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LIBRARY
or THE
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
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DER
HYPNOTISMUS
UND
DIE SUGGESTIVE PSYCHOTHERAPIE
VON
Dr. med., phiL et jur. AUGUST FOREL
IN CHIGNY (SCHWEIZ). '
Gewesener o. Profcssar der Psychiatrie und Direktor der kantonalen Irrenanstalt
in Zürich.
VIERTE UMGEARBEITETE AUFLAUF,.
v or THE
UNIVERBITY
Lifo* •;
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1902.
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Druck der üniou Deutsche VerUgsgesellschaft in Stuttgart
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Vorwort zur ersten Auflage.
Der Haupttheil der vorliegenden kleinen Schrift erschien als
Aufsatz in der Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft
unter dem Titel: „Der Hypnotisraus und seine strafrechtliche Be-
deutung*.
Der von verschiedenen Seiten mir gegenüber geäusserte Wunsch,
diesen Aufsatz als kurze Übersichtliche Darstellung der wichtigsten
Thatsachen des Hypnotisraus und seiner gegenwärtigen Theorie
einem weiteren ärztlichen Publikum zugänglich zu machen, ver-
anlasst mich, dieselbe mit einer Anzahl Ergänzungen für sich er-
scheinen zu lassen. Es war mir schwer, mitten in vielen Arbeiten
etwas Zeit dazu zu finden. Möge dieses die Unvollständigkeit der
vorliegenden Skizze entschuldigen.
Wer sich eingehender mit der Materie befassen will, muss
unbedingt das klassische Werk Bernheim's: „Die Suggestion und
ihre Heilwirkung, deutsch von Sigm. Freud", lesen.
Wie Alles, was dem Publikum neu zum Bewusstsein kommt,
wird auch der Hypnotisraus zum Theil stark angefeindet, zum Theil
mit Hohn und Unglauben begrüsst, zum Theil mit übertriebenem
Sanguinismus beurtheilt oder mit allerlei sonstigen Uebertreibungen
geschmückt.
Während die Einen ihn für Humbug und alle Hypnotisirten
für Simulanten halten (eine Ansicht, die, nebenbei gesagt, allein
durch die Legion jener angeblichen Simulanten bereits für jeden
Vorurtheilslosen ad absurdum geführt worden ist), glauben bereits
Andere, die Welt gehe aus den Fugen, die Justiz sei gefährdet
und die Polizei müsse her, um den Hypnotismus wie die Pest aus-
zutreiben.
Es wird uns freuen, wenn wir hier etwas dazu beitragen
IV
Vorwort zur ersten Auflage.
können, diese verschiedenartigen Auswüchse unbesonnener mensch-
licher Gemüthsaufregungen auszumerzen und die Thatsachen auf Un-
wirkliches Mass und ihre wirkliche Bedeutung zu reduciren, was
wir nach einer zweijährigen, ziemlich reichlichen Erfahrung im
Stande zu sein glauben.
Den Spöttern und Ungläubigen rufen wir einfach zu: «Prüfe
nach, bevor du urtheilst!"
Um über Hypnotismus urtheilen zu können, muss man selbst
eine Zeit lang hypnotisirt haben.
Zürich 1889.
Dr. Aug. Forel.
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Vorwort zur vierten Auflage.
Die dritte Auflage des unterdessen angeschwollenen Buches
ist 1895 erschienen. Seitdem sind manche neue Thatsachen und
Anschauungen zu Tage getreten, die mich zu einer nicht un-
bedeutenden Umarbeitung des Werkes gezwungen haben. Die
weitaus wichtigsten Arbeiten über den Gegenstand sind seither in
der Zeitschrift für Hypnotismus von Dr. Oscar Vogt (Leipzig
bei Ambrosius Barth) erschienen. Ausserhalb Deutschlands ist in
den letzten Jahren so gut wie nichts zur Weiterforderung der
Suggestionslehre geschehen.
Das Capitel I und der § 16 des Capitels IV sind theoretischer
Natur. Sie erfordern mehr Mühe und psychologische Ueberlegung
als das Uebrige. Sie sind zwar nicht absolut unentbehrlich. Der-
jenige Leser jedoch, der sich es nicht verdriessen lassen wird,
dieselben aufmerksam zu lesen und zu verstehen, wird auch den
Hypnotismus nicht nur halb oder scheinbar, sondern wirklich be-
greifen.
Von der dritten Auflage ist das Capitel VI (Bewusstsein und
Suggestion) weggefallen, da es mit Capitel I zusammenfällt. Hinzu-
getreten sind dagegen drei neue kurze Capitel: VII. Hypnotismus
und Psychotherapie, IX. Ein Fall von hysterischer Amnesie (der
die Verhältnisse des sogen, doppelten Bewussiseins besser als alles
Andere illustrirt) und XII. Der Hypnotismus in der Hochschule.
Am wenigsten verändert sind geblieben Capitel HI, X, Xni
und XIV, sowie die §§ 1 — 15 von Capitel IV. Alles Andere musste
stark umgearbeitet werden.
Chigny bei Morges, 1. Februar 1902.
Dr. Aug. Forel.
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Inhaltsverzeichniss.
Seite
Vorwort zur eisten Auflage Hl
Vorwort zur vierten Auflage V
Inhaltsverzeichnis* VII
Capitel I. Das Bewußtsein und die Identitätshypothese (Monismus) . . 1
, II. Verhältnis« der Nerventhätigkeit zur Nervensubstanz und zu
den Bewus8tseinay.uHtiindeü 24
„ III. Allgemeine Bemerkungen Ober den Hypnotismus 81
, IV. Die Suggestion 45
S 1. Hypnotisirbarkeit oder Suggestibilität 45
§ 2. Schlaf und Hypnose b'i
§ 3. Grade der Hypnose f>8
S 4. Dressur 69
§ 5. Erscheinungen der Hypnose. Motorische Erschei -
nungen; sensible Erscheinungen. Negative Hallu-
cination. Reflexe. Gefühle, Triebe, Geniüthsaffecte.
Denkvorgänge, Gedachtnisa, Bewusstsein, Wille . . 71
$ 6. Widerstand der Hypnotisirten. Autosuggestionen . 79
§ 7. Posthypnotische Erscheinungen 84
§ 8» Amnesie • 88
§ 9. Suggestion ä t'-cheance 91
§ 10. Wachsuggestion 94
§ 11. Znstand der Seele während der Ausführung der poat-
hypnoti-schen Eingebungen, der Suggestion* ä echeance
und der Wachguggestionen 95
^ 12. Dauernde Erfolge der Suggestion 100
§ 13. Hallucination retroactive oder suggerirte Erinner ungs -
falschung 102
$ 14. Simulation und Digsjmujation der Hypnose .... 109
§ 15. Bedeutung der Suggestion 118
§ 16. Wesen der Suggeationswirkung (Oscar Vogt'a An-
schauungen über das Wesen und die psychologische
Bedeutung des Hypnotismusl 117
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VTTT Inhaltsverzeichniss.
Capittl Y. Suggestion und Geistesstörung 182
, VI. Winke für die suggestive oder psychotherapeutische arzt-
liche Praxis 146
„ VII. Hypnotismus uud Psychotherapie 166
, VIII. Beispiele von Heilungen durch Suggestion. Ein Fall von spon-
tanem Somnambulismus. Die Heilung der Stuhlverstopfung
und ihre Erklärung 174
, IX. Ein Fall von hysterischer, theilweise retrograder Amnesie
mit protrahirtem Somnambulismus 191
, X. Die Suggestion in ihrem Verhiiltniss zur Medicin und zur
Curpfuscherei 209
, XI. Strafrechtliche Bedeutung der Suggestion 218
, XII. Der Hypnotismus und die Hochschule 243
, XIII. Die Suggestion bei Thieren. Die Winter- und Sommerschlaf er 245
, XIV. Anhang. Ein hypnotisirter Hypnotiseur 251
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L Das Bewusstsein und die Identitätshypothese
(Monismus).
Um den Hypnotismus zu verstehen, muss man sich über den
Begriff des Bewusstseins Klarheit verschaffen. Die Erscheinungen
des Hypnotismus bedeuten geradezu ein Spiel zwischen dem „Be-
wussten* und dem scheinbar „Unbewussten" in unserer Seele.
Nichts ist aber geeigneter, als gerade dieses Spiel, um den Beweis
zu liefern, dass der Ausdruck „Unbewusst" incorrect ist und der
Realität nicht entspricht.
Es handelt sich also darum, sich über den auf den Inhalt des
Bewusstseinsfeldes sich beziehenden vieldeutigen Begriff „psychisch"
zu verständigen, um Wortstreiten zu entgehen und nicht Theologie
im Sinn des Goethe'schen Mephistopheles zu treiben. Zwei Begriffe
werden im Wort „psychisch" kritiklos vermengt: 1. Der abstracte
Begriff der „Introspection" oder des Subjectivismus, d. h. der Be-
obachtung von innen, die jeder Mensch nur in und von sich selbst
kennt und kennen kann. Für diesen Begriff wollen wir das Wort
„Bewusstsein" reserviren. 2. Das „Thätige" in der Seele, d. h.
dasjenige, was den Inhalt des Bewusstseinsfeldes bedingt. Das
hat man schlechtweg zum Bewusstsein im weiteren Sinne gerechnet
und daraus ist die Confusion entstanden, die das Bewusstsein als
Seeleneigenschaft betrachtet. Ich habe die moleculare Thätigkeits-
welle der Nervenelemente „Neurokym" genannt.
Wir können gar nicht vom Bewusstsein anderer Menschen
sprechen, ohne einen Analogieschluss zu machen; ebenso wenig
sollten wir vom Bewusstsein vergessener Dinge reden. Das Feld
unseres Bewusstseins wechselt aber beständig. Dinge erscheinen
in demselben und verschwinden aus demselben. Mittelst des Ge-
dächtnisses können viele Dinge leichter oder schwerer, mehr in-
direkt, in das Bewusstsein durch Association zurückgerufen werden.
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 1
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2
Identitätehypothese. Das scheinbar Unbewugste ist bewusst.
die momentan nicht bewusst zu sein scheinen. Schon die Erfahrung
der Selbstbeobachtung lässt uns experimentell erkennen, dass viele
Dinge, die uns unbewusst zu sein scheinen, doch bewusst sind oder
waren. Ja, gewisse Sinneseindrücke bleiben im Moment ihres Ge-
schehens unserem gewöhnlichen Bewusstsein oder Oberbewusstsein
unbewusst, können aber nachträglich in dasselbe gerufen werden.
Ganze Ketten von Hirnthätigkeiten (die Träume, der Somnam-
bulismus oder zweites Bewusstsein) sind für gewöhnlich aus dem
Oberbewusstsein scheinbar ausgeschaltet, können aber durch Sug-
gestion oder sonst nachträglich mit dem erinnerlichen Inhalt des-
selben associirt werden. In allen diesen Fällen erweist sich somit
das scheinbar Unbewusste als dennoch bewusst. Genannte Er-
scheinungen haben vielfach zu mystischen Auslegungen geführt.
Eine sehr einfache Annahme lässt sie jedoch erklären. Nehmen
wir an — und dies entspricht der Beobachtung — , dass die Felder
der introspicirten Gehirnthätigkeiten durch sogen. Associations- oder
Dissociationsprocesse begrenzt sind, d. h. dass wir sie nicht alle
zugleich mit einander activ verknüpfen können, und dass somit
alles dasjenige, was uns unbewusst erscheint, in Wirklichkeit auch
ein Bewusstsein, d. h. einen subjectiven Reflex hat, so ergibt sich
Folgendes: Unser gewöhnliches Bewusstsein im Wachzustand oder
Oberbewusstsein ist nur der innere subjective Reflex der mit
einander enger verknüpften Thätigkeiten der Aufmerksamkeit, d. h.
der intensiver concentrirten Maxima gewisser Grosshirnthätigkeiten.
während wir wach sind. Es gibt aber andere, theils vergessene,
theils nur lose oder indirect mit dem Inhalt des Oberbewusstseins
verknüpfte Bewusstseine, die man „Unterbewusstseine" im Gegen-
satze zu diesem Oberbewusstsein nennen kann. Dieselben ent-
sprechen anderen, weniger concentrirten oder anders associirten
Grosshirnthätigkeiten. Wir müssen ferner für subcorticale (nied-
rigere) Hirncentren weitere, noch viel entfernter verknüpfte Unter-
bewusstseine vermuthen u. s. f.
Es ist leicht festzustellen, dass unser psychisches Thätigkeits-
maximum, die Aufmerksamkeit, jeden Augenblick von einer Wahr-
nehmung oder einem Gedanken zum anderen wandert. Jene Objecte
der Aufmerksamkeit, als Gesichts- oder Gehörbilder, Willensimpulse,
Gefühle oder abstracte Gedanken, spielen sich — dies steht ausser
Zweifel — in verschiedenen Gehirntheilen oder Neuronencomplexen
ab. Man kann somit die Aufmerksamkeit mit einer functionellen,
im Gehirn wandernden Macula lutea, mit einem wandernden Maxi-
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Unterbewusstseine. An und für sich ist das Bewusstaein nicht«.
3
mum der intensivsten Neurokymthätigkeit vergleichen. Ebenso fest
steht es aber, dass auch andere, ausserhalb der Aufmerksamkeit
stehende psychische Erscheinungen, wenn auch schwächer, so doch
bewusst werden. Endlich rechnet man bekanntlich alles einmal
Bewusstgewesene, wenn auch bald mehr, bald weniger Vergessene,
zum „ Psychischen", d. h. zum Bewusstseinsinhalt. Theoretisch
scheint dies bei oberflächlicher Betrachtung zu klappen. Aber in
That und Wahrheit gibt es eine Unzahl Vorgänge, die nur kaum
wahrnehmbar einen Augenblick schwach bewusst sind, um wieder
für immer aus dem Bewusstsein zu verschwinden. Hier und nicht
bei den stark und wiederholt bewussten „ Psychomen " — man ver-
zeihe dieses Wort, mit welchem ich einfach alle und jede psychische
Einheit der Kürze halber bezeichnen möchte — rauss man den
Uebergang des Bewussten zum scheinbar Unbewussten suchen. Die
Schwäche des Bewusstseins ist aber da auch nur scheinbar, indem
der innere Reflex jener Vorgänge im Inhalt einer stark abgelenkten
Aufmerksamkeit nur schwach wiederklingen kann. Dieses beweist
aber keineswegs, dass solch halbbewusste Vorgänge an und für
sich so schwach bewusst sind. Ein Blitz der Aufmerksamkeit genügt
übrigens, um sie nachträglich klar bewusst zu gestalten. Sie ver-
lieren nur in Folge Ablenkung immer mehr den Zusammenhang
mit der Kette der Intensitätsmaxima, die für gewöhnlich den er-
innerlichen Inhalt unseres Oberbewusstseins bilden. Je schwächer
aber mit dem letzteren verknüpft, desto schwerer werden solch
halbbewusste Vorgänge später wieder durch Erinnerung mit der
Hauptkette neu associirt. So alle Träume, alle Nebenumstände
unseres Lebens, alle automatisirten Gewohnheiten, alle Instincte.
Gibt es aber zwischen dem scharf Bewussten und dem „Unbewuss-
ten" ein halbbewusstes Hirnleben, dessen Bewusstsein nur in Folge
Ablenkung unserer gewöhnlichen Erinnerungskette uns so schwach
erscheint, so ist dies ein unzweideutiger Fingerzeig dafür, dass ein
Schritt weiter den Rest des Zusammenhangs völlig zerreissen muss,
ohne dass wir desshalb das Recht haben, diesen im Nebel für
unser Oberbewusstsein verschwindenden Gehirnthätigkeiten das Be-
wusstsein an und für sich abzusprechen. Diesen, d. h. den sogen,
unbewussten flirnvorgängen, wollen wir somit der Kürze und Ein-
fachheit halber „Unterbewusstseine* zusprechen.
Ist diese Annahme richtig, wofür alles spricht, so hat das
Bewusstsein den Physiologen und den vergleichenden Psychologen
gar nicht weiter zu beschäftigen. Es existirt gar nicht an und
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4 Berechtigung des Analogieschlusses in der Psychologie.
für sich, sondern nur durch die Gehirnthätigkeit, dessen innerer
Reflex es ist. Schwindet diese, so schwindet es mit ihr l ). Ist sie
complicirt, so ist es auch complicirt. Ist sie einfach, so ist es ent-
sprechend einfach. Ist sie dissociirt, so ist das Bewusstsein eben-
falls dissociirt. Das Bewusstsein ist nur ein abstracter Begriff,
dem bei Wegfall der „bewussten" Hirnthätigkeit jede Wesenheit
abgeht. Die im Spiegel des Bewusstseins erscheinende Gehirn-
thätigkeit erscheint darin, also subjectiv, als summarische Synthese,
und zwar wächst die synthetische Summirung mit den durch Ge-
wohnheit und Uebung gewonnenen höheren Complicationen und
Abstractionen, so dass früher bewusste Details (z. B. beim Lesen)
später unterbewusst werden und das Ganze als psychische Einheit
erscheint.
Die Psychologie kann sich demnach nicht darauf beschränken,
mittelst der Introspection die Erscheinungen unseres Oberbewusst-
seins allein zu studiren, denn sie wäre dann nicht möglich. Jeder
Mensch hätte nur die Psychologie seines Subjectivismus, nach Art
der alten scholastischen Spiritualisten , und müsste nachgerade die
Existenz der Aussenwelt samrat seiner Mitmenschen in Zweifel
ziehen. Die Analogieschlüsse, die naturwissenschaftliche Induction,
die Vergleichung der Erfahrungen unserer fünf Sinne beweisen
uns aber die Existenz der Aussenwelt, unserer Mitmenschen und
der Psychologie der letzteren. Ebenso beweisen sie uns, dass es
eine vergleichende Psychologie, eine Psychologie der Thiere gibt.
Endlich ist unsere eigene Psychologie, ohne Rücksichtnahme auf
unsere Gehirnthätigkeit, ein unverständliches, von Widersprüchen
wimmelndes Stückwerk, das vor allem dem Gesetz der Erhaltung
der Energie zu widersprechen scheint.
Aus diesen doch recht einfachen Ueberlegungen geht weiter
hervor, dass eine Psychologie, welche die Gehirnthätigkeit ignoriren
will, ein Unding ist. Der Inhalt unseres Oberbewusstseins ist be-
ständig von unterbewussten Hirnthätigkeiten beeinflusst und bedingt.
Ohne dieselben kann es gar nicht verstanden werden. Anderer-
seits begreifen wir erst dann den ganzen Werth und den Grund
der complicirten Organisation unseres Gehirns, wenn wir dieselbe
durch die innere Beleuchtung unseres Bewusstseins betrachten, und
wenn wir diese Beobachtung durch die Vergleichung der Bewusst-
') Es gibt kein unthätiges, inhaltloses Bewusstsein. Da bleibt nur der
abstracte Begriff übrig.
Werth der Sprache und der Physiognomie.
5
seinsinhalte unserer Mitmenschen bereichern, wie uns diese durch
die Laut- und Schriftsprache mittelst sehr ins Detail gehender
Analogieschlüsse ermöglicht wird. Die Seele muss daher zugleich
von innen und von aussen studirt werden. Ausser uns selbst kann
ersteres zwar nur durch Analogieschluss geschehen, aber dieses
einzige Mittel, das wir haben, müssen wir benützen.
Es hat Jemand gesagt, die Sprache sei dem Menschen nicht
etwa zum Aeussern, sondern zum Verbergen seiner Gedanken ge-
geben worden. Ausserdem legen die verschiedenen Menschen
bekanntlich in aller Ehrlichkeit den Wörtern sehr verschiedene
Bedeutung bei. Ein Gelehrter, ein Künstler, ein Bauer, ein Weib,
ein Kind, ein wilder Wedda aus Ceylon deuten gleiche Worte der
gleichen Sprache ganz verschieden. Aber auch der gleiche Mensch
deutet dieselben, je nach seiner Stimmung und je nach Zusammen-
hang, verschieden. Daraus ergibt sich für den Psychologen und
besonders für den Psychiater — ich spreche hier als solcher — ,
dass die Mimik, die Blicke, die Handlungen eines Menschen sein
wahres Innere vielfach besser verrathen, als das, was er sagt.
Somit bedeuten auch die Geberden und Handlungen der Thiere
für uns eine „Sprache", deren psychologischer Werth nicht unter-
schätzt werden darf. Ferner haben uns die Anatomie, die Physio-
logie und die Pathologie des menschlichen und des thierischen
Gehirnes den unwiderleglichen Beweis geliefert, dass unsere Seelen-
eigenschaften von der Qualität, der Quantität und der Integrität
des lebenden Gehirnes abhängen und mit demselben eins sind. Es
gibt so wenig ein lebendes Gehirn ohne Seele, als eine Seele ohne
Gehirn und jeder normalen oder pathologischen Aenderung der
Seelenthätigkeit entspricht eine normale oder pathologische Aende-
rung der Neurokymthätigkeit des Gehirnes, d. h. seiner Nerven-
elemente. Was wir introspectiv im Bewusstsein wahrnehmen, ist
somit Hirnthätigkeit.
Wir nehmen daher bezüglich des Verhältnisses der reinen
Psychologie (Introspection) zur Physiologie des Gehirns (Beob-
achtung der Gehirnthätigkeit von aussen) die Theorie der Identität
als gegeben an, solange die Thatsachen damit übereinstimmen.
Mit dem Wort Identität oder Monismus sagen wir also, dass jede
psychologische Erscheinung mit der ihr zu Grunde liegenden Mole-
kular- oder Neurokymthätigkeit der Hirnrinde ein gleiches reelles
Ding bildet, das nur auf zweierlei Weise betrachtet wird. Dua-
listisch ist nur die Erscheinung, monistisch dagegen das Ding.
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Gehirn und Seele eins. Kritik des Wortes „Parallelismas".
Wäre dem anders, so gäbe es, durch das Hinzutreten des rein
Psychischen zum Körperlichen oder Cerebralen, ein Plus an Energie,
das dem Gesetz der Erhaltung der Energie widersprechen müsste.
Letzteres ist jedoch niemals erwiesen worden und würde allen Er-
fahrungen der Wissenschaft Hohn sprechen. In den Erscheinungen
unseres Hirnlebens, so wunderbar sie auch sind, liegt absolut nichts,
das den Naturgesetzen widerspricht und die Herbeirufung einer
mystischen, übernatürlichen „Psyche" berechtigt.
Aus diesem Gmnde spreche ich von monistischer Identität und
nicht von psycho-physiologischem Parallelismus. Ein Ding kann nicht
mit sich selbst parallel sein. Freilich wollen die Psychologen moderner
Schule damit nur einen angeblichen Parallelismus der Erscheinungen
bezeichnen und Monismus oder Dualismus unpräjudicirt lassen. Da
jedoch viele centrale Nervenvorgänge weder der physiologischen noch
der psychologischen Beobachtung zugänglich sind, sind die uns
zugänglichen Erscheinungen der beiden Forschungsmethoden gar
nicht parallel, sondern sehr ungleich von einander durch Zwischen-
processe entfernt. Der Parallelismus ist somit nur eine theore-
tische Annahme. Indem ferner die dualistische Hypothese natur-
wissenschaftlich unhaltbar ist, ist es durchaus geboten, von der
Identitätshypothese auszugehen.
Es ist doch sonnenklar, dass das gleiche Geschehen am Nerven-
system eines Thieres, meinetwegen an meinem Nervensystem, von
mir selbst, aber erstens mittelst physiologischer Methoden von aussen
beobachtet, und zweitens sich selbst in meinem Bewusstsein reflec-
tirend mir total anders erscheinen muss, und es wäre ein vergeb-
liches Bemühen die physiologische Qualität in die psychische, oder
umgekehrt, überführen zu wollen. Wir können ja nicht einmal
eine psychische Qualität in die andere mit Bezug auf die von beiden
versinnbildlichte Realität überführen, wie z. B. den Ton, die Ge-
sichts- und die Tastempfindung, welche eine gleiche tiefe Stimm-
gabelschwingung auf unsere drei entsprechenden Sinne macht.
Dennoch dürfen wir inductiv schliessen, dass es die gleiche Wirk-
lichkeit, die gleiche Schwingung ist, die uns auf diese drei quali-
tativ total verschiedenen Arten versinnbildlicht wird, d. h. uns
diese drei verschiedenen, in einander nicht überführbaren psychi-
schen Eindrücke verursacht. Letztere spielen sich immerhin in
verschiedenen Hirntheilen ab und sind natürlich als Eindrücke im
Gehirn reell von einander verschieden.
Von psycho-physiologischer Identität sprechen wir nur mit
Dualismus und JCnergiegesetz. Monistische Philosophen.
7
Bezug auf die, die uns bekannten ßewusstseinserscheinungen direct
bedingenden cortialen Neurokyme einerseits und die betreffenden
Bewusstseinserscheinungen anderseits.
In der That kann eine dualistisch gedachte Seele nur ener-
gielos oder energiehaltig sein. Ist sie energielos gedacht, d. h.
vom Energiegesetz unabhängig, so sind wir bereits beim Wunder-
glauben angelangt, der die Naturgesetze nach Belieben aufheben
und stören lässt. Ist sie energiehaltig gedacht, so treibt man da-
mit nur Wortspiel, denn eine dem Energiegesetz gehorchende Seele
ist nur ein willkürlich aus dem Zusammenhang gerissener Theil
der Gehirnthätigkeit, dem man nur „ seelisches Wesen" verleiht,
um es ihm gleich wieder wegzudecretiren. Energie kann nur
qualitativ, nicht quantitativ umgewandelt werden. Eine dualistisch
gedachte Seele müsste somit, wenn sie dem Energiegesetz ge-
horchen würde, vollständig in eine andere Energieform übergehen
können. Dann ist sie aber nicht mehr dualistisch, d. h. nicht mehr
von den Hirnthätigkeiten wesentlich verschieden.
Unter den Jüngern des alten metaphysischen Monismus
Bruno's und Spinoza's möchte ich den grossen zu sehr ver-
gessenen Hirnanatomen Carl Friedrich Burdach (Vom Baue
und Leben des Gehirnes III. Band, Leipzig 1826, S. 141 u. ff.)
erwähnen, den ich 1892 (Suggestionslehre und Wissenschaft) in
der Zeitschrift für Hypnotismus citirt habe. Man wolle gefälligst
nachlesen. Als Gehirnforscher hat Burdach die Einheit von Ge-
hirn und Seele mit aller wissenschaftlichen und philosophisch-
logischen Klarheit dargethan. Auf seine Gedanken basirt sich
Meynert's Lehre. Ihm fehlten nur die Ergebnisse der modernen
normalen und pathologischen Anatomie und Histologie des Gehirnes,
sowie der neueren Thierexperimente, welche ihn in den Hauptzügen
vollauf bestätigt haben.
Unter Monismus, im Gegensatz zu Dualismus, verstehen wir
also die Hypothese der Einheit von „Gehirn und Seele" im Sinn
der psycho-physiologischen Identität. Sobald sicher nachgewiesen
werden könnte, dass etwas „Seelisches", d. h. „Immaterielles" ohne
materielles Substrat vorhanden wäre, so wäre der Dualismus er-
wiesen.
Unter Materialismus versteht man dagegen eine Weltanschau-
ung, welche die Materie als Weltpotenz, sozusagen als Gott be-
trachtet, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, dass wir von
der Materie nur Erscheinungen kennen und von ihrem Wesen
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Wissenschaftlicher und metaphysischer Monismus.
rein nichts wissen, so dass sie somit auch nur ein abstracter Be-
griff ist.
Von Seelen kennen wir direct jeder nur die seinige. Weitere
menschliche, allenfalls noch thierische Seelen vermuthen wir mittelst
der Sprache, Mimik etc. durch Analogieschlüsse, mit an natur-
wissenschaftliche Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Da
man in neuerer Zeit eine starke Neigung zeigt Monismus und Ma-
terialismus zu identificiren und dadurch eine gewaltige Confusion
zu stiften, müssen wir uns auseinandersetzen.
Die Frage nach Monismus und Dualismus ist keine religiöse
Frage und präjudicirt keine religiöse Metaphysik. Je nach ihrer
Entscheidung mag sie freilich als Unterlage zu solchen benützt
werden. An und für sich jedoch ist sie eine andere Frage.
Die Religion fragt nach der ersten Ursache und den letzten
Zwecken des Weltalls. Sie will die Natur und die Absichten der
Weltallmacht, d. h. Gottes durch Offenbarung oder aus Intuition
wissen. Sie will ferner ihr Verhältniss speciell zum Menschen
feststellen.
Von all' diesen metaphysischen, d. h. dem Erkenntnissver-
mögen des Menschen unzugänglichen Dingen liegt in der Frage
nach Monismus oder Dualismus zunächst nichts.
Die materielle oder sogen, objective Seite der Erscheinungen
und die psychische oder subjective Seite derselben sind dagegen
Thatsachen unserer täglichen Beobachtung, ja einer jeden Secunde
unseres Lebens.
Der Dualismus sagt: Es gibt zwei Dinge: 1. körperliche oder
materielle, die den Naturgesetzen gehorchen und 2. seelische oder
geistige, die zwar in einem gewissen Verhältniss zur Materie treten,
aber dennoch eine eigene, von der Materie unabhängige Existenz
besitzen. Daher spricht der Dualismus von Einflüssen des Körpers
auf die Seele und der Seele auf den Körper, von immateriellen
Seelen und Geistern und von seelenloser Materie.
Der Monismus sagt dagegen : Streng genommen kennen wir nur
eine Seele, die unsrige. Die anderen erschliessen wir nur aus Ana-
logie. Seele und Körper sind jedoch nicht zwei verschiedene
Dinge. Sie sind nur zwei Seiten in unserer Erkenntniss, zwei Er-
scheinungsweisen derselben Dinge. Fechner hat es folgend er-
massen ausgedrückt: es ist wie ein mathematisch gedachter Kreis;
von aussen besehen ist er convex, von innen concav, und doch ist
er nur ein und dasselbe. Der Monismus kann daher nicht einer
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Untrennbarkeit des Psychischen und Physischen.
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materialistischen Metaphysik das Wort reden, so wenig wie einer
spiritualistischen , weil er sich sonst verleugnen würde. Für ihn
sind die Begriffe „ Materie" und „Seele" werthlose, missverstandene
Worte, sobald sie als gegensätzliche Dinge aufgefasst werden. Es
sind abstracte Scheinbegriffe , die der Mensch willkürlich aus der
Einheit der Weltdinge herausgekünstelt hat, die aber für sich ge-
nommen jede thatsächliche Grundlage entbehren. Ganz gleich-
gültig ob „physiologisch* oder „psychologisch" enthält für uns
jede Erscheinung eine psychologische und eine physiolo-
gische Seite. Von einem Tisch, von einem Reflex oder von einer
negativen Stromschwankung und dergl. kenne ich trotz aller Wissen-
schaft nur meine subjectiven Wahrnehmungen und meine auf Com-
bination solcher beruhende Anschauung, die mich auf die Annahme
der Existenz der Aussenwelt geführt hat. Das Gleiche gilt aber
von meinem Denken, Fühlen und Wollen, von einem Schmerz,
einem Entschluss, dem Begriff „Liebe" u. s. f. Das „Psycholo-
gische" ist aber in beiden Fällen unmittelbare Erscheinung, das
„Physiologische* oder „Objective", dagegen nur mittelbare, durch
andere Sinne und Ueberlegungen controllirte und daher erschlossene
Anschauungskette. Nachdem jedoch das Gehirnstudium und die Psy-
chophysiologie uns den Nachweis geliefert haben, dass es keine un-
mittelbare Bewusstseinserscheinung ohne Gehirnthätigkeit gibt und
wir eigentlich selbst beim Fühlen, Denken und Wollen die An-
strengung und Thätigkeit unseres Gehirnes ganz gut merken, ist
es ebenso klar, dass jede rein innerliche psychologische Erschei-
nung ihre physiologische Seite, die Bewegung einer materiellen
Grundlage im Gehirn hat. Mit einem Wort, es gibt nichts „Psy-
chisches" ohne „Physisches" und wenn wir das „Nicht ich" intro-
spiciren könnten, fänden wir höchst wahrscheinlich, dass es ebenso-
wenig ein „Physisches* ohne „Psychisches" gibt. Der metaphysische
Monismus sagt aber weiter: Wie es keine Materie ohne Energie
und keine Energie ohne Materie gibt, so gibt es gewiss nichts
„Unbeseeltes" *) in der Welt.
') Sobald das Wort „Seele" für unbelebte Gegenstande gebraucht wird,
erhebt sich ein Sturm des Widerspruches. „Träumereien! Unsinn! Faseln
von Weltenseelen !" und dergl. mehr. Das kommt daher, dass die Leute immer-
während im Anthropomorphismus gefangen bleiben und nicht fassen, nicht
begreifen können, dass das Element des inneren (psychischen) Reflexes im Ver-
hältniss zu einer Menschenseele ebenso einfach sein muss wie ein Atom im
Verhältniss zum lebenden Menschenhirn.
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10 Religion und Monismus im Licht der Gehirnwissenschaft.
Die Erscheinung der Introspection ist nur das innere Reflex
alles Geschehens, dessen Aussenseite uns als die bewegte Materie mit
ihren Energien erscheint. Jene innere Seite von der äusseren zu
trennen oder umgekehrt ist noch keinem Menschen anders als
durch leere Worte gelungen, und wird auch nie gelingen, aber die
Innenseite kennt jeder einzig nur bei sich selbst. —
Der rein wissenschaftliche Monismus (Identitätshypothese) darf
freilich nicht so weit generalisiren wie oben. Er begnügt sich
damit, die Wesensidentität jeder der directen psychologischen Be-
obachtung zugänglichen psychischen Erscheinung mit ihrem sogen,
gehirnphysiologischen Correlat anzunehmen, und muss die Hypo-
these der Weltbeseelung, so nahe sie ihm liegt, der metaphysischen
Speculation überlassen.
Es ist unschwer zu begreifen, dass diese Streitfrage mit den
oben bezeichneten Fragen der religiöse n Metaphysik direct nichts
zu thun hat. Erste Ursache und letzter Zweck, freie Evolution
oder Fatalismus bleiben davon so unberührt, wie die Frage nach
der Wesenheit Gottes. Ein persönliches Verhältniss der Gottheit,
sowohl zu uns als zu der übrigen uns erscheinenden Natur ist
allerdings mit der monistischen Auffassung nicht besonders leicht zu
verbinden. Aber auch von anderem Standpunkte aus lässt sich die
Vermenschlichung der Gottesidee kaum mit der Vorstellung der
Allmacht vereinbaren.
Die monistische Anschauung kommt übrigens einer Reihe
Dogmen der Religionen in der gleichen Weise in die Quere, wie
seinerzeit die Kopernik'schen Lehren des Sonnensystems. Jene
Dogmen haben wissenschaftliche, dem menschlichen Erkenntniss-
vermögen zugängliche Fragen in Beschlag genommen und für ihre
religiösen Systeme verwerthet. Ihre Vertreter können es nicht
verwinden, dass ihnen nun dieselben heute von Seiten der wissen-
schaftlichen Erkenntniss streitig gemacht werden. Darin liegt des
Pudels Kern.
Was jedoch die Frage „Monismus" oder „Dualismus"
um einen Riesenschritt der wissenschaftlichen Erkenntniss näher
gebracht hat, ist ganz einfach die Erforschung des menschlichen
und des thierischen Centralnervensystemes und seiner normalen
und pathologischen Functionen.
Was früheren nebelhaften Anschauungen als immaterielle
Menschenseele (etwa wie den Wilden der Blitz als Deus ex
machina) imponirte, erweist sich nun immer unabweisbarer, von A
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Fälschung des Weber'schen Gesetees durch unterbewusste Thätigkeiten. 1 1
bis Z als die Innenseite des Gehirnlebens. Alle Versuche, einen
Theil der Seele als Seelenkern an und für sich vom Gehirnleben,
als unabhängig von der lebenden Hirnsubstanz, zu retten, scheitern
kläglich an den täglich genaueren und massenhafteren Beobach-
tungen über die absolute Gebundenheit aller normalen wie patho-
logischen Seelenerscheinungen an die Integrität ihres Organes.
Eine Hauptschwierigkeit schien jedoch noch in dem dunklen
Gebiet des sogen, unbewussten Hirnlebens zu liegen. Das
Fech n er- Weber'sche Gesetz will nicht stimmen. Es gibt Incon-
gruenzen zwischen den Bewusstseinserscheinungen und den be-
obachteten und gemessenen physiologischen Resultaten.
Dies kommt einfach daher, dass mächtige Apparate (Hirn-
centren) zwischen den physiologischen Messungsresultaten und den-
jenigen Grosshirntheilen liegen, wo sich unser oberbewusstes (psychi-
sches) Leben abspielt. Die unterbewusste (für unser Oberbewusstsein
unbewusste) Thätigkeit jener Apparate kann hemmen und bahnen,
stören oder fördern, und fälscht dadurch nothwendig die Resultate
der psycho-physiologischen Messungen, die auf dem Fechner'schen
Gesetz beruhen. Vor allem muss man sich hüten zu bestimmte
Schlüsse daraus zuziehen. Es zeigt sich u. A. : 1. dass die stärkere
Concentration der Grosshirnthätigkeit, die dem Vorgang der Auf-
merksamkeit zweifellos entspricht, vom klarsten intensivsten Be-
wusstsein begleitet ist; 2. dass offenbar auch die Intensität und
3. die Dauer der Gehirnthätigkeiten zum Zustandekommen unseres
subjectiv von uns erkannten Bewusstseins beitragen. Letzteres geht
schon mit grosser Wahrscheinlichkeit daraus hervor, dass bekannt-
lich psychische Zeitmessungen nachgewiesen haben, wie viel rascher
scheinbar unbewusste Reactionen vor sich gehen als bewusste.
4. Alles Ungewohnte, alles, was die Gehirnthätigkeit unvorbereitet
findet, alles, wozu sie noch nicht oder noch nicht fest angepasst
ist, bewirkt solche Reactionen derselben, welche von stärkerem Ober-
bewusstsein begleitet sind. Man könnte sagen, dass Schock, Rei-
bung, Antagonismus, plastische Umbildung in der Hirndynamik die
Oberbewusstseinserscheinung hervorruft oder verschärft. Es scheint
somit, dass die mehr erschütterungsartigen Nerventhätigkeiten von
stärkeren Oberbewusstseinsspiegelungen begleitet sind. 5. Im Spiegel
des Bewusstseins, d. h. subjectiv, erscheint jede Gehirnthätigkeit als
eine Einheit, als das, was Philosophen Bewusstseinszustand genannt
haben, obwohl ein tieferes Studium der Psychologie und besonders
der Psychophysiologie uns bald den Beweis liefert, dass die schein-
12 Psychische Synthese in der Introspection. Gedächtniss.
baren Einheiten ungemein complicirt sind, d. h. aus ungeheuer
weit combinirten zeithchen und räumlichen Componenten bestehen.
Man denke nur an das, was wir eine Wahrnehmung nennen (z. B.
diejenige einer Uhr), gleichwohl ob sie hallucinirt oder durch das
Sehen einer wirklichen Uhr bedingt ist. Das Beispiel einer Ge-
sichtswahrnehmung ist besonders beweisend, weil man an Blind-
gebornen, die erst im späteren Leben durch Staaroperation den
Gesichtssinn erlangten, nachgewiesen hat, dass sie zunächst keine
Gesichtswahrnehraung, sondern nur ein Chaos von Farbenempfin-
dungen haben, lange Zeit brauchen, um sehen (d. h. wahrnehmen)
zu lernen, und es nie so vollständig erlernen wie das Wahrnehmen
und Sichvorstellen mit Hülfe der anderen Sinnesorgane, so dass sie
sich immer noch hauptsächlich mit dem Gefühl und dem Gehör
orientiren. Sogar die für uns einfachste Empfindung beruht zweifel-
los auf einem grossen physiologischen Complex (Hoff ding). Um
wirklich primitive, einfache Empfindungen zu entdecken, müssten
wir bis zum neugebornen Kind zurückgehen (abgesehen vom an
congenitalem Staar Operirten), und das können wir nicht.
Folglich bedeutet unser menschliches Oberbewusstsein nur eine
summarische, synthetische, unvollständige, subjective Beleuchtung
des stärkeren Theiles unserer Grosshirnthätigkeit.
6. Eine sehr wichtige Erscheinung des Bewusstseins findet
ferner bei der Wiederbelebung früherer Thätigkeitscomplexe des
Gehirnes, d. h. beim Spiel der Gedächtnissbilder oder Vorstellungen
statt. Es handelt sich hier um die zeitliche Verkettung der Gehirn-
thätigkeit, d. h. um die relative Beleuchtung derselben durch das
Oberbewusstsein. Besonders auf dieses Gebiet wirft der Hypnotis-
raus ein bedeutendes Licht. Der ganze Vorgang des Gedächtnisses
ist an sich vom Bewusstsein völlig unabhängig und zeigt sehr inter-
essante Gesetze 1 ). Die Gesetze des Gedächtnisses erkennen wir zwar
grösstentheils psychologisch bei uns selbst. Aber es ist nicht richtig,
ein bewusstes Gedächtniss dem organischen oder „unbewussten"
Gedächtniss gegenüberzustellen. Es gibt nur ein Gedächtniss,
das a) in der Erhaltung molecularer Spuren einer jeden Hirn-
') In einem gedruckten Vortrage (Das Gedächtniss und seine Abnormi-
täten; Zürich, Orell Füsali 1885) habe ich grösstentheils nach Ribot diese
Frage näher erörtert, dabei aber den Fehler begangen, das Bewusstsein als
eine Thätigkeit zu bezeichnen. Ohne Thätigkeit des Gehirnes gibt es freilich
kein Bewusstsein, aber desshalb darf man nicht diese Thätigkeit mit dem Wort
Bewusstsein bezeichnen.
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Gedächtniss. Bewusstsein und Amnesien. Wiedererkennen. 13
thätigkeit (Nerventh'ätigkeit überhaupt), b) in der Wiederbelebungs-
oder besser Wiederverstärkungsfähigkeit derselben und c) manchmal
in dem Wiedererkennen, d. h. in der Identification der wiederver-
stärkten Thätigkeit mit der ersten (Localisation in der Zeit) besteht.
Ob Bewusstsein bei dem einen oder dem anderen dieser Vor-
gänge subjectiv nachweisbar oder nicht nachweisbar ist, hat mit
der Sache selbst nichts zu thun, so sehr auch wir vom Gegentheil
subjectiv überzeugt sein mögen.
Die subjective Spiegelung des Bewusstseins kann nicht nur
ad libitum aus wirklichen Gedächtnissbildern durch Suggestion aus-
geschaltet und wiedereingeschaltet werden (suggerirte Amnesien etc.),
sondern es kann durch Suggestion das Wiedererkennen vorgetäuscht
werden, d. h. ein ganz neuer Seelenvorgang kann durch Suggestion
das irrige Bewusstsein einer Erinnerung an bereits ein Mal Erlebtes
(Erinnerungsfälschung) erzeugen.
Es kommt z. B. für das spätere Bewusstsein des Individuums
ganz auf dasselbe heraus, ob ich durch Suggestion einen für gewöhn-
lich schmerzhaften Nervenreiz (z. B. Zahnextraction) im Moment,
wo er stattfindet, durch Suggestion schmerzlos mache, oder ob ich,
nachdem der Schmerz mit Bewusstsein wirklich empfunden wurde,
durch Suggestion die Erinnerung an den empfundenen Schmerz
vollständig und definitiv ausschalte. In beiden Fällen wird der Be-
treffende, wie ich es experimentell nachgewiesen habe, die gleich
feste bewusste Ueberzeugung behalten, der Zahn sei schmerzlos aus-
gezogen worden.
Ribot (Das Gedächtniss und seine Abnormitäten) glaubt, dass
das Wiedererkennen, als Bewusstwerden des Gedächtnisses, nur dem
Bewusstsein zukommt. Das ist aber nach dem, was wir sahen,
ausgeschlossen, denn es gibt nichts Unbewusstes in der Hirn-
thätigkeit. Man kann sogar das Wiedererkennen bei Insecten
(Bienen und Ameisen) sicher nachweisen.
Man ersieht daraus, welch' hervorragende Bolle die Amnesie
bei den Vorgängen spielt, die wir bewusst oder unbewusst nennen.
Das, was wir bei uns für unbewusst halten, hat offenbar nur durch
sogen, functionelle Amnesie den subjectiven Connex mit unserer
oberbewussten Hirnthätigkeit verloren.
Es ist aber wohl anzunehmen, dass, wenn durch Suggestion
oder auch spontan eine stärkere und noch nicht alte Hirnthätigkeit
für das Bewusstsein in Vergessenheit geräth, dies bedeutet, dass eine
Hemmungsvorrichtung in Wirkung getreten ist, welche eine stärkere
14 Hemmungen und Bahnungen. Traumbewussteein.
Wiederbelebung dieser Thätigkeit verhindert. Ausschaltung der Ober-
bewusstseinsspiegelung bedeutet somit offenbar meistens eine Hemmung,
während umgekehrt reizverstärkende Vorgänge (Bahnungen) im Ge-
hirn solche Spiegelungen hervorrufen, resp. intensiver gestalten.
Somit kommen wir also wiederum zu der Ansicht, dass lebende
Nervensubstanz, Nerventhätigkeit und Bewusstsein nur drei von uns
durch Analyse abstrahirte Erscheinungsformen des gleichen Dinges
in Beziehung zu uns und nichts an sich von einander Verschiedenes
sind. Subjectivismus, Energie und Stoff sind, ihrem Wesen nach,
das Gleiche und erscheinen auf der Erde als Grosshirn und Seele
des Menschen in ihrer complicirtesten, vollständigsten Form.
Alles, was wir bisher gesagt haben, bezog sich aber nur auf
unser gewöhnliches Wachbewusstsein, dessen subjectiver Inhalt so-
mit vom monistischen Standpunkt aus nichts Anderes sein kann als
ein synthetisches Symbol des Complexes der durch Association ver-
bundenen und vermittelst des Gedächtnisses jederzeit mehr oder
weniger vorstellbaren, d. h. wieder verstärkungsfähigen Grosshirn -
thätigkeiten, im Moment ihres den subjectiven Reflex entsprechend
erhöhenden Geschehens.
Wir besitzen allerdings Alle ein zweites Bewusstsein, das
Traum- oder Schlaf bewusstsein, das sich qualitativ nicht unwesent-
lich vom Wachbewusstsein unterscheidet. Das Studium seines In-
haltes gibt aber gerade die schönste Bestätigung unserer An-
schauung (siehe Cap. IV, §§. 16).
Einen partiellen, unvollständigen Einblick gewinnt unsere wach-
bewusste Erkenntniss in dasselbe durch die Traumerinnerungen.
Wir werden noch darauf zurückkommen müssen. Aber hier schon
müssen wir betonen, dass zweifellos die subjectiv andere Qualität
des Traumbewusstseins einer objectiv anderen Qualität der Gehirn-
thätigkeit im Schlaf entsprechen muss. Wäre immerhin der Unter-
schied ein absoluter, so hätte wahrscheinlich unser Wachbewusst-
sein gar keine Kenntniss von unserem Traumbewusstsein. Dem
ist aber nicht so. Es gibt oft allmälige Uebergänge, welche die
Vermittelung bewirken und gewisse schwächere Erinnerungen mit
Association der subjectiven Spiegelung von der Schlaf thätigkeit in
die Wachthätigkeit des Gehirns und umgekehrt übertragen.
In gewissen eigenthümlichen Fällen von Somnambulismus hat
man zwei oder mehrere von einander scharf getrennte Bewusstseine
(man wolle diesen Plural entschuldigen!) beobachtet und daraus
diverse Theorien construirt. Nicht nur können solche Bewusstseine
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Das Doppel-Ich und sein Mechanismus.
15
einander zeitlich folgen (mit einander abwechseln), sondern sie
können gleichzeitig im gleichen Gehirn coexistiren (das Doppel-Ich
und das automatische Schreiben von Max Dessoir) 1 ). Diese
wunderbaren Dinge erscheinen im Lichte des Monismus und des
Hypnotismus nicht mehr so unerklärlich, wenn wir uns unser Wach-
bewusstsein einfach als die Introspection einer associirten Kette
von (allerdings wichtigsten, hauptsächlichsten und concentrirtesten)
Grosshirnthätigkeiten vorstellen. Nichts verhindert, dass im gleichen
Gehirn andere Thätigkeitsketten coexistiren, die ebenfalls ihre Ver-
kettung von Introspectionen besitzen, aber durch Hemmungsvorrich-
tungen an einer Verkettung mit der ersten verhindert sind. Schein-
bar unbewusste, d. h. bezüglich der Erinnerung an die subjective
Beleuchtung allein unterbrochene Verbindungen zwischen beiden
Ketten können und müssen nichtsdestoweniger vorhanden sein, denn
die Beeinflussung einer Kette durch die andere ist nachweisbar.
Einmal fuhr ich in einem Wagen, in Gedanken versunken.
Als der Wagen an einer Stelle vorbeifuhr, wo ich aus der electri-
schen Trambahn auszusteigen pflegte, um einen steilen Fussweg zu
nehmen, fühlte oder glaubte ich mich abgestiegen und im Begriff
die Steigung zu beginnen. Das Bewusstsein, im Wagen zu sitzen
und zu fahren, war augenblicklich aus meiner Oberbewusstseinskette
geschwunden und durch eine Art Traumhallucination ersetzt worden,
obwohl mein abstracter Gedankengang dadurch keineswegs gestört
worden war. Plötzlich wurde ich dann meiner Täuschung gewahr.
Es können mit anderen Worten im gleichen Gehirn gleich-
zeitige oder einander folgende verschiedenartige Thätigkeiten ge-
meinsame elementare, sie coordinirende Verbindungen besitzen, und
doch in ihren von der bewussten Erinnerung einzig beleuchteten
Wellen höherer Intensität oder Concentration uns subjectiv voll-
ständig oder fast vollständig von einander getrennt erscheinen (Bei-
spiel: Traum und Wachen).
Man braucht aber bekanntlich nicht zum Traumbewusstsein zu
greifen, um Unterbrechungen in den Verkettungen unseres denken -
l ) Max Dessoir, Das Doppel-Ich, 1889 bei Karl Sigismund, Berlin W.
Vorsichtig und mit Recht sagt Dessoir am Schluss dieser sehr interessanten
und lesenswert hen Studie: Die menschliche Persönlichkeit besteht aus mindestens
zwei schematisch trennbaren Sphären. Das Wachbewusstsein nennt Dessoir
„Oberbewusstsein", das andere, unserem Wachbewusstsein weniger bekannte,
Bewussteein (Traumbewusstsein, zweites Bewusstsein etc.) nennt er „Unter-
b.
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1 6 Verschiedene Varietäten des Doppel-Ich's. Wo fängt d. Analogieschluß an ?
den Subjectes zu finden. Bei jeder stärkeren Concentration des
Denkens (beim unrichtig „zerstreut* genannten Gelehrten z. B.)
kann man sehen, wie eine Reihe gewohnter Hirnthätigkeiten vor
sich zu gehen fortfahren und dabei jede subjective Verbindung mit
dem auf Abstractionen concentrirten Inhalt des Hauptbewusstseins
(d. h. mit der Hauptgrosshirnthätigkeit) verloren haben. Ich habe
z. B. bei concentrirten Arbeiten die Gewohnheit „unbewusst" diverse
Melodien in einem fort leise vor mich hin zu summen. Neulich
habe ich nun angefangen mich selbst gelegentlich darauf zu er-
wischen und jedesmal die bezügliche Melodie (meistens Gassenhauer)
aufzuschreiben. Ich habe mich nun bereits auf 24 verschiedenen
Melodien auf diese Weise ertappt, zum Theil alte Gassenhauer aus
meiner Kindheit, an welche ich nie bewusst denke, aber auch später
gelernte Lieder. Man hat diese Thätigkeit oft „unbewusst* ge-
nannt. Dessoir schreibt derselben sein Unterbewusstsein zu. Es
gibt aber in Wirklichkeit zahllose Uebergänge, Unterbrechungen,
Wieder anknüpfungen etc. Es gibt Menschen, bei welchen die Be-
wusstseinsketten sehr rasch den Zusammenhang verlieren, während
sie bei anderen (Menschen mit sogen, sehr gutem Gedächtniss,
sowie Leute, die „alles merken") sehr ausgedehnte und cohäsive
Verknüpfungen besitzen. Bei letzteren sind gewöhnlich die Eigen-
schaften der Concentration (Aufmerksamkeit) und der Phantasie
schwächer entwickelt. Die Bewusstseinsspiegelung kann uns sehr
klar, weniger klar, nebelhaft erscheinen. Ihr Feld kann räumlich
wie zeitlich ausgedehnter oder weniger ausgedehnt sich zeigen. Ein
wichtiges Verhältniss besteht auch zweifellos zwischen der Intensität
und der Dauer (G r a s h e y'sche Aphasie) einer Gehirnthätigkeit
einerseits und ihrer bewussten Erinnerungsfähigkeit andererseits.
In andere Bewusstseine als in unser Oberbewusstsein oder
höchstens in unsere Grosshirnunterbewusstseine können wir keinen
directen subjectiven Einblick gewinnen, ganz gleichgültig, ob die-
selben anderen Nervencentren unseres eigenen Nervensystems oder
anderen Menschen oder Thieren gehören. Was wir von anderen
Menschen wissen, beruht auf Analogieschluss mittelst der Sprache.
Und auch den Einblick, den wir in das Traumbewusstsein oder in
ein eventuelles zweites oder drittes Bewusstsein (Fälle von Mac-
Nish, Azam etc.) gewinnen, ist meistens kärglich genug. Hätten
die Telepathen recht, so wäre es freilich anders.
Dennoch können wir und müssen wir sogar theoretisch per
Analogie annehmen, dass die Tätigkeiten anderer Nervencentren:
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Subcorticale Centren und ihr Bewusstaein.
17
Kleinhirn, Mittelhirn, Zwischenhirn, Rückenmark, Ganglien, ebenfalls
eine analoge subjective Spiegelung besitzen. Nur bleibt z. B. dieses
Rückenmarksubject , um eines zu wählen, vollständig ohne sub-
jective (bewusst verkettete) Association mit unserem Ichbewusst-
sein, d. h. mit unserem Grosshirnoberbewusstsein. Die Thätig-
keit der subcerebralen Centren wird uns erst bewusst,
wenn sie sich in eine Thätigkeit des Grosshirnes durch
wellenartige Fortpflanzung in dasselbe umgesetzt hat.
Nach Ruptur unseres Cervicalmarkes z. B. befindet sich unser
Oberbewusstsein voll und ganz unversehrt gehirnwärts von der
Ruptur. Die unzähligen bezüglichen Thatsachen der Gehirnphysio-
logie, Anatomie und Pathologie erklären sich nur unter dieser
Annahme.
Das dunkelste Capitel der Physiologie des Centralnervensystemes
ist die Function der sogen. Basalganglien des Gehirnes, des Mittel-
hirnes und des Kleinhirnes. Es ist aber sicher nicht nur die wenig
zugängliche Lage dieser Organe daran schuld, sondern auch die
Thatsache, dass unser subjectives Ich, d. h. unser Grosshirnober-
bewusstsein mit ihrem supponirten Bewusstsein in keinem subjec-
tiven Connex steht, obwohl ihre Thätigkeit mit der Grosshirnthätig-
keit, d. h. objectiv, nachgewiesenermassen , in harmonischem Zu-
sammenhang arbeitet. Kurzweg nennen wir nun alle diese dunklen
Vorgänge bald unbewusste Gehirnthätigkeit, bald Gehirnreflexe, bald
Gehirnautomatismen und dergl. mehr. Doch liegt in dem Ausdruck
„unbewusst" die Gefahr, diese Vorgänge in einen Gegensatz zum
Inhalt unseres Oberbewusstseins zu bringen, während ein solcher
sicher nicht vorhanden ist.
Dass ein Thier ohne Grosshirn auf Reizung des Trigeminus
hin auch schreit, scheint zu zeigen, dass eine Schmerzerzeugung in
einem Centrum des Nachhirns oder des Mittelhirnes stattfindet, und,
dass folglich dieses Centrum auch sein schmerzempfindendes Be-
wusstsein hat. Im Grosshirnbewusstsein des Thieres erscheint aber
der Schmerz, d. h. die subjective Empfindung erst, wenn er aus
jenem Centrum in das Grosshirn projicirt worden ist, und so ist es
zweifellos auch für uns der Fall. Ein armer junger Mann mit
querdurchrissenem Cervicalrückenmark lachte verwundert, als er
seinen Fuss nach Berührung der Fusssohle mit Glüheisen sich zu-
rückziehen sah. Er fühlte absolut nichts. „Ja, aber Ihrem Rücken-
mark thut es weh," sagte ich ihm, „nur wissen Sie (Ihr Gehirn)
es nicht.*
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 2
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Definition des Gehirnes. Das Bewusstsein ein Grundbegriff.
Durch weitere Analogieschlüsse müssen wir den verschiedenen
Nervencentren der Thierwelt verschiedene, der Complicirtheit ihrer
Structur und ihrer Grösse adäquate Bewusstseine zusprechen, und
stets bei dem grössten, complicirtesten Centrum das Hauptbewusst-
sein, d. h. das Bewusstsein der leitenden vernünftigsten Haupt-
thätigkeit oder Gehirnthätigkeit vermuthen. Die Experimente Isidor
Steiner's scheinen zu beweisen, dass diese Hauptthätigkeit bei den
Fischen im Mittelhirn stattfindet (Is id. Steiner, Ueber das Gross-
hirn der Knochenfische, 1886, Januar, Sitzungsber. der Berl. Akad.
phys.-math. Classe). Der gleiche Autor (ibidem, 16. Januar 1890;
Die Function des Centrainervensystems der wirbellosen Thiere)
glaubt das Gehirn als „das allgemeine Bewegungscentrum, in Ver-
bindung mit den Leistungen wenigstens eines der höheren Sinnes-
nerven" definiren zu können. Diese Definition hat manches für sich,
ist aber wohl zu absolut und zu beschränkt. Das Gehirn ist ein-
fach das grösste und complicirteste Nervencentrum. Dadurch hat
es die stärkste und die vernünftigste, d. h. die am complicirtesten .
der Aussenwelt und den Gehirnen anderer Wesen anpassbare Thätig-
keit. In Folge dessen nimmt auch diese Thätigkeit in der Wechsel-
wirkung der motorischen Centren die allgemein leitende Rolle ein.
Bei den Ameisen glaubte ich das Gehirn in Folge von diversen
Experimenten und vergleichenden biologischen und anatomischen
Studien in die Corpora pedunculata des oberen Schlundganglions
mit noch mehr Recht als bisher verlegen zu dürfen (Fourmis de
la Suisse, 1874). Neuerdings habe ich mich über die Frage der
vergleichenden Psychologie genauer geäussert, und ich verweise
hier auf meine diesbezügliche Arbeit. (Die psychischen Fähigkeiten
der Ameisen und einiger anderen Insecten mit einem Anhang über
die Eigentümlichkeiten des Geruchsinns bei jenen Thieren. Mün-
chen 1901, Verlag von Ernst Reinhardt, Maximiliansplatz 3.)
Der Begriff des Bewusstseins , wie wir ihn definiren, ist ein
Grundbegriff, den man nicht weiter zerlegen kann. Zerlegen kann
man nur die von ihm gespiegelte Gehirnthätigkeit. Desshalb glauben
wir dem Begriff Bewusstsein Allgemeinheit zuschreiben zu können,
wie dem Begriff der Energie, obwohl, seines subjectiven Wesens wegen,
sein directer Nachweis ausserhalb des Subjectes nur selten möglich
ist! So leicht es eben desshalb scheint, unsere diesbezügliche An-
sicht mit Syllogismen zu widerlegen, so zwingend drängt sich doch
dieselbe dem inductiv denkenden Forscher auf. Wie kann denn ein
unanalysirbarer Subjectivismus, der sich mit absolut keiner Natur-
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Vom Begriff der Energie untrennbar.
19
erscheinung vergleichen, sich aus keiner derselben ableiten lassen
kann — er ist es ja, dem die Natur erscheint ! — plötzlich — (aus
was!?) — entstehen — mit dem ersten Neuron? — mit der ersten
lebenden Zelle?
Man braucht sich nur in diese Erwägungen gründlich zu
vertiefen um — will man nicht immer wieder in den Circulus vitiosus,
in die leeren Worte irgend eines sterilen Dualismus zurückfallen
— einzusehen, dass man das Substrat des potentiellen abstracten
Begriffs des in unserem Sinn verstandenen Bewusstseins von dem
Substrat des Begriffes der Energie nicht trennen kann. — So-
bald man eine solche Trennung vornehmen will, verfällt man
entweder in den Geisterspuk aller Spiritismen und Spiritualismen,
die dem « selbstständigen Geiste" oder den „selbstständigen Geistern"
alle möglichen Eigenschaften und persönliche Herrschaft über die
von ihnen ebenso individualisirte „ Materie" etc. (warum schliesslich
nicht auch Arme und Beine!?) verleihen — oder in den platten,
philosophisch unhaltbaren „Materialismus", der den „Geist", resp.
das Bewusstsein aus den ihrem Wesen nach ebenso unbekannten
abstracten Begriffen „Atom" und „Energie" construiren oder ab-
leiten will und dadurch nur ein albernes Wortspiel begeht. Der
Mensch analysirt die Erscheinungen bis zu den für ihn als Grund-
begriffe erscheinenden Abstractionen Energie, Bewusstsein, quali-
tativer Unterschied (eventuell Zeit und Raum), letztere als Relation
zwischen den Erscheinungen, nicht als Erscheinung selbst. Hinter
denselben steht aber der monistische metaphysische Begriff, den
wir aus den Erscheinungen der für uns transcendenten wahren Dinge
der Welt nur erschliessen können, und der alle unsere scheinbaren
Grundbegriffe in sich schliessen muss, als Wesen des Weltalls, als
wirklicher, aber unerforschlicher, völlig ausserhalb unseres Er-
kenntnissvermögens stehender Gottesbegriff (wohl verstanden nicht
„persönlich" zu nehmen!). Die Thatsache, dass wir das monistische
Wesen der Dinge nicht ausforschen können, hindert uns gar nicht
daran, inductiv auf sein Vorhandensein zu schliessen, wenn wir sehen,
dass alle unserem Erkenntnissverraögen zugänglichen Erscheinungen
damit stimmen.
Ich verweise hier übrigens auf meinen Vortrag über „Gehirn
und Seele" an der Wiener Naturforscherversammlung (Verlag von
Emil Strauss in Bonn, 6. Aufl., 1899).
Aus unserer Definition des Bewusstseins als die subjective Seite
der concentrirten Grosshirnthätigkeiten ergibt sich, dass es Letztere
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Instincte und Gewohnheiten sind fixirte Intelligenz.
sind, welche vernünftig sind, doch nicht im Sinne des hellsehenden
Unbewussten Hartmann's, den dieser Philosoph im Instinct ent-
decken zu können glaubte. Der Instinct ist ein secundäres, auto-
matisches Product, eine krystallisirte , fixirte Intelligenz, wie sich
Darwin, Delboeuf und Andere ausdrückten. Zuerst kommt die
plastische Vernunft mit ihrer Concentration und ihrer mühseligen
combinatorischen Anpassungs- und Neuerungsarbeit. Diese ist es,
die sich als plastische Reactionsfahigkeit des Nervensystemes , ad-
äquat und immer complicirter (vernünftig) der Welt und den Nerven-
functionen anderer Wesen anschmiegt. Der Instinct ist eine phylo-
genetisch zu einem bestimmten Complex von Energien automatisch,
starr angepasste, fixirte, als Ganzes nicht mehr anpassbare krystal-
lisirte Vernunft; die Gewohnheit ist der Mechanismus des indivi-
duellen Centrainervensystems, durch welchen, mittelst der Erinnerung
resp. Wiederholung ähnlicher Reactionen der plastischen Gehirn-
thätigkeit eine Automatisirung und Organisirung derselben unter
immer grösserer Einbusse an Plasticität stattfindet. Die Instincte sind
(wahrscheinlich durch Auslese von zweckmässigen, im Lauf der Gene-
rationen allmälig weiter entwickelten Potenzen) weiter ausgebildete
und durch das Gesetz der Vererbung allmälig fixirte Automatismen.
Wenn der Mensch bei seiner Geburt fast keine fertige Instincte,
sondern nur unabwendbare (gehen, sprechen) oder abwendbare
erbliche Anlagen besitzt, so kommt dies einfach daher, dass bei
seiner Geburt das Gehirn noch sehr embryonal, zum Theil ohne
Markscheiden der Nervenfasern ist. Diejenigen erblichen Anlagen,
die sich später unabwendbar bei jedem normalen Individuum ver-
wirklichen, sind den Instincten gleichzustellen. Genau so wie ein
vernünftiger, bewusster Mensch nebenbei seine Gewohnheiten und
Instincte besitzt, hat ein Insect mit erstaunlich fixirten und compli-
cirten Instincten daneben auch seine kleine, schwache, plastische
Vernunft, die sich stets dann in ihrer ganzen Miserabilität zeigt,
wenn man experimentell den Handlungsketten des Instinctes unvor-
hergesehene, in der Natur sonst nicht vorkommende Hindernisse in
den Weg legt. Ich habe darüber (1. c.) eine Reihe Experimente
angestellt. Fahre (Souvenirs entomologiques) , durch die grosse
Kluft zwischen der Scheinintelligenz des Instinctes und der un-
geheuren Schwäche der plastischen Vernunftreaction der Insecten
geblendet, hat den Fehler begangen, die letztere zu läugnen, ob-
wohl ein aufmerksamer Leser sie aus den prachtvollen Beobach-
tungen des Autors selbst herausdiagnosticiren kann. In seinen
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Intuition. Lüge und Wahn.
21
letzten Studien gibt er jedoch nach und schreibt den Insecten
„Discernement* zu. Das Gedächtniss, die Wahrnehmung, die
Association der Erinnerungen und daraus entstehende einfache
Schlüsse sind von mir (1. c), von Was mann und von Buttel
Reepen unzweifelhaft nachgewiesen worden.
Alle die logischen Schlüsse, welche unsere Gehirnthätigkeit
unterhalb der Schwelle unserer Hauptbewusstseinsspiegelung bildet,
sind dasjenige, was wir Intuition, instinctives Raisonnement und
dergl. nennen. Diese Schlüsse sind rascher und sicherer als die uns
bewussten, können aber auch fehl gehen und irren, besonders wenn
sie mit einer terra incognita in Berührung kommen. Als der-
artige Schlüsse oder Associationen intuitiver Natur müssen wir rein
centrale (Abstractionen, Gemüth) coordinirte Gehirnthätigkeiten so-
wohl als solche mit centripetalen (Wahrnehmungen etc.) und solche
mit centrifugalen (Impulsen, Trieben) Tendenzen bezeichnen. Wir
machen z. B. viel mehr Abstractionen unterhalb der Schwelle unseres
Hauptbewusstseins, als wir uns einbilden. Man darf somit
eigentlich nicht unbewusste und bewusste Thätig-
keiten in Gegensatz zu einander bringen, sondern nur,
und zwar auch nur relativ, d. h. graduell, die actuelle
plastische Vernunftsthätigkeit oder Anpassungsfähig-
keit (meist oberbewusst) zu der mehr oder weniger
fixirten, automatisirten, crystallisirten Intelligenz,
die man Instinct nennt, und die meist nur unter-
bewusst ist.
Ein psychologisch interessanter Fall der Bewusstseinserschei-
nung ist die bewusste und die unbewusste Täuschung. Nehmen wir
den Fall eines Hans Meyer A., der sich, um eine Geldsumme zu
erschwindeln, für den Grafen X. ausgibt, und eines Hans Meyer B.,
der sich aus Wahnsinn für den Grafen X. hält. Was ist bei A.
bewusst und bei B. unbewusst? Einfach das Unterschiedsverhältniss
zwischen zwei Associationsketten ; diejenige der wirklich erlebten
eigenen Persönlichkeit, und diejenige der Vorstellungen Über den
Grafen X. Je schärfer dieses Unterschiedsverhältniss der beiden
Associationsketten von Gehirndynamismen ausgeprägt ist, desto
schärfer wird in der Regel seine Bewusstseinsbeleuchtung werden,
desto weniger Verwechslung wird es zwischen Wirklichkeit und
Vorstellung geben.
Es ist aber klar, dass der Versuch des Hans Meyer A., bei
anderen Menschen die Identification der beiden Vorstellungsketten
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Lüge und Phantasie. Pathologische Lüge.
irrthtimlich hervorzurufen, in seinem eigenen Gehirn eine intensive
associative Arbeit beider Vorstellungsketten hervorruft, welche nach
einer relativen Identificirung derselben trachtet. Besitzt Hans Meyer
A. eine starke plastische Phantasie, so wird ihm diese Identificirung
leichter und es wird dadurch der Dynamismus der Unterschieds-
verhältnisse abgeschwächt, indem starke Sinnesbilder und GefUhls-
betonungen die Aehnlichkeiten fördern und die Unterschiede löschen
werden; die Täuschung wird dadurch zugleich natürlich besser und
unbewusster, dafür aber vielleicht durch Unvorsichtigkeiten miss-
lingen. Wenn er einen scharf kritischen, objectiven, grübelnden
Geist besitzt, werden umgekehrt die Unterschiedsverhältnisse beider
Ketten ängstlich scharf betont, dadurch die Identification derselben
sehr erschwert und die Täuschung unnatürlicher, schlechter, be-
wusster, dafür aber durch grosse Vorsorge besser gedeckt. Es
können aber andere Combinationen zu einem ähnlichen Resultat
führen. Phantasie und Kritik können z. B. gleichzeitig bestehen
und letztere die Täuschungen corrigiren. Es kann umgekehrt der
Mangel an ethischen Vorstellungen und Trieben die Angewöhnung
an die Lüge fördern, was die besagten Unterschiedsverhältnisse all-
mälig abschwächt. Oder es kann eine hochgradige Oberflächlichkeit
und Kritiklosigkeit zum gleichen Resultat führen, ohne Hülfe einer
besonders starken Phantasie. Es gibt Menschen, in deren Gehirn
überhaupt zwischen Vorgestelltem und Erlebtem nur ganz nebel-
hafte und schwache Unterschiedsverhältnisse vorhanden sind, ohne
dass man dies auf den Mangel oder den Ueberfluss an einer be-
stimmten Eigenschaft allein zurückführen kann. Da, wo das Unter-
schiedsverhältniss scheinbar fehlt, oder wenigstens nicht bewusst
wird, kann dies aber auch auf einem Fehlen der Association beider
Thätigkeitsketten, resp. der Bewusstseinsbeleuchtungen derselben
beruhen. Die eine wird nur vom Oberbewusstsein, die andere vom
Unterbewusstsein beleuchtet. Dieses beobachten wir besonders im
Traum und bei Hypnotisirten. Man sieht somit, wie der Phantasie-
lügner und der pathologische Schwindler sich auf einer Zwischen-
stufe zwischen dem kritischen bewussteren Betrüger und dem Wahn-
sinnigen (oder dem Träumenden oder dem vollständig Hypnotisirten)
befinden, und warum sie ihre Rolle viel besser spielen als der
bewusste Betrüger. Das nennen die Franzosen „jouer au naturel"
(Tartarin). Wenn aber die Tendenz zu einer bald unvollständigeren,
bald vollständigeren Identification von Vorstellungsketten mit Wirk-
lichkeitsketten als ererbte Anlage zur Lüge und zum Schwindel
Pathologische Lüge. Apperception. Träume. 23
oder auch noch zur Uebertreibung häufig vorkommt, so darf man
andererseits nicht vergessen, dass durch Angewöhnung resp. Uebung
diese Anlage (die in schwachem Masse auch beim besten Menschen
existirt) verstärkt oder durch umgekehrte Uebung bekämpft werden
kann. Ich wollte vor allem darauf hinweisen, dass der wesentliche
Unterschied in dem Grad der Antithese, resp. der mehr oder minder
scharfen qualitativen und quantitativen Differencirung beider Thätig-
keitsketten im Gehirn liegt, nicht aber darin, ob die Identification
oder Nichtidentification subjectiv mehr oder weniger bewusst oder
unbewusst ist. Die stärkere oder schwächere Bewusstseinsbeleuch-
tung des Unterschiedes ist vielmehr nur eine Folge des Intensitäts-
grades der Unterschiedsverhältnisse selbst. Ich möchte übrigens
Jedem empfehlen, der sich für diese hochwichtige und interessante
Frage interessirt, die vortreffliche Arbeit Delbrück's: „Die patho-
logische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler, 1891" zu
studiren.
Apperception. Die Apperception oder Aufmerksam-
keit entspricht, wie wir sahen, einer Art in den Gross-
hirnneuronen wandernden Macula lutea des Intensitäts-
maximums der Denkthätigkeit, welche immerwährend
die alten, schlummernden, associirten Gedächtnissbilder
neu belebt, wieder verstärkt und zu neuen Combinationen
verarbeitet oder centrifugal zu Handlungen entladet,
während sie andererseits durch die Sinnesthätigkeit be-
ständig von der Aussenwelt angeregt wird und mit der-
selben in adäquater Wechselbeziehung arbeitet. Bei
dieser Thätigkeit, welche derjenigen des eigentlichen Denkens ent-
spricht, wechseln beständig die Intensität und die Extensität der
Aufmerksamkeit und ihres Feldes.
Im Traum und in der Hypnose ist ihre Thätigkeit verändert,
offenbar gehemmt, verlangsamt, aber desshalb durchaus nicht noth-
wendig abgeschwächt. Es ist eine räthselhafte , aber zweifellose
Erscheinung, dass Träume und Suggestionen einerseits hochgradig
dissociirt sind, andererseits äusserst fein appercipirt werden. Es
können sogar bei der Hypnose in bestimmter Richtung äusserst
scharfe Apperceptionen sehr rasch einander folgen. Ich will mich
darüber hier nicht weiter ausbreiten.
Es ist bekannt, dass die Bewusstseinsbeleuchtung mit der
Intensität der Apperception uns subjectiv zuzunehmen scheint. Wer
aber daraus schliesst, dass der Subjectivismus, d. h. das Bewusst-
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24 Nerventhätigkeit. Die Gehirnelemente nehmen nach der Geburt an Zahl
sein, die Empfindung, den nicht oder separat concentrirten, ausser-
halb des Apperceptionsfeldes liegenden Grosshirnthätigkeiten ganz
oder theilweise abgeht, begeht einen Fehlschluss, wie wir schon
gesehen haben. In That und Wahrheit werden bei sehr intensiver,
eingeengter Apperception die übrigen Denkthätigkeiten nur schein-
bar mehr oder weniger unbewusst. Ihr Zusammenhang mit der
Hauptapperceptionsthätigkeit und daher mit der Oberbewusstseins-
spiegelung wird gelockert; desshalb erscheinen sie im Licht des
letzteren blässer, bis ganz verschwindend. Dissociation und Amnesie
gehen gewöhnlich Hand in Hand. Und die (functionelle) Amnesie
bedeutet nur den gänzlichen oder partiellen Unterbruch zwischen
der Bewusstseinsspiegelung verschiedener Thätigkeitsketten.
IL Verhältniss der Nerventhätigkeit zur Nervensubstanz
und zu den Bewusstseinszuständen.
Dass die Nerventhätigkeit sich durch vermehrten Stoffwechsel
und Temperatursteigerung kundgibt, ist nicht mehr zu demonstriren
nöthig. Es sind sichtbare Veränderungen in den Nervenzellen nach
intensiver Reizung nachgewiesen worden. Ob der bei der Nerven-
thätigkeit stattfindende chemische Process als solcher die nervösen
Reizübertragungen (Neurokyme) darstellt, oder mehr physicalische
moleculare Wellenbewegungen erzeugt, dürfte eine kaum gelöste
Frage sein. Vielleicht dürften auch in den Geheimnissen der Mole-
cularprocesse des organischen Lebens das Chemische und das
Physicalische nicht immer gar so scharf zu unterscheiden sein.
Wohl mit Recht werden die Processe, die wir Hemmung und
umgekehrt Reiz Verstärkung und „Bahnung" (Exner) nennen, im
Leib der Ganglienzellen oder in den Endbäumchen oder Endkörb-
chen der Neuronen, resp. an der Contactgrenze beider verlegt.
Wichtig kommen mir gewisse anatomische Thatsachen vor.
Die Erscheinungen des Gedächtnisses scheinen die Möglichkeit einer
Zerstörung der Gehirnelemente und eines Ersatzes derselben durch
neue Elemente im Lauf des postembryonalen Lebens auszuschliessen.
Diese Frage veranlasste mich, durch Herrn Dr. Schiller, damals
Assistenzarzt im Burghölzli, jetzt Director in Wyl, wenigstens unter-
suchen zu lassen, ob die Zahl der Elemente des Centrainerven-
systems nach der Geburt zunimmt oder nicht. Nach seinem Er-
gebniss scheinen sie in der That beim Nervus oculomotorius der
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nicht zu und bilden sich nach Zerstörung nicht wieder. Neurone. Fibrillen. 25
Katze (Comptes rendus de l'Acad. des Sciences 30. Sept. 1889) an
Zahl nicht, sondern nur an Caliber *) zuzunehmen. Es ist daher
äusserst wahrscheinlich, dass die gleichen Nervenelemente während
des ganzen postembryonalen Lebens bestehen bleiben. Birge hatte
bereits gezeigt, dass beim Frosch die Zahl der Ganglienzellen in
den Kernen der motorischen Nerven, der Zahl der Fasern ent-
spricht. Sowohl die pathologischen Herde des Gehirns, als die
Resultate der Gudden'schen Hirnoperationen an Thieren beweisen,
dass Gehirnelemente, wenn einmal zerstört, sich nicht mehr neu
zu bilden im Stande sind. Nur die Achsencylinder peripherer
Nerven können durch Knospung (Ran vi er) wieder wachsen, falls
die zugehörige Ganglienzelle noch intact ist.
Im Jahre 1886 — 87 haben unabhängig von einander His und
ich die Einheit der Nervenelemente an Hand gewichtiger That-
sachen darzuthun gesucht (His: Zur Geschichte des menschlichen
Rückenmarkes und der Nerven wurzeln ; Forel: Hirnanatomische
Betrachtungen und Ergebnisse, Arch. f. Psychiatrie). Auf Grund
des embryonalen Wachsthums der Fasern aus den Zellen (His)
und der Abhängigkeit der Faser von der Zelle und der Zelle von
der Faser bei der Pathologie und den Experimenten (Forel) haben
wir die Anastomosen geläugnet und die Zugehörigkeit aller Fasern
zu bestimmten Zellen als Fortsätze angenommen. Unsere An-
schauung wurde später von Ramon yCajal und Kölliker histo-
logisch bestätigt. Waldeyer gab dem Nervenelement (Zelle mit
zugehörigen verzweigten Fasern) den Namen »Neuron", und das
Ganze wurde als Neuronentheorie bezeichnet. Dieselbe stimmt mit
Schiller's Ergebniss recht gut überein.
Alsdann hat Nissl durch Färbungsmethoden die Textur der
Ganglienzelle näher studirt und Apathy speciell die Fibrillen so-
wohl in den marklosen Nervenfasern der Wirbellosen, als in der
Ganglienzelle selbst mittelst vorzüglicher Färbungen dargestellt.
Letzterer hat zweifellos Fibrillenanastomosen im Protoplasma der
Ganglienzelle des Blutegels nachgewiesen. Nun glaubt aber
Apathy die Neuronentheorie umwerfen zu können, indem er die
Theorie aufstellt, die Ganglienzellen seien keine Nervenzellen und
werden nur von Fibrillen durchzogen. Die Fibrillen wären das
Product anderer Zellen, die er Nervenzellen nennt, und die überall,
') Das Caliber der Faaer der erwachsenen Katze ist sechs bis acht Mal
stärker als das der Faser der neugeborenen.
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26 Apatby's Theorie. Amoeboismustheorie. Rolle der Granglienzelle.
auch in der weissen Substanz, zerstreut seien. Er kommt zum
Gerlach'schen Fasernetz zurück. Nach ihm ist die Fibrille das
Nervenelement und anatomisch überall in der grauen Substanz.
Sie sei auch im Stande, sich neu zu bilden.
Dass eine Neubildung von peripheren Nervenelementen und
von Nervenelementen niederer Thiere stattfindet, daran ist nicht zu
zweifeln und ist nie gezweifelt worden, sonst könnte sich schon ein
abgeschnittener Eidechsenschwanz nicht regeneriren. Dagegen
stimmt Apathy's Theorie mit einer Reihe gewichtigster Thatsachen
nicht überein, und die physiologischen Experimente Bethe's, auf
welche sich Apathy stützt, verdienen wenig Beachtung, nachdem
Bethe seine bedenkliche Unzuverlässigkeit auf anderen Gebieten
dargethan hat. Dennoch sind Apathy's Ergebnisse und An-
schauungen höchst willkommen, weil sie zu einer tieferen Prüfung
der Frage Veranlassung geben werden. Die scheinbaren Widersprüche
können nur in der Unvollkommenheit unserer Methoden liegen.
Matthias Duval hat die Neuronentheorie umgekehrt auf
die Spitze getrieben, indem er die Endbäumchen der Faserveräste-
lungen eines Neurons sich amöbenartig bewegen lässt. Er will
dadurch sowohl den Schlaf (durch Zurückziehung der Pseudopodien
und Aufhebung des Contactes), als die Hemmungen und Reiz-
übertragungen erklären. Wiedersheim soll bei durchsichtigen
Thieren etwas Aehnliches beobachtet haben. Immerhin scheint
mir die ganze Sache dem Gebiet hypothetischer Speculationen an-
zugehören.
Für mich liegt immer noch der gewichtigste Beweis der
Neuronentheorie nicht in den histologischen Bildern, sondern in
den Thatsachen der Embryologie des Nervensystemes, sowie in den
Erscheinungen der secundären Degenerationen, die sich stets auf
das Gebiet des Neurones beschränken, gleichgültig ob man die
Zelle oder die zugehörige Faser angreift. Wozu wären ferner die
Ganglienzellen da, wenn sie nicht nervös sind? Zum „Ernähren"
der Fibrillen sind sie höchst ungeschickt gelegen. Warum sollten
die Fibrillen nicht wie alle anderen Körperelemente durch direct
umliegende Blut- und Lymphgefässe ernährt werden? Wenn aber
umgekehrt die Ganglienzelle bei der centralen Nerventhätigkeit eine
Hauptrolle spielt (wie aus ihrer Erschöpfung in Folge derselben
nach Hodge etc. hervorgeht), so begreift man sehr gut, warum
ihre Umgebung (graue Substanz) so gefässreich ist, während die
Fasern, die nur zu leiten haben, gefässärmer sind.
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Neuronentheorie.
27
Die Neuronentheorie geht somit dahin, dass das Centrainerven-
system aus einer Anzahl grösserer Zellenfasersysteme besteht,
innerhalb welcher jedes Zellenfaserelement seinen Nachbarn relativ
gleich werthig ist, mit denselben durch Seitenzweige der Axen-
cylinderfortsätze in Contiguitäts- (nicht Continuitäts-)Connex steht,
und sich mit entfernteren Theilen der grauen Substanz durch die
von einander relativ isolirten Fibrillenbündel der Nervenfortsätze,
die wir Markfasern nennen, derart verbindet, dass das Ende der
Markfaser baumartig verzweigt auf der Oberfläche der dortigen
Nervenzellen endigt. Ausserdem gibt es Nervenzellen zweiter
Categorie von Golgi, deren Nervenfortsatz sich gleich in der
Nähe (in der gleichen grauen Substanz wie die Zelle selbst) durch
Verzweigungen erschöpft, ohne eine oder mehrere Markfasern zu
bilden.
Nach der Neuronentheorie würde die Thätigkeit des Nerven-
systems darin bestehen, dass gewisse Reize einer Gruppe seiner
Elemente durch die Ganglienzelle hindurch von den langen polypen-
artigen Fortsätzen zu anderen Gruppen solcher Elemente vermittelst
einfacher Contiguität 1 ), wie durch eine Art Klavierspiel der mole-
cularen Reizwellen, des Neurokyms, der einen Elementengruppe auf
die andere übertragen werden, wenn man sich so roh ausdrücken
darf. Wir wissen, dass innerhalb des Centralnervensystems ge-
waltige Reizverstärkungen (Dynamogenie) und ebenso gewaltige
Reizhemmungen stattfinden. Welche Elemente oder Elementen-
theile hemmend oder reizverstärkend wirken, wissen wir aber nicht
sicher. Unter Umständen brauchen es nicht verschiedene Elemente
oder Elemententheile zu sein, sondern kann es davon abhängen,
ob Reizwellen sich summiren oder sich umgekehrt dadurch auf-
heben, dass sie sich entgegenarbeiten.
Man begreift nun, wie die relativ gleichwertigen Elementen-
gruppen der verschiedenen Provinzen der Grosshirnrinde mit ihren
unzähligen Polypenfäden der weissen Substanz einen den anderen
Centren superordinirten Gruppencomplex bilden, dessen concentrirtere
Thätigkeiten unsere eigentliche Oberbewusstseinsspiegelung bewirkt.
In diese Grosshirnrinde werden die Sinnesreize durch Vermittelung
niederer Centren projicirt und aus derselben werden durch das
Pyramidenzellenfasersystem coordinirte Bewegungsimpulse und
*) Durch secundäre Verwachsung mag aus der Contiguität unter Um-
Ftänden eine Continuität werden.
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28
Gedächtnissbilder. Hallucination.
Reflexhemmungen den Reflexapparaten der Oblongata, des Rücken-
markes etc. übermittelt. Bei jeder Seelen thätigkeit, bei allen
Wechselwirkungen des Wahrnehmens und des Handelns gibt es
die complicirtesten Combinationen von Reizverstärkungen, Ueber-
tragungen und Hemmungen innerhalb des ganzen Centralnerven-
systemes und zwischen Centrum und Peripherie, sowohl centrifugal
(motorisch) als centripetal.
Dabei müssen wir festhalten, dass stets viele Elementensysteme
coordinirter und superordinirter Centren gleichzeitig thätig sind und
ihre Reiz wellen einander übertragen.
Ferner dürfen wir nie vergessen, dass alle unsere subjectiven
(d. h. uns bewussten) Empfindungen (objective Empfindungen gibt
es nicht; es wäre eine contradictio in adjecto), somit auch alle die
complexen Empfindungsaggregate, die wir Wahrnehmungen nennen,
ganz gleichgültig, durch was für einen Reiz oder Reizcomplex sie
bewirkt werden, im Grosshirn stattfinden. Alle Thätigkeiten des
Nervensystems hinterlassen nach ihrem Geschehen eine Spur oder
veränderte Molecularlagerung ihres ganzen coordinirten Complexes,
die man Gedächtnissbild nennen kann, die man sich aber mehr
wie eine dynamische als wie eine gewebliche Spur im Molecular-
aggregat vorzustellen hat. Zweifellos schwingen (oder liegen) sehr
viele Theile solcher „Bilder" in jedem Nervenelement. Solche
Spuren haben bekanntlich die Eigentümlichkeit, dass sie noch nach
langer Zeit, durch einen associirten Reiz wieder verstärkt, d. h. in
eine der früheren fast identische, wenn auch wohl meist schwächere
Thätigkeit gesetzt werden können, deren subjectives Spiegelbild
(im Bewusstsein) wir Vorstellung nennen.
Die Hallucination beweist aber, dass unter Umständen Ge-
dächtnissbilder und sogar ganze Complexe derselben in solcher Weise
durch rein innere Reize des Gehirns wieder lebendig werden können,
dass sie subjectiv einer Wahrnehmung, d. h. dem geistig verarbeiteten
Bewusstseinsbild eines Complexes wirklich von der Peripherie pro-
jectirter Sinnesreize vollständig gleichkommen. Ob der Unterschied
zwischen Wahrnehmung und Vorstellung (z. B. eines Hundes) blos
auf der Verschiedenheit der Intensität der betreffenden Grosshirn-
thätigkeit oder nicht viel eher darauf beruht, dass bei der Hallu-
cination die centripetale Zellenfaserbahn vom secundären Centrum
zur betreffenden Provinz der Hirnrinde (z. B. Corp. genicul. ex-
ternum — Sehstrahlung-Bahn zum Cuneus für das Gesicht etc.) in
Miterregung geräth, ist eine noch offene Frage. Letzteres will mir
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Einwirkung eingegebener Vorstellungen auf die Gebirnthätigkeifc. 29
weitaus am ehesten einleuchten. Sicher ist es, dass ein Blinder mit
Zerstörung heider Augen und totaler Atrophie heider Nervi und
Tractus optici nach Jahren noch halluciniren kann. Aber v. Monakow
hat nachgewiesen, dass die Zellen seiner Corp. genicul. externa noch
erhalten sein müssen, da sie nach Enucleation des Auges nicht
atrophiren.
Es sei dem, wie es wolle; diese Thatsachen beweisen, dass
sowohl die Hallucination oder Trugwahrnehmung als die durch
wirklichen Sinnesreiz bedingte Wahrnehmung als solche Grosshirn-
vorgänge sind. Es ist auch bekannt, dass das Kind zunächst nur
ein Chaos von Empfindungen durch seine Sinne erhält und erst
wahrnehmen lernen muss, dass somit die Wahrnehmung auf einer
coordinirenden Verarbeitung der Empfindungen im Grosshirn beruht.
Alle diese psychologischen und anatomischen Erörterungen hielt
ich für nothwendig, weil ich beobachtet habe, dass allein der Mangel
an richtigen psychologischen und anatomischen Begriffen die Er-
scheinungen des Hypnotismus nicht nur bei Laien, sondern auch
bei Aerzten so vielfach als Wunder erscheinen lässt. Das Wunder,
wenn es Wunder gibt, ist das Problem der Seelengenese, d. h.
der Gehirngenese, nicht aber der Hypnotismus, sobald man den
monistischen Standpunkt einnimmt.
Wenn eine durch eine Ansprache in dem Gehirn eines Men-
schen hervorgerufene Thätigkeit, die sich in seinem Bewusstseins-
spiegel als Vorstellungscomplex kund gibt, ein Kräftecomplex ist,
so ist es doch von vorne herein anzunehmen, dass auch associirte
unterhewusste Thätigkeiten mitbewirkt werden. Es ist auch ziem-
lich irrelevant, ob die eingegebene Vorstellung von Oberbewusst-
seinsspiegelung nachweisbar begleitet wird oder nicht. Gelingt es
dem Sprecher, durch zielbewusste, rasche, concentrirte Einwirkung
vermittelst Ton, Worte, Blick etc. den Vorstellungsgang des Anderen
immer mehr zu beherrschen, so kann er immer mehr associiren
und dissociiren. Die Gehirnthätigkeit des Beeinflussten wird da-
durch, ihm gegenüber, immer plastischer, immer schmiegsamer.
Dadurch gelingt es ihm, Hemmungen und Bahnungen hervorzurufen,
die bis zur Hallucination, zur Abschneidung von Bewusstseinsver-
kettungen von einander (und dadurch gesetzten Amnesie), zur In-
hibition (Hemmung) von Schmerzempfindung, zur Reizung und
Hemmung der Willensbewegungen, zur Reizung und Hemmung der
Vasomotoren (Einfluss auf menstruale und andere Blutungen), so-
gar zur Beeinflussung secretorischer und trophischer Nervenfunc-
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30
Verschiedene Dignitäten des Sehens.
tionen (Schweiss, Vesication) je nach dem Grad der erreichten
Beeinflussung führen können. — Alles erklärt sich durch die Eigen-
art der Nerventhätigkeit und besonders der Grosshirnthätigkeit.
Wunderglaube, Aberglaube, Hexenglaube, Zauberglaube, Spiriten-
glaube werden durch diese im Ganzen verhältnissmässig einfache
Erkenntniss zum grossen Theil ihres Nimbus beraubt und natur-
gemäss erklärt.
An einem Beispiel will ich noch die Unzulänglichkeit unserer
reinen Psychologie illustriren. Was wird nämlich für eine Con-
fusion mit den Worten „Sehen* und „Wollen" getrieben. „Sieht"
eine enthirnte Taube oder sieht sie nicht? Nun, es gibt ja viele
Grade des „Sehens":
1. Das elementare amöbenartige „Sehen" der Retinaelemente,
das mit den photodermatischen Empfindungen (Lichtempfindungen
der Haut) niederer Thiere nahe verwandt sein dürfte. Optisch kann
dieses Sehen noch nicht sein, da ein Element noch kein optisches
Bild percipiren kann.
2. Das Sehen des vorderen Zweihügelpaares und des corpus
geniculatum externum (secundäre optische Centren), welche bereits
eine summirte, coordinirte Uebertragung des gesammten Retinalbildes
durch den Opticus erhalten. — Das ist das Sehen der enthimten
Taube. Dieses niedrige Sehen wird uns Menschen nie bewusst.
Es ist dasselbe bereits optisch, wohl aber dem Sehen eines gross-
hirnlosen Insectes (Ameisenmännchen z. B.) analog, und kaum
fähig optische Erinnerungsbilder associativ zu verwerthen (siehe
Forel, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen, 1901, bei Ernst
Reinhardt in München).
3. Das Sehen der sogen. Sehsphäre der Hirnrinde (Cuneus),
die dem Physiologen Golz zum Trotz, doch existirt, indem die
Fasersysteme aus den subcorticalen Centren dortselbst endigen (Mo-
nakow). Das ist unser gewöhnliches ober- und unterbewusstes
menschliches Sehen. Das Retinalbild erhält die Sehsphäre bereits
aus zweiter Hand, wenn man so sagen darf, und mit viel compli-
cirteren Associationen verbunden.
4. Es gibt aber noch ein Sehen, ein geistigeres Sehen, nämlich
die Repercussion dieser optischen Reize der Sehsphäre in associirte
andere Rindengebiete des Grosshirnes. Es gibt sogar Leute, welche
die Töne farbig sehen (Nussbaumer, Bleuler und Lehmann),
indem sie stets bestimmte Farben (meist immer die gleichen) mit
bestimmten Tönen oder Vocalen associiren.
Das Wollen. Der Hypnotismus kein Räthsel. Thateachen desselben. 31
Das Gleiche gilt von der centrifugalen oder Willensthätigkeit
von bewusstem Wunsch durch Entschluss und Handeln bis zum
Trieb und zur Reflexzuckung. Dieselbe ist nichts als die voll-
führende Resultante der Gefühle und der mit ihnen associirten
Intellectselemente, so sehr auch die Bewegung wiederum fördernd
auf Empfindungen und Gefühle zurückwirkt. Das Studium der
Sprachstörungen zeigt so recht deutlich, dass es keine Grenze zwi-
schen „somatisch" und „psychisch" bedingten motorischen Inner-
vationscomplexe und Störungen gibt.
Wenn wir alle diese Thatsachen mit dem anfangs Gesagten
zusammenhalten, so werden uns die scheinbaren Widersprüche und
Räthsel des Hypnotismus nicht mehr so sehr erstaunen. Wir werden
leichter begreifen, dass ein Hypnotisirter sieht und doch nicht sieht,
glaubt und doch oft scheinbar mit einer gewissen Gefälligkeit simu-
lirt. Sein Bewusstsein kann glauben und z. B. bei einer negativen
Hallucination nicht sehen und nicht hören, während ausserhalb der
nur wie ein Hauch schwach ausgeschalteten Bewusstseinsspiegelung
seine ganze übrige Gehirnthätigkeit (sein Unterbewusstsein , wie
wir es schon bezeichnet haben) genau sieht, genau hört und
dem Hinderniss ausweicht. Aber in einem anderen Fall kann eine
concentrirte starke Suggestionswirkung viel tiefer greifen, in die
unterbewusste Hirnthätigkeit und sogar bis in die peripheren Nerven
ausstrahlend stark auf dieselben rückwirken, wie wir es z. B. bei
der Hemmung und Production der Menstruation, bei der Erzeugung
von Diarrhoe und Epidermisblasen sehen.
IE. Allgemeine Bemerkungen über den Hypnotismus.
Thatsachen. Die Hauptthatsache des Hypnotismus ist der ver-
änderte Seelenzustand (resp. Gehirnzustand von der physiologischen,
d. h. objectiven Seite betrachtet) eines Menschen. Zur Unterscheidung
vom gewöhnlichen Schlaf, mit welchem dieser Zustand grosse Ver-
wandtschaft hat, kann man ihn Hypnose oder Suggestibilitäts-
zustand nennen.
Eine zweite Thatsachenreihe besteht in der Art der Erzeu-
gung (resp. Wiederbeseitigung) dieses Zustandes. Hier haben aber
gerade falsche Interpretationen die irrigsten Begriffe hervorgerufen.
