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Full text of "Sammlung gemeinverstandlicher wissenschaftlicher Vortrage"

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Sammlung  gemtinoerftönMiriicr 

miffenff^a|tlt(|er  Vorträge, 


IjerauSgegeben  non 


9tub*  SBirdjotti  unb  gt.  &♦  §ol^cnborff* 


XL  Serie. 

£eft  241—264. 


ßrrliit  SW.  1876. 

Verlag  »ott  6 a r l § a b e l. 
(8.  8.  Jfiidrritj'fific  ficrfansEmlfmiulfung.) 

3*  JBtlbflm:  eitaet  33. 


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3nf)rtUS«;Bevje«<f)mft  bcr  XI.  Serie. 

Wfl  «cit< 

Kleefelb,  Ser  Siainant.  Stit  17  $oljid)nitteu  . . . 1—38 

342/243.  ftlucf  f)of)U,  31 u g u ft , Suife,  Königin  oon  'fkeufseit. 

SRit  bem  2filonifi  bec  Königin 39—108 

244.  Sipfcbife,  Kubolf,  Sebeutung  bcr  tf)eorettf$en  Sie» 

tfianif 109—140 

245/246.  Jurt  n>  än  g l c r,  21  b o l f , 33er  Sornauöneber  unb  ber 
Knabe  mit  ber  ®anä.  Gntrourf  einer  ®ef(f)i(^te  ber 
©enrebilbnerei  bei  ben  ©riechen.  5Rit  2 §oljf(^nitten  . 141 — 244 

247.  £artmann,  Kob.,  3)ie  menfcbcnäf)nli<ben  2tffeti.  3Rit 

12  $>olifdjnitten 245—298 

248.  Kaumann,  Gmil,  Snö  golbene  3eitalter  ber  ion* 

funft  in  Senebig 299—346 

249.  *>  o r ro  i c ; , 31.,  3ur  Katurgefd)icf)te  ber  ©efüble  . . 347—386 

250.  V u ebner,  ffiilbelm,  33er  'JU)ein,  ber  Seutfcben  Sieb» 

lingöftrom 387  — 422 

251.  3 i 1 1 e l , Karl  31.,  Sie  Ärcibe.  2)1  it  4 §ol}fcbnitten  . 423—460 

252.  Ofenbrüggen,  Gbuarb,  Sie  Sdjroeij  in  bett  3Batt» 

belungen  ber  31eu.;eit 461—500 

253.  3Röbl,  ^cinritb,  Ser  93obeti  unb  feine  Seiftimmung  501—536 

254.  io  Hin,  <£>enri,  Gbaralterbilb  äJlicbnel  «eroet'ö  . . 537 — 584 

255.  Scbro  immer,  Gm  ft.  Sie  erften  2lnfänge  ber  >$eil» 

funbe  unb  bie  Stebijin  im  alten  2legnpten  ....  585  — 630 

256.  Sebmibt,  2>obanneä»  Schiller  unb  Kouffeau  . . 631—678 

257.  31  n cf)  b o 1 5 . K.,  Sanb  unb  Seute  in  Sßeftnfrila  . . . 679  - 726 

258.  Sabebecf,  St.,  GntioirfelungOgang  ber  ©rabmeffungö» 

3lrbeiten.  i'lit  einer  Ueberfirfjtölarte  ber  beutfeben  ©rab» 
meffung4=3lrbeiten 727—770 

31‘  *30S 


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IV 


£ffi  6cii< 

269.  95Ief)liS,  6.,  Ser  SUfjcin  unb  bet  Strom  ber  ßultur 
in  Selten:  unb  Mömerjeit.  SHt  einer  Sorte  beä  5R§cin< 
tffoleä 771-814 

260.  351#  nt  er,  3-,  Ueber  3Jluf$eln,  gdjneden  unb  per« 

roanbte  2ßei$tl)iere 815—858 

261.  Stricfer,  SBilfjelm,  ©ötfje  unb  JJranlfurt  a.  351. 

Sie  Scjiefiungen  beS  Sicf)terä  ju  feinet  Saterftabt  . . 869—914 

262.  Sieger,  91.  33.,  Sie  351inat}affa  ouf  ßelebeä  . . . . 915—946 

263.  2 r o f i e n , 6.,  Üefftng’ä  31at(|an  ber  ffieife  ....  947 — 978 

264.  9!öggeratt),  ©uftao  9lbolpfj,  Sie  9l$at:3nbuftrie 

im  Clbenburgifdjen  gürftentljum  93irlenfetb  ....  979-1010 


3(f)  bitte  ju  beamten,  bafi  bie  Seiten  ber  §>efte  eine  hoppelte  'Paginirung 
Ijoben : oben  bie  Seiten.jnf)!  bes  einjelnen  §efte3,  unten  — unb  jroar  einge» 
Hämmert  — bie  fortlaufenbe  Seiten}afjl  ber  Serie  (beS  3a§tgangeS). 


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$n  JHdmant 


Son 


Dp.  cÄffcfcfb 

in  ©cilty.  , 


üttit  17  ^Dljf^nitten. 


t 


flttlin  SW.  1876. 

Setlag  »on  (Jarl  £ a b e l. 

(€.  <£.  tnilfriti’j^t  UrrlagsbotJitjanÄInng.) 

33.  SBilttlm.  Stritte  33. 


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£>a§  SKcifrt  her  Ucbcrftfcung  in  frembe  ©praßen  wirb  »orbcfyaltfn. 


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/4^er  «Diamant  ift  nicht  nur  berjenige  Gbelftein , ber  »on  je* 
bet  am  haften  gefcbäjjt  »urbe,  er  ift  auch  »on  allen  ©bei» 
ftcinen  bet  merfrmirbigfte. 

Grfcbeint  e8  nid)t  »unberbar,  bafj  biefer  burctjficbtigfte  unb 
glängenbjte  allet  (Steine  djemifdf)  nichts  anbetS  ift  al8  jener  aK* 
nerbreitete  Stoff,  ben  wir  al8  ben  f<bȊrjefteu  unb  f^mufcigften 
fennen,  bie  Äotye  — unb  baff  ttof}  bet  emftgften  gorfd^ung 
atJet  3eiten  unb  SBölfer,  welche  bie  Gntftebung  bet  meiften  an» 
betn  Gbelfteine  fo  noüftänbig  flat  gelegt  bat,  baf;  fie  auf  fünft» 
liebem  SBege  mit  allen  ihren  Gigenfehaften  bernorgebradbt  »erben 
fennen,  — bie  Gntftebung  be8  «Diamanten  beute  noch  fo  unbefannt 
ift,  ba|  e8  nitbt  einmal  feftftebt,  ob  et  überhaupt  ein  ^robuct 
be8  ÜJtineralreich«  ift,  ober  nicht  »ielmebr  bem  ?)flangenteicbe 
angebett  wie  bet  SBetnftein.  — 

£)et  «Diamant  ift  bet  einzige  Gbelftein,  bet  nicht  au« 
mehreren  (Elementen  jufammengefefct  ift.  Gr  ift  ein  einfacher 
Körper  unb  beftebt  au«  reinem  Noblen ftoff. 

@4°“  Newton  b“tte  au8  bet  ftatfen  Strahlenbrechung  be« 
«Diamanten  ben  genialen  Sdjluf;  gejogen,  bat;  et  ein  brenn* 
barerer  Äörper  fein  muffe,  boch  »ährten  bie  »iffenfdjaftlicbett 
SBetjudbe  uorgugSmeife  in  Stören^,  SBien  unb  $)ari8  noch  2 Saht* 
bunberte,  ehe  ber  gto§e  fratrjöftfdje  Gbemifet  gaooifiet  1776  ja 

XI.  241.  1*  (*> 


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4 


§)ariß  bie  djemifdje  fRatur  beß  SDiamanten  aufjer  3®eifel  fteUte. 
&x  oerbrannte  ihn  tu  reinem  @auetftoffgaß , geigte,  bafj  baß  Siet» 
brennungßprobuct  jtoblenfäure  fei,  unb  baf)  alfo  bet  SDiamant 
nidljtß  anberß  fei  alß  Äetylenftoff. 

@8  erfdpeint  heute  auffallenb,  bafj  eine  200jährige  Arbeit 
erforderlich  mar,  um  eine  fo  einfache  unb  präciö  gefteüte  Btage 
gu  löfen:  ob  ber  SDiamant  brennbar  fei  ober  nicht,  gumal  bet 
Jjietgu  nothmenbige  £i£egrab  gar  nicht  fo  außerordentlich  fyod?  ift. 

SDer  ©runb  biefer  auffaUenben  @rfd)einuug  liegt  barin , baß 
man  oer  ber  großen  epochemachenden  (Sntbecfnng  beß  ©auerftoffß 
burcb  0d)eele  unb  %)riftlep  feine  flare  ($infid?t  in  baß  SBefen  beß 
Skrbrennungßprogeffeß  ^atte  unb  haben  fonnle.  3ahl*eiche  Sier* 
juche,  bie  mit  uuoerpadften  SDiamanten  angeftellt  mürben,  fpradjeu 
für  feine  33rennbarfeit,  mie  benn  fdjon  1694  bie  Academia  del 
Cimento  in  Floreng  einen  SDiamanten  im  ftocuö  eines  S3renn» 
fpiegelß  oerbrannte.  Sludh  in  Siegeln  nicht  gang  luftbidjt  oet» 
pacfte  ^Diamanten  oetfdjmanben , menn  fie  lange  genug  einem 
ftarfen  ©djmelgfeuer  außgefeßt  mürben;  bcm  aber  fdjienen  eben» 
fooiel  Skrfudje  entgegenguftehen , bei  melden,  in  ihren  Siegeln 
gut  oerpadfte,  SDiamanten  bie  Feuerprobe  beftanben,  unb  fidß 
unoerfefyrt  miebetfanben.  SDamalß  founte  man  ftd)  biefen  Söiber» 
fprud)  nicht  erflären , bet  heute  nid)tß  auffallenbeß  hat,  mo  jebet» 
mann  meiß,  baß  gu  bem  fPtogeß,  ben  mit  Sktbrennungßprogeß 
nennen,  bie  Slnmefenpeit  beß  ©auerftoffß  notproenbig  ift , mit 
meinem  ja  bet  oerbrennenbe  Körper  eine  cpemifdje  Sierbinbung 
eingeht,  unb  baß  alfo  ein  folget  5>rogeß  nicht  oor  fidj  gehen 
fann,  menn  man  oon  bemfelben  bie  atmoßphärifche  8uft,  unb 
damit  ben  in  berfelben  enthaltenen  ©auerftoff  oollftänbig  ab* 
fdjließt.  — 

SDie  peroonagenbfte  (Sigenfdjaft  beß  SDiamanten  ift  feine 
£ärte.  &x  ift  ber  härtefte  aller  @belfteine,  unb  bamit  überhaupt 
<<) 


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5 


tu  bärtefte  aller  unß  befannten  .Körper.  Schon  ben  iSlten  war 
biete  feine  (Sigenfchaft  befannt,  ba  fie  aber,  bem  Stanbe  ber  ba« 
maligen  ph^ficalifchen  jlenntniffe  entfprecbenb,  nrdbt  wußten,  baß 
rin  harter  .Körper  fpr ober  fein  fann  alß  ein  niel  weicherer, 
fc  perfiden  fie  in  ben  3trthum  ju  glauben,  baß,  weil  ber  Dia* 
mant  ber  Ijärtefte  .Körper  fei,  er  auch  nid)t  jwifchen  Jammer 
und  ätnbcß  jetftblagen  werben  fönne.  Die  (Summe  ber  .Kennt» 
niffe,  bie  baß  ^Itertbum  (©riechen  unb  fRömer)  über  ben  Dia» 
manten  gewonnen  Ratten,  ift  in  bet  fRaturgefchiibte  beS  $)liniuß 
(Hist.  nat.  37,  15)  enthalten  unb  bilbet  ein  wunderliche?  ©e» 
mifch  non  Wahrem  unb  #albwahrem,  nerbunben  mit  fo  wiber* 
finnigen  fabeln,  baß  eß  auffaDenb  erfdjeint , wie  man  fie  fo  lange 
glauben  fonnte.  $Miniuß  fagt: 

„ben  größten  $>teiß  unter  ben  menfdjlichen  gingen,  mißt 
nur  unter  ben  ©belfteinen , bat  bet  Diamant,  lange  nur  ben 
Königen , unb  unter  biefen  auch  nur  wenigen  befannt.  (St 
wirb  wie  daß  ©olb  in  ben  Setgwerfen  gefunben , aber  feiten; 
ein  Begleiter  beß  ©olbeß,  unb  fchien  fid)  nur  im  ©olbe  ju 
erzeugen.  (Sß  giebt  6 9lrten,  barunter  ftnb  bie  inbifchen  unb 
arabifchen  non  unaußfprecßlicber  .£)ärte,  auf  ben  52mboß  gelegt 
ftcßen  fte  ben  Schlag  beß  £ammerß  fo  gurücf,  baß  (Sifen  unb 
8mbc8  in  Stiicfe  jetfpringen,  aud)  baß  geuer  befiegen  fte, 
benn  niemalß  werben  fie  h^fe»1)  baher  bet  tftame  adnmas, 
waß  im  ©riecßifeben  „unbezwingbar"  Reifet  (a.  privativum 
unb  daftäCw  bejwingen).  Diefe  SORadjt  über  Stahl  unb 
geuet  wirb  burch  Socfßblut  gebrochen,  aber  nur  wenn  fie  burdj 
frifcheß  unb  watmeß  gebeizt  finb,  unb  auch  fo  erft  nach  Dielen 
Schlägen,  unb  immer  noch  Jammer  unb  Slmboß  fprengenb. 
9lur  ein  ©ott  fann  biefeß  unermeßliche  ©eßeimniß  bem  SRenfcßen 
mitgetbeilt  babfn-  ö«b  wenn  nun  fo  her  Diamant  gliicflicb 

(5) 


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6 


jum  SReifjen  gebracht  wirb,  fo  jerfpringt  er  in  fo  fleine  Stüde, 
bafj  man  fie  faum  fefyen  fann.“ 

5)aS  fchlimmfte  hierbei  war,  baff  man  biefc  oermeintliche 
©igenfdjaft  beS  SDiamanten  als  bie  bequemfte  unb  fid^erfte  sJ)robe 
auf  feine  Grdjtfyeit  anfab,  unb  gewifc  fo  mannen  auf  bem  2lm» 
bo8  jetfdjlug,  unb  bie  Stüde  als  wertlos  wegmarf.  SDenn  ob» 
gleich  ber  5)iamant  bcr  bärtefte  aller  befannteu  Körper  ift,  b. 
b-  oon  feinem  anbetn  Äßrper  geriet  werben  fann,  fo 
gerfpringt  er  boch  ziemlich  leidet  wegen  feinet  großen  Sprßbig* 
feit  bei  ftarfeu  ^ammerfcblägen.  Springt  bod)  auch  bie  bflrte 
©laSfcheibe  bei  einem  Stofje,  bem  bie  »iel  weitere  genfterlabe 
aus  Jannenbolj  wegen  ihrer  größeren  ©lafticität  miberftebt. 

iHbet  nicht  b!o§  gertrümmern  in  regellose  Stüde  läfjt  ftd^ 
bet  ©iamant  burcb  ^efti^en  Schlag,  er  ift  auch  unbefdjabet  feiner 
aufterorbentlichen  £ärte  fpaltbar  unb  gwat  parallel  ben  glasen 
eineö  OctaeberS  (Achtflächner),  ber  fomit  a!8  bie  eigentliche 
©runbform  ber  »erjdjiebenen  ÄrpftaUfovmen  an^ufeben  ift,  in 
benen  ber  JDiamant  gefunben  wirb.  JDie  Steinfdmeiber  machen 
non  biefer  ©igenfdjaft  einen  feljr  oortbeilbaften  ©ebtauch,  inbem 
eS  ihnen  baburch  gelingt,  bem  rohen  35iamanteu  »iel  fchneUer 
bie  beabficbtigte  §orm  ju  geben,  als  bieS  burch  baS  febr  geit* 
raubenbe  Sfbfchleifen  mit  IDiamantftaub  (2)iamantbort)  möglich 
fein  mürbe.  2)aS  Cctaeber  (§ig.  1.)  ift  auch  inber  SLb^t  bie» 
jenige  ÄrpftaUform , in  welcher  ber  SDiamant  in  Dftinbien  unb 
am  Äap  am  ^äufigften  gefunben  wirb,  bie  anbetn  Ärpftaüformen, 
tn  benen  et  auch  auftritt,  ftub  als  aus  biefer  ©runbform  abge» 
leitete  anjufeben,  fo  baS  SH^ombenbebefaeber  (9tautenjwölffläcbner) 
(§ig.  2.),  in  welcher  gorrn  et  in  Srafilien  am  baufigften  oor» 
fommt,  unb  bie  feltneren  formen  SBürfel  unb  Jetraeoer  (33ier» 
flächner)  (§ig.  3.).  Aber  ade  ÄrpftaDformen  beö  SDiamanten  jeigen 
al§  befonbere  (Sigent^ümlidjfcit , ihre  flächen  immer  mehr  ober 
w 


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7 


weniger  gugerunbet  (gewölbt) , wäijrenb  bie  anbern  frpftaflifirten 
$ig.  i.  gig-  2. 


«Kineralien  mit  feltenen  3(u8nabmen  nur  burdj  grabe  Slawen 
begrengt  ftnb  (gig.  4,  5,  6). 


gig.  4.  Big-  5-  Big-  ß. 


2)odj  tjaben  bei  weitem  nidjt  ade  ©iamanten  biefe  auSge* 

bilbeteu  Ät^ftaQ formen,  oiele  werben  alö  mefyt  ober  weniger 

Pt 


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8 


fugeiförmige  ober  audj  al8  gang  unregelmäßige  ©tücfe  gefunben. 
9lber  auch  tu  biefen  ift  bie  ÄrtoftaKform  fo  gu  jagen  unfitbtbar 
enthalten,  weil  auch  fte  fid>  in  berjelben  SBeife  fpaltbar  geigen, 
wie  bie  auSgebilbeten  Dctaeber,  unb  in  feiner  anbern. 

<Da8  fpecififcbe  @ewid)t  be8  «Diamanten  ift  3,5  b.  b-  er  ift 
3 ’/,  mal  fo  ferner  als  ein  gleiches  33olum  SSaffer,  unb  feine 
SluflöfungSmittel,  jelbft  bie  fd^ärfften  ©äuren  nicht,  »ermögen 
ihn  aufgulöfen,  wäfyrenb  bodj  wenigftenB  bie  glußfäure  bie  meiften 
anbern  ©belfteine  gerftört. 

©ewößnlid)  ift  ber  «Diamant  meßr  ober  weniger  farblos  unb 
burdjfidjtig,  unb  in  je  ßöljerem  ©rabe  er  biefe  ©igenfebaft  befißt, 
befto  höbet  ift  fei«  S53erttj. 

33ollfommen  farblofe  unb  burcbfidjtige  diamanten  nennt 
man  „com  1.  SSaffer".  3n  bie  gweite,  weniger  wertvolle  klaffe, 
„com  2.  SSaffer"  rangiren  biejenigen  farblofen  «Diamanten,  bie 
fleine  gebier,  glecfen  unb  bergleidjen  haben,  wäbrenb  fchwacb 
gelbliche  fowie  auch  folche  farblofe  «Diamanten,  bie  febr  fidjtbare 
gebier  haben,  in  bie  britte  Älaffe  geboren  unb  «Diamanten  »om 
3.  SSaffer  genannt  werben. 

9u8nabm8weife  aber,  unb  als  bödjfte  ©eltenbeiten  fommen 
audb  lebhaft  gefärbte  «Diamanten  (unb  gwar  in  allen  garben) 
»ot,  unb  biefe  werben  fowobl  ihrer  ©eltenbeit,  als  ihrer  ©cbön* 
beit  wegen  noch  weit  höbet  begabt  als  bie  ©teine  »om  l.SBaf* 
fer.  ©o  befißt  bie  <£>ergogin  »on  9tew*©aftle  einen  blauen  SDia* 
manten  »on  ber  garbe  be8  fd)5nften  ©apbitö,  ba8  grüne  ©e* 
wölbe  in  SDreSben  einen  grünen,  fRußlanb  einen  rnbinrotben 
«Diamanten,  ja  e8  fommen  fogar  fdjwarge  ^Diamanten , unb  gwar 
»on  fo  tief  febwarger  garbe  »or,  baß  bie  «Durdjficbtigfeit  gang 
»erloren  gegangen  ift,  unb  folche  ©teine  nur  an  ben  Äanten 
burdjfcbeiueu.  IDiefe  fdjwargen  «Diamanten  werben  befonberS 
auf  ber  3nfel  S3orneo  gefunben,  habe«  ben  eigentümlichen 
(») 


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9 


Diamantglang  in  i)djem  @rabe,  unb  finb  noch  härter  alß  bie 
anbern  Diamanten,  fo  baß  fie  nur  mit  bem  ©taube  non  fcbwargen 
(Diamanten,  nicht  mit  gewöhnlichem  Diamantbort  gefcbliffen  wer* 
ten  fönnen. 

2BiQ  man  einen  Diamanten  auf  feine  »ellfommene  gatb* 
Iejigfeit  unterjudjeu,  fo  legt  man  ihu  auf  rein  weißeö  Rapier, 
auf  welchem  auch  bet  leifefte  ©tich  inß  gelbliche,  ben  ber  ©tein 
etwa  hat,  ficb  bemerfbar  macht,  ©elbftoerftänblich  fann  biefe 
uufc  bie  folgenbe  ^rcbe  uut  au  ungefaßten  Diamanten  gemacht 
werben,  unb  ein  Jt’enner  wirb  wettßüoflere  Diamanten  überhaupt 
nicht  laufen,  ohne  fie  gunäcbft  ohne  ihre  gaffung  gu  prüfen. 

©dien  früher  war  baTauf  ßingewiefen,  baß  eorhanbene 
gletfen  unb  ©prünge  ben  SSertß  beß  ©teineß  erheblich  oermin* 
bern.  Sei  bem  ftarfen  Sidjtbrechungßoetmögen  beß  Diamanten 
nun  fann  eß  leicht  gefcheßen , baß  burcb  bie  zahlreichen  Facetten, 
bie  ber  Schleifer  bem  ©teine  gab,  ein  fehler  nidjt  gleich  bemerft 
wirb.  (Hm  leicßteften  fcßüßt  man  fi<h  gegen  einen  felchen  3rr* 
thum,  wenn  man  ben  ©teiu  in  eine  glüffigfeit  legt,  beren  Sicht* 
brechungßoermegcn  bem  beß  Diamanten  möglicßft  nahe  fcrnrnt. 
@ine  felthe  ift  baß  ßaffiaöl,  bet  ©chwefelfchlenftoff  unb  baß 
©ajafraßöl. 

3ft  bet  Diamant  fehlerlos , fo  wirb  er  in  ber  glüfjigfeit 
faft  unficfatbar  fein,  wol  aber  wirb  man  jeben  fPitnft,  jeben 
ftlecf,  jeben  ©prung,  ben  ber  ©tein  etwa  l>at , beutlid)  feßen. 

@äbe  eß  eine  glüffigfeit,  bie  baß  Süßt  genau  ebenfo  ftar! 
bräche  wie  ber  Diamant,  io  würbe  er  biß  auf  feine  gehler  in 
berfelben  gar  nicht  gu  feßen  fein , aber  eine  folche  giebt  eß  nicht, 
tenn  bet  Diamant  ßat  ebenio  baß  ftärffte  Sidttbrechungßoermögen, 
wie  er  bie  größte  £ärte  befißt. 

Sei  Senußung  biefer  fPrüfungßmethoben  wirb  eß  felbft  bem 
Saien  giemlich  leicßt  fein,  ben  wahren  SSertß  gefcßliffener  Dia* 

(») 


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10 


manten  gu  emitteln,  fe^r  jdjwer  aber  ift  biefe  ©rmittelung  bei 
ben  rofyen , uitgefdjUffeneu  ©feinen.  Um  biefe  richtig  gu  tapiren, 
ift  3al)re  lange  Uebnng  erforberlid),  unb  audj  bann  nod)  werben 
3rrti)ümer  nid)t  immer  gu  »ermeibeu  fein.  @8  fommt  bie©  baljer, 
baj)  bie  rofyen  “Diamanten  oft  ein  unanfef)nlid)e8  fäeufeereS  Ijaben, 
weil  iljre  Oberfläche  häufig  raul)  unb  non  einer  mefjr  ober  we* 
niger  unburd)ftd)tigen , riffigen  unb  Moderigen  {Rinbe  (casco) 
umgeben  ift. 

@8  wirb  baburd)  ein  ^alb  metallifdjev , in8  33leigraue  über* 
geljenber  ©lang  ber  Oberfläche  her»orgebrad)t.  $Dal)er  ift  e8  oft 
unmöglich,  bei  einem  eingelnen  ©tein  oorljetgufageu,  ob  er  ge* 
fdjliffen,  oom  erften  SBaffer  fein  wirb,  unb  bie  .£)änbler  fönnen 
ftd)  nur  baburd)  »er  SSerluften  fdjüjjen,  bafc  fie  nur  au8nal)m8* 
weife  eingelne  ©teilte,  gewöhnlid)  größere  §)artl)ien  faufen,  unb 
$Durd)fd)nitt8preiie  bega^Ien. 

2)ie  ©igenfdjaften,  wegen  beren  ber  SDiamant  allgemein  fo 
Ijodjgefdjä&t  wirb,  fein  ©lang,  fein  yrad)töolle8  garbenfpiel  (fein 
geuer)  treten  erft  baburd)  beutlid)  ^eroor,  baj)  er  nad)  beftimm» 
ten  Siegeln  in  gewiffe  t>ielfläd)ige  formen  „gefdjnitten"  unb  bann 
jebe  gläd)e  (gacette)  mit  JDiamantftaub  polirt  wirb. 

5)ie  ©rfinbung  biefer  Äunft  wirb  gewöfyulid)  Subwig  oan 
33erquen  au8  Sörügge  in  glanbern  gugefdjrieben,  ber  fie  im 
3al)re  1456  erfunben  ^aben  foU.  2)ie8  ift  jebod)  nidjt  gang 
richtig,  benn  au8  ben  23efd?retbungeu , bie  burd)  ©riedjen  unb 
{Römer  auf  un8  gefommen  finb,  mufj  angeuommen  werben,  bafj 
ihnen  wenigftenS  bie  Äunft,  bie  natürlidjen  glasen  be8  SDia* 
manten  gu  poliren,  nid)t  unbefannt  war,  wiewohl  fid)  über  bie 
£ed)nif  feine  5Rad)*id)ten  erhalten  ^aben,  »ieüeicbt  weil  fie  al8 
©eheimnifi  nur  oon  SBenigen  gefannt  unb  geübt  würbe.  ©8 
finb  uod)  ljeute  fold)e  “Diamanten  erhalten,  bie  in  einer  feljr 
frühen  3«t  bearbeitet  würben,  meift  Dctaeber=ÄraftaUe,  bereu 
(10) 


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11 


natürliche  gläcßen  polirt  pnb.  3Ran  nennt  folcße  (Diamanten 
©pißfteine,  unb  bie  ßeute  nocß  torßanbene  Sgtajfe  am 
Äaifcrmantel  ÄarlS  beS  ©roßen  ift  mit  folgen  35iamanten  ge* 
jiert. 

2lu8  bem  3aßre  1373  liegen  beftimmte  Otacßricßten  tor, 
baß  eS  in  Nürnberg  (Diamantenpolirer  gab,  bocß  aucß  über  ißte 
üecßnif  ift  nichts  befannt.  Slucß  in  ^>ariö  mürbe  biefelbe  geübt 
unb  oertoOfommt,  bis  bann  im  Safyre  1456  ber  oben  genannte 
Submig  »an  33erquen  babutcß  eine  tollftänbige  (Retolution  im 
55iamantenßanbel  ßertorrief,  baß  er  Die  Äunft  entbecfte,  bie 
(Diamanten  mit  gaßlreicßen  regelmäßigen  Facetten  ju  tetfeßen. 
S5iefer  gortfcßritt  gegen  ben  bisherigen  ©tanbpunft  bet  (Diamanten* 
icßleiferei  mar  aUerbingS  ein  fo  bebeutenber,  baß  eS  erf(ärlid)  er* 
fcßeint,  mie  bie  Beitgenoffen  ifubmig  »an  öerquen  gtabegu  als 
ben  ©rfinbet  berjelben  anfaßen. 

Der  mätßtige  unb  pracßtliebenbe  Jperjog  non  Surgunb,  .Karl 
bet  Äüßne,  ließ  meßtere  feßt  fcßöne  unb  große  ©iamanten  bei 
ißm  fcßneiben  unb  fcßleifen,  ton  benen  groei,  ber  ©ancp  unb 
Florentiner,  nocß  ßeute  ejriftiren,  unb  ben  35emeiS  liefern,  mel* 
cßen  ßoßen  ©rab  bet  (BoDenbung  ©erquen  erreicht  ßatte. 

©eine  ©cßület  ließen  pcß  in  3>ati8,  SlnterS  unb  3lmfter* 
bam  nieber,  bocß  ßat  bie  35iamanteufcßleiferei  mebet  in  9)ari§, 
nocß  in  SÄnterS  ficß  bauernb  einer  gefunben  SBlütße  erfreuen  tonnen, 
troß  bem  bie  pracßtliebenben  (Regenten  FrantreidiS  tiel  tßaten  um 
pe  gu  unterftüßen. 

@o  ließ  ber  ©atbinal  SRagarin  12  große  35iamanten  beS 
frangöpfcßen'  ÄronfcßaßeS  ton  $)arifer  SDiamantenfcßneibern  neu 
fcßneiben,  bie  unter  bem  fRamen  ber  12  9Ragarin8  berüßmt 
mären,  ton  benen  aber  im  3aßte  1774  nur  nocß  einet  torßan* 
ben  mar. 

35er  ©runb,  meßßalb  mebet  in  ^)atiS  nocß  in  SlnterS  bie 

(u) 


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12 


SDiamantenftleiferei  baurenb  gefciel),  ift  wohl  ber,  baf)  nur  an 
einem  Drte,  ber  ein  3£eltanbel8pla§  ift,  immer  non  neuem  bie 
nötige  3otjl  roher  SDiamanten  gu  haben  ift,  nnb  baff  befjalb 
8lmfterbam  feine  (Soncurrenten  balb  nnb  bauernb  überflügelte. 

©d)on  feit  längerer  3eit  ift  biefer  Snbuftriegweig  faft  gang 
»on  ben  ?lmfterbamer  Suben  monopolifirt,  beren  10,000,  non 
ben  in  biefer  ©tabt  norhanbenen  28,000,  birect  ober  inbirect  bet 
bem  JDiamantenbanbel  beteiligt  finb.  lieber  500  fBlüljlen  werben 
bort  burd)  JDampf  getrieben  unb  »etforgen  Die  gange  SBelt  mit 
ben  glüngenben  ©leinen. 

(58  haben  fit  nun  int  Saufe  ber  Sahtunberte  gwei  §or* 
men  al§  bie  gwecfmäfcigften  berau8gefteHt,  bie  man  bem  ©iaman* 
ten  giebt,  weil  fie  am  beften  geeignet  finb,  jeben  gidjtftrabl,  ber 
ben  ©tein  trifft,  aud)  wieber  heraus  gu  werfen,  unb  baburdj  fein 
„^euer*  gu  erhöhen.  35iefe  beiben  formen  finb  ber  93r illant 
unb  bie  9Ro  fette. 

Um  einen  SMamanten  gu  einem  ©riDanten  gu  maten,  wirb 
ibm  guerft  burd)  ©palten  bie  ibm  eigentümliche  ÄrnftaÜform,  be8 
DctaebcrS  gegeben.  S)enft  man  fitb  nun  bie  Slcbfe  biefeS  aufrett« 
ftebenbeu  DctaeberS  non  ber  obern  gur  untern  ©pifce  in  18  gleiche 
Sheile  geteilt  ($ig.  7),  fowirb  oon  ber  obern  Jpälfte  5/,8,  non  ber 

Sifl  7. 


untern  ber  gangen  2lcbfe  burt  ©ägen  ober  ©cbleifen  entfernt, 

(12) 


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13 


baburch  entfielt  eine  obere  größere  ftlätfee,  bie  „ Stafel  “ unb  eine 
Heine  untere,  bie  „Palette".  £Die  8inie,  bie  ben  Umfang  bet 
quabratifdjen  gläche  bilbet , in  welker  bie  obere  unb  untere  $älfte 
beSDctaeberS  fid)  berühren,  Reifet  bie  „{Runbifte"  (giq.8.)  @o  erhält 
bet  Dbertheil  beS  ©teineS  genau  bie  halbe  «£)ö^e  beS  UntertheüS, 
unb  bie  Stafel  hat  */9  beS  üDurchmcfferS  bet  {Runbifte.  ©obann 
»erben  fowohl  am  Dbertheil,  als  am  Untertheil  beS  früheren 
DctaeberS  regelmäfeige  Facetten  angef c^ttffen  (§ig.  9),  unb  gwat  heifeen 
8ig-  8-  8*9*  9- 


biejenigen  ©ternfacetten , »eiche  am  Dbertheile  mit  einer  ©eite 
bie  2a fei  begtengen,  bie  anbern  Duerfacetten.  SRacb  ber  Slngahl 
biefer  Facetten  nun  unterfcheibet  man  ben  bteifachen  {Brillanten, 
an  beffen  Dbertheil  fid?  3 {Reihen  Baretten  (32)  gaifefeen  2afel 
unb  {Runbifte,  am  Untertheil  gmifefeen  Palette  unb  {Runbifte  in 
gwei  {Reifeen  24  Facetten  bilben  (im  ©angen  alfo  58)  unb  ben 
2fadj«n  23riQanten,  bet  aufeer  gjiobe  unb  weniger  »ertheoD  ift, 
unb  am  Dbertheil  nur  16  Baretten  in  2 Leihen , am  Untertheil 
8 — 12  gacetten  gleichfalls  in  2 {Reihen  hat. 

(Sin  als  S3riHant  gefchnittener  ©tein  »irb  immer  ä jour 
gefaxt,  b.  h-  fo , bafe  bie  Unterfeite  beS  ©teineS  non  ber  Raffung 
nicht  oerbeeft  ift. 

{Der  ©atbinal  SRagarin  liefe  guerft  ©iamauten  in  Sriüant* 
form  fdjleifen,  unb  feit  biefer  3 eit  ift  fie  im  Söefentlichen  unner* 
änbert  geblieben,  nur  bafe  man  oft  burdj  bie  §orm  beS  rohen 

(13). 


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14 


©teinß,  unb  burd)  ben  SBunfch,  möglicbft  wenig  beß  wertbooDen 
SJlaterialß  gu  oerlieren,  gezwungen  wirb,  fte  etwaß  gu  mobifi* 
ciren.  ©o  witb  bie  Stunbform  eineß  brillanten,  an  bem  man 
»on  ben  Scfen  beß  Octaeberß  nur  wenig  wegnimmt,  mehr  qua* 
bratifd?  fein,  bagegen  adjtecfig,  wenn  man  bie  Seien  ftärfer  ab» 
ftumpft.  ©o  lann  bie  gorm  bet  SRunbifte  fidf  balb  einem 
-Streife,  balb  einem  ©oal  näbetn,  unb  barin  befielt  ootgugßweife 
bie  -ft'unft  beß  ©iamantenfcbleiferß , am  toben  ©teine  gu  beftim» 
men,  welche  biefer  QJtobificationen  für  ibn  gerabe  am  »ortbeil* 
bafteften  fein  witb. 

©ie  gweite  beute  nod)  gebräuchliche  gorm,  in  bet  bet  ©iamant 
gefdbnitten  witb,  ift  bie  9t  o fette,  auch  9tofe  ober  Staute  genannt, 
©ie  ift  feit  1520  im  ©ebraudj,  unb  ift  ihrer  wefentlicben  gorm 
nach  eine  |>albfugel,  an  beten  Oberfläche  2 9ieiben  gacetten  an* 
gefehlten  finb,  beren  obere  in  eine  ©pi£e  gufammen  laufen  (gig.10). 
Sine  »oWommene  Diofette  ift  halb  fo  bo<h  % 3)urd)tneffer 
unb  geigt  am  Oberteil  („Ätone")  6 bteieefige  gacetten,  an  bie 
fid)  bie  gweite  9teibe  bet  gacetten  (18)  anfcblie&t,  fo  bah  bie 
gange  9tofette,  ba  ihre  ®timbfläd)e  alß  in  bet  gaffung  ftecfenb 
nicht  mitgäblt,  24  gacetten  bat  (gig.  11).  §lucf>  bei  biefet  Schliff  form 
giß.  io.  gig.  ll. 


unterfdfeibet  man  mannigfache  Sitten  unb  SJtobificationen,  unb 
auch  fie  ift  gut  geeignet,  bie  SBorgüge  beß  ©iamanten  alß  @d)mucf= 
ftein  oortbeilbaft  betwriteten  gu  laffen.  3b«  ©runbfotm  ift 
am  beften  runb , hoch  fommen  auch  ooale  oor. 

©et  ©iamöntenfebneibet  wählt  biefe  gotm  bann,  wenn  bet 

<H) 


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15 


rc^t  ©ianiant  gar  gu  Biel  ton  feinet  SERaffe  einbüfjeu  müßte, 
um  gum  ©ritlanten  gefd)nitten  gu  werben.  Uebrigcn6  fteht  bie 
Soiette  bem  SriQanten  im  greife  bebentenb  nach,  inbem  bei 
gleichem  (Gewicht  bet  leitete  60  pro  ©ent  mehr  foftet.  Bu  ben 
fRoietten  gählt  man  aaä)  bie  33riolett8,  bie  man  gu  £>br8e* 
bangen  unb  betgl.  gerne  anwenbet,  unb  bie  man  fid)  als  2 an 
btt  ©runbflädje  mit  eiuanber  Betbunbene  IRofetten  benfen  fann. 
$ie  ichorc  früher  genannten  berühmten  2 SMamanten,  bie  8ub* 
rrig  Ban  Serguen  |'d)nitt,  bet  glorentiner  unb  bet  ©ancp, 
haben  bicfe  gotrn. 

fßerfen  wir  nun  einen  33lid  auf  bie  $anbgriffe,  butd) 
bie  e8  gelingt,  biefem  ^ärteften  aller  irbifdjen  ©toffe  fo 
regelmäßige  gönnen  gu  geben.  3unächft  wirb  ber  tobe  2)ia« 
mant  auf  bem  Äittftocf  feftgefittet  unb  nur  bet  SLljeil  beß  ©teineS 
frei  gelafjen,  bet  weggefpalten  werben  fotl.  hierauf  wirb  et  mit 
einem  anbern  j<barfen  IDiamanten  fo  lange  gerieben  bis  eine 
feine  gurdje  eingerißt  ift,  in  biefe  ein  fdjarfet  ftäblernet  9Jiei« 
§el  gefeßt  unb  auf  biefen  in  bet  beabfid)tigten  Ötidjtung  ein 
f<bnellet  ftarfer  ,$ammerf<htag  geführt.  3ft  bie  fRtd)tung  einer 
bet  Cdaebetflächen  getroffen,  fo  f paltet  ba8  ©tüc!  leidet  unb 
glatt  ab,  aber  man  ftel)t  wol  ein,  wie  oiel  Hebung  bie8  33er* 
fahren  erfotbert.  3uweilen  ift  e8  {djcn  recht  fcßwer,  bem  oft 
gang  fotmlofen  rohen  ©tein  angufthen,  in  welcher  JRidjtuug  bie 
Spaltungsflächen  liegen,  unb  ein  Srrthum  in  biefer  23egiebung 
lann  leicht  ben  ©tein  fdjmet  befdjäbigen. 

2>aher  wirb  in  ben  gätlen,  wo  bet  beabsichtigte  ©djnitt 
bnrch  ben  ©tein  feiner  feiner  ©paltrichtungen  entspricht,  ober 
tto  biefe  nicht  mit  Sicherheit  gu  ermitteln  finb,  ba8  3erfägen 
angewenbet,  eine  Arbeit,  bie  freilid)  feine  ©efaßr  für  ben  ©tein 
hat,  aber  in  ©rabe  geitraubenb  ift. 

$)a8  SBerfgeug,  mit  welkem  ba8  3etfägen  gefdjieht,  ift  ein 

ei») 


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16 


< 

feinet  ©tahlbraht,  bet  in  einem  fleiuem  Sanbiägebogen  au8ge* 
fpannt  ift  unb  mit  ©iamantbort  betrieben  wirb,  bae  man  oer* 
her  mit  etwas  Baumöl  aufeuchtet. 

$at  nun  burd?  biefe  arbeiten  bet  ©tein  bie  beabfid)tigte 
§orm  erhalten,  fo  felgt  guerft  eine  Vorarbeit  für  ba8  ©d)lei* 
fen,  welche  grauen  ober  graumadjen  ljei§t,  unb  junädjft  an 
ber  bitrd)  ©palten  ober  Sagen  gewonnenen  ©runbform  bie 
grö§ten  ber  beabfidjtigten  Facetten  erzeugt.  3u  biefem  3wecfe 
werben  2 möglichft  gleiche  ©iamanten  an  Äittftöcfen  befeftigt 
unb  genau  mit  ber  ©teile  an  einanber  |in  unb  l)er  gerieben, 
an  bet  jeber  eine  gacette  erhalten  foll.  2luf  biefe  SSeife  feilt 
gewiffermafcen  einer  bem  anbern  bie  Facette  an,  unb  ba§  babei 
abfallenbe  Aulner  wirb  forgfältig  gefammelt. 

©inb  auf  biefem  mübenoDen  2Bege  bie  £aupt«8acetten 
hergefteUt,  fo  |at  nun  ber  ©iamant  annähernb  bie  $orm.  bie 
er  f pater  behält,  aber  im  Uebrigen  wenig  9lel)nlidjfeit  mit  einem 
gefdjlijfenen  ©iamanten.  ©r  |at  feine  ©urchfichtigfeit  eingebüfct 
unb  geigt  eine  graue , etwas  metallifdj  glänjenbe  Oberfläche.  ©rft 
burd)  ba8  Schleifen  ober  ^oliren  erhält  er  bie  ©urchfichtigfeit 
wieber.  ©ie8  gefc^ieljt  auf  ben  fogenannten  9Jiü|len,  runben 
©Reiben  non  Stahl,  bie  mit  grofjer  ©efchwinbigfeit  |etumge* 
bre|t  wetben  unb  mit  ©iamantbort,  welkes  burch  Dlioenöl  an* 
gefeuchtet  wirb,  beftrichen  finb.  @8  wetben  nämlich  *>h  gu 
fdhleifenben  ©iamanten  mit  ©djneQloth  an  metallenen  ©täben 
befeftigt  unb  in  eine  mechanifchc  Vorrichtung  gefteeft,  welche  e8 
geftattet,  bie  ©teile  be8  ©teineS,  bie  gef^liffen  werben  foll, 
mit  einet  33elaftung  non  4 ^)funb  auf  bie  ©djleiffdjeibe  gu 
brüefen,  unb  f obalb  fie  hinlänglich  abgefchliffen  ift,  burch  eine 
fleine  ©rehung , bie  burch  einen  3eiget  auf’8  ©enauefte  gemöffen 
werben  fann,  bie  ©teile  bet  nädjften  gacette  auf  bie  ©cheibe 
gu  brüefen.  Such  bei  biefem  Ztyik  ber  Arbeit  wetben  gewöhn* 

<i«) 


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17 


!id)  2 ©feine  gugleidj  gefdjliffen,  inbem  fie  einanber  gegenüber 
an  einer  unb  berfelben  ©djleiffd?eibe  befeftigt  »erben. 

Sßeldjer  ftaunen8»ettl)e  ©rab  »on  Reinheit  unb  ®d)ärfe 
burd)  biefe  ^ülfömitfel,  »orgugSweife  aber  burdj  bie  jahrelange 
Uebung  non  bcn  55iamantfd)leifern  erret^t  »irb,  ba8  beweift 
bie  SL^atfad^c,  baß  auf  ber  $)arifet  SuSftellung  im  3al)re  1855 
in  ber  nieberlänbifdjen  Slbtheilung  JRofetten  »on  einer  foldjen 
Äleinbeit  auSgeftent  »aren,  baß  1500  auf  ba8  Äarat  gingen, 
unb  bie  bennod)  unter  bem  fBlicroöcop  eine  regelmäßige  9lnorb= 
nung  ber  gacetten  geigten.  55urd)  biefe  fabrifmäßige  Drganifation 
beS  55iamantfd)Ieifen§  finb  bie  greife  für  biefe  Arbeit  außeror* 
bentlid?  billig , benn  »on  ben  gang  fleinen  JRofetten , »on  benen  bis 
1000  auf  ein  Äarat  gehen,  unb  bie  gum  ©infaffen  größerer 
©belfteinc  »erwenbet  »erben , »irb  ba$  ©tücf  mit  40  'Pfennigen 
»erlauft. 

23on  ben  58  Facetten , bie  ein  »oüfommcner  breifad)et  23ril= 
lant  hai>  »erben  ge»ül)nlid)  18  burd)  ®d)neiben  unb  ©rauen, 
bie  anbern  40  burd)  ba§  Schleifen  h^oorgebratht. 

55er  gum  ©djleifen  gebrauste  ©iamantftaub , „Siamant» 
bert,"  »irb  tt)eil§  au§  gang  rohen  55iamanten  gewonnen,  bie 
fo  fd)lcd)t  unb  fehlerhaft  finb,  baß  fie  fid)  nicht  gum  ©chleifen 
eignen,  theilö  au8  ben  ©plittern,  bie  »on  ben  bearbeiteten  guten 
^Diamanten  abgefprengt  unb  abgefägt  »erben,  ©ie  »erben  in 
fDlörfern  »on  gehärtetem  Stahl  gum  feinften  ©taube  gerieben. 
55iefe  9Jtörfer  finb  cölinberifdj  geformt , unb  ber  gleichfalls  ftäh* 
lerne  Stempel  füllt  bie  Höhlung  fo  »ollftänbig  auS,  baß  nichts 
»on  bem  foftbaren  ©taube  hwauäfpringen  lann.  25iefe8  55iamant= 
pul»er  ift  grau  bis  fd)»ärglich  unb  erlangt  ein  befto  bunflereS, 
faft  metallifdjeS  §lnfel)en,  je  feiner  eS  ift.  S5a6  Äarrat  beffelben 
»irb  immer  noch  mit  4—5  Shlr.  begatilt.  ©iefeS  ©ernidit,  baS 
^tarat,  ift  nämlich  baSjenige,  nach  H-’eldjem  feit  3ahrl)unberten 

XL  241.  O (17) 


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18 


nidjt  nur  bie  ©iamanten,  fonbern  bie  (äbelftetne  überhaupt  »er* 
lauft  werben.  ©aß  5gort  fommt  »on  bem  Flamen  einer  Ärt 
Sonnen,  bie  in  Stfrifa  warfen  unb  »on  ben  (Singebornen 
„Äuara"  genannt  werben,  unb  bie  im  troefenen  3uftanbe  alle 
annäljernb  baffclbe  ©ewidjt  haben,  nämlid)  ‘205  SJliOigtamm.  ©8 
ift  auffallenb  genug,  bafj  man  fidj  grabe  bei  biefem  foftbarfteu 
aller  ©toffe  aud)  heute  nod)  mit  einer  ©emichtßeinheit  behilft, 
bie  ihren  wilben  Urjprung  unb  alle  fdjlimmen  folgen  beffelben 
nit^t  »erleugnen  fann,  währeub  bei  allen  anbetn  ©ingen  im 
Saufe  ber  3ahrhunberte  bie  ©emichtßeinheiten  wechfelten,  unb 
immer  genauer  unb  beffet  ^ergefteKt  würben.  ©et  f^limmfte 
Uebelftanb  ift  nämlich  ber,  bafe  jebe  größere  «Stabt  ein  »on  an» 
bern  abweidjenbeß  jfarat  hat.  ©o  wiegt  baß  Äarat  in  Slmboina 
unb  gloreng  197  9J?iHigramm,  in  iKmfterbam,  $)ariß,  Sonbon  unb 
23erlin  205,  in  SRabraö  207,  in  8i»orno  215  ÜJlilligramm,  unb 
um  gang  Keine  ©ewidjtSunterfdjiebe  »on  3ehntelmilligrammen  ift 
eß  überall  »erft^ieben. 

©8  märe  wol  enblid)  an  ber  3eit  unb  läge  jefct,  wo  baß 
@rammgewid)t  überall  eingeführt  ift,  rec^t  nahe,  bie  alte  @e« 
widjtßeinheit  beß  Äaratß  gang  fallen  gu  laffen,  ober  wenn  man 
fid^  bagu  nic^t  entfdjliefjen  will,  wenigftenß  baß  Äarat  überall 
auf  genau  200  SJtitligramm  feftguftetlen. 

3Baß  nun  ben  fPreiß  ber  ©iamanten  anlangt,  fo  hat  et 
gwat  häufige  unb  bebeutenbe  ©chwanfungen  burchgemadht,  bar» 
in  aber  hat  fid)  niemals  etwaß  geänbert,  bafj  bet  ©iamant 
auch  gu  ben3eiten,  in  benen  fein  $>teiß  am  tiefften  ftanb,  bodj 
immer  ber  foftbarfte  aDet  ©toffe  blieb. 

3m  Uebtigen  rietet  fid)  fein  SBerth,  wie  ber  jebet  SBaate, 
nad)  Angebot  unb  Nachfrage. 

SSlß  gum  Seifpiel  Anfang  ber  breifjiger  3atjre  biefeß  3ahr* 
hunbertß  ©on  ^)ebro  bie  3«nfen  ber  Srafilianifdjen  ©taatßfd^ulb 
(i*) 


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19 


nach  Sonbon  in  diamanten  bejahte,  ging  ber  *})reiß  fe^r  erheb- 
lich herunter  unb  heb  fidj  erft  nach  Salden  roieber.  Stegen 
große  Äronungßfeierlichfeiten  becor,  fo  fteigert  fid)  bet  S>teiß,  in 
3eiten  großer  jpanbelßftifen,  ober  wenn  burd)  neue  (äntbecfungen 
bie  i'rcbuction  3unimmt,  finft  er. 

3ur  3«it  ift  bet  SBertlj  eineß  SÖrillanten  erfien  SBafferö  non 
1 Äarat  80  einet  Siofette  50  S^lt.  ©teilte  2.  SBafferß  finb 
erheblich  billiget.  — 

die  größte  Siecolution  aber  im  SSertlje  bet  diamanten  hat 
grabe  je$t  ftattgefunben. 

@ß  war  nämlich  eine  uralte  Siegel,  ba§  bet  SBertl)  bet  dia* 
manten  im  Ouabrate  itjrer  ©rohe  juua^m,  baß  Ijei&t  alfo . bah 
trenn  ein  Brillant  con  1 Äarat  80  Sl^lt.  foftete , ein  foldjer  ren 
-2  Äatat  nic^t  2x80,  fonbern  2x2x80,  alfo  4x80,  einet  oon 
3 Äarat  9x80  £l)lr.  roerth  war.  diefe  Siegel  trirb  geiröljnltcb, 
trietrol)!  mit  Unrecht,  bie  dacetnierfche  Siegel  genannt,  nach  bera 
ftanjöfifchen  Abenteurer  ÜTacetnter , bet  in  bet  2.  Jpälfte  beß 
17.  3ahthunbertß  mehrere  male  Afien  unb  eorjuggaeife  3nbien 
bereifte,  ©belfteine  faufte  unb  nach  ©utopa  brachte,  unb 
con  bem  mit  über  bie  bamalß  im  Orient  »othanbenen  diaman- 
ten  fehr  merthcolle  Siadjrichten  haben.  SDiefe  Sacernierfche  Sie- 
gel (bie  aber  3ahrhunberte  oor  ihm  in  3nbien  ©eltung  hatte) 
ift  nun  burd?  ben  Umftanb,  bah  feit  1871  am  Äap  fehr  riet 
diamanten  unb  gmat  ein  fehr  hch”  ?>rocentfah  grober  dia- 
manten gefunben  mirb,  coDftcinbig  umgeftofsen  morben.  6ß  mirb 
fe$t  nur  bie  Äaratjahl  einfach  mit  80  Ühlt-  multiplicirt,  fo  bah 
alfo  ein  23riüant  con  10  Äarat , ber  cor  5 3abren  8000  Ztjlr. 
galt,  he»le  nur  noch  800  $hh-  werth  ift,  rcährenb  Heine  dia- 
manten con  1 jfarat  unb  barunter  biß  jefct  noch  if^en  alten 
§>reiß  behaupten.  — 

die  ÜJänber  ber  @rbe,  in  benen  fich  diamanten  finben,  finb 

2 • (19) 


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20 


33orberinbien,  bic  3nfeln  Sumatra  unb  93orneo , 23rafilien 
einige  fünfte  97orbamerifaß,  ber  Ural,  Sluftralien  unb  in  neue* 
fter  3eit  baß  Äaptanb.  — 3nbien  tft  fdjon  im  grauen  Slltet* 
tljum  burd?  jeinen  JReidjtijum  an  Siamanten  berühmt  gewefen, 
unb  bie  Stußbeljnung  beß  Siamanten  füfyrenben  ©ebirgeß  ift  Ijier 
eine  feljr  grofje. 

Sber  alle  bie  jaljlreidjen  (Steden,  an  benen  fyier  Siaman* 
ten  gewonnen  werben,  finben  fid)  auf  ber  öftltcfyen  Jpälfte  ber 
Sefan*#albinfel  (33orber*3nbienß).  SDie  ©ebirgßjdndfyt,  in  wei* 
djer  fyiet  bie  Siamanten  gefunben  werben,  ift  eine  jüngere  Sdjidjt 
aufgejdjwemmten  SJobenß,  ein  Konglomerat  auß  gerunbeten 
Äiefeln,  eine  Sanbfteinbrectie,  unb  gwar  fornmen  bie  Siaman* 
ten  nur  in  einer  etwa  einen  §ufi  mädjtigen  2age  biefeß  ©ebir* 
geß  »or,  bie  non  einer  feften  Sanbfteinfdjidjt  überlagert  wirb, 
unb  auß  einem  fdjönen  ©emenge  non  rotten  unb  gelben  3aßpiß* 
ftücfen , Duatgen,  Kljalcebonen  nnb  »erfdjiebenfatbigen  ^)orn* 
fteinen  befteijt,  bie  burdj  ein  quargigeß  33inbemittel  gufammenge» 
littet  ftnb.  21  uß  biefer  Sdjidbt  gewiunen  bie  Singebornen  3n* 
bienß  feit  nielen  Safyrljunberten  bie  Siamanten,  inbem  fie  bie* 
felben  entweber  burdj  einen  jiemlidj  regellofen  Tagebau  auffdjlie* 
fjen  unb  bie  Siamant  füfyrenbe  Sd)idjt  außwafdjen,  ober  inbem 
fie  bie  Sbelfteine  an  beu  Ufern  unb  in  bem  Sanbe  berjenigen 
glüffe  fudjen,  weldje  biefe  Sd&idjt  butdjbrodjen,  unb  fomit  fdjon 
einen  Sfyeü  ber  Arbeit  oerridfjtet  Ijaben. 

3lel)nlict>  wie  in  3nbien  ift  baß  Sotfommen  ber  Siamanten 
auf  ben  Snfeln  Sumatra  unb  23orneo , auf  welker  letjtereu  ner* 
tjältnifjmäjjig  Ijaufig  fetyr  fööne  fdEjwarge  Siamanten  gefunben 
werben. 

3m  3al}te  1727  würben  bie  Siamantenlager  Sörafilienö 
entbedt  unb  malten  halb  ben  iubifdjen  Siamanten  auf  bem 
SBeltmarft  eine  bebeutenbe  Koncurrenj.  Wan  ijatte  in  ben  bor* 

m 


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21 


tigen  @olbwäfd)en  fdjon  lange  bie  glängenben  ©teine  gefunben, 
fie  aber  a!8  wertljlog  fertgeworfen,  ober  bödjftenß  alß  ©piel» 
raaifen  benufct , big  im  genannten  Safjre  23etnarbino  gonfefa 
£pbe,  bet  in  Dftinbien  rolje  ^Diamanten  gefeljen  batte,  bie 
Steine  als  foldje  erfannte,  fidj  eine  5Jtenge  berfelben  oerfdjaffte 
unfc  nad)  Portugal  jum  SBerfauf  bradjte.  ^ierbutd)  mürbe  bie 
Sufmerffamfeit  auf  bie  ©rafilianifdjen  2)iamantengruben  gejogen, 
unfc  bie  (Sutopaifdjen  J^änbler , bie  bie  Sntwerttjung  i^ret  au8 
Snbien  begogenen  SBorrätbe  fürsteten,  nerbreiteten  baS  93Rärdje«, 
bafc  bie  aStafilianifdjen  SMamanten  nur  bet  fdjledjte  $u8f<bu§ 
bet  Snbiftfyen  35iamanten  feien , bie  man  nadj  bet  ^ortugieftfdjen 
Seflfcung  in  Snbien,  @oa,  unb  non  ba  nadj  Stafilien  fdjitfe. 
Sbet  bte  $)ortugiefen  fc^rtetc  bie  ©ad^e  um.  ©ie  fe^icften  bie 
SrafUianifdjen  «Diamanten  nadj  @oa  unb  non  bort  nad)  S3en* 
galen,  wo  fte  alß  Snbifdje  nerfauft  unb  bejaht  würben.  9tac^ 
unb  n ad)  würben  in  93rafilien  immer  neue  gunborte  non  £>ia* 
manten  entbecft,  unb  bie  Üluöbeute  übertraf  halb  weit  bie  ber 
altberüljmten  «Diamantengruben  SnbienS.  2)et  ©efammertrag 
aller  «Diamantenbegirfe  SBrafilienß  bis  gum  Safjre  1850  wirb 
auf  10  9JliIlionen  .Karat,  alfo  44  (Sentner  gefdjatjt,  ju  einem 
©eiammtwertf)  non  105  SKidionen  ü^aler.  «Dennod;  ift  ber 
witfliebe  SBcrt^eil,  ben  baß  8anb  non  biefen  ©djafien  ^at,  ein 
fe^r  zweifelhafter , unb  ber  berühmte  ^ortugiefifdje  SDtinifter 
9Ratqui8  be  $>ombal  nerbot  fogar  eine  Seit  lang  bie  weiteten 
ütadjferfdiungen,  weil  er  mit  Sftedjt  bie  dtadjtljeile  für  ben 
Sldetbau,  bie  befte  Duelle  De8  2anbe8reid)tbum8,  fürstete. 

S5ie  Arbeit  wirb  in  Srafilien  burdjgebenbS  oon  ©etanen 
»errichtet , unb  fie  ift  unter  ben  ©trollen  ber  tropifdien  ©onne 
eine  unerme&litbe  unb  mörberifdje.  Oft  frif<bt  bie  $>eitfdje  be8  Stuf« 
je^erß  bie  erfdjlaffenbe  S^atfraft  ber  ©clanen  auf,  unb  niele  er» 
liegen  ben  3lnftrengungen. 

(21) 


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22 


©ann  mußten  fftegetjagb  unb  Sclarenhanbel  bie  gasreichen 
Südfen  triebet  füllen. 

©abei  ftnb  trotj  allet  angetrenbeten  Borficbtgmafsregeln  bie 
Unterfchleife  feht  bebentenb. 

Stc^bem  bet  Sluffeljer  ccn  feinem  ersten  ^latje  fämmtliche 
9Jeget,  beten  jebet  feinen  SBaidjtrog  rot  fidj  hat,  überfielt,  unb 
fie  ron  3e«t  gu  Bett  bie  ^lä^e  an  ben  Strogen  tredhfeln  läjjt, 
ift  eg  bodj  nicht  möglich,  bte  etfinbungSreic^en  Sclaren  an 
gasreichen  Untetfdjleifen  gu  Ijinbern,  bie  werthBolle  (Steine  in 
ben  paaren,  gtrifcpen  ben  3eh£H  unb  im  ÜJiunbe  fo  gefdjicft  gu 
»erftecfen  triffen , baff  eg  nnt  feiten  gelingt , fie  gu  ertappen.  9tm 
tnirtfamften  hat  fich  noch  bie  SJietljobe  ertriefen,  für  bag  Stuf* 
finben  befonberg  guter  Steine  Belohnungen  auggufe^en,  ba  ja 
begreiflicher  SBeife  bet  fJIegerfclare  nur  feiten  bie  heimlidb  bei 
Seite  gebrachten  ©iamanten  gut  retirerthen  fann.  ©abei  finb 
bie  Äoften , bie  bie  Bearbeitung  ber  ©iamantenmineu  nerutfadben, 
fo  bebeutenb,  bajj  bie  Brafilianifdhe  Regierung  eg  für  Bortheilhaft 
gehalten  ^at , im  Satyre  1834  ihr  big  baf)in  aufrecht  erhalteneg 
fföonopol  triebet  aufgugeben.  3ntereffant  finb  bie  fWachrichten, 
bie  Sfchubi  im  Saljre  1858  aug  ben  ©iamantenbegirfen  Brafi* 
Heng  mitbrachte.  (Sr  fagt,  „ber  9lngelpunft,  um  ben  ftd?  ber 
^anbel  ber  Stabt  ©iamanrtna  breht,  finb  bie  ©iamauten.  &aft 
alle  Söelt  hanbelt  bamit,  unb  man  bürfte  wohl  faum  einen  (Sin* 
tnohiter  finben,  ber  nicht  eine  Partie  ©iamanten,  auf  eine  gang 
eigentümliche  Sri  in  Rapier  getridfelt,  in  feiner  Brteftafdhe  bei 
fich  trüge.  @g  gab  eine  3£it,  in  ber  fogar  bie  ©amen  ftdh  f£hr 
lebhaft  am  ©iamantenhanbel  betheiligten. 

Söährenb  meiner  SKntnefenheit  faftete  bie  beifpiellofe  ,£>an* 
belgfrifig,  bie  fich  f°  furchtbar  gerftßrenb  non  Sanb  gu  ganb,  ron 
Stabt  gu  Stabt  außbreitete,  wie  ein  fdbtnerer  5llp  auf  ben  Be* 
trobnern  ©iamautinag.  äße  ©efchäfte  ftodften,  unb  bie  ©ia* 
c«) 


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23 


mauten  waren  auf  bie  Jpälftc  beS  SertheS  gefunlen.  — 3m 
3abre  1848  war  bieö  freilich  iw  noch  weit  höherem  ©rabe  bet 
§aU.  <58  braucht  tnbeffeu  nicht  einmal  feiger  ^eftiaer  Selter* 
fchütt mengen,  um  bem  Siamantenhanbel  fchwere  Stehe  3»  »er* 
fefcen;  wage  ©eridjte  »on  ^olitifc^eu  Unruhen  finb  fchon  bin* 
reicbenb,  um  bie  beträchtlicbften  ^)rei8jd)wan!ungen  het»»rgurufen, 
unb  mit  ber  gröfsten  Spannung  wirb  in  SiamanHna  immer 
bet  $>eft  auS  ber  £auptftabt  entgegengejehen,  bie  nur  alle 
€ Sage  bert  eintrifft.“ 

Sie  ©ntbeefung  ber  Siamanten  in  ?lnftralien,  Nerbamerifa 
unb  am  Ural  h'ri  bis  jel^t  auf  bem  Seltmarfte  feinen  ©inbruef 
gemacht,  weil  bie  3at)l  ber  bort  aufgefunbenen  Steine  bis  jejjt 
gu  geriug  gewefen  ift,  bed?  hat  iljr  üßerfommen  im  Ural  unb 
Nerbamerifa  in  feferu  ein  befenbereS  3utereffe,  weil  eS  für  beibe 
Dertlidjfeiten  neu  unferm  großen  ganbSmanne  Sllejrartber  neu 
£umbelbt  anS  mineralogifchen  unb  geologifchen  ©rünben  oorher* 
gefagt  worben  war. 

Sagegen  war  bie  ©ntbeefung  ber  Siamanten  in  ©übafrifa 
am  Orangefluh  unb  feinem  Ouellfluffe,  bem  Saalfluh  beftimmt, 
eine  befto  gröbere  Neoolutien  im  Siamantenhanbel  l)ert>cr  gu 
bringen.  ©8  war  im  3al)re  1867  als  ber  ©trauhenjäger  D. 
{Reiöp  in  einer  $arm  nicht  weit  com  Orangefluh  cinfe^rte,  unb 
bie  53efi£er  ber  garm  um  ein  Nachtlager  anfpradj.  ©r  fanb  bie 
?frau  unb  einen  fchon  früher  eingelegten  Sanberer,  NamcnS 
©chalf  non  Nieferf,  bamit  befchäftigt,  einen  fouberbar  geformten 
©trin,  ben  bie  jlinber  oom  Ufer  beS  SluffeS  mit  nach  £>aufe 
gebracht  harien.  nnb  ber  ihnen  feines  ©langes  wegen  auffiel, 
beim  Schein  eines  bürftigen  Salglid}teS  gu  befichtigen.  s?luch 
O.  Neiflp  fah  ihn  ftch  an,  unb  alle  brei  meinten,  ob  bieS  nicht 
einer  non  ben  ©belfteinen  fein  fönne,  non  beneit  bie  Offenbarung 
SobanniS  fpräche.  — Snlefct  fam  man  überein,  ben  ©tein  bem 

CS3) 


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24 


£>.  fReillp  mitgugeben,  ber  itjn  in  bet  meutere  5£agereifen  ent*  • 
feinten  Stabt  ©ratjamStoon  prüfen  taffen,  unb  womöglid)  gu 
Ijobem  greife  oerfaufen  füllte,  worauf  man  ftdj  ben  6rlö8  ttjeileu 
wollte.  — golgenben  £age8  madjte  fidj  £>.  fReiflp  auf- bie  be* 
fdjwerlidfe  Säuberung,  unb  al8  er  enblidj  ©ratyamStoon  errettet 
fjatte,  wieß  man  iljn  an  ben  practifc^en  2lrgt  Dr.  Sit^erftone  als 
ben  einigen,  ber  in  biefet  öftlidjen  >}>rooing  be8  ÄaplanbeS 
mineralogifdfe  unb  geologifdje  Äenntniffe  Ijatte.  Dr.  2ltt)erftone 
prüfte  ben  Stein  unb  erflärte  il)n  für  einen  «Diamanten.  6t 
wog  20  Äarat  unb  würbe  für  500  fpfunb  Sterling  oerfauft. 

2118  bann  im  fotgenben  Saljre  ein  ^»ottentott  eintu  83  j?a* 
rat  ferneren  diamanten  fanb,  (berfelbe  wiegt  nadj  bem  ©djnitt 
44^  Äarat  unb  ift  unter  bem  Flamen  Stern  oon  Süb*3lfrifa 
für  200,000  5£fylr.  gulejjt  in  ben  23efifc  be8  (Sari  SDulep  ge* 
fommen,)  ba  brad)  in  ber  JEapcelonie  ba8  «Diamanten» 
fieber  au8. 

2lHe8  30g  bem  Drangefluffe  gu,  um  «Diamanten  gu  fudfen 
unb  e6  folgten  in  ben  nädjften  2 3al)ren  Buftänbe,  burdjauS 
oetfdjieben  oon  benen,  bie  anberSwo  folgen  fotgenfdjweren,  bie 
©ewinnfudjt  fo  heftig  reigenbeu  ©ntbecfungen  gu  folgen  pflegen. 
Um  biefe  Buftänbe,  bie  in  ber  £ljat  an  bie  SdjUberungen  be8 
golbenen  3eitalter8  erinnern,  gu  oerftetyen,  mufj  man  fidj  bie 
6igentt)ümlid}feit  oon  Sanb  unb  Leuten  oergegenwartigen.  3u* 
nädjft  giebt  e8  wenig  Sdnber,  bie  in  fo  geringem  ©rabe  am 
Seltoerleljr  Streit  nehmen,  fobann  ift  bie  fcanbbeoö  Heran g,  bie 
^oKänbifdjen  33oer8,  eine  metyr  al8  folibe,  beren  eingigeS  33er* 
gnügen  bisher  im  Singen  oon  $)falmen  beftanb.  JDiefe  fyollän» 
bifdjen  SBauern  gegen  nun  3U  Sagen  mit  Seib  unb  jfinb  bem 
Drangefluffe  gu,  nahmen  5Ritd)fütye  unb  Sdjaafljerben  mit  unb 
fugten  «Diamanten.  Senn  nun  aud)  fcfyon  bamalS  au8  ben 
größeren  Äüftenftäbten  eiu  Strom  oon  2lbenteurern  fid)  gu  ifynen 

(34) 


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25 


geteilte,  jo  hatte  bod)  baö  folibe  dlement  baö  Uebergewidjt,  unb 
feie  äbenteuter  ber  jtapftabt  au8  ©rahamStocn  unb  ben  anbetn 
gTpfemt  Stätten  bienten  nur  ba^u,  bem  ^(egma  unb  ben  et»a§ 
langweiligen  gebenSgewohnheiten  ber  Säuern  mel)r  geben  unb 
jpetlrrfeit  beijumi^en.  Da^u  fam,  baf)  baß  Älima  an  bem  be* 
walteten  glufjufet  ein  gejunbeö,  bie  ©egenb  f<hön  unb  wilbteidh, 
tie  gebenSmittel  billig  waren  unb  auttädjft  auch  noch  blieben,  jo 
ba|  baö  geben  ber  Diamantenfucher  in  ben  Sabren  1869  unb  70 
einem  ununterbrochenen  $)icfnil  glidj.  Dabei  war  bie  Slrbeit 
eine  bequeme  unb  feht  lohnenbe.  ÜHan  füllte  mit  bem  UferfieS 
einen  dimer  unb  wujch  ihn  auS,  unb  war  giemlidj  ftdjer , in 
5 biö  6 dimern  einen  Diamanten  ju  ftnben.  Sobalb  ein  etwas 
anjebnlicher  Diamant  gefunben  war,  würbe  baö  dreignift  burd) 
greubenfchüffe  unb  Saucen  uerfünbet,  bie  Sewofyner  ber  be» 
nat^barten  3«lte  erfdjienen  gut  ©ratulationSmfite  unb  würben 
mit  Speijen  unb  ©etränfen  bewirket.  3ulefct  mieten  ftc h oft 
jeht  weltliche  giebet  mit  ben  §)falmen  ber  ^oQänbife^en  Säuern, 
unb  man  fonnte  au8  bem  ©tabe,  ben  bie  Weiterleit  erreichte, 
mit  giemlicher  Sicherheit  auf  bie  ©röf)e  be8  gefunbenen  Dia» 
manten  fdjliefjen.  Dabei  würben  in  bet  bamaligen  3eit  enorm 
bebe  greife  begatjlt,  weil  man  ben  SBertb  bet  Steine  nicht 
faunte  unb  bebeutenb  überfchäfcte;  e$  würben  alfo  fcbnetl  grofce 
Summen  erworben,  unb  3agb  unb  gefte  brachten  erwünfcbte 
Abwechslung  in  bie  Arbeit.  Diefe  3b»Qe  nahm  aber  im  3aljte 
1871  ein  plöfclicheB  dnbe.  Um  biefe  3«t  würben  bie  erften 
Slachricbten  übet  bie  Audionen  ber  Äapbiamanten  in  gonbon  in 
bet  Äapfolonie  befannt,  machten  ben  3flufionen  über  ben  boben 
äBertb  ein  dnbe,  unb  ba  alle  SBelt  in  Diamanten  fpeculirt 
hatte  unb  nun  jebet  bebeutenbe  Serlufte  erlitt,  fo  waren  bie 
2age  ber  gefte  oorüber. 

©leidjgeitig  Ijattc  man  bie  dntbecfung  gemacht,  bah  teilen» 

<«) 


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26 


weit  Don  ben  ^Infjufent  auf  ber  baumlcfeit  ftaubigen  -£>odhcbene 
bie  «Diamantenlager  »iel  teidjer  uub  ergiebiger  feiert  als  am 
giuffe,  uub  gugleid)  erfchienen  tnaffenhaft  bie  2)iamanteufudier 
aus  ©uropa  uub  Qlmerifa,  fo  baß  balb  ber  SReooloer  uub  bie 
Bpncbjuftig  bie  bisherige  $armloftgfeit  uerbrängtert.  3eßt  haben 
bie  «Diamantengräber  ein  feineSwegS  bencibenSwertheS  SDafein. 

Ü)ie  170  beutfehe  SReilen  nörblich  Dort  ber  Äapftabt  liegen« 
ben  ©ruben  gieben  fidi  auf  einer  baumlofen  uub  ftaubigen  .£>och* 
ebene  l)iu  uub  umfaffen  ein  ungeheures  Terrain,  ©taub  unb 
©onnengluth  ^errfdbt  überall,  SBaffer  muß  oft  meilenweit  herbei* 
gefdiafft  werben  unb  alle  33cbürfuiffe  haben  ungeheure  greife,  fo 
baff  ein  ©aef  Jfartoffeln  20  SL^lr. , ein  ©aef  SBeigenmehl  28 
Shlv.  foftet.  3Die  Ausbeute  ift  allerbingS  feljr  reich,  unb  fdjen 
oben  würbe  angeführt,  baß  eine  unuerhältnißmäßig  große  3«l>t 
großer  «Diamanten  gefunben  wirb,  fo  baß  bie  greife  großer 
©teiue  enorm  herunter  gegangen  fittb.  3m  Uebrigen  ljat  man 
aud)  bei  ben  Äap«2)iamanten  oerfitcht,  ihnen  als  folgen  einen  ge« 
riugeren  SBerth  gufpredjcn  gu  wollen,  als  benen  früherer  gunborte. 
!Die8  ift  unrichtig.  «Die  Äapbiamauten  fiub  allerbingS  in  ihrer 
9M)rgal)l  etwas  gelblid)  unb  rangiren  bann  wie  bie  gelblichen 
^Diamanten  3nbienS  unb  SBrafilicnS  als  ©teine  3.  SBafferS;  alle 
anbern  am  «Diamanten  gefdiäßfen  (Sigenfdjaften  haben  aber  auch 
fie,  unb  befortberS  auSgegeidjnet  ift  ihr  geuer.  UebrigenS  fommert 
auch  am  Äap  ©teine  oorn  1.  SBaffer  oor.  «Der  ©runb,  weS* 
halb  man  bie  Dualität  ber  Äapbiamanten  oerbäd)tigt,  ift,  abge« 
fehen  non  ben  fdjon  bei  ©ntbedfung  ber  9?rafilianifd)en  ange* 
führten  ©rünben  ber  Soncurreug  wol  ber,  bah  man  in  ber 
Äuuftfprache  ber  ©teinfdjneiber  unb  3uweliere  fchou  immer  mit 
bem  fRamen  ÄapVfl'ri  unregelmäßig  unb  fd>Iedjt  gefdjliffene 
©teine  verftanb,  bie  als  foldje  einen  geringem  SBerth  haben,  unb 
nun  aus  Srrthum  biefen  9lamcn,  ber  eine  gang  anbere  Ableitung 

(M) 


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27 


fytt,  mit  ben  am  Äap  gefunbenen  ^Diamanten  nerwedjfelt.  SDie 
IDiamautenfelber  ©übafrifag  gesotten  gum  ©ebiete  ber  Brei« 
ftaaten  »om  Draugefluf),  als  aber  ipr  5)iamantenreid)tt)um  fte 
ple$licb  gu  einem  wünfd?en8wertfyen  ©efifj  madjte,  erljob  alle 
Seit  Slnfprüdje  auf  biefelben , Hottentotten  unb  jfaffern , fogar 
bie  berliner  Söliffionggefetlfdjaft.  3 5a  erinucrte  fid>  bie  englifdje 
^Regierung,  bafj  ein  alter  Äaffernfyauptling  üjt  unter  Slnbern  aucb 
bitte  Segitfe  früher  einmal  — abgetreten  fyabe,  unb  fefcte  fidf  in 
i|rtn  S9efi^ , ofyne  auf  bie  §>rotefte  ber  fyoUanbifdjen  dauern 
unb  beren  ©orfdjlag  gu  adjten , bie  Slnfprüdje  burdj  bett  Äaifer 
cen  SDeutfdjlanb  prüfen,  unb  biefeit  über  bag  @igentbum8red?t 
entfcbeiben  gu  laffen 

©eit  bem  Dctober  1871  finb  bie  55iamantenfelber  ton 
@nglanb  annectirt.  — 

Sag  nun  bie  ©ntfteljuug  beg  ^Diamanten  aulangt,  fo  mu§ 
leiber  gugegeben  werben,  ba§  e8  bie  SBiffenfcpaft  big  jefct  nur 
gu  Hppotfyefen  gebraut  l?at,  beren  feine  bigfyer  fidt  allgemeine 
©eltung  gu  erwerben  gemußt  fyat.  55ie  alten  gunborte  in  3nbien 
boten  ben  ©peculationen  über  bie  (Sntftefyung  beg  ÜDiamanten 
fdwn  begpalb  wenig  ©oben,  alß  bie  bortigen  ©rubeu  äugen* 
fdjeinlidj  ben  55iamanten  aug  fecunbüren  i'agerftättcn  förberten, 
bag  Reifet  aug  ©dfidjten,  bie  fiep  offenbar  in  einer  Beit  gebilbet 
Ratten,  in  bet  bie  barin  gefunbenen  3)iamanteu  fdjon  lüngft 
eriftirten.  Sie  ©djidtten  waren  offenbar  bie  krümmer  eineg 
©ebirgeg,  in  bem  bie  S5iamanten  entftanben  waren.  @rft  in 
©rafilien  gelang  eg,  bieg  urfprünglidic  SRuttergeftein  beg  üDiaman* 
ten  aufgufinben.  55ie8  ift  ber  Stacolumit  ober  ©elenfquarg,  ein 
Cuargfdjiefer,  ber  bie  (rigcntpüm  liebfeit  fyat,  in  uitfct  gu  bicfeu 
glatten  eine  für  eine  §el8art  gang  auffaUeube  ©iegfamfeit  gu 
geigen,  ©djon  ^jumbolbt  l>atte  bie  ©ermut^uug  auggefprocpen, 

baff  biefe  gelgart  bag  fBluttergeftein  beg  diamanten  fei,  unb 

(«) 


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28 


1827  würbe  ber  erfte  im  Stacolumit  eingewadhfene  IDtantant  auf» 
gefunben.  ©eitbem  hat  man  in  aßen  ©egenben,  in  benett  SDtaman* 
tentager  auch  in  fecunbäter  gagerftätte  oorfommen,  ben  Stacolumit 
aufgefunben,  fowof)l  in  3itbien,  in  Vorbamerifa,  am  Äap  utxb  am 
Ural,  wo  £elmerfen  ihn  in  großer  Verbreitung  nadjgetmefen 
hat.  2ludh  in  Vtafilien  ift  ber  3tacotumit  fein  verbreitet,  unb 
bilbet  bort  mastige,  gurn  S^eil  über  100  SJieilen  lange  @djidjten* 
fpfteme,  unb  unter  anbetn  ben  5400  $ufj  ^o^en  Vetg  Stacolomi 
bei  Vißarica,  nach  welkem  bie  gelbart  ihren  ßtamen  l^at.  SOian 
hat  in  Sörafilien  auch  eine  3eit  laug  bie  JDiamanten  in  biefem 
ihrem  Sötuttergeftein  betgmännifch  gewonnen,  bodb  gab  man  eb 
balb  wieber  auf,  weil  bei  ber  Seltenheit  ber  ©iamanten  bie 
grofjen  Äoften  nicht  gebecft  würben , — eb  erfdjien  oortheilhafter, 
ben  ©belftein  wie  früher  auf  ben  fecunbären  gagerftätten  gu  ge» 
Winnen,  wo  burch  oorhiftorifche  SJteerebfluthen  bie  3crtrümmerimg 
beb  Stacolumitb  bewirft  worben,-  unb  bamit  fdjon  ein  großer 
üheil  ber  Arbeit  gefächen  war. 

Natürlich  hatte  bab  Sluffinben  beö  SDiamanten  im  Stacolumit 
in  (Sutopa  grofjeb  SCuffehen  erregt,  unb  bie  ©tüdfe  mit  einge» 
wachfenen  SDiamanten  würben  hoch  begabt;  bodj  machte  man  balb 
bie  ©ntbecfung,  bafj  bie  Brafilianer  eb  fehr  gut  »erftanben , biefe 
©abinetftücfe  nachgumadjen,  inbem  fie  fehlerhafte  unb  fonft  giem» 
lieh  werthlofe  SDiamanten  in  Stacolumitftücfe  fo  gefdhieft  einfitteten, 
ba§  eb  nicht  teid^t  war,  ben  Betrug  gu  bemetfen. 

So  war  nun  gwar  bab  SSJluttergeftein  beb  SDiamanten  auf* 
gefunben,  ba  aber  bie  ©eologen  butdhaub  nicht  barübet  einig 
finb,  ob  baffelbe  uulfanifdhen  ober  neptunifdhen  Urfprungb  ift, 
fo  war  bamit  immer  noch  feine  fixere  ©runblage  für  bie  ©nt» 
ftehung  beb  IDiamanten  gegeben,,  ja  Vielen  fdheint  eb  noch  gar 
nidht  aubgemacht  gu  fein,  ob  nicht  ber  SDiamant  nodh  früher 


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29 


eitftanien  fei,  als  ber  Stacolumit,  unb  alfo  auch  in  biefem  @e» 
flein  nur  auf  fecuubäret  8agerftatte  norfemmc. 

SRan  fann  übrigeuS  bie  nerfdbiebenen  .pppotbefen  iu 
gwei  jpauptflaffen  bringen,  jenachbem  man  annimmt,  bafe  bet 
©iamant  burcb  grobe  £it}e  au§  Äoblenfäure  ober  Äoblenftoff 
«tftanb  , ober  baß  er  ficb  burd?  langfame  3«fe^ung  con  §)flangen* 
ftoffeu  gebilbet  l^abe.  §ür  lefctere  Slnficht  bat  fid)  ©oppert 
in  S?reSlau  auSgefprocben , bet  butd}  gasreiche  mifroSfop>ifd?e 
Unterfuchungen  bie  Uebergeugung  gewonnen  l)at,  bab  fic^  guweüeu 
nocfe  woblerbalteue  ^flangengeüen  in  eingelnen  ©iamanten  er« 
tennen  laffen.  2lucb  bet  Umftanb,  bab  bie  Äoblenfäure  ftch  bet 
febr  ftarfem  ©rucfe  in  eine  glüffigfeit  nerwanbelt,  ift  für  bie 
ÖHtfietjung  beS  ©iamanten  Ijerangejogen  worben,  ©immler 
nimmt  an,  bab  gasförmige  Äofflenfäure  fidb  in  gelfenljöfylen  an» 
Ränfte,  bort  ficb  unter  bem  gewaltigen  SDrucf  ber  unterirbifdjen 
äuSfttömungen  in  flüffige  Äeblenfäure  nerwanbelte  unb  anbern, 
in  biefen  £öljlen  »orljanbenen  Äoblenftoff  aufgelöft  ba&e-  55iefer 
aufgelöfte  Äcblenftoff  fei  bann  auS  ber  glüffigfeit  fpäter  heraus» 
crpftaQifirt , wenn  ber  ©rud  fi<h  burcb  »erdnberte  33erbdltniffe 
serringert  habe. 

@o  wenig  eS  bis  jefct  gelungen  ift,  gu  ermitteln,  wie  bie 
Statur  ben  ©iamanten  gebilbet  bat,  fo  wenig  finb  bie  23erfud>e 
geglüdt,  ibn  fünftlicb  gu  ergeugen.  äßäbrenb  eS  auf  oetfdnebeuen 
©egen  gelang,  Uiubine,  ©maragbe  unb  anbere  ©belftcine,  wenn 
aucb  nicht  non  befonberer  ©röbe,  aber  bocb  fo  grob  berguftcllen, 
bab  man  an  ihnen  bie  nolle  3bentität  mit  ben  natürlichen  nach* 
weifen  fonnte,  finb  alle  bie  gabireichen  Skrfucbe,  bie  gur  @r« 
geugung  fünjtliöber  ©iamanten  angefteBt  würben,  ohne  rechtes 
SRefultat  geblieben. 

äm  näcbften  fam  wol  noch  ©eSpref}  ber  geteilten  9luf= 
gäbe,  ber  im  luftleeren  fRaume  einen  ftarfen  SnbuctionSftrom 

(29) 


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30 


burcfe  einen  ©plinber  reiner  jfcfele  über  einen  9Ronat  lang  fein» 
burcfegefeen  liefe.  68  featte  ftdj  an  ben  ^latinbtäfeten  eine  bünne 
@d)icfet  fcfewarjen  ©taubes  abgelagert,  ber  unter  bem  9Ricro8cop 
bei  breifeigfacfeer  33ergröfeerung  Dftaeber  erfennen  liefe.  Sud)  ge* 
lang  e8,  mit  biefem  ©taube  einen  [Rubin  ju  poliren,  roa8  einen 
fefer  feofeen  .fpärtegrab  be8  auf  biefem  SBege  gewonnenen  §)robucte$ 
beweift. 

9Ran  barf  annefemen,  bafe  e§  auf  biefem  SBege  gelang,  wenn 
aucfe  nicfet  wirfli<fee  diamanten  feeräuftellen , fo  bodj  biefenige 
SJtaffe,  bie  al8  amorpfeer  [Diamant  befannt  ift.  üDiefe  SRaffe,  im 
Jpanbel  uuter  bem  fRamen  ©arbonat  (fpan.  carbonado)  not* 
fommenb,  ift  uor  notfe  nidjt  langer  3eit  in  benfenigen  [Diamanten» 
gruben  SrafilienS,  bie  ficfe  in  ber  ^rooin^  33afeia  befinben,  ent* 
berft  worben.  — 68  finb  bie8  ©tücfe  non  grauer  bis  fcfewarjer 
garbe,  bie  bie  $ärte  be8  [Diamanten  feaben  unb  befefealb  immer 
nocfe  feocfe  be^afelt  werben,  ba8  ^arat  mit  6 — 7 granf,  ba  fie 
gepulnert  jum  ©cfeleifen  ber  [Diamanten  als  [Diamantbort  oer» 
wenbet  werben.  SDocfe  finb  fie  nicfet  crpftadifirt  wie  ber  [Diamant, 
fonbern  crpftaflinifd)  ober  amotpfe,  ba8  feeifet  e8  finb  mit  ber 
8oupe  nur  regellofe  jpaufwetfe  ganj  Heiner  ©rpftalle  (Dftaeber) 
gu  erfennen,  ober  e8  ift  gar  feine  ©rpftalUfation  »orfeanben. 
Söegen  iferer  poröfen  ©tructur  geigen  fie  aucfe  ein  geringeres 
fpecififdjeS  ©ewicfet  al8  ber  [Diamant.  68  ift  biefet  6arbonat 
offenbar  als  ein  [Diamant  angufefeen,  ber  bei  feiner  33ilbung  ge» 
ftört  würbe,  unb  e8  fönnte  wol  fein,  bafe  grabe  biefet  ©toff  ben 
SGBeg  oerrtetfee,  auf  bem  e8  ber  fRatur  gelang,  ben  [Diamanten 
feeroorgubringen , bocfe  feat  man  bis  jefet  ben  ©arbonat  nur  auf 
fecunbären  ^agerftätten  gefunben,  bie  in  SBegug  auf  feine  33ilbung 
feinen  ©cfelufe  erlauben. 

SDocfe  laffen  ©ie  un8  oon  biefet  unnoüfommenen  gorm  be8 
[Diamanten  nocfe  einmal  gut  Setracfetung  beS  nollfommenen 

(So) 


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31 


Steines  gurücffehren  unb  einige  »on  ben  befannten  ©iamanteti 
inS  'äuge  Taften,  bie  butch  Ufte  ungewöhnliche  ©röfee  unb  Schön» 
heit,  ober  fcurd)  befonberS  merfwürbige  Sdftcffale  berühmt  finb. 

§ür  ben  oollfommenften  unb  fd)önften  SriDanten  gilt  allgemein 
fcet  iRegent  ober  $ i 1 1 (Big. 8 u. 9).  (St  befinbet  fich  im  frangöfifdjen 
&tonjcha$e,  geigt  ben  Srillantenfchliff  in  ^öc^ftct  Sßollfommenheit 
unb  hat  ein  ©cwicht  »on  I36£  Äarat.  (St  ftammt  au8  Oft* 
intien,  au8  ben  ©iamantengruben  »on  garten!  im  Segirfe 
(Selfonba,  20  5)ieilen  »on  SRagulipatan,  wo  iljn  1702  ein  Sflace 
fanb,  bet  fidj,  um  ihn  gu  »erbergen,  am  Sdfenfel  uerwunbete 
unb  ben  foftbaten  Bunb  unter  bem  SSerbanbe  »erborg.  (St 
theilte  einem  9Diatrofen  fein  ©eheimnife  mit  unb  »erfprach  ihm 
ben  Stein,  wenn  biefet  ihm  bie  Breiheit  »erfchaffe.  (St  war 
aber  in  glimme  .Jpänbe  gefallen,  ©er  üöiatrofe  nahm  ihn  auf 
fein  Schiff,  liefe  fich  ben  Stein  geben,  unb  ertränfte  bann  ben 
Sclacen. 

hierauf  »erfaufte  er  ben  ©iamanten  für  1000  §)fb.  Sterl. 
an  ben  bamaligen  ©oucerneur  be8  gortfl  St.  ©eorge,  9lamen8 
fitt,  nad)  bem  bet  Stein  noch  heute  genannt  wirb. 

©och  ereilte  ihn  bie  9temefi8  fdfnell,  benn  er  brachte  ba8 
(Selb  in  furger  Beit  burcfe  unb  erhängte  fich.  2>et  ©oucerneur 
S>itt  brachte  ben  Stein  nach  Europa,  unb  »erfaufte  ihn  an  ben 
bamaligen  ^Regenten  »on  Btanfreidj,  ben  £ergog  »on  Orleans, 
bet  ihn  für  ben  noch  unmünbigen  8oui$  XV.  erwarb  unb  bafür 
bie  Summe  »on  3J  Millionen  Btanf  begahlte. 

(St  hatte  bamalä  baS  ©ewidjt  »on  410  Äarat  unb  würbe 
in  »oHfommener  S3riHantform  gefchnitten,  woburdf  er  freilich 
gtoei  ©rittel  feinet  ©röfee  »erlor.  ©iefe  Operation  nahm  faft 
2 Bahre  in  ‘Änfprud)  unb  foftete  27000  SLfjlr.  (S8  würbe  für 
9000  Stylr.  ©iamantbort  »erbraust  unb  bie  abgefprengten  Stücfe 
hatten  noch  einen  SBerth  oon  48000  ©h^- 

. C«) 


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32 


3m  3aßre  1792  mürbe  ber  JRegent  mit  ben  fämmtlidben 
Äronbiamanten  bei  ber  ^lünberung  ber  Stuilerien  geraubt  uub 
blieb  mehrere  3afyre  lang  »etfdhmunben,  . bis  bem  bamaligen 
fPoligeiminifter  in  fPariS  in  einem  anonymen  SBriefe  ber  JDrt  in 
ben  @^am^>8=@IifeeS  genau  angegeben  mürbe,  me  er  »erftecft  fei. 
£ier  mürbe  er  auch  mirflicp  mit  ben  merthcoUften  anberu  äfron* 
jumelen  gefunben.  Söahrfdheinlid)  ^atte  ftdj  berjenige,  ber  ißn 
geraubt  Ijatte,  mittlermeile  übergcugt , baß  eS  gefährlich  für  iljtt 
fei,  fo  merth»elle  Sumelen  gu  »erfaufen.  Später  mürbe  er  een 
ber  frangöfifcpen  9iepublif  auS  ©elbmangel  an  ben  Kaufmann 
Streß  f cm  in  33crlin  nerpfänbet  unb  f^mucfte  nach  feiner  Söieber« 
einlßfuug  ben  ©egen  fftapoleonS  beb  ©rften.  Sdefamttlid»  mürbe 
1815  in  ber  Schlacht  bet  Söaterloo  ber  Söagen  9tapeleon§  Den 
preußifd)en  Struppen  erbeutet,  unb  cS  tyiefj  lange  3eit,  baß  ber 
9tegent  fiep  unter  ben  barin  »orpanbenen  Jfoftbarfeiten  befunben 
habe;  bieg  ift  aber  ein  Srrtfyum,  unb  beruht  auf  einer  33er« 
mecßielung  mit  einem  Diel  fleiueren  33riHanten  uon  34  Äarat, 
ber  fid>  ne<h  ^eute  im  preußifchen  äfronfchaße  befinbet.  3n  ber 
ÜBeltauSftellung  im  Saßte  1855  gu  ^ariß  mar  ber  9iegent  auß» 
geftellt  unb  ift  itodj  jeßt  baß  mertheollfte  Stüdf  beß  frangöfifchen 
jftonjchaßeß. 

2.  ©er  Drlom  ober  Slmfterbame  t ift  ber  größte  ber  be« 
rühmten  ©iamanten  in  ©utepa,  inbem  fein  ©emidßt  194J  Äarat 
beträgt,  allein  er  ift  nicht  nach  beit  jeßt  geltenben  'Prinzipien  ge« 
fdjnitten,  fenbern  geigt  noch  bie  $orm,  bie  er  Der  3a^rl)unberten 
in  Snbicn  erhielt,  nämlid)  bie  einer  uidjt  gang  regelmäßigen 
facettcnreidien  9tofette.  ©r  ftammt  au§  ben  alten  ©rubett 
Snbienß  unb  feil  früher  eines  bet  3lugen  ber  berühmten  Statue 
be§  Sherigan  im  Stempel  beS  Srahma  gebilbet  h^beit  (ftig.  12). 

Später  fanb  er  ftch  mit  noch  einem  greßett  ©iamauten  im 
Sthtonfefjel  beß  Sdjaß  9tabir  reit  perfien.  9llß  biefer  erm  erbet 

(32) 


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33 


würbe , entroenbete  if)n  ein  ftangöfifdjer  ©renabier,  bet  bort 
SEbienfte  genommen  tjatte,  flolj  bamit  nad)  SRalabat  unb  »erfaufte 

gig.  12. 


iljn  bcrt  an  einen  ©djiffSfapitdn  fitt  14000  Styr.,  bet  ifyn  für 
84000  $1}lr.  an  einen  Suben  überliefj.  2)iefer  oetfaufte  ifyn  um 
einen  bebeutenb  Ijöfyeten  $rei8  an  ben  atmenifdjen  Kaufmann 
SdjafraS,  non  bem  iljn  bet  ruffifd^e  ©taf  Drlow  für  bie  Äaiferm 
Äatljarina  II.  im  3a^re  1775  ju  9lmftetbam  für  450,000  {Rubel, 
eine  3al)re8rente  »on  2000  {Rubel  unb  ein  SSlbelebiplom  erwarb. 

Seitbem  gehört  er  gurn  rufftfc^en  Ätonfdjafc  unb  hübet  bie 
@pifce  beS  ruffifdjen  ScepterS. 

3.  3)et  Äol)»i*noor,  S3erg  beß  Sidjtß,  ift  unter  ben  be* 
Türmten  diamanten  ©utopa’ß  bet  jüngfte,  unb  fyat  bodj  bie 
ältefte  ©efdjid^te.  ©r  ift  ein  fdjöner  ooaler,  etwas  fladjer  SBriUant, 
Biegt  106  Äarat  unb  ift  ©igenttjum  bet  Königin  Sßiftoria  nun 
©nglanb  ($ig.  13  u.  14). 

?ig.  13.  ?ig-  H. 


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34 


©eine  ©efdjidjte  oerliert  im  JDunfel  inbifd^er  Sagen 
unb  ift  mit  Sid^et^eit  erft  oom  beginn  beö  14.  Sa^r^unbertö 
gu  cerfolgen.  ©r  war  Sa^unberte  lang  baö  Äronjuwel  ber  0tab= 
f<baö  oon  SRalwa  unb  galt  mit  5Red)t  alö  Saliöman  ber  £err* 
fdjaft,  weil  er  immer  bie  ©iegeöbeute  beS  {tarieren  ©robeterö 
war.  So  Jam  er,  nadf)bem  er  ben  Seftfeer  oft  gewedelt,  1813  in 
ben  Sefife  beö  ^ertft^erS  oon  Saljote,  wo  er  bei  bent  Slufftanbe 
ber  ©ilbtruppen  1850  oon  ben  englifdfjen  Sruppen  erbeutet  unb 
ber  Äönigin  33ktoria  überreizt  würbe.  ©r  war  bamalö  186 
Äarat  f dt) wer,  aber  fo  ungefdjicft  gefd^nitten  (im  17.  Sa^unbert 
oon  bem  oenetianifd^en  ©teinfdbneiber  ^ortenfio  33orgio),  bafe  er 
wenig  ©jfeft  machte.  3n  biefer  ©eftalt  war  er  bei  ber  grofeen 
UBeltauöftellung  gu  gonbon  im  3abte  1851  auögefteüt. 

3m  3al)re  barauf  liefe  tf)n  bie  Königin  SMctoria  burcb  4)errn 
SBoorfauger,  ben  gefdfjidfteften  Zünftler  ber  berühmten  üDiamant* 
fdjleiferei  beö  |>errn  (Softer  gu  Slmfterbam , neu  fdtjneiben,  eine 
Slrbeit,  bie  in  38  Sagen  oodenbet  würbe,  ^ierburd)  würbe  fein 
©ewidjt  bis  auf  106  Äarat  oerminbert  unb  fein  SBertb  auf 

800.000  Sljlr.  gefdbäfet. 

4.  2)et  glorentiner  ober  Soöfaner.  ©t  gilt  für  ben 
grofeten  ber  berühmten  ^Diamanten  Äarlö  beö  Äü^nen.  ®r  ift 
»ollfommen  rein,  aber  oon  etwaö  gelblid)er  $arbe,  ein  fpifeeö 
Deal  unb  oon  Subwig  oan  Setquen  alö  reid^  facettirter  SBriolett 
gefdjnitten  (§ig.  15  n.  16).  ©t  bat  oorgüglidbeö  geuer  unb  bepnbet 
ftd)  im  ©dbatje  beö  Äaiferö  oon  Deftreid)  ©ein  SBertb  würbe  auf 

700.000  Sblr.  gefdjäfet  unb  fein  ©ewidbt  beträgt  133|  SBiener 
Äarat.  Äarl  ber  Äübne  batte  ibn  in  ber  ©d)lad)t  bei  ©ranfon 
1476  oerloren,  unb  bort  würbe  er  auf  ber  ganbftrafee  oon  einem 
©d)Weiger  in  einem  Ääftdjen  gefunben,  in  welchem  noch  eine  foft- 
bare  ^ßerle  lag.  SDiefer  warf  ben  ©iamanten  erft  oeräcfetlicb  fort, 
nabm  ibn  bann  aber  bo<b  wieber  auf  unb  überliefe  ibn  für  einen 

IU) 


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35 


©ulben  einem  ©eiftlidjen,  ber  ifyn  für  brei  gtanfen  an  bie  Sern  er 
oerfaufte.  Jpier  erwarb  ibn  ber  reiche  Jpanbelßt)crr  Sartt)olomauß 
gig.  15.  gtg.  IG. 


fDtep  für  5000  gl.,  oon  bem  ifjn  ein  ©enuefer  für  toe= 
nig  me^r  erftanb  unb  ihn  um  bie  hoppelte  Summe  an  £ubo= 
eico  SDioro  Sforga,  ben  9Jiailanbifcf>en  Regenten  oerfaufte.  Sei 
ber  3erft>Uttening  beä  ?GRaiIänbifctjen  Sctjatjeß  erftanb  if)it  ^Babft 
3uliuß  II.  für  20,000  ©ufaten,  unb  jefct  bilbet  er  baß  roertl)Doüfte 
Stücf  ber  faiferlidjen  Sdjatjfammer  gu  ©ien. 

5.  3m  Sancp  ift  unß  ein  gtoeitcr  SDiamant  Äarlß  beß 
Äüljnen  erhalten,  ber  eben  }o  wie  ber  »orige  oon  Serquen  ge= 
fänitten,  eine  gang  ä^nliefje  gönn  wie  biefer  geigt.  Gr  ift  oiel 
fleiner  unb  wiegt  nur  53£  Äarat , ift  aber  oom  erften  ©aff er. 

gig.  17. 


jfarl  ber  Äütjne  trag  il)n  1477  toabrfdjeinlid)  alß  Salißman 
in  ber  Sdjladjt  bei  9lanct),  in  ber  er  befanntlidj  baß  ßeben  oerlor. 
Gin  fc&weiger  Solbat,  ber  bic  Seifte  beß  $ergogß  außplünberte, 
fanb  ben  Stein  unb  oerfaufte  ifjn  für  eine  geringe  Summe.  So 
ging  er  wie  ber  oorige  burd)  Diele  ^)änbe  biß  er  im  16.  Safyr* 

3*  (35) 


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36 


fyunbert  in  ben  Söcft^  eines  Jpugonottifdjen  (SbelmannS  91tfolau8 
non  .ipatleh  $emt  Bon  ©ancp  fam,  nadj  welkem  ber  fdjöne  ©teilt 
nod)  ^eute  ^ei§t. 

Gr  wollte  ifyn  {einem  .Könige,  ^eintic^  III.  oon grattfrekb, 
überbringen,  würbe  aber  unterwegs  Bon  SBegelagetem  angefallen  unb 
ermorbet,  bodj  gelang  eS  iljm  Borger,  ben  ©tein  gu  Berfdjhufett , ber 
benn  and)  fpäter  in  ber  31t  biefem  Bwecfe  geöffneten  ßeid^e  wieberge* 
funben  würbe.  9ladjbem  er  bann  lange  bem  fran^öfifdjen  Ären* 
fdjafce  angehört  hatte,  Berjd)Waub  er  mit  ben  meiften  Äoftbarfeiten 
bei  ber  ißlünberung  ber  Suilerien  im  Safyre  1792,  fam  {pater 
wieber  gum  SBorfdjein  unb  würbe  unter  ben  Sftapoleoniben  für 
500,000  SHubcl  burdj  ben  gürften  Semibow  an  ben  Shtjftfdben 
Äaifer  Berfauft,  in  beffen  Äronfdjah  er  fidf  nodj  l)eute  befinbet. 

Schon  früher  würbe  angeführt,  ba§  ber  ißreiS  für  große 
Siamanten  fidi  in  ber  lebten  Beit  bcbeutenb  Berminbert  t>at,  weil 
in  ben  Siamantengruben  beS  ÄapIanbeS  ein  ungewöhnlich  lieber 
^Brocentfatj  großer  Siamanten  gefunben  wirb,  unb  eS  wäre  wofjl 
möglich,  wenn  bieS  33ert)ältnif$  fortbauern  folltc,  bafj  ber  ipreiS 
bauernb  niebrig  bliebe;  bennodj  ift  eS  mehr  als  wahrfdjeinlid), 
bafj  ber  Siamant  fidj  immer  auch  in  ber  3ufunft  -als  ber  werth* 
Boflfte  Gbelftein  erhalten  wirb.  3ft  bodf  fein  fyofyer  ^SreiS,  ben 
er  bisher  burd)  alle  3al)rl)unbevte  behauptete,  feineSwegS  eine 
golge  baoon,  bafj  er  feltener  war  als  bie  anbem  Gbelfteine.  3m 
Odegentbeil  ift  ber  Nachweis  wieberholt  geführt,  bafj  noch  lange 
beoor  bie  Siamantenlager  am  Äap  entbeeft  waren,  bie  3al)l  ber 
Borhanbenen  Siamanten  größer  war  als  bie  aller  anbem  Gbel* 
fteine  erften  langes  gufammengenommen. 

GS  fpridjt  biefe  SL^atfat^e  allein  bafür,  bafj  er  nicht  nur 
einen  cingebilbeten,  fonbern  einen  wirtlichen  SSerth  hat,  unb  gweifel* 
loS  würbe  ber  härtefte  aller  irbifdtjen  ©toffe  immer  fehl  gefugt 
fein,  felbft  wenn  er  aud?  nicht  gugleidh  bet  glängenbfte  wäre. 

(36) 


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37 


2km  2>iamanten  würbe  felbft  wenn  er  auffyörte  ©d)mucfftein 
jp  fern,  eine  um  fo  ^lättfrgere  Serwenbung  in  bet  Jedjnif  werben, 
bie  jcjji  grabe  feinet  twfyen  greife®  wegen  eine  nur  befdfyränfte 
fein  farm. 

Sen  feiner  Serwenbung  jum  ©djleifen  ber  bärteften 
©elfteine  Ijaben  wir  fdjon  gefptodjen,  feine  Slnwenbung  311m 
@la#fdbneiben  ift  allgemein  befamtt,  aber  audj  fonft  finbet  er  jum 
Soferen  febr  patter  Körper  eine  »otgüglidje  Serwenbung.  3n 
einem  ©djteferbtudje  non  SGBaleö  werben  mit  £ülfe  l)ßt)Ier  unb 
am  IRanbe  mit  diamanten  befe^ter  33ol)rer  Södjer  gebohrt,  bie 
in  36  ©tunben  84  tfufj  tief  in  bag  ©eftein  getrieben  werben, 
eine  Seiftung,  bie  mit  feinem  anbem  Material  erreicht  werben 
fnmte.  Slber  and}  ju  microgcopifdjen  Sinfeit  bietet  ftdj  fein 
kiftungSfä^igereS  Material  als  ber  ©iamant,  inbem  butdj  baS 
bebeutenb  ftärfere  ßidjtbredjunggnermögen  eine  ©iamantlinfe  faft 
bcppelt  fo  ftarf  »ergröf$ert  als  eine  gleidie  oon  ©lag,  unb  fo  wäre 
es  »obl  möglich,  ba§  wenn  butd)  bie  reidbe  Ausbeute  bet  2)iamanten= 
gruben  am  jfap  ber  $rei§  ber  2)iamanten  nodj  mel)r  ermäßigt 
wirb,  biefer  merfwürbigfte  aEfet  ©belfteine  in  bemfelben  fDtafje  an 
Sertb  für  bie  ©lenfdjljeit  gewönne  in  welkem  fein  $reig  abnimmt. 


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Sfnttterfitttgeit. 


1)  Nunquam  incalescens.  ©onberbarer  2B«tfe  wirb  biefe  ©teile 
in  ben  meiften  größeren  Serien  über  biefen  ©egenftanb  überfefei:  „nie- 
mals fann  er  perbrannt  »erben*.  6S  ift  bieS  offenbar  unrichtig,  benrt 
erftenS  f)eigt  incalescere  warm  »erben,  aber  nicfjt  Perbrennen,  unb  bann 
fieljt  man  niefit  »o§l  ein,  »ie  ber  alte  SRömer  auf  bie  3bee  fommen 
foBte,  an  biefem  unperttüftlidjften  aBcr  (Sbelfteine  feine  , Unoerbrennbar* 
fert  * jn  betonen,  gür  unPerbrennb«  galten  ben  Sllten  bie  meiften  ©teinef 
unb  gerabe  am  33ernftein  würbe  bie  SBerbrennbarfeit  als  merfwürbige 
(Sigenfdjaft  angeführt.  — Der  ©treit  über  bie  SBerbrcnnbarfeit  beS 
Diamanten  entftanb  erft  anbertbalb  3al)rtaufenbe  nach  ^liniuS. 

2)  Die  Pier  größten  Diamanten  Europas  in  guten  Dtacbbilbungen 
aus  SrpftallglaS  »erfauft  baS  QJiineraliencomptcir  beS  fterrn  Dr.  ©d>u* 
t^arbt  in  ©örlifo  für  18  9)iar?. 

©benfo  eine  größere  ©ammlung  ber  15  »idtfigften  Diamanten  (ba- 
runter ber  blaue  &ope)  für  160  9J!rf.  beibe  Sammlungen  incl.  (Stui. 


fS6) 

Irutf  ocn  *c fcr.  Ungit  (tt).  Stimm)  in  B«rlln,  e$cn<tn:gerftrajt  17». 


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£’uifc 

Tfjönigiii  ucn  ]ilrf  usscn. 


Berlin  SW.  1S76. 

'i’crl'ig  opu  (5avl  .§af>cl  i(t.  C.  fübrri^fdir  ÜrrlagsbudjtjoiiDIung)  33.  'UMHjflm-Strai;« 

»rrmlrl. 


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. nrn  j 


1 ■ 


. . sw. 

riii' rj** 


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CTV 


€ u i f c 


f 4 4 


y 


^xmigin  tmn  J'Himen. 


„v  ^rinntnmg  an  itjrtn  jjnnbtrtjäjjrigEn  dtbnrtstag 

(10.  Äärj  1S70). 


$$on 


2<U8Uft  -Äfadtfjof)«. 


5)Iit  bem  ®ilbnig  ter  Äenigin. 


Berlin  SW.  1S76. 

33  e 1 1 a g won  (£  a r I Jp  a b e I- 

(£.  4.  idbrriti’jd)f  Birlojsbtidjljiiiiblang.) 

.13.  Sil&tlm  ■ £ttaj*  33. 


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iNfdM  lex  Utbcrjcfung  in  irernte  ©rratfccn  lrirt  ccrtefjaitcn. 


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er  Sag,  an  welkem  twr  hunbert  Sauren  ßuife,  bie  fpätere 
Scnigin  Dort  Preußen,  baß  Sicht  ber  2Belt  erblicftc,  oerbient  als 
einet  ber  großen  ©ebenftage  ber  raterlänbijdjen  @efd)id)te  non  bem 
ganjen  beutjeben  SBolfe  in  ötjreu  gehalten  ju  »erben.  Senn  nidjt 
allein,  baf?  baß  Seben  unb  fietben  ber  eblen  gürftin  aufß  (Sngfte 
rerfnüpft  ift  mit  einem  bebeutungßoollen  Ulbjdinitt  unjerer  Sergan» 
genbeit,  fonbern  bie  Segnungen  ihreß  SBtrfenß  bauern  biß  auf  bie  @e= 
genwart  fort.  Sie  SOtutter  beb  glorreichen  Äaifcrß  äSilhclm,  hat  fie 
früh  jene  heb^1  Sncgenben  in  3h»  geroeeft  unb  gepflegt,  bie  heute 
unb,  wie  wir  bjoffett , noch  lauge  bem  beutfdjen  Ä'aiferthrone  511t 
3ierbe  unb  bem  ganzen  33oIfe  jum  £>eile  gereichen.  Unb  wie 
bie  bochfinnige  §tau  in  ben  Sagen  ber  tiefften  ©rniebrigung  Seutfch* 
knbß,  troh  ttnfäglichen  ÖeibesS  coli  OöottDertrauen  unb  lebettbigen 
©laubeng  an  bie  beffere  Bufunft  beß  SBaterlanbeß,  bie  (Memüther 
hob  unb  bie  fanden  ftdrfte,  fo  war  e6  auch,  alb  enblid)  bie  Stunbe 
ber  Befreiung  fchlug  unb  bie  ganje  Station  in  begeifterter  J£>in* 
gäbe  an  bie  gtofce  Sache  fich  ju  einem  heifjen  unb  fteggefrenten 
Äampfe  erhob,  baß  ©ebädjtnifj  ber  Sßerflärten,  baS  baju  biente, 
bie  Äämpfer  beg  33aterlanbeß  mit  ibealer  ©efinnung  ju  erfüllen 
unb  aut  bie  Söhne  unb  ©nfel  einen  unerfchöpflicheit  Schah  fittlicher 
Äräfte  ju  reretben.  2Bir  felbft,  bie  wir  3euge  ber  großen  Bahre 
1870  unb  1871  waren,  finb  wir  nicht  auch  oft  genug,  wie  an  bie 

XI.  J42.  243.  (41) 


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4 


greiheitgfämpfe  ber  Sabre  1813  unb  1814,  jo  att  bie  itönigin 
Suife  gemahnt  worben?  3n  ber  SEljat,  nidbt  bem  preufeifcben 
33oIfe  allein,  jonbcnt  ber  ganzen  beutjdjen  Nation  gehört  fie  an.1) 


2>ie  Königin  2uife  entflammt  oäterlidberjeitS  bem  5)iecflen- 
burgifdjen  gürftenhaufe,  mütterlicher  bem  £effen*2)armftdbtifchen. 
(Sine  Softer  beS  #erjogb  Äarl  Subwig  griebrich  oon  5ftecflenburg* 
©trelib,  welker  bamalg  alg  gelbmarfchaU  in  ^annooer’jc^en  35ien- 
ften  ftanb,  würbe  fie  am  10.  9Jtärj  1776  zu  £>amtooer  geboren. 
3fyre  SDtutter  war  bie  ^ßrin^effin  grieberife  Äaroline  £uife  oon 
£effen»$Darmftabt,  bie  aber  bem  Gemahl  unb  ihren  ge^n  Äinbern, 
unter  benen  Suife  bag  fernste  war,  fcbon  am  22.  9Jiarg  1782  burcb 
bett  Job  entriffen  würbe.  9Rit  ihren  brei  ©c^weftem  warb  Suife 
ber  Dbljut  eineg  gräulein  oott  3Boljogen , bem  bertorragettbe  Gei* 
fteggaben  nacbgerübmt  werben,  übergeben.  SRur  für  furze  3rit 
würbe  it>r  bann  ba§  @Iücf  gu  Jbeil,  für  bie  früt>  nerlorene 
Butter  in  ber  zweiten  Gemahlin  beg  SBaterg,  inbem  fitf>  biefer 
mit  bet  Schweflet  ber  Verewigten  oermäblte,  (Srjatj  ju  finben. 
2llg  bem  ^erzöge  auch  biefe  burd)  einen  frühen  Job  entriffen 
würbe,  30g  er  fid)  trauernb  nach  3)armftabt  jurücf,  um  bie  balb* 
»erwaiften  Äinber  ber  gürforge  ber  treuen  Grofjmutter,  ber  Sanb* 
gräfin  Sliarie  Suife  Sllbertine,  ju  übergeben. 

Sllg  Grjieberitt  ber  ^Srin^effinnen  würbe  eine  Schweizerin’, 
gräulein  oon  Gelieur  mit  tarnen,  berufen,  welche  frart^öftfeh 
gebilbet,  auch  franjöfifchen  Unterricht  ftatt  eine§  beutfehen  erteilte, 
©o  lernte  Suife  in  jungen  Saliren  nach  ber  bamalg  in  oomefamett 
Greifen  berrfhenben  Gewohnheit  franjöfijch  mit  ooßenbeter  gertig* 
feit  reben  unb  fdhreiben,  wäbrcnb  bag  2)eutfcbe  »emadjläffigt  blieb, 
eine  Sücfe , bie  fie  f pater  felbft  beflagt  unb  noch  als  Königin 
C*v 


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5 


hrnfc  bag  f{ ei|ige  ©tubium  beutlet  ©chriftfteHer  auggufütlen 
gefucbt  bat. 

2s?ar  aber  auch  bie  Silbung  Suifeng  in  ber  Sugenb  eine 
rorrriegenb  frangcfifcbe,  fo  batte  fte  boch  nidbtg  non  bem  (5l)arafter 
ffälfAet  Cbetfläcblidbfeit  an  fid).  2>ie  gürftin  jelbft  tjat  ihrer 
(früeberin,  ber  fie  big  an’g  Grnbe  beg  öebeng  eine  rü|renbe  3tn= 
ismglicbfeit  unb  Sanfbarfeit  bewahrte,  oft  nacbgeriibmt,  ba|  fie 
hüb  ihren  23licf  auf  bag  Rohere  gelenft,  unb  fie  gur  (5rfenntni| 
bes  (?wigen  im  Srbifchen  gebracht  habe.  5Rit  achter,  ungefchminfter 
Sdigicfität  unb  innigem  füiitgefühl  für  frembeg  Seib  oerbanb 
Üuife  jdben  alg  Äinb  ben  lebhaften  Srieb  2(nbern  woljlguthun. 
Sn  ber  Jpanb  ihrer  Gtrgieherin  fah  man  bie  Heine  ißringeffin  oft 
bie  .ftütten  ber  ISrmnth  aufjuchen,  um  ^Dürftigen  unb  Seibcnben, 
jo  weit  ihre  fleinen  SJiittei  reichten , ^>ülfe  gu  bringen.  2?er  ernfte 
3ug  ihteg  SBefeng,  ber  burdj  bie  fchweren  ©d)icf jalgfchläge,  weiche 
tae  (flternhauö  getroffen,  nicht  wenig  gerührt  werben  mochte, 
jcfclo|  jeboch,  wie  bei  jebet  gejunben  unb  begabten  fRatur,  einen 
finblid)  beitem  ©inn  unb  volle  @mpfänglid)feit  für  bie  greuben 
eineg  faft  länbiichen  ©tilllebeng  nicht  aug. 

Gine  neue  SSelt  that  fid)  oor  ben  Stugen  ber  jugenblichen 
Suife  auf,  alg  fie  unter  ber  Dbfiut  ber  @ro|mutter  bie  erfte 
gtö|ere  Steife  unternehmen  burfte.  ©ie  befudjte  in  ©tra|burg 
ihre  bevt  lebenbe  Sante,  bie  (Gemahlin  beg  $ergogg  SRarimiiian 
een  3weibrücfen,  naebberigen  erften  Jtönigg  oon  Sßatjern,  um  oom 
(flfa§  rheinabwärtg  nad?  ben  iRieberlanben  gu  reifen,  groben  jJRutbeg 
jaij  man  in  ©trapurg  bie  ißringeffin  ben  »tiefenbau  beg  SERünfter 
Mteigen,  ron  beffen  Plattform  fie  ooll  (fntgücfen  in  bag  herrliche 
©rtngianb  hinaugblicfte,  weicheg,  bur<h  frangöfifdjeSücfe  ung  entriffen, 
ihr  ©obn  unb  ihr  (Snfei  an  ber  ©pilje  ber  Bereinigten  beutjehen 
ipetre  in  unfern  Sagen  bem  neuerftehenben  Siet  die  gurüefgewintten 
jollten.  SRicht  minber  machten  bie  oolfreidjen  ©täbte  ber  fRieber* 

(43) 


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6 


lanbe  unb  bie  großartige  ©dßönßeit  beb  fDleereb  einen  lebhaften 
©inbruef  auf  fte.  — SDefter  mürbe  aud)  oon  ©armftabt  aub  bab 
nal)e  granffurt  befudjt.  ßuife  faß  bajelbft  bem  feierlichen  ©cßau» 
fpiel  ber  beiben  letzten  beutfeßen  Äaiferfrönungen  (1790  unb  1792) 
gu  unb  oerlebte  mit  ißten  ©efdjwiftern  frößlicße  ©tunben  in 
©oetße’b  Baterßaufe,  bie  nicfyt  allein  ber  SSJiutter  beb  üDidßterfürften, 
jonbern  aud)  ßuife  unoergcßlid)  blieben.  Söab  bie  lebenbfreßc 
„grau  IRatß"  bariiber  ber  Bettina  (©lifabetß  oon  Slmim)  erjäßlte, 
oeranlaßte  biefe,  jeneb  lebenbfrifeße  33ilb  oon  bem  Slufentßalt 
ßuifenb  bei  ©oetße’b  SSJiutter  gu  entwerfen,  bab  ftdj  in  bem  Brief» 
wecßfel  beb  ©idßterb  „mit  einem  Äinbe"  unter  bem  5.  9Jlär^  1808 
ftnbet.  ßänger  oertoeilte  bie  ißringeffin  in  ©emeinfeßaft  mit  ber 
©roßmutter  ^u  Hilbburgßaufen . wo  bie  ältere  ©eßwefter  (Sßarlotte 
mit  bem  regierenben  Herzog  oermäßlt  war.  25ie  fdjenen  Jage, 
weldje  ßuife  in  bem  anmutßigen  Jßüringen  oerlebte,  finb  ißr  un* 
oergeßlid)  geblieben;  unoergeßlüßer  noch  bie  diücfreife,  im  grüß» 
linge  1793,  alb  bie  ßanbgräfitt  mit  ißt  unb  einer  jüngeren 
©eßwefter  ben  2Beg  über  granffurt  naßrn,  um  ißren  üUeffen,  ben 
Äönig  griebrid)  SBilßelm  II.  oon  Preußen,  ju  begrüßen,  meltßer 
aub  iHnlaß  beb  erften  Äriegeb  ber  beut) d)eu  SJläeßtc  gegen  bab 
reoolutionäre  granfreieß  bort  fein  Hauptquartier  ßatte.  5Die  ©roß» 
mutter  fteflte  ißre  ©nfelinnen  bem  Könige  oor  unb  erßielt,  alb 
fie  ttobß  benfelben  3lbenb  wieber  abreifen  wollte,  bie  ©inlabung, 
n ad)  bem  ©eßaufpiel  mit  ißm  unb  ben  beiben  ißn  begleitenben 
ißrinjen  ju  Slbenb  gu  fpeifen. 

3ln  biefem  Slbenb  war  eb,  wo  bie  17jäßrige,  in  jauberßafter 
lÄnmutß  unb  erßabener  ©tßönßeit  ftraßlenbe  ßuife  auf  ben  Ären» 
Prinzen  griebrieß  SBilßelm  einen  fo  feffelitben  ©inbruef  madßte,  baß 
ber  erfte  Blicf  feine  Söaßl  entjeßieb.  2)ie  tiefe  Buneigung  beb 
ißrinjen,  beffen  ftattlidje  ©rfeßeinung  bureß  ben  fdßlicßten  2(bel 
feineb  SÖefenb  nod)  gewann,  würbe  oon  ßuife  erwibert,  unb  ba 
(<«) 


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7 


giridjgeitig  bet  jüngere  Stüber,  $ring  Subwig , ftd^  ju  ber  fdjonen 
Sdjteefter  SuifenS,  grieberife,  Ijingegogen  füllte,  fonnte  nadj  einem 
jDlonat,  am  24.  Ülpril  1793,  gu  ©armftabt  baS  geft  ber  ©oppel* 
ectlobung  gefeiert  werben. 

Säljrenb  bes  halb  barauf  folgenbeit  gelbgugeS  am  linfen 
SR^eiitufet  wagten  bie  beiben  ^ringeffinnen,  inbem  fie  mit  ber 
©rofjmutter  iljre  SSerlobten  befugten,  fidj  einige  fühle  in  baö 
bunte  Sagerleben,  ©er  jugenblidje  ©oetlje,  bamalS  im  preufjifdjeu 
Hauptquartier,  berietet  über  einen  biefet  Sßefud^e  in  folgenbet 
Seife:  „©egen  iHbenb  war  un8,  mir  aber  befonberS,  ein  liebenS» 
n?ürbige8  ©djaufpiel  bereitet;  bie  ißringeffinnen  non  SRecflenburg 
Ratten  im  Hauptquartier  bei  ©r.  üftajeftät  bem  Äönig  gefpeift 
unb  befugten  itad)  ber  2afel  bab  Saget.  3d}  fyeftelte  micfy  in  mein 
3elt  unb  burfte  fo  bie  l)of)en  H>errfd)afteit,  weldje  unmittelbar  ba* 
cor  gang  certraulicB  auf=  unb  niebergingen,  auf  baS  genauefte  be» 
obadjten.  Unb  wirflidj  fonnte  man  in  biefem  ÄriegSgetümmel 
bie  beiben  jungen  ©amen  für  fyimmlifdje  ©rfdjeinungen  galten, 
beren  ©inbrucf  and}  mir  niemals  erlöfdjen  wirb." 

©egen  ©nbe  beS  3at)re$  feierte  ber  Ätonpring  nattj  Berlin 
gurücf.  ©ie  SBraut  folgte  ifym  halb  mit  ber  bem  bringen  Subwig 
ßerlobten  ©cp  weiter  nacp  ber  Jpauptftabt  beS  fReidfjeS,  wo  ipr  ein 
gro|artiger  (Smpfang  non  ber  Sürgerfdjaft  bereitet  würbe.  Unb 
fo  feftlidj  ber  ©ingug,  fo  grofj  war  audj  bie  allgemeine  greube. 
©enn  fdjon  bie  äußere  ©rfepeinung  ber  Ätonpringeffin,  if?re  bepre 
©eponpeit  unb  ungewöprtlicpe  iffnmutp  gewann  il)r  bie  4?ergen, 
noep  mehr  bie  begaubembe  greunblicpfeit  unb  ©üte , bie  auS  ihrem 
jngenblidpen  Slntlijj  leuchtete.  SBie  gouqud  fagt:  ,,©ie  Sfnfitnft 
biefer  engelfcpönen  gürftin  oerbreitet  über  jene  Sage  einen  erpabe* 
nen  Sidjtglang;  alle  H>ergett  flogen  ipt  entgegen,  unb  ihre  Ülnmutp 
unb  HergenSgüte  ließ  feinen  unbeglüeft".  2fud^  wer  wie  bie  ept» 

»ürbige  ber  ^ringeffin  neubeigegebene  Oberpofmeifterin  oon  S3o§ 

(«) 


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8 


ihre  finblich  unbefangene,  non  bem  SNoment  beeinflußte  Haltung 
nicht  ceremontöS  genug  fanb,  fonnte  bem  Sauber,  ben  fie  übte, 
nicht  wiberfieljen.  Suije  bei  bem  Gfinjug  in  Berlin,  unter 
einer  riefigen  (5{)renpfcrtc  pon  adjtjig  weiß  gefleibeten  Äinbem 
mit  SMumengewtnben  unb  einem  Seftgebicfjte  begrüßt,  bie  liebliche 
Heine  (Sprecherin  jum  ßntgücfen  beS  fie  umwogenben  SBolfeS  gu 
fid)  in  ben  großen  golbenen  (Staatsmagen  emporhob  unb  non 
Führung  überwältigt  fie  in  bie  9lrme  fdjloß  unb  füßte,  fagte  bie 
ihr  gegenüberfiljenbe  Dberbormeifterin  erfchrocfen:  „5Rein  @ott, 
waS  haben  ßw.  f-  gethan;  baS  ift  ja  gegen  ade  ßtifette!" 

„5Bie,  barf  ich  baS  nicht  mehr  tt)un?"  lautete  bie  bejeichnenbe 
Antwort,  bie  fie  erhielt.  Slber  fdjon  adjt  Jage  fpäter  fdjrieb  bie 
ftrenge  Hüterin  ber  (Stifette  in  ihr  Jagebuch:  „Die  ^Brin^efftn  ift 
wirtlich  anbetungSwürbig,  fo  gut  unb  fo  rei^enb  zugleich,  ein 
ßngel."  Unb  in  ben  Ülufjeidinungen  beS  folgenben  SaßreS  lieifet 
eS  an  einer  (Stelle:  3e  genauer  man  bie  ißrinjeffin  fennen  lernte, 
um  befto  mehr  würbe  man  ooit  bem  inneren  Äbel  unb  non  ber 
engelgleichen  @üte  ihres  ^»erjenS  ergriffen. 2) 

Slm  33orabeitb  beS  SBeitimidjtefefteS  fanb  bie  Jrauung  beS 
fronprinjlichen  ^aareS  im  SBeißen  Saale  beS  foniglichen  SdjloffeS 
ftatt  unb  Sefte  folgten  auf  §efte.  9lber  größere  Sefriebigung  ge* 
währte  ben  Neuvermählten  bie  ftitle  ^)äuölid)feit  fern  non  bem 
©eräufch  beS  £of8.  ßS  war  ein  ächt  beutfcßeS  Familienleben, 
voll  Siebe  unb  Jreue,  baS  ber  Äronprin^  unb  Suife  führten,  in 
grellem  ©egenfaße  ju  ber  franjöftfdjen  ©alanterie,  um  nidjt  gu 
fagen  Unfittlichfeit,  bie  bamalS  in  ben  Ijctjcrtt  ©efellfdjaftSf reifen 
herrfchte.  Nach  außen  freilich  tot  bie  vornehme  SBelt  ber  preußi* 
fdjen  ^auptftabt  ein  glängenbeS  93ilb.  ßS  waren  bie  Jage  ber 
Sölüthc  unferer  ßiteratur,  wo  ritterliche  Nlänner  unb  geiftreiche 
Frauen  in  äfthetifdjen  ©enüffen  fchwelgten.  SBenn  nur  nicht  mit 
ber  geiftigen  Schwelgerei  oft  auch  bie  finnliche  -£>anb  in  £)anb 
<««; 


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9 


gegangen  unb  bie  ftrcnge  Budjt  früfeerer  Sage  burcfe  eine  raffinirte 
fiieberlidjfeit  mbrängt  worben  wäre!  SDRan  weife,  wie  gur  Beit 
jjriefcridj  SBilfeelml  II.  leiber  aucfe  ber  £of  ben  IRuf  bcr  ©Uten* 
ftrenge  nicfet  bewahrte  unb  für  galante  Slbenteuer  nur  3U  t'iel 
Saum  bot.  Ser  Äronprinj  unb  2uije  bagegen  mit  iferem  fcfelicfeten 
nnb  lautern  Familienleben  ftanben  all  ein  weitfein  leucfetenbeö  SBor» 
bilb  altbürgerlicfeer  3u(fet  unb  Sugenb  ba,  Sauf  nidfet  allein  bei 
reinen  unb  frommen  Jperjenl  ber  ißringefftn,  fonbern  autfe  bei 
emften,  tief  teligiöfen  ©innel  bcö  Äronprinjen,  mclcfeer,  wenn 
auefc  erft  23  Safere  alt,  bocfe  feiner  fugenblicfeen  ©emafelin  eine 
refte  ©tüfee  bot  unb  burcfe  feine  Sreue  unb  SSaferfeaftigfeit  feben 
fterenben  Zinflufe  fernjufealten  wufete. 3)  Friebrid)  SSilfeelm  war 
bee  iöefifeel  ber  ebelften  ber  Frauen  in  feofeem  Üllafee  wertfe  unb 
mbiente  bal  feltene  ©litcf,  bal  fie  ifetn  bereitete.  pat  bod)  ßuife 
felbft  baitfbar  anerfannt,  bafe  fie  burcfe  ben  ©emafel,  ben  fie  all 
ben  „Seften  ber  ÜJlänner"  über  alle!  liebte  unb  ocreferte,  felbft 
beffer  geworben. 

2öie  Friebricfe  Söilfeelm  ficfe  bal  an  ben  £öfen  bamall  un* 
geirefenlicfee  „Su“  im  SBerfcfer  mit  feiner  ©eniafelin  nicfet  nefenren 
liefe,  jo  wollte  er  aucfe,  oft  gum  ©cferccfen  ber  Cberfeofnreifterin, 
burcfe  leine  Zeremonien  unb  fein  Ziepränge  bie  «pcrglicfefeit  unb 
peiterfeit  bei  feäuilidjen  Safeinl  fid?  ftören  laffen.  „SBin  uon 
allen  ©eiten  ofenefeiit  jefeon  genug  beengt  unb  nroleftirt,  will 
irenigftenl  in  meinem  feäullicfeen  2eben  meiner  Neigung  folgen 
unb  bie  greifeeit  unb  Unabfeängigfeit  feaben , bie  feber 'Privatmann 
genießt." 

Am  wofelften  füfelte  fid)  bal  fronpringlidjc  Paar  in  länblicfeer 
Surücfgejogenfeeit.  Sa  in  Dranienburg,  weldjcl  ber  Zeitig 
ßtiebriefe  SBilfeelm  II.  feiner  oon  ifem  feoefegeeferten  ©djwiegertocfeter 
jum  ©e jefeen t maefete,  bal  2eben  nicfet  geräujcfeloe  unb  einfad) 
Sflntg  war,  riefetete  fid)  ber  ftronpring  bal  @ut  pareü  an  ber 

C47) 


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10 


$a»el  alä  SBofynftfc  für  bcn  Sommer  ein.  &ier  genofs  er  mit 
Suife  Reitern  .fjerjenß  bie  einfachen  greuben  beö  Sanblebette,  fid) 
fclbft  mobl  fd)eqbaft  ben  „Schulden  »on  ißare^"  nenttenb,  mäbrenb 
fidj  bie  Äronprinäefftn  als  „gneibige  grau"  »on  $>aret3  gefiel. 
9ln  (Srntefefteit  fonnte  e§  geid)eltett , ba§  fie  fid)  in  bie  luftigen 
Stände  ber  ©atternföhne  unb  Setter  mieten;  oft  fal)  man  and» 
bie  Ijolje  grau  bei  ben  jäl)rlid)ett  Dorffeften,  umringt  »on  ber 
Sugettb,  »on  33ubc  gu  23ube  getjeit , fleine  ©efcbettfc  einfaufen 
unb  unter  bie  Äinber  »erteilen,  bie  bann  gutraulid)  riefen: 
„SDtir  aud)  maß , grau  Königin!" 

ßuife  lieg  feine  ©elegenbeü  »oiiibergebett,  3fnbertt  eine  greube, 
binnen  eine  SBo^Uljat  ju  ermeifen.  25er  Äßnig  griebridb  2Btb 
beim  II. , meldjer  fie  als  bie  „gürftin  ber  gürftinnen"  feierte, 
fragte  fte  an  ityrem  erften  ©ebuvtßfefte  in  Berlin,  nadjbem  er  fie 
burdt  reid)c  ©aben  erfreut  hatte,  ob  fie  nodt  einen  SSunfdj  habe. 
2?ie  Äronpringejfin  münjdjte  fid)  eine  £aitb  »oll  ©elb,  um  bie 
Ernten  ber  -l^auptftabt  an  ihrer  greube  ttjeilnebmen  31t  taffen. 
Sädjclnb  bemerfte  ber  Äöttig,  mie  grof)  fte  fid)  bettn  bie  £>anb»oll 
©elb  benfe,  unb  bie  Slntloort  lautete:  „So  grof  als  baß  £erj 
beß  gütigftett  ber  Könige."  5Rit  föttiglicber  greigebigfeit  marb 
iljr  ber  SBunfd)  gemährt. 

2)er  ©ebanfe,  in  größerem  SDiafee  2Bol)ltbatcn  üben  ju  fönnen, 
mar  eß  aud),  maß  fiuife  befcelte,  alß  it)r  ©emabl  am  6.  9to»br. 
1797  nach  bem  Höbe  beß  üßaterß  ben  preufjifdjen  2;l)ron  beftieg. 
,,3d)  bin  jejjt  Königin,  fd)rieb  fie  an  bie  ©rofjmutter,  unb  maß 
mich  babei  am  meiften  freut,  ift  bie  Hoffnung,  baft  id)  nun 
meine  SBobltltaten  nid't  mehr  fo  angftlid)  ^ätjlen  brande. " 

Suife  ftanb  auf  ber  .£>öbe  beß  ©lücfß,  geliebt  unb  gefeiert 
in  allen  Greifen  beß  33oIfß,  mie  mol)l  feiten  eine  Königin.  2öäl)renb 
bie  ©inen  ihren  Flamen  megen  ber  2öobltl)aten  fegneten,  bie  fie 
int  Stillen  übte , 2lnbcre  bie  Jpulb  unb  greunblidjfeit  priefen,  bie 

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fte  Setermann  erwies,  unb  wieber  ändere  fie  als  ^ebreä 
ÜJhiftei  aller  ©ugenben  feierten,  hörten  Sinter  unbÄünftler  nicht 
auf,  fte  als  bie  fdjonfte  unb  anmutbigfte  ber  grauen  in  SBort 
unb  ©ilb  gu  terberrlicben.  Unb  botf>  ift  eS  nad)  bem  3eugnif} 
bet  Beitgenoffen  feinem  SJfaler  gelungen,  ibr  tollfommen  gerecht 
gu  »erben,  weil  feiner  rermocht  hat,  „iliren  herggcwinnenben 
©lief  doH  ©eift  unb  ©üte  fo  barguftellen,  tnie  er  ift,  befonberS 
im  ©efprädfc."  3)  „äugen  ton  einem  freiem  reinem  ©lief,  eine 
frohere  faft  bie  Äinblidjfeit  erreichende  Unbefangenheit  habe  ich 
in  feinem  iteibli<hen  ©efidjt  gefehen,"  terficberte  ber  alte  Scheffner. 
5Ran  muff  bie  geitgenöffifchen  (Stimmen  hören,  um  ben  Sauber 
3u  ahnen,  ben  ihre  ©rfcheinung  übte.  ,,©ie  Königin,  fchreibt 
eine  ©nglänberin,  bie  Suife  ©nbe  bcS  3al)re§  1800  fah,  erinnert 
mich  an  ©urfe’S  Stern , ber  2 eben,  ©lang  unb  greube  außftrahlt. 
Sie  rerwirflicht  all  bie  fdjwSrmerifchen  ©orftellungen , wie  man 
fte  in  ber  .Kindheit  fidj  machte  ton  ber  jungen,  fröhlichen,  jehönen, 
herrlichen  Königin  au§  „Saufettb  unb  ©ine  9lai ht."  Sie  ift  ein 

©tgel  an  Sieblichfeit,  CDtilbc  unb  Slntmitb:  gro|  unb  fchlanf, 
entbehrt  fte  babei  hoch  nicht  ber  angemeffenen  Diunbung;  fie  hat 
helles  Jpaar,  ihr  2 eint  ift  gart  unb  rein,  ihr  ©cfidjtSausbrucf 
ton  mtbefchreiblither  greunblichfeit."  — „Sie  hatte,  wie  ihre  Dber= 
hofmeifterin  ft<b  ausbrüeft , einen  wunberfchönen  SBucbS,  ihre 
Grfcheinung  war  zugleich  ebel  unb  lieblich,  jeber,  ber  fie  fah, 
fühlte  ftch  unwiberftehlich  angegogen  unb  gefeffelt 4 — „SBarum 
lann  ich  nicht,  mft  eine  anbere  ©ante  ihrer  Umgebung  nach 
ihrem  frühen  £inftheiben  au8,  warum  fann  ich  nicht  einige  Büge 
ihres  hohen  ©ilbeS  fefthalten,  wie  cS  noch  fo  frifch  oor  meinem 
Sinne  fcfjwebt.  ©ie  namenlofe  änmutl)  ihres  ©rufjeS,  bie  un* 
nadhabmliche  ©ewegung  beö  ©angeS  unb  ber  ©erbeugung,  ober 
bie  finbliche  Siuhe  i^reö  fo  fanften  unb  hoch  fo  emften  ©licfS, 
eher  baä  fpineittfcbwcbeu  ber  föniglichen  ©eftalt  in  eine  glängenbe 


23erjammlung,  in  bet  fie,  wie  gahlreid)  fie  auch  fein  mochte, 
immer  bie  fdjönftc,  bie  erfte , bie  emsige  Brau  fcbien.  25 en  ifjt 
galt  im  Dollen  ©imte  Offian’S  Hob:  „„©djön  unter  Slaufenben“", 

unb  wie  oft  man  anbere  Brauen  mit  itjr  Dergleichen,  manche 

anbere  ©eftalt  für  einzelne  3üge  frönet  Raiten  wollte,  feine  be= 
ftanb  in  ihrer  fRähe  ben  25ergleich.  2) er  ©harafter  ihrer  ©cbön- 

heit  war  im  ©inflange  mit  ihrem  SBefen  unb  ©emüth.  Sludj 

hier  mar  9Rilbe,  ©anftmuth  unb  Dolle  9Ratftrlid?feit  Dorherrfchenb." 

9Ran  h<*t  ooit  SuifenS  h^e*  Breunblid)feit  mit  SHedjt  be* 
merft,  baff  fie  ein  fanfleS  23inbemittel  gwifcbcn  ÜRenarcb  unb 
25olf  geworben:  wo  eS  banfen,  antworten,  repräfentiren  galt, 
biente  fie  bent  fchweigfamen  .König  als  Organ,  unb  inbem  fie 
ben  ©emahl  nicht  allein  auf  ber  $ulbigung§reife  nad)  .Königsberg, 
SBarfdiau,  23rcSlau  begleitete,  jonbern  auch  auf  manchen  jpäteren 
Oieijen  im  Banbe  ihm  gur  ©eite  war,  fanb  fie  ©elegenheit,  auch 
ben  Söewohnern  ber  entfernten  ißroDingen  fich  a!8  bie  freuben» 
fpenbenbe  BanbeSmutter  gu  crweifen,  weldje  in  ber  Sßauernhütte 
nicht  minber  bew^innenb  erfdüen  als  im  ©lange  beö  ,£)ofS. 

©ern  ^ogcri  fich  Btiebridi  SBilhelm  uitb  fiuife  nach  wie  Dor 
ber  SLhrcnbcftoigung  nad>  ißotSbam,  Ghavlottenburg  unb  ipareh 
gurücf,  unb  auch  in  'Berlin,  wo  fie  als  SRefibeng  baS  einfadje  fron- 
pringliche  Calais  beibehielten,  festen  fie,  foweit  eS  bie  Pflichten 
ber  fReprafentation  guliefjen,  bas  jdjlidjte  Beben  ber  früheren  Beit 
fort.  fReben  ber  Hiebe  beS  ©cmahlS  beglüdte  bie  Königin  baS 
©ebeihen  ber  Äiitber,  Don  beneit  Bnebrich  SBilhelm,  ber  fpätere 
Dierte  .König  biefeS  fRamenS,  1795  unb  SBilhelm,  ber  Äaifer  beS 
neuen  JKcidjö,  1797  geboren  war.  3m  Haufe  ber  nächften  3ahre 
famen  aufjet  gwei  früh  oerftorbenen  ©efebwiftern  noch  bie  ^ringen 
Karl  imb  9(Ibred»t  unb  bie  Sßvingeifinncn  (Sharlotte,  SUepanbrine 
unb  Buife  l)tngu , bie  beiben  jungften,  Sllbvedjt  unb  Huife , erft 
in  ber  BeibcnSgeit  gu  .Königsberg  geboren. 

(50) 


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„3f)re  ftinber  gu  woblwollenben  SHenfcbenfreunbcn  gu  bilben," 
war,  »te  2uije  fid)  in  einem  ^Briefe  beS  3abreS  1797  auSbrücft, 
ibr  beißefter  unb  liebfter  SBunfdj;  „aud;  nähre  id)  bie  frohe 
Hoffnung , biejen  Broecf  reicht  gu  i'erfeljlen.  " 

2)ie  EERufec,  welche  ber  Äcnigin  bei  mufterbaftcr  (ärfixHung 
ihrer  Pflichten  blieb,  benüfcte  fie  um  ihren  reid>  begabten  ©eift 
mit  allem  ©uten  unb  ©ebenen,  baß  bie  ßiteratur  ihr  bot,  gu 
näbren.  SOiit  Vorliebe  wibmete  fie  ficb  bem  ©tubium  ber  fceutfeben 
fJoefie,  bie  bamalS  i^re  fdjdnften  Blütben  gu  treiben  begonnen. 
Berber,  ©oetbe,  ©Ritter,  3ean  Vaul  bejd)äftigten  fie  »iel.  2eh* 
terer,  welcher  „ben  oier  frönen  unb  eblen  ©cbweftern  auf  bem 
Sbrone“  ben  Sitan  gewibmet  unb  bie  früh  oerewigte  Königin 
ßuife  auch  in  feinen  „£erbftblumen"  gefeiert  bat.  fomttc  im  9Rod. 
1800  nach  SBeimar  febreiben,  baß  bie  Königin  auch  für  bie 
fleinfte  Steife  einen  gerbet  mit  in  ben  SEBagen  nehme.  Söäbrenb 
fie  in  fpäteren  Salden,  wie  berichtet  wirb,  ©oetbe  als  ben  ooll* 
enbeten  fDteifter  bewunberte,  gogen  fie  gu  ©cbiOet  bie  ©ebanfen 
ber  greibeit  unb  bie  patriotifebe  Begeiferung  bi«,  bie  in  feinen 
lebten  großen  Schöpfungen  fo  herrlichen  ‘-SuSbrucf  gefunben.  2Bie 
gern  hätte  fie  ben  55i<bter  ber  Sungfrau  »on  Orleans  unb  beS 
2Bilbelm  Seü  bleibenb  in  Berlin  gefebn5).  — 2lucb  bie  grie* 
djifeben  Sragifet  unb  ben  großen  brittifeben  SDramatifer  lernte  fie 
in  Ueberfefjungen  fennen,  unb  ebenfo  bie  bebeutenbften  SSerfe  bet 
biftcrif<ben  ßiteratur.  Bon  bem  aber,  waS  bie  Königin  laS , ging 
lein  2Bort  für  fie  »erloren.  (SS  biente  ihr  gur  Beteblung  ibreS 
©eifteS,  gur  Vertiefung  U)reS  ©barafterS.  31  uö  einigen  ihrer 
fbäteren  Briefe  glaubt  man  Slnflänge  an  eine  antife  SebenSan* 
föauung  gu  hären,  wäbrenb  fie  fid)  bod?  als  gläubige  ©briftin 
wußte.  9luf  tief  religiöfem  ©runbe  ruhte  ihre  SSeltanfchauung. 
So  warb  fie  in  ben  fomtigen  Sagen  beS  ©lüdS,  wo  flache 
©eiltet  gu  nerweiddicben  pflegen,  ftar!  unb  befähigt,  ebenfo  belben» 


14 


müthig  als  fromm  ergeben  aud)  bie  garten  Schicffalcfchläge  gu 
tragen,  bie  halb  über  i^rSSoIf  unb  über  ißr  eigenes  -£>aud  herein» 
brechen  follten. 

griebrid)  SBilbelm  III.,  welcher  in  feinem  27.  ifebenSjahre  ben 
S^ron  ber  .fjohengollem  beftieg,  war  ein  5Diann  oott  oorgüglidjen 
Gigenf haften : ein  ernfter,  gerabet  unb  geregter  Sinn,  Ginfach» 
l>eit  unb  -Btäßigfeit,  pünftlid)e  DrbmmgSliebe  unb  ftrengeS  $ßflid)t» 
gefüt^I  wohnten  ißm  inne.  Stud)  fehlte  eS  ihm  bei  bem  heften 
SBoUen  nidht  an  Älarßeit,  felbft  nidjt  an  Schärfe  beS  SSerftan» 
beS,  wohl  aber  an  bcm  rechten  Selbftuertrauen  unb  an  Gntfcßloffen« 
heit  gu  rafdjcm  oerantwortungSoolIem  £>anbeln.  9Kdjt  angemeffen 
ergegen  unb  an  ben  2.;er!chr  mit  mittelmäßigen  unb  fdhwadjen, 
wenn  aud)  ehrenwcrthen  3Jienfdien  gewöhnt,  fdjien  ihm  eine  gewiffe 
Scheu  oor  bebeutenbcn  Naturen  eigen  gu  fein.  „Sie  ihn  ergegen, 
bie  ißn  umgaben,  unb  bie  ißm  bienten,  fagt  bie  befte  Äcnnerin 
beS  berliner  JpcfS,  Stile  waren  fic  fdjwad)  unb  lähmten,  Ijinbevten 
unb  entmuthigten  ihn." 6) 

9hm  beburfte  aber  ber  Staat,  wie  ihn  §riebridj  3ßiU)elm  III. 
nach  beö  33ater8  2obe  übernommen,  mehr  als  je  einer  einstigen, 
grunbfatwollen  unb  entfdjlcffencn  Leitung.  @8  genügte  nicht,  baß 
ber  neue  93tonard)  auf  Sparfamfeit  unb  JDrbnung  in  ber  33er» 
waltung  hielt,  baß  er  bem  Stergerniß,  welches  fid)  an  bie  Sidßtenau 
unb  ihren  Stnliang  fnüpfte,  ein  jäbeS  Gnbe  bereitete  unb  ftatt  ber 
Heuchelei,  bie  SSellncr  mit  feinem  9ieligion$ebict  begünftigt  hatte, 
ächte,  übcrgeugungSooDe  grömmigfeit  pflegte:  eS  tarn  uielmehr 
barauf  an,  baS  gange  non  §äulniß  bebrohte  StaatSwefen  burch 
gnmblichc  Reformen  mit  einem  neuen  Seifte  gu  beleben  unb  oor 
allem  bie  auswärtige  ißolitif  in  ftarfe  £änbe  gu  legen,  griebridj 
SÖilbelm  aber  behielt  auS  Sdjeu  ttor  jeber  weitgeßenben  Slenbcnmg 
gerabe  im  auswärtigen  ©ienfte  unb  im  geheimen  Gabinet  -ERänner 
wie  ^)augwiß  unb  ßombarb  bei,  weldie  grunbfaßloS  unb  feig  ben 

(5?) 


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15 


itaat  jjrietridjö  bee  ©rofsen  auf  bie  abjdjüjfige  Sab»  triebeir. 
£bne  fyier  nähet  in  bie  uieloerläfterte  ißolitif  ißteitfjenS  am  ©nbe 
M porigen  unb  gu  Anfänge  unjereS  Satjrljunberts  eingugehen, 
irirb  ei  angemeffen  fein,  in  Äürge  an  yolgenbeö  gu  erinnern. 

Nad?  bem  Ausbruche  ber  frang6fijd)en  Neoolution  unb  ihrem 
ertten  bebrcljlic^en  Auftreten  nad>  aufjen  Ratten  ißreuhen  unb 
Ceftreid)  fid)  bie  £aitb  gu  gemeinfamem  Äampfe  geboten,  bis 
griebritb  SSil^elm  II.,  nicht  ohne  bie  Sd;u!b  beg  mi&trauijchen  unb 
rirerfüdjtigen  SBiener  ©abinetS,  butd)  ben  Sajeler  Trieben  non  bem 
Kriege  gegen  Branfteich  fief?  gurüefgog.  §ortan  oett)arrte  ^reujjen, 
gegenüber  ben  Kämpfen,  bie  faft  gang  ©utopa  erfüllten,  in  fe^n?äd>» 
!«ber  Neutralität,  auS  ber  eS  fich  aud)  bann  nicht  aufraffte,  als 
es  fieh  nicht  mehr  um  ben  ©eftanb  beS  heutigen  Neides  han^e^e» 
ionbem  bie  ©hre  unb  bie  Niachtfteflung  bei  Staates  Briebrid)8  beS 
Großen  in  gragc  ftanb. 

Seit  ben  Jahren  1803  unb  1804  fonnte  man  fid)  in  Berlin 
ÄngefiehtS  her  gefteigerten  Änmajjungen  unb  Uebergriffe  Napoleons 
fanm  mehr  bariiber  täuf<hen,  ba§  eS  enblid)  gelte,  ftatt  noch  länger 
tureb  frangöftfdje  SJotfpiegelungen  fid)  blenbcn  unb  einfchüchtem 
ju  laffen,  cntjchloffen  baS  Schwert  gu  giehen.  SNait  weijj  auch, 
»ie  ber  Äönig,  jehon  länger  gebrängt  burd)  eine  patriotijd)e  Partei, 
mit  welcher  Suije  jpmpathifirte,  fich  enblich  gu  einer  Schroenfung 
rerftanb,  unb  in  nähere  Segiehungen  gu  ben  gegen  Branfreidj  oer* 
Hwbeten  Ntädjten  gu  treten  anfing.  2)ie  fortgejefcten  Socfungen 
unb  23ünbnijjanträge  Napoleons  würben  abgewiefen:  inbejj  gut 
Sbcilnahme  am  Äriege  gegen  ihn  ermannte  man  fich  um  jo  meni= 
8«,  als  £ eftreich  unb  Nufjlanb  nicht  bie  rechten  SBege  einjchlugen, 
um  ^reufcen  gu  fich  hrrübergugiehen.  ©rft  bie  offne  33er(et}ung  ber 
tmiiijchen  Neutralität  währenb  beS  frangöfijdHftrei«hijchen  Selb* 
tugs  oont  Jahre  1805  gab  ber  ÄriegSpartei  in  Söerlin  für  ben 

Sugenblicf  baS  Uebergewicht,  unb  über  bem  Görabe  yriebrid'S  II. 

(sj; 


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16 


reiften  Älcjronber  ton  IRufelanb  unb  griebricb  Söilbeltn  III.  gur 
lebhaften  greube  ber  Königin  fi<^  bie  $anb  Äum  33unbe  gegen 
Napoleon.  Unfeliger  SBetfe  aber  betraute  ber  .König,  als  eö  galt, 
Napoleon  ein  Ultimatum  torgulegen,  mit  ber  wid)tigften  aller 
©fifftonen  beit  feigen  £augwife.  9Kan  »reife,  in  welcher  SBetfe 
fid)  berfelbe  beö  Auftrags  entlebigte.  2)urd)  ben  Äaifer  btö  gu 
bet  cntfdjeibenben  Schlad)  t ton  Slufterlifc  bingefealten,  terwanbelte 
ber  fcbmädjHdje  unb  pflictjttsergeffene  ^Diplomat  bie  £rieg§brot)ung 
in  einen  ©lücfwunfd)  für  ben  Sieget  unb  trat  mit  biefem  in  93er- 
feanblungen  ein , über  beren  ©ebeutung  er  ben  eigenen  $0lonard)cn 
Anfangs  täufd^te.  SBofel  brauften  in  Berlin  auf  bie  Äunbe  t»on 
■fpaugttüi}’  jd)mäfelid;er  Spaltung  bie  patriotifdjen  greife  toll  @nt* 
rüftung  auf,  unb  be§  .König?  ©fergefüfel  fträubte  ficb,  ben  il)m 
angefonnenen  ©ertrag  mit  ötanf  reich  gu  ratifigiren;  man  rcigte 
alfo  ben  Kaifer,  wagte  aber  nidjt,  bem  llebermüthigen,  ifolirt 
wie  man  war,  ben  Kampf  angubieten  unb  fdjlofe  unter  noch  un* 
günftigeren  Sebingungen  mit  ifem  ab.  Snbefe  liefeen  neue  S5e* 
mütbigungeit  unb  £erau§forberungen  ton  ©eiten  Stapoleonß,  ber 
jefct  bie  9Jia8fe  gegenüber  ©reufeen  abwarf,  nicht  lange  auf  ftdj 
warten,  fo  bafe  ber  König,  nun  aOerbingß  gur  Ungeit  unb  unter 
ben  ungünftigften  Umftänben,  fid)  cnblid)  gum  Kriege  gegen  ben 
grofeen  Schladiteufaiier  entfchlofe. 

Ueber  bie  furchtbare  ©efafer,  in  ber  ©reufeett  fdntebte,  täufd)te 
fich  ber  befonnene  .König,  trofe  ber  friegerifdien  unb  jtegeßbewufeten 
Stimmung  in  ©erlin  unb  trofe  ber  9lu?ftd)t  auf  bie  ferne  rufftfd)c 
.£)ülfe,  feinen  Slugenblicf,  wäbrenb  Stapoleon  tor  ©egierbe  brannte, 
ben  ©rofeftaat,  welchen  er  fo  lange  geliebfoft,  al§  er  it)n  gu  feinem 
SSerfgeuge  rnadicn  gu  fönnen  wähnte,  mit  einem  Schlage  gu  ter* 
nidjtcn  unb  ben  ©orben  ©eutfchlanbg  gleich  bem  Süben  unb  ©üb« 
Weften  feiner  ©otmäfeigfeit  gu  unterwerfen. 

©ic  mangelhafte  Rührung  beö  Kriegs  unb  bie  burch  einen 

(54) 


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17 


lindern  trieben  oerborbenen  3uftönbe  ber  Armee  erleichterten  betn 
überlegenen  gelbherm  nur  aflgufebr  ben  (Steg.  (Sitte  einzige  Doppel» 
fdhlad>t , ber  grofje  Unglüdbtag  oon  3ena  unb  Auerftäbt,  entfdjieb 
bab  ecbicfjal  ber  ÜJtonardjie.  Sd)on  5 SBochen  nach  ber  Äata» 
jtrepbe  beb  14.  Detoberb  1806  {ah  man  ben  Sriumphator  {einen 
dtngug  in  ©erlitt  halten. 

9tapoleon  hat  belamttüch  in  {einen  Sügenbudetinb  oorgugb« 
tpetfe  bie  .Königin  fiuife  für  ben  ©efdjlufj  beb  jfriegeb  oerantwort» 
lieb  madjett  wollen  unb  mit  ber  @emeint)eit,  beren  er  fähig  war, 
bie  ebelfte  ber  gürftinnen  oerläftert  unb  oerhöhnt.  Unb  hoch  hatte 
fie,  bie  im  Sabe  ©prtnont  weilte,  alb  ber  {dficffalbfchwere  Krieg 
in  ©erlin  befchloffen  tourbe,  an  ben  entfeheibenben  ©crathungen 
gar  leinen  Anteil  gehabt,  wie  fie  benn  wenige  Sage  oor  ber 
Senaer  Schlacht  griebrid)  @en£  in  einer  benfmürbigen  Aubieng 
btmerfen  fonnte,  bajj  fie  nie  in  öffentlichen  Angelegenheiten  gu 
älathe  gezogen  worben  {ei  unb  auch  nicht  bornad)  geftrebt  habe, 
©ei  betreiben  ©elegenljeit,  bie  ben  geiftooden  Staatsmann  unb 
$ublieiften  mit  {o  oicl  ©ewunberung  oor  ber  Roheit  ber  Spaltung 
unb  ©efittnung,  {o  wie  oor  ber  Klugheit,  geinheit  unb  Selbft» 
ftänbigfeit  beb  Urtheilb  „ber  großen,  unglii etlichen,  unoergefjlichen 
Suife"  erfüüte,  wieb  fie  auch  mit  (Sntfdjiebenheü  bie  oon  ben  grau» 
jfijen  ihr  angebichtete  ©orliebe  für  3iußlanb  gurücf  uttb  oerfchwieg 
nicht,  baß  fie  bei  ader  Anetfennung  für  bie  per{önlid;en  Sugenben 
beb  Kaiferb  Aleranber  boch  nie  SRufjlanb  alb  bab  ^pauptmerfgeug 
gur  Sefreiung  (Suropab  betrachtet,  fonbern  beffett  ©eihülfe  nur  alb 
le$te  £ülfbquede  angefehen  habe,  feft  überzeugt,  baß  „bie  großen 
Settungbmittel  gang  adein  in  bet  engften  ©erbittbung  ader  Derer 
gu  jtnben  mären,  bie  {ich  beb  beutfdjen  Stammeb  rühmten". 

Aber  wenn  auch  b»e  .Königin  nicht  gutn  Kriege  gerathen  hatte, 
fo  machte  fie  boch,  nachbem  er  bejdjloffen,  lein  .pctjl  baraub,  baß 
fie  ihn  billigte,  unb  eben  fo  mutbig,  wie  bem  ©cmahl  treu  ergeben, 

Ir  241.  243.  2 (SJ) 


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18 


hatte  fte  beit  König  bei  Eröffnung  beS  gelbgugS  ton  6^arlottcn= 
bürg  nad)  Shüringen  begleitet.  Jg)ier  blieb  fie  bis  gum  14.  Drtober 
in  feiner  SRähe.  (Erft  als  ber  IDonner  ber  Sd)Iacbt  ton  3ena  nad) 
Söeimar  Ijerübenollte,  eilte  fie  auf  33efet)l  bcS  ©emablS  nad)  ber 
^aufjtftabt  auf  Umwegen  gurücf.  SDa  erreichte  fie  oor  ben  Sporen 
ton  SBerlin  bie  crfdjüttembe  Kitufce  oon  ber  großen  SRieberlage 
ber  Slrmee.  Sie  fitdjte  mit  ben  Kinbern  Sdjutj  in  Stettin,  unb 
flüchtete  bann,  als  bie  fdnnadjeolle  llebergabe  ber  beften  geftungen 
beS  SanbeS  unb  baS  traurige  Sdjicffal  ber  gerjprengten  £>eereStheile 
baS  Unglncf  ton  3ena  unb  Sluerftäbt  oollenbeten,  nad)  Knftrin. 
£ier  traf  fie  mit  bem  gebeugten  ©emal)l  gufammen,  nmfjte  aber, 
ba  ber  rafd)  oorbringenbe  geinb  fie  überall  oerfolgte,  halb  in 
©raubeng,  bann  in  Königsberg  eine  Bufludjt  fudjen.  3n  jenen 
Sagen  ber  (Erbärmlichfeit  unb  beS  Herraths,  als  eine  <Sd)recfenS= 
nad)rid)t  bie  anbere  jagte,  war  eS,  wo  bie  Königin  an  bie  beiben 
älteren  ^ringen  griebrid)  unb  SSilfycIm  Söorte  richtete,  bie  beffer, 
als  idj  cS  auSbrücfen  fönnte,  bie  Stimmung  ber  oon  Sdjmerg 
oergehrten  unb  bodj  jo  l)elbennu”ttf)igen  grau  bcfunben.  „3^r  jebt 
mid)  in  Spänen,  id)  beweine  ben  Untergang  ber  Slrmee!  Sie  ^at 
ben  (Erwartungen  beS  Königs  nid)t  entfprochen",  fo  begann  fie  unb 
fuhr  nad)  bamaligen  Slufgeid)nungen  in  folgenber  SBeife  fort:  „®a§ 
Sd)icffal  gerftörte  an  einem  Sage  ein  ©ebäube,  an  beffett  (Erhöhung 
grofie  SKänner  gwei  3ahrl)unberte  t)inburd)  gearbeitet  haben.  @8 
giebt  feinen  preufjifdien  Staat,  feine  preufjifdbe  Slrmee , feinen 
üflationalruhm  mel)r;  er  ift  oerfdjwunben  wie  jener  Sfiebel,  ber  auf 
ben  gelbem  ooit  3ena  unb  Sluerftäbt  bie  ©cfahren  unb  Sdjrecfen 
biejev  unglürflicben  Sdjladjt  oevbarg!  — Sich,  meine  Söhne,  3hr 
feib  fdjon  in  bem  Sllter,  wo  (Euer  Herftaub  biefe  fdjweren  £eim= 
fud)ungen  faffen  faim.  Stuft  fnnftig,  wenn  (Eure  ÜJtutter  unb 
Königin  nidit  mehr  lebt,  biefe  unglücflidhc  Stuitbe  in  (Euer  @ebäd)t= 
ni§  gurücf,  Weinet  meinem  Slnbenfen  Sl)ränen,  wie  id)  fie  jetgt  in 
(») 


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19 


tiefem  imglücHicben  Ülugenblicfc  bem  Umfturg  meinet  SBaterlanbeS 
ireine.  Aber  begnügt  (Surf)  nicfet  mit  ben  21} reinen  adern;  Ijanbelt, 
enteitfeü  teure  Kräfte : cielleid)  läfet  ^reu^ens  Sdjufegeift  fid?  auf 
teutb  nieber;  befreiet  bann  teuer  3$oIf  oon  ber  Sd)anbe,  bem  33or= 
surfe  ber  temiebrigung,  worin  e8  fcfemaditet.  Sudlet  ben  jefet 
rerbunfeüen  Rufern  teurer  Vorfahren  con  granfreidj  gurücfguer= 
obern,  wie  teuer  ©rofeoater,  ber  grofee  Äurfürft,  einft  bei  gehtbeüin 
tie  »Jtieberlage  unb  Schmach  feinet  Saterö  an  ben  Sdjroeben 
Mitte.  — 2td?,  meine  Sohne,  laffet  teuefe  nietjt  non  ber  tentartung 
tiefes  3«italterS  liinrei^en , werbet  ÜOlänner  unb  geiget  nach  bem 
-Kufe me  großer  gelbberm  unb  gelben.  SBenn  teud)  biejet  tebr= 
geig  fehlte,  würbet  3hr  beö  Biameng  ton  ^ringen  unb  tenfeln  bet* 
großen  griebrid}  unwürbig  fein.  Äönnt  3fyr  aber  mit  aller 
Snftrengung  ben  niebergebeugten  Staat . nid}t  wieber  auf  ritzten 
jo  fud>t  ben  2 ob,  wie  ihn  SouiS  gerbinanb  gefügt  ^at!" 

SRodjten  bie  SDlünner,  bie  ben  uttglütflidjen  Äönig  in  jenen 
Sagen  umgabeu,  ihm  ratzen,  fid)  bem  Sieger  auf  ©nabe 
unb  Ungnabe  gu  ergeben,  bie  eingige  grau  falj  Rettung  nur  in 
auetauembem  SBiberftanbe.  SJiit  einer  ©reffe  ber  ©eele,  bie  ber 
fommerberr  con  ©d)Iaben  in  feinem  Sagebudje  „über  jebee  tereig= 
niß  erhaben"  bargefteüt,  äußerte  fie  ficb  über  beS  SSaterlanbeS 
llnglüd  unb  über  bie  üDtenjdjen,  bie  bagu  beigetragen.  3n  bie 
hccbfte  Aufregung  aber  geriet!)  fie,  als  man  ibr  fdjonung§lo8 
alle  bie  fefemufeigen  SSerleumbuitgen  mittbeilte,  welche  ütapoleon 
allenthalben  gegen  fie  r erbreiten  liefe  unb  bie  auf  feinen  ©efefel 
rffentlirb  fogar  in  33  erlin  gebrueft  worben  waren.  „2)lit  ftromen* 
ben  Sbränen  wieberljolte  bie  erhabene  grau  jene  SluSbrücfe  biefer 
Scbmähfdmften.  fftein,  rief  fie  babei  au§ , ift  e$  biejem  boshaften 
?Renfd>en  nicht  genug , bem  Äonige  feine  Staaten  gu  rauben , foB 
muh  noeb  b«  tefere  feiner  ©emahlin  geopfert  werben,  inbem  er 

2*  (5?  ) 


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20 


niebrig  genug  benft,  übet  mid)  bte  fdjänblicbften  Bügen  ju  net* 
breiten?" 

2Bol)l  fonnte  bte  engelreine  Königin,  »emt  fte  auf  ifyr  eigenes 
Beben  gurücfblicfte , übet  jebe  ©djmäljung  freier  Büge  fid)  v^t* 
fönlid)  ergaben  füllen,  aber  bod)  in  bunflen  ©htnben  fid?  bic 
gtage  entgegenbalten,  ob  nicht  bet  Staat,  ba§  SSolf,  baS  eigene 
£au3  mit  Unrecht  ben  ^eimfudjungen  beS  ©cbicffalS  »ibetftrebe. 
2Ba8  fiuije  in  folgen  Stugenblicfen  banget  3»eifcl,  gebeugt  unter 
bet  3Bud)t  beS  bunflen  SerbängniffcS  empfunben  bat,  laffen  bie 
SSorte  ©ötbeS  atjnen , bie  fie  am  5.  üDecembet  1806  in  itjr 
Sagebudi  jdjrieb , id)  meine  bie  j ebenen  Söorte  auS  SÜilbelm 
Steiftet: 

®er  nie  fein  Stob  in  SEljränen  ajj, 
üßet  nie  bie  fummcrt'oUen  Obädjte 
2luf  feinem  Sette  toeinenb  faß, 

Ser  femtt  euch  nid;t,  il;r  l;immlifcben  'Blähte! 

3br  führt  ins  ßefcen  uns  l;inein, 

Styr  lagt  ben  Sinnen  fd^ulbig  »erben ; 

Samt  überlagt  il;r  it;n  bet  'pein, 

Senn  alle  Sdjulb  räd;t  fid>  auf  Srben. 

