-Buchhändler, Verfaſſer von buchhändleriihen Fachſchriften. Zweite,
gründlich umgearbeitete, mit vielen Yormularien und Jluftrationen ftarf ver:
mehrte Auflage. (VBollftändig in ca, 12 Lieferungen zum Preiſe von ö. W. 36 kr.
— 60 Pig. netto bar.) 1. bis 7. Lieferung. 8% GSelbitverlag von Hans Blumen:
thal in Iglau und Yeipzig.
Der den ganzen Inhalt des Buches umfaſſende Untertitel — ſolche Länge ift
jeßt weniger gebräuchlich — verrät ſchon, wie reichhaltig ber erjtere ijt und was
die jungen Sortimenter alles in dem Bude zu juchen haben. Dem Werke find
die bereits als „Bilderbuch“ und „Notizkalender“ herausgegebenen bildlichen Dar:
ftellungen beigegeben, die ohne Zweifel die Faßlichkeit des Tertes erhöhen. Die
Ausftattung ift gut, Ueber das ganze Werf referieren wir, fobald es complett
vorliegt. H,
Die Büderliebhaberei
(Bibliopbilie — Bibliomanie)
am Ende des 19. Jahrhunderts.
Bon Otte Mühlbredt.
(Fortſetzung.)
Wie bei Lufft, ſo bildete in ähnlicher Weiſe bei einem anderen
Drucker die Bibel den Mittelpunkt der geſchäftlichen Thätigkeit, und zwar
bei Chriſtoph Froſchauer (geb. ?, geſt. 1564) der auch eine ähnliche
Stellung zu den Reformatoren einnahm, wie Qufft zu Luther, Er ftammte
aus Neuburg bei Öttingen in Baiern. Über feine Jugendzeit ift nichts
befannt, jein Name fommt zuerft 1519 vor, in weldem Jahre er das
Bürgerrecht in Zürich erhielt und auch wohl jeine Druderei errichtet hat.
Er entwidelte von da ab eine bedeutende Wirkjamfeit, jein Name findet
ſich als beftändiger Gefährte von Zwingli's jchriftjtelleriichen Arbeiten,
die er, der Reformation jelbjt eifrig zugethan, beinahe alle drudte. Auch
ging aus feinen Preſſen 1524—29 die erite in der Schweiz gedruckte
Ausgabe der ganzen Bibel in Schweizerdeutfch hervor, wie er denn Die
Bibel, ähnlich wie Hans Lufft, in 21 verjchiedenen Ausgaben in allen
Formaten, 16 in deutjcher und 5 in lateinischer Sprache verlegte; er
ftattete fie aber bejjer aus als Lufft und ließ befonders die Illuſtrationen
von den beiten Künftlern herftellen. Sein Ruf als Bibeldruder war jo
groß, daß er von England aus den Auftrag erhielt, die erjte Bibel in
engliicher Sprache zu druden, fie wurde von Moſes Goverdale bejorgt
und erſchien in Folio 1535, nur die Zueignung und das Vorwort find
in London gedrudt, fie ift mit Holzichnitten von Hans Sebald Beham
geziert. Außerdem drudte er eine Menge vortrefflicher Werke der damals
lebenden Reformatoren und anderer Gelehrter, wie Zwingli, Bullinger,
Bibliander, Pellikan, Peter Martyr, Leo Jud, Conrad Geöner, Hans
Stumpf, Rudolf Gwalter u. WA. m. Sein Druderzeihen hat er mehrfach)
geändert, immer aber behielt er den Froſch darin bei. An feinem Bru—
28
434 Die Bücherliebbaberet ꝛc.
der Euftach und dejien Söhnen Euftah und Chriftoph Hatte er noch bei
Lebzeiten treue Gehilfen und nach jeinem Tode, 1564, an Lebterem einen
thätigen Nachfolger. Die Offizin faufte nach dem Ableben von Chriftoph
im Jahre 1585 Johann Wolf, und diefe nämliche ift es, die nach vielen
Scidjalen zu Anfang des vorigen Jahrhundert® an Conrad Orell, den
Begründer der Heute noch bejtehenden Firma Drell, Füßli & Co. in
Zürich) überging. Die Offizin bejigt heute nod) große Anfangsbuchſtaben
von Froſchauer's Zeit ber.
Im achtzehnten Jahrhundert ift eg wieder eine holländiiche Druderei,
die fih Ruhm und Bedeutung durch ihre Leiftungen vor ihren Zeitgenojien
erworben bat, das Gejchleht der Enſchedé, eine hervorragende Buch—
druderei, die heute noch in Händen derjelben Familie eine der blühend-
ften in ganz Holland it. Die Offizin wurde 1703 von Iſaak E. in
Haarlem gegründet, die Firma giebt jeit 1656 eine der älteften Zeitun-
gen, die überhaupt eritieren, den „Haarlemer Courant” heraus, heute
nod) eins der gelejenften politischen Blätter in Holland, Die Enichede’s
haben es fi, jo lange das Gejchäft eriftiert, angelegen fein lafjen, den
Beweis zu führen, daß Coſter der Erfinder der Buchdruderfunft vor
Gutenberg gewejen jei. Das ijt ihnen nun zwar, wie ich jchon früher
ausführt, nicht gelungen, es hat dies Bemühen aber doch den Erfolg
gehabt, daß die Familie eine Fojtbare Bücherfammlung, reich an Inku—
nabeln, darunter ein bisher unbefannter Donatus und ein Horarium,
nebt jeltenen Stempeln und Matrizen aus dem fünfzehnten bis fiebzehn-
ten Jahrhundert, zufammengebracht hat, eine Sammlung, die leider 1867
wegen Erbteilung zur Verfteigerung kam. Die Offizin hat im Laufe der
Zeit wiederholt berühmtes Schriftenmaterial erworben, jo dag der Elze-
viere, und im Jahre 1743 die Schriftgießerei von Floris Hendrik Wetftein.
Wenn wir uns den TFortichritten der Typographie in Frankreich im
achtzehnten Jahrhundert zuwenden, jo tritt ung um die Mitte des Jahr-
hundert3 eine Familie von Typographen entgegen, welche ſich den Aldus,
Giuntas, Plantins, Elzevieren und Stephanus nicht nur im Buchdruck
würdig anfchließt, fondern die Schriftjchneide- und Schriftgießefunft bis
zu einer zuvor nicht geahnten Höhe gefteigert hat; es iſt die Familie
Didot, die noch jegt in der jchönjten Blüte der Kraft wirkt, raſtlos
ihafft und die Kunft ihrer größtmöglihen Vollendung entgegenführt.
Der Stammvater des Geſchlechtes it Frangois Ambroije Didot (geb. 1730,
geit. 1804), Sohn des wenig bekannten Buchdruders Francois Didot,
der feine Drucderei 1713 in Paris errichtet Hatte. In der Offizin jeines
Vaters gebildet, überflügelte er diefen bald; aus feiner Hand gingen Die
Ihönften Typen hervor, die man bis dahin nicht nur in Frankreich, jon=
dern in ganz Europa gejehen hatte. Seine Antiqua zeigte ein jolches
Die Bücherliebhaberei ꝛc. ' 435
Ebenmaß, ſolche Zartheit und Schärfe, daß fie den Charakter des Kupfer-
ſtichs nachahmt, während die früheren Lettern mehr dem Holzſchnitt gleichen.
Epochemachend war auch feine im Jahre 1777 gemachte Erfindung
der Buchdruckpreſſe mit einem Zuge. Die Didot-Drude zeichnen fich ſtets
durch hervorragende Schönheit, Korrektheit des Textes und Gleichheit in
der Rechtichreibung aus. Hervorragend find die „Collection d’Artois“,
64 Bände in 18 Format, die prachtvollen „Editions du Louvre“, in
Folio, des Virgil (1798), Horaz (1799), Racine, 3 Bände (1801—1805)
und Lafontaine’3 Fabeln. Fr. Ambr. D. ftarb am 1. Juli 1804. Sein
Bruder Pierre Francois D. hat weniger Verdienſte gehabt, fein Sohn
dagegen, Pierre D., fteigerte inmitten aller Wirren der Revolution die
techniiche Vollendung der Drudwerfe bis zu einem Bunte, der in den
Annalen der Typographie noch unerreicht dajtand. Der vorerwähnte
Birgil von 1798, fein Horaz von 1799 und fein Racine in 3 Bänden
von 1801—1805 wurden von einer in Paris niedergejegten Kunftjury
für das ſchönſte Erzeugnis typographiſcher Kunft aller Länder und aller
Zeiten erflärt. In der Schriftgießerei verdankt man ihm achtzehn ver-
ſchiedene Typengattungen. Sein Bruder Firmin D. erfand 1795 das
GStereotypieren, das er zuerjt bei dem Drud von Eallet’3 Logarithmen-
tafeln anwendete, und noch zwei andere Didot's, Henri und Jules, haben
fi in gleicher Weiſe um die Entwidlung ihrer Offizin verdient gemacht.
In neuerer Zeit find umfangreiche Meifterwerfe aus den Didot’ichen
Brejjen hervorgegangen, 3. B. Die „Bibliotheque greceque* 70 Bände,
die „Encyclopedie moderne“ 44 Bände, das „Dietionnaire de la con-
versation et de la lecture* 21 Wände, die „Nouvelle biographie gene-
rale* 46 Bände, „L’Univers pittoresque* 66 Bände u. U. m. Auch
hat ſich die Drucderei in hervorragender Weile den modernen Jlluftrations-
methoden zugewandt. Gegenwärtig ift das Haus Didot in Paris eines
der bedeutenditen Drud- und Berlaggejhäfte nicht nur von Frankreich,
ſondern aller Länder der Welt.
Wie die Didot's in Frankreich, jo erhob im achtzehnten Jahrhundert
in Stalien Giambattijta Bodoni (geb. 1740, gejt. 1813) die Buch—
druderfunft zu ungeahnter Höhe. Er gehört noch zu den Künftlern der
alten Schule, die durch Geift, Kenntnis und Geihmad in einfacher, aber
dabei doc) großartiger Eleganz die Schrift zu verbefjern fich angelegen
jein ließen, Die Verbefferungen der Neuzeit in der Typographie find
alle mehr oder weniger darauf gerichtet gewejen, das Drudverfahren zu
erleichtern, die Schnelligkeit der Vervielfältigung, die Leiltungsfähigkeit
der Preſſen zu fteigern, Fortichritte der Technik, aber weniger Entwide-
lung der Schriftkunft zu fördern. Darin find die alten Meifter der Ty-
pographie von den jüngern der Neuzeit nicht überholt. Einer diejer
28*
436 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
Meifter erſten Ranges war Bodoni. Als Sohn eines armen Buchdruckers
in Saluzzo in Piemont geboren und ſchon als Knabe im Holzſchneiden
geübt, fand er als Setzer in der Druckerei der Propaganda in Rom Be—
ſchäftigung und Gelegenheit, ſich in fremden Sprachen, namentlich den
orientaliſchen, auszubilden. In Parma hatte Herzog Ferdinand im Jahre
1766 neben anderen wiſſenſchaftlichen Anſtalten auch eine Druckerei er—
richtet und ihm die Leitung derſelben angeboten. Hier fand ſein Talent
einen freien Wirkungskreis, und bald erhob er das ihm anvertraute In—
ſtitut zu einem der erſten dieſer Art in Europa und erwarb ſich den
Ruhm, Alles, was ſeine Kunſt früher an prachtvollen Werken geliefert,
übertroffen zu haben. In der einfachen Regelmäßigkeit ſuchte und fand
er das Prinzip des wahren Schönen ſowohl im Schnitt der Typen als
in der Anordnung des Satzes. In der Schwärze der Farbe, der Güte
des Papieres und der Gleichheit des Druckes iſt er weder von ſeinen
Zeitgenoſſen, noch von den neueren Typographen übertroffen worden.
Die größte Fertigkeit beſaß er im Schriftſchneiden. Er lieferte allein
143 Alphabete Antiqua mit ihren Kurſiv und ihren Kapitälchen, welche
Alphabete ſo vom kleinſten bis zum größten auf einander folgen, daß die
Steigerung kaum ſichtbar iſt. Die hervorragendſten ſeiner Drucke ſind
die Sliade in 3 Bänden (1808) und ein Virgil in 2 Bänden (1793), die
Krone jeiner Werfe aber dürfte das „Water Unjer” in 155 verjchiedenen
Spradhen und Typenformen fein, das im Jahre 1806 unter dem Titel
„Oratio dominica in CLV linguas versa et exoticis characteribus
plerumque expressa* in Folio erjhien. Leider nur haben jeine Drud-
werfe den großen Fehler, daß fie meilt tertlich inforreft find. Er ftarb
zu Padua hochgeehrt im Jahre 1813.
Bon den engliihen Trudern des achtzehnten Jahrhunderts ijt noch
Sohn Basferville (geb. 1706, gejt. 1775) zu nennen, der, urjprüng-
ih Schreiblehrer, im Jahre 1750 in Birmingham eine Druderei errich-
tete, und in jeinen Beitrebungen Seitens der Univerfität Cambridge fräf-
tigjte Unterjtügung fand. Er jchnitt für feinen eigenen Gebraud eine
vortrefflihe Type, die nah ihm nur von Bodoni und Didot übertroffen
wurde, namentlich in der lateiniichen Kurfivichrift war er ein Meiiter
eleganter Einfachheit. Won jeinen Werfen ſchätzt man bejonders einen
Virgil in Quart-Format (1756), ein Neues Teitament vom Jahre 1763,
nebjt Ausgaben lateiniſcher, englischer (Milton) und italienischer Klaſſiker.
Baskerville war ein engliicher Sonderling, er war z. B. ein Feind jeden
äußeren Gottesdienjtes, den er in jeder Form für Aberglauben erklärte,
auch Hatte er die Eigentümlichkeit, fich jein ganzes Drucdgerät, bis auf
Papier und Schwärze, ſelbſt anzufertigen. Mit feinen Lettern druckte
Beaumarchais in Kehl, der fie aus Baskerville's Nachlaſſe im Jahre 1779
Die Bücherliebhaberei ꝛc. 437
für 3700 Pfund Sterl, käuflich erworben hatte, die Prachtausgabe von
Boltaire in 70 Bänden.
Unter den Drudern Spaniens im adhtzehnten Jahrhundert jehen wir
Soaquin Ibarre (geb. 1725, get. 1785) hervorragen, der in jeiner
Druderei in Madrid ald der Reformator der Typographie in Spanien
thätig war und die Kunst in jeinem VBaterlande auf eine bis dahin nicht
erreichte Höhe bradte. Aus feinen Preffen gingen u. U. hervor die
Prachtausgabe einer lateiniſchen Bibel (1780), Mariana's „Historia di
Espana“ in 2 Bänden (1780), Cervantes’ „Don Quichote* in 4 Bänden
(1780) und eine fpanijche Überjegung des Salluft (1772), welche den
Infanten Don Gabriel zum Berfafler Hatte, ſämtlich in Folio, welche
Werke noch jet den Meifterwerfen von Baskerville, Bodoni, Didot u. A.
rühmlich zur Seite jtehen.
Ih möchte die Aufzählung der Koryphäen der Typographie mit einem
hervorragenden deutſchen Drudergejchleht der Neuzeit beichließen, mit
Deder. Die erſte Preſſe diefer hervorragenden Buchdruder- und Buch—
händlerfamilie war 1635 von Georg D. in Bafel errichtet. Ein Nad)-
fomme besjelben, Georg Jakob D. (geb. 1732, geft. 1799), ging nad
Berlin und übernahm dort im Jahre 1755 die Grynaeus'ſche Univerfi-
tätsbuchdruderei mit derartig gutem Erfolge, daß er 1782 zum Geheimen
Ober-Hofbuhdruder ernannt und ihm im königl. Schlofje eine bejondere
Buchdruderei eingerichtet wurde. Hier drudte er 1787—89 die Werfe
Friedrih des Großen in 25 Bänden. Bon jeinen Enfeln, die das Ge—
ichäft bedeutend erweitert hatten, wurde 1846—57 davon eine neue Pracdıt-
ausgabe veranftaltet: „Oeuvres de Frederic le Grand“ in 30 Bänden,
größtes Quart-Format, mit vielen künſtleriſchen Beilagen, auf Befehl
Friedrih Wilhelms IV. in nur 200 Eremplaren gedrudt. Eine Selten-
heit erjten Ranges aus der Deder’ihen Dffizin ift Das bei Gelegenheit
der eriten Imduftrieausftellung in London im Jahre 1851 in nur 80
Eremplaren gedbrudte „Neue Teſtament“, deutih von M. Luther nad)
der Ausgabe von 1545, mit Holzjchnitten nad) Cornelius und Kaulbach,
in Dlifantfolio-Format (Ladenpreis eines Eremplares bei Erjcheinen 875
Mark), jowie Graf Stillfried’S Prachtwerk über die Krönung König Wil-
helm's I. in Königsberg 1861 (1868 erichienen, Ladenpreis damals 750
Mark). Das find monumentale Werke, denen jo leicht Feine andere
Druderei der Neuzeit ähnliche wird an die Seite ftellen fünnen. Der
legte Inhaber der Firma, Rudolf Ludwig Deder (geb. 1804), ftarb 1877,
die Druderei wurde nach jeinem Tode an das Deutſche Reich verkauft
und bildet die Grundlage der heutigen Reichgdruderei in Berlin. Wir
befigen eine vortreffliche Darftellung der Wirkſamkeit der Familie Deder
438 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
von dem früheren Reichstags-Bibliothefar Votthaft: „Die Abſtammung der
Familie Deder“ Berlin 1863,
Und damit will ich den gejchichtlichen Teil meiner Darjtellung jchlie-
Ben, auf dem ich für den Leer eine ausreichende Bafis gewonnen zu
haben glaube, um mit Verftändnis den folgenden Ausführungen über das
Weſen der Bibliophilie mit ihren enormen Preisihwankungen in der äl-
teren Litteratur folgen zu können.
2. Spezielle Bücerliebhaberei.
Die Bibliophilen, d. i. Bücherfreunde, folgen dem inneren Drange,
der in jedem Menjchen ftedt. Jedermann, ob alt oder jung, reich oder
arn, hat die Neigung, irgend etwas zu ſammeln, was für ihn jchwer
erreichbar ift, und je mehr diejer Neigung nachgegeben wird, um jo mehr
entwidelt fie fich bis zur Leidenfchaft. Der Knabe ſammelt mit demfel-
ben Eifer Briefmarken, wie der Erwachlene Münzen, Kupferftiche oder
Steinfrüge, und der Naturforicher jagt einem jeltenen Käfer ebenjo lei-
denſchaftlich nach, wie der Bicherliebhaber der jeltenen Ausgabe eines
Buches. In der VBücherliebhaberei haben wir es mit zwei Slategorien
von Bücherfäufern zu thun, mit dem Bibliomanen und dem Bibliophilen.
Der Bibliomane ift Sammler aus Leidenschaft, ihn interejfieren an einem
Buche die rein äußerlichen Eigenjchaften, namentlich der Einband, die gute
Erhaltung und vor allen Dingen die Seltenheit des Eremplares; er ſam—
melt möglichjt koſtbare Schäße, ohne fie zu benugen, Tediglih um fie zu
beſitzen.
Der Bibliophile will die Bücher beſitzen, weil er ſie um ihrer ſelbſt
willen liebt, mit Überlegung, oft mit Hingebung und Verehrung. Alle
ſchönen und guten Bücher haben ein Anrecht auf ſein Intereſſe, ſeine
Bewunderung; er kennt viele nach ihren Vorzügen und Fehlern und be—
ſchränkt ſich nicht darauf, ſie nach ihrem Äußeren zu beurteilen, ihr Pa—
pier mit den Fingern zu prüfen, die Güte des Einbandes mit Kennerblick
zu muſtern, Titel und Jahreszahl mit den Angaben von Brunet zu ver—
gleichen, damit er nicht einen unechten Diamanten erwirbt; nein, er er—
gründet ein Buch bis in alle ſeine inneren Tiefen, preßt den geiſtigen
Saft für fi Heraus und ſtapelt es in feinem Gedächtnis ebenſo auf,
wie in jeiner Bibliothel. Gewiß, der Bibliophile achtet und rejpektiert
typographiiche Kostbarkeiten, mögen fie auch von den Fortichritten der
modernen Typographie überholt fein, doch ſtets als Ehrendenkmäler der
Kunft, zumal wenn fie von Gutenberg, Fuft oder Schöffer abitammen;
aber er ift häufig unempfindlich gegen auf Belin gedrudte Exemplare,
Die Bücherliebhaberei ıc. 439
gegen feltene Ausgaben, gegen die Arabesfen alter Einbände, wie gegen
das vornehme Gewand der neueren Werke.
Er zeigt feine Verachtung gegen das wertloje Konglomerat von Proſa
und Dichtung, das ſich fortwährend in allen Katalogen breit macht, denn
der verftändige Bibliophile ift nadhfichtig gegen die Schwächen jeiner
Mitmenschen; aber er gerät auch nicht in Ekſtaſe über einen Drudfehler,
der eine Ausgabe von einer anderen unterjcheidet; er betrachtet es nicht
wie ein Wunder, wenn fich in einem Exemplare eines Werkes Stellen
vorfinden, die in einem anderen Eremplare unterdrüdt find; er ift nicht
untröftlich über einen Riß oder einen Wafferfled im Papier, denn es ift
nicht die Art des wahren, fein gebildeten Bibliophilen, den Ruhm jeiner
Bibliothek der Ignoranz eines Druckerei-Faktors, der Unaufmerkjamfeit
eines Föniglichen Bücher-Zenſors, oder einen außergewöhnlichen Zufalle
zu verdanfen, ihm gilt der innere Wert des Buches mehr als folche
Außerlichkeiten.
Das find die Bibliophilen erften Ranges, aber nicht Alle haben die—
jen weiten Blid und dieſe Toleranz. Meiftens find die Bibliophilen be-
jtrebt, entweder für die Zwecke eines beftimmten Wiljengebietes eine
Bibliothek der beiten und brauchbarften Bücher anzulegen, oder fie begin-
nen wenigitens jpezielle Sammlungen in der Abficht, einen miljenjchaft-
lihen Gebrauch davon zu machen. Dieſe nach bejtimmten Plänen zu-
jammengebrachten Sammlungen gehen dann meiftens jpäter in den Beſitz
öffentlicher Bibliothefen über. Der Eine jammelt 3. B. Bibelausgaben
(Bibliothef in Wernigerode) oder griechiiche und römiſche Klaſſiker (edi-
tiones principes) und andere Schriftfteller; ein Anderer fucht Schriften
über gewifje Begebenheiten und die gleichzeitig damit erſchienenen Schrif—
ten, wie das Reformationg-Jubelfeft (Königl. Bibliothek in Berlin), den
dreißigjährigen Krieg (König. Bibliothek in Dresden) und den deutſch—
franzöfiihen Krieg von 1870 (KRönigl. Bibliothek in Berlin). Andere
Sammlungen beziehen jih auf ganz bejondere Gegenftände, wie Das
Schachſpiel (die Bledow’she Sammlung in der Königl. Bibliothek in
Berlin)*), auf beftimmte Perjönlichkeiten, einzelne Länder und Orte, oder
auf beftimmte Litteraturgebiete (3. B. die Meuſebach'ſche Sammlung von
Schriften über die ältere deutjche Literatur feit der Reformation in ber
Königl. Bibliothek in Berlin)**), auf die Geſchichte der Buchdruder-
funft u, U. m.
*) Ludwig Bledow, ein berühmter Schadhipieler, ftarb 1846 als Lehrer der
Mathematif am Köllnifchen Realgymnafium in Berlin; er war der Begründer der
Berliner Schachſchule, deren Blütezeit in die Jahre 183742 fällt; 1846 gründete
er die erfte deutihe „Schachzeitung“. Seine binterlaffene große Schadhbibliothef
wurde von der Königl. Bibliothek in Berlin angefauft.
*) Freiherr von Meuſebach, ein bedeutender Germanift, war Präfident des
440 Die Bücherliebhaberei :c.
Werke diefer Art werden ftets gleichmäßig geachtet und gejchäßt wer—
den und fi) auch auf einer anitändigen Höhe des Preijes halten, ohne
gerade „jelten“ zu jein; fie find es namentlich, mit denen fich die ver-
nünftige Bücherliebhaberei jtetS beichäftigen wird, bei ihnen tritt immer
der innere Gehalt mehr in den Vordergrund, wenn auch die Schönheit
und Eleganz der Ausjtattung wie des Einbandes bei der Preisbeftim-
mung jehr ins Gewicht fallen. Abgeſehen aber von jolden Werfen un-
beitrittener wifjenjchaftlicher Bedeutung werden doc) auch von Bibliophilen
ganze Gruppen von Drudwerken anderer Art gejucht, die allerdings teil-
weile jchon auf das Gebiet der Bibliomanie hinüberjpielen. Mit diejen
Gruppen, denn man fann fie ſehr wohl in bejtimmte Klafjen einteilen,
wollen wir uns nunmehr näher bekannt machen. Wir begegnen da zu-
erit den Inkunabeln oder Wiegendruden (vom lateiniſchen cunabula,
die Wiege), auch Paläotypen (Erjtlingsdrude) genannt.*)
Die eriten Anfänge der Druderfunft, wie die bemerfenswerteften
Ausgaben der Hauptjtädte Europas, welche unmittelbar nach diejen koſt—
baren Erftlingswerfen erjchienen find, bilden ohne Frage bibliographiiche
Seltenheiten erften Ranges. Indeſſen muß man doc auch unter diejen
Ausgaben des fünfzehnten Jahrhunderts eine Auswahl treffen, denn fei-
neswegs alle find gleichwertig koſtbar. Man kann die Zahl diefer Werte
ungefähr auf 25— 30100 ſchätzen. Die zeitlihe Grenze, bis zu welder
fie den Namen Infunabeln führen, wird verjchieden angejeßt, einzelne
Bibliographen, wie Maittaire, Banzer und Uffenbad) erweitern den Zeit
raum bis 1520, 1526, ja bis 1536; Hain jet fie in feinem Repertorium
bis 1500 feft, dem ich mich in bezug auf die eben genannte Gejamtziffer
der Erjcheinungen anſchließe. Die Länge der Zeit und der Vandalismus,
namentlich bei der Aufhebung der Klöfter und während der Revolutionen,
haben viele derjelben zu Grunde gehen laſſen, was um jo eher gejchehen
fonnte, als fie bei Erjcheinen meist nur in Heinen Auflagen von 200 bis
500 Exemplaren gedrudt zu werden pflegten,
Die Eigentümlichkeiten der Inkunabeln beruhen darauf, daß die Praxis
Ktaflationshofes in Berlin und ftarb als folder 1847 auf feinem Gute Baumgar—
tenbrüd bei Potsdam. Gr hinterließ eine pracdhtvolle Bibltothef, in der die deut:
che Yitteratur des fechzehnten und fiebzehnten Jahrhunderts außerordentlich reich:
haltig vertreten war; ſie fam 1847 dur Kauf an die Königl. Bibliothef in Berlin,
*) Das bedeutendite Werf über die Anfunabeln iſt Hain's „Repertorium bi-
bliographieum“ 2 Bände (4 Teile), Stuttgart 1826— 28. Die Firma Sotberan
& Go. in Yondon zeigt foeben das Ericheinen eines Supplementes zu diefem Werfe
an von W, A, Gopinger, dem Präfidenten der Bibliographical Society in Yondon,
in 2 Bänden, Der erite Band foll etwa 7000 Berichtigungen und Zuſätze zu Hain
enthalten, der zweite eine Beichreibung von etwa 6000 Werfen, die Hain unbefannt
geblieben. Man darf auf das Ericheinen diefes Werfes gejpannt fein,
Die Bücherliebhaberei :c. 441
der handichriftlichen Bücher noch längere Zeit nad) der Erfindung der
Buchdruckerkunſt durchgeführt wurde Die Titelblätter fehlten anfangs
ganz und erhielten jpäter nur eine dürftige Inhaltsangabe; Zeit und Ort
des Drudes, ſowie der Name des Druders find bei manchen gar nicht
genannt, oder Jommen, wie früher bei den Handjchriften, ganz an das
Ende. Die Zählung der Seiten und Drudbogen (Signaturen) wurde
erit nad) Dezennien üblich, ebenfo überließ man die Hinzufügung von
Kapitel- und Seitenüberjchriften, häufig auch der Regiſter, Anfangsbuch—
ftaben und dergl. der ergänzenden handichriftlichen Thätigkeit des „Rus
brifators”. In der künftleriichen Ausführung der Initialen, ſowie in
der weiteren Nachahmung des handjchriftlichen Charakters eines Drud-
werfes durch Umziehung des Textes mit Linien in farbiger Tinte (exem-
plaires röglös) wurde viel geleiftet, doch iſt zu beachten, daß die häufig
vorfommende rohe Kolorierung der Holzichnitte in einem Werfe den Wert
des Eremplares nur beeinträchtigt.
Dieſe Handjchriftlihe Ausführung der Beigaben eines Druckwerkes
bietet den Kennern in Fällen, wo das Drudjahr nicht angegeben ift, An-
haltspunfte für die Zeitbeftimmung. Dieje fiebziger Jahre des fünfzehn:
ten Jahrhunderts erit erlangen für die Ausgeftaltung der Neuerungen
des Drudverfahrens Bedeutung, und die Typen, die anfänglich ein ftarf
individuelles Gepräge des Schriftichneiders trugen, gewannen erft gegen
das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts beliebte feititehende Formen. Als
Drudimaterial wurde von vornherein beinahe ausſchließlich das Papier
benußt, deſſen Wafjerzeichen ebenfalls für die Zeitbeitimmung bei un-
datierten Druden in Betracht fommt. Nur für viel und ftarf benußte
Bücher, wie Schul- und -Gebetbücher, wurde noch lange Zeit hindurd)
Pergament verwendet. In den eriten Dezennien nad) der Erfindung
wurden während des Druds fortwährend noch Korrekturen im Saß vor:
genommen und ganze Seiten und Blätter neugedrudt. Daraus erflären
ih) die bei Inkunabeln vorkommenden Fälle, daß gleichzeitig datierte
Drude eines Werkes in verichiedenen Eremplaren oft erheblid) von ein-
ander im Texte abweichen. Das erjte gedrudte Drucdfehler-Verzeichnis
Ihreibt man einem Baſeler Drud des Berthold (Rodt von Hanau), in
„Gregorii M. expositio in Jobum“ vom’ Fahre 1468 zu.
Für die Sammler werden die Inktunabeln natürlich um jo wertvoller,
je älter fie find, als unbedingt felten find die bis zum Jahre 1470 oder
1472 gedrudten Werfe anzujehen, bei den jpäteren wird ſchon mehr oder
weniger der innere Gehalt mit in Betracht gezogen. Vorzüglich geſchätzt
find die mit Holzichnitten und mit den erjten Proben der Kupferftecher-
kunſt ausgejtatteten Werke, namentlicd) die Bibeln; man fennt etwa 124
verjchiedene lateinische Bibelausgaben aus dem fünfzehnten Jahrhundert,
442 Die Bücerliebhaberei ꝛc.
deren genaue Beichreibung von Copinger*) unternommen ift. Die Erft-
lingsdrude famen um die Mitte des jechzehnten Jahrhunderts ganz außer
Gebrauch und gewannen die Gunft der Bücherfreunde erjt wieder im An—
fange des achtzehnten Jahrhunderts, genauer bejtimmt etiwa gegen das
Jahr 1740, als man bei Gelegenheit der dritten Säkularfeier der Buch—
druderfunft begann, ſich ernithaft mit der Erfindung jelbjt und den erften
Erzeugniſſen der Buchdruderfunft zu beichäftigen.
Die Notwendigkeit, bei diejer Gelegenheit die alten typographiichen
Denkmäler jorgfältig zu jammeln, um fie genau fennen zu lernen, ihre
Chronologie feitzuftellen, fie geographiich zu ordnen, und die Aufklärung
zu gewinnen, die durch die Werfe ſelbſt allein zu finden war, diefe Not-
wendigfeit förderte alles zu Tage, was bis dahin verborgen und unbe-
achtet geblieben war. Und nachdem nun diefer wichtige Teil der biblio:
graphiichen Wiſſenſchaft einmal jo gründlich erforicht und jedes Buch auf
jeine Bedeutung Hin geprüft war, da wurde man bald diffizil in der
Auswahl deffen, was der Beachtung mehr oder weniger wert war. Man
wandte ſich nicht mehr ausſchließlich den erjten Preßerzeugnifjen von
Mainz, Bamberg, Köln, Straßburg, Rom, Benedig und der anderen
Städte zu, in denen die Buchdruderfunft ſchon vor dem Jahre 1475 oder
wenig jpäter ausgeübt war, jondern bevorzugte neben den älteften Inku—
nabeln auch die Erftlingsdrude der verichiedenften Städte, die erften Aus—
gaben in hebräiichen, griechischen und anderen Schriftzeichen, und andere
Werke, die eine bejondere, bemerkenswerte Eigentümlichkeit aufwieſen, vor-
nehmlich aber die erften Ausgaben der alten lateiniſchen und griechiichen
Klaffiter. Und fo finden wir bei den Infunabeln wieder eine ganz be—
jondere, von den Sammlern ſehr gefchäßte Gruppe, die der jogenannten
„Editiones principes“ Die „erften Ausgaben” haben für den Lieb-
haber meiftens einen reelleren Wert, al3 den der Eeltenheit, fie reprodu-
zieren den genauen Tert der Manuffripte und find für Gelehrte z. B.,
die heute eine gute Tertausgabe eines alten Autors herausgeben wollen,
eine unerjeglihe Hilfe. Trotz diefer allgemein bekannten, fejtjtehenden
Vorzüge der glorreihen Zeugniſſe für die Gelehrjamkeit des Fünfzehnten
Jahrhunderts find die „Editiones principes* bei den Sammlern doc
nicht mehr jo gejucht, als fie es noch im Anfange unjeres Jahrhunderts
waren. In England, wo man früher jo begierig darauf fahndete, wen-
det man fich mehr und mehr davon ab, und auch in Frankreich vernach—
läffigt man die gediegenen alten Ausgaben und treibt lieber einen Bücher-
fultus mehr äußerlicher Art.
Bei diefer allgemein wahrnehmbaren Erjcheinung, daß die „Editiones
*) Gopinger, Incunabula biblica. London 189, 8.
Die Bücherliebhaberei ıc. 443
principes“* ihren alten Marktwert nicht mehr behaupten, zeigen jedoch
verjchiedene davon, insbejondere die älteften Denkmäler der Typographie
und einige der wichtigjten Elajfiichen Autoren in den vor 1470 gedrudten
Ausgaben die Tendenz, auf alle Fälle im Preije nicht zu finken, ja, fort:
während noch zu jteigen. Es zeigt fi) da die bejondere Anziehungskraft
einer eriten Ausgabe, die den Stempel trägt, friſch aus dem Geifte des
Verfaſſers entiprungen zu fein, ober als erjter Triumph typographilcher
Reiftungen zu gelten. England iſt immer noch das Land, wo die Inku—
nabeln und die „Editiones principes* am meiſten gejchäßt werden, und
dort finden fih auch große Privatbibliothefen, die davon gebildet find.
Die Sunderland-Bibliothef z. B. enthielt eine bedeutende Anzahl, beinahe
alle Werke von Wert in der „Editio princeps“ und eine Serie von be-
rühmten Werfen, deren jedes jeine eigene Gejchichte Hatte, jo Lö Aus-
gaben des Ariftoteles, 40 des heiligen Augujtinus, 75 des Dvid, 71 von
Petrarca, 45 des älteren Plinius, 79 Ausgaben des Homer, 181 von
Horaz u. ſ. w. Es möge an einigen Beijpielen gezeigt werden, welche
Breije man in England zahlt.*)
Nehmen wir die erfte von Gutenberg in Gemeinſchaft mit Fuſt, ver-
mutlich im Jahre 1455 gedrudte, die jogenannte 42zeilige Bibel. Dieje
Bibel ift auch unter dem Namen „Mazarin-Bibel” befannt, weil das erite
davon befannt gewordene Eremplar fich in der Bibliothek des Kardinals
Mazarin befand. Auf der Perkins-Auktion in London (1873) tauchte das
erste im neueren Privatbeſitz berühmt gewordene, auf Velinpapier ge-
drucdte Eremplar auf umd erzielte 3400 Pfund Sterling, daneben ein
Eremplar auf gewöhnlichem Papier 2690 Pfund Sterling.
Auf der Thorold-Auftion (1884) jchon brachte ein ſchönes Eremplar
auf gewöhnlihem Papier 3900 Pfund Sterling, aljo 500 Pfund Sterling
mehr als das frühere Belin-Eremplar. Im Jahre 1889 ergab das Hope-
totvn-Eremplar, das einige unbedeutende Beichädigungen aufwies, 2000
Pfund Sterling, und im März 1891 das Jves-Eremplar mit 15 Blättern
in Fakſimile 14800 Dollars.
Heute machen bei einem jolchen Buche eriten Ranges leichte Be-
Ihädigungen oder Defekte gleich einen Wertunterſchied von Hunderten
Pfund Sterling, während bis Ende des erjten Viertel3 unjeres Jahrhun—
derts dasjelbe Werk den Preis von 100 Pfund Sterling noch nicht über:
ſchritten hatte; der in jener Zeit erzielte höchjte Preis war 6260 Fr., er
wurde 1817 auf der Mac-Charty-Auktion bezahlt, und im Jahre 1769
auf der Gaignat-Auftion waren für ein Eremplar gar nur 1200 Fr.
gezahlt.
Die erjte mit Jahreszahl (1462) verjehene Bibel von Fuſt und
*) W. Roberts, Rare books and their prices. London 1895, 8.
444 Die Bücherltebhaberei :c.
Schöffer gibt ein anderes gutes Beiſpiel von Preisjteigerungen. Das
Gaignat-Eremplar auf Velin wurde 1769 für 3200 Fr. verkauft, das
Edwards-Eremplar, ebenfalls auf Belin, im Jahre 1815 für 175 Pfund
Sterling. Im Jahre 1823 ſchon galt ein anderes jchönes Eremplar auf
der Perry-Auftion 215 Pfund Sterling, im Jahre 1873 aber wurde das
Perkins-Exemplar, das jeinem Beliger 173 Pfund Sterling gefoftet hatte,
für 780 Pfund Sterling verkauft, und acht Jahre jpäter wurde das
Sunderland-Eremplar, auch ein Velin, für 1600 Pfund Sterling verkauft.
Das großartigite Beilpiel moderner Preisfteigerung jeltener Bücher
ift das von Fuft und Schöffer 1459 gedrudte Pjalterium, wofür B.
Duaritih in London 1884 auf der Thorold-Auftion 4950 Pfund ESterl.
(99000 Mark) gezahlt hat, der höchſte Preis, der bis dahin jemals für
ein Bud) gezahlt wurde. Es iſt das zweite mit Jahreszahl verjehene
Drudwerf und unzweifelhaft eine der allerjeltenften ältejten Proben der
Typographie, neben ihm ift die in etwa 15 Exemplaren befannte berühmte
Mazarin-Bibel ein verhältnismäßig gewöhnliches Buch. Die Seltenheit
des Quaritſch-Exemplares ift injofern feitgeftellt, als es das einzige be—
fannte Eremplar ift, das von Zeit zu Zeit auf dem Büchermarkte auf-
tauchte; es war zuerft 1817 in der Mac-Carthy-Auftion für 3350 Tr.
verfauft, dann in der Syfes-Auftion für 136 Pfund Sterling 10 Scil-
ling und hat num über 12 Jahre in Quaritſch' Hand geruht; die Natio-
nalzeitung vom 5. Januar 1896 enthält die Notiz, daß das Eremplar
für 5256 Pfund Sterling (105120 Mark) in London weiter verkauft ift,
an wen wird nicht gejagt. Peter Schöffer veranstaltete von dieſem Pjal-
terium 1490 eine dritte, 1502 eine vierte und fein Sohn Johann 1516
noch eine fünfte Auflage.
Die erfte Ausgabe des Pirlteriums vom Jahre 1457, das erjte über-
haupt datierte Druckwerk der Welt, ift von mir bereits früher bei der
Thätigfeit von Gutenberg, Fuſt und Schöffer erwähnt; es jei hier noch
ergänzend bemerkt, daß die ganze Auflage diejer erften Ausgabe auf ſchö—
nem Pergament in großem ‘yolio-Format gedrudt ift; man fennt davon
nur 6 Erempflare, die alle unveräußerlich feftliegen, und zwar an folgen-
den Orten.*)
Ein Eremplar wurde von Schöpflin den Vorſtehern des St. Vik—
tor-Stiftes in Mainz, die von dem Werte gar feine Ahnung hatten, ab-
geihwatt, dann im Jahre 1754 für 2000 Livres verkauft, und, nach
mehrfahem Beſitzwechſel, im Jahre 1817 bei der Verfteigerung der aus—
gezeichneten Bücherfammlung des Grafen Mac Carthy in Touloufe, obgleich
ſechs Blätter an dem Ereiiplare fehlten, von dem Könige von Frankreich
*) Falkenſtein, Geſchichte der Buchdruckerkunſt. 2. Aufl. Leipzig 1856. 8.
Die Bücherliebhaberei :c. 445
für 12000 Fr. für die öffentliche Bibliothek in Paris erworben. Das
zweite Eremplar, ebenfall3 aus dem St. Viktor-Stift in Mainz ftam-
mend, ziert jet die großherzogliche Bibliothek in Darmftadt. Das dritte
Eremplar wurde 1643 in der Domliche zu Freiberg aufgefunden, und
bildet gegenwärtig, obwohl es nicht ganz vollitändig ift, einen Hauptſchatz
der königlichen Bibliothef in Dresden. Das vierte Eremplar, früher
Eigentum der PBrämonftratenjer-Abtei Roth bei Memmingen, wo es Schel-
born im Jahre 1768 entdedte, ging 1798 für 3000 rheiniſche Gulden
an die Bibliothef des Lord Spencer über. Das fiinfte Eremplar be-
findet fi in der Refidenz-Bibliothef in Windjor; es war früher Eigen-
tum des Kloſters der Urjulinerinnen zu Hildesheim, dann des Hofrates
Duve in Hannover, von wo es an die Göttinger Bibliothet Fam, die es
dem Könige von England abtrat. Das jechste, ſchönſte und vollitändigite
Eremplar befand ſich früher auf Schloß Ambras in Tyrol, wo es Lam—
beccius 1665 entdedte; es ſchmückt heute die K. K. Hofbibliothet in Wien.
Ein fiebentes Eremplar, früher in der Domkirche zu Mainz, wo es
MWürdtwein 1787 auffand, dann in Aichaffenburg befindlih, und ein
achtes Eremplar, ehemals in der Stadtbibliothek in Mainz befindlich, find
beide während des franzöfiihen Revolutionskrieges ſpurlos verſchwunden.
Die Möglichkeit ift nicht ausgeſchloſſen, daß mit der Zeit noch einmal ein
Eremplar davon irgendiwo in der Welt wieder entdedt wird.
Ein anderer der erften Drude von Gutenberg’3 Preſſen möge hier
noch genannt jein, das fogenannte „Katholiton” vom Jahre 1460, eine
zu jener Zeit jehr beliebte und viel gebrauchte grammatikaliſch-lexikaliſche
Kompilation des Dominifanermönds Johannes de Balbis von Genua,
auf Pergament in Folio gedrudt, die Initial- und Verjalbuchftaben weiß
in Gold- und Burpurfarben eingemalt. Sir John Thorold hatte dafür
65 Pfund Sterling 2 Schilling gezahlt, und beim Verkaufe feiner Samm-
lung im Jahre 1884 ergab das Eremplar 400 Pfund Sterling.
Unter den erjten Ausgaben der Inkunabeln nimmt auch der Val-
dorfer Boccaccio vom Jahre 1471 eine Hervorragende Stelle ein. Bon
diefem außerordentlich jeltenen Werke ift nur ein vollftändiges Eremplar
befannt, neben dem etwa noc ein halbes Dubend defekte Eremplare
eriftieren. Auf der berühmten Rorburghe-Auftion von 1812 wurde fiir
das volljtändige Eremplar diefes Werkes von dem Marquis von Bland-
ford die damals enorme Summe von 2260 Pfund Sterling gezahlt, es
hatte dem Herzog von Rorburghe 100 Guineen gefojtet.
Faſt ebenjo wertvoll, wie der Boccaccio ift die erſte datierte Virgil-
Ausgabe von Windelinus de Spira (von Speyer), 1470 in Venedig ge-
drudt. Das von der Sunderland-Auftion (1881) heritammende Eremplar
ift gegenwärtig in einem engliichen Kataloge mit 1000 Pfund Sterling
446 Die Bücherliebhaberet :c.
angejeßt, während das Jves-Eremplar 1891 für 3000 Dollar fortging ;
beide Exemplare jind auf Velin gedrudt. Genau vor 100 Jahren in der
Erevenna-Auftion (1791) ergab ein Eremplar diejeg Werkes 4150 Fr.,
dagegen brachten 50 Jahre ſpäter einige auftauchende Exemplare faum
die Hälfte, eines davon ging jogar für den niedrigen Preis von 1301
Fr. fort. Typographiich gleich prächtig und ebenjo interefjant, wenn auch
nicht entfernt jo jelten iſt die erite griechiiche Ausgabe des Homer, in
Florenz 1488 gedrudt. Ein Eremplar aus der Bibliothek des Herzogs
von Grafton wurde 1819 mit 69 Pfund Sterling bezahlt, den höchiten
Preis erzielte ein unbejchnittenes Eremplar in der Cotte-Auftion 1804
mit 3601 Fr. Ein anderes Exemplar, eins der jchönften, die befannt
find, wofür Mr. Wodhull 1770 nur 15 Guineen bezahlt hatte, ging bei
der Verjteigerung jeiner Bibliothek im Jahre 1886 für 200 Pfund Ster-
ling fort.
Die erite Ausgabe des erſten, in griehiicher Sprache gedrudten
Buches, die „Grammatica graeca* von Lascaris, Mailand 1476, wovon
nur etwa 6 Exemplare befannt find, ging in der Heber-Auftion 1834 für
die damals hohe Summe von 34 Pfund Sterling fort, während ein hal-
bes Jahrhundert darauf der Wert fi) verdreifacht hatte, das Thorold-
Eremplar ging 1884 für 105 Pfund Sterling fort. Es ift eins der jel-
tenften Bücher die eriftieren und jchon in der Aldiner Ausgabe von 1494
heißt es in der Vorrede, es ſei feitgejtellt, daß die erfte Ausgabe troß
eifrigiter Nahforichung nicht mehr aufzufinden gewejen ſei. Ein Erem-
plar davon, aus der Burney-Bibliothek ftammend, beſitzt die Bibliothek
des Britiſh Muſeum in London.
Die erfte Ausgabe des Ovid, Bologna 1471, ift vielleicht die feltenfte
aller „Editiones princeipes“ der alten Klaſſiker, man kennt davon nur ein
einziges vollftändiges Eremplar. Die erjte Ausgabe von Plinius’ his-
toria naturalis, Venedig 1469, obgleich auch jelten, ift viel leichter zu
erhalten als der Dvid.
Was ih ſchon vorher von den „eriten Ausgaben” im Allgemeinen
bemerkte, daß ihr Marktwert im Abnehmen begriffen ſei, trifft insbejon-
dere auch bei den Erzeugniljen der Aldiner Preſſen zu, fie haben beinahe
ganz die frühere Beliebtheit verloren, wenn es fich nicht um Belin-Drude,
oder andere Eremplare, die einen bejonderen Charakter tragen, handelt.
Die erjte Ausgabe des erjten Aldiner Drudes: „Musaei opusculum de
Herone et Leandro*, Venedig 1494, in Quart-Format, ift etwa 36—42
Pfund Sterling wert, wirflih ſchöne Eremplare davon kommen nur jelten
auf die Verfteigerungstafel, merkwürdigerweiſe aber auch feine jchlecht er-
haltenen, faft immer find es Eremplare in guter Beichaffenheit, offenbar
eine Folge davon, daß die Werke ſich in Händen nicht lefender Sammler
Die Bücherliebhaberet :c. 447
befunden haben. Der Mufaeus unterjcheidet fich in diefer Beziehung jehr
vorteilhaft von der erften Aldiner Ausgabe des Virgil vom Jahre 1501,
dem erjten in italienischer Schrift gebrudten Buche; es iſt beinahe un—
möglich, Hiervon ein vollftändiges Eremplar zu befommen, jowohl das
Bedford-, wie das Hamilton-Eremplar beide waren defeft; ein wirklich
gutes Eremplar dürfte heute etwa 155 Pfund Sterling wert jein, das
Jves-Eremplar, das volljtändig war, ergab im Jahre 1891 250 Dollar,
vor etwa Hundert Jahren ftand das Werk etwa um den vierten Teil
höher im Werte,
Die von Aldus 1499 gedrucdte „Hypnerotomachia“ Poliphili wird
weniger ihres typographiichen, als des graphiichen Charakter wegen ge-
Ihäßt, die Abbildungen find von ganz eigenartiger Schönheit und em—
piehlen das Buch dadurd) dem Bibliophilen. Bei diefem Buche ift denn
aud eine aufwärts fteigende Tendenz des Wertes bemerkbar, ein jchlech-
tes Cremplar koſtet heute viermal jo viel, als ein gut erhaltenes vor
50 Jahren. Mr. Cheney zahlte an Duaritih 45 Pfund Sterling für
ein Eremplar, das ſechs oder fieben Jahre jpäter 119 Pfund Sterling
wieder einbrachte; das Bedford-Eremplar ergab 1882 130 Pfund Sterl.,
und das ausnahmsweiſe gut erhaltene Eremplar der Turner-Bibliothek
137 Pfund Sterling. Troßdem vermögen dieje vereinzelten guten Er-
folge einzelner Eremplare und einzelner Werke den andauernden Preis—
herabgang der Aldinen im Allgemeinen nicht aufzuhalten. Es würde
3. B. 10—12 Pfund Sterling jetzt jchon ein jchöner Preis für die Al:
diner erjte Ausgabe des „Lucretius“ von 1500 fein, während Grolier’s
Eremplar der zweiten Ausgabe noch vor wenigen Jahren 300 Pfund
Sterling ergab. Der Unterſchied liegt allerdings in Hußerlichkeiten, in
dem berühmten Einbande, und ift deshalb ein abjtrakter, immerhin aber
liegt er vor.