Scheinbar kann die Hypnose auf drei Wegen hervorgerufen wer-
den: a) Durch die psychische Einwirkung eines Menschen auf den
32 Der Hypnotismus beruht auf Suggestion allein. Leistungen d. Hypnotisirten.
anderen mittels Vorstellungen, die er ihm beibringt. Diese Art
der Hypnotisirung hat man Suggestion (Eingebung) genannt
(Nancy'sche Schule), b) Durch directe Einwirkung lebendiger oder
lebloser Gegenstände, oder auch eines mysteriösen Agens auf das
Nervensystem, wobei der Ermüdung durch lange Concentration
eines Sinnes auf einen Punkt eine grosse Rolle zugeschrieben
wurde; aber auch durch specifische Einwirkung der Magnete, der
menschlichen Hand, von in Flaschen eingeschlossenen Medika-
menten und dergl. mehr, c) Durch Rückwirkung der Seele auf
sich selbst (Autohypnotismus). In völliger Uebereinstimmung mit
Bern heim glaube ich behaupten zu dürfen, dass im Grunde ge-
nommen nur eine Art der Erzeugung der Hypnose wissenschaftlich
feststeht, nämlich (sei es durch Eingebung eines Anderen, sei es
durch Autosuggestion) 1 ) die Erzeugung derselben durch Vorstel-
lungen. Die Möglichkeit unbewusster Suggestion oder Auto-
suggestion ist bei keiner der angeblich oder scheinbar anderen Er-
zeugungsarten der Hypnose mit wissenschaftlicher Sicherheit aus-
geschlossen, und erscheint sogar bei näherer Prüfung immer mehr
als zweifellos vorhanden.
Eine dritte Reihe von Thatsachen ist diejenige der Leistungen
des Hypnotisirten. Feststehend ist, dass im Zustand der Hypnose,
mittels Eingebungen, die ausgedehntesten Rückwirkungen auf fast
sämmtliche Functionen des Nervensystemes (einige Spinalreflexe
und Ganglienfunctionen ausgenommen) möglich sind — einge-
schlossen solche körperliche Verrichtungen, wie die Verdauung,
die Defäcation, die Menstruation, der Puls, Röthung der Haut
u. s. w., deren Abhängigkeit vom Grosshirn landläufig vergessen
oder unterschätzt wird.
Zweifellos ist ferner die mehr oder weniger grosse Abhängig-
keit der Seelenthätigkeit des Hypnotisirten von den Eingebungen
des Hypnotiseurs. Endlich und von höchster Bedeutung ist die
sichergestellte Thatsache, dass die in der Hypnose geübten Ein-
wirkungen sich posthypnotisch auf den Normalzustand der Seele
J ) Man hat die Ausdrücke , Autosuggestion" und „posthypnotisch* als
Barbarismen angegriffen, weil sie halb ans dem Lateinischen und halb aus
dem Griechischen stammen. Vom Standpunkt des Puristen ist dieser Angriff
berechtigt. Doch muss der Sprachgebrauch dafür dankbar sein, dass er nicht
mit den Worten Authypobolie oder Ipsisuggestion und ephypnotisch bereichert
worden ist, denn die Euphonie und die Gemeinverständlichkeit haben auch
ihre Rechte.
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Angebliche Telepathie. Theorien und Begriffe. Fluidumtheorie.
in allen Seelengebieten ausdehnen können, und dies sogar auf lange
Zeit hinaus, mit Einschluss des Einflusses des Hypnotiseurs auf den
Hypnotisirten.
Zweifelhaft dagegen, wenigstens weder wissenschaftlich ge-
nügend erhärtet, noch erklärt, sind angebliche übersinnliche That-
sachen, wie das sogen. Hellsehen oder die Telepathie, die sogen,
directe Gedankenübertragung und dergl. mehr. Bei den ausnehmend
seltenen Somnambulen, bei welchen solche Experimente gelingen
sollen, scheint eine streng wissenschaftliche, jede Möglichkeit un-
bewusster Eingebung ausschliessende Controlle meistens gefehlt zu
haben, und da, wo sie stattfand, ein vollständiges Fiasko der Ex-
perimente die gewöhnliche Folge gewesen zu sein. Immerhin er-
fordert eine vorurtheilslose Wissenschaft eine sorgfältige Nach-
prüfung dieser Frage, da eine Reihe Angaben glaubwürdiger und
nicht urtheilsloser Personen dieselbe, besonders gewisse Fälle von
zutreffenden Ahnungen, bejahen.
Theorien und Begriffe. Die Begriffe, die man sich vom „Hyj>-
notismus" macht, hängen von den theoretischen Anschauungen, die
hierüber herrschen, ab. Wenn wir den Ballast unverdauten oder
abergläubischen Unsinns, der über die in Frage stehenden Er-
scheinungen zu Tage gefördert wurde, möglichst ausmerzen, bleiben
im Grossen und Ganzen drei principiell verschiedene Theorien oder
Erklärungen der oben summarisch erwähnten Thatsachen übrig.
I. Ein äusseres, unsichtbares Agens (ein Fluidum, wie man
sich früher äusserte, und wie Laien es heute noch nennen; eine
noch unbekannte Naturkraft, wie es etwa in moderner Sprache
heissen würde) dringt in den Körper, speciell in das Nervensystem
hinein, beeinflusst den Organismus und bringt ihm etwas Fremdes
bei — eventuell auch Erkenntnisse Über die leblose Natur, über
andere lebende Wesen 1 ). Oder die Gedanken, die Seelenvorgänge
eines Menschen gelangen durch ein solches Agens zur Erkenntnis
der Seele eines anderen Menschen ohne Vermittelung einer Laut-,
Schrift- oder Zeichensprache des ersten Menschen und der Sinnes-
») Es ist nicht ganz ohne Interesse, diese Anschauung mit derjenigen
Albrecht Bethe's (Physiolog) zu vergleichen, der in der Art, wie die In-
secten ihren Weg finden, lauter „unbekannte Kräfte" interveniren lässt, statt
sich des am nächsten liegenden Analogieschlusses zu bedienen und einzusehen,
dass die Insecten, wie wir, einfach ihre Sinnesorgane benützen (Forel, Die
psych. Fähigkeiten der Ameisen 1. c).
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aull. 3
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34 Fluidumtheorie. Animaler Magnetismus. Spiritismus.
organe des zweiten. Diese Theorie ist diejenige von Mesmer.
Mes'mer nannte den supponirten Agens Magnetismus und
speciell animalen Magnetismus, wenn er aus dem mensch-
lichen oder thierischen Organismus selbst (insbesondere aus dem-
jenigen des Magnetiseurs) zu stammen schien. Diese Theorie,
welche heute noch in gewissen Kreisen begeisterte, ja fanatische
Anhänger hat, stützt sich jetzt auf die oben unter b) und unter
„ zweifelhafte, angeblich übersinnliche Thatsachen" bezeichneten Er-
scheinungen. Es ist klar, dass dieselbe, wenn sie wahr wäre,
unsere bisherige wissenschaftliche Erkenntnis bedenklich beein-
trächtigen müsste, da die bisherige consequente Ignorirung dieses
unbekannten Etwas, dieser unbekannten Kraft, von Seiten der
Wissenschaft, gleich einer vergessenen wichtigen Componente noth-
wendig Fehler in unseren bisherigen Ergebnissen bedingt haben
müsste. Da jedoch die Wissenschaft durch ihre colossalen prak-
tischen Erfolge täglich mehr den Beweis ihrer inneren Wahrheit
gibt, hat man allen Grund, der Mesmer'schen Theorie zu miss-
trauen und von ihr unzweideutige, unerschütterliche Beweise zu
verlangen. Sehen wir nun kurz, was vorliegt:
Mesmer und seine Schule wurden vor Allem für alle die
oben zuerst und als unzweifelhaft erwähnten Thatsachen durch
Braid und Lie'b eault so gründlich widerlegt (siehe unten), dass
es müssig wäre, ein Wort mehr darüber zu verlieren. Die Fluidum-
theorie verschanzt sich heute zunächst hinter den angeblichen That-
sachen, welche von den Spiritisten verfochten werden, und welche
je nach den Kreisen, wo sie producirt werden, so sehr von blindem
Fanatismus, von geistiger Störung (Hallucinationen), von missver-
standener Suggestion, von Schwindel und von Aberglauben durch-
flochten sind, dass zur Zeit eine wissenschaftliche Prüfung der-
selben noch sehr schwierig ist. Die Geister und die vierte Di-
mension der Spiritisten sind Vorstellungen, welche dem unbekannten
Agens entsprechen würden. Die sogen. „ Materialisation der Geister",
welche theils auf GefÜhlshallucinationen, theils auf Betrug beruhen
dürfte, bedeutet den Gipfelpunkt des Unsinns dualistischer Vor-
stellungen. Um die Echtheit eines stofflosen Geistes darzuthun,
will man ihn stofflich machen!
Was die „Photographien" der „ Geister" betrifft, so gibt es
ein sehr einfaches photographisches Mittel solche herzustellen. Ich
habe eine ausgezeichnete Geisterphotographie gesehen, die von
einem ehrlichen Photographen ohne „Geist" gemacht worden war!
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Hellsehen. Ahnungen. Ch. Richet.
35
Eine Reihe scheinbar übernatürlicher Erscheinungen werden,
wie schon gesagt, auf der anderen Seite immer wieder von auf-
richtigen, glaubwürdigen Personen vorgebracht, welche für die
Mesmer'sche Theorie oder für verwandte Theorien sprechen würden.
Ich nenne: die sogen. Gedankenübertragung, schlechtweg Sug-
gestion mentale genannt, das Hellsehen, das Sehen oder Errathen
von Vorgängen an einem entfernten Ort, die sogen. Ahnungen
und Zukunftsweissagungen u. s. w. Diese angeblichen Erschei-
nungen wurden insgesammt mit dem Namen „ Telepathie" be-
zeichnet.
Ein in genannter Hinsicht merkwürdiges Buch istPhantasms
of the living by Gurney, Myers and Podmore. 2 Vol. in 8°.
Trübner, London 1877. Nicht weniger als 600 Beobachtungen
über Visionen, Träume, Ahnungen und dergl., die in Erfüllung
gegangen sind, werden hier zusammengestellt. Ueber die Zu-
verlässigkeit der Quellen dieser Angaben sollen genaue Erkun-
digungen eingezogen worden sein, und nur klare Angaben glaub-
würdiger Personen wurden angeblich aufgenommen. Ein Referat
über das genannte Buch findet sich in der Revue des deux Mondes
vom 1. Mai 1888. Jeder Mensch kann übrigens im Kreis seiner
Bekannten auf mehrere derartige Beobachtungen stossen und zwar
bei durchaus glaubwürdigen Leuten. Siehe auch Lie'beault, Le
sommeil provoque" 1889 S. 295. Es darf hier nicht unerwähnt
bleiben, dass die Weltgeschichte von Telepathie ungemein viel be-
richtet. Bis heute und trotz aller Aufklärung, sogar bei erklärten
Atheisten, findet man den Glauben an sogen, sympathische Ein-
flüsse und an die Erfüllung von Ahnungen.
Interessant wären ferner die Experimente von Ch. Richet
(Revue philosophique 1884), der den Einfluss des Denkens eines
Individuums auf das Denken eines anderen in bestimmter Richtung,
ohne äussere Erscheinungen, die sinnlich wahrnehmbar wären, zu
beweisen sucht. Die Beweise sind aber, wie uns scheint, äusserst
unvollkommen und die angewandte Wahrscheinlichkeitsrechnung gar
nicht überzeugend. Spätere Untersuchungen von v. Schrenk-
Notzing, Flournoy u. A. m. sind auch zu keinem klaren Ab-
schluss gekommen.
Aeusserst schwierig ist es aber, in all diesen Experimenten,
vom Zufall und Schwindel abgesehen, die Selbsttäuschung des Hyp-
notisirten, resp. des Subjectes (eventuell auch des Hypnotiseurs), vor
Allem jede unbewusste Suggestion und Autosuggestion
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Braid'* Anschauung. Die Suggestion.
mit Gewissheit auszuschliessen, wesshalb alle derartigen Resultate
mit grösster Vorsicht aufgenommen werden müssen.
Seit der 3. Auflage dieser Arbeit ist über nichts wesentlich
Neues in der Frage der Telepathie zu berichten. Jedenfalls hat die
Telepathie noch keine neue Aufklärung erfahren, während die
Suggestionslehre in der gleichen Zeit nur Bestätigung fand. Alle
Declamationen der Spiriten und der oberflächlichen Köpfe können
an dieser Thatsache nichts ändern.
II/ Der erstgenannten Theorie diametral entgegenarbeitend ist
der von Braid (Neurhypnology 1843) zuerst formulirte, von Li e*-
beault in Nancy aber (Du sommeil et des e*tats analogues 1866)
erst in seiner ganzen Bedeutung und in seinen praktischen Folgen
erfasste Begriff der Suggestion (Eingebung). Derselbe kann
etwa folgendermassen formulirt werden:
Erzeugung sämmtlicher Erscheinungen der Hypnose
durch Erweckung entsprechender Vorstellungen, be-
sonders Phantasievorstellungen. Hierzu ist zu bemerken,
dass der Zweck am leichtesten und sichersten dadurch erreicht
wird, dass der Hypnotiseur mittels der Sprache mit Bestimmtheit
erklärt, dass der zu erzeugende Zustand im selben Augenblick, wo
er es erklärt, vorhanden sei oder sogleich sich einstellen werde
(Verbalsuggestion oder Einreden). Redet sich ein Mensch selbst
etwas ein, so spricht man mit Bernheim von Autosuggestion.
Braid hat aber selbst die Tragweite der Suggestion nicht erkannt
und dafür der fortgesetzten Reizung der Sinne (Fixation u. s. w.)
eine ihr nicht zukommende Wichtigkeit beigelegt. Er Hess den
„animalen Magnetismus* von Mesmer neben dem Hypnotismus
bestehen, glaubte an directe Einwirkungen auf das periphere Ner-
vensystem, und blieb auf dem Boden stehen, den die sogen, „soma-
tische" Schule (Charcot etc.) vertritt. Durch Suggestion pflegt
man zunächst " einen partiellen oder totalen Schlaf zu erzeugen,
und da der Schlafzustand des Gehirns seine Suggestibilität (d. h.
seine Empfänglichkeit für die Beeinflussung durch Suggestion) be-
deutend steigert, gewinnt man im Augenblick die erwünschte Macht.
Aber Suggestionen werden nicht nur durch die Sprache, durch das
Einreden zu Stande gebracht, sondern durch alles, was Vorstellungen
b ewirken kann, vor Allem durch alles, was kräftige Phantasiebilder
erzeugt. Mit Recht schreibt Liebeault (S. 347 a. a. 0.):
„La disposition ä tomber dans ces etats est proportion-
n eile a la faculte* de repre'sentation mentale de chacun.
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Begriff der Suggestion. Liebeaalt.
37
L'on peut etre sür que l'homme qui, en reportant son
attention sur une idde image, celle d'une perception
tactile, par exemple, ne tarde pas ä la percevoir comme
si eile etait rdelle, que cet homme est capable de dor-
mir profonde'nient" (d. h. tief hypnotisirt zu weiden).
Aber noch mehr, eine Suggestion kann unbewusst (resp. unter-
bewusst) geschehen, oder es kann die entsprechende Vorstellung so
schwach oder so kurz im Spiegel des Oberbewusstseins erscheinen,
dass sie sofort wieder aus demselben für immer schwindet, indem
das Gedächtniss sie nie mehr zurückrufen kann, und dennoch wirkt
diese Suggestion mächtig. Ueberhaupt lässt sich in solchen Fällen
in Folge der vollständigen Amnesie nicht nachweisen, dass die be-
treffende Vorstellung je bewusst gewesen ist. Doch war sie sicher
vorhanden; nähere Prüfung zeigt es. Darin liegt der Angelpunkt
zum Verständniss einer Unzahl von Selbsttäuschungen und angeb-
lichen Mesmer'schen Wirkungen. Einem zum ersten Mal hypnoti-
sirten Bauernmädchen, das von Physik und Prismen keine Ahnung
hat, legt man in der Hypnose ein Prisma vor das Auge, nachdem
man es durch Suggestion eine nicht vorhandene Kerze in der Luft
hatte betrachten lassen. Man fragt es dann, was es sehe, und es
antwortet „zwei Kerzen". Dies ist, wie Beinheim nachgewiesen
hat, eine (unbewusste) Suggestion. Das Mädchen sah durch das
Prisma die wirklichen umgebenden Gegenstände des Zimmers doppelt,
und dadurch unbewusst beeinflusst verdoppelte es die suggerirte
Kerze. Macht man das Experiment im ganz dunklen Zimmer bei
einer noch nie vorher hypnotisirten und auch noch nicht mit den
betreffenden Thatsachen theoretisch bekannten Person, so wird das
suggerirte Bild nie durch das Prisma verdoppelt (Bernheim). Es
ist kaum anzunehmen, dass das Mädchen sich in der Hypnose dessen
bewusst war, Mie Kerze darum doppelt gesehen zu haben, weil sie
auf einmal die anderen Gegenstände doppelt sah. Diese Verdoppe-
lung geschah instinctiv, automatisch, unterhalb der Schwelle des
Oberbewusstseins; die anderen Gegenstände waren ja nicht von ihr
fixirt (sondern nur die fictive Kerze) ; ihre Verdoppelung wurde nichts-
destoweniger (höchst wahrscheinlich unterbewusst) wahrgenommen
und verwerthet. Stets dem Oberbewusstsein unbewusst
bleibt aber der Mechanismus der Suggestion, d. h. die
Art, wie das gehörte und verstandene Wort des Hyp-
notiseurs (resp. wie die Wahrnehmung desselben) den that-
sächlichen Erfolg bewirkt.
38 Theorie der Suggestion. Zahl der hypnotisirbaren Menschen.
Die Liebe au It'sche Suggestionstheorie der Hypnose hat durch
ihre praktischen Erfolge, besonders in der ärztlichen Therapie, aber
auch in der Erziehung und noch in vielen Gebieten so schlagende
Beweise ihrer Wahrheit gegeben, dass ihr Sieg jetzt als vollständig
gesichert erachtet werden muss. Während andere Theorien mit
ihren entsprechenden Methoden nur bei einigen hysterischen oder
nervösen Personen, ausnahmsweise auch bei einigen Gesunden mit
mehr oder weniger Mühe einen Theil der Erscheinungen der Hyp-
nose hervorzubringen im Stande waren und dabei, immer wieder
vor Räthseln und Widersprüchen stehend, zu den wunderbarsten
dunkelsten Erklärungsversuchen ihre Zuflucht nehmen mussten, ge-
lingt die Suggestion mit Leichtigkeit fast bei jedem Gesunden und
erklärt dieselbe alles von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus,
mit Ausnahme der oben als zweifelhaft bezeichneten Thatsachen.
Ausserdem steht die Suggestionslehre im vollsten Einklang mit einer
wissenschaftlichen Psycho-Physiologie und wirft ein mächtiges Licht
auf die Function unseres Gehirnes.
Die Zahl der in Nancy von Lie'beault 1 ) und Bernheim
allein hypnotisirten geistig gesunden verschiedenen Personen beläuft
sich auf mehrere Tausende. Während der Jahre 1887 bis 1890
hat Dr. Wetterstrand in Stockholm 3148 Personen der Sug-
gestion unterworfen, wovon nur 97 unbeeinflusst blieben. Dr. van
Renterghem und Dr. van Eeden in Amsterdam hatten 1895
von 1089 Personen 1031 mit Erfolg durch Suggestion hypnotisirt.
Dr. Velander in Jönköping hatte bei 1000 hypnotisirten Personen
nur 20 Refractäre, Dr. von Schrenck bei 240 nur 29, Dr. Tuckey
bei 220 nur 30 u. s. f. (Statistische Angaben des Herrn Dr. von
Schrenck-Notzing, München 1893). Ich selbst habe in den
letzten Jahren ca. 96 Procent der Fälle mehr o der w enig er beein-
flusst. Ich hielt in Zürich jedes Sommersemester einen poliklinischen
Curs über suggestive Therapie ( wöchentlich 1 */* Stunden). In dieser
Zeit wurden ca. 50 bis 70 Patienten vor den Studenten therapeutisch
hypnotisirt und ich kann wohl sagen, dass in den letzten Jahren
kaum je 1 bis 3 dieser Fälle ganz unbeeinflusst blieben. Herr
Dr. Ringier, der bei mir 1887 die Suggestionsmethode lernte,
fand unter 210 von ihm durch Suggestion behandelten Kranken
nur 12, die nicht beeinflusst wurden (Ringier: Erfolge des therap.
l ) Liebeault (Therapeutique suggestive 1891) gibt auf mehr als 7500
die Zahl der verschiedenen von ihm hypnotisirten Personen an.
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Der Hypnotismus beruht auf Suggestion. Somatische Theorien. Charcot. 39
Hypnotismus in der Landpraxis 1891). Unter allen diesen Hyp-
notisirten befindet sich eine grosse Zahl perfecter Somnambulen
mit posthypnotischen Erscheinungen u. s. w. *).
Wie eigentümlich nahmen sich nun neben diesen Zahlen die
wenigen Hysterischen der Salpetriere in Paris aus, nicht viel mehr
als ein Dutzend, welche Jahre lang (immer dieselben) aller Welt
demonstrirt wurden, den C h a r c o t'schen Theorien zur Grundlage
dienten und offenbar bis zum vollständigsten Automatismus der un-
bewussten Suggestion verfallen waren.
Fassen wir das Gesagte in's Auge, so liegt es nahe, anzu-
nehmen, dass der früher so verschwommene Begriff des
Hypnotismus in den Begriff der Suggestion aufzugehen
hat. Darin liegt der Schlüssel sicher des allergrössten Theiles,
wenn iikht aller der hier in's Auge gefassten Erscheinungen.
^HI/Als sogen, somatische Theorien der Hypnose können wir
Theorien zusammenfassen, welche sozusagen die Mitte zwischen
den beiden genannten hielten. Es wurden zwar kein „Fluidum",
keine Geister heraufbeschworen; aber es wurde versucht, wenn nicht
alle Erscheinungen der Hypnose, so doch einen Theil derselben
auf bekannte elementare Kräfte ohne Vermittlung der psychischen
Thätigkeit zurückzuführen. Insbesondere wurde der Einwirkung
peripherer Reize (von aussen her) auf die Nervenendigungen eine
Hauptrolle zugewiesen, wodurch wieder zum Theil die Notwendig-
keit eines äusseren Agens in den Vordergrund trat.
Vor Allem war die Schule C h a r c o t's oder der Salpetriere in
Paris zu nennen, welche an eine directe hypnogene Einwirkung der
Metalle und der Magnete auf das Nervensystem (ohne Vermittlung
von Vorstellungen), an einen Transfert (TJeberspringen einer Läh-
mung, Katalepsie, Hemianästhesie u. s. w. von einer Körperseite
auf die andere durch Magneteinwirkung), an eine directe Reizung
der localisirten motorischen Hirnrindencentren durch Streichung der
Kopfhaut u. s. w. glaubte. Dieselbe Schule glaubte durch ver-
') Nicht jeder hypnotisirende Arzt hat seine Fälle statistisch zusammen-
gestellt. Doch können wir sagen, dass Jeder, der die Nancy 'sehe Methode
(Liebeault — Bernheim — Beaunis — Liegeois) begriffen und einiger-
maßen eingeübt hat, bald zwischen 90 und 96 Procent der Personen, die er
zu hypnotisiren versucht (Geisteskranke ausgenommen) mehr oder weniger
stark zu beeinflussen im Stande ist. Die Zahl jener Aerzte, die sich mit sug-
gestiver Therapie oder mit wissenschaftlicher Prüfung der Frage nach Nancy-
scher Methode befassen, hat seit der 1. Auflage dieser Arbeit bedeutend zu-
genommen, und ich weiss, dass Alle mir darin beipflichten werden.
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40
Charcot's somatische Theorie ein Missverständniss.
schiedene peripher mechanische Reizungen (1. Fixation des Blickes,
2. Hebung der Lider, 8. Streichungen der Stirne) typisch ver-
schiedene Stadien oder Arten der Hypnose: Lethargie, Katalepsie
und Somnambulismus hervorzurufen, mit specifischen, eigenen Reac-
tionen der Muskeln und der Sensibilität (z. B. die sogen. Hyper-
excitabilite' neuromusculaire). Wichtig ist, hervorzuheben, das»
Charcot's Schule glaubte, in der sogen. Lethargie seien die Hyp-
notisirten völlig bewusstlos und könnten nicht durch Suggestionen,
die man ihnen vermittelst der Sinnesorgane durch Vorstellungen
beibrachte, beeinflusst werden. Diese Schule glaubte ferner, dass
fast nur Hysterische der Hypnose zugänglich sind, und rechnete
die Hypnose zu den Neurosen.
Aufs schlagendste hat Bernheim in Nancy nachgewiesen,
welche Begriffsverwirrungen durch diese Theorie entstanden sind.
Alle Thatsachen, welche Jahre lang an den wenigen präparirten
Hysterischen in der Salpetriere demonstrirt wurden, lassen sich mit
Leichtigkeit durch alte eingeübte zum Theil unbewusst und auto-
matisch gewordene Suggestionen erklären, indem z. B. die angeb-
lich Lethargischen vielfach alles hören und psychisch verwerthen,
was in ihrer Gegenwart gesagt und gethan wird. Die B r a i d'sche
Fixirung eines glänzenden Gegenstandes, der man in Paris und in
Deutschland so viel Gewicht beigelegt hatte, erzeugt an sich keine
Hypnose. — Wenn Jemand bei dieser unzweckmässigen Methode
hypnotisirt wird, so wird er es durch die Vorstellung, dass
diese Proce dur ihn einschläfern muss, nicht durch die
Procedur selbst, die an sich meist nur eine nervöse Aufregung
(bei Hysterischen ab und zu auch hysterische Anfälle) hervorruft.
V Höchstens dürfte in einzelnen Fällen die Ermüdung und dadurch
das Fallen der Lider unbewusst suggestiv wirken, wie überhaupt,
bei sehr suggestiblen Menschen jedes Mittel zur Hervorrufung der
Hypnose zum Ziel führt.
Es war früher allgemeiner Usus, Hypnotisirte durch Blasen
auf das Gesicht zu wecken. Ich habe es seit langer Zeit nie mehr
gethan und dafür das Blasen oft mit der Suggestion des Ver-
sen windens von Kopfweh und dergl. verbunden. Daher kann ich
meinen Hypnotisirten so viel aufs Gesicht blasen, wie ich will,
keiner wird dadurch geweckt. Dieses ist auch ein Argument gegen
die angebliche Wirkung solcher mechanischer Reize von Seiten
der „somatischen" Schule, welche das Blasen als specifischen Er-
weckungsreiz betrachtet.
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Liebeaul t's und Luys' Selbsttäuschungen.
41
Liebeault selbst (Etüde sur le zoomagnetisnie, Paris, chez
Masson 1883) publicirte 45 Fälle, wo er bei kleinen Kindern durch
Auflegen beider Hände auf die kranke Stelle wunderbar günstige
Resultate erhalten haben will. In 32 dieser Fälle handelt es sich
um Kinder unter drei Jahren, wo Lie'beault selbst die Sug-
gestion ausschliessen zu können glaubte. Dennoch hat neulich
Liebeault selbst (Therapeutique suggestive, Paris, Doin 1891)
gestehen müssen, dass er damals die Sache falsch gedeutet hatte.
Auf den Rath Bernheim's ersetzte er das Auflegen der Hände
durch „magnetisirtes Wasser" und letzteres durch nicht magnetisirtes
Wasser, indem er aber die Eltern und Pfleger der Kinder im Glauben
Hess, das Wasser sei „magnetisirt* und die Heilung fest versprach.
Auf diese Weise bekam er die gleichen guten Resultate, die sich
nunmehr nur dadurch erklären lassen, dass die Personen der Um-
gebung der Kinder durch Lie'beault und die Kinder durch ihre
Umgebung unbewusst suggerirt worden waren.
Endlich wäre noch die angebliche Wirkung der Arzneimittel
a distance oder durch Anlegung des hermetisch verschlossenen Glases,
worin sie sich befinden, auf dem Nacken u. s. w. (Luys u. A.) zu
erwähnen. Jedoch haben diese grossartig von Luys angekündigten
Resultate vor der Commission, die sie prüfen sollte, bei Verhütung
jeder unbewussten Suggestion ein klägliches Fiasko gemacht; sie
haben gezeigt, wie kritiklos vorher verfahren worden war, und wie
vor Allem nichts geschehen war, um die Möglichkeit der Suggestion
auszuschli essen, die alles erklärt.
Auf Wunsch meines Freundes, Prof. Seguin aus New York,
habe ich mit seiner Hülfe die Luys'schen Experimente mit den
geschlossenen Medicinflaschen an vier meiner besten Somnambulen
nachgemacht. Prof. Seguin hatte selbst Luys' Experimente ge-
sehen. Der Erfolg war absolut negativ, wie ich es bestimmt er-
wartete. Interessant war nur Folgendes: Eine Hypnotisirte, welche
die Alkoholflasche am Hals hatte und bisher angegeben hatte, gar
nichts zu verspüren, frug ich, ob sie nicht Kopfweh verspürte, was
sie bejahte, dann, ob es ihr nicht taumelig, wie betrunken sei, was
sie dann ebenso rasch bejahte, und worauf sie Trunkenheitssymptome
zu zeigen begann. Man sieht daraus, wie eine einzige insinuirende
Frage suggestiv wirken kann. Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass 1
ich alle Symptome der betreffenden Medikamente (auch Erbrechen)
sofort durch Suggestion bei falschen oder leeren Gläsern (als Control-
experiment) hervorrief.
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42
Somatische Schule. Dumontpallier. Preyer.
Fassen wir die III. Gruppe von Theorien zusammen, die so-
matisch und rationell sein wollte, so finden wir, dass dieselbe die
unglücklichste von allen war, die ärgsten Confusionen hervorgerufen
hat, und dass sämmtliche Thatsachen, die sie anrief, sich durch
Suggestionen erklären lassen. Ein Hauptfehler dieser Theorien ist,
dass sie ihre Ergebnisse meistens auf Beobachtungen bei Hysteri-
schen stützen. Die Hysterischen sind aber erstens die unzuver-
lässigsten aller Menschen, die feinsten, weil unbewusstesten Simu-
lanten und Comödienspieler und zugleich diejenigen Menschen, welche
oft am feinsten sinnlich appercipiren, dabei meistens eine bedeutende
plastische Phantasie besitzen, die sie zwar sehr suggestibel, aber
noch viel mehr autosuggestibel macht. Zudem neigen die Hysteri-
schen zur Katalepsie, zur Lethargie und zu Krämpfen. Die Fälle
£ h a r c o t's waren nichts als präparirte Hypnosen von Hysterischen.
Besonders muss hier noch, unter Hinweis auf die beiden ersten
Capitel, betont werden, welchen Missgriff die Schule Charcot's
machte, wenn sie die Ausdrücke somatisch und psychisch als Gegen-
sätze hinstellte und mit Emphase die Wissenschaftlichkeit für sich
allein in Anspruch nehmen wollte, weil sie „somatische" Merkmale
gefunden zu haben sich einbildete. Die Contradictio in adjecto, die
darin liegt, psychische Thätigkeiten (z. B. Vorstellungen) verach-
tungsvoll nicht in Rechnung zu ziehen, während man doch alles
Psychische auf Gehirnthätigkeit zurückführt, merken offenbar die
„somatischen" Theoretiker nicht; stets vergessen sie wieder, dass alles
„Psychische", d. h. jeder Bewusstseinsinhalt auch „somatisch" ist.
Zur somatischen Schule gehörten ebenfalls grösstenteils Du-
montpallier, der besondere Vertreter der Burq'schen Metallo-
therapie in Paris, der Physiolog Preyer in Berlin, der in seinem
Buch über den Hypnotismus (1890) der Hauptsache nach noch auf
Braid's Standpunkt steht, die Suggestion, wie Charcot's Schule,
als Capitel im Hypnotismus, als eine Art Abtheilung desselben be-
handelt und dabei Lie'beault's und B er nh ei m's Verdienste und
Forschungen nur ganz nebenbei berührt. Während Danilewsky
glänzend gezeigt hat, wie die Hypnose der Thiere vollständig homolog
derjenigen des Menschen ist und, wie es schon Lie'beault an-
gedeutet hat, auf Suggestion beruht (natürlich auf einer den
psychischen Kräften des Thieres adäquaten Suggestion; Compte
rendu du congres international de psychologie physiologique, Paris
1890, p. 79—92), beharrt P reyer auf seiner Theorie der Kata-
plexie, d. h. der Starrheit durch Schrecken. Ebenso beharrt Preyer
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Charcot's Theorie begraben. Terminologie.
43
auf seiner Milchsäuretheorie des Schlafes, glaubt, dass die Fälle, wo
die Hypnose blitzschnell herbeigeführt wird (wie z. B. fast immer bei
meinen Hypnotisirten), Kataplexie und keine Hypnose seien, und ver-
gisst ferner die Fälle von Schlafsucht und jahrelanger Schlaflosigkeit
zu erklären. Preyer nennt sogar die Hypnose eine Neurose,
geradeso wie Charcot. Am anderen Ort gibt er wieder die aller-
intimste Verwandtschaft der Hypnose mit dem normalen Schlaf zu.
Wir wollen aber nicht daraus schliessen, dass Preyer den normalen
Schlaf für eine Neurose hält. Wenn nun am Schlüsse Preyer
sagt, dass eine Erklärung der Hypnose zur Zeit nicht möglich sei,
und wenn seine Erklärungsversuche nichts weniger als klar sind,
so darf es uns allerdings nicht mehr wundem.
Uebrigens ist es seit Charcot's Tod mit seiner Theorie des
Hypnotismus ganz still geworden, und es darf wohl jetzt dieselbe
als völlig begraben betrachtet werden. Wir haben sie nur aus
historischen Gründen erwähnt.
Es gibt somit nur eine Theorie, nämlich die Suggestions-
theorie der Nancy 'sehen Schule, welche mit den wissenschaftlich
feststehenden Thatsachen des Hypnotismus in Einklang steht und
dieselben befriedigend erklärt. Alles andere beruht auf Missverständ-
nissen.
Wir haben uns also hier nur mit dem Begriff der Suggestion
und des suggestiven Schlafes, als gleichbedeutend mit demjenigen
des Hypnotismus zu befassen.
Terminologie. Die Ausdrücke animalerMagnetismus und
Mesmerismus müssen der Fluidum-Theorie überlassen werden.
Als Hypnotismus (Braid) kann man diejenige Disciplin
bezeichnen, welche die Gesammtheit der mit der bewussten und
unbewussten Suggestion zusammenhängenden Erscheinungen um-
fasst. — Hypnose bezeichnet am besten den veränderten Seelen-
zustand des Hypnotisirten, specieller, des suggestiven Schlafes,
B e r n h e i m (Congres de physiologie psychologique) definirt die Hyp-
nose als „besonderer psychischer Zustand, den man hervorrufen
kann, und in welchem die Suggestibilität erhöht ist". Hypnoti-
seur kann man denjenigen Menschen nennen, der bei einem anderen
den Zustand der Hypnose hervorruft. Man kann ihn auch „Ein-
geber" nennen. Als Suggestion (Eingebung) bezeichnet man
nach der Nancy'schen Schule die Erzeugung einer dynami-
schen Veränderung im Nervensystem eines Menschen
4 4 Begriff d. Suggestion u . seine Abgrenzung. A utosuggestion. Objectsuggest ion.
(oder in solchen Functionen, die vom Nervensystem abhängen) durch
einen anderen Menschen mittels Hervor ruf ung der (bewussten
oder unbewussten) Vorstellung, dass jene Veränderung
stattfindet, oder bereits stattgefunden hat, oder statt-
finden wird. Verbalsuggestion oder Einrede ist die Sug-
gestion durch die Lautsprache. Suggesti bilität ist die indi-
viduelle Empfänglichkeit für Suggestionen. — Es gibt viele Menschen,
die im Wachzustand bereits sehr suggestibel sind (Suggestivzustand
im Wachen). Bei denselben ist der Begriff der Hypnose kaum zu
begrenzen, da ihr Normalzustand im Wachen durch unmerkliche
Abstufungen in den Zustand der Hypnose übergeht. Etwas suggestibel
im Wachzustand ist übrigens jeder Mensch. Autosuggestion
(Bern heim) ist die Suggestion, die ein Mensch bewusst oder
(raeist) unbewusst bei sich selbst erzeugt.
Der Begriff „Suggestion" und besonders „Autosuggestion" kann
leicht durch zu starke Erweiterung in die Begriffe Trieb, Intuition,
Glaube, Automatismen und dergl. fliessen. In der That wird die
Unterscheidung schwer werden. Der Begriff der Suggestion kann
noch dadurch, dass der activ eingreifende, suggerirende Hypnotiseur
(die Verbindung eines Menschen mit dem anderen oder der „Rapport")
dazu gehört, besser begrenzt werden. Doch wenn der Hypnotiseur
unbewusst handelt (wenn ein anderer durch mein Gähnen z. B.
suggerirt wird), — oder wenn man durch Gegenstände suggerirt wird
( Objectsuggestion von Schmidkunz), geht der Begriff bereits in
denjenigen der Autosuggestion über. Letzterer läuft nun bedeutend
Gefahr, eine zu Missverständnissen und Verkennung früherer Wahr-
heiten und Forschungen führende Erweiterung zu erleiden.
Fast ebenso schwierig wird es werden, den Begriff der Sug-
gestion von demjenigen der Beeinflussung der Menschen durch andere
Menschen, durch Gedanken, Leetüren etc. abzugrenzen, denn eine
scharfe Grenze gibt es nicht. Immerhin niuss man die Suggestion
unbedingt auf das Gebiet der intuitiven Beeinflussung im Gegensatz
zur Beeinflussung durch Vernunftsgründe einschränken. Die höhere
Plasticität der Vernunft, die sich anderen Kräften möglichst fein
adäquat anpasst, bildet vielmehr den Widerstand gegen die Suggestion.
Es sind die uns wenig oder nicht bewussten Gehirnautomatisraen
selbst, welche, wie im Traum, dissoeiirt, gelockert, wieder plastisch
geworden, dem schmarotzenden fremden Befehl bei der Suggestion
mehr oder weniger blind gehorchen. Somit fliesst der Begriff
der Suggestion vor allem in den Begriff der Intuition, bei
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Was ist neu in der Suggestion V Suggestibilität.
45
welcher bekanntlich Gefühle und Phantasiebilder eine Hauptrolle
spielen.
Als Erscheinungen und Energien sind die Suggestion und die
Hypnose so alt wie der Mensch in der Welt, sogar phylogenetisch
viel älter, da sie auch im Thierreich vorkommen. Neu sind nur
zwei hinzugekommene Factoren : 1 . das Auftauchen der Erkenntniss
dieser Erscheinungen, ihrer Bedingungen, ihrer Ursache, ihrer Trag-
weite im Bewusstsein der Menschheit, speciell der wissenschaftlichen
Menschheit und zwar nicht mehr, wie früher schon, als zweifelhafte
Mystik, sondern als wissenschaftliche Wahrheit. 2. Die erstaunliche
Leichtigkeit, mit welcher die Hypnose fast bei jedem Menschen
durch Lie*be ault's Methode erzeugt werden kann.
Die beiden genannten Factoren verleihen, nebenbei bemerkt,
dem Hypnotismus seine neue therapeutische und strafrechtliche
Bedeutung.
IV. Die Suggestion.
§ 1. Hypnotisirbarkeit oder Suggestibilität. Bernheim schreibt
in der „Revue de Phypnotisme" (l.Mai 1888): „Tout me"decin d'höpital
qui dans son service clinique , n'arrive pas a hypnotiser 80 °;'o de
ses malades, doit se dire qu'il n'a pas encore l'expe'rience süffisante
en la matiere et s'abstenir de jugement pre*cipite sur la question." —
Diesen Satz kann ich voll und ganz unterschreiben ; mit demselben
stimmen die oben angeführten statistischen Angaben vollständig
überein. Man könnte auch getrost 90°/o statt 80°/o setzen. Nur
muss man die Geisteskranken ausnehmen.
Jeder Mensch an sich ist mehr oder weniger suggestibel nnd
somit hypnotisirbar. Manche Menschen rühmen sich zwar, nur das
zu glauben, was ihnen ihre Vernunft klar und bewusst logisch nach-
gewiesen oder wenigstens sehr plausibel gemacht hat. Jene Menschen
beweisen aber dadurch nur, dass ihnen die elementarste Selbstkritik
abgeht. Unwillkürlich und unterbewusst glauben wir beständig an
Dinge, die ganz oder theilweise nicht sind. Wir glauben z. B.
ohne Weiteres an die Wirklichkeit unserer Sinneswahrnehmungen,
die doch zunächst auf einem Gebäude von Schlüssen beruhen, mit
deren Hülfe die Empfindungen verarbeitet worden sind. Desshalb
werden wir auch fast regelmässig durch Trugwahrnehmungen
(Hallucinationen) getäuscht. Jeder Mensch erfährt Enttäuschungen,
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46 Glaube u. Suggestibilität. Momente, die der Suggestibilität entgegenwirken.
traut anderen Menschen, Sätzen oder Einrichtungen, die sein Ver-
trauen dann nicht rechtfertigen u. s. w. Das sind Beweise unserer
intuitiven Glaubensfähigkeit, ohne welche unser Denken gar nicht
möglich wäre, denn — wollten wir warten, bis jedes Motiv unseres
Denkens und Handelns, um acceptirt zu werden, mathematisch oder
auch nur durch genügende Induction nachgewiesen wäre — so kämen
wir überhaupt, aus lauter Bedenken, nie zum Denken oder Handeln.
Wir können aber weder denken noch handeln, ohne ein gewisses
Gefühl zu haben, dass unser Denken und Handeln richtig ist, ohne
daran mehr oder weniger zu glauben. Die Dynamismen (geordnete
Kräftecomplexe), die den Glauben und die Intuition bedingen, sind
aber eben Complexe von Gehirnthätigkeiten , welche grösstenteils
unterhalb der Schwelle unserer Oberbewusstseinsspiegelung vor sich
gehen. Darin liegt der Schlüssel der Suggestibilität.
Wenn wir uns nach etwas recht sehnen, das wir nicht haben,
eutstehen nicht selten um so intensiver die Gegenvorstellungen der
Unerreichbarkeit unseres Wunsches. Besonders klar tritt dieser
psychologische Zustand bei der Herbeiwünschung subjectiver Ge-
fühle hervor. Wollen wir dieselben erzwingen, so fliehen sie. Wer
mit Gewalt und Bewusstsein schlafen will, wird schlaflos; wer auf
dieselbe Weise den Coitus ausüben will, wird momentan (vorüber-
gehend) impotent; wer sich mit Gewalt freuen will, ärgert sich u. s. w.
Und je mehr Gewalt der oberbewusste Wille anwenden will, desto
grösser wird seine Niederlage, während dieselben erwünschten Ge-
fühle sich ganz von selbst einstellen, wenn man sich ohne Concen-
tration dem Glauben an dieselben hingeben kann, besonders mit Hülfe
entsprechender Phantasievorstellungen .
Wer nun mit Gewalt hypnotisirt werden will, sich nach der
Hypnose sehnt, sich dabei klar über ihr Wesen ist und den Erfolg
der Suggestion herbeiwünscht, kann seine Aufmerksamkeit nicht
von dem psychologischen Vorgang abbringen und ist schwer oder
nicht hypnotisirbar , wenigstens so lange nicht, als er nicht psy-
chisch passiv oder abgelenkt werden kann. Und je öfters und je
mehr Jemand sich bemüht, passiv zu werden, desto weniger wird
er es. Es sind aber ganz besonders intensive geistige Aufregung,
Angst, alle Gemüthsaffecte überhaupt, Geistesstörungen, entschiedener
Vorsatz, dem Hypnotiseur zu widerstehen, welche die Hypnose in
der Regel unmöglich machen. Misslingt mir eine erste Hypnose, so
forsche ich nach versteckten AfFecten, finde sie meistens, beruhige
den Kranken, und dann geht die Sache. Es ist jeder geistig
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Günstige und ungünstige Vorbedingungen der Hypnose.
47
gesunde Mensch an sich mehr oder weniger hypnotisir-
bar, nur gewisse momentane Zustände der Psyche, d. h.
der Grosshirnthätigkeit, sind es, welche die Hypnose
verhindern können.
Es galt vielfach als Axiom , dass wer nicht hypnotisirt werden
will, nicht hypnotisirt werden kann, wenigstens nicht zum ersten
Mal. Nach meiner Ansicht darf man nicht allzu viel auf diese Be-
hauptung geben, welche mehr oder weniger auf der psychologisch
unrichtigen Annahme einer essentiellen menschlichen Willensfreiheit
beruht. Es muss zunächst der Mensch nicht wollen können, um
wirklich und „frei* nicht zu wollen. Die Suggestion wirkt aber am
schnellsten und sichersten durch Ueberraschung , Ueberrumpelung
der Phantasie; wie wir soeben sahen, wird sie durch einen langen
Vorbedacht gestört. In wenigen Secunden kann vorübergehend ein
leicht suggestibler Mensch, der noch nie hypnotisirt worden ist, zur
relativ willenlosen Puppe eines anderen Menschen werden. Und ich
habe gerade beobachtet, dass durch eine Art Contrastwirkung solche
Menschen, welche über den Hypnotismus spotten und lächeln, welche
ostentativ erklären, „sie könne man nicht einschläfern", gerade oft
am schnellsten hypnotisirt werden, wenn sie nicht directen Wider-
stand leisten, und manchmal sogar trotz geleisteten Widerstandes. Es
ist, als ob der dem Hypnotismus hingeworfene Handschuh ihnen
eine ängstliche Gegenvorstellung eigener Unsicherheit geben würde T
welche sie um so sicherer der Suggestion preisgibt. Es ist das
gerade Gegenstück zum Misslingen der Hypnose bei den Leuten,
die sich darnach {sehnen und Angst »haben, es werde bei ihnen
nicht gehen.
Zudem aber werden unbefangene, ungebildete Menschen in der
Regel äusserst leicht durch Suggestion hypnotisirt, ohne dass sie
immer merken, was man eigentlich vorhat. Sie thun und glauben,,
was man ihnen suggerirt, |und schlafen nach einer oder zwei Mi-
nuten, bevor sie sich dessen versehen, auch dann oft, wenn sie
einen Augenblick vorher andere [hypnotisirte Personen für Simu-
lanten und den Arzt für düpirt gehalten hatten. Am schwersten
zu hypnotisiren sind zweifellos die meisten Geisteskranken, weil der
krankhafte permanente Reizzustand ihres Gehirnes eine ständige
bezügliche Spannung der Aufmerksamkeit auf den Kranken Vor-
stellungen unterhält, die den Suggestionen fast alle Eintrittsthüren
und alle Macht von vorne herein wegnimmt.
Eine wichtige Thatsache ist es ferner, dass man nicht selten
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48 Günstige und ungünstige Vorbedingungen der Hypnose.
«inen normal schlafenden Menschen durch Suggestion beeinflussen
und somit, ohne ihn zu wecken, in Hypnose überführen kann.
Noch leichter ist es umgekehrt, die Hypnose in gewöhnlichen
Schlaf durch Suggestion überzuführen.
Endlich gibt es sehr suggestible Menschen, welche, im vollen
Wachen überrumpelt, ohne vorhergehende Einschläferung alle Er-
scheinungen der Hypnose zeigen, resp. völlig den Suggestionen
eines geschickten Hypnotiseurs anheimfallen können. Von einem
» Nichtwollen " ist in diesen Fällen keine Rede. Nicht selten gelingt
dies sogar bei einem noch nie hypnotisirten Menschen.
Der durch Suggestion erzeugte Schlaf bleibt für gewöhnlich
«in Hauptmittel, die Suggestion zur vollen Wirkung zu bringen.
Derselbe wirkt wie die Lawine auf den ersten Anstoss, der
sie erzeugt hat. Je mehr sie wächst, desto gewaltigere Anstösse
werden durch die Lawine erzeugt. Durch Suggestion wird Schlaf
•oder Schlummer erzeugt.. Kaum ist aber derselbe vorhanden, so
wächst die Suggestibilität eben durch den Schlaf, sofern derselbe
nicht lethargisch wird.
Wir sagten Eingangs, dass jeder Mensch an sich suggestibel
ist. Kann man einen Menschen nicht hypnotisiren, so liegt dieses
im Grunde hauptsächlich daran, dessen sei man ja gewiss, dass er
sich bewusst oder unbewusst die Autosuggestion des „Nicht-
hypnotisirtwerdenkönnens" macht. Immerhin hängt wiederum die
Bildung dieser Autosuggestion von der Individualität des Menschen
ab und sie kommt besonders bei Grüblern und Zweiflern vor, so
dass man schon sagen muss, dass es sehr suggestible und wenig
suggestible Naturen gibt.
Herr Professor Bernheim" theilte mir brieflich den folgenden
Fall aus seiner Klinik mit, den er mir hier zu veröffentlichen
erlaubte.
„Vor einigen Tagen tritt in meine Abtheilung eiue Bauern-
frau mit Magen- und Bauchschmerzen ein, die ich für hyste-
rischer Natur halte. Ich kann sie nicht hypnotisiren. Sie
behauptet übrigens, dass Herr Dr. Liebeault sie in ihrer
Kindheit vergebens zu hypnotisiren versucht habe. — Nach
zwei vergeblichen Versuchen sage ich ihr: Es ist gleich-
gültig, ob Sie schlafen oder nicht. Ich werde Ihnen den
Bauch, die Brust und den Magen magnetisiren und so die
Schmerzen vertreiben. Ich schliesse ihr die Augen und
fahre auf diese Weise fort, circa zehn Minuten lang zu
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Bedingungen der Suggestibilität und der Hypnose. Massensuggestion. 49
suggeriren. Der Schmerz verschwindet ohne Schlaf, erscheint
aber nach dem Abendessen wieder. Am anderen Tage wieder-
hole ich die gleiche Procedur mit dem gleichen Erfolg.
Der Schmerz erscheint nur noch leicht am Abend. Heute
fange ich wieder an, und nun erhalte ich gleichzeitig mit
dem Verschwinden des Schmerzes tiefen hypnotischen
Schlaf mit Amnesie!"
Ich habe seither wiederholt ähnliche Kniffe mit ähnlichen
Erfolgen angewendet. Es ist das einfachste Mittel, scheinbar Re-
fractäre doch zu beeinflussen.
Herr College Bern heim fügt hinzu: „Alles liegt in der Ein-
gebung; man muss nur die Feder auffinden (il faut trouver le joint),
um jede individuelle Suggestibilität in Thätigkeit zu versetzen resp.
zu erwecken."
Diesen Satz kann ich nur bekräftigen. Bernheim konnte
einmal Jemanden nicht hypnotisiren , und es stellte sich heraus,
dass der Betreffende von Beaunis hypnotisirt worden war, der ihm
die Suggestion gegeben hatte, er allein könne es thun. Ich selbst
habe eine Dame in tiefen Schlaf mit posthypnotischen Suggestionen
versetzt, bei welcher Prof. Bernheim nur Somnolenz hatte hervor-
rufen können — nur desshalb, weil sie sich die Autosuggestion
gebildet hatte, ich allein könne sie beeinflussen und curiren.
Es ist gar keine Frage, dass der beste Hypnotiseur derjenige
ist, der es am besten versteht, die Personen, die er hypnotisiren
will, von seiner Fähigkeit dazu zu überzeugen und der sie für die
Sache mehr oder weniger zu begeistern vermag. Die Begeisterung
ist somit beim Hypnotisirten, wie beim Hypnotiseur ein wichtiger
Factor, denn um andere recht zu überzeugen, muss man meist selbst
überzeugt sein, oder dann dramatisches Talent besitzen. Was aber
bei beiden Theilen, beim activen, wie beim passiven, am meisten
begeistert, ist der thatsächliche Erfolg, die Wahrheit der That-
sache. Auf diesem psychologischen Vorgang beruhen die so viel
besprochenen und so missverstandenen hypnotischen Epidemien, die
Massensuggestionen, die »Ansteckung" des Hypnotismus. Alles,
was uns „begeistert", gewinnt Macht auf unsere Gehirnthätigkeit,
besiegt leicht alle Gegenvorstellungen und suggerirt uns leicht
durch Anregung entsprechender plastischer Phantasiebilder. Somit
steigt die Hypnotisirbarkeit oder Suggestibilität der Menschen mit
ihrer Begeisterung, mit ihrem Vertrauen und mit der Begeisterung
und den Erfolgen des Hypnotiseurs; sie sinkt aber auch ent-
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 4
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50
Wetteratrand und Oscar Vogt.
sprechend bei Erlahmung, Misstrauen und Misserfolgen. Es wirken
aber noch viele andere individuelle Factoren mit, vor Allem die
individuelle Plasticität und die Intensität der Vorstellungsfähigkeit,
die Erschöpfung, die Schlaffähigkeit etc.
Ganz besondere Verdienste in der Ausbildung der therapeuti-
schen Suggestionsmethode haben sich Wetterstrand und Oscar
Vogt erworben.
Wetterstrand hat, wie Lie'beault, ein grosses Gewicht auf
die Tiefe des Schlafes gelegt, und die Methode des protrahirten
(Tage lang fortgesetzten) Schlafes in hartnäckigen Fällen mit grossem
Erfolg angewandt und weiter ausgebildet. Er hat ferner seine
Kranken collectiv in einem halb dunklen Salon hypnotisirt, ihnen die
Suggestionen leise ins Ohr geflüstert, um gegenseitige Störungen zu
vermeiden, während das ganze Bild auf alle mächtig suggestiv wirkte.
Oscar Vogt hat die psychologische Analyse bedeutend ver-
tieft. Wie Lie'beault, Wetterstrand und ich vertritt er gegen
Delboeuf den Standpunkt, dass die Tiefe des Schlafes die Sug-
gestibilität erhöht, so lange der Rapport erhalten bleibt. Er sah
nur 1 Mal den Rapport durch Lethargie bei einer schwachen
Hysterica verloren gehen; mir passirte dies 4 Mal, bei beiden Ge-
schlechtern.
Vogt's Methode ist im Ganzen die gleiche, die ich weiter
unten schildere. Nur vermeidet er jede Erregung von Katalepsie
und automatischen Bewegungen. Er suggerirt einfach die Com-
ponenten des Schlafes (siehe weiter unten). Die ersten Hypnosen
macht er sehr kurz und lässt sich von den Patienten ihre Em-
pfindungen mittheilen.
Er trennt die Hypotaxie mit Amnesie vom Somnambulismus,
und bezeichnet als solche die Fälle, wo der Hypnotisirte noch weiss,
dass man zu ihm sprach, aber nicht mehr was.
Unter 119 Fällen (68 Frauen, 51 Männern) erzielte Vogt in
99 Somnambulismus, in 12 Hypotaxie mit Amnesie, in 6 Hypo-
taxie ohne Amnesie, in 2 Somnolenz. Refractär zeigte sich kein
einziger Fall. Darunter waren sogar einige Geisteskranke. Bei
sämmtlichen Nervengesunden wurde Somnambulismus erzeugt.
Lassen wir Vogt selbst das Wort:
„Auf Grund meiner Erfahrungen behaupte ich, dass bei
jedem geistig gesunden Menschen Somnambulismus erzielt
werden kann; momentan störende Momente lassen sich mit
Geduld immer beseitigen."
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Vogt's Ergebnisse. Suggestibilität u. Haftenbleiben der Sagg. sind zwei. 51
„Zur weiteren Prüfung der Suggestibilität derjenigen, die ich in
der 1. Sitzung bereits somnambul hatte, benutzte ich die Hervorrufung
der Anästhesie durch Wachsuggestion. Anfangs gab ich vorher die Schlaf-
suggestion, es würde mir die Wachsuggestion gelingen. Dabei erzielte
ich von 14 Fällen 13 Mal Anästhesie im Wachen. Später liess ich die
Schlafsuggestion fort. Von 22 Fällen erzielte ich 17 Mal Anästhesie,
2 Mal nur Analgesie, 3 Mal keinen Erfolg."
„Ich möchte noch dabei darauf aufmerksam machen, dass die sug-
gestiv anästhetische Haut ebenso wenig bei Stichen zum Bluten neigt,
wie die hysterisch anästhetische. *
„Unter 26 Fällen ist mir — zuweilen erst nach mehrfachen Ver-
suchen, oft aber schon sofort — 21 Mal gelungen, Stuhlgang im Moment
zu erzielen.*
„7 Versuche, die Menstruation sofort zum Cessiren zu bringen, waren
insgesammt, aber 4 nur für Stunden, von Erfolg. 4 Versuche, die Men-
struation zu erzielen, hatten 2 Mal sicher keinen Erfolg; in den beiden
anderen Fällen trat 2 Tage später die Menstruation ein. Ob das in
Beziehung zur Hypnose geschah, will ich nicht entscheiden.
„Die Beziehung zwischen Suggestibilität und Erfolg mit
therapeutischen Suggestionen ist — wie nicht genügend
der meist herrschenden Ansicht gegenüber hervorgehoben
werden kann — eine sehr geringe. Das Haftenbleiben
momentan erfolgreicher Suggestionen ist eine ganz andere
psychische Eigenthümlichkeit wie die Suggestibilität."
„Es seien hier zunächst zwei Extreme einander gegenübergestellt."
„Ein Patient leidet seit längerer Zeit an einer hypochondrischen
Wahnidee, die mit sexuellen Beizsymptomen zusammenhängt. Nach einer
Reihe von Sitzungen wird Patient noch immer nur hypotactisch. Auto-
matische Bewegungen gelingen kaum, Amnesie gelingt überhaupt nicht.
Trotzdem nehme ich ihm in einer Sitzung seine Wahnidee dauernd.*
„Ein anderer Patient kommt mit den Sensationen einer trauma-
tischen Hysterie, deren somatische Erscheinungen bereits verschwunden
waren. Patient gehört zu den am meisten suggestiblen Menschen, die
ich hypnotisirt habe. Nach der 1. Hypnose sind alle Beschwerden be-
seitigt. Zugleich gelingen sofort Hallucinationen für alle Sinne durch
Wachsuggestionen. Patient hat während der weiteren 14 Tage seines
hiesigen Aufenthaltes keine einzige Beschwerde. Aus prophylactischen
Gründen wird er während dessen noch 8 Mal hypnotisirt und dann ent-
lassen. 3 Tage später hat er bereits ein vollständiges Recidiv. Der
Patient war eben so suggestibel, dass er jeder Beeinflussung sofort nach-
gab. Mit dem Begriff seiner Häuslichkeit hatten sich während des
Monate langen Krankenlagers die Krankheitssymptome so eng associirt,
dass die Heimkehr die sinnlich lebhafte Erinnerung an jene (das ist die
psychologische Definition für das Recidiv) hervorrief."
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52
Hysterische Autosuggestionen (Vogt).
„Solche Fälle gibt es eine ganze Menge. Ich behandle eine Neur-
asthenikerin und zwei Hysterische. Der Anblick von mir genügt, um
sie für Tage gesund zu machen: aber keine Art von Suggestion hatte
einen länger dauernden Erfolg."
„Auch in der Psychotherapie gilt das alte Sprichwort: „Langsam,
aber sicher!"
„Es ist mir gelungen, bei schwer suggestiblen Menschen ihre Ob-
stipation zu beseitigen und einen täglichen Stuhlgang zu festgesetzter
Stunde zu erzielen ; bei ihnen war die Suggestion eines sofortigen Stuhl-
ganges ohne Erfolg. Andererseits kann ich bei einer gut suggestiblen
— nicht hysterischen — Patientin jederzeit sofort Stuhlgang hervor-
rufen; aber eine Regelung für die nächsten Tage oder gar für längere
Zeit gelang nie. Damit stimmte auch der Erfolg anderer Suggestionen
bei den betreffenden Patienten überein."
„Eine besondere Beachtung verdienen gewisse Autosuggestionen von
Hysterischen. Auf dieselben hat zuerst Ringier aufmerksam gemacht.
Es gibt eine Kategorie schwerer Hysterien, bei denen therapeutische
Suggestionen die Symptome nur verschlimmern. Zwei Hysterische dieser
Art, von denen bei der einen durch Schlaf-, bei der anderen durch
Wachsuggestion sofortige Stuhlentleerung hervorgerufen werden kann,
hatten täglich, aber zu unregelmässiger Zeit Stuhlgang. Behufs Be-
nutzung für eine bestimmte Versuchsreihe wollte ich den Stuhlgang auf
eine bestimmte Tageszeit festsetzen. In beiden Fällen rief ich dadurch
eine hartnäckige Obstipation hervor."
„Diese Erscheinung beruht darauf, dass Theil Vorstellungen des durch
die Suggestion hervorgerufenen Vorstellungscomplexes durch bahnende
Erregung bereits hochgespannter Hirndynasmismen diese activiren , ehe
die übrigen Componenten der Suggestion ihren hemmenden Einfluss aus-
üben können. -
„Zur Erläuterung seien hier zwei klare Fälle mitgetheilt."
„Eine Hysterische hatte seit 14 Tagen Anfälle. Eine hypnotische
Behandlung steigerte nur die Zahl, indem jedes Mal während oder nach
der Sitzung ein Anfall auftrat. Später gab mir die Patientin selbst die
Erklärung. Sie hatte sich von ihrem Liebhaber in der Karcose defloriren
lassen. 3 Tage später hatte der Liebhaber sich vergiftet. Bei dem
Empfang der Todesnachricht war der 1. Krampfanfall aufgetreten. ,Die
hypnotische Einschläferung,' äusserte die Patientin, »erinnerte mich immer
an die damalige Narcose. Dann fiel mir alles wieder ein. Ich bekam
Angst und dann einen Anfall.'"
„Eine andere Hysterica leidet an periodischen Dämmerzuständen.
Denselben gehen lebhafte Affectschwankungen voraus. In einem solchen
Stadium hypnotisire ich die Patientin. Ich gebe ihr die Suggestion,
jetzt keinen Anfall zu bekommen. Aber siehe da! Sie hat ihn schon.
Das Wort , Anfall' hat diesen ausgelöst. Trotzdem machen sich weiter-
\
Hysterische Autosuggestionen. Schlaf und Hypnose. 53
hin auch die anderen Componenten meiner Suggestion bemerkbar. Denn
der Anfall verlief viel leichter als alle vorher beobachteten."
„Eine derartige durch verschiedenartige associative Anknüpfung
theils günstige, theils ungünstige Einwirkung der Suggestion konnte ich
bei derselben Patientin im Verlauf des vorhergehenden Anfalles noch
viel besser beobachten. Bei Beginn des Dämmerzustandes hatte ich
Patientin eine Einspritzung von Hyoscinum gegeben. Diese beruhigte
Patientin soweit, dass ich sie hypnotisiren und so auch schnell den
Dämmerzustand beseitigen konnte. Die durch das Hyoscin hervorgerufene
Trockenheit des Halses hatte aber inzwischen zur Autosuggestion einer
Anästhesie der Mundhöhle mit dadurch bedingter Zungenlähmung, einer
Ageusie und einer motorischen Aphasie geführt. Innerhalb dreier Tage
waren sämmtliche Symptome auf suggestiv-therapeutischem Wege be-
seitigt; nur war noch eine Aphonie vorhanden. Diese widerstand 4 Tage
lang jeder Suggestion. Schliesslich versuchte ich es auf dem Wege einer
suggerirten Amnesie für die ganze Sprachstörung. Beim Erwachen hatte
Patientin ein vollständiges Eecidiv. Sie war wieder aphasisch, machte —
wie während des Bestehens des ganzen Symptomencomplexes — schnal-
zende Bewegungen, zeigte mit den Fingern nach dem Hals und ver-
langte dann plötzlich mit lauter Stimme: , Wasser!' Sie trank auf
einen Zug einen halben Liter aus. In wenigen Momenten war dann die
Sprachstörung beseitigt. Es hatte also meine Suggestion zunächst die
leichter erregbare Erinnerung an den eben überstandenen Krankheits-
zustand sogar mit der Trockenheit im Halse wachgerufen. Dann war
aber auch die Erinnerung an die gesunde Zeit geweckt worden. Diese
— ein viel stärkerer Vorstellungscomplex — gewann allmälig die Ober-
hand : so siegte die günstige Wirkung der Hypnose über die ungünstige."
„Die Beziehung zwischen Suggestibilität und Haften der Suggestionen,
sowie zwischen diesen Erscheinungen und den übrigen Seiten der Seele:
das muss das Ziel weiterer Studien werden.*
§ 2. Schlaf und Hypnose. Die Verwandtschaft der Hypnose
mit dem normalen Schlaf ist unverkennbar, und ich muss Li 6-
beault beistimmen, wenn er sagt, dass sie sich nur durch die
Verbindung des Schlafenden mit dem Hypnotiseur von ihm grund-
sätzlich unterscheidet. Freilich darf man hier nicht den Begriff
„Schlaf" mit dem Begriff „Erschöpfung" verwechseln. Im Begriff
„Ermüdung" liegen leider ausserdem zwei verschiedene Begriffe
unklar vermengt: das subjective Gefühl der Ermüdung und die
objective Erschöpfung. Beide fallen durchaus nicht immer zusammen.
Zudem sind die Schläfrigkeit und das subjective Gefühl der Er-
müdung auch durchaus nicht identisch, obwohl oft associirt. Man
erlaube mir hier einige Hauptthatsachen anzuführen.
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54 Der normale Schlaf ; Bein Eintreten durch unbewusate Autosuggestion.
Man sagt herkömmlicherweise in der Physiologie, der Schlaf
werde durch Ermüdung erzeugt. Dieses ist aber nicht richtig.
Wenn auch die wirkliche Erschöpfung des Gehirnes gewöhnlich
das jubjective Ermüdungsgefühl hervorruft und wenn letzteres aus
Zweckmässigkeitsgründen mit Schläfrigkeit für gewöhnlich associirt
ist, so müssen wir auf der anderen Seite festhalten: 1. dass nicht
selten starke Erschöpfung schlaflos macht; 2. dass man umgekehrt
oft durch Schlaf immer schlafsüchtiger wird; 3. dass Ermüdungs-
gefühl, Schläfrigkeit und wirkliche Erschöpfung oft ganz unab-
hängig von einander vorkommen; 4. dass die Schläfrigkeit in der
Regel zu bestimmter, gewohnter (autosuggerirter) Stunde erscheint,
und wenn man sie besiegt hat, nachher trotz wachsender Erschöpfung
verschwindet.
Diese Thatsachen sind durch die sehr unbefriedigenden chemi-
schen Theorien der Physiologen (Milchsäuretheorie von Preyer etc.)
ganz unerklärlich. Ich, für meinen Theil, habe nie eine schlaf-
erzeugende Wirkung der Milchsäure constatiren können und halte
die angeblichen Bestätigungen dieser Wirkung für suggestiv, denn
ich habe mit Brunnenwasser bei gehöriger Suggestion ungleich
bessere Erfolge erzielt.
Die Physiologen (Kohlschütter) haben die Intensität des
Schlafes durch die Schallstärke messen wollen, welche zum Wecken
nöthig ist. Wie wenig damit bewiesen ist, zeigt die Thatsache,
dass ein gewohntes Geräusch bald nicht mehr weckt, auch wenn
es sehr stark wird (z. B. eine Weckuhr), während leise, ungewohnte
Geräusche sofort wecken. Manche sorgsame Mutter wird durch
das leiseste Geräusch ihres Kindes geweckt, während sie beim
Schnarchen ihres Ehemannes oder sonstigen gewohnten Lärm durch-
aus nicht erwacht.
Stille, sowie langweilige, eintönige Vorgänge, welche den
Wechsel der Vorstellungen nicht fördern, machen uns schläfrig;
ebenso bequeme Lage des Körpers und Dunkelheit. Dabei treten
associirte Erscheinungen ein, wie Gähnen, Einnicken, Gliederaus-
strecken, die das subjective Schläfrigkeitsgefühl noch erhöhen, und
die bekanntlich von Mensch zu Mensch sehr ansteckend sind.
Wir sagten, dass die Gewohnheit, zu einer bestimmten Zeit
einzuschlafen, eine gewaltige Schläfrigkeit zu der betreffenden Zeit
taglich hervorruft. Aber auch ein bestimmter Ort, die Stimme
einer bestimmten Person, das Liegen in einem gewissen Lehnstuhl,
wo man gewöhnlich einschläft, das Anhören einer Predigt, das
\
Der normale Schlaf. Erschöpfung, Ermüdung und Schläfrigkeit. 55
Liegen in einer bestimmten Körperstellung, beim Hans eine Ross-
haar-, beim Jakob eine Federmatratze u. s. w. u. s. w., vor Allem
noch der Lidschluss sind sehr gewöhnliche schlaferzeugende Mittel.
Warum das? — Man hat es bisher Gewohnheit, associirte An-
gewöhnung genannt Wir müssen aber anerkennen, dass diese
Thatsachen einer unbewussten Autosuggestion völlig gleichkommen.
— Mein zweijähriges Söhnchen hatte sich gewöhnt, mit einem
Taschentuch in der rechten Hand, am Gesicht angelegt, einzuschlafen.
Als wir es ihm wegnahmen, konnte er lange Zeit nicht mehr ein-
schlafen. Bei gewissen Leuten müssen sogar gewisse Handlungen
dem Schlaf vorangehen, damit er erfolgen kann (Leetüre, Aufziehen
der Uhr u. s. w. u. s. w.).
Die kräftigste aller jener Associationen ist aber der Schliessungs-
reflex des Orbicularis. Daher ist dieses die beste Suggestion des
Schlafes 1 ).
*) Von Schrenck-Notzing glaubte (Die Bedeutung der narcotischen
Mittel für den Hypnotismus; Schriften der Gesellschaft für psychologische
Forschung 1891, Leipzig bei Abel) auf Grund der Anhäufung der Oxydations-
produete (Ermüdungsproducte !) die Verschiedenheit des natürlichen Schlafes
von der Hypnose uns gegenüber annehmen zu sollen und führt u. A. als Be-
weis die Unmöglichkeit, nach grossen Strapazen dem Schlaf zu widerstehen,
an. Wir läugnen aber keineswegs den Einfluss der Oxydationsproducte, welche
eine lange Wachthätigkeit des Gehirnes erzeugt, und wir betonen sogar eben-
falls, dass der dissoeiirte resp. der relative Ruhezustand des Gehirnes im Schlaf
der Erzeugung der notwendigen chemischen Synthesen, d. h. der Reintegration
des Gehirnes adäquat angepasst ist, dass somit die Erschöpfung des Gehirnes
normaliter die stärkste associative Ursache der Suggestion des Schlafes bildet
und bei bedeutender Höhe unwiderstehlich wirken kann. Wenn wir sagen,
dass die Suggestivwirkungen vermittelst Vorstellungen erfolgen, wissen wir
doch sehr gut, dass die Vorstellungen wiederum beständig von den physi-
calischen und chemischen physiologischen (und auch pathologischen) Zuständen
der Gehirnelemente abhängen. Die Art der Gehirn Veränderung des Melancho-
likers ruft z. B. auf associativem Wege seine Versündigungsideen hervor. Die
oben erwähnten Thatsachen beweisen aber so klar, dass der normale Schlaf
gewöhnlich rasch und auf suggestivem Weg entsteht, dass man gezwungen ist,
ohne seine Anpassung an die Gehirnerschöpfung und seine gewöhnliche Associa-
tion mit derselben zu verkennen, ihn nicht mit derselben zu identificiren. Die
Suggestivwirkung ist ebenso physisch, wie die durch Erschöpfungsproducte
erzeugte Aenderung des Gehirnes, und wir läugnen nicht, dass letztere in der
Regel den Mechanismus des tieferen Schlafes fördert. Dass aber der normale
Schlaf ohne Hypnotiseur und ohne Erschöpfung ganz nach Art der Hypnose
eintreten kann, steht fest und beweist, dass dieser veränderte Thätigkeits-
zu stand des Gehirnes etwas für sich und die Erschöpfung etwas anderes für
sich ist Es ist zweifellos, dass die Anhäufung der Kohlensäure im Blut eine
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Unterschiede zwischen Wach- und Traumbewusstsein.
Beobachten wir schlafende Menschen, so merken wir bald, dass
sie sich bewegen, dass sie auf sensible Reize reagiren, sich wieder
bedecken, wenn man sie entblösst, nicht selten sprechen, stöhnen,
oder das Schnarchen auf Befehl unterlassen, sogar manchmal
Antwort auf Fragen geben, ja ab und zu aufstehen und handeln.
Gewisse Menschen schlafen nur leicht, still, und erwachen beim
leisesten Geräusch. Dieselben zeigen mehr Verbindung mit der
Aussenwelt.
Subjectiv kennen wir (d. h. kennt die Verkettung der Spiege-
lungen unseres Wachbewusstseins) unseren Schlaf nur durch die
Erinnerung an unsere Träume. Wir fühlen nun, dass unser Traum-
bewusstsein anders ist als unser Wachbewusstsein , sich jedoch
demselben um so mehr nähert, als der Schlaf leichter ist. Das
Schlaf bewusstsein unterscheidet sich vor Allem durch folgende That-
sachen -vom Wachbewusstsein, soweit unsere Traumerinnerungen
dem letzteren einen Einblick darin gewähren:
1. Es zeigt keine scharfe Trennung zwischen innerer Vor-
stellung und Wahrnehmung. Alle Vorstellungen werden mehr oder
weniger hallucinirt, d. h. sie haben den subjectiven Charakter der
Wahrnehmungen und täuschen wahre Ereignisse vor.
2. Während dieser Schlaf- oder Traumhallucinationen fehlt
meistens die Schärfe, die Präcision der durch äussere Vorgänge
erzeugten Wachwahrnehmungen ; dieselben gehen dennoch mit sehr
intensiven Gefühlsbetonungen einher und können gewaltige Rück-
wirkungen auf das Centrainervensystem üben. Ein Traum kann
intensivere Athmung hervorruft und dass wir in Folge dessen auf die Dauer
den Athem nicht anhalten können. Das beweist aber nicht, dass die Athem-
hewegungen von der Kohlensäure allein abhängen und viel weniger noch, dass
die Anhäufung von Kohlensäure im Blut und die Athemhewegungen identische
Processe seien. Wir wissen, dass die letzteren vielmehr durch Muskeln und
deren motorische Nervencentren hervorgerufen werden und dass sogar unser
Wille (unser Gehirn) sie beschleunigen und aufhalten kann. Die Beschleunigung
der Athemhewegungen durch die Kohlensäureanhäufung im Blut ist aber eine
viel unmittelbarere, kräftigere und intimere Association als die Erzeugimg
des Schlafes durch die Gehirnerscböpfung. Es wird uns trotzdem nicht ein-
fallen, die willkürlich hervorgerufenen (unnöthigen) Athemhewegungen von
denjenigen, die durch Asphyxie hervorgerufen werden, als eine andere Species
zu trennen. Nicht wesentlicher von einander verschieden sind der suggerirte
(Hypnose) und der natürliche Schlaf. Der Gehirnmechanismus beider ist der
gleiche, wenn er auch auf verschiedene Weise in Bewegung gesetzt werden
kann (siehe übrigens § 10).
\
Traumbewusstaein und hypnotisches Bewusstsein. 57
Schweiss und krampfhafte Muskelcontractionen, intensive Angst u.s. w.
erzeugen. Erotische Träume erzeugen Pollutionen ohne mechanische
Reibung des Penis, was die erotischsten Wahrnehmungen im Wachen
selten vermögen.
3. Die Traumhallucinationen sind im Gegensatz zum Denken
und Wahrnehmen im Wachen ganz mangelhaft associirt. Meist
nur lockere äussere Associationen verknüpfen oft die eine mit der
anderen. Die organisirte, durch die im Lauf des Lebens allmälig
automatisirten psychischen Dynamismen unbewusst und instinctiv
gewordene Logik des Denkens im Wachen geht dem Denken im
Schlaf ab; offenbar befindet sich das Gehirn während des Schlafes
in einem Zustand relativer Unthätigkeit oder Hemmung. Der un-
vermitteltste, barockste Unsinn wird daher geträumt, im Traum
zeitlich und räumlich ganz fehlerhaft associirt, wahrgenommen und
zudem geglaubt. Meistens nur im leichten Schlaf, selten im tiefen
Schlaf erfolgt öfters ein geringerer oder höherer Grad logischer
Correction. Manchmal läuft diese logische Correctdon parallel mit
dem Traumunsinn, wie wenn zwei Bewusstseine gleichzeitig bestehen
würden, dasjenige der Traumkette, das daran glaubt, und dasjenige
der wachenden logischen Associationen, das sagt: Nein, das ist alles
Traumunsinn; ich liege doch im Bett im Halbschlaf.
Jene drei charakteristischen Eigenschaften des Traumlebens
sind zugleich die Kriterien des hypnotischen Bewusstseins : Hallu-
ciniren der Vorstellungen, intensive Gefühls- und Reflexwirkungen
derselben, Dissociation der organischen logischen Associationen.
Dieselben sind aber zugleich die besten Bedingungen intensiver
Suggestibilität.
Das Erwachen, das Umgekehrte vom Einschlafen, zeigt ganz
dieselben suggestiven Erscheinungen wie das Einschlafen. Man
erwacht gewöhnlich durch Association zu einer gewissen gewohnten
Stunde. Ein leichter Schlaf bildet oft einen allmäligen Uebergang
des Schlafes zum Erwachen und hinterlässt Traumerinnerungen.
Träume wecken nicht selten. Eigentümlich ist che Fähigkeit vieler
Menschen, zur bestimmten beabsichtigten Zeit zu erwachen, somit
die Zeit im Schlaf genau abzumessen. Dasselbe finden wir in der
Hypnose.
Wie in der Hypnose unterscheidet Lie'beault im normalen
Schlaf den leichten Schlaf mit Traumerinnerungen vom tiefen Schlaf
meistens ohne solche. Die Charakteristik des letzteren ist die totale
Amnesie beim Erwachen. Nichtsdestoweniger finden wir gerade bei
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58 Traumbewusstsein. Heerwagen's Messung der Tiefe des Schlafes.
tief schlafenden Menschen die Erscheinungen des Somnambulismus
und der Schlaftrunkenheit, bei welchen der Schlafende geht, handelt
(oft sogar sehr geordnet und complicirt), spricht und sogar Gewalt-
thaten verüben kann — eine Erscheinung, welche bereits im Straf-
recht als ein Grund der Unzurechnungsfähigkeit anerkannt ist.
Dies zeigt, dass die Amnesie nach tiefem Schlaf eben nur Amnesie
ist, und absolut nicht beweist, dass das Bewusstsein im tiefen Schlaf
erloschen, sondern nur, dass es vom Wachbewusstsein abgeschnitten
war. Allerdings gibt sich der lethargische Schlaf anders nach
aussen kund als der Somnambulismus mit seinem eingeengten Be-
wusstsein, aber aus der Regungslosigkeit der motorischen Sphäre
auf Regungslosigkeit der Hirnrinde zu schliessen ist nicht statthaft.
In Wundt's „Philosophischen Studien* hat Friedrich Heerwagen
unter Kräpelin's Leitung „Statistische Untersuchungen über Träume
und Schlaf" veröffentlicht, welche auf den eigenen Angaben vieler
Personen beruhen. Die Angabe jener Personen, dass sie viel träumen,
wenig träumen oder gar nicht träumen, soll nun nach Heerwagen
massgebend sein und bildet die Grundlage seiner Statistik. Da
jedoch das Studium des Hypnotismus und viele Erfahrungen über
den normalen Schlaf beweisen, dass auf diese subjectiven Erinne-
rungen oder Nichterinnerimgen von Träumen nichts zu geben ist,
weil viele Menschen einfach alle ihre Träume und fast alle Menschen
den grössten Theil ihrer Träume vergessen (Autosuggestion der
Amnesie), so kann ich dieser Statistik keinen Werth beilegen, und
glaube vielmehr, dass alle Menschen im Schlaf fortwährend träumen.
Man kann mich z. B. zu keiner Nachtstunde noch so unerwartet
wecken, ohne dass ich wenigstens das letzte Bruchstück einer Traum-
kette erwische, das ich aber sogleich wieder total vergesse, wenn
ich es nicht sofort aufschreibe oder mir mehrmals im Wachzustand
energisch wieder vorstelle. Was mir dann als Erinnerung bleibt,
ist das Bild der im Wachzustand erneuten Vorstellung, nicht die
directe Erinnerung an den Traum, denn die letztere verwischt sich
fast immer kurz nach dem Erwachen.
Eine Eigentümlichkeit des Traumlebens ist noch, dass die
Sinnesreize, welche den Schlafenden treffen, in dem Schlafbewusst-
sein fast nie die normale adäquate Wahrnehmung hervorrufen,
sondern dass sie allegorisirt, d. h. inadäquat associirt werden; es
wird dann die betreffende Allegorie zum Traumbild, zur Traum-
illusion. Darin unterscheidet sich partiell der Hypnotisirte vom
spontan Träumenden, aber nur insofern, als die Eingebungen des
Beeinflussung des Wachzustandes durch Träume und umgekehrt. 59
Hypnotiseurs ihm adäquat bewusst werden. In der That allegorisirt
er wie der Träumende, sobald der Hypnotiseur ihn verlässt, und
andererseits benutzt der Hypnotiseur selbst diese Allegorisations-
eigenschaft des Schlafenden, um ihn hundertfach zu täuschen (um
ihn z. B. eine Kartoffel für eine Pomeranze essen zu lassen). Ebenso
hallucinirt der normal Träumende gemachte Bewegungen, die er
nicht ausgeführt hat, während er meistens seine WUlensimpulse
nicht in Bewegungen umzusetzen vermag.
Eine weitere Eigenthümlichkeit des Traumlebens ist der ethische
und ästhetische Defect, oder die Schwäche, die auch in diesen
Gebieten herrscht. Der Träumende ist sehr oft feig, gemein; der
beste Mensch kann im Traum morden, stehlen, untreu und verlogen
sein, und darüber sehr kaltblütig bleiben, oder wenigstens mehr
Angst als Reue empfinden. Dies kommt zweifellos wieder von der
Dissociation der Gegenvorstellungen her.
Ungemein wichtig und interessant sind die gegenseitigen Rück-
wirkungen des Traumlebens auf den Wachzustand und umgekehrt.
Dass unsere Träume von unseren Erlebnissen, Leetüren etc. im
Wachzustand beeinflusst werden, ist Jedem klar und bekannt.
Weniger klar jedoch sind wir uns darüber, wie tief und stark die
Traumthätigkeit auf unser Leben im Wachzustand rückwirkt, ob-
wohl darüber schon so viel Wahres geschrieben worden ist. Meist
sind wir uns, der Amnesie halber, dessen nicht bewusst. Die post-
hypnotischen Erscheinungen sind jedoch ein experimentelles Homo-
logon der bezüglichen Thatsachen des spontanen Lebens. Intensive
Träume können unsere Gedanken und Handlungen Tage lang (wie
auch dumme Affecte) oft mehr beeinflussen als die schönste Logik,
und es ist amüsant, derartige Beobachtungen oft bei Menschen zu
machen, die mit ihrer Nüchternheit, mit ihrem gemüthslosen Ver-
stand, besonders renommiren. Wir wissen nur von den Wir-
kungen derjenigen Träume, an welche wir uns erinnern. Die
Suggestion beweist uns aber, wie auch die vergessenen wirken
können.
Einem Manne, der über den Hypnotismus lächelte, erklärte
ruhig mein Freund, Herr Prof. Dr. Otto Stoll, er werde in der
folgenden Nacht um 12 Uhr dies und jenes vom Teufel träumen.
Dem betreffenden Herrn war es nicht ganz geheuer, denn er wollte
wach bleiben, um der Voraussagung zu entgehen. Doch siehe da!
Kurz vor 12 Uhr schlief er auf seinem Stuhl ein, und punkt 12 Uhr
erwachte er genau bei der Episode des suggerirten Traumes, bei
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60
Traumbeiapiele (Dissociation).
welcher ihm das Erwachen befohlen worden war; der Traum war
Punkt für Punkt eingetroffen.
Einige Beispiele von spontanen , sofort nach dem Erwachen
aufgeschriebenen Träumen dürften das Gesagte illustriren:
1. Dissociation: Jemand träumt, dass »der Oberwärter X.
(der Irrenanstalt Zürich) einen Vortrag über Suggestion bei Pferden
in Norwegen hält".
2. Dissociation etc.; längere Traumkette: Fräulein Y träumt:
Ich war bei meiner Mutter zu Hause; ein Onkel kam zu uns, ass
mit uns und klagte über kalte Füsse, worauf ich ihm eine Wärme-
flasche (die Wärmeflasche war da, ohne dass ich wusste wie, was
mir nicht auffiel) unter die Füsse brachte. Dann kamen mehrere
Leute (Verwandte); es war eine Einladung; ein Tisch war gedeckt;
der Onkel war verschwunden. Ich half die Leute unterhalten und
fing eben an, etwas zu erzählen, als mich meine Mutter unterbrach
und mir mit barschem Tone zu schweigen befahl („Du brauchst
nicht immer drein zu reden"). Schwer geärgert und gekränkt (ich
sei doch kein Kind mehr) schwieg ich mit dem festen Willen, kein
Wort mehr zu sagen, um meine Mutter selbst ihre Leute unterhalten
zu lassen. Die Einladung war auf einmal weg; anderer Besuch war
gekommen, wobei ich mit einer Cousine sprach, aber dabei oft
weinte, mein Schmollen über den Befehl zu schweigen noch fort-
setzend (Fortdauer des Affectes). Meine Mutter erzählte eine Ge-
schichte (die mir in Wirklichkeit kürzlich geschrieben wurde).
Plötzlich befinde ich mich in einem fremden Stadttheil und suche
ein Fräulein, welches in einem bestimmten Haus wohnte. Ich nahm
mir vor, diesmal jedes Zimmer der Reihe nach in der betreffenden
Wohnung durchzusuchen, weil ich sie das letzte Mal nicht gefunden.
Das that ich auch, kam durch verschiedene Zimmer, in welchen
fremde Leute wohnten, die im Bett lagen oder eben aufstanden
oder sich versteckten; endlich fand ich sie! Aber es war eine
andere Dame, Frau C, die gerade mit einem Knaben französisch
sprach und mich gleich in's Gespräch zog. Dabei machte ich so-
gleich einen Sprachfehler, worüber ich mich recht ärgerte. Dann
war auf einmal aus Frau C. meine Freundin geworden, mit der ich
fortging, denn sie wollte mir eine hübsche Aussicht zeigen. Wir
kamen auf eine Brücke, über einen breiten Fluss; an einem Ufer
sahen wir viele gedeckte Armkörbe mit Balken halb im Wasser
gehalten, und ich sagte zu meiner Freundin, da seien wohl Fische
darin zum Aufbewahren, worauf sie antwortete: ja, da seien un-
Traumbeüpiele. \ WNIVER3ITY ) „
bezähmbare Fische darin (über diesen Unsinn wunderte ich mich
gar nicht). Es war noch ganz tageshell. Da kehrten wir um und
kamen an ein grosses Haus mit vielen beleuchteten Fenstern par-
terre; es war, ohne dass ich dessen bewusst wurde, plötzlich unter-
dessen Nacht geworden (gleicher Mechanismus, wie derjenige, wo-
durch eine Suggestion durch Autosuggestion ergänzt wird; die
Wahrnehmung der Lichter rief diejenige der Nacht unbewusst auf
associativem Wege hervor). Aus dem Kamin des Hauses kam ein
röthlicher Rauch und ich sagte meiner Freundin, es müsse da
brennen. Wir schauten zu den Fenstern hinein und sahen, wie
viele Männer (Arbeiter) sich zum Davonlaufen bereit machten, und
nur noch auf den Bericht warteten, ob Feuergefahr da sei und ob
sie fort müssten. Aber mit einem Schlag war alles stockfinster;
das Feuer war plötzlich gelöscht worden, wir hatten absolut nicht
gemerkt wie; wir wussten aber, es sei gelöscht und es kam uns
selbstverständlich vor. Ich sah nichts mehr auf dem Weg und bat
meine Freundin, mich zu führen. Darauf hin zündete sie mit einem
Zündhölzchen eine Kerze an, und wir befanden uns in einem Zimmer.
Eine unbekannte alte Dame kam ins Zimmer und frug uns etwas,
worauf ich erwachte.
(Dieser Traum zeigt recht deutlich, aus was für einem bunten
Gemisch von assoeiirten und dissoeiirten Trugwahrnehmungen aller
Sinne, Handlungstrugwahrnehmungen, Gefühlen, Abstractionen etc.
die Bewusstseinsspiegelung der Grosshirnthätigkeit im Schlaf besteht ;
daraus entsteht auch die beständige Täuschung des Ort- und Zeit-
bewusstseins.)
3. Am 25. Oktober 1891 träumte ich Folgendes: Ein unbe-
kannter junger Mann ist ohne Grund plötzlich vom Regierungsrath
zum Director der Irrenanstalt Burghölzli ohne mein Wissen er-
nannt worden, doch nicht zum Professor der Psychiatrie (in Wirk-
lichkeit bin ich seit 1879 Director der Anstalt). Ich sehe den
jungen Mann; die Sache wird mir im Hause gesagt. Die unsinnige
Unmöglichkeit dieser Thatsache kommt mir absolut nicht, ihre Trag-
weite für mich nur stufenweise „zum Bewusstsein". Der Gedanke,
dass ich trotzdem hier bleibe, dass der neue Director der Anstalt
direct neben mir wohne, kommt mir durchaus nicht undenkbar vor.
Erst allmälig denke ich, dass ich vielleicht zurücktreten sollte,
und dieser Gedanke wird erst discutirt! Auf einmal dämmert mir
auf: es müsse irgendwo stehen, dass der Director zugleich Professor
ist. — Doch Überlege ich, dass der Regierungsrath jeden Augen-
62 Traumbeispiele (Diasociation ; Aehnlichkeit mit d. progr. Paralyse).
blick ein Reglement, das er erlassen hat, durch einen späteren Be-
schluss aufheben kann. (In Wirklichkeit aber ist die Sache gesetz-
lich geregelt und kann nicht per Reglement geändert werden, was
ich im Wachzustand ganz gut weiss.) Also es hilft nichts. Dann
aber triumphire ich doch ; die Sache steht im Gesetz, das wird mir
plötzlich bewusst! — Somit nehme ich einen Anwalt und verklage
den Regierungsrath wegen Gesetzesverletzung!!!
Dieser Traum ist wegen der Art der Dissociation interessant.
Die an und für sich richtige Logik des letzten Raisonnements ist
ganz die Logik eines an progressiver Paralyse leidenden Geistes-
kranken, der in einem Punkte folgerichtig raisonnirt, dabei aber die
Hauptsache, nämlich die Absurdität, die Undenkbarkeit der ganzen
Situation übersieht. Der Affect ist intensiv. Ich hatte keinen
Augenblick den Gedanken, es könne ein Traum sein. Mit Ent-
rüstung fühlte ich die Gemeinheit und Ungerechtigkeit des Vor-
gehens gegen mich und sann auf Genugthuung. Am andern Tag
soll (im Traum) Sitzung der Aufsichtsbehörde sein. Ich überlege
plötzlich, dass nicht mehr ich, sondern der neue Director daran
Theil zu nehmen hat und fühle die darin liegende tiefe Demüthigung.
Ich sehe einen Herrn Regierungsrath kühl und gleichgültig an mir
vorbeigehen, aber keinen Augenblick denke ich an die Absurdität,
abgesetzt ohne rechtzeitig davon verständigt worden zu sein, an
die weitere Absurdität, dass dieser neue Director bereits im Hause
sei, ohne dass ich davon etwas erfahren hätte, an die lächerliche
Idee der Absetzung in der einen Eigenschaft und nicht in der
andern. Ich denke sogar, ganz einfältig, ich werde mich nun wie
ein Assistent den Anordnungen dieses neuen Jünglings zu fügen
haben u. s. w. Erst ganz allmälig dämmert es mir auf, dass ich
absolut nichts Anderes zu thun habe, als sofort mit Sack und Pack
abzuziehen, dass der Regierungsrath mich offenbar fort haben will,
und dass ich ihn höchstens nachträglich zu meiner Genugthuung
verklagen könnte. Darauf erwache ich und dann erst wird mir
der ganze Unsinn sofort klar.
Hier ist die Analogie der Art des dissociirten Denkens im
Traum und in der progressiven Paralyse wirklich frappant. —
4. Alte Erinnerungsbilder: Man träumt nicht selten von
ganz alten Wahrnehmungen. Ich träume jetzt noch von meinen
vor mehr als fünfundzwanzig Jahren verstorbenen Grosseltern. Ihre
Stimme und ihr Bild sind etwas verschwommen, doch noch recht
natürlich.
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Traumbeispiele. Verschiedene Erscheinungen des Traumes. 63
5. Wirkung der Träume auf den Wachzustand: Ich
träume, ich sei mit Fräulein X. verlobt. Während der Hochzeits-
feier erinnere ich mich plötzlich an meine Kinder, worauf das Bild
meiner vorhandenen Ehe sich aufdrängt und peinliche Verwirrung
hervorbringt. Ich fühle mich der Bigamie schuldig. Grosse Angst
und Aufregung. Erwachen. Gedrückte Stimmung Tags darauf,
die sich immer auf den einfältigen Traum zurückführen lässt.
6. Frau X. träumt, ihr Bruder sei gestorben. Darüber ist sie
trostlos. Noch den ganzen Tag fühlt sie sich gemüthlich gedrückt,
hat immer ein nebelhaftes Gefühl, als ob irgend etwas Trauriges
vorgefallen wäre. Jedesmal, als sie sich darüber besinnt, kommt
sie wieder auf den Traum, als Ursache *).
7. Erinnerungsfälschung: Frau Z. lässt jede Nacht den
Wecker zu einer bestimmten Stunde laufen, um ihr Kind auf den
Topf zu setzen. Im Schlaf hört sie den Wecker ablaufen, träumt
aber dabei: „du hast ja das Kind schon gesetzt", dreht sich um
und schläft weiter. Am anderen Morgen ist das Kind nass. Frau Z.
erinnert sich nun ihres Traumraisonnements und nun auch daran,
dass es Täuschung war.
8. Handlungen als Folge von Träumen: Eine Frau
träumt, ihr kleines Kind, das eben laufen gelernt, wolle fallen. Mit
beiden Händen greift sie krampfhaft nach ihm, erwacht und hält
krampfhaft die Bettdecke in den Händen (ergreift ein anderes Mal
beim gleichen Traum die Hand ihres Mannes).
9. Allegorisirung von Empfindungen: Ein offener
Fensterflügel schlägt hin und her, durch den Wind bewegt. Jemand,
der daneben schläft, träumt, dass eine Wäscherin Wäsche heftig
schlägt. Ein anderer Träumender, der Zahnweh (einen Zahnabscess)
hat, träumt immerwährend, seine Zähne fallen aus den Alveolen
heraus und er spuckt sie aus.
Am hervorragendsten ist jedenfalls die Dissociation im Traum-
leben. Wie Geruchs- oder viscerale Empfindungen, fast ohne asso-
*) Frl. St. träumt, dass der Vater gestorben und begraben sei. Den
ganzen Morgen bereits traurig, erinnert sich Frl. St. am Nachmittag des
Traumes. Sie wird unruhig. Sie bekommt „schreckliches" Heimweh, was sie
sonst noch nie gehabt hatte. Es gesellen sich Kopfschmerzen hinzu. Nach einer
Amnesie und heitere Stimmung gebietenden Suggestion gibt Patientin heiter
an, am Nachmittage wegen eines Traumes, dessen Inhalt sie aber vergessen
habe, traurig und voll Sehnsucht gewesen zu sein. Eine 2. Suggestion ruft
vollständige Amnesie hervor. (0. Vogt)
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64 Leichter Schlaf. Zeitmessung im Schlaf. Association des Erwachens.
ciirt zu sein, sich zeitlich in unserem Bewusstseinspiegel (im Wach-
zustand) folgen und einander verdrängen, so sehen wir fast alle
Traumbilder, auch Gesichtsbilder, unvermittelt oder nur halbver-
mittelt und sinnlos einander ablösen. Meine Schwester kann sich
im Traum in einen Mann, dann in einen Tisch verwandeln und
dergl. mehr.
Durch den sogen, leichten Schlaf (Lie'beault), bei welchem
die Gehirnthätigkeit dem Wachzustand viel ähnlicher ist, und hin-
sichtlich dessen man nur partiell oder gar nicht amnestisch ist, wird
ein Uebergang zwischen Schlaf und Wachzustand gebildet. Die
Zeit erscheint jedoch dem Bewusstsein abgekürzt. Viele leicht
Schlafende behaupten, sie schlafen nicht, sie schlummern nur. Sie
wissen mehr oder weniger nach dem Erwachen noch alles, was in
ihrer Nähe passirt ist. Sie können zwar daneben träumen, sogar
lebhaft träumen. Es gibt auch da viele individuelle Verschieden-
heiten. Einzelne können nach Belieben aus dem leichten Schlaf
erwachen und sich bewegen; Andere sind über ihre Bewegungen
nicht Herr. Der leichte spontane Schlaf entspricht in der That
(Lie'beault) mehr oder weniger dem leichteren Grad der Hypnose
(Hypotaxie), bei welchem der Hypnotisirte, obwohl beeinflusst, das
subjective Gefühl hat, nicht geschlafen zu haben.
Es ist, wie wir sagten, bekannt, dass viele Menschen während
ihres normalen Schlafes die Zeit genau abmessen und zu derjenigen
beliebigen Stunde erwachen können, zu welcher sie sich es Abends
vornehmen. Bei den Einen ist ein solcher Entschluss von leichterem,
unruhigerem Schlaf gefolgt; Andere dagegen schlafen dabei so gut
wie sonst, und erwachen dennoch pünktlich. Durch Suggestion
können wir das gleiche Phänomen nicht nur in der Hypnose, sondern
auch in den normalen Schlaf hinein erzeugen, da wo es fehlte. Ich
kann einem gut suggestiblen Menschen die Suggestion geben, dass
er zu dieser oder jener Stunde in der Nacht erwachen wird, und
es geschieht pünktlich.