3n  Äönigebetg  erlag  ber  fdjmacbe  Äörpet  bet  ftarfmütbigen 
grau  ben  »on  allen  ©eiten  auf  fie  einftütmenben  ©dficffalSfcblägen. 
©cb»er  erfranft  an  einem  SRetnenfiebet,  ba§  jebon  eines  ihrer  Äin« 
ber,  ben  ^ringen  Äatl,  an  ben  Sianb  be8  ©tabeS  gebraut,  fcb»ebte 
fie  14  Sage  lang  in  ©efabr.  55a  tnuftte  fie,  noch  nicht  genefett,  »eil 
bie  feittblidjen  fpeerfdjaaren  ftcb  »eiter  uttb  »eitet  »älgten,  auch 
bie  alte  £rönungS|tabt  ber  preufjifcben  Könige  uerlaffen , um  itt 
bem  fernften  SBinfel  ber  'IRonarcbie , in  fölemel,  eine  3uflucbt  ju 
fueben.  „3cb  »iß  lieber,  erflärte  fie  bem  fieibarjt  Jgmfelanb,  in 
bie  £ä nbe  ©otteS  als  biefer  Blenfdjeu  fallen."  „Unb  fo  »urbe 
fie  ben  3.  Sanuar  bei  ber  beftigften  Äälte,  bei  bem  für<bterli<bften 
©türm  unb  ©c^neegeftöber  in  ben  Söageu  getragen  unb  20  Blei* 

(58) 


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21 


Jen  weit  übet  bie  Kurifdbe  fJiebrung  nadb  SDJcmel  tranöportirt.  28ir 
bradsten  btei  Sage  unb  brei  9iäd)te,  bte  Sage  tbeilß  in  ben 
SturmweQen  beß  2Reete8,  tbeilß  int  6ife  fa^renb , bie  Sftädbte  in 
ben  elenbfteit  Uiadbtquartieren  gu.  35ie  erfte  fftadbt  lag  bie  Äöni« 
gin  in  einer  Stube,  wo  bte  genfter  getbrodjen  waren,  unb  ber 
Stbnee  auf  iljr  2?ette  gewebt  würbe,  otjne  erquidfenbe  SRabruttg. 
€c  bat  nodb  feine  Königin  bie  ÜRotb  empfunben."  ?n  SDRemel, 
wo  fiuifc  fttb  wieber  mit  bem  ©etnabl  unb  ben  föniglicben 
Kinbent  Bereinigte,  befferte  ftdb  ibr  Buftanb,  unb  audb  bie  müi= 
tärifdb'politiftbe  Sage  bered?tigte  oorübergebenb  gu  neuen  Hoffnungen. 
£er  SReft  bet  preufjifdben  Slrmce,  oon  bem  tap fern  ©encral  Seftocq 
geführt,  Bereinigte  ftdj  mit  ben  ettblidfj  berangefommenen  rufftfdbett 
Jruppen  unb  ftellte  in  ^elbniitt^igen  Kämpfen  nidbt  allein  bie 
prtufjifdje  Söaffenebre  wieber  bjtt,  jonbem  eß  fd)ien  autb  bie  2Rög* 
licbfeit  gegeben,  mit  Hülfe  beß  Sßerbünbeten  einen  leiblichen  grie* 
ben  gu  erfämpfen.  3n  ber  Sdjladft  bei  Sßreu&ifdb’GrpIau,  wo 
Seftocq  mit  feinem  COOO  SJiantt  SSunber  ber  Sapferfcit  Berridbtete, 
erlitt  Napoleon  fo  fdbwere  33erlufte,  bafj  er  trotj  feiner  ©iegcßbe= 
riebte  bem  Könige  bie  H^nb  gu  einem  günftigen  Stieben  bot,  wenn 
et  fi<b  oon  feinem  SSerbünbeten , bem  Jiaifet  Ölleranber,  loßfagte. 
SMcfe  Bumutbung  wieß  griebridb  Söilbelm  felbftBerftänblicb  gurücf, 
unb  ba  autb  ber  Äaifet  Stlepanber  halb  barauf  fclbft  nach  SOie* 
mel  fam,  unb  Sfngefidbtö  feiner  ©arben  bem  Könige  Sreue  bis  gum 
Sobe  gelobte,  Ijoffte  Suife  auf  weitete  Erfolge  in  außbauentbem 
Kampfe.  „2>iefe  beliebe  Grinigfeit",  fdbrieb  fte  bent  Später, 
»burdj  unericbütterlicbe  Stanbbaftigfeit  im  UugUicf  begrünbet, 
gibt  bie  fepönfte  HDffnun8  gur  Stußbauer;  nur  burdb  SBebanlidbfeit 
lrirb  man  ftegen,  früh  ober  fpät,  baoon  bin  ich  übergeugt." 

SDie  Königin  begab  ftd?  im  Slpril  natb  Königsberg  gu  ber 
bter  wobnenben  Sdbwefter  Sneberife  unb  brachte  bort  einige 
Soeben  in  23obltbun  unb  SBerfen  ber  SRenfdbeuIiebe  gu,  inbem 

(69) 


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22 


fte  baS  @lenb  beS  ÄtiegeS  gu  liitberrt,  ben  ©erwunbeten  unb 
Stothleibenben  gu  Reifen  juckte.  Stber  weitere  §ortfd)ritte  ber  gran= 
gofen,  ber  gaQ  ber  Heftung  SDangig  unb  bie  neue  33ebrohung 
ÄönigSbergS  oeranlafjten  gu  Anfang  3uni  ihre  Siücffebr  nach  9)te« 
mel,  unb  hier  ging  fte,  ba  bie  Schlacht  bei  §rieblanb  aüe  £off* 
nungen  oernichtcte,  .Königsberg  fiel,  bie  SRuffett  gurücfwichen, 
Stapoleon  aber  fein  Hauptquartier  nach  2ilftt  neriegte,  ben  fdjwer* 
ften  Prüfungen  entgegen. 

„ (?S  ift  wieber",  Reifet  eS  in  einem  ©riefe  an  ben  ©ater 
oorn  17.  3uni,  „ein  ungeheures  Ungemach  über  unS  gelfonraten, 
unb  wir  fteljen  auf  bem  fünfte,  baS  .Königreich  gu  »erlaffen. 
©ebenfen  Sie,  wie  mir  babei  ift;  bodj  bei  ©ott  befdjwöre  ich 
Sie,  cerfennen  Sie  3hre  Jodjter  nicht.  ©lauben  Sie  ja  nicht, 
baff  JHeinmutb  mein  Hcra  beugt.  Bwei  Hnuptgrünbe  habe  ich,  bie 
mich  »ber  alleö  erheben;  baS  erftc  ift  ber  ©ebanfe:  wir  finb  fein 
Spiel  beb  blinben  3ufaö8,  fonbern  wir  fielen  in  ©otteS  H>anb  unb 
bie  ©orfehung  leitet  unS;  bergweite:  wir  gehen  mit  ©hren  unter, 
©er  Äönig  hflt  bewiefen,  ber  SSelt  hat  et  bewiefen,  ba§  er 
nicht  Schanbe,  fonbern  ©hre  will,  ©reu§en  wollte  nicht  freiwillig 
Sflanenfetten  tragen.  Sind)  nicht  einen  Stritt  h°t  ber  .König 
anberS  h°nbeln  fönnen,  ohne  an  feinem  ©hornfter  ungetreu  unb 
an  feinem  ©olfe  ©erräther  gu  werbeu.  SSie  biefeö  ftärft,  fann 
nur  ber  fühlen,  ben  wahres  6hr0ef»¥  burchftrömt."  „3<h  gehe", 
heifjt  eS  fpäter,  „fobalb  brittgenbe  ©efaljr  eintritt,  nach  fRiga; 
©ott  wirb  mir  helfen,  ben  Ülugenblicf  gu  beftetjen , wo  ich  über 
bie  ©rengen  beS  Reichs  mufe.  5 )a  wirb  eS  Kraft  erforbent;  aber 
ich  richte  meinen  ©lief  gen  Himmel,  »on  wo  alles  ©ute  unb 
©öfe  fommt,  unb  mein  fefter  ©laube  ift,  er  fdiicft  nicht  mehr  als 
wir  tragen  fönnen.  Sloch  einmal,  befter  ©ater,  wir  gehen  unter 
mit  ©Ijren , geachtet  oon  Stationen  unb  werben  ewig  greunbe 
haben,  weil  wir  fie  oerbienen.  SEÖie  beruhigenb  biefer  ©ebanfe 
(60) 


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23 


iji,  lägt  ftcfj  nicht  jagen.  3dj  ertrage  alles  mit  joldjer  Dtuhe  unb 
©elafjenheit,  feie  nur  .'Hube  beS  ©ewifjenS  unb  reine  Buterfidjt 
geben  fann.  2)e8wegen  feien  ©ie  überzeugt , befter  Vater,  tag 
wir  nie  gang  unglücflid)  jein  fömten,  unb  bah  fSRandjer,  mit 
fronen  unb  ©lücf  bebrücft,  nicht  jo  froh  ift,  alb  wir  es  finb. — 
’Jioch  GinS  gu  3hrem  2roft,  bag  nie  etwas  non  unferer  ©eite  ge* 
fchehen  wirb,  baö  nicht  mit  bet  ftrengften  Gh«  »erträglich  ift, 
unb  mit  bem  ©angen  geht.  2)enfen  ©ie  nid)t  an  eingelne  Gr» 
bärmlichfeiten.  &u<h  ©ie  wirb  baß  tröften , baS  weih  i<h,  jo 
wie  Sille,  bie  mir  angehören.  3d)  bin  auf  ewig  3bre  treue,  ge» 
borjame,  ©ie  innig  Iiebenbe  Rechter,  unb  Gott  lob,  bah  ich  ed 
jagen  fann  — 3h«  greunbin.  2uije. " — Slud)  einige  Sage 
[pater,  nad)  bem  Slbjcfcluh  beS  SBaffenftitlftanbS  gwijchen  Vapoleon 
nnb  SUeranter,  bleibt  ihre  £ojnng:  „ Stuf  bem  SBege  beS  9ic<ht$ 
leben,  fterben  unb,  wenn  eö  fein  muh,  Vrob  unb  ©alg  ejjen, 
nie  werbe  ich  gang  unglMlid)  jein,  aber  hoffen  fann  ich  nicht  mehr. 
Ser  jo  non  jeinem  Fimmel  heruntergeftürgt  ift,  fann  nicht  mehr 
hoffen.  Äommt  baö  ©ute  — o!  fein  SHenjch  fann  c8  banfbarer 
empfiitben  als  ich  empfinben  werbe  — aber  erwarten  thue  ich 
e$  nicht  mehr,  ätommt  baS  Unglftcf,  jo  wirb  eö  mich  auf  Slu* 
genblide  in  Verwunberung  jetjtn,  aber  beugen  fann  es  mich  nie, 
jobalb  e8  nicht  cerbient  ift.  9iur  Unrecht  unjerer  ©eitS  würbe 
mich  3«  ©rabe  bringen,  ba  fomnte  ich  nicht  hin,  benn  wir  [leben 
h«h." 

©o  ftolg  richtete  im  Vewugtjein  ber  @h«  nnb  beS  Utechts 
bet  ©eift  ber  föniglichen  grau  fich  auf,  als  fie  in  ©efahr  ftanb, 
übet  bie  ©renge  beS  cerlorenen  SReiche  in  bie  Verbannung  wanbern 
pi  muffen.  SDiejer  Äelch  blieb  ihr  freilich  erjpart,  aber  waS  ihrer 
pi  Siljit  in  bem  Hauptquartier  beö  übermüthigen  ©iegerS  wartete, 
[teilte  ihren  Jpochjtnn  unb  ihren  Dpfermuth  auf  eine  faum  gerin» 
gere  $robe. 

(61) 


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24 


SERan  weife,  wie  eß  bet  Älugfeeit  9lapoIeonß  nach  bem  tjmt 
5(leranbcr  ungern  abgejchloffcnen  SBaffenftiflftanbe  gelang,  ben 
weicbhergigen  ©gaaren  trofe  bet  am  ©rabe  griebrichß  beß  ©tofeen 
bem  SBerbünbeten  gejdjworenen  unb  noch  fürglich  im  Stngcfic^t  ber 
2 rupfen  neu  »erftcherten  Streue  burd)  Schmeichelfünfte  jo  gu  um= 
ganten,  bafe  er  griebe  unb  greunbjdjaft  mit  ifym  jchlofe  unb  ^3reu» 
feenß  Sdjicfjal  in  bie  jpänbe  beß  erbitterten  unb  übcnniitfjtgen 
geinbeß  legte.  5Ran  weife  auch,  wie  unbarmherzig  ber  franjefijcbe 
Äaijer  gu  Stil  fit  jein  Siegerglüd  außbeutete.  SRur  auß  91ücffid}t 
auf  ben  ihm  neu  »erbünbeten  Äaijer  wollte  er  Strümmer  ber 
preufeijdjen  SJionardfeie  beftefeen  Iaffen.  2>a  war  eß,  wo  bie  hed)« 
bergige  Äönigin  bem  f dimer  gefährbeten  Staate  ein  Cpfer  ber 
Selbftoerläugnung  brachte,  baß  man  beffer  nicht  »on  ihr  geforbert 
batte.  9iachbem  2Uejranber  eine  jo  beflagenßwertfee  Schwäche  in 
bem  Verhalten  gegen  Napoleon  bewiejen  unb  ben  2>erbünbeten, 
man  möchte  jagen,  cerratfeen  batte,  befürwortete  er  in  Sfnetfennung 
ber  ©ewalt,  welche  bie  erhabene  Grrfdjeittung  Suifenß,  ihr  SBcfen 
unb  ihre  IRebe  auf  bie  ©emüther  ber  SDienfdfeen  übte,  bafe  jte  eß 
uerfuefee,  billigere  3?ebingungen  non  ber  ©nabe  befjelben  SJlacfet* 
baberß  gu  erbitten,  ber  burdi  niddSwütbigcn  dpoh«  unb  Spott  bie 
llnglücfliche  jo  tief  belcibigt  batte7),  konnte  man  wirflicf)  non  bem 
innerlich  rohen  Solbatenfaijer,  bem  SJianne  ber  »oflenbetcn  Selbft* 
fudjt  erwarten,  bafe  er  fiefe  beugen  werbe  nor  ber  Roheit  unb  bem 
fittlitben  9(bel  einer  beftegten  Königin? 

Suije  gauberte  nicht,  gu  tfeun,  maß  man  non  ifer  begehrte, 
aber  fie  tfeat  cß  mit  ferner  »ermunbetem  bergen.  $atte  fte  boch 
jefeon  in  SJiemel  non  bem  nad)  Stilfit  noraußgegangetten  Ä'önig 
»oll  ©ntrüftung  nemommen,  bafe  Napoleon  ihn  mit  außgefuebter 
©leichgültigfeit  unb  .Külte  behanbelte, 8)  unb  maß  ber  ungliicflidhe 
©cmabl , welcher  in  feiner  ehr! i dien  unb  offnen  SBeife  nicht  gu 
fchmeicheln  nerftanb,  »ielmefer  bem  übermütfeigen  Sieger  im  ©e* 
(«*) 


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25 


fable  feiner  feniglidjen  SBürbe  mit  eblem  Stotge  begegnete,  nid}t 
erlangen  fonnte,  baß  foflte  fte  butcb  grauen  fünfte  gu  erteilen  fuchen? 
Sit  begreifen,  bafe  ber  33 rief  beß  Königß,  bet  fie  nad)  Silftt 
tarnen  hiefe,  ihr  Spänen  genug  terurfachte  „SRie  werbe  ich, 
fcbrribt  ihr  Seibargt  #ufelanb,  ben  SJioment  pergeffen,  wo  bie 
etle  Königin  ben  23efebl  ccm  Könige  erhielt,  auch  nach  Silfit  gu 
tarnen,  um  womöglich  noch  rortheilbaftere  griebenßbebingungen 
tcn  Napoleon  gu  erhalten.  £>ieß  hata  fie  nicht  erwartet.  Sie 
war  aufcer  fid>.  Unter  taufenb  2hranen  fagte  fie:  „©aß  ift  baß 
fdunergbaftefte  JDpfer,  baß  ich  meinem  SPolfe  bringe,  «nb  nur  bie 
Hoffnung,  biefem  baburd)  nämlich  gu  fein,  fann  mich  bagu  bringen." 
Hub  £uife  felbft  fagt  in  ihrem  Sagebuche:  „SSelche  Uebevwittbung 
tß  mich  f off  et,  baß  wei§  mein  @ott!  ©enn  wenn  ich  gleich  ben 
Scann  nicht  h°ffe,  fo  fehe  ich  ihn  hoch  alß  ben  an,  bet  ben  König 
unb  fein  2anb  unglücflid)  gemacht.  Seine  Salcnte  bewunbcre  ich, 
aber  feinen  Gh°rafter,  ber  offenbar  hinterliftig  unb  falfch  ift,  fann 
icb  nicht  lieben.  höflich  unb  artig  gegen  ihn  gu  fein,  wirb  mir 
littet  werben.  ©och  baß  Schwere  wirb  einmal  ton  mir  geforbert, 
Cpfer  gu  bringen  bin  ich  gewohnt."  — 

91m  4.  3uli  fuhr  bie  .Königin  nach  bem  in  ber  SRä^e  ton 
Jilfit  gelegenen  ©orfe  ißicftupönen,  wohin  auch  ber  König  unb 
fclgenben  Sageß  Kaifer  SIcranber  fam.  33on  bem  SOiinifter  £at* 
benberg,  beffen  Gntlaffung  Napoleon  fo  eben  erzwungen,  lieh  ft<h 
£uife  über  bie  fdfwebenben  fragen  genau  inftruiren.  3u  ihrer 
Segrüfjung  hatte  ber  frangöfifdfe  Kaifer  ben  General  Gaulaincourt 
gefanfct ; gugleicft  lief?  er  fragen,  ob  ihre  SDRajeftät  ihm  bie  Gbre 
errreifcn  woUe,  ein  fMttagßmahl  eingunehmen?  Sobalb  fie  in 
bn  Stabt  angefommen,  gebenfe  er  ihr  ben  erften  33efud)  gu 
machen. 

Unter  bem  Geleite  frangöftfcher  Grabebragoner  gelangte  Suife 
fim  Nachmittage  beß  6.  3uli  nad)  Silfit  unb  flieg  in  ber  SBohnung 

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26 


beö  ÄönigS  ab.  Cfine  Birtelftunbe  fpäter  fuhr  fRapoIcon  »er,  am 
Suffe  frer  Slreppe  »on  frer  JDberhofmeifterin  »on  Bofj  unfr  frer 
©täfin  £auenfcien  empfangen.  „ Gr  war  berichtet  bie  Grftere, 
höflich,  ipradj  jehr  lange  3eit  mit  frer  Königin  unfr  bann  fuhr  er 
fort,  ©egen  acht  Uhr  begaben  wir  unö  ju  ihm,  ba  er  au8  fRücf* 
ficht  für  bie  Königin  fein  2)iner  früher  befteHt  halte.  SBäbrenb 
ber  Jafel  war  er  febr  guter  Saune  unb  fpradj  fehr  »iel  mit  ber 
.Königin.  9iach  2ifche  hatte  er  eine  lange  Gonoerfation  mit  ber 
Königin,  bie  auch  ziemlich  jufrieben  mit  bem  Grgebnih  berfelben 
war.  ©ott  wolle  geben,  bah  eS  3U  etwas  hilft-" 

Bon  aitberer  Seite  wiffen  wir,  baff  bie  Königin  nach  bem 
fötahle  mit  ben  jefrönften  Hoffnungen  non  SORemel  nach  Bicftupöiten 
^urücffebrte , ja  bah  fic  f<h»n  nach  ber  erften  Unterrebung  mit 
Napoleon  »oH  Sreube  glaubte,  ihren  3mecf,  ben  §einb  311  billi« 
geren  SriebcnSbebingungen  311  bewegen,  erreicht  3U  haben.9) 

Sluch  baS  eine  unb  anbere  SBort,  baS  bei  frer  benfwürbigen 
Begegnung  gefprochen,  ift  befannt  geworben,  »or  allem  bie  fd?öite 
Antwort,  bie  Suife  bem  llebermüthigen  auf  bie  geringfügige 
Stage  gab:  „Slbcr  wie  fonitten  Sie  nur  ben  .Krieg  mit  mir  an» 
fangen?“  „Sire,  erwifrerte  bie  .Königin,  bem  Siuhme  Sriebri<h$ 
war  eS  erlaubt,  uns  über  uitfere  Äräfte  3U  täufchen,  wenn  anberS 
wir  unS  getäufcht  haben."  — ©ewanbt,  »oll  ©eift  unb  feinen 
SacteS  wufjte  bie  Königin,  wie  Napoleon  felbft  geftanben,  fich 
ftetS  als  Herrin  ber  Unterrebung  3U  behaupten,  unb  babei  machte 
auch  »hre  hD^e  Slnmuth  einen  jo  tiefen  Ginbrut!  auf  bie  harte 
Solbatennatur,  bah  ber  Kaifer  gegen  feine  Neigung  höchft  artig 
war  uub  ihre  Bestellungen  unb  Bitten  feineSwegS  abwieS. 

0ber  fchon  folgenben  SageS,  als  man  in  ber  Umgebung  beS 
.König  allgemein  bie  Hoffnung  hegte,  bah  Napoleon,  gerührt  burth  bie 
SDemüthigung  ber  unglücflichen  99tonarchin,  feine  Sorberungen  in 
ber  üliat  mäfsigen  werbe,  melbete  ber  ©raf  ©elf},  »on  einet  $u» 

(M) 


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27 


tienj  bei  bem  jfaifer  jurncffeprenb , baf)  biefer  alles,  waS  et  am 
geftrigen  Sage  »erjprocben , bereits  wibemtfen  habe  uttb  felbft  in 
bet  £ärte  feiner  Berberungen  nocp  weiter  gegangen  fei,  als  cor 
ber  3ufammenfunft  mit  ipr.  „SlleS,"  fe  patte  er  mit  bürren 
Sorten , erflärt,  „ aUeS , waS  er  ber  Äönigin  gefagt,  feien  nur. 
pöfiifepe  spprajen  gewefen,  bie  ibn  ju  nichts  »erpfliepteten ; beim  er 
fei  entfploffen , bem  Könige  bie  Gilbe  als  ©renge  gu  geben;  eS  fei 
triebt  bie  SRebe  ba»on,  noep  gu  unterltanbeln , inbem  er  bereits 
alles  mit  bem  jfaifer  Sleyanber  »erabrebet  habe,  auf  beffen  greunb» 
febaft  er  SBertp  lege:  ber  Äönig  banfe  feine  Stellung  nur  ber 
rütcrlieben  Ülnpänglicpfeit  biefeS  ?3ionarcpen , ba  ebne  biefen  fein 
('RapoleonS)  S ruber  £>ieronpmu§  Äönig  non  fBteupen  geworben 
rntb  bie  je^ige  SD^naftie  »erjagt  wäre."10)  SaUepranb,  fagte 
man,  fei  Sepulb,  ba§  Napoleon  fiep  triebt  babe  erweisen  laffen. 
„Sire,  foll  bie  fRaepwelt  fagen,  bap  Sie  einer  fepönen  grau  we= 
gen  Spren  jepönften  gelbgug  niept  gehörig  auSgebeutet  paben?" — 
mit  biefen  Söorten  fod  ber  SDipIomat  ben  fuijerlicpen  tperrn  an 
bie  Strenge,  bie  er  gu  mäßigen  in  ©efapr  geftanben,  gemahnt 
haben. 

Unter  folepen  Umftänben  »on  SRapoleon  nedj  einmal  mit  bem 
Äenige  gur  Safel  gelaben,  fonnte  ßuife  nur  mit  bem  tiefften 
SBiberwillcn  ficb  pinbegeben.  „Napoleon,  berichtet  bie  £>betpof* 
meifterin,  jap  »erlegen  unb  gugleicp  tücfifd)  unb  boshaft  aus." 
„SSRan  fepte  fiep  halb  gu  Sifcpe;  bie  Gonoerfation  war  allgemein 
jebr  gezwungen  unb  einfilbig.  SRacp  Sijcpe  fpratp  bie  Königin 
no<b  einmal  mit  Napoleon;  beim  gortgepen  fagte  fie  ipm,  fie 
Serbe  abreifen  unb  empfinbe  eS  tief,  ba§  er  fie  getäufept  pabe." 
Saffelbe  wieberpolte  fie,  als  General  SDuroc  ipr  am  näcpften 
Jage  bie  äbfepiebScomplimente  beS  ÄaiferS  iiberbraepte : „fie  pabe 
niept  geglaubt,  ba§  eS  möglidi  wäre,  fo  getäufept  gu  werben." 

'Bei  ber  lepten  Unterrebung  fuepte  Suije  bem  patten  Sieger 

(64) 


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28 


wenigftenl!  fccö  33erfpre<hen  ju  entreißen,  bafs  er  am  linfcn  Gib« 
ufet  bem  .Könige  ba§  fefte  Magbeburg  Iaffeit  werbe;  aber  bcr 
Äaijer  blieb,  wie  er  »ott  fich  }elbft  in  einem  33 riefe  an  bie  @e» 
mahlin  Sofephinc  fagt,  wie  „ein  JBadjStuch,  übet  welches  biefj 
alles  nur  wegglitt."  Suife  bagegen  jagt  ein  5ahr  fpater,  inbem 
fie  fich  bet  Unterrebitng  mit  Napoleon  erinnert:  „Sich  welche 
Grinnermtg!  SBaö  id)  ba  gelitten  l)abcr  — gelitten  mehr  um  an« 
berer,  als  um  meinetwillen.  3dj  weinte,  id)  bat,  in  Flamen  ber 
Siebe  unb  ber  Humanität,  im  Flamen  unjerS  Unglüdö  uub  bet 
©ejejje,  welche  bie  SBelt  regieren  — unb  ich  war  nur  eine  Stau. 
Gin  fcbwacheS  SBefen,  unb  bo<h  erhaben  über  biejen  Sßiberjacher, 
jo  arm  unb  matt  an  £c*z. " 2>afj  SRapoIeon  ihr  beim  Slbjcbieb 
eine  frifche  SRcfe  gereicht,  welche  bie  .Königin,  nach  einet  SlnfangS 
ablehnenben  ©eberbe  ficfc  felbft  überwinbenb,  mit  ben  wie  eine 
33ebingung  Iautenben  Sßorten  annal)m:  „zum  Minbeften  mit 
Magbeburg ,“  unb  baf;  Napoleon  unzart  hierauf  erwibert:  „aber 

ich  mufc  bemerfen,  bafc  id?  e8  bin,  ber  bie  SRoje  gibt,  unb  bafj 
Sie  eS  finb,  welche  fie  empfangen,"  — mag  man  bezweifeln, 
nicht  aber  bie  ron  mehreren  Seiten  bezeugte  SUjatjache,  ba§  bie 
unglücf liehe  Königin  ftd)  gegen  Napoleon  beim  SBeggehen  über 
bie  ihr  bereitete  jchmerzliche  Säujdjung  lebhaft  unb  rüefhaltloS  be* 
flagte. 

9loch  weniger  fteunblidj  »erlief  bie  Unterrebung,  bie  z1^ 
Sage  jpäter  noch  einmal  ber  tiefgebeugte  unb  boch  ftctS  feiner 
SBürbe  fich  bewußte  .König  mit  bem  übermüthigen  Machthaber 
hatte.  Sßic  gebrich  SBilhelm,  bem  auch  bie  granzojen  bieSlnet* 
fennung  nicht  »erjagen,  bafe  er  fich  »or  bem  Sieger  feineflwegä 
erniebrigte  unb  jeine  wahren  ©efühle  nidjt  »erbarg , jo  noch  weniger 
9iape!eon.  „Mit  gtofjer  .Ipärte  jagte  er  bem  Könige  bie  aller  em« 
pfmblichftcn  unb  »erlejjcnbften  Swinge."  11 ) 

3luch  ohne  bieje  unwürbigen  perjönlichen  Äränhmgen  war 

(««) 


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29 


bet  Jilfiter  «rieben  für  ben  Äenig  bcmütbigenb  unb  bitter  genug. 
SButbe  ihm  fcocf),  inbem  er  bie  Jpdlfte  bed  Staatsgebiet  oetlor, 
bie  anbere  Hälfte  nur  gelaffen  „als  ein  3eugnif3  ber  ‘Ächtung , " 
bie  tRapoIeon  gegen  jtaijer  Älejanber  Ijege,  mäbtenb  tHußianb 
gum  3>anf  für  bie  Sirene  bed  l'erbünbeten  fid)  mit  einem  Stücf 
freugift^en  ßanbed  oergröfjerte.  ©ollenbd  oerberblicb  mar  enblic^ 
bie  eon  Äalfreutb  am  12.  3nli  in  fträflidjer  ©ebanfenlofigfeit 
abgefchloffene  ßonoention,  bie  IRänmung  ^reufsend  non  ben  franjö* 
fifcben  Simplen  betreffenb;  benn  biefer  Vertrag  machte  ben  Äb* 
311g  ber  feinblicben  Jpeere  oon  Bablungen  abhängig , bie  ber  Sieger 
in’d  Uncrjcbminglicbe  gu  fteigern  entjcfyloffen  mar.  «ortan  mar 
bal  oerftümmelie,  mebtloje  unb  erfdjopfte  Preußen  ganj  in  9lapo* 
leond  £änbe  gegeben;  cd  ftanb  in  feinem  belieben,  bem  »erfjafjten 
Staate,  f obalb  et  mellte,  gang  ein  @nbe  ju  matten,  unb  meljr  ald 
einmal  bat  er  ba  mit  in  ber  Jbat  gebrobt. 

„ 93icine  arme  .Königin,  fie  ift  ganä  in  ©erjmeiflung " — 
jcbtieb  bie  ©räfin  ©o§  nach  ber  lebten  Unterrebung  ßuifend  mit 
Napoleon.  fftocb  jcbmer^Iicber  mufjte  fie  ed  in  ben  nädjften  Ja» 
gen  empftnben,  bafj  aHed,  mad  fie  bem  Könige,  ben  Äinbern  unb 
bem  SSolfe  ju  Siebe  für  bie  SBiilberung  bed  Sd)icffald  bed  Staates 
getban,  oergeblid)  gemefen;  man  fab  fie  traurig  unb  gebeugt  unb 
manche  bunfle  Stunbe  brachte  fie  in  Jf^cmen  „ SDie  arme 
Königin  meint  ju  oiel."  ©leicbmobl  erlag  ibre  ftar!e  Seele  bem 
Schmerle  nicht.  Sie  richtete  fidj  auf  in  bem  ©ertrauen  auf 
@ott  unb  in  bem  ©emufjtjein,  baf)  ber  .König  nur  ber  (ihre  ge* 
mäh  gebanbelt  habe.  Äud)  glaubte  fie  noch  um  f°  an  bie 
heflere  3 n tun  ft  $reu§end,  ald  fich  bie  ganje  Jragmeite  bed  Jilfitcr 
Stiebend  noch  nicht  überfeben  lief). 

„5)er  «riebe  ift  gejdjloffen,  fchrieb  fie  ber  grau  oon  ©erg, 
aber  um  einen  jcb merklichen  ©reid;  unfere  ©reichen  merben  fünftig 
nur  bid  $ur  (flbe  geben;  ben  noch  ift  ber  König  größer  ald  fein 

(OT) 


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30 


SBibetfadfer.  ©ad)  ©Blau  hätte  er  einen  oortheilhaften  Sieben 
machen  fcnnen,  aber  ba  hätte  er  freiwillig  mit  bem  böfen  ^3rin- 
gip  unterbanfceln  unb  fid)  mit  ihm  »erbinben  muffen : jefct  bat  er 
unterhantclt,  gegwungen  burch  bie  ©otb,  unb  wirb  ftdfc>  nicht  mit 
ihm  cerbinben.  2)ag  wirb  ^reufecn  einft  Segen  bringen!  IHucb 
hätte  er  itad)  Ch)Iau  einen  treuen  Miirten  oerlaffen  muffen,  baß 
wollte  er  nicht-  ©od)  einmal,  biefe  £anblunggweife  wirb  93reu§en 
©lücf  bringen,  bag  ift  mein  fefter  ©laube." 

So  war  bie  bcx^ßefitmte  grau  befähigt,  bem  .A'önige  in  ben 
jchweren  Prüfungen,  bie  über  ihn  ergingen,  eine  Stüfje  gu  fein. 
Swar  entfpridit  eg  ber  5ßabrl)eit  nicht,  baf;  griebrtcb  SÖßilhelm, 
burch  bag  33erhängni|  nicbergebeugt , ftef;  mit  bem  ©ebanfen  ge= 
tragen,  gleic^fam  um  bag  @d)itffal  gu  oerföhnen , in  ben  $)rioat= 
ftanb  gurüefgutreten  unb  bie  Regierung  glücflicheren  £änben  gu 
überlaffen,  unb  eben  fo  wenig  ift  eg  richtig,  baff  ber  Ä'önig 
in  feinem  äu§em  Sluftreten  je  ber  geftigfeit  unb  SBürbe  entbehrt 
hätte,  bie  bem  preufcifeben  ©ionardfen  gegiemte;  wol)l  aber  geigte 
er  [ich,  wenn  er  einmal  fid)  oertraulich  augforad),  fo  nieberg  ebrüeft 
unb  traurig,  baff  eg  einem,  wie  bie  ©räfin  33of?  fagt,  burd)g 
£erg  ging  unb  man  ihm  nur  mit  beiden  2h™nen  guhoren  fonnte. 1 s) 
£>a  beburfte  benn  ber  Äonig  all  ber  Sröftung  unb  Stärfung , bie 
ihm  bie  innige  ©emeinfdjaft  mit  ber  cblen  @emal)lin  gewähr* 
„2>ie  Königin,  berichtet  bag  oft  angegogene  Sagebuch,  geht  jefjt 
jeben  ©Jorgen  unb  jeben  2(bcnb  mit  bem  ft'önig  allein  fpagieren, 
unb  fie  ift  fooiel  alg  mbglid)  mit  ihm,  um  ihn  gu  tröften."  33on 
ihrer  Siebe  getragen  fanb  audj  griebrich  SBilhelm  bie  Äraft , unter 
ben  benfbar  fchwierigften  SUerhältniffen  bie  ©flirten  beg  förtiglic^en 
5tmteg  gu  üben,  währenb  er  willig  bahin  gab,  wag  fonft  ein  fürft* 
licheg  IDafein  oerfchönert. 

ÜDer  föniglid)e  .ftaugbalt  warb  auf  bag  ©otbwenbigfte  be» 
fdiränlt,  SDienerfdjaft  unb  Gquipagen  oerringert,  foftbare  Sioreen 

c««) 


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31 


atgejcfeaift,  ielbft  baS  gro§e  golbene  Jafelgefdfirr,  ein  (ärbftücf 
ln  Leiter,  gu  (Selbe  geflogen,  um  Bähungen  für  baS  Sanb 
mb  bie  ferner  gebrücften  Untertanen  gu  leiften.  3«  betreiben 
3»«f  gab  2uife,  als  bic  fort  unb  fort  nod)  mudjS,  ihre  SBriI= 
Inttrn  bin  unb  behielt  nur  einen  Sdjmucf  Don  perlen,  bie  fte 
nad?  ihrer  eigenen  Aeufjerung  mebr  liebte  als  bie  (Diamanten  unb 
auds  paffenber  für  fid)  fanb;  „benn  perlen  bebeuten  Jhränen  unb 
ü habe  beren  fo  Diele  oergoffen." 

9§c^l  entbehrte  bie  .Königin  in  ben  Jagen  beS  UnglüdfS  beS 
intern  SdjmucfeS,  unb  mie  alles,  maS  fie  umgab,  fd)lid)i  unb 
entfach  mar,  fo  mar  audj  bie  Königliche  Jafel  in  SJtemel  fo  frugal 
letteQt,  bah  man  an  bürgerlichen  gamilientifdjen  beffer  jpeifte,  als 
tcrt.  'Aber  grabe  inmitten  ber  (Entbehrungen,  meldjc  bie  fenig* 
liibe  gamilie,  aud)  hierin  ein  ftiH  IcuchtenbeS  33orbilb  ihres 
i!clfS,  in  ebler  fKefignation  fid)  felbft  auferlegte,  bot  bie  Königin 
bad  anmuthigfte  unb  hehrfte  Silb  bar.  „ Sticht  taufenb  .Jpoffefte 
mit  golbenen  Uniformen  unb  «Sternen, " Jagt  ein  ruffifdjer  (Diplomat, 
bet  ju  ÜJtemel  einen  Abenb  in  ber  föniglidjen  gamilie  gubradjte, 
.möchte  id>  in  meiner  (Erinnerung  Dertaufdjen  gegeu  jenes  Schau* 
iriel.  (Eine  Königin  fijjt  am  ärmlichen  Jifdje,  ber  mie  fie  felbft 
alles  äufcem  SchmucfeS  entblöft  ift;  aber  ihre  Anmutb,  Schön« 
Wt  unb  Söürbe  leuchten  um  fo  heller,  sieben  ihr  fijjt  bie  ältefte 
hringefftn  (Charlotte),  mie  bie  .Knospe  nebeH  ber  entfalteten  Stofe, 
rab  inbem  fie  mit  ber  ÜJtntter  bie  fleinen  ^auSgefchäfte  theilte, 
entjüdten  beibe  burch  liebenSmürbige  Aufmerff amfeit  unb  liefen  in 
seiner  Seele  ein  IebenbigeS  53ilb  gurücf,  ba§  fein  fpätereS  Creig« 

mlöfdjen  fonnte." 

gruher  hflUe  fich  bie  .Königin  Don  öffentlidjen  Angelegenheiten 
’etn  gehalten  unb  mit  richtigem  Jade  eS  gemieben,  (Einfluh  üben 
•ter  gar  nach  au|en  etmas  anbereS  als  bie  DoUftänbige  U eberein« 
ftimmung  mit  bem  Söitlen  beS  Monarchen  terratben  ju  mollen. 

c«») 


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32 


„Sie  oerjdjmätjt,  jagt  Don  itjr  bie  grau  von  ©erg  in  einem  an 
Stein  gerichteten  ©liefe,  bie  Reinen  Mittel,  welche  ihr  Macht 
geben  fönnten ; man  muß  fie  um  fo  höher  achten.  @8  ift  in  bem 
©efüljle  ihrer  Pflicht  als  ©attin,  ba§  fie  fich  h*nS*öt  unb  aüe 
Steigungen  uub  Meinungen  beS  ÄönigS  theilt,  baß  fie  biejenigen 
Dertßeibigte , welche  er  »ertl)cibigte.  kennte  man  ihr  einen  ©er* 
Wurf  barauS  machen?  Snbeffen  ift  baS  Unglücf  ber  Beiten  fo 
groß  unb  fo  graufam  gewefen,  baß  ihre  Augen  über  Diele  2)inge 
geöffnet  finb.  Sie  ift  Mutter,  unb  bic  Bufunft  itjreö  SohneS, 
ihrer  Äinber  fann  fie  nicht  gleichgültig  Iaffen;  baju  hängt  fie  in« 
nig  an  ihrem  Sanbe." 

2)ie  brangoode  Sage  be$  Staats  cerfchaffte  ihr,  wie  oon 
felbft,  feit  ber  großen  Jriataftrophe  ©inftuf)  auf  manche  ©ntfchlie* 
jungen  beS  ÄönigS.  So  ift  eS  unter  ihrer  Mitwirfung  gefächen, 
bafe  griebrich  SBilhelm  balb  nach  bem  Abfd}lu|  beS  unglücfli^en 
griebenS  fich  entfcßloß,  mit  bem  SBieberaufbau  beS  gefallenen 
Staates  oor  adern  ben  Mann  ju  betrauen,  ben  Mit*  unb  Stach» 
weit  mit  Stecht  als  ben  SBieberherftefler  3?eutfchlanb8  gefeiert 
haben,  ben  greihern  Jtarl  oon  unb  jum  Stein.  AuS  einem 
alten  reichsritterlichen  ©efchlecht  an  ber  Sahn  entfproffen,  oon  treffli* 
cheit,  ftreng  religicfen  @ltem  in  guter  alter  Bucht  ergogen,  halte 
Stein  fchon  als  junger  Mann  in  bem  Staate  griebrichS  bcS  @ro* 
fjen  ©ienfte  genommen.  Anfangs  als  ©ergrath  in  SBeftplja* 
len  thätig,  ftieg  er,  SDanf  feiner  herDorragcnben  ©egabuttg  unb 
©huraftertü^tigfeit,  oon  Stufe  gu  Stufe  empor,  bis  er  als 
©räfibent  ber  weftfälijehen  Kammern  an  ber  Spiße  ber  bortigen 
©ioilcerwaltung  ftanb.  AIS  il)m  im  Bahre  1802  ber  Antrag 
würbe,  in  hannooer’fche  SDienfte  ju  treten,  lehnte  et  mit  ber  benf* 
würbigen  ©egrimbung  ab , ba§  feine  Uebergeugung  ron  ber  Stoth* 
wenbigfeit  einer  ©erciniguttg  ber  gerftreuten  unb  gerftücfclten  Kräfte 

SDeutjcßlanbS  fich  nicht  mit  ben  Pflichten  »ertrügen,  bie  et  bann 

(10) 


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33 


ju  übernehmen  hatte.  Oft  fab  bic  3ufunft  DcutfdilanbS  in 
^reujjen  unb  fcarum  biente  er  biefem  Staate  mit  notier  Jpittge» 
Jung. 

©alb  mürbe  ber  Freiherr  non  Stein  non  bem  Könige  grieb» 
ridt  SBilbelm  III.  gum  ÜRinifter  beS  .fpanbelS  unb  ber  ©ewerbe 
ernannt,  fonnte  aber  bei  ber  bamaligen  Einrichtung  ber  9ftegie= 
rung  als  bloßer  gadhminifter  feinen  Crinflufj  auf  bie  grofjc  ©olitif 
üben,  fonbem  nur  in  feinem  fKeffort  mancherlei  bebeutungScolle 
©erbefferungen  einführen.  @r  fah  corauS,  bafe  ber  furgfichtig  unb 
j4»5(hli(h  geleitete  Staat  bem  ’.?!bgrunbe  3ufteuerte:  cergebenS 
ftellte  er  in  einer  ber  Königin  überreichten  Denffdjrift  bie  ?Rott>= 
»enfcigfeit,  baS  geheime  Gabinet  unb  ben  SJJinifter  Jfjaugwih  3« 
entlaffen,  cor.  Gr  brang  jeboch  mit  feinem  9tatl)e  nicht  burch, 
30g  ftdh  rielmehr  eine  tRüge  com  Könige  3U.  sJtur  3U  halb  trat 
bann  bie  Kataftrophe  ein,  bie  er  oortjer  fah  unb  nidjt  abwenben 
fonnte.  UebrigenS  rettete  et,  als  nach  ber  S<hladjt  con  3ena  bie 
anbent  fDiinifter  wie  bie  ©encrale  ben  Kopf  eerloreu,  bie  Waffen 
feines  Departements  nach  Königsberg  unb  cerfchaifte  fo  bem  Kö* 
nige  bie  SJbittel,  in  bem  genüge  con  1807  Wenigstens  bie  2Baf= 
fenehTe  ^reujjenS  wieber  he^uftetlen.  Unb  als  enblich  griebrich 
Silhelm  ben  cerberblichen  ^augwitg  für  immer  con  bem  Staats* 
ruber  entfernte,  bot  er  Stein  baS  ÜKinifterium  beS  SluSwärtigcn 
an.  Stein  brachte  bafür  #arbenberg  in  ©orfdjlag  unb  ^ielt  fich 
geeigneter  für  baS  SHinifterium  ber  ginangen,  welches  er  jeboch 
nur  unter  ber  ©ebingung  cerwalten  wollte,  bafj  ber  König  baS 
Gabinet  mit  feinem  hinbentben  Ginfluffe  gang  aufhebe.  Darüber 
fam  eS  im  Sanuar  1807  gu  einem  heftigen  Gonflict  unb  Stein 
»utbe  unter  ben  ungnäbigften  SluSbrücfen  entlaffen. 

Utiemanb  beflagte  ben  ©eiluft  beS  großen  Staatsmannes 
lebhafter  als  bie  Königin.  „Sie  waren  ja  hier,"  fdjrieb  fie  fpä» 

XL  242.  24X  3 (71) 


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34 


ter  an  bie  % nertraute  grau  ton  Söcrg,  „tote  ©fein  fiel,  wie  er 
fo  gang  unwürbig  untergeben  muffte.  ©ie  totffen  ja,  mie  midi 
ba$  angriff,  wie  id)  baran  nahm,  wie  niel  &ngft  wegen 
ber  golgett  id>  auSftanb,  wie  ungufrieben  id)  mit  allem  mar." 

$ief  gef  ritt  ft  tjatte  ber  greiberr  non  «Stein  fid)  auf  fein 
©tammfdjlof;  im  ^affauifdjen  guriiefgegogen.  9lber  met)r  als  bie 
ii)m  wiberfabrene  Unbill  erfdnitterte  ben  großen  Patrioten  baS 
Unglücf  beS  23aterlanbe8.  @r  lag  noch  franf  amgieber  barniebet, 
als  nach  bem  Silfiter  grieben  ber.ftönig  ibn  in  ebrenooOer  Söeife 
gurüefberief,  als  ben  einzigen  fötann,  ber  ,£mlfe  bringen  femte. 
Unb  ©tein  nerfagte  feine  2)ienfte  nid)t.  Ötodj  leibenb  machte  er 
fid)  auf  ben  Seg  natb  bem  fernen  föiemel,  non  ber  Hoffnung 
getragen,  ba§  eS  ibm  gelingen  möd)te,  ben  niebergeworfenen 
©taat  auf  neuen  ©runblagen  wieber  aufgubauen,  baS  33olf  mit 
einem  neuen  ©eifte  gu  erfüllen  unb  alle  feine  Prüfte  tnadjgurufen 
ür  bie  Rettung  beS  gefunfenen  SSaterlanbeS. 

2)ie  Königin  ßuife  fab  bet  Ülnfunft  beS  großen  ©taatSman* 
neS  mit  wadjfenber  ©el)nfud)t  entgegen.  9118  gu  Anfang  beS  ®ep* 
temberS  non  ÄnobelSborf  auS  ffBariS  berietet  würbe,  wie  granf« 
reich  mit  empörenber  SBiKfür  baS  ötcdit  beS  ©tarieren  auSgu* 
nüfcen  trachte,  unb  ßuife  faft  nergweifelnb  in  bie  Söorte  auSbrad): 
„9ld)  mein  ©ott,  warum  b<*ft  bu  mich  nerlaffen?",  rief  fie  gu« 
gleich  febnfüdjtig  auS:  „2ßo  bleibt  beim  ©tein?  3)ie8  ift  noch 
mein  lefcter  Sroft.  ©roßen  £ergen8,  umfaffenben  ©eifteS,  wei§ 
er  niellcicbt  9lu§wege,  bie  unS  noch  nerborgen  ftnb."  „©tein 
fommt,  beißt  eS  in  einem  fpäteren  ©riefe,  unb  mit  ibm  gebt  mir 
wieber  etwas  ßiebt  auf."  Unb  ein  anbet  fötal:  „5Bie  glücflidj  bin 
id),  baf,  ©tein  wieber  t)ier  ift;  ja  feitbem  id)  ibn  wieber  an  ber 
©pifce  bet  ©efd)äfte  wei§,  ift  mir,  als  fönnte  idb  mich)  höbet 
<w 


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35 


entrichten  unb  als  würbe  mein  forgenfcfcwereS  -fraiqjt  mir  leister 
$n  tragen." 

£>ie  Königin  hatte  SRecf)t,  Stein  als  Jpelfer  in  ber  fftotb  gu 
begrüben.  Kann  bod?  ber  Jag,  an  welkem  biefer  Staatsmann, 
ancfc  con  bem  Könige  mit  coflem  Vertrauen  aufgenommen,  an 
bie  Spigc  ber  ©efdjäfte  trat,  noch  beute  als  ber  beginn  ber 
SBiebergeburt  ^3reu§enS  unb  ber  Vorbereitung  gur  SRettung  beS 
©ejammtoaterlanbeS  bezeichnet  merben.  Vicht  in  bem  Sinne  frei» 
lieh,  als  ob  aü  bie  tiefgreifenben  Reformen,  bie  baS  SJlinifterium 
Stein  einig  benfwürbig  machen,  oon  ber  Vauememangtyation  unb 
ber  Stäbteorbnung  bis  gu  ber  Anbahnung  ber  VeidjSftanbe,  nicht 
tbeüweife  fd;on  in  ber  oerhergehenben  3eit  corbereitet  worben 
wären:’ s)  wof)I  aber  gab  bie  Kataftrophe  non  3ena  unb  Jilftt 
ben  fräftigen  SmpulS  gur  SDurchfiihrung  beffen,  waS  man  ebne 
ben  Vothftanb  nur  langfam  geförbert  ober  noch  gar  nicht  in  2ln= 
griff  genommen  haben  würbe.  Unb  nicht  allein  um  bie  politifdje 
Crganifation  beS  VolfS  banbeite  eS  ftd),  fonbem  auch  um  bie 
grünbliche  Umwanblung  beS  £eerwefen$,  bie,  wie  man  weih,  unter 
Stein’S  lebhafter  Jheilnahme  na<h  Schamhorft’S  Ijocfifinnigen 
Jbeen  in  Angriff  genommen  würbe,  #ier  war  eS  oomebmlicb, 
wo  ber  .König  mit  ebenfo  tiefer  ©infidjt  als  Unoerbroffenheit  bert 
SB  eg  e^ocbemachenber  Reformen  betrat. 

23a8  aber  hat  mit  bem,  baS  Stein,  Sdjarnhorft  unb  ihre 
SRitarbeiter  in  ben  Jagen  ber  Votf)  fdjufen,  bie  Königin  ßuife 
gemein?  VidjtS  geringeres,  als  bah  fte  eS  war,  welche  jenen 
SRännem  bie  Söege  am  £ofe  ebnete,  Schwierigfeiten,  c^inbemiffe 
unb  Verutiheile,  mit  benen  fte  gu  ringen  hatten,  überwinben  half- 
„3cb  bejehwöre  Sie,"  fchrieb  ßuife  gleich  *n  ben  erften  Jagen  an 
Stein,  „haben  Sie  nur  ©ebulb  mit  ben  erften  SRonaten;  ber 
.König  hält  gewih  fein  SBort,  Veljmc  (einflubreiebftet  GabinetSrath) 

3*  (7J) 


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36 


fommt  weg,  aber  erft  in  Berlin.  ©o  lange  geben  ©ie  nach- 
35a§  um  ©otteöwillen  baS  ©ute  nic^t  um  brei  ÜJconate  ©ebulb 
unb  3tit  über  ben  Raufen  falle.  3dj  befchwöre  ©ie  um  Äönig, 
Vaterlanb,  meiner  Äinber,  meiner  felbft  willen  barum.  ©ebulb!" 

Oft  ocrfehrte  aud)  bie  Königin  perjenlidj  mit  bem  leitenbeit 
©taatömanne,  jo  wie  mit  ©djamhorft,  ©neifenau  unb  Anbem. 
Auf’8  engfte  aber  war  fie  mit  ter  ^ringejfin  Suife  (Siabgiwitl), 
ber  begeifterten  Verehrerin  ©tein’ö,  jo  wie  mit  ber  feingebilbeteit 
unb  patriotifd)  gefinnten  Vrinjcffin  SDtarianne,  ber  ©ema^Hn  beS 
hodjfiitnigen  bringen  SBiiljelm  (jüngfter  Vruber  beö  ÄöttigS  unb 
Vater  ber  Königin =5Rutter  non  Vapeur)  befreunbet.  3n  biejem 
Greife  — man  fcnnte  il)n  ben  üRittelpunft  ber  patriotijchen  Sie* 
formpartei  nennen  — würben  bie  Angelegenheiten  be8  VaterlattbeS 
eifrig  beraten,  unb  oft  genug  mag  ber  Königin  bie  Aufgabe  311* 
gefallen  fein,  in  ihrer  feinen  unb  gewinnenben  SBeije  ben  Fcnig* 
liehen  ©emal)!,  ber  noch  immer  mächtigen  Partei  ber  ©igennüjjigen, 
fragen  unb  feigen  3um  Ürojj,  in  feiner  reformfreunblichen  ©e* 
finnung  ju  beftärfen,  unb  nedj  öfterer,  milbemb,  »erjöhnenb  unb 
»ermittelnb  einguwirfen,  wenn  ©tein,  welcher  jehon  in  feinem 
äufjern  Auftreten  mehr  ben  gebornen  Jjjerrfdjer  als  ben  “Diener  an* 
fünbigte,  ber  Cf  innige,  ben  ©djarnhorft  neben  33liic£>er  gang  ohne 
COtenfdjenfurcht  wu&te,  in  jeinem  Feuereifer  perjonlidje  Siücf  fiepten 
aftgu  oft  Derlejjte  unb  am  wenig jten  bie  ©ewohnheiten  bes  JpofS 
beobachtete. 

£>hne  mit  ben  fragen  ber  Verwaltung  unb  ©efepgebung  im 
©ingelnen  oertraut  3U  fein,  theilte  ßuije  wenigftenS  bie  ©efin* 
nungeit,  welche  beit  Staatsmann  beje?lten,  unb  war  eben  jo  mit 
betn  le&ten  3irie,  baö  ber  fühne  Freiherr  feit  feinem  Amtsantritt 
unoerwanbten  Slicfee  verfolgte,  oöllig  einoerftanben.  SBenn  ©tein, 
wie  er  felbft  jagt,  „oon  ber  $auptibee  auöging,  einen  ftttlichen, 
(»O 


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37 


rrligiöfen,  oaterlänbifchen  ©eift  in  ber  Station  ju  lieben,  ihr  neuen 
SRutfc,  ©elbftoertrauen,  ©ereitwilligfeit  ju  jebem  Cpfer  für  llnab* 
bängigfeit  non  gremben  unb  für  SRationahuoljI  einguflöfjen,  unb 
bi?  erfte  künftige  Gelegenheit  ju  ergreifen,  ben  blutigen  wagnifj* 
rollen  Äampf  für  beibeö  ju  beginnen,"  fo  war  er  ber  lebhaften 
©eiftimmung  unb  Unterftüjjung  ber  Äönigin  fidler. 

3unä<hft  freilich  brangten  anbere  ©orgen,  Sorgen  ber  pein» 
lidbftm  3frt.  3n  ber  fdjon  erwähnten  Gonoention  oorn  12.  3uli 
irar  oon  ben  granjofen  bie  attraälige  Räumung  ber  bem  Äonige 
nirüdgugebenben  Sänber  abhängig  gemadjt  non  ber  3ahluitg  »ber 
Sidyerftellung  ber  ÄriegSc ontribution , beren  «fwhe  noch  ju  be* 
rechnen  war.  ©eneral  ©aru  in  Berlin,  mit  ber  SfuffteOung  ber 
gorberungen  betraut,  würbe  au?brücfli<h  angewiejen,  fie  fo  hoch 
rrie  mcglid)  ju  fpannen.  SOiit  „blutfaugerifcher  SKeifterfdjaft" 
rolljog  er  ben  Auftrag,  währenb  bie  frangefifdjen  Armeen  in  uner» 
bcrter  Seife  ben  Unterthanen  ihre  lejjte  £>abe  abprefeten,  bie  Gom* 
manbanten  mit  au?gcfuchter  Snfoleng  auftraten  unb  ait?  ben  fönig» 
liehen  ©chlöffern  Äunftwerfe  unb  Äoftbarfeiten  aller  3lrt  al? 
3?euteftücfe  nadh  ?)arig  fchafften.  Gnblidj  im  Dctober  würben  bie 
gorberungen  auf  154  Millionen  granc?  ftrirt,  für  welche  als  Unter» 
pfanb  bie  fünf  beften  geftungen  be?  Sanbe?,  auf  ©reufjen?  Äoften 
mit  40,000  SDRanit  feinblidier  Gruppen  befetjt,  oerlangt  würben. 
Selbft  ©tein  würbe  9lngeficf?tö  ber  mafflofen  ^nforberungen  be? 
Sieger?,  wie  bie  Königin  fagt,  „jutn  elften  5Jtale  wie  3U  ©tein." 
„So  ift  unfere  fürchterliche  £age,  an  ber  h>ev  alle?  barnieber 
liegt.  Sludf  mid)  nerläfjt  nun  halb  alle  .traft.  G?  ift  furdht» 
bar,  entfefclich  hart,  — befonber?  ba  e?  unoerbient  ift!  SOJeine 
Bufunft  ift  bie  aOertrübfte!  Senn  wir  nur  ©erlin  behalten; 
aber  manchmal  prefjt  mein  ahnungsDolIe?  $erg  ber  ©ebanfe,  bafj 
er  e?  un?  auch  noch  entreißt  unb  ju  ber  -fpauptftabt  eine?  anbern 

<’»> 


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38 


ÄönigreicfeS  macfet.  Sann  bube  ich  nur  einen  SBunföb,  — auS* 
guwanbem,  »eit  »eg,  als  ^rioatleute  gu  leben  unb  gu  »ergeffen  — 
»o  möglich!  31  cb  @ott,  wofein  ift  eS  mit  ^reufeen  gefommen! 

SSerlaffen  au8  ©efewaefefeeit,  — »erfolgt  auS  Uebermutfe,  — ge* 
fdfewäcfet  burefe  Unglücf  — fo  muffen  wir  untergeben!"  — Sßenn 
eS  nocfe  eine  Rettung  gibt,  fo  hofft  bie  Königin  fie  nur  con 
©tein.  „Qiottlob,  bafe  ©tein  fei  er!  Sag  ift  ein  Beweis,  bafe  ©ott 
un8  noch  nicht  gang  »erlaffen  bot.“  Unb  ein  paar  SBocfecn  fpäter 
(29.  Dctober  1807),  als  »on  Napoleons  33e»oHmäcfetigten  au8 
93etlin  »on  9tcuem  nieberfefemettembe  sJlacfericfeten  famen,  »ar  e8 
ifer  ein  SLroft,  gegen  ben  mitfüblenben  Staatsmann  ibrett  ©dbmerg 
auSgufpredfeen,  feinen  Augen  fRatfe  gu  bören.  ,,©ott,  wo  finb  wir," 
fcfelofe  fie  bie  (Sinlabung  an  ibn,  „wobin  ift  e8  gefommen!  Unfer 
SobeSurtfeeil  ift  gefprodjen!" 

68  würbe  befcbloffen,  mit  Unterftüfeung  fRufelanbS  eine  (Sin* 
wirfung  auf  Napoleon  gu  »erfudfeen.  Sie  Königin  überwanb  fiefe 
gu  einem  23riefe  an  ibn.  Sann  warb  ißring  SBilfeelm,  ber  33ru« 
ber  be8  Äönigg,  ttadb  $ariS  gejanbt,  mit  Aufträgen,  weldbe  ©tein 
rebigirte.  3lbet  fftapoleonS  triigerifefee  ^olitif  gog  bie  Unterbanblungcit 
bi8  gum  ©ommer  1808  in  bie  fiänge;  unb  bis  babin  blieben 
nicht  »iergig,  fonbent  nabegu  gweimalbunberttaufenb  grangofen  auf 
preufeifefeem  ©ebiet  unb  lebten  auf  beffen  Äoften. 

Sie  Königin,  weldbe  ihrer  üftieberfunft  entgegenfab  unb  in 
gjiemel  burdb  bie  falte  feuchte  ßuft  nicht  wenig  litt,  butte  gehofft, 
gegen  (Snbe  be8  SafereS  nach  Berlin  gurueffeferett  gu  fönnen;  fie 
mußte  froh  fein,  bafe  Napoleon  fi<h  enbUdb  bewogen  fanb,  Oft* 
preufeen  räumen  gu  Iaffen.  „Sie  Königin  fönne  alSbann,  liefe  er 
ihr  melben,  ifete  SBocfeen  in  .Königsberg  holten;  nach  ©erlitt  brauche 
fie  beefealb  gar  nicht  gu  geben,  baS  fei  nicht  nötbig."  „6r  ift 

(T6; 


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39 


rin  gewiffenlofer  Vöjewicßt,  — ein  nieberträchtiger  'JRenfcß, " — 
fegt  Me  ©täfln  Voß  ^ingu. 

üiicßt  oßne  beit  Ölusbrucf  innigen  Sanfeb  für  bie  gaßlrei» 
(feen  uitb  rüßrenben  Veweije  oon  Siebe  unb  Slnßänglicßfeit,  welche 
beni  jtenigepaate  oon  ben  Vewoßnem  fDlemelb  wäßrenb  bet  brang« 
tollen  Seit  gegeben  worben,  fiebelten  §of  unb  Veßörben  am  15. 
unb  16.  3anuar  1808  naeß  Äönigeberg  übet.  Sab  große  Glenb, 
bai  hier  bet  ^trieg  unb  bie  feittblidje  ßccupation  ergeugt  Ratten, 
binberten  nicht  einen  ßerglicßen  unb  feftlicßen  Smpfaug.  Sie 
Äettigin  erhielt  oon  bet  25ürgerfd)aft  eine  Chaise  longue  oon 
grünem  ©ammet  gum  ©efeßenf.  33iergeßn  Jage  f pater  wutbe  bie 
$ringeffin  Suife  geboren.  Snbem  ber  Äönig  bie  Stäube  oon 
Cftpreußen  gu  fßatijen  nahm,  geigte  er  oon  Steuern,  baß  eb  fei» 
nem  bergen  ein  Sebürfniß  war,  bah  fßanb  gwijcßen  feinem  $aufe 
unb  feinem  Volfe  immer  enger  gu  htüpfen.  Unb  wenn  je,  fo  ift 
biejeb  Vanb  in  ben  Jagen  gemetnfamer  Vebrängniß  gefeftigt 
worben,  alb  griebrieß  SBilßeim  unb  Suife  bem  gangen  Volle  wie 
in  ©tanbßaftigfeit,  (Srgebenßeit  unb  Seelengröße,  fo  in  Sinberung 
frembet  9totß  unb  frei  gewählter  ©ntbeßrung  ooraitleucßteten. 

Smgrüßlinge  fiebelte  bie  föniglicße  gamilie  aub  bem  Schlöffe 
nach  bem  £tpperjcßen  ©arten  (bie  $ufen)  oor  bem  Steinbanimer 
2ßore  über  unb  lebte  hi«  in  ähnlicher  SSeife  eingefeßränft  wie  in 
üRemel.  Sie  Königin  lab  oiel  unb  gab  fieß  mit  Vorliebe  bem 
Stubium  ber  oaterlänbifcßen  ©efdßicßte  ßin.  „3<ß  lefe  fleißig  bie 
©efeßießte  unb  lebe  in  ber  Vergangenheit,  weil  bie  Sufunft  nießt 
wehr  für  mieß  ift."  £alte  Suife  in  bem  länblicßen  Stillleben  ßcß 
etwa  gang  auf  fteß  felbft  gurürfgegogett,  unberührt  oon  berSlußen* 
weit  unb  beren  Srangfalen?  6b  fonnte  jo  feßeinen.  r,3(ß  habe 
gute  Vücßer,  ein  guteb  ©ewiffen,  ein  guteb  gortepiano  unb  fo 

an 


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40 


fann  man  unter  ben  ©türmen  ber  2Belt  ruhiger  leben,  al§  bie= 
jenigen,  bie  biefe  ©türme  erregen." 

S3alb  genug  aber  füllte  aud)  bie  Königin  non  ben  großen 
SBeltereigniffen  in  SSnfpntdj  genommen  werben.  Napoleon  batte 
mit  unerhörter  Sift  unb  Sücfc  bie  33ourbonen  in  ©panien  ent= 
thront,  um  feinen  23ntber  gutn  Könige  gu  erheben.  Suife  empfanb 
lebhaft,  mag  ba8  freoelljafte  ©piel  in  fölabrib  unb  iöatjonne  für 
anberc  oon  9iapoIeonö  ©naben  abhängige  £öfe  bebeute:  „5öaö 
fagen  ©ie  gu  ben  9tadjrid)tcn  auö  ©panien?"  fdjreibt  fie  ber  »er* 
trauten  grau  oon  SSerg.  ,,©inb  fie  nid^t  ein  neuer  Singergeig 
ber  eifernen  $anb,  bie  fdjwer  auf  ber  gebeugten  ©tim  (Europas 
ruht?  (Sin  wamenber  gingergeig  nicht  aud)  für  unS?  — 9)iiffen 
im  grieben  feinen  erften  33unbe8genoffen  entfernen!  ©ie  ©aat 
ber  Bnnctradjt  gu  fäen  gwifd)en  Später  unb  ©ol)n!  3)en  Snfanten 
oom  SBaterhergen  gu  reifjen,  ihn  auS  bem  33aterl)aufe,  auö  bem 
Söatcrlanbe  311  oerjagen!  — 3Ba6  l>aben  mir,  mir  in  unferer  Sage 
gu  erwarten ?"  — (Sine  nod)  höhere  Sebcutung  foflte  für  ^teuften 
gemimten,  mag  in  ©panien  auf  bie  (Entthronung  ber  SBourbonen 
folgte.  Sene  oielbewunberte  (Erhebung  beS  fpanijchen  SBolfß  gegen 
bie  9tapoleonijd)e  grembherrfd)aft,  fonnte  fte  nicht  aud)  attberSmo, 
nicht  in  ^reufjen,  in  gang  sJlerbbeutfd)Ianb  ben  ©ebanfen  ttatio» 
naler  ©elbftl)ülfe  entgünben?  (Snglaub,  beffen  Gruppen  fd)on  auf 
ber  pt)rennäifd)en  ^»albinjel  gegen  biegrangofen  fod)tcn,  fonnte  eß 
an  ©elbhülfe  nicht  fehlen  laffen.  Deftreid)  rüftete  in  aQer  ©title 
mit  größtem  (Eifer,  ißreufjen  fonnte,  ©anf  ber  Shätigfeit  beS 
ÄönigS  unb  feiner  unoergleid)lichen  Mitarbeiter,  eine  mohlgerüftete 
Slrmee  oon  50,000  SRann  fteflen,  unb  Napoleon  muffte  ben  gröjj» 
ten  2t)eil  feiner  Struppen  au§  ©eutfdjlanb  giehen,  um  bie  5nfur> 
rection  in  ©panien  gu  bewältigen.  Söie  wenn  bann  ijSreufjen  im 
5lnfchlufs  an  Ceftrcid)  ben  lebten  entfdjeibenben  .Kampf  begann 

(7S) 


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41 


unb  feie  Hefe  (Erbitterung,  bie  in  gang  5Rorbbeutfd>Ianfc  gegen  bie 
Sebränger  tjenrjc^te,  benähte  gut  Rettung  beS  23aterlanbc8?  23ar 
bieje  entfdjloffene  unb  fübne  ißolitif  nic^t  ber  unwürbigen  Slbl)än* 
gigfeit  vergugieben,  bie  Napoleon  gu  cerewigen  trachtete?  (Sben 
nabmen  bie  3Sctf)anblungeti  in  ißariö  übet  bie  Räumung  beS  preu* 
§ijd)en  ©ebietS  bie  bebenflidjfte  SSenbuitg.  2)er  ©intritt  in  ben 
jRbeinbunb  tcurbe  geforbert.  SBenigftenS  »eilte  9lapoIeon,  etje  er 
nad  Spanien  aufbrädje,  fid)  ber  Sotmäfeigfeit  $reu§enS  irnbe* 
bingt  vetfid)em;  in  biefem  Sinne  feilte  enblidj  ber  Vertrag  abge* 
fdlcffen  werben,  über  ben  ißring  SSilbelm  unterbanbeltc. 

Schroffer  alö  je  ftanben  fid)  jef)t  in  Königsberg  bie  fDlänner 
ren  feuriger  ©efinnung  unb  entfdjloffener  2 bat,  bie  Stein,  Sd)arn= 
borft  unb  ©neifenau,  unb  bie  Anhänger  einer  fraitgofenfreunblichen 
f'ditif,  bie  2lcngftlid)en , ©runbfafclofen  unb  geigen,  gegenüber. 
2>er  König  fdbwanfte  unb  erwartete,  el)e  et  ben  Verantwortung^* 
peilen  ©ntfchlufj  fafete,  ber  gu  £Deutfd)lanbS  ^Befreiung  unb  gu 
freujjenS  jBemidjtung  führen  fonnte,  bie  Ülnfunft  beö  ruffifdbeit 
Kaiferö,  ba  er  ohne  bie  Seiftim mung  SiufelanbS  ©rfolge  für 
unmöglich  hi*K-  Sflejranbet  fam  auf  ber  2>urchreife  nad)  ©rfurt 
ÜJiitte  Septembers  in  Königsberg  an.  S ergebend  waren  alle  Se* 
müljungen  Stcin’S,  ihm  bie  ©efabren  feiner  granfreid)  freunbli* 
«ben  ^Sclrtit  bargulegen.  ^Dagegen  oerfpracb  SHejranber,  bei  Diapo» 
leon  in  Grrfurt  für  üßreufcen  gu  tbun,  was  er  fönne,  unb  König 
unb  Königin  hofften  jefjt  alles  oon  ihm.14) 

Sngwifdjen  erfdjien  plöfjlid)  in  ben  öffentlichen  Slättem  ein 
von  ben  frangöfifdjen  SBehörben  aufgefangeuer  Srief  beS  greil)erm 
Pen  Stein,  ber  in  unvorfidjtiger  SBeife  bie  geheimen  ©ebanfen 
beS  fühnen  Staatsmannes  enthüllte.  SteinS  Stellung  war  ge* 
färbet,  unb  wie  auf  einen  Söinf  arbeiteten  theüS  offen,  theilS 
im  ginftem,  in  Königsberg  wie  in  33  erlin  bie  gasreichen , ciel 

(79) 


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42 


oermogenben  geinbe  an  bem  ©turge  beß  9)iinifterß  unb  feitteß 
©pfternß.  Sludi  ber  Äöntg  glaubte  offne  ©efafyr  für  ben  <&taat 
©tein  nidft  länger  galten  gu  fönnen.  £)ber  foflte  er  etwa,  ber 
Stbmalfnungen  Stu&Ianbß  ungeachtet,  mit  Deftreidj  ftdf  rafch  tn 
ben  Äampf  gegen  ben  3wingt)errn  Suropaß  ftürgen?  3tber  auch 
Deftreid)  gögcrte.  SDa  ratifigirte  ber  Äönig,  ol)ne  ©teilt  gu  fra* 
gen,  ben  unfeligen.lßarifer  Vertrag,  ber  bem  Sanbe  unerfctfrcing« 
Itc^e  Dpfer  auferlegte,  baß  $eer  auf  42,000  SJiann  befdjräitfte 
unb  gur  ©telluitg  einer  £ülfßmacbt  in  granfreidjß  Äriegen  oer= 
pflidjtete.  ©tein  forberte  feine  (äntlaffung  unb  erhielt  fte,  wenn 
aud)  erft  nad)  98odfen,  unter  ben  Slußbrücfen  »armen  2)an!eß 
für  feine  unermeßlichen  Skrbienfte.  Napoleon  aber  fd)lcuberte 
gegen  ben  geftürgten  ©taatßmamt  oon  ©panien  auß  feneö  be> 
rüdjtigte  ©efret,  baß  einen  „gewiffen  ©tein,"  ber  in  ©eutfdj* 
lanb  Unruhen  gu  erregen  fudje,  alß  einen  geinb  granfreidjß  unb 
beb  5Rl)einbunbeß  in  bie  Siebt  erflärte,  feine  ©ixtet  confißcirte  unb 
it)n  felbft  an  jebem  Orte  gu  ergreifen  gebot,  ©er  ©eäcbtete 
ftüdftete  nad)  ©eftreid),  um  fpäter  nad)  SRufjIanb  gu  gefeit  unb 
an  beß  ÄaiferS  Slleranber  ©eite  baß  SBefte  gu  tljutt  für  ©eutjdflanbß 
unb  ©uropaß  ^Befreiung. 

9Baß  aber  bat  in  jenen  entfdjeibenben  Sagen,  als  eß  fidj  um 
ben  ©turg  beß  oon  it)r  fo  bod>gel)altenen  SSJünifterß  ober  um  tübne 
©ureffübrung  feines  ©pftemß  nach  außen  »ie  nach  innen  ban= 
beite,  bie  Königin  fiuife  getl)an.  ,,3d)  leibe,  fc^rieb  fte  am  8.  3uli 
1808  an  grau  oon  2terg,  id)  leibe  unfäglidj.  9lur  gu  oft  fallen 
SJonoürfe  gegen  mid)  — gegen  mich,  bie  xd),  wie  ber  Sttlas  bie 
SSelt,  eine  SBürbe  oon  ßeiOeu  trage.  SSaß  fann  id)  barauf  ant* 
»orten?  3dj  feufge  unb  oerfc^Iucfc  meine  Sfyränen." 

ÜJtit  ihrem  bergen,  wer  medjte  baran  gweifeln,  ftanb  Strife 
nach  wie  oor  auf  ber  ©eite  ber  entfdjloffeneu  Patrioten.  SBenn 

(SO) 


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43 


fte  gleidjwoljl  biefen  nicht  ©enüge  tljat,  melmebr  ©egnem  Stein’S 
il>r  Cb*  gu  leiden  fd^ien,  jo  gefcbab  eS  nur,  weil  fie  nicht  anberS 
fennte. IS)  Senn  wenn  Ptänner,  benen  fte  Vertrauen  jdjenfen 
burfte,  ihr  Stein  al§  einen  Verzweifelten  barftellten,  welcher  fid> 
mit  tem  Könige  auf  eine  Puloertonne  fejjett  wollte,  um  fidj  in 
bie  8uft  gu  fprengen,  wer  mag  bie  Königin  freiten,  baff  fte  für 
ben  ©crnabl,  für  bie  Ämter,  für  baS  SBolf  bangte? 

Pod?  in  einet  anberen  grage  fallen  ber  jdjeibenbe  Staatsmann 
tutb  feine  gteunbe  bie  Königin  nicht  nad)  ihrem  Sinne  fymbeln. 
2>er  Kaifer  Öllejranber  batte  baS  KönigSpaar  gu  einem  23e)ucbe 
nach  Petersburg  eingelaben;  Stein  rietl)  ab,  bie  Königin  erflärte 
fid?  bafür,  oielleicbt  in  ber  Hoffnung,  Stufflanb,  bie  Iefcte  Stü^e 
beä  gefäbrbeten  Staats,  um  fo  fefter  an  preuffen  gu  fniipfen, 
rietleicbt  auch  auS  Sorge  »or  ber  frangöfifcherfeits  geforberten  fRücf* 
Mjt  nach  Berlin,  wo  nach  bem  Urtljeile  SteinS,  welcher  oft 
genug  oor  bem  Sdjicffale  ber  fpattifchen  Sourbonett  gewarnt  batte, 
ber  König  fich  in  einer  Piaufefalle  befinbett  würbe,  auS  ber  ibn 
bie  ijrangofen  nidft  wieber  entrinnen  liefen.16) 

Segen  Gnbe  beS  Sabres  reiften  König  unb  Königin  nach 
Petersburg  ab.  Sem  t>erglic^en  Empfange  folgten  glängcttbe  gefte, 
bie  nach  einem  ungeheuren  Piaffftabe  angelegt  waren.  So  würben 
gu  einem  PRasfenball  nicht  weniger  als  16,000  Petfoneit  gelaben, 
unb  ein  anber  Pial  ftrablte  ein  Vallfaal  oou  20,000  Kergen  nebft 
6000  Sampen. 

CB  fiuife  an  all  bem  ©lange  Seljagen  gefunben?  Sie  fühlte 
ihr  $erg  mehr  gebrücft  als  gehoben,  unb  auch  bie  auS gefugten 
äufmerffamfeiten,  womit  bie  faiferliche  gamilie,  Stlepanber  ooran, 
bie  Königin  auSgeichnete,  fonnten  eine  gewiffe  SSebmutb  nie^t  oer= 
fdjeucben.  „3cb  bin  gefontmen,  wie  ich  gegängelt,"  fdjrieb  fie,  nadb 
fecbswöcbentlicber  iSbmejenbeit  in  Königsberg  wieber  angefommett, 

(*>) 


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44 


an  grau  non  Serg.  „9iidjtS  bienbet  rmd)  tnefyr,  unb  tdj  jage 
3I;nen  nodj  einmal:  mein  JRcidj  ift  nid^t  oon  biefer  58elt!"1T) 

Slnberer  unb  bocb  oerwanbter  §Irt  mögen  bie  Ginbrüdfe  ge* 
weien  jein,  bie  ber  König  auS  ber  rufftjdjen  £auptftabt  mitge* 
nommen. ,6)  ©er  9iatlj  beö  faijerlid)en  gTeunbeS,  burdj  rufyigeß 
Ertragen  beß  gegenwärtigen  ©ruefö  fidb  für  anbere  Seiten  aufgu* 
fparett  (wogegen  ?l!eranber  »erliefe,  im  geeigneten  3dtpunft  mit 
ibm  loSsttbredjcn),  batte  jeine  SBirfung  nid?t  perfekt.  @8  war 
erfolglos,  bafj  felbft  bie  nad)  Stein’S  Gntlajfung  neu  eintrefenben 
SETJinifter  rieten,  an  bern  halb  auSbredjenben  Kriege  DeftretdtS 
gegen  grattfreid)  fräftig  tfyeiljunefymen,  als  ben  einzigen  2Öeg,  fidj 
unb  jein  Solf  gu  retten.  SÄderbing®  war  bie  9leubtlbuitg  beS 
£eercS,  bie  Slnjdjaffung  non  Kriegsmaterial,  bie  üluSrüftung  ber 
geftungen  bis  gum  grüfyling  jo  weit  gebieten,  bafj  mit  23ettü$ung 
ber  über  jftorbbeutjdjlanb  oergweigten  geheimen  Serbinbuttgen  unb 
in  feftem  Sunbe  mit  ©eftreid)  ein  entjdjloffener  Kampf  nid)t  auS* 
fidjtSloS  erjd)icn.  ©er  König  aber  mißtraute,  wir  bürfen  jagen 
nidit  mit  Unredjt,  ber  oorbereiteten  SolfSerfyebung  wie  bett  öftrei» 
djifdjeit  Sßaffeit  unb  ber  öftreidjijdjen  'J'olitif.  Snbefj  tjielt  fid^ 
Sreufjen  bod>  in  KriegSbereitjdjaft,  bie  GontributionSgaljlungen  an 
granfreid)  würben  eingeftedt,  uitb  nur  eines  öftreicf)ijd)en  SiegeS 
jdjien  cS  31t  bebürfen,  um  IoSgubredjen.  GS  waren  Sage  ber  l fefy 
ften  Spannung,  ber  2lufftanb  in  Sirol,  bie  Grl)ebuttg  ©örnbergS 
in  Reffen  unb  gar  ber  9lbgug  SdjiHS  oon  Serlin  fyielt  alle 
©emütber  in  9ltf)em.  greilid)  rnufjtc  ber  König  baS  Sd}i(Tjd)e 
Unternehmen  oerwerfen  unb  ftrafen;  als  aber  bie  furd)tbare  Sdjladjt 
bei  2(Spern  ERapoleonS  SiegeSguge  Jpalt  gebot,  fdjien  für  ^reufjen 
ber  Gintritt  in  bie  SMction  gefontmen.  ©er  König  säuberte  nodj 
immer.  „GS  ift  neeft  Seit,  antwortete  er  bem  öftreidjijdten  Unter* 

tjdnbler,  oerfefcen  Sie  bem  geinbe  nodt  einen  Sdjlag  unb  wir  ftnb 

(8?) 


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45 


meint.“  Ser  Schlag  oon  SBagram  aber  ging  fehl,  ber  SBaffen« 
ftiflitanb  ton  3*tapm  würbe  gesoffen,  nur  bie  Sirolet  Jpelben 
ftritten  noch  in  ungleichem  Kampfe,  unb  enblidj  folgten  Stiebe  unb 
9?nnbni§  Ceftreicbö  mit  Napoleon. 

Sa§  2uife  mit  ängftlidjer  Spannung  ben  Vorgängen  im  Selbe, 
bem  Kriege  Deftrei<h8,  ber  cerwegenen  Sljat  SdjillS  unb  bem 
traurigen  Schicffale  feiner  ^elbenfdjaar  folgte,  bürfen  mir  nid)t 
bezweifeln;  ebenfo  wenig,  bafs  fie  ^reujjenö  ©intritt  in  bie  SSftion 
herzlich  gewünfdjt  hätte;  ob  fie  aber  nach  bem  mit  Napoleon  ge» 
fdloffenen  Vertrage,  nach  ben  öejiehungen  ju  tKufjlanb  unb  uad) 
ber  ganzen  Sage  be8  Staate  ben  SBefdjlujj  beö  Äriegeß  befürworten 
fcnnte,  wiffett  wir  nicht.  9tur  Wa8  fie  gelitten,  nicht  wa3  fie  ge= 
iban,  hat  bie  Äönigtn  felbft  berichtet.  „Sch  habe  heule  mieber," 
jcfcrieb  fte  am  12.  9Kärj  1809,  3Wei  Sage  nach  ihtem  32.  @e= 
fcurtetage,  „einen  Sag  erlebt,  einen  Sag,  wo  bie  SBelt  mit  allen 
ihren  Sünbett  auf  mir  liegt.  Sch  bin  franf,  unb  ich  glaube,  fo 
lange  bie  Sachen  fo  gehen,  werbe  ich  aud)  nidjt  wieber  genefen." 
Sie  fpricht  bann  bie  2?eforgnifj  au8,  ba§  in  bem  letorftehenben 
Äriege  SHufdanb  burdj  feine  neue  23erbinbung  mit  Napoleon  am 
©nbe  genöthigt  fein  möchte,  mit  Sranfreidj  gegen  Deftreicf)  1 08311= 
plagen,  wa8  ferner  zur  Solge  haben  föitnte,  bah  auch  ^reufjen 
mit  ju  biefer  Partei  übergehen  müffe.  „s))reuf;en  gegen  Dcftreid)! 
33a§  foQ  au8  Seuifdjlanb  werben?  SRein,  ich  fann  e8  nicht  au$* 
fprechen,  wa8  id)  fühle;  bie  SBruft  möchte  e§  mit  jerfprengen! 
Unb  wir  hier  in  biefer  SSerbannung,  in  biefent  Älima,  wo  alle 
Stürme  wüthen,  entfernt  non  allem  .fjeinufdien.  0 ©ott,  ift  c8 
ber  Prüfungen  noch  nicht  genug?  — 9)iein  ©eburtötag,  fährt  fie 
fort,  war  ein  Sdjrecfenötag  für  mich ! Slbcnbö  ein  grefeeö,  glan^ 
eollcö  Seft,  ba8  bie  Stabt  mir  $u  @hren  gab,  oorljer  ein  reichet, 
frohe8  Sltahl  int  Sdjloffe,  — nein,  wie  mich  ba§  traurig  gemacht 

(»3) 


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46 


l)at!  2 5aß  £>cr;5  war  mir  ^erfleift^t  — id;  Ijabe  gelangt,  id)  Ijabe 
getackelt,  id)  fyabe  beit  geftgcbern  Ängeneljmeß  gejagt,  id)  bin 
freunblidj  gewefen  gegen  alle  2Belt,  unb  id)  wu§te  »or  Un« 
g l ii cf  nidjt  wol)in!  — Söem  wirb  ^reufcen  überß  3>al)r  ge= 
l)ören ? Sßofyin  werben  wir  alle  jerftreut  fein?  ©ott,  allmächtiger 
23 ater,  erbarme  Didj!" 

3um  Slnfdjluffe  preu§ifd)er  Gruppen  an  bie  frangöfifchen,  waß 
Surfe  am  meiften  fürchtete , fam  eß  jWar  nid)t.  Stber  ber  ©ang 
beß  Äriegeß  bereitete  il;r  ©djmerg  unb  Slngft  genug.  ,,9ld)  ©ott, 
eß  ift  Biel  über  mid)  ergangen,  Du  hüfft  allein  — id)  glaube  an 
feine  Bufunft  auf  Grben  mel)r.  ©ott  weiß,  wo  id)  begraben 
werbe,  fdjwerlid)  auf  preufjifdjer  ©rbe.  Deftreid)  fingt  fein  ©djwa* 
nenlieb,  unb  bamt  9lbe,  ©ermania!" 

Um  biefelbe  Bett,  im  ©ommer  beß  3al)reß  1809,  richtete  fte 
an  ben  geliebten  93ater  einen  23rief , ber  in  fo  Ijerrlidjer  Sßeife 
bie  #oljeit  il)reß  ©eifteß  unb  bie  Bnnigfeit  iljreß  @emütf)eö  ent* 
hüllt,  ba§  er  l)ier  bem  2BortIaut  nadj  eine  ©teile  oerbieut. 

3n  ber  erften  Jpälfte  beß  umfaffenben  Sriefeß  legt  fte  ihre 
©ebanfen  über  bie  gegenwärtige  Sage  ber  Söelt  unb  bie  3ufurtf< 
bar.  9tidjt  für  fid),  aber  für  baß  nadjfolgenbe  ©ejd)led)t  erhofft 
fte  beffere  Buftanbe.  Denn  ohne  bie  hiftorifdje  53ered)tigung  ber 
frangofifdjen  ffteoolution  unb  beß  Ulapoleonißmuß  3U  rerfennen, 
fiefyt  fte  bod)  ben  einftigen  ©turj  ber  neuen  Orbmutg  ber  Dinge, 
bie  bet  Bwingberr  ©uropaß  fo  feft  gegriinbet  gu  ^aben  wähnt, 
Borauß.  ©ie  ftel)t  feft  in  bem  ©lauben  an  eine  fittlidje  SSelt* 
orbnung  unb  ben  enblidjen  ©ieg  beß  ©uten. 

„9Jlit  unß  ift  eß  auß,  wenn  aud)  nid)t  für  immer,  bo d)  für 
jefct.  gür  mein  Seben  ^offe  idj  nidjtß  mehr.  Sdj  l?abe  midi  er* 
geben,  unb  in  biefer  ©rgebung,  in  biefet  Rügung  beß  ^jimmelß, 

(M) 


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47 


bin  id>  jefct  ru^tg  unb  in  folget  5Rube , wenn  audb  nidbt  irbifdb 
gludflidj,  bodi,  wa8  mehr  jagen  will,  geiftig  glücffelig.  @8  wirb 
mir  immer  Kater,  ba§  9Ule8  fo  fommen  mufjte,  wie  e8  gefommen 
ift  Die  göttliche  Sßorjebung  leitet  unoerfennbar  neue  SBeltguftänbe 
ein,  unb  e8  joü  eine  anbere  Drbnung  ber  Dinge  werben,  ba  bie 
alte  fidb  überlebt  t)at  unb  in  fidb  felbft  al8  abgeftorben  gufammen* 
ftörgt.  SBir  finb  eingefdblafen  auf  ben  ßorbeern  grie» 
bridjg  be8  ©t  offen,  welker  bergen  feineg 3af>rfyunbett8,  eine 
neue  3«t  fcbuf.  SBir  finb  mit  berfelben  nidbt  fortgejdbritten,  be§* 
halb  überflügelt  fie  un8.  Da8  fiebt  fftiemanb  flater  ein,  a!8  ber 
fönig.  5Roc^  eben  fyatte  ict)  mit  il)m  barüber  eine  lange  Unter» 
rebung,  unb  er  fagte  in  fidb  geteert  wieberbolentlicb : ba8  muff  audj 
bei  un8  anberg  werben.  2(ucf)  bag  SBefte  unb  Ueberlegteftc  mi§= 
Iingt,  unb  bet  frangßfijtbe  Äaifer  ift  wenigftenS  flauer  unb  lifti» 
ger.  SBenn  bie  Stoffen  unb  bie  ißreuffen  tapfer  wie  bie  86wen 
gefönten  Ratten,  mußten  wir,  wenn  auch  nidbt  befiegt,  borf)  ba8 
gelb  räumen,  unb  bet  geinb  blieb  im  93ortl)eil.  SBon  i^m  fönnen 
wir  SBieleö  lernen,  unb  e8  wirb  nidbt  oerloren  fein,  wag  er  getban 
unb  au8gerid)tet  bat.  @8  wäre  ßäfterung,  gu  fagen,  ©oft  fei  mit 
ibm;  aber  offenbar  ift  er  ein  SB  erzeug  in  be8  allmächtigen  £anb, 
um  ba8  SSlte,  weldbeg  fein  geben  mehr  bat,  bag  aber  mit  ben 
8u|enbingen  feft  oerwadbfen  ift,  gu  begraben. 

©ewifc  wirb  e8  beffer  werben:  bag  oerbürgt  ber  ©laute  an 
bag  ooDfommenfte  SBefen.  aber  eg  fann  nur  gut  werben  in  ber 
Seit  burdb  bie  ©uten.  Deshalb  glaube  idb  audf  nidbt,  baff  ber 
Äaifer  Napoleon  S?onaparte  feft  unb  fidbet  auf  feinem,  freilidb 
ietjt  glängenben  tyxon  ift.  geft  unb  rubig  ift  nur  allein  SBabr* 
beit  unb  ©eredbtigfeit,  unb  er  ift  nur  politifdf,  bag  beifft  flug, 
unb  et  ridbtet  fid>  nidbt  nadb  ewigen  ©efefcen,  fonbem  nach  Um» 
ftänben,  wie  fte  nun  eben  finb.  Dabei  beflecft  er  feine  Regierung 

(85) 


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48 


mit  melen  Ungeredjtigfeiten.  (Sr  meint  ed  nicht  reblich  mit  ber 
guten  Sache  unb  mit  beit  99tenfd}en.  Gr  uitb  fein  ungemeffettet 
Gbrgei,$  meint  nur  fich  felbft  utib  fein  petfönlicbed  3ntereffe.  fBton 
mu§  if)n  mehr  bewunbern,  ald  man  iljn  lieben  fann.  Gr  ift  oou 
feinem  ©lüd  geblenbet,  unb  et  meint  2llled  $u  »ermogen.  Dabei 
ift  er  ohne  alle  9Dläfjigung,  unb  »er  nicht  5)?afj  holten  fann,  oer* 
liert  bad  ©leicfjgemicbt  unb  fällt.  3dj  glaube  feft  an  ©ott,  alfo 
aud)  an  eine  fittlid)e  SBeltorbnung.  Diefe  fet>e  ich  in  ber  £err* 
fchaft  ber  ©ewalt  nicht;  besljalb  bin  ich  ber  Hoffnung,  bafj  auf 
bie  fetjige  böfe  3eit  eine  beffere  folgen  wirb.  Diefe  hoffen,  »ün* 
fc^en  unb  erwarten  alle  befferit  fDtenfchen,  unb  burdj  bie  Sobrebner 
ber  jefjigcn  unb  iljred  grojjett  gelben  barf  man  fid)  nicht  irre 
machen  laffen.  ©anj  unoerfennbar  ift  Üllled,  wad  gefchehen  ift 
unb  gefdjieht,  nicht  bad  Sefjte  unb  ©ute,  wie  ed  werben  unb  blei* 
ben  fod,  fonbern  nur  bie  Bahnung  bed  SScged  ju  einem  beffem 
3iele  hin.  Diefed  Biel  fdjeint  aber  in  weiter  Gntfemung  $u  lie* 
gen,  wir  werben  ed  wahrscheinlich  nicht  erreicht  fehen  unb  bantber 
hinfterben.  3öie  ©ott  will;  'Med,  wie  er  will.  Met  ich  pnbe 
STroft , Ära  ft  unb  93iuth  unb  £eiterfeit  in  biefet  Hoffnung,  bie 
tief  in  meiner  Seele  liegt.  3ft  bodj  Med  in  ber  Söelt  nur  lieber* 
gang!  Doch  n>ir  müffen  burd).  Sorgen  wir  nur  bafiir,  baß  wir 
mit  jebem  Jage  reifer  unb  beffer  werben. 

#ier  lieber  5Öater!  haben  Sie  mein  politifcbed  ©laubendbe* 
fenntnif?,  fo  gut  ich  old  eine  grau  cd  formen  unb  jufammenfe^en 
fann.  ÜJtag  ed  feine  Süden  hoben,  ich  hefinbe  mich  wohl  babei; 
entfchulbigen  Sie  aber,  ba§  ich  ©ie  bamit  behellige,  Sie  feben 
wenigftend  baraud,  bafj  Sie  auch  im  Unglüd  eine  fromme  unb 
ergebene  Jochtet  hoben,  unb  bafj  bie  ©runbfätje  chriftlicber  ©otted* 
furcht,  bie  ich  3h«n  Belehrungen  unb  3hrem  frommen  Beifpiele 

(S«) 


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49 


wrbanfe,  ifere  griicfete  getragen  feaben  unb  tragen  werben,  fe  lange 
Cbera  in  mir  ift." 

£er  j weite  2feeil  teS  frönen  SriefeS  eröffnet  un8  einen  feerg* 
erbebenden  ©lief  in  ba8  etjelic^e  unb  bäuSlid^e  ©lücf  bet  .Königin. 

„@em  werben  Sie,  lieber  ©ater,  feören,  bafe  baS  Unglücf 
ireldje»  unS  getroffen,  in  unfer  efeelidfeeS  unb  feäuSlidfeeS  ßeben  nicht 
eingebrungen  ift,  oielmefer  baffelbe  befeftigt  unb  un8  noch  wertbet 
gemalt  bat.  2) er  König,  ber  befte  SfJienfcb,  ift  gütiger  unb  liebe* 
roQer,  al8  je.  Oft  glaube  idb  in  il)tn  ben  Siebfeaber,  ben  ©rau* 
tigam  gu  felgen.  fUtefer  in  $anblungen,  wie  er  ift,  al8  in  ©Sorten, 
erjefee  i dfe  bie  Stufmerffamfeit,  bie  er  in  allen  Stüdfen  für  miefe 
bat,  unb  nodfe  geftevn  jagte  er  fcfelicfet  unb  einfach,  mit  feinen 
treuen  äugen  midj  anjefeenb,  gu  mir:  „2>u,  liebe  Suife!  bift  mir  im 
Unglficf  noA  werter  unb  lieber  geworben.  9tun  weife  idb  auS  6t* 
fabrung,  wa8  idb  an  habe.  ?0iag  e8  braufeen  ftürmeit  — 
trenn  e8  in  unjerer  6fee  nur  gut  SBetter  ift  unb  bleibt.  2öeil  idb 
S>iffe  jo  lieb  b aBe,  feabe  iefe  unfer  füttgft  geborenes  Swcfetercfeen 
Surfe  genannt.  ÜJiöge  e8  eine  Suite  werben."  — ©iS  gu  Iferänen 
rübrte  mich  biefe  @üte.  @8  ift  mein  Stolg,  meine  yreube  unb 
mein  ©lücf,  bie  Siebe  unb  3ufriebenfeeit  be8  beften  SDianneS  gu 
befifeen,  unb  weil  icb  ib«  Don  bergen  wiebet  liebe,  uub  wir  fo  mit 
einanber  GinS  finb,  bafe  bet  SBiüe  be8  ©inen  auefe  ber  SßiUe  be8 
9nbem  ift,  wirb  e8  mir  leidbt,  bie8  glücflicfee  ©inoerftänbnife, 
twIcfeeS  mit  ben  Saferen  inniger  geworben  ift,  gu  erfealten.  9)tit 
einem  SBorte,  er  gefällt  mir  in  allen  Stüdfen  unb  iefe  gefalle  ifem, 
unb  unS  ift  am  wofelften,  wenn  wir  gufammen  finb.  ©ergeifeen 
Sie,  lieber  ©ater,  bafe  idfe  bieS  mit  einet  gewiffen  ©ufemrebigfeit 
jage;  eS  liegt  barin  ber  funftlofe  ISuSbrurf  meines  ©lütfeS,  wel* 
4eS  Keinem  auf  ber  SBelt  wärmer  am  bergen  liegt,  als  3fenen, 
befter,  gartlicfeer  ©ater!  ©egen  anbere  ÜJlenfcfeen,  auefe  baS  feabe 

XL  iU.  243.  4 (S7) 


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\ä)  »on  bem  Äönig  gelernt,  mag  ich  baron  nicht  fprechen; 
e§  ift  genug,  bafj  mir  eS  wiffen." 

„Unjere  Äinber  finb  unfere  ©cbätje,  unb  unfere  Slugen  ritten 
roll  3ufriebenheit  unb  Hoffnung  auf  ihnen.  Der  Äronpring  ift 
toller  Beben  unb  ©eift.  @r  l)at  »orgiigliche  Talente,  bie  glüdlidj 
entwicfelt  unb  gebilbet  werben.  6r  ift  wahr  in  allen  feinen  ©m* 
pfinbungen  mtb  SBorten,  unb  feine  ßebhaftigfeü  macht  Bestellung 
uit möglich.  ®r  lernt  mit  »orgüglidjem  ©rfolge  ©efchichte,  unb  ba8 
©rofje  unb  ©ute  gieht  feinen  ibealifdjen  Sinn  an  fidj.  ^ur  ba§ 
SBifcige  bat  er  fiel  ©mpfänglichfeit , unb  feine  fomifdjen,  über* 
rafdjenben  ©infälle  unterhalten  unö  febr  angenehm.  @r  hängt 
»orgüglich  an  ber  ÜJtutter,  unb  er  fann  nicht  reiner  fein,  als  er 
ift.  3dj  habe  ihn  fehr  lieb  unb  fpredjc  oft  mit  ihm  baron,  wie 
eö  fein  wirb,  wenn  er  einmal  Äönig  ift."  — SBer  ben  reich  begabten, 
fein  gebilbeten  unb  wunberbar  berebten  Äönig  f$riebrid)  SBÜhelm  IV 
fennt,  wirb  bie  ©harafteriftif,  bie  hier  bie  Btutter  ton  ihm  ent* 
werfen,  butdjauS  treffenb  finben.  Sin  ©eift,  SBifc  unb  ©emiith 
hat  eS  bem  Könige  wahrlich  nit^t  gefehlt,  unb  wie  fehr  er  auch  für 
bie  grofjen  politifdjen  ©ebanfen,  bie  ßuife  in  ihm  angeregt,  em* 
pfänglich  gewefen,  h<U  n felbft  mit  ben  SBorten  auögefprochen: 
„Die  ©inheit  Deutfd)lanb8  liegt  mir  am  £ergen,  fie 
ift  ein  ©rbtljeil  meiner  SJtutter. " ©leichwohl  aber  war 
nicht  bie  reich  begabte,  aber  weiche  Statur  $riebridj6  SBilhelm  IV. 
berufen,  bie  ©inheit  unb  ©röfje  DeutfdjlanbS  gu  begrfmben;  eS 
beburfte  bagu,  abgefehen  oon  ber  ©rfüöung  ber  ßeiten  unb  ber 
Beihilfe  ber  rechten  SJtänner,  einer  ungewöhnlich  männlichen  unb 
entfchloffenen  Ära  ft,  wie  fte  bem  gweiten  ©ohn  Buifen’8  imte* 
wohnte.  Bon  ihm  Reifet  e3  in  bem  »orbin  angegogenen  Briefe: 
„Unfer  ©ohn  SBilhelm  wirb,  wenn  mich  nicht  Sdleö  trügt, 

wie  fein  Bater,  einfach,  bieber  unb  oerftänbig.  Slud}  in  feinem 
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51 


äcu|eien  hat  ct  bie  meifte  9let)nlid)feit  mit  ihm,  nur  n?irb  er, 
glaube  ich,  nicht  fo  fchön.  ©ie  fetjen , lieber  Vater,  ich  bin  noch 
in  meinen  SJlann  cerliebt." 

$rinj  SEBilhelm  jaulte  bamal#  erft  1 1 Safyrc.  £Die  ©runb^üge 
feine#  SBefen#  hatte  ba#  Sluge  ber  SJtutter  richtig  erfannt,  »eiche 
jeltenen  unb  eblen  Äräfte  aber  fonft  noch  in  ihm  fd)lummerten, 
unb  burch  bie  Seit  unb  ihre  großen  Grcigniffe  jut  Steife  gelangen 
feilten,  cermodjte  fie  nicht  corauöjuje^en.  — „Unfere  Jochter  Gljar* 
lette  (jpäter  Äaiferin  oon  SRufjlaub)  macht  mir  immer  mehr  gteube; 
fie  ift  j»ar  cerfchloffen  unb  in  fi<h  gefeiert,  cerbirgt  aber,  wie  ifyr 
Vater,  hinter  einer  fcheinbar  falten  $ülle  ein  »arme#  t^etlne^ 
mente#  £er$.  ©(heinbar  gleichgültig  geht  fie  einher,  hat  aber  ciel 
Siebe  unb  Sheilnahme.  SDahcr  fommt  e#,  bafj  fie  etwa#  Vor* 
nehme#  in  ihrem  äöefen  h«t-  (Srt>ält  fie  ©ott  am  Seben,  fo  ahne 
ich  füt  fie  eine  glän^enbe  Sufunft.  Garl  ift  gutmüthig,  fröhlich, 
Bieber  unb  talentcoll,  förderlich  enttoicfelt  er  fich  eben  fo  gut,  al# 
geiftig.  Gr  hat  oft  naice  Ginfälle,  bie  un#  gum  Sachen  reifen. 
Gr  ift  heiter  unb  toifjig.  ©ein  unaufhörliche#  fragen  fefjt  mich 
oft  in  Verlegenheit,  »eil  ich  e#  nicht  beantworten  fann  unb  barf; 
hoch  geigt  e#  SBifcbegierbe  — autoeilen,  toenn  er  fehlem  lächelt,  auch 
con  Steugierbe.  Gr  wirb,  ohne  bie  ütheilnahme  an  bem  SBoljl 
unb  SBehe  Unberer  gu  cetlieren,  leicht  unb  fröhlich  burch’#  Sehen 
gehen.  Unfere  $£o<hter  Sllejranbrine  ift,  toie  SJtäbchen  ihre#  Sllter# 
unb  StatureH#  finb , anfehmiegenb  unb  finblich-  ©ie  geigt  eine 
tintige  2(uffaffung#gabe,  eine  lebhafte  Ginbilbungöfraft  unb  fann 
oft  herzlich  lachen,  ffür  ba#  Äomifche  hat  fie  ciel  Sinn  unb  Gnt= 
dfänglichfeit.  ©ie  hat  Anlage  gum  ©atirifchen  unb  fief)t  habet 
tmfthaft  au#,  hoch  fdjabet  ba#  ihrer  ©emüthlichfeit  nicht.  Von 
bet  fleinen  ßuife  läfjt  fich  noch  nicht#  fagen.  ©ie  hat  ba#  Vrofil 
%e#  reblichen  Vater#  unb  bie  Stegen  be#  Äönig#,  nur  etwa#  heller. 

4 * (89) 


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52 


<Sie  fyeifct  ßuife ; möge  fie  ihrer  2l|nfr  au,  ber  liebenöwürbigen  unb 
frommen  Suife  von  Orleans,  ber  wütbigen  ©emabltn  beö  großen 
Äurfürften,  ähnlich  werben."  — Sutfe  würbe  befanntlich  ©emahlüt 
griebrid)S  beö  ^ringen  bet  ^lieberlanbe,  SOejranbrine  ©roffhetgogin 
von  5RecfIenburg*@djwerin.  35aö  ftebente  ber  bie  SJtutter  über* 
lebenben  Äinbet  würbe  erft  am  11.  Oftober  1809  geboren  unb 
Tonnte  bafyer  in  bem  vorliegenben  Sriefe  nodj  nidjt  erwähnt 
werben. 

„2)a  |abe  idj  3|nen,  geliebter  Sater  — fo  fchlicfst  baö  benf* 
würbige  Schreiben  — meine  gange  ©atlerie  oorgefübrt.  Sie  wer* 
ben  jagen:  baö  ift  ja  eine  in  i|rc  .finber  verliebte  SJtutter,  bie 
an  ihnen  nur  ©uteö  fie|t  unb  für  i|te  Mängel  unb  §e|let  feine 
Stugen  |at.  Unb  in  2Ba|r|eit,  böfe  Anlagen,  bie  für  bie  Bufunft 
heforgt  machen,  finbe  id>  an  21 (len  nidjt.  ©ie  haben,  wie  anbere 
fWenjdjenfinber,  auch  i|re  Unarten;  aber  bieje  verlieren  fid?  mit 
ber  3eit,  fo  wie  fie  oerftättbiger  werben.  Umftänbe  unb  23  erhält* 
uiffe  ergiefjen  ben  9)ienfc|en,  unb  für  unfere  Äinber  mag  eö  gut 
fein,  ba§  fte  bie  ernfte  ©eite  beö  Sebenö  fc|on  in  ihrer  Sugenb 
fennen  lernen.  Säten  fte  im  ©choofje  beö  Ueberfluffeö  unb  ber 
33equemlid)feit  grofj  geworben,  fo  würben  fte  meinen,  baS  müffe 
fo  fein.  35ajj  eö  aber  anbetö  fommen  fann,  fe|en  fte  an  bem 
ernften  2lngefic|t  i|reö  SJaterö  unb  an  ber  2öe|mut|  unb  ben 
öftem  J|ränen  ber  SJtutter.  SSefonberö  wo|It|ätig  ift  eS  bem 
.ffronpringen , bafj  er  baö  Unglucf  fd|on  alö  Ärottpring  fennen 
lernt;  er  wttb  baö  ©lücf,  wenn,  wie  id)  |offe,  fünftig  für  ihn 
eine  beffete  Beit  fommen  wirb,  um  fo  |ö|et  feigen  unb  um  fo 
Sorgfältiger  bewahren . ÜJieine  Sorgfalt  ift  meinen  Jfinbem  ge* 

wibmet  für  unb  für,  unb  idj  bitte  ©ott  täglich  in  meinem  fte 
einfdjliefjenben  ©ebete,  bafj  et  fte  fegne  unb  feinen  guten  ©eift 
nidjt  von  ihnen  nehmen  möge.  ÜKit  bem  trefflichen  §ufelanb 

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53 


fompathifire  id»  auch  in  biefen  ©tücfen.  Gr  forgt  nicht  bloö  für 
bat  phpftiche  SBohl  meiner  Äinber,  auch  füt  baß  geiftige  berfelben 
ift  er  bebacfct ; unb  ber  biebere,  freimütige  Borowßfp,  ben  ber  ftönig 
gern  fieht  unb  lieb  l>at,  ftärft  barin.  Grfyält  @ott  fie  unß,  fo  erhält 
er  meine  beften  <Ed)ä$e,  bie  mir  Biemanb  entreißen  famt.  Gß  mag 
fcmmen,  waß  ba  »iQ,  mit  unb  in  ber  Bereinigung  mit  unfe* 
ren  guten  Äinbem  »erben  »ir  glücffelig  fein." 

„3dl  fdjrieb  3hnen  fcteß,  geliebter  Batet,  bamit  fie  mit  Be* 
rubigung  an  unb  benfen.  3brem  freunblidjen  SSnbenfen  empfehle 
ich  meinen  Btann,  auch  unfere  Äinber  alle,  bie  bem  ehrwürbigen 
©rofjcater  bie  $änbe  füffen;  unb  ich  bin  unb  bleibe,  befter  Batet, 
3bre  banfbate  lochtet. " 

Bodj  ein  anbeteß  SBort  bet  eblen  Königin  über  ihre  Äinbet 
mag  Ijier  eine  ©teile  finben.  Gß  enthält  einen  SBunfdj  unb  eine 
SBeijfagung  zugleich : „SBenngleich  bie  Ba<b»elt  meinen  Barnen  nicht 
unter  ben  berühmten  grauen  nennen  »irb,  fo  wirb  fie  bod),  »enn 
fie  bie  Seiben  ber  Beit  erfährt,  mijfen,  »aß  ich  burch  fie  gelitten 
habe  unb  fie  »irb  fagen : fie  bulbete  oiel,  darrte  auß  im  2)ulben. 
£ann  »ünjche  ich  nur,  ba§  fie  jugleid)  fagen  möge:  aber  fie  gab 
Äinbem  baß  IDafein,  welche  befferer  3eiten  »ürbig  waren,  fic  her* 
beiruführen  geftrebt  unb  enblid?  fie  errungen  haben." 

3m  ©ommet  1809  begann  bie  föniglidje  SDulberin  auch  för* 
perlich  ä“  leiben.  Gin  SBedjfelfieber  gehrte  an  ihren  Kräften  unb 
Trüber  alß  fonft  muffte  fie  auß  ber  länblidjen  SSohnung  in  baß 
®cblo§  überfiebeln.  üamalß  berichtete  ber  faft  täglich  mit  ihr  oer* 
febtenbe  Wofprebiger  Borowöfi),  beffen  Bieberfeit  unb  greimüthig* 
feit  Suife  rühmte:  fröhlich  ift  ä»at  unfere  theure  Königin  in 
tiefet  Baffionfrjeit  nicht;  aber  ihr  Gmft  hat  eine  fülle  Weiterleit, 
Jmb  bie  Älarheit  unb  Buhe,  welche  ihr  Gott  fdjenft,  oerbreitet 
über  ihre  ganje  Berfönlichfeit  eine  iMnmuth,  bte  man  eine  würbe* 

(»u 


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jä  k. 


54 


cofie  nennen  fann.  3bre  3lugen  traben  aderbing8  ben  früheren 
SebenSglanz  »erloren,  unb  man  fie^t  e8  ißnen  an,  baß  fte  eiel  ge» 
weint  haben  unb  noch  weinen;  aber  bamit  haben  fte  ben  milben 
3fu8brucf  einer  janfte»  SBeßmuth  unb  ftiden  ©eljnjudjt  empfangen, 
bie  noch  meßt  unb  beffer  ift,  aI8  SebenSluft.  SDie  SMittfyen  auf 
ißrem  3tngeft<fit  finb  woßl  üerblüljt , unb  eine  fanfte  Släffe  um« 
giebt  e8;  bodj  ift  e8  noch  fdjön,  unb  auf  ihren  Söangen  woden 
mir  faft  noch  meßr,  als  früher  bie  rotten,  fo  jeßt  bie  weiten  diofen 
gefaden.  Um  ißren  fDiunb,  ben  fonft  ein  füße8,  gliicflicbeä  Säckeln 
umfcßwebte,  fieht  man  jeßt  zuweilen  ein  Ieifeö  33eben  ber  Sippen; 
e8  liegt  barin  woßl  ©chmerz,  aber  fein  bitterer.  3ßr  3lnzug  ift 
ftet8  i)ötbft  einfach,  unb  bie  SBaßl  ber  garben  bezeichnet  ihre 
©timmung.  5Die  grömmigfeit  utiferer  verehrten  Königin  ift  eine 
djriftliche,  ba8  Reifet:  eine  gcfunbe,  einfache,  naturgemäße,  ihrer 
jebeömaligen  ©mpfänglichfeit  unb  ©timmung  oodfommen  ange* 
meffene,  fern  nett  adern  ©errungenen,  ©rfünftelten  unb  ©en» 
timentalen." 

Suife  war  eine  achte  ©ßriftin,  mit  gaffung  unb  ©emutp  ade 
Seiben  al8  gügungen  ®otte8,  ihr  zur  Säuterung  gcfdjicft,  hinnahm, 
©arum  «erhärteten  auch  bie  ja^Hofen  Unbilben  unb  Äränfungen 
ihr  Jperg  nicht,  »ielmehr  blieb  bie8  bem  SBoßlthun  unb  bet  Siebe  zu« 
gänglich-  ©eit  SJlitmenfchen  zu  Reifen,  ihnen  mißlich  zu  werben, 
war  unb  blieb  ihr  eine  Duede  reinfter  greube. 

9dit  wadjfenber  Sheilnaßme  wanbte  fi<h  bie  Königin  ber 
görbenutg  ber  3ugenberziehung  zu.  3118  fte  in  Petersburg  bie 
großartigen , oon  ber  Äaiferin  SCRutter  gegrimbeten  9lnftalteit  zur 
Stöchtererzießung  fah,  beflagte  fie,  baß  fic  nicht  oermögenb  wäre, 
ba8  Seifpiel  nachzuahnten.  ©ie  Suijenftiftung  in  33erlin  würbe 
erft  eilt  3aßr  nach  ihrem  lobe  gegrünbet  unb  ihrem  3fnbenfen  ge* 
weißt,  ba8  ^önigSberger  SBaifenßau#  aber  burdj  ißr  Serbieitft  al8 

(95) 


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55 


SRuftet’ErjieljungSanftalt  iiu  Sinne  ißeftalogji’S  eingerichtet.  2)ie 
Sänften  beS  großen  J*äbagogen  batten  fie  tief  ergriffen;  fie  lub 
einen  Spüler  beS  SDieifterö,  JDirector  Beüer,  nah  Königsberg  ein 
unb  unterftüfjte  ifyt  nah  «Kräften  in  feinen  menfhenfreunblihen 
Seftrebungen.  Sie  »erfhmäl)te  eS  nidjt,  felbft  bie  Shulen  3»  be» 
fuhen  unb  auf  alles,  waS  Sefyret  unb  Sernenbe  betraf,  in  rer= 
ftänbni§eofler  unb  begeiftember  Seife  eingugefyen.  Senn  grieb* 
rih  SBihelm,  als  fdjon  in  3)iemel  ber  ©ebanfe,  in  Berlin  eine 
Unwerfität  gu  griinben,  angeregt  würbe,  mit  ben  warmen  Sorten : 
„$a8  ift  reht,  baS  ift  brao;  ber  Staat  muff  burh  geiftige  Jtrdfte 
erjefsen,  waS  er  burh  pfhftfhe  »erloren  fyat,"  guftimmte,  jo  jprah 
er  gan$  in  SuijenS  Sinne. 

Sitäbefonbere  lag  ihr  bie  reIigiöS=fittlihe  Hebung  beS  33olfS 
am  «£>erjen.  ÜDafyer  gewahrte  fie  mit  greubett  bie  Anfänge  ber 
Erneuerung  beS  religiöfen  fiebenä,  bie  SBorbotcn  jener  äd)ten,  ih 
mähte  fagen  fyerglihen  grömmigfeit,  in  ber  baS  33olf  in  ben  Jagen 
ber  SQotb  feine  fittlihe  Äraft  wieberfanb.  „Seil  wir  abgefallen, 
barum  finb  wir  gejunfen,"  erfannte  fie  immer  Harer,  unb  in  ifirem 
lebenbigen  ©Iauben  würbe  fie,  mit  ben  Sorten  eines  preufjifhen 
EefhihtSfhteiberS  gu  reben,  bie  ftiHwaltenbe  ©ärtnerin  jebeS  eblen 
Keimes  wiebererwahenben  hriftlth?»  ScbenS. 

lieber  aOeS  aber  ging  ifyr  bie  Secfung  ber  oaterlänbifhen  ©c» 
finnnng,  beS  nationalen  ©eifteS.  So  begrübt  fie  bie  oom 
Könige  befohlene  Slufftellung  »on  ©ebähtnifjtafeln  in  ben  Kirhett 
jum  iÄnbenfen  ber  um  baS  SSaterlanb  oerbienten  Krieger  als  einen 
bergunfen,  „auS  beiten  »ieUeiht  boh  m>h  bieglamme  ©otteS  fhla* 
gen  fann,  weihe  bie  ©cifjel  bet  hälfet  Derlei) rt."  Sie  weift  auf 
Sirol  wie  auf  Spanien  l)in  unb  feiert  9(nbreaS  §ofer,  ben  frommen 
gelbberm.  ©ine  Jungfrau  oon  Orleans  fefynt  fie  Ijetbei,  um  ben 
geinb,  ben  böfen  geinb,  boh  enblih  ju  überwinben.  „91  uh  in 

on 


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56 


meinem  Schiller,  fährt  fic  fort,  habe  td)  wieber  unb  wieber  g t- 
lefen.  SSarum  liefe  er  fid)  nicfet  nach  Serlin  bewegen?  SBarum 
mufete  er  fterbett?  Cb  ber  Siebter  beS  Seil  aud)  oerblenbet  wor* 
ben,  wie  ber  @efd)i<htfd)reiber  ber  ©ibgenoffen!  1 9)  9iein!  nein! 
Sefen  Sie  nur  bie  ©teile:  „„fttidjtöwürbig  ift  bie  Station,  bie  nicht 
ifer  3llleS  fefet  an  ifere  ©f)re!""  Kann  biefe  ©teile  triigen?  Unb 
iefe  fann  nocfe  fragen:  warum  er  fterben  mufete?  2Öen  ©ott  lieb 
hat  in  biefer  Seit,  ben  nimmt  et  gu  fid}!" 

Sange  hatte  fid)  bie  Königin  banad)  gefehnt,  wieber  in  ber 
$auptftabt  be$  SanbeS,  bie  fie  feit  bem  Unglücf  oott  3ena  nicht 
befwfet,  ihre  SBofenung  nehmen  gu  fönnen.  „®inge  eä  bod?  nach 
33erlin,  bafein,  bafein  möchte  idj  jefet  giefeen;  e$  ift  orbentlicfe  ein 
Heimweh,  baS  mid)  bafein  treibt  unb  nad)  meinem  (Sfyartottew 
bürg,“  feeifet  e8  in  einem  3?riefe  an  ihre  ©efewefter  gtieberife  auS 
bem  Äuguft  beS  SafereS  1809.  ©nblid)  fonnte  auf  ben  15.  ®e= 
cember  bie  9lbreife  feftgefefet  werben.  ©a  regten  mit  ber  greube 
bunfle  Ahnungen  fid)  in  ü)rer  ©eele  ,,©o  merbe  ich  benn  halb 
wieber  in  Serlin  fein  unb  gurüefgegeben  fo  rieten  treuen  bergen, 
welche  mid)  lieben  unb  achten.  9Jiir  wirb  eö  bei  bem  ©ebanfen 
gang  beflommen  ror  greube,  unb  ich  rergiefee  fo  oielc  Sferänen 
hier,  wenn  id)  baran  benfe,  bafe  ich  alles  auf  bem  nämlichen  Pafee 
finbe  unb  bod)  alles  fo  gang  anberö  ift,  bafe  id)  nicht  begreife, 
wie  eö  bort  werben  wirb,  ©ehwarge  Ahnungen  ängftigen  mich; 
immer  möchte  ich  allein  hinter  meinem  ©djirmleudjter  fifeen,  mich 
meinen  ©ebanfen  überlaffen;  ich  hoffe,  ee  foll  anbetö  werben." 

Unter  bett  riihrenbften  öeweifen  ber  yinhänglicfefeit  unb  33er* 
chrung,  bie  bem  Könige  unb  ber  Königin  aller  Drten  entgegenge* 
bradjt  würben,  gogen  fie  wie  im  Triumph  oon  Königsberg 
nad)  Berlin,  ©er  23.  ©ecember  war  ber  Sag  beS  fcftlid)en  ©in* 
gitgS:  Suife  in  einem  prächtigen  SBagen,  einem  ©hrengefdjenf  ber 

CM) 


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57 


Berliner  3?ürgerfcfcaft , bet  Äönig  gu  ^Sferbe,  bie  beiben  älteften 
Söbne,  ber  jircmpring  unb  $ring  SBilbelm  gu  gu§  alö  @arbe= 
efftdere  mit  ihrem  Regiment. 

Sie  an  biefem  Sage,  fo  würben  bet  Königin,  fo  oft  fte  fich 
Hfentiüfe  geigte,  begeifterte  ^ulbigungen  entgegengetragen.  21  Ib  bet 
10.  OJtärg  nahte,  oerfafste  ber  geniale  Äleift  gut  SBetherrlichung 
be<  ©eburtStageb  bet  Äcnigin  ein  §eft gebiet,  worin  bie  an  2 (n* 
betrag  grengenbe  93erebrung  bet  beften  fjtirftin  einen  flaffifdjen 
Üubbrucf  gefunben  bat.  Oiur  ber  Anfang  beS  ©ebidtjtS,  bem  Äleift 
hpater  bie  Sonn  eines  Sonetts  gegeben  bat, 2 *)  möge  tyrn  eine 
Stelle  finben: 

,3)u,  bie  bab  Unglücf  mit  bet  ©rajie  Stritten 
Stuf  jungen  Schultern  ^errlid;  jüngftbin  trug, 

Sie  wunberbar  ift  meine  SBruft  verwirrt 
3n  biefem  Slugenblidf,  ba  ich  auf  Änien, 

Um  Sich,  gu  fegnen,  »or  Sir  nicberfinfe. 

3d)  fotl  Sir  ungetrübte  Sag’  erfteij’n, 

Sir,  bie  ber  ^ o tj e n £immel$fonne  gleich, 

3n  roller  Fracht  erft  ftra^lt  unb  ^errlicbfeit, 

Senn  fie  burd)  finft’re  Setterwolfen  bricht. 

O,  Su,  bie  au8  bem  Äampf  empörter  3eit, 

Sie  einj’ge  Siegerin  heroorgegangen: 

Sa8  für  ein  ffiort,  Sein  würbig,  fag’  ich  ®it?' 

Ser  geftfreube  unb  bem  ©lange,  womit  bie  ©eburtStagSfeier 
ber  Äönigin  begangen  würbe,  entfprad)  bie  Stimmung  ßuijenS 
wicht.  Sie  war  »oll  banger  Sorge  um  ben  Staat,  beffen  ge» 
fflhtbete  Sage  fidj  feit  ber  Seenbigung  fceö  üftTeichifch'frangöfifcheit 
ÄriegeS  fort  unb  fort  oerfchlimmert  hatte,  ©urd)  bie  zweifelhafte 
Haltung  ber  pteu&ifdjen  Oiegierung  währenb  bet!  Sahreli  1809 
auf’s  ömpfinblichfte  gereigt,  hatte  Oiapoleon  oon  bem  Äugenblicfe 
w,  wo  er  Oiufjlanb  fich  entfrembete  unb  mit  Ceftreidj  feinen 

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58 


Samilienbunb  fcfelofe,  feinen  ©runb  mel)r,  tRücfficfeten  gegen  ^reu» 
feen  gu  üben.  Offen  legte  et  feine  ÜRifeacfetung  unb  feinen  £afe 
an  ben  Sag  unb  fdfeien  baS  2anb  nur  nocfe  auSbeuten  gu  wollen, 
efee  er  ben  Staat  »emicfetete.  Scfeon  würbe  auf  bie  Abtretung 
ScfelefienS  als  ©rfafe  für  bie  fällige  ©cfeulb  feingewiefen,  unb 
immer  wiebet  trat  ber  Königin  bie  (Erinnerung  an  baS  Sdfeidffal 
ber  fpanifdfeen  Sourbenen  brofeenb  cor  bie  Seele.  £>atte  Napoleon 
nidfet  bie  Stücffefer  nadfe  23erlin  geforbert,  um  ben  .§>of  gang  in 
feiner  ©ewalt  gu  feaben?  jConnte  er  nicfet  mit  ifem  beginnen,  waS 
ifen  beliebte?  22  it  »erftefeen,  in  wie  furchtbar  ernftem  Sinne  eS 
gemeint  war,  wenn  bie  Königin  an  bem  feftlicfeeu  Sage  beS  10. 
SJlärg  gegen  vertraute  ^Jerfonen  äufeerte:  „3cfe  benfe,  eS  wirb  Wofel 
baS  lefete  5Ral  fein,  bafe  icfe  meinen  ©eburtStag  feiet  feiere." 

5)ie  Königin  überwanb  ficfe,  nocfe  einmal  einen  53 rief  an 
Napoleon  gu  ridfetcn,  ben  ifere  Sdfewefter,  bie  23ringeffin  »on  Sfeurn 
unb  SariS,  am  17.  SJiärg  in  23ariS  übergab.  55er  Äaifer  aber 
fufer  fort  in  feinen  beleibigenbeit  53orwürfen,  55rofeungen  unb 
Sorberungen,  unb  felbft  ber  §inangminifter  ältenftein  fdfeeute  ficfe 
nidfet,  bem  Äönige  gu  ratfeen,  Scfelefiett  bem  33ebränger  $)rei§  gu 
geben.  Snbem  Suife  mitwirfte,  bafe  ber  efeemalige  ©abinetSminifter 
^arbetibetg  an  bie  Sfeifee  ber  Verwaltung  berufen  würbe,  erwies* 
fie  bem  Sanbe  einen  lefeten  grofeen  5)ienft. 

5)ie  Königin  war  in  bem  grüfejafere  1810  längere  3eit  emft* 
Hdfe  leibenb.  Sruftbejdfewerben  mit  Sieber  fteigerten  ficfe  bis  gu 
Krämpfen.  55ie  ßeibärgte  warnten  uor  ©emütfeSbewegungen  gu 
einer  Beit,  als  baS  ipcrg  ber  Sürftin  für  ben  ©emafel,  bie  Äinbet 
unb  baS  23olf  mefer  als  je  bangte,  ©leidfewofel  erfeolte  fie  ftcfe  in 
2)otSbam,  wofein  fie  ©nbe  5lpril  überfiebelte,  fo  weit,  bafe  ein  lang* 
gcfeegter  SBunfcfe,  ben  feergoglidfeen  23 ater  in  Strelife  gu  befudfeen, 
in  ©rfüöung  gefeett  fonnte. 

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59 


äfm  24.  3uni  reifte  guife  Dort  Gfyarlottenburg  ab.  SDeit  Ü)lor« 
gen  übet  mar  bie  Königin,  tute  bie  fie  begleitenbe  Dberhofmeifterin 
berietet,  fefjr  fetter.  „SÄbet  als  wir  unä  bet  ©ranze  ($reuben* 
SMIenburg)  näherten,  überfam  fie  plöfclich  eine  rätselhafte 
Straurigfeit.  ©inige  2Iugenblicfe  war  fie  ganz  oon  berfelben  über* 
mannt  unb  faft  beängftigt,  aber  fie  fafjte  fict)  rajdh  wieber  unb 
eS  ging  Dorüber."  3öat  eS  ein  bunfleS  Vorgefühl  beffett,  bent  fie 
entgegen  ging? 

3n  gürftenberg  Don  Später  unb  ©efchwiftern,  in  9teu=©trelth 
Don  ber  altefjrwürbigett  ©rohmutter  ^er^Iid)  empfangen,  füllte  fie 
füh  in  ben  nächften  Stagen  um  fo  mehr  beglftcft,  als  ihr  ©emabl 
fthon  am  28.  3uni  ihr  ttachfam.  „3$  bin  heute  fehr  glücflich, 
lieber  33ater,  als  3hre  Stodjter  unb  bie  grau  beö  beften  ber  fDiämtet' 
— fo  lauten  bie  lebten  3Borte,  welche  fie  fdjtieb. 

3n  bem  guftfchloh  £)oben*3ierii3,  wohin  ber  $er$og  mit  feinen 
©äften  no<h  am  Sbenbe  jenes  StageS  überfiebelte,  erfranfte  bie 
Königin.  ©ie  litt  wieber  an  Söruftbefchwerben  unb  fieberte  habet 
ftar!.  SD  er  hetbeigerufene  herzogliche  SÄrgt  erfannte  jeboch  noch 
feine  ©efaljr  unb  ber  König,  Don  bringenben  ©taatSgefchäften 
Zurücf  gerufen,  Derliefs  am  3.  3uli  bie  franfe  ©emaljlin  in  ber 
Hoffnung,  fie  halb  nach  Berlin  abholen  zu  fönncn.  ©tatt  beffen 
feilte  er  in  ©hurlottenburg  felbft  erfranfett  unb  bie  .Königin  erft 
wieberfehen,  als  fie  fchon  mit  bem  Stöbe  rang. 

Sehn  Stage  lang  bauerte  ber  Suftanb  ber  Kranfen,  gieber, 
duften  unb  Schwäche,  faft  unoeränbert  fort,  nur  bah  hie  Schwäche 
Bt6§er  unb  ber  sÄthem  furzet  würbe.  SDie  Königin  aber  trug, 
toie  faum  gefagt  ju  werben  braucht,  ihr  ßeiben  mit  ©ebulb  unb 
©ottergebenheit.  3bre  ©ebanfen  weilten  Diel  bei  bem  ©emahl 
unb  ben  Kinbem.  ©in  33rief  beS  Königs  Derfe§te  fie  in  fo  freu* 
bige  Führung,  bah  fie  fich  Don  bem  SBIatte  nicht  trennen  mochte. 

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60 


„äcb,  meid)  ein  Srief,"  jagte  fte  mehrmals.  „38ie  glücflid)  ift, 
wer  joldje  S riefe  empfängt!" 

äm  16.  3uli  früh  ftellte  fief)  heftiger  Sruftframpf  ein  unb 
bie  au8  Serlin  hetbeigerufenen  SCergtc  fanbcn  bie  Äranfe  in  großer 
©efat)r.  Seflemmungen  unb  lieber  fteigerten  ftdj;  in  ber  Üttadjt 
auf  ben  19.  3uli  jagte  bie  Königin  bem  neben  itjr  wachenben 
Seibarjte  £eim  plöhlid)  mit  aufgehobenem  Ringer:  „äber  bebenfen 
©ie,  wenn  id)  bem  Könige  ftiirbe  — unb  meinen  Äinbem." 
©urch  Eilboten  gerufen  fam  ber  SRonarcp  am  borgen  beb 
19.  3uli  gegen  fünf  Uhr  in  #ohen*3ierifc  an.  „31  ber  bie  Äöni* 
gin,  jagt  bie  ©räfin  33ofe,  hatte  bereits  ben  Sob  auf  ber  ©tim 
gefchrieben.  Unb  bod?,  tt>ie  empfing  fie  ihn?  mit  weither  greube 
umarmte  unb  füfcte  fie  ihn,  unb  er  weinte  bitterlich-  2) er  Äron= 
pring  unb  ißring  SBilljelm  waren  mit  ihm  gefommen.  ©o  oiel 
bie  arme  Königin  eb  nur  oermochte,  oerjucbte  fie  noth  immer  gu 
jprechett;  fie  wollte  jo  gern  immer  nodi  gum  Äönig  reben,  ach, 
unb  fie  fonnte  eb  nicht  mehr!  — jo  ging  cb  fort  unb  fie  würbe 
immer  fdjwächer.  ©er  Äönig  jafj  auf  bem  Dianbe  beb  Setteb 
unb  ich  fnietc  baoor;  er  judite  bie  erfalteten  £änbe  ber  Äönigin 
gu  erwärmen,  bann  hielt  er  bie  eine  unb  legte  bie  anbere  in 
meine  $änbe,  um  bah  i«h  fte  warm  reiben  jollte.  @b  war  etwa 
9 Uhr.  ©ie  Äönigin  hatte  ihren  Äopf  janft  auf  bie  ©eite  ge* 
neigt  unb  bie  äugen  feft  gen  £immcl  gerichtet.  3hre  grofcen 
äugen  weit  geöffnet  unb  aufwärts  bliefenb,  jagte  fie:  „3th  fterbe, 
o 3efu,  mach’  eb  leicht!"  Sich,  baS  war  ein  äugenblicf,  wie 9iie* 
manb  il)n  je  oergift."  ©djluchgenb  war  bet  Äönig  guruefgejunfen 
unb  faum  fanb  et  bie  Raffung,  ber  SBerflärtcn  bie  äugen  gugu* 
briitfen,  „bie  ihm  auf  feiner  bunflen  Sahn  jo  treu  geleuchtet." 

©iefer  unb  jcbmerglicher  h<»t  nie  ein  Soll  um  eine  gürftin 
getrauert,  alb  eb  in  ^reufeen  unb  einem  großen  Shctle  beb  übri» 

(»S) 


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61 


gen  Seutfdhlanbl  um  bie  Äönigin  ßuifc  gefcfaah* ').  Slbev  bet 
Sdjmerg  oerwanbelte  fid)  halb  in  ©efühle  bei  3ornel  unb  bet 
Sache,  ber  Sache  gegen  bte,  treldje  bie  h^h*  jjtau  gu  Sobe  ge= 
martert.  Der  geinb  habe  bie  ©chufjgöttin  bei  Sßolfeß  getöbtet, 
biej  es  allgemein,  unb  fo  »utbe  ber  Same  ber  ftiUen,  frommen 
SDuIberin  bal  ßofunglmort  gu  Äampf  unb  Ärieg.  „Unfere  ^eilige 
ift  im  ^immei",  fagte  ölüdjer,  ben  Suife  eben  jo  bod)  gehalten, 
ttie  et  feine  patriotifdje  Königin  tief  oerehrte,  unb  immer  lebhafter 
erfüllte  ficf»  ber  £>elb  mit  bem  ©ebanfen,  baf)  er  oon  ber  33or= 
febung  berufen  fei,  ihr  Säd)er  an  ben  gefaben  ©eutfdjlanbl  gu 
»erben,  ein  ©ebanfe,  bem  er  am  30.  SDlarg  1814,  all  er,  nach 
flü  ben  blutigen  Kämpfen  auf  beutjdjem  unb  frangöfifdjem  23oben, 
fein  fiegreit^eö  J£>eer  auf  bie  Jpöhen  bei  Slontmartre  geführt  hatte 
unb  bie  riefige  Jpauptftabt  granfteichl  begtoungen  unter  feinen 
p§en  fatj,  in  ben  ftolgen SBorten  Slulbrucf  geben  fonnte:  „2uife 
ift  gerächt" 

Unb  nicht  tapfere  Ärieger  allein,  and)  bie  patriotiffaen  3)ich= 
ter  jener  Sage  haben  ben  Flamen  Suife  gu  einem  Schlachtruf  er* 
hoben,  ßl  ift  begeidinenb  für  bie  ßmpfinbung,  welche  bie  ®e= 
mütber  beherrfchte,  ba§  felbft  beim  Ölnblicf  bei  herrlichen  93iarmor* 
bilbel  ber  fchlafenben  Äönigfa,  bal  bie  fSJleifterljanb  Saud)!  für 
bol  fdjöne,  oon  griebridj  SBilhetm  III.  errichtete  ÜJlaufoleum  in 
(ibarlottenburg  gefdjaffen  hat,  nicht  fowohl  ©ebanfen  bei  griebenl, 
all  oielmeht  bei  Äampfel  ben  jugenblidjen  Xfaobor  Äömer  er» 
griffen,  all  er  fang: 

,£Du  fdjläfft  fo  fanft,  bie  fallen  Büge  hauchen 
9lo<h  -Deine!  geben!  fdjöne  Sräunte  trieber; 

JDer  Schlummer  nur  fenft  feine  glügel  nieber, 

Unb  heiliger  Trieben  fchliegt  bie  flaten  Slugen!* 

(M» 


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62 


„So  ftMummere  frrt,  bis  2)tine8  SlolfcS  Sriiber, 

2Benn  glammenjeichcn  ßcn  bcn  Sergen  rauben, 

SDRit  ®ctt  oerfehnt  bie  rcfttgen  Schwerter  brauchen, 

Ja$  8eben  opfernb  für  bie  bötftften  ©fiter!' 

,Jief  füfjrt  ber  £>err  burdj  'Rächt  uns  jum  Serberben, 

Sb  foßen  wir  im  .Stampf  uns  £eil  erwerben, 

S)af)  unfere  Gnfel  freie  ÜJtänner  fterben!' 

,Äcmmt  bann  ber  Stag  ber  greibcit  unb  ber  SKatpe, 

(Dann  ruft  bein  Soll,  bann,  beutfcbe  grau,  erwache, 

(Sin  guter  Sngcl  für  bie  gute  Sache!* 

Unb  all  im  britten  3af)re  nach  ihrem  Jobe  bie  ©tunbe  ber 
Erlöfung  itnferem  Solle  enblidt  fc^Iug  unb  bie  glorreichen  Kampfe 
für  unfere  Unabhängigfeit  begannen,  ba  würbe  bie  Entjchlafene 
bie  „SDame  bei  SRttterthuml  ber  greiheitlfriege"  unb  fie  entjün* 
bete,  wie  gouqucS  fagt,  „aul  h^h^11  ©pbären  ihrel  foniglichen 
©emahll  Krieger  mit  gweifadj  fdjoner  Segeifterung  für  Sieg 
unb  Job." 

2) er  2>icf)ter  oon  Seiet  unb  Schwert  aber  fang  jetjt  fricglbe* 
geiftert: 

,So  foO  2)ein  Silb  auf  unfern  gähnen  jch weben, 

Unb  foß  uns  leuchten  burch  bie  Sacht  jum  Sieg. 

Suife  fei  ber  Schufcgeift  bcutfcher  Sache, 

?uife  fei  baS  SofungSwort  jur  Sache.'  — 

Sicht  mit  biefen  ©efühlen  trat  am  19.  3uli  bei  3ahrel  1870 
am  60.  Jobeltage  Suifenl,  König  SBil^elm , wie  alljährlich,  iti 
bem  9RaufoIeum  ju  ©harlottenburg  an  bie  ©rabftätte  ber  ltnoet* 
ge§Iichen  fütuttcr.  @1  war  berjelbe  Jag,  an  bem  bie  franjöfifth* 
Krieglerflärung  in  Serlin  übergeben  würbe.  Sßcnn  ber  König  in 
heiliger  Erinnerung  an  bie  ©tunbe,  wo  et  60  3ahre  jueor  an  bem 
Sterbebette  ber  fERutter  gefniet,  .Straft  fammelte  gur  gührung  einel 

fchweren  Kriegei,  fo  hobelte  el  ftch  nicht  um  einen  Krieg  bet 

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63 


3?ac$e,  fonbern  ber  2(6mcbr  bei  freeelfyalften  Angriffe«,  bcn  ber 
9leffe  unb  <5rbe  bei  crften  Napoleon  gegen  ©eutjdjtanb  unternahm. 
Äein  ©ebanfe  mag  bem  9Ronardjcn  flarer  »or  bie  Seele  getreten 
fein,  atl  ber,  ba§  el,  nach  fiegreidjet  2tb»et)r  bei  übermütigen 
gein bei , gelten  werbe,  35eutfdjlanb  für  bie  Bufunft  ben  grieben 
auf  biefelbe  SBeife  gu  filtern,  in  ber  bie  Königin  £uije  bal  einjige 
Sföittel  ber  Rettung  erfannt  tjatte:  namlicb  bie  eng  ft  e Serbin* 
bung  aller  ^Derjenigen,  bie  fidj  bei  beutjdjen  9lame)tl 
rühmen.  3m  ©Seifte  Suifenl,  bürfen  wir  jagen,  ift  bie  ©rün* 
bung  bei  neuen  9teid)eS  gefc^el>en : ba§  berfelbe  gute  ©Seift  bil  in 
bie  ferne  Bufunft  über  unjerm  einigen,  burdj  fittlidje  Ära  ft 
ftarfen  SBaterlanbe  walte,  bal  fyoffen  wir  gu  ©ott. 


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Stmnerfungcit. 


1)  3)aS  »orliegenbe  ©cfiriftchen  ift  aus  einem  Vertrage  entftanben, 
bet  jur  geier  beS  ©eburtStagS  3t.  9)laj.  beS  äfaiferS  SBil^dm  am 
22.  ÜJtärj  1875  im  3aaie  bet  ©d)rannenhatle  ju  DJtünchen  gehalten 
würbe.  ©on  £)m.  'l'rof.  ton  $ol$enborff  aufgeforbert,  jene  Siebe  in 
bei  /Sammlung  gemein»erftänblicher  toif f en f ftl Ic^er  Vorträge*  ju  net. 
öffentlichen , unternahm  ich  eine  lleberarbeitung,  bie  ju  einet  wefent  lieben 
Erweiterung  beS  urfprünglichen  ©ortragS  führte,  ol;ne,  wie  ich  Iwffe, 
bie  §crm  ber  Diebe  ju  feilt  ju  »erwifchen.  35em  ©emeinfinn  beS  $rn. 
Verlegers  aber  ift  es  ju  banfen,  tag  bern  Schrift  dien  ein  ©ilbnig  ber 
Äcntgin  beigefögt  würbe,  welkes  auf  Schönheit  unb  Sle^nlit^feit  ?(n* 
fpruch  machen  fann.  GS  ift  nnd)  einem  fPaftellbilte  gefertigt,  baS  ftd) 
im  f}ri»atbefifc  ju  ©erlin  befinbet;  ber  Diame  beS  ©Jäters  ift  nicht 
befannt,  aueb  baS  Satjr  beS  UrfprungS  nicht.  Eie  emften,  »en  ftiflem 
©<hmerj  bewegten  3üge  aber  bürften,  trog  beS  jugentlichon  äuSfeljenS, 
berechtigen,  baS  ©ilb  nad;  1806  $u  »erlegen.  2lud)  bie  geminberte 
Dinnbung  unb  Sülle  ber  Scrtnen  fdjeint  auf  bie  SeibenSjeit  hinjuweifeit. 
Einen  nicht  geringen  ©otjug  »or  anbern  in  weitem  Greifen  befannt  ge» 
trotbenen  ©ilbniffen  werben  Kenner  in  ber  ausgeprägten  3nbi»ibualiflrung 
finten.  (EaS  Driginal  ift  Gigentl;um  beS  $rn.  $)auptmann  ©erbufchef 
nnb  würbe  ber  93erlag8l>anblung  auf  if>r  Grfuchen  bereitwifligft  $u  biefem 
3»ecfe  überlaffen,  wofür  biefelbe  auch  an  biefer  ©teile  ihren  Eanf  aus» 
fpriebt.  EaS  Diegati»  ift  hi«  in  ©erlin  »on  bern  Ipofphotographen  Earl 
Sud  gefertigt.  Eie  Silber  felbft  finb  nach  bem  neuen  Erucf»erfal;rcn  aus 
ber  rühmlichft  befannten  Officin  beS  .ftm.  3.  Sllbert  in  München  her»or» 
gegangen.  E.  ©rlgSl)) 

Slbgejeben  »on  ben  äugerft  wert  {wollen  ©eiträgen,  welche  bie  jüngft 
erfchienenen  .Erinnerungen  ber  ©räfin  »on  ©og"  ('Jteununbjethjig  3ahrc 
am  preugifchen  .£>ofe)  jur  SebenSgcfchicbte  ber  Königin  2uife  bieten, 

XL  212.  213.  5 (103) 


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66 


finben  fit})  tie  Materialien,  auf  bie  ftd)  unfere  ©fiye  ftü(jt,  jowcbl  bie 
Söritfe  unb  SagebutbSnotijen  ber  Äcnigin  felbft  — fc  weit  biefc  über- 
bauet bi«  jefct  befannt  geworben  — , als  bie  Mitteilungen  Ülnberer 
über  bie  §ürftin , grefjentheilS  in  bem  weitverbreiteten  unb  »erbienitlicben 
Suche  griebritb  Slbami’S  (9uife  Königin  een  »Preufjen,  7.  Stuft.  Berlin, 
1875)  vereinigt,  wenn  auch  nicht  immer  genügenb  geerbnet,  noch  weniger 
befriebigenb  verarbeitet.  ©ie  lange  wirb  eS  wahren,  bi#  bie  gefeierte 
Königin,  ber  felbft  eine  englifcbe  Sdjrifftellerin  it;re  geber  geweil;t,  unter 
ben  Männern  beutftber  ©iffenfebaft  il;ren  Siograpben  finbet? 

2)  Steununbfecbjig  Sabre  am  preufjifcben  $ofe  ©.  152  u.  160. 

3)  Die  ©räfin  Sofj  a.  a.  £).  S.  158  ff.  Sei  Gegiert,  Gbaraft er- 
lüge ftriebrid)  3SBilt>eIm’ö  III.  jagt  bie  Äöniginll,  2 ©.  109  von  ihrem 
©emabl:  „Durd)  3b"  bin  ich  beffer  geworben.  3<b  glaube,  (*r  ift  ber 
befte  Menjd)  unb  ßtjrift  auf  (Srben.* 

4)  Slbami  a.  a.  O.  ©.  340  ff.  Dajelbft  aud)  ©tbilberungen  beS 
Sleußeren  ber  ÄSnigin.  Die  ©räfin  So§  ©.  158.  Siel  wortreicher 
©viert  a.  a.  £).  ©.  28  ff. 

5)  lieber  bie  Sorliebe  SuifenS  für  Schiller  f.  oben  ©.  56.  — 
3u  ben  Senkungen,  ben  Dichter  nach  Serlin  ju  gieren,  bat  bie  Königin 
ebne  3»rifel  bie  Anregung  gegeben  (leidimann , liter.  Sathlafj,  Stutt- 
gart 1863,  ©.  234).  St  ad?  bem  lobe  Schillert  lief)  guife  .unbeftbreib- 
litb  burtb  biefen  Serluft  gerührt',  ber  ©ittwe  burtb  £>ufelanb  23.  Mat 
1805  in  ftbener  Steife  ihr  Seileib  auSbrücfen  (ßbarlctte  v.  ©(bitter  unb 
ihre  Sreunbe.  I,  306). 

6)  Die  ©räfin  Sog  ©.  327. 

7)  ©enn  in  ber  Siegel  Äaijer  Stlejranber  als  ber  Urheber  beä  Ser* 
fthlagS,  burtb  bie  Königin  eine  ©inwirfung  auf  Stapoleon  ju  verfmben, 
angegeben  wirb,  fo  ift  baju  $u  bemerfen,  baß  natb  ber  Meinung  gut 
Unterrichteter  Äalfreutt)  unb  anbere  preujjiftbe  ©cbwätblinge  bie  £>anb  im 
Spiele  batten  ""b  vielleicht  nur  ben  Samen  StleranberS  verfrühten, 
©o  (©traben)  in  Preufjen  1806  unb  1807  ©.  254:  ,@S  ift  befebtoffen 
werben,  ba§  bie  Königin  ftd)  hierher  begeben  fott,  weit  man  bie  Hoffnung 
hegt,  ihre  Gegenwart  werbe  vortbeilbaft  für  Preußen  bei  Stapeleon 
wirfen,  unb  inSbefonbere  werbe  fte  ihrem  ©emable  bie  fo  nötige 
Äraft  jur  ©rtragung  beS  llnvermciblicben  geben.  Der  ©raf  von  .Ralf- 
reutb  begehrt,  baß  3b«  Maj.  fttb  fogleicb  na<b  Stiljit  verfüge  Der 
Minifter  .f)arbenberg  unb  wir  übrigen  alte  fueben  bieje  Demütigung 
gu  i"bern.'  Unb  ©.  256  gieljt  ©djlaben,  gewifj  mit  Unrecht,  fogar 

004) 


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67 


3llceranberS3u!timmnng  ju  bem  Berwerflichen  91uSfutiftSmittel  in  3n?eifel.  — 
3®ar  fagt  aud;  Slltcnftein  in  einem  33riefe  an  2chen  nom  3.  3uli  1807 
(aus  ben  papieren  5t$eobcr’8  »on  2d)ön  II,  21):  ,3efct  erwartet  man 
hier  (pieftupohnen)  bie  Königin.  Sic  clenben  SÜMchte,  welche  nichts  burch 
eigene  Ära  ft  ju  bewirten  im  3tanbe  finb,  mcdjtcn  wal)rfd?einlid}  gern 
burch  Hülfe  eines  SßeibeS  erlangen,  waö  fie  fo  nid)t  ju  erwirfen  Ber- 
ftefcen.  (?S  wäre  abfcheulich,  wenn  man  auch  bas  tfegte  ned?  nugioS 
opferte.  * Sagegen  fleht  man  aus  <5.  24 , wo  eS  bciyt , tag  Mlcranber 
am  5.  in  pieftupehnen  war,  um  bie  Königin  auf  bas  Opfer,  nachSilflt 
;u  femmen , »erjubereiten , bag  Slltenftcin  gleichwohl  ben  Kaiier  für  be- 
tbeiligt  hielt.  — 3)ei  ber  ©rüfin  Bon  3>og  (©.  304  ff.)  heißt  e«  febon 
unter  bem  1.  3uli:  9Jian  l;at  baran  gebaut,  ob  bie  Königin  nicht  gut 
tbäte,  hin  jugeben ; aber  id?  hoffe,  baS  wirb  nicht  gefcbchcn.  Unb  am 
3.  3uli:  ,3Öir  erhielten  ben  33efehl  beS  Königs,  nach  Silftt  ju  fommen, 
unb  bas  bereits  morgen.  Sille  in  wahrer  Ücrjweiflung.'  — Sagegen 
beruht  baS,  roas  bie  ©räfin  Schwerin  (3cph>o  Schwerin,  ein  bebcnSbilb 
2.  253  ff)  nach  ben  münblidien  9)littl;eilungen  ber  ©räfin  Saucnßicn 
über  Jilfit  erjühlt,  ju  fel;r  auf  .pörenfagen,  um  int  (?in;elnen  juoerläffig 
ju  fein.  5>ergl  iflbami  S.  206. 

8)  thkiS  ber  König  über  bie  ihm  Bon  Dlapolcon  ju  She‘*  geworbene 
iPebanblung  geichrieben,  fleht  man  aus  ben  Sagbuchsnotijen  ber  ©rünn 
S?og  Bern  27.  3uni  bis  2.  3uli  1807  @.  303.  ff.  — 

9)  ittuch  nach  Schaben  ('Preugeit  ©.  260)  lehrte  bie  Königin  , mit 
ben  fügeften  Hoffnungen  erfüllt'  Bon  SEilfit  juriief.  ')icch  lebenbiger  bie 
l^tjählung  ber  Sauengin  a.  a.  £). 

10)  3d)laben  a.  a.  O.  <3.  260. 

11)  Sie  ©räfin  3fog  jagt  über  bie  3ufammenfunft  beS  Königs  mit 
Napoleon  am  8.  3uli:  „SlflcS  war  furj  unb  eilig  Bor  fich  gegangen; 
man  hatte  früher  als  fonft  bei  Otapoleon  gegeffen  unb  biefer  nachher 
nicht  einmal  Ülbfchieb  Born  König  genommen.*  Unb  9.  3uli:  „Ser 
Äönig  fuhr  nach  Stilfit,  weil  Napoleon,  ber  heute  nach  Königsberg  ab- 
fährt, ihn  noch  einmal  fehen  wollte.  2llS  ber  Äönig  ju  ihm  fant  machte 
fener  ihm  erft  ein  paar  höfliche  »Phrajen,  fiel  aber  halb  wieber  in  feinen 
unhöflichen  2xn  jurücf  unb  fagte  bem  König  mit  gro§er  Härte  bie  aller, 
empünblichften  unb  nerlegenbften  Singe.' 

12)  3lm  12.  3uli  freilid?  bewunbert  bie  ©räfin  9?og  noch  ben  König, 
tag  er  fo  geragt  fei,  f.  bagegen  29.  3uli,  6.  unb  8.  2cptember  u.  f.  w. 

13)  ffiie  9Jiajc  Lehmann  jüngft  in  feinem  tüuepe  .Knefebecf  unb 

5 * (105) 


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68 


Sd)ön‘  bezüglich  ber  ©auernemancipation  unb  ber  auf  bem  ©runbfafc 
ber  allgemeinen  3ßel;rpflicht  beruljenbcn  £)eercScrganifation  überjeugenb 
nachgewiefen  t;at. 

14)  S.  bie  9tufjeid)nungen  bcr  ©räfin  iBoß  a a.  D.  S.  337  u. 

338.  Sie  bie  einflutige  unb  warmherjige  grau  bie  Schwäche  SllejanberS 
1807  auf«  Sd?ärfftc  oerurtt>eilt  I;atte,  fo  fanb  fie  if)n  and)  jefjt:  ,©ut 
unb  liebenSwürbig  wie  immer,  ganj  ber  9llte,  aber  bod)  fo  jchwact)  unb 
unentjd)Ioffen  unb  ohne  jcbe  (Energie.  * 91  ni  folgenben  Sage  war  er 

lange  bei  if)r.  ,,3d}  legte  iljm  alle  unfere  Üeiben  ane  ^>crg  unb  er  fagte 
wicberljolt:  ©tauben  Sie  mir,  id)  werbe  alles  tljun,  was  ich  fann.“ 
Unb  in  ber  SEljat  fanb  fie  nach  feiner  £Kiicffcl;r  »on  (Erfurt:  ,@r  l)at 
wirflid)  bas  Unmögliche  für  uns  getlpan  unb  fid)  )el;r  treu  bewiefen." 
S.  bagegen  ^crß,  ©neifenau  I,  443.  3Bir  werben  nicht  irren,  wenn 
wir  bie  Sluffaffung  ber  £)berl;ofmeifterin  aud)  für  bie  bcr  Königin  halten. 

15)  26ic  fid)  bie  Königin  ju  ber  Sntlaffung  bcS  großen  Staats* 
manneS,  beffen  Stüße  fie  früher  gewefen,  unb  ju  ben  non  ihm  »erfolg, 
ten  füllen  planen  »erhielt,  wirb  mit  Sicherheit  nicht  feftjuftellen  fein. 
Stein  unb  feine  eifrigen  ©efinnungSgenoffen,  auch  Sd?cn  (Rapiere  II,  52), 
jählen  fie,  feitbem  fie  burd>  bie  (Gräfin  93oß  in  nähere  ükrbinbung  mit 
Diagler  gefemmen  war,  ju  ihren  (Regnern.  „5)ie  jd)öne  grau,  jebreibt 
©neijenau,  bie  einmal  bcS  SlbcnbS  nach  bem  2I;ee  uns  mit  fo  hinreißen* 
bcin  @ntf)ufiaSmuS  »on  einer  beffern  JDrbuung  ber  ID  in  ge  jprad?, 
{ft  nicht  mel)r  in  unferm  3ntcrcffe  (i'erß,  ©neijenau  I,  444). 
9lach  Schön  hätte  fie  bie  frühem  Scjiehungen  noch  aufrecht  ju  halten 
gejucht,  als  fie  fleh  jd;on  »cnDtagler  berathen  ließ.  2)en  h'cßtercn  fann  auch 
er  nid;t  fcharf  genug  »erurtl;eilen.  Iftknn  aber  felbft  ©neifenau  ein 
3ahr  fpäter  bem  »ielgcfchmäl)ten  SJianne  ein  glan^enbeS  3eugniß  aus» 
ftellt,  (’Perß,  ©neijenau  I,  519),  wie  feil  man  ber  Königin  »orwerfen, 
baß  Sie  ihm  Vertrauen  gefchenft?  , Gr  wirb  häufig",  faßt  ©neifenau 
»on  Diagler,  »erungliinpft  unb  ba  fich  eine  fo  mächtige  Stimme  (Stein) 
gegen  il;n  erhoben  hatte,  mit  anjeheinenben  3eugniffen  gegen  ihn,  fo 
ließ  auch  "licti  »erleiten,  9lrgwcl;n  gegen  il)n  ju  fchöpfen.  91  ber  er 
hat  mir  bewiejen,  baß  er  für  bie  gute  Sad;e  ftimrnt,  aber  bie  negatioeu 
Jpinberniffc  eben  fo  wenig  auS  bem  Sege  ju  räumen  im  Stanbe  ift*. 
.$ätte  nicht  baffclbc  aud;  »cn  brr  Königin  gefagt  werben  fönnen?  Unb 
wie  hätte  fie,  auch  wenn  fie  mit  ganjen  $)cr jen , wie  ich  glauben  möchte, 
noch  auf  ber  anberu  Seite  ftanb,  nach  außen  als  im  SiUberfpruch  mit 

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69 


fern  föm'glichcn  ©emabl  erf feinen  bürfen?  Sie  ließ  ben  Sabel  über  ftdj 
ererben,  fie  fißwieg  unb  — weinte,  wo  jte  ju  hanteln  mcßt  oermodjte. 

16)  2)aß9uife,  auch  ^ier  im  Sinoetne^men  mit  Stagler,  fkß  für  bie 
Petersburger  Steife  au«jpra<h,  ift  ißr  Bon  Stein  unb  anbera  (f.  Perßf 
Stein  II,  265)  feßr  cerübelt  worben.  9Jio4'te  fte  nun  baju  ratzen,  um 
btr  gefürchteten  franjäfifcherfeitS  geforberten  Stücffehr  nach  bem  unfidjern 
Lettin  nccb  auSjuweicßen,  ober,  wie  wafyrfcbeinlid^r,  um  bie  lefjte  Stüfje, 
tie  Preußen  |i£b  barbet,  }o  feft  al«  mögtict?  ju  galten : {ebenfalls  ^ietje 
ei,  nd>  üerfünbigen  an  ber  eblen  ätünigin , wenn  man  annehmen  wollte, 
tag  fie  nad)  ben  $errlid)!eiten  ber  ruffifeßen  $auptftatt  lüftern  gewejen 
»äre  unb  ei  niept  gern  gefepen  hätte,  wenn  bie  Äoften  ber  Steife  wie 
Jtein  wollte,  für  einen  wohltätigen  3®e(f  Ratten  gefpart  werben  fonnen. 
— ttebrigen«  befennt  auch  Sdjarnporft  (perf},  ©neifenau  I,  467),  baß 
et  bie  Keife  in  einiger  jpinfiebt  Bon  Anfang  an  Borttjeül;aft  gehalten  pabe. 

17)  3<h  folge  p>«  Slbami  (S.  249),  bem  ber  Stacplaß  ber  grau 
m©erg  oorlag.  S)iefe  freilich  füfjrt  in  iprergrunblegenben  Schrift  über  Suife 
(Serlin  1815)  S.  85  eine  ähnliche  Üleußerung  ber  Äenigin  ohne  fie  für 
uns  wichtigen  (Eingangsworte  an  unb  oerfeßt  fie  in  ben  Sommer  1809. 
Sit  oft  macht  fiep  ber  SJiangel  genauer  Seitangaben  fühlbar! 

18)  @4  ift  auffällig,  wenn  au«  bem  non  ptrß  fepon  in  bem 
Sehen  Stein«  (II,  353  unb  ©neifenau  I,  474)  mitgetheilten,  in  er* 
iegter  Stimmung  gefchriebenen  SBriefe  ©neifenau«  .über  bie  furchtbar 
idwichenbe  SIMrfung'  ber  Petersburger  Steife  fogar  ber  berühmte  Sic* 
robb  Dort«  ben  Schluß  ju  jiehen  febeint,  baß  ber  in  fo  popem  @rabe  ein* 
tape  Äänig  ficb  Bon  nun  an  gern  ein  prunfl)afteS  ^ofleben  gefallen  ließ. 
Piefe  Sebeutung  fann  hoch  auch  her  Skrmehrung  ber  Älaffen  be« 
rrthen  Slblrrerben«  nebft  bem  CrbenSfefte,  ba«  in  töerlin  nach  her  Stücf* 
trbr  te«  &cf«  am  18.  Sanuar  1810  ceranftaltet  würbe,  nicht  jufommen. 
Senn  ber  ^cc^ariftoFratifch>e  Port  an  jenem  Sage  fich  in  feiner  ge» 
wohnten  grimmigen  unb  biffigen  SBeife  äußerte,  fo  ärgerte  e«  ihn  freilich,  in 
©ejellfcbaft  eine«  Scpaufpieler«  (Sfflanb)  becorirt  Worben  ju  fein.  Sie« 
ear  aber  fcpwerlicp  ein  91u«fluß  be«  .ruffifepen  SBefenS",  fonbern  eper  ba« 
©egentheil.  (Sropfen,  heben  Per!'«  I,  228,  I.  Stuft). 

19)  911«  bie  Äßnigin  im  9tuguft  be«  Sapre«  1807  Bernapm,  baß 
3ffcanne«Bon*DtüIler,  welcher  im  Segriffe  ftanb,  fich  ber  Stapcleonifcpen  Sonne 
suneenten,  um  feine  ©ntlaf jung  eingefommen,  ließ  fie  ihm  au«  SJtemet 
nadj  Serlin  fchreiben:  .Sie  finte  e«  unbegreiflich,  baß  er  biefen  ©nt* 
l’W  taffen  fenne;  er  fette  hoch  bem  Staate  in  biefer  ©pod;e  bie 

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70 


©darnach  nicht  antßun,  an  ifjm  ju  »erjweifeln;  fein  Einfommen  werte 
ihm  bejaht  werten;  er  foHe  an  fo  »iele  liebcnbe  grcunbe,  an  fein  geben 
Sriebricfjg  teS  ©roßen  (tag  !)Jiüller  ju  fc^reiben  getagte),  an  fo  »iele  gute 
©eiten  teg  preußifcben  ©taateg  tenfen.  2lbami  ©.  333. 

20)  Slergl.  ten  fdjönen  Sluffaß  »on  SJiicbael  SBemapg  im  .SJlorgen* 
blatt*  1864  9tr.  4. 

21)  Sluch  diejenigen , teren  Stabei  tie  Königin  im  geben  getroffen, 
tbseilten  tie  tiefe  allgemeine  trauet,  ©o  fcbrieb  ©neifenau  am  27.  3uli 
1810  an  feine  grau  augSerlin:  „@o  eben  ertönen  alle©lctfen  bei  tem 
Einzüge  ter  töniglitben  Reiche,  ©ie  Wirt  in  taffelbe  Bimmer  gebracht, 
Worin  fte  cor  16  3al;ren  tie  fbultigungcn  ter  §aupt|tabt  juerft  empfing. 
3d?  fann  cg  nid>t  über  mich  gewinnen,  ten  trauerjug  mit  anjufe^en. 
3u  »iele  Erinnerungen  fnüpfen  ficb  baran,  unb  mit  tem  geben  tiefer 
grau,  obwohl  fte  meine  tabel  oft  traf,  fcfye  icfj  abermalg  eine  Hoffnung 
»erfchroinben.  3$  bin  wirHicb  in  tiefer  Strauer*.  *)>er(j,  ©neifenau  1,  619. 
SBrgl.  II,  5.  Unb  nach  ten  großen  Erfolgen  ber  ©djlacbt  »on  geipjig 
l>orte  man  ©neifenau  oft  augrufen:  , Sich,  l;ätte  tag  bcch  bie  Königin 
Suife  erlebt!"  Ser  ^)rinjcffm  guife  Diabjiwitl  aber  f (briet  er  am 
22.  Ddober  1814:  „Slber  warum  muß  bie  nicht  mcl;r  leben,  bie  tiefeg 
@(iicf  in  ben  befeeligenbften  ©efüblen  genoffen  hätte,  unfere  »erewigte 
.Königin!  ©olchc  ^Betrachtungen  mifchen  Sgermuth  in  ben  Siecher,  aug 
bem  fo  tiefe  Büge  ung  ju  tbun  »ergönnt  ift*.  iVrß,  ©neifenau  111,478, 
79.  — Sie  $)rinjeffm  Söilbelm  bagegen  am  13.  Sec.  1810  an  ©tein, 
alfo  nicht  mehr  unter  bem  Eintrucf  teg  erften  überwältigenben  ©chmerjeg: 
,3n  einem  SÖriefe  läßt  eg  fid)  nicht  alleg  fo  augeinanterjefjen,  aber  ntünb* 
liih  würbe  ich  fg  Shnen  fo  gerne  fagen,  wie  fo  alle  2lnnef}mli<bfeit  teg 
gebeng  für  mich  bal;in  ift,  mit  ihr  — f ie  war  fo  unauc-fprecblich  gut 
unb  fcf?wefterlid?  mitfühlenb  gegen  mich,  fo  baß  ich  feben  Slugenblict  unb 
bei  jebem  Ereigniß  fie  ach!  mit  ewigem  .Summer  »ermiffe.  SJie  bereue 
i<h  jebeg  Söort,  wag  ich  gegen  f >c  fann  gefagt  baten;  feittem  eg  mir 
flar  geworben  ift,  baß,  wenn  ich  eg  tfat,  eg  gewiß  nur  9Ieib  war,  ter 
auö  mir  fpra<h  — weil  fte  fo  »iel  beffer  war  alg  ich’.*  ^erß,  ©tein  II,  524. 


(tOS) 

$ru<f  »on  ®fit.  Unjer  (16.  Ärinmi)  in  Citlin.  S<fccntbCT;]«ftr.  17». 


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bet 


ll)rorcttfrl)rn  iilrrijmttlu 


33oit 


in  23onn. 


Ocrliit  SW.  187ö. 

Serlag  Dort  (Sari  .£>  a b e l. 

(£.  iß.  jt'n&sriti'st^t  Bulagsbnttjijanblann.) 

33.  SBiUielra  • Straft  33. 


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3>aä  JRecfjt  ber  Ueberfcfcung  in  frernbe  ©praßen  »itb  »orbeljalten. 


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^ie  Snwenbung  ber  ÜJiatßematif  auf  bte  Statur  entflammt 
bem  unabläffigen  Verlangen  be8  9Jienfdjengeifte8,  bte  »üDe  ber 
BKtßrgenemmenen  Srfdjeinungen  burcß@ebanfen  gufammengufaffen. 
Diejenigen  Gftfcßeinungen , auf  wel<ßc  bi e SJtatßematif  bisher 
mit  bet  größeften  (Sonfequeng  angewenbet  worben  ift,  finb  bie 
im  Saufe  ber  3eit  etfolgenben  DttSoeränberungen  bet  .Körper 
im  «Raunte.  2)ie  SBiffenl'cßaft , weldße  biefe  DrtSoeränberungen 
betrachtet,  nämlitß  bie  tßeoretifdje  fßiedjanif,  ßat  eine  ®n« 
gaßl  non  ©runbbegtiffen  unterer  «Raturanfcßauung  gefdßaffen, 
unb  bie  23eßaublung8weife  ber  medjanifdjen  Probleme  ift  gu  einem 
Sorbilb  für  bie  Äunft  geworben , an  bie  ÜRahir  Stagen  gu  rieten. 
9li<htÖ  befto  weniger  fdßeint  eö  mir  ein  ©ebot  ber  3«t,  auf  bie 
Sebeutung  ber  tßeoretifdjen  SRedßanil  naeßbrü  (fließ  aufmerftam 
gu  matten;  benn  treß  bet  großartigen  SBirfungen,  welche  oon  biefer 
äBiffenftßaft  ßerrüßren,  fdjreitet  bie  wal)te  Stnerfennung  ißrer  23e« 
bentung  nur  ßöcßft  langfam  fort. 

2>a3  üoQftänbige  ©nftem  ber  tßeoretifcßen  SRedjanif  eyiftirte 
anbertßalb  ßunbert  Saßre,  eße  man  fieß  entfdjloß,  baffelbe  für 
bi«  ßonftruction  ber  ÜIRafdßinen  gut  ftrengen  fRicßtfcßnur  gu 
nehmen.  SBenn  unfere  ülecßnifer  gegenwärtig  burdßgeßenbö  bie  ßiu» 
teitßenfcen  Äenntniffe  befitjen , um  bei  jeber  Aufgabe  bie  ?)tin= 
cipieti  bet  SRecßanif  wirfließ  gu  JRatße  gu  gießen,  fo  gebiißrt 
baß  S3erbienft  gum  bebeutenbften  £ßeil  einem  üRanne  ber  neu* 

U.2M.  1*  (111) 


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4 


eten  Beit,  Siebtenbacber,  bcm  Begrünber  ber  äöiffenfdbaft  beS 
3Jiaf<binenbaue8. 

$Die  BeteoHfommnung  ber  fÖiafdbinenconftructiou  gebt  bei 
ben  Bieten,  welche  bie  Stedjnif  »erfolgt,  mit  ber  Berwertbung 
ber  djemifdjen  ^Sroceffc  ^anb  in  ^>anb,  unb  biefe  Bereinigung 
bat  glänzenbe  fRefultate  geliefert.  Unter  ben  Ereigniffen,  reelle 
ben  gegenwärtigen  läuffebwung  ber  Ebemte  begünftigt  ba^en, 
fpielt  gewi§  bie  fäufftcDung  ber  medjanifebett  SBärmetbeorie  eine 
wefentlicbe  Stolle.  Sud?  fanu  im  ©runbe  Stiemanb  bezweifeln, 
baff  bie  ^etnifeben  Borgänge  BewegungSuorgänge  finb.  Unb 
benue<b  wäre  eS  ein  Srrtbum,  zu  glauben,  bafj  in  ben  greifen 
berer,  welche  fidj  heutzutage  ber  (Jbemie  wibmen,  eine  tiefere 
Einficbt  in  bie  Bebeutung  ber  tbeoretifeben  fDtecbanif  »erbreitet 
fei.  Eben  fo  wenig  ift  biefe  Einficbt  ber  SJtebrzabl  ®on  l)en' 
fenigen  geläufig,  welche  bie  organifebe  Statur  z«  erferfdben 
ftreben. 

SDie  .pülfSmittel  zur  Sluffudjung  neuer  ütb^facben  haben 
fid)  für  bie  »etfdjiebenen  3weige  ber  Siaturwiffenfdjaft  fo  feljr 
gefteigert,  baS  ©efidjtSfelb  ift  in  folcbem  9Dta§e  auSgebebnt,  bafj 
efl  immer  fdbwerer  fällt,  auch  nur  für  einen  Bweig  ben  »ollen 
Uebetblicf  zu  beb«lten.  35aburcb  wädjft  aber  ber  SBertb  ber 
tbeoretifeben  SJtedjanif  als  eines  gunbamentS  für  jeben  einzelnen 
Slbeil  ber  Staturw'iffenfcbaft.  SDenn  flein  ift  bei  bet  ©tedjanif 
bie  Babt  ber  BorauSfefjungen , unb  nur  bie  Entfaltung  berfelben 
reich-  Stau  barf  nid}t  erwartetf,  bafj  bie  fDtedjanif  alle  Stätbfel 
ber  Statur  löfe,  aber  fie  giebt  jebem  gorfdbet  bie  Äraft  ber  $Di8» 
ciplin. 

Eiue  Utfad^e,  weSbalb  bie  SJtecbanif  in  »iel  weiterem  Um» 
fange  gerühmt  als  gelaunt  ift,  liegt  wobt  in  ber  Meinung,  ibl 
Söefen  formte  nicht  ohne  b^be1*  tnatbematifdje  Äenntniffe  auf» 
gefaxt  werben.  3cb  mödjte  »erfuebeu,  baS  ©egentbeil  zu  Ze'ßen- 
Um  bie  Bebeutung  biefer  SBiffenf^aft  anfebaulieb  zu  ma^en, 
habe  id)  »or,  eine  Steibe  »on  ^auptmomenten  bet  gefcbi^tlicben 

(IW 


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5 


gnteicfelung  treu  gu  fd}ilbern,  »eldje  bie  Snwenbung  ber  9)fa» 
tbanatif  auf  bie  9tatur  genommen  fjat,  uub  beten  ©rgebnifj 
bie  Ausbildung  ber  t^ecretijdjen  2Jled)anif  gewefcn  ift. 