Die Veränderungen, denen alles im Menjchenleben, intelleftuell und
materiell, unterworfen iſt, machen ſich auch in der Bücherliebhaberei be-
merklich, man gibt die alten Richtungen auf, und die neue Generation
fängt an, ſich mehr für erfte Ausgaben der modernen Autoren zu inter
ejfieren. Die Anziehungskraft erfter Ausgaben gegenüber den jpäteren
fällt unter die Erjcheinungen, die fih pſychologiſch und nad) gewöhnlichen
Prinzipien häufig gar nicht erklären lafjen, es iſt Gefühlsjache. Die
Biücherliebhaberei gehört eben zu den Paſſionen, wie ich das jchon bei
den Elzevieren andeutete, die weder einer Entſchuldigung noch einer Ver—
teidigung bedürfen. Alle Begründungen dieſes Stedenpferdes, das auf
manchen Sammler geradezu fascinierend wirkt, haben nod) niemals einen
Bibliophilen felbft befriedigt, noch einen der Philifter, die über die Ver-
ſchwendung ftaunen, beruhigt. Man ſoll deshalb gar nicht verjuchen, die
448 Die Bücherliebhaberet ꝛc.
erorbitanten Preiſe zu rechtfertigen, denn man könnte dabei leicht zu einer
Berdammung derjelben kommen.
Der Kultus mit erjten Ausgaben hat jolange einen Iogiichen An-
ſpruch auf Geltung, als er nicht zu finnlofen Exzeſſen ausartet. Die
Anziehungskraft der editio princeps fann ja ganz jentimentaler Art jein,
jo kann das Papier, worauf fie gedrudt ift, jebt nicht mehr angefertigt
werden, die damalige Type kann jet im Gebrauch gänzlich ver-
ſchwunden jein, da8 Material und die Zeichnungen, die Einbände fünnen
gänzlich aus der Mode, und nicht mehr zu bejchaffen jein. Solche Attri-
bute, vereinzelt oder in Verbindung mit einander, erjcheinen wohl geeignet,
den Söhnen oder Enfeln die „gute alte Zeit” ihrer Wäter und deren
Vorfahren näher zu bringen, als irgend eine geichriebene oder gedrudte
Erläuterung es vermag. Alſo man lajje die Sammler gewähren. Es
würde aber den Rahmen dieſer Abhandlung, die ſich nur mit der älteren
LZitteratur beichäftigen will, überjchreiten, wollte ich die Gründe unter:
juchen, welche unſere heutige Generation veranlaßt, auf die erften Aus—
gaben berühmter Autoren der Neuzeit Jagd zu machen.
(Fortſetzung folgt.)
Bedeutende Berlagsunternehmungen.
II.
Die Modenwelt
und die Illuftrierte Srauenzeifung.
(Schluß.)
Die auf dem Gebiete der Handarbeit die Modenwelt eine leitende
Stellung gewann, jo nicht minder auf dem eigenften der Mode. it es
auch unleugbar, daß die großen Züge in den Veränderungen der Mode
noch immer von Paris ausgehen, — Grazie und Mannigfaltigfeit der
Erfindung jind einmal den Franzojen nicht abzuſprechen, — jo gelang
es letzteren doch nicht, eine große, univerjelle Zeitung für die Mode zu
Ihaffen. Dies blieb Deutichland vorbehalten. Solide Einfachheit und
Berückſichtigung des Praktiſchen für die Bedürfnijfe der Familie, — das
ist deutjche Art. Dieje Eigenjchaften zum Prinzip erhebend, hat die Mo.
denwelt ihre heutige Bedeutung und Verbreitung erreicht. Fremdes in
den Grundformen annehmend, hat fie ſtets den eigenen einfachen Geſchmack
läuternd walten lafjen.
So fann es nicht wunder nehmen, daß die Abonnentenzahl im Laufe
der Jahre eine fortwährende Zunahme erfuhr, welche im X1.—XII. Jahr:
gange (1876—1878) allein bei der Modenwelt etwa 25000 Eremplare
jährlid) betrug. In Jahre 1887 ift die Abonnentenzahl auf 306883
geftiegen, und auch die Entwidelung der ausländiichen Ausgaben hefindet
ſich in ftetem Fortichreiten. Am 1. Januar 1873 tritt die ſchwediſche
Ausgabe Freja (Malmö und Stodholm) in's Leben, und mit Januar
1874 erjcheint auch die PBarijer Ausgabe wieder. Dieſer ſchloſſen ſich
ferner an: am 1. Juli 1877 der Budapesti Bazär, nad) Aufhören der
Verbindung mit A Divat im November 1876; am 1. Januar 1879 die
tichechiiche Ausgabe Modni Svet (Jungbunzlau und Brag) und die portugieji-
29
450 Bedeutende Berlagsunternehmungen.
ſche A Estacäo (Rio de Janeiro und Porto), Am 1. Januar 1882 folgte
eine neue, eigene amerikanische Ausgabe in engliiher Sprade unter dem
Titel The Season (New-York), nachdem die erite amerikanische Ausgabe
Die Modenwelt im Juni 1873 zu erjcheinen aufgehört hatte. Oktober
1882 wurde eine neue italienische Ausgabe La Stagione (Mailand) be-
gründet, und im Dftober 1834 trat der amerikanischen Ausgabe The
Season nad) Löjung der Verbindung mit The Young Ladies’ Journal,
eine Londoner Ausgabe unter dem gleihen Titel an die Seite. Den
Beſchluß machte, nad) Aufgabe der Verbindung mit EI Correo de la
Moda im Juli 1882, am 1. April 1834 die eigene jpaniiche Ausgabe
La Estacion (Madrid und Buenos-Aires), weldye als die zwölfte den
Gürtel jchloß, den die ausländischen Ausgaben der Modenwelt um alle
Zonen gelegt haben. Mit den fremdländiichen Ausgaben beträgt die Ge-
jamt-Abonnentenzahl gegenwärtig ca. 450 000.
en
2 DODATKIEM ILLUSTROWANYM UBRAN I ROBOT KOBIECYCH.
Den Buchhändler intereffiert auch bejonders noch die Statiftif der
Herjtellung der Modenwelt. Es ijt ein ganz gewaltiger Apparat, der be-
nötigt ift, ein folches Unternehmen im Betrieb zu erhalten. Da ijt vor-
erit das eigene Perjonal. Die Redaktion der Modenwelt bejteht aus
11 Damen. 11 Zeichnerinnen und 3 Zeichner liefern das künſtleriſche
Material, welches durch 18 Holzichneider dem Drud entgegengeführt wird.
Die Redaktion des Unterhaltungsblattes der Jlluftrirten Frauen
Beitung wird von 2 Redakteuren geleitet.
Die Verwaltung der koſtümwiſſenſchaftlichen Bibliothef und Samm—
lung bejorgt 1 Bibliothefar.
Das Büreau zählt ca. 67 Angeftellte, davon 62 zu Berlin im
eigenen Haufe, Potsdamerftraße 38. Won diejen feierten bisher 19 ihr
zehnjähriges Jubiläum (darunter 8 Damen), 8 ihr zwanzigjähriges (dar-
unter 1 Dame). Aus dem Gründungsjahr der Modenwelt find noch 3
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 45i
Mitarbeiter verblieben, aus ihren erften 5 Jahren 8. — 9 ſchieden Durch
ben Tod aus.
E3 geht hieraus hervor, daB das PBerfonal treu zur Firma hält,
und das ift ja eine Folge davon, daß diejes Geſchäftshaus im ftande ift,
jeine Angehörigen für ihre Lebenszeit zu verjorgen.
Die Berjendung der Modenwelt, der Jlluftrirten Frauen-Beitung,
jowie der in Deutjchland hergeftellten Ausgaben in fremden Sprachen
erfolgt von Leipzig, dem Zentralplat des deutichen Buchhandels.
Außer dem eigenen Perjonal werden noch eine Reihe anderer Firmen
und Inftitute regelmäßig bejchäftigt.
Die buchhändleriichen Interejjen der Firma vertritt das Kommiſſions—
haus von K. F. Koehler in Leipzig, in welchem 10 Perjonen die Erpedition
der Nummern, das Baden und Ausfahren der Balete und das Inkaſſo
bejorgen. Die dur das Haus K. F. Koehler verjandten Eremplare der
Modenwelt und der Jlluftrirten Frauen-Zeitung betragen mehr als die
=. ee eh hing” —
Hälfte der Geſamtzahl, während die Druckerei faſt ein Drittel direkt ver—
ſchickt und ein Sechſtel auf den Vertrieb durch die deutſche Reichspoſt
entfällt.
In den früheren Jahren arbeitete vorzugsweiſe die Druckerei von
Otto Dürr in Leipzig für die Modenwelt, während in letzter Zeit ver—
ſchiedene andere bedeutende Druckereien in Anſpruch genommen wurden.
Beſchäftigt wurden und werden heute u. a. die Druckereien von
Heſſe & Becker in Leipzig, Oscar Brandſtetter in Leipzig und Karl Mar—
quart in Leipzig, während für Buchbinderei C. M. Böhniſch in Leipzig,
für Holzſchnitt die Ateliers von Julius Adé, von Emil Singer in Leipzig
und von Heuer & Kirmſe in Berlin arbeiten. Daneben werden 3 Ko—
lorieranſtalten von Julius Eule, A. Müller und Alexander Schauer in
Leipzig beſchäftigt und außerdem noch die galvanoplaſtiſche Anſtalt von
C. Kloberg in Leipzig, die artiſtiſche Anſtalt von Herm. Gäbler in Leip—
zig und die lithographiſchen Kunſtanſtalten von Wilhelm Greve in Berlin
und von J. A. Pecht in Konſtanz.
29*
452 Bedeutende Verlagsunternehmungen,
Im Ganzen find ca. 400 Perſonen, ca. 225 männliche und
ca. 175 weibliche, für die Modenwelt und Illuſtrirte Frauen- Zeitung
thätig, davon ca. 100 in Berlin, ca. 285 in Leipzig, 1 in Erfurt, 6 in
Konitanz, 4 in Wien, 3 in Paris, 1 in London, 1 in Rom, — So wenig
wie die zahlreichen litterariihen und künſtleriſchen Mitarbeiter der Illu—
ftrirten Frauen-Zeitung, find auch die Mitarbeiterinnen der Modenwelt
gezählt, welche mehr oder weniger regelmäßig techniſche oder Fünftlerijche
Beiträge liefern.
Die Anzahl der feit Nummer 1 des I. Jahrganges in der Moden
welt und Illuſtrirten Frauen-Zeitung veröffentlichten Holzſchnitte beläuft
ji) bis Ende September 1890 auf 45211. Dazu fommen nod 1620
Stidmufter in Typenſatz und 1061 Darftellungen in Zinfätung, jo daß
die Gejamtzahl der Driginal-Abbildungen 47892 beträgt. Es ift dies
odehlad for Toilötte og krindelige Haandarbejder.
Skandinarisk.
eine Ziffer, die in dem gleichen Zeitraume von 25 Jahren wohl von
feiner anderen Zeitjchrift der Welt auch nur entfernt erreicht wurde.
Der Bapierbedarf für die Modenwelt, die Jluftrirte Frauen Zeitung
und die in Leipzig zum Trud gelangenden fremdſprachlichen Ausgaben
der Modenwelt wird durch Fabriken in Breslau, Golzern, Hainsberg,
München-Dachau und Straßburg i. E., für die eigenen, im Auslande ge—
dructen, durd Fabriken in London, Raris und Newyork gededt. Der Ver:
braud) bezifferte jich in dem Zeitraume von April 1389 bis dahin 1890
auf 19850624 Bogen. Dieje Anzahl, in der Breite aneinander gelegt,
ergiebt 15284980 Meter, eine Länge, welche die der großen Erdadjje
(12754794 Meter) noch um beinahe "s übertrifft. Nach dem Flächen-
inhalt ergeben die Bogen 8560000 Quadratmeter. Zu einer Säule
über einander gelegt, würde Die Bogenzahl eine Höhe von 1323 Meter
erreichen, glei 4’, Eiffeltürmen oder der Höhe des Veſuvs, oder 180
Meter höher als der Broden.
Dieje Beijpiele vergegenmwärtigen aljo die Papiermenge, welche wäh:
rend eines Jahres zur Verwendung fommt,
Bedeutende Verlagsunternehmungen. 453
Der Buchverlag der Modenwelt und ihrer Ausgabe mit Unterhal-
tungsblatt, der Jlluftrirten Frauen-Zeitung, hängt mit diefen Zeitjchriften
nicht nur eng zujammen, jondern iſt direft aus denjelben hervorgegangen,
Wir finden in ihm fyftematisch gefammelt und geordnet wieder, was in
den beiden Blättern auf diefem oder jenem Spezialgebiete einzeln und in
mehr oder weniger langen Zwijchenräumen erjchien. Freilich trat aud)
Modni N
er — =? ti
— — *
N) Ilustrovani, daeopio pro Admy. Aw
Manches zur Ergänzung hinzu und in einem Falle erfolgte das Er-
Icheinen nur im Anjchluffe an die Slluftrirte Frauen-Zeitung und deren
Beitrebungen auf dem Gebiete des Holzichnittes.
„Mit Roſen ummundenem Szepter” — jo begann vor fünfund-
zwanzig Jahren die erjte Nummer —, „Ichreibt die Mode, nimmermüde
alle Jahreszeiten hindurch, der geſamten zivilifierten Welt ihre Geſetze vor.
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JORNAL ILLUSTRADO PARA A FAM
Niemand, auch der Verwegenfte nicht, vermag fich ihrem Einfluß, ihren
Anordnungen ganz zu entziehen; mit dem Bann der Lächerlichkeit — der
gefürchtetften und fürchterlichten aller Strafen — belegt fie den Über-
mütigen, der es wagt, fich ihr widerjegen, ihr Hohn jprechen zu wollen;
aber gütig, fanft und milde, würdig einer Königin, gejtattet fie dem per-
ſönlichen Geſchmack, individueller Eigentümlichkeit, ſich mit voller Freiheit
zu entfalten, weiß ihre Verordnungen zugleich den bejcheidenften, wie den
454 Bedeutende Verlagsunternehmungen.
glänzenditen Verhältniffen anzupafjen. Sie verlangt nicht ſtlaviſches Un-
terwerfen, nicht haftige Nachahmung jeder flüchtig aufblitzenden Erjchei-
nung, die oft ebenjo ſchuell wieder erliicht und ſpurlos verjchwindet, —
nicht unbedingten Gehorſam für jede barode Laune, jede neue Kaprice,
die, ein übermütiges Kind des nediichen Augenblids, nicht jelten nur der
allzu reichen Phantafie irgend einer jchönen Großwürdenträgerin ihr Ent»
— — —
Alluͤſtrixrte od
— —
—
Tauen Zeitung 3
jtehen verdankt, — frei ſoll jeder ihrer Untertanen Handeln, frei nach
eigener Wahl, nad) eigenem Erkennen, eigenem Urteil.“
Und zur Beichließung des erjten BVierteljahrhundert3 der Modenwelt
ſchreibt diejelbe Feder wieder: „Die lebte Nummer des fünfundzwanzig-
jten Jahrganges gelangt heute zu den Lejerinnen, und diefelbe Hand,
welche einft die Zeilen der erften Begrüßung niederjchrieb, alle die Jahre
hHindurd; von Nummer zu Nummer bemüht war, immer eingehender,
Bedeutende Verlagdunternehmungen,
immer umfafjenderdurch-
zuführen, was die erite
Nummer verſprach, fie
möchte heute auch inni=
ger Freude und war—
mem Dank den Ausdrud
leihen.
Die Mode war jtets
die Herricherin und
wird es immer bleiben,
allgewaltig und unbe—
fiegbar; denn fie ift
nichts Zufälliges, ihr
ganzes Sein und Wejen
liegt tief begründet in
der Entwidelung des
Kulturlebens, und wie
die Mode aus demjelben
erwächſt, drüdt fie wie-
derum jedem Zeitab—
ſchnitte das Gepräge auf.
Wir haben aus drei
Jahrzehnten verkleinerte
Modenbilder unjerem
ZTerte einverleibt, um
den Lejern die Wand—
lung im Zeitgeſchmack
ſichtlich vor Augen zu
führen. Die Moden—
welt erfaßte ihre Auf—
gabe nicht als Bericht—
erſtatterin allein; ſie
waltete ihres Amtes viel⸗
mehr als Vermittlerin,
ſuchte und ſichtete, trach—
tete immer, ein Geſamt—
bild der herrichenden
Strömung darzubieten,
dabei das wirklich Gute
und Dauernde von der
großen Menge zu jondern
10. April 1882,
465
456 Bedeutende Verlagdunternehmungen.
und das Beſte leicht erreichbar zu machen. Und wo es galt, das Haus
zu ſchmücken mit eigenen Werfen der fleißigen Hand, da jammelte fie un-
ermüdlic) und erichloß immer neue Quellen. Stolz und Freude war es
ihr ſtets, auf allen Gebieten reges Interefje, frohe Schaffensluft zu weden,
mit den jchönften und gediegenften Vorlagen das erſte jchüchterne Streben
wie die erlangte Geſchicklichkeit wirkſam zu unterftüßen.
So Hat fi) im Laufe der Jahre ein feſtes Band um die Modenwelt
und ihren Lejerfreis geſchlungen. Nicht gering ift die Zahl ihrer Freun-
dinnen, welche von Anbeginn ihr angehören, und jtetig wuchs ihr An—
hang und ihr Einfluß.
In die Familien aller
Stände fand unjere Zei-
tung Eingang, und wei—
ter und weiter drang fie
hinaus; denjelben Geift
und Inhalt, in derjelben
Form, nur im Gewand
der anderen Sprache,
trug fie auch im ferne
fremde Länder, und auf
dem ganzen Erdenrund
ift heute die Modenwelt
zu Haufe.
Und wie fie ſtets eine
treue Ratgeberin gewejen
in al’ den unzähligen
ragen, welche im gro=
Ben Weltgetriebe jo un—
bedeutend erjcheinen und
doch jo wichtig find für
das tägliche Leben, jo
einjchneidend in das Leben der Familie, jo will die Modenwelt es jein
und bleiben auch ferner, und der Rückblick auf jo freundlich) anerkannte
Wirkſamkeit gewährt zugleich frohen Ausblid in die Zukunft auf glüd-
und jegensreiches Weiterjchaffen.“
Wie fein anderes Zeitungs-Unternehmen der Welt hat die Moden-
welt eine Verbreitung über den Erdball gefunden; vom Kap Finiſterre
bis zum Ural, von Malta bis Hammerfeft, auf Kuba und Puerto Rico
wie am Kap der guten Hoffnung, am Amazonenſtrom und La Plata,
auf den einſamen Farmen Nord-Amerifas und in den Harems zu Kon-
Stantinopel, allüberall findet fi) Die Modenwelt, überall wohin europäi-
Bedeutende Berlagsunternehmungen. 457
iche Kultur ihre weißen Hände ftredt. Unter der heißen Aquatorfonne
oder da, wo faft ewiger Winter herricht, es iſt ſtets dasjelbe Blatt, mit
demjelben Inhalt, denjelben Abbildungen, ohne irgend welche bejondere
Auswahl oder Weglaffung, in dreizehn Sprachen verfündend, was die
Mode Neues jchafft und was in der Kunſt der weiblichen Handarbeiten
es zu lehren gibt, ſei es eine Schöpfung unjerer Zeit, jei es, was aus
alten Truhen hervorgeholt wurde.
Wie die Modenwelt beim Entftehen fi) darbot, jo auch heute noch).
Nicht emporgelommen aus. Heinen Anfängen wie im allgemeinen andere
Unternehmungen, ift fie, innerlih und an Verbreitung wachjend, im
übrigen fich ftet3 gleichgeblieben. Und feit lange ſchon darf Die Moden-
welt das ftolzge Wort Karls V. auf fih anwenden: „In meinem Reiche
geht die Sonne nicht unter.“
Es erübrigt noch, des Gründers dieſer großen Unternehmungen zu
gedenken. Franz Xipperheide, geb. am 22. Juli 1838 in Berleburg in
Weitfalen, hat fi nicht nur im Buchhandel einen geachteten Namen
erworben, er hat auch die Liebe jeines gejamten Berjonals in hohem
Maße fi) zu erhalten gewußt. Im Verein mit feiner Gattin, Frieda
Lipperheide geb. Geftefeld, geb. am 25. April 1840 in Lüchow in Hans
nover, die fich übrigens auch um die Begründung der Modenwelt ver-
dient gemadjt und eine ber fleißigſten Mitarbeiterinnen war, hat derſelbe
aus Anlaß des 2djährigen Veftehens der Modenwelt 1890 eine Benfions-,
Witwen- und Waijenfafje für jeine Angejtellten mit einem Grundfapital
von 200000 Mark errichtet. Gewiß ein jchönes Zeichen opferwilliger
Wohlthätigkeit zum Beften des Perjonals. Übrigens ift dem Begründer
der Modenwelt, der einer alten adeligen Familie entjtammt, der erbliche
königlich preußijche Freiherrntitel im Jahre 1892 verliehen worden.
Die wertvolle Koftümbibliothet des Haufes, jowie eine Sammlung
antifer Bronzen, die Freiherr Franz von Lipperheide anlegte, werden mit
Recht hochgeſchaͤtzt!
2
Zum Hndenken an Hlois BHenefelder.
Bon G. Zölſcher.
Nicht ganz unberechtigt hat man unſerer Zeit den Vorwurf gemacht,
daß ſie zu feſtesfreudig ſei und die Thatſache, daß das übertriebene Feſte—
feiern ſtets ein Zeichen für den geiſtigen Niedergang eines Volkes iſt,
hat ſchon in manchen patriotiſchen Herzen Beſorgnis für die Zukunft der
deutſchen Nation hervorgehoben; ich erinnere nur an Guſtav Freytag.
Aber da gibt ed andere Politiker, welche den Standpunkt vertreten, man
müfje das Verlangen des Volkes nad Zirfusjpielen gemäß dem Vorbilde
der römischen Tyrannen erfüllen, eben wegen desjelben Zwedes, den die
Cäfaren damit verfolgt haben. In der That haben wir vor einigen
Tagen das grauenvolle Beijpiel erlebt, daß die Völfer um jo begieriger
die Feſte erwarten, auf je niedrigerer Kulturftufe fie Stehen, daß dieſe
Notwendigkeit des TFeitefeierns fich ſogar ftärfer geltend madt, als das
primitivfte Gefühl in einer Menjchenbruft.
Ein anderes als das aus Ejjen und Trinken bejtehende }yeitefeiern,
wobei lächerlih maskierte Leute nichtsjagende Reden halten, ift der Aus-
drud des Dankes einer Nation gegenüber verdienftvollen Männern, welche
den überaus jchwerfälligen Wagen des Fortichritts, oft mit unfäglichen
Mühen und troß taufend Hemmnifjen, eine Strede weit fortgejchoben
haben. Uber mit diefem Dank für todte Menfchen, die noch nicht einmal
durch Verleihung eines allgemeinen Ehrenzeihens ſich erfenntlich zeigen
fünnen, hapert es oft genug. Auch Alois Eenefelder jcheint die Beijpiele
der vergefjenen Erfinder vermehren zu jollen.
Bor hundert Fahren Hat er der Welt feine Erfindung des Stein-
drudes geſchenkt. Im vorigen Jahre hat Frankreich fein Andenken, das
Andenken des Deutjhen durch eine würdige Ausstellung auf dem Mars
felde zu Paris wachgerufen; aber jo weit die deutiche Zunge Klingt, deren
Sprache Senefelder jein eigen nannte, bleibt in diefem Jubiläumsjahre
alles ftil und tot. Senefelder! Wer ift Senefelder? fragt das große
Bublitum Gewiß hat er Feine neuen Kanonen erfunden oder einen
Zum Andenken an Alois Senefelder, 459
praftiihen Militärfnopf? Sonſt wäre er nicht jo unbefannt. Still und
tot blieb es lange Zeit in Bayern, wo die Wiege der Erfindung ftand,
welche fich die Welt erobert hat! Still und tot in Berlin, der Stabt
der Intelligenz mit ihren Wahrjagerinnen! Still und tot in Wien, wo
der Erfinder mehrmals geweilt hat, um von Mißgeſchick und mancher:
lei Schidjalsichlägen verfolgt zu werben. Erſt in allerjüngfter Zeit erſchien
eine fleine Zeitungsnotiz, daß fich einige größere Drudorte zufammenthun
wollen, um „Feierlichkeiten“ zu begehen.
Und dieſe Vernadhläffigung, trogdem jeder Tag durch neue Erzeug-
niffe der lithographiichen Kunft an den Erfinder erinnert! Trotzdem der
Steindrud unter den graphiichen Künften nad) hundert Jahren noch einen
Ehrenplaß einnimmt, den der Erfinder ihm felbft errungen hat; unter
ausdauernden Kämpfen und durch ein Leben voll Arbeit und Mühe er-
rungen hat! Denn die Erfindungen Senefelders waren nicht etwa das
Ergebnis von Zufällen, ſondern vielmehr die Aefultate unausgejegter,
mühſeliger Verſuche.
Streng genommen war Alois Senefelder ein Böhme, denn obgleich
ſeine Eltern Bayern waren, erblickte er das Weltlicht doch nicht innerhalb
der blau-weißen Grenzpfähle. Sein Vater war Schauſpieler und gaſtierte
im November 1771 in Prag, als ihm am 6. dieſes Monats das erſte
Kind geſchenkt wurde. Der kleine Alois war aber nur zwei Monate
ZTicheche, dann wurde er Einwohner von Mannheim, wo fein Vater eine
AUnftellung am Hoftheater gefunden hatte. Hier that er ſich in der Schule
und bejonders am Lyceum, wo er u. a. Mechanik, Phyfit und Chemie
hörte, durch Fleiß und Talent hervor, jo daß ihm durch die Kurfürftin
Maria Anna eine Subvention von 120 Gulden gewährt wurde, als er
die Umiverfität zu Ingolftadt bezog, um ſich dem Studium der Juris-
prudenz zu widmen. ber ehe er feine, vom beiten Erfolge ausgezeich—
neten Studien zu Ende führen fonnte, ftarb 1791 fein Vater, die Familie
in bürftigen Berhältnifjen zurüdlafjend. Alois jah fich genötigt, ſofort
einen praftiihen Beruf zu ergreifen und nad) einigen mehr oder minder
mißglüdten Verſuchen ging er unter die Theaterdichter. Sein Erftlings-
werf, das Luftjpiel „Die Mädchenfenner“, erzielte am Eurfürftlichen Hof-
theater zu Mannheim 1792 einen guten Erfolg und es erſchien 1793 bei
Lentner im Drud, der dem Verfaſſer — was für diefen die Hauptjadhe
war — aud ein gutes Honorar dafür zahlte. Weniger jchlug dagegen
jein nachfolgendes Ritterjchaufpiel „Mathilde von Altenftein oder die
Bärenhöhle* ein, das er zudem noch, weil er mit der Lieferung des
Manuſkriptes im Rüdftande blieb, auf eigene Koften druden lafjen mußte.
Diefer Mißerfolg hielt ihn aber nicht ab, noc eine ganze Reihe anderer
dramatifcher Werke mit wechjelndem Erfolge zu verfaflen. Während des
460 Zum Andenken an Alois Senefelder.
Drudes diefer Arbeiten hielt fi) Senefelder oft in den Druder-Offizinen
auf und „hätte ich das nötige Geld gehabt“, jagte er jpäter, „jo würde
ih mir damals Lettern, eine Preſſe und Papier gekauft haben und Die
Steindruderei wäre wahrjcheinlicd) jobald noch nicht erfunden worden.“
In jeiner mißlichen pefuniären Lage ließ ihn jeßt der Gedanke nicht
Nlois Senefelder.
Geb. 1771, geft._1834.
mehr los, ein billigere8 Drudverfahren zu erfinden. Durch eine Menge
von Verſuchen ſuchte er dies Ziel zu erreichen, bis es ihm endlich gelang,
das auf einer mit Ätzgrund überzogenen Kupferplatte Geſchriebene in letz—
tere mit Scheidewaſſer einzuätzen und ſo eine Matrize zu erhalten. Da
kam ihm, wie man erzählt, der Zufall zu Hilfe Im Juli 1796 ſchrieb
Zum Andenken an Alois Senefelder. 461
er in Ermangelung von Tinte und Papier einen Wäſchezettel mit ſeiner
aus Wachs, Seife und Kienruß beſtehenden Verſuchsflüſſigkeit auf ein
Stüd einer Kelheimer Steinplatte, die er zufällig erhalten hatte. Später
wurde er von Neugier getrieben, den bejchriebenen Stein zu ätzen, und
fiehe da, die Schrift wurde erhaben und es ließen ſich Abdrüde davon
machen. Dieſer Erfolg gab dem Erfinder indes nur einen Anftoß zu
ferneren Berjuchen, die er mit einer Geduld und Ausdauer fortführte,
welche ihn in allen Lebenslagen in bewundernswürdigen Maße auszeich-
nete. Dabei hatte er ſtets mit finanziellen Sorgen zu fämpfen, und jelbit
ein Verſuch, fi) 200 Gulden zur Anſchaffung einer Druderprefie dadurch
zu verichaffen, daß er für einen Konjkribierten bei der Ingoljtädter Ar-
tillerie jech8 Jahre lang feine Freiheit verfaufen wollte, jchlug fehl, weil
man den „Ausländer“ nicht annahm.
In fortdauernden finanziellen Nöten jchloß er fih nun an einen
Hofmufifus Franz Gleißner an, welcher mit Profeſſor Simon Schmid
befannt war. Diejer Profeſſor war ein Münchener Geijtlicher, der außer
Theologie noch Naturwiljenichaften ftudiert und gleichfalls eine Art Stein-
drud erfunden hatte, ja, es iſt zweifellos, daß er vor Senefelder, der
übrigens ohne Kenntnis des Schmid'ſchen Verfahrens feine Experimente
machte, Abbildungen und fogar eine Landkarte von Afrita von Steinen
drudte, die er vorher mit Scheidewajjer geäßt hatte. Mit dem Verfahren
Schmid’3 war der genannte Hofmufifus befannt, als er fi) mit Sene-
felder verband zur praftiihen Ausnugung und Vervollkommnung des von
diejem erfundenen Verfahrens: der Bolyantographie, wie die Drudmanier
nunmehr genannt wurde.
Übrigens war, wie hier eingejchaltet werden mag, Simon’s Erfindung
längft nicht die einzige ähnliche. Schon im 13. Jahrhundert find Tijch-
platten, Grabfteine und ähnliches mit Bildern und Injchriften geäßt wor-
den. Fand man doch in dem ehemaligen Klojter Benediktbeuren einen
aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ftammenden Stein, in welchem eine
jechözeilige Adreſſe an den „Allerdurchleuchtigiten Fürſten Ferdinando,
römishen König” in Epiegeljchrift gejchnitten ift, die aljo jedenfalls zum
Abdrud beitimmt war.
Die neue Firma „Gleißner & Senefelder“ drudte anfangs meiſtens
die mufifaliichen Erzeugniffe des Hauptteilhabers, der übrigens auch das
Geld zur Einrihtung des Geſchäftes hergegeben Hatte. Die technilche
Ausstattung diefer Kompofitionen gefiel allgemein und Kurfürft Karl
Theodor gewährte für die Widmung derjelben 100 Gulden. Auch die
Akademie der Wilfenichaften, welcher die Lieder zur Prüfung vorlagen,
ſprach ihre Befriedigung aus und fchenkte den Drudern — 12 Gulden!
Der unermüdliche Fleiß und das fortgejegte Erperimentieren Sene-
462 Zum Andenken an Alois Senefelder.
felder’3 brachten in der Folge noch manche Erfindung und Bervollfomm-
nung des Steindrudes zu Tage, wovon die Herftellung einer chemijchen
Tinte im Jahre 1796 die bedeutendfte ift, jo bedeutend, daß das Jahr
al3 der Zeitpunkt der Erfindung der Lithographie in unjerm Sinne gel-
ten muß. Mit diefer Tinte jchrieb man auf Stein und behandelte dieſen
dann mit Scheidewafjer. Sie hatte die Eigenjchaft, der äßenden Flüffig-
feit zu widerjtehen, die aljo von ihr bededten Stellen vor Angriff zu
hüten, während die bloßen Stellen des Steine von dem Ätzwaſſer weg-
gefreffen, vertieft wurden. Wieder eine Unzahl neuer Verſuche brachten
ihn auf die Erfindung einer Tinte, mit welcher man auf Papier jchreiben
fonnte, um die Schrift alddann auf den Stein zu übertragen. Gelbit«
verftändlicd hatte man bisher auf den Stein ftets in Spiegeljchrift jchrei-
ben müfjen, während man nım einfac wie gewöhnlich jchrieb, um das
Bild in den Abdrüden genau jo zu erhalten, wie e8 auf dem Papier ge-
ftanden Hatte. Daß es nun zum Gravieren des Steines nur mehr ein
Schritt war, leuchtet ein und Senefelder erfand nad) einander faft alle
Verfahren, welche bis in unfere Zeit eine jo hohe Ausführung erfahren
haben, jogar die Chromo-Lithographie.
Aber trog all diefer Erfolge, die er durch eijernen Fleiß feinem Geiſte
abgerungen bat, und troß der zeitweilig vielverjprechenden Ausfichten blieb
ihm das Glüd für einen größeren Zeitraum nicht günftig. Die Firma
erhielt bald von dem Kurfürften Marimilian ein privilegium exelusivum,
weldhes ihr das alleinige Drud- und Verkaufsrecht der lithographiichen
Erzeugnifie für fünfzehn Jahre fiherte. Ein Hofrat Andre ans DOffen-
bad kaufte das Drudreht für 2000 Gulden an und Senefelder reifte
nad dort, um eine große Offizin einzurichten, die fich freilich weniger
mit der Kunſt, als mit dem Kattun- und Notendrud bejchäftigte. Andre
hatte große Pläne: In London, Paris, Berlin und Wien jollten Nieder-
laſſungen entjtehen und Privilegien erworben werden. Der Erfinder jelbit
begab fich auf Reifen zu diefem Zwecke, aber die Erwerbung der Drud-
rechte und Einrichtung der Preſſen war mit vielen Widerwärtigfeiten ver-
fnüpft und die ſchönen Ausfichten für die Zufunft jollten ſich nicht ver-
wirflihen. Die Verbindungen, die Senefelder mit aller Welt eingegan-
gen war, endeten 1804 in Wien damit, daß er nah Ablöfung jeiner
Schulden noch — 50 Gulden herausbefam! Freilich verftand er troß
jeiner eminent praftiichen Erfindungsgabe durchaus nichts von der Kunft,
mit Geld umzugehen. Mit einer neu erfundenen Kattundruckmaſchine
hatte er das Mißgeſchick, daß ein Werfmeilter fein Geheimnis verriet,
und als er 1806 nad) München zurückkehrte, hatten jeine Brüder, aus
Not gedrungen, jein Verfahren gegen eine jährliche Rente von 700 Gul-
den an die Direktion der Feiertagsſchule verkauft! Die Profefjoren Kefer
Zum Andenken an Alois Senefelder. 463
und Mitterer an diefer Schule machten fi) bejonders um die Fortent-
widelung der Lithographie — wie die Kunſt jeit diefer Zeit heit —
verdient, die num raſch weithin fich verbreitete. Hätte es damals Patent-
ämter gegeben, jo wäre der Erfinder jchnell ein reicher Mann geworden;
jo aber mußte er feine Kunft in praftiicher Weile weiter betreiben, um
das tägliche Brot damit zu erwerben.
In Münden verband er fi) 1806 zu diefem Zweck mit einem Baron
dv. Aretin, der ihm die Mittel zur Einrichtung einer lithographiichen An—
ftalt gewährte, aus welcher num eine ganze Reihe von Sarten, Plänen
u. j. w., jowie aud) eine berühmt gewordene Ausgabe von Dürer’3 fogen.
Gebetbuch hervorging. Aber die Anftalt, jo vorzüglihe Drude fie auch
hervorbrachte, rentierte fich wenig, nicht zum mindeſten infolge der überall
auftauchenden Konkurrenz, welche ſelbſt durch eine ftaatliche Steindruderei
dem Erfinder geboten wurde. So trat er nad) wenigen Jahren bereits
von dem Aretin’schen Unternehmen zurüd und von neuem drohte die Not
an jeine Thüre zu pochen. Da erhielt er endlich 1809 eine Anftellung
als Inſpektor der Lithographiichen Anftalt der Steuer-Kataſterkommiſſion
niit einer lebenslänglichen Bejoldung von 2000 Gulden.
Das war nun der Hafen, in welchen Senefelder’3 Lebensichifflein
nach mancher ftürmijchen Meerfahrt einlief. Ein Jahr jpäter lief er auch
mit der DOberauditord-Tochter Verih in den Ehehafen ein, und als der
Tod fie ſchon drei Jahre jpäter trennte, heiratete er Anna Maria Neuß,
welche jeine Verhältniffe mit Fundigerer Hand ordnete, als er es im jei-
nem ganzen Leben verjtanden hatte,
Sein Amt drücte ihn nicht Schwer; er hatte faft nichts zu thun und
fonnte fich ganz feinem Erfinder-Talent hingeben,
Das Jahr 1815 jah ihn vorübergehend wieder in Wien, wo er für
die Gerold’she Buchhandlung eine Tithographiihe Anftalt einrichtete.
Noch manches Mal trat er mit den Ergebniffen feines Talents vor die
Öffentlichfeit und hauptjächlic machte fein „Steinpapier“, das die litho—
graphiſchen Eteine erſetzen follte, großes Aufjehen, aber die meijten dieſer
Erfindungen konnten ſich auf die Dauer nicht Halten und find heute ver-
geſſen. 1818 erjchien dann bei Gerold in Wien fein jchon vor einem
Jahrzehnt angekündigtes „Lehrbuch“ der Lithographie, in deſſen Auto-
biographie er bewies, daß feine Feder feit der Zeit jeiner dichteriichen
Thätigkeit nichts von ihrer Gewandtheit verloren Hatte,
In Paris, wohin ſich Senefelder nad) Erſcheinen feines Lehrbuches
begab, wurde er mit Ehrenbezeugungen überhäuft und die engliiche So-
ciety of Encouragement verlieh ihm die große goldene Medaille mit der
Inſchrift: The Inventor of Lithograpby Mr. Alois Senefelder 1819.
Noch viele ähnliche Medaillen und wertvolle Gejchente heimfte er ein und
464 Zum Andenten an Alois Senefelder.
als er 1830 mit der Erfindung des Ölferbendrudes hervortrat, gewährte
ihm der bayerifche König Ludwig eine Ehrengabe von 1000 Gulden.
Gleißner war 1824 am Schlaganfall geftorben und Senefelder ließ
fi drei Jahre fpäter in den Ruheſtand verjegen. Unermüdlich blieb er
nichtödejtoweniger thätig, jtet8 mit der Ausführung neuer Gedanken be-
ihäftigt, bis der Tod infolge von Gehirntuberfeln am 26. Februar 1834
diejem arbeits-, aber auch bewunderungswiürdig erfolgreichen Reben ein
Biel ſetzte. Sein Grabmal auf dem Münchener Friedhof ſchmückt ein
Solnhofer Stein, dejjen Berühmtheit Senefelderd Thätigfeit über das
ganze gebildete Europa verbreitet hatte; denn dieſe bayerijche Steinart
war die zur Lithographie einzig geeignete.
Die Uneigennügigkeit Senefelder’3 ließ ihn über die geringen, ja im
größten Teile feines Lebens erbärmlichden Erträgnifje feiner epochemachen-
den Erfindung Hinwegjehen; ihm genügte der Gedanke, feiner Zeit gedient
zu haben, und charakteriftiih find die Worte, mit welchen er fein ſchon
erwähntes Lehrbuch jchloß; dort gab er dem Wunjch Ausdrud, daß die
Lithographie „bald auf der ganzen Erde verbreitet, der Menjchheit durch
viele vortreffliche Erzeugnijje vielfältigen Nutzen bringen und zu ihrer
größten Beredelung gereichen, niemals aber zu einem böjen Zweck miß-
braucht werden möge, Dies gebe der Allmädtige! Dann jei gejegnet
die Stunde, in der ich fie erfand!”
Sein Wunſch ift in Erfüllung gegangen! Seine Erfindungen erfreuen
fi) einer großen Ausbreitung in der alten und neuen Welt. In jo viele
Eigentümlichfeiten ſich auch die Steindruckkunſt jpezialifiert hat, immer ift
es der Gedanke Senefelder’3, der durch fie verwirklicht wird.
(Schluß folgt.)
Der Einkauf der Büder.
Eine Daritellung für junge Sortimenter.
(Fortſetzung.)
Wir wenden uns nunmehr den Preis- und Rabattverhältnij-
fen zu, unter denen der Sortimenter die Buchware vom Verleger bezieht.
Bei Beiprehung diejer Angelegenheit werden wir, wie bei allem, was bie
buchhändleriihe Uſance betrifft, die Verfehrsordnung und daneben die
trefflihen Schürmannſchen Uſancen berüdjichtigen.
Die Preisbeitimmung der buchhändleriihen Ware ijt eine andere als
die induftrieller Fabrifate. Während Hier der Groſſiſt oder Detaillift zu
einem zwilchen ihnen jpeziell vereinbarten Preiſe einfauft und den Ver—
faufspreis an feine Abnehmer jelbjtändig bejtimmt, erhält jedes Buch bei
jeinem Erſcheinen einen allgemein giltigen öffentlich angezeigten Verkaufs—
preis für das Publikum (Qadenpreis, Ordinärpreis) und der Sor—
timenter (Zwilchenhändler) genießt davon einen ihm feitens des Verlegers
gewährten Rabatt, deſſen Höhe in der Regel für alle Sortimenter gleich-
mäßig bemejjen wird, aber oft variiert je nach der Anzahl der gleichzeitig
bezogenen Eremplare oder je nachdem der Sortimenter in Rechnung oder
gegen bar bezieht. Der Erlaßpreis für den Sortimenter wird Netto-
preis, beziehungsweile Barpreis oder Nettobarpreis genannt.
Diefen präzijen Definitionen haben wir nod) einige Erläuterungen
hinzuzufügen. Der ujancemäßige Rabatt beträgt im Buchhandel im
Minimum 25%. Im bezug auf die NRabattjäge teilt man die Bücher
ein in:
1) Ordinär-Artikel; dies find folche, die der Verleger dem Sor-
timenter mit 33°, °o liefert, wofür man fürzer mit ’Is jagt; in ben
Bücherverzeichniffen fteht bei dieſen Artikeln einfach der Ladenpreis ohne
weiteren Zuſatz.
2) Netto-Artifel; dies find foldhe, die der Verleger mit 25 9%
(abgekürzt mit *4) liefert; fie find in den Bücherverzeichniſſen durch ein
n. gefennzeichnet.
30
466 Der Einfauf der Bücher.
3) Artikel, die mit mehr ald 33"; 0 (40 9o—50 90) geliefert werden.
4) Urtifel, bei denen der Nabatt unter 25 % normiert ift; fie find
in den Biücherverzeichnifjen durch nn. bezeichnet und werden auch wohl
Netto-Netto-Artikel genannt,
Bei vielen Büchern variiert der Rabatt je nad) Art des Bezugs; jo
giebt man vielfach ein und dasjelbe Buch à condition mit 25 %, in
Rechnung mit 30 %, bar mit 40%. Der Sortimenter, welcher ein Buch
à condition bezogen hat und es verkauft, kann nachher natürlich auf den
Preis, der für in Rechnung oder gar für bar bezogene Exemplare gilt,
feinen Anjpruch erheben. Es ilt jedocd allgemein der Nachbezug gegen
bar und höheren Rabatt üblich und der Verleger ift froh, wenn der Sor—
timenter fich in diefer Weiſe für feine Artikel verwendet. Der Barnad)-
bezug am Ende des Rechnungsjahres — wir fommen noch darauf zurüd
— ift aber durchaus zu verurteilen. Viele Verleger gewähren Ertra-
Rabatt, wenn die Sortimenter für eine bejtimmte Summe mit einen
Male beziehen; 50 %o überiteigt der Rabatt im eigentlichen Buchhandel
nie. Aber dieſe höheren Rabattjäge geben manchen Antiquaren jchon
wieder Anlaß auch dem Bublitum gegenüber zu eigenmächtigen Preis-
berabjegungen, natürlich) unter dem Dedmantel des Antiquariate.
Bei Bartiebezügen gewähren die Verleger bejonderen Vorteil jehr
häufig auch in Gejtalt von Frei-Eremplaren; dieje find nur bei feiten
und baren Beitellungen möglich und gewöhnlih nur dann, wenn die
Partie mit einem Male bezogen wird; die Verleger geben Frei-Eremplare
auf 6, 10 oder 12 Eremplare, was man als unechte Brüche "ie, "io,
13,5 oder auch wohl in der Form "is, "io, "ıa zu ſchreiben pflegt, wo—
bei dann die Nenner die Unzahl der berechneten Eremplare angeben. Bei
größerem Bedarf wachſen die Frei-Eremplare entweder progrejfiv (1812,
gg, 57/50, 72500) oder fie Steigen in gleichem WBerhältniffe (le, 12,
2,8). Zu bemerken ijt dabei, daß: wenn der Verleger z. B. 76 giebt,
der Sortimenter, jelbjt wenn er 11 Exemplare auf einmal bezieht, auf
ein zweites Frei-Exemplar noch feinen Anſpruch erheben kann, da die
‚sreieremplarzahl ſich nach der urjprünglich angenommenen Norm richtet;
in diejem Falle berechtigen aljo erſt 12 Exemplare dazu, 2 Frei-Eren«-
plare zu beanjpruchen.
Hat der Sortimenter 212 Eremplare bezogen und will zwei davon
remittieren, jo muß er °2 zurüdjchiden und darf nur zwei berechnen, da
der Verleger ihm naturgemäß den im Freis&remplar gewährten Extra—
Rabatt entzieht, jobald er nicht 12 Exemplare abjeßt.
Wie wir bereit3 betont, gewähren die Verleger im allgemeinen die
Frei-Exemplare nur bei Entnahme der ganzen Partie. Der Sortimenter
hat nie ein Recht auf Nachbezug; doc geftatten diefen die Verleger in
Der Einkauf der Bücher. 467
einzelnen Fällen. Der Nahbezug zu Barpreifen gelegentlich der
Oſtermeßabrechnung wird leider von gewiſſen Sortimentern häufig gemiß-
braucht. Ein Beiſpiel derartiger zweifelhafter Geichäftsmanipulationen
entnehmen wir der „Deutichen Buchhändler-Akademie“:*)
„In welcher Weife fi) der Sortimenter zum Nachteil des Verlegers
einen größeren Nutzen verjchaffen kann, mag ein Beiſpiel zeigen: Wir
behalten während des Weihnadhtstrubels eine Jugendichrift im Auge.
Gerade in diefer Zeit denkt der Sortimenter am wenigſten daran, fich nach
den Bezugsbedingungen zu richten. Es wird blindlings beftellt, ohne zu
kontrollieren, wie viele Eremplare ſchon von der betreffenden Jugendichrift
abgejeßt wurden, denn wozu fich in diefer Beit eine Arbeit machen, die
jpäter noch erledigt werden kann. Schließlich kommt die Oftermefje heran.
Höchſt erftaunt bemerkt der Sortimenter auf dem betreffenden Verleger:
Konto, daß von den ca. 20 nach und nad) & cond. bezogenen Eremplaren
feins mehr auf dem Lager iſt. Schleunigjt werden die Bedingungen
ftudiert: à cond. 25 °o, fejt 30% und bar 33°’): %o und "!ıo. Um nun
nicht gleich das Geld ausgeben zu müfjen, merkt er ſich die Beftellung
für nächjte Weihnachten vor, disponiert daraufhin 18 Eremplare, während
er, um etwas abgejeßt zu Haben, 2 Eremplare zur Djtermefje bezahlt.
So hat der Sortimenter den Nuten des Partiebezuges ohne jedes Rifiko
und braucht die 20 Eremplare erjt ein volles Jahr jpäter zu bezahlen,
als er jie abgejett hat.”
Wir haben diejes Beiſpiel angeführt, um an demjelben zu zeigen,
zu welchen Täufchungen die buchhändleriihen Rabatt- und Partieverhält-
nifje vielfach gemißbraucht werden. Daß fich derartige betrügeriiche Ma-
nipulationen — das „blind” disponieren — jelbjt verurteilen, bedarf
wohl faum der befonderen Hervorhebung. Mag es auch zweifelhaft jein,
ob der Richter fie Betrug nennt, jo find fie vom moraliichen Standpuntte
aus entichieden zu verurteilen; jchon der Gedanke an die Standesehre
jollte jeden Sortimenter abhalten, fih auf diefe Weile zu bereichern.
Zeider wird diefer Standpunkt in der Praxis faum noch vertreten und
viele Verleger billigen und unterjtügen direft ein ſolches Verfahren.
Andere Verleger wieder verjuchen ich gegen dieſen Mißbrauch häufig
dadurch zu ſchützen, daß fie die bar ausgelieferten Eremplare durch einen
nicht auffälligen Stempel kennzeichnen.
*) 2. Bd. S. 348; die rechtliche Seite der Sache erörtert Dr. jur. Meidling
fehr eingehend in demielben Band ©. 533 u. ff.
(Fortiegung folgt.)
30*
Die Begründung der „Korporation der Berliner
Buchhändler“ und die Berliner Beftellanftalt.
Vor Karl Er. Pfau.
(Fortjegung.)
Die folgenden der Korporation erftatteten Jahresberichte haben über
die Entwidelung des Paketverkehrs faſt nur Erfreuliches zu berichten.