Es ist mir aber auch gelungen, durch Suggestion diejenigen
Associationen, die einen normal Schlafenden wecken, und die-
jenigen, die er umgekehrt überhören soll, zu fixiren, so dass
er z. B. bei einem grossen Lärm ruhig weiter schläft, während
das leiseste Geräusch einer anderen Sorte ihn weckt (siehe oben
spontane Analoga ohne Suggestion). Dieses war mir in der Irren-
anstalt für das Wartpersonal bei den unruhigen und selbst gefähr-
lichen Kranken sehr nützlich. Ich hypnotisire z. B. einen Wärter
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Suggestive Beeinflussung des normalen Schlafes bei Wärtern.
65
und erkläre ihm, dass er den grössten Lärm nicht hört und davon
nicht erwacht. Ich klatsche mit den Händen vor seinen Ohren,
pfeife laut in seine Ohren; er erwacht nicht. Dann sage ich ihm,
dass er auf dreimaliges leises Knistern meines Nagels (so leise, dass
kein Anwesender es sonst hört) sofort erwachen wird. Er erwacht
sofort darauf, erinnert sich des Knisterns, hat aber vom Klatschen
und Pfeifen „nichts gehört". Dann erkläre ich ihm, dass er Nachts
vom grössten Lärmen und Klopfen der tobenden Geisteskranken
absolut nichts hören und ruhig weiter schlafen wird, dagegen sofort
wach wird, sobald ein Kranker etwas Ungewohntes oder Gefähr-
liches thut.
Zehn Jahre lang führte ich diese Methode consequent bei allen
Wartpersonen der unruhigen Abtheilungen durch, die es wollten (es
waren fast alle), und seither sind die nervösen Erschöpfungen, Schlaf-
losigkeiten etc. aus jenem Personal so gut wie verschwunden, während
die Ueberwachung der Kranken an Sicherheit zugenommen hat.
In gleicher Weise liess ich im Bett neben selbstmordgefähr-
lichen Melancholikern eine Wartperson schlafen, die ich vorher auf
die Sicherheit ihrer suggestiven Reaction im Schlaf geprüft hatte
und gab ihr die Suggestion, vortrefflich zu schlafen, kein Stöhnen
und Lärmen zu hören, aber beim gelindesten Versuch des Kranken,
aus dem Bett zu gehen oder sich etwas anzuthun, sofort zu erwachen,
resp. nach Wiederversetzung des Kranken in's Bett sofort wieder
einzuschlafen. Dieses geschieht auch mit solcher Pünktlichkeit,
dass mehrmals in solcher Weise überwachte Kranke in Folge dessen
ihre Wärterin für verhext hielten. Wärterinnen, die bis sechs
Monate lang ununterbrochen diesen Dienst verrichteten und dabei
den ganzen Tag fest arbeiteten, blieben ganz frisch und munter,
wohl aussehend und zeigten keine Spur von Müdigkeit. Freilich
gehören dazu sehr suggestible Leute; doch hatte ich stets mehrere
Wärterinnen und Wärter, die zu solchen Diensten geeignet waren.
Mein Nachfolger Prof. Bleuler und Herr Prof. Dr. Mahaim
in Cery- Lausanne haben diese Erfahrung bestätigt gefunden.
Folgender Fall illustrirt sehr schön die Sicherheit dieser Ueber-
wachungsmethode.
Frau M. S. wurde am 25. August 1892, an hochgradiger, total
verwirrter Manie leidend, als Patientin in die Anstalt Burghölzli
aufgenommen. Sie hatte 14 Kinder gehabt, wovon 11 noch am Leben,
stets sehr leichte Sturzgeburten, die nie länger als eine Viertel-
stunde dauerten. Die Manie wurde chronisch und Frau S. so brutal
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 5
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t>Ö Beispiel auggerirter Hyperapperception im normalen Schlaf.
und gewaltthätig, dass sie Nachts nur in der Zelle schlafen konnte.
Dabei blieb sie so total verwirrt, dass sie absolut Niemanden kannte.
Erst im Januar 1893 merkte man, dass sie schwanger war. Diese
Gravidität machte mir Sorgen. Einerseits liess die Brutalität der
Kranken keine Möglichkeit zu, eine Wärterin des Nachts zu ihr
zu thun, andererseits musste ich eine unbemerkte nächtliche Geburt
mit Tod des Kindes befürchten. Der Zeitpunkt der Geburt war
natürlich ganz unsicher. Am 13. März ersann ich nun folgende
Einrichtung: Ich legte die Kranke in ein Zimmer mit vergittertem
Fenster allein zu Bett. Die beste Somnambule unter den Wärte-
rinnen wurde in ein Bett, im Gang vor der Thür der Kranken, ge-
legt und erhielt von mir folgende Suggestion : Sie werden jede Nacht
ausgezeichnet schlafen, sehr fest und gut und den gewöhnlichen
Lärm der Frau S. gar nicht hören. Sobald jedoch bei derselben
Nachts die Geburt beginnt, werden Sie es durch die Thüre hindurch
merken und werden sofort wach. An was Sie es merken werden,
weiss ich nicht; vielleicht wird die Kranke etwas ruhiger (was sie
aber sonst dazwischen auch ist) oder sie wird etwas winseln; kurz
ich weiss es nicht, aber merken werden Sie's. Sie werden dann
sofort aufstehen, bei der Kranken nachsehen, zur Oberwärterin eilen
und dann den Arzt sofort rufen lassen. Diese Suggestion gab ich
nur ein oder zwei Mal bestimmt und von da an schlief die Wärterin
im Gang vor der Thüre der Frau S. Letztere blieb kolossal auf-
geregt, unrein und verwirrt, alles demolirend und zerreissend.
Der Secundararzt Dr. Mercier schüttelte den Kopf über meine
Vorkehrung; die Wärterin schlief ausgezeichnet und wurde nie
wach. Am 6. Mai Abends 8 Uhr untersuchte der Secundararzt die
Kranke, fand keine Anzeichen von Beginn der Geburt und sagte
zur Wärterin, es könne noch eine Zeit lang gehen. Um 9 Uhr
spätestens war alles zu Bett gegangen und schlief mit Ausnahme
der immer lärmenden Frau S. Nachts 11 Uhr wurde die Wärterin
plötzlich wach (sie war in den vorhergegangenen Tagen und Wochen
nie erwacht und war nie bei der Oberwärterin gewesen), ging in's
Zimmer, sah zwar nicht viel an Frau S., lief aber sofort zur Ober-
wärterin, sagte ihr, „es gehe jetzt gewiss los", worauf Beide sich
wieder zu Frau S. begaben. Die Oberwärterin glaubte nicht recht an
den Beginn der Geburt, weil sie nichts Besonderes sah und weil die
Kranke herumging. Abgelaufenes Fruchtwasser wurde für Unrein-
lichkeit mit Urin gehalten; doch wurde der Arzt sogleich geholt,
der gerade noch rechtzeitig ankam, um den Kopf des Kindes in
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Suggerirte Hyperapperception. Spontaner Somnambulismus u. Hypnoee. 67
Empfang zu nehmen. Als ich kam, konnte ich noch die Nach-
geburt holen, wobei ich von Seiten der Kranken mit Flüchen,
Faustschlägen und Fusstritten traktirt wurde; 4 oder 5 Personen
mussten sie im Bett halten. Die Wärterin gab an, sie sei plötz-
lich erwacht, ohne zu wissen warum; Frau S. sei dann vielleicht
eher etwas ruhiger gewesen als sonst, jammernd wie schon oft.
Uebereinstimmend sagten sie und die Oberwärterin aus, das
Schimpfen, Schreien, Weinen und Fluchen der Kranken habe sich
von ihrem gewöhnlichen Lärmen kaum unterschieden. Doch muss
irgend eine ungewöhnliche Gehörswahrnehmung der Somnambule
sie geweckt und an die Suggestion erinnert haben. Das Kind war
gesund. Frau S. blieb tobend und verwirrt bis im Sommer 1894,
wo sie allmälig ruhig, ziemlich klar und später gesund wurde. Zwei
Jahre waren aus ihrem Gedächtniss verschwunden. Von Empfängniss,
Schwangerschaft, Geburt und Kind hatte sie keine blasse Ahnung
und hielt zunächst unsere bezüglichen Erzählungen für Schwindel,
um so mehr, da das Kind seither am Keuchhusten gestorben war.
Dieser in vielen Beziehungen interessante Fall beweist, mit
welcher Sicherheit gute Somnambulen, selbst im Schlaf und nach
langer Zeit, auf Suggestion reagiren. Man wird mir auch zugeben
müssen, dass ich ein solches Experiment nicht riskirt haben würde,
ohne meiner Sache sicher zu sein. Zeugen genug sind da, um
den Sachverhalt zu bestätigen. Herr Dr. Walther Inhelder hat
in seiner Arbeit über die Bedeutung der Hypnose für die Nacht-
wachen des Wartpersonals (Zeitschr. f. Hypnotismus 1893, S. 201)
meine diesbezüglichen Erfahrungen in der Heilanstalt Burghölzli
gesammelt.
Es scheinen mir diese Fälle die (unterbewussten) associativen
Verbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen der Traumthätig-
keit und der Wachthätigkeit des Gehirnes klarer als irgend etwas
darzuthun.
Ich verweise übrigens auf 0. Vogt's Anschauungen weiter
unten (§ 16) und besonders auf seine Arbeit: „Spontane Somnam-
bulie in der Hypnose" (Zeitschr. f. Hypnotismus 1897). Gegenüber
Löwenfeld zeigt er an Hand schöner Beispiele, wie ein spontan
im Schlaf entstandener Somnambulismus in ruhige Hypnose über-
führt werden kann, aus der dann normales Erwachen oder normaler
Schlaf abgeleitet werden können. Er beweist in klarster Weise,
wie der Mechanismus des normalen Schlafes und der Hypnose der
gleiche ist, und wie nur eine quantitative und keine qualitative Ver-
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68
Häufigkeit der Amnesie. Grade der Hypnose.
schiedenheit zwischen beiden besieht. Ich habe diese Ansicht
Liebeault's stets getheilt, aber 0. Vogt hat sie am genauesten
begründet. Wie die Hypnose, ist der normale Schlaf ein Zustand
erhöhter Suggestibilität, d. h. ein dissociirter Zustand.
Dies bringt uns zur Besprechung der Amnesie als eine der
allerwich tigsten, ja, als forensisch die praktisch wichtigste Erschei-
nung des Schlafes und der Hypnose. In der Regel ist der normal
tief Schlafende zugleich auch in der Hypnose ein tiefer Schläfer,
und dieser ist nun meist dem Einfluss des Hypnotiseurs stärker
unterworfen. Man kann bei ihm Erinnerung und Amnesie nach
Belieben über diese und jene Zeit seines Lebens oder mindestens
seines Schlafes hervorrufen. Bei mehr als der Hälfte der Patienten
seiner Spitalabtheilung erzeugt Bernheim tiefen Schlaf. Um die
enorme Verbreitung der tiefen Hypnotisirbarkeit unter normalen
Menschen zu zeigen, will ich nur anführen, dass ich früher von
26 Wärterinnen der Anstalt Burghölzli bei 23, und zwar bei allen
mit Erfolg die Hypnose zu erzeugen versucht habe. Darunter er-
zielte ich bei einer nur Somnolenz, bei 3 leichten Schlaf ohne
Amnesie, bei 19 tiefen Schlaf mit Amnesie, posthypnotische Er-
scheinungen und Suggestivzustand beim Wachsein. Bei 2 davon
wurden Katalepsie und Anästhesie das erste Mal sofort im Wach-
zustand durch Affirmation erzielt; beide waren nie vorher bypnotisirt
gewesen. Herr Dr. 0. Vogt hat jedoch alles Bisherige übertreffen
(s. oben).
§ 3. Grade der Hypnose. Die berühmten Charcot'schen
Phasen: Lethargie, Katalepsie und Somnambulismus beruhen auf
präparirten Hypnosen hysterischer Personen. Bernheim hat eine
Eintheilung in viele Grade versucht. Jedoch gibt es keine Grenze.
Ich finde, dass es genügt, wenn man drei Grade der Suggestibilität
annimmt, welche übrigens auch Uebergänge zeigen: 1. Somnolenz.
Der nur leicht Beeinflusste kann noch mit Anwendung seiner
Energie der Suggestion widerstehen und die Augen öffnen.
2. Leichter Schlaf oder Hypotaxie oder Charme. Der Be-
einflusste kann die Augen nicht mehr aufmachen, muss überhaupt
einem Theil der Suggestionen bis allen Suggestionen gehorchen,
mit Ausnahme der Amnesie. Er wird nicht amnestisch. 3. Tiefer
Schlaf oder Somnambulismus. Durch Amnesie nach dem Er-
wachen und posthypnotische Erscheinungen charakterisirt. Der
Ausdruck Somnambulismus ist nach meiner Ansicht nicht glücklich,
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Grade der Hypnose. Dressur.
69
weil er zu Verwechslungen mit dem spontanen Somnambulismus
Anlass gibt. Letzterer ist ein, wenn auch oft nur leichter, so
doch zweifelloser pathologischer Zustand, der sehr häufig mit
Hysterie verbunden zu sein scheint und nicht einfacher Hypnotis-
mus ist. — Posthypnotische Erscheinungen können nach meiner
Erfahrung nicht selten auch nach dem leichten Schlaf eintreten.
Die Suggestibilität kann unter Umständen bei sehr tiefem Schlaf
sehr gering oder sogar fast Null sein (sehr seltene Fälle). Man
kann aber das Schlafen bei offenen Augen, den Erfolg der Sug-
gestion im Wachzustand sowohl als die Amnesie, und umgekehrt
die Erinnerung durch Suggestion hervorrufen, so dass auch jene
drei Grade sehr mangelhaft definirt sind. Der Schlaf, die Amnesie
und die Resistenzfähigkeit werden hierbei nur als Prüfsteine der
Suggestibilität benutzt. Es kommt hauptsächlich darauf an, was
man anfänglich suggerirt.
Durch Uebung oder Dressur vermittelst Suggestion kann man
ferner Somnolenz in Hypotaxie und letztere durch Suggestion der
Amnesie in Somnambulismus, wenn auch nicht immer, überführen.
§ 4. Dressur. Man hat viel von der Dressur der Hypnotisirten
gesprochen. Sicher ist es, dass man durch häufiges Hypnotisiren
die Suggestibilität eines Menschen erhöhen, vor Allem bewirken
kann, dass er ohne verbalen Befehl Alles wieder thut, was man
ihn in den ersten Hypnosen hat thun lassen, scheinbar iustinctiv,
indem, wie Bernheim so wahr sagt, der Somnambule (in seiner
eingeengten Hirnthätigkeit) seine ganze Aufmerksamkeit darauf
concentrirt, die Absichten des Hypnotiseurs zu errathen. — Aber
man hat vielfach, besonders in Deutschland, die Rolle der Dressur
sehr überschätzt und die Höhe der individuellen Suggestibilität
der meisten normalen Menschen verkannt. Wo ist die Dressur,
wenn ich z. B. gestern eine ganz normale tüchtige Wärterin zum
ersten Mal hypnotisire. Ich schaue sie einige Secunden, Schlaf
suggerirend, an, lasse sie dann zwei Finger meiner linken Hand
(nach Bernheim's Verfahren) ansehen; nach 30 Secunden fallen
ihre Lider zu. Ich suggerire ihr Amnesie, Katalepsie der Arme,
lasse dieselben drehen und suggerire Anästhesie. Alles gelingt
sofort. Ich steche tief mit einer Nadel. Sie fühlt nichts. Ich gebe
ihr Aqua fontana als bittere Mixtur, die ihr bitter schmeckt, sug-
gerire ihr mit Erfolg Appetit und sage ihr, dass sie nach dem Er-
wachen einen unter dem Tisch stehenden Papierkorb aus eigenem
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Ueberschätzung der Bedeutung der Dressur. Angewöhnung.
Antrieb einer anwesenden Person auf den Schooss legen wird, und
dass sie Abends um 6 Uhr von selbst wieder zu mir kommen
wird. Ich wecke sie dann, indem ich sie bis vier zählen lasse.
Sie weiss von Allem absolut nichts mehr, blickt aber unaufhörlich
auf den Papierkorb, den sie beschämt und erröthend der betreffen-
den Person auf den Schooss legt. Sie ärgert sich über diese Hand-
lung, zu der sie aber unwiderstehlich getrieben wurde, ohne zu
verstehen, warum. — Um 6 Uhr ist sie allein auf der Abtheilung,
kann daher nicht fort, wird aber innerlich zu mir getrieben, sehr
aufgeregt und ängstlich darüber, dass sie dem Trieb nicht folgen
darf. Wer kann da von Dressur sprechen? Das junge Bauem-
mädchen war erst vor Kurzem hier als Wärterin eingetreten und
war zum ersten Mal hypnotisirt. — Und doch handelte sie fast
genau wie eine schon oft hypnotisirte Somnambule, aber viel un-
mittelbarer, daher überzeugender.
Am wichtigsten scheint mir die Thatsache, dass die Art der
hypnotischen Reaction eines Menschen sich vornehmlich nach der
Art der ersten Suggestionen richtet, die man ihm gibt. Sucht man
vor Allem Schlaf, so wird er ein Schläfer. Sucht man posthyp-
notische Erscheinungen zu erzielen, so wird er besonders solche
zeigen, wird im Wachzustand leicht hallucinatorisch reagiren etc.
Ebenso können die Anästhesie, die Amnesie etc. je nach dem
Streben des Hypnotiseurs in den Vordergrund treten. Wenn aber
Jemand gewohnt ist, in gewisser Weise zu reagiren, ist es stets
viel schwieriger, andere Symptome später bei ihm mit Erfolg zu
suggeriren.
Ueberhaupt tritt natürlich, wenn Jemand lange Zeit immer
wieder hypnotisirt wird, besonders wenn die gleichen Experimente
bei ihm immer wieder gemacht werden, wie bei allen Nerventhätig-
keiten die Erscheinung der Angewöhnung ein. Die barocksten
Suggestionen kommen ihm selbstverständlicher vor: alles wird
mechanischer, automatischer, wie für uns gewohnte Fertigkeiten,
Eindrücke etc. Das ist ein allgemeines Gesetz der Psychologie,
d. h. der Hirnarbeit.
Nach vieljähriger Erfahrung behaupte ich sogar bestimmt,
dass der unmittelbare Einfluss des Hypnotiseurs durch länger
dauernde, zunehmende Dressur schliesslich abnimmt. Der Hyp-
notisirte lernt seinen Hypnotiseur und dessen Schwächen kennen;
der Nimbus des Anfanges verliert sich allmälig; die Autosug-
gestionen und Gegensuggestionen nehmen zu. Während der sug-
Abnahme d. Einflusses durch lange Dressur. Erscheinungen d. Hypnose. 7 1
gerirte Theil der Gehirnthätigkeit automatischer, mechanisch ge-
wandter wird, sammelt sich der Rest immer mehr zu einer immer
bewussteren Reaction, zu einem nichtsuggerirten zweiten Ich, so
dass im Allgemeinen der Glaube an die Suggestion und deren Ein-
fluss eher schwächer werden. Desshalb behält man mehr Einfluss,
wenn man seltener und nicht mechanisch, nicht immer gleich, byp-
notisirt. Am klarsten und am meisten beweisend sind daher die
Experimente an Ersthypnotisirten.
§ 5. Erscheinungen der Hypnose. Man kann sagen, dass
man durch Suggestion in der Hypnose sämmtliche be-
kannte subjective Erscheinungen der menschlichen Seele
und einen grossen Theil der objectiv bekannten Func-
tionen des Nervensystems produciren, beeinflussen, ver-
hindern (hemmen, modificiren, lähmen oder reizen) kann.
— Einzig und allein scheinen die rein gangliösen Functionen und die
spinalen Reflexe, sowie die äquivalenten Reflexe der Hirnbasis durch
die Suggestion nicht oder nur sehr selten und unwesentlich beein-
flussbar zu sein. Ja mehr! Die Suggestion kann gewisse sogen,
somatische Functionen wie die Menstruation, die Pollutionen, die
Schweisssecretion, die Verdauung, sogar die Bildung von Epidermis-
blasen derart beherrschen, dass dadurch die Abhängigkeit dieser
Functionen vom Dynamismus des Grosshirns am klarsten nachge-
wiesen wird. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Erfolge
alle bei jedem Hypnotisirten zu erzielen sind. Beim tiefen Schlaf
jedoch erzielt man mit Geduld den grössten Theil derselben.
Man erzielt diese Erscheinungen durch einfache Affirmation,
dass sie vorhanden sind, am besten unter Berührung des Körper-
theiles, wohin ihre Empfindung subjectiv verlegt wird, und unter
Schilderung (mit lauter, überzeugter Stimme) des Vorganges ihrer
Entstehung. Man fängt damit an, dass man den zu Hypnotisirenden
auf einen Lehnstuhl bequem setzt, ihn anschaut und ihm versichert,
dass seine Lider schwer wie Blei werden, dass sie sich schliessen
u. s. w., kurz, indem man ihm die Erscheinungen des Einschlafens
suggerirt. Aber jeder Fachmann hat seine KnüFe und Methoden,
mit welchen er am leichtesten die Hypnose erreicht. Es kommt
durchaus nicht besonders darauf an, ob man so oder so vorgeht.
Beispiele:
Motorische Erscheinungen. Ich sage, indem ich den
Arm hebe, derselbe sei steif und könne nicht bewegt werden. Der
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72
Motorische und sensible Erscheinungen der Hjpnose.
Arm bleibt in kataleptischer Starre (suggestive Katalepsie); das
Gleiche gilt für jede erdenkliche Muskelstellung eines Körpertbeiles.
Ich sage: der Arm ist gelähmt und fällt wie eine Bleimasse. Es
erfolgt sofort und der Hypnotisirte kann ihn nicht mehr bewegen.
— Umgekehrt erkläre ich, dass beide Hände wie automatisch um
einander sich drehen und dass jede Anstrengung des Hypnotisirten t
still zu bleiben, die Drehbewegung steigert. Die Hände drehen
nun immer schneller; jeder Versuch, still zu bleiben, misslingt.
Ich erkläre dem Hypnotisirten, er könne sprechen und mir ant-
worten. Auf gleiche Welse kann er gehen, handeln, commandiren,
Krämpfe bekommen, lallen u. s. w. Ich sage ihm, er sei betrunken
und schwanke; sofort geht er wie ein Betrunkener.
Sensible Erscheinungen. Ich sage: „Ein Floh sitzt auf
Ihrer rechten Backe; es juckt." Sofort erfolgt eine Grimasse,
und der Hypnotisirte kratzt sich an der bezeichneten Stelle. —
„Sie empfinden eine angenehme Wärme in den Beinen und Armen."
Sofort bejaht er es. — „Sie sehen vor sich einen bösen Hund; er
bellt Sie an." Mit Angst zuckt der Hypnotisirte zurück und jagt
den vermeintlichen Hund, den er sofort sieht und hört. — Ich gebe
ihm Luft in die Hand mit der Versicherung, es sei ein duftendes
Veilchenbouquet. Mit Wonne aspirirt er den nicht vorhandenen
Veilchenduft. — Aus einem und demselben Glas Wasser kann ich
den Hypnotisirten in wenigen sich folgenden Secunden und Schlucken
bitteres Chinin, Salzwasser, Himbeersaft und Chokolade trinken
lassen; es braucht auch dazu weder Wasser noch Glas; die Be-
hauptung, er habe ein Glas des betreffenden Getränkes in der Hand T
genügt. — Schmerz kann leicht suggerirt, vor Allem aber, wenn
vorher vorhanden, wegsuggerirt werden. Kopfschmerzen kann
man z. B. meistens mit Leichtigkeit in wenigen Secunden, höch-
stens Minuten zum Schwinden bringen.
Aber auch Anästhesie, Anosmie, Blindheit, Farbenblindheit,.
Doppelsehen, Taubheit, Unempfindlichkeit für den Geschmack können
leicht suggerirt werden. Ich habe Zähne in der Hypnose ausziehen
lassen, Abscesse eröffnet, ein Hühnerauge exstirpirt, tiefe Stiche
gemacht, ohne dass die Hypnotisirten irgend etwas gespürt hätten.
Es genügte dazu die Versicherung, der betreffende Körpertheil sei
todt, unempfindlich. Chirurgische Operationen, Geburten sind sogar,
wenn auch seltener, in der Hypnose möglich, welche dann mit
Vortheil und ohne jede Gefahr die Chloroformnarkose ersetzt. Ge-
burten, die in der Hypnose ganz schmerzlos verliefen, sind u. A.
Suggerirte Anästhesie. Negative Hallucination.
73
von Dr. von Schrenck und von Delboeuf beschrieben worden.
Wenn es gelingt, die Anästhesie ordentlich zu suggeriren, sind
schmerzlose chirurgische Operationen, wenn sie nicht gar zu lang
dauern, an sich in der Hypnose stets möglich. Aber die Angst
vor der Operation, besondere wenn der Kranke die grossen Vor-
bereitungen sieht, pflegt die Suggestibilität zu zerstören. Darin
liegt die grösste praktische Schwierigkeit
Negative Hallucination nennt Bernheim mit Recht die
wunderbare Trugwahrnehinung des Verschwindens eines im Bereich
der Sinne vorhandenen Objectes. Einem Hypnotisirten , der mit
offenen Augen schläft, sage ich, dass ich verschwinde, und er sieht
mich, hört mich und fühlt mich nicht mehr. Auf Suggestion hin
kann er mich auch hören und fühlen, ohne mich zu sehen u. s. w.
Die negative Hallucination ist ein sehr lehrreicher Vorgang,
der sowohl auf das Wesen des Hypnotismus als auf das Wesen der
Hallucination überhaupt viel Licht wirft. Die besten Studien darüber
verdanken wir Bernheim. Es ist zunächst auffällig, wie der Hyp-
notisirte dabei sehr oft den Anschein eines Betrügers hat, indem er
um das angeblich Verschwundene herumgeht, dasselbe vermeidet etc.
Bei genauerer Beobachtung kann man hier die Erscheinung des
doppelten Bewusstseins am schönsten beobachten : das Oberbewusst-
sein sieht nicht; das Unterbewusstsein sieht und geht herum 2 ). In
') Einem sehr suggestiblen Patienten gab 0. Vogt die Suggestion im
Wachen, dass seine heftigen Zahnschmerzen sofort aufhören würden, dass er
am Nachmittage zum Zahnarzt gehen und sich den betreffenden Molarzahn
ausziehen lassen solle: er würde nichts verspüren. Die Wachsuggestion ver-
wirklichte sich vollständig.
*) «Ist man durch hypnotische Experimente geübt, so kann man die
Thätigkeit des Unterbewusstseins auch bei Geisteskranken sehr oft beobachten.
Eine Hysterica hält mich für ihren Bruder, lässt sich dies auch nicht ab-
streiten. Während dessen veranlasst das Fixiren meiner Person doch einmal
eine Ideenkette, die ich nur in meiner Eigenschaft als Arzt anregen konnte.
Eine andere Hysterica sieht in ihrer Erregung immer eine bestimmte Person,
die sie stark hasst. Sie geht auf die vermeintliche Person los, macht aber
jedesmal vor ihr Halt und wird nie gegen die hallucinirte Person handgreif-
lich, während sie es sonst gegen Jedermann wird.* (0. Vogt.)
Jeder Irrenarzt kennt übrigens diese Erscheinung. Beim acut geistig
Erkrankten wechselt mehr die Einsicht mit der Krankheit ab; es ist im Be-
ginn eine Art Zweikampf zwischen der gesunden und der kranken Hirn-
thätigkeit: Nach längerer Dauer jedoch vertragen sich allmälig beide Reihen
immer besser auf Kosten der Logik, wobei die kranke Kette mehr oberbewusst
und die gesunde mehr unterbewußt arbeitet. So versieht ein vermeintlicher
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74 Negative Hallucination ersetzt durch positive und umgekehrt.
gewissen Fällen gibt es eine Association zwischen beiden Bewusst-
seinsketten (wie oben beim Traum angegeben), so im Fall, wo
Delboeuf einem Mädchen die Suggestion gegeben hatte, er sei
ein hübscher junger Mann, und wo das Mädchen dann angab, sie
habe zwar den jungen Mann gesehen, aber dahinter habe immer
der alte graue Kopf gelauert. Delboeuf verfällt nun in den
Fehler, diese Beobachtung zu generalisiren, ein Fehler, vor welchem,
nebenbei gesagt, bei den hypnotischen Erscheinungen nie genug
gewarnt werden kann. Es gibt umgekehrt Fälle, sei es bei höherer
individueller Suggestibilität, besonders aber bei der Hysterie, sei es
in Folge gehöriger Dressur (beide Factoren treffen meist zusam-
men), wo das corrigirende Unterbewusstsein ganz in den Hinter-
grund tritt, und wo der Hypnotisirte vollständig getäuscht wird.
Dies geschieht nur dann, wenn es gelingt, die negative Hallucina-
tion auf alle Sinne vollständig zu erstrecken, z. B. zu erwirken,
dass ein Gegenstand weder gesehen, noch gefühlt, noch gehört
(beim Klopfen oder Fallen), noch gerochen weiden kann. Ein
gewisses unterbewusstes Merken ist immerhin sehr schwer ganz
auszuschalten. Dagegen ist die Amnesie sehr leicht mit der ge-
nannten Erscheinung zu verbinden, und die Meisten bleiben nach-
her im Wachzustand fest überzeugt, dass sie absolut nichts ge-
spürt, nichts gesehen, nichts gehört haben.
Das Studium der negativen Hallucination führt bald zum Ei-
gebniss, dass nicht nur wie bei allen Suggestionen das nicht Sug-
gerirte von jedem Hypnotisirten nach seiner Art ergänzt wird (der
Eine hallucinirt den Stuhl hinter dem suggestiv Verschwundenen,
der darauf sitzt, der Andere dagegen einen Nebel etc.), sondern
dass überhaupt jede negative Hallucination des Gesichtes durch eine
positive und umgekehrt fast jede positive Hallucination durch eine
negative ergänzt wird. Man kann in der That keine Lücke im
Sehfeld sehen, ohne irgend etwas hineinzusetzen — wäre es nur
einen schwarzen Hintergrund — und man kann umgekehrt nichts
positiv halluciniren, ohne dass ein Theil des Gesichtsfeldes dadurch
verdeckt oder wenigstens (bei durchsichtigen Hallucinationen) nebel-
hafter wird. Auch bei vielen Gehörs- und Gefühlstäuschungen ge-
schieht das Gleiche. Wenn eine Stimme hallucinirt wird, wird oft
dafür der wirkliche Lärm nicht gehört. Wenn das Singen der
Herrgott oder König ganz dienstwillig Knechtarbeiten und isst ein vermeint-
lich Hungernder oder Sterbender mit königlichem Appetit.
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Neg. Hailuc. bei Psychosen. Refleci, vasomot., secretor. Wirkungen d. Sugg. 75
Amsel in ein Spottgedicht umgewandelt wird (Illusion), wird der
Amselgesang nicht mehr als solcher wahrgenommen. Wenn man
im Bett liegt und hallucinirt, man liege auf einem Nadelkissen, so
fühlt man die weiche Unterlage nicht mehr u. . s. f.
Diese Thatsachen führten mich zum Studium der negativen
Hallucination bei Geisteskranken, und ich war überrascht zu sehen,
dass dieses Phänomen in der That bei denselben häufig vorkommt.
Ich habe darüber 1889 zuerst im Verein schweizerischer Irrenärzte
und dann im Congres de l'Hypnotisme zu Paris (Compte rendu von
Berillon 1890, p. 122, Paris; Oct. Doin) referirt und auch bezüg-
liche Beispiele angeführt. Man hatte vorher kaum darauf geachtet,
weil die Kranken meist nur über das Positive im Phänomen be-
richten, wenn man sie nicht besonders fragt.
Es braucht kaum noch hinzugefügt zu werden, dass die Hallu-
cination ein rein cerebraler Vorgang ist, der sich um die Regeln
der Optik etc. ebenso wenig kümmert, als die Verbreitungsbezirke
der suggerirten Anästhesien sich um die Verbreitungsbezirke der
peripheren sensiblen Nerven kümmern. Es ist bekannt, dass ein
Amputirter seine entfernten Finger hallucinirt und dass ein Mensch
mit zerstörten Sehnerven noch viele Jahre nach deren Zerstörung
Gesichtshallucinationen haben kann. Ich habe in der Irrenanstalt
Burghölzli, Zürich, einen eclatanten Fall der letzten Art beobachtet,
einen Mann, dem 30 Jahre zuvor (März 1865) ein Auge durch
Indianer in Amerika weggeschossen wurde. Das andere Auge ging
bald darauf durch sympathische Entzündung zu Grunde. Der Mann
hatte, obwohl seit 28 Jahren (1867) absolut retinablind, die schönsten
Gesichtshallucinationen. Die letzte Hallucination des Gesichtes hatte
er am Ende des Jahres 1893. Er war im Uebrigen recht geordnet
und gab über seine Visionen die klarste Auskunft. Die Section
ergab später eine totale Atrophie beider Sehnerven.
Reflexe. Ich sage: „Sie gähnen." Der Hypnotisirte gähnt. —
„Es sticht Sie in der Nase und Sie müssen drei Mal nach einander
niesen." Der Hypnotisirte niest sofort drei Mal in natürlichster Weise.
Erbrechen, Schluchzen u. s. w. können auf gleiche Weise erzeugt
werden. Es handelt sich somit um sogen, psychische Reflexe, die
durch Vorstellungen gelöst werden.
Die vasomotorischen, secretorischen und exsuda-
torischen Wirkungen gehören zu den wunderbarsten Erschei-
nungen der Suggestion. Man kann die Menstruation der Frauen
durch einfache Prophezeiung in der Hypnose hervorrufen oder zum
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76
Exsudatorische Wirkungen.
Aufhören zwingen, ihre Dauer und Intensität reguliren, und zwar
habe ich bereits bei einigen Personen die Pünktlichkeit ihres Ge-
horsams bis auf die angesagte Minute mit Sicherheit erzielt, sowohl
für den Beginn als für das Ende. — Erröthen und Erblassen können
erzielt werden. Ebenso Röthung bestimmter Körpertheile oder Haut-
stellen, Nasenbluten, ja sogar blutende Stigmata. Das sind
allerdings sehr seltene Erfolge. Ferner kann ab und zu der Puls
etwas beschleunigt oder verlangsamt werden.
Die Schweisssecretion ist leicht durch Suggestion hervorzu-
rufen oder zu hemmen. Wichtiger ist die Beeinflussung des Stuhl-
ganges. Man kann sehr oft Diarrhoe oder Verstopfung erzeugen
und, was viel werthvoller ist, aufheben. Ich habe hartnäckige, jahre-
lang dauernde Verstopfungen mit wenig Suggestionen complet ge-
heilt (siehe weiter unten). Das Gleiche gilt von den Diarrhoen,
die nicht auf Entzündungen oder Gährungen beruhen. Aehnlich
verhält es sich wohl bei der Anregung des Appetites, der Ver-
dauung und bei der Beseitigung von Idiosynkrasien durch Suggestion.
Es wird mittelst der suggerirten Vorstellung die Secretion der
Magendrüsen zweifellos beeinflusst, resp. regulirt. Bei der Beein-
flussung der Menstruation werden einfach eine vasomotorische Läh-
mung oder ein vasomotorischer Krampf durch die Vorstellung er-
zeugt. Dadurch wird auch ad oculos denionstrirt, wie sehr die
Menstruation von der Ovulation unabhängig werden kann. Der
gleiche Vorgang findet bei der Hervorrufung oder Hemmung von
Erectionen durch Suggestion statt, wodurch auch die Pollutionen
beeinflusst werden können.
Es können bei gewissen sehr suggestiblen Menschen urticaria-
ähnliche Quaddeln durch einfache Berührung der Haut hervor-
gerufen werden, so dass man mit einem Bleistift ihren Namen auf
ihre Haut, mit graphischer Quaddel erzeugen kann (Dermographis-
mus). Diese Erscheinung pathologischer Reflexerregbarkeit halte ich
für verwandt nicht nur mit der Urticaria, sondern auch mit der
hysterischen Suggestibilität. v. Schrenck und Andere haben da-
gegen polemisirt und die Sache einfach als pathologische, urticaria-
ähnliche Erscheinung hingestellt. Eine pathologisch einseitig ge-
steigerte Suggestibilität ist jedoch, wie alle pathologischen Steige-
rungen oder Herabsetzungen der normalen Lebenserscheinungen eben
pathologisch. Man soll nicht Antithesen aufstellen, wo keine sind,
v. Schrenck stellt die suggestive Vesication in Zweifel. Dagegen hat
AVetterstrand (Der Hypnotismus, Wien und Leipzig 1891, S. 31)
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Beeinflussung der Gefühle, Triebe, Affecte und Gedanken.
77
zwei Brandblasen durch Suggestion im Somnambulismus erzeugt,
die eine auf der Mitte der Hand am 7. October 1890, die andere
auf der Dauraenseite (14. October), und am 15. October photo-
graphirt. Beide Brandblasen entstanden 8 Stunden nach erhaltener
Suggestion und das Object wurde die ganze Zeit genau controlirt
und überwacht (es war ein 19jähriger Epileptiker, dessen Anfälle
vom 15. Juli 1889 bis zum Tag der Zuschrift Wetterstrand's
(14. December 1890) ausgeblieben waren. Ich bin im Besitz der
sehr schönen Originalphotographie, die mir Herr College Wetter-
strand geschickt hat. Während jedoch solche Fälle jedenfalls recht
selten sind (ich sah noch einen solchen Fall bei Dr. Marcel
Briand in Paris, wo bei einer Hysterica, unter einem Stück Zei-
tungspapier durch Suggestion Vesicatorblasen entstanden), sind die
Blutungen der Schleimhäute sehr leicht suggestiv zu erzeugen.
Gefühle, Triebe, Gemüthsaffecte. Appetit, Durst, Sexual-
trieb sind leicht durch Affirmation zu suggeriren oder zu hemmen.
Man kann durch Berührung des Magens, eventuell durch Essen-
lassen suggerirter Speisen die Wirkung der Suggestion verstärken etc.
Angst, Freude, Hass, Zorn, Eifersucht, Liebe zu Jemanden oder
zu etwas u. s. w. sind mit Leichtigkeit durch Suggestion, wenigstens
für den Augenblick, zu erzeugen; ebenso Lachen und Weinen.
Onanie wurde, sowie auch das Bettnässen, öfters auf ähnliche
Weise curirt.
Denkvorgänge, Gedächtniss, Bewusstsein, Wille sind
ebenso beeinflussbar. Ich sage: „Sie werden alles, was ich Ihnen
im Schlaf gesagt habe, vergessen haben und sich einzig und allein
daran erinnern, dass Sie ein Kätzchen auf dem Schooss hatten und
es streichelten/ Nach dem Erwachen hat der Hypnotisirte bis
auf die Kätzchenepisode alles vergessen. — Einem Fräulein, das
gut französisch sprach, sagte College Frank: „Sie können kein
Wort französisch mehr, bis ich es Ihnen wieder eingebe." Und
die Arme konnte sich der französischen Sprache so lange nicht
mehr bedienen, bis ihr diese Suggestion weggenommen wurde.
Dieselbe konnte überhaupt stumm gemacht werden und aller ihrer
psychischen Eigenschaften momentan und nach Belieben durch ein-
fache Suggestion beraubt werden. Aehnliche Experimente sind mir
seither oft gelungen. Ich liess einer Somnambule posthypnotisch
längst verstorbene Angehörige erscheinen, mit welchen sie sich lange
unterhielt. Andere liess ich wie Petrus auf dem Meer oder über
einen Fluss zu Fuss wandern. Andere verwandelte ich in hungrige
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Beeinflussung der Vorstellungen, des Willens.
Wölfe oder Löwen, so dass sie sich bellend auf mich warfen und
mich beissen wollten. Ich wurde sogar ein Mal dabei bis zum
Blut gebissen, dies sei Herrn Prof. Delboeuf gesagt. Einen Mann
verwandelte ich in ein Mädchen, das sich seiner Menstruation er-
innerte, ein Mädchen umgekehrt in einen Officier. Bei Suggestion
der Kindheit wandeln sich bei guten Somnambulen Sprache und
Schrift entsprechend um. Solche Dinge hinterlassen oft einen tiefen
gemüthlichen Eindruck, wenn man nicht die Amnesie der ganzen
Erscheinung nachher suggerirt.
Ich kann einem Hypnotisirten jeden beliebigen Gedanken, alle
beliebigen Einfalle eingeben. Ich kann ihm vor Allem jede Ueber-
zeugung geben, z. B. diejenige, dass er den Wein nicht mehr möge,
dass er diesem oder jenem Verein beitreten solle, dass er das oder
jenes mag, das er früher nicht mochte. Bei einer ihrem Abstinenz-
gelübde untreu gewordenen Alkoholistin habe ich durch Suggestion
und ohne ihr im Wachzustand ein Wort zu sagen, tiefe Gewissens-
bisse, Reue, offenes (spontanes!) Geständniss an den Präsidenten
des Mässigkeitsvereines und Erneuerung ihres Abstinenzgelübdes
erzielt. Der Erfolg war ganz eclatant und schloss sich unmittelbar
an eine einmalige Hypnose, während vorher von alledem nichts zu
merken war.
Besonders wichtig ist die Einwirkung auf Willensentschlüsse.
Die Willensentschlüsse des Hypnotisirten können nicht selten beliebig
beeinflusst werden. Man hat oft behauptet, derselbe werde dadurch
willenlos, willensschwach. Das ist ein Irrthum, der zum Theil aus
der falschen Voraussetzung eines essentiell freien menschlichen
Willens hervorgeht. Man kann sogar durch die Hypnose einen
schwachen Willen eher kräftigen.
Doch ist es immer viel leichter, eine bestimmte localisirte
Erscheinung (z. B. den Hang zum Alkohol, einen bestimmten
Aerger etc.) als allgemeine Eigenschaften und Gemüthsstimmungen
zu beeinflussen. Letztere sind bereits sehr schwer zu beherrschen
und ich glaube nicht, dass tief ererbte constitutionelle Charakter-
eigenschaften oder Neigungen wesentlich beeinflusst werden können;
unter keinen Umständen kann dieser Einfluss von Dauer sein,
während erworbene Gewohnheiten zweifellos beseitigt werden können.
Man kann also die momentane Willensrichtung beeinflussen, Ent-
schlüsse provociren und andere umstossen, nicht aber die Willens-
beschaffenheit als allgemeine Charaktereigenschaft eines Individuums
suggestiv dauernd ändern.
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Bewusster und unbewusster Widerstand gegen Suggestionen.
79
§ 6. Widerstand der Hypnotisirten. Autosuggestionen. Alle
die oben erwähnten Erscheinungen und viele andere habe ich wie
Liebeault, Bern heim u. A. bei meinen Hypnotisirten hervor-
gerufen.
Doch, wie Bern heim mit Recht dringend betont, soll man
sich nicht durch den Eindruck dieser fast erschreckenden und wie
phantastisch erscheinenden Thatsachen verblenden lassen und darob
die andere Seite der Erscheinung, nämlich den Widerstand der
eigenen Gehirnthätigkeit der Hypnotisirten gegenüber den fremden
Uebergriffen Ubersehen. Der blinde automatische Gehorsam des
Hypnotisirten ist nie ein vollständiger; die Suggestion hat stets
Grenzen, die bald weiter, bald enger sind und ausserdem bei dem-
selben Menschen sehr wechseln können.
Der Hypnotisirte wehrt sich auf zwei Weisen : bewusst, durch
seine vernünftige Logik, un bewusst, durch Autosuggestionen. —
Ich hebe den Arm eines Hypnotisirten und sage, derselbe sei steif.
Er bemüht sich mit krampfhafter Wuth, ihn herunterzubringen und
schliesslich gelingt es ihm. Aber das Gefühl der Anstrengung,
das er dabei hatte, bringt ihn um so sicherer in meine Hände, da
sie ihm meine Uebermacht zeigt. Ein kleiner Kniff genügt mir,
um ihn zu bezwingen. Ich sage das zweite Mal: „Ich ziehe mit
Gewalt, magnetisch, Ihren Arm in die Höhe." Dieses genügt,
um das Fallen zu verhindern ; ich halte meine Hand vor der seinigen,
und ohne dieselbe zu berühren, zwinge ich sie durch die Macht
seiner Suggestibilität, sich bis über den Kopf zu erheben.
Aber der Widerstand war da. Wird er nicht sehr rasch be-
siegt, so glaubt der Hypnotisirte an seine Resistenzkraft und wider-
steht einer Anzahl Suggestionen. Einige sogar können durch ener-
gische Ueberlegungen der Vernunft und Willensanstrengungen ihre
Suggestibilität wieder ganz verlieren. Häufiger geschieht dieses da-
durch, dass ihnen dieselbe von anderen Menschen ausgeredet wird,
noch häufiger, wenn aus dem oder jenem Grunde der Hypnotisirte
sein Zutrauen, seine Achtung oder seine Zuneigung zum Hypnotiseur
verliert. Hier spielen Gemüthsaffecte und Angst eine grosse Rolle ;
sie können die Suggestibilität vorübergehend, manchmal sogar
dauernd, ganz oder theilweise zerstören. In der Regel behält der
Hypnotiseur das, was er bereits erzielt hat. Hat er aber in un-
geschickter Weise eine Anzahl Suggestionen mehrmals verfehlt, so
kann er dieselben schwerlich nachher wieder gewinnen, indem sich
beim Hypnotisirten immer mehr die Autosuggestion bildet, dass
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Widerstand des Hypnotisirten gegen Suggestionen.
dieses oder jenes bei ihm nicht erzielbar sei oder, dass dieser Hyp-
notiseur es nicht könne. Zum Beispiel sage ich einem Hypnotisirten
unter Berührung seiner Hand, dass ich sie todt und unempfindlich
mache. Er fühlt aber noch, glaubt mir nicht, und als ich ihn
frage: „ Haben Sie etwas gefühlt ?" bejaht er es. — In solchen
Fällen wird es nun schwer, allmälig Anästhesie zu erzielen. Dieses
liegt wohl zum Theil an einer geringeren Tiefe des Schlafes. Doch
durchaus nicht immer. Ich habe totale Anästhesie bei einfacher
Hypotaxie erzielt, und zwar z. B. so, dass ich die Finger, deren
Anästhesie ich vergebens suggerirt hatte, gar nicht berührte und
den Hypnotisirten glauben liess, ich habe sie berührt und er habe
nicht gefühlt. Dann in den folgenden Hypnosen gelang es durch
sehr leichte Berührungen, allmälig eine partielle Anästhesie zu
erhalten. Ebenso geht es mit der Amnesie. Gelingt es nicht, nach
zwei bis drei Sitzungen Amnesie zu erzielen, so wird es sehr schwer.
Doch gelingt es schliesslich manchmal durch gewisse Kniffe; z. B.
gibt man dem Hypnotisirten einen Schluck Wasser mit der Angabe,
es sei ein Schlaftrunk, der ihn nun amnestisch machen wird oder
dergleichen. Kurz, wie Bernheim richtig betont, ist der Hyp-
notisirte kein vollständiger Automat. Er discutirt öfters die Sug-
gestionen, besonders am Anfang, und verwirft manche derselben.
Ich möchte sagen, dass der Hauptwitz darin besteht, der Eingebung
den subjectiven Charakter des Traumes, des Erlebten, der Wahr-
nehmung oder Handlung zu verleihen, bevor sie dem Hypnotisirten
bewusst wird. Wird sie zuerst als eine einfache Vorstellung be-
wusst, so gelingt sie viel schwerer oder gar nicht. Von grossem
Werth ist die Nachahmung, resp. der Eindruck, den die Erfolge
des Hypnotiseurs bei einem Fall, den er zeigt, dem zu Hypnoti-
sirenden machen. Diejenigen Experimente, die bei dem vordemon-
strirten Fall am besten gelungen waren, gelingen dann in der Regel
auch bei dem gewesenen Zuschauer am besten.
Beim leichtesten Grad hypnotischer Beeinflussung, bei der
„Somnolenz" Liebeault's und Bernheim's kann der Hypnoti-
sirte noch bei einiger Anstrengung jeder Suggestion widerstehen und
wird nur dann etwas suggestibler, wenn er sich passiv gehen lässt.
Es ist überhaupt ein fundamentaler Irrthum zu glauben, der
Hypnotisirte sei unter völliger Abhängigkeit des Hypnotiseurs. Diese
Abhängigkeit ist eine sehr relative und ist an alle möglichen Be-
dingungen geknüpft; sie kann durch Misstrauen, Verstimmung,
Mangel an Achtung etc. mit einem Schlag zerstört wei den. Barocke
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Widerstand des Hypnotisirten; seine Selbstständigkeit. Autosuggestionen. 81
Täuschungen, Absurditäten, Dinge, die dem Charakter, den Nei-
gungen, den Ueberzeugungen des Hypnotisirten zuwiderlaufen,
können überhaupt nur ähnlich wie Träume in der Hypnose, oder
nur für kurze Zeit posthypnotisch suggerirt werden; sie werden
dann von der wieder gesammelten und concentrirten, resp. wieder
gut associirten Wachthätigkeit des Hirns des gewesenen Hypnoti-
sirten nachträglich abgelehnt. Spielt man zu viel mit solchen
Dingen, so riskirt man, seinen ganzen Einfluss zu verlieren. Die
Suggestion bedeutet eine Art Turnier zwischen den Dynamismen
von zwei Gehirnen ; das eine herrscht bis zu einem gewissen Punkt
über das andere, aber nur unter der Bedingung, dass es geschickt
und feinfühlig mit ihm umgeht, seine Neigungen geschickt anregt
und verwendet, vor Allem, dass es dasselbe nicht widerhaarig macht.
Das Vertrauen und der Glaube des Hypnotisirten sind die
Grundbedingung des Erfolges. Man kann hier am besten sehen,
wie unser sogen, freier Wille ein Sklave der Gemüthsaffecte ist,
d. h. wie die Willensrichtungen vor Allem durch Gefühle herbei-
geführt werden. Durch Sympathieaffecte beeinflusst man den Willen
im positiven, durch Antipathieaffecte im umgekehrten Sinn. Die
von der Vernunft allein geleiteten Entschlüsse kommen meistens
nur bei geringer oder fehlender Affectschwelle zur Geltung.
Typische Autosuggestionen sind eigenes Hirngewächs und
wimmeln bei allen gesunden Menschen. Zum Beispiel ist eine sonst
gesunde Person schlaflos, hat aber guten Appetit. Ich hypnotisire
sie und gebe ihr Schlaf mit Erfolg ein. Nun ist dafür der Appetit
verschwunden. Der Verlust des Appetites beruht auf Autosuggestion.
Dieses Beispiel genügt, um die ganze Erscheinungsreihe zu bezeichnen;
z. B. jeden Abend, wenn wir nur in einer gewissen gewohnten Lage
einschlafen können, nachdem wir uns in's Bett gelegt haben, ge-
schieht es durch Autosuggestion.
Eine gebildete und sehr intelligente Dame, Fräulein X., hatte
mich hypnotisiren sehen, was sie sehr interessirt hatte. Die Kraft
ihrer Phantasie wird ebenso wie ihr Verständniss für die Hypnose
durch Folgendes illustrirt. In einer nachfolgenden Nacht erwachte
sie mit heftigen Zahnschmerzen. Sie versuchte nun, sich dieselben
selbst wegzusuggeriren, dadurch dass sie meine Stimme und den
monotonen Ton und Inhalt meiner Suggestionen laut nachahmte.
Es gelang ihr vollständig, den Zahnschmerz zu vertreiben und ein-
zuschlafen. Am Morgen, als sie erwachte, war er weggeblieben.
Dieselbe Dame erzählte mir dann, wie ihre Freundinnen ein
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 6
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Autosuggestion. Sie ergänzt fast jede Suggestion.
Mittel unter sich besassen, um ihre Menstruation nach Beheben zu
verspäten, wenn dieselbe drohte, am Vorabend eines Balles sich
einzustellen. Sie steckten sich einfach ein etwas enges rothes Fäd-
chen um den kleinen Finger der linken Hand. Das Mittel wirkte
nicht bei Allen gleich sicher. Bei Einzelnen aber, die ganz pünkt-
lich menstruirt waren, wirkte es mit absoluter Sicherheit und konnte
die Menstruation bis um drei Tage verspäten. Die Dame ist durchaus
glaubwürdig, und der Fall ist ein eclatantes Beispiel unbewusster
Suggestion, was ihr selbst, nachdem sie mich operiren gesehen hatte,
klar geworden war.
Der Mechanismus der Autosuggestion wird vielleicht am besten
durch die Thatsache illustrirt, dass die Eingebung des Hypnotiseurs
nie der Reaction, die er beim Hypnotisirten hervorruft, ganz adäquat
sein kann. Unsere Sprache ist bekanntlich nur eine Symbolik der
Begriffe, und wenn wir z. B. einer Versammlung vieler Menschen
etwas sagen, versteht es jeder Zuhörer „nach seiner Begriffsart* t
d. h. die Vorstellungen, Gemüthsreactionen, Willensimpulse etc., die
in jedem Gehirn dadurch geweckt werden, sind die Resultanten einer-
seits der Rede und andererseits der eigenen Gehirnthätigkeit (Gehirn-
mechanik) eines jeden Zuhörers. Es gibt viele Uebereinstimmungen,
die der Einheitlichkeit der ersten Componente entstammen, aber auch
viele Abweichungen, die von der Ungleichheit der Theile der zweiten
Componentengruppe herrühren. Der Eine lacht, wo der Andere
weint; der Eine stimmt zu, wo der Andere heftig protestirt. Zwischen
Verständniss und Missverständniss gibt es eine Unzahl partieller
Verständnisse und Auslegungen, je nach der Bildungsart, dem Bil-
dungsgrad, dem Gemüthstemperament, den Neigungen, den Erfah-
rungen und vor Allem auch den vorangegangenen Beeinflussungen
eines jeden Zuhörers. Diese Verschiedenheiten der Reaction werden
nurzumTheil vom Oberbewusstsein beleuchtet; viele, wohl die meisten,
sind intuitiver Natur, d. h. sie sind durch uns nicht oberbewusste
Gehirnreactionen bedingt. Aus dieser Thatsache erhellt schon klar,
dass die Suggestionswirkung stets Elemente enthalten muss, die in
der Suggestion des Hypnotiseurs nicht lagen und stets manches
nicht enthält, das der Hypnotiseur beabsichtigt hatte. Mit anderen
Worten, jede Suggestion wird durch Autosuggestion des Hypnoti-
sirten ergänzt und modificirt. Aber auch die unvermeidliche Un-
vollständigkeit jeder Suggestion erheischt nothwendig autosuggestive
Ergänzungen. Wenn ich einfach die Vision einer Katze suggerire,
sieht sie der Eine grau, der Andere weiss, der Eine klein, der Andere
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Autosuggestion. Dieselbe als Ia^synkrasie.
83
gross etc. Wenn ich einem Socialisten eine» Philister suggerire, so
sieht er ihn mit allerlei schrecklichen Eigen-,6haften, die umgekehrt
der hypnotisirte Philister einem suggerirten Socialisten beigeben
wird und dergl. mehr. Man ersieht daraus, wie sehr eine psycho-
logische Beobachtung des Hypnotisirten n,thwendig ist, und wie
anders die Suggestionen sein müssen, die fjan z. B. einem Bauer,
einer gebildeten Dame und einem Gelehrten &. geben hat, um nur
annähernd das Gleiche zu erreichen.
Man kann Autosuggestionen, besonders im Gebiet der Idio-
synkrasien, besitzen und absolut nicht im Stande sein, sich selbst,
bewusst, dagegen zu wehren. So z. B. der Widerwille gegen
gewisse Speisen, oder auch die Diarrhoe nach dem Genuss einer
gewissen Substanz (Milch, Oaffee 1 ) und dergl.). Umgekehrt kann die
Suggestion eines Anderen diese eigenthümlichen centralen Associa-
tionen gewöhnlich lösen.
„Die Autosugg es tion ist die gewöhnlich unbewusste
Erzeugung von Wirkungen im Nervensystem, welche
den Wirkungen von Suggestionen Anderer identisch
oder sehr ähnlich sind, sei es durch Wahrnehmungen,
sei es durch Vorstellungen, sei es durch Gefühle, welche
aber nicht von der beabsichtigten Einwirkung eines
anderen Menschen herrühren." Ich weiss keine bessere
Definition davon zu geben und muss betonen, dass der Begriff der
Autosuggestion eigentlich nur als Antithese zur Suggestion eine
Selbstständigkeit verdient und im Uebrigen mit dem Begriff der
sogen, psychischen Reflexe, Gehirnautomatismen, unterbewussten
Gehirndynamismen zusammen fliesst. Die Thatsache, dass periphere
1 ) Ich selbst bekam lange Jahre hindurch in meiner Jugend stets Diarrhoe
nach Milchcaffee, nicht dagegen nach schwarzem Caffee. Später verlor sich die
erste Wirkung. Dagegen fing ich an, nachdem ich 1879—81 öfters schwarzen
Caffee Abends genossen hatte, darnach Diarrhoe zu bekommen. Ich gab dem
Caffee die Schuld und seither ist es mir nicht mehr möglich, schwarzen Caffee
zu gemessen, ohne sofort nachher Durchfall zu haben, und obwohl ich selbst
seit 1888 vollständig überzeugt bin, dass er nur auf Autosuggestion beruht.
Das Lustigste und Beweisendste ist aber, dass ich 1889, als ich während
4 Wochen in Tunesien war, den dortigen, allerdings ganz anders zubereiteten
arabischen Caffee ohne irgend welche diarrhoeische Polgen vertrug. Jetzt noch
(1902) bewirkt bei mir nur der nach europäischer Art zubereitete Caffee
Durchfall, wenn sich auch die Wirkung abgeschwächt hat. Die Widersprüche
dieser Wirkungen unter sich sind der beste Beweis ihres suggestiven Ur-
sprunges.
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84 Autosuggestion als F^gänzung d. Sugg. Posthypnotische Erscheinungen.
Nerventhätigkeiten oft *labei bewirkt werden, ändert nichts an der
Grundthatsache, dass /ihre Auslösung von einer Grosshirnthätigkeit
(Vorstellung und dergl.) ausgeht.
Oscar Vogt's regelmässige Nachforschungen bei seinen Hyp-
notisirten über deren s'iibjectiven Symptome während der Hypnose
haben ihm aufs Deutlijjfnste gezeigt, dass die subjective (= auto-
suggestive) Aufnahme, Ergänzung und Verwirklichung der Sug-
gestionen ebenso wie die an Suggestionen angeknüpften, jedes näheren
logischen Zusammenhanges mit jenen entbehrenden Autosuggestionen
meist unbewusster. (minderbe wusster) Natur sind: d. h.
einer Ziel vor stellun g ermangeln. Damit entbehren sie
aber auch, sagt er weiter, des wesentlichsten Momentes der Sug-
gestion. Dasselbe gilt von den hysterischen Autosuggestionen.
Wenn Vogt's Suggestion, ihn nicht zu sehen, zur Autosug-
gestion der Blindheit führte, so ergab in dem betreffenden Fall die
Nachfrage im somnambulen Zustand aufs Deutlichste, dass die Vor-
stellung, blind zu sein, erst durch die Selbstbeobachtung, d. h. durch
das Bewusstwerden der unbewussten Autosuggestion, geweckt wurde.
§ 7. Posthypnotisolie Erscheinungen. Zu den wichtigsten
Erscheinungen des Hypnotismus gehören die posthypnotischen Ein-
wirkungen der Suggestion. Alles, was in der Hypnose selbst erzielt
wird, kann sehr oft dadurch auch im Wachzustand hervorgerufen
werden, dass man in der Hypnose dem Hypnotisirten die Suggestion
gibt, dass es nach seinem Erwachen geschehen wird. Nicht
alle Hypnotisirten sind posthypnotisch suggestibel, doch bei einiger
Uebung und Wiederholung erzielt man posthypnotische Wirkungen
fast bei allen Schlafenden und sogar bei vielen Fällen einfacher
Hypotaxie ohne Amnesie.
Beispiele. Ich sage einem Hypnotisirten: .Nach dem Er-
wachen wird Ihnen die Idee kommen, den Stuhl da auf den Tisch
zu stellen und dann mir mit der rechten Hand auf die linke Schulter
zu klopfen." Ich sage ihm noch verschiedenes und schliesslich:
»Zählen Sie bis sechs und Sie werden wach." Er zählt, und genau
als er sechs zählt, öffnen sich die Augen. Er schaut einen Moment
verschlafen vor sich hin, blickt auf den Stuhl und starrt ihn an. —
Oft entsteht ein Zweikampf zwischen der Vernunft und dem mäch-
tigen Trieb der Suggestion. Je nach dem Grad der Unnatürlichkeit
oder Natürlichkeit der Suggestion einerseits und der Suggestibilität
des Hypnotisirten andererseits trägt die erste oder die zweite den
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Beispiele posthypnotischer Erscheinungen.
85
Sieg davon. Aber, wie schon manche Experimentatoren, habe ich
wiederholt beobachtet, dass bei starker Suggestibilität der Versuch,
dem Trieb der Suggestion zu widerstehen, üble Folgen haben kann ;
der Hypnotisirte wird ängstlich, aufgeregt, von dem Gedanken, „er
müsse es doch thun", geplagt. Ja, in zwei Fällen war ein Hypnoti-
sirter bereit, nachträglich einen */* stündigen Gang zu machen, ein-
mal, um mir auf die Schulter zu klopfen, das andere Mal, um
Fräulein Y. ein Handtuch zu reichen. Dieser Trieb kann stunden-
und tagelang andauern. Andere Male ist er schwach; es kann
sogar nur ein Gedanke sein, wie eine Traumerinnerung, die aber
nicht zum Handeln treibt, so dass die Suggestion nicht ausgeführt
wird. Der Hypnotisirte bleibt beim Blick auf den Gegenstand stehen
oder blickt ihn nicht einmal an. Durch energische Wiederholung
der Suggestion in der Hypnose kann man aber in solchen Fällen
den Trieb und schliesslich die Ausführung hervorrufen. — Unser
Hypnotisirter hat nun den Stuhl angestarrt; plötzlich steht er auf,
nimmt den Stuhl und stellt ihn auf den Tisch. Ich sage: „Warum
thun Sie das?" — Die Antwort wechselt sehr je nach Bildung,
Temperament, Charakter und Qualität der Hypnose des Hypnotisirten.
Der eine (1) sagt: „Ich glaube, Sie haben mir im Schlaf gesagt,
ich soll es thun." Ein zweiter (2) meint: „Ich habe so etwas
geträumt." Der dritte (3) gesteht erstaunt: „Es hat mich dazu
getrieben, ich musste einfach; ich weiss nicht warum." Ein anderer (4)
sagt: „Es ist so eine Idee, die mir gekommen ist." Ein weiterer (5)
gibt ein aposterioristisches Motiv an: der Stuhl sei ihm im Weg
gewesen, hahe ihn genirt (oder bei der Suggestion, er werde ein
Handtuch holen und sich das Gesicht damit wischen, sagt er, er
habe so arg geschwitzt). Ein sechster (6) aber hat nach Absolvirung
der Handlung jede Erinnerung an dieselbe verloren, glaubt eben
erwacht zu sein. — Besonders im letzteren Fall hat der Handelnde
das Aussehen eines Somnambulen ; sein Blick ist mehr oder weniger
starr, seine Bewegungen haben etwas Automatisches, das sich nach
Beendigung der That verliert. Wenn man das Experiment nicht
absurd gestaltet und zum ersten Mal bei Jemanden macht, der vom
Hypnotismus nichts weiss und der wirklich über die Zeit der Hyp-
nose völlig amnestisch ist, so wird derselbe nach meiner Ueber-
zeugung und Erfahrung in der Regel nicht ahnen, dass der Sünder,
der Verursacher seiner Handlung der Hypnotiseur ist. Viele aber
vermuthen es entweder, weil sie eine traumhafte Erinnerung der
Suggestion in der Hypnose haben, oder weil das Experiment bei
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86 Beispiele posthypn. Erscheinungen. Zeichnung d. Contour einer Hallucination.
ihnen schon gemacht wurde, oder weil sie es bei Anderen machen
sahen oder davon hörten oder lasen, oder weil die Sache zu barock,
unsinnig oder unnatürlich war, um aus ihnen selbst spontan zu
stammen.
Ich sage weiter einem Hypnotisirten : „Nach dem Erwachen
werden Sie mich ganz scharlachroth angekleidet und mit zwei Gems-
bockhörnern auf dem Kopf sehen. Zudem wird meine daneben-
sitzende Frau verschwunden sein und ebenso die Zimmerthüre, welche
vollständig durch Tapete und Vertäfelung ersetzt sein wird, so dass
Sie gezwungen sein werden, durch die andere Thüre fortzugehen."
— Ich spreche noch von anderen Dingen, lasse den Hypnotisirten
durch Suggestion dreimal gähnen und darauf erwachen. Er macht
die Augen auf, reibt sich die Augen mehrmals, wie wenn er einen
Nebel entfernen wollte, blickt mich an, fängt an zu lachen und reibt
sich immer wieder die Augen. „Warum lachen Sie?" — „Sie sind
ja ganz roth! — und haben zwei Gemshörner auf dem Kopf" —
und so fort. „Ihre Frau ist fort!" — „Wo sass sie denn?" —
„Auf diesem Stuhl." — „Sehen Sie den Stuhl?" — „Ja." — Ich
veranlasse ihn, den Stuhl zu betasten ; er thut es nicht gerne, tastet
um meine Frau herum, meint aber bald den Stuhl, bald eine un-
sichtbare Resistenz zu fühlen (je nach der Art, wie er die Suggestion
durch Autosuggestion ergänzt hat). Dann will er fort, kann aber
nicht, sieht nur Tapete und Vertäfelung, behauptet es auch, wenn
er die Thüre betastet. Wenn ich nun die Thüre aufmache, kann
die Hallucination verschwinden oder fortbestehen, in welch' letzterem
Falle er die Luftöffnung durch Tapete und Vertäfelung ausgefüllt,
die geöffnete Thüre selbst aber gar nicht sieht. Solche posthypnotische
Hallucinationen können je nach der Suggestion und den Menschen
von nur wenigen Secunden bis Stunden, selten tagelang dauern.
Gewöhnlich dauern sie nur wenige Minuten. Ich habe versucht,
Bilder, die ich den Hypnotisirten auf weisses Papier suggerirte,
nachzeichnen zu lassen. Die Zeichnungen fielen meist schlecht aus;
die Leute gaben an, die Contouren undeutlich zu sehen; doch einige
waren nicht schlecht. Eine sehr zuverlässige und gebildete, mit mir
verwandte Dame hat die Contouren ihrer suggerirten Photographie
recht gut gezeichnet. Sie zeichnet aber überhaupt sehr gut, und
davon hängt die Sache wesentlich ab, denn Leute, die nicht zeichnen
können, halluciniren offenbar auch unrichtig, da sie überhaupt nie
ganz richtig sich vorzustellen und auch wohl wahrzunehmen lernten.
Bernheim erzählt von einer Dame, welche von einer suggerirten
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Beispiele posthypnotischer Hallucinationen aller Sinne. 87
Rose nicht sagen konnte, ob sie wirklich oder suggerirt war. Ich
habe folgendes Experiment oft gemacht. Ich sagte Fräulein Z. in
der Hypnose, sie würde nach dem Erwachen zwei Veilchen auf
ihrem Schooss finden, beide natürlich und schön; sie würde mir
das schönere geben; ich legte aber ein wirkliches Veilchen auf
ihren Schooss. Nach dem Erwachen sah sie zwei Veilchen; das
eine war heller und schöner, sagte sie und gab mir den Zipfel
ihres weissen Taschentuches, das wirkliche Veilchen für sich be-
haltend. Ich frug nun, ob sie meine, beide Veilchen seien wirk-
liche, oder ob eines meiner ihr durch frühere Erfahrung bereits
bekannten flüchtigen Geschenke darunter sei. Sie sagte, das hellere
Veilchen sei nicht reell, weil es so abgeflacht auf dem Taschentuch
aussehe. Ich wiederholte das Experiment mit der Eingebung von
drei reellen, gleich dunklen, durchaus nicht abgeflachten, sondern
mit Stiel und Blättern fühlbaren und wohlriechenden Veilchen, gab
ihr aber nur ein wirkliches Veilchen. Dieses Mal wurde Fräulein Z.
total getäuscht und konnte mir unmöglich sagen, ob eines der
Veilchen oder zwei oder gar alle drei reell oder suggerirt seien;
alle drei, meinte sie, seien dieses Mal reell; dabei hielt sie in einer
Hand Luft, in der andern das wirkliche Veilchen. Man sieht, dass
wenn man die Täuschung für alle Sinne eingibt, dieselbe vollendeter
wird. Ich gebe z. B. einer anderen Hypnotisirten ein wirkliches
Messer und sage ihr, es seien deren drei. Sie ist dabei völlig wach
und kann die vermeintlichen drei Messer von einander absolut nicht
unterscheiden, weder beim Schneiden, noch wenn sie sie betastet,
damit auf das Fenster klopft etc. Sie schneidet in vollem Ernst
mit Luft ein vorgespanntes Papierstück und behauptet, den (nicht
vorhandenen) Riss, den sie mit dem suggerirten Messer gemacht zu
haben meint, su sehen. Als ich sie nun auffordere, die (vermeint-
lichen) zwei Papierstücke auseinanderzuziehen, glaubt sie die Resi-
stenz, die sie fühle, sei durch hypnotischen Einfluss von mir bedingt!
Als andere Personen sie später darüber verlachten, wurde sie böse
und behauptete fest, es seien drei Messer gewesen, ich hätte nur
zwei davon später escamotirt; sie habe alle drei Messer gesehen,
gefühlt und gehört, und lasse sich die Sache nicht nehmen. Als
ich der gleichen Person das Verschwinden eines wirklichen Messers
suggerire, fühlt sie dasselbe nicht, als es auf ihrer Hand liegt, hört
es nicht fallen und fühlt nichts, als ich sie damit steche, u. s. f.
Gefühle, Gedanken, Entschlüsse u. s. w. können ebensogut
posthypnotisch als hypnotisch eingegeben werden. Die bei der
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88
Amnesie.
oben erwähnten Alkoholist in und bei der Menstruation von Frauen
erzielten Erfolge waren posthypnotisch. Zwei Mal nur gelang es
mir, die Menstruation sofort während der Hypnose selbst hervorzu-
rufen oder zu coupiren.
§ 8. Amnesie oder Erinnerungslosigkeit. Wir müssen hier
noch nachdrücklichst von der althergebrachten Verwechslung dieses
Begriffes mit demjenigen der Bewusstlosigkeit warnen. Dass wir
von einer bestimmten Zeitperiode unseres Lebens oder von ge-
wissen Dingen, die wir erlebt haben, nichts mehr wissen, beweist
durchaus nicht, dass wir dabei bewusstlos waren, auch dann nicht,
wenn die Amnesie sich sofort an diese Zeitperiode anschliesst.
Und dennoch haben wir meistens keinen anderen Beweis, dass ein
Mensch bewusstlos war, als eben seine Amnesie! Damit ist fast
gesagt, dass es unmöglich ist, strikte Bewusstlosigkeit nachzuweisen.
Man kann nur von einer auf chaotischer Dissociation beruhenden
Verschleierung des Bewusstseins sprechen. Gewöhnlich wird der
Mensch über die Zeit einer tieferen Bewusstseinsverschleierung
amnestisch, aber nicht immer. Und umgekehrt kann man durch
Suggestion manche Menschen nach Belieben über völlig klar be-
wusste Erlebnisse und Lebensperioden amnestisch machen. Die
Amnesie über eine gewisse Zeitperiode bedingt somit nicht absolut
die Unzurechnungsfähigkeit während derselben, obwohl es, von der
Suggestion abgesehen, die Regel ist.
Auch in den Fällen von tiefem Sopor, von Coma, wo z. B.
ein Hirnkranker keine Reaction, selbst nicht bei Berührung der
Cornea, zeigt, ist unser Schluss auf Bewusstlosigkeit nur ein in-
directer, und schliesslich suchen wir ihn nachher durch Feststellung
der Amnesie zu erhärten. Einen directen Einblick in das Bewusst-
sein eines Anderen gibt es überhaupt nicht.
Gelingt es, bei einem Menschen durch Suggestion Amnesie
über die Zeit der Hypnose zu erzielen, so hat man eine bedeu-
tende Macht gewonnen, denn man kann dann nach Belieben seine
oberbewussten Verkettungen unterbrechen, hemmen oder wieder
anknüpfen, und dadurch Contrastwirkungen hervorrufen, welche
für den Erfolg späterer Suggestionen von grösstem Werth sind.
Man kann vor Allem machen, dass er Alles vergisst, was ihm zum
Nachgrübeln und zu Zerstörung der Suggestionswirkungen Anlass
geben könnte, dagegen sich an alles erinnert, was der Suggestions-
wirkung förderlich ist. Zwar verliert sich manchmal die Amnesie,
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Posthypnotische Amnesie.
89
und die Erinnerung kommt spontan wieder. Das sind aber un-
vollständige Fälle. Man kann durch Suggestion die Amnesie
nicht nur auf einzelne Vorstellungen und Wahrnehmungen be-
schränken, sondern man kann sie auch ausdehnen und auch auf
vergangene Zeiten und auf die Zukunft erstrecken.
Die Amnesie spielt somit in der Hypnose eine sehr wichtige
Rolle. Ich will ihre Bedeutung nur an einem Beispiel illustriren.
Bei einem Wärter, der Zahnweh hatte, suchte ich durch Suggestion
Anästhesie hervorzurufen. Es gelang nur partiell. Die Zahn-
extraction wurde dennoch vorgenommen. Er erwachte dabei, schrie,
packte die Hand des Arztes und wehrte sich. Ich suggerirte ruhig
weiter, als der Zahn entfernt war: er schlafe sehr gut, habe nichts,
gar nichts gespürt, werde nach dem Erwachen alles vergessen
haben, er habe gar keinen Schmerz gehabt. Er schlief auch richtig
ein und war beim Erwachen über alles amnestisch. Er bildete
sich daher ein, nichts gespürt zu haben und war sehr froh und
dankbar über die schmerzlose Zahnextraction. Ich liess ihn später
durch dritte Personen darüber interpelliren , denen gegenüber er
absolut keinen Grund haben konnte, etwa die Wahrheit zu ver-
heimlichen. Allen gab er an, er habe rein nichts gespürt, und
jetzt, nachdem er seit bald dreizehn Jahren die Anstalt verlassen
und in der Stadt Zürich eine Anstellung hat, gibt er es immer
noch an. Im Gegensatz zu diesem Fall habe ich Zähne bei durch
Suggestion anästhetisch gemachten völlig wachen Personen extra-
hiren lassen. Während der Extraction lachten diese Personen, die
sonst den Schmerz sehr fürchteten, und hatten nicht die geringste
Empfindung davon. Im ersten Fall hatten wir durch Suggestion
nur das Bewusstwerden des Gedächtnissbildes des Schmerzes, im
zweiten Fall aber das Bewusstwerden des peripheren Reizes selbst
gehemmt oder inhibirt.
Dazwischen liegt ein eigenthümlicher Fall. Eine sehr tüchtige
Wärterin hatte furchtbare Angst vor einer Zahnextraction, obwohl
sie ziemlich suggestibel war. Ich hypnotisirte sie dennoch. Aber
sie wehrte sich in der Hypnose gegen die nahende Zahnzange.
Dennoch gelang es mir, den Zahn anästhetisch zu machen, obwohl
sie sich mit beiden Händen wehrte. Bei der Extraction erwachte
sie mit einem leichten Schrei. Sofort aber erklärte sie spontan
und ganz verwundert, sie habe nichts gespürt als den bereits im
Munde liegenden losen Zahn. Schmerz habe sie durchaus keinen
gehabt und auch keine Spur Empfindlichkeit nach der Extraction,
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90 Ein Experiment über Bewussteein, Anästhesie u. retroactive Empfindung.
nur grosse Angst; das wisse sie noch. Hier war die Anästhesie,
nicht aber die Beseitigung der Angst gelungen.
Folgendes mit zwei verschiedenen Personen mehrmals gemachte
Experiment scheint mir von Werth zu sein. Die eine der Be-
treffenden besitzt einen ethisch sehr hoch angelegten Charakter und
eine exemplarische Wahrheitsliebe, so dass hier jede Spur von
Uebertreibung aus Gefälligkeit mit absoluter Sicherheit ausge-
schlossen ist. Ich suggerire der vollständig wachen Beeinflussten
Anästhesie verschiedener Körpertheile. Dann lasse ich sie die
Augen schliessen, sichere mit genügender Vorsicht mein Opera-
tionsfeld vor der Möglichkeit, unter dem Lid gesehen zu werden,
und steche die Hypnotisirte an drei (oder mehr) bestimmten Stellen.
Sie versichert mich, absolut nichts zu spüren und nicht zu wissen,
was ich mit ihr mache. Nun schläfere ich sie ein und suggerire
ihr einen Strom, der das Gefühl derart wiederbringt, dass sie nach
dem Erwachen genau wissen wird, was ich mit ihr gemacht habe.
Nach dem Erwachen frage ich sie nun, was ich gethan hätte.
Zunächst besinnt sie sich nur mit Mühe und findet die Stellen, wo
ich gestochen hatte, nur ungenau. Doch, nach sorgfältiger Wieder-
holung des Experimentes, mit Aenderung der Zahl und des Ortes
der Stichstellen geht es ganz gut und findet sie die Stellen genau,
weiss auch nachträglich, dass ich sie gestochen habe. Man könnte
einwenden, dass die etwas länger bleibende grobe Reizung der
Tastnerven immer noch bestand und nachträglich zur wiederasso-
ciirten bewussten Hirnthätigkeit gelangte. Um diesem Einwurf zu
begegnen, habe ich das gleiche Experiment mit dem Gehör wieder-
holt, und die ganz wache Somnambule für gewisse bestimmte
Geräusche völlig taub gemacht. Ich Hess dann später durch Sug-
gestion den im Gehirn deponirten „unbewussten" Schalleindruck
mit Erfolg bewusst werden, und die Somnambulen konnten mir
stets genau sagen, was ich gemacht hatte. Ich frug sie dann beide,
wie sie sich die Sache erklären könnten, und beide (ganz unab-
hängig von einander) behaupteten, sie müssten nun doch bald
glauben, dass ich hexen könne; sie hätten absolut nichts gefühlt
resp. gehört, als ich sie stach oder das Geräusch machte, und
nachher sei ihnen plötzlich doch wieder die ganze Erinnerung an
empfundene Stiche und an die Geräusche gekommen. Das sei ihnen
absolut unerklärlich. Bernheim hat bezüglich der negativen
Hallucinationen ähnliche Experimente mit gleichem Erfolg gemacht.
Es geht daraus, wie mir scheint, hervor, dass unsere gewöhnliche
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Retroactive Empfindung. Suggestion ä ecbeance (Termineingebung). Beispiel. 9 1
Oberbewusstseinsspiegelung und die Intensität und Qualität der Gross-
hirnthätigkeit nicht in einem bestimmten Verhältniss zu einander
stehen, und dass die Ein- und Ausschaltungen der Oberbewusstseins-
spiegelung mehr von associativen Hemmungen und Anknüpfungen
abhängen. Jedenfalls beweist dieses Experiment, dass auch nach
einer vollständigen, mit wachem Oberbewusstsein festgestellten
Anästhesie nachträglich die Erinnerung an den offenbar nur in
einem Unterbewusstsein empfundenen Schmerz in die Oberbewusst-
seinskette hinüber versetzt werden kann. Um eine suggerirte Er-
innerungsfälschung kann es sich desshalb nicht handeln, weil die
Somnambulen die Qualität und die Art der Eindrücke vollständig
richtig angaben, obwohl ich natürlich bei der Suggestion jede An-
deutung davon sorgfältig vermieden hatte.
Dr. 0. Vogt hat ähnliche Experimente fürs Gehör, Gesicht
und Gefühl wiederholt. Es wurden auch nach mehreren Stunden
noch einfache nicht gefühlte Berührungen richtig angegeben. Die
Leute erklärten insgesammt , keine Empfindung gehabt zu haben,
aber sich jetzt deutlich der Reize zu erinnern. Auf die Frage, wie
das möglich wäre, sagten die einen, sie begriffen es nicht, die
anderen, Vogt müsse es ihnen eingegeben haben.
§ 9. Suggestion ä echeance (Eingebung auf bestimmten Termin).
Diese von der Nancy'schen Schule so trefflich dargestellte Erschei-
nung ist nur eine Varietät, aber eine praktisch hochwichtige Va-
rietät der posthypnotischen Eingebung.
Ich sage einem Hypnotisirten: „Morgen um 12 Uhr, während
Sie zum Essen gehen, wird Ihnen plötzlich der Gedanke kommen,
dass Sie mir noch schnell schreiben wollen, wie es Ihnen geht.
Sie werden nach Ihrem Zimmer zurückkehren und mir noch schnell
schreiben, werden dann kalte Füsse bekommen und Ihre Pantoffeln
anziehen." — Der Hypnotisirte hat nach dem Erwachen und bis
am andern Tage um 12 Uhr keine Ahnung von der ganzen Sache.
Im Moment, wo er zum Essen geht, taucht der suggerirte Gedanke
in seinem Bewusstsein auf und die Suggestion wird pünktlich aus-
geführt. Einer Hypnotisirten sage ich am Montag: „Nächsten
Sonntag Morgen Punkt 7 V* Uhr wird Ihre Menstruation eintreten.
Sie werden sofort zur Ober Wärterin gehen, ihr den Thatbestand
zeigen, dann zu mir kommen und es mir melden. Sie werden mich
aber mit himmelblauem Rock und mit zwei langen Hörnern auf
dem Kopfe sehen, und werden mich dann fragen, wann ich ge-
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92 Wichtigkeit d. Terroineingebung. Verhalten d. Hypnotisirten ihr gegenüber.
boren sei." — Am nächsten Sonntag sass ich auf meinem Arbeits-
zimmer und hatte die Sache vergessen. Die Hypnotisirte klopft
um 7 Uhr 35 Minuten an meine Thür, tritt ein und platzt vor
Lachen. Sofort erinnerte ich mich an meine Suggestion, die nun
Wort für Wort und That für That vollzogen war, resp. weiter
geschah. Die Menses waren Punkt 7 1 /* Uhr eingetreten und be-
reits der Oberwärterin gezeigt worden und so fort. Im Wachzu-
stand hatte die Hypnotisirte vorher keine Ahnung von der ganzen
Sache gehabt, auch nicht von der Zeit, wo die Menstruation ein-
treten sollte.
Die enorme Wichtigkeit der Suggestion ä e'che'ance springt in
die Augen. Man kann die Gedanken und Entschlüsse des Hypnoti-
sirten im Voraus für eine bestimmte Zeit bestellen, wo der Hyp-
notiseur nicht mehr zugegen ist; man kann zudem die Suggestion
des freien Willensentschlusses geben. Man kann ferner die Sug-
gestion geben, dass der Hypnotisirte keine Ahnung haben wird,
dass der Trieb vom Hypnotiseur kam. Ja, bei sehr suggestiblen
Leuten kann man selbst totale Amnesie der Hypnotisirung mit
Erfolg eingeben: „Sie sind nie hypnotisirt worden; wenn man Sie
darüber fragt, werden Sie vor Gott schwören, Sie seien in Ihrem
Leben nie von Jemandem eingeschläfert worden; ich habe Sie nie
eingeschläfert." — Darin liegt vielleicht eine forensische Gefahr
der Hypnose. Von den oben erwähnten 19 gesunden Wärterinnen,
welche in der Hypnose tief schlafen, haben nicht weniger als 13
Suggestions ä e'che'ance vollführt! Eine Seltenheit ist somit die Er-
scheinung nicht. Bei einer Wärterin ist sie mir, wie schon er-
wähnt, sogar bei der erstmaligen Hypnose gelungen.
Höchst merkwürdig sind die Ansichten der Hypnotisirten über
die Quelle der erfolgreichen Termineingebung. Fragt man sie, wie
sie dazu gekommen sind, das zu thun, so geben sie gewöhnlich
an, es sei eine Idee, die ihnen zu der suggerirten Zeit gekommen
sei, und der sie hätten folgen müssen. Regelmässig geben Sie die
Zeit genau an, wo ihnen die Idee kam, während man doch sonst
nicht auf die Uhr schaut bei jedem Gedanken, den man hat. Dies
ist als eine Mitwirkung der Suggestion zu betrachten. Weil man
den Zeitpunkt suggerirt hat, achten sie auf denselben. Ferner
tritt die suggerirte Idee unvermittelt plötzlich zum suggerirten
Termin auf, gewöhnlich wenigstens. In einzelnen Fällen jedoch
erscheint sie längere Zeit vorher; dem Hypnotisirten ist es schon
vorher, „als müsse er zu jener erst kommenden Zeit das oder
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Termineingebung. Ihre physiologische Bedeutung.
93
jenes thun oder denken". — In manchen Fällen kommt die Idee
nicht mit dem subjectiven Charakter der Spontaneität, sondern als
plötzlich auftauchende Erinnerung aus der Hypnose. Dann sagt
der Hypnotisirte z. B.: »Plötzlich, um 12 Uhr, habe ich mich dar-
an erinnert, dass Sie mir gestern im Schlaf gesagt haben, ich
solle heute um 12 Uhr zu Ihnen kommen." Gewöhnlich hat die
eintretende Termineingebung den Charakter des Zwanges, des un-
widerstehlichen Triebes, bis sie ausgeführt ist; doch wechselt die
Intensität des Triebes sehr. An diesen Eigenschaften erkennen
für gewöhnlich geübte Somnambulen, dass es Suggestionen und
nicht eigene Ideen oder Willensentschlüsse sind. Doch ist es
meistens nicht schwer, sie zu täuschen, wenn man den Charakter
des unnatürlichen Zwanges im Voraus wegsuggerirt, dafür freien
spontanen Willensentschluss eingibt und den suggerirten Gedanken
an wirkliche Vorkommnisse geschickt und logisch anknüpft. Auf
diese Weise ist es unschwer, den Somnambulen so zu täuschen,
dass er ganz überzeugt bleibt, spontan aus freiem unbeeinflusstem
Willen gehandelt zu haben.
Am wunderbarsten ist dabei die Thatsache, dass der Inhalt
der Suggestion im Zeitraum von der Hypnose bis zum Termin fast
nie im Wachzustand bewusst wird. Hypnotisirt man dagegen den
Betreffenden während dieses Zeitraumes und fragt ihn in der Hyp-
nose darüber, was er dann und dann zu thun habe, so weiss er
es in der Regel ganz genau. Bernheim schliesst daraus, nach
meiner Ansicht nicht mit Recht, dass der Hypnotisirte die ganze
Zeit hindurch daran denke, und es nur nicht wisse. Ich glaube
nicht, dass man sich so ausdrücken darf, weil es die psycholo-
gischen Begriffe stört. Es handelt sich um ein Denken, resp.
Wissen in der Sphäre des Unterbewusstseins , d. h. um einen
unter der Schwelle des gewöhnlichen Bewusstseins als Erinnerungs-
bild bleibenden Hirndynamismus, der durch ein mit ihm und mit dem
bestimmten Termin zugleich associirtes Zeitmerkzeichen wiederholt
wird. Nur so kann man sich vor allem die Termineingebungen
erklären, welche Lie'beault, Bernheim und Lie'geois sogar bis
nach einem Jahre mit Erfolg erzielten. Bei kurzen Terminein-
gebungen kann das Zeitgefühl ohne besondere Zeitmerkzeichen ge-
nügen, um die Suggestion am richtigen Termin hervorzurufen. Ein
Beweis der Wichtigkeit der Zeitmerkzeichen ist, dass man die
Menstruation viel sicherer und leichter auf einen bestimmten Monats-
tag (z. B. den 1.) als auf alle 4 Wochen suggestiv reguliren kann.
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94 Wachsuggestion. Sie ist mit d. Suggestion in d. Hypnose gleichwertig.
Die Erscheinungen der Termineingebungen sind übrigens iden-
tisch mit denjenigen der anderen posthypnotischen Suggestionen.
§ 10. Waohsuggestioii. Bei sehr suggestiblen Menschen kann
man, ohne den hypnotischen Schlaf einzuleiten, im vollen Wachen
erfolgreich die Suggestion anwenden und dabei alle Erscheinungen
der Hypnose oder der posthypnotischen Suggestion hervorrufen.
Man hebt den Arm und sagt: Sie können ihn nicht mehr bewe-
gen! Und der Arm bleibt in kataleptischer Starre. Man kann
Anästhesie, Hallucinationen (auch negative), Amnesien, Mutacismus,
Erinnerungsfälschungen, kurz, was man will, auf diese Art mit
ebenso sicherm Erfolg als in der Hypnose suggeriren. Und
nicht etwa besonders bei Hysterischen, sondern bei völlig ge-
sunden Menschen kann die Wachsuggestion sehr häufig erzielt
werden.
Meistens erzielt man die Wachsuggestibilität erst bei Leuten,
die schon einmal oder einige Male in hypnotischen Schlaf versetzt
waren. Doch kann man auch bei wachen Menschen, die noch nie
hypnotisirt worden sind, starke Suggestivwirkungen erzielen. Einer
mir bekannten sehr intelligenten und charakterfesten Dame wurde
der Arm kataleptisch fixirt durch die Suggestion eines Magneti-
seurs, während sie vollständig wach war und von Hypnose nie etwas
erfahren hatte. Mir gelang es bei zwei durchaus nicht hysterischen
Frauen von vieren, bei welchen ich es versuchte. Suggestive Er-
folge im Wachzustand, ohne dass der Beeinflusste eine Ahnung
davon zu haben braucht, sind viel häufiger und leichter zu erzielen
als man glaubt. Herrn Collegen Dr. Barth in Basel ist es wieder-
holt gelungen, vollständige Anästhesie für kleine Operationen im
Rachen und dergl. dadurch zu erzielen, dass er eine Salzlösung
einpinselte unter der festen Angabe, es sei Cocain und die Schleim-
haut sei bereits vollständig insensibel. Aehnliche Erfahrungen
haben schon Viele gemacht. Die oben erwähnte Beeinflussung der
Menstruation durch ein rothes Fädchen am kleinen Finger gehört
auch hierher.
Man kann aber durch Eingebung der Wachsuggestibilität im
hypnotischen Schlaf die Wachsuggestibilität da erzielen, wo sie
vorher nicht vorhanden zu sein schien; sie wird selbst suggerirt.
Ich bin fest überzeugt, dass nur die nöthige Uebung und Keckheit
nöthig sind, um bei einem grossen Procentsatz der normalen Men-
schen Wachsuggestibilität hervorzurufen, denn sie ist mir zum Bei-
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Wachsugg. d. Hypnose gleichwerthig. Zustand d. Seele während d. Wachsugg. 05
spiel bei allen den oben erwähnten 19 tiefschlafenden Wärterinnen
gelungen.
Unter den Einwendungen, die immer wieder von Leuten ge-
macht werden, die die ganze Frage nicht verstehen, ist die fol-
gende recht typisch: „Ja, die Wachsuggestion sei etwas sehr
Gutes und Ungefährliches; es sei aber etwas ganz Anderes
als die Hypnose!" — Man wird hoffentlich nun aus meiner Dar-
stellung begriffen haben und aus dem Folgenden noch mehr be-
greifen, dass derartige Behauptungen ohne totales Missverstehen
der Suggestion und ohne Mangel an praktischen Erfahrungen mit
derselben nicht möglich wären. Die Erscheinungen der Wach-
suggestion sind absolut gleich und gleichwerthig denjenigen der
Suggestion in der »Hypnose*. Ob etwas mehr Schlaf hinzukommt
oder nicht, erhöht oder vermindert zweifellos weder die Gefahr
noch die Bedeutung der psychologischen Thatsachenreihe. Jeder
suggestive Erfolg bedeutet eine dissociative Einwirkung und be-
wirkt dadurch eine einzelne Erscheinung, die derjenigen des Traum-
lebens homolog ist. Sobald im Wachzustand multiple Suggestionen
sich rasch folgen, wird dadurch allein der Wachzustand als Ganzes
hypnotisch, d. h. traumhaft und schlafähnlich. Somit wäre jeder
suggestive Erfolg im Wachzustand mit einem partiellen, circum-
scripten Traum in dem sonst wachen Gehirn zu vergleichen.
§ 11. Zustand der Seele während der Ausführung der post-
hypnotischen Eingebungen, der Snggestions k eclieances nnd der
Wachsnggestionen. Wer alle diese Erscheinungen öfters beobachtet
hat, muss sich bald darüber klar sein, dass der Zustand der Seele
des Hypnotisirten in den drei eben genannten Fällen der gleiche
sein muss und ist: die Seele ist wach, und doch verändert. W r ie
denn verändert? Diese Frage haben sich zuerst Li e'geois J ), ferner
Beaunis 2 ) und dann Delboeuf 3 ) vorgelegt. Lie'geois bezeichnet
diesen „Zustand", in welchem der Hypnotisirte vollständig wach
ist, bis auf den Punkt, welcher vom Hypnotiseur „verboten oder
befohlen wird", mit dem Ausdruck „Condition prime". Dieser
Ausdruck soll ein Analogon zur „Condition seconde" bilden, als
') Jules Liegeois, De la Suggestion hypnotique dans ses rapports
avec le droit civil et le droit criminel, Paris 1884 (Alphonse Picard).
*) Beaunis, Recherches experimentales sur 1 es conditions de ractivite"
cerebrale etc. Somnambul isme provoque p. 67.
s ) Revue de l'hypnotisme. lere ann£e, 1887, p. 166.
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96 Seelenzuatand bei d. posthypnotischen Suggestion u. d. Wachsuggestion.
welche Azam den zweiten Bewusstseinszustand seiner Feiida (Fall
von doppeltem Bewusstsein im Wachzustand) bezeichnete. Später
kommt aber Lie'geois selbst zur Ansicht, dass die Condition prime
nur eine Varietät der Condition seconde ist. Beaunis bezeichnet
die Condition prime als „veille somnambulique*. Delboeuf
dagegen glaubte bewiesen zu haben, dass in allen diesen Fällen
der Hypnotisirte einfach wieder hypnotisirt ist, und dass es sich
somit nur um gewöhnlichen Somnambulismus handelt, nur mit
offenen Augen. Die Suggestion rufe einfach unbewusst eine neue
Hypnose durch Association hervor. Er hat übrigens später seine
Ansicht geändert und ist zum gleichen Standpunkt gekommen wie
wir (Revue de l'hypnotisme 1888).
Nach meinem Dafürhalten trifft keine dieser Ansichten zu, weil
alle zu dogmatisch, zu systematisirend sind. Gewiss trifft Del-
boeuf s ältere Ansicht für viele Fälle zu. Es kann bei den post-
hypnotischen, den Termin- und den Wacbeingebungen der Eintritt
der Verwirklichung der Suggestion die Autosuggestion einer voll-
ständigen Hypnose hervorrufen; der Blick wird starr und es kann
der Hypnotisirte sogar nachher über alles amnestisch sein. Will
man aber diese Fälle generalisiren, so täuscht man sich ebensosehr,
als wenn man die unzweifelhaften Fälle, wo die Suggestion in voll-
ständig klarem Wachzustand verwirklicht wird, verallgemeinert.
Man kann, wiederum durch Eingebung, alles Hypnotische aus diesen
Zuständen bis auf die beabsichtigte Suggestion ausmerzen, so dass
sie dem vollen Wachzustand immer identischer werden. Es gibt
da alle Stufen vom starren bis zum völlig klaren Blick, vom kritik-
losen Automatismus, dem der gröbste Unsinn, wie im Traum ganz
natürlich und selbstverständlich erscheint, bis zur feinsten schärfsten
Selbstkritik des Hypnotisirten, bis zum wüthenden Kampf gegen
den Zwang, den Trieb der Suggestion. Ja, man kann die Sug-
gestion auf so natürliche und unbedeutende Details beschränken,
welche man wiederholt in der zeitlichen Verkettung des Denkens
einflicht, dass selbst von einer Condition prime im Sinne Lie'geois'
keine Rede mehr sein kann. Ich habe, abgesehen von den indivi-
duellen Verschiedenheiten, beobachtet, dass die besprochenen Zustände
umsomehr sich der eigentlicheren Hypnose nähern, als man einen
grösseren, zusammenhängenderen und zugleich barockeren Complex
suggerirt, umsomehr dagegen dem normalen Wachzustand ähneln, als
die Suggestion naturgemässer, wahrscheinlicher, beschränkter und
kürzer ist. Beispiele werden die Sache am deutlichsten erläutern.
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Seelenzustand bei posthypnotischen und Wachsuggestionen. Beispiele. 97
Ich sage einer Frau im vollen Wachen, indem ich ihren Arm
hebe, sie könne ihn nicht mehr bewegen. Sie staunt, versucht
vergebens den Arm zu senken, genirt sich u. s. w. Ich füge aber
rasch nacheinander folgende Suggestionen hinzu: „Hier kommt ein
Löwe; Sie sehen ihn; er will uns fressen — jetzt geht er weg.