©ie  Stiegen  gelten  ben  $)p traget a 8,  ber  in  bem  fieben« 
tea  Jabrljunbett  cor  (grifft  ©eburt  lebte,  für  ben  ©ntbeefer 
eines  matbematifdjen  ©efefjeS,  welches  baS  SBefen  ber  Jone 
betrifft.  ©er  Snljalt  biejeS  ©efe^eS  befteljt  in  folgendem.  ©ine 
Saite  ccn  beftimmter  ©iefe,  Spannung  unb  Sänge  möge  einen 
gemiffen  Jon  bercorbringen.  ©amt  giebt  eine  Saite  con  der« 
idben  ©iefe  nnb  Spannung,  aber  ber  halben  Sänge,  einen  höheren 
Sen,  welcher  mit  bem  erften  Jon  auf  baS  »oDfommenfte  con« 
ionrrt,  nämlich  bie  obere  Dctace  beö  erften  JoneS.  ©er  be« 
gnemeren  33orfteUung  wegen  werbe  ber  guerft  genannte  Jon  gum 
©runbton  unb  feine  Saitenlänge  gnr  ©inbeit  genommen,  biefer 
Sen  beifje  in  unferer  SegeicbnungSweiie  A,  bann  giebt  eine 
Saite  con  ber  Sänge  J baS  näcbft  l^ötjere  a,  ferner  eine  Saite 
een  ber  Sänge  f bie  obere  Quinte  beS  ©runbtoneS,  nämlid)  ben 
Sen  E,  eine  Saite  con  ber  Sänge  f-  bie  obere  Quarte  beS 
©runbtons,  nämlich  ben  Jon  D.  hieraus  wirb  gefd)loffen, 

ba|  bie  Saitenlänge  ber  Quarte  D gu  ber  Saitenlänge  ber 
Quinte  E in  bem  SPerhältnifj  con  f gu  ff,  baS  beifjt  in  bem 
Sletbältnife  con  9 gu  8 fte^t.  SBenn  alfo  gwei  Jene  baS  Sn« 
tercall  eines  gangen  JoneS  haben,  f°  beträgt  bie  Saiten« 
länge  bee  tiefereu  JoneS  | con  ber  Saitenlängc  beS  feeren 
SoneS.  50lit  $ülfe  biefer  53orfd)rift  laffen  fid)  bie  Saitenlängen 
für  bie  Jüuc  berechnen,  welche  noch-  fehlen,  um  bie  Getane  con 
bem  ©runbton  A bis  jit  bem  nächft  böseren  a auSgufnllen. 
SBenn  man  mit  bem  l)5t)eren  a beginnt  unb  con  biefem,  weldjeS 
bie  Saitenlänge  haben  fotl,  Ijerabfteigt,  fo  folgt  in  bem  Sn« 
tercall  eines  gaugen  JoneS  ber  Jon  G unb  bat  nad»  ber  an« 
gegebenen  Sßorfdbrift  bie  Saitenlänge  A»  welche  f con  ber 
Saitenlänge  £ beS  JoneS  a beträgt;  herauf  folgt  wieber  in 
bem  Sntercaü  eines  gangen  JoneS  ber  Jon  F unb  bat  bie 

(»13) 


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6 


©aitenlänge  Welche  £ oon  ber  ©aitenlänge  be§  5£cueb  G 
aubmadht.  3n  gleidjer  SSBeife  folgt  bei  bem  .£>eruntergehen  auf 
bie  Quarte  D,  welche  bie  ©aiteulänge  £ hat>  in  bem  SnteroaEl 
eined  gangen  Joneb  ber  $on  C mit  ber  £ mal  größer  genomme* 
nen  ©aitenlänge  ££,  unb  ^ietauf  ebenfalld  in  bem  SnteroaU 

eined  gangen  Swned  ber  ©on  B mit  ber  wieber  £ mal  größer 

* 

genommenen  ©aitenlänge  £££.  äuf  biefe  Söeife  finb  bie  Saiten» 
längen  ber  3n}i!djenfiufen  gefunben,  bie  fo  befinirte  Stonlerter 
A,  B,  C,  D,  E,  F,  G,  a ift  bie  borifdhe  ©onleiter,  unb 
bab  23erhältnifj  ber  ©aitenlängen  für  bie  beiben  Jone  A unb  Bf 
beägleidjen  für  bie  beiben  ©öne  E unb  F,  bei  benen  baS  3n» 
teroall  eined  falben  ©oned  auftritt,  befommt  beti  SBertfj 
256  gu  243. 

©ab  wirtliche  älter  biefer  Siegeln  mochte  fehr  fdimierig 
gu  beftimmen  fein.  5)ian  barf  annehmen,  ba§  Platon  bie» 
felben  oon  ben  ^hithagoräern  ftberfommen  hat.  ©ie  ätennt* 
ni§  ^latond  oon  biefen  Siegeln  geht  ungweifelljaft  aub  einer 
©teile  beb  ©ialogb  ©imäod  Ijeroor.  ©ort  wirb  nämlich  oor* 
getragen,  wie  ©ott  ben  £cib  unb  bie  ©eele  beb  SJieufdjen  ge» 
bilbet  Ijabe,  unb  nadhbem  oon  ber  SJiifdjung  ber  ©eele  gebrochen 
ift,  tyeifjt  eb  weitet:  (Sr  begann  aber  auf  bie  folgenbe  Sßeife  gu 
tfyeilcn.  Unb  nun  wirb  bie  Steilung  genau  in  ben  93erfyält* 
niffen  befdhrieben,  welche  nach  ben  fo  eben  angeführten  ©runb» 
fäljen  bie  ©aitenlängen  bet  ©öne  bei  einer  borifdjen  ©onleiter 
haben,  ©en  äbfchlufj  bilbet  bab  SBerhältnifj  oon  256  gu  243, 
welcbeb  bem  Snteroall  eineb  halben  ©oned  entflicht, 
©ie  3at)len  biefeb  S3erhältniffeb  finb  aber  an  fidh  fdhon  oiel  gu 
grofe,  alb  baff  man  an  eine  gufäflige  Uebereinftimmung  benfen 
formte.  $)laton  empfanb  bie  SBirtung  bet  ^avmouie  auf  bab 
©emüth,  er  fannte  bie  3ahleneerhältniffe  ber  ©aitenlängen  einer 
borilch  geftimmten  Dctaoe  unb  nahm  an,  bafj  biefe  3<*^lcnDer» 
hällniffe  ber  menf<hli<hen  ©eele  felbft  inne  wohnen. 

©ie  Slachridjt,  baf)  ^pthagorad  felbft  biefe  3ahl«nPer» 
(UO 


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7 


^Kniffe  entbecfi  habe,  fließt  für  unS  auS  einet  feht  fpäten  unb 
trüben  Duelle,  fcem  im  4.  3ahrhunbert  nach  <5^rifti  ©eburt  Bon 
3ambli«huS  Berfahten  2ebeu  beS  fPpthagoraS.  Sambli* 
c|b3  ergäbt,  unb  übereinftiramenb  berichten  SRifomachuö  unb 
SoethiuS,  bah  $>pthagota8  barübet  nachgebacht  habe,  ob 
etwa  baS  ©eher  burd)  ein  untrügliches  $ülfSmittel  unterftü^t 
seiten  fönnte,  wie  baS  ©eben  butd)  ben  ©itfel,  baS  gineal 
irab  baS  SBifier,  unb  wie  baä  ©efüljl  butch  bie  SBage  unb  bie 
(srjtnbung  bet  ÜJiafee  untetftüfct  wirb.  2)a  ^ätte  et,  an  einet 
€d;mtebe  norbeigeljenb,  gewiff ermaßen  butch  göttliche  Süguug, 
g^ört,  wie  bie  Jammer,  inbem  fie  baS  @ifen  auf  bem  DlmboS 
(hingen,  confonirenbe  Üöne  heroorbtachten.  ©lücflich,  einen 
8eg  gut  ©treichung  feines  3ielcS  gefuuben  3U  haben,  hätte  et 
jaerft  bie  Rammet  in  bet  ©chmiebe  geprüft  unb  batauf  gu 
$aufe  einen  33erfuch  angefteUt.  6t  befeftigte  nämlich  an  einem 
wägetest  angebrachten  ©tabe  Biet  ©aiten  Bon  gleichet  2)icfe 
nnb  gänge,  Rannte  fie  burdj  Biet  ©ewichte  welche  fich  wie  bie 
B«hlen  6,  8,  9 unb  12  Bedielten  unb  bewirfte  jo,  bah  für  bie 
erfte  ©aite  als  ©runbton  bur<h  bie  jweite,  britte  unb  Biette 
©aite  bie  Duatte,  bie  Duinte  unb  bie  Dctate  angegeben  wur= 
ben.  hierauf  beftimmte  et  für  baS  3ntetBall  beS  gangen  ÜoneS, 
welches  bie  Duarte  unb  bie  Duinte  beS  ©runbtoneS  bitten,  baS 
Skrhältnifc  Bon  8 ju  9,  unb  aus  biefem  SSerhältnih  in  bet  Bor« 
hin  befchtiebenen  Söeife  bie  Bablenoerhältniffe  für  eine  neue 
Scnleitet,  unb  biefe  ift  bie  botifthe  Slonleitet. 

füterfwürbiger  SBeife  wirb  \\tx  ein  SSetfuch  befchrieben, 
ben  auf  gerate  biefe  ülrt  in  bet  SBirflichfeit  webet  t)  t h a = 

goraS  noch  einet  feinet  ©djüler  angefteUt  haben  fann. 
$enn  eS  ift  jwar  tintig,  baff  bei  gwei  ©aiten  Bon  gleichet 
bange  unb  SDicfe  bie  ftärfer  gekannte  ©aite  beu  höhnen  2on 
henjorbtingt;  eS  ift  aber  nicht  richtig,  bah  bei  bet  hoppelten 
Spannung  bie  obere  Dctaoe  entfteht.  Um  bie  obere  Dctaoe 

gu  erhalten,  muh  bie  Bierfache  ©pannung,  für  bie  obere  Duinte 

a») 


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8.' 


eine  Spannung  gleich  £ non  bet  Spannung  beß  ©runbtonß,  für 
bie  obere  Quarte  eine  Spannung  gleich  V »on  ber  Spannung 
beß  ©runbtonß  angewenbet  »erben.  üDie  Spannungen  muffen 
fiep  bei  gleicher  Sänge  unb  SDicfe  ber  Saiten  ftet§  umgefebrt  »ie 
bie  Quabrate  bet  Saitenlängen  für  gleiche  SDicfe  unb  Spannung  ber 
Saiten  »erhalten,  bamit  bie  3nter»alle  biefelben  werben.  2)ie 
3aplen  ber  »erfepiebenen  ©ewiepte,  welche  3amblicpuß  anführt, 
finb  alfo  nicht  auß  ber  ^Beobachtung,  fonbern  auß  ber  willfüt» 
liehen  SJteinung  her&°rgegangen,  &ah  Mef«  3aplen  ben  »irflidj 
beobachteten  3al)len  für  bie  entfpreebenben  Saitenlängen  itmge* 
fehrt  proportional  fein  müffen.  Unb  gwar  hat  bie  Umwanblung 
beö  thatfäcplicp  beobachteten  ©efepeß  für  bie  Saitenlängen  in 
baß  falfcpe  ©efep  für  *>ie  Saitenbelaftungen  »ohl  bagu  ftatt» 
gefunben,  um  bie  ©rfinbung  beß  fPptpagoraß  in  einen  näheren 
Sufammenhang  mit  jener  Sage  »on  bet  Sdimiebe  gu  bringen. 

Stuf  einem  fefteren  33oben  ruht  unfere  Äunbe  »on  ben  SHr* 
beiten  beßarepimebeß,  welcher  im  3apre212  »orSprifti  ©eburt 
bei  ber  ©innahme  »on  Sptafuß  burch  bie  Oißmer  in  h^pem 
Ultet  fein  geben  enbigte.  Seine  beiben  ©üeper  über  baß  ©leid?* 
gewicht  ober  über  bie  Sd;werpunfte  bet  ebenen  Figuren  finb 
unß  erhalten.  arepimebeß  hat  pier  guerft  baß  9>rixtctp)  beß 
Jpebelß  aufgeftellt  unb  baburch  für  bie  gange  gehre  »om  ©leid)' 
gewicht  bie  33apn  gebroden.  ©r  geht  ba»on  auß,  bah  eine 
Sinie,  bie  in  gwei  fünften  »on  gwei  gleich  f<h»eren  ©ewiepten 
belaftet  ift,  fi<h  iw  ©leidjgewicpt  befinbet,  fobalb  ber  gwifeben 
ben  beiben  angriffßpunften  in  ber  SRitte  Hegenbe  $>unft  unter» 
ftüpt  ift,  unb  nimmt  alß  felbft»erftänblich  an,  bah  ber  iit  bem 
Unterftüpungßpunft  außgeübte  2)rucf  ber  Summe  jener  beiben 
©ewidjte,  alfo  bem  hoppelten  einzelnen  ©ewiept  gleich  ift*  >pier* 
auß  wirb  gefolgert,  bah,  wenn  auf  einer  Sinie  in  lauter  gleichen 
©ntfernungen  eine  9ieipe  »on  gleichen  ©ewiepten  angebradjt  ift, 
bie  SÖirfung  biefer  ©ewiepte  aufgehoben  wirb,  inbem  man  ben 

Sftittelpunft  gwifcpeit  ben  beiben  äufjerften  ©ewiepten  unterftüpt, 
(116) 


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9 


unb  ba§  Die  SBirfung  btcfer  ©ewidjte  genau  biefelbe  ift,  rote  Die 
©irfung  eineg  einzigen  in  bemfelben  ÜRittelpunfte  angebrachten 
mit  ber  Summe  ber  einzelnen  ©ewidjte  übereinftimmcnben  ©e* 
njicbtS.  Um  nun  bei  einer  8inie,  bie  iu  jmei  bejtimmten  punf* 
teu  von  zwei  ungleichen  ©eroid^ten  belaftet  wirb,  baS  ©efefj 
für  ben  Drt  beS  Unterftüfcungöpunfteö  31t  ermitteln,  wirb  juerft 
angenommen,  baff  bie  gegebenen  ©ewicbte  [ich  wie  jmei  gange 
Sagten  verhalten.  ©8  betrage  beifpielSweife  ba8  eine  @e* 
tcicht  brei  Pfunb,  ba8  atibere  fünf  Pfunb,  bie  StngriffSpunfte 
feien  um  vier  gu§  non  einanber  entfernt.  3ept  werbe  bie  be* 
laftete  Säue  auf  ber  Seite  be8  S)reipfunbgewicht8  um  einen  gufj, 
auf  ber  ©eite  be8günfpfunbgewid)t8  um  zwei  guf;  verlängert.  Sann 
fann  ba§  IDreipfunbgewicht  burd)  brei  einzelne  Pfunbe  erfefjt 
»erben,  von  Denen  ba8  mittelfte  Den  fSngrifföpunft  beö  2)rei* 
pfunbgermchtS  behält,  bie  anberen  beibeu  pfunbe  aber  auf  bet 
Siuie  vou  Dem  mittelften  Pfunbe  red)t8  unb  linfe  um  einen  gufj 
abftehen.  ©8  fann  gleichzeitig  ba8  günfpfunbgewicht  Durch  fünf 
einzelne  Pfunbe  erfefct  werben,  von  benen  ba8  mittelfte  ben  2ln* 
gtiffSpunft  be8  günfpfunbgewidite  behält,  ferner  z'vei  Pfunbe 
nach  rechts  unb  groei  pfunbe  nad)  linfö  in  ber  ©ntfernung  von 
je  einem  guf}  auf  ber  8iuie  angebradit  finb.  SDann  befemmen 
Dasjenige  Pfunb  von  ben  breien  unb  baSjenige  Pfunb  von  Den 
fünfen,  welche  einanber  am  nädjften  finb,  auch  Den  Slbftanb  von 
einem  guf}.  Sin  bie  ©teile  bet  Velaftung  mit  einem  IT'tei* 
pjunbgewicht  unb  einem  günfpfunbgewicht  in  ber  ©ntfernung 
ton  vier  guf}  ift  alfo  eine  Selaftung  mit  8 einzelnen  Pfunben 
in  lauter  ©ntfernungen  von  einem  guf}  getreten,  wobei  bie 
äufjerften  beiben  Pfunbe  vermöge  ber  nach  beiben  Seiten  au8* 
geführten  Verlängerung  ber  urjprünglidjen  £inie  um  7 gufj  von 
einanber  abftehen.  gür  biefe  Slnorbnung  ift  bie  ÜJlitte  ^roifdjen 
Den  beiben  äufjerften  Pfunben  ber  UnterftütjungSpunft,  unb  ber* 
jelbe  punlt  nutfj  auch  ber  Unterftiitjungepunft  für  bie  urfprüug* 
liehe  Velaftung  fein.  S)er  Slbftanb  jener  SOtitte  von  Dem  Eingriffs* 

(117) 


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10 


fünfte  beg  S5reipfuubgewid)tg  beträgt  2^  gu&,  ber  Slbftanb  ber* 
felben  SRitte  »on  bem  Slngriffflpunfte  beö  Bünfpfunbgewidp 
H Su6.  mithin  fielen  biefe  35iftaugen  in  bem  Berfyältniffe  bet 
Sagten  5 gu  3.  Stlfo  »erhalten  fids  bei  einer  »on  gwei  unglei* 
c^ert  ©ewidjten  belafteteu  8inie  bie  (Entfernungen  beg  Unter» 
ftüfjunggpunfteg  »ou  ben  Slngriffgpunften  ber  beiben  ©ewidjte 
umgefeljrt,  wie  bie  beiben  ©ereilte.  55arin  befielt  aber  bag 
^rincip  beg  4>ebelS. 

9iadjbem  &rd)imebeg  biefeS  $)rincip  allgemein  für  gwei 
©en.ud)te  bewiefen  l)at,  bie  in  bem  Sierljattuiffe  »on  gwei  gangen 
Sailen  fteljeu,  beweift  er  bajjelbe  audj  für  bie  5lnnal)me,  bafj 
bag  Berl)ältni&  ber  beiben  ©ewidjte  nicfyt  butdj  bag  93erl)ältni|i 
»on  gwei  gangen  Salden  auggebrücft  »erben  fann,  bag  fyeijjt, 
irrational  ift.  hierbei  gebraucht  er  bag  $)oftulat,  baf)  aud)  in 
einem  folgen  Balle  bie  ^lerfteQung  beg  ©leidjgewicbtg  burdj  , 
Unterftüpung  in  einem  fPunft  ber  belafteten  8inie  möglid)  fein 
müffe.  35er  Unterftüpunggpunft  für  gwei  ©ewidbte,  bie  in  ge» 
toiffen  fünften  einer  Sinie  wirten,  ift  gugleid)  ber  gemeinfame 
©dbwerpuntt  biefer  beiben  ©ewidjte.  35ag  ißrincip  beg  £ebelg 
enthält  alfo  bag  ©efefj  für  bie  Sluffinbung  beg  gcmeinfamen 
©djwerpunfteg  »on  gwei  ©ewic^ten.  fRadf  ber  BeftfteUung  bie* 
feg  ©efeijeg  fud)t  9lrd)imebe§  ben  ©djwerpuntt  für  ein  ebeneg 
^Parallelogramm  unb  für  ein  ebeneg  35reierf  auf,  inbem  et  bag 
©ange  in  fernere  Keine  Steile  gerlegt.  35ie  Söfac^t  feineg  @e* 
niug  ergwingt  aber  aud?  bie  Beantwortung  ber  Brage  nad)  bem 
©djwerpunft  einer  ebenen  Bigur,  beren  Begrengung  ang  einem 
beliebigen  Steile  einer  Parabel  unb  einer  geraben  üinie  befteljt. 

©iue  anbere  ©d)rift  beg  ISrc^iraebeg,  übet  bie  Äörper, 
»eldje  in  eine  Blüffigfeit  eingetaudjt  finb,  ift  nid)t  in  bem  grie* 
d)ifd}en  Driginal,  fonbern  nur  in  einer  im  fedjggeljuten  3atsr» 
Ijunbert  »on  9fifolaug  Jartaglia  »erfaßten  lateinifdEjen  Ueber* 
fefjung  unb  umwtlftänbig  auf  ung  gefommen.  2)iefe  ©djrift 
fteüt  bie  für  bie  Jporie  ber  Blüffigteiten  funbamentalen  ©äfje 
(118) 


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11 


auf,  bajj  in  einet  jufammenhängenben  flüffigfeit  bie  mehr  ge« 
brücften  St^eile  banad)  ftrebcn,  bie  weniger  gebntcften  3U  Bertrei« 
ben,  unb  ba§  in  einet  jolchen  rufyenben  flüffigfeit  bet  55rucf 
eines  S-tyeileS  butd)  bie  flüffigfeitSfäule  gemeffen  wirb,  bie  fid) 
in  ienTred)ter  Sttchtung  übet  bemfelben  beftnbet.  hieraus  wirb 
bie  Folgerung  gezogen,  bah  bie  Oberfläche  einet  gufammenbän» 
genben  unb  rubeuben  flüffigfeit  eine  Äugel  fein  muffe,  beten 
SJtittelpunft  mit  bem  SJlittelpunft  bet  ©rbe  jufammenfäKt.  2)ie 
Klarheit  unb  bie  ©rohe  bet  Staturanfdjauung,  welche  fid)  hiet 
funb  giebt,  fann  unS  nur  mit  hoher  öewunberung  erfüllen. 
2trd)imebe8  bemeift  ferner,  bah  baS  ®ewid)t  eines  in  eine 
flüfftgfeit  eingetaudjten  Körpers  um  baS  ©cwid)t  ber  »erbräng« 
ten  flüffigfeitSmenge  fleiner  wirb,  unb  beftimrat  burd)  eine  utt» 
gemein  fcharfftnnige  Ueberlegung  bie  Sage,  in  meldet  Äörpet 
con  beftimmter  ©eftalt,  in  ber  flüffigfeit  fchwimmenb,  in  Diuhe 
bleiben  fonnen. 

3nbem  ich  barauf  Bereichte,  bie  Äeuntniffe  bet  Stlten  Bon 
ben  ^Bewegungen  ber  ©eftirne  bat^uftellen,  wenbe  ich  mich  jefct 
ju  bem  SBeginn  bet  neueren  Beit. 

Sie  ©podje,  in  weichet  alle  Kräfte  ber  S)tenfd)heit  gu  einem 
neuen  Sehen  erwachten,  brachte  einen  SJtanu  hersor,  in  bem 
ftcb  bie  reidjfte  fülle  bet  fünftlerifdjen  unb  ber  wiffenfd)aftlid)en 
Begabung  Bereinigt,  ben  Seonarbo  ba  SBinci.  3hm  war  bie 
Statur  eine  Sehrmeifterin  auf  hoppelte  Slrt.  31uS  ber  33eoba<h* 
tnng  bet  Statut  fd)öpfte  er  für  feine  Ausübung  ber  Äunft  bie 
höchfte  Söahrheit  in  ber  SDarftellung  unb  für  feine  ftrenge  ©pe= 
tulation  bie  tiefe  ©inficht  in  baS  ©efetjmähige.  35ie  Bon  ihm 
hinterlaffeuen  SJtanufcripte,  bie  nach  feinem  im  3al)re  1519  er« 
folgten  Slobe  burch  Biele  $änbe  gingen  unb  jerftreut  würben, 
pnb  aud)  gegenwärtig  nur  brudjftücf  wette  publicirt  worben;  bteS 
hängt  mit  bem  Umfianbe  jufammen,  bah  Seonarbo  wiffenfchaft» 
liehe  Unterfud)ungen,  ©ntwürfe  ju  SDtafchinen,  3eid)nmtgen,  unb 
jwar  aHeS  gerabe  fo  eingetragen  ljc»t,  wie  feine  in  ihrem  SBedjfel 

fn») 


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12 


eingtge  Strt  bet  Sefd)äftigung  eg  mit  ftd^  braute,  ©djöpferifcbe 
©ebanfen  auf  ben  »erfc^iebcnften  ©ebieten  ber  fJtaturmiffenfcbaft 
finben  fit^  in  beit  publicirten  Steilen  feiner  fülanufcripte  ange» 
beutet.  fJiur  bie  Söiebergabe  einer  grojjen  iängabl  Bon  ©injel* 
feiten  tonnte  ^ier  ein  annäbernb  diaracteriftifdjeg  33ilb  ^ereor* 
bringen.  3d)  begnüge  midj  beö^alb,  eine  ©teile  auß  Seonar» 
boß  Jractat  über  bie  SOialerei  außgubeben,  in  welkem  er 
feiner  Sluffaffung  Bon  bem  allgemeinen  SBefen  ber  äBiffenfd)aften 
ein  IDenfmal  gefegt  ba*-  @r  fpridjt:  „SJtan  fagt,  bafj  eine 
•Renntnifj  mecbanifd)  fei,  meiere  Bon  ber  ©rfabrung  erzeugt  ift, 
bafe  eine  jtenntnifj  miffenjdjaftlid)  fei,  meldje  in  bem  ©eifte  ent* 
fpringt  uub  enbigt,  unb  baff  eine  Äenntnifj  fyalbmedjanifcf)  fei, 
bie  in  bem  ©enfen  entfpringt  unb  mit  einer  Ausübung  burdj  bie 
^>anb  enbigt.  9lbet  mir  fdjeint,  bie  äSiffenfdjaften  feien  eitel 

unb  roll  Srrtbüniern,  bie  nidjt  auß  ber  ©rfabrung,  ber  SÖiutter 
aller  ©emifcbeit,  enttyrungen  finb,  unb  bie  nidjt  in  ber  Grrfabruug 
enbigen,  baß  bei  beneu  Anfang,  fDiittel  unb  ©itbe  nidjt 

burd)  einen  ber  fünf  ©inne  binburdjgebt.  SBenn  mir  fogar  au 
ber  ©eroiffbeit  einer  ®ad)e  jmeifeln,  meldie  burd)  bie  ©inne  »er* 
mittelt  mirb,  unt  mie  Biel  mehr  müffeit  mir  an  fo  Bielen  IDin* 
gen  jmeifeln,  bie  ben  ©innen  miberftreben,  unb  über  bie  gmi» 
fd>en  ben  fPbilofopbcn  Streit  beftel)t.  SDa,  roo  ber  ©runb  fehlt, 
muf)  ber  Streit  an  bie  ©teile  treten;  bei  ben  fieberen  ©ingen 
• gefd)iel)t  baß  aber  nicht.  2Bir  bürfen  barum  fagen,  mo  man 
fid)  ftveitc,  fei  teiue  mal)re  üBiffenfdiaft;  benn  bie  SBabrbeit  bat 
einen  beftimmten  Clußbrucf;  ift  biefer  außgefyrodjen,  bann  ift  ber 
Streit  für  bie  ©migfeit  oerniebtet,  unb  meitn  ber  Streit  bennod)  fid) 
mieber  erbebt,  jo  ift  eß  tboridjte  unb  oermirrte  SBiffeufdiaft,  unb 
nid)t  neugeborene  ©emifebeit-  Slber  bie  mabteu  SKiffenfcbafteu 
finb  bie,  melcbe  bie  SSSeieljeit  einbringen  läfst  burd)  bie  ©inne, 
fo  bafj  bie  ftreitenben  Parteien  fd;meigen  müffeu;  biefe  Söiffen* 
fd)aften  fpeifen  ben  §orfd)er  nidit  mit  träumen  ab,  fonbern  fie 
febreiten  Bon  mabreit  unb  fidiercn  fPrincipien  außgel)enb  allmäblig 
O*o) 


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13 


ltnb  mit  richtigen  ©cblüffen  oorwärts  bis  an  baS  ©nbe,  wie 
man  bicS  an  ben  mattjematifdjen  ©runbwiffenfcbaften  oon  bcr 
3n^l  unb  Dom  ÜRahe,  nämlich  bet  9(ritfymetif  unb  bet  ©eome» 
trie,  bemerfen  fann.  SDenn  biefe  banbeln  mit  ber  becbften  2Babr* 
i?eit  Den  ben  unftetigen  unb  ben  ftetigen  ©rohen." 

©rft  baS  folgenbe  Sabrbunbert  DoUgog  bie  Umwanblung  bet 
fRaturwiffenlchaft,  welche  Beonarbo  im  ©inne  batte. 

■£>ter  feffelt  unS  Dor  allem  bie  ©eftalt  beS  ©aliläi.  ©r 
bat  feine  ©ntbeefungen  „in  ben  beiben  neuen  SBifjenfcbaften"  in 
baS  ©eroanb  Den  ©efptädjen  gefleibet,  reelle  brei  fOlännet 
©alniati,  ©agrebo  unb  ©implicio  an  fed)8  Sagen  ita* 
liänifcb  mit  einanber  führen.  2tm  britten  Sage  fommen  fie  gu 
bet  Üectüre  einet  lateinifd)  d erfaßten  ©tbrift,  beten  einzelne  9tb* 
febnitte  fie  ficb  gegenfeitig  erläutern.  3)ie  ©$rift  beginnt  mit 
ben  SBorten:  „33on  einem  uralten  ©egenftanb  wellen  wir  eine 
neue  SBijfenfcbaft  Dorttagen.  9iicbt§  in  bet  fRatur  ift  wobl  älter, 
als  bie  Bewegung,  unb  Diele  SBüdjer  finb  barüber  gefdjrieben, 
aber  fie  haben  nur  einen  geringen  3«balt.  ©S  ift  berannt,  bah 
bie  Bewegung  Der  faQenben  Äörper  immer  fdjnellev  wirb;  aber 
nach  welchem  ©efefj  bie  Sefd^leunigung  erfolgt,  baS  weif?  man 
nid?t.  deiner  bat  bisher  gegeigt,  bafj  bie  IRäume,  welche  ber 
faöenbe  Äcrper,  oon  ber  5Rube  beginflenb,  in  gleichen  3eüen 
burdjläuft,  ben  ungerabeu  Bahlen  Don  ber  ©inbeit  an  proportio* 
nat  finb.  9Jlan  bat  bemerft,  bah  bie  Äörper,  fobalb  fie  gewot* 
fen  werben,  irgenb  eine  frumme  fcinie  bejehreiben.  S5o<b  9lie* 
manb  bat  bis  je£t  gefagt,  bah  biefe  frumme  8inie  eine  Parabel 
ift.  5MeS  alles  unb  noch  anbereS  wirb  dou  mit  bewiefen  wer* 
ben.  5BaS  id)  aber  höher  febähe,  eS  erfd?lie§t  ficb  bamit  bet 
Bugang  gu  einer  weiten  unb  herrlichen  SBiffenfcbaft,  Don  bet 
meine  Arbeiten  bie  SlnfangSgriinbe  finb.  ©eifter  dou  gröberer 
©cbätfe,  als  mein  ©eift,  werben  in  bie  Derborgeneu  Siefen  bie* 
fet  SBiffenfcbaft  einbringen."  ©iefe  prophetischen  SBorte  finb 

guerft  im  Sabre  1638  gu  Sepben  gebrueft  worben.  2)ie  auf  bie* 

(181) 


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14 


fett  ©ingang  folgeube  Betrad)tung  ©aliläiö  begießt  fidj  gu* 
näcbft  auf  bie  gleichförmige  Bewegung,  bei  welcher  bet  bewegte 
Äörper  in  gleichen  3e»ten  immer  gleiche  fRäume  gurücflegt.  Die 
©efebwinbigfeit  wirb  als  eine  bem  burcblaufenen  SBege  birect, 
unb  bet  oerfloffenen  3eit  umgefe^rt  proportionale  ©röfje  befinirt. 
SSenn  bapev  bei  bet  gleichförmigen  Bewegung  bie  oetfloffene 
Seit  burdf  bie  Sänge  einer  Sinie,  bie  ©efdjwinbigfeit  burd)  bie 
Sänge  einet  anberen  Sinie  bargefteUt  wirb,  fo  ift  baö  $)robuct 
auö  bev  3ett  in  bie  ©eiebwinbigfeit  ober  baä  fRecptecf  auß  ben 
beiben  Sinien,  welche  bie  eine  unb  bie  anbere  barfteflen,  baö 
9Rafj  be8  gurücfgelegten  SBegeö.  • 

Um  baß  SBefen  ber  befcbleunigten  Bewegung  bei  ben  fallen» 
ben  .Körpern  gu  ergrünben,  wirft  ©aliläi  bie  Srage  auf,  wel* 
cbe8  wol)l  bie  natürlicbfte  befcbleunigte  Bewegung  fei.  @r  ift 
übergeugt,  baff  bie  Statur  überall  bie  einfaebften  unb  leicpteften 
SDZittel  gebraucht,  unb  gelangt  gu  ber  Annahme,  baf)  feine  Be* 
fcblcunigung  einfacher  fei,  als  biejenige,  bei  welcher  bie  @e» 
febwinbigfeit  in  gleichen  ßerten  immer  um  gleich  nid  gunimmt. 
^piemit  ift  bie  Definition  ber  gleichförmig  befchleunigten  Bewe* 
gung  gefunben,  unb  biefe  Bewegung  untersucht  nun  ©altläi. 
©r  benft  fidj,  baff  ein  febwerer  .Körper  auä  ber  JRubelage  gu 
fallen  beginne,  unb  nach  einer  gewiffen  3eit  eine  beftimmte  ©e» 
fdjwinbigfeit  erreicht  baH  unb  ftü^t  fidj  auf  bie  fo  eben  et* 
wähnte  Annahme,  oermöge  welcher  bie  in  eerfebiebenen  Seiten 
erworbenen  ©efdjwinbigfeiten  fidp  gu  einanber  wie  bie  oerfloffe» 
nen  3eiten  oerhalten.  Se^t  wirb  wieber  bie  Dauer  ber  oer» 
floffenen  Bert  bureb  bie  Sänge  einet  Sinie,  ferner  bie  am  ©nbe 
biefer  3«i  erworbene  ©efebwinbigfeit  be8  Körpere,  ober  feine 
©nbgefebwinbigfeit,  bureb  bie  Sänge  einer  gweiten  Sinie  bärge» 
ftellt,  unb  bie  le^tere  Sinie  fenfreebt  gegen  baö  eine  ©nbe  bet 
erften  Sinie  aufgetragen.  Die  erfte  Sinie  möge  bie  Sinie  ber 
Seiten,  bie  gweite  Sinie  bie  Sinie  ber  ©nbgefebwinbigfeiten  {jefyexi. 
Die  ©efdfwinbigf eiten,  welche  ber  Körper  währenb  ber  eingelnea 
(12») 


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15 


äugenblicfe  feines  bis  jit  einem  gewiffen  3cit^unft  bauernben 
gallenö  annimmt,  »erben  bann  burd)  lauter  auf  ber  Sinie  ber 
Seiten  fenfrecht  fteljenbe  alfo  unter  einanber  parallele  gerabe 
SJinien  auSgebtücft,  bei  benen  bie  eine  Schaar  non  ©nbpunften 
auf  ber  Sinie  ber  Beiten  liegt,  bie  anbete  ©ebaat  non  ©nb* 
fünften  biejenige  gerabe  ßinie  bilbet,  weldje  bie  freien  @nb» 
fünfte  non  bet  8i»ie  ber  3eiten  unb  ber  Sinie  bet  lebten  Gnb« 
gefefewinbigfeit  uerbinbet.  SDiefeS  Grgebnifs  hat  feine  Urfache 
getabe  in  bem  Umftanbe,  baf)  bie  ©efchwinbigfeiten  bei  bet  fyiet 
betrachteten  gleichförmig  beschleunigten  ^Bewegung  fid)  wie  bie 
Berfleffenen  Beiten  Berlwlten.  §üt  jebeS  fleinc  3eitinteroall 
wirb  bet  ^utücf  gelegte  ©eg  burd)  ein  JRedjtecf  gemeffen,  beffen 
33afiS  baS  3eitinteroaH  unb  beffen  .£>öbe  bie  ^gehörige  @e* 
fchwinbigfeit  repräfentirt.  2)ie  ©umme  aller  biefer  fleinen  fRedjt* 
eefe  geljt  aber  in  ben  glächenraum  beS  redjtwinfligen  S)reiecf8 
über,  welches  non  ber  8inie  bet  3eiten,  bet  fiinie  ber  lebten 
©nbgefchwinbigfeit  unb  ber  SerbinbungSlinie  3Wifd)en  ben  bei* 
ben  freien  ©nbpunften  biefer  Sinien  gebilbet  wirb,  folglich  ift 
bet  glädjenraum  biefeS  ©reiecfS  baS  9)lafj  beö  ganzen  ©egeS, 
welchen  bet  faQenbe  Äörpet  in  ber  gegebenen  Beit  burdjlauft. 
©iefer  ©eg  erweift  fid)  genau  als  bie  Hälfte  beSfenigen  ©egeS, 
welchen  bet  Körper  bei  gleichförmiger  ^Bewegung  in  berfelben  3eit 
mit  ber  begüglidjen  ©nbgefchwinbigfeit  jurüdgelegt  haben  würbe, 
©o  erfennt  ©aliläi,  bafj  bei  einer  Born  3uftanbe  ber  fRuhe 
beginnenben  Bewegung,  bei  welcher  bie  ©efebwinbigfeiten  ben 
Betroffenen  3eiten  proportional  finb,  bie  ©ege,  welche  bet  Äßr* 
per  in  oerfdjiebenen  Beiten  jutücflegt,  fich  wie  bie  öuabrate 
btt  Betroffenen  3eiten  ü erhalten.  ÜJiit^in  Bemalten  fich  bie  in 
ben  gleichen  Beiten  gurücfgelegten  ©ege  wie  bie  ungeraben  3ahlen. 

2llle  biefe  theoretischen  ©äfje  finben  auf  ben  freien  gall  ber 
Äörpet  Snwenbung  unb  werben  hier  burd)  ben  angeftetlten  Ser* 
fu<h  noHfommen  beftatigt.  ©ie  hüben  ben  Snhalt  bet  ©efe$e 
für  ben  freien  galt  ber  Äörpet.  ©aliläi  ftubirt  aber 

(123) 


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16 


auch  bie  Bewegung  bet  fdjweren  Äörper  auf  einer 
fehiefen  ©bene,  abgefehen  non  ben  oothanbenen  SBiberftänben, 
unb  ermittelt  bie  ©efe^e  ber  bafelbft  erfolgeuben  gleichförmig 
befchleunigten  Bewegung,  hierbei  ftii^t  er  ftd}  namentlich  auf  ben 
©a£,  ba&,  wenn  ein  Äörper  non  berfelben  |)ohe  entweber  auf 
einer  fd^iefe«  ©beue  nou  beliebiger  Neigung  ober  auch  ganj 
frei  Ijerabfätlt,  bie  ©efchwinbigfeit,  mit  welcher  berfelbe  ben 
©oben  erreicht,  immer  biefelbe  ift.  2lucb  bemerft  ©aliläi,  ba|, 
wenn  bem  Körper  biefe  ©efchwinbigfeit  alß  Slnfangßgefchwinbig« 
feit  beigelegt  wirb,  berfelbe  auf  einer  fdjiefen  ©bene  auffteigenb 
gerabe  jene  £öhe  erreichen  muff.  9luß  bem  früher  ©ntwicfelten 
ergiebt  fidj,  bah  bie  Duabrate  ber  betreffenben  ©efbbwinbigfeiten 
ben  .pöben  proportional  fiub. 

©ie  Bewegung  eines  geworfenen  Äörperß  beftimmt  ©alüäi 
mit  Jpülfe  non  jwei  ©äfjen,  welche  ben  Stang  t>on  allgemeinen 
^rincipien  ber  theoretifdben  fDtecbanif  erworben  hoben.  ©er 
eine  @at}  beftebt  barin,  bah  eine  gleichförmige  gerablinige  Be* 
wegung  fich  ohne  ©nbe  felbft  erhält,  wenn  fie  nicht  burch  frembe 
Urfachen  abgeänbert  ober  gehemmt  wirb,  ©iefer  ©afs  ift  in 
fpäterer  3eit  mit  bem  ©afce,  bah  ein  ruhenbet  Körper  ohne 
frembe  Beranlaffung  nicht  ben  3uftanb  ber  Stube  »erläfjt,  3u» 
fammengefaht  worben,  unb  bie  Bereinigung  hot  ben  Stamen  beß 
©rägheitSgefe<}eß  empfangen,  ©er  anbere  ©ah  beß  ©ali* 
läi  enthält  bie  Stegei  für  bie  3ufammenfehung  ber  Be* 
wegungen  bei  einem  Äörper,  auf  ben  währenb  eineß  f leinen 
3eitinteruaQß  jwei  oerfchiebene  Urfadjen  ber  Bewegung  einwirfen. 
ÜBirb  nämlich  bet  SBeg,  Welchen  ber  Äörper  wähvenb  beß  fleinen 
3eitinteroaUß  in  golge  ber  erften  Urfache  befdireiben  würbe, 
burch  eine  Siuie,  unb  ber  SBeg,  welchen  ber  Äörper  währenb 
beffelben  fleinen  3eitinteroaHß  in  golge  ber  gweiten  Urfache  be* 
fehreiben  würbe,  burch  eine  jweite  Binie  bargeftellt,  fo  befchreibt 
ber  .Körper  währenb  jeneß  3eitinteroaüß  bie  ©iagonale  beß  auß 
jenen  beiben  fleinen  Binien  alß  ©eiten  conftruirten  $)araHelo» 

(124) 


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17 


grammS.  ©ie  angeführten  beiben  Sä^e  wenbet  ©aliläi  auf 
ben  geworfenen  Äßrper  in  ber  SBeife  an,  bajj  er  fid)  benfelben 
guerft  in  bem  2lugenblicfe  benft,  wo  er  feine  hödjfte  Stelle  er» 
reicht  h®*-  3n  biefem  ülugenblicfe  ;ft  bie  ©efchwiubigfeit  beS 
ÄörperS  horizontal  gerietet  unb  bat  eine  beftimmte  ©röfje.  9tun 
erfolgt  bie  3ufammenfehung  einer  horizontalen  Bewegung,  bie 
mit  ber  erwähnten  ©efdjwinbigfeit  gleichförmig  auSgeführt  wirb, 
unb  einer  uertifalen  Bewegung,  bie  burch  ben  gaK  gleichförmig 
befchleunigt  ift,  unb  baö  ©rgebnifj  ift  bie  Bewegung  in  einet 
l'arabel. 

Bon  ber  SJlitte  beS  fiebjehnten  Sa^r^uttbertS  an  nahm 
unter  ben  fDlathematifern  unb  feiner  Beit  (Shriftian 

-^upgenS  bie  erfte  Stelle  ein.  @r  war  1629  im  ^>aag  ge» 
boren,  lebte  in  ben  3aljren  1665  bis  1681,  einer  Slufforberung 
©olbertS  folgenb,  ju  ^>ari8  als  SJtitglieb  ber  bafelbft  neu  ge» 
grünbeten  Slfabemie  ber  SBiffenfdjaften,  lehrte  hierauf  in  bie 
fftieberlanbe  gurücf  unb  ftarb  im  $aag  1695.  SluS  bet  9teit)e 
ton  ^upgenö  arbeiten,  benen  ein  untergönglicheS  Berbienft 
innewohnt,  möd}te  ich  ^unadjft  biejenige  herausheben,  welche  fid) 
auf  ben  Bufammenftofj  ber  harten  elaftifchen  Körper  bezieht. 
@S  h®wbelt  ft<h  hier  um  bie  Aufgabe,  wenn  ton  gwei  harten 
elaftifchen  Äörpern,  bie  wir  unS  als  Äugeln  torftellen  wollen, 
ein  jeber  mit  einer  beftimmten  gleichförmigen  ©efchwinbigteit 
unb  in  berfelben  geraben  Sinie  fich  bewegt,  unb  wenn  bie  bei» 
ben  Äörper  jufammenfto§en,  biejenigen  ©efchwinbigfeiten  anzu« 
geben,  mit  benen  bie  Äörpet  in  gerabet  8inie  fortfdjreiten  wer» 
ben.  ©ie  Waffen  ber  beiben  Äugeln  gelten  als  beliebig  unb 
tonnen  ebenfowohl  ton  einanber  terfdjieben  wie  einanber  gleich 
fein.  JpupgenS  finbet  bie  tollftänbige  Beantwortung  bet  ge» 
fteflten  Aufgabe,  unb  fpridjt  hierbei  bie  folgenben  beiben  Sät}e 
auS.  ©rfteuS:  bie  relatite  ©efchwinbigteit  bev  beiben  Äörper  ift 
tot  bem  3ufammenftohe  ebenfo  grofj,  wie  nach  bem  3ufammen» 
ftofce.  BweitenS:  wenu  mau  bie  Waffe  febeS  ÄörperS  mit  bem 
xi.  u*.  . 2 (ias) 


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18 


Ouabrate  {einer  ©efdjwinbigfeit  multiplicirt  unb  con  tiefen  beiben 
fProbucteu  bie  Summe  nimmt,  fo  ^at  tiefe  Summe  ebenfalls 
cor  bem  3ufammenftof)e  unb  nach  bem  3ufammenftof3e  ben 
gleiten  SBertl). 

Unter  ben  Stefultaten  biefer  Unterfuchung  ift  auch  baö  9te* 
fultat  mit  einbegriffen,  baf;,  men«  eine  fich  bewegenbe  fyarte 
elaftifche  Äugel  auf  eine  ebenfoldje  ruhenbe  Äuget  non  ber  glei* 
djcn  SJtaffe  ftöfct,  bie  erftere  nach  bem  ©tofje  in  Oiu^e  bleibt, 
unb  bie  zweite  bie  Bewegung  ber  erfteren  übernimmt.  IDiefe 
2^eorie  lehrt  ferner,  unb  bie  Erfahrung  beftätigt  eö,  baff,  wenn 
eine  Sieitje  non  einattber  gleichen  garten  elaftifdjen  Äugeln  fo 
angeorbuet  ift,  baff  ihre  SDiittetpunfte  in  einer  geraten  ginie 
liegen  unß  bie  Äugeln  fich  berühren,  unb  wenn  bie  an  bem  einen 
@ube  ber  {Reihe  befinbliche  Äugel  con  ihrer  'Jiac^barfugel  ent* 
fernt  unb  hierauf  gegen  biejelbe  geflogen  wirb,  ber  (ärfolg 
eintritt,  bafj  bie  an  bem  anberen  @nbe  bet  {Reihe  befiubliche 
Äugel  ftdj  iu  ber  gleiten  SBeife  con  ihrer  9iad)bartugel  entfernt. 
2)aö  fo  eben  befdjriebeue  'Phänomen  hat  beS^alb  eine  auäge» 
Zeichnete  Sichtigfeit,  weil  ^upgeuö  auf  bie  hier  ftattfinbenbe 
3lrt  ber  gortpflangung  einer  Bewegung  in  ber  Schrift  „über 
baS  Sicht"  feine  Sl^eorie  con  ber  gjortpftangung  beä 
gi c^te 8 gegrünbet  fyat,  bie  unter  bem  tarnen  ber  Stellen» 
theorie  beb  gic^teS  nod)  gegenwärtig  in  ©eltung  ift. 

$Da8  Borwort  ber  genannten  ©c^rift  bezeichnet  auf  ba$ 
fcharffte  bie  cerfchiebenen  Slrteu  bet  ©rfenntnifi,  welche  ber  rei* 
neu  matljematifdjen  Betrachtung  unb  ber  SJlnwenbung  ber  ma* 
thematifdjen  Betrachtung  auf  bie  {Ratur  eigentümlich  f'nö* 
„3n  biefem  Buche",  he*&t  «8  bafelbft,  „fommeu  Beweife  cor, 
welche  nid)t  ebenfo  gewifj  finb,  wie  bie  geometrifchen  Beweife, 
unb  bie  fich  non  jenen  bebeutenb  uuterfcheiben.  SDenn  bie  @e* 
ometer  leiten  U)te  Sähe  aub  wenigen  unb  unzweifelhaften  4Ptin* 
cipieu  ab;  ^ier  werben  bagegen  nach  ber  Sage  ber  ©ad)*  bie 

sPtincipien  burch  bie  Schlüffe  bewiefen,  welche  man  aub  ben 
(1*6) 


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19 


?>rincipien  ableitet.  @8  ift  aber  möglich,  auf  tiefem  Söege  gu 
einem  fo  hohen  ©rate  non  SBahrfcheinlichfeit  gu  gelangen,  ba§ 
er  ter  ©e»ijfheit  beinahe  gleich  fcmmt.  5)ie8  gefdjieht,  fobalb 
bie  2{jatfad;en,  bie  au8  ben  angenommenen  fPtincipien  gefchloffen 
ftnb,  mit  ben  ©rfdjeinungett,  welche  bie  ©rfahrung  nad)»eift, 
öoQfommen  itbereinftimmen,  namentlich  bann,  wenn  eine  gtefje 
SDienge  non  ©rfcheinungen  »erliegt,  unb  in  noch  höherem  fDtafje, 
wenn  au8  ben  aufgeftellten  .£)ppothefen  neue  ©rfdjeittungen  ge» 
folgert  unb  oorauögefagt  »erben,  welche  fpäter  in  ben  5Xl)atfadjeu 
ihre  SBeftätigung  finben.  äBofetn  aber  bei  meinem  gegenwdrti» 
gen  Vorhaben,  »ie  icE)  hoffe,  alle  biefe  ©rünbe  ber  SSahrfcbein» 
lichfeit  gutreffen,  fo  »erbe  ich  heraus  bie  Verfidjerung  fdjöpfcn 
bafj  bet  bei  tiefer  §orfd}ung  gefugte  ©rfolg  erreidjt  fei,  unb 
bafe  ber  »ahre  ©ad)uerhalt  non  meiner  SDarftellung  faurn  um 
oieleö  oerfcbieben  fein  fönne." 

(Sine  gang  befonbere  SHngiehung  nerleiht  ber  Slbhanb* 
lung  felbft  bie  unbefangene  Offenheit,  mit  ber  ^>uv>gen8  bie 
Ueberlegungen  aiUSeinanbet  fefjl,  welche  ihn  gu  feiner  Theorie 
beö  gichteö  geführt  hoben,  unb  bie  ©djwierigfeiten  auSfpridjt, 
bie  feiner  Sluffaffung  entgegenftehen.  ©ein  ©ebanfengang,  non 
bem  idf  oetfudjen  möchte,  ein  angenäherteS  23ilb  gu  gebeu,  be» 
ginnt  mit  ber  23emerfung,  bafj  ba§  Sidj)t  ung»eifelhaft  in  ber 
^Bewegung  einet  gewiffen  fföaterie  beftehen  muffe.  Jpiet  auf 
(Srben  »erbe  ba§  Sicht  houptfädhlid>  »om  geuer  unb  non  ber 
glamme  hernorgebracht,  »eiche  Körper  enthalten  muffen,  bie  in 
ber  fchneUften  ^Bewegung  begriffen  feien;  benn  fie  gerftören  unb 
fchmelgen  bie  fefteften  Äörper.  9luch  habe  ba§  Sid)t,  wenn  e8 
etwa  burch  einen  £ohlfpiegel  gefammelt  »erbe,  biefelbe  Äraft 
gum  Verbrennen  »ie  baS  geuer;  ba8  ^ci§c,  bafj  e§  bie  Steile 
ber  Äörper  gu  trennen  oermöge.  Unb  baS  geige  gang  gewifj  eine 
Bewegung  an,  wenigftenö  in  ber  wahren  fPhM°f°bhie,  wo  bie 
(Stfldrung  aller  9tatur»irlungen  burd)  mechanifche  Vctradjtung 
gefugt  »erbe;  bie$  muffe  aber  gefaben,  wenn  nicht  alle  $off» 

2*  (127) 


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20 


nung  aufgegeben  »erben  fette,  etwa8  ton  ben  Baturerfcheinun* 
gen  gu  begreifen.  3Beil  aber  nach  benfelben  ©rnnbfä^en  für 
fieser  gelte,  bafj  ber  ftnnliche  6inbrucf,  »eichet  ba8  Sehen  ge» 
nannt  wirb,  entftetje,  inbem  bie  fernen  be8  2luge8  ton  irgenb 
einer  Materie  gereigt  werben,  fo  gwinge  un8  auch  bie8,  angu» 
nehmen,  bah  ba8  8id)t  irgenb  welche  Bewegung  einer  SRaterie 
fei,  welche  fic^  gwifdjen  bem  leucJjtenben  Äörpet  unb  ltnferem 
9luge  befinbe.  3Benn  man  aber  erwäge,  wie  fdjneO  fich  bie 
gidjtfiraljlen  überall  t)in  Derbreiten,  unb  wie  bie  Don  terfchiebenen 
^Richtungen  fommenben  8i<htftrahlen  fid)  fchneiben  unb  bod) 
nicht  ftßren,  fo  fehe  man  leidjt  ein,  bah  bie  Ieudjtenben  .Körper 
nicht  mit  $ülfe  einet  9Raterie  gefehen  werben,  bie  ton  ihnen  gu 
un8  fomrnt,  wie  eine  Kugel  ober  ein  $)feil  bie  8uft  burdjbringt. 
2llfo  muffe  fi<h  ba8  Sicht  auf  eine  anbere  SBeife  bewegen,  unb 
um  biefe  gu  begreifen,  »erbe  e8  tmfjlid)  fein,  gu  betrachten,  wie 
bet  ©ctjatl  burd)  bie  2uft  fortfehreite. 

68  fei  befannt,  bafj  ber  Schall  fidj  um  ben  Ort,  an  bem 
er  ergeugt  worbeu  ift,  mit  Jpülfe  ber  8uft  terbreite,  unb  gwar 
burd)  eine  Bewegung,  bie  nacheinaubet  ton  einem  Steile  ber 
8uft  gu  einem  anberen  übergehe,  unb  bie  überallhin  mit  bet* 
felben  ©efdjwinbigfeit  erfolge,  fo  bah  gemiffetmaffen  fugelförmige 
Oberflächen  eutftehen  müffen,  bie  immerfort  grßfjer  werben  unb 
an  unfere  Ohren  fragen.  SBenn  nun  ba8  8icht  eine  3eit  ge» 
brauche,  um  gu  un8  gu  fommen,  fo  müffe  bie  entfpreehenbe  Be» 
»egung  bet  Sötaterie  eine  futceffite  fein  unb  ftch  ebenfo  wie  bei 
bem  Schalle  in  fugeiförmigen  3Bellen auSbreiten;  <£>upgen8 
wolle  fie  als  38  eilen  begegnen  wegen  ihrer  Slehnlichfeit  mit  benen, 
welche  man  leicht  in  bem  3Baffer  bewerten  fann,  fobalb  man  in 
baffelbe  einen  Stein  wirft.  3lu8  ben  Beobachtungen  SiömerS 
über  bie  Berfinfterungen  ber  Trabanten  be8  Planeten  3upiter 
werbe  aber  gejchloffen,  bah  ba8  8id}t  gu  feiner  gortpflangung 
eine  Seit  nötljig  ha^ef  unb  sugleidj  gefunben,  bah  bie  ©efdjwiit» 
bigfeit  ber  gortpflangung  be8  8i<htc§  mehr  a!8  600,000  mal  grö« 
(>28) 


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§er  fei,  alß  bie  ©efdjwinbigfeit  beß  ©djalleß.  Sßährenb  nun 
baß  Sicht  unb  ber  ©«hall  in  bet  -^infidjt  übereinftimmen,  bafc 
ftefichin  fugeiförmigen  SEBeUen  außbreiten,  fo  feien  gwifchen  ihnen 
aufserbem  bebeutenbe  Unterfdflebe  oorhanben ; benn  bie  Bewegung, 
»eldje  beiben  ju  ©runbe  liege,  »erbe  auf  eine  anbere  Steife 
hetocrgebradfl,  fie  erfolge  in  einer  anberen  SDiaterie  unb  ^flanje 
fi<h  auf  eine  anbere  SBeije  fort. 

SDer  ©djall  habe  feine  Urfadje  in  einer  plöpdjen  ©rfchiitte* 
rung  beß  ganjeu  Äörperß  ober  beßjenigen  Sljeileö,  weither  bie 
Suft  berührt;  baß  Sid)t  muffe  aber  in  ben  einzelnen  Steilen  beß 
leudflcnben  Äörherß  entftehen,  unb  biefe  Bewegung  fönne 
teoljl  nid)t  beffer  erflärt  werben,  alß  burdf  bie  folgenbe  SÄnnahme. 
SDie  leudflenben  Äörper,  welche  flüffig  finb,  wie  eine  flamme 
unb  oieUeicht  auch  bie  ©ferne  unb  bie  Sonne,  befielen  auß 
fleinen  Sit^eiten,  bie  in  einer  »iel  feinetn  fDtaterie  bin  unb  h^ 
flutljen,  unb  bie  »on  biefer  EKaterie  fe^r  rafch  gegen  bie  $beüe 
beß  Stetherß  geflogen  »erben,  welche  bie  Umgebung  jener  erfteren 
SL^eilc  außmadjen  unb  bei  »eitern  Heiner  feien,  alß  bie  erfteren 
Steile.  Bewegung  bei  ben  leudjtenben  .Körpern,  »eiche 
feft  finb,  »ie  eine  gliihenbe  .Kohle  ober  gliihenbeß  SOtetall,  ent* 
fpriuge  aber  auß  bem  heftigen  ©tofje  bet  Streife  ber  .Kohle  ober 
beß  SJtetaQß,  unb  oon  benjenigen  biefer  Steile,  welche  fleh  an 
bet  Oberfläche  beftnben,  »erbe  in  ber  gleichen  SSeife  bie  COiaterie 
beß  Sletberß  geflogen.  9lud)  müffe  bie  ^Bewegung  ber  fleinen 
Sbeile«  bi*  baß  Sicht  e^eugeu,  bei  »eitern  taffer  fein,  alß  bie 
Bewegung  ber  tönenben  Körper,  ba  nach  ber  ©rfahrung  auß  bem 
drjittern  eineß  tönenben  Äötperß  ebenfowenig  ein  Sicht  entfiele, 
»ie  ein  5£on  h^oorgebradht  »erbe,  inbem  man  bie  ,£>anb  in  ber 
Suft  bewege.  SDiefe  SERaterie  beß  9letl)erß  fönne  ferner  nicht  bie 
Suft  fein,  mittelft  beren  fleh  ber  ©djan  außbreitet,  weil  burdj 
bie  ©ntfernung  ber  Suft  auß  einem  gläfernen  ©efäfje  gwat  bie 
gortpflanjung  beß  ©<hatleß,  aber  nicht  bie  gortpflanjung  beß 
Sichteß  aufgehoben  »erbe. 


22 


3Ba8  aber  bie  $lrt  bet  gortpflanaung  anlange,  jo  fei  btefefbe 
für  bert  ©djaH  leidet  ju  uerfte^en ; beim  man  braune  nur  an 
bie  (Sigenfdjaft  bev  Suft  ju  benfen,  bafj  fie  ficb  leidet  jufammen* 
briicfen  unb  in  einen  ffeineren  SRaurn  bringen  laffe,  als  fte  »on 
felber  einnimmt,  unb  bafj  fte  banad)  ftrebe,  fid^  in  bem  SSer^ält* 
nifj,  wie  fie  gebrütft  wirb,  »iebertjerguftellen.  hieraus  fcbeine 
3U  folgen,  baf)  bie  Suft  au8  Keinen  Äörpetcben  beftelje,  bie  mit 
rafdjet  Bewegung  in  einer  (Äetbermaterie  fcbwimmen,  t»eldje 
Sletbermaterie  au8  niel  Heineren  Steilen  jufammengefejjt  fei. 
JDarum  eyiftire  für  bie  ©erbreitung  beS  ©djalleS  feine  Urfaebe 
aujjer  ber  elaftifdjen  Äraft  jener  Reinen  fidj  ftofjenben  Äör* 
pereben,  wäbrenb  fie  in  bem  Umlauf  jener  SBetlen  mehr  gebrüeft 
feien,  als  an  anberen  ©teilen.  (Die  ungemein  rafd^e  ©ewegung 
beS  Siebtes,  netbunben  mit  feinen  anberen  (Sigenfcbaften,  geftatte 
eine  ebenfoldbe  9lrt  ber  ffortpflangung  nir^t.  (Sine  anbere  Slrt 
ber  Sortpflanjuug,  welche  für  ba8  Siebt  möglich  febeine,  ergebe 
fteb  aus  ber  ©etraebtung  berjenigen  SBeife,  wie  fteb  bie  barte» 
Äörper  ihre  ©ewegung  gegeufeitig  mittbeilen. 

tltad)  biefett  (Srwägungen  entwicfelt  ^upgenS  ben  norbin 
angeführten  ©aj}  über  bie  .URittbeilung  ber  ©ewegung  bei  einer  SReib« 
non  einanbet  gleichen  barten  elaftifeben  Äugeln,  beren  9Rittelpunfte 
ine  gerabe  Sinie  bilben  unb  bie  fteb  berühren.  (Sr  bebt  bann  befon* 
berS  bernor,  baff  bei  biefer  (Srfebeinung  in  ben  mittleren  Äugeln  gwar 
feine ©etnegung  gefeben werbe,  bafj  aber  berjforifcbritt  berSewegung 
bennod)  nicht  momentan  fonbern  fucceffi»  erfolge,  unb  baber 
Beit  brauche.  SBenn  baber  biefe  9lrt  bet  ©eroegung  auf  bie* 
jenige  ©ewegung  bezogen  werbe,  bureb  welche  baS  Sicht  entftebt, 
fo  nerbiete  nidjtS  ju  glauben,  bah  bie  Stetbertbeile  au8  einer 
SDRaterie  befteben,  beren  fjärte  fo  noßfommen,  unb  beren  (Slafti* 
cität  fo  grob  fei,  al8  man  nur  wolle.  Sind)  fei  e8  non  bem  ge* 
wonnenen  @efid}t8punfte  au6  nicht  unbegreiflich,  wie  eine  fo 
ungeheuere  Sftenge  non  Sichtweiten  fteb  fdjneibe,  ohne  bafj  eine 
©erwirrung  entfpringe,  weil  baffelbe  Slbrtldjen  bet  SDRaterie 

(130) 


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23 


mehreren  SBetleu  bienen  fenne,  bie  »du  Betriebenen,  ja  fogar 
entgegenfehten  Crten  ^etfommen.  SKIerbingg  fd)etne  e8  böebft 
wunberbar,  ba&  SBellen,  bie  non  jo  Keinen  ^Bewegungen  unb  jo 
Keinen  .Körpern  ^ettü^rcn,  fidj  auf  fo  unermeßliche  Entfer» 
nungeu  Berbreiten  fotlen,  wie  gum  SBeifpiel  Bon  bet  Sonne 
cbet  ben  Sternen  big  gu  un8.  Mein  eg  fei  gu  bebenfen,  baß 
ungählige  SBetlen,  bie  Bon  ben  Steilen  be8  leucßtenben  Äörperg 
auggehen,  ficß  Bereinigen,  unb  eine  SBeHe  bilben,  bie  merKidj 
»itb;  unb  e§  fei  ferner  gu  bebenfen,  bafj  bag  eingelne  Stheit« 
djen  feine  Bewegung  nicht  nur  ben  nädjfteu  S^eireu  mit« 
theile,  welche  auf  einet  Bon  bem  teudjtenben  fünfte  gegogenen 
getaben  ginie  liegen,  fonbern  auch  allen  übrigen  benachbarten, 
©aßer  gebe  eg  für  jeben  leudjtenben  3>unft  gu  einer  beftimmten  3eit 
immer  eine  fugeiförmige  SBetle,  welche  Bon  allen  eingelnen  ent» 
ftanbenen  SBeHen  berührt  werbe.  5) er  Segriff  biefet  einen  SBetle 
ift  eg  aber,  mit  beffert  «£> ülf e $upgeng  bie  Erfcßeinungen  ber 
3urücfwetfung  unb  berSrechung  beggicfjteg  erflärt  h&t 

3>m  3a^re  1672,  alg  ^upgeng  auf  ber  £öhe  feineg  9luh» 
meg  ftanb,  fam  ber  fed)8unbgwangigj5l)tige  geibniß  nach  ^arig. 
6t  lernte  $upgen8  fennen,  würbe  fein  Schüler  in  ber  9Jta* 
tßematif  unb  fein  %reunb.  güt  geibniß  ^atte  bie  St^eorie  bet 
Bewegung  nicht  nur  einen  mathematifchen,  fonbern  auch  einen 
Philofophifcßen  l^o^en  fReig.  ©ie  Segriffe  ber  lebenbigen  unb 
ber  tobten  .Kräfte,  welche  fogleid)  erörtert  werben  feilen,  tragen 
ben  Stempel  feiner  ©enfart. 

2Bit  b“ben  burdj  2lt<himebe8  gelernt,  baß  gwei  ©ewidjte, 
bie  fi<h  gu  einanbet  wie  bie  3ah^n  1 ««b  4 Bethalten  unb  bie 
eine  gerabe  ginie  belaften,  fid)  bag  ©leichgewicht  hälfe«»  wofern 
bie  gerabe  ginie  ober  ber  Jpebel  in  einem  fünfte  unterftüßt  ift, 
ber  gwifdßen  ben  beiben  2lngriffgpunften  liegt  unb  bie  Entfernung 
gwifdhen  benfelben  nach  bem  Serhältniffe  Bon  4 gu  1 theilt. 
©eben  wir  bem  £ebel  eine  Keine  Bewegung,  bei  welchen  etwa 
bie  Keinere  fJRafje  abwärtg,  bie  größere  aufwärtg  geht,  fo  wirb 

(131) 


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24 


bie  erftere  oermöge  beö  oiermal  längeren  £ebelarm8  einen  Reinen 
Sogen  nach  unten  befdjteiben,  ber  oiermal  größer  ift,  alö  ber 
fleine  Sogen,  [ben  bie  gröbere  SJlaffe  nach  oben  betreibt.  Sür 
bie  angenommene  Heine  Semegung  »erhalten  fid)  bie  ©efcbmin* 
bigleiten,  mie  bie  burdjlaufenen  Sogen.  ©8  mürbe  alfo  bie 
Heinere  ÜKaffe  mit  ber  oiermal  größeren  ©eföbminbigfeit  abwärts 
ftnfen,  mäbrenb  bie  oiermal  größere  SRaffe  mit  ber  einfachen 
©efdjminbigfeit  auffteigt.  2)a8  §)robuct  einer  SJtaffe  in  iljre 
©efdjminbigfeit  bei&*  bie  Quantität  ber  Semegung.  3u 
unferem  Salle  märe  alfo  ba8  ^robuct  bet  SDiaffe  in  bie  ©e= 
fdjminbigfeit  ober  bie  Quantität  bet  Semegung  bei  beiben  5Jtaffen 
gleich  grob.  geibnifc  nennt  nun  fold^e  Äräfte,  bie  fi<b  ba8 
©leidjgemicbt  leiften  unb  baburcp  nid}!  gur  ©rfdjeiuung  Jommen, 
tobte  Ätäfte,  unb  fdjliebt  au8  ber  oon  un8  reprobucirten 
Setradjtung,  bab  bei  ben  tobten  jfräften  ba8  ©leicbgemicbt  ftatt» 
finbet,  mofern  bie  Duantitäten  bet  intentionirten  Semegung 
einanber  gleich  finb. 

©obalb  aber  ein  Äörper  in  golge  ber  ©cbmete  ft<b  mirf» 
lieb  bemegt,  bann  empfängt  er  nad)  betn  9lu8btucfe  oon  8eib  = 
nifc  lebenbige  Äraft.  £Die  ©ejcbminbigfeit,  meldje  ein  oon 
ber  (Rübe  beginnenber  Äörpet  bei  bem  freien  Sailen  ober  bei 
bem  £inabgleiten  auf  einer  fdjiefen  ©bene  ermirbt,  ift  nad)  @a* 
liläiS  ©ntbecfung  nur  oon  ber  ©enJungSböfje  abhängig,  unb 
gmar  finb  jbie  Quabrate  ber  ©efdjminbigfeiten  ben  ©enfungS» 
hoben  proportional.  Sßenn  babet  ein  Äötpet  oon  einem  $>fuub 
burcb  bie  $öbe  oon  oier  Suf$  fällt,  bagegen  ein  .Körper  oon 
oiet  $funb  burdj  bie  ,£>öbe  oon  einem  Sub,  fo  ermirbt  ber 
erftere  eine  hoppelt  fo  grobe  ©efdjminbigfeit,  al8  ber  leitete. 
Silbet  manibier  bie  -Quantitäten  ber  Semegung,  fo  giebt  bei 
bem  erften  Körper  ba8  $>robuct  ber  2Raffe  1 in  bie  hoppelte 
©efcbminbigfeit,  unb  bei  bem  gmeiten  .Körper  ba8  fprobuct  ber 
9Raffe  4 in  bie  einfache  ©efcbminbigfeit  einen  oerfdjiebenen 
SBertb.  SDie  Quantitäten  ber  Semegung  finb  alfo  oerfdjieben. 

(lSi) 


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25 


SDagegen  Ijat  bei  bem  erften  Körper  baß  $)robuct  bet  5SRaffe  1 
in  baß  Duabrat  bet  hoppelten  ©efdjminbigfeit,  nämlidj  4,  unb 
bei  bem  gweiten  Körper  baß  §)robuct  bet  SDtaffe  4 in  baß  Dua* 
biat  bet  einfachen  ©efdjminbigfeit , nämlidj  1 , benfelben  SBertlj. 
Üeibni^  fefct  bemnad)  feft,  bafi  baß  fPtobuct  bet  fDlaffe 
in  baß  Duabtat  bet  ©efdjmin  bigfeit  baß  fDtafj  ber 
lebenbigen  Kraft  fein  f oll.  Sann  erroetben  in  unferem 
Seifpiel  beibe  Körper  biefelbe  lebenbige  Kraft. 

Seibnifc  finbet  biefen  SJegrif  unmittelbar  in  ber  »on 
Jpupgenß  gegebenen  8eljre  beß  3ufammenfie§eß  bet  elaftifdjen 
garten  Körper.  Ser  gmeite  Satj  beß  ^jupgenß,  ben  mir  »or« 
Ijin  angeführt  Ijaben,  enthält  gerabe  bie  äußfage,  bafj  bie  Summe 
auß  bem  ^robuct  bet  fDiaffe  in  baß  Quabrat  bet  ©efdjminbig« 
feit,  baß  ift  bie  Summe  ber  lebenbigen  Kräfte,  bei  ben  beiben 
Körpern  not  bem  Stofje  benfelben  SBertlj  Ijabe,  mie  uadj 
bem  Stofje.  * 

2Benn  eine  Ijarte  elaftifdje  Kugel  »on  4 fPfunb  fidj  Ijori* 
gontal  mit  bet  ©efdjminbigfeit  »on  geljn  §u§  in  bet  Secunbe 
bemegt,  unb  menn  fidj  bie  gange  lebenbige  .Kraft  betfelben  auf 
eine  Kugel  »on  einem  ^)funb  überträgt,  fo  mürbe  bie  erftere 
in  SRufje  bleiben,  unb  bie  groeite  mit  ber  ©efdjminbigfeit  »on 
gmangig  §u§  in  bet  Secunbe  meitergeljen.  Stimmt  man  an, 
ba|  bie  Ä'ugel  »on  »iet  §)funb  bie  ©efdjminbigfeit  »on  geljn 
gu§  in  bet  Secunbe  butdj  baß  $inabgleiten  »on  einet  gemiffen 
#ölje  etmorben  Ijat,  fo  mürbe  bie  ©efdjminbigfeit  »on  gmangig 
8ufj  in  bet  Secunbe,  meldje  bie  Kugel  »on  einem  fPfunb  em» 
pfangen  Ijat,  genau  außreidjen,  um  biefe  längß  einer  fdjiefen 
©bene  gu  bet  »ierfadjen  £ölje  »on  bet  Senfungßljölje  ber  erften 
Kugel  fyinaufgutreiben.  Seibnif}  ftellt  nun  ben  Safs  auf,  baff 
bie  Kugel  »on  »iet  $)fuub  unmöglidj  auf  itgenb  eine  SBeife  bet 
Kugel  »on  einem  ^)funb  eine  größere  ©efdjminbigfeit  mittljeilen 
fönne,  alß  bie  »orljin  angegebene  »on  gmangig  gufj  in  bet  Se> 
cunbe.  Siefen  Satj  bemeift  er  mit  Jpülfe  beß  Sljriemß,  ba§  eß 

(133) 


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26 


in  ber  Statut  fein  Perpetuum  mobile  geben  fönne, 
inbem  er  geigt,  wie  ein  Perpetuum  mobile  conftniirt  wer« 
ben  fönnte,  falls  bie  gu  wiberlegenbe  SorauSfeijung  gültig  wäre. 

3dj  werbe  jefct  bie  medjanifcbe  Sorricbtung,  welche  2eib* 
nifc  für  biefen  3wecf  erfonuen  fyat,  erflären,  unb  ber  leichteren 
Sorftellung  wegen  bie  babei  »otfommenben  ©röf)en  in  beftimm« 
ten  Ballen  auSbrücfen.  SDie  ,£>öbe,  »on  ber  bie  worein  erwähnte 
erfte  barte  elaftifcbe  Äugel  binabgleiten  muff,  um  mit  ber  SRulje 
anfangenb  bie  ©efchwinbigfeit  neu  gehn  gu§  in  ber  ©ecunbe 
gu  erbalten,  ergiebt  fidj  auS  ben  früher  erörterten  ©efefjen  beS 
©aliläi  für  ben  freien  galt  berÄörpet,  fobalb  bie 
fache  ber  (Erfahrung  bingugefügt  wirb,  baf)  ein  Äörper,  ber  au8 
ber  fltubelage  gu  fallen  beginnt,  nach  Verlauf  ber  crften  ©ecunbe 
in  einer  runben  Btffer  bie  (Enbgefchwinbigfeit  »on  30  $uf)  erlangt. 
SBeil  bie  »on  bem  Äönper  in  biefer  3«t  burdbmeffene  gallböbe 
bie  Jg>älfte  biefer  ©trecfe  betragen  mufj,  weil  ferner  bei  »et« 
fcbiebenen  gaUgeiten  bie  6nbgefd)Winbigfeiten  fid)  wie  bie  ?aü» 
geilen,  bagegen  bie  fSaflböben  wie  bie  Quabrate  ber  gallgeiten 
»erbalten,  fo  b“t  ber  in  Siebe  ftebenbe  Äürper  na<b  bem  Ser» 
lauf  »on  } ©ecunbe  bie  ©efchwinbigfeit  »on  einem  gu§  in  ber 
©ecunbe  erlangt,  unb  bie  $allböbe  »on  $ ^u|  burchmeffen. 
35ieS  ift  bie  erforberliche  ©enfungSböbe  bet  erften  Äugel;  bie 
Sahn  betfelben  batf  nad)  bem  ebenfalls  angeführten  ©a£e  beS 
©aliläi  eine  beliebig  geneigte  fdbiefe  (Ebene  fein.  @8  wirb 
nun  »on  2eibnij}  »orauSgefe^t,  baf)  biefe  erfte  Äuget,  nachbem 
fie  eine  folche  Sahn  burchlaufen  bflt  nnb  in  einer  $erigontal« 
ebene  mit  ber  ©efcbwinbi  gleit  »on  gehn  gufc  in  bet  ©ecunbe 
angelangt  ift,  im  ©tanbe  fei,  einet  gWeiten  Äugel  »on  einem 
9)fujib  bie  ©efcbwinbigfeit  »on  40$ujj  in  ber  ©ecunbe  gu  ertbeilen, 
Wabtenb  hiernach  bie  erfte  Äugel  felbft  in  ber  ^origontalebene  in 
JRube  bleibe.  Sei  biefer  SorauSfehung,  beten  llnguläffig* 
feit  nachgewiefen  werben  f oll,  ift  bie  ©efchwinbigfeit  bet 
gwetten  Äugel  fo  grof)  angenommen,  bah  bie  Quantität  ber 

(134) 


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27 


Bewegung,  ober  baS  ^robitct  ber  SERaffc  in  bie  ©efdjwinbig* 
feit,  für  beibe  Äugeln  gleich  grob  wirb.  2>ie  Stnnahme,  ba§  bie 
gweite  Äugel  überhaupt  eine  ©efdjwinbigfeit  erhalte,  welche 
grö§et  ift  als  gwangig  §ufj  in  ber  ©ecunbe,  würbe  gu  einer 
»ollfommen  ähnlichen  Betrachtung  9tnla§  geben.  Bermöge  ber 
BorauSfeijung,  bah  ber  gweiten  Äugel  eine  ©efdjwinbigfeit  »on 
40  gufj  in  ber  ©ecunbe  butch  bie  erwähnte  Uebertragung  er* 
t^eilt  ift,  fann  biefelbe  auf  einer  il?t  bargebotencn  fchiefen  ©bene  gu 
ber  16  fachen  »on  ber  ©enfungßhöhe  ber  erften  Äugel,  mithin 
gn  ber  .£>5he  wo«  V Sub  ^erauffteigen,  unb  e8  möge  für  bie  gweite 
Äugel  eine  folche  Bahn  hergefteüt  fein,  auf  ber  fie  ftch  witfHch  bis 
gu  biefer  .£>öhe  erhebt.  SDann  befinbet  fich  alfo  bie  erfte  Äugel 
ruhenb  in  ihrer  ^origontalebene,  welche  ich  ber  Äürge  halber  ben 
Beben  nennen  will,  unb  bie  gweite  Äugel  in  ber  $öhe  »on  8S°  §u§ 
übet  bem  Beben.  ©8  fei  nun  ein  £ebel  fo  eingerichtet, 
bah  fei«  fütgerer  Slrm  bie  auf  bem  Beben  ruhenbe  erfte  Äugel 
»on  4 fPfmtb,  fein  längerer  9trm  bie  gweite  Äugel  Den  einem 
$funb  gu  faffen  »ermag,  unb  gwar  fei  bet  längere  Hebelarm 
fünfmal  fo  lang  als  bet  fürgere.  SBofern  ber  längere  Hebelarm 
»ietmal  fo  lang  wäre,  als  ber  fürgere,  fo  würbe  nach  bem  eben 
erörterten  Jfjebelgefetj  be8  SlrchimebeS  bie  eine  Äugel  ber 
anbeten  ba8  ©leichgewicht  halten;  benn  aisbann  »erhielte  ftch  bie 
Sänge  ber  Hebelarme  umgefehrt,  wie  bie  an  benfelben  wirfen* 
ben  ©ewichte.  25a  aber  bie  gweite  Äugel  »on  einem  $)funb  an 
einem  Hebelarm  wirft,  welcher  nicht  »ietmal  fonbern  fünfmal 
fo  lang  ift,  als  bet  anbere  Hebelarm,  fo  muff  biefe  Äugel  ba8 
Uebergewicht  erhalten,  ©ie  wirb  mit  ihrem  Jpebelarm  gu  Boben 
gehen,  währenb  bie  erfte  Äugel  mit  ihrem  Hebelarm  in  bie 
#öhe  fteigt.  9luch  übergeugt  man  ftch  leicht,  bah  bie  Jpohe,  bis 
gu  welcher  bie  erfte  Äugel  auffteigt,  ftch  3“  ber  <£>öhe,  um  welche 
bie  gweite  Äugel  gleichgeitig  htnabftnft,  »erhalten  muh,  wie  ber 
Hebelarm  bet  erften  Äugel  gu  bem  Hebelarm  ber  gweiten  Äugel, 
ba8  ift  in  bem  »orliegenben  %atle,  wie  cinS  gu  fünf.  25ie  gweite 

(1*5) 


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28 


Äuget  geht  aber  oon  bet  £öhe  oon  y guh  bis  auf  ben  ©oben, 
bähet  wirb  bie  erfte  Äuget  com  ©oben  biß  auf  bie  oon 
V $uh  gehoben.  9lHeiu  bie  $öhe,  cou  bet  bie  erfte  Äuget  auß 
bet  SRuhelage  hinabgeglitten  mar,  um  am  ©oben  bie  ©efdjtoin« 
bigfeit  cou  einem  §u§  in  bet  ©ecunbe  gu  erhalten,  beträgt,  wie 
wir  uuß  erinnern,  nur  -J  ffrufj.  SDa  fid)  nun  bie  erfte  Äuget, 
nachbem  bie  $ebetüorrid)tuug  angewenbet  worben  ift,  auf  einer 
um  y guji  größeren  £öhe  befinbet,  fo  fönnte  man  mit  ber 
^jitlfe  biefer  Äuget,  wätjrenb  fie  cou  ber  begeidjneten  ,£>öhe  biß 
gu  ber  Jg>ötje  con  $ gu§  abwärtß  geht,  irgenb  wet <he  nö^litbe 
metfyanifdje  Sttjätigfeit  außübeu.  9iad)  ©otlenbung  biefer 
med)anifd)en  S^atigfcit  würbe  fid)  bie  Äuget  bann  noch  auf  ber* 
jenigen  ^pölje  befinben,  cou  ber  auß,  auf  ihrer  fcbiefen  (Sbene 
hinabgleitenb , fie  bie  ©efdjwinbigfeit  con  gehn  §uh  in  ber  ©e* 
cunbe  empfing,  mit  welcher  bie  befdjriebene  ©ewegitng  begann. 
SDa  aber  bie  gweite  Äuget  nach  ber  Stnwenbung  ber  ,£>ebetoor*  ’ 
ric^tung  auf  bem  ©oben  angelangt  ift,  fo  hätte  man  nur  nöttjig, 
biefelbe  auf  bem  ©oben  an  ben  urfprüngtichen  ©Iah  gu  bringen, 
bamit  bie  erfte  Äuget  abermalß,  ber  getroffenen  Annahme  gemäfs, 
il)r  bie  ©efchwinbigfeit  con  40  gufj  in  ber  ©ecitnbe  ertheiteu 
unb  bet  gange  ©organg  fich  oon  neuem  wieberholen  fönnte  5)ie 
©enufsung  ber  ^ebetoorrichtung  fönnte  auch  fo  gefchehen,  bah 
bie  gweite  Äuget  nicht  cötlig  biß  auf  ben  ©oben,  fonbern  nur  biß  in 
9iähe  beffetben  bcrabgetaffen  würbe,  unb  bort  ben  Hebelarm  cer* 
liehe,  um  hierauf  läitgß  einet  paffenb  angebrachten  ©ahu  biß  3U 
bem  urfprüngtichen  ©Iahe  gu  rollen,  wo  fie  wieber  oon  ber  erften 
Äuget  getroffen  wirb.  Stuf  biefe  äöeife  würbe  in  ber  &hat  eine 
9Jtaf<hine  ^crgeftetlt  fein,  wetdje  ohne  ©nbe  eine  nühliche  mecha* 
nifche  Shätigfeit  außüben  faun,  unb  bicß  wäre  baß  Perpetuum- 
mobile. 

©on  biefer  ©etrachtung  aber  erhebt  fich  fjeibnih,  bie  @e* 
banfeu  con  Sahrhunberten  überfpriugenb , gu  bem  allgemeinen 
©ajje,  bah  bie  lebenbige  Äraft  eß  ift,  welche  fich  i®  ber 

(136) 


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29 


gangen  Sßelt  erhält.  ?n  einer  ©dtrift,  webte  er  währenb 
feinet  Aufenthaltes  in  3talien  1689  nerfafjte,  unb  bem  bamali* 
gen  .fpergog  non  gloreng  Goftmo  bem  dritten  tnibmen  mellte, 
fpäter  aber  nicht  bruefen  liefj,  fpridjt  er  feine  eigene  Anfcbauung 
een  bem  Söcrthe  biefeS  ©ajjeS,  in  welkem  feine  matljematifdje 
unb  philofophifdje  ©peculation  gufammenfliefjen , folgenbermafjen 
au§:  „3e£t  offenbart  fi 6)  atlmählig  bie  unglaubliche  Äunft  be8 
Schöpfers  in  ber  allgemeinen  Bertheilung  ber  bie  fBtaterie  be» 
herrfebenbeu  Kräfte.  @8  fdfeint,  baff  wir  bie  Berhältniffe  ber 
fRatur  au§  einem  frönen  3wecf  werben  ableiteu  fönnen,  wie 
©ofrateS  fte  aus  einem  guten  abguleiteu  Reffte.  2)a8  aber 
Werfet  ber  göttlichen  ©röfje  £pmnen  fingen,  unb,  waS  mehr  ift, 
»ernennten,  wie  aDe  ©reatur  in  unecrgleidjlidjer  fDtajeftät  unb 
SJUlbe  bie  SBeiöijeit  ihres  unenblidien  «Schöpfers  feiert". 

@8  war  nicht  wohl  ausführbar,  bie  Flamen  non  .giupgenS 
unb  Ueibnif}  non  einanber  gu  trennen;  ber  genauen  3eitfolge 
nach  hätte  fRewton  gwifd)en  benfelbcn  erwähnt  werben  muffen. 
Bon  iftewton  batf  man  fagen,  baf}  er  baS  noBftänbige  ©ebäube 
bet  theoretifdjen  SERed^anif  ober  ber  SSiffenfdjaft  non  ber  Berne* 
gung  aufgeführt  hat.  2Ber  non  eingelnen  ^heilen  beffelben  rebett 
will,  begeht  leicht  ein  Unrecht  an  bem  ©angen. 

fRew  ton  hat  in  feinen  |)tincipien,  welche  gum  erften  fötale 
1687  erfchienen  finb,  als  erfteS  ©efet}  ber  Bewegung  baS  Jräg« 
heitSgefefc  hingeßellt,  beffen  ich  ?<hon  bei  ©aliläi  erwähnte 
©r  brüeft  baffelbe  fo  auS:  jeber  Äörper  netharre  in  feinem 
3uftaube,  nämlich  bem  3uftanbe  ber  3tuhe  ober  ber  gerablinigen 
ttnb  gleichförmigen  Bewegung,  wofern  er  nicht  burch  imprimirte 
Äräfte  gegwungen  wirb,  feinen  3uftanb  gu  änbern.  fltewtonS 
gweiteS  ©efefc  ber  Bewegung  h#t:  bie  Aenberuug  ber  Bewe= 
gung  ift  proportional  bet  imprimirten  bewegenben  Äraft,  unb 
erfolgt  nach  ber  geraben  Sinie,  in  welcher  biefe  Äraft  imprimirt 
wirb.  2)a8  britte  ©efefc  ber  Bewegung  lautet:  bie  Süirfung 
unb  bie  ©egenwirfung  finb  einanber  gleich,  °^er  Me  gegenfeiti» 

(IST) 


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30 


gen  äöirfungen  gtreier  Körper  finb  wechfelöweife  unb  entgegen* 
gefegt  gerichtet.  Slber  mit  wie  unerbittlicher  ©ewalt  finb  bie 
Goniequengen  a«ö  biefen  ©efetjen  gegogen»  unb  welche  9D?et^obe 
ift  hier  norgejeidjnet,  um  eine  Söelt  con  ©rfcheinungen  auf  einen 
einzigen  ©rflärungSgrunb  gurücfgufül)ren. 

Söir  fagen  heute,  wenn  ein  Spftem  con  Körpern  gegeben 
ift,  wenn  bie  ©ebingungett,  unter  benen  fie  fiel)  bewegen,  unb 
bie  Kräfte,  benen  fie  unterworfen  finb,  befannt  finb,  wenn  man 
ferner  für  einen  3eiimoment  bie  JDerter  ber  Körper  uub  ihre 
©efchwinbigfeiteu  weif),  bann  fei  bie  ©ewegung  be$  SpftemS  in 
ber  folgenben  3eit  beftimmt,  unb  ihre  ©eftimmung  eine  Stuf* 
gäbe  ber  SJtatljematif.  Slber  ba§  wir  fo  Sprechen  fönnen , *ba§ 
oerbanfen  wir  Stewton. 

Stach  benfelben  ©runbfäfjen  fönnen  nicht  allein  bie  ©ewe* 
gungeu  einzelner  .Körper,  fonbern  auch  bie  ©ewegungeu  con 
ftetig  gufammenhängenben  SOiaffen  unterfucht  werben.  Sluf  bie 
|)pthagoräifche  ©ntbeefung,  bafj  eine  Saite,  welche  bie  l)a^c 
gange  con  ber  Saitenlänge  beö  ©runbtoneS  hat»  baä  confonirenbe 
3ntercall  bet  oberen  Cctaoe  giebt,  ift  burch  bie  Slnwenbung  bet 
©ruubfäfce  bet  fDtechanif  bie  Slljeorie  ber  fchwingenben  Saiten 
gefolgt,  unb  auf  bie  gleiche  SBeife  h“t  in  unferen  Sagen  bie 
grage  nach  ber  Urfache  ber  ©onfonang  eine  gefuug  gefunben.  Sin 
bie  gehre  beö  Slrchimebeö  con  bem  ©leichgewidjt  ber  Körper, 
welche  in  eine  glüffigfeit  eingetaudjt  finb,  h«t  ftch  burch  bie  ©e* 
nufcung  ber  SJtechanif  bie  Sh^orie  con  bem  ©leichgewicht  unb 
ber  ©ewegung  ber  glüjfigfeiten  angefdjloffen.  Stewton  felbft 
ift  aber  ber  erfte,  welcher  bie  ©eftalt  einer  glüffigfeit,  bie  um 
eine  iÄre  rotirt,  theoretifch  unterfucht  hat,  um  babutch  für  bie 
©eftimmung  bet  ©eftalt  unferer  ©rbe  einen  fieberen  Inhalt  ju 
gewinnen.  @t  fafjt  bie  SBerfe  feinet  ©orgänget  mit  ftarfec 
£anb  in  eins  jufammen,  unb  weift  ben  gotfd)ungen  feiner  Stach3 
folget  ben  Söeg.  SDafj  aber  bie  güHe  con  StewtonS  ©ntwürfen 

(1J8) 


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31 


burch  feine  oollenbeten  ©erfe  nicht  erfchöpft  ift,  fagen  bie  @d)lu§« 
»orte  feinet  $>rincipien,  welche  fo  lauten: 

„(E8  liege  fic^  nod)  manches)  ^injufügen  ton  einem  gang 
feinen  .paud?,  bet  bie  bidjten  Körper  burdjbtingt,  burd?  beffen 
SBirfungen  bie  21)eile  ber  .Körper  in  ben  fleinften  (Entfernungen 
ft<^  angietjen  unb  gufammenhängcnb  bleiben;  woburd)  bie  elec* 
triften  .Körper  in  gröfjereit  (Entfernungen  wirfen,  bie  fJtachbar» 
fötpet  angiebenb  unb  abftofeenb;  woburd)  ba8  gid)t  auGgefanbt, 
gutücfgeworfen,  gebrochen  unb  gebeugt  wirb  unb  ben  Körpern 
©arme  giebt;  woburd)  alle  (Empfinbung  erregt  wirb  unb  bie 
©lieber  ber  lebenbigen  ©efen  narb  bem  ©illen  gelenft  werben, 
inbem  fid)  bie  Schwingungen  biejet)  ^)aud)8  butd)  bie  ©efäfje 
ber  -Jteruen  ocn  ben  äußeren  Sinnesorganen  nad)  bem  ©el)irn, 
unb  oon  bem  ©el)itn  nach  ben  9Jtu8feln  fertpflangen.  Slbet 
biefe  3)inge  fönnen  nicht  in  .Kürge  auöeinanbergefefct  werben. 
(Sud)  ift  feine  hinreidjenbe  ülienge  non  (Experimenten  »crhanben, 
um  bie  ©efeije  ber  ©irfungen  biefeö  Jpaut i)e8  genau  gu  beftim* 
men  unb  gu  erweifen". 

©8  war  meiu  Semühen,  bie  gufammenhängenbe  .Kette  er« 
fwberifcber  Arbeit  gu  oergegenwärtigen , burd)  welche  allmählig 
bie  Segriffe  entftanben  finb , auf  benen  heute  ©iffenfdjaft 
oon  bet  Bewegung  ber  .Körper  ruht.  Sßon  ben  mathematifdjen 
SRethoben,  bie  für  bie  Smecfe  ber  t^eoretifcgen  33ied)anif  auf« 
gefunben  werben  mußten,  ha&e  id)  bieder  nod)  nicht  gefptod)en. 
@8  ift  allgemein  befannt,  bajj  bie  beiben  ÜJtäuner,  beten  id)  gn» 
legt  gebadjt  habe,  fJtewton  unb  8 e i b n i g , gugleid)  bie  (Sntbecfer 
bet  3nftniteftmalred)nung  finb.  SDiejet  (Sntbecfuug  beburfte  bie 
©edjanif.  <Die  3nfinitefimalred)nung  unb  bie  SJtedjanif  gleichen 
gwei  Säumen,  bie  auä  betfelben  ©urgel  entfproffen  finb  unb 
beren  3®eige  ftd)  mit  einanber  oerfled)ten.  3)a8  ©efen  ber  3n« 
ftnitefimalrecbnung  befielt  barin,  bie  ©röfeen  infofern  gu  betrachten, 
als  fte  einet  fortgefegten  Steilung  fähig  finb.  ifll$  ©alilät 
jagte,  bie  gleichförmig  befchleunigte  Bewegung  fei  biejenige,  bei 

(133) 


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32 


Welcher  bie  ©efdhwinbigfeit  in  jcbcm  Keinen  3ritintert>aU  um 
gleich  ciel  wächft,  als  er  ben  SBeg  beö  fatlenben  Äcrperö  unter 
bem  Silbe  eines  ©reiedfs  auSmah,  beffen  gtädhenraum  cjleic^  einer 
Summe  Bon  Keinen  fftedhtedfen  ift,  als  ©aliläi  bie  93a^u  beS 
geworfenen  ÄörperS  auffanb,  inbem  er  für  jebeS  Reine  3eitinternaU 
bie  horizontale  unb  bie  oertifate  Bewegung  jnfammenfe^te,  ba 
gebrauste  er  bie  Snfinitefimalredhnung.  SDaffelbe  tfyat  lauge 
Beit  Bor  ihm  2lrchimebeS,  wie  er,  um  ben  Schwerpunft  einer 
ebenen  $igut  ju  beftimmen,  tiefe  §igur  in  fdhwere  Keine  Sthc*le 
Zerlegte.  Unb  er  ging  babei  mit  einer  Strenge  ju  SBerfe,  welche 
nur  wenige  ber  Spateren  beibehalten  haben. 

Snbem  wir  bie  Äörper  in  Keine  2he^e  Seriegert,  befommen 
wir  bie  üräger  unferer  me^anifdben  Begriffe.  ÜJlit  £mlfe  vcn 
biefem  Serfahreu  leiten  wir  eine  Bewegung  bet  Äörpet  ab,  bie 
mit  ber  Erfahrung  übcreinftimmt.  SS  zeigt  ftdj  aber,  unb^uijgenS 
hat  unS  barauf  aufmetlfam  gemacht,  bah  für  bie  Gtrflärung  boh  ge« 
wiffen  9iaturerf<heinungen  biefe  erfte  Shrilung  nicht  au8reid£)t, 
unb  bah  es  notljwenbig  wirb,  bie  erfte  Drbttung  non  Keinen 
Steilen  ft<h  abermals  geteilt  z«  beulen,  fo  bah  Keine  2h«l* 
einet  zweiten  Drbnung  entfielen,  ffteue  fRaturerfdjeinungen  fönneu 
auftreten,  für  welche  biefer  zweite  Schritt  nicht  genügt,  fo  bah 
bet  Schritt  noch  ein  9Jtal  gu  wieberholen  ift.  9lber  eS  fehlt  un8 
baS  fRedht,  irgenb  einen  biefer  auf  einanbet  folgenben  Schritte 
für  ben  lebten  z«  erflären.  SDenn  auch  h***  gilt  baS  tieffinnige 
SBort:  bie  Statur  fennt  feine  ©reuze. 

Bonn,  ben  26.  fJJtai  1875. 


(140, 

2}tu«f  ren  (S)ebt.  Ungct  (ZI).  QJrimm)  in  ©erlin,  ^ebenebetijerffr.  17». 


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Itr  lormtU5}icl)cr 

unb 

brr  fittitlir  mit  öcr  CSmts. 


itonrf  riner  dksdjidjit  brr  cß>rnrebilbntrri  bri  kn  (Stritdjcn. 


ä*on 


Dr.  Hboff  gtartttMitgfor. 

greiburg  i.  33. 


9Jlit  2 ^oljfcfmitten. 


ßcrlin  SW.  1S76. 

Sßerlag  t>  o it  Carl  # a b e I. 

(<C.  <8.  I'ättrlti’sifer  Brrlnßsbndjhanilr.^g.) 

33.  »il&elm . 33. 


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2Da$  iHcdjt  bet  llfberiefcung  in  ftembr  ©fragen  wirb  cerbebaltrn. 


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.Ser  Sinn  unt  tal  Ueftrcfcm  »er  ®ried)€n 
ift,  fcen  ®cnfcten  ju  Bcrgcttern,  nidjt  bie 
®ott&eit  ju  umnenföen.*  ® ö t & e. 


•Unter  feen  gasreichen  Statuen,  bie  un§  baS  Stltertfyum  hinter* 
taffen  ha*  unb  bie  jefct/  in  ben  SDiufeen  ©uropaS  gerftreut,  ben 
©egenftanb  itnfrer  gerechten  33ewunberung  bilben,  finb  bod>  nur 
wenige , bie  ficb  eines  fo  gefieberten  unb  weithin  verbreiteten 
fRuhmeS  erfreuten,  wie  bie  beibeu  SBerfe,  bie  unS  im  gvlgenben 
befdjäftigen  follen;  id)  meine,  ber  Änabe  mit  ber  ©anS,  ber 
unS  leiber  nur  in  mehreren  fDtarmorfopien  erhalten  ift,  unb  ber 
SDornauSjieher,  beffen  bronzenes  Original  auf  bem  ©apitol 
in  fRom  bewahrt  wirb.  23eibe  Statuen  finb  jebem  Saien  be» 
fannt,  ja  ber  bie  ©anS  wütgenbe  Änabe  ift  fo  in’S  2Mf  ge* 
brungen,  baf)  man  ihn  3.  23.  gum  Schmucfe  meberner  öffentlicher 
Srunnen  nicht  unpaffenb  verwenbet  finbet.  @8  ift  biefe  2$or* 
liebe  unfrer  Beit  auch  leitet  erflärlich:  ein  unS  menfchlid)  fo 
nahe  berührenber  Bug  weht  aus  jenen  Söerfen  unS  entgegen 
unb  bie  einfache,  allgemeine  2ßahrl)eit  in  ber  ©rfinbung  äweiet 
an  fidj  unbebeutenber  Scenen  auS  bem  jbinberleben , jebem  fo* 
fort  verftänbtidj,  jebem  etwas  bietenb  — fie  feffelt  unS  hier 
bauernber,  allgemeiner,  als  eS  jene  immer  nur  SSenigen  voll» 
ftänbig  faßbaren  ibealen  ©öttergeftalten  vermögen.  SBährenb 
lefctere  bem  fftichteingeweihten  immer  frembartig  bleiben  mögen, 
gelten  ihm  erftere  längft  wie  liebe  SBerwanbte. 

XI.  »45.  *46.  1*  (U5) 


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6 


9ftan  bürfte  nun  erwarten,  baff  übet  §wei  fo  bebeutenbe 
Sßetfe  and)  bie  Äunftwiffenfcbaft  gu  gefieberten  JRefultaten  ge* 
langt  fein  feilte  unb  bafj  man  über  ihre  Stellung  in  ber  ©nt* 
Wicflungggefd)id)te  griecfjifcfcer  Äunft  im  klaren  fei.  3nbefc,  fe 
Biel  einzelne,  fid)  entgegengefefcte  3lnfid)ten  geäußert  worben  finb, 
fe  bat  man  bod)  bisher  unterlaffen,  bie  Stage  im  gröfjern 
3ufatnmenbang  gu  bebanbefn  unb  fonnte  beö^alb  nicht  gu  befrie* 
bigenben  Schlüffen  gelangen.  Stud)  bie  gefenberte  33etracbtung 
beiber  SBerfe,  non  ber  wir  bei  ber  folgenben  Unterfucbung 
natürlich  auSgeben  muffen,  ift  nicht  überfTüffig ; iftboeb  fogar  bie 
Slnftcbt  auSgefprocben  worben,  eS  fßnnten  beibe  SBerfe  Bon  einer 
nnb  berfelbett  Äünftlerbanb  bjerrüljrert. 

SDer  Unabe  mit  ber  ©anS,  auf  ben  wir  juerft  unfre 
33licfe  richten  wollen,  ift  ein  feefer  3unge,  etwa  im  Sllter  Bon 
4 — 5 3abren-  ÜieblingStbier  unb  Spielgefährte  ift  bie 

©ans  beö  ,!paufe8.  @8  ftanb  nemlid)  im  ISltertbum  bie  ©anS 
allgemein  in  hebet  Sichtung,  fie  gehörte  nebft  »£>unb,  Schlange 
unbSBibber^u  ben  unentbebrlicbften  ^augthieren,  man  fc^ä^te  fie 
alß  ba8  Spmbol  einer  BoOenbeten  ^auSfrau,  ja  man  febwor  fo» 
gar  bei  ihr.  SDie  IHeblingSgänfe  bet  Penelope,  bie  fie  im  SSraume 
gelobtet  fieht  unb  il)re  Srcube,  als  fie  be8  BtorgenS  noch  leben, 
finb  gewifj  3ebem  au8  bet  Dbpffee  erinnerlich.  SRatürlidj  fpielten 
inbeb  neben  ben  Srauen  befoitberS  auch  bie  Äinber  gern  mit 
biefeu  Spieren.  Sluf  Äunftwerfen  aller  SIrt  fel)en  wir  fie  baber 
oft  fo  bargeftellt,  balb  in  ruhig  freunblidjem,  balb  in  nerfifcb 
feinblicbem  ©erlebte  mit  ber  ©anS;1)  bentt  oft  ift  ba8  Sbtet 
auch  eigenfinnig,  unb  fo  ift  unfre8  Sungen  ©anS  heute  befon* 
berS  wiberfpenftig,  ja  fie  will  ihm  unb  feinen  SRecfereien  mit 
©ewalt  entfliehen,  ©r  aber  paeft  fie  feft  mit  ben  Slrmen  um 
ben  ,£>al8  unb  ftemmt  jugleicb  bie  ganje  2aft  feines  jurücfge* 

(14«) 


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7 


beugten  ÄörperS  gegen  bie  heftig  oormärtsftrebenbe  .Kraft  be3 
$l)iete8.  @o  entmicfelt  fid^  ba8  reijeubfte  SSibetfpiel  berÄräfte,8) 
ba8  ju  geniefjeu  man  fid)  fo  [teile,  bafj  bet  .Kopf  be8  ünabeu 
im  'Profil  erfdjeint.  ©d)on  biefeS  rein  formale  Sntereffe  an  bem 
abgemogenen  @leidjgemid)t  miberftrebenber  .Kräfte  bebingt  einen 
großen  2ljeil  be8  BauberS,  ben  ba8  SBerf  auf  un8  auSribt.  Sa» 
ju  fömmt  aber  nod)  ba8  Slnjieljenbe  be§  3nl)alt8.  ©8  ift  fein 
blofjeS  ©Spiel,  bem  .Knaben  ift  e8  ©rnft;  unb  mie  an  feinem 
.Körper  jebeS  ©lieb  unb  jeber  9Hu8fel  mit  Slnftrengung  nadj  ©inem 
3*ele  arbeitet,  fo  leuchtet  audj  au8  feinem  ©eftdjte  bie  entfdie» 
benfte  ©nergie  unb  bet  regfte  ©ifer,  ba8  $l)iet  ju  bemältigen. 
55er  .Kampf  ift  itjm  uidjtS  Kleines,  er  erfüllt  fein  ganjeS  SBefen 
unb  tintig  ift  bie  Sergleidiung  DterbedS  (©efdjidjte  ber  gr. 
Plaftif  II,  126),  bie  ©adje  fei  il)m  ebenfo  midjtig  mie  perafleS 
bie  Stmütgung  be8  'Jlemeifcfyen  Sömen.  — piet  liegt  aber  bet 
Kernpunft:  [oId)e8  Aufgebot  ber  ganjen  ©nergie  unb  aller  .Kräfte, 
als  gälte  e8  ba8  pödjfte,  ©reffte  — unb  ba8  um  eine©an8!  — 
Sa8  geiftige  Sntereffe  unjrer  ©tatue  befteljt  alfo  in  einem 
©ontrafte:  bie  an  fid)  unbebeutenbe  panblung  mad)t  fidj 
mistig  a!8  bebeutenbe  pelbentljat,  ber  groffe  ©ifev  unb  ©rnft 
be8  Knaben  contraftirt  mit  bem  geringen  Sntereffe  an  fid),  unb 
in  neibifdjer  ©efynjudit  rufen  mir:  o ©Iftcf  bet  unfdjulbigen 
Kinber!  iljr  forgt  nur  um  euer  ütfyier  unb  fennt  nid)t8  pofyereS, 
eud)  ift  mit  ber  ©an8  ju  ringen  — [dien  pclbenttyat! 

SBie  anberS  tritt  uns  ber  Sorna uSjiefyer  entgevgen! 
pier  l;aben  mir  fein  Kinb,  fonbern  einen  .Knaben  im  Sllter  oon 
etma  jmölf  3al)ren  »er  un8.  ©t  fyat  fid)  einen  Sorn  ober 
©plitter  in  ben  gufj  getreten,  l)at  fid)  auf  einen  ©tein  gefefjt 
unb  legt  nun  ein  Sein  auf  ba8  anbere,  um  forgfältig  bie  Ut» 
fae^e  be8  @djmerje8  3U  entfernen.  5Rit  ber  tinfen  panb  l)at  ec 

(ur> 


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8 


len  fchmergenben  linfen  gufs  erfafjt,  um  bie  ©of)le  begjelbett  auf« 
»arte  bem  ©efidjte  entgegen  an  breiten;  bte  rechte  ^>anb  ift  be- 
reit, ben  ©orn  felbft  heranggugieheu,  fobalb  bte  ©teile  fidjer  er* 
fannt  ift.  ©en  gangen  Dberforpet  unb  mit  ihm  ben  Äopf 
neigt  er  aufmerlfam  aber  ruhig  unb  ohne  jebe  heftige,  auf  Ofteu* 
tation  berechnete  ©ewaltfamfeit.  ©er  Äopf  entbehrt  gwar  alleö 
weiteren  pfpchifchen  Sluöbrucfg,  aber  wir  »erlangen  aud)  nicht 
banach ; benn  bae  ©ange,  bie  lebenbige  9tatürlid)feit  jebet  33eu?e* 
gung,  bie  frifd^e  Ungegwungenheit,  mit  ber  5lHeg  auf  ben  ©tuen 
3wecf  fteuert,  ift  ung  uoUfommeit  genug,  ®o  bemerfen  wir  auch 
nicht , ba§  bie  DJatürlichfeit  ber  ©tettung  mit  ber  Serlejjuttg 
eines  fonft  immer  beobachteten  fünftlenfdjcn  ©efefceg  erlauft  ift. 
Snbem  nemlich  fowohl  bag  gange  ftit^enbe  rechte  Sein  alg  ber 
linfe  §uf),  bag  Sentrum  beg  3ntereffeg  unb  ber  Jpanblung,  unb 
enblicl)  ber  Äopf,  ber  geiftige  SJiiitelpunft , Dort  beffen  fcharfem 
Slicfe  bie  Söfung  ber  Scrwicflung,  bie  ©ntbecfung  unb  ©ntfer* 
nung  beg  ©orneg  abhängt,  inbem  alle  biefe  brei  fünfte,  geiftiger 
wie  förderlicher  ©djwerdunft,  in  einer  Sinte  liegen  uttb  gwar 
allein  auf  ber  red)teu  ©eite,  während  bie  linfe  itng  gar  fein 
3ntereffe  bietet,  ja  burch  bie  fc^arfe  ©cfe,  bie  bag  herawfgenom* 
mene  Sein  bilbet,  mit  ber  barunter  befindlichen  8eere  unfer  ?luge 
»erlebt,  fo  entftehen  baburd?  auffallende  Serftöfce  gegett  ©ommetrie 
unb  harmonifdje  ginienführuttg,  wie  fie  in  den  ttng  erhaltenen 
SBetfeit  alter  Äunft  außerordentlich  feiten  »orfommen.  3hr« 
Seobad)tung  ift  deshalb  tyex  non  gang  befonberer  SBidjtigfeit, 
wag  ftd)  jedoch  erft  ffäter  im  gangen  Umfange  geigen  wirb,  ©o 
unläugbar  jebod)  biefe  .ipärte  am  ©ornauggiel)er  ift  — benn  man 
wende  nicht  ein,  er  fei  bieg  für  bie  ^refilanfidjt  »en  red)tg  ge« 
arbeitet;  bieg  fanu  nicht  ber  gall  fein,  inbem  dadurch  bag  ben 
Äörper  beftimraenbe  ^auptmotiü  beg  heraufgenommenen  Seineg 

(148) 


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9 


unflat  würbe  — fo  beutllcp  alfo  jener  ÜRangel  ju  2age  liegt,  jo 
wirft  et  benned)  nicpt  ftörenb  auf  ben  »ollen  unb  parmonifdjen 
©inbrucf  beg  ©angen;  ja  wir  achten  ipn  nicpt  unb  übetfepen 
ipn,  benn  wir  fepen  nur,  wa8  ber  Äünftler  gewollt  pat:  ben 
einen  SÖfoment,  in  betn  bie  gange  Slnlage  unb  alleg  Sntereffe 
ber  ©tatue  gipfelt,  ben  flar  unb  präciS  gefaxten  fDloment,  wie 
fcer  Änabe  beputfam  ben  Sorn  entfernt. 

2)a§  gwifdien  unfern  beiben  Söerfen  wefentticpe  Unterfdjiebe 
eriftiren,  ift  wopl  fdjon  auö  bem  5Borftepenben  flar  geworben; 
um  un§  berfelben  jebod)  im  ©ingelnen  bewufjt  3a  werben,  be* 
ginnen  r»ir  mit  einigen  33emerfmtgen  über  ben  formalen 
©parafter  ber  SBerfe. 

3m  Änaben  mit  ber  @an8  paben  wir  bag  SBerf  eineg 
ÜJleifterg,  ber  bie  fStittel  ber  Secpnif  »ollfontmen  beperrfcpt  unb 
nad)  feinet  ©eite  pin  gebunben  erjdieint.  £)ie  naturaliftijcpe 
©urcpbilbung  be8  finblitpen  Äörperg,  bie  beitnod)  bie  .Klippe  ber 
^lumppeit  fo  glücflicp  überwunben  pat,  beutet  ebenfallg  auf  bie 
3eit  ber  »ollften  ftreipeit  pin;  benn  erft  ba,  im  »ierten  Saprp. 
».  (5pr.,  fommen  überpaupt  Äinberbilbungen  in  ber  ftatuarifdpen 
Äunft  »er,  wäprenb  bie  ältere  3«it,  ber  aud)  faft  bie  gange 
SBajenmaletei  gefolgt  ift  (f.  meine  ©d>rift  „Grc8  in  ber  SSafen^ 
malerei"  ©tündjen  1875.  @.  70),  nur  bag  .Knabenalter  gebilbet 
gu  paben  fepeint.  2)ag  ältefte  3?eifpiel  cineg  Äinbeg  in  ftatua* 
riidjer  Äunft  ift  wopl  ber  ©lutog  mit  ber  Girene  »on  .teppi* 
febot,  3U  Anfang  beS  »ierten  Saprp.,  welcpe  ©ruppe  wir  ja  in 
ber  feg.  ?eufotpea  in  ©fünepen  befitjen.  5Bon  bemfelben  ©feifter 
war  £ionpfo8  alg  Äinb  »on  ,£ermeg  gewartet;  eg  folgen  bann 
lenoppong  ©lutog  unb  beS  Guppraner,  fowie  beö  ©fcpag  geto 
mit  Strtemig  unb  Slpoü  alg  Äinbern,  enblicp  ein  ©ionpfogfinb 

049  ) 


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10 


»on  ^rajriteleg.3)  Grft  burdj  biefe  göttli  djen  Äinber  gefyt  ber  2Beg 
ju  unfetm  menfdjlicßen. 

2>ie  »cBfte  grcißeit  jeicit  ferner  bie  £aarbeßanblung  ltnfrer 
©tatue;  ja  ber  im  Gifer  in  bie  ©time  gefallene  Söifdj  Jpaare, 
ber  ganj  gewiß  nid)t,  wie  Doerbed  31t  glauben  jcßeint,4)  ein  3u* 
faß  bei  SJtarmorfopiften  ift,  fonbern  niclmeßr  im  Srongeoriginale 
feßt  fein  cifelirt  gewefen  fein  wirb,  tiefer  jufädig  momentane, 
naturaliftifdße  3»g  lä§t  uni  jene  Spfippifcße  Oieform  ber  .paar* 
beßanblung,  bie  nacß  betn  3ufäUig=2Birflicßen  ftrebte,  als  bereite 
»orangegangen  »oraugiufeßen. 

£)a»on  finben  mir  nun  im  IDornaugjießer  bad  getabe 
©egentßeit:  bag  .paar  ift  ein  fDiufter  ftrenger  ©tilifirung;  in 
regelmäßig  fid)  aneinanberreißenbcit  Soden  umgibt  eg  eng  aulie* 
gcnb  ben  woßlgebauten  ©cßäbel,  non  einem  3uge  beßerrjdjt, 
ein  jpftematifd)  georbneteg  ©anjeg  bilbenb,  bag  feine  ©pur 
jener  naturaliftifcß  gufälligen  SJiotioe  gulaffen  fann;  furg  eä  i|t 
bag  paar  einer  faum  aug  ben  gefjeln  beg  Slrdjaigmug  befreiten 
3eit  mit  ftreng  ibealer  Olaturauffaffung.  — 5)tit  biefcr  älteren 
3eit  ftimmt  aber  and),  wie  mir  faßen , bag  gewäßltc  alter  fo« 
moßl,  als  jene  pärte  ber  Gompofition  trefflid)  überein. 

Otidjt  geringer  alg  biefe  formalen  Untcrfcßicbe  untrer  beiben 
©tatuen  finb  aber  biejenigett  in  ber  ge i ft i gen  äuffaffung. 
äßäßrenb  mir  namlidi  beim  Änaben  mit  ber  ©ang  bag  3ntereffe 
in  einem  Gontraftc  befteßenb  fanten,  fo  fann  beim  2)oinaug« 
gießer  non  etmag  ^Derartigem  nid)t  bie  Siebe  fein ; ßier  feffelt  uni 
»ielmeßr  5Rid>tö  all  bie  unbefangne,  »oUfommne  IDarftellung  eine! 
gemößnlidien  Hergang!  in  all  feiner  Ginfacßßcit,  bet  Oiatur  ab» 
gelaufdjt  uub  frei  non  jeglicßer  9lcbenbe3ießung.  $ft  bodb  bie 
panblung  fo  einfatß  unb  gemcßnlicß;  einem  3eben  non  ung  fann 

(150) 


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11 


täglich  baffelbe  begegnen,  wenn  er  barfu§  geht,  wie  e8  ja  bie 
•Sllten  oft,  unb  3war  and)  aufjer  bem  Jpnu^e,  traten. 

©ang  anberS  ift  e8  mit  unterm  .^clbenfnaben,  bet  mit  bet 
@an8  ringt;  benn  ba8  fann  nur  ein  .Rinb  thun  unb  nur  ihm 
fann  bie8  ein  fo  wid)tige8  ©reignife  werben. 

@o  ift  benn  ba8  gewählte  ?(lter  für  ben  ganjen  G^arafter 
bet  beiben  SBerfe  Den  größter  5öid)tigfeit;  benn  l)ier  bei  bem 
Äinbe  fa§t  un8  eine  ©ehnfudjt  nadj  bem  glücflidj  unfchutbigen 
ÄinbeSalter,  bort  bei  bem  erwachsenen  Knaben  mifdit  ficb  9ficbt8 
berart  in  ben  reinen  ©enufj  ber  Darftellung  einer  2Wtag8* 
hanblung,  ber  Darftellung  frei  non  allen  ttlebenbejügen. 

9iad)bem  wir  un8  fe,  auSfdiliefjlid)  burd)  Betrachtung  ber 
Äunftwerfe  fetbft,  bie  wefcntlid)en  llnterfd)iebe  ber  beiben  ©tatuen 
flat  gemalt  haben,  fann- für  un8  fein  3weifel  mehr  obwalten, 
bafj  beibe  nidjt  nur  nid>t  etwa  »cm  berfelben  Äünftlerhanb  fein 
fonnen,  fonbern  gan3  Derfdjiebeneit  Beiten,  gang  »erfchie« 
benen  Gultur-  nnb  Äunftguftänben  angehören  muffen.  @8  gilt 
bemnach  jetjt  bnrch  Jperbeigiehung  äußerer  Daten  bie  hifterifdje 
Stellung  unfrer  beiben  SBerfe  genauer  311  beftimmen. 

©lürflicberweife  haben  wir  biefür  wenigftenS  ©inen  feftett 
£alt,  inbem  ber  Änabe  mit  ber  ©an8  allgemein  unb  mit  SRedjt 
ibentifi3irt  wirb  mit  einem  Den  ^Miniuö  al8  infans  unserem 
strangulans  be^eidjneten  5Berfe  beö  Beethoä.  3wat  ift  bie 
Beit  biefeä  Äünftlerö  uidjt  fidjer  unb  genau  31t  beftimmen,  hoch 
bütfen  wir  ihn  mit  aller  Söahrfdjeinlichf eit  in  ben  Anfang  ber 
Diabcchenperiobe  fet$en.s) 

Seiber  fehlt  unö  jebe  äußere  Angabe,  um  audj  ben  Dorn= 
au^ieher  einet  beftimmten  3«t  unb  ©chule  3U3uweifen.  @8 
bleibt  baher  nur  einSBeg,  um  bie  oben  entwicfelten  Unterschiebe 

OM) 


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12 


unfrer  beiben  Serfe  l) tft or i f d>  gu  begreifen  «nb  gu  würbigen, 
nur  ber  Sßeg,  ba§  wir  unß  »on  ber  ganzen  ©efdjidjte  beß* 
jenigen  Äunftgweigeß,’  bem  unfere  Statuen  angeboren,  nemlid) 
bet  ©enrebilbnerei  bei  ben  2llten,  einen  Ueberblicf  gu  t>er* 
fdjaffen  fndjen. 


Seiber  ift  biefe  Aufgabe  beßljalb  feineßwegß  leicht,  weil  fo 
gut  wie  gar  feine  Verarbeiten  bagu  egriftiren.  Obwohl  nemlid} 
baß  antife  ©enre  früher  eine  »iel  erörterte  Streitfrage  war,  fo 
badjte  bod)  fliiemanb  baran,  bie  Sache  l)iftorifcb  gu  faffen,  in* 
bem  mau  meift  ber  alten  jfunft  baß  ©eure  überhaupt  abfprechen 
gu  muffen  glaubte;  unb  aud)  Stephani,  ber  mit  fRecht  bemerft, 
bafj  man  babei  fälfd)lid)  naturaliftifche  Ve^anbtung  afß  bem 
©enre  wefentlid)  betrautet  l)abe,  behauptet  nur  im  ÜlHgemeinen 
nen  ber  alten  Äunft,  ba§  fte  fidj  ebeufo  fleißig,  wie  bie  meberne, 
mit  bem  ©enre  befcbaftigt  habe,  nur  in  ibealiftifcher  Seife.6)  2>a» 
gegen  hatte  Otto  3at)n  fdjon  früher  (53eridjte  ber  fäd)fifd)en  @e» 
fellfd).  b.  Siff.  1*^48,  41  ff.)  eß  üerfud)t,  bieftrage  ^iftorifd)  gu 
nehmen,  iubem  er  namentlid)  auf  bie  Vebeutung  beß  großen 
Söenbepunfteß  in  ber  Sllejranbrinifdjen  Seit  binwieß ; bod)  waren 
feine  5lnfdjauungen,  wenn  aud)  in  einigen  Jpauptpunften  richtig, 
bod)  mel)r  geahnt,  als  auf  SLljatfadfen  begrünbet,  wie  er  benu 
fälfd)lid)  bev  »oralejranbrinifdjen  Seit  baß  ©enre  gang  abfprad).  — 
@ß  ift  baljer  »or  Slllem  unfere  Aufgabe,  bie  widjtigften  miß  burd) 
bie  Siteratur,  wie  bie  fUlonumente  überlieferten  2hatfad)en  gu» 
fammenguftellen,  um  fo  gut  ^iftorifc^en  Sürbigung  unfrer  beiben 
Statuen  befähigt  gu  werbeu. 

Unter  ©eure  in  bem  weitern,  hier  anguwenbeitbcn  Siuue 
»erftel>en  wir  alle  biejenigen  Stoffe,  bie,  im  ©egenfafje  gu  ben 
mptl)ifd)en  unb  ^iftcrifdjen,  eine  beliebige,  tägliche,  gewöhnliche, 

(15*) 


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13 


namenlofe  ©ingelhanblung  gum  iRepräfentanten  ihrer  gange«  @at« 
tung  ergebe«.  @8  finb  bähet  alle  SDarfteQungen  Ijerbeigugietyeu, 
bie  nicht  burch  SRamen  beftimmte  3ubit>ibuen  eorführen.  9lbcr 
and?  unter  biefen  JHepräfentanten  einet  ©attung  muff  man  fdjei* 
Ce«  gwifdwn  ben  lebiglidj  ihrer  felbft  wegen  gearbeiteten  SBerfen, 
bie  bem  ftrengern  23egrijf  beS  ©enreß  entfprecpen,  unb  ben  burch 
äußere  ©egüge  enger  beftimmten  SDarfteOungeu.  freilich  ift  biefe 
Stpeibung,  namentlich  in  bet  alten  Äunft,  oft  fchwanfenb  unb 
ungewiß.  3ur  23erbeuilichung  beß  Unterfchiebeß  felbft  biene  fol* 
genbeß  23eifpiel.  ©efefct  man  wolle  heutgutage  baß  IHnbenfen 
eineß  befonberß  gldngenben  SBettrennenß  Berewigen;  inbem  man 
bie  ©ruppe  eineß  rennenben  §)ferbeß  nnb  eineß  batauffi^enben 
Socfep’ß  alß  SDenfmal  fefcte,  fo  würben  wir  bieß  SBerf,  baß  fdjen 
burch  feine  Snfchrift  bie  beftimmte  23egiepung  auf  baß  ftattge* 
tjabte  Siennen  fnnb  gäbe,  gewifj  nicfcit  bem  eigentlichen  ftrengen 
©enre  gutechnen,  fo  wenig  alß  g.  23.  ben  üugernet  8öwen.  2tn* 
berß  aber,  wenn  etwa  ein  Äünftler  anß  eigenem  Antriebe  fidp 
bie  Aufgabe  ftellte,  bie  ^eftigfte  33ewegung  eineß  IRennpferbeß 
unb  baß  gefdjicfte,  aber  non  Hoffnung  unb  gurcpt  aufgeregte 
SBefen  eineß  3o<fep’ß  in  einer  ©ruppe  barguftellen  — lefctereß 
würbe  fidjer  ein  ©enreftücf  fein,  fo  wenig  eß  oon  erfterem  fonft 
bifferiren  möchte. 

SDoch  gehen  wir  nun  gunächft  gurücf  in  jene  erften  3 eiten 
gtiechifcber  Äunftübung,  fo  finben  wir  gerabe  in  biefet  älteften, 
noch  wefentlich  Bon  Elften  her  beeinflußten  beforatinen  Ännft 
nicht  nur  ein  Ueberwiegen,  fonbern  eine  faft  außfcpliefjliche  .perr« 
fchaft  beß  ©enreß. 

9iachbem  ber  erfte  lünftlerifche  Srieb  im  reinen  Ornamente 
feinen  Sußbrucf  gefunben,  wagte  man  fich  in  ber  ©arftellung 

(iss) 


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lebenber  SBefen  gucrft  au  bie  beu  fDlenfdjen  täjjlid)  umgebenben, 
befannten  £>außtl)iere,  bie  fein  liebe«  33efifctl}um  wareu.  SDie 
»eitere  ©tufc  ber  erften  €Dieitfd>en=SDarftellun{j  oevgegenroärtigen 
unß  einige  uralte  iHtljenifdje  33a jen  in  ber  urfprünglidjften,  finb* 
tieften  3t*d)nung  (abg.  in  ben  Monum.  dell’  Institute  33b.  IX, 
t.  39  ff.),  ©egenftanb  ift , ber  33eftimmung  bet  3Iafen  für 
©räber  entjprecbeub,  bie  tflage  um  ben  Sobten  unb  baß  barauf* 
folgcnbe  geft,  Sang  unb  SBcttfaljren.  SDer  ©toff  ift  alfo  auß 
bet  SBirflidjfeit  genommen;  aber  bie  gewählten  Elemente  finb 
bie  allgemein  bebeutenbeu,  bei  jeber  £obteufeier  wieberfcljrenben, 
uid)t  gufaüig  eiugelne.  ©djon  l)ier  alfo  tritt  ber  ibeale  ©ruub* 
gug  ber  ijellenifdjen  Äunft  t)eroor:  auß  bem  Söefett  ber  lobten* 
feier  fudjt  man  ein  allgemein  gültiges  ©djema  berfelben  gu 
geftalten. 

23er  fteigenbe  ©influfj  Slfienß  rnadjt  bann  bie  »üben  Staub* 
tljiere  nnb  ifyre  Kämpfe  gu  bem  beliebteften  ©egenftanbe  ber  SDefo* 
ration  für  33a jen  uub  namentlich  für  bie  SBaffen,  wie  wir  auß 
$omcr  feiert,  Der  unß  ein  treueß  33ilb  jener  Äunftgeit  liefert. 
^Daneben  fomrnen  aber  auch  SDtenfdjen,  unb  gwar  SDlannerfüntpfe 
eor,  wie  bieß  g.  33.  auf  bem  Söetjrgefyenf  beß  jpcrafleß  ber 
war  (Odyss.  11,  609  ff.).  Söeitauß  am  intereffanteften  ift  aber 
bie  berühmte 33efdjrcibung  be8©d)ilbeß  beß  Stdjilleuß.  3lud? 
hier  finbet  fidj  nod)  gar  nid)tß  ÜJtrdhifdjeß,  eß  finb  lauter  33il* 
ber  auß  bem  täglichen  geben : fo  gunät^ft  im  gweiten  greife  — 
bet  erfte  fteUte  Jpimmel  nnb  ©rbe  bar  — ber  ©egenfajj  einer 
frieblidjca  ©tabt  in  £odjgeit,  ©piel  unb  -JRe^tßftreit,  unb  einer 
ftiegetifdjen  in  Sßelagcrung,  Jpinter^alt  unb  Ucberfall.  3m  brit* 
ten  einerfeitß  Pflüger,  ©Knitter  unb  ©rntefeft,  anbrerfeitß  Söein* 
lefe  unb  eine  frieblidje,  wie  eiue  nou  Cöwen  angefallene  beerbe, 
üaug  unb  ©piel  im  eierten  greife  fdjliejjt  bie  unruhigen  ©egen» 

(ut) 


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15 


fä£e  tjarmonifd)  ab.  ©o  fptingt  unß  auß  bcr  3uta«tniCM crb- 
nung  tiefer  5)arftellungeu  eiu  allgemein  poetifdier  ©ebanfe  ent* 
gegen:  eß  ift  baß  SDlenfdjenleben  bargeftellt  in  greub  unb  £eib, 
in  SRufye  unb  Arbeit,  ingtiebe  unb  Ärieg.  aber  biefer  ©ebanfe 
entfpringt  nidjt  aus  bet  Slrt  ber  ©arftellung  felbft;  benn  biefe 
geigt  nur  iu  aller  Unmittclbarfeit  unb  naicett  greube  au  ftd)  felbft 
ben  wefentlidjen  Gljarafter  jeber  £anblung,  wie  benn  ferner  felbft 
einen  leitenben  ©ebanfeu  nid)t  bemerft  l)at  — biefer  entftetyt  erft 
burd)  bie  ©egenüberftellung  beß  ©ingelnen  unb  bie  3uf<umnen* 
orbnuug  im  Diaume.  Slnberß  werben  wir  eß  in  ber  fpäteren 
fdjon  finfenbeu  Äuuft  finben,  wo  ber  ©ebanfe  bie  üDarftellungß* 
weife  felbft  gleidjfam  infiltrirt. 

$Die  außfdjliejjlidte  ^errfdjaft  beß  ©enreß  in  biefer  Bei*7) 
erflärt  fid>  uur  eben  burd)  jenen  ibealen  3ug,  burd)  ben  ftd) 
©riedjifdjeß  non  Satbatifdjem  gleid)  non  Slnfang  an  fo  fdjarf 
uuterfäjeibet.  Boten  3.  B.  bie  2lffnrifd)en  SHeliefß,  bie  ber  #ome* 
rifdjen  Äunft  Borbilb  waren,  bie  ©eene  ber  Belagerung  einet 
beftimmten  ©tabt  djreuifcuartig  gefaxt,  fo  formte  bet  ©riedje, 
bet  bem  $iftorifd?en,  fobalb  et  eß  nid)t  unter  einem  ibealen  @e* 
fid)tßpunfte  faffen  fonnte,  immer  abgeneigt  war  uub  blieb,  hierin 
nid)t  folgen,  er  madjte  baß  ©enrebilb  einer  belagerten  ©tabt 
barauß,  womit  er  burd)  ©egenüberftellung  einer  frieblidjen  eiuen 
allgemeinen  poetifdben  ©ebanfen  gewann.  25od)  biefe  l'lrt  beß 
©enreß  burfte  unb  fonnte  nur  eine  Borftufe  fein  gu  Jpöljerem, 
bie  Borftufe  gum  9)tl)tl)ifd)eu;  benn  bal)in  3ielte  ja  jeneß  ibeale 
©treben  beß  ©rieten,  baß  bie  djronifeuartige  SDarfteflung  feiner 
Borbilber  abwatf,  um  baß  allgemeingültige,  SBefentlidje  gum 
’llußbrurfe  gu  bringen;  bieß  bot  aber  ber  9)lptl)uß  in  reidjlidjfter 
Sülle,  ber  ben  allgemein  uub  ewig  geltenben  &t)puß  für  alleß 
menfdjlidje  SBefen  unb  ipanbeln  enthielt.  SDJan  fonnte  haltet 

(l») 


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16 


fragen,  warum  ber  ®rie<ße  fitß  nidt>t  gleidß  Bon  Anfang  auf  ben 
9Jipt^uö  warf.  allein  biefer  ©prung  non  ber  realiftifdjen  2)ar* 
fteQung  einzelner  gafta  in  ben  orientalifdjen  Sorbilbern  3um 
ibealen  SDipttjuS  wäre  ju  groß  gewefen  mtb  würbe  aller  ßiftorifcben 
(SntwidElung  wiberfpredßen.  ©rft  mußten  ftatt  ber  ßiftorifcßen 
©cßlacßten  allgemein  SJlännerfämpfc,  unb  ftatt  eines  beftinimteu 
©iegeSfefteS  allgemein  SEanjenbe  unb  geiernbe  gefegt  werben,  ebe 
man  etwa  SEroifcße  Kämpfe  unb  SHpolI  mit  feinem  SUlufendßor 
an  jener  ©teile  treten  taffen  fonnte.  — SBie  uns  bie  griecßifdße 
Ä'unft  überall  ein  ewiges  SOtufter  ftreng  naturgemäßer  ©ntwicf» 
lung  ift,  unb  wie  namentlidß  in  ber  arcßaifdßen  $)eriobe  fein 
©cßritt  norwärtS  getßan  wirb,  oßne  burdß  baS  Sorßergeßenbe 
grünblicßft  motiüirt  unb  Borbereitet  gu  fein,  fo  ßaben  wir  audb 
ßier  gleich  am  ©ingang  griediifcßer  Äunft  ein  fcßlagenbeS  Sei* 
fpiel  jener  ©rfaßrung : füllte  fie  nidjt  burtß  üerfrüßte  IDarftetlung 
beS  Sltptßifcßen  in  pßantaftifcße  Ungeßeuerlidjfeit  cerfaDen,  wie 
fo  manche  Sarbarenfunft,  füllten  jene  wegen  ißrer  fc  menfcßlidjen 
Raffung  ewig  bewmtberten  Silber  griediifcßen  fDtytßuft’  entfteßen, 
fo  mußte  erft  biefe  Sorftufe  beS  ©enreS  BorauSgeßen ; ßier  muß* 
ten  am  allgemein  SRenfdjlicßen  bie  SE»pen  auSgebilbet  werben, 
nacß  benen  baS  üllntßifcße  ficß  bann  geftaltete. 

5)ocß  bricßt  ficß  leßtereS  allmälig  Saßn;  anfangs  3War  itocß 
fcßücßtcrn  unb  nur  in  befcßränftem  5Jlaße  auftretenb,  wie  an  bem 
»on  £efiob  befcßriebenen  ©cßilbe  beS  £erafleS:  $u  ben  Bom 
©cßilbe  beS  ^djiUeuS  befannten  allgemeinen  ©arftetlungen  treten 
ßier  juerft  mptßifcße  Äämpfe  unb  jwar  bie  ber  Kentauren  unb 
fiapitßen;  ba$u  im  gewohnten  ©egenfaße  ber  frieblicße  Gßor  beS 
SlpoO  mit  feinen  fDtufen;  audj  ber  Söettlauf  wirb  burcß  eine 
mptßifcße  ©eene  erfeßt,  inbem  man  Werfens  barfteOt,  wie  er,  Bon 
ben  ©orgonen  »erfolgt,  über  baS  SOteer  ßin  fließt. 

(IS«) 


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17 


Sen  fteigenben  ©influß  beb  93Rt>tt)ifd>eii  fenncn  wir  nodß 
an  ben  älteften  33a  fen  beobachten;  fie  bieten  jugleidj  beit 
betten  33eleg  bafür,  baß  ber  allgemein  menfdjliche  S»pu8  immer 
bie  ©runblage  war.  ©o  fämpfen  3.  33.  auf  einer  Safe  au8 
Äameirob  (Serl).  ber  fPhtlologenoerf.  1864)  gwei  CDIänuer  über 
einen  lobten  — bab  beliebtefte  unb  ^äufigfte  ©dhema  be8 
ÄampfeS;  bo<h  3ur  ©rhöhung  be§  SRei^eS  biefer  gan3  allgemeinen 
SarfteOung  ftnb  bie  tarnen  HJtenelaoS,  ^jeftor  unb  6u^^crboö 
teigefd»rieben,  bie  ber  Äünftler  in  einer,  freilidb  etwas  ungenauen, 
fRemiuißceng  an  Corner  hingugefügt  3U  haben  fdjeint.  Sie  fflamen 
jeugen  ^ier  nur  non  bem  allmälig  erwadtenben  Sebürfniß  nach 
nwthologijdtet  3nbinibualiftTung;  benn  oorerft  oergicßtet  man 
ne<h  auf  alle  ©ingeldharalteriftif,  man  gibt  ba§  allgemeine  Schema 
unb  fügt  frei  gewählte  3nfchriften  alb  3«that,  bie  bie  Sarftel» 
lung  nicht  beeinflußt,  ßingu.  ©cldjer  9lrt  ftnb  auch  bie  älteften 
forintßifd)en  Safen;  ba  finben  wir  3.  S.  (tMrdßäol.  3eitg.  1864 
i.  184)  3wei  JHeitergüge  fielt  gegeneinanbet  bewegen  unb  bie  3n* 
jdtriften  begeidbnen  einerfeitS  Sldbill,  9-'atreflo8,  9leftor  u.  31., 
anbrerfeitS  £eftor  unb  fDlemnon  — leine  beftimmte  mptßifcße 
#anblung,  fenbern  nur  nach  einem  allgemeinen  ©ebanfen  bie 
£aupthelben  beS  £roifd)en  ÄriegS  einanber  gegeniibergefteHt.  ©in 
treffenbeS  Seifpiel,  wie  weit  bie  Jpenfcßaft  beö  allgemein 
Sppiidjen  über  baS  fpegiell  ÜJiptßifcße  geht,  bietet  eine 
anbre  Safe  mit  Iroifdjen  .Kämpfen  (Annali  dell’  Inst.  1862 
tav.  B.),  wo  ^ßöuij:,  in  ber  fPoefic  ein  ©reib,  tyex  alb  Änappe 
beS  3td)iH  auch  witflicb  als  Änabe  gebilbet  ift.  Jpicr  fieljt  man 
jugleidj  beutlief»,  wie  unabhängig  bie  Äunft  gleich  oon  9lnfang 
ber  $)oefie  gegenübertritt:  fie  fdtafft  fidt  cvft  eigene  fünftle* 
rifdhe  Sppen  unb  biefen  muß  fief)  tie  Ueberlieferung 
fügen.  — 9lber  wie  wenig  in  biefer  3«it  bab  ÜJlpthifdje  nod) 

XI.  215.  246.  2 (157) 


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18 


gut  ^errfdjaft  gelaugt  war,  geigt  bie  berühmte  Dodwell-SBafe;8) 
benn  l)ier  finb  gwar  ben  Üfyeilneljmetn  einet  (Sberjagb  Flamen 
beigefdjrieben,  abet  nid)t  bie  einer  beftimmten,  un8  befannten 
mptljifcfyen  3agb.  ^Daneben  ift  eine  intereffante  9lbfdjieb8fcene: 
bem  3üngling  3)orima$o6  (b.  lj.  ©peerfämpfer)  legt  eine  grau 
Sllta  (Ä'raft)  bie  <£>anb  auf’8  Jpaupt.  @o  fel)t  ift  in  biefet 
§)eriobe  nodj  bet  allgemeine  ©ebanfenintjalt  »orwiegenb 
»ot  mptfyifdjer  53eftimmtljeit. 

üDennod)  entwicfelt  fit^  bie  JDarfteHung  bet  ©age  rüftig  an 
bet  ^>aub  jener  S^pen;  wie  man  benn  g.  55.  bie  Äalpboniffbe 
(äberjagb  ui$t  anber8  barfteUt,  alö  bie  be§  täglichen  SebenS. 
(Snblid)  im  Saufe  beö  6.  SaljrljunbertS  eröffnete  fid>  bet  »olle 
Strom  mptljifdjet  SDarftellung  mit  erftaunlidjem  fReid)t^um  in 
ben  beiben  berühmten,  leiber  nur  burd)  55efd}teibung  befannten 
Söetfen,  bem  .RppfeloSfaften  unb  bem  Sfyrone  beö  ^mpflaifctjen 
Apollo;  bie  erhaltene  fog.  gtancoi8»S3afe,  wenn  aud)  etwa8  jünger, 
fdjliefit  fid)  ifynen  würbig  an.  £ier  Ijaben  wir  benn  nur  ÜJt^en, 
reüid)  gunädjft  nod?  nidjt  überall  in  »oller,  inbioibueller  23e* 
ftimmtfyeit,  »ielmefyt  finb  bie  33eifd)tiften  nod)  wefentlid?  nnb 
notljwenbig.  SDod)  ba8  Streben  ber  golgegeit  ift  nun,  ba8  in* 
binibueOe  SBefen  jeber  ©age  mit  möglidjfter  SJeftimmtljeit  bar» 
guftellen,  fo  bafj  fie  au8  fidj  felbft  flat  ift. 

5?e»or  wir  biefe  erfte  fPetiobe  »erlaffen,  muß  barauf  Ijinge* 
wiefen  werben,  bafj  bie  bestochenen  SSerfe  lebigltd)  ber  befo» 
rati»en  Äunft  angeboren,  bafj  wir  fomit  in  einen  »öflig  neuen 
ÄteiS  treten,  wenn  wir  im  golgenben  gunadjft  ba8  au8  ber  monu» 
mentalen  Äunft  lleberlieferte  betrauten. 


Um  bie  fyiftorifcfje  (Sntwicflung  be8  @enre8  weiter  »erfolgen 
gu  fönnen,  finb  wir  wefentlid)  auf  bie  5Radjrid)ten  bet  ©djrift« 

(IM) 


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19 


heller  übet  bie  Zünftler  unb  ihre  SBerfe  angewiefen;  ^terauö  et» 
wäcbft  abet  eine  grohe  ©chmierigfeit;  benn  jene  Stachrichten  laf» 
fen  in  ben  meiften  fällen  gerabe  batüber  3tnrifel  übtig,  ob  ein 
SSer!  als  ©enreftücf  gu  taffen  fei,  ober  nicht.  35iefem  Umftanbe 
ijit  eg  wefentlid)  gugufdjreiben,  ba§  bie  bisherigen  Slnfidjten  übet 
baS  antife  ©eure  fo  unflar  unb  fchwanlenb  waren;  unb  baher 
lemmt  eS,  bah  g.  58-  ein  grober  $h«ii  bet  oon  Ooerbecf  in  fei* 
net  ©efd}icbte  bet  ^laftil  unter  bie  Stubrif  beS  ©eures  gegogenen 
SBerfe  als  nicht  ^ter^er  gehörig  abgewiefen  werben  muff.  ©S 
ift  nemlich  hier  oor  äUem  ein  leibet  nicht  immer  genügeub  be= 
obachtetet  @runbfa£  im  SMuge  gu  behalten:  wie  bei  ber  SSehanb» 
lung  eines  ÄunftwerleS  guetft  bie  befonbete  ©attung  unb  3tt 
beSfelben  in  ©rwägung  gegogen  werben  muh,  fo  ha*  man  and) 
bei  litetatifdhen  Stachrichten  auf  bie  befonbere  2lrt  unb  Snbim» 
bualität  beS  itberlieferuben  SutorS  gu  fehen.  Uufere  beiben 
$auptfchriftfteller  für  bie  Äunftgefchichte  fiub  abet  fPaufaniaS 
unb  fpiiniuS.  SBähtenb  nun  erfteret,  unfer  ejeafter  unb  bewähr* 
ter  führet  burch  ©riechenlanb,  SlUeS  auS  eigener  Slnfchauung  be» 
fchteibt,  unb  wäljrenb  baS  rein  fadjlic^e,  namentlich  reltgiöfe  3n* 
tereffe  bei  ihm  baS  fünftlerifche  weit  überwiegt,  fo  bah  et  in 
feiner  23efchreibung  faft  nur  bie  öffentlichen  unb  reltgiöfen  SJio* 
numente  berüdfidjtigt,  wo  ihm  eben  bet  mothologifd)  intereffante 
Slame  bie  ^auf)tfache  war:  fo  ift  bei  fPliniuS  bas  33ethältnifj 
überall  umgefehrt;  et  ift  ein  Siömet  unb  ©ompilator  im  gröh* 
ten  SDiahftabe,  ber  in  fein  ungeheures,  auS  2000  SSänben  ejr* 
cetpirieS  naturgefchicljtlicheS  3Bet!  bei  Gelegenheit  bet  SJtetalle, 
©rben  unb  ©teine  auch  funftgefchichtliche  Stetigen  einfügt,  in» 
bem  er  bie  oerfchiebenen  Äünftler  mit  ihren  bebeutenbften  Sßer» 
len  nach  feinen  Duellen  angibt.  Schon  barauS  bitrfen  wir  ab* 
nehmen,  bah  unS  fPaufantaS  in  S3egug  auf  bie  ©efchichte  beS 

2 * (158) 


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20 


©enreS  ein  oiel  treuerer  Gewährsmann  fein  roirb,  als  §)liniu$; 
benit  wo  ein  blaute  ober  eine  beftimmte  Sejiehung,  beren  geh* 
len  ober  Sorhanbenfein  ja  ein  SBerf  bem  Äreife  bee  ©enreS 
weift  ober  abfpridjt,  ju  feiner  3eit  nodj  befannt  war,  ba  wirb 
er  gewif)  nid)!  cerfe^lt  haben,  fie  anjugeben;  aubrerfeitS  freilich 
tonnte  er  bei  feinen  fprinjipien  gerabe  auf  baß  ©enre  feljr  we= 
nig  JRütfftdjt  nehmen.  ^Dagegen  finben  wir  bei  ^MiniuS  eine 
grofce  ÜJtenge  »on  Äunftwerten  unter  allgemeiner  genereller  Se* 
geidinung  beö  ©egenftanbeS  angeführt  unb  man  hat  fie  meift 
and)  wirflid)  alle  für  ©enreftücfe  gehalten.  21 II ein  wir  werben 
hierin  fetjr  oorfid)tig  fein  muffen;  bcnn  nidjt  nur  ^MiniuS  fe'.bft, 
fonbern  auch  feine  mit  Sßahrfcheinlichfeit  »orauSjufetjenben 
$auptquellen  ber  &ünftlernadjrid)ten,  wie  Sarro,  GorneliuS 
ScpoS  unb  ^afiteleS  lebten  in  einer,  man  mochte  fagen, 
foSmopolitifchen  3cit,  wo  bie  jtunftwerfe  aller  ©egenben  unb 
aller  fPerioben  in  ber  weltbeherrfdjenben  9ioma  jufammenftrom* 
ten,  unb  wo  natürlich  baS  ^iftorifc^e  unb  fünftlerifdje  3n* 
tereffe  baS  gegenftänblidje  weit  überwog;  loSgeriffen  aus 

bem  urfprünglichen  localen  3ufammenl)ang  fammelten  fid)  bie 
SSÖetfe  in  9tom  unb  bie  berühmteren  fbhmücften  in  jahlreidjen 
Gopien  bie  Sillen  ber  Reichen.  SDa^u  fönimt,  baff  §MiuiuS’ 
SRac^ri^ten  urfprünglid?  jum  weitaus  größten  S^eil  nicht  auf 
periegetifcfye,  fonbern  auf  Ijiftorif^  tljeoretifd^e  SBetfe  ber  Äünft» 
let  felbft  jurücfge^en.  SDiefen  Äüuftlern  nun,  bie  feit  ber  9lle* 
jranbtinifdjen  3^it  mit  Gifer  bie  funfthiftorifd)en  ©tubien  felbft 
aufnaljmen,  lag  natürlich  3llle8  am  formalen  beS  ÄunftwerfS, 
»iel  weniger  an  ber  Sebeutung  unb  ben  bcftimmten  Sejieljun» 
gen.  @o  bilbete  ficfy  benn  für  bie  ^auptwerfe  allmalig  eine 
Terminologie  ^erauS,  bie  in  ©eftalt  fefter  Seinamen  baS  fünft* 

lerifcbe  SRotio  beS  SBerfS  be^eichnete,  unb  biefe  ging  in  fdi* 
(160) 


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21 


ninS  3®etf  über;  fo  finten  wir  hier  g.  SB.  pon  $>rariiele8  einen 
Satpr  „periboetos“,  einen  SäpoHo  „sauroctonos“,  bie  ©Ipfera 
»cn  'PanfiaS  als  „stephanoplocos“,  b.  ß.  Ärängeflecßterin,  einen 
Satnr  te§  Stntipßileß  alS  „aposcopeuon“,  b.  ß.  als  fpäheub 
bejeidbnet  u.  f.  f.  SBon  Ijier  war  eS  aber  nur  ein  Heiner  Sdjritt 
ba^u , nur  jene  baß  9Jiotin  begeidmenbcn  SBeinamen  angugeben, 
wie  un8  benn  3.  3?.  ^liniuS  ben  fPßiloftet  beS  ^nthagoraß  nur 
als  einen  .£)infenben  (claadicans)  aufgäßlt  ober  unS  pon  einem 
symplegma  nobile  rebet  (36,  24),  b.  ß.  einer  ©ruppe  engpet* 
fcßlungeuer  ‘perfonen,  oßne  unS  über  ben  3nßalt  aud)  nur  eine 
änteutung  3U  geben;  benn  ber  in  ber  Äunftfpracße  offenbar  ted?» 
nifcße  2(nSbrucf  be^eidinet  nur  taS  SBtotip  unb  5Rid)tS  pcm  ®e« 
genftanbe.  konnte  man  fid>  barnit  bei  mnthologifdicn  SJBerfen 
begnügen,  mit  um  wie  piel  größerem  SHecßte  burfte  man  eS  ba 
uidjt  bei  ben  $)orträtftatuen  tßun?  Senn  tiefe  tonnten  ja, 
wenn  fie  nießt  gerabe  berühmte  $>erfönlicßfciten  barftellten,  ge» 
genftäntlidj  fein  allgemeineres  SJntereffe  erweefen.  Sagegen  wa» 
ren,  bei  ber  großen  SHuSbeßnung  ber  sporträtbilbnerei  im  Sllter» 
tßum,  fünftlerifcß  fet>r  bebeutenbe  SEßerfe  gaßlreicß  barunter, 
bie  fogar  burtß  .Kopien  perbreitet  würben.  SJBaS  war  alfo  na* 
türtidjer,  als  baß  man  biefe  bloß  nach  tem  fünftlerifcßen  SDlotioe 
benannte  unb  gu  rubrigiren  fudjte?  SieS  traten  gewiß  fdjon 
bie  älteren  Äunftfcßriftftetter,  aber  feßr  häufig  aud)  ^liniuS  felbft; 
wie  gang  unb  gäbe  gerate  ihm  tiefer  ©ebraueß  ift,  geigt  g.  SB- 
eine  (Stelle  (35,  28),  wo  er  ben  ©egenftanb  eines  SitbeS  beS 
fbßalers  $)ßilocßare8  allgemein  als  einen  ©reis  mit  feinem  Sohne 
angibt  unb  bis  inS  Setail  befeßreibt,  rein  gufällig  aber  gleich 
barauf  aueß  bie  Uiamen  ber  Reiben  nennt,  ©in  anbereS  23ei* 
fpiel,  fehr  geeignet  unS  not  ben  Süflgemeinbenennungen  bee  fpii= 

niuS  gu  warnen,  ift  baS  folgenbe,  in  bem  eS  fieß  fogar  um  ein 

(161) 


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22 


febt  berühmtes  Portrait  hobelt:  35,  27  führt  er  ben  ©egen» 
ftanb  etneS  ©ilbeS  an  als  belli  facies  et  triumphus.  9föan 
fönnte  banach  an  eine  allgenieine  adegorifdje  SDarfteOung  beS 
triumphus  benfcn.  $nber8  belehrt  unS  § 93:  eS  war  trium- 
phans  Alexander  in  curru  bargeftetlt  unb  gwat  Don  SlpeOeS. 
3)ort,  »o  e8  $MiniuS  nur  barauf  anfam,  gu  geigen,  baf  aud) 
Sluguft  öffentlich  ©emalbe  aufgeftellt,  gibt  et  baS  ©ilb  gang  futg 
an,  inbem  er  nicht  nur  ben  Jiünftlernameu,  fonbern  auch  ben  ©egen* 
ftanb  felbft  Derfcfweigt  unb  nur  bie  Stubrif,  baS  ©eure  bem  er 
angehört,  nennt.  — £Da  bie  Duellen  beS  ^liniuS  wohl  meiftenS 
bei  ben  eingeln  aufgeführten  Porträts  gugleich  ben  Flamen  unb 
bie  Dlubrif,  ben  ©tanb  anführten,  fo  ftnbet  fidj  bieS  bei  ^liniuS 
aud)  noch  öfter,  f°äar  bei  9anJ  unbebeutenben  9)erfönli<hfeiten; 
fo  merben  genannt  35,  147  ber  ©aufler  JheoberuS  unb  ber 
Jünger  SllciftheneS,  35,  136  2ecptt)ion,  bet  (Sinüber  ober  ?efr* 
meifter  bet  ©ehenbigfeit“),  34,  57  ber  (©flaten*).£>cinbler  &pci8cu8, 

34,  59  bet  ©tabienläufcr  SlftploS,  68  ber  $ünffämpfet  ©pintfaruS, 
77  ber  Dünger  D)ptbobemu8.  (SS  erhellt  hieraus,  wie  leicht  $)Ii= 
niuS  in  foldjen  §äQen  ben  Dlamen  als  baS  Unwefentlicfeve  weg* 
laffen  fonntc;  unb  baS  that  er  auch  in  feljr  Dielen  fallen. 

35,  134  gum  ©eifpiel  fönnen  wir  auS  anbern  Duellen  als  fel?r 
wahrfcheinlid)  nadjweifcn,  bafc  ber  allgemein  angegebene  „phy- 
larchus“  beS  Slthenion  ein  gewiffer  Dleiteroberft  Dlpmpiobor  war. 
— Sft  ^liniuS  alfo  gewif  felbft  fehr  oft  ©djulb,  bah  wir  nur 
baS  ©enre  unb  bie  Düibrif,  nicht  bie  fPerfönlidjleit  felbft  fennen, 
fo  fanb  fich  bod)  aud)  oft  fd)on  in  feinen  Duellen  ber  inbioi* 
buelle  Dlame  nicht  mehr  tor.  ©elonberS  fcheiut  letzteres  bei 
eiuigen  in  Dlom  beftublidjen  SBerfeit  ber  »ad  gewefen  gu  fein; 
fo  bie  signa  palliata  unb  ber  nadte  Gotofj  beS  ^h'biaS  (34, 

54),  oon  bem  ©amier  D)ptbagora8  fieben  nacfte  ©tatuen  unb  bie 

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23 


eines  ©reifes  (34,  60)10),  »onPolpgnot  ferner  ein  ©emälbe,  an 
bem  man  (in  fRom)  gweifelte,  ob  ein  Jpinauf*  ober  ein  .fjerabfteigen* 
ber  bargeftellt  war;  enblidj  oon  SlriftibeS  ber  Üragobe  mit  bem 
Knaben  unb  ber  ©reis  ber  einen  Änaben  in  ber  8eier  unter* 
weift,  alle  in  5iom.  ©inmal  (34,  87)  fügt  piiniuS  bei  ber 
Statue  eines  5tebenben  auSbrücflidfe  feingu : „persona  in  incerto 
est.“  ©benfo  gehören  bic  allgemeinen  33egeid)nuugen  ganger 
jtlaffen  »cn  ©tatuen  (bei  ©cmälben  lommt  bieS  nidjt  oor) 
ftfeon  ben  Duellen  beS  piiniuS  an.  9lä feer  fann  inbefe  feier 
nicfet  auf  biefe  ©tftfeeinungcn  eingegangen  werben  unb  itfe  be* 
gnüge  micfe  jene  SRubrifen,  unter  benen  nacfe  ben  eben  entwicfel* 
ten  pringipien  unbebeutenbere  Porträtftatucn  refümirt  gu  er!en» 
nen  ftub,  furg  angugeben. 

@8  finb  »er  Mem  bie  $ltfeleten,  beren  allgemeine  2ln* 
fiiferung  bei  piiniuS  feineSmegs  auf  ©enrebilber  gu  begießen  ift. 
Dber  ift  eö  nicfet  ein  fcfelagenbeS  3eugnife  für  unfre  Ulnficfet, 
bafe,  roSferenb  unS  piiniuS,  mit  'ÄuSnafeme  weniger  §äQe,  immer 
nur  baS  üünftlerijdfee  fDiotiü,  nicfet  ben  tarnen  beS  Ültfeleten 
nennt,  bafe  paufaniaS  bagegen  nie  bloS  baS  Piotio  angibt  unb 
alfo  non  biefer  gangen  angeblidfen  CRubrif  beS  „atfeletifcfeen 
©eures"  fliicfetS  weife11),  fonbern  immer  einen  beftimmten  9ia* 
men  nennt'?  Um  nur  ein  33cijpiel  gu  wäfelen,  ift  eS  nid;t  auf* 
faHenb,  bafe  unS  PaufaniaS  oon  bem  Äünftlev  5)aippo3  mehrere 
Sltfeletenftatuen  mit  Flamen  nennt,  piiniuS  aber  nur  einen  „peri- 
xyomenos“,  b.  fe.  einen  fiefe  Slbjcbabenben?  — ©S  ift  nun  be* 
fannt,  wie  »iele  Statuen  fiegenbet  tät^leten  bie  Äünftler  nament* 
liefe  an  bie  Drte  ber  grofeen  geftfpiele  unb  befonberS  nacfe 
Dlpmpia  gu  fertigen  featten.  SDiefe  ftellten  gwar  einen  beftimm* 
ten  'Ätfeleten  bar,  aber  in  ber  flieget  nidfet  mit  feinen  Portrait* 
gügen;  wenigftenS  burfte  in  Dlpmpia  erft  wer  breimal  gefiegt 

(163; 


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24 


hatte  eine  ifonifdje  Statue  haben.  SDiefe  SBerfe  waren  eine 
Hauptaufgabe  für  bie  berühmteren  Zünftler;  alß  Sföotio  wählte 
man  entweber  einen  SDtoment  beß  Äampfeß  felbft,  in  bem  bet 
33etreffenbe  gefiegt  hatte, 1 s)  fo  j.  33.  bet  befannte  SDißfußwerfer 
beß  9Jtnron.  SDber  man  fteüte  bie  33orbereitungen  unb  folgen 
beß  Äampfeß  bar,  wie  j.  33.  baß  ©infalben  unb  baß  Stbfdjaben 
beß  Staubeß  unb  Dcleß,  baß  Umlegen  bet  Siegerbinbe  u.  3le. 
SDie  berüljmteften  unter  biefen  SBerfeu  würben  in  ipätrer  3«t 
natürlid)  fopirt.  fpiiniuß  felbft  (35,  5)  bezeugt  unß  ben  ftarfen 
Setbraud)  oon  9ttt)letenftatuen  im  faiferlichen  9lom  für  bie  '}>a* 
läftren  unb  fRingplä^e  ber  Sieidjen;  wie  fid)  in  jener  3eit  Don 
felbft  oerftel)t,  waren  bieß  (signa  externorurn  artificum  heilen 
fie  § 6)  feine  neuen  Driginalmerfe , fonbern  Äopien  ber  alten, 
manchmal  aud)  biefe  felbft.  ©ie  einftigen  Flamen  berfelben  gin* 
gen  natürlid)  halb  Derloren  unb  allgemein  benannte  man  fie  bloß 
nad)  bem  fDtotio.  3Bir  müffen  beinnad)  biefe  j.  33.  oon  Doer* 
becf  (@efd)id}te  ber  gr.  fPlaftif  I2  344)  für  frei  gewählte  „Situa» 
tionßbilber"  gehaltenen  SiBerfe13),  bie  fpiiniuß  alß  SRubrif  mit 
„pyctae,  atliletae,  luctatores,“  alß  ©in^elwerfe  mit  „discobolus, 
doryphorus,  luctator,  pentatblus,  diadumenus,  destringens  se, 
peri-,  apoxyomenus,  talo  incessens“  it.  ä.  bezeichnet,  fämmt* 
lieh  »on  bet  ©enrebilbnerei  außfd)liefjen.  9tid)t  alß  ob  eß  im 
Sllterthume  überhaupt  gar  fein  athletifcheß  ©enre  gegeben  habe, 
benn  3ßerfe  wie  j.  33.  bie  Florentiner  fRingergruppe  gehören 
offenbar  baljin;  oor  ber  fpätern  Ijelleniftifc^cr  3«t  finbet  eß  fich 
aber  fdjwerlid);  baß  Streben,  bie  füuftlerifche  33raoour  gu  zeigen, 
führte  ju  foldjen  Aufgaben,  benen  auch  j.  33.  ber  fog.  33orghe* 
fifd)e  Fed)ter  angureil)en  fein  wirb.  Für  baß  bei  $>liniuß  auß 
bet  heften  3«t  ©rwähnte  bleibt  Dbigeß  burchauß  beftehen. 

fRtcht  anberß  »erhält  eß  fich  mit  ben  bei  9>liniuß  unter  bem 

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25 


2ttel  „philosophi“  refümirten  «Statuen,  Die  ungefähr  feit 
CI.  t>0  ton  tielen  Äünftlern  gebilbet  trurben.  38ir  haben  ttnS 
fcaruntet  wahrfcfceinlicb  nicbt  bloß  Philosophen  unb  ©eiehrte, 
ionbern  and)  9iebner  unb  Sichter  gu  benfen14)  bie  feit  bem 
rierten  Sahrh-  fetjr  häufig  burcb  Statnen  geehrt  würben;  ja  eS 
mag  tielleicht  nur  ein  gewiffer  $ppuS  tollbefleibeter  ©ewanb» 
ftatuen  gemeint  fein,  im  ©egenjahe  gu  ben  folgenben  SRubrifen. 

SieS  finb  itemlicb  „bewaffnete,  Säger  itnb 
ßpfernbe".  Säuch  fie  würben  für  „©attungSbilber"  erflärt 
(g.  b.  ton  Dterbetf  piaftif  II,  61),  ohne  baft  man  ficb  eine 
flare  borftellung  baton  31t  machen  muffte.  Sd).  halte  auch  fte, 
bie  übrigens  ton  zahlreichen  Äünftlevn  genannt  werben,  nach 
obigen  Analogien  für  beftinrmte,  immer  wieberfehrenbe,  befonberS 
beliebte  Porträtmotite.  Sah  bie  bornehmen  fidj  gerne  als  Säger 
bilben  liefen  (feit  ©nbc  tiertcn  Sahtl).),  bürfen  wir  barauS 
fchliefjen,  bah  fidf  Sllejcanber  fowohl  ton  Spfipp15)  unb  8eod)are8, 
alö  wahrscheinlich  tou  ©uthpfrateS* 6)  auf  ber  Sagb  barftellen 
lieh . unb  bah  ptolemäuS  ton  SMntiphilos  jagenb  gemalt  würbe, 
ferner  finb  uu$  bie  späteren  ©rab*  unb  SarfophagreliefS,  »0 
bet  Sobte  fo  oft  jagenb  bargefteflt  wirb17),  ein  fidjeret  beleg 
für  bie  Beliebtheit  biefeS  WctitS.  Sehr  belehrenb  ift  enblich 
auch  eine  ©teile  beG  PaufauiaS  (6,  15,  7),  wo  er  bie  Statue 
eineö  unbefannten  WanneS  («w](>  nötig  6rt)  anführt,  als  im 
SppuS  eines  3agenben  bargefteflt:  eS  ift  eben  ein  folcber  „Vena- 
tor“ beS  piiniuS,  ben  PaufaniaS  gang  beutlich  für  ein  unbe= 
fannteS  Vertrat  hält.  — Sic  „bewaffneten"  finb  natürlich 
ÄtiegSleute  unb  ffelbherrn,  bie  man  in  friegerifdjer  Fracht  3U 
bilben  gewohnt  war.  — Sie  „Opfern ben“  enblid)  finb  als  trieftet 
3U  benfen,  benen  man  feljr  oft  Statuen  fehle.  Wehr  als  gufatlig 
ift  hoch  baS  3ufammentreffen , bah  3.  b.  PpthofritoB,  ton  bem 

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26 


3>Iiniufl  folche  JDpferube  erwähnt,  unß  burdj  eine  Snf^tft  alß 
Äünftlcr  einer  i'riefterporträtftatue  befannt  ift18). 

@o  bleiben  nur  noch  bie  »erfdbiebenen  Ötubrifen  non  grauen 
bei  $)liniuß  ju  befeitigen.  Genannt  werben  „eble"  grauen,  b.  h- 
nornehme  ober  berühmte,  alfo  fidler  $)orträtß;  ferner  „betenbe 
uitb  opfernbe  unb  oeretyrenbe,"19)  and?  „weinenbe"  unb  cnblid) 
„alte"  grauen,  ßweimal  (oon  ?)l)ibia8S0)  unb  ©uphranor) 
wirb  eine  cliduchos  genannt,  b.  h-  eine  9)riefterin  mit  bem 
Scmpelfdjlüffel  — ganj  getoifj  fein  ©egenftanb  für  eine  „genre= 
artige  ©arfteüung"  (Doerbecf  ^laftif  II,  83),  fonbern  ficberiicf) 
Porträt.  55urd)  fie  fommen  wir  aud}  ben  anbern  auf  bie  Spur, 
benn  aud)  biefe  f feinen  meift  $>riefterinnen  bargeftellt  ju 
haben,  geltere  erhielten  feht  oft  ©hrenftatuen  unb  meift  waren 
fie  alt,  im  treuen  ©ienfte  ergraut  — bähet  bie  alten  grauen 
(anus)  bei  fpitniuß.  (Sine  fold>e  war  3.  33.  bie  gpftmadje  ooit 
©emetrioß,  bie  64  3abre  ber  Qlthena  gebient  unb  beren  Statue 
baljer  oor  bem  @red)tlieion  in  2lthen  ftanb.  3a,  eß  läfet  fidh 
nadjweifen,  bafc  ber  für  ^riefterinnen  in  ber  alten  Äunft  burdj« 
auß  herrfdjenbe  5£opuß  ber  alter  grauen  war  (f.  Annali  dell’  Inst. 
1872,  125);  ferner  baf?  man  niemalß  »ornebme  grauen*1)  alt 
barftellte,  benn  bieß  gefchah  nur  bei  ^Dienerinnen , Slmmen  unb 
— §>riefterinnen.  ©ß  bleiben  alfo  atß  „anus“,  ba  profanen  SDie* 
nerinneit  fdjwerlich  Statuen  gefegt  würben,  nur  bie  $)ricfterinncn 
übrig,  ©benfo  erfläreu  [ich  bie  bei  ^Hniuß  genannten  SJiotioe 
beß  ©pfernß  unb  33ctenß  unb  SSereljrcnß  am  beften  bei  bet  21m 
nähme  non  ^riefterinnen ; übrigenß  ftellte  man  aud)  mitunter 
profane  grauen  opfernb  bar,  wie  beß  2l!fibiabeß  fDlutter  ©ema» 
rate  oon  9liferatoß  (s))lin.  34,  88)  fdJliefjen  lafjt  (wenn  biefe 
nidjt  felbft  $)riefterin  war).  — ©üblich  bie  ..weiitenben  Sftatro* 
nen"  beß  Sthenniß  (34,  90),  bie  man  bißher  auch  meift  f“r 
(166) 


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27 


eine  »on  ben  Äünftlern  gar  flaffenweife  fabricirte  55(rt  oen  ©eure« 
bilbern  gehalten  bat,  ol)ne  bie  Ungefeeuerlicbfeit  biefer  9lnnabme 
äu  bebenfen,  finb  nur  alä  ^crtratS  älterer  Brauen  mit  einem 
tiefen  eigenen  3uge  bet  2Bet)mutfy  unb  bem  entfprecbenber  äu* 
feerer  Haltung  gu  benfen.22)  — SDie  »on  9>liniu8  genannten 
9tubrifen  entfprecben  alfo  gang  ben  cetfdbiebenen  ©tänben, 
bie  »otgugSweife  burcb  fPorträtftatueu  geehrt  würben.  6S 
finb  gunüdfeft  bie  ^öfeeren  SRilitärß  (armati),  bann  bie  rei* 
«ben  ^rinaten,  bie  ben  3agbfport  lieben  (venatores),  enblid) 
bie  ^)riefter  (sacrificantes).  5DajU  fommen  bie  Sttljleten 
unb  bie  35enfer  unb  SDid)ter  (philosophi),  bereu  fünftlerifdfee 
SRotioe  3U  uerfdjieben  waren,  alö  bafe  man  bie  fRubrif  banadfe 
feätte  benennen  fönnen.  9?on  ben  Brauen  wirb,  neben  ben  fonft 
burcb  Siang  u.  bgl.  beroorragenben  (nobiles),  namentlidi  ber 
©tanb  ber  9)ritfterinnen  berücffidjtigt,  ber  in  ber  Siegel  einzige, 
in  bem  bie  grietbifdje  Brau  ber  Deffentlidjfeit  unb  fomit  öffent* 
lieber  Grbren  tbeiUjaftig  war;  baneben  ftbeinen  uereingelt  noch 
5Rotir>e  »on  ©rabmonumenten  für  Brauen  (flentes  matronae, 
adornantes  se  feminae?  f.  9lnm.  39)  genannt  gu  werben. 