Bereits der Bericht des Schatzmeiſters E. Paetel über das Jahr 1878j79
weit darauf hin, daß die Baketausfuhr jchon in der furzen Zeit ihres
Beitehens einen größeren Umfang angenommen babe, als eriwartet twor-
den jei, und gleich befriedigt oder vielmehr immer günftiger lauten Die
Mitteilungen aus allen folgenden Jahren. In welchem Maße der Ver—
kehr von Jahr zu Jahr gewachſen ift, wird in dem folgenden Abjchnitt
gezeigt werden, erinnert joll hier nur an eine bedenkliche Folge diejer
Berfehrsvermehrungen werden, von der jchon oben die Rede geweſen ift,
daß nämlich je länger je mehr ſich das Geichäftslofal der Bejtellanftalt
in der Mohrenjtraße als unzulänglich erwies. Nach vieler Mühe gelang
es dann im Jahre 1888, das Lokal in der Linkftraße zu gewinnen, das
eben nur den einen Nachteil hatte, daß e3 zu weit vom Mittelpunfte der
Stadt entfernt lag. Um dieſem Übelftande in etwas abzuhelfen, wurde
bei der Firma Windelmann und Söhne am Spittelmarkt eine Filiale für
den Mappenverfehr eingerichtet, die, als dieſe Handlung von Dort verzog,
von 3. Bachmanns Buchhandlung, Holzgartenftraße 4, übernommen wurde.
Der Jahresbericht des Vorſtehers Fr. Vahlen für 1885,86 berichtet
dann wieder über eine Reihe von Veränderungen im Betriebe der Beitell-
anftalt, die in Erweiterung der Befugnifje der Mitglieder und in Neue-
rungen zum Zwecke der Ausdehnung und Erleichterung der Verkehrsver—
hältnijje bejtehen. Es hat dem Vorſtande vorgefchwebt, die Betriebs—
fähigkeit der DVerfehrsanftalten zu erhöhen, damit den weiteltgehenden
Bedürfniffen und Anforderungen entiprochen werden fünne, im Verkehr
der hiefigen Firmen jowohl mit einander al3 aud) von und nad) Leipzig.
Die Begründung der „storporation der Berliner Buchhändler” x. 469
Durch diefe Einrichtungen erhielt der Verkehr auf der Beſtellanſtalt Die-
jenige Geftalt, die er heute noch hat, und auf die im nächſten Abjchnitt
näher eingegangen werden wird.
In dem Augenblick, ald durch den Umzug in das größere Rofal und
den erweiterten Betrieb die Korporation jchwerwiegende VBerpflichtungen
übernommen hatte, drohte der Beltellanftalt eine nicht ungefährliche Kon-
furrenz durch die im Jahre 1886 ins Leben gerufene Verkehrsanftalt des
Berliner Bereins-Sortiment3 zu erwacdjen, die 3. T. dasjelbe leiften
wollte wie die Beſtellanſtalt. Der Borftandsberiht vom Oktober 1886
ſprach fich gegen diefe Sonderbejtrebung mit Nachdruck aus und gab der
Gewißheit Ausdrud, daß eine dauernde Gefahr für die Korporations-
anftalten aus dem neuen Unternehmen nicht zu befürchten jei. Die Er-
fahrung hat dieſe Erwartung beftätigt, denn die Verfehrsanftalt ift nad)
nur furzem Beitehen wieder eingegangen.
Tie Paketausfuhr war, nachdem fie vorübergehend eine andere Firma
übernommen hatte, im Herbſt 1879 der Speditionsfirma A. Warmuth
übertragen worden, die diefe Aufgabe ftet3 zur vollen Zufriedenheit der
Korporation erfüllt Hat Je mehr aber der Verkehr zunahm, dejto erheb-
licher wurden auch die Koften, und als diefe im Jahre 1887 bereits bie
Höhe von 7500 Mark erreicht hatten, trat der Vorſtand in eine Erörte:
rung der Frage ein, ob man nicht beſſer fahren würde, wenn man die
Ausfuhr durch eigene Gejpanne beforgen ließe. Die Frage wurde dem
Hauptausſchuſſe unterbreitet, der fein Gutachten unterm 3. März 1888
dahin abgab, daß nad) feiner Meinung fi) die Koſten zunächſt zwar
höher jtellen würden wie bei der Ausfuhr durch Warmuth, troßdem
glaubte er aber, dem Vorjtande empfehlen zu jollen, dem Gedanfen einer
Übernahme der Ausfuhr in eigene Regie näher zu treten. „Es leitet
ihn vor allem der Gedanke, daß Berlin in feinem gewaltigen Wachstum
für die nächſten Jahrzehnte auch eines entiprechenden Anwachſens jeines
Buchhandels und damit feines buchhändleriichen Verkehrs ficher jein kann.
Die Steigerung der Ziffern des von der Anjtalt bewirkten PBädereiver-
kehrs, der fi) von 2203 Doppelzentner im Jahre 1884/85 auf 3910
Doppelzentner im Jahre 1886/87 gehoben hat, zeigt, daß der Verkehr ſich
hebt und weiter hebt. Es jcheint daher der Moment ſich wohl dazu zu
eignen, fich jegt auf eigene Füße zu ftellen, jo lange der Betrieb ein jol-
cher ift, daß er fich durch die bisherigen Kräfte leiten und beauffichtigen
läßt. Wächſt er, wie zu hoffen, jo ift dann eine Einarbeitung in bie
neuen Berhältniffe bereit3 erfolgt.“
Der Borftand war derjelben Anficht, bejonders fiel für ihm aber
noch die Erwägung ind Gewicht, daß die Koften bei der jegigen Art ber
470 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc.
Ausfuhr außerordentlich wachjen mußten, jobald der Verkehr eine weitere
Steigerung erfuhr. Die Warmuthichen Gejpanne ftanden immer nur für
bejtimmte Tagesjtunden zur Verfügung, während jede Leiftung darüber
hinaus bejonders bezahlt werden mußte, und es lag auf der Hand, daß
eigenes Fuhrwerk eine ganz andere Ausnutzung gejtattete.
So wurde denn einer außerorbentlihen Hauptverfammlung am 27. März
1888 der Antrag auf Anfhaffung eigener Pferde und Wagen zur Be-
Ihlußfaffung vorgelegt und von diefer angenommen. Die Vorbereitungen
für die Durchführung diefer Einrichtung dauerten bis gegen das Ende
des Jahres 1888; im Dezember wurden vier Pferde zum Preiſe von
3400 Mark angejchafft und mit dieſen der Betrieb eröffnet. Der Erfolg
war in jeder Beziehung ein über Erwarten günftiger. Schon der Jahres-
bericht vom 30. Dftober 1889 ſpricht fich höchſt befriedigt über die neue
Einrihtung aus: „Die Zuverläjfigkeit der Ausfuhr ift mindeftens die
gleiche geblieben, die Leiftungsfähigkeit ift gewachlen, und die erjten ſechs
Betriebsmonate haben gegen früher bereits eine Eriparnis von rund 900
Mark ergeben“, und auch im nächſten Jahrbericht heißt es: „Nicht minder
erfreulich ift die Thatjache, daß fi die Übernahme der Paletausfuhr un-
jerer Anftalt in eigne Verwaltung durch Anfauf eigener Pferde und
Wagen nach jeder Richtung Hin bewährt hat, ſowohl in Bezug auf die
Leiftungsfähigkeit und Zuverläſſigkeit wie auch Billigfeit.” Seit dem
Jahre 1891 befigt die Beitellanftalt jechs Pferde, und die bereit3 damals
berechnete Erjparnis betrug der Ausfuhr durch Warmuth gegenüber 1700
Mark; da der Verkehr ſeitdem noch beträchtlich gewachſen ift, während
der Pferdebejtand nicht vermehrt zu werden brauchte, würde ſich die Er-
jparnis heute noch wejentlich höher ftellen.
Um aud für die auf dem Transport befindlichen Sendungen eine
Sicherheit zu bieten, jchloß der Vorſtand im April des Jahres 1889 mit
der Transport-VBerfiherungs-Aktien-Gefellihaft „Deutiher Lloyd” einen
Berfiherungsantrag, nah dem jämtlihe Warenjendungen der Beitell-
anftalts-Mitglieder auf Eifenbahnen, Fuhren und Poſten innerhalb
Deutihlands und Öſterreich-Ungarns täglih mit 75000 Mark ver»
ſichert find.
Im.
Die jekige Organilation der Befellanftalt.
Als im Jahre 1846 die Beftellanftalt begründet wurde, betrug das
ganze Gelderfordernis nur wenige hundert Thaler, während die Kor—
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ıc. 471
poration heute für ihre Erhaltung jährlich etwa 35000 Mark ausgiebt.
Diefe Zunahme der Ausgaben läßt nicht nur einen Schluß auf die
wachſende Ausdehnung der Anstalt zu, fie läßt auch unjchwer ermejjen,
daß es für den Vorftand nicht immer leicht gewejen ift, dem wachjenden
Geldbedürfnis gerecht zu werben; die Mehranforderungen zwangen wieder
und wieder zu einer Erhöhung der Beiträge, und wer wüßte nicht, daß
eine jolche bei den Beteiligten in den feltenften Fällen freudiger Auf-
nahme begegnet.
Wie die verjchiedenen Zweige der Beftellanftalt einzeln begründet
wurden, jo wurde auch für jeden einzelnen ein für alle Mitglieder gleicher
Beitrag erhoben, für den die Beftellanftalt eine beftimmte Leiſtung über-
nahm, während jede über eine feitgefeßte Gewichtsmenge hinausgehende
Inanfpruchnahme befonders berechnet wurde; mit dem jeweiligen Wachen
des Gejchäftsverfehrs mußten diefe Beiträge alfo erhöht werden. Das
war zu Öfteren Malen gejchehen, und als ſich im Jahre 1868 wieder die
Notwendigkeit, Mehreinnahmen zu jchaffen, herausftellte, da regte zum
eriten Male der damalige Schatmeilter, C. Röſtell, den Gedanken an,
die gleichmäßigen Beiträge aufzuheben und dafür die Mitglieder je nad)
dem Umfange ihrer Benugung der Beitellanftalt zu befteuern. Er ſchlug
die Einteilung in drei Klaſſen vor, und ſowohl der Vorſtand (alle Mit-
glieder desjelben begründeten ihre Anficht in ausführlichen Gutachten) als
auch der Hauptausſchuß ftimmten diefem VBorjchlage zu. Die Hauptver-
jammlung, der ein betreffender Antrag vorgelegt wurde, lehnte ihn jedoch)
ab, und ebenjo führte auch ein ähnlicher Antrag A. Goldſchmidts, den er
im Jahre 1879 bei Gelegenheit feiner Erweiterungsvorichläge für Die Be-
ftellanftalt ftellte, zu feinem Ergebnis. ALS letere im Hauptausihuß
zur Beratung ftanden, jagte H. Kaifer in feinem Gutachten: „Während
es in wirtjchaftlicher Beziehung jo einfach) und natürlic) ift, bei gemeinjfamen
Unternehmungen Leiftung und Gegenleiftung gegen einander abzumägen
und danach den Beitrag des einzelnen zu regeln, haben wir es unter den
200 Mitgliedern der Korporation und bei dreißigjährigem Beſtehen unjerer
Bereinigung 3. 3. noch nicht dahin bringen fünnen, diefen naturgemäßen
Grundjag auf die Benutzung unferer Beitellanjtalt und die dafür zu ver-
wendenden Mittel und Beiträge auszudehnen,” Man fträubte fich gegen
diefe Neuerung immer wieder, weil man befürchtete, daß eine Veranla-
gung durch den Vorſtand oder eine Kommilfion bei den Mitgliedern
mancherlei Mipftimmung hervorrufen könnte.
Die Einführung der Paketausfuhr zwang aber ſchließlich doc, dazu,
diefen Weg zu befchreiten. Die Hauptverfammlung vom 4. Oftober 1884
ermächtigte den Vorſtand, die Mittel für die Beftellanftalt durch Veran—
lagung der Mitglieder nach Maßgabe ihrer Benutzung derjelben zu be-
472 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchbändler” :c.
Ihaffen, und dieſe Einſchätzung fand zum erften Male im Jahre 1886
durch den Vorſtand unter Hinzuziehung des Hauptausſchuſſes ftatt. Dieſe
erftmalige Veranlagung war gewiß feine leichte Arbeit, ftand doch dem
Vorſtande als Unterlage nur ein unzulängliches ſtatiſtiſches Materiol zu
Gebote, und es kamen denn auch zahlreiche Reklamationen, die jedoch
meift durch perjönlihe Rückſprache eine erwünjchte Erledigung fanden.
Mit jedem Jahre ging es damit aber bejjer, und die Beanjtandungen
haben jetzt faft ganz aufgehört, ein Zeichen dafür, daß die Berliner Kol-
legen ſich mit der Art der Beitragserhebung vollitändig ausgejöhnt haben,
und nicht minder dafür, daß die erhobenen Beiträge in richtigem Ver—
hältnis zu den Leiftungen ftehen.
Während die Gejamtausgaben der Korporation 1879/80 rund 17000
Mark, 1884185 21000 Mark und 1889/90 38000 Mark betrugen, muß-
ten im Sabre 1892 allein für die Beftellanftalt 33 780 Mark aufgebracht
werden, die ſich wie folgt auf die 376 Mitglieder verteilten:
5 zu Mi 30 — Mt. 150 | 8 zu Mt. 160 — Mt. 1280
14 „ „ 0 „50 |! 1, 180- „ 189
2, 89 „ 10 | 8, ».%0 -- „ 1600
74 5 „68 „ 4440 I nr WM = „ 70
ei „ 140 2 5 O0 -- „ 580
52 „ „80 „ 4160 3 u 0. 280 „840
3 u». D= „ 370 2 u... 20 — „ 640
23 „ „ 10 „ 2300 2 „u 30 - „ 680
I ..3. 216 „ 110 2 „u 0 - „ 70
47 „ „ 120 — „ 5640 2 „ „ 40— „ 80
1, „ 10- „ 1390 2 „u 480 — „ 0
16 „ „ 140 — „ 2240 1% 600 — „ 600
Zu diefer Einnahme treten dann noch die für Übergewicht erhobenen
Beträge, Eintrittögelder neu aufgenommener Mitglieder und Zinſen aus
dem Korporationsvermögen hinzu, jo daß ſich die Gefamteinnahme der
Korporation auf mehr wie 40000 Marf belaufen hat.
Was leijtet nun die Beitellanftalt hierfür? ES wird nicht uninter-
eſſant fein, aus den folgenden beiden Tabellen die Gejamtarbeitgleiftung
der Anjtalt für die einzelnen Jahre, jowie für eine Reihe von Jahren
zu erjehen; diefe Zahlen laſſen auf einen Blid erkennen, welche Steige-
rung der Verkehr auf der Beltellanftalt im Laufe der lebten fünf bis
zehn Jahre erfahren Hat. Als nicht in Zahlen ausdrüdbare Leiftung
muß nocd der täglich zweimal erfolgende Bettelaustaufc für die Berliner
Handlungen hinzugerechnet werden.
Die Begründung der „Worporation der Berliner Buchhändler” ꝛc. 473
Verkehr der Beftellanftalt mit Leipzig
im den lebten fünf Jahren.
Expre Eil⸗ u. Fracht⸗
| —— —5 u
Jahr yon Leipzig von Leipzig „ach Leipzig
| kg kg kg
1887/88 27 447 20020 119 560
1888189 32517 24 280 132 968
1889/90 35 039 28510 136 928
1890/91 39 177 26 391 145 617
1891/92 | 46865 28445 154 244
Dazu fommen nod) die täglichen Boltfendungen mit den Skripturen von
und nad) Leipzig.
Paketausfuhr dur die Beftellanftalt
jeit ihrer Einrichtung.
ejamt arpafete
Jahr —— Davon von | ir
in kg außerhalb von
Juli 1879 bis September 1880| 111344 | 35670 | 65476 Mt.
1880181 146495 | 71946 | 83485 „
1881/82 158030 | 75041 | 88541 „
1882/83 145544 | 75866 | 76457 „
1883/84 152540 | 82759 | 81858 „
188485 220385 | 123120 | 148718 „
1885/86 | 280453 | 162998 | 206039 „.
1886/87 391076 | 119017 | 319842 „
1887188 423 152 | 98219 | 394511 „
188889 465896 | 140851 | 420154 „
188990 506018 | 214000 | 512517 „
1890191 ı 552770 | 186422 | 587943 „
1891192 | 587561 | 202612 | 672974 „
Über die Leiftungen, auf die jedes Mitglied der Beftellanftalt für
feinen Beitrag ohne weiteres einen Anſpruch hat, giebt das „Hilfsbuch
für den Berliner Buchhandel” folgende Auskunft:
1) Den gejamten Zettel, Sfripturen- und BDrudjachenverfehr der
Mitglieder und deren Kommittenten unter ſich, ferner den Zettel—
und Skripturenverkehr mit dem Leipziger Kommiſſionär bis zur
Gewichtägrenze von 200 g.
474 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
2) Drudjachenverjendung von und nad) Leipzig in täglichen Erpreß-
gutjendungen bis zur Gewichtögrenze von je 500 g.
3) Beförderung von Beiſchlüſſen (WBücherpafeten) von und nad)
Leipzig bis zur Gewichtägrenze von je 25 kg im Monat.
4) Abholen und Verteilen der Pakete von und an Mitglieder.
5) Inkaſſo und Verrechnung aller auf diefen Sendungen laftenden
Nachnahmen.
6) Täglichen Wagenverkehr zwiſchen der Beſtellanſtalt und allen mit
120 Mark und mehr veranlagten Handlungen.
7) Tägliche Ausfuhr aller von auswärtigen Firmen eingehenden
Beiſchlüſſe.
8) Inkaſſo aller darauf laſtenden Nachnahmen.
9) Den Verkehr der Kommittenten der hieſigen Kommiſſionäre mit
den Mitgliedern der Beſtellanſtalt.
10) Zuſtellung aller von auswärts franko einlaufenden Neuigkeiten,
Fortſetzungen und Remittenden.
11) Anjammlung und direkte Abjendung von Remittenden an die da—
mit einverftandenen auswärtigen Verleger.
12) Übermittelung aller zur Auszahlung an biefige Firmen oder deren
Kommittenten eingehenden Geldbeträge.
13) Einladung zur Teilnahme an den halbjährlihen Abrechnungen
und den damit verbundenen Einrichtungen.
14) Berficherung aller mit der Poſt und Eijenbahn beförderten Sen-
dungen gemäß Vertrages mit dem Deutſchen Lloyd zu Berlin.
Biele Jahre hindurch wurde die Arbeit auf der Beitellanftalt von
den beiden Erpedienten allein beforgt, während der jetige große Gejchäfts-
umfang einen bedeutenden Verwaltungs und Betriebsapparat erforderlich
macht. Borfteher der Beftellanftalt ift ftet3 der Schagmeilter der Kor-
poration.
(Schluß folgt.)
5
Dwanglofe Bundfdan.
Mit befonderer Freude berichten wir von Jubiläen, die verdienten Kollegen
zu feiern beſchieden find.
Am 1. Januar waren e3 fünfundzswanzig Jahre, jo fchreibt das „B. Bl.“, daß
Herr U. Hoepli fih in Mailand jelbjtändig machte; die Angeftellten ſeines Hau—
ſes feierten diefen Tag, indem fie dem Jubilar feine wohlgetroffene Bronzebüfte
überreichten, während Herr Hoepli einen größeren Betrag unter fein Berjonal
verteilte.
Am 4 Juli vor 25 Jahren begann dann Herr Hoepli feine Thätigfeit als
Verleger. Seine Autoren, ſowie feine italienischen Kollegen und die — fritifer,
denen er in dieſer Zeit mehr ald 1700 Bände zum Beurteilen geliefert hat, wollten
diefen Tag nicht vorübergeben laſſen, ohne Herrn Hoepli ihre Anerfennung und
Hochachtung zu bezeugen; jede der drei Gruppen überreichte deöhalb ein Album,
worin dieien Gefühlen Ausdruck gegeben war.
Das Album der Autoren enthält über 160 Namen, darunter viele aud im
Auslande befannte, wie Gremona, Beltrami, Schiaparelli, P. Rajna, PB. PVillari,
C. Ricci, Visconti Venofta, die Societä degli autori x. Der fritifer und our:
naliiten find ungefähr hundert, darunter A. d'Ancona, P. Lioy, Torelli:Biollier ꝛc.
Bon Büchhändlern haben ſich ungefähr einhundertfünfzig beteiligt: Le Monnier,
Barberä, Paravia, Rocca, Loeſcher, Clauſen, Furchheim, Sachi und viele andere.
Ein Jubiläums-Verlagsfatalog iſt in Vorbereitung und wird in etwa vier
Wochen ausgegeben werben.
Möchte es Herrn Hoepli, der durch feine Umſicht und erftaunliche Arbeitskraft
fein Geſchäft von Fleinen Anfängen zu einem der erften in Italien emporgeboben
bat, vergönnt fein, noch lange in feiner Thätigfeit fortzufahren, um noch weiter
recht viel Gutes zu Ichaffen.
Wir wollen nod hinzufügen, daß Herrn Hoeplis gewinnende Perſönlichkeit
auch in weiten Kreifen des MWeltbuchhandels fich viele Freunde erworben hat.
Des mweiteren wirb berichtet:
Herr Richard Köhler in Leipzig blidt auf eine 2bjährige arbeitäreiche
Thätigfeit in ber Redaktion des „Adreßbuches des Deutfhen Buchhandels” zu—
rüd, Wer fih je mit der Bearbeitung eines Adreßbuches oder ber Heritellung
einer Bibliographie beichäftigt bat, weiß, daß für folche Arbeiten vor allem un:
ermüdliche Ausdauer und äußerſte Peinlichfeit erforberlih find. Wenn nun bei
den Beiprechungen der einzelnen Jahrgänge des Adreßbuches ftet3 die gewiſſenhafte
Bearbeitung und fehlerfreie Drudlegung gelobt werben fonnte, jo ift das wenig:
ftend für die lebten Jahre das Hauptverbienft des Herrn Redakteurs NR. Köhler,
der mit unermüblicher, gleichmäßiger Sorgfalt, mit ftrenger Gemwiffenhaftigfeit und
treuer Hingabe an bie ihm Tiebgeworbene Thätigfeit jedes Jahr den umfangreichen
476 Zwangloſe Rundichau.
Stoff, wie ihn dad Adreßbuch bietet, durcharbeitet und mit minutiöfer Peinlich—
feit über jeine Drudlegung wacht.
Herr R. Köhler, Sohn des langjährigen Beamten des „Vereins der Buchhänd-
fer zu Leipzig“ Job. Karl Köhler, der bei ber Beftellanitalt für buchhändleriiche
Geichäftspapiere feit deren Begründung bis zu feinem im Jahre 1888 erfolgten
Tode angeitellt war, ift von Beruf natürlih Buchhändler, und zwar genoß er im
Geſchäft der Herren Lift & Francke in Leipzig die Vorbildung eines Antiquars,
Die in der angeſehenen Antiquariatshandlung reichlich erworbenen Kenntniffe ver:
iwertete er dann zunächſt am Rhein, bei M. Lempertz in Bonn. Der Ausbruch des
deutichsfranzöfiichen Krieges jtellte den damals erit Neunzehnjährigen auf einen ver:
antwortungsvollen Poften, er mußte für den ins Feld ziehenden Geihäftsführer
die Leitung des Zweiggefchäftes von M. Lempertz in Aachen übernehmen, bie er
auch zur Zufriedenheit feines Chefs bis zur Rückkehr des bisherigen Geſchäftsfüh—
rers und jebigen Inhabers (A. Creutzer in Aachen) verſah. Nach der Heimat zu-
rüdgefehrt, trat er am 1. Auguft 1871 bei Otto Aug. Schulz in Leipzig als Ge:
hilfe ein und wurde bier gleich bei der Bearbeitung von Schulz’ „Adreßbuch des
Deutihen Buchhandels“ mit beichäftigt. Im Laufe der Jahre wurde nun dies
Adreßbuch feine Hauptbeihäftigung. Nachdem er faft fiebzehn Jahre dem genannten
Haufe angehört und unter Leitung des Herrn Hermann Schul; das Adreßbuch
ſchon viele Jahre zum Drud befördert hatte, wurde er gelegentlich des Anfaufs des
Adreßbuches durch den Börfenverein der Deutichen Buchhändler im Jahre 1888
als Redakteur des genannten Werkes angeftellt. Möge es dem liebenswürdigen
Jubilar vergönnt fein, feine ſchätzenswerte Arbeitöfraft noch recht vielen Jahrgängen
unſeres Adreibuces widmen zu fönnen — das wünſchen ihm aufrichtig feine
näberjtehenden Kollegen im Deutichen Buchhändlerhaus und in Leipzig. Und wir
find fiher, daß fich weite Kreife im deutfchen Buchhandel diejen herzlichen Glüd:
wünſchen für den raftlofen und ohne Nennung feines Namens bejcheiden in der
Stille wirkenden Bearbeiter unferes unentbehrlichen Adreßbuches gern und freudig
anjchließen werden.
Der allgemeine deutihe Budhhbandlungsgehilfen: Verband hat einen
Bericht über feine Thätigfeit in den Vereinsjahren 1894195 und 1895/96 heraus:
gegeben, dem wir das Nachitehende entnehmen: Die ins Werf geſetzte Agitation
zur Gewinnung neuer Mitglieder hat durch die Bemühungen einzelner ber Herren
Vertrauensmänner dem Berbande in der zweijährigen Periode 369 neue Mitglieder
zugeführt, jo daß derfelbe zur Zeit aus 2151 Zugehörigen beiteht. Innerhalb diejer
Zahl waren 784 Stellenänderungen zu vermerken. Durch Ableben wurden dem
Verbande 46 Mitglieder entriffen. Am 1. Januar 1895 ift die Witwen: und
Waiſenkaſſe der Bereinigung in Kraft getreten und aus dieſem Anlaß der lang—
jährige Leiter des Verbandes, der die erjte Anregung zu diefer Kaffe gegeben und
jeit des Verbandes Beitehen für deifen Entwidelung und Ausbau unausgeſetzt
thätig gewejen, Herr Eduard Baldamus, zum Ghrenmitgliebe ernannt worden.
Gleichzeitig wurde zu Gunſten dieſer Kafle eine umfaffende Sammlung veranftaltet,
deren Ergebniſſe den ermutigenden Rat eines hervorragenden Leipziger Cheis:
„Klopfen Sie nur tüchtig an den Thüren der Herren Prinzipale an, Sie werden
offene Herzen finden“, nicht Lügen ftraften; denn eö wurden gezeichnet 5670 ME.
jährliher Beiträge und gingen außerdem ein 19443 DE. W Pf. an eirimaligen
und 1357 ME, an erhöhten Beiträgen. Infolge des dadurch Bethätigten hochherzigen
MWohlwollens feitens der PBrinzipalität ftanden der Kaſſe im erften Jahre der Wirf:
jamfeit 12420 ME. 20 Pf. für vorhandene Witwen und 3105 ME, für hinzutretende
Awangloje Rundichau. 477
Witwen und Waifen zu Gebote, Zur VBerausgabung gelangten davon an 53 vor:
bandene Witwen 9950 ME. und an die hinzugetretenen 8 Witwen und 8 Waifen
1370 DE. 5 Pl. Nach dem Abſchluß vom Jahre 1894 bezifferte fich das Vermögen
der Witwen: und Waiſenkaſſe auf 265823 ME. 46 Pf. und nad dem vom Jahre
189% auf 313016 ME. 22 Pf., was eine Erhöhung dieſes Vermögens um rund
47000 ME. ergibt. — Bei der Kranken: und Begräbniäfafje des Verbandes hat eine
Herabſetzung des Kranfengeldes für arbeitsfähige Kranfe ftattgefunden. Zur Aus-
zahlung gelangten im Jahre 1894 an Stranfengeldern 28323 ME. 87 Pf, an Be:
aräbniögeldern 6400 Mk. und im Jahre 18% an Kranfengeldern 24135 ME. 37 Pf.
an Begräbniägeldern 4775 ME. Dieſe Kafie hat einen Vermögenszuwachs von
rund 7500 DE. zu verzeichnen. — Das Vermögen der Alterd: und Anvaliden:
Zuſchußkaſſe bat ſich ebenfalld vermehrt und ergab Ende des Jahres 1895 einen
Beitand von 56603 ME. 44 Pf. — Für alle drei Kaſſen zufammen find ab 1. Sep-
tember 1894 bis dato 108000 ME. in mündelſicheren Wertpapieren angelegt wor:
den. — Die Stellenvermittelung des Verbandes erfreut fich einer immer größeren
Inanſpruchnahme feitend der Prinzipalität ſowohl als auch der Stellefuchenben.
Nach den eingelaufenen Mitteilungen gelangten feit der letzten Hauptverfammlung
33 Engagements zum Abſchluß. — Für die Hilfskaſſen hat außer den obenerwähnten
einmaligen Beiträgen, Jahreöbeiträgen und Beitragserhöhungen der Verband Zu:
wendungen erhalten von folgenden Gebern: Bom Juli 1894 ab: Ungenamnter
Gönner in Leipzig 300 ME, Gehilfe in Jena (Reugeld) 100 Mk. Verein jüngerer
Buchhändler in Halle 36 ME. 0 Pf. Im Jahre 1895: Mitglied des Donnerstags:
klubs Berliner Buchhändler 100 ME, Schilde in Meran 50 Mk., Sammlung beim
Baldamus:Kommers 238 Mk., Dr. Baumgärtner (Firma Greiner & Schramm),
Leipzig, 84 ME, Weihnachtsfeſt des „Krebs“, Berlin, 44 ME. 64 Pf. Sechs Mün—
hener Buchhändler 30 ME, Elwin Paetel, Berlin, 1000 DE, Hermann Paetel,
Berlin, 500 ME, Konftantin Sander, Leipzig, 150 ME, A. M. in Dr, (Buße)
50 ME, Arnold Hirt, Leipzig, 500 Mk., Stiftungäfeft des „Palm“, München, -
37 Mk. 22 Pr, „Alte Hallenjer“, Leipzig, 87 ME. WO Pf. Börfenverein deutjcher
Buchhändler 2000 ME, Bismard:Kommers, Berlin, 107 ME, 15 Pf. O.M.Feſt—
ausſchuß beim Kantate-Feſtmahl 354 Mk. 40 Pf, Süddeutfcher Buchhändlerverein,
Stuttgart, 220 M., Verein jüngerer Buchhändler in Jena 61 Mk. 6 Pf. O.:M.:
Feſtausſchuß als Montageinnahmeanteil 169 ME. 49 Pf, Gönner in Leipzig und
deſſen Gemahlin 1000 ME, Zum Andenken an Freiherrn v. Tauchnig von den
Hinterbliebenen 5000 Mk., zu Ehrung eines BVerftorbenen, Münden, 600 Mk. —
Im Jahre 1896: Stellenvermittelung „Krebs, Berlin, 40 ME, Leopold Bial,
Breslau, 128 ME. 70 Pf, Jubel-Kommers der Berliner Gehilfen 34 ME. 45 Pf.,
Unterftüßungsverein derjelben 62 Mk., Gehilfenverein, Stuttgart, 1210 DIE. 25 Pf,
„Robinjon“Feiteflen, Braunſchweig, 30 Mk., Verforgungsanftalt, Großherzogtum
Baden, 42 ME. 75 Pf, Feſtausſchuß „O.M.“, Kantate-Feitmahl 626 Mk. 34 Pf.,
Zur Grinnerung an Hermann Roft von den Hinterbliebenen 1000 Mk. Börfen:
verein beutfcher Buchhändler 2000 Mk., Albert Kod, Stuttgart, 171 Mf. 33 Pf,
Frau Graf:Rauchenegger, Turin, 240 ME, Bei diefem Berzeichnifje find Beiträge
von unter 30 ME, nicht mit aufgeführt. — Durch Gratisüberlaffung von Büchern
und Karten für die Gefchäftsbibliothef unterftügten den Verband die Firmen E. Be:
fold, Bibliographiiches Inftitut, F. A. Brodhaus, J. Guttentag, Edgar Herfurth
& Ko., Berlag deö Neuen Leipziger Adreßbuchs, Otto Wigand, U. Zudichiwert, fo:
wie Garl Flemming, Juſtus Perthed und Wagner & Debes, Gratisaufnahmen
von Befanntmahungen gewährten dad „Börfenblatt” und die Firmen Werner
478 Zwangloſe Rundichau.
Jeſchke (Berlin) und Müllers Verlag (Leipzig). — An der Geſchäftsſtelle waren in
beiden Jahren 6892 Eingänge und 5921 Ausgänge (inkl. 2834 Poitanweifungen)
zu verzeichnen, wobei die Ein- und Ausgänge der Stellenvermittelungsanftalt nicht
mit gerechnet find. — Bon den in Betraht fommenden Krankheitöfällen des Jahres
1894, der Zahl nah 360, betrafen 117 Erwerbsfähige, 163 Erwerbsunfäbige, 80
teilweiie Ermwerbsunfähige. Im Jahre 1895 dagegen zählen nur 291 Kranke, wo—
von 60 erwerbsfähig, 156 erwerbsunfähig, 75 aber nur teiltweife erwerbsunfähig
waren. Im Jahre 1894, wo 14 Augenfranfheiten und 18 Magen: und Darmfranf:
heiten als die höchiten Ziffern unter den Krankheitsfällen jtehen, ergab die Geſamt—
dauer berjelben bei den Erwerbsfähigen 7534 Tage, bei den Erwerböunfähigen
10206 Tage, zufammen 17740 Tage, im Jahre 1895 dagegen betrug dieje Geſamt—
dauer nur 13955 Tage, wovon 4964 auf Erwerbsfähige und 8991 auf Erwerbs:
unfäbige fommen. — Die Mitgliederbeiträge ergaben im Jahre 1894 bei ber Ber:
bandskaſſe 1872 DIE. 42 Pf. bei der Kranken: und Begräbnisfafie 28007 DIE. 30 Pf.,
bei der Witwen: und Waifenfaile 93 ME. 85 Pf. und bei der Alters- und Inva—
lidenzuſchußkaſſe 5595 ME. 50 Pf., im Jahre 1895 dagegen bei erjterer- 2088 DIE.
75 Bi, bei der anderen 31860 ME. 25 Bf., bei der dritten 11065 ME. 43 Pf. und
bei ber zulegt genannten Kalle 6202 ME. 90 Pr. An SZinfen aus Hypotheken und
Wertpapieren erwuchſen dem Berbande im Jahre 1894 13003 ME. 20 Pf. im
Sabre 1895 dagegen 14068 ME. 75 Pf. Die Unfoften betrugen inkl. Steuern und
Poftgeldern im Jahre 1894 6123 ME. 15 Pf, im Jahre 1895 hingegen 7527 ME.
32 Pf. K.
>
Heue Büder.
Ernftes und Seiteres aus einer Drienfreife. Von Paul Tho—
maſchki. Königsberg i. Pr., Gräfe & Unzer, Buchhandlung (Pollakowski & Lipp).
128 Seiten gr. 8°,
Wer einmal das Glück genofjen, durch die Welt zu fahren und dabei mit
offenen Augen geliehen hat, der kann es nadempfinden, wie es alle die mächtig
drängt, ihre Reifeeindrüde feitzubalten, die gewohnt find, mit der Feder umzugehen.
Wir merken auch diefem Verfafjer die Schaffensfreude an und diefe hat jicher gün—
ftig auf das Werf gewirkt. Es ift Schon viel über Griehenland, Paläftina und
Agypten, die der Verfaffer im Zuli und Auguft 1895 bereifte, gefchrieben, aber fein
Bud bat uns troß alledem manches. Neue und mandes Eigenartige vorgezaubert.
Die Daritellung zeugt von einer lebhaften Anſchauungsweiſe und die in den Tert
geitreuten biftoriichen und bibliihen Erinnerungen vermehren dad Intereſſe an der
Daritellung. Leider eignet fih das Werf vermöge feiner beicheidenen Austattung
weniger als Geſchenkswerk, wofür es eigentlich mit beitimmt ſein follte. H.
Die Schundlifterafur und ihre WBeRämpfung von feiten des
&Jebrers. Ron Otto Rühle. 32 Seiten 8%. Preis 25 Pr. In Partien billiger,
(Dem Hefte liegen zwei in ber „Leipziger Zeitung” über „Jugendlektüre“ und
„Schunblitteratur” vom gleihen Autor verfaßte Artifel zu Grunde.)
Unter diefem Titel gibt der Verlag von Herrmann Starfe, Großenhain, eine
Heine Broſchüre heraus, Die jehr, ſehr beherzigenswerte Winfe enthält, wie dem
3. Zt. maßloſen Überhandnehmen der fogen. Schund: und Hintertreppenlitteratur
namentlich jeitens des deutichen Lehrers entgegen gewwirft werden fann. Es wäre
wünfchenswert, daß das kleine Heft zum minbdeften in die Hände jedes Berufs:
päbagogen fäme; — der geringe Preis von 25 Pf. erleichtert dies weſentlich.
Der jelige Sir Francis Drafe hätte feine helle Freude daran, wenn er bie
Ziffer des Ernteertrages 1894/95 der Kartoffel im Deutfchen Reiche jehen würde.
29 000 000 Tonnen biejes wichtigen Nährmitteld hat Deutichland auf etwas mehr
als dem zehnten Teile (11:7 9%) feiner Bodenflähe produziert, wie und der neu
erihienene Bafchenatlas des Deutſchen Meichs, 1. Teil, ded unermüdlichen
Prof. A. %. Hickmann auf Tafel 14 und 15 lehrt. Ein wahrer Schak von Wif-
fen und eminentem Gelehrtenfleiß ift in dem jhmuden, in Deutichlands Farben
gefleideten Büchlein auf 24 farbenpräcdtigen, Haren Diagrammen und Karten und
zwei Bogen Tert niedergelegt. Die vergleihende Größe der beutichen Staaten
nad Flähenraum und Bevölkerung — Flußlängen und Stromgebiete der Flüſſe
— Größe, Höhenlage und Tiefe der Seen — Höhenprofile der bebeutendften Er:
bebungen über dem Spiegel der Nord: und Oſtfee — Bergbau:, Hütten: und
480 Neue Bücher.
Salinenprodufte — Verteilung und Verwertung der Bodenflähe — Staats-Ein
nahmen und Ausgaben — Organilation des Heeres und der Marine — Größe und
Einteilung der einzelnen Armeeteile im Frieden und im Kriege — Größe ber be:
deutendften Städte nad ihrer Einwohnerzahl — Karten von Deutichland (zur Zeit
Karls des Großen — zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges — geologiih — Höhen:
ihichtenfarte — Nordweit:Deutichland, politiid — Mittel:Deutichland, politiih) —
Stamm: und Negententafel der deutihen Fürſtenhäuſer — ferner als prädtiger
Schmud die Porträts der deutihen Kailer von Karl dem Großen bis zu Wil-
beim II., die Wappen der Yänder und Städte, die Flaggen 2c. — AU’ dies zuſam—
men in gebiegener Ausführung für den minimalen Preis von Mt. 2,— = fl. 1,20
zu bieten ift eim Kunftitüd, welches nicht jo bald Jemand dem fleihigen Verlage
G. Freytag & Berndt in Wien VIII, nahmaden wird. Wir wünſchen dem jchö-
nen Werfchen, dejjen zweiter und dritter Teil im Herbſte 1896 bezw. Frühjahr
1897 erfcheint, die weitejte Verbreitung und empfehlen daher Jedermann deſſen
Anschaffung, da Jedermann dasſelbe unbedingt braudt. R.
Die Büderliebhaberei
(Bibliophilie — Bibliomanie)
am Ende des 19. Jabrbunderfs.
Bon Otte Mühlbrerht.
(Fortſetzung.)
Ich verlaſſe mit dem Leſer das Gebiet der Inkunabeln und erſten
Ausgaben, um eine andere Gattung ſeltener Bücher ins Auge zu faſſen:
die aus Gründen der verſchiedenſten Art vom Büchermarkte verſchwun—
denen Bücher, die ſogenannten Unika (exemplaires uniques). Streng
genommen ſollte von ſolchen Werken ſtets nur ein einziges Exemplar
exiſtieren, nur in wenigen Fällen aber dürfte eine ſo außerordentliche
Seltenheit nachweisbar ſein, und man erweitert deshalb den Begriff bi—
bliographiſch dahin, daß man darunter ſolche Werke verſteht, von denen
zur Zeit nur ein oder das andere Exemplar bekannt iſt, wobei man in
den meiſten Fällen die Urſachen der Seltenheit genau kennt. Dahin ge—
hören z. B. ſolche Werke, deren Auflagen durch Elementarereigniſſe oder
Zufall, wie Feuersbrunſt, Schiffbruch, feindliche Plünderung und Zer—
ſtörung, richterliches Urteil u. dergl. vernichtet ſind. In dieſe Kategorie
gehören auch Bücher, die nachweislich in großer Auflage gedruckt, aber
vielleicht nur in etwa 20 Exemplaren verkauft ſind, und deren Reſtbeſtand
dann, weil ſich kein Käufer dafür fand, eingeſtampft wurde.
Dahin gehören auch die abſichtlich verſtümmelten Bücher, und ſolche,
denen ſpäter aus beſonderen Gründen ergänzende Kartons beigefügt wur—
den. Im erſteren Falle ſind natürlich die unverſtümmelten Exemplare
die ſeltenen, im letzteren Falle diejenigen, in denen ſich die Kartons be—
finden. Unter Umſtänden können auch die amtlich beſchädigten Exemplare
als Denkmäler geiſtiger Unduldſamkeit Intereſſe erwecken. Hierher iſt
auch die große Anzahl von Werken zu rechnen, welche in früheren Zeiten
bei ihrem Erſcheinen, oder bald darauf von der geiſtlichen oder weltlichen
Herrſchaft aus religiöſen, ſittlichen oder politiſchen Gründen unterdrückt,
31
482 Die Bücherliebhaberet :c.
oder durch Auflauf und Vernichtung dem Verkehr entzogen wurden. Für
dieje geben die zahlreichen „indices librorum probibitorum“ und andere
Staatliche Verzeichnijje verbotener Schriften die beiten Mittel einer ziemlich
genauen Kontrolle. Gegenwärtig ift man faft überall von dieſer veralte-
ten geiftigen Bevormundung abgefommen, nur in Rußland ſteht die
Benfur noch in Blüte Im Mittelalter aber war die Beauffichtigung der
Preſſe eines der bedeutſamſten Machtmittel, dem es 3. B. zu verdanken
ift, daß die ganze böhmijche Kitteratur des jechzehnten Jahrhunderts nahezu
verſchwunden ift, fie wurde von den Jeſuiten mafjenhaft vernichtet.
Auf Werke diefer Art wird feitens der Bibliophilen und Bibliomanen
eifrig gefahndet, ja fie bilden häufig den Gegenstand ganz bejonderer
Fürjorge, mit der man bemüht ift, fie vor gänzlichem Untergange zu be-
wahren. Eine ganze Reihe derartiger Unika ift neu gedrudt, teils auf
Koften Einzelner, teils auf Koften von Vereinen, jei es in Einzelausgaben
oder in Sammelwerfen. Die Vereinigungen der Bicherliebhaber in Eng-
land und Frankreich Haben in diejer Beziehung Vieles und Gutes ge-
leiftet, und fie find unausgejeßt noch bemüht, diejes Gebiet zu durch—
forichen. Der franzöfiihe Bibliograph G. Brunet hat ſich das Verdienft
erworben, im Jahre 1872 ein Verzeichnis jolcher „livres perdus et exem-
plaires uniques* herausgegeben zu haben; er verzeichnet dabei auch eine
Anzahl von Werken, deren Eriftenz nur noch aus älteren Katalogen feft-
zuftellen ift, ohne daß fie jeit fünfzig Jahren und länger jemals irgendwo
fihtbar geworden find. Als Grundlage für feine Schrift haben ihm die
von dem berühmten J. M. Quörard nachgelafjenen Papiere gedient, der
ein genaues Verzeichnis derartiger ihm befannt gewordener Unika angelegt
hatte. Für die Bibliophilen ift die Brunet'ſche Schrift der beſte Finger-
zeig, nach welcher Richtung fie ihre reproduzierende Thätigfeit verwerten
fünnen.
Eine andere Klaſſe von Büchern erregt das Intereſſe der Bücher-
liebhaber, nicht wegen ihrer Seltenheit, jondern wegen ihres ſeltſamen
oder fonderbaren Inhaltes. Die Beſtimmung derjelben nach allgemeinen
Merkmalen ift ganz unficher und ſchwankend, fie läßt fi) in das Unend—
liche je nad den Neigungen der Sammler ausdehnen. Es ſei vor allem
der heterodoren Theologie unſerer Vorfahren gedacht, deren Schriften
früher ſehr gejucht und Hoch im Preife waren, jet aber nur noch ein
untergeordnetes hiſtoriſches Intereſſe erweden, jeitden neuere Werfe mit
viel größerer Kühnheit der Gedanken als die alten frei unter uns zirku-
lieren können. Dahin gehören viele Spezial-Abhandlungen über einzelne
Bweige der Wiſſenſchaft, dann verschiedene Dichter des Mittelalter und
der Renaifjance, insbejondere die Myſtiker, Moraliften und Bofjendichter.
Ferner die Nitter-Romane, die franzöfiichen Novelliften des fünfzehnten
Die Bücherliebhaberei :c, 483
und jechzehnten Jahrhunderts und bejonders die italienischen novellieri;
hierher gehören auch die altdeutſchen Schwänfe, die jonderbaren Difjer-
tationen, die perfönlichen Satiren, die geichichtlihen Flugblätter und die
auf interejjante Ereignifje oder berühmte Berjonen bezüglichen Pamphlete,
die einzelnen fliegenden Blätter (pieces volantes), Lieder, „neuen Zei—
tungen“ u. dergl. Jede politiich oder religiös aufgeregte Zeit hat zahllos
ephemere Schriften hervorgerufen, die bei Erjcheinen wenig Beachtung
finden, ſich bald verlieren, in ihrer Gejamtheit aber jpäter ein wichtiges
fulturhiftoriiches Denkmal bilden.
In diefem großen Miſch-Maſch jo verjchiedenartiger Kuriofitäten be-
findet fich ftet3 eine gewiſſe Anzahl mehr oder weniger jeltener Schriften,
welche ſich erfolgreih auf dem Büchermarkte behaupten, aber wie viele
andere auch verdanken den nichtsjagenditen AZufälligfeiten ein ufurpiertes
Renommee. Im allgemeinen neigen die Bibliophilen mehr dazu, eine er-
Härte Berühmtheit al3 ſolche anzunehmen, als zu unterjuchen, ob der
Ruf des Buches ſich wohl auch durdy Gründe rechtfertigen läßt. Es ge—
nügt mitunter, daß einer ihrer Koryphäen eine gewiſſe Gattung von
Schriften in Mode bringt, wonach dann viele andere gerade dieje Bücher
auch bejiten möchten. Es hört dabei jede vorherige Berechnung des
Wertes auf. Oft find es winzige, unjcheinbare Schriften, einfache flie-
gende Blätter, die auf Auktionen die höchſten Preije erzielen. Die Käu-
fer derartiger Kuriofitäten find mitunter in ihrer individuellen Eigenart
ebenjo kurios und fonderbar, al3 es der Inhalt der von ihnen geſammel—
ten Schriften iſt. Wollte man die Bibliotheken der Kuriofitäten-Spezia-
liiten unterfuchen, e8 würde manche den Stoff zu einer amüjanten Ge-
Ihichte der Geijtesverirrungen liefern. Was haben nicht die unzähligen
religiöjen, wiſſenſchaftlichen und politischen Schwärmer der verjchiedenen
Zeitalter an teilweije ganz ehrlich gemeinten, naiven und ernjthaften Ertra-
vaganzen geleiftet! Die Dummheit ift und bleibt ein unerjchöpfliches
Meer, und der gejunde Menjchenverftand ift keineswegs ein jo weit ver-
breitetes edles Gut, als vielfach angenommen wird.
Nah Gutenberg’s epochemachender Erfindung haben beijpielsweije
die gerichtliche Aitrologie und die Alchemie zwei Jahrhunderte hindurch
die Welt regiert, und wie jpiegelt fi in der damaligen Xitteratur der
beſchränkte Geift des Zeitalters wieder!
E3 jei nur an einem Beiſpiel aus dem fiebzehnten Jahrhundert ge—
zeigt, wie naiv damals die Autoren mitunter waren. Ein gewiljer Ber—
nard de Bluet D’Arberes benachrichtigt in feinem Werke „Intitulation et
Recueil de toutes mes oeuvres* den Leer: „qu’il ne scait ny lire ny
escrire et ny a jamais apprins“, er ftellt ſich aljo als Einer vor, der
weber lejen noch fchreiben kann, und das Publikum davon, wie von einer
31*
484 Die Bücherliebhaberei ıc.
ganz natürlichen Sache, in Kenntnis jet; dabei hat der Mann drei oder
vier Bände ganz wertlojen Inhaltes gefchrieben! Und nun kommt das Selt-
Jamfte von der Geſchichte, daß nämlich dieſes Werk unter den Bibliophi-
len jehr gefucht, weil es jelten und in einem vollftändigen Eremplare
faum jemals vorgefommen ift; Charles Nodier gibt den Preis eines
Eremplaes im Jahre 1835 mit 600 Fr. an, das iſt dreimal joviel, als
damals ein Eremplar der Encyclopedie von Diderot und d’Alembert wert
war! Wer fich für diefe närriiche Litteratur näher intereifiert, den ver-
weile ich auf die intereffante Monographie von Ch. Nodier „Bibliographie
des Fous“ Paris 1835. 8.
Bon befjerem Gejchmad zeugt es jedenfalls, wenn Bicherliebhaber
fi den Lurusausgaben, den Werfen mit Sluftrationen und denen auf
fojtbarem Material, wie Pergament, Seide, Asbeſt u. dergl. gedrudten
zuwenden. Will man die Korrektheit des Textes, die Schönheit der
Schriftzeihen, die Sauberkeit und Gleichartigkeit des Druds und die gute
Beichaffenheit des Papieres als die Hauptlennzeichen der Schönheit eines
Buches anjehen, jo fünnte man getroft eine große Zahl der gewöhnlichen
Ausgaben unferer älteften Drude als Lurusausgaben bezeichnen, wenn
man fie mit dem, was heute gebrudt wird, in Vergleich bringt. In—
dejjen hat es doch, unabhängig von der allgemein üblichen guten Aus—
ftattung der früheren Jahrhunderte, zu jeder Zeit und in allen Ländern
bejondere, für den Gebraud reicher Liebhaber bejtimmte Qurusausgaben
gegeben; insbejondere die Erzeugnifje berühmter Brefjen, wie der Bodoni,
Bastkerville, Ibarra, Didot, Deder u. U. find häufig Hervorragend durd)
ihr jehr großes Format und die jchönen Illuftrationen in Stih und
Schnitt. Hier find auch die naturgejchichtlichen Prachtwerke mit folorierten
Abbildungen zu nennen, die Neproduftionen der Denkmäler des Alter-
tums, die pittoresfen Reifebejchreibungen und die Eoftbaren Werke über
die jchönen Künfte, die von Zeit zu Zeit erjcheinen und Aufjehen er-
regen, Bei den meiſten diejer Werke find zahlreiche Abbildungen unent—
behrlich zum WVerftändnis des Tertes, und die Rüdjicht auf die Fllu-
ftrationen rechtfertigt oft das gewählte übergroße Format, jo unbequem
e3 für die Handhabung des Werkes auch je. Anders liegt die Sache
bei rein tertlihen Werfen; es kann nicht überraichen, daß die großen
Zurusausgaben der Klaſſiker, die früher jo beliebt waren, gegenwärtig
gänzlich in Mißkredit geraten find. Denn ein echter Bibliophile wird
wohl darauf bedacht fein, einige jchöne Proben der Buchdruckkunſt aus
Dffizinen zu befiten, die ſich durch Talent und Geſchmack auszeichnen,
aber jein Kultus wird ihn doch weniger auf die übergroßen koſtbaren
und prächtigen Seltenheiten, al3 auf die ihm nütlichen Werke hinführen.