Es wird dunkel. Der Mond scheint. Sehen Sie den grossen Fluss
da mit den Tausenden von Fischen. Sie sind steif am ganzen Leib,
können sich nicht rühren u. s. w." — In wenigen Secunden durch-
toben alle diese Eindrücke als sinnliche Wahrnehmungen mit ent-
sprechenden Gefühlen das Bewusstsein der Frau, und ihr Seelen-
zustand nähert sich immer mehr der gewöhnlichen Hypnose; es
wird ihr „wie im Traum"; hier kann man mitDelboeuf einfach
sagen: „sie ist wieder hypnotisirt."
Umgekehrt aber sage ich derselben hypnotisirten Wärterin:
„Sie werden jedesmal, wenn der Herr Assistenzarzt durch die Ab-
theilung geht und Sie ihm über das Verhalten der aufgeregten
Patientin Luise C. referiren, sich versprechen und Lina C. sagen. Sie
werden es merken, versuchen, sich zu corrigiren, aber Sie werden
nicht können, sondern immer Lina für Luise sagen. Und jedesmal,
wenn Sie denselben Assistenzarzt mit ,Herr Doctor 1 ansprechen
werden, werden Sie sich zugleich, ohne es zu merken, mit der
rechten Hand auf der rechten Stirnseite kratzen.* Die Suggestion
verwirklicht sich. Mitten im gewöhnlichen Sprechen verspricht sich
die Wärterin regelmässig und sagt Lina C. für Luise C; es ist
wie die suggerirte Paraphasie eines Wortes. Sie merkt es, will
sich corrigiren, verspricht sich aber wieder in gleicher Weise und
wundert sich darüber. Jedesmal fast, dass sie den Assistenzarzt
mit seinem Namen anspricht, kratzt sie sich, genau wie ihr sug-
gerirt wurde. Wunderbar ist es, zu sehen, wie die ahnungslose
Wärterin sich fast jeden Tag wieder über das Sichversprechen beim
Namen der C. aufhält, sich darüber entschuldigt und wundert, sie
könne nicht begreifen, was sie habe, dass sie sich bei diesem Namen
immer verspreche, so etwas wäre ihr in ihrem Leben noch nicht
vorgekommen. Das Kratzen dagegen geschieht ganz instinctiv, ohne
dass sie es merkt. Jetzt, nach einigen Wochen, fängt sie allraälig
an, sich so zu helfen, dass sie den Vornamen weglässt und nur
„die C." sagt! Und zu dieser so lange Zeit hindurch wiederkehrenden
Störung hat eine einzige Suggestion genügt. Man müsste hier
annehmen, dass die „Condition prime* immer nur während des
Aussprechens des Vornamens und während des Kratzens währt,
Forel, Der Hypnotismus 4. Aufl. 7
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98 Seelenzustand bei posthypnotischen und Wachsuggestionen. Beispiele.
während die übrige Rede im normalen Wachzustand geschieht. Aber
während sie kratzt, spricht sie Dinge, die nicht suggerirt waren
und völlig vernünftig sind; folglich existirt die „Condition prime"
nur für einen Theil der psychischen Thätigkeit.
Einem gebildeten jungen Mann (Studenten) gab ich in der
Hypnose die Suggestion, er werde nach dem Erwachen mit seiner
linken Hand meine rechte Schulter klopfen. Er widerstand dem
Trieb, weil er sehr eigensinnig ist und um keinen Preis die Frei-
heit seines Willens beeinträchtigen lassen wollte. Er ging nach
Hause. Ich hatte ihn für eine Woche später wieder bestellt, und
als er wiederkam, gestand er mir, wie meine Suggestion ihn die
ganze Woche gequält hatte, und zwar so, dass er einige Male auf
dem Punkt stand, zu mir ( 8 /* Stunde weit) zu kommen, um mir auf
die Schulter zu klopfen. War denn die ganze Woche, wo der Be-
treffende im Uebrigen arbeitete, Vorlesungen hörte, schlief u. s. w.,
eine „Condition prime"?
Bei einer intelligenten, sehr suggestiblen Wärterin wirkten die
Suggestions ä e'che'ance so mächtig, dass sie mir erklärte, sie sei
absolut überwältigt und wäre gezwungen, sogar einen Mord zu be-
gehen, wenn ich ihr denselben suggeriren würde, so furchtbar sei
der Trieb, auch den grössten Unsinn zu begehen. Ihre wieder-
holten energischsten Versuche, zu widerstehen, steigerten nur den
Trieb um so heftiger. Einmal sprach sie mir in Gegenwart von
zwei Personen über den Hypnotismus und sagte mir: „Aber, Herr
Director, es ist gleich; ich muss zwar Alles thun, was Sie mir im
Schlaf eingeben — aber, obwohl ich vorher gar nichts davon weiss,
merke ich immer, dass es von Ihnen kommt, wenn es kommt; es
ist so ein eigenthümlicher Trieb, wie etwas Fremdes.* — So sagte
ich ihr: „Schlafen Sie!" Sie schlief sofort ein. Ich sagte ihr dann:
„Eine halbe Minute nach Ihrem Erwachen wird Ihnen, ganz von
selbst, die Idee kommen, mich Folgendes zu fragen: „»Ach, Herr
Director, ich habe Sie schon lange fragen wollen, wie kommt es,
dass man beim Hypnotisiren so blitzartig einschläft. Im gewöhn-
lichen Schlaf ist es nicht so ; man schläft langsamer ein. Wie kommt
denn das? es ist so wunderbar;"" — Sie haben dann keine Ahnung,
dass ich Ihnen das im Schlaf gesagt habe; die Idee ist ganz von
Ihnen; Sie haben es mich ja schon lange fragen wollen. Zählen
Sie jetzt bis sechs und dann sind Sie wach." — Sie zählt, wird
wach, versichert mich, sehr gut geschlafen zu haben *). Dann,
*) Schlief auch jedes Mal äusserst tief, was objectiv unverkennbar war.
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Täuschung des freien Willeneentschlusses. Beispiele. 99
nach ungefähr */* Minute bricht sie, das höchste Interesse mit stark
fragendem Ton bekundend, mit der suggerirten Phrase Wort für
Wort aus. Ich höre sie ruhig an, gebe ihr eingehend Antwort, und
frage sie dann, wie sie dazu komme, mir die Frage zu stellen. —
„Ja, das habe ich Sie schon lange fragen wollen." — „Ist es nicht
eine Suggestion, die ich Ihnen soeben im Schlaf gegeben habe?" —
„Durchaus nicht; ich lasse mich nicht täuschen, das ist meine eigene
Idee." — »Und Sie täuschen sich doch; hier sind zwei Zeugen, die
gehört haben, dass ich es Ihnen Wort für Wort vor zwei Minuten
suggerirt habe!" — Die arme Hypnotisirte war sehr verdutzt und
musste nun zugeben, dass sie nicht jede Suggestion als solche
erkenne, sondern wohl nur solche, welche barock genug waren, um
nicht eigenes Hirngewächs sein zu können.
Einen tüchtigen, intelligenten jungen Cand. juris (dem Schluss-
examen nahe), der die Theorie der Suggestion gut kannte, konnte
ich in tiefe Hypnose mit totaler Amnesie versetzen. Ich suggerirte
ihm einmal, er würde nach dem Erwachen sich zum anwesenden
Collegen D. wenden, und ihn nach seinem Namen und seiner Heiraath,
sowie ob er sich schon mit Hypnotismus befasst habe, fragen. So
geschah es auch, aber der Cand. fügte noch hinzu: „Ich meine,
ich habe Sie schon einmal gesehen; heissen Sie nicht X.?" Als
die Angabe der Heimath nicht stimmte, sagte er, er müsse sich
getäuscht haben und ging dann fort. Am folgenden Tage, als er
wieder kam, frug ich ihn, warum er den Collegen D. nach seiner
letzten Hypnose so interpellirt habe. „Ich meinte, es sei ein Be-
kannter gewesen, aber es war nicht so." War das wirklich aus
eigenem Antrieb, aus freiem Willen, dass Sie diese Frage stellten?
Darauf schaute mich der Candidat verwundert an: „Freilich." War
es nicht vielleicht eine Suggestion von mir? „Nein; wenigstens
weiss ich nichts davon." Er wurde darauf etwas ungehalten,
schneuzte sich dann und frug mich: „Ist das vielleicht auch Sug-
gestion, dass ich mich jetzt schneuzen muss?" (Es war nicht der
Fall.) Er versicherte mich, keine blasse Ahnung davon gehabt zu
haben, dass seine Frage an Dr. D. nicht natürlicher eigener Antrieb
gewesen sei und war durch meine Erklärung sehr betroffen und
zugleich interessirt.
Ich könnte noch viele Beispiele anführen, da ich diesem Gegen-
stand eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet habe. Die oben
erwähnte posthypnotische Hallucination einer Dame, welche zwei
suggerirte Veilchen von einem wirklichen nicht unterscheiden konnte,
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100
Freier Wille. Dauernde Erfolge der Suggestion.
gehört z. B. auch hierher. Aber es dürfte genügen, um zu zeigen,
dass man eine Suggestion derart in die normale Thätigkeit der
wachen normalen Seele einschmuggeln und einflechten kann, dass
jede hypnoseartige Nebenerscheinung ausgeschlossen wird. In diesen
Fällen wird der „Hypnotisirte" völlig getäuscht, glaubt spontan zu
denken oder zu wollen, die schmarotzende Eingebung des Hyp-
notiseurs nicht ahnend.
Es ist nicht leicht Spinoza's Ausspruch — „Die Illusion des
freien Willens ist weiter nichts als die Unkenntniss der Motive
unserer Entschlüsse* — hübscher zu illustriren, als durch dieses
hypnotische Experiment. Es ist eine förmliche Demonstratio ad
oculos, dass unser subjectiv freier Wille objectiv bedingt ist. Der
einzige Unterschied ist, dass er beim Hypnotisirten durch Sug-
gestionen eines Anderen, beim Nichthypnotisirten neben der plastisch
sich anpassenden Vernunftsthätigkeit durch Gefühle, Instincte, Ge-
wohnheiten, Autosuggestionen etc. verursacht wird.
Eine interessante und häufige Zwischenform zwischen eigent-
licher Hypnose und Wachzustand besteht immerhin darin, dass der
Hypnotisirte zwar offene Augen hat, sich wie ein normaler Mensch
benimmt und gar nichts vergisst, dass er aber einen deutlich starren
Blick zeigt, unnatürliche, sinnlose Suggestionen natürlich findet,
d. h. dass er sich gar nicht über dieselben wundert und sie aus-
führt, ohne sie zu discutiren. Fragt man ihn später darüber, so
gibt er nicht selten zu, es sei ihm noch etwas taumelig oder traum-
haft gewesen; er sei nicht so ganz vollständig wach und klar ge-
wesen; dieses wäre etwa die veille somnambulique oder Condition
prime. Es ist die beginnende Einengung des Bewusstseins , der
Anfang des Monoideismus der Hypnose mit Rapport.
§ 12. Dauernde Erfolge der Suggestion. Kann man durch
Suggestion die Seele oder irgend eine Nervenfunction dauernd
ändern, und wäre es nur in einem Detailpunkt?
Diese Frage ist öfters gestellt, doch kaum befriedigend be-
antwortet worden. — Man hat Suggestions ä e'che'ance auf die
Dauer eines Jahres gegeben; man hat durch Suggestion tagelang
dauernden Schlaf erzielt; man hat vor Allem eine Reihe dauernder
therapeutischer Erfolge aufzuweisen. Und dennoch auf der andern
Seite muss jeder, der sich mit Hypnose befasst hat, zugeben, dass
sich mit der Zeit die Wirkung einer Hypnose an und für sich ab-
schwächt. Ich kann dagegen immer weniger finden, dass der Hyp-
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Dauerwirkung der Suggestion.
101
notisirte nach längerem Fernbleiben des Hypnotiseurs allmälig auf-
höre, unter seinem Einfluss zu stehen, wie man es früher behauptet
hat. Oft finde ich umgekehrt, dass später, nach langem (mehr als
l Jb- oder 1 jährigem) Unterbruch die Erfolge der Hypnose besser
sind, als wenn man sich durch fortwährendes Hypnotisiren bei
einem Patienten oder Gesunden abnützt.
Mir scheinen die therapeutischen Erfolge der Hypnose, genau
betrachtet, am besten über diese Frage Aufklärung zu geben. —
Ich glaube, dass man einen dauernden Erfolg erzielen kann nur
entweder, 1. wenn die erzielte Aenderung in sich selbst die Kraft
trägt, dadurch, dass sie durch einmalige oder wiederholte Suggestion
zur Autosuggestion oder Gewohnheit erhoben wird, sich im Kampf
um's Dasein zwischen den einzelnen Dynamismen des Centrainerven-
systems zu behaupten; oder 2. wenn ihr diese ihr an sich fehlende
Kraft durch Hülfsmittel verschafft wird, welche man allerdings viel-
fach auch durch Suggestion herbeiziehen kann. — Man muss dabei
stets die Suggestion geben, dass der Erfolg dauernd sein wird ; er-
fahrungsgemäss aber wirkt dieses allein, ohne die erwähnten Hülfs-
mittel, selten vollständig.
Beispiele. Zu 1. Ein Kind hat die schlechte Gewohnheit
behalten, sein Bett zu nässen. Durch Suggestion wird es gezwungen,
Nachts aufzustehen und in den Topf zu uriniren, schliesslich sogar
den Urin zu halten. Die schlechte Gewohnheit wird durch eine
gute ersetzt, welche zugleich, weil sie normal ist, sich leicht be-
festigt. Das Kind hatte sich gewöhnt, gemüthlich in der Nässe zu
schlafen. Jetzt aber gewöhnt es sich, trocken zu bleiben. Schon
der Traum der Nässe wird es wecken. Wir können hier definitive
Heilung erzielen, wenn nicht Abnormitäten der Blase oder der
Urethra, oder auch onanistische Gewohnheiten dem Erfolg der Sug-
gestion nachher entgegenzuwirken fortfahren. Zu 2.
Jemand leidet an Migränen, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Müdig-
keit, Obstipation und häufigen Pollutionen und ist in Folge dessen
blutarm und mager geworden. Es gelingt mir, ihm Schlaf, Appetit,
regelmässigen Stuhl und Aufhören der Pollutionen durch Suggestion
zu verschaffen. Dadurch verliert sich bald die Blutarmuth; der
Hypnotisirte nimmt an Ernährung und Körpergewicht zu; der Schlaf
curirt die nervöse Erschöpfung und dadurch die Migräne (die übrigens
auch direct momentan wegzusuggeriren ist). Dadurch ist das Gleich-
gewicht im Organismus wieder hergestellt und die Heilung wird
eine dauernde sein, wenn die Ursache, welche die Krank-
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102
Dauerwirkung der Suggestion. Beispiele.
heit hervorgebracht hatte, ihrerseits nicht wieder-
kehrt oder nicht auch eine dauernde ist.
Daher glaube ich auch, dass die Suggestion erworbene
Laster und schlechte Gewohnheiten, sowie gewisse erworbene Leiden,
besonders mit Hülfsmitteln, oft definitiv wird beseitigen können, dass
sie dagegen niemals erbliche oder constitutionelle Charaktereigen-
schaften dauernd ändern wird. — Sie wird in solchen Fällen nur
von vorübergehender Wirkung sein, wie sie es auch so oft bei
destructiven und auch bei sehr eingewurzelten Uebeln ist.
Im concreten Fall wissen wir aber sehr oft nicht, wie viel
Ererbtes und wie viel Erworbenes, d. h. individuell Angepasstes
in einem Uebel liegt. Und nicht selten genügt es, den erworbenen
Factor zu beseitigen, um die erbliche Anlage wieder zum Stillstand,
zum Schlummern, zurückzuführen. Da kann also die Suggestion
auch helfen. Wenn wir z. B. die hystero-epüeptischen Anfalle
einer Hysterica durch Suggestion, Elektrotherapie oder Hydrotherapie
(was ganz auf dem Gleichen, nämlich auf Suggestions Wirkung be-
ruht) beseitigen, thun wir thatsächlich nichts Anderes: die erwor-
benen Anfälle sind curirt; die hysterische Constitution bleibt.
Jeder länger dauernde Erfolg einer Suggestion, wenn er Thätig-
keiten im Wachzustand betrifft, ist eo ipso posthypnotisch. Somit
würde logischer Weise derselbe zur „Condition prime* von Lie*geois
gehören, z. B. die suggerirte Menstruation, die suggerirte Heiterkeit,
die Heilung des Stotterns und der Stuhlverstopfung durch Sug-
gestion u. s. w. Wollte man da die Logik auf die Spitze treiben,
so würde ein durch Suggestion definitiv geheilter Mensch lebens-
länglich in der »Condition prime" bleiben. Ich will damit nur
deutlich zeigen, dass eine Grenze zwischen dem veränderten Zustand
der Seele in der Hypnose und ihrem vollständig normalen Thätig-
keitszustand im Wachen nicht vorhanden ist. Alle Nuancen und
Abstufungen lassen sich experimentell erzeugen. Zwischen dem
spontanen Schlaf und dem Wachzustand lassen sich auch ohne
Suggestion bei manchen Menschen ziemlich nuancirte Uebergänge
beobachten. Dieselben sind aber durch den Zufall der Auto-
suggestion producirt und daher bei Weitem nicht so fein nuancirt
und nicht so systematisch abgestuft, wie man es durch die Sug-
gestion erzielen kann.
§ 13. Hallucination retroactive oder suggerirte Erinnerungs-
fälschung. Bernheim nennt „Hallucination retroactive" die sug-
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Suggerirte Erinnerungsfälschung.
103
gerirte Erinnerung an nie Erlebtes. Da es sich hier nicht um
effective actuelle Wahrnehmung und auch nicht nothwendig um
Erinnerung an Wahrnehmungen (es kann ebenso gut die Erinnerung
eines Gedankens, eines Gefühles, einer That sein) handelt, kann ich
den Ausdruck nicht zutreffend linden. Es ist auch nicht ganz genau
das Gleiche wie die in der Psychopathologie als eigentliche Erinne-
rungstäuschung bezeichnete Erscheinung, weil dieselbe stets die
irrige Rückversetzung eines actuellen Wahrnehmungscomplexes als
Duplicat, als Erinnerung, in die Vergangenheit ist. Doch ist der
suggerirte Vorgang psychologisch mit dem weiteren Begriff der
Erinnerungsfälschung gleichwertig, wie er von K r ä p e 1 i n definirt
worden ist 1 ).
Beispiel: Einem Fräulein X. sagte ich plötzlich, im Moment,
') A. Delbrück (Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen
Schwindler, 1891 bei Enke) beschreibt einen Fall von Erinnerongsfälschnng
eines Verrückten unserer Anstalt, den ich anfangs für einen einfachen Hallu-
cinanten gehalten hatte, wie man überhaupt in solchen Fällen früher irriger-
weise effective Hallucinationen vor sich zu haben glaubte. Dieser Kranke
kommt öfters plötzlich und erzählt oder schreibt mit grosser Entrüstung, wie
der Director oder der Assistent zu dieser oder jener vergangenen Zeit (gestern,
heute früh zu dieser oder jener Stunde) furchtbare Sachen mit ihm getrieben,
ihn misshandelt, nackt ausgezogen habe oder dergl. Die Hauptsache ist aber,
und das ist leicht zu beweisen, dass zu der Zeit, wo er diese Hallucination
zurückverlegt, er dieselbe gar nicht gehabt hat, sondern ruhig irgend etwas
Gewöhnliches trieb und dabei ganz munter war. Er erklärt die Sache nun
so, dass er sagt, man habe ihn offenbar durch irgend ein Mittel betäubt, so
dass ihm die Erinnerung an diese Gräuel erst viele Stunden später gekommen
sei. Es ist dieses nun die reinBte Hallucination rätroactive von Bernheim,
nur dass sie spontan und nicht suggerirt ist, und dass sie auf einer geistigen
Störung beruht.
Ein anderer Verrückter unserer Anstalt autosuggerirt sich negative Er-
innerungsfälschungen, aus welchen er sich die Wahnidee sogen. .Schöpfungs-
acte" gebildet hat. Er sagt mir z. B.: „Herr Director, dieser Tisch (der seit
Jahren am gleichen Platz stehende Tisch des Unterhaltungssaales der Kranken)
ist erst seit heute Morgen entstanden. Er war vorher nicht da; es ist ein
Schöpf ungsact. Sie sagen zwar, es sei eine Täuschung von mir, aber Sie
müssen nur durch höhere Gewalt so sprechen etc.* Es ist aber leicht nach-
zuweisen, dass dieser Kranke lange vorher den betreffenden Tisch immer ge-
kannt und benutzt hat. Es war somit keine wirkliche negative Hallucination
vorhanden; dieselbe liegt nur in der Erinnerung und geschieht im Moment der
Betrachtung des Objectes (wie bei der ächten Erinnerungstäuschung), das aber
aus der Vergangenheit weggewischt, Btatt nochmals hinzugesetzt wird. Der
betreffende Kranke wähnt beständig ähnliche Schöpfungsacte in Folge solcher
negativen Erinnerungstäuschungen (retroactiven negativen Hallucinationen).
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104
Suggerirte Erinnerungsfälschung bei Kindern.
wo ein ihr gänzlich unbekannter junger Mann in's Zimmer trat (sie
war wach): „Sie kennen diesen Herrn; er hat Ihnen vor einem
Monat am Bahnhofplatze Ihre Börse gestohlen und ist damit durch-
gebrannt u. s. w." Sie schaute ihn an, zuerst etwas staunend, war
aber gleich überzeugt, erinnerte sich genau, fügte sogar hinzu, es
seien 20 Francs in ihrer Börse gewesen; und schliesslich verlangte
sie die Bestrafung des Betreffenden. Wenn ich Jemanden Amnesie
über irgend eine vergangene Zeitperiode oder über einige seiner
Hirndynamismen (eine erlernte Sprache z. B.) mit Erfolg suggeriren
kann, kann ich ihm umgekehrt ebenso gut ein unwirkliches Plus
von Erinnerungen suggeriren, sofern ich die entsprechenden Vor-
stellungen in sein Gehirn bringe. Wenn ich dem Hypnotisirten
sage: „Sie können Sanskrit sprechen," wird er es nicht können
(wenn er es nie gelernt hat); wenn ich ihm aber sage: Sie haben
das und jenes erlebt, gethan, gesagt, gedacht u. s. w. , so glaubt
er es gesagt, gethan, gedacht zu haben, assimilirt vollständig die
Suggestion zu den Erinnerungen seines vergangenen Lebens und
ergänzt dieselbe da, wo der Hypnotiseur Lücken gelassen hatte
(z. B. im erwähnten Fall den Inhalt der Börse). Ein achtjähriger
Knabe, den ich dem versammelten Juristenverein in Zürich demon-
stirte, schwört vor Gott, auf meine Suggestion hin, dass einer der
vor ihm stehenden Herrn Advocaten ihm sein Taschentuch vor
acht Tagen gestohlen habe. Er fügt selbst, als er darüber gefragt
wird, genau den Ort und die Stunde hinzu. Fünf Minuten später
suggerire ich ihm, dass das alles nicht geschehen ist und dass er
es nie behauptet hat. Mit ebenso grosser Keckheit verläugnet er,
schwörend, das einen Augenblick vorher abgelegte Zeugniss, den
entrüsteten Mahnungen des Juristen zum Trotz.
Es ist ein grosses Verdienst Bernheim's, an der Hand vieler
Beispiele diese hochwichtige Thatsache klargelegt zu haben. Bern-
heim hat sogar solche retroactive Suggestionen collectiv gegeben
und damit eine Reihe falscher Zeugen erzeugt, welche mit innigster
Ueberzeugung ihr Zeugniss abgaben. — Er hat darauf hingewiesen,
dass besonders bei Kindern, welche instinctiv geneigt sind, alles
mehr oder weniger zu acceptiren, was ihnen von Erwachsenen in
einem gewissen Ton gesagt wird, ungemein leicht solche Erinnerungs-
fälschungen durch Suggestion beim vollen Wachen zu erzeugen sind.
Da nun aber die Suggestion in vielen Fällen, wenn starke Eindrücke
auf die Phantasie einwirken, auch ohne dass je ein hypnotischer
Schlaf vorangegangen ist, von Erfolg sein kann, und dieses bei
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SuggerirteErinnerungsfölschung bei Angeklagten, Zeugen. Gottfried Keller. 105
Kindern und schwachen Menschen ganz besonders, so sieht man,
wie nahe die Gefahr der Eingebung eines falschen Zeugnisses, be-
sonders falscher Geständnisse durch Suggestivfragen des Unter-
suchungsrichters liegt. — Bernheim hat auch daraufhingewiesen,
dass in der That solche Fälle bei Strafrechtsproceduren nicht selten
vorgekommen sind. Juristen werden gewiss im Stande sein, aus
der Geschichte berühmter Processe manche solche Fälle herauszu-
finden.
A. Delbrück (1. c.) erwähnt eine höchst interessante Er-
zählung des Dichters Gottfried Keller (Der grüne Heinrich,
neue Ausgabe, Capitel 8, Seite 107 u. ff.: Kinderverbrechen), welche
nichts Anderes als einen prachtvollen Fall von suggerirter Erinne-
rungsfälschung, von retroactiver Hallucination darstellt. Die Schilde-
rung Keller's 1 ) ist so wahr und entspricht mit solcher Genauigkeit
*) Gottfried Keller, „Der grüne Heinrich", neue Ausgabe 1879,
S. 107 u. ff. Ich aber machte nicht viele Worte, sondern gab Acht, dass
nichts von den geschehenden Dingen meinen Augen und Ohren entging. Mit
all diesen Eindrücken beladen, zog ich dann über die Gasse wieder nach Hause
und spann in der Stille unserer Stube den Stoff zu grossen träumerischen Ge-
weben aus, wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab. Sie verflochten
sich mir mit dem wirklichen Leben, dass ich sie kaum von demselben unter-
scheiden konnte.
Daraus nur mag ich mir u. A. eine Geschichte erklären, welche ich
ungefähr in meinem siebenten Jahre anrichtete, und die ich sonst gar nicht
hegreifen könnte. Ich sass einst hinter dem Tische, mit irgend einem Spiel-
zeuge beschäftigt, und sprach dazu einige unanständige, höchst rohe Worte
vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Strasse
gehört haben mochte. Eine Frau sass bei meiner Mutter und plauderte mit
ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter darauf aufmerksam machte.
Sie fragten mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt hätte, ins-
besondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich verwunderte,
einen Augenblick nachsinnend, und dann den Namen eines Knaben nannte,
den ich in der Schule zu sehen pflegte. Sogleich fügte ich noch zwei oder
drei Andere hinzu, sämmtlich Jungen von 12 — 13 Jahren, mit denen ich kaum
noch ein Wort gesprochen hatte. Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer
zu meiner Verwunderung nach der Schule zurück, sowie jene vier angegebenen
Knaben, welche mir wie halbe Männer vorkamen, da sie an Alter und Grösse
mir weit vorgeschritten waren. Ein geistlicher Herr erschien, welcher ge-
wöhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand, setzte
sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hiess mich neben ihn sitzen. Die
Knaben hingegen mussten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen und
harrten der Dinge, die da kommen sollten. Sie wurden nun mit feierlicher
Stimme gefragt, ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart gesprochen hätten.
Sie wussten nichts zu antworten und waren ganz erstaunt. Hierauf sagte der
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106 Sugger. Erinnerungsfälschung. Beispiel Tom grünen Heinrich (Gottfr. Keller).
allen Details des psychologischen Phänomens, dass ich mit Del-
brück annehmen muss, der Dichter habe sie selbst erlebt. Es ist
dieses um so wahrscheinlicher, als bekanntlich Keller in dem
grünen Heinrich (Heinrich Lee) viele Erlebnisse seines eigenen
Lebens verkörpert hat. Heinrich Lee war bei der betreffenden Ge-
schichte sieben Jahre alt. Ich füge hinzu, dass Jedermann an
kleinen Kindern, besonders an zwei- bis vierjährigen Kindern, deren
ungeheure Suggestibilität und Verwechslung von Vorstellung mit
Wirklichkeit leicht beobachten kann.
Die Erzählung Keller's und seine wahre Deutung derselben
hat einen um so grösseren wissenschaftlichen Werth, als zur Zeit
Geistliche zu mir: „Wo hast du die bewussten Dinge gehört von diesen
Buben?" Ich war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit
trockener Bestimmtheit: „Im Brüderleinsholze !* Dieses ist ein Gehölz, eine
Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in meinem Leben nie gewesen war,
das ich aber oft nennen hörte. »Wie ist es dabei zugegangen, wie seid ihr
dahin gekommen?" fragte man weiter. Ich erzählte, wie mich die Knaben
eines Tages zu einem Spaziergang überredet und in den Wald hinaus mit-
genommen hatten, und ich beschrieb einlasslich die Art, wie etwa grössere
Knaben einen kleineren zu einem muth willigen Streif zuge mitnehmen. Die
Angeklagten geriethen ausser sich und betheuerten mit Thränen, dass sie
theils seit langer Zeit, theils gar nie in jenem Gehölze gewesen seien, am
wenigsten mit mir! Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich, wie
auf eine böse Schlange, und wollten mich mit Vorwürfen und Fragen be-
stürmen, wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert, den Weg an-
zugeben, welchen wir gegangen. Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen
Augen, und angefeuert durch den Widerspruch und das Läugnen eines Mär-
chens, an welches ich nun selbst glaubte, da ich mir sonst auf keine Weise
den wirklichen Bestand der gegenwärtigen Scene erklären konnte, gab ich
nun Weg und Steg an, die an den Ort führen. Ich kannte dieselben nur
vom flüchtigen Hörensagen, und obgleich ich kaum darauf gemerkt hatte,
stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein. Ferner erzählte ich, wie
wir unterwegs Nüsse heruntergeschlagen, Feuer gemacht und gestohlene Kar-
toffeln gebraten, auch einen Bauernjungen jämmerlich durchgebläut hätten,
welcher uns hindern wollte. Im Walde angekommen, kletterten meine Ge-
fährten auf hohe Tannen und jauchzten in der Höhe, den Geistlichen und
den Lehrer mit Spitznamen benennend. Diese Spitznamen hatte ich, über das
Aeussere der beiden Männer nachsinnend, längst im eigenen Herzen aus-
geheckt, aber nie verlautbart; bei dieser Gelegenheit brachte ich sie zugleich
an den Mann, und der Zorn der Herren war eben so gross, als das Erstaunen
der vorgeschobenen Knaben. Nachdem sie wieder von den Bäumen herunter-
gekommen, schnitten sie grosse Ruthen und forderten mich auf, auch auf ein
Bäumchen zu klettern und oben die Spottnamen auszurufen. Als ich mich
weigerte, banden sie mich an einen Baum fest und schlugen mich so lange
mit den Ruthen, bis ich Alles aussprach, was sie verlangten, auch jene unan-
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Suggerirte Erinnerungsfälschung. Grüner Heinrich (Gottfr. Keller). 107
des Erscheinens des grünen Heinrichs die Suggestionslehre noch
völlig unbekannt war, so dass Keller von jeder Theorie und
Forschung Anderer unbeeinflusst seine vortreffliche psychologische
Beobachtung niederschrieb.
Man kennt in der Psychiatrie schon lange Fälle falscher
Selbstbeschuldigungen, wo die Geisteskranken sich mit allen den
genauesten Details eines nicht begangenen Verbrechens selbst an-
klagen und sich dem Gericht zur Bestrafung stellen. Ebenso kennt
man bei denselben das Vorkommen falscher Anklagen gegen andere
Menschen. Man hat diese Dinge bisher stets einfach als Wahn-
ideen betrachtet, welche auf der Basis des Versündigungswahnes
ständigen Worte. Indessen ich rief, schlichen sie sich hinter meinem Rücken
davon, ein Bauer kam in demselben Augenblicke heran, hörte meine unsitt-
lichen Reden und packte mich bei den Ohren. .Wart', ihr bösen Buben!*
rief er, , diesen habe ich!" und hieb mir einige Streiche. Dann ging er eben-
falls weg und liess mich stehen, während es schon dunkelte. Mit vieler Mühe
riss ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunkeln Wald. Allein ich
verirrte mich, fiel in einen tiefen Bach, in welchem ich bis zum Ausgang des
Waldes theils schwamm, theils watete, und so, nach Bestehung mancher Ge-
fährde, den rechten Weg fand. Doch wurde ich noch von einem grossen Ziegen-
bocke angegriffen, bekämpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaun-
pfahl und schlug ihn in die Flucht.
Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir
bemerkt, wie bei dieser Erzählung. Es kam Niemand in den Sinn, etwa bei
meiner Mutter anfragen zu lassen, ob ich eines Tages durchnässt und nächt-
lich nach Hause gekommen sei? Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer
in Zusammenhang, dass der Eine oder der Andere der Knaben nachgewiesener
Massen die Schule geschwänzt hatte, gerade um die Zeit, welche ich angab.
Man glaubte meiner grossen Jugend sowohl, wie meiner Erzählung ; diese fiel
ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen
Schweigens. Die Angeklagten wurden unschuldig verurtheilt als verwüderte,
bösartige junge Leute, da ihr hartnäckiges und einstimmiges Läugnen und
ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten;
sie erhielten die härtesten Schulstrafen, wurden auf die Schandbank gesetzt
und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt.
So viel ich mich dunkel erinnere, war mir das angerichtete Unheü nicht
nur gleichgültig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, dass
die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schön und sichtbarlich ab-
rundete, dass etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und
das in Folge meines schöpferischen Werthes. Ich begriff gar nicht, wie die
misshandelten Jungen so lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da
der treffliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran
so wenig etwas ändern konnte, als die alten Götter am Fatum. (Diese letzte
Erklärung Keller's entspricht offenbar mehr der nachherigen Reflexion des
erwachsenen Dichters als dem unmittelbaren Empfinden des Kindes.)
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108 Suggerirte Erinnerniigsfahchung bei Psychopathen und Hysterischen.
oder des Verfolgungswahnes oder der Hysterie, der Manie u. s. w.
beruhen, was auch meistens zutrifft. Die Kranken sind davon über-
zeugt; die Wahnideen sind überhaupt zwangsartige auf Geisteskrank-
heit beruhende Autosuggestionen. Aber es gibt Fälle, wo diese
Selbstbeschuldigungen einen typischen suggestiven Charakter haben
und mit nur sehr geringfügiger geistiger Abnormität verbunden
sind. Ich habe selbst einen Fall beobachtet (Mann), der sich eines
in Wirklichkeit von einem anderen begangenen Mordes beschuldigte
und dabei nur sehr wenig melancholisch verstimmt war. Er wurde
nach wenigen Tagen einsichtig und gab an, es habe der betreffende
wirkliche Mord ihm einen grossen Eindruck gemacht; er habe kurz
vorher mit der Hehlerin des Mörders verkehrt und nun sei es ihm
plötzlich so geworden, als habe er den Mord begangen; alle ein-
zelnen Umstände, die seine Phantasie ihm dabei ausmalte, kamen
ihm so vor, als habe er sie erlebt; er war überzeugt und konnte
nicht anders, als sich der Polizei zur Verfügung zu stellen und ihr
alles zu gestehen. Jetzt sei es ihm klar, dass alles nur eine Täu-
schung, wie ein Traum gewesen sei. Aehnlich ist der Fall von
Monakow (ein Fall von Selbstbeschuldigung bei Schwachsinn und
Melancholie 1885), wo eine Kranke sich des durch eine andere
Person begangenen Kindsmordes beschuldigte, obwohl sie nie ge-
boren hatte.
Bei manchen Hysterischen und Phantasielüffnern finden wir
einen ähnlichen Zustand. Diese Menschen lügen die andern und
sich selbst beständig an, sind aber thatsächlich nicht im Stande,
Erlebtes vom Ersonnenen klar zu unterscheiden. Sie schwindeln
und erdichten halb oder ganz unbewusst. Man verkennt sie psycho-
logisch ganz und gar, wenn man ihren falschen Angaben den Werth
bewusster Lügen beimisst. Es sind Instinctlügner; sie können nicht
anders als lügen, auch wenn man sie beschwört, prügelt oder ver-
achtet, alle erdenklichen Mittel der Güte und Strenge anwendet,
um ihnen das Lügen zu verleiden, sie fahren ganz automatisch, un-
bewusst fort, die einfältigsten, nutzlosesten Dichtungen einem vor-
zuschwindeln. Ich habe in meiner Jugend einen solchen unglück-
lichen Kameraden genau verfolgt und vergebens auf verschiedenste
Art in die Cur genommen. ■ Er hatte diese autosuggestive Eigen-
schaft von seiner Mutter geerbt, die er nie gekannt hatte, da sie
ihn wenige Wochen nach seiner Geburt verliess. — Wir haben es
hier mit einem constitutionellen Gehirn- resp. Geistesfehler zu thun,
der mit einer habituellen krankhaften Autosuggestibilität nicht ohne
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Pseudologia phantastica. Simulation der Hypnose. 109
Verwandtschaft sein dürfte. Das Hauptsymptom dieser pathologi-
schen Schwindler kann man mit dem Ausdruck Pseudologia
phantastica bezeichnen (siehe Delbrück 1. c).
§ 14. Simulation und Dissimulation der Hypnose. Aus allem
muss für jeden einsichtigen Menschen klar werden, 1. dass der
Ausspruch jener ungläubigen „esprits forts", welche kurzweg die
Hypnose für Schwindel erklären, auf beschränkter Voreingenommen-
heit ohne eigene Prüfung der Thatsachen beruht; 2. dass aber ander-
seits, wie alle besseren Experimentatoren es bezeugt haben, bei
hypnotischen Experimenten eine genaue Kritik und Selbstkritik
noth wendig ist. Zunächst ist jeder Hypnotisirte schwach, gefällig ^.
und sucht die Absichten des Hypnotiseurs zu errathen, um ihm zu j
folgen. Das ist aber eben keine Simulation, sondern Suggestibilität,
d. h. Plasticität durch Dissociation der Gehirnthätigkeit. Man muss
dabei genau die Inconsequenzen beobachten, welche zwischen dem
Benehmen des Hypnotisirten im Unterbewusstsein und seinen Angaben
im Oberbewusstsein herrschen, die Amnesie berücksichtigen etc., und
ihn ebenso wenig als „bewussten" Simulanten wie als „unbewussten"
Automaten taxiren. Es gibt aber ferner Menschen, welche aus
krankhafter Schwindel- oder Lügensucht die Symptome der Hypnose
halb unbewusst simuliren. Es sind meistens Hysterische oder auch
die oben erwähnten Lügner. Da aber diese Menschen, wie wir
sahen, selbst ihre Lügen glauben, ist ihre Hypnose weder je ganz
reell noch je ganz simulirt. Sie spielen mit derselben, fügen Auto-
suggestionen hinzu, gehorchen oft nur denjenigen Eingebungen, die
ihren Launen gerade passen und dergl. mehr. Je phantastischer,
theatralischer die Suggestion ist, desto besser gelingt sie gewöhnlich
bei ihnen. Das sind höchst unzuverlässige Kunden. Gewisse
Schulen, vor Allem die Schule der Salpetriere, haben leider den
grossen Fehler begangen, solche Individuen als Grundlage ihrer
Experimente zu benutzen. — Es gibt aber andere bornirte Men-
schen, welche meinen, man wolle nur haben, dass sie sich so stellen,
als wenn sie schliefen, und die „aus Gefälligkeit für den Experi- j/
mentator" simuliren. Bernheim machte darauf aufmerksam. Es
ist aber sehr leicht, durch Selbstcontrole , durch genau gestellte
Fragen, die Quelle dieser Täuschung aufzufinden. Anderseits nun
gibt es schwacheitle Menschen, welche sich nachträglich schämen,
hypnotisirt worden zu sein, und welche behaupten, simulirt zu
haben, während sie in Wirklichkeit ganz gut hypnotisirt waren.
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110
Simulation und Dissimulation der Hypnose.
Bernheim hat speciell noch auf diese Fälle aufmerksam gemacht,
die ich ebenfalls einige Male beobachtet habe'. Kommt man da-
hinter, so genügen gewöhnlich einige richtig applicirte Suggestionen,
um sie zum spontanen Geständniss ihrer falschen Aussage am zu-
ständigen Ort zu zwingen. Andere wiederum sind im aufrichtigen
Glauben, nicht hypnotisirt worden zu sein, weil sie nicht amnestisch
sind. «Sie hätten nicht versuchen wollen," den Arm herunter-
zuthun. Da genügt eine kühne Herausforderung, sie zu über-
weisen: „Versuchen Sie doch mit Ihrer ganzen Kraft; ich erlaube
es Ihnen; ich bitte Sie darum — aber Sie können nicht."
Zeigt man Misstrauen einem Hypnotisirten gegenüber, so kann
man ihm dadurch, ohne es zu merken, die Suggestion geben, er
habe simulirt und ihn so zu einem falschen Simulationsgeständniss
(Erinnerungsfälschung) veranlassen. Ich sah einen classischen Fall
derart, den ein misstrauischer Arzt verursachte:
Der Hypnotisirte, ein Mann, kam zu mir in Thränen auf-
gelöst und gestand mir, er habe gar nie geschlafen, es sei alles
Schwindel gewesen, er habe alle Nadelstiche empfunden , die post-
hypnotischen Erscheinungen nur so gemacht, um mir zu gefallen etc.
Neben ihm stand der Arzt mit ernster Miene, der ihm dieses Ge-
ständniss (natürlich durch Suggestivfragen und in bester Absicht)
entlockt hatte. Ich ging scheinbar darauf ein, machte dem Hyp-
notisirten die Lection, sagte ihm, er solle sich schämen, so charakter-
los zu sein, und Hess ihn heilig versprechen, mir von nun an stets
nur die purste Wahrheit zu sagen, was er mir mit tiefster Gemüths-
bewegung versprach. So rührend die Scene war, so wusste ich
doch ganz genau, dass er nicht simulirt hatte, denn er war tief
hypnotisirt gewesen, total somnambul; sein Gesichtsausdruck in
der Hypnose und beim Erwachen gehörte zu denjenigen, welche
nicht simulirt werden können. Sofort nach dem Schwur und der
Versöhnung hypnotisirte ich ihn in Gegenwart des Arztes wieder.
Ich suggerirte dann Anästhesie der Hand. Die zwei ersten Nadel-
stiche spürte er doch und gab dies auch in der Hypnose an; die
späteren aber spürte er absolut nicht mehr, negirte auch, etwas
empfunden zu haben, und die übrigen Suggestionen gelangen wie
früher. Nach dem Erwachen gab er an, zwei Nadelstiche gespürt
zu haben. Von allen übrigen wusste er nichts mehr, obwohl die
vielen späteren Nadelstiche tiefer waren als die ersten. Damit war
der Hypnotisirte beruhigt und der Arzt belehrt.
Oscar Vogt fügt noch Folgendes hinzu (Forel, Hypn. 3. Aufl.):
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Suggerirte und autosuggerirte Simulationflgeständniase. 111
„Solche Simulationsgeständnisse können natürlich auf Auto-
suggestionen ebenfalls beruhen. Sie setzen in diesem Fall einen
Grad der Beeinflussung voraus, bei dem höchstens eine vorüber-
gehende Amnesie vorhanden ist. Es seien zwei Fälle hier mit-
getheilt."
„ Patient, nervengesund, ist in der 2. Sitzung somnambul. Er
führt einige Befehle posthypnotisch prompt aus. Patient wird vor
dem Verlassen des Arztes Amnesie für die ausgeführten Befehle
suggerirt. Patient verlässt vollständig amnestisch den Arzt. Nach
3 Tagen kommt Patient wieder und erklärt, nicht hypnotisirt ge-
wesen zu sein. Er wisse Alles. Die Befehle habe er nur dem Arzte
zu Gefallen gethan. Die Amnesie hatte nicht vorgehalten; dieser
Umstand hatte die Vorstellung, überhaupt nicht hypnotisirt gewesen
zu sein, hervorgerufen. Eine neue Hypnose Überzeugte den Patienten."
»Arzt, sehr zu Autosuggestionen neigend , wird hypnotisirt.
Patient ist somnambul. Es gelingt eine posthypnotische Hallucination
und posthypnotische Ausführung eines Befehles prompt. Patient,
der an Schlaflosigkeit leidet, soll Abends einen Schluck Wasser
nehmen und dann sofort einschlafen. Nach dem Erwachen ist
Patient zweifelhaft, ob er geschlafen habe; dabei ist er vollständig
amnestisch. Im Laufe des Tages weicht die Amnesie. Am Abend
ist ihm bereits äusserst zweifelhaft, dass er überhaupt hypnotisirt
gewesen sei. Da es doch möglich sei, nimmt er noch einen Schluck
Wasser, aber ohne hernach einzuschlafen. Nunmehr war er fest
überzeugt, überhaupt nicht hypnotisirt worden zu sein."
Man sieht, dass die zwei letzten Categorien von Täuschungen
keine ernste Schwierigkeit bieten, während die erste (hysterische
Leute und krankhafte Schwindler) durch ihre unentwirrbare Ver-
mengung mit wirklicher Hypnose, oft absolut nicht klarzustellen ist.
Es bliebe nur noch eine klarbewusste Simulation aus bestimmtem
Zweck übrig. Dieselbe kann vorkommen und kann anfänglich
täuschen, weil man bei der erstmaligen Hypnose eines Menschen
vorsichtig sein muss. Doch riskirt der Simulant wirklich gefangen,
d. h. hypnotisirt zu werden, wenn er sich zu gut in seine Rolle I
hineindenkt. Thut er es nicht, so wird er einen geübten Experi-
mentator nicht lange täuschen. Zudem hat die Sache nur den
Werth eines ziemlich einfältigen Spasses, den die wenigsten Menschen
treiben, vor Allem nicht die Kranken, die geheilt werden wollen.
In Nr. 46 vom 17. November 1890 der Berliner klinischen
Wochenschrift hat Herr Prof. Fr. Fuchs in Bonn unter dem Titel:
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112 Simulation u. Dissimulation d. Hypnose. „ Comödie d. Hypnose 1 * v. Prof. Fuchs.
„Die Comödie der Hypnose" eine sehr drollige, höhnische Satire
der hypnotischen Demonstrationen eines „ausländischen Meisters"
geschrieben, und glaubt einen Somnambulen als Simulanten entlarvt
zu haben. Aus seiner Angabe, dass der betreffende Professor „die
wichtige Entdeckung der Fernwirkung von Arzneimitteln in ver-
schlossenen Gläsern" verübt habe, sowie aus der unglaublichen
Kritiklosigkeit der Experimente, die er bei ihm gesehen hat, zu
schliessen, dürfte ich kaum irren, wenn ich in dem betreffenden
Meister und Professor Herrn Dr. Luys in Paris vermuthe. Wenn
in der That Herr Prof. Dr. Fuchs den Hypnotismus nur durch
Luys kennt, kann ich seine Kritik nicht ganz unzutreffend finden.
Daraus aber, dass Luys in der Gehirnanatomie eine fast ebenso grosse
Kritiklosigkeit an den Tag gelegt, Fasersysteme beschrieben hat,
welche nur er gesehen, und welche zweifellos nicht existiren etc.,
darf man nicht den Schluss ziehen, dass die Gehirnanatomie Hocus-
Pocus sei. Dennoch ist dieses ungefähr die Schlussfolgerung des
Herrn Prof. Fuchs bezüglich des Hypnotismus.
Interessanter ist der Versuch, den Herr Prof. Fuchs anstellt,
um nachzuweisen, dass ein unbescholtener junger Mann, der von
einem Herrn Krause in Bonn öffentlich hypnotisirt worden war,
dabei Comödie gespielt habe.
Herr Prof. Fuchs hypnotisirte selbst diesen jungen Mann
später zur Controle. Vor der Hypnose nun gab er ihm — aller-
dings ohne sich dessen bewusst zu sein, aber dennoch sehr ein-
dringlich — allerlei Suggestionen, aus deren Eintreffen er auf Simu-
lation schliessen zu müssen glaubt. Er setzt ihm z. B. eindringlich
auseinander, dass er nachher in der Hypnose den Nervus radialis
drücken werde und dass sich dann die zugehörigen Muskeln con-
trahiren würden, demonstrirt ihm aber thatsächlich Bewegungen, die
durch Innervation des Nervus medianus hervorgerufen werden. Diese
im Wachzustande nachdrücklich von Herrn Prof. Fuchs gegebene
Suggestion wird dann natürlich prompt von dem Individuum in der
Hypnose ausgeführt. Herr Prof. Fuchs jedoch ruft aus: Ertappt!
Simulation! u. s. f. Dann aber hält er dem jungen Mann seine
„Simulation" vor und bringt ihn schliesslich zum Geständniss
(wiederum durch Suggestivfragen!), dass er „vielleicht in der Hyp-
nose, ohne sich dessen bewusst zu sein, Comödie spiele". Um dem
jungen Mann „einen ehrenvollen Rückzug offen zu lassen", also aus
purer Humanität, drang Herr Prof. Fuchs nicht auf ein volles
Geständniss. Dass er ein solches, wenn er gewollt hätte, genau
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Prof. Fuchs bestätigt die Suggestion. Psychol. Bedeutung d. Suggestion. H3
wie der oben von mir citirte Arzt, retroactiv hätte suggeriren
können, daran ist freilich, nicht zu zweifeln. Aber trotz der schein-
baren Entlarvung durch Prof. Fuchs hatte der junge Mann zweifel-
los nicht simulirt.
Zum Schluss führt Herr Prof. Fuchs ein sehr schönes Bei-
spiel von suggestiver Heilung eines Blepharospasmus durch den
elektrischen Strom aus seiner eigenen Praxis an und erklärt dabei
selbst (ganz wie wir!), dass nicht die Elektricität, sondern die Vor-
stellung die Heilung herbeigeführt hat.
Es ist wirklich amüsant und lehrreich zugleich, wie die ganze
Darstellung des Herrn Prof. Fuchs von A bis Z eine von ihm
freilich nicht beabsichtigte, aber doch fast in jedes Detail zutreffende
Bestätigung der Suggestionslehre und eine ebenso scharfe Ver-
urtheilung der Charcot'schen Schule (am meisten freilich noch
der Luys'schen Verblendung) enthält.
§ 15. Bedeutung der Suggestion. Wir können, auf das bereits
Gesagte verweisend, uns kurz fassen. Die erste Bedeutung der Sug-
gestion ist eine psychologische und psycho-physiologische.
Sie gibt dem Psychologen eine naturwissenschaftliche Experimental-
methode in die Hand, die ihm bisher in dieser Art gefehlt hatte.
Und was für ein wunderbar feines und mannigfaltiges Reagens ist
sie, mit welchem alle Eigenschaften der Seele bis in ihre feinsten
Nuancen der Logik, der Ethik, der Aesthetik beeinflusst und modi-
ficirt werden können (vergl. 0. Vogt, weiter unten, sowie den
Amnesiefall von Dr. Naefs Dissertation).
Die Suggestion zeigt sich bei genauer Betrachtung als ein
Eingriff in die associative Dynamik unserer Seele. Sie dissociirt,
was associirt war, und associirt, was nicht associirt war. Ihr Haupt-
eingriff ist aber ein hemmender, ist eine Dissociation der associirten
(unterbewussten) Seelen- (Gehirn) Automatismen. Die dissociirte
Grosshirndynamik des Hypnotisirten ist im Zustand der Schwäche,
der „Hypotaxie", gegenüber der gut concentrirten und associirten
Dynamik des Hypnotiseurs, die ihr vermittelst der Sinnesorgane
aufoctroyirt wird. Ihre Thätigkeit wird plastisch lenksam, muss
unwiderstehlich sich der Suggestion anschmiegen. Die Ursache
dieser Subordination liegt aber nicht in einer besonderen Stärke
des Hypnotiseurs, sondern in dem Gefühl, in der Ueberzeugung
des Unterliegens, resp. des Beeinflusstseins, von Seiten des Hypnoti-
sirten. Im normalen Schlaf sind wir Alle im Zustand der Hypo-
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 8
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114 Allgemeine u. vergleichende psychologische Bedeutung der Suggestion.
taxie, der Schwäche, der Dissociation, verwechseln wir Alle unsere
Gedanken (Träume) mit Erlebnissen. Desshalb ist der Schlaf für die
Suggestion so vortheilhaft. Im Schlaf muss sogar das kräftigere
Gehirn den Suggestionen des sonst schwächeren, aber jetzt wachen-
den, und daher kräftiger associirten gehorchen. Ist aber einmal
eine Seele A (ein Gehirn) auf diese Weise von einer anderen B
energisch beeinflusst worden, so bleibt durch die Erinnerung, welche
die Ueberzeugung schafft, dass die Seele B das Vermögen habe,
auf die Seele A einzuwirken, die Disposition zu einem späteren
Beeinflusstwerden durch B vorhanden. In Wirklichkeit aber ist
es die Thätigkeit der Seele (des Gehirns) A, welche die mächtigen
Suggestionswirkungen vollbringt. Sie wird nur von der Seele B
genau und nach Belieben gelenkt, d. h. zur Dissociation , Asso-
ciation, Hemmung oder zur kräftigsten Entfaltung angeregt. Das
Bändigen der Löwen und Elephanten beruht auf ähnlichen Vorgängen.
B benutzt nur die in A vorhandenen Dynamismen, welche in
der der Seele A eigentümlichen Art und Weise arbeiten und den
Suggestionen von B nur desshalb folgen, weil sie nicht mehr
einer bewussten Gesammtconcentration gegenüber B fähig und
ihrer eigenen Stärke nicht bewusst sind. Die Dynamismen
des A werden daher immer mehr von B's Suggestionen über-
rumpelt und folgen immer automatischer denselben, für den An-
fang wenigstens.
Wir finden ganz ähnliche Erscheinungen bei dem Einfluss der
Menschen auf einander im politischen Leben, im socialen Leben
überhaupt. Wir finden sie bei den Leithammeln unter den Kindern
wie unter den Thieren, bei gewissen Propheten und Häuptlingen,
bei den Weissen gegenüber den Negern, bei Napoleon L und Bis-
marck gegenüber Europa, beim Menschen gegenüber den Haus-
thieren, bei dem Siegenden gegenüber dem Besiegten überhaupt,
sowohl bei Menschen als bei Thieren. Ja, man kann ähnliche
Nervenerscheinungen sogar bei Insecten (Ameisen) l ) beobachten,
wenn nach kecker Ueberrumpelung durch wenige kleinere Ameisen
eine mächtige Schaar grösserer und stärkerer Thiere widerstands-
und muthlos davonlaufen, ihre sonst so sorgsam erzogenen Larven
und Puppen feige verlassend. Es ist dies auch eine eclatante Sug-
gestionswirkung. — Nur darf man diesen Analogien, so verlockend
*) Forel, Founnifl de la Suiese, 1877, S. 314 und: Die psychischen Fähig-
keiten der Ameisen. München, E. Reinhardt. 1901. S. 37.
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Historische, ethnologische und pädagogische Bedeutung der Suggestion. 115
sie auch sind, nicht zu wörtliche Bedeutung beilegen. Es sind eben
nur analoge Vorgänge.
Wir dürfen vor Allem die Beeinflussung eines Menschen durch
Vernunftsgründe nicht als Suggestion bezeichnen. Es gibt aber
alle möglichen Uebergangsstufen von diesen Einwirkungen bis zur
ganz unbewussten ächten Suggestionswirkung.
Die historische und ethnologische Bedeutung der Suggestion
ist viel grösser als man glaubt. Wir verweisen auf das vortreff-
liche Werk von Prof. Dr. Otto Stoll: Suggestion und Hypnotismus
in der Völkerpsychologie, Leipzig, K. F. Köhler's Antiquarium 1894.
Ihre Wirkungen zeigen sich bei allen Völkern, in allen Cultur-
stufen, und spielen besonders bei der Religion und der Mystik eine
hervorragende Rolle. Stoll hat dieses auf's schlagendste dargethan.
Phylogenetisch können wir sie von den tiefstehenden Völkern aus
bis in das Thierreich verfolgen.
Ein wunderbarer historischer Fall, wo autosuggestive Hallu-
cinationen eine weltgeschichtliche Rolle spielten, ist Johanna Darc,
die Jungfrau von Orleans. Ich verweise auf die Arbeit von Frl.
Dr. med. Jos. Zürcher über diesen bedeutungsvollen Gegenstand
(Verlag von Oswald Mutze, Leipzig 1895).
Praktisch ist die Suggestion, wie wir bereits sahen, in der
medicinischen Therapie wichtig. Am erfolgreichsten wirkt sie speciell
bei allerlei Kleinigkeiten, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit u. s. w.,
auch bei allerlei Gewohnheiten. — Die Gewohnheiten werden
selbst vielfach autosuggestiv eingeleitet.
Dieses bringt uns zur pädagogischen Bedeutung der Suggestion,
die vielfach in neuerer Zeit erörtert wird. Wer die Suggestion
nicht verstanden hat, erschrickt vor diesem Gedanken. — Wer sie
aber völlig erfasst hat, wird sie wohl zunächst in zwei Weisen
pädagogisch zu verwerthen wissen. — Erstens symptomatisch, so-
zusagen ärztlich, um schlechte, verderbliche Gewohnheiten, perverse
Charaktereigenschaften zu bekämpfen. Hier muss sie wie die thera-
peutische Hypnose angewendet werden, und wie bei dieser wird
man sich befleissigen müssen, sie nicht ad infinitum, sondern nur
so lange als nöthig zu verwerthen ; man wird auf jede Weise suchen
müssen, den Erfolg durch richtig geleitete Autosuggestionen zu
einem dauernden, sich selbst weiter züchtenden zu machen.
Zweitens aber wird die Suggestion, von einem anderen Ge-
sichtspunkt betrachtet, zu einem der interessantesten Zukunfts-
probleme der Pädagogik und der entwicklungsgeschichtlichen Psycho-
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116
Pädagogische Bedeutung der Suggestion.
logie werden. — Jeder weiss, dass es Lehrer, Eltern, Erzieher gibt,
welche aus den Kindern machen, was sie wollen, während andere
genau das Gegentheil erreichen und nur Ungehorsam und Wider-
spruch erleiden. Dieses beruht einzig und allein darauf, dass die
Kinder unter einer unbewussten Suggestionswirkung der ersteren,
nicht dagegen der letzteren stehen. Wiederholte, ungeschickte
Mahnungen, Jammern oder Schimpfen über seine nicht respectirte
(z. B. väterliche) Autorität, machtloses Zeigen von Affecten, be-
sonders von Zornaffecten, kurz, Blosslegung seiner Schwächen sind
bekanntlich diejenigen Dinge, welche bei den Kindern Ungehorsam,
Widerspruchsgeist und damit Widerspenstigkeit gegen die Erziehung
erzeugen. — Wer dagegen das Gehorchen als selbstverständlich,
als unvermeidlich, seine Lehren als undiscutirbar hinzustellen ver-
steht, thut nichts anderes, als instinctiv suggeriren; ihm wird auch
instinctiv gefolgt. Uebertreibung dieser Methode, besonders Fort-
betreiben derselben bis zu einem späteren Alter der Kinder, bietet
die Gefahr, den Autoritätsglauben, die Unselbständigkeit gross zu
ziehen. Zu rechter Zeit und am rechten Ort muss der Geist der
vernünftigen Discussion herbeigezogen werden. Hat man aber ein-
mal verstanden, dass der Schlüssel jener geistigen Wirkungen
und Rückwirkungen in der richtigen Anwendung der Suggestion
bei den Kindern liegt, so wird sich die Pädagogik mit Bewusstsein
und System des bisher unbewusst und regellos Angewendeten zu be-
dienen lernen und kann daraus enorme Vortheile ziehen. "Vor Allem
wird man in der Schulluft durch Liebe, Begeisterung, Weckung
des Interesses die Kinder für die Schule suggeriren, in der gleichen
Weise wie der Hypnotiseur seine Kranken für sich gewinnt. Darin
liegt auch ein Theil des Geheimnisses des Erfolges der neuen Re-
formschulen des Dr. Lietz in Ilsenburg-Haubinda, des Dr. Reddie
in Abbotsholme und der Herrn Zuberbühler und Frei in Glarisegg
(Schweiz), während das alte Schulsystem umgekehrt die Schüler
vielfach gegen Schule und Lehrer suggerirt.
Um sich klar über den pädagogischen Werth der Suggestion
zu werden, muss man stets bedenken, dass der Charakter des Men-
schen in jedem Augenblick seines Lebens die Resultante zweier
Componentencomplexe : der Vererbung und der Anpassung,
ist. Man macht gewöhnlich den Fehler, alles nur von dem einen
oder nur von dem anderen dieser beiden Kräftecomplexe ableiten zu
wollen. Die ererbten Anlagen bilden freilich die tieferen, zäheren
Kräfte; doch sind auch sie bald tiefer, bald weniger tief erblich
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Sociale Bedeutung der Suggestion.
117
fixirt und im letzteren Fall sind sie um so erfolgreicher durch
consequente erzieherische (anpassende) Einwirkungen zu bekämpfen,
die durch Wiederholung zu Gewohnheiten oder secundären Automa-
tismen werden. Hierbei kann die Suggestion einsetzen und erfolg-
reich wirken.
Wir müssen hier auf die wichtige sociale Seite der Sug-
gestion hinweisen. Man weiss zwar im Allgemeinen, dass gute
Sitten durch schlechte Gesellschaften verdorben werden, dass junge
Leute und Frauen besonders leicht zu corrumpiren sind; man kennt
die Macht der Presse, der Mode, der „öffentlichen Meinung", des
Spottes, des religiösen und politischen Fanatismus, der schlechten
Romane etc. Aber man überschätzt dennoch die Fähigkeit des „freien
Willens", der „freien Menschen", sich gegen diese Massensug-
gestionen zu wehren. Ein genaueres und tieferes Studium der Ver-
hältnisse lässt bald die schreckliche Schwäche der grossen Mehrzahl
gegen solche Suggestionsmächte erkennen. Wie steht ein armes
Mädchen da gegenüber den tückischen, raffinirten Fallen, welche ihm
die Helfershelfer der Erwerbskuppelei unter sorgfaltiger Anwendung
aller psychologischen Hebel des Betruges, der Verführung, der Geld-
noth, des Alkohols und des Terrorismus stellen? Wie steht das ver-
meintlich souveräne Volk der Wähler da gegenüber dem oberflächlichen
Geschwätz und den oft systematischen Verdrehungen der verfehlten
Halbgebildeten, welche sich meist als Journalisten die Sittenrichterei
und Belehrung der Welt anmassen, sowie gegenüber den Machina-
tionen der politischen Cliquen? Einige Schlagwörter und nicht die
Gründe der Vernunft, nicht einmal die klare Wahrheit suggeriren
erfahrungsgemäss die grosse Schafsheerde am besten, und die paar
vernünftigeren, selbstständigeren Menschen, die nicht folgen wollen,
haben das Nachsehen. Wann wird die Gegensuggestion einer
gesunden menschlichen Moral die Oberhand gegenüber den zer-
setzenden Suggestionen unserer unsittlichen Politik und Literatur
einerseits und veralteter religiöser Mystik andererseits gewinnen?
Uebrigens wirkt in all 1 diesen Fällen die Suggestion nicht in ihrer
reinen, ächten Form, sondern mannigfaltig mit bald mehr, bald
weniger bewussten missverstandenen Vernunftsgründen, vor Allem
aber mit Gefühlen und Affecten combinirt, so dass jene verschiedene
Elemente meist schwer von einander zu trennen sind.
§ 16. Wesen der Suggestionswirkung. Was wir psychologisch
von der Suggestion wissen bewegt sich einerseits in der bewussten
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118 Wesen der Suggestions Wirkung. Oscar Vogt's Theorie. Constellationen.
Sphäre, andererseits in beobachteten motorischen, vasomotorischen,
secretorischen und ähnlichen Reactionen. Wie steht es aber mit
der physiologischen Correspondenz, d. h. wie geht es physiologisch
zu, in jenen unterbewussten Mechanismen, welche die Suggestion
mit ihrer Wirkung verbinden, und in welche die Hypnose uns nur
durch sporadische Associationen oberbewusster Vorgänge mit dem
Inhalt der Unterbewusstseine flüchtige und abgerissene, stets nur
subjective, somit psychologische Einblicke gewährt?
An Hand der Resultate der Hirnanatomie haben Meynert,
Wernicke, Münk, Ziehen, Sachs u. A. versucht, sich eine Vor-
stellung der Mechanik der Neurokyme des Gehirnes zu machen,
deren synthetische Introspection das Bewusstsein darstellt. Der In-
halt des Letzteren wird uns aus Anfangs erklärten Gründen stets
Stückwerk bleiben. Allein die Physiologie könnte als geschlossene
Causalkette zu einer Lehre des Seelenmechanismus fuhren. Freilich
fehlt uns der Schlüssel zur Mechanik des Lebens überhaupt. Aber
wir dürfen uns dennoch dieselbe biologisch mit Analogieschlüssen
approximativ zu erklären versuchen. Nach meiner Ansicht hat
Oscar Vogt den besten Versuch zur Erklärung der Hirndynamik
gemacht. Im Folgenden will ich denselben auszugsweise wieder-
geben.
Oscar Vogt's hypothetische Anschauungen 1 ) über das Wesen und
die psychologische Bedeutung des Hypnotismus.
Unter Constellation versteht Vogt in dieser vorzüglichen Arbeit
den gesammten Gehirnmechanismus, der einem psychologischen Vorgang
entspricht. Die Constellation ist die Resultante bewusster and unbe-
wußter (unterbewusster) Vorgänge. Sie beeinflusst sowohl die Qualität
wie die Intensität der centralen Erregung. Sie überragt sogar vielfach
in ihrer assimilirenden Thätigkeit die Bedeutung der peripheren Reize
für die Qualität der centralen Erregung. Auf solchen Dingen beruht
der Schein der Willensfreiheit.
Terminologisch nimmt Vogt den Parallelismus an, versteht ihn
aber im Sinn der monistischen Identität und nicht des Dualismus.
In Folge einer auf vasomotorischem Wege bedingten Ausschaltung
rufen zu starke periphere Reize eine Ohnmacht, statt hyperästhetischer
Bewusstseinserscheinungen, hervor. Unser qualitatives und quantitatives
*) Oscar Vogt, Zur Kenntniss des Wesens und der psychologischen
Bedeutung des Hypnotismus. Zeitschrift für Hypnotismus 1895 — 96. Leipzig
bei Ambrosius Barth.
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Oscar Vogts Theorie d. Suggestion. Assimilation — psychische Synthese. 1 19
psychologisches Unterscheidungsvermögen beruht auf einem passiven ße-
wusstwerden physiologischer Unterschiede (damit bekennt sich z. B. Vogt
zur Identitätstheorie).
Wo Bewusstseinserscheinungen auftreten, tendiren sie sofort zu
synthetischen Processen, so dass von Jugend auf schon der Mensch be-
reits nur noch zusammengesetzte psychische Erscheinungen besitzt. Die
synchrone Erregung der einzelnen Elemente des Bewußtseinsinhaltes
führt zu ihrer Association, welche durch Uebung fixirt wird. Zu einer
psychologischen Synthese ist ein erster Grad der Fixirung nöthig. Weitere
Fizirung bedingt das Wiedererkennen und noch weitere die associative
Reproductionsfähigkeit. Es gibt simultane und successive Associationen.
Unter „Assimilation" versteht Wundt die Thatsache, dass im
ganzen erinnerlichen psychologischen Gebiet eines Menschen überhaupt
keine isolirte Empfindungen mehr, sondern nur noch solche vorkommen,
die durch Miterregung von Erinnerungsbildern associirt sind. Desshalb
mischen sich stets bei jeder Wiederholung wechselnde neue Elemente
mit derselben Vorstellung, die sich folglich niemals ganz identisch ist
(z. B. die Vorstellung einer Kose).
Das Princip der psychischen Synthese ist somit das, dass sich nie-
mals ganze Complexe von Bewusstseinselementen synthetisch ver-
binden (vermischen), sondern nur die einzelnen Elemente. Um repro-
ducirt werden zu können, muss also eine Association soweit fixirt sein,
dass sie in ihrer Gesammtheit von einzelnen ihrer Elemente aus erregt
werden kann.
Bei stark dissociablen Menschen kommen lebhafte Phantasiebilder
der Empfindung qualitativ näher.
Die Intensität einer Vorstellung hängt von der Intensität der Er-
regung der einzelnen Elemente, ihre Deutlichkeit dagegen (Lehmann)
von der Extensität derselben, d. h. von der Zahl der zugleich erregten
Elemente ab. Es sind somit verschiedene Dinge.
Ferner bildet unter gleichen Ernährungsbedingungen die psychische
Energie eines Individuums eine Constante. Das heisst z. B. so viel, als
dass man nicht zugleich intensiv Zahnweh empfinden und intensiv einem
Schauspiel folgen kann. Die Intensität des einen Vorganges bedingt
eine Abschwachung derjenigen des anderen.
Die Associationen bewegen sich, dem Energiegesetz folgend, in
eingeübten Reihen stets in der Richtung des geringsten Widerstandes.
Da wo es nicht der Fall zu sein scheint, liegt die Ursache unter-
bewußt.
Die Aufmerksamkeit erklärt sich Vogt wie folgt: Das Centrum,
dessen Stoffwechsel sich steigert, bekommt functionelle Reize von den
Centren, deren Stoffwechsel abnimmt. Thatsächlich steigen enorm viel
mehr periphere Sinnesreize zum Hirn als appercipirt (empfunden) werden.
Diese zahlreichen, im Grosshirn anlangenden Neurokyme werden alle
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120 neurodynamisch. Hemmungen beruhen auf Ableitungen v. Reizenergien.
dahin abgeleitet, wo bereits eine stärkere Erregung stattfindet, die da-
durch noch mehr gestärkt wird. Wenn zwei Centren gleichmässig er-
regt sind, so zertheilen sich entsprechend die anlangenden Neurokyme.
Ist ein Centruin A allein stark erregt, und kommt plötzlich ein Neuro-
kym von aussen zu einem anderen Centrum B und erregt es intensiv,
so werden alle Neurokyme zu B abgeleitet und die Erregung des Cen-
trums A lässt nach. So wird die Aufmerksamkeit von A nach B ab-
gelenkt. Illusionen können auf ähnliche Weise bewirkt werden. Man
erwartet z. B. Jemanden. Nun hört man ein Geräusch und glaubt aus
demselben die Schritte des Erwarteten zu vernehmen. Die starke Er-
wartung hat das Erinnerungsbild der bekannten Schritte so verstärkt,
dass es, mit dem wirklichen Geräusch assimilirt, dasselbe übertönt und
die Illusion bewirkt.
Diese üeberlegungen führen Vogt zur alten Schiffschen Ansicht
zurück, dass den neurodynamischen Hemmungen Ableitungen von Beiz-
energien zu Grunde liegen, die als Compensationserscheinungen für
anderwärts stattfindende Zuleitungen aufzufassen sind. So kann nicht
nur der Ort des Reizes, sondern auch seine Intensität die Qualität der
Wirkung beeinflussen. Freusberg hat beispielsweise gefunden, dass
beim Hund ein schwacher Reiz des Penis eine Erection auslöst, dagegen
ein starker Reiz des erigirten Penis zur Erschlaffung desselben , aber
zugleich zur reflectorischen Erregung einer Beinbewegung führt. Das
kommt daher, dass ein Theil der angestauten stärkeren Reizenergie vom
Erectionscentrum aus irradiirt und so zum Theil zum Centram der re-
flectorischen Beinerregung gelangt. Da dieses letztere aber stärker er-
regbar ist, gleitet nun das ganze Neurokym dorthin und der Penis
erschlafft. Eine Reihe ähnlicher Thatsachen stützt weiter Vogt's An-
sicht, die attentionelle Intensitätssteigerung auf eine Bahnung durch
zugeleitete Neurokyme zurückzuführen.
Vogt gelangt ferner zu Hering's Ansicht, dass alle psychischen
Erscheinungen, somit auch die Bewegungen, durch periphere Reize aus-
gelöst werden, und dass es keine rein centrogene Bewegungen gibt.
Hering zeigt z. B. wie ein enthirnter Frosch total regungslos wird,
sobald man alle hinteren Rückenmarks wurzeln trennt. Welche Richtung
aber die peripheren Neurokyme im Centrainervensystem einschlagen,
hängt natürlich von der momentanen Constellation ab.
Dissociationen sind von der gewohnten Wachnorm abweichende
Constellationen ; es gibt da alle Uebergänge von einer leichten Kritik-
losigkeit bis zum Traum.
Die Herabsetzung der Erregbarkeit, die wir Hemmung nennen, ist
normaliter nutritiver Natur.
Eine Stoffwechselverminderung bewirkt Erschöpfung, so dass die
Dissimilation die Assimilation übertrifft. Die Hirnanämie, die stets mit
dem Schlaf einhergeht, bewirkt einen ähnlichen Vorgang, wird aber von
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Oscar Vogt's Theorie des Schlafes.
121
Ermüdung (Dissoziation) eingeleitet. Im dissociirten Traum staut sich
das Neurokym in einem Centrum, in Folge eben jener Anämie, was die
Erweckung der associirten Gegenvorstellung hindert und die Intensität
des Traumes steigert.
Theorie des Schlafes. Schon in der dritten Auflage dieses Buches
hatte ich die Unzulänglichkeit der Theorien dargethan. die den Schlaf auf
Ansammlung von Ermüdungsstoffen (Milchsäure, Preyer) zurückführen
wollen, oder wie Kohlschütter die Tiefe des Schlafes an der Intensität
des zum Wecken nöthigen Reizes messen zu können glauben. Wie
frühere Kenner der Träume (Maury u. A. m.) habe ich gezeigt, dass
das Gehirn erschöpft sein kann ohne zu schlafen, schlafen kann ohne
erschöpft zu sein, und dass leichte Reize wecken können, wo starke nicht
wecken; kurz, dass der Schlaf, wenn auch durch Erschöpfung sehr be-
günstigt, zweifellos mit ganz anders angepassten, suggestiven Mecha-
nismen zusammenhängt. Oscar Vogt entwickelt nun eine sehr sinnige
Anschauung, welche wesentlich damit übereinstimmt, aber weiter auf
die physiologischen Verhältnisse Rücksicht nimmt.
Wir sahen, dass die Erregung der Centra durch Zuleitung zu-
nimmt, wenn keine anderen noch stärkeren Erregungen ableitend wirken.
Es gibt besondere Centra, vor allem das Reflexcentrum für die Schlies-
sung des Musculus orbicularis oculi, deren Erregung dazu tendirt, die
beim Einschlafen auftretenden neuro dynamischen Vorgänge auszulösen.
Ist die Grosshirnrinde in Folge von Erschöpfung vermindert erregt, so
werden die Neurokyme zu jenen Centren zugeleitet. Aber auch durch
Association, Suggestion etc. können dieselben erregt werden und da-
durch den Schlaf hervorrufen. Noch wichtiger ist jedoch ein vaso-
motorisches Reflexcentrum, dessen Erregung eine zunehmende Anämie
des Gehirns veranlasst, welche Schwerfälligkeit etc. und Schlaf bewirkt.
Mosso hat unzweifelhaft bewiesen, dass eine Gehirnanämie mit dem
Schlaf einhergeht. Dass aber dieselbe auf dem associirten Reflexweg
und nicht nur durch Erschöpfung hervorgerufen werden kann, beweist
die Beobachtung, beweist vor allem der Hypnotismus. Folglich ist ein
solches vasomotorisches Centrum ein directes Postulat. Dass die er-
höhte Thätigkeit mit Hyperämie und die verminderte mit Anämie ein-
hergeht, ist ja ein allgemeines Gesetz unseres Lebens. Aber nur mit
Hülfe genannter Annahme lässt sich jenes Gesetz mit den Thatsachen
des Schlafes in Einklang bringen. Vogt bringt eine Reihe weiterer
Belege dafür. So erklärt sich nun wie das Auskleiden, das Schlaf-
zimmer, das Sehen eines Gähnenden, die gewohnte Stunde und ähnliche
Empfindungen oder Vorstellungen die Schlafvorstellung erregen, und
damit bahnend auf die R-eflexcentren des Schlafes einwirken, die Augen
schliessen machen und die Gehirnanämie einleiten. Es genügt sogar oft
eine einzige Erinnerung, eine Gedankenassoziation mit einem früheren
Schlaf, um sofort diese Wirkung zu erzielen. Dadurch erklärt sich voll-
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122 0. Vogt'* Theorie des Schlafes. Kataleptiaches u. lethargisches Stadium.
ständig die rasche Erzielnng des Schlafes durch Suggestion. Noch mehr!
Der Act des Einschlafens und seine Ursache brauchen dem Einschlafen-
den gar nicht bewusst zu werden, denn der „Steuerungspunkt* des Schlafes,
zu dem die Neurokyme strömen, ist nicht die Schlafvorstellung, sondern
das subcorticale Schlafcentrum.
Die Functionsruhe des Schlafes reparirt die Erschöpfung des Gross-
hirnes, falls eine solche vorhanden war. Dadurch nimmt seine Erreg-
barkeit wieder zu und werden ihm mehr Neurokyme wieder zugeleitet;
die Anämie nimmt ab und man erwacht allmälig, wenn nicht irgend
ein Reiz das Erwachen plötzlich durch stärkere Neurokymzuleitung
bewirkt.
Zunächst ist es die Grosshirnrinde, deren Erregbarkeit im Schlaf
herabgesetzt wird. Im Beginn des Schlafes (der Ermüdung) zeigt sich
bekanntlich eine Tendenz zu motorischen Aeusserungen (wohl durch
Vereinfachung der Reflexbögen). Bei einem höheren Grad jener Ver-
einfachung, vor der Functionsunfähigkeit stellt sich die sogen. Katalepsie,
die Flexibilitas cerea ein , wo ein Glied in der gegebenen Stellung ver-
harrt. Im Wachzustand sind alle Constellationen zweckmässig beschäftigt,
vertheilt und thätig. Hält die attentionelle Willkür einen Arm nicht
gehoben, so wird das Neurokym anderswo verbraucht und er fällt her-
unter. Es gibt dagegen im Schlaf einen Grad der Herabsetzung der
Rindenerregbarkeit, wo die anlangenden Neurokyme nicht mehr genug
auf die Associationsbahnen irradiiren können und sich daher an der
directen Endigungsstelle der centripetalen Bahn stauen. Da kann sich
die Erregung des Muskelsinnes nur noch motorisch, dafür aber verstärkt
äussern. Vogt meint aus verschiedenen Wahrscheinlichkeitsgründen an-
nehmen zu können, dass diese Erscheinung cortical ist und die Kata-
lepsie (Fixation passiver Stellungen) bewirkt.
Dieses kataleptische Stadium liegt zeitlich zwischen dem tiefen
Schlaf und dem Wachzustand, somit vor dem Erwachen und nach dem
Einschlafen. Es ist vielfach beim normalen Schlaf nachzuweisen, dauert
aber individuell sehr verschieden lang; der Grad der Starre wechselt
auch. Liebeault hat gezeigt, wie man es im normalen Schlaf durch
wiederholte Hebung des Armes hervorrufen kann.
Das folgende Stadium ist das der vollständigen Schlaffheit, in
welchem die Neurokyme auch im corticalen Muskelshin nachlassen und
sich in subcorticale Centren zurückziehen.
Zur Bekräftigung seiner Ansicht führt Vogt Experimente von
Bubnoff, Heidenhain und Janet an, aus welchen die corticale Natur
der Katalepsie und der hysterischen Anästhesie hervorgeht.
Im Traum sind die Ideenassociationen passiver Natur und be-
kommen den subjectiven Charakter der Empfindung (Vogt braucht dieses
Wort stets auch für Wahrnehmung). Das „willkürliche" Denken hört auf
und der Zusammenhang zwischen den Vorstellungen wird lockerer; der
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Träumt man immer im Schlaf? Die zwei Sorten Träume. 123
Einschlafende wird denselben gegenüber immer passiver. Daraus ent-
steht eine Art subjectiver Ideenflucht, welche jedoch in Wirklichkeit
einer Denkhemmung (Aschaffenburg, Kraepelin) und einem ver-
langsamten Ideenablauf entspricht.
Vogt polemisirt gegen mich, weil ich ein ununterbrochenes Träu-
men während des Schlafes annehme, und meint, dass die Thatsache, dass
man, aus dem tiefsten Schlafe geweckt, sich mitten in einer Traumkette
befinde, nichts beweise, indem das so schnell gehe, dass der Beginn der
Traumkette im Moment des Erwecktwerdens eingesetzt haben könne.
Zwar widersprechen meine Beobachtungen dieser Erklärung, weil die
Plötzlichkeit des Weckens zu gross war, um thatsächlich so vielen Traum-
verkettungen Zeit zu lassen, und der Weckton sich umgekehrt oft mit
dem Schluss der Traumkette einflocht. Auf die subjectiven Angaben des
»Nichtträumens" kann man wegen der üblichen Amnesie absolut nichts
geben. Im Uebrigen muss zugegeben werden, dass vollgültige Beweise,
zumal jetzt, kaum zu erbringen sind.
Im Traum spielen sich meistens leicht erregbare Associationen ab,
die uns früher viel beschäftigt haben (Eisenbahnscenen, Examina u. dgl.
mehr; ich träume z. B. oft, ich sei wieder als Assistent oder Director
in der Irrenanstalt thätig). Das kommt von der herabgesetzten Erreg-
barkeit der Binde. Ich füge aber hinzu, dass oft eigentümliche As-
sociationen aus unterbewus8ten Ketten ins Traumbewusstsein einfallen.
Es gibt zwei Sorten Träume:
a) Die gewöhnlichen, durchaus dissociirten, diffusen Träume.
ß) Die eingeengten Träume des Somnambulismus, welche einem
eingeengten Bewusstsein oder Monoideismus entsprechen. Hier staut
sich das Neurokym in einem bestimmten Gebiet. Es findet so zu sagen
ein partielles Wachen im allgemeinen Schlaf statt. In diesem Special-
gebiet steigern sich sogar die Perception und das Denken sowohl in
der Deutlichkeit wie in der Intensität. Es gibt auch bei weiterer Ver-
folgung der gleichen Erscheinung ein partielles Schlafen im allgemeinen
Wachzustand (s. oben).
Somit ist die Herabsetzung der Erregbarkeit der Rinde im Schlaf
ungleichmässig. Daraus erklärt sich, wie kleine Beize da wecken können,
wo starke nicht wecken, wenn ihr Neurokym gerade eine in ihrer Er-
regbarkeit weniger herabgesetzte Association trifft. Und so kann es
auch zu einem partiellen Erwachen kommen, während der allgemeine
Schlaf fortgesetzt wird. Im hypnotischen Rapport haben wir diesen
Fall. Die allgemeine Hirnanämie verhindert die Irradiation und lässt
die local geweckten Bewusstseinselemente durch gestaute Neurokyme
abnorm stark erregen. Der Bewusstseinszustand des systematischen par-
tiellen Erwachens ist zugleich der des somnambulen Traumes.
Im Weiteren zeigt Vogt den grossen Unterschied der Träume a
und ß. In ß werden die Träume mit vollführten geordneten Handlungen
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124
Traum der Somnambulen. Theorie der Gefühle.
verbunden. In a dagegen werden die complicirtesten Handinngen ge-
träumt, aber nicht vollführt. Das kommt von der diffusen Dissociation,
die keine geordnete Reihenfolge von Bewegungs Vorstellungen aufkommen
lässt. Plötzlich liegt die Handlung fertig vor dem Bewusstsein, aber
mit üeberspringen der Bedingungen ihres Zustandekommens. Ganz
anders bei [J, wo die ganze localisirte, functionell isolirte Kette vom
Sinn bis zum Corte* und vom Corte* bis zum Muskel durchaus ge-
ordnet spielt.
Vogt zeigt ferner, dass bei Somnambulen oft (nicht immer) die
ethischen Associationen normal verbunden bleiben und sich gegen ver-
brecherische Zumuthungen bäumen, während im gewöhnlichen Traum (a)
man meistens ganz ethisch defect mordet, stiehlt u. dgl. mehr.
Nicht selten wird eine begonnene Handlungskette nach dem Ein-
schlafen fortgesetzt (ein Kutscher nickt ein und kutschirt weiter). Ich
selbst bin als Student bei langweiligen Vorlesungen eingeschlafen und
habe dabei weiter geschrieben, sogar Bruchstücke von Träumen zu
schreiben begonnen.
Gefühle. Nach Vogt sind die Gefühle für die Erzeugung der
Normalhypnose belanglos, bedeutungsvoll dagegen für die Erzeugung
der hysterischen Hypnose und der Schreckhypnose.
Die Gefühle treten meistens als Begleiterscheinung (Gefühlston)
der intellectuellen Elemente auf. Unter Stimmung versteht man den
Collectivzustand der Gefühle in der Zeiteinheit. Als Stimmungs-
lage bezeichnet man die Disposition oder Tendenz des Gemüthes auf
das Auftreten dieser oder jener intellectuellen Elemente mit dieser oder
jener Stimmung zu reagiren.
Die Gefühle können wir im Raum nicht localisiren. Daraus meint
Vogt mit Lipps schliessen zu können, dass sie nicht aus Empfindungen
abzuleiten sind. Diesen Grund halte ich aber nicht für stichhaltig, denn
es gibt auch rein intellectuelle Abstractionen, die an und für sich nicht
räumlich localisirbar (sagen wir der Begriff der Abhängigkeit oder der-
jenige der Tonhöhe) und dennoch aus Empfindungen abzuleiten sind.
Die Gefühle sind als elementar anzusehen. Während Höffding
u. A. nur zwei Grundqualitäten der Gefühle, Lust und Unlust, an-
nimmt, nimmt Wundt drei gegensätzliche Qualitätenpaare an: 1. Lust
— Unlust; 2. Erregung — Hemmung; 3. Spannung — Lösung.
Vogt's Versuche mit einer vorzüglich geeigneten, dazu lang er-
zogenen Person ergaben zunächst zwei scharf unterschiedene Reihen
gegensätzlicher Gefühle, die im eingeengten Bewusstseinszustand der
Hypnose scharf hervortreten und analysirt werden können:
1. Angenehm — unangenehm.
2. Hebend oder erheiternd oder leichter machend — erschlaffend
oder verstimmend oder trüber stimmend.
Diese beiden Reihen nennt Vogt, die erste hedonistische, die
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Die Gefühle hypnotisch analysirt. Hedonistische und sthenische Reihe. 125
zweite sthenische Reihe. Sie entsprechen den ersten and zweiten
Qualitätenpaaren Wundt's. Während bei Druck und Schmerz beide
Reihen ungefähr parallel verliefen, war dies bei Geschmack und Geruch
weniger, bei Gehörreizen gar nicht der Fall. Bei letzteren waren sie
eher umgekehrt proportional.
Aus den sehr umfangreichen Versuchen Vogt's ergibt sich, dass
die schwächsten Grade der intellectuellen Elemente (Empfindungen) ganz
indifferent (ohne Gefühlsbetonung) sind. Bei etwas höherem Grade er-
scheint eine Lustbetonung, die sich dann steigert ; bei grösserer Intensität
vermindert sich wieder die Lust und erscheint ein zweiter Indifferenz-
punkt, der dann bei höherer Intensität von Unlust gefolgt wird. Selbst
bei Schmerzempfindung gibt es ganz unten eine Lustschwelle, einen
„angenehmen Schmerz*, obwohl die Schmerzempfindung, wie Max v. Frey
gezeigt hat, qualitativ verschieden ist von der Druckempfindung, was
Vogt auch bestätigt. Auch für die sthenische Reihe gilt das Gleiche.
Handelt es sich nicht um directe Empfindung, sondern um Repro-
duction derselben durch Vorstellung, so wecken natürlich die intellec-
tuellen Elemente die mit ihnen früher associirt gewesenen Gefühls-
töne auf.
Das Fortbestehen des emotionellen Elements nach dem Verschwinden
des associirten intellectuellen Elementes lässt sich nachweisen. Aber es
handelt sich natürlich nur um das bewusste Feld, und unterbewusst
kann das intellectuelle Element noch fortbestehen. Gelingt es, das in-
tellectuelle Element wieder bewusst zu machen, dann erhöht sich das
Gefühl. Schöne Experimente Vogt's zeigen also:
1. Dass das Gefühl wenigstens im Bewusstsein sein intellectuelles
Substrat überdauern kann.
2. Dass Gefühle auch ohne intellectuelles Substrat ins Bewusstsein
treten können.
Aber auch letzteres gilt nur von der psychischen Reihe (introspec-
tiver Seite) ; ein physiologischer Vorgang steht immer unbewusst da-
hinter.
Jedes Gefühl ist von einer Ableitung nervöser Reizenergie in trans-
und subcorticalen Bahnen begleitet, und entsteht etwas später als sein
intellectuelles Substrat. Es sind daher die Gefühle offenbar psychische
Parallelvorgänge der Ableitungsprocesse nervöser Reizenergie. In der
Sprache der Identitätstheorie wollen wir sagen, dass die Gefühle die
Introspection der Ableitungsprocesse nervöser Reizenergie darstellen.
Weil in allen Hirngebieten solche Ableitungen sich abspielen, gibt es
für die Gefühle keine Hirnlocalisation.
Vogt schlichst daraus, dass in jedem Gefühl ein Wollen enthalten
ist, oder, dass der Wille sich durch Gefühle kundgibt, und nicht wesent-
lich vom Gefühl verschieden ist. Vogt's Arbeit ist leider noch un-
vollendet geblieben. Sie zeigt aber den Weg, wie man den Hypnotismus
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Hemmung und Neurokymableitung.
zur psychologischen Forschung verwenden kann und wirft lichtvolle
Blicke über die ganze Frage des Verhältnisses der Psychologie zur Hirn-
physiologie.
Specieller über die Suggestionsmechanik führte Vogt in der dritten
Auflage dieses Werkes Folgendes auf:
„Jede die Erregbarkeit des einzelnen Neuron als
solchen herabsetzende Ableitung bezeichnen wir für ge-
wöhnlich als Hemmung. Wir sprechen von der das psychische
Gleichgewicht bedingenden Hemmung durch die Ideen association. Ein
Hysterischer klagte mir über motorische Schwäche. Sein dynamometrischer
Händedruck war 1 = 97. Ich meinte, das wäre doch wahrhaftig genug.
Von da an erreichte er als höchsten Druck 50, im Mittel aber nur
noch 28. Was war geschehen? Es war die Bahn zwischen der Be-
wegungsvorstellung des Händedrucks und der der motorischen Schwäche
durch eine vom Centrum der letzteren ausgehende Erregung stärker
leitbar geworden. Ein Theil des ins Centrum der Bewegungsvorstellung
gelangenden Neurokyms wurde hinfort in diese Bahn abgeleitet. Das
Gegenstück konnte ich auch beobachten. Ein Psychopath hatte die
hypochondrische Vorstellung, sehr schwach zu sein. Diese Vorstellung
lähmte durch Ableitung den Händedruck so stark, dass er nur r = 55,
1 = 65 drückte. Ich rief nun durch Wachsuggestion absolute Anästhesie
des betreffenden Armes hervor. Der Händedruck wurde natürlicher
Weise = 0. Ich suggerirte ihm nun so viel Gefühl , dass er die volle
Beweglichkeit hatte. Er drückte bei ,einem dumpfen Gefühl in den Ge-
lenken* r = 115, 1 = 120. Ich hatte durch die erste Suggestion eine
localisirte Dissociation gesetzt. In Folge einer mir günstigen Constellation
blieb die Dissociation, d. h. die Aufhebung der Ableitung bei der
zweiten Suggestion für die hypochondrische Vorstellung bestehen: die
Bahn zwischen dem Centrum dieser und dem der Bewegungs Vorstellung
leitete noch nicht wieder ab oder, wie man sich auch ausdrücken könnte,
die hypochondrische Vorstellung war noch vorläufig vergessen. Weiter
,hemmen' die höheren Centren durch derartige Ableitung eines Neuro-
kymtheiles *) die niederen. Da, wo die Ableitung durch functionelle oder
organische Veränderungen unmöglich wird, nimmt die motorische Ent-
ladung des jetzt nur ein niederes Centrum passirenden Neurokyms an
Intensität und Schnelligkeit zu."
„Im Gegensatz zurHemmung bezeichnet man die Stei-
gerung der Erregung eines Centrums durch Zuleitung
von Neurokymen auf verschiedenen Bahnen als Reizver-
stärkung oder Bahnung (Exner). Ich suggerire einem Menschen
') „Es empfiehlt sich sehr die fortschreitende Nervenerregung, so lange
wir noch nicht ihr Wesen erkannt haben, mit einem nichts präjudicirenden
Ausdruck wie Neurokym (Forel, Gehirn und Seele) zu bezeichnen. 41
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Bahnung und Neurokymzuleitung. Passive Katalepsie. 127
das Warmwerden seiner Stirn. Diese Suggestion wird mir leichter ge-
lingen, wenn ich zu gleicher Zeit die Hand auf die Stirn lege. Denn
durch das Legen der Hand auf die Stirn errege ich das entsprechende
Centrum für Berührungsempfindlichkeit. Dieses ist nun durch zahlreiche
frühere gleichzeitige Erregungen mit dem betreffenden Centrum für
Wärmeempfindlicbkeit durch eine gut leitende Bahn verbunden. Diesen
Weg schlägt das durch meine Berührung der Stirn hervorgerufene Neuro-
kym ein und wirkt so bahnend."
„Auf diese Weise kommen alle jene Hemmungen und Bahnungen
zu Stande, auf welche der Ablauf aller nervösen Vorgänge und so auch
die ganzen Suggestionserscheinungen zurückzuführen sind. In der ge-
eigneten Anwendung solcher Hemmungen und Bahnungen besteht die
Kunst des Hypnotiseurs, in der Nachwirkung derartiger Beeinflussung
auf die fernere Ideen association das Wesen der Dressur."
„Betrachten wir z. B. die Mechanik der Katalepsie! Ich hebe bei
einem hypnotisirten Menschen den Arm. Derselbe bleibt jetzt in dieser
Stellung. Durch die passive Bewegung rief ich eine entsprechende Be-
wegungsempfindung wach. Die vom Centrum der betreffenden Be-
wegungsvorstellung ableitenden Associationsbahnen sind durch die hyp-
notische Dissociation leitungsunfähig geworden. In Folge dessen geht das
durch die passive Armbewegung erregte Neurokym im Wesentlichen in
die vom Centrum der betreffenden Bewegungsvorstellung centrifugal
leitende Bahn und veranlasst so eine der passiv gegebenen Armstellung
entsprechende Muskelcontraction. Der Hypnotisirte — wenn er nur
hypotaktisch ist — , fühlt, wie plötzlich der Arm, nachdem er in die
Höhe gehoben, steif wird'. In diesem Falle haben wir Bernheim's
.passive Katalepsie' vor uns. Sie unterscheidet sich von einer activen
Bewegung dadurch, dass die Bewegungsvorstellung hier durch die Ideen-
association, durch den , Willen', in unserem Fall aber durch einen peri-
pheren Reiz angeregt wurde. Die ,passive Katalepsie' tritt immer da
auf, wo einmal die Bewegungsvorstellung genügend dissociirt ist, anderer-
seits aber selbst noch genügend erregt werden kann. Hat sich der
Schlaf so vertieft, dass die Bewegungsvorstellung selbst nicht mehr
durch einen peripheren Reiz genügend erregt wird, dann kann eine pas-
sive Katalepsie auch nicht mehr erzielt werden. Eine entsprechende
Herabsetzung der Erregbarkeit der Bewegungsvorstellung haben wir bei
Hysterischen, die in dieser oder jener Extremität bei erhaltener Kinästhesie
ihre Berührungsempfindlichkeit eingebüsst haben. Solche Extremitäten
sind im Wachen paretisch und in der Hypnose schwer kataleptisch zu
machen. Es kommen nämlich bei der Erregung von Bewegungsvorstellungen
zahlreich bahnende und hemmende Componenten in Betracht: unter diesen
spielt der vom Centrum der Berührungsempfindlichkeit zum eigentlichen
Muskelsinn ziehende bahnende Reiz eine grosse Rolle."
„Bei noch nicht genügender Dissociation oder bei herabgesetzter
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128 0. Vogt's Theorie der Suggestion. Bahnung durch Monoideismus.
Erregbarkeit der Bewegungsvorstellung bedarf es dann anderer bahnen-
den Reize. Hier kommt eine Verbalsuggestion in erster Linie in Be-
tracht. Der erhobene Arm fällt schlaff herab. Sobald ich aber erkläre :
, Jetzt ist der Arm steif!' fühlt man das Eintreten der entsprechenden
Muskelcontraction. Sowohl mit einer passiven Bewegung des Armes,
als auch einer Verbalsuggestion kann sich weiter der bahnende Einfluss
der Ideen association verbinden, die man als Monoideismus bezeichnet.