5>iefe  neuen  !$batfacben  für  bie  ©efefeiebte  ber  antifen  $)or* 
tTät=93ilbnerei  ftimmen  mit  bem  bisher  befannten  Gbarafter  be§ 
griechischen  Porträte  burdjauö  überein:  im  ©egende  311  ben 
tömifeben,  bie  nur  allgemeine  Schemata  mit  einem  beliebigen 
^erträtfopfe  bieten,  hüben  bie  grieefeifdjen  Porträts  immer  febon 
in  ber  gangen  ©eftalt,  bem  gefammten  SRotiee  eine  beftimmte 
Snbicibualitat  ober  wenigftenB  einen  beftimmten  ©tanb  unb 
feine  SöefdjüftigungSart  gu  ebarafterifiren.23)  3Ran  benfe  an 
bie  erhaltenen  ©tatuen  be8  Sllejcanber,  Slriftotelefl , ©cpbcfles, 
©emeftbeneö  u.  91.  9tpeHeS  malte  ben  fampfeSmutbigen  jÜlituS 
mit  bem  fRoffe  in  bie  ©cplacbt  eilenb  unb  ben  Jpelm  oon  feinem 

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28 


Knappen  ferbernb,  ober  ben  Belbfeerru  ?lntigcnog  bemaffnet  mit 
feinem  fRoffe  einfeerfefereitenb.  fProtegeneg  malt  ben  Sragifet 
^Hjiliöfuö  fiunenb,  meditantem,  ebenfo  Sfeeerog  (ober  £beon) 
bie  i'eonticn,  bie  ©eliebte  beb  (gpifut  cögitantem.  (gfeabriab 
liefe  feinen  ©tatuen  (2>iobor  15,  33;  fRepog  ©feabr.  I fpridjt 
nur  non  einer)  biejenige  (Stellung  geben,  burd)  beten  (Srfinbung 
unb  Slnmenbung  er  feinen  ge^riefenften  ©ieg  gemonuen:  er 
fniete,  ben  ©efeilb  an  bag  Änie  gebrüeft  unb  bie  Sange  bem 
Beinbe  entgegeugeftreeft.  9lnafreon,  ber  ÜMdjter  ber  Siebe  unb 
beb  Sßeineb,  mar  im  fRaufcfee  fiitgenb  bargeftellt  (s}>auf.  1,  25, 
1).  9lu  folcfee  3?eifpiele  reifeen  fid)  bie  SRotioe  bei  $Miniu8, 
bie  Cpfernben  unb  Söetenben,  bie  mefenuitfeigen  Btauen  u.  f.  m. 
für  Porträts  rceniger  bebeutenber  $)erfen!id)feiten  paffenb  an. 

Slrofe  biefer  betracfetlidjen  Säuberung  im  ©ebiete  beb  alten 
©enreg,  bie  ung  erft  befähigt,  bie  feifterifefee  Unteriudjung  über 
bagfelbe  aufgunefemen,  bleibt  bennoefe  Diel  Unflareb  unb  Unficfee* 
reg  gurüd,  bag  idi  im  Bolgenben  jebed}  ben  ülnmerfungen  über* 
laffeit  merbe. 


©efeen  mir  nun  gunäefeft,  mag  ung  aug  ber  atefeaifdien 
$)eriobe  Der  i'feibiag  Den  ftatuarifefeen  Söerfen  überliefert  ift. 
(gg  ift  menig,  ja  ftreng  genommen  SRidjtg,  ba  überall  beftimmte 
SBegiefeungen  bem  anfdieinenb  ©enrefeaften  git  ©runbe  liegen, 
©o  uerfealt  eg  fid)  mit  ben  bei  ^Miniub  ermähnten  celetizontes 
pueri,  ben  Änaben  auf  JRennpferben  Den  Äanacfeog  unb  Don 
^egefiag,  bie  mir  nadj  ber  fRotig  be8  f'aufaniag  (6,  12,  1) 
übet  gmei  eben  foldje  Änaben  Den  Äalamig  in  JDlpmpia  für  ®ie» 
gebmeifegefefeenfe  fealten  muffen,  bie  unferm  eben  gcmäfelten  23ei= 
fpiel  Dem  Soden  auf  bem  fRennpferb  DoHfommen  analog  finb. 
Ueberfeaupt  mar  eg  Sitte  jener  naiD  frommen  3eit,  benjenigen 

(16SJ 


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29 


©egenftanb,  bet  (Sinem  am  liebsten  unb  »ertheften  unb  burdi 
ben  man  feine  Grrfolge  unb  Siege  errungen  hatte,  beit  ©öttern 
im  Kbbilbe  gu  meinen.  So  weiht  in  biejer  Seit  ein  teidjet  Sol« 
bat  gwei  Stoffe  mit  ihren  genfetn  nach  Dlpmpia,  bie  $arentiner 
meinen  $)fetbe  unb  friegSgefangene  Stauen  »egen  eines  Sieges 
über  ihre  fftadhbarn,  bie  Sthener  ein  öietgefpann  auf  bie  2lfre» 
poliS  »egen  eines  Sieges  über  bie  33ooter.  (Sßgl.  gu  biefer  Sitte 
überhaupt  Schümann  ©riechifche  3Uterthümer  II,  190.)  Solche 
3»ei=  unb  Sßiergefpanne  »erben  auS  biefer  unb  ber  folgen« 
ben  3eit  überhaupt  oft  ermähnt;  bie  meiften  l)aben  »ir  unS 
motioirt  gu  benfen  burch  Siege  im  SBagcnwettrennen  an  ben 
gro|en  Seftfpielen;  ba  babei  nur  ein  genfer  (ber  mit  bem  58e* 
fi$er  meift  nicht  ibentifdj  »ar)  auf  bem  Söagen  bargeftellt  »ar, 
fo  begeidjnet  fie  unS  iptiniuS  !urg  unb  allgemein  mit  quadrigae 
bigaeque.’*)  23erwaubt  ift  bet  ©ebraud),  nad)  bem  Siege  über 
cerheerenbe  Seinbe  eherne  Äühe  ober  Stiere  gu  meinen  als 
Sumbole  beS  »ieberbefreiten  31  der*  ober  SikibclanbeS;  gu  biefer 
©attung  gehörte  auch  bie  berühmte  Äuh  beS  fDtpron,  bie  alfo 
auch  fein  ©enreftüd  im  ftrengen  Sinne  »ar.25)  (5t»aS  anbrer 
3(rt  ift  ber  ©bar  betenbet  Änaben  in  Dlompia  non  ÄatamiS; 
aber  aud)  et  mit  gang  beftimmter  S3egiehung:  bie  Sfragantiner 
»eihten  ihn  »egen  eines  Sieges  unb  wie  ja  bie  SiegeSgefdnge  oft 
oon  Änabenchöten  auSgeführt  werben  mochten,  fo  wirb  Ijiet  ber 
üDanf  für  ben  Sieg  oon  ber  reinen  3ugenb  ber  ©ottljeit  bärge« 
bracht.  — SBon  ähnlichem  ©hatafter  »ar  ein  SBerf,  baS  2hemis 
ftofleS  um  biefelbe  3«t  (ungefähr  um  bie  fötitte  ber  70er  Dlpm» 
piabeu)  weihte:  eine  <£>pbrophPte,  ein  Uftäbchen,  baS  Söaffer 
holt,  alfo  ein  33ilb  auS  bem  SültagSlcben.  Sie  Statue  würbe 
jeboch  auS  Strafgelbern  für  fötiSbrauch  ber  örunnen  bcftritten 

unb  »ar  alfo  in  finniger  Söeife,  bie  wir  einem  inbioibuellen 

(16« 


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30 


geiffteidjen  ©ebanfen  be8  2^emifto!le8  gufdhreiben  bürfen,  gugleidj 
ein  23ilb  ber  richtigen  Senkung  bet  Duelle  unb  jo  bie  befte 
Strafe  für  biejeuigen,  bie  ihr  baö  Saffet  unrechtmäßig  ent® 
gegen  Ratten26). 

©ie  Slrt,  mie  man  bamalä  mpthologifdhe  ©egenftänbe  be» 
hanbelte,  ncrfinnlichen  un8  bie  SSeginetifdjen  ©iebelgruppen:  ©ie 
inbioibueHe  ©harafteriftif  ift  nod)  in  ihren  etften  Anfängen  unb 
man  ftetlt  faft  nur  ba8  ©eritfte,  ba8  allgemeine  Schema  ber 
^anblung  be8  ÄampfeS  um  bie  geiche  bat8T). 

33on  ber  monumentalen  SDR  al  er  et  biefer  $)eriobe,  bie 
©empel  unb  fallen  mit  mpthologifchen  ©arftellungen  oon  hoher 
geiftiger  a3ebcutung  fdjmüdfte,  ift  un8  begreiflidhermeife  nidjtö 
hierher  ©eljörigeS  befannt.  ©agegen  bilbet  bie  ©atfleflung  be8 
Alltagslebens  auf  ben  beforatioen  Malereien  ber  93ajen  trojg 
ber  fteigenben  33ebeutung  beö  SDRpt^ifd^en  immer  einen  feljr  be* 
liebten  ©egenftaub.  ©ie  ©efäfse  mit  fdhmatgen  Figuren,  obmoljl 
meift  Siadhahmungen  au8  fpäterer  Seit,  gehen  bodj  auf  Driginale 
ber  ardhaifchen  ^etiobe  gutücf  unb  bieten  un8  eine  §üHe  non 
Seifpielen.  ©er  Ärieg  bilbet  ben  $auptgegenftanb:  mir  fchen 
bie  SEBaffenrüftung , ba8  Anfdjirren  ber  Stoffe  an  ben  Streit* 
magen,  bann  ben  Au8gug  — in  allem  äufjern  |)omp  unb  ohne 
Seiten  tieferen  ©efühtS  — , enblidj  unjäljlige  Äampffcenen.  Ser» 
net  ftnb  bie  3agb  unb  ebenfo  bie  agoniftifc^en  Äampffpiele  fe^r 
beliebter  ©egenftanb.  3u  Jang  unb  Spiel  erholt  man  fid)  bann. 
Aber  aud)  ba8  geben  bet  SJtäbdjen  bleibt  nicht  unbeachtet , hoch 
ftetlt  man  fte  »orerft  faft  nur  in  Scenen  bar,  roo  fie  fi<h  aufcer 
bem  ^aufe  geigten,  alfo  namentlich  beim  3öaff  erholen,  mitunter 
auch  beim  fPflücfen  be8  DbfteS.  häufig  finb  ferner  auch  -£>och* 
geitSgüge,  mo  SBraut  unb  Bräutigam  feierlich  gu  2Bagen  fahren, 

(HO) 


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31 


begleitet  non  benfenigen  ©Ottern,  bie  ben  (Hjefegen  hauptfächlich 
bebingen.  25ie  Stobtenflage  enblid)  bleibt  bei  ben  fyöcfyfl  werth* 
»ollen  Stttifdjen  ©efäfcen  ber  .pauptgegenftanb.  — Sin  jene  alte* 
ften  ^omerif^en  3)arfteUungen  erinnern  unS  einige  wenige  5Bil* 
ber  auS  bem  lau  blichen  geben  ber  ©utSbefifjer.18;  Söir  fehen 
pflügen  unb  fäen,  fotoie  baS  ©ammein  ber  Dlioen,  bie  ja  ein 
jfwuptgegenftanb  namentlich  beö  SUtifdjen  SanbbauS  waren.  Slud) 
jtaufleute  unb  .panbwerfer  finben  fich  einige.  Sßir  werben  35er» 
artigem  auS  ben  fänblidjen  unb  nieberen  Äreifen  in  ber  Äunft 
ber  folgenben  53lütheperiobe  nirgenbS  mehr  begegnen,  bis  eS  fpa* 
ter,  aber  in  gang  oeränbertem  Gfyarafter,  ftd>  wieber  geigen  wirb. 

©emeinfam  ift  all  ben  35arfteUungen  biefet  Beit,  bafj  fie 
nur  nad)  möglichfter  Älarheit  beö  bargeftellten  gaftumS  ftreben: 
überall  fud^t  man  nur  ben  treffenbften , einfachen  SluSbrucf  ber 
$anblung,  überall  ift  ber  Vorgang  nur  in  feiner  gang  äu» 
^etlichen  ©rfcheinung  gefaxt,  ohne  jebe  ©pur  eines  ©tre* 
beuS  nach  innerlicher  Vertiefung. 

2Bir  treten  nun  in  bie  eigentliche  Vlütljeperiobe  gtied)if<her 
Äunft  unb  betrauten  guerft  bie  plaftifche  ©enrebilbnerei  oon 
ben  Beiten  beS  ißhibiaS  bis  gu  benen  SlteranberS  b.  @r. 

35ie  hohe,  oorgugS weife  religiöfe  ^Richtung  beS  $>h*b'a8» 
welche  »or  SlKem  nach  bebeutenbem  3«halt  ftrebte,  fonnte  baS 
©enre  nicht  auffommen  taffen,  ©o  finben  wir  benn  auch  roe* 
ber  unter  feinen  Söerfen,  noch  unter  benen  feiner  @djüler  etwas 
$iethergehßtigeS.*9)  SlnbetS  ift  eS  mit  ber  neben  $hibiaS  blü* 
henben  ©dfute  beS  SRpton:  ihr  $auptgiel  war  moglichft  leben* 
bigeS  ©rfaffen  beS  ÜJtomenteS  einer  <£>anblung,  weshalb  bie 
fRücfficht  auf  geiftige  Vebeutung  beS  SnpaltS  gurüdtreten  mufete: 
eine  beliebige  ^janblung  beS  SltltagSlebenS , falls  fie  nur  ©eie* 

(171) 


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32 


genljeit  bot,  jene  Bebenbigfeit  ber  momentanen  Söemegung  beS 
Äorperö  auf  @in  3»el  l)in  $u  feigen,  mufjte  ihr  nidjt  minbet 
miüfommen  fein,  als  etmaß  mpthifch  unfc  religiös  SBebcutenbcS. 
33on  SJipron  felbft  gmar  roiffen  mir  leibet  nichts  ©erriffes30) 
in  biefer  SBejiehung,  aber  »on  feinem  ©chüler  unb  @ot)n  8pftoS 
fennen  mir  ein  fetjr  c^arafteriftifdjeö  Söerf;  eS  ift  bie  ©tatue 
eines  Änaben,  ber  erlöfcbenbeS  geuer  anbläft:  eS  mar  roa^rfdtein* 
lieh  geuer  $um  Tauchern,31)  alfo  offenbar  ein  SBeihgefdjenf  an 
irgenb  eiue  ©ottlseit.  SlQeS  Sntereffe  beS  SSBerfeS  lag,  tüte  bei 
feinem  33ater  („dignum  praeceptore“  nennt  eS  $Miniu6)  in  bem 
einen  jdjatf  gefa|ten  Söiomente  ber  ^anblung,  bem  tHublafeu  beS 
geuerö.3*)  ©ine  rocniger  flare  SSorftellung  haben  mir  üon  einem 
jmeiten  Söerfe33)  beS  SpfioS : ein  Änabe,  bet  ein  SBei^tüaffet* 
becfen  trägt,  ©aß  eigentliche  fünftlerifc^e  9Roti»  gibt  unS  lei* 
bet  ‘PaufaniaS,  mie  gemöhulid),  nicht  an;  bod)  mitb  fiep  8nfio8 
gemifj  nidjt  mit  einem  paffioen,  ruhigen  galten  beS  SecfenS  be> 
gnügt  haben,  9todj  fidbrer  aber  bürfen  mit  fagen,  bafe  bet  JReij 
ber  ©tatue  nicht  „in  naioer  grömmigfeit"  unb  „©arfteHung  ber 
gemütl)lid)en  ©rregung"  (Doerbecf  plaftif  I,  329)  beruhte,  benn 
bieß  lie|e  fich  nimmermehr  mit  bem  SBefen  5Jturonifcher  ©djule 
»ereinen.  Sludj  h*er  mufj  bie  ©arftcUung  ber,  menn  auch  ruhi* 
gereu  Jpanblung  felbft,  ohne  alle  Oiebenreije  3ifl  gemefen  fein. 
Senem  erften  SBerfe  beS  gpfioS  fehr  »erroanbt  mar  ein  anbereS 
beS  ©tpp  pa;r,  ben  mir  beShalb  gern  mit  ber  Ü)t»ronifchen 
©djule  »erbinben;  cS  ift  ber  fogenannte  splanchnoptes,  ein 
mnhrfcheinlich  jugenblicher 3i)  ©flaue,  ber  baS  Dpferfeuer,  an 
bem  er  ©ingemeibe  jn  röften  im  33egtiff  mar,  mit  »ollen  Sdacfea 
anblieS.  3tt>ar  ftclltc  betfelbe  einen  beftimmten  ?iebling8ffla»en 
beS  perifleS  bar,  hoch  modjte  bieS  nur  bie  üBeranlaffung  unb 
UBeftimmung  beS  SöerfS  abgeben,  unb  baS  Sntereffe  beftanb  je* 

<1M) 


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33_ 

fcenfallS  nur  in  brr  lebenbigen  ©arfteQung  jener  £anblung.  — 
@inen  beftimmten,  unb  gwar  religiöfen  3»»ecf  batten  aber  r»ot>t 
alle  obigen  Söerfe,  inbefj  bie  fügten  33ermuthungen,  burcb  weld'e 
man  oielfadj  jene  3wecfe  genau  ftjriren  wellte,  entbehren  bet  übergeu* 
geuben  Segrünbung.  Un8  genügt  eö,  ba§  wir  mit  (Grunb  an* 
nehmen  fönnen,  jene  SBerle  feien  alles  SBeibgefdjenfe  an  be» 
ftimmte  (Gottheiten  gewefen;  alfo  nicht  etwa  für  prioate  35efo* 
ration  gearbeitet,  wa8  mit  bem  burchauS  öffentlichen  ©harafter 
bet  »Ättifcben  .funft  jener  3eit  in  2ßiberfpru<h  ftänbe.  — 35ie 
Vorliebe  biefer  geriete  gerabe  für  ünabenftatuen  beftätigt  bie 
Nachricht  »on  einem  feht  frönen  Knaben  be8  ©trongplion,  non 
bem  wir  aber  gar  nicht  wiffen,  ob  et  überhaupt  ein  (Genreftüdf 
war.  SDie  bei  §)lmiu8  erwähnte  ©tatue  eines  „SBerwunbeten" 
ton  Ärefilaß  war  wieber,  wie  bei  ^liniuS  fo  oft,  hödjft  wahr* 
fcheinlich  ein  Porträt  unb  gwar  wot  ba8  be8  gelbhetrn  SDiitre« 
pbe§,  ber  non  Pfeilen  uerwunbet  bargefteQt  wat,s). 

(Siuer  anbeten  (Sntwidlung  beS  (Genres  begegnen  wir  um 
biefelbe  3eit  in  ber  fPeloponneS:  e8  ift  ^olpflet  felbft,  ba8 
£aupt  ber  5Srgi»if<hen  ©(hule,  bet  bem  (Genre  neue  SSahnen 
bricht.  3war  ba8  eine  ber  betreffenben  SBerfe,  gwei  Äanepljoren, 
entjpricht  noch  gang  jener  9lttif(hen  fRidjtung  be8  fDtpron  u.  f.  w. 
Äanepboren  nemlidj,  b.  h-  fDiabchen,  bie  im  SDienfte  ber  (Gott* 
heit  Äörbdjen  auf  bem  Äopfe  trugen,  fpielten  nidst  nur  in  Stilen, 
fonbern  auch  im  tKrginifdjen  £etafultu8  eine  Stoße.  SDa8  28er? 
war  alfo  wahtfdjeinlidh  auch  ein  SBeihgefchenf  unb  gwar  an  bie 
5?anbe8gottin  .pera.  SlnberS  ift  c8  mit  ber  (Gruppe  gweier  .Rna* 
ben,  bie  Änöcbel  fpielen.  SÄucff  biefe  für  ein  3lnathem  gu  halten, 
ift  gar  lein  (Grunb  oorhanben,  fie  waren  melmchr  offenbar  rein 
ihrer  felbft  willen  gearbeitet.  (Sin  Äennerurtljeil , ba8  un8  fMi* 
niu8  mittheilt, SG)  hielt  fie  für  ba8  »oßenbetfte  28erf,  ba8  über* 

XI.  2«.  24«.  3 (178) 


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34 


haupt  eriftirte.  Unb  warum'?  — ©anj  gewift  ntd^t  etwa  wegen 
ber  finblidj  naioen  ©timmung,  bie  wir  fo  gern  b'netn^nfen  — 
eS  waren  ja  auch  pueri  unb  feine  .Rinbet  — , gewifj  nicht  wegen 
beS  bfpchologifdjen  SluSbrucfS,  benn  fcnft  müßten  wir  ^olpflet 
fd^Iec^t  femten;  fonbern  rein  wegen  ber  f ormalen  23ollenbung. 
SDarauf  allein  fam  eS  ?)ol»flet  an.  2Bit  fennen  unS  nun  gwar 
bei  ben  feht  »erfdjiebenen  Slrten  beS  ÄnödjelfpielS  im  9Utertbum 
bnrchauS  feine  beftimmte  SorfteOung  non  Haltung  unb  SJloti» 
ber  Knaben  machen;  bod)  bürfen  wir  auS  ber  Stidjtung  sJ)oloflet§ 
fchliefcen,  ba§  im  ©egenfatj  ju  jenen  3Jit)rcnifd)en  SBerfen  ba8 
3ntereffe  ber  ©ruppe  im  lebenbigen  Elemente  ber  ^»anblung 
nicht  beftanb,  wof)l  aber  in  ber  harmonifd)  abgemeffenen  Linien» 
führung  beS  ©an^en  unb  ber  fronen  3)urd)bilbung  beS  ©ingel* 
nen.  55a8  jugenblid)e  Knabenalter,  für  baS  fPotyflet  eine  befon* 
bere  93erliebe  hatte,  wählte  er  aud)  bie*  nicht  etwa  feineö  un» 
fdjulbigen  ©batafterä  wegen,  fonbern  weil  bieS  Sllter  ber  ma§=> 
»oll  frifchen  Schönheit  feinem  Bwecfe  baS  günftigfte  war. 

T)afj  gerabe  fPolnflet  ben  für  bie  ©ntwicflung  beS  monu= 
mentalen  ©enreS  fo  bebeutfamen  ©cfjritt  tfjat , ber  baffelbe  auS 
ben  §effeln  befreite,  bie  ihm  bie  33eftimmung  für  bie  Deffent* 
tidjfeit  unb  als  Söeihgefchenf  an  bie  ©etter  bisher  auferlegt 
hatte,  unb  ber  ihm  eine  güHe  »on  neuen  ©toffen  guführte  — 
ba£  biefer  ©djritt  gerabe  burth  3>ol»flet  gefebah,  barf  unS  nicht 
länger  wunbern,  wenn  wir  bebenfen , bafj  febon  bamalS  bie  9fr- 
ßi»ifdje  Kunft  einen  ungleich  prioateren  (Jharafter  trug,  als  bie 
$ttifcbe  (»gl.  SSrunn,  Künftlergefcb.  1,  310);  bie  großen  monu* 
mentalen,  öffentlichen  Aufgaben  waren  »erhältuifjmäfjig  feiten,  fo 
bajj  bie  Porträts  ber  Athleten  u.  bgl.  $auptgegenftanb  waren; 
natürlich  würben  bie  Künftler  bähet  »iel  leichter  burdj  prioate 
unb  fubjefti»e  Neigungen  in  [ber  SEBafjf  ihrer  ©egenftänbe  be- 

(174) 


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35 


jtimmi.  SDaju  fommt  aber  ferner  jener  alte  ©egenfajj  'Pelopon* 
neftfchet  unb  2lttij<her  Schule,  ber  in  $>olpflet  unb  ^)^ibia8 
gipfelt  unb  bet  bie  SBeljanblung  ber  Bcrm  nicht  minber,  af8  bie 
be$  JnhaltS  überall  beftimmenb  burdjbringt:  ber  ?lttifer  überall 
baS  geben  ton  innen  heraus  erfaffenb,  überall  nach  SluSbrucf 
eines  bebeutenben  Inhalts  ftrebenb  — bagegen  ber  'Peloponnefier 
nach  einem  abftrafteu  faft  matl)ematijchen  Schema  ba8  formal 
SeHfommene  fudjenb,  inbem  c^anblung  unb  Snhalt  »eit  jurücf* 
treten:  ein  'polpflet  fonnte  als  baS  Söefte  feines  Schaffens  einen 
„Äanon"  ^itttcrlaffen  — für  9>h'b*a8  unbenfbar.  SBei  polpflet 
begreifen  wir  eS  baher  am  leid>teften , wenn  er  juerft  in  jenen 
fptelenben  Änaben  ein  5l'erf  liefert,  baS,  nur  ber  formalen  93cU* 
enbung  wegen  gefchaffen,  feine  ^Berechtigung  unb  SBeftimmung 
auch  nur  in  fich  tragt. 

Seiber  lönnen  »ir  bie  ©entebilbnerei  in  ber  fPolpfletifchen 
Schule  auS  Mangel  an  9lad)ricbten  nid)t  weiter  oerfolgen.  JDenn 
baS  einzige,  was  man  hiebet  jäblen  lonnte,  ift  ber  SSibberopferer 
beS  fJtaufpbeS,  bet  aber  allen  Analogien  nach  3U  jenen  oben  be- 
stochenen ^)ortratftatuen  non  Dpfernben  gehörte.37) 

Um  baS  ©nbe  beS  fünften  SahrljunbettS  geht  eine  gewal- 
tige Umwanblung  im  griedjifchen  ©eifteSleben  Dor  fidf,  bie 
nicht  nur  auf  bie  Siteratur,  fonbern  namentlich  audj  auf  bie 
Äunfi  ben  größten  ©influf;  tyahe.  SSir  lönnen  ben  wefeutlichften 
^nnft  lurg  fo  bezeichnen:  baS  3nnenleben  ber  Seele  in  ©e= 
banfe  unb  ©efüht  ringt  überall  nach  SluSbtncf.  gür  bie  Äunft 
hatte  bieS  bie  wichtige  golge,  bah,  inbem  man  »or  fKHem  bie 
allgemein  menfchlichen  31  ff  eite,  wie  Schmerz , Suft,  Siebe  u.  bgl. 
Zur  ©arftellung  zu  bringen  fuchte,  ber  SluSfctucf  beS  inbiüibueli 
berfönlidjen  ©runbcharafterS  zurüdtrat  Der  bem  einer  allgemein 

3*  <175) 


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36 


menfdjlkben  Situation  unb  ©mpfinbung.  Semnad)  tnufjte  aud} 
bab  9Jintl)olpgifd)e  bem  ©eure  bebeutenb  näher  treten.  Sab 
5?ttleö  ift  nun  fd)on  bei  ben  beiben  Häuptern  ber  neuen  $>ertobe, 
bei  ©fopab  unb  ^rariteleb  in  h&hem  ©rabe  ber  Ball.  Sie* 
npfob  unb  Slphrobite,  bie  ©etter  ber  menfchlidjften  <5mpftn= 
billigen,  werben  .fjauptgegenftanb;  bod>  bnmit  fid)  nidjt  begnü» 
genb,  (teilt  man  eine  ganje,  eiet  abgeftufte  ©fala  oon  2tffeften 
in  ber  Umgebung  unb  ben  Begleitern  jener  ©etter  bat:  in  (Srob, 
$>ethob  unb  .öimerob,  $)eitl)e  unb  ^aregorce,  in  ben  ©atprn 
unb  OOläuaben,  in  ben  9tereiben  unb  Slritonen.  3a  bie  berühmte 
(öiänabe  beb  ©fopab,  bab  SDfäbchen  in  bet  ftürmifchften  bafdji* 
td'cn  Begeiferung,  bie  ©atprn,  Sötänaben,  S^niaben,  ©ilene  beb 
$)rajciteleb 3S)  ]'tel)en  bem  ©eure  alb  Stepräfentanten  ber  ©m« 
pfinbungen  einer,  wenn  aud)  mpthifdjen,  ©attung  fetjr  uaf ie. 
Sem  mcnjddidjen  greife  finb  jebodj  entnommen  bie  Äarnatiben 
beb  (Prariteleb , b.  h-  lafonifdje  Sänjerinnen  jur  ©hre  ber  tÄrte* 
mib,  eben  jo  je  eine  Äanepfyore  oon  ©fopab  unb  ^vajriteleb: 
foldje  fDtäbdjcn  im  ^eiligen  Sienfte  waren  alfo  bamalb  ein  be* 
liebtet  ©egenftunb,  währenb  (Dlnrenb  fRicbtung  bie  Änaben  oor» 
gelegen  hatte.  $Rod)  beutlicber  tritt  biefe  Borliebe  bet  Beit  für 
bie  gefällig  $arte  Snmuth  beb  weiblichen  Söefenb  in  gwei  SBerfen 
bce  i'rayiteleb  fyeroot:  ein  gRäbdjen,  bab  einen  .Kräng  hält39) 
unb  ein  anbereb,  bab  im  Begriffe  ift,  fid)  ein  £alb«  ober  ärm* 
banb  anjulegen:  fo  oerallgemeinern  unb  erweitern  fid)  immer 
bie  ©egenftänbe  beb  ©enreb,  unb  jene  Kanephoren,  bie  nur 
einen  beftimmten  fleinen  Äreib  oon  Snbteibuen  repräfentiren, 
waren  nur  ber  Uebetgang  gu  ber  gang  allgemeinen  SarfteUung 
weiblichen  ifiebreigeb. 

Berwanbt  war  bie  ©tatue  cineb  Siabumenob,  bie  9>raji= 
teleb  auf  ber  ülfropolib  fejgte.  ©owoljl  ber  Umftanb,  bafj  unb 

(17G) 


i 


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37 


webet  pon  ihm  noch  non  SfopaS  irgenb  etwas  $tthletifd)e$  be« 
fannt  ift,  als  bie  ÜHrt  bet  Sefchreibung  jenes  SBetfeS  geigt,  bafj 
hier  bie  möglid^ft  anmutige  unb  reigenbe  S^ehanblung 

eines  garten  SünglingS,  bet  ficf>  gum  Sange  anfd)icfte  unb  beS« 
halb  ftch  mit  einer  S3inbe  jcbnuufte,  ©egenftanb  war.  3?icdcid)t 
je$te  $>rajriteleS  biefeS  SDenfmal  einem  perfönlichen  iJiebtiuge,4  u) 
wie  ja  and)  baS  3Mlb  jeinct  ©eliebten  9)hr9ne  »on  feiner  <£>cmb, 
aber  pon  jener  felbft  geweift  in  35elphi41)  unb  in  St)eipiä  gar 
neben  Stphrobite  im  Sempel  beS  Grob  ftanb.4a) — Db  bie  non 
^liniuS  erwähnten  (Statuen  einer  weinenben  SJiatrone  unb  einer 
latenten  Sudlerin  Ijrertjer  gehörten,  ift  für  mich  met)r  als 
gweijeltjaft.43) 

Stuf  fcer  fünftlerifchen  ©eftaltung  beS  pfpdjelogijchen  Slu8» 
bruefs  lag  {ebenfalls  aud)  baS  Hauptgewicht  in  einem  ned)  nid)t 
gang  aufgeflärten  SSerfe  beS  ü-eochareS,  baS  wahrfdjeinlich 
einen  Den  bet  Äomöbie  perfpotteten  Sflaoenhänbler  gpfiäfoS 
barfteüte,  ber  einen  Änabcn  mit  bem  SluSbrucf  ber  fd)lauften 
tBerfchmiijtheit  feilbet.  S)aS  Vertrat  war  fjw  gewifj  nidjt  ber 
Werfen  wegen  gewählt,  jonbern  um  gewiffe  pfpchologifche  Gigen* 
fcfcaften  treffenb  auSgubrücfen.4  4) 

Stm  Gnbe  biefer  ^etiobe  fteljt  8pjipp,  ber  unS  fd)en  auf 
bie  felgenbe  porbereitet.  Gin  fidjreS  ©enrebilb  auS  bem  2tH* 
tageleben  war  feine  „betrunfene  gtötenfpielerin,"  eines  jener 
Stäbchen,  bie  bei  ben  Sechgelagen  ber  Sitten  gum  mufifalifchen 
unb  fenftigen  Vergnügen  bienten.45)  Stljo  ein  Söerf  gur  $>ti* 
rat=SDeferation,  bie  pon  nun  an  bie  Äünftler  hauptjächlid)  in 
Slniprucb  nimmt,  etwa  für  einen  Speifefaal  jehr  geeignet.  DaS 
SnteTeffe  war  auch  hier  ein  porwiegenb  pfpchologifcheb,  bie  2öir* 
hing  beS  SßeineS  unb  bie  aufgeregte  Sinnlichfeit  auSgebrüdt  gu 

fehen.  SDa^u  fam  aber,  gang  wie  in  bem  SBerfe  beS  SeochareS, 

<m) 


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38 


ba8  braftifdj  Gfyarafteriftifdje,  baff  nemlid)  jene  SBirf  ungen  an 
einer  foldjen  nieberen  Werfen  3ur  ©arfteHung  fommen;  unfer 
SBerf  fann  man  baljer  paffenb  als  baS  realiftifdje  ©egenbilb  non 
©fopaS  SJiänabe  be^eic^nen.  SBie  fet)r  biefe  berartige  ©ar« 
fteHungcn  betrunfner  Stauen  liebte,  unb  wie  weit  fie  barin  in 
ljumoriftifdjer  Steilheit  unb  Sebenbigfeit  ging,  fönnen  unä  einige 
Serrafotta=©tatuetten  auS  ©übrufjlanb  tiergegenwärtigen.46) 
Serner  gehört  bie  im  Slltertljum  berühmte  ©tatue  einet  betrunf» 
nen  eilten  (non  piiniuS  irrtljümlid)  bem  5Jipron  jugefcbrieben), 
Bon  ber  bie  befannte  ©apitolinifdje  unb  eine  9Ründ)ener  ©tatue 
wafyrfdieiulid)  9iad)bilbungen  finb,  woljl  aud)  in  biefe  3«t  unb 
Stiftung.  — ©erfelben  ©attung  beS  niebrig  Äomifdjen  gehörten 
wafyrjcfyeinlidj  bie  „comoedi“  beS  GfyalfoftfyeneS  an,  b.  \j.  ©ta» 
tuen  fomi|d)er  ©djaufpieler , wenn  wir  nid)t  Borgten,  aud) 
fie  als  Porträts  ju  faffen;  anbetnfaüS  würben  unS  aucfy  fyier 
galjlreidje  Serrafotten  bie  23eljanblungSart  oeranfdjaulicfyeu  fön* 
nen.4  7) 

Unoermcrft  finb  wir  fo  in  eine  gan$  neue  Stiftung  ber 
Äunft  geratljen;  unb  wenn  wir  unS  Bort)in  bei  ber  betrunfnen 
Slötenbläferin  ber  33iänabe  beS  ©fopaS  erinnerten,  fo  fyaben 
wir  bamit  ben  ganzen  großen  ©egenfaj}  bejeicfynet,  ber  bie  Äunft 
3u  ©nbe  bes  oierten  3al)ri).  non  bet  gu  Slnfang,  bet  Bon 

©fopaS  unb  'PrajciteleS  trennt.  3n  beiben  Säßen  jwat  fyaben 
wir  baS  ©treben  nad)  tiluSbrucf  ber  Slffefte,  bort  aber  in  ber 
SDiänabe  ibealifirt  man  fie  31t  einem  mptfyifdjen  23ilbe,  fyier  et« 
greift  man  nur  bie  naefte,  unmittelbare,  niebrige  äBirflidjfeit. 
©S  ift  bieS  jener  bebeutungSoolIe  ©ang  3um  IRealiSmuS,  ben 
bie  griedjift^e  Äunft,  wie  alles  äitbere,  mit  größter  ©efejjmä&ig* 
feit  unb  9iot^wenbigfeit  surücflegte:  eine  Stiftung  bie  Bor  allem 
nad)  auSbrucf  ber  Slffefte,  ber  ftürmifdj  leibenfäaftlidjen,  wie 

(17*) 


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39 


kr  ruhig  anmutigen  ftrebte,  muffte  bagu  gelangen,  biegufäHig 
momeutan-e  (Irregung  not  bem  beftänbigen  ©ruub* 
wefen  »orwalten  gu  taffen.  Unb  bieS  mufjte  bagu  fügten, 
baff  man  ftatt  ber  Halbgötter  unb  5)5monen,  bie  Praxiteles  unb 
SfopaS  gu  ewigen,  ibealen  Silbern  ber  Slffefte  gejchaffen  hatten, 
bafj  man  ftatt  ihrer  ohne  Umfeh  weife  au  einem  alltäglich  wirf, 
liehen  gufäHigen  SDioment  jene  (Irregungen,  »erbunben  mit  in» 
biüibueöer  (Sfjarafteriftif  ber  bet  SSirflidjfeit  entnommenen  Per* 
fon,  barguftellen  unternahm.  2)afi  gerabe  Üpfipp  alö  ein  Haupt« 
»ertreter  biefer  neuen  ^Richtung  erfd^eint,  ftel)t  wiebet  nollfommen 
in  Harnion*e  mit  feinem  gangen  Äunftcharafter;  benn  überall, 
in  feiner  Slenberuug  bet  alten  Proportionen,  in  feiner  Steuerung 
ber  Haatbehanblung,  geigt  fid?  fein  Streben  nach  5HuSbrucf  Der 
unmittelbaren  üBirfltdjfeit.  3a  eS  fteht  bamit  in  engfter  Ser* 
binbung  eine  neue  2lrt  ber  geiftigen  Sluffaffung  mptfyifdber 
©egenftänbe,  bie  für  unfeTe  Setracfytung  bcS  ©enreS  »on  hödjfter 
Söidjtigfeit  ift.  23enn  überallhin  »erbreitet  fi<h  je^t  burd)  baS 
(Streben  nach  momentaner  2Birflichfeit  eine  Stuffaffung,  bie  man 
am  beften  als  genrehaft  begegnet,  ba  fie  weniger  auf  bie  SDar« 
fteüung  beS  inbioibuellen  SBefenS  bet  mpthifchen  Perfon,  als 
auf  bie  einer  allgemein  reigenben  (Situation  gielt. 

Um  bieS  gu  würbigen,  werfen  wir  einen  Slicf  gurütf  auf 
bie  ©ntwicflung  ber  dingelftatue  ber  ©ötter:  PhibiaS  ftellte  ben 
©ott  au8f(hlie§licb  in  feinem  allgemeinen  abftraften  ©runbwefen 
bat;  fo  gab  er  in  bem  Dlpmpifdjen  3euS  unb  ber  3tttjemf<Hen  Par* 
thenoS,  bie  wir  naher  fennen,  nichts  als  ben  »ollen  Segtiff  biefer 
©ottheiten,  in  abftrafter  IRuhe  gefaxt.  IDenn  freilich  fann  3euS 
auch  gornig  unb  milb,  friegerifch  unb  »erliebt  fein,  aber  all  bieS 
gehört  nicht  gu  feinem  SBefen  als  .König  unb  Sater  bet  ©ötter 
unb  SDtenfchen,  unb  ben  allein  geigt  unS  PhibiaS.  H^uf 

(1J9; 


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40 


tragen  nun  ©fopaS  unb  fPrariteleö  jene  feelifd)en  (Erregungen 
auf,  bie  einen  momentanen  3uftanb  »orauSfejjen , ber  fid?  alfo 
aud)  »etäubern  fann.  3lber  — wa8  fel)t  widjtig  ift  — man 
befdfranfte  fid)  babei  auf  biejenigen  ©eftalten,  gu  bereu  SBefen 
unb  Segriff  eben  foldje  (Erregungen  gehören:  alfo  bie  ©ötter 
ber  Siebe  ober  be8  bafdjifc^en  ©enuffeS  ober  be8  ewig  erregten 
begeljrenben  SDieereS.  2!ud)  bei  ber  (Demeter  3.  23.,  beten  Sbeal 
mir  biefer  Seit  »erbauten,  liegt  ber  fefynfüdjtig  wel)mutl)S»DHe 
3ug  tief  im  Söefen  ber  »etlafjnen  Söittwe,  bie  tyr  eingivg  jtinb 
»etloren,  begrünbet.  (Daher  finben  mir  benn  auty  jefct  jene  ab» 
ftrafte  9tul)e  be8  ewig  feienben  ©otte8  noch  möglid)ft  gewahrt. 
@0,  um  S3eftimmte8  gunadjft  »on  fPrariteleS  angufübren, 
fennen  wir  »on  tyrn  eine  2lrtemi8,  in  ber  9t.  bie  garfei,  auf 
bem  Stürfen  ben  Äödjer,  3ur  ©eite  einen  Jpunb  ($)auf.  10,  37,  1); 
ebenfo  einen  (DionpfoS,  ber  fid)  auf  ben  SlljprfoS  ftüfct,  mit 
gartem  Sabeln  unb  leud)tenbem  9luge  (ÄaQiftr.  8);  ber  Grroä 
in  Ration  fowo^l,  wie  bet  »on  JtyllifttatuS  befdjriebne  (Stat.  3) 
geigten  ben  ©ott  in  gartet  (Erregung,  unb  ebenfo  wenig  »on 
einer  beftimmten  realen  ^anblung  bat  ber  befannte  (Ero8  »on 
(Sentoceße,  an  bem  man  mit  9ted)t  praritelifdje  Stiftung  erfennt: 
in  ruhiger  Haltung  tyrityt  er  fein  inneres  SBefen  au8  burd)  ben 
liebeentgönbenben  SÖlirf ; »ortreffKd^  fügt  fid)  in  bieten  Ärei8 
aud)  ber  an  einem  SSaumftamm  le^nenbe  ©atyr  in  feiner  fdialf» 
baft  anmutbtgen  ©innlidjfeit,  ben  wir  in  fo  »ielen  Dteplifen 
befijjen;48)  nid^t  minber  ber  wol  mit  gröfjerm  SRec^te  für  fPtari* 
telifd)  gebaltne  rubig  ftebenbe  Satyr,  bet  Söein  in  eine  ©djale 
giefjt  (SDenfm.  a.  jf.  II,  459;  »gl.  @tepl)ani  Compte  rendu 
1868,  p.  106  ff.).  93 or  JSflem  begeidjnenb  ift  aber  ba8  berübm» 
tefte  Söerf  bc8  ^rajritt'leS , bie  Änibiftye  Slp^robite : wir  würben 
fel)t  fe^l  geben,  wenn  wir  auch  t)ier,  uufret  mobernen  Steigung 

(130) 


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41 


fclgenb,*9)  eine  beftimmte  ©eene  unb  .panblung,  fcaö  Sab  bet 
Spbrobite  bargeftetlt  feben  mellten;  ja  bet  jtünftler  batr  «ben 
um  bieß  gu  verböten,  eß  mit  feiner  Seredntung  in  ber  ©d)mebe 
gelaffen,  ob  bie  ©öttiu  baß  ©ercanb,  baß  fie  in  ber  hinten  halt, 
ton  bet  Safe  aufgiebt  ober  ob  fie  eß  fallen  läfet,  nnb  eß  roat 
febr  netfebrt,  menn  man  fid>  oft  barunt  geftritten  ba*r  mclcbeß 
ton  betben  ber  galt  fei.  0?id?t  eine  beftimmte  üßabefeene  mellte 
ber  Äünftler  geben,  fonberu  baß  gange  SSefen  ber  Üiebeßgöttini 
einerfeitß  bieß  febambafte  ©icbgurücfgieben  in  fid)  felbft,  anbrer» 
feitß  baß  fel)nfüdjtig  liebenbe  Verlangen;  baß  ©emanb  fann  bie 
©ßttin  jeben  Slugenblicf  an  fid)  gicl)en,  um  ihre  ©d?aml)aftigfeit 
gu  beroabreu,  fie  faun  eß  fallen  laffen,  um  in  gangem  ©lange  alß  edate 
©öttin  bet  ©d)önl)eit  bagufteben.  ©ebr  begeidwenb  ift  aber,  ba&  faft 
alle  fpäteren  9tad)bilbungen  eine  momentanere  Raffung  tyrem* 
tragen,  ©ang  benfelben  $all  beobad)ten  mir  an  ber  2lp!)robite 
SlnabiiDmene  beß  5lpelleß.  2Utd)  fie  mar,  nad)  ben  SKefultaten 
ber  neueften  Unterfud)ungen,50)  nidjt  etroa  in  ber  Jpanblitng 
beß  illuffteigenß  auß  bem  föieere  begriffen  bargeftetlt,  fonbern, 
bereitß  am  8anbe,  tubig  ftebenb  brüdt  fie  ben  ©djaum  beß 
ÜJlcereß  auß  ben  ffoefen,  — ein  fOiotiü  baß  bie  $auptfacbe,  ben 
'Äußbtucf  beß  SSefenß  ber  ©öttin  in  bem  „nnitng“  bem  Siebeß» 
verlangen  ber  Slugen,  nid)t  beeinträchtigen  fonnte.  Slber  auib 
biet  bringen  meitauß  bie  meiften  fpätereu  fJiadjbilbungen  eigent* 
liebe  titftion  betetu , inbem  fie  eine  fid)  pufgenbe,  fd)miicfenbe, 
frifirenbe  ftrau,  alfo  ein  ©enreftftef  batauß  mad)eu.  — ©djein* 
bar  mibetfpreebenb  unfern  Slußfprüdien  ift  ber  ©auroftonoß  beß 
§)rariteleß,  jene  jugenblicbe  ^l^olloftatue,  beren  gangeß  3ntereffe 
in  ber  gragiöß  anmutigen  Jpanblung  beß  ©otteß,  ber  eine  ©i* 
beebfe  aufipiefjeu  will,  beruht : aber  biefe  Jpanblung  ift  feine 
roiüfütlicb  gemäblte,  fonbern  in  ibv  ftnbet  eben  baß  mntbifdje 

(Ml) 


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42 


SB e feit  bcS  Sauroftono8  allein  feinen  SluSbrmf;  benn  fennen 
wir  aud)  ifyre  23ebeutung  nodj  nidjt,  fo  war  fie  bod}  gewifj  burdj 
©ultu8anfdjauuugen  bebingt.  ©benfo  ift  e8  gu  f affen , wenn 
man  fdwn  in  ardjaifdjet  Beit  (5Jlenaid)tno8  unb  Soibaö)  9tr» 
temis  in  ber  £anblitng  be8  3agen8  barfteüte,  benn  biefe  fpridjt 
eben  ba8  SBefen  bet  ©öttin  au8. 

Um  nun  gleid)  ben  ©egenfafc  jener  oben  begegneten  neuen 
©ntwicftung  gu  bringen:  bie  fog.  SlrtemiS  »on  ©abii!  fte  Ijeftet 
fid)  ba8  ©ewanb  auf  ber  Sdjulter  feft,  gewifj  ein  reigenbeS  5£Ro* 
tio,  aber  offenbar  für  jebeö  anbere  SBefen  ebenfo  paffenb  al8  für 
2lrtemi8  (gleidjwoljl  ift  bie  33cgeidjnung  Sltalante  eine  roitlfür* 
lidje).  Sleljnlid)  ift  e8,  wenn  ftd?  &poü  mit  einer  Sanie  ba8 
.paar  aufbinbet.5 ')  2)iefe8  Streben  nad)  einer  allgemein  ntenfd}* 
liefen,  fünftlerifdj  intereffanten  Situation  unb  Slftion  tritt  ferner 
fefyr  beutlidj  Ijeroor  an  betn  fog.  3afon,  b.  fy.  bem  permeS,  ber, 
einen  8u§  auf  eine  ©rfyöfymtg  fteKenb,  fidj  bie  Sanbale  auSgiefyt: 
ein  beftimmteS  für  ben  ©ötterboten  aUtäfllid^eS  SRotio  bilbet  ben 
3nfyalt,  nidjt  fein  inneres  SBefen  (wie  etwa  beim  23atifanifcfyen 
fermes  = Stntinouö).  ©iefelbe  SBeräufcerlicfyung  erleibet  aber 
audj  @re8,  inbem  man  ü)u  jetjt  im  ©egeufajj  gu  bem  Ijanb» 
lungSlofen  ^>rajritelifct>en,  in  ber  lebhaften  Situation  be8  33ogen* 
fpannenS  barftellt.  — 25iefe  UmwanDlung  in  ber  ftatuarifdjen 
Äunft  ging  um  bie  3eit  SUejcattberö  cor  fid)  unb  al8  il)r  .paupt« 
begrüttber  mu§  Üpfipp  erfdjeinen,  beffen  ©inflüffe  aud?  in  ben 
beiben  guleljt  genannten  SBerfen  beutlidj  finb.  ©ing  bod)  ba8 
gange  Streben  be8  Bpftpp  uad)  momentaner  Raffung  bet 
ftatuarifdjen  ©ompofition:  beSljalb  gab  er  feinen  SBerfen,  im 
©egeufajje  gu  ber  früheren  fixeren  SRutje,  jene  eigentljümlidje 
Unruhe  unb  fdjwanfenbe  33eweglidjfeit,  jene  momentane  Stellung, 
bie  fidj  jeben  Slugenblid  änbetn  faun  unb  bie  wir  an  feinem 

(192) 


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43 


SpojrpomenoiJ  bewunbern,  wie  audj  an  anbern  unter  feinem  Gin» 
fluffe  ftebenten  Söerfen.51)  — Wan  fann  biefe  tntereffante  Um» 
wanblung,  bie  bie  m»tt)ifdjen  Gegenftänbe  bem  Genre  fo  nalje 
bringt,  nodj  an  mandjen  anbern  ©tatuen  »erfolgen,  wie  3.  B. 
am  fog.  Barberinifdjen  Saun,  bem  betrunfen  fcfylafenben  ©atprn 
im  Gegenfajje  3U  bem  oben  erwähnten  ruhigen,  ober  an  ben 
galjlreidjen  Slpfyrobiten , bie  bie  Göttin  im  Babe  anb  bei  ber 
Soilette  geigen  ober  an  ben  unö  überfommenen  ^magouenftatuen, 
wo  wir  an  einer  auf  ben  Änieeii  liegenben,  ben  ©ieger  leiben» 
fdjaftlicfy  anfleljenben  Stmagone  (Mon.  d.  Inst.  IX,  37),  einem 
SBerfe  »oQ  momentanfter  ^anblung,  einen  jpredjenben  Gegen* 
fafc  tjaben  gu  jenen  befannten,  ben  älteren  ©djulen  beä  Polpflet 
unb  Pfyibiaö  angeljörenben  Statuen,  bei  benen  »on  einer  ^>anb* 
lung  faum  bie  Siebe  fein  fann,  wo  afleö  Gewicht  im  \Jlu8brucf 
be8  GrunbmefenS  liegt.  SDodj  wir  bürfen  bei  biefen  fragen,  fo 
intereffant  fie  finb,  uidjt  aUjulange  »erweilen. 

Jfetyren  wir  bafyer  311  unferm  2lu8gang8punfte,  ber  trunfnen 
Slotenfpielerin  beö  £»ftpp  3urü(f,  fo  reüjt  fid?  nun  biefe  neue 
Grfdjeinung  »oflfommen  begrünbet,  ja  mit  eiuer  gewiffen  9iotfy= 
wenbigfeit  in  ben  Gang  ber  gefammten  Äunft  ein.  $enn  audj 
fyier  begegnen  mir  im  Bergleid?  gu  ben  früheren  Seiftungen  beö 
Genreö  einem  Jperabfinfen  gum  gufällig  2Birflid>en,  SJiomentanen: 
Ijatte  nernlid?  SJlpronS  ©cbule  gewiffe  Bewegungen  unb 
Jpanblungen  gu  Sbealen  gef  Raffen  (ol?ne  9iücffid?t  auf  Gtja» 
rafteriftrung  ber  auöfüfyreuben  Perfon  nur  bie  £anbluug  felbft 
barfteUenb),  Ratten  Polöflet  unb  bann  in  oerwanbter  SBeife 
prajriteleS  bie  allgemein  menfdjlidje  @d?önl?eit,  bie 
männliche,  wie  bie  weibliche,  an  eiufacben  SUltagßmotioen  ibeali* 
firt  — fo  greift  nun  bie  an  ibealet  Äraft  erlafymenbe  Äunft  be8 
€t>fippoö  gum  Biebrigdjarafteriftifcben  unb  fteüt  einen 

(183) 


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44 


©in^elnicmeut  bet  Söirflichfeit  mit  treffenber  3nbimbualifirung 
bar,  aber  ohne  jenen  allgemein  menfthlichen  ibealen  ©ejug.  — 

Stoß  biejet  SBerjchiebenheiten  im  ©ii^elnen  trägt  aber  bie 
gange  bisher  betrachtete  ©ntroicflung  beö  ©cnreö  einen  gemeinfarrten 
61)örafter  gegenüber  ber  nun  folgenben;  beim  ßicr  ließt  noch 
überall  baö  3ntereffe  nur  in  ber  reinen  ©arftellung  beö  ©e« 
genjtanbeö  aus  bem  ’Mtagölebeu.  2)od)  wirb  unS  bicö  erft  flat 
werben,  wenn  wir  ben  ©egenfaß,  baö  ^edeniftifc^e  ©ente  be* 
tradjtet  haben. 

äJererft  aber  haben  wir  unS  nod}  in  ber  SJtalerei  auä  bet  3eit 
»er  ben  £>iabod)en  nad)  ben  Stiftungen  beö  ©enreö  umgujehen5  3). 
— Stadjbem  bie  großräumige  monumentale  SEßanbmalerei  erha» 
benen  mßthologifdjen  Snßaltö  etwa  um  baö  ©nbe  ber  80er  tDltun« 
tjiaben  namentlich  burd)  ben  ©influß  beö  Slpoüoboroö  bem 
©taffeleibilbe  l)atte  weichen  müffen,  baö  nach  rein  malerifchen 
(Sffeften  ftrebte,  jo  mußte  bieje  große  Umwanblung  auch  in  ber 
SSaßl  ber  ©egenftänbe  Steueö  bringen.  3nbem  bie  Äünftler  non 
nun  an  natürlid)  meift  nach  priuaten  Stellungen  arbeiten  unb 
fubjeftinen  Steigungen  baßer  oiel  meßt  nadjgeßen  fönnen,  inbem 
man  ferner  an  bie  »erl)ältnißmäßig  fleinen  unb  leicht  hercgefteU» 
ten  üafelbilbet  in  5BejH8  auf  3nl)alt  burcßauö  nicht  bie  Stnfor« 
berungen,  wie  au  ein  monumentales  Sßerf  fteQen  fonnte,  inbem 
enblicß  baö  Streben  ber  ftünftler  oor  ÖtOern  auf  malerijdie  3ßu* 
fion  ging:  jo  mußte  bie  Sebeutung  beö  ©egenftanbeö  gurücftre* 
ten  unb  man  mußte  balb  baju  gelangen,  rein  fünftlerifdje  9luf» 
gabeu  unb  Probleme  barguftellen  oßne.  9tücffid)t  auf  3r»ecf  unb 
SBebcutung  beö  3nßaltö,  b.  ß.  «3  mußte  bem  ©enre  in  ber  SJta* 
lerei  eine  ungleich  fchneüere  unb  größere  ©ntwicflung  311  2:ßeil 
werben,  alö  bieö  in  ber  fpiaftif  ber  ^all  fein  fonnte. 

(184) 


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45 


3)iefe  Hinnahme  beftätijen  unfrc,  wenn  and)  feljr  bürftigen 
Nachrichten.  Schon  bei  3 e u ?:  i ö begegnen  wir  einem  23ilbe, 
baß  mit  »ollem  Siecht  ein  mpthologifcheS  ©enreftücf  genannt 
»erben  fann : bie  berühmte  Äentaurenfamilie,  wo  bie  Kentauren» 
mutter  ihre  Bungen  ^gleich  auf  menf<blid?e  unb  thierifdje  SBeife 
nährt,  roätjrenb  ber  2?ater  ben  kleinen  einen  jungen  8öwen  hin* 
halt,  um  fie  fürcfyten  ju  machen.  .Spier  l)aben  mir  gleich  ein 
33eifpiel  ber  jubjeftiuen  SReflejrion  be$  ÄünftlerS  gegenüber  bet 
Srabition,  waS  hiet  fö8a*  J»  einer  Gorreftion  be§  ©InttjuS  Sin* 
lafj  gibt:  bie  Äentauren  finb  ja  .£albmcnid)en;  aber  inbem 
bie  Sage  »on  ihren  müben  Kämpfen  nur  iljr  ungebäubigt  tfjie* 
riftbeö  fJiaturleben  betont,  fo  »erlangte  hoch  auch  ihre  menfchliche 
Seite  noch  HluSbrucf,  unb  biefer  ^orberung  marb  Beuriß  geredet. 
3u  foldh’  einet  felbftänbigen  Umarbeitung  beß  Ueberlieferten  fonute 
er  aber  nur  gelangen  burd)  jenes  in  ber  ÜJlalerei  fcbon  früher 
mirfenbe  Streben  nach  pfpd)ologifdiem  ©urchbenfen  ber  Jrabi* 
tien,  nach  innerer  SBertiefung  unb  Söermenfchlichung  ber  Sagen, 
maß  uothmeubig,  mie  h<etf  äu  einer  genrehafteu  SHuffaffung  füh* 
reu  muhte.  — 9lut  ber  33ra»our  in  ber  malerifdjen  SHufton 
wegen  malte  et  eiuen  .Knaben  mit  Sßeintrauben,  auf  welche  bann 
Sßögel  gugeflogen  fein  joden.  ©ine  §abel  ohne  alle  ©laubwüt* 
bigteit  ift  baS  alte  23eib,  über  baS  er  fich  tobt  gelacht  haben 
foü.  Sein  Beilgen  off  e ParrhafioS  ift  »otjüglidj  in  ber  fchar* 
fen  pjpchologifchen  (Sharafteriftif  beftimmtcr  Bnbicibualitäten; 
weshalb  mit  begreifen,  bah  er  nicht,  wie  3euriS,  baS  3Rpthif<he 
jum  ©enrehaften  »eradgemeinerte,  fonbern  an  ber  IDarftedung 
be8  ©injelinbißibuumS  ber  Söirflicbfeit  feine  .traft  erprobte:  be* 
jeid}nenb  ift,  bah  gerabe  pon  ihm  mehrere  'Porträts  unter  feinen 
bebeutenbften  SB  er  fen  genannt  werben,  ©ine  SDiittelfteDung  jwi* 
fchen  Porträt  unb  ©enre  fdjeint  ber  SJiegabpjoS,  b.  h.  ein  »er« 

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46 


fdjnittener  Cberpriefter  bcr  <5pt?efüd>en  StrtemiS  eingenommen  gu 
haben,  <Die  Gharafteriftif  war  fo  fdjarf  unb  wehlgetungen,  ba§ 
SaberiuS  aus  ?iebe  gu  bem  Silbe  eS  in  lein  ©chlafgemach 
nahm54).  2>enfelben  ©egenftanb,  bod?,  wie  eS  fcheint,  figuren* 
reicher,  behanbelte  fpäter  SlpelleS:  eines  ÖJiegabpgoS  fxeftgug. 
dagegen  war  reines  ©enreftücf  $>arrbafioS’  33ilb  gweier  Ä naben, 
an  benen  man  ben  SluSbrucf  ber  SDreiftigfeit  unb  Ginfattigfeit 
ihres  SllterS  bewunberie  — alfo  nicht  eine  Apanblung  unb  ©i» 
tuation,  fonbern  bie  pftxbclogifcb  fdfatfe  objeftioe  Gbarafteriftif 
befl  ÄnabenalterS  bet  baS  .pauptintereffe.  Gine  anbte  Stufgabe 
fteOte  er  fid)  in  ben  beiben  Silbern  ber  SSaffenläufer , b.  h- 
SJtünner,  bie  einen  SSettlauf  in  Söaffenrüftung  üben;  ber  eine 
war  mitten  im  .pinftürmen  begriffen,  ber  anbre,  eben  angelangt, 
bie  5Baffen  ablegeub  unb  fid)  oerfcbnaufenb.  ©ie  feine  2)etail* 
Beobachtung  ber  Statur,  über  bie  fParrhafiuS  perfügte,  wirb  if)m 
Bier  gu  einer  namentlich  im  Gingelnen  treffenben  ^Durchführung 
ber  Söirfungen  jenes  fo  befcbwerlichen  SaufeS  auf  ben  .fiötpet 
unb  befonberS  bie  SlthmungSergane  oetholfen  haben.  SBegen  beS 
üerwanbten  ©egenftanbeS  fei  hier  gleich  baS  Silb  beS  Jheo» 
um  bie  3eit  StleranberS  erwähnt:  ein  Schwerbewaffneter,  ber 
eben  feine  SBaffen  ergriffen  hat,  um  in  ben  .Rumpf  gu  [türmen 5 5); 
jebeSmal  beoor  baS  Silb  enthüllt  würbe,  muffte  ein  Trompeter 
ein  Singriff Sfignal  geben:  höchfte  momentanfte  gebenbigfeit  unb 
eine  plö^lich  pacfenbe  Sßufton  waten  alfo  baS  3*e!  beö  Äünft* 
lerö.  — Son  ^)arthafioS  ift  noch  gu  erwähnen,  bah  er  in  flei* 
nen  Silbern  auch  ungültige  ©egenftänbe  behanbelte,  bie  theilS 
Wohl  bem  alltäglichen,  theilS  aber  auch  bem  mpthologifdjen  ©eure 
angehörten,  inbetn  bie  Kleinheit  beö  SilbeS  bie  fötaler  feiert 
früh  rerlocfen  muffte,  hier  momentanen  ©bergen  fRaum  gu  ge» 
ben  unb  bie  SDarfteQung  eines  GinfaHS , eines  SJtotioS  unb  fei* 
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47 


ne8  (Reige8  berjenigen  beä  Äernß  unb  23efen8  beö  mptbifdjen 
©egenftanbeS  felbft  eergugieben.  (Sin  anbre8  Seijpiel  für  bie* 
iflbe  (Ridjtung  bietet  jein  etwas  jüngerer  Bcitgenejje  Siman* 
tbe8,  bet  ebenfalls  in  einem  fleinen  Silbe  einen  jdjlafenben  un* 
geljeuren  Äpflopen  malt,  bejjen  üDaumen  bie  ©atpru,  jenes 
freche  aber  feige  SBolf , baS  jo  gern  bie  ©cfclafenben  necft,  mit 
einem  SbprtoS  mejjen;  bod)  „intelligitur  plus  semper  quam 
pingitur“ : bet  (Riefe  wirb  halb  aufwadjen  unb  bie  auSeinanber* 
jtiebenben  ©atern  fräftigüd)  beobrfeigen. 

(Sine  anbre  (Sntwicflung  beö  ©enteS  repräjentirt  uns  $)au» 
f iaö , ber  ©cbület  be8  9>ampbil<>8,  beS  SegrünberS  ber  ©i* 
fponifdjen  ©djule,  bie  in  ihren  SSerfen  nitgenbS  Ijdje  geijtige 
Sebeutung,  jonbern  eine  auf  eetftanbeSmäfjiger  ©runblage  ge* 
idjulte  Südjtigfeit  erjtrebte,  jo  bafj  bie  Sebeutung  bcö  Inhalte 
jurücftteteu  mufjte.  SlnbrerjeitS  trat  um  bie  SDRitte  be$  eierten 
SahrhunbertS  mit  ber  guneljmcnben  Serwenbnng  ber  Äunft  für 
pricate  SMoration  immer  mehr  eine  entfcpiebene  (Richtung  auf 
ba8  leicbt  Sinmutbige  unb  ©efäßige  bertwr.  23 ir  begreifen  «8 
baljer,  wenn  ?)aufia8  nicht  nur  wohl  gueTft  fich  in  ber  33  tu- 
menmalerei  auSgeichnete,  fonbern  mit  befonbret  Sotliebe  Äna» 
ben  barfteCfte:  au8  früher  eereingelten  Sraeourftücfen,  wie  bem 
Änaben  mit  ben  Stauben  eon  3cu?riö , wirb  jejjt  eine  beliebte 
©attung,  bie  bie  gefällige  Slnmuth  unb  (Rieblidjfeit  be8  Äinber* 
ieben8  gum  ©egenftanbe  nahm.  (SineS  feiner  bejten  Silber  fteflte 
feine  ©eliebte  ©Ipfeta  al8  Ärängewinberin  bar.  S>af$  biefe  eon 
?)aufia8  guerft  eingefchlagene  (Richtung  in  ber  golgegeit  ficb  eine8 
großen  (SrfolgeS  erfreute,  bürfen  wir  batau8  fdjliefien,  baf}  Sil* 
bet  anmutiger  üRäbdben  in  irgenb  einer  freunblicben  Sefchäfti* 
gung  beliebte  ©egenftanbe  ber  ©ampanifdjen  23anbmalerei  finb 
(f.  £elbig,  Unterf.  über  b.  Camp.  2Banbmal.  p.  76),  bie  auf 

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48 


JBcrbtlber  befleniftifdjer  Beit  gurüdfgeht.  $Dte  anbre  3Trt  biefer 
feitet  unbefangnen  ©arfteüungen  aus  bem  9llltagSle&en , jene 
Änabenbilber,  föttuen  wir  unS  am  beften  auS  gasreichen 
fleincn,  namentlich  9Jttifd)en  SBafenbilbern  uub  Sterrafotten  per* 
gegenwärtigen,  ©iefe  [Richtung  bilbet  ben  Uebergang  31t  ber 
fpäter  ju  betraditenben  ungleich  bebeutenberen  ©arfteUung  ber 
Äinberwelt  burch  bie  ftatuarifdbe  Äunft  — aber  in  bem  roefent« 
lidt  »eränberten  ^edeniftifdien  ©eifte. 

3u  beamten  ift  nod),  bafj  ade  jene  SBerfc  beS  fPaufiaö  flehte 
Silbchen  waren  unb  bafj  er  auf  baS  tedbnifdhe  Serbienft  baS 
Hauptgewicht  gelegt  haben  wirb;  benn  fonft  müfjte  eS  auffaüen, 
bafj  feiner  feiner  Schüler  fid^  an  jeuen  (Stoffen  be§  ÜReifterS  tn 
größerem  Umfange  »erfudit  p haben  fdheint. 

(gine  gang  anbre  [Richtung  tritt  unS  in  bet  gleidjgeitigen 
SLl^ebanifd^Sttifdjen  Sdjule  entgegen:  h‘e*  ift  Stoff  unb 
3nhalt  unb  beffen  reigenbe  unb  pacfenbe  Sehaublung  erfteS  Stre» 
ben.  ©aS  mpthologifcbe  ©enre  entfpradb  biefem  ibealeren  3ug« 
beffer.  fRamentlicb  wirb  biebei  ber  im  4.  3bh-  f»  beliebte  baf» 
dsifdhe  .Kreis  becorgugt.  So  malt  ber  Sohn  unb  Schüler  beS 
9lriftibe§  91  rifton  einen  behängten  Satnr  mit  bem  9?e^er, 
alfo  wohl  im  »ollen  ©enufje  be§  SBeineS.  Gharafteriftifcbet  aber 
für  bie  gange  9tid)tung  ber  Seit  finb  bie  folgenben  beibcn  Silber, 
nemlich  beS  [Rif  cm  ad)  öS  „berühmte"  SRänaben,  bie  wab*5 
jcheinlidh  wäijtenb  beö  Schlafes,  »on  Satnrn  bef (blichen  werben, 
unb  baS  ©emälbe  feines  Schülers  %>^üojcenoS,  baS  brei  be* 
trunfen  fdhwärmenbe  Silene  iu  auSgelaffenfter  füuffaffnng  bat» 
ftellte:  beibe  SBerfe  geigten  alfo  bie  finnliche  9lufregung  unb  2?e» 
gierbe  an  einem  mpthifdhen  ©enrebilbe.  Hatte  ^atrhafioS  foldje 
finnenreigenbe  ©arfteUungen  nur  in  fteinen  SSilbdben  unb  neben« 
bei  su  maleu  gewagt,  fo  wirb  jejjt  (5Ritte  4.  3bb-)  auch  b^W“5 

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49 


fine  beliebte  ©attung,  bie  auch  ©arfteflungen  au8  bem  SllTtagS- 
leben  betjanbelte,  wie  bie  Sejeic^nung  „$>ornograph",  b.  h-  35ir» 
nenmalet  anbeutet,  bie  mehreren  Äünftleen  bet  Seit  ertbeift  wirb. 
Schon  auf  ©afenbilbern  ift  ber  ©influfl  biefer  fRidjtung  nicht 
jn  »erfennen.  Später  in  ber  IjeHeniftifcfcen  Beit  würbe  fle  na- 
türlich noch  ciel  mehr  gepflegt,  wie  wir  au§  ben  ©ampanifcflen 
©anbbilbern  entnehmen  fönnen  (S.  $elbig  a.  a.  JD.  238;  249 ff.). 

fRoeh  wichtiger  ift  un8  jeboch  ber  oermuthliche  ©ruber  be8 
fftifomachoB  2(riftibe8.S6)  2lm  befannteften  ift  fein  ©ilb  einet 
fterbenben  üDiutter,  bie,  bet  ber  Eroberung  einer  Stabt  töbtlidj 
cerwunbet,  noch  für  ihr  jtinb  fürstet,  e0  möge  ©lut  ftatt  5Rileh 
au8  ihrer  ©ruft  einfaugen.  ferner  ein  glehenber,  beffen  Stimme 
man  faft  gu  hcren  glaubt  unb  ein  fehr  berühmter  jfranfer.  3« 
biefen  ©ilbern,  beren  ©egenftanb  bie  heftigften  (Erregungen  flnb 
unb  bie  unfer  unmittelbarfteS  SJiitgefühl  erwecfen,  intereffirt  bie 
$erfon  al8  beftimmteS  3nbi»ibuum  nicht,  nur  ber  9lu8brucf  ber 
allgemein  menfcblichen  tiefften  Seelenempflnbung  pacft  unb  er- 
füllt un8  gang.  2Bir  hflben  h*e*  eine  nothwenbige  ©onfequeng 
unb  gugleidj  bie  fchonfte  ©lüthe  jener  mehrfach  berührten  pfpcho- 
logifchen  Dichtung  in  bet  Äunft  be8  4.  Sahrfj.  cor  un8,  welcher 
ber  mpthifd}*  cber  fonftige  beftimmte  9?ame  ber  gigur  gleich- 
gültig werben  muff,  ba  fie  nur  bie  allgemein  menfdjlicben  8ei* 
benfehaften  unb  Slffefte  barfteKen  will.  — ©inen  ähnlichen  ©hfls 
rafter  wirb  ba8  ©ilb  ber  „Säger  mit  ©eute"  getragen  haben, 
wo  ba8  gemüthlich  ©ehagliche  ber  Stimmung  ^auptintereffe  ge- 
wefen  fein  mag.  9loä)  anbre  SESerfe,  bie  aber  fchwerlich  bem 
©ente  angehörten,  flnb  noch  nicht  hinlänglich  aufgeflärt;  bie 
„rennenben  ©iergefpanne"  flnb  jufammenguftellen  mit  ben  »on 
9lifen  gelenften  ©efpannen  be8  ©utedjibee  unb  fRifomacijoB,  fo- 
wie  mit  bem  SBerfe  be8  9Relanthie8,  ba8  ben  Üprannen  SlriftratoS 

XI.  2«.  2«.  4 (189) 


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50 


feierte,  bet  neben  bem  Siergefpann  mit  fRife  ftanb:  aud)  bet 
jenen  ©efpannen  be8  UriftibeS  ftnb  bemnach  beftimmte  SBejie» 
jungen  auf  (Siege  ober  bgl.  »orauSgnfejjen. 

SDafc  Sietion  bas  ©entebilb  einet  ^odjgeit  gemalt  habe,  ift 
feht  gweifelhaft;5’)  unb  »on  Sl U e @ wiffen  wir  nur,  ba§  er 
Silber  oon  „Sterbenben"  gemalt.  55o<h  geht  auS  bem  3ufam« 
menhange,  in  bem  bie  Stelle  bei  ipiiniuS  fteht  (35,  90),  ungwei« 
felhaft  hetüor,  baff  Porträts  gemeint  finb;  benn  eS  wirb  bort 
StpelleS’  Sorgüglidjteit  in  bet  §>orträtmalerei  an  oerfchiebeuen  Sei’ 
fielen  gegeigt.  5>ie  patfyetijdje  ^Richtung  bet  Seit  tonnte  leitet 
auf  foldje  ^orträtö  führen,  bie  StpeüeS  mit  befonbrer  Schärfe 
unb  SBabrbeit  bargefteflt  haben  wirb.58)  2) cm  mütfyologijcben 
©eure  tann  man  fein  Silb  ber  Artemis  im  Greife  ihrer  fchwär« 
menben  unb  jagenben  üftpmpben  gurechnen.  Sod)  wichtiger  ift 
un8  noch  fein  berühmtes  Silb  ber  „Serleumbung";59)  benn 
auch  bieS  ift  eigentlich  bem  ©enre  angehörig,  ba  eS  eine  allge* 
mein  alltägliche  £anblung ; wie  ein  3üngling  oerleumbet  wirb, 
barfteOt,  allerbingS  in  faft  nur  allegorifchen  Figuren.  55ie  Ser« 
leumbung  felbft,  Unwiffenheit  unb  Argwohn,  fReib,  Sift  unb  $rug, 
JReue  unb  äöaljrheit  treten  alle  in  djarafteriftifcher  fPerfonififation 
auf.  2tudj  biefeS  Silb  ift  eine  lejjte  (üonfequeng,  ja  ein  abfchliefjen» 
ber  -^öhenpunft  jener  Stiftung  beS  4.  Sahrl)-  auf  SluSbrucf  ber 
bet  ^»anblung  gu  ©runbe  Uegenben  jeelifchen  Sorgänge,  bie  bagu 
führen  muffte,  einmal  nur  biefe  inneren  Sorgänge  felbft  im  Silbe, 
in  $)erfonififationen  barguftelleu.  So  pertonificirt  ISpeQeS  alle 
bie  ethifd?en  Segriffe  unb  Stimmungen,  bie  bei  ber  ^»anblung 
einer  Serleumbung  unb  ihren  folgen  »ermatten  — ftatt  einen 
Wirtlichen  eingelnen  Sorgang  in  feiner  ^Realität  felbft  barguftelleu. 

2)och  wie  überall  in  ber  hiftorijehen  (sntmicflung , wo  ein 
9)ringip  auf  bie  Spijje  getrieben  ift,  ba  aud)  bet  Umfchlag  in 

(IDO) 


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rin  neue®  fitb  oorbereitet,  fo  ift  eS  aud)  fyier  gu  ISleyanberß 
ber  9tealißmuß,  bie  ÜDarfteUung  beß  unmittelbar  3Bitflidjen, 
tritt  nceb  mäfyrenb  Slpetleß  3eit  an  Stelle  jener  abftraft  ibealen 
SRicbtung , unb  3 trat  in  ber  ftatuarifcben  Äunft,  mie  wir  früher 
jaben,  namentlidj  burdj  gpfipp,  bet  überall  Ülpefleß  gegenüber* 
jtebt:  legerer  g.  33.  malt  SHejranber  mit  bem  Slifce  alß  3euß, 
mit  ben  IDießfuren  als  £)elioS  unb  ftrebt  fo  nadj  sJlttßbtucf  eines 
allgemeineren  ©ebanfenß  — gpfipp  bagegen  geigt  unß  ben  mirf» 
lidjen  Stlejanber,  ben  füllen  gröberer  mit  ber  gange.  3n  ber 
SRalerei  aber  ift  eß  fogar  ber  perjönlidje  ©egner  unb  fltebenbufy» 
ler  beß  Slpefleß,  ift  eS  Slrtti^ljiloS,  ber  guerft  in  bet  treuen 
SDarfteUung  ber  niebern  SSirflidjfeit  fein  Serbien  ft  fud?t,  ber 
Segrünber  jenes  realiftifdjen  ©enreß,  an  baS  mir  SJtoberne  im- 
mer guerft  benfen.  @0  geigt  er  unS  in  einem  33ilbe  bie  33er» 
arbeitung  ber  SBoHe,  mo  bie  oerfdjiebenen  Aufgaben  ber  eilenb 
arbeitenben  3öeiber  in  lebenbigfter,  treffenbfter  SEBeife  cijaraFteri- 
firt  rnaren.  ferner  böten  mir  non  einem  Änaben,  ber  baS  $euet 
anbläft  unb  mo  ber  gidjteffeft  beß  feurigen  Sßiberfdjeinß  auf  bem 
©efidjte  be§  Knaben  unb  ber  gangen  Umgebung  allein  baß  3n* 
tereffe  außmadüe.  gnblid)  fc^lie§en  fidj  motyl  am  beften  analog 
ber  ©ntmicflung  in  ber  fpiaftif  bie  unbatirten  üftalet  Ä'allifleS 
unb  Äalateß  an , bie  in  lleinen  Silbern  ©egenftgnbe  auß  ber 
Äomöbie,  alfo  auß  ber  niebern  3Bir!lid>feit,  barftellten.  3ludj 
bie  fog.  „grylli“,  farilaturartige  IDarftellungen,  beren  Urheber 
äntipfyiloß  mar,  finb  biefem  niebrig  fomifc^en  ©enre  guguredjnen. 

Slntipljiloß  aber  mar  für  bie  JRidjtung  ber  gangen  folgenben 
©iabocben  * 3e»t  in  ber  SRalerei  com  größten  ©influffe,  unb  fo 
feljen  mir,  mie  in  ber  Seit  Sllejranberß  alß  editer  EPetiobe  beß 
Uebergangß,  mo  in  $)olitif  unb  fogialen  Serlsältniffen  nidjt 
minber,  alß  in  ber  Äunft  fidj  Oteueß  überall  33abn  gu  bredjen 

4 * (i»j 


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fudjt,  »te  tjier  bie  Berfdjiebenften  SRidjtungen,  bie  eine  ba8  9tltc  ab* 
fdjliefjenb,  bie  anbre  in  bie  Bufunft  weifenb,  neben  einanber  fteljen. 
©ieB  batf  uns  nid^t  wunbern:  wirb  bech  oft  eine  fommenbe 
©poche  in  eingelnen  $>et|6nlicf)f eiten  oft  länger  Borger  anticipirt, 
wie  benn  3.  23.  in  ber  Siteratnr  ber  gange  Botte  9Uejcanbrtm8mu8 
bereits  in  äntimadjuS  nerförpert  ift,  ber  fdjon  um  400,  gu  einer 
Seit,  wo  freilich  bet  ^öfyepunft  griechifcher  ©iditung  bereits  »er* 
über  war,  aber  eine  gahllofe  füienge  fleiueret  ©eifter  bie  einge* 
fchlagenen  ^Richtungen  nach  allen  ©eiten  tyin  weiter  oerfelgten, 
im  ©egenfafs  gu  biefen  eine  erft  Biel  fpäter  blüljenbe  ©idjtungS* 
art,  bie  gelehrte  Berfünftelte  SiebeSelegie  anticipirte;  erft  ^MjiletaS 
Bon  Ä08  gu  @nbe  beS  4.  3ahtl).  folgte  ihm  barin. 

23ecor  wir  inbe§  gu  einer  neuen  ^eriobe  übergeben,  muffen 
wir  noch  einen  SÖIicf  auf  baS  unS  auS  ber  ootliegenben  @r^al» 
tene  werfen.  2lu3  bem  ©ebiete  ber  $)laftif  wüjjte  ich  nur  bie 
unS  an  ber  Äarpatibenljalle  beS  ©re^eionS  erhaltenen 
üRäbdjen  gu  nennen,  bie,  obwol  ardjiteftonifch  nerwenbet  (waS 
wir  bei  ben  anbern  nicht  BorauSfe^en  bütfen),  bod)  auf  gleicher 
Sinie  fielen  mit  ben  .Ranephoren  unb  Äarpatiben  beS  ^olpflet, 
5>rajritcle8  unb  ©fopaS,  ebenfo  wie  mit  ben  Knaben  beS  8pfioS: 
eS  finb  JRepräfentanten  ber  im  ©ienfte  einer  ©ott^eit  ftehenben 
©attung  Bon  Snbioibuen  unb  biefet  geweift,  gehören  alfo  in 
jenen  älteren  ÄreiS  beS  ©enreS,  baS  Bon  einem  beftimmten  äu* 
feeren  S3eguge  noch  nicht  frei  ift. 

33on  SBerfen  bet  SRalerei  finb  wir  burd?  bie  befannte  „SH* 
bobranbinifdje  ^ochgeit"  im  23efifee  einer  Gompofition,  bie  wahr* 
fcfeeinlich  ned)  ber  erften  .Ipälfte  beS  4.  3ahth-  angehört.*0) 
©aS  3utereffe  beS  trefflichen  SSerfS  gipfelt  in  ber  gegenfäfelidjen 
Spannung  gwifchen  ber  fdjüdjtern  ängftlichen  33raut  unb  bem  er* 
0») 


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53 


»artungSnell  fyartenben  3üngling.  SDet  Äern  ift  alfo  gang  in 
baä  3nnen leben,  in  bie  (Stimmung  »erlegt.  £>ie  Unmittel* 
barfeit  ber  SDarftellung , mo  jebe  Serien  jo  gang  oon  fiefj  unb 
ihrer  Aufgabe  erfüllt  ift,  bie  unS  fo  nab  berübrenbe  rein  menfeb* 
ließe  Raffung  beS  ©angen  ruft  einen  munberbar  batmenifeben 
©inbruef  im  Sefdfauer  ßetPot-  ©agegen  finben  mir  feßon  in 
ber  ^oeßgeit  ber  9tbo*ane  »on  Sietion  au8  bem  ©nbe  beS  4.  3abrb- 
jene  3Seräußerli<bung  in  pifante  Situation  unb  namentlich  bureb 
bie  gablreicben  ©roten  einen  allgemeinen  ©ebanfen,  baß  auch 
SlleranberS  betoifebe  Äraft  oon  Siebe  beftegt  fei,  furg  eine  fpie» 
lenbe  Sefcßäftigung  beS  SerftanbeS  ftatt  unmittelbarem 
©rgreifen  ber  fBMtempfinbung. 

©inen  unenblicben  fReiebtßum  »on  5£>arftellungen  auS  bem 
SlUtagSleben  bieten  unS  bie  fo  gablreicben  Safenbilber;  mit 
fönnen  fie  babet  hier  nur  gang  im  ©roßen  nach  ben  $aupt* 
gegenftänben  unb  ^auptrießtungen  betrachten;  benn  ein  ©ingeben 
in  baS  b*Et  fo  unenblicße  fDetail  mürbe  ein  eigenes  Such  erfot* 
bern.  — 2Bit  faffen  gunäcßft  in  eine  ältere  ©ruppe  bie  Silber  beS  fog. 
ftrengen  unb  beS  gwat  frei  feßönen  aber  noch  gemäßigten 
Stils  gufammen.  SSaren  in  ber  nötigen  fPetiobe  äftieg  unb 
Äampf  ^auptgegenftanb , fo  tritt  bieS  jeßt  gurücf  unb  eS  wiegt 
bie  |)aläftra,  bie  ©arftetlung  ber  gpmnifcßen  Uebungen  unb 
SSettfämpfe  weitaus  oor.  Ueberßaupt  ift  ber  Serfeßt  ber  BJiän* 
net  unb  3ünglinge  unter  ficb  unb  miteinanber  ber  beliebtefte  @e» 
genftanb,  wo  auch  erotifebe  33egießungen  häufig  beroortreten; 
aber  auch  mufifebe  Sefcbäftigungen , Singen,  Seiet*  unb  ^lö* 
tenfpiel,  baS  Sernen  ber  25i<bter  bureb  bie  3ugenb  wirb  oft  bar» 
gefteüt;  ebenfo  bet  ÄomoS,  b.  ß.  baS  nächtliche  Schwärmen 
nach  einem  ©elage,  unb  noch  öfter  biefe  ©elage  felbft,  wo  man 
nicht  feiten  beftimmte  Flamen,  oft  oen  berühmten  SDicbtern  unb 

(19S) 


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54 


5Rufifern  beifdjteibt,61)  um  ber  allgemeinen  IDarftellung  einen 
inbioibueOeten  9iet3  gu  geben  — ein  ©ebraucp,  bet  in  biefer 
Beit  fe^r  beliebt  ift,  unb  auch  bei  ben  ntc^t  feltnen  ©arftellungen 
»cn  SDpferfcenen  oorfommt.6*)  2)a6  gtaucnleben  tritt 
im  Allgemeinen  noch  feljr  jurüdf,  bod)  wirb  e8  häufiger  mit  ber 
guneßmenben  greißeit  beö  @til$.  SDic  £ocb3eit  wirb  jeßt  meift 
nidjt  mehr  in  ber  früheren  feierlichen  Seife  ju  Sagen  bärge» 
ftellt,  feitbcrn  man  legt  baä  ©ewidßt  auf  innerliche  SJiomente 
unb  bie  3a9^aftigfeit  ber  betmgefüßrten  ©raut  ift  ba?  .fpaupt* 
intereffe.  Um  bie  Siebe  eine«  SünglingS  gegen  ein  SKabcfaen 
3U  t^eicßnen,  bat  man  ben  fcljr  beliebten  SpputS  ber  ©erfol* 
8 ii  n g , ber  in  gan3  gleicher  Seife  aud)  gur  IDarftellung  ber 
Siebfcßaften  bet  ©etter  unb  Heroen  bient.  Aud)  bie  5)arfteflun= 
gen  ber  3agb  werben  mandbmal  burd;  ^injufügung  ßeroifchet 
tarnen  in  baö  ibeale  ©ebiet  geriidft,  ebne  bodj  beftimmte  mp» 
tßologifdje  Scenen  barftellen  gu  wellen.6*)  @eßr  häufig  f<h«t* 
bert  man  ben  Abfdbieb  ber  jungen  fDlänner  eon  ißren  ©Itern, 
becb  nicht  mehr  in  ber  alten  pomphaft  äußerlichen  Seife  be8 
AuSgugö  3U  Sagen ; eielmebr  ift  aud)  hier  ein  neuer  $ppu6  ge» 
funben,  ber  bie  gemütblichen  ©tomente  beroorbebt.  3n  ber  fRe* 
gel  uemlich  bietet  Butter  ober  ©cßwefter  ober  ©raut  bem  ©cßei* 
benbcn  ben  Abfcßiebötrunf,  waßtenb  ber  alte  ©ater  ©rmaßnungcn 
mit  auf  ben  Seg  giebt.  SDiefer  allgemeine,  unendlich  »ariirte 
£ppu$,  bem  man  mitunter  beliebige  Flamen  beifchreibt,64)  ift 
and)  für  bie  SDarftcDung  aller  mptbologifcben  Abfdßiebef  eenen 
buteßauö  maßgebend  Ueberbaupt  ift  bie  .^errfeßaft  beö  5£ppi» 
feßen,  nach  bem  ©ottlicheö  wie  ©lenfcßlicbeö  gleichmäßig  ge* 
ftaltet  wirb,  in  biefer  fPeriobe  noch  »on  größter  Auöbeßnung; 
auf  ißre  Gjntfteßung  auö  jener  älteften  3«it  ber  rein  menfcßlicben 
.Runft  würbe  früher  ßingewiefen;  fie  fteüte  ben  ©runbfaß  feft, 

(194) 


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55 


auf  ben  feie  gange  griedjtfdje  Äunft  ftd^  ftüfct:  nicht  bie  ©ott* 
l?eit  gu  oermenfchlichen,  fonbern,  tote  unfet  fDtotto  treffenb 
fagt,  ben  SNenfchen  gu  oergöttern:  nicht  baS  Unfaßbar» 
llnenblicbe  »iß  fie  herabgiehen,  befcpränfen,  nicht  mit  bem  3nber 
bag  göttliche  SBefen  in  oielatmigeu,  oielföpfigen  Ungeheuern  auS» 
gubtücfen  fudjen,  nic^t  ber  begmatifch=religiöfc  Snljalt,  fonbern 
baS  einfach  €0?enfdhlicE>e  ift  erfteS  Biel  ber  griechifchen  -Jfunft,  ba8 
menfchlicfce  SBefen,  2hl»n  unb  Reiben,  bieö  ift  eS,  baS  bie  Äunft 
gum  3beal  geftaltet.  3Ba8  ift  bem  Äünftler  3eu8  anberS  als 
Äönig  unb  Sater  ober  5)emeter  anberS  als  mehmüthige  SJtutter, 
ihres  ÄinbeS  beraubt?  SDeS^alb  beginnt  bie  ^ellemfdhc  Äunft 
mit  bem  ©eure  unb  am  rein  SfJtenfchlichen  bitbet  fie  fich  bie 
2ppen,  benen  ber  motljifche,  göttliche  3nhalt  ftd?  gu  fügen  hat. 
Slm  ©ingange  ber  fthulmäfjigen  ©ntwicflung  ber  $)lafti!  in  ©rie« 
hentanb  flehen  jene  ätteften  tSpotlofiguren  (non  £enea,  Drcho« 
menoS  u.  f.  m.):  »®n8  »iß  in  ihnen  ber  Äünftler  anberS,  als 
einmal  ben  mefentlidjen  Sau  eines  ruhigen  nacften  93tenfd)en, 
fo  gut  er  eS  oermag,  barguftetten?  3ebe  anbere,  barbarifche 
Äunft  aber  hätte  hier  baS  bogmatifche  SBefen  beS  ©ottcS,  fei 
eS  burch  einen  S£l?ieTfcpf  ober  fonft  eine  Ntonftruofität  auSgu* 
brücfen  gefugt:  allein  unb  guerft  ber -fjellene  toagt  eS,  benSOten* 
fhen  gum  ©otte  gu  erheben.  — 

35 och,  um  Su  unfern  Safen  gurüdgulehren,  fo  tritt  eben  in 
ber  SluSbilbung  jener  feften,  allgemeinen,  für  ©ötter  toie  2Jicn* 
fhen  geltenben  Sippen  bie  burdjauS  ibeale  fftidf'tung  beS  fünf« 
ten  3ahrh-  in»  ©egenfafce  gur  fpöteren  3eit  am  llarften  hereor; 
benn  nicht  bie  febeSmal  neue  Nachahmung  eines  ©ingelfaftumS 
toirb  unS  geboten,  fonbern  bie  3)arftellung  eines  auS  biefen  ©in« 
gelfalten  bereits  abftrahirten  gemeinfamen  üppuS. 

(19J) 


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56 


5(18  jweite  #auptgruppe  überblicfen  nur  bie  Silber  be8  fpä» 
teren,  malerifcheu  (Stils , bet  nach  bei»  jpauptfunborte  auch 
als  unteritalijch  begeit^net  ju  werben  pflegt.  35a8  (Recht,  biefe 
Söetfe,  bie  wir  nach  ber  gewöhnlichen  Stnfic^t  erft  in  ber  folgen» 
ben  $)eriobe  $u  betrauten  Ratten,  fchon  Ijier  jur  Seranjchau» 
lichung  »orhelleniftifchet  Äunft,  namentlich  be8  4.  3al)th-  herbei» 
jugiehen,  h^e  i<h  in  einer  anbern  Schrift  („SroS  in  ber  Safeu» 
tnalerei."  SJlnnchen  1875)  ju  erweifen  gefucht.  35a  ba8  .panb» 
wer!  bet  groben  Äunft  immer  in  beträchtlicher  (Entfernung  folgt, 
fo  treffen  wir  auch  in  ben  zeitlich  fpäteren  Safen  frühere  (Rieh» 
tungen  wirfjam. 

3m  ©egenfajje  ju  ber  oorigen  ©ruppe  ift  hier  bie  2)arftel» 
lung  be8  grauenlebenS  ber  weitaus  übetwiegenbe  unb  belieb» 
tefte  ©egenftanb.  Sille  Sefchäftigungen  ber  aRäbdjen  werben 
bargeftedt,  befonberö  aber  bie  Toilette,  ba8  Sab  unb  ihre  barm* 
lojen  Spiele;  aber  ber  eigentliche  Slngelpunft  adc8  weiblichen 
SBefenS  bleibt  immer  bie  2iebe,  wie  benn  (Ero8  ber  ftänbige 
Segleiter  ber  SOiäbchen  ift  unb  2iebe8fcenen  au8  betn  Ser* 
lehre  mit  ben  SOiännetn  unzählige  SDRale  bargeftellt  werben. 
iDiefe  Sorliebe  für  ba8  grauenleben  ftimmt  »odfommen  überein 
mit  ber  SRidjtung  be8  $)ra;ritele8 , ber  ja  auch  hie  weibliche  Sin* 
muti)  gum  ©egenftanbe  mehrerer  SBetfe  machte.  — Sor  biefer 
junehmenben  Söeichlichleit  oerjchminben  bie  35arftellungen  ber 
^aläftra  unb  ©pmnaftif  faft  ganj;  wohl  aber  finb  Silber  ber 
©efage  bet  SRänner  noch  häufig,  hoch  fpielen  auch  babei  je$t 
bie  erotifchen  Schiebungen  3U  ben  (Diäbchen  eine  jpauptrode.  — 

©ine  intereffante  ©attung  finb  bie  Slttifchen  ©rablefp* 
theu,65)  ©efäfje  für  bie  Üobteu mit  hierauf  bejüglichen  SDarftedun» 
geu.  Söährenb  bie  älteren  ftrengeren  Silber  nur  ben  .pauptoorgang, 
eutweber  bie  Älage  um  bie  auSgefteliteu  lobten  ober  bie  Se» 

(1%) 


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57 


flattung  barfteQen,  geigen  bie  fpäteren  auch  ^ict  einen  milberen, 
anmutigeren  üppuS,  inbem  weiblich  garte  gürforge,  ja  fogat 
8iebe8 oex^ä ltni ff c baß  .pauptintereffe  bieten.  9Jtau  fteüt  nemlid) 
bat,  wie  bie  ÜJläbchen  baß  ©rabmal  mit  ©inbeu  jchmütfen  unb 
burdj  ©penben  ben  Sobten  ehren;  oft  fommt  ein  manbetnber 
Süngling  h«$u  unb  fragt  baß  SDRäbdjen  nach  bem  SSerftorbenen, 
woburdj  gefdjirft  ber  9iad)ruhm  angebeutet  wirb,  aber  auch  bie 
Slnfnüpfung  non  Sicbeöüerljältniffen  unter  ben  beiben  jungen 
Leuten  nicht  außgefd)loffen  ift. 

©ine  anbere  ©attung  wirb  burd)  fleine  unb  gierliche  ©e* 
fäfce  gebilbet,  bie,  meift  für  .Rinbet  beftimmt , auch  itjre  55at* 
ftetlungeu  bem  Äinbetleben  entnehmen.  5)ie  Äinber  (faft 
nur  Änaben,  weld)e  bie  antife  Äunft  überhaupt  oor  ben  weib* 
liefen  .Rinbern  aufß  entfehiebenfte  beoorgugte)  fauern  unb  frieren 
auf  bem  33oben  ober  fpieten  mit  bem  SSägeldjen,  einem  Ä'ruge, 
Stpfel,  (pünbdjen  u.  bgl.66)  SBir  werben  lebhaft  an  jene  23ilb* 
d)en  beß  $)aufiaß  mit  ben  „Rnaben"  erinnert.  Berner  oerge* 
genwärtigen  unß  biefelbe  Dichtung  gasreiche  fleine  Serracotta* 
figütdjen,  bie  in  ^armloß  einfacher  SÖeife  bie  .Rinbet  meift  mit 
ihren  fiieblingß  Rieten  befefjäftigt  barfteUen.67) 

^Dergleichen  wir  nun  bie  g ei  ft  i ge  Sluffafjung  unb  33e* 
hanblungßart  jener  SDafenbilber  beß  malerischen  ©tilß  mit  ben 
älteren,  |o  machen  fidj  hier  wesentliche  33erjchiebenheiten  fühlbar: 
cot  Sillen  treffen  wir  eine  bebeutenbe  Senbeng  gut  SSerallge» 
meinerung,  he^orgegangen  auß  jenem  fdjon  mehrmals  berühr* 
ten  Streben  nach  pfpthologifdjer  fERotioirung  beß  2)argefteUten. 
SRamentlich  bient  bie  fo  ungemein  beliebte  ©infühtung  beß  ©roß 
in  bie  ©eenen  beß  gewöhnlichen  £ebenß  bagu,  tiefen  einen  all* 
gemeineren  ©harafter  gu  oerleihen,  ©in  33eifpiel  biene  gut  SBer* 
eutlibchung:  mehrere  altertümliche  SDajen68)  ftellcn  Brauen  bar, 

(19T) 


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58 


bie  ein  SDoudjebab  nehmen,  unb  wie  lebenbig,  braftifd)  unb  in» 
bioibuell  ift  ^ier  jebe  ^Bewegung,  baß  Sieiben  unb  gegen  bet 
non  reichem  SBafferftrahl  erquicften  ©lieber,  wie  baß  Stußwinben 
bet  triefenben  |)aare!  Sergeblich  {uc^en  wir  in  ben  fo  gabt* 
reichen  fpäteren  Sabejceuen  nach  ähnlichen  lebenbigeu  ÜJiott'pen; 
ba  ift  alle§  niel  allgemeiner  unb  man  fiel)!,  baß  nicht  mehr  bie 
bloße  äußerliche  ^janblung  baß  3ntereffe  beanfprucht , fonbern 
mehr  bie  gu  ©runbe  liegenben  allgemeinen  ©ebnnfen  unb 
Stimmungen : namentlich  bnreh  ©roß  werben  bie  ©über  gu  einet 
allgemeinen  Serherrlichung  weiblicher  Schönheit.  3a  fch on  im 
gang  \Meufeerlidjen  geigt  fid}  biefe  Serfchiebeuheit  ber  SÄuffaffung: 
Waßrenb  auf  ben  älteren  Sajcn  bie  £anblung  immer  in  einem 
burdj  gasreiche  ©eräthe  an  ber  SBanb  unb  bie  gange  9tußftat» 
tung  inbimbuell  djarafterifirten  fftaume  uor  fich  geht,  finbet  fich 
in  ben  fpäteren  »iel  mehr  Spmbolitdjeß  unb  9lnbeutungßtrei[eß; 
bie  giguren  fißen  fehr  oft  einfad)  in  ber  guft  unb  bie  aDge« 
meinen,  nichtßfagenben  Äränge  ober  Sterne  erjeßen  jene  inbioi» 
buelle  Slußftattung  ber  SBänbe.  3Mefe  Stiftung  aufß  SlUge» 
meine,  bie  befonberß  bcutlid)  noch  in  einer  JReihe  »on  Stilette* 
feenen  l)ert>crtritt , bie  eigentlich  eine  geier  ber  grauenfchönbfft 
überhaupt  begweefen,  erreicht  nun  ihre  höchfte  Steigerung,  wenn 
ber  allgemeine  ©etjalt  bet  IDarfteUung  burd)  3nfchriften,  bie 
Segriffe  begeichnen,  angebeutet  wirb.69)  — 3m  3ufammen* 
hange  bamit  fteßt  baß  aDmälige  Serfdjwinben  beß  Shpifcßen, 
baß  früher  eine  fo  bebeutenbe  ^etrfdjaft  außgeübt  hatte.  @ c 
gewinnen  wir  einen  neuen  begeidjnenben  ©egenfaß  gur  älteren 
©ruppe:  bort  wirb  ein  allgemeiner,  feftcr  SEppuß  burd)  3n* 
fchriften  inbioibualifirt,  h iw  wirb  ein  beliebig  ©ingelneß 
eben  baburch  »erallgemeinert,  bort  nur  reine  2)arfteDung 
einer  J^anblung,  h*er  foH  ned)  «in  ©ebanfe  h«b»dreten.  @o 

(!»S> 


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59 


Betbünben  ftch  5)langel  an  ibealer  ©eftaltungSfraft  unb  ein 
Heberwiegen  non  aufcerhatb  beS  ©egenftanbeS  liegenben  aUge* 
meinen  ©ebanfen,  um  bie  Äunft  allmäljlig  »on  berjenigen  $öhe 
herabgugieben , ber  — gang  wie  in  ber  $)oefie  — nur  bie  un* 
mittelbare,  reine,  gwecflofe  SDarftellung  unb  ©eftaltung  eines 
©egenftanbeS  f e 1 b ft  baS  3iel  ift,  einer  £6l)e,  bie  freilit^  nur 
bie  3ett  beS  fPhibiaS  inne  batte.  25ie  IBafenbilbtr  aber  geben 
un§  eine  reiche  Slnfchauung  een  ber  langfam  gerftörenben  SBir» 
fung  jener  Elemente , woburd)  mir  eine  törücfe  gur  folgenben 
tjetTeniftx jcben  ^eriobe  gewinnen. 

9iut  gang  furg  fei  bie  33eränberung  ber  Sluffaffung  mptho  = 
logijdur  (Stoffe  burd)  bie  fpätern  SBafen  angcbeulet.  ©urdj 
bie  »er  allem  nad)  SluSbrucf  ber  pfndjologifchen  fDlotiee  ftrebenbe 
Stuffaffung  werben  auch  fie  immer  allgemeiner  unb  nähern  ftd) 
bem  ©enre;  bie  ©ingelhanblung  wirb  gu  einer  allgemein  menfch* 
Heben  unb  mufe  als  ffolie  eines  allgemeinen  ©ebanfenS  bienen, 
teaS  man  befonberS  burch  ©tufühtung  uerfdnebener,  nicht  ftreng 
gur  ^»anblung  gehöriger  ©ottbeiten  gu  erreichen  f «d>t,  non  benen 
manche,  wie  Slpbrobite,  ©«8  unb  bie  ©rinnen  meift  nur  $>er* 
fonififationen  pfpchifcher  91  ffefte  fein  feilen,  ©benfo  bienen  gur 
Seratlgemeinerung  jene  bie  freie  Slatur  begeiefanenben  ©atprn 
unb  aud)  bie  een  nun  an  fo  häufigen  Slmmen  unb  S)äbagegen. 
SSiele  ®arftellungen,  wie  bie  beS  S)ariSurtheilS  eher  beT  Sofage 
fprechen  jefct  beutlich  ben  allgemeinen  ©ebanfen  eines  Triumphs 
bet  giebe  aus.  9Xm  weiteften  in  biefer  Dichtung  gunt  ©ente 
geht  aber  eine  Stofe  auS  ÄameiroS  in  fRh°beS,  bie  bureb  bie 
Kühnheit,  mit  ber  fie  beu  Stoff  geftaltet,  ber  großen  Äunft 
näher  fteht,  als  bie  übrigen;  fie  wagt  eS  nemlich,  mit  ber 
feften  Urabition  gu  brechen,  nur  um  ein  neues,  veigenbeS  fOfotie 
gu  gewinnen.  SluS  bem  früher  in  aller  mpthologifchen  Söunber* 

(199) 


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60 


barfeit  bargeftellten  Kampfe  be8  $)eleu8  mit  bet  fidj  »erroan* 
belnben  Sl^etiS  macht  fte  eine  Uebervafchung  babenbet  fjftäbdhen 
burdf  ben  giebenben.  — 25afe  eine  »erwanbte  fRidjtung  tu  bet 
gro&en  Äunft  fd)on  frühe  angefdjlagen  »utbe,  jeigt  un8  BeupiS, 
bet  beutlidj  nach  23eratlgemeinerung  bet  (\^araftete  ftrebt  uub 
in  biefem  ©imte  au8  bet  Srabition  neue  Situationen  heraus* 
arbeitet.  Stuf  bie  Süafen  fcheint  biefe  fRidjtung  be8  3eupi8  »ou 
gtofcem  ©influfj  gewefen  gu  fein,  toenn  auch  bie  fühne  (£onfe* 
quenj  be§  obigen  S?eifpiel8  ju  ben  Ausnahmen  gehört.  25och  in 
einet  unfern  93afen  »ollfommen  entfprechenben  SBeife  genügte 
fdjon  Striftophon,  ber  jüngere  SSruber  beö  $)olpgnot,  bem  bereits 
allgemeinen  23ebürfnifj  nach  pfpthologifdjet  SJtotiuirung.70)  25a* 
gegen  fonnte  9>arrhafio8  mit  feiner  feinen  inbioibuellen  G^haraf* 
teriftif-  für  bie  SBafenbilbet  »on  feinem  ©influffe  fein. 

SEBir  fönnen  biefe  $)eriobe  nic^t  oerlaffen,  ohne  noch  ein 

SBort  ju  fagen  über  bie  JHttifdjen  ©rabbenfmäler,  beten 

fcfaönfte  Sippen  ja  au8  bem  ©nbe  be8  5.  uttb  bem  4.  3ahrh- 

ftammen.  ©ie  gehören  infofern  hieher<  als  alles  $)ortrathafte 

fehlt,  uietmehr  bie 2)arftetlungen  git  allgemeinenGharafter* 

bilbern  be8  menfdtlichen  SöefenS  nach  ©efchledjt, 

Sllter  ober  2^  efchaftigung  oerallgemeinert  finb.  @o  rnirb 

bet  einer  $rau  balb  ihre  ©djönheit,  inbem  fie  fich  fchmücft, 

halb  ihr  SJlutterfein,  inbem  fte  ihr  Ä'inb  ^erjt,  balb  il)re  gami* 

lientreue,  inbem  fie  bem  ©emahle  burd?  .jpattbfchlag  al8  ewig 

oerbttnben  erfcheint,  als  ihr  SBefen  be$eichnenb  herausgehoben. 

©bcnfo  bei  SOtännern  unb  Süngliugen,  bie  balb  mufifchen,  balb 

gpmnaftifcbeit  Sßefcbaftigungen  ergeben  etfd)einen.  lieber  2lllem 

aber  liegt  ein  ^pauch  ber  SSehmutl},  ber  an  bie  tüergänglichfeit 

be8  Srbifdjen  erinnert,  ber  un8  jebod>  nicht  verleiten  barf,  in 
(100) 


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61 


liefen  nur  baß  SBefen  beß  SBerftorbenen,  nidjt  feinen  ©ob  bar* 
fteflenben  ©enfmälern  .jufaßig  momentane  ©eenen,  feinen  Ab* 
fc^ieb  nom  Leben  u.  bgl.  gu  erfennen,  mie  bieß  bei  unfrer  mo* 
lernen  Steigung  gu  momentan  realiftifdber  Auffaffung  oft  ge* 
fdjieht71) 


@o  ftnb  mir  benn  enblidj  bei  ber  ©ntwitflung  angelangt, 
anf  bie  unß  fdjon  fo  SDtandjeß  oorbereitenb  Ijinwieß,  bei  ber 
hellen  iftifdjen,  nadj  Alejcanbet  unter  ber  £errfdjaft  bet  ©ia* 
bodjen  geübten  Äunft.  ©a§  ©enre  gelangt  burdj  fie  gu  einer 
neuen,  bebeutungßnoflen  ©ntwidflung,  inbem  eß  non  aßen  ©eiten 
burdj  bie  fidj  ueu  begrünbenben  3uftänbe  unb  Anfdjauungen 
begünftigt  »arb.  93or  ABem  gefdjalj  baß  burdj  bie  fid?  immer 
meljr  ooügieljenbe  3«fe$ung  unb  Auflöfung  ber  ^Religion,  bie, 
gwar  fdjon  non  ben  ©Driften  »orbereitet,  bodj  erft  jefct  in 
einem  ©uemeroß  (um  300  o.  S^r.),  bet  fiiljn  aße  ©öltet  für 
witflidje  tjiftorifdje  SJtenfdjen  erflärte  unb  mit  biefet  Sietjre  non 
größtem  ©inßuffe  war,  iljre  »oße  £6lje  erreicht.  ©ie  teligiöfe 
Sebeutung  unb  baß  SSefen  bet  alten  ©Otter  unb  SJtptljen,  bie 
corbem  bie  Äunft  mit  reidjem  Snljalt  fußte,  tonnte  jefjt  biefe 
S3ebeutung  nidjt  mehr  beanfprudjen ; nielmeljt  wie  audj  in  ber 
Literatur  bie  nom  alten  33otfßglauben  getragenen  ^auptgattungen, 
baß  ©poß  unb  bie  ©ragöbie  »etfdjwanben , um  ber  gelehrten 
©idjtung  eine«  Äaßimadjoß  $>lafj  gu  madjen,  bie  nur  nodj  „bie 
Beinen  Stammen  beß  ©emüt^ßlebenß , ber  populären  ©eleljrfam* 
teit,  ber  @enre»33ilber  auß  Antiquitäten  unb  SJlptljen"  (SBern* 
batbö)  außfüßte:  fo  weichen  auch  in  bet  Äunft  bie  großen,  auß 
bem  aßgemeinen  religiöfen  23ewu§tfein  geftalteten  Schöpfungen 
ben  inbinibueßen  Liebhabereien  ber  Zünftler,  bie,  nicht  mehr  an 

baß  SBolf,  nur  an  ben  Äreiß  ber  „©ebilbeten"  fidh  wenbenb,  mit 

(801) 


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62 


ihrer  Subjeftioität  (gffeft  gu  machen  ftreben.  Unb  bähet  fam 
eS,  ba§  man,  wie  mir  fdjon  früher  bei  Sofipp  gu  betrachten 
(Gelegenheit  hatten,  bei  ©ötterbilbungen,  ftatt  ihr  teligiöfeä 
Söefen  barguftellen,  jefst  Bielmehr  ihnen  eine  gufäüige  ©rtegung, 
eine  momentane,  menfchlich  intereffante  Situation  gu  geben 
fudhte.  ©benfo  wählte  man  fi<h  in  ber  ©arftellung  mt>ttjifc^cr 
Stoffe,  ftatt  ben  eigentlichen  ätern  berfelben  gu  treffen,  mit  Sor* 
liebe  irgenb  eine  allgemein  tnenfcbliche,  empftnbnngäBoHe  Situa* 
tion  auö,  gu  bet  bann  ber  9)lothn8  nur  bie  §olie  bilbet.  35ie 
Gantpanifchen  SBanbbilber  bieten  gahlreiche  Seifpiele  bet 
3lrt,72)  wo  nicht  eine  £anb(ung,  fonbern  ein  3uftanb,  eine  all» 
gemeine  Gmpfinbung  ohne  mnthifche  Sebeutung  bargefteUt  wirb; 
wie  wenn  ber  bei  ülbmet  bienenbe  Slpoll  bie  Seiet  fpielt  unb 
jener  al8  ^)irte  ihm  laufest,  wenn  $)ati8  auf  bem  3ba  feine 
beerben  weibet,  wenn  9lboni8  bei  Slphrobite  rul)t,  Gtnbpmion 
fchlafenb  baliegt,  SarfiffoS  in  traumerifche  Siebe  oetfunfen  am 
Sache  ruhenb  liegt,  wenn  9)erfeu8  unb  3lnbtomeba  liebenereint 
ba8  im  STBaffer  fich  fpiegelnbe  fDlebufenhaupt  betrachten,  ober 
wenn  gar  (Spott  ein  fBläbd&en  auf  feinem  Schoofje  im  .Rithnt* 
fpiel  unterweift,  ober  Sterin  im  Bette  bei  $)atroflo8  unb  gwei 
SDtäbchen  fich  mit  ÜJlufif  unterhalt,  ober  $)ati8  al8  echter  Ser* 
liebtet  ben  tttamen  feiner  Oinone  in  einen  Stein  tratst  u.  31. 
9lo 6)  auf  ben  Safenbilbern  fommen  berartige  SDarftettungen 
nicht  not,  obwohl  fich  gerabe  in  ben  jpaiern  Safen  ein  Uebet* 
gang  hiegu  nachweifen  läfjt : ihr  Streben  nach  Setallgemeinerung, 
il)t  ©utdjbenfen  ber  Stoffe  oom  |>ft>dhologifdhen , allgemein* 
tnenfchlichen  Stanbpunfte  au8,  ba8  fie  gwat  bagu  führte,  au8 
ber  Jpanblung  einen  allgemeinen  (Gebanfen  hrrar^äaentwicfeln, 
aber  nie  fo,  bah  Äern  unb  Söefen  eines  beftimmten  mpthifch611 

SorgaugS  barunter  litten  ober  gar  ignorirt  worben  wären  — 

(202) 


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63 


all  bie8  mufjte  »orangenen , um  jene  Steigerung  in  ben  l)elleni» 
•djen  Silbern  möglich  gu  machen,  bie  einem  allgemeinen  ©ente* 
metin  gu  Siebe  auf  ©arftetlung  be8  JfernS  ber  Sage  üergid)ten. 

2>a§  nun  aber  eine  foldje  SRidjtuug  ber  Äunft  bem  ©eure 
überhaupt  ben  größten  33orfd)ub  leiften  mu§te,  ift  flar.  Unter 
ben  bie  Slrt  biefeS  neuen  ©enteS  beftimmenbeu  Betören  aber 
gebührt  bem  immer  weiter  gveifenben  9teali8mu8  bie  erfte 
Stelle:  bie  in  biefer  ßeit  ermattete  unb  erjdjlaffte  ibeale  ®e* 
ftaltungöfraft  fteigt  fyetab  gnm  Unmittelbar*2Birf  liefen  unb  et* 
greift  bieö  in  all  feiner  gufälligen  9leufjerlid)feit.  @8  ift  biefelbe 
(Sntwicflung,  wie  in  bet  9>l)ilofopl}ie  unb  5Biffenfd)aft:  nacfjbem 
bie  Sopfyiftif  aOeö  9llte,  burdj  Ueberlieferung  @el)eiligte  in  grage 
geftedt  unb  ein  neues  tDurdjarbeiten  unb  ©iotii'iren  oon  innen 
ijetauS  neranlafct  batte,  fo  fielet  man  jefct  erft,  wie  wichtig  bie 
©rforjdjung  ber  realen  2Birftid?feit  ift  unb  ftrebt  jetjt  Bor  9t dem 
nach  empirifd)  pofitioen  Äenntniffen  unb  fBiajrimen  für'8  praf* 
tifd^e  Seben. 

3n  ber  .funft  fa^en  wir  fcfyon  Spfipp  mit  biefem  -£>erab* 
fteigen  gum  äßirflidjen  »orangenen,  tiid^t  minber  ben  SRaler 
tSntipfyiloS,  beffen  @influ§  für  bie  golgegeit  Bon  größter  Sebeu* 
tung  war;  benu  baff  e8  getabe  bie  jefct  aufblü^enbe  Äabinetö» 
malerei  war,  bie,  bem  SlntipfyiloS  folgenb,  jenen  SRealiSmuS  gut 
fjödjften  5Ku8bilbung  führte,  liegt  in  ber  SRatur  biefeö  Äunft* 
gWeigeS.  So  hören  wir  Bon  einem  ^fjili8!o8,  ber  ein 
SJlaleratelier  unb  barin  einen  ba8  gener  anblafenben  Änaben, 
alfo  ein  jenem  SBerte  beS  SntipbiloS  fe^r  BerwanbteS  33ilb  malte, 
bei  bem  bet  Sicfyteffeft  unb  bie  realiftifdje  Umgebung  ba8  3nter* 
effe  auSmadjte.  SimoS73)  ferner  ftellte  eine  SBalferwerfftätte 
bat,  wo  man  gerabe  geiertag  machte;  Qtttjenicn  malt  einen  3ieit* 
fnedjt  mit  bem  ^fetfce,  SftealfeS  etwas  9lel)nlid)e8:  einen  SJtann 

(203) 


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64 


ber  burcfa  ©cbnalgen  ein  §)ferb  gu  befänfttgen  unb  guriidgubalten 
fuchte,  geonti8fo8  enblid)  malt  eine  £arfeniftin.  SBäbrenb  jebod) 
biefe  fötaler  fi<b  auch  noch  auf  anbern  ©ebieten  betätigen,  fo 
giet}t  $>eirciifog  bie  lefcte  ßonfequeng  au8  ®ntipl}ilo8  Dichtung, 
inbem  er  ficb  auSfcbliefjlich  auf  biefe  Äleinmalerei  ber  unbefceu» 
tenbften,  niebrigften  ©egenftänbe  warf;  in  tecbnifd}  be<hfter  SeQ* 
enbung  malte  er  Barbierftuben  unb  ©chufterwerf  ftätten , ferner 
©felein  unb  auch  blofjeS  ©tillleben,  wie  ©fjwerf  unb  9lebnlicbe8. 
SDiefclbe  ©rfcbeinung  finben  wir  auch  in  einem  anbern  Äunft* 
Treife : bet  Galater  §>t)tbea8  cifetürt  an  flehten  Srinfbetbern 
Figuren  non  bedien  unb  allerlei  berartigem  auf  ©ffen  unb 
ütrinfen  Següglichem.  3wat  ift  un8  bie  3eit  biefeö  ÄünftlerS 
nicht  überliefert,  bod)  fann  er,  allen  Analogien  gufolge,  nicht 
ftüber  als  in  bie  beöenifche  9>eriebe  gefegt  werben. 

Unter  ben  erhaltenen  SBerfen  fommen  biefer  ^Richtung  einige 
ber  nor  nicht  langer  Seit  in  Sanagra  in  Söotien  gefunbenen 
Serrafotten,  namentlich  bie  gwei  in  ber  Slrchäolog.  3eitung  1874 
t.  14  publigirten  Statuetten,  »oit  benen  bie  eine  wabrfcheinlich 
einen  Söder75*)  barfteflt,  ber,  auf  einem  niebrigen  ©teine  fifjenb, 
feeben  etwa?  gu  fRoftenbeS  auf  einen  fleinen,  übet  glütjenben 
Äefylen  ftebenben  fWoft  legt,  wäbtenb  et  auf  ben  Änieen  ba8 
Brett  hält,  auf  bem  er  bie  Brebe  formt;  er  felbft  ift  bei  bem 
heifjen  ©efchäfte  gang  unbefleibet  unb  eifrig  in  feine  Arbeit  net« 
tieft.  Gbenfo  au8  niebern  ©tönben  unb  bem  alltäglichen  geben 
gegriffen  ift  ba8  gweite  ber  genannten  SBerfe,  baSfelbe  Shema 
befeanbelnb  wie  ^peiräifoS  in  feinen  Silben : ein  einfadjer,  ebt* 
famer  Bürger  läjjt  fi<h  bie  .fpaare  f^neiben;  er  bat  ficb,  nicht 
anber8  al8  bei  ttn8,  in  einen  langen  weiten  fötantel  gehüllt  unb 
fit}t  nun  ruhig  gebulbig  ba,  aber  nicht  in  fich  »erfüllten,  fonbern 
in  fteter  (Erwartung,  bis  ber  hinter  ihm  ftebenbe  ©flace  mit 

(204) 


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65 


bem  ©efcpäfte  fertig  fei;  bem  eilt  e8  aber  gar  nicht,  mit  ber 
faltblütigften  {Ruhe  fcbeert  er  bie  paare  nach  einanbet  ab;  in 
feinem  wohlgenährten,  »ollen,  gleichgültig  ftumpfen  ®efid)t  haben 
wir  wohl  ben  ed}ten  SppuS  eines  SöoterS,  wie  ihn  uns  bie 
Stilen  fcpilbern.  2)iefe  Schärfe  ber  ©harafteriftif,  biefe  bei  aller 
{Ruße  lebenbige  panblung  ift  aber  mit  ben  eiufachften  {Kitteln 
eneicht:  ber  Stil  hat  etwas  S)erbe8,  SolfSthümlicpeS,  namentlich 
finb  bie  etwas  gu  ftarfen  unb  großen  Strme  unb  Äöpfe  ju  be* 
metfen;  leßtere  zeichnen  ftd)  noch  befonberS  burch  ben  prächtigen, 
ecptgriecbifchen  Sdjäbelbau  auS.  Sluch  einige  anbre  ©tücfe  jenes 
Sunbefl  in  Slauagra  gehören  hieh*G  fo  ein  alter,  fahler  Settier, 
ber  ftch  auf  einen  berben  Sungen  ftü^t,  eine  alte  Slmme  mit 
einem  Säugling  u.  bgl.  Uebet  bie  Beit  ber  ©ntftehung  biefer 
SBerfe  läßt  fi«h  Ieibcr  nichts  ©ewiffeS  fagen;  boch  werben  fie 
fdjwerlich  in  »oralejranbrinifche  3eit  fallen,  wegen  beS  {Realismus, 
ber  feine  {Blotiöe  auS  bem  niebrigften  aBtäglidjften  geben  greift 
(eine  lofale  ©ntwitflung  fönnte  inbeß  SRancheS  antiäpirt  haben). 
SlnbrerfeitS  barf  man  fie  nicht  zu  weit  hinabrücfen,  ba  ihr  ganzer 
©harafter  auf  bie  gute  Äunftjeit  weift.  — 2>ie  erhaltenen  2Banb» 
bilber,  mehr  auf  anmuthi&e  flüchtige  ©eforation  berechnet,  als 
jnt  {Racpahmung  feinet  ©abinetSbilber  geeignet,  bieten  leibet 
nur  wenig  in  bie  befprochene  {Richtung  ©ehörigeS.  {Äußer  ben 
Zahlreichen  Stillleben  fann  man  etwa  h'«her  japtcn  baS  Silb 
eines  Sarbaren,  ber  mit  einet  petäre  z«ht,  bie  il)n  gu  Überliften 
fudjt;  ferner  bie  gang  realiftifch  gehaltnen  Silber,  bie  Schau» 
fpielet  unb  {JJtufifer  barfteBen,  ferner  bie  Äomöbienfcenen.  3n 
fehr  niebrig  charafteriftifcher  SBeife  finb  aud)  bie  ©emälbe  ge» 
halten,  bie  ($)pgmäen)  in  »erfchiebenen  panblungeit  beS 

täglichen  gebenS  barfteBen.74)  ©och  bie  ©ampanifepen  SBanb» 
bilber  foBten  ja  nur  einen  gefäfligen  Sdjmucf  ber  SBopnräume 

XU  245.  24«.  5 (SQi) 


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66 


bitten,  natürlidj  warfen  fte  ftd)  bafyer  mit  größerer  SBerliebe  auf 
bie  ibealiftrenben  Silber  ber  anmutigen  IRidjtuug,  bie  audj 
iljrer  flüdjtigen  befcraticen  Jesuit  meljr  entfprad^en.  SBir  ftn* 
ben  batjer  befonberS  junge  9Räbd?en  in  anfpredjenben , freunb* 
lidjen  Situationen  bargeftetlt;  Ijarte  unb  niebrige  üDarftetlungen 
aber  pflegt  biefe  anmutige  2)eforation8weife  meift  gu  ibealiftren, 
tnbem  fie  ©roten  unb$)f»d}en  gu  Prägern  berfelben  madjt;  benn 
biefe  fiub  bereits  fo  fetjr  atlen  motljologifdjeH  93egtiff8  entfleibet, 
bafe  man  ifynen  alle  meglidjen  täglidjen  ©efdjäfte  auferlegeu 
fonnte.75) 

33on  größerer  SSidjtigfei  jebod)  ift  eine  anbre  ©attung  be8 
©enre8,  bie  wir  als  bie  fpecififd)  tyelleni  fti  f dje  begeidjnen 
muffen,  ba  fie  eben  nur  au8  ben  3«ftänben  biefer  3e*t  ftdj  er* 
flären  läjjt.76)  2>ie  Umwanblung  ber  meiften  Staaten  in 
SRonardjien  fyatte  nemlidj  bie  weittragenbften  folgen.  Söar 
früher  jeber  {Bürger  ein  ganger  SRenfd)  unb  war  er  nur  um 
beS  Staates  willen  unb  burd)  ben  Staat  ben  er  regieren  Ijalf, 
ba,  fo  fällt  jejjt,  wo  ber  ©ingelne  ofyne  nähere  Scgiefyung  gut 
{Regierung  nur  auf  feine  $>ri»atintereffen  angewiefen  ift,  unb  fo* 
gar  foSmopolitifdje  Snfdjauungen  um  fid)  griffen,  alles  ©ewid)t 
auf  ba8  ©ingelinbioibuum , ba8,  um  fid)  gu  erhalten,  burd) 
größere  2hbeit8tl)eilung  fid)  immer  einfeitiger  auSbilben  mufjte; 
furg  e8  fonberten  fid)  bie  Serufe  ungleich  fdjärfer  als  früher, 
unb  man  ift  jejjt  nid)t  mefyr  in  erfter  Üinie  SRenfd)  unb  Bürger, 
foitbern  erft  Solbat,  Beamter,  ©elender  u.  f.  w.  55ie  ge* 
meinfame  IRidjtung  ber  Steile  gum  ©angen  t)at  aufs 
gehört,  jeber  ber  Steile  bilbet  fid)  für  fid)felbft  nad)  eigner 
Sßeife  au8unbe8  entfteljt  eine  feine  Sonberung  in  3nbi»ibua* 
litäten,  ein  Subje!tioi8mu8,  »on  bem  bie  frühere  3«t 

feine  Sltynuug  Ijatte  unb  ber  an  ba0  SRoberne  ftreift.  2)odj  ba8 

(20«) 


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67 


fRaturgefejj  legte  in  Seben  ben  $rieb,  fid)  gum  gangen  unb 
»ollen  SERenfchen  auSgubüben;  wirb  er  baran  bebinbert  butch  bic 
SJerhältniffe  — unb  bag  war  in  biefer  3«t  bet  j^all  — , jo  fühlt 
er  bieg  halb  fchmetglich  unb  aug  ber  tief  empfunbnen  Einfeitig« 
feit  ber  eignen  unharmonischen  !Hu8bilbung  entfpringt  eine  ©ehn« 
fudjt  nach  bem  wag  man  nicht  ift.  SDaber  erflärt  ficf)  bag 
Sntereffe,  bag  man  jejjt  an  anbern  ^Berufen  nimmt,  bag 
Sntereffe  an  anbern  fdjarf  ausgeprägten  Snbieibualitäten,  ba8 
wir  in  ber  Äunft  biefer  Seit  finben:  e8  ift  bet  5£rieb,  ba8  ein» 
feitige  ©elbft  aug  grembem  gu  ergangen.  — 2)e<h  wag  fehlte  ^iet 
am  meiften,  wo  bag  geben  ftd)  immer  mehr  in  großen  ©täbten 
fengentrirte  unb  bie  fogialen  IBerhältniffe  fid)  unfern  mobetnen 
näherten?  91  a tut  unb  Unfdjult  waten  aud)  hier  entwichen 
unb  nach  ihnen  «erlangte  man  feljnenb  gutücf.  ©o  ift  eg  S£bat* 
fache,  bafj  bag  fRaturgefühl  ber  fyeOeniftifdjen  3eit  eine  bebeutenbe 
©djweufung  gut  mobernen  fentimentalen  Sluffaffung  machte;77) 
bod)  am  beutlidjften  fpricht  für  jene  ©etynfudjt  ein  ganger  gite* 
raturgweig,  baö  3 b v>  1 1 , bag  feine  ©toffe  uorwiegenb  aug  ben 
niebern  greifen  bet  ganbleute,  Ritten,  Säger  unb  Sifchet  nimmt, 
bie,  aug  bem  Sufammenfyange  mit  bet  fRatur  noch  nicht  legge« 
riffen,  ben  überbilbeten  ©täbter  alg  SÖilb  beg  erfehnten,  einfad) 
natürlieben  3uftanbc8  befriebigten.  fRur  bie  SEöatjl  beg  ©toffeS 
jeboch  geigt  ben  fentimentalen  3ug;  bie  üDarftelhmg  felbft  ift, 
wenigfteng  bei  J^ecfrit,  ooll  »on  gefunbem  JRealigmuS.  — SSud? 
bie  Äunft  bemächtigte  ftd)  jetjt  biefer  ©toffe,  namentlich  bet 
Wirten  unb  ftifdjer  mit  großer  SBorliebe.  geibet  mangeln  un8 
gerabe  hiftüber  beftimmte  fRadjrichten  ber  ©chriftfteller;  boch  ba 
ung  aug  früherer  3«t  gar  nichts  StehnlidjeS  befannt  ift,  fo 
fcnnen  bie  Originale  beg  gahlreich  Erhaltenen  nur  in  biefer  %)t= 
riebe  geiucht  werben,  in  ber  fie  allein  gu  begreifen  finb.  9lu0 

5*  (207) 


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68 


9>liniu8  (35,  25)  f ernten  wir  nur  ein  biehetgehörigeS  ©emälbe, 
ba8  eineö  alten  Ritten  mit  bem  Stabe  in  ber  Jpanb.  (Sine  bat« 
angefnüpfte  3lnefbote  ift  fefyt  begeicbnenb:  bet  ©efanbte  ber 
Sleutonen  nemlid)  foll  auf  bie  grage,  wie  ho<h  er  e8  fcbäfce,  ge» 
antwortet  ^aben,  nicht  einmal  lebenbig  wolle  er  einen  folgen 
SRann  gefcbenft  belommen.  ©o  fpricbt  ber  uneetborbne  ger« 
maniftbe  9taturmenfcb  unb  ähnlich  fönnte  ein  ©rieche  ber  älteren 
Beit  ftcb  geäußert  haben.  5Die  ©arftetlung  einer  fo  niebern 
9)etfon  !ann  nur  bann  3ntereffe  erwecfen,  wenn  ber  4)irte  nicht 
be8  Wirten  wegen,  fonbern  um  bie  ©ehnfucbt  nach  einem  glücf* 
lieb  beftbränften  SRaturleben  gu  befriebigen,  gemalt  ift.  2)em 
früberen  gejuuben  ©efüble  aber  mußten  biefe  ©egenftänbe  fern 
liegen,  ja  oeräcbtlicb  bünfeu,  e8  liebte  nur  bie  ©arftellung  be8 
freien , gangen  Sölenfdjen.  5Rocb  auf  ben  9?afen  läfjt  ftdj  habet 
ba8  niebere  ©enre  ber  ©ebnfudjt  nic^t  mit  Sicherheit  naebweifen, 
bagegen  fpielt  e8  auf  ben  ©ampanifeben  Söanbbilbern  eine  grof>e 
SftoHe,  wo  namentlicb  bie  Wirten  al8  Staffage  ber  ganbjebaften 
febr  gewöhnlich  finb.78)  33or  allem  gehört  aber  eine  JReitje  oon 
©tatuen  hiebet;  bie  meiften  fteöen  gifebet  bar,  wie  fie  angeln 
ober  bie  SBaare  gu  SDiarfte  tragen  ober  feilbieten;  bie  jebarfe 
realiftifebe  CS^arafteriftrung  entfpridjt  ben  ©ebilberungen  ber 
helleniftifcben  $)oefte.79)  änbere  ©tatuen  geigen  Wirten  ober 
üanbleute,  bie  g.  2).  ein  gefcbladjteteS  übiet  auSweiben  ober  e8 
lochen.80)  Ueberalt  fehen  wir  hier  ben  SRealiSmuS  gufammen» 
Wirten  mit  jenem  3uge  ber  ©ehnfucbt,  eine  ^Bereinigung , bet 
auch  bie  gange  ©attung  bet  8aubfcbaft8malerei  um  biefelbe 
Beit  ihre  ©ntftebung  oerbantt;  benn  einerfeitS  ift  bie  Äraft,  ein 
ibealeö  ©angeS  au8  ben  S£beHen  3U  geftalten,  erlahmt,  anbrer» 
feit8  ift  man  oon  ber  9tatur  entfernt,  ihr  fremb  geworben:  man 
imitirt  fie  unb  febafft  nicht  mehr  au8  ihr  heraus,  man 

(303) 


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69 


fyangt  mit  ©eljnfudjt  am  Slfyeil,  am  ©ingelnen,  weil  man 
felbft  ein  ©an  ge  8 nic^t  meljr  ift. 

©inet  ibealeren  SRic^timg  begegnen  wir  in  ber  gwetten  ©at* 
tung  be8  au8  jener  ©efynfudjt  fyereorgeljenben  ©enreS,  ben  Äinber* 
ft a tuen.  95?c  geigt  fid)  bie  erfebmte Unfdjulb unb 9latur  frifdier, 
unmittelbatet  unb  reigenber,  als  im  Äinberleben?  Äein  SBunber 
alfo,  wenn  aud)  bieje8  jefjt  gu  einem  gieblingSgegenftanb  ftatua* 
riftbet  jtunft  ergeben  würbe,  ffteilid)  bemerften  wir  fdjon  gegen 
©nfce  ber  »origen  ^.'eriobe  SDarfteHungen  ton  Äinbern,  aber  e8 
ift  ein  Ijimmelweiter  Unterfdjieb,  ob  bieö  in  fleinen  ©emälben, 
fleinen  Sterracottaftatuetten  unb  ©efäfseben  gefdjietyt , bie  felbft 
gum  Äinberfpielgeug  beftimmt,  ober  ob  man  e8  wagt,  monumen* 
tale,  ftatuarifdje  ©ompofitionen  gu  geftalten  au8  ber  unbebeutenb 
fleinen  Äinberwelt,  bie  webet  einem  rein  formalen  ©enuffe  mit 
itjren  unreifen  formen  genügen  fonnte,  ned)  blo8  burd)  33ewe* 
gung  unb  ^anblung  ein  für  ein  monumentales  SBerf  befriebi* 
genbeS  3ntereffe  ^eroorrufen  fonnte.  ®rum  ftellte  auef?  bie  »or» 
aleranbrinifdje  @enre*^laftif  nur  Knaben  bar,  bie  bem  eignen 
»ollen  9Kenfd)en  nafye  ftanben;  erft  jefct  in  Ijetleniftifcfeer  3eit, 
wo  man,  »en  ficb  felbft  nidjt  mefyr  befriebigt,  fid)  au8  $rembem 
gu  ergangen  fudbt,  jetjt  war  in  ber  @eljnfud)t  nad)  bem  unfdjul» 
big  natürlidien  SBefen  ber  Äinber  ber  ^Sunft  gefunben,  ber  fte 
ber  monumentalen  SBeljanblung  würbig  machte.  9?egünftigenb 
wirfte  natiirlid)  aud),  bafj  bie  .ftunft  immer  mel)t  im  SMenfte 
pri»ater  !£eforatien  arbeitete. 

9118  ba6  £auptwerf  ber  gangen  IRid)tung,  in  bem  fid)  ifyte 
wefentlidben  ©igenfefeaften  am  flarften  wiberipiegeln,  ift  offenbar 
ber  jfnabe  mit  ber  ®an8  »on  33oetljo8  gu  betrauten,  »on  bem 
untre  Unterfucbung  ben  9(u8gang  na^m.  geibet  ift  un8  auger* 

(209) 


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70 


bem  literarifdj  gar  nichts  Söeftimmteß  überliefert.  9lur  ein 
SBerF  Fann  hierhergegogen  werben : G p i g o n o S , ein  Äünftler  unbe* 
Fannter,  hoch  wahrfd)einlid)helleniftifchet3eit  mad)t  bie@ruppe  einet 
fterbenben  SDtuttcr,  bie  non  iljrem  Äinbe  ^miserabiliter“  getiebfoft 
wirb:81)  ber  gang  malerifdje  SSorwutf  erinnert  unS  auffaüenb  an 
SlriftibeS  berühmtes  SBerF;  aber  feljr  begeidjnenb  finb  bie  Unter* 
fd)iebe:  bort  bei  SriftibcS  liegt  alles  ©ewid)t  auf  berSDiutter,  bie  ddU 
Slngft  mtb  ©djmfrg  für  be8  ÄinbeS  geben  nod)  im  $£obe  forgt  — ^ier 
bagegen  auf  bem  Äinbe,  baS  in  feiner  unwiffenben  Griufalt  unb 
edjt  Finblid)en  Siebe  bie  ÜRutter,  bie  üjm  ftirbt,  liebFoft;  tyex 
freuen  wir  unS  am  einfad)  .ftinblidjen  unb  bemitleiben  ba§  arme 
SBürmdjen  — bort  pacFt  unS  ein  ernfteö  tiefergreifenbeS  ^atl)o§. 
@o  tritt  unS  in  biefer  Umbilbung  eines  älteren  3BerFS  ber  gange 
GhataFiet  ^eHeniftifd^er  Äunft  auf’S  3)eutlidbfte  entgegen  unb 
nicht  umfonft  trug  GpigonoS  feinen  9tamen : et  war  ein  Gpigone. 

33on  ben  ga^lreic^en  unS  erhaltenen  SBcrfen  bürfen  wir 
nad)  bem  SBorauSgegangncn  annehmen,  bafj  ihre  Originale 
fämmtlid)  in  t^elleniftifdjer  Beit  nach  bem  Vorgänge  beS  23oetho§ 
geftaltet  würben.  3*or  SUIem  berühmt  mufc  eine  unS  in  meh» 
reren  9iepIiFeit  erhaltne  Gompofttion  gewefen  fein,  einen  Fleinen 
.Knaben  barfteOenb,  ber  nad)  Äinberart  auf  bem  SBoben  fifct;  er 
fcheint  aufftehen  gu  wollen,  ohne  eS  noch  3U  Fonnen;  bittenb 
ftrecFt  er  ben  einen  Slrrn  aus  unb  blicFt  aufwärts,  baf)  man  ihm 
helfen  Jolle;  hoch  ba  er  ben  anbern  9lrm  auf  feine  ©anS,  ben 
SieblingSoogel,  legt,  um  fte  feftguhatteu,  fo  fdjeint  biefe,  bie  man 
ihm  oielleidjt  wegnehmen  will,  ber  ©runb  feiner  Erregung  gu 

fein.88)  auch  hier,  wie  am  SBerFe  teS  23oett)oS,  liegt  baS  3n* 

tereffe  in  bem  Gontrafte  ber  Finblicheit  9toth  unb  Sorge  mit  bem 
Fleinen  ©egenftanbe,  beS  ängftlidjen  GiferS  mit  ber  Finblid)en 

Unbeholfenheit,  woburd)  unfre  Sehnfucht  nach  ber  befdjränFt 

(210) 


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71 


-unjdjulbigen  Ainbljeit  erwacht.88)  ©enfelben  ©runbgug  tragen 
bie  übrigen,  »eit  unbebeutenberen  SBerfe  bet  2trt,  bie  meift  einen 
ruhig  baftehenben  Auaben,  bet  feinen  lieben  Siegel  füttert  cbet 
an  fidj  briuft,  barfteüen.84) 

Slnbre  fifcen  am  33obeu  mit  einem  Siegel  ober  einer  Frucht85) 
ober  galten  fteljenb  Früchte.86)  ©ehr  beliebt  ift  eg  in  ber  hel= 
leniftijdjen  3«t,  fchlafeube  ©eftaltcn  barguftellen;  fo  finben 
mir  benn  auch  halb  Ainbet  überhaupt,  halb  länblidje  Wirten  ober 
gifcherfnaben,  bie  entweber  in  Uegenber  ober  — inbem  fie  fid) 
auf  bag  eine  heraufgenommene  33ein  fluten  — in  fitjenber  ©tel= 
lung  fchlafen.87)  ©inige  ©ruppen  geigen  fncd)elfpielenbe  unb 
fcarum  fidj  ftreitenbe  Anabeu.88)  ©ehr  fragmentirt  finb  einige 
©tatuen  laufenber,  irgenb  ein  fleineS  Sutereffe  uerfolgenber 
3ungen.89)  ©eiten  würben  SOläbdjeit  bargeftellt,  bod)  fcfyeint 
ein  SBerf  berühmt  gewefen  gu  fein:  ein  fleineg  50?abdjen,  bag 
am  33oben  fi£t  unb  Anödjel  fpielt;90)  aber  aud}  fDtäbchen  mit 
bem  £ieblinggoogel  fommen  oor,  wie  eine  ©tatue  beö  Aapitoli» 
nifdjen  ÜJtufeumfi,  bie  fidj  burd}  jdjöne  ©ewanbmotioe  aug* 
geidmet,  einSJJSbchen  geigt,  bag  erfdjrecft  eine  2aube  am  Stufen 
gu  bergen  unb  gu  fehlten  fud)t  gegen  ein  aubreg  Silier,  etwa 
einen  anfpriugenben  ^>uub  (Clarac  mus^e  877,  2235). 


£>odj  feeren  wir  enblid)  guriief  gu  unferm  Sluöganggpunfte, 
gu  jener  grage , welche  biefe  gange  Unterfudjung  ueranlafjte: 
weld^e  ^iftorifdje  ©tellung  ber  Anabe  mit  ber  ©ang  unb  ber 
©oruauggieher  einnehmen.  SBie  trefflich  fid>  erfterer,  bag 
SBerf  beg  S3oetl)og,  iu  bag  ©ange  Ijelleniftifdjer  Aunft  einfügt, 
haben  wir  oben  flar  gefeljen.  Slbcr  bet  ©ernauggieher?  wirb 
man  ungebulbig  fragen.  Statürlid)  fann  er  unmöglich  berfelben 
Beit,  noch  »«1  weniger  bemfelben  Annftler,  33oethog,  angehören, 

(SU) 


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« 

72 


wie  Cwerbetf  (ißlaftif  2,  127)  fefthält;  oielmehr,  wenn  wir  unß 
ber  ju  Anfang  aufgeftedten  ©egenfcitje  beibet  SBetfe  erinnern, 
fo  finb  bieS  ganj  biefelbett,  wie  wir  fie  jefet  gwifcpen  t>cx*  unb 
nachalejranbrinifchem  ©eure  beobachtet  haben:  bet  Änabe  mit  bet 
©anS  unb  mit  ihm  baS  gan^e  Jjelleittftifc^e  ©eure  entfpringt 
auS  bet  ©ehnfucht  nach  einem  oerlornen  $)arabiefe  ber  97atur 
unb  Unfchulb.  ©tum  (teilt  man  nicht  baS  eigne  alltagöleben 
bar;  i[t  man  boch  nicht  mehr  befriebigt  »on  fich  felbft  nnb  fann 
fein  3ntereffe  mehr  haben  an  ber  biofeen  ©arftellung  beffen,  waS 
man  felbft  ift;  Wirten  unb  gifdjet  unb  cot  ‘Mem  Äinber  müf* 
fen  in  baS  uerlorite  fftaturleben  jurücfoerfefeen.  ©agegen  bet 
©ornauSaieher  unb  mit  ifem  ba8  ganje  »otalejranbtintfche 
©enre  ift  nichts  als  reine  ©arfteDung  einer  £anblung,  nid}t  auS 
bem  entfernten  Äinber*  ober  ftifcperleben  etwa,  fonbern  auS  bem 
unmittelbar  eignen,  wo  nichts  als  bie  fcbatfe  Ausprägung  beß 
SJlomenteS  ber  Jpanblung  intereffirt  unb  nirgenbS  eine  ©pur  ftd) 
finbet  non  jenen  mit  ber  ©arfteUung  »erfnüpften  9tebenefe= 
menten,  nidjtS  non  jenen  gefuchten  ©ontraften  glücflid)er  33e* 
feferänftheit  mit  ber  eignen  Ueberfultur,  futj  nichts  non  jener 
©ehnfitcht  nach  natürlich  unfdjulbigen  Buftänben,  bie  bem 
niftifdjen  fo  eigentümlich  ift. 

Unfer  ©ornauSjieher  gehört  alfo  in  bie  twraleranbriuifche 
Äunft.  ©oefe  fönnen  wir  bieS  noch  genauer  beftimmen;  benn 
nicht  etwa  in'S  4.,  fonbern  noch  in’S  5.  3at)tbunbert  n.  ©hr. 
weifen  ihn  mehrere  Sliomente,  namentlich  bie  beutlidjen  ©puren 
beS  Altertümlichen  an  $aar  unb  ©efiept.  freilich  haben  eben 
biefc  ©puren  einen  unfrer  trefflidjften  Äunftgeleljrten  (Äefule) 
bewogen,  baS  SBerf  in  eine  gan$  oerfepiebene  3«it  unb  ©cpule, 
in  bie  beS  $)afitele8  ju  5Rom,  eines  3eitgencffen  beS  5)ompejuS, 
ober  in  eine  biefern  »erwanbte  unb  nabe  ftebenbe  (unS  noch  unbe» 

pli) 


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73 


fannte)  ©d)ule  ju  feßen.91)  ©iefer  3rrtbum,  bet  inbefj  fein 
fcurdjgefübrt  ift  unb  baljer  eine  genaue  ©rwägung  cerlangt,  ift 
feljt  begreiflich  bei  bet  coOtommenen  Untlarbeit,  bie  bisher  über 
bie  ©efcbicbte  beö  ©enreS  bcrrfd)te.  «Denn  aud?  Äetutö  gebt 
ron  jener  SßorauSfcbung  aus,  beren  ^alfdjbett  wir  etwieien  fyaben, 
ber  SerauSfefcung,  baß  bet  ©ornanfljieijer  als  „3bpll"  mit 
SoetboS  «nb  ber  tjelleniftifcben  ©eifteSridrtung  gleich  $u  fe£en 
fei.  ©r  glaubt,  baS  S9erf  tonne  aud)  „in  minber  glürflidjen 
3eiten  ber  Ännft"  gefd^affen  worben  fein,  ja  er  fyält  felbft  baS 
„fBiotic"  in  ber  älteren  ätunft  für  unmöglich  unb  überfielet  ba* 
bei  collftänbig  getabe  jene  im  golgenben  nod)  näßer  31t  betrag* 
tenbc,  fübne  $ärte  ber  ©empofition,  bie  man  fid)  eben  nur  in 
ben  beften  Seiten  beS  5.  3al)rß.  erlaubeu  tonnte,  $ür  biefen 
©runbirrtßum , baß  baS  SBerf  einer  jpäteren  Seit  angeboren 
müffe,  fitcßt  nun  jf.  zweierlei  feßetnbare  SEßiberfprüdje  in  ber  fot* 
malen  33eßanblung  unfreö  SöerfeS  311  oetwertßen : ber  mit  8pfip* 
pifeber  fDleifterfcßaft  gebilbete  Äörper  wibetfpredbe  bem  ^eaare,  unb 
wiederum  bie  forgfältig  jierlidbe,  felbft  freie  Jpaarbeßanblung 
wiberfptecße  bem  an  ftd)  unmöglidjen  SBurfe  beffelben,  inbem  bie 
Torfen  ber  Bewegung  beö  ÄopfeS  entfpredjenb  meßr  oorwärtS  fal* 
len  füllten.  33eibe  SBiberfprüdje  cerfdjwinben  aber  bei  genauerer 
Setracbtung.  33eim  |jaare  gunädjft  ift  311  beamten,  baß  alle 
|>aare,  nad)  bet  ©itte  ber  älteren  Ä'unft,  con  einem  einigen 
fünfte  am  SSirbel  auSgefyen,  baß  fie  alfo  gar  nidit  fo  corfaOen 
tonnten,  wie  bei  einer  naturgemäßeren  SÄnorbnung.  ©ie  lan* 
gen  lotfigen  $aare  verfallen  nun  in  3wei  ,£>auptpattieen,  bie  red)t8 
unb  lints  fid)  weid)  unb  eng  um  ben  ©d)äbel  legen  (aud)  l)inten 
ift  bie  ©Reibung  nod)  bemertlid)).  33ei  ber  Steigung  beS 
-fraupteS  rutfdjen  fie  aber  eben  fo  weit  cor,  als  eS  bie  Statur  fol» 
eben  enganliegenben , elaftifdjen  unb  febmiegfamen  JpaareS  cer» 

(213) 


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74 


langt;  ja  ber  Äünftler  hat  e8  nicht  unterlaßen,  btefeö  ffiorrutffhen 
auf  ber  redeten  ©eite,  bie  tiefer  geneigt  ift,  mehr  gu  betonen, 
als  auf  ber  Unfen.  3n  ber  SDtitte  gwifdjen  biefen  beiben  Seiten* 
pari i een  mädjft  ein  felbftänbiger  fixerer  Jpaarbünbel  gut  Stirn 
berab,  wo  et  fidß  in  einen  Keinen  Änoten  tongentrirt,  ber  bie 
Stidjtung  beSÄopfeß  nadßoorn  noch  einmal  betont.  Snmmetrifch 
fommen  enblid)  gwlfdßen  biefem  ©entrum  unb  ben  beiben  Seiten« 
Partien  als  oermittelnber  llebergang  einige  Heine,  forgfältig  ge« 
locfte  .£>ärdjen  gum  3Liorfd>ein.  SDie  gierlidhe  unb  feine  Setjanb« 
lung  namentlich  ber  gocfenfpißen  ift  burdßauS  ben  ??orberungen 
be8  33rongeftil8  entfprechenb , benen  fdjon  bie  altertbümlicpen 
Söerfe  mit  ihren  gierlidjen,  fnmmetrifd)  gereihten  ©rahtlocfen*  be* 
fonberS  gerecht  gu  »erben  fud)ten. 

Slber  auch  ba8  fo  äußerft  angiehenbe  einfache  ©efidßt  oom 
reiitften  2»pu8  geigt  noch  beutlidhe  ©puren  be8  SUtertbümlidben 
in  ber  ©efammtanlage:  in  bem  Storwiegen  be8  breiten,  großen 
Äinnß  gegen  bie  niebere  Stirn,  in  ben  noch  nicht  gang  im 
Proßl  ftehenben  Singen  unb  bem  etwas  äußerlich  aufgefügten 
fßtunb,  beßen  SBinfel  ein  Söenigeß  emporgegogen  finb.  SIber  all 
bie8  ift  nur  ein  fanfter  SiachHang  an  ardßaifche  ©ebunbenljeit, 
»ie  er  einer  UebergangSgeit  eigenthümlidh  fein  mußte,  unb  »eit 
entfernt  non  einem  bewußten  ^eroovheben  be8  Sllterthümlichen. 
— ©nblidh'ber  Äßrper  wirb  wegen  ber  trefflichen  SBiebergabe 
ber  formen  biefeS  jugenblidhen  SllterS  mit  Stecht  bewunbert. 
SBenn  aber  jfefulß  8pßppif<he  äfunftart  an  ihm  bemerten  will, 
fo  wüßte  ich  wahrlich  nicht,  worin  biefe  beftehen  follte;  benn 
webet  non  Shßppifdßen  Proportionen  noch  non  gewißen  natura« 
liftifcßen  Bügen  ift  irgenb  etwas  gu  bemerfen.92)  Sludh  bie  Bai* 
ten  am  Saudhe,  bie  man  etwa  anführen  fönnte,  geben  in  ber 
fdbarf  abgrängenben  Sörongeted^ni!  nur  ba8  gum  SBerftänbniß  bet 

(214) 


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75 


Bewegung  äBefentlidje  unb  fftothwenbige , fie  bienen  nur  gut 
Klarlegung  be§  inneren  DrganiSmuS  bei  feiner  eingebrücften  unb 
»erfchobenen  Sage,  ftnb  aber  frei  non  allen  naturaliftifdjen  ßu» 
fälligfeiten,  bie  fidE>  fpätere  Künftler  gerabe  pier  gewijj  erlaubt 
batten.  Sßopl  aber  mu&  man  hier  an  bie  Ijo^c  förperlicfje  33oH» 
enbung  erinnern,  bie  g.  33.  fchon  in  ben  Slegineten  erreicht  ift, 
wo  ja  aud)  fdfon  (wenigftenS  im  Dftgiebel)  bie  galten  ber  ^>aut 
gur  ©hatafterifirung  bet  ^Bewegung  beigegogeit  werben. 

@0  fönnen  mir  benn  non  jenen  angeblichen  SBiberfpn'ufjen 
feinen  begrünbet  finben,  inbem  fiep  »ielmeljr  81  lieg  gu  einem  har* 
monifchen  ©angen  »ereinigt.  Söir  erfennen  piet  einen  Künftler 
auS  ber  lebten  Hälfte  beS  fünften  SaprpunbertS,  ber,  bei  bereits 
genauer  Kenntnifj  namentlich  beö  bewegten  männlichen  Körpers, 
fich  hoch  in  bem  ben  geiftigen  SJuSbrucf  bebingenben  Stpeile,  bem 
Kopfe,  noch  nicht  gang  non  ber  alterthümlichen  ©ebunbenpeit 
loSmachen  fonnte,  bet  et  auch  in  ber  Anlage  beS  oon  einem 
fünfte  auSgehenben  $aare8  folgte.  — ßu  ber  richtigen  Annahme 
einer  älteren  ©djule  beS  5.  Saprp.  flelangt  auch  bie  neuefte  S3e* 
jptecpung  unfrer  ©tatue  in  ben  Annalen  beS  archäologifchen  3n« 
ftitutS  (1874);  bie  nähern  bort  oerfuchten  23eftimmungen  fann 
ich  jebocp  nicht  als  richtig  anerfennen,  ba  auch  fte  nicht  auf  einer 
oollen  @rfenntni§  bet  ©igentpümlichfeiten  unfreS  SöerfeS  beruhen. 
(©.  bie  ©cplufjanmerf.  101.) 

3<h  fehre  gu  Kefute’S  33ermutpung  ber  ^afitelifdpen, 
ober  einer  im  SBefentlidfien  analogen  ©<pule  gurücf;  fie 
wirb  nicht  nur  burch  bie  oben  auS  ber  formalen  9(nalpfe 
gewonnenen  fRefultate  unhaltbar,  fonbern  fie  wiberfpricht 
auch  überhaupt  bem  Äunftoermögen  ber  griechifch  tömi» 
f<hen  ©poche,93)  bie  feine  eingige  neue  originale  ©cpopfung 
non  SBebeutung  auf  bem  ©ebiete  ibealer  ©fulptur  aufgnweifeu 

(315) 


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hat,  bie  nur  im  ©opiren  unb  Umbilben  überliefert«  $»pen  t^r 
ffierbienft  fudjte;  »olle  Originalität  wirb  aber  fRiemanb  unjerm 
SSerfe  abfptecben  wollen,  ferner  lä§t  ftd)  jene  Anfidjt  gerabe 
mit  ben  wef  entliehen  ©igenfdbaften  ber  ^>afitelifcf>en  fRi^tung 
nidit  meinen.  3nbem  biefe  efleftifcbe  ©dfule  nemlid)  mit  SSor* 
liebe  altertümliche  Sippen  mit  erneutem  ©tubium  beß  Sötobellß 
wieberholt,  entfielt  an  ihren  Söetfen  ein  unharmonischer  ©on* 
traft  beß  in  ber  überbreiten  ©ruft  unb  ber  gangen  Äcpfbilbung 
unb  ber  gebunbnen  Stellung  feftgebaltneu  ardjaifdjen  $ppuß  mit 
ber  raffinirt  eleganten,  naturaliftifdjen  ©ehanblung  beß  ©in* 
gelnen;94)  non  einer  folchen  35iö^armonie  haben  wir  aber 
tDornaußgieher  niditß  gefunben.  ©ntfehiebuer  noch  ift  ber  geiftige 
©harafter  ber  ^afitelifchen  Schule  jener  Annahme  guwiber.  £>h*w 
eine  einige  neue,  gang  eigene  ©ompofition  gu  fchaffen,  fud?t  fidj 
jene  efleftifcbe  ^Richtung  ihre  SRotioe  non  überall  gufammen.94) 
3hr  äierbienft  fiebt  fie  lebiglid)  in  ber  ^Durchführung , in  bem 
rafftnirten  ©etailftubium,  gegen  baß  bie  geiftige  ©ebeutung  voll* 
fommen  guriieftritt.  <Daß  Hauptwerf  bet  Schule  fc^eint  eine 
ftetfe  afabemiid)e  Stubienfigur  gewefen  gu  fein,  bie  nun  balb 
eingeln  bargeftellt,  balb  in  völligem  SÖlangel  aller  unb  jeber 
tafie  unb  ©rfinbung  mit  anbetn  Figuren  gu  einer  lofen  ©ruppe 
verbunben  wirb,  überall  mit  berfelben  einförmigen  Stellung  unb 
Haltung  ber  ©lieber;  ja  biefe  Schule  allein  fcbeitit  eß  biß  gu 
ftnnlofem  ©opiren  gebracht  gu  haben.96)  fRirgenbß  ift  ferner  in 
jenen  ©ruppen  eine  flar  außgefproebene  Hatiblung  ba,  fogar  bie 
Hauptmotive  finb  meift  gang  unflar,  fo  ba§  bet  Streit  übet  bie 
©egeuftänbe,  bie  fie  barftcüen,  bei  einer  jo  in’ß  Allgemeine  ver* 
fladiten  ©ehanblmtg  wol)l  nie  entfdjieben  werben  fann.97)  SGBie 
contraftirt  nun  bieß  Alleß  mit  bem  SDotnaußgieljer,  mit  feiner 
febarf  unb  hart  außgefproebnen  Hanblung,  wo  fRicbtß  alß  eben 
(216) 


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77 


fcitfe  baß  3nteref|e  auSmaAt?  SSÖelt^et  ©egenfafj,  bi?rt  biefe  ein» 
förmig  bebenflidje,  ttodene  IRiAtung  be8  ^afiteleö,  biefe  gefugte 
§tiAe,  biefe  affeftirte,  ftubirte  ©egiertljeit  — unb  Ijier  baß  frifc^e, 
Bolle,  füfyne  geben  im  5)ornau8giel}et!98) 

£at  er  alfo  5Rid)tS  gu  Aun  mit  fPafitelifdjet  Stiftung,  ge» 
ijört  er  bagegen  in’8  fünfte  3afyAunbert  ».  GIjr.,  fo  tonnen  mir 
BieHeiAt  noA  einen  Stritt  weiter  gelten  unb  bie  ©Aule,  ber 
baß  SBerf  angeljört,  näljet  gu  beftimmen  »etfuAen;  id?  fage  bie 
SAule,  nidjt  ben  OJieifter;  benn  früher  gwat  war  e8  eine  ciel» 
mbreitete,  leiAtftnnige  fötet^obe,  gu  jebem  bebeutenberen  Äunft» 
werfe  fidj  immer  au8  ben  literarifAen  fRotigen  auA  ben  fRamen 
be8  »erfertigenben  Äünftlerß  auSguwäfyleu;  unb  fo  bat  ja  auA 
unfer  2Berf  eine  berartige  SBetjanblung  erfahren,  bie  e8  oljne 
JRücffidjt  auf  ben  fünftlerifdjen  ©jaraftet  mit  einem  oon  23oetbo8 
genannten  ibentifigirte.  GtwaS  gang  Anbereß  ift  e8,  wenn  man 
nach  genauem  »ergleicfjenben  ©tubium  eines  SBerfeS  wagt,  ba8» 
felbe  einer  gangen  ©Aule,  einer  Stiftung  im  Allgemeinen 
beigulegen. 

(griunem  wir  un8  nun  beffen,  wa8  wir  gleiA  gu  Anfang 
über  bie  Gompofition  be8  üDornaußgiefyerß  bemerften.  2öir  fan« 
ben  ba  in  bem  beraufgenommenen  S3eine  eine  uufpmmetrifdje 
$ärte  ber  ginienfübrung,  wie  fie  nur  äufjerft  feiten  in  ben  SBer« 
fen  antifer  Äunft  gu  Sage  tritt.  SDiefer  $)unft  muff  bafyer  für 
bie  Seftimmung  bet  ©Aule,  ber  unfre  ©tatue  guguweifen  ift, 
»on  entfAeibenber  SfBid^ligfett  iein.  ADerbingß  ejriftiren  leiber 
noA  gar  feine  genaueren  UnterfuAungen  übet  ginienfübrung  in 
ben  oerfAiebenen  ©Aulen,  wa8  gerabe  für  ben  »orliegenben  galt 
fefyt  gu  beflogen  ift.  3)ennoA  bütfen  wir  wenigftenS  fooiel  mit 
©iAerfjeit  behaupten,  ba§  jene  (SigeniAaften  gundAft  mit  bet 
Annahme  f)eloponnefif Aet  ©Aule  unoeteinbat  wären.  SBir 

(SIT) 


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78 


braudjen  ja  mir  einen  ©lief  gu  werfen  auf  ben  $Polpfletifdi>en 
©orppfjoroS  ober  ©iabumenoß,  bie  un8  ja  ^öc^ft  tt)a$tf<§einlidj 
in  Kopien  erhalten  finb , um  fofort  in  biefet  faft  matfyematifd) 
ftrengen,  flaren  unb  regelmäßigen  ginienfüßrung  baß  gerabe 
©egentßeil  con  bem  gu  etfennen,  wa8  wir  am  ©ornaußgielwr 
bemerften.  Sludfy  bie  SBerfe  au8  ber  Slttifdjen  9£id?tung  beS 
fPljibiaß  fowoljl  wie  be8  ^rajfiteleß  bieten  nichts  Sßerwanbteß  bat: 
benn  finben  wir  auch  (eibenfcbaftlid)  unb  inbioibuell  bewegte 
©eftalten,  fo  fjerrfdht  boef)  überall  baß  Streben  nadb  fyarmonifäier 
Slbrunbung  »or,  wie  man  3.  S3.  an  ben  fRiobiben  leicßt  bemerfen 
wirb.  @twa8  unferm  SBerfe  33erwanbtere8  haben  bagegen  bie 
Slttalifdjen  SSeihgefdjenfe  auö  ber  9)ergamenifdjen  @d£jule  — 
aber  bod?  wiebet  in  wefentlid?  nerfdßiebener  SJrt:  ßier'ßat  Reiben» 
fdßaft  alle  ©lieber  gleidjfam  in  ihren  $ugen  geloft  unb  geibtn« 
fdfyaft  motioirt  jebe  Bewegung.  SBie  anberß  bagegen  bie  einfadfo 
nicht  oon  innen,  nur  bureß  bie  forderliche  ^anblung  moti> 
»irte  .fpärte  unfreS  SDornau8gieljer8 ! 9lucb  bort  in  ben  ©aUiet* 
ftatuen  ift  ber  förnmettifciie  Aufbau  durchbrechen,  aber  um  ba8 
ftürmifeße  innere  $>atho8  gut  9lnfdßauung  gu  bringen,  föian 
pergleiche  nur  einmal  im  ©iugelnen  ben  fog.  fterbenben  ^edbfer 
mit  bem  fterbenben  Segineten  beß  Dftgiebelß  unb  man  wirb  ben 
gangen  ©egenfaß  empfinden,  ber  biefe  ältere  Beit,  wo  baß  ©ange 
ber  rein  förderlichen  Bewegung,  wo  ein  woßt  abgemeffener 
2:  p p u 6 ■ biefet  ^Bewegung  ba8  Biel  war,  neu  fener  fpätern  Äunft* 
weife  trennt,  wo  ber  Äünftler  nicht  einen  2ppu8,  fonbern  bal 
gang  inbibibuelle,  eingelne,  immer  wecßfelnbe  ^)atßo8  gut 
©runblage  nimmt,  ©et  9ieali8mu8  ber  ßeKeniftifdben  Äwift 
fteßt  in  engfter  Setbinbung  mit  biefet  Dichtung  auf’6  Snbwi* 
bueHe  unb  S3efonbere.  Subeffen  tßat  bie  belleniftifche  Äunft  iu 
biefen  beiben  Momenten,  bem  5Reali8muß  unb  ber  peränbertnr, 

(21*) 


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79 


«f  baS  innerlich  SnbimbueDe  gielenben  Linienführung  nur  einen 
often  Schritt  gu  bem  in  bet  mobernen  Äunft  Grteidjten:  bie 
Saflierftatuen  finb  baS  erfte,  wenn  auch  noch  weit  entfernte 
fnalogon  gut  Linienführung  eines  SRidjel  Sugelo.  — SSon  bie» 
fn  gangen  GntwicffunaSreibe  ftetjt  aber  unfet  ©ornauSgiehet 
»eit  ab:  nicht  inbieibueOe  innere  Gtregung,  fonbern  bie  Leben» 
bigfeit  einet  allgemeinen  förderlichen  -panblung  burd)  bricht  bie 
fnmmetriicbe  Anlage,  unb  hierin  gibt  e§  »«eines  SBiffenS  nur  Gin 
©erf,  baS  ihm  wirflich  nahe  fteljt:  eS  ift  ber  ©iSfobol  beS 
© Dton.  ©enn  auch  hier  ha&en  wir  wtfchöne  ^>ärte  ber  Um* 
riffe  bem  möglichft  wahrheitsgetreu  unb  lebenbig  gefaxten  SRomente 
einet  förderlichen  Sftion  gu  Liebe.  Seftätigt  wirb  biefe  auf 
©tuen  hinleitenbe  ©eur  baburch,  baff  auch  in  ben  fBietoden  beS 
ibefeionS , bie  unter  SJtnronS  Ginfluff  fteljen,  fid)  Sehnliches 
imbet,  g.  SB.  wie  ber  SRinotaur  ben  SthefeuS  angreift  u.  S. 

Ginmal  auf  bie  richtige  Sahn  geleitet,  ftimmt  nun  SßeS 
merfwütbig  mit  bem  Gharafter  ÜRptonifchet  ©djule  überein. 
Senn  wenn  in  unferm  ©ornanSgiehet  ftdj  SlleS  auf  ben  Ginen 
möglidhft  drägiS  gefaxten  ßRoment  bet  £anblung  fongentrirt  unb 
bierin  alles  3ntereffe  aufgeßt  — fo  ift  baS  edjt  ÜRoronifch , ja 
eben  barin  fpridjt  fich  baS  SBefen  ber  Äunft  beS  ÜRpron  auS; 
tiefem  lebenSoolIen  .perauSheben  bet  einen,  fcharfabgegrängten 
$anblung  gu  Liebe  gerbricht  bet  ©iSfobol  gleich  wie  ber  ©orn» 
oaigiehet  bie  ruhige  ©pmmetrie  ber  Linien.  ©och  baS  innere 
beben  ber  ©eele  („animus“  fpiin.),  ber  Gmdfinbung  blieb  ber 
©eronifchen  ^Richtung  noch  ftemb:  auch  bet  ©ornauSgieher  »er* 
täth  in  ben»  ruhig  ebeln,  noch  etwas  altertümlichen  $ddn8  beS 
JfedfeS  feine  ©dur  non  innerer  ©emüthSerregung.  SBenn  nnS 
«blich  gerabe  non  5Roren  berichtet  wirb,  baff  er  bei  fonftiger 
freier  SoUenbung  beS  ÄötderS  in  ber  Silbung  teS  JpaareS  noch 

(219) 


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80 


bet  alt  fdjematifchen  Sehanblung  folgte  (bet  rudis  antiquitas 
wie  bei  9>liniu8  etwas  ftarf  non  bem  einfeitig  gpfippifchen  ©taub* 
punft  gefagt  wirb,  eine  SSernadhläffigung  folgt  barauS  auch  nur 
»on  biefem  ©tanbpunfte  beS  SiealiSmuS,  bem  bie  fcbematifdhe 
©orgfalt  bet  antiquitas  als  SBernadjläffigung  bet  iftaturwahrheit 
etfdhien),  jo  ftimmt  auch  bieS  mit  bem  fDornauSjieher  in  auf* 
faHenber  SBeife  übetein.  Monumentale  ülnalogieen  für  baS  ©in» 
jelne  fönnen  mit  leiber  fyiet  nicht  beziehen , benn  feine  ©tatue 
jener  UebergangSjeit  ftellt  uns  eben  foldheS  langes  godfenljaat 
bat,  unb  was  oon  Mpronifchen  SBetfen  erhalten  ift,  finb  auch 
nur  Äopien,  bie  natürlich  für  alles  JDetail  eine  feht  un$u»etl5{* 
fige  ©runblage  bilben,  inbem  getabe  gewiffe  alterthümliche  ©pu* 
ten  im  $aat  ober  ©efidjlSauSbrucf  fetjr  teilet  oerwifcht  werben 
fonnten.  — 3u  jenen  fämmtlid?  auf  Mpron  weifenben  fünften 
fommt  nun  enblidh,  b af)  »on  ben  ©djulen  beS  5.  SaljrljunbertS 
außer  bet  $)olpfletif<hen,  bie  wir  fd)on  früher  abwiefen,  nur  bie 
Mpronifclje  fid)  unfteS  SöiffenS  in  bet  ©enrebilbung  ^etoort^at, 
unb  baß  unS  getabe  eon  il)t  einige  bet  bebeutenbften  ©enreftütfe 
befannt  finb,  bie  auf  eine  umfangreiche  ©efdjäftigung  eben  mit 
biefem  3weige  fließen  laffen.  Unb  biefe  Söerfe  [teilten  J?n a* 
ben  bar  — wie  unfer  ©ornauSgieher.  'MerbingS  betrachteten 
wir  jene  als  SBeihgefchenfe,  bie  eine  beftimmte  Schiebung  hatten, 
@8  waren  «tuaben  mit  Söeihwafferbedfen  unb  am  fRäudjeraltar, 
alfo  im  heiligen  Stempelbienfte  befdjäftigt.  9iun  rniffen  wir  frei* 
lieh  nicht,  ob  auch  unfer  ©otnauSjiehcr  ein  foldheS  SBeihgefdienf 
war,  aber  eS  wirb  fßiemaub  behaupten  wollen,  baß  bieS  unmög» 
lidh  fei;  ja  baS  Motio  enthält  nieHeidht  felbft  einen  beftimmten 
33e$ug:  man  butfte  einen  heiligen  Söe^irf  befanntlidh  nur  mit 
entblößten  güßen  betreteu;  ein  Änabe  im  SDienfte  beS  SempelS 

founte  fich  alfo  fehr  oft  etwas  in  bie  gußfohle  treten,  baS  et 

(»20) 


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81 


ftd)  »über  berauSgießen  mußte.  ©ollte  alfo  «in  folget  Änabe 
bargefteüt  »erben,  wa#  begeugtermaßen  gcrabe  oon  ber  üJloroni* 
fd>en  ©cbule  mehrmals  gejcßal},  lag  e8  nicßt  naße,  einmal  einen 
— SDornauSgießer  311  bilben?  — ©0  würbe  fi(ß  unfete  ©tatue 
gang  an  jene  Änaben  b«8  8t>fio8  anfdjließen,  bie  ebenfalls  oßne 
eine  beftimmte  $)erfon  bargufteQen , bocß  einen  engbegrängten 
$rei8,  nemlicß  im  Stempel  bienenbe  Änaben  burdj  einen  SReprä« 
fentanten  oergegenwärtigen.  3118  SBeißgefdjenf  an  eine  ©ottßeit 
wirb  biefcr  ©igentßum  legerer  unb  erßält  baburd)  eine  inbioi* 
buelle  ©ebeutung,  bie  jenem  ftrengen  SBefen  be8  ©enre8,  wie  e8 
aber  nacb  unfern  Ausführungen  waßtfdßeinlidj  erft  burcß  ^oloflet 
auffam,  nod)  nidjt  entfpridjt99). 