Als eine Art von Lurus ift es auch anzujehen, iwenn die Sammler
Die Bücherliebhaberei :c. 485
Wert auf eine möglichfte Erhaltung des Papierrandes legen. Darin find
namentlich die Elzevier-Sammler groß, fie mefjen die Breite des Randes
und die Höhe des Eremplard mit eigens dafür angefertigten Elzevier—
Mapftäben aus, und betrachten ein unbefchnittenes, oder gar unaufge-
ſchnittenes Eremplar als eine ganz bejondere Zierde ihrer Sammlung.
Eremplare mit „temoins* nennt man jolche, in denen der Hobel des
Buchbinders nicht alle Blätter getroffen hat, in denen einzelne noch den
rauhen Rand des Papieres zeigen, wie es aus der Bütte kam, aljo ein
untrügliches Zeichen geringen Beſchneidens.
Das führt ung zu den auf Belinpapier gebrudten Ausgaben, die
man auch zu den verhältnismäßig jeltenen Büchern rechnet, denn es wird
davon in der Regel nur eine bejchränkte Anzahl von Exemplaren abge-
zogen, mitunter nur ein oder zwei Exemplare. Ein Teil diefer ſchönen
Bücher, und es find die foftbarften, gehört dem fünfzehnten Jahrhundert
an; dieje ebenjo Iururiöfen wie Eoftjpieligen Drude waren in den erften
Dezennien nad) Erfindung der Buchdruderkunft jehr gebräuchlich, nament-
ih in Mainz und Venedig. Und wer kennt daneben nicht die ausge—
zeichneten Velindrude, welche etwas fpäter die Pariſer Preſſen geliefert
haben. Dieje Werke, bejonders wenn fie mit Miniaturbildern in Hand—
malerei gejchmücdt find, werden ftet3 neben den foftbaren alten Hand-
Ichriften die größte Zierde einer jeden Bibliothek bilden.
Es iſt wohl feine Bibliothek reicher an jolden Schäßen, als Die
Nationalbibliothek in Paris. Man kann dort genau verfolgen, wie jeit
der zweiten Hälfte des jechszehnten bis zum Anfang des achtzehnten Jahr-
Hundert3 das Belinpapier im Buchdrud nur jelten mehr verwendet tft,
und daß erft gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts jein Gebraud)
wieder in Aufnahme gefommen ift, Bon Ddiejer Zeit an big auf unjere
Zage ift faum ein für den Luxusgebrauch beftimmtes Buch erjchienen,
von dem nicht auch einige Exemplare auf Belinpapier abgezogen wären.
Das hat den Wert der älteren Belinausgaben jehr vermindert, und man
wird heute jchwerlich Jemanden finden, der ein Buch deshalb mit 10 Fres.
teurer bezahlt, weil es auf Velinpapier gebrudt ift, wenn daneben ein
Eremplar auf gewöhnlihem Papier zu haben ift. Gejuchter jchon find
Ausgaben auf jogenanntem Großpapier und auf farbigem Papier, doc)
betrachtet der Sammler ſolche Eremplare nur als Seltenheiten zweiten
Ranges. In Ausnahmefällen können allerdings dieje Nebenumftände den
Preis von Seltenheiten erften Ranges ganz erheblich beeinfluffen, das
pflegt dann aber mehr ‘eine Folge der Konkurrenz zu fein, welche dem
jeltenen Objekt von vornherein gejichert ift.
Bücher, die nur in wenigen Eremplaren gedrudt und nicht in den
Handel gebracht find, werden jpäter allemal felten, doch find die hierauf
486 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
bezüglichen Angaben in den Katalogen ſtets mit großer Vorſicht aufzu-
nehmen, weil dabei der Täufchung viel Spielraum gegeben. Bibliophilen
fuchen fie zwar eifrig, wenn fie ein litterarijches Verdienft haben, oder
ihr Inhalt fonft interefjant ift, und fie werden mitunter recht teuer be-
zahlt; in den meiften Fällen aber find derartige bibliographiihe Selten-
heiten von einer jo vollftändigen inneren Nichtigkeit, daß fie niemand
faufen mag.
Als Seltenheiten find auch manche Werke zu betrachten, die auf
Koften von Regierungen gedrudt wurden, meiftens umfangreiche, bände-
reiche Werke, die oftmals nur gejchentsweije verbreitet, und gar nicht im
den Handel gekommen find, ſowie Werke, die erft nach Verlauf langer
Zwilchenräume vollftändig wurden. Bon Werken diefer Art find die ein-
zelnen Teile oft an verjchiedenen Orten und bei verjchiedenen Berlegern
erichienen, und die Auflagen der jpäteren Teile wurden immer fleiner be-
mefjen, weil die Abnehmer der erjten Teile häufig die Anjchaffung der
ipäteren unterlaffen. Über das Erjcheinen verjchiedener Sammelwerke
find ganze Generationen hingeftorben. Da find dann mitunter vollſtän—
dige Exemplare ſchwer zu erlangen.
Bu den relativ jeltenen Werken find auch ſolche zu rechnen, die in
weit entfernten Ländern, in Mexiko, Indien oder China erjchienen find,
doch ſinken ſolche ausländiihe Drude neuerdings mehr und mehr im
Preife. Die in Afien und Amerika gedrucdten Bücher, die man fich noch
vor fünfzig Jahren als eine Merfwürbigfeit zeigte, find nur vorüber-
gehend felten und gejucht gewejen, man begegnet ihnen heute oft genug
auf öffentlihen Berfteigerungen. Die Drudereien in Kalfutta und Se—
rampur, die in Macao und Lima, wie die in Mexiko, fie alle liefern jetzt
täglich ihren Beitrag zur Bereicherung der Bibliothefen in Europa, jogar
Auftralien zollt uns jett reichlich feinen litterartichen Tribut. Immerhin
werden dieſe Werke, wenn fie auch nicht mehr ala Seltenheiten gelten,
doch noch auf lange Zeit Hinaus ihres Urſprungs halber zu den wert-
vollen Büchern zu rechnen fein, o
Eine weitere Gattung von Werfen fteht hoch im Werte, das find die
Klaſſiker-Ausgaben in Kollektionen von bedeutendem Umfange, Der la-
teiniſchen, franzöſiſchen und italienischen Klaſſiker-Ausgaben in Elzevire
in dem befannten kleinen Formate habe ich jchon bei Schilderung der
Thätigkeit diefer hervorragenden Familie gedacht. Im erjter Reihe find
bier die Ausgaben „in usum Delphini* zu nennen. Die Bezeichnung ift
abzuleiten von dem Worte Dauphin (lateinijch Delphinus), dem früheren
Titel des älteften Sohnes der Könige von Frankreich, dem urjprünglichen
Herrichertitel der jouveränen Herren der franzöfiichen Provinz Dauphine.
Ludwig XIV. ließ zum Gebrauch für den Unterricht des Dauphin unter
Die Biücherliebhaberei :c. 487
der Aufficht von deſſen Gouverneur, dem Herzog von Montaufier, durch
die beiden Lehrer des Prinzen, Bofjuet und Huet, eine Ausgabe der la-
teiniſchen Klaffifer „in usum Delphini“ (zum Gebraud) des Dauphins)
unter Weglafjung der anftößigen Stellen beforgen, die, mit Ausnahme
des in Lyon gedrudten Dvid, in 64 Duartbänden in Paris 1674—1730
erſchienen ift.
Eine andere Sammlung, bezeichnet als „editio cum notis Variorum“,
beſteht aus einer großen Zahl lateiniſcher und griechischer klaſſiſcher Au—
toren, die teil in Holland, teild in England während des fiebzehnten
und der erjten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gedrudt wurde. Die
Bände, aus denen fich diefe ſchöne Sammlung zufammenjegt, find im
allgemeinen gut und auf fchönem Papier gedrudt; aber wenn aud) der
Text durchweg korrekt, jo lafjen die Anmerkungen doc jehr viel zu wün—
hen übrig, Trotz diefes Mangeld haben die „Variorum‘“ lange Zeit
hindurch in allen befjern Bibliothefen einen Ehrenplag eingenommen, bis
fie nad) und nach anderen, wenn auch nicht jo ſchönen, jo doch gelehr-
teren Ausgaben weichen mußten. Heute find die Ausgaben „cum notis
Variorum‘“ wenig mehr geſucht, mit Ausnahme der Eremplare, welche
von den ausgezeichneten Buchbindern aus dem Ende des Jahrhunderts
Ludwigs des XIV. jo prachtvoll eingebunden find, daß fie in Frankreich
und England jehr hoch im Preiſe ftehen.
Bon Bedeutung ift auch die von Mittaire beforgte Ausgabe der
alten römiſchen Klaffiter, in den Jahren 1715—1722 in 27 Bänden
Duodez- Format gedrudt von Tonſon und Watts in London, eine jehr
forrefte Ausgabe mit wertvollen, den Text begleitenden Noten, von der
Eremplare auf Großpapier gedrudt find, die aber außerordentlich jelten
vorkommen,
Genannt fei ferner die bei Couſtelier, Barbou u. a. in Paris ge-
drucdte Ausgabe der Tateinischen Klaffiter in Duodez-Format, 71 Bände
ſtark, 1757—1791 erjchienen. Auch die bei Brindley in London gedrudte
Ausgabe der Yateinischen Klaſſiker, 24 Bände in Oktodez-Format, 1744
bis 1760 erjchienen.
Und hervorragend find daneben die von der typographiichen Gejell-
Schaft in Mailand gedrudte Ausgabe der italienischen Klaffiter, 251 Bände
in Oktav⸗Format, 1804—1814 erjchienen, mit 26 Supplementbänden,
1818—1825 bei Gapurro in Piſa gedrudt; und die von derjelben Gejell-
ſchaft 1818—1838 gedrudte Ausgabe der italienischen Klaſſiker des acht-
zehnten Jahrhunderts, 153 Bände in Quart-Format.
Hierher gehören auch Sammelwerfe wie die „Acta Sanctorum‘ der
jogenannten Bollandiften, einer Gejelihaft von Jejuiten, die als Mit-
arbeiter und Herausgeber im Auftrage des Jeſuitenordens zuerft in den
488 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
Jahren 1643—1794 in Antwerpen, Brüfjel und Tongerloo Nachrichten
über die Heiligen der römijch-tatholiichen Kirche unter obigem Titel ver-
öffentlichten. Sie führten den Namen nad Johann Bolland (geb. 1596,
get. 1665), dem erjten Bearbeiter der von Heribert Rosweyd aus Utrecht
(geft. 1629) angelegten Sammlung. Die erſte Ausgabe erjchien in 54
Bänden Folio und ift ſeitdem (bi 1892) bis zum 65. Bande fortge-
ichritten; eine neue Ausgabe veranjtaltete Viktor Palmé in Paris, 1863
bis 1868 in 57 Bänden erſchienen; Nachträge dazu jind unter dem Titel
„Analecta Bollandiana‘ jeit 1882 in Paris und Brüfjel (bis 1892 11
Bände) erichienen.
Auch die deutjche Litteratur hat ähnliche Riefenunternehmungen auf-
zuweilen, ich nenne aus Der neueren Zeit 3. B. die „Monumenta Ger-
maniae historica“, die jeit 1830 erjcheinen, von denen bis jebt etwa
50 Bände zum Ladenpreife von nahezu 3000 Mark vorliegen; die von
Heeren, Ukert und von Giejebrecht begonnene „Geſchichte der europäiſchen
Staaten”, feit 1829 erjcheinend, bis jet etwa 100 Bände zum Preije
don nahezu 1000 Marf ausmachend; die Erſch und Gruber’iche „allge-
meine Encyflopädie der Wiſſenſchaften und Künfte“, von der jeit 1818
bis 1882 etwa 156 Teile zum Ladenpreife von nahezu 1800 Marf er-
Ichienen. Diejes Verzeichnis ließe fich leicht noch weiter fortſetzen, doc)
werden die mitgeteilten Proben zur Kennzeichnung der Gattung genügen.
Unter den Werfen, welche jederzeit die bejondere Beachtung der
Bücherfreunde gefunden, find auch die Privatdrude zu nennen, d. h. die
Erzeugnifje von Drudereien, deren Befiter die typographiiche Kunft nicht
als Erwerbsmittel, jondern nur zu ihrem eigenen Vergnügen ausüben,
feine fremden Beitellungen annehmen und die jelbftgedrudten Bücher zu
eigenem Gebrauche oder zur Verteilung an Freunde anwenden. Wie
England allen anderen Staaten durch Inftitute vorleuchtet, welche nicht
jowoh! von der Regierung, als von Privatleuten oder Körperfchaften aus
der Mitte des Volkes hervorgegangen find, jo find auch die Engländer
im Privatbücherdruck von feiner anderen Nation übertroffen. Freilich
verjteht man in England unter dem Ausdrud „privately printed books“
auch alle diejenigen Werfe, die auf Kojten der Krone und des Barlaments
neben denen der Privatperſonen gedrudt find. Es würde zu weit führen,
die verſchiedenen Prachtwerke aufzuzählen, welche auf Befehl der Regie-
rung ſeit Heinrich VII. erjchienen find; auch ift es überaus jchwierig,
die engliihen Privatdrude feitzuftellen und bibliographiſch zu verzeichnen ;
um fo verdienftlicher ift die Arbeit von John Martin*), der dieſe Aufgabe
*) Kohn Martin, Bibliographieal catalogue of privately printed books
2. ed. London 1854. 8.
Die Bücherliebhaberei ꝛc. 489
in einer Weiſe gelöft hat, die faum etwas zu wünjchen übrig läßt. Er
bat fich der Verzeichnung der Drude in chronologischer Reihenfolge vom
Jahre 1572 an in mufterhafter, bei den englifchen Bibliographen jonft
jeltenen Sorgfalt und Genauigkeit unterzogen. Trotz der Bedeutjamkeit
diejes Werkes ift es im Auslande nicht jo bekannt geworden, wie e8 um
feines Wertes willen zu wiünjchen wäre. Aus dieſem Grunde, und um
insbejondere die Aufmerkfjamfeit in Deutjchland darauf Hinzulenfen, hat
der leider zu früh verftorbene Paul Trömel aus dem umfangreichen
Werke einen Auszug bearbeitet und mit Verbeſſerungen und Zufägen in
Petzholdts „Neuem Anzeiger für Bibliographie” Jahrgang 1856 (Seite
233—246 und Seite 265271) erjcheinen laſſen. Das überhebt mich
der Aufgabe, einen Überblid der englischen Privatdrude zu geben.
Auch Frankreich hat eine ganze Reihe von Privatdrudereien; zu be-
ginnen mit der von Franz I. im Jahre 1531 begründeten, unter Leitung
des berühmten Robert Etienne (Stephanus) geführten Königlichen Buch—
druderei zählte man bis 1789 etwa 30 Offizinen. Kein Land hat da-
neben fo viele geheime Drucdereien beſeſſen als Frankreich, wo bald reli-
giöfe Verfolgungswut, bald politiicher Barteifampf das offene Auftreten
der Typographen mißriet. ch nenne davon die Handprefien der Jejuiten
in Clermont, die „imprimeurs de la sainte union“ aus dem Orden der
Benediktiner und der „Nouvelles ecclesiastiques“ der Dominikaner.
Ebenjo verhielt es ſich mit fingirten Drudorten, wie Duevilly, einem
Marktfleden in der Normandie, Charanton, einem Ort auf dem Eilande
Isle de France, Cologne (Pierre Marteau), Eythere, Paphos ꝛc., von
denen die erfteren bejonders bei irreligiöjen oder ketzeriſchen Schriften,
die leßteren aber bei unfittlichen Büchern angewendet worden find.
An Deutjchland tauchte die erjte Privatdruderei 1534 auf, dem
Profeſſor der Mathematik in Ingolftadt Peter Apianus (Bienewitz) ge-
börig, vom Kaiſer Karl V. begünftigt. Er drudte das berühmte Werk
„Inscriptiones sacrosanctae vetustatis“ zc. in Folio mit vortrefflichen
Holzichnitten. Auch der berühmte Aftronom Tycho Brahe Iegte in dem
Schloffe Uranienburg auf der Inſel Huen zum Drude feiner Schriften
1596 eine beſondere Offizin an. Albrecht Dürer drudte jeine unver-
gleichlihen Holzichnittwerfe der Paſſion, Apofalypje und das Leben
Mariä auf eigener Preſſe. Ulrich Fugger zu Augsburg begründete zur
Beförderung der Litteratur 1558 eine eigene Druderei. Ulrich von Hutten,
der Freund des Erasmus von Rotterdam und Verteidiger Luthers, tief
verlegt durch den Tod feines Vetters Hanns von Hutten, den Herzog
Uri von Württemberg Hatte töten lafjen, beichloß, dieje Greuelthat der
ganzen Welt befannt zu machen. Da er im Baterlande feinen Druder
finden konnte, der fich der Arbeit unterziehen wollte, fo errichtete er jelbjt
490 Die Bücderliebhaberei ꝛc.
auf jeinem Stammfite Stedelberg in Franken eine Preſſe und drudte
die befannte „deploratio* in lateiniichen Werfen, welcher ein Troftbrief
an den Vater des Gemordeten, die fünf „Philippicae“ an den Herzog
Uri, der Dialog „Phalarismus“ nebft Apologie, und ein Aufruf an
König Franz I. von Frankreich zur Rache, in lateiniſcher Proſa beigefügt
war. Es iſt ein Heiner Quartband mit blumenreichen Initialen und zwei
großen Holzichnitten.
Auch Thomas Münzer, der Urheber des Bauernaufftandes in Thü-
ringen, hielt ſich im Altftädt eine eigene Druderei für feine ſchwärmeri—
ihen Schriften. Dann begegnen wir Leonhard Thurneyfier zum Thurn,
einem brandenburgiichen LZeibarzt; er war einer der merkfwürbdigften und
abenteuerlichften Menjchen des jechzehnten Jahrhunderts, erhielt vom Kur-
fürjten das graue Kloſter in Berlin zu feinem aldymiftiichen Zaborato-
rium und legte dajelbjt eine eigene Druderei an, worin er die meiften
jeiner Werke jelbjt druckte; von dieſen verdient in typographiicher Hinficht
jeine Ausgabe eines Polyglotten-Alphabet3 in 32 europäiſchen und 63
afiatiihen Sprachen die meifte Aufmerkfamkeit, Kerner hat Johann
Kepler, der große Mathematiker und Aftronom, feine in Linz begonnenen
„Ephemeriden“ zu Sagan im Schloſſe des Herzogs Albrecht von Fried—
land und Sagan (Wallenftein) im Jahre 1630 vollendet. Neben diejen
und vielen anderen PBrivatdrudereien in Deutfchland kennt man auch eine
ganze Reihe von fürftlichen eigenen Drudereien, deren Aufzählung ung
indefjen zu weit führen würde.
(Schluß folgt.)
>
Das Bud und feine Geſchichte bis zur Erfindung
der Buhödruderkunft.
(Fortießung.)
3. Die Ausftattung der Bücher und der Handfihriften- und
Bürherhandel im Mittelalter.
Die YBuchmalerei bildet eines der ſchönſten und interefjanteften Ka—
pitel in der Kunſtgeſchicht. Unſer Raum erlaubt ung aber nicht mit
jener Ausführlichkeit, die nötig wäre, die geſamte Buchmalerei in diejem
Rahmen zu behandeln. Wir werden vielmehr in einer befonderen Ab-
handlung im nächiten Bande unferer Zeitichrift „Die Buchmalerei im
Mittelalter“ unjeren Lejern vorführen. Geben wir die Einteilung der
Buchmalerei in ihre Stilarten, in die byzantiniihe Buchmalerei, die iri-
Ihe Buchmalerei, die Buchmalerei in der farolingifchen Zeit, diejenige der
romanischen Zeit, diejenige der gothijchen Zeit und die Buchmalerei der Re—
naifjance hier noch furz an und gehen dann zu der äußeren Austattung des
Buches im Mittelalter über. Zuvor mag noch eine kurze Schilderung des
mittelalterlichen Bucheinbandes ihren Platz finden. Daß derjelbe im allge-
meinen mehr befannt ift, daß man ſich mit leichterer Mühe einen Begriff
von demjelben machen kann, hat feinen Grund einmal wohl in dem Streben
der Gegenwart, ihre Borbilder wieder in einer längſt Hinter uns liegen-
den Vergangenheit zu juchen, und dann in dem Umftande, daß wir gerade
von Bucheinbänden jchon durch ihren dauerhafteren Stoff noch eine weit
größere Anzahl befiten, als von Handſchriften ſelbſt. Die Verehrung,
die man den heiligen Büchern ſchon im frühen Mittelalter angedeihen
ließ, führte natürlih auch unmittelbar auf das Streben, denjelben ein
möglichft foftbares äußeres Gewand zu geben, und koftbare Einbände von
Miſſalen und Evangeliarien gehörten frühzeitig zu den Erzeugniſſen des
mittelalterlichen Kunftgewerbes, und wenn jchon die Kirchenväter Chry—
foftomus und Hieronymus rügen, daß man der äußeren Ausftattung der
492 Das Bud und feine Gefchichte bis zur Entftehung der Buchdruderfunft.
Bücher mehr Aufmerkfamfeit ſchenke als ihrem Inhalt, jo läßt fich leicht
begreifen, wie diejelbe befchaffen war. Die Geiftlichen ſelbſt waren es,
welche das Buchbinden eifrig betrieben, in jeder Höfterlichen Echreibjtube
waren neben den Abfchreibern auch Buchbinder zu finden, und Biſchof
Dtto von Bamberg beijpielsweile verſchmähte es nicht, eigenhändig als
Hoffapları Kaijer Heinrichs IV. defjen Gebetbuch mit einem neuen Ein-
band zu verjehen. Ja das ausgedehnte Jagdrecht einzelner Klöfter fteht
in Direkter Beziehung mit dem Buchbinden, wenn z. B. Karl der Große
774 dem Klojter St. Denis einen ganzen Wald mit der Jagd auf
Rehe und Hirſche jchenkte, damit man aus deren Häuten Einbände ma-
chen könne.
Entitanden fein mag der Gedanke, das Buch einzubinden, durd die
ſpätrömiſchen Elfenbein-Schreibtafeln, die oft mit foftbaren Reliefs ge-
Ihmüdt waren, und zwifchen welche man die Pergamentblätter legte.
Der eigentliche Buchdedel ſelbſt beftand aus Holz, auf welches dann eine
Elfenbeinplatte gelegt wurde, freilich gewöhnlich nicht im gleichen Umfang
mit dem Holzdedel, jondern nur defjen Mitte einnehmend. Der dadurd)
freigelafjene Raum wurde dann mit Gold- oder Silberblech überzogen,
mit Edeljteinen und Perlen geſchmückt, zu welchen vielfadh auch Reli-
quien gefügt wurden. Daneben trugen die beiden Dedel des Buches
niemals den gleichen Schmud; auf den vorderen Dedel wird gewöhnlich
die meifte Mühe vertwandt, während der hintere jehr ſchmucklos, zur Ver-
meidung der Abnutzung höchſtens an den Eden beichlagen und mit jtarf
hervortretenden Kryitallen bejebt if. Den Eoftbaren Einband jchüßte
dann gemeiniglich nochmals ein Überzug, und auch diefer wurde ſehr oft
dann noch durch einen Eoftbar ausgejchmücten Kaften bededt, der auf
den Altären aufgeftellt wurde Ein Zwed, der um jo mehr einleuchtend
ift, als die meiften diefer koftbaren Bücher wohl Gejchenfe der einzelnen
Klöfter und Kirchen unter einander waren. Erwähnt jeien nur das
Mifjale im Dome zu Monza, von der Königin Theodolinde um 600 ge-
widmet, die von Papſt Leo III. bei feiner Thronbefteigung 795 an ver-
ſchiedene Kirchen gejchentten Evangeliarien, ein jolches um 855 vom Raifer
Michael Porphyrogenetos an die Peterskirche in Rom gejandt, das von
der Kaiſerin Theophanu 973 der Abtei Echternach verehrte, und noch
manche andere. (Kapp a. a. D. ©. 253.) Beſonders wertvolle Bücher
befeftigte man mit einer Kette an einem Tiſche mit drehbarer Platte,
Breviere und Gebetbücher von Eleinerem Format verjah man mit einer
beutelartigen Verlängerung der Dedelbefleidung am jogenannten Buch—
beutel, der es ermöglichte das Buch am Gürtel zu tragen. Um die ver-
Ichiedenen Abfchnitte eines Buches leicht auffinden zu können, befejtigte
man an dem Blatte, an welchem ein neuer feinen Anfang nahm, einen
Das Bud und feine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft. 493
Pergamentitreif, welcher über den Schnitt hervorragte; derſelbe ift häufig
am Ende zu einem zierlihen Knöpfchen verjchlungen, oder zujammen-
gedreht. Lockere Streifen der Art dienten als Merkzeichen, und für
Prachtwerfe wurden mehrere Merkbänder an einem foftbaren Halter,
tenaculum, vereinigt. Für diefe verjchiedenen Merkzeichen galt der ge-
meinfame Name Regiſter, auch) wird die Bezeichnung Kehrſchnur ange-
geben. (Rapp a. a. DO. ©. 263.)
Die Verzierungen an den Dedeln waren ftreng ftiliftiih. In der
Mitte brachte man gewöhnlich das Bild des Gefreuzigten, des lehrenden
Ehriftus, oder der Madonna, manchmal auc) irgend eine foftbare Weli-
quie an. Die vier Eden waren gewöhnlich mit Evangeliften-Symbolen
geichmüct und auch die Emailplatten und die Edeljteine des Einbandes
zeigten eine ganz ſymmetriſche Einteilung. Daß Figuren und Ornamente,
die ihrem Stil nad) doch verjchiedenen Jahrhunderten angehörten, ſich
manchmal auf einem Dedel befinden, ift daraus zu erflären, daß man
durchaus feinen Anftand nahm, „einen alten Band für ein neues größeres
Buch Herzurichten, gewöhnlich durch Anjegen neuer Umrahmungen und
Bordüren“. Bei Büchern, die entweder nicht jo koſtbar ausgeftattet
waren, oder nicht Häufig in Gebrauch kamen, jah man manchmal aud)
gänzlich von einem Einband ab und umgab die einzelnen Blätter nur
mit einem Pergamentumfchlag; der gewöhnliche Bucheinband beitand aus
Holzdeden, die man mit verjchiedenem Leder überzogen hatte. Fehlte ein
oder das andere Mal ein jolches, jo nahm man durchaus nicht Anftand,
alte Handichriften hierzu zu benutzen, ja man fand in mehreren auf ein-
ander geflebten PBergamentblättern oft auch einen guten Erjag für den
Holzdedel felbft. Überzog man dann diefe Lagen mit Schweind- oder
Biegenleder, jo hatte man nod) einen dDauerhafteren und dazu biegjamen
Dedel, als den von Holz.
Wenden wir uns num, Dttes Darftellung in jeinem Handbuch der
firhlichen Kunftarchäologie des deutſchen Mittelalters folgend, der Auf-
zählung einzelner bejonder8 bemerfenswerter Einbände zu, jo jeßen wir
auch Hier, wie natürlich dafür die Grenze big zur Erfindung der Buch—
druderfunft. Ornamentierte Einbände treffen wir zu Lüttich in St. Martin
und im Dome als Dedel von Evangeliarien, ebenjo an einem Antipho-
nale aus dem 14. Jahrhundert im Zither de Doms zu Halberftadt.
Ihnen jchliegen fi) in Form und Größe die vier Elfenbein-Dedel der
Gebetbücher König Heinrich) II. und feiner Gemahlin in der Bibliothek zu
Bamberg an. Im eine etwas fpätere Zeit gehört das Evangelienbud)
de3 heiligen Liudgar, defien vergoldeter Dedel in der Mitte ein Kruzifir
aus Elfenbein ziert. Aus dem 9. Jahrhundert ftammt ein aus Bam—
berg ſtammendes Evangeliar mit feinen von Goldblech umrahmten Elfen-
494 Das Buch und feine Gefchichte bis zur Erfindung der Buchdruderkunft.
bein-Bildern und der Evangelienfoder der Würzburger Univerfitätsbiblio-
thek, deſſen Elfenbein-Dedel in 37 Figuren die Hochzeit von Kana, Die
Austreibung aus dem Tempel und die Heilung des Blindgeborenen dar-
ftelt. Dem 10. Jahrhundert gehören die Elfenbein-Dedel des dem
Tutilo zugejchriebenen Evangeliariums in der Bibliothef zu St. Gallen
an, und ebenjo die Schaufeite eines Miljale in der Bamberger Bibliothek,
ferner ein Evangeliarium im Münfter zu Aachen, deſſen Umrahmung
Goldblech mit getriebenen Darftellungen und eingelegten Edelfteinen,
defien Mittelftüd die Madonna in Elfenbein zeigt. Ein Evangelienbucd
in der Stabtbibliothet zu Leipzig, die Dedel des Evangelienbuches des
heiligen Kilian in der Univerfitätsbibliothef zu Würzburg, des heiligen
Uri) in der Hofbibliothef zu München, ferner die Evangeliarien in
Berlin und Dresden, Darmitadt, Frankfurt, St. Gallen und Bamberg
gehören gleichfalls diefem Zeitraum an, während ſich die Entſtehung eines
in Halberjtadt befindlichen Evangeliariums, das den in Elfenbein ge-
Ichnigten und fein Evangelium einem Schreiber diftierenden Evangeliften
Johannes zeigt, nicht mit Genauigkeit beftimmen läßt. Das jchon des
Öfteren erwähnte Echternadj- Evangelium in Gotha zeigt in der Mitte die
aus Elfenbein gejchnikte Kreuzigung, mit einer reihen Umrahmung aus
Goldblech, Emaille, Edelfteinen und Berlleiften, auf welcher fich die ge-
triebenen Figuren der Gejchenfgeber, der Kaijerin Theophanu und ihres
Sohnes, König Otto II., finden. Dem gleichen Zeitraum gehört der
jett in München befindliche Codex aureus an, dejjen fojtbarer Golddedel
in der Mitte den jegnenden Chriftus zeigt, während auf den Rändern
und Eden die vier Evangeliften mit vier Darjtellungen aus dem Leben
Jeſu angebracht find.
Ein Evangeliar der Univerfitätsbibliotgef zu Würzburg mit dem
Lamm Gottes, Löwen, Vögeln und Schweinen auf zwei unter fi) ver-
ihiedenen Elfenbeintafeln gehört wohl jchon dem Beginn des 11. Sahr-
hundert3 an, und ihnen jchließen fich mehrere aus der Zeit Heinrichs II.
aus Bamberg ftammende und jetzt in München befindliche Eodices an.
Ein Evangeliarium mit der Kreuzigung und Auferftehung in der Mitte,
die emaillierten Evangeliftenzeihen auf den Eden und den mufiviichen
Bildern der Apoftel auf den Seiten; ferner ein Evangeliarium, deſſen
oberer Dedel einen reihen Shmuf an Gold, Berlen und Edelſteinen
zeigt, während die Elfenbeintafel in der Mitte den Tod der Maria dar-
jtellt. Aus der zweiten Hälfte diejes Jahrhunderts ftammt ein eben dort
befindlihes Evangeliarium, dejjen oberer Dedel neben anderem reichen
Schmud in der Mitte einen großen Onyr zeigt. Ihm jchließt fih an
das Evangelienbuch des Biſchofs Heinrih von Würzburg mit der Dar-
ftellung Chrifti, der Maria und Johannes des Täufers unter einem
Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchbdruderfunit. 495
durchbrochenen Schirmdache auf der Elfenbeinplatte und ein Miffale des
heiligen Burkard. Im die gleiche Zeit fällt der Einband eines Evan-
geliariums in der Dombibliothek zu Hildesheim, deſſen Einfafjung aus
vergoldetem Silberbleh vorne ein Elfenbein mit dem lehrenden Chriftus
zwilchen Maria und Johannes und hinten eine Silbertafel mit der Got-
tesmutter zeigt. Ihm ſchließen fih an ein Evangelienfoder der Äbtiffin
Theophanu im Münfter zu Efjen und zwei Evangelienbücher des Biſchofs
Ellenhard von Freifing in der Hofbibliothel zu München. Ferner ge»
hören hierher der Dedelihmud eines aus Paderborn ftammenden Evan-
geliariums in der Dombibliothet zu Trier, ein griechijches Lektionarium
in der Schaßfammer des dortigen Doms, der Dedel eines Evangeliums
im Mujeum zu Darmtadt mit einem die Kreuzigung darftellenden Elfen-
bein, ein Evangelienfoder in Maria Lysfirchen zu Köln, ein Evangelia-
rium aus Kloſter Abdinghof in Paderborn in der Bibliothek zu Kaflel,
ein Evangelienbuh im Tom zu Minden und ein Koder in der fönig-
lichen Bibliothef zu Bamberg mit einem Elfenbeindedel, der auf jeder
Seite eine Figur in langgefaltetem Gewande zeigt.
Weit weniger Neihtum an koſtbaren und kunſtvollen Einbänden
zeigt im Vergleich mit dem 11. Jahrhundert fhon das 12.; das Elfen-
bein war wegen des großen Verbrauchs ſchon ziemlich teuer geworden
und man juchte und fand deshalb im Norden Deutichlands im Walrof-
zahn vielfachen Erja dafür. So find hier zu nennen ein Evangelien-
buch im ftädtischen Mufeum zu Köln, zwei aus Paderborn jtammende
Evangeliarien in der Dombibliothef zu Trier, ein Evangelienbuch in der
Stiftsfirhe St. Johann zu Herford, ein Evangelienbuch in der Kirche
zu Hörter, zwei Evangeliarien im Zither der Scloßfirche zu Quedlin—
burg, ein Evangelienbud) in der Stabtbibliothef zu Hamburg, defjen
merfwürdiges Glfenbeinrelief in einer mit Glasflüſſen verzierten Ein-
faflung aus Meffing die einen wendijchen Krieger tötende Viktoria zeigt,
ein Epiftolar in der Stabtbibliothef zu Frankfurt und ein folches im
herzoglihen Mufeum zu Braunſchweig. Das 13. Jahrhundert hat jodann
faum noch ein Elfenbeinrelief aufzuweilen. Dagegen fand man nun eine
neue minder foftbare Ausihmüdung darin, daß man Miniaturbilderchen
auf das Pergament malte und diejelben zu ihrem Schuge mit dünnen,
durchjichtigen Hornblättchen belegte. Eine ſolche Ausſchmückung zeigt ein
Evangelientoder in der Dombibliothef zu Hildesheim und ein Pjalterium
in der Bibliothek zu Bamberg. Anderwärt3 findet man auch mit Metall
bekleidete Dedel, deren Umrahmung feine Elfenbeinplättchen zeigt, jo auf
einem aus Hildesheim ftammenden Evangeliarium in der Dombibliothet
zu Trier. Ein Evangeliftarium aus St. Trou im Luremburgifchen, das
jet im Landesardhiv in Düffeldorf, zeigt die Darftellung des jüngften
496 Das Buch und jeine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunft.
Gericht3, umgeben von emaillierten Apoftelbildern, in getriebenem Kupfer—
bleh. Ein Evangeliftarium in der Kirche zu St. Wolfgang in Ober-
Öfterreich zeigt in der Mitte des mit ornamentiertem Silberblech über-
zogenen Borderdedels einen ovalen Kryftall und auf dem Hinteren Dedel
ein graviertes Bild des heiligen Michael. Daneben fteht noch ein Evan-
geliftarium im herzoglihen Mufeum zu Braunjchweig, ein Epiftolarium
in der Domfakriftei zu Brandenburg und ein in der öffentlichen Biblio-
thef zu Stuttgart befindliches Evangeliarium aus Zwiefalten.
Wenig Originelles mehr bieten die Einbände aus den folgenden
Sahrhunderten. Zu nennen wären dabei nur etwa noch: ein Feſt-Lektio—
narium der Betrifirche zu Hamburg, ein Evangeliarium und Epiftoliarium
im Dome zu Limburg, ein Leftionarium in der Marienkirche zu Danzig,
das oben ſchon erwähnte Evangeliarium der Ada in der Stadtbibliothek
zu Trier, das zu den Neichsinfignien gehörende Evangelienbuch in der
Schatzkammer zu Wien, ein lateiniiches Gebetbuch in der Hofbibliothef
zu München und eine Bibel im Germaniſchen Muſeum zu Nürnberg.
(Schluß folgt.)
>
Zum Hndenken an Klois Henefelder.
Bon G. Hölfcher.
(Schluß.)
Die ſchon erwähnte vorjährige Pariſer Ausſtellung zeigte eine reich—
haltige Sammlung von Inkunabeln der Lithographie, wovon das könig—
liche Muſeum zu München eine Anzahl beſitzt. Man ſah dort u. a. einen
Drad von 1796: den Truppendurchmarſch von Gleisner. Die franzöfi-
chen echten Drude jtammen aus den eriten Jahren unjeres Jahrhunderts;
der ältefte von ihnen ift die Gefchäftsanzeige einer Steindruderei aus
dem Jahre 1804. Dann folgt ein vom Herzog von Montpenfier 1806
auf den Stein gezeichnetes Blatt, der von Senefelder bei deſſen Aufent-
halt in England die Kunft kennen gelernt hatte. Ferner war dort ver-
treten das Bild des Kojaden, das General Lejeune bei Senefelder in
Münden zeichnete. Der General erzählt in feinen Memoiren, daß er,
nad Paris zurüdgefehrt, Napoleon I diejes Blatt zeigte, der ihm anriet,
jih für die Entdeckung Senefelderd aud) weiter zu interejfieren; allein
die Kriege der nächſten Jahre hinderten ihn daran. Erſt im Jahre 1812,
jchreibt er, hat die Lithographie in Frankreich Fuß gefaßt. Ein entjchei-
dender Aufihwung tritt im Jahre 1814 ein, als der Graf von Lajteyrie
aus Deutjchland zurückkehrte, wo er als einfacher Arbeiter bejtrebt gewejen
war, die Lithographie zu erlernen. Bald darauf wendeten fich die größ-
ten Künftler der neuen Kunft zu, und jchon 1816 erjchienen die erjten
Kreidezeihnungen von Horace Vernet, dem andere hervorragende Maler
folgten.
Frankreich, das durch feine an Wechjel reiche Regierungsformen der
Karrikatur reichen Stoff lieferte, bot auch auf dieſem Gebiete die reichite
Auswahl an Lithographien. War doch für diefe Art Zeichenkunft, die
hauptjächlich nach der Aufhebung der Zenjur unter Ludwig Philipp in’s
Kraut Schoß, die Lithographie das einzige praftiiche Verfahren. So bil-
deten die jatiriichen Bilder von Daumier Grandville, Travids, Gavarni,
wie die Napoleon-Soldaten Raffet’3 und Charlet’s (Pjeudonym für Che-
32
F
498 Zum Andenken an Alois Senefelder.
valier) u. a. Hauptanziehungspunfte der franzöfiihen Abteilung, die übri-
gens in der Feſtnummer des Figaro (Figaro lithographe) in reichlichen
intereflanten Reproduftionen vertreten war. Dem durch jeinen Napoleon
Enthufiasmus berühmt gewordenen Raffet hat man vor einigen Jahren
im Louvre-Garten jogar ein Denkmal geſetzt.
Deutjchland war auf der Pariſer Ausftellung nur mäßig vertreten.
Troßdem find deutijhen Ausstellern mehrere jchöne Preiſe bei der Be-
urteilung zuerfannt worden. Für Leiltungen auf dem Gebiet der indu-
ftriellen Lithographie*) erhielt das Bibliographie Inſtitut in Leipzig
die höchſte Auszeichnung, das Ehrendiplom, ferner Trowitzſch & Sohn in
Frankfurt a. DO. die goldene, ©. Elling in München und E. Hölzel in
Mien die filberne Medaille, J Miesler in Berlin eine ehrenvolle Er-
wähnung. Im einer anderen Gruppe wurden ausgezeichnet: Wild. Ferd.
Heine in Offenbad mit dem Ehrendiplom, Auerbach & Co. und ©. Benda
in Fürth, F. Ottmann in Solnhofen, 2. & B. Weidner in Nürnberg
mit goldenen Medaillen; G. Edhardt in Leipzig-Reudnib, Faber & Schlei-
her in Offenbach, Schlerath in Neudorf a. d. Spree, Winter & Sohn in
Hamburg mit vergoldeten Medaillen, Arnold Söhne in Leipzig, Heinr.
Benda & Eo. in Worms, DO. Ronnigen in Leipzig und 75. Krebs in
Frankfurt a. M. mit filbernen Medaillen; B. Schuß in Oppersheim und
W. Brauns in Quedlinburg mit Bronzemedaillen.
Es ijt hier nicht der Ort, auf die heutigen mannigfaltigen Verfahren
des Steindrudes näher einzugehen. Nur einige ganz allgemeine orientic-
rende Ausführungen jollen dem Uneingeweihten einen Begriff der Grund-
züge geben, welche alle Verfahren gemeinjam haben.
Man unterjcheidet im MWejentlichen zwei Arten der Herftellung litho-
graphiicher Negative: die erhabene und die vertiefte. Die erjtere wird
durch Aufzeichnungen auf den Stein mit chemiſcher Tinte hervorgebracht,
während die vertiefte Manier durch Einriken des Steines durch Stahl-
nadeln, welchen für ganz feine Striche häufig Diamantipigen eingeſetzt
find. Die erftere Manier ift die einfachere; bei ihr wird das Original,
falls es nur zur Herjtellung einer einmaligen, Heinen Auflage beftimmt
it, direft zum Drud benußt. Bei größeren Auflagen überträgt man die
Driginalzeihnung auf einen anderen Stein zum Drud im derjelben Weife,
wie ſogleich gejchildert werden joll.
Die vertiefte Manier ift umftändlicher und ſchwieriger und deshalb
auch teurer. Der Lithograph nimmt von der zu ftechenden Zeichnung
eine Pauſe, welche er auf den Stein einreibt, jodaß diejer ein ſchwaches
Negativ der Zeichnung aufweilt. Diejes wird num mit der Stahlnadel,
*) Vergl. Bulletin de Yimprimerie. Nov. 18% Nr. 29 (3. serie.)
Zum Andenken an Alois Senefelder. 499
die häufig gejchärft werden muß, in den relativ weichen Stein eingerißt.
Der Vorteil diejed Verfahrens gegenüber der Aufzeichnung bejteht darin,
daß mit der ſpitzen Nadel viel feinere Linien hervorgebracht werden können,
als es mit der feiniten Feder möglich ift. Deshalb wird das Verfahren
für gute Karten 3. B. faſt ausjchlieglid) angewandt. Ein Nachteil des-
jelben ift, daß Korrekturen ſich nur viel jchwieriger anbringen laſſen, als
bei der FFederzeichnung, die ganz leicht abgejchabt werden kann, während
die Fortſchaffung der Gravur oft größere Vertiefungen im Steine hinter:
läßt, welche Stellen dann nicht mehr bearbeitet werden fünnen.
Bon der Gravur können natürlich direkt Abdrüde genommen werden.
Aber fie würde bei einer einigermaßen namhaften Auflage verderben,
weshalb man fie auf einen andern Stein übertägt und von diefem drudt.
Zur Herjtellung diejes Umdruds nimmt man einen fcharfen feuchten Ab-
drud auf ein bejonders präpariertes, den befannten Abziehbildern ähn—
liches, jog. Umdrudpapier, worauf die Driginalgravur, mit Gummi ara>
bikum zum Schuß gegen den Verfall der jcharfen Zeichnungsränder ein-
gerieben, fortgejtellt wird. Das jo erhaltene Bofitiv drücdt man auf der
lithographiichen Preſſe auf einen Stein und läßt das Papier durch Auf-
gießen von warmem Waſſer ſich loslöjen. Dann wird es vorjichtig von
dem Steine abgezogen, melcher die äußerjte weiße Schicht des Papieres
mit der Zeichnung zurückbehält. Durch weiteres Abwajchen erhält man
auf dem Stein das Bild rein. Diejes muß nun noch durch verjchiedene
Behandlung mit Säuren geäßt, d. h. drudbar gemacht (firiert) werden.
Es iſt klar, daß auf dieſe Weile diejelbe Zeichnung, falls fie von Fleinem
Umfang ift (Wechjelformulare, Bifitenfarten u. a.), mehrere Male auf
den Drudjtein übertragen und jo gleichzeitig eine Mehrheit von Abzügen
gewonnen werden fann.
Das Druden auf den lithographiichen Preſſen ift eine mühjame Ar-
beit. Die große Mehrzahl der Steindruder benußt die Handprejje und
nur große lithographiiche Anftalten haben der Buchdruckpreſſe ähnliche
Schnellprefien. Sonft wird der Stein jedesmal, wenn er aus der Drud-
walze fommt, mit der Handwalze frisch eingerieben, mit dem Papier be-
dedt und durch die Menjchenkraft des Druders durd) die Maſchine ge-
preßt. Ein geübter Druder bringt es deshalb kaum über 400 bis 600
Drude im Tage.
Soll der Stein nicht aufbewahrt werden, jo wird die Aufzeichnung
- oder Gravur durch Bearbeiten mit Bimsftein abgejchliffen, jodaß der
Stein von neuem gebraucht werden faun. Gute Steine fünnen auf dieje
Meile an 600 mal benußt werben.
Es erübrigt noch, mit einigen Worten auf das Material zurüczu-
fommen, deſſen ſich die Lithographie bedient.
82°
500 Zum Andenken an Alois Senefelder.
Dort, wo die Altmühl fi in taujendjähriger Arbeit durch die Maj-
jen des fränfiichen Juras einen Weg gejägt hat, liegt das bayerijche
Kirchdorf Solnhofen. Der alte Ort, der feinen Urjprung einem Schüler
des heiligen Bontfazius verdankt, entjtand um eine, 743 dort gegründete
Benediktinerabtei. Eine Weltbedeutung hat er aber erft in unjerem Jahr-
hundert erhalten durch feine Schon erwähnten Brüche des lithographijchen
oder Solnhofer Steines. Schon vor dem Auftreten Senefelders waren
übrigens die Steine gejchäßt, wenn fie auch nur zu weniger edeln Zweden
benugt wurden. Man belegte mit ihnen die Hausfluren, dedte Kegel-
bahnen damit, verarbeitete fie zu Tiſch- und Gerberplatten und ähnlichen
Gegenftänden. Zu dieſen Zwecken eignete ſich der Stein vorzüglid. Er
befteht aus einem reinen und wundervoll fein gekörnten Half, der fich
auf den oberjten Schichten der Juraformation abgejegt hat und deſſen
Berfteinerungen Hinlänglich deutlich feine Entitehung verraten. Erflär-
licherweile gibt es jowohl im fränfiihen Jura noch eine ganze Anzahl
unter ähnlichen Bedingungen entjtandener Kalflagerungen, als man aud)
in Südfrankreich mehrere Brüche von Lithographieiteinen ausbeutet; aber
nirgend anderswo als in dem bayrischen Dörfchen iſt es bisher gelungen,
die gleiche Feinheit der Struftur, wie der Solnhofer Stein fie zeigt, zu
finden. Die Solnhofer Brüche müſſen deshalb allein die ganze Welt
mit der beiten Sorte der Lithographiefteine verjorgen. Was Wunder,
wenn fie diefen Anforderungen auf die Dauer nicht gerecht zu werben
vermögen! Der Reichtum der Brüche nimmt merflih ab; notwendige
Folge ift das Steigen der Steinpreije, was wiederum ein Nachlafjen des
Abjabes nad) fich zieht. So erklärt ſich denn die finfende Ausfuhr des
Solnhofer Steines. Während 1890 der Verſand geichliffener Steine ins
Ausland noch faſt 50000 Doppelzentner betrug, war er 1894 nad) be-
ftändigem Sinten auf etwas mehr ald 39000 Doppelzentner angelommen.
Für die fünf Jahre zufammen beläuft fich der Wert diefer Ausfuhr auf
6,6 Millionen Marl. England und die Vereinigten Staaten, nächſtdem
Frankreich, Ofterreih-Ungarn, Italien, die Schweiz uud Belgien find die
hauptſächlichſten Abſatzgebiete. Won diefen Ländern bezog England, das
im Sabre 1890 noch 13967 Doppelzentner verbraucht hatte, 1893 nur
6787, 1894 9431 Doppelzentner. Der PVerjand nad) den Vereinigten
Staaten hat ſich nad) einer Mitteilung ber Leipziger Zeitung, welcher ich
diefe Ziffern entnehme, von 12028 Doppelzentner im Jahre 1892 auf
7884 Doppelzentner in 1893 und 5958 Doppelzentner in 1894 vermin-
dert. Dagegen ift die Ausfuhr nach Ofterreich-Ungarn von 3842 Dop-
pelzentnern im Jahre 1890 auf 5156 und 5852 Doppelzentner in ben
beiden letzten Jahren gejtiegen. Frankreich bezieht durchſchnittlich etwa
6000 Doppelzentner im Jahr, während 1893 7225, 1894 5168 Doppel-
Zum Andenfen an Alois Senefelber. 501
zentner dorthin ausgeführt worden find; nach Italien gingen im legten
Jahr 2441, nach Belgien 1481, nad) der Schweiz 1207 Doppelzentner.