Ich hypnotisire ein Sujet. Ich hebe ihm den Arm hoch. Derselbe fällt
wieder herab. Ich wecke das Sujet. In seiner Gegenwart hypnotisire ich
nun ein zweites Sujet. Hier gelingt mir die Katalepsie sofort. In einer
zweiten Hypnose des ersten Sujets gelingt mir auch bei diesem die Kata-
lepsie. Wir haben dann Bernheim's ,actives Element' der Katalepsie
vor uns. Es verband sich beim Sujet mit der Empfindung der passiven
Armbewegung die Vorstellung: das Festhalten des Armes in dieser Stellung
ist Wille des Hypnotiseurs ; ich aber muss thun, was er will. Der An-
blick der vom Hypnotiseur beim zweiten Sujet hervorgebrachten Katalepsie
hat im Gehirn des ersten Sujets zwischen der Vorstellung des Hypnoti-
seurs und der betreffenden Bewegungsvorstellung eine leitende Bahn ge-
schaffen. Hebt jetzt der Hypnotiseur beim ersten Sujet den Arm, so tritt
zu gleicher Zeit die Vorstellung des Hypnotiseurs lebhaft auf. Vom
Centrum dieser Vorstellung gehen Reize zum Centrum der Bewegungs-
vorstellung. Dabei kann die Ideenassociation eine immer complicirtere,
eine der willkürlichen Bewegungen vorangehenden immer ähnlicher
werden, so dass man es dem Sujet nicht übel nehmen darf, wenn es
erklärt: er habe es überhaupt nur dem Hypnotiseur zu Gefallen
gethan."
„ Bei allen complicirten Suggestionen, besonders den Wachsuggestionen,
spielt die Bahnung durch den Monoideismus eine grosse Rolle. Sie ent-
kleidet auch den Rapport vollständig des Räthselhaften. Wenn die
Mutter oder der Arzt bei dem stärksten Lärm weiter schlafen, aber so-
fort erwachen, wenn das Kind schreit oder der Wärter pocht: so haben
wir in diesen Erscheinungen, wie im Rapport nur durch frühere Bah-
nungen gesteigerte Erregbarkeit."
„Wir haben oben die .Hemmungen* jeder Activität entkleidet.
Sie sind Ausgleichssymptome für anderweitig entstandene Ableitungen.
Es ist selbstverständlich, dass dabei nur an die Hemmungen (Wundt's
neurodynamische) gedacht ist, die das directe Resultat der nervösen Pro-
cesse darstellen. Daneben kommen, vielfach ineinander greifend, Hem-
mungen (Wundt's vasomotorische) in Folge Steigerung des Widerstandes
in den Leitungen durch Ermüdung oder veränderten Stoffwechsel vor.
Soweit wir es aber mit neurodynamischen und nicht mit nutritiven
Hemmungen zu thun haben, müssen wir dann aber auch die
anderweitig entstandene Ableitung, die bahnende Seite
unserer Suggestion, feststellen können."
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Vermutheter Mechanismus einer negativen Hallucination. 129
, Prüfen wir daraufhin eine durch Wach Suggestion hervorgerufene
negative Hallucination. Ich gebe die Suggestion , beim Erwachen mich
nicht zu sehen. Das Resultat ist ein sehr mannigfaltiges. Aber es ist
immer der Parallelismus zwischen Ableitung und Hemmung zu constatiren .
Je grösser die Hemmung wird, um so grösser auch die Ableitung."
„Eine erste Person sieht mich ganz wie sonst, erkennt mich aber
nicht: es ist eine Dissociation zwischen der primären und secundären
Identification, zwischen dem Centrum des optischen Erinnerungsbildes
und dem Begriffscentrum eingetreten. Diese Dissociation ist eine längst
vorgebildete, eine durch frühere Erregungen hervorgerufene und seitdem
latent vorhandene, ein nunmehr wachgewordenes Erinnerungsbild. Der
bahnende Einfluss meiner Suggestion liess diese Dissociation in den
Vordergrund treten. Eines Tages ist — um eine Möglichkeit heraus-
zugreifen — mein Sujet, als es über ein Problem nachdachte, an mir
vorübergegangen, ohne mich zu erkennen. Nun ging ich damals auf
dasselbe zu, und es wurde dann im Gespräch constatirt, dass es mich nicht
erkannt hatte. Zur Zeit, wo mir mein Sujet damals begegnete, sind
vom Centrum des behandelten Problems Reize auf alle ableitenden Bahnen
gegangen: so auch zum optischen Centrum. (Wir sind berechtigt, eine
directe oder indirecte Verknüpfung jedes nervösen Centrums mit allen
anderen anzunehmen.) Von allen ableitenden Fasern des optischen Cen-
trums sind natürlich im Moment daher die Associationsfasern zum Cen-
trum des Problems am leichtesten erregbar. Ein grosser Theil des
Neurokyms, welches das Gesichtsbild von mir hervorrief, ist auf diese
Bahn abgeleitet. In Folge dessen wurde das Begriffscentrum meiner
Person nicht genügend erregt, um dem Sujet bewusst zu werden. Weiter
aber wurde durch das Gespräch die Vorstellung des Nichterkennens
einmal mit dem Begriffscentrum meiner Person und dann mit dem des
Problems durch Gleichzeitigkeitsassociationen verbunden. Weiter aber
wurde die Vorstellung des Nichterkennens durch das Centrum des Pro-
blems hindurch mit dem optischen Centrum verbunden. Rufe ich jetzt
bei dem Sujet in genügend starker Weise die Vorstellung des Nicht-
erkennens meiner Person wach, so geht eine bahnende Erregung durch
das Centrum des Problems zum optischen Centrum meiner Person. Das
hier anlangende Neurokym, das meine Person durch den Opticus erregte,
wird so abgeleitet, ohne in die gewöhnliche Bahn in genügender Stärke
zu gelangen, um hier bewusste Parallelvorgänge hervorzurufen. Die
secundäre Identification unterbleibt. Man könnte mir zunächst ein-
wenden: das Sujet identificirte damals, als es in Gedanken ging, gar
keine Gesichtseindrücke secundär. Warum identificirt es jetzt nur nicht
den von mir empfangenen? Die Ursache liegt in einer zweifachen
Bahnung. In dem damals nachfolgenden Gespräch wurde das Gesichts-
bild von mir lebhaft erregt. Es trat daher eine intimere Association
Forel, Der Hypnotismus. 4 Aufl.
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130 Vermutheter Mechanismus einer negativen Hallucination.
zwischen dem < 'entmin des Problems und dem Gesichtsbild von mir als
den übrigen optischen Centren ein. Weiter rief ich heute, als ich ihm
die Suggestion gab, mich nicht mehr zu sehen, wie vorher direct durch
den Anblick die optische Componente der Vorstellung von mir sehr
lebhaft im Sujet wach. Als nun die Erregung durch das Centrum des
Problems zum optischen Centrum gelangte, nahmen die leitungsfähigsten
Associationsfasern natürlich den grössten Theil für sich in Anspruch.
Zu diesen gehörte aber in erster Linie in Folge der direct vorher er-
folgten Beize die Bahn zum Centrum meiner Person. Diese Bahn —
für gewöhnlich von nebensächlichster Bedeutung — wurde jetzt vor-
läufig zur Hauptbahn. Das Gesichtsbild von mir wurde seiner gewöhn-
lichen Associationen zur Zeit beraubt: es wurde eben durch Bahnung
dissociirt. Dass dabei Neurokymtheile zu anderen Theilgebieten des
optischen Centrums nebenbei noch gelangt sind, beweist das nunmehr
noch viel leichtere Gelingen sinnverwandter Suggestionen. Ich brauche
das Sujet nur zu fragen, ob er noch diese Person oder jenen Gegenstand
erkenne: das genügt jetzt schon oft zum Anschluss des optischen Centrums
des betreffenden Objectes an das Ableitungssystem. Dass dabei dieses
leichter Objecten gegenüber geschieht, die zu mir in engerer Beziehung
stehen , beruht natürlich wieder auf Bahnungen , die ihnen zu Theil
wurden, als die Gesichtsvorstellung von mir im Sujet erregt wurde.
Man könnte mir nun etwa noch einwenden, eine derartig günstige Vor-
geschichte sei bei den meisten Experimenten nicht vorhanden gewesen.
Gewiss nicht. Aber es ist auch nicht nöthig. Jeder von uns ist schon
an ihm bekannten Menschen vorübergegangen, ohne sie zu erkennen. Die
Vorstellung nun, die mein Sujet zur Zeit des Experimentes von mir
hat, enthält als eine wesentliche Componente die eines ihm bekannten
Menschen : so ist die Bahn doch vorhanden ; wir brauchen sie nur zu
verstärken."
„Wie die eben ausführlich behandelte, beruht jede suggestiv her-
vorgerufene Dissociation auf dem Wiederhervortreten früherer Leitungs-
verhältnisse , früherer Constellationen. Durch die bisherigen Erlebnisse
des Individuums ist daher im Einzelnen die Form der Dissociation und
damit die der Aufnahme der Suggestion verbunden. Welcher ähnliche
Fall am wenigsten latent, am leichtesten erregbar ist: der wird jetzt
ins Bewusstsein treten, und zwar so lebhaft, dass das Sujet ihn zur
Zeit zu erleben glaubt. So wird einem zweiten Sujet ,ganz nebelig vor
den Augen', weil bei ihm die Erinnerung an Nichtsehen von Bekannten
in der Dämmerung am leichtesten erregbar war. Ein drittes erklärt
sich für blind. Die Vorstellung des Nichtsehens war bei ihm am stärksten
mit der Vorstellung des Blindseins assocciirt. Diese wurde lebhaft erregt.
Als eine ihrer Componenten traten im optischen Centrum die Leitungs-
verhältnisse hervor, die der früheren Empfindung des Schwarz ent-
sprachen. Das Centrum für Schwarz absorbirte einen solchen Theil der
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Die Hemmungen beruhen auf anderweitigen Bahnungen, auch d. Schlaf. 131
anlangenden Neurokyme, dass diese im Uebrigen keine zum Bewusstsein
gelangenden Erregungen mehr veranlassen konnten."
„Zum Beweise der Richtigkeit des hier vertretenen Princips will
ich noch zwei Beispiele von Hysterischen anfuhren."
„Der einen gab ich die obige Suggestion. Ich verschwand, aber
die Umgebung sah sie noch. Sie wurde aber sehr schnell erregt, lief
ängstlich umher und rief: sie würde wieder krank, sie könne gar nicht
mehr denken ; sie sähe alles roth. Patientin erklärte dann, nachdem ich
sie wieder klar gemacht hatte, ohne ihr schon gleich die Erinnerung zu
nehmen: so sei ihre Krankheit angefangen, sie habe nichts mehr ge-
sehen, es sei ihr ganz wirr und bunt vor den Augen gewesen; sie habe
es bisher vergessen gehabt, aber jetzt sei es ihr wieder eingefallen."
„Eine zweite Patientin war gelähmt und stumm in die Klinik ge-
bracht, man hatte sie so auf der Strasse gefunden. Eines Tages, nach-
dem die Symptome verschwunden waren, gebe ich ihr die Wachsuggestion
absoluter Anästhesie. Sie gelingt und Patientin ist entsprechend para-
lytisch. Da ich eine Veränderung des Gesichtsausdruckes merke, nehme
ich die Suggestion. Aber zu spät. Patientin schleicht jetzt starr, die
Umgebung verkennend, stumm umher. Ich hypnotisire sie und suggerire
ihr Klarheit mit Erinnerung. Patientin gibt dann an, sie hätte geglaubt,
sie läge auf der Strasse. Es war also die Erinnerung an den damaligen
Anfall hervorgerufen."
„Mit der Zurückführung der Hemmungen auf anderweitige Bahnungen
haben wir dann aber weiter die Mechanik der subjectiven Er-
gänzung aller Suggestionen von Seiten des Hypnotisirten , ins-
besondere das ständige Wechsel verhältniss zwischen positiven
und negativen Hallucin ation en (vergl. S. 74) erklärt."
„Führen wir so alle Suggestiverscheinungen auf ein-
seitige Bahnungen zurück, so muss es auch für die wich-
tigste Suggestion, den Schlaf, gelten. Beim Neugeborenen
wird der Schlaf durch gewisse vom Chemismus abhängende Dynamismen
niederer Hirncentren, wohl wesentlich vasomotorischen Charakters, aus-
gelöst. Diesem reflectorischen Schlaf gehen gewisse mit Zunahme des
Bewusstseins (parallel der Grosshirnentwicklung) stärker hervortretende
Empfindungen voraus: zunehmende körperliche und geistige Schwer-
fälligkeit und besonders das wohl hauptsächlich durch die reflectorisch
ausgelöste alhnälige Contraction des Musculus orbicularis oculi erregte
Gefühl von Schwere in den Augen. Diese associiren sich allmälig durch
gegenseitige Bahnungen zu einem Complex, der Schlafvorstellung. Tritt
später eine der Empfindungen auf einen Reiz hin auf, so folgen die an-
dern, indem sich die Erregung über die gut leitenden Bahnen ausbreitet.
Weitere Gleichzeitigkeitsassociationen führen dann zu einer Bahnverbin-
dung zwischen der Schlafvorstellung und den den Schlaf auslösenden
niederen Centren. Diese Bahn wird allmälig eine so gut leitbare, dass
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132 Vermuthete Mechanik d. Schlaf einleitung, d. vasomot. u. secretor. Centren.
es schliesslich die Schlafvorstellung wird, die den Schlaf auslöst. Durch
die suggestive Erregung der Schlafvorstellung rufen wir dann eine all-
gemeine, durch eine Aenderung des Stoffwechsels bedingte Dissociation
hervor. So schaffen wir durch Bahnung den günstigsten
Boden für die Wirkung weiterer Bahnungen.*
„Auf diese Weise bekommt die Schlafvorstellung einen ganz moto-
rischen Charakter. Dieses ist aber nur ein Specialfall eines allgemeinen
birnmechani8chen Entwicklungsgesetzes. In gleicher Weise haben sich
alle willkürlichen Bewegungen aus unwillkürlichen entwickelt, indem
die Empfindungen reflectorisch ausgelöster Bewegungen zu den auslösen-
den Vorstellungen , zu den Willensimpulsen wurden. In der Thatsache
nun, dass dieser Entwicklungsprocess weiter fortgeschritten ist, als man
auf Grund unserer anatomischen Kenntnisse annehmen konnte, in dieser
Thatsache war der Zweifel begründet, den man anfangs manchen Sug-
gestivresultaten entgegenbrachte. Diese, z. B. die Beeinflussung der
Darmperistaltik, der Vasomotoren und der Drüsensecretionen, sind heute
über allem Zweifel erhaben. Ihre Abhängigkeit von Affecten wies schon
auf eine Verknüpfung ihrer Centren mit dem Grosshirn hin. Die Sug-
gestionslebre hat bewiesen, dass jene dumpfen, kaum bewusst werdenden
Empfindungen bereits zu schwach motorischen Vorstellungen geworden
sind. Hier eröffnet sich ein Fernblick auf die weitere Entwicklung
unseres Grosshirns, auf die zunehmende Unterordnung der reflectorischen
Bewegungen unter die Intelligenz.*
Herr Dr. 0. Vogt wünscht, dass der hypothetische Charakter
seiner theoretischen Ausführungen gewahrt bleibt, was wir hiemit
ausdrücklich betonen.
Zur Theorie der Suggestionswirkung wollen wir noch die
Arbeiten von Prof. Lipps (Zur Psychologie der Suggestion),
Dr. Döllken (Zur Physiologie der Hypnose) und Dr. F. Köhler
(Experimentelle Studien auf dem Gebiet des hypnotischen Somnam-
bulismus) erwähnen, die alle recht werthvoll und interessant sind
und in der Zeitschrift für Hypnotismus nebst anderen Arbeiten
0. Vogt's stehen. Ueber Vogt's Erklärungsversuch gehen jedoch
diese Arbeiten nicht hinaus.
V. Suggestion und Geistesstörung. Hysterie.
Die Geisteskranken sind von allen Menschen die am wenigsten
Suggestiblen ; schwer Geisteskranke sind es meistens gar nicht.
Darin stimmen alle erfahrenen Hypnotiseurs überein. Dies kommt
wohl einfach daher, dass die kraukhaften Hemmungen oder Reiz-
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Suggestion und Geistesstörung.
133
zustände im Gehirn der Geisteskranken eine solche Intensität er-
reichen, dass sie durch die Suggestion nicht mehr dissociirt werden
können. Und gelingt es dennoch, einen Geisteskranken zu hyp-
notisiren, so wirken die meisten Heilsuggestionen nicht oder nur
vorübergehend, am allerwenigsten diejenigen, die sich gegen Wahn-
vorstellungen richten. Eine Verrückte, Frau X., hielt sich z. B. für
eine Frau Y. — Ich konnte sie hypnotisiren , und es gelang mir,
ihr mit Erfolg Schlaf, Appetit, sogar posthypnotische Hallucinationen
einzugeben. Als ich ihr aber mit grösster Energie in der Hypnose
erklärte, sie wisse nun ganz genau, dass sie Frau X. sei und nicht
Frau Y., die letzte Ansicht sei eine unsinnige Wahnidee gewesen,
über welche sie nur noch lachen könne, schüttelte sie im hypnoti-
schen Schlaf immerwährend (d. h. solange ich dieses behauptete)
negirend den Kopf, um mir ja zu beweisen, dass sie diese Suggestion
nicht acceptirt habe.
Bei der Suggestion arbeitet man mit dem Grosshirn des Hyp-
notisirten als Instrument. Bei Geisteskranken ist dieses Instrument
in seiner Function gestört; daher geht es schlecht. Die Misserfolge
bei Geisteskrankheiten sind eine der besten Bestätigungen, dass die
Kraft der Hypnose im Hirn des Hypnotisirten, nicht in demjenigen
des Hypnotiseurs liegt.
Ueber das Verhältniss des Hypnotismus zu den geistigen
Störungen ist aber so viel Falsches behauptet worden und werden
noch so viele Irrlehren ohne irgend welche gründliche Beobachtungs-
basis, blos auf oberflächliche Behauptungen hin colportirt, dass es
der Mühe werth ist, etwas näher darauf einzutreten. Wir können
nicht genug betonen, dass die Suggestibilität eine durchaus normale
Eigenschaft des normalen Menschenhirnes ist.
Wir haben gesehen, dass Charcot's Schule die Hypnose da-
gegen als eine Form der Hysterie bezeichnen wollte. Die Hysterie ist
aber eine Krankheit, und zwar eine Krankheit des Geistes, eine func-
tionelle Abnormität der Gehirnanlage, und hat mit der „Hystera*,
d. h. mit dem Uterus nichts zu schaffen. Neben vielen richtigen
Beobachtungen haben sich in Charcot's Lehre der Hysterie auch
viele Irrthümer eingeschlichen, die mit seinen „somatischen" Be-
griffen zusammenhängen. Nach meiner mit Bernheim überein-
stimmenden Ansicht sind die „zones" und „points" hysterogenes,
der angeblich pathognoraonische Zusammenhang der Hysterie mit
Reizzuständen der Ovarien, die typischen Hemianästhesien und dergl.
mehr Artefacte, d.h. Symptome, die, wie alle Symptome der
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134
Wesen der Hysterie. Charcot's Schule.
Hysterischen, dadurch fixirt werden, dass man sich damit beschäftigt.
Die Hysterie ist eine dissociative Schwäche des Gehirnes, durch
welche eine krankhafte Autosuggestibilität bedingt und eine be-
deutende Tendenz zu mehr oder minder flüchtigen Functionsstörungen
aller Arten von dem localisirtesten Schmerz oder Krampf, von der
localisirtesten Anästhesie oder Lähmung bis zur allgemeinsten
Geistesstörung bewirkt wird. Alle diese hysterischen Störungen
können sich leicht fixiren und Jahre lang bestehen. Sie können zwar
oft dann noch geheilt werden. Aber es gibt auch alle Uebergänge
von den flüchtigeren hysterischen Nervenstörungen zu schwereren,
sogar zu irreparablen Geistesstörungen und zu anderen schweren
Neurosen.
Die ächte Hysterie ist meist ein constitutionelles Leiden und
als solches, d. h. als abnorme Charaktereigenschaft des Gehirnes,
nicht heilbar; man heilt nur Symptome, nicht aber die constitutionelle
Disposition. Allerdings gibt es auch erworbene Hysterien, die in
Folge von Misshandlungen und Erschöpfungen des Gehirns ent-
stehen können und in den confusen Begriff der Neurasthenie x ) über-
gehen. Reizungen des peripheren Nervensystemes können ebenfalls
durch Rückwirkung auf das Gehirn dazu führen. Das wollen wir
durchaus nicht läugnen. Diese Fälle sind meistens heilbar. Es
gibt übrigens alle möglichen Mischungen einer leichteren und
schwereren Prädisposition und „nervöser" (d. h. cerebröser!) Con-
stitution mit erworbenen Schädigungen.
Im Congress für physiologische Psychologie zu Paris 1889 frag
ich Herrn Dr. Babinski, Assistent von Prof. Charcot, wie er
sich denn erkläre, dass wir alle, Schüler Lie'beault's und Bern-
heim's bezüglich Hypnotismus, 80 bis 90 Procent aller Menschen,
gleichwohl ob Deutsche, Franzosen, Schweden, Russen, Holländer
oder Engländer, hypnotisiren können; ob er denn diese 80 bis
90 Procent alle für hysterisch halte. Wenn dem so sei, dann werde
der Begriff der Hysterie in der Salpetriere in einer Weise erweitert,
gegen welche ich protestiren müsse. Darauf hin wurde mir er-
widert: „Man protestire dagegen, dass die Salpetriere den Begriff der
Hysterie ungebührlich erweitere, es müssen aber doch wenigstens
,tares hysteriques* Vorhandensein, damit Jemand hypnotisirbar
') Mit dem Wort »Neurasthenie* wird alles Mögliche und Unmögliche,
von der progressiven Paralyse, durch Paranoia und Melancholie bis zur Hysterie
bezeichnet; der Grundstock dieses Verwirrungsbegriffes wird jedoch durch die
Hypochondrie gebildet.
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Wesen d. Hysterie. Babinski. Psychopath. Symptome nur modif. d. Normalen. 1 35
sei." — Diese Controverse wurde zwar in den gedruckten Ver-
handlungen des Congresses nicht aufgenommen. Doch habe ich sie
hier getreu wiedergegeben, weil sie klar in die Sache sehen lässt.
Nach Herrn Babinski hätten also 90 bis 96 Procent der
Menschen (so viele hypnotisiren wir) „tu res hyst^riques' ! So schlimm
steht es doch, Gott sei Dank, nicht mit unserer Menschheit.
In 12 Jahren ist Herr Dr. Babinski nicht im Stande ge-
wesen von seinem Irrthum wesentlich zurückzukommen, denn 1901
(Definition de PHysterie, Comptes rendus de la Society de Neuro-
logie de Paris) bezeichnet er folgendermassen den Begriff der Hysterie :
„Etat psychique rendant le sujet qui s'y trouve capable de
s'autosuggestionner. L'hysterie se manifeste principalement par des
troubles primitifs et accessoireraent par quelques troubles secondaires.
Ce qui caracte'rise les premiers, c'est qu'il est possible de les re-
produire par Suggestion avec une exactitude rigoureuse chez certains
sujets et de les faire disparaitre sous l'influence exclusive de ia
persuasion. Ce qui caracterise les troubles secondaires c'est qu'ils
sont e*troitement subordonnes a des troubles primitifs."
Ueber diese confuse Arbeit wäre es besser zu schweigen, wenn
sie nicht die Confusion so vieler Köpfe getreu wiederspiegeln würde.
Babinski rechtet gegen den Ausdruck Suggestion, weil er etwas
ominöses an sich habe. Dann möchte er das Wort Hysterie durch
„troubles pithiatiques" (durch Ueberzeugung heilbare Stö-
rungen) ersetzen! — Er verwechselt somit die Heilung von Sym-
ptomen mit der Heilung einer constitutionellen Psychopathie, welche
ja die Hysterie ist, und fährt fort, Hysterie und Suggestion zu ver-
wechseln. Er hat den Unterschied der normalen Suggestibilität
von der pathologischen Hypnose der Hysterischen nach 12 Jahren
noch nicht begriffen!
Wir wissen aus zahllosen Erscheinungen der Psychopathologie,
dass ihre Begriffe, meistens sogar, nur auf pathologischen Verstär-
kungen, Abschwächungen oder qualitativen Veränderungen psycho-
logischer oder psychophysiologischer Begriffe beruhen. Nichts liegt
somit so nahe, als auch die Hysterie für eine pathologisch er-
höhte Suggestibilität zu erklären, wie dies Möbius gethan
hat, indem er mit Recht betonte, wie bei Hysterischen die Symptome
aus Vorstellungen zu entstehen pflegen. Ich selbst habe den Accent
mehr auf die pathologische Autosuggestibilität gesetzt, weil
die meisten und schwersten Hysterischen mehr autosuggestibel als
suggestibel sind.
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136 Die beiden Kategorien d. Hysterie v. Ringier. Polymorphismus d. Hysterie.
Mit Recht hat aber Ringier *) seine zwei relativen Kategorien
von Hysterischen unterschieden, die erste mit sehr hoher Auto-
suggestibilität und geringer Beeinflussbarkeit durch Fremdsuggestion,
die zweite mit hoher Beeinflussbarkeit durch Fremdsuggestion. Wir
werden auf diese Kategorien, die Ringier auf Grund der sug-
gestiven Therapie aufgestellt hat, zurückkommen, weil sie sich in
anderen Gebieten wiederspiegeln.
Von jeher hat es paradoxe Aerzte gegeben, die sagten „alle
Frauen sind mehr oder minder hysterisch". Daraus, sowie aus
Charcot's Identification der Hypnose mit einem Theilbild der
Hysterie geht schon hervor, dass von jeher die Abgrenzung des Be-
griffes der Hysterie gegenüber demjenigen der Normalität schwer war.
Aber auch gegenüber schweren Psychosen ist dieser Begriff
schwer genug abzugrenzen. Davon zeugen die Mischbegriffe der
Hysteroepilepsie, der hysterischen Verrücktheit , der hysterischen
Manien u. s. f. — Freilich haben Charcot, Breuer, Freud,
Vogt und vor ihnen schon viele einzeln von den Autoren be-
schriebene Fälle den Beweis geliefert, dass scheinbar schwere Er-
scheinungen, die durchaus schweren Neurosen, Epilepsien oder
schweren Psychosen gleichen, durch Vorstellungen erzeugt und durch
Vorstellungen wieder beseitigt werden können. Ich habe selbst eine
Reihe derartiger eclatanter Fälle beobachtet. Ja, es können solche
Jahre lang, fast ein ganzes Leben dauern und schliesslich doch wie
durch ein Wunder zur Heilung gelangen, wie ich es für eine schwere
Paraplegie bei Wetterstrand sah.
Doch dürfen wir uns nicht durch den Schein blenden lassen.
Diese Fälle gehören in der That zur echten Hysterie, mögen sie
Männer oder Frauen betreffen. Anders steht es mit den wahren
Mischformen. Diese gehören besonders zu der ersterwähnten Kate-
gorie Ringiers. Studiren wir solche Individuen sorgfältiger, so
finden wir bei denselben Elemente von schwereren constitutionellen
Psychopathien oder Psychosen, wie ethische Defecte, erethische Ge-
mütszustände, reizbare Schwäche, halbwegs unter der Grenze der
Psychosen stehende Rudimente oder Elemente von Grössen- oder
Verfolgungswahn mit halber Einsicht, Zwangsvorstellungen, Ab-
normitäten der Sexualsphäre, krankhafte Verliebtheiten, patho-
logischer Schwindel, constitutionelle Querulirsucht oder Melancholie,
Hypochondrie etc. etc. — Kurz, wir schwimmen aus dem Gebiet
') Erfolge des Hypnotismus in der Landpraxis, München 1891, Lehmann.
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Acquirirte Hysterie. Uebergang zu anderen Psychopathien. 137
der Hysterie in dasjenige anderer constitutioneller Psychopathien
oder stehen bereits darin, ohne uns versehen zu haben. Es ist
zweifellos die Erscheinung der pathologischen Autosuggestibilität
tiefer pathologisch als diejenige der pathologischen Suggestibilität.
Aber Grenzen gibt es keine. Nicht nur können andere Psycho-
pathen exquisite hysterische Erscheinungen zeigen, sondern wenn
wir nun unser Augenmerk auf die zuletzt erwähnte Kategorie
Ringiers werfen, so finden wir doch, dass diese Leute, wenn sie
überhaupt ausgesprochen hysterisch sind und nicht mehr in die
Breite der Normalität gehören, doch zu den constitutionellen Psycho-
pathen, wenn auch zu den relativ leichteren gehören.
Durch diese Fälle haben wir eine Uebergangsreihe aus den
schweren Psychopathien durch die relativ reine Hysterie zur Nor-
malität aufgestellt.
Doch Linien und Ebenen gibt es in diesem Gebiete nicht. Viele
constitutionelle Psychosen zeigen bis zur Normalität Uebergänge T
die durchaus nichts Hysterisches an sich tragen.
Aber mehr. Es gibt ja bekanntlich eine erworbene Hysterie bei
früher gesunden Menschen. Man hat dies zwar geläugnet — doch
mit Unrecht. So gut wie die Grundsymptome der Paranoia, der
Melancholie, der conträren Sexualempfindung (von letzterer habe
ich bei einem hoch ethischen und gebildeten Menschen einen ex-
quisit erworbenen Fall erlebt, den ich auch mit Suggestion heilen
konnte) u. s. f. sowohl Constitutionen als Charakterkrankheiten, wie
erworben als acute oder chronische Psychosen vorkommen, so ist
dies auch bei den Symptomen der Hysterie der Fall.
Nach schweren Affecten (psychischen Traumata), den Körper
erschöpfenden Leiden, auch ohne nachweisbare Ursache, sehen wir
zuweilen acute heilbare Hysterien auftreten, obwohl der Kranke
früher keine Spur solcher Erscheinungen zeigte. Solche Fälle pflegen
vielfach in den neumodischen Begriff der Neurasthenie überzugehen.
Freilich sind ganz reine Fälle derart selten. In der Regel handelt
es sich doch um die erworbene pathologisch hysterische Reaction
eines wenigstens Constitutionen Prädisponirten, zu welcher eine sorg-
fältige Anamnese in der Regel führt. Es ergeht übrigens den
eigentlichen „Neurasthenien" (alias Hypochondrien andere Psycho-
pathien und dergl. mehr, wenn es keine beginnenden progressiven
Paralysen sind) nicht besser. Auch diese sind selten die Folge
„geistiger Ueberarbeitung", sondern in der Regel diejenige heredi-
tärer Prädisposition, verbunden mit psychischen Traumata oder Er-
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138 Die Hysterie iat eine pathologische Dissociabüität.
Schöpfungen und dergl. mehr, so dass Beard's »neue Entdeckung*
der Hauptsache nach auf Neubenennung altbekannter Krankheits-
bilder beruht.
Wenn wir uns aus dieser schon zu langen Revue einige Schlüsse
erlauben dürfen, so sind es die folgenden:
1. Die Hysterie ist kein ganz abgeschlossenes Krankheitsbild,
sondern ein pathologischer Symptomcomplex oder Syndrom.
2. Dieser Symptomcomplex kann Constitutionen oder erworben
sein; oft combiniren sich beide Factoren; doch überwiegt meistens
der erstere.
3. Dieser Symptomcomplex zeichnet sich vor Allem durch eine
pathologische Dissociabihtät (Suggestibilität und Autosuggestibilität),
die Autosuggestibilität bei schwereren, tiefer constitutionellen Fällen
weitaus überwiegend, aus. Er combinirt sich aber aufs Mannig-
faltigste mit anderen Erscheinungen von constitutionellen Psycho-
pathien.
Die pathologische Dissociabihtät entspricht einem Zustand des
Gehirns, bei welchem die Vorstellungen, Willensimpulse und Affecte
besonders leicht dissociirt werden. In Folge dessen bilden sich
im eingeengten Bewusstsein intensiv wirkende spontan somnam-
bulische Ketten, welche die Persönlichkeit mitreissen, eventuell in
Doppel-Ich theilen, und die wunderbarsten Erscheinungen zeitigen
können. Daher auch die dramatischen hysterischen Schwindeleien,
die traumartige Labilität jener Kranken überhaupt.
Die pathologische Suggestibilität und Autosuggestibilität be-
kundet sich durch die Production der mannigfaltigsten Functions-
störungen des ganzen Nervensystems: psychopetal, psychofugal und
psychocentral mittelst Vorstellungen. Solche Störungen können sehr
wohl sichtbare materielle Veränderungen der Zellen erzeugen, welche
jedoch desshalb durchaus nicht mehr Werth haben als andere. Es
ist ja zweifellos, dass jeder Function und F unc tionsstörung
des Nervensystems moleculare Veränderungen der lebenden Nerven-
elemente entsprechen (Hodge etc.). Periphere hysterische Nerven-
störungen und Veränderungen müssen als Producte pathologisch-
hysterischer Suggestionen und Autosuggestionen angesehen werden
(Anästhesien, Lähmungen, Contracturen, Gesichtsfeldeinschränkungen
und dergl. mehr).
Mit der Definition der Hysterie, wie wir sie hier gegeben
haben, gibt sich die allmälige Abgrenzung nach allen Seiten,
somit auch nach der normalen Suggestibilität hin, von selbst. Der
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Suggestibilität so wenig Hysterie als normale Traurigkeit Melancholie. 139
Unterschied zwischen Hysterie und normaler Suggestibilität ist
ähnlich wie derjenige zwischen Melancholie und normaler Traurig-
keit, oder zwischen moralischem Irresein und normalem Egoismus,
oder noch zwischen pathologischem Schwindel und normal ad-
äquatem Betrug, oder auch zwischen normalem und hypochondri-
schem Schmerzgefühl.
Eine sehr hochgradige Suggestibilität ist bereits hypernormal,
und mag nicht selten mit hysterischer Prädisposition einhergehen.
Doch ist es vor Allem die pathologische Reaction, die Ausschmückung
der gegebenen Suggestionen mit unbeabsichtigten Autosuggestionen,
die Production von nicht suggerirten Lähmungen, Krämpfen,
Schmerzen etc. in massenhafter Weise, welche die Hysterie aus-
zeichnet.
Vor Allem ist die uncorrigirte Hypnose der Hysterischen eine
ganz andere als diejenige der normalen Menschen, was Dr. Babinski
gar nicht würdigt. Sie schiesst über das Ziel hinaus, tendirt zur
Lethargie oder zum hysterischen Anfall, gehorcht den Suggestionen
nicht, oder übertreibt dieselben, und muss mit ganz besonderer Vor-
sicht, Umsicht und Geschicklichkeit geleitet, geradezu normalisirt
werden.
Social und historisch, wie therapeutisch, spielt die hysterische
Dissociabilität eine grosse Rolle. Sie ist es besonders, welche drama-
tische Umwandlungen einer Persönlichkeit, sei es im Guten, sei es
im Bösen, hervorruft. Bekehrte, Massenführer, Propheten und dergl.
sind sehr oft hysterische Naturen, besonders wenn die Hysterie mit
Begabung einhergeht. Aber durchaus nicht alle Enthusiasten und
Fanatiker zeigen hysterische Erscheinungen. Letztere sind vor Allem
in den Fällen zu suchen, wo contrastartige suggestiv bedingte Um-
wandlungen der ganzen Persönlichkeit stattfinden. Letztere können
übrigens auch die Folge eigentlicher Psychosen (z. B. der Paranoia)
sein. Dann findet aber eine Entartung des Ich statt, die bei der
Hysterie fehlt.
Meynert sagte: die Hypnose sei ein „experimentell erzeugter
Blödsinn". Würde er sagen „Wahnsinn", so wäre es eher noch
plausibel. Seine aprioristische , ohne Kenntniss der Sache ge-
schleuderte Ansicht stützte sich offenbar darauf, dass man bei Hyp-
notisirten viele Erscheinungen (Hallucinationen , falschen Glauben,
Erinnerungsfälschungen etc.) erzeugen kann, die bei Geisteskranken
auch beobachtet werden, und bei oberflächlicher Betrachtung, wenn
man selbst keine Erfahrung mit der Suggestion auf einer, d. h. nur
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140
Die normale Suggestibilitat ist keine Hysterie.
mit den Geisteskranken auf der anderen Seite besitzt, kann man
leicht durch diese Analogie verführt werden. Dabei werden jedoch
folgende Punkte vergessen:
1. Alle diese augeblichen Symptome von Geistesstörung kommen
auch im normalen Schlaf, obwohl zum Theil weniger ausgebildet,
vor (siehe oben). Der Schlaf ist aber keine Geisteskrankheit.
2. Bei Hypnotisirten zeigen die erzeugten Symptome keine
Tendenz, sich von selbst im Wachzustand zu wiederholen, voraus-
gesetzt, dass der Operateur seine Sache versteht und nicht geradezu
durch Suggestionen absichtlich dahin arbeitet, störende Symptome
zu züchten und zu fixiren. Wir stehen hier vor einer ernsten Frage.
Liebeault, Bernheim, Wetterstrand, van Eeden, van
lienterghem, de Jong, Vogt, ich selbst und die anderen
Schüler Nancy's, wir erklären kategorisch, dass wir, gestützt auf
ein Material von vielen Tausend hypnotisirter Personen, nie einen
Fall von ernster oder dauernder Schädigung der geistigen oder
körperlichen Gesundheit durch die Hypnose, dagegen sehr viele
Heilungen und Besserungen von Krankheiten bei den von uns be-
handelten Personen beobachtet haben. Autosuggestionen und An-
fälle von Hysterischen, vorübergehende leichte Eingenommenheit
des Kopfes und dergl. mehr, sowie bei den ersten Versuchen und
noch mangelhafter Uebung auch wohl ein paar Mal Verfallen in
Autohypnose waren die einzig beobachteten „ Schädigungen". Bei
einem solchen Material lässt sich die Sache nicht mehr mit zwei-
deutigen Redensarten abfertigen. Entweder sind wir alle elende
Lügner, oder die angeblichen Schädigungen durch die Hypnose be-
ruhen (wie wir es behaupten) zum Theil auf Anwendung schlechter
Methoden, zum Theil auf der Einfalt ungeschickter Operateure,
zum Theil auf frevelhaften Experimenten, hauptsächlich aber auf
Missdeutungen und Uebertreibungen. Im Jahr 1889 hatte ich in
Paris Gelegenheit, selbst eine Schreckhypnose nach der Methode der
Salpetriere zu beobachten. Ein Assistent geht auf eine Hysterica
los. Dieselbe merkt seine Absicht, schreit und flüchtet sich in alle
Ecken mit dem Ausdruck des Abscheus und einer grossen Angst.
Doch wird sie erwischt und trotz verzweifelter Gegenwehr fest-
gehalten. Dann drückt der Assistent mit aller Kraft auf irgend
einen Punkt (Schulter oder Bein), der als „Zone hypnogene" gilt.
Die Kranke wird nun dadurch plötzlich in kataleptischer Stellung
hypnotisirt. Man gibt sich aber nicht einmal die Mühe, sie durch
Suggestionen zu beruhigen. Wir erklären allerdings, dass mau
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Psycholog. Form eines Symptomes ist nicht Weaen der Geistesstörung. 141
auf solche Art schaden kann, und auch sogar ohne solch rücksichts-
loses Vorgehen, wenn die Kranken geängstigt statt beruhigt werden.
Die Geisteskrankheit wird nicht durch die psychologische Form
eines Symptomes oder eines Symptomcomplexes charakterisirt,
sondern durch eine Krankheit des Gehirnes selbst, deren Ursache
zwar (ausser bei der progressiven Paralyse und anderen sogen,
organischen, sowie bei den auf Intoxication beruhenden Psychosen)
dunkel, aber dennoch zweifellos hinter dem psychischen Inhalt der
Symptome verborgen steht. Nicht das Phänomen der Hallucination
an sich ist krankhaft sondern der verborgene pathologische Reiz,
der die beständige Wiederholung gewisser Hallucinationen hervor-
ruft. Nicht ein rasches, ideenflüchtiges Schwätzen ist an sich krank-
haft, denn Jeder kann in einem Augenblick adäquater Anregung
oder Aufregung die Erscheinungen einer kurzen Ideenflucht zeigen,
sondern die noch uubekannte Ursache des pathologischen Reiz-
sturmes, der im Gehirn des Maniacus tobt und ausserdem die all-
gemeine psychomotorische Aufregung, die Euphorie etc. verursacht.
Nicht der Inhalt der Wahnideen ist an sich krankhaft, denn jeder
normale Mensch kann ebenso dummes Zeug denken oder träumen,
sondern die Unfähigkeit, sie logisch zu corrigiren und der Zwang,
mit welchem sie immer wieder auftreten; beides beruht offenbar
auf eigenartigen Reizzuständen und Coordinationsstörungen im Denk-
process, die vielleicht in gewisser Weise localisirt, jedenfalls aber
in einer mehr oder weniger gesetzmässigen Weise für jede sogen.
Krankheitsform combinirt sind, und so fort.
Die Suggestionslehre beleuchtet somit die Psychiatrie und gibt
ihr hochwichtige Winke, zum Theil Bestätigungen der Anschauungen,
die einsichtigere Psychiatren schon lange hatten. Besonders inter-
essant ist sie für die Lehre der Hallucinationen. Sie hat uns zur
Entdeckung der negativen Hallucinationen bei Geisteskranken ge-
führt und beweist uns klar, wie die Hallucination nicht an sich,
sondern durch ihre pathologischen Ursachen zum krankhaften Sym-
ptom wird.
J ) Man braucht desshalb durchaus nicht unseren Geist, unser ganzes
Vorstellungsgebäude auf hallucinatorischer Grundlage zu construiren (Janet,
Dessoir). Ohne die Schärfe und Tiefe solcher Anschauungen zu bestreiten,
erlaube ich mir zu bemerken, dass bei der phylogenetischen Entwicklung der
Erinnerungsbilder die primäre Unterscheidungsfähigkeit zwischen vorgestelltem
Erinnerungsbild und actueller Wahrnehmung der Wirklichkeit ein biologisches
Tostulat der Selbsterhaltung des Individuums und der Art bildet.
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1 42 Hypnose d.Geisteskranken. Da« Gehirn als Heilapparat d.Suggestionstherapie.
Es ist übrigens unbestreitbar, dass gewisse Formen von Geistes-
störungen leichterer oder weniger allgemeiner Art ab und zu durch
Suggestion gebessert, sogar geheilt werden können, wenn der Kranke
ein sehr suggestibles Gehirn besitzt und wenn der Operateur sehr
tüchtig ist. Wetterstrand hat sogar mehrere Fälle von Epilepsie l )
rein durch Suggestion geheilt; ebenso leichte Melancholien und
Hypochondrien. Auch ich selbst, Prof. von Speyr in Bern u. A.
mehr haben einzelne überraschend günstige Beeinflussungen beob-
achtet. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Unaufmerksamkeit der
Kranken, in ihrer Unzugänglichkeit und in der Intensität der patho-
logischen Reize und Neigungen. Man sieht den Unterschied des
Geisteskranken und des normalen Hypnotisirten nur zu drastisch,
auch da, wo die Art des Symptomes die gleiche zu sein scheint.
Wie oft habe ich die wächserne Biegsamkeit des Katatonischen mit
der suggestiven Katalepsie verglichen; da der gläserne Blick, die
Unzugänglichkeit zu jeder Suggestion, dort der automatische Ge-
horsam. Es ist etwas total Anderes. In einem Fall liegt wohl
pathologisches Gehirnödem, im anderen blos eine flüchtige func-
tionelle Schlafanämie (siehe oben) vor.
Wir sagten: „Beim Hypnotisiren ist das Gehirn unser Heil-
apparat, mit welchem wir arbeiten (ich möchte sagen unsere Dynamo-
maschine). Ist die Maschine in Unordnung, so geht es eben nicht
oder schlecht."!
Es bedarf dieses einiger Auslegung. Erstens ist selbstverständ-
lich eine lebende Maschine keine Maschine im eigentlichen Sinne
des Wortes. Der lebende Organismus ist eine sich selbst ent-
wickelnde und unterhaltende, automatisch arbeitende Maschine, die
selbst ihre Bewegungsbedingungen (Motoren) in der Form von
Speisen und Wasser sucht, und die sich ausserdem anpassen kann.
Ferner macht er eine fortschreitende Lebensevolution durch. Doch,
wenn wir von allen diesen Unterschieden corrigirend Vormerk
nehmen, bleibt der Vergleich als Analogievergleich brauchbar.
Je mehr ich hypnotisire, desto klarer lerne ich die Bedingungen
der Misserfolge bei Geistesgesunden kennen. Vor Allem sind es die
Affecte, wie innere Aufregung, Zorn, grosse, lebhafte Heiterkeit,
Angst, Misstrauen, Traurigkeit und Verzweiflung etc., welche —
selbst bei schon oft hypnotisirten, gut suggestiblen Menschen —
') Tch habe immer einige Zweifel, ob es sich nicht zum Theil um grosse
HyBtei-ie handelte.
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Affecte u. Autosuggestionen als Antagonisten d. Suggestion. Heimweh. 143.
den Erfolg beeinträchtigen, oder sogar ganz vereiteln. Sobald ich
nun sehe, dass Jemand unbeeinflußt bleibt, oder nicht mehr gut
parirt, frage ich jetzt: »Was regt Sie auf, was haben Sie auf dem
Herzen, das Sie mir nicht sagen?" Und diese Frage, in freund-
lichem Ton, aber bestimmt gehalten, bleibt fast nie ohne positive
Antwort. Der Kranke merkt, dass ich die Ursache des Misslingens
sofort erkannt habe, und gibt es auch fast immer zu. Dadurch
kann ich ihn meistens beruhigen und zum Ziel gelangen.
Aber nicht nur Affecte, sondern auch alle anderen Hirnthätig-
keiten, die die Aufmerksamkeit in gespanntem Zustande halten T
stören bald mehr, bald weniger die Hypnose: Präoccupation,
Weckung des Interesses, Raisonniren, Triebe etc.
Alle diese Hirnthätigkeiten wirken als Antagonisten der Sug-
gestion. Am schlimmsten ist es aber für die Suggestion, wenn ein
bestimmter Antagonist (Affect, Vorstellung, Willensimpuls oder Ge-
misch dieser Thätigkeiten) sich, gegen den bewussten Willen des
Hypnotisirten, regelmässig der Suggestion entgegenstemmt. Das
ist die störende „Autosuggestion", die nicht selten, allen An-
strengungen des Hypnotiseurs und dem besten Willen des Hyp-
notisirten gegenüber, das Feld behauptet. Man wird eher über
mehrere Antagonisten zugleich Meister (durch das Divide et im-
pera!) als über einen solchen allein.
Wenn wir nun hypnotische Versuche an Geisteskranken an-
stellen, beobachten wir verschiedenes. Bei acuten Psychosen treten
uns Affecte entgegen, deren Gewalt und Dauer alles niederkämpft.
Ich habe schon mehrmals versucht, das einfache Heimweh des Ge-
sunden wegzuhypnotisiren. Dieses schon gelingt nur schwer und
oft gar nicht. Selbst da ist die Affectwelle und die mit ihr associirte
Vorstellung ein fast unüberwindlicher Antagonist. Die Hypnose kann
gelingen und kann sogar andere Beschwerden (Schmerzen und dergl.).
mit Erfolg bezwingen, an dem Heimwehtrieb gleitet sie aber oft
ganz erfolglos ab. Wie viel mehr ist dies nun der Fall bei den
Psychosen!
Ich habe es schon früher gesagt: man kann gewiss in manchen
Fällen den ersten Antrieb, den ersten Beginn einer Psychose durch
Suggestion niederkämpfen. Ist aber eine Melancholie, eine Manie,
ein Wahnsinn ausgebrochen, so wird man nur selten und nur
vorübergehende Beruhigungen verschaffen können. Der Antagonist
im Gehirn — es mag seine noch unbekannte Natur sein, wie sie
wolle — ist viel zu stark (siehe übrigens weiter unten meine Casuistik).
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144 Die Suggestion bei diversen Formen von Geisteskrankheiten.
Bei anderen Formen von Psychosen, nämlich, bei den Formen
mit vorwiegenden Wahnideen, finden wir ebenfalls gewaltige Anta-
gonisten, an welchen die Suggestion ohnmächtig abgleitet. Aber
mehr. Nur der Versuch, den Verfolgungswahnsinnigen oder Größen-
wahnsinnigen zu hypnotisiren , erweist sich meistens als ein sinn-
loser, eventuell sogar schädlicher Versuch. Diese Kranken betrachten
mit äussersf cm Argwohn alles, was ihre Person irgendwie beeinflussen
will. Der erste leidet geradezu an Beeinträchtigungswahn und be-
zieht das harmloseste Zeug auf sich. Seit der Erfindung des Tele-
phons glauben sich die Verfolgungswahnsinnigen sehr oft durch
geheime Telephone (Lufttelephone und dergl.) verfolgt. Seit nun
der Hypnotismus Uberall erörtert wird , finden wir sehr oft bei
solchen Kranken den schönsten hypnotischen Verfolgungswahn. Sie
wähnen sich geheim hypnotisirt, durch Feinde hypnotisch verfolgt etc.
Die telepathischen und spiritistischen Theorien sind ein gefundenes
Futter für derartige "Wahnsysteme. Nun kann man sich wohl
denken, wie thöricht es ist, solche Kranke hypnotisiren zu wollen.
Man gibt ihnen dadurch nur Stoff zu Wahnideen, die sich sofort
gegen den Hypnotisirenden richten. Ich habe es nur ein oder zwei
Mal experimenti causa am Anfang gethan, meine Annahme,
es müsse so sein, bestätigt gefunden und die Sache dann bleiben
lassen. Der Grössenwahnsinnige verachtet den Hypnotiseur von seiner
Höhe aus und wird durch den Versuch ebenfalls nur aufgeregt.
Bei den organischen, auf Gehirnschrumpfung beruhenden Psy-
chosen kann der Patient meistens die Suggestion nicht fassen. Auch
ist der destructive Hirnprocess derart verallgemeinert, dass man auch
die partiellen Erfolge nicht erzielen kann, welche man bei den apo-
plectischen Lähmungen oft erhält. Das Hirngewebe des Apoplec-
tikers ist, vom Heerd abgesehen, noch relativ gesund. Das Gewebe
eines senilen oder progressiv paralytischen Gehirnes ist überall krank.
Bei den angeborenen und constitutionellen Psychosen, bei der
Psychopathie, der Hysterie etc. sind die Erfolge ganz entschieden
besser, wenn wir von dem tieferen Idiotismus absehen. Zwar lassen
sich natürlich der Hirndefect und die krankhafte Disposition an sich
nicht aufheben. Aber man kann durch eine richtige suggestive
Pädagogik, durch Angewöhnung an gute und gesunde Thätigkeiten,
durch Anregung der gesunden Charakterzüge und Suggestion des
Ekels und der Abscheu vor den krankhaften und perversen Triebe
viel Gutes, wenigstens in einer Reihe von Fällen, erzielen. Dazu
gehört freilich, dass das betreffende Individuum ordentlich suggestibel
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Erfolge der Hypnose bei gewissen Geisteskranken.
145
sei und einige gute Eigenschaften habe, was oft zutrifft. Hier ist
das Gehirn weder im Wahn befangen, noch beständig im Affect;
die dynamischen Vorbedingungen der Suggestibilität sind daher vor-
handen.
Ebenso verhält es sich mit den Intoxicationspsychosen (nach
Ablauf des Deliriums), wo man durch Suggestion des Widerwillens
gegen das Narcoticum und der totalen Abstinenz desselben für's ganze
Leben Heilung erzielen kann. Bei gewissen Fällen von abgelaufenen
secundären Psychosen kann man zwar keine eigentliche Heilwirkung,
aber dafür gewisse wichtige Impulse zu nützlichen Thätigkeiten,
z. B. zur Arbeit etc., sowie Hemmung von perversen Gewohnheiten
erreichen. Doch sind diese letzteren Fälle selten, und dem Nach-
lassen der Affecte und der Wahnideen bei relativer Erhaltung der
Intelligenz zu verdanken. Sie bestätigen somit nur unsere Ansicht.
Die meisten secundären Geisteskranken sind zu blöde und zu ver-
wirrt, haben auch noch zu viel Wahnideen, um dem suggestiven
Einfluss zugänglich zu sein.
Weniger erklärlich erscheint es zuerst, dass gewisse Geistes-
kranke sehr gut zu hypnotisiren sind, dass man bei ihnen Schmerzen,
Appetit, Stuhlgang, Menstruation, Schlaf und dergl. recht gut be-
einflussen kann, während die geistige Störung, die krankhaften
Wahngebilde und Affecte unverändert und unverkürzt fortwuchern.
Bei Hysterischen beobachtet man, wenn man sie ohne vorgefasste
Meinung, ohne Programm hypnotisirt, manchmal (ich sah es bei
vier Kranken) das Verfallen in einen tiefen lethargischen Schlaf.
Bei zwei Kranken, einem hysteroepileptischen Mann und einem
hysterischen Mädchen, trat dieser tiefe Schlaf so blitzartig schnell
ein, dass es mir absolut nicht gelang, in psychischer Verbindung
mit denselben zu bleiben; es war mir durch kein Mittel möglich,
sie zum suggestiven Gehorsam zu bringen. Nur mit grosser Mühe
konnte ich sie aus dem Schlaf wecken, während es mir leicht war,
sie durch Suggestion in den Schlaf zu versetzen; sie waren absolut
anästhetisch, der Mann in schlaffer Resolution aller Muskeln, das
Mädchen kataleptisch. Beim dritten, einem epileptischen Knaben,
trat ebenfalls ein plötzlicher tiefer Schlaf ein. Doch gelang es
stets, wenn auch mit Mühe und Noth, durch festes Anschreien und
Puffen einige schwache Suggestionswirkungen bei ihm zu erzielen.
Bei dem vierten Fall (melancholischer Psychopath, später circulär),
der auch durch tiefen, lethargischen Schlaf, nach der Hypnotisirung
durch einen anderen Collegen, den Rapport verlor, gelang es mir
Forcl, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 10
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146 Hypnose bei hystcr. Katalepsie. Eigenschaften d. suggerirenden Arztes.
bald, durch etwas Uebung den Rapport vollständig herzustellen und
somnambulen Gehorsam zu erzielen.
Bei einem interessanten Fall wurde ich ferner von Collega
Dr. Bösch consultirt. Es war ein hysterisches Mädchen, das in
spontane Katalepsie verfallen war. In dem exstatischen Schlaf mit
traumhaften Hallucinationen waren die Extremitäten kalt und eyano-
tisch, der Blick gläsern, die Haut anästhetisch. Ich versuchte ver-
gebens, einen suggestiven Rapport herzustellen. Doch schienen mir
einige Indicien darauf zu deuten, dass es nicht ganz unmöglich sei.
Meinem Rath folgend, versuchte dann Collega Bösch, das Mädchen
nach dem Erwachen aus dem täglich viele Stunden währenden Schlaf
durch Suggestion im Wachen zu beeinflussen, und es gelang ihm
dieses auch so weit, dass er wenigstens zum grossen Theil einen
suggestiven Gehorsam zuerst im Wachzustand und in der Folge
sogar im spontanen kataleptischen Schlaf erzielte. Leider verlor
sich später dieser Einfluss, bevor er eine volle Heilung herbei-
führen konnte.
VI. Winke für die suggestive oder psychotherapeutische
ärztliche Praxis.
Will man hypnotisiren und vor Allem damit therapeutische
Erfolge erzielen, so muss man sich zunächst mit grosser Geduld,
mit Begeisterung, mit Consequenz, mit sicherem Auftreten und mit
Erfindungsfähigkeit in Kniffen und Einfällen bewaffnen.
Ferner muss man genau psychologisch beobachten und indi-
vidualisiren lernen. Endlich ist, wie bei jeder Therapie, die Fest-
stellung der wirklichen Diagnose voranzusetzen. Immerhin gibt die
Suggestion selbst oft ein so vorzügliches diagnostisches Mittel, dass
man gut thut, sie sehr oft als solches anzuwenden. Aus ihrem Er-
folg oder Misserfolg ergibt sich dann vielfach die Diagnose eines
zweifelhaften Falles.
Damit ist gesagt, dass nicht jeder Arzt zum Hypnotiseur passt.
Zwar ist das früher für nöthig gehaltene persönliche magnetische
Fluidum ein überflüssiger Mythus, aber nicht jeder besitzt die obigen
Eigenschaften und Fähigkeiten. Der weitaus grösste Feind des Ge-
lingens ist somit der Mangel an Interesse, an persönlicher Initiative,
so dass in Folge des vis inertiae, die dem Gros der gens human a
so stark anhaftet, die eigene geistige Thätigkeit, wenn nicht immer
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Anleitung für den hypnotisirenden Arzt
147
wieder durch Stiche zur "Wiederbelebung gebracht, dank den un-
vermeidlichen Reibungen des Lebens langsam einschläft. Wer nach
einem gegebenen Schema maschinenmässig hypnotisiren will, wird
bald wenig Erfolg mehr haben, sowie der Reiz der Neuheit vorbei
ist, besonders wenn er sich keine geistige Mühe gibt. Er wird
selbst immer mehr einschlafen, seine Patienten dafür immer weniger
beeinflussen.
Ein zweiter Feind ist das Misstrauen, die Aengstlichkeit, die
Furcht vor dem Lachen der Anderen, vor der Simulation der Hyp-
notisirten, die Bedenken und Zweifel aller Art. Dieser zweite
Feind, der anfänglich der grösste ist, schwindet aber bald, wenn
man etwas Uebung hat, und der erstgenannte kommt dann zur
vollen Geltung und muss stets bekämpft werden. Man kann sogar
oft beobachten , dass wenn man in verzagter Stimmung oder er-
müdet ist, man weniger Erfolge erzielt, denn unbewusst wird diese
Schwäche des Arztes vom Hirndynamismus des Hypnotisirten wähl -
genommen.
Dem zu Hypnotisirenden trete man, wie Bernheim es räth,
ganz natürlich und zielbewusst gegenüber, erkläre ihm, es sei
nichts Unnatürliches, nichts Zauberhaftes, sondern eine einfache,
jedem Menschen zukommende Eigenschaft des Nervensystems und
er werde ganz gut beeinflusst werden oder einschlummern. Man
vermeide viele Worte und Erklärungen und setze den Patienten oder
Nichtpatienten auf einen bequemen Lehnstuhl. Am besten hat der
Lehnstuhl keine oder dann gut gepolsterte Arme und ist auf einer
Seite dicht an eine senkrechte Wand angelehnt, damit man einer
noch unsicheren suggestiven Katalepsie des Armes durch Anlehnung
desselben an jene Wand Vorschub leisten kann.
Man muss das Vertrauen und die Zuneigung des zu Hypnoti-
sirenden so viel als möglich bereits geniessen oder zu erwerben
suchen.
0. Vogt (siehe oben, Cap. IV) gibt an, seine Patienten an
den Rapport consequent durch sehr kurze, wiederholte Hypnosen
zu gewöhnen, nach welchen er sich genau ihre Empfindungen mit-
theilen lässt. So erstickt er im Keime unangenehme Autosuggestionen,
während er an harmlose suggestive Erfolge seine weiteren Sug-
gestionen anknüpft. Er vermeidet vor Allem auf diese Weise Sug-
gestionen zu geben, deren Realisation der Patient nicht sofort, oder
wenigstens in Bälde empfindet, und hindert dadurch, wie wir, die
Erweckung oder Verstärkung der Idee, „dass es bei ihm nicht ginge".
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148
Anleitung für den hypnotisirenden Arzt.
Anfangs deutet er nur das Eintreten dieser oder jener Erscheinung an
und suggerirt dieselbe erst stärker, wenn er den Anfang des Ein-
tretens selbst gemerkt oder durch die Angaben des Patienten er-
fahren hat. Den befehlenden Ton vermeidet er, um diejenigen nicht
zu stören, die ihre „Willensfreiheit" nicht einbüssen wollen. Be-
sonders dem Gebildeten soll die Suggestionserscheinung als aus ihm
selbst auf ganz natürliche Weise entstehend dargestellt werden. Ich
stimme in dieser Methode völlig mit ihm überein und hatte sie bereits,
wenn auch weniger consequent, angewendet.
Es muss ferner gemieden werden, dass der zu Hypnotisirende
vorher geistig aufgeregt oder angeregt, ängstlich oder in gespannter
Erwartung sei. Letzteres verdirbt die erste Hypnose bei sehr vielen,
besonders bei gebildeten Leuten, die sich wunderbare Dinge vor-
stellen und solche erwarten. Manche fürchten sich, nicht hypnoti-
sirt werden zu können, machen sich daher diese Autosuggestion, die
oft sehr schwer zu zerstören ist. Da müssen Geduld und allerlei
Kniffe helfen. Gewöhnlich misslingt dann der erste Versuch. Man
erklärt nun den Leuten, sie seien nur momentan zu aufgeregt,
interessirten sich zu sehr, sie seien aber schon beeinflusst, — der
Schlaf sei durchaus nicht nöthig, um eine Wirkung zu erzielen, er
käme später von selbst. Man spricht nur von leichtem Schlummer etc.
Ein Mal, nachdem ich in jener Weise mit einer Dame meine
Kniffe vergebens erschöpft hatte, bestellte ich sie für den andern
Tag, liess sie aufstehen, Handschuhe und Mantel anziehen — und
dann stand ich auf, sagte ihr scheinbar ganz unverfänglich: »Setzen
Sie sich noch einen Augenblick," und mit wenigen raschen und
sicheren Suggestionen war sie in wenigen Secunden hypnotisirt.
In vielen derartigen Fällen wirkt die Hypnotisirung einer
anderen Person in Gegenwart des zu Hypnotisirenden sehr vor-
teilhaft; doch darf diese Absicht nicht gemerkt werden, sonst geht
die Wirkung verloren.
Im Uebrigen empfehle ich dringend die weiter unten geschil-
derte Methode von Lie"be ault-Wetterstrand, der collectiven
Hypnotisirung.
Man setzt also nach Bernheim's Verfahren den Patienten
auf den Lehnstuhl, lässt sich von ihm einige Secunden bis höchstens
eine Minute in die Augen schauen und erklärt ihm dabei laut und
sicher, aber in monotonem Ton, es gehe bei ihm ganz famos, seine
Augen seien bereits feucht, seine Lider schwer, er fühle eine an-
genehme Wärme in den Beinen und Armen. Dann lässt man ihn
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Hypnotisirungsmethoden. Grossmann.
149
zwei Finger (Daumen und Zeigefinger) der linken Hand (des Hyp-
notiseurs) anschauen, die man unmerklich senkt, damit die Lider
folgen. Wenn dann bald die Lider von selbst zufallen, hat man
gewonnenes Spiel. Wenn nicht, so sagt man: „Schliessen Sie die
Augen!" Einige Aerzte lassen länger fixiren.
Hierauf kann man wie Vogt verfahren, oder auch einen Arm
heben und ihn an die Wand oder auf dem Kopf des Patienten an-
lehnen, erklärend er sei steif. Am besten erklärt man gleich, es
werde die Hand des betreffenden Armes gegen den Kopf wie durch
einen Magneten ganz unwiderstehlich angezogen. Geht es nicht, so
hilft man etwas dazu, wird sehr bestimmt und intensiv im Suggeriren,
suggerirt zugleich Schwinden der Gedanken, Gehorsam der Nerven,
Wohlsein, Ruhe, Schlummer. Sobald man merkt, dass eine oder
die andere Suggestion zu wirken beginnt, so benutzt und betont
man es, lässt unter Umständen den Patienten auch durch Kopfzeichen
gleich darüber Auskunft geben. Jede bejahte Suggestion ist am
Anfang ein bedeutendes Activum, das man für weitere Suggestionen
benutzen muss. „Sehen Sie! Es wirkt ganz gut. Sie schlummern
immer besser ein. Ihr Arm wird immer steifer. Sie können ihn
nicht mehr herunterbringen (der Patient versucht es mit etwas
Erfolg; man hindert ihn aber daran und erklärt schnell): Im Gegen -
theil, wenn Sie ihn herunter bringen wollen, geht er hinauf gegen
den Kopf; sehen Sie, ich ziehe ihn immer mehr gegen den
Kopf" etc. etc. Bei sehr kritischen und refractären Leuten ver-
meidet man anfangs besser die Suggestion der Armkatalepsie. Bei
etwas Uebung sieht man sehr bald, wenn man sie riskiren darf.
Ich halte es in der Regel für einen Kunstfehler, lange den Blick
fixiren zu lassen. Ich thue es sehr selten mehr als eine Minute,
und dieses nur am Anfang der ersten Sitzung. Später genügt es
immer, den zu Hypnotisirenden höchstens eine bis zwei Secunden
anzuschauen und dabei die Suggestion des Schlafes zu geben.
Meistens erkläre ich dann blos: Sie schlafen! indem ich eine Be-
wegung meiner Hand gegen die Augen mache, und der Betreffende
ist augenblicklich hypnotisirt.
Grossmann (Zeitschr. f. Hypnotismus Vol. I, 1892/93, S. 410)
gibt seine Hypnotismusmethode wie folgt an:
„ Zunächst suggerire ich jedem Patienten die Suggestibilität.
Dem Skeptiker begegne ich am besten durch folgendes kleine Ex-
periment: Ich sage ihm, dass ich, was er kaum glauben würde, mit
meinem Finger auf seine Conjunctiva bulbi drücken würde, ohne
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150
Hypnotisirungsmethoden.
dass er auf diesen Eingriff mit einem reflectorischen Lidschluss,
also mit Zwinkern reagiren würde. Das Experiment gelingt fast
immer, da ja — ich habe darauf schon in einer früheren Arbeit 1 )
aufmerksam gemacht — die Conjunctiva bulbi fast bei allen Men-
schen zumal bei gleichzeitigem Fixiren auf die diesbezügliche Sug-
gestion anästhetisch wird. Die gelungene Suggestion erhöht die
Suggestibilität oft schon so sehr, dass der einfache sofort erfolgende
Schlafbefehl genügt, um sofortige Hypnose eintreten zu lassen. Im
anderen Falle lasse ich den auf einem Fauteuil nicht angelehnt
sitzenden, oder noch besser auf einem Divan, in halb sitzender, halb
liegender Stellung befindlichen Patienten mich einige Secunden lang
fest fixiren. Ich suggerire ihm nun, dass ein Gefühl der Wärme
seine Glieder durchziehe, dass vor Allem seine Arme, die auf den
Knieen aufliegen, bleischwer würden. Bei diesen Worten hebe ich
diese, sie bei den Handgelenken erfassend, ein wenig in die Höhe
und lasse sie mit einem leichten Ruck meiner Hände plötzlich fallen.
Sie fallen anscheinend bleischwer auf den Knieen auf, der Patient
hat thatsächlich das Gefühl ausserordentlicher Müdigkeit in seinen
Armen, wie es mir fast allseitig bestätigt worden ist. Nun kommt,
wenn ich noch nicht den etwas starren Ausdruck im Blick, das nur
wenige Secunden anhaltende Anzeichen dafür bemerke, der Haupt-
tric. Ich bitte den Patienten, seine Augen zu schliessen, oder
schliesse sie ihm schnell selbst, ergreife seine Handgelenke bei
rechtwinklig nach oben flectirten Unterarmen und suggerire, dass
er so müde würde, dass er sich nicht mehr aufrecht halten könne,
vielmehr unbedingt hintüberfalle. Dabei drücke ich ihn selbst mit
minimalen Rucken allmälig hintüber, bis er mit dem Kopf an der
Fauteuillehne angelangt ist, und ertheile, wenn überhaupt noch
nöthig, den Schlaf befehl."
Man berührt am besten den schmerzenden Theil (Kopf, Bauch etc.)
mit der rechten Hand und erklärt dabei, dass die Schmerzen ver-
schwinden, fragt den Kranken in der Hypnose über den Erfolg
und lässt womöglich nicht ab, bis derselbe (momentan) voll-
ständig ist. Man braucht dazu oft mehrere verschiedene Sug-
gestionen und muss Erfindungsgeist darin haben. Bei gut sug-
gestiblen Menschen gelingt Alles sofort, während man bei Anderen
viel Mühe hat.
l ) «Die Erfolge der Suggestionstherapie bei Influenza", Berlin, H. Brie-
ger, 1892.
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Bekämpfung schädlicher Autosuggestionen.
151
Man muss zunächst darnach trachten, es möglichst rasch zur
Anästhesie und zur Amnesie nach dem Erwachen zu bringen. Es
gelingen zwar viele Heilsuggestionen ohne jene beiden Erfolge.
Doch kann man durchschnittlich damit besser und rascher zum Ziel
kommen. Durch die Amnesie verhindert man meistens den Patienten
daran, den Faden seiner bewussten Logik von der Hypnose zum
Wachzustand und umgekehrt zu übertragen.
Es ist im Weiteren eine ernste Pflicht des Hypnotiseurs, den
schädlichen Folgen der Autosuggestionen vorzubeugen. Vor Allem
hysterische, aber auch andere ängstliche, nervöse Personen bilden
sich gerne in der ersten Hypnose Autosuggestionen schädlicher
Wirkungen derselben ein, besonders wenn sie durch Zeitungen oder
andere Leute den Kopf voll davon bekommen haben. Es ist ihnen
nach der Hypnose schwindlig, oder sie fühlen sich wie betäubt,
oder haben Angstgefühle oder Kopfschmerzen, sogar Zittern oder
Zuckungen, die bis zu Krämpfen sich steigern können. Man muss
sich nun wohl hüten, wenn solches vorkommt, selbst Aengstlichkeit
oder Sorge zu zeigen, sonst bestärkt und cultivirt man dadurch die
Autosuggestion. Man muss im Gegentheil mit grösster Festigkeit
und Zuversicht erklären, das seien kleine Dummheiten, die immer
nur in der ersten Hypnose ab und zu passirten, sofort aber be-
seitigt würden und nie mehr aufträten. Und indem man dieses
sagt, suggerirt man durch sofortige erneuerte Hypnotisirung diese
Erscheinungen bis zum allerletzten Rest weg. Man darf nichts davon
bestehen lassen und soll stets fest halten, dass Alles, was durch
Suggestion erzeugt wird, auch durch Suggestion beseitigt werden
kann, wenn man es rechtzeitig wegsuggerirt und nicht durch Auto-
suggestion und Angewöhnung sich festsetzen lässt. Bei derartigen
Leuten, bei Hysterischen überhaupt, soll man die Hypnose nur
kurz und wenige Male anwenden, und nur therapeutische Sug-
gestionen geben.
Diesem Procedere muss ich eine grosse Wichtigkeit beilegen.
Der Unkenntniss oder Nichtbeachtung desselben verdanken nach
meiner festen Ueberzeugung alle unabsichtlichen Schädigungen durch
den Hypnotismus, über welchen in der Literatur berichtet wird, ihren
Ursprung. Ich habe selbst einen Fall von Zittern und Schmerzen
in einem Arm beobachtet, der durch solch ungeschicktes Hypnoti-
siren von Seiten eines noch unerfahrenen jungen Mannes entstand
und einige Monate fortdauerte, dann aber durch Suggestion wieder
ganz beseitigt wurde.
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1 52 Verfahren bei Hysterischen. Vorbeugung u. Bekämpfung schädl. Folgen.
Bei Hysterischen erreicht man nach meiner Erfahrung durch
geschickte Suggestion im Wachzustand nicht selten mehr noch als
durch förmliche (angekündigte) Hypnose. Die alte Regel bleibt:
freundlich, consequent und fest. Man muss die Zuneigung der
Hysterischen gewinnen und ihnen zugleich Respect einflössen. Man
darf sie nie verhöhnen, ihnen nie Misstrauen, nie Abneigung, nie
Verachtung zeigen; sonst schädigt man sie schwer. Aber ebenso-
wenig darf man sie verwöhnen und ihren Anfällen, Schmerzen etc.
grossen Werth beilegen. Mit Zuversicht verspricht man die Heilung,
verlangt aber dabei Gehorsam und leitet sie dann unmerklich durch
Anstachelung ihres Ehrgeizes etc. in eine beschäftigte Lebensweise
und in gesunde, hygienische Gewohnheiten hinein, indem man stets
im Verkehr mit ihnen therapeutisch-hygienische Suggestionen gibt,
und möglichst wenige Heilmittel, vor Allem nie Narcotica, anwendet.
Aus allen diesen Thatsachen möchte ich in erster Linie die Lehre
ziehen, dass ein in der Handhabung der Suggestion noch uner-
fahrener, vor Allem ein junger, überhaupt noch wenig erfahrener
Arzt sich hüten soll , seine hypnotischen Versuche an Hysterischen
anzustellen.
Dass man durch die Suggestion schaden kann, wenn man
schaden will, ist selbstverständlich, und ist nur die Umkehrung
ihrer Heilwirkung. Man kann Kopfschmerzen, Menstruations-
störungen etc. ebenso gut suggeriren als wegsuggeriren. Wenn
man aber das Gute will, muss man nie mit einem Hypnotisirten
von der Möglichkeit eines Schadens sprechen und im Gegentheil
stets fest und unbedingt behaupten, die Suggestion könne nur Gutes
bewirken. Damit beugt man am besten schädlichen Autosug-
gestionen vor und erhält man eine gesunde suggestive Luft um seine
Patienten herum.
Auf demselben Wege der Gegensuggestion muss man das
„ Verfallen in Selbsthypnose", die angebliche „Schwächung der Wil-
lenskraft" und andere Dinge mehr verhindern, deren Gefahr immer
wieder dem therapeutischen Hypnotismus entgegengehalten wird.
Ein einziges Mal, als ich noch Anfänger war, verfiel eine der von
mir hypnotisirten Personen von selbst in hypnotischen Schlaf, bekam
aber dafür eine energische suggestive Lection, so dass der Fall sich
nie mehr wiederholte. Erkennt man die Existenzberechtigung solcher
Erscheinungen in seiner Umgebung an, so wiederholen sie sich bald,
nicht nur bei derselben Person (wie z. B. bei der hypnotisirten
Hysterica von v. Krafft-Ebing), sondern auch bei Anderen,
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Vorsichtsmaßregeln f. d. hypnotis. Arzt. Unbew. Suggeriren vieler Aerzte. 153
wie wir es bei dem mit falscher Methode und Voreingenommenheit
hypnotisirenden Herrn Dr. Friedrich in München sehen (Annalen
des städt. allgem. Krankenh. in München 1894) *). Ungefährlich ist
dagegen eine mittelst Amulet suggerirte Selbsthypnose. Nur muss
man die Dauer derselben auf wenige Minuten durch Suggestion be-
schränken und ihr Zustandekommen nur durch das betreffende Amulet
und zu bestimmten Heilzwecken gestatten, so lange es der Arzt
erlaubt.
Man muss zudem stets völliges Wohlsein, heitere Stimmung,
guten Schlaf, guten Appetit und Kräftigung des Willens sug-
geriren. Zudem sind Bernheim und Lie'beault's Regeln stets
zu beachten:
1. Bei allen Hypnotisirungen mindestens einen passenden Zeugen
zu verlangen — als Schutz für den Hypnotiseur sowohl als für den
Hypnotisirten 2 ).
2. Bei allen sehr suggestiblen Personen (Somnambulen) die
Suggestion geben, dass niemand Anderes sie hypnotisiren könne.
3. Niemanden gegen seinen vorher ausgesprochenen Willen zu
hypnotisiren.
4. Nur Suggestionen zu therapeutischem Zwecke zu geben, so-
weit nicht juristische, wissenschaftliche oder didactische Zwecke
mitspielen müssen.
Ich habe (Unconscious Suggestion, American Journal of Psycho-
logy, Vol. IV, Nr. 4, 1893), wie auch schon früher Bernheim,
auf die vielen schlimmen Suggestionen aufmerksam gemacht, welche
von den Aerzten durch ihre Mienen, Untersuchungen und Prognosen
unbewusst verübt werden. Ich selbst bin mir bewusst, früher einer
Person ein Magengeschwür dadurch suggerirt zu haben, dass ich
ein solches befürchtete, eine ernste Miene machte, den Magen nach-
drücklich palpirte, Bettlage und Milchdiät verordnete. Den Schmerz-
punkt suggerirte ich mit einer entsprechenden Frage, und ein
mehrmonatliches Krankenlager mit einer suggerirten, aber nicht
vorhandenen Krankheit war die Folge meiner damaligen Unkenntniss
der Suggestion. Später erwies sich diese Person als vorzügliche
*) Der Aufsatz des Herrn Dr. Friedrich, der sich gegen die therapeu-
tische Anwendung des Hypnotismus richtet, beweist prachtvoll, wie der Autor
in alle die Fehler verfallt, die man vermeiden soll, und wie er die ganze
Frage total missverstanden hat.
*) Besondere Ausnahmen hei absolutem gegenseitigem Vertrauen unter
besonderen Verhältnissen mögen statthaft sein.
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Unbewußtes Suggeriren durch Aerzte. Prognose.
Somnambule. Hysterischer Husten, Anfälle, Magenkrankheiten,
Uterinleiden, Stuhlverstopfung, Nervenleiden aller Art, werden auf
solche Weise vielfach von ängstlichen schwarzsehenden Aerzten den
Patienten suggerirt oder von den Kranken sich selbst autosuggerirt.
Daran ist nicht zu zweifeln.
Dass man z. B. hysterische Anfälle suggeriren kann, und zwar
auch ohne Worte, durch ungeschickte Manipulationen, war längst
bekannt, haben wir alle wiederholt geschrieben und hat Herr Dr.
Friedrich (1. c.) sehr bestätigt. Aber wenn man die Suggestion
versteht, pflegt man sie nicht zu erzeugen, sondern zu beseitigen.
Ein Mal wurde uns eine Hystero-epileptica gebracht, die seit
7 Jahren täglich mehrere schwere Anfälle hatte und total arbeits-
unfähig war. Ich wurde während des ersten Anfalles in der Anstalt
gerufen, hypnotisirte die Kranke während desselben und erklärte
damit sofortigen definitiven Schluss der Anfälle und Heilung der
Krankheit. Es kam kein Anfall mehr vor, und nach wenigen
Wochen verliess die Kranke die Anstalt. Sie blieb 2 */» Jahre voll-
ständig gesund. Alsdann klagte sie wieder über einige hysterische
Beschwerden und consultirte einen Arzt. Derselbe erklärte ihr
während der Behandlung, die Anfälle würden gewiss auch wieder
kommen. Und daraufhin kamen die Anfälle wieder. Nun bat sie
dringend um Wiederaufnahme in unsere Anstalt, wohin sie im
Jahre 1894 kam. Ich beseitigte sofort die Anfälle wieder durch
einige Hypnosen; sie ist wieder geheilt entlassen worden und ge-
blieben. Ein Comraentar erscheint überflüssig.
Herr Dr. Weil aus Berlin hat in Vol. I (1892/93) S. 395 der
Zeitschrift für Hypnotismus einen vorzüglichen kleinen Aufsatz
über die suggestive Wirkung der „ Prognose" geschrieben. Gewiss!
Die schlimme Prognose, die gewisse Aerzte rücksichtslos den armen
Kranken stellen, ist oft gleichbedeutend mit der Erzeugung einer
weiteren Krankheit; sie ist nicht selten ein Todesstoss.
Mit vollem Recht erinnert Weil daran, dass der Kranke, der
dem Arzt sagt: „Herr Doctor, ich will die volle Wahrheit wissen,
ich bin auf alles bereit; sagen Sie mir, woran ich bin etc." —
eigentlich sich selbst betrügt und vom Arzt nur eine beruhigende
Lüge wünscht, in der Regel wenigstens. Da muss eben der Arzt
Psychologe sein und seine Pflicht ist es eben in der Regel, seine
Ueberzeugung zu verschweigen und oft sogar zu lügen l ). Schliess-
•) Vergl. Mark Twain, üeber den Verfall der Kunst de« Lügens. Aus-
gewählte Skizzen. Reclam'sche Universal-Bibliothek 2072. Der am meisten zu
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Desuggestionirung d. Angst, mech. Forts, d. Sitzgn., Einflüsterungen Anderer. 155
lieh sollte doch jeder Arzt wissen, wie weit er von der Unfehlbarkeit
ist und er kann immer daraus schon, ohne zu lügen, schöpfen, um
dem Kranken Hoffnung zu lassen. Gewisse Ausnahmen unter be-
stimmten Umständen, und bei sehr festen Charakteren gibt es, die
ein Psychologe herausfinden wird.
Man muss stets die individuelle Suggestibilität seines Hypnoti-
sirten genau beobachten, sich darnach richten und nicht nach starren
Schablonen verfahren.
Will man die suggestive Anästhesie zu chirurgischen Zwecken
benutzen, so muss man den Patienten zuerst durch einige Hypnoti-
sirungen vorbereiten. Fühlt er Nadelstiche an der Vola manus
oder gar Berührungen der Cornea nicht mehr, so ist er reif zur
Operation. Aber man muss sich hüten, sein Gemüth durch grosse
Operationsvorbereitungen aufzuregen, sonst riskirt man (ich sah es
öfters) ihn ganz zu desuggestioniren. Man muss ihn vorher hyp-
notisiren, ihm die Operation als ein Nichts, als einen Spass vor-
stellen, und ihn damit möglichst überraschen, beständig während
der Operation die Anästhesie, das Todtsein des betreffenden Körper-
teiles weiter suggerirend.
Misslingt die Suggestion bei Jemandem, so soll man nach vier
bis fünf Sitzungen unterbrechen. Sie gelingt dann oft später oder
durch einen anderen Hypnotiseur.
Man darf nicht ad infinitum Jemanden mechanisch weiter hyp-
notisiren. Man verliert nur und gewinnt nichts mehr. Man muss
suchen, rasch in wenigen Sitzungen möglichst viel Terrain zu ge-
winnen. Dann muss man die anfänglich täglichen Hypnotisirungen
allmälig reduciren und dann einstellen, indem man stets den Erfolg,
den man erzielt hat, als definitiv, dauernd hinstellt. Es gibt aller-
dings hartnäckige Fälle, bei geringerer Suggestibilität, welche nach
längerer Zeit mit mehr Ausdauer doch noch gut werden. Aber
alles hat seine Grenze. Wenn der Kranke keinen Erfolg mehr
sieht, wird er dadurch oft desuggestionirt und man verliert seinen
Einfluss statt ihn zu vermehren. Hypnotiseur und Hypnotisirter
erlahmen. Man muss suchen immer wieder etwas Neues zu er-
finden und zu Stande zu bringen, bis das Ziel erreicht ist, dann
aber allmälig abbrechen.
Desuggestionirt werden oft die Hypnotisirten durch Autosug-
beklagende Lügner ist derjenige, der sich einbildet, immer die Wahrheit zu
sagen, denn er lügt sich selbst und die Anderen dabei an.
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156
Verbindung mit anderen Heilmethoden.
gestionen, sowie durch Einflüsterungen anderer Menschen, Leetüren,
die den Hypnotismus bekritteln etc. Oft werden sie es dadurch,
dass der Hypnotiseur selbst Muth und Wärme verliert. Doch kann
man meist durch etwas Energie und Mühe das Verlorene wieder
gewinnen. Oft geht es besser nach einer längeren Unterbrechung.
Therapeutisch lässt sich der Hypnotismus nicht nur allein,
sondern, wie Bernheim so richtig betont, auch in Verbindung mit
anderen Heilmitteln anwenden. Viele Heilmittel können als Ver-
starkungsmittel der Suggestion, oder direct als Suggestion verwendet
werden. Und sicher haben von jeher eine grosse Zahl Medi einen
einzig und allein suggestiv gewirkt. Die Homöopathie ist hier-
für ein sprechender Beweis, die Elektrotherapie ein fast ebenso
schöner.
Mancher Schmerz, der auf einfache Suggestion hin nicht weichen
will, weicht auf Aqua colorata oder Mica panis. Glänzend haben
Bernheim, Möbius und Wetterstrand gezeigt, dass die sogen.
Metallotherapie und zum grössten Theil die Elektricität blos durch
Suggestion wirken.
Ich habe schon wiederholt wie Bern heim betont, dass die
Suggestion keine Panacee ist, die alles heilt. Will man alles von
ihr erwarten, so wird man enttäuscht. Es ist vor allem nöthig,
dass jeder hypnotisirende Arzt nie vergisst, dass die erste Pflicht,
die ihm seine academischen Studien und sein Diplom auferlegen,
diejenige der wissenschaftlichen Gründlichkeit, somit der sorgfältigen
Untersuchung und Stellung der Diagnose ist, dass aber beide nicht
in wissenschaftlichen Phrasen und Autoritätsglauben bestehen. Man
kann mit Suggestion vieles erreichen, besonders wenn man mit
Beharrlichkeit, Einsicht und ärztlichen Kenntnissen handelt und es
versteht, die Suggestion mit anderen Mitteln zu verflechten. Bringt
man z. B. das Stottern durch Suggestion allein nicht ganz weg, so
verbinde man damit eine systematische Uebungskur (Athem-, Vocal-
und Consonantenübungen). Gelingt es durch Verbalsuggestion allein
nicht, einer Dame die Seekrankheit wegzubringen, so schaukle man
sie während der Hypnose gründlich bei Suggestion des Wohlgefühles.
Es wird dann wahrscheinlich gelingen. Der elektrische Strom ist
ein vorzügliches Suggestionsmittel, aber das heilige Wasser von
Lourdes, die Betheilmethode, diejenigen des Pfarrers Kneipp und
die Homöopathie stehen ihm nicht nach!
Ich will hier noch diejenigen krankhaften Zustände anführen,
die mir der Suggestion am besten zu weichen schienen, obwohl die
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Indicationen. Krankh. Zustände, die der Suggestion am besten weichen. 157
Indicationen noch lange nicht genügend anprobirt sind, und gewiss
noch vieles hinzukommen wird.
Spontaner Somnambulismus.
Schmerzen aller Art, vor Allem Kopfschmerzen, Neuralgien,
Ischias, Zahnschmerzen, die nicht auf Abscess beruhen etc.
Schlaflosigkeit.
Functionelle Lähmungen und Contracturen.
Organische Lähmungen und Contracturen (als Palliativmittel).
Chlorose (sehr günstig).
Menstruationsstörungen (Metrorrhagie wie Amenorrhoe).
Appetitlosigkeit und alle nervösen Verdauungsstörungen.
Stuhlverstopfung und Diarrhoe (wenn letztere nicht auf Catarrh
oder Gährungen beruht). Magendyspepsie (incl. Pseudodilatationen).
Psychische Impotenz; Pollutionen; Onanie; conträre Sexual-
empfindung und dergl. mehr.
Alkoholismus und Morphinismus (durch Suggestion der totalen
Abstinenz allein).
Rheumatismus muscularis et articularis chronicus. Hexenschuss.
Sogen, neurasthenische Beschwerden.
Stottern, nervöse Sehstörungen, Blepharospasmus.
Pavor nocturnus der Kinder.
Uebelkeit und Seekrankheit, Erbrechen der Schwangeren.
Enuresis nocturna (oft sehr schwierig, des tiefen normalen
Schlafes wegen).
Chorea.
Nervöse Hustenanfälle (auch bei Emphysem).
Hysterische Störungen aller Art, incl. hysteroepileptische
Anfälle, Anästhesie etc.
Schlechte Gewohnheiten aller Art.
Nach Wetterstrand auch Epilepsie, Blutungen etc.
Bei allen functionellen Nervenstörungen kann die Suggestion
probirt werden.
Es werden noch viele andere Leiden in der Literatur auf-
gezählt. Man kann darüber in Lie'beault, Bernheim, Wetter-
strand, Ringier und Anderer Werke, vor Allem in den Jahr-
gängen der Zeitschrift für Hypnotismus, Leipzig bei Ambr. Barth
nachlesen. Die obige Liste dürfte Jedem für den Anfang genügen
und später stellt man sich seine Indicationen selbst. Zu erwähnen ist
noch die Hervorruf ung der Anästhesie für kleine chirurgische Opera-
tionen, besonders des Rachens und der Mundhöhle, auch bei Geburten.
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158
Wetterstrand's Methode und Erfolge.
Im Herbst 1890 war es mir möglich, Herrn Collega Dr. Wetter-
strand in Stockholm zu besuchen, und was ich bei ihm sah, war
in so hohem Grade interessant und belehrend, dass er mir ver-
zeihen muss, wenn ich hier einiges darüber sage. Die Gelegenheit
benutze ich, um ihm für sein Entgegenkommen herzlichst zu danken.
Er hat die Methode Lie'beault's nicht nur durch wissenschaftliche
Vertiefung, Gründlichkeit und scharfe Kritik der Fälle, sondern
auch durch praktische Einrichtungen bedeutend verbessert. In zwei
grösseren, durch eine Thüre verbundenen Zimmern, in welchen
durch Bodenteppiche etc. die Schallleitung ungeheuer gedämpft
wird, stehen zahlreiche Sophas, Lehnstühle und Chaiseslongues.
Von 9 bis 1 Uhr strömen täglich die Kranken zu Dr. Wetterst r and,
werden zuerst genau untersucht und, wenn passend gefunden, in
die genannten Zimmer geführt. Zuerst werden solche Kranke hyp-
notisirt, welche es schon gewesen sind. Die Suggestionen werden
ihnen von W. so leise ins Ohr geflüstert, dass nur derjenige sie
hört, der sie hören soll. Dadurch erreicht W. die mächtige Sug-
gestionswirkung des Anblickes der vielen so rasch einschlafenden
Leute und vermeidet die Störung der Massenwirkung der Sug-
gestionen, d. h. einer jeden Suggestion, die nur für einen Kranken
passt, aber z. B. in Nancy von anderen auch gehört wird. Will W.
eine Suggestion für zwei oder mehrere Kranke geben, so erhöht er
entsprechend die Stimme. Der neu angekommene Patient sieht sich
mit Erstaunen um, sieht wie alle Anderen auf das leiseste Zeichen
einschlafen oder wieder erwachen, sieht die günstigen Erfolge.
Wenn dann nach längerer Zeit Dr. W. zu ihm kommt, ist er
bereits so suggerirt, dass die Hypnose bei ihm nahezu nie miss-
lingt. Dieser Methode verdankt auch Collega W. seine vorzüg-
lichen Erfolge (97°/o hypnotisch beeinflusste gegen nur 3°/o un-
beeinflusst bleibende Patienten bei einer Zahl von 3148 verschiedenen
Personen). Wetterstrand lässt seine Kranken gern lange schlafen
und findet, wie ich, dass es vortheilhafter ist, eine möglichst
tiefe Hypnose mit Amnesie zu erzielen. Ich habe bei ihm erstaun-
liche Heilwirkungen gesehen und habe die feste Ueberzeugung
bekommen, dass er dieselben nicht nur seinen hervorragenden per-
sönlichen Eigenschaften, seiner Consequenz und seiner Geduld,
sondern auch in hohem Grade seiner vorzüglichen Methode verdankt.
Schon lange war es mir klar geworden, dass ich bei der Art und
Weise, wie ich nur accidentell zwischen allerlei anderen Arbeiten
diesen oder jenen Kranken hypnotisirte , einen bedeutenden Theil
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Wetterstrand's Methode und Erfolge.
159
der Vortheile der Suggestion verlor (ich konnte es nicht anders
einrichten). Nie wurde mir aber so klar wie bei Wetterstrand,
auf welche Weise die Mehrzahl der Misserfolge sich bei seiner
Methode vermeiden lassen. Man soll stundenlang vollständig und
ungestört bei der Sache sein, seine Kranken den einen durch den
anderen indirect beeinflussen lassen, dabei aber alles scharf beob-
achten und notiren, keinen Vortheil, keinen Wink verlieren, um bei
Jedem immer tiefer einzuwirken, und so die möglichst maximale
Wirkung bei Jedem erreichen. Ich sah bei W. einen hypochon-
drischen Melancholiker durch seine Beharrlichkeit und durch die
Umgebung bald beeinflusst werden, was zu den schwierigsten Auf-
gaben gehört. Es werden manche Leser des Buches Wette r-
strand's (Der Hypnotismus und seine Anwendung in der praktischen
Medicin, Wien 1891 bei Urban und Schwarzenberg) ungläubig den Kopf
schütteln, wenn er seine einzig dastehenden Heilerfolge bei Morphi-
nismus z. B. schildert. Hätte ich ihn nicht operiren sehen, so wären
mir selbst vielleicht noch grosse Zweifel geblieben. Nur bezüglich
der Epilepsie behalte ich noch Zweifel, was die Diagnose betrifft.
Bezüglich der letzteren muss ich immer noch grosse Reserven
machen. Ich glaube, dass nur gewisse Fälle durch Suggestion zu
heilen sind. In einem Fall mit langer Aura gelang es mir seitdem
auch, die Aura zu coupiren und die Epilepsie zu heilen. In einem
höchst lehrreichen Falle (Ein Fall von epileptischer Amnesie, durch
hypnotische Hyperamnesie beseitigt, Zeitschrift für Hypnotismus
Bd. VIII, Heft 3, 1897) gelang es Carl Gräter in sicher nach-
gewiesener Weise durch Hypnose die Erinnerung einer amnestischen
Periode bei einem Epileptiker wieder hervorzurufen. Die Epilepsie
wurde jedoch nicht geheilt.
Mit Recht betont Wetterstrand (1. c.) wie Bernheim, dass
man die palliative Wirkung der Suggestion als Schlaf erzeugendes
und Schmerz stillendes Mittel bei schweren unheilbaren Leiden, wie
Tuberculose, Krebs und dergl. viel zu sehr unterschätzt. Ich möchte
hinzufügen, dass man noch mehr ihren ungeheuren Werth in der
alltäglichen Medicin als Abführmittel, Appetit und Schlaf erzeugen-
des Mittel, Mittel zur Regulirung der Verdauung, der Secretion,
der Menstruation überhaupt viel zu niedrig anschlägt. Darin ist
sie unschätzbar und ganz ungefährlich im Gegensatz zum schänd-
lichen Missbrauch, der mit Narcoticis und Alkohol von so vielen
Aerzten getrieben wird. Selbst" bei hohem Fieber kann man durch
Suggestion den Schlaf erzeugen.
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160 Ringier: Erfolge des therapeutischen Hypnotismus in der Landpraxis.
Ringier (Erfolge des therapeutischen Hypnotismus in der
Landpraxis, München bei Lehmann, 1891) hat die von ihm be-
handelten 210 Fälle unter folgende Gruppen vertheilt:
L Dynamische Neurosen motorischer, vasomotorischer oder
secretorischer Natur.
II. Dynamische sensible Neurosen; Neuralgien.
III. Schlaflosigkeit.
IV. Allgemeine cerebrale Neurosen (resp. leichtere Psychosen).
V. Rheumatische Affectionen.
VI. Intoxicationen.
VII. Verschiedene Fälle.
Davon wurden:
1. Geheilt mit späterer Nachricht andauernder Heilung 73 Fälle,
2. „ ohne „ „ „ n 15 „
3. Bedeutend gebessert mit oder ohne Nachricht 64 „
4. Leicht „ „ „ „ 19 „
5. Misserfolg der Hypnose oder nicht gebessert 25 „
6. Abbruch der Behandlung (meist gleich am Anfang) 12 „
7. Hypnose für chirurgische Fälle 2 ,
Summa 210 Fälle.
Ringier klagt mit Recht über die misslichen Folgen des
häufigen frühzeitigen Abbruches der Behandlung in der Landpraxis.
Die meisten Gebesserten wären bei etwas Ausdauer zweifellos ganz
geheilt worden.
Aus den vielen interessanten Tabellen ist noch hier hervor-
zuheben:
27 Recidive bei den bedeutend Gebesserten,
9 a „ a leicht ,
somit im Ganzen 36 Recidive, die alle zu den nur Gebesserten ge-
hörten.
Ferner:
Grade
Heilung
mit
Nachricht
Heilung
ohne
Nachricht
Bedeutende
Besserung
Leichte
Besserung
Misserfolg
Somnolenz . .
18,75 °/o
6,25 °/o
6,25 °/o
43,75 °,o
Hypotaxie . . .
24,45 °,o
8,62 °/o
31,89 °/o
14,21 %
12,07 >
Somnambulismus
und tiefer Schlaf
48,05
5,19 °/o
33,76 0 o
6,49 °/o
5,19 °/o
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Ringier's Statistik. Des Autors poliklinischer suggestiver Curs. 161
Von 209 Hypnotisirten (bei einem fehlt die Angabe) verfielen:
in Somnolenz 16,
in Hypotaxie 116,
in Somnambulismus oder tiefen Schlaf 77.
Ausserdem fand Ringier 12 (von 221) vollständig refractäre
Personen, bei welchen in Folge dessen die suggestive Behandlung
nicht vorgenommen werden konnte.
In Procenten ausgedrückt ergibt dieses:
Refractäre 5,43 %
Somnolenz 7,24 °/o,
Hypotaxie 52,49 °/o,
Somnambulismus und tiefer Schlaf 34,84 °/o.
Dauer der Behandlung, resp. Zahl der Sitzungen:
In 94 Fällen nur 1 Sitzung,
43 ,
, 2 Sitzungen,
23 .
. 3
»
12 ,
, 4
4 .
r, 5 „
1»
8 ,
. 6
1»
1 Fall
- 7
9
4 Fällen
■ 8
"
21 „ mehr als 8 u
Von den letzteren waren je 1 Fall mit 35, 21 und 20 Sitzungen,
alle anderen unter 20.
Diese Tabelle widerlegt glänzend die Behauptung unserer
Gegner, welche die suggestive Therapie mit der Angewöhnung an
das Morphium vergleichen wollen.
Es sind dies nur einige summarische Auszüge aus einigen der
zahlreichen, mit peinlichster statistischer Gewissenhaftigkeit nach
allen Seiten hin kritisch beleuchteten Tabellen der Arbeit des Herrn
Dr. Ringier, dessen Hauptsorge es war, um keine Linie von der
objectiven Beobachtung abzugehen und seine Resultate ja nicht zu
günstig erscheinen zu lassen. Diese Resultate bestätigen diejenigen
seiner Vorgänger und unsere Ansicht.