Um  nun  ba8  gewonnene  fRefultat  gujammenguf  affen,  fo 
haben  wir  im  SDornauSgießer  ba8  originale  2Betf  eines  Äünft« 
ler8,  bet  etwa  ein  3eitgenoffe  be8  SJipton  ober  feiner  näcßften 
?Ra<ßfolget,  wie  biefe  nocß  in  einigen  fünften  am  ÄTcßaifdßen 
ßängenb,  oon  ber  fBipronifcßen  ©djule  bireft  beeinflußt 
würbe'00). 

3n  ben  beiben  ©tatuen,  bem  Äinbe  mit  ber  ©anS  nnb 
bem  SDornaudgießer  erfennen  wir  alfo  bie  fRepräfentanten  ber 
beiben  .£>auptepo<ßen  griecßifcßet  ©entebilbnerei , ja  fie  djarafte* 
rifiren  auf’8  beutlitßfte  gwei  geiftig  fo  eerftßiebene  Äulturperio*  * 
ben  wie  bie  oor«  nnb  bie  natßalejranbtinifdje.  SeibeS  aber 
finb  SBerfe  erften  [Rang8  unb  nic^t  umfonft  »on  jeßet  fo  bewim* 
bert.  '35a8  m ober  ne  ©enre,  ba8  woßl  nur  ffienigeS  ißnen  an 
bi«  ©eite  fteöen  fann,  ßat  feine  3»ei  fo  gang  oetfißiebenen 
cbarafteriftifcßen  ©podßen  aufguweifen;  e8  bafirt  oielmeßr  oon  Sin* 
fang  an  auf  jenen  ©ebingungen,  bie  ba8  ßeHeniftifdje  ©enre 
ßeroorriefen.  Unb  wie  in  jebet  anbetn  SBejießung,  fo  ßat  fidß 
aud)  ßiet  ber  JpetleniSmuS  bem  SJtobernen  oielfacß  angenäßert. 

XL  245.  216.  6 («1) 


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82 


2lbet  bennod)  bleiben  wefentlidje  Serfd)tebenheiten  genug;  beim 
trofc  mannet  fJtaläufe  fonnte  bet  Stealißmuß  im  antifen  ©enre 
bod)  nie  fidj  gu  einet  folgen  ©tdrfe  entwicfeln,  wie  bieö  in  bem 
mobetnen  gejdjatj;  bie  ibealanmuthige  {Richtung  blieb  ^iet  immer 
ein  ftarfeö  ©egengewidjt,  um  jenen  gurüdfguhalten.  ©benjo  we- 
nig fennt  baß  antife  ©enre  jene  eminente  Steigerung  beß 
Snbioibuellen,  butdj  welche  bie  mobeme  Äunft  faft  jeben 
beliebigen  ÜRoment  beß  Gebens , wenn  fie  nur  eine  jdjarfe  ©^araf* 
teriftif  bamit  gu  oetbinben  weif},  gum  intereffanten  ©egenftanbe 
ergeben  fann.  Sei  ben  Sllten  blieb  eß  wohl  immer  bei  bem  ent- 
Weber  burdj  bie  $anbtung  an  unb  für  fttf)  ober  bitrd)  ben  ©tanb 
betDorgerufenen  Sntereffe.  ©eä^alb  fonnte  weber  ©enre  noch 
Sanbfdbaft  ben  Umfang  unb  bie  Sebeutung  erreichen,  bie  fie 
namentlich  fyeutgutnge  inne  haben.  Seber  fleinfte  inbioibuellfte, 
befonberfte  SRoment  fann  in  unfrer  Äunft  {Reig  gewinnen. 
Set  ben  ©rieten  war  eine  allgemeine  Segiehung  gu  jebem 
Sefdjauer  nöthig,  unb  nicht  jebet  SDtoment  beß  ©einß  alß  be- 
fonbrer  3uftanb  war  ihm  genug,  fonbetn  nur  infofern  ^anblung 
unb  ©harafter  baran  Ijeroortraten:  bie  ©rieten  befriebigt  nur, 
wie  ©dbiUer  richtig  jagt,  „baß  Sebenbige  unb  greie,  nur  ©Ijaraf- 
ter,  ^anblungen,  ©djibEjale  unb  ©itten."  Dennoch  wütbe  eine 
‘genauere  Sergleidjung  beö  antifen  ©enreßP mit  bem  mobernen 
auch  manche  Analogien  ergeben,  bie  eben  im  SBefen  ber  @at» 
tung  liegen,  ©o  entwidfelt  fidj  g.  S.  auch  baß  moberne  ©enre 
guerft  in  fleinen  Silbdjen,  bie  feinen  Slnfpruth  auf  monumentale 
©eltung  haben,  in  .jpanbgeidfynungen  ober  ^olgjdjnitten  unb  na- 
mentlich in  Tein  beforatieen  arbeiten , biß  eß  fid)  bie  hcl)ereu 
Seteiche  ber  Äunft  erobert,  gerner  trifft  bie  3«<t  beß  erften  be* 
beutenben  Sluftretcnß  beim  mobernen,  wie  beim  antif-heHenifti- 
chen  ©enre  gufammen  mit  ber  3eit  beß  um  fid)  greifenben  5Rea« 

(SW) 


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83 


liStnuS,  fyiet  tote  bürt  in  bie  Beit,  »d  aßeS  ©cttlidje  oermenfdh* 
tic^t  warb  unb  wo  bie  momentane  (Empfinbung  ben  SluSbrutf 
ibeater  Uppen  übemiegt  — man  cetgletcbe  nur  SUabonneu  (Ra= 
faelS  mit  benen  SRuriflo’S,  ber  äugleid)  einer  ber  erften  .£>aupt* 
»crtreter  beS  ©enreS  ift  — , l)ier  toie  bort  in  bie  Beit  ber  fidj 
enttoicfelnben  ÄabinetSmalerei.  ‘Iber  aß  biefe  Analogien  gelten 
nur  für  baS  jpeUeniftifd^e  ©enre , nirgenbg  finben  wir  ettoaS, 
ba§  jenen  »oralejranbrinijdjtn  ibealen  SQerfen  gleich  fänte.  2 )aS 
SKcment  ber  ©ehnfucpt  ober  fceö  (Realismus  finb  bie  baS  mo* 
berne  ©enre  fofort  beftimmenben  gaftoren.  (Einzig  unb  un* 
erreicht  fte^t  alfo  aud?  im  ©ebiete  beS  ©enreS  jene  unoer* 
fälf^te  griedjifdje  Jhmft  per  Ilecanber  ba.  ©ie  ergreift 
ein  SDiotiü  unfreS  menfchlidjen  ©eins  unb  fdjafft  unb 
geftaltet  eS  gum  Sbeale  unb  UppuS  menfd)li<het  S3e* 
»egung  unb  ^janblung  ober  menfdjliäjer  ©djon^eit; 
fie  oergöttert  baS  ßftenfdjlicbe,  bie  SB a f iS  aller  fyelle* 
tüjdjen  .ftunft  aud)  im  nieberen  ©ebiete  beS  ©enteS; 
toegwerfenb  alles  Bufällige  ber  Sßirflidhfeit  ft  eil  t fie 
nur  baS  Sßefentlicpe  bar,  unb  abtoeifenb  IlleS,  baS 
nid^t  gur  reinen  gtoedflofen  2)arftellung  gehörig,  be* 
Rauptet  fie  jene  beaunberte  .£>ölje,  ton  bet  fie,  ewig 
unerreichtem,  leucptenbem  ©eftirne  gleich,  erquidenb 
auf  unS  (Epigonen  nieberglängt. 


C*  (22*) 


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Slnmcrfungtit. 


1)  lieber  alle©  fiterer  ©ebfrige  finbet  man  reichhaltige  i)tacbweife  bei 
©te^h^ni,  Compte  rendu  de  la  commiss.  archeol.  ä St.  Petersbourg 
pour  l’annee  1863,  p.  17  ff. ; 53  ff. 

2)  33gL  bie  befte  Sefchreibung  ber  ßompofttion  non  53runn,  23e- 
fchreibung  ber  ©Ipptothe!  9lr.  140. 

3)  Sille  „pueri“  unb  „ir*7&s“  ftnb  liier  natürlich  auÄgefchloffen  unb 
nur  bie  „infantes  nnb  neuiut  ober  vr'motu  berücffic^tigt  worben. 

4)  ©efchtchte  ber  grietfcifcf^en  spiaftif  SÖb.  II*,  157  2lnm.  168;  ber 
* ©ab  „benn  bie  ©änfejungen  finb  ÜJiarmerfopien'  will  bocp  offenbar  bem 

Originale  jene  freie  $»aarbebanblung  abfprecben. 

5)  9U<ht  Xa.kxYjozvm;  wie  Coerbecf,  ©cfcriftquellen  (SQ)  9lr.  1 596 
angibt,  fonbern  KaX^icVios  natürlich  wollte  £>tfr.  5Rüßer  bei  9>aufa* 
nia8  lefen,  was  tro$  ©d>ubart8  Söebenfen  fehr  wabtfcbeinlid)  ift. 

6)  Compte  rendu  1863,  56. 

7)  Zieher  gehören  auch  jene  ©cpalen  au8  bem  ©alaffifcben  ©rab 
(Mus.  Gregor  1,  62  ff.)  mit  aufjermpthifchen  Äriegerjügen. 

8)  3ulefct  ausführlicher  befprccf)en  »cn  ©teptjani , Compte  r. 
1867,  69  ff. 

9)  3hm  analog  mar  jebenfatl«  beS  ©ilanion  epistates  exerccns 
athleias  34,  82:  33eibe8  waren  offenbar  Vertrat«  einer  Slrt  son  ©tun* 
naftarchen;  ba8  eine  üllal  fefct  pliniuS  Flamen  unb  SefchäftigungSart 
be8  Stanbef,  ba8  anbre  5Ral  nur  Untere«. 

10)  ©enn  Urlich*  (chrestomath.  Plin.  p.  321)  mehr  weif)  als 
bie  Quellen  be8  “JMiniuS  unb  al8  ©egenftanb  bie  Sieben  gegen 
$h«ben  «nb  obenbrein  2lmphiarae8  (als  senex)  angibt,  fo  ift  ba8  ent* 

(235) 


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86 


fcpieben  unnötig ; benn  Slmpfyiarao«  wirb  immer  mitgejäljlt  unb  ift  nicht« 
Weniger  als  ein  ©reib;  unmöglich  ift  eö,  baß  nur  SteofleS  unb  flolp* 
tieifcS  in  ber  ßftitte  gefämpft,  bie  übrigen  6 gelben  ringsum  geftanben 
hätten,  opne  baß  cbenfo  Diele  »cn  ber  ©eite  ber  Spebaner  mit  i&ncn  im 
Äampfe  gewefen  waren.  — SSiel  et>er  hätte  er  nermutl)en  fßnnen,  ba§ 
bie  ©ruppc  ber  bcS  .JtppatoboroS  unb  Striftegeiton  entfprach  (Paus.  X, 
10,  3),  b.  b-  ba§  bie  fieben  gelben,  unter  bie  natürlich  Slmphiarae« 
auch  gehört,  bargefteHt  waren  unb  ju  ihnen  als  achter  9llitf>erje«  fam, 
über  ben  wir  jwar  gar  nicht«  Seftimmte«  wiffen,  »on  bem  ftd)  aber 
nach  Slnalcgie  be«  Ijcmerifcben  gleichen  Flamen«  (Od.  2,  157  ff.)  »er* 
muthen  liehe , ba§  auch  er  ein  ©eher  unb  ©rei«  war,  eine  nach  bem 
Sppu«  ber  bemerifeben  geftaltete  gigur  ber  Sofalfage.  (Ser  ©opn  be? 
Selegerfenig«  Slnfaic«  Paus.  VII,  4,  1 ift  wieber  ein  anberct  Sllitberfe«). 

11)  Sen  „ffttl.ctijT*)';“  beS  Simaineto«  erwähnt  Pausan.  I,  22,  7 
nur  im  Skrbeigeben  (napevn),  b.  h-  eben  ohne  bie  näheren  Umftänbe, 
wie  ßlarne  u.  f.  w.  anjugeben. 

12)  93gl.  ben  <rx nt/xa-^wv  beS  ©laufia«,  ber  beweift,  wie  früh  man 
fchon  bei  biefen  ©tatuen  nad>  folgen  d>araTteriftifc^en  SUotiren  fuchte. 
Sah  e«  überhaupt  ©itte  war,  ben  Athleten  unb  fenftigen  artifices  bie» 
fenige  ©teilung  ju  geben,  welche  fie  bei  Srlangung  ihre«  ©iege«  inne 
hatten,  lernen  wir  au«  C!orn.  Nepos,  Chabr.  1,  3.  5Benn  hier  freilich 
biefe  ©itte  erft  »on  Gpabria«  an  batirt  wirb  (bie  ©teile  ^eißt  bei 
£>alm:  ex  quo  factum  est  ut  postea  atliletae  ceterique  artifices  iis 
statibus  in  statuis  ponendis  uterentur,  * * cum  victoriam  essent 
adepti;  bie  Heine  Sücfe  fchäbigt  ben  ©inn  nicht),  fo  fann  bie«  tRicpf« 
fein,  al«  eine  jener  im  Süterthum  häufigen  wittfürlicpcn  ülnfnüpfungen 
alter  ©itten  an  irgenb  ein  hemorragenbe«  ibeifpiel. 

13)  Sßgl.  auch  Surfian  in  (Srfcb  unb  ©ruber«  Mg.  ©ncpclopäbte 
I,  82,  435;  446. 

14)  S8cn  Äephifobet  5.  S3.  nennt  ^Miniu«  philosophos;  buttp 
anbre  Duellen  fennen  wir  ben  IRebner  üefurg  unb  ben  Sicfjter  ÜJlenanber 
al«  feine  SBerfe,  ein  wopl  nicf;t  jufäßigefl  •3ufammentreffen. 

15)  Plin.  34,  64;  bie  anbre  venatio  mit  fjunben  (ib.  63)  be* 
ftanb  wopl  ebenfaßfl  au«  f'crträt«  3ßornchmer. 

16)  2Benn  man  nemlich  Plin.  34,  66  venatorem  ju  Alexandrum 
jiept,  wa«  ba«  SRatürlicpfte  unb  piniu«  fonftiger  8tuf$äblung«art  ba« 
©ntfprecpenbfte  ift.  3nterpungirt  man  jeboch  nach  Alexandrum,  fo  ge* 

<*J6) 


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87 


hört  tiefer  3äger  eben  unter  bie  Älaffe  fcer  übrigen  venatores,  wie  auch 
©tepljani  Compte  r.  1867,  p.  90  annimmt,  tem  ich  auch  in  ber  2lb* 
weifung  ber  feljr  mißlichen  Annahme  Äefule’S  (3(rd).  3tg.  1865,  15), 
ber  Ijier  SJteleager  [iebt,  beiftimme. 

17)  Bgl.  Selbig,  Unterf  Übungen  über  bie  Sampanifchc  SBanbma- 
lerei  ©.  276.  — Sie  Statue  eines  3ägerS  in  9Jlüncpcn  (®lppt. 
Sir.  156)  mit  einem  leitet  ergänzen  fPorträtfopfe  gehrte  offenbar  in 
tiefe  Älaffe  ber  venatores. 

18)  ©.  Brunn,  ©efch.  ber  gr.  Äünftler  1,  461,  wo  jehon  ber  rich- 
tige ©cfcluß  barauS  gejogen  wirb.  — Sie  in  ber  ÖUeinfunft  (Broncen, 
Serrafotten)  häufigen  SarfteÜungen  Bon  Dpfernben  unb  Betenten  finb 
auch  für  Sßeihgefchenfe  ju  hafon  (f.  §rieberid>S,  Berlins  antife  Bilb» 
werfe  II,  ©.  453  ff.),  bie  ber  (Einfachheit  »egen  nicht  eine  3nbioibua- 
lität,  fonbem  einen  allgemeinen  StppuS  barfteHen.  (Sbenfo  wenig  Wie 
aus  ihnen  barf  auS  bem  Borfommen  Bon  Sägern  in  ber  Sleintunft  auf 
bie  (Ejriftenj  berfelben  als  „@enre"  in  ber  monumentalen  Äunft  gef^lof- 
fen  werben. 

19)  Bei  §)liniuS  admirantes,  baS  auS  bem  griedjifc^en 

überfeßt  fcheint,  baS  auch  anbeten  unb  Bereden  heißt.  (Sine  mulier  beS 
öuphranor  war  jugleicp  admirans  unb  adorans,  woraus  bie  3ufam- 
mengehörigfeit  beiter  SJtotiBe  bernorgeht.  • 

20)  Ste  Slnftcßt,  eS  fei  bie  Sltfjena  'ProtnafhoS  beS  'PhitiaS  (ohne 
©chlüffel)  hier  gemeint,  hat  StidjtS  für  fuß.  Sticht  einen  ungewöhnlichen, 
ber  fünftlerifchcn  (Srf^einung  wiberfprechenben  Beinamen  einer  ©ottheit, 
fonbem  eine  eben  jenes  fteufjere  ^arafteriftrenbe  Bejeichnung  muß  man 
nach  allen  Slnalogieen  in  ber  cliduchos  fuchen. 

21)  Berwanbt  ift  eS,  wenn  bie  altbeutfdje  DJialerei  (ich  benfe  an 
ein  ©chongauerifcheS  Silt  in  (Solmar)  in  ber  ©eene,  wo  ©hriftuS  Slbam 
unb  (Ena  aus  ber  £>ölle  führt,  jwar  jenen  als  ©reis  mit  weißem  Barte 
barftellt,  an  (Eoa  aber  {einerlei  ©puren  beS  welfenben  SllterB  anbeutet. 

22)  „Fleutes“  ift  nicht  ftreng  ju  nehmen;  leicht  fann  eS  aus 

oeöaxp-j/uLtvau  überfeßt  fein  unb  bieS  h»e§e  nur  „Berweinte  Stauen,  mit 
©puren  Bergoffener  Spänen."  ©o  braucht  eS  Pausan.  1,  21,  5 Bon 
ber  Stiebe  am  ©ippluS  unb  fügt  noch  baS  Attribut  nieberge- 

fchlagen,  wehmüthig  h*nJu ; auch  SlmafaeuS,  Der  Ueberfeßer  beS  fPaufa- 
nias,  giebt  baS  6t oa,xpv/uUvYiv  einfach  mit  lacrimantem.  SaSfelbe  wirb 
9)linius  (nielleicht  fchon  feine  Quelle)  getßan  haben,  ©o  Berwanbeln 

(W) 


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88 


ficf)  bie  „rocinenben  ÜÖiatroncn"  einfach  in  grauen  ernftwefymütfyigen  Stu«* 
brucf«.  3n  jener  3eit  beS  4.  3ftf>rl).  aber,  wo  man  nad)  pfpdjologifc^em 
Sntereffe  unb  )pcrBertreten  be«  Seelenleben«  ftrebte , mochte  überhaupt 
für  Vertrat«  ältrer  Söiatrcnen  ein  fclcper  webmüthiger  SluSbruct  üblich 
fein,  »erbunben  etwa  mit  einer  topifdjen  ^Bewegung,  wie  bem  Nähern 
einer  £>anb  gegen  ba«  Äinn  u.  bgl.  Namentlich  mußten  Statuen  fe« 
pukraler  Berwenbung  ju  folgen  OJiotioen  einlaben,  ©ine  berartige 
Äompofition  ift  uns  ja  nad)  ber  wabrj$einlid?ften  ?lnnabme  in  ben  be* 
fannten  fog.  Penelope • Statuen  erhalten;  fte  tonnte  in  obigem  Sinne 
recht  Wcl;l  flens  matrona  Reißen.  — äSollfoinmen  willfürlid)  ift  llrlid)«’ 
Slnjidjt  (ehrest.  Plin.  p.  331),  .fpefuba  mit  Ürojanerinnen  feien  unter 
ben  flentes  matronae  gemeint. 

23)  SDiefe  Unterft^eibung  wie  fo  Biele«  anbere  in  biefer  Schrift  Siet* 
wertete  Berbanfe  id;  meinem  Bereiten  gebrer  ^einridj  Brunn. 

24)  93liniu8  nennt  fte  uns  Bon:  ÄalamiS  (auf  eine  feiner  Quabri* 
gen  fefcte  fPrayitele«  einen  neuen  genfer),  Bon  ÄriftibeS,  Spüler  beS 
S>olpflet,  Bon  ©uphranor,  gpftpp  (34,64  quadrigae  multorum  generum, 
alfo  nidjt  blo«  folcbe  auf  baS  Wettrennen  bcjüglidje),  unb  Bon  ©utl;p* 
träte«;  fpifton  unb  SliftfrateS  arbeiten  jufammen  ein  Sweigejpann  mit 
einer  grau  barauf  (wctjl  bie  Befifcerin) ; Slriftebem  macht  (34,  86)  bigas 
cum  auriga,  ber  l;ier  befonberS  erwähnt,  aber  auch  fenft  BcrauSju* 
feßen  ift;  ÜJienogene«  enblicf)  (fonft  unbefannt)  quadrigis  spectotur 
(34,  88). 

25)  Wie  Selbig  a.  a.  O.  306  ff.  trefflich  naepweift.  Dafelbft  fmb 
auch  bie  übrigen  Äü^e  unb  Stiere  angeführt;  ^injujufügen  wäre  etwa 
als  intereffant  baS  ßotöwv  n x,*Xx3’jk  als  Weibgefcfjenf  ber  Hetäre 
Äottina  in  gafebämon,  worüber  Ödemen  bei  Atbenae.  13,  p.  574  C 
berietet. 

26)  Obwohl  Ooerbecf  $)laftif  1,  330  ben  Änaben  beS  gbfio«  baS 
altefte  plaftifdje  Oenrebilb  nennt,  erwähnt  er  bodj  S.  119  unfer  Werf 
als  baS  erfte  ©attungflbilb  unb  bie  erfte  Statue  au«  ntenfcblitbem  greife, 
bie  nicht  Porträt  war.  (3nbe§  jene  Werfe  bc«  SMonpfio«,  Sigelaba«, 
Äanatfjo«  u.  f.  f.  ftnb  minbeften«  gleidjjeitig.)  — Wollte  3emanb  hinter 
unfrer  $pbrophore  etwa  eine  Npmpbe  fu^en,  fo  wäre  einerfeit«  bie 
Nichterwähnung  bei  fUutarcb  jelir  auffällig,  anbrerfeit«  tonnte  man  faum 
eine  Waffet  fpenbenbe  Nrnnphe  al«  Waffer  Iragenbe,  b.  h-  $oIcnbe 
bezeichnen  (man  Bgl.  S)amephcn’S  Npmp^enbarftellung  Paus.  8,  31,  4.). 

(226) 


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89 


27)  £5fyne  beftimmte  Äennjeicben  war  aucb  bie  wabrfcheinlicb  ar? 
cbaifcfee  Sberjagb  bei  Paus.  1,  27,  7. 

28)  ©eiammelt  ton  C.  3abn,  ©ertöte  tcr  fädjftfcbcn  ©efetlid)  1867. 

29)  2>cn  einem  ff*T;  avaioJ^evc;  rry  xetfiaX/  v fdjcint  paufania« 
felbft  (6,  4,  5)  ben  Flamen  nicf)t  gewußt  ju  haben;  bcch  bezeichnet  er 
ihn  inbirefi  als  Porträt,  inbem  er  faßt,  er  fenne  fcnft  fein  'Porträt  ton 
pfjibia«  — wieber  ein  2)ewei«,  baß  begleichen  Plotioc  in  ber  Siegel 
bem  porträtfacbe  anget)örtcn. 

30)  3n)ar  ift  bei  pliniu«  überliefert,  baß  Pinten  „pristas“  ge. 
macfct  habe,  bie,  wie  man  mit  peterfen  (Streb.  3tg.  1865,  91)  anneb« 
men  muß,  nur  als  .Säger*  gebeutet  »erben  fönnen;  aber  baö  ©er! 
ftünbe  fo  eereinjelt  ba,  bay  hoch  ein  3rrtl)um  bei  pliniu«  cbioalten 
fonnte.  Snbefj  unmöglich  jeheinen  mir  bie  Säger  nicht;  nur  muß  man 
fte  lieh  natürlich  in  Jener  3^it  alö  3lnatl)em  benfen,  etwa  an  Sltl;ena 
(Srgane,  bie  ja  auch  ba«  3>mntermann«banbwerf  bejehüßte.  3luch  bafj 
bie  Tarftellung  einem  fo  niebern  .Steife  entnommen  ift,  bürfteim  £>in« 
blief  auf  bes  Stpppa;r  unb  Upfio«  geueranblafer  — eine  ebenfall«  nie« 
bete  ©efchäftigung  — faum  mit  Siecht  eingewenbet  werben.  Tic  9Ji  eg. 
ichfeit  einer  fiebern  Öntfcheibung  müffen  wir  jeboeb  ned)  oen  ber  3u* 
funft  erwarten. 

31)  Sofern  wir  nemlich,  wa«  ba«  waljrfcbeinlicbfte  ift,  bei  Plin. 
34,  79  ben  suffitor  mit  bem  sufflans  lauguidos  ignes  ibentifijiren. 

32)  Tie  ©ermuthung  ©lümner«  (Slrcf?.  3tg.  1870,  55),  bat)  ber 
phriro«  bei  Paus.  1,  24,  2,  ber  fich  auch  fonft  fc^on  Piandjefl  hat  ge* 
fallen  laffen  müffen  (j.  2lnm.  37)  mit  bem  puer  sufflans  languidos 
ignes  bei  pliniu«  ibentifdj,  ja  mit  ben  barauf  genannten  Slrgonauten  ju 
einer  ©tupf)«  »erbunben  gerne jen  fei,  ift  gewiß  eine  fein  unglücfliche  ju 
nennen.  PhrijrcS  Stellung  braucht  feine«weg«  unbelebt  gewejen  $u  fein; 
ba«  geuer  aber  felbft  anjublafen,  wäre  für  bie  Statue  eine«  fperc«  je« 
benfall«  unpaffenb,  wo  nicht  unmöglich.  Piit  welchem  Siebte  aber  nimmt 
231.  an,  paufania«  habe  ba«  Sßerf  nur  flüchtig  betrachtet?  Paufania«, 
ber  an  biefer  Stelle  e«  fogar  ber  2Ji übe  werft)  hält,  eine  eigene  ©ermu« 
tbung  über  ben  ©ott,  bem  Wohl  Phrijro«  opfern  möge,  au«$ufpmf)en! 
Unb  Paufania«  foll  bergeftalt  blinb  gewefen  fein,  baß  er  oen  einem 
Pienfdjen,  ber  crlöfchenbe«  geuer  anbläft,  habe  fagen  fönnen:  er  fchaut 
auf  bie  brennenben  Schenfelftücfe,  bie  er  eben  auSgefchnitten!  — Tie 

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3Pee  einer  ©rupfe  PeS  opremPen  ^^rijreä  mit  Pen  Slrgonauten  entbehrt 
natürlidj  ebenfo  jeglid'en  2lnhaltS,  wie  fie  innerlich  unwabrjcheinlich  ift. 

33)  3n  Per  ©cbciPung  Per  teiPen  Söerfe  ftimme  id)  Deerbecf,  $>la- 
ftif  1»  393  3t.  88  bei. 

34)  3hn  für  einen  9)?ann  zu  galten,  »eil  er  nicpt  puer  genannt 
wirP,  febe  icp  feinen  ©runP  ein;  Pas  canis  Pericli  fc^eint  eper  auf  ju- 
genPIicbes  Stlter  ;u  beuten. 

35)  SePenfalls  ift  cS  ganj  unmöglich,  mit  £)»erbed  (fMaftif  1 , 333) 
an  Pag  monumentale  ftatuarifche  ©enrebilb  eines  fterbenPen  SSertounbeten 
in  Penfen.  Sie  frühere  SBermutpung , Paß  er  mit  Pem  SiitreppeS  iPen* 
tifcp,  läßt  ftcfj  Purcb  oerfcbiePne  fünfte  befeftigen.  3n  jePem  gatte  aber 
War  Paö  2öerf  ein  Porträt. 

36)  Sie  „pierique“  urtpeilten  fo ; Deerbccf,  ^laftif  1,  345  fcpeint 
PaS  — auch  nicht  „gelegentlich*,  fonPern  bei  Per  SepanPlung  ^olpfletS  »er* 
getragene  — Urtpcil  Pcni  iHiniuS  fetbft  zujufcbreiben. 

37)  Sie  llnwahrfcpeinlichfeit  PeS  33e;uge8  einer  Snfcprift  hierauf 
(f.  Ooerbetf  SQ.  998)  hat  Stephani  (Compte  r.  1866,  140;  1869, 
112)  gezeigt.  3(ber  aud;  fonft  ift  Pie  gewöhnliche  Sbentifijirung  mit 
Pem  non  fPaufaniaS  gcfepcnen  fPhriroS  (Pie  Ooerbecf  $>l  1,  357  als 
nottfontmen  ficber  annimmt)  fehlecht  begrünPet,  inPein  eS  zunäcpft  jcbon 
fehr  auffaflenP  wäre,  wenn  ein  ©cnoffe  'PolpfletS  auf  Pie  SlfropoliS  in 
Sltpen  gearbeitet  unP  'paujaniaS  PieS  nicht  einmal  erwähnt  haben  foftte. 
gerncr  aber  fann  Pie  3lnnabmc  ju  ergänjenPer  mnthoiogijcher  Flamen  bei 
ipiiniuS  nur  mit  größter  Verficht  gefepeben ; Pie  nächfte  'Analogie  unP 
gcnügenPe  Srflärung  bieten  aber  jene  sacrificantes- Porträts.  ©nPlicp 
ift  noch  *u  beachten,  Patj  ein  ebenfalls  peloponneftfcher  3eitgcnoffe  PeS 
DtaufoPeS,  ncmlich  $>atrofleS  unter  Pen  Sarftellern  non  sacrificantes 
genannt  wirb,  ©anj  analog  ift  Per  buthytes  (34,  78)  PeS  fonft  un- 
befangen SftPot : wie  bei  Pem  SSerfe  PeS  s)iaufpPeS  ift  nur  PaS  fDlcti» 
einer  ^priefterftatue  $u  erfennen.  Safür  Pag  'PliniuS  neben  Pen  allge- 
meinen Diubrifen  »on  'Porträtftatuen  auch  ©njelwerfe  Perfelbcn  fHubrifen 
mit  genauerer  fBejeicpnung  PeS  SttiotiöS  angibt,  ift  ein  jweiteS  Seifpiel 
Per  „digitis  computans^  PeS  ©ubulibeS  (34,  88),  Penn  offenbar  bezeichnet 
er  nur  genauer  eines  Per  fBtotioc  Per  „philosophi.“  SaSfclbe  2>erpältnifj 
waltet  jwifepen  einem  „destringens  se“  unP  Pen  „athletae“  ob. 

38)  ©ehr  unwabrfcpcinlicp  ift  mir,  Pag  alle  Pie  bei  fPliniuS  36, 

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91 


23  genannten  Sßerfe  im  Jöefi^e  beg  Sl'iniug  'Pcflio  ursprünglich  eine 
©nippe  gebilbet  haben  feilten. 

39)  (Etwag  Söiüt^ifdjeö  anjunehmen,  ift  gar  fein  ©runb  torhanben ; 

ungleich  näher  läge  eg,  aud)  hier  (»gl.  Sinnt.  43)  an  ©rabmenumentc 

ju  benfen,  wo  ähnliche  SOlctioe  ja  gewöhnlich  fmb;  inbeg  ift  auch  bieS 

niebt  notfeig.  — 3>erwanbter  Statur  mfiffen  bie  adornantes  s<>  feminue 
ton  Slpetlag  gewejen  fein  (benn  bieg,  nict?t  adorantes  ift  bie  richtige 
ton  Detlefjcn  aufgenemmene  gegart  hei  'pliniug  34,  86).  SBegen  biefer 
SBerfe  möchte  ich  ben  Äünfiler  lieber  erft  ton  ol.  1ÜO  an  arbeiten  laffen, 
al§  fchon  ten  ol.  90  (tgl.  Srunn,  ©efch-  b.  gr.  Äünftlcr  1,  287); 

Ätmigfa  Fonntc  ja  bie  jüngere  Schwefter  beg  StgeftlaoS  fein  unb  bag 

betr.  Deitfmal  längre  3eit  nach  bem  Siege  aufgeftellt  werben. 

40)  Der  SluÄbtucf  lopvrev  bei  Äalliftrat  fcheint  bieg  ui  betätigen 
(cgi.  Sinnt.  29). 

41)  Pausan.  X,  15,  1,  — Dterbecf  SQ  1269  ff. 

42)  Pausan.  IX,  27,  5.  — SQ  1246,  1251. 

43)  Sin  ber  9iof)beit  fcer  .fompofition  mit  Diecht  Slnftetj  nehmenb, 

termutheten  grieberid}«  ('Prariteleg  S.  56)  unb  Selbig  (glecfeiieng 
3ahrbücher  1867,  659  Slnm.)  'Perfonififationen.  3cbeg  bie  ganje  ©e* 
genüberftellung  ift  ohne  Slnalogie  in  jener  3cit  unb  fcheint  mir  lebiglich 
ben  (Epigrammen,  auf  bie  ja  bie  ganje  Stelle  mit  Sicherheit  weift,  ju 
entftammen,  ähnlich  wie  bieg  j.  3).  bei  bem  viciliter  puer  unb  molliter 
juvenis  beg  'Pclpflet  ber  gall  ju  fein  fcheint  (tgl  Diltbe»  im  Sifaein. 
SKuf.  1871,  290.).  ©ewig  nicht  ohne  ©runb  war  aber  bie  Slnficht  im 
SUtertbum,  tag  bie  ^Buhlerin  'pf-rpne  fei.  Dabei  ift  ju  beachten,  bag 
feine  ber  jwei  in  unb  Delphi  befinblichen  ^Mjrnneftatuen  bei 

pliniug  erwähnt  wirb.  Die  flens  matrona  ferner  war  gewig  bagfelbc' 
wie  bie  ton  Stftennig,  alfo,  wie  wir  oben  falten,  bie  Statue  einer  weh* 
mütbigen  grau,  wol  für  ein  ©rab;  bag  'Prariteleg  eben  folchc  SBerfe 
machte,  geigt  ber  Ärieger  neben  feinem  Sieg  alg  ©rabmonument  (eni^*,u,x 
beg  rttipcg  nennt  ihn  Paus.  I,  2,  3/  alfo  Statue).  — S3eibe  urfprüng* 
lieh  getrennten  SBerfe  würben  bann  in  Epigrammen  (tielleicht  auch  in 
Kopien)  gern  gegenübergeftellt,  alg  Dtpen  jweier  ©egenjäpe. 

44)  3war  mügten  nach  ber  fonftigen  Slufjählungsweife  beg  fPliniug 
34,  79  ber  mango  unb  ber  puer  getrennte  SBerfe  fein  wegen  beg  eben- 
fadg  afpnfcetijch  torljer  angeführten  Apollo  diadematus;  hoch  fachlich 
berechtigt  ift  bie  gewöhnliche  3ufammenfaffung  berfelben  ju  einer  ©nippe; 

(251) 


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92 


nur  muß  man  bann  entmeber  ju  puerum  ein  nerbinbenbe#  et  (que  ac) 
binjuconjiciren,  ober,  ma#  mir  tcabrfdieinlid>er , eine  Ungenauigfeit  be# 
Pliniu#  annehmcn,  ber  bie  Äürje  feine#  (Ercerpt#  beim  ©erarbeiten  au# 
jjflücbtigfeit  miSnerftanb. 

45)  Stephani  Compte  rendu  1868,  82  ff. 

4 ) Compte  rendu  1869  t.  III,  12  ff.  — 3)ie  treffliche  @ruppe 
eine#  päbagogen  unb  feine#  Scbufcbefoblenen  ib.  t.  II  2 bat  etma#  bem 
SBerfe  be#  i'eorfjareß  wie  mir  e#  un#  benfen,  geiftig  ©erroanbte#.  — ÜBa# 
bie  trunfne  l'llte  Piaroni#  in  Stnprna  betrifft,  io  finb  SBuftmann#  91u8« 
fübmngen  im  91.  jRbcin.  ÜJluf.  1867,  22  nerfebrt  unb  gänzlich  falfcb. 
©ennberf#  ©c  benfen  ’llrcb.  3tg.  1868,  78  beruhen  auf  ber  nicht  jutref* 
fenben  ©orftellung,  al#  fei  pliniu#'  fehler  au#  ben  (Epigrammen  felbft 
geflcffen ; bieie  lehren  un#  ja  mciter  9licbtS,  al#  baß  man  unter  Mapum; 
eine  berüchtigte  alte  Ürinferin  nerltanb.  Sföie  nab  lag  e#  nun,  baß  ber 
Zünftler  (melleicht  auch  nur  ba#  publifum)  feiner  ©enrefiatue  einer  be« 
trunfenen  ?(ltcn  non  ber  2lrt  ber  un#  crbaltnen,  jenen  ^ieffir  tppifchcn 
9lamen  beilegte  Maptuvcs  fonnte  alfo  febr  mobl  eine  in  Srnprna  be« 
finbliche  berühmte  Statue  beigen  unb  als  fclcbe  non  ben  Quellen  be# 
PliniuS  befchrieben  merben. 

47)  j.  ©.  Compte  r.  1869  t.  II,  7.  8;  p.  146.  — 9Ucf?t  in# 
©ebiet  be#  ©enre#  gehören  : (Der  (ober  bie?)  adorans  be#  ©oebaS, 
be#  ©ohne#  Scftpp#;  er  ift  mie  bie  sacrificantes  ju  beurteilen;  ber 
betenbe  Änabe  in  ©erlin,  ben  man  auf  ihn  jurücfgefübrt  bat,  gehört  in« 
beß  auch  nicht  ,bem  ©ebiete  be#  rein  ©enrebaften”  an  (Cuerbecf,  plaftif 
II,  115);  auch  bamal#  erhielten  ja  Ultbleicnfnaben  noch 'oft  Statuen 
(j.  ©.  SQ.  1518  non  ITaippo#)  unb  au#  ?nftppiicber  3«it  mag  er 
mobl  ftammen.  — 2)er  senex  Tbebanus  non  Üififrate#,  non  bem 
fonft  nur  Porträt#  genannt  merben,  mar  niclleicht  auch  eine#;  inbeß  fonnte 
man  auch  an  Jeiretla«  benfen.  — (Sbenfomenig  ift  bie  epithyusa  bc# 
pbani«  ein  „©enrebilb*,  fonbern  gehört  in  bie  ftlaffe  ber  epfernben 
grauenporträtS.  — (Epigonu#,  rnabrf  (peinlich  erft  au#  pelleniftifcbrr 
Seit,  macht  (PI.  34,  88)  bie  (Erjftatue  eine#  irompeter#.  2)a  nun  an 
ben  großen  §eftfpielcn  auch  Srompctcr  mettfämpften,  ma#  namentlich  non 
einem  gemiffen  ^erobere#  ju  (Enbe  be#  4.  3bp.  berichtet  roirb,  fo  fonnte 
(Epigonu#'  Statue  leicht  ba#  Porträt  eine#  folgen  Sieger#  fein.  5>aS« 
felbe  fann  non  einem  ©ernälbc  be#  Slntibotu#  (pl.  35,  130)  nennu« 
tbet  merben,  non  bem  außer  bem  tubicen  noch  ein  luctator  unb  ein 

(232) 


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93 


dipeo  dimieaus,  b.  h-  tuofjl  ein  fpoplitotrem  genannt  werben  — lauter 
gleichartige,  auf  bie  SBettfämpfe  bezüglichen  SBerfe.  — 'Diacb  ben  bi«be« 
rigen  Analogien  ift  auch  Simon’«  (Srgwerf,  ein  .£>unb  unb  ein  So- 
genftfcübe  (f)l.  34,  90)  gu  beurteilen ; felgt  wabrfdgeinlidj  gehörte  ber 
4>unb  gum  Schüßen  unb  Bit  fjaben  nur  wieber  eine  fpegiellere  Angabe 
über  einen  ber  „venatores*,  alfo  ein  ‘Porträt,  aber  nicht  ba«  eine«  ®rie» 
(ben  natürlich,  fonbern  etBa  eine«  Äreter«  ober  Sfntben,  für  Weid?’ 
leitete  bie  @rie(ben  ja  jo  viel  arbeiteten.  SDann  fann  aber  biejer  Si» 
mon  mit  bcm  alten  Slegineten  gleichen  SRameu«  nicht  ibentijdg  fein. 
3Ba«  ba«  bei  piiniu«  folgenbe  ,scopas  uterque“  betrifft,  fo  ftnb 
bie  beiben  bieberigen  (Srflärungen  nicht  ltidjbaltig:  ba«  Unbegrünbete  bet 
weit  geholten  ^Deutung  non  scopas  al«  Satprn  in  tangenber  ^Bewegung 
würbe  fdjon  pon  anbrer  Seite  bemerft;  nocb  weniger  fann  aber  bie  non 
(Sinigen  angenommene  ©onjeftur  copas  jugegeben  werben;  man  fteUte 
fich  barunter  f^mucfe  ÄeHnerinnen  per,  bie  nicht  nur  Stratonifo«,  fonbern 
in  merftnürbiger  Uebereinftimmung  auch  ber  ebenfatl«  mit  S beginnenbe 
Simon  reibenweife  fabrijirt  haben  fotl!  Solche«  fomjte  man  bem  anti* 
fen  @enre  gutrauen!  — Ueberbie«  ift  copae  ein  gang  römiicbeS  Stört 
wie  SBegriff,  für  ben  ba«  griecbifcbe  Original,  ba«  aber  fcbwerlicb  ejriftirt, 
erft  na<bgewiefen  werben  müßte.  — Offenbar  ftecft  bie  Äorruptcl  in 
uterqae ; Scopas  ber  Äünftlemame,  ber  ja  in  bie  alphabetifdje  Slufjäh* 
lung  trefflich  paßt,  ift  beigubebalten;  man  fcnnte  gwar  ben  berühmten 
SJiarmcrfünftler  näher  begegnet  wünfdgen,  aber  notbwenbig  ift  bei  bet 
inconfegnenten  9lrt  eine«  Sompilator«  wie  piiniu«  ein  foldger  3ufaß 
nicht.  3>a  in  biefem  atphabetifdgen  Kataloge  immer  ber  Äünftlername 
nor  ba«  SBerf  gefegt  wirb,  fo  Permutbe  idj  in  uterque  eine  Pon  Sfopa« 
gebilbete  ®attung  Pon  ©egenftänben.  3ft  utrarios  gu  lefen?  b.  ß. 
Stblaucpträger,  i<rxo<\dpev$,  Saturn  ober  SUene  mit  Schlauch,  wie  wir 
fle  au«  DJtonumenten  ber  jüngem  Slttifcpen  Schule  fo  gasreich  fennen?  — 

48)  SBenn  Stephani  neuetbing«  (Compte  r.  1870/71,  S.  99; 
ogL  Mölanges  Greco  - Romains  tome  III,  p.  398)  mit  ügioenteht  be» 
bauptet,  er  fei  nur  eine  ftatuarifcbe  fttacbhilbung  be«  ©cmälbe«  be« 
Protogene«,  fo  ift  ba«  recht  wohl  möglich,  inbem  ba«  SDiotio  be«felben 
jebenfatl«  feljr  ähnlith  war.  9luch  baß  no<h  Protogene«  in  wefentiicb 
Praritelifchem  ©elfte  bie«  ®erf  gef  Raffen  habe,  wäre  in  biefer  3«t  ber 
ttebergänge  unb  ber  (ich  burthfreugenben  ^Richtungen  nicht«  Sluffaflenbefl. 

49)  3Bie  ftarf  bie  Steigung,  bie  Sbealität  antifer  Statuen  in  mo« 

(83J; 


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94 


mentane  Situation  aufgulcfen,  leitet  oft  noch  ift,  geigt  g.  23.  He  Slug, 
einanberfchung  über  He  „3bee"  ber  Sltbena  parthenog  bei  Coetbecf, 
plaftif  I,  225. 

50)  5>on  Stephani  itn  Compte  r.  1870/71,  69  ff. 

51)  Paus.  1,  8,  4.  Diicht  unmöglich  märe,  trag  üoerbecf,  SQ. 
1306  oermutbet,  baß  er  mit  bem  Apollo  diadematus  (Plin.)  beg  Üeo* 
cbareg  itcntiicfi;  ein  Hinneigung  gu  gpfippifcber  ‘fluffaffung  fcbeint  im 
„mango“  oorguliegen , and?  arbeiteten  beibc  Äunftler  gujammen  gemein» 
fam  (an  ber  Slkranberjagt). 

52)  g.  23.  bcni  Sllejranber  bei  Chirac  rntisee  de  sculpt.  264,  2100, 
bem  Heraflcg  cbba  301,  1968;  785,  1966;  auch  am  bogenfpannenben 
©reg.  — Sludt  ber  ein  Sein  aufftellenbe  Sllejranber  in  'JJiüncben  (®lppt. 
Dir.  153)  gcugt  ton  bem  Streben  nach  momentan  beroegter  Raffung  in 
üpfippifcber  ÜBeife.  — Slug  all  bicien  unb  ben  im  Serie  angeführten 
Sbatfacben  erhellt,  tag  icb  ber  Scljauptung  ©.  pcterjeng  (/Pbeibiag 
S.  418),  Bpfippß  ©etter  feien  äußerlid)  ruhiger  gemefen,  alg  bie 
beg  Prajriteleg,.  nicht  bcipftichten  fann. 

53)  Diacp  Sinologie  beg  bei  ben  23ilbbauern  23emerften  eermeife  ich, 
hier  allcrbingg  mit  geringerer  Sicherheit,  golgenbeg  aug  bem  ©ebiete  beg 
©enreg  in  bag  beg  porträtg;  gunäcbft  bic  Sltl/leten  bei  pliniug,  non 
3eujrig,  ©upompcß,  Slntibotog  (Ogi.  Slnm.  47),  Protogeneg  unb  Saurig* 
fog;  auch  bie  garfclläufer  in  ©lig  ocn  pprrhon  gehören  l;ieher,  eon  bc» 
nen  Slntigonog  ber  Äarpftier  bei  Diog.  L.  9,  61  berichtet,  ©inmal 
nennt  ung  piiniug  (35,  138)  ein  folcheg  SUhletenporträt  namentlich, 
nemlich  ben  Dicjrippog  oon  Sllfimachog  aug  Slleranberg  3eit.  — Sludj 
Priefterporträtg  mürben  gemalt,  toie  mir  bieg  ocn  bem  DJlaler  Sgmenia« 
beftimmt  miffen.  So  merbcn  mohl  auch  manche  ber  bei  piiniug  aüge* 
mein  angeführten  trieftet  ober  Sctenben  Porträtg  gemefen  fein:  fo  ber 
sacerdos  adorans  beg  Slpollobor,  beg  Parrhafiog  sacerdos  adstante 
puero,  oielleicht  auch  Slriftibeg’  supplicans  paene  cum  voce.  — SDafj 
bie  anus  ber  3aia  in  grandi  tabula  (35,  147)  ein  Porträt  mar,  be» 
»eift  ber  3ufammenhang  (imagines  mulierum  — grauenporträtg  mie 
gleich  § 148  imaginum  pictbres  = Porträtmaler).  — ©ine  Slrt  oon 
gamilien»  ober  ©efchledrterbilber,  natürlich  Porträtg,  fcheinen  fol» 
genbe  gemefen  gu  fein  (»gl.  Uriicbg  chrestom.  Plin.  p.  353) : beg  patn» 
philog  cognatio,  Simoma^og’  cognatio  nobilium,  Sltheniong  frequentia 
quam  vocavere  svngenicon,  ICiniag’  syngenicon  unb  entlieh  ätoinog’ 

(2S4) 


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95 


stemmata.  ©etciß  gehörte  berfelben  (Gattung  bie  Ben  'paufias  fctce^I 
als  non  feinem  Schüler  Slriftolaoö  (PI.  35,  127.  137)  erwähnte  bouin 
immolatio  an,  ein  Stammes*,  ©cfcßlecßtS*  eher  gamilicnopfer.  ®ie 
äJejcicßnung  <ruy yenxav  (sc.  Upc'v ) gibt  ben  ©efammtinbalt,  ben ' ütcl 
teS  33ilbeS  oßne  Diücfficßt  auf  bie  SarftellungSart  an,  „boum  iramo- 
latio“  baS  ßernorragenbfte  fünftlerifcße  fölctio.  fbe^eießnent  ift,  baß  ge* 
rabe  nertniegenb  bie  SittJonifcße  Schule,  'PampßileS,  'Pau'iaS,  Slrifto* 
larS,  felcße  beä  Schwunges  unb  ber  ’5>^antafie  ennangelnbcn  59erfe 
icßafft.  (ülucß  ?ttßcnien  als  Schüler  eines  unbefannten  ÜJleifterS  aus 
Äorintß  ttirb  Ben  ber  benachbarten  Sifccnifcbcn  Schule  beeinflußt  »Ber- 
ten fein.)  — 9Jlit  tiefen  gamilien*  ober  ©ejcßlccbtcrbilberR,  bie  feit  SDtitte 
teS  4.  3ßh-,  b.  h-  feit  tem  Aufblühen  ber  'Pcrtrütfunft , in  ber  alten 
SKalerei  auftreten,  läßt  [ich  nielleicßt  nidjt  unpaffenb  ber  namentlich  int 
17.  3bb-  in  ben  9lieberlanten  häufige  0e brauch  ncrgleicben,  nach  bem 
man  fiel?  t orporationSweife  porträtiren  ließ,  fei  cS  nun  beim  SJlable 
ober  beim  Otatbe  ober  fonft  in  einer  ber  betr.  dterperjehaft  cntfprccbcnten 
Situation.  — Schließlich  tnareit  noch  folgenbc  ©emälbe  bei  PliniuS 
tnahrfcheinliche  'Porträts:  ber  navarchus  beS  'ParrhctfioS,  nielleicßt  feine 
Sßrafifcßc  Slmnte,  ber  SPragöbe  beS  StriftibeS  (Bgl.  ben  ©orgoftßencS  teS 
Spelles);  ber  ©reis  besfelben,  einen  Änaben  in  ber  Seier  untermei* 
fent  (sgl.  teS  ^ßilccßareS  ©reis  mit  Sohn)  unb  ber  ©reis  ber  Äalßpfo; 
bie  amica  Bon  £)abrcn  entlieh  mar  ein  £>etärenporträt , wie  fie  in  fpä* 
trer  3eit  zahlreich  waren  (Bgl.  bie  Silber  ter  üeontion,  bie  ,$>cmo* 
grapßen ' ) ; bie  allgemeine  SeSari  ber  ^»tfeß.  amica  in  an  unfrer  Stelle 
(35,  141)  ift  baßer  Hießt  ju  Bertoerfen  ober  Amicitiam  bafür  einjufeßen, 
baS  man  wegen  beS  folgenbcn  et  Concordiam  conjicirte;  ’O/uoveut  aller* 
bingS  jtar  ©ettin  mit  Üernpel  unb  Sltären,  Bon  einer  4>d.üt  ift  uns  bieS 
aber  nießt  befannt  (nur  eine  'Jlpmpße  ßeißt  fo  Diod.  Sic.  5,  52).' 

54)  3n  ter  3bentiftjirung  beS  bei  ipiiniuS  aus  SDefulo  genannten 
archigallus  mit  bem  Megabyzus  bei  SjeßeS  ftimme  icß  Surfian  Stlg. 
@nc.  I,  82,  470  bei;  erftre  ift  nur  eine  miSBerftänblicße  latiniftrte  S9e* 
jeießnung. 

55)  SaSfelbe  Bon  Aelian.  vtu.  hist.  II,  44  auSfüßrlicß  befeßriebne 
33ilb  füßrt  aueß  fMininS  35,  144  als  „erumpentem“  auf,  was  mit 
Sennbcrf,  tem  3)etleffen  folgt,  ftatt  beS  Berberbten  emungentem  ßerju* 
ftellen  ift;  naeß  ©ewoßnßeit  begnügt  fteß  'pliniuS  baS  fÖlotiB  an;ugeben. 

(235) 


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96 


56)  Sgl.  über  itm  neueftenS  23runn  in  ÜJleperS  tfünftlerlejricon 
II,  252. 

57)  Plin.  35,  78  Semiramis  ex  ancilla  reguum  apiscens,  anus 
lampadas  praeferens  et  nova  nupta  verecandia  notabilis.  3<h 
glaube  görfterS  Sebenfen  (3Jr^.  3tg.  1874,  89)  jurüefweifen  unb  ÜBrunnS 
3>crmutl)ung  »on  ber  3bentität  ber  SemiramiS  unb  nova  nupta  al« 
f)C<bft  toahrfcbeinlith  bezeichnen  ju  bürfen.  @8  ift  nemlich  flar,  bafj  ba$ 
ganz  abftrafte  Semiramis  . . . apiscens  nur  ber  rein  gegenftänblidje 
ftofflidje  SEitcl  eine«  ©emälbeS  fein  fann,  ber  uns  öen  ber  fünftlerifchen 
üDarftetlung  fefbft  auch  nicht  einmal  eine  Slbnung  gewährt  unb  be8t>alb 
bie  folgenbc  (Srflärung  gerabeju  »«langt;  biefe  geigt  un8  nun,  wie 
}ene8  apisci  ber  ÄönigSwürbe  bargeftefit  war,  ncmlich  bureb  bie  £oehjett, 
wie  eS  benn  bei  Semiramis  faum  anberS  möglich  war.  3 h«  ftblagenbe 
Sinologie  erhält  bie  Stelle  burtb  35, 136  cognatio  nobilium,  palliati  quos 
dicturos  pinxit,  alteruni  stantem  alterum  sedentem.  ffiie  oben  fommt 
3tterft  ber  $itel  be8  SilbeS,  ber  bloße  Stoff,  bem  afpnbetifcfj  al8  ©rflärung  bie 
fünftleriftbe  ©cftaltung  angeftbloffen  wirb.  3)ie  Seutung  ber  afpnbetifch 
angejcbloffencn  ©orte  al8  eperegetifch  jum  Sorljergehenben  wirb  tn  beiben 
gälten  baburtb  ermöglicht,  baß  fte  ba8  @nbe  ber  Slufjäblung  ber  ffierfe 
hüben  unb  fein  neues  afpnbetifcheS  ©lieb  mehr  folgt;  benn  wäre  leßtereS 
ber  galt,  fo  müßten  »erftf?iebne  ©erfe  angenommen  werben. 

58)  gür  bie  9lrt  ber  ©ebanblung  fann  an  bie  treffliche  8ron$e- 
Statuette  eines  Äranfen  erinnert  werben  (Revue  arch.  1844  t.  13; 
UftitbaeliS,  9lr<h.  3tg.  1874,  60),  bie  2tnatl)em  eines  ©eftimmten  war. 

59)  35gl.  über  baSfelbe  ©runn  in  9JleperS  Äünftlerlejcifon  II,  169. 

60)  3bre  hifterif<he  Stellung  ftheint  mir  görfter  2lnh-  3tg-  1874, 
90  ff.  richtig  beftimmt  ju  hoben.  2>ie  Sinnahme  jweier  ©öttinnen  Jebobh 
fcheint  mir  nicht  nothwenbig. 

61)  S.  3ahn»  Sarftellungen  griechifcher  ^Dichter  t.  3—7. 

62)  S.  Stephani  Oompte  r.  1868,  131  ff. 

63)  3-  33-  Gerhard,  Auserl.  Vas.  4,  327  peleuS  auf  ber  §irf<h* 
jagt ; 9JI ü Iler- ©ief eie r 2).  a.  Ä.  1,  217  SEpbeuS,  EbefeuS  u.  f.  w.  — 
— Sluch  auf  metallenen  8 echern  waren  SagbbarfteUungen  beliebt*: 
wir  wiffen,  bafj  beS  StfragaS,  eines  berühmten  GälatorS  „venatio  in 
scyphis  magnam  famam  habuit.“  „In  scyphis“,  weil  man  gewöhn- 
lich ein  |)aar  ton  ©e<hem  (bei  Skalen  ift  es  anberS)  mit  ber  gleichen 
©arfteüung  »erfeben  3U  haben  fcheint.  9RpS  macht  quattuor  paria; 

(SJß) 


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97 


gewSbnlicb  wirb  Bon  jnjet  Seebern  jufammen  gefprocben:  PI.  33,  147 
duos  scyphos  Mentoris  manu ; 34,  47  duo  pocula  Calaniidis  manu. 
3cppru6  [teilt  (33,  156)  Areopagitas  et  judicium  Orestis  in  duobus 
scyphis  bar.  @8  ift,  abgefeben  Bon  tem  ©iberfprucbe  mit  bem  ©ort- 
laute  bei  ’pliniuS,  auch  fünftlerifcf?  ganj  unmöglich  mit  Urlicfta  ehrest. 
Plin.  p.  301  fyter  anjunebmen,  auf  bem  einen  Secber  fei  bie  Serl;anb* 
lung,  auf  bem  anbern  bie  SoSfprecbung  oorgeftellt  gerne jen.  Offenbar 
war  e8  nur  ©ine  Sarftellung,  ba$  (Bericht  be8  Orcft  Bor  tem  Slrccpag, 
toie  ^Miniua’  ©orte  beutlicb  fagen,  unb  tieS  eine  Silb  befanb  ftcb  auf 
ben  beiten  ©egenftücfen,  toie  e$  bet  ber  venatio  beö  Slfragaß  cbenfo  her 
§all  mar.  Sie  Seit  be8  lefjteren  Äünftler»  ift  wegen  ber  .Kentauren  mit 
Safebantinnen  in  bie  3lleranbrinifd;e  ©poche  l;erabjurüc!en.  Sic  angeb« 
liebe  tbronologifcbe  Slnorbnung  ber  Soreuten  bei  pliniuS  ift  überhaupt 
unhaltbar. 

64)  Slucf)  mptf;ologifcbe , cl;ne  baß  ber  SEppuS  nach  ber  Sage  ge* 
ftaltet  märe,  3.  S.  ®ert;arb,  Stuöerl.  Safenb.  3,  188. 

65)  0.  Sennborf,  grieep.  ÜBafenbilber  t.  14  ff. 

66)  ©.  3abn,  Berichte  ber  fäcfjf.  ©efellfcb.  1854,  S.  249;  -fcepte* 
mann,  ©riech.  Safenb.  t.  12,  1 — 10,  [pilfat.  3—8.  Compte  r.  1863, 
II;  1868,  IV. 

. 67)  S.  befonberS  Antiquites  du  Bosphore  t.  64;  70;  72;  73. 

Compte  rendu  1859,  3.  4;  1863,  1;  1868,  3.  Siefe  ©erfe  reiben 
ficb  bicr  am  heften  ein.  Sie  be»orftel;enbe  Sammlung  aller  Üerra« 
fetten  wirb  mobl  über  ihre  b>iftorifc^e  Stellung  ftcfeerercS  üid)t  Berbreiten, 
wobureb  fte  erft  für  bie  ©efebiebte  beb  ©enreö  ein  wichtiges,  freilich  wegen 
be$  nerfebietenen  Stanbpunftä  ber  -Klein*  unb  ©rojjfunft  nid;t  3U  über« 
jcbäjjenbeS,  ÜJlaterial  mürben. 

68)  Elite  ceramographique  4,  17.  18. 

69)  Ueber  alle  biefe  hier  nur  angebeuteten  punfte  f.  meinen  ,,©ro« 
in  ber  Sajenmalerei"  0.  28;  48;  77  ff. 

70)  Surtb  ^ein^eit  unb  Schärfe  beS  Slubbrucfb  Berfte^t  er  bie5 
noch  nicht  ju  erreichen,  meäbalb  er  ju  perfonififationen  (Credulitas  unb 
Dolus,  roobl  bureb  Snfcbriften  bezeichnet  nach  bamaliger  Sitte)  feine 
Zuflucht  nimmt;  tiefe  [teilt  er  ganj  nach  Slrt  ber  Safen  neben  bie  'Per* 
fönen,  beren  innern  ©barafter  fie  bezeichnen  füllen.  SJlit  Unrecht  fe|jt 
ihn  baber  £>elbig  (Slecfeijenö  3abeb*1867,  663)  burd;au3  in  eine  9ieit;e 
mit  Scuriä  unb  ParrbafioS  unb  glaubt  mancbfaltige.  pfpcbologifcbe  ©baraf« 

XI.  245.  24«.  7 (237) 


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98 


teriftif  bei  il;m  annehmen  ju  bürfen  — er  bilbet  nur  ben  organijchen 
Uebergang  ju  jenen. 

71)  3$  Fann  baljer  ÄeFule,  SIFabcm.  Äunflmujeum  ju  ®onn 
S.  42 ff.  nicpt  beipflicbten ; gewiß  nicht  jutreffcnb  ift  feine  momentane 
Raffung  bc«  £>cgcferelief«,  wonach  biefelbe  fich  unmittelbar  »or  bem  5£obe 
(auf  bem  Stuhle?)  ba«  Schmucffäftdjcn  bringen  ließe  »on  ber  ängftlichen 
Wienerin,  um  ba«  ®cfte  mit  in  ben  £abe«  ju  nehmen.  SÜJlir  fcheint  ber 
Äiinftler  nicht«  Sinke«  haben  barftellen  ju  wollen  al«  ba«  Sein  unb  SBefen 
einer  (ebenen  grau  mit  berechtigter  weiblicher  ©telfeit,  fo  wie  ber  Slriftion 
eben  nicht«  al«  ein  braoer  Solbat,  ber  DJiann  »on  Orchomeno«  ein  guter 
9anbwirth  ift  u.  f.  f. 

72)  9ßgl.  Selbig,  Unterjuch.  über  b.  Gampan.  SBanbm.  S.  83  ff. 

73)  Söei  bem  juvenis  requiescens  beöjelben  fann  man  an  bie  in 
ben  Gampanifchen  SBanbbilbern  fo  jahlreichen  genrehaft  gefaßten  mptbo* 
Icgifchcn  ©eftalten  ruljenber  ober  fchlafenber  Sünglinge,  wie  ©anptneb, 
9tarfiffo«  unb  befonber«  ©nbpmion  unb  an  ba«  eine  jener  jehönen  IHelicfö 
gried)i  jeher  ©tfinbung  bei  Söraun  erinnern,  ba«  einen  fchlafenben  jugenb* 
liehen  3&ger  barftellt,  infofern  jener  ganje  JRcliefchFluS  auf  ®orbilber 
helleniftifcher  SJlalerei  jurficfjugeljen  fcheint.  Sßgl.  noch  ^nrn.  87. 

73  n)  jforchhantmer  in  ber  Slrd).  3tg.  1875  S.  47  hält  il?it  für 
einen  Serfertiger  »on  SeuFomata,  übergip«ten  lafelit. 

74)  S.  £>elbig  a.  a.  £>.  S.  77  ff. 

75) jS3gl.  Selbig  a.  £>.  76;  meinen  GroS  S.  84 ff. 

76)  93gl.  bie  jehönen  SluSeinanberfeßungen  bei  geling  a.  £5.  185  ff. 

77)  S.  Selbig  a.  £5.  .Kapitel  23. 

78)  S.  £elbig  a.  £).  97. 

79)  S.  £>elbig  a.  D.  187.  — ®eifpiele  bieten  Clarac  musee  t. 
879;  880;  881;  882. 

80)  S.  Clarac  t.  742;  t.  287,  1755. 

81)  25ilthep’8  Sßermutbung  (SRehin.  DJluf.  1871,  300),  auch  tiefe 
©ruppe  gehöre  einer  SHuperft«  an,  entbehrt  aller  SBabrfcheinlicbfeit. 

82)  6«  fmb  ad?t  Statuen,  jufammengeftellt  »on  3ahn  (Säcpfijche 
Berichte  1848,  45)  unb  Stephani  (Compte  rendu  1863,  p.  55).  — 
— Ükrwanbte  UJlotioe  nnben  ft<h  auch  in  ÜcrraFotten,  f.  Stephani  a. 
£).  $injufügen  Fann  man  eiue  Statuette  bc«  'JJiünd)ncr  Slntiqua* 
riumS  9lr.  44,  bie  auch  ben  aufgeWcnbcten  93Uc?  jeigt,  hoch  ohne  ©an« 
unb  beite  Sinne  auf  geflößt.  ©ine  bireFte  9U'l;ängigFeit  »on  ber  fta- 

(238) 


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99 


tuarifd>cn  Äompoftticn  fann  inbef;  nirgend  mit  Sicherheit  angenommen 
»erben. 

83)  üDiefeb  ©er!  hätte  tat}cr  Onerbect,  wenn  bo<f>  einmal  nertnu* 
thet  werben  feilte,  immerhin  mit  jenem  bei  Paufaniab  genannten  „fijjen* 
ben  Äinbc*  bed  Soetl’cb  ibentifijiren  fennen,  nimmermehr  aber  ben  2)orn- 
aubpeper,  gegen  ben  ja  fd)cn  rein  jpracblich  bie  Sejeicpnung  mttölw  bei 
Paufaniab  fpridjt,  benn  itjn  würbe  er  Trat;  genannt  fjaben. 

84)  0.  bie  3nfammenftcHnng  bei  Stephani  CR.  1803,  53  Slnm. 
6;  p.  54  A.  1 unb  4.  — 2>ie  bei  Stephani  erwähnte  Statue  Clarac 
878,  2231  gehört  einem  Üijpub  an,  non  bem  nocp  ib.  876,  2236  A.; 
878,  2239  ju  bemerfen  ftnb:  fte  fmben  ein  furjeb  ©ewanb,  bas  an 
ber  l.  Seite  etwa«  ijeraufgenommen  wirb  burch  ben  l.  Sinn,  ber  ur- 
fprünglicp  wohl  immer  einen  Segel  anbrüefte. 

85)  6.  Clarac  875,  2234;  677,  1577;  881,  2243.  — 3cf>  be. 
gnüge  mich  ijier  nur  auf  bie  -frauptgruppen  hinjuweifen;  hoch  wäre  eine 
genauere  -üefyanblung  ber  jo  nernachläffigten  Ainberftatuen  jepr  wünfebene* 
werth.  (£b  müßten  babei  aber  auch  bie  gettlidjen  jfinber  perangejogen 
werben,  unb  nor  allen  (Sro®,  ber  fdjon  tpeilweifc  auf  ben  fleinen  Äinber* 
nafen,  unb  in  ben  fpäteren  Serrafotten  in  ganj  benfelben  fDJotioen  bar* 
geftellt  wirb  wie  bie  menfc^lie^cn  -Kinber. 

86)  S.  Clarac  884,  2259,  2252. 

87)  Clarac  t.  875;#882,  2247  D;  879,  2242;  726  H,  1791  C. 
781,  1954  (fcpwerlicp  £>erafleb,  bie  Schlangen  bejeiepnen  bab  greic, 
Sänblicpc?);  644  A,  1459  E (auch  -Kocher  unb  Sogen  ntobern?); 
749  C,  1949  A (bureb  bie  Urne  alb  Srunnenbefcraticn  beftimmt).  — 
3ünglinge  finb  ber  fcplafenbe  3iegcnpirt  741,  1784  uub  ber  gifeper  882, 
2247  C.  — £ab  Scplafen  fd;eint  in  ftatuarif eher  Äunft  erft  iu 
ber  helleniftifchen  3eit  oerjufemmen,  wenigftenb  ragt  Wopl  fein  Original 
beT  nieten  fc^lafenben  Dtpmphen,  Stänaben,  Slriabnen,  Satpm,  (Srotcn 
unb  .fcerinaphrebiten  in  ältere  3eit  jurücf. 

88)  Ser  allem  bie  fjodjft  lebenbige  ®ruppe  bei  Clarac  880,  2254, 
beren  Stil  (narp  Srunn)  auf  bie  pergamenifepe  Schule  weift.  — ger* 
ner  ib.  2252;  884,  2255. 

89)  Clarac  878,  2237  A;  876,  2240  (ngl.  bie  Serrafcttc  Comptc 
rendu  1868  t.  III,  9,  Wo  ein  ^ünbepen  naepläuft);  540,  1135;  641, 
1454  (ber  fleine  CSroS  nebft  halber  piintpe  mobern?).  — Sluch  9ttI>Ie* 
tenfnafcen  fommen  nor  unb  jwar  wohl  alb  ©enreftücfc;  fo  CI.  883, 

7 • (ss») 


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100 


2256  (fotf  intaft  fein);  651,  1483  «Sieger  megen  beS  vPalmftamm6? 
349,  2225  A Sieger  beim  .fctagnenfampf. 

90)  ü)lit  *p  o l B f I c t bat  eS  aud'  nicht  bie  entferntefte  i'Crmanfctfcbaft 

(OBerbeef,  sptaftif  1,  345  möchte  cS  auf  il)n  juriicffüliren) ; febon  ba5 
Ben  ter  Schulter  finfenbe  ©cmanb  geigt  bic  fpätre  3fit  an ; bic  ©efufyW* 
31'ige  finb  portrütartig.  — Scbmerlicb  ein  ©enrebilb  mar  bie  gemalte 
„puella“  in  ©leuftS  Bon  ©irene  (Plin.  35,  147);  mit  9iec§t  Bermu» 
ttyete  man  tgeilS  eine  nou$  ät p’  hrrutc,  tl)ci(8  eine  miSBcrftanbnc  lieber» 
fefjung  Bon  K cpv;.  — Ungcmig  bleiben  mir  aud)  über  baS  3i>crf  eine« 
ÄtcfiflcS  in  SamoS  (Athen.  13,  606a);  SltbenäuS  felbft  nennt  baS» 
felbc  nur  Ilafiov  , $)l)iIcmon  ’KQivov  £tucv,  9llejri8  bagegen 

kiSlvy  xc  fr,  (Oocrbccf  SQ  1372  lägt  bic  beiben  Sicbtcrftellen  meg); 
ba  c8  bei  ber  betr.  ©rjäblung  immer  nur  barauf  anfam,  bag  e8  ein 
fteincrncS  SBejen  mar,  in  baS  fid?  @tner  eerliebt , fo  gab  man  ben  eigent- 
lidjen  ©egenftanb  gar  nid)t  ober  nur  ungenügenb  an.  9tucb  ob  bie  gleich 
barauf  bei  2lthcnäu8  ib.  606  B aus  bem  pellabifoS  beS  §>olcmon  citir» 
ten  rrxiöti  kl^u/oi  S\>o  ©enrcftücfe  mären,  ift  ganj  ungemig. 

91)  Äefule,  baS  afabemifepe  Äunftmujcum  ju  23onu  9t r.  399 
(S.  99). 

92)  ÜRaturaliftifdje  3«ge  Berfichcrt  aud)  93runn  nicht  an  ihm  be« 
inerft  ju  gaben.  — ©ttna§  2lnbrc8  ift  e8  mit  bem  betenben  .ftnaben  jum 
33eifpiel,  mo  ber  ?pfippif<be  ©influg  unleugbar  ift. 

93)  üBgl.  bic  eingegenben  llnterfucgungen  Bon  fbelbig  a.  O.  S.  7 ff. 
— Sie  Annahme  einer  „BU’lieid't  früheren,'  ber  fPafitelifcgen  im  2Öe» 
fcntlicgcn  analogen  Schule  febmebt  ganj  in  ber  Suft  unb  ift  an  fid) 
menig  magrfcheinlich. 

94)  3>gl.  bie  feinen  SBemerfungen  Bon  Äefule , ber  Äünftler  SJicne» 
lao8  S.  32 ff. 

95)  SBgi.  a.  O.  S.  18  über  bie  Originalität  ber  ©ruppe  l'uboBifi. 

96)  Sinnlos  ift  offenbar  bie  Haltung  bc8  l.  9lnn8  am  9Jlantuaner 
9lpofl  Bon  bem  Originale  bc8  ?cier  fpielcnbcn  ©otteS  beibegalten. 

97)  3cg  gälte  mich  gier  an  ba8  9Bef  ent  liebe  unb  ba8  f ich  er  au8 
sPafttcle8’  Sdjule  Stammenbe  (Bon  bem  ©amilluS  j.  33.  ift  bieS  feines» 
megS  ausgemacht).  Sie  ©ptppe  be6  9Jtenclao8,  bie,  bem  efleltiftgen 
©garaftcr  ber  Schule  cntfprccgenb,  formal  eine  ganj  anbre  JKicbtung  ein« 
fchlägt,  bemeift  burd)  bie  9lrt  ber  ftubirten,  matten  unb  unflaren  Äom» 

(210) 


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101 


pofttien  ebne  £anblung,  bafj  biefe  geiftige  (5tgcnftf?aft  eben  ber  ganjen 
^afitelifcben  Mübtung  toef entließ  war. 

98)  Schließlich  will  ich  noch  ©ine«  erwähnen,  ba«  mir  gegen  $ajt* 
telifche  Schule  ja  fpreeben  fd>eint : eine  SDRarmorreplif  be«  ©ornauBjie* 
ber«,  bie  bemnäcbft  »erfifentlicht  werben  füll,  wiebcrbclt  jwar  ba«  ©runb» 
moti» , ift  aber  in  ber  ?lu8fübrung  total  »erfebieben : eine  freie,  an  bie 
'Pergamenifcbe  Äunft  crinnernbe  rcaliftifcbe  ©ebanblung,  befonber«  im 
Äopfe,  tritt  an  ©teile  ber  Sllterthümlicbfeit.  ©tammt  nun  ba«  (5npito- 
liniftbe  ©rjtoerf  au 8 ^afttele«’  Schule,  fo  frnb  nur  jwei  gleich  unwahr- 
fcl&einlidjc  Slnnabmcn  möglich:  entweber  ift  ber  Scanner  Äcpie;  — baß  man 
aber  nach  $>afttele8  unb  nothwenbig  halb  nach  ihm  ein  ©erf  feiner 
Schule  feine«  (altert^ümlic^en)  Gbaraftcr«  unb  $auptintereffe«  beraubt 
unb  frei  umgeftaltet  batte,  ift  unbeufbar.  ©ber  ber  -Marmor  ift  Ori- 
ginal ober  fteht  wenigften«  bemfelben  näher  — bann  wiberfpriebt  c«  aber 
bireft  bem  Gharafter  ^»afitelifcher  Schule,  baß  fie  ein  Original  betOia- 
bo  eben  periobe  in  folcber  Seife  umgeftaltet  hätte,  baß  ein  ©erf  non  ber 
»ollen  paefenben  Ginheit,  bem  jarten  unbewußten  mit  ber  Äompofition 
»erwachfenen  9lrd>ai«mu«,  wie  bie  Gapitolinifche  ©tatue  ihn  jeigt,  hätte 
entftehen  fönnen.  Stil  biefen  Schwierigfeiten  entgeht  man  nur  burd? 
unfre  Annahme  eine«  Original«  be«  5 3hh-’r  ta«  fpätre  Umbilbungen 
im  (Seifte  ber  3eit  erfuhr. 

99)  @«  ift  intereffant,  baß  eine  Segenbe  ber  mobemen  Meiner  fogar  eine 
biftorifebe  ‘perfcnlicbfeit  au«  unferm  ©ornauSjieber  ma^en  will.  Slan  er- 
jählte,  ein  ^irtenfnabe  habe  bureb  bie  fcbnelle  Sotfcbaft  »om  ltnoermu- 
theten  .'öcranrücfen  ber  ffeinbe  bie  ©tabt  gerettet  unb  bei  feinem  9aufe 
auf«  Gapitol  einen  ©cm  nicht  geachtet,  biefen  erft  nachher  auSgejogen-, 
au«  ©anfbarfeit  habe  ber  Senat  ihm  eine  ©tatue  al«  ©omauSjteber 
fefcen  laffen.  — ■ ©a«  ganj  bejiehungSlofe  ©enre  febeint , wie  e«  bem 
Gbarafter  ber  Deffentlicbfcit  unb  ^Monumentalität  nicht  entfpriebt,  fo  über- 
haupt ber  SMaffe  be«  SPolfc«  niebt  recht  »erftänblich ; biefc«  fucht  überall 
beftimmten  Snbalt  unb  SBejiebung  auf  fnh  unb  wo  biefe  nicht  »orhanben, 
ba  bittet  e«  fte  gerne  bem  populären  ©erfe  an.  ©aber  fennt  ja  auch 
bie  ältere  burchau«  öffentliche  Äunft  ber  ©riechen  nur  ba«  burd?  eine 
religiöfe  Sejiebung  beftimmtc  ©enre,  bi«  bie  häufigere  prioatc  Seftim* 
mung  ber  ©erfe  auch  biefe  geffel  löfte. 

100)  3nbem  ber  ©omau«jieher  entfehieben  ber  Slttif^en  ©chule  ju* 
fällt,  bietet  er  lurcb  ben  ©ppu«  feine«  Schübel«,  ber  ganj  bie  »on  Gonje 

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102 


aufgefteUte  pelepenncfifcpe  ©Übung  geigt , ein  neues  ÜJloment  gegen  jene 
Ipcoric. 

101)  Set  Sluffap  ©rijio«  erfetjien  erft  nach  Slbfafjung  tiefer 
Schrift;  ba  er  fid>  jeberf;  wenig  mit  meinen  ©efteptspunften  berührt,  fo 
glaubte  ich  ben  Scpt  unueränbert  ftepen  lafjen  ju  bürfen,  um  je  mehr 
ba  Srijic,  obwohl  auch  « rin  Serf  be«  5.  3aptp.  erfennt,  c?  bennoth 
gar  nicht  einmal  »erfüll,  bie  X'luSfütjrungcn  Äefule«  gu  wiberlegen,  ja 
il)m  in  einigen  .£>auitpunften  beiftimmt.  — ©egen  bie  formale  Slnalpfe 
©r.’  wäre  wcpl  ÜJlancpe«  einjuwenben ; fo  übertreibt  er  offenbar  eine  ge« 
wiffc  ®tarrpeit  ber  l.  £>anb  (p.  6.r») ; bei  ber  magern  beweglichen  Statur 
ber  .£>anb,  wo  bie  Ringer  gerne  gcjchloffen  bleiben,  unb  bei  ber  2lrt  ihrer 
Stufgabe,  ihrer  Sage,  bem  ©inwirfen  be«  Säumen«  braucht  fic  nicht  noth* 
wenbig  gefrümmt  ju  fein.  Slucp  bie  ©njelglieberung,  bie  ©r.  ganj  ocr* 
mißt,  fehlt  nicht;  beutlich  finb  bie  ©lieber  jebeö  ginger«  bezeichnet  unb 
bie  Spannung  be«  ÜJlufifelS  jwijcpen  Säumen  unb  .panb  i|t  gelungen, 
3nbeß  ba«  Sßicptigfte,  bie  ©ermuthung  ©r.’,  baß  Ä a 1 a mi  8 ber  Äünftler 
unfre«  Stkrfc«  fei,  ift  ganj  unbegrünbet.  Ser  Berfucptc  ©ewei«  ift  un- 
gefähr folgenber:  auf  Stttifa  führe  bie  ÜJlagerfeit  — ein  ©ah,  ben 
gewiß  Ütiemanb  gugeben  wirb;  bie  ÜJlagerfeit  gehört  nicht  nur  bem 
©ronjeftil  ber  älteren  sPcriobe  überhaupt  an,  fenbem  fte  fteht  liier  auch 
im  innigften  3ufammcnpange  mit  bem  ©parafter  bet  bargeftellten  £xmb« 
lung  unb  ©tellung:  an  einem  weichen  fetten  Änaben  würbe  biefe  ener« 
gifepe  jufammengebogene  Haltung  unnatürlich,  ja  wiberlid)  erfcheinen; 
nur  ein  magerer  fann  leicht  unb  cpne  ©ejehwerbe  biefe  ©ewegung  auö« 
führen;  ber  ganje  ©parafter  be«  üöerf«,  bie  barte  unfninmetrifche  Hal- 
tung hängt  alfo  Bon  biefer  ÜJlagerfeit  ab.  — ©rijio  führt  nun  weiter 
au«,  wie  unter  ben  älteren  Slttifcpen  Äünftlern  gerabe  Äalami«  (p.  69) 
fiel;  burch  ©erfatilität  be«  ©cifte«  unb  ©rajie  ber  ©ewegungen  , ferner 
burch  iKcitbtpum  unb  ÜJlancpfaltigfeit  ber  üJlotioe  ausgezeichnet  habe. 
Slljo,  wirb  gefcbloffen,  ift  Äalami«  ©chöpfer  unfrer  ©tatue,  an  ber  fich 
eben  jene  ©igenfepaften  finben.  ©8  ift  flar,  wie  fcpwach  e«  mit  biefem 
-©eweifc  befteflt  ift.  Saju  fömmt,  baß  all’  ba«  über  ben  fReuptpum  ber 
ÜJlotioe  unb  ©rfinbungSgabe  ©emerfte  nicht«  Slnberm  al«  einem  Srucf« 
fehler  bei  ©runn,  ©efep.  b.  gvep.  Zünftler  I,  130  3-  7 b.  u.  („reieper" 
ftatt  „weicher*)  feinen  Urfprung  banft.  ülur  bie  XejrroVijs  unb  x*?1?  an 
Äalami«  ftnb  überliefert  unb  biefe  wiberfpreepen  eper  unfrer  ©tatue:  in 
ipr  beobachten  wir  ja  eine  ftarfe  .'pärte  ber  Äompofiticn , bie  nur  ben 

(248; 


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103 


lebenbigen  StuSbrucf  ber  äußern  ^anblung  fucf>t,  ftatt  tag,  wie  bei  Äa* 
lamiS  ncrau8$ufehen , feine,  innere,  aus  ber  (Smpfinbung  ftromenbe 
fllobleffe  unb  Äntnutb  erftrebt  worben  wäre.  — SBenn  Br.  jum  Schluffe 
ben  'Petersburger  (Spheben  bei  Öonje,  Beiträge  t.  IX  »crglcicbt  unb  als 
Betreib  benufjt,  inbetn  er  ibn  ebenfalls  für  Äalamibeifd)  unb  jtrar  für 
einen  ber  betenben  ftnaben  beb  SCRcifterS  heilt,  fr  fann  hierauf  nicht  näher 
eingegangen  werben,  ba  jene  nur  burch  eine  ungenügence  Zeichnung  be* 
fannte  Statue  bis  jefct  ein  fcfteS  llrtljeil  nicht  juläjjt;  inbejj  ift  cS  je- 
benfatlS  fein  betenber  Jüngling,  benn  fonft  fünnte  ber  ftopf  unmöglich 
feitwärtS  nach  oben  gewenbet  fein. 


043) 

Irutf  i'jn  tytbi.  linder  (Ärirnin) , in  Berlin  nebcr.Krftr.  17  a. 


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Die 

mc!tfri)cnnl)tiHrt)cn  Slffetu 

SBon 

'Jlo b.  ioartmamt. 

SDRit  12  $oljf$mtten. 

ficrlin  SW.  1876. 

58  e 1 1 a g non  (Jarl  £ a b e l. 

(C.  <ß.  Cntniti'sijli  üttlagsboitbanbionp  ) 

33.  3ÖUI)(Im.£tt.iJ«  33. 


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2>aä  JRedjt  fcet  Ueberiefcunä  in  frembe  Sprachen  »irb  oorbeijaltcrt. 


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\5)ern  folge  i<h  bem  SBnnfdje  meines  nerehtten  gehrerS,  $>rof. 
©irdjoro,  bet  {Reifte  btefer  ©ertrage  auch  einige  Seilen  übet  ©au 
nnb  geben  bet  menf djenatynlidjen  glffen  beigufügen.  3dj  glaube 
nun  betn  gefet  l?ier  einiges  weniger  ©efannte  barbieten  gu  fönnen. 


I. 

©ereitS  auS  bem  flaffifcben  Slltett^um  bringt  bie  Äunbe  gu 
un§  über  grofce  Slffen  non  menf  (benähnlidjer  ©eftalt. 
3)et  fatthagifdje  ©eefahrer  Jpanno,  welket  fidj  um  470  n.  ($. 
»eit  IjinauS  wagte  übet  bie  (Säulen  beS  Hercules  mit  feinen 
großen  fRnbetfc^iff en,  begegnete  am  ©ötterwagen-Serge  (Theon 
Ochaema),  b.  h-  an  bet  heutigen  ©ierta»2eona*jfüfte,  nahe  einet 
gagune,  angeblichen  behaarten  SSalbmenfdjen.  S)iefe  wur* 
ben  non  ben  jene  benfwütbige  ©jtpebition  begleitenben  2)olmetfcbera 
„Gorillas“  geuannt.  9)lan  lie§  fich  in  ein  ©efecht  mit  ihnen 
ein,  wobei  eS  non  ©eiten  bet  äßalbmenjdjen  gehörige  ©tein» 
würfe  abfetjte.  @8  gelang  auch  breier  bet  behaarten  SBeiber  hab- 
haft 3U  werben,  wel<$e  jebodj  fo  wütheub  um  fid)  biffen  unb 
fragten,  bajj  ni<ht3  weiter  übrig  blieb,  als  fie  an  Drt  unb  ©teile 

XI  *41.  1 (247) 


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iobtgufchlagen.  ©ie  Belle  »on  gweien  berfelbcn  follcn  nach  ?>li* 
niu8’  Angabe  im  Semmel  bet  91ftarte  gu  Gartßago  noch  gur  3eit 
bet  Ginnahme  burdh  bie  fRömet  (146  ».  Ght.)  gegeigt  »erben 
fein. 

Unter  biefen  Gorillas  fann  man  nur  Ghimpanfe» 91ffen 
(Troglodytes  niger)  »erftanben  haben.  Giue  anbere  alte  Äunbe 
»on  biefem  Spiere  gewährt  uuS  jene  weltberühmte  üftojaifbat* 
ftellung,  welche  einftmalS  ben  Bußboben  beö  Bortuna»  Stempels 
gu  $>raenefte  ($)a!eftrina)  jehmnefte.  ©a  fe^en  wir  »er  und  eine 
ganbfcßaft  auS  3nnerafrifa,  etwa  auS  ber  Gegenb  beö  oberen 
fftileS.  Sieben  üJteerfaßen,  Spanen,  fppänenhunben,  gifdhottern, 
3ibethfaßen,  Sebneumonen,  üöwen,  £eoparben,  Giraffen,  9til« 
pferben  unb  ifrofobilen  fommt  batin  auch  bet  Ghtmpanfe  not. 
SJian  erfennt  wieber  hierauf  ein  wie  regeS  Shtereffe  bie  SSlten 
an  ber  großartigen  unb  fotmenreidhen  SL^ierwelt  Slfrifa’S  ge» 
nommen  hatten.  3m  Seginn  bet  neueren  Seit  mehren  fidfj  bie 
Sericpte  über  große  Riffen,  weldße  man  antßropomorphe  ober 
menf^enähnli<he,  ober  auch  SlnthropoiDen  b.  h-  SRenfchenaffen 
genannt  h«t.  Sit  befommen  u.  91.  unbeutlicße  SRachrichten  übet 
biefelbeu  burdh  ben  pottugiefefeßen  SDtatrofen  Gbuarb  8o heg  (1598). 
Slnfcßeinenb  begießen  biefe  fid}  auf  ben  Gßintpanfe. 

3u  biefer  Seit  biente  ein  auS  2eigh  in  Gffer  gebürtiger 
abenteuernbet  ©olbat  SQamenS  9lnbreaS  Sattel  bem  (bamalS 
löniglidh  fpanifchen)  Generalfapitän  »on  Angola  ©on  fDtanuel 
©il»era  Cetera.  SJtit  ben  ^ortugiefen  fidß  überwerfenb,  brachte 
Sattel  SRonate  lang  in  ben  tropifdjen  Salbungen  be8  bortigen 
SanbeS  gu.  ^urdßa8  hat  in  einet  überaus  intereffanten  ©amm» 
lung  »on  {Reifebefdhteibungen  au8  bamaliger  unb  früherer  3«tt, 
audß  be8  Sattel  Angaben  über  Seftafrifa  gujammengefteDt.  3n 
biefen  ift*)  »on  gwei  großen  Slffenarten  bie  fRebe,  welche  in  bem 
wilben,  walbigen  SRapombe  am  Bluffe  Sauna  (Somma?)  int 

(WS) 


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ft 


jpinterlanbe  t>on  8oango  leben.  Grine  SIrt  berfelben  ift  fletnec 
unb  beifit  (Sngeco.  @ine  anbere  größere,  $>onge  genannte  >3lrt 
ift  angeblich  non  ©eftaltung  eines  fDlenfdjen,  mit  menidslicbem 

8ntli£,  au8  bem  aber  bie  klugen  tief  unb  tjotjl  ^erncrglc^en. 

35er  gange  Üeib  i|t  ooQ  bunfler,  nicht  bic^t  ftetyenber  .paare. 
35ie  ©eine  hoben  feine  SJaben.  35aS  S^iet  gebt  allezeit  auf* 
gerietet,  wobei  eS  bie  .pänbe  im  fftacfen  gufammenlegt.  ©8 
ruht  DlachtS  in  ben  ©äumen  unb  baut  fid)  hier  @d>uh» 

bäcber  wiber  ben  5Regen.  @8  lebt  »en  ben  Früchten  be8  Sßal* 

te8,  nerfchmäbt  aber  glcifd)  fReifen  bie  ©thwargen  burd)  bie 
SBälber,  fo  günben  fie  9tad?t8  ihre  geuer  an.  ©ewie  fie  bann 
9Rorgen8  weggegogen  finb,  fcmmen  bie  «‘JlengcS  ^erbei  unb  bccfen 
fieb  fo  lange  um  ba8  «euer  Ijer,  bi8  bie8  au8gegangen  ift.  25emt 
fo  gefreut  finb  fie  becb  nicht,  .polg  angulegen. 

2>ie  Kongos  geben  oft  in  beerben  gufammen  unb  tobten 
biejenigen  ©ehwargen,  welche  fie  auf  bem  Sßege  in  ben  Sßälbern 
antreffen.  ©ie  fallen  aud?  manchmal  über  bie  bafelbft  weibenben 
(Slepbanten  b «t  unb  bearbeiten  biefelbett  bergeftalt  mit  häuften 
unb  Knitteln,  baf)  bie  S5icfbäuter  brüOenb  banonlaufen.  9Ran 
fann  bie  ^ongoS  niemals  (ebenbig  fangen;  benn  fte  finb  fo  ftarf, 
ba§  gehn  5Räuner  nicht  genügen,  felbft  nur  eins  biefer  Ubiere 
feftjubalten. . SWein  e8  gelingt  ben  ©ehwargen  öfters  3unge  gu 
befommen,  bie,  wenn  bie  SRutter  getöbtet  worben,  noch  feft  au 
beren  ©auche  bangen  bleiben.  «Stirbt  ein  3>ougo,  fo  wirb  er 
oon  Seinesgleichen  mit  @eäft  unb  ©tammwerf  gugebecft. 

©attel  will  auch  einen  «Regelungen  gehabt  haben,  ben  ilnn 
bie  Kongos  geraubt,  übrigens  aber  wäbrenb  eines  ÜRenatS  gut 
bebanbelt  haben  follen. 

35er  befannte  ©efchreiber  ^ftifa’S,  25apper,  fpricht  »on  bem 
baS  f?anb  Äongo  bewobneuben  QuojaS  «Dtorrou  ober  SSRorrau. 
5)ieS  übier,  fo  bemeift  unfet  ©ewäbrSmann,  gleiche  fo  febt 

l*  (249) 


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einem  9)ienfd)en,  ba§  ÜKancbe  glaubten,  felbigeö  werbe  t»on  einem 
Äffen  mit  einem  SJeibSbilbe  erzeugt,  welche  Meinung  freilich  bie 
©djwargen  felbft  nicht  gelten  laffcn  wollten.  Sor  einigen  Sauren 
fei  ein  foldjeS  ©efcböpf  nad)  $oUanb  gebraut  unb  bem  bringen 
griebrid)  .fpetnritb  »on  Dranien  gegeigt  worben.  SS  fei  fo  grofj, 
als  ein  bteijäbtigeS  A'inb,  weber  fett  nod)  mager,  aber  t>iet= 
fdjrctig  unb  fonft  wot)l  proportionirt,  feljr  fc^ned  unb  fynrtig, 
mit  ftarfen  unb  braunen  ©liebmafjen  gewefen.  2)er  Sorberleib 
habe  ficb  gang  naefenb,  bie  fRücfenfeite  aber  febwarg  behaart  er* 
wiefen.  2)a8  ©eftebt  habe  beim  erften  Änblicf  einem  menfdjlicben 
geglichen,  aber  bie  9lafe  fei  platt  unb  gefrümmt  gewefen.  2)a8 
$^ier  habe  ©bren  wie  ein  ÜJtenfcb,  plumpe  Srüfte  — eS  fei  ein 
Söeibdjen  gewefen  — unb  einen  eingefunfenen  fftabel  gehabt, 
glaube,  ginger  unb  IDaumen,  SBaben  unb  güf)e  hinter  bem  gerfen* 
beine  feien  plump  gebaut  unb  bräunlich  gewefen.  ©S  fei  oftmals 
aufgeriebtet  gegangen,  habe  auch  gto&e  Saften  erbeben  unb  tragen 
fönnen.  Seim  Srinfen  habe  eS  ben  SDecfel  einer  .Ranne  mit 
einer  #anb  aufgehoben,  bie  anbere  unter  ben  ©oben  baltenb 
unb  habe  fid)  baß  $bier  nacbgebenbS  bie  Sippen  gang  artig  ab* 
gewifdjt.  ©8  bäte  fid?  beim  ©djlafen  mit  feinem  .Ropfe  oft  auf 
ein  .Riffen  gelegt  unb  ficb  fo  gefebieflieb  mit  Stiicbern  gugebeeft, 
baf?  Sebweber  batte  benfen  fönnen,  eor  ibm  läge  ein  5Reufd}. 

Salentin  gerbinanb,  §)ater  fDierolla,  groger,  Stoffe  unb 
©mitb  erwähnen  ebenfalls  folcbet  'Äffen.  SBäbtenb  man  nun 
in  Sattel’8  i'ongo  ben  echten  ©orilla,  in  feinem  ©ngeco  unb 
in  3?appet’8  Guoja’S  SDiorrau  aber  ben  ©bitnpanfe  wiebererfennt, 
febeinen  bie  gulefst  genannten  Äutoren  tbeilweife  ba8  Äeufcere 
unb  Senebmen  beiber  Äffenarten  gu  einem  etwas  wirren  ©ingel* 
bilbe  Bereinigt  gu  baten. 

Der  baöänbifcbe  Änatom  San  Stulpe  »eröffentlicbte  1641 
eine  Sefcbreibung  unb  gang  leibliche  Äbbilbung  eines  lebenb  nach 

(250) 


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7 


Europa  gebrachten,  jungen  SSeibchenö.  din  26  3oD  b°M>  au8 
Angola  ftammenbei  2Ränn<hen  würbe  im  Sabre  1698  »on  bem 
dnglänber  d.  Spfon  metbobifch  jergliebert , betrieben  unb  für 
bie  bamalige  3«it  auch  recht  gut  abgebilbet.  Stpfon’ö  Unter* 
fuchungen  über  bie  9Jlu8feln  unb  dingeweibe  beö  dremplatelT 
»erben  noch  jefct  »on  SlUen  berücffichtigt  »erben  müffen,  welche 
ficb  mit  bem  inneren  Bau  biefer  merfwürbigen  St^iere  befchäftigen. 
Prof.  ^ujriep  bat  ba8  ©feiet  beffelben  dremplareß  befidjtigt. 
Sfcufon  nannte  feinen  dbtmpanfe  „a  pygmy“,  eine  Ppgmae,  er 
fa§t  bie  SRacbricbten  bet  alten  über  bie  angeblichen  3t»erg»ßlfer 
aetbiopien’8  jufammen,  in  welchen  bie  neuere  Bolferfunbe  tt). 
£ibu  ober  Jeba,  tb.  affa,  abongo,  fDofo,  Bufchmänner  unb 
anbere  ÜJlenfchenftämme  »on  burchfchnittlich  nur  geringer  Äörper« . 
grefee  anerfennt. 3) 

Seit  jener  3 eit  b^rt  man  febon  öfter  »on  nach  duropa  ge= 
brachten  dbimpanfeö  fowie  non  ihrem  zutraulichen  Söefen  in  ber 
©efangenfdjaft  jc.  reben.  ©wainfon,  gifcinger,  unb  Sinbere  bil* 
ben  auch  menjdjenäbnliche  Stffen  au8  SHfrifa  ab,  in  benen  »ir 
unfehwer  ben  Pongo  ober  ©oritla  »iebererfennen,  beffen  Beu* 
auffinbung  ein  fo  gewaltiges  auffeben  gemalt  bat- 

9ta<hbem  eine  »on  einem  englifchen  $äubler  bereits  im 
notigen  Sabrbunbert  gegebene  Nachricht  über  ben  7—9  guf;  hoben 
3mpungu,  über  ben  3tfena  unb  dbimpenza,  bie  afrifanifeben 
SJienfchenaffen  ber  SBeftfüfte,  ohne  Beachtung  geblieben  war, 
entbeeften  ber  SReifenbe  Bowbid),  bie  SDRiffionäre  Söilfon  unb 
©anage  ben  ©oriHa  in  unfret  3eit  gewiff ermaßen  neu.  Ber* 
fchiebene  franjöfifche  ©chifföärgte,  namentlich  Dr.  ftranquet,  bann 
©autier,  gaboulape,  p&taub  unb  aubrp«£ecomte  befchäfHgten 
ftch  genauer  mit  bem  Borfommen  bet  weftafrifanifchen  großen 
Slffen  unb  bereicherten  ihre  ^exmifd^en  ÜDRufeen  mit  foftbaren, 
auf  jene  Obrere  bezüglichen  Präparaten,  geltere  gaben  ben 

(MI) 


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8 


ftanjöfifdjen  3oologen  SDuoernop  unb  3ftbore  ©eoftrop  @t.  £>i* 
laite  ©toff  ju  ihren  flafftfd^cn  Arbeiten  übet  best  93au  ber  ®o» 
riHaS  unb  <$hi»npanfe8.  9luch  bet  lonboner  Anatom  9?.  Dtnen 
erhielt  fdjöneS  @orifla=5Jtaterial,  ba8  in  ihm  einen  fefyt  fleißigen 
*unb  erfolgreichen  Searbeiter  fanb. 

3n  ben  3ahren  1855  — 1865  bereifte  fpaul  ©eDoni  SDu 
ß^aillu,  bet  am  ©abun  aufgetnachfene  ©oljn  eines  gpanbelS« 
manneS,  bie  gura  ©pfteme  be8  ©abun  unb  Dgorne  gehörenben 
8anbet  unb  oeröff  entließe  übet  feine  bafelbft  beftanbenen  9lben= 
teuer  unb  auSgeführten  ^Beobachtungen  mehrere  f<h»ülftig  ge» 
fdjriebene,  im  ©anjen  recht  fehlest  iHuftrirte,  SBücper.  SDiefe 
trugen  ihm  aber  ben  SDanf  einer  nach  ©rjählung  merfroütbiget 
©egebniffe  begierigen  Nlenge  ein.  Namentlich  »erurfachten  SDu 
(Shaiöu’ß  haarftwubenbe  ©efchichten  non  feinen  ©oriüajagben 
unb  »om  greileben  be8  angeblich  überaus  fürchterlichen  SBalb» 
menfehen  bie  größte  Stufregung.  SJian  la8  be8  Neifenben 
©chilberungen  eine  Seit  lang  noch  eifriger  als  weilanb  bie 
fdjäferhafteu  Berichte  8e  ©aiBant’8  über  ba8  8anb  bet  Rotten» 
totten  unb  beffen  minnigliche  @ouaqua=9Naib  Narina.  ©pater 
hat  man  einfehen  gelernt,  baff  SDu  (S^aiQu  ftarf,  fe^r  ftarf  auf* 
getragen  habe.  3a  neuere  Nachrichten,  3.  2h-  prioater  3.  2h- 
öffentlicher  Natur  machen  un8  mit  ber  2hatfad}e  befannt,  ba§ 
SDu  6ha'öu  perfönlidh  möglichft  teenig  mit  lebenben  ©otiHa’S 
gu  fchaffen  gehabt,  baft  ihm  aber  etliche  fchwar^e  3äger  unter* 
fchiebliche  ©enfationSgefchichten  mit  ©rfolg  aufgebunben  hohen. 
SDie  ©nglänbet  SBinaoob  Neabe  unb  N.  ©ution,  fornie  bie 
SNitglieber  ber  beutf<h»afrifanif<hen  ©rpebition,  namentlich  «her 
bie  SDoftoren  2enj,  ©üfffelbt,  galfenfteiu  unb  fPecpuel  »tSoefche, 
fomie  ber  frühere  ©utSbefifcer  ».  Äoppenfeld,  ftnb  neuerlich 
gan$  befonberS  bemüht  gemefen,  bie  Naturgef<hi<hte  beS  SEBalb» 
riefen  ©oriDa  aufjuflaren.  SDie  Anatomie  biefeS  ©efcbopfeS,  fo= 
(*M) 


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9 


me  biejtnige  bet  ©bimpanfe«,  fonb  in  neuefter  3eit  bauptlädtlicb 
ts  2$.  Sifdjcff,  G^ampneoä,  93rübl,  ©iglioli  unb  in  bem  Ser* 
fuffex  tiefe«  Sudlern«  ihre  Searbeiter. 

€ftne  brittc  gorm  bet  gtofjen  2lffen,  bie  Drang  = Utan’8 
b<r  afiatif(ben  Snfelwelt,  ftnb  bereit«  feit  früher  befannt.  $Die 
©md?te  be«  $)liniu«  »on  inbifdfen  Satpren  mit  €Dlenf<^en= 
antiifc,  welche  3.  Zfy.  aufrecht  geben,  3.  $b-  a“f  aDe«  Vieren 
laufen,  jcbeinen  auf  bie«  Steter  ju  fielen.  3m  notigen  3<*br« 
bnnbert  letnte  man  baffelbe  genauer  fennen.  ©amal«  warf  man 
biete  SEbtoart  mit  ©orifla  unb  ©bimpanfe  gufammen  unb  be« 
legte  fte  mit  bem  Flamen  i'cngo  ober  3ocfo,  legerer  abgefürjt 
an«  91’gefo  ober  ©ngefo. 4)  Später  trennte  man  beit  ^ongo 
ober  ÖJjimpanfe  »om  3odo  ober  Drang*Utan.  Uebet  be«  lefcteren 
Steileben  berichteten  audfübtlicbev  $>alm,  Saton  SBurrnb,  Salom. 
9Rüller  unb  Schlegel,  3-  Sroofe  unb  21.  fRuffetl  SBaKace.  55ie 
Anatomie  biefe«  übiere«  nmrbe  hauptfäcblich  oon  $).  ©amper, 
lemmindf,  £>wen,  Sifcboff,  S3tü^l,  Sucae  unb  mir  bebanbelt. 

©nblicb  beherbergen  ba«  afiatifcbe  geftlanb  unb  bie  malapifdte 
Snfelmelt  noch  eine  eierte  gorm  »on  ^ntbrepoiben.  @8  ftnb 
bie«  bie  fogenannten  ©ibbon«  ober  Sangarmaffen.  fDtan 
feunt  fte  bereit«  feit  bem  »origen  3abrbw«kcl't  genauer.  Sie 
ftnb  Heiner  al«  bie  »orbergenannten  2lntbropoibenformen,  fdhlanf, 
perfid)  unb  mit  febr  großen  2ltmen  »erfebeu,  bie  auch,  wenn 
bie  2b«ere  gerabe  aufgerithtet  fielen,  ben  Soben  berübren.  Uebet 
iiyre  ©eftalt  unb  Sebenöweife  weift  man  ©enauere«  burd?  Siarb, 
S)u»aucel,  SDaubenton,  Ration,  S.  5RüBet  u.  21.  3b«  2lnato* 
nie  ift  namentlich  burd?  Srolif  unb  Sifchoff  befannter  geworben. 

II. 

5Sir  wollen  e«  nunmehr  »erfuefcen,  untere  Sefer  etwa«  näher 
nit  bem  Sau  unb  bet  Sebenäweiie  bet  »iet  gormen  »on  2lntropo* 

(*M) 


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10 


morgen  ober  Shitbropoiben  befannt  311  machen,  Seiber  ld%t 
unfere  bisher  gewonnene  Äenntnifc  biefer  Spiere  noch  grofce  Süden 
ojfen.  3unäd>ft  befc^äftigen  wir  un8  mit  bem  (Gorilla  (Trog- 
lodytes  Gorilla.)  • , 

35ieS  51)ier  bewohnt  augeblicb  bie  hinter  ber  afrifanifchen 
Seftfüfte  3tt>ifd)en  3°  91.  ißr.  im  9lorben  unb  16°  ©.  23r.  im 
©üben  fid)  erftreefenben  ©ebtete.  Snbefj  geht  ber  SBerbreitungS» 
begirf  beffelben  bod)  vielleicht  noch  weiter  nörblidj,  als  man  3.  3- 
meift  anjuneljmen  geneigt  ift.  Sßienigftenß  geht  auS  ben  ©djilber» 
ungen  beS  ÜReifenben  S^ompfon  ferner,  ba&  ba8  S^iet  auch  im 
j£>interlanbe  een  Sdjerbro  oorfommt,  alfo  etwa  unter  7°  91.  93t. 
Sie  weit  e8  fid?  nach  bem  Innern  ijineinftreeft.  ift  noch  unftdjer. 
SDu  (S^aiHu  will  ben  Slffen  im  gan=  unb  j?amma*8anbe,  auch 
an  bet  ©erra  bo  ©riftal  getroffen  hoben.  Dr.  D.  8en3  l)at  viele 
©chäbel  unb  ©feletfnecheit  erhalten  unb  nach  33erlin  gefchidt- 
SJom  gernan  Sag  (Äantma)  ftammt  ein  im  geologifdhen  5Blu« 
feum  3U  Hamburg  unter  ber  JDbhut  be8  Dr.  S3olau  befinb* 
liche8  in  Seingeift  ecnfervirteS  Gfjrentplar  eiueS  jungen 
ÜJlännchenS. 

Dr.  p.  (Mfjfelbt  ü bezeugte  [ich  00m  93orfommen  be8  im 
tfoange=©ebict  91  pungu  genannten  ©orilta  in  3>angela.  3m 
fchönen  weiten  Jhole  be8  guboma  befuchte  er  ba8  2)orf  föt’ponbo. 
£ier  fah  er  unter  bem  rohen  Üluepufc  eines  au8  Sh^f^öbeln 
beftehenben  getifd)  einen  @orilIa*©chäbel.  Grr  lieh  ft<h  1,00,1 
ben  nahen  Salb  geigen,  in  welchem  bie  9T$)ungu’8  häufen.  91n<h 
in  bem  benachbarten  9Jlaoombe  ift  ba8  £hier  nicht  feiten.  9Jlap* 
ombe  ift  nach  ©üjffelbt’6  berebter  ©chilbetung  ein  jehr  au8« 
gebehnter  Salb,  gelterer  nähert  fich  unferetn  £ochwaIbe.  Di« 
©chlingpfla^en  finb  nicht  fo  häufig  wie  in  anberen  tropifdjen 
üDicfichten.  SDie  ühlanfen,  hohen,  buchenartigen  ©tämme  treten 
ungeminbert  in  bie  (Srfcheinung.  ®a8  Unterbot  unferer 

(SM) 


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11 


»albet  wirb  fyiet  gum  gröfceften  SE^etle  butd)  grofje  parallelabrige 
Sfattgewachfe  erfe^t;  auch  gatnfräuter  fehlen  nicht.  2)et  Soben 
ift  mit  trocfenem  8aube  bebecft.  3n  btefen  SSälbern  ^errfc^t  ein 
ewiges  Jpalbbunfel.  21n  recht  trüben  Jagen  feilte  man  an  eine 
©ennenfinfteruifj.benfen;  eine  eigene  treibhauSartige  öltmoöpljate 
wirft  guweilen  befdjwerenb.  Sluch  in  folgen  SBälbern  ijauft, 
nach  ©üfffelbt’S  münblichen  99littheilungen,  ber  ©orilla.  IDiefer 
fommt  ferner  in  ben  Urwälbern  beS  mittleren  OuiUu  »er.  ©ang 
nahe  ber  Hüfte  fdjeint  er  bem  ßhimpanfe  $)la£  gu  matten.  35ie 
»cn  ©üfffelbt’S  ßrpebition  eingefanbten  @<hä bei  gelberen  bem 
9i’§)ungu  unb  ßhimpanfe  an. 

3?er  ©orilla  ift  ein  riefigeS  ©efchepf.  ßrwadjfene  9Mnn= 
d)eu  erteilen  bie  ^>5lfe  »on  6$ — 7 $ufj.  SBcibchen  bleiben 
f leinet,  fie  werben  burdjfdjnittlicf)  nur  4J  bis  ^6(^ften8  5^  8ufj 
ijod).  Der  Hnodjenbau  beS  männlichen  J^iereö  ift  mächtig  ent* 
wicfelt,  bie  großen  ©lieberfnochen  finb  »iel'bitfer  unb  maffioet, 
al§  am  ßhimpanfe.  3ln  ben  Halswirbeln  ergeben  fich  riefige 
an  biejenigen  eines  ©tiereS  erinnernbe  5)ornfortfa^e.  2)ie 
Änochenbilbung  bet  Söeibdjen  ift  eine  weit  gierigere.  Söährenb 
ber  junge  ©orilla,  gleichgültig  weS  ©efc^ledjteS  er  fei,  einen 
bemjenigen  beS  HinbeS  ähnlichen  ©chäbelbau  geigt,  wirb  ber 
fnödjerne  Hopf  beS  älteren  männlichen  unb  weiblidjen  9lffen 
überaus  thierifch-  ©aS  Slntlifetheil  beS  ©djäbelS  wirb  weit  »or« 
ragenb,  an  ben  3al)nränbern  ragen  mächtig?  Hauer  IjerauS,  ben 
©Reitel  beS  alten  OJlänndjenS  überragt  ein  hohe*  fuöcherner 
8äng6famm , an  welchem  einer  ber  gu  fräftigem  Jhnn  geeigneten 
Hau-  unb  SeifjmuSfeln  feinen  Utfprung  nimmt.  Seim  Söeib» 
<hen  fommt  eS  niemals  gut  Silbung  eines  foldjen  HnochenfammeS. 
(@.  ?ig.  1—4).  8efsterer  fehlt  feiten  bem  SCRännchen.  $Der 
erwachfene  männliche  ©orilla  hol  einen  fehr  hohen  |>interfohf, 
einen  ftarfen,  gewölbten  fRatfcn,  breite  ®d)ultetn,  eine  breite, 

(»55) 


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12 


$i$.  3.  gig.  4. 

tritt  überall  beutlidj  ^etoor.  üDafl  SBeibcben  bat  einen  gewölbten 
£interfepf  unb  ift  fonft  fd>lanfec  gebaut.  Sei  beiben  ©efdjledjtern 
ragen  bie  &ugenböblenbögen  ftarf,  manchmal  namentlicb  bei  alten 
SK&nncben  ganj  abenteuerlich  ftarf,  heroor,  fie  werben  bnrd}  jebr 
entwicfelte  fnöcberne  SBülfte  geftüfct.  Unter  biefen  bicfeti  warzigen 
(»«) 


ftarf  gewölbte  Sruft,  einen  tndfiig  gewölbten  33aucf>,  eingejogene 
^laufen  unb  febr  fräftige  ©liebmafjen.  SDie  ^laftif  ber  9Jtu8feln 


gtfl.  2. 


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13 


Sogen^cjjfcnbcgen  lugen  bie  nic^t  großen  bunfelbrauneu  klugen 
ferset,  ©enn  Su  ©haiHu  »on  funfelnben  grauen  Säugen 
btS  @criüa  fpricpt,  jo  erweift  fich  leitete  ©egeichnung  als  eine 
entfcfcieben  unnötige.  Siejelbe  flammt  feht  tcaljt jc^einlid^  non 
betn  ©lalaugenoorrath  eines  läuSftopferS  l)er,  welcher  (ShaiBu’S 
„■Äpnig  bet  afrifanifchen  SBälbet"  recht  grufelig,  aber  nicht  gang 
naturgetreu  aufftellte  unb  jenem  genialen  Uteifenben  ben  entbehrten 
8nbltd  eines  lebenben  (5r«nplareS  gu  etjepen  fuchte.  SBilb  unb 
tücfrfdb  genug  muf)  aber  auch  in  ©inbehaut  unb  ^Regenbogen« 
baut  tief  bunfelbraune,  feht  lebhafte  Säuge  eines  erregten  ®o« 
riDa  ftrablen.  Sie  ©angen  finb  h»hh  f«hr  faltig,  nach 
von  ben  wulftartig  hetD^treteuben  ftarfen  ÄaumuSfeln,  ben  jo« 
genannten  9Raffeteren,  begrenzt,  bie,  an  ihrer  ^autbede  üppig 
mit  ftruppigem  Jpaat  bewachfen,  baS  wüfie  Slntlip  umrahmen. 
Sie  SRafe  liegt  bei  manchen  3nbi»ibuen  weit  hö^er  am  SÄuge, 
bei  manchen  bagegen  weit  mehr  »on  biefem  entfernt,  Saburch  er» 
leibet  bie  ^hpfiognomie  bet  ©orillaS  beiben  ©efchlechteS  »ieletlei 
inbi»ifcuelle  ©erfchiebenheiten.  Set  Säntliptheil  beS  einen  wirb 
babutch  länget,  ber  beS  anbeten  fürger.  Ser  5Rafenfnorpel  ift 
ftetS  ho<h  aufgewulftet,  lang,  breit,  mit  weit  geöffneten,  burd) 
eine  fchmale  ©djeibewanb  »on  einanbet  getrennten  SRüftern,  mit 
einer  tiefen  »on  oben  nach  unten  gieheuben  gängSfurdje  »erfehen 
unb  mit  gang  furgen  paaren  bebecft,  welche  leiteten  auch  ben 
faltigen  SÄntliptheil  befleiben.  ©eim  ©oriUa  beherrf^t  gleichfam 
bie  wulftige  SRafe  ben  »orbeten  Sntliptheil.  Sie  Oberlippe  ift 
beim  einen  3nbi»tbuum  mit  langen  fchiefgähnigen  Dberfiefeibeinen 
länger,  bei  anberen  mit  fürgeren  entfprechenben  $h*Ben  »etfehenen 
Snbieibuen  bagegen  weit  fürget.  ©tetS  ift  bie  Oberlippe  feht 
toeit  »orftrecfbar  unb,  wie  bie  in  {RuhefteUung  fie  etwas  übet» 
tagenbe  Unterlippe,  ungemein  beweglich-  Äurge  grauli^weipe 
-paare  bebecfen  bie  »ielfach  gefalteten  unb  gefurchten,  mit  un« 

(»rj 


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fjjf, 

14 

regelmäßigen  Ouabbeln  belebten  Sippen.  Sie  fteljenben 
£%en  finb  3it>ifd^en  4£— 7 (Zentimeter  lang  unb  3 — (Zentx* 
meter  breit,  balb  auffaHenb  meufdjenäfynlidb,  halb  nidjt  fe,  fou* 
bern  flauer,  ärmer  an  ben  djarafteriftifdjen  Seiften  unb  S5or» 
fprüngen  beß  menfdjlidjen  D^rfnorpelö,  gebilbet.  ©etm  alte a 
SJtännchen  erfdjeint  ber  fyotye,  aber  nid}!  breite  Äopf  mit  bem 
ftarf  gewölbten  hatten  wie  eingefeilt  jwifcfjen  ben  mächtigen 
Schultern.  ©ie  Spitjen  bet  außgeftreeften  ginger  erreichen  bei 
aufrechter  Stellung  beß  Ühiereß  ben  änfangßtheil  ber  Unter* 
f<henfelfnod}en,  bic^t  unterhalb  beö  Änieeß.  ©ie  .panbe  fiat1 
groß,  breit,  mit  biefen  gingern  »erfehen.  ©et  ©aumen  ift  furg, 
3eige»,  Drittel*  unb  britter  ginger  ftnb  faft  gleich  lang,  ber  fünfte 
bagegen  ift  wieber  beträchtlich  fütger.  Stn  ©angen  ift  bie  ®o* 
riHaljanb  fe^r  menfchenähnlich  gebilbet. 

©ie  Seine  finb  beim  Sltäunchen  bief  unb  mußfulöß,  bie 
Unterjchenfel  freilich  wabettfdjwach,  bie  güße  groß  unb  platt, 
©aß  ©feiet  ber  [enteren  ift,  wie  purleti  gang  richtig  bemerft, 
baßjeitige  eineg  wirflichen  gußeß  mit  einer  feßr  beweglichen 
großen  3ehe-  ©ie  gußwurgelfnocßen  beg  ©orilla  finb  niemals 
panbwurgelfnochen.  ©ieß  unb  bie  änorbnung  ber  ÜHußfeln  lägt 
bie  frühere  Sinnahme,  man  h°be  eS  bei  ben  großen  äffen  mit 
einer  hinteren  paitb  gu  tljun,  alß  eine  irrige  erfcheineu. 

©ie  fehr  lange  unb  biefe  große  3ehe  beß  ©orillafußeß  wirb  oon 
ben  übrigen  3ehen  burdj  einen  tiefen  ©iufchnitt  getrennt.  San 
letzteren  ift  bie  fleine  bie  fürgefte,  bie  mittlere  faum  länger,  alß 
bie  übrigen.  SDtit  ftarfen  äb=  unb  Slugieher  * SRußfeln  »etfehen, 
geftaltet  bie  am  erften  Äeilbeine  frei  bewegliche  große  3ehe  ben 
guß  biefeß  äffen  gu  einem  echten  ©reiffuße,  welcher  feinem 


Sefifjer  namentlich  wichtig  für  bie  Äletterbewegung  wirb,  gin» 
ger  unb  Sehen  biefeß  StljiereS  finb,  wie  oben  fdjon  flüchtig  be* 
merft  würbe,  bief,  aber,  wie  meine  eigenen  Unterfudjungen  an 

(3ii) 


Digilized  Ijy  fcloOglc 


15 


ungemein  reichhaltigem  SJtaterial  beweifeu,  burdiauö  uid)t  fo  bicf, 
alfl  fte  otelfad^  uac^  fünftltd)  gebeljnten  uub  fyintertjer  fdjled)t 
gestopften  Bälgen  ober  nad)  tjalb  aus  ber  fPfyantafie  gearbeiteten 
©ppömobellen  unb  3&ad}3figuren  bargefteüt  ju  werben  pflegen. s) 


8ifl-  5. 


(259) 


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16 


Bwifdjen  ben  elften  ginget*  unb  Beljengliefcern  finbet  fidj  audj 
Iper,  Ttid^t  gang  biß  gur  9Ritte  beß  entfpredenben  ©lieb*  ober 
ftyaiangenfnodjenß  Ipnaufreidenb,  jene  ©inbepaut,  welche  aud) 
beim  ÜRenfden  idwimmpautapnlid  gwifden  ben  oberen  <5nb* 
ftücfen  bet  erften  gingetglieber  pd  außfpannt.  (gig.  5.) 

©ie  SBeibd>ett  Pnb  fleiner  alß  bie  ORdnnden  unb  bei  weitem 
fdlanfet,  ft^mäd^tiger  gebaut  alß  biefe.  3pt  Äopf  tft  im  ©er» * 
fydltnip  gut  gdnge  unb  ©reite  beß  [Rumpfeß  fleiner,  ber  ©deitel 
unb  ,£>interfopf  pnb  gerunbeter,  bie  Sugenbölpenbögen  weniger 
ftarf  percorragenb,  bie  [Rafe  i|'t  Patzet  unb  fdmaler,  bie  Sippen 
finb  langer. 

©er  gang  junge  ©oriüa  geigt  unproportionirte  gormen 
wie  jebeß  unreife  Spier  unb  wie  aud  baß  -Rinb  beß  PRenfden. 
©et  tfopf  ift,  wie  fdon  am  ©ddbel  erfennbar,  (gig.  4)  in  ber 
©tim»,  ©deitel*  unb  .£>interpauptßgegenb  gugerunbet,  er  pat  in 
biefer  ^infidp,  fowie  aud  in  ber  geringen  ©ortagung  ber  liefern, 
etwaß  unoerfennbar  SRenfdendpnlideß-  ©pater  werben  bie  &inn= 
baden  beß  mdnnliden  unb  weibliden  ©orifla*®däbelß  oor« 
ragenber,  bie  ©diefeapnigfeit,  bie  $)rcguatpie  berjelben  oerftdrft 
pd-  ®ann  wirb  baß  gange  Änodengerüft  beß  Äopfeß  biefer 
SHjfen  tpierifder.  ®)  ©er  Äopf  beß  fepr  jungen  ©orilla,  möge 
et  mdnnliden  ober  weibliden  ©efdledteß  fein,  ift  im  ©erpdlhtip 
gum  Stumpfe  grop,  leitetet  ift  pier  bicf  uub  tonnenartig,  bie 
©Uebmapen,  bie  ginget  unb  Sepen  aber  erfdeinen  futg  unb  bicf. 

©aß  £aar  biefer  Slffen  ift  lang  unb  gottig.  Sn  ben  ©d“l* 
tern,  Firmen  unb  Jpüften  wddft  eß  biß  9,  ja  13  Zentimeter  per» 
»or.  0ß  ift  an  ©aden,  ©dultern,  [Rüden  unb  lüften  guweiten 
leidt  wellig,  am  ^interfopf  unb  an  ben  ©liebem  aber  fd^d^ 
ftraff.  ©aß  2tntlip  unb  £)pt  finb  mit  furgen  grauen  unb  fdwarg* 
braunen,  fdlid*en  paaren  nur  fpdrlid  befleibet.  ©ie  runglige 

£>aut  biefer  Steile  ift  fdmupig  brdunlid'ffeifdfarben,  rupfatben 
(2*0) 


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17 


gebecft.  3«  gleicher  Söeife  ftnb  auch  ^>5«be  unb  güfje  au  ihren 
nicht  behaarten  feilen  gefärbt.  35er  £opf  ift  in  ber  SRegel  mit 
»irren,  fudjfigen,  nicht  geidjeitelten ( öfters  aber  fammfermig 
»on  »oru  nach  b'uten  ftebenben  paaren  befleibet.  Nacfen, 
©d}ultern,  Ofücfen  unb  |>üften  erfd^einerr  graubraun,  melirt,  iu» 
bem  jebeS  eingelne  beOgelbgraue  paar  biefer  Äcrpertbeile  ein  ober 
öfters  noch  gtsei  breite  f<b»argbraune  (Ringel  b^t.  2)ie  paare 
beS  DberarmeS  finb,  roie  biejenigen  beS  ß^impairfeß  unb  Drang* 
Utan’S,  oon  oben  nacb  unten,  bie  bunfel  febtoargbraunen  beS  Unter* 
armes  bagegen  oon  unten  nach  oben  gefebrt.  (Big.  5.)  Stuf  bem 
panbrüefen  beS  ©orilla  fiubet  ftd)  ein  paarwirbel,  Pou  welchem  ab 
bie  .paare  »ieber  gegen  bie  SingerbaftS  ficb  ^inaberftreefen.  J3ucb  bie 
Unterfdjenfel  finb  f<b»argbraun.  SRandjeu  Snbioibuen  fehlt  ber 
fuebfige  j?opf,  berfelbe  ift  t>ielmel)t  graubraun  ober  ftb»argbraun. 
©ewiffe  3nbioibuen  finb  bunfler,  anbere  finb  einförmig  febwarg» 
braun  bis  fdjwarg  über  ben  gangen  Äörper.  Noch  anbere  haben 
einen  fuebfig  überlaufenen  fKücfen.  2lm  Slfter  fiubet  ficb  ein 
fcbmufcig  weiter  glecf.  3“  beibeit  ©eiten  beffelben  geigen  fi<b 
gmei  fleine  mit  borfiger  paut  übergogene  ©ejäfjfcbwiefen.  Sorber* 
balS,  Sruft  unb  Saud)  finb  bünner  behaart,  als  bie  übrigen 
Äörpertbeile. 

35er  ©oriHa  tjauft  itt  ben  Söälbern  als  BorgugSweiieS 
Säumt  hier.  Gr  flettert  gewanbt,  lebt  unb  febläft,  meift  auf 
Säumen,  fommt  aber  auch  auf  bie  Grbe  h^ab.  55cm  fdjon 
genannten  perrn  o.  .ftoppenfelS  oerbanfe  icb  intereffante  Nad)* 
richten  über  baS  ^reileben  biefeS  Stieres.  ©elbigeS  bübet  ©e* 
meinfebaften  gu  einer  bis  brei  gamilien.  ©ein  Slufenthalt  ift  ein 
»ecbfelnber.  Gin  unb  baffelbe  Nachtlager  benuijt  er  büd?ftenS 
brei  bis  Bier  mal.  Gr  baut  ein  folcbeS  in  ber  pöt)e  »on  6 
Bufj  über  ber  Grbe  auf  ftarfen  Sleften  gureebt,  mtb  groar  auS 
gufammengebroebenem  polg  unb  barauf  gepafftem  SNoofe7). 

XL  «7.  _ 2 (261) 


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1 


18 


SBenn  ein  ©orilla  fidj  in  ben  Räumen  umhertreibt,  wagt  er 
fid)  in  beren  äuherfte  ©pifcen  hinauf.  @r  probt  »orfyer  bie 
Sragfraft  ber  Slefte  unb  reicht  einer  ber  lederen  nicht  aug, 
fo  benufjt  er  wohl  Drei  bis  »ier  auf  einmal.  $r.  v.  Joppen* 
felb  fal)  erwachiene  ©pemplare  bei  na^enber  ©efatyr  aug 
einer  Vaumhöhe  non  breifeig  big  rnerjig  guh  h^abfpringen  unb 
mit  grober  (Snergie  burd)  bag  ©icficht  brechen.  ©ag  S^tet  frifrt 
aHeri)anb  SSJalbfrüdfete,  am  liebften  eine  fleine  rctfee  SBeerc,  beten 
botanischer  9tame  noch  ntdfei  befannt  ju  fein  fdjeint.  tfluch 
labt  er  fid)  nad)  ©u  ©ha'^u  an  «üben  (oerwilberten  ?)  9tna= 
nag.  6r  bef «djt  auch  ©cljege  non  »übern  3ucferrohr.  3n  alten 
»erlaffetteti  Dtieberlaffungen  unb  am  9tanbe  ber  ©orfalautagen 
finbet  unfer  St)ier  Bananen,  Delpalmeu,  ?tnonen  ober  ©djuppen» 
äpfel,  SDtelonenbäume  ober  fPapapen,  wirtliche  Ültelonen,  Jhtrbife, 
©urten  ic.  Äoppenfelg  beobachtete  einft  ein  fDtänncheu  nebft 
SBeibchcn  unb  j»ei  Junge  beim  güttern.  SBetb  unb  .ftinber 
mußten  bem  bequemen  gamitieutprannen  bie  griiehte  non  einem 
nahen  Tleiucn  53aunie  pflüden  unb  »aren  fie  babei  nicht  hurtig 
genug,  langten  fie  aud)  felbft  311  »icl  für  fich  herab,  fo  gab  eg 
heftigeg  ©runden  non  ©eiten  beg  Slltcn  unb  gehörige  £)hrfe>3en 
mit  feinen  plumpen  Pfoten. 

©er  ©orilla  »irb  Den  ben  ©dnoargen,  benen  eg  felbft  oft 
am  nöthigen  SDtxitfee  mangelt  ober  benen  aHeiljanb  erbachte  ÜNorb= 
gefchichten  51er  Vermehrung  iljreg  3ägerrul)mcg  »erljelfen  joBen, 
gewöhnlich  für  gait3  fürditerlid)  unb  gefährlich  auggefebrieen. 
SKag  aber  felbft  bie  augfdjweifenbfte  Uiegerphantafie  nicht  furcht» 
bar  genug  augmaleit  getonnt,  bah  Ijat  ©u  GhaiHu  mit  leinen 
ung  fo  felbftgefällig  unb  patbetifch  aufgetifdjten  ©djauber* 
ergahlungcn  unb  in  mittelmähigcn  lonboner  ^oljfchneiberatelierg 
fabrigivten  ©diretfengiUuftratienen  311  SBegc  gebradjt. 

Sintere,  barnnter  0.  Äoppenfelg  unb  9t.  Vurton,  fehilbern 

<J«S) 


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19 


ben  ©crißa  alß  ein  feigeg,  beherztem  Angriffe  nic^t  Stanb  galten* 
beß  ©efcbcpf.  Seim  geringften  ©eräufd)  ergreift  eS  bie  glucbt. 
Seßbalb  hält  eg  fcbwer,  baß  rlefige  S£^iet  ju  Sd)ufje  5«  be= 
femmen.  Äoppenfelß  fab  ben  erften  bet  »on  ihm  perfönlid)  be= 
obad)teten  ©orißaß  auf  etwa  300  (Schritt  Entfernung  am  Dgowe. 
£Det  Einbrucf  beß  6 — 7 gufj  hoben  Süefen  mar  eiu  überwältigen* 
bei.  9iadjbem  biefer  getrunfeu  batte,  richtete  er  ficb  an  einem 
Saume  in  bie  a;>ebe,  um  Srüdjte  ju  pflücfen.  Seglidjeß  <Sud)en 
nach  it>m  mar  »ergeblid),  inbem  erft  baß  aubere  Ufer  .erreicht 
werben  muffte.  .Roppenfelß  machte  fid)  bereit,  baß  bei  ber  »er* 
bin  gefchüberten  gamilienjcene  feine  Dberbauptßroße  fo  gut 
fpielenbe  9fiännd)en  ju  febiefceu.  Stßein  baßfelbe  batte  fidj  etwas 
in  baß  Sidicbt  juriicfgegogen  unb  einbrechenbe  SDunfelbeit  mahnte 
jum  Stufbruch-  Unfer  SJieifenbet  erlegte  habet  baß  3Seibd)en, 
welches  töblid)  getroffen  eom  Saume  ^erabftür^tc.  3n  ber 
fieberen  Erwartung,  nunmehr  »on  bem  SDiänndjen  angegriffen 
ju  werben,  mufjte  unfer  Säger  fid)  barüber  oerwunbern,  bafj 
jenes  beim  £rad)en  beß  ©ewebreß  fammt  ben  3ungen  bie  glud)t 
ergriff.  Ein  anbermal  febofj  &.  abfichtlich  ein  3ungeß,  in  bem 
©lauben,  ben  Angriff  ber  Eltern  auf  ficb  gu  lenten.  Slflein  baß 
unterblieb  auch  jefct. 

SMeber  ein  britteß  SDlal  würbe  ber  fReifenbe  burd)  baß  @e* 
febrei  »on  mehreren  gamilien  ©crißaö  unb  El)impanfeß  (?)  her* 
beigelocft.  9luf  Rauben  unb  güfjen  ftied)cnb,  näherte  ficb  &• 
unb  beobachtete  baß  (Spiel  ber  Riffen.  Siefelben  »erfolgten  fid) 
gegenfeitig  unb  glich  baß  ©anje  bem  bunten  Sireiben  im  großen 
Stffenbaufe  eineg  goologifeben  ©arteng. 

Sie  ©orillaß  ftofjen  tiefe  Äebltöne  auß,  welche  balb  grungenb, 
halb  wie  gebebnteß  Stießen,  balb  aber  wie  fd^arfeö  wütl)igeß 
©efläffe  Hingen  feilen.  Eß  ift  begreiflich,  baf)  biefe  Slbiere  fel)r 
in  bie  Euge  getrieben  unb  »erwunbet,  ficb  ähnlich  ben  El)int* 

2*  (163) 


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20 


panje’8  unb  Orang’8  audj  meßren.  5)abei  mag  eö  gumeilen 
fernere  SBermunbungen  unb  felbft  2obe8fäfle  abgeben.  3m 
©anjen  aber  mirb  ba8  entfeßlidß  nerfcßrieene  Untäter  feiner 
©djrecflidßfeit  gro§ent^eilö  entfleibet.  „©8  ift  ein  armer  5£eufel 
Bon  2tjfen,  nicßt  ein  ßöflifcßeS  3raumgebilbe,  ßalb  SUtenfdß  ßalb 
39eftie"  — fo  fdßreibt  Oi.  5iurton. 

@8  ßat  bibfyet  feßt  ferner  gehalten,  lebenbe  ©eriUaö  natß 
©uropa  $u  überfluten,  ©ie  ftarben  gemßßnlicß  untermegS. 
Sßlan  ergäßlte  21.  33aftian  in  Soango,  baran  fei  ßauptfädjlicß 
ba6  £eimmeß  fdßulb.  Allein  Dr.  33obinu8,  ber  befannte  praftif^x 
Stßieraüdjter,  äußerte  gegen  ©(ßreiber  biefeö,  Seglet  in  ber  2$er« 
pflegung  mürben  bie  SBeranlafjung  bilben.  SebenfaUS  ßat  SBobinuS 
5Red)t.  9)tan  mellte  nun  audß  jung  gefangene  ©oriflaö  als  gräß= 
lidje  Heine  Ungeheuer  Berjcßreien.  2)aß  bem  aber  nidßt  fo  fei, 
bemeift  g.  23.  folgenbeS  ©cßreiben  be8  Dr.  D.  8eng  an  mi<§: 

„2118  icß  non  meiner  Cfanbereife  nadß  ©abun  gurücffeßrte, 
mürbe  idß  Bon  einem  jiemlitß  heftigen  gicber  befaßen,  beffen 
9iadßmeßen  lange  anbauerten,  gür  biefe  unfreimißige  SDiuffe 
mürbe  icß  einigermaßen  entfcßäbigt,  al8  ein  lebenber  ©orißa  in 
bie  ßiefige  beutjdße  gaftorei  gebraut  mürbe.  ©a8  Sßier  ftammt 
non  Äamma  (gernanb  23aj),  bemfelben  |)Iaße,  an  meinem  5)u 
©ßaißu  feine  ©remplare  erlegte,  unb  mürbe  au8  einer  Jpeerbe 
»on  aeßt  ©tücf  ergriffen,  ©in  Heiner  .punb,  ber  boh  einem 
alten,  fpäter  getöbteten  ©remplar  etroaS  oermunbet  morben  mar, 
ßinberte  unfer  3nbiuibuum  fo  lange  an  ber  gludßt,  bis  ein  9ieger 
ßerbeifam,  baffelbe  am  ©enief  paefte  unb  Bon  einem  anbern  bie 
jpänbe  binben  ließ.  3«  biefer  SBeife  mürbe  ber  ©orißa  in  bie 
3meigfaftorei  be8  ßiefigen  £aufe8  gebracht,  mo  man  ißm  leibet 
mie  bieö  gemßßnlidß  gefdßießt,  bie  beiben  großen  ©cfjäßne  ab« 
feilte,  au8  gureßt,  baß  er  beißen  mßcßte.  Unfer  ©orißa  ift  ein 
junges,  gemiß  aber  feßon  jmei  3aßre  altes  männlicßeS  ©.remplar, 

(Ki) 


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21 


fca§  fid)  giemlid)  leidet  an  bic  ©efangenfdjaft  unb  ben  Umgang 
mit  5Renfd)en  geweint  hat.  ©r  hat  eine  lange,  bünne,  eifetne 
tfette  um  ben  £alg,  fo  ba|  er  einen  gro|en  Spielraum  h°t; 
ben  grellen  Streit  beö  Sageg  aber  fi|t  er  in  eiltet  Sonne,  wo 
er  eg  fid)  auf  bem  Stroh  meglidjft  bequem  mad)t.  ©egen  jfälte, 
SBinb  unb  {Regen  ift  bag  Sl)ier  fel)t  empfrablid),  unb  n?a|renb 
bet  SRacfjt  wirb  ein  bitfeg  Segeltuch  um  bie  Sonne  gewidelt. 
Seine  gewöhnliche  Stellung  ift  eine  l)otfenbe,  bie  beiben  IBotber* 
arme  freugweife  iibereinanbet  gefd)lagen  unb  immer  aufmetffam 
bie  Umgebung  betrad)tenb.  Stetg  fe|t  et  fiel  fo,  ba|  irgenb  ein 
©egenftanb  im  {Rüden  ift,  er  will  rücfenfrei  fein  unb  feine  geinbe 
nur  oot  fid)  haben.  3m  Sdi)laf  legt  er  fid)  lang  auf  ben  {Rüden 
ober  auf  eine  Seite,  bie  e;ne  $anb  gewiff ermaßen  alg  Äopffiffen 
benufsenb;  nie  fd)laft  er  Ijodenb  wie  anbete  {Äffen,  ©r  gef)t  auf 
allen  »ier  Hänben,  bie  beiben  hinteren  platt  auf  ben  SÖoben  ge* 
brütft,  bie  oorberen  aber  gufammengebaUt,  foba|  er  eigentlich 
auf  ben  Änöd)eln  geht;  habet  hat  er  ben  befannten  feitlidjen 
©ang.  SSugenblitflid)  leibet  er  entfe|lid)  an  bem  fogenannten 
Siffoup;  feine  beiben  5Botbetl)änbe  finb  gang  »oQ  Sölafen,  in 
benen  ber  ©ierfted  biefeg  fleinen  läftigen  3nfecteg  ft|t.  — SDie 
Hauptfrage  bei  bem  Srangport  beg  ©otüla  bilbet  natürlich  bie 
©rnährung.  5Bir  haben  if)m  fthon  öfterg  {Reig,  33rob,  SRild)  ic., 
furg  Sachen,  bie  an  ©otb  fowo|l  alg  auch  in  ©uropa  gu  haben 
ftnb,  gegeben,  aber  mit  geringem  ©rfolge.  @r  hat  gwat  einige 
SRale  etmag  23rob,  unb  gwat  befonberg  gern  Sdjiffggwiebad  ge* 
geffen,  auch  einmal  5Reig,  aber  für  gewöhnlich  lä|t  er  eg  ftehen. 
Seine  2ieblinggnal)tung  ift  eine  hier  häufige  rothe  grudjt,  »on 
bet  et  bie  innen  beftnblichen  Äerne  i|t;  SBanahen  unb  Slpfel* 
finen  liebt  er  gleidjfatlg,  befonberg  aber  3uderrohr,  ba|  er  mit 
wahrem  Süohlbehagen  aug  bet  £anb  nimmt  unb  gerfaut.  ©benfo 
nimmt  er  mit  ein  ©lag  »oll  SBaffer  aug  ber  £anb,  e0 

(Mi) 


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22 


regelrecht  311m  SDtunbe  unb  trinft  e8  auS.  Stur  einige  wenige 
fötale  hörte  ich  bei  heftiger  (Erregung  einen  grnngenben  $on,  für 
gewöhnlich  ift  er  gang  ftumm,  2luf  bent  Schiffe  wirb  fidj  unter 
©oritla  wohl  ober  übel  an  Brob  9tei8  2c.  gewöhnen  müffen, 
benn  feine  2iebling§frü<hte  halten  fid)  nur  wenige  Sage.  Statur* 
lieh  luirb  fo  niel  wie  möglich  3ucfertehr  mitgegeben,  bafj  ficb 
lange  hält  unb  auch  wohl  in  (Europa  3U  haben  ift." 

(Sin  anbrer  junger,  3.  3.  in  Ghiucbojro,  Station  ber  beutfds* 
afrifanifeben  (Sjrpebition  in  Sfdjiluango,  lebenb  gehaltener,  für 
Berlin  beftimmter  ©orilla  erweift  fich  nach  bem  'angieljenben 
jüngft  eingefanbten  Berichte  be8  ©rpebitionSmitgliebeS  Dr.  Ralfen* 
ftein  als  febr  gutraulich  unb  gutmüthig.  v 

SDie  nächft  intereffante  $orm  menfdjenähnlicbet  Slffen  ift  ber 
Ghiuipanfe  (Troglodytes  niger.)  35ie  Berbreitung  be8* 
felben  reicht  febr  weit  in’8  3nnere,  bi8  in  bie  Stiam=9tiam=2än* 
ber  am  90tbrucle*8luffe  :c.  Unbeftimmten  Slaehrichten  gufolge 
fommt  er  aud)  in  ben  füblidj  Bon  Slboffinien  gelegenen  ?anbern 
ber  Söhwargen,  ber  ©ata  unb  Söbama  Bor.  5)er  Bon  ffioing* 
ftone  im  SJianpuema  * Sanbe  weftlich  Bom  Sanganpifa  = ©ee  auf* 
gefunbene  Sofo  ift  nach  be8  berühmten  JDoftor  eigenen  Sfiggen 
ein  (Shimpanfe,  fein  ©orilla.  2)em  SBtifftonür  9llbert  9tad)tigall 
ergühlten  — fo  ift  mir  berichtet  worben  — .Raffern  Bon  menfeben* 
ähnlichen  großen  2lffen,  weldje  fie  in  Stühe  ber  oielbefprodtenen 
Stuinen  öftlich  Bon  Sofatla  (3imbaoe,  3itubabne)  gefehen  haben 
wollten.  2lm  Dbfi,  am  SDjuba  unb  an  anberen  ^lüffen  Dft* 
afrifaö  foH  ber  grofce  anthropeibe  ISffe  ©obja  häufen,  wahr* 
fdjeinlich  ebenfalle  ber  G^im^anfe.  SÜtan  erwähnt  biefcS  festeren 
2hirre8  im  ^»interlanbe  bet  portugiefifeben  Befijjuugen  Bon 
Biffao.  Bon  ba  ab  fommt  e8  bureb  bie  beiben  ©uineaS  bt§ 
gum  Storben  Bon  Angola  Bor.  SDtithin  fcheint  ein  guter  Sbeü 
beS  tropifdjen  2lfrifa  bie  epeimath  biefeS  merfwürbigen  SL^ieveS 
(266) 


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23 


fein.  5J?an  Ijat  unter  ben  ßtjimpanleS  je  nad?  ihren  inbioi« 
buetlen  Gigenthümlidjfeiten  Vertreter  mehrerer  Sitten  ^crauS» 
erfenuen  wollen  unb  bie  G^araftere  berfelben  ficket  gu  [teilen 
gefugt.  Slllein  biefe  angeblich  oerjchiebenen  G^tmt?an[e*@tJecie8 
haben  bie  $)robe  einer  felbft  nur  flüdjtigen  Äritif  nicht  hefteten 
fönnen.  33erfaffer,  an  £anb  eines  fel)t  reichhaltigen  ORaterialeS, 
im  ©taube,  biefe  ©a<he  eingehenb  prüfen  3U  fönnen,  empfiehlt 
btingenb,  bie  erwähnten  angeblidien  ©pecieS  ju  ftreid}en  unb 
ft<b  oorläufig  mit  einer  einzigen  — Troglodytes  niger  — 
gu  begnügen. 

5)ie  inbioibuellen  Slbweid)ungen  ber  ^pfiognomie  unb  be8 
fRumpfbaueS  finb  auch  bei  biefem  Spiere  fel)t  beträchtlich-  68 
f chcitt t mit,  baf)  je  näher  bie  Slffen  überhaupt  bem 
fDJenfhe«  in  i hr«r  Organifation  treten,  bie  ©igenart 
beS  SnbioibuumS  aud?  befto  ftärfer  f i ch  geltenb  macht. 

3m  StUgetneinen  nun  glaube  ich,  [JiadifolgenbeS  über  ben 
33au  unb  bie  Sebeneweife  bicfev  Schiere  feftftellen  gu  fönnen. 

Qllte  männliche  GljimpanfeG  erreichen  eine  aufrechte  .pöhe 
»on  4—5  gufj.  Sllte  Sßeibchen  werben  fdjwetlid)  je  über  4 gu{j 
grofj.  2>ie  bei  unS  in  ben  goclegifcben  ©arten  unb  SRenagerien 
gehaltenen  ©remplare  waren  meiftenS  jüngere  Sßeibdjen, 
haben  gewöhnlich  2 — 2$  — 3 guf)  pöl)e  gehabt.  3)er  .pitn* 
jchäbel  ift  im  ©angen  flach* fuglig.  Niemals  fommt  eS  beim 
fJRänndjen  gut  ©ntwicfelung  jenes  hohen  über  bie  ©djeitelmitte 
giehenben  ?ängöfammeS  unb  ber  ftarfen  queren  JpinterhauptS» 
leifte,  welche  ben  ©djäbel  beS  männlichen  ©orida  anSgeicbnen. 
5)ie  ©eitenlinien  be§  ©djäbelS  einigen  fich  felbft  bei  gang  alten 
©hi>npanfe*9Ränncben  nur  fetten  gur  Silbung  eines  niebrigen 
unb  nur  in  furget  ©treefe  uerlaufenben  äbammeS.  93eim  Söeib* 
<hen  bleiben  biefe  Linien  burch  einen,  etliche  (Zentimeter  breiten 
3wifchenrauni  »en  einanber  getrennt.  SDic  Slugenbrauenbögen 

<»67) 


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24 


finb  felbft  bei  alten  Gl)impanfe8  männlidjen  ©efdjlec^teö  niemaW 
fo  flat!  wulftig  entroicfelt,  al8  bet  ben  ®oriQa8,  fte  treten  ba^er 
aucf)  nie  fo  ftarf  nad)  aufjen  bereor.  Die  Äiefergegenb  ift  bei 
manchen  Gbimpanfe8  aufcerorbentlicb  nortagenb,  fetjr  fdbiefjä^nig, 
bei  anberen  ift  fie  bieö  aber  nicht.  SDie  liefern  finb  bei  lejjteren 
nicht  fo  fchnutenförmig  verlängert  unb  bie  Ärontänbet  ber 
©chneibejäbne  flogen  unter  einem  weniger  fpifcen  SBinfel  ju* 
fammen.  Die  3ä^ne  ber  G^impanfeS  erreichen  nur  feiten  bie 
Sreite  unb  Dide,  nie  aber  bie  gange  bet  ©otiflagäbne.  Sei 
erfteren  Spieren  entroicfeln  fid>  bie  Gcfjähne  felbft  alter  SJidnndjen 
nicht  ju  jenen  furchtbaren,  an  biejenigen  bet  großen  Äafcenraub* 
tl)iere  (göroen,  Stiger ) erinnernben  Seifjwerfjeuge  ber  Djina’8. 
(Big.  6 — ü.)  Die  ©egenb  ber  uorberen  9lafenöffnung  ift  beim 


Big.  6. 


Big.  7. 


(*8) 


Big.  8. 


Big.  9. 


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25 


<$fetrapanfe*Scbäbel  gewöhnlich  flauer,  eingebrüdter,  als  an  bem* 
I ppntgen  beS  ©orifla.  JDet  .Knochenbau  beS  Stumpfes  unb  bet 
(?  rtremrtäten  erleb  eint  bei  elfterem  äffen  im  ©anjen  fdjlanfet, 
jterHcher,  weniger  maffig,  als  bei  legerem.  SBohl  läjjt  ftdj  fagen, 
ba§,  abgelegen  non  gewiffen  unterfdjeibenben  SJterfmalen,  nament« 
liefe  im  ©au  beS  ©edenS,  auch  baS  ©hintpanfe* ©feiet  bem 
ment  (blieben  fehr  nahe  fteht. 

2*40  Sdjimpanfeprefil  ijat  etwas  t>iel  gtadteteS  als  baSjenige 
teS  9i'f)ungu  ober  SDjina.  (Der  äuSbrud  beffelben  ift  ein  weit 
milberer.  Klar  unb  feelenoeB  bliden  bie  grofeen  mit  jiemlich 
hellbrauner  ^Regenbogenhaut  »etjehenen  äugen,  »on  nicht  hohen 
Änedjen  unb  £autwülften  nur  mäjfig  überbad^t.  2)ie  Stafe  ift 
flach,  mit  einet  wenig  tiefen  mittleren  SängStinne  unb  mit  nicht 
gewnlftetem  Knorpel  bet  glügel  mit  fdjmaler  Scheibe wanb  »et* 
ftben.  Sie  wirb  unten  »on  einet  an  ihrer  £interfeite  beginnen» 
ben  unb  »er  ihnen  quer  übet  bie  Oberlippe  jiehenben,  nicht 
tiefen  Jpautfurdje  umfäumt.  ©eim  ©oriBa  bagegen  tritt  bie 
State  mit  ihren  mächtigen  folbigen  glügelfnerpeln  bid  unb  wulftig 
bereor.  ®ie  Oberlippe  ber  ©himpanfeS  ift  lang,  gewölbt  unb 
mit  »ielen  »on  eben  nach  unten  jiehenben  unb  quer  »erlaufenben 
SRunjeln  bebedt.  Sßie  beim  ©oriBa,  ragt  bie  Unterlippe  etwas 
über  bie  Oberlippe  hinweg,  ©eibe  3;he*k  ftnb  bei  ben  befchriebenen 
grofcen  äffenfermen  ungemein  beweglich  unb  tönnen  tüffel» 
förmig  »orgeftreeft  werben.  3)ie8  ift  u.  ä.  »on  Gljenu,  (5h-  ©ar* 
»in  unb  @.  Sötufeel  in  fehr  charafteriftifcher  3Beife  abgebilbet 
»erben.  *) 

öS  giebt  nun  auch  (5h*mpanfeS,  bei  welchen  fi<h  jwifchen 
innerem  äugenwinfel  unb  $interranb  beS  StafenfnorpelS  nur 
ein  Heiner  Snnfdjenraum  befinbet.  ©ei  anbeten  Snbiüibuen  ift 
bertelbe  aber  grefjer.  SPtanche  $hiere  haben  längere,  manche 

(269) 


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26 


haben  fürjere  Rippen,  je  nachbem  bet  bie  Schneibejäbne  tragenbe 
OberHefertbeil  länger  ober  fiirjer  ift. 

5Rancbe  haben  behauptet,  ein  ©hi^panfe  jebe  jebeSmal  wie 
bet  anbete  auS.  So  fann  eö  aber  nur  bem  uugeübten  Be- 
obachter »orfommen.  3entanb,  bet  ciele  folcber  Ztym  auf  il)ten 
pbpfiognomifchen  Sau  bin  fleprüft  bat,  wirb  bie  grobe  inbioi* 
bueUe  Serfcbiebcnbeit  beS  leiteten  bemerft  haben. 

©ie  SBangen  be8  (Sbimpanfe  finb  faltig  unb  non  eiuer 
ftbnutbigen,  gelblichen  gleifcfcfarbe,  bie  aber  im  Alter  häufig  einen 
rufe * febwarjen  ober  braunfcbwärjlichen  meift  flecfenweife  fich  »er* 
tbeilenben  Anflug  erhält,  ©affelbe  jeigt  ft<h  an  Obren,  <£>än» 
ben  unb  ftftfcen,  fowie  juweilen  auch  an  ber  Äörperbaut,  welche 
Untere  jebodj  meiftenS  gelblich  * fleifc^farben,  etwa  wie  bei  einem 
38raeliten  ober  (Rumänen  bleibt. 

©a8  6b'nihanfe'Dbr  ift  im  Allgemeinen  gröber  unb  weniger 
menfcbenäbnlicb  als  baSjenige  oieler  ©otiOa’8  gebilbet.  ©ö  ift 
mehr  gerunbet,  mehr  einem  «Ipalbfreife  fiep  näbernb,  flacher  unb 
3cigt  öfterö  mannigfaltige  Änorpelleiften,  Sorfprünge  unb  Sönlfte, 
welche  wir  am  O^rfnorpel  beS  {IRcnfcben  oergeblich  fud?en.  ©ie 
Krempe  ift  feiten  beutlidj.  ©emeinbin  bat  baS  (5bimpaufe*Obr 
6—7  (Zentim.  #öbe  unb  5 — 5^  (Zentim.  Breite.  Aber  manche 
Snbioibuen  haben  auch  »eit  Heinere  Obren,  bie  fich  in  ihrer 
©eftaltung  benen  beö  ©oriüa  nähern.  AnbererfeitS  giebt  eS  auch 
nach  bem  Schreiber  biefer  Beilen  »otliegenben  Beifpielen  ®o* 
rillaS  mit  groben  (7  (Zentimeter  hoben  5^—5^  (Zentim.  breiten) 
Obren  oon  ähnlicher  ©eftalt,  wie  fie  fich  in  ber  ÜRebrjabl  ber 
(ZbimpanfeS  barbieten,  ©ie  Schultern  alter  fSRänncheu  biefer 
Affenart  finb  breit,  Sruft  unb  {Rumpf  finb  tonnenförmig,  erftere 
ift  jwar  muSfulöS,  aber  gegen  lefcteren  wenig  ober  gar  nicht  ab* 
gefejjt.  {Rur  alte  {Kännchen  haben,  ähnlich  ben  ©oritlaS,  ein* 
gezogene  ^laufen,  nicht  aber  jüngere  {Dtännchen  unb  felbft  ältere 

(270) 


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27 


Seibdjen.  Die  Arme  ftnb  lang,  reichen  etwas  über  ba$  Änie 
IjinauS,  fte  ftnb  fefjr  muSfulöfl,  aber  nid)t  fo  gewaltig  wie  bie 
oberen  ©liebmaften  ber  ©oritlaS.  An  ben  .£)änben  ift  bet  Dau* 
men  bünn  unb  furg,  bie  Singer  ftnb  lang,  bei  alten  SJtänndjen 
unb  Söetbdjen  feljr  bicf  unb  ftarf,  runglig  unb  bis  gegen  bie 
©litte  ber  erften  SingergUeber  burdj  bie  @.  16  erwähnte  3?inbe» 
fjaut|tniteinanber  »erbnnben.  Der  fDlittelfinger  ift  ber  längfte. 
9fn  ben  33einen  geigt  ftdj  ber  Unterfcfyenfel  üöHig  wabenleS.  An 
bem  platten  Su§  ift  bie  grofjc  3el)e  burd)  einen  tiefen  ©infcbnitt 
»on  ben  übrigen  3etyen  getrennt;  fte  ift  lang  unb  bicf.  Die 
gweite  bis  fünfte  3efye  ftnb  nidi)t  gang  bis  gur  ÜJtitte  beS  erften 
3etyengltebe8  burd?  bie  Sinbefyaut  cerbunben.  Die  ©oljle  ift 
lang  geftrecft,  runglig  unb  platt.  Der  £acfen  ift  fjier  wie  beim 
©oriUa  nur  fdjwadj  auSgebilbet.  Die  9fägel  finb  bei  beiben 
Affenarten  runblid),  gewölbt,  fd)wärgiid)»fyornbrauu  bis  fdjwarg. 
DaS  .£>aar  beS  Gljimpanfe  ift  fdüidjt,  nidjt  wellig  ober  gottig, 
auf  bem  23orberfcpf  meift  gefdjeitelt,  eS  ift  lang  am  jpinterfopf, 
an  ben  Sffiangen,  ©djultern,  am  fftücfen,  am  Dber*  unb  Unter» 
arm,  am  £)ber=  unb  Unterfdjenfel,  fürger  bagegen  an  ben  übrigen 
■Rörpertljeilen.  Die  ^»auptfarbe  ift  ein  bunfleS  ©rf'warg.  DieS 
fdjiUert  bet  manchen  6j:emplaren  matt  rötljlidjbrauu.  An  alten 
(SljimpanfeS  fanb  tdj  bie  ^aarfpitjen  ber  ©liebmafjen  grau 
ober  fudjftg  gefärbt,  waS  bem  Äolorit  biefer  Steile  einen  halb 
affigen  balb  fafjlrötljlidjen  ©d)ein  cerlie^.  Das  Untergefidjt  ift 
mit  büntten  furgen,  weifjlidjen  paaren  befefjt.  Dergleidfen  geigen 
ftdj  aud),  fyier  freilictj  länger  unb  bitter  fte^enb,  um  ben  After 
Ijer.  (Sig.  10.) 

Diefe  SLtjiere  leben  ebenfalls  in  biebteu  Söälbern,  bringen 
bie  meifte  3«it  auf  Räumen  gu,  fommett  jebedj  audj  auf  bie 
©rbe  Iserab.  ®ie  gelten  Ijier  auf  allen  23ieren,  inbem  fic  bie 
Singer  gegen  bie  tacljle  .£>anb  eittfdtlagen  unb  bie  mit  @ang» 

pro) 


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28 


fdjwielen  bebecften  fRücfcnflädien  bctfelbcn  auf  ben  33 oben  auf* 
ftemmen.  2>er  Sufe  wirb  eutroeber  ebenfo  — mit  eingefdjlagenen 


gig.  10. 

3efyen  — gebraust  — ober  aud)  mit  flauer  (Bofyle  aufgefefct. 
SDa8  9tufrcc^tfte^cn  auf  ben  ftüfjen  fyalt  bet  (Sfyimpanfe  nte^t 
lauge  au8,  er  fud)t  babei  eine  ©tüfce  für  bie  ,£änbe  ober  legt 
biefe  legieren  übet  bem  etwas  nad)  hinten  gebeugten  jbopfe  ju* 

(272) 


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29 


famtnen,  wie  um  bamit  bie  Salance  gu  galten.  3m  Lanbe  bet 
3nnerafrifa  bewobnenben  fannibalijcben  9liam»3Riam  Ijauft  bet 
bafelbft  JRanja  ober  fDlanbjcharuma  benannte  ‘Äffe  in  ben  jo* 
genannten  ©alerten,  b.  b-  ben  etagenförmig  übercinanber  bet* 
Borragenbeu  fRiefenbäumen  beS  StopenwalbeS.  Bür  t)ie  fRacbt 
joQen  bie  GbimpanfeS  baS  Saumgeäfte  gu  Scbutjbädjern  gu* 
jammenbiegen  uttb  in  einanber  flechten.  3t?re  fRabrung  beftebt 
in  mancherlei  SBalbfrüdjten. 

SRod?  weniger  wehrhaft  wie  ber  ©orilla,  flieht  aud)  bieö 
©efcböpf  ben  ÜRenföben  unb  fe^t  fidj  nur  ftarf  in  bie  Ginge  ge* 
trieben  gut  SSe^r.  3)ie  5Riam=9iiam  bafcen  ibre  bem 

JRanja  in  jenen  ermähnten,  mit  Lianen  bid)t  verflochtenen 
©alerien  beigufommen,  fte  fuchett  in  ©efellfdjaften  gu  20  bis  30 
fölann,  baS  Zijiex  mit  Sangite^en  gu  umftricfen  unb  bann  erft 
mit  Langenfticben  abguthun.  Sdjweinfurtb  traf  in  einem  am 
Sache  35iamwenu  beS  9fliam*9iiam*£anbe3  gelegenen  SBeilet 
einen  mit  ©dübeln  non  SRenfdjen,  GbtmpanfeS,  SReerfafcen, 
$)aoianen,  Antilopen  jc.  über  unb  über  befpicften  Sotiobaum. 

Studj  bieje  Stffen  leben  in  Heineren  Familien  unb  Bereingelt. 
Sllt?  5Ränn<hen  befemmt  man  nicht  leicht  gu  fetjen,  »ober 
benn  auch  'Seltenheit  ber  Oiefte  berfelben  in  europäifd^n 
Sammlungen  rührt.  3n  unjere  goologifchen  ©arten  gelangten 
big  jefjt  nur  jüngere  Gjremplare,  welche  bödiftenS  iu  eingelnen 
Bällen  ein  ‘Älter  von  etlichen  3al)ren  erreichten. 

SBenn  ftdj  nun  auch  ber  alte  männliche  ©orilla  unb  ber 
Gbimpanfe  nicht  unbeträchtlich  Bon  einanber  unterfcheiben,  fo 
ift  bieg  nicht  fo  fehr  gwifdjeu  jungen  männlichen  unb  weiblichen 
©oriHaS  unb  GbimpanfeS  oerjchiebenett  Lebensalters  ber  Ball. 
Sei  bem  ungemein  ftarfen  inbioibueHen  Sariiren  aller  biefer 
Spiere  b®lt  eS  nicht  feiten  ferner,  biefelben  als  befonbere  Sitten 
Bon  einanber  gu  fonbern,  fobalb  man  nid>t  in  ber  Lage  ift,  ben 

(213) 


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so 


allerdings  verwiegend  djarafteriftifchen  Sdjäbelbau  tiefer  Sljiete 
in  SSergleid)  ju  jicljen.  (gig.  1 — 4 unb  0—9).  Sie  ©rohe 
unb  gönn  ber  JDijven  giebt,  wie  ich  obeu  bereits  angebeutet  habe, 
(@.  26)  ein  nur  unfidjcres  Unterfdjeibungemerfmal  ab.  ^>r.  o. 
ÄeppenfelS  l)ält  fogar  aud}  bie  t>on  älteren  Beobachtern  für  fo 
beträchtlich  erachteten  Berfchiedenheiten  ber  Jpänbe  unb  güf}e 
beider  Uffen  für  etwas  lehr  SSrügerifcheS.  Sem  (Srfolge  meiner  neu= 
erlichen  Unterfuchungen  gemäfj  fann  ich  dem  Bieifenben  bar  in 
nur  beipflichten. 

S3ei  biefer  bebeutenben  Slehnlid?feit  des  Sleuheren  h«t  man 
nun  an  ftattfinbenbe  Äreuguug,  an  Baftarbbilbung  jwifdjen  ©o* 
rilla  unb  Rbimfanfe  gebacht.  Beibe  germeu  tommen  ja  ueben 
einanbet  cor,  flehen  einander  nalje  unb  finb  bereits  anderweitige 
Beifpiele  non  Baftarbirung  gwijchen  allerdings  gefangenen  Slffen 
befannt  geworben,  ipr.  o.  ÄoppcnfelS  h^e  &iel  üon  folchen 
Äreugungeu  am  £)gowe*gluffe  reden.  Serartige  Baftarbe  füllen 
bie  £l)reu  unb  garbe  ber  GhimpanfeS  unb  bie  Sdjnauge,  wie 
auch  fonftige  SDierfmale  ber  ©orillas  h«beu.  $x-  »•  ä.  be= 
hauptet  fogar,  jwei  folchet  Spiere  gesoffen  gu  haben,  bie  er  in 
©efellfchaft  mit  fielen  ©orillaS  angetroffen  hatte.  @r  wollte 
noch  »on  leiteten  erlegeu,  allein,  auf  Rauben  unb  gufeeit  durch 
baS  dichte  ©eftriipp  friecheub,  wurde  er  durch  bie  fdjrecfliche 
Driver  Aut  ober  Sreiberamcife  (Anomma  arcens)  ju  fdUeunigem 
fRürfjuge  genöthigt.  Sie  Bälge  biefer  beiben  angeblichen  Baftarbe 
befinden  fich  jur  Seit  im  $of*$Raturalien«ä>abinette  gu  SreSben. 
Sie  bet  Begcichuung  nach  bagu  gehörigen  Schädel  waren  freilich 
nur  diejenigen  unoerfälfchter  UhimpanfcS.  Gin  .pert  Ulrici  31t 
SreSben  unb  ncd)  ändere  wollten  auch  *n  ber  fo  melbefprochcnen 
Steffin  ÜJiafuca  des  dortigen  goolcgifchen  ©artenö  einen  fol» 
d)eu  Baftarb  erblicfen.  3ch  geftche,  bah  mir  biefe  gan^e  Sache 
noch  etwas  mpthifd)  »orfommt.  Srofsbem  aber  muh  bie  iu  81«* 

(274) 


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31 


regung  gebrachte  Saftarbfrage  nod)  näher  unterfud)t  werben. 
©cÜte  fie  nid)t  i|re  fe|t  einfad^e  l*öfung  in  ber  grofjcn  93aria* 
bilität  beiber  Sljfenformen  färben,  wel d)e  eine  ftrenge  Sonbetung 
ber  Slrten  »erbietet?  (Srft  niete  unb  genaue  gorfdjungen  werben 
bie  richtige  Stntwort  auf  biefe  gtage  geben. 

33te  britte  gortn  ant|ropoiber  öiffeu  ift  ber  Drang*Utan 
(Pithecus  satyrus)  ber  großen  aftatifc|en  3nfeln  Sumatra 
unb  SBerneo.  3m  90tala|ifd)cn  bebeutet  Drang  SDlenfd),  Utan 
bem  ©alb  angel)örig.  Drang*Utan  Ijeifet  ba|et  SBalbmenfd). 
©emö|nltd)er  finb  aber  bie  malapijdjen  ©Örter  Drang--  $)anba, 
Drang  $)anbaf  unb  fDfaiab.  3n  einer  längft  »ergangenen  Beit, 
alö  all’  bie  fe$t  gerftreut  im  inbifdjen  Dcean  liegenben  3n|’eln 
unb  3nfeld)en  nebft  bet  mala!fifd)en  .^albinfel  einen  3nfammen* 
lang  |atten,  fanb  auf  i|nen  wo|l  aud)  eine  gleid)mäf5igere  51er* 
t|eilung  ber  S|ierwelt  ftatt.  Später  [feinen  23orueo  unb  ©u* 
matra  lange  Seit  nod)  miteinanber  im  3ufammen|ange  geftanben 
gu  |aben.  3)ie  Sauna  beiber,  jejjt  »on  einanber  burc|  tiefe 
breite  ©unbe  getrennter  3nfeln  ift  eine  in  »ielfadjer  53egie|ung 
übereinftimmenbe.  33aS  geigt  fid)  in  bem  gemeinfamen  53efifj 
u.  31.  beß  SJiaiaß.  SDerfelbe  ift  nirgenb  me|r  fe|r  läufig.  6r 
bewo|nt  bidjte,  feud)te  Urwälber.  5(uf  Sumatra  geigt  er  fid) 
befonberö  in  ben  norböftlidjen  ©ebieten  »on  ©iaf  unb  8tjd)in. 

Stuf  Sßorneo  ift  er  nod)  läufiger,  uamentlid)  einige  Sage* 
reifen  weftlid)  »on  ©ungi»Äa|ajan  am  ©ampiet*Sluffe,  bei 
Äotaringin  unb  an  anberen  entlegenen  Drten  ber  ©üb*  unb 
SBeftfüfte. 9)  33er  Äopf  beb  Drang  ift  in  feinem  £)irnfd)äbeU 
t|eil  red)t  |o(|  gebaut,  »ou  geringem  §ängöburd)meffer,  beim 
alten  9Räund)en  geigt  er  meift  einen  fe|r  er|abenen  Säugbfamm, 
|at  eine  gewölbte  ©tiru,  eine  tief  eingebrüefte  -Jlafengegenb,  aber 
Weit  |er»orragenbe  liefern.  3)urd)  biefe  ©eftalt»er|ältnifje 
urtterfdjeibet  fid)  ber  Drangfopf  »on  bemjenigen  beb  ©orilla  unb 

(875) 


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32 


Stjimpanfe  nicht  unbeträchtlich-  ©eim  lebenben  alten  SJlännchen 
geigeu  fleh  bie  Slugenhöhlenbögen  gwar  ^ernortagenb,  aber  hoch 
faft  nie  fo  ftarf,  wie  felbft  bei  alten  männlichen  C5^im^*anfe§. 
3)ie  ?Hafe  ift  oben  eingebrücft,  unten  flach  unb  nicht  breit.  35er 
Änorpel  h°l  eine  mittlere  gäng«rinne,  biefelbe  ift  tiefet  al« 
beim  (5^impa«fe,  aber  weniger  tief  als  beim  ©otiQa.  SDie 
9?afenflügel  finb  weber  breit  noch  bicf  aufgewulftet.  2)ie  gippen 
finb  lang,  feljT  beweglich,  fetjr  oorftrecfbar,  nur  feljr  fchwath  ge* 
furcht  unb  mit  wingigen  haat*Ta9e®ben  Duabeln  befefjt.  35ie 
Singen  finb  nicht  grofj,  braun  unb  bei  jungen  Slhieren  uo«  feht 
ntilbem  äuöbrucf.  SUte  SHänncheit  gewinnen  burch  bie  (Snt* 
widlung  gweier  länglicher,  bie  .pinterwangen  i^reS  ©efidjte«  be« 
becfenber,  nach  oben  fegeiförmig  gulaufenber  gettpolfter,  burch 
tücfifdj  funfelube  Slugen,  burd)  gottigen  SEöud}«  beS  Stirnhaare«, 
fowie  burch  lange  bartähnliche  SSangenbehaatung,  einen  wibrig» 
wilben  SluSbrucf:  2)a«  läfjt  fid)  u.  91.  unb  g.  $h-  tedjt  gut  an 
bem  fo  fchön  hergefteUten  Grjremplare  be«  geologischen  SWufeumfl 
gu  ©todholm  unb  am  lebenben  be«  ©erlinet  Slquarium«  erfennen. 