Angefihts der dargelegten Knappheit des Prima-Steines und ber
dadurch hervorgerufenen Teuerung kann es nicht Wunder nehmen, daß
die Intereffenten fich nad einem Erſatz für die Solnhofer Steine um-
jehen. Einen ſolchen glaubte man in dem Zink gefunden zu haben und
thatſächlich hat die Zinfographie durch Unterftüßung durch die Photo—
graphie dem Steindruck ein großes Gebiet abgewonnen. Aber auch direkt
erſetzen ſollte das Zink den koſtbaren Stein. Bei mehrfarbigen Drucken
braucht man nur einen Stein zu gravieren, von welcher Gravur Umdrucke
wie der oben geſchilderte gemacht werden, ſodaß in dieſe genau gleichen
Umdrucke die verſchiedenen Farben eingetragen werden können. Für jede
Farbe gebraucht man einen Stein. Dieſe Umdruckſteine hat man nun
durch Zink erſetzt, indem der Übertrag von dem lithographiſchen Stein
auf Zinkplatten erfolgt, wodurch alſo ſehr viele Steine erſpart werden.
Es ſind damit ſehr ſchöne Ergebniſſe erzielt worden; gleichwohl hält man
den Druck des weichen Steines für zarter als den von Zinkplatten ge—
nommenen. Im allgemeinen wird Zink nur bei dem befannten auto-
graphiichen Verfahren benust.
Mit einem neuen Erjat für den Stein ift im vorigen Jahre der In-
baber der lithographiichen Anftalt Joſ. Scholz in Mainz hervorgetreten.
Er benubt das Aluminium zum Drud und erreichte allerdings damit jehr
ſchöne mehrfarbige Ergebnifje. Die Vorzüge des Aluminiums, gleichgute
Drudergebnifje vorausgejegt, jpringen in die Augen. Das Metall ift im
großen Gegenſatz zum Stein jehr leicht und deshalb feine Handhabung
beim Drud wejentlih einfacher. Die Billigkeit des Aluminiums gegen-
über dem Stein wird begreiflicherweije um jo größer, je umfangreichere
Blatten zum Drud erforderlih find; denn Metallplatten kann man be-
liebig groß machen, während große, fehlerloje Steine jelten und deshalb
jehr teuer find. So foften z. B. Wuminiumplatten von 90 > 120 cm
Größe nur den fünften Teil der Steine in gleichem Umfang. Zu einem
zehnfarbigen lityographiichen Drud waren bisher ebenjo viele Steine not-
wendig. Dieje haben bei einer Größe von 70 >< 100 em ein Gewicht
von 500600 Pfund und often etwa 800 Marl. Zehn Aluminium-
Drudplatten derjelben Größe haben nur eine Höhe von ſechs Millimeter
und fönnen bequem von einem Lehrling fortgetragen werden; fie koſten
nur etwa 150 Mark und beanjpruchen zu ihrer Aufbewahrung natürlich)
nur wenig Raum, während die zehn Steine eine Höhe von 70—80 cm
haben. Zudem ift die Zahl der guten Abdrüde (25—30000) faft un-
begrenzt. Ein wejentlicher Vorzug der leichten und biegbaren Platten ift
ferner ihre Verwendbarkeit beim Rotationsdrud. Nur in einem Punkte
502 Zum Andenken an Alois Senefelder.
fünnen fie den Stein ebenjowenig erjeßen wie das Zink: beim lithogra-
phiichen Stih. Deshalb kann es fich bei dem Erjabmaterial nur um
eine Entlaftung des Steines bei mehrfarbigem Drud handeln, während
das Solnhofer Material nad) wie vor das geeignetite zur Herjtellung
ſchöner Drude bleibt. Scholz nennt fein Verfahren Algraphie, bei welchem
„Al“ wohl nur chemiſche Abkürzung von Aluminium bedeuten Fann.
Bekannt ift, dab es eine ganze Reihe von lithographiichen Verfahren
gibt, von welchen man aber behaupten darf, daß fie ſämtlich ſchon von
Senefelder erfunden worden find, Die einfadhite und billigfte Art ift die
Autographie, welche jedem Jüngling aus jeinen „Bierzeitungen“ befannt
ist. Zur Heritellung von Bifitenfarten, zur Schaffung von Landkarten,
zur Wiedergabe von Mufifnoten 2c. bedient man ſich gewöhnlic des
Stiches, Mit dem jog. anaftatiichen Drud, einem lithographiichen Um—
drucverfahren, erzielt man eine befchränfte Zahl guter Abdrüde einzelner
etwa fehlender Bogen eines Werkes, die genaue Vervielfältigung eines
alten, vielleicht nur mehr in einem Eremplar vorhandenen Drud- oder
gezeichneten Originals, einer Handjchrift ꝛc. Ein ferneres Verfahren zur
Reproduktion von Druden oder Zeichnungen, das vorzugsweile zur An-
fertigung von gevgraphiichen Karten und Plänen benußt wird, iſt der
Aubeldrud, jo genannt nad) jeinem Erfinder, einem Ingenieur, der jich
zur Ausführung jeiner Idee mit E. F. Kaiſer verband. Noch jegt hütet
die Kaifer’ihe Firma in Köln-Linderhöhe das Geheimnis, welches ermög-
licht, eine Stunde nad) Empfang eines gezeichneten Originals den erjten
Abdrud zu liefern.
Um meiften im Publikum bekannt find die Chromobilder, welche die
Lithographie in einer unnachahmlichen Zartheit der Farbenübergänge
liefert; in den wenigjten Fällen wird ſich aber der Käufer von Büchern,
welche mit chromolithographiichen Bildern und Tafeln geihmücdt find,
defjen bewußt, daß es die Kunft Senefelders ift, welcher er die auge-
erfreuenden Erzeugniſſe verdankt.
Die umfangreihe Anwendung der lithographiichen Verfahren auf
einer großen Zahl von Kunftgebieten fichert der Kunſt Senefelderd aud)
heute noch für lange Zeit die Beachtung der Interefjenten der graphiſchen
Künfte, ja fie behauptet unter diefen einen Ehrenplat. „Sie ift ein
jelbjtändiges Kunftmittel“, jagt ein Sacjverftändiger, Dr. Rich. Graul
in den „Graphiſchen Künften“, „das ſich einer größern Freiheit in der
maleriſchen und zeichnerischen Wirkung erfreut als die andern Verfahren
zur Vervielfältigung von Zeichnungen. Zudem hat fie den Vorteil einer
größeren Leichtigkeit in der Handhabung voraus. Gelbft wo fie fich be-
gnügt, das Werf eines anderen zu wiederholen, verfügt fie über den
eigenen Reiz, den ihr die faftige Wirkung ihrer Töne leiht, über einen
Zum Andenken an Alois Senefelder. 503
malerischen Effekt, ven die Kupferftecher nur mühſam und die Radierer
nur mit Zuhilfenahme unficherer Drucdwirkungen zu erzielen vermögen.“
Aus dieſen Gründen wird auch die Kunft Senefelders in voraus:
Jihtliher Zeit nicht mehr verjchwinden, wie es allerdings in unjerm
Sahrhundert, durch talentlojfe Steinjchneider veranlaßt, vorübergehend in
Deutichland der Fall gewejen ift. Jedenfalls hätten aber die Deutjchen
Veranlafjung gehabt, in diefem Jahre jenes genialen Mannes zu geden-
fen, welcher aus ihrer Mitte hervorgegangen tft, um der Welt ein unver:
gängliches Geſchenk zu machen, mit dem er fich gleichzeitig jelbft ein
weithin leuchtendes Denkmal geſetzt hat. Aber fein eigenes Volk Hat die
Ihuldige Ehrung dem „Erbfeind“ überlaffen! Früher mußte ein Genie
geftorben jein, um anerkannt zu werden; heute feiert man lärmend die
reffamejüchtigen Gernegroße, deren Ruhm auf Gegenjeitigfeit begründet
ift, und vergift die Toten, mögen wir ihnen auch noch jo großen Dant
Ihuldig fein, fie können ſich ja in unferer orden- und titeljüchtigen Welt
nicht mehr „revanchieren“ !
>
Dur Gehilfenexamensfrage.
Bon A. Glaue, Hamburg.
„Aufbeſſerung der fozialen Lage der Gehilfen“, dies ift der Grund-
zug im Programm der „Allgem. Bereinigung dtſch. Buchhandlungsgehilfen“,
der in erjter Linie ihr wohl auch die Sympathien in weiteren Kreiſen des
Buhhandeld erwarb. Denn unter den jüngeren Buchhändlern gibt es
heutzutage wohl nur noch wenige, die die geradezu unmwürbigen Zuftände
in unferem Berufe nicht zugeben. Die erfte That der Vereinigung erfolgte
denn aud in diefem Sinne: Beim Börfenvereinsvorftande wurde eine
Eingabe eingereiht: die Einführung eines Lehrlingderamens in Erwägung
zu ziehen.*) Weniger im Schaffen diefes Gedankens, als vielmehr in der
Zuſammenfaſſung gleichartiger Beſtrebungen der legten Zeit und im er-
neuten zielbewußten Vorbringen dem Zufunftsbild entgegen, liegt das
Verdienſt der Vereinigung — hoffentlich bewahrheitet fih an ihr nicht
der Spruch: neue Beſen kehren gut!
Auf Grund der Eingabe Hat nun der Börſenvereinsvorſtand die Frage
den einzelnen Kreis- und Ortögruppen zur Verhandlung und Begutad)-
tung überwiefen. Auf diefem Punkte etwa ruht augenblidlich die Ange-
legenheit, zu der es wohl erwünjcht wäre, daß aus den Kreiſen der Ge—
bilfenfchaft — die vielleicht berechtigtere Wünjche dabei erfüllt zu fehen
hoffen kann, als die Prinzipalität — weitere Vorſchläge und Anregungen
laut würden.
Als ſolche mögen auch nachſtehende Zeilen angejehen werden.
Sowie nur das Wort „Eramen” fällt, ftreden gewiſſe Kreije jofort
beide Hände fürmlich gegen dies Ungeheuer aus. „Die Eramenswut in
Deutihland triebe Schon zu viele Blüten“ u. ſ. f. heißt e8 dann. Dieje
*) Bei diefer Gelegenheit möchte ich auf die Unrichtigfeit in der Bezeichnung
„Lehrlingseramen“ hinweifen. Nah dem giltigen Sprachgebrauch muß, meiner
Meinung nad, jo gut wie beim Doftor:, Referendar- u, ſ. w. Examen der neu zu
erwerbendbe Gharafter zur Bezeichnung des Gramens gewählt wird, dad Examen
richtiger „Gehilfenexamen“ heißen,
Zur Gehiljeneramenäfrage. 505
Anfiht hat im Grunde genommen etwas Berechtigte an fi; doch warum
jollten bei der Feſtſetzung des Prüfungsplanes die gefährlichen Seiten des
Eramens nicht vermieden werden fünnen, die Doch wohl vor allem in jog.
Uniformierung des Wiſſens, Drillen auf das Eramen hin, augenblidlicher
Befangenheit und dadurch möglihem Ausschluß jonft tüchtiger Elemente
zu juchen find? Wir brauchen ja doch aber auch kein jog. Drilleramen,
wo die drei Jahre Lehrzeit nur dazu verwandt werben jollen, auf die
möglichen Tragen vorzubereiten! Im Eramen follen natürlich die allge-
mein feitzulegenden Grundbegriffe buchhändleriichen Wiſſens nachgewiejen,
daneben aber doch nur feftgeftellt werden, ob der zu Prüfende auch nad)
dem Urteil anderer Standesgenofjen als des Lehrherrn die Fähigkeiten
bat, ein tüchtiges und würdiges Mitglied des Buchhandel zu werden.
Stet3 muß eben ald Endzwed der Wiedereinführung des Eramens im
Auge behalten werden: Hebung des Standes und feiner Mitglieder.
Denn jeit der gejeblichen TFreigebung des Buchhandels, in ihren Wirkun-
gen zum Zeil zujammenfallend mit dem gewaltigen allgemeinen Handels-
aufihwung nad den Kriegserfolgen 1870/71, hat derjelbe naturgemäß
durd) den Wohlitand und den erhöhten Bedarf des bücherfaufenden Bubli-
fums ungeheure Ausdehnung gewonnen, jodaß eine Vergrößerung des
Buchhändlerſtandes in der Natur der Sache lag. Uber mit diejer Er-
höhung der Quantität ift unverkennbar ein Niedergang des Bildungs-
niveaus der Qualität Hand in Hand gegangen. Auf die nötige Vorbil-
dung wurde jeitdem und wird, ebenjowenig wie auf die nötige Ausbildung,
der rechte Wert gelegt. Dieje wohl nicht abzuleugnenden Thatjachen recht—
fertigen denn auch genügend die Nichtbeachtung jenes großen Handels-
jaßes durch die mögliche Einführung des Examens: Je freier der Handel —
deito beſſer. Der Buchhandel ift eben doch von einem anderen Material
wie andere Handelszweige, und die Geichichte der letzten zehn Jahre lehrt
es nur zu gut, daß dem Buchhandel die grenzenlos zu nennende Frei—
gebung nicht zum Heile gedient hat. Der Handel mag größer, die Pro-
duktion al3 jolche bedeutender und in Bezug auf Herftellung, Ausftat-
tung u. ſ. f. entjchieden befjer geworden jein; ob aber auch der innere
Wert der Produktion befjer ift, dieſe Frage, für den reinen Handel viel-
leicht Nebenjfache, muß für den Buchhandel unter allen Umftänden berüd-
fichtigt werden, wenn er feine Ehrenftellung behaupten will, und auf dieje
trage lautet die bejchämende Antwort wohl fiher: Im Gegenteil!
So komme ich dahin: Wie der Staat, ala Vertreter der Gefellichaft,
verlangen kann, daß der Apotheker den Nachweis führt, fic feines Berufes
bewußt zu jein und Garantieen dafür beibringt, auch beurteilen zu können,
welchen Schaden er auf phyfiichem Gebiete anrichten kann, und daher nicht
darf, jo muß dasfelbe gelten vom Buchhändler auf pfychiichem Gebiete! —
506 Zur Gehilfeneramenäfrage.
Was nun das Eramen jelbft angeht, jo iſt vor allem dies eine zu
beachten: Es giebt Feine für alle zu Brüfenden gleihmäßig gültigen An—
forderungen. Jederzeit muß ein Manko durch ein Plus erjegt werden
fünnen. In erfter Linie fol im Examen nur die Überzeugung gewonnen
werden, nicht ob der Betreffende bereits ein rechter Buchhändler ift, ſon—
dern ob er die Fähigkeiten hat, im Verlauf feiner weiteren Thätigfeit und
Ausbildung ein Buchhändler im rechten Sinne zu werden; denn mit ber
Lehrzeit darf und foll die Ausbildung doch nimmer als abgejchlofjen be-
trachtet werden. Über die zu verlangenden allgemeinen Begriffe im Buch—
handel — zu denen ich rechnen möchte Katalogkunde, Firmenfenntnis,
Kenntnis der Begriffe, die mit den einzelnen Firmen zu verbinden find,
jowie der Richtung des Verlages, auch bei gewiſſen der Hauptwerfe und
Unternehmungen derjelben u. ſ. f. — wird ſich allmählich eine ziemlic)
richtige und fejte Norm finden laſſen. Schwieriger wird es fein, über
litteraturgeichichtliche Anforderungen zu enticheiden. Geburts- und Todes-
jahr der Dichter, Ericheinungsjahr der klaſſiſchen Werke und ähnliches ift
Ballaft, der leicht zu entbehren fein wird. Dagegen ift wohl zu ver-
langen, daß eine ungefähre Kenntnis des klaſſiſchen Litteraturgefüges von
Jüngern des Buchhandels nachgewiejen werden kann. Alsdann gilt es
vor allem zu erweijen, ob man die einzelnen Werfe — klaſſiſche und neuere
Ericheinungen, Dichtungen und wiſſenſchaftliche Werke — nad ihrem
Werte und ihrer Verwendbarkeit für verjchiedene Altersftufen und vers
ſchiedene Beranlafjungen beurteilen kann.
Fragen wie die: ob Bürgers oder Heines Werke 3.3. für ein Kon—
firmationsgejchent, Alter ca. 15 Jahre, ſonderlich zu empfehlen wären,
oder — ein Fall, den ich leider aus der Praxis anführen kann — ob
Hamerling, Ahasver in Rom als Kunfirmationsgejchenf für eine junge
Dame zu verkaufen ift, ob man einen Unterjchied in der Bedeutung der
König’schen und der Scherer'ſchen Litteraturgejchichte zu machen weiß, ob
man für einen Herrn, eine Dame in dem und dem Alter zu dem und
dem Preiſe pafjende Geſchenke vorjchlagen kann — Fragen, die ſich jehr
reichhaltig ausgeftalten und durch eventuelle Begründung des Urteils zu
weiterer Auseinanderſetzung verwenden lafjen, — dürften am Platze jein.
So joll das Eramen aus trodenen Prüfungsfragen darauf Hin ausge-
ftaltet werden, nur einen allgemeinen Überblid zu gewähren über die
Fähigkeiten des Prüflings.
Einen Einwand zu erwähnen giebt mir der Schlußabjah des Artikels
von Herrn H. Boyfen in den „Mitteilungen“ Nr. 1 Beranlaffung. Herr 2.
jchreibt dort: „Wie ſchon die allgemeine Trennung in Verlag, Sortiment
und Antiquariat fo jehr verichiedene Anjprühe an den Beflifienen jtellt,
jo ift auch jeder dieſer Teile wieder jo vieljeitig gejpalten, daß eine
Zur Gebilfeneramensfrage, 507
Prüfung... . dem Chef bei Bejegung der befjeren Stellen unmöglic)
als Richtſchnur dienen kann.“
Was die Trennung in einzelne Zweige anbelangt, jo bleibt es ja doc)
jederzeit jedem Einzelnen überlafjen, je nachdem, was für Kräfte er braucht,
feine Wahl zu treffen. Der Verleger, der nur einen Ausliefererpoften
bejegen will, wird in dem Falle natürlid) weniger auf Erfahrung und
Kenntnis des Sortimentsbedarfs jehen, als dann, wenn er einen Ber-
trauenspoften befegen will. Überhaupt fommen „beifere Stellen“ bei der
Beſetzung mit Kräften, die das Eramen eben beitanden haben, wohl faum
in Betracht. Auch glaube ich, es kann nichts jchaden, wenn vielleicht da-
durch, daß im Eramen Derartiges verlangt wird, jpeziell in den Verlags-
häufern etwas mehr Kenntnis des Eortimentsbetriebes und des Sorti-
mentswifjens verbreitet würde. Mag aljo aud) darauf durd) das Eramen
bingearbeitet werden. Ähnlich verhält es fich für das Antiquariat, Und
dann: Das Beitehen des Eramens verpflichtet ja doch noch niemand
zum Engagieren bei erfter Vakanz, wie etwa im Staatsdienft. Jederzeit
wird ſich ein Chef, jei es auf Grund des ihm zur Verfügung zu ftellen-
den Prüfungsprotofolles oder auf eigene Nachforſchungen Hin, ein Bild
der Fähigkeiten des Betreffenden im Bezug auf jein Geichäft machen
fönnen, und wenn der Betreffende für feinen bejonderen Geſchäftszweig
nicht das Zeug hat, braucht er ihm doch nicht zu nehmen rejp. nicht zu be-
halten. Neben dem Examen jollen die Zeugnifje über die Thätigfeit doch
ruhig beftehen bleiben.
Die Einführung des Eramend? — dies muß immer wieder betont
werden — joll eben nur dazu dienen, von unjerem Stande die Elemente
auszufchließen, die nicht Hineingehören, und zu verhindern, daß diefe jungen
Leute durch Aushalten der drei Lehrjahre — mögen fie ſich jelbft um
Erwerbung des nötigen Wifjens nicht gefümmert haben, oder mögen fie
auch von vornherein durch Fehlen der nötigen Vorbildung und hinterher
durch nicht ausreichende Ausbildung für den Buchhandel noch jo unbrauch—
bar fein — als Gehilfen zu betrachten find und jo einerfeits Befähigten und
redlich Strebenden das Vorwärtskommen durch Überfüllung des Standes
erjchweren, andererfeit3 das Anjehen des Standes recht erheblich jchädigen.
Um nun den Wert des Eramens nicht illuforisch zu machen, möchte
ich folgende Bedingung vorſchlagen: Die Eramensrejultate müſſen öffent-
lich verwertet, über diejelben Statiftif geführt werden.
Der Nutzen, der daraus nach zwei Richtungen Hin hervorgeht, ift
faum zu verfennen.
Wenn diefe Bedingung erfüllt wird, werden Eltern ſich vorjehen
fünnen und vorfehen, zu welchem Chef fie ihre Söhne in die Lehre geben.
Denn e3 kann ihnen nicht gleichgiltig fein, nad) Verlauf der drei Jahre
508 Zur Gebilfeneramenäfrage.
fi) vor die Thatjache geftellt zu fjehen, daß ihre Söhne das Eramen
nicht beitehen, wofür in recht vielen Fällen — abgejehen von der Un-
brauchbarfeit einzelner — der Grund an der faljchen Lehrftelle zu juchen
ift, und ihnen jo das Fortkommen im erwählten Berufe erjchtwert, viel-
leicht auch verwehrt wird.
Andererjeit3 werden die Prinzipale ſelber vorfichtig bei der Anftel-
lung der Lehrlinge jorwohl, wie bei ihrer Ausbildung fein. Denn aud)
ihnen wird es nicht gleichgiltig bleiben künnen, ob ihr Name ſowohl bei
den Kollegen wie beim Publikum als ein ſolcher befannt ift, deſſen Trä-
ger nicht fähig ift, für die richtige Lehrlingsausbildung zu ſorgen reip.
die Auswahl zu treffen. Selbftverftändlic kann ein Chef fich täufchen;
dann iſt es aber jeine Pflicht, fi und dem Angejitellten gegenüber, bei
Beiten diefem von dem ermwählten Beruf abzuraten. Der Lehrchef muß
aber auf der anderen Eeite auch in der Zage jein, Verwahrung einzule-
gen gegen etwaigen Mißbrauch jeines Namens und feines Rufes, für den
Tall z. B., daß ein Lehrling, den der Chef jelbit noch nicht für genügend
ausgebildet hält, trotz deſſen Abraten fi zum Examen ftellt. Hiergegen
mag ſich empfehlen, ald Borbedingung für das Eramen Anmeldung durd)
den Lehrchef aufzunehmen.
Auf ſolche Weile kann es dann wohl doc) erreicht werben, den
„Lehrlingszüchtern“ das Handwerk zu legen. Die unerjchöpflich ſcheinen—
den Quellen der Unerfahrenheit der Eltern werden dann wohl doc) eines
Tages langjamer und immer langjamer zu fließen anfangen. Mit dem
beliebten Syftem, mit Lehrlingen, als den billigften Arbeitskräften- zu ar-
beiten, ohne auf deren jachgemäße Ausbildung Rüdficht zu nehmen, wird
dann wohl doch gebrochen werben müſſen.
Hiergegen, möchte ich glauben, wird fich denn auch der größte Wi-
derftand jeitens gewifler Kreiſe der Prinzipalität richten; um jo mehr
Beranlafjung, auf der Hut zu fein, daß das Eramen nicht bedeutungs-
los werde,
Nach alledem befeftigt fich in mir die Überzeugung: Die Gefahren,
die die Einführung des Eramens mit ji bringen fann, find
zu vermeiden, das Eramen ſelbſt ift auch unter Berüdfichtigung da-
gegenftehender Faktoren, wie Berjchiedenartigkeit der Zweige des Buch—
handel und der zu ftellenden Anjprüche, durchzuführen in der ein-
fahen VBorausjegung, daß von allem Schematismus und trof-
fenem Wiſſenskram abgejehen wird; der Nutzen aber, den das
Eramen mit fi bringt, fann dem Stande nur zum Beften dienen;
denn das Material, das dem Buchhandel alsdann zugeführt wird, ift ein
gewählteres, der Eintritt in den Buchhandel ift dann nicht mehr für
jeden Beliebigen der Zugang zu einem jcheinbar bequemen und angejehenen
Zur Gebilfeneramensfrage. 509
Beruf, der Ausbildung wird ein höheres Gewicht beigelegt, und auf Grund
von dieſem allem: Das Standesbewußtjein wird ſich heben.
Am Ende meiner Ausführungen möchte ich noch auf die Notiz zurüd-
greifen, die ich in dem Artikel über die Gehilfenvereine*) machte, betr. eine
weitere Aufgabe der Vereine für den Fall der Eramenseinführung. ch
dachte dabei zunächſt an zweierlei: einmal wären die Vereine vielleicht die
Berufenften, das ftatiftiiche Material zu beichaffen, zum andern könnten
die Vereine durch Hinzuziehung der Lehrlinge mit zur berufsmäßigen
Ausbildung beitragen. Doch für das Nächſte Haben diefe Pläne noch
gute Weile.
Hoffentlich) ift aber die Zeit nicht mehr allzufern, wo wir mit be-
wußtem und mehr denn heute berechtigtem Stolz uns unjeres Standes
rühmen fönnen.
Kann uns diefem Ziele die Einführung des Eramens näher bringen,
jo mögen feine Opfer, feine Anftrengungen zur Erreichung desjelben ge-
icheut werben.
*) Mitteil f. d. Jungbuchhandel Nr. 3,
>
Die Begründung der „Korporation der Berliner
Buchhandler“ und die Berliner Beftellanftalt.
Bon Karl Er. Pfan.
— — —
(Schluß.)
Außer dem Geſchäftsführer Feindt ſind auf der Anſtalt thätig 1 Buch—
halter, 1 Hilfsbuchhalter, 3 Kaſſierer, welche die Wagen behufs Einfaffie-
rung der Beträge für Barpakete begleiten, 3 Expedienten, die in der An—
ſtalt die Verteilung der Geſchäftspapiere und das Wiegen und Verteilen
der Pakete zu bejorgen haben, 3 Burjchen zur Begleitung der Wagen
und 3 Kutſcher. Für die Baketausfuhr ftehen 6 Pferde und 4 Wagen
zur Verfügung.
Die tägliche Arbeit auf der Beitellanftalt ift in der Weiſe geregelt,
daß morgens zunächſt das Abrwiegen und Verteilen der aus Leipzig ein-
getroffenen Poft- und Erpreßfendungen und danad) die Abfertigung der
drei Wagentouren erfolgt. Das Sortieren der eingegangenen Zettel und
Sfripturen, die Führung der Bücher, jowie die Erledigung der Korre-
Ipondenzen nehmen den weiteren Vormittag in Anſpruch. Nachmittags
werden die Poſt- und Eilgutfendungen nad) Leipzig fertig gemacht und
diejenigen Eingänge verteilt, die mittags durch die Wagen eingeliefert
worden find. Um 5 Uhr kehren diefe von der Nachmittagsausfahrt zu—
rüd, und num beginnt die Hauptarbeit des Tages mit dem Verteilen der
mitgebrachten Pädereien, Journale und Barpafete. Danad) werden die
Touren für den folgenden Tag zurecht gemacht, und den Schluß der
Tagesarbeit bildet die Abrechnung mit den Kajjierern über die für Bar-
pafete vereinnahmten Beträge.
Daß ein jo umfangreicher Verkehr auch einen bedeutenden Betrieb
des Buchhandels überhaupt zur Vorausſetzung hat, ijt jelbjtverftändlich ;
einen Überbli über diefen möge folgende kurze Statijtif des Berliner
Buchhandel3 geben, welche wir dem „Hilfsbuch für den Berliner Buch—
handel” für 1893 entnehmen. Bon in Berlin insgejfamt bejtehenden
Die Begründung der „Rorporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc. Bil
885 buchhändleriichen Firmen gehören 378 der Beftellanftalt an. Bon
diejen 885 Handlungen find:
Berlagshandlungen. . . ...374
Zeitungs⸗ und Zeitſchriften ⸗Verlag. .88
Sortimentshandlunge..228
Kunſthandlungen (Verlag und Sortiment) 74
Muſikalienhandlungen „ „ . 61
Antiquariatshandlungen (reine) . . . . 15
Sandkartenhandlungen -. . 2 2...2
Neilegeihäfte- - » - 2: 2 8
Kolportagehandlingen - » 2 2 2.2... 22
Lehrmittelanftalten . » » 2 5
Bar-Sortimente . . . 2
Eine kleine Zahl von Firmen gehört nicht direft zum Buchhandel,
und dieje find darum im vorftehender Aufftellung nicht mitgezählt; bis
auf wenige Ausnahmen find alle in das Hilfsbuch aufgenommenen Hand-
lungen in Leipzig dur einen Kommijfionär vertreten. Die einzelnen
Handlungen find demjenigen Fache zugewieſen, das fie hauptfächlich be-
treiben; eine ftrenge Sonderung ift, weil vielfach verjchiedene Zweige des
Buchhandels von derjelben Firma betrieben werden, nicht möglich.
Die in Berlin bejtehenden 21 Kommiſſionsgeſchäfte (die faſt alle in»
Verbindung mit Sortimenten betrieben werden und daher in vorftehender
Lifte nicht bejonders aufgeführt find) vertreten 248 auswärtige Shrti-
mentshandlungen, während 244 auswärtige Verleger hier entweder eine
eigene Vertretung unterhalten oder ihren Verlag ganz oder teilweife durch
28 Firmen ausliefern laſſen.
Im Anfang diefes Jahrhunderts beftanden in Berlin 35 Buchhand-
lungen, 1841 = 104, 1851 = 182, 1861 = 224, 1871 (nad) Aufhören
des Konzejfionszwanges) = 415 und 1881 — 538,
IV.
Der Bau des Buchhändlerhauſes.
Die Vorgeſchichte dieſes Baues reicht zurüd bis in das Jahr 1867.
Damals regte der unvergegliche Otto Janke zum erftenmale den Bau einer
Berliner Buhhändlerbörje an; jein Antrag fiel aber auf feinen bejonders
fruchtbaren Boden, und nachdem der Hauptausſchuß fich gegen den Haus»
bau ausgeſprochen hatte, wurde der Plan aufgegeben.
Wenige Jahre jpäter war Berlin Hauptjtadt des neu begründeten
Deutichen Reiches geworden, ein nie geahnter wirtichaftliher Aufſchwung,
dem leider nad) furzer Zeit ein ebenjo tiefer Niedergang folgte, hatte dem
512 Die Begründung ber „Korporation der Berliner Buchhändler” ꝛc.
Handel eine gewaltige Anregung gegeben, die auch auf den Berliner
Buchhandel nicht ohne Einfluß geblieben war, und jebt jchien dem Vor—
figenden der Korporation, Alerander Dunder, die Zeit für den Bau eines
Buhhändlerhaufes gefommen, ein Plan, der diesmal nicht nur im Vor—
Stande der Korporation, jondern im Berliner Buchhandel überhaupt leb—
bafte Teilnahme und Förderung fand. A. Dunders Plan ging dahin,
„dem Berliner Buchhandel, welcher in feiner Gejamtheit eine jo bedeut-
ſame Stellung zur Kulturentwidelung der Gegenwart einnimmt, die äuße-
ren Erfordernijje einer ſolchen Stellung zu fihern und ihm eine Stätte
zu Schaffen, an welcher er ſich nach innen ſtark und einig, nach außen
würdig repräjentiert fühlt. Ein preiswürdiges Grundftüd joll erworben
und für die Zwede eines Berliner Buchhändlerhaufes umgeichaffen wer-
den. Dasjelbe joll einen Eaal enthalten, in welchem die Abrechnungen,
gejchäftliche und gejellige Zuſammenkünfte der Genofjen abgehalten, ſowie
auch zeitweilige Ausftellungen von Büchern, Kunftblättern und verwandten
Gegenjtänden veranjtaltet werden können; jodann ein Bibliothefzimmer,
ein Rejtaurationslofal, welches Zimmer für den Beſuch der Buchhändler
rejerviert und genügende Räumlichkeiten darbictet zu einem gemeinjchaft-
lihen billigen Mittags- und Abendtiih für die Gehilfen des Berliner
Buchhandels, endlicd; angemefjene Räume für die buchhändleriſchen Ver—
fehrsanftalten und die entjprechenden Wohnungen für die Beamten der—
jelben; im übrigen vermietbare Geſchäfts- und Wohnungslofalitäten”.
° Den Verlauf diefer Angelegenheit erfahren wir aus einem Gutachten,
das der Hauptausihuß im Jahre 1879 abgab, als Otto Janke noch ein-
mal und wieder erfolglos den Bau eines Buchhändlerhaufes anregte; es
heißt darin:
„Der Antrag auf Begründung eines Buchhändlerhauſes in Berlin
ift hier zum drittenmal an bie Korporationsgenofjen herangetreten., Das
erftemal eingebracht im Jahre 1867, ebenfalld von Herrn Kommerzienrat
Otto Janke und von deſſen Seite mit einem anerfennenswerten finanziellen
Anerbieten verbunden, Hat diefer Antrag damals anjcheinend nur verein-
zelten Beifall gefunden. In einem Bericht des Hauptausſchuſſes vom
15. November 1867 ift die Erwerbung eines Grundftüdes zu Korporationg-
zweden als zur Zeit nicht ratjam befunden worden.
„Zum zweitenmal wurde die Begründung eines Buchhändlerhaujes
angeregt im Jahre 1872 von dem damaligen Korporationsvoritande,
Herrn Merander Dunder. Obwohl deſſen Antrag entgegen dem erſten
und bejicheideneren Auftreten im Jahre 1867 mit weit ausjehendem Zwede
ausftaffiert war, warb demjelben bei vielen Korporationsgenofien Tebhafte
Buftimmung zu teil. Mit der gewaltigen Entwidelung der Berliner Ber-
hältnifje, nach den Ereignifjen der Jahre 187071 und bei den Hoffnungen,
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc. 513
die für den Berliner Buchhandel fi) daran anknüpften, hatte fich die
Anfiht weit verbreitet, daß nunmehr der Zeitpunkt gekommen jei, wo
dem Berliner Buchhandel, der in feiner Gejamtheit thatfächlich eine jehr
bedeutende Stellung einnimmt, auch die äußeren Erfordernifje einer folchen
Stellung gefihert werden könnten, ihm eine Stätte geſchaffen werben
müſſe, an welcher er ſich nach innen ſtark und einig, nad) außen würdig
repräjentiert fühle. — Und — dazumal — ſchien die Hoffnung begründet,
daß die Vorbedingungen zur Ausführung dieſes Projektes vorhanden,
und daß das erforderliche Kapital bei den Korporationsgenofjen flüffig,
gemacht werden könne. Bon diefem Zeitpunkt, Herbft 1872, an erweiſen
die Korporationsakten eine lebhafte Thätigkeit jeitens des Vorfjtandes und.
der ihm zugemwählten „bejonderen und engeren“ Kommijfionen behufs Er-
werbung eine® Grundjtüdes. Und dieſe Bemühungen find fortgejegt
worden, auch dann, als der damalige Vorfteher und Antragfteller, Herr
U. Dunder, mit Ablauf des Jahres 1872 den Vorfi in der Korporation
Herrn Hermann Kaiſer zu überlaffen hatte.
„Während zweier Jahre haben Männer wie U. Dunder, A. Enslin,
R. Gaertner, U. Hofmann, D. Janke, G. Reimer, C. Röftell, I. Sprin-
ger, H. Schindler, F. Weidling und diejen allen voran unjer unvergeß-
licher Hermann Kaiſer mit lebhaften nterefje in Umfiht und Werf-
thätigfeit dem Projekte nahe geitanden und verjucht, das ihnen von den
Korporationsgenofjen erteilte Mandat zu erfüllen, um jchließlich ſchätz—
bares Material der Zukunft zu hinterlafjen, weil im entjcheidenden Augen-
blid die Beteiligung der Korporationsgenofjen zur Beichaffung der Geld-
mittel nicht ausreichend ſich erwies.”
Die Berhältniffe zeigten fich aber bald ftärfer wie alle Bedenken
und faum ein Jahrzehnt war nad) dem im Jahre 1879 gemachten und
wieder gejcheiterten zweiten Verſuch O. Jankes vergangen, als die Ange-
legenheit von neuem aufgenommen wurde, diesmal nicht geleitet von dem
Wunjche nach einer glänzenden Repräjentation des Berliner Buchhandels,
jondern gezwungen durch die Notwendigkeit, für eine Unterkunft der Be—
ftellanftalt zu forgen. Die Übernahme der Baketausfuhr hatte deren Ge-
ihäftsumfang derart vermehrt, daß es jchon im Jahre 1886 die größten
Schwierigkeiten machte, für die Anftalt geeignete Gejchäftsräume zu finden.
Es gelang jchließlih, fie in der Linkftraße zu gewinnen, und es gelang
jogar auch, auf demjelben Grundftüde Pferdeftälle und Wagenremije zu
erhalten, als im Jahre 1888 die Ausfuhr der Pakete in eigene Verwal-
tung übernommen wurde. Am 1. April 1891 Tief diefer Mietsvertrag
ab, er wurbe nach vielen Verhandlungen zwar noch auf weitere drei
Jahre bis zum 1. April 1894 verlängert, aber jchon damals wurde von
Seiten der jehr entgegentommenden Befigerin des Haujes, Frau Erdmann,
33
514 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” :c.
ausgeiprochen, daß ein Verbleiben der Beftellanftalt in dem Hauje Linf-
Straße Nr. 29 über dieſen Zeitpunkt hinaus ausgejchlofjen ji. Daß dann
eine weitere mietsweiſe Unterbringung der Anftalt, wenn überhaupt, jo
doch nur unter den größten Schwierigkeiten und unter Gefährdung der
Sicherheit des Betriebes möglich jein würde, war offenkundig, und jo be-
ſchloß denn der Vorftand, alsbald die vorbereitenden Schritte zur Erwer—
bung eines Grundftüdes einzuleiten.
In dem Jahresbericht des Vorſtehers, E. Paetel, für 1889/90 heißt
8: „Bei diejen langwierigen Verhandlungen (über die Erneuerung des
Mietövertrages) it dem Vorjtande von Tag zu Tag Mlarer geworden,
daß wir bei dem fich immer größer und größer entwidelnden Berfehr
unjerer Bejtellanftalt mit ihrem lebenden und toten Inventar endlich ein-
mal feiten Fuß faſſen müflen, daß wir uns in abjehbarer Zeit nicht
mehr auf ein Mietsverhältnis einlafjen dürfen, wenn wir nicht die In—
terefien der Korporation und ihrer Mitglieder auf das empfindlichite
ichädigen wollen.” Nah einem mit Zahlen belegten Hinweis auf die
ftetige Zunahme der Gejchäfte auf den Berkehrsanftalten heißt es dann
weiter:
„Auf Grund diefer Erwägungen hat der Vorſtand nach wiederholten
Beratungen beichloflen, fi) um den Erwerb eines eigenen Grundftüces
zu bemühen, und verjchiedene Angebote perjönlich geprüft, wie auch durch
Sadhverftändige begutachten lafjen. Er hat manches ihm auf den erjten
Blick geeignet, auch günftig Erjcheinende gejehen, dann aber doch wieder
einzelne Mißſtände bei den offerierten Objekten gefunden, jodaß er von
einem Abjchluffe — jelbjtverftändlich unter Vorbehalt der Genehmigung
durch eine einzuberufende außerordentlihe Hauptverfammlung — glaubte
abjehen zu jollen und um fo eher noch abjehen zu fünnen, als ihm in
leßter Stunde die Erneuerung eines Mietövertrages auf drei Jahre ge-
lang und ihm die heutige ordentlihe Hauptverfammlung willfommene
Gelegenheit bieten follte, die Frage ſpruchreif zu machen.
„Meine Herren! Es handelt fich nicht um das alte, wiederholt auf-
getauchte Projelt der Erwerbung eines Buchhändlerhaujes mit Feſtſaal
und fonftigen VBerfammlungsräumen, jondern einfach nur darum, für den
fomplizierten Betrieb unferer Verfehrsanftalten, für unjere Pferde, unjere
Wagen eine Unterkunft zu finden, aus der ung kein Fremder vertreiben,
bei deren weiterer Benugung uns fein Wirt die Mieten nad) feinem Be—
lieben vorſchreiben kann. — Es handelt ji) darum, ein Gejchäftshaus
mit genügendem Terrain zu erwerben, das in jeinen Hinterräumen den
ungeltörten Betrieb der Beltellanjtalt gejtattet, ihr auch für die voraus-
fichtlihe Weiterentwidelung Raum gewährt, im übrigen aber durch Ver—
mieten die üblihe Berzinfung des angelegten Kapitals gewährleiftet, um
Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler” :c. 515
ein Haus, wie es fich jeder größere Gejchäftsbetrieb zuzulegen trachtet,
nicht um damit zu prunfen, jondern um feften Fuß zu faflen und fich
nicht durch Umzüge in jeinem ganzen Verkehr ftören laſſen zu müfjen!
„Bei dem immer mächtiger und mächtiger anwachjenden Verkehr auf
unferer Beitellanftalt, bei den fich fonjequenterweife nach und nad) ent-
widelnden Erweiterungen desjelben in unjeren direften Beziehungen zum
auswärtigen Buchhandel, die dem Sortiment gleihmäßig wie dem Ber-
lage zu gute fommen, wird jeder Vorſtand — mag feine Zufammenjebung
wie immer fein — in eriter Linie auf die Sicherftellung des Betricbes
auf unjeren Verfehrsanftalten bedacht jein müſſen, will er fich nicht einer
Pflichtvergefjenheit jchuldig machen oder feine Berantwortlichkeit leichtfer-
tigerweile ind Ungeheuerliche anwachſen laſſen. Gerade dieje mit der
Erweiterung des Verkehrs wachjende Verantwortlichkeit bedingt abjolute
Sicherftellung des Betriebes, und dieje Sicheritellung des Betriebes ift
nur in eigenen Räumen auf die Dauer zu erlangen.”
In der Hauptverjammlung am 30. Oftober 1890 ftellte der Vorftand
den Antrag: „Beſprechung und event. Beſchlußfaſſung über die Beſchaf—
fung eigener Räumlichkeiten für den Betrieb der Beitellanftalt nach Ab-
lauf des bis zum 1. April 1894 laufenden Mietövertrages.” Es wurde
einftimmig bejchlojfen, den Vorſtand zu ermächtigen, die nötigen Schritte
zur Erwerbung eines Grundftüdes zu thun, und es wurde gleichzeitig
eine Kommiſſion, beitehend aus Fr. Boritell, E. Baetel, R. 2. Prager,
E. Schotte, Fr. Vahlen und M. Windelmanın gewählt, die den Vorftand
in der Erfüllung diejes fchwierigen Auftrages unterjtügen follte. Nun
begann das mühſame Suchen nad) einem pafjenden Grundftüd, das der
Borjtand und die Kommilfion endlich in einem in der Privatitraße zwi—
Ihen Wilhelmftraße 47 und Mauerjtraße 80 belegenen, ca. 94,2 Quadrat-
ruten großen Bauplab gefunden zu haben glaubte, Der Vorjtand Hatte
ih mit der Eigentümerin defjelben, der Deutichen Baugejellichaft, über
einen Kaufpreis von 222000 Mark verjtändigt und ftellte nunmehr an
eine auf den 18, Juni 1891 einberufene außerordentliche Hauptverſamm—
lung den Antrag, diefes Grundftüd für den genannten Preis zu erwerben
und den VBorftand zur Aufnahme eines mit 49 zu verzinfenden Dar-
lehns von mindeftens 250000 Mark und höchſtens 500000 Mark zu
ermächtigen. Diejer Antrag wurde einjtimmig angenommen und nachdem
eine weitere außerordentlide Hauptverjammlung am 13. Februar 1892
auch dem inzwiichen abgeichloffenen Kaufvertrage zugeſtimmt hatte, erfolgte
die Auflafjung des Grundftücdes und alsbald auch der Beginn des Baues.
Über deſſen Ausführung entnehmen wir den von dem Vorfteher, 9.
Meidinger, erftatteten Iahresberichten für 1890/91 und 1891192 folgende
Mitteilungen: on
516 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc.
„In Anwendung der dem Borjtand erteilten Vollmacht hat diejer
bei fünf zuverläjfigen Baufirmen angefragt, gegen welches Honorar fie
die detaillierte Ausarbeitung eines Bauplanes übernehmen würden, und
im Ergebnis diefer Konkurrenz die hiefige Firma Erdmann und Spindler
mit Wahrnehmung unferer Interefjen betraut, zumal genanntes Baugejchäft
die Bedürfniffe unjerer Korporationsanftalten ſeit Jahren aus eigener
Anfhauung kennt, uns aljo beſtens zu beraten weiß, und feine Honorar-
forderung zu den mäßigiten gehört hat, Immer im Hinblid darauf, daß
wir nicht nur den heutigen Umfang unjerer Storporationsanftalten beim
Bau eines eigenen Haujes ins Auge zu faſſen haben, jondern daß wir
auch den Fall einer ftetigen Erweiterung unferer Gejchäfte berüdfichtigen
müfjen, find wir in Gemeinjchaft mit unjeren Architekten Erdmann und
Spindler zur Erkenntnis gefommen, daß die Höfe möglichit groß vor—
gejehen werden müſſen; die jo umgejtalteten Baupläne haben wir der
Deutichen Baugejellichaft zur Einreihung beim Polizeipräfidvium überwiejen.
„Nad) erlangter Bauerlaubnis wurde Ende März d. 3. (1892) mit
den Bebauungsarbeiten unter Leitung der Herren Arditeften Erdmann
und Spindler nad) den ihnen bereit früher entwidelten Plänen begon-
nen. Durch die vorgejehenen Erweiterungen und Verbejjerungen, unter
anderem zweier hydrauliſcher Aufzüge an Stelle der erjt projeftierten
Aufzüge mit Handbetrieb, hat fi) der Koftenvoranfchlag für den Bau
auf 343500 Marf erhöht. Über fämtliche Bauarbeiten wurde vor der
Vergebung eine umfafjende Submilfion jeitens des Vorftandes eröffnet
und die Ausführung der Arbeiten nad) Anhörung unjerer Architekten den
Mindeitfordernden übertragen. Mit Genugthuung Fönnen wir nun feit-
ftellen, daß ſämtliche Bofitionen weit hinter dem Voranſchlag zurüdge-
blieben find, daß troß der vielfachen Verbeſſerungen im Bau die Bau—
jumme vorausfihtlih 300000 Mark nicht überfchreiten wird, und daß
wir ein ebenjo jolid und gut als billig gebautes Haus unfer eigen wer-
den nennen dürfen. Nachdem am 6. d. M. (DOftober 1892) die behörd-
liche Rohbauabnahme unbeanftandet erfolgt ift, hofft die Bauleitung, das
Haus bis zum 1. April F. J. beziehbar fertig zu Stellen.“
Nachdem dann im Winter 1892/93 der innere Ausbau des Haufes
erfolgt war, fand kurz vor dem 1. April 1893 die Gebrauchsabnahme
statt, und es fonnten die bereitS vermieteten Räume am 1, April bezogen
werden.
Das Berliner Buchhändlerhaus fteht beicheiden in einer Privatſtraße,
es it fein prunfender Prachtbau, ſondern ein einfaches, rein praftiichen
Zwecken dienendes Gejchäftshaus geworden. Hätte man über ein jolches
hinausgehen wollen, jo wären weit bedeutendere Mittel erforderlich ge-
wejen, und auf viele Jahre hinaus wäre die Sorporation der Berliner
Die Begründung der „KRorporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc. 517
Buchhändler durch die Aufbringung der Zinfen und Tilgungsgelder ſchwer
belaftet worden. Der fertige Bau koſtet mit Grund und Boden und
unter Hinzurechnung eines Betrages, der für im eriten Jahre voraus-
fichtlich ausfallende Mieten mit auf den Baufond übernommen worden ift,
rund 535000 Mark, während die gerichtlihe Tare den Wert des be-
bauten Grundjtüdes auf 508 751 Mark feſtſetzt.
Wenn den Bau bedeutende architektonische Schönheit nicht auszeichnet
— zum Teil eine Folge der Beitimmungen der Berliner Baupolizeiord-
nung — fo fieht er mit feinen roten Badfteinwänden doc) freundlich und
jolide aus, und im Innern ift Licht und Luft und vor allen Dingen
Raum für die Beftellanftalt nicht nur jetzt, fondern auch noch für eine
weitere Entwidelung für viele Jahre reichlicd) vorhanden. Das Haus ift
faft nur aus Stein und Eifen errichtet, und wenn jomit für die Sicher—
heit aufs beſte geforgt ift, jo dienen die beiden hydrauliichen Aufzüge der
Bequemlichkeit der Mieter, die in der Hauptſache graphiiche Gewerbe in
größerem Umfange betreiben. Die Beltellanftalt Hat faft das gejamte
Erdgeſchoß inne, ihr find große Gejchäftsräume zweckmäßig eingerichtet,
und ebenjo iſt das lebende und tote Inventar vorzüglich untergebracht
worden. Die übrigen drei Stockwerke find zu Fabrifräumen mit dazu-
gehörigen kleineren Wohnungen eingerichtet, und die hieraus fließenden
Mieten jollen zum größten Teil die Berzinfung und Amortifierung des
Baufapitat3 aufbringen.
Bon der dem Borftande erteilten Ermächtigung, zur Ausführung des
Baues ein unfündbares Darlehen von 250---500000 Mark aufnehmen zu
dürfen, hat diejer Gebrauch gemacht, und es iſt ihm aus den Kreiſen des
Berliner Buchhandels die Summe von 341000 Mark zugeflojfen. Diejes
Kapital, das in Anteilfcheinen zu 500 Mark begeben ijt, hat die Kor—
poration mit 4 pCt. zu verzinfen und außerdem vom Sahre 1894 ab
mit mindeftens 1 p&t. vom Gejamtdarlehen zurüdzuzahlen; innerhalb
30 Jahren muß die Schuld getilgt fein. Belaftet it das Grundftüd mit
einer Hypothek von 250000 Mark, die mit 3% pCt. verzinft wird und
für 10 Jahre feft eingetragen worden ift. An Mietserträgen erwartet
die Korporation aus dem Hauje (inkl. der Beitellanftalt, für die 5000
Mark in Anja gebracht werden) M. 29720
davon gehen ab:
Zinſen zu 4 pCt. des Baufapitals von M. 535000 M. 21400
Laften und Unfoften 15 pCt. der Mietserträge . „ 4500 „ 25900
fodaß zur Rüdzahlung ein Überjchuß verbleibt von . . . M. 3820
Dazu fei hier erwähnt, daß die Korporation am Ende des Jahres
1892 ein bares Vermögen von 46000 Mark bejaß, das aus den Über:
518 Die Begründung der „Korporation der Berliner Buchhändler“ ꝛc.
ſchüſſen der Beftellanftalt eine zwar langjame aber ftetige Vermehrung
erfährt.