Ich selbst habe früher in Zürich für die Studenten der Medicin
einen poliklinischen Curs über suggestive Therapie Samstag von
2 1 /« — 4 Uhr gehalten. Die Kranken kamen von der Stadt. Ich
untersuchte sie vorher und Hess sie dann, nach Wetterst r an d's
Vorbilde, alle zusammen vor den Studenten auf Lehnstühlen sich
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 11
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162
Des Autors Fälle. Zusammenstellung.
setzen. Ich fing mit solchen an, die schon hypnotisirt worden waren,
was mir jede Vorbereitung für die neuen ersparte. Kam ich dann zu
den letzteren, so waren sie meistens bereits schon derart beeinflusst,
dass sie sofort einschliefen. Den scheinbar Refractären erklärte ich,
mit Bernheim, sie seien schon beeinflusst, der Schlaf sei nicht
nöthig. Ich benutzte dann eventuell Amulets, Metallstücke und dergl.
mit suggerirten Strömen, und so wurden nach einer oder zwei
Sitzungen nahezu alle auch hypnotisirt (manche freilich nur hypo-
tactisch). — Eine Zusammenstellung der Fälle und der Resultate
habe ich jedoch aus Mangel an Zeit nicht gemacht, obwohl ich auf
diese so einfache Weise, trotz der störenden Anwesenheit der
Studenten (viele Kranke sind dadurch genirt), trotz der nur ein
Mal wöchentlich (manchmal zwei Mal für schwierigere Fälle) er-
folgenden Hypnotisirung, und trotz des für den Unterricht noth-
wendigen lauten Suggerirens, endlich trotz der oft sehr un-
geeigneten Qualität der Fälle, recht gute therapeutische Erfolge
erzielt habe.
Seit 1898 habe ich in Chigny, auf dem Land, nur gelegentlich
einige Kranke (im Ganzen 121) nach Wetterstran d's System sug-
gestiv behandelt. Von denselben blieben nur 2 ganz refractär
(1,7 °/o); 13 (10,7 °/o) wurden nur mehr oder weniger somnolent;
64 (52,9 °/o) hypotactisch und 42 (34,7 °/o) somnambül. Eine grössere
Zahl waren ungeeignete, verzweifelte Fälle; andere kamen nur
ein oder zwei Mal und blieben dann weg, so dass die Statistik
der Erfolge und Misserfolge nicht viel besagt. Die Zahl der
Somnambulen hätte sich bei besserem Material und mehr Geduld
stark vermehrt.
Summarisch handelt es sich um folgende Fälle (h. = geheilt,
b. = gebessert, u. = ungeheilt).
I. Eigentliche Psychosen. 14 Fälle, natürlich ohne wesent-
lichen Erfolg. Bei einer Paranoia wurden jedoch die subjectiven
Symptome stark gebessert. (Der Mann wünschte dringend die Hyp-
nose.) Ein Idiot wurde von seinen Migränen curirt. Bei einem
Fall schwerer eingewurzelter periodischer Melancholie gelang es
mir, nachdem zunächst der Eintritt des Anfalles verzögert worden
war, den nunmehr doch eingetretenen Anfall suggestiv eine Zeit
lang fast ganz zu coupiren. Nach wenigen Wochen trat er jedoch
allmälig wieder ein. Ringier ist es früher schon gelungen, einen
leichten, noch frischen, von mir diagnostisch festgestellten Fall
periodischer Melancholie durch Suggestion in den Intervallen zu
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Zusammenstellung einiger Fälle des Autors.
163
curiren. Viel ist dadurch nicht bewiesen. Dennoch sind diese
Beobachtungen mindestens beachtenswerth.
II. Diverse Psychopathien (institutionell). Hier wird
unter „geheilt" die Heilung der pathologischen Erscheinungen
verstanden, für welche ich consujtirt wurde. 15 Fälle, darunter
1 refractärer und 1 gleich wieder fort. Von den 13 übrigen
wurden: h. 4, b. 5, u. 4.
HI. Hypochondrie. 5 Fälle, wovon 4 ungeheilt und 1 we-
sentlich und dauernd gebessert. Im Allgemeinen halte ich die
Hypochonder für durch Suggestion unheilbar und versuche diese
Behandlung nicht mehr.
IV. Hysterie. 15 Fälle. Eine Kranke ging gleich wieder
weg. Von den 14 übrigen wurden: h. 9, b. 3, u. 2.
V. Astasie -Abasie. 1 Fall b.
VI. Zwangsvorstellungen. 2 Fälle: 1 fort, 1 u. (auch
bald fort).
VH. Stottern. 2 Fälle: b. 1; etwas b. 1.
VIH. Blepharospasmus. 1 Fall b.
IX. Trigeminusneuralgie. 1 Fall etwas b.
X. Epilepsie. 2 Fälle u.
XI. Zosterneuralgie. 1 Fall wesentlich b. (73jährige Frau).
XII. Schreibkrampf. 1 Fall u.
XIH. Herzneurosen. 2 Fälle h.
XIV. Diverse Neurosen. 6 Fälle: h. 1, b. 2, u. 3.
XV. Schlaflosigkeit. 10 Fälle, wovon 1 refractär und 2 nicht
wieder kamen. Von den 7 übrigen wurden: h. 4, b. 3, u. 0.
XVI. Enuresis nocturna. 4 Fälle: h. 2, b. 2, u. 0.
XVH. Profuse, zu häufige Menses. 2 Fälle: beide ge-
heilt.
XVHI. Hartnäckige Cephalalgien. 7 Fälle: h. 7, b.0,u.0.
1 Fall war mit Nierenschrumpfung und Albuminurie verbunden
und ist trotzdem dauernd geheilt. 2 weitere Fälle kamen von
Gymnasiumüberarbeitung. Einer derselben betraf einen jungen
Mann, der so schwer litt, dass er nahe daran war, seine Studien
aufzugeben. Es gelang jedoch ihm nach 14 Tagen eine tüchtige
Arbeitsfähigkeit wieder zu verschaffen, so dass er nach wenigen
Monaten, ohne Recidiv der Kopfschmerzen seine Maturität gut
bestand.
XIX. Wirkliche Neurasthenie nach Beard, d. h. cere-
brale Erschöpfung nach Ueberarbeitu ng. 3 Fälle: 2 h.,
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164
Zusammenstellung einiger Fälle des Autors.
1 leicht b. Der letztere Fall ist nicht rein, weil mit Satyriasis
und Psychopathie verbunden. Dafür können die 2 unter XVIII
erwähnten Fälle hinzugerechnet werden. Bei allen war übrigens
eine psychopathische Anlage, wenn auch nicht hochgradig, zu
constatiren. In 3 von den 4 reinen Fällen war die Gymnasial-
überarbeitung, in 1 diejenige der Hochschule, in allen 4 Fällen
vor dem Examen an der Erschöpfung schuld. In allen Fällen sug-
gerirte ich den Leuten das Auswendiglernen total sein zu lassen,
und ihre Schularbeit als Verstandessport, mit Interesse für die Sache
zu betreiben. Ferner suggerirte ich ihnen die Examenangst weg,
dafür guten Schlaf, guten Appetit und grosse Frechheit, Geistes-
gegenwart und Gemüthlichkeit im Examen. Dies hatte den besten
Erfolg, war auch bei unserem leider noch vielfach, besonders in den
Gymnasien üblichen, vorsündfluthlichen System des Studiums und
des Examens durchaus adäquat und berechtigt.
XX. Impotenz. 2 Fälle: beide geheilt. Der eine Fall be-
traf einen verheiratheten, früher äusserst continenten, aber psycho-
pathischen Mann, der, so lang er lebte, nur im Schlaf Pollutionen
gehabt hatte, somit den Orgasmus im Wachzustand nicht kannte.
Daher Impotentia coeundi, trotz Libido. Es gelang zuerst
gute Erectionen in der Hypnose zu erzeugen. Dann wurden Com-
plicationen von Seiten der Frau (Hymen und Vaginismus) operativ
beseitigt. Der Beischlaf gelang in der Hypnose nicht ganz, aber,
in Folge der Suggestionen, durch consequente Fortschritte nach
einiger Zeit. Eine Gravidität der Frau hat bereits den Erfolg fest-
genagelt.
XXI. Stuhlverstopfung. 6 Fälle: h. 3, b. 1, u. 2 (unter den
letzten war 1 Fall, wo nur leichte Somnolenz gelang).
XXII. Erworbene l ) conträre Sexualempfindung. 1 Fall
mit sehr gutem Erfolg. Es gelang bereits normale Libido mit ent-
sprechenden Träumen wieder zu erzeugen.
XXIH. Ischias. 4 Fälle: 1 h., 3 u. Die letzteren unter-
brachen die Behandlung nach einer oder zwei Sitzungen.
XXIV. Verdauungsstörungen. 3 Fälle. 1 Fall ging gleich
weg. Von den 2 anderen: h. 1, b. 1.
XXV. Chorea: b. 1, u. 1.
XXVI. Chlorose. 1 Fall geheilt.
>) Bei angeborener verwende ich aus ethischen Gründen die Suggestion
nie, weil eine „Heüung" nur Unheil anrichten kann.
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Fälle des Autors. Alkoholismus und Morphinismus.
165
XXVII. Rheumatische Schmerzen. 2 Fälle geheilt.
XXVIII. Arthritis d eformans. 1 Fall, natürlich ungeheilt,
nur um die bittende Kranke zu beruhigen, einige Male hypnotisirt.
XXIX. Asthma, Schwindelzufälle. Area Celsi mit Neuro-
pathie. 3 Fälle ungeheilt. 1 heilbarer Fall lief sofort weg, 1 un-
heilbarer desgleichen. Bei einem früher von einem Collegen erfolg-
reich behandelten Asthmafall bildeten sich in Folge des langen
Weges störende Erscheinungen, die zu Autosuggestionen und Miss-
erfolg führten.
XXX. Pädagogik. 1 Fall. Zehnjähriger Schulbube, der in
Folge der pedantischen Unterrichtsmethode einerseits und der Sug-
gestion ungezogener Buben andererseits seine Knabenehre in Buben-
streichen und Unaufmerksamsein setzte. Erfolg merklich.
Für weitere Winke in der praktischen suggestiven Therapie
verweise ich auf die -„Zeitschrift für Hy pnotismus" (1892 bis
1901), redigirt von Dr. Oscar Vogt. Es seien hiebei die inter-
essanten casuistischen und kritischen Arbeiten der Herren Brod-
mann, Brügelmann, Löwenfeld, Rauschburg, Delius,
Tuckey, Bonjour, Ringier, Bramwell, Baur, Gräter,
Monier, Inhelder, Hilger, van Straaten, Seif, Cullerre etc.
erwähnt, auf deren Einzelheiten hier nicht eingegangen werden kann,
und die alle in genannter Zeitschrift enthalten sind.
Alkoholismus und Morphinismus. Lloyd Tuckey (The Value
of Hypnotism in Chronic Alcoholism, London, Churchill, 1892) und
Hirt empfehlen die Suggestion zur Behandlung des Alkoholismus.
Hier müssen wir vor einem grossen Missverständniss warnen. Es
ist ein geradezu thörichtes und verderbliches Unternehmen, durch
Suggestion einen Säufer zu einem „mässigen Trinker" machen zu
wollen, wie es Hirt thun will. Es wird dadurch gegen das erste
Gebot eines dauernden Erfolges der Suggestionstherapie gesündigt,
indem man die schädigende Krankheitsursache nach dem Erfolg
fortwirken lässt. Es gibt zwar keine Regel ohne Ausnahme und
es mag in seltenen Fällen ein nicht zu sehr eingefleischter Trinker,
der nicht aus hereditärer Anlage, nicht aus Psychopathie, sondern
in Folge bestimmter Umstände, die man beseitigt haben mag, zum
Alkoholmissbrauch verleidet wurde, auf solche Weise massig werden.
Aber in weitaus den meisten Fällen wird man durch die Gegen-
suggestion, die der Alkoholgen uss und die Geselligkeit bewirken,
früher oder später Rückfälle erleben, wie ich es regelmässig bei
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166 AlkoholismuB u. Morphinismus. Hypnotismus u. Psychotherapie.
den Trinkern beobachte, die wieder massig zu trinken beginnen
wollen. Die meisten Trinker sind überdies individuell prädisponirt
und werden durch die Angewöhnung resistenzunfähig gegen Alkohol.
Soll also die Suggestion bei der Therapie des Alkoholismus von
ernstem Nutzen sein, so muss man den definitiven und absoluten
Abscheu gegen alle geistigen Getränke, die vollständige, lebens-
längliche Enthaltsamkeit derselben und womöglich den Anschluss
an einen Abstinenzverein suggeriren. Darin stimmt mir auch
Tuckey bei; darin liegt auch zweifellos das Geheimniss der be-
rühmten theuren „ Goldcure B der Alkoholiker von Keely. Keely
suggerirt seinen Kranken keine Mässigkeit, sondern absolute Ab-
scheu vor allen geistigen Getränken.
Bei der Morphiumentziehungscur thut man ja (Verein aus-
genommen) das Gleiche. Aber es gibt für das Morphium keine
verführende Geselligkeit, keinen gesellschaftlichen Trinkzwang, wie
für den Alkohol. Desshalb ist für den letzteren die alkoholfreie
suggestive Geselligkeit des Enthaltsamkeitsvereins so eminent
wichtig.
Ich habe selbst durch Suggestion manche Trinker zur Ab-
stinenz gebracht. Doch, wie Bonne (Wiener medicinische Presse
Nr. 45, 1901) richtig betont, suggerirt der abstinente Arzt weit besser,
weil sein Beispiel und die innere Ueberzeugung bei der Suggestion
mitwirken. Ich hatte schon 1888 (Nr. 26 der Münch. med.Wochenschr.)
die guten Erfolge der Suggestion bei Alkoholismus statistisch gezeigt.
VII. Hypnotismus und Psychotherapie.
Seitdem sich die Suggestion in der Medicin eine gewisse An-
erkennung verschafft hat, sind eigenthümliehe Erscheinungen in ihrer
Beurtheilung aufgetreten. Der Arzt, wie der junge Studiosus medi-
cinae, hört viel von Suggestion sprechen, liest auch gelegentlich
davon. Es wird viel darüber am Biertisch theoretisirt, aber die
Sache selbst wird an den Hochschulen, mit ganz seltenen Aus-
nahmen, weder gelehrt, noch gelernt. Diejenigen, die darüber ur-
th eilen, besitzen selten sachliche Erfahrung.
Aus diesem oberflächlichen Gerede ist eine Art officielles, oft
mit grosser autoritativer Arroganz ausgesprochenes Axiom ent-
standen, das etwa so lautet:
Die Wachsuggestion, die Psychotherapie, das sei etwas sehr
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Suggestion und Psychotherapie sind eine und dasselbe. 167
Wichtiges und Richtiges, das jeder gute Arzt kennen müsse , und
eigentlich auch von jeher intuitiv gekannt habe, aber der Hyp-
notismus, das sei etwas ganz Anderes, etwas Verdächtiges, Un-
wissenschaftliches, Hocuspocus, Charlatanerie — wenigstens an-
rüchig — oder dann Schädliches, oder gar Gefährliches.
Für den, der die Suggestion kennt, wirkt dieses Gerede un-
glaublich komisch. Es gehört wirklich eine gewaltige Oberfläch-
lichkeit und eine merkwürdige psychologische Myopie dazu, um aus
der gleichen Sache zwei Disciplinen zu construiren. Darauf, ob bei
der Psychotherapie eine etwas grössere oder kleinere Dosis Schlaf
suggerirt wird, kommt es schliesslich zur Beurtheilung ihres Wesens
nicht an. Wer psychotherapeutisch beeinflusst ist, steht unter sug-
gestivem Einfluss, d. h. seine Gedankendynamik wird als Energie-
quelle zur dissociativen Beeinflussung aller solcher Störungen be-
nutzt, die mehr oder minder vom Gehirn direct oder indirect
abhängen. Die Frage, ob dies Hypnose oder Psychotherapie, ist
ein Streit um des Kaisers Bart.
Einen hochfahrenden Erguss genannter Art hat z. B. Dr. Dubois
im Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte vom 1. Februar 1900
losgelassen. Derselbe wurde bereits trefflich von Dr. Ringier
widerlegt, der ihm nachwies, dass die hypnotisirenden Aerzte gerade
dasjenige thun und lehren, worüber er sie vorwurfsvoll zu belehren
sich einbildet.
Wir bestreiten keineswegs, dass es Schwindler gibt, die hyp-
notisiren, und dass es Hypnotiseurs gibt, die geistlos, mechanisch,
ohne genügende Individualisirung die Verbalsuggestion benutzen.
Die gleichen Gebrechen findet man jedoch bekanntlich in allen Ge-
bieten der Medicin und es ist eine wohlfeile und unwürdige Ver-
unglimpfung, sie, wie Dubois, statt der einzelnen Person, den Ver-
tretern der ganzen Disciplin vorzuwerfen, und sich dabei auf
Spitzfindigkeiten wie die Aetiologie des Wortes Suggestion oder auf
allgemeine Verdächtigungen zu stützen.
Ich warne ferner davor, mit allgemeinen psychologischen und
psychopathologischen Worten, wie Wille, Nervosisät, Neurasthenie,
psychisch etc. um sich zu werfen, wie es Dubois u. A. m. thun 1 ).
') Z. B. folgende Phrase Dubois 1 : .Die Nervosität, unter welchem Namen
ich die Hysterie, die Neurasthenie und alle verwandten Minchformen auffasse,
ist ein psychisches Uebel, ein Gemüthszustand!* Also alles in einem bequemen
Sack, ob unheilbare Hypochondrie oder leicht heübarer Fall, und das Alles
ist „ein Gemüthszustand!* — Punctum!
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168 Individualisirnng. Sanatoriencureii als Sugg. Beschäftigungstherapie.
Man muss sehr genau analysiren und individualisiren, um heraus-
zufinden, welche Art Grundleiden hinter den mannigfachen neuro-
pathologischen Erscheinungen steckt, ob hysterische Dissociation,
hypochondrische Zwangsvorstellung, epileptische Grundlage, Psy-
chose, oder gar organisches Hirnleiden, wie viel Erworbenes und
Hereditäres dabei vorhanden ist, welche Rolle die wirkliche Er-
schöpfung der Nervencentren spielt u. A m. Je nachdem wird man
sich zu richten haben.
Nach dem Vorgehen Freud's wird man stets nach ursäch-
lichen früheren emotiven psychischen Traumen, besonders für hyste-
rische Störungen forschen. Aber dieses muss mit grösster Schonung
und Vorsicht geschehen, denn durch Verletzung des Tactes und
des Anstandes kann man da oft mehr schaden als nützen, indem
man verletzende Fragen stellt. Ferner darf man aus dieser Einzel-
erscheinung kein Dogma construiren, wie es Freud thut.
Die Psychotherapie ist suggestive Therapie, wird sich aber je
nach den Fällen ganz verschieden entfalten. Zur Beseitigung eines
einfachen Kopfwehs wird in der Regel die gewöhnliche Verbal-
suggestion genügen. Handelt es sich aber um eine Disposition, so
wird man meistens alle möglichen damit verbundenen Gewohnheiten,
erbliche Anlagen, Gemüthsverhältnisse etc. herausfinden, deren Re-
gulirung Aufgabe der Psychotherapie wird.
Es ist in den modernen Nervensanatorien Mode geworden, eine
Reihe Curmethoden anzuwenden, wie Massage, Mastcuren, Bett-
curen, Hydrotherapie, Elektricität und dergl. m., deren Wirkung
theils auf Förderung des Stoffwechsels, theils auf Suggestion, theils
auf Ueberernährung beruht. Dieselben sind meistens recht theuer
und können gewöhnlich vorteilhaft durch Velociped, Fusstouren,
Bergtouren, Bad im Freien und Schlaf ersetzt werden. Freilich
nützt in vielen Fällen der Zwang des methodischen Gehorsams und
das Gefühl, dass man für sein Geld etwas haben muss. Der grosse
Nachtheil aller dieser Curen ist, dass oft nach ihrem Ende das
alte Geleise mit den alten Schädigungen wieder beginnt.
Die Psychiatrie hat ihrerseits die Beschäftigung, besonders mit
Landwirthschaft, als Hauptheilmittel für chronische Geisteskranke
immer höher schätzen gelernt.
Ich habe selbst 1894 in Verein mit Herrn Ingenieur G roh-
mann eine Beschäftigungstherapie für Nervenleidende anempfohlen,
die auch P. J. Möbius stark vertreten hat. Hiebei bemerkte Herr
G rohmann selbst, wie oft eine Verbindung der suggestiven Therapie
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Patholog. Hemmungen tüchtiger Menschen und deren Psychotherapie. 169
durch Dr. R i n g i e r mit seinen mechanischen Beschäftigungen der
Kranken nützlich war.
Endlich, wenn man mit der gewöhnlichen Verbalsuggestion
oder mit erweiterten psychotherapeutischen Einflüssen, unter welchen
Musik, geistige und körperliche Unternehmungen etc. eine Rolle
spielen, nicht auskommt, wird man Curen, Arzneimittel, Massagen
und dergl. m., je nach dem Fall, einzuflechten haben. Die Weh-
Mi tchell'sche Bettmastcur z. B., die bei wirklich erschöpftem
Gehirn und Körper vorzüglich wirken kann, kann geradezu recht
viel schaden, wenn sie kritiklos für alle möglichen Fälle an-
gewendet wird.
Ich habe nun in der Zeitschrift für Hypnotismus (Bd. X) einige
psychotherapeutische Fälle eigener Art mit deren Erklärung mit-
getheilt und will dieselben hier erwähnen.
Mein Hauptgedanke bei der Sache war der, dass nicht die
Muskelarbeit an und für sich, sondern vor Allem die centrifugale
Concentration der Aufmerksamkeit auf die zielbewussten Muskel-
innervationen einer zweckmässigen, den Geist befriedigenden Be-
schäftigung das Gehirn von pathologischen Thätigkeiten ablenkt
und heilend wirkt. Geisttödtende Muskelarbeit, wie hygienisches
Turnen, Arbeiten mit Hanteln oder Ergostat etc., befriedigt erstens
nicht, und hindert vor Allem die Aufmerksamkeit nicht daran, auf
Abwege zu gerathen. Ferner können solche unnütze Thätigkeiten
nicht dauernd als Lebensberuf betrieben werden.
Nicht alle Neuropathen eignen sich aber für Gärtnerei, Tisch-
lerei oder Landwirtschaft, und mit gewöhnlichen Suggestionen des
guten Schlafes, des Appetits, der normalen Functionen etc. ist die
Pathologie des Hirnlebens noch lange nicht erschöpft. Man weiss
ferner, dass Genie und Irrsinn verwandt sind. Wenn aber be-
kannt ist, dass manches Genie an Irrsinn zu Grunde ging, dürfte
vielleicht den Aerzten weniger klar sein, dass unter dem Bilde
gewisser Formen von Hysterie und anderen Psychopathien manche
Genies oder wenigstens Talente schlummern und schmachten wie
ein Vogel im Käfig, sowie dass die übliche Schablonentherapie der
Nervenärzte die Schwingen des Vogels lähmt, statt sie zu befreien.
Wenn irgendwo, so ist da eine richtige Diagnose und eine indivi-
dualisirende Therapie am Platz. Nicht Jeder, der sich als Genie
fühlt, ist ein Genie. Es muss hier die Erfahrung des Irrenarztes
unter 100 verfehlten, an Grössenwahn und Geistesschwäche leidenden
Gehirnen die wenigen herausfinden, welche «doch nicht anund
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170 Patholog. Hemmungen tüchtiger Menschen und deren Psychotherapie.
für sich verfehlt sind", sondern umgekehrt einen Schatz hoher
Begahungen enthalten, welche nur durch gewisse Störungen in
ihrer Entwicklung gehemmt und gelähmt werden. Hat man aber
unter den vielen hilfesuchenden Nervenkranken (lies Hirnkranken
oder Encephalopathen) einen solchen verborgenen, in Fesseln liegen-
den Schatz entdeckt, dann ist es eine hohe Pflicht, den Pfad der
Schablone zu verlassen, und dem Adler die Schwingen zurück zu
geben. Hypnose und Beschäftigung mit Handarbeiten können hiebei
als Hülfsmittel vortreffliche Dienste leisten. Aber die Hauptsache
bilden sie hier nicht. Man muss durch Liebe und intimeres Ein-
dringen in alle Seiten des Seelenlebens des Kranken sein volles
Vertrauen gewinnen, alle Seiten seines Gefühles mitspielen, sein
ganzes Leben sich erzählen lassen, dasselbe mit durchleben und sich
selbst vom Gefühlleben des Betreffenden durchdringen, dabei natür-
lich das sexuelle Empfinden nie aus dem Auge lassen, das ja so
ungemein je nach den Menschen wechselt und ein zweischneidiges
Schwert bedeutet. Dass der Arzt selbst dabei gepanzert sein muss,
brauche ich hier nur anzudeuten, so wichtig es auch ist. Man darf
natürlich hier nicht nach der gewöhnlichen ärztlichen Schablone
verfahren, die nur die Samenentleerung resp. den Coitus und die
Schwangerschaft zu beachten pflegt, sondern man muss sorgfältig
alle die mit der Sexualsphäre mehr oder minder zusammenhängenden
höheren Regionen des Gemüthes, des Intellects und des Willens
berücksichtigen. Ist dies geschehen, dann suche man den rechten
definitiven Lebenszweck für den Kranken und führe ihn resolut und
voll Vertrauen hinein. Man wird sich dann oft wundern, alle psycho-
pathologischen Störungen wie durch einen Zauber schwinden, und
aus dem unglücklichen, unfähigen Nervenkranken einen thatkräftigen,
leistungsfähigen, bedeutenden, vollwerthigen Menschen entstehen zu
sehen, der durch Arbeitsleistung sogar seine Mitmenschen in Er-
staunen setzen kann, und dem Arzt, der ihn behandelt hat, ein
lieber Freund bleibt. Aus einem Unglücklichen wird ein Glück-
licher, aus einem „Verfehlten" ein Talent oder gar ein „Genie",
aus einem Kranken ein Gesunder.
Nun kurz einige Beispiele. Meine bezüglichen Freunde mögen
sich darin erkennen. Im Interesse der Menschen werden sie mir
aber diese Veröffentlichung verzeihen.
I. Ein sehr gebildetes Fräulein, Tochter eines begabten Vaters und
einer sehr nervösen Mutter, galt als weniger begabt als ihre Geschwister,
war von Hause aus nervös und wurde immer hysterischer. Schliesslich
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Beispiele psychotherapeutischer Heilungen von Talenthemmungen. 171
kamen sehr schwere Lähmungserscheinungen ; sie kam in die Irrenanstalt.
Zuerst durch gewöhnliche Hypnose ziemlich geheilt, wurde sie nach
Monaten mit fast totaler Unfähigkeit zu gehen, rückfällig, und dann
durch eine feste landwirtschaftliche Thätigkeit bei Bauern wieder curirt.
Doch war sie unglücklich keinen Lebenszweck zu haben. Nicht ohne
Bedenken erlaubte ich ihr, ihrem sehnlichen Wunsch nachzugehen und
Krankenpflegerin zu werden. Ihre Eltern fürchteten sehr die Nacht-
wachen; doch wurden diese mit Hülfe einiger bezüglichen Suggestionen
ohne Beschwerde ertragen. Begeistert nahm sie ihren Beruf auf, setzte
denselben, so schwer er war, durch, und wurde immer thätiger in allen
Richtungen. Heute ist sie nun in einem Grossartiges leistenden philan-
thropischen Damencomite" eines der thätigsten Mitglieder.
IL Ein Arzt litt seit längerer Zeit an schweren, angeblich neur-
asthenischen Störungen und suchte sich vergebens mit allerlei Mitteln
zu curiren. Er kam zu mir und klagte mir sein Leid. Ich machte ihm
Muth, rieth ihm alle jene Störungen nicht zu beachten, betonte seine
höheren Lebenszwecke. Wir einigten uns auf solche. Er ging. Später
schrieb er mir, durch jene einzige Unterredung sei er geheilt worden.
III. Ein junger Mann, mässig erblich belastet, aus sehr streng reli-
giöser Familie, sehr begabt, wurde nervenkrank, und zwar an Geistes-
störung grenzend. Er machte einen schweren Selbstmordversuch, kam
in Nervenheilanstalten nach totaler Unterbrechung seiner Studien. Die
Prognose wurde sehr düster gestellt. Er konnte absolut nicht mehr
arbeiten, litt an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Unfähigkeit irgend eine
geistige Arbeit mit Aufmerksamkeit zu verrichten. Was er las, beachtete
er nicht. Düster und verzweifelt, zeigte er jedoch keine Symptome
melancholischer Hemmung und dergl. Er war sich über seine Psycho-
pathie und „verfehlte Existenz" völlig klar. Er hatte noch an allerlei
zwangsartigen Vorstellungen und Handlungen gelitten, die ihm Streiche
gespielt hatten. Man brachte ihn mir als verzweifelten Fall. Bald fiel
mir die Begabung des jungen Mannes auf. Intimerer Verkehr verrieth
mir bei ihm ein total unbefriedigtes inneres Wesen. Streng orthodox
erzogen, konnte er an jene religiösen Dogmen nicht glauben, und hielt
sich dadurch schon für verworfen und verloren. Auch war ihm das er-
zwungene formelle Lernen, in dem er erzogen wurde, ein Greuel. Sein
Leben schien ihm zwecklos. Zuerst beruhigte ich ihn über die Religion
und zeigte ihm, dass man ohne positiven Glauben ein glücklicher und
vollwerthiger Mensch sein kann. Ferner zeigte ich ihm, dass das aus-
wendige Lernen der Geist der Geistlosen ist, und dass das einfache mit
Interesse Verstehen viel höher steht. Ich hiess ihn nichts mehr zu lernen
zu versuchen, sondern nur noch zu forschen und mit Interesse das zu
lesen, was ihn interessire, ohne sich darum zu kümmern, ob er es be-
halte oder nicht. So weckte ich in ihm wieder Vertrauen und etwas
Freude am Leben. Er fing an, seine Bücher mit Freude und Interesse
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172 Beispiele suggestiver Heilungen von Talenthemmungen.
zu lesen, statt darin mit Ekel zu lernen. Als Philosoph und Freidenker
lebte er wieder auf. Nun wurde er begeisterter Abstinenzler, half mir
neue Abstinenzorganisationen gründen. Mein Patient, den ich Anfangs
wegen Snicid bewachen lassen musste, wurde bald mein Freund und
Mitarbeiter. Eine nach der anderen schwanden die Nervenstörungen;
zum Schluss machte er zu seiner definitiven Erholung mit meiner Zu-
stimmung eine längere Eeise allein in einem wilden heissen Lande und
kam völlig geheilt und selbstvertrauend zurück. Er nahm nun seine
Studien wieder auf, bestand einige Jahre später sein Schlussexamen,
summa cum lande, wurde von allen seinen Kameraden
wegen seiner enormen Arbeitskraft bewundert, und führt
nun ein durchaus geregeltes normales Leben.
IV. Eine hysterische Dame, hochbegabt, aber von Kind auf psycho-
pathisch, mit Anfällen grosser Hysterie, durch verschiedene Dinge, spe-
cieller durch das Zusammenleben mit einer nahen Verwandten hochgradig
aufgeregt, consultirte mich vor vielen Jahren in Zürich. Sie wollte aus
diversen Vernunftsgründen nicht heirathen, trotz zahlreichen Gelegen-
heiten hierzu. Ich versuchte die Hypnose. Dieselbe trat mit tiefem
hysterischen Schlaf ein, und Krämpfe begannen sich zu zeigen.
Ich weckte sie mit Mühe und Gewalt auf, sagte ihr kühn, der Erfolg
sei über Erwarten stark ; nun werde sie baldigst genesen ; sie sei nur
etwas zu stark beeinflusst gewesen. Von da an suggerirte ich ihr fast
nur noch im Wachzustande. Nach relativ kurzer Zeit waren fast alle
Störungen weg, auch die vorhanden gewesene Obstipation, und nament-
lich die Krämpfe. Doch erklärte ich ihr, die Hauptsache für sie
sei die Arbeit, und zwar ein Lebenszweck. Sie wollte keine Familie
gründen, interessirte sich aber schon lange für ein bestimmtes, gemein-
nütziges Werk. Nun ging's darauf los! Statt Badecuren, Elektricität
und Massagen gab ich ihr eine Reihe Bücher über den Gegenstand ihres
Lieblingsstudiums zu lesen, sowie Empfehlungen für Koryphäen der be-
züglichen und verwandten Werke. Sie ging mit Begeisterung an die
Arbeit, zeigte bei Allem grosses Interesse, ebenso grosses Verständniss
und eine staunenswerthe Arbeitskraft. Dabei wurde sie täglich besser
und reiste nach einigen Wochen ab. Später hat sie in kurzer Zeit in
ihrem gemeinnützigen Werk Bedeutendes erreicht.
V. Ein begabter Mann, von hysterischer, impulsiver Consti-
tution, erkrankte in Folge von Gemüthsaufregungen , verursacht durch
peinliche Vorkommnisse. Es bildeten sich bei ihm der Reihe nach ver-
schiedene, anscheinend sehr schwere Geistesstörungen, darunter ein Mal
ein vollständiger Verfolgungswahn mit Hallucinationen. Im Ganzen war
er 2 Jahre krank, bevor er zu mir kam. Mitgewirkt hatten die bösen
Prognosen, die ihm gestellt wurden. Ein Mal erklärte man ihn in Folge
einer Lungenblutung für phthisisch, dann für unheilbar paralytisch und
behandelte ihn mit Quecksilber, obwohl offenbar niemals Lues vorhanden
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Talenthemm. nicht mit Selbstüberheb. defecter Psychopathen verwechseln. 173
gewesen war. Die Lunge war jedoch niemals infiltrirt gewesen und
blieb völlig gesund. Von progressiver Paralyse konnte ich keine Spur
entdecken. Eigentümlich in der Anamnese waren plötzliche Aende-
rungen im Krankheitsbild in Folge veränderter Prognose oder Therapie,
oder in Folge drückender oder umgekehrt tröstender Affecte. Man hatte
den Mann zur ünthätigkeit , Aufgeben seiner Carriere etc. verurtheilt.
Als ich ihm nach gründlicher Untersuchung bestimmt erklärte, es sei
bei ihm keine Spur eines organischen Hirnleidens und auch nicht einer
eigentlichen Psychose vorhanden, es seien einfach hysterische Autosug-
gestionen gewesen, war er schon viel besser. Wenige Hypnosen genügten,
um alle störenden Symptome zu beseitigen. Vor allem aber wirkte die
Verordnung (nebst Alkoholabstinenz) seine Carriere wieder aufzunehmen.
Er trat nach kurzer Zeit geheilt aus der Behandlung aus.
Früher verordnete ich in solchen Fällen schulgerecht geistige
Ruhe, Nichtsthun, körperliche Arbeit oder weiss Gott was sonst.
Gott sei's geklagt! meine bezüglichen Kranken sind damals dabei
nicht besser geworden! In solchen Fällen ist das Gehirn nicht er-
schöpft und leistungsunfähig, wie man annahm und zuerst meinen
möchte, sondern es ist nur missleitet, arbeitet auf falschen Bahnen.
Seine natürlichen Anlagen darben, werden gehemmt, und die ihm
gebotene Thätigkeit sagt ihm nicht zu. Oder gewisse Scrupel
religiöser oder sentimentaler Art lähmen jede Thätigkeit, wodurch
freie Bahn für pathologische Hirnthätigkeiten geschaffen wird. Dies
muss man eben erkennen und durch eine kühne Diversion ändern.
Wie eine durch Gewitter in Verwirrung gerathene telephonische
Centraistation, muss das Neurokym des Gehirnes wieder ins Geleise
kommen. Solche Fälle brauchen Übrigens keine Genies oder auch
nur besondere Talente zu sein. Es können einfachste Bürger sein.
Doch hüte man sich andererseits, jedem Psychopathen zu glauben,
der sich als verkanntes Genie hinstellt und höhere Philosophie
studiren will. Solche gibt es fünfzig für einen der eben Erwähnten,
und für solche passt die Landwirthschaft so gut wie für Schwach-
sinnige oder Geisteskranke. Die nur gehemmte Seele pflegt nicht
grössenwahnsinnig resp. nicht selbst überschätzend zu prahlen. Man
muss in sie dringen, sie suchen und sie erkennen. Dann aber kann
man den Hebel an den rechten Ort ansetzen und darf sich nicht
mehr mit alltäglichen Suggestionen, Gärtnerei und Tischlerei be-
gnügen, von den Mastbettcuren, Badecuren, elektrischen Curen und
Anderem mehr nicht zu sprechen.
Es sind allerdings dazu ein tieferes Eindringen und psycho-
logische Urtheilsfähigkeit nöthig, und man darf nicht, wie das liebe
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174 Suggestion und Psychotherapie. Beispiele suggestiver Heilungen.
Publikum leichtfertig jeden verrückten Querulanten oder Schreier
als verkanntes Genie oder umgekehrt jedes Genie als verrückt
taxiren, indem man alles was nicht Mode und Yorurtheil ängstlich
nachmacht, ob Unsinn oder höhere Erkenntniss, in einen Sack wirft.
Endlich muss man begreifen, dass es zwischen diesen Fällen
und den gewöhnlichen Fällen suggestiver Therapie alle möglichen
Uebergänge gibt. Man muss ja bei jeder suggestiven Cur das Zu-
trauen und die Zuneigung des Kranken gewinnen; man muss mit
unwandelbarer Zuversicht und mit unerschütterlichem Optimismus
vorgehen so lange Hoffnung vorhanden ist. Auch in den eben er-
wähnten Fällen, wie beim gewöhnlichen Hypnotismus, hängt aller
Erfolg in erster Linie von den Erfolgen der ersten Sitzungen ab.
Man muss die »Festung" von allen Seiten geschickt belagern. Die
erste Bresche ist entscheidend, einerlei ob sie in der Hypnose oder
im Wachzustand geschlagen wird, denn sie gibt beiden Theilen
Muth und verstärkt sofort die Suggestionskraft. Nimmt umgekehrt
beim Kranken in Folge initialer Misserfolge eine negativistisch-
pessimistische Stimmung die Oberhand, so werden spätere Erfolge
immer problematischer. Selbst bei relativ gutem hypnotischem Er-
folg, sogar, obwohl viel seltener, bei erzieltem Somnambulismus,
kann dann therapeutischer Misserfolg vorkommen und Alles ver-
eiteln, obwohl kein organischer Grund dazu vorliegt.
Vm. Beispiele von Heilungen durch Suggestion. Ein Fall
von spontanem Somnambulismus. Heilung der Stuhl-
Verstopfung und ihre Erklärung.
Es würde den Rahmen und den Zweck der vorliegenden
Arbeit überschreiten, woUte ich lange Listen aufstellen. Solche
sind bereits vielfach publicirt worden und ich verweise in erster
Linie auf Bernheim's und Wetterstran d's klassische Werke,
sowie auf Ringier's sorgfältige Zusammenstellung , ferner auf die
Zeitschrift für Hypnotismus (s. oben). Nur kurz will ich einige
Beispiele erwähnen:
1. Eine durchaus brave Dienstmagd erkrankte im Sommer 1888
an profusen Menstruationen, welche aller Medication zum Trotz sich
im Herbst derart steigerten, dass sie alle 14 Tage auftraten und
8 Tage dauerten. Das von Hause aus blutarme Mädchen wurde
dadurch colossal anämisch, fast leichenblass ; sie verlor den Appetit
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Beispiele suggest. Heilungen. Anämie und profuse Menstruation. 175
und den Schlaf, schlummerte Nachts nur mit schweren Träumen.
Der mir bekannte Mann, bei welchem sie diente, klagte mir das
Unglück und dachte nur noch daran, sie müsse zurück auf das Land
zu ihren Eltern und es werde schlimm endigen. Ich ersuchte ihn,
mir das Mädchen zu bringen. Es war Abends ; sie war gerade im
4. Tage, wie immer intensiv, menstruirt. Ich liess sie auf den
Lehnstuhl sitzen, mich anschauen, und kaum hatte sie meine Finger
erblickt, fielen die Lider zu. Ich suggerirte nun Katalepsie, An-
ästhesie etc. mit sofortigem Erfolg, was mir den Muth gab, so-
fortiges Cessiren der Menstruation zu suggeriren. Auch
diese Suggestion gelang in wenigen Minuten unter Berührung des
Unterleibes und der Erklärung, dass das Blut in Beine und Arme
hinein aus dem Unterleib herausfliesse. Am Schluss suggerirte ich
noch guten Schlaf und festen Appetit. Ich befahl, zu Hause die
Menstruation von der Hausfrau genau controliren zu lassen. Sie
blieb vollständig weg, und das Mädchen schlief bereits in der fol-
genden Nacht ziemlich gut. Ich hypnotisirte sie noch einige Male
und bestellte die nächste Menstruation für 4 Wochen später, schwach
und mit nur 2 1 /* Tage Dauer. Bereits nach 3 oder 4 Tagen
hatte ich einen guten festen Schlaf und nach einer Woche einen
ordentlichen Appetit durch Suggestion erzielt; ebenso einen regel-
mässigen täglichen Stuhlgang Morgens nach dem Aufstehen (vorher
war die Kranke hartnäckig verstopft). Von da an besserte sich
das Mädchen täglich zusehends. Die nächste Menstruation kam
nach 27 Tagen (1 Tag zu früh) zur suggerirten Stunde, war sehr
schwach und dauerte nur 2 Tage. Seither blieb das Mädchen regel-
mässig alle 4 Wochen menstruirt, die Menstruation blieb sehr
mässig und dauerte höchstens 3 Tage (auf Suggestion hin). Nach
einigen Wochen hatte sie wieder Gesichtsfarbe und versieht seither
und bis jetzt ihren Dienst regelmässig und ohne Störung, obwohl
sie etwas schwach und anämisch bleibt. Sie wurde seither nicht
mehr hypnotisirt, ausser kürzlich ein Mal, weil sie wieder etwas
erschöpft und appetitlos war (April 1889). Es ging ihr 1895 noch
recht gut. Seither sah ich sie nicht mehr.
2. Ein alter 70jähriger Alkoholiker, der sich vor 10 Jahren
zwei Mal im Delirium in die Kehle geschnitten hatte, war 1879
bis 1887 als unverbesserlicher Trunkenbold und Lump in der Irren-
anstalt Burghölzli verpflegt. Alle Gelegenheiten, im Geheimen sich
Räusche anzutrinken, wurden benutzt. Im Rausch hallucinirte er
und wurde sich und Anderen gefährlich. Zudem war er der grösste
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176 Beispiele suggestiver Heilungen. Alkoholismus. Staaroperation.
IntriguenfÜhrer gegen meine Abstinenzbestrebungen bei den Alko-
holikern der Anstalt, und, obwohl sonst gutmüthig, hetzte er die
Anderen gegen den Mässigkeitsverein. In den letzten Jahren litt er
viel an Lendenrheumatismen, die ihn ganz krümmten und ihn in
der Arbeit beeinträchtigten. Man konnte ihm nicht die geringste
Freiheit gewähren, ohne dass er sie sofort zum Trinken miss-
brauchte.
Ich hatte ihn längst aufgegeben, versuchte jedoch 1887 ihn zu
hypnotisiren. Er erwies sich als sehr suggestibel, und es gelang
in wenig Sitzungen, ihn auffällig ernst zu stimmen. Die Intriguen
hörten wie durch einen Zauber auf und nach einiger Zeit verlangte
er selbst, man möge ihm den Wein abschreiben, den ich ihm noch
in kleiner Quantität gelassen hatte, weil ich ihn für verloren hielt.
Bald darauf war der Rheumatismus durch Suggestion total ver-
schwunden (und kam bis Anfangs März 1889 nie wieder). Es ging
immer besser, und Patient wurde bald einer der eifrigsten Absti-
nenten der Anstalt. Lange Zeit zauderte ich, ihm freien Ausgang
zu geben, that es aber schliesslich im Sommer 1888. Dieser Aus-
gang, bei welchem er stets etwas Taschengeld erhält, wurde nie
missbraucht. Er blieb der Abstinenz absolut treu, trat auf
Suggestion hin in den Mässigkeitsverein ein, dessen sehr eifriges
Mitglied er seitdem ist, und trank bei seinen Ausgängen in der
Stadt nie etwas Anderes als Wasser oder Caffee und dergl. Er hätte
auch bei seiner totalen Resistenzunfähigkeit gegen Alkohol nicht
ein einziges Mal trinken können, ohne dass man es bemerkt hätte.
Ein Mal erkältete er sich und bekam ein heftiges Recidiv seines
Rheumatismus. In drei Hypnotisirungen (24 Stunden) war derselbe
vollständig beseitigt, und er arbeitete wieder, obwohl 72 Jahre alt,
fleissiger als je. Im Jahre 1890 wurde er sonst nur einige Male
zu Demonstrationszwecken hypnotisirt. Antialkoholische Suggestionen
brauchte er nicht mehr.
P. S. Januar 1891. Es sind der Rheumatismus und der
Alkoholismus bis jetzt vollständig geheilt geblieben. Dagegen machte
ein schon lang bestehender seniler grauer Staar beider Augen solche
Fortschritte, dass eine Operation nothwendig wurde. Dieselbe wurde
1890 von Collega Prof. Haab in zwei Abtheilungen: 1. Iridectomie
und Massage der Linse zur Erzeugung einer schnelleren Reifung?
2. später Extraction — an einem Auge vorgenommen. Beide Male
wurde der Kranke vor der Operation hypnotisirt und durch Sug-
gestion anästhetisch gemacht. Er erwachte durchaus nicht und
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Kreb8operation in der Hypnose. Heilang von Schlaflosigkeit. 177
rauchte selbst während der Durchschneidung der Iris seine suggerirte
Pfeife ; höchstens verzog sich der Mundwinkel auf der operirten Seite
während der Lädirung der Iris. Er erklärte nachher, nichts von der
Operation gemerkt, überhaupt nur geschlafen zu haben. Während
der Nachbehandlung im Spital, wo ich nicht war, hatte er etwas
Schmerzen; doch auch diese wurden dort durch Suggestion gelindert.
P. S. 1895. Heilung geblieben. Ein Recidiv des Rheuma-
tismus vor 2 Jahren wurde in zwei Sitzungen geheilt. Die Vor-
bereitungen zu einer grossen Operation (Rectumkrebs) im Spital
ängstigten ihn derart, dass die Hypnose unmöglich wurde und
Chloroform nöthig war. Heilung. Später Recidiv. Zweite Operation
ohne sichtbare Vorbereitung gelingt völlig in der Hypnose, ohne
Chloroform; dann gestorben.
3. Fräulein L., eine sehr tüchtige Arbeiterin, leidet seit circa
1 l ji Jahren an absoluter Schlaflosigkeit. Alle Mittel waren umsonst
versucht worden, und sie ist so vernünftig, um der Versuchung zu
widerstehen, sich an Narcotica zu gewöhnen. Sie wird mir zur poli-
klinischen Behandlung als Demonstrationsobject im Februar 1890
von einem Collegen zugewiesen.
Mehrere hypnotische Sitzungen sind nöthig, um allmälig einen
tieferen Grad der Hypnose zu erreichen und verschiedene Sug-
gestionen zu verwirklichen. Auf einen Schluck Wasser spontan ein-
zuschlafen, gelingt zunächst nur in meiner Gegenwart. Ich lasse
sie dann längere Zeit (1 Stunde) schlafen, und so gelingt es mir,
nach circa 3 Wochen den normalen Nachtschlaf vollständig wieder
herzustellen (von 9 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens). Sie wird
geheilt aus der Behandlung entlassen.
Anfangs Januar 1891 kommt sie unaufgefordert zu mir, blühend
aussehend, um mir nachträglich zu danken und mir zu sagen, wie
glücklich sie sei, von ihrer Schlaflosigkeit vollständig geheilt und
arbeitsfähig geblieben zu sein. Sie habe zwar im Sommer 1890
einen sehr schweren Typhus mit hohem Fieber und mehreren Re-
cidiven gehabt, so dass man sie für verloren hielt. Während des
Fiebers sei sie allerdings wieder schlaflos geworden, doch habe
sich bei der Reconvalescenz der normale gute Schlaf von selbst
wieder eingestellt. Diesen Fall erwähne ich speciell für diejenigen
Aprioristen, welche behaupten, dass wenn man die Morphiumbehand-
lung durch hypnotische Behandlung verdränge, man nur den Teufel
durch Beelzebub ersetze. Man beweist zwar diesen Herren, dass
die Analogie doppelt hinkt, da es bei der suggestiven Behandlung
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 12
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178 Spontaner Somnambulismus, Hysterie und Wahrsagerei.
weder eine Intoxication noch eine Angewöhnung gibt und man
einfach den normalen, gesunden Schlaf wieder herstellt. Doch . . .
il n'y a pire sourd que celui qui ne veut pas entendre. Daher sind
Beispiele gut.
4. Frau F., spontane Somnambule, geboren 1833, seit ihrem
15. Lebensjahre Wahrsagerin. Als angebliche Betrügerin in Deutsch-
land gerichtlich bestraft. Verheirathet, hatte viele Kinder. Eine
Geburt verlief im somnambulen Zustande, ohne dass sie irgend
etwas empfand; sie erwachte erst nach der Geburt.
Sie gibt Consultationen und hat Patientenzulauf. Sie schläft
seit ihrer Jugend täglich um 9 und 3 Uhr plötzlich und spontan,
meist mit einem Schrei ein. Der Schlaf dauert — 3 /* Stunden, je
nach dem Patientenzulauf. Im Schlaf spricht sie in pathetischem Tone.
Sie ist es nicht, die spricht, sondern der „Geist Ernst", der in ihr
weilt und in Basel begraben liegt. — Sie ist aus diesen Gründen
des Betruges angeklagt und daher mir zur Untersuchung zugewiesen.
Es gelingt mir, sie in ihrem spontanen Somnambulschlaf direct
durch Suggestion unter meinen Befehl, resp. unter meine Suggestions-
wirkung zu bringen. Sie muss bald trotz des Widerstandes des
„Geistes Ernst" den Suggestionen auch posthypnotisch gehorchen.
Sie ist anästhetisch. Die Realität des Somnambulismus ist unzweifel-
haft; ihre Physiognomie ist total entstellt, die Amnesie nach dem
Erwachen vollständig. Es gelingt mir, sie zu hypnotisiren , wenn
ich will, und die spontanen Anfälle zu beseitigen. Vorher wurden
Experimente während eines derselben gemacht. Es wurden ihr
Kranke mit von uns genau gekannten Leiden vorgeführt, und sie
sollte die Diagnose stellen und die Therapie sagen. Sie spricht die
Kranken per Du in Pathos an und betastet sie (bei geschlossenen
Augen) mit der Hand. Ihre Diagnosen sind alle falsch, da wir alle
Worte und Zeichen vermeiden, die sie auf die Spur bringen könnten.
Dann kommt der Secundararzt, Dr. Mercier, Hinken simulirend,
ins Zimmer und lässt sich von ihr untersuchen, wobei sie einen
nicht vorhandenen „Fehler in den Beinen* diagnosticirt. — Es wird
dadurch festgestellt, dass ihre Diagnosen auf Suggestionswirkungen
durch von ihr sinnlich wahrgenommene Erscheinungen von Seiten
der Kranken beruhen, und dass von Hellsehen nicht die Spur zu
entdecken ist. Wie die meisten normalen Menschen, wie viele Aber-
gläubige, sogar wie manche Verrückte, weiss auch sie aus Allem
pecuniären Vortheil zu ziehen. Doch ist es ein schwerer Fehler der
Simulationsapostel ä tout prix, daraus zu folgern, dass sie simulire.
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Spontaner Somnambulismus mit Wahrsagerei hypnotisirt. 179
Es ist bekannt, dass erwünschte Suggestionen über unerwünschte
gerne die Oberhand gewinnen. Sie gab zwar an, gerne von ihrem
Schlaf befreit sein zu wollen. Ihr Mann und ihre Kinder waren
damit gar nicht zufrieden, und sie selbst offenbar reute der verlorene
Verdienst bald mehr, als sie über ihre Heilung erfreut war. Ich
hatte ihr zwar versprochen, ihr auf ihren Wunsch den Schlaf wieder
zu geben, doch kam derselbe bald nach ihrer Entlassung, wie
vorauszusehen war, wieder von selbst, da ich nicht mehr da war
und jene stärkeren Factoren, sowie die langjährige Autosuggestion
bald wieder die Oberhand gewannen.
Ich gab mein Gutachten dahin ab, dass der somnambulische
Schlaf der Frau F. reell und nicht simulirt sei, worauf sie frei-
gesprochen wurde. Sie war nicht wegen Curpfuscherei angeklagt;
hierfür hätte sie freilich bestraft werden können. Dieser Fall ist
in den Schriften der Gesellschaft für experimentelle Psychologie
mit dem Gutachten näher beschrieben.
Hervorzuheben ist, dass diese Person hysterisch ist, was wohl
bei der Mehrzahl der ausgesprochenen spontanen Somnambulen der
Fall sein dürfte. Dem entsprechend haben auch ihre Schlafzufälle
manches vom hysterischen Anfall, vor Allem die krampfhaften Er-
scheinungen, der Schrei, die Angstgefühle. Die schwere Anästhesie,
die totale Amnesie, die krampfhafte Entstellung der Gesichtszüge,
der verworrene, dämmernde Blick nach dem Erwachen sind so intensiv
ausgesprochen, dass daraus allein jede Möglichkeit einer Simulation
absolut sicher auszuschliessen ist. Da der spontane Somnambulismus
von fachmännischer Seite nicht oft beobachtet wird und für unsere
Frage von grossem Interesse ist, glaubte ich diesen Fall anführen
zu sollen. Interessant scheint mir noch bei demselben die durch
häufige Wiederholungen während eines langen Lebens allmälig
gewohnheitsmässig automatisirte, so zu sagen organisirte zweite
Persönlichkeit (zweites Ich mit zweiter Bewusstseinsbeleuchtung) im
somnambulistischen Schlaf. Der Ton, die Stimme, die Physiognomie,
das ganze naivpathetisch hochmüthige Wesen der zweiten Persönlich-
keit ist total verschieden von der schlichten, ruhigen, besonnenen,
gutmüthigen, aber schlauen und ängstlichen normalen Frau F. —
In den verschiedenen Schlafanfällen und Krankenconsultationen
wiederholen sich immer die gleichen Phrasen und Handlungen mit
dem gleichen associirten Gesammtwesen der Psyche.
5. Im Jahre 1888 litt eine Wärterin unserer Anstalt schon
längere Zeit an profusen, häufigen Menstruationen, die alle 2 bis
180
Profuse Menstruation geheilt und monatlich regulirt.
2 l /» Wochen wiederkehrten. Durch einige wenige Hypnosen gelang es
mir, die Menstruation auf alle Monate und auf eine Dauer von genau
3 Tagen zu reduciren. Theils experimenti causa, theils weil ich
glaubte, die Vorstellung eines bestimmten Datums sei leichter als
diejenige eines vierwöchentlichen Cyklus im Gehirn zu fixiren, sug-
gerirte ich wiederholt und bestimmt, die Menses würden jedesmal
am 1. oder 2. des Monats Morgens 7 Uhr sich einstellen, ganz
gleichgültig, ob der Monat 30, 31 oder 28 Tage habe. Nun
blieb diese Wärterin (eine unserer tüchtigsten und zuverlässigsten
Angestellten, die sämmtliche Näh- und Schneiderarbeiten der Kranken
leitete) bis 1894 hier, und seit 1888 (somit seit 6 Jahren) hat sich
diese Suggestionswirkung ohne Erneuerung der bezüglichen Sug-
gestion vollständig erhalten und fixirt, nur dass die Menses manch-
mal auch einen Tag früher (am letzten Tag des Monats) eintreten,
dafür aber das nächste Mal einen Tag später. Die Dauer bleibt
genau 3 Tage. Die Sache ist objectiv von Seiten der Oberwärterin
controlirt. Im Jahre 1894 hat sich die betreffende Wärterin ver-
heirathet und ist daher von Zürich fortgezogen. Doch sah ich sie
später als Mutter noch gleich menstruirt. Dieser Fall scheint
mir auch wegen der Theorie der Menstruation und der Ovulation
besonders interessant, weil das Resultat 6 Jahre lang controlirt
werden konnte und weil daraus hervorgeht, dass die Ovulation ent-
weder sich ebenfalls nach Menstruation und Suggestion richten
muss, oder dauernd von der Menstruation unabhängig werden
kann. Es kann in der That nicht angenommen werden, dass sich
zufällig und spontan die Ovulation dauernd nach der künstlichen
Zeit der Kalendermonate (sogar nach den Schaltjahren!) richtet.
Ich habe seither bei zwei anderen durch Metrorrhagien sehr
geschwächten Wärterinnen (die eine hat eine Mitralisinsufficienz)
auf gleiche Weise und mit ebenso pünktlichem Erfolg die Men-
struation je auf den 12. und den 1. des Monats und auf dreitägige
Dauer regulirt. In beiden Fällen konnte der Erfolg bis zum Aus-
tritt festgestellt werden.
6. Aus meinem hypnotischen Curs sei noch unter anderen
folgender Fall erwähnt: Herr P., gebildeter Kaufmann, sagt, er
habe an Ulcus ventriculi früher gelitten; es sei eine Magenectasie
zurückgeblieben. Trotz Heisshunger, könne er nichts ertragen.
Alles bleibe im Magen stecken; der Stuhl sei ungemein obstipirt,
immer mehrere Tage angehalten. Er könne fast nichts mehr er-
tragen. Alle gemachten Curen seien umsonst gewesen; es sei nicht
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Heilung einer Magenectasie, angebl.nach Ulcus, durch sugg.Heilung v. Asthma. 181
mehr auszuhalten. Die Magenectasie war von verschiedenen Aerzten
constatirt, Herr Professor R. in X. hatte ihm nun erklärt, es
könne nur noch eine Operation (Magenexcision) helfen, die aber
nicht ohne Gefahr sei. Zu diesem Behufe sollte er zu Herrn Pro-
fessor K. gehen. Doch hatte er Angst davor und bat mich, einen
Versuch mit Suggestion zu machen. Ich versprach nichts, sagte
aber, probiren schade nicht und die Diagnosen seien nicht immer
unfehlbar. Obwohl nur Hypotaxie erzielt wurde, war die Wirkung
ganz eclatant. Der Stuhlgang wurde sofort regulirt (anfangs sogar
wurde vier Mal Diarrhoe erzielt). Alle Magenbeschwerden hörten auf ;
alle Speisen wurden ertragen. Nach drei bis vier Sitzungen war der
Kranke geheilt und ist es meines Wissens bis heute geblieben. Die
Magenoperation unterblieb natürlich. Es folgt daraus, dass höch-
stens eine functionelle Magenectasie vorhanden gewesen war.
P. S. 1902. Ich erhielt vor nicht sehr langer Zeit Nachricht
von geheilt gebliebenen Kranken.
7. Patient E., 38 Jahre. Asthma, mit Emphysem und Bron-
chitis. Krank seit 1875. 1888 auf der Eichhorst'schen medi-
cinischen Klinik mit Orthopnoe, 44 Respirationen pro Minute etc.
Lungengrenzen rechts 7. Rippe, links 7. Intercostalraum. Kleine
Herzdämpfung fehlt; Spitzenstoss nicht zu fühlen. Obstipirt bis
5 Tage lang. Im Spital Pneumatotherapie. Erfolg nur ganz vor-
übergehend. Schliesslich tägliche Anfälle. Kam trotz allen inneren
Mitteln ganz herunter (mit Chloral, Jodkali etc. behandelt).
Am 15. December 1889 kommt er zu mir. Status wie früher.
Obstipation bis 6 — 10 Tage lang. Sieht elend, fahl, abgemagert
aus. Kann ohne Chloral nicht schlafen.
Er wurde am 15., 16., 19. December von mir hypnotisirt und
es wurden zunächst das Chloral abgewöhnt, der normale Schlaf,
Appetit und Stuhlgang alle 2 Tage erzielt. Dann wurde einem
Studenten die weitere Hypnotisirung poliklinisch überlassen.
Am 15. Februar 1890 war der Kranke völlig geheilt und war
nach 5 Monaten geheilt geblieben. Die Lungengrenze ist auf den
6. Intercostalraum zurückgegangen. Der Spitzenstoss des Herzens
ist gut fühlbar; Herzdämpfung stärker. Stuhlgang täglich. Aus-
sehen blühend. Keine Asthmaanfälle mehr.
Ende Juli 1890 erkrankte E. an einer Pleuritis mit Fieber.
Doch wurde dieselbe geheilt, ohne dass ein Recidiv des Asthma
eintrat. Die suggestive Heilung bestand diese Feuerprobe.
8. Erwähnen möchte ich noch kurz 2 Fälle von Hailucina-
182 Heilung von Pseudoparanoia nach Spiritismus durch Suggestion.
tionen, theilweise mit Verfolgungswahn, welche künstlich durch
Spiriten, der eine bei einem Herrn, der andere bei einer Dame
erzeugt worden waren. Besonders bei dem Herrn hatte der Fall
einen paranoiden Charakter angenommen. Er glaubte an seine
„Spirits* wie die Jungfrau von Orleans an ihre Geister, und zer-
trümmerte sogar Lampen und Geschirr auf ihren Befehl hin. Ich
hypnotisirte ihn im Beisein vieler Kranken, an welchen ich vorher
in seiner Gegenwart experimentirt hatte. Ueberwältigt durch den
Eindruck, war er sofort somnambül. So gewann ich die Ueber-
macht über die „Spirits", die ich sammt Hallucinationen und
Pseudoparanoia „verjagte". Aehnlich war früher die Dame geheilt
worden. Solche Fälle sind sehr lehrreich und zeigen, wie der
Spiritismus eine Pseudoparanoia auf suggestiver Basis wie die
Hysterie erzeugen kann.
Stuhlverstopfung und die Erklärung ihrer Heilung durch Sug-
gestion 1 ). Ich möchte als therapeutische Objecte der Suggestion
in erster Linie solche Functionsstörungen des Körpers hinstellen,
welche unbewusst vor sich zu gehen pflegen, deren Effect allein
uns bewusst ist, die aber unter dem Einfluss des Centrainerven-
systems stehen. Diese Functionsstörungen und Functionen über-
haupt, seien sie „sensibel", d. h. psychopetal oder psychocentral,
seien sie motorisch, vasomotorisch oder secretorisch, d. h. psycho-
fugal bedingt, bilden nach meiner Ansicht das dankbarste Gebiet
der suggestiven Therapie. Man mag solche Störungen zu den
Neurosen rechnen; es lässt sich nicht viel dagegen einwenden.
Um aber die falsche Idee zu beseitigen, dass sie Krankheiten der
peripheren Nerven darstellen, sollte man sie vielleicht besser als
cerebrale Neurosen oder Encephalosen bezeichnen.
Ich wähle mir als Beispiel die habituelle Stuhlverstopfung.
Es gibt zwar gewisse Fälle, wo locale Darmaffectionen Stuhl-
verstopfung hervorrufen können. Doch sind dieselben wohl recht
selten. Die so häufige und gewöhnliche habituelle Obstipation ist
nichts als eine chronische „cerebrale Neurose". Seitdem die Hei-
lung derselben durch Suggestion bekannt ist, ist dieses auch wieder-
holt anerkannt worden (siehe auch Dr. Th. Dunin: „Ueber habi-
tuelle Stuhlverstopfung". Berliner Klinik 1891, Heft 34). Betrachten
wir zunächst die Thatsachen:
') Aus der Zeitschrift für Hypnotismus 1893.
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Stuhlverstopfung und normaler Stuhlgang. 183
Sehen wir von Gährungsdiarrhöen, Catarrhen, Darmstricturen,
Typhus und dergl. ab, so beobachten wir zunächst, dass beim ge-
sunden Menschen sowohl Häufigkeit als Beschaffenheit des Stuhles
ungemein variiren. Bald ist er mehr breiig, bald fester und „normal"
geformt, bald mehr hart. Als normal mag wohl ein täglicher ge-
formter Stuhl gelten.
Nehmen wir zunächst den Fall des normalen einmaligen ge-
formten Stuhles vor, so beobachten wir zwar, dass die Willkür diesen
Stuhl vermittelst Bauchpresse und Sphincteren beschleunigen oder
zurückhalten kann, jedoch nur in gewissen Grenzen, dass er aber
im Uebrigen sich gewöhnlich zu einer bestimmten Tageszeit einzu-
stellen pflegt. Diese Tageszeit wechselt je nach den Menschen und
zu verschiedenen Epochen beim gleichen Menschen. Aber im All-
gemeinen sehen wir, dass wenn ein Mensch sich eine Zeit lang
gewohnt hat, zu einer bestimmten Tageszeit seine Nothdurft zu
verrichten, das Bedürfniss dazu sich stets zu jener Zeit einzustellen
pflegt. Es gehen oft sogar fühlbare peristaltische Bewegungen des
Darmes, Blähungen und dergl. voraus und gesellen sich pünktlich
zur besagten Zeit dem Stuhldrange hinzu. Man kann aber auch
oft eine andere Beobachtung machen. Wenn man absichtlich oder
nothgedrungen zur besagten gewohnten Zeit den Stuhlgang zurück-
hält, so hört sehr gewöhnlich (vorausgesetzt, dass die angesammelten
Kothmassen nicht zu gross sind) der Stuhldrang nach relativ ziemlich
kurzer Zeit auf. Es kommt sogar nicht selten vor, dass er bis
zum anderen Tag zur gleichen Zeit aufhört. Ist letzteres der Fall,
so haben sich unterdessen die Kothmassen eingedickt, sind härte r
geworden, und der Stuhl erfolgt nur mit starker Anstrengung der
Bauchpresse, manchmal unter Schmerzen; kurz es ist Verstopfung
vorhanden.
Diese Thatsachen sind wichtiger, als man erst meinen mag.
Sie beweisen, dass die normale Defäcation unter dem Einfluss cen-
traler Automatismen steht, welche ihrerseits von gewissen, meist
unbewusst bleibenden Zeitvorstellungen stehen. Sie beweisen ferner,
dass je mehr gewartet wird, desto schwerer die Arbeit für den Darm
und die Bauchpresse wird. Selbstverständlich wirken ausserdem
die angesammelten Kothmassen als Reiz, um den Stuhldrang auf
dem „Reflexweg" zu erzeugen. Aber es genügt, zunächst darauf
hingewiesen zu haben, dass es andere wirkende Factoren gibt.
Gehen wir nun von der stricten Norm ab, so finden wir noch
manche wichtige Erscheinungen. Bei gewissen Psychosen, besonders
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1 84 Die hab. Stuhlverstopfung beruht meistens auf Störungen d. Hirninnervation.
bei Melancholie, ist Stuhl Verstopfung ein sehr gewöhnliches Sym-
ptom. Ebenso bei der Hysterie, der Hypochondrie und anderen
sogen. „Nervenleiden" mehr, die man höflichkeitshalber und aus
sonst noch gar manchen Rücksichten nicht zu den Psychosen zu
rechnen pflegt, die aber sammt und sonders doch nichts Anderes
als functionelle „Encephalosen" sind. Auch hier ist die hem-
mende Wirkung der Gehirninnervation unverkennbar. Umgekehrt
wirken gewisse Affecte, besonders Angst und Erwartung, bekannt-
lich derart reizend auf die Peristaltik, dass es sprichwörtlich ge-
worden ist. Man weiss auch, dass sich der Stuhldrang nicht selten
gerade dann einstellt, wenn man ihn fürchtet (bei gewissen pein-
lichen Situationen, z. B. früher, als Closets noch fehlten, in der
Eisenbahn) und dann sofort aufhört, wenn die „Gefahr" vorbei ist
und man ihn in Gemüthsruhe verrichten könnte.
Es haben gewisse Speisen den Ruf zu stopfen und andere den
Stuhl zu erleichtern oder zu verflüssigen. Wir müssen zwar zu-
geben, dass etwas daran ist, dass das Obst z. B. im Allgemeinen
einen weicheren Stuhl erzeugt. Doch wenn man sich die Mühe
gibt, die Sache näher zu prüfen, so kommt man bekanntlich auf
unlösbare Widersprüche. Was den Einen stopft, relaxirt den Anderen.
Die gleichen Speisen haben bei verschiedenen Personenkreisen oft
den entgegengesetzten Ruf. Ja die gleiche Speise kann auf der
gleichen Person zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens entgegen-
gesetzte Wirkungen haben, z. B. Milch, Caffee etc. Und wer stark
zur Verstopfung neigt, dem hilft in der Regel keine Speise mehr.
Aehnliches gilt von der Lebensweise. Im Allgemeinen sagt
man, die sitzende Lebensweise erzeuge Verstopfung. Oft aber wird
letztere umgekehrt durch Bewegung und Bergtouren erzeugt.
Sicher ist zunächst eins: Die letzte Ursache der Verstopfung
ist die Stagnation und Eindickung von Kothmassen im Dickdarm,
möge dieselbe durch dieses oder jenes bedingt sein. Der als Anta-
gonist dieser Stagnation wirkende Stuhldrang besteht nun aus einem
Gefühl und einem Trieb. Das Gefühl ruft den Trieb und die Be-
wegung hervor. Selbst aber wird es durch irgend etwas hervor-
gerufen. Dieses Etwas kann ein durch Kothmassen auf die Dick-
darmschleimhaut hervorgerufener Reiz sein. Es kann aber auch,
wie wir sahen, eine Vorstellung, ein unbewusster associativer Vor-
gang im Gehirn sein! Bei der habituellen Verstopfung fehlt ent-
weder das Gefühl selbst, der Stuhldrang überhaupt, oder es stellt
sich zu spät oder mangelhaft ein — oder der Stuhldrang ist vor-
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Herkömmliche Behandlung der habituellen Obstipation. 185
handen, kann sich aber nicht in genügende Bewegung umsetzen, um
die Kothmassen zu entleeren. Es fehlt dann an der Muskelinner-
vation. Beide Störungen sind oft combinirt. Zur Heilung derselben
kommt es eben darauf an, ihre Entstehungsbedingungen zu ver-
stehen, wie wir gleich sehen werden. Und das ist nicht etwa eine
Spielerei. Man weiss, wie viele Menschen an Verstopfung leiden
und wie schwer und quälend dieses Uebel werden kann, das gar
vielen das Leben vergällt. Man nützt der Menschheit mehr durch
Beseitigung solcher Störungen als durch die Diagnose und Behand-
lung mancher unheilbarer schwerer Krankheiten, wie Apoplexien,
progressive Paralyse und dergl. mehr, denen gegenüber unser
ganzer Weisheitsballast sich bekanntlich verzweifelt ohnmächtig
ausnimmt.
Die gewöhnliche Therapie der Verstopfung besteht in:
1. Abführmittel sind zwar die gewöhnlichste Verordnung,
sind aber ebenso verfehlt als schädlich. Der eine gewöhnt
sich an Rheum, der andere an Podophyllin, der dritte an
Bitterwasser. Die Dose muss immer gesteigert werden, die
Verdauung wird gestört und die Misere wird immer grösser.
Der „Darm", d. h. das Gehirn, gewöhnt sich an diesen
Schleimhautreiz, an diese künstlich die Darmsecretion und
die Peristaltik reizende Mittel; die Reaction wird dadurch
immer träger, und der „Darm" immer unfähiger,
seine Function ohne künstliche Hülfe zu ver-
richten. Man verstärkt immer mehr die pathologische
Neigung und setzt hinzu eine pathologische Reizung oder
Vergiftung, deren Tragweite man nicht übersieht. Statt
zu heilen, verschlimmert man direct das Uebel.
2. Clystiere. Wenigstens alteriren dieselben die Schleim-
haut nicht und haben sie keine toxische Wirkung. Das
gleiche gilt von Glycerinzäpfchen. Dagegen gewöhnen sie
„den Darm" (das Gehirn) an künstliche Hülfe, wie die
Abführmittel. Die Innervation der Peristaltik wird dadurch
immer lahmer und die Neigung zur Verstopfung ebenfalls
immer grösser. Freilich werden wir niemals diese miss-
lichen Mittel ganz entbehren können. Für vorübergehende
Fälle ist sogar ihre Anwendung durchaus gerechtfertigt.
Gegen habituelle Verstopfung sind sie dagegen stets sehr
fatal.
3. Bleiben Obstgenuss, Massagen, Badecuren, Elektrotherapie,
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186
Heilung der Obstipation durch Suggestion.
Bewegung, und ja nicht zu vergessen, Lourdes
Wasser, Pilgerfahrten, Händeauflegen in Betheilanstalten,
Kneippcuren, Homöopathie, Sonnenbäder.
Es ist gar keine Frage, dass diese Mittel alle rationeller
und erfolgreicher sind als die erstgenannten, denn sie ver-
wöhnen die Darminnervation weniger oder nicht. Doch
versagen sie oft genug, und, wenn sie zum Ziel führen,
beruht ihre Wirkung auf Suggestion. Gehen wir also lieber
gleich direct zu letzterer Uber.
Suggestive Therapie. Ein Fräulein kommt zu mir, da
sie hört, ich hätte Fälle von Verstopfung geheilt. Sie leidet seit
vielen Jahren daran. Seit 2 Jahren ist aber die Misere unerträg-
lich. Sie nimmt beständig Rheura, dazu noch Clystiere, und trotz
aller steigenden Hülfsmittel erzielt sie höchstens alle 8 Tage mit
Mühe und Noth einen Stuhlgang. Alles hat sie umsonst versucht.
Ich hypnotisire sie in einem Demonstrationscurs vor Studenten.
Sie schläft sofort ein. Ich gebe ihr unter Berührung des von den
Kleidern bedeckten Bauches (also durch die Kleider) die Sug-
gestion, dass nun der Darm durch Einwirkung auf das Nerven-
system angeregt werde. Es sei nur eine Darmträgheit gewesen,
die jetzt durch Regulirung des Nervenapparates definitiv und ein
für alle Mal geregelt sei. Nun werde sie zuerst alle 2 Tage, und
zwar regelmässig in der Frühe, gleich nach dem Aufstehen, von
selbst, ohne jegliches Hülfsmittel Stuhlgang bekommen. Der Stuhl-
drang werde sich schon während des Anziehens einstellen. Die ganze
Hypnose dauerte kaum 5 Minuten und ich weckte sie bald darauf ;
sie war durch den bei anderen Kranken gesehenen Erfolg schon
gleich stark suggerirt gewesen. Nach 8 Tagen kam sie wieder
und theilte mir mit grosser Freude mit, dass sie seit der Hypnose
bereits ohne jede Hülfe fast jeden Tag in der Frühe Stuhlgang
gehabt hatte. Ihre Lebensweise als Schneiderin (die sie vorher be-
schuldigt hatte) hatte sie nicht geändert. Die Suggestion war schon
durch den Erfolg übertrofFen worden. Ich hypnotisirte sie noch ein
Mal und gab ihr nun die Suggestion täglich, ganz regelmässig, wie
eine Uhr, ihren Stuhlgang in der Frühe zu haben, die Heilung sei
nun definitiv. Und so war es. Wenigstens ist sie bis jetzt (seit
einigen Monaten) geheilt geblieben. Ebenso ein gebildeter Herr,
der mich Anfangs der 90er Jahre consultirte, seit 8 Jahren an
schwerer Verstopfung litt und den ich doch nur bis zur Hypotaxie
brachte. Bis heute (1902) blieb er geheilt.
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Wesen u. Mechanismus der Obstipation u. ihrer suggestiven Heilung. 187
Aehnliche Fälle habe ich schon in grösserer Anzahl und mit
gleichem Erfolg behandelt und mit mir alle meine Collegen der
Nancy 'sehen Schule. Ich will hier keine Casuistik machen und
habe diese einfachen Fälle nur als Beispiele angeführt, um zu zeigen,
auf welche Weise, wie leicht und wie rasch die habituelle Ver-
stopfung meistens durch Suggestion bei suggestiblen Menschen be-
seitigt werden kann. Manchmal geht es etwas schwerer und einige
Autosuggestionisten, besonders Hypochonder, sogen. Neurastheniker
und dergl. trotzen allen Bemühungen.
Worauf es mir ankommt, ist nun mit Hülfe der bisher con-
statirten Thatsachen dem Wesen der habituellen Verstopfung und
dem wirklichen Mechanismus ihrer Heilung näher zu treten.
Zweifellos kommt es bei der Verstopfung auf verschiedene
Dinge an. Erstens auf die Trägheit der motorischen Innervation
des Rectums, resp. auf das Fehlen derselben. Zweitens auf die
Trägheit der Peristaltik des Darmes überhaupt, denn die Fäces
können bekanntlich auch schon weiter oben stagniren. Drittens auf
mangelhafte secretorische Thätigkeiten der Darmschleirahaut und
umgekehrt auf zu starke Flüssigkeitsresorption durch dieselbe. Ferner
auf gewisse sensible Reize und deren Umsetzung in Automatismen,
welche die obgenannten motorischen Innervationen und Secretionen
beeinflussen; als solche kommen in Betracht der directe Reiz der
angesammelten Kothmassen auf die Nerven der Darmschleimhaut
und unbewusste zeitliche oder sonstige Vorstellungsassociationen.
Endlich auf die Beschaffenheit der Ingesta.
Erwägen wir nun die erwähnten Thatsachen ohne Vorurtheil.
so erscheint entschieden die Trägheit der Innervation des Sym-
pathicus, resp. das Fehlen der dieselben genügend und rechtzeitig
erregenden Reize als weitaus der Hauptfactor. Wir sehen ja, dass
diese Trägheit eine grosse, Tendenz hat, den Schneeball zu machen,
d. h. hat sie sich ein Mal eingestellt, so dickt sich der Koth immer
mehr ein und die Defäcation wird immer schwerer.
Der Erfolg der Suggestion zeigt die Richtigkeit unserer Be-
hauptung aufs Klarste. Mittelst derselben werfen wir eine kräftige
Innervationswelle, vom Gehirn aus, auf die an automatischer Träg-
heit gewohnte Bahn und der Erfolg ist da. Um nun denselben
definitiv zu gestalten, knüpfen wir daran die Suggestion der täglichen
regelmässigen Wiederholung. Damit diese spontane Wiederholung
der nöthigen Innervationswelle dem Nervensystem, d. h. dem Gehini
erleichtert wird, knüpfen wir dieselbe auf associativem Wege an
Digitized by Google
188 Mechanismus der suggestiven Heilung der Obstipation.
einen täglich regelmässig zu gleicher Stunde wiederkehrenden Vor-
gang, an das Aufstehen Morgens, nach dem Erwachen, eine zur
Defäcation erfahrungsgemäss günstige Zeit. Diese Vorstellungs-
association dient als zeitliches Merkzeichen, wie solche Merkzeichen
überhaupt bekanntlich im ganzen Mechanismus unseres Gedächtnisses
eine grosse Rolle spielen. Aber es handelt sich hier nicht um eine
bewusste Erinnerung. Die Suggestion wirkt auf die Automatismen
des organischen Gedächtnisses. Gelingt es so die automatische
Association genügend zu knüpfen, zu fixiren, so erfolgt nun die
Innervationswelle täglich zur suggerirten Zeit mit genügender Kraft,
um alle Hindernisse zu überwinden. Die „Krankheit" ist dann ge-
heilt — und wirklich geheilt. Denn das, was nun hergestellt ist,
ist der normale Zustand, durch den normalen lebenden Mechanismus
des Gehirnes selbst. Derselbe hat dann von selbst die natürliche
Tendenz, sich zu erhalten. Wie ganz anders ist dieser Erfolg als
ein durch Clystier oder Rheum erzwungener Stuhlgang, der um-
gekehrt im Gehirn die fatale Krankheitssuggestion verstärkt, indem
sie die Vorstellung der Unmöglichkeit, ohne Hülfsmittel Stuhlgang
haben zu können, verstärkt, dieselbe immer mehr associirt und fixirt.
Es ist geradezu das Gegentheil!
Wie können wir uns aber die Suggestionswirkung in diesem
concreten Fall etwa vorstellen, wie können wir sie analysiren?
Zuerst wird der Patient vorbereitet. Man gibt ihm die zu-
versichtliche Hoffnung, er werde geheilt. Man bringt ihn dann in
eine Atmosphäre von suggestiven Heilerfolgen, und nun ist sein
Gehirn vorbereitet, ergeben, überzeugt, d. h. von vorne herein ver-
anlasst sich dissociiren zu lassen und keinen Widerstand zu leisten.
Er fühlt sich im voraus beeinflusst und zwar wohlthätig beeinflusst,
wodurch alle die der Einwirkung des Hypnotiseurs entgegenwirkenden
Kräfte gehemmt und alle mitwirkenden verstärkt werden. Es ist
ein eigenthümlicher Zustand, dieser Zustand der Suggestibilität, des
Glaubens, des Enthusiasmus, der Ergebung unter einem psychischen
Einfluss. Man mag darüber theoretisiren wie man will: das steht
fest, dass alle entgegenstehenden psychischen Aggregate, Associationen,
Vorstellungen, Willensregungen, oder wie man die ganze bezügliche
Psychodynamik nennen will, plötzlich weich, plastisch, schwach und
wie Butter durchbrochen werden. Aber besonders wichtig erscheint
die Durchbrechung der Widerstände unbewusster Automatismen,
mögen dieselben ihren unbekannten Sitz im Grosshirn, im Hirn-
stamm, im Rückenmark oder gar im Sympathicus haben. Denn diese
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Mechanismus der sufferestiven Heilung der Obstipation.
189
bedeutet stets den sichersten und dauerndsten Erfolg. Haben wir
blos eine bewusst associirte Vorstellung momentan modificirt oder
gehemmt, so hat später die psychische (Gehirn-) Thätigkeit des Kranken
immer tausend Wege, um sie wieder herzustellen, um wieder daran
zu knüpfen, darüber nachzudenken und damit den Erfolg der Sug-
gestion zu beeinträchtigen. Bei unbewussten Automatismen wie
die Defäcation, wie die Innervation der Darmperistaltik, kann sie
dagegen trotz allem Nachgrübeln den Associationsweg der Vor-
stellung bis zum erzielten Erfolg nicht aufdecken. Derselbe ist und
bleibt jedem Menschen unbewusst. Er sieht den für ihn unerklär-
lichen Erfolg, kann sich darüber nur freuen, und die Suggestions-
wirkung behauptet leichter das Feld.
Die Letztere denke ich mir etwa so : nach der erwähnten Vor-
bereitung suggerire ich den Schlaf, um noch mehr zu dissociiren.
Dann wecke ich durch Berührung des Bauches mit der flachen Hand
(gelingt die Suggestion durch die Kleider nicht oder nur ungenügend,
so wird sie durch Berührung der nackten Bauchdecken verstärkt)
die Vorstellung, dass ich etwas im Bauch thue. Dadurch werden
centripetal die Reflexbahnen zwischen Bauchgegend und Gehirn
angeregt. Nun gebe ich die Suggestion des Stuhldranges und der
Peristaltik. Ich kann dieselben sofort erfolgen lassen (Suggestion
des Stuhlganges sofort nach dem Erwachen, die auch sehr gut ge-
lingt) oder sie auf eine zukünftige zeitliche Association bestellen.
Der Mechanismus ist der gleiche. Ich habe die dissociirte Gehirn-
thätigkeit auf einen automatisch functionirenden Nervenapparat con-
centrirt. Der Moment ist für den Erfolg am günstigsten. Ich wecke
nun die Vorstellung des psychofugalen Geschehens, des Stuhl-
dranges, der Peristaltik und der Defäcation. Die Widerstände
werden durchbrochen und die Thätigkeit ist, je nachdem, thatsäch-
lich da oder sie wird erst vorbereitet und ihr Erfolgen wird auf
ein späteres Merkzeichen abbestellt. Hierbei denke ich mir als
thätig die Vorstellungen der Defäcation und des Stuhldranges,
psychopetale (sensible) Erregungen von den Bauchdecken aus, psycho-
fugale Bahnen vom Hirn zum Rückenmark, die Bahnen vom Rücken-
mark zum Darmsympathicus, und endlich den Letzteren selber durch
die directe Innervation der Darmmuskeln, eventuell noch von Blut-
gefässen und Drüsen (Förderung der Darmsecretion). Sehr oft ge-
lingt es zuerst nur den Stuhldrang zu erzielen. Man wiederholt
und variirt dann seine Suggestionen, bis die psychofugale Thätig-
keit alle Widerstände bis zur Darmmuskulatur überwunden hat.
Digitized by Google
1 90 Die hab. Obstipation ist eine pathol. Gewohnheit d. Gehirnes. Aehnl. Falle.
Man thut gut, um den Erfolg zu sichern, von vorneherein zu er-
klären, dass der erste Stuhlgang, der die bereits eingedickten Koth-
massen zu beseitigen haben wird, einige Mühe verursachen wird,
dass aber, von da an, die raschere Peristaltik einer solchen Ein-
dickung vorbeugen wird. Mittelst dieser Vorstellungen, die im
plastisch dissociirten Gehirn ihren Weg zur entsprechenden Ver-
richtung durch unterbewusste und uns noch ganz unbekannte auto-
matische Centraiapparate finden, wird der definitive normale täg-
liche Gang der Defacation erzielt.
Aus diesen Thatsachen geht hervor, dass wir die habituelle
Verstopfung als eine pathologische Gewohnheit des Centrai-
nervensysteme s betrachten müssen, eine Gewohnheit, die durch
allerlei Zufälle, Neigungen, erbliche Anlagen, Erschöpfungszustände,
Neurosen, Psychosen etc. begünstigt oder hervorgerufen werden kann,
welche aber in sich selbst den Keim zum Wachsthum dadurch trägt,
dass die Eindickung der Kothmassen, die von ihr erzeugt wird,
wiederum verstärkend auf sie selbst zurückwirkt. Ebenso klar geht
daraus hervor, warum die übliche Therapie mit Clystieren und Ab-
führmitteln nicht nur nichts nützt, sondern die Krankheit direct
verschlimmert.
Unser Centrainervensystem hat aber die Neigung, noch viele
andere, ähnliche pathologische Gewohnheiten anzunehmen, die sich
bald ausschliesslich in den Sphären seiner, unserem Oberbewusstsein
verschlossen bleibenden Thätigkeiten, bald in theilweise oder ganz
uns bewussten Vorgängen sich abspielen. Die Enuresis nocturna et
diurna, viele sogenannte Magen catarrhen (nervöse Dyspepsien), viele
Neurosen verschiedenster Art, hysterische Anfälle, Lähmungen,
Schmerzen und Anästhesien, Menstruationsstörungen, vasomotorische
Neurosen u. A. m. sind zweifellos nichts Anderes. Wie viele Appetit-
losigkeiten und Chlorosen, bei welchen man der „Anämie* eine
primäre Rolle zuschreibt, sind nichts als derartige pathologische
Autosuggestionen oder krankhafte Angewöhnungen des Gehirnes!
Freilich darf man nie dabei vergessen, dass der einmal in seinem
Wesen so erkannte und erklärte pathologische Process allerlei
andere mitwirkende oder sogar veranlassende Ursachen zu haben
pflegt, welche eine kluge und einsichtige suggestive Therapie mit
zu berücksichtigen haben wird. Als solche, wiederhole ich, sind
vor Allem die erbliche Veranlagung, schwächende Momente, psy-
chische Störungen, heftige AfFecte, unzweckmässige Lebensweise,
schlechte Ernährung etc. etc. In jedem einzelnen Fall wird der
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in Fall von hysterischer Amnesie während 8 Monaten. 191
Hypnotiseur nach solchen Ursachen zu forschen haben, und auch
diese durch geschickt ein geflochtene Suggestion, wenn angezeigt,
durch andere Mittel wegzubringen suchen.
IX. Ein Fall von hysterischer, theilweise retrograder
Amnesie mit protrahirtem Somnambulismus, durch Sug-
gestion analysirt und geheilt.
(Aus der Zeitschrift für Hypnotismus; von meinem früheren Assistenten Herrn
Dr. Max Naef mitgetheilt und hier mit seiner Erlaubnisa wiedergegeben.)
In meine Klinik kam spontan Herr N., 32 Jahre alt, aus
bester Familie, väterlich stark erblich mit psychischen Abnormi-
täten belastet. — Ein Bruder sehr gedächtnissschwach.
Herr N. selbst, von Jugend auf schwach, anämisch und nervös,
litt an Kopfschmerzen und Congestionen je nach dem Abendessen,
die bis zu Ohrblutungen führten (jetzt noch waren die Ohren roth,
mit vielen entarteten Capillargefässen).
Ich lasse nun Herrn Dr. Naef das Wort:
»Im 7. Lebensjahre wachte Herr N. tief in die Nacht hinein in Folge
Schulwechsel. Am Morgen einer solchen bis 2 Uhr durchwachten Nacht
kam er ganz gegen seine Gewohnheit ohne Bücher nach Hause, fing an
zu weinen, meinte, die Polizei wolle ihn holen, er habe eine grosse Geld-
summe gestohlen und werde nun nichts als Schande über seine Familie
bringen. Im Anschluss daran verweigerte er 2 Tage lang die Nahrung
und wollte Niemanden bei sich sehen. Nach wenigen Tagen war der
Sturm vorüber, der Znstand besserte sich rasch und Ruhe und Klima-
wechsel stellten den Patienten vollständig wieder her. Tm Grossen und
Ganzen vermag sich der Patient an diese Episode zu erinnern; von den
Selbstanschuldigungen dagegen will er niemals etwas gewusst haben."
„Später absolvirte Patient seinen Militärdienst und befand sich
dabei ganz wohl, abgesehen von einer gemüthlichen Depression, die hie
und da sich fühlbar machte. Mit 27 Jahren zog er sich in Amerika
durch Unvorsichtigkeit eine schwere Schuss Verletzung zu (penetrirende
Thoraxwunde), an deren Folgen und Complicationen er Monate lang
darniederlag. Von diesem Ereignisse ab hatte unser Patient einen wahren
Horror vor Schusswaffen ; so machte es denn nach seiner Rückkehr nach
Europa auf ihn einen tiefen Eindruck, als anlässlich eines Besuches bei
einem befreundeten Arzte dieser plötzlich durch die Meldung abberufen
wurde, es habe sich in der Nähe Jemand erschossen. Noch am selben
Abend bekam Patient, wie er im Cafehaus sass und ohne zuvor Alkohol
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192 Ein Fall von hysterischer Amnesie während 8 Monaten.
genossen zu haben, einen Schwindelanfall, so dass er schwankend hinaus-
geführt und heimgefahren werden musste. Zu Hause im Bett folgte
ein zweiter, weit heftigerer Schwindelanfall, wobei Patient das Gefühl
hatte, er gehe auseinander, starkes Herzklopfen bekam und schwer
athmete. Der Anfall endete mit Erbrechen; das Bewusstsein war nie
erloschen. Der Schwindel hielt noch den ganzen nächsten Tag über an;
dann trat Besserung ein."
„Patient Hess sich nun in eine Nervenheilanstalt aufnehmen, von
der er als bedeutend gebessert entlassen ward."
„Dennoch machten sich schon bald nachher wieder allerlei Be-
schwerden geltend, und es litt unser Patient auch in der Folge häufig
an Kopfschmerzen, grosser Lichtempfindlichkeit, an dem Gefühl all-
gemeiner Abspannung nach den Mahlzeiten und an Congestionen nach
dem Kopf bei gleichzeitiger Kälte der Extremitäten."
„Dies alles verhinderte Herrn N. nicht, in den nächsten Jahren den
Anforderungen gerecht zu werden, die er in verschiedenen Lebensstellungen
zu erfüllen hatte, und weder ihm selber noch seiner Umgebung ist in
dieser Zeit eine Abnormität seiner Psyche aufgefallen. In seinen eigenen
Aufzeichnungen, zu denen er von uns veranlasst wurde, gibt er eine
detaillirte Beschreibung dieses Lebensabschnittes, und er vermag genau
die Orte anzugeben, an denen er sich aufgehalten und was seine Thätig-
keit an jedem derselben war. Der Patient weiss noch genau, dass er
sich im Herbst 189* zu A. aufhielt behufs Completirung seiner vorzeitig
abgebrochenen Studien. Dann aber beginnt ein Erinnerungsdefect ein-
zusetzen. Patient vermag sich noch an den Beginn des Winters zu er-
innern etwa bis zum Monat November ; allein schon diese Zeit erscheint
ihm viel nebelhafter und verschwommener als andere weiter zurück-
liegende Zeitabschnitte. Dann aber beginnt für den Patienten ein völliges
Dunkel, dessen Eintritt er nicht von einem bestimmten Tage an zu
datiren vermag; sein Gedächtniss für den folgenden Zeitabschnitt ist
eine vollständige Tabula rasa. Wo er sich den Winter über aufgehalten,
und was er dabei getrieben, davon hat er nicht die leiseste Ahnung;
und doch sind, .wie wir bald sehen werden, seine Erlebnisse in dieser
Zeit derart, dass sie unter normalen Verhältnissen wohl dazu angethan
waren, für sein ganzes Leben im Gedächtniss aufbewahrt zu bleiben."
„Der Wiederbeginn der Erinnerung fällt nach des Patienten eigenen
Aufzeichnungen und Aussagen etwa auf Anfang Juni des folgenden Jahres
und zwar vollzieht sich das Wiedereinsetzen des Gedächtnisses mindestens
ebenso allmälig und verschwommen wie das Aussetzen. Zu der Zeit, an
die er sich zuerst wieder zu erinnern vermag, befindet er sich an Bord
eines englischen Dampfers am Ende einer längeren Seefahrt, die ihn
seinem Reiseziel, Europa, zuführen soll. Am lehrreichsten ist es wohl,
an dieser Stelle seine eigenen sehr interessanten Aufzeichnungen über
diese Zeit folgen zu lassen. Er schreibt: Der Wiederbeginn einer aller-
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Durch Suggestion geheilte achtmonatliche Amnesie. 193
dings nach meiner Vorstellung sehr unklaren Erinnerung dessen, wo ich
war und was ich that, fuhrt mich an Bord eines englischen Dampfers,
dessen Namen ich nicht angeben kann. Ich erinnere mich unklar, sehr
lange an Bord eines Schiffes gewesen zu sein, was ja auch mit der Ent-
fernung von der australischen Stadt Z. nach Neapel, in welch letzterem
Hafen ich, wie ich bestimmt angeben kann, das Schiff verlassen habe,
stimmt. Ich glaube mit Niemand an Bord näheren Verkehr gepflegt zu
haben ; das Essen und die Bildungsstufe meiner damaligen Mitpassagiere
waren offenbar minderer Güte, also würde ich damals zweiter Klasse
gereist sein. Ich raeine bestimmt zu wissen, in jener Zeit nie deutsch
angesprochen worden zu sein. Ganz nothdürftige Kenntnisse habe ich
von der englischen Sprache. Ich war jedenfalls zu jener Zeit der Rück-
reise nach Europa auch nicht annähernd gesund, ich erinnere mich,
wiederholt von Muskelkrämpfen im Hinterhaupt und Genick mit gleich-
zeitigen unwillkürlichen Muskelzuckungen des Gesichts, besonders des
Unterkiefers befallen gewesen zu sein. Wenn dieselben unüberwindlich
stark auftraten, isolirte ich mich von meiner Umgebung möglichst, jeden-
falls um diesen krankhaften Zustand zu verbergen. In der Kabine war
ich damals mit einem alten Irländer zusammen, den ich fast nie ver-
stand, wenn er zu mir sprach. Es war sehr heiss nach meiner Erinne-
rung während meines Aufenthaltes an Bord. Ich las sehr viel zu jener
Zeit, wie ich zu wissen glaube, jedoch nur englische brochirte Hefte,
vermag auch von einigen derselben den Titel anzugeben. Es waren
darunter Schriften wie John Halifax — Gentleman, dann von Dickens —
The Pickwickian Papers, Hard Times etc. Ob ich diese Bücher selbst
mit an Bord brachte oder dort bekam, vermag ich nicht anzugeben. Ich
vermag mich keines andern angelaufenen Hafens als Neapel mit völliger
Sicherheit zu erinnern, von Port Said glaube ich jetzt auch noch eine
undeutliche Vorstellung zu haben, aber erst seitdem ich auf der Karte
die Route Z. — Neapel nachsah. In Neapel glaube ich nur ganz kurz
gewesen zu sein, vielleicht nur einen Tag, wenigstens vermag ich nicht,
mich des Uebernachtens in einem Hotel zu erinnern, wohl aber, dass
ich in einer Schiffsagentur in der Nähe des Hafens mit Hülfe eines
Fremdenführers, der aber sicherlich nicht deutsch sprach, ein Schiffs-
biilet nach Genua löste. An das Datum meines Aufenthaltes in Neapel
erinnere ich mich nicht *
»Von da an wird die Erinnerung immer klarer und zusammen-
hängender. Herr N. beschreibt nun seine Reise von Neapel nach Genua
und erwähnt hier als besonders auffällig, dass er mit seinem Gepäck viel
Mühe hatte, weil er nie wusste, wie viel Stück er eigentlich mit sich
führte und weil er wider seine sonstige Gewohnheit unordentlich gepackt
hatte, so dass er nach einem Gegenstand oft lange suchen musste. Es
folgt dann ein Aufenthalt in Mailand, die Fahrt durch den Gotthard
und die Ankunft in Zürich."
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 13
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194
Das Erwachen aus der Amnesieperiode.