35er  £5rang*Utan  hat  im  Sdter  breite  Schultern,  einen  ein* 
gegogenen  ©auch  unb  mächtige  ©liebmafjcu.  Sunge  SLbiere 
haben  auch  ben  tonnenförmigen  ©auch  unb  weift  fdjwache  Slrme 
fowie  ©eine,  wa«  ihnen  ein  hödjft  fonberbate«,  farrifaturenfjafte« 
9lu«fel)en  giebt.  55a«  erfannte  id)  unter  mehteren  anberen  ©ei« 
jpielen  an  einem  gu  ©erlin  befinblidjen  Söeingeifteremplare.  35ie 
tÄrme  beS  £5rang«Utan  finb  im  ©erhältniffe  gum  Rumpfe  fehl 
lang,  fie  reidjen  bei  aufrechter  «Stellung  bi«  gu  ben  gufsfnecheln. 

35ie  .pänbe  finb  langgeftrecft,  mit  furgem  ©aurnen  unß 
nicht  gang  bi«  gur  SDtitte  ber  crften  gingerglieber  reidjenben  ©iube* 
häuten  oerfehen.  25ie  ginger  felbft  finb  lang.  9ln  ben  Slrmen 
ftehen  bie  .paare  gwifdjen  Schultern  unb  GrUenbogeu  nadj  ab» 
wärt«,  gwifdhen  lejjterem  unb  ber  jpanbwurgel  nach  aufwärts  gefehlt, 
(««) 


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33 


gang  fo  wie  beim  ©crilla  unb  ßbimpanfe.  (Vergt.  bie  9b* 
bilbungeii.) 

Sie  Veine  beS  Orang  = Utan  ^aben  ftarfe  üenben,  aber 
wabenfcfcwache  Unter jdjenfel.  Ser  gufs  ift  langgeftrecft  unb  hat 
lange  Beben.  9lur  ift  bie  grofje  3?be  nicht  fo  lang  unb  nicht 
fo  bicf,  alg  beim  Gbirnpanfe  unb  namentlich  beim  ©oriöa.  Sie 
reicht  noch  nicht  gang  biä  gum  Vorterenbe  bet  IDlittelfufjfnochen. 
ginget  unb  3et)en  haben  auch  hier  auf  ihrer  IRücffeite  ©ang» 
fdjwielen. 

Sa3  2hier  ift  mit  langen,  gottigen,  manchmal  fich  leicht 
roetHg  fräufelnben  Jpaaren  bebecft,  «eiche  wüft  umherftehen  unb 
am  Jpinterfopf,  an  Schultern,  IRücfen  unb  lüften  bis  22,  ja  25 
(Zentimeter  8änge  erteilen.  Siefelben  bilben  gu  beiten  Seiten 
beS  Stntlijjee,  namentlich  her  SJlänndJen,  einen  langen  S3art, 
fteben  an  Vruft  unb  Vaud}  fpärlicher  unb  bebecfen  ^»änbe  unb 
güße  bifl  gut  gingerbaftS.  3hrc  garbe  ift  rothbraun,  an  Jpinter* 
topf,  Stangen  unb  9iücfeu  in  JRoftbroun,  felbft  Schwargbraun 
gieheub.  9J?and}e  3nbioibuen  ftnb  über  unb  über  roft*  ober  fdjwarg* 
braun,  anbere  auf  bem  IRücfen  rothbraun,  auf  bem  Vaud} 
hell  gelblich*  weif}  gefärbt.  Saä  ©efrcht,  bie  cjpänbe  unb  güfje 
ftnb  bleigrau  unb  fd}wärglid)braun.  (gig.  11.) 

ÜJian  hat  nach  ber  gärbung  ben  Pithecus  bicolor  »em 
P.  Satyrus  unterfdjeiben  «öden,  nach  ber  ©röfje  unb  bem 
9lter  Pithecus  Wurmbii  Don  P.  Satyrus.  Siefe  Unter» 
fchiebe  beteuten  aber  nichts.  Saä  Ztyex  oariirt  wie  alle  authro* 
boibien  äffen,  gang  aufjerorbentlid}.  Saher  finb  aud}  noch  anbere 
Bermeintliche  9rten,  wie  Pithecus  Wallichii,  P.  Abelii 
unb  P.  Morio  nur  als  inbioibuelle  Variationen  (nid}t  Varietäten) 
anjujehen.  Ser  8ängöfamm  beS  Sd}äbel8  feil  aud}  alten  SOtänn* 
chen  juweilen  fehlen.  Saffelbe  fommt,  wie  mir  ein  Dom  Dgowe 
ftammenter  Schübel  beweift,  auch,  wiewohl  jebenfallS  nur  feiten, 

XI.  2*7.  3 (277 , 


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9Dl.«9iambi  unb  = Äaffar  muffen  auf  Otlterg«  unb  ©efd)led)tg« 
bifferen$en  bezogen  metben. 

(in) 





bei  alten  ®orina*9Jlänncf)en  per.  (2?ergl.  S.  11.)  SDte  unter 
fdjeibenben  malapifdfyen  fftamen  9Jtaia6*f)>appan,  ober  ©djappan 


35 


5>ie  beften  neueren  £Racbricbten  übet  bie  SebenSweije  biefeS 
StbiereS  »erbauten  wir  51.  St.  SöoKace,  bem  befannten  görbetet 
bes  ‘Darwinismus.  liefern  gotfchet  zufolge  bebarf  bet  M5Jiaia8" 
ja  feinem  SBohlbefinben  einet  großen  glädje  ununterbrochenen  unb 
gleichmäßig  ijoljen  UrwalbeS.  Solche  SBälber  finb  für  fte,  bte 
Sonmthiere,  offenes  Saub,  in  welkem  fie  nach  jebet  Stidhtung 
bin  ftdj  bewegen  tonnen,  mit  betfelben  Seidhtigfeit  wie  bet  Snbianet 
aber  bie  9>rairie  ober  ber  Slrabet  burch  bie  Söüfte;  fte  geben  con 
einem  Saum  jum  anberen,  oljne  jemals  auf  bie  (Stbe  l)inab» 
pjteigen.  Stuf  ben  hochgelegenen  trocfnen  ©teilen  beS  SanbeS 
fiebeln  ftch  mehr  ÜJtenföhen  an,  eS  werben  bafelbft  Sichtungen  et» 
geugt,  in  benen  fpäter  niebeteS  ©fchungel  ober  ©ejtrüpp  wädjft. 
25aS  ift  nicht  bie  ©egenb  für  ben  ber  ©eöfung  bebürftigen  SRaiaS. 
3n  ben  ^ocbwälbetn  giebt  eS  Wa^tfdjeittUd>  auch  eine  größere 
Stenge  non  gruchtf  orten.  SBenn  bet  SDtaiaS  feinen  Söeg  butdh 
ben  ©alb  nimmt,  fo  flettert  et  Dorfidjtig  einen  bet  .fpauptafte 
entlang  unb  gmat  in  h«lb  aufgerichteter  Stellung,  gu  welcher 
i^n  bie  große  Sänge  feiner  5(rme  unb  bie  Mrge  feiner  Seine 
nötigen.  @t  geht  auf  feinen  gingern  unb  Behen  ober  Sohlen» 
tänbern.  <5t  fc^eint  ftetS  foldhe  Säume  auSjufudfjen,  beten 
äefte  mit  benen  beS  nächftftehenben  »erpflodhten  finb,  ftrecft,  fo» 
balb  et  nahe  an  fte  h«uu  ift,  feine  langen  Ärme  auS,  faßt  bie 
gewählten  3®«8e  mit  beiben  Rauben,  prüft  gewiffermaßen  ihre 
Starte  unb  fchwingt  ftch  alSbann  bebädhtig  auf  ben  nächft  be» 
fmblidben  51  ft  hinüber,  auf  welchem  er,  wie  früher  erwähnt,  weiter 
geht  Dhne  je  gu  h«pf«n  ober  gu  fpringen,  tommt  er  oben  in 
ben  Saumwipfeln  hoch  fo  fchnell  fort,  als  unten  Sentattb  bttrdh 
beit  ©alb  laufen  fann.  güt  bie  Stacht  macht  baS  S^ier  ein 
hager,  auf  einem  fleinen  Saum,  etwa  gwangig  bis  fünfzig  guß 
»am  Soben  entfernt,  wahrfcheinlidh  weil  eS  ba  wärmer  unb 
weniger  winbig  ift,  als  weiter  oben.  @8  bricht  2(efte  ab,  legt 

3*  Oil») 


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36 


fie  freug  unb  quet  unb  ftc^  barauf.  DaS  thut  er  auch,  wenn 
er  oerwunbet  ift,  wie  ©aQace  lefetereS  felbft  auf  Sotneo  einmal 
beobachtet  h<*t-  3ebet  SKaiaS  joH  fid?  nun  fixt  jebe  91ad}t  ein 
neueS  9left  machen,  (uergl.  oben  ®.  17)  wa8  jebodj  ©aQace  für 
faum  wa^rfcbetnltcb  \)äü,  ba  man  fonft  häufiger  tie  Ueberrefte 
bet  2ager  finben  würbe.  9iadh  SluSfage  berDapafS  ober  Urein* 
gebornen  SorneoS  bebecft  fich  ber  SRaiaS  bei  fehr  naffer  8uft 
mit  ben  Slättern  bet  ©chraubeupalme  (Pandanus)  unb  ber 
großen  gamfräuter.  Daraus  entftanb  bann  wohl  bie  Meinung, 
er  baue  fid)  in  ben  Saumen  eine  Jpütte.  9lur  feiten  fteigt  bet 
SftaiaS  anf  bie  @rbe  hinab,  um,  Born  junger  getrieben,  faftige 
©chöfjlinge,  ober  bei  trocfnem  SBetter  ©affet  gu  fuchen.  Dies 
finbet  er  fonft  in  ben  Slattftielminfeln  unb  Slattfcheiben  ber 
großen  Stopengewächfe.  @rft  wenn  bie  ©enne  giemlich  h°d? 
fteht  unb  ber  £hau  »on  ben  Slättern  abgetrorfnet  ift,  oerlajjt 
ber  9Jlaia8  feinen  SRaftplafc.  (Sr  frifjt  bie  gange  mittlere  Seit 
beS  SageS  hindurch,  fehrt  aber  feiten  innerhalb  gweter  Sage  gu 
bemfelben  Saume  gurücf.  Der  Drang  »Utan  geigt  feine  grofee 
SDßenfdjenfcheu.  ©aQace  fah  nie  gwei  gang  erwadjfene  Shiete 
gufammen,  wohl  aber  werben  ÜRännchen  wie  ©eibchen  manch* 
mal  oon  halbwachfenen  3ungen  begleitet,  fowie  benn  brei  bis 
»ier  3unge  mitfammt  allein  gehen,  ©ie  nähren  fi<h  auSfchliefj* 
lieh  ®°n  SDbft,  gelegentlich  auch  »on  Slättern,  ÄnoSpen  unb 
jungen  ©chöfjlingen.  Unter  anberen  grüßten  liebt  et  befonberS 
bie  grofje  ftachlige,  gewürgige  Durian  (Dario  Zibcthinus), 
welche  wilb  unb  angebaut  uorfommt.  9Rit  lederen  fd)weren 
©tücfen  bombarbirt  er,  in  bie  (Snge  getrieben,  guweilen  auS  ben 
Saumwipfeln  heraus  feine  geinbe. 

Diefer  aber  giebt  eS  aufjer  bem  SJtenfdjen  uur  wenige.  Der 
malapifche  Sät  unb  ber  gtofjflecfige  fftebelpatber  (Felis 

maoroscelis)  bürften  ihn  fchwetlich  auS  freien  ©tücfen  an» 
(280) 


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37 


greifen.  61) er  bürfte  bicö  auf  Sumatra  mit  bem  Königstiger 
ber  galt  fein.  3n  bie  6nge  getrieben,  uerttjeibigen  fid)  auch 
btefe  Spiere  mit  <Sntfd)tcffentjeit. 

3ßir  höben  nun  nodj  ben  ©lief  auf  bie  »ierte  ©ruppe  ber 
Anthropoiben  ju  werfen,  nämlich  auf  bie  Ifangarmaffen 
ober  ($ü>bou§  (Hylobates).  ©iefelben  bewohnen  baS  geft* 
lanb  unb  bie  3nfeln  oon  Dftinbien.  So  beherbergen  Splhet, 
Aff  am,  SJlalacca,  Sadjar,  Kambobja,  Sumatra,  3a»a  unb 
SpecieS  Sorneo  mehrere  ber  SLIjiere.  5Jlan  ^at  etwa  14  Sitten 
unterfcheiben  wollen,  Son  biefen  finb  jebod)  mehrere  fo  gut 
wie  gar  nicht  charafterifirt  unb  bilben  fet)t  wahrfcheinlich  nur 
Abarten  ober  gar  nur  inbioibuelle  Abweichungen  innerhalb  ge» 
wiffer  eingelner  geraten. 

35ie  ©ibbenß  erreichen  eine  »erfd)iebene  ©röfee  »on  14  Boß 
bis  brei  guf).  fßteift  beträgt  ihre  fftumpflänge  18—22  Boß» 
3hr  .£>irnf<häbel  ift  nur  bei  alten  fBiänncpen  wenig  länglich,  bei 
jüngeren  unb  bei  alten  SBeibcpen  ift  er  fürger,  mehr  runblich,  ber 
Kugelgeftalt  genähert..  35ie  Augenhöhlenbögen  finb  nur  wenig 
erhaben,  bie  Augenhöhlen  gtofc,  bie  Kieferparthten  finb  wenig 
oorftepeub.  S)ie  im  Knocpengerüft  fehr  menfchenähnlich  ge« 
baueten  Arme  finb  abenteuerlich  lang,  ba8  SEljier  berührt  mit 
ihnen  felbft  beim  Aufrechtftehen  ben  ©tbboben.  Auch  ber  Sfelet» 
bau  ber  im  Serhältnij}  gu  ben  Armen  gwar  fürgeren,  jebodj 
immer  noch  recht  langen  fdjlanfen  Seine  erinnert  an  baS  entfpreepenbe 
menfdjliche  Knocpengerüft.  ©ur  ift  beim  ©ibbon  AßeS  gragiler, 
geftreefter,  mehr  nach  ber  SängenauSbepnung  entwicfelt.  3nrt 
unb  fchlanf  finb  auch  ihre  ginger  unb  Sehen. 

SDaS  Antlifc  biefer  2piere  macht  einen  höchft  fonberbaren 
ßinbtucf.  CRunbliche  aber  nicht  fehr  erhabene  SBülfte  umgeben 
bie  fehr  großen,  ebenfaßö  tunblichen,  burchweg  fehr  bunfel» 

gefärbten  Augen,  aug  benen  eine  eigenthümliche  ©anftmuth  blicft. 

(28  u 


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38 


2)ie  Slafe  ift  im  dürfen  entweber  etwas  eingebrücft  ober  gerabe, 
mit  langen  fcljmalen  glügeln  unb  mit  länglichen  StaSlöchern 
nerfehen.  5Die  Oberlippe  ift  fe^t  futg  unb  in  bet  SJlitte  mit 
einet  non  bet  fchmalen  Stafenfcheibewanb  bis  gum  Staube  ljcrab* 
fteigenben  Sünne  burchgogen.  35ie  Unterlippe  ift  nicht  lang  unb 
überragt  faum  bie  obere.  Stiefe  Stängeln  gieljen  über  baS  gange 
©eficht,  welches,  wie  bie  ginger  unb  3ehen,  entweber  roft*braun, 
bleigrau  ober  fchwarg  gefärbt  ift.  3n  bem  gangen  ©eficht  bietet 
affen  liegt  ein  faum  gu  bejdireibenber  melancholisch « gutmütiger 
auSbtucf.  JDiefet  geftaltet  fid),  wenn  man  bie  ärgert 

ober  ängftigt,  gu  einer  faft  weinerlichen  SSetgerrung,  artet 
aber  niemals  gu  jenen  wibrigen  ©rimaffen  bet  meiften  anberen 
Slffen  aus.  2)iefe  Spiere  haben  auS  langen  fteifen  ©rannen» 
haaren  beftehenbe  augenbrauen,  unb  furge  weibliche  ^ippenhaare. 
2) et  £al6  ift  furg,  bie  Schultern  ftnb  breit,  ber  Sruftfaften  ift 
gewölbt,  33auch  unb  glanfen  finb  eingegogen.  Seltfam  nehmen 
ftch  bie  langen,  bünnen  atme  mit  ben  langen  bünnen  gingetn 
auS.  auch  b«  3ehen  finb  bünn.  35aumen  unb  grofce  3ehe 
finb  lang,  letztere  mit  faft  folbiger  anfdjwellung  ber  ihr  Grub« 
glieb  befleibenben  SB  ei  ereile.  2Sie  allen  anthropoiben  fehlt 
auch  ihnen  bet  Schwang.  55ie  SBinbeljaut  gwifchcn  gingetn 
unb  3ehen  erreicht  faum  ein  ^Drittel  beS  erften  ©liebes.  33ei 
einet  größeren  art,  bem  Siamang  Sumatras,  finb  bie  g weite 
unb  ÜRittelgehe  mit  einanber  burch  eine  33inbebaut  Bereinigt, 
welche  beim  SJiännchen  bis  gum  lebten,  beim  SBeibdjen  bis  gum 
»Orienten  ©liebe  reicht.  2)aS  £hiet  bat  hieran  ben  artnamen 
Hylobates  syndactylus  erhalten. 

alle  ©ibbonS  finb  mit  langem,  oft  gottigem  £aat  befleibet, 
welches  bei  einigen  arten,  wie  Hylobates  lar  unb  H.  leu- 
ciscus,  als  fthtoad)  geträufeltes  Sdjlicht*  ober  ©rannenhaar 
ein  gwar  nicht  feljr  üppiges,  aber  boch  oerfilgteS  SBoühaat  übet* 
(28*) 


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3!) 


becft.  Sie  aBgemeine  Färbung  ift  ein  uufcfeeinbareS  ©bfewarg« 
grau,  ©cfewa^braun,  ©raubraun,  ©raufafel,  ein  Staun  unb 
©tfewarg.  2ln  eingelnen  (Steilen  ftnben  ficfe  federe  ©teflen  neben 
ben  bunfleren.  ©o  3eigt  bet  ^>ulu!  (Hylobates  hoolok) 
einen  grofeen  meifelicben  glecf  über  jebem  Sluge,  bei  anberen  §or* 
men  ift  baS  ©eficfet  mit  einem  bicfen  .Strange  bicfetftefeenber  weife* 
liefet  £aare  umgeben.  Saß  »erteilt  nun  bem  Slfeiere  ein  fonbet* 
bares  3lu8fefeen  unb  fönnte  ein  joldjet  ©ibbon,  aufredjt  ftefeeub, 
woQte  man  nodfe  bie  3U  langen  ©Hebmafeen  in  Slbgug  bringen, 
toofel  einen  mit  feinet  bicfet  verbrämten  ^elgfleibung  angetfeanen 
©Sfimo  ber  'Polarlänber  farrifiren.  (gig.  12.)  $lucfe  bie  ©ibbonS 
finb  SBalbtfeiere  unb  oorgugSweife  gru^tfreffer.  ©ie  flettern  un» 
gemein  gefdjicft,  matten,  bie  9lrme  3um  Bugreifen  auSbreitenb, 
gewaltige  ©prünge  unb  bewegen  fid)  auf  bem  ©ibboben  giemlidfe 
feurtig.  ©onberbaretweife  gefeen  fie  babei  nicfet,  wie  bie  anberen 
Slntferopoiben,  immer  auf  allen  Sieten,  fonbern  fie  gefeen  »iel 
feäufiger  aufrecht,  auf  ben  mit  plattet  ©cfele  auf  ben  Soben 
gefefeten  §üfeen.  ©ie  galten  fidj  bei  biefet  Bewegung  giemlidj 
getabe,  fefeen  bie  Änieen  unb  güfee  naife  Slufeen,  gieren  bie 
©tfeultern  3ufammen  unb  feferen  bie  ?(rme  in  fealbgebeugter 
©tellung  uacfe  auswärts,  wobei  bie  .pänbe  fdjlaff  feerunterfeängen. 
Sie  oberen  ©liebmafeen  wie  Salancirftangen  leicht  auf*  unb 
niebet»,  fein*  unb  feerwiegenb,  laufen  fie  mefer  als  fie  feüpfen, 
fobalb  fie  fi<fe  nur  auf  platter  ©rbe  bewegen.  Sluf  unregel» 
mäfeigem  Soben  bagegen  ergreifen  fie  mit  weit  auSgeftrecftem 
9ltm  jeben  nur  irgenb  ficfe  barbietenben  Slnfealtpunft  unb  geben 
an  ifem  jebeßmal  bem  Äörper  einen  mäcfetigen  ©(fewuug  na<fe 
BorwärtS.  3ft  eine  folcfee  Unterbrecfeung  in  ifetem  tfaufe  übet* 
wunben,  fo  gefet  e§  befto  beffer  auf  ben  §üfeen  fort,  ©olcfee 
£inbetniffe  ermöglicfeen  eS  ifenen,  einen  jebeSmaligen  neuen  SSn* 
feub  3U  nefemen,  unb  mit  beffen  £ülfe  bie  ©(fewierigfeiten  eines 

(»») 


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40 


coupirten  üerrainS  leidjter  ju  bewältigen.  SBerben  fie  jufäHig 
ju  fefyr  großer  6ile  angetrieben,  je  laufen  fie  rootyl  auf  allen 


Sig.  12. 

33ieren,  Ijü^fen  unb  ipvingen  albfrann  aud)  ne*  nebenbei. 

3n  ber  üRu^e  liefen  bie  ©ibben$  gern  auf  itjren  ©cfäfsjdjwielen 
unb  fragen  babei  iljre  langen  Sinne  mit  ben  l)erabl)ängenben 

(284J 


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41 


£änben  nach  Slrt  gelaugweilter  Älatfdjweiber  übereinanbet,  bot 
milbett  331t(f  finnenb  nach  oorwärtS  gewenbet. 

Sie  finb  meiftenS  furdjtfamer  Statur  unb  nur  wenig  wehr» 
haft.  ,£)uluf8  unb  bie  fd)laufen  ®ibbon8  (H.  agilis)  fotlen 
ftcb  freilich  mit  Nluth  fettleibigen.  3>r  gtofje  ©iamang  ba» 
gegen  gilt  wiebet  für  fehr  feig,  noch  anbete  Sitten  fcheinen  e8 
ihm  nachguthuu. 


3«h  will  nun  noch  einige  ben  genannten  Spieren  gemein» 
fame  8eben8erf<heinungen  erörtern.  £Die  ©inneöfcharfe  ber 
Slnthropotben  bleibt  tyintet  berjenigen  ber  SRaubt^iete,  Söiebet* 
fäuer  unb  Nagetiere  gurücf.  ©ie  feljen  unb  wittern  nur  mafjig, 
hören  jebcc^  gut.  2rofc  ihrer  3.  2b-  erftaunlidjen  ©töfje  unb 
i^ret  gewaltigen  Äörperftärfe  machen  fie  non  leitetet  bod)  nur 
feiten  gegen  ü)te  Angreifer  ©ebraudj.  ©ie  richten  fidj  in  folchen 
Süllen  auf  ben  Süfcen  empor,  fchlagen,  bieß  namentlich  bet  @0» 
tilla,  mit  ben  £änben,  ergreifen  irgenb  einen  Äörpertheil  ihre« 
©egnerö,  brüngen  ihn  gu  ihrem  Nlaule  unb  gerbeifjen  ihn  mit 
ben  3ähnen.  Namentlich  bei  alten  Niännchen  finb  aber  biefe 
Organe  non  beträchtlicher  ©rö|e  unb  fef}t  fpifcig,  befonberS  bie 
©cfgähne.  äöatlace  unb  Sicingftone  h®ben  eine  berartige  Äampf» 
weife  au8  nüchfter  Nähe  angegriffener  Slnthropoiben  in  lebenä* 
Collen  ©figgen  bilblich  bargufteQen  cerfucht 1 °).  3n  ähnlichen 
Süllen  gerbredjen  bie  großen,  gum  Sleufjerften  getriebenen  Slffen 
entgegengehaltene  ©peerfchäfte.  ©8  erfcheint  mir  feine8weg8 
unglaublich,  bafc  ein  alter  männlicher  ©otiOa,  welchem  e8  ge« 
Jungen  ift,  feinem  ©egner  ba8  ©eweljr  gu  entreißen,  ben  ©chaft 
beffetben  gu  germalmen  unb  feinen  Sauf  frumm  gu  biegen  cet» 
mag.  Sille  biefe  ©efchöpfe  finb  fehr  gefräßig  unb  werben  Sin* 

(2«S) 


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42 


Pflanzungen  häufig  recht  fdhäblidh-  Sie  Betbauen  fernen.  Seim 
Saufen  nähern  fte  fic^  anf  allen  Mieten  bem  3Baffer,  ftüffen 
ft«h  auf  bie  flachen  $änbe  unb  fchlecfern  wie  ein  ^unb.  Ueber 
ihre  Tragzeit  weiff  man  noch  nichts  Sicheres.  Sie  bringen  nur 
ein  3unge8  zut  SBelt,  was  fie  mit  ber  befannten  äffenliebe 
hätfdjeln  unb  pflegen.  Seim  Umherflettern  unb  auf  ber  §lud)t 
ffammert  ftd)  baS  noch  fäugenbe  3unge  an  .£>alS  unb  Sruft  ber 
SDtutter  feft.  @8  wädfjft  langfam  unb  hat,  wie  man  auS  ge» 
wiffen  Scobadjtungen  fdjlieffen  zu  bürfen  glaubt,  feine  @nt« 
wicflung  faum  »or  bem  14 — 15  3afyre  Boüenbet. 

9Kit  bem  Äeljlfopfe  biefer  J^iere  ftefft  ein  non  bünner,  elafti» 
fc^et  |>aut  gebilbeter  jfehlfacf  in  Setbinbung.  SDetfelbe  hängt  burdf 
eine  Spaltöffnung  unmittelbar  mit  ben  SJtorgagni’fdjen  Staffen 
beS  StimmapparateS  im  Äefflfopf  zufammen.  Sin  folget  ift 
waffrfcheinlich  bei  ber  Stimmbilbung  beteiligt.  3n  behaglicher 
{Ruhe  grunzen  biefe  S£h*ere  lauter  ober  fdjwächer.  Sei  Segehr, 
äerget  ober  Setwunberung  ftöfft  ber  (Shimpanfc  ein  furzeS,  lautes, 
öfter  hintereinanbet  wieberlsolteS  ui)h  uhh  auS.  3n  bet  2Buth 
ftrSuben  ft<h  bie  Äopfhaare  ber  groffen  änthropoiben,  baS  änt* 
liff  »erzerrt  fid?  zur  gräulichen  ^taffe,  bie  3äh«e  werben  gefletfdht, 
bie  ^>änbe  ftoffen,  bie  guff  fohlen  aber  flatfdjen  unb  ftampfen 
mit  lautem  ©etöfe  gegen  ^arte  Unterlagen.  2)abei  bringt  au8 
ber  Äehle  ein  rauheS  gebenähnliches  ©etön  her®01-  ($h»mP“nfe8 
foHen  im  freien  9tad [jtS  zuweilen  nicht  fef)r  gebehnte,  flagenbe 
Stöne  hören  laffen.  (?) 

SMe  ©ibbonS  bringen  im  äerget  faft  weinerlich  flingenbe 
Älagelaute  hetnor.  3) et  Siamang  foQ,  in  2rupp8  nereint,  bei 
Sonnenaufgang  ein  furchtbares,  meilenweit  (engl.  SOReilen)  höe* 
bare8  ©efdjtei  auSftoffen,  am  üage  bagegen  fdhweigen. 

SDtan  glaubt,  baff  bie  gtoffen  äffen  ein  älter  Bon  Bierzig 

bis  fünfzig  3ahren  erreichen  (?).  68  finben  ftch  atlerbingS 

(286) 


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43 


©djabel,  anfbeinenb  bßb&ejabrter  SE^tcre  mit  nöUig  »er* 
mabfenen  fftabten,  abgefaueten  3übneu  unb  manchmal  mit  »er» 
narbten  Verlegungen.  SDafj  bie  roüblebenben  9tntbropoiben  übrigens 
non  ^ranf^eiten  nidjt  »erfbontmetben,  geigtu.  9t.,  ba§  gefboffene 
GijimpanfeS  mitunter  beutli^e  ©puren  ber  3«^nnerberbni§  et* 
fennen  laffen.  9Jianc^mal  finbet  man  an  ihren  Änobeu  audj 
»erteilte  Vrübe,  Verfrümmungen  unb  Säuberungen. 


SDaS  ©efangenleben  biefer  Spiere  tjat  feine  ©igenartigfeit. 
Heber  baSjenige  beS  ®oritla  mürbe  oben  (©.)  bereits  ausführ- 
licher berichtet. 

Säa^renb  ber  gefangene  £)rang*Utan  fib  «18  ein  gang  gut* 
mütijigeS,  b«™t»fe8(  babei  aber  träges,  me^r  paffio  fib  »er* 
baltenbeS  ©efböpf,  «IS  meift  leibenfbaftSlofer  ^)^ilifter  benimmt, 
bemä^rt  fib  bagegen  ber  ©bimpanfe  als  ber  beitete,  bemeglibe, 
ebenfalls  gutmütbige,  fib  leibt  unb  gern  anfbmiegenbe  ©an* 
guinifer.  Setter  er  ift  mebt  gu  plöfcUben,  uns  natürlibermeife 
unenblib  fomifb  büufenben  3mpromptuS,  gu  genialen  S3uben* 
ftteiben  aufgelegt,  als  jener.  SD  er  ©ibbon  aber  ift  eutmeber 
träge,  langmeilig,  ober  er  ift  unenblib  lieb,  anfbmiegfam  unb 
»ertrauenSoolI  bingebenb.  SDiefe  anbeimelnben  ©igenfbaften  be* 
mabrte  u.  91.  im  b<beu  ©tabe  jenes  lieblibe  ©efböpf,  jener 
meifbünbige  ©ibbon  (Hylobates  albimanus)  toelben  jüngft 
greunb  £).  JpermeS,  ber  nerbiente  SDirector  beS  berliner  Aquarium, 
für  bieS  blübenbe  Snftitut  ermorben  b«tte. 

9tn  fReinlibfeit  finb  gefangene  Slntbropoiben  meiftenS  feine 
SERufter.  Sillen  finb  gemiffe,  eine  unoerfennbate  9)ienfbendbnlibs 
feit  nenatbenbe  Verribtungen  beS  tägliben  ©eins  leibt  beigu* 
bringen.  £>bne  lauge  Sebrperiobe  lernen  fie  fbnell  in  menfb* 

(3871 


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44 


Itdjer  2Irt  auS  einem  ©efdjirr,  namentlich  auS  einem  mit  £eufel 
Betfehenen,  hinten,  mit  einem  Sehreibftift  auf  Rapier  hinein, 
in  einem  Suche  blättern,  in  einen  (Spiegel  feigen,  in  Herren* 
unb  2>amengefellf<haft  manierlich  bei  Jifdje  fxjjen,  fid)  fRadjtS 
mit  einem  Juche  jubecfen  :c.  So  hohe  SnteUigenj  bie  tSnthro» 
poiben  nun  aber  auch  in  ber  ©efangenfdjaft  entwicfeln,  fo-fcherat 
biefe  benn  bod)  jene  in  ähnlicher  Sage  non  anberen  Slffen,  wie 
^aoianen,  Söleerfafcen,  9Jla!afen,  Sdjlanfaffen,  felbft  amerifänifchen 
2lffen  bewährte  nur  wenig  ju  übertreffen.  3>a  aber  bie  ©eftalt 
unb  innere  Drganifation  ber  Slnthropoiben  eine  menfchenähnlichere 
als  bie  ber  übrigen  Slffen  ift,  fo  fcheinen  un§  bie  erfteren  audj 
in  ihrem  Jh »»  unb  Jreiben  mehr  als  Äopiften  beS  fWenjchen* 
gefchlechteS  wie  alle  übrigen  Sertreter  ber  mit  Bier  befingerten 
unb  begeljeten  ©reifmerfjeugen  auSgerüfteten  fdjwänfe»  unb  ränfe* 
Bollen,  fo  hodjintereffanten  Säugethierfamilie. 

III. 

3)ie  anthropoiben  St f f e n mit  ihrer  großen  Statur,  mit 
ihren  £änben  unb  ©reijfüfjen,  ihren  in  ber  Sugenb  flachen  unb 
bennod)  auebrutfSootlen  ©efichtern,  ihren  lebhaften  ©eberben 
unb  ihrer  fo  wohl  überlegten,  Bon  Ijo^er  SnteQigeng  jeugenben 
£anblung8weife  hotte»  fchon  frühzeitig  bie  ^Beobachter  ju  Ser* 
gleichen  mit  bem  fölenfchen  Beranlafct.  S)ie  Schäbelbilbung 
junger  Slnthropoiben  nähert  fi<h,  wie  bereits  mehrfach  angebeu* 
tet  worben,  ber  menjehliehen,  unb  eS  läfjt  fid?  nicht  leugnen,  bah 
bie  Slntlifcgegenb  junger  ©oriUaS  unb  @himha»fe8  faum  Bot» 
ftehenber,  prognather  ift,  als  biejenige  mancher  Seger*  unb  Sluftra« 
lierfinber.  3Bir  hohen  aber  gefehen,  ba§  fich  bieS  fpäter  beträcht* 
lieh  öubert.  5Die  Schäbel  alter  männlidher  unb  weiblicher  2ln* 
thropoiben,  bie  ©ibbonS  nicht  ausgenommen,  behnen  fich  in  bie 

Sänge,  bie  liefern  werben  weit  nach  Born  sottagenb  mit  feht 

(288) 


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fdjief  ftd)  ftetlenben  Sdjneibegähnen.  aud)  eutwicfeln  fidj  an 
ben  Schäbelfnodjen  tiefer  Elften  gortfähe  unb  Äämme,  wie  fte 
an  ben  ©fabeln  felbft  anetfannt  tieffteljenber  fDtenfchenraffen 
entweber  gar  nicht  ober  nur  anbeutungSweife  als  ^robufte  franf* 
haftet  Silbung  »orfommen.  Der  Sau  beS  übrigen  Änodjenge» 
rüfteS  ber  anthropiben  bietet,  wie  wir  ebenfalls  fennen  gelernt 
haben, , niel  fDienft^end^nlic^eS  neben  mancher  abweidjung  oom 
menfchlichen  DppuS  bar.  Sieht  man  non  ber  ©erecftheit  bet 
abenteuerlich  langen  ©liebmafjen  ab,  fo  etfcbeinen  bie  ©ptremi* 
tätenfnochen  bet  ©ibbonS  feht  menfchenähnlich  gebilbet. 
Die  baS  fnöchetne  Secfen  hauptfächlicb  bilbenben  Darmbeine 
ftnb  bei  biefen  Dl^en  üerhältnlfjmäfjig  fdjmaler  unb  Ijö^er,  baS 
Äteugbein  ift  bei  ihnen  fchmaler,  länget,  als  beim  fDtenfdjen. 
DaS  aber  ift  namentlich  beim  ©ibbon  ber  gaH. . Die  ^jalSwir« 
bei  beS  ©orilla  tragen  ungeheuer  lange  Dornfortfähe,  auch  bie* 
jenigen  beS  &E)imf>anfe  unb  Drang  finb  lang,  ©orilla  itub 
©himpanfe  haben  je  breigehn,  ber  Drang*Utan  nur  gwölf  rippen* 
tragenbe  SBirbel.  alle  jene  haben  oiet  ßenbenwirbel.  Sei  ben 
©ibbonS  ift  bie  Bahl  biefer  Äno^entheile  eine  feht  oerfdjiebene. 
3m  «Schulterblatt,  in  ber  -fianbmutgel  unb  guftwurgel  ber  Dhiere 
finbet  fich  »iel  ÜJtenfdjlicheS,  nur  ift  bei  jenen  affen  bie  Stellung 
beS  bie  grofce  Sehe  ftüj)enben  erften  feilförmigen  Seines,  eine  burch* 
aus  anbere,  als  beim  5Jtenf<hen.  Die  gange  gufjwurgel  ber  affen 
ift  breiter,  baS  Sprungbein  ift  mehr  für  bie  leiste  Strecfung, 
Seugung  unb  Drehung  beS  gu  hanbartigem  ©ebraudj  organifirten 
©rciffufjeS  eingerichtet  als  bei  unS,  bie  wir  nur  befdjränftere 
Stwegungen  unfereS  gut  auSfütjrung  beS  aufrechten  ©ehenS  be* 
ftimmten  SufjeS  gu  oollgiehen  befähigt  ftnb.  SSäljrenb  bie  an* 
thropoiben  mit  ben  Süfjen  gang  wie  mit  £änbeu  ©egenftänbe 
umgreifen,  »ermögen  nur  einzelne  bagu  befonberS  oeranlagte 
Sföenfchen  anbere  Dinge  gwifchen  bie  erfte  unb  gweite  Sehe  ÄU 


46 


flemmen  unb  fo  mit  ihnen  gu  ^anbt^ieren.  2)ie  Seugung  un= 
feret  Behen  ift  nicht  mit  ben  fomplicirten  SeugungSbewegungen 
bet  Slffengehen  gu  »ergießen.  @8  ift  falfch,  wenn  man  bic 
Sieger  unb  Sluftralier  im  SDurchfchnitt  für  fähig  Ijatt,  ihre  grojje 
Be^e  non  ben  übrigen  abgugiehen  unb  fie  ihnen  entgegengufe^en. 
!Da8  fcnnen  nur  wenige.  SJian  ^at  mehrfach  angegeben, 
bafj  bet  ÜRenfd»  in  feinem  gefammten  jhtodjenbau  unb  .in  bem 
Sau  bet  gugefyörigen  SBeidjtheile  bie  alleinige  Sefähigung 
gum  auf  regten  ©an  ge  »errathe.  (5.  n.  ginn<5  nennt  ba» 
^er  ben  SDienfchen  erectus,  aufrecht  geljenb.  Slltmeifter  Ä.  ®. 
».  Sät  bemerft  in  biefet  £infidjt  ba8  in  feiner  originellen  ben 
Stagel  auf  ben  Äopf  treffenben  Raffung  ^iet  wörtlich  ^bgebrurfte : 
„2)er  Sau  be8  menfdjlichen  gufceS  fteht  mit  bem  gangeu  übrigen 
Sau  be8  menf^H^en  Äörperg  in  Harmonie.  Sei  natürlicher 
Stellung  fielen  bie  gufiplatten  weiter  auSeinanber  als  bei  ben 
gieren  non  berfelben  ©rßfje  unb  felbft  bei  größeren.  Durch 
bie  beiben  ftufjplatten  unb  ben  gwifd)en  beiben  beftnblichen 
Staunt  wirb  bie  unterftüfjenbe  fläche  eine  anfehnliche.  Sei  Siet* 
füttern  wirb  biefe  unterftüfjenbe  flache  burch  ihre  gange  wer» 
grßfjert,  wobei  fie  fefyt  fcbmal  fein  fann.  Stuf  ben  gufcgelenfen 
fte^en  bet  bem  »Dtenfchen  in  natürlicher  Stellung  bie  beiben 
Unterfchenfel  fenfvedjt;  bie  Dberfchenfelbeine  ruhen  beim  Stehen 
fenfredht  auf  ben  Unterfdjenfeln  unb  tragen  ben  übrigen  Stumpf. 
Da8  Änie  ift  alfo  gang  gerabe  geftreeft.  .Rein  Sjfe,  aber  auch 
fein  anbereS  fann  feine  ^nie  ooDfommen  gerabe  ftreefen. 

SÜtan  fann  alfo  fagen,  jebe  Kreatur  erfcheint  cor  bem  SÜtenfchen 
mit  gebogenem  Änie.  Die  golge  ber  gebogenen  Änie  ift  aber, 
bah  ni<ht  bie  gange  Stärfe  bet  Änochen  bei  Slffen  unb  Siet« 
füfjern  gum  fragen  be8  Stumpfes  üerwenbet  werben  fann,  fon« 
bem  bagu  mehr  SJtuSfelfraft  oerwenbet  wirb,  als  im  entgegen* 
gelebten  galle  nöthig  wäre.  SDie  £)berf<henfel  beibet  Seiten 

(**>> 


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47 


greifen  mit  gerunbeten  ÄBpfen  in  gtcet  Sertiefungen  (Pfannen) 
beß  Sobenß  ein,  unb  biefe  Pfannen  fielen  beim  Söienfdben  »ei» 
ter  auseinander  alß  beim  SSffen  unb  ben  anberen  gieren,  inbem 
baß  gange  Seifen  breit  ift  unb  eine  »eite  Secfenböble  bilbet, 
»eßbalb  ein  gerunbeter  Äopf  bei  ber  ©eburt  buribgeben  fann, 
unb  über  ber  eigentlichen  Secfenböble  ftcb  eine  fdjalenförmige 
©rweiterung  finbet,  bie  bie  ©ingeweibe  tragen  hilft-  25a  nun 
com  Seelen  auß  ber  übrige  Stumpf  getragen  »erben  muff,  fo 
finb  and)  bie  ©efä&mußfeln  beö  ÜSJtenfdjen,  bie  baß  Seifen  ^al» 
ten,  »iel  ftärfer,  als  bei  aßen  anberen  cerwanbten  gieren. 
Som  Seifen  trägt  nun  bie  SBirbelfäuIe  mit  ihren  eingelnen  SBir» 
beln  unb  beten  3»ifdbenfnorpe(n  bie  Saft  ber  fyßfyeten  St^eile, 
unb  bie  aümä^lige  Slbnabme  ber  ©tärfe  ber  5Birbel  con  unten 
nach  oben  ift  ein  Setteiß,  baf)  amb  l)ier  bie  aufredbte  Haltung 
biefe  gorm  beftimmt.  Such  bie  t>ierfa<he  leichte  Ärümmung 
ber  SJirbelfäule  beß  ÜJtenfdben,  guerft  uacb  com,  bann  nach  ^in* 
ten,  bann  »iebet  nach  com  unb  bann  wiebet  nach  ber  Siücfen* 
feite,  ift  ben  ©efefjen  ber  SJtecbanif  gemäft,  benn  fie  unterftüfjt 
bie  ©lafticität  ber  3ttif<ben»irbelförper.  gügt  man  nun  Ijinju, 
baf?  ber  Äopf  fo  unterftüjjt  ift,  baf?  bie  fenfredbte  Stiftung  con 
feinem  ©dbwerpunfte  faft  genau  auf  biefe  Uuterftüfjungßlinie 
trifft,  fo  »irb  man  ft<h  übergeugen,  baf?  bet  SRenfd)  in  feinem 
gangen  Sau  für  bie  aufrechte  Stellung  organifirt  ift,  ober  »aß 
baffelbe  befagt,  ba|  bie  Seftimmung  beß  aufrechten  ©angeß  feine 
Drganifation  beberrfcbt." 1 ') 

2)ie  com  Setfaffet  biefeß  ©^riftd^enß  genauer  unterfuihte 
SRußfulatur  ber  Slutbropoiben  bietet  cieleß  bet  ÜJhißfulatur  beß 
3Renf<hen  Slebnliihe  bar,  baneben  aber  freilich  aud?  Slbweicbun» 
gen,  welche  g.  Stb-  ben  Siffen  eigentümlich  finb,  tbeilß  aber  audb 
bie  naben  Sejiebungen  betfelben  gut  übrigen  ©äugetbierwelt 
cerratben.  Sftäcbtige  SJtußfeln  bebedfen  ben  SRadfen  beß  ©oriUa, 

f»D 


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48 


beffen  ^interpauptgegenb  oon  ihnen  oöHig  übetbecft  wirb.  Aud} 
bei  ben  anberen  Anthtopoiben  wirb  bie  gange  (beim  ÜJtenfchen 
mit  nur  mäfjig  biefer  gleifchmaffe  bebetfte,  Iper  in  itjten  Um* 
riffen  freie  unb  gegen  ben  £al8  abgefefjte)  ^interhauptregion 
wie  bei  ben  fRaubfäugethieren  u.  f.  m.  com  Scheitel  nach  hinten 
überbacht  unb  burdj  ftarfc  ÜJtuSfelmaffen  oerbecft.19)  $Diefe 
SJilbung  aber  ift  eine  burdjauS  t^ierifdjc-  3n  biefer  Jpinftcht 
unterfcheiben  fi<h  bie  Anthropoiben  faum  non  anberen  (Säuge- 
tieren, entfernen  fich  bagegen  nicht  unbeträchtlich  com  ÜJtenfchen. 
Següglich  ber  Üteroen,  ©efäfje,  ©ingeweibe  unb  SinneSroctfgeuge 
geigen  bie  Anthropoiben  oon  gewiffen  geringeren  Abweichungen 
abgejehen,  wiebet  nieleS  ÜJtenfthenähnlidje.  S5a0  ©ehitn  berfel» 
ben  unterfcheibet  fich  nur  wenig  com  menfchlichen.  3u  ben  auf» 
faDenbften  Uuterfchieben  gehört  noch  baS  ©ernidjt  biefeö  Slheileö, 
welche«,  beim  ÜJtenfchen  burdjfchnittlich  oiel  beträchtlicher,  als 
beim  ©otiUa,  (S^tm)>anfe  unb  Orang-Utan  ift.  33iel  ÜJtenfchen- 
ähnliche«  geigt  übrigens  auch  bie  auf  AfienS  geftlanb  unb  3nfel» 
weit  befdjränfte  gamilie  bet  Scf)lanfaffen  (Semnopithecus). 
ÜJteerfafcen,  $)aoiane,  ÜJtafafen,  Stummelaffen  unb  cor  Allem 
bie  Affen  ber  neuen  SB  eit  entfernen  ftdj  bagegen  mehr  unb 
mehr  oon  un«.  ütidjt  mit  Unrecht  fagt  «frujclep,  bafj  bie  ben 
ÜJtenfchen  com  ©orilla  unb  ($himPanfe  ftheibenben  anatomifchen 
SSerjchiebenheiten  nicht  fo  grofj  als  biejenigen  feien,  welche  ben 
©orilla  oon  ben  niebrigeren  Affen  trennten,  gaffe  ich  nun  ben 
allgemeinen  ©feletbau  unb  bie  allgemeine  SJefchaffenheit  ber 
Söeichgebilbe  ins  Auge,  felje  ich  oon  bet  Schmalheit  ber  SDarm* 
beiue  am  SJecfen,  non  bet  eigenthümlicheu  Sänge  ber  ©lieb» 
mafcen  unb  einigen  anberen  Sefonberheiten  ab,  fo  gewinne  ich 
oon  biefer  Affenfamilie  ben  ©inbrucf,  man  ha&e  in  ih*  bett 
echten  EppuS  bet  Anthropoiben  not  fich,  welcher  in  benjenigen 
Sigenidjaften,  welche  man  als  menfchenäljnliche  gu  begeichnen 

( J93 ) 


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49 


pflegt,  obenan  ftefyen.  Born  Dryopithecus,  einem  jn  ©an« 
fan  unb  auf  bem  fchwabifchen  2llp  entbecften  foffüen  ©ibbon 
con  Dranggr5|e,  befifct  man  einen  Unterfiefer,  beffen  Äörpet 
ober  SRittelftücf  com  tiel  fteiler  abfäüt,  fammt  feinen  3ä^nen 
»eit  menfdjenäfynlidjer  geftaltet  erfdjeint,  als  bei  aßen  übrigen  uuS 
befannt  geworbenen  2ntt)ropoiben’ s).  9RaSche  ftreiten  ben  ©ib= 
bonS  bie  3ntedigeng  ab,  habere  »ieber  rühmen  leitete.  9iad) 
9Ment  waS  ich  aber  an  lebenben  ©ibbonS  beobachtet  unb  was 
ich  übet  btefelben  auf  literarifchem  unb  prioatem  SUege  in  @r« 
fahrung  gebraut,  muh  i<h  ft*  für  3»ar  fchüchterne  aber  hoch 
hoch  ft  intelligente  unb  gutmütige  ©efchöpfe  erflären,  für 
©efchöpfe,  »eiche  auch  in  geiftiger  #inftcht  bem  2Jtenf<hen  nicht 
fehr  fern  fteheu.  ^»ier^u  fommt  noch  bie  gahigfeit  ber  ©ibbonS, 
auf  ihren  güfeen  emporgerichtet  ju  gehen,  ©ieht  nun  and)  ein 
joldjet  ©ibbon»@ang  ungefdjicft  auS,  fo  frappirt  er  troflbem  je* 
ben  Beobachter,  ©r  unterfcheibet  ftch  eben  fehr  oon  ben  über* 
auS  tappifchen  Berfudjen  anberer  SHnthropoiben,  bie  aufrechte 
Haltung  auch  nur  für  fütjere  3eit  einjunehmen. 

Unferen  £efern  ift  befannt,  bah  bie  Slnljänger  ber  DeScen= 
benjtheorie  ben  ©tammoater  b eö  5Jlenf<hengefchlechte8 
jef)t  nicht  mehr  in  einer  ber  befannten  antljropoiben 
3lffenformen  fonbern  in  einem  hhpothetifdjen  foffi» 
len  Slnthropoiben  futhen,  beffen  {Reffe  jur  3cit  noch  nicht 
aufgefunbeu  worben  finb.  Dabei  ift  natürlich  bie  URöglichfeit 
anjunehmen  geftattet,  bah  bereinft  noch  irgenbwo  Uebetbleibfel 
eines  g«fnnben  werben  fönnten,  beffen  anatomifcher  Bau 

bemjenigen  beS  URenfchen  noch  naher  ftefje,  als  bieS  beim  @o» 
ritla,  ©himpanfe,  £>rang*Utan  unb  ©ibbon  bet  gall  ift.-  fitere 
finb  bei  Dielfach  auSgefprochener  SRenfchenähnlichfcit  hoch  nur 
‘Äffen,  ©augethiere,  bie  immernoch  burch  eine  tiefe  Äluft  uom 
5Renf<hen  getrennt  bleiben,  £infichtlid)  jenes  ganj  hbpothetifdjen 

XL  247.  4 (223) 


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50 


Uraffenmeu fdjeu  bemerft  Ä.  6.  u.  Sär  goIgeubeS:  „©iefev 
tSffenmenfdj,  wie  mau  ben  Urafyn  woljt  genannt  Ijat,  war  bocfe 
entweber  ein  Saumfletterer  ober  eilt  (Srbwaitbeter,  ein  Homo 
ambulans.  3m  elfteren  galle  fanb  et  feine  9M)ruttg  fieser  auf 
ben  Räumen.  ©a$  fonnte  ifyti  beftimmeu  bie  Saume  mit  ihren 
ftrüdjten  auf  lange  Seit  ju  uetlaffen,  ba  überbieS  ber  Aufenthalt 
auf  beni  Soben  i^n  »ielmeljr  bem  Angriffe  ber  großen  fRaub* 
ttjiere  auSfefctc,  »or  benen  et  auf  ben  Säumen  mefyr  ©idjerljeit 
gehabt  batte?  (Sine  febr  lange  3eit  fanb  man  nötfyig  für  bie 
beffere  Aufibilbung,  bamit  bie  §üf}e  au&  »adligen  .fjänben  in 
fefte  glatten  fid>  nermanbeln  unb  babei  alle  übrigen  SUjeile  beö 
SRumpfeÖ  unb  ber  ©liebmafjen  in  bie  aufgeridjtete  menfcfylic^c 
ftornt  fidj  umgeftalten  fonnten.  2Bar  biefer  Uraljit  aber  ur* 
fprünglid}  wie  ber  QRenfdb  ein  (Sohlengänger  mit  tnrjen  Bereit, 
langem  fDtittelfuff  unb  langer  gu^t»urjel,  fo  war  er  eben  ein 
ÜJletifdj.  Sor  allen  Dingen  erwartet  man,  baff  bie  frütjeften 
üJtenfdjen  in  ihrem  .£itn*  unb  (Sdbäbclban  ben  Affen  bebeutenb 
näher  ftänben  als  beit  jefcigeü  SOlenfdjeit.  Allein  bergleidjen  fyat 
fid>  bis  jefjt  nidjt  finben  laffen,  obgleich  man  feben  ©djäbel  auö 
fel)r  alter  Seit  nidjt  nur  genau  anfieljt,  fonbern  auch  burdf  Se- 
fdjrcibung  unb  3eidjnung  befaunt  macht  unb  iljn  in  einem  ÜJiu* 
feum  eonfernirt,  bamit  er  immer  wieber  »erglidjen  werben  fanit 
u.  f.  w."  Unb  weiterhin:  „3d?  ba&e  freilich  (in  allem  Soraitfe 
gebenben)  nid)t  umhin  gefonnt,  meine  Art  ju  urteilen  mit  ein* 
flicfeen  31t  laffen,  bafj  nämlich  bie  Drganifation  eines  lebenbeti 
OiejdjöpfeS  fdjon  urfprünglidb  beit  SJUtteln  3ur  8eben8unterbal= 
tung  angepajjt  fein  muf)  unb  nid)t  erft  im  Saufe  ber  3abrl)un* 
berte  aitö-  irgeitb  einer  unbeftimmten  §orm,  31t  ber  eS  au8  inne= 
rem  Sariationägrunbe  geworben  ift,  beu  Sebenöbebingungcn  fid> 
anfjafft.  Unb  gerabe  bei  biefer  Gelegenheit  glaube  id)  bie  Se^ 
reditigung  biefer  Anfidjt  anfd;aulidj  mad)en  311  rönnen.  SBar  ber 

(SSM) 


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51 


hppofhetifche  $ffenmenfch  beftimmt  Dom  Soben  «uö  bie  leicht 
erreichbaren  griidjte  »on  ben  Säumen  unb  beit  fPifangen  gu 
ppücfen,  fo  waren  ihm  Äletterfüfje  ober  ©reiffühe  wenig  paffenb 
für  fein  Suchen  nach  9iahrung.  Unb  ip  nur  baä  Dötlig  auf= 
rechte  Saugethier  gut  Sprache  unb  bamit  gu  fernerer  9fu0bil» 
bung  befähigt,  fo  fann  ich  nicht  begwetfeln,  baf)  bieö  ©efchöpf, 
b.  b-  ber  ÜRenfch,  erft  am  ©t^luffe  ber  gangen  SRei^e  entfiedert 
mufete,  bie  nun  ihren  natürlichen  Stbfdpuf}  gefuuben,  uitb  it)m 
in  ihren  anberen  ©liebem  balb  ale  SDiaterial  für  feine  Seflei» 
bung  unb  Nahrung  gu  bienen  l)«tte. " » * ) 

• 


Sei  ariem  heutigen  SBuft  »on  Bür  unb  Söiber  barf  pd) 
ehrliche  Borfchung  nidjt  bauen  abhalten  laffen,  in  biefett  hoch* 
intereffanten,  baö  menfdhliche  ©ein  fo  nahe  berührenben  35ingen 
immer  »on  bleuem  gu  fammeln,  gu  fichten,  gu  etgrünbeu.  $>ie 
erleichterten  SerrehrSmittel  unferer  3eit  werben  unö  immer  be= 
trachtlichereä  Material  gur  era deren  Sehanblung  ber  Slnthro« 
poibenfrage  in  bie  £änbe  liefern.  Sicherlich  werben  wir  ba* 
hin  gelangen,  noch  mancherlei  jefct  un3  auffällige  SBiberfprftchc 
aufguljeben.  ^jinfidjHicd  unferer  »ermeintlidhen  5De8ceitbeng  aber 
befenne  ich  wich  flem  gu  jenen  behergigungSwerthen  Schlüffen, 
mit  benen  9iub.  Sird)ow  feinen  intereffanten  Slrtifel  übet 
w ?ER e n f ch en  = unb  9lf fen fchäbel"  in  ber  Sammlung  biefet 
Sorträge  enbigt.'4) 


4 * C»i) 


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Htttnevfungett. 


1)  Vttgl.:  ^Beiträge  §ur  joologiftpen  unb  jootomijipen  ÄenntntR  brr 
jegenannten  antbropomorppen  9tffen  »on  SRob.  ftartmann  in  G.  V. 
Steigert’*  unb  6.  ©u  Voi«<9lepmonb’«  Slrtpiß  f.  9lnatomie,  ^ppfiolo- 
gie  unb  wiffenfipaftlicpe  UMijin,  Saprgang  1872,  ©.  109  ff. 

2)  Purchas:  His  Pilgrimes,  vol.  II,  pag.  298. 

3)  Vergl.  eine  auäfüprlicpe  ©arftellung  ber  Verbreitung  biefer  merf* 

ttmrbigen  üJlenjcpenftämmc  in  9t.  Jpartmann:  ©ie  Vigritier.  ©ine 

antpropologijip>etpnologifcpe  ÜJlonograpbie.  Verlin  1876.  I.  lijeii,  ©. 
490  ff. 

4)  3«  eerfepiebenen  afrifanifipen  ©praßen  finben  fic^  äpnlitp  flin* 
genbe  9tamen  für  9lff en:  fo  in  ©ennär  unb  Äorbufan  ber  9tame  Äofo, 
im  SJBeften  bei  ben  UJianbingo:  ©ogo,  am  ©abun  unb  füblitper  91'jcpefo, 
Vb’fcpego,  9t’jeqo,  Vjemo,  91’fema. 

5)  ©poma«  $enrp  ^>ujrt e^:  3eugniffe  für  bie  Stellung  be« 
ÜJlenjtpen  in  ber  9tatur.  91.  b.  SngL  non  3.  Victor  Garu«.  Vraun« 
jepweig  1863. 

Die  oben  erwähnten  Vüften,  $änbe  unb  §üge  ftnb  u.  8.  beim 
Äonferoator  Seoen  ju  granffurt  a.  3Jl.  ju  paben.  ÜJtan  begegnet 
ipnen  in  eerfepiebentn  joologifcptn  SJtufeen  ©uropa«  alft  ÜJtuftet  für  bie 
9luflftopfer.  3"  biefelbe  Kategorie  gebürte  ein  1867  in  ber  parifer 
3ßeltau«ftellung  gezeigte*  VtobeH  be«  ©orilla  uon  ©aniel  au«  bem 
Musee  d’anatomie  d’Hartkopf,  Passage  de  l’Opera,  Boulevard  des 
Italiens,  ©affelbe  war  angefünbigt  al«  „Imitation  d’apres  nature 
du  Gorille“,  übrigen«  nur  nad)  bem  au«geftopften  ©templare  be« 
Museum  d’Histoire  Naturelle  in  2Ba(p«  boffirt 

6)  Sfl  ift  bie«  bei  allen  9lffen  ber  alten  2Belt  ber  gatl.  ©ogar 
bei  ben  Scpmeinftaffen  ober  Vlacaco«  unb  Fabianen  erf  epeinen  bie  9teu* 
gebornen  furjfcpnaujiger,  niept  im  ©ntfernteften  fo  »iepifcp.prognatp,  al« 
bie  Sllten. 

(W) 


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54 


7)  Siejer  Sheil  9lfrifaS  bringt  eine  gemiffe  3a^l  »cn  ?aub* 
moofen  f;er»er. 

8)  61)en  u:  Encyclopedie  d’Histoire  Naturelle.  Quadrumanes, 

p.  32,  Fig.  37.  Sarmin:  Ser  9tuSbrucf  ber  ©emüth«bemegungen 
bei  ben  Wenden  unb  ben  J^ieren.  9t.  b.  6ngl.  uon  3 Bictor  6a* 
rufl.  Stuttgart  1872,  S.  142,  gig.  18.  ®.  SDi  ü ^ e l in  3«itf<t)rift 

für  6tf)nolcgic.  Berlin,  3al)rgang  1876,  Saf.  I,  gig.  3.  ©ute,  nach 
bent  t?eben  gejeid'nete  aber  phetograpljirte  Sbbilbungen  »cm  6himpanfc 
ejriftiren  in  ©{enge,  bagegen  taffen  bie  bi«  jeßt  betannten  bilblicpfn  Sar* 
fteftungen  bcö  ©ertlla  noch  Sßielcö  ju  münfchen  übrig.  3d?  ^abe  im 
SifcungSbericht  ber  Berliner  anttjropologifdjen  ©efetlfcbaft  rom  Bosemb. 
1875  eine  9lufjät)hing  ber  befferen  unter  ihnen  gegeben,  Bermcije  aud) 
auf  bie  9tbbilbung  eine«  noch  feljr  jungen  lebenben  ©oriila  im  1.  .'peft 
3«fyrg.  1876  ber  3eitfd?r.  f.  Sinologie  5£af.  2,  gig.  1 unb  2.  ttn* 
fer  fecljfchnitt  gig.  5 ift  in  ber  Stellung  unb  Behaarung  nach  einem 
ber  im  i'täbtifdjen  Btufeum  ju  Vübcrf  aufgeftetlten  geftopften  ©jremplare 
gezeichnet  rcorben.  Olafen*  unb  Äieferngegenb,  ginger  unb  3eben  mürben 
gemäß  in  meinen  $änben  gemefenen  SpirituSejremplaren  oerbeffert.  Sie 
Bafe  fennte  freilict;  nod;  etma«  mehr  birnfßrmig  fein. 

9)  Bergl.  Dierentuin,  eine  itluftrirte  Betreibung  ber  im  joolo* 
gifdsen  ©arten  ju  9lmfterbam  lebenb  geljaltenencn  Säugetbiere  unb  Bö* 
gel,  pag.  6. 

10)  9t.  9t.  ©allace:  Ser  ÜJtalapijepe  Srcpipel.  Sie  -peimath 
be«  Srang.Utan  unb  parabie«Bogel«.  9t.  b.  @ngl.  Bon  9t.  B.*9Jteper. 
Jitelblatt.  fc.  ©aller:  The  last  journals  of  David  Li  vingstone 
in  Central  Africa  etc.  London  1874,  vol.  II,  p.  52. 

11)  Ä.  6.  b.  Bär:  Stubien  au«  bem  ©ebiete  ber  Baturmiffen* 
jehaften,  II,  St.  Petersburg  1876,  S.  317,  gig.  5,  6. 

12)  Sie  Anregung  ju  biefer  Betrachtung  rührt  Born  Prof.  6.  B. 
tHeicpert  \)tx. 

13)  Bergl.  6.  6.  9t.  ,f>artmann,  Sarminiernus  unb  Stg^h113' 
buftien,  Bhind)en  1876,  S.  125. 

14)  Bär  a.  o.  a.  £).,  S.  326. 

15)  9t.  Birchom:  SBenfchens  ttnb  9tffenf«häbel.  Siefe  Borträge 
IV.  Serie,  $eft  96,  S.  33  ff. 


(nt) 

Tunf  vor  ® , t r.  n nftet  (V)  in  Ottlin , £$entfectgttflt.  17  ». 


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golbene  Bemalter 

fcer 

tToitliunft  in  ^ettebig. 


SU  DU 


6mU  ’Slaumömt. 


. Berlin  SW.  IS7ö. 

33  e r l a g » o n 6 a r I Jg>  a 6 e I. 

(<C.  <D.  lotiritj'idir  SttlajjäboJjJliiUar.j).) 

33.  !Ü>ilb<lnt  • 33. 


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2)a8  Sftcdjt  bet  Ueberfefenng  in  frembc  ©praßen  wirb  cotbcljalten. 


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betreiben  Seit , in  ber  in  UJlittelitalien  SRom  einen  gcwal* 
tigen  Umidhroung  in  ber  ÜEenfunft  betnotrief,  feilte  auch  eine 
©tabt  beß  italienifcben  Utcrbenß  $u  großen  SBirfungen  auf  bie 
fernere  (Sntwirfelung  ber  UJluftf  gelangen.  SBenebig,  wie  eS 
ber  ©djauplat)  eines  ehemalß  bie  Söclt  beherrfchenben  jpanbelß, 
einer  erftaunlidhen  politifd^en  ©refje  unb  UJladjt  unb  ber  @nt= 
faltnng  einer  glänjenbeit  Äunftthätigfeü  in  Ulrdjiteftur,  UJtalerei 
unb  ©culptur  gewefen,  [teilt  fidj  unß  auch  als  ber  23eben  bar, 
auf  bem  oet  brei  3abrl)unberten  unfterbliche,  wenngleich  am 
Crte  il)reß  (fntftehenß  längft  fd)on  uerflungene  Schöpfungen 
ber  Eenfunft  erblühen  feilten. 

2Bie  anberß  aber,  alß  baß  Sßilb,  weldjeß  baß  ernfte  feier* 
lid^e  9lem  gewährt,  ift  baö  ©dhaufpiel,  baß  bem  in  bie  Her« 
gangenheit  3utücfi<f)auenben  bei  einem  Slicf  auf  bie  bem  2Bel= 
lenfeheefee  entftiegene  Jfenigin  ber  Slbria  fid)  barbietet.  @<hon 
bie  maritime  Sebeutung  ber  ©tabt,  bie  nur  jur  .fpälfte  roma= 
nifdje  Ulbftammung  ihrer  Söewohner,  baß  bewegliche  (Slenient, 
auf  wel^eß  biefelben  mit  ihrer  &hätigfeit  angewiefen  waren, 
ein  jflima  enblid),  baß  bie  ©eewinbe  im  ©ommer  ebenfo  fe^r 
fühlen,  wie  im  Söinter  milberit  — fur3  bie  eigenthümlichften 
inneren  unb  äußeren  23ebingungen  — Tiefen  hier  eine  burdjauß 
anbere  fcebenßauffaffung , einen  rollig  anberen  3$oIfßcf)arafter 

XI.  M8.  1»  (*01) 


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4 


fcetDor  »ie  in  S^lom,  unb  bamit  gugleidj  eine  non  ber  ronufdjen 
^ödjft  »erfc^tebene  (Sntmicfelung  beb  focialcn  gebend  unb  ber 

Äunft'). 

33or  allem  fäüt  bie  in  ihrer  3trt  mehl  eingig  $u  nennenbe 
£age  ber  ©tobt  für  bie  befonbere  SSeife  iljreb  gelammten  @m* 
porblüljenö  fermer  in’b  ©eroidjt.  SSeber  bem  geftlanbe  itod) 
bem  üJieere  angel)örenb,  fonbern  inmitten  beiber,  auf  einer  für 
grembe  faft  uugugänglichen  Snfelgruppe  emporgewadjfen  — gmi* 
fcheu  Sccibent  unb  Drient  gelegen  unb  baljer  berufen,  bie  SJer» 
mittlerin  beb  Slubtaujdjeb  ber  $>robucte  unb  ber  ©eifteöcultur 
beiber  gu  fein  — einerfeitb  cöllig  ifolirt  uon  ber  gangeu  Söelt, 
anbererfeitb  alle  Steile  berfelben,  roie  feine  gweite  Stabt  &u* 
ropab,  untereinanber  in  SSerbinbung  fefcenb  — nahm  33enebig, 
tm  SRittelalter  unb  ben  Satyrljunberten  ber  Slftthe  ber  9?enaif« 
fance,  eine  beneibete  unb  unuergleidjlidje  Stellung  im  bamali« 
gen  Zentrum  ber  (Siöilifation  ein.  Siefcr  feiner  Situation  ent« 
fprach  ber  ßjeift  feiner  33ecölferung , fowie  berjenige  ber  pcliti • 
fdjeu  (Einrichtungen  unb  Ijö^eren  CSultur , bie  fidj  biefelbe  gege» 
ben  unb  angeeignet.  — Sie  Neigung  ber  SSenegianer,  ftef^  unter 
fidj  feft  gegen  bie  Slujjenwclt  gufammen  gu  fcfjliefsen,  tritt  unb 
gunädjii  in  bem  ernften  unb  allcb  grembe  abmeljrenben  (S^araf* 
ter  ihrer  republifanifdfen  Staatboerfaffung,  fomie  in  ber  unnadj?« 
fichtlicijcn  Strenge  ber  ©efefje  ber  lefjtcrcn  entgegen.  9fuf  einem 
Schiffe  hat  ber  (Sapitän  bab  Dicdjt  über  ijeben  unb  2ob;  auch 
SJcncbig,  burd?  beffen  Strafjcn  bie  gluthen  ber  Slbria  ba^in« 
firömen,  glich  einem  auf  grünen  9)fecrebwogen  ru^enbeit  ftolgen 
Schiffe,  beffen  Dlumpf  Sölarmorpaläfte,  beffen  föiaften  unb  Se« 
gcl  fchlanfe  CSampanilen  unb  Äuppeln  bilbeten.  Sab  ftraffc 
Regiment , bab  fidj  ber  greiftaat  gab,  erflärt  fich  mithin  aub 
feiner  Sfolirung.  begegnen  wir  hoch  bem  3uge  beb  tßenegia* 

(»US) 


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5 


nerg,  fidj  gern  auf  fid?  felbet  gurücfgugiehen,  nod)  nach  anbeten 
(Beiten  hin;  fo  oudfj  in  bem  gemeffeneit  unb  mütbeoollen,  babci  aber 
meift  non  aufcpferunggfäljiger  Satcrlanbgltebe  burchglühten 
ß^arafter  jener  alten  fPatrigiergcfch (echter,  bie  an  bet  ^Regierung 
ber  fRepublif  2^eil  nahmen  unb  bie,  nicht  ohne  innere  23ere<h* 
tigung,  ben  fRamen  eineg  oenegianifchen  Mobile  jebem  anbeten 
rjergogen.  — ©er  Seruf  bet  Seoölferung  bagegen,  bie  ©ultut 
gmeier  Selten  gu  oerfnüpfen  unb  ihr  Streben,  baburd)  gu  ©refse, 
sjRadat  unb  fUnfeljen  gu  gelangen,  geigt  fid)  im  Gingen  beg  3n* 
ielftaateg  nach  bet  SUleinherrfdjaft  auf  bem , feinen  23ehjel)nern 
fo  ^eimifd^  »ertrauten  ©lemcnte,  in  feinem  Streben  nad)  bet 
Hegemonie  gut  See.  ©ie  Simpel  unb  Sännet  bet  gagunen* 
ftabt  melden  2lu8gangg  be8  9Rittelalter8 , b.  I).  gut  Seit  ih*er 
größten  SRadit,  oon  ben  Ufern  be§  fdjmatgen  9Reercg  big  gut 
Dftfee,  oen  ben  Äüftcn  ÄleinaftenS  unb  $>aleftinag  big  gu  ben 
Säulen  beg  ^jerfuleg,  oon  ben  5Rünbungen  bet  Scheibe  unb 
beg  fRljeing  big  gu  benen  beg  Sajo  unb  beß  fRil,  unb  ihre  £an* 
belgfiotten  mären  ebenfo  begehrt,  mie  il)te  Äriegggefchmaber  ge* 
furchtet.  ffRan  fann  bähet  bie  Senegianer,  etma  in  ber  Beit  beg 
11.  big  gegen  ©nbe  beg  15.  3al)tl)unbertg , bie  ©nglänber  beg 
bamaligen  ©uropag  nennen,  beten  Stelle  fie,  alg  ein  in  Schiff* 
fahrt  unb  .fjanbel  allen  anberen  Stationen  überlegcneg  33olf,«in 
jenen  Sagen  ooflfommen  behaupteten,  menn  fie  fidj  auch,  be* 
güglidh  ihrer  übrigen  Anlagen,  merflid)  non  ben  Semohnern  bet 
brittifdhen  Snfeln  unterfdhieben.  ©crabe  betreffs  ihrer  befonbe* 
ren  ©igenthümlichfeiten  habe  ich  noch  hinäugufügcti , bah  ftt^ 
mit  bem  ebel  gearteten  Sinne  unb  ©rnfte,  mit  ber  ©ntjdjtoffen* 
heit  unb  Äüljnheit  beg  oenegianifdjen  ©Ijarafterö  gugleidj  eine 
9lnmuth  unb  ©ragie  Bereinigte,  mie  fie  fidj  unter  ben  Stalienern 
felbft  heute  nicht,  unb  obmohl  Stalien  bag  ganb  ift,  in  meinem 

(303) 


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6 


bie  ©razien  ^eimtic^  finb , gum  zweiten  ?0?al  in  gleich  ItebenS* 
würbiger  SBeife  porfinben  bürfte.  Daneben  mangelte  eS  unfe* 
ren  Snjulanern  nid^t  an  einer,  wenn  aud)  niemals  auSartenben 
8uft  am  Dafein,  welche  fich  zum  Üfyeil  auS  ber  ©?ilbe  ihre? 
ÄlimaS,  baS  Senebig  noch.  in  ber  ©egenwart  ju  einer  @efunb» 
heitSftation  macht,  auS  ber  befonberen  Durdjfidjtigfeit  ihrer  t?uft, 
fowie  cielleit^t  auch  auS  ben  betn  Äuge  gewährten  be^ciubemben 
Süden,  einerseits  auf  bie  SBunberwelt  ber  in  ber  Seme  beS 
FeftlanbeS  fidf  aufthürmenben  Älpeu , anbererfeits  auf  jenes 
poefietollfte  aller  ©teere,  baS  fte  oon  3ugenb  auf.  mit  feiner 
Farbenpracht,  Heiterfeit  unb  ©djöne  umgab,  erflären  läf$t.  9ticbt 
weniger  enblich  gewifj  auch  «uS  ihrt’m  Serfehre  mit  93ölfern 
aller  3etteu  unb  3«ngen,  beren  auffaflenbe  ©eftalten  unb  fpbp* 
fiognomien,  ober  fonberbare  unb  reiche  brachten,  in  benen  fich 
bicfclben  auf  bem  ©tarfuöplajje,  ber  fPiajetta  unb  ber  Riva 
degli  Schiavoni  unter  bie  eingeborenen  Senegianer  milchten, 
bie  ?)hantafie  befd)äftigten  unb  Slicfe  unb  ©ebanfen , über  alle 
engherzige  Sefchränftheit  ^tnruecj,  in  bie  äöeite  ber  SBelt  binauS» 
jogen. 

©S  fann  unS  jomit  faum  befremben,  baf)  bie  auS  foldjen 
ungewöhnlichen  Umgebungen,  Serl)ältniffen  unb  3u|’tänben  ber* 
potgeljenben  Anlagen  unb  ©eifteSrichtungcn  ebenfo,  wie  wir 
ihnen  bereits  in  SenebigS  Serfaffung,  SoltScharafter  unb  ber 
befonbcren  Hinneigung  feinet  Sewol)ner  gum  ©teere  unb  beffeu 
3auber  begegneten,  fich  auch  in  ber  penegianifchcn  Ä u n ft , gleich* 
piel  ob  biefelbe  Ärchiteftur,  ©culptur  unb  ©talerei,  ober  $>oefie 
unb  ©tufit  hiefe,  wieberftnben.  — 3öaS  ^unächft  bie  Ärchitcftur 
angeht,  fo  genügt  ein  Slicf  auf  bereu,  unb  heute  noch  in  2$e* 
nebig  oor  Äugen  ftetjenbe  ©tonumente,  um  unS  auch  in  tiefen 
jene  Serfnüpfuitg  pon  Occibent  unb  Orient  wiebererfemten  311 

(304) 


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7 


laffen,  gu  bet,  wie  ich  bereits  erwähnte,  bie  3nfelftabt  buvch  ihre 
geographifche  Stellung  berufen  war.  3n  ber  SSaufunft  aber 
füllte  eine  foldje  23erfchmelzung  ber  ©eifteSblüthen  entgegenge* 
fester  ©ulturen  ju  einer  ebenfo  poetifchen,  wie  |>ljantaftifdjen 
SBirfung  führen.  Picbt  umfonft  hat  man  barum  Sßenebig  — 
befoitberö  in  #inblicf  auf  feine  auS  bem  foftbarften  Plateriale  er* 
bauten  halb  maurifchcn,  halb  mittelalterlichen  sJ>aläfte,  beren  $rei= 
treppen  fid}  in  ber  grünen  gluth  beö  Canal  grande  haben,  ober 
auf  bie  Prachtbauten,  bie  bie  Riva  degli  Schiavoni,  bie  Piazza 
unb  bie  piajetta  fäumen  — „bie  fteinerne  SRofe  ber  3lbria"  ge* 
nannt.  Plan  fönnte  eö  ebenfowohl,  corzüglich  wenn  ber  Holl* 
monb  baruber  fteljt,  ein  in  Plarmor  gemeißeltes  Plätzen  auS 
taufenb  unb  einer  Pacht  nennen.  Piährdjenhaft  wivfen  bann 
»or  allem  fein  großartig  machtvoller  ©ogenpalaft,  beffen 
§a»;aben  unb  $öfe  gothifcße  unb  arabifche  Spißbogen  mit  ben 
formen  bet  Penaiffance  nerbinben,  ober  baS  alte  PaDabium 
93enebig@,  fein  2)om  oon  St.  PiatfuS,  beffen  halb  bpjantfji* 
nifche  Äuppeln  unb  romanifche  Plotioe  fich  mit  antifen  Säulen 
unb  Sänlencapitälen  ju  einem  ©anjen  cerfcijmelzen,  wie  eS 
eigentümlicher  unb  wunberfamer  nicht  gebaut  werben  fattn. 
Sehnliche  ©egenfäße  »erbinbet  bie  oenejianifche  Sculptur,  fei 
eS  als  eine  in  freiftehenben  23ilbwerfen  antififirenbe , fei  eS  als 
eine  in  reicher  Drnamentirung  mehr  chriftlichen  ©inflüffen  hin* 
gegebene,  unb  auch  ft*  präfentirt  fich  unS  in  biefer  zwiefachen 
©eftalt  häufig  an  ein  unb  bemfelben  ©ebäube,  fo  3.  23.  gerabe 
wieber  am  St.  PtarfuSbom.  2)er  leßtere  hat  überbieS  noch 
ein  fpeciell  mufifalifcheS  3ntereffe  für  unS,  inbem  berfelbe 
in  ber  ©efeßiehte  ber  beiben  Sonfcßulcn,  bie  SHenebig  ttacheinan» 
bet  bei  fich  erblühen  faß,  eine  nicht  nur  äußerliche  unb  zufällige, 
fonbern  auch  innerliche  SBirfungen  heiwrrufenbe  Stellung 

(305) 


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8 


einnel)men  fotlte.  — Sflö  ein  ©runbjug  beß  (S^araftcrS  ber  mo» 
numentalen  profan  bauten  Sknebigß  tritt  bercn  -©eftimniung 
gu  bem  ©cmeinwejen  gcwibmeten  ©taatßgwecfen  herüor, 
waß  für  eine  Otepublif,  in  beren  öffentlichem  £eben  ber  ©taat 
beinahe  alleß  in  allem  mar,  begeichnenb  ift;  felbft  33enebig§ 
Äirdjen  unb  2)ome  ftnb,  mehr  wie  anbcrßwo,  mit  bcn  £rabitio« 
nen  unb  ber  befonberen  ©teOung  ber  ©tabt  uerfnüpft. 

SBenn  bie  Sknegianer  bie  oerfchiebenen  33auftple  ber  ?änber, 
3U  beren  Äüften  ihre  ©djiffe  fte  trugen,  mit  gleidjer  Cebenbigfeit 
feftliielten,  unb  wenn,  in  golge  Ijierüon,  bie  üencjianijdje  33au» 
funft  bie  auß  entgegengefefcten  SÜBeltgegenben  überlieferten  ard)i* 
teftonifdjen  59?otioe  31t  einem  reidien  prächtigen  ©tplc  ju  »er* 
binben  bemüht  mar,  fo  fommen  bagegen  in  ber  in  33enebig 
emporblülicnben  59?  al  er  ei  jene  Elemente  rounbetbarer  Suft* 
unb  ÜBafferfpiegelungen,  ober  jene  leuchtenbcn  gnrben,  jene  be« 
fonberen  Jone  unb  Uebergangßtcne  beß  ©oloritß  31t  ihrer  £Dar» 
ftcKung,  welche  Lagunen,  Äüften,  59?eer  unb  ©ebirge  in  9?äl)e 
unb  gerne  t’crjdmnen  unb  uerflärcn.  58or  allem  auch  jener 
magijdjc  ©elbglan3,  oon  wcldjem  bort,  an  frönen  heiteren 
Slbenben  bie  gan3e  SBelt  überhaupt  unb  überfluthet  311  werben 
jeheint,  unb  bem  Wir  fd)on  in  ben  SHltarbilbern  beß  ©iocannt 
üöellint,  beß  ©iorgione  unb  anbercr  älterer  i'cnc3ianifchet 
5D?eifter  begegnen,  $m  Uebrigcn  feilen  wir,  gleidj  brr  Strchitef* 
tur,  aud)  bie  59?alerci  »orgugßroeife  in  ben  IDienft  beß  ©taa* 
teß  treten,  ooi^üglich  ba,  Wo  eß  ber  33erherrli<hung  grofjer  @r* 
cigniffc  unb  £hflfeu  bet  eaterlänbijchcn  ©ejehichte  galt,  auf 
welchem  gelbe  fich  befonberß  bie  59?eifter  ber  eigentlichen  SBlüt^e* 
3eit  biefer  Äunft  im  SBenegianifdien:  ein  Sligian,  Sintcretto 

unb  $>aul  S3eronefe  in  grofcartigfter  SBeife  heroorthun. 

(soe) 


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9 


IHtle  btefe  Elemente  geiftigen  £cben§  nun,  wie  fie  in  ben 
bilbenben  .fünften  Senebigö  51t  Sage  traten  — balicr  fowoljl 
jene  rubepolle  SBürbe,  maafjpotle  .jpeiterfeit  nnb  imponirenbe 
©rofjartigfeit  be§  öffentlidien  itnb  religiösen  SebcnS,  wie  ber 
coloriftijdje  Sdjmelg  nnb  Ssarbenreidtthum  non  SJlecr,  .£)im* 
mel,  (Stabt  unb  Äüfte  — fommen  aud)  in  ber  9Jlufif 
ber  Sßcnegiancr  311  iljrer  fünftlerijdjen  Spiegelung,  unb  gwar 
liier  nor  allem  in  ber  älteren  jener  beiben  Sonfchulen,  bic 
SSenebig  bei  fid?  emporwachfen  fal).  Sie  beiben  ©abrieli, 
bic  Häupter  biefer  älteren  Jonfdntlc,  fxnb  cö  nörglig» 
liefe,  auß  bereit  Swnfdjöpfungcn  folefee  Sßirfungen  auf  unfer  @e* 
mütb  erfolgen.  ©l)e  wir  jeboefe  biejen  beiben  grofjen  UJleiftern 
nältcr  gu  treten  Perm ögen,  haben  wir  auf  bie  Anfänge,  wcldje 
eine  fünftleriftfee  pflege  ber  ÜJtufif  in  Sßencbig  fanb , gttrürfgu» 
geben. 

Ser fftieberlänbcr  Sbrian  SBillacrt,  1480— 1562,  ift  ber 
eigcntlidic  Scgrunber  ber  altpenegianijdieu  5£onfd)uIe.  Ser« 
fclbe  war  1516,  unter  bem  fPontifkat  f))apft  2co  beß  X.,  nadb 
föom  gefommen  (aljo  24  Sabre  nor  fPaleftrina’ß  Auftreten  ba» 
fclbft),  hierauf  an  ben  Jpof  non  fterrara  unb  gu  8ubwig  II., 
Äönig  pon  Ungarn  unb  Söbmen,  gegangen,  in  weldjen  beiben 
Stellungen  er  pon  1516—1526  perblieb,  unb  1527  enbiiefe 
Gapcflmeifter  am  Sont  pon  St.  SKarfitö  gu  beliebig  geworben. 
£>od)ft  eigentümlich  ift  eß,  bajj  SBillacrt,  ber  anfänglid)  nur  bie 
befannte  contrapunftif<fe«fanonif(fee  Sajjmeifc  ber  fftieberlänbcr 
nad?  Sßenebig  braute,  erft  in  ber  gagunenftabt  felbft  bagu  an» 
geregt  warb,  einen  neuen,  pon  bem  feiner  Üanbßleutc  pötlig  ab* 
weidjenben  Stpl  gu  erfinben.  9iod)  merfwurbigev  erfefeeint  eß, 
bafe  gerabe  biefe  burdj  SöiHaert  erft  aufgebrachte  eigenartige  ©om« 
pofitionßweifc  biejenige  gu  werben  beftimmt  war,  welche,  ob« 

(307) 


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10 


wol?l  fte  uon  einem  SluStänbcr  herrübrte,  übet  ein  3at?rbunbert 
ebarafteriftifeb  für  SenebigS  etnljeimtjc^e  üKeifter  «nb  bie  burdj 
fte  repräfentirte  Stonfdfule  bleiben  feilte,  gingen  mir  utt8  aber, 
woburib  SÖillaert  gu  bet  ©rfinbung  eined  foldjen  neuen  StplS 
»eranlafjt  marb,  fo  »erben  unfere  3Mic!e  gum  erften  9)ial  auf 
bie  bebeutungSoolle  Stellung  Ijingelenft,  meldje  bie  Äirdse  beS 
^eiligen  ÜJJarfuö  int  ©ntmicflungSprocef)  bet  altpenegianifcben 
Schule  eingunebmen  beftimmt  mar. 

2)aS  Snnere  beö  St.  üftatfuSbomS  ift  nämlich  in  bet  2öeife 
eonftruirt,  ba§  ftcb  in  jeber  bet  beiben  fleinen  ©hornifeben,  iceldb«’ 
bie  große  SJlpfiS  beS  iDtittelfcbiffö  flanfiren,  eine  bejonbere  Crgel 
unb  baljer  aud)  bie  per  einem  foldjen  Snftrumcnte  immer  per» 
banbene  Jribüne  gut  'Äufftellung  einer  Iflngaljl  een  Sängern  be= 
finbet.  5)a8  räumliche  ©egenübet  biejet  beiben  Drgeln  nun  unb  bie 
SJlöglidjfeit,  gmei  uerfdjicbenc  Sängergruftyen  um  bicfelben  gu 
fdjaaren,  mag  SBiQaert  mit  auf  ben  ©ebanfen  gebracht  haben, 
9>falmen  unb  fötotetten  unb  anbere  ben  ©ultuS  cröffnenbe  unb 
begleitenbe  Äirdjcncompofitionen,  ftatt,  mie  bisher,  »oti  einem 
CS^crc,  nunmeljr  een  gm  ei  ©hören  »ertragen  gu  laffen  uub  an 
Stelle  einanber  antmortenber  Stimmen,  einanber  antmortenbe 
©böte  gu  fcfjen.  ©ieS  ift  jeboeb  nidjt  fo  gu  »erfteben,  alS  ob 
biefe  ©höre  immer  nur  abmecbfelnb  eingutreten  gehabt  hätten; 
fte  Bereinigten  fidj  »ielmebr  gumeilen  auch,  »orgüglidj  bei  Jpalb» 
unb  ©angfdblüffen,  moburdj  bie  DJiac^t  ihres  ÄlangeS  an  fclcben 
Stellen  oerboppeltmarb,  ober  riefen,  inbem  ihre  Stimmen  fidjfreug* 
ten  unb  fteigerten  unb  halb  fo,  balb  attberS  mifebten,  Söirfungen 
her»or,  melcbe  bunfler  ober  heller  beleuchteten,  beroertretenbett 
ober  gurüeftretenben  Partien  im  Söneftrom  glichen.  Unb  hiermit 
fommen  mir  auf  ben  fPunft,  bei  bem  fidj  bie  oenegianifche  SKufit 
als  eine  Scbmefter  ber  oenegianifiben  ÜJialerei  gu  erfennen 

(303) 


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11 


giebt.  SSie  in  btefer  »on  Anfang  an  ein  reicheres  unb  leuch» 
tenbereß  ©olorit  fid)  geltenb  macht,  alß  in  ben  übrigen  fötaler* 
faulen  3talien8,  fo  bemerfen  wir  and)  in  SBiHaert’ß  boppel* 
porigen  Sompofitionen  baß  ©treben,  einerfeitß  burdj  ben  ©egen» 
fa£  uerfdjiebenerÄlangfatben,  anbererfeitß  burd)  berenföiifcbungen, 
befonbere  coloriftifcbe  (Sffecte  in  ber  üonfunft  gur  ©rjdjcinung 
gu  bringen,  unb  gwar  in  einer  SBeife,  wie  fie,  gleich  glangooll 
unb  prächtig,  feinem  ütonfefjer  früherer  Beit  befannt  gewefen. 
3Bir  begreifen  barum  auch,  warum  man  bamalß  in  IBenebig 
SÖiflaert’ß  neue  fötufif,  mit  feinem  ©efül)l  für  bie  barin  funfein* 
ben  unb  leudjtenben  üonfarben,  alß  „trinfbareß  ©olb"  be* 
geidjnete. 

3m  Uebrigen  oerbannte  ber  nieberlänbift^e  föteifter,  in 
jenem  feinem  boppeldjörigen  ©tnle,  in  noch  weit  entjdjiebenerer 
SBeife,  alß  ^aleftrina,  ben  überfünftlicben  fanonifdi=contrapunf* 
tifd)en  ©tpl  feiner  Jpeimatb-  SBenn  |>aleftrina  bcnfelbcn  in  feinen 
fÖtefjen,  fötagnificatß  unbfötotetten  nur  mäßigte  unbauf  bie©ren* 
gen  beß  Svenen  unb  IJlußbrucfßDcllen  bejebränftc,  fo  !ä§t  SBillaert 
bie  fanonifch»contrapunftifcbe  ©ajjweife  feiner  2anbßlente,  mit 
Sfubnafyme  neteingelter  feltener  fötomente,  in  welchen  biefelbe 
noch  anflingt,  üötlig  oerfebwinben.  Unjer  föteifter  »erfährt 
hierbei  nur  gang  folgerecht.  ©ine  complicirte  unb  biß  in  bie 
minutipfeftenS5etailß  außgefübrtc  Beiebnung,  wie  fie  baß  ©timmen* 
gewebe  beß  fanonifcb=contrapunftif<ben  ©atjeß  bebingt,  hätte  jene 
imponirenben  unb  einfachen  coloriftifchen  SBirfutigen,  auf  bie 
eß  SBillaert  in  jeinen  Sonfätjen  ^auptfäc^lid)  anfam,  gang  un* 
möglich  gemacht.  33or  lauter  ©trieben  unb  Linien  wäre  er  gu 
feinen  Farben  gefommen,  ober,  wo  bie  letzteren  ftellenweiß  hoch 
»orl)anben  gewefen,  hätten  fie  fid?  in  bem  faft  unterfd}iebßlofen 
©inerlei  ber  Bewegung  unb  ©lieberung  eineß  folgen  SEonfajjeß 

<sos) 


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12 


wiebcr  uerloren.  3?eid;e,  prächtige  $arbenwirfungen  [inb  ohne 
cinfadje  butdjgreifenbc  9ftaffcnoertheiIung,  ohne  eine  im  ©angen 
cincS  ,t?unftwerfeS  oorfeanbenen  ©egenfäfelicfcfeit  non  ?id)t  unb 
©djatten,  ^etle  unb  ftinfternife,  leudjtenben  unb  guriieftretenben 
Partien  überhaupt  nid)t  benfbar;  batum  Söiüaert’S  Steilung 
feiner  ©timmen  in  gwei  Gböre,  barum  feine  33efd;ränfung  ber 
^ortfdireitungcn  biefer  ©timmen  auf  einfache  gefefyloffene  ^>ar* 
monienfolgen,  bic  l)icr  unb  ba,  burd)  in  biefelben  wirfungSooH 
uerwebene  Slnfäfee  gut  3mitation  unb  Gentrapunftif,  nod;  in 
einer  anberen  2trt  belebt  werben. 

SSiflaert’S  Nachfolger,  als  GapeHmeifter  an  ber  9Jlarfu8firdje, 
war  nidjt  — wie  man  erwarten  feilte  — ein  23enegianer, 
fenbern  abermals  ein  Nieberläitbcr.  äöir  begrüben  bcnfelben  in 
Gnprian  oati  Nore  auS  fDJedjcln,  1516—1565,  ber,  um  feines 
berühmten  SanbSmanneS  Unterricht  gu  geniefeen,  nach  SBcnebig 
gefommen  war  unb  fid;,  wie  biefer,  fdjliefelidj  gang  bert  nicber« 
gelaffen  hatte.  3n  33egug  auf  33ereid;erung  ber  Harmonie  ging 
Gnprian  nan  5Rove  nod;  über  feinen  beferer  SBillaert  hinaus,  ba 
wir  ihn  bereits  non  d;romatifd;en  Sonfolgcn  unb  Snternatlen 
Gebrauch  machen  feljen,  bie  ben  Äirdjentonarten  befanntlid; 
entfliehen  wiberfpredjcn. i)  ©elbftoerftänbltd;  waren  feierburch 
gugleid)  neue  Mittel  ber  ©teigerung  unb  beS  UluSbrucfS  ge; 
wcnneit. 

Grft  ber  britte  Gapellmciftcr  an  ©t.  NtarfuS,  feit  Sillacrt, 
ift  ein  Ncnegianev.  2Sir  begegnen  bcmfelben  in  ©iufeppe 
Sarlino,  1519 — 1590,  ber  auS  bem,  ebenfalls  nod;  in  ben 
Lagunen  licgcnbcn  3nfelftäbtd;en  G^ioggia,  füblicfe  non  SBenebig, 
gebürtig  war.  Slber  aud;  3arlino  fennt  feinen  9Jleifter,  ben  er 
höher  preift,  als  Söillaert;  unb  wenn  er  auch  noch  gu  beffeu 
©dbülern  gel;ört  hatte,  fo  ift  eS  bodj  immerhin  merfwürbig,  bafe 

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13 


fidj,  wo  er  in  feinen  tfyeorelifdjen  Schriften  feinet  SeijrerS  ge: 
benft,  in  ba§  begeifterte  8ob  beffelben  nirgenba  bas  teifefte  23e* 
bauern  barüber  mifc^t,  bah  SÜillaert,  bem  bie  altDenegianifdje 
Schule  ben  ihr  eigenthümlichen  ©tpl  oerbanfte,  fein  UanbeSfinb 
geroefen.  Auch  Ijierin  geigt  fid)  etwaö  »on  jenem  freien  oorur» 
theilalofen  23licf,  ber  ben  S3enegianern,  in  ^olge  iljrer  Berührung 
mit  allen  SSölfetn  ber  ©rbe,  eigentümlich  geworben  war.  s) 
3n  biefer  33egiel)ung  ift  auch  bie  ©ntfchleffenheit  charafteriftifch, 
mit  welcher  feiner  Beit  ber  SDoge  Anbrea  ©ritti  SSiüaert’a 
Aufteilung  an  ber  9Jtarfuöfird)e  burchfej}te,  obwohl  einer  folgen 
bie  Sntriguen  unb  Anfprüche  eingeborener  Süenegianer  entgegen» 
geftanben  hätten.  CSö  gab  eben  immer  SOiänner  in  SStnebig, 
bie  baä  ©rohe  unb  Söebeutenbe  unabhängig  oou  ber  '.Nation  unb 
bem  £anbe,  benen  eä  entflammte,  gu  würbigen  wußten,  unb  gu 
ben  iftieberlänbern  namentlich  "hatte  man  oon  Alterä  her  noch 
ein  gang  befonbereß  23erhältnif|.  3>»ar  würben  bie  von  bort 
eingewanberten  9Jieifter,  gleich  ben  über  bie  Alpen  fommenben 
©eutfchen,  oon  ben  23enegianem  Oltramontani  genannt.  2)ie 
eigentliche  SSerbinbung  gwifdjen  33enegien  unb  ben  'Jtieberlanben 
fanb  aber  nicht  burch  bie  Alpenpäffe,  fonbern  gut  See  ftatt. 
9Kit  jebem  Frühjahr  lichtete  eine  Jpanbeleflotte  in  ber  ffagunen» 
ftabt  bie  ©egel,  welche  um  baS  weftliche  ©uropa  herum  nach 
ben  Äüften  oon  § tan  bem  fteuerte  unb  beren  gahrt  unb  3iet 
fo  althergebrachte  unb  männiglich  bcfannte  waren,  bah  biefelbe 
im  SBolfömunbc  ben  ÜJiamen  ber  Armata  di  Fiandra  trug. 
3)ah  fich  mit  bem  burch  biefeö  ©efch»aber  oermittelten  Aua* 
taufch  materieller  ©chäjje  beö  ©übena  unb  SiorbenS  auch 
berjenige  ihrer  ©eifteäcultur  oerbanb,  fann  wol)l  faum  einem 
3»eifel  unterliegen.  SDie  »enegianif^en  .panbelaherren,  bie  meift 
ihre  ©chiffe  entweber  fclbft  geleiteten,  ober  burch  »hre  Söhne 

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führen  liefen,  waren  eben  feine  Ärämer  nnb  ©piefcbiirger;  ein 
jeber  pcn  ihnen  ticlmebr,  wie  fd)pn  ©hafcjpeare  im  Kaufmann 
pon  Sücnebig  ppu  Ülntonio  jagt:  „ein  föniglid)er  Äauftyerr".  2>a* 
gu  aber  and)  l)elbenl)aftc  unb  bem  3lbentheuerli$en  geneigte 
Staturen,  wahre  ©eefßnige,  bie  baß,  waß  ihnen  ©ewinn  brachte, 
gegen  eine  gange  2Belt  gu  pertlieibigen  aufgelegt  n>aren.  5)et 
©ewinn,  alß  folcber,  aber  war  ihnen  niemalß  auöfdjliefjlicher 
3wccf;  fcerfelbc  batte  für  fie  piclmel)r  auch  al@  bie  ©runblage 
einer  h^h^n  unb  perfeinerten  üebenfiweife  äßertl)  unb  23e* 
beutung.  Unb  fo  entging  ihnen,  neben  ben  fProbucten  ber  per» 
fd)iebenften  3»nen:  bem  ©Ifenbcin,  ber  ©eibe,  ben  perlen,  @bel» 
fteinen,  ©plbfioffeu,  ©eweben,  @e würgen,  grüd)ten  unb  äßeinen 
beb  Dricntü  (unter  welchen  lefjtcren  ber  ©tarier  am  beliebtcften 
war),  ober  bem  ©etrcibe,  bctn  ©algc,  bem  23ernftein,  ber  Sßoffe, 
bem  'Pclgwerf,  bem  ginnen,  ben  Suchen  unb  ben  brabanter 
©pifcen  beß  Sterbens  unb  ber  flanbrifchcit  s}.'ropingen,  and)  nicfctö 
ppn  bem,  maß  fid)  ihrer  geinfül)ligfcit  unb  ihrem  geläuterten 
©cichmacfe  alß  (Srgeugnif)  frember  SMlbung  unb  Gultur  bemerf* 
bar  machte,  ©o  allein  begreifen  wir,  warum  in  einer  ©tabt, 
welche  alle  ©d)ät,c  ©rbfrcifeß  bei  fid)  gufamtnenflicfeen  iah, 
weniger  ©d)wclgerei,  Ueppigfeit  unb  ein  nur  finnlicpeß  Sebagen 
walteten,  alß  jene  lebhafte  2l)eilnal)mc  an  ben  2Beltl)änbeln,  an 
©taat,  Dieligion,  SBiffcnfdjaft  unb  .fiunft,  wie  wir  fie  auß  ber 
@efd)id)te  beß  greiftaateß  fennen  lernen. 

9)lit  beit  Siieberlänbcrn  ergaben  fid)  überbieß  aud)  ned) 
Slnfnüpfungßpunfte  anbercr  2lrt.  3n  ben  penegianifd)cn  gagunen 
fowchl,  wie  in  ben  bem  SJieerc  cittriffcnen  ©elänben  an  ben 
Stliein»  unb  ©d)elbemünbungen  lag  bie  gefammte  politifche  SDtadjt 
in  ben  Jpänbcn  großer,  unb  in  rcpublifanifd)en  gormen  fidh  felber 
perwaltenbcr  bürgerlicher  ©emeinwefen;  in  glanbcrn  wie  in 
(SW) 


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15 


tBenebig  war  bte  ©ee  tag  (Element,  bem  man  ebenfewohl  feinen 
blühenben  £anbel  unb  fReidjthum,  alö  feine  politifdje  grei^eit 
unb  ©elbftänbigfeit  gu  oerbanfen  hatte;  in  ben  fltiebernngen 
gwifchen  SJlaaS  unb  fliorbfee,  wie  in  ben  Ebenen  gwifchen  Etfdj 
unb  3lbria  erblühten  93ialerfd)ulen  »on  einer  bisher  ungeahnten 
Farbenpracht;  beiberfeitS  enblid)  aud)  feilte  bie  SJlufif  gu  einer 
ungeahnten  0lüthe,  unb  gwar  inSbefonbere  begüglid)  reiebfier 
Entfaltung  ber  ^>cltjpl)cnre,  gelangen.  Unb  gcrabe  in  Her* 
fnüpfung  mit  ben  genannten  beiben  Äünften  geftalten  fid?  bie 
93egiehungen  2$cnegicn8  unb  FlanbernS  gu  einanber  am  wunber» 
barften.  Glicht  ber  ©üben  feilte  ben  9?orbcn,  fenbetn  umgefehrt 
ber  falte  neblige  Serben  ben  warmen  üppigen  ©üben  mit  Seiten 
unb  färben  befdjenfen.  2>enn  SBillaert  bringt  ben  üenegianern 
bie  Älang»  unb  Sonfarben,  31  n ton  eile  ba  ÜJleffina,  bet 
©d)üler  ean  Epcf  8,  feinen  SanbSleuten  bie  Delfarben  nach  33enebig; 
fewohl  aber  bie  oan  EprfS,  bie  Erfinbet  ber  letzteren,  wie  SBiKaert, 
ber  Entbecfer  jener,  waren  fftieberlänbcr.  SluS  biefen  unb 
ähnlichen  ©rünben  crflärt  ficp’S,  warum  bie  ÜBenegianer  fid)  3« 
ben  flanbrifchen  Einwanberern  hinflegogen  fühlten  unb  biefelben 
al8  ihre  ©eifteSoerwanbten  anfaben;  nicht  weniger  and),  warum 
Senebig  gewiffermafjen  baS  Sl)ar  warb,  burd)  welches,  neben 
bet  niebcrlänbifchen  fDlalerei,  auch  bie  nieberlänbifdje  Senfunft 
ihren  Eingug  in  Stalien  hielt. 4) 

fRäihft  Sarlino  intereffirt  unS  »or  allem  fein  3eitgenoffe, 
ber  aus  einem  alten  nenegianifdjen  ©efdjlechte  ftammenbe  ge» 
waltige  SOieifter  3lnbrea  ©abrieli,  1510—1586.  3luch  et, 
obwohl  bereits  einer  ber  Flamen,  mit  benen  fich  ber  am  hetlften 
ftrahlenbe  9iuhm  ber  altnenegianifchen  ©chule  »erfnüpft,  gehört 
noch  gu  ben  3üngern  beS  SegrünberS  berfelben,  31t  ben 
©dhülern  SÖillaert’S. 

(SU) 


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16 


Sie  äußeren  Üebenöumftänbe  änbrea  ©abrieli’S  fteUen 
fidj  al$  ßödjft  befcßeibette  bar.  3«  feinem  26.  3aßre  trat  er  als 
Sänger  in  ben  Gßor  ooit  St.  SJiarfuS  ein,  warb  1556  Drganift 
an  ber  $weiten  Drgel  berfelben  Äircße  unb  oerßarrte  in  biefer 
Stellung  oolle  breißig  3aßre  lang,  nämlid?  bis  jn  feinem  1586 
erfolgenbeu  Gilbe.  9lur  e i n Greigniß  ßaben  wir  ju  uer$eid)nen, 
baS  auä  bem  iRaßnien  biefeö  fonft  fo  jcßlidjt  oerlanfenben  Sa* 
jeinS  aucß  äußerlich  glänjenb  ßeroortritt.  SSJir  erfaßten  burcß 
baffelbe  jugleicß,  baß,  ebenfo  wie  ben  bilbettben  Äünften,  aucß 
ber  ÜJiniif  ber  23enejianer  jener  jdjon  erwähnte  eigentßümlidjc 
3ug  innewoßnte,  große  Staatöactionen  ober  oom  Söaterlanbe  ge» 
feierte  gefte  ju  oerßerrlicßen.  Snbrea  ©abrieli  erhielt  nämlid?  ben 
eßrenoollen  Auftrag,  bie  1574  in  SBenebig  ftattfinbenbe  Slnwefen* 
ßeit  Äßnig  .peinricß'S  III.  ooit  granfreicß  burcß  eine  geftmuftf 
eigener  Gompofition  ju  feiern.  Gr  fd)tieb  $u  bem  Gnbe  eine 
acßt*  unb  eine  gwölfftimmige  Gantate,  bie  oor  bem  Könige  bei 
jener  ©elegenßeit  jur  2luffüßrung  gelangten. 

Ser  große  5Jleifter  war  übrigens  nicßt  ber  erfte  »enejia* 
nifcße  Sottfeßer,  ber  für  ©taatSjwecfe  in  2lnfpru<ß  genommen 
würbe.  Sowoßl  oor  ißm,  als  aucß  nacß  ißm  feßen  wir  bie 
SJlufif  glorreicßen  ©eben!»  unb  Safttagen  ber  Siepublif  ißre  weit« 
austönenbe  Stimme  leißen.  Jieue  Sogenwaßlen  würben  ftßon 
feit  1400  burcß  ©elegenßeitScompofitionen  gefeiert.  Ser  lange 
oor  SSillaert  in  SBenebig  wirfenbe  ©iooaitni  Giconia  auö 
gütticß  componirte  eine  Gantate  31t  Gßreit  beö  Sogen  9Jt  i c (ß  i e l 
Steno:  ber  älenesianer  Griftofcro  be  SJionte  Gantaten  3um 
Anbeuten  Sanbolo’S  unb  goöca  ri’S.  Sie  1502  in  ^Beliebig 
crfolgenbe  Snfunft  ÄönigS  2Blabi$law’ö  oon  Scßmen  unb  feiner: 
©emaßlin  Slnna  non  Soijr  warb  burcß  Snftrnmentaliften  unb 
Sänger  oerßerrlicßt,  beren  SOiufif  in  bem  SRoment  ertönte,  als 

(314) 


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17 


bie  gürftin  baß  iljr  entgegenfommenbe  StaatSfdjiff,  ben  Sucins 
toro,  beftieg,  um  auf  bemfelben  com  ©ogen  geonarbo  goreban 
begrübt  311  roerben.  Sei  bet  Slnfunft  peinricfy’ß  uon  Sßaloiö, 
1574,  empfing  benfelben,  als  fein  gufc  ben  Sucintoro  berührte 
ein  mit  bem  jubelnben  3utuf:  Ecco  Venezia!  Unter 

ben  einfyeimifdjen  ©onfefeetn  aber,  bie  geftcompof'itionen  ju 
©bren  biefeS  ©afteS  bet  Ötepublif  lieferten,  finben  mir,  neben 
bem  iÄnbrea  ©abrieli,  feine  ©etingeren,  als  ben  unS  fdjon  be* 
fannten  föieifter  3«Tlino,  fomte  ben  berühmten  ©laubio 
föterulo  angeführt.  — SÄudj  bie  Seefd)lad)t  Don  gepanto, 
in  meldjer  Spanier  unb  Senegianer  ben  befannten  glängenben 
Sieg  über  bie  tnrfijdje  glotte  banontrugen,  marb  unter  ÖJiit* 
roirfung  ga^lreidjer  SSngercbore  unb  3nftrumentaliften  gefeiert. 
— Antonio  8 c 1 1 i enblidj,  baS  paupt  ber  neuDenegianifdjeu 
üonfdjule,  lieferte  ein  Madrigale  per  il  bucintoro,  b.  fy.  eine 
üonbicbtung,  bie  auSbrücflid)  jut  Serbertlidjung  ber  imponiren* 
ben  StaatSljanblung  ber  Sermäblung  beö  ©ogen  mit  bem 
fötcere  componirt  mar. 

ötidjt  alfo  allein  ein  fötaler  wie  s})aolo  Scronefe  Der= 
Ijerrlidjt  ben  Sriumpfy,  ben  bie  Dtepublif  am  7.  Dctober  1571 
burd)  bie  Sdjladjt  Don  gepanto  errungen  — ntdjt  nur  in  feinem, 
im  ©ogenpalaft  befinblidjen  Silbe  fteigt  ©fyriftuS,  uon  allen 
©ngeln  beö  pimmelS  umgeben,  3U  bem  ©egen  Sen ier  fyerab,  um 
ifyn  3U  bem  Siege  3U  beglücfim’tnf^en,  ben  mit  bie  in  ^uloerbampf 
gefüllten  uenejianifdjen  Sdjiffe  im  pintergrunbe  über  bie  Ungläu* 
bigen  erftreiten  fel)en  — audj  föteifter  ber  SEonfunft  laffen  bie 
fyimmlifcfjen  peerjdjaaren  goblicber  3ur  geier  bes  großen  ©reig* 
niff e§  anftimmen,  unb  fo  erfahren  mir,  baff  bie  Dene^tanifc^en  fötaler 
unb  fötufifer,  in  fötomenten,  in  benen  cß  bie  ©röfje  beß  allen 
fünften  gemeinfamen  tlieucrn  Saterlanbeß  galt,  nur  non 

XI.  MS.  2 (3I5J 


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18 


einem  ©efüljl,  »on  ein  unb  betfelben  ©mpfinbung  fyotyet  gefteS 
fteube  beljerrfdjt  würben!5) 

aber  audj  no$  eine  ©aljrnefymung  anberer  9irt  brängl 
fidj  unS,  bei  ber  unabldfjtgen  2f)eilnafyme  ber  Sonfünftler  3?ene= 
big®  an  ben  ©ef^icfen  ifyrer  -£>eimati)  auf.  ©ir  werben  nämlidb 
babei  inne,  bafi  fid^  bie  »enegianifcfye  Sonfdjule,  im  @egenfa$ 
ju  ber  römifdjen,  bie  non  folgen  (Sinflüffen  nod?  unberührt 
blieb,  bereits  unter  ben  ©inwirfungen  ber  Kultur  unb  ber 
SebenSanfcfjauungen  bet  SRenaiffance  befanb. 

3n  anberen  ©ebieten,  als  bem  ber  üftufif,  war  in  93enebig, 
wäfytenb  bie  ©abrieli  bort  wirften,  baS  3eitalter  bet  SRenaif» 
fance  längft  angebrochen.  3n  golge  ber  Eroberung  Gon ftan* 
tinopelS  bur<b  SBenebig’S  greifen  gelben,  ben  erblinbeten  94jälj» 
eigen  ©ntico  SDanbolo,  im  3afyre  1204,  tjatte  fi<h  an  ben 
Äüften  ber  Sbria  bereits  bie  Jfenntni§  altgriedjifdjer  (Schrift 
unb  ©pradje,  fowie  toereingelter  antifer  SBilbwerfe  ju  verbreiten 
angefangen,  wie  benn  auch  bie  auS  ber  3eit9fero’S  ftammenben 
vier  berühmten  33ronce--9toffe,  welche  bie  ga^abe  »on  <S.  SRarco 
fchmiicfen,  bamalS  als  ÄriegSbeute  »on  ©onftantinopel  nadf 
SBenebig  gebracht  würben.  35ie  jweite,  um  bie  SBtitte  beS  15. 
Sa^r^unbertS  erfolgenbe  ©innahme  ©onfiantinopelS , bieSmal 
burch  bie  DSmanen,  »eranla&te  bie  gludjt  bort  anfäfjiger  ©rieten 
nach  Stalien,  bie,  burdj  bie  SBevbreitung  Bieter  mitgebrachter 
wichtiger  unb  bebeutenber  alter  .£)anbf<hrifien,  bie  Stljeilnafjme 
am  gtiechifchen  aitert^um  abermals  ersten.  Unb  wenn 
SBenebig  in  biefer  Sejietjung  im  15.  Sa^r^unbert  aud?  itedj 
hinter  gtorenj  gurüdffte^t,  fo  ift  eS  hoch  gewifj  mit  unter  bie 
(Stabte  StalienS  gu  jaulen,  in  welken  antife  gebenSanfdjauungen 
am  früheften,  neben  djriftlidjen,  ^lafc  griffen,  hierfür  t>rid}t 
bie  fdjon  im  10.  unb  11.  3al?tl)unbett  bemerfbare  Steigung 

(31«) 


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19 


feiner  Vewehner,  ©eift  unb  ©emüth  auf  bic  ^cimtfc^en  poli» 
tifdjen  ©inrichtungen , fowie  auf  bie  grofcen  SBeltf^önbel  gu 
rieten;  bie  93ene3ianet  fanben  eben  fdjonbamalS  tljre  3ntereffen 
nidjt  auSfchliefclich  in  einem  »erflärten  3enfeitS  unb  im  9ieli= 
giöfen  unb  Ämblidjen  befchloffen,  jonbern  wollten  biefelben  audj 
im  realen  IDieffeitS  unb  burd)  ein  perfenlidbcö  ©ingreifen  in 
beffen  ©eftaltung  befriebigen. 

3u  ben  unjweibeutigften  j?enn3eichen  bet  ficf>  oerbreitenben 
©ultur  eineb  neuen  3Be[t5eitalter8  gehören  ferner  bie  in  Venebig 
feit  3a^r^unberten  gefeierten  38elf8=  unb  StaatSfefte,  beren  ich 
einiger  bereits  erwähnte;  unb  3Wat  um  fo  mehr,  als  biefelben 
weniger  einen  Ijieratifdien  unb  firchlichen,  als  einen  politifdjen 
unb  weltlichen  ©harafter  trugen.  Sluch  bie  babei  fyeroertre« 
tenbe  Üuft  an  öffentlichen  ©chauftetlungen , an  ber  ©inführung 
mpthologifdjer  ©eftalten  in  bie  oeranftalteten  glän3enben  SCuf= 
3Üge,  fowie  an  einem  bei  betartigen  ©elegenljeiten  beliebten 
^runfen  mit  prächtigen  Äoftümen  unb  foftbaren  Stoffen  ift  fjier= 
für  djarafteriftifd?.  5Die  $reube  an  feldjcn  imponirenben  unb 
heiteren  heften  unb  bie  5BolFSttjümlicf)feiten  berfelben  ift  überall 
ba  3uerft  in  3talien  hetoorgetreten,  wo  bie  3ßeltanf<hauungen 
beS  3eitnlterS  ber  fRenaiffance  2Bur3el  3U  fdjlagen  anfingen. 
— 3n  gleicher  SBeife  fenn3eichnenb  in  biefer  Siebung  finb 
bie  in  Venebig  fich  bilbenben  ©enoffenfefjaften,  beonberS  unter 
bem  einheimifchen  jugenblichen  9lbel , bie  ben  3®ecf  oerfolgten, 
grofee  öffentliche  ©reigniffe  würbig  3U  feiern.  3)ie  gagunenftabt 
befafc  5JluSgangS  beS  fBlittelalterS  eine  gro§e  ^tn^a^C  berfelben, 
welche,  3U  ber  3eit,  ba  bie  ©abrieli’S  in  £önen  bichteten,  3um 
$l)eil  fd)on  auf  eine  längere  Vergangenheit  gurücf3ublicfen 
oermochten. 

2*  (317) 


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20 


2)aj?,  löugft  oor  ben  beiben  genannten  großen  $on* 
feiern,  bie  JKenaiffance  au<b  auf  ärcbiteftur , SRalerei  unb 
©culptur  in  Senebig  eingemirft,  berührte  idj  fdjon  früher.  Unb 
fo  warb  nunmehr  au<b  bie  bortige  9Wufif  non  ben  (Sinflüffen 
ber  neu  emporfommenben  SSeltcultur  ergriffen,  ein  llmftanb, 
ber  um  fo  bebeutfamer  erfreuten  muff,  alß  in  IRom  3U  bet« 
felben  3*it  oon  ©inwirfungen  ber  Slenaiffance  auf  bie  SRuftf 
noch  feine  fRebe  fein  fonnte,  obwohl  bodj  bie  uralte  Roma  im 
Uebrigen  ft<b  am  entfdjiebenften  alß  na<bgelaffene  Sodjter  beß 
clafftfdjen  ältertbumß  in  3talien  barfteUte.  2)ie  Urfacbe  \)ivc* 
uon  ift  mol)l  ^auptjädjlid)  Darin  $u  judjen,  bap  bie  romtjcbe 
Sonfunft  fdjon  barum,  weil  fie  im  SRittelpunfte  ber  gefammten 
ß^riften^eit  ju  wirfen  berufen  war,  außfdfliefjlicber,  wie  anberß» 
wo,  auf  ben  äußbrucf  teligiöfcr  ©ri)cbung  bingcwicjen  würbe. 
35od)  feben  wir  aud)  bie  ärdjiteftur  ber  ©iebentfügelftabt 
feineßroegß  am  früljeften  in  3talien  antifen  (Sinwirfungen  l)in* 
gegeben;  bfn  ältcften  unb  3aljlrei<bften  Senfmalen  ber  ^rnb* 
renaiffancc  begegnen  wir  oielmeljt  in  glorenj. 

Sidjtß  fann  unß  wo^l  ben  (Eintritt  ber  oenegianifeben  9Rufif  in 
baß  neue  SBeltjeitalter  lebhafter  fühlbar  machen , alß  wenn  mir  bie 
ärt  etwaß  nabet  in’ß  äuge  faffen,  in  welcher  ficb  bie  üonfunft  an 
ber  geier  jener  fdjon  früher  ermähnten  politifeben  gefttage  be» 
tt^eiligte,  welche  bie  JRepublif  oon  3«t  311  3«t  beging,  ober  bie 
Steife,  in  ber  fie  bei  folgen  ©elegenbciten  beftrebt  war,  ihre  Üei; 
ftungen  mit  benen  ber  anberen  fünfte  unb  ben  feftlidjen  Seron* 
ftaltungen  ber  gefammten  Sürgerfcbaft  gu  einem  großen  erl)e* 
benben  ©djaufpiel  3U  oerfcbmelgen. 

.König  Jpeiuricb  III.,  ber  bei  feiner  ©infabrt  in  bie  Lagunen 
com  2)ogen  unb  ben  übrigen  ©rofjwürbenträgern  beß  ©taateß 
begriifjt  warb,  fanb  an  ber  ©teile,  wo  er  guerjt  beu  oenegianifeben 

(SIS) 


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21 


33oben  betrat,  einen  bureb  $)aüabie  entworfenen  Sriumf^bogen 
errichtet.  Söäbtenb  er  bort,  in  einer  bloö  für  biefe  ©elegenbeit 
im  greien  errichteten  offenen  ©oveOe  nieberfniete,  ftimmte  ber 
ßfyer  ton  St.  föiarfuS  ein  feierliches  ütebeum  an.  33on  fyier 
ging  eS  auf  bem  33ucintoro,  bem  eine  gange  glotte  ton  Sarfen 
unb  ©onbeln  baS  ©eleit  gab,  gur  Stabt  ^in.  2)er  3ug  ber 
Skiffe  erhielt  baburd)  noch  etwas  befonberS  $>omhbafteS,  ba§ 
btefelben  nicht  nur  mit  üeppichen  gegiert  waren,  fonbern  bie 
lefcteren  auch,  gleich  ftolgen  Schleppen,  burd?  bie  grünen  SBogen 
hinter  fich  bezogen.  3n  bem  mit  weisenben  Bannern  ge« 
fc^mücften  33enebig,  beffen  Balfone  unb  genfter  mit  Brocat, 
Sammt,  Seibe  unb  foftbaren  orientalifchen  ©eweben  befleibet 
waren,  fanb  man  ebenfo  bie  Ufer  unb  2.reppen,  wie  bie 
2>ächer  bidjt  mit  jubelnben  ÜJlenjchenmaffen  bebeeft.  £>er  Äönig 
warb  nach  feinem  Sbfteigequartier,  bem  ^alaggo  goScati  am 
Canal  grande,  geleitet,  ton  beffen  Sltan  auS  er  fowetjl  bie 
fc^önften  v))artieen  biefet  berü^mteften  SSafferftrafje  BenebigS, 
alS  auch  ben  Sfiialto  unb  ben  fötarfuSbom  erblicfen  fonnte.  50tit 
einbrechenber  SDunfelbeit  begann  eine  tom  fd)önften  SBettcr  be* 
günftigte  allgemeine  Jlluminaticn.  SIS  biefelbe  %e  weitefte 
SuSbebnung  erreicht  batte,  febwamm  über  bie  einem  geuermeere 
gleicbenbe  glutb  eine  offene  Säulenhalle  gegen  bie  feniglicbe 
SSofynung  ^eran.  91ad)bem  Raufen  unb  trompeten  eine  glän« 
genbe  unb  gur  SRube  aufforbernbe  ganfarre  ton  bem,  fanft  auf 
ber  ruhenben  glätte  baljingleitenben  geenpalafte  batten  ertönen 
laffen,  ftimmten  bie,  ebenfalls  auf  jenem  3auberfdjloffe  befittb« 
Heben  ©höre  ton  S.  Sölarco  bic  febon  oben  erwähnten  £ob= 
gefänge  an,  welche  Snbrea  ©abrieli  gu  ©bren  beS  ©afteS  ber 
fRepublif  gu  componiren  beauftragt  worben  war.  ©S  wirb  in 
bem  Serte  Perfelben  nicht  nur  beS  ÄönigS,  fonbern  auch  her 

<«») 


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22 


feftlid)  prangenbett  ©tabt  unb  be§  munberbaren  2fnt>Iicfd  gebaut, 
meldjen  biefelbe  eben  tu  bem  Momente  bem  erftaunten  SSuge 
barbot,  ba  be8  2lnbrea  h*hre  ©efänge  ertönten. 

SfeljnltdjeS  erfahren  mir  übetbie  ÜRitmirfung  ber  ÜHufif  bei  an» 
beten  ©elegenheitcn.  ©oberichtetSBinterfelb,  benSDiittheilungen 
©anfo»ino’8fichanfchtief3enb,  über  bie  geier  be8  ©tegeS  »onSSepanto 
unter  anberem  golgenbeä:  „9luf  bem  ^la^e  »or  ber  Äirche  be§ 
heiligen  Safeb  in  Otialto,  ber  mit  offenen  fallen  ringö  um* 
geben  ift,  mar  ein  SUtar  errietet  unb  eine  Sühne  für  bie 
©änger;  bie  Äirche  felbft  mar  gu  flein,  um  bie  ÜJlenge  ber  l&n» 
bärtigen  gu  faffen.  Serbin  begab  man  fid^  in  feierlichem 
3uge:  baö  Silb  be3  ©efreugigten  marb  »orangetragen,  ©fielet 
mit  ectfdjtebencn  3nftrumenten,  eine  gasreiche  *0?enge  »on 
©angern  unb  iprieftem  folgte  nadj.  Sie  fDfufif  ber  fBieffe,  bic 
man  fang,  mar  bemunbernflmürbig;  ebenfo  bie  ber  SeSper.  2löe 
neuen  ©ebäube  beö  $)laf)e8  fRialto  maren  burd)  bie  bort  moh* 
nenben  reifen  Äaufleute  mit  foftbaren  purpurnen  ©toffen  be* 
gogcn,  in  gleiten  (Entfernungen  ©emälbe  baran  geheftet.  ^)im* 
melblauer  ©toff  mit  golbgeftitften  ©ternen  f^mücfte  bie  ©e* 
mölbe  ber  über  fyunbert  ©<hritt  langen  ^>aüe  ber  Sudjfaufleute 
unb  gum  gröfjcften  ©chmucf  gereiften  ihr  bie  barin  auögeftellten 
Silber  ber  »ortrefflichften  föicifter  »encbifd)er  unb  tötnifdjer 
©<hule.  Sie  gldngenbfte  (Erleuchtung  begann  mit  bem  finfenben 
Sag.  Unfern  ber  Srücfc  IRialto  ift  ba§  Äaufhauö  ber  Seutfchen 
am  grofjen  ©anale  gelegen.  Ser  Ston  friegerifdher  Snftrumente 
nnb  baä  Äradjen  ber  ©efdjühe  »on  bort  her  »erfünbigten  ben 
Seginn  neuer  geftlidjfeiten.  Unb  nun  ertönten  »on  ben  SUtanen 
be§  ©ebäubeS  mehrere  ©tunben  nach  einanber  bie  auOgefudj* 
teften  ©efänge  unb  baä  trefflichfte  3nftrumentenfpiel.  föiänner 
unb  grauen  jeben  ©tanbeö,  in  prächtigem  ©chmucf,  gogen  »er* 

(330) 


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23 


Scrret  übet  bie  Sriitfe  bem  $)lafce  gu  unb  miebet  gurücf,  oon 
Spielern  mufifalifdjer  Snftrumente  begleitet;  Ratten  bie'  einen 
ibr  Spiel  geenbigt,  fo  begannen  wetteifernb  bie  anbeten;  non  — 
fröhlichen  Älängen  war  bie  2uft  erfüllt;  bet  ^eiterfte  Fimmel 
begünftigte  baS  fdjöne  geft." 

©elegentlid)  bet  Seiet  bet  .Krönung  ber  ©ogareffa  5Jtoro* 
f in i beifjt  e$:  „23om  %>alafte  »irb  bie  gürftin,  mit  bem  bergog* 
licken  Sd}mucfe  fdjon  beflcibet,  butefy  ben  SBucintoro  abge^olt; 
breibunbert  befonberö  cingelabene  grauen  unb  3ungftauen  eblet 
unb  bürgerlicher  2lbfunft  begleiten  fte,  intern  Stanbe  unb  Filter 
gemäfj  übereinftimmenb  gefleibet,  unb  fcbmücfen  ba8  ^>rad^tfc^i|f 
beS  Staates,  in  welchem  fonft  nur  beffen  Rauptet  in  feiet* 
liefern  (Srnfte  fidj  geigen,  burd)  ben  anmutbigften  unb  feftlicbften 
Slnblid.  ©urdj  bie  JRei^c  ber  $)aläfte,  bie  ben  großen  ©anal 
befrängen,  fetten  mit  nun  baö  Schiff  fid)  langfam  fortbemegen, 
non  anbern  finnreid)  etfunbenen  unb  negierten  begleitet,  melche 
bie  3ünfte  für  baS  geft  haben  erbauen  taffen.  93or  allen  geiebnet 
baS  bet  ©aummellenwirfer  fi<b  auö.  ©inen  ©riumpbmagen 
fteOt  e8  bar  mit  IRäbern;  gtoei  worangefpannte  Seereffe  lenlt 
ein  SReergott,  ber  baS  abriatifdje  SReer  begeidjnet,  bie  Bügel 
baltenb  in  ber  einen  £anb,  mit  bet  anberen  ben  ©reigaef 
febmingenb.  ©er  Inntere  trägt  bie  33enegia,  eine  auf  gmet 

fernen  tubenbe  Sungfrau,  bie  über  bem  Raupte  beS  ©egen  unb 
feiner  ©emablin  bie  Ijetjcglid^e  Ätone  ^ält;  Neptun  am  Steuer* 
ruber  lenft  ba8  ©ange.  ©urd)  gmei  ©brenbogen,  am  SanbnngS* 
pla£e  wor  St.  SöiatfuS  »on  ber  gleifdjergunft  errietet,  bemegt 
unb  entfaltet  fidj  nunmehr  ber  3ug:  Jperolbe  woran,  bann  bie 
3ungfrauen,  meif)  unb  reich  gefleibet,  in  ber  einen  £>anb  einen 
gäcber  won  Straufjfebern,  mit  ber  anberen  auf  ihre  Begleiter 
geftübt,  bie  ihnen  einen  SMumenftrauf}  mit  golbener  $anbbabe 

(3*0 


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24 


tragen,  grauen  folgen,  in  grün  unb  reild)enblau.  35en  Set* 
wanbtinnen  ber  gürftin,  bie  Suwelen  unb  fcftlic^e  Äleinobien 
_ tragen,  gehen  bie  ©Treiber,  bie  Ijer^oglic^en  9iatlje  unb  ber 
©rojjfangler  in  Slmtßtracbt  »oran.  ®o  tritt  man  in  bie  Äirdje 
ein,  baß  Sebeum  wirb  gelungen,  fnieenb  leiftet  bie  gürftin  auf 
baß  dJiefebud)  baß  oon  ihrem  ©emat)l  bei  feiner  ©tfyebung  be* 
teitß  abgegebene  SBerfpredjen.  9tun  gieljt  fie  ein  mit  intern 
©cfolge  in  ben  $)alaft;  etje  fie  aber  an  ben  gufj  ber  Sreppe 
gelangt,  bie  in  ben  ©aal  beß  großen  diatljeß  führt,  hot  fie  ade 
fallen  gu  burd)*oanbeln,  in  benen  fonft  bie  einzelnen  33ehörbcn 
ber  ©tabt  il)ren  ©ifc  ^aben.  £ier,  wo  mit  ©trenge  unb  (Srnft 
an  anbcrn  Sagen  ade  gebenßeerhältniffe  georbnet  werben,  ent* 
faltet  fid)  nunmehr  baß  geben  felbjt  auf  reiche  unb  mannig: 
faltige  SBeife.  ©o  hoben  bie  ©piegelmacher  ihre  £ade  oon 
allen  ©eiten,  auch  on  ber  3)ecfe,  mit  Spiegeln  betleibet  unb 
eine  grofce  'Ppramibe  oon  benfelben  in  bereu  5J?itte  aufgeftedt. 
2>er  prächtige  3ug,  ber  biefen  fo  feltfam  gefdjmücften  dtaum 
burchwanbelt,  ficht  mit  ©rftaunen  fi<h  taujcnbfad)  oeroiclfältigt, 
gum  ©rgöfcen  oder  geigt  er  fid)  l’ogar  umgefehrt  in  ber  ^>öhe. 
®ie  2Baffenfd)miebe  hoben  mannigfache  Srophäcn  fünftlid)  ge» 
arbeitetet  Saffen  errichtet,  bie  ein  grefceß  ©d)ilb  umgeben,  ge« 
bilbet  burd)  Schwerter  mit  golbcncm  ©riffe,  bercn  ©pifjen  bcm 
fdiittelpunfte  beß  Äreifeß  gugefct)rt  finb,  mit  bem  ©innfprud)e: 
in  bello  pax.  2)ic  ©olbfchmiebe  hoben  einen  großen  ®d)enf» 
tijch  .mit  ben  tünftlichften  ©efäfcen  befe^t,  biefe  reihenweife  über 
einanbcr  georbnet;  reiche  ©ehänge,  bie  il)n  umgeben,  beftehen 
wieberum  auß  foftbaren  unb  jinnreid)en  SBerfen  ihrer  £änbe. 
gauten,  Sßiolen  unb  anbere  fanfte  3nftrumente  laffen  in  feber 
£alle  gut  ©rgöfcung  ber  ©intretenben  fid)  hören.  ®o  gelangt 
bie  gürftin  biß  in  ben  ©aal  beß  großen  dtatljeß,  in  wcldjem  für 

(3J2J 


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25 


bie  grefee  3at)l  bet  ©äfte  ein  prödjtigcß  geftmaljl  bereite!  ift. 
9iad)bem  eß  geenbet,  treten  bieSLonfünftler  ein,  unb  wie  eß  aud) 
narf)  ben  cffenttid)en  @aftmal)len  beß  2)ogen  jn  gefd)el)cn  pflegt, 
bie  er  gu  beftimmten  Beiten  beß  3al)rcß  ^ält,  tragen  fie  @e» 
fange  cor:  bießmal  ein  bramatifcbeß  ©ebidjt  beß  ©aneferß 
Stnbreaß  Piccolomini.  £)ic  Seiet  beß  Jageß  roirb  mit  einer 
{Regatta  im  grofjen  ©anal  befdjloffen."  (Denn  wenn  eß  ber 
3nfelftabt  aud)  an  ©aroffen  unb  ©aoalcaben  bei  folgen  ©elegen= 
Seiten  fehlte,  fo  fjatte  fie  bcd)  bafiir  il)te,  bie  ©djauluft  nid)t 
menigev  befriebigenben  SBafjercorfoß  unb  ©d)ifferftecben. 

9Rid?t  aber  allein  bei  SSenebigß  Seften  ftellt  fid)  unß  bie 
$onfunft  im  2(nl)aud?c  ber  fRenaiffance  bar;  aud)  bie  befonbere 
SBeife,  in  melier  bie  9Rufif  311t  Beit  beß  Sarline,  {JRerulo  unb 
ber  ©abrieli’ß,  bie  $£l)eilnal)me  ber  anberen Äünfte  auf  fid)  3« 
jiel^en  unb  311  feffeln  mufete,  fann  unß  bartljun,  rcie  fet)t  il)t 
Seben  mit  bem  ber  gelammten  ©tabt  ju  uerwadjfen  anfing  unb 
bafe  fie,  wenn  aud)  noch  in  ber  Äircfye  iljren  ^öc^ften  piafc 
außfütlenb,  sugleid)  bod)  feiert  auß  bem  djriftlid)en  Stempel  fyerauß» 
jutreten  unb  fid)  in  baß  Sreiben  ber  bamaligen  ©egentoart  ju 
mi)d)cn  begonnen  l)atte. 

Sefonberß  djarafteriftifd)  in  biefer  Jpinficfct  ift  bie  Vorliebe, 
welche  bie  bamaligen  ocnejianiic^en  SRaler  für  bie  Sonfunft 
an  ben  Sag  (egten.  @ß  ift  etwaß  gan^  @ewet)nlid)eß,  in 
iljren  Silbern  muficirenben  ©eftalten,  ober  25arfteflungen  ber 
Sßirf  ungen  ber  ÜRufif,  fotvic  ber  33ermanbtfd)aft  ber  Sonfunft 
mit  allem  ©djenen  unb  ©rl)abcnen  ju  begegnen.  3n  biefer 
Sejieljung  ergriff  mid)  gan3  befonberß  ein  in  ber  SRündjener 
4Pinafctl)ef  befinblidjeß,  tief  empfunbeneß  Silb  oon@araceno, 
weldjeß  einen  bleiben  Piönd)  barftellt,  wie  er,  auf  bem  Säger 
feiner  Älofte^ede  rul)enb,  einem  ©eige  fpielenbcn  unb  ibn  mit* 

(SS3) 


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26 


leibScotl  anfchauenben  ©ngel,  ber  über  bem  gu§enbe  feine# 
SBetteö  fchwebt,  guhört.  3dj  ^abe  bie  erlöfenbe  unb  heilcnbe 
Äraft,  burdj  welche  eine  weihecoüe  ÜJfelobie  Selben  ber  Seele 
unb  beS  ÄörperS  gu  milbern  cermag,  faum  gum  gweiten  fötal 
in  ber  bilbenben  Äunft  fo  naic  unb  rüljrenb  wiebergeben  fehen, 
wie  in  bem  ÄuSbrucf  con  ©lücf  unb  unauSfpredjlicher  Selig* 
feit,  ber  fid?  in  ben  Bügen  jene®  offenbar  genefenben  Äranfen 
malt.  Saraceno,  auch  ©arlo  S3enegiano  genannt,  lebte  con 
1585 — 1626.  3?a  er  bie  ©inbrücfe  wonniger  $öne  in  folget 
Seife  bargufteflen  cermechte,  fo  mufcte  er  ähnliche  Sirfungen 
ber  fölufif  fchon  an  fid?  felber  erfahren  haben.  hieran  ift  auch 
nid^t  gu  gweifeln,  wenn  man  fid?  cergcgenwärtigt,  baff  ber 
SÖialer  nod>  ein  3eitgenoffe  beS  jüngeren  ©abrieli  war  unb 
beiber  gleichnamiger  Sonbidjter  föteifterwerfe  täglich  gu  hören 
©elegenljeit  fyaiie.  — fPaul  23eroncfe  ftellt  in  feinem  je£t  im 
Soucre  befinblidjen  „$o<hgeitSbilb"  fidf  felbft,  fowie  Jigian 
unb  £intorett,  alö  tnnficircnbe  üonfünftler  bar.  Streffenb 
fagt  lämbroS  con  biefem  ungewöhnlichen  unb  burdj  Portrait* 
äbnlidjfeit  ftdj  auSgeidjnenben  3)iufifer*Äleeblatte:  „5)aS  ift  mehr 
als  eine  ©rille,  als  ein  Gcinfall  beS  fötalerS  — eö  ift  eine  ge* 
malte  SDanfabreffe  an  bie  cenegianifchen  Stonfünftler!"  — ©ang 
con  muftfalifdhem  ©eifte  erfüllt  finb  aud?  Seronefe'S  noch  ciel 
gu  wenig  gefannten  unb  im  ebelftcn  Sinne  heileren  ffreSfen  in 
ber  3$illa  ©iacomelli  bei  ütecifo.  3)er  SDtufiffaal  ber  ge* 
nannten  SBilla  enthält  ©ingelfiguren  unb  ©ruppen  muficirenber 
unb  fingenber  fötufen,  ©enien,  Amoretten  unb  ©öttcrgeftalten, 
bie  fich  in  mannigfaltigfter  Seife  auf  .pauptbilber , Briefe,  Sü* 
netten  unb  3»itfel  certheilen  unb  bie,  weil  ber  fötaler  gugleich 
bie  formen  ber  con  ihnen  gefpielten  Snftrumente,  bie  alle  Per 
bamaligen  3eit  angehören,  wiebergab  unb  bie  9lrt  barftetlte,  in 

(324J 


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meiner  biefelben  geblafen  ober  mit  bem  Sogen  angeftricben 
mürben,  auch  für  ben  Stanbpunft  ber  ©ntmicfelung  ber  3n* 
ftrumentalmujif,  mäbrenb  ber  Slütbegeit  ber  altDenegianifdjen 
£onfcbule,  »on  fyöcbftem  3ntereffe  ftnb.  — Sie  oft  ©iooanni 
Sjellini  ©ngel,  melcbe  bie  Saute  ober  bie  ©eige  fielen,  gu 
beiben  Seiten  ober  gu  ben  güfjen  feiner  jungfräulichen  unb 
milbemft  bareinbtidfenben  Stabonnen  gemalt,  ift  Sebent  erimter* 
lieb,  ber  in  Sehebig  gemefen.  häufig  finben  mit  auch  Stufi* 
drenbe  auf  ber  Saute,  Scbmalgeigc  unb  Sreitgeige  in  ein  unb 
bemfelben  ©emälbe  gufammengeftellt.  3n  bent  berühmten  Silbe 
»on  ©iorgione,  „baS  ©oncert"  genannt,  erblicfen  mir  einen 
Stöndj,  melier  auf  bem  bamaltgen  ©laoicembalo  fpielt,  einen 
anbern  Stöncb,  mit  einem  SiolonceHo  in  ber  apanb,  ber  ftdj 
anfcbicft  ben  erften  Spielet  gu  begleiten,  fomie  einen  jugenb* 
litten  ©beimann,  alb  ermartungbüoll  bafte^enben  Sufyßrcr.  — 
Stigian’S  Senub,  in  ber  Sammlung  gu  ©ambribge  (»on  ber  auch 
eine  treffliche  alte  ©opie  in  ber  Dreöbener  ©allerie  befinblidj), 
geigt  unS  bie  ftolg  hingelagerte  Siebebgöttin,  melcbe  »on  Slmor 
behängt  mirb,  mäbrenb  ein  junger  Stann,  in  »ornehmer  »ene* 
gianifcber  Straft,  bagu  bie  Saute  fdjlägt.  3cb  erinnere  enblich 
noch  an  bie  muftcitenben  unb  fingenben  Äinberengel,  melcbe  bie 
bimmelfahrenbe  SRabonna  üigian’S  umfchmeben,  ober  an  bie, 
»on  einer  ©lorie  umfloffenen  himmlifcben  $eetfcbaaren,  bie,  tbeilb 
Sauten  unb  glötenmerfe  fpielettb,  tbeilb  fingenb,  ficb  in  Sero* 
nefe'S  bereits  angeführtem  Sotiobilbe  gu  ©l)ren  ^et  ©ccfc^tac^t 
»on  Sepanto  beftnben.  Sun  \)aben  3roar  auch  Steiftet  anberer 
italienifcber  Stalerfcbulen  ber  üonfunft  in  ihren  Silbern  gu* 
meilen  eine  Stelle  gegönnt,  unb  eine  Schöpfung,  mte  SapbaelS 
heilige  ©aecilta,  fteht  »ielleicbt  eingig  begüglicb  ber  5£iefe  ihres 
ernft=mufifalifdjen  ^uSbrucfb  ba;  feine  Schule  aber  bat 


28 


SJlufif  mit  fo  entfdjieben  ausgeprägter  Neigung  ober  fo  unab* 
läffig  in  ttjre  ©arftellungen  »erflocbten,  wie  bie  »enegianiid* 
unb  id)  brauche  barum  and)  weht  nicht  hingugnfügen , ba§  bie 
non  mir  hier  erwähnten  Silber  renegianifcher  SJleifter  nur  eilt»  F 
gelne  Seifpiele  für  eine  unabfehbare  ÜJJenge  cerwanbter  @e» 
mälbe  finb. 

91(6  ein  weiteres  Seiipiel  ber  ©inwirfungen  ber  ©ilbungS« 
elemente  beS  3®italterö  ber  JRenaiffaitce  auf  bie  altuenegianifche  V 
Stonfcbule  wäre  auch  noch  ber  in  jenen  Stagen  äujjerft  lebhaft  fc 
werbcnben  (Sntwicfelung  ber  weltlichen  fDiufi!  gu  gebenfen, 
bie,  in  $otge  ijieruon,  im  16.  Sahrbunbert  in  Senebig  gu  einem 
fiel  berrerragenberen  5-Matgc  neben  ber  geiftlid>en  fDluftf  empor* 
flieg,  als  bieS  gu  berfelben  Seit  in  9iom  gefdjafy. 

©aff  Slnbrea  ©abrieli  weltlictje  ©antaten  »or  allem  Seife 
anffübrte  unb  bafi,  bei  greffen  rem  ©ogen  gegebenen  Sanfeten, 
bie  bergoglidjcn  Sänger  nach  ülufbebung  ber  Stafel  eintraten, 
um  wclt(id?e  ©eiänge  rwrgutragen,  erfuhren  wir  bereits.  8f ud) 

baS  ©mperfemmen  einet  felbftänbigen  3nftrumentalmufif 
in  Senebig  unb  feiner  *Radjbarfd^aft,  wie  eS  auS  ben  angeführten 
©emälben  renegianifeber  9Raler  herrerging,  wieS  unS  auf  eine 
weitete  Serbveitung  weltlicher  OJiufif  l)in.  3n  ber  Socalmufif 
nun  fonnen  wir  in  biefer  Segiebung  fegar  bis  auf  SBillaert 
gurüefgehen.  ©er  ebrwürbige  föieifter  componirte,  unter  bera 
Flamen  „bie  fterbenbe  ©ibo",  eine  ÜJiotette  über  ein  §)aar  Setfe 
auS  Sitgil'S  Stenäibe.  @8  liegt  in  ber  2Sabl  eines  feieren 
©egcnftanbeS  offenbar  fdjon  etwas  Den  jenen  bejonbeten  9tei« 
gungen  oerfteeft,  mit  benen  ficb  baS  3eitalter  ber  Sienaiffance 
in  claififdien  unb  ^umnniftifc^en  JHegionen  gu  bewegen  liebte. 
SBichtiger  noch  ift , bafs  SBillaert  auch  als  ber  eigentliche  93ater 
beS,  feinet  .perfun  ft  nach,  weltlidjen.fDiabrigalS  angufehen  ift. 

<336; 


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29 


2)er  (Weiftet  fanb  im  fogenannten  „grottole",  meld;eS  gu  Vene* 
big  im|,33olfe  ^eimifdi  mar,  ben  ^unft,  bei  bem  er  in  btefet 
Vegiehung  anfnüvfte,  unb  gmar  baburdj,  baß  er  feine  gtofce 
Äunftfertigfeit  mit  ben  il)m  ^ier  gegebenen  einfachen  (Wotioen 
in  gmang*  unb  anfpruchlofefter  Söeife  »ermob.  2)aS  (Wabrigat 
foüte  einer  fchroärmerifchen  unb  ebel  gearteten  ©alanterie  2luö» 
btucf  leiden,  gut  ben  .jpumot  unb  bie  Stimmung  ^armlofen 
SchergeS  bagegen  fanb  fi<h  in  ben  bei  ber  (Wenge  beliebten  fo» 
genannten  Villoten,  33 i l a n e 1 1 e n unb  Gangonen  (Kaum. 
2ludj  biefeö  ©eure  hob  äBißaert  in  eine  mehr  fünftlerifche  Sphate 
hinauf.  Seine  Schüler  folgten  ihm  auf  biefen  2i$egen  nach,  mie  mir 
benn,  anher  ben  meltlichen  Gompofitionen  Ghprian  be  Wore’S 
unb  Sarlino’S,  felbft  noch  biejenigen  beS  tMnbrea  ©abrieli 
auf  28iflaert,  als  ben  (Wann  gurücfführen  muffen,  oon  bem  bie 
erfte  Anregung,  auch  na£h  einer  foldjen  Seite  ^irt,  erfolgte. 

Unb  fo  mären  mir  benn,  menn  auch  nach  einigen  Äbfchmei* 
f ungen  unb  Ummegen,  mieber  bei  (Weifter  Slnbrea  ©abrieli 
angelangt,  bet  fich  unS  freilich  auf  bem  ©ipfel  feiner  Üeiftungen 
immerhin  noch  *n  feinen  Äirchentnuf  ifen  barftellt.  tHnbrea 
©abrieli  fteigert  i>ier  ben  oielchörigen  Stpl  ieineS  Vorgängers 
SBiflaert  gu  nod)  reicheren  (Waffen*  unb  ^langfarbenmirfuugen. 
Siknn  fi<h  Sßillaert  burchfchnittlich  mit  gmei  etnanber  ergäit» 
genben  (^höreu  begnügte,  fo  finben  mir  bei  (Weiftet  SänbreaS  bereu 
gemöhnlidj  fchon  brei  unb  ihre  Sufammenjetjung  ift  ber  3trt, 
bah  auch  bie  ©runbfarbe  eines  jeben  berielbeit  eine  meit  oer* 
fchiebenere  oon  bet  ber  beiben  anberen  ift,  als  bieS  bei  nur 
gmei  Gieren  möglich  mar.  So  finben  mir  bei  ülnbrea  ©abrieli 
häufig  einen  gang  \)cl)en,  nur  aus  Änabenftimmen  beftehenben, 
einen  mittleren  auS  Änaben*  unb  (Wännerftimmen  gemachten, 
unb  einen  tiefen,  lebiglich  auS  (Wännerftimmen  gufammengefeßten 

(M7> 


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30 


©hot  gegeneinanber  wirfen.  3n  anberen  feiner  ©ompofitionen 
wieberum  ift  bie  ©ruppirung  folgenbe : ber  am  fyödjflen  liegenbe 
unb  batjer  auch  in  feinen  Jonfarben  am  lidjteften  colorirte  ©hör 
geigt  unfere  heutige  gewöhnliche  3ufammenfef$ung  auß  Sopran, 
2Ut,  Jener  unb  33a§.  3hm  ftefyt  ein,  in  bunfle,  oft  faft  nach* 
tige  Farben  getaufter  tieffter  ©hör  in  ber  Partitur  gegenüber, 
ber  nur  auß  OJiännerftimmen,  nämlich  auß  lftem  unb  2tem  Jener 
unb  auß  lftem  unb  2tem  Bafj  befte^t.  3wifd^ew  beiben  in  ber 
SJtitte  enblidj  liegt  ein  ©hot,  ber  ftd)  meift  auß  tiefem  Sopran, 
©ontra=Slt,  Jenor  unb  33aff  componirt,  oon  benen  bie  beiben 
teueren  eine  eigentümliche  SRittellage  behaupten.  3)iefer  ©hot 
repräfentirt  in  33egug  auf  ein  gewiffeß  clair  obscure  feiner  Jon» 
färben  baß,  »aß  in  bet  fölaletei  jene  Uebergangß*  unb  fßiittel» 
töne  gu  bewirten  beftimmt  finb,  welche  bie  litten  unb  bunflen 
$)artieen  ober  bie  im  ©olorit  energifc^en  unb  matten  färben 
eineß  SSilbeß  gu  »erbinben  unb  gu  oerfdjmelgen  haben.  2)er 
SKeifter  benufjt  nun  bie  »ielen  gebotenen  SJtöglichfeiten  eineß 
Sltcrnirenß  unb  fich  Äreugenß  folcher  ©hormaffen  auf  baß  mannig* 
faltigftc  unb  erfcheint  nicht  weniger  genial  unb  reich  ‘n  Segug 
auf  ©egenüberftellung  oon  coloriftifchen  Partien,  bie  butth  bien« 
benben  ©lang  unb  tiefe  Schatten  fdjarf  mit  einanber  contraftiren, 
alß  butch  Snwenbung  milb  leuchtenber  unb  gefättigter  Jonfarben. 
SlCfe  biefe  fOiittel  »erben  aber  »eniger  um  ihrer  felbft  wißen, 
nämlich  nicht  bloß,  um  baß  Dhr  butch  finnlichen  fReig  ihres 
»erfühterifchen  ©oloritß  gu  ergöjgen  unb  gu  hefteten,  alß  gu  bem 
3»ecfe  angewanbt,  befonbere  Jerteßftellen  entfprechenb  gu  mar* 
firen  unb  gu  beleuchten,  fowie  ben  poetifch=mufifalif<hen  Suß« 
bruef  beß  ©angen  gu  erhöhen.  5)ennoch  mal)nt  unß  ein  folcheß 
Jonftücf  unwiöführlich  auch  an  bie  gocalität,  für  bie  cß  com* 
ponirt  worben.  Such  baß  Snnere  beß  Sftatfußbomeß  wirft  nicht 

(388; 


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31 


allein  burch  feine  ©onftruction  auf  unS,  fonbem  (unb  ^ier  felbft 
mit  einem  Uebergemidjt,  baS  beim  2lnbteaS  nid}t  ejriftirt)  ebenfo 
fefyr  burd)  baS  foftbare  in  ihm  »ermanbte  5Jtaterial,  butch  feine 
golbftrahlenben  ©emßlbe,  feltenen  fDlarmorarten,  reifen  Orna» 
mente  unb  prachtoollen  SKofaifen.  25er  ©inbrucf,  ben  9luge  unb 
£5ljt  empfingen,  wenn  eine  »ielchßrige  ©ompofition  non  Steiftet 
21nbreaS  in  S.  ÜJtarco  gut  Aufführung  fam,  muf;  habet  bet 
einet  faft  »oQfommenen  llebereinftimmung  be8  IRaumeS  mit  bet  in 
ibm  ertßnenben  SKuftf  geroefen  fein.  Unb  ein  fotd^eS  fich  2)ecfen 
»on  ©ehertem  unb  ©efchautem,  »on  3nnerem  unb  Aeufjerem, 
Jon  unb  Baröe,  Afforb  unb  Säule,  »erfchmenberifchet  Fracht  bet 
Sßielcbötigfeit  unb  »erfchmenberifchet  ^>rac^t  beS  gut  architefto« 
niftben  AuSfchmücfung  »ermanbten  ÜJtaterialS,  mürben  mit  aber« 
mafS  erleben,  menn  33enebig  miebet  baljin  gelangte,  SBerfe  feines 
gto§en  SJtitbürgerS  Anbrea  ©abtieli  in  jener  Äitdbe  gu  ©el)ßt 
gu  bringen,  an  meldje  benfelben  fein  Seruf  mehr  als  ein  3Ren* 
fdjenalter  hinbutch  feffelte. 

3<h  modele  hier  gleich  nodj  bcmerfen,  baff  ficb  bet  Stpl 
bet  attoenegianifcben  Jonfdjule  auch  baburch  in  bebeutfamer 
Sßeife  »om  §)aleftrinaftpl  unterfdjeibet,  bab  biefer,  trofj  bet 
SSereinfacbung  bet  complicitten  SSetfdjlingungen  bet  nieberlän« 
bifcben  Stimmen,  in  ben  letjtcren  immer  noch  bte  SRclobie, 
ben  ©ontour  unb  bie  3ci<bnung,  melche  oft  non  munber» 
barem  Sdjmunge  unb  meit  auSholenb  finb,  bominiten  labt, 
mährenb  bie  melobifche  Rührung  bet  Stimmen  btS  StpleS  bet 
älteren  Sdjule  33enebig8  fich  auf  baS  befcfyeibenfte  ÜRaab  te« 
bucirt  unb  baljer  baS,  maS  unS  hier  ergreift  unb  erschüttert, 
hauptsächlich  burd)  bie  überftrßmenbe  gülle  reicher  unb  über» 
rafchenber  Harmonie,  burdj  beren  SBedjfel  unb  Uebetgänge, 
fcmie  enblich  miebet  butch  ben  ©lang  eines  auS  ben  gemähl* 

(329) 


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32 


tefteu  jtlangfarbenmifdjungen  Ijeruergebenben  Soncoloritd  er» 
jeugt  »irb. 

Ginett  red?t  einbringlidjen  2?e»ei0  hierfür  liefert  ei« 
tjon  ©öpler  1851  »ieben'eröffentlidjted  9)Iagnificat  Slnbrea 
©abrieli’d.  9tad?  einem,  311  bem  SBcrte  „9)lagnificat,"  mit 
»eldjem  9)lariad  fcobgejang  beginnt,  feierlich  empurgefyenbeu 
unb  bie  Grtyebung  ber  (Seele  malenben  Introitus  Ctüeldier  übri* 
gend  ber  altfatfyolifdien  Liturgie  angefyort),  tritt  juerft  ber  mitt* 
lere  Gbor  mit  bem  anima  mea  Deum,  hierauf  ber  bunfel  be» 
fdjattete  9Jiünnerd)or  mit  ben  Porten:  et  exultavit  Spiritus  meus 
in  Deo  salutari  meo,  unb  nun  erft  ber  Ijöcbfte  ber  brei  Gfyöre  ein, 
beffen  garte , lidjte  Farben  baju  uertnanbt  »erben,  bad  jpolb» 
felige,  23erflärte  ber  bemüttyigen  ©ottedjungfrau  ju  malen,  bie 
ba  fagt:  quia  respexit  humilitatem  ancillae  suae.  Gljarafte* 
riftifd)  ift  cd  audj,  bafj  Ijier  jurn  erften  9Jlal  SedjdjefyntelDerjie* 
rungen  in  ben  Stimmen,  bie  bid  baljin  in  einfach  gefdjloffenen 
ernften  ‘Ufforben  con  JHcrtel»  unb  l?alben  91oten»ertl)en  einher» 
fdjritten,  fidj  geigen.  Gd  liegt  hierin  eine  Einbeulung  lieblidj» 
fter  2trt  auf  bie  ©rajie  unb  ben  feufcbeit  tReig,  r»n  benen  bie 
Grfdjeinung  ber  ©cttedmagb  bem  Scmbidjter  umfloffen  ift.  ©er 
erfte  3«fatnmentritt  aller  brei  Gtjöre  ju  einem  mächtig  baljin» 
ftrömenben  Tutti  finbet  bejeii^nenber  Steife  in  bem  Momente 
ftatt,  ba  ed  Ijeifjt,  bafj  alle  menfdjlidje  Generationen  bie  ©e* 
benebeite  bed  Eerrn  glüdfltd)  preifen  »erben;  unb  gwar  fteigert 
fid)  erft  bei  ben  äüorten:  ornnes  generationes  bad  Sonmeer 
ju  feiner  ganjen  9)iadjt  unb  §üllc.  — SBunbernoll  »irtt,  nad) 
fo  uiel  ©lanj,  bie  uerättberte  nädjtige  garbe  bed  £ongebid?ted 
bei  ben  SSorten:  et  misericordia  ejus,  beten  ©efang  ber  9)tün* 
nercfyor  allein  anftimmt.  E>cr  beljerrfdjt  audnatymdmeife  einmal 
ber  erfte  Senor  bie  anberen  Stimmen,  wenn  aud?  nur  mit  einer 

(330) 


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33 


gang  furzen  fchmetglichen  föfelcbie,  bet  welcher  wir  ein  Miserere 
gu  hören  glauben,  währenb  bie  bie  ^armonif^e  Unterlage  bil* 
benben  übrigen  Stimmen  big  gu  ber  bunfeln  Jiefe  be§  E ber 
grojjen  Dctaoe  im  Söaffe  hinunterfteigen.  — 33ei  bet  JeoteSftelle: 
„er  übet  ©ewalt  mit  feinem  9frm,*  tritt  eine  lebhaftere  unb 
mehr  beclamatorifche  Bewegung  ber  Stimmen  ein,  burch  welche 
©otteS  3<?nt  faft  mit  einem  9lnflug  oon  ©ramatif  gemalt  wirb. 
— SBunberooD  wirfen  bann  wieber,  am  Schluffe  be8  ©angen, 
bie  SBcrte  ber  ©orologie:  in  saecula  saeculorum  amen,  3U  be* 
nen  ftch  bie  ©höre  abermals  in  ruljeooller  gjtajeftät  auSbreiten. 
2)a8  SReer  ber  Stimmen  tönt  unb  oerflingt  hier  gleichfam  wie 
in  bie  Unenblid?feit  non  SRaurn  unb  Beit  ^inauö  unb  e8  über« 
fommen  un8  jene  Stauer,  bie  ben  jJJtenfchengeift  bei  ber  ©e* 
wi§he*t  ber  ©rengenloftgfeit  be8  91118,  ober  bem  ©ebanfen  an 
bie  ©wigfeit,  welche  er  beibe  Weber  gu  ©nbe  gu  benfen,  noch 
fieh  ftnnlich  eorguftetlen  oermag,  ergreifen  unb  erfchüttem.  — 
9tadj  ben  hier  gegebenen  9lnbeutungen  fann  e8  un8  faum 
überrafchen,  wenn  ©iooanni  ©abrieli,  ber  grobe  SReffe  be8 
9lnbrea,  eon  feinem  ÜDnfel  fagt:  „ÜBäre  er  nicht  mein  S3l>exm 
gewefen,  fo  bürfte  ich  ohne  furcht  oor  Jabel  fühnlid)  bebaup« 
ten,  bah  wie  e8  im  ©angen  wenig  aHSgegeidjnete  5Dialer  unb 
33ilbner  neben  et'nanbet  gegeben,  auch  wenig  Jonmeifter  unb 
©rgetfpieler  gelebt  haben,  bie  ihm  gleich  fämen.  25a  ich  aber 
burch  33anbe  be8  93luteS  il)m  wenig  minber  al8  Sohn  gewefen, 
barf  ich  nicht  frei  heraus  reben,  wa8  Steigung  unb  Wahrheit 
mir  fonft  eingeben  würben.  SBer  fann  läugnen,  bah  er  in  je« 
bem  Jheüe  ber  harmonijchen  Äunft  bewunbcrnSwerth,  ja  gleich« 
fam  göttlich  gewefen?  Seine  Scrtigfeit  fönnte  ich  loben,  feine 
neuen  Söenbuttgen,  feine  anmutige  Schreibart;  beö  GrnfteS, 
ber  ©elchrfamfeit  feiner  ©efänge  fönnte  ich  gebenfen,  aber  auch 
ZI.  S48.  3 (***) 


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34 


ihrer  griffe  unb  Sieblichfeit , fo  bafj  in  bet  &hot,  wer  nur  ge: 
hört,  wie  flangreidj  feine  einfachen,  feine  funftieid>  terwobenen 
Söerfe  waren,  befennen  burfte,  et  höbe  erfahren,  waS  wahrhofte 
Bewegung  beß  ©emütheS  fei,  wa§  eS  ^ei|e,  ungewohnte  ©üfcig* 
feit  ton  ber  Donfunft  genießen.  3ch  fönnte  fagen,  wie  er  einzig 
gewefen  in  ©rfinbung  Don  Älängen,  welche  bie  Äraft  ber  Siebe 
unb  ber  ©ebanfen  auSbrücfen;  aber  bamit  ich  im  Uebermaafce 
ber  Steigung  nicht  läftig  faOen  möge,  fo  fteOe  ich  cS  ben  Äun« 
bigen  anheim  über  ihn  ju  urtheilen,  welche  ihn  bis  in  bie  in» 
nerfte  Sßerfftatt  feiner  ©ebanfen  hin  ergrünbet  hoben." 

©he  wir  unS  bem  ©iooanni  ©abrieti  felber  ^uwenben 
— beffen  liebenSwürbiger  ©harafter  unS  übrigens  fd^cn  auS 
biejen  feinen  warmen  äöorten  über  feinen  Serwanbten  unb  8et>* 
rer  entgegenleuchtet  — hoben  wir  noch  im  23orübergehen  jweier 
ÜRännet  31t  gebenfen,  bie,  wenn  fie  auch  iw  Allgemeinen  3U  ben 
Beit  gen  offen  ber  beiben  Häupter  ber  altoenejianijchen  @ihule 
galten,  fich  boch,  bem  Datum  ihrer  ©eburt  n ad),  gwifcfjen  ©a» 
brieli,  bem  £)nfel,  unb  ©abrieli,  bem  Steffen,  einfchiebcu. 
Der  eine  berjelben  ift  ber  fdjon  einmal  erwähnte  ©lau bi  0 
SDterulo,  1533 — 1604  auS  ©oreggio.  6r  warb  1557  Drganift 
an  ber  erften  ber  beiben  Drgeln  ton  ©.  SDlarco  unb  gehörte  gu 
ben  gewaltigften  (Spielern  biefeS  ehrwürbigen  SnftrumentS  im 
16.  Sahrhunbert.  Der  anbere  Slieifter  ift  ber,  nach  §4ti8 
um  1545  3U  SSenebig  geborene  unb  1603  bafelbft  als  ©apeß* 
mcifter  an  ber  SÜtarfuSfirche  geftorbene  Balbaf  faro  Donato. 
Auch  er  reiht  fich  würbig  ben  übrigen  bebeutenberen  Sßocalcom* 
peniften  feiner  -£>eimath  an. 

Unb  fo  waren  wir  benn  bei  ©iotanni  ©abrieti  ange* 
langt,  einem  SStanne,  beffen  SBerfe  nicht  nur  feit  nunmehr  be« 
reits  brei  Sahrhimberten  ihren  l)ohen  Äunftwerih  unteränbert 

(332) 


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35 


behaupten,  fonbern  bie  auch  fommenben  3eiten  unb  ©efchledjtern 
in  gleicher  Schönheit  ftrahlen  werben. 

©iooanni  ©abtieli  erblicfte  im  3ahre  1557  gu  Vencbig 
baö  2id)t  ber  2Belt.  ©ein  Onfel  8lnbrea  unterrichtete  ihn  im 
©efang,  im  Orgelfpiel  unb  in  ber  ©ompofition.  lieber  bie  ©in* 
gefeiten  bee  8eben8gange8  ©ioeanni’8  ift  wenig  befannt. 
28ir  wiffen  nur,  bah  er  fid)  ft^on  in  3üngling8jahren  al8  @om* 
ponift  ^erüert^at , 1585  Nachfolger  ©laubio  Nterulo’8  an  ber 
erften  bet  beiben  Orgeln  oon  @.  Ntarco  warb  unb  1613 
ftarb.  3m  llcbrigen  erfcheinen  befonberd  feine  oielfachen  33egies 
hungen  gu  35eutf<h  lanb,  unb  gwar  ebenfowohl  gu  beutfehen 
üonfünftlern,  wie  gu  beutfehen  Surften  unb  heroortagenben  SDiän* 
nem  anberer  8eben8freife,  bemerfenöwerth.  S5iefelben  finb  nicht 
nur  non  hohem  funft»  unb  culturgefchichttichem  Sntereffe,  fou= 
bern  geben  auch  näheren  Sluffchluf)  über  3)erfönlid)!eit  unb  ®e» 
finnung  unfereö  föieifterö. 

33ereit8,  al8  ©iooanni  noch  gu  feinem  Oheim  in  bie  8ehre 
ging,  ftanb  er  in  einem  nahen  Verhältnis  gu  einem  JDeutidjen; 
gu  feinem  Nlitfchülcr  nämlich,  bem  berühmten  8eo  fahler, 
ber,  um  be8  Slnbrea  Unterricht  gu  gentefjen,  au8  Nürnberg 
nach  Venebig  gefommen  war  unb  mit  welchem  er  geitlebenS 
freunbfchaftlich  oetbunben  blieb.  3wei  .£)ochgeit8gefänge,  welche 
bie  beiben  Nieifter,  al8  reife  ÜJlänner,  ihrem  gemeinfchaftlidjen 
Nürnberger  Sreunbe  ©ruber  ju  beffen  Vermählung  mit  bet 
fchbnen  Helene  Äolmann  gueigneten,  finb  ein  rührenbeö  3)enfmal 
ihreß  VunbeS.  3n  ber  Debication  biefer  Arbeit  rufen  @a= 
brieli  unb  fahler  ihrem  ©enoffen  ©ruber  gu,  baf*  ba8  brei* 
fach  gmifdjen  ihnen  befteljenbe  Verhältnis  burch  gern  einfeh  oft* 
liehe  fciebe  gut  Sonftwft  geweeft,  burch  brüberlidje  Vanbe  erhöht 
unb  burch  Slufridjtigfeit  befeftigt  worben  fei.  3118  ©iooanni 

3*  (SJS) 


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36 


©abrieli  unb  geo  ,£)afjler,  eine  geraume  3eit  fpäter,  in  ein 
unb  bemfelben  3altte  auS  bem  geben  fdjieben,  lief}  ©ruber 
bie  ihm  »on  beiben  SJieiftern  gu  feiner  .fpoebgeit  bebicirten  ®e= 
fange  in  einet  Prachtausgabe  gu  Nürnberg  im  ©ruef  erfcheinen 
unb  frenbete  auf  biefe  SSeife  ben  ©efdiiebcnen  noch  übet  baS 
©rab  hinaus  feinen  ©anf.  ©S  ift  ein  idjöneS,  erquicflicijeS  SMlb, 
biefeS,  mitten  in  ben  Söitrniffen  ber  3eit,  feft  gufammenbnltenbe 
§reunbeSfleeblatt,  beftctienb  auS  einem  «on  »armer  Siebe  für 
bie  Äunft  erfüllten  ©rofjfaufmann  Nürnbergs,  feinem  Ptitbür* 
ger,  bem  bieberen  beutfehen  ©onmeifter,  unb  beffett  ehemaligem 
9J?itf<hüler,  bem  grofjen  oenegianifchen  Üonbichter,  ber  feinen 
beiben  beutfehen  ©enoffen  gleichfam  über  bie  Silben  hinüber  bie 
£anb  reicht.  — Sluch  mit  ben  mächtigen  unb  ben  bamaligen 
©elbmatft  beherrfchenbcn  SlugSburger  £anbel$herren,  ben  «ier 
©ebrübern  fvttgger,  ftanb  ©ioeanni  ©abrieli  in  nahet 
Setbinbung.  SDiefelbc  mochte  ftch  bei  ©eorg  Bugger’ö  2ln* 
»efenhett  in  33enebig,  als  ©efanbter  Äaifer  JRubolph  beS  II., 
3uerft  angefnühft  hoben.  ©ie  2lrt  nun  beS  brieflichen  ÜBerfehtS 
©iooanni’S  mit  ben  guggern  ift  faft  bie,  »on  einanber  im 
geben  »6Hig  gteichftehenben  Scannern;  ein  Umftanb,  ber  mir 
ebenfo  beteeifenb  für  bie  h^h®  SilbungSftufe  jenes  altberühtnten 
beutfehen  PatriciergefchlechteS , wie  ebrenb  für  unferen  Äünftter 
gu  fein  fdjeint.  — ©ie  Familie  hotte  3Reifter  ©iooanni  3ur 
4>o<hgeit  ©eorg  guggct’S  nach  3tugSburg  eingelaben.  @r  ift 
nun  3»ar  »erhinbert  perfönlidh  ftch  eingufinben,  fenbet  aber  eine 
ben  ^reunbett  gewibmete  Beftcempofttien  unb  fchreibt  bagu  unter 
anberem : „So  trete  ich  benn  unter  ©uch,  mitten  in  ©uere  .§od>» 
geitSfreube,  ©udf  ©efeinge  »on  mehreren  Stimmen  bietenb;  unb 
wahrlich,  leine  angemeffenere  ©abe  war  gu  erwarten,  »eher 
»on  mir,  noch  für  Such,  noch  für  baS  ^eft  ©urer  SPermählung. 