Während der an Arbeit und Mühen überreichen Baujahre gehörten
dem Borjtande der Korporation an: Herm. Meidinger, Vorjteher; Leon—
hard Simion, ftellv. Vorfteher; Raimund Mitſcher und Hans Hertz,
Schriftführer; Otto Mühlbrecht, ftellv. Schriftführer; Friedr. Wreden,
Schatzmeiſter; Karl Habel, ftellv. Schatzmeiſter.
Damit jchließen wir diefen „Beitrag zur Geſchichte der Korporation
der Berliner Buchhändler”.
In dem Buchhändlerhaus hat der Berliner Buchhandel nun aud)
einen äußerlich fichtbaren Mittelpunkt gefunden, und wenn fich in ihm
zunächſt nur feine materiellen Intereffen vereinigen, jo hoffen wir doch,
daß er auch fonft jammelnd und einend auf die Berufägenofjen wir:
fen wird.
Die Beitellanftalt joll dem geiamten Berliner Buchhandel dienen,
und je volllommener fie ihre Aufgabe erfüllt, defto mehr wird fie die
Freude am Beruf mehren helfen, weil fie den Segen der Arbeit mehren
hilft. Der Rückblick in die Vergangenheit berechtigt ung zu einem hoff—
numgsfreudigen Ausblid in die Zukunft. Was fi ruhig umd ficher in
jtetem Fortſchritt bis hierher geftaltet Hat, wird auch ferner, nachdem jet
alle äußeren Bedingungen dafür geichaffen find, auf der Bahn gejunder
BWeiterentwidelung nicht jtilleftehen. Welche Keime neuer Gejtaltungen
mit dem Bau des Buchhändlerhaufes gelegt find, wer wollte das heute
jagen; aber hoffen wollen wir, daß alles, was von hier aus Neues in
die Erjcheinung treten wird, dem Berliner Buchhandel zum Segen ge=
reihen möge,
Der Einkauf der Büder.
Eine Darjtellung für junge Sortimenter,
— — —
(Fortſetzung.)
Für den praktiſchen Gebrauch ſind zur Feſtſtellung der Rabattver—
hältniſſe folgende Tabellen, welche wir dem „Buchhändlerkalender“*)
entnehmen, für den Sortimenter wertvoll.
Rabatt-Tabelle bei Gewährung von
Freiexemplaren.
Expl, | ‚wit | mit | mit | mit | mit | mit | mit
"1250 | 8090 33%/a?/o] 40%/0 | 50% | 60% | 75%
ind sind — sind |: sind | — —
6/5 37.50 |41,66 44,44 |50 [58,33 | 66,66 | 79,16
7is |35,71 140 [42,85 |48,57 | 57,14 |65,71 | 78,57
918 133,33 187,78 40,74 |46,66 55,56 |64,45 177,78
11/10 181,92 |36.36 139,39 |45,45 | 54.54
13/12 |30,77 |35,38 |38,46 |44,61 | 53,84
35/30 |85,71 140 |42/85 | 48,57 57,14
40'35 | 34.37 | 38,75 | 41,66 | 47,50 , 56,25 78.12
60/50 137,50 141,66 44,44 |50 58,33 66.66 79.16
12510040 144 146,66 152 |60 68 180
I
Br
[= r]
os
-]
=
1
-)
Die hohen Rabattjäge, welche diefe Tabellen enthalten, beziehen ſich
nicht auf den eigentlichen Buchhandel; in diefem pflegt, wie bereitö ge-
jagt, 50 %0 das Marimum zu fein. Anders verhalten ſich die Rabattjäße
im Muſikalien- und Kunfthandel; in beiden gehört der Lieferungs-
modus & condition zu den Geltenheiten, und it namentlich im erjteren
*) Verlag von Ludwig Hamann in Yeipzig.
520 Der Einfauf der Bücher.
.. Mollys Prozent-Umwandlungstabelle.
Ajsle|a|ı | [mm
| | 2/6 | 11/10 | 13/12] 1 %6 IRZU 13/12
5 19 E|y si 33 wsI a
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RT
588 | 87 | 87 | 566% 678 | 634 | 623
9 92 93) 93 | 900 | 1067 | 1000 | 984
196 | 96 | 96 1900 | 2234 2100 | 2067
Erläuterung zu Mollys Prozent-Umwandlungstabelle.
Kolonne A: Gezebener Rahat!prozentsatz.
Kolonne B, C, D giebt den Rabattprozentsatz der Kolonne A
Sisachfiöschien der Freiexemplare 76, 11/10 und 13112.
Anwendung (fur den Sortimenter);: Wie viel Rabatt
eniesse ich im ganzen, wenn ich "4%, Rabatt und 11/10
reiexemplare habe?
Antwort (in- Kolonne Ch: Ida
Kolonue I drückt die Rabattprozente der Kolonne A (Prozente
vom Hundert: in Gewinnprozenten (Prozenten anfs Hundert,
die kaufmännische Berechnungsweise) aus. Ebenso die
Kolonne II, III, IV, und zwar diese inklusive der Frei-
exemplare 7,6, 11:10, nnd 1312.
Anwendnng (fur den Verleger): Wie viel Prozente
muss ich auf’ 100 Mark schlagen, um davon 40%, Rabatt und
76 abgeben zu konnen?
Antwort tin Kolonne Ih: 8,
der Kundenrabatt ein ſehr Hoher. Im Meufitalienhandel ftellen ſich die
Rabattſätze wie folgt:
1) Ordinär-Artifel
feft und in Jahresrechnung 50 %, gegen bar 55 9 bis 80 %.
2) Netto-Artikel
feſt 333 9%, bar 40%. Freieremplare gewähren die Mufitverleger ge-
wöhnlich 7,6. Der im KunftHandel übliche Rabatt bewegt ſich zwiſchen
3313 und 50 %o.
Im Anschluß an diefe Darlegung der im Buchhandel üblichen Ra—
battjäße wollen wir das Verhältnis des Sortimenters zum Verleger
eingehend beleuchten.
Der Einfauf der Bücher. b21
In 89 des oben genannten Ufancen-$oder heißt es:
„Zur Gewährung des für feinen ganzen Verlag oder für den ein-
zelnen VBerlagsartifel feitgefegten Buchhändler-Rabatts gilt der Verleger
jo lange für verpflichtet, als er eine Abänderung nicht befannt gemacht
hat. Bei Fortſetzungen ift der Verleger gegenüber denjenigen Sortimen-
tern, welche die früheren Teile bezogen, nicht berechtigt, die für das Werf
(Auflage) bekannt gemachten Bezugsbedingungen zu verjchlecdhtern; der
neue Jahrgang u. |. w. eines periodiichen Unternehmens gilt in diejer
Hinfiht aber nicht als Fortjegung.“
Sehr zu beachten bei der Biücherverjchreibung ift $ 12:
„Beltellungen des Sortimenter8 an den Berleger ohne die Bezeich—
nung pro novitate oder & condition gelten als für fefte Rechnung ge-
macht, wenn auch nicht beſonders dazu bemerkt ift „feit“; ebenjo gelten
Beitellungen „zur Fortfegung” als für fefte Rechnung erteilt.“
$ 13: „Bon dem Berleger gemachte Sendungen „zur Fortjegung“
gelten nicht für feite Rechnung, wenn fein bejtimmter Auftrag dafür
vorliegt, ‚jondern wenn fie nur nad) Maßgabe des Bedarfs von früher
erichienenen Teilen des Werkes gemacht wurden. Der Sortimenter ift
aber alsbald nad) Empfang jolcher Fortſetzungen, welche er nicht feſt be-
halten will, verflichtet, dem Verleger eine diesbezügliche Mitteilung zu
machen und auf dejjen Anjuchen alsbald die Rüdjendung des Werkes zu
bewirken.
$ 14: Berechnet ein Verleger bei Überjendung eines Teiles (Band,
Lieferung, Heft oder Nummer u. |. w.) im voraus bereit3 mehrere Teile
oder das ganze Werk (Sahrgang u. ſ. w.), jo iſt der Sortimenter ver-
pflichtet, das Werk ebenjo zu verrechnen, d. h. zu zahlen oder zurüdzu-
ſchicken und nicht etwa berechtigt, den empfangenen Teil bejonders zu
verkaufen.
(Schluß folgt.)
>
Dwanglofe Rundfdan.
In einem Bericht über die Hauptverfammlung des Buchhändlerverbandes für
bad Königreih Sadien vom 26. Juli 1896 kommt folgender Paſſus vor:
„Da die Beratung über alle dieje einzelnen Punkte eine jehr geraume Zeit in
Anſpruch genommen bat, fo wird der ftarf vorgerüdten Zeit wegen die Beratung
über Runft 8, Frage der Einführung einer Yehrlingäprüfung, von ber
Tagesordnung abgefeht und der nächſten Hauptverfammlung zur Beratung über:
wieſen.“
Es will uns ſcheinen, als ob bei der Mehrzahl der Herren Prinzipale noch
gar nicht im Ernſt an die Sache geglaubt wird, es ſollte ſich doch wohl ſonſt Zeit
finden, Stellung zu folder Frage zu nehmen. Freilich läßt fich diefelbe nicht mehr
mit einigen Worten abthun, jet muß man Thaten jehen, und ein mannbaftes ge—
meinfames Vorgehen jeitens der gelamten Prinzipalität, vielleiht in Verbindung
mit der „Vereinigung“, wird fiher die Gehilfeneramenäsfrage einer Yölung näher
rüden.*)
Unlängft bringt nun die „Leipz. Ztg.“ eine Mitteilung über einen ruſſiſchen
Handlungsgebilfenverein, die geeignet tft, den jtrebenden Elementen bes Jung:
buchhandels vielleicht einige neue Geſichtspunkte zu eröffnen, unter denen eine Schei—
dung der Geiſter vor ſich gehen könnte. Es heißt dort:
„An Moskau hat ſich ein eigenartiger Verein von Handlungsgehilfen gebildet,
deſſen Statuten fürzlih von der Regierung beftätigt worden find. Er übernimmt
namlich die pefuniäre Verantwortung für die Thätigfeit feiner Mitglieder. Diele
fönnen in ganz Rußland Stellen als Kontoriften, Kaffierer, Buchhalter, Gehilfen :c.
in Handelögeichäften, Banfen und anderen induftriellen und faufmänniichen Unter:
nehmungen einnehmen oder bei Staats: und Privateifenbahnen und bei Privat:
perfonen Arbeiten in Bezug auf Laden, Abladen, Verpaden, Trandporiieren und
Aufbewahren von Waren und Gepäd, jowie Kaffengeihäfte und überhaupt Aufträge
aller Art übernehmen. Mitglieder des Vereins können nur Perſonen chriſtlichen
Bekenntniſſes, nad Erlangung des 21. Yebensjahres und nicht älter als 65 Jahre,
werben. Jedes wirflide Mitglied bat beim Gintritt eine Einlage von 1300 Rubel
an ben Verein zu zahlen, davon fommen 1000 Rubel auf die Verficherung der
Perſon rüdiichtlich der von ihr übernommenen Verpflichtungen, ſowie auf die Ber:
jiherung der Thätigfeit des ganzen Vereins, Der Engagementsvertrag wird bon
der Verwaltung des Vereins abgejchloifen. Dieſe behält auch von dem vereinbarten
Gehalt zehn Prozent für das Betriebsfapital des Vereins zurück. Vergeht fich ein
Mitglied irgendwie in Bezug auf die von ihm übernommenen Pflichten, jo wird
eö von der Verwaltung fofort feiner Stellung enthoben und bis zur Entſcheidung
*) Vergl. S. 504 u. f.
Zwangloſe Rundichau. 523
der Sache durch ein anderes Mitglied des Vereins erſetzt. Die Handlung eines
Mitgliedes, das fich nicht bewährt hat, wird in der nächiten Generalverfammlung
des Vereins einer Erörterung unterzogen, und die betreffende Perfon kann, je nad
Größe der Schuld, zu einer Geldftrafe bis zu 100 Rubel (nicht mehr) verurteilt
oder aus dem Verein ausgeichlofien werden.“
Beziehen wir dieſe Gefichtspunfte auf den Buchhandel, fo wäre eine fo hobe
finanzielle Beiteuerung wohl nicht von Nöten, ſchon der verhältnismäßig kleinen
Summen wegen, die dem Buchhandlungägehilfen durch die Hände gehen, vielmehr
fönnten befondere Kaflenftellen auch eine entiprechende Verfiherungsiumme bedin—
gen, ähnlich wie das jet mit Kautionen der Fall.
Ein Hauptgewicht wäre aber darauf zu legen, daß der Verein über die Er—
füllung der Pflichten feiner Mitglieder wacht, und ift der Verein entfprechend er-
ftarft und genieft das Vertrauen der Prinzipalität, jo wird er in der Lage fein,
auch dieſer und jener Handlung, die begründetes Ärgernis in Rückſicht auf Ge:
bilfenwechiel, Yehrlingszüchterei sc. erregt, gegenüber Stellung zu nehmen. Jetzt
fommt übrigens auch manche Firma ganz unbegründet in Verruf, ihre Yeute zu
drangjalieren, während jpäter dem Verein möglidy wäre, mit Sachlichkeit alle Bor:
kommniſſe zu ventilieren.
Über die Konferenz zur Herftellung eines Kataloges der eraften
Wiſſenſchaften fchreibt Carl Junfer aus London in der öfterreihiich:ungarifchen
Buchhändler-Korreſpondenz: Vom 14. bis 17.0. M. tagte hier in Burlington Houfe,
dem Sitze der Royal Society die von ihr einberufene internationale Konferenz zur
Beratung der Art und Weife, wie ein vollftändiger Katalog der erakten Willen:
ihaften für die Zufunft werde bergeftellt werden können. Zweiundzwanzig Regie:
rungen waren der Einladung der englifchen gefolgt und hatten eine Reihe ihrer
hervorragendften Gelehrten als Delegierte entiendet. Deutichland war vertreten
dur die Profefioren Walther Dyk (techniſche Hochſchule Münden), Van't Hoff
und Möbius (Univerſität Berlin), durh den Realichuldireftor Schwalbe (Berlin)
und den Direftor der Göttinger Univerjitätsbibliothef Dziatzko, Franfreih ſandte
den Profeſſor der Sorbonne G. Darbour und den Bibliothefar Dr. Denker, Oeſter—
reih die Profefloren der Wiener Univerfität Ed. Weiß und E. Mad. Dr. John
Billingd und der Direktor des Nautical Almanac Office in Wafhington, Simon
Newcomb, vertraten die Vereinigten Staaten; Italien hatte feinen VBotichafter bei
der großbritannishen Negierung, General Ferrero, Belgien die Mitglieder des In-
stitut international de Bibliographie La Fontaine, Otlet und de Wulf, mit ihrer
Vertretung betraut. Sechs Mitglieder der Royal Society, die Profefjoren Arm:
jtrong, Foſter, Kiverfidge, welder außerdem von Neu-Süd-Wales delegiert war,
Lodyer und Rücker, ſowie Dr. Mond vertraten die einberufende Gejellihaft. Zum
Präfidenten der Konferenz wurde der Vertreter der großbritanniichen Regierung,
Sir John E. Gorſt gewählt, zu Vizepräfidenten die Herren Ferrero, Darbour,
Mach, Möbius und Newcomb, zu Sefretären, denen die Redaktion der Protofolle
obliegt, die Herren Armftrong, Dyd und Forel (Schweiz).
Nah kurzer Beratung der Geichäftsordnung, wobei die englifche, deutiche
und franzöfiihe Spradhe für die Verhandlungen feitgejeßt und bejtimmt wurde,
daß nicht nad) Ländern, fondern nad Köpfen abzuftimmen fei, ſchritt die Verſamm—
lung an ihre fchwere Aufgabe.
Wie vorauszufehen, hatte man fich bald darüber geeinigt, daß die Heritellung
und Veröffentlihung eines Kataloges ſowohl nad) den Gegenständen, als auch nad)
den Namen der Berfaffer aller auf dem Gebiete der eraften Wiſſenſchaften erichei:
524 Zwangloje Rundichau.
nenben Original:Abhandlungen wünfchenswert ſei. Um die Gebiete diefer Wiſſen—
ſchaften näher zu beftimmen, wurde dagegen eine Spezialfommiffion eingeſetzt, auf
deren Antrag man dann beſchloß: „Daß in ben in Rede ftehenden Katalog alle
Beiträge zu den mathematischen, phyſikaliſchen und Naturwilienichaften aufgenom:
men werden follen, wie 3. B. zur Mathematik, Aftronomie, Phofif, Chemie, Mi:
neralogie, Geologie, mathematifchen und phufifaliichen Geographie, Botanik, Zoo—
logie, Anatomie, Phyſiologie, allgemeinen und Erperimental:Bathologie, Pſycho—
phyſik und Anthropologie, unter Ausichluß der angewandten Wiffenfchaften; —
wobei die Abgrenzung der einzelnen Gebiete noch in der Folge feſtzuſetzen ift.“
Unter der Leitung eines internationalen Gelehrtenausichuffes (International
Council) foll in London ein internationales Zentralbureau zur Heritellung und
Veröffentlihung diejes Kataloges errichtet werden. In den einzelnen Staaten, bie
an diefem Werk fich beteiligen wollen, müßten dann, nad beitimmten, von dem
Gelehrienausihuß feftgefeßten Regeln, die Titel aller Schriften und Artifel aus
dem Gebiete der obengenannten Wiſſenſchaften geſammelt und proviſoriſch klaſſi—
fiziert zur endgiltigen Veröffentlichung an die Zentrale in Yondon gefandt werden.
Dieſe Veröffentlihung bat vorerft in Zettelform und zwar möglichſt bald nach
dem Erſcheinen der jo bibliographierten Schrift zu geichehen. Grit am Ende be:
ftimmter Zeiträume joll auf Grund diejes Materials dann zur Herftellung eines
Kataloges in Buchform gefchritten werden, welder in einzelnen, den oben aufge:
zählten Fächern entiprechenden Abteilungen zu erfcheinen hätte. Durch dieſe Orga=
nifation hofft die Konferenz, daß das Zentralburean fo jehr entlaftet würde, daß
bie Koften für dasfelbe durch freiwillige Subjfriptionen herbeigefhafft werden
fönnten, und es wurde infolgedeffen auch beſchloſſen, für das Zentralbureau die
finanzielle Unterftügung feiner der vertretenen Regierungen in Anſpruch zu nehmen.
Durd diefe Beftimmung werden die Herren Delegierten ihren refpeftiven Regie:
rungen gewiß eine große Freude bereiten. Ob man fidh hier aber nicht etwas
„derrechnet” hat, wird die Folge lehren. ebenfalls hätte die Konferenz ihre Ab:
ficht, die Regierungen zu entlaften, noch eher erreicht, wenn, wie dies feitens der
Royal Society auch vorgefchlagen worden war, und wie ich Ähnliches auf der
Brüffeler Konferenz beantragt hatte, fie an die Mitwirkung der an der Heritellung
eines derartigen Kataloges ebenfalls in hervorragender Weile intereffierten Verleger
appelliert hätte,
Yeichter, alö vermutet, wurde die Frage entichieden, in welcher Sprache der
Katalog ericheinen foll, d. b. in welcher Sprache nebit dem Originaltert die Titel
von Werfen, welche in Spracden von geringerer Verbreitung in der wiſſenſchaft—
lihen Welt ericheinen, aufzunehmen wären. Die engliihe Sprache wurde hierfür
vorgeichlagen und angenommen.
Die Wahl des Spitems, nach welchem der Materienfatalog aufzuitellen und
wonach die einzelnen Zettel zu bezeichnen fein werden, führte dagegen zu einer leb—
haften Diskuffion. Das vom „Office international de Bibliographie“ in Brüffel
patronifierte Dewey'ſche Syſtem, an deſſen Verbeſſerung aud das vorbereitende
Komitee der Royal Society gearbeitet hatte, fand ebenſo erbitterte Gegner ala
enthuſiaſtiſche Verteidiger. Faſt in allen Sitzungen bildete der Geift Deweys ben
Rarisapfel der gelehrten Berfammlung, und da man fhon am dritten Tage bie
Royal Society erfucdht hatte, „ein Komitee zu bilden mit dem Auftrag, alle Fragen,
welche ihr von der Konferenz vorgelegt würden und alle, welche noch nicht definitiv
feitgefeßt find, auszuarbeiten und darüber an die beteiligten Regierungen zu be—
richten”, fo beihloß man in letter Stunde, dieſem Komitee auch die Wahl des
Zwangloſe Rundſchau. 525
Syſtems zu überlaſſen. Die Konferenz bezeichnete ſich „unable“ (nicht imſtande),
die Wahl des Syſtems vorzunehmen, und dies war auch in ber That gerechtfertigt,
da eine große Zahl der Delegierten wegen ber Kürze ber Zeit, welche zwiſchen ihrer
Ernennung und dem Beginn der Konferenz lag, nicht imftande geweſen war, fich
genau mit dem Dewey’ihen Syſtem vertraut zu machen und außerdem bie letzten
Verbejlerungen der Dewey'ſchen Tafeln feitens des vorbereitenden Komitees erft
während der Konferenz felbft eingebradt worden waren.
Jenem zu bildenden Komitee wurde außerdem noch manche ebenfo wichtige als
ichiwierige Aufgabe zum Studium anvertraut. Es wird die Art und Weile vorzu:
ichlagen haben, wie die Mitglieder des Internationalen Gelehrtenausfchufles zu er:
nennen find, die Abgrenzung der willenichaftlichen Fächer vorzunehmen, und nebit
einer großen Zahl anderer Detailfragen diejenige bezüglich der Form der Zettel zu
löjen haben.
Wie man fiebt, war für Arbeit genügend gelorgt, aber es wären nicht Eng:
länder gewejen, von denen die Einladung auögegangen iſt, hätte man nicht auch
vorgejehen, daß die fremden Gelehrten nah den — im jeder Hinfiht — beißen
Situngen Erholung durd glänzende Feite gefunden hätten. Schon am Vorabend
der Ktonferenz fand durch den Präfidenten der Royal Society, den berühmten Chi:
rurgen Prof. Yilter, ein Empfang der fremden Gäfte in Burlington Houfe ftatt,
und am 14. vereinigte ein glänzendes Banfet im Hotel Metropole die Spiken der
engliichen und ausländifchen Gelehrjamfeit. Hier fehlte es natürlih auch nicht an
zahlreichen Toajten, erniten und beiteren, unter welchen leßteren jedenfalls bem des
Dr. Billings die Balme gebührt. Mit dem echten Humor eines Amerifaners, aber
mit einer für einen ſolchen jelten fühnen Phantafie, jah er in die Zufunft und
fürdhtete, daß das Dewey'ſche Syſtem jchlieklich fo weite Kreiſe ziehen würde, daß
Jedermann feinen Dezimalinder am Rodfragen tragen würde, aus welchem man
leicht den Stand und das beiläufige Einfommen des jo „Anderirten“ erſehen fünnte,
Welche Peripeftive für Heiratsfandidaten! Am 15. Abends waren die Gelehrten
Gäſte des Yord Mayor, der fie in feiner altertümlichen Pracht im Mansion House
empfing, und für den 16. hatte jie Dr. Ludwig Mond zu einer Garden-party nad
feiner jchönen Beſitzung „The Poplars“ geladen. Dr. Mond, welcher ebenſo wie
jein belgifcher Kollege E. Solvay ſchon enorme Summen für die wijlenfchaftliche
Bibliographie geopfert hat, empfing an ber Seite feiner liebenswürdigen Gemahlin
und jeiner anmutigen Tochter die fremden Gäſte, welchen durd die herrlichen
Kunftichäte des Hauſes und die mufifalifchen Vorträge, ſowie durch die intereflante
Gefellihaft eine Reihe genußreiher Stunden bereitet würde.
Vom Kongreß zum Schuße des geijtigen Eigentums, ber jetzt in Bern
tagt, wird unterm 24. August gemeldet: In der heutigen erften geichäftlichen Sitzung
des Kongreijes zum Schuße des geiftigen Eigentums erftatteten zuerſt die neu eine
getroffenen Bertreter, u. A. vom Börfenvereine deutiher Buchhändler, Bericht über
den Fortgang des Werkes der Vereinigung in ihren Pändern und in ihrem Be—
rufszweige. Das Büreau ift folgendermaßen zufammengefeßt: Zu Ehrenpräfiden:
ten wurden der Bundespräfident Lachenal, die Bundesräte Müller und Ruffv, fo:
wie der frühere Bundesrat Numa Droz, zu Präfidenten Poulillet, Dierks und
Morel, zu Vizepräfidenten Marbeau, Wannermanns und Yayns, zu Sefretären
Roinjard, Röthlisberger, Lobel, Ofterrieth, Hermann, Vaunois und de Glermont
gewählt. Maillard aus Paris erftattete einen längeren Bericht über die Prüfung
der Arbeiten der Pariſer Konferenz zur Revifion der Berner Konvention, Redner
jtellt feft, daß die formulirten Abänderungen diejer Konvention ald bemerfenäwerter
526 Zwanglofe Rundichau.
Fortichritt gelten müßten; man dürfe hoffen, daß auf der in 6 oder 10 Jahren in
Berlin ftattfindenden ziveiten diplomatischen Konferenz alle zurüdgeitellten Fragen
ihre Löſung finden würden. Der Kongreß beichloß die aldbaldige Natififation der
Ergebniſſe der Parijer Konferenz diejes Jahres, ſowie auf die Reform der Yandes-
gejeße über dad Urheberrecht in den einzelnen Staaten, namentlich Großbritannien
und Deutichland hinzuwirken und fich zu diefen Zwecke mit den Gefellichaften von
Autoren und Nechtögelebrten in diefen Ländern in Verbindung zu ſetzen. Der
Kongreß ſprach fich ferner für die Begründung von Rechtsbüreaus in jeden Staate,
jowie von Geſellſchaften von Urbebern dramatiicher Werfe zum Schuße ihrer In—
tereſſen aus,
Dem „B. BL." zufolge ftarb am 17. Auguft, 46 Jahre alt, der Verlagsbud:
händler Herr Oberft Heinrih Wild: Wirtb, erjter Vorstand des Artiftiichen
Inftituts Orell Füßli in Züri, dem er dreiunddreifig Jahre lang fein großes
Talent und feine Arbeitsfraft gewidmet hat, Nachdem er feit 1863 das Verlags:
und Sortimentsgefhäft Orell Füßli & Ko. für die Erben des verjtorbenen Be:
jigers Johannes Hagenbud als Geſchäftsführer und Profurift geleitet hatte, über:
nabın er e8 am 1, Januar 1873 in Gemeinſchaft mit Paul F. Wild und fpäter
auch mit R. Schäppi-Hagenbuch für eigene Rechnung und hatte die Genugtbuung,
das alte, angeſehene Geihäft durch feine Unternehmungen zu neuer Blüte und
großem Umfange ſich entmwideln zu feben. 1884 wurde die Sortimentsabteilung
abgezweigt und an Albert Müller übertragen, das Verlagögeichäft aber im Oftober
1890 in eine Aktiengeſellſchaft umgewandelt unter der Firma Artiftiiches Anftitut
Orell Füßli, deren Präfident der Verjtorbene bis zu feinem Tode gewejen ift. Auch
für das Gemeinmwohl des Buchhandels, des ſchweizeriſchen wie des deutichen, iſt der
Veritorbene allezeit mit Wärme eingetreten und bat ihm bereitwillig manches
Opfer an Zeit und Arbeitöfraft gebradt. Die Nachricht von jeinem Ableben wird
in weiten Kreiſen ber Berufsgenofien mit aufrichtiger Trauer aufgenommen wer:
den. Gin ebrenvolles Andenken ift dem tüchtigen und liebenswürdigen Manne ge—
fichert. H.
>
Heue Büder.
Edm. Gaillards Album von Werlin, Kollektion 1-4 (& 16 Kabi-
nets) a 50 Pf. Berlin, Edm. Gaillard.
Diefes Album ſoll nicht nur allen Freunden Berlins ein Bild der Reichs—
hauptſtadt bieten, fondern auch zeigen, was obige Firma mit ihren modernen photo-
hemigraphiichen Reproduktionsmethoden in bezug auf ſchöne Ausführung und bil-
ligen Preis bei eleganter Ausjtattung leiftet. Wir müſſen jagen, daß in Rückſicht
auf eine ſolche Preisftellung die Leiftung der Firma ſchwer übertroffen werden fann.
Das (öfterreichiiche) Geſetz betr. Arbeberrecht an Werken der Litte:
ratur, Kunft und Vbotograpbie famt den das Verhältnis zu den Yändern
der ungariichen Krone zum deutſchen Reihe und zu anderen Staaten regelnden
Vorjhriften mit Materialien und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Alfred
Ritter von Wretihfo. 210 Seiten fi. 8%. Wien, Manz’ihe k. k. Hof-, Ber:
lags: und Univerfitäts-Buchhandlung. Preis 1,80 Mt.
Dieſe Geſetz-Ausgabe iſt für den öfterreihiihen Buchhändler die empfehlens-
wertefte; aber auch für den Reichsdeutichen iſt das Buch, das äußerſt geſchickte
Kommentare enthält, bei den vieljeitigen Beziehungen zwiichen dem deutichen und
öſterreichiſchen Buchhandel zu empfehlen.
uftrierte Hlaffikerausgaben „Minerva“. Klaſſiſche Meijter:
werfe, Lig. 1-18 à 15 Pf. Schillers ſämtliche Werke, Lfg. 1-11 à 30 Pf.
Der Verlag der Yitteraturmwerfe Minerva, Yeipzig:R., welcher das vom „Littes
raturverein Minerva” geitedte Ziel, das Verſtändnis für die herborragenditen
Schöpfungen der bebeutenditen Klaffifer durch ſchön illuftrierte und fachlich er:
läuterte Ausgaben zu fördern und durch MWohlfeilbeit Jedermann die Anichaffung
einer eigenen Hausbibliothef zu ermöglichen, verfolgt, veranftaltet neue Subffrip-
tionen auf die Publikationen feines Verlages, eines litterarifchen Unternehmens,
welches in der That einer allgemeinen Aufmerffamfeit würdig ift. Zur Ausgabe
gelangen 1) Klaſſiſche Meiſterwerke. (Alle 8 Tage eine Liefg. 16 Seiten in Yerifon-
Format, reich illuftriert für 15 Pf) Alle berborragenderen Schöpfungen ber be:
beutenditen Dichter, wie Goethe, Sciller, Chamiſſo, Kleift, Uhland, Shafeipeare,
Tegner x. 2) Schillers ſämtliche Werke. (Alle 14 Tage ein Heft 32 Seiten in
Lerifon: Format, reich illustriert, für 30 Pf.) Beide Ausgaben find von mufterhafter
Ausftattung. Schöner, klarer Drud auf holzfreiem Papier, ſowie zahlreiche Illu—
ftrationen namhafter Künftler — wir begegnen fogar Menzel unter ihnen — ver:
einigen ſich bier in nie zuvor gebotener Weife mit einem fo außerordentlich nieb-
rigen Preiſe, wie bisher vergeblich gefucht wurde. Die Rabattſätze (die bei einigem
Intereſſe 50 p&t. und mehr betragen) geitalten ein Arbeiten für die „Illuſtrierten
Klaſſiker“, deren Abſatzgebiet unbegrenzt ift, leicht und lohnend, und wollen wir
528 Neue Bücher.
nicht verfehlen, die Sortimenter noch beſonders empfehlend auf das Unternehmen
binzumeijen.
Die Binkäßung (Chemigraphie, Zinfotypie). Cine fahliche Anleitung nad
den neuejten Fortichritten alle mit den befannten Manieren anf Zinf oder auf
anderes Metall übertragenen Bilder hoch zu ätzen und für die topograpbiiche Preſſe
geeignete Drudplatten berzuitellen. Bon Jacob Husnif. 11 Bogen 8%, broich,.
3,80 Mf, Wien, A. Hartleben’s Verlag.
Das obige Werf, das den 80. Band der hemisch-techniichen Bibliothef bildet,
erjcheint im Anſchluß an die Arbeiten dejjelben Berjaflers „Der Lichtdruf” und
„Die Neproduftionsphotographie”. Es ift gleich vorzüglich wie jene gearbeitet und
auch in der Daritellung Mar und faßlich. Wir können uns bier auf diefe Em:
pfehlung beichränfen, eine Würdigung des Verfaſſers und feiner Arbeiten finden
unfere Leer in diefem Bande der Akademie in dem Artifel „Die Pioniere der
Autotupie in Deutichland” von H. Schnauf (©. 164). Wer fi über die Zinf:
ätzung unterrichten will, ftudiere das obige Wert, Sp.
Bibliotdekuntzüge. Cine bibliothef-tehnijche Studie von Dr. jur. Georg
Maas. 32 Seiten gr. 8%. Xeipzig, Verlag von Karl W. Hierfemann.
Das ungeheure Anjchwellen unjerer großen Bibliothefen bedingt bei der ge—
legentlichen Überführung einer ſolchen nicht nur einen gewaltigen Apparat, jondern
bietet geradezu oft unvorbergeiehene Schwierigfeiten. Es iſt daber anzuerkennen,
wenn die Grfahrungen über ſolche Umzüge gefammelt und niedergelegt werden,
wie bier bei der Überführung der Neichögerichtsbibliothef zu Leipzig. Der Ver:
fafier legt überdies mit Recht bejonderes Gewicht auf die geeigneten Vorbereitungen
zum Umzug. Th.
Vom papiernen Stil. Von Otto Schroeder. 4. durchgeſ. Auflage.
102 Seiten gr. 8°. Berlin, Hermann Walther. Preis 2 Mk. geb. 3 ME.
Ein vorzüglihes Bud. Alle jollten es lejen, die jchreiben und reden. Das
Bud hat in furzer Zeit vier Auflagen erlebt, aber das will nichts jagen, es follte
ihon zehn erlebt haben. Der Leſer braucht feine trodenen Abhandlungen zu fürdh:
ten, das Buch ift flott geichrieben und unterbält. Troßdem finden wir nichts
Dilettantenhaftes, ſondern eine gereifte Arbeit. K.
Subjektive und objektive Dichtkunſt.
Bon Dr. Karl Pinn.
z Friedrich von Schlegel’s, des bekannten Litteraturhiftoriferd und
Aſthetikers, Ausſpruch, es gebe geborene Platonifer und Ariftotelifer, läßt
ih, auf die Dichtkunft angewandt, zwedmäßiger in die Worte Heiden:
es giebt von Natur jubjektive und objektive Dichter. Natürlich ift fein
Dichter ausfchließlich ſubjektiv oder ausſchließlich objektiv, aber jeder Dichter
ift überwiegend das eine oder das andere. Anderjeit3 kann man die
Wahrnehmung machen, daß ein Dichter, der nach der landläufigen Auf-
fafjung als jubjektiver Dichter gilt, vom wiſſenſchaftlich philoſophiſchen
Standpunkte aus als objektiver Dichter zu betrachten ift, und umgelehrt.
Betrachtet man nämlich die bloße Darjtellung reſp. Schreibweije, jo fann
man leicht zu der Anficht gemeigt fein, daß Schiller in des Wortes eigent-
licher Bedeutung als fubjektiver, Goethe als objektiver Dichter aufzufaſſen
ſei. Scheinen doc Schiller Dramen, namentlicd) diejenigen, welche die
Freiheitsidee verherrlichen, 3. B. „Die Räuber”, „Don Carlos“, „Wil-
heim Tell”, gewijjermaßen mit jenem Herzblute geichrieben, jcheinen ja
jelbjt die Gedichte aus feiner Jugendperiode, die erwiefenermaßen jeden
realen Hintergrundes entbehren — ich erinnere nur an den Laurachklus —
auf wirkliche Erlebnifje zurüdzugehen, während Goethe für den oberfläch-
lichen Beobachter „fühl bis an das Herz” erjcheint. Allein der Schein
trügt, und bei genauerer Betrachtung gelangt man überrajchender Weile
zu dem vollftändig entgegengejeßten Reſultate. Denn nicht die Daritel-
lungsweiſe ift hier maßgebend, in weit höherem Maße muß vielmehr die
Wahl des Stoffes bei einer von diefem Geſichtspunkte ausgehenden Unter-
ſuchung in Betracht gezogen werden. Je nachdem der Dichter den Stoff
zu feinen Werken aus feinem eigenen Innern, ans dem, was er jelbft
erlebt oder erlitten hat, hervorholt, oder der Außenwelt, der Geichichte,
der Sage u. |. w., entlehnt, verfährt er als jubjeftiver oder objeftiver Dichter.
Darin ift eben Goethe in jo eminentem Sinne jubjektiv, daß er es ſich
von Anfang an zur Aufgabe geitellt hat, nur das, was er jelbit wirklich
34
530 Subjeftive und objektive Dichtkunſt.
erlebt hat, in jeinen Verſen niederzulegen. Weit entfernt aljo, erheuchelte
Leiden in heuchelnde Verſe auszuftrömen, läßt er ſich nad) jeinem eigenen
Geftändniffe nicht darauf ein, „aus Büchern und Papieren Charaktere
und Ereignifje zu nehmen” Seine Seele ift, wie der Goethebiograph
Lewes trefflich hervorhebt, der Quell feiner Didtung. „Er jingt, was er
jelbjt empfunden und weil er es jelbit empfunden, nicht weil andere es
es vor ihm gejungen.“ Nicht ein Echo fremder Leiden und Freuden find
feine Lieder; fie fingen von eigenem Glück und Gram. Dies ift eben
der umerflärliche Reiz, den jeine Schriften auf jeden, der mit des Dich—
ters Lebensverhältnilien genauer vertraut ift, ausüben. ie gehen zu
Herzen, weil fie von Herzen fommen; fie find ewig und unvergänglich,
wie die Leidenschaft jelbit. Alle feine Titterariichen Erzeugniſſe, jagt
Goethe ansdrüdlich, „ind Bruchitüde einer großen Konfellion“. Bon
den vielen Stellen in Geſprächen und Briefen, in denen er offen feine
Anficht dahin ausſprach, daß er jede andere Art der Broduftion für null
umd nichtig erachte, ift befonders charakteriftiih eine Außerung Riemer
gegenüber. „ES wird” — fo jcherzte Goethe im Fahre 1806 — „bald
Poeſie ohne Poeſie geben, eine wahre irornyaez. wo die Gegenftände Zr
romoeı, in der Mache find, eine gemachte Poeſie.“
„Die Dichter heißen dann jo a spissando, densando, weil fie alles
zuſammendrängen, und kommen mir vor wie eine Art Wurftmacher, die
in den Darm des Trimeters und Herameters ihre Wortfülle und Silben-
vorrat ftopfen.” Für ihn begann jchon in Leipzig mit feinen beiden Ju—
genddramen: „Die Laune der Verliebten“ und „Die Mitjchuldigen“ die
völlig entgegengelebte Periode, von der er jein ganzes Leben hindurch
nicht abweichen Fonnte, nämlid) „das, was ihn quälte oder freute oder
ſonſt beichäftigte, in ein Bild, in ein Gedicht zu verwandeln umd darüber
mit ſich ſelbſt abzuichließgen, um ſowohl feine Begriffe von den äußeren
Dingen zu berichtigen, al3 auch fid) jelbit in jeinem Innern deshalb zu
beruhigen.“ Den Grund, den der Dichter jelbjt Für dieje Richtung an—
giebt, „bei der großen Bejchränftheit feines Zuftandes, bei dem Mangel
an Belehrung durch Brofefforen, Univerfitätsfreunde oder jonjtigen ge-
bildeten Verkehr fei er genötigt gewejen, alles im fich felbft zu ſuchen,
wenn er für feine Gedichte eine wahre Unterlage haben wollte, fünnen
wir gleichwohl mit einiger Sfepfis aufnehmen; denn hätte ihn fein Ge—
nins nicht dieſe Bahn angewieſen, die Verhältniſſe hätten ihn ſchwerlich
auf den Weg gebracht.
Der „Taſſo“, befanntlich fein Stüd von befonders zündender Wir-
fung auf der Bühne, weil ihm jcheinbar der Pulsſchlag des fräftig bran-
denden Lebens abgeht, in Wirklichkeit aber überreih an Handlungen,
allerdings nicht an äußeren, jondern an joldyen des inneren Lebens, it
Subjeftive und objeftive Dichtkunit. ’ 531
jo recht geeignet, ung die Goetheiche Theorie in: ihrer praktischen Verwirk—
lihung zu veranjchaulichen. Verfaßt in Italien zu einer Zeit, wo der
Dlympier, des geräufchvollen, aufreibenden Weimarer Hoflebens müde,
ſich zu jtillem, Ddichteriichen Schaffen nach dem Lande der Orangen und
Zitronen geflüchtet hatte, giebt es uns über die ureigenjten Gefühle, die
den Dichter damals bejeelten, erwünjchten Aufichluß. Es wäre indeß
durchaus verfehlt, wern man Tafjo, den Haupthelden des Stüdes, ohne
weiteres mit Goethe identifizieren wollte, vielmehr erhält man durch die
Vermiſchung der Charakterzüge Tafjos, des ſchwärmeriſch beanlagten, mit
ſich jelbft ungufriedenen, träumenden Boeten, und Antonios, des Flugen,
jelbjtbewwußten Staatsmanng, ein Spiegelbild von den widerjpruchsvollen
Ertremen, zwijchen denen Goethes Neigungen damals ſchwankten. Bald
Ihien ihm das thätige, praftifche Leben gegenüber der beichaulichen Ruhe
den Vorzug zu verdienen, bald dünkte ihm das Zurückgehen des Dichters
auf jein eigenes Innere ungleich erhabener als die energiichite Bethäti-
gung an der Außenwelt. So bewundert und verehrt Antonio Taſſos
dichterischen Genius, jo Hört anderſeits der Dichter mit ahnungsvollem
Schweigen, nicht ohne eine Anmwandelung von Mißgunſt, den Bericht des
gediegenen Diplomaten über jeine Miſſion beim großen Papfte aıt.
Diejes eine Beiſpiel kann genügen, um darzuthun, daß Goethe die
Dichtkunft gewifjermaßen dazu benußte, um ein pſychologiſches Erperiment
zu machen und fein eigenes Innere objektiv zu geftalten. Ganz anders
bei Schiller. Urjprünglich dem Stoffe, den er behandeln will, fremd ge-
genüberftehend, weiß er ihm den Stempel feiner genialen Individualität
in der Weile aufzudrüden, daß wir jchwören mögen, der Dichter hänge
in allen Fajern jeines Herzens mit dem von ihm gefennzeichneten Helden
zufammen. Welche von den beiden Richtungen die berechtigtere jei —
wer will's enticheiden? Mit dem Wejen der dramatischen Gattung ver:
trägt fich jedenfalls, wie das Beijpiel der beiden Dichterherven beweiit,
die objektive wie die jubjeftive Methode.
In der Lyrik iſt Subjektivität nicht blos erlaubt, ſondern direkt er-
forderlich, wenn anders ung der Dichter den Sturm der Gefühle, der in
ihm tobt, veranfchaulichen, alles, was in ihm wallt und fiedet, zum Aus-
drude bringen will. Nicht auf die, namentlich durch Heinrich) Heine, jo
beliebt getvordene Ichform in der Darftellung kommt es hierbei an, jon-
dern darauf, ob das Gedicht wirklich der Ausfluß perjünlicher Empfindung
ift und als folher den Stempel ureigenften innern Lebens an jich trägt.
Weit fchwieriger ift die Frage hinſichtlich der Epik zu enticheiden.
Es ift eine irrige, wenn auch ziemlich allgemein verbreitete Anficht, der
‚epiiche Dichter müfje jo jehr Hinter feinen Stoff zurüdtreten, daß nirgends
der Gedanke auftauchen dürfe, man habe es bei der Äußerung irgend
34*
532 Subjeftive und objeftive Dichtkunft.
einer Perſon mit der bloßen jubjektiven Anficht des Dichters zu thun.
Allerdings kann fi der moderne Geſchmack mit der Art und Weije, wie
jelbjt die hervorragenditen mittelhochdeutichen Epifer ihre eigene werte
Berjönlichkeit durch Notizen aus ihrem Leben, Polemik gegen Berufs-
genofjen u. j. w. in den Vordergrund drängen, wenig befreunden. Eehen
wir doc jogar bei dem Gefeiertiten unter ihnen, bei Wolfram von Eichen-
bad), um mit Scherer zu jprechen, „nicht blos die Puppen, jondern den—
jenigen, der fie bewegt, der ihnen Leben und Sprache verleiht, um ung
zu rühren und zu ergößen“. Anderſeits ijt jene ſich vorzugsweiſe bei
Frauen und Kritikern vorfindende Eigentümlichkeit, jene „Unart“, über
die Robert Hamerling im Epilog zu feinem „Ahasver in Rom” ſich aus-
führlih und nicht ohne eine gewiffe Bitterfeit äußert, nämlich „hinter
den Reden des Helden einer Dichtung immer den Dichter zu ſuchen“,
durchaus verwerflid. Mit Recht hebt der genannte Dichter, unter den
Epifern der Jehtzeit wohl der bedeutendite, nachdrüdlich hervor, die Frage
dürfe niemals fein, ob das, was die handelnde Perjon einer Dichtung
jagt, an ſich wahr oder falich, ob es die jubjeftive Anficht des Dichters
ſei oder nicht, ſondern einzig, ob diefe Neden, dieſe Anfichten dem Cha-
rafter der handelnden Perſon entjprechen oder nicht. Zwiſchen der Sub-
jeftivität des Dichters, der fich durch einen pſychologiſch vertiefbaren Stoff
angezogen fühle, und der feiner Geftalten beftehe eben „Fein anderer Zu—
jammenhang als jener allgemeine geheimnisvolle, der das jubjektive Leben
der Individuen überhaupt verknüpfte”. So umfaſſe die Subjeftivität des
Dichters alle möglichen Subjeftivitäten im embryonijchen Keime“; denu er
fünne feine wahrhaft lebendige Geftalt Schaffen, die fie nicht ala Embryo
von feinem Herzblute genährt, ohne daß er darum die volle Flut jeiner
eigenen Subjektivität in dem von ihm gewählten Stoff einbrechen zu lafjen,
dadurd allen feiten Umriß und Beitand der dichteriſchen Gejtaltung zu
untergraben brauche.
ae NC9Y 9
= — — EZ
I
Die Büderliebhaberei
(Bibliopbilie — Bibliomanie)
am Ende des 19. Jahrhunderts.
Bon Otto Mühlbrecht.
— ——
(Schluß.)
Ein beſonderes Gewicht legen viele Bibliophilen und mehr noch die
Bibliomanen auf eine berühmte Abſtammung der Bücher, das heißt in
dieſem Falle nicht von der Druckerei, ſondern von den früheren Beſitzern
der Bücher. Bei vielen Exemplaren ergiebt fid) dies ohne weiteres aus
den Bibliotheks- oder Bücherzeichen, auch Signete und „ex libris“ ge-
nannt, letzteres nad) den beiden erjten Worten der früher üblichen In-
Ichriften der Zettel, welche von den Befigern auf die Innenſeite des oberen
Einbanddedels eingeflebt zu werden pflegen. Dieje Bibliothefszeichen
famen ſchon gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Gebraud, und
find in vielen Fällen für den Sammler als Kennzeichen der Abjtammung
des Eremplares wichtig; in Form von Wappen, Emblemen, Symbolen,
mit und ohne Wahliprüde haben fie als bildnerischer Schmuck oft eigenen
fünftleriichen Wert, man kennt jolche nach Zeichnungen von Lucas Cra—
nad), Joſt Amman, Chvdowiedi, Ludwig Richter u. A. Die Liebhaberei
dafür ift in der Neuzeit bejonders rege geworden, jeit 1891 beftehen jo:
gar bejondere Gejellichaften, auch in Deutjchland (in Berlin 3. B. ein
ex libris-Berein, der jeit fünf Jahren eine eigene Zeitſchrift herausgiebt),
die fi die Erforfhung alter und die Herausgabe neuer „ex libris*-Zei-
chen zur Aufgabe machen.
Ein bejonderes Verdienft darum haben ſich Warnede durch jein Buch
„Die deutſchen Bücherzeihen von ihrem Urjprunge bi zur Gegenwart“,
Berlin 1890, 8., und ©. Seyler durch fein „Sluftriertes Handbuch der
ex libris-Runde“, Berlin 1895, 8., erworben.
Dei der Abjtammung aus früheren berühmten Bibliotheken jpielt der
Einband eine bedeutende Rolle, und bier gebührt Frankreid der Ruhm,
534 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
die Buchbinderei zuerſt zu einer Kunſt entwickelt zu haben, die noch heute
fortſchreitend ausgebildet wird. Mit Stolz nennt man in Frankreich den
Namen Jean Grolier Vicomte d'Aiguiſy (geb. 1479, geſt. 1565), dem
Schatzmeiſter Franz I. Er war vorübergehend als Finanzverwalter in
Stalien und benußte den dortigen Aufenthalt, um von geſchickten Meiſtern
eine große Anzahl griehiicher und lateinischer Werfe nad) eigenen Zeich—
nungen und Angaben einbinden zu laffen; meijt einfarbig von braunem
Leder, haben die Bände in Goldpreflung originelle, ftet3 wechjelnde Zeich—
nungen im jchönften Renaiſſanceſtil. Man erkennt diefe Bände, die fait
alle den Angriffen der Zeit gut widerjtanden haben, leicht an der von
dem Eigentümer aufgedrudten Devije: „Portia mea, Domine, sit in terra
viventium* und der weiteren jtolzen Eigentumsbezeihnung „Gio. Gro-
lierii et amicorum“. Die Bibliothek blieb nad jeinem Tode zunächit im
Befib der Familie, wurde dann aber 1675 verfteigert und in alle Winde
zerjtreut.