„Hier verlebte Herr N. einige Wochen, sorglos in guter Stimmung,
kleineren Vergnügungen nachgehend, ohne jeden mündlichen oder brief-
lichen Verkehr, ohne einen Gedanken an die Bedeutung und den Zweck
seines Aufenthaltes und ohne recht zu wissen, woher er eigentlich ge-
kommen. Er führte ein sehr solides, regelmässiges Leben, verkehrte mit
Niemandem und bewegte sich auf seinen Spaziergängen täglich durch
dieselben Strassen. Seine Logisgeber schildern ihn als einen ruhigen,
ordentlichen Menschen, an dem sie ausser einem sehr zurückhaltenden
Benehmen nichts Auffälliges wahrnehmen konnten. Nie kam ihm der
Gedanke, seinen nächsten Angehörigen, mit welchen er sonst in intimster
Familienliebe lebte, irgend ein Lebenszeichen von sich zu geben."
„So lebte er sorglos dahin, losgelöst von allen in seinem früheren
Leben angeknüpften Beziehungen, in der offenbaren mehr oder weniger
traumhaften Vorstellung, einen Erholungsaufenthalt zu machen, bis er
durch einen eigenthümlichen Zufall sich selbst wieder zurückgegeben
wurde. Im Caffeehaus kam ihm eines Tages eine Zeitungsnotiz in die
Hände, die seine Aufmerksamkeit im höchsten Grade fesseln musste.
Diese Notiz lautete dahin, dass ein Herr N. (der Name war voll aus-
geschrieben), der vor wenigen Monaten in amtlicher Mission nach
Australien gereist sei und dort sich aufgehalten hätte, seit kurzer Zeit
spurlos verschwunden sei; und es wurde dann der Vermuthung Raum
gegeben, dass Herr N. entweder das Opfer eines Verbrechens geworden
oder dann plötzlich von einer Krankheit befallen worden sei, am ehesten
vermuthlich von dem sogen. Denguefieber, das damals gerade in jener
Gegend grassirte, wo Herr N. verschwunden war."
„Kurz darauf erschien in demselben Blatte eine weitere Notiz, wo-
nach Herr N. nach seinem vermeintlichen Verschwinden aus dem Innern
von Australien an einem Hafenorte gesehen worden sei; er habe sich
höchst wahrscheinlich auf einem Dampfer nach Europa eingeschifft, ohne
irgend Jemand von seinem plötzlichen Entschluss in Kenntniss gesetzt
zu haben. Als Grund für dieses Verhalten, hiess es in dem Artikel
weiter, könne angesehen werden, dass Herr N. offenbar die Annahme
des Postens bereut und vielleicht durch eine durchgemachte Krankheit
geschwächt und deprimirt, es für das Beste gehalten habe, sich durch
heimliche Abreise aus der ganzen Angelegenheit zu ziehen."
„Das Lesen des ersten dieser beiden Zeitungsartikel übte nun eine
gewaltige Einwirkung auf unsern Patienten aus, denn urplötzlich wurde
ihm klar, dass von keinem Anderen als von ihm selber die Rede in
diesen Zeilen sein könne. So unglaublich und unverständlich ihm auch
der Zusammenbang erschien, so konnte und musste sich doch die ganze
Sache auf ihn beziehen. Bestärkt in dieser Ueberzeugung bis zur vollen
Sicherheit wurde er noch durch einen auf seinen Namen lautenden Reise-
pass, den er unvermuthet in einer Tasche entdeckte. Lassen wir über
diesen so sehr wichtigen Moment, der plötzlich so tief in das bisherige
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Er entdeckt, dass er in Australien gewesen sein muss. 195
Leben des Herrn N. einschnitt, seine eigenen Aufzeichnungen folgen.
Er schreibt: ,Wenn ich jetzt versuche, mich des Eindrucks zu erinnern,
den die Erwähnung meines Namens in diesem Zusammenhang auf mich
machte, so glaube ich, damals die ganze Sache für gänzlich unmöglich
gehalten zu haben ; ich kaufte übrigens sofort die betreffende Zeitungs-
nummer und las die unangenehme Notiz von da ab immer und immer
wieder. Beim Erwachen am nächsten Morgen wusste ich übrigens von
der ganzen Geschichte wieder nichts mehr; da aber die betreffende Zei-
tung vor mir auf dem Tisch lag, fiel mir das Ereigniss rasch wieder
ein. Von der Entdeckung der ersten Zeitungsnotiz ab bemühte ich mich,
alle deutschen Zeitungen zu lesen zu bekommen, um entweder eine
Widerlegung oder eine Bestätigung der Richtigkeit jener Notiz zu er-
halten. Geglaubt habe ich, bis ich eine zweite mich betreffende Notiz
am folgenden Dienstag las, an die Richtigkeit der ersten nicht. Jedoch
datirt es vom Sonntag, dass ich anfing, an mir selbst und meinem nor-
malen Zustande zu zweifeln, und mich ernstlich bemühte, über meine
Verhältnisse nachzudenken, und auch anfing, mich darüber zu wundern,
warum ich in Zürich beschäftigungslos mich aufhalte und wie ich hier-
her kam .'"
»Aus dem Wirrwarr von Vermuthungen und Plänen, der im An-
schluss an diese Vorkommnisse im Kopfe unseres Patienten herrschte,
erwuchs schliesslich der für ihn heilsamste Entschluss, seine eigentüm-
lichen Schicksale und seinen abnormen Zustand einem Arzte anzuver-
trauen, und so wandte er sich denn an meinen Chef, Herrn Professor
Dr. Forel, der ihm anrieth, sich sogleich zur genauen Beobachtung und
Beurtheilung seines Geisteszustandes für einige Zeit in unsere Anstalt
aufnehmen zu lassen. Er wandte sich an Prof. Porel, weil er früher
einmal einen Vortrag von ihm gehört hatte und aus der Erinnerung
daran die Idee schöpfte, da Hülfe zu finden. Der Eindruck, den Herr N.
auf Prof. Forel bei seiner Ankunft machte, war der eines gemüthlich
tief bewegten Psychopathen. Der Blick war zerstreut; die Lider zuckten
oft eigen thümlich. Herr N. bat um eine Unterredung unter vier Augen
und wies dabei die bezügliche Zeitung sowie seinen Pass vor mit den
Worten: ,Das muss ich sein — es kann nicht anders sein — aber ich
weiss nichts davon — ' u. s. f. Dann fuhr er weiter: ,Man wird und
kann mir nicht glauben. Ich bin in einer verzweifelten Lage; man muss
mich für einen Schwindler halten."
„Schon am ersten Tage wurde von Prof. Forel die Diagnose auf
totale temporäre Amnesie mit Dämmerzustand, wahrschein-
lich in Folge des in der Zeitung erwähnten Denguefieberanfalles und
mit einer retrograden Amnesieperiode ohne Dämmerzustand ge-
stellt. Dem entsprechend wurde auch an den zuständigen Stellen der
Fall angemeldet. Immerhin musste eine nähere Beobachtung diese Dia-
gnose bestätigen oder berichtigen."
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196 Er geht seibat in die Irrenanstalt, Berichte dritter Personen.
„Die erste Aufgabe bestand nun darin, die auf den ersten
Blick auch einem erfahrenen Psychiater wunderbar erscheinenden
Angaben des Patienten auf ihre Thatsächlichkeit zu prüfen und
zu versuchen, die etwa 8 Monate umfassende Lücke in seiner Er-
innerung durch die objectiven Angaben dritter Personen auszu-
füllen. Durch Erkundigungen bei den verschiedensten Persönlich-
keiten und Amtsstellen konnte nach und nach Folgendes festgestellt
werden:"
„Herr N. hat in der That im Herbst 189* in A. seinen zuvor aus
verschiedenen Gründen längere Zeit unterbrochenen Studien obgelegen;
er hat sich dann um einen Posten bei einer hohen Amtsstelle in Australien
beworben und denselben auch wirklich erhalten. Nachdem er alle nöthigen
Vorbereitungen getroffen hatte, siedelte er dann zu Beginn des folgenden
Jahres nach Australien über, trat dort seine neue Stellung an und ver-
blieb so mehrere Wochen in der Hafenstadt Z. Aus dieser ganzen Zeit
ist keine Thatsache bekannt geworden, die irgend einen Zweifel daran
aufkommen Hesse, dass der Geisteszustand unseres Patienten damals nicht
ein völlig normaler gewesen wäre. Auch Personen, die in Australien
um diese Zeit fast täglich mit ihm verkehrten, wissen keinerlei Angaben
zu machen, die dieser Vermutbung irgend welchen Halt geben würden.
Ebenso wenig findet sich in der Correspondenz des Herrn N. mit seinen
Angehörigen irgend ein auffälliger Punkt, vielmehr schrieb Patient
während der Ueberfahrt nach Australien und in der ersten Zeit seines
dortigen Aufenthaltes ziemlich regelmässig jede Woche einen Brief nach
Hause, der weder nach Form noch Inhalt etwas Auffälliges darbietet.
Wir haben diese Correspondenz selbst durchgelesen ; sie ist herzlich, an-
hänglich und sehr nett in allen Beziehungen gehalten. Mit dem 6. Mai
bricht diese Correspondenz plötzlich ab und es blieben von da ab jeg-
liche Nachrichten über das Verbleiben des Herrn N. aus. Im letzten
Brief aus Z. äussert er noch, dass er in den nächsten Tagen eine Dienst-
reise ins Innere antreten werde, und in der That ist Herr N. auch nach
den eingegangenen Berichten am Abend des 6. Mai in völligem Wohl-
befinden dorthin abgereist, nachdem er noch in völlig richtiger Weise
seine Dispositionen, z. B. in Betreff der Geldmittel, gegeben hatte."
„Wie wir aus sicherer Quelle erfuhren, klagte er schon bald nach
seiner Ankunft in der Stadt 0. im Innern Australiens über Unwohlsein,
suchte dann die Hülfe zweier Aerzte auf und musste dann auf deren
Anrathen einige Tage das Zimmer hüten. Die Aerzte constatirten einen
leichten Fieberanfall, Schlaflosigkeit und eine grosse Niedergeschlagenheit
in Folge von Ueberau strengung des Gehirns. In Folge dessen fasste
Herr N. den Entschluss, schon am 16. desselben Monats wieder an die
Küste zurückzukehren, und äusserte im Zusammenhang damit die Ab-
sicht, durch ein Telegramm nach Z. die weitere Nachsendung von Briefen
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Berichte dritter Personen. Beobachtung in der Anstalt. 197
dorther abzustellen. Die Absen düng eines solchen Telegrammes unter-
blieb jedoch, ebenso wenig machte Herr N. nach seiner Ankunft an der
Küste davon Mittheilung nach 0., wie er vor der Abreise von dort eben-
falls versprochen hatte. Mit dem Moment der Abreise des Herrn N.
vom Bahnhof in 0. nach der Küste verlieren sich seine Spuren fast
völlig bis zu seinem Wiederauftauchen in Zürich und nur eine geringe
Anzahl von Thatsachen aus der dazwischenliegenden Zeit sind zu unserer
Kenntniss gekommen. Dahin gehört, dass der Patient auf dem Bahnhof
der australischen Hafenstadt und Station L. von einer Dame gesehen und
erkannt wurde, mit der er während der Hinreise resp. während des Auf-
enthalts des Dampfers in jenem Hafen etwa 2 Monate früher wiederholt
gesprochen hatte. Die Dame wollte ihn begrüssen, er aber wandte sich
von ihr ab und ging weiter, als ob er sie nicht kennen würde. Endlich
wurde noch ermittelt, dass ein Passagier, auf den die Beschreibung des
Herrn N. genau passte, am 22. Mai auf dem Dampfer Oroya die Rück-
reise von L. nach Neapel angetreten habe und zwar unter dem in die
Schiffsliste eingetragenen Namen Corona."
„Das ist Alles, was einstweilen über das Thun und Treiben
des Herrn N. in der fraglichen Zeit in Erfahrung gebracht werden
konnte. Nun kommen wir zu den Beobachtungen, die an dem
Patienten in der Anstalt Burghölzli gemacht wurden."
„Anfänglich war die Stimmung des körperlich gesunden, nur etwas
schmächtig gebauten Patienten entschieden deprimirt. Er fühlte sich
unglücklich, verwirrt über seine Lage, für die er noch kein volles Ver-
ständniss hatte. Der Blick der tiefliegenden Augen hatte etwas Stechen-
des und verlieh der ganzen Physiognomie einen finsteren Ausdruck.
Daneben fielen im Gesichte äusserst rasch aufeinander folgende Zuckungen
der Lider mit nachfolgender halber Senkung derselben auf, die sich be-
sonders während des Sprechens* einstellten. Der Schlaf war gestört; der
Patient vermochte erst sehr spät einzuschlafen, erwachte dennoch Morgens
früh und litt häufig an Alpdrücken. Nach einer so vollbrachten Nacht
fühlte er sich dann am ganzen Körper wie zerschlagen. Mit seiner eigenen
Person und seinem körperlichen Befinden beschäftigt er sich eifrig und
gerne und spricht häufig von allerlei leichten Schmerzen und abnormen
Sensationen, so z. B. von Schmerzen im Nacken, die es ihm unmöglich
machen, einen steifen Kragen zu tragen, und die ihn auch keine längeren
Haare ertragen lassen. Geistige Arbeit kostet den Patienten grosse An-
strengung, so z. B. die Anfertigung seiner Lebensbeschreibung, zu der
er mehrmals ansetzen muss und nach deren Vollendung er sich ganz
erschöpft fühlt. Ebenso verursacht ihm das Briefschreiben grosse Mühe;
er geräth dabei regelmässig, auch bei kühlem Wetter, und obwohl er
sonst nicht besonders zu Schweissen geneigt ist, ins Schwitzen, verschreibt
sich öfters und corrigirt nicht selten das falsch Geschriebene wieder
Digitized by Google
198 Beginn der suggestiven Behandlung. Hysterische Zeichen. Gedächtniss.
fehlerhaft. Beim Lesen beklagt er sich, dass er oft dieselben Worte
wiederholt lesen müsse, bis er wisse, worum es sich handle, ferner er-
müdet ihn die Leetüre bisweilen dadurch, dass er beständig in falsche
Zeilen geräth.«
„ Zunächst wurde nun zur Besserung des allgemeinen psychischen
Zustandes bei Herrn N. eine suggestive Therapie eingeleitet. Die erste
Hypnose wurde in Gegenwart mehrerer anderer Patienten vorgenommen,
die zuerst hypnotisirt wurden. Wie die Reihe auch an unseren Patienten
kommen sollte, gerieth er in lebhafte Aufregung, bekam starkes Angst-
gefühl und hochgradiges Herzklopfen und fing an, zappelige, hysterische
Krämpfe zu bekommen. Durch energische Suggestionen und dadurch,
dass der Anfall als vorübergehende Bagatelle behandelt wurde, erholte
er sich bald wieder und es verliefen dann die weiteren Hypnosen ohne
jeden Zwischenfall. Der Patient erwies sich als der Suggestion wohl zu-
gänglich und wurde in den ersten Sitzungen leicht zum hypotactischen
Stadium mit beginnender Amnesie gebracht. Die Suggestionen, die zu-
nächst gegeben wurden, bezogen sich darauf, dass der Schlaf sich bessere,
alle die kleinen Beschwerden verschwinden würden und die gedrückte
Stimmung einer ruhigen, heiteren Platz machen werde. Der Erfolg war
denn auch eclatant. Der Schlaf wurde länger und ruhiger, die Stimmung
wesentlich zuversichtlicher, wenn auch immer noch recht labil. Der
Patient bestätigte selbst den wohlthuenden Einfluss jeder Hypnose. Er
betheiligte sich fortan lebhaft an Gesprächen, machte fleissig Ausflüge in
die Umgebung zu Fuss oder mit dem Fahrrad, fasste wieder Vertrauen
zu sich selbst und blickte zuversichtlicher in die Zukunft."
„Von ganz besonderem Interesse ist natürlich das Verhalten des
Gedächtnisses. In Bezug auf die Gegenwart, resp. die jüngste Vergangen-
heit, kann das Gedächtniss jedenfalls nicht als gut bezeichnet, aber auch
kaum als eigentlich krankhaft verändert angesehen werden. Vielmehr
bietet Herr N. das Bild eines im gewöhnlichen Leben als .vergesslich'
bezeichneten Menschen, von denen einzelne Exemplare ja fast in jedem
Gesellschaftskreise anzutreffen sind. So passirt es ihm, dass er einen
brieflich erhaltenen, sofort auszuführenden Auftrag einige Tage lang
vergisst zu besorgen, dass er einen Laden nach kurzer Zeit nicht mehr
findet, weil die Auslage der Sonne wegen verhängt ist, dass er mit-
gebrachte Gegenstände im Laden liegen lässt, dass er nicht selten etwas
verlegt und dann Mühe hat, es wieder zu finden. Besonders für Eigen-
namen scheint das Gedächtniss etwas unvollkommen zu sein. Herr N.
ist sich dieser Schwäche wohl bewusst, schreibt daher wichtigere Dinge
sogleich auf, um sie im Sinne zu behalten, traut aber offenbar seinem
Gedächtniss weniger zu, als es zu leisten vermöchte, da er durch den
aufgedeckten Erinnerungsdefect viel an Selbstvertrauen verloren hat.*
„Mit grossem Interesse wurde dann darnach geforscht, ob aus der
Zwischenzeit zwischen der allmälig sich verlierenden und der wieder ein-
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Bruchstücke von Erinnerungen aus der Amnesieperiode. 199
setzenden Erinnerung gar kein Eindruck haften geblieben sei, der spon-
tan reproducirt werden könnte und an den anschliessend sich die Er-
innerung ganz oder theilweise wieder hergestellt hätte. Es wurde daher
absichtlich die Suggestion nicht gleich von Anfang an auch auf diesen
Punkt angewendet. Dabei ergab sich Folgendes: Nach dem Namen des
Schiffes befragt, auf dem er die Heimreise nach Europa gemacht, gibt
Herr N. und zwar erst, nachdem ihm durch die Nennung des ersten
Buchstabens nachgeholfen worden war, den Namen Orotava an. Der
nunmehr genannte, in Wirklichkeit zutreffende Name Oroya kommt
ihm dagegen nicht bekannt vor. Nun findet sich in den aus der ge-
sunden Zeit stammenden Briefen des Patienten einmal der Name eines
Dampfers Orotava erwähnt, mit welchem er einst von Australien aus
einen Brief nach Hause gesandt hatte. Es musste also offenbar das
Erinnerungsbild des Wortes Orotava sich im Gehirn aufbewahrt finden,
wurde aber bei seinem Auftauchen ausser Zusammenhang mit allem
anderen falsch associirt und so an die Stelle des schliesslich ähnlich
klingenden Wortes Oroya gesetzt."
.Nach einigen Tagen erhielt der Patient Besuch von seinen Eltern,
die ihren Sohn seinem Wesen nach durchaus unverändert fanden. Von
ihnen an den Abscbluss seiner Studien in A., an die Vorgeschichte seiner
Anstellung und an die Vorbereitungen zur Seereise erinnert, war er
nicht im Stande, darin irgend etwas ihm bekannt Vorkommendes zu
erblicken. Die Eltern überbrachten auch die vom Patienten während
der Reise und in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Australien an
sie geschriebenen Briefe. Herr N. erkennt darin wohl zwar seine Hand-
schrift; im Uebrigen aber sind sie ihm etwas völlig Neues und Un-
bekanntes. Es wurde ihm einer dieser Briefe vorgelesen, worin er unter
anderem eine genaue Beschreibung seiner Wohnung in Z. gibt, ebenfalls
mit völlig negativem Erfolg. Die übrigen Briefe wurden vorläufig zurück-
behalten, damit nicht die Erinnerung an Gelesenes und allfällige noch
zum Vorschein kommende Erinnerungen an wirklich Erlebtes ein unent-
wirrbares Gemenge mit einander bildeten. Auch bat er selbst darum,
weil diese Briefe ihn aufregten und verwirrten."
„Ein glücklicher Zufall wollte es, dass ein Herr D. aus Australien,
der mit unserem Patienten in Z. häufig verkehrt hatte, gerade zur Er-
holung in Zürich weilte. Einem Besuch dieses Herrn, den Patient
vor seinem australischen Aufenthalt nicht kannte, sahen Arzt und Pa-
tient mit gleichem Interesse entgegen. Kurz zuvor noch machte Herr N.
auf Befragen die Bemerkung, er könne sich an den zu Besuchenden
durchaus nicht erinnern, noch sich ihn irgendwie vorstellen; das aber
glaube er zu wissen, dass irgend ein Herr, der dieser Herr sein könnte,
zwei Kinder habe und dass das eine davon einen auffallenden Namen,
wahrscheinlich Achilleus, trage. Herr D. begrüsste nun den Patienten
als alten Bekannten, erinnerte ihn an diesen und jenen Vorfall in Z.,
Digitized by Google
200 Unfähigkeit, Personen, Briefe etc. aus beiden Amnesieperioden zu erkennen.
an manche zusammen verlebte Stunden, während für den Patienten so-
wohl die Persönlichkeit des Herrn D. als auch alles von ihm Erzählte
völlig fremd und neu war, so dass er in seiner Gegenwart sehr genirt
war und wie auf Kohlen sass. Dagegen stellte es sich heraus, dass Herr
D. wirklich zwei Kinder besitze und dass das eine davon zwar nicht
Achilleus, wohl aber Alarich genannt wurde. Zwischen der Vorstellung,
die sich Patient über das Alter, die Grösse und das Aussehen der Kinder
zu bilden versucht hatte, und den tatsächlichen Angaben des Herrn D.
herrschte hinwiederum nicht die geringste Uebereinstimmung. Im Uebri-
gen versicherte Herr D., dass ihm der Patient, solange er ihn in Z. zu
beobachten Gelegenheit hatte, d. h. bis zu seiner Abreise nach dem
Inneren, stets sowohl in seinem Reden wie in seinem Handeln einen
durchaus normalen Eindruck gemacht habe."
„Kurz vor einem zweiten Besuche fiel dem Patienten plötzlich der
Name eines Herrn R. ein, und da er sich nicht zu erinnern vermochte,
jemals mit einer Persönlichkeit dieses Namens in Beziehung gewesen zu
sein, so verlegte er von sich aus vermuthlich seine Kenntniss dieses
Namens in die seinem Gedächtniss entfallene australische Zeit zurück,
ohne dass sich daran irgend welche Vorstellungen über das Aussehen
oder die Stellung dieses Herrn anknüpften. Erkundigungen bei Herrn
D. ergaben, dass R. der Name einer Persönlichkeit war, mit der unser
Patient in Australien in geschäftlichen Beziehungen gestanden haben
musste."
„Der grösste Theil seiner Effecten, offenbar alle diejenigen Stücke,
die er sich unmittelbar vor der Reise oder erst in Australien angeschafft
hatte, sind dem Patienten neue, unbekannte Dinge; wie er dazu ge-
kommen, weiss er nicht, vielmehr wundert er sich über das Aussehen
und die Qualität einzelner Garderobestücke. Auch das Auffinden einer
fremden englischen Visitenkarte, offenbar von einer auf dem Schiff an-
geknüpften Bekanntschaft herrührend, eines Briefbogens mit dem auf-
gedruckten Namen des Dampfers, auf dem er die Reise nach Australien
gemacht, verhilft ihm nicht dazu, einen weiteren Kreis von Erinnerungs-
bildern wachzurufen. Ganz gleich ergeht es ihm mit seinen eigenen
Visitenkarten , auf denen seinem Namen der in Australien innegehabte
Posten beigefügt ist; mit sichtlichem Erstaunen betrachtet er alle diese
Zeugen einer aus seinem Bewusstsein ausgelöschten Epoche."
„Eigentümlich und sehr interessant ist die folgende Episode, durch
welche es Herrn N. gelang, einen allerdings nur winzig kleinen Theil
der verlorenen Erinnerungen wieder wachzurufen. Es fiel ihm nämlich
auf, dass ihn, wenn er auf der hiesigen, sehr rasch, aber auch sehr ge-
räuschvoll fahrenden electrischen Strassenbahn fuhr, ein eigenthüm liebes
Gefühl überkam, er müsse schon einmal in seinem Leben auf einer ähn-
lichen Bahn, die ebenso rasch fahre und namentlich auch ein ganz,
gleiches Sausen verursache, öfters verkehrt haben. Dabei sei er jedoch
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Erste Versuche, durch Suggestion daa Vergessene wieder hervorzubringen. 201
sicher, dass die ihm vorschwebende Bahn nicht wie die hiesige mit ober-
irdischer, sondern mit unterirdischer Stromzuleitung versehen sei. In
den Städten, an die er sich zu erinnern vermöge, bestehe nirgends eine
solche Art electrischer Bahnen; also müsse er wohl schliessen, dass es
sich in diesem Falle um eine Erinnerung an seinen Aufenthalt in Z.
handle."
„Da nun auf eine weitere, spontan erfolgende Ausfüllung der Ge-
dächtnisslücke nicht zu hoffen war, so wurde in den folgenden Hypnosen
der Versuch gemacht, der Amnesie auf suggestivem Wege beizukommen
und zur Anknüpfung die eben erwähnte Strassenbahnepisode verwendet.
Herr N. bekam die Suggestion, dass er in einem Wagen der betreffenden
Bahn sitze, sich wieder alle Details vergegenwärtige und auch die darin
befindlichen Leute sich vorzustellen vermöge. Wirklich war dann auch
ein Erfolg insofern zu constatiren, als der Patient in der Hypnose im
Stande war, die von der hiesigen durchaus abweichende Construction der
Wagen und Anordnung der Sitzplätze zu beschreiben. Ueber den Weg
befragt, den die Linie nehme, rief er mehrmals ,hinauf, hinauf. Von
den Insassen vermochte er nur anzugeben, dass sie schmälere Gesichter
hätten als die Leute hier zu Lande. Im Anschluss an die Hypnose ver-
fertigte der Patient sogleich eine kleine Skizze über die Construction der
Tramwagen. Nachfragen bei dem mehrfach erwähnten Herrn D. ergaben,
dass Herr N. in der That von seiner Wohnung aus täglich die Tram-
bahn zu benützen pflegte, dass die Linie wirklich bergan führte und
dass ihre Einrichtung in der That derart sei, wie seine Angaben
lauteten."
»Endlich sei noch erwähnt, dass der Patient einige Male am Morgen
bestimmt versicherte, im Traum in Australien gewesen zu sein und dabei
mit verschiedenen Persönlichkeiten sich unterhalten zu haben. Alle De-
tails jedoch waren jeweilen spurlos verschwunden, so dass sich daraus
keine weiteren Anhaltspunkte gewinnen Hessen. 1
, Nachdem der Versuch, auf suggestivem Wege mitten aus der ver-
gessenen Epoche heraus die Erinnerungen wieder wachzurufen, nur von
einem sehr geringen Erfolg begleitet gewesen war, hatte es eine Zeit
lang den Anschein, als ob der Fall einer weiteren hypnotischen Behand-
lung unzugänglich wäre, und Prof. Forel fing an, die Hoffnung auf
Wiederherstellung des Gedächtnisses für die amnestische Periode aufzu-
geben , da einige Wochen ohne Fortschritt vergingen. Bevor aber die
Beobachtung abgebrochen wurde, kam er auf den Gedanken, nicht mehr
den Aufenthalt in Australien, sondern vielmehr die letzte noch erinner-
liche Zeit des Aufenthaltes in A. zum Ausgangspunkt der Suggestionen
zu wählen. Diese Aenderung der Methode brachte denn auch einen un-
erwarteten Erfolg mit sich. Es wurde dem Patienten in zahlreichen
Hypnosen, die allmälig immer tiefer wurden und rascher gelangen, in
grossen Umrissen und successive fortschreitend die Zeit skizzirt, in die
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202 Di« Abreise nach Australien wird wieder bewuset.
er sich nun zu versetzen habe und ihm dabei suggerirt, dass er sogleich
und auch nach dem Erwachen sich an alle Details dieses Zeitraumes
genau erinnern werde. Häufig wurde dann, nachdem der Patient er-
zählt hatte, was er nun neu wusste, sogleich eine zweite Hypnose an-
geschlossen und dabei mit der Suggestion an dem Funkte wieder ein-
gesetzt, bis zu dem er in der vorangehenden Hypnose gebracht worden
war.*
„Der erste Erfolg bestand darin, dass Herr N. sich daran erinnerte,
in der letzten Zeit seines Aufenthaltes in A. nicht mehr regelmässig ins
Colleg gegangen zu sein und statt dessen häufig dem Velosport gehuldigt
zu haben. Auf die Suggestion hin, er werde sich nun wieder an die
Verhandlungen erinnern, die seiner Anstellung vorausgegangen seien,
tauchte plötzlich der Name eines Regierungsrathes (nennen wir ihn
Bernhard) auf, dem sich bald auch eine exacte Vorstellung über dessen
Aussehen und Kleidung zugesellte. Im Anschluss daran wusste nun Herr
N. wieder, dass er diesem Herrn mehrfache Besuche abgestattet habe
und dass durch ihn die Verhandlungen eingeleitet worden seien. Nach
der folgenden Hypnose fällt es dem Patienten plötzlich ein, dass er kurz
vor Weihnachten eine Reise nach der Landeshauptstadt unternommen
habe, vermag aber über seinen dortigen Aufenthalt noch keine Angaben
zu machen. Erst nach der nächsten Sitzung auf entsprechende Suggestion
hin fällt ihm der Name des Hotels, wo er gewohnt, die Strasse, an der
es liegt, die Dauer seines dortigen Aufenthaltes und die mit den Be-
hörden gepflogenen Unterhandlungen ein, nach und nach gewinnt er ein
klares Bild von der Stadt, die er zuvor noch nie besucht hatte. Niemals
gehen die so wiedergewonnenen Erinnerungen zeitlich über den Spiel-
raum hinaus, der durch die gegebenen Suggestionen begrenzt wird.
Gleich zu Anfang sind die Erinnerungsbilder nie sehr scharf und Herr
N. beginnt seine Erzählungen gewöhnlich mit einem ,ich glaube' oder
,es kommt mir so vor'. Erst im Laufe der folgenden Sitzungen gewinnen
die Bilder an Schärfe und schliessen sich zu einem Ganzen zusammen.
Weiter gelang es, dem Patienten seine Rückreise aus der Hauptstadt
nach A. und die nun beginnenden Reise Vorbereitungen ins Gedächtniss
zurückzurufen, wobei ihm zuallererst die Thatsache einfällt, dass er
dazu 24 Hemden und 18 Paar Unterhosen bestellt habe ; dann folgt die
rasch zurückgelegte Reise nach dem Einschiffungsort, wobei ihm auch
ein unterwegs abgestatteter Besuch wieder erinnerlich wird. Ueber die
Deutung der Erinnerung an den Hafenort ist er etwas schwankend, da
er sich schon früher einige Male dort aufgehalten hatte. Nunmehr be-
kam der Patient die Suggestion, dass sich sein Gedächtniss auch für die
Zeit der ganzen Seereise wieder herstellen werde und immer in der be-
schriebenen Weise vorgehend, gelang im Verlaufe einiger weiterer Hyp-
nosen auch das. Zunächst wusste er plötzlich und mit Bestimmtheit
den Namen des Capitäns und des Schiffsarztes anzugeben, dann erinnerte
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Die Seereise und die Ankunft in Z. kommen wieder. Pneumonie. 203
er sich auch an einzelne Mitreisende und die Einrichtungen und das
Leben auf dem Schiffe. Von der Durchfahrt durch den Suezkanal weiss
er, dass sie bei Nacht stattgefunden und unerwartet lange gedauert habe;
mit grosser Schärfe tritt die Erinnerung an die Landung in Aden auf,
wo ihm besonders die mit weissen Turbanen bekleideten Menschen und
die am Boden liegenden Kameele auffallen. Es schliesst sich dann die
Erinnerung an eine grosse Hitzeperiode an und hierauf an die Landung
in Colombo (Ceylon). Von hier berichtet er zuerst über die tippige
Vegetation und über einen kleinen ins Innere von Ceylon unternommenen
Ausflug, dessen Endziel er noch ungenau zu nennen vermag. Etwas
grössere Schwierigkeiten machte die Auferweckung der Erinnerungen an
die Landung in Australien und die erste Zeit des Aufenthaltes in Z.
Doch gelang es nach wiederholten Hypnosen, die Vorstellung von den
verschiedenen angelaufenen Hafenorten, unter anderem der Hafenstadt L.
wieder zum Vorschein zu bringen. Von Z. wusste der Patient anfäng-
lich nur anzugeben, dass es dort sehr trocken sein müsse und dass in
der Vegetation die Eucalyptusbäume und Coniferen eine grosse Bolle
spielten. In der Stadt selber, meinte er anfänglich, wüsste er sich jetzt
doch noch nicht zurechtzufinden. Dann kam plötzlich die Erinnerung
an den dortigen botanischen Garten und an verschiedene in der Um-
gebung unternommene Ausflüge. Einen Namen, der ihm schon lange
eingefallen war, von dem er aber nie wusste, zu was für einer Persön-
lichkeit er gehöre, bezog er nunmehr auf die Person seiner Hauswirthin.
Dann vermochte er sich auch wieder an seine Wohnung und an den
Club zu erinnern, in dem er häufig verkehrte, so dass er schliesslich
angab, sich auch in Z. wieder ganz heimisch zu fühlen. Auch an Herrn
D. und seine Familie erinnerte er sich wieder."
„An diesem Punkte angelangt, musste die hypnotische Behandlung
für einige Zeit abgebrochen werden, da der Patient plötzlich an einer
Pneumonie erkrankte. Die Affection nahm ihren normalen Verlauf,
brachte aber den Patienten sehr herunter. Sobald die Reconvalescenz
so weit fortgeschritten war, dass er der Suggestion wieder zugänglich
erschien, wurde mit den Hypnosen von Neuem begonnen. Dabei wurden
zunächst verschiedene Residuen der überstandenen Pneumonie, für die
eine somatische Grundlage nicht mehr anzunehmen war , in Angriff ge-
nommen. Es gelang so rasch, die trotz totaler Resolution und Resorption
der Pneumonie noch auffällig frequente und dyspnoiscbe Athmung normal
zu gestalten, die noch in der Brust gefühlten Schmerzen zu beseitigen
(wobei einmal die Schmerzen nun plötzlich auf die andere Seite der
Brust in die Gegend der alten Schusswunde übersprangen) und Schlaf-
und Appetitlosigkeit zu heben. Daneben wurde an der Auferweckung
der Erinnerungen genau wie früher weiter gearbeitet."
„Die zunächst gegebenen Suggestionen bezogen sich darauf, dass der
Patient sich immer genauer an seinen ganzen Aufenthalt in Z., nun aber
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204 Australien selbst und Reise von Z. nach O. wieder bewusst.
auch an seine Reise ins Innere nach 0. wieder erinnere. Der Erfolg
war der, dass ihm nachher verschiedene Festlichkeiten erinnerlich wurden,
die er mitzumachen hatte und wobei es ihm Mühe machte, mit den An-
deren im Champagnertrinken und dergl. mitzuthun. Ausserdem fiel ihm
aber noch ohne jeden weiteren Zusammenhang der genaue Name des
Hotels in 0. ein, wo er abgestiegen war und sich einige Zeit aufhielt.
Erst nach der folgenden Hypnose kehrte auch die Erinnerung an die
Reise nach 0. zurück. Herr N. weiss nun, dass er die 36 stündige
Fahrt dorthin in einer Tour zurückgelegt, beschreibt die theils Öde,
theils gebirgige Gegend und die eintönige Vegetation , wie die Baum-
farren und dergl. Ueber die Stadt Z. ist er jetzt genau orientirt und
entwirft eine anschauliche Schilderung von deren Lage und Verkehrs-
verhältnissen. Als neue Erscheinung ist nach dieser Hypnose zu beob-
achten, dass der Patient im Stande ist, auch das Facit seiner in Australien
gemachten Beobachtungen zu reproduciren. So erzählt er denn mancherlei
über die politischen und wirthschaftlichen Institutionen des Landes, über
das Proletariat der Städte und den Mangel an Arbeitskräften auf dem
Lande, über die Massregeln zur Erschwerung der Einwanderung der
Chinesen, wobei es ihm plötzlich einfällt, dass auf dem Dampfer, der
ihn nach Australien führte, sich auch etliche solche zu importirende
Menschen befanden, und dass die Chinesen in Z. mit kurzgeschnittenem
Haar umhergehen und deshalb wenig auffallen. Auch über seinen Auf-
enthalt in 0. weiss Herr N. nach derselben Hypnose mancherlei zu be-
richten. Bei seiner Ankunft habe eine grosse Dürre geherrscht, so dass
der Staub fusshoch in den Strassen lag und viel Vieh zu Grunde ging.
Er erinnert sich ferner an verschiedene Persönlichkeiten in 0., mit denen
er zu verkehren hatte. Darunter befindet sich auch jener Herr R.,
dessen Name ihm schon lange eingefallen war und mit dem er, wie er
jetzt wieder genau weiss, einen unangenehmen Strauss auszufechten hatte,
da er seiner Mission Schwierigkeiten in den Weg zu legen suchte. Noch
jetzt geräth der Patient bei der Erzählung dieser Episode in lebhaften
Affect. Des weiteren vermag er sich zu erinnern, dass er sich schon
bald nach seiner Ankunft in 0. unwohl fühlte und deshalb sein Hotel-
zimmer wechselte. Wegen Fieber, Schwindel und Herzklopfen sei er zu
einem englischen Arzte gegangen, dessen Name mit B. anfange und der
ihn dann auch im Hotel besucht habe. Da mit der letzten Angabe die
Erinnerung versiegte, wurde alsbald eine weitere Hypnose angeschlossen
und dem Patienten suggerirt, er werde sich nun genauer an die näheren
Umstände seiner Erkrankung in 0. erinnern. Daraufhin fällt ihm ein,
dass noch ein zweiter deutscher Arzt zugezogen worden sei, und dass
er ein Schlafmittel bekommen habe. Die Temperatur sei nie gemessen
worden. Ausser den Aerzten sei nur hie und da ein Kellner ins Zimmer
gekommen. Die beiden Aerzte haben ihm verschiedene Rathschläge ge-
geben; der eine, er solle alsbald an die Küste zurückkehren und sich
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Erkrankung in 0. Der Dämmerzustand beginnt. 205
dort zuerst erholen ; der andere, er solle in 0. seine Genesung abwarten
und dann seine Reise fortsetzen. Welchem Rathe er gefolgt und was
er nun gethan, darüber weiss er nichts anzugeben."
„Die am nächsten Tag gegebene Suggestion, Herr N. werde sich
nun auch an die näheren Umstände seiner Abfahrt von 0. und Rück-
reise nach Z. erinnern, blieb zunächst erfolglos. Erst die Wiederholung
am folgenden Tag brachte wieder einen Fortschritt, insofern als er nun
berichtete, wie ihm am Abend vor der Abreise auf seinen Wunsch sein
Geld wieder zugestellt worden sei, und wie derselbe Herr, der dies be-
sorgt, am andern Tag ihn zum Bahnhof geleitete. Zu dieser Zeit (Ab-
fahrt von 0.) war sich Herr N. seiner ganzen Hinreise und des Ziels
seiner Thätigkeit in Australien trotz des Fiebers völlig erinnerlich be-
wusst. Dies gibt er bestimmt an, und es ist dies sehr wichtig. Er
erinnert sich, dann mit der Eisenbahn die Rückreise nach Z. angetreten
und dabei im Wagen offenbar halb geschlafen zu haben. Von seiner
Ankunft in Z. dagegen weiss er noch rein nichts."
„Ich bin in der Besprechung der Art, wie die letzten Erinne-
rungen wieder zum Bewusstsein kamen, recht ausführlich gewesen
und zwar mit gutem Grund; denn wie wir später sehen werden,
bietet die genaue Kenntniss der Ereignisse um diesen Zeitpunkt
herum einen wichtigen Anhaltspunkt für das richtige Verständniss
des ganzen Falles/
„In wiederholten Hypnosen wurde nun versucht, das Ende dieser
Fahrt nach Z., die Ankunft daselbst und die Umstände, unter denen
die Einschiffung nach Europa erfolgte, dem Patienten ins^Gedächtniss
zurückzurufen. Diese Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg und über
den Beginn der Reise von 0. nach Z. hinaus vermochte er sich keiner
einzigen Thatsache mehr zu erinnern."
„Dagegen war wiederum ein Erfolg zu constatiren, als Prof. Forel,
dem schon einmal erprobten Verfahren entsprechend, die Suggestionen
an denjenigen Zeitpunkt anknüpfte, der dem Patienten noch spontan in
Erinnerung geblieben war, wie er nämlich sich am Ende seiner Seereise
an Bord der Oroya befand. Die Suggestionen lauteten dahin, Herr N.
werde sich nun auch an den ersten Theil seiner Heimreise zur See,
schliesslich an seine Einschiffung und an die Gründe, die ihn dazu be-
wogen, erinnern. Daraufhin war der Patient nun im Stande, eine
ganze Reihe von Details, die er auf seiner Rückreise erlebt hatte, zu
erzählen. So berichtet er, er sei in Colombo im Gegensatz zu den
meisten übrigen Passagieren nicht am Land gewesen, es hätte sich dort
ein englischer Sergeant mit Frau und Kindern eingeschifft. Von dem
Leben an Bord der Oroya kommt ihm wieder eine ganze Reihe von
Einzelheiten ins Bewusstsein: ein kleines Mädchen habe ihm besonders
gut gefallen, er habe öfters mit ihm gespielt und es auch auf dem Arm
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206 Rückreise im Dämmerzustand (nach Denguefieber?).
getragen. Sonst habe ihm das Leben auf dem Dampfer nicht sonderlich
behagt und er habe desshalb der Aufforderung, an verschiedenen Ver-
gnügungen tbeüzunehmen, keine Folge geleistet. Mit grosser Lebhaftig-
keit erinnert er sich an zwei auf hoher See vorgekommene Todesfälle
und die Versenkung der Leichen ins Meer. Seine Thätigkeit auf dem
Schiff habe in Essen, Schlafen, Lesen und Umhergehen bestanden. So
habe er in den Tag bineingelebt , mit dem Bewusstsein , wie er jetzt
glaubt, dass das Reiseziel Europa sei, aber ohne jeden Gedanken an das,
was vorging, und das, was noch kommen würde. Die Erinnerung an
seine Abreise von Z., an die Einschiffung in L. und an den ersten Theil
der Seereise war auch jetzt wieder nicht wachzurufen."
„Eine Reihe von Hypnosen, in denen der Versuch gemacht wurde,
die noch bestehende, aber stark zusammengeschrumpfte Erinnerungslücke
auszufüllen, schlug zunächst fehl. Der Kranke producirte wohl eine
ganze Anzahl neuer Erinnerungen, die er aber alle in die Zeit der Hin-
reise nach Australien verlegen musste. Da tauchte plötzlich ganz ver-
schwommen die Erinnerung an eine lange, bei Nacht zurückgelegte Eisen-
bahnfahrt auf, die ihn von Z. nach dem Einschiffungshafen L. bringen
soll, und die sich der Patient in ununterbrochenem Zusammenhang mit
der jetzt wieder bewussten Fahrt von 0. nach Z. vorstellt. Daran
schliesst sich die unklare Vorstellung, dass er in L. in einem kleinen
minderwerthigen Gasthause abgestiegen sein müsse. Sogleich wurde er
von neuem hypnotisirt und ihm suggerirt, er werde sich an diesen
Gasthof wieder genau erinnern, wie überhaupt an seinen ganzen Auf-
enthalt in L. bis zur Einschiffung. Daraufhin ist er im Stande, das
erwähnte Gasthaus näher zu beschreiben; er bezeichnet es als eine
„Spelunke dritter Güte" und ist ganz empört darüber, dass er ein so
schlechtes Absteigequartier wählen konnte, da er doch offenbar noch
genug Geld bei sich gehabt habe. Der Name des Gasthauses müsse
dreisilbig sein ; dasselbe liege in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes und
sein Zimmer sei so klein gewesen, dass er nicht einmal sein ganzes
Gepäck darin placiren konnte. In nochmaliger Hypnose erhält der
Patient die Suggestion, dass ihm im Laufe des Tages von selbst noch
weitere Details über seinen Aufenthalt in L. einfallen und ihm nun
auch die Einschiffung klar sein werde. Am folgenden Morgen berichtet
Herr N., es sei ihm nun die Strasse eingefallen, an der das erwähnte
Hotel liege; dessen Name fange mit einem M an, dann folge ein 0
oder A, das Wort bedeute den Namen des Besitzers, doch sei es ihm
nicht möglich, sich auf den Namen vollständig zu besinnen. Nach der
nächsten Hypnose bei gleich bleibenden Suggestionen erzählt Herr N.,
dass er in L. tagsüber gewöhnlich das Zimmer gehütet und erst gegen
Abend ausgegangen sei; gedacht habe er sich bei diesem ganzen Leben
nichts Besonderes und nur auf die Abfahrt des nächsten Schiffes ge-
wartet. Es sei damals empfindlich kühl gewesen. Er habe jetzt das
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Dissociirte Erinnerungen aus der Dämmerzeit suggestiv hervorgebracht. 207
Gefühl, dass er damals nicht wusste , dass er L. schon einmal (nämlich
auf der Hinreise) kennen gelernt hatte. Auf die Suggestion hin, er
werde sich nun auch an die Verhältnisse am Hafen und die Einschiffung
wieder erinnern, kommen ihm plötzlich auch diese Erinnerungen mit
ziemlicher Schärfe. Herr N. beschreibt nun den Landungssteg, erinnert
sich, dass der Bahnzug ihn unmittelbar bis an das zur Abfahrt bereite
Schiff heranbrachte, dass noch ein anderes Schiff dort lag, dem er dann
später wieder in Colombo begegnete, und dass eine grosse Menschen-
menge am Hafen zugegen war. Es fällt ihm jetzt auf, dass ihm damals
die Abfahrt nach einem anderen Continent nicht den geringsten Eindruck
machte, wie es doch sonst bei seinen früheren Reisen stets der Fall ge-
wesen war. Er selbst machte denn darauf aufmerksam , dass ihm nun
hauptsächlich noch die Erinnerung an den Moment fehle, wo er das
Billet zur Abfahrt gelöst hatte. Auf bezügliche Suggestion hin gelingt
auch die Aufweckung dieser Erinnerung, und Herr N. nennt nun die
Strasse, wo sich die Agentur befindet, und den Preis des Billets genau.
Dass er einen falschen Namen angegeben, vermag er sich nicht zu er-
innern, glaubt aber eher, die Sache müsse auf einem Missverständniss
der englischen Schiffsleute beruhen, die seine Sprache nicht verstanden."
„Am folgenden Tage gelang es endlich in einer Anzahl sich fol-
gender Hypnosen auch die letzten Lücken, die in der Erinnerung an die
zuletzt in Rede stehende Zeit noch bestanden hatten, immer auf die
entsprechenden Suggestionen hin, auszufüllen. Der Patient machte nun
im Zusammenhang folgende Angaben : In 0. habe er um die Zeit seiner
körperlichen Erkrankung sozusagen nie geschlafen. Er habe dann mit
vollem Bewusstsein ein Billet erster Klasse nach Z. gelöst, wo er seine
Wohnung hatte, in der bestimmten Absicht, dort seine völlige Genesung
abzuwarten und dann zur Fortführung seiner Mission nach 0. zurück-
zukehren. Die Eisenbahnfahrt habe sehr lange gedauert und auch die
ganze Nacht in Anspruch genommen, der Wagen sei bald recht voll von
Leuten, bald wieder leerer gewesen, so dass er es sich bequem machen
konnte und öfters einschlief. In Z. am Vormittag angekommen, habe
er gleich nach der Ankunft ein Billet zur Weiterfahrt nach L. gelöst,
dann den Bahnhof, in welchem sich weder Wartesäle noch ein Restaurant,
um sich darin aufhalten zu können, befänden, alsbald verlassen und in
einem kleinen Gasthofe in umittelbarer Nähe des Bahnhofes ein Zimmer
bezogen , dort etwas zu sich genommen und dann einige Stunden ge-
schlafen. In seine Wohnung zu gehen oder dass er überhaupt in Z.
eine Wohnung besass, daran sei ihm kein Gedanke gekommen, ebenso
wenig, dass er überhaupt schon jemals in Z. gewesen sei und dort eine
Menge von Bekannten hatte. Er habe dann noch einige kleine Einkäufe
gemacht, z. B. sich einen Kamm angeschafft, und sei noch am selben
Abend mit dem am Morgen gelösten Billet nach L. weiter gereist. An
irgend ein Motiv zur Abreise von Z. kann er sich durchaus nicht er-
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208
Die Amnesie zerfiel in retrograden Theil und Dämmerzeit.
innern, er glaubt nur das Gefühl gehabt zu haben, er sei fremd hier,
gehöre nicht dahin und habe desshalb die erste Gelegenheit zur Weiter-
reise ergriffen. In L. angekommen, sei er wie zuvor in Z. im nächst
gelegenen, sehr primitiven Gasthaus abgestiegen, wie er uns schon zuvor
erzählt hatte. Er erinnert sich nun ganz genau an die Stadt L., er
habe sich einige Tage dort aufgehalten, sei immer durch dieselben
Strassen gegangen, habe sich dann ein Billet zur Ueberfahrt nach Europa
gekauft, wie er oben berichtete, und nun die Abfahrt des Dampfers ab-
gewartet. Die Stadt L. sei ihm völlig fremd vorgekommen und er habe
nach Allem fragen müssen, obwohl er ja thatsächlich, wie er jetzt wisse,
bei der Hinreise einige Tage dort zugebracht hatte. Auch hier war er
sich nicht bewusst, schon einmal vor einigen Wochen sich aufgehalten
zu haben, und auch hier kam ihm kein Gedanke daran, irgend einen
bekannten Menschen aufzusuchen. An die von dritter Seite festgestellte
Begegnung mit einer Dame am Bahnhof kann er sich nicht erinnern,
glaubt aber, wenn dem wirklich so sei, so habe er eben die Dame ein-
fach nicht mehr erkannt. An die Umstände, unter denen seine Ein-
schiffung zu Stande gekommen , vermag er sich wieder genau zu er-
innern, er sei mit einem Wagen vom Hotel nach dem ca. zehn Minuten
entfernten Bahnhof gefahren und habe dort den Bahnzug bestiegen, der
ihn direct bis zum Schiff geführt. Auch für seine Einschiffung ist er
nicht im Stande, ein Motiv anzugeben, er habe offenbar das Bestreben
gehabt, von Australien, wo er sich ,deplacirt 4 fühlte, möglichst rasch
wegzukommen. Dass er in Australien sei, dessen sei er sich damals
bewusst gewesen, nicht aber, wie er dort hingekommen, und dass und
was er dort zu thun hatte."
Dieser höchst lehrreiche und seltsame Fall bedarf keines langen
Commentars. Herr N. ist durchaus glaubwürdig; überdies konnten
ja viele seiner Angaben durch dritte Personen bestätigt werden.
Aus der ganzen Art der Erinnerungen des nicht retrograden
Theiles seiner Amnesie, d. h. der Rückreise von 0. durch Z. und L.
nach Neapel und Zürich, geht klar hervor, dass er sich in dieser
ganzen Zeit in einem dissociirten, somnambulen Dämmerzustand
befand, in welchem er in den Tag hinein lebte und täglich wieder
das Vorhergehende vergass. Die bezüglichen Erinnerungen tauchen
ohne rechten Zusammenhang unter einander auf ; sie sind traumhaft
dämmernd und von starken Affectwellen begleitet. Es wurde
ihm selbst die Sache so klar, dass er mir sagte, er sehe nun ein,
dass wenn er kein Geld bei sich gehabt hätte, er in L. elend zu
Grunde gegangen wäre; sein Glück sei es gewesen, das Schiffsbillet
nach Europa gelöst zu haben. Umgekehrt sind die Erinnerungen
über den retrograden Theil der Amnesie (Hinreise) normal associirt.
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Suggestion, Medicin und CurpfiiBcherei.
209
Dieser Fall ist eine Fundgrube für den Mechanismus des Ge-
dächtnisses und für seine Analyse. Die Amnesie blieb dann geheilt.
Ich bitte speciell noch den Fall im Licht unserer Anschauung über
das Bewusstsein zu prüfen.
X. Die Suggestion in ihrem Verhältniss zur Medicin
und zur CurpfuschereL
Trotz allen Satiren drastischester Art, welche die Priester des
Aesculap zu allen Zeiten erleiden mussten, und welchen wohl Mo-
liere (M. de Pourceaugnac, le Malade imaginaire etc.) die
Krone aufgesetzt hat, verfallen sie doch immer wieder nach Kräften
in ihre alten Fehler, wie wenn 9ie darin unbelehrbar wären, wie
wenn ein Naturgesetz sie dazu treiben würde: Zunftwesen, Autori-
tätsglaube, Unfehlbarkeitsdograa, aprioristisches Urtheilen und vor
Allem Ergänzung des wirklichen Wissens durch Autosuggestionen,
die den Charakter von Aphorismen, von Axiomen gewinnen, Leicht-
gläubigkeit gegenüber den einfältigsten Deductionen bezüglich thera-
peutischer Erfolge, und nicht zu vergessen leider oft Charlatanerie.
Jeder Beruf hat seine Schwächen, sowie seine räudigen Schafe, und
Gott behüte uns vor der verworrenen Metaphysik vieler Theologen
und vor der starren, oft rabulistischen Dogmatik vieler Juristen
mit ihrer Ausserachtlassung der psychologischen Beobachtung des
Menschen. Doch ist es sicher vortheilhafter, die eigenen Schwächen
und Krankheiten zu studiren und zu bekämpfen, als zu warten, bis
fremde Pfuscher kommen, uns zu belehren und auszulachen. Die
Juristen fangen bereits an, in's eigene Fleisch zu schneiden und sich
den Ergebnissen der Naturforschung anzupassen. Da dürfen doch
nicht die naturwissenschaftlich gebildeten Aerzte zurückbleiben und
für sich das Privilegium des Dogmatismus und der oberflächlichen
Gläubigkeit in Anspruch nehmen.
Immerwährend wird vergessen, dass, wenn wir von einem
grossen Theil der äusseren Therapie absehen, vielleicht */s der Kranken
yon selbst genesen und dass die Hälfte des übrigen Drittels, ohne
sich um unsere Therapie zu kümmern, dem Tod oder der Unheil-
barkeit verfällt. Wenn wir im letzten Sechstel wirklich bessern
oder heilen, ist es sehr viel, und wir müssen bekanntlich bei der
Bilanz unseres therapeutischen Gewissens uns stets und immer wieder
die Frage stellen: Hast du nicht mehr geschadet als genützt? Was
Forel, Der Hypnotismus. 4. Aufl. 14
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210
Suggestion, Medicin und Curpfuscherei.
ist es, das wirklich geheilt hat (siehe übrigens Sonderegger,
Vorposten der Gesundheitspflege)? Natürlich ist die Prophylaxe
damit nicht gemeint.
Je exacter eine Wissenschaft ist , desto höhere Anforderungen
stellt sie an ihre Vertreter bezüglich Genauigkeit ihrer Ergebnisse
(man vergl. z. B. die Mathematik und die Zoologie). Desshalb darf
aber die weniger exacte Wissenschaft nicht auf diese ihre Eigen-
schaft wie auf eine Licenz hin sündigen und auf die Logik der
denkenden Vernunft verzichten, sondern muss, ihre Unsicherheiten
und Schwächen vollauf würdigend, nach grösserer Exactheit und
neuen Gesichtspunkten zur Beleuchtung unklarer Fragen trachten.
Wunderbar sieht es in dieser Hinsicht mit der therapeutischen
„Wissenschaft" aus. In denjenigen Abtheilungen derselben, wo eine
exactere, klarere Erkenntniss bereits vorliegt, finden wir einen
kritischeren Geist, strengere Anforderungen und eine viel grössere
Reserve in den Behauptungen. Die mächtigen Fortschritte der
Chirurgie haben sie bescheidener und vorsichtiger gemacht. Je
weniger jedoch die Medicin in einem Gebiet weiss, desto dogmatischer
werden die therapeutischen Behauptungen, und der Sumpf der
heutigen Arzneitherapie ist kaum geringer, als der ehemalige Sumpf
der Kräutermixturen und der ellenlangen Recepte aus zwanzigerlei
Mitteln. Zwar muss die Chemie an Stelle der früheren Botanik bei
den neuesten Heilmitteln für den Schein der Wissenschaftlichkeit
herhalten; doch bedeutet dies oft nur eine Aenderung der Etiquette.
Die bodenlose Leichtfertigkeit, mit welcher therapeutische Erfolge,
vielfach in reclamenhafter Weise, sehr oft mit Verschmähung der
elementarsten Logik und der bescheidensten Ansprüche der wissen-
schaftlichen Methode in medicinischen Blättern, Gesellschaften etc.
breitgetreten und ausposaunt werden, hat durch die immer mehr
wachsende Masse der Pressorgane eine wirklich erschreckende Aus-
breitung gewonnen. Sie ist zu einer förmlichen medicinischen
Kachexie geworden. Fügen wir hinzu die schwunghafte Reclame,
die mit der Hydrotherapie, Balneotherapie, Elektrotherapie, Metallo-
therapie, Massagen, Cursystemen nach Dr. X., Pfarrer Y. etc. rück-
sichtslos und der Wissenschaft zum Trotz getrieben wird, so haben
wir ein ebenso trauriges als bekanntes Zeitbild, in welchem der
Laie bald kaum mehr im Stande sein wird, den gewöhnlichsten
Schwindler vom ernsten Arzt zu unterscheiden.
Es sind Gemeinplätze, die ich hier niedergeschrieben habe;
es war aber nöthig. Ich will nicht fragen: ä qui la faute? Denn
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Bei gleichartigen Heilerfolgen ist gemeinsame Ursache zu vermuthen. 211
das wäre müssig — sondern : Gibt es Heilmittel gegen diese thera-
peutische Krankheit? Ich glaube zum Theil ja und meine, dass
eines derselben in einem genauen Studium der Schwächen der
therapeutischen Logik in ihrem Verhältniss zur Suggestion liegt.
Wenn eine geheimnissvolle Thätigkeit in dieser Welt scheinbar
in Folge von vollständig verschiedenen, einander widersprechenden,
gesetzlos wirkenden Ursachen in gleicher, gesetzmässiger Weise bei
der gleichen Substanz oder dem gleichen Organismus immer wieder
stattfindet, vermuthet mit Recht die menschliche Logik , dass ein
Theil der scheinbaren Ursachen entweder nicht wirkliche oder nur
indirecte Ursachen sind, welche auf verborgene Weise die eigent-
liche Ursache, d. h. den wirklichen Mechanismus des constanten
Ereignisses in Bewegung setzen. Es handelt sich dann darum, den
letzteren zu entdecken. — Ein Mensch, der von Elektricität nichts
weiss, wird nicht begreifen, warum dieselbe elektrische Glocke gleich
schellt, wenn man auf einen Knopf drückt, wenn man durch Zusatz
von Elementen den Strom verstärkt und wenn eine Maus die iso-
lirende Umhüllung von zwei sich berührenden Drähten abnagt. Er
wird, wenn er gedankenlos ist, empirisch an die drei verschiedenen
Ursachen glauben , die er wahrnimmt; tiberlegt er aber sorgfältig
die Sache, so wird er vermuthen, dass etwas Einheitliches da-
hinter steckt.
Ich bitte nun meine verehrten Leser, an den Vorgang der
Heilung einer idiopathischen Neuralgie oder einer functionellen
Lähmung zu denken. Gleichwohl ob diese Heilung durch elektrische
Behandlung (und zwar je nach der Theorie eines jeden Elektro-
therapeuten durch die einander widersprechendsten Arten der Ströme
und der Application derselben 1 ), Hydrotherapie, Massage, Metallo-
therapie, Antipyrin, Chinin, Baldriantinctur und dergl. inwendig ge-
nommen, Moxen, Nerven dehnung, Vesicatoren, Blutentziehungen,
Einathmung von Amylnitrit, Schrecken, Händeauflegen , Homöo-
pathie, Geheimmittel aller Arten, Vegetarismus, sogen. Naturheil-
raethode, Gebet, Kräuter, die eine Somnambule oder sonstige Wahr-
sagerin verschreibt, Weihwasser aus Lourdes oder Suggestion
erfolgt, so sieht man dieselbe wunderartig sofort der Anwendung des
Mittels folgen, oder dann ruckweise, von Sitzung zu Sitzung, fort-
*) Ueberraschend grosse Heilresultate erzielen z.B. Sperling in Berlin
allein mit den allerschwächsten Strömen und Dr. Julius Heller in Luzern
umgekehrt allein mit den stärksten Strömen und ausgedehnter Berührungs-
fläche der Elektroden!
212 Besondere wo verschiedenste Mittel gleich wirken oder wo das
schreiten. Kein Mittel wirkt bei allen Menschen, aber jedes der
angeführten Mittel wirkt thatsächlich bei Vielen. Das Mittel, das
bei Einem ein Mal gewirkt hat, pflegt auch bei Recidiven zu wirken,
vor Allem so lange der Kranke Vertrauen dazu hat. Ich bitte aber
noch besonders auf Folgendes zu achten: es wirkt vor Allem jedes
dieser Mittel bei denjenigen Aerzten, Curpfuschern, Pfarrern, Heb-
ammen oder alten Weibern, welche selbst an seine Wirksamkeit
glauben; und bei jedem derselben verfehlen die anderen Mittel
meistens ihre Wirkung, wesshalb es so viele widersprechende An-
sichten gibt. Man lache nicht und entgegne mir nicht, dass dieses
auf Schwindel oder schlechter Beobachtung beruhe. Beides mag ja
oft mitunterlaufen, aber das Gesetz ist viel zu constant, um so er-
klärt zu werden. Es ist in der That so, und der Arzt, der glaubt,
dass Baldrian das einzige wirksame Heilmittel der Neuralgie ist,
wird mit diesem Mittel die besten Erfolge erzielen, genau so wie
derjenige, der das Gleiche von einer bestimmten Anwendung des
constanten Stromes glaubt, damit seine Siege feiern wird. Natür-
lich alles cumgranosalis, denn es hängt nicht nur vom Glauben
des Arztes, sondern auch vom Glauben des Kranken, der nicht
immer von demjenigen des Arztes ohne weiteres nur beeinflusst
wird, und von anderen Umständen, speziell auch von narcotischen
und ähnlichen Wirkungen ab, die Arzneimittel vorübergehend er-
zeugen. Was soll man nun aus diesen Thatsachen folgerichtig
schliessen? Doch zweifellos, dass diese Heilungen irgend eine ge-
meinschaftliche Ursache haben, von einem einheitlichen Mechanismus
herbeigeführt werden, der zwar auf ganz verschiedene Weise an-
geregt werden kann, aber dennoch auf gleiche, gesetzmässige Weise
arbeitet, um die Heilung herbeizuführen. Noch auffälliger wird die
Sache, wenn man daran denkt, wie umgekehrt das gleiche Mittel
oft ganz entgegengesetzte Krankheitssymptome heilt, wie Krampf
und Lähmung, Anästhesie und Hyperästhesie etc. Es wirken sehr
oft die gleichen Ströme, Kaltwasserdouchen , Gebete, Badecuren
(gleichwohl ob V 100 °/° Lithium mehr oder weniger in der Heil-
quelle enthalten ist) in beiden Fällen gleich gut oder gleich schlecht,
oft eben auch verschlimmernd, wenn der Kranke sich dieses auto-
suggerirt, wie es nicht selten der Fall ist.
Erhellt denn nicht aus diesen Thatsachen klar genug, dass
der gemeinsame Heilmechanismus, den man vermuthen und suchen
muss, im Körper des Kranken hegt, und dass er nur in seinem
Nervensystem liegen kann? Keine anderen Körpergewebe können
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gleiche Mittel entgegengesetzte Leiden curirt. Nägeli's Handgriffe. 213
von so verschiedenen Punkten aus eine so gleichmässige Maschinerie
in's Werk setzen. Wenn wir aber hierbei die Rolle des auf den
Kranken übergehenden Glaubens des Heilkünstlers berücksichtigen,
so liegt es klar auf der Hand, dass alle diese Heilungen unbewusst
durch die dynamische Wirkung von Vorstellungen, d. h. durch
Suggestion bewirkt werden. Eine ruhige Ueberlegung lässt die
Möglichkeit directer specifischer Wirkungen dieser Mittel in den
meisten Fällen nicht zu, denn durch solche Hessen sich die damit
total incongruenten Widersprüche einerseits und Uebereinstimmungen
andererseits absolut nicht in Einklang bringen. Durch Suggestion,
wie wir sie verstehen, erklärt sich alles auf die ungezwungenste,
einfachste Weise.
Bernheim hat wiederholt seine Ansicht über die suggestive
Wirkung einer bedeutenden Zahl von Heilmitteln und anderen
therapeutischen Proceduren unumwunden ausgesprochen, so auch
im Congres de l'Hypnotisme 1889 zu Paris. Den obigen Gedanken-
gang habe ich gegenüber Herrn Dr. Klenke in der deutschen
Naturforscherversammlung zu Bremen 1890 entwickelt, als derselbe,
seine eigenen widersprechenden und überraschenden Resultate
elektrotherapeutischer Behandlung offen erzählend, die specifische
Wirkung des Stromes selbst in Zweifel zog, aber dafür vasomoto-
rische Kräfte verantwortlich machen wollte. Gewiss wirken die
Vasomotoren als Theil der unter Grosshirnbefehl stehenden Mecha-
nismen auch mit. Doch beweist die Wirkung suggerirter Ströme
bei Unterbrechung des wirklichen Stromes, dass die Regulirung
von der Vorstellung ausgeht, die mit der localen Einwirkung asso-
ciirt wird.
Herr Dr. Nägeli in Ermatingen, Kanton Thurgau, Schweiz,
hat eine neue Heilmethode erfunden: „Therapie der Neuralgien und
Neurosen durch Handgriffe", die zuerst allgemein belächelt wurde,
dann aber Anerkennung bei der wissenschaftlichen ärztlichen Welt
fand, besonders seit sie mit Illustrationen in einem medicinischen
Verlag zur Veröffentlichung kam. Als jedoch College Nägeli
die Ankündigung seiner Methode im Schweiz. Centraiverein mit
dem kurzen Wort: „Suggestion ist ausgeschlossen", schloss, über-
flog ein allgemeines Lächeln sämmtliche Gesichter. In der That
sind die Nägeli'schen Kopfgriffe, Handgriffe etc. Suggestion optima
forma. Statt dies einzusehen, hat man gesuchte, unhaltbare Ver-
suche gemacht, die Sache mechanisch- vasomotorisch zu erklären.
Auch der Empirismus der Brown -Se'qu ard'schen Spermato-
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214
Organotherapie, Homöopathie.
therapie hat sich in der wissenschaftlichen Medicin Eingang ver-
schafft, vielleicht weil sie von einem Gelehrten ausging. Sie hat
natürlich ihre Heilerfolge nicht verfehlt, denn auch da wirkt ein
mächtiger suggestiver Factor mit. Man hat zwar von Resultaten
ohne Wissen des Kranken gesprochen ; wie kann aher ein Kranker
eine Injection nicht merken? Aus Vergleichungen mit Injectionen
anderer Substanzen ist dann die Organotherapie entstanden, nach
welcher durch das Essen eines Organes seine physiologischen
Wirkungen dem Körper mehr oder weniger tibertragen werden
sollen! Zum Glück wird es jetzt mit dieser neuen Panacee wieder
stiller.
Auch die Homöopathie, die neumodische „Naturheilkunde",
die Kneippmedicin und dergl. mehr verdanken ihre Erfolge der
mit einer gesunden Diätetik verbundenen Suggestion. Neben
Letzterer verdanken sie ihre Macht der Vermeidung der kritiklosen
Anwendung differenter Mittel. So gelingt es der krassesten Un-
wissenheit, dem blödesten Aberglauben verbunden oft mit dem
schnödesten Reclameschwindel den schönsten Erfolgen einer ver-
tieften medicinischen Wissenschaft eine sehr ernste Concurrenz zu
machen. Man schüttet das Kind mit dem Bade kurzweg aus, weil
leider das suggestive Badewasser unserer Arzneiwirkungen und
anderer Heilapparate gar so trübe ist und hoch geht. Die wirk-
liche Begründung der homöopathischen Heilmethode z. B. fehlt
natürlich, so lange nicht der Beweis geliefert ist, dass die homöo-
pathisch verdünnten Heilmittel an und für sich, ohne Zuhülfe-
nahme der gläubigen Vorstellung des Kranken, ihre Wirkungen
erzielen.
Sollen wir desshalb in ein anderes Extrem verfallen und
kritiklos überall nur Suggestionswirkung sehen? Wer uns so ver-
steht oder zu verstehen affectirt, versteht uns nicht oder will uns
nicht verstehen, Man muss in der Medicin die ernsten Forschungen,
die klar und unwiderleglich feststehenden und die in ihrem ursäch-
lichen Zusammenhange erklärten Thatsachen von dem oben er-
wähnten therapeutischen Gefasel unterscheiden. Die Laien sind
so wie so stets bereit zu verwechseln und die ärztliche Wissen-
schaft mit den ärztlichen Schwächen zu verwerfen.
Es gibt Fälle und Behandlungsmethoden genug, bei welchen
eine sorgfaltige, vorurteilslose veigleichende Nachprüfung unter
abwechselnder Anwendnng der betreffenden Methode und der reinen
Suggestion (ohne dass der Kranke die Absicht merkt, vor Allem
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Suggestion, der gemeinsam wirkende Factor vieler Curmethoden. 215
aber bei verschiedenen Kranken) bald klar genug zeigt und bei
fortgesetzten Beobachtungen immer mehr zeigen wird, dass die bis-
herigen Erfolge sammt und sonders auf Suggestion zurückzuführen
sind. Man kann die Theorien specifischer Wirkungen gewisser
Mittel am besten dadurch widerlegen, dass man vom Kranken un-
bemerkt die Bedingungen der specifischen Wirkung beseitigt und
dennoch den gleichen oder einen noch besseren Erfolg erzielt, da-
durch, dass man geschickt und intensiv suggerirt. Dafür darf man
aber nicht selbst für das Mittel voreingenommen sein. Bern heim
hat zweifellos recht, wenn er die Wirkung der Suspension bei
Tabes, die Erfolge der Metallotherapie und den grössten Theil
wenigstens der Erfolge der Elektrotherapie auf reine Suggestion
zurückführt. Fügen wir aber diejenigen eines grossen Theiles der
Balneotherapie (der angeblichen specifischen Wirkung bestimmter
Thermen) der Hydrotherapie und vieler anderer neu- und alt-
modischer Curmethoden unbedenklich hinzu, bei welchen die ganze
Art der Erfolge zu klar dafür spricht.
Es darf dabei nicht vergessen werden, dass die Suggestions-
wirkung vieler Curmittel, durch das Geheimnissvolle ihres Wesens
(Elektricität, Metallotherapie), durch eigenthümliche locale Gefühle
(Elektricität), oder Schmerzen (Moxen), durch erotische Vorstellungen
(Brown- Sequard'sche Spermatotherapie), durch den gewaltigen
Shock, den sie hervorrufen (Suspension, kalte Douche), durch den
religiösen Glauben (Händeauflegen), durch die hohen Kosten oder
durch die veränderte Umgebung und die gesunde Lebensweise
(Badecuren) eine ganz besonders gewaltige ist, und vielfach dadurch
die Erfolge der einfachen Verbalsuggestion übertreffen kann.
Wenn ein solches Mittel öfters da hilft, wo einfache Hypnotisirung
im Stich gelassen hatte, beweist es somit keineswegs, dass die
Wirkung nicht auf Suggestion beruht. Desshalb wird man nach
wie vor solche Mittel zu gebrauchen und sie mit Verbalsuggestionen
passend zu verbinden haben.
Am lehrreichsten jedoch sind die Fälle, wo die Suggestions-
wirkung sich mit einer nachgewiesenen specifischen Arzneiwirkung
combinirt. Zwingend hat Bern heim festgestellt, dass das Chloro-
form oft suggestiv wirkt, in denjenigen Fällen nämlich, wo Kranke
nach kaum zwei bis drei Athemzügen fest einschlafen. In solchen
Fällen kann man ruhig bei der nächsten Sitzung die Chloroform-
maske mit irgend etwas anderem als Chloroform benetzen; die
Narcose wird dennoch erfolgen. Einen solchen Fall hat auch Roth
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216 Verbindung der Suggestion mit specifischen Arzneiwirkungen.
(Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte Bd. XIX, 1, S. 29, 1889)
beschrieben. Deutlicher ist noch die Mischung der Suggestion mit
der Arzneiwirkung bei der Entwöhnung der Morphinisten zu beob-
achten. Sie schlafen oft am Schluss der Cur auf blosse Wasser-
einspritzungen hin, und schlafen nicht ohne dieselben. Es wird
uns desshalb nicht einfallen, die narcotische Wirkung des Mor-
phiums und des Chloroformes zu bezweifeln, denn dieselbe ist ja
klar, sicher und gewaltig genug. Die wissenschaftliche Moral der
Geschichte ist aber die folgende:
Die Suggestion infiltrirt sich in raffinirtester Weise in allen
Handlungen unseres Lebens und combinirt sich in höchst compli-
cirter Art mit den therapeutischen Eingriffen aller Sorten, bald im
fördernden, bald im hemmenden Sinn ; sie summirt sich zu oder sub-
trahirt sich von der Arznei Wirkung. In vielen Fällen aber bildet
sie thatsächlich das einzige therapeutische Agens. Auf solche Weise
hat sie seit Jahrtausenden die Aerzte wie die Kranken über die
specifische Wirkung vieler Heilmittel getäuscht und der wissen-
schaftlichen Entwicklung der Therapie den grössten Eintrag gethan.
Zwar haben schon früher die „Gescheidteren" die Sache mehr oder
weniger durchschaut und der „Phantasie" eine grosse Rolle bei den
Heilwirkungen zuerkannt. Doch hatten selbst die Allergesc heidtesten
noch keine Ahnung von der Tragweite der Suggestion, von der
reellen, objectiven Intensität ihrer Wirkungen und von ihrer Iden-
tität mit den von ihnen selbst in den Bereich der Mystik verlegten
Erscheinungen des animalen Magnetismus (frühere Wunder- und
Zauberheilungen) gehabt.
Es ist nun ein Problem der Forschungen der zukünftigen
Therapie, durch exacte, sehr vorsichtige Versuche bei jedem Heil-
verfahren (sei es arzneilich, sei es äusserlich oder sonstwie an-
gewandt) das suggestive Element sorgfaltig und mit wissenschaft-
licher Genauigkeit auszuscheiden. Diese Aufgabe wird in vielen
Fällen eine äusserst schwierige und delicate werden. — Jedenfalls
warne ich bereits vor der leeren und kecken aphoristischen Be-
hauptung der Reclame, die man seit dem Bekanntwerden der
Suggestionslehre am Schluss einer grösseren Anzahl angegebener
neuer Heilmethoden lesen kann: „Suggestion ist ausgeschlossen.*
Gerade in solchen Fällen ist meistens die reine suggestive
Wirkung erst recht wahrscheinlich!
Es muss eine ernste und sorgfältige Würdigung der Sug-
gestion dazu beitragen, den in so hohem Masse aufgewucherten
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Sugg. Erfolge d.Curpfuscher. Suggestion, Mode u. Scheinwissensch. b. Aerzten. 217
und corrumpirenden heutigen therapeutischen Schwindel niederzu-
kämpfen.
Mit was für einem Recht streiten wir den Homöopathen, den
Naturheilkünstlern, Magnetiseurs, Wunder- und Gebetheilkünstlern
ihre Praxis und ihre Heilerfolge ab, die ja nur auf Suggestion und
auf der Medicin entnommenen Mitteln beruhen, so lange wir uns
selbst so gigantisch durch Suggestion irre führen lassen? Reissen
wir zunächst im eigenen Gebäude dem Schwindel und der Täuschung
durch wahre Forschung die Maske herunter ; dann werden wir mit
obgenannten Herren leichtes Spiel haben, denn sie nagen nur an
der Brust der Wissenschaft, aus deren Milch sie die kümmerlichen
Fetzen ihres Wissens schöpfen.
Als schlimmste sind aber noch zwei Punkte hervorzuheben.
Erstens die Thatsache, dass durch den falschen Glauben an eine
Unzahl specifischer Wirkungen von Arzneien und kostspieligen oder
angreifenden Curmethoden, die in That und Wahrheit ganz oder
grösstentheils nur suggestiv wirken, und sehr oft mehr schaden als
nützen, wir denjenigen Menschen theilweise recht geben, welche von
der ganzen Medicin (Chirurgie etwa ausgenommen) nichts mehr
wissen wollen und einfach „Rückkehr zu einer naturgemässen
Lebensweise verlangen", mit Bewegung im Freien, Abhärtung,
Vermeidung aller künstlichen toxischen Genussraittel, aller alko-
holischen Getränke etc. Es wäre wahrhaftig entmuthigend, wenn
die Medicin sich das Vorrecht der Vertretung dieses ersten Principes
jeder wahren und gesunden Hygiene von Pfarrern und ungebildeten
Naturheilkünstlern streitig machen liesse, indem sie durch Propaganda
für Alkohol, Morphium, Bordelle und tausendfache unnütze, theure
Medicinirerei der Hypochondrie, der Nervosität und der Ent-
artung unseres Geschlechtes mehr Vorschub leisten als Einhalt
thun würde.
Zweitens haben sich die Aerzte vor Suggestion bei sich selber,
d. h. vor Autosuggestion zu schützen. Es wird darin, wie Bern-
heim schon angedeutet hat, in der Medicin Unglaubliches geleistet.
Diese Thatsache lässt sich von den vorhergehenden nicht scharf
trennen, da der Arzt oft durch die Suggestionswirkungen bei den
Kranken selbst suggerirt wird. Doch meine ich hier die Aerzte,
die von ihren unklaren, unverdauten phantastischen Heilcombina-
tionen derart intuitiv beeinflusst werden, dass sie Panaceen daraus
machen, die ab und zu kaum viel logischer sind als die Riech-
seele oder die Haarpillen von Gustav Jäger. Wenn nur der
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218 Mode und Schein. Reformatoriache Bedeutung der Suggestionslehre.
Name des Verfassers wohl klingt und die Form der wissenschaft-
lichen Sprache eingehalten wird, oder wenigstens eins von Beiden
zutrifft!
Dafür aber fürchten sich die gleichen Leute, sich mit dem
Hypnotismus zu befassen, und affectiren von oben herab einen höh-
nischen Ton, weil das Ding ihnen ungewohnt vorkommt, ihnen dem
»Ruf nach mystisch oder schwindelhaft klingt. Sie fürchten sich
damit zu corapromittiren. Modejargon, resp. wortwissenschaftliche
Appretur des heutigen Tages ist ihnen ohne Weiteres massgebend ;
wissenschaftlich prüfen wäre ja „sich vergeben". „Die deutsche
Wissenschaft verhält sich ablehnend gegen den Hypnotismus" ist
eine jener stereotypen Phrasen, durch welche man sich für be-
rechtigt hält, sich der wirklichen wissenschaftlichen Prüfung der
Frage zu entziehen. Als ob die Wissenschaft überhaupt deutsch
oder französisch oder englisch wäre und über irgend etwas
a priori ablehnend oder wohlwollend zu urtheilen hätte! Das ist
die gleiche Geschichte wie der „Petit hypnotisme de Province* der
Pariser Schule.
Doch genug davon. Die Suggestionslehre Liebeault's und
Bernheim's bedeutet eine tief greifende allmälige Reform der
inneren Therapie, eine moralische Hebung der Medicin und ihres
Ansehens, sowie einen eclatanten Sieg über die Mystik aller Wunder-
curen und Geheimmittel. Selbst die äussere Therapie wird ihre
Lehren daraus zu ziehen haben und sich in Zukunft hüten, die
Eierstöcke zu exstirpiren da, wo eine Suggestion das Uebel be-
seitigt, das Caput gallinaginis zu misshandeln bei psychisch bedingten,
aber in die Sexualorgane subjectiv projicirten Leiden, Mädchen zu
defloriren und am Muttermund zu behandeln, deren Leiden nur im
Kopf liegt, die Magen- und Darmschleimhaut mit allen möglichen
Mitteln erfolglos zu gerben, um einen nicht vorhandenen Catarrh
oder eine Obstipation zu curiren, da wo wenige Suggestionen die
allein vorhandene Innervationsdyspepsie oft mit Leichtigkeit be-
seitigen und dergl. mehr.
XL Strafrechtliche Bedeutung der Suggestion.
In der Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft
hat v. Lilienthal (Der Hypnotismus und das Strafrecht) zuerst
eine vorzügliche Zusammenstellung der für das Strafrecht belang-
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Suggestion und Strafrecht, v. Lilienthal und Höfelt.
219
reichen Ergebnisse des Hypnotismus gegeben. Dieser Aufsatz ist
vom Standpunkt des Juristen aus verfasst und beleuchtet die Frage
in klarster Weise, v. Lilienthal kommt zu dem Resultat, dass
gegenüber den Gefahren des Hypnotismus für das Recht der Ge-
sellschaft unser gegenwärtiges Strafrecht genügende Anhaltspunkte
gibt. Rieger und andere Autoren, welche a priori und ohne Sach-
kenntniss den Hypnotismus verwerfen oder ignoriren, verdienen keine
Berücksichtigung mehr, da ihr von vorne herein unwissenschaftlicher
Standpunkt nunmehr in allen Theilen überwunden ist.
Höfelt (Het Hypnotisme in Verband met het Strafrecht, Leiden,
S. C. van Doesburgh 1889) hat eine gute und interessante Studie
über den Gegenstand veröffentlicht.
Im Folgenden will ich das Uebergreifen in das juristische Ge-
biet möglichst vermeiden und nur die Thatsachen hervorheben, die
mir nach meiner Erfahrung, wie nach der Erfahrung Anderer von
strafrechtlichem Belang zu sein scheinen.
Hiebei verweise ich noch auf das umfangreiche Werk Lie'geois'
„De la Suggestion et du somnambulisme, dans leurs rapports avec
la jurisprudence et la me*decine legale 1888". Allerdings bin ich
mit v. Lilienthal der Ansicht, dass die Sache in Wirklichkeit
durchaus nicht so gefährlich ist, wie sie Lie'geois ansieht. Dagegen
muss ich Lie'geois zum Theil in seinen Ausführungen gegenüber
Delboeuf beistimmen, der den Ernst und die strafrechtliche Be-
deutung der Suggestion doch zu sehr verkennt.
Zunächst wäre die interessante Thatsache voranzustellen, dass
die ohne hypnotische Procedur von jeher beobachtete und bekannte
Eigenschaft gewisser Menschen, sehr leicht, wie instinctiv und un-
bewusst, sich von Anderen beeinflussen zu lassen, auf Suggestion
beruht. Bei gewissen Menschen ist diese Eigenschaft hochgradig
entwickelt, und zwar bei Männern wie bei Frauen. Sie können
den Einreden, dem Einfluss derjenigen, die sich mit ihnen abgeben,
einfach nicht widerstehen, sind daher der Spielball anderer
Menschen und werden meistens missbraucht. Man nennt sie oft
willensschwach. Sie sind dennoch oft recht intelligent, arbeitsam
und durchaus nicht immer schwach ihren eigenen Leidenschaften
gegenüber. Sie können sogar grosse Hingebung, Energie und
Ausdauer zeigen, sind aber unfähig, den Suggestionen gewisser
anderer Menschen zu widerstehen; die grellsten Thatsachen bringen
sie nicht zur Vernunft, resp. vermögen sie nicht dem Einfluss
desjenigen Menschen zu entziehen, der sich einmal ihrer bemeistert
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220 Suggestiver Einfluss gewisser Menschen. Verbrechen an Hypnotisirten.
hat, ihnen übrigens geistig durchaus nicht immer überlegen zu sein
braucht. Ein Buch, ein Gedanke kann sie auch ähnlich beeinflussen.
Anderseits finden wir Menschen, welche es verstehen, andere
Menschen unwiderstehlich unter ihren Einfluss zu bringen. Es sind
dies grosse Hypnotiseurs von Natur aus, welche oft ihre Gabe arg
missbrauchen, wenn sie gewissenlos sind. Ein historischer Typus
dieser Art war Napoleon I. Man glaubt oft, der Erfolg mache
dies allein. Es ist sicher unrichtig. Im Kleinen kann man solche
Menschen beobachten, welche viele Misserfolge haben, weil ihnen
ein klares Urtheil abgeht, und die dennoch wie „magnetisch" auf
viele andere Menschen, besonders auf Frauen, wirken und eine ganze
Reihe derselben nach einander ins Verderben ziehen. Die Opfer
derselben erklären nicht selten später, sie hätten dem Einfluss des
Betreifenden einfach nicht widerstehen können, hätten einen sinn-
bethörenden geistigen Zwang empfunden. Nicht nur bei der „ Liebe",
sondern auch ohne jede sexuelle Beimischuug kommen solche Fälle
bekanntlich vor.
Jene Thatsachen sehen der Suggestion im Wachzustand so
ähnlich wie ein Ei dem anderen. Inwiefern diese ihre psychologische
Verwandtschaft mit einem geistig ganz unfreien, willenlosen Zu-
stand sie zukünftig in der strafrechtlichen Praxis verwerthbar
machen sollen oder nicht, dies zu beurtheilen, dürfte Sache der
Juristen sein 1 ).
Gehen wir zum Hypnotismus im engeren Sinne über, so ist
zunächst, wie es v. Lilienthal gethan hat, hervorzuheben, dass
Hypnotisirte Gegenstand von Verbrechen sein oder Verbrechen be-
gehen können. Absichtlich unterlasse ich es, Literaturauszüge zu
machen, um Wiederholungen des Aufsatzes v. Lilie nthal's zu
vermeiden. Die Tragweite der Suggestion soll uns hier vornehmlich
beschäftigen.
Es ist für mich klar, dass alle erdenklichen Verbrechen bei
Hypnotisirten auszuführen sind, sobald ein etwas höherer Grad von
Hypnose erzielt wird. Und wir haben gesehen, dass man auf das
Nichtwollen von Seiten des Hypnotisirten nicht zu viel Gewicht
legen darf, indem es da alle möglichen Nuancen gibt. Immerhin wird
eine allgemeine Kenntniss des Hypnotismus das Publikum mit seinen
Gefahren vertrauter und damit wehrfähiger machen. Ferner sind
') Beim berühmten Process Czynski scheint man die vorstehenden Ab-
sätze der 2. Auflage meines Buches wenig berücksichtigt zu haben.
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.... .
t \ » * A * >■
' OF T ME
UNiVE.lSiTY
Verbrechen an Hypnotisirten. "*"~*m**m*' ■
die von Bernheim und Beaunis empfohlenen Vorsichtsmass-
regeln der Zuziehung eines autorisirten Zeugen bei der Hypnoti-
simng und der Einholung einer vorgängigen Erlaubniss für die zu
gebenden Suggestionen von v. Lilienthal bereits erwähnt worden.
In praxi wird jedoch dieser zweite Punkt schwer durchzuführen
sein, und gerade die französischen Autoren sind es, welche gegen
denselben am meisten gesündigt haben.
Einen anderen und zwar den grössten Schutz trägt aber der
Hypnotisirte in sich selbt. So verlockend und leicht die Ausfüh-
rung eines Verbrechens an einem Hypnotisirten ist, so gefährlich
sind andererseits die Folgen desselben für den Verbrecher, denn
das ganze Gebäude, auf welches er seine Sicherheit baut, ist ein
gar flüchtiges Ding, das leicht zerstört werden kann. Der Hyp-
notisirte erwacht manchmal im Moment, wo man am wenigsten
daran denkt. Man glaubt ihn manchmal amnestisch, und plötzlich
wird ihm die Erinnerung an Alles, was geschehen ist, durch irgend
eine Autosuggestion wieder bewusst. Der Hypnotisirte kann mei-
stens durch einen anderen hypnotisirt werden, und dadurch kann
ihm die vollste klarste Erinnerung an alle Vorgänge während eines
späteren hypnotischen Schlafes wiedergegeben werden. Alle Ein-
drücke, die sein Gehirn während der Hypnose erhielt, sind darin
geblieben. Nur ein hemmender Bann verhindert, dass sie bewusst
werden ; und dieser Bann kann leicht gehoben werden. Ich glaube,
dass das instinctive Gefühl dieser Thatsache von Seiten der Hyp-
notiseure hauptsächlich daran Schuld ist, dass bisher so wenig Ver-
brechen an Hypnotisirten begangen worden sind.
Allerdings verlieren sich alle diese Schutzeigenschaften des
Hypnotismus fast ganz für gewisse „bessere Somnambulen", be-
sonders für gewisse hysterische Personen, welche so vollständig
und tief der Suggestion anheimfallen, dass man sie mit relativ
grosser Sicherheit zu Allem missbrauchen kann. Es ist sehr schwer
zu sagen, welche Procentzahl der Menschen zu dieser letzteren
Categorie gehört, denn bei vielen Menschen, die man nur ein oder
zwei Mal hypnotisirt hat, kann man es noch nicht beurtheilen.
Wie wir sahen, kann ein Mensch, der eine Zeit lang nicht oder
kaum hypnotisirbar erschien, plötzlich, wenn man den richtigen
Angriffspunkt für seine individuelle Suggestibilität auffindet, zu
einem perfecten Somnambulen werden. Die bisher von der Nancy-
schen Schule angenommene Zahl von 15 — 20 Somnambulen unter
100 Menschen, und von ungefähr 50 unter 100 Kindern dürfte
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222 Lethargie u. Somnambulismus meistens darin gleichwertig. Sex.Verbrechen.
daher bei genügender Uebung und tieferem Eindringen in das Ver-
ständniss der Suggestion bedeutend erhöht werden (siehe 0. Vogt's
Resultate). Immerhin gibt es viele Grade im Somnambulismus, und
auf der anderen Seite muss man durchaus nicht glauben, dass es
leicht wäre, bei jedem Somnambulen unbemerkt Verbrechen zu ver-
üben. Lie'geois verkennt die Suggestion, wenn er die Somnam-
bulen ohne Weiteres für Automaten erklärt, und wir müssen hier
constatiren, dass Bernheim ihm in diesen Uebertreibungen nie
gefolgt ist.
v. Lilienthal glaubte einen Unterschied zwischen dem lethar-
gischen und dem somnambülen Zustand strafrechtlich dadurch
machen zu können, dass er den Lethargischen allein als bewusstlos
im juristischen Sinne, wohl in Folge der Angaben Charcot's, be-
trachtete. Der sprechende Somnambule mit seinen offenen Augen
ist aber oft de facto ebenso widerstandslos als der nur scheinbar
bewusstlose Lethargische. Ich verweise dafür auf das oben Ge-
sagte. Natürlich nehme ich die tiefe pathologische Lethargie aus
(siehe oben), die aber nicht mehr zum Hypnotismus, sondern in
die Categorie der hysteroepileptischen und epileptischen Anfälle ge-
hört, sich aber auch nicht wie diejenige von Charcot nach Be-
lieben in Somnambulismus umwandeln lässt.
Obenan stehen sexuelle Verbrechen, welche auch bisher fast
allein in der Literatur vorkommen. Es handelt sich da einfach um
den Missbrauch einer tiefen Hypnose zum Beischlaf von Seiten eines
Hypnotiseurs, der sicher ist, dass sein Opfer nicht erwachen und
amnestisch bleiben wird. Dieses ist zweifellos bei gewissen recht
guten Somnambulen möglich, d. h. bei solchen tief schlafenden
Eypnotisirten , welche anästhetisch gemacht werden können und
amnestisch bleiben. Bedenkt man, das von 23 Wärterinnen 19 von
mir in tiefen Schlaf mit Amnesie und Anästhesie versetzt werden
konnten, so wird man die Gefahr leicht ersehen, von der Gefahr,
nachher entdeckt zu werden, abgesehen. Aber die Gefahr
ist so gross, wenn man bedenkt, dass sich die beiden Ketten (die
oberbewusste und die unterbewusste) im gleichen Gehirn abspielen,
dass der Verführer sicherer und klüger sein Ziel mit der Wach-
suggestion erreichen wird, die vom Strafgesetz nicht leicht verfolgt
werden kann (siehe Process Czynski). Dass Mord, Diebstahl an
solchen wehrlosen Personen leicht verübt werden könnten, ist selbst-
verständlich ; es kommt im Augenblick aufs Gleiche heraus, wie
wenn sie scheintodt, betäubt oder tief blödsinnig wären. Allerdings
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Postbypnotische verbrecherische Suggestionen.
223
setzt es voraus, dass der Verbrecher im Voraus keinen Augenblick
das Misstrauen seines Opfers geweckt hat, sonst kann er ihn damit
allein desuggeriren. Aber schliesslich ist der Gewinn für den Ver-
brecher gegenüber dem üblichen Ueberfall ahnungs- und wehrloser
Menschen nicht so bedeutend.
Complicirter erscheint der Missbrauch posthypnotischer Wir-
kungen der Suggestion. Man mag abwarten, bis solche Fälle zur
strafgerichtlichen Beurtheilung kommen. Ich glaube aber, dass es
gut ist, sich jetzt schon über die Sache klar zu werden.
Wir haben gesehen, wie verschiedenartig diese Erscheinungen
je nach den Persönlichkeiten sind. Sehr interessant ist nun die
verschiedenartige individuelle ethische oder ästhetische Reaction der
normalen Persönlichkeit gegenüber einer unethischen oder unästhe-
tischen posthypnotischen Suggestion.
Sage ich einem Hypnotisirten: „Sie werden nach dem Erwachen
einen Schluck Wasser aus diesem Glase trinken," so erfolgt die
Suggestion ohne Weiteres. Füge ich hinzu : „ Sie werden zudem diesen
Stuhl auf den Tisch setzen" — so werden schon manche stutzen,
den Stuhl betrachten, sich geniren, lachen, und schliesslich werden
einige darunter diese zweite Suggestion nicht ausführen, weil sie
die Sache zu dumm, zu einfaltig finden. Fragt man sie, was sie
gedacht haben, so antworten sie: „Ich hatte den dummen Gedanken,
diesen Stuhl auf den Tisch zu setzen." — Nach Art einer Zwangs-
vorstellung kann dieser Gedanke nun den Hypnotisirten längere Zeit
verfolgen, wenn er die Suggestion nicht ausgeführt hat. Aber durch-
aus nicht immer. Oft vergeht er, und alles ist vorbei. Sage ich
einer noch suggestibleren Hypnotisirten, die den Stuhl auf den Tisch
gestellt hat: „Nach dem Erwachen werden Sie dem hier anwesen-
den Herrn X. einen Kuss geben," oder „Sie werden das Tintenfass
auf ihre Hand giessen", oder „Sie werden das Messer, das da auf
dem Tisch liegt und mir gehört, einstecken; ich werde es nicht
sehen; es ist zwar ein kleiner Diebstahl, aber es macht nichts," so
wird die Sache anders verlaufen. Ein heftiger Kampf wird zwischen
dem Drang der Suggestion einerseits und den associirten ästhe-
tischen oder ethischen Gegenvorstellungen der normalen Individuali-
tät, d. h. der ererbten und der erworbenen (anerzogenen) Hirn-
dynamismen andererseits stattfinden. Dieser Kampf wird um so
heftiger werden, je stärker jene Gegenvorstellungen und die Sug-
gestibilität entwickelt sind. — Je stärker die antagonistischen Kräfte
entwickelt sind, desto heftiger wird bekanntlich der Kampf. — Sein
Digitized by Google
224 Momente, von welchen die posthypnotische suggestive Wirkung abhängt.
Ausgang wird sowohl von der augenblicklichen Intensität als von
der Dauerhaftigkeit einer jeden jener Kräfte abhängen. Hierbei
muss man nun die einzelnen Coraponenten berücksichtigen, aus
welchen jede der antagonistischen Kräfte besteht; es sind diese:
1. Die Höhe der individuellen Suggestibilität.
2. Die Dauerkraft der Wirkung einer Suggestion im Gehirn
des Hypnotisirten.
3. Die Stärke der hypnotischen Erziehung oder Dressur.
4. Die Tiefe des Schlafes (welcher durch Dissociation die Resi-
stenzkraft der normalen Seele abschwächt und besonders bei der
Thätigkeit in der Hypnose selbst in Betracht kommt).
5. Die adäquate, d. h. der gewünschten Wirkung möglichst
geschickt und kräftig angepasste Suggestion, d. h. psychische Wir-
kung des Hypnotiseurs.
G. Die normale Individualität des Hypnotisirten, d. h. die Höhe
und die besondere Art seiner ethischen und ästhetischen Anlagen,
seine Willenskraft, seine Erziehung u. s. w.
7. Der momentane psychische Zustand des Hypnotisirten u. s. w.
Der Punkt 6 ist sehr wichtig. Wer wenig Gewissen besitzt,
wird ceteris paribus einer Criminalsuggestion viel leichter Folge
leisten, als wer ein stark entwickeltes Gewissen besitzt. Aber auch
wer schlau ist, wird ohne Vortheil für sich nicht sobald einer
Criminalsuggestion gehorchen, sobald er Lunte riecht.
Der Punkt 4 trifft, nach früheren Auseinandersetzungen, inso-
fern auch für posthypnotische Zustände zu, als solche mehr oder
weniger den Charakter einer erneuerten Hypnose an sich tragen.