(*W) 


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37 


2>enn  »ier  finb  ©urer,  wie  eiet  bie  3aßl  ber  Stimmen  ift, 
welcße  gu  oollftänbigen  ©efängen  fieß  oereinen;  fo  einig  aber 
feib  3ßr  in  bem  Streben,  btn  alten  ©lang  ©ureS  «paufeS  gu 
erhalten,  fo  gufammenftimmenb  untereinanber,  ben  fatßolifcßen 
©tauben  mitten  unter  bem  £ab er  in  SDeutfcßlanb  gu  bewahren. 
Ütber  aueß  eine  äSermäßlung  oermag  oßne  Harmonie  nießt  gu 
befielen ; batum  geben  wir  bem  gegenseitigen  engen  Vereine  ber 
Neigungen,  wie  er  in  ber  ©ße  ftattfinben  ioü,  ben  9iamcn  einer 
fußen  Harmonie  ber  Seelen.  ©in  angemeffeneS  ©efdßenf  alfo, 
»ielleicßt  aber  auch  ein  geringes  wirb  cS  ßeißen,  baß  icß  ©ueß 
bringe.  !Mn  ©ueß  ift  eß  beßßalb,  meßr  ben  Sinn  beS  ©eberS, 
als  ben  äöertß  ber  ©abe  in  9l<ßt  gu  nehmen;  unb  fo  fann  eS 
gefeßeßen,  baß  biefeS  geringe  ©efeßenf  aueß  für  ein  feßr  großes 
gelten  mag,  nadj  ber  3ueignung  unb  bem  ©ifer  ©ueß  banfbar 
gu  fein,  mit  welkem  i<b  gu  biefer  Beit  eS  ©ueß  weiße  unb  nach 
©ueß  benenne."  — 

SDeutfcße  greunbe  unb  SBewunberer  anberer  $lrt  fanb 
©iooanni  ©abrieli  an  .pergeg  Sllbert  V.  oon  Saiern  unb  beffen 
gamilie  — alfo  an  bemfelben  funftfinnigen  gürften,  bet  aueß 
ben  großen  £)rlanbu$  fcajfuS  nach  SRuneßen  berief  — unb 
beS  .pergogä  Sößne  festen  baS  SBer^ältniß  beS  SSaterS  gu  bem 
cenegianiießen  £onmeiftcr  mit  gleicher  3Bärme  fort.  — Slber 
nicht  allein  auf  23aiern  unb  granfen  befeßränften  fieß  bie  9iela» 
tionen  unfereS  SJieifterS  mit  unferem  HJaterlanbe,  fie  füllten 
felbft  bis  in  ben  beutfeßen  korben  reießen.  iMucß  ber  ßeroot« 
ragenbfte  aller  »on  ©iooanni  ©abrieli  gebilbeten  Scßüler  war 
ein  2)cutfcßer  unb  wir  begegnen  bemfelben  in  bem  gewaltigen 
fäcßfifcßen  ÜReifter  Jpeinricß  Scßüß,  einem  ber  bebeutenbften 
SBorgänger  unfereS  Sebaftian  2Jaeß. 

S5et  mufifalifeße  Stßl  ©iooanni  ©abrieli'S,  obwoßl  eben« 

(3S5) 


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38 


fatld  noch  auf  bie  oon  SBitlaert  in  biefer  23egiehung  gemalten 
Anfänge  gurücfguführen,  »erhält  fid?  gu  biefen  (enteren  bernun* 
geartet,  wie  bie  reife  grucht  3U  ben  früheften  Äeimen  unb 
.fnoSpen.  Sehen  wir  ben  Oheim  Slnbrea  fich  l'djen  mit  33or= 
liebe  breiet  gegen  einanber  wirfenbet  ©höre  bebienen,  fo  ge» 
nügen  aud}  biefe  bem  fRefren  mitunter  nicht  mehr;  er  fteigert 
ben  ISufbau  feinet  üonmaffen  bis  3U  »ier  ©hören  ober  wer* 
ftärft  unb  bereichert  bie  äöirfungen  einer  3Cn3a^l  oon  SBocal* 
thören  burd}  bie  .^ingufügung  eines  fich  mit  ihnen  oerbinbenben 
Suftrumentalchorfl,  beffen  Ordjefter  faft  immer  auS  §)o= 
faunen,  Gornetti’S  unb  ©eigen  befteht.  — Sfudj  als  felbftänbiger 
3nftrumentaIcomponift  wirb  unS  ©iooanni  ©abrieli  merfwüvbig, 
unb  gwar,  abgefehen  oon  feinen  JRicercarS  für  bie  Orgel  unb  feinen 
(Senaten  für  23la8  = unb  Streichinftrumente,  gang  befenbetS 
burch  feine  fogenanntei\,Symphoniae  sacrae,  beren  erfter  Sanb 
ebenfalls  feinen  greunben  in  SlugSburg  gugeeignet  ift.  5)iefe 
Sinfonien  finb  gmar  manchmal  mit  33ocalftimmen  gemilcht, 
häufig  jebech  auch  blo§e  Orchefterjälge,  wie  fich  benn,  felbft  fdwn 
in  jenem  ben  gugget’S  gewibmeten  33anbe,  nicht  weniger  als 
fechSgefyn  reine  Snftrumentalftücfe  befinben.  2)ie  Slrt  ber  gührung 
ber  3nftrumentalftimmen  in  biefen  Arbeiten  gleicht  noch  häufig  ber» 
jenigen  ber  SJocalftimmen,  guweilcn  bagegen  tritt  fd^ort  eine  Söe* 
hanblung  berOrchefterpartituren  ein,  wie  fie  unfer  SReifter  in  feinen 
ÜBocalwerfen  nicht  anwenbet.  ©r  ift  bann  offenbar  bereits 
bemüht,  bet  größeren  23 ewegl ich  feit  ber  inftrumentalen  Organe, 
beren  er  fich  bebient,  Oledjnung  gu  tragen,  unb  er  tljut  bieS, 
inbem  er  biefelben  mit  einer  ftart  figu ritten  Stimmführung 
ausftattet.  ©igenthümlich  tnbeffen  bleibt  eS  hierbei  immerhin, 
bah  bie  ©ornetti,  obwohl  SlaSinftrumente,  mehr  ^affagen  unb 
©änge  auSgufühten  haben,  als  bie,  gleidj  ben  fpofaunen,  in 

CM«; 


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39 


fdJWeten  ipalb®  unb  23iertelncteu  einberfdjreitenben  ©eigen,  beten 
eigentliche  Stellung  im  Ovdjefter  bei-  Jonbidjter  alfo  noch  gar 
nidst  erfannt  ju  haben  fcheint. 

3ebenfall8  liegt  beim  ©iouanni,  unb  obwohl  et  im  3n* 
ftrumentalen  fcbon  weit  über  ben  Slnbtea  IjinauSgeljt,  bet  eigent* 
liehe  Schwerpunft  feines  fnnftlerifchen  Schaffens  nod)  im 
33ecalen.  Unter  feinen  gatjllofen  Serbin  gehörigen  SBcrfen 
fteljen  feine  ©lagnificatS,  feine  9>falmen,  SOZeffenfa^e,  Sprühe, 
S3e8pern  unb  SÖJabrigale  eben  an.  3d)  fnljre  hiev  bavunter 
namentlich  baS  non  SBinterfelb  mitgetbeilte  0 Domine  Jesu 
Christe  an.  @8  ift  baS  ernfle  ©ebet  einer  ebelen,  männlich 
gefaxten  Seele,  auf  helfen  klängen  unfer  Gfmpfinben,  wie  auf 
feierlich  bitnmelanfteigenbem  SBeibtaucb  an  gelbftrablenbem  jpocb= 
altar,  emporgetragen  wirb.  9iid}t  weniger  evgreifenb  will  mir 
fein,  in  ben  Jöpler’fcben  .peften  wieber  aufgelegter  54.  ^)falm: 
Exaudi  Deus  orationem  meam  erfcheinen. 6)  IDiefeS  gewaltige 
Jonftücf  ift  für  oier  Jenöre  unb  brei  3?äffe,  fämmtlich  alS  Gbor* 
ftimmen  unb  baber  in  jablreicher  33cfebung  gebaut,  getrieben, 
unb  baS  im  Sttlgemeinen  nächtige  Golorit  ber  fiebenfach  fid) 
anberS  mifthenben  unb  innerhalb  betreiben  ©runbfarben  ab* 
tenenben  SDiännerftintmen  beutet  fcbon  barauf  b»n<  bah  ber  Jon» 
bichter  ein  ©ebet  um  ©rrettung  auS  fRotb  unb  Job  anftimmen 
will.  5)enno<h  überfommt  unS  lein  eigentliches  üBergagen  be8 
.pergenS  ober  eine  oöllige  3erfnirfcbung  brS  innern  fBienfchen, 
wie  wir  fie  in  äUegri’S  IDUferere  einpftnben,  beim  3lnbören 
biefer  Ijcrvlidhett  ©ompofition.  ©8  ergreift  uu8  nielmebr  eine 
eigentümlich  erregte  Stimmung  bei  ben  fit  eerfchlmgenben 
©ängen  biefer  neben»  unb  übereinanber  emporfteigeitben  Jon* 
wogen,  bie  un8  unwiHfübrlich  ba8  fdjöne  fJJieer,  an  beffen  Ufern 
ber  Jenbidjter  beimiieh,  »or  8>ugen  ftellen,  wenn  ein  bei  Sonnen, 

<*37) 


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40 


unterfang  fidj  erbebenber  Slbenbwinb  feine  gingen  aufftert  unb 
bie  nur  feinem  äßefyen  babinroüenben  äöellen  purpurn  ober  in 
bunfelem  SBiolctt  erglühen.  Unb  weit  unb  frei,  wie  unter  bem 
Anhauche  beb  SJieereb,  füijlt  fich  auch  unfere  Seele  bei  biefen 
erhabenen  Klängen,  bie  fein  öüfcergebet  in  enget  jSloftergeüe 
finb,  fonbern  wie  ©ottebgcbanfcn  auf  weiter  wiegen ber  See, 
unter  bem  Slufblijjen  ber  erften  Sterne  am  nadjtenben  ipimmel 
wirten.  — ÜDie  befonberen  Sonfarben,  aub  beuen  ber  SRänner« 
chor  gebitbet , für  welchen  biefer  'Pfalm  gefegt  würbe,  finb  io 
mcifterfyaft  gemifcbt  unb  feine  Stimmen  fo  glücflich  ocrt^eilt, 
baß  wir,  ungeachtet  ber  mangelnben  timten  Klangfarben,  bet 
Jpötje,  nirgcnb  bie  leifefte  Monotonie  oerfpüren  unb,  trofj  ber 
Sicbentheilung  bet  Partitur,  ben  Ginbrucf  empfangen,  als  ob 
gwei,  gu  je  »ier  Stimmen  gcglieberte  unb  babei  and)  burd?  it)t 
eentraftirenbeb  (Kolorit  fid}  merflid)  unterfcheibenbc  ©höre  gegen« 
cinanber  wirften. 

@in  s})aar  foldje  Senfäßc,  wie  bie  hier  oon  mir  angeführten, 
fömtcn  natürlich  fein  auch  nur  einigermaßen  ^tureichenbeö  33ilb 
uen  bem  9ieid)tljnm  ber  mufifalifchen  ©ichterfraft  unjereb  sJDieifiterb 
gewähren.  3ch  griff  fie  nur  barum  aub  ber  DJienge  feinet  ähn* 
liehen  Arbeiten  beraub,  um  einige  ginger  geige  gu  geben  unb 
weil  biejelben  uieüeicht  am  weiften  bagu  angethan  finb,  in 
IDcutfchlanb  gehört  gu  werben. 

©ionanni  ©abrieli’b  54.  sJ)jalm  giebt  mir  noch  5U  einer 
SJemetfung  Ülnlaß,  gu  ber  ebenfowohl  bie  meiften  feiner  übrigen 
Kirchencompofitionen,  fowie  aud)  eine  große  Ölngabl  berjenigen 
feines  £>beimb  aufforbern.  3ener  3iachflang  ber  Stimmung 
einer  mittelalterlich  poetifchen  ©laubenbroelt  nämlich,  wie  er 
unb  aub  ’})alejirina’S  Schöpfungen  noch  oielfach  entgegentönt, 
ift  im  Kirchcnftpl  ber  beiben  ©abrieli’b  entweber  nur  fchmah, 

(3i8) 


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41 


über  fo  gut  wie  überhaupt  nicht  mehr  wahrnehmbar.  ©d)on 
bet  Äirchenmufif  beb  Anbtea  fehlt  bie  garte  ©chmdrmerei  unb 
jened  ©erblühen  bet  ©eele  in  Anbadjt,  bencn  wir  häufig  noch 
in  bet  römifchen  @djule  begegnen ; ber  SReifter  erfc^eint  im  ©egen* 
tljeil  mitunter  fchen  gang  burchbrungen  »on  ber  .perrlichfeit  unb 
Schönheit  ber  irbifchen  SBelt  unb  fafct  auch  biefe,  mie  eine  ge* 
t»iffe  freubig*feftliche  ©timmung  unb  bie  finnlidje  güfle  feiner 
Sonfäfje  und  fugen,  ald  einen  Sempel  ber  ©ottheit  auf.  {Roch 
höher  fteigert  fid}  eine  foldtje  innere  Freiheit  beim  ©iooanni, 
unb  biefe  ift  ed  eben,  bie  felbft  in  bem  ermähnten  'JJfalm,  ob* 
mohl  er  feinem  3nl}alte  nach  eigentlich  «in  -fpülferuf  ift,  fo  er* 
löfenb  mirtt  unb  und  mit  bem  ©rnfte  ber  33itte  zugleich  bie 
©emährung  bcrfelben  »erheifjt.  9)ian  fühlt  fich  baher  unmitl* 
fürlid>  bagu  gebrängt,  ben  ©tpl  ber  altoenegiunifchen  jiirchen* 
mufif,  unter  ben  gleichartigen  ©tplen  ber  übrigen  ©chulen 
3taliend,  als  ben  im  ebelften  ©inne  heiter  ft  en  »on  allen  gu 
begegnen,  ©iouanni  ©abrieli’S  ©otteöbienft  ift,  menn  man 
mifl,  ein  frohgemuter  unb  auch  und  ergreift  batum  3»»erficht 
unb  ein  fro^cS  Jpoffen  bei  feinen  klängen. 

©d  fpiegelt  ficb  übrigend  in  ber  in  foldjer  SBeife  gearteten 
©laubendmelt  bed  SDieifterS  fidjerlich  auch  etmad  »on  ber  religio* 
fen  Anfdjauung  mieber,  roelche  bie  ©enegiancr,  »on  iHlterS  her, 
oon  ben  meiften  anberen  Stämmen  3taliend,  fomie  »on  ben 
ihnen  benachbarten  übrigen  Stationen  unterfchieb.  ©elbfioer* 
ftünblich  mar  ed  bem  begabten  fühnen  OJienfchenfchlag,  ber  bie 
Lagunen  bemohnte,  »on  jeher  ernft  mit  ieiner  {Religion,  mie 
benn  noch  fein  33olf  gu  etmad  {Rechtem  gefommen,  melchem  feine 
3beale  nur  ald  ein  fdjöner  ©chein  gegolten  hätten.  SDie  ©emohnet 
©enebigd  mußten  aber  babei  fehr  mohl  ihre  itbifchen  »on  ihren 
himmlifchen  Angelegenheiten  gu  trennen  unb  bulbeten  feine  ©er» 

(S3»J 


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42 


mifchung  beiber.  fJJtehnnalS  Ijaben  fie  ben  Anmaßungen  bcr 
fPäbfte  auf  baS  äußerfte  wiberftanben  unb  fogar  ben  ftärfften 
SDroljungen  unb  (Strafmitteln  ber  Eurie  fühn  getrost. T)  Söußten 
fie  bodj  fclbft  bie  große  SBölfetwanberung  ber  (S^riftenbeit  nadj 
bem  heiligen  ©rabe  noch  in  einem  anberen,  als  nur  religiofen 
Sinne  auSgubeuten.  AIS  eine  in  SBenebig  anwefenbe  ©efanbt* 
fcßaft  fran^öfifdjer  unb  flanbrifcpet  JRitter  bie  33etbeiligung  bet 
{Jtepublif  am  oierten  Äreugguge  nadjfudjte,  forberte  Enrico  ®an* 
bolo  für  bie  erbetene  ÜJlitwirfung  feiner  SSaterftabt  bie  Summe 
Bon  85,000  fötarf  Silber  nach  bamaligem  Fölnifdjen  ©ewicht 
(b.  b-  son  4f  fDiillionen  granfen),  unb  machte  fich  außerbem 
bie  Sebingung,  baß  23enebig  non  allen  Eroberungen  an  8anb, 
fowie  Bon  aller  Söeute,  bie  etwa  unter  ©etteS  Söeiftanb  gemacht 
würbe,  im  SorauS  bie  .pälfte  erhalte,  ©erabe  aber  ber  hictauS 
gezogene  unermeßliche  ©ewinn,  fowie  bie  fich  an  ©anbclo’S 
Unternehmen  anfchließenbe  Eroberung  EonftantinopelS  waren 
eö,  welche  bie  Scherrfcherin  ber  Abria  nunmehr  auch  3Ut  Herrin 
beS  Orients  machten,  unb  fo  fnüpft  fld>  begeidjnenber  Söeiie  an 
bie  größte  religiöfe  Bewegung  beS  flVittelalterS  baö  Empor* 
fteigen  SlenebigS  gur  erften  $anbelSmad)t  ber  SEÖelt  an. 

ES  ift  nur  natürlich,  baß  etwas  »on*  ber  gefunben  SBelt* 
anfehauung,  wie  fie  fich  in  einer  berartig  alljeitigen  Söenußung 
großer  Momente  im  Eulturleben  ber  fDtenfcßheit  flegelt,  auch 
in  bie  Benegianifdje  Äunft  überging  unb  bort  il)r  BergeiftigteS 
Echo  fanb.  3n  ber  SRufif  Hang  eine  foldje  ©efinnung  faurn 
weniger  ftatf  an,  als  in  ben  Sdjwefterfünften  berfelben. 
SBenn  baßer  ©iooanni  ©abrieli,  in  feinem  SSriefe  an  bie  guggerS, 
baS  Auöharrcn  ber  trüber  beim  fatholifchen  ©lauben  preift, 
fo  ift  baS  nicht  fo  gu  Berfteßen,  al$  wenn  ber  fOteifter  Anti* 
patßie  ober  $aß  gegen  AnberSgläubige  empfunben  hätte.  Den 

(J40) 


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43 


beften  33eweiS  bafür,  baf)  iljtn  jebe  3ntolerang  fern  lag,  liefert 
fein Serhältnifj  ju  Heinrich  ©djüfj,  bet,  obwohl  er  ein  guter 
^roteftant  war,  bem  großen  »enegianifthen  SEonbidhter  bet  liebfte 
unter  allen  feinen  Schülern  blieb. 

3Bie  fyoci)  ©iouanni  ©abrieli  t?on  feinen  Beitgenoffen  ge* 
galten  würbe,  erfahren  wir  am  einbringlichften  auS  bem  ÜJtunbe 
feiner  Sänger  unb  gachgenoffen. 

SlloyS  ©tani,  einet  ber  Dielen  Üonfünftler,  bie  feine 
Sehre  genoffen,  schreibt  nach  beS  föteifterS  SEob  an  ben  Slbt 
9Jiarf  in  SlugSburg  baS  prophetifche  SBort:  „9Jtag  er  oerftummt 
fein,  ber  SBelt,  bie  feiner  ©efänge  ©üfjigfeit  entgücft,  werben 
biefe  nimmer  »erftummen;  mag  feine  £anb  aufgehört  hoben, 
uns  feine  ©ebanfen  aufgugeidhnen , waS  fie  aufgejeidjnet , wirb 
bie  SRad^welt  ber  Uneergänglidjfeit  gu  weiten  nicht  aufhören; 
möge  unS  feine  leibliche  ©tfdheinung  entgogen  fein,  fein  Sin* 
benfen  unb  feine  gtofce  Äunft  werben  lebenbig  felbft  bis  gu 
benen  bringen,  bie  er  niemals  gefeiten  ober  gefannt  hot." 

Heinrich  ©$üf}  fdhreibt  um  1628,  gelegentlich  feinet 
gweiten  JReife  nach  ©enebig,  wofelbft  er  fid^,  wie  er  fagt,  „ber 
ingwijehen  aufgebrachten,  neuen  unb  heutigen  $ageS  gebrauch* 
liehen  Spanier  ber  föiuftf  erfunbigen  wollte,"  unter  anberem 
golgenbeS:  „2118  ich  nadb  33enebig  tom,  ging  ich  hört  oor  Sinter, 
wo  ich  alSSüngling  unter  bem  großen  ©abrieli  bie  erftenSehr* 
jahre  meiner  Äunft  gugebradjt  hatte.  3a,  ©abtieli!  3h*  unflerb» 
liefen  ©ötter,  welch  ein  SDtann  war  ber!  |>ätte  ihn  baS  Sllter» 
thum  getannt,  eS  würbe  ihn  Slmphion  oorgegogen  hohen,  unb 
hätten  bie  SJtufen  ftd)  oermählen  wollen,  fo  würbe  SDlelpomene 
ihn  gum  ©emahl  begehrt  hohen."  — SBet  erfennt  nicht  in  ber 
SBorliebe,  mit  bet  hi«  bie  mythologischen  9iamen  2lmphion  unb 
Sftelpomene  in  Sßirfung  gefegt  werben,  abermals  baS  ©inbringen 

(S41) 


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44 


gemiffer,  burd)  baS  3eitalter  bet  IRenaiffance  in  Blufc  gefegter 
(Strömungen  in  ©egenben  unb  ©eifteSfphären,  bie  berfelben 
früher  fernab  lagen!  Seiter  fonnten  biefelben,  Anfangs  beS 
17.  3afyrf)unbert0,  faum  »erbreitet  fein,  als  bafc  jelbft_Schüf3, 
ber  grojje  biebere  Üonmeifter  SachfenS,  fic^  tRebcmeifen,  mie  ber 
mitgetheilten,  mit  SBorliebe  bebiente.  — 

£>ie  alt»enegianifc^e  Sonfchule  erhielt  fic^,  nach  bem  .pins 
gange  ©iooanni  ©abtieli’S,  nur  ned?  eine  furje  Seit  lang.  Sir 
begegnen  in  berfelben,  aufcer  £eone  £eoni,  bet  um  1560  ge» 
beten  marb  unb  als  ÄapeHmeifter  an  ber  Äathebrale  »on  3$enebig8 
SRadjbarftabt  Siincenja  ftarb,  nur  noch  bem  ©iooanni  Groce, 
1560  — 1609,  mit  bem  fte  eigentlich  fdjon  ihr  Gnbe  finbet.  Groce 
mar,  gleich  3atlino,  ju  Ghioggia  gebeten  unb  erhielt  barum, 
nach  italienifdjer  Sitte,  beit  Söeinamen  il  Chiozotto.  Gr  ge» 
hörte  noch  ju  ben  perfönlichcn  Schülern  feines  fpcciellen  8anbS» 
manneS  3v*rltno  unb  folgte  bem  33albaffato  SDonato  in  ber 
Stelle  eines  ÄapellmcifterS  an  S.  SRarco.  3n  feinen  Arbeiten 
macht  fichr  mit  benen  ber  ©abrieli’S  »erglichen,  fchon  eine  ge» 
roiffc  Abnahme  an  Gnergie  unb  Äraft  beS  ÖluSbrucfs  bemerfbar. 
Senn  nun  anbererfeitS  fein  3eitgenoffe  geone  geoni  fich  ber 
GompofitionSmeife  beS  v})aleftrina  mieber  ju  nähern  be» 
ginnt,  mie  er  benn  auch  bem  großen  IRömet  eine  Sammlung 
fünfftimmiger  sJ)falmen  jueignete,  fo  merben  mit  auch  in  33e» 
jiehung  auf  baä  Serfchminben  bet  Gigenthümlidjfeiten  beS  alt» 
oenejianifchcn  StplS  gemäht,  baff  fich  bie  Schule,  in  bet 
berfelbe  emporgefommen,  ihrem  Gnbe  in  Ißenebig  nahte.  — 
fRod)  einmal  aber  fotlte  bie  SRufif  bort  in  erhabenfter  Seife 
micberaufleben,  um  bann  für  bie  £>auer  oon  faft  jmei  Saht» 
hunberten  ju  »erftummen.  3n  ber  ©egenmatt  ift  eS  felbft  im 

CMÜ) 


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45 


nieberen  Seife  ftifl  geworben;  aud)  jene  Stangen  auö  Jaffo'8 
befreitem  3erufalem  finb  »erflungen,  bie  ficb  necb  ©oetbe,  in 
geriet  95ionbnad}t,  een  einanber  antworteten  ©onbelffi^rern 
»orfingen  lie%.  SBaren  be<b  biefe  2Se<bfelgefänge  gleicbfam  ned? 
ein  lefcteS  Gfrinnem  an  jenen,  jwijdben  »erfdnebenen  2lu8füb* 
renben  alternirmben  Sortrag,  bem  wir  wäljrenb  beS  gangen 
16.  3al)rfyunbert8  in  ber  Äunftmufif  ber  3nfelftabt  begegneten. 
£eute  ift  »on  bauten  unb  Jenen,  bie  Senebig  al8  feigem  be* 
fenberS  angebeten,  nichts  mehr  gu  »ernebmen,  wie  bie  an  bie 
©cbwetle  feiner  »eröbeten  ^>aüäfte  teife  anfcblagenbe  2BeUe, 
ber  Jaft  eines  StuberS  in  feinen  ©affen,  ober  bie  Stimme  bet 
Born  8ibe  berübetwebenben  ©eewinbe.  Sie  ©tabt  felber  aber 
ftebt  al8  ein  ergreifenbeS  23ilb  beS  SerfallS  ehemaliger  Fracht 
unb  ^errlidjfeit  »er  unS  ba.  Unb  in  btefer  ©eftalt  ruft  fte, 
weniger  unter  it)ren  eigenen  ©ebnen,  al8  bei  gelegentlich  »er* 
übetwanbemben  ^remblingcn,  guweilen  noch  ein  Sieb  »oll  trau* 
metifdbet  fDWandjolie  ber»»»-  3»  $elir  SOienbelSfobn’ö  »enegia« 
nifcben  ©onbelliebern  webt  fcbon  jene  Stimmung  einer  fünften 
elegifcben  Jrauet,  bie  unS  in  ber  ©egenwart  in  Senebig 
überfommt. 

^ebenfalls  ift  ein  SSiebererfteljen  be8  früheren  großartigen 
fölufiflcbenS  ber  ©tabt  nur  bei  einem  erneuten  9tnfnü»fen  an 
ihre  glängenbe  mufifalifdje  Sergangenbeit  benfbar.  3*  meine 
bamit  nicht,  bafj  man  bie  großen  Sorfabven  bort  äußerlich 
fopiren  folle;  nur  »en  ber  flamme  be8  ©eniuS,  bie  noch  beute 
in  ihren  Jonbid)tungcn  glübt  unb  tebert,  laffe  man  fidj  bureb» 
bringen,  unb  bie§  gefchiebt  fidjet  am  wirffamften,  wenn  man  ihre 
SBerfe  auf  beimtfdjem  Scben  gu  neuem  geben  in’S  SDafein  ruft. 
SBenn  aber  ba8  golbftrablenbe  3nnere  be§  ftöarfuSbomS  aber« 

(MS) 


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46 


j 

mal8  »on  ben  unfterblidjen  ©eföngen  bet  ©abrieli’Ä  rotebet» 
IjaKen  füllte,  bann  würben  wir  un8,  mit  bem  poeftc»ollen 
9lmbro8,  baoott  überzeugen,  bafj  bie  ÜJtufif  bet  geiftigfte,  berau« 
fdjenbfte  JDuft  gewefen,  ben  bie  weifje  ©eetofe  bet  2tbria  gut 
3eit  ifyrer  Stütze  cerfyaudjte.  — 


(»«) 


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Siitmerfungen. 


■)  Sie  im  Stltertbum  an  ber  ncrbioeftlidjen  -Bucht  be8  abriatifd^n 
3Jleere8  wohnenbcn  Veneti  (©cnetcr)  waren,  wie  oielfat^  angenommen 
. wirb,  ursprünglich  i ll^rif c^cr  §erfunft.  Später  mag  fich  auch  ger« 
manische«  ©tut  mit  bem  ber  Ureinwohner  unb  ber  unter  ihnen  an» 
geftebelten  Siomanen  gemijdjt  hüten. 

J)  Senn  bie  8 Tonleitern  ber  Äircbentcne  beft^en,  mit  Ausnahme 
be8  5.  unb  6.  Tons,  nicht  einmal  ben  fo  natürlichen  heitton  auf  ber 
7.  Stufe:  ba8  Semitonium. 

3)  @8  ift  fehr  bie  grage,  ob  paleftrina,  wenn  er,  gleich  SBiHaert, 
als  ein  StnSlänber  auf  getreten  wäre,  mit  ähnlichem  (Srfclge,  wie  biefer, 
eine  ganje  Schute  an  feine  Perjon  ju  fnüpfen  oermcrf't  haben  würbe, 
©erabe  barauf,  bah  Paleftrina  einer  ber  3hrcn  gewefen,  finb  bie  tRomer 

* non  jeher  ftolj  gewefen.  Sie  Pietropclitanfirche  Bon  JRom:  St.  »Peter, 
weift  jubem  unter  ihren  Gapetlmeiftera  leine  Ttieberlänber  auf,  wäh» 
renb  wir  beren  jwei  foeben  an  ber  Pletropolitanfirche  »on  ©enebig 
fanben.  • 

4)  tJtujjer  SBiHaert  unb  Gpprian  »an  3iore  bürften  auch  Tinctor 
unb  &rfabelt  über  ©enebig  nach  3talien  gefommen  fein. 

s)  ®8  ift  hö^ft  wahrscheinlich,  wenn  auch  borläufig  noch  «i<ht  burd) 
äftenftüdte  barjuthun,  bah  fich,  unter  ben  bem  Siege  Bon  Bepanto  gel» 
tenben  ©elegenheitScompofitioncn , auch  ÜRufifftücfe  Bon  3arlino  unb 
Stnbrea  ©abrieli  befunben  haben,  bie  beibe  bamalS  auf  ber  $öhe 
ihres  SRufmeS  ftanben.  6ine  folche  SBahrfcheintichfeit  wirb,  burch  bie 

(345) 


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48 


brei  Sabre  fpater  an  Slnbrea  ©abricli  ergehenbe  Stufforberung,  bie  Sin* 
funft  4>einri<h’8  III.  mufifalifch  ju  illuftriren,  nur  noch  erlebt.  Sollten 
berartige  SßorauSfefcungen  ftd?  beftätigen,  jo  würbe  bie  »enejianifcbe  Ion* 
funft,  anläßlich  beS  Sieges  »on  b'epanto,  bem  ?aul  SBetonefe  bie  9tamen 
»on  ein  (Paar  feiner  nicht  unwürbigen  3Jiuft!er  an  bie  Seite  (teilen  bürfen. 

")  (58  mujj,  um  Verwechslungen  ju  begegnen,  baran  erinnert  wer. 
ben,  ba§  ber  erwähnte  (P)alm  nur  nach  fatholijcher  Jrabition  ber 
54.  ift,  waljrenb  ihn  bie  Sibelüberjetjung*  Hutber’8  erft  als  55.  jäblt. 

0 So  j.  33.  im  Sabre  1605,  in  welchem  33  ab  ft  (Paul  V.  Grrcommunt* 
cation  unb  Snterbict  über  Venebig  »erhängte. 


(.IM) 


!Dru*  non  ©ebr.  Ungtr  (Sb.  <»rimm)  in  ©erIC« , S$cn«bcrjtrftTa$e  17». 


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tlrttutgefdjtdjte  bet 


5Jorttag  gehalten  im  herein  „ 'M)ette " ju  SJiagbeburg 


cou 


{jortoitj. 

i 

i 


flerlin  SW.  1876. 

58  erlag  Bon  (5a  rl  £abel. 

(£.  i.  isStuti'jijl*  utuajsiiiidjjjflnälaagO 
33.  XBilbdm  • Sttajc  33. 


I 


T>ai  SRfdjt  btt  Ufbttfefcung  in  frembt  €prad)fn  »irb  tcrbf^alttn. 


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^£)ie  ©efühle  finb  fdheinbar  ba§  SlUerbefanntefte.  3n  ber  2^at! 
«Dasjenige,  wag  ein  3ebet  in  fic^  fühlt,  füllte  er  ba8  nidht  auch 
am  beften  fennen?  3)ennodh  wirb  gerabe  über  bie  Statut  unb 
Uri  ber  ©efühle  in  bet  SSiffenfdjaft  am  ^efHgften  geftritten, 
unb  witflidh  übergeugt  man  fic^  balb,  bafe  fie  gu  ben  am  fdjledj» 
teftcn  gelaunten  SDingen  ber  SBelt  gehören,  bafj  wir  SDanf  ber 
©he!tral=9lnalh}e  »on  ben  (Stoffen  unb  Kräften  auf  ber  ©iriuS* 
SDberfläc^e  faft  beffer  unterrichtet  finb,  alt!  non  benjenigen  3u» 
ftänben  unferS  eignen  ©elbft,  bie  in  2uft  unb  8eib,  greube  unb 
üraurigfeit,  furcht  unb  Hoffnung  un8  gerabe  am  innigften 
erregen,  unfer  Sl^un  unb  Waffen  am  unmittelbarften  beftimmen, 
furg  ben  innerften  Äetn  unfereS  SBefenö  auömadjen.  Bunädhft 
laffen  ©ie  unä  unfern  Sprachgebrauch  feftfteKen  unb  ben  ©egen* 
ftanb  unfrer  Unterfudfjungen  ftjriren. 

Unter  „©efühl"  cerftefyen  wir  l)ier  bie  feelifdjen  3uftänbe 
ber  8 u ft  ober  Unluft,  b.  h-  biejenigen  Buftänbe,  bie  wir  alö 
angenehme  ober  unangenehme  empfinben.  2)a  fehen  ©ie 
benn  fofort,  ba§  biefe  Buftänbe  mit  gu  ben  häufigfteu  unb  üet* 
breitetften  unfteö  ^pfifd^en  JDafeinS  gehören,  ©dfjmerg  unb 
SBohlgefühl,  ©rmübung  unb  grijdie,  unfre  ©efühle  an  ©djön» 
heit  unb  ^)ö^lidhTeit,  ©eiftüoHem  unb  glattem,  ©belfinn  unb 
©emeinheit  mögen  3h«e«  als  Seifpiele  bienen.  SDie  ©efühle 
gehören,  wie  gefagt,  gu  bem  f (heinbar  Sßefannteften  in  unfrem 

XI.  34*.  1*  (»♦») 


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4 


(Seelenleben.  .Kein  Sötenfch  ift  in  feinem  &ugenblicfe  jeineö  8ebenß 
gang  ohne  ©efüljle,  fie  ftnb  eß,  bie  am  meiften  ftch  tnö  9?e* 
wuhtfein  brängen,  am  lauteften  iljre  gotbetungen  gelteub  machen. 
S)afyer  werben  Sie  auch  bief eiben  in  ibter  allgemefnften 
©harafteriftif  gewih  fofort  mit  Seiditigfeit  wieber  erfennen. 
S)en  ©efüljlen  ift  eö  oor  Stiem  eigen,  bie  Seele  empftnblich 
gu  afficiren,  in  ihren  irgenb  ftärferen  ©raben  bie  Seele  gaaj 
eingunehmen,  unß  gu  übetmannen,  wie  man  Jagt.  55iefe  ftär* 
feren  ©efittjlSgrabe,  bie  man  bann  9t f fette  nennt,  machen  den 
SJienfdjen  faft  gang  unb  gar  unguredjnungßfahig-  2lbet  auch  bie 
fdjwädjeten  ©efüljlßgrabe  tenbiren  nach  biefer  9iid)tuncg  bin. 
3ebeß  itgenb  lebhaftere  ©efühl  nimmt  bie  Seele  botb  in  ferofit 
ein,  bah  »«an  für  9flleö  SSnbete  faft  oöllig  unguganglid?  ift. 
»Dem  S3efümmerten  fann  man  bie  fdjönfte  äußficht  geigen,  öem 
Siebenben  baß  geiftoollfte  Kapitel  auß  $)lato,  .(pegel  ober  Sdbopen= 
hauet  Detlefen,  eß  wirb  nicht  ben  geringften  ©inbrucf  machen. 
»Damit  hängt  eine  gweite  ©igenfdjaft  bet  ©efühle  gufatnmen, 
nemlid)  bie,  bah  fie  allemal  ben  Äörpet  meht  ober  we* 
niget  in  SRitleibenfchaft  giehen,  ihn  ftürfer  ober  fchwacher 
erfdjüttern,  auf  bie  oerfchiebenen  leiblichen  Organe  hemmenb  ober 
anreigenb  gurücfwitfen.  3(uch  biefe  ©igenfchaft  ift  allgemein 
befannt,  baß  ©rröthen  oor  gteube  ober  Scham,  baß  ©rblaffen 
bei  Schreit,  gurcht  u.  bgl.,  bie  Sefchleunigung  ober  Verlang* 
famung  beß  .fjergfchlageß,  baß  ©rbeben  ber  ©lieber,  baß  %uden 
beß  SJtienenfpielß,  baß  Sachen  unb  SBeinen  — bieß  StÜeS  ftnb 
fa  alltägliche  ©Meinungen.  hierher  gehört  audh  bie  intereffante 
Shatfadje  ber  SRücfroirfung  ber  ©efühle  auf  bie  äbfonbetung 
ber  SDrüfen.  ®er  befannte  galt,  bah  bie  blofje  SorfteDung  beß 
$ineinbeihenß  in  eine  Gitrone  bie  Speichelbrüfen  gu  lebhafterer 
Shättgfeit  reigt,  fteht  nicht  oereingelt  ba.  ©benfo  lauft  bem 
Secferhaften  baß  Sffiaffer  im  SÖtunbe  gufammen,  wenn  et  an  wohl« 

(3W) 


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5 


febmeefenbe  ©peifen  benft;  fo  wirfen  erotifcbe  ©efüble  auf  bie 
bet  ©epualfpbare  angebörigen  SDrüjen*  Apparate;  fo  entfielt 
bei  lebhafter  Slngft  in  $olge  wäffriger  Slbfonberung  au8  ben 
üDarmbrüfen  bie  fprüebwörtlieb  befannte  3)iartböe;  ba8  SSeinen 
ift  ebenfaUö  nur  eine  IBbfonbetung  ber  Slbtänenbrüfen  unb  bie 
Siebung  bet  ©ebwei&brüfen  bei  SMffeften  (©ebwijjen  cot  9lngft 
u.  f.  w.)  niebt  minber  befannt.  ©in  J^eologe  ergablte  mir,  bafj 
er  »or  feinet  erften  ^rebigt  »or  innerer  Aufregung  ftcb  ^abe 
übergeben  muffen  unb  fügte  b'nju,  bafj  bie8  bei  feinen  ftacul* 
tätßgenoffen  öfter  »orfomme. 

SDiit  biefer  ftarfen  afficitenben  ©inwirfung  auf  bie  (Seele, 
weldje  bie  leitete  gan$  unb  gar  gefangen  nimmt  unb  ben  8eib 
fo  gewaltig  in  SJiitleibenfebaft  giebt,  fjängt  eine  britte  ©igentbüm* 
lidifeit  bet  @efüble  jufammen:  iljre  üDun  felbeit  unb  Un  = 
f larbeit.  Unfere  Jlnfebauungen , 33orftellungen , ©rfenntniffe 
aller  9frt  Tonnen  wir  gergliebern  unb  burd)  Bteftepion  »erbeut* 
lieben;  mit  ben  @ef üblen  ift  baö  nid)t  fo  ber  ftafl;  eg  wobnt 
ihnen  etwas  Unbefinirbareö  bei,  wocon  wir  un§  feine  9tedjen» 
fdiaft  geben  fönnen.  ©<bon  bie  ©erüd)e  unb  ©efebmäefe  laffen 
fid)  nid)t  weiter  befdjrcibe«  al8  burd)  bie  Nennung  be8  riedjenben 
ober  fefcmecfenben  ©toffeß:  e8  rieebt  nad)  Sleilcbeit,  fdjmecft  nadf 
SJtanoran  ober  ^feffermünj.  S3oHenbg  bie  unzählbaren  Qnali* 
täten  unb  Btuancen  beö  ©djmerjeö,  beß  SSobl*  ober  Uebel* 
befinbetiS,  ber  .^eiterfeit,  beß  $rebfinn6,  SlergerS  u.  f.  w. 
fpotten  jebet  33erbeutlid)ung. 

©o  ftnb  wir  beim  gewohnt,  ber  logifeben  Älarbeit  unb  IDeut* 
liebfeit  unfereS  IDenfenß  unb  ©rfennenß  bie  SDunfelbeit  unb  lln* 
ergrünblicbfeit  ber  ©efüble  gegenübergufteüen.  SDer  beBe  S3erftanb 
unb  baß  bunfle  ©efübl,  ba8  febarfe  IDenfen  mit  beutlieben  33or= 
fteBungen  unb  concifen  Gegriffen  einerfeitß  unb  bie  unflare 
©mpfinbfamfeit  ber  ©timmungen  im  ©ebränge  ber  blinb  bei* 

(850 


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6 


fdjenben  SEriebe,  SBegierben  unb  SBebürfntffe  anbrerfeitS  »erbe« 
mit  (Recht  als  bie  entgegengefefcten  ^ele  unfreS  (Seelenlebens 
bezeichnet.  5(18  ben  Sifc  be8  (DenfenS  begegnet  man  ben  Äopf, 
inSbefonbete  ba8  ©ehim,  »a8  im  SBefentlidjen  auch  tintig  ift; 
a(8  ben  Sifc  be8  ©efüblS  ba8  Jpetg,  wa8  eigentlich  gang  unb 
gar  nicht  richtig  ift  unb  nur  infofern  aufrecht  erhalten  »erben 
fann,  al8  ba6  .perg,  aber  nicht  biefeS  allein,  fonbern  ade  innern 
Organe  burch  bie  ©efühle,  »ie  oben  gezeigt,  in  hödjft  merflidjer 
SEöeife  mit  afficirt  »erben  unb  fo  gleichfam  einen  (Refonangboben 
für  bie  ©efühle  abgeben. 

gügen  wir  bent  ©efagten  noch  als  lebten  $)infelftrid)  h*ngu, 
baf)  man  bem  ©efühl  bie  eigentliche  (Erieb*  unb  SBiDenS^Rraft 
gufd)teibt,  ben  üöetftanb  aber  al8  (Dasjenige  betrachtet,  »a8  ber 
blinben  .Straft,  bem  bunflen  (Drange,  3«l  unb  (Richtung  Bor* 
fchreibt,  fo  glaube  id)  3huen  eine  ziemlich  BoUftänbige  Sfigge 
ber  adgemeinften  unb  im  OWgemeinen  auch  ziemlich  richtigen 
Slnfchauungen  über  unfren  ©egenftanb  gezeichnet  gu  haben. 

Ueber  bie  «Stellung  be8  ©efühl8  im  Seelenleben  haben  gu 
allen  3eiten  bie  Berfchiebenften  Olnfichten  einanber  befämpft. 
(Die  ältere  9%djologie,  als  beren  Hettreter  SB  o l f gu  nennen  ift, 
unterschieb  g»ei  ©runboermögen:  ©rfennen  unb  23egehren. 
©mpfinbung , SEBahrnehmung,  33orftellung,  ©rinnerung,  ®e* 
bächtnife,  ^hantafie,  (Denfen  mit  begriff,  Urtheil,  Schluß  wur* 
beit  gum  ©rfenntnifjBermögen,  ©efühle,  Olffefte,  Triebe, 
SSegierben,  SBiHen,  Beibenjchaften  u.  f.  w.  gum  2?egeljrungS* 
Bermögen  gerechnet  unb  jebeS  Bon  Söeiben  noch  in  ein  unteres 
unb  oberes  Vermögen  weiter  abgetheilt.  Äant  Berljalf  ber  oon 
(EetenS  unb  diebemann  aufgeftellten  (Dreitheilung  in  ©rfenntnifj*, 
©efühlS*  unb  23egehrung8'33ermögeu  gu  überwiegenbem  Oln* 
fehen.  Jpegel  erflärt  baS  (Denfen  für  baS  grunbwefentliche  Olttribut 
bet  Seele;  baS  ©efühl  ift  ihm  ein  unoollfommeneS  ©rfennen, 

(J52) 


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7 


baö  friiljefte  5Beben  beS  ©eifteS.  #erbart  führt  StCfeS  auf  5Bor* 
Teilungen,  bie  ©elbfterhaltungen  beS  an  fidj  freub*  unb  leib» 
lofen  @eelenwefeu8  jurücf.  5Da8  ©efühl  beruht  ihm  lebiglidj 
auf  SBerhältniffen  mehrere*  5Borftellungen  ju  eiuanber.  ©<hopen* 
bauet  bafirt  ba8  ©efühl  lebigliclj  auf  ben  3BiHen.  Olehmen  wir 
noch  meine  Anficht  hinzu,  bafj  ba8  ©efühl  felbft  elementarer 
©runbptecefc  fei,  fo  h«fon  wir  eine  recht  nette  SBiufterfarte  bet 
benfbar  möglichen  Kombinationen  über  unfren  ©egenftanb. 

©ine  anbere  nicht  minber  wichtige  unb  nicht  minber  ftrittige 
grage  ift  bie  nach  bem  ©ruube  b e 8 @efühl8.  SBie  fommt 
e8,  bah  wir  einige  9teije  als  angenehm,  anbere  als  unangenehm 
empfinben?  9Jian  fleht  fofort,  bafj  biefe  grage  mit  ber  obigen 
jujammenhängt.  5Die  Anficht,  welche  man  über  ba8  SBefen  be8 
©efühlä  h«t,  wirb  mehr  ober  weniger  auch  fdjon  e*ne  S5eant* 
wortung  ber  grage  nach  bem  ©runbe  beffelben  intwlmren.  @o 
erflaren  ^Diejenigen,  welche  ba8  ©efühl  a!8  unoollfommeneö,  cer» 
worreneS  ©tfenuett  auffaffen  (Aeltere  ipfpchclogie  unb  .jpege!) 
8uft  unb  Unluft  at8  ba8  Snnewerben  einer  SBeförberung 
ober  ejineS  .£>inbernif  fe8  unfereS  8eben8,  unb  biefe  An* 
ficht  ift  auch  heutzutage  noch  fehr  allgemein  nerbreitet;  wir 
finben  fie  3.  5).  auch  bei  Kant  (Anthropologie)  unb  nielen 
feiner  Anhänger.  3m  Allgemeinen  ftimmt  fie  auch  mit  ber 
©rfahrung  überein.  5Ba8  un8  leiblich  unb  geiftig  förbert,  3.  58. 
ba8  Athmen  in  reiner,  fauerftoffreicher  Suft,  ein  fdharffittniger 
wifciger  ©ebanfe,  ift  un8  in  ber  Oiegel  angenehm,  ba8  ©egen* 
theil  unangenehm.  Aber  bie8  ift  bann  bod?  immer  nur  eine 
thatjädhliche  Uebereinftimmung,  aber  feine  ©rflärung  beS*  ©runbe8. 
©obann  aber  ift  e8  noch  nicht  einmal  thatfächlich  ganz  richtig. 
©8  giebt  fehr  fröhliche  SDinge,  bie  leiblich  angenehm  empfunben 
werben,  3.  58.  ba8  n + 1.  ©eibel  mitj  feinenv  befannten  le 
lendemain;  unb  einem  ungezogenen'.  Sungen  ift  eine  Fracht 

(351) 


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8 


fPrügel  feljr  nüfelicb,  ohne  bafe  et  baS  minbefte  angenehme  @e* 
fühl  baten  l>ätte.  Stamentlid)  aber  ftefyt  bet  ©rab  bet  objef* 
tieen  Stüfelichfeit  obet  ®cfeäblichfeit  eine«  3uftanbeS  mit  bem 
©rabe  beS  fubjeftioen  guft*  ober  Un!uft*@efühlS  häufig  in  gar 
feinet  ^Proportion.  @o  fann  bie  geringfügige  Neigung  eines 
3ai)nneteen  bie  fürchterlichften  Dualen  bertcrtufen,  währenb  tief* 
gteifenbe  3«ftörungen  bet  wichtigen  hebeuSorgane  bisweilen 
nur  unbebeutenbe  ©efühlSaffeftionen  im  ©efolge  haben,  unb  bet 
am  2ppl)uS  obet  an  anbetn  ^emictöfen  SMutmifchuugen  bat* 
niebet  giegeube  fidj  in  faft  gleichgültigem  apat^ife^em  3uftanbe 
befinbet.  — (Sine  etwas  feinere  Raffung  hat  ^ofee  im  gweiten 
Äapitel  feiltet  „SJtebicinifchen  ‘Pfrxhologie"  biefet  Stuffaffung 
gegeben.  3)anach  ift  eS  nicht  bie  Stüfelichfeit  obet  ®<häblichfeit 
beS  SteigeS  für  bie  ©efammtheit  beS  8ebenS,  was  angenehm  ober 
unangenehm  empfunben  wirb,  fonbent  baS  SBer^ältnife  beS  SteigeS 
gur  ftunftion  beS  Sternen,  inbem  angemeffene  Steige,  b.  !)•  foldje, 
bie  ben  Steroen  gu  einet  feiner  gunftion  entfprechenben  2hätig* 
feit  anregen  unb  fomit  feine  ©tttährung  förbern,  angenehme,  gu 
ftarfe  aber,  bie  bie  <Subftang  beffelbeu  über  ben  möglichen  ©rfafe 
hinaus  angreifen,  obet  gu  fchwadje,  bie  ben  Sternen  überhaupt 
nicht  genügenb  auregen,  unangenehme  ©efühle  erweefen.  3n 
biefet  Raffung  bütfte  baS  ©efefe  nUerbingS  beit  thatfächlichen 
Sterhältniffeu  mehr  entfpred?en ; ein  ©runb,  weshalb  eine  folche 
partielle  görbetung  ober  Hemmung  bet  gunftionSfähigfeit  beS 
Stetoen  angenehm  ober  unangenehm  empfunben  werbe,  ift  aber 
hiermit  ebenfo  wenig  als  früher  gegeben. 

Snbeffen,  ben  ©ruub  weife  ja  bie  SBiffenfchaft  für  bie  we* 
nigften  (Stfcheinungen  angugeben,  unb  fo  mögen  wir  unS  bei 
biefet  thatfächlichen  ©rflärung  beruhigen,  bie  mit  ber  früheren 
fich  infofern  in  ©inflang  fefeen  läfet,  als  man  annehmen  faun, 
bafe  ^Dasjenige,  was  ber  eingelnen  Steroenprooing  angemeffen  obet 

t(SM) 


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9 


unangemeffen  ift,  bei  weiterer  Ausbreitung  feiner  Sßtrfung  fich 
ebenfo  audj  für’8  ©ange  fceö  fflernenfpftemS  unb  folglich  auch 
be$  DrganiStnuS  erweifen  werbe.  Unb  fo  fönnen  wir  ctUerbingS 
auch  mit  giemlich  gutem  fRedjt  bie  ©efühle  wie  SMc^ter  unb 
SSeratber  uufeteS  SöohleS  anfehen,  bie  un8  cot  bem  ©chäblichen 
warnen  unb  ba8  ^eilfame  unb  ©ebeihliche  unS  angeigen,  wenn» 
gleich  wir  immer  beffen  eingebenf  bleiben  muffen,  ba§  bamit 
für  bie  ©rflärung  bet  9tatur  unb  beS  SßefenS  ber  ©efühle, 
fowie  ber  Art  ihrer  SSirfjamfeit  noch  nicht  baö  Winbefte  gefagt 
ift,  unb  bafj  übetbieS  breite  Ausnahmen  bie  ©eltung  unfreS  @e= 
fefjeö  febr  erheblich  befchränfen. 

Söir  wenben  un8  je£t  gur  ©intheilung  ber  ©efühle.  Am 
meiften  Anhänger  gählt  DieÜeictjt  bie  nachftehenbe,  bie  non  Äant 
angebeutet,  non  feinen  ©<hületn  weitet  auögebilbet  ift,  in  finn» 
liehe,  äfthetifche,  iutelleftuelle  unb  moralifche  ©efühle. 
SDiefe  ©intheilung  grünbet  fich  auf  bie  nerfchiebenen  ©eelenoer* 
mögen,  infofern  fie  Duelle  »on  ©efühle«  werben:  Sinn,  ©in* 
bilbungSfraft,  33 e r ft a n b , Segelten,  ©efühle,  bie  au8 
fiunlichen  ©mpfinbungen  flammen,  heiffen  f i n n l i d> e ©efühle. 
Aefthetifche  ©efühle  fiitb  biejenigen,  welche  fich  auf  b*e  $h®* 
tigfeit  ber  ©inbilbungSfraft,  ?)han*aPe  beziehen,  bie  ©efühle  beS 
Schönen  unb  Jpäfclicheit  bilben  ben  Hauptinhalt  biefer  Älaffe; 
intelleftuelle  ©efühle  finb  biejenigen,  weld^e  fid)  auf  bie  S3e* 
thätigung  ber  SDenffraft,  moralifche  enblich  biejenigen,  welche 
fich  auf  bie  töethätigung  beö  SöegehrüngSoermögenö  (SüillenS* 
fraft)  beziehen.  3)iefe  ©intheilung,  obwohl  weit  baoon  entfernt, 
über  jeben  Ginwanb  erhaben  gu  fein,  entfpricht  noch  am  Weiften 
ber  3Bal)rheit  unb  farm  am  ©heften  ben  Anfprud)  erheben,  bie 
gange  SJiannigfaltigfeit  ber  ©efühlSerfcheinungen  gu  umfaffen. 
IBenufjen  wir  biefelbe,  unö  mit  ihrer  Hülfe  einen  Ueberblicf  übet 
baö  gange  ©ebiet  ber  ©efühle  gu  oerfchaffen. 

(SU) 


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10 


1.  SDie  finnlichen  ©efüljle;  ihre  3«hl  ift  fehr  grofj 
unb  ihre  ©lieberung  pd^ft  mannidhfaltig.  2Bir  unterfcfceiben 
gunädhft  a)  bie  eigentlichen  © inne3  = ©efühle,  b.  h-  bie* 
jjentgen,  welche  fidf;  an  ben  SSahrnehmungen  ber  fünf  ©inne 
geltenb  machen.  9lngenehme  ober  wibrige  ©erüdhe  unb  ©e* 
fchmäcfe  bet  alleroerfchiebenften  Dualität,  als  beS  ©üfjen,  ©al» 
gigen,  ©auern,  SÖafifchen.  Beim  Taftfinn  unterfdjeibet  mau 
bie  ©mpfinbungeu  ber  Temperatur  unb  beS  35tucfeS;  beibe 
finb  mit  mannigfachen  ©efüljlen  oerbunben.  Siecht  complicirt 
finb  bie  Temperatur  »©efüfyie;  wir  haben  gunädhft  allgemein 
äöärme*  »nb  Äälte* ©efühle;  beibe  fönnen  angenehm  ober 
unangenehm  fein  (behagliche  SBärme,  erfrif^enbe  Äüljle,  beeugenbe 
.fpitje,  fröftelnbe  Äältefdhauer).  Slufjerbem  ift  gu  unterfdjeiben 
gwifchen  ben  Temperatur=@ntpfinbungen  ber  eingelnen  taftenben 
©lieber  unb  bem  ©efammtgefühl  beö  gangen  Äörperö;  erftere 
werben  mehr  auf  einen  eingelnen  heifeen  ober  falten  ©egenftanb 
begogen,  le^tereS  mehr  als  behaglicher  ober  unbehaglicher  3uftanb 
beS  gangen  Organismus  (mir  ift  h«fe,  fall  u.  f.  w)  empfunben. 
9luch  bie  3)nirfempfinbungen  geben  gu  mannichfadhen  ©efühlen 
5Änlafc:  bahin  gehört  baS  ©efühl  beS  Äi^elS  bei  leifen,  ftrei« 
chelnben,  fchnell  wieberl)olten  Berührungen,  baS  angenehme  ®e* 
fühl  bei  Berührung  einer  feften,  glatten  unb  ba§  unangenehme 
beim  Berühren  einer  fiebrigen,  fihmierigen  Oberfläche.  Gnblidj 
finb  bie  Suft*  unb  Unluft*@mpfinbungen  beS  ©cficfctS  unb 
©ehörö  gu  betrachten. 

ÜDie  reinen  ®inneS=©efühle  beS  IMugeS  unb  OhteS  begegnen 
unS  in  unfrem  hachentwicfelten  pfpdhifchen  Seben  »ergleichSweife 
feiten  unb  fpielen  anfdjeinenb  eine  geringfügige  Siotle.  {Reine, 
leud^tenbe  Farben,  hellee,  «i<ht  3U  8«0e®  Sicht,  fanfte,  auch 
lebhaftere  reine  Töne  wirfen  befanntlich  angenehm;  grelle,  un* 

(356  J 


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11 


reine  garben,  übermäßiges  8idjt,  311  ftarfe,  fchride  Stöne  wibrig 
auf  unfre  Sinne  ein. 

Stile  biefe  SinneS»@efühie  finb  baburch  d^ara fteri firt,  baß 
fte  mit  ben  SinneS*@mpftnbungen  nahe  »erwanbt,  gleidE?  biefen 
auf  andere  ©egenftänbe  begogen  werben,  fowie  gweiteuS  baburch, 
baß  wir  unS  be$  SißeS  biefer  ©efühle,  b.  h-  ber  biefelben  em* 
pfinbenben  .Körperteile  beutlich  bewußt  finb,  baf)  biefelben,  wie 
man  fagt,  beutlich  lofalifirt  finb.  SDurd)  SöeibeS  unterfcheiben 
fie  ft<h  wefentlich  non  ben  Organ*  unb  ©emein*@efühlen. 
Unter  Organ*© ef fielen  »erfteljt  man  biejenigen  ©efüljle,  welche 
fit  auf  ben  3uftanb  eirteö  leiblichen  Organs  begiehen.  ©es 
mein*@e  fühle  tagegen  finb  biefenigen,  weite  entweber  fcurch 
ißre  allgemeine  SBerbreitung  ober  burt  ihre  Stürfe  ftdf?  merflit 
in’S  33ewußtfein  brüngen ; alle  ftarferen  ober  wittigereu  Organ» 
gefügte  werben  bal}er  fofort  gu  ©emeingefütjlen,  währenb  bie 
minber  ftarfen  unfrer  Slufmerffamfeit  für  gewöl)nlid)  entgegen, 
©in  Organgefühl  ift  3.  33.  baS  Slt^mungflgefü^l,  alfo  baS  mit 
bem  leichten  unbe^inberten  Slthmen  in  gefunber  2uft  Derbunbene 
SBohlgefühl,  ober  im  gegenteiligen  galle  bie  33eängftigung  beim 
2ltmen  in  oerborbener  Suft  ober  bei  innerlichen  2?ehinberungen 
ber  Sungentljätigfeit;  ebenfo  ift  bie  llebelfeit  bei  überlabenem 
SJtagen  gunütft  ein  Organgefühl.  3lber  in  bem  einen  wie  in 
bem  anbern  gade  — bort  wegen  ber  Sßidjtigfeit  beS  SUljmungS* 
proceffeS  für  bie  ©rhaltung  beö  gebenS,  hier  wegen  wichtiger 
confenfueller  SSerbinbungen , beherrfchen  berartige  ©efühle  bie 
gange  augenblicflite  Stimmung  unb  werben  fomit  ©emein« 
g efühle.  2)ie  befannteften  SSertreter  biefer  ©ruppe  finb:  $un* 
ger,  3)urft,  © ^ m erg , SBohlbefiitben  u.  ®.  m. 

3t  bebiente  mit  foeben  beS  SBorteS  „Stimmung",  baS 
gefdjah  nicht  Don  ungefähr;  beim  getabe  für  biefe  Sphäre  ber 
Organ*  unb  ©emeingefühle  ift  ba8  Sßort  befoitbetS  be3eichnenb. 

(»?) 


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12 


Sftait  rerftet)t  unter  „Stimmung"  baS  3ufamtnentoirfen  mehrerer 
©efttble  im  ISemufjtfein  unb  ihre  ^Bereinigung  ju  einem  SRifd?» 
gefübl-  35a  nun  jebeS  bet  gablreidjen  förderlichen  Organe  in 
jebem  Äugenblicf  ein  feinem  3uftanbe  entfprecbenbeS  ©efübl  l)at, 
mag  baffelbe  aud)  für  ftch  nodj  fo  menig  in'S  Serou&tfein  treten; 
fo  m«|  ftreng  genommen  itgenb  eine  Stimmung  in  jebem  9Ro* 
ment  ju  Staube  fommen.  ©emöbnlid)  aber  fptedjen  mir  ron 
Stimmung  in  gutem  ober  fcbledjtem  Sinne  nur,  menn  ftärfere 
©efttble  berfelben  nad?  einer  ober  ber  anberen  fRidjtung  ^in 
eine  entfcfeiebenere  Färbung  geben. 

©nblidj  ift  hier  nod)  ber  fötuSfelgefiible,  b.  b-  berjenigen 
©efttble  ju  gebenfen,  melcbe  bet  Stijätigfeit  ober  JRube  unferet 
9Ruefeltt  entfpringen.  Slucb  bieS  ift  eine  feljt  zahlreiche  unb 
»ielgliebrige  Gruppe.  S5ie  3abl  unierer  9RuSfeln  ift  ziemlich 
grefj  unb  jeber  fDfuSfel,  fann  man  fagen,  fyat  fein  befonbereS, 
nad)  ber  3al)l  unb  Sänge  feiner  gafertt,  nad)  feiner  Sage  im 
JDrganißmu8,  nad)  ber  größeren  ober  geringeren  £äufigfeit  feineS 
©ebraucbS  unb  nad)  anbern  Umftänben  abgeftufteS  befonbereS 
SRuSfelgefiibl.  55ie  ©ruppe  ift  oon  befonbetcm  3ntereffe  nicht 
nur  megen  ber  Jpäufigfeit  il)reS  33orfemmenS,  fonbern  baupt* 
fachlich,  meil  bie  SORuefelgefüble  ben  aBgemeinften  unb  midjtigften 
Saftet  für  baS  3uftanbefommen  ber  SinneSrcabrnebmniigen 
($.  2?.  ben  SKugenmuSfelgefüblen  oerbanfen  mit  bie  räumlidje 
SBabrnebmung)  unb  ber  böbe*cn  ©efublSgattungen  auSmadjen. 
2118  befonbere  Slrten  beS  fDtuSfelgefiiblS  fommen  in  betracht: 
baS  Suftgefüljl  beS  tbätigen,  baS  ©rmitbungSgefitbl  beS  au» 
geftrengten,  baS  Suftgefübl  ber  ©rbolung  beS  crmübeten,  baS 
Unluftgefübi  beS  fräftigen  9JluSfelS  in  ber  JRube. 

2.  SSir  fommen  nun  ju  ben  äfthetifchen  ©efüblen,  bie 
matt  aud)  fPbantafie=©efüble  geitannt  bat,  weil  fie  auf  ber 
Ubätigfeit  ber  ©inbilbungSfraft  beruhen  feilen.  3unäd)ft  muffen 

(9M) 


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wir  Berroecpöluugen  abwehren.  Bicht  $u  teu  ^J^autafiegefü^len 
ift  e«  ju  regnen,  wenn  irgenb  ein  ©efühl  burd j bie  ©rinnerung 
ober  Bhantafie  oorgeftellt  wirb;  3.  B.  ich  erinnere  mich  eine« 
früher  erlittenen  Schmerze«  u.  bgl.  £ier  änbert  bie  ©rinnerung 
Glicht«  an  ber  Qualität  be«  ©efühl«,  baffelbc  erfdjeint  in  bet 
BorfteHung  nur  etwa«  blaffet,  unbeftimmter,  bleibt  aber  finn» 
©die«  ©efühl.  ©benfo  wenig  barf  ber  Siame  „äfthetifdjeö  ©e» 
fühl"  baju  oerleiten,  alle  biejenigen  ©efühle  barunter  ju  be* 
greifen,  welche  bem  ©enuffe  be«  Schönen  in  Äunft  unb  Statur 
entfprangen.  greilid)  mu&  idf  fogleich  beoorworten,  bah  ba« 
5Sort  fehr  häufig»  unb  zwar  oon  heroorragenben  gorfchern  aller* 
bing«  in  biefem  Sinne  gebraucht  wirb.  Snbeffen  überzeugt  man 
fid)  leicht,  ba§  j.  B.  bie  Betrachtung  eine«  Äunftwerfe«  je  nach 
bem  ©egenftanbe,  ben  e«  barfteUt,  bie  aüeroerfchiebenften  @e* 
fühle,  al8  be«  SJtitleib«,  ber  Sinnlichteit,  be«  Slbfcheu’«,  turj 
©efühle,  bie  unzweifelhaft  nicht  in  biefe  klaffe  gehören,  erweden 
fann.  3Bit  muffen  obige  «Definition  alfo  auf  bie  f.  g.  for« 
male  Schönheit  einfchränfen.  SSber  auch  fo  ftimmt  bie  !De* 
finition  nicht  recht,  ba  einmal  bat)  ©ebiet  be«  ©chöueu  ein 
weitere«  ift,  al«  ba«  ber  blojjen  gorm,  anbererfeit«  aber  auch 
bie  in  Siebe  ftehenben  ©efühle  außerhalb  be«  eigentlichen  ©er- 
biet« be«  Schönen  oorfommen.  Süchtiger  bürfte  e«  baher  fein, 
bie  äfthetifchen  ©efühle  ju  bezeichnen  als  gorm*  unb  Ber» 
hältnih*©ef ühle.  Sludj  mit  biefer  ©infchränfung  unb  näheren 
fhärifitung  bleibt  bie  ©ruppe  berfelben  immer  noch  fehr  zahl* 
reich  unb  mannichfaltig.  ©8  gehören  bahin  bie  Harmonie 
ober  «Di«hainronie  oon  garben  unb  £önen,  Sthpthmu« 
unb  SJlelobie,  auch  ber  f.  g.  Stumeru«  ober  SöortfaH  ber 
SRebe  unb  be«  Berje«,  ferner  Symmetrie,  Berhältnifj  ber 
ST^eile  zum  ©anzen  unb  untereinanber,  Umtifj  unb  gotmen 
ber  glächen  unb  .Körper  (SRunbung,  SBellenlinie  u.  bgl.).  hierher 


14 


bürfte  auch  baS  mathematifdj  (Erhabene,  b.  h.  ba§  Staunen 
über  feßr  große  SRäume,  Äörpet  ober  Äräfte  gehören,  obwohl 
baffelbe  in  ©emeinfeßaft  mit  bem  fittlid)  (Stfyabenen  meift 
ben  moralifthen  ©efüßlen  gugeredjnet  wirb.  SebeS  bet  ge* 
nannten  ©efüßle  ift  wieber  in  fi<h  äußerft  mannichfad)  geglie» 
bert,  id)  braune  nur  an  bie  unenblic^e  Sßannidjfaltigfeit  ber 
£armonieen,  bet  5ütaß»  unb  gornuSBerhältniffe  gu  erinnern;  unb 
getabe  bie  äfthetifdjen  ©efüljle  haben  gasreiche,  tiefgehenbe  fragen, 
weldje  auf  bie  ©tforfchung  be3  SBefenS  berfelben  abgielen,  ^er* 
»orgetufen.  SBeShalb  biefeS  2onoerl)ältniß;  not  jenem  baS  £>hr 
befriebigt,  biefe  gorm  beffer  als  jene  bem  äuge  gefddt,  baS  finb 
fragen,  bie  gu  äußerft  jubtilen,  mathematifdjen  unb  pt)i>fiolo* 
giften  Unterfudjungen  geführt  ^aben,  ein  faft  uuüberfehbareS 
unb  ^öd^ft  intereffanteS  JDetail,  auf  baS  mir  fyier  nidjt  eingefyen 
fönnen.  5Rut  baS  wollen  wir  im  allgemeinen  unb  rein  tljat* 
ädjlich  bemerfen,  baß  eS  immer  möglidjft  einfache  IBethältniffe 
finb,  bie  gefallen;  fo  gefaüen  bie  Stonoerbinbungen  bet  Cftaoe, 
wo  bie  SdjwingungSgafylen  fid^  wie  1:2,  ber  Duinte,  Duari, 
ber  großen  uub  Keinen  £erg,  wo  fie  fid^  wie  2 : 3,  3 : 4,  4 : 5 
unb  5 : 6 »erhalten.  Sehnlich  bei  ben  garbenoetbinbungen,  bie 
nur  bann  fyarmonijdj  wirfen,  wenn  fie  nafyegu  fomplementär 
finb,  b.  h-  in  SBeiß  fid)  ergangen;  fo  gefallen  SJlaßoerhältniffe 
am  SSeften,  wenn  fie  bem  SBerfyöltniffe  beS  golbenen  Schnittes 
entfprechen;  fo  folgt  baS  bewegte  äuge  lieber  bet  gleichmäßigen 
Krümmung  beS  ÄreifeS  ober  einer  Äuroe,  als  eefigen  ober  gar 
unregelmäßigen  Äontuten  u.  f.  w.  2)odj  wie  gefagt,  ift  \)\n 
eine  foldje  $üHe  »on  mannigfaltigen  ©efeßen  uub  näheren  93e- 
bingungen,  bei  jebem  bet  genannten  üBerßältniffe  auberS,  baß 
jebeS  berfelben  eine  förmliche  SBiffenfchaft  für  ftch  bilbet. 

3.  SBir  fommen  gu  ben  intelleftuellen  ©efüßlen,  b.  ß. 
ben  bie  2)enftl}ätigfeit  begleitenben.  3)aS  2)enfen  hat  fein  eigen« 


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15 


ttjümlidje§  Suftgefübl  in  unmittelbarem  ©efolge;  eS  macht  eine 
gewiffe  grenbe,  einen  fdjwietigen  3ujammenbang  ein^ufeljen. 
8uch  »et  fünft  fein  Sntereffe  an  ber  ÜJiatbematif  bat,  »itb  fidj 
eine8  merflicben  SoblgefaüenS  nicht  erwehren,  »enn  er  bem  33e* 
weife  eines  8ebrfaj5eS  folgt  unb  beffen  einzelne  ©liebet  wie  ein 
woblconftruirteS  Snftrumeut  fd^arf  in  einanbet  floppen  fielet. 
IHuch  biefeS  ©efübl  bflt  feine  mannichfachen  Slrten  unb  ©rfchei* 
nungSformen.  ©aS  8uftgefüljl,  welches  bem  Suchen  unb  8or* 
fdjen  fein  3ntereffe  »erleibt,  »ie  3.  33.,  wenn  wir  einem  {Rätbfel 
ober  einer  wiffenfchaftlicben  grage  mit  ©ifer  uadjbenfen,  weites 
ber  Sifcbegier  uub  9t eu gier  3U  ©runbe  liegt,  hübet  bie  eine 
Seite,  ihm  fteljt  als  entfprecbenbeS  Unluftgefütjl  baS  Unbeftie* 
bigtfein  beS  9iichtfinbenfönnen8,  beS  9tid)t»etftebenS  unb  9ticht= 
begreifenS  gegenüber.  33egleiten  biefe  ©efüble  baS  9ta<bbenfen 
in  feiner  fucbenben  St^ätigfeit,  fo  ift  baS  gum  5lbf<bluf3  ge* 
brachte  ©enfen  Duelle  anberer  ©efüble.  ©aS  ©infeljen,  baS 
SJerfteben  beS  3ufammenbange8  erfreut  unS  umfomebr,  je  größer 
bie  Spannung  beS  SucbenS  war,  bie  ibm  »otaufging,  »ie  ein 
fHdjtftrabl,  ber  baS  ©unfel  aufbellt,  bem  9luge  wobltbut.  3Bir 
müffen  bi«  abfeben  »on  bem  meift  binjufommenben  ©efübl  ber 
greube  am  ©rfolge,  am  ©elingen  ber  ©enfarbeit,  bie  in  bem 
3ubelrufe  svQtjxa  ebenfalls  ihren  SluSbtudf  finbet.  SDiefeS  @e> 
fühl,  welkes  alle  unfere  erfolgreichen  33eftrebungen  begleitet, 
wirb  unS  fpater  noch  begegnen.  £ier  hoben  wir  eS  blof)  mit 
bet  greube  am  3ufammenhange,  am  ^lannollen,  ©inbeitlichen 
3U  thun,  einem  ©efübl,  bah  in  feiner  2lrt  gang  ähnlich  ift  bem 
SBohlgefallen  am  $armonifchen,  am  einfachen  9 Jtah*  unb  ©pm* 
metrieoerhältni|.  3hm  fte^t  gegenüber  bie  Unluft  am  Un« 
begriffenen,  ©unfein,  SSerwortenen.  Seinen  «fjöbepunft  erreicht 
jenes  8uftgefübl  in  ber  greube  übet  ben  Sifc,  welcher  in  blty* 
artig  überrafchenbet  Seife  einen  unerwarteten  3ufammenhang 

(3«1) 


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16 


in  befonberö  fchlagenber  Weife  bartljut,  unb  feinem  3«>ißingS= 
btuber,  bem  Scharffinu,  ber  gwifd?en  fdjeinbar  ©leidbem  in 
bie  äugen  fpringenbe  Unter] djiebe  bercorhebt  unb  babutd)  »er= 
wirrenbe  Wiberfprüche  befeitigt.  ©benfo  ift  jenes  Unluftgefithl 
einer  erheblichen  Steigerung  fähig,  t»*e  Sie  tniffen,  wenn  un* 
ferem  Berftanbe  etwas  befonberö  ©ummeS,  fpiatteS  unb  gabeS 
bargeboien  wirb.  Bon  hier  bietet  ftch  wieber  eine  weitere  $>er* 
fpeftioe  in  bie  ©ebiete  beS  Äomifchen  unb  ^umoriftifdjen,  bie 
aber  anbererfeitS  wieber  mit  anberen  ©efühlSarten  (äfthetifcbett 
unb  moralijchen)  gufammenhängen. 

@rwäi)nen  will  id)  noch,  ba§  bie  meiften  Bearbeiter  unferer 
SWaterie  noch  ein  WahrheitS=©efühl  annehmen,  wobei  aber 
theilS  eine  Berwechfelung  mit  bem  im  ©ingange  erwähnten  bunf* 
len  ober  inftiuftioen  ©rfennen  unterläuft,  theilS  nur  eine  anbere 
gorm  beS  oben  erwähnten  ©efatlenö  am  $)lan»oHen,  ©inheit* 
liehen,  Begriffenen  gemeint  fein  bürfte. 

4.  Wir  fommen  nun  gut  eierten  gamilie,  gu  ben  m o t a l i f ch  e n 
ober  fittlichen  ©ef  fehlen,  b.  h-  benjenigen  2uft*  ober  Un* 
luft*©mpfinbungen,  bie  ftch  auf  bie  Berbältniffe  beS  Begehrens 
unb  WilLenö  unb  ber  aus  bemfelben  refultirenben  £anb* 
lungen  begehen.  $erbart  hat  mit  SRecbt  barauf  aufmerffam 
gemacht,  bafj  baö  fitiüdje  Wohlgefallen  äehnlichfeit  mit  bem 
äfthetifchen  habe,  et  rechnete  baffelbe  fchlechthin  gut  äefthetif, 
bie  et  bann  in  eine  äefthetif  im  engeren  Sinne  unb  ©thif 
glieberte.  Wie  uns  förderliche  Berhältniffe  garben*$£on*Berbin* 
bungen  ober  golgen  balb  gefallen,  balb  mißfallen,  fo  »erhält  eS 
ftch  ebenfalls  mit  WiQenSbethätigungen,  unb  auch  baS  ift  richtig, 
bafj  in  beiben  gäOen  baS  ©efaflen  unb  BJitfcfallen  ein  nninter* 
effirteS  abfoluteS,  b.  h-  »ou  3 werfen,  ©unft  ober  Ungunft,  Bor* 
theil  ober  Bachtheil  unabhängiges  ift. 

©S  ift  ein  fehr  gtofjeS,  wichtiges  unb  noch  giemlich  bunfleS 

(»6») 


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17 


@ebiet,  mit  bem  wir  eS  hier  $u  tijun  ^abett;  uttb  eS  ift  dufjerft 
fermer  ober  »ielmeiw  unmöglich,  über  baffelbe  eine  uollftänbige, 
gecrbnete  lleberficfyt  ju  geben,  jumal  wenn  Äürge  unb  Seidituer* 
ftäubiicfsfeit  bie  ^>auptxücffid>t  ift.  3dj  will  Sfynen,  ofyne  jebe 
(Garantie  bei  ©oflftänbigfeit  unb  fRidjtigfeit,  nur  um  an  ben 
nnd'tigften  ©eifpielen  eilte  ©orftetlung  Den  bem  SBejen  unterer 
©efüblögruppe  ju  geben,  folgenbe  ^auptgruppen  mit  il)ren  widj* 
tigften  Unterarten  auf^äljlen. 

A.  Selbftgefüt)lc.  3)a^in  gehören:  Selb  ft  liebe,  ©goiS» 
muä,  @brgefül)I,  ©briiebe,  ©efüble  ber  Selb ftbeurtb ei* 
lung,  als  Sdiaam,  JReue,  Stolg,  Selbftgefdfligfeit. 

B.  <Snmpatl)ie*@efüt)le:  HJHtleib,  SfRitfrcube,  9ied?t8= 
gefüljl,  Siebe,  gpa§,  2ld?tung  — ©eradrtung,  fJRenjcbenliebe,  @e= 
meinfinn. 

C.  $raft=©efüble:  Suftgefüljl  ber  eigenen  Äraft  unb 
fRüftigfeit,  beSgl.  an  feber  größeren  Äraftwirfung,  baS  ©efübl 
ber  ©efriebigung,  weldjeö  jebe  anftrengenbe  ©ejcbdftigung  mit 
fid}  fitt>rt,  ftreube  am  (gelingen. 

D.  iflutori  tat  8*  ©efüble,  als : @l)rfurd)t  oor  ©ater  unb 
üRutter,  not  bem  9(Iter,  uor  ©efep  unb  Sitte,  ^Patriotismus, 
religicjcr  Sinn  u.  f.  w. 

©ei  jeher  biejer  ©efüblSflaffen  wäre  nod)  ein  u.  f.  w. 
bingujufügen  unb  aufjetbem  nod?  baS  gegen tl)eiligc  Unluftgefübl 
gu  berücffidjtigen.  SBenit  idi  über  alle  biefe  @efül)le  unb  @e* 
füblSgtuppen  mit  bet  bloßen  unb  nodt  baju  fragmentarifdben 
Slufeäblung  bintueggebe,  fo  gefdjiebt  eS  nid)t,  weil  id)  benfelbro 
eine  geringere  SSBicbtigfeit  beilege;  im  ©egentbeil,  eS  finb  bie 
t)öd)ften  unb  Ijeiligften  ©efutjle,  bie  eine  SRenfdfenbruft  befeelen, 
unb  eS  finb  3ugleicb  auch  biejettigen,  weldie  bie  l)dufigften,  wid)« 
tigften  unb  unmittelbarften  Antriebe  für  unjer  ganzes  gpanbcln, 
bie  breitefte  ©afiS  für  unjere  Stimmungen,  für  unfer  geiftigeS 

XL  219.  2 (363) 


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SBohh  itnb  llebelbefinben  bi(bcn,  fonbern  weil  i<h  »cn  ^>aufe 
auß  batauf  nergidjten  mufj,  3h«en  biefe  hochentwicfelten  unb  compli* 
cirten  ©efithlSgebilbe  in  bet  Äürge  bet  mir  gegatteten  3eit  aud } 
nur  um  ein  ©eringeS  näher  gu  bringen  unb  »erftänfclicher  3U 
machen,  als  fie  eS  einem  Seben  nach  bem  ©rabe  ber  tfym  inne* 
wohnenben  SebenSetfahrung  bereits  finb.  ©ie  größten  3»?eifel 
wegen  ber  Ableitung  unb  &lafftficirung  walten  Ijiet  oh,  unb' 
wäljrenb  bie  früher  bestochenen  ^auptflaffen  fidj  als  oergleid?§* 
weife  einfach  unb  ihrem  SBefen  unb  ihrer  Sßerurfachung  nach 
fid)  im  Allgemeinen  als  »erftänblich  erwiefen,  fo  erfcheint  eö  tyev 
mm  »ornherein  wenigftenS  unmöglich,  gut  3uriicffithrung  biefer 
höheren  ©efiihle  auf  einfachere  ©lemente  unb  auf  eine  phuftolo* 
gifche  33afiS  auch  nur  einen  ungefähren  Anhalt  gu  gewinnen. 

SBetfen  wir  mm  hie*  noch  einen  33lid  auf  bie  burcfclaufene 
JReihe  guriicf,  fo  crfieht  man  leicht,  bafe  wir  »om  ©infacheren 
gum  Bufammengefehteren  fortgefchritten  finb.  ©ie  finn liehen 
©efiihle  finb  offenbar  bie  aüereinfachften.  ©in  äußerer  9?etg, 
eine  hhbfiMitöe  ÜHolecular*©<hwingung  tritt  an  baS  periphe* 
rijehe  ©nbe  eines  fenfibeln  9ler»cn,  unb  bamit  ift  bie  angenehme 
ober  unangenehme  ©mpfinbung  fofort  gegeben.  2Öir  wiffen,  wie 
gejagt,  nicht,  weshalb  biefer  JHeig  ein  angenehmes,  jener  ein  un* 
angenehmes  ©efühl  ^erüorruft,  aber  fehen  wir  h'eroon  ab,  fo  ift 
ber  Hergang  ein  gang  einfacher.  AnberS  bei  ben  äfthetifchen 
©efühlen.  ©iefe  beruhen  auf  bem  JBerhältuiffe  gweier  ober 
mehrerer  ©innengefüljle  gu  einanber,  fo  wirb  baS  ©diwingungS» 
»erhältnifs  gweier  STöne  gu  einanber  als  Harmonie  ober  ©iffo» 
nang  empfunben.  ^>ier  fommt  gu  ben  baS  58erhältni|  bilbcnben 
©inneSgefuhlen  etwas  flleueS  hingu,  baS  ffierhältnifjgefühl, 
unb  gu  ben  ungelöften  fragen,  welche  bie  einfachen  ©inneS« 
gefühle  beroorrufen,  fommeit  nun  noch  neue  unb  fdjwietigcre 
hingu,  woburdj  wir  baS  SBcrhältnifj  empfinben  unb  weshalb  unS 

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biefeö  5krt)ältm£  angenehmer  al§  jenes  ift.  3«beffen  auch  bie 
äfthetifcheu  ©efüljle  erfcheinen  un§  noch  als  gang  einfache  ®e= 
bilbe,  wenn  wir  fie  mit  ben  intellef tuellen  Dergleichen. 

3nbeffen  lä§t  ficb  fyier  noch  wenigftenß  eine  Sermuthung 
wagen.  2Bir  i)aben  bei  bet  ^Betrachtung  ber  äft^etifd?en  ©e» 
fiifjle  bie  Styrtfad)*  feftfteQen  fönnen,  bafc  e8  bie  einfacheren 
SJerhältniffe  finb,  bie  unfev  5Bo^lgefaIIen  erwecfen.  @8  ift 
fefjr  mcglid?,  baff  tag  intelleftuelle  Suftgefü^t  ein  bem  äfthetifchen 
nerwanbteg  ift  unb  barauf  beruht,  baff  bie  un8  Derwirreube  unb 
beängftigenbe  fDiannichfaltigfeit  non  33orfteUungen,  ^Begriffen  unb 
Urteilen  burd)  bie  benfenbe  ©rfenntniff  auf  eine  einfache 
9tegel  gurücfgeführt  wirb.  (Sine  folche  SSerwanbtfchaft  ift  beim 
2Bi£  ujib  bem  mit  ihm  gujammenhängenben  Äomif^en  fogat 
bireft  angebeutet. 

Sie  oierte  ^auptgrupve  ber  moralifehen  ©efütjle  ift  nun,  wie 
©ie  auf  ben  erften  23licf  feben,  natürlich  noch  ungleich  gufammen» 
gefegter,  als  ade  oorherigen.  2Benn  wir  beim  ©innengefühl  bie 
üfteroenfafer  nachweifen  fönnen,  welche  ben  ©i£  ber  ©cbmcrg» 
ober  i?uftempfmbung  bilbet,  bei  ben  äfthetifdjen  wenigfteng 
bie  fRercenproting  begeichnen  fönnen,  in  ber  wir  bie  ©efühlS* 
quelle  gu  fuöhen  h“ben,  wenn  bei  ben  Senfgefühlen  unö  in 
biefer  5Begiel)ung  mehr  ober  tninber  beftimmte  SRuthmaffungen 
geftattet  finb,  fo  blicfe»  wir  bei  biefer  lebten  ©ruppe  noch  oöllig 
inö  33laue,  in§  SBage  hinein.  Sie  oben  erwähnte  Annahme 
£>erbart’8,  baff  bie  moralifchen  ©efühle  ben  äfthetifchen  oerwanbt 
feien,  gehört  ebenfalls  gu  ben  33ermuthungen.  SBenngleich  fie  in 
Dielen  SBegiehungen  2Raud;e§  für  fich  hQt  3-  ©•  baß  abfolute, 
intereffelofe  ©efallcn  am  ©ittlicheii,  unb  wenngleich  fie  im  All» 
gemeinen  wohl  richtig  fein  wirb,  fo  ift  bieS  Allgemeine  hoch  fo 
allgemein,  bafc  eben  nicht  Diel  bamit  gewonnen  ift.  Sie  fitt* 
liehen  ©efühle  finb  faft  burchweg  folche,  welche  auf  ber  gangen 

2*  * (365) 


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5>etfönücfeEeitr  bet  phpftit«»  ©efammtejrifteng,  auf  ©elbftberoufjt* 
fein,  ©elbftgefühl,  G^arafter,  Stemperament  berufen,  lauter 
SDingen,  bie  ben  lebten  ungelöften  grasen  unfever  Sßiffenicbaft 
tfjeilß  angelten,  ttjeilß  nahe  fteben. 

3)ie  oorgeführten  ©efühle  bilben  uun  eine  Hauptabthei* 
lung  bet  ©efühle,  biejenige  bet  materialen  ober  quali* 
tat  inen  ober  aut  fijren  ©efühle,  wie  man  fic  begeidntet  tjat, 
wäl)tenb  bie  gweite  Hauptabteilung  biejenige  ber  formalen 
ober  nagen  ©efühle,  bie  it  am  liebften  bie  fecunbären  ®e* 
fühle  nenne  im  ©egenfajg  gu  jenen,  bie  man  alß  bie  prima» 
ren  begeidmen  fann,  not  im  IRücfftanbe  ift.  — Üluf  biefe  müffen 
wir  um  fo  mehr  not  eingehen,  alß  biefclben  gngleid)  einen  ©in* 
blicf  in  bie  SBer^ältniffe  ber  ©ittwidflung  unb  beS  Setfaufß  ber 
©efühle  überhaupt  gewähren,  womit  bie  Set)re  non  ben  2empe* 
ramenten,  nom  S^arafter  unb  Slnbeteß  gufammenhängt,  waß 
in  einer  wenn  aut  not  fo  allgemein  gehaltenen  ©figge  ber 
9iaturgeftitte  ber  ©efütjle  unmöglit  übergangen  werben  fann. 

©in  Seber  fann  fit  baß  ©efühl  benfen,  mit  weitem  ein 
Patient  einet  beoorftehenben  Operation  entgegenfieljt,  eß  ift  baß 
©efühl  ber  gurtt  nor  bem  ©tmerg  ber  Operation, 
b.  h-  bie  SSorftellung  beö  erlittenen  ©tmergeß  alß  eineß  in  naher 
Bufunft  fit  wieberholenben.  IDet  ©tmerg  ber  Operation  ift 
hier  bie  Söafiß,  baß  ©tunbgefühl;  bie  B»itt  baß  abgeleitete, 
©ejjen  wir  an  bie  ©teile  beß  fßrperliten  ©tmergeß  ein  anbereß 
Unluftgefühl,  fo  änbert  fit  mehr  ober  weniger  erheblit  bie  $5t* 
bung  beß  fturttgefühlß ; bie  gurtt  oor  bem  SOobc  ift  eine  an* 
bere,  alß  bie  Butt*  »or  einem  Sermögenßnerluft.  ©benfo  wie 
mit  ber  ©rcfee  beß  befürtteten  Uebelß,  nimmt  baß  §urd>tgefühl 
mit  bet  größeren  ober  geringeren  9tdl)e,  ©ewifteit  aber  ÜJtög* 
litfeit  beß  Uebelß  eine  oerftiebene  ©tärfe  unb  Färbung  an; 
fo  bie  SEobeßfurtt,  wenn  eß  fit  einmal  um  ben  im  Saufe 

(366) 


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•21 


bet  3aßte  naturgemäß  unS  erwartenben  ober  um  einen  naße 
beoerfteßenben  gewaltjauien  2ob  ßanbelt.  DiefeS  eine  Seifpiel 
mag  bagu  bienen,  3ßnen  von  bet  ganzen  .^auptflaffe  eine  »et* 
läufige  SBorfteOung  gu  gewähren.  iHeßnlicß  wie  bie  gureßt,  oet* 
ßält  fieß  ißt  ©egenpart,  bie  Hoffnung,  oetßalten  fteß  greube  unb 
fieib  unb  vieles  2lnbete. 

SBerfen  wir  gunätßft  einen  crientirenben  ©eitenblicf  auf  bie 
anberen  ©efüßlSentwtcflungen,  welche  gujammen  mit  ber  unfrigen 
ben  ©efammt»Umfang  unb  3nßalt  unfereS  pfpdjijtßen  ©eins  auS* 
maeßen. 

I.  Die  ©efüßle  finb  alfo  gunäcßft  2lnlaß  unb 
Jriebfeber  beS  DenfenS  unb  beS  bunßbacßten  £an» 
belnS.  2iHt  fonnen  eS  ßiet  baßtn  geftellt  fein  laffen,  ob  bie 
©efüßle,  wie  behauptet  wirb,  bie  einzige  Duelle  unb  bie  alleinige 
Iriebfeber  beö  DenfenS  auSmacßen,  ober  ob  leßtereS  nod)  befon« 
bere,  ißm  von  £aufe  auö  eigentßümlicße  Antriebe,  g.  33.  baS 
f.  g.  tßeoretifdie  3ntereffe  aufguweifen  ßat.  2Bie  eS  fieß  bamit 
au<ß  verßalte,  ficßerlicß  bilben  von  bet  ©pßäre  unfetet  gefammten 
Denfentwicflung  bie  ©efüßlSteaftionen  unb  SöillenSbetßätigungen 
ben  vorneßmften  unb  widjtigften  5£ßeil;  fitßerlidj  finb  eS  unfete 
©efüßlSintereffen,  bie  ben  SRittelpuuft  unfeteS  gangen  DicßtenS 
unb  SracßtenS  einneßmen.  Die  ©efüßle  treiben  unmittelbar 
gum  Denfen,  gum  9la<ßbenfen  übet  bie  befte  2hrt,  ben  bureß  fie 
ergeugten  33ebürfuiffen,  SSegierben  u.  j.  w.  abgußelfen.  Diefe 
erfte  21  rt  bet  ©ntwitfluug  bet  ©efüßle,  bie  (Sntwicflung  bet  ©e* 
füßle  gum  Denfen,  wollen  wir  „Denfentwicflung"  nennen 
unb  für  bie  weiteten  Untetfucßungen  im  ©ebäcßtniß  beßalteu. 

II.  Die  grneite  ©ntwicflung  bet  ©efüßle  ift  biejenige,  welcße 
i(ß  bereits  gu  fdjilbern  verfudjt  ßabe,  eS  ift  bie  ©ntwicflung 
ber  qualitativen  SSerfcßiebenßeit  ber  ©efüßle  unb  ber 
einfaeßen  ©inneSgefüßle  gu  ßößeten  unb  gnfammengefeßteren  ®e« 

(KJJ 


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22 


füblSgebilben.  Sie  gro§e  5Rauni(bfaltigfeit  bec  Betriebenen  @e* 
fütjISquatitäten  (@e|(£macfö=,  ®etud)8»,  ©ebörS»  u.  f.  w.  ©efftb(e) 
habe  id?  auSfübrlid)  bargelegt  unb  gegeigt,  wie  ftd)  auf  ben  »et: 
fdjiebenen  Dualitäten  ber  ©tnneßgefüble  bie  höheren  Äomplere  bet 
äftljetifdjen,  inteUeftuellen  unb  motaliren  ©efüble  aufbauen,  wenn» 
gleich  »it  un8  in  leitetet  Söejte^ung  tbeilweife  mit  bloßen  3lnbeu= 
tungcn  begnügen  mufjten.  Ser  Aufbau  bet  höheren  Q5efü^löf omplejre 
auß  ben  einfachen  finnlicben  ©efüblen  gcfd^te^t  burd)  ©ruppi» 
rung  unb  .Kombination  bet  leiteten.  3wei  Jone,  bie  gufammen 
erflingen,  geben  eine  Harmonie  ober  Siffonang,  mehrere  33ot» 
fteflungen  tombiniren  fid?  gum  Segrijf,  mehrere  begriffe  gunt 
Urtbeil,  weldb«  -Kombinationen  gu  ben  3b«en  gef(bilberten  in» 
telleftuellen  guftgefiitjlen  am  ©inbeitlicben,  Surd)bad)ten,  SBifcigen 
u.  f.  w.  Slnlafj  geben.  9Tuf  noch  bö^^60  .Kombinationen  be= 
tuben  bie  moralifdben  ©efüble.  @8  ift  baber  erlaubt,  biefen 
gangen  9ieidbtbum  an  qualitatioer  S3etfdbiebenbeit,  wie  ibn  bie 
finnlicben,  äftbetifcben»  inteOeftueHen  unb  »noralifcben  ©efüble 
geigen,  alß  eine  mannid)facb  bifferengiitte  .Kombination  unb  ©rup» 
pirung  eineß  urjprünglid)cn  unb  einfachen  ©mpfmbungßguftanbeß 
(einfachen  9iet»enprogeffeß)  aufgufafjen. 

III.  Sie  britte  9lrt  bet  ©efüblßentwicflung,  biejenige,  mit 
bet  wir  e8  bauptfäd?lid)  beute  gu  tbun  b^ben,  ift  bie  ©ntwicf» 
lung  ber  qualitativ  oerfcbiebenen  $)r imär»@efüble  gu 
©ecunbär»©efüblen,  b.  b-  gu  ©efüblen  üon  ©efüblen,  g.  53. 
be8  ©cbmetgeß  gut  gurcbt  oot  bem  @d)metge,  ober  gut  £>off» 
nung  auf  bie  33efeitigung  be8  Uebelß  unb  »on  Sehnlichem. 
Sabin  gehört  ba8  ©icbfreuen  über  ©twaß  unb  auf  ©twaß, 
Stauer,  ©orge.  3a,  ba8  feeunbäre  @efül)l  fanit  feinerfeitß 
wiebet  iänlafj  gu  einem  ©efübl  britter  Drbnung  werben;  fo. 
freut  man  fidj  auf  eine  greube,  g.  33.  be8  SSieberfebenß  eineß 
23efannten  ober  3$erwanbten,  unb  bie  ©efpenfterfuvcbt  ift  bie 

(J6SJ 


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23 


Burdjt,  bafj  mau  fi$  cor  bet  übematürlidjen  ©rfdjeinung,  wenn 
fte  erfdjiene,  fürsten  werbe,  alfo  bie  §urd?t  cor  einer  %\xxijt, 
ba  ja  wirflidje  Sefdfjabigungen  ben  ©efpenftern  niemals  nadj* 
gefagt  werben. 

£>ic  Senfentwicflung  ift  bie  einfache,  unmittelbare  unb 
notljwenbige  §clge  beS  ©efüljlS,  fic  ift  eine  SReaftion  auf  baffelbe 
unb  auf  bie  Sefdjwidjtigung  beS  ©efüfylS  gerietet;  bie  q u a l i = 
tatice  ©ntwidflung  ift  eine  oon  #aufe  auS  gegebene  9Ran» 
nidifaltigfeit  con  ©efüfylSarten,  bereit  jebe  9lnlajj  gu  SReaftionen 
unb  folgetceife  jur  ©enfentwicElung  werben  fann;  bie  Secunbär» 
(Sntwidlung  folgt  ber  SDenfentwicflung  nad?,  ift  eine  burd? 
fie  gefegte  SDtobififation  beS  urfprünqlidjen  ©efüfylS.  ÜRan  fann 
baljer  unfere  brei  (fntwicfluiigen  aud?  mit  ben  brei  SDimenfionen 
beS  tRaumeS  oergleidjen.  ®aS  ©enfen  mit  feinen  auf  fortwäi)* 
reube  Serbefferungen  ber  eigenen  ©lüdfSlage  burd?  Slbwetyr  oon 
Uebeln  unb  ^erl'eifdjaffung  oon  ©fitem  geridjteten  unauSgefetsten 
Seftrebungen  bilbet  bie  ,£)aupttid?tung  beS  feelifdjen  SebenS  unb 
fann  bemnad?  als  bie  fcrtfdtjreitenfce,  bie  2ängen=2)imenficn 
beffelben,  angefeljen  werben.  5)ie  qualitatice  Serfdjiebenljeit  ber 
©efüfjle  ift  bem  gegenüber  offenbar  eine  jweite  3luSbel}nung,  in 
ber  fid)  bet  Strom  beS  Seelenlebens  in  größerer  ober  geringerer 
Sr  eite  bewegt.  'Drittens  enblid? — unb  leidfjt  $u  unterfdjeiben 
oon  ben  beiben  früheren,  bilbet  bie  $rt  unb  Seife,  toie  unfere 
©efüljle  — abgefeljen  oon  il)ter  befonberen  Dualität  — fid? 
weiter  entwicfeln,  fid?  behaupten  ober  oorübcrgeljen,  eine  britte 
SluSbeljnung,  pjir  fönnen  fie  bie  Siefen »IDimeufion  beS  Seelen» 
lebenS  neunen.  Sie  wir  bie  Äßrper  feljr  oerfdjieben,  halb  in 
ber  einen,  halb  in  ber  anbern  unb  britten  üDimenfioit  Jjaupt» 
füdjlid?  auSgebeljnt  fitiben,  fo  jeigen  fid?  ttnS  aud?  bie  ÜJtenfdjen 
in  jeber  ber  eben  angebeuteten  DRidjtungcu  feljr  oerfdjieben  ent» 
wicfelt.  ©8  giebt  SDienfdjen,  man  nennt  fie  gemeinhin  Set* 

(3<S9) 


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24 

ftanfceömenfc^cn,  bie  ebne  merflidje  ©efüblSwärme  nur  für  ge* 
wiffe  2lrten  oon  ©efüblSbefriebigungen  (©elb,  @bre  u.  bgl.) 
raft»  unb  rücffit^teloö  tbätig  finb,  für  aQe@  ’Jlnbere  aber  ficfy 
üötlig  unempfänglid)  geigen.  SÄnbete  bagegen  legen  für  alle  mög» 
lidjen  ©efüblSarlen  eine  lebhafte  ©mpfänglid)feit  an  ben  Jag, 
ohne  jebod)  für  bie  einzelnen  leitet  erregten  ©efüljle  eine  an» 
bauernbe  Jfyatfraft  ober  eine  tiefere  (Smpfinbung  gu  befi£en. 
Söieber  anbere  geigen  ficfy  non  ben  in  ihnen  erregten  ©efüblen 
tief  ergriffen  unb  au&erbem,  bafj  fie  ber  Serwirflidjuug  betfelben 
in  mehr  ober  minber  energifdjer  SBeije  nadjftreben,  geigen  fie  fidj 
»on  ben  fecunbären  SRacbwirFungen  il)rer  ©cfüble  in  ihrem  in* 
nerften  ©emütbSleben  anbauernb  beljerrfcbt.  2luf  ben  fetjr  mau* 
nitbfad)  oerfd)iebeneu  SSerfyaltniffen  biefer  Qfntwidelungen  berufen 
bie  ffieri'djiebenljeiten  ber  Jemperamente  unb  G^arattere,  worauf 
id?  cieDei^t  nod)  gurfuffomme.  Slber  aud)  jebeS  eingelne  ©efüljl 
bat  fein  befonbereö  Jemperament  unb  feinen  inbioibuellen  ©ba* 
rafter,  inbem  e8  baö  einemat  gur  gwar  tljatfräftigen,  aber  gleich* 
mütbigen  Jpaublung  führt,  wie  g.  S.  bie  ©efüljle,  bie  un8  alle 
Jage  ohne  grofee  ©emütbSbemegung  gur  bauernbeu  unb  oft  an* 
geftrengten  SerufGerfüllung  treiben,  ein  anbermal  eine  breitere 
©ntwicflung  beö  ©efüblSlebenö  geftattet  unb  unö  für  ga^Ireid^e 
©efüblSeinbrücfe  neben  fidj  etnpfänglidj  macht,  melier  SSrt  etwa 
ba8  groljgefübl  be$  wanbernben  Jouriften  ift,  ba8  ihn  mit  offenen 
Sinnen  alle  fidj  iljm  barbietenben  ©inbrücfe  be^aglid)  geniefjenb 
aufne^men  läfjt,  wabrenb  e8  enblid)  brittenS  bie  Strt  mandjer 
©efü^le  ift,  fidj  tiefer  unb  tiefer  in§  ©emütb  eingubo^ren,  wie 
ein  Saum  immer  neue  SEBurgelauöläufer  immer  tiefet  inö  @rb» 
reich  ^inabtreibt,  wie  etwa  bie  9lngft  um  b.ie  9lotb  entfernter 
Sieben  ober  baä  feurige  ©ebnen  einet  jung  auffeimenben  Siebe, 
weldje  beibe,  mit  fdjrecflicben  ober  wonnigen  Silbern,  bie  $>ban* 

(370) 


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25 


tofie  erfüllen,  ©efüfyle  übet  ©efühle  b«cortufen,  biß  fd>lie%ltc^, 
wie  man  gu  jagen  V’fleflt,  baß  Her3  biß  gum  ©pringen  ootl  ift. 

ÜJlit  biefer  wuchernben  (Sntwicflung  in  bie  liefe  haben  wir 
cß  nun  gn  thun.  Sit  wollen  nun  einmal  bem  3?erlauf  unb 
Slblauf  irgenb  eitieß  beftimmten  ©efüljlß  folgen,  um  fowohl  übet 
bie  Slrt  unb  Seife  beß  (SJefühlßoerlaufß,  alß  aud)  über  bie  an  ben» 
felben  fid)  fnüpfenben  ©ecunbär--©efühle  wenigftenß  baß  Haupt* 
fäc^üe^fte  gu  erfaffen.  Sir  wählen  3U  biefer  Unterfucbung  ein 
raöglichft  einfaches  (Slementargefühl,  nur  non  genügenber  ©tärfe, 
bamit  eß  bie  eingelnen  (Sntwüflungßphafen  mit  einiger  ^Deutlich* 
feit  hetoortreten  laffe,  3.  33.  ben  junger.  5?ie  nächfte  B^lge 
ift,  wiffen  wir,  baß  23egebren  nach  ©peife  unb  Sranf  unb  bie 
33ornahme  oon  J^anblungen,  bie  unß  33efriebigungßmittel  oer» 
fchaffen  feilen. 

3unächft  fällt  in  bie  2lugen,  bah  femohl  bie  ©tärfe  bet 
©efiihle,  wie  auch  bie  gröbere  Seidjtigfeit  ober  ©cfywierigfeit 
itjrer  ©efriebigung  bie  allemrfcbiebenften  ©efühlßlagen  3ur  golge 
haben  muff.  ©0  treten  fchwadje  Hungergefühle  auf,  balb  nach* 
bem  bet  3uftanb  ber  ©ättigung  feinen  H>ö^epunft  überfd^ritten 
hat;  nod)  aber  werben  fie  längere  Beit  burd)  anbere  Snterefjen, 
^Pflichtgefühl,  Slrbeitßeifer  u.  f.  w.  3urücfgebrängt  unb  unbeachtet 
gelaffen,  biß  fie  Rohere  ®rabe  erreichen,  alß  Appetit  ober  Hunger 
mehr  unb  mehr  in  ben  3$orbergrunb  treten  unb  mehr  ober  weniger 
gebieterifch  23efriebigung  ^eifc^en.  ©ehr  oerfchieben  ift  nun  bet 
§all,  je  nabhbem  bie  Mittel  31er  33efriebigung  bequem  3ur  Hanb 
ober  febwer  erreichbar,  in  ihrem  Erfolge  gewifc  ober  ungewifj 
finb.  ©0  befinben  fid)  in  gan3  oerfchiebener  ©emüthßlage:  ber 
wchlh«benbe  ©efchäftßmann,  ber  fein  Gomteir  fd)lief)t  unb  nach 
Haufe  geht,  um  fidj  an  eine  wohlbefteDte  Safel  31t  fe^en,  ber 
hungrige  Sauberer,  ber  noch  einige  taufenbmale  bie  33eine  3U 
frümmen  unb  gu  ftrerfen  hat,  ehe  er  ein  gweifelljafteß  Sirtbß* 

(3JJ) 


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26 


hauß  gu  erreichen  hoffen  batf,  ober  ber  0?eifenbe  in  umrnrthbarer 
©egenb,  bem  ber  $)rociant  außgegangeit  unb  beffen  Sättigung  oon 
einem  gufäHigen  3«gbglücf  abhängt,  ober  ber  9lrme,  ber  ohne  einen 
^Pfennig  in  ber  Safere  feinen  fnurrenbeit  ÜJJagen  an  leefer  buften* 
ben  ©arfüdjen  »orüberfütjrt,  ober  ber  jdfreieube  unb  gappelnbe 
Säugling,  ber  nur  bie  Dual  beß  ^ungerS  fühlt  ohne  überhaupt  ein 
SDlittet  ber  21l'hülfe  gu  wiffen.  — Söir  fehen,  wie  um  ein  »er* 
gleichßmeife  fo  einfadjeß  ©efüljl  wie  junger  fidj  fo  gang  »et* 
fdjiebene  ©efüßlßlagen  in  größter  5Jlannichfaltigfeit  gruppiren. 
33on  ber  ©emißheit  balbiger  genußreicher  Sefriebigung  ber  frohen 
(Srmartung,  gur  mehr  ober  minbet  guoerfidjtlichen  Hoffnung, 
welche  übergeht  iu  mehr  ober  weniger  hoffnungßrmHen  3»»eifel, 
gut  gweifelnben  Sorge,  gur  bangen  gurdjt,  gut  fümmerltchen 
IRathlofigfeit  unb  gur  blaffen  23ergwciflung  — eine  lange,  reich 
mobulirte  Tonleiter.  Unb  felgen  mir  in  biefelbe  ftatt  beß  jpungerß 
ober  ©urfteß  irgenb  ein  anbereß  ©efüßl,  fo  ift  flar,  baß  baffelbe 
gu  ebenfo  manidjfach  mobulirten  Secunbär=@efühlen  Stnlaß  geben 
fann,  nur  baß  je  nach  ber  größeren  ober  geringeren  Söidjtigfeit 
beß  ©runbgefühtß  bie  gebßaftigfeit  ber  Stufenleiter  eine  ent* 
predjenbe  Ülenberung  erleibet.  So  madjt  eß  natürlich  einen  ge; 
waltigen  Unterjdjieb,  ob  eß  fidj  um  ©jfen  unb  Jrinfen,  um  bie 
Setraditung  eine«  Äunftwerfß,  um  baß  Sawort  ber  ©eliebten, 
©eminti  ober  SBerluft  oon  SBermegen,  Seben  ober  Job  geliebter 
fPerfonen  unb  bergleichen  hanbelt.  3ft  bie  3<*hl  ber  ^rirnait* 
©efüßle  feßon  unüberfehbar  groß,  fo  ift  eß  faum  minber  bie 
3aßl  ber  möglidien  Söiobulationen  berielben,  beibe  3ahleit 
einanber  multiplicirt  würben  alß  fProbuft  erft  bie  3ubl  ber  ba* 
mit  gegebenen  ©efühlßoerfchiebenheiteu  liefern.  Unb  babei  haben 
wir  eß  erft  mit  einer  eingigen  unb  gmar  giemlich  eiitfabhen  Jfom* 
bination  gu  tßun,  nemlich  mit  bem  93erhältniß  beß  ©efühlß  gut 
SDiöglidjfeit  feiner  Sefriebigung. 

(31i, 


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27 


Sit  befinben  unS  mit  biefen  ©efühlSmobifif.ttiouen  ge» 
wiffermahen  noch  in  ben  Bothöfen  beS  eigentlichen  ©efühlSoer» 
laufeS. 

Sir  wenben  unS  nun  gum  ©efühlSoerlauf  felbft,  unb 
jwar  gunächft  311m  allgemeinen  @ef ü^tSoerlauf,  b.  h-  bie 
Art  unb  Seife,  wie  ©efühle  auf  einanber  folgen;  biefe  Art  unb 
Seife  fann  fehr  oetfdjieben  fein,  baS  Stempo  unfetet  ©efühtS* 
etregungen  fann  ein  fdjneKeS  ober  langfameS  fein,  ober  eS 
fönnen  gleichartige  ober  heterogene  ©efühle  auf  einanber  folgen. 
Auf  bem  Sempo  bet  ©efühtSfolge  beruhen  gum  SEheil  bie  ©e* 
fühle  ber  Sangen»  unb  Äutgen^  Seile,  nur  ift  babei  gu  be* 
a^ten , bah  und  auS  oerfchiebenen  ©rünben  bie  3eit  lang  «erben 
fann,  3. B.  aud)  wenn  eine  fehnlicf)  gehegte  ©rwartung  fich  nicht 
erfüllen  will ; wah*enb  bie  Aufeinanberfolge  gleichartiger  ober  ber 
Sedjfel  heterogener  ©efühle,  ©efühlSoerhaltniffe  heroorruft,  bie 
ben  aefthettfdjen  ©efüljlen  ber  Jparmonie  unb  SDifjonang  analog 
finb  unb  uns  eine  einfarbige  in  Seib  ober  greube  ftatiouaire 
ober  eine  wechfelooll  bewegte  Stimmung  ober  eineu  unerträg» 
lidjen  Sirrwarr  einanber  wiberfprechenber  unb  burchfreugenbet 
©efühle  eerfchaffen. 

Sichtiger  noch,  unb  tiefer  in  bie  Sache  einfütjrenb  ift  bie 
Betrachtung  beS  fpeciellen  ©efühl8*Berla  uf  S b.  h-  bie  Be* 
trachtnng  ber  Art  unb  Seife,  wie  ein  beftimmteS  eingelneS  ©efühl 
feinen  Berlauf  nimmt,  ©efühle  finb  fReigguftänbe,  angenehm  ober 
unangenehm  empfunbene  fReroenprogeffe,  ©rregungen  oon  8uft 
ober  Unluft.  $)atin  liegt  mit  ÜRothwenbigfeit,  bah  jebem  ©e« 
fühle  eine  Seubetig  be8  Begehrens  b.  h-  ber  Annäherung  ober 
Abwehr  beö  IReigeS  gum  ©runbe  liegt.  3ebem  ©efühle  folgt  mit 
SRothwenbigfeit  feine  {Reaftion.  2)ie8  ift  ein  Baturgefet), 
ebenfo  unbeftreitbar  unb  ebenfo  ausnahmslos,  wie  bah  ber  empor* 
geworfene  Stein  wiebet  herunterfäHt.  5?«  JReaftionen  ftnb 

(37J) 


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28 


»ielfad)  unb  »ielartig.  3hrcm  utfpitnglid}en  SBefen  nad)  finb 
fie  förpetlidje  Bewegungen.  ©iefe,  anfänglich  unficher, 
roh  unb  ungefd)icft,  (JReflej:* , Saft*  unb  Ber)ucb8=Bewegungen) 
»ercellfomnmen  fidj  im  Saufe  beb  Sebenb  allmählich,  werten 
erlernte,  geübte  uub  gecrbnete  Bewegungen,  bewußte  unb  burd)» 
backte  £anblungen.  (Sb  femmen  alfo  folgenbe  Momente  in 
Betracht.  A.  ©ie  2lrt  unbSSeife  bet  IReaftion.  B.  ©er 
(Srfolg  berfelben.  C.  ©ie  ©auet  b e 8 ©efühlb  bei 
mangelnbem  (är folge  ober  trof$  beffelben.  D.  ©et 
©rab  b e 8 © e f ü l)  18  unb  bab  Betmögen.  E.  Umrnanb* 
lungen  beb  ©efühlb. 

A.  ©te  2lrt  unb  SBeife,  wie  wir  auf  ein  ©efftfyl  teagiren, 
fann,  wie  erwähnt,  eine  fel)t  »erfdjiebene  fein,  ebenfo  terfchieben 
ift  bie  SRutfwirfung  ber  SReaftion  auf  bab  ©efiihl.  (Such  bab 
©enfen  l)aben  wir,  wie  gefagt,  al8  eine  Slrt  »on  ©efühlbreaftion  > 
aufjufaffen.  SEöir  galten  unb  aber  ^unächft  an  bie  leidster  »er» 
ftänblidjen  IReaftionen  burd)  forderliche  Bewegungen. 
£ier  fällt  fogleid)  in  bie  (Äugen:  1.  ©ie  unmittelbare, 

willfüt  liehe  SOi u8felaftion,  welche  bireft  auf  (Annäherung 
ober  (Abwehr  beb  Sficijtee  geridjtet  ift.  ©ieb  ift  bie  widjtigfte 
unb  roefentlichfte  21  rt  ber  (Reaftion,  bie  ohne  Umweg  fofort  auf 
il)t  3id  lobgeht.  ©ie  fi$en  an  einem  überljeigten  Dfen  — 
unb  »erlaffen  ihren  (piafj,  ©ie  ^aben  junget  unb  nehmen 
©pei|e  u.  f.  w.  @8  folgen  nun  einige  fReaftionfiarten,  bie  an« 
fdjeinenb  bem  Bwerfe  einer  ©efühlbreaftion  gar  nicht  entsprechen, 
bie  fogar  geeignet  erfdjeinen,  ber  eben  erwähnten  eigentliche» 
fReaftion  Abbruch  ju  tljun,  bie  in  SBirflidjfeit  aber  Weber  ju* 
fällig  noch  aud)  entbehrlich  finb.  ©afyin  gehört:  2.  ©ie 
mimifche  IReaftion  b.  h-  eine  Bewegung,  bie  nur  bem  (Aub» 
brude  b e8  ©efühlb  aber  nicht  ber  Bejdjwidjtigung  beffelben 
ober  ber  Befriebigung  beb  Bebürfniffeb  biente.  3-  23-  ©dreien 

(374) 


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t>or  ©cbmevg,  Rubeln  cor  $reube,  ©eberben,  OJiienenfpiel.  2 )ab 

firtb  9Web  fcfceinbar  gan3  unnüije  ©inge  unb  in  ber  2^at  fönnen 
wir  eb  alb  ganj  allgemein  gütigen  ©rfabrungbfaß  entnehmen,  baß 
je  mehr  ein©efiil)l  in  folgen  mimifcben  3leußerungen 
f i d>  entlabet,  befto  weniger  (Energie  für  bie  unmittel* 
bare  SLljat  übrig  bleibt,  woher  bab  Sprichwort:  „ftifle 
2Saffer  finb  tief"  jum  J^eil  feine  Segrünbung  fdjöpfte.  3nbeß 
fo  gan$  unnüß  finb  bo<b  aud>  biefe  ©efül)lbentlabungen  nicht. 
Schon  ber  eine  Umftanb,  baß  in  ben  Bereich  ber  mimifdjen 
Bewegungen  ber  Urfprnng  ber  Sprache  fällt,  beb  älteften 
unb  ohne  alle  grage  wicbtigften  Äulturmitlelö  ber  ÜJienfdjljeit, 
muß  unb  non  feiger  Meinung  gutütfbringen.  3m  Uebrigen 
gilt  »on  ben  mimifcben  Bewegungen  baffelbe,  wab  non  ber  fol* 
genben  Oieaftionbart  3U  fagen  ift.  ©ieb  ift:  3.  SD i e beglei* 
tenbe  organifdte  fReaftion.  SDiefer  l^abe  id)  fdjon  gebenfen 
müffeit , alb  idt  bie  afficirenbe  ©inwirfung  ber  ©efüble  auf  ben 
.Körper  befcbrteb.  ©ie  Anregung  neu  ©rüfentfjätig feiten  aller 
3lrt,  3.  B.  ber  ©peidjel,*  ©bränen*,  ©arm*,  Sepual=©rüfen,  bie 
»afomotorifebe  ©begleit  b.  b-  bie  Berengcrnng  unb  ©rwei* 
terung  ber  Blutgefäße,  worauf  3.  B.  bab  ©rretben  unb  ©r» 
blaffen  beruht,  Befcblcuuigung  ober  Berlangjamung  beb  ^erj* 
fcplageb  unb  ber  SUbmung  u.  31.  geboren  bievljcr.  5Ran  fönnte 
auch  biefe  Slbätigfeiten  für  überflüffig  ju  halten  geneigt  fein.  3n 
SEBabrtjeit  aber  finb  fie  nicht  minber  wichtig  alb  bie  uorber* 
gebenben.  Ueberbaupt  bat  «ran  »ont  pbvfiologifchen  Staub* 
punfte  pfer  faum  bab  9ied)t,  bie  eine  SL^ätigfeit  oor  ber  anbern 
mißlich  ober  groeefmäßig  gu  nennen.  vMe  bie  bejeichneten  5Re* 
aftionbtbätigfeiten  finb  gleich  notbwenbig,  cb  finb  notbwenbige 
©ntlabungen  beb  ©efüblb,  nicht  minber  notbwenbig,  wie  bie 
©ntlabuug  eineb  mit  ©leftricitat  gefüllten  Äonbuftorb.  ©ie 
fRe^bewegung , welche  bab  ©efübl  bemorruft,  fann  unmöglich 


30 


in  ber  fenfiblen  Gnbgelle  im  JRücfenmarf  bgw.  Gefytm  ^patt 
machen,  fie  muf$  notfywenbig  unb  gwar  na$  bent  99tafje  ityrer 
3ntenfität  weiter  unb  weitet  um  fidj  greifen.  Gin  blofj  paffioeS 
Gefitld  ift  pl)9fiologifd)  unb  pfectyologifd)  etu  llubing.  3a,  bie 
wiflfiirlidje  93tu8felaftion , bie  wir  un8  gewöhnt  Ijaben  als  bie 
.^auptfadje  aüer  GefiiljlSreaftion  3U  betrauten,  ift  ba8,  wag  fte 
ift,  nid)t  »on  ^aufe  au§  gewefen,  fonbern  auf  bem  langen  SBege 
aHmäfylicf)er  Gewöhnung,  Uebung  unb  Grlernung  erft  geworben, 
©ie  mimifdjen  unb  begleiteuben  Steaftionen  finb  aber  nidjt 
blofj  nottjwenbige  Gntlabungen  be8  Gefiil)l8,  fonbern  fie  finb  a!8 
fcldje  aud)  fyöcfyft  widrige  ÖluSgleidjungen  be8  butd)  bie 
fReigbewegung  geftßrten  pfyjfiologifdjen  Gleid)gewid)tg.  ©ie8 
l)at  man  in  neuerer  3«it  an  einem  Beifpiel,  bem  Sachen,  in 
eclatunter  SBeife  bargulegen  oermodjt.  Gnblid)  4.  ©ie  mittel» 
bare,  fyemmenbe  ober  ifolirenbe  ©efül)l8rea ftion  be* 
ftefyt  barin,  bafj  jcbeS  ftärfere  Gefühl  bie  Slenbeng  fyat,  alle 
gleidjgeitig  ueben  itym  befteljenben  fdjwädsereu  Gefühle  gn  unter» 
brücfen,  bie  non  ifynen  au8  eingeleiteten  Bewegungen  3U  tyemmen, 
baburd)  ba8  ^jauptgefiifyl  gu  ifoliren  unb  bie  non  itym  au8  ein» 
geleitete  wiUfür!idf>e  SHuSfelaftion  ungeljinbert  butd)  anbere  gum 
äblauf  gu  bringen,  ©iefe  fyemmcnbe  unb  ifolirenbe  Söitfung 
ift,  wie  auf  ber  ,£>anb  liegt,  gugleid)  ba8  wefentlidje  Befyifel  bet 
©enfentwicflung , ba  otyne  biefelbe  feine  Ginfyeit  be8  Bemufjt» 
fein8  unb  folglich  audj  fein  ©enfeu  möglich  wäre. 

G8  liegt  nun  auf  ber  £>anb,  bafj  alle  biefe  9teaftiou6arten 
baS  urfprüuglidje  Gefühl  ertjeblid)  mobificiren  muffen,  $bge*  _ 
fefyen  com  Grfolge,  ben  wir  erft  weiterhin  in  Betratet  gieren, 
tyat  jebe  Sicaftion  notljwenbig  bie  SSirfung,  eine  Gntlabung  be8 
Gefühls  unb  Ifomit  eine  Sinberung  beffelben  tjerbeigufüfyren. 
■Biel  leidjter  wirb  g.  B.  ein  ©djmerg  ertragen,  wenn  reidjtidje 
£l)tänengüffe  iljn  begleiten  ober  SBe^flagen  unb  3ammern  iljm 

(3J6) 


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31 


lauten  ?tuSbrud  geben,  als  wenn  ber  ^Betroffene  in  bumpfem 
©djweigen  ihn  in  fid>  »erfchliefjt.  Kbenfo  will  eine  grofce 
§reube  ftd)  auSleben  in  Subeln,  Sachen  unb  ÜJlittheilungen  an 
bie  greunbe,  in  bie  eigene  S3ruft  »erfdjloffeu  briicft  fie  baS  £erg 
ab,  wirb  auS  ber  Suft  eine  Saft.  Kbenfo  macht  eS  einen  großen 
Unterfc^ieb , ob  wir  einer  brofyenben  ©efaljr  ober  einem  einge* 
tretenen  Unglücf  gegenüber  eine  ruhige  S^ätigfeit  entfalten 
fcnnen  ober  gu  müßigem  Krbulben  gejwungen  finb;  ob  wir  ade 
unfere  ©ebanfeu,  unfre  gange  ,ftraft  auf  bie  Ueberwältigung 
eines  UebelS,  auf  bie  9lu8nuf}ung  eines  unS  gugefadenen 
©lüdeS  concentrireu  fonnen,  ober  mit  unfren  ©ebanfeit  unb 
SBeftrebungeu  gleidjgeitig  nad)  nerfdjiebenen  9iid)tungen  hi«'  unb 
hergegerrt  werben. 

SBir  betrauten  jefit  B bcn  Krfolg  ber  ©efühl  Sreaf» 
tion  unb  feine  fRücfwirfung  auf  baS  utfprüngliche  ©efühl. 
3)er  Krfolg  fann  fein  ein  völliger  (totaler)  eilt  ttyeilweifer 
(partialer)  unb  ein  negatieer  (SRifjUngen).  3e  nachbem  nun 
baS  ursprüngliche  @efül)l  ein  angenehmes  ober  unangenehmes, 
gegenwärtiges  ober  gufünftig  »orgeftedteS  ift,  je  nacbbem  eS  fid? 
alfo  barurn  h^nbelt,  ein  angenehmes  ©efühl  feftguhalten  ober 
herbeigufühten,  ein  unangenehmes  gu  befeitigen  ober  gu  »ermeiben, 
ergeben  fid)  auS  bem  totalen,  partialen  ober  negatiuen  Krfolge 
burdj  Kombination  »erfcbiebene  ©efühlSlagen,  bie  ich  nicht  ade  im 
Kingeinen  ^xcr  »orguführen  braudje,  ba  ein  Seber  »on  3h««»  fte 
©ich  felbft  »orgufteden  »ermag.  3)ie  SBirfung  beS  KrfolgeS  aufs 
©efühl  ift  eine  hoppelte:  a.  SDaS  urfprüngli che  ©efühl 
wirb  butdj  benfelben  aufgehoben  ober  ueränbert.  ©o 
wirb  ein  unangenehmes  ©efühl  burd)  totalen  Krfolg  ber  Sie* 
aftion  »ödig  aufgehoben,  unb  eS  tritt  an  feine  ©tede  baS 
normale  ©efunbheitSgefühl , aber  au«h  baS  angenehme  ©efühl 
bei  »ödigem  JBefriebigungSerfoIge  oermag  fich  nicht  lange  auf 

(»77) 


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32 


feinet  ^)öt>e  311  erhalten,  foubetn  fliugt-in  ©ewobnung,  Sätti» 
gung,  Ueberbrufj  auß.  3n  anbeter  aber  analoger  SBeife  Fönnen 
Sie  Sid)  bie  mobificirenben  SBitfutigen  bcS  partialen  ober  uega« 
ti»en  33efeitigungß*  ober  3?efriebigungß»@rfolgeß  Selbft  »ot* 
fteUen;  auch  l)ier  fpielt  bie  ©ewöbnung  jum  Sbetl  in  bcr  gornt 
ber  JRefignation  eine  grofte  IRolle.  '2IOe  biefe  burät  ben  ©r« 
folg  bewirften  ©efüblßmebififationen  erleiben  ibrerfeitß  eine 
weitere  ÜJiobififation.  b.  ©urd)  bie  ben  ©rfolg  felbft  be* 
gleitcnben  Slffefte.  ©er  totale  ©rfolg  erregt  greube,  bet 
negatioe,  baß  9Jlifslingen,  iRerbrufj;  beibeö  in  mannigfacben  Äb* 
tönungen , je  nadr  bcm  ©rabc  beß  ©rfelgeß  ober  SJJifjerfolgeß 
unb  in  mannigfad)  abgeftuften  ©raben  je  nad)  bem  ©rabe  ber 
»ort)er  aufgewenbeten  unb  jefjt  mit  ©rfolg  gefrönten  ober  oer- 
eitelten  5Jtül)e.  ©iefein  letttercu  Umftanbe  ^aben  wir  eß  guju* 
fdjreibett , baf)  ber  mübjam  erworbene  23efifc  työfyet  geartet  unb 
jäber  feftgel)alten  wirb  alß  ein  burd)  glücflidsen  3itfaU  erlangter. 

C.  ©ie  ©auer  beb  ©efüblß  bängt  gunädjft  in  ber 
SBeife,  wie  ich  e8  joeben  angebentct,  oon  bcm  ©rfolge  ber  fRe= 
afticn  ab.  Sdjnell  unb  leidjt  bcfricbigte  @efüt)Fe  fitib  non 
Furier  ©aner,  mübeloß  errungene  Lorbeeren  werben  weber  im 
.Stiege  nod>  in  ber  Siebe  gefdjä^t,  aber  Sd^wierigFeiten  reijen 
unb  baß  nitimur  in  vetitum  l)at  I)icr  feinen  ©vunb.  3n  pä* 
bagogifdjer  ^)infidbt  Fann  biefer  $>unft  ttidjt  genug  beherzigt 
werben,  ©ie  blafirenbe  unb  alle  fittlicbe  ©nergie  lähmende 
SBirFung  einer  jn  leisten  ©rfüllung  aller  SBiinfche,  einer  ©e* 
Währung,  bie  oft  felbft  bet  ©ntroicflung  beß  Sebütfniffeß  »oran* 
eilt,  ift  allen  ©Item  unb  ©rjieljern,  bie  eß  mit  ihrer  heben 
^flid)t  ernft  meinen,  beFannt  genug.  Slufcer  »cm  ©rfolge 
bängt  bie  ©efiiblßbauer  »om  3ntcnfitätßgrabe  beß  ©efiiblß  ab. 
3e  ftärfer  ein  ©effibl,  befto  jpäter  erreidjt  eß  ben  ©ättignngß» 
punft,  befto  länger  wiberftebt  eß  ber  5Kad)t  ber  ©ewöbnung, 

P78) 


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33 


befto  labiler  unb  fünftlichet  ift  baß  erzwungene  Eieichgewicht  im 
ntühfam  errungenen  ©tanbe  bet  Oiefignation,  bereit,  beim  Hein« 
[ten  Slnlafj  wieber  zur  «ollen  ^iö^e  beß  früheren  Siffeftß  empor« 
gulobetn.  Enblid)  würbe  noch  bie  2lrt  ber  ®ef  ühlßentlabung 
(ftürmifd^e  Slußbrüche  confumiren  ein  Eefütjl  fchneHer,  baljer  baß 
länblidje  Sprichwort  „je  bßHer  gefchrien  je  bälber  geftieen"  [ge= 
freit])  unb  bamit  zufammenhängenb  bie  allgemeine  Eemüthßbe» 
fdjaffen^eit  (Temperament,  Eharafter,  (Dißpofition)  alß  bebingenbe 
gaftoren  für  bie  SDauet  ber  Eefühle  in  Setracht  femmen. 

Stu8  biefen  Etünbcn  ift  bie  5)auer  ber  Ecfüljle  jehr  «er« 
fdjieben;  eö  giebt  ganz  flüchtige  fd>netl  «ergängliche,  ephemere 
Neigungen,  Saunen,  Einfälle.  Eß  ift  merfwürbig,  wie  fdjnell 
rein  finnlic^e  Eefühle,  felbft  uou  ziemlicher  ©tärfe  z-  SB.  ^eftifle 
©d)metzen  hi8  auf  ganz  unbeftimmte,  oerblafjte  Erinnerungen 
»ergefjen  werben.  Eben  hierauf  beruht  bie  2krgänglich!eit  mancher 
blofj  auf  ©innengeuufj  bafirter  8iebeß«$crhältniffe,  bie  nach 
furzem  {Raufche  ebenfo  rajdi  erfalten,  alß  fie  fich  entzünbet 
hatten.  Slnbere  Eefüljle  bagegen  haften  unaußlöfchlidj  tt)eilß  bie 
ganze  Lebenszeit,  theilS  bie  beften  unb  rüftigften  3ahre  l)inburd) 
im  Sewufjtfein  unb  fönnen  immer  nur  auf  ÜJtomente  barauS 
«erbrängt  werben.  2>ieß  finb  namentlich  bie  moralifdhen, 
b.  h-  jene  hoch  fomplicirten  Etuppeugefühle  bet  ©elbftliebe, 
beß  Ehrgefühl«,  her  ©pmpathie  unb  Autorität,  Eltern»  unb 
Äinbeßliebe,  $)atriotißmuß. 

fragen  wir  nun,  welchen  Einfluf}  bie  SDauet  eineß  Eefühlß 
auf  beu  Eharafter  beffelben  übt,  fo  ift  z«nächft  z«  erwägen,  baf) 
bie  gortbauer  eineß  Eefühlß  nicht  etwaß  fo  einfadjeß  ift,  wie 
etwa  bie  gortbauer  eineß  ©teineß  ober  23alfenß.  2)ie  2>aner 
eineß  Eefüljlß  wirb  immer  oon  Seit  Zu  Beit  burdj  längereß  ober 
fürzetefl  S3ergeffen  unterbrochen,  ja  unb  man  fönnte  felbft  fragen, 
ob  baß  nach  e'ner  folgen  Tlerbrängung  wieber  im  99ewuf)tfein 

XI.  SflS».  3 (379) 


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34 


etfdjeinenbe  ©efül)l  bann  nod)  baffelbe  fei  wie  porter.  Aber 
aud)  wäftrenb  bet  Beiten  Doflfter  Affinität  bat  baS  ©efül)l  fid) 
gewiffermaften  gu  behaupten,  gegen  anberc  bem  93ewufttfein  fid) 
aufbrängenbe  ©efütjle,  (Sinbrücfe,  9$orfteQ  ungen.  Darauf  beruht 
nwn  bev  ©influft  ber  Dauer  auf  baS  ©efiibl.  Daffelbe  fdjleift 
fid)  bitrd)  bie  fortwäftrenbe  fReibung  unb  ben  äBiberftanb  anbeter 
@efül)le  unb  SBorfteD  ungen  ab,  audi  bleiben  bei  bem  jebeS* 
maligen  SSieberbewufttwerben  Heinere  ober  größere  ©ntlabungen 
nid)t  auS.  Durd)  alles  baS  wirb  baS  ©efül)l  fdlter , ftumpfer, 
gewöhnter  unb  fd?wäd)ere  ©efüftle  werben  burd)  biefen  9>rogeft 
bis  gut  ©leidjgültigfeit  abgeblaftt.  ©tärfere  ©efiil)Ie  Der  Her  en 
gwar  ebenfalls  ein  SBenig  an  gebftaftigfeit  unb  frifdier  Äraft, 
aber  fie  werben  baburd)  um  fo  fjartuäcfiger,  gäl)er,  fo  gu  fageu 
raffinirter  unb  gewiegter.  Bubem  ein  foltbeS  ©efitl)l  als 
mächtige  9?egierbe  aHmäfttid)  metjr  unb  mel)t  bie  $H)antafie  er« 
füllt,  gal)lreid)e  fßorftellungen  mit  bem  ©egenftanbe  beS  93e= 
gefyrenS  in  fßerbinbung  bringt,  fdjlägt  fie  nad)  allen  fRid)tungen 
SBurgeln,  befeftigt  fid)  mehr  unb  mehr  unb  broftt  bie  Allein« 
berrfdjaft  im  ©emütl)8=  unb  SBorftellungSleben  an  fid)  gu  reiften. 
@8  ift  ber  Uebergang  gut  geibenfdjaft,  ben  @ie  in  ben  ge= 
gebenen  Anbeutungen  gewift  bereits  erfannt  l)aben. 

9Sir  lommen:  D gum  ©rabe  beS  ©efüblS,  womit  eng 
gufammen  l)ängt:  bie  8el)re  com  93er mögen.  Daft  unfrc 
@efüi)le  einer  groften  ©rabDerfd)iebenl)eit  fähig  finb,  baft  ein 
unb  baffelbe  ©efüftl  jeftt  unmerflid)  fdiwad),  jeftt  witber  iu 
ftberwältigenber  Sntenfitnt  auftreten  fann,  tel)ri  bie  täglidje  @r= 
faljrung.  @S  ift  aber  fel)t  ferner  ober  eigentlid)  unmöglich,  biefc 
©efüftlSgrabe  gu  befiniren,  gu  meffen  ober  irgenwie  ebjeftip  gu 
fijriren.  9öenn  oon  gweien,  bie  3al)nwel)  l)aben,  ber  ©ine  ruljig 
bafifct,  ber  Anbete  laut  wimmetnb  im  3immer  umberläuft , fo 
fönnen  @ie  im  Allgemeinen  nid)t  Jagen,  ob  ber  lefttere  gröftere 

(38U) 


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35 


Scbmergeu  leibet,  ober  ber  ©rfte  ihnen  eine  größere  moralijdje 
.Kraft  entgegeufeftt.  ©S  finb  bie  wiebtigften  etljifc^en  ©erhält* 
niffe,  bie  eigentlichen  gaftoren  für  bie  fittlidjc  ©eurtheilung  ber 
SDlenfdjeu  unb  ihrer  Jpanblungen , bie  wir  mit  bieiem  ©eijpiel 
berührt  haben.  Wenn  mir  ben  ©inen  einer  gewiffen  SHnftren* 
gung  gewadjfen,  ben  Stnbern  ihr  erliegen,  ©inen  einer  gewiffen 
©erjuchung  nachgeben,  ben  'Jlnbern  fie  beftehen  fetten,  fo  tritt 
uns  cbenfo  wie  in  jenem  ©eijpiele  ber  3ahnid)mergen  bie  gragc 
nach  ben  ot'jeftioen  ©raboerhältniffen  ber  gu  ©runbe  liegenbeit 
angenehmen  ober  unangenehmen  @efül)le  unb  bet  ihnen  bie  'Wage 
haltenben  moralijdjen  Wiberftanbsfräfte  entgegen.  3)ie  alte  bc> 
rühmte  -Streitfrage  wegen  ber  fittlichen  3uredjnung  unb  ©er* 
antwortlichfeit  erhält  getabe  barauS,  bafj  eS  in  ben  beiben  ange» 
gebeneu  ©egiehungen  an  jebem  objeftioen  SDtafjftabe  fehlt,  ihre 
fchlimmfteu  Schwierigfeiten.  Wir  betrachten  ©eibeS  etwas  näher. 

1.  2)en  ©rab  bes  ©efühleS.  S)afj  h‘«  bebeutenbe  ob* 
jeftioe  ©raboerfchiebenheiten  obwalten,  fehen  wir  in  übergeugenb* 
fter  Weife  an  ben  finnlichen  ©efühlen.  £ier  bebingt  fich  bie 
Stärfe  beö  ©efühlß  einmal  burd)  bie  ©tärfe  beS  Steiges, 
— eine  Semperatur  oon  60 — 70  ©rab  giebt  eine  heftigere  ©m* 
pfinbung  als  eine  jolche  oou  20  bis  30  ©rab,  jobann  aber  auch 
burdh  ben  Umfang  ber  Steigung,  ©in  Steig  »on  betfelben 
Sntenfität  wirft  gang  oerfchieben,  je  nachbem  er  Heinere  ober 
größere  Jtörperfläche  SteroenauSbreitung  trifft,  g.  ©.  heifeeS  Waffer, 
wenn  wir  ben  ginger  ober  ben  gangen  'ilrm  eintauchen.  3n 
beiben  ©egiehungen  wächft  bas  ©efühl  bis  gu  einer  gewiffen 
©renge  proportional  mit  ber  Sntenfität  bes  Steiges  unb  mit  bem 
Umfange  beß  Steiges.  2)afc  ähnliche  SteigerungSoerhältuiffe 

auch  bei  ben  höheren  b.  h-  ben  aefthetjf  eben , iutellef  hießen, 
moralifchen,  fowie  ben  ©ntwicflungsgefühlen  obwalten,  unterliegt 

feinem  Baeifel-  3e  ftarfer  unb  intenfioer  bie  ein  ©ruppenge» 

3 * (ssx) 


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36 


fiit)l  confiituirenben  ^aftorert,  je  jablreicher  unb  außgebreiteter 
biejelben  finb,  je  mehr  3been»erbinbungeu  baffelbe  mit  feinem 
8uft«  ober  8eib*3nbalt  burchtränft  bat,  befto  intenfiüer,  befto 
machtoofler  wirb  eß  ftch  erweifen. 

©ß  giebt  alfo  eine  obere  ©ren^e,  übet  welche  btnauß  eine  Stei» 
gerung  beß  ©efüblß  nid?t  mehr  möglig  ift  unb  ebenfc  eine  untere, 
unterhalb  beren  gar  feine  ©mpfinbung  Statt  bat.  IDiefe  beiben 
©reifen,  bie  natürlich  für  »erfchiebene  3nbi»ibuen  unb  für  baß» 
felbe  3nbi»ibuuni,  für  »erfchiebene  Ser»engebiete  unb  felbft  nach 
Umftänben,  Stimmungen  u.  f.  w.  oariiren,  umfaffen  baßjeuige, 
waß  man  bie  SReigempfänglichfeit,  genauer,  bie  abfolute 
Seiaempfänglichfeit  ober  baß  Setmögen  im  weitern 
Sinne  nennt.  3nnerbalb  jener  ©tenjen  entfprechen  ben  »er» 
fchiebenen  Seijgraben  — unter  Umftänben,  bie  mir  noch  nicht  genau 
fairen  fönnen  — balb  angenehme,  balb  unangenehme  ©efühle. 
Sur  im  SlHgemeinen  Iäfjt  fich  fagen,  bah  bie  ftärferen  ber  über* 
baupt  noch  empfinbbaren  Seijgrabe,  fowie  alle  ju  lange  bauern» 
bcn  SRei^wirfungen  Unluftgefüble  erregen,  womit  freilich  nicht 
gefagt  fein  fotf,  bah  bie  angenehmen  ©efühle  jchwächer  feien  alß 
bie  unangenehmen;  bie  jchwäcbften  ber  überhaupt  noch  empfun» 
benen  Seije  erwecfen  wieberum  Unluftgefühle,  wie  Äifjel,  8eere, 
Ungebulb  u.  f.  w.  £>ie  angenehmen  ©efühle  alfo  nehmen  ein 
mittleres  ©ebiet  jwifchen  ben  ju  fch»ad)en  unb  ben  gu  ftarfen 
Seijgraben  ein.  Satürlid)  finb  auch  bie  9teij»@renjen  beß  an« 
genehmen  ©efühlß  ebenfo  »ariabel  nach  inbipibueüer  unb  momen» 
taner  Anlage  unb  SDißpofition  ober  eigentlich  noch  »ariabler,  alß 
wir  eß  »orbin  bei  beu  ©renjen  ber  abfoluten  ©mpfänglichfeit 
fahen.  SDiefe  ©mpfänglichfeit  für  angenehme  ©efühle  bürfeu 
wir  im  ©egenfafj  aut  »origen  relatioe  ©mpfängli chfeit, 
relati»eß  Sermögen  nennen. 

Söaß  hat  eß  nun  mit  ber  oben  erwähnten  fittlichen  SBiberftanbß* 

(382) 


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37 


fraft,  welche  uns  befähigt,  einem  angenehmen  ©efühl  uns  nid)t 
hinjugeben,  ein  unangenehmes  freiwillig  ju  überehmen,  für  eine 
S8ewanbtni§?  Offenbar  ift  fie  baffelbe,  was  wir  im  gewöhnten 
geben:  ©ewiffen,  fittliche  93ernunft,  was  bie  Theologen: 
„SDie  ©timme  ©otteS  in  unS",  bie  älteren  ^fpchologen 
„baS  obere  33egehtungSoermögen"  nennen.  US  ift  un* 
möglich,  au  f°  »orgerücfter  ©tunbe,  bicfe  hochwichtigen  ®egen= 
ftänbe  unb  Probleme  erfdjöpfenb  behanbeln  ju  wollen:  geftatten 
©ie  mir  bähet  nur  bie  Semetfung,  bafj  bie  heutige  ’-pfpchologie 
an  folche  übermenfchliche , ben  übrigen  feelifdjen  Vorgängen 
frembartige  Slermögen  nicht  gern  glaubt,  bafe  fie  minbeftenS 
organif«he  33erbinbungen  unb  33eaiehungen  berfelben  ju  beit 
übrigen  feelifchen  ^roaeffen  unb  Suftänben  oerlangt;  geftatten 
©ie  mir  auch,  3hnen  in  ber  Äürae  meine  ÜJieinung  batgulegen, 
bie  ich  hier  aQerbingS  nicht  näher  begrünben  fann,  bie  fich 
3h«en  aber  bieOeicht  als  eine  natürliche  mit  einer  gewiffen 
SUahrfcheinlichfeit  barbietet. 

®aS  obere  33egehrung8oermögen,  bie  fittliche  33ernunft,  ift 
banacb  fftichtS  anbereS  als  baS  fittliche  ©elbftbewufctjein.  SSie 
baS  ©elbftbewufctfein  im  Allgemeinen  fich  als  ein  s))robuft  ober 
als  eine  refultirenbe  mittlere  Äraft  auS  allen  bemühten  ©eelen* 
auftänben  aufammenfeht,  fo  ift  baS  fittliche  ©elbftbemufjtfein 
eine  fRefultante  aus  all  ben  üerfdjiebenen  ©efühlSrichtungen  unb 
23egehruugen,  beren  baS  betreffenbe  Snbioibuum  fähig  ift.  Ober 
um  in  bem  eben  bargelegten  ©ebanfengange  au  bleiben:  jcbcS 
©efühl,  jebe  ©efühlSgruppe  ober  ©efühlSentwicflung  ift  nach 
SWafjgabe  ihrer  Sntenfität  unb  nach  SJlafcgabe  ber  für  fie  in  bem 
betreffenben  3nbimbuum  oorhanbetten  (Smpfänglichfeit,  ein  Jpin* 
betnifc,  eine  SBiberftanbS fraft  für  alle  übrigen  ©efiihle  unb  9lei» 
gungen.  3e  mehr  3emanb  für  eine  beftimmte  Art  oon 
© e f ü h l e n inclinirt,  paffionirt  ift,  befto  weniger  ift  er 

(i8J) 


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38 


für  onbere  cmpfänglids  <Die  Summe  oller  biefer  SEBiber- 
ftanbßfräfte,  mie  fie  uun  nad)  @rgiel)ung,  @erool)uheiten  uub  jo 
meiter  fid)  cjcbilbct  hat,  ift  für  jebeß  Snbinibuum  eine  anbers 
geftaltete  (Sinheit,  eine  @int)eit,  roeil  eS  bie  2lrt  olles  Drganijchen 
unb  Seelifchen  ift,  fid)  immer  gu  einer  Einheit  gufammengu* 
fd)lie§en.  Sie  macht  baß  auö,  maß  mir  unfet  ©emiffen,  unfre 
fittlidje  Vernunft  nennen.  Unfer  fittlid)eß  Sein  mürbe,  biefer 
tÄnficht  gufolge,  feine  5Jienard)ie  fein,  in  ber  ein  tranßcenbenteß 
sJ>rincip  unumfcbränft  Ijerrfdite,  maß  ber  (Erfahrung  fc  mie  fe 
miberfimcht,  fonbern  eine  Siepublif  einanber  non  Jponfc  ouS 
ebenbürtiger  C^efü^le  nnb  Segierben;  unb  je  nad)  ber  föntmid* 
lung,  meldje  baß  einzelne  3nbinibuum  nimmt,  gelongen  bie 
eblett  b.  h-  baß  eigne  S8ol)l  unb  baß  ber  ©efammtheit  ferberu* 
ben  ober  bie  nerberblidjen  '43egierben  gu  SOiacbt,  (Sinfluf)  unb 
met)v  ober  minber  außicbliefclicher  £errjd)aft. 

Söie  gejagt  mufe  id?  auf  bie  nähere  ‘Jluöfüljrung  biefeß 
Stanbpunfteß  nergid?ten  3“*  Stbmeljr  non  ÜJiifmerftänbniffen 
miH  id)  nur  noch  bemerfen,  baf)  berfelbe  gang  jenfualiftifd? 
unb  epifnröijd)  flingt,  meil  er  bie  gefammte  (Sthif  allein 
auf  bie  8uft*  unb  Unluft-3uftäube  bafirt,  bafj  er  aber  über  ben 
(äpiftftäißmue  unb  bie  it?m  nermanbten  Stonbpunfte  t}inanßge^t, 
inbem  er  eine  natürliche  unb  nothmenbige  0ntmidlung  ber  ©e= 
fühle  gu  einer  neraüuftigen,  fittlirtien  b.  h-  bas  eigne  bauernbe 
Sohl  beö  Snbioibuumö  uub  ber  ü)ienfd)heit  fid?ernbeu  @inl)eit 
iuö  Üluge  fafet. 

3cb  b^tte  nod>  E.  33 o n ben  33ermanbluugen  unb  6 nt« 
midi ungen  ber  ®efül)le  gu  reben,  bod?  l^abe  id)  baß  3i3idj* 
tigfte  batüber  bei  ben  eingelnen  ©ntmidluugsarten  bereits  an* 
gebeutet.  3Bie  midjtig  unb  mie  meitgebenb  — oft  biß  gur  nölligen 
Unerfcnnborfeit  beß  urjprünglidjen  @efül?lß  — biejc  Umbilbungen 
gehen,  mie  es  ber  gut  gegogeiten  Äafce  gur  anbern  Statur  ge* 

fSM) 


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worben  ift,  baß  Vogelbauer  gu  refpeftiren,  jo  baff  fie  it)re  Büttgen 
entrüftet  mit  D^rfeigen  gur  fRaifon  bringt,  wenn  fie  beim  erften 
Slnblicfe  beß  Vogelß  ii)re  natürlichen  Snftinfte  gu  betätigen  füiiene 
madjen,  wie  bie  iiiebe  auß  bem  Untergrunbe  ber  ©efchlechtßfphäre 
alß  mächtige  Sei  benfehaft  emporgewad)fen  unter  ber  3ud)truthe 
3ahthunberte  langer  ©ewohnheiten  unb  ©itten  einen  gang  an« 
betn  überfinnlichei^  ättjerifdjen  ©harafter  angenommen  hot»  fo* 
bah  bem  iiiebenben  jeber  ©ebanfe  an  bie  nataralia  ungart  unb 
inbccent  erfcheint,  baß  unb  oieleß  Shtbere,  maß  bem  nerwanbt, 
ift  3h«en  Sillen  auß  täglicher  ©rfahrung  gut  ©enüge  befannt. 

©er  3wecf  biefeö  Vortrageß  ift  erreicht,  wenn  @ie  auß  bem« 
felben  Cie  Uebergeugung  mit  nach  «pauje  nehmen,  bah  unfer  ©e» 
fühlßleben,  baß  fich  in  ber  JRegel  fo  glatt  unb  hnrmonifd)  in 
unfern  Vruft  abjpielt,  bei  näherer  Vetrad)tung  nicht  minber, 
wie  baß  befanntlicb  mit  bem  ©eben  ber  ftall  ift,  alß  eine  bcd)ft 
wunbetbare  unb  faft  unergrünbliche  ®adje  fid)  erweift.  ©aff 
ein  ©tücf  con  einem  fDlpfterium  barin  fteeft,  baran  gemahnt 
unß  jdwn  bie  tägliche  ©rfaljruug,  wenn  wir  ben  ©inen  ruhig 
unb  ftet  feinen  8ebeitßweg  »erfolgen,  einen  Slnbern  unruhig  h*n 
unb  her*rrcn,  einen  ©ritten  fopfüber  inß  Verberben  rennen 
feben;  wenn  wir  ben  ©inen  in  ben  befd)ränfteften  Verhältniffen 
glüeflid)  unb  gufrieben,  ben  Slnbern  im  Ueberfluffe  elenb  jel)en, 
wenn  wir  überhaupt  biefe  unenbliche  ÜJtannidifaltigfeit  unb  Ver« 
fd)iebenheit  ber  9Jtenfd)en  in  ihren  Vegicrben,  ^affionen,  ©tim« 
mungen,  Faunen  u.  f.  w.  erwägen.  V>ot)l  muhte  ber  ©iepter 
beß  SLaffo  biefeö  9Jtpfterium,  baß  unergrünbliche,  »ielgeftaltige, 
proteußartige  fRätpfet  beß  föienfcpenhergenß  ahnen,  wenn  er  fagt: 

— cß  liegt  um  unß  herum 

@ar  mancher  Slbgrunb,  ben  baß  ©djicffal  grub. 

©od;  hier  in  unfrem  feigen  liegt  ber  tieffte. 


3>ru<t  ocn  l»<br.  Un^tr  (Sl>.  Itftiimn)  in  Ucrlin,  «ibo*fb*ri)erftr.  17  n. 


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3>«r  h 

bcr  Bcutfdjrii  Cidilutgsftrout. 


3$on 

35u<$»wr. 


ßtt Un  SW.  1376. 

93  erlag  Don  Carl  #abe!. 

(iC.  l'abtrit)  sdjt  Ufrlnpsbndihanblncfl.) 

33.  SBHbtlm  ■ Strafe  33. 


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V 


1 

4 


JDfl«  SRed^t  btr  Ufbtrfejjung  {r  frttnb«  ©i>ra<b(n  wirb  eorbttyaltf*. 


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([*«  flingt  ein  geller  Älang, 

Sin  jtfjcne«  beutle«  Sort 
3n  jebem  ^otpgefang 
25er  beutjeben  ÜRänner  fort: 

Sin  alter  ÄSnig  ^octjgebcren, 

3 >etn  jebe«  beutfe^e  fberj  gefcpworen. 

©o  oft  fein  9tame  wieberfehrt, 

Sötan  hat  ihn  nie  genug  gehört. 

2>a«  ift  ber  fjeirge  St^ein, 

Sin  ^>errfcfier  reich  begabt, 

3Deh  9tame  fc^on  wie  ©ein 
Sie  treue  ©eele  labt. 

SJ  regen  ftcfj  in  allen  $er$en 

SSiel  »aterlänb’fche  ?uft  unb  ©djmerjen, 

©enn  man  ba«  fceutfdje  Sieb  beginnt 
S3om  SR^ein,  bem  hoffen  gelfenfinb. 

50lit  biefen  ernftroürbigen  ©orten  beginnt  ber  eble  @d)enfen= 
borf  fein  fcieb  Born  Schein,  mit  welchem  er  gnm  erften  ÜJiale  im 
Bahre  1814  bet  tiefinnerlichen  Siebe  be8  beutfehen  93otfe8  für  ben 
herrlichen  Strom  Bollen  SuSbmcf  giebt.  ®ar  manchmal  hot, 
ber  biefe  Beilen  fdjreibt,  am  Ufer  beö  Sft^etneö  geftanben  unb 
bie  Rate,  grüne  ?lut  in  bie  hohle  -fpaub  gefchöpft.  £>a  fam  ihm 
wol  hin  nnb  wieber  ber  ©ebanfe:  2Benn  jeber  biefer  Stopfen 
fprechen  fönnte,  wa8  würben  fie  nicht  alle  über  ihre  ©djicffale 

XL  24«.  1*  (389) 


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ju  berichten  haben?  5Bol)et  ift  biefe  SBede  unb  biefe?  SBaS 
haben  fte  erlebt,  wa8  gefeljen?  Unb  bann  würbe  biefer  Strupfen 
etjäljlen  Bon  ©letfchern  unb  blumigen  Sllpenmatten,  Ben  9lb» 
gtünben  unb  fdbwinbelnben  SBaffetfäden;  ein  anbeter  würbe  be* 
richten  Bon  ben  ernften  Staunen  be8  ScbwarjwalbeS,  ein  brittet 
non  ben  ragenben  SDomen  ju  Samberg  unb  SMrjburg,  wieber 
anbere  non  ben  IRebenbügeln  bcr  Saar  unb  fJJiofel,  Bon  ben 
Surgen  beö  2Ba8genwalbe8  unb  ber  Sergftrafce.  Sßenn  wir 
biefe  £anbBod  SöafferS  betrachten,  wieniel  ©ebanfen  erwecft  fie 
nicht,  wieoiel  freubige  unb  ernfte  Silber  zaubert  fte  nicht  in 
unfeter  Seele  Ijeroor ! Unb  woher  mag  eö  fommen,  bafj  gerabe 
bie  SRljeinwede  biefe  3auberfraft  befiel,  jebenfadS  in  unenblich 
höherem  SDlafje,  al8  folcheö  bei  ben  übrigen  beutfchen  glüffeit  ber 
§ad  ift?  5Bie  !ommt  e8,  baff  ber  9fJtjcin  für  ben  SDeutfcben 
nicht  blo8  ber  üieblingSftrom,  bafj  er  gemiffertnafjen  ein  heiliger 
Strom  ift? 

3war  giebt  e8  nodb  manchen  anberen  groben  glufj,  welcher 
in  biefer  SBeife  einer  gewiffen  9lu8nahmeftedung  geniest.  SDafj  bet 
Spanier,  ber  gtanjofe  trgenb  einem  feiner  zahlreichen  unb  frönen 
glüffe  eine  beBorjugte  Stedung  in  ber  nationalen  SBerthfchäfcung 
gäbe,  baoon  ift  mir  nichts  betannt.  SDer  Staliener  ijat  feinen 
befonberä  nerebrten  §lu§;  ber  gelbe  Stiber  ift  ein  atme8  SSaffer, 
unb  wa8  er  an  Söeltruf  befiel,  ba8  banft  et  bet  ^etCige;xt  IRoma» 
bie  fi<h  in  feinen  gluten  fpiegelt.  SDer  9iuffe  Berebrt  mit  einer 
gewiffeu  2lnba<ht  ba8  föiütterchen  SBolga,  bie  gewaltige  SBaffer, 
aber,  welche  ben  Serfebt  im  Snnern  beö  rieftgen  9ieiche8  ermög* 
licht  unb  Staufeube  burch  ihren  gifdhreichthum  ernährt.  So  ift 
bie  Serebamg  bet  fRuffen  für  bie  5Bolga  geboren  au8  bem  @e* 
fühle  bet  SDanfbarfeit,  unb  gleicherweise  bei  anbern  großen  glüffen, 
welche  ben  Anwohnern  ben  labenben  Strunf  unb  bie  einzig  be= 

(390) 


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5 


nußbare  Söafferftraße,  bem  Slußgebiete  Sruchtbarfeit  unb  bamit 
bie  sjJlöglic^feit  menfdjenreidjer  Vewoßnung  batbieten,  wie  eß 
beim  HJtiffifihpi,  bem  „Vater  bet  ©ewäffet",  beim  9ül  unb 
©angeß  ber  gall  ift;  baß  bet  leitete  bem  3tabiet  füt  einen  wirflidj 
heiligen  ©trom  gilt,  beffen  SB  affet  bei  teligiöfen  feiern  unent» 
behrlich  ift,  beffen  Stuten  bem  Sobten  baß  ebelfte  ©rab  batbieten, 
baß  ift  befannt;  in  ähnlicher  SBeife  mochte  etwa  bet  6^rift  ben 
Sorban  betrachten,  in  el)twütbiget  (Erinnerung  an  bie  Saufe  beß 
^errn. 

(5ß  ift  offenbar,  baß  bie  Verehrung  beß  3R^etneß  anbete 
©rünbe  hüben  muß.  (Die  räumliche  äußbehnung  feineß  ©ebieteß 
geftattet  feine  Vergleichung  mit  folchen  jRiefenftrömen,  wie  SBolga 
unb  ©angeß,  9til  unb  SJliffffippi ; baß  Sftheinlanb  banft  ihm 
nicht  feine  Vewohnbarfeit,  feinen  Vetfehr;  auch  oerehrt  nicht  ber 
üDeutfcfce  allein 

Sen  $errfcßer  reich  begabt, 

Seß  s3tame  fc^oit  wie  ©ein 
Sie  treue  ©eele  labt, 

fonbern  bie  übrigen  europäifchen  Äulturoölfer  nehmen  an  biefer 
Verehrung  mehr  ober  weniger  Sh**t;  ja  man  möchte  fagen,  eß 
ift  ber  5»hein  ber  einjige  ©trom,  welcher  überhaupt  unter  ben 
Äulturoölfern  einigermaßen  jener  ehrfürchtigen  £ulbigung  ge» 
nießt,  mit  welcher  bet  Siegelet  feinen  $Ril,  ber  Snbier  feinen 
©angeß  betrachtet.  SBäre  eß  nicht  ber  fDlüße  wertß,  bie  ©rünbe 
aufjufuchen,  weiden  ber  gthe*n  biefe  ISußnahmefteQung  oerbanft* 
Slllerbingß  befißt  ber  fRheiu  oon  ben  beutfchen  ©ewäffern 
baß  außgebehntefte  ©tromgebiet  unb  terbient  in  biefem  Vetracht 
dot  allen  übrigen  ben  fRamen  eineß  ©tromeß.  3wat  auch  bie 
UDonau  geigt  fdjon  in  ihrem  beutfchen  £aufe,  waß  fte  fpäter 
werben  wirb,  aber  fie  ift  hoch  burchauß  nicht  bie  mächtige  oölfet* 

(S»l) 


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»erbinbenbe  ©trafje,  alg  welche  unä  ber  Stbein  erfdbeint,  unb  bie 
(Slbe  xodb  weit  weniger.  3[t  bemnadj  ber  fR^eiu  mit  ber  3?cnau 
ber  eingige  beutfdtje  ©trom,  fo  geniefet  er  »or  {einer  Stebenbub* 
lerin  noch  beg  Sorgugeg,  ber  einzige  beutle  Styenftrom  gu  fein, 
ber  einzige,  welket  ben  Serfeljr  big  in  bag  |>erg  een  (Europa 
»ermittelt.  (Sr  burdbfebneibet  ben  Hern  beg  europäifeben  geft- 
lanbeg  ber  Quere  nach  »on  ©üb  nach  9torb;  er  trägt  bie  SBaffer 
beö  ®cttt)art)  unb  beg  Serner  Dberlanbeg  Ijinab  gur  9t orbfee; 
er  geigt  fo  feit  uralter  Beit  ben  SBeg  »on  bem  feften  Änodjen* 
gerüfte  (Suropa’g  gum  33eltmeer,  unb  eg  ift  nicht  gu  »erfennen, 
bafj  biefer  SÄlpenurfprung  nicht  wenig  gu  bem  pcetifc^en  Steig 
beiträgt,  mit  welkem  wir  ben  {Rhein  gu  umfleiben  gewohnt  finb. 
3?od?  bauen  wirb  fpäter  mehr  bie  {Rebe  fein.  SebenfaDg  erfüllt 
bie  25onau  trof}  i^reg  erheblich  längeren  gaufeg  babutch,  bafj  fte 
fchliefjlich  in  einem  Sinnenmeer  ihr  geben  befcbliefet,  ihre  äuf* 
gäbe  alg  jfulturftrafje  in  bei  weitem  geringerem  SRafje,  <*18  ber 
{Rhein. 

33on  gaug  befonbeter  Sebeutung  in  biefer  SSert^f^ä^ung 
beg  Sttjeineg  erfd^etnt  eg  mir,  bafj  ber  Stljein  »on  feiner  Quelle 
big  gu  feiner  SRünbung,  mit  feinen  Siebenflüffen,  »on  2>eutfdben 
ober  bodfy  beutfehrebenbem  Solfe  umwoljnt  wirb.  Um  nicht  bem 
Serbac^t  ber  Unwiffenbeit  {Raunt  gu  geben,  bemerfe  id>,  bafj  idf 
fef)r  wohl  weiß,  wie  einige  ^ocbtbäler  in  ber  Stäbe  ber  {Rhein* 
quellen  »on  {Romanen  bewohnt  ftnb,  unb  bafj  bie  Dbermojel 
bur<b  frangöfifcheg  ©ebiet  fließt;  bie  5Raag  laffe  i<b  alg  einen 
gluf),  ber  beutfdjeg  ©ebiet  nirgenbg  berührt  unb  nur,  ebenfaUg 
außerhalb  ber  beutfefjen  ©rengen,  feine  ©ewäffer  bem  {Rheine  gu* 
gefeilt,  gang  aufjer  Sicht.  Slbgefehen  h‘«»on,  wirb  im  gangen 
©ebiet  beg  {Rheineg,  »o«  ©hur  big  geoben,  »on  Saireuth  big 
Strier,  beutfdj  gefprochen;  bie  JpoUänber  müffen  eg  fidj  bei  biefer 

(392)  ’ 


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7 


23etra<htung  wiber  SBitlen  gefallen  laffen,  ebenfalls  als  9Jtänner 
beutfdjen  ©tammeS  unb  beutfcher  3unge  gu  gelten;  jeben falls 
erfdjeint  eS  uns  ntdjt  als  ein  2tbfaß  non  feinet  nationalen  33e* 
beutung,  wenn  unfer  JRljein  bie  lebten  gwangig  Steilen  feines 
BaufeS  in  bet  Tiefebene  ber  StynheetS  bahinfchleidjt.  (SS  läfjt 
fidf?  ein  ©leides  non  ben  übrigen  beutfdjen  Bluffen  nicht  fageu. 
2>ie  afletbingS  nur  beutfdjeS  Banb  burdjftrömenbe  SBefet  ift  gu 
unbebeutenb,  um  tya  in  Brage  gu  fommen;  bie  oberen  Quell* 
flüffe  bet  (Slbe  burchfliefjen  gmn  guten  Theil  cgedjifdjeS,  wie  bie 
Qber  ober  hoch  ihr  £auptnebenfluf),  bie  SBarthe,  polnifcheS  Banb; 
unb  gar  bie  einzige  würbige  Nebenbuhlerin  beS  NljeineS  in  bet 
nationalen  SBerthfdjähung,  bie  JDonau,  burchftrömt  in  ihrem 
gangen  •'Kittel*  unb  Unterlaufe  bie  Tiefebenen  non  Ungarn  unb 
Rumänien  unb  nerliert  baburch  nßflig  baS  ©epräge  eines  beut* 
fdjen  ©tromeS.  hinter  SEBien  hört  beutfdhe  3(rt  unb  beutfdher 
Blei|  auf.  IDaS  h°t  noch  eine  weitere  Böige.  Sbgefehen  etwa 
non  $)reSbutg,  Qfen*$)efth,  @emlin»33elgrab  unb  ©ala^,  fpiegelt 
ftdj  auf  einer  ©trecfe  non  250  Steilen  feine  größere  ©tabt  in 
ben  Bluten  bet  SDonau;  ihre  an  unb  für  fid)  burdj  Älippen, 
teifjenbeS  ©efafle,  fchwierigeS  Sahrtoaffer  ber  Schifffahrt  ungün« 
ftige  SBerfehrftrafje  ift  faft  neröbet;  fte  ift  als  31  bet  für  bie 
Äulturftrömung  (Suropa’S  fo  gut  wie  wertlos.  ©ang  anberS 
ber  Schein,  ©ein  ©efäße  ift  berart,  bafj  eS  bie  Thalfahrt  för* 
bert,  ohne  bie  Bergfahrt  gu  hinbetn;  fdjiffbat  non  33afel  bis  gum 
Steere,  fteht  et  einen  reichen  Jfrang  gewerbfamer  ©tobte,  frud^t* 
barer  Banbftriche  an  feinen  Ufern  liegen;  ber  lebenbigfte  33erfehr 
herrfcht  auf  ber  Blut,  wie  auf  ben  (Sifenftrafcen  gu  beiben  ©eiten; 
baS  Qberlanb  fchicft  fein  .fpolg,  fein  Qbft  unb  feinen  3Bein 
ftromab,  baS  Niebetlanb  feine  Äohlen  unb  bie  (Srgeugniffe  beS 
überfeeifchen  SBelthanbelS  ftromauf;  ein  enblofeS  Beben  wogt  auf 

. (393) 


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8 


unb  ab,  unb  neben  bem  äußtaufcb  bet  ©rgeugniffe  gebt  bet  Sluß» 
taufd)  bet  ©eifter,  benn  alle  bie  auß  beß  Oibeineß  unb  feinet  flei* 
neten  ©enoffen  Fluten  ttinfen,  finb  OJlännet  beutfchen  Bluteß 
unb  beutfchet  Sprache. 

Unb  um  biefe  Betrachtung  bet  natürlichen  Sßerljättniffe  beß 
0ibetntbalß  abgnfcbliefcen : baß  Sft^einlanb  bat  gugleid)  baß  ©lücf, 
baß  fcbönfte  Ältma  oon  2>eutfchlanb  gu  befi^en.  äUerbingß  oon 
ba  an,  wo  bet  {Rbetn  beim  IDradjenfelß  inß  ülieberlanb  eintritt, 
beginnt  mebt  ober  weniget  baß  Seeflima;  bet  SJlittel«  unb  Ober» 
lauf  beß  9i^«tne0  haben  geftlanbßflima,  jebod)  feineßwegß  in  jener 
fdjtoffen  ilußfcblie|licbfeit,  wie  bie  ßftlicher  gelegenen  Flußgebiete 
ober  baß  25onaubod)lanb ; alß  weftlidbfter  bet  beutichen  Flüffe 
nimmt  bet  iH^ein  an  beu  Sotjltbaten  beß  äöeltmeereß  am  meiften 
non  feinen  Brübern  Sbeil;  fein  Sinter  ift  nicht  fo  batt,  fein 
«Sommer  nicht  fo  glübbeif?,  wie  etwa  in  Berlin  ober  5Jtüncben. 