Es fehlt an Nachrichten darüber, daß man ſich ſchon im fiebzehnten
Jahrhundert mit Groliers Büchern bejchäftigt habe; erjt im Anfange des
achtzehnten Jahrhunderts verzeichnet Baron Hohendorff, ein öfterreichi-
ſcher Bibliophile, mehrere davon in dem Kataloge einer von ihm gejam-
melten veihen Bibliothe. Dann fommt wieder eine längere Pauſe, in
der die Bibliophilen Grolier mit Stillichweigen behandeln. Aber jeit etwa
50 Jahren Hat ſich ihm die Gunst der Bücherliebhaber in immer jtei-
gendem Maße zugewandt und man bezahlt heute jeine Bücher mit hor-
renden Preiſen. Ohne Rückſicht auf den Inhalt wird jett allein des
Einbandes wegen für jedes Buch jeiner Sammlung 1—2000 Fr. mehr
gezahlt.
Sp wurde 1887 bei einer Berfteigerung von Techener in Lyon ein
Grolier-Helivdorus mit 12000 Fr. bezahlt, man jagt, er jei nach New:
York gegangen, der Stadt, wo von einigen Bibliomanen vor nicht langer
Beit ein Grolier-Klub gegründet ift. Ein anderer Grolier, der 1515 von
Aldus gedrudte Catull, mit einem koſtbaren, vorzüglich erhaltenen Ein-
bande, ging bei der Auktion Lingnerolles (1894) für 10000 Fr. fort.
Ein fleißiger Gelehrter, Le Rour de Lincy, hat (Paris 1866) ein Werk
über Grolier veröffentlicht, das jein Leben und jeine Bücher behandelt;
er hat mit vieler Mühe Alles zujammengetragen, was darüber befannt
geworden ijt. Seitdem hat man noch zwei oder drei weitere Grolier an
verborgenen Orten entdedt, und verjchiedene der Werke haben den Be—
figer gewedhjelt.
Es hat zu allen Zeiten Männer gegeben, ebenjo ausgezeichnet durd)
Geiſt wie Wiſſen, in den ehrenvolliten Berufen, darunter mächtige Mi-
nifter, die es fi) angelegen jein ließen, nur ausgewählte Eremplare in
Die Bücherliebhaberei :c. 535
Ihönen, Fojtbaren Einbänden in ihre Bibliothek aufzunehmen. Wie fie
gute Bücher als ſolche Liebten, jo geftel es iyuen auch, jie in ſchönen
Exemplaren zu befiten, es war diejes Verlangen, das man mit Unrecht
tadeln würde, eine Huldigung gegen die Autoren, die fie jchäßten und
bewunderten. So erklärt fid) der Luxus von Bibliotheken, wie der von
Srolier, Maioli, Granvelle, de Thou, Colbert, d'Hoym und vieler anderer
berühmter Sammler, welche uns Bücher hinterließen, die von den wahren
Biblivphilen und Bibliomanen jo heiß begehrt find. Wenn Ch. Nodier
irgendwo jagt, daß echte Bücherliebhaber bei dem Anblid gewiljer Wappen
auf den Einbänden geradezu gerührt find, jo entipringt diejes Gefühl ge-
wiß der Erinnerung an die prachtvollen Bibliotheken, denen die Bücher
entftammen, es gejchieht, weil jolche Infignien gewöhnlich) die Garantie
bieten, daß die betreffenden Bücher mit Geſchmack gewählt, elegant und
jolide eingebunden, mit Sorgfalt benußt und aufbewahrt find von be-
rühmten Kennern, deren Chiffre oder Wappen fie tragen.
Das ift der Grund, weshalb ein Grolier in einer Auktion Hundert:
mal bejjer aufgenommen wird, als ganze Bibliothefen anderer Sammler.
Derjelben Gunjt erfreuen jich die Bücher, deren Einbände mit dem
doppelten Halbmond, dem Lieblingsmonogramm Heinrich II., und der
Diana von Poitiers geichmüct find, und das mit um jo größerem Rechte,
als dieje viel jeltener im Handel vorkommen, al3 jene des Schatzmeiſters
Franz ]., denn der größte Teil dejfen, was von den Schätzen Heinrichs II,
überhaupt noch exiftiert, ift in den Beſitz der Nationalbibliothef in Paris
übergegangen, dieſer an Schäben fo reichen, aud) an Proben alter Ein-
bände ungemein reichhaltigen Bibliothek. Neben diejen Chiffren dienen
der Molch Franz I., der Totenkopf Heinrich III. und das Doppeliwappen
Heinrihs IV. den damit geſchmückten Büchern zur beiten Empfehlung,
dann die drei Bienen von de Thon. Ein in Saffian gebundenes, mit
diefem Wappen gejchmüctes und damit eriwiefenermaßen aus der Bibliothek
des großen Hiftorifers Jacques-Augufte de Thou abjtammendes Bud) ift
zehnmal mehr wert, als ohne diefen Einband, und dieſe Brogreifion kann
ſich noch je nad) dem Werte des Buches ſelbſt fteigern, zumal wenn das
Bud ein franzöfiiches ift, in welcher Sprade der berühmte Parlaments-
präfident jonderbarerweile wenig zu jammeln pflegte,
In gleihem Anjehen jteht das Wappen des Grafen d'Hoym, des
Gejandten des Königs von Bolen in Frankreid) im Anfange des ad)t-
zehnten Jahrhunderts. Diejes Wappen, das berühmter bei den Biblio-
philen als bei den Heraldifern it, verzehnfacht ebenfalls den Preis eines
Buches, wenn der Einband gut erhalten it. Ein Gleiches gilt von dem
Wappen des Girardot de Préfond, das ji) nur auf Einbänden von ganz
vorzüglicher Beichaffenheit findet. In Nahahmung diejes Girardot’ichen
536 Die Bücherliebhaberei ꝛc.
Wappens hatte Ch. Nodier fein „ex museo“ auf die 1300 jchönen Bände
jeiner kleinen Bücherſammlung gejegt, die er mit joviel Geſchmack und
Berjtändnis zufammengebracht hatte, dab nad) jeinem Tode die Verfteige-
rung feiner Bibliothek im Jahre 1844 die hübjche Summe von 68000 Fr.
ergab, dank der lebhaften Konkurrenz mehrerer paffionierter Bibliophilen.
Diejen EHangvollen Namen jeien nod) die einiger anderen berühmten fran—
zöfiihen Sammler hinzugefügt: de Dupuy, de Ballesdens, Madame de
Ehamillart, Abbe de Rothelin, Gaignat, Randon de Boijjet, Bonnement,
Naigeon u. ſ. w., deren Bücher heute noch zu den gejuchtejten gehören.
Da ic) bei diefen Büchern berühmter Abftammung mehrfad auf die
Einbände habe Bezug nehmen müſſen, jo wird es müßlich fein, auch der
Entwidelungsgejchichte der Büchereinbände eine etwas eingehendere Be—
trachtung zu widmen.
Wie die Handichriften und YBuchmalereien, jo wurden aud) die Bücher-
einbände anfänglich in den Klöftern gefertigt, daher jchreibt ſich die wie-
derholt vorkommende Bezeihnung „Mönchsbände“, fie erhielt ſich noch
geraume Zeit nach der Erfindung der Buchdruderfunft, die auf die Ges
ftaltung des Bucheinbandes ohne merklichen Einfluß geblieben ift. Erſt
im fünfzehnten Jahrhundert traten Buchbinder auf, die nicht Hlöfterlichen
Verbänden angehörten; fie arbeiteten anfänglich, bejonders in Deutſch—
land, unter dem Schube der Univerfitäten, unabhängig von den Zünften.
Seit dem Ausgange des Mittelalters bildete fi) in dem äußeren
Schmud der Bücher ein eigener Stil aus, die Verzierungen wurden in
Leder eingejchnitten, auch getrieben, gepunzt oder mit Stempeln einge-
prebt. Den früher blindgepreßten Deden trat jeit dem jechzehnten Jahr-
hundert die vom Drient überfommene vergoldete Lederdede gegenüber, die
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Oberhand gewann. In der
äußeren Buchornamentation gingen zwei Haupttypen neben einander: die
architektonische Ordnung und die Flächendeforation, die bejonders im
Orient gepflegt wurde. Im Iebteren Falle wurden die Dedel ähnlic)
den Titelblättern häufig mit Frontifpizen geihmücdt, in deren mehr oder
weniger phantaftiicher Architeltur man Figuren oder Medaillonföpfe mit
Namen aus der römischen Mythologie und Geſchichte einordnete; im leß-
teren Falle breiteten ſich Arabesten über die ganze Fläche aus, durch
Spitenmufter begrenzt, in der Mitte Raum laſſend für Schrift, Wappen
oder Embleme des Eigentümers, mitunter auch die Arabesken zu Mittel-
oder Edjtüden vereinigt. Größeren Reihtum in der Erjcheinung erlangte
man durd) die Ledermoſaik, das Einlegen grüner, weißer, roter 2c. Leder—
ftreifen in den gewöhnlichen braunen Ledergrund. Der um die Bergolde-
kunst jehr verdiente Italiener Thomas Maioli verzierte mit jeltenem Kunſt—
verftändnis die Einbanddeden vorzugsweile duch Band» und Kartuſche—
Die Bücherliebhaberei ꝛc. 537
mufter in Blindprefjung, die von Goldlinien eingefaßt und mit Blättern
und Nanfen in Golddrud durchflochten waren. Nach feinen Muftern
ſchuf der Schon genannte Jean Grolier jeine farbenprächtigen Ledermoſaik—
arbeiten, bei denen er bald hellere Farben verwendete, die Band- und
Kartujche-Ornamente farbig auslegte und fie mit Goldlinien zur Begren-
zung der Farben umzog. Auch der Buchdrucker Geoffroy Tory hatte zu
jener Zeit großen Anteil an der fünftleriichen Bervolllommmung der
Büchereinbände. Unter Heinrich) III., deſſen Totenkopf als Symbol auf
den Einbänden ic) bereits erwähnte, wurden die Arabesken weniger ſchwung—
voll, mehr geometriich und machten dann alle Wandelungen des Ge—
ſchmacks im Kleinen mit durd).
Ich habe ſchön darauf hingewieſen, daß Frankreich in der Buchbin—
derfunst allen Ländern voraus geweſen iſt, die Namen der franzöfiichen
Einbandkünjtler haben eine Berühmtheit erlangt, die weit in das Ausland
gedrungen iſt; es geziemt ſich deshalb wohl, dieje geſchickten Männer
näher zu betrachten.*) Gegen das Ende des jechzehnten Jahrhunderts
bereit3 begegnen wir in Paris zwei tüdhtigen Buchbindern: Clovis und
Nicolaus Eve. Clovis führte den Titel relieur du roi, er arbeitete für
Heinrich IV. und Ludwig XII. Man kennt heute nur noch drei Ein-
bände, die ihm zuverläffig zugejchrieben werden fünnen.**) Nicolaus Eve
war beauftragt, eine Anzahl von Eremplaren der Statuten des Ordens
vom heiligen Geift einzubinden, ein Buch, das gegen Ende des Jahres
1578 erſchien und wovon fich noch ein Eremplar in der Nationalbiblio-
thef in Paris befindet in dem einzigen Einbande, der uns heute noch
Zeugnis von Nicolaus Eve als Buchbinder gibt. Im übrigen ift das
Schickſal der Kves dunkel geblieben; die Bibliographen, die davon redeı,
widerjprechen fich, und die darauf bezüglichen Dokumente find unficher.
Einer der bedeutendften WBuchbinder des jiebzehnten Jahrhunderts
war Le Gascon; das ist Fein erfundener Name, es ijt die Andeutung der
Brovinz (Gascogne), wo der Mann heimiſch war, deſſen eigentlicher Name
verloren gegangen ijt. Auch über ihn fehlen authentische Nachweile, es
find die widerjprechenditen Behauptungen aufgeftellt. Nach den Einen
joll er feine Kunft zur Zeit Heinrichs IL. ausgeübt haben, nad) den An—
deren ſoll er von Eolbert angejtellt gewejen fein. Die erjte amtliche
Kunde datiert aus dem Regiſter der Pariſer Buchbinder- Gilde. Nach
diefer joll 1615 ein etwa 25 Jahre alter Meiiter Le Gascon in die Gilde
aufgenommen jein, der dann als joldher etwa 40 Fahre hindurch thätig
war; man hat aljo feine Arbeiten in den Jahren 1615 bis 1655 zu
*) Nergl. Erneit Thoinan, les relieurs francais 1500—1800. Paris 1893, 8
++) G. Brunet, du prix des livres rares. Bordeaur 1805.
538 Die Vücherliebhaberei ꝛc.
juchen, ein hervorragender Bibliophile aus jener Zeit, Habert de Mont—
mort gilt als der hauptſächlichſte Auftraggeber des Le Gascon.
Weiter verdient der Name Du Seuil (geb. 1673) als hervorragen-
der Buchbinder genannt zu werden; bei der Eintragung des Todes jeiner
Frau (1740) it er amtlid) als der Buchbinder des Herzogs und der
Herzogin von Orleans bezeichnet. Aus dem achtzehnten Jahrhundert find
uns eine Menge Proben davon erhalten, was damals in Einbänden ge-
leiftet werden Fonnte, es jei auf einige derjelben hingewieſen.
Ludwig XIV. hatte im blinder Gunft die Verwaltung der Departe-
ments des Krieges und der Finanzen dem Marquis de Chamillart an:
vertraut, der fich als völlig unfähig erwies. Auch feine Gemahlin nennt
Saint Simon die dümmſte Frau der Welt, aber für die Bücherliebhaber
hat der Name de Chamillart trotden den beiten Klang, denn die Frau
hatte mit dem Einbinden ihrer Eleinen, ausgewählten Bibliothek den Mei-
jter Boyet beauftragt, der für einen der gejchidteften Buchbinder feiner
Zeit galt.
Dan zahlt für Bände aus feiner Werkjtatt heute hohe Preiſe, z. B. für
St. YAuguftin, lettres. 6 vis, Paris 1701,
in der Auktion La Roche La Carelle (1888) . . Fr. 9000,—
Bierre Corneille, Theätre. 10 vols. Paris 1706,
in der Auktion Soleinne (1843) . „ 550,—
in der Auktion Brunet (1868) . . . . „ 4100,—
Pascal, les Provineiales. 2 vls. Cologne 1700,
in der Auktion Brunet (1868) . » 2» 2 2020. 1020,—
in der Auktion des Marquis de Gany . . . „ 10000,—
u. ſ. w.
Im Zeitalter Ludwigs XV. treffen wir einen weiteren Buchbinder
erften Ranges, Antoine Michel Badeloup (geb. 1685, geſt. 1758), um
ihn von jeinen minder bedeutenden Brüdern zu unterjcheiden, wird er
gewöhnlich PBadeloup der Jüngere genannt. Er nahm 1733 den Titel
Buchbinder des Königs von Portugal an, man weiß nicht, weldem Um—
ftande er dieſe Auszeichnung verdankte, jedenfall3 würde es interejjant
fein, wenn ſich in einem der Baläfte in Liſſabon noch Bücher finden foll-
ten, die durch feine geichidten Hände geijhmücdt find. Im Jahre 1734
erhielt er die Konzeffion als Hufbuchbinder des Königs von Frankreich.
Er war der erite, der die aus jeiner Werkſtatt hervorgegangenen Ein-
bände mit einer Etikette verfah. Kenner ſchätzen von feinen Arbeiten die
Moſaikbände am höchſten, die er in großer Anzahl fertigte und die heute
jehr teuer bezahlt werden. Erneſt Thoinan jagt von ihm: „Die Arbeiten
Badeloups find meiſtenteils von bemerfenswerter Vollendung, wie fie
feiner feiner Rivalen erreicht hat, die Kritik kann faſt nichts daran aus-
Die Bücherliebhaberei ꝛc. 539
jeßen, die Ausführung ift in der Kegel tadellos, und das Auge ruht mit
Wohlgefallen auf diejen reizenden Bänden. Padeloup war der gejuch-
tefte Buchbinder von Paris, er arbeitete für alle Bibliophilen feiner Zeit
und beichäftigte eine große Zahl von Arbeitern; dies erklärt wohl den
Umstand, daß mitunter Einbände mit jeiner Etikette vorkommen, deren
Ausführung weniger gelungen iſt.“ Die Meifterwerfe von ihm aber
werden hente geradezu mit Gold aufgewogen, jo j. B. die Contes de la
Fontaine, 2 vls., Ausgabe der Generalpächter vom Jahre 1762, Einband
in rot Safftan mit Moſaikdruck in grünen, blauen und gelben Feldern.
Tieje zwei Bände jind in der Auktion Mac Carthy (1817) mit Zr. 575, —
verkauft, erreichten 1840 den Preis von Fr. 7500,— und find jebt jchon
bei der rejpektablen Ziffer von Fr. 11000,— angelangt.
Unter dem Regiment Ludwig XVI. florierten die Deromes. Beſon—
der3 Derome der Jüngere gelangte zu höchſtem Ruhme in feiner Kunft,
er war ber bedeutendite von allen Mitgliedern der zahlreichen Familie
der Deromes. Nicolas Denis Derome (geb. 1731) folgte feinem Vater
im Geſchäft im Jahre 1760 und erweiterte die anjehnliche Kundſchaft be-
deutend; unter dem vielen Bänden jeiner Werkitatt find manche völlig
tadellos, da er aber nicht wohl Alles jelbft machen konnte, jo laſſen viele
Bände zu wünſchen übrig, und die heutigen Bibliophilen machen in die-
jem Punkte feine Unterjchieve. Etwa um das Jahr 1775 kamen englische
Einbände in die Mode und Derome, immer bereit, fid) dem Gejchmade
des Bublifums anzubequemen, bemühte fich diefelben nachzuahmen, Hatte
aber wenig Glüd damit, und wandte ſich bald wieder den Verzierungen
feiner eigenen Erfindung zu. Derome der Jüngere ftarb etwa 1788, jein
Nachfolger im Geſchäft war Aleris-Pierre Bradel, fein Neffe, der aber
den Betrieb nicht auf der bisherigen Höhe halten konnte. Man findet
dann noch den Namen Derome als Buchbinder in den Jahrgängen 1801
und 1821 des Almanach du Commerce, nachdem ift das Gejchlecht ver-
ſchollen.
Leider hat die Buchbinderei in Paris ſeit den Tode Derome's des
Jüngeren bis etwa 1820 ganz darnieder gelegen. Während dieſer Zeit
hat England eine große Menge der guten alten Einbände aus Frankreich
entführt, wie eben die damalige revolutionäre Zerftörung der Bibliotheken
die Bücher zwangsweile in Umlauf fette. Was damals für ein Nichts
verfchleudert wurde, hat man fpäter mit großem Koftenaufwande in Franf-
reih von England zurüd zu erwerben ſich bemüht.
In Deutſchland war durch den dreißigjährigen Krieg, der überall
das Kunſthandwerk zerjtörte, auch die Buchbinderkunft in Verfall geraten,
nach demjelben zeigen ſich Merkmale des Rokoko und des Baroditils in
den Einbänden, ein charafterlofes Allerlei trat als Zierrat an die Stelle
540 Die Bücherliebhaberet ꝛc.
von Kunftleiftungen, die deutiche Vergoldung ſtand bei weitem nicht auf
der Höhe der italienischen und franzöfiichen Kunft, wenn auch hie und
da die Behandlung. der Formen an Blatt» und Blüten-Ornamenten von
fünftleriicher Gewandtheit zeugte. Im jechzehnten Jahrhundert war vor—
zugsweile die Rahmenform für Dedenverzierung, mit Blindprefjung und
Solddrud in Geltung gewejen. An Begünftigung von oben Hatte es der
Buchbinderei nicht gefehlt, die bayerischen Herzöge, die Kurfürften von
der Pfalz und von Sadjjen, ſowie die Patrizier der reihen Handelsjtädte
thaten viel dafür, aud) lieferten Künftler wie Holbein der Jüngere, Vir—
gil Solis, Peter Flötner, Hans Mielich und Lucas Cranach viele Ent-
würfe, und es gab dann aud) tüchtige Buchbinder, namentlich in Süd—
deutichland, die fich dieje Protektion zu Nube machten, 3. B. Joh. Hag-
mayer in Ulm, Jakob und Chriſtoph Weidlich in Augsburg, Kaspar
Maufer, Theodor Krüger und Kaspar Kraft in Wittenberg, Chrijtoph
Bird in Leipzig, Jörg Bernhard in Heidelberg u, a. m. Im ſiebzehnten
Jahrhundert ermenerte ſich bei uns vorübergehend die Vorliebe für Me—
tallbejchläge, wie fie ſchon vor Erfindung der Buchdruckerkunſt bei Hand-
Ihriften-Einbänden üblich geweſen war.
Da bei uns im neuerer Zeit im allgemeinen der Buchbinderfunit
jeiteng des Publifums wenig Mittel zur Verfügung geftellt wurden, jo
haben wir auf dieſem Gebiete auch feine jo hervorragenden Künftler auf:
zuweilen, wie fie in Frankreich fich bilden konnten. Wenn tüchtige deut-
Ihe Buchbinder einen beſſeren Wirfungstreis finden wollten, jo wander-
ten jie nad) Frankreich oder England, und mancher davon hat denn auch
dort als Meifter die traditionelle jolide deutiche Arbeit zur Geltung ge:
bracht, wie Zähnsdorf in London (get. 1886) und Burgold, jetzt Trautz—
Bauzonnet in Baris. Die moderne deutiche Buchbindung datiert von dem
Umſchwunge, der infolge der erjten Londoner Ausjtellung (1851) in den
industriellen Künsten allgemein eintrat. Man knüpft bei Prachtiverfen
gern an die Weile der byzantiniich-mittelalterlihen Bucheinbände an, eine
jelbftändige neuzeitliche Stilart oder charakteriſtiſche VBerzierungsweije hat
ji) jedoch noch nicht heransgebildet; beliebt find auch die Einbände nad)
Srolier’ichen Vorbildern, welche die Anwendung von Gold-, Schwarz:
und Blinddrud und die Ledermoſaik geftatten, und in feinfühlig ftilifir-
ten Blumen, ſchmuckvollem Rankenwerk, Arabesfen und Scildereien die
reichite Abwechjelung zuläßt. Diejfer Stil wird deshalb auch von den
tüchtigiten YBuchbindern in Wien, Leipzig, Berlin, Düfjeldorf, Altenburg
u. ſ. w. mit Vorliebe gepflegt.
Durch die heutige fabrikmäßige Heritellung eleganter Buchdeden in
Buntdrud werden viele Gefchmadlofigkeiten hervorgerufen, die Buchver—
zierung bat ſich ganz vom Buche jelbjt losgelöft und tritt in Gemälden,
Die Bücherliebhaberei ꝛc. 541
Landichaften, Genrebildern, Blumen u. dergl. jelbitändig vordringlich auf,
jtatt in Fünftlerisch-bejcheidener und geichmadvoller Weile den Charakter
des Buches zu ergänzen; in Bezug auf jolide Haltbarkeit jteht die deut-
Ihe Einbandinduftrie Hinter der franzöfiihen und englischen zurüd, doc)
hat jih dies in den legten Jahren etwas zum Beſſeren geändert.
Bei der Herausgabe von Katalogen war e3 früher nie Sitte, bei
hervorragend eingebundenen Werfen den Namen des Buchbinders zu nen—
nen, erjt jeit etwa 50 Jahren haben dieſe Angaben, die nicht jelten das
Glück eines Buches beim Berfauf begründen, begonnen, Die Begierde der
Bücherliebhaber zu reizen. Charles Nodier in Paris war der erjte, der
(etwa um 1828) die Namen der Buchbinder feinen Titelangaben in den
Statalogen beifügte; aber die meiften diefer Namen wurden vergejjen und
es vergingen Jahre, bis die Augen der Bibliophilen ſich daran gewöhnten,
dieje neue ihnen gewieſene Ridytung des Sammelns zu beachten.
Das Signal dazu ging von dem berühmten Bibliographen 3. Char-
les Brunet aus; er war mit einem Bibliophilen der alten Schule, dem
tüchtigen Gelehrten Davilon, befreundet gewejen; bei der BVerfteigerung
von deſſen Bibliothef zahlte der Verfaljer des Manuel du libraire Fr.
200,— für ein Eremplar der Aventures de Telömaque, das bis dahin
auf etwa Fr. 30,— geihäßt war; es war in rot Saffian gebunden und
mit dem goldenen Vließ, dem Infignum des gejchätten Biicherliebhabers
Longepierre, geziert. Im Jahre 1868, nach dem Tode Brunets, ging in
jeinem Muftionsjaale, der im Laufe der Jahre jo viele der koſtbarſten
Bücher gejehen, diefer Telemaque jchon für Fr. 1770,— fort. Für die
damalige Welt der Bibliophilen war das noch ein Ereignis, Niemand
konnte fi den hohen Preis erklären, und mehr als Einer nannte die
Kühnheit des Käufers Narrheit. Aber die Rechtfertigung dejjen, was
man damals als Verwegenheit bezeichnete, iſt nicht ausgeblieben, der Te-
lemaque de3 Longepierre ift jeitdem durch mehrere Hände gegangen und
zuleßt auf der Auftion La Roche La Earelle (1888) mit Fr. 5050,— bezahlt.
Erwähnt jet noch, daß ſich vor kurzem in Holland ein Verein „Kunst
toegepast op boekbanden“ gebildet hat, der am 22. Januar d. J. in
Amsterdam eine Ausjtellung von Bichereinbänden eröffnet hat, die einen
reichen Überblick über die Entwidelung diefer Kunft darbot.
Das Bud) md feine Geſchichte bis zur Erfindung
der Buddruderkunft.
— — —
(Schluß.)
Der Bücher- und Handſchriften-Handel im Mittelalter.
In der Art und Weiſe, wie wir den Buchhandel im klaſſiſchen
Altertum betrieben ſehen, erhielt er ſich noch bis in das 15. Jahrhundert.
Bon da an aber trat im litterariichen Leben und Verkehr Deutichlands
ein Stillftand ein. Wir Haben gejehen, wie fi) das ganze geiftige Leben
in die Klöſter fonzentrierte und wie hier die Mönche im Abjchreiben und
Bemalen der Bücher allein etwa nod etwas wie einen Buchhandel be-
trieben. Das heißt, es fonnte von einem Handel da nicht die Rede fein,
wo es ſich lediglih) um das Fertigſtellen eines Buches für die eigene
Bibliothek handelte, und wo eine von irgend einem pradhtliebenden Abt
oder Biſchof einmal einlaufende Beltellung ſchon zu den größten Selten-
heiten gehörte. So ſehen wir die Mönche namentlih vom 9, bis 14.
Sahrhundert vorzügliches leiften. „Dann aber werden fie mit der zu—
nehmenden Sittenverderbnis der Geiftlichkeit faul und kaufen lieber die
unentbehrlichiten Bücher oder laſſen andere für fich abjchreiben.” „Sie
ichwelgen heutzutage lieber im Ausleeren der Becher, jtatt in der Ver-
beijerung der Bücher“, jagt der engliihe Biſchof Richard de Bury in
jeinem (1344 vollendeten) Philobiblion von ihnen. In vielen Klöſtern
ſchläft die Schreibthätigfeit Jogar ganz ein.” (Kappa. a. D. ©. 12.)
Erit von Italien aus jollte dann mit dem Erwachen des Humanis«
mus auch für dieſes Gebiet neue Anregung kommen. Freilich treffen wir
auch dort die erften Anfänge eines Handjichriftenhandels erſt im Anfang
des 13, Jahrhunderts, obgleich die Entjtehung der italienischen Univerſi—
täten jchon in das 12. Jahrhundert fällt. Die vielen aus allen Herren
Ländern dort zufammenftrömenden Studenten verlangten bald genaue und
forrefte Abjchriften ihrer Lehrbücher, und namentlich in Bologna, der
damals bejuchteiten italienischen Univerfität, blühte das Schreibgewerbe,
Das Buch und feine Geſchichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt. 543
an dem ſich jogar Frauen beteiligten, da die Männer nicht den Anforde-
rungen mehr allein entiprechen fonnten.
Zu welcher Bedeutung dann diefe Handſchriftenhändler raſch gelangt
waren, ift Schon aus dem Umftande zu erjchen, daß die Stadt Bologna
ihon 1259 ftrenge Beltimmungen über das Handjchriftenweien und
namentlich den Handichriftenhandel erließ. Der berühmte Nechtsgelehrte
Savigny hat in feinem Werke: „Geſchichte des römischen Nechts im Mit-
telalter“ eine ausführliche Schilderung hiervon gegeben, und Kapp, dem
wir hier neben Kirchhoffs trefflicher Schrift: „Die Handichriftenhändler
des Mittelalters” und neben Wattenbach zumeiſt folgen, gründet feine
Schilderung Hauptjächlih hierauf. Dem Beijpiel Bolognas folgen dann
die anderen italienischen Städte ziemlich raid. Die „Stationarii“ ge-
nannten Schreiber und Handjchriftenhändler unterjtanden der Gerichts-
barkeit der Hochſchulen, teilten aber aucd deren Privilegien: „E3 wurde
feftgefeßt, daß jeder Handjchriftenhändler, welcher Bücher verleihen wollte
(Stationarius peciarium), 117 nambaft gemachte und nach Pecien (eine
Abteilung von 16 Kolumnen von je 62 Zeilen, von 32 Buchftaben) be-
rechnete Werke vorrätig halten mußte. Für die Korrektheit derjelben hatten
die Peciarii zu jorgen, die zugleich die Aufjicht über das ganze Leih-
geihäft führten. Sie waren jehs an der Zahl (drei Jtaliener umd drei
aus anderen Ländern) und wurden jährlich aus der Gejamtheit der Uni—
verfitätsglieder gewählt. Die neugejchriebenen Bücher und Pecien mußten
ihnen zur Durchſicht und Korrektur vorgelegt werden, jowie überhaupt
jährlich zu einem bejtimmten Zeitpunkt die gejamten Vorräte der Stati-
onarii peciarum. Dieje hatten eidlich zu erhärten, daß fie nichts ver-
heimlichten und zurücbehielten; wurden fehlerhafte Bücher vorgefunden,
jo mußten fie auf Koften des beteiligten Stationarius durch Untverfitäts-
mitglieder, die im Beſitze der gleichen Werfe ſich befanden, verbefjert
werden. Nah Schluß der Revifion machte der Bidellus generalis die
für richtig befundenen Büchervorräte Öffentlich befannt. Waren dejjen-
ungeachtet fehlerhafte Pecien durchgeſchlüpft und ausgeliehen worden, fo
hatte der betreffende Abjchreiber, im Fall er die Mängel entdedte, die
fehlerhafte Pecie der Peciarien auszuliefern. Diefelbe wurde kaſſiert und
der beteiligte Stationarius verfiel in eine Strafe von 5 Solidi, die zur
Hälfte in die Univerſitätskaſſe flofjen, zum Viertel den Peciarien und zum
Viertel dem Denuncianten anheimfielen.“ (Kichhoff a. a. DO. ©. 24.)
Den italienischen Univerfitäten folgten bald auch die franzöftichen, und
ihre Inftitutionen übertrugen fich raſch nach England und nad) den nad)
franzöfiihem Mufter eingerichteten deutſchen Univerfitäten. Hier freilid),
obgleich; die Stationarien- und Handichriftenhändler die gleiche Stellung
wie in Paris und Italien erhielten, fam die ganze Einrichtung doch nie-
544 Das Bud und feine Geihichte bis zur Erfindung der Buchdruderkunft.
mals zur gleichen Bedeutung. Es herrichte auf den deutſchen Univerfi-
täten und in Deutjchland überhaupt ein weniger reges litterarifches Leben
als in dem verfeinerten Italien und Frankreich. Die Frequenz der
deutichen Univerfitäten war nicht jo bedeutend, wie die der im höchſten
Flor ftehenden zu Bologna und Paris; jie trugen nicht in dem Maße
wie jene den Charakter fosmopolitiicher Zehranftalten, jondern mehr einen
beichränften provinziellen. Sie bedurften alſo auch nicht eines jo aus—
gedehnten umd genau geregelten handjchriftlichen Verkehrs. Nur Heidel-
berg, Wien und Köln find etwa die Orte, an denen man einen geord-
neten Betrieb des Handichriftenhandels bemerken fanı. „In Wien, be-
richtet Kirchhoff, jcheint das Stationariat entweder gar nicht oder doch
nur in jehr beichränkter Weiſe ausgebildet gewejen zu fein, es wird nur
einmal gelegentlich bei Beitimmungen über die Veröffentlihung neuer
Lecturae erwähnt, hierbei aber auch in einer Weije, daß man an eine Art
von Berlagsverhältnis zwilchen den Schriftitellern und den Stationarii
denfen möchte. Sie, jowie die Librarii gehören aud in Wien zu den
Untergebenen (Servientes) der Univerfität umd Hatten in die Hand des
Rektors gewifjenhaftes Verhalten beim Kauf und Berfauf und bei der
Preisbeftimmung eidlich anzugeloben. Ohne Vorwiſſen desjelben durften
fie von feinem Magiſter oder Studenten ein Buch kaufen, oder ald Pfand
annehmen, und waren gehalten, die hinterlaifenen Bücher veritorbener
Univerfitätsglieder aufzubewahren. Die Studenten der Juriftenfakultät
jeßen überdies noch feit, daß der Librarius wie Pedell der Fakultät die
Berfäufer nicht bedrüden folle, um höheren Gewinn beim Wiederverfauf
zu erzielen, auch als Kommilfionsgebühr nicht mehr als den vierzigiten
Pfennig oder 2", 9 beanjpruchen dürfe; außerdem follten feine Bücher
unter der Hand verfauft werden, jondern deren Verkäuflichkeit erjt in
den Hörjälen befannt gemacht werden. Dies war nun allerdings eine
Forderung, die die Sicherheit der Händler ſelbſt gebieteriich forderte, da
geftohlene oder früher verumtreute Bücher von dem momentanen, wenn
auch felbft auf rechtlihe Weile in Beſitz derjelben gelangten Inhaber
ohne Entjehädigung ausgeantwortet werden mußten.“ Dabei ift indefjen
für die deutichen Univerfitäten auch der Umstand in Betracht zu ziehen,
daß die Studenten derjelben meift arm und mittellos ſich oft ihre Hand-
ichriften ſelbſt herjtellen oder den Diktaten der Profeſſoren nachjchreiben
mußten, So jehen wir in Deutichland einen eigentlichen Handjchriften-
handel erit zu Anfang des 15. Jahrhunderts entitehen, obgleich eine aus—
gedehnte Lohnjchreiberthätigkeit mit Sicherheit jchon Früher anzunehmen
ift, denn in dem gewaltigen Umſchwung, der den Kreuzzügen folgte, und
in welchem fich der Bürgerftand zu einer immer größeren Macht heran:
bildete, entwicelten fich auch jeine geiftigen Bedürfniſſe mehr und mehr.
Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt. 545
Leſen und Schreiben kam namentlich auch bei dem Mittelftand immer
mehr zur Geltung, man richtete Schulen ein und es entitand fogar eine
Urt von populärer Litteratur. Nun fonnten die geiftlichen Schreiber einer
jolhen gefteigerten Thätigfeit nicht mehr genügen und ihre Stellung nö-
tigte fie durchaus nicht zu übermäßigen Anftrengungen. So treten fie
wohl in den Kampf mit der num entjtehenden weltlichen Konkurrenz, die
eben um ihre Exiſtenz fämpfte, und wenn fie aud) diefer den Kampf nicht
leicht machten, da ſich namentlich gegen Ende des Mittelalters einzelne
Klöfter wieder von neuem auf das Abſchreiben warfen, jo mußten fie
am Ende doc unterliegen. Zwiſchen die weltliche und geiftliche Bartei
traten nun aber die Brüder vom gemeinjamen Leben (Fratres de vita
communi). „Wenn auch nad Elöfterlicher Regel zujammenlebend, erzählt
Kapp, jo waren fie doch feine mönchiſchen Abjchreiber, weil fie, ftatt fich
vom weltlichen Zeben abzuwenden, mit ihrer Thätigkeit ausſchließlich Bil—
dungszwede verfolgten, andererjeit3 aber auch feine gewöhnlichen Lohn—
jchreiber, weil fie ſich auf ein bejtimmtes Gebiet, die Herftellung guter
Lehr» und Andachtsbücher, beſchränkten. Dieſer Orden, von Gerhard
Grote 1383 zu Deventer in Holland geftiftet, zählte vorzugsweiſe ernte
Gelehrte und Lehrer, Männer von fittlihem Gehalt und lauterem Streben,
zu feinen Mitgliedern. Ausgehend von einer ajfetiichen Frömmigkeit,
verwarfen fie die Scholaftif und alle Wiſſenſchaft des Mittelalters ala
unnüß für die Heiligung des Lebens und arbeiteten der Studienreform
vor, welche den Humanismus heraufführte. Um nachhaltig zu wirken,
widmeten fie fi) mit Vorliebe dem Volks- und dem gelehrten Unterricht
der Jugend in ihrer Zandesiprade. Die Koften ihres Unterhalts dagegen
beftritten fie durcd gewerbsmäßige Anfertigung von Schul- und Gebet-
büchern. Jedes Fraterhaus hatte jeinen Librarius, welcher außer der
Sorge für die Bücher die Aufficht über das Schreibweien, die Schreib-
materialien und die Buchbinderei führte, die Korrektheit der Abjchriften
überwachte und zugleich deren Preis beftimmte, Die Brüder waren be-
jonders im Norden und Nordweiten Deutjchlands thätig und hatten. unter
anderem um die Mitte des 15. Jahrhunderts auf dem Mariä-Leuchtenhof
in Hildesheim jo viele Meßbücher zu jchreiben, daß fie daran einichließ-
ih des Einbandes über 1000 Gulden verdienten (aljo wenigjtens 20000
Gulden nad) unjerem Gelde).”
Die unter dem Namen Cleriei im jpäteren Mittelalter auftretenden
Schreiber ftanden in feinerlei Verbindung mit dem Handjchriftenhandel
und befleideten ebenjo wenig eine geiltlihe Würde.
Wir jehen nun den Handichriftenhandel fich von zwei verjchiedeiten
Seiten entwideln, einmal in Italien und Paris durd eine bejondere
Zunft und dann namentlich in den Städten durch das freie Gewerbe des
35
546 Das Rudy) und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt.
Lohnſchreibers. In Deutichland findet man die Spuren folder Lohn—
Ichreiber Ihon in Urkunden aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, wo
fie in den großen Städten und Meßplägen einen großen Wirfungsfreis
hatten und allmählich eine bedeutende Übung erhielten. Was früher
einzig und allein in den Klöſtern hergeftellt worden war, all die prächti-
gen Mefbücher, Breviarien, Evangelien, das wurde nun ebenjo ſchön an-
gefertigt und in jeinem äußeren Schmud ausgejtattet. Städte wie Brügge,
Gent, Antwerpen, Aachen, Köln, Straßburg, Augsburg, Um, Wien
leifteten im diefer Hinficht ganz Bedeutendes und namentlich die kunſt—
finnigen Burgunderherzoge waren e8, die diefen Zweig des Kunſtgewerbes
ſchützten. „Die Librarier-Gilden zu Gent und Brügge, berichtet Kapp,
faßten die gejamten, bei Herftellung von Handichriften mitwirkenden
Gewerbe in fih. Das jet in der Et. Nifolaus-Bibliothef in Venedig
befindliche Breviarium Grimani wurde etwa 1478 von niederländijlchen
Künftlern, namentlih) Johann Meinmling, angefangen und 1489 vom
Kardinal Gramani für 500 Dufaten gekauft. Ziemlich aus derjelben Zeit
(1468 oder 69) und aus der nämlichen Schule ſtammt die urjprünglid)
für den Sohn Philipps von Burgund gejchriebene und gegemwärtig der
Breslauer Univerfitätsbibliothef gehörige Froiſſard'ſche Chronik. Das in
dem Brücdenthal’ihen Mufeum zu Hermannjtadt aufbewahrte Gebetbuch
ift ein ebenſo treffliches Erzeugnis niederländiicher Miniaturmalerei und
fommt meiltens in jeiner erften Hälfte durch die Pracht jeines matten
Goldgrundes und den Glanz feiner Farben dem Grimanijchen Breviarium
faft ganz gleich.“
Doc waren es, wie oben jchon angedeutet, nicht bloß Prachtwerfe,
die aus den Händen diefer Schreiber hervorgingen. Schul- und Andacht3-
Ichriften, populäre und ſogar politiiche Flugjchriftenlitteratur findet man
jegt jchon, und wenn die zünftigen und die auf feite Beftellung arbeitenden
Schreiber feinen Grund hatten, ihren Wohnſitz zu verlafien, jo gab es
auch jetzt ſchon unternehmende Geifter, die auf Jahrmärkten und Mefjen
umberzogen und einen wenn auch noch bejchräntten litterariichen Verkehr
vermittelten. Ihr Verfauflager befand ſich auf öffentlichen Plätzen am
Markte, am Rathaufe oder in der Nähe der bedeutendften Kirchen, ja
jogar manchmal in.den Kirchen jelbft, und dort boten fie nicht allein
ihre eigenen, ſondern aud) die Erzeugnifje der älteren Kunft aus, jo daß
wir aljo jchon hier dem Antiquariat begegnen. Die Spuren diejes Handels
treffen wir übrigens am jpätelten in Deutjchland an, Wir erfahren von
Handichriftenhändlern, die Frankreich, Italien und Deutichland bejuchten,
allein wir finden gerade für Deutichland nur wenige Anhaltspunkte und
nur für die Heine Elſäſſiſche Reichsſtadt Hagenau Hat Kirchhoff einen
Starken Handichriftenhandel nachgewiejen, der auf die ganzen damaligen
Das Buch und feine Geichichte Bis zur Erfindung der Vuchdruderfunft. 547
Berhältniffe ein klares Licht wirft. Ob es die Nähe der Univerfität
Heidelberg war, die die hier herrſchende Regſamkeit hervorrief, oder ob
gar die Nachwehen der außerordentlihen Cchreiberthätigfeit auf den
Konzilien zu Konftanz und Baſel, von welchem lebteren Davis wohl mit
Recht jagt: quod coneilium, qui scholam librariorum dixerit, haud
errabit, hier zu juchen find, mag dahin gejtellt bleiben; genug, das Vor—
handenſein ausgedehnter Schreiberſchulen dajelbit, die jogar häufig ihren
Überfluß an Schülern und ‚Mitgliedern anderen Städten mitgeteilt zu
haben jcheinen, ift Thatſache. Die Heritellung der Handſchriften jcheint
gleihjam fabrifmäßig vor fich gegangen zu fein; der eine Schreiber be-
jorgte den Text, ein anderer rubrizierte denjelben, malte auch wohl aus-
geführte Initialen hinein, ein anderer bejorgte das Hineinkledjen der
Schablonen (gemolte Bucher), ein anderer das Binden. Es finden fidh
noch bejtimmt aus diejer Fabrik hervorgegangene Handſchriften, in denen
die eine oder andere diefer Zuthaten, z. B. die rohen Bilder, noch fehlen.
In anderen Fällen bejorgte aber aud) wohl ein und diejelbe Perſon die
vollftändige Herjtellung der ganzen Handichrift, wie es denn z. B. am
Schluſſe einer jolchen, die fieben weiſen Meifter enthaltend, heißt:
Dis buch vollenbracht was
In der zit, also man schreip und las
Tusent und vyer hundert jar
Nach Christus gebort daz ist war,
Dar nach jn dem eyn und siebenzigsten jar
Uff sant Pauly bekarung dar ist ware
Von Hans Dirmsteyn wist vor war
Der hait es geschreben und gemacht
Gemalt, gebunden und gantz follenbracht.
Diefe und wohl auch andere etwa vorhandene ähnliche Bücherfabrifen
produzierten num, was ihnen nur irgendwie abſatzfähig erichien; in Hagenau
iheinen namentlich neben den mehr wiljenjchaftlihen Werfen in lateinischer
Sprade die für das größere Bublitum bejtimmten deutjchen Werfe zu
Tage gefördert worden zu fein; jelbjt die unterjten Volksklaſſen wurden
nicht unberüdfichtigt gelaflen. Neben „guten lateinischen buchern“ er-
Icheinen die größeren epiſchen Gedichte des Mittelalters, Kleinere poetiiche
Werke, Sagen, Volksbücher, juriftiiche Werke, die „golden bull“, bibliſche
und legendariiche Bücher, Gebetbücher, populäre medizinische Schriften,
Wahrjagebücher (Loßbücher), jelbit Spielfarten und Briefe (Heiligenbilder).
Es zeigt fi) ſogar eine gewilje gejchäftliche Verbindung derartiger Bücher-
fabrifanten vermittelit Austaufches, wie in Nördlingen. Als merfantili-
her Abzugstanal der Hagenauer Bücherfabrik erjcheint nun z. B. Diebold
Zauber, bald als Schreiber, bald als Lehrer bezeichnet, der jogar in dreien
35*
548 Das Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruderfumit.
feiner Handichriften fürmliche Ankündigungen feiner Büchervorräte hinter-
lafien hat.”
Entdedt man aljo ſchon hier jo etwas wie den Anfang eines Buch—
handels, fo fehen wir, daß fi) der Übergang hierzu auf eine ganz einfache
und natürliche Weiſe vollzog, ohne übrigens auch da, als die Buchdruder-
funft in die Welt trat, dem Gewerbe der Schreiber mit einem Male ein
Ende zu maden. Die Sammlung jolher Handſchriften nun war jelten
und Klein, und Italien und Frankreich waren auch hierin Deutjchland mehr
vorangegangen. Gerade der Umstand, daß eine nur einigermaßen umfang-
reiche Bibliothek als etwas Außerordentlihes gerühmt ward, beweijt wie
foftbar eine folche fein mußte, in einer Zeit, wo das Pergament noch auf
gleicher Stufe mit dem Silber ftand, und wo ſich das Kloſter Benedift-
beuren im 8. und 9. Jahrhundert der koſtbarſten und reichhaltigiten Bi—
bliothef in ganz Bayern rühmen konnte, weil es 50 Handſchriften bejaß.
Wenn wir erfahren, daß der Mönch Ulrich ein Meßbuch 1054 gegen einen
umfangreichen Weinberg vertaujchte, oder daß die Nonne Piemuth von
Weſſobrunn für eine von ihr geichriebene Bibel ein Landgut von Preißen—
berg erhielt, fo fünnen wir uns einen ungefähren Begriff von dem Wert
folder Handichriften machen. Und noch im 14. Jahrhundert waren die
Handichriften fo teuer, daß ihre Übergabe als ein wichtiger gerichtlicher
Akt angefehen wurde, andererjeit$ waren fie aber auch mit einem ſolch
foftbaren Luxus ausgeftattet, daß man dies heutzutage faum mehr be-
greifen fann. Kapp führt hierfür einige Beiſpiele an: „Etienne de Conty
zahlte für eine Lurusabjchrift und den Prachteinband der 1345 verfaßten
Henry Boſiſchen Kommentare in Parijer Währung 62 Livres 11 Sous,
eine Summe, welche einem heutigen Geldwert von etwa 825 Franken
entipricht. Davon kommen unter anderem auf Gebühren an den Ab-
ichreiber 31 Livres 5 Sous, auf das Pergament 18 Livred 18 Sous,
auf ſehr große vergoldete Initialen 1 Livre 10 Sous, auf die übrigen
roten, ſchwarzen und blauen Iluminationen 3 Livre8 6 Sous, auf Miete
an den Bedell der Pariſer Univerfität 4 Livres und auf Einband 1 Livre
12 Sous. Eine gute Abjchrift des Corpus juris foftete 1000 Goldgulden,
fo daß der berühmte Jurift Aceurfius nicht imftande war, fich eine jolche
anzufchaffen. Der Eichjtätter Domherr Hans Prafjel zahlte 1429 für
einen Livins 120 Goldgulden. Plutarchs Parallelen wurden 1470 mit
800 Goldgulden bezahlt. Der Bruder Janvon Enkhuiſen aus Zwolle
erhielt einjchließlich feiner Barauslagen für ein Prachteremplar der Bibel
500 Goldgulden, eine einfache Bibel dagegen Eoftete 100 Kronen. Die
Gräfin von Anjou gab für ein Eremplar „Homilien” Haimons des Bi-
ichof3 von Halberjtadt 200 Schafe, 5 Malter Weizen und ebenjoviel Reis
und Hirfe. Im Jahre 1474 verpfändete Ludwig XI. als Sicherheit für
Tas Buch und feine Geichichte bis zur Erfindung der Buchdruderfunit. 549
ein ihm von der Warijer medizinischen Fakultät geliehenes Manuffript
des arabijchen Arztes Rhaſes fein Silbergeſchirr, und jtellte außerdem
nod) einen Edelmann als Bürgen für die Nüdgabe. Ja, die Gräfin von
Blois, die Gattin eines Barons von Caftellane, vermachte 1392 in ihrem
Teſtament ihrer Tochter ein Manujfript des Corpus juris auf Pergament
unter der Bedingung, daß fie einen Rechtsgelehrten heirate, damit dieſer
koſtbare Schat in die rechten Hände fomme. Der große Barifer Buch—
händler Firmin Didot, einer der gelehrteften und praftiich erfahrenften
Bibliographen der Neuzeit, berechnet die Höhe der Herftellungstoften der
beiden in der Pariſer Nationalbibliothet befindlichen lateiniſch-franzöſiſchen
handichriftlichen Bibeln auf 82000 beziehungsmeile 50000 Franken heu—
tiger Währung, und jchließt von diefer Berechnung ſogar den Preis des
Pergaments, den Lohn des gewöhnlichen Schreiber und die Koften des
Einbandes aus. Es giebt aber auch wenig Werke, welche wie die teuerfte
der genannten Bibeln 5122 in Gold und Silber gemalte Bildchen ent-
halten. Didot ſchätzt jede diefer Jlluftrationen auf rund 16 Frank, ihren
Gejamtwert auf 81958 Franken!”