Je vollständiger der Hypnotisirte wach ist, desto eher kann er sich
gegen eine Suggestion wehren. Man kann ihm aber suggeriren,
dass er posthypnotisch wieder einschlafen wird.
Man sieht, wie complicirt das Problem ist, und es handelt sich
vor Allem um die Frage: „Wie weit kann es gehen?"
Wir haben gesehen, dass selbst während des tiefen hypno-
tischen Schlafes ein Kampf zwischen der Suggestion und der In-
dividualität des Hypnotisirten stattfinden kann. Nicht jede Sug-
gestion wird acceptirt; das hat Bernheim klar gezeigt. — Aber
auch wenn eine Criminalsuggestion acceptirt wird, hinterlässt sie
meist Spuren eines tiefen associirten AfFectes.
Einem siebzigjährigen Manne, den ich in tiefen Schlaf versetzt
hatte, und der in einem leeren Raum in Gegenwart des Züricher
Juristenvereins sass, sagte ich: „Sie, B.! Gerade vor uns steht da
Digitized by Google
Ausführung von Criminalauggestionen in der Hypnose. 225
ein böser Kerl, ein schlechter Hallunke; den wollen wir umbringen;
da haben Sie ein Messer (ich gebe ihm ein Stückchen Kreide in
die Hand); er steht gerade vor Ihnen, stechen Sie ihn in den
Bauch!* — Grosse innere Aufregung verrathend, zitternd, mit ver-
zerrten Zügen, fasst er krampfhaft die Kreide mit der rechten
Hand, steht plötzlich auf und sticht mit grosser Wucht zweimal
nach einander vor sich in die Luft. Er bleibt nachher in der
Hypnose sehr erregt, gibt mir die Kreide nicht wieder, sondern
steckt sie in die Tasche. Ich brauche mehrere Minuten, um ihn
durch Suggestion zu beruhigen. Als ich ihn dann wecke, ist er
noch schweisstriefend und erregt. Er kann sich nicht mehr er-
innern, was es gegeben hat, aber sagt, „es müsse etwas Gefehltes
passirt sein".
Bernheim, Lie'geois und andere französische Autoren er-
wähnen höchst interessante Fälle von zum Theil ruhig, affectlos
ausgeführten Criminalsuggestionen , von (zum Schein) begangenen
Mordthaten, von suggerirten wirklichen Diebstählen etc.
Um einem jungen Juristen, Herrn Höfelt, der darüber seine
Dissertation machen wollte, zu helfen, machte ich zwei solche Ex-
perimente. Einem älteren, gut suggestiblen Mann, den ich eben
hypnotisirt hatte, gab ich einen Revolver, den Herr Höf elt vorher
selbst mit Zündhütchen allein geladen hatte. Ich erklärte ihm, auf
Herrn H. deutend, das sei ein ganz schlechter Mensch, den er todt-
schiessen solle. Mit grosser Entschiedenheit nahm er den Revolver
und schoss direct auf Herrn H. einen Schuss. Herr H. fiel, den
Blessirten simulirend, um. Ich erklärte nun dem Hypnotisirten, der
Kerl sei noch nicht ganz todt; er solle ihm noch einen Schuss
geben, was er auch ohne Weiteres that. Prof. Delboeuf wird mir
entgegnen, dass der Hypnotisirte von vorne herein gewusst habe,
dass ich ihm kein wirkliches Verbrechen befehlen würde. Ich gebe
dieses zu. Doch muss er mir zugeben, dass der Mann eine ganz
wunderbare, kaum glaubliche Geistesgegenwart und ein unbegrenztes
Vertrauen gehabt haben müsste, denn 1. solche Experimente waren
bei mir nie gemacht worden, 2. die Ladung des Revolvers mit Zünd-
hütchen, von welcher er nichts wusste, und die im geschlossenen
Zimmer einen sehr starken Knall verursachte, sowie das sehr gut
gespielte Fallen des Herrn H. sollten doch die Contenance des besten
Simulanten, für den Augenblick wenigstens, gestört und ihn ge-
weckt haben, was aber absolut nicht der Fall war; der zweite
Schuss erfolgte so sicher wie der erste.
Forel, Der Hypnotismus. 4, Aufl. 15
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226
Ausführung von CriminalsuggeBtionen. Delboeuf s Anrieht
Ein braves (älteres und hassliches) Mädchen, das ich seit Jahren
als ungeheuer schamhaft kannte, indem es bei den harmlosesten
ärztlichen Untersuchungen (Brust z. B.) sich verzweifelt wehrte und
aufregte, war zugleich eine äusserst suggestible Somnambule. Sie
hatte zur Zeit jedoch nicht die geringste Verbindlichkeit mir gegen-
über und auch keine Anstellung oder dergl. von mir zu erhoffen.
Ich riet Herrn Höfelt, sie aufzusuchen und sie dazu zu bestimmen,
sich von mir in seiner Gegenwart hypnotisiren zu lassen. Sie
willigte darin ein. In der Hypnose gab ich ihr nun die Suggestion,
sich vollständig bis über den Nabel vor diesem fremden Herrn und
in meiner Gegenwart zu entblössen, was sie auch sofort, ohne
Zögern, ohne die Spur eines Affectes zu zeigen, that. Ich war
selbst darüber verblüfft. Wäre ich nicht absolut sicher ihrer com-
pleten Amnesie gewesen , so hätte ich bei ihr dieses Experiment nie
gewagt, denn sie wäre in Verzweiflung gerathen. Ich habe über-
haupt dieses Experiment nur mit grossem Widerwillen und der
Sache zu lieb gethan, denn derartige Experimente grenzen an das
Unerlaubte. Andererseits muss doch Licht in die Frage kommen.
Herr Prof. Delboeuf wird mir sagen, dass hundert Mädchen dieses
auch beim Bewusstsein thäten. Doch eben nur eine gewisse Ca-
tegorie Mädchen. In diesem Fall kannte ich das Mädchen und
dessen soliden, schamhaften Charakter seit Jahren sehr genau, sonst
hätte auch ich dem Experiment keinen Werth beigelegt. Dass ich
eine andere Hypnotisirte sofort bestimmte, Herrn Höfelt eine
kräftige Ohrfeige zu appliciren, beweist viel weniger (siehe J. A.
Höfelt L c).
Mit Delboeuf muss man allerdings anerkennen, dass Lie'geois
die strafrechtlichen Gefahren der Suggestion sehr übertrieben hat,
und die Thatsachen, d. h. die sehr geringe Zahl wirklich nach-
gewiesener, durch den Hypnotismus (die Suggestion) veranlasster
Verbrechen, scheinen ihm ganz Recht zu geben. Delboeuf ver-
allgemeinert jedoch viel zu sehr seine Negation. Er hat ja selbst
gesagt, dass er seine Somnambulen nicht amnestisch machte und
ihnen keinen tiefen Schlaf suggerirte. Das ist nun Geschmackssache,
aber dadurch gibt er denselben allen die Suggestion des leichten
Schlafes und vernachlässigt die Experimente des tiefen Schlafes
mit Amnesie und Anästhesie. Es gibt zweifellos eine Anzahl
Somnambulen, die so colossal beeinflussbar sind, dass
sie fast absolut widerstandslos den Suggestionen des
Hypnotiseurs geliefert sind. Diese sind es eben, die gefahr-
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Muthmaaslicbe Tragweite der Criminabuggestionen. Fall Bompard. 227
liehe Instrumente von Verbrechen, wie auch die besten Objecto
solcher werden können. Deshalb brauchen sie nicht nothwendig
schlechte oder sehr willensschwache Menschen zu sein; sie sind oft
nur in jener Hinsicht schwach. Ich kenne darunter sogar recht
ordentliche Charaktere. Die Thatsache, dass solche Menschen schon
früher von schlauen Verbrechern stets zu ihren Zwecken, auch
ohne Hypnose, missbraucht wurden, wird von Delboeuf etwas
einseitig ausgebeutet. Denn Delboeuf anerkennt, dass eine förmliche
Hypnose zur suggestiven Beeinflussung nicht nothwendig ist. Folglich
darf er nicht der Nancy'schen Schule vorwerfen, diese Fälle irr-
thümlich der Suggestion zuzuschreiben, sondern muss im Gegentheil
die früheren Rechtsprechungen beschuldigen, die Suggestion verkannt
zu haben. Liägeois hat dagegen nach der Ansicht aller ruhig
denkenden Specialisten Unrecht, in dem berühmten Fall des Mordes
durch Gabriele Bompard sich einzubilden, dass diese moralisch
defecte Person in der Hypnose die "Wahrheit über den Sachverhalt
des Mordes gesagt hätte. Darin hat Delboeuf vollständig Recht,
ihm Opposition zu machen. Bei der grossen Beeinflussbarkeit der
Bompard ist es dagegen, obwohl sie selbst es nicht behauptet,
recht gut möglich und nicht unwahrscheinlich, dass sie als Instrument
in den Händen Eyraud's gehandelt hat.
Die Frage gewinnt aber ein ganz anderes Aussehen, wenn
man sich zunächst auf den Standpunkt des Gerichtes stellt und die
Bompard als zweifellos ethisch defectes, hysterisches Subject be-
trachtet. Dieses dürfte wohl sicher zutreffen. Die Absurdität der
gerichtlichen Logik Hegt jedoch in der Verurtheilung solcher Men-
schen, wie auch ich mich wiederholt bemüht habe, es auszusprechen
(Zeitschrift für Schweizer Strafrecht, H. Jahrgang, 1. Heft, 1889,
Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte, 1890, etc.). Auch Del-
boeuf stimmt für Verurtheilung (Revue de l'Hypnotisme, Januar
1891), „weil die Gesellschaft nicht das Verbrechen zu bestrafen
oder den Verbrecher zu verbessern, sondern nur sich zu vertheidigen
zur Aufgabe habe, und weil Leute wie die Bompard gefährlich
seien, und es besonders gefährlich sei, durch Milde oder Straflosig-
keit deren Rasse zu fördern". Hier hat nun der vortreffliche alte
Logiker und Forscher einen Lapsus begangen, den ich ihm nicht
schenken kann. Denn nach seinem Raisonnement müsste man alle
gefährlichen Geisteskranken aus genau den gleichen Gründen „be-
strafen". Abgesehen von der Strafe stimme ich ihm bei, aber in
umgekehrtem Sinn. Man sollte alle Verbrecher unschädlich machen,
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228
Diebstahl. Misebrauch des Vertrauens der Hypnotisirten.
genau wie die Geisteskranken; — dazu ist die Gesellschaft freilich
verpflichtet — aber nicht das Odium von gerichtlichen Verur-
theilungen auf unverantwortliche Gehirne mit grossem Pomp ver-
hängen (siehe übrigens Delbrück: „Die pathologische Lüge 6 und
Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie).
Sicher bleibt für mich die Thatsache, dass ein sehr guter
Somnambule im hypnotischen Schlaf durch Suggestion schwere Ver-
brechen begehen und unter Umständen nachher nichts mehr davon
wissen könnte.
Der beste Beweis, dass die guten Somnambulen die Hand-
lungen, die sie posthypnotisch begehen, für frei von ihnen gewollt
halten, liegt in der Art, wie sie sich darüber schämen, geniren und
dieselben oft zu vertuschen suchen. Eine ethisch ziemlich schwach
entwickelte Hypnotisirte Hess ich posthypnotisch ein auf dem Tisch
liegendes Messer stehlen. Als sie aus dem Zimmer war, ging sie
recht verlegen zu meiner Köchin und sagte ihr, sie habe aus Ver-
sehen dieses Messer, sie wisse nicht wie, mitgenommen, und bat sie,
dasselbe, ohne mir etwas zu sagen, „weil sie sich genire", wieder
an seinen Platz zu legen.
Eine der raffinirtesten Tücken der Suggestion würde jedenfalls
in der immerhin möglichen Benutzung der Termineingebung mit
Eingebung der Amnesie und des freien Willensentschlusses liegen,
um einen Menschen eine Handlung zu eigennützigem Zwecke oder
eine verbrecherische Handlung begehen zu lassen.
Vielfach ist früher beobachtet worden, dass die Hypnotisirten
sich vor ihrem Hypnotiseur fürchteten, sich vor ihm verbargen,
etwa wie vor einem „bösen Geist". Es kam dies daher, dass die
damaligen „Magnetiseurs* den psychologischen Sinn ihrer eigenen
Kunst nicht verstanden und die Hypnose mittels allerlei mystisch
aussehendem Hocuspocus erwirkten. Bei Liäbeault's Methode
wird die Hypnose mit Hülfe tröstender, beruhigender, natürlicher,
freundlicher Worte erzielt. Der Hypnotiseur erscheint nicht mehr
als ein Mephistopheles mit seinem Spuk, sondern als der heil-
bringende Arzt oder wenigstens als der vertrauenerweckende Mann
der Wissenschaft, der nur natürliche, keine übernatürliche Mittel
anwendet. Zudem hat er es in seiner Macht, durch Suggestion die
Hypnose dem Hypnotisirten beliebt und erwünscht zu machen. Er
kann ihm Wohlgefühl, Heiterkeit, Schlaf, Appetit suggeriren. Daher
erklärt es sich, dass die so hypnotisirten Personen grösstenteils
sehr gerne wiederkommen und den Hypnotiseur als einen Freund
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Gefahr, v. Hypnotisirten erkannt zu werden. Schutzmittel gegen Missbrauch. 229
betrachten. Gerade darin liegt aber eine der grössten strafrecht-
lichen Gefahren der Suggestion. Mit Honig, nicht mit Essig fängt
man die Fliegen. Es ist zwar nicht erst von gestern her, wie wir
schon sahen, dass gewisse sirenenartige Menschen die Gabe hatten,
andere Menschen zum blinden Werkzeug ihrer egoistischen Zwecke
zu machen. Aber mittels einer zielbewussten regelrechten Suggestion
kann in dieser Hinsicht wohl zweifellos zukünftig noch mehr erreicht
werden.
Trotz alledem ist aber die Gefahr, dass der Hypnotisirte, der
so fein auf den Hypnotiseur achtet, unlautere Absichten desselben
sehr bald wittert und dadurch seine Suggestibilität verliert, für den
Hypnotiseur eine so grosse, dass sie offenbar alles Andere auf-
wiegt und dadurch die strafrechtliche Gefahr des Hypnotismus that-
sächlich ungeheuer reducirt.
Und andererseits bringt die neue Erkenntniss das Gegenmittel
auch mit sich: die Menschen werden durch sie vor der Gefahr der
Suggestion durch schlechte Menschen gewarnt. Der Strafrichter
wird die psychologische Bedeutung der ganzen Thatsachenreihe
würdigen und berücksichtigen lernen. — Endlich kann eine sehr
suggestible Person dadurch, dass sie sich von einem ehrenwerthen
Arzt vor Zeugen in günstiger Weise suggeriren lässt, einen bedeu-
tenden, wenn auch nicht absoluten Schutz gegen schlechte Sug-
gestionen erwerben. Dieser Schutz wird durch Suggestionen der
Willenskraft, das Sichwehren gegen böse Einflüsse u. s. w. gewonnen
werden. Vor Allem aber wird man dem Hypnotisirten sagen : „Ich
allein kann Sie hypnotisiren, sonst Niemand auf der Welt."
Leider kann auch ein Verbrecher ähnliche Mittel anwenden
und dem Hypnotisirten suggeriren: »Ich allein kann Sie einschläfern
und Sie wissen dann nicht mehr, dass Sie hypnotisirt waren." An
der Hand von Experimenten, die er in Gemeinschaft mit Bern-
heim und LiSbeault ausgeführt hat, zeigt zwar Lie'geois 1. c,
dass man einen Hypnotisirten, dem ein Bösewicht in schlauer Weise
zur Begehung des suggerirten Verbrechens Amnesie, eigenen Ent-
schluss u. s. w. suggerirt hat, dennoch zum Verrathen des Thäters
auf indirectem Wege, durch Suggestion von scheinbaren Schutz-
massregeln für den Thäter u. s. w. bringen kann. — Immerhin
scheint er anzunehmen, dass man den Somnambulen wieder hyp-
notisiren kann, dass der Thäter ihm nicht mit Erfolg suggeriren
könne : Niemand mehr auf der Welt könne ihn wieder hypnotisiren.
Ich glaube übrigens auch, mit Lie'geois, dass eine Entlarvung
230 Schutzmittel gegen d. Missbrauch d . Hypnose. Erzeugung von Krankheiten.
des wahren Verbrechers durch hypnotische Bearbeitung des Somn-
ambulen durch einen geübten Hypnotiseur stets leicht gelingen wird,
wenn es nicht im Interesse des Hypnotisirten liegt, zu schweigen.
Aber damit ist die Möglichkeit des Verbrechens nicht aus-
geschlossen. Die Verbrecher begehen oft genug ihre Thaten ohne
die genügenden Vorsichten, und der Hypnotismus kann dennoch
seinen Anziehungsreiz für die Verbrecher ausüben, weil er für den
nächsten Augenblick bis zu einem gewissen Grad Sicherheit
und Schutz dem Verbrecher gewährt. Auch wird man nicht immer
an Hypnotismus denken bei einer suggerirten, aber scheinbar spon-
tanen That.
Der Fall Czynski, wo ein hypnotisirender pathologischer
Schwindler (Czynski) eine adelige anständige Dame sexuell ver-
führte und heirathen wollte, indem er sie zuerst zu Heilzwecken
hypnotisirte, dann aber ihr Mitleid zu erregen suchte und ihr heisse
Liebe vorschwindelte (wahrscheinlich zugleich auch empfand, wie
es bei der Phantasie solcher pathologischen Schwindler vor sich zu
gehen pflegt), zeigt deutlich, wie schwer es ist, die Grenze zu
ziehen. Prof. Hirt will die Suggestion ausschliessen und nimmt
natürliche Liebe an; Prof. Grashey nimmt Hypnose an und spricht
von pathologischer Liebe. Etwas pathologisch ist freilich die Liebe
der meisten Psychopathen wie diese Baronin. Dr. von Schrenck
nimmt eine suggestive Einwirkung an, und zwar gewiss mit Recht.
Zweifellos hat ein gewaltiger suggestiver Einfluss stattgefunden.
Aber ein solcher findet bei jeder intensiven Verliebtheit statt, worin
auch Hirt Recht hat. Wie ich eben wiederholt betont habe,
handelt es sich um Summirungen von Wirkungen. Mit Hülfe
einer geschickten hypnotischen Suggestion kann ein Plus erzielt
werden und kann die sexuelle Neigung zu unwiderstehlicher Hin-
gebung werden. Wer kann alle diese Imponderabilien genau ab-
wägen!?
Eine weitere Gefahr der Hypnose dürfte in der Erzeugung
von Krankheiten bestehen. Aus naheliegenden Gründen sind keine
experimentellen Beweise dieser Vermuthung geleistet worden. Den-
noch ist die Sache zweifellos möglich, sogar leicht. Zufällig, durch
schlechte Hypnotisationsmethoden, sind hysterische Anfälle erzeugt
worden. Selbst die Nancy'sche Methode kann, sahen wir, in den
ungeschickten Händen eines Neulings unangenehme Zufälle hervor-
rufen, wenn der Hypnotiseur es nicht versteht, die Autosuggestion
eines krankhaften Symptoms, die sich etwa bei der ersten Hypnose
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Erzeugung krankhafter Erscheinungen durch Suggestion. 231
bildet (z. B. Zittern, Kopfweh und dergl.), sofort durch energische
Gegensuggestion im Keim zu ersticken, was nach meiner Erfahrung
stets möglich ist. Solche Unfälle werden wohl meist, wenn nicht
immer, durch einen Sachkundigen wieder gut gemacht werden
können. — Aber schon Lie"beault und später Bernheim haben
darauf hingewiesen, dass manche eigentümliche Erscheinungen, ge-»
wisse Krankheiten und sogar Todesfälle, die der Betreffende auf
bestimmtes Datum selbst prophezeit hatte oder die ihm durch Weis-
sagung prophezeit worden waren — und dann auch genau ein-
trafen — auf Autosuggestion oder Suggestion beruhen dürften-
Durch Autosuggestion kann besonders ein zu Hypochondrie neigen-
der Mensch sich furchtbare Appetitlosigkeit, Dyspepsie und dadurch
bedeutende Abmagerung u. s. w. zuziehen. Bedenken wir noch,
dass man durch Suggestion einen Vorgang, wie die Menstruation
der Frauen, nach Belieben hervorrufen und verhindern kann
(ich habe experimentell durch Suggestion die Menstruation einer
Frauensperson um zwei volle Wochen verspätet), so dürfte es
keinem Zweifel unterliegen, dass man in verbrecherischer Weise
durch Suggestion Krankheiten, eventuell indirect (vielleicht sogar
direct) den Tod hervorrufen kann. Wenn es möglich wäre, Herz-
lähmung z. B. oder Glottisödem zu suggeriren, so wäre die Mög-
lichkeit einer directen Todessuggestion gegeben. Wie wir gesehen
haben, zieht die Suggestion an und für sich, wenn sie umsichtig
in richtiger Weise nach der Nancy'schen Methode angewendet
wird, keine Nachtheile, weder Hysterie noch Nervosität nach sich.
Und wenn sie irgend ein unangenehmes Symptom, wie %. B. spon-
tanes Verfallen in Somnambulismus, hervorruft, so genügt eine
Gegensuggestion, um dasselbe zu beseitigen. Bei den 375 gezählten
ebenso wie bei den nicht gezählten Personen, die ich der Hypnose
unterstellt habe, habe ich nie eine nachtheilige Folge beobachtet
(wenn ich die gewöhnlich nur nach der ersten Hypnose sich ab
und zu einstellenden vorübergehenden Autosuggestionen von Kopf-
weh u. s. w. abrechne, die sofort wegsuggerirt werden). Aber
wenn die Suggestion leichtfertig und übertrieben angewendet wird,
wenn man aus Leichtsinn oder Unkenntniss es versäumt, die er-
wähnten Autosuggestionen nervöser Symptome sofort zu beseitigen,
können sich, wenigstens bei Hysterischen, leichte Neurosen ent-
wickeln, auch ohne böse Absicht von Seiten des Hypnotiseurs.
Darin hegt eine Hauptgefahr der Hypnotisirung durch Nichtärzte
und durch Aerzte, die die Suggestion nicht begriffen haben.
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282 Tod durch Suggestion. Gerichtliche Suggestivfragen.
Ein trauriger Fall, der sich in Ungarn 1 894 ereignete, scheint
auch hieher zu gehören. Ein nicht ärztlich gebildeter, an Tele-
pathie glaubender Magnetiseur hatte ein an grosser Hysterie leidendes
Mädchen, das von schwacher Gesundheit war und schwere nervöse
Störungen gezeigt hatte, wiederholt hypnotisirt (resp. angeblich
magnetisirt) und bedeutende Besserung bei ihr erzielt. Nun wurde
das äusserst suggestible Mädchen, das angeblich Hellseherin war,
hypnotisirt. Sie sollte die Krankheit eines entfernten Mannes
diagnosticiren und den Befund seiner Lunge angeben. Als sie nun
(offenbar geistig eine kranke Lunge erblickend) hypnotisirt war
und anfing, davon zu sprechen, fiel sie plötzlich todt zusammen.
Der Sectionsbefund (Hirnanämie und beginnendes Hirnödem) liess
nichts erklären. Kann die schreckhafte Vorstellung der kranken
Lunge, die vielleicht die Somnambule plötzlich auf sich bezog, den
Tod bewirkt haben? War's Zufall? Ich glaube mit Lie"beault
und Bernheim, dass ersteres möglich ist. Der Fall wurde nur
durch Zeitungen, wenn auch mit vielen Details, bekannt. Immerhin
gibt er zu denken.
Eine der eigenthümlichsten und zugleich wichtigsten , wenn
nicht die thatsächlich bereits wichtigste strafrechtliche Bedeutung
der Suggestion liegt in der von Seiten eines Untersuchungsrichters
bei einem Angeschuldigten unbewusst hervorgerufenen, d. h. sug-
gerirten Erinnerungsfälschung (Hallucination re'troactive von Bern-
heim). Wir haben diese Erscheinung schon besprochen. Dadurch,
dass man mit gewandter Persuasivkraft von einem Kinde, einem
Weibe, einem schwachen Manne das Geständniss einer That, welcher
er verdächtig ist, abzuringen sich bemüht, kann man in einem Un-
schuldigen plötzlich die Suggestion hervorrufen, er sei der Thäter.
Ist dieses der Fall, so erfolgt nicht nur ein vollständiges Geständniss
der nicht vollbrachten That, sondern es werden noch, wie wir ge-
sehen haben, alle möglichen Details concretester Art retroactiv hinzu-
hallucinirt. Gerade solche Details können am besten zur Erkenntniss
bringen, dass man es mit einer suggerirten Erinnerungsfälschung
zu thun hat, nämlich wenn sie mit den sicheren Ermittelungen über
die That nicht übereinstimmen. Ein leichtes und sehr empfehlens-
werthes Controlexperiment, wenn man diesen Verdacht hat, besteht
darin, dem Angeschuldigten Details hinzuzusuggeriren, von welchen
man sicher ist, dass sie unmöglich vorgekommen sein können. Gibt
er auch diese alle zu, so kann man ziemlich sicher sein, dass das
ganze Geständniss werthlos war, resp. auf Suggestion durch den
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Suggerirte Erinnerungsfalsch ungen. Pathologische Schwindler. 233
Richter beruhte. Auf solche Weise kann man abscheuliche Justiz-
morde vermeiden. Ich habe einige Fälle derart kennen gelernt,
und bin überzeugt, dass solche manchmal von Irrenärzten irrthümlich
für Melancholie gehalten werden, weil bei Melancholie ähnliche
falsche Selbstanklagen vorkommen. Wir haben auch gesehen, wie
gewisse von jeher bekannte Instinktlügner nichts Weiteres als
Menschen so suggestibler Art sind, dass sie beständig ihre eigenen
und die von Anderen ihnen beigebrachten Vorstellungen mit der
Wirklichkeit verwechseln.
Aber nicht nur falsche Geständnisse, sondern falsche Zeugen
können auf diese Weise präparirt werden. Bei den beängstigenden
Proceduren, die die Zeugen oft zu erleiden haben, bei der Art, wie
sie von den Anwälten bearbeitet werden, werden sie gewiss — und
darin kann ich auch nur Bernheim beipflichten — oft zu An-
gaben veranlasst, die auf Suggestion beruhen. Widersprüche, die
man ihnen vorwirft, sind nicht immer bewusste Lügen, sondern
nicht selten Suggestions Wirkungen. Besonders die Kinder, und zwar
je jünger, desto mehr, sind in dieser Hinsicht gefährlich.
Man muss hier wohl zwei Fälle unterscheiden: 1. den Fall,
wo die Suggestion durch besondere Wirkung von Seiten der in-
quirirenden Person bei einem sonst ziemlich die Wahrheit sprechen-
den Menschen ihre Wirkung zu Stande bringt ; 2. den Fall, wo der
Explorand überhaupt Wahrheit und Phantasieproducte stets ver-
mengt hat, weil er nie anders konnte.
Der zweite Fall ist eigentlich schon lange, nur unter anderem
Namen bekannt und überhaupt weniger wichtig. Man merkt bald
das Wesen solcher Exploranden oder Zeugen an ihrem Benehmen
auch bei anderen Aussagen, oder man erfährt es durch ihren Leu-
mund. Man betrachtet sie als Gewohnheitslügner und misst ihren
Angaben keine Bedeutung bei. Der erste Fall dagegen muss dem
Criminalisten sehr viel zu denken geben, denn er kann bei wahren
guten Menschen eintreten, die in allen anderen Punkten der Wirk-
lichkeit gemäss deponiren und nur durch Suggestion zu einer falschen
Erinnerung gekommen sind. Natürlich kommen auch hier Ueber-
gangsformen vielfach vor.
Ist ein hypnotisirter Mensch unbedingt als unzurechnungsfähig
zu betrachten? Diese Frage muss nach unseren Auseinandersetzungen
als eine in concreto äusserst schwierige, ja unlösbare betrachtet
werden. Gewiss muss principiell, wie fast alle Autoren und auch
v. Lilienthal es thun, jeder Mensch, der vollständig unter der
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234 Zureclmungafähigkeitd. Hypnotisirten. Erpressungsgefahr. Schaustellungen.
wirklichen Einwirkung einer Suggestion handelt, als unzurechnungs-
fähig betrachtet werden. Verantwortlich für seine Handlung ist
der Hypnotiseur, der sich seiner bedient hat. Aber wie wollen wir
dieses in praxi durchführen, wenn wir an die Häufigkeit der un-
bewussten, als solche nicht erkannten Suggestionen denken, die
überall in der Welt ohne greifbare Hypnose vorkommen? Wo wollen
wir in concreto, bei den feinen Nuancen der Wachsuggestion, die
wir oben besprachen, die Grenze der Zurechnung stellen? Natura
non facit saltum. Auch hier trifft diese alte Wahrheit zu und straft
unsere künstlichen Categorien, wie bei den Geisteskrankheiten, Lüge.
Wie bereits die Autoren und auch v. Lilienthal hervor-
heben, liegt noch eine grosse Gefahr der Suggestion in der Be-
nutzung derselben von Seiten des Hypnotisirten zu Erpressungen
aller Arten. Diese Gefahr ist so gross, dass die Gegenwart von
Zeugen als Schutz für den Hypnotiseur noch mehr als für den
Hypnotisirten nöthig ist. Ich verweise dafür auf v. Lilie nthai's
Aufsatz und ebenso für den Fall, wo ein Mensch sich etwa absicht-
lich hypnotisiren liesse, um sich den Muth oder die Straflosigkeit
zu einem Verbrechen damit eingeben zu lassen (wie mancher sich
heute solchen Muth antrinkt).
Es ist kaum nöthig, hinzuzufügen, dass ich mit v. Lilien-
thal vollständig damit übereinstimme, dass öffentliche Schau-
stellungen von hypnotisirten Somnambulen strengstens untersagt
werden sollten und zwar als grober, die öffentliche Moral und Ge-
sundheit schädigender Unfug. Solche Schaustellungen dürften den-
jenigen von Geisteskranken oder von physiologischen Experimenten
verglichen werden. Es scheint mir, dass überhaupt die gewerbs-
mässige Ausbeutung der Hypnose verboten werden sollte.
Endlich scheint es mir, dass die Folgen eines leichtfertigen
oder fahrlässigen Gebrauches der Suggestion, besonders aber eines
Missbrauches derselben zu egoistischen, wenn auch nicht verbreche-
rischen Zwecken nicht von der Jurisprudenz ausser Acht gelassen
werden dürfen.
Zur Ca8Ui8tik. In einem Fall gelang es einer alten, hässlichen
Spiritistin, einen jungen, reichen Mann derart zu hypnotisiren, dass
er völlig unter ihren Einfluss gerieth, sich von seiner ihn innig
liebenden Familie lossagte und die alte Hexe heirathete, die ge-
scheidt und raffinirt genug war, ihn unter ihrem Bann durch ihre
geistige Begabung und anderweitige sexuelle Reizung zu halten.
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Von Weibern d. Hypnose missbr. Männer u. umgekehrt, v. Schrenck's Ansicht 235
Solche und ähnliche Fälle, wo bald das eine, bald das andere Ge-
schlecht der active oder der passive Theil ist, sind zweifellos von
jeher vorgekommen. Hier wären vielleicht bestimmtere gesetzliche
Vorkehrungen am Platz.
Ein anderer Mann erklärte mir selbst, in ähnlicher Weise von
einer Frau eine Zeit lang beeinflusst worden zu sein, die ihn
geradezu magnetisirte. Sie war zugleich im Hypnotisiren bewandert
und nymphomanisch — polyandrisch. Nur mit Mühe gelang es dem
Manne, zu entfliehen, als sie sich noch an anderen Gliedern seiner
Familie vergriff.
Im Fall C z y n s k i war umgekehrt der Mann der active Theil.
In diesen Fällen klagt, wie wir sahen, der passive Theil, dass er
einen zwingenden Bann fühlt; er wird zwar sexuell gereizt; es ist
aber keine normale Liebe und nicht einmal eine normale sexuelle
Anziehung, sondern das Gefühl des Zwanges und der Unfreiheit
herrschen vor. Die Beeinflussten möchten fliehen und können nicht,
ohne dass der Zwang den brutalen Charakter des bekannten von
Bernheim und Anderen citirten Falles erreicht, wo ein verbrecheri-
scher Bettler (Castellan) ein armes Mädchen hypnotisirte , miss-
brauchte und so ihm zu folgen zwang.
V. Schrenck-Notzüig's Ansioht und Fälle. In den letzten Jahren
hat sich besonders v. Schrenck der vorliegenden Frage an-
genommen (siehe v. Schrenck: Die gerichtlich-medicinische
Bedeutung der Suggestion im Archiv für Criminal-
Anthropologie und Criminalistik. August 1900).
v. Schrenck theilt wie ich die forensischen Fälle in:
1. Verbrechen an Hypnotisirten.
2. Verbrechen, welche mit Hülfe von Hypnotisirten begangen
werden.
3. Er fügt noch eine dritte Categorie hinzu : Criminelle Hand-
lungen, herbeigeführt durch Suggestion im Wachzustande. Diese
Categorie kann ich nur als Varietät der zweiten betrachten, was
aus meiner und Vogt's Auffassung der Suggestion als selbst-
verständlich hervorgeht.
Die suggerirten Zeugenaussagen und Selbstanklagen sollten
übrigens statt dessen als dritte Categorie figuriren.
Zur ersten Categorie gehört eine Reihe Fälle, in welchen eine
mehr lethargische, tiefe hysterische Hypnose zu sexuellen Attentaten
missbraucht wurde. Zumeist wurde der Thäter entlarvt und bestraft.
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236
MiBsbrauch von Frauen. Fall Czynski.
Im Folgenden will ich das kurze Resume' citiren, das v. Schrenck
von den wichtigsten Fällen gibt:
»Aus der Autobiographie eines seiner Patienten entnimmt von
Schrenck folgenden Fall: , Genannt er Patient versetzte eine junge
Frau, die an der Seite eines welken Greises das Leben vertrauerte, in
tiefen Somnambulismus und befahl ihr, in diesem Zustande an seinem
Gliede onanistische Manipulationen vorzunehmen, was sie auch that,
ohne sich nach dem Erwachen daran zu erinnern. Der sexuelle Ver-
kehr wurde 3 Monate in dieser Weise fortgesetzt und ist niemals ent-
deckt worden. Die Dame hatte übrigens ein leidenschaftliches Naturell
und liebte ihren Verführer. Wahrscheinlich hätte er sie auch im wachen
Zustande besitzen können. Aus Furcht vor Complicationen wählte jener
den eigenartigen hypnotischen Weg.'"
„Fräulein von B., Tochter eines höheren Offiziers, wurde von einem
Geistlichen hypnotisirt, im Zustande des Somnambulismus deflorirt und
wiederholt auf diese Weise geschlechtlich missbraucht. Nach 9 Monaten
Geburt eines Kindes. Aus Furcht vor Scandal unterblieb die gericht-
liche Verfolgung des Thäters. Als sich Fräulein von B. später verlobt
hatte, benutzte ihr Geliebter die aus den früheren Versuchen zurück-
gebliebene Empfänglichkeit seiner Braut zu hypnotischen Experimenten,
entlockte ihr Geständnisse über alle möglichen Details ihres inneren
Lebens und dictirte ihr bei Meinungsdifferenzen per Suggestion seinen
Willen im Zustande tiefer Hypnose. Erst durch mein ärztliches Ein-
greifen und energische hypnotherapeutiache Behandlung gelang es, diesem
Unfug zu steuern."
„Czynski (s. oben) hatte die Baronin zu Heilzwecken hypnotisirt
und ihr in einem hypnotischen Zustande, der so tief war, dass sie ihren
Willen nicht mehr zur Geltung bringen konnte, — seine Liebe unter
Küssen und Zärtlichkeiten suggerirt. Schliesslich erreichte er nach
6—8 Hypnosen dieser Art, dass die Patientin sich ihm hingab, obwohl
sie keine Gegenliebe für ihn empfand. Ihr Widerstand war durch hypno-
tische Massnahmen, Liebessuggestionen in Verbindung mit körperlichen
Berührungen, sowie durch Einwirkungen auf ihr Phantasieleben im wachen
Zustande künstlich gebrochen worden. Czynski hat also mit Hülfe
lege artis angewendeter Suggestion die Annahme seiner Liebeswerbung
erzielt. Wenn die Geschworenen den Angeklagten auch von diesem
Theil der Anklage (Verbrechen wider die Sittlichkeit) freisprachen, wahr-
scheinlich aus Gründen juristischer Interpretation des Gesetzes, oder
aber, weil die Baronesse sich später auch freiwillig ihrem Verführer
hingab, — so kann doch über den Dolus des Angeklagten, also über
die verbrecherische Ausbeutung des hypnotischen Zustandes durch ziel-
bewußte Suggerirung kein Zweifel besteben. In diesem lehrreichen
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Suggestion falscher Zeugen durch die Presse.
237
Fall wird also das Urtheil des hypnotischen Fachmannes anders lauten
müssen, als das des Juristen."
»Laurent berichtet einen Fall dieser Art, in welchem ein Student
der Medicin seine durch ihn in die Hoffnung gekommene Cousine bypno-
tisirte und ihr die Symptome des Abortus für eine bestimmte Stunde
(ä echäance) suggerirte. Der Abort trat pünktlich ein. 4
„Johann Berchthold; dreifacher Raubmord. Da nach Ent-
deckung des Mordes das geheimnissvolle Dunkel, welches über der That
schwebte, sich nicht lichten wollte, so begann ein Theil der Münchener
Tagespresse sich an der Voruntersuchung zu betheiligen; fast einen
Monat hindurch erschienen täglich in den gelesensten Blättern Notizen
über den Mord, sowie kritische Bemerkungen zu den ungenügenden
Sicherheits Verhältnissen und Polizeieinrichtungen der Isarstadt. Ausser-
dem setzte die Regierung eine Belohnung von 1000 Mark auf die Ent-
deckung des Mörders. Schliesslich forderten die Münchener Neuesten
Nachrichten Jedermann, der etwas zur Sache vorzubringen habe, auf,
sich auf ihrer Redaction zu melden, unter Zusicherung strengster
Discretion. Das in solcher Weise gewonnene Material gab Stoff zur
Veröffentlichung in den Spalten und zur Befriedigung des Sensations-
bedürfnisses. Schliesslich, nachdem zahlreiche Personen Zweckdienliches
vorgebracht hatten, erklärte dieses Blatt zu einer Zeit, wo die Vorunter-
suchung gegen Berchthold noch nicht einmal durch die Staatsanwalt-
schaft abgeschlossen war: Es dürfte jeder Zweifel ausgeschlossen sein,
dass Berchthold der Mörder ist. Die Folge dieses Verhaltens der Presse
war, dass sich zahlreiche Personen zur Zeugenschaft meldeten und schliess-
lich unter dem Eide Aussagen machten, deren Inhalt die handgreiflichsten
Widersprüche darbot. Ausserdem veranlasste die in den Tagesblättern
abgedruckte Photographie Berchthold's verschiedene Personen zu zweifel-
loser rückwirkender Erinnerungsfälschung. Mehrere weibliche Personen
gaben eidlich an, dieser Mann — oder eine ihm völlig gleichsehende
Persönlichkeit — habe sich auf dieselbe Weise bei ihnen Eingang zu
verschaffen gesucht, wie bei den Ermordeten. Dazu traten Depositionen
zweifellos hysterischer Personen, abenteuerliche Erzählungen zweifelhafter
und mehrfach vorbestrafter Individuen, für deren Richtigkeit sich keine
anderen Argumente aufbringen Hessen, als ihre eidliche Versicherung.
Die von der Presse ausgeübte Suggestion im Sinne der Schuld des An-
geklagten hat also ihre Wirkung nicht verfehlt. Und diesen Standpunkt
suchte die Vertheidigung durchzuführen , so dass selbst von der Staats-
anwaltschaft auf eine Anzahl von Belastungszeugen verzichtet werden
musste. Aber das von den Zeugenaussagen unabhängige Beweismaterial,
das Vorleben Berchthold's, sein mangelnder Alibibeweis, sein ganzes Ver-
halten belasteten ihn hinreichend, so dass die Geschworenen, auch wohl
ohne Rücksichtnahme auf die durch die Presse erzeugte psychische Epi-
demie, zur Bejahung der Schuldfrage gelangen konnten. Die schwierige
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238
Suggestion falscher Zeugen durch Zeitung.
Aufgabe der Sachverständigen (Grashey und von Schrenck-Notzing)
bestand nur darin, die Fehlerquellen für das Gedächtnis« aufzudecken
und über den Geisteszustand einer Anzahl von Zeugen mit Hinblick auf
die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen Gutachten abzugeben.*
, Man mag nun den Berchthold für schuldig halten oder nicht, die
Thatsache hat der Process denn doch unwiderleglich festgestellt, dass
die Zeugenaussagen zum Theil durch die Zeitung inspirirt waren! Wie
sollte man sich auch sonst z. B. den merkwürdigen Umstand erklären,
dass sieb während der 14 tag igen Verhandlungen nicht weniger als sieben
Personen meldeten, die behaupteten, den Mord an der Familie Roos
begangen zu haben! Unter 210 geladenen Zeugen befanden sich 18, deren
Aussagen sich auf eine Beeinflussung durch Zeitungsnotizen zurückführen
liessen. Einer unter diesen behauptete z. B. : er habe an einem Freitag-
vormittag den Angeklagten zu einer bestimmten Zeit 3 Mal in der Nähe
des Thatort.es (eines Hauses in der Karlstrasse) erblickt und nach Ver-
öffentlichung der Photographie die Persönlichkeit sofort wieder erkannt.
Mit dieser unter Eid abgegebenen Zeugenaussage stand aber die That-
sache in Widerspruch, dass besagter Zeuge den gleichen Freitagvormittag
zu derselben Stunde bei einer Gerichtsverhandlung anwesend war. Da
er nicht an 2 Orten zugleich sein konnte, so mag man den Werth seiner
Aussage hiernach bemessen. 6 weitere Zeuginnen — sämmtlich Wohnungs-
inhaberinnen in München — behaupteten unter ihrem Eid ganz gleich-
massig, dass sie den Besuch eines verdächtig aussehenden Mannes er-
halten hätten, der unter dem Vorwande von Ciosetarbeiten sich bei
ihnen Eingang verschaffen wollte. In dem Verdächtigen erkannten sie
erst den Angeklagten Berchthold, als dessen Photographie veröffentlicht
wurde. Ja mehr noch, eine der Zeitungen stellte den Berchthold in
einer Kleidung dar, die er niemals getragen hatte. Und eben diese nur
in der Phantasie des Zeichners vorhandene, nicht aber in Wirklichkeit
im Besitz des Berchthold be6ndliche Kleidung will eine der Zeuginnen
an jenem Verdächtigen bemerkt haben.*
„Kurzum, das Ergebniss dieser für die Suggestionslehre so inter-
essanten Verhandlung lehrte, dass den Behörden noch die richtige Er-
kenntniss des suggestiven Factors bei richterlichen Vernehmungen fehlt;
dass ferner die Zahl der Personen , die bona fide unter dem Eide Un-
wahres und Ungenaues aussagen, viel grösser ist, als man im Allgemeinen
annimmt. Vor Allem aber hat sie neue Beweise für die suggestive Ge-
walt der Presse dargeboten."
„Am 2. October 1899 hatte sich die Frau des Metzgermeisters Sauter
vor dem oberbayrischen Schwurgericht in München zu verantworten
wegen Mordversuches und Anstiftung zu 9fachem Morde.*
„Das deutsche Gesetz bestraft auch Versuche und Anstiftungen zu
Verbrechen, wenn sie mit untauglichen Mitteln unternommen werden.
Die Angeklagte war beschuldigt, den Versuch zur Tödtung ihres Ehe-
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Suggestion von Verbrechen durch Kartenschlägerin. 239
manne«, mit dem sie in unglücklicher Ehe lebte, dadurch gemacht zu
haben, dass sie ihm ein ihrer Meinung nach hierzu geeignetes, von einer
Kartenschlägerin empfohlenes Mittel, nämlich Enzianwurzel, in die Socken
streute. Ausserdem soll sie die Kartenschlägerin angestiftet haben, 9 ihr
unbequeme Personen, darunter 8 ihrer Kinder, 2 frühere Dienstboten u.s. w.,
durch magische Mittel zu tödten."
„Die Angeklagte stand in den Wechseljahren, war schwer unter-
leibsleidend und zeigte Züge von Hysterie. Dem Aberglauben ganz und
gar verfallen, sah sie in der Kartenschlägerin, die sie für alle Lebens-
fragen zu Käthe zog, eine Persönlichkeit mit übernatürlichen Fähigkeiten
und der Macht, über das Schicksal des Menschen, über Leben und Tod
zu entscheiden. Die Wahrsagerin dagegen erhitzte die Einbildungskraft
der Saut er durch allen möglichen Hocuspocus und verstand es, aus
ihrem Vermögen materiellen Nutzen zu ziehen und ihr Opfer systema-
tisch auszubeuten. Wie die Acten ergaben, war die Seherin bereits
21 Mal wegen schwerer Gesetzesverletzungen vorbestraft. Die Haupt-
Versammlung liess keinen Zweifel darüber, dass die Wahrsagerin der
eigentlich schuldige Theil sei. Durch ihre Schwindeleien hatte sie die
leichtgläubige, ihrem Einfluss ganz verfallene Angeklagte zu überzeugen
vermocht, dass es ihr ein Leichtes sei, alle ihr unbequemen Personen
eines natürlichen Todes sterben zu lassen und ihr erst auf diese Weise
den ganzen Mordplan — wenn auch unabsichtlich — suggerirt. Als
diese Ideen in der Angeklagten Wurzel fassten, denunzirte die Prophetin
ihr Opfer bei der Polizei und veranlasste Frau Sauter, den ganzen Mord-
plan noch einmal zu besprechen, sowie eine Liste der dem Tode ge-
weihten Personen aufzusetzen, so dass im Nebenzimmer versteckte Detec-
tivs Alles hören konnten und schliesslich als Hauptbelastungszeugen in
der Hauptverhandlung functionirten."
„Während die Gutachten von Messerer und Focke zu dem
Schluss kamen, dass Frau Sauter im Besitze ihrer freien Willensbestim-
mung gewesen sei im Augenblick der ihr zur Last gelegten Handlungen,
führte das von mir abgegebene Gutachten den Nachweis, dass die An-
geschuldigte, fascinirt durch die Kartenschlägerin, im Zustande sugge-
stiver Abhängigkeit deren Ideen zur Ausführung gebracht hatte, dass
also ihre Zurechnungsfähigkeit in Folge von Hysterie, in Folge ihres
Klimakteriums, sowie in Folge abergläubiger Vorstellungen erheblich
herabgemindert sei.*
„Die Geschworenen sprachen die Angeklagte von beiden Schuld-
fragen frei."
„Der Fall 8auter zeigt die erste Freisprechung einer An-
geklagten, die unter suggestivem Einfluss einer anderen Person
das Strafgesetz verletzt hat, und ist desswegen für die Lehre von
den Beziehungen der Suggestion zum Strafrecht von principieller und
bleibender Tragweite/
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240 Verbr. Sugg. eines Kindes durch Magd. Falsche Anschuldigungen d. Autosugg.
„Vor ca. 7 Jahren wurde mir ein öjähriges Mädchen zur ärztlichen
Behandlung überwiesen, das an Zerstörungstrieb litt, der sich in raffi-
nirter Weise gerade auf die werthvollsten Besitzstücke der Familie
richtete. Niemals gelang es den Eltern, das Kind in flagranti zu er-
tappen, sondern die Handlungen erfolgten stets hinter ihrem Rücken
oder in ihrer Abwesenheit. Einmal stand das Kind in seinem Bett in
Flammen. Die zahlreichen, sich immer wiederholenden, auf ganz raffi-
nirte Weise ausgeführten Diebstähle und Zerstörungen verursachten den
Eltern einen erheblichen materiellen Schaden. Erziehungsmassregeln und
Strafen blieben ohne jeden Erfolg. Das Kind weinte und gestand immer
wieder neue Beate. Schliesslich wurde es an die Kette gelegt und hypno-
tisch behandelt, und dennoch nahmen die verbrecherischen Handlungen
ihren Fortgang. Endlich, nach 9 Monaten, enthüllte ein Zufall die Wahr-
heit. Das Kind ging nämlich mit den Eltern aufs Land, während das
Kindermädchen in der Stadt zurückblieb. Von diesem Augenblicke an
hörten die Zerstörungen auf. Es stellte sich nun heraus, dass das Kind
völlig unschuldig, dass hingegen die hysterische Kindermagd die Hand-
lungen veranlasst bezw. selbst ausgeführt hatte. Dem ihrer Obhut an-
vertrauten Kinde verstand sie das Schuldbewusstsein fortdauernd zu
sxiggeriren, bis zu einem solchen Grade, dass es 9 Monate lang alle
Strafen willig erduldete, ausführliche, ihm suggestiv beigebrachte Ge-
ständnisse ablegte, ohne jemals seine Tyrannin zu verrathen.*
„ Ungleich häufiger, als wirklich erwiesene Sittiichkeitsdelicte an
Hypnotisirten sind fälschliche Anschuldigungen von Aerzten
und Hypnotiseuren wegen geschlechtlichen Missbrauchs.
Auch bei wirklichen Verführungen ist der Einwand, das Opfer eines
suggestiven Zwanges geworden zu sein , nicht selten. Ueberhaupt sind
fälschliche Anschuldigungen wegen Sittlichkeitsvergehen sehr häufig."
„Der Assistenzarzt eines grösseren Krankenhauses in München hatte
in seinem Zimmer ohne Zeugen die 13jährige Magdalena S zu Heil-
zwecken hypnotisirt und die Unvorsichtigkeit begangen, während der
Dauer des Schlafzustandes in Gegenwart der Hypnotisirten seinen Urin
zu entleeren. Kurz nach diesem Vorfall wurde von Seiten der königl.
Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn erhoben, er habe dem hypno-
tisirten Kinde sein Glied in den Mund gesteckt und ihr in den Mund
urinirt. Diese Anklage stützte sich auf die Aussage des 13jährigen
Kindes. Aufgefordert, mich gutachtlich über diesen Fall zu äussern,
erkannte ich bald nach genauer Prüfung des Thatbestandes, nach Unter-
suchung des Kindes, dass es sich um eine traumhafte, illusionirende
Verarbeitung von Wahrnehmungen im hypnotischen Zustande handle,
und zwar im Anschluss an den Vorgang des Urinlassens. Die retro-
ativen Pseudoreminiscenzen im wachen Zustande waren durch Phantasie-
thätigkeit und Besprechung mit den Angehörigen übertrieben worden.
Und so wurde das einfache Product falscher, autosug<?estiver Deutung
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Ueberschätzung des Gedächtnisses der Zeugen durch die Richter. 241
von Wahrnehmungen in der Hypnose und von rückwirkender Erinne-
rungsverfälschung zur Unterlage einer so schweren Anklage, welche die
ganze Zukunft des Collegen zu vernichten drohte. In Folge des Gut-
achtens wurde, wie erwähnt, das Verfahren eingestellt.*
Im Weiteren führt von Schrenck aus: .Unwillkürlich infil-
triren sich überhaupt gelesene Meinungen und Urtheile unserem Denken,
bestimmen unsere Ideenrichtung und haben einen mächtigen Einfluss
auf die Gestaltung unserer Erinnerung. Eine Verwechslung zwischen
selbst Erlebtem und Gehörtem oder Gelesenem tritt um so leichter ein,
wenn der Inhalt des fraglichen Gegenstandes schon früher einmal unser
Interesse in Anspruch nahm. Die Treue derEeproduction leidet
bei Mangel an kritischer Ueberlegung, bei lebhafter Phantasie, sowie
in Momenten psychischer Erregung (bei Affecten) oder der Ermüdung.
Wenn Elemente einer augenblicklichen Situation auf das Erinnerungs-
bild übertragen werden, so wird dasselbe leicht im Sinne der neuen
Wahrnehmung verfälscht (Einfluss des Anblicks von Berchthold's Photo-
graphie auf die Erinnerung an den verdächtigen Besucher). Diese äus-
seren Anregungen können dann einen suggestiven Einfluss üben , für
den die Fehlerquellen unseres Gedächtnisses einen günstigen Boden dar-
bieten. Auf diese Weise kann, wie bei manchen Zeugen im Berchthold-
process, ein Gesammtbild aus Dichtung und Wahrheit entstehen, ohne
dass es nachträglich auch dem psychologischen Sachverständigen immer
gelingt, für einzelne Brucbtheile des Erinnerungsbildes die richtigen
Ursachen nachzuweisen."
„Es muss daher als ein Fehler im richterlichen Examen
bezeichnet werden, wenn Einzelheiten der Bückerinnerung in der Zeugen-
aussage zu sehr überschätzt werden. Ueberhaupt werden die Fehler-
quellen des Gedächtnisses in foro viel zu wenig berücksichtigt; eine ein-
gehende Erkenntniss derselben würde den Richter vor dem gefährlichen
IiTthum bewahren, Meineid und Erinnerungsfälschung zu verwechseln;
er würde den Thatsachenkern von dem Product der 8uggestion leichter
zu unterscheiden im Stande sein. Ausserdem würde er sich in dem
Verhör von Zeugen grössere Zurückhaltung auferlegen, um keine Details
in die Aussagen hinein zu suggeriren. Eine sorgfältige Würdigung der
Suggestionslehre müsste auch die Sicherheitsorgane veranlassen, den noch
immer weit unterschätzten Einfluss der Presse auf die Criminalität ein-
zuschränken."
„Schwierig gestaltet sich die Beurtheilung der Sachlage in foro,
wenn, wie im Process Sauter, dem intellectuellen Urheber (also in un-
serem Fall der Wahrsagerin Frau Gänzbauer), das Bewusstsein der Rechts-
widrigkeit des Handelns, das Bewusstsein, ein Verbrechen anzustiften, voll-
kommen fehlt ! Es handelt sich dann also um unbeabsichtigte, unbemerkte
Beeinflussung! Denn Frau Gänzbauer war sich offenbar keineswegs dar-
Forel, Der Hypnotismaa. 4. Aufl. 16
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242 Verirrungen durch Aberglaube, v. Schrenck's Ergebnisse.
über klar, dass sie selbst durch ihren abergläubischen Hocuspocus jene
auf Beseitigung des Mannes und anderer Personen hinzielende Ideen-
richtung in Frau Sauter erregt hatte; ebenso entging es ihr vollkommen,
dass sie selbst bei der Demonstration vor den versteckten Detectivs ihrem
Opfer den Mordplan so zu sagen in die Feder dictirte und die ganze
Unterhaltung in diesem Sinne nach mit den Polizeiorganen vereinbarten
Gesichtspunkten leitete. Bei der Unmöglichkeit des Nachweises der ver-
brecherischen Absicht kann der Gerichtshof durch Verhältnisse dieser
Art in die Lage kommen, weder den Urheber noch den Thäter bestrafen
zu können."
„Kaum irgend ein Gebiet menschlicher Verirrungen zeigt einen so
günstigen Boden zur Entfaltung von Suggestivwirkungen als der Aber-
glaube. Derselbe stellt sich stets, wie von Löwenstimm treffend aus-
geführt wurde, als ein Product der Unwissenheit und Unentwickeltheit
ganzer Volksklassen dar und führt gar nicht selten zur VerÜbung ausser-
ordentlich grausamer Verbrechen."
„Das Ergebniss von Schrenck's Ausführungen ist in folgenden
Sätzen zusammen gefasst :
I. Das Verbrechen an hypnotisirten Personen und dasjenige mit
Hülfe hypnotisirter Personen (Posthypnose) ist fast ausschliess-
lich beschränkt:
a) auf sexuelle Delicto (z. B. Fall Czynski 1894);
b) auf den fahrlässigen Missbrauch hypnotisirter Per-
sonen (öffentliche Schaustellungen, Wundercultus).
II. Die Suggestion im wachen Zustande hat eine bisher nicht in
dem nöthigen Umfange zugestandene gerichtlich-medicinische Be-
deutung. Denn :
a) Sie ist im Stande, auch geistig vollkommen normale Per-
sonen zu falschen, bona fide beschworenen Zeugenaussagen
zu veranlassen (z. B. 18 falsche Zeugen im Process Berchthold 1896,
Einfluss der Presse, psychische Epidemien).
b) Sie kann dem suggestiven Einfluss besonders zugäng-
liche Personen zur Begehung verbrecherischer Hand-
lungen hinreissen. (Fall Sauter 1899.)
III. Im Allgemeinen sind criminelle Eingebungen für normale
Individualitäten mit wohl entwickelter moralischer Widerstands-
fähigkeit ungefährlich, dagegen verfallen ihr leicht: kind-
liche, psychopathisch minderwerthige , hysterische, psychisch
schwache, ethisch defecte Individualitäten, bei denen die
Möglichkeit des Widerstandes durch eine schwache Ausbildung der
moralischen Gegenvorstellungen herabgemindert ist."
Mit v. Schrenck-Notzing bin ich durchaus der Ansicht,
dass gesetzliche Massregeln gegen unbefugtes Hypnotisiren von
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Unfug durch Spiriten u. Laienhypnosen. Hypnotismus u. Hochschule. 243
Seiten von Nichtärzten am Platze sind. Unter Aufsicht und Mit-
verantwortung eines Arztes mag es gestattet sein, dass eine be-
sonders dazu begabte Person zu wissenschaftlichem oder therapeuti-
schem Zweck hypnotisirt.
Aber der Unfug, der unter dem Titel Spiritismus, Telepathie,
Hellseherei, Wahrsagerei und dergl., sowie der strafwürdige Sport
und die Schaustellungen, die mit Hypnotismus von leichtsinnigen
oder geldgierigen Personen getrieben werden, nimmt oft bedenk-
liche Dimensionen an. Man sollte so wenig mit dem Gehirn seines
Nächsten wie mit seinem übrigen Körper oder mit seinem Gelde
beliebigen Unfug treiben dürfen. Leider lässt man die Laien meistens
völlig frei gewähren und ist dafür stets bereit, die Aerzte zu be-
schuldigen.
Thatsächlich sind die Schädigungen und die Verbrechen, die
der Suggestion zuzuschreiben sind, meistens das Werk von Laien,
besonders von Spiriten, Diese Leute begreifen gar nicht, dass sie
mit dem Gehirn ihrer meistens hysterischen „Medien" arbeiten, und
muthen demselben Dinge zu, die schliesslich die Gesundheit schwer
schädigen, wenn nicht noch Betrug oder Attentate hinzukommen.
Förmliche Epidemien von hysterischen Anfällen, Autohypnosen
und dergl. mehr sind schon dadurch entstanden. Der Laie ver-
steht es eben nicht, Autosuggestionen vorzubeugen und solche zu
beseitigen.
Es ist nicht unsere Sache, Gesetzesvorschläge zu machen.
Aber wir müssen fordern, dass über dieses Gebiet mehr wie bis-
her gewacht wird, dass wenigstens eine ärztliche Aufsicht vor-
gesehen wird.
XII. Der Hypnotismus und die Hochschule.
Das im vorigen Capitel zuletzt erwähnte Postulat beweist auf's
Klarste, dass es eine Pflicht des Arztes ist, die Suggestion zu kennen
und zu verstehen, selbst wenn die vorhergehenden Capitel den Leser
noch nicht davon überzeugt hätten. Leider ist es damit noch böse
bestellt. Die meisten Aerzte sind in der Frage der Suggestion
noch Laien und Ignoranten.
Hierbei zeigt sich eine tiefe Lücke unserer Medicinstudien.
Nicht nur in der Suggestionsfrage, sondern in der Psychologie und
Psychophysiologie sind die Aerzte meistens hochgradig unwissend,
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244 Lücke d. Hochachulunterrichts in Psychologieu. Suggestion. Aerztl. Blamagen.
und aus diesem Grunde sind sie unfähig, die Suggestionslehre zu
begreifen. Sie fassen dieselbe fast wie die Laien auf und sind oft
genug geneigt, kritiklos vom «Materialismus" zum „Spiritismus"
oder wenigstens zur „Telepathie" hinüber zu springen, weil ihnen
das Verh'ältniss der Psychologie zur Hirnphysiologie „ein dunkles,
unheimliches Gebiet geblieben ist". Sie haben ihre Studien von
Anfang bis zum Ende ohne Kenntnissnahme des Grosshirnlebens
und seines Einflusses auf den Körper durchgemacht. Wenige nur
suchen sich nachträglich darüber gründlich zu belehren. Wie kann
man aber den normalen und pathologischen Menschen ohne sein
Gehirn und dessen Function jemals verstehen?!
Daraus entspringt eine Unzahl der gröbsten Fehler unserer
zahlreichen Specialisten , welche die Ursachen centraler Leiden in
der Körperperipherie suchen, weü ihnen der psychophysiologische
Mechanismus unverständlich ist.
Es genügt, auf diese Lücke hingewiesen zu haben, um zu
zeigen, dass ihre Ausfüllung ein dringendes Bedürfniss geworden ist.
Das Studium der modernen Psychologie, der Psycho-
physiologie und der Suggestionslehre, letztere mit
einer kleinen Klinik oder Poliklinik verbunden,
sollte in jeder medicinischen Facultät ermöglicht
werden.
Erst dann wird auch eine erfolgreiche Bekämpfung des Aber-
glaubens und der Curpfuscherei möglich sein, und werden die Aerzte
vielen für ihren Stand unangenehmen Blamagen entgehen, die ihnen
heute von Laien vorbereitet werden. Ich spreche dabei nur von
den Erfolgen der Empiriker, und nicht einmal von den weiteren
Blamagen, die sich Aerzte täglich bei psychologisch geschulten
Nichtärzten holen. — Es ist doch klar, dass wenn ein Arzt auf
Grund seiner Unkenntniss der Suggestion und der Erscheinungen
pathologischer Autosuggestionen ein nicht vorhandenes Localleiden
diagnosticirt und behandelt, oder dann in das andere Extrem verfällt
und den Kranken der „Simulation" verdächtigt, er von dem ersten
besten Curpfuscher oder von frommen Wunderanstalten mit Leich-
tigkeit blamirt wird. Diese Blamagen wirken wie viele schädliche
Nadelstiche, die der Wissenschaft, ihrem Ernste und ihrer Würde
versetzt werden.
Bernheim hat bereits gezeigt, wie die Wunder der „stigmati-
sirten" Luise Lateau zweifellos auf Suggestion beruhen, indem er
dasselbe auf dem suggestiven Wege erreichen konnte. Das Gleiche
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Wundercuren durch Gebet. Pflichten der Hochschule. 245
gilt nach meiner Ansicht von den „Wundercuren", welche in prote-
stantischen sogen. Gebetheilanstalten erzielt werden.
In der Zeller'schen Anstalt in Männedorf, Kanton Zürich,
z. B. legt Herr Zell er seine Hand (die rechte oder die linke) auf
den nackten kranken Körpertheil während einiger Zeit (Hände-
auflegen, nach der Bibel), wiederholt diese Procedur nach Bedürf-
niss und erzielt auf solchem Weg Heilung von Schmerzen, Läh-
mungen etc. Eine zweite, dort gebräuchliche Art des Händeauflegens
ist die „Salbung mit Oel" (ebenfalls nach der Bibel). Die Hand
wird mit kaltem Olivenöl benetzt und, wie eben erwähnt, aufgelegt.
Herr Zeller, der mir dieses selbst mittheilte und dem damit ver-
bundenen Gebet den Hauptwerth beilegt, glaubt dem Vorwurf:
„es sei Magnetismus", dadurch zu begegnen, dass er keine Passes
(Streichungen) anwende. Solche wendet aber die Nancy'sche Schule
auch nicht an.
Dass jedoch Herr Zell er seine Patienten, wenn auch ohne
sich darüber Rechenschaft zu geben, intensiv suggerirt, sowohl
verbal als durch die Berührung des kranken Theiles, geht aus
allen obigen Auseinandersetzungen unzweideutig hervor. Abgesehen
von der grundverschiedenen Erklärung, ist seine Heilmethode der
Lie'beault'schen Methode der Suggestivtherapie äusserst ähnlich;
nur handelt es sich wohl meist um Wachsuggestion.
Es war von jeher ein hohes, zugleich ethisches und culturelles
Vorrecht der Bildungscentren und der Wissenschaft, mit der Fackel
der Erkenntniss in die Finsterniss des Aberglaubens und der Un-
wissenheit hineinzuleuchten. Es ist daher betrübend, zu sehen,
wie gerade jene Centren sich immer noch zögernd, zaghaft, ja sogar
vielfach ablehnend der Suggestionslehre und der neueren psycho-
logischen Forschung gegenüber verhalten, obwohl keine andere
Disciplin im Stande ist, ein solches Licht in den modernen Formen
des Aberglaubens zu werfen.
XIII. Die Suggestion bei Thieren. Die Winter- und
Sommerschläfer.
Liebeault (Du sommeil et des 6tats analogues, Paris, Masson
1866) hat bereits den Winterschlaf der Siebenschläfer auf der Sug-
gestion analoge psychische Ursachen zurückgeführt und damals schon
bewiesen, dass nicht die Kälte Ursache dieses Schlafes sein kann,
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246
Suggestion bei Thieren. Winterechläfer.
indem die gleichen Thiere nicht selten im Sommer und in warmen
Zimmern schlafen, und da eine madagassische Maus sogar regel-
mässig zur wärmsten Jahreszeit in Lethargie verfällt.
Ich selbst habe (siehe: Revue de l'Hypnotisnie, 1. April 1887,
S. 318) folgende eigene Beobachtung darüber gemacht:
Im Jahre 1877 war ich in München. Man bot mir zwei Sieben-
schläfer (Myoxys glis) an, weil ihr Besitzer von denselben gebissen
worden war. Er gab sie mir im Winter und ich war erstaunt, sie
durchaus nicht schlafend, sondern sehr lebhaft zu erhalten, was ich
der Zimmerwärme zuschrieb. Ich stellte sie in einen 5 — 6 Fuss
hohen Drahtkäfig, in dessen Mitte eine kleine ebenso hohe Tanne
stand. Ich Hess auch die Thierchen in meinem Zimmer herum-
laufen. Den ganzen Winter blieben sie munter und verzehrten eine
grosse Quantität Nüsse und Haselnüsse. Als eines derselben die
Schale einer Nuss mühsam durchgenagt hatte, kam das andere hinter-
listig geschlichen und versuchte sie ihm wegzuschnappen. Sie blieben
böse und beisslustig.
Nachdem sie den ganzen Frühling hindurch viel gefressen
hatten, wurden sie sehr fett, und ich war nicht wenig erstaunt, sie
im Monat Mai einen nach dem andern in lethargischen Schlaf ver-
fallen zu sehen, im Gegensatz zu der Angabe der Bücher, dass
dieser Schlaf eine Folge der Winterkälte sei. Sie waren dick ge-
worden wie kleine Bären; ihre Bewegungen wurden langsamer;
endlich kauerten sie sich in einen Winkel zusammen und wurden
ganz lethargisch. In diesem Zustand sank ihre Körpertemperatur;
ihre Athembewegungen wurden langsamer und ihre Lippen cya-
notisch. An die freie Luft gesetzt, streckten sich die zuerst mehr
oder weniger zusammengerollten Thiere zur Hälfte auf den Rücken
liegend. Als ich sie jedoch mit einer Nadel stach, machten sie
einige Reflexbewegungen und stiessen ein leichtes Grunzen oder
Zischen aus. Wenn ich sie stark reizte, konnte ich sie einen Augen-
blick etwas beleben; doch verfielen sie in ihre Lethargie zurück,
sobald ich sie wieder in Ruhe Hess.
Nun machte ich folgendes Experiment: Ich nahm einen der
Siebenschläfer und setzte ihn auf den Gipfel des Tannenbaumes.
Obwohl er schlief, genügte es, die Fusssohle des Thieres mit einem
dünnen Ast des Baumes in Berührung zu bringen, um eine Reflex-
beugung hervorzurufen, durch welche es den Ast mit den Krallen
fest umklammerte, wie bei der entsprechenden Instinctbewegung im
wachen Zustande. Nun liess ich den also mit einem Fusse an einem
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Wesen des sogen. Winterschlafes; hat mit Kälte nichts zu thun. 247
Aste hängenden Siebenschläfer los. Bald verfiel er allmälig wieder
in tieferen Schlaf. Die Muskeln des angeklammerten Fusses er-
schlafften langsam ; die Volar- oder Plantarfläche des Fusses streckte
sich langsam und hing bald nur noch durch ihre Extremität nahe
an den Krallen am Aste fest. Ich glaubte schon, mein Sieben-
schläfer würde nun fallen. Doch im Augenblick, wo er begann,
das Gleichgewicht zu verlieren, wurde sein Nervensystem wie von
einem Instinctblitz durchzuckt und eine andere Pfote ergriff den-
jenigen der untenstehenden Aeste, der ihm am nächsten lag, so dass
das Thier sich nur um eine Treppenstufe hinunterbewegte. Nun
ging die gleiche Scene von Neuem an ; der Siebenschläfer schlief
wieder tief ein; die Pfote erschlaffte wieder langsam bis fast zum
Loslassen; dann aber ergriff wieder eine andere Pfote einen tiefer
liegenden Ast. So stieg das Thier schlafend und ohne zu fallen
die ganze Tanne vom Gipfel bis zum Fuss hinunter, bis es den
Boden des Käfigs erreicht hatte, auf welchem es schlafend verblieb.
Ich wiederholte das Experiment verschiedene Male mit meinen beiden
Siebenschläfern stets mit dem gleichen Erfolg. Kein einziges Mal
fiel einer herunter.
Der lethargische Schlaf meiner Siebenschläfer, obwohl von
Zeit zu Zeit durch einige Stunden oder einen Tag eines mehr oder
weniger vollständigen Erwachens unterbrochen, während welchem
sie etwas Nahrung zu sich nahmen, dauerte einen grossen Theil
des Sommers an und hörte erst im Monat August nach und nach
^iuf. Die Thierchen hatten während der grössten Hitze im Juni
und Juli geschlafen. Gegen den Schluss ihres lethargischen Schlafes
waren sie bedeutend abgemagert, weniger jedoch, als ich erwartet
hatte. Während der Lethargie betrug die Körpertemperatur dieser
Thiere circa 20 — 22 0 Celsius, soweit ich mit mangelhaftem Thermo-
meter messen konnte.
Aus diesen Thatsachen geht klar hervor, dass der sogen.
Winterschlaf der Siebenschläfer nicht von der niederen Temperatur
abhängt. Vielleicht spielt ihr Ernährungszustand, besonders die
Anhäufung des Fettes in ihren Körpergeweben eine Hauptrolle dabei.
Aber es scheint mir wahrscheinlich auf Grund obiger Beobachtungen,
<lass dieser Zustand, gleichgültig welche Ursache ihn hervorbringe,
mit der Hypnose einerseits und mit der Katalepsie andererseits nahe
verwandt ist 1 ).
') Erst nach meiner Veröffentlichung erhielt ich Kenntniss einer früheren
Arbeit Quin cke's (Ueher die Wärmeregulation heim Murmelthier, Archiv für
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248 Suggestion u. Katalepsie. Schwenter-Kircher's Experimentum mirabile.
Thatsache ist es (Liebeault, Bernheim, Wetterstrand),
dass man beim Menschen durch Suggestion eine tiefere, lang-
dauernde Katalepsie mit Verlangsamung und Abschwächung aller
Lebensfunctionen unter Umständen hervorrufen kann. Thatsache
ist es ebenfalls, dass der Siebenschläfer in der Freiheit nie ausser-
halb seines Nestes einschläft, und seine Vorbereitungen zum Schlaf
trifft, dass folglich der Eintritt des Schlafes bis zu einem gewissen
Grad von Vorstellungsassociationen abhängt. Meine Beobachtung
beweist, dass selbst im lethargischen Schlaf gewisse zweckmässige
Bewegungen durch Sinnesreize ausgelöst werden können. Was be-
sonders für die Rolle der Suggestion beim Winterschlaf des Sieben-
schläfers spricht, ist der relativ plötzliche Uebergang vom Wach-
zustand zum Schlafzustand und umgekehrt, sowie das obenerwähnte
zeitweilige Erwachen und Wiedereinschlafen. Diese Thatsache
scheint mir zu beweisen, dass es zum Zustandekommen der Lethargie
zweier Componenten bedarf: 1. die zur Somnolenz prädisponirende
Fettansammlung, 2. die auf dem associativen Weg der Nervencentren
wirkende Suggestion.
Nun komme ich zum berühmten Experimentum mirabile
von Athanasius Kircher, das der scharf blickende Pater bereits
„üeber die Einbildungskraft des Huhnes* betitelt hatte. Zwar war
das Experiment, durch welches ein gefesseltes Huhn mittels eines
Kreidestriches starr gemacht wird, vor Kircher bereits, wie Pre yer
(Hypnotismus 1890) berichtet, von Daniel Schw enter (Nürnberg
1636) gemacht worden, der aber die Starre des Huhnes der Furcht
zuschreibt.
Der Physiologe Prof. Preyer hat nun 1872—73 diese Ex-
experimentelle Pathologie und Pharmakologie XV. B&), bei welcher der Ver-
fasser, auf Grund von Experimenten, bereits eine andere (innere) Ursache als
die Kälte für den Eintritt und dem Aufhören des Winterschlafes vermuthet. Er
schreibt: „Es schien mir, als ob beim Erwachen (und Warmwerden) Bewegung
und Reaction schon bei niedrigerer Körpertemperatur auftreten, dass sie beim
Einschlafen (und Kaltwerden) schon bei höherer Temperatur trage werden, so
dass also die Aenderung der Körpertemperatur dem Kommen und Gehen der
übrigen Schlafsymptome erst nachfolgt und nicht etwa dieselben bedingt.
Das Wiedereinschlafen geschieht nach spontanem Erwachen (im Winter) etc.
bei verschiedenen Individuen sehr verschieden schnell. Auch dies zeigt, dass
die äusseren Umstände, Ruhe und geeignete Temperatur zwar nothwendige
Bedingungen für das Zustandekommen des Winterschlafes sind (das ist, wie
wir zeigten, ein Irrthum, Forel), dass die eigentlichen Ursachen für den
Eintritt aber andere (innere) sein müssen.' Quincke sah beim Murmelthier
die Temperatur bis auf 7 °, sogar bis auf 6 0 Celsius im Winterschlaf sinken.
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Angebliche Kataplexie (Schrectartarre). Simulation u. List bei Thieren. 249
perimente nach Czermak bei einigen Thieren wieder aufgenommen
und, sich der Ansicht Schwenter anschliessend, die Starre auf
Angst zurückgeführt, weil die Thiere dabei stets Zittern, Peristaltik,
keuchendes Athmen und Anämie des Kopfes zeigen sollen. Er nannte
daher diesen Zustand Kataplexie oder Schreckstarre. Diese
Schwenter-Prey er'sche Theorie der Kataplexie hat mir nie
einleuchten wollen, schon weil zahme Thiere, wie Meerschweinchen
und Hühner, am leichtesten „kataplektisch" werden, ohne dass man
sie zu erschrecken braucht, während erschreckte, wilde Thiere viel
weniger leicht in diesen Zustand verfallen; ferner aber vor Allem
wegen der unverkennbaren Analogie dieser Zustände mit der Hypnose.
Preyer behauptet, um die Kataplexie und auch um seine
Milchsäuretheorie des Schlafes zu begründen, dass es keinen Fall
gibt, wo der gewöhnliche Schlaf plötzlich eintritt; er trete immer
allmälig ein. Dies ist bereits unrichtig; bei gewissen Leuten tritt
der Schlaf urplötzlich ein. Aber ich kann ferner jedem beweisen,
der mich besuchen will, dass ich, ohne Spur von Schrecken zu be-
wirken, Jemanden blitzschnell hypnotisiren kann, was Charcot,
Lie'beault, Bernheim etc. alle schon gethan haben.
Ferner sagt Prof. Preyer, dass er besonders desshalb die
Thiere untersucht habe, weil sie nicht simuliren. Es thut mir leid,
ihm hier wiederum widersprechen zu müssen. Die Simulation haben
wir nicht mit so manchen anderen Unarten von unseren geschwänzten
Vorfahren geerbt, um ihnen dieselbe jetzt wegzudisputiren. Die
Thiere simuliren recht schön; sogar die Insecten wissen sich todt
zu stellen und brauchen deshalb keineswegs vor Schrecken starr —
nach Preyer kataplektisch — zu sein. Ich habe die Lebensweise
der Insecten sehr viel beobachtet und glaube mit voller Bestimmt-
heit, auf Grund zahlloser kleiner Indicien, deren Werth nur bei
fortgesetzten, genauen biologischen Beobachtungen erkannt wird,
dass die Starre der sich todtstellenden Insecten niemals auf einer
Schreckwirkung, die sie unfähig machen würde, sich zu bewegen,
sondern auf List beruht — allerdings auf einer instinctiv automati-
sirten (organisirten) List, die, mit dem Selbsterhaltungstrieb asso-
ciirt, bei eintretender Gefahr ins Werk gesetzt wird. An die Listen
der Säugethiere sei hier noch erinnert. Ich möchte sogar be-
haupten, dass es leichter ist, für den Psychologen wenigstens, die
Simulation der meisten Menschen als diejenige der Thiere zu ent-
larven, weil man mittels der Sprache beim Menschen nachher bei
einiger Uebung leicht dahinter kommt, was bei den Thieren nicht
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250 Danilewsky. Die Saggestion d. Menschen ist von d. thierischen abzuleiten.
sein kann. Zudem haben wir gesehen, mit welcher Vorsicht man
den Begriff der Simulation behandeln muss, und wie thöricht es
ist, überall nur bewusste Simulanten um sich zu wittern, die Einen
nur foppen wollen. Man wird hundert Mal durch nicht erkannte
Suggestion irre geführt, für ein Mal, wo mau durch bewusste Simu-
lation düpirt wird.
Es hat nun Prof. Danilewsky in Charkow (Compte rendu
du congres international de psychologie physiologique de Paris,
seance du 9 aöut 1889, page 79, Paris 1890) ausgedehnte Experi-
mente über die Hypnose vieler Thiere, vom Flusskrebs bis hinauf
zum Kaninchen, gemacht. Besonders die abnorme Stellung, die
man dem Thier gibt, und dann die fortgesetzte sanfte, aber con-
sequente Ueberwältigung von Seiten des Hypnotiseurs bringen den
Zustand am leichtesten hervor. Danilewsky beweist, dass die
Angst sehr oft fehlt, und führt die Hypnose der Thiere unbedingt
auf Suggestion zurück. Natürlich, sagt er, kann es sich nicht um
Verbalsuggestion handeln; aber die Einwirkung auf die einfachere
Vorstellung des Thieres ist eine der Suggestion ganz homologe.
Das Thier versteht intuitiv den suggestiven Befehl, unterliegt und
wird hypnotisirt. Dabei hat Danilewsky eine Reihe Symptome
der menschlichen Hypnose bei Thieren festgestellt; nicht nur die
Muskelstarre, sondern auch z. B. hochgradige Anästhesie u. a. m.
Die Hypnose des Menschen, sagt Danilewsky , ist von der Hyp-
nose der Thiere phylogenetisch abzuleiten; es handelt sich um den
gleichen, nur beim Menschen viel complicirteren psycho-physiologi-
schen Mechanismus. Die Wirkung des Blickes eines still bleibenden
Menschen, z. B. auf einen Löwen, ist entschieden suggestiver Natur.
Experimente Danilewsky's sollen in extenso separat erscheinen.
Ich muss noch hinzufügen, dass bei den Thieren alle Suggestiv-
wirkungen einen viel instinctiveren, mehr reflectorischen Charakter
haben als beim Menschen, weil bei ihnen die Thätigkeit der nie-
deren Nervencentren viel weniger von der Grosshirnthätigkeit be-
herrscht sind. Sie stehen daher viel unmittelbarer unter der Ein-
wirkung peripherer Sinnesreize. Das ist aber kein principieller,
sondern nur ein Gradunterschied, denn es ist nicht einmal die Gross-
hirnthätigkeit principiell verschieden von derjenigen anderer Nerven-
centren (vergl. oben das Experiment Isidor Steiner's bei den
Fischen).
Wir müssen somit die Theorie der Kataplexie ablehnen und
mit Danilewsky die Hypnose der Thiere auf einen vereinfachten,
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Ein hypnotisirter Hypnotiseur.
251
automatischeren Suggestionsmechanismus zurückführen (in letzter
Instanz sind ja wir Menschen ebenfalls mehr oder weniger Auto-
maten), der gelegentlich auch durch Blickfixation und dergl. herbei-
geführt werden kann. Die lethargischen Schlafzustände der Sieben-
schläfer und mancher anderen Säugethiere sind einfach physio-
logische kataleptische Zustände, welche durch eine phylogenetisch
zu einem bestimmten Zweck adaptirte, in die Instinctivverkettung
eingereihte Suggestions Wirkung herbeigeführt, resp. eingeleitet
werden (s. oben 0. Vogt's Theorie des Schlafes).
XIV. Anhang. Ein hypnotisirter Hypnotiseur.
Prof. Dr. B.Bleuler 1 ) schrieb zur Psychologie der Hypnose
in der Münchener medicin. Wochenschrift 1889, Nr. 5 folgendes:
„ Selbstbeobachtungen von Hypnotisirten sind noch wenige
publicirt. Die folgenden Notizen sind desshalb wohl nicht ohne
Interesse."
„Nachdem ich früher schon oft vergeblich versucht hatte, mich
nach anderen Methoden hypnotisiren zu lassen (auch von Hansen),
gelang es meinem Freunde, Herrn Prof. Dr. v. Speyr, mich nach
der Lie'beault'schen Methode (verbale Suggestion und Fixation) in
hypnotischen Schlaf zu versetzen. Um der Vorstellung des Schlafes
zu Hülfe zu kommen, hatte ich mich — es war schon ziemlich
spät am Abend — zu Bett gelegt. Ich selber hatte den guten
Willen, hypnotisirt zu werden, suchte mich aber in der Hypnose
selbst den meisten Suggestionen zu entziehen, um die Gewalt dieser
letzteren und ihre Einwirkung kennen zu lernen. Da die ange-
strengte Fixation auf mich keinen einschläfernden Einfluss ausübt,
und die rein verbale Suggestion auf Personen, die selber hypnoti-
siren, geringe Wirkung zu haben scheint, benutzte ich noch folgen-
den Kniff: Ich hatte schon vor Jahren an mir Experimente über die
Bedeutung der peripheren Netzhautbilder, der Accommodation u. s. w.
für die Apperception der Gesichtsbilder gemacht und dabei ge-
funden, dass bei gewissem, ungenauem Fixiren ein definirbarer,
aber wechselnder Theil des Gesichtsfeldes vollständig ausfiel, z. B.
wenn ich ein eingerahmtes Bild ansah, die eine Seite des Rahmens.
») Herr College Dr. Bleuler, jetzt Professor der Psychiatrie in Zürich,
hatte damals schon selbst viel hypnotisirt und beherrschte vollständig die
Methode. Siehe auch seine Publicationen über Hypnotismus (Forel).
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252
Ein hypnotisirter Hypnotiseur.
Dieser Ausfall bewirkt genau die gleichen subjectiven Erscheinungen
wie der zum Bewusstsein gebrachte blinde Fleck. Ich fixirte nun
die Augen des Hypnotiseurs in dieser mir geläufigen Weise; die
eintretenden Gesichtsfelddefecte erhielten nun wohl in Folge der
gleichzeitigen verbalen Suggestion viel rascher eine grosse Aus-
dehnung, als ich es je beobachtet hatte; bald verschleierten sich
auch die noch appercipirten Gegenstände, dann fühlte ich leichtes
Brennen und darauf etwas stärkeres Feuchtwerden der Augen;
schliesslich sah ich nur noch etwas Licht und Schatten, aber keine
Grenzen der Gegenstände mehr. Zu meiner Verwunderung er-
müdete mich dieser Zustand nicht, meine Augen blieben ohne An-
strengung und ohne mehr zu blinzeln, ruhig und weit offen, ein
behagliches Wärmegefühl zog vom Kopfe Über den Körper bis in
die Beine hinunter. Erst nach einigen dahin zielenden Suggestionen
(„die Augen werden von selbst zufallen") bekam ich das Bedürfniss,
die Augen zu schliessen (während ich bis dahin das Gefühl hatte,
ich könnte sie bloss mit Anstrengung zumachen) und schloss
sie anscheinend activ wie beim raschen Einschlafen bei gewöhn-
licher Ermüdung. Die Hypnotisirung hatte etwa eine Minute ge-
dauert."
„Mein Zustand war nun der einer angenehmen behaglichen
Ruhe; es fiel mir auf, dass ich gar kein Bedürfniss hatte, meine
Lage zu ändern, die mir unter andern Umständen auf die Dauer
nicht ganz bequem gewesen wäre. Psychisch war ich vollständig
klar, mich beobachtend; mein Hypnotiseur konnte alles Objective,
das ich nachher erzählte, bestätigen. Durch die folgenden
Suggestionen wurde mein bewusster Gedankeninhalt
nicht anders als im Wachen beeinflusst; dennoch reali-
sirten sich dieselben zum grössten Theil. Ich richtete
meine besondere Aufmerksamkeit gar nicht auf den Hypnotiseur,
sondern allein auf mich."
„Mein Freund stellte mir den einen Vorderarm senkrecht in
die Höhe und sagte mir, ich könne diesen nicht ablegen. Ich ver-
suchte es unmittelbar nachher mit Erfolg, wurde aber an der com-
pleten Ausführung durch leichtes Halten an der Hand und erneuerte
Suggestion verhindert. Nun fühlte ich meinen Biceps ganz gegen
meinen Willen sich contrahiren, wenn ich den Arm vermittelst der
Strecker nach unten bewegen wollte; einmal, als ich stärkere An-
strengung machte, meinen Willen durchzusetzen, wurde diese Con-
traction der Beuger so energisch, dass der Unterarm, statt, wie von
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Ein hypnotisirter Hypnotiseur.
253
mir beabsichtigt war, nach aussen zu fallen, sich auf den Oberarm
zurückbewegte."
„Nun sagte mir mein Freund, die rechte Hand sei anästhe-
tisch. Ich dachte mir, da mache er einen Fehler, denn es sei noch
zu früh zu einer solchen Suggestion, und als er behauptete, mich
auf den Handrücken zu stechen, glaubte ich, er täusche mich, um
mich sicher zu machen; denn ich fühlte bloss die Berührung eines
stumpfen Gegenstandes (ich vermuthete, es sei die Kante meiner
Taschenuhr). Nach dem Erwachen war ich nicht wenig erstaunt,
doch gestochen worden zu sein. Wirkliche Anästhesie hervorzu-
rufen, gelang nicht; nur als einmal bemerkt wurde, „die Hand sei
wie eingeschlafen", fühlte ich für kurze Zeit ein Prickeln und
fühlte die Berührung bloss noch wie durch einen dicken Verband
hindurch."
„Es wurde mir dann die Suggestion gemacht, am Morgen
6 Uhr 15 Minuten aufzuwachen — (ich habe es noch nie fertig
gebracht, zu einer gewollten Zeit zu erwachen). Hierauf musste
ich die Augen öffnen und die Lampe auslöschen. Letzteres that
ich in so ungeschickter Weise, dass ich mich vor meinem Freunde
etwas genirte; es war, wie wenn das stereoskopische Sehen ge-
hindert gewesen wäre ; zur Ablenkung des durch Blasen erzeugten
Luftstromes wollte ich eine Hand schief über den Cylinder halten,
kam aber mehrmals daneben, ohne es selber zu bemerken. Dann
hielt ich die Hand ohne jede Schmerzempfindung so lange Über
die Flamme, wie ich es ausserhalb der Hypnose ohne starken
Brandschmerz nicht hätte thun können. — Die oft und energisch
wiederholte Suggestion des Erwachens um 6 Uhr 15 Minuten hatte
einen unangenehmen Erfolg. Ich erwachte die ganze Nacht nie;
glaube aber in einem fort nur daran gedacht zu haben, ob es nicht
bald 6 Uhr 15 Minuten sei. Da ich zeitweise ziemlich genaues
Bewusstsein von meiner Lage hatte, wollte ich auf die Thurmuhr
achten, um mich beruhigen zu können; ich hörte sie aber nicht
ein einziges Mal schlagen, trotzdem meine Wohnung an den Kirch-
thurm angebaut ist. Erst als es 6 Uhr schlug, zählte ich schon
die vier Viertel, dann die sechs Stundenschläge, aber ohne zu er-
wachen. Zugleich mit dem Schlag 6 Uhr 15 Minuten wurde an
meine Thür geklopft, worauf ich erwachte. Ein folgendes Mal ge-
lang die Suggestion des Erwachens auf bestimmte Zeit ohne alle
Störung nach angenehmem Schlafe, da die Suggestion anders ge-
geben worden war."
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254
Ein hypnotisirter Hypnotiseur.
Am nächsten Abend wurde ich zwei Mal auf dem Canapee
liegend von Herrn Dr. v. Speyr, am darauffolgenden Tage auch
einmal von Herrn Prof. Forel hypnotisirt. Die erwähnten Ver-
suche wurden mit grösster Leichtigkeit wiederholt, ferner wurde
mir ein Arm steif gemacht und es wurden mir bestimmte Hand-
lungen aufgetragen. Die suggerirte Analgesie hielt oft, wenn gleich
nachher wieder andere Suggestionen gemacht wurden, so kurze Zeit
an, dass mich die Stiche, die ich, während sie gemacht wurden,
nur als Berührungen empfunden hatte, noch in der nämlichen
Hypnose zu schmerzen anfingen. Schmerzhafte Steifigkeit der Beine
nach einem längeren Spaziergang schwand dagegen nach einigen
Suggestionen dauernd. Wenn mir die Unmöglichkeit einer be-
stimmten Bewegung suggerirt worden war, so beobachtete ich die
Contraction der Antagonisten nicht mehr häufig. Oefters schien
einfach meine Willensbahn unterbrochen, die Muskeln contrahirten
sich nicht trotz meiner grössten Anstrengung. Bei den späteren
Suggestionen war übrigens mein Wille auch so geschwächt, dass
ich manchmal entgegen meinem Vorsatze nicht mehr innervirte, weil
mir der erfolglose Versuch zu anstrengend war, oder weil ich
momentan gar nicht mehr an Widerstand gegen die Suggestion
dachte. Wurde mir eine Handlung aufgegeben, so konnte ich
lange widerstreben; schliesslich wurde sie aber doch vollführt und
zwar zum Theil aus Mangel an Willenskraft, ungefähr wie man
einem Keflex nachgibt, den zu verhindern es grosse Anstrengung
kostet, oder — namentlich bei kleineren Aufträgen z. B. ein Bein
zu heben — fühlte ich, dass die Bewegung gemacht wurde ohne
irgend welche active Betheiligung meines Ich. Mehrmals hatte ich
auch das Gefühl, aus Gefälligkeit gegenüber dem Hypnotiseur dessen
Anforderungen nachzugeben. Da ich aber meistens besonnen genug
war, in solchen Fällen während der Ausführung den Widerstand
doch noch zu versuchen, überzeugte mich dessen Nutzlosigkeit von
der Unrichtigkeit meiner Auffassung. Jede neue Suggestion, auch
den Befehl, in einer begonnenen Handlung aufzuhören, empfand ich
im ersten Moment unangenehm, wodurch mir der Widerstand leichter
wurde. Dem Befehl, ausserhalb des Zimmers etwas zu holen, konnte
ich ziemlich leicht widerstreben, nicht mehr aber, als die Hand-
lung zerlegt wurde, d. h. als ich die Suggestion erhielt, das eine
Bein zu bewegen, dann das andere u. s. w., bis die Handlung aus-
geführt war."
„Der Ausführung einer posthypnotischen Suggestion konnte ich
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Ein hypnotisirter Hypnotiseur.
255
mich widersetzen. Doch kostete es mich ziemliche Mühe, und wenn
ich nur einen Augenblick im Gespräche meinen Vorsatz vergass,
den Teller, den ich an einen anderen Ort stellen sollte, nicht zu
beachten, so entdeckte ich plötzlich, dass ich ihn fixirte. Der Ge-
danke an das Befohlene quälte mich bis zum Einschlafen, und noch
im Bette war ich nahe daran, wieder aufzustehen und den Befehl
auszuführen, bloss um Ruhe zu bekommen. Doch schlief ich bald
ein, wodurch die Wirkung der Suggestion sich verlor."
„Eine Hallucination hervorzurufen gelang nur einmal. Herr
Prof. Forel befahl mir, einen Finger in den Mund zustecken, ich
werde ihn bitter finden. Ich stellte mir nun sofort eine Bitterkeit
in der Art von Aloe vor und war dann so überrascht, einen süss-
lieh bitteren, salzigen Geschmack zu empfinden, dass ich glaubte,
wirklich verunreinigte Hände zu haben. Die Controle nach dem
Erwachen ergab, dass meine Finger von jeder schmeckenden Sub-
stanz frei waren. Auch hier hatte also die Suggestion auf
meinen bewussten Gedankeninhalt anders gewirkt als
auf mein Unbewusstes; das letztere war massgebend
bei der Realisirung der Suggestion."
„Mein Bewusstsein blieb kaum verändert. Doch hatte ich nach
dem Erwachen in den beiden letzten Hypnosen, in denen mir Am-
nesie, wenn auch wenig intensiv, suggerirt worden war, Mühe,
alles zu reproduciren. Die zeitliche Aufeinanderfolge der Experi-
mente blieb vergessen, während ich mir den logischen Zusammen-
hang wieder ins Gedächtniss rufen konnte. Von einem kurzen
Moment der dritten Hypnose fehlt mir jede Erinnerung. Einmal,
als mich der Hypnotiseur ruhig liegen Hess, zeigten sich leichte
Andeutungen von hypnagogischen Hallucinationen (ich hatte letztere
schon seit vielen Jahren zu studiren versucht)."
„Das Erwachen geschah in etwa 10 Secunden auf Suggestion
hin, auch gegen meinen Willen und ohne besondere Begleitsymptome,
ähnlich dem Erwachen aus leichtem Schlaf."
„Der Zustand, in dem ich mich befunden, muss als ein leichter
Grad der Hypnose bezeichnet werden, weil keine Amnesie vorhanden
war. Er rubricirt sich, wie dies so häufig der Fall ist, nicht genau
unter einen der von verschiedenen Forschern aufgestellten Grade
des hypnotischen Schlafes. Ich habe aber anscheinend identische
Zustände schon mehrfach beobachtet."
„Die Publication weiterer Selbstbeobachtungen von gebildeten
Personen wäre erwünscht und würde jedenfalls zum Verständniss
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256
Autohypnose. (Literarischer Missbrauch?)
der hypnotischen Erscheinungen nicht unwesentlich beitragen. Vor-
läufig wäre es schon wichtig zu wissen, ob die subjectiven Symptome
der Hypnose auch so unendlich mannigfaltig und wechselnd sind
wie die objectiven, oder ob vielleicht hier eine gewisse Gesetz-
mässigkeit sich finden lässt."
Ich selbst habe früher (1878) in München beim Einschlafen
auf einem Canapee oder einem Lehnstuhl am Nachmittag einige
Male eine Art Autohypnose durchgemacht, aus welcher ich nur
mit grosser Mühe und zunächst nur partiell erwachen konnte, so dass
gewisse Muskelgruppen zuerst allein erwachten, d. h. willkürlich
bewegt werden konnten, während der Rest des Körpers kataleptisch
blieb. Dazwischen kamen partielle Träume (Halluciniren von Schritten
und dergl. oder von gemachten Bewegungen, die ich thatsächlich
nicht gemacht hatte und dergl. mehr) vor.
Bleuler's Beobachtung ist recht lehrreich, weil sie aufs
Klarste die wichtige Rolle zeigt, die die unterbewusste Grosshirn-
thätigkeit bei der Suggestion spielt.
In missbräuchhcher Weise hat ein Dr. W. Gebhardt unter der üeber-
schrift „Aerztliche Zeugnisse* in einem von ihm Uberall versandten Reclame-
prospect Citate aus der dritten Auflage dieses Buches (Heilungsfälle) abgedruckt,
die er, ohne Angabe der Quelle, mit meinem Namen unterzeichnet. Da-
durch soll der Glaube verbreitet werden, ich (sowie auch die Herren Collegen
Bernheim, Wetterstrand, Ringier und Burckhardt, mit welchen er
ähnlich verfahren ist) hätte die von ihm (Dr. Gebhardt) sogen. Heilmethode
Liebeault-Levy erprobt und empfohlen, sowie, dass wir ihm diese Fälle
zur Veröffentlichung mitgetheilt hätten. Sowohl ich, wie die genannten Col-
legen, wir haben uns bereits Öffentlich gegen diesen Missbrauch unserer Namen
verwahrt; ebenso die Herren Dr. Liebeault und L<vy. Wir haben alle
sieben erklärt, der Veröffentlichung des Herrn Gebhardt völlig fern zu
stehen. Keiner von uns kennt ihn.
Ich füge nun hinzu, dass ich selbstverständlich Niemanden ärztliche
Zeugnisse über Heilmethoden ausstelle und warne die Leser dieses Buches
gegen etwaige spätere derartige Missbräuche; endlich, dass Dr. C. Bertschinger
(ü. S.), der sich als mein früherer Assistent öffentlich ausschreibt, niemals
Assistent bei mir war. -^rTT"!?^ Dr. A. Forel.
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