Natürlih läßt fich von diefen Preifen nicht auf den Durchfchnitt
ſchließen, obgleicy auch die für den Elementarunterricht nötigen Schriften
immer noch unverhältnismäßig hoch im Preife ftanden. Die mehr und
mehr wachjende Konkurrenz drückte indeſſen bald auch hier die Preiſe
nieder, und da jedem der Sinn für Litteratur mehr und mehr ſchwand,
jo daß Handichriftendiebftahl von einzelnen Bibliomanen in dieſer Zeit
oft vorfommen konnte, jo machte fi) das Bedürfnis einer Reaktion ficht-
bar. Italien war wiederum dasjenige Land, das allmählich feine Biblio—
thefen erweiterte und fie mit foftbaren Schäßen verſah. Erſt in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begann das von den italienischen
Humaniften gegebene Beijpiel auch auf Deutichland feinen Einfluß aus-
zuüben. „Die Anlegung größerer Privatbibliothefen traf Hier alfo mit
der Erfindung und Ausdehnung der Buchdruderkunft zufammen, Junge
Juriften, wie 3. B. der Straßburger Peter Schott (1480), welcher in
Bologna ftudiert Hatte, brachten wertvolle Handſchriften von klaſſiſchen,
juriftiichen und theologischen Werfen mit nad) Deutichland. Nürnberger,
Augsburger und Straßburger Patrizier oder Gelehrte, wie Chriſtoph
Scheurl, Wilibald Pirdheimer, Konrad PBeutinger, Guftav von Kaijers-
berg und Sebaftian Brant beſaßen anjehnliche Bibliotheken, ja ſelbſt der
Adel begann folche anzulegen, und Brant konnte in feinem „Narrenjchiff“
ſchon die Büchernarren verjpotten,” (app a. a. Orte.)
So Standen die Dinge, ald Gutenberg mit feiner Erfindung hervor-
trat, der rechte Mann zur rechten Zeit. — — —
Die Segnungen, die ſich an die nun folgende Epoche der Geſchichte
550 Das Bud und feine Geſchichte bis zur Entitehung der Buchdruderfunft,
des Buches Fnüpfen, find jo vielgeftaltige, daß wir Kinder der Neuzeit
nicht genug den Wert, den die Kunſt Gutenbergs für die gefamte kultu—
relle Welt bedeutet, jchäben Ternen fünnen. Auf der nun gewonnenen
breiteren Baſis der voraufgegangenen Artikel wird der nächſte Band der
„Akademie“ die Erfindung der Buchdruderfunft und die weitere Ent-
widelungsgejchichte des Buches bringen, ſodaß jomit ein Gejamtbild der
Geſchichte des Buches von feinen Uranfängen bis zur Gegenwart ge-
boten wird,
>
Der Einkauf der Büder.
Eine Darftelung für junge Sortimenter,
(Schluß.)
Der Verleger fakturiert in diefem Falle wie folgt:
per Post — Eilzug — (rüterzug.
Leipzig, den 2. November 1887.
Herrn PAUL NEUMANN in Bitterfeld
sendet Georg Raabe in Leipzig
nach Verlangen vom 29. 10.
äcond.| fest | bar |
1 Brenning, Lehrbuch der Weltgesch.
I. Bd. 1. Lief. pro 1.—12. Lief.
a 0,75 Mk. ord.| 6 —
| 0,50 Mk. netto
REEEES EI EEE NE
Die ſpäter erjcheinenden Lieferungen 2—12 werden „als Reit” ohne
Berechnung verjandt,
$ 15 unjeres Ujancen-$loder heißt:
„Der Verleger ift verpflichtet, die vorausberechneten Teile eines Wer-
fes auch wirklich Taut Faktur zu liefern. Thut er e8 nicht, jo ift der
Sortimenter berechtigt, ihm die bereit3 empfangenen Zeile unter Berech—
nung des Ganzen zurüdzufchiden, auch wenn diejelben bereit3 aufgejchnit-
ten find.”
Dieje Beitimmungen find nicht ganz präziſe. Sie enthalten nämlich
nicht eine Friftbeftimmung für die Nachlieferung. Neben dem Recht zu
remittieren, fteht dem Sortimenter naturgemäß auch das Recht zu, den
Betrag für die bis Oſtermeſſe nicht gelieferten Lieferungen (Teile, Bände
u. |. w.) vorzutragen auf neue Rechnung.
Nachnahme .............- BE ... Pf. empfangen. u
552 Der Ginfauf der Bücher.
Wir wenden uns nunmehr der Beichaffenheit der gelieferten
Bücher zu; $ 17 jagt:
„Der Berleger ift in jedem Falle verpflichtet, von dem beitellten
Buche die neuejte Auflage in volljtändigen und ſchadloſen Eremplaren zu
liefern; er hat aber nicht die Pflicht, von dem etwa bald bevorstehenden
Erjcheinen einer neuen Yuflage, ohne bejonderes Befragen, dabei Mit-
teilung zu machen.“
Gegen die Gefahr, ein beitelltes Buch durch das baldige Ericheinen
einer neuen Auflage zu entwerten, jchügen fich viele Sortimenter, indem
jie auf ihrem Berlangzettel den Vermerk aufdruden laſſen: „zeit, im
Falle binnen Jahresfriſt Feine neue Auflage zu erwarten fteht.“
Ältere Auflagen braucht der Verleger nicht zurüdzunehmen, wenn
die Beitellung diefen Vorbehalt nicht enthielt.
$ 18 beitimmt: „Befigt der Verleger feine tabellojen Eremplare des
beitellten Buches, jo hat er dem beftellenden Sortimenter hiervon Mit-
teilung zu machen; unterläßt er e8, jo ijt er im Falle der Annahmever-
weigerung zur NRiüdnahme verpflichtet.”
Die Beitimmungen, welche diefer Paragraph über die Lieferung von
Defekten enthält, haben wir an anderer Stelle wiedergegeben. Wenn in
demjelben die Verpflichtung des Verlegers zur Nadjlieferung der Defekte
auf 6 Monate nach dem Bezuge beſchränkt ift, jo dürfte dieſe Friſtbe—
ftimmung für die praftiihen Bedürfniffe zu kurz bemefjen fein. Bemer—
fenswert ijt der Schlußla des 8 18:
„Die Handichriftliche vom Inhaber unterzeichnete Bemerkung auf der
Faktur „Bor Expedition Follationiert” verpflichtet den Empfänger zu ſo—
fortiger Anzeige eines vorgefundenen Mangels und entzieht ihm das Recht
jpäterer Reklamation.”
Tür die Rüdnahme gelieferter Bücher gelten folgende Beſtim—
mungen als allgemeiner Gejchäftsgebraud):
$ 19: „Zur Rücknahme feſt oder bar bezogener Bücher ift der Ver—
leger nicht verpflichtet; Dagegen bat er feſt zur Fortjegung Zeitjchriften
und Journale zurüdzunehmen, falls der Sortimenter diefelben alsbald
nah Empfang der eriten Nummern oder Hefte des berechneten Quartals,
Sahrganges oder Bandes abbejtellt.*
$ 20: „Der Verleger ift nicht verpflichtet, à condition gelieferte
Bücher zurücdzunehmen, wenn fie Spuren folder Beihädigung an fich
tragen, die durch mangelnde Sorgfalt des Sortimenterd bei Aufbewah-
rung oder Verpadung und nicht naturgemäß durch Lagern oder Verjenden
entitanden find.“
Gegen dieſe Ufancen dürfte wohl fein Fachmann etwas einzuwenden
haben; ſehr fraglich und anfechtbar ift jedoch $ 21, wie aus dem, was
Der Einkauf der Bücher. 553
wir früher gejagt, hervorgeht; die Beſtimmung: „Der Verleger ift nicht
verpflichtet, bar gelieferte Exemplare eines Buches an Stelle von à con-
dition gelieferten zurüdzunehmen“ entjpricht auf feinen Fall dem allge-
meinen Gejchäftsgebrauh und würde, vom Börfenverein zum Gejeß er-
hoben, die Thätigfeit des Sortimenters jehr hemmen.
Über Fracht und Emballage der Bücherſendungen gelten folgende
Beitimmungen:
$ 22: „Die Beförderung der Bücherware gejchieht, wenn nicht an-
der3 bejtimmt, über den Kommilfionsplag, d. h. der Verleger hat die für
einen Sortimenter beitimmten Bücherbeilchlüffe dem Kommijfionär des
legteren franfo zugehen zu lafjen. Der Sortimenter hat zurüdgehende
Bücher (Remittenda) dem betreffenden Kommiſſionär des Verlegers franko
zugehen zu lafjen.
8 23: „Die Koften für direkte Zufendungen auf Koften des Em-
pfänger® per Boft, Eilgut oder Frachtgut hat der Beſteller zu tragen.
Eine Berechnung von Emballage findet zwiſchen Verleger und Sortimen-
ter bei Benutzung des Buchhändlerweges nicht ftatt, abgejehen von be-
jonderen Beitimmungen einzelner Verleger betr. Emballierung zwijchen
Brettern und in Kiſten. Solche Emballage darf der Sortimenter dem
Berleger franko Kommilfionsplag zurückſchicken.“
Die jo oft zu langwierigen Streitigkeiten Anlaß gebende Frage der
Haftpflicht reguliert unjer Ujancen-Koder in der etwas zu gebrängten
Faſſung:
($ 24) „Die Haftbarkeit des Sortimenters für die ihn auf Verlangen
(Einzelbeftellung oder laut Bezeichnung im Buchhändler-Adreßbuch) bar,
feft oder A condition erpedierten Bücher beginnt mit deren Übergabe an
feinen Kommiffionär und endet für Nemittenden mit deren Übergabe an
den Kommijfionär des Verleger. Bei direkten Sendungen beginnt die
Haftbarkfeit im Moment der Abjendung und zivar für denjenigen, welcher
die direkte Verſendung beitimmt hat.“
Diefe Beitimmung dürfte im wejentlihen das Wünjchenswerte ent-
halten. Wir müſſen jedoch zu derjelben bemerken, daß die in ihr ent-
haltenen Stipulationen keineswegs darauf Anſpruch erheben können, all-
gemein anerkannt zu fein; namentlich die Frage der Haftpflicht bei un—
verlangten Novajendungen wird ſehr verjchieden beantwortet. Da jedoch
Schürmann in feinem vortrefflichen Werke den Gegenftand in einem jehr
umfangreichen Kapitel ausführlich behandelt hat, und da es überhaupt
nicht unfere Aufgabe jein kann, uns auf juriſtiſche Spihfindigfeiten ein-
zulaffen, begnügen wir uns mit der Wiedergabe der von bewährten Fach—
leuten als wünſchenswert hingeftellten Ujancen.
554 Der Einkauf der Bücher,
Über den Bar-Berkehr entnehmen wir derjelben Quelle:
($ 30): „Gegen bar werden exrpebiert:
1) Ale nicht bejonders mit & condition bezeichneten Bejtellungen
jolher Firmen, mit denen der betreffende Verleger nicht in laufender
Rechnung fteht.
2) Alle fogenannten Bar-Artifel, d. h. ſolche Werke, welche, wie z. 8.
viele Zeitichriften und Kalender u. ſ. w. der betreffende Verleger über-
haupt allgemein nur gegen Nachnahme des Nettobetrages liefert.
3) Alle feiten Beitellungen, welche auf Formularen erfolgen mit der
Bemerkung: Feitverlangtes gegen bar, wenn mit erhöhten Rabatt.
4) Fortjegungen, deren frühere Teile bereit ebenfall$ gegen bar
erpediert wurden und zwar, wenn auch feine fpezielle Beftellung für
den neu erjchienenen Teil, Lieferung u. j. w. vorliegt.“
5) Alle ausdrüdlic bar verlangte Sendungen (dieſe find in der Auf-
zählung des Ujancen-Koder vergeffen worden). —
Bereit3 bei der Erläuterung des buchhändlerischen Bezugs und Lie
ferung3modus haben wir gejagt, daß die feiten Sendungen ſowie auch
die a condition in Jahresrehnung erfolgen, und daß das buchhänd—
leriſche Rechnungsjahr dem Kalenderjahr entjpricht. „Über die A con-
dition empfangenen Werke hat der Sortimenter bis zu der auf das Rech—
nungsjahr, in welchem fie geliefert wurden, folgenden Oſtermeſſe die Ver—
fügung. Verlangt der Verleger & condition gelieferte Werfe im Laufe
des Jahres zurück, fo hat der Sortimenter diefem Verlangen thunlichit
nachzufommen; der Verleger ijt aber, falls nicht diesbezüglich ausdrüdlich
Abmahungen zwilchen ihm und dem Sortimenter durch Vorbehalt auf
den Begleitfafturen u. j. w. getroffen find, nicht berechtigt, die Rücknahme
jolder Werke zur Oſtermeſſe zu verweigern“ ($ 28).
Diefe Anficht ſprach ſchon F. 3. Frommann im Jahre 1863 aus,
wo er im „Börfenblatt” Nr. 100 jchreibt:
„Will ſich ein Verleger frühere Remiſſion vorbehalten, jo hat er dies
ausdrüdlih vor Abjendung des oder der Artikel zu erflären und erlangt
dadurch einen rechtlichen Anſpruch nur, wenn fich der Sortimenter diejer
Bedingung ausdrüdlich unterworfen hat.“
Für „zurüdverlangte Neuigkeiten“ exiftiert im „Börjenblatt“ eine
bejondere Rubrik, die der Sortimenter in jeder Nummer zu beachten hat.
Die Verleger Heiden ihre Bitten gewöhnlich in folgende Form:
„Wir erbitten umgehend zurück:
Baumgart, Grundsätze und Bedingungen der Erteilung der Doktorwürde.
3. Aufl. Preis 3 Mk. ord., 2,25 Mk. netto.
Nach dem 15. Oktober a. c. nehmen wir Exemplare nicht mehr zurück.
Berlin, 10. September 1896,
R. v. DECKER’s Verlag.“
Der Einfauf der Bücher. 555
Außerdem veröffentlicht das „Börſenblatt“ I4tägig eine (grüne)
Lifte, in der alle im Laufe der Zeit zurücverlangten Neuigkeiten ver:
zeichnet find. Der Sortimenter darf natürlich nicht erft auf dieſe Lifte
warten, da er jonft manches Werk, das er gerade weiter verjendet hat,
nicht früh genug zurüderlangen kann. Zur Kontrolle aber ift die Liſte
praktiſch.
Im Anſchluß an dieſe Abhandlung wird im folgenden Bande der
„Buchhändler-Akademie“ eine Darſtellung des Rechnungsverkehrs zwiſchen
Sortimenter und Verleger folgen.
>
Dur Jubelfeier der Erfindung der Lithographie.
— —
Anſchließend an die Abhandlung unſeres Kollegen Hölſcher über
„Senefelder“ auf Seite 458 u. f. der „Buchhändler-Akademie“ dürfte
es für die Leſer von Intereſſe ſein, eine Aufſtellung der Litteratur der
„Lithographie” im Auszuge bier zu finden.
Zunächſt jei erwähnt des Erfinders eigenes Werk:
1) Senefelder, U, vollitändiges Lehrbuch der Steindruderey, enthaltend
2)
3)
eine richtige und deutliche Anweiſung zu den verichiedenen Mani-
pulationg-Arten derjelben in allen ihren Zweigen und Manieren,
belegt mit den nöthigen Mufterblättern, nebft einer vorangehenden
ausführlihen Geichichte diefer Kunft von ihrem ntjtehen bis
auf gegenwärtige Zeit. Mit einer VBorrede von Fr. v. Schlichte-
grol. München 1818. 4.
Dasſelbe Buch in franzöfifcher Übertragung:
l’art de la lithographie, ou instruction pratique contenant la
description claire et succinete des differens proc&d‘s a suivre
pour dessiner, graver et imprimer sur pierre; précédée
d’une histoire de la lithographie et de ses divers progrös.
Munich 1819. 8.
Desgleichen in engliſcher Sprade:
a complete course of lithography: containing elear and ex-
plieit instructions in all the different branches and manners
of that art: accompanied by illustrative specimens of dra-
wings. Tho which is prefixed a bistory of lithography, from
its origin to the present time. With a preface by Fred v.
Schlichtegroll. Transl. fr. the orig. German, by A. 8.
London 1819. 4.
4) Album lithographique, publie par Jos. Heim. Wien 1890. gr. 4.
5) Arbeiten, internationale merkantile. Vorlagen für Lithographen.
Wien 1890. 24 Blatt. qu. Fol.
Zur Jubelfeier der Erfindung der Lithographie. 557
6) Bergmann, 8%. Das Ganze des Steindruds oder vollftändige
theoretijch-praftiiche Anweilung zur Ausübung der Lithographie
in ihrem ganzen Umfange und auf ihrem jegigen Standpunfte;
Anleitung zur Anfertigung von Steinzeihnungen nad) allen ge-
bräuchlichen Manieren, zur Lithochromie oder dem Farbendrude
und zu allen jonitigen lithographiichen Operationen; Bejchrei-
bung aller Apparate und Geräthichaften zum Steindrude ꝛc.
Nebſt einem Unhange von der Zinfographiee Mit Zugrunde-
legung der eriten Auflage des befannten Peſcheckſchen Werkes
nach den jegigen Bedürfnifjen ganz meu bearbeitet. Mit 63 Ab-
bildungen auf 6 Tafeln. 2. völlig umgearbeitete Auflage.
Weimar 1843, 8.
3. Aufl., Weimar 1856. 8.
4, Aufl., bearb. von Heinr. Weishaupt, nebſt einem
Atlas von 10 Tafeln. Weimar 1865. 8.
5. Aufl., nebſt einem Atlas von 12 Tafeln, enthaltend
140 Abbildungen. Weimar 1875. 8. Atlas in 4.
6. Aufl, mit Anhang über anaftiichen Drud und Photo-
lithographie, bearb. von Th. Reined, nebjt Atlas von 11 Folio—
tafeln. Weimar 1895. gr. 8.
7) Brandin, F. W., praftiiche Anweiſung zum Steindrud. Berlin 1821. 8.
8) Bregeant, R. L., vollftändiges Handbuch für Lithographen. Nebſt
9)
„
praftiicher Anweilung bei verjchiedenen Manieren in der Stein-
druderei ꝛc. für Steinbereiter, Steinzeichner, Steindruder und
Liebhaber diefer Kunft. Aus dem Franzöfiichen, 2. vermehrte
Ausgabe. Mit 19 Abbildungen. Ulm 1829. 8.
Der Titel des franzöſiſchen Driginalwerfes lautet:
manual complet theorique et pratique du dessinateur et de
l’impremeur lithographe. 2. edition, revue, corrigee, augmen-
tee, et ornee de 12 lithographies. Paris 1827. 12.
10) Chevallier et Langlume, memoire sur l’art du lithographe.
11) D...
Ameliorations & y aphorter. Paris 1828. 8,
„„ procédé actuel de la lithographie mise a la portée de
l’artiste et de l’amateur, ouvrage contenant les differens pro-
cedes qu’il est indispensable de suivre pour obtenir un resul-
tat satisfaisant, el à l’aide duquel on peut soi-m&me, sans
le secours de qui que ce soit, mettre au jour toutes sortes
de productions utiles, ingenieuses et agreables. Paris 1818. 8.
12) Desportes, Jul., manuel pratique du lithographe, Ouvrage aug-
mente de notes sur les nouveaux procedes, avec les lois et or-
donnances qui regissent cette profession. Paris 1834. 8,
558 Zur Nubelfeier der Erfindung der Yithograpbie.
13) Dunft, I. M., pradtiiches Lehrbuch der Lithographie und Stein-
druderfunft. Nach den neueſten und eigenen Erfahrungen her-
ausgegeben und mit den nöthigen Zeichnungen, Alphabeten und
Mujfterblättern begleitet. Mit Bildnis U. Senefelders. Bonn
1836. 8.
14) Dunft jun., Tajchenbuc der nothwendigiten Recepte für jeden Litho-
graphen und Steindruder oder genaue Anleitung, wie man eine
gute chemiſche Tusche (Tinte) ſowohl zum Lithographiren als zum
Umdrud, Kreide zum Steinzeichnen, und alle bunte und ſchwarze
Farben zum Druden der verjchiedenen Manieren verfertigt, nebft
einer furzen Bejchreibung, wie die Steine bei den verjchiedenen
Manieren präparirt, und jelbjt ruinirte (verdorbene) Steine
wieder in brauchbaren Zuftand gejegt werden fünnen auf praf-
tiiche Erfahrung gegründet. Bonn 1835. 8,
15) Engelmann, G., rapport sur la lithographie introduite en France.
Mulhausen 1815. 4.
16) „ manuel du dessinateur lithographe ou description des meil-
leurs moyens ı employer pour faire des dessins sur pierre dans
tous les genres connus, suivie l’une instruction sur le nouveau
procede du lavis lithographique. Paris 1822. 8.
17) „ Das Gejfammtgebiet der Lithographie, oder: theoretiiche und praf-
tiiche Anleitung zur Ausübung der Lithographie nach ihrem
ganzen Umfange, dur) Darlegung und Veranfhaulicyung der
eriten Elemente bis zur Angabe des Verfahrens bei Herftellung
des Höchſten und Vollendetiten, was diefe Kunft bis jet Tiefert.
Eingeleitet durch eine authentiſche Gejchichte ihrer Erfindung und
Entwidelung und durch 49 Tafeln mit zahlreichen Abbildungen
erläutert. Überjegung aus dem Franz., mit befonderer Rüdficht
auf den Zuftand und die Ergebnifje der deutihen Lithographie
bearbeitet und mit den nöthigen Zufäßen verjehen von W. Pabſt
und A. Kretzſchmar. Chemnitz 1840. 4.
18) Ferchl, F. M, Geſchichte der Errichtung der Erſten Lithographiichen
Kunftanstalt bei der Feiertags-Schule für Künftler und Techniker
in München. Aus Auftrag des hohen Magijtrates von Mün—
chen bei Gelegenheit des neunzigſten Geburtstages des Erfinders
der Lithographie Johann Aloys Senefelder, verfaßt, und mit
einer furzen Gejchichte diefer ruhmvollen Münchener Erfindung,
nebſt einer Überficht der einzig beftehenden, vollftändigen Incu—
nabeln-Sammlung der Lithographie begleitet. Mit Abbildungen
der jeltenften Tithograph. Incunabeln. München 1862. 8.
(vergl. Nr. 33).
Zur Jubelfeier der Erfindung der Lithographie. 559
19) Ferchl, F. M. Überficht der einzig beftehenden, vollftändigen In—
cunabeln-Sammlung der Lithographie und der übrigen Senefelder-
Ihen Erfindungen, als: Metallographie, Bapyrographie, Bapier-
ftereotypen und Olgemäldedrud (ohne Preſſe). Mit einem Vor-
wort begleitet zur Sechzigjährigen Gedächtnisfeier der Münchener
Erfindung der Lithographie. Mit vielen Abbildungen der jel-
tenjten lithographiichen Incunabeln. München 1856. 8.
20) Fri, G. Die Photolithographie mit 8 Holzichnitten und 8 Tafeln.
Halle 1894. 8.
21) Geheimnis, Das, des Steindrud3 in jeinem ganzen Umfange, praf-
tisch und ohne Rückhalt nad) eigenen Erfahrungen bejchrieben
von einem Liebhaber. (FF. Rapp) Tübingen 1810. 8.
22) Heſſe, F. Pie Ehromolithographie mit bejonderer Berückſichtigung
der modernen auf photographiiher Grundlage bafierenden Ver—
fahren. Halle 1896. 8.
23) Houbloup, theorie lithographique, ou maniere facile d’apprendre
a imprimer soi-meme; contenant 6 planches reprösentant 11
sujets. Paris 1825. 8.
24) Hove, van. Der Steindrud nad den ficheriten und untrüglichiten
Grundjägen und allen bis heute in der Lithographie gemachten
Fortichritten und Verbejjerungen faßlich dargeftellt, nebſt einer
Anweifung zu feiner practiihen Behandlung auf zehnjährige Er-
fahrungen gegründet, für Steinzeichner, Steindruder, Künftler
und Liebhaber dieſer Kunſt. Hamburg 1828. 8.
25) Hullmandel, C, the art of drawing on stone, giving a full ex-
planation of the varions styles, of the different methods to
be employed to ensure success, and of the modes of correcting,
as well as of the several causes of failure With 19 plates,
London 1824. gr. 8.
26) Klimſch, K. Adreßbuch der Buch- und Steindrudereien und der
damit vertvandten Gefhäftszweige in Deutſchland, Öfterreich und
der Schweiz. Frankfurt a. M. 1876. gr. 8.
Ausgabe 1886 mit Ungarn, Holland und Zuremburg. gr. 8.
m 1890 nur des deutihen Weiche. Lex. 8.
27) Kohl, 8. Practiſche Anleitung zur Lithographie. Mit der Abbil-
dung einer Steindrudprejfe. Wien 1820, 8,
28) Krauß & Malte, Handbuch für Lithographen und Steindruder,
enthaltend eine genaue Beichreibung des Verfahrens bei allen
bis jeßt zur Anwendung gekommenen Manieren, bejonders der
Kreide-, Feder-, Gravir- und ützmanier, der Autographie, des
Schwarz, Farben- und Tondruds, der Herjtellung ſämtlicher
56.) Zur Aubelfeier der Erfindung der Lithographie.
zur Ausübung dieſer Kunſt nöthigen hemishen Produfte und Zu—
jammenjegungen, als: Firniffe, Drudfarben, Kreiden, Tuſche,
Präparationgmittel u. j. w. Nebſt gründlicher Anweiſung die
in neuerer Zeit in Gebrauch gefommenen Weliefe, Medaillen
u. ſ. w. auf galvaniichem Wege jelbjt zu vervielfältigen und zu
copiren. Mit einer Lebensbeichreibung und Bildnis Senefelders
mit 3 Tafeln. Stuttgart 1853. 8. .
29) Krone, E. Beitrag zur Gejchichte der Begründung der Steindruderei
in Sclefien. Erinnerungen aus dem eigenen Leben. ©. N.
aus Schleſ. Provinzialbl. Breslau 1866. 8.
30) Mairet, F., notice sur la lithographie. 2 edition suivie d’un
essai sur la reliure et le blanchiment des livres et gravures.
Chatillon-sur-Seine 1824. 8.
31) Meta, O. Der Steindruder an der Schnellprefie nebit einer Ab-
handlung über die Farben in der Chromolithographie. ©. N.
Wien 1884. 8.
32) Muſterbuch über alle lithographiihe Kunjt- Manieren, welche die
Königliche allein privilegirte Steindruderey von Aloys Senefel-
der, Franz Gleißner & Comp. in München in jolchen Arbeiten,
jo die Kupferſtecher, Formſchneide- und Buchdrucker-Kunſt nach—
ahmen, zu liefern im Stande iſt. Herausg. von A. Senefelder.
1. Heft. München 1809. Fol.
33) Nagler, ©. K. U. Senefelder und der geiſtliche Rat Simon Schmid
als Rivalen in der Geſchichte der Erfindung des mechaniſchen
Steindruckes, nicht der Lithographie in höherer Bedeutung. Ab—
wehr der Behauptungen und maßloſen Angriffe in F. M. Ferchls
Geſchichte c. München 1862. 8. (j. Nr. 18).
34) Netto, F. A. W. Das Geheimnis des Ölbilderdruds, erfunden
vom Maler Liepmann in Berlin und nad) eigenen Berjuchen
und Erfahrungen mitgetheilt. Quedlinburg 1840. 8.
35) Neubürger, F. Der Farbendrud auf der Steindrudprejje. Chro-
molithographie. Mit 21 Tafeln. Berlin 1867. 8.
36) Peignot, G, essai historique, sur la lithographie, renfermant, 1.
l’histoire de cette decouverte, 2. une notice bibliographique
des ouvrages qui ont paru sur la lithographie; et 3. une
notice chromologique des differens genres de gravures qui
ont plus ou moins de rapport avec la lithographie. Paris
1819. 8.
37) Berwolf, Em. Die Farbendruderzeugung mitteljt Chromolitho-
und Chromozinfographie. Ein Grundriß für angehende Fach—
männer, Buch- und Kunfthändler. Wien 1878. 8.
Zur Aubelfeier der Erfindung der Lithographie. 561
38) Pfeilſchmidt, E. Aloys Senefelder. Ein Lebensbild in der Ruh—
meshalle deutjcher Erfindungen, anläßlid der Enthüllung des
Senefelderdenfmals in München am 6, November 1877 aufge-
ſtellt. S.“A. aus d. Dresd. Unz. Dresden 1877. 8.
39) Raucourt, memoire sur les exp@riences lithographiques faites ü
l’ecole royale des ponts ct chaussces de France; ou Manuel
thcorique et pratique du dessinateur et de l’imprimeur litho-
grapbes. Toulon 1819. 8.
40) Reich, W. Tie Farbenmilhungen für Drudereien. Steindrud, Buch—
drud, Lichtdruck. In 16 Heften. Berlin 1887. gr. 8.
41) Richmond, W. D. the grammar of lithography. 2. edition,
London 1880, 8.
42) Dasjelbe in deutjcher Übertragung:
„ Grammatik der Lithographie. Ein praftifcher Leitfaden für Litho-
graphen und Steindruder in Geſchäfts- und Kunftlithographie,
Chromolithographie, Zinfographie, Photolithographie und litho-
graphiichem Maſchinendruck. Mit einem Vorwort des Heraus-
geber8 der „Printing Times and Lithographer“. Deutſche
autor. Ausgabe, übertragen von Karl Aug. Franke. Leipzig
1880, 8,
43) Schnauß, Dr. 3. Der Lichtdrud und die PhHotolithographie. Nad)
eigenen Erfahrungen. 2. durchgejehene und vermehrte Auflage.
Düſſeldorf] Berlin 1880. 8.
44) Senefelder- Album. Herausgeg. von F. Schlotfe. Hamburg 1871. 4.
45) Stracker, C. instructions in theart oflithography. London 1867. 8.
46) Tudot, F., descriptions de tous les moyens de dessiner sur pi-
erre; avec l’ötude des causes qui peuvent empecher la reus-
site de l’impression des dessins. Paris 1833. 12.
47) „ Die Lithographie oder Beichreibung aller Mittel auf Stein zu
zeichnen. Nach der 2. verbejjerten und vermehrten Ausgabe, aus
dem Franzöfiichen überjegt von C. F. D. Stuttgart 1834. 8.
48) Waldheder, ©. F. Die Kunft einen gleihförmigen Drud beim
Steindrud zu erreihen. Nach einer neuen wohlfeilen Methode
dur) Angabe einer neuen Preſſe. Mit 9 Abbildungen. Osna—
brüd 1832. 8.
49) Zimmermann, E. Geſchichte der Lithographie in Hamburg. Feſi—
Schrift zur Säfularfeier der Erfindung der Lithographie in Ham—
burg Juli 1896. Mit 11 Bildern. Hamburg 1896. gr. 8.
502 Zur Jubelfeier der Grfindung ber Yithograpbie,
An Zeitichriften find zu erwähnen: „Deuticher Buch» und Stein-
druder“, Berlin, — „Lithographia“, Hamburg, — „le Lithographe“,
Baris. —
Über das vor kurzem von Scholz-Mainz erfundene neue Verfahren
in der Lithographie, genannt „Allgraphie”, ift mir Litteratur noch nicht
befannt geworden.
- Rudolf Schmidt.
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Dwanglofe Runoͤſchau.
„Sch weiß aber, daß Ste Bücher, die Ihnen gefallen, audy gern im Beſitz be
halten, und deshalb möchte ich fie auf eine neue Einrichtung hinweifen, die morgen
ind Leben tritt, das find die Bücherzeitungen. Der Bezugspreis iſt verſchwindend
gering. Die Berliner Bücherzeitung, die zweimal wöchentlich im Umfang von 14
bis 2 Bogen erfcheint, Eoftet vierteljährlich eine Darf. Sie brauchen nur auf der
Poft, die ja jebt, wie Ihnen befannt ift, mit dem Warenmarft verjchmolzen ift,
die Zeitung zu beitellen und den Betrag von Ihrem Guthaben abfchreiben zu laſſen.
Die Zeitung ift etwas ganz anderes, als die früheren Litteraturzeitungen; fie
berichtet nicht über erfchienene Bücher, fondern ausſchließlich über ſolche, die allen-
falls, d. h. wenn ſie Käufer genug finden, noch erjcheinen ſollen.
Im Ganzen wird in der nächſten Zeit etwa ein Dubend foldher Zeitungen ihr
Erſcheinen beginnen, wodurch ficherli die Bücherproduftion allmäblih in ganz
neue Bahnen gelenft werden wird.
Jede ſolche Zeitung entfteht in einem von Nedhtötwegen errichteten litterarifchen
Bureau, dad eine große Anzahl von Angeftellten aus allen Studtengebteten zählt.
Dort kann jedermann, der feinem Herzensdrange folgend irgend etwas dem Papier
anvertraut bat, fein Manuffript einer unbefangenen Prüfung unterziehen laſſen,
falls er nur eine Grundgebühr von 20 Mark und eine weitere Gebühr von je
ME, 2.— für jeden Bogen fich abziehen läßt, den fein Werf über 10 Bogen hin—
aus zählt. Berechnet werden Oktavbogen, die Seite mit 40 Korpuäzeilen. Jedes
ſolche Manuffript wird einem Referenten zum Durchlefen und zur Erftattung eines
forgfältigen Bericht3 übergeben und wenn biejer Bericht fertig geftellt ift, geht es
noch an zwei bis drei oder je nad) den Umftänden au an mehrere andere Referenten,
die ebenjalld ihr Urteil fchriftlich einzureichen haben. Alle dieje Berichte treffen
bei dem Borfigenden der Abteilung zufammen, ber aus den Berichterftattern einen
Hauptreferenten ernennt, biefem alle Einzelberichte zuftellt und ihn beauftragt, aus
allen diejen Urteilen die Summe zu ziehen. Dieſes endgiltige Gutachten wird dem
Verfaffer mitgeteilt, und fofern er fih dahin ausipricht, dak das Buch irgend
welche Ausficht auf Abſatz hat, in der Bücherzeitung veröffentlicht. Ste finden alſo
in biefer eine große Anzahl von Berichten über Werke, die gern gebrudt werben
möchten und es jteht bei Ihnen, den einen oder den andern Verfafler einer ſolchen
der Auferstehung harrenden Schrift, jo viel an Ihnen Liegt, glücklich zu machen.
Sie finden am Schluffe jedes NReferatö den Preis, der für die Schrift zu erlegen
tft, und zwar werben Sie erjehen, daß biefer jehr verſchieden iſt. Er ift ſehr hoch,
wenn mur 200, die geringste Anzahl, ſchon niedriger, wenn 500, am niebrigiten,
wenn 10000 oder mehr Gremplare bejtellt werden. Das liegt an den Saßkoſten
die jedenfalld herausfommen müſſen, die ſich alſo im erften Fall auf 200, im
36*
564 Zwangloſe Rundſchau.
letzten auf 10000 Exemplare verteilen. Die ſonſtigen Preisſchwankungen erklären
ſich daraus, daß die Verfaſſer berechtigt find, eine beſſimmte Summe von jedem
Gremplar zu fordern.
Sie fünnen nun ein ſolches Bud ruhig beitellen, ohne daß Sie befürchten
mühten, den hohen Preis der niedrigiten Auflage zu bezablen, Sie brauchen nur
ih die Preislage auszufuchen, die Ahnen genehm ift, und wenn das 3. B. ber
Preis bei einer Auflage von 2000 ift, auf der Beitellung zu bemerfen: „Unter:
zeichneter beftellt daS Bud, falls fich 2000 Beiteller zulammenfinden.“ Kommen
dann 10000 Beiteller, To haben Sie natürlih auch nur den niedrigeren Preis zu
erlegen; finden fi aber weniger ald 2000, jo wird Ihnen vom Warenamt mitge-
teilt, daß Ihre Beitellung nicht ausgeführt werden fonnte, '
Sie finden in ber Bücherzeitung, die ich Ihnen empfohlen habe, ſchlechterdings
alle Fächer vertreten. Es wird von jedem Fade das aufgenommen, was allge:
meines Intereffe hat. Daneben werden von demielben littereriihen Bureau zahl:
reihe Rahbücherzeitungen herausgegeben, die alles enthalten, was nad Anficht des
Bureaus lediglich für die Fachgenoſſen Intereſſe hat.
An jedem Referat finden Ste zunächſt eine jehr forgfältig gearbeitete Inhalts:
angabe des Werkes und dann das Urteil, das aus verichiedenen Urteilen zufammen:
geſetzt iſt und meiſtens diefen Urfprung ſehr deutlich fundgiebt. In der Regel be:
ginnt der leßtere Paſſus mit den Worten: „Von den Beurteilern, denen dad Werf
vorgelegen bat, lobt der eine. .... “; und auch Tabel werben Sie genug finden.
Übrigens ſteht es jedem Autor frei, im njeratenteil gegen das Urteil des Bureaus
an das Publikum zu appellieren,
Außerdem fann natürlich jeder fein Werf auf eigene often fegen, druden und
binden laſſen, felbit wenn es vom Bureau als gänzlich unreif abgelehnt wird.
Den Vertrieb beiorgt die allgemeine Warenverwaltung auch in diefem Falle; Be:
jtellungen berbeiführen muß natürlich der Autor jelbit.
Alle Bücherpreiie werden Sie genen früher ganz erheblich niedriger finden.
Das liegt daran, daß die Verleger auf Spekulation arbeiten mußten, fo daß die
guten, d. h. die qgutgehenden Bücher auch die Koften für die fchlechtgehenden mit:
zutragen batten, was jetzt wegfällt. Sie find daher in den Stand geſeßt, fich eine
angenehme Yektüre für einen billigen Preis zu verſchaffen.
Leider kann ich Ihnen die erite Nummer nicht beilegen, da fie erft morgen
ausgegeben wird; ich werde fie Ihnen morgen unter Kreuzband jenden.“
Diele kurioſe Geihichte haben wir einem neu erihienenen Buche „Der Um:
jturz“ von Berthold Dtto entnommen. Der Zukunftsſtaat tit ein Problem, über
deſſen Löſung Schon manche Geiſter philofopbierten. Wir haben es hier wieder
mit einem äußerſt geiftreihen Bude zu thun, das übrigens, wie die Probe zeigt,
durchaus nicht troden geichrieben iſt. Ich bin überzeugt, daß die Kollegen auch
ihre Freude an dem Buche haben, wenn fie es leſen. — Ja wenn fie es leſen! —
Es iſt eritaunlich, wie wenig ein Durdichmittsbuchhändler eigentlich lieſt. Hat er
fih aufgerafft zur Lektüre bes Börienblattes — nachdem er natürlich jein Lokal—
blatt beim Kaffeetiſch ſtudiert — und die Zirfulare durchgeſehen, jo iit er für den
Tag mit geiitiger Nahrung vollauf verſorgt. Die eritaunliche litterariiche Weis:
heit, die diefer oder jener Kollege noch zum Teil verrät, ſtammt nicht etwa aus
eigenen Studien und feine Kritifen gar aus eigener Überzeugung. Gott betvahre.
Ob ein Buch gut oder ſchlecht ift, jagt K. F. Köhlerd Barjortimentsfatalog, und
wo joll der Buchhändler überhaupt die Zeit bernehmen, feine eignen Waren zu
genießen?
Zwangloſe Runbichau. 565
Die Preſſe beichäftigt fich wieder einmal mit Herrn Bil z. Wie erinnerlich
entbrannte f. 3. im Börfenblatt ein Streit zwiſchen genanntem Herrn und feinem
Konkurrenten Herrn Platen, worin ber lebte reſp. ber Verleger nad Entichei:
dung ber Gerichte — mie wir hörten wegen eines Formfehlers — den Kürzeren
zog. Der ungewöhnliche „buhhändleriiche” Erfolg des ja eigentlich nur zufanımen:
getragenen Werkes reizt fcheinbar immer wieder die Gegner und jo wird ber „Ber:
faſſer“ wieder einmal angegriffen. Dem L. G. A. entnehmen wir folgenden Paſſus:
Gin feltfjames Schreiben erhalten wir von Herrn F. €. Bilz, Verlagdhandlung,
hier. Dasfelbe hat folgenden Inhalt:
Geehrte Redaktion!
Soeben habe ih in Erfahrung gebradt, daß ein von einem Arzte in Meerane
gegen meine Perſon und mein Bud
„Bilz, Das neue Naturheilverfahren“
gerichteter Artikel in vielen Zeitungen die Runde macht.
Hierdurch warne ich eine verehrte Redaktion davor, diefen Artikel zum Ab-
drud zu bringen, da er Unmwahrheiten und Beleidigungen enthält. Sollte diefer
Artikel in Ihrer w. Zeitung Schon zum Abdrud gelangt fein, jo erfuche ih, an:
liegende Erwiderung fofort unentgeltlich zur Aufnahme zu bringen, anbernfall3
bin ich bereit, den entfallenden Betrag zu bezahlen, würde mir aber dann vor:
behalten, gegen den verantwortlichen Redakteur Ihres Blattes wegen Berbrei:
tung der Beleidigung ftrafrechtlich vorzugehen.
Hochachtungsvoll F. E. Bilz.“
Der Inhalt des Briefes beweiſt, daß Herr F. E. Bilz trotz ſeines „Naturheil—
verfahrens“ doch noch nicht ganz — geſund iſt, ſonſt würde er ſich in ruhiger
UÜberlegung geſagt haben, daß man ein unabhängiges Blatt mit ſolchen Drohungen
nicht beeinflufien fann. Wir müſſen geftehen, in uns hat der Brief erft den Wunfch
ertvecft, jenen Artikel nun doch in unferem Blatte zu veröffentlichen. Bisher hatten
wir ihn zurüdgelegt.
Zu dem am 6.d. M. in Berlin eröffneten Kongrek bes Deutſchen Schrift:
jteller:Verbandes hatten fich etwa 350 Schriftiteller und Schriftitellerinnen aus
allen Teilen bes deutſchen Sprachgebietes und auch aus dem frembipradigen Aus-
lande eingefunden. Die Eröffnungsfigung fand im Stabtverorbneten-Sikungsiaale
des Rathauses ftatt, Den Borfig führte Julius Wolff. Bon der Stadtvertretung
waren anmwejend Bürgermeifter Kirichner, Stadtverorbneten-Borfteher Dr. Langer:
hans, deſſen Stellvertreter Michelet und Stabtverorbneter Perls.
Rechtsanwalt Dr. Meſchelſohn, Berlin, ſprach über das deutſche Urheberrecht
und Die Berner Kitterar:Konvention. Seine Rede gipfelte in dem Wunfche, daß
dad deutſche Lrheberrechtögeieß eine Umgeſtaltung im Sinne der Beichlüffe der
Pariſer Urheberrehtö-Konferenz vom Frühjahr 1896 erfahren möge. Der Kongreß
nahm bierauf einftimmig folgende Rejolution an, die er mit einem gleichfalls ein
ftimmig angenommenen Beichluffe vereinigte:
„Der deutſche Schriftitellerverband nimmt Kenntnis von den Beſchlüſſen
ber internationalen diplomatifchen Konferenz zu Paris, die im wefentlichen
feinen in Wien 189% gefaßten Beichlüffen entſprechen. Der deutſche Schrift:
jtellerverband erwartet bie baldige Beitätigung biefer Beichlüffe feitens ber
Regierungen der Vertragäländer. In anbetradht der unzulänglichen Berückſich—
tigung, die insbeſondere die Intereſſen der Journaliften, Xibrettiften und Kom:
poniften gefunden haben, beichließt der Verbandstag: zur Vorbereitung der
566 Zwangloſe Rundichau.
Beihlüffe der nächſten, in Berlin 1902 oder 1903 tagenden internationalen
Konferenz zur Revifion der Berner Uebereinkunft einen Ausſchuß einzuſetzen.“
In diefen Ausihuß wurden gewählt bie Herren Dr. Karl Frenzel, Dr. Zub:
wig Fulda, Gerhart Hauptmann, Rechtsanwalt Dr. Meſchelſohn, Albert Diterrietb,
Richard Redlih, Dr. Julius Nodenberg, Robert Schweichel, Friedrih Spielhagen,
Hermann Sudermann, Ernſt Wichert, Ernit v. Wildenbrud und Julius Wolff.
Dem erjten Nebner folgte Oberlehrer Dr. Saalfeld, Berlin, mit dem Thema:
Die Aufgabe des deutihen Schrifttum gegenüber der beutichen Sprade. Hierauf
ſprach Profeſſor Dr. Eugen Wolff, Kiel, über die bleibenden Ergebnifje der jüng:
ften litterariſchen Bewegung in Deutichland.
Es folgte num die Begrüßung des Kongreſſes durch Bürgermeifter Kirfchner
im Namen ber Stadt Berlin. Den Danf bes Kongrejied brachte der Vorſitzende
zum Ausdrud,
Die Berfammlung begab fi darauf in den Feitiaal des Nathaufes, um ein
bon ber Stadt Berlin angebotenes Frühſtück einzunehmen. Im Verlaufe des Mah—
les begrüßte Stabtverorbneten:Borfteher Dr. Langerhans die Gäfte; Gerhard von
Ampntor danfte in deren Namen.
Am folgenden Tage begannen die Verhandlungen; am Mittage fand im Saale
des Hauptreftaurant3 in der Berliner Gemwerbeausjtellung das große Feſtmahl
ſtatt, nachdem der Arbeitsausihuß der Austellung den Verband begrüßt hatte,
Am Dienftag fanden die weiteren Verhandlungen und bie Neumahl des Borjtan:
des jtatt,
Wie ſchon von Herrn Albert Brodhaus in Yeipzig gemeldet werden fonnte, jo
iſt auh Herr Carl Engelborn in Stuttgart, der derzeitige 2. Schatmeifter des
Börfenvereins, der gemeinschaftlich mit Herrn Brodhaus auf dem Pariſer Verleger:
fongreß im Juni d, 9. den deutichen Buchhandel vertreten hat, vom Präfidenten
der franzöfiihen Nepublif zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worben.
>
Heue Büder.
Meue Sport:Sftataloge:
l. Sepdels Ratalog der Turn:, Sport: und Spiellitteratur. ar. 8. 96 Seiten
itarf. Berlin, Buchhandlung A. Sendel. Preis Mf. 1,—.
Selegentlih der Abhaltung der Berliner Gewerbeausitellung unternabm die
Buchhandlung A. Seydel einen äußerit geſchmackvollen, braudbaren „Sportfatalog“
ihrem Kundenfreife und in weiterem Sinne aud dem Buchhandel darzubieten.
Unſeren vollen Beifall findet die geſchmackvolle Auswahl der beigegebenen Illu—
itrationen, die dem Kataloge ein intereflantes Gepräge verleihen und aud den
Yaien, der meiftens auf die nur trodene Aufzählung der Titel nicht viel halt und
nur im twirflichen Gebrauchsfalle das Buch genauer jtudtert, zum Durchblättern
auffordern.
Die Titelanordnung zerfällt in 24 Abteilungen: Turnen, Gymnajtif, Fechten,
Tanzen, Bewequngsipiele im Freien und Nafenipiele, Pferdezucht und Dreifur,
Fahren, Neiten, Rennweſen, Jagd, Hundezucht und Hundedrefjur, Pflege und Ge:
ihichte des Hundes überhaupt, Schießen, Brieftaubeniport, Waſſerſport, Eislauf
und allgemeiner Windiport, Alpiner Sport, Radfahrſport, Vogelflug und Flug:
tehnif, Luftſchiffahrt, Spielbücher, Verſchiedenes, Naturwiflenichaftlide Samm—
Inngen und endlich Experimentier- und Beſchäftigungsbücher mit reichlichen Unter—
abteilungen. Eine Reihe dieſer Abteilungen hätte wohl auch noch zuſammengezogen
und unter einen Hut gebracht werden können, allein es mögen hier beſondere Ein—
richtungen der herausgebenden Firmen mitgeſprochen haben. In der Abteilung 9
„Rennweſen“ vermiffen wir das „Sandoralbum” der prachtvollen Preſtel'ſchen
Zeichnungen, ausgeführt im Yichtdrud und herausgegeben in 2 Sammlungen
a Mk. 25,— ord. Der Abteilung „Jagd“ iſt eine Beilage der Verlagsbuchhand—
lung für Forſt- und Jagdweſen J. Neumann in Neudamm angefügt, welde ſich
durch den jauberen Schwarzdrud mit bunten Illuſtrationen zu der Drudausitat:
tung des Kataloges in Blau hübſch abhebt. Welche Ausdehnung der „Waſſerſport“
in den lebten Jahren, vornehmlich durd die hohe Proteftion Sr. Majeſtät des
deutichen Kaiſers gefunden hat, beweift, daß von 45 angeführten Werfen deren 15
in den lebten 3 Jahren zur Ausgabe gelangten, Auch der „Alpiner Sport" hat
bereits eine reiche Yitteratur aufzuweiſen. Der Anhang „Verzeihnis vorzüglicher,
hodintereflanter Sport: und Nagdbilder” unter guter Wiedergabe einer Anzahl
derielben gibt dem Buche einen würdigen Abihluß. Der ſehr fleißig gearbeitete
statalog verdient die vollite Beachtung des Sortiments und einen Plab in jeder
Geſchäftsbibliothek.
568 Neue Bücher.
Il. Die Litteratur des Radfabrers. Gin Verzeichnis aller im Handel befind-
lihen Lehrbücher, Unterbaltungsichriften, Theaterftüde, Vorträge, Kunftblätter ıc.,
ſowie der Karten und Tourenbücher für die Nadfahrer beitimmt. Herausgeg. von
der Militär: und Sportbuhhandlung Paul Neubner, Köln, fl. 8. 48 Seiten mit
2 Kartenüberjichtsblättern.
Die volle Würdigung des Nadfahriportes, des Sportes unter deſſen Zeichen
unfer zu Ende gebendes Jahrhundert fteht, bat die befannte Firma zur Heraus:
nabe des handlihen Wegweiſers veranlaft. Eritaunlich ift die Ausdehnung, welde
diefer moderne Sport in den leiten Jahren gewonnen, gleichen Schritt hat damit
auch die Litteratur diejes Zweiges gehalten. Vornehmlich ift ed das reiche Karten:
material und die Tourenbücher, die unſere Aufmerkſamkeit jejleln. Die Mittelbach—
ſche Straßenprofilfarte für ganz Deutjichland in 80 Sektionen eingeteilt im Maß:
ftabe 1: 300000 verdient vor allem der Erwähnung; die Aufzählung diejes -wichtig-
ften NReifematerials des radelnden Sportsjüngers nimmt allein 26 Seiten in An:
ſpruch. An Zeitichriiten über diefen Sport finden wir deren 19 verzeichnet, eine
immerhin ganz jtattliche Anzahl. Auch diejes Litterariiche Hilfsmittel hat Anſpruch
auf Beachtung, und Befolgung jeiner Bitte am Kopfe der 1. Seite des Wuches:
„Bewahr mich auf.“
Rudolf Schmidt.
Druf von Fr. Eberbardt in Nordbaufen.
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