2) ie  ©ebirge,  bie  ihn  oon  Bafel  biß  ÜJtaing  gut  Rechten  unb 
hinten  begleiten,  geigen  ihre  fteil  abfatlenbe  Seft*  unb  Dftfeite 
bet  Slbenb»  unb  OJlotgenfonne;  oot  bem  Staunuß  liegen,  gegen 
9iorben  burch  einen  Bergfrang  gefchü|t,  gleich  einem  Üreibbauß 
bet  SJlittagßfonne  geöffnet,  bie  $ügel  beß  Oibeiugaueß  mit  ihrem 
Salbe  oon  Seinreben,  unb  im  engen,  b^feen  SDutcbbrutbßtbale 
gwifcben  Bingen  unb  Bonn  benuj}t  bet  Singet  jeben  Fufcbreit 
©tbe,  um  feinen  Seinftocf  gu  pflangen,  benn  nicht,  wie  «Schiller 
in  ^«ringen  fang, 

,®rünet  l;ier,  bie  Schläfe  gu  befröaen, 

Unß  bet  fRebe  muntieß  Saub.' 

3) et  Frühling  fommt  am  9ibein  früher,  alß  im  SDftlanb,  unb 
bet  ^erbft  halt  länger  an.  So  gefleht  eß,  bah  bet  Diorb. 
beutfdbe,  bet  Sbüriuget,  Btanbenbutget,  Schlefier,  >3>reu§e  fidj  in 
einen  Früblingßgarten  oerfebt  glaubt,  fobalb  et  ben  Beben  beß 

(*«*> 


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9 


{Rt)einlanbe$  betritt;  er  fah  babeim  bie  erften  grünen  Sitten* 
fproffen  unb  finbet  nach  einet  Nachtfahrt  bie  rolle  Saumblüte; 
bie  Nebe,  bie  it>m  auch-  in  guten  Salden  nur  faute  Brückte  trug, 
fie  bebetft  ganje  Serglebnen  unb  ift  überfdjüttet  mit  ebeln  Stauben; 
ber  Nufcbaum,  beffen  grüßte  er  nur  im  fläglich  rertrocfneten 
3uftanbe  aUS  3*erbe  ber  SBeibnachtötanne  fennen  gelernt,  er  faumt 
alö  ftattlidjer  Saum  bie  Sanbftrafjen;  bie  jafyme  Äaftanie  bilbet 
an  ben  warmen  Rängen  beä  Saunuö,  ber  £arbt  unb  fceS  Jpeibel* 
berget  Äönigöftubleö  ganje  ©ebölje,  unb  bet  Nianbelbaum  ftrecft 
feine  rofenfarbenen  Slütben$weige  als  ©rftlinge  beb  Frühlings 
über  bie  ©artenmauern.  SKir  felbft  ift  biefer  ©inbrucf  lebenbig 
geworben,  ba  id>,  ein  ©chulfnabe,  ror  langen  3ahten  auf  bem 
55ache  beb  Dmnibuö  ton  Singen  nach  Äreu^nach  fuhr,  ©in 
Saumjweig  ftreifte  über  unb  hin;  id}  brach  il)n  ab.  9Jiein  Nach* 
bar  auf  bem  luftigen  ©i|,  ein  Dftbeutfcher,  fragte  rermunbert, 
waö  bad  für  Früchte  feien.  ÜJlanbeln,  antwortete  ich  mit  bem 
Soflbewufctfein  beö  3i^einlänber8  unb  freute  mich  an  bem  ©r* 
ftaunen  beö  ©ftlänberö,  bafj  foldse  ©übfrucht  in  meiner  Heimat 
an  jebem  SBegraube  roachfe.  Unb  fo  bin  id)  nicht  in  3n>cifcl, 
ber  erfte  Sefuch  beö  SftljeinlanbeS  in  frönen  Frühlings*  unb 
©ommertagen,  ober  in  ber  3«t  bet  Sraubenreife  madjt  auf  ben 
Sewotyner  ron  ÜJlittel*  unb  Norbbeutfchlanb  benfelben  freubigen 
©inbrucf,  ben  mir  etwa  empfinben,  wenn  mit  in  ben  SHpenthä* 
lern  Norbitalienö  ben  erften  Feigenbaum  im  Freien  fdiauen,  ober 
bie  Üimonenfpaliete  unb  Slloeftauben  ber  Isola  bella. 

©eben  fdjon  biefe  natürlichen  Sorgüge  bem  9ihein  eine  ge* 
wiffe  ötuönahmeftellung  unter  ben  beutfctjen  Strömen,  fo  wirb 
biefelbe  noch  erheblich  erhöht  burd)  bie  Sebeutfamfeit,  welche 
bem  {R^einlanbe  in  bet  ©efdjichte  beö  beutfchen  Reiches  unb  ber 
heutigen  Silbung  jufommt,  unb  j»at  banft  bet  Nl)ein  biefe 

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10 


auSgeichnenbe  Stellung  abermals  natürlichen  Umftänben,  nämlich 
feiner  8age  am  SBefttanbe  beS  beutfd)en  EanbeS.  S)a8  [Rhein* 
lanb  ift  bie  SEÖtegc  ber  beutfdjen  [Reichflgefchichte;  bis  an  ben 
[Rhein  behnte  baS  [Römerteich  feine  ^»errfchaft;  an  bie  [Römer* 
feftungen  beS  linfen  9ib>ei«uferö  lehnten  fich  bie  erften  Stabte 
an,  in  ihrer  üftähe  bauten  fidf  reiche  ^roningialen  ihre  8anb* 
häufet  mit  jenen  prachtnoflen  ÜRofaifböben,  bereu  fo  manche  am 
[Rhein  unb  feinen  [Rebettflüffen  norhanben  finb;  gur  Seite  ber 
tömifthen  ^>eerftra|en  behnten  fich  bie  Sobienädet,  wo  warme 
Duellen  fprubelten,  ba  ftnben  wir  fchon  bie  [Römer  mit  ihren 
58abe*@inri<htungen.  @in  wohlgeorbneteS  Straßennetz  übergog 
baS  £anb  weftlich  norn  [Rhein,  füblich  non  SRain  unb  SDonau; 
bie  hier  anfäffigen  heutigen  SBölferfchaften  nahmen  gwar  nicht 
bie  Sprache,  aber  Sitte  unb  23ilbung  ber  [Römer  an,  unb  ba§ 
©hriftenthum  fanb  hier  früh  Eingang.  So  finb  33afel  itub 
Strasburg,  SBormS  unb  5Raing,  9Reß  unb  Syrier,  Rachen  unb 
Köln  altrömifche  Heftungen  nicht  bloS,  fonbern  3ugleid?  bie  älteften 
beutfcßen  Stabte;  ben  [Rhein  entlang  ging  bamal8  bie  SBölfer» 
ftraße  non  ben  Slpen  bis  gu  ber  3nfel  ber  Sataner,  bem  gegen* 
wärttgen  ^otlanb;  tömifche  £anbelS*  unb  Kriegsflotten  gegen 
ben  Strom  auf  unb  ab,  ber  ben  ftemben  Eroberern  als  ©renge 
unb  gugleidj  ©rengftraße  fo  überaus  trefflich  gelegen  war.  28a8 
SBunber,  bah  baS  S3olf  im  [Rheinthal  ben  Stämmen  im  Dften 
an  Silbung  überlegen  war  unb  baß  ber  mächtige  granfenftamm 
am  5Rittel=  unb  [Rieberthein  fiel?  gum  ^»errfdjet  aufwarf  nicht 
bloS  über  baS  gaüifche  Uanb  im  SBeften,  fonbern  auch  über  2)eutfchs 
lanb  non  ben  alpen  bis  gum  SE^üringerwalb  ? freilich  ftanb  ihm 
am  Dberrljein  ein  anberer  Stamm  gegenüber,  ber  fich  eine  eini* 
gemäßen  felbftänbige  Stellung  gu  erringen  wußte,  berjenige  ber 
Sllemannen  ober  Schwaben.  Bwei  mächtige  Kaifergefcßlechtet 

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11 


hat  bet  ftänftfdje  Stamm  bem  Oleine  gegeben;  obertheinifthen 
33lute8,  auS  bem  fchwäbifchen  33olfe  erwacpfen,  war  baS  tjerrlicije 
Äaifet^auä  bet  «Hohenftaufen;  ruhmlofet  gwar,  aber  bo<h  auch 
ein  tijeinlänbtfdjeö  ©eidjlec^t,  waten  bie  Bujcemburger;  fogar  bie 
«Habsburger  erwuchfen  am  Dbetrhein,  wenn  fie  auch  fpäter  ben 
«Hauptfij)  ihrer  5Jfadjt  an  bie  SDonau  »etlegten.  So  waten  non 
fedjS  großen  Äaifetgefdjledjtern  fünf  auf  bem  Soben  beö  IRhein* 
lanbeS  ^eimifc^i,  auf  anberem  nur  eines,  baS  fräftige  «HauS  bet 
Saufen.  2)rei  bet  haften  geglichen  dürften  beS  SReicpeS,  bie 
©rgbifchöfe  non  SOtaing,  Äßln  unb  Syrier,  wohnten  am  9t^cin; 
fte  unb  ber  'Pfalggraf  bilben  fdjon  bie  3Rehrgaljl  bet  2Bahlfürften 
beS  3RittelalterS.  3m  S^ljetttlanbe  lagen  bie  hauptfüchlichen 
5>falgcn,  an  welche  fid>  gugleich  baS  ©ebachtnifj  widriger  CReidjS* 
tage  fnüpft,  Sngelheim  unb  Sachen,  SBormS  unb  SEribur,  Äai* 
ferSwerth,  «Hagenau  unb  ©elnhaufen;  auf  ben  IReichSburgen  Sri* 
felS,  «Hammerftein  unb  «Hagenau  würben  bie  JReidjSfleinobe  auf* 
bewahrt.  33om  fR^etn  auS  btang  bie  gtanfenberrfdjaft  unter 
blutigen  Kriegen  oor  ins  Sachfenlanb  unb  gu  ben  Slawen ; 3ahr* 
hunberte  lang  warb  gefam^jft,  bis  beutjdje  31  tt  unb  Sitte  übet 
bie  @lbe  hinaus  »orbrang  gut  Dbet  unb  SBeichfel;  bie  fRhein* 
ftäbte  waten  f<hon  uralte  Äulturftjje  gut  3eit,  als  Sremen,  Ham* 
bürg,  üübecf  unb  35angig  erft  bnrdj  ben  ©ingug  beS  ©haften* 
thumeS  unb  heutiger  ©inwanberet  gu  jungen  AuSgangSpunftcn 
beutfcben  Gebens  würben. 

Unb  wie  auS  bem  hübet  gebilbeten  ?anbe  ber^romanifitten 
Btanfen  auf  gaßif^em  ©oben  ftetS  neue  Anregungen  ber  SBiffen* 
fdjaft  unb  bet  «ftuuft  nach  bem  SR^einc  »orbrangen,  fo  pfiangten 
fie  ftd)  weitet  nach  Dften  hin  fort.  33on  SBeften  fam  bie  tjöfifc^e 
gelben*  unb  9Rinnebi<htung;  in  ben  alten  reichen  Stabten  beS 
{RljeinlanbeS,  gu  Speiet  unb  SöormS,  ÜRaing  unb  2?amberg  et* 

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hoben  fid)  bic  prachtooflften  SDome  romanifcher  Äunft,  im  fRhein« 
tljale  bie  ©belfteine  gotbijdjer  ©auweife,  bie  ÜRünfter  gu  ftrei* 
bürg  tirtb  ©trafjburg,  gu  Oppenheim  unb  Äoln.  ^tflerbingö 
pflangen  fid)  auf  ber  .£>5he  beb  *Diittclalter8  bie  oon  Sßeften  l)er=» 
iibetfommenben  Anregungen  rajd)  weiter,  beut  jeher  ©efang  er« 
fdjallt  auf  ber  SBartburg  wie  am  öfterreidjifdjen  ^>ofe,  unb  bie 
2?ome  non  tRegenbburg  unb  SBien  taffen  fid)  neben  benjenigcn 
beb  SRheinlanbeb  mit  <$hren  fehen;  bennod)  ift  nidjt  gu  oetfennen, 
baff  bib  gum  3wifd)enreiche  baS  fRheinlaub  ben  5Rittetyunft  ber 
beutfchen  fReichbgejchichte  bilbet. 

3n  gleitet  SBeife  nimmt  bab  fRheinlanb  an  ber  geiftigen 
©ewegung  gut  3eit  beb  SRittelalterb  ben  regften  Anteil.  3)et 
ältefte  ber  ijöfifdjen  ^elbenbic^tcr,  jpeinrieh  non  ©elbefe,  war  ein 
ftranfe  »om  jRieberrhein ; ©ottfrieb  oon  ©trafcburg,  in  feinem 
$riftan  unb  3folt  ber  begabtefte,  leibenfdjaftlidjfte  ©ertreter  beb 
giebebromanb,  war  ein  fRfcetnfdjwabe;  in  fDtaing  lebte  unb  bidjtete 
^>eittrid>  grauenleb;  ©Ifäffer,  b.  h-  theinifdje  ©djwaben  waren 
Sauler,  ©eiler  non  jiaiferbberg  uub  ©ebaftian  ©rant;  ein  fRljein« 
franfe  war  ber  SRann,  ber  einem  SBegweifer  gleich  an  ber  Pforte 
ber  neuen  3eit  ftcbt,  ber  ©rfinber  ber  ©udjbrucferfunft,  Sohanneb 
©utenberg  oon  ORaing.  Unb  biefe  rege  $l)eilnafyme  beb  gefamm« 
ten  SRbeiulanbeb  an  ber  geiftigen  Arbeit  ber  SRation  oerfteht  fid) 
gang  non  felbft,  wenn  wir  beu  beweglichen  aufgewecften  ©inn, 
bie  friidje  S.tjatfraft  in  ©etrad)t  jie^en,  welche  allezeit  bem  fdjwä« 
bifchen  unb  fränfifd)en  IRljeinlänber  eigenartig  gewejen  finb. 

AOerbingb  tritt  gegen  ben  AuSgang  beb  fJRittelalterb  bab 
SR^einlanb  aub  ber  bisher  benorgugten  Stellung  beraub,  jemebr 
beutfdje  Sprache  unb  ©itte  nad)  Dften  corrüdfen;  bie  gujrem« 
burger  nehmen  ihren  ©if}  in  ©Öhmen,  bie  £abSburget  in  Defter* 
reich,  unb  bamit  fällt  bie  geiftige  unb  politifdje  ©orherrfdiaft  beb 

(3»B) 


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fRtjeinlanbeS.  ©in  weiteret  unb  feine8wege8  förbetltdjei  Umfcbwung 
madbt  fid)  feit  bent  Seginn  bet  ^Reformation  bemerflicb,  inbetti 
nunmehr  ber  ©djwerpunft  be8  beutfdjen  ©eifte8leben8  gang  ent* 
fliehen  oftwärtS  nadf?  ©adjfen,  Sranbenburg  unb  ©cblefien  rütft; 
ba8  Di^einlanb  bagegen  nimmt  fernerhin  3abrt)unberte  fang  Än* 
tl)eil  an  ber  beutjdjen  ©eifteSarbeit  nur  in  jenen  ©ebieten,  weldje 
ftdj  ber  ©laubenSerneuerung  anfdjliefcen,  in  ber  ©djweig  alfo,  in 
SBürtemberg,  in  ©trajjburg  unb  granffurt.  35er  alte  Flamen 
ber  ^>faffe«gaffe,  welken  ba8  feit  langer,  langer  Seit  für  ba8 
©bnftentbum  gewonnene  JRbeintljal  mit  feinen  gablteidjen  Si8* 
unb  @rgbi8tl)ümern  oerbientermafjen  trug,  wirb  i^m  jejjt  ein  Un* 
fegen;  bie  geiftlidien  ©ebiete  finb  fortan  auch  geiftlid)  arm  unb 
beteiligen  fid>  1)  ödsten  8 butd?  fünftlerifdje  ^erocrbringungen  am 
geiftigen  geben  ber  Nation.  Slber  auch  jejjt  nod)  bleibt  ba8  Ülbein* 
lanb  bie  SBiege  einer  gangen  2tngat)l  unferer  trefflid)ften  ©eifter. 
©o  finb  beutfdje  ©cbweiger  Bwingli  unb  Jpaller,  gaoater  unb 
§>eftaloggi;  ©ßfyne  be8  fRecfart^aleö  finb  Äepler,  SBielanb  unb 
©Rillet,  ©djubart  unb  Ufylanb,  £egel  unb  ©Helling;  ee^te 
IRljeinlänber  finb  ^iftbart,  ber  geiftoolle  £umorift,  ©rimmelS» 
baufen^Simplicissimus  unb  ©cetl^e,  bet  granffurter;  ein  lieber* 
lünber  non  österlicher  ©eite,  ein  echter  gtfjefafaHfe  oon  ©eiten 
ber  ÜRutter  war  ber  gu  Sonn  gebotene  Seetbooen;  ©öfjne  be8 
5Riebertbeine8  finb  ber  grefjte  beutfdje  Äünftler  bei  fReugeit,  'Peter 
non  6orneliu8,  unb  ber  größte  beutfdje  gprifer  nad)  ©oetlje, 
Heinrich  £eine.  55a8  finb  freilich  ftolge  Flamen,  unb  manche 
gehören  gu  ben  beften  be8  beutfdjen  33olfe8;  aber  bennodj  treten 
iljnen  au8  ben  übrigen  beutfdjen  8anbftrid>en  manche  fRamen 
gang  ober  hoch  faft  ebenbürtig  gur  ©eite.  33 on  allen  biefen 
©ebnen  be8  5Rbeinlanbe8  ift  blo8  einer  auf  geiftlicbem  ©runb 
unb  ©oben  geboren,  Seettyooen. 


14 


5Rur  einen  furzen  netgleidjenben  33lid  werfen  wir  auf  bie 
gefcfyidjtlidje  SBebeutung  ber  übrigen  beutfdfen  glüffe.  Söeljl  aud) 
bie  ©onau  bat  ihre  alten  fRömerftäbte;  ba8  fangfroije  SDefterreid^ 
nahm  reblidj  St^eil  an  bet  ©idjterblüte  beö  9R  ittelalter  8;  in  ben 
mädjtigen  JReicbSftabten  Ulm  unb  9lug8burg,  in  JRegenSburg  unb 
SBien  wohnte  ein  tüdjtigeS  Sürgergefdjlecbt;  Beugnifj  für  beffen 
Kraft  unb  5Rutb  ftnb  bie  ftolgen  ©ome  biefer  ©tabte;  aber  feit 
ber  ^Reformation  wenbet  fitb  baS  ©onaulanb  faft  oöDig  oon  bet 
SRitarbeit  am  geiftigen  fRationalleben  ab;  nur  bie  £onfunft  finbet 
hier  glangooHe  pflege,  wedt  wunbetbar  begabte  ®enien,  mäfyrenb 
im  proteftantifcben  fRorben  ©tdjtung  unb  Söiffenfdjaft  berrlitb 
aufblüben.  ©aS  SBefergebiet  fann  fdjon  um  feiner  engen  öe= 
grengung  willen  feinen  9lnfpru<b  an  eine  befonberS  ^eroorragenbe 
Teilnahme  am  beutfc^en  ®eifte8leben  madjen.  Elbe  unb  Ober 
finb  gut  Beit  ber  Sölüte  beS  beutfdjen  KaiferreidjeS  uecb  faft  fla» 
wifdje  glüffe;  Hamburg,  Sübed,  33te8lau,  ©angig  waren  gewal* 
tige  SRittelpunfte  be8  <panbel8,  aber  fie  nabme*  bloß  loderen 
5£^eÜ  am  politifeben  geben  be8  ermattenben  beutfdjen  IReicbSfßr» 
per 8,  faum  nennenswerten  an  feinet  geiftigen  Arbeit.  Erft  feit 
ber  {Reformation,  bann  aber  audj  mit  ber  gangen  {Radjbaltigfeit 
norbbeutftet  9Irt  nimmt  ba8  Elbgebiet  bie  £auptlaft  bet  beut« 
fdjen  Kulturarbeit  auf  fidj;  bie  Elbftabt  5Bittenberg  wirb  bie 
2Siege  ber  ©laubenSetneuerung,  uub  bamit  tritt  Kurfadbfen  au 
bie  ©pifje  ©eutfdjlanbS,  bt8  bunbert  Sabre  fpater  in  bet  ©pree« 
ftabt  Berlin  ber  grofje  Kurfürft  bie  ©runblagen  be8  branben» 
butgifdppteufjifcben  Staates  unb  bamit  biejenigen  beS  geeinigte* 
beutfdjen  KaifeneidjeS  ber  Bufunft  legt. 

5Ra<b  biefen  Betrachtungen  ift  eS  erflütlitb,  bafj  baS  {Rbein« 
lanb  erfüllt  ift  oon  glctngenben  Erinnerungen  an  bie  benfwür» 
bigen  3citen  ber  alten  fReidjSgefdjidite,  reich  an  ragenben  9Rün» 

f*00) 


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15 


ftern  in  ben  Stabten,  an  wunbetfdjßnen  Älcftertrümmem  in  ben 
SBalbtljälern,  reidj  an  Stemerbauten  unb  gefallenen  Äaifetpfalgen, 
an  großen  gefcbicbtlidjen  Manien.  SöJir  braunen  nur  gu  gebenfen 
an  3ürtdj  unb  Swiugli,  an  ©onflang  unb  $ufj,  an  23ajel  unb 
$olbein,  an  Strafjburg  unb  ©rwin,  an  Speier  unb  bie  ätaifer» 
grabet,  an  2Borm8  unb  feinen  SteicbStag,  an  fUtaing  unb  ©uten* 
betg,  an  granffurt  unb  bie  Äaiferfrönung  unb  ©oetfye,  an  Stier 
unb  feine  Stßmerbauten,  an  ba8  ^eilige  Äöln  unb  feinen  2>om, 
unb  eine  gange  glut  reid^fter  ©ebanfen  ftrömt  auf  un8  ein;  ein 
gutes  Stücf  ber  beften  geiftigen  Arbeit  be8  beutfdfen  33olfe8  ift 
im  fR^eint^ate  geleiftet  „worben,  unb  ba8  giebt  ifym  in  ben  äugen 
be8  Äunbigen  eine  gang  abfonberlic^e  33ebeutung. 

3u  biefem  Steig  ber  ©efd^ic^te  gefeilt  ftdj  bet  nid)t  geringere 
Steig  ber  Sage.  ©8  bat  ja  im  ©tunbe  jebe  ©egenb,  bei  welket 
ba8  gefdjicbtlidje  ©eptäge  niäjt  aßgufe^r  oerwafcljen  ift,  iljre  auf 
»erfdjollenen  ©reigniffen  ober  uralter  ©öttermntbe  rufyenben Sagen, 
aber  bennedj  barf  man  fragen:  SBeldjet  beutfdje  gluf)  l)at  einen 
folgen  Sagenfdjajj  wie  ber  Stljein?  ©inen  Sagenfdjafc  gugleidj, 
ben  nidjt  blo8  bet  2)eutf<be  fennt,  fonbetn  bet  ba8  allgemeine 
SBefifctljum  aller  ©ebilbeten  ift?  SBeltfagen  medjte  idj  fte  nennen, 
benn  ber  grangofe  unb  ©nglänber,  ber  <£>olIänber  unb  ber  Stuffe, 
fte  lernen  bei  ifyrer  Stbeinfaljrt  bie  Sage  com  Stibelungenbort 
unb  Dom  SJiäufetljurm,  oon  ber  gorelei  unb  bem  StolanbSbogen 
fennen  unb  tt) eilen  fte  in  SMdjtungen  ber  Heimat  mit.  2) er  fteiffte 
©nglänber,  weltbet  ba8  0tb«ntbal  bisher  nur  in  feinem  rotten 
fDtunab  betrautet  retft  ben  <£>al8  unb  madjt  bie  müben 
äugen  auf,  wenn  ba8  Schiff  an  bie  gurlei  fommt.  2)abei  ift 
e8  merfwürbtg  gn  beobachten,  welkem  Umftanbe  bie  Stljeinfage 
i^re  SBeltbebeutung  gum  guten  terbanft,  itjrer  93erbert» 

liä)ung  nämlldj  burdj  bie  $oefie.  SDa8  Stibelungenlieb  unb 

(«D 


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16 


Schiller’8  [Ritter  Poggenburg  finb  bcifür  rebenbe  3eugnif|e,  nie^t 
gu  reben  baoon,  baß  man  bie  gorelei  in  ihrer  Grntftehung  lebiglid) 
auf  Äl.  Brentano,  in  ihrer  aübefannten  bichterifdJen  ©eftaltung 
auf  ^seine  gurücf  führen  faun.  Die  ©rüber  @rimm  in  itjrer 
bahubredjenben  Sammlung  beutfdjer  Sagen  1816  feunen  bie 
gotelei  noch  nicht.  Äein  beutfdjer  ^luß  aber  ift  in  fitjnlidjer 
©Seife  bichterifcb  verherrlicht  morben  wie  ber  3ibein. 

@8  gefeilt  ficb  gu  biefen  ©orgügen  ber  geograp^ifdjen  gage 
unb  ©efdjaffenheit,  ber  ©ebeutfamfeit  beS  £intergrur.be8  oon 
©efchidite  unb  Sage  noch  ein  weiterer,  gang  befenberS  wichtiger 
©orgug,  welker  bem  [Rhein  bie  allgemeine  ©Sertljfchäßung  nidst 
ber  Deutfdjen  blo8,  jonbent  ber  europäischen  Äulturoölfer  über» 
haupt  gewonnen  ^at;  e8  ift  ba8  feine  Schönheit.  SRun  tonnte 
man  allerbingS  meinen,  baff  e8  noch  mannen  anberen  gluß  gebe, 
Welket  bem  [Rhein,  wenigftenö  an  eingelnen  Stellen,  ebenbürtig 
fei;  bei  genauerer  ©etradjtung  werben  mir  leicht  erfennen,  wie 
bie  früher  betrachteten  geographifdjen  unb  gefchichtlicheu  gidjt» 
feiten  be8  [RheineS  wefentlid)  bagu  beitragen,  baß  unfer  Strom 
gang  befonberS  biefeS  [RufeS  ber  Schönheit  ftd)  erfreuen  tonnte. 

@8  ift  bereits  barauf  hingewiefen,  wie  ba8  [Rheinthal  ba* 
burch,  b aß  e8  ben  [Rumpf  be8  europäifcben  ffeftlanbeS  ber  Quere 
nach  burdjfchneibet,  fett  alter  3e»t  eine  melbefdfrittene  unb  viel* 
befahrene  ©ölter»  unb  .£anbel6fttaße  gewefen  unb  bi8  auf  biefen 
Pag  geblieben  ift.  Der  ©erfehr  au8  bem  Sllpenlanbe  nach  ber 
fftorbfee  wirb  naturgemäß  auf  feinen  ©Sellen  ober  an  feinen 
Ufern  bahingehen,  unb  umgetehrt,  wenn  ber  ©ewohner  bet  See« 
geftabe,  ber  ©iebetlänbet  unb  Gfnglänber,  nach  Dberbeutfdjlanb, 
ber  Sdjtoeig,  Stalien  unb  ben  öftlichen  gänbern  be8  Sötittelmeer» 
bectenS  reifen  will,  fo  finbet  er  feinen  naturgemäßeren  ©Seg,  al8 
ben  [Rhein.  [Run  ift  aber  befanntlich  gerabe  bet  @nglänbet  feit 

(♦OS) 


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17 


3ahrhunberten  ein  wahrhaft  reifewüt^tflcr  SJtenfch,  wie  man  wol 
fagen  barf,  bah  baS  SReifen  im  Sinne  bet  ©egenwart,  bie  3agb 
narf)  neuen  unb  gewaltigen  Statureinbrücfen,  im  Zefentlichen  erfl 
feit  ^unbert  Sagten  gefannt,  unb  3wat  pon  ben  ©nglänbetn  et« 
funben  ift.  ©nglifdje  Steifenbe  haben  bem  raftlofen  Strome  bet 
Zeitfahrer  bie  Zunber  bet  'Alpen,  bie  Schönheiten  Italiens, 
©riechenlanbS,  beS  SJtorgenlanPeS  erfchloffen.  ITah  biefe  Steife» 
muth  beS  ©nglänberS  bisweilen  auch  lebiglidj  aus  Langeweile 
ober  fötobethorheit  he^orßcljen  mag,  bah  feine  Staturluft  ;u 
3eiten  ben  Anftrid)  beS  Abenteuerlid’en  erhält,  bah  biefem  toll» 
fopfigen,  mit  unfäglithen  Lebensgefahren  oerbunbenen  ©rflettern 
unbetretener  Alpenfpi^en  bisweilen  ein  biSchen  Serrücftheit  3U 
©ritnbe  3U  liegen  fcheint,  wer  wollte  eS  leugnen?  Zer  wirb 
ober  auch  »etfennen,  bah  fi<h  hinter  biefen  Schwächen  unb  Son» 
berbarfeiten  nicht  feiten  ein  tiefes  ©efühl  für  bie  wahren  Schön* 
heiten  ber  Statur  birgt,  unb  bah  unfere  angelfächfifdwn  93lut8» 
oerwanbten  bamit  bie  fPfabfinber  oernehmlid)  bet  Alpenwelt  unb 
StalienS  geworben  finb?  Stun,  unb  weldjen  Zeg  bahin  fann 
ber  ©nglänber,  falls  er  nid)t  etwa  über  $)ariS  unb  Loon  gebt, 
anberS  nehmen,  als  eben  burd)  baS  Stheinthal,  welches  ihm  mit 
feiner  fchon  früh  heegerid)teten  IDampffchiffoetbinbung  bie  er» 
wünfehtefte  Steiiegelegenheit  bot?  Unb  gwar  boppelt  erwünfeht, 
ba  fich  31er  Söequemlichfeit  beS  SteifenS  noch  bie  Anmutl)  bet 
Lanbfchaft  unb  ber  JRetg  merfwürbiger  alter  Stäbte  gefeilt. 

®S  ift  eine  befannte  Shatfache,  bah  bie  ftluhthäler  ba  am 
Ichönften  finb,  wo  fie  baS  ©ebirge  burchbrecben ; in  biefer  Jpin* 
ficht  ift  ber  Stljein  befonberS  beoorgugt.  2>ie  Ober  hat  gar  feine 
IDnrdibruchSftelle  unb  entbehrt  bamit  pöllig  ber  malerifcbcn  Schön» 
heit;  bie  <DurchbruchSfteUe  ber  ©Ibe,  bie  fächfifche  Schwe^,  ift 
fd?en,  aber  fur3,  nod)  fürder  biejenige  ber  Zefer,  bie  Zeftfälifche 

XI.  »O.  2 (403) 


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18 


Pforte.  35a8  2Dur<hbru<h8thal  be8  5Rh«ineS  bagegen  ift  lang  unb 
mag  non  {Blainj  bis  Sonn,  bie  Krümmungen  mitgerechnet,  ae* 
ntgftenS  20  {Dieilen  gä^Icn,  alfo  oier  gute  SBanbertage;  baS  fyat 
ben  grofjen  Sorjug,  baf)  bie  Qjinbrücfe  nicht  rafdj  wie  ein  SEraum 
»orübergehen,  fonbern  in  ftetS  neuer  unb  bodj  ähnlicher  @ eftalt 
wiebererwecft  werben;  »on  welker  Seite  man  aber  fommett  mag, 
»om  Ober«  ober  oont  Sftieberlanb,  Eingang  unb  StuSgang  beä 
tief  gwifd)en  Sergen  eingefdjränften  JDurc^brud^St^aleS  biete«  bie 
^rädftigften  Silber,  hier  Singen  mit  bem  9tieberwalb,  bort  bie 
wunberfchöne  Sergpforte  swifdjen  {RolanbSecf  unb  ©rachen  fd8. 
Unb  baran  fdjliefjen  ftd?  als  glängenbe  SInfangS*  ober  (Snbpunfte 
hier  ba8  golbene  SJlaing,  bort  ba8  heilig«  Köln. 

•Die  SBirfung  biefer  malerifdjen  Sanbfdjaften  ift  um  fo  ein» 
bringlid)er,  ba  ber  fReifenbe,  oon  welcher  ©eite  er  fomme,  ein 
anmuthlofeS  ^lac^tanb  hinter  fid}  läfet.  SDie  {Rheinufer  unter* 
halb  Sonn  bieten  feinerlei  lanbfchaftliche  Schönheiten ; aber  audj 
oberhalb  {Dtaing  breitet  fich  gewaltig  lang,  etwa  Bier  bis  fünf 
SReilen  breit,  ba8  »ormalige  ©eebecfen  beS  SDberrljeinthaleS,  burdj 
welches  ber  Strom  in  gewaltigen  ©inbungen  feine  SBaffer  ba* 
hinroüt.  Son  Safel  abwärts  fährt  baS  Schiff  nur  gwifchen 
flachen  Ufern  einher,  über  beffen  ©ämme  eintöniges  Söeiben* 
geljölj  hinwegfdjaut;  gut  {Rechten  unb  ginfen,  in  weiter  Seme, 
ftrecfen  fid)  bie  blauen  Sergfetten  beS  ScbwargwalbeS  unb  ber 
Sogefen  bahin.  Qcrft  bei  Oppenheim,  wenige  Stunben  oberhalb 
9Jlaing,  tritt  an  ben  Strom  in  fteilem  iÄbfturg  baS  Kalfgebirg 
beS  linfen  Ufers  heran,  gefrönt  burch  eine  gertrümmerte  Kaifer» 
pfalg  unb  bie  wunberfchöne  Katljarinenfirche.  SDaran  reihen  ft«h 
anmutbige  SBeinhügel,  bis  baS  golbene  5Raing  bie  Pforte  beS 
eigentlichen  SRljeingaueS  eröffnet. 

$ier  legt  fub  fcer  SaunuS  bem  Strome  oor  unb  swingt 

HO*) 


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19 


ihn,  in  meftlicher  (Richtung  meitergufliefjen;  gum  ©eleite  giebt 
et  ihm  Me  liebliche  #ügelfette  beS  redeten  UferS  mit,  meldet 
gegenüber,  obwohl  meiter  entfernt,  eine  anbere  entflicht.  2)aB 
ift  ber  altberühmte  (Rheingau;  ein  weifjeS  Stäbtlein  nach  bem 
anbern  lagert  fid)  in  faft  ununterbrochener  golge  am  Ufer  hin 
eingerahmt  gtoifchen  alten  2hL'rthütmen  mit  Sinnenbädjern;  helle, 
Sanbhäufer  blicfen  auS  bem  ©rüit  ihrer  ©artenanlagen,  unb  barüber 
fteigt  baS  SBeingebirg  in  milben  £ügeln  auf,  foweit  ber  Slicf 
reicht,  unb  bietet  fid)  bem  »armen  Strahle  ber  SRittagSfonne 
bar.  Söeinberge  finb  im  ©runbe  nicht  malerifch  f<hön,  am 
»enigfien  fo  lange  fie  nodh  laubloS  nur  bie  nacften  3»eige  unb 
ftüfcenben  pfähle  geigen;  an  fchroffen  Stellen  fteigen  fie  in 
fteinernen  ^erraffen  auf,  bie  überall  in  fteifen  Sänbern  bie 
Sergfläche  burdjfdjneiben ; aber  eä  erfreut  unS  ber  ©ebanfe  an 
ben  hier  allerorten  fichtbaren  SRenfchenfleifj,  au  baS  eble  ©emächS, 
baS  er  pflegt,  an  ben  hergerquicfenben  golbenen  Saft,  ben  bie 
Sonne  barauS  bereitet.  3)er  Strom  felbft  gleitet  im  breiteren 
Sett  gwifdjen  grünen  3nfeln  bahin;  fein  ernfter  ober  großer 
©inbrucf  unterbricht  bie  (Reihenfolge  anmutiger  Silber  beS 
SBohtbehagenS;  fo  galt  ber  (Rheingau  für  bie  beginnenbe  Seit 
beS  (RaturoerftänbniffeS  feit  SRitte  beS  »origen  3ahrhunbertS  bis 
gum  6nbe  beffelben  für  ben  fchöneren  Stjeil  ber  SR^einfahrt. 

2>ann  legt  fi«h  bei  Singen  baS  ©ebtrg  »ie  ein  unbegwing» 
liehet  3BaK  bem  Strome  »or;  aber  feit  unbenflichen  3ahren  h«t 
er  fidj  nach  unb  nach  eine  (Rinne  in  baS  ©eftein  beS  Schiefer» 
gebirgeS  genagt,  welches  er  nunmehr,  gemeiniglich  eng  gwtfchen 
gelSmauern  befchloffen,  je^t  rechts,  je£t  linfS  einen  Sergoorfptung 
umgehenb,  ber  gangen  Quere  nach  burdjbricht.  3n  ber  SDRitte 
beS  langen  gelSthaleS,  »on  ©obleng  bis  (änbernad),  breitet  ftd) 
ein  geräumiger  Ühalfeffel  auS , wieber  ein  ehemaliges  Seebecfen,. 

2*  (405) 


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20 


weithin  bebccft  mit  ben  Auswürflingen  ber  »ormatS  »ulfanifchen 
(Sifelberge.  35ann  ,fchliefjt  fich  baS  fc^roffe  (Sngthal  aufs  neue 
für  eine  ©trecfe  non  etlichen  SJleilen,  um  fd?liefelidj  in  ben  fteilen 
^elSwänben  beS  ©racfienfelS  einen  prad)t»otIen  9lbfc^lu§  ju  finben; 
fdbcn  winft  Sonn  in  ber  fterne,  unb  über  baS  Sßeibengefträuch 
beS  wieber  flauen  UferS  blicft  baS  ftoljc  ©nbjiel  ber  SRbeinfabrt, 
bet  riefcnljafte  SBunberbau  beS  Kölner  3)omeS. 

Unb  auf  bietet  ganzen  weiten  ©trecfe,  bie  wir  jefjt  auf  be* 
quemem  ©chnetlboot  in  nicht  einem  »eilen  Sage  ftromab  burch* 
fahren,  waS  bakn  wir  nicht  aH  gefehen?  Serge  übet  Serge,  in 
naeften  Reifen  emporftarrenb  ober  bis  jut  qjätfte  mit  mühfam 
gepflegten  SBeinftöcfen  bepflanzt,  bie  Häupter  bewalbet;  ben 
©trem  entlang  zierliche  alte  ©täbtlein  mit  weiften  Käufern  nnb 
f^watjen  ©chieferbächern.  US  ift  nur  eine  ©trafte;  Pahinter 
fteigt  fchon  wieber  bie  ©tabtmauer  mit  ihren  3innen  empor, 
alte  mächtige  Sbürme,  mit  ©pheu  umfponnen,  mit  ^uftbäuScben 
gefrönt,  rahmen  biefe  fleinen  ©täbte  ein;  auS  bem  ©ewirre  ber 
Raufer  heben  ficb  prächtige  Ährchen,  romanifche,  gothUche,  echte 
alte,  »erwittert  unb  grau,  baS  ©pifjbach  burgartig  mit  einem 
3innenftanj  umgeben.  Unb  über  jebem  ©täbtlein  auf  febroffem 
gelS  fchaut  eine  Surg  herab,  bie  einen  3erfallen , anbere 
hergeftellt.  ©lücfliche  9JIenf<hen  fielen  ba  eben  unb  winfen  bem 
»orüberfahrenben  ©djiff  mit  wetten  Sitchem  einen  ©ru§  gu. 
$ier  hebt  fid)  Surg  Älopp,  wo  Äaifer  Heinrich  IV.  »on  bem  eigenen 
©ohne  oerrathen  warb,  bort  ift  ber  fJliebetwalb,  ber  halb  beS 
beutfehen  SolfeS  ©iegeSbenfmal  tragen  wirb,  hier  beS  böfen 
GrjbifchofS  £atte  fDtäufethurm.  SDiefer  ©belftein  »on  einer 
alten  Surg,  mitten  im  9ihein  auf  einer  ^elSflippe  gebaut,  ein 
wunberfameS  ©ebäu  mit  zahlreichen  Sbürmdben,  eS  ift  bie  'Pfalz; 
hier  ift  Slüchet  in  ber  Sfteujahrönacht  1814  über  ben  fRhein  ge* 
(«») 


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'Z\ 


gangen.  {Dort  oben  fif)t  bie  Lorelei  unb  fämmt  i^r  golbeneS 
jpaar;  bott  Scploh  {Rheinfels,  bae  riefige  Srümmerwerf,  ba  bie 
malerijche  {Dlarjburg;  ^iet  bet  ÄönigSftuhl  ton  SRhenje,  ba  bet 
StolgenfelS,  tjiet  bet  @!^renbreitftein.  2)iejet  ^roffe  gelsfolof) 
trägt  bie  Stummer  ton  ^ammerftein,  wo  beS  ^eiligen  römijdien 
{Reicbeö  Äleinobien  gu  3eiten  aufbewa^vt  mürben;  bort  oben  ftefct 
bie  wunbetfchöne  SpollinariSürche;  bort  brüben  liegt  baS  ©ieben* 
gebirg  mit  bem  {Drachenfels  unb  hie*  ber  {RolanbSbogen,  ton 
bem  bet  trauernbe  {Ritter  hi«abjd)aute  gum  {Ronnenwerth! 
eines  nach  bem  anbern , liebliche  {Dörfer  unb  regfame  Stäbtlein, 
alte  {Bürgen  unb  neue  ifanbhäujer,  ©belfteine  ton  Äitchen, 
Söeinberge  unb  Dbftgärten;  unb  welche  SBunber  weih  nicht  bet 
Äunbige  noch  fonft  i«  ben  SBalbthälern  terftedt,  bie  ton  3eit 
gu  3eit,  wenn  bie  33ergmänbe  einen  $Dut<hjchlupf  laffen,  in  baS 
terborgene  2anb  gut  Seite  fid)  aufthun! 

Sßorin,  fragen  wir,  befielt  biefet  berüdenbe  {Reig  ber  {Rhein* 
lanbjchaft?  ©in  Slmerifanev , ich  weiß  nicht,  wo  ich  eS  laß»  hflt 
gemeint,  jein  .pubjon  wäre  wohl  jchöner  als  ber  {Rhein,  wenn 
beffen  JBurgen  nicht  wären.  3a,  baS  ift  bie  Sache,  nur  bah 
ber  SRann  fie  nicht  töllig  auSgubtüden  wuhte,  wenigftenS  nicht 
für  ein  beutjcpeS  ©emüth-  3ebe  lanbjchaftliche  Schönheit  erfreut 
uns  auf  bie  {Dauer  nur,  wenn  wir  Sputen  menjchlichen  SBirfenS 
barin  erfennen.  @8  ift  mir  bange  geworben  am  hellen  jonnigen 
ÜRittag,  als  ich,  ein  reifer  2Rann,  mutterjeelenallein  tom  ©ot* 
net  ©rat  gur  ©iSpracht  beS  SRonterofa  unb  feiner  {Rachbarn  hi«* 
über  jehaute;  ich  weine,  ähnlich  mühte  ber  ©inbrud  beS  UrwalbeS 
ober  bet  Sffiüfte  fein,  ober  beS  5ReeteS  an  tobeinjamer  §eljenfüfte. 
jpören  mir  ben  äflang  ber  menjehlichen  {Rebe  ober  nur  fernen 
©lodenton,  fehen  wir  bie  Spuren  bet  fleißigen  {JRenfdjenhanb, 
jo  wirb  uns  heimlich  unb  behaglich  gu  SDiuthe.  Slbet  noch  ge* 

(«07) 


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22 


ftcigcrt  wirb,  wenigftenS  für  baä  reifere  ©emütf),  biefer  ©inbrucf, 
wenn  biefe  ©puren  ber  5Renfd>en^anb  un8  nid}t  bloß  in  bie 
rührige  ©egenwart,  fonbern  in  eine  längft  oerfunfene  ©ergangen» 
heit  hinweifen.  Unb  btefeS  ift,  wenn  irgenbwo,  im  Sfijeintfjal 
ber  gaH,  unb  gwar,  auö  ben  fc^on  früher  entwicfelten  ©rünben, 
ht  unenblich  böserem  Ü-Raße  alß  eS  bei  ben  übrigen  beutfdjen 
glüffen  bet  gaH,  ja  überhaupt  möglich  ift.  2Bol)l  nur  wenige 
werben  fid?  biefeß  ©inbrucfeö  unb  feiner  ©rünbe  »oßfommen  be» 
wußt,  aber  wirfjam  bleiben  fie  barum  bod}.  Snmitten  biefer 
halb  lieblichen,  balb  großartigen  lanbfdjaftlichen  Schönheit  ahnen 
wir  fortgefegt  ben  gewaltigen  gerichtlichen  ^intergruub  bet» 
felben;  wir  feljett  bie  alten  SRcmer  ihre  Äaftelle  abftecfen,  bie 
Äaifer  auf»  unb  abgiehen;  wir  beoölfern  bie  gebrochenen  ©urgen 
mit  lebenben  fRittern,  unb  öa$  junge  5Räbd)en,  ba8  un8  necfifdh 
»om  ©öller  grüßt,  wirb  un8  gum  ©utgfräulein.  ©oethe,  ber  fo 
manchesmal  rßeinauf  unb  rßeinab  fußr,  h<*t  iß  einem  wunberbar 
frönen  Sugenbgebidjt  biefer  ©mpfinbuitg  SuSbrucf  gegeben,  ®t 
läßt  ho<h  auf  bem  alten  Slhunne  be8  gelben  eblen  ©eift  fteljen 
unb  hewieberichauen  auf  baS  tiefunten  baßingleitenbe  ©chifffein; 
ber  ©eift  ruft  bemfelben  gu: 

'Sieh,  biefe  Senne  war  fo  ftarf, 

3)ieS  $crj  fo  feft  unb  milb, 

Sie  Änoihen  bdB  Don  jRittermarf, 

Ser  Öecber  angefüllt : 

5Rein  halbe«  öeben  ftünnt’  ich  fort, 

33erbehnt’  bie  £>älft’  in  IHub, 

Unb  bu,  bu  ÜOlenfChenfchifflein  bort, 
gal;r’  immer,  immer  ;u! 

2öa8  hier  ber  2)id)ter  mit  wunberfamem  ©erftänbniß  au8= 
fpricht,  ift  e8  nicht  ba8  ©egenftücf  gu  unferen  ©ebanfen,  wenn 

(408) 


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2.3 


wir  au  biefer  jertrümmerten  Jperrlic^feit  auf  leidstem  Sdjifflein 
bahinfahreu  ober  fröhlichen  SiuneS  bahinwanbern?  55er  ©eifi 
beö  alteu  StitterS  ruft  unS  ju:  gahrt  nur  baljin  in  ©urer  Bröh* 
liebfeit,  geniefjet  beä  Kolben  unb  furgen  8ebenö,  wie  ich  oormalfl! 
3^r  werbet  audj  bereinft  9tuhe  finben  unb  ftiüe  werben,  wie 
ich  eö  bin!  Unb  unö  brängt  fidj  bie  ßmpfinbung  auf:  55ort  oben, 
wo  jefjt  in  ben  morfcben  Krümmern  nur  Äaug  unb  ©ibedjfe 
Raufen,  ba  tjat  oor  Seiten  fröhliches  SDienfcbenleben  geflutet. 
55ie  bort  oben  wohnten,  fie  haben  wohl  auch  manchmal  freubigen 
SlicfeS  h>nabgefchaut  in  biefe  oeHquellenbe  (Schönheit,  l^abea 
baS  8eben  genoffen  unb  8eib  getragen,  wie  wir,  unb  wo  finb 
fie  jefct? 

SltlcS  batjin,  bal;in! 

©aS  ift  eS  eben,  waS,  um  auf  eine  frühere  Semerfung  ju« 
rücfgufommen,  ben  ^)ubfon  oom  Dtljein  unterfcheibet,  bafj  bet 
lefjtere  in  feinen  gefdjicbtlicben  ©rimterungen  nnb  ^pinweiien 
eine  geiftige  Schönheit  befitjt,  welche  ben  malerifchen  9ieig 
biefer  Serge  unb  Reifen,  fßeinterraffen  unb  Stäbtlein,  Surgen 
unb  Kirchen  unenblich  uertieft.  Unb  bod)  will  jugleid}  bie  ernfte 
SBehmuth,  bie  fid)  unwiDfürlicb  an  bie  Setradjtung  oon  £rüm» 
meru,  an  ben  ©ebanfeu  längft  oorübergeraufcbten  8ebcnS  fnüpft, 
ftch  am  9thei«  ntdh>t  einftelleu ; baS  aQe@  ift  gar  fo  fchön,  unb 
biefe  oerwitterten  Sengen  bet  alten  3eit  fchauen  hinab  auf  bie 
lebenbig  flutenbe  ©egenwart.  Sßir  erfennen  überall  bie  Spuren 
regften  SerfehreS,  fruchtbarer  Arbeit;  jur  Rechten  unb  jur  hinten 
beS  Stromes  raffeln  lange  3üge  oon  Söagen  auf  ber  ©ijenftrafje 
bahin,  mächtige  Schleppboote  fämpfen  gegen  bie  Stellen  unb 
führen  ihr  ©efolge  oon  fcbwerbelabeuen  Segelfchiffen  ftromauf; 
bie  zierlichen  Sd?wäne  beS  SiheinS,  bie  55ampfer,  gleiten  an  ein» 
anber  ootbei,  unb  jaucbgenb  grüßen,  bie  barauf  fahren,  mit 

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u 


wehenben  Supern  hinüber  unb  herüber;  Bon  gar  mancher  23  arg 
auf  bet  £61^  flattern  gähnen  im  SBinb;  gtünenbe  ötebengänge 
unb  blifcenbe  genfter  geigen,  baf)  auch  butt  oben  wieder  juugeö 
Seben  eingefehrt  ift;  an  bie  ©täbte  fdjliefjt  fid)  «in  Jrtrang  an» 
mutiger  Sanbhäujer,  unb  mir  jelbft?  — 2Bir  gieren  entweder 
alö  frijdje  SBanberer  gu  gufje  einher  burch  biefeö  jdjöne  fröftfidje 
Seben,  ober  mir  jdjweben  auf  bem  SDampfer  baljin,  ringö  um* 
mögt  »on  lauter  ©ejetljchaft,  unb  alle  biefe  ÜJlenjchen  freuen  fiel* 
ber  SBelt,  genießen  ben  rajeh  oerraufdjenben  ©onnentag , der 
ihnen  Bielleicht  nodj  nach  langen  Sauren  ein  Sag  beß  @edäd>t* 
nifjeß  fein  wirb.  55aß  macht  ebeu  beu  9U}ein  fo  Ijerrlid),  tafc 
feine  reiche  ©djonheit  fidj  aufbaut  »or  bem  bunfeln  Hintergründe 
ber  oergangenen  Beit,  unb  bafj  wir  allerorten  gugleid)  niefjt  bloß 
ben  glei§  unb  baß  frijehe  ©ebenen  ber  ©egenwart  jeheu,  fon* 
bern  auch  glücfliche  fDlenfdjen,  bie  mit  trunfenem  Slicfe  fitfy  ber 
SBelt  unb  ihrer  ©djönheit  freuen.  55enn  frohe  ÜJlenjchen  gu 
fehen  madjt  unß  felber  froh- 

Unb  nic^t  gum  Sßenigften  trägt  gu  biefev  SBeltbebeutung 
beß  Ol^eine  fein  SBein  bei.  (Sr  ift  jold?  ein  ebleß  ©etränfe,  baf} 
er  einer  gang  bejonberen,  wahrhaft  philojophijdjen  SBürbigung 
bebarf. 

3ch  bin  nämlich  geneigt  gu  ber  Slnficht,  baf),  jd)on  auß 
naturwijjenjchaftlichen  uub  geogra^^ijdjen  ©tünben,  fein  SBolf 
ber  äöelt  jo  in  ber  Sage  fei,  SBein  gu  trinfen,  wie  ber  35eutfd)e. 

35er  ülorblänber,  aljo  ber  Oiuffe,  Ülormeger  unb  (Schwebe,  ber 
S3ewo^ner  bet  norbijdjen  üJteereßfüfte  ober  beß  Snjellanbeß,  aljo 
ber  55äne,  (Snglänber,  ©chotte,  .pollänber,  fie  trinfen  gur  (Sr« 
wärmung  Ujteß  leiblichen  ÜJlenjchen,  gur  Sßefiegung  ber  fühlen 
ÜJleereslujt  unb  beß  feuchten  Ülebelß  ben  jehweren  jüblänbijdjen 
SBein  ober  gar  baß  efte  gebrannte  SBajjer.  ©ie  wärmen,  aber 

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25 


fic  fteigen  in  ben  Äopf,  fic  machen  fdjioet  unb  bumpf,  unb  wenn 
ber  Deutfdje  baoon  nach  ^eimifd)er  Seife  trinft,  fo  wirb  et  be* 
trunfen.  Dieje  ©iiblänber  ober  ber  33ranutwein  in  aüen  jeinen 
mannigfachen  ©eftalten,  fie  finb  eben  nicht  „f  Affig",  um  ein 
biebereS  rtjeinifd;eö  Sort  gu  gebrauchen.  „SJian  fann  habet  nicht 
fingen,  babei  nicht  fröhlich  fein-" 

Der  ©üblänbet  bagegen,  ber  grangoje  unb  ©panier  unb 
Staliener,  fie  »erflehen  auch  nichts  »cm  Sein.  ©d?on  ber 
gtangofe  mijd)t  fid)  jeinen  Sein  mit  Saffer,  gleich  ben  Jpelben 
JpomerS  unb  ben  Seifen  PatoS,  bie  fichetlich  auSbünbiget 
SJlengen  foldheS  fläglichen  ©etränfeS  beburften,  um  in  eine  halb* 
wegS  ^eitere  Stimmung  gu  fommen.  DaS  ift  aber  naturgemäß; 
bet  Portwein,  JereS  unb  fßlatfala,  bie  in  bet  fJiebeßuft  oon 
Bonbon  ober  ©tocfholm  gute  Dienfte  thun,  fie  erlaßen  baS  heiße 
33lut  beS  ©üblänberS  nod)  mehr,  unb  er  greift  gum  Saffer, 
welches  ber  rebliche  Deutfd)e  weislich  meibet, 

„Dieweil  barin  erfäufet  finb 

9tfl  jünbhaft  SJieh  unb  SRenfcpentinb.'' 

3ch  will  bamit  nichts  Schlimmes  fagen  über  bie  Seine 
unjeter  Nachbarn,  ber  grangofen;  baß  fie  folch  guten  Sein  gießen, 
habe  ich  immer  als  eine  .pauptliebenSwürbigfeit  oon  ihnen  be* 
trachtet,  ©in  eblet  33urgunber  ober  33orbeauj  oerbient  äße 
Ächtung,  »orab  beShalb,  weil  er  unter  ben  gremblingen  mit 
unfetem  9i^einn>ein  noch  bie  meifte  Äeßnlichfeit  hat.  Der  ©h^m» 
pagner  bagegen  ift  ein  bummeS  ©etränfe,  ihn  gu  genießen  ein 
33eweiS  oon  ©eiftlofigfeit  ober  ©roßthuerei,  weshalb  eS  gumeift 
in  ©egenben  gefchieht  ober  oon  folchen,  bie  oon  bem  edjten 
Sein  nichts  oerftehen.  Der  6han,baänet  ift  lein  Sein,  fonbern 
ein  Äunftprobuft , ein  mit  3uder  unb  Älfohol  gurecht  gemachter 
werthlofer  jRebenfaft;  man  fragt  nicht,  wo  er  gewadjfen  ift, 

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26 


fonbern,  wer  iljn  gemalt  Ijat;  bie  ebten  sperren  »on  .podjbeim, 
fRübeSljeim  unb  3obauniSberq  befifcen  ifyren  SBeltruf  feit 
3aijrl}unberten  unb  werben  i^n  auch  ferner  befifcen,  bie  3Bittwe 
ßliquot,  9Rumm  unb  fRoeberet  finb  gabrifanteunamen,  »ergang* 
lid)  wie  ber  bunte  Bettel  auf  ifjrer  glafdje,  wie  ber  pricfelnbe 
<£djaum  i^reS  SöeineS. 

©eutfdjlanb  ift  baS  wal^re  fReid?  ber  SRitte  für  ben  echten 
unb  geregten  ÜBeinirunf,  unb  ber  Äern  in  biefem  Oieidje  ber 
SDiitte  ift  baS  fRtjeinlanb  felbft.  ©er  beutfdje  Printer  fjaf)t  ben 
©djnapä  unb  »erachtet  baS  SBaffer:  ber  edjte  ©eutfdje  trinft  mit 
Slnbadjt;  ba$  SBeintrinfen  ift  iljm  ein  (5ultu§,  ein  ÜR»fterium, 
eine  (Srljebung  in  bas  JReidj  ber  sJ>oefie.  6t  »erlangt  gum  ©e« 
nuf)  ber  3«njje  nodfy  ben  ©enufj  beS  DfyreS  im  Sfnftofjeu,  im 

t 

©efang,  in  lebenbiger  SSedjfelrebe,  Printen  unb  SUiflingen  ge* 
Ijört  i^mjufammen;  bat  ja  bod>  ber  ffranjofe  für  ben  itym  ftemben 
23raudb  baS  beutfdje  3Bort  trinquer  geborgt.  Unb  weldieö  33olf 
bat  foldje  Jrinfliebet  wie  bet  ©eutjcbe?  fRicbt  leidste  djampag» 
nerartig  fdbäumenbe,  wie  biejenigen  23eranger8,  fonbern  ernfte, 
feierliche,  tiefe,  ^eilige  Jrinflieber,  bei  benen  aus  ber  golbenen 
glut  beS  SSeineS  bie  ädjtefte  ^)oefie,  bie  fdjönfte  grömmigfeit, 
bie  reinfte  SöaterlanbSUebe , bie  weitfyerjigfte  SRenfcbenliebe  em* 
porfteigt.  SBer  tyat  fte  in  braufenben  3ugenbjal)ren  begeiftert 
gefungen  unb  wirb  nid)t  nod)  unter  grauen  paaren  anbäd)Hg 
unb  frob,  wenn  er  ber  »ergangenen  Seiten  gebenft?  SBeun  biefe 
unterblieben  8ieber|an  feiner  «Seele  »orübergeljen: 

'.Hu 3 geuer  warb  bet  ©eift  geraffen, 

©rum  fcbentt  mir  füfje«  geuer  ein! 

ober: 

Sitte«  jcjjweige!  3eber  neige 
(Smften  Jonen  nur  fein  Obr! 

<4U) 


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27 


ober  ©oettye’6  prädjtigeS  Srinflieb: 

Sötidj  ergreift,  icty  weiß  nicpt  wie, 

• £nmmlifctye§  Setyagen, 
ober  ba8  ernfte: 

@inb  mir  Bereint  $ur  guten  3 tunte, 

3Btr  ftarfer  beutfctycr  OTännerctcr, 

ober  baö  prädtytige  alte  £ieb  beö  etyrlidjen  SBanbSbecfer  Soten 
9Ratttyia8  ©laubiuS: 

Sefränjt  mit  ?au6  ben  lieben  Bollen  2Öed;er 
mit  feinem  tief  gemüttylictyen  Sdjluß: 

Unb  müßten  mir,  mo  jemanb  traurig  läge, 

SBir  brauten  ibm  ben  Sein! 

Solche  SErinflieber  fann  blo§  ber  beutfctye  SMctyter,  nur  bet 
SDeutfctye  fingen,  unb  nur  beim  fRtyetuwein  fingen. 

25er  2>eutfctye  trinft,  wie  man  am  fRtyein  fagt,  mit  33er» 
ftanb,  benn  fein  Sein  läßt  itym  ben  33erftanb;  „im  Äteife 
frotyer  fluger  3«tyer",  fo  fängt  ein8  unfetet  SErinflieber  an  unb 
nictyt  mit  Unredjt,  benn  ber  fRtyeinwein  madtyt  frötylid)  unb  giebt 
gute  ©ebanfen.  25er  grangofe,  Italiener  unb  Spanier  finb  im 
©runbe  gebanfenlofe  ©etränfe;  man  trinft  fie,  «eil  fie  gut 
fdjmecfen;  beim  fRtyeinwein  benft  man.  Sttyen  bet  erfte  ®e* 
banfe  ift:  So  mag  ber  Sein  gewactyfen  fein?  33on  meinem 
3atyrgang  ift  er?  2)ie  gremblänber  wirfen  nur  burdj  ityren  §a* 
brifantennameu,  ober  gange  ©eoiertmeilen  Bon  Seinlanb  werben 
unter  ©inem  tönenben  SEitel  gufammengefaßt,  ober  wa8  an  Sou» 
bettiteln  etwa  eergeittynet  ift,  baö  ift  nichts  wertty.  33om  Satyr* 
gang  ift  gar  nidtyt  bie  9tebe.  ©in  fohtyer  Sein  ift  wie  ein 
Sudty  otyne  Serfaffer,  „gebrucft  in  biefem  3atyr".  2)et  ettyte 
2)eutfctye  trinft  feinen  guten  SEropfen,  otyne  3U  wiffen,  wann  unb 
wo  er  gewactyfen  ift;  er  fdjeibet  ben  jungen  unb  ben  firnen,  et 

(413) 


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fd)eibet  nach  3ahrßängen  unb  tiagen,  unb  in  funbiger  ©teigerung 
folgt  bcm  ©uten  bet  93efjete,  bem  Sßeffeten  bet  33efte,  biß  ein 
„rotier  Äragen"  dou  ebelera  äßmannßhäufen  bem  finnigen 
Sedifelgefpräih  oon  SDiann  unb  Sein  ein  ©ube  macht.  tKber 
foldjeß  ift  auch  nur  am  {Rhein  möglich,  wo  bei  Singet  feine 
{Reben  pflegt  unb  nährt,  wie  bie  SRutter  ihr  Äinb,  wo  et  ben 
Sein  mit  feinet  ©orge  geleitet  oom  erften  ©efchein  butch  bie 
Sölütbe  bis  gut  {Reife,  butch  gebulbigeß  .patten  unb  breifadje 
JMußlefe  auß  bem  ©uten  baß  Seffete  unb  23efte  fchafft,  unb 
nodj  im  Äeüer  butch  funbige  pflege  ben  wilbeu  Änaben  gu 
einem  ^ettlic^eu  3üngling  ergießt.  SDa  ^at  jebet  33erg,  jebet 
fonnige  Jpang  feinen  ©onbernamen,  oft  nur  eng  begtengt,  nur 
oon  bem  Äenner  nach  Sütben  gefdjvi^t , aber  bei  folget  ©org* 
falt,  wie  fein  Sßolf  bet  ©rbe  fie  feinem  Seine  wibmet,  erwdchft 
auch  ein  außgefuchteß  gieblingßfinb,  torab  in  guten  3afyten,  unb 
bie  ebeln  Jpeimer  unb  ©teinet,  bie  Setget  unb  Sljaler,  fie  finb 
wahrhaft  abelige  Jperren,  Heine  dürften  oon  ©otteß  ©naben,  in 
ritterlichen  ©hren  Ijoc^geljalten  burdj  bie  gange  Seit,  biefe  Diel* 
geliebten  greiljerrn  Don  Oppenheim  unb  {Rierftein,  Sobenheim 
unb  Saubenheim,  ^poc^ljeim  unb  SRarcobrunu,  {Rauenthal  unb 
©teinberg,  ©eifentyeim  unb  3channißberg , {Rübeßheim  unb  Stfl» 
mannßhaufen,  3ngelheim  unb  ©djarlachbetg!  Sohl  wtß,  baf) 
biefe  ©beln  unter  unß  wohnen,  unb  möge  nie  bie  nidjtßwürbige 
ametifanifche  {Reblauß  übet  fie  fommen,  noch  an  ihre  trefflichen 
S3rübet  dou  SRain,  SRofel  unb  ©aar,  benn  auch  *>a  »ächft  an 
guten  ©teilen  ein  ftolgeß  @efchled>t,  welches  baß  SDichterwort: 
{Jtheinwein  ift  gejcbmolgne  Sonne, 

SDiojclwein  gefrorner  Sftonbfcbein 
gu  ©chanben  macht. 

Unb  foll  unfet  .perg  nicht  höh«  f^lagen , wenn  wir  oorüber* 

(«4) 


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29 


fahren  an  ben  fonnigen  Rängen,  wo  fo!d>e  eble  Herren  im  Schuh« 
ber  33urg  ober  be8  ÄlofterS  aufwacbfen,  wo  fo  »iel  frei)* 
liehe  Sieber,  fe  mel  gute  ©ebanfen,  fo  »iel  glücflidje  Söi^e 
au8  bem  ©eftein  auffpriefjen?  Sollen  unfere  ©ebanfen  nicht 
höher  fliegen,  wenn  un8  ba8  tiefe  ©olb  au8  bem  runben  SRömer 
entgegenblinft?  Sowohl,  wir  trinfen  mit  fßerftanb,  wir  benfen 
beim  Sftyeinwein ! Sin  wa8  benfen  wir?  Sin  wa8  anberS,  alö  an 
bie  Schönheit  be§  NheineS,  an  ©ejdjidjte  unb  Sage,  an  ben 
frommen  Siegfrieb  unb  ben  Nibelungenhort,  ber  bei  SBormS  im 
Strome  »erfunfen  liegt,  an  bie  Sorelei  unb  ben  betrübten  No» 
lanb,  an  Äarl  ben  ©reffen,  ben  Nebenfreunb,  an  Burgen  unb 
Reifen,  SBeinberge  unb  Ntanbelbäume,  an  wunberoolle  SBanber» 
berfahrten  in  fröfjlic^en  Sugenbtagen,  an  entjücfenbe  Sluöblicfe 
»om  h<?hen  ?cel8geftein,  an  h«ö«  fonnige  Stage,  ba  wir  auf  bem 
Schiffe  rheinab  fuhren,  cot  ben  Slugen  biefe  ewige  Schönheit, 
in  ber  ^anb  ba8  ©laS  mit  bem  buftenben  ©olbtranf  biefer  Ufer! 
2)a8  Sllter  benft  fröhlich  an  bie  »ergangenen  Sage,  bie  3ugenb 
benft  in  glücf liebem  Straum  an  bie  »erhüUte  Sufunft;  au8  ber 
golbenen  5BeUe  fteigt  SllteS  unb  NeueS, 

SSor  allem  aber  ba$  SÖilb  ber  ©eliebten, 

2>a8  ©ngelsfcpfhen  auf  JKbettureingolbgrunb. 

So  wirb  bem  SDeutfchen  ba8  Sanb,  wo  folcher  SSein  wächft, 
ein  Sanb  ber  ^)oefie,  wie  bie  JDichtung  unb  Sage,  bie  Schön» 
heit  be8  Sanbe8  ben  SBein  abein,  in  ihm  ein  ewiges  Sehen  ge* 
winnen. 

@8  möchte  nun  fcheinen,  als  ob  biefe  Grinwirfung  be8  Nl)eine8 
auf  ba8  beutfehe  ©emüth  allezeit  muffe  »orljanben  gewefen  fein, 
beun  feine  Schönheit  ift  hoch  im  ©runbe  un^erftörbar,  feine 
Surgftäbtlein  unb  Söurgen  waren  »ormal8  ohne  3»eifel  noch 
maletifcher  al8  gegenwärtig,  fein  ^anbel  blühte  im  ÜJlittelalter 

(415) 


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30 


wie  jej}t  unb  feine  Sieben  geniefjeu  feit  einem  3ahrtaufenb  beß* 
felben  {Rufeß.  So  ift  eß  unß  wunberlich  gu  beobachten,  bafj 
biefet,  ich  möchte  fagen,  anbächtige  Jfultuß  beß  {Rheineß  eine  net» 
hältnifjmafsig  junge  ©rfdjeinung  ift.  Som  3Kittelalter  faum  gu 
teben;  eß  ift  eine  befannte  $hatfache,  bafj  baß  SRittelalter  für 
lanbfchaftlidje  {Reige  geringeß  SBerftänbni§  hatte,  ba&  ein  ^reiß 
lanbfchaftlicher  Schönheit  in  ben  {Dichtungen  ber  ÜRinnefänget 
fociel  wie  gar  nicht  corfommt,  jebenfaCiß  ohne  alleß  örtliche  @e» 
präge  ift.  Sllbrecht  {Dürer  fogar,  bet  gefeierte  9Ralet  mit  bem 
wunberfamen  Äennetblicf  für  bie  ©eftalten  beß  menfdjlichen 
Bebenß,  er  fahrt  iu  fünfter  ©ommergeit  1520  unb  1521  ben 
{Rhein  hinab  unb  hinauf,  ohne  in  feinem  fonft  fo  peinlich  ge* 
wiffenhaft  geführten  Sagebuch  ein  Sterbenßwörtlein  gu  fagen  non 
bem  malerifdhen  {Reig  biefer  balb  milben,  balb  fchtoffen  Ufer, 
©benfo  wenig  begegnen  wir,  foweit  mir  befannt,  im  17.  unb 
18.  Sahrhunbert  einem  8obe  ber  {Rheinlanbfchaft.  Älopftocf 
unb  ©laubiuß  befinden  ben  {Rheinwein,  aber  auch  beß  {Rheineß 
Schönheit?  So  wenig  wie  ©oethe,  welcher  gar  manchmal  ben 
{Rhein  auf  unb  abfuhr.  {Der  feinfinnige  ©eorg  gorfter,  welcher 
(Snbe  9Rärg  1790  ben  {Rhein  hinabfährt,  erfreut  fich  an  bem 
„reichen,  mit  aneinanber  hängenben  Stabten  befäeten  {Rebenge* 
ftabe"  beß  {Rheingaueß;  bagegen  finbet  er,  baff  für  bie  {Racftheit 
beß  eerengten  SRheinufetß  unterhalb  Singen  bet  Banbfchaftßfenner 
feine  ©ntfdjäbigung  finbe,  er  erflärt  bie  Serge  gu  beiben  Seiten 
für  einförmig  unb  ermübenb,  bie  Surgtrümmer  haben  guciel 
9lehuli<hfeit  mit  ben  cerwitterten  Sergfpifcen,  auf  welchen  fie 
liegen;  felbft  bie  8age  ber  Stäbtchen,  bie  eingeengt  finb  gwifchen 
ben  fenfrechten  SEBänben  beß  Schiefergcbirgß  unb  bem  Sette  beß 
furchtbaren  gluffeß,  ift  melancholisch  unb  fdjauberhaft.  SEBie 
fommt  eß,  möchte  man  fragen,  bafj  ber  cereinigte  {Reig  con  ©e* 

(416) 


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31 


fdjtdjte,  Sage  unb  SRaturfchöuheit,  weichet  heutzutage  um  biefea 
8iebling8ftrom  bet  JDeutfdjen  einen  änuberfchein  webt,  noch  für 
baß  näd^ft  hinter  un8  liegenbe  3al)rhunbert  eigentlich  gar  nidjt 
»orljanben  war? 

@8  haben  baju  Derichiebene  ©tünbe  mitgewirft.  (Sine8theil8 
warb  weniger  gereift,  ba8  SReifen  mar  befdjwerlictjer  unb  babei 
fogar  auf  bem  fRljein  unb  in  feinen  Meinen  ©täbten  — id)  t>er« 
weife  u.  2J.  auf  bie  SReifefdjilbetungen  oon  3ung»@tUIing  unb 
©eotg  gorfter  — mit  einet  SJtenge  heutzutage  längft  oetfchwun» 
benet  33eläftigungen  »etfnü^ft.  2lnberntheil8  etfcheint  bie  2luf* 
faffung8fä^igfeit  für  lanbfd)aftliche  Schönheit  eigentlich  erft 
feit  bet  SKitte  be8  18.  3ahrhunbert8.  im  wefentüchen  l)etüotge* 
rufen  burd)  SttjomfoitS  3abre8^eiten,  JpaOerS  SUpen  unb  SRouffenu’8 
dteue  #eloife;  bie  beutfdje  Dichtung  nahm  feit  23eginn  bet 
©turnu  unb  SDrangzeit,  alfo  etwa  feit  1772,  einen  Dödig  neuen 
Sluffchwung,  öffnete  gum  etften  dJtale  bem  beutfchen  33olfe  gang 
unb  wirflid)  bie  Säugen  für  lanbfchaftliche  Steife ; eine  fur^e  $in= 
weifung  auf  ©oethe’8  SBerther,  auf  ^öltp’8  SJtonbfcheingemälbe 
unb  ©djilbetungen  beS  SanblebenS  mag  hier  genügen.  Unb 
boch  ift  fogar  biefe  wunbetfame,  plöhlid)  eintretenbe  ©rweiterung 
be8  beutfchen  9iaturftnne8  nicht  au8reithenb,  gu  erflären,  weshalb 
etwa  feit  bet  Scheibe  be8  18.  unb  19.  3ahthnubert8  ber  Vtyem 
thatfächlich  ber  3)eutfdjen  SieblingSftrom  geworben  ift.  ©t  banft 
ba8,  wie  mit  fdjeint,  ber  Sage  an  ber  SBeftgrenge  beutfchen 
SanbeS,  berfelben  geographifdjen  Sage,  bie  ihm  neben  fooiel  ©lücf 
aud)  fo  oiel  Seib  gebracht  Ijat- 

3d)  will  ba8  an  einem  ©leidjnifj  beutlich  machen.  3)er 
SBater  Kebt,  ftcherlid)  ohne  S8bfi<ht  unb  Dielfach  ohne  33ewu|tfein, 
baSjenige  feiner  Äinber  am  meiften,  ba8  ihm  bie  meifte  Sorge 
gemacht,  um  beffen  Sehen  er  am  fchwerften  gefämpft  h«t;  unb 

(417) 


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fold?  ein  Scrgenfinb  beg  beutfchen  Solfeö  ift  bcr  Nhein  Jahr* 
hunberte  fang  gewefen,  unb  cot  allen  Dingen  an  bet  lebten 
Scheibe  ber  3abrhunberte. 

Dem  war  nicht  affe  im  SOiittelalter.  Der  JRhein  bitbete 
bamalg  ben  Äern  beö  beutfchen  8anbe8;  »on  ihm  au$  brang 
beutle  $errjchaft,  (Sitte  unb  Sprache  langfam  »or  gu  ben 
flawifchen  Seffern  an  ©Ibe  unb  Dber,  wie  bie  Donau  hinab  bis 
ju  ben  ©rennen  ber  Ungarn.  SöeftwärtS  ftredte  fid)  heutiges 
fReich$gebiet  weit  hinüber  biß  an  bie  NtaafS  unb  an  bie  untere 
fRbone,  wenn  auch  bie  Dbrnacbt  be8  beutfchen  Äönigä  über  biefe 
fran^öfiieb  rebenben  ©ren^lanbe  mehr  unb  mel)r  [ich  in  ein  ge* 
fcbichtlid)  entftanbeneS  unb  gefchidjtlich  gefchwunbeneö  Schatten* 
recht  »ertüchtigte.  Unb  wenn  8pon  unb  tärleg,  8üttidj  uub 
Nanjig  nach  unb  nach  ftd)  bent  beutfdjen  fReiche  »eilig  entfrem* 
beten,  eg  fdwitt  hoch  nicht  in8  fUeifd)  beS  beutjeben  Solfeö,  tnß 
^»erj  beutfeher  ©bre;  e$  war  frembrebenbeö  Sanb,  unb  man  batte 
e3  im  ©runbe  längft  »erloren  gegeben.  granfreid),  burd?  bie 
enblofe  §el)be  mit  ©nglanb  feftgehalten , war  machtlos;  eg  war 
noch  am  SluSgang  beö  ÜRittelalterS  möglid),  bafj  Äönig  8ub« 
wig  XII.  einen  feiner  tRathe,  welcher  Äaifer  ÜRajr  fpottenb  ben 
Sürgermeifter  »on  Slugöburg  genannt  hatte,  mit  ben  Sorten 
heimfehiefte:  Du  ©fei  mu§t  »on  ber  heb?”  Dbrigfeit  nicht 
fchmählid?  reben.  ©laube  mir,  wenn  biefet  Sürgermeifter  läfjt 
bie  ©lode  läuten,  fo  ift  ganj  Deutfchlanb  im  £)arnif<h,  unb 
^ranfreicb  beginnt  ju  jittern! 

Durch  baö  ganje  9Rittelalter  hinburch  alfo  hatte  ber  Deutfche 
feinen  tJlnlajj,  ben  fRhein  mit  anberen  tSugen  ju  betrachten,  alS 
jeben  anberm  bcutfdjen  Strom.  Daß  wanbeite  fich,  feitbem 
granfreich  burch  8ubwig  XI.  unb  feine  Nachfolger  geftärft,  beu 
Nebenbuhlerfampf  mit  bem  beutfdjen  JReiche  begann  unb  babei 

(418) 


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33 


in  feem  3wieipalt  bcv  33efenntniffe  eine  oetbängnihnolle  Unter* 
ftüfcung  fanb.  3m  3ahre  1552  warb  9Jlefc  nerrätherifcb  nom 
fReid)  abgeriffen,  1648  ging  baS  öfterreichifche  (5üafe  nerloren, 
1681  jogen  bie  ftrangofen  in  ©traftburg  ein.  3e  maditlofer  fich 
baS  erfterbenbe  heilige  römifche  SReich  beutfcher  Nation  erwies, 
befto  gefährlicher  braufte  bie  ÄtiegeSwoge  non  Süeften  heran; 
1689  warb  bie  ^Dfal^  unb  alles  Uanb  ringsum  mit  Beuet  unb 
©chwert  nerwüftet;  bie  flammen  ber  herrlichen  SRünfter  non 
©peier,  SßermS  unb  Oppenheim  fpiegelten  fich  an  bemfelben 
fürchterlichen  fPfiugfttag  1689  in  ben  Hellen  beS  3it)eineS.  Unb 
fo  ging  es  weiter  in  ben  nächften  3al)rgehnten;  bie  jahllofen 
Burgen  beS  JRheineS  »nb  feiner  9iebentl)äler  würben  non  fran* 
jöfifdjen  ÜRorbbrennern  gebrochen  unb  blicften  trümmerhaft  in 
baS  nerwüftete  Üanb;  bie  alte  ^-'faffengaffe,  fonft  ber  ©arten 
IDeutfchlanbS,  warb  arm  unb  trag.  Ulbet  noch  erhielt  fich  baS 
<älfa§  nötlig  fein  beutfd?eS  ©epräge;  erft  ber  336Iferfturm  ber 
frangöfifcpen  ©taatSumwälgung  braute  baS  ©chlagwort  auf,  bah 
bet  tRhein  bie  natürliche  ©renje  ^ranfreichS  fei,  ba§  baS  linfe 
SRheinufer  de1«  ©otteS  unb  fRedRS  wegen  ju  ^ranfreid)  gehöre. 
2>ie  Schwaben  beS  linfen  DbertbeinuferS , bie  ©Ifäffer,  gegen 
jubelnb  unter  bem  fiegreichen  blauweijjrothen  33attner  mit,  unb 
ber  fttieben  non  fiünenifle  1801  befiegelte  üDeutfdjlanbS  ©chanbe; 
baS  linfe  {Rheinufer  non  33a fei  bis  ©lene  war  frangöfifch. 

©leichfam  über  {RadR  war  bem  in  poetifchem  unb  philo* 
fophifthem  ©tillleben  nerfunfenen  beutfchen  Slolfe  beS  18.  3ahr* 
hunbertS  ein  mächtiges  ©tücf  uralten  {ReichSbobenS  entriffen  wor* 
ben;  nicht  in  ©trafcburg  bloS,  auch  in  9Raing  unb  Äöln,  in 
Aachen  unb  Srier  wehte  bie  Strifolore,  fpreigten  fich  bie  Söanner* 
träger  ber  frangöfifchen  Freiheit,  ©leichheit  unb  SSrüberlidjfeit. 
SDaS  lange  btohenbe  Unheil  war  hereingebrochen;  ber  {Rhein  war 

XI.  250.  3 (4j»j 


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34 


nid)t  mehr,  wie  ©oetbe  in  Jpermann  unb  «Dorothea  icbreibt,  ein 
„aUDerhinbernbet  ©raben";  wohl  mar  feilt  Sfyaiweg  bie  ©renge, 
aber  bie  gefprengten  Heftungen  beö  redeten  SRbetnuferö  burften 
uidit  hergeftedt  werben;  wehrloö  lag  cö  Der  ben  t’lugen  ber  (?r* 
oberer.  3efct  erft,  im  ©efühle  ber  bitterfteu  fRoth,  ber  brennenb* 
ften  ©diam,  tarn  bem  3)eutfd?en  baö  ©ewufctjein  Dom  SHerttj 
beö  SR^einee,  ber  bieder  nur  al§  ©penber  ebeln  Süeineö  gef cfoätjt 
worben  mar,  baö  öemufftfein,  baff  fein  ©efitj  für  ‘Deutjdjlanb 
eine  fttage  nationaler  ©hr*<  ja  nationalen  SJefte^enö  fei.  ©o 
warb  ber  JRhein  baö  ©dimergenöfinb  non  «Deutfcblanb. 

818  bann  im  3aljre  beö  ^>eilö  1813  bie  Äriegeömoge  rücf» 
wärtö  braufte,  ba  warb  ber  ©ebanfe  an  bie  SBefreiung  beö 
fR^cineö  jofort  gurn  gelbgefcbrei;  ba  fdhtieb  ber  Ijerrlicbe  (Stuft 
SRorifc  2lrnbt  fein  SBücfjiein:  „SDet  JHijein,  «Deutfchlanbö  ©trom, 
nidjt  JDeutjcblanbö  @renge",  unb  gab  bamit  bem  allgemeinen 
Semufjtfein  Söort  unb  ©timme;  ©cbenfenborf’ö  ebleö  ©ebidjt 
auf  beu  fRhein,  baö  erfte,  welches  unfeter  gegenwärtigen  ©mpfin* 
bung  für  ben  Ijerrlidjen  ©trom  ooUen  8uöbrutf  giebt,  fdjöpft 
tief  auö  bem  bisher  Derjdhütteten  S^ern  ber  rfyeinifdjen  ©efchidhte 
unb  ©age.  «Die  Hoffnung  aber,  baff  bei  biefet  ©elegenheit 
alteö  Unrecht  gut  gemacht,  baö  baö  gange  linfe  fR^einufer  beutfdj 
werbe,  fie  warb  nicht  erfüllt,  fo  eifrig  ^teufeenö  gelbherren  unb 
©taatömänner  fid)  batum  bemühten;  baö  linfe  Ufer  beö  Ober* 
rheineö  blieb  frangöfifd).  3Rit  berfclben  ©ewifeljeit  aber, ' mit 
welker  bie  grangofeu  Dom  nächften  Kriege  bie  Eroberung  beö 
gangen  Unten  IRheinuferö  erwarteten,  richteten  bie  2)eut leben  ihr 
Renten  barauf,  baö  in  ben  Salden  1814  unb  1815  Serfäumte 
bei  günftiger  Gelegenheit  nadjguholen;  baö  fRheinlanb,  biöher  bie 
faule  kPfaffengaffe,  oerfommen  unb  terarmt,  trat  unter  pteufjifdhe 
^errfchaft  unb  bamit  in  baö  Dolle  geben  ber  ©egenwart  ein; 

(4») 


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35 


ber  herrliche  Strom,  gcrabe  weil  er  eine  3eitlang  cntfrembet  ge* 
wefen  unb  aOegeit  gunäd}ft  gefährbet  war,  warb  ber  Liebling  ber 
beutfdjen  ©id}ter.  ©ie  {Romantifer  eröffnen  ben  $>reib  beb 
iRtjeineö,  bie  ©ichter  beb  {Rheinlaubeb  felbft  folgen  nach,  unb 
jeber  freche  Äriegbruf  oon  Söeften  entflammt  beb  beutfchen  Ißolfeb 
Siebe  gum  {Rhein  aufb  neue.  So  im  3al)re  1840.  {ßecfer'b 
{Rheinlieb:  „Sie  f ollen  ihn  nicht  haben"  ift  rafcb  oerflogen,  tro£ 
feiner  hunbert  Söeifen;  bie  Sacht  am  {Rhein,  aub  gleicher  3eit, 
ruhte  brei  3ahrgehnte  im  Schlummer,  um  1870  eine  glängenbe 
2luferftehung  gu  feiern. 

9Ilb  bann  bie  Stunbe  ber  ©ntfcheibung  fam,  ba  ging  fofort 
burch  aQeS  Sßolf  ber  flammenbe  ©ebanfe:  2Öir  muffen  ben  9?hetit 
wieber  haben,  ben  gangen  {Rhein,  bao  fDiünfter  ©rwin'b,  b ab 
alte  5Ret},  ben  äöabgenwalb,  bie  Dbermofel,  Strafcbuvg,  bie  Stabt 
©ottfrieb’b  unb  Jauler’b,  beb  Sebaftian  33rant  unb  ©eiler’b 
eon  Äaiferbberg,  bie  Stabt,  wo  ©utenberg  bie  erfte  23uchbrucfer» 
preffe  baute  unb  ©oethe  feine  3ugenblieber  an  §rieberife  bichtete. 
©b  traf  fich  gar  h^rrlid),  bafc  biefem  aub  einer  gütle  gefehlt* 
liehet  unb  bidjterifcher  ©tiunerungen  gebotenen  ©ränge  beb  beut* 
fdjen  S3olfeb  bie  politifche  {Rothwenbigfeit  31t  $ülfe  fam.  ©er 
8fth«n  warb  wiebet  beutfdj,  non  33afel  bib  gut  §)falg,  unb  bamit 
war  eine  feit  3ahthunberten  offene  SBunbe  am  Seibe  beb  beut* 
fthen  S3olfeb  gefchloffen,  ein  quälenbet  ©ebanfe  ber  Scham  unb 
ber  Sehnfucht  gur  {Ruhe  gebracht.  Unb  wir  lieben  unfern  {Rhein 
fefct  um  fo  mehr,  weil  wir  nicht  mehr  mit  Äummer  im  bergen 
an  unfere  Schwäche  gu  benfen  brauchen;  wir  freuen  unb  feiner 
Schönheit  unb  feineb  ebelu  SBeineb  hoppelt,  weil  wir,  wie  ein 
Sieblingbfinb  bem  brohenben  Stöbe,  fo  ben  ebelften  ber  beutfchen 
Ströme  bet  gtembljertfchaft  entriffen  haben.  So  mag  SRap 

3»  (431) 


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36 


»cn  ©djenfenborf,  pon  beffeu  5üf)emlieb  biefe  Betrachtung  au8= 
ging,  biefelbe  auch  befdiliefsett: 

(Srfiillt  ift  jenes  SBort, 

(Der  itönig  ift  nun  frei; 

(Der  ^Nibelungenhort 
(Srftelit  unb  glänjet  neu! 

(§0  finb  bie  alten  beutfeben  (ihren, 

!Die  wieber  ihren  Schein  bewähren, 

2)er  i'ätcr  3ucht  unb  ÜJtuth  unb  !Hubm, 

(DaS  heil’ge  beutfehe  Äaifertbum! 

SMir  bulb’gen  unferm  £>errn, 

2Bir  trinfen  jeinen  SBkin. 

(Die  Freiheit  fei  ber  Stern! 

(Die  8ofung  fei  ber  Dibein! 

2Bir  wollen  ihm  aufs  neue  fchwören; 

3ßir  muffen  ihm,  er  unS  gehören. 

Born  Seifen  forntnt  er  frei  unb  febr, 

(Sr  fließe  frei  in  ©otteS  'JJieer ! 


(42i) 

Irutf  ten  ® f b r.  U rt  fl  f t (ib-  ®rinim)  in  Ccrlin,  Sdcnfbttjtrftrab«  17». 


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Die  ürdöe* 


SSortrag  gehalten  im  tiebig’fdjen  £örfaale  tu  SDliindjett 
am  21.  93iär§  1876 

ton 

Xatt  31.  tl. 


9)iit  4 .öoljüfjnitten. 


Berlin  SW.  1876. 

33  e r I a g üßit  Gatl  $ a b e I. 

(X.  iß.  l'hlmiii’ifti'  Btrlogsbrn^liinbliing.) 

33.  JOIIbdm  • 6traf»  33. 


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3)a8  JRedjt  bet  Uebetfefenng  in  frembe  ©ptadjcn  wirb  eorbeljalten. 


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^oU  eine  8anbfd)aft  »ollen  äfthetifd)en  ©enufj  bereiten,  fo  mufj 
fie  bolje  SReige  in  fid)  »ereinen.  3Bit  beanfprudjen  non  itjr  bar- 
me ni' die  Sinien,  bebingt  burd)  ba8  Gbenmäpige  in  ber  5Kn* 
orbnung  ihrer  33eftanbtbeile,  wir  »erlangen  eine  gewiffe  Söeite 
befi  JporijonteS,  bie  bem  fdiweifenfcen  ©lief  feine  geffeln  auf* 
erlegt,  wir  roünfdjen  lebhafte,  aber  milb  abgetönte  Farben,  tintige 
93ertbeilung  non  ©chatten  unb  8id)t,  — cot  Mem  aber  Slb* 
wedjelung.  ©enn  treffenb  fagt  ber  ©id)ter: 

,, Schönheit  ifl  ewig  nur  (Sine,  bod)  mannidjfad)  rrechfelt  baö  <£ ebene, 
©a|  ee  wechfelt,  ba«  mad)t  eben  bae  (Sine  nur  fd)ßn." 

©egen  Ginförmigfeit  empört  fid)  unfer  @d)önbeit8gefübl  «nt 
meiften.  ©ur<h  beftänbige  SBieberbolung  »erliert  fcaS  Grhabenfte 
feinen  fRtiy,  im  SSedjfel  unb  ©egenfat)  fann  and)  ©etingeS  jur 
©eltung  gelangen. 

©et  Sauber  einer  au8  bem  Ccean  auffteigenben  Snfel  ober 
einer  grünen  Dafe  in  bet  Söüfte  beruht  weniger  in  ben  eigenen 
Sorgügen,  al8  im  Gontraft  ju  bet  einförmigen  Umgebung.  ©a8 
Ungewohnte  erregt  an  unb  für  ftd)  3ntereffe  unb  ifi  e8  nic^t 
getabeju  häßlich,  faft  immer  auch  eine  angenehme  Gmpfinbung. 
©e  wirb  ba8  Stege  »on  ben  weithin  leudjtenben  Äreibefelfen 

XL  SSL  1*  (485) 


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4 


f<hon  »egen  itjrer  ©igenartigfeit  gefeffelt  unb  ben  fdhneewei&en, 
400  gufj  au8  bem  branbenben  ÜReer  auffteigenben , »on  tief 
grünen  Suchenwälbern  umrahmten  gelSwanben  {Rügen'8  bütfte 
faum  ein  SBefdjauer  feine  93ewunberung  »erfagen.  ©benfo  wenig 
»erfehlen  bie  fdjroffen  Äteibemauern  am  Ufer  ber  3nfeln  5Reen 
unb  ©eelanb  ober  bie  »ielfadj  geraffenen,  flippigen  ©eftabe 
gwifdjen  5)oüet  nnb  Srighton  ihren  ©inbrud. 

SDie  bemerfenSwerthefte  3erf(üftung  »on  Äreibefelfen  erinnere 
idj  mid)  aber  in  ber  Ipbifdjen  SBüfie  gefeben  gu  haben.  3118  bie 
fRo^lfÖ’fdhe  ©jrpebition  auf  bem  {Rüdmarfdj  »on  ber  3(mmon8* 
oafe  eine  fünf  Jagereifen  breite  fteinige  Hochebene  »on  troftlofer 
©införmigfeit  überfdjritten  hatte,  gelangte  fie  an  einen  fteil 
abfallenben,  ftellenweiS  1000  guf)  h°ben  ©ebirgSranb.  Unter 
un8  breitete  fich  eine,  im  Dften  »on  buftiger  ^ügelfette  begrenzte 
©infenfung  auö,  worin  ftd)  bie  {Palmengärten  bet  Oafe  garafreh 
wie  bunfle  fünfte  fdjarf  abgeidjneten.  Unmittelbar  am  gufj 
unfereS  ©teilranbeS  fahen  wir  einen  breiten  ©aum  wunberlidj 
geformter,  »on  gerne  mastigen  ©iSbergen  »ergleidjbaren  Seifen. 

{Rad}  einigem  ©uchen  fanben  wir  eine  ©infenfung,  welche 
unferer  Äatawane  ben  Slbftieg  geftattete,  unb  gelangten  nun 
in  bie  {Region,  bie  unfete  {Reugierbe  fc^on  lange  gefeffelt  hatte. 
©8  war,  al8  ob  wir  in  eine  »ergauberte  {Rutneuftabt  »on  unge* 
heurer  SluSbehnung  »erfefjt  feien,  ©tunbenlang  wanberten  wir 
burch  ein  8abt)tinth  non  ifolirten  gelSgebilben,  beren  ph°n taftift^e 
©eftalten  ba8  Singe  immer  »on  {Reuem  entgüdten.  Sött  fahen 
gewaltige  {Phramiben  mit  breiter  S3aft8  hod)  in  bie  8üfte  ragen, 
mächtige  gelsblöde  mit  abgeftufjtet  2)ede  »erfperrten  ben  2Beg, 
bann  famen  fdjlanfe  ObeliSfen,  ©äulen  unb  5Rinaretähnlid}e 
gelSgebilbe,  welche  wie  2öäd}ter  einen  granbiofen  ^alaft  um- 

ftanben,  beffen  SRauetn  geraffen  unb  an  ihrem  oberen  IRanb  mit 
(««) 


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5 


tief  eingefebnittenen  Binnen  befe|t  waten.  Sie  erregte  'Pljantafie 
fcf)uf  fid)  auS  Heineren  helfen  groteSfe  menfc^lidje  unb  ti)ieriid)e 
©eftalten  unb  guweilen  glaubte  man  ftdj  in  einer  ©aßerie 
^laftifdjer  Vilbwerfe  gu  befinben. 

3tetjntid>e  ©rfebeinungen,  wie  bie  eben  gefebilberten,  feil  bie 
weifje  treibe  auch  am  Sone<3  im  füblidjen  Diufelanb  Ijercor« 
rufen.  ®ie  finb  jebod)  nur  bann  möglich,  wenn  baS  reiche 
©eftein  an  ©ehangen  entblößt  ober  »on  @d)lud)ten  burdifurcht, 
ber  gerftörenben  ©inwirfung  beS  SBafferS  pteiSgegeben  ift.  2Bo 
bie  Äteibe  ben  ©oben  eines  wenig  gefurchten  Sanbftridjs  bilbet, 
ba  erf  deinen  ihre  formen  reigloö,  bie  Vegetation  fpärlicb  unb 
fcbwäcblicb.  Ser  Umftanb  aber,  baf}  Äreibe  überhaupt  eineu 
namhaften  Slntbeil  nimmt  an  ber  Vobengufammenfefjung  gewiffer 
hänber,  bafc  fie  auweilen  in  Reifen  oon  mehreren  bunkert 
in  bie  .pöh e ragt,  ebarafterifirt  fie  für  ben  ©eologen  alö  ein 
©eftein. 

Sie  Äteibe  ift  3h«en  Äßen  wohl  befannt.  3h*e  febneeweifce 
gavbe,  ihre  weiche  erbige  Vefdjaffenbeit  unb  ihre  ebemifebe  3u» 
fammenfefcung  unterfcheibet  fie  leicht  oon  anberen  ©efteinen. 
■SRebmen  ©ie  ein  ©tüd  ©chreibfreibe  unb  übergiefjen  ®ie  b aS= 
felbe  mit  ©algfäute,  fo  tritt  ein  lebhaftes  Sluffocben,  eine  ©nt* 
wicflung  non  Äoblenfäure  ein  unb  nach  einiger  Beit  löft  fid)  baS 
©ange,  mit  Ausnahme  eines  gang  Keinen  StüdftaubeS , gu  einer 
farblofen  Slüffigfeit  auf. 

Sie  reine,  wei|e  Äreibe  befteht  nämlich  aus  beinahe  98  p(It. 
fohlenfaurem  Äal!  unb  einer  Keinen  Quantität  beigemengter 
feblenfaurer  5J?agnefia,  Äiefelerbe  unb  unlöslichen  ©efteinS« 
trümmerchen.  SieS  ift  auch  ber  Jpauptfacbe  nach  bie  3ufammen* 
fetjung  ber  im  Jpanbel  norfommenben  unb  als  garbe,  ©djreib* 
treibe,  $)u$puloer  ober  gu  chemifchen  3wecfen  tielfad)  oerwenbeteit 

(W) 


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6 


Äreibe.  Sefjtere  ift  aber  nicht  ba8  unmittelbar  in  ©teinbrüchen, 
S&tergelgruben  ober  auch  unterirbifcijen  ©tollen  gewonnene  *ERa« 
terial.  68  würbe  fid?  biefeS  nur  unBoüfommen  gu  ben  ge« 
wünfchten  te^nifdjen  Swecfen  eignen,  benn  fyödjft  feiten  befi^t 
bie  natürliche  Äreibe  jenen  tyotyn  ©rab  Bon  Feinheit  unb  Sßeiche, 
Woburdj  ihre  Brauchbarfeit  bebingt  ift.  häufig  befteht  eine 
größere  jtreibemaffe  au8  $>arthieen,  um  nicht  311  fagen  au8 
©chichten,  non  Berfdhiebcner  ^>ärte  unb  fehr  oft  finb  gewiffe 
SJtaffeu  burdj  ©anbförncr,  geuerfteinbrocfen,  Berfteinerungen  unb 
fouftige  Beimengungen  oerunreinigt.  Befeitigung  biefer 

fremben  Beftanbtheile  muh  bie  Äreibe  einem  befonberen  ©<hläm» 
munggproceh  unterworfen  werben,  ber  in  terfchiebenet  SBeife 
Borgenommen  wirb.  3n  Borbbeutfchlanb  wirb  bie  Äveibe  guerft 
gemahlen  unb  bann  bur<h  ein  ötätterwerf  Bon  ben  gröbften  Bei« 
mifchungen  befreit.  2>a8  gemal)lene  9)uloer  rollt  bann  auf  einer 
fdhiefen  ©bene  in  ein  9teferBoir,  burch  welches  eiu  coutinuir liehet 
SBafferftrom  läuft.  SRittelft  einer  ÜKafchine  wirb  bie  gepuloerte 
SJtaffe  beftänbig  aufgerührt,  wobei  fleh  bie  fchweteten  fremben 
Beftanbtheile  auf  bem  Boben  anfammeln.  £Die  weihe  Äalfmildh 
bagegen  flieht  ab,  wirb  barauf  in  ©ammelbottichen  aufgefangen, 
worin  fidj  bie  geklemmte  Äreibe  nach  unb  nadh  abfefct.  3ft 
bie§  gejehehen,  fo  wirb  ba8  flare  SBaffer  guoberft  abgelaffen,  ber 
fchlammige  Bobenfah  in  Siegel  geftridhen,  getroefnet  unb  in 
paffenbe  ftorm  gefchnüten. 

3ft  fchon  bie  tedbnifd)  Berwenbbare  Äreibe  reinfter  Qualität, 
welche  im  beutfehen  Oteidh  theilS  au8  fRügen  unb  SJiecflenburg, 
theilS  au8  bem  9lu8lanb,  namentlich  au8  ^ranfreich  bezogen  wirb, 
urfprünglich  nicht  frei  Bon  mancherlei  Berunreiniguug , fo  gibt 
e8  anbere  Äreibearten,  bei  benen  bie  Beimifchung  Bon  Äiefelerbe, 
5thcmerbe  unb  ©ifenojcpb  fo  grofj  wirb,  bah  allmälig  ein  anbereS 

<4*«; 


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7 


©eftein,  nämlich  Äreibemergel,  barauS  entfielt.  SDte  mergelige 
Äreibe  geidjnet  ftch  äußerlich  burd?  blaugtaue,  afdjgraue,  ober 
gelblidje  Färbung  au§;  fie  ift  halb  weich  unb  erbig,  balb  foweit 
erhärtet,  baß  fie  alö  23auftein  Sßerwenbung  finben  fann.  ©ine 
befiimmte  c^emif^e  3ufamtnenfeßung  !ommt  biefen  ©emengen, 
in  benen  ber  ©ehalt  an  fol)lenjaurem  Äalf  gwijchen  44  unb 
86  p©t.  fchwanft,  nicht  gu,  fie  ^interlaffen  übrigens  «He  beim 
Stuflöf en  in  (Säure  einen  mehr  ober  weniger  reichlichen  {Rüäftanb. 

SBährcnb  in  ©nglanb  unb  SRorbfranfreid}  bie  unreine  graue 
Äreibe  giemlicß  regelmäßig  bie  Unterlage  ber  weißen  ©cßreiblreibe 
bilbet,  wirb  bie  leßtere  in  SRorbbeutf^laub,  g.  58.  in  SBeftfalen 
unb  ^jannooer,  guweilen  burdj  Äreibemergel  erjeßt. 

SBenn  man  »on  einem  ©rfaß  bet  weißen  Äteibe  burd? 
anbere  ©efteine  Sprechen  fann,  fo  geht  barauö  heroot,  baß  ber» 
felben  eine  beftimmte  ©teile  in  bem  bie  fefte  ©tbrinbe  gufammen» 
feßenben  ©djichtenfpftem  gufommt.  ©8  finbet  fich  in  ber  &hfti 
bie  Äreibe  al8  »erbreitete  §el8art  in  ben  Slblagerungen  einet 
beftimmten  ©rbperiobe.  ©achten  wir  bie  etwa  100,000  guß 
biefen  gefeuchteten  ©efteine,  welche  fich  feit  ber  ©rftarrung 
unfeteS  Planeten  nach  unb  nach  auf  feiner  Slußenjeite  abgejeßt 
haben,  an  einem  Drt  aufeiuanbergethnrmt,  fo  würben  wir  ba8 
weiße  SBanb  bet  treibe  hoth  oben  in  biefem  ibealen 
©urdjfchnitt  h^ßorfchimmern  fehen.  Unter  bemfelben  befänbe 
fich  eine  mächtige  SDRaffe  älterer,  barübet  bie  jüngeren  Slbfäße 
ber  fogenannten  tertiär»,  ©iluoialformationen  unb  ber  jeßigen 
©rbperiobe. 

SBenn  ®ie  bebenfen,  baß  nach  Slbjaß  ber  weißen  treibe 
noch  eine  mehr  alö  4000  guß  biefe  ©ebimentmaffe  langfam  im 
SBaffer  fich  nieberfchlug  unb  theüweife  gu  feftem  ©eftein  erftarrte, 
fo  gibt  3h«eu  bieö  eine  SBorfteUung  »on  bem  geologischen  Sllter 

C4») 


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8 


ber  treibe,  baö  wir  freilich  nicht  in  einet  genau  berechenbaren 
Sd*  non  Sauren  auSbrürfen  fönnen. 

&18  fich  gegen  @nbe  beö  notigen  SahrhunbertS  bie  ©eologie 
gu  einer  Söiffenjdjaft  entwitfelte,  glaubten  ihre  erften  öegrünber, 
bofj  fich  bie  gedichteten  ©efteine  wie  concenttif^e  Jütten  ringö 
um  ben  ©rbball  herumlegten,  unb  non  biefet  VorauSfehung  auö* 
geljenb,  nannten  fte  bie  »erfdjiebenen  aufeinanber  folgenben  f^or» 
mationen  nach  befonberS  djarafteriftifchen  ©efteinen,  ©o  gab 
eS  neben  einet  ©tau warfen»,  ©teinfohlen»,  Sechftein»,  ÜJiufcbel» 
falf*Formation  auch  eine  Äreibe*  Formation.  ©jätete  Unter* 
fudjungen  geigten  nun  freilich,  bah  bie  meiften  bet  genannten 
©efteine  theilS  nur  eine  bedränfte  Verbreitung  befifjen , ttyeilä 
in  oerdtebener  ^öhe  fich  wieberholen  fönnen.  3n  ber  Siegel 
wirb  bie  ©teile  eines  in  9iorb=@uropa  oerbreiteten  ©efteinS 
don  in  ben  SJtittelmeerlänbern  unb  noch  mehr  'n  »«beten  @rb» 
theilen  burdj  anbete  FelSatten  eingenommen,  ba  ja  bereits  in 
früheren  ©tbperioben  gerabefo  wie  heutgutage  gleichzeitig  unter 
oerdiebenen  Vebingungen  aud)  bie  abweichenbften  ©ebimente 
gum  ^bfah  gelangten.  £Die8  würbe  bie  Veranlafjung,  bah  man 
bie  meiften  früheren  SRarnen  fallen  lieh;  3«  ben  wenigen  älteren 
Segeichnungen  inbefs,.  welche  ben  terminologifchen  IReformbeftre* 
bungen  noch  nicht  gum  Opfer  gefallen  finb,  gehört  bie  ifreibe» 
formation. 

SBenn  man  übrigens  eon  üreibeformation  fpridht»  fo  muh 
man  fich  »ergegenwärtigen , bah  fie  nicht  nur  auS  Äteibe  unb 
Äreibemergeln  befteht,  fonbern  bah  in  ihr  bie  oerfchiebenartigjten 
©efteine  oorfommen,  welche  theilS  auf»,  theilS  neben  ein* 
an  ber  liegen,  unb  nur  barum  gu  einer  Formation  gerechnet 
werben,  weil  fie  ähnliche  Verfeinerungen  enthalten.  SJtan  be» 
ftimmt  nämlich  baS  Stlter  bet  Formationen  »iel  fderer  nach  ben 

(*jo; 


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9 


fcartn  Bcrfommenben  organischen  Ueberreften  alß  n ad)  ber  ©e» 
ftrm£te)djajfenl)eit,  feitbem  man  bie  gejejjmäfcige  unb  aümalige 
Umgestaltung  ber  ßrganißmen  Bon  ben  älleften  ©rbperioben  an 
bis  auf  bie  ©egenroart  näher  fennen  gelernt  ^at. 

3n  biefer  ©ntmictlungßreihe  tragen  bie  ©efdjöpfe  ber  Äreibe» 
gett  necf)  eine  altertümliche  2rad)t.  SBie  feltjatn  mürbe  eß  unß 
anmuthen , menn  mir  unö  für  einen  Augenblicf  in  jene  3eit 
gurücfrerie^en  unb  einen  23licf  merfen  fcnnten  auf  bie  mit 
immergrünen , tropijdjen  ©emdchjen  gefcfymücften  ?n|eln  unb 
geftldnber,  mo  bie  ©teile  ber  ©äugethiere  con  außgeftorbenen 
S-auTiern,  bie  ber  23ögel  non  geflügelten  ©ibedjfen  eingenommen 
nnnrbe!  pätte  Unö  unter  ben  Sanbbemo^nern  bie  gigautifdm 
©eftalt  beß  Sguanbon  entfett,  fo  mürbeu  mir  im  ÜReer  nod) 
feltfamere  SReptüien,  mie  bie  ijMefiojauriet,  SUofafaurier  unb 
Jd^t^pojaurier  erblicfen  unb  auch  unter  ben  tiefer  organifirten 
©eichepfen  mürbe  baß  Auge  faft  nur  über  erlofchene  Arten  unb 
©attungen  fdjmeifen.  2Baß  unß  bie  ©eologeu  biß  jet)t  non  ben 
fragmentarifchen  ©c^riftgeic^en  ber  Äreibeformation  entziffert 
haben,  Bereinigt  fich  ju  einem  2?ilbe  non  frembartigem,  barofem 
Außfeljen. 

Unter  ben  mancherlei  ©efteinen  ber  eben  angebeuteten  @rb= 
periobe  ift  bie  A'reibe  jmar  baß  auffäOigfte,  aber  feineßmegß  baß 
häufigfte.  3h«  Verbreitung  ift  fogar  ziemlich  befdjränft.  sJtur 
in  ©üb»@nglanb,  in  9lorb*8ranfreich,  in  Selgien  unb  9torb* 
beutfchlanb  bilbet  fie  ben  Untergrunb  außgebehnter  Sanbftriche, 
»irb  aber  auch  b°  »telfadj  Bon  jüngeren  Ablagerungen  nerhüHt 
unb  taucht  nur  ftellenmeife  auß  benfelben  t)eroor.  3m  unter» 
irbifchen  3ufammenhang  mit  bet  norbbeutfchen  Äreibe  ftehen 
bie  Ablagerungen  auf  ben  bäuifchen  3n)eln,  in  ©übfchmeben 
unb  ^olen.  ©üblich  Bon  ben  Alpen  unb  in  ben  ©tittelmeer» 

(4SI) 


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10 


länberrt  fommt  wei&e  treibe  in  größerer  Verbreitung  nur  in 
fPaläftina  unb  in  bet  libpfehen  Söüfte  not. 

SBenn  nun  einerjeitS  bie  Äreibeformatiou  ber  £auj>tfad>e 
nad)  auS  ©efteinen  befielt,  bie  feine  entfernte  91  efynlidjf eit  mit 
Äreibe  haben,  fo  giebt  es  anberfeitS  aud)  in  anbeten  geologtfdjea 
gerieben  9lbfäfje,  weldhe  fid}  äußerlich  faum  non  ber  achten 
©djreibfreibe  unterfdjeiben  laffen.  3n  ben  baperifchen  Stilen 
3.  93.  wirb  bei  SJlittenwalb,  ^artenfirdjen  u.  a.  D.  eine  weifte 
ober  graue  Grbe  gewonnen,  weld)e  auS  ber  Verwitterung  ber 
beuadbbarten  Äulf*  unb  ©olomitberge  entfielt  unb  all  SBeift* 
tündje,  ©djreibfreibe  u.  f.  w.  eine  giemlid)  auSgebehnte  SBet* 
weubung  finbet.  ©ie  äußere  9teljnlidjfeit  biejet  ©ilueialfreibc 
mit  ber  ädjteu  Äreibe  ift  frappant,  allein  fie  enthält  niemals 
marine  Verfeinerungen,  fie  Ijat  eine  gang  befdjraufte  Verbreitung 
unb  ermangelt  ber  charafteriftifdjen  Grinlageruugeu  oon  geuer* 
ftein,  welche  ber  adjten  Äreibc  faft  niemals  fehlen,  geuerftein 
unb  ©epreibfreibe  finb  faft  unzertrennliche  ©enoffeu  unb  je  reiner 
bie  leitete  ift,  befto  maffenpafter  ftellt  fid?  ber  erftere  ein.  3n 

ber  Siegel  erfepeint  ber  geuerftein  in  ber  gorm  »on  fauft«  biö 
fopfgrofen  Änollen,  bie,  ohne  ftdj  unmittelbar  gu  berühren, 
neben  cinanber  liegen  uub  meift  fdjnurgerabe , oft  meiienlange 
Vänber  bilben.  ©urtp  biefe  fcpwargen,  iu  Qlbftänben  oon  2—10 
gujj  entfeinten  ©<pnüre  oon  geuerftein  erhält  bie  an  unb  für 
fich  ungefepieptete  Äreibemaffe  eine  parallele  ©lieberuug.  fDianep* 
mal  bilbet  ber  geuerftein  auep  förmlitpe  ©c^id^ten  non  £ bis  2 
guf)  ©iefe.  3n  ©ooer  hat  man  oon  biefem  Umftanb  Vortheil 
gegogen,  inbem  man  bie  geuerfteinlagen  als  ©eilen  gu  ben  in 
bie  Äreibefeljen  cingehauenen  Äafematten  benufct. 

9ln  bie  geuerfteineinlagerungen  fnüpft  fiep  ein  fulturhifto* 
rijtpeS  Jntereffe  eigener  9lrt.  3n  ben  früheften  ©ntwirfelungS« 

(4M) 


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11 


* 

ftabien  be8  ÜJtenfcpengefcplechteS,  al8  bie  (Ergeugung  unb  Vear* 
Bettung  ber  SRetciHe  noch  unbefannt  war,  lieferte  geuerftein  ba8 
5ötaterial  gu  SBaffen  unb  SBerfgeugen.  ©eine  ^>arte  unb  3ä^tg= 
feit,  fomie  bie  (Eigenfcpaft,  fiep  burdj  einige  gefdpicfte  Silage  in 
ein  fcpueibenbeS  Snftrument  umgeftalten  gu  laffen,  machte  ipn 
für  bie  genannte  tecpuifche  Verwenbung  Borgüglicp  geeignet.  ©8 
ift  barum  fein  Bufad,  ba§  bie  älteften  ©puren  menfdjlie^er 
jfunftfertigfeit  in  (Europa  au8  beni  norbijcpen  Jfreibegebiet 
ftnmmcn.  ©a  fanb  ber  um  feine  (Ejrifteng  fämpfenbe,  pülflofe 
SJtenfcp  in  «g>üQe  unb  gitCle  ba8  SDtateiial,  um  fiep  ©ebraucpS» 
gegenftänbe  utib  SBaffen  ber  mannidpfacpften  9lrt  guerft  Bon  ber 
ropeften  Bornt,  halb  aber  auch  non  jener  Bollenbeten  SSuSfüprung 
perguftellen,  meiere  mir  in  präpiftorifepen  Sammlungen  fo  reich* 
licp  gu  bewunbern  (Gelegenheit  paben.  5lej:te,  SJteffer,  ©ägen, 
Sangen  unb  flfeilfpißeit  ber  fogennnnten  ©teingeit  befleißen  in 
Europa  faft  alle  au8  Beuerftein  unb  erft,  naepbem  man  c8  in  ber 
Verarbeitung  biefe8  SOtaterialS  gu  einer  popen  jfunftfertigfeit 
gebracht  patte,  fing  man  an,  aud)  anbere,  weniger  günftige  ©e* 
fteine  namentlich  ba  gu  Berwenben,  wo  ber  geuerftein  nur  aI8 
£anbel8artifel  gu  erpalten  war.  9)?au  barf  barum  opne  Uebet- 
treibung  fageu,  baß  iu  ben  ÄiubpeitSjapren  bc8  SDtenfcpen* 
gefcplecptS  geuerftein  ein  ebenfo  wichtiges  Äulturelement  bilbete, 
al8  e8  peutgutage  .Kopie  unb  ©ifen  finb.  ©ie  größten  unb  für 
bie  Verarbeitung  geeignetften  Sötaffen  Bon  Beuerftein  lieferte  aber 
bie  Äteiberegion  unb  fo  würbe  benn  biefe  naturgemäß  gum 
SluSgangSpunft  ber  älteften,  freilich  noch  bürftigen  (Sultur  ber 
menfcplithen  Ureinwohner  (Europa’8. 

©ie  3eit  be8  §euerftein8  ift  längs  Borübet  unb  auch  feine 
mobernfte  teepnifepe  Verwenbung  beinape  in  Vergeffenpeit  ge* 
ratpen.  (Einft  podjgefcpäßt,  wirb  er  jeßt  al8  läftige  Veigabe  bei 

(433) 


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12 


Seite  geworfen  unb  ijöc^ftenS  oou  fRaturforfchern  beachtet,  bie 
in  bemfelben  allerlei  organifche  Ueberrefte  fuchen.  ©cd?  audj 
bieje  finben  in  ber  eigentlichen  Kreibe  reid?ltd?ere  Augbeute  unb 
gwar  rührt  Alleg,  wag  an  Verfeinerungen  in  ber  weißen  Kfreibe 
»crfommt,  oon  SBlcetcgbewohneru  her.  Vergeblich  fuc^t  man  nad? 
Vlättern  ober  fonftigen  tReften  nun  tdanbpflangen,  »ergeblicfc  nadh 
8anb«©äugethieren,  ^Reptilien,  Snjeften,  ganbjdjnecfen  u.  f.  «>.; 
jämmtliche  germen  entflammen  bem  ÜJieer  unb  gwar  Ijerridjeu 
Dtefte  oon  ^cchfeeberoohncrn  entfliehen  cor.  Ser  Stamm  ber 
SBirbelthiere  ift  oorjuggweife  burch  gijche  ocrtreten;  becb  aud? 
oon  biefen  finbet  man  meift  nur  jerftreute  3ahnef  Stadhein, 
SBirbel  unb  Schufen,  höchft  auönahmgweife  woßl  auch  einmal 
ein  oollftänbigeg  Sfelet. 

Sa8  .pauptcontingent  ber  größeren  Verfeinerungen  wirb 
oon  ben  äBeichttjieren  gefteüt.  Vielerlei  SDiufdjeln  unb 
Schweden  aug  erlofcheuen  ober  noch  jeßt  eriftirenben  ©attungen 
finb  »ereinjelt  in  ber  Kreibe  eingebettet,  gür  ben  Kennet  bfirf* 
ten  manche  ©chäufe  wegen  ihrer  Abweichung  oon  ben  befannten 
gormen  bemerfengwerth  erscheinen,  bem  i?aien  jeboch  würben 
wohl  nur  zweierlei  Sppen,  bi«  Ammonghötner  unb  Seufelg* 
finget  ober  Velemniten  befonbetg  auffallen. 

Veibe  gehören  in  bie  höchfte  ©laffe  ber  ffieidfhiere,  ju  ben 
fogenannten  Kopffüßlern  (Cephalopoden),  welche  ihren 
Flamen  beßwegen  erhalten  ha&m,  weil  ringg  um  ben  Kopf  ein 
ober  mehrere  Kreife  feifdjiger  ©teiffüße,  bie  man  übrigeng 
beffer  alg  Arme  bezeichnet , herumftehen.  Sie  meiften  atbmen 
burch  jwei,  anbere  burch  oicr  hinter  bem  Kopfe  ftehenbe  bäum* 
förmige  Kiemeu.  Von  ben  Vierfiemenern  gibt  eg  nur  noch 
eine  einzige  lebenbe  ©attung,  bie  ^»erlbootfchnecfe  ober  ber 

Nautilus.  Sie  wohlbefannten  Schalen  werben  aug  bem  ftiUen 

(«m; 


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13 


JDcean  »on  Seefahrern  in  fDtenge  mitgebracfet  unb  liefern  nach 
Entfernung  ber  rcttj  unb  weih  geftreiften  Cberflädjenfcbicbt 
»egen  tl>re8  $)erlmutterglange8  einen  beliebten  Scbmucf  unfeter 
9>runfgimmer.  2Ran  würbe  eS  bem  fpiral  eingerolltem  ©ehäufe 
»on  Slufien  nicht  anfehen,  bah  einen  Schwimmapparat  »on 
feltener  Sctlfommenbeit  barfteHt.  2>a8  Sthier  bewohnt  nur  etwa 
bie  £älfte  beS  lebten  SpiralumgangS:  eine  faltige,  concaoe  $)erl* 
mutterfcheibewanb  fdjlieht  bie  ÜBohnfammer  nach  hinten  »oll* 
ftänbig  ab.  Schneibet  man  nun  baS  ©ehäufe  in  ber  SRittel* 
ebene  burth,  fo  geigt  fi<h,  bah  in  bejtimmten  Slbftänben  noch 
gasreiche  parallele  Sdjeibewänbe  auf  einanber  folgen  unb  bah 
alfo  bie  gange  Spiralröhre  in  eine  üftenge  Kammern  abgetheilt 
ift.  3n  biefe  Kammern  fann  fein  SBSaffer  »on  üluhen  einbringen, 
fie  ftnb  mit  8uft  erfüllt  unb  fielen  mit  bem  Schier  nur  mittelft 
eines  bünnen  häutig  Stranges,  welker  burdj  fämmtliche 
Scheibewänbe  hinburd)läuft,  in  Setbhtbung.  SDurdj  biefen  Sau 
erfüllt  bie  fRautiluSfchale  gerabegu  bie  Verrichtung  eines  8uft* 
baHonS.  SBiH  baS  Sty«  »om  3Jteere8grunb  nach  ber  Oberfläche 
auffteigen,  fo  brängt  es  feinen  Äörper  möglichft  »eit  auS  ber 
Söohnfammer  h«nuS,  fu<ht  einen  anfehnlichen  fRaum  einguneh» 
men  unb  baburch  fein  fpecififcbeS  ©ewidjt  gu  »etringern;  nun 
wirft  bie  mit  8uft  gefüllte  Schale  als  |>ebmafchine  unb  beförbert 
baS  Shift  ftetig  aufwärts.  Um  »iebet  gu  finfen,  braucht  fich 
bie  Äörpetmaffe  nur  in  bie  SBohnfammer  gurüefgugiehen  unb 
burch  ihre  Eigenfdjwere  bet  h^nben  Äraft  beS  SuftbaQonS 
entgegen  gu  »irfen. 

Sluch  in  ber  jfreibe  gab  eS  »etfdjiebene  9iautiluS»2(rten, 
reichlicher  jeboch  waren  bamalS  noch  bie  2(mnt  on  Sl)ötn  er 
»erbreitet,  bie  übrigens  am  ©nbe  bet  jtreibeperiobe  ben  Ölbfcbluh 
einer  langen  unb  reichen  ©ntwicflung  finben.  3m  SSefentÜchen 

(435) 


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14 


flimmert  bie  Skalen  bet  Ammoniten  mit  betten  beS  SRautiluS 
überein,  bod)  taffen  ftc^  häufig  bie  Umgänge  bet  gefammerten 
©pitalrßhrc**  fdjon  ton  Stufen  erfennen.  2)et  ^auptunterf^ieb 
befielt  inbefc  in  bet  complicirteren  ©efdhaffenheit  bet  ©tbeibe* 
wänbe,  weldje  ftd^  mit  oietfac^  gejacfter,  ftaufet  8inie  an  ber 
Snnenfeite  bet  ©djale  befeftigen  unb  non  einem  bftnuen  ©trang 
burd^ogen  werben,  beffen  faltige  Umhüllung8röhre  ftetß  utt* 
mittelbar  unter  bem  ©thalenrücfen  liegt.  @8  mufj  gewaltige 
$h*ete  unter  ben  Stmmoniten  gegeben  ^aben,  benn  Ijin  unb 
wieber  begegnet  man  ©ehäufen,  welche  ben  Umfang  eines 
SöagenrabeS  befifcen.  ©rftaunlich  war  aud)  ber  ^ormenreicbtt)um 
biefer  etlofchenen  ©ruppe  ton  Äopffüfjletn;  ihre  Slrten  jaulen 
nach  Saufenben,  woton  freilich  nur  wenige  in  ber  weiten  Äreibe 
torfommen,  unb  bie  ©eftalt  ihrer  ©ehäufe  burdjläuft  alle  ÜWobi» 
ftcationen  jwifdhen  einer  gefchloffenen  ©pirale  nnb  einet  geraben 
gefammerten  Stöljre. 

3tt  ber  jetzigen  ©rbperiobe  finb  bie  mit  jwei  .Riemen  ter» 
fernen  Äopffüjjlet  an  bie  ©teile  ber  9!mmon8t)örner  getreten. 
$at  man  ton  ben  8eben8gewohnheiten  beö  pelagifdjen  9lautilu§, 
wegen  ber  ©djwierigfeft , lebenbe  Stljiere  gu  erlangen,  nur  un« 
toUfommen  .Renntnifj,  fo  gehören  bie  2>intenf  ifdje  ju  ben 
beftgefaunten,  aber  audj  intereffanteften  ©efdjöpfen  beS  9Jteere§. 
Äüljn,  liftig  unb  ftet8  gum  Kampfe  bereit  führen  biefe  räubeti» 
fdjen  SBegelagerer  einen  beftänbigen  Ätieg  gegen  2Ule8 , wa8 
ihren  Slppetit  reyt,  unb  bei  ihrer  ©efräfjigfeit  betrauten  fie  faft 
fäntmtlidje  fleineten  Üh*ete  al8  guten  JBiffen.  55118  SBaffe  be* 
bienen  fte  fidj  ihrer  8 ober  10  am  Äopf  befeftigter  Slrme,  bie 
entweber  mit  ©augnäpfen  ober  $afen  befefct  finb.  £at  ba8 
Steter  feine  beweglichen  ©reiforgane  um  feine  33eute  geklungen, 
fo  hefte*1  ftdh  bie  ©augnäpfe  wie  ©djrßpfföpfe  mit  eiferner  ©e« 

(4M) 


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15 


walt  feft  uttb  fßnnen  nur  mit  grofcer  jfraftanftrengung  gegen 
ben  SäJiKen  be8  2)intenfifche8  abgeriffen  »erben.  ©ine  äufjete 
©djale  befi^en  biefe  Cephalopoden  nicht,  wohl  aber  befinbet  ftd) 
bei  ben  meiften  ©attungen  auf  bem  SRücfen  ein  fdjmaler,  »om 
fleifchigen  SJlantel  bebecfter,  länglich  ooaler  ober  lanzettförmiger 
©chilb,  ber  entmeber  au8  rßhriger  Äalfmaffe  ober  au8  hornig 
faltiger  ©ubftang  befielt.  ©oldje  fog.  ©epienfnechen  fommen 
auch  nerfteinert  »or.  Unter  befonberö  günftigen  Sebingungen 
fann  fich  fogar  bet  mit  ©epia  gefüllte  Veutel  erhalten,  welken 
bie  Spiere  bei  brcfyenber  ©efapt  entleeren,  um  fid)  burcp  Strü» 
bung  be8  SEBafferS  not  Verfolgung  31t  retten.  Auch  in  ber 
Äreibe  gab  e8  gasreiche  2)intenfif<he  unb  namentlich  eine  ®at* 
tung  (Belemnitella),  bei  meldet  ba8  bünne  fRücfenfc^ilb  am 
Hinteren  ©nbe  in  einen  tnaffieen  ©tacpel  »on  ftngerartiger  @e* 
ftalt  audlief , welcher  au8  ftra^ligem  Äalffpath  beftept.  SDiefc 
bernfteinfarbigen  Verfeinerungen  waren  längft  unter  bem  Slatfien 
S£eufel8finger  ober  35ennerfeile  befannt,  ehe  bie  ©eiehrten  ihre 
Vegiehungen  gu  ben  IDintenfijcten  nachguweifen  im  ©tanbe  waren. 

Vei  ben  ©eeigeln  unb  ©eefternen,  welche  bie  Äreibe 
enthält,  überrafdjt  bet  »orgüglidje  SrhaltungSguftanb.  SBäprenb 
fonft  bie  apfelartigen  getäfelten  ©egalen  ber  ©eeigel  in  ber 
Siegel  ihrer  ©tadpeln  beraubt  finb,  liegen  fie  in  bet  Äteibe  gu* 
weilen  noch  in  ihrer  urfprünglichen  Anorbnung  neben  bem 
.Körper;  ein  VeweiS,  bafc  bie  Shiere  nach  'hTem  £obe  in  weichen 
©chlamm  eingebettet  würben  unb  bafelbft  »erfaulten.  Aud)  »on 
©eefternen  h®t  namentlich  bie  englifche  treibe  ©jremplate  »on 
untabeliger  (Erhaltung  geliefert. 

SDa8  ©leiche  gilt  auch  »on  ben  ©eelilien  ober  $aar* 
ft  er  neu.  IDie  Angehörigen  biefer,  in  früheren  ©rbperioben  reich 
entwicfelten , jefct  auf  wenige  ©attungen  rebucirten  Jh*^affe 

(MT) 


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machen  mehr  ben  (Sinbrucf  con  fangen,  als  con  SEljicren. 
(Sine  wutgelartige  Ausbreitung  befeftigt  ben  geglieberten  (Stiel 
am  ©oben  unb  cerhinbert  beu  Organismus,  ftd)  con  bet  ©teile 
gu  bewegen.  Auf  bem  fchlanfen  (Stiel  wiegt  fid)  eiu  getäfelter 
ifeld),  con  welkem  oeräftelte  Arme  mit  Ijaarfßrmigen  Anfängen 
entfpringen.  ©tiel,  Äeld),  Arme  unb  Anfänge  finb  auS  flehten, 
burd)  ©elenfflächen  cerbunbene  Äalfylättdjen  gufammengefetjt, 
beren  3<>hl  bei  (Sjremplaren  mit  ftarf  ceräftelten  Armen  gegen 
5 3JliKionen  betragen  fann.  SBer  in  ber  blumenähnlid)en  Ärone 
ber  ©eelüien  Äeld)  unb  Blumenblätter  gu  ftnben  glaubte,  würbe 
mit  Berwunberung  benfelben  con  einem  tljierifcfyen  Organismus 
erfüllt  fehen,  an  welkem  SOlunb,  2)arm,  Blagen,  Bercen»  unb 
SBaffergefäfje  ftd)  obue  ©d^wierigfeiten  erfennen  laffen.  3m 
Äreibe>9Jteer  war  an  begünftigten  ©teilen  ber  Boben  mit  ©ee* 
lilten  bebedft,  unter  benen  fid)  bie  einen  burd)  äufjerft  fein  wer* 
gweigte  unb  überaus  gal)lreid)e  Arme  auSgeidjneten  (Pentacrinus), 
wäl)tenb  anbere  einen  bimförmigen  Äelch  mit  Jürgen  Armen  unb 
runbem  ©tiel  (Bourgetocrinus)  unb  wiebet  anbere  einen  gang 
ungeftielten  beuteläljulidjen  Äeld)  befaßen  (Marsupites). 

Beid)lid)er  als  bie  bisher  genannten  Berfteinerungen  ftnben 
fic^ , wenigftenS  in  gewiffen  8ocalitäten,  Ueberrefte  con  ©ee* 
fdjwämmen.  SDiefe  früher  giemlid)  allgemein  bem  fangen* 
reiche  gugewiefene  Sl^ierclaffe,  auS  welker  31)nen  eine  gorm,  ber 
gewöhnliche  Babefdjwamm,  genauer  befannt  ift,  gehört  gu  ben 
fetjr  tief  organiftrten  Bepräfentanten  beS  S;bierreid)S.  geftgewadjfen 
mit  breiter  ober  fd)malet  BaftS  am  Boben,  fehlt  ihnen  bie 
gäl)igfeit  bet  gortbewegung,  fie  befifjen  feine  befonberen  Organe 
für  Ernährung  unb  (Smpftnbung,  eS  gibt  in  ihrem  Körper  weber 
Blut,  nod)  Bercen,  noch  ©efäjje.  JDie  2SeidjtI)etle  beftehen 
lebiglid)  auS  einer  mit  BeKfernen  unb  BeHen  erfüllten  gleicharti* 

<W) 


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17 


gen  ©allerte,  in  weiter  ft  cf)  dornige,  falfige  ober  fiefelige  @e* 
bilbe  abfoubern  unb  entweber  ein  and  ifoiirten  ober  auS  gu» 
fammenhängenben  Reifen  befte^enbeö  ©feiet  bilben.  Seim 
Sabefdjaamm  Berwatfen  feine,  filgige  «ftornfafern  ju  einem 
meift  becherförmigen,  elaftiften  ©erüft  ton  anfehnliter  2>itfe; 
bet  anberen  fonbert  bie  ©aderte  tnifrofcopift^e  Äalf*  ober  Äiefel» 
nabeln  oon  mathematifter  IRegelmäßigfeit  ab,  bie  in  beftimmter 
Drbnung  gruppirt,  jebot  nicht  Berwatfen,  ^öd£)ft  gierlite  ©felete 
»erutfad)en.  2lbet  auch  kiefe  »erben  an  Schönheit  non  jenen 
formen  noch  übertroffen,  bei  benen  ^o^le  Äiefelnabeln  oon  be* 
ftimmter  gorm  ju  einem  mafchigen  ©ittergerüft  nerftmelgen. 
3u  biefen  nun  gehören  gerabe  bie  häufigeren  unter  ben  Äteibe* 
ftwämmeu.  Son  bem  feineren  Sau  beS  fiefeligen  ÄörperS  gibt 
inbeß  eine  in  natürlicher  ©röße  hergeftedte  Ulbbilbung  ebenfo 
wenig  eine  Sorfteflung,  als  bie  äußerste  Setrachtung  non  ge» 
trocfueten  ©<h»ammffeleten  in  einem  joologijdjen  SRufeum.  ©rft 
bei  mifrofcopifter  Unterfuchung  enthüllt  flöh  bie  eigentümliche 
Schönheit  biefer  bie  feinften  Spinngewebe  an  3ietlichfeit  übet* 
treffenben  JEiefelgerüfte.  Sringt  man  ein  fleiueS  Stücfchen  beS 
oother  butt  ©ünre  nom  SRebengeftein  befreiten  St»amm* 
ffeleteS  unter  baS  ÜJlictofcop,  fo  löft  fidj  bie  fcheinbat  fein* 
löterige  2Jtaffe  in  ein  auS  rettwinflit  fit  freugenben,  h°hle« 
Äiefelbalfen  befteßenbeS  ©erüfte  oon  wahrhaft  artiteftonifter 
©tönheit  auf.  5>a  wo  bie  6 Strahlen  bet  bret  Sljren  fit 
freuten,  bilben  fie  entweber  einen  nerbicften  .Knoten  ober  ein 
hohleS  regelmäßiges  Dftaeber.  ©ewiff ermaßen  als  äußerer  3iet* 
rath  fonbert  bie  baS  ©erüft  umhüDenbe  gallertartige  Äötpermaffe 
not  8ahü°fe  freie  Äiefelgebilbe  ber  gierlitften  21 rt  ab.  IDiefe 
wingigen  SRabeln,  2lnfer,  Sterne,  kugeln,  ©teilen  u.  f.  w 
fallen  nat  bem  2lbfterben  beS  EßiereS  leitt  ab,  werben  Born 

XI.  «1.  2 (438) 


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18 


SBaffer  fortgeführt,  oermifchen  mit  benen  »on  anbern 
Schwämmen,  bie  nur  auS  folgen  ifolirten  5theildjen  befielen 
unb  lagern  fidf  namentlich  in  gereiften  unreinen  Är eibemergeln 
maffenhaft  ab. 

SBaS  ich  bisher  an  Berfteinerungen  ermähnt  habe,  bietet 
nichts  Ungewöhnliches,  benn  ähnliche  Befte  finben  fi<h  auch  t« 
anberen  Slblagerungen  meetifchen  UtforungS.  SlUein  bie  erbige 
Befchaffenheit  ber  Jfreibe  unb  ber  günftige  @rhaltung8gu[tanb 
ihrer  organifchen  Grinflüfte  geftattet  auch  einen  Ginblicf  in  bie 
feinften,  bet  gewöhnlichen  ©eftfraft  entrücften  Elemente.  Schon 
bie  Betrachtung  mit  einer  einfachen  goupe  lehrt  unS,  baft  aufter 
ben  immer  nur  fporabifdj  norfommenben  größeren  Berfteinerungen 
fleinete  organifche  Ueberrefte  in  anfehnlidjer  fötenge  tjorbanben 
ftnb.  SDtan  erfennt  bei  biefer  ichwadjen  Bergröfterung  bereits 
zahlreiche  krümmer  eon  fDtooSforatlen  unb  noch  häufiger  fleine 
Äalffcfjälchen  »on  regelmäftiget  ©eftalt,  welche  fich  wie  feine 
Sanbförnet  anfühlen.  Bei  genügenber  Bergröfterung  beiehen, 
erweifen  fiel)  bie  bünnwanbigen  ©ehäufe  nad)  3lrt  ber  SlmmonS* 
hörner  burch  zahlreiche  ©djeibewänbe  gefammert,  aber  bie  ein» 
Zeinen  fugeligen  ober  ooalen  Kammern  flehen  nicht  burch  einen 
häutigen  Strang  in  Berbinbung,  fonbern  fie  finb  entweber 
fdjeinbat  ganz  abgefchloffen  ober  butd)  eine  runbüche  ober  fpalt* 
förmige  Deffnung  mit  einanber  oerbunben.  55ie  gleichen  Schälchen, 
nur  noch  nie!  Heiner,  erhält  man  in  erftaunlidjer  SRenge,  wenn 
man  een  einem  beliebigen  Stücf  jfreibe,  unb  man  fann  bazu 
auch  feie  im  £anbel  eorfommenbe  gefd^lemmte  Äteibe  cerwenben, 
etwas  abfehabt,  baS  ^uleer  in  einem  UhrglaS  mit  SBaffer  um* 
riihrt  unb  bie  weifte  Äalfmilch  abgieftt.  ©ine  ^robe  beS  fchlam* 
migen  JRücfftanbeS  bei  150 — 300  fachet  Bergröfterung  (nach 

geeigneter  Borbereitung)  unter  bem  fHtifrofcop  betrachtet,  enthüllt 
(**0) 


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19 


eine  feldjc  Sülle  bcr  foebcit  erwähnten  @d)cild)en,  bafj  Gfyren» 
frerg  ilire  3«^  in  einem  Cub^oU  Äreibe  auf  meljr  als  eine 
. 5Kt0icn  berechnete.  JT'ieS  ift  nur  bei  aufcercrbentlidjer  Äleinljeit 
mcgli$  unb  in  bev  $tyat  iiberfteigt  iljr  größter  ©urdjmeffer 
feiten  einen  SDiiHimeter.  Gine  SBerfteüung  non  biefer  winjigen 
©re§e  erhalten  mir  erft,  wenn  wir  bie  ©efyäufe  mit  anberen 


TOfrejcopifdje  Slnftcbt  be$  © djlemmrii  cf  jt  anbei  een  weißer  Areibe  auä 
SHügen  bei  150  falber  Söerjreijeruiii). 

(A.  bei  burdifaflenbem  B.  bei  auffallenbem  8i$t.) 

«.  Textularia  globulosa  Ehrbg.  b.  Rotalia  (Discorbina)  marginata  Reuss. 
*.  Bolirina  incrassata  Reuss.  d.  Crislellaria  rotulala.  Laui.  e.  Gram- 
mostomum  sp.  Slu&etbrm  jablveicbe  niibeftimmbare  .Salftrömmet. 

2*  f*41> 


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20 


befaunten  Äörpern  Bergleidjen.  SRun  befifcen  biejelben  bet 
300  fat^er  Sergröfcerung  burchfchnitttich  eine  Sänge  non  20—60 
3Rißimeter;  bei  ber  gleiten  Sergröfjetung  mürbe  fic^  eine  ©rbfe 
aU  eine  Äugel  non  ÜReter  2)urcbmeffet  barfietlen,  ein  er» 
machfenet  SRann  hätte  eine  Sänge  Bon  450  ßJteter.  Unter  ber 
großen  SKenge  ton  gefammerten  ©chäldjen  ^errft^en  in  faft  aßen 
Äreibeproben  jmeierlei  formen  Bot.  Sei  ben  häufigeren  finb 
bie  Kammern  ber  geftrecften,  feilfötmigen  ©ehäufe  jmeijeilig  unb 
gerablinig  in  ber  2(rt  georbnet,  baf;  immer  eine  Kammer  ber 
einen  {Reihe  mit  einet  Kammer  ber  anberen  abmechfelt.  3e 
nadjbem  bie  Äammern  ^ori^ontal  ober  fdjräg  auf  einanbet  ge» 
fta^elt  finb,  unterfcheibet  man  Berf^iebene  Gattungen  (Textularia, 
Bolivina,  Virgulina).  Sei  ber  jmeiten  gorrn  bilben  bie  fpiral 
georbneten  Kammern  ein  fteifelfötmigeS  ©ehäufe  mit  einet  feget* 
förmigen  unb  einer  abgeplatteten  ©eite  (Rotalia).  ©brnohl  nur 
aufjer  ben  Textularien  unb  Rotalien  noch  mancherlei  Sotmen 
au8  anberen  ©attungen  Bothanben  finb,  fo  nehmen  bod)  fie  beu 
übcrmiegenbften  fUntheil  an  ber  3ufammenfefcung  ber  Schreib« 
freibe. 

Sei  ber  angemenbeten  Sergtöfjerung  fann  einem  aufmerf» 
famen  Seobachter  nicht  entgehen,  ba§  bie  Dber  fläche  ber  ©ehäufe 
mit  fleinen  ^oren  (foramina)  bebecft  ift  unb  mit  biefen  fteljen 
äufjerft  feine  {Röhrchen  in  Setbinbung,  metche  bieSBanb  in  fenf* 
rechter  {Richtung  burchbohten.  {Rad)  biefen  $)oten  unb  {Röhren, 
melche  bie  Schale  mie  ein  feines  ©ieb  burthlöchern,  merben  bie 
foeben  befchtiebenen  ©ehäufe  uub  beren  Sermanbte  goramini» 
feren  genannt. 

3Ran  mürbe  fich  übrigens  einer  Uebertreibung  fdjulbig  machen, 
menn  man  behaupten  moßte,  ber  burch  Slbfpülen  ber  ÄaUmild) 

gemonnene  {Rücfflanb  beftänbe  anSfdf  lieblich  auS  folchen  Boramint* 
c«i> 


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21 


feien.  68  gibt  tu  bet  2ßat  Äreibeforten,  worin  biefelben  faft 
unBertnifdjt  bie  gan3e  üftaffe  be8  ®<blammrüdfftanbe8  bilben, 
aber  häufiger  werben  fie  Bon  einet  faft  gleidj  großen  SJtenge 
faltiger  Vrucßftüdfe  Bon  räubern,  gerfreffenen  üfuSfeßen  begleitet, 
weldje  non  SORufdjeln,  ©dßnecfen,  ÄoraHen,  Äalffdjwanunen  unb 
anberen  meift  uid^t  nabet  beftimmbaren  .Ralffdbalen  bcrritbren. 

9Rit  bem  ÜRacßweiS  ber  erwähnten  fleinen  Organismen  fteben 
wir  aber  nodb  nicht  an  ben  äußerften©rengen  unferer  fünftlidß  Bet* 
ftärften  ©ebfraft.  9Jtan  fann  bie  milbige,  beim  Umrüßren  Bon 
jfreibepulBer  in  SBaffer  entftebenbe  glüffigfeit  Berbampfen  unb 
ben  DRücfftanb  bei  1000 — 1500  fad) er  Vergrößerung  unterfudben. 
<Da  geigt  e8  ftcb  nun,  baß  auch  biefe  feinfte  ©runbmaffe  ber 
äfteibe  faft  auSfcßließlidb  au8  febr  regelmäßig  geformten  jfalf» 
fördern  Bon  offenbar  organifcbem  Urfptung  beftebt.  @8  ftnb 
runbe  ober  eOiptifd^e,  auf  einer  ©eite  gewölbte,  auf  ber  anberen 
abgeplattetete  ©cßeiben,  in  berSDRitte  mit  einem  jcßarf  begrengteu 
lidbten  gledf.  SDiefe  Bon  Gehlenberg  fd}°#  im  Sabre  1838  be* 
fdbriebenen,  aber  für  unorganifdße  ©ebilbe  betrachteten  .Körperchen, 
erhielten  im  3aßre  1868  non.  ^>U]cleb  ben  SRamen  ßoccolüben 
(Äernfteindben).  3nt  littfen  oberen  gelbe  (c)  be8$o(gfcbnitte8  22 
ftnb  gablreidbe  ä?reibe*Goccolitben  bei  1200fad}er  Vergrößerung 
genau  nach  ber  Vatur  gegeidßnet. 

JDie  ftetS  bei  aller  SRaunigfaltigfeit  in  gorm  unb  ©röße  in 
gleidber  SBeife  fieß  wieberbolenbe  tnpifebe  ©eftalt  biefer  ätalfför* 
perdben  madbt  ißren  organijdben  Urfprung  feßon  an  unb  für  fidj 
überaus  wabrfdbeinlicb.  3nbem  fönnen  wir  un8  auf  fünftlidbem 
SBege  bureß  gäHung  Bon  foblenfaurem  Äalf  niemals  ähnliche 
©ebilbe  Berftbajfeti.  ©in  dbemtföber  Vieberfdßlag  befteßt  entweber 
au8  wingigen  Ärpftallen  ober  au8  runben  .Körnchen  Bon  nodß 

geringerer  ©röße  alS  bie  ©occolitßen.  Unb  bodß  überfteigt  bie 

(♦«) 


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9 2 


flleinijeit  bet  lateren  aHeö  Sorftetlungtoermegen;  bei  1500fa<f)er 
aSergtcfeerung  erlernen  bie  fleineren  wie  Stecfnabelfö^fe,  wäl)* 


ÜJtifrcjfopifdje  Slnftdjt  be$  tScblemmrücfjtanbcd  ccit  tpcijiet  Ätcibe. 

A.  au«  <8ufir|r.  B.  au«  garafrcb  in  bcr  libvfdjen  SBiiftc  bei  150fad)cr  Ber« 
gtc&crun.j  [a.  mit  Textularia  globulosa  Ehrb.  b.  Rotalia  (Discorbina)  margi- 
nata  Reiiss.]  C.  ’Änfidjt  bc«  flctrotfueten  'Nitrfflanbc«  au«  milchiger  Äreibe* 
piftgteit  bei  1200faefjcr  Bergröjjerung  mit  »cijd;icbenen  Äernjteindjen 

(Coccolithen). 

tenb  bie  größten  etwa  8—10  ÜJlillimeter  meffen.  Sei  betreiben 
23ergrefeeruug  würbe,  um  unier  früheres  Scijpiel  beijube^aiten, 
eine  (5tbje  eine  7}  Bieter  (jelje  Äugel  tarfteilcn  unb  ein  SJlann 

(444) 


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23 


fßnnte  in  ähnlicher  SBeife  Dergrß&ert  über  bie  meiften  ©pifjen 
bet  baperifchen  Sllpen  hinwegfchauen. 

SBeiiauS  bie  ,£>auptmaffe  ber  Hreibe  befielt  au8  Hern* 
fteincfjen;  gegen  fie  treten  felbft  bie  Foraminiferen  in  hinter» 
grunb.  SEÖenn  wir  nun  bebenfen,  baf?  in  bem  wenige  SDRiüi» 
meter  großen  @efid)t8felb  eines  SJtifrofcopeS  mehrere  taufenb 
foldjer  Hörperdjen  liegen,  fönnen,  fo  befemmen  wir  für  bie 
auSgebehnten  Äreibcablagerungen  3a^len,  bie  fi<h  nur  nod) 
mit  ben  fyedjften  aftronomifchen  SEBert^en  Dergleichen  laffen. 
SebeS  ©tücf  Hreibe  ift  ein  wahres  SEftufeum  oon  wingigen  S3er* 
fteifterungen,  mit  jebem  ©trieb  an  bie  Safel  ftreifen  wir  Diele 
taufenb  Hernfteindjen  unb  b««berte  Don  fleinen  Foraminiferen 
ab  unb  eine  mit  Hreibe  getünchte  SSanb  würbe,  wenn  wir  fie 
in  ftarfer  Sergrefjerung  gu  betrachten  oermochten,  ein  3?ilb  bat» 
bieten,  baS  fich  an  Schönheit  unb  5Jtanni<hfaltigfeit  bem  funft* 
Dollften  üftofaif  gur  ©eite  [teilen  fönnte. 

Jladjbem  id)  Shnen  im  ätorhergehenben  GsinigeS  über  baS 
aSorfommen,  bie  ©igenfehaften  unb  bie  3ufammenjefjung  ber 
Äreibe  mügetheilt  h^e,  Meibt  nod?  bie  Frage  nach  ihrer  @nt= 
ftehung  gu  erörtern  übrig.  IDafe  wir  cd  bei  ber  Äreibe  mit 
einem  uvweltlichen  SJleerfebiment  gu  thun  haben,  fann  nicht 
gweifelhaft  fein,  beim  fämmtliche  oerfteinerte  SKefte  Don  Örga» 
niSmen  rühren  oon  ÜJteercSbewehncrn  her.  SBenn  wir  aber  bie 
Slbfäfje,  welche  fich  gegenwärtig  an  nnferen  Hüften  bilben,  unter» 
fuchen,  fo  finben  wir  Nichts,  waS  fich  mit  Hreibe  Dergleichen 
lie|e.  ©tatt  eines  fchneeweifjen,  auS  Foraminiferen  ©ehaufen 
unb  fonftigen  orgauifchen  Halfförperchen  beftehenben  ^uloerS 
fehen  wir  bort  ©ereile,  ©anb,  Schlamm,  hin  unb  wieber  wohl 
auch  eine  Anhäufung  oon  ÜKufdjelfchalen.  2ln  falfreichen  Ufern 
fann  ber  Schlamm  wohl  in  feinen  äufjeren  EERerfmalen  bet 

(441) 


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24 


Äreibe  ähneln,  aber  ein  Vlicf  in  feine  mifroffopifche  Vefdjaffen* 
Ijeit  lehrt  unS  fofort,  bafj  wir  e8  ^ier  mit  einem  äu|erft  feinen 
SltümmerpulDer  gu  thnn  haben,  worin  jene  jierlidj  erhaltenen 
goraminiferen  ber  Äreibe  fehlen.  © o lange  fich  bie  ©eologen 
auf  bie  Unterfudjung  ber  Äüften  befdjränften,  blieb  bie  ©nt* 
ftehung  ber  ^treibe  ein  ungelöfteS  SRäthfel.  ©urd)  bie  umfaffen* 
ben  Stieffeeforfchungen  bet  SReujeit  ift  jjebod)  bet  ©dreier,  welker 
bi8  bahin  übet  ben  Slbgtünben  ber  Dceane  lag,  jerriffen,  unb 
man  fann  fühnlich  behaupten,  baff  wir  Don  bem  Untergrunb, 
namentlich  beS  atlantifchen  DceanS  eine  genauere  Vorfteüung 
haben,  als  Don  ber  Oberfläche  anfehnlidher  ©trecfen  ber  geftlänber. 

©ngeroftete  Srrthümer  finb  burch  biefe  Unterfu^ungen  be* 
feitigt  worben;  man  hört  jefct  aCfmäfig  auf,  ftch  ben  ÜJleereSgrunb 
ald  ein  reich  geglieberteS  mit  ©ebirgen  unb  Scalern  auSgeftat* 
tetefi  üieflanb  Dor^uftellen ; benn  wenn  auch  in  [eichten  ©ewäffern 
unb  in  ber  9tähe  ber  Äüften  burch  ben  SBeHenfchlag  gurdjen  in 
ben  Voben  gezogen  werben,  wenn  h*n  unb  wieber  auch  nulfa* 
nifche  .Regelberge  ober  bie  ÜluSläufer  non  ©ebirgen  anfehnliche 
Unebenheiten  oeturfacben,  fo  fehlen  hoch  in  größeren  liefen  alle 
gatteten:  ©onne,  Sicht,  Suft,  meteorifche  ©ewäffer,  Vegetation, 
ÜEemperaturmechfel  u.  f.  w.,  welche  bem  geftlanb  fein  zerfurchtes 
Slutlif}  Detfdjaffen.  Sluth  bie  jerftSrenbe  SBirfung  beS  SBeHen* 
fchlagS  hört  fdjon  bei  500  gufj  SEiefe  auf.  3«  biefem  ÜRangd 
an  etobirenben  ©inflüffen,  fommt  noch  ein  3ufammenwirfen  Don 
Kräften,  welche  unabläffig  auf  bie  SluSgleidjung  aller  Uneben* 
heiten  beS  VobenS  h*aarbeiten.  SDaS  Söleer  ift  ja  baß  gtofee 
2lufnahm8*fReferDoir  für  baS  gefammte  Don  ben  glüffen  fortbe* 
wegte  unb  Don  ben  Rüften  abgefpülte  SOiaterial.  Vertheilt  ftch 
fchon  biefeS  in  einem  breiten  ©aum  um  bie  geftlänber,  inbem 
eS  junächft  bie  Vertiefungen  auSfüHt,  fo  fchafft  ftch  aufjetbem 

fo«) 


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25 


bafl  SJteer  fern  oon  ben  lüften,  wohin  fein  ober  bodh  nur  eine 
geringe  SJtenge  »on  ©ebiment  mehr  gelangt,  feine  eigenen  Ab* 
fäfje,  welche  nach  einer  Auflehnung  befl  Sobenfl  ringen.  SBürben 
wir  unfl  alles  SBaffer  non  ber  ©rboberfläche  entfernt  benfen,  fo 
Ratten  wir  einerfeitfl  unenblidj  auflgebehnte  becfenartige  Ser» 
liefungen  mit  weiter,  geglätteter  Oberfläche  bfe  Oceane,  unb 
alfl  ©egenfafc  bagu  bie  fteil  anfteigenben,  rauben  unb  jerfurchten 
Tafeln  ber  Snfeln  unb  geftlänber  mit  ben  barauf  aufgefe^ten 
©ebirgen.  @o  imponirenb  unfl  nun  auf  ben  lefctern  bie  Alpen, 
Corbißeren,  ber  Himalaja  unb  anbere  ©ebitgfljüge  entgegen* 
treten,  ben  Sergleidj  mit  ben  gewaltigen  Abgriinben  ber  Oceane 
halten  fie  bodj  nicht  aufl.  Sttefen  oon  20—25000  $ufj  gehören 
feineflwegfl  gu  ben  Seltenheiten,  ja  ^efdjel  berechnet  bie  mittlere 
Tiefe  ber  SBeltmeere  auf  15000  gufj.  Sach  ben  gasreichen 
Seobachtungen  ber  Seugeit  bürfte  biefe  3aS  3U  h°<h  gegriffen 
fein  unb  eine  mittlere  SLiefe  »on  etwa  10000  gufj  ber2Bal)rheit 
näher  fommen.  ^Dächten  wir  unfl  nun  afle  geftlänber,  foweit 
fte  ben  SJteereflfpiegel  überragen,  fammt  ihren  ©ebirgen  gut 
Auflfüßung  ber  Oceane  »erwenbet  unb  hotiS01^  auflgebreitet, 
fo  würbe  biefl  nur  eine  (Erhöhung  um  420  §u§  bewitfen.  ®o 
imerheblich  ift  bie  fßtaffe  befl  feften  Banbefl  im  Sergleich  gu  jenen 
gewaltigen  Sertiefungen ! 

3n  bie  eigentliche  ^ochfeetegion  wirb,  wie  fdjon  bemerft, 
fanm  noch  3ertrümmerung8=5Waterial  »om  Sanbe  h et  geführt, 
bennodh  befteht  ber  Soben  auch  bott  nicht  aufl  nacftem  ?elfl, 
fonbetn  geigt  ft«h  faft  übetaß  mit  Sieberfchlägen  »erfcfjiebenet 
Art  bebecft.  Tiefe,  Temperatur  unb  Äohlenfäuregehalt  befl  2Baf* 
ferfl  fcheinen  einen  erheblichen  ©inftufj  auf  bie  Sefchaffenljeit 
biefer  ©ebimente  auflguüben.  ©ine  (Erörterung  ber  ©tünbe, 
warum  in  ben  haften  Tiefen  (oon  15000  gufj  an)  faft  immer 

(♦47; 


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26 


eine  giegelrotlje,  mit  Äiefelfdjalen  erfüllte  fchlammige  Sföaffe,  in 
etroaö  geringerer  Siefe  grauer  Äalffchlamm,  Äiejelfanb  ober 
weiter  Äalffchlamm  gum  $bfaj}  gelangt,  würbe  mich  gu  weit 
führen,  für  unfere  heutige  Betrachtung  genügt  eS  gu  wiffen,  bafj 
fowoljl  im  atlanüfchen,  als  aud)  im  füllen  Dcean  bet  SDieereS» 
gtunb  auf  oiele  taufenbe  non  Duabratmeilen  mit  einer  faltigen 
Ablagerung  bebeeft  ift.  3n  Siefen  Don  6 — 13000  §ufj  ift  biejer 
Äalfjd)lamm  am  oerbreitetften.  ftrifch  auS  ber  Siefe  Ijetoor ge- 
holt, fieljt  er  wie  ein  fiebriger,  gelblich  grauer  Brei  auS;  ge- 
hechtet wanbeit  er  fid)  gu  einem  bebauen,  freibeähulichen,  am 
befteu  mit  ©trafjeaftaub  oergleich baren  ^uloet  um.  Unter  bem 
SDtifrofcop  betrautet,  geigt  baffelbe  in  mehrfacher  Jpinficht  eine 
übetrafdjenbe  Aehnlid)feit  mit  bem  Silbe,  welches  unS  bie  Äreibe 
geliefert  hat-  SnSbefonbere  bie  feinfte  ©runbmaffe  »erhält  fid) 
bei  beiben  Bilbnngen  faft  abfolut  gleich.  Ä ern  ft  ein  <b  eu  (Gocco- 
litheu),  benen  ftdj  in  geringerer  SJtenge  auch  noch  ftabfßrmige,  an 
einem  <5nbe  oerbiefte  ober  mit  ftrahliger  «Scheibe  üerfehene  Äorper» 
dh«u  (SRha^^olithen)  beigefellen,  bilben  ben  «pauptbeftanbtheil  beS 
SieffeefdjlammS.  3u*oeilen  fieht  man  bie  Goccolitl)en  auch 
gruppenweife  gu  runben  Äugeln,  ben  Äernfugeln  (GocccS- 
phaeren)  vereinigt  unb  nach  ben  Seobadjtungen  SB  al  lieh 'S  unb 
SBpoille  Shotnfon’S,  bürften  bie  Goccolithen  überhaupt  nur 
auSeinanber  gefallene  Stücfe  urfprünglicher  Äernfugeln  barftellen. 
Die  Dielen  SDtilliarbeu  biefet  wingigen  Äalfförperdjeu  finb  ein- 
gebettet in  eine  gaflertarüge,  fiebrige  Subftang,  welche,  wie  eine 
Sehanblung  mit  c^emifdjeu  Dieagentieu  ergibt,  entweber  orga- 
nischen UrfpruugS  ift  ober  bedj  reich  nn  organifcher  Subftang 
fein  muh.  ^rofeffor  «£>ujrlcp,  ber  geiftoolle  englifche  Soologe, 
untergog  biefe  ©aUertfubftang  guerft  einer  näheren  Unterfuchung, 
allerbingS  nad)  groben,  welche  faft  10  3al)re  lang  in  Alfohol 

(448) 


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27 


* 


aufbewahrt  gewejen  waren.  £ urtey  erflärte  fie  für  eine  neue 
gorm  ienet  auf  aller  niebrigfter  ©tufe  ftehenben  gebewefen,  bei 
Welchen  her  Äö rpet  lebiglid)  auS  einer  gleichartigen,  eiwei^aU 
tigen  ©aderte  ohne  Jeden  befielt  unb  ned)  feine  beftimmte 
äußere  §orm  befind  Sßegen  iljreS  SßotfommenS  in  benSReereö» 
tiefen  würbe bie  ©ubftanj  Bathybiug,  b.  I).  liefenwefen genannt. 

Stnbere  Beobachter  wie  Garpenter,  SB.  Eljomfon  unb 
.ftaecfel  betätigten  bie  Unterfucbungen  ^ujdep’S;  ja  bie 
beiben  erfteren  glaubten  jogar  33ewegungSerjd)einungeu  in  bet 
gadertigen  SRaffe  feljcn  $n  fouuen.  ©o  war  benn  ein  Dr« 
ganiflmuS  gefunben,  nicht  Ifjier,  ned)  ^flanje,  welker  ficf>  in 
enormer  SJtafje  als  jufaminenbängeube  ©rfjic^t  übet  ben  Beben 
be$  DceanS  auSbreitete. 

Gä  läfjt  fidj  benfen,  welches  Sluffehen  biefe  Gntberfnng.iu 
ben  weiteften  Äreifen  machte.  hatte  man  ja  ben  berühmten 
Utfdjleim,  au§  welchem  bie  Ülaturphilofophen  im  Anfang  biefeS 
3ahrhunbert8  adeö  ßebenbige  burch  Urjeugung  hatten  ijeroorge^ert 
lajfen.  Dfen’S  ÜtuSfprudj,  ber  Urfchleim  entftehe  im  tiefen 
Sdleet  au§  unorganijdjet  SDiaterie,  er]d)ien  mit  einem  SDiale  ge» 
rechtfertigt.  5>enn  woher  fodte  ber  Bathybiug  jeine  Währung 
A C B 


A.  B.  2Jcrf(f)iebcnc  tfernfteineben  (Coccolithen)  unb  C.  eine  Äernfugel  (C’occos- 
phacra)  jcl)r  fhuf  rergu'jjert. 

(Su$  $äcfcl:  Sa8  Sehen  in  grefeter  ®tccrelticfc). 

(U9) 


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28 


* 


nehmen  in  ^Regionen,  wo  ba§  ißflangenleben  »öttig  »etjdjwunbe« 
ift?  Da  bie  ©näferung  eines  fo  maffentyaft  »erbreiteten  gebe* 
wejenS  burd)  bie  im  SBaffer  gelöfte  organijdje  ©ubftang  !aum 
benfbat  etjdjien,  jo  war  man  gu  bem  ©djlujfe  genötigt,  ba§ 
bet  Bathybins*Urjd)leim  ficfe  auf  bem  @runbe  beS  ÜReereS  unter 
bem  ©nflufe  bet  bajelbft  waltenben  ©riftenSbebingungeu  auS 
anorganijdjet  ©ubftang  bilbe  unb  bemnad>  ein  unmittelbares 
belebtes  jprobuft  aus  bet  tobten  ÜRaterie  barftetle.  DaS  alte 
Problem  bet  @ntfte^ung  »on  Bebewejen  burd?  Urgeugung  jdjien 
jefet  bet  göfung  nalje  gerütft  — bodj  bie  ©adje  war  gu  jdjöu, 
um  wafer  gu  jein. 

3m  SÄuguft  »origen  3aljreB  »eröffentli^te  $uj:lep  einen 
33rief  SB.  Snjomjon’S,  batirt  tont  9.  3uni  1875  am  S3orb 
beS  (Sfeallenget  in  ?)ebbo,  Worin  bet  berühmte  Soologe  mittljeiU : 
„bafe  ade  23emül)ungen  beS  wiffenjdjaftlidjen  ©tabeS  bet  ©feadenget 
©pebition  ben  Batbybius  in  frifcfeem,  lebenbigem  3«ftanb  gn 
gewinnen,  fefelgefdjlagen  jeien  unb  bafe  man  ernftlidb  »ermutigen 
müffe,  baS  Ding,  welkem  man  biejen  ÜRamen  gegeben  tyabe,  jei 
wenig  mefer  als  fdjwefeljaurer  mit  erganifdjem  SDiobet  burd}» 
brungener  Jtalf,  in  flodfigem  Bujtanb  burdj  jtatfen  Sllfofyol  ge* 
fällt,  worin  bie  früher  unterjudjttn  groben  aufbewaljrt  waren, 
©eltjamer  SBeije  ift  biejer  SRieberjd^Iag  faum  »on  cfeemijdj  ge* 
fäötem  ©weife  gu  unterjdjeiben  uub  gleißt  »ielleidjt  nodj  meljt 
bem  an  bet  ßberflädje  einet  in  3erfefeung  begriffenen  glüjfigfeit 
auSgebreiteten  ^säutc^en." 

SBaS  gejdjiefyt  nun  mit  ben  Äernfteindfyeit,  welche 
.^jujrle»  unb  «fjaede l für  einen  23e[tanbtl?eil  beS  Batbybius 
gehalten  Ratten,  wenn  baS  Dajein  beS  lefeteren  jogat  »on  ben 
Autoren,  bie  iljn  inS  Beben  gerufen  featten,  iu  jo  bebenfltdjer 
SBeije  in  fttage  geftedt  wirb?  Darüber  feljlt  unS  »orläufig  nod) 

MtO) 


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29 


«ine  befriebigenbe  Antwort.  Denn  wenn  aud)  bie  Äetnfteintben 
witflich  nur  Stimmet  bet  Äernfugeln  (Coccosphaeren)  finb, 
wie  SBallidj  unb  SB.  Shomfon  »ermuthen,  jo  bringt  und 
bied  nid)t  uiel  weitet,  ba  fidj  auch  biefe.  Körperchen  mit  feinet 
bid  jeßt  befannten  ©ruppe  bet  niebetften  Spiere  obet  sPflan* 
gen  »et gleichen  taffen.  Sie  finb  »on#ber  Ghaöenget  Gppebition 
häufig  in  mäßiger  Siefe  freifchwimmenb  beobachtet  wotben  unb 
.$aecfel  hat  eine  gange  Golonie  betjelben  bei  Bangerofe 
an  einem  größeren  SBurgelfüßer  (Myxobrachia)  angeheftet  ge* 
jehen.  Dad  beutet  jebenfatld  auf  einen  felbftftänbigen  Dtga* 
nidmud  hin,  ob  mit  ed  abet  babei  mit  einem  Batnenguftanb  »on 
Foraminiferen,  wie  SB  a Ui  <h  meint,  obet  mit  Früchten  »on  Sllgen, 
wie  Gatter  »ermuthet  obet  mit  einem  bejonbeten  Sppud  bet 
Urthiete  gu  thun  hoben,  läßt  jt<h  bid  jeßt  noch  nicht  entfd)eiben. 

SBenn  nun  bie  aud  Goccolithen  beftehenbe  feinfte  ©runb* 
maffe  beim  faltigen  Sieffeejchlamm  unb  bei  bet  Kreibe  »od* 
ftänbig  gleichartig  ftnb,  jo  läßt  fuß  eine  weitere  Uebeteinftimmung 
beiber  in  bem  mafjenhafte  SBorfommen  »on  Foraminiferen  gel* 
tenb  machen.  3m  Sieffeejchlamm  ftnb  etngelne  Sd)älchen  noch 
mit  organifdjet  Subftang  erfüllt  unb  rühren  offenbar  »on  leben* 
ben  Shieren  her;  bie  meiften  jebodj  bürften  nach  SB.  Sh  cm  fon 
aud  höheren  Stegionen  ftammen,  wojefbft  fie  in  unermeßlicher 
3ahl  leben  unb  .nad)  ihrem  Slbjterben  faft  in  ©eftalt  eined 
Sdjneefchauetd  gu  ©oben  faden.  £olt  man  jolche  Foraminiferen 
frijd)  aud  bem  dKeere  heraud  unb  bringt  fie  in  ein  ©efäß  »od 
SBajjer,  jo  bieten  bie  flehten  Drganidmen  ein  hö«hft  metfwüt* 
biged  Sdjaufpiel  bat.  Die  butchfcheinenbe  Schale  ijt  erfüdt  unb 
butchbtungen  »on  einet  gedenlofen,  gadertartigen  Giweißjubftang, 
bem  eigentlichen  .Körper.  Doch  biefer  fließt  ftd)  in  feiner  @e* 
ftalt  nicht  an  bie  Form  beä  ©eßäujed  an,  fonbern  überad,  wo 

* C4S1) 


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30 


eine  feine  Oeffnung  ift,  unb  bie  fiebartig  burdjboljrten  ©djaldjen 
haben  bereu  unjäljlige,  ba  brängt  ftdj  and}  bie  ©aHertfubftang 
an  bie  Oberfläche  ?n  ber  Siegel  bilbet  bie  auötretenbe 

föiaffe  einen  feinen,  verlängerten  gaben.  SDiefe  gäben  befinben 
ftdj  in  beftänbigerSPewegung,  fie  »erben  auögeftrecft  unb  »ieber 
eingejogen,  fie  jerfliefjen  nut  einanber  nnb  veranbern  jebeii  Singen« 
blicf  i^ve  ©eftalt.  Äleine  .fterncben  rollen  »ie  feine  perlen  an 


Oiine  iebenbe  Globigerina  mit  auGgcftrccftcn  ©ollcrtcfäbdjfn 
(9ln$  Rattel:  Sa«  öebcn  in  größt«  ÜReereJticfe.) 


ben  fdjleimigen  Sdjeinfii&dien  l)in  unb  Ijer,  ben  einjigen  Organen, 
mit  »eidien  bie  goraminiferen  fdiwimtncn,  friedien,  empftnbett 

(403) 


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31 

unb  Slaßrung  ergreifen.  3n  ber  fdjleimigen  Äörpermaffe  ber 
Foraminiferen  läßt  fiep  aud)  mit  bem  beften  SRifrofcop  StidßtS 
bemerfen,  maS  auf  eine  ffierfdjiebenfyeit  ober  2)ijfeten3irung  Ijin* 
miefe  unb  bodj  fdjetben  biefe  Sßierdljen  Äalffdßalen  non  rounber* 
barer  ©djönijeit  unb  jwar  in  foldjer  IRegelmäßigfeit  au§,  baß  man 
über  ßunbert  ©attungen  mit  einer  großen  Slnjabl  oon  Sitten 
ftetS  mit  geidjtigfeit  erfennen  !ann. 

33ergleid)t  man  nun  bie  goraminiferenfdjalen  in  ber  Äreibe 
mit  benen  beö  Sieffeefd)lamme8,  fo  jeigt  ftdj,  baß  unb 
©röße  betfelben  in  beiben  .©ebilben  jiemlid^  übereinftimmen. 
5)ie  ßerrfdßenben  formen  jebod)  finb  eerfdjieben.  Sn  betreibe 
übermiegen  bie  Teilfcrmigen,  ^ltei^eitig  gefammerien  Textularien, 
tm  Sieffeefcßfamm  bominiren  bie  Globigerinen,  beren  ©dealen 
au3  unregelmäßig  ober  jpiral  gruppirten  fugeligen  Kammern  be» 
fteßen.  Sieben  ben  Globigerinen  finb  bie  einfammerigen  Äu» 
geln  oon  Orbnlina  fomie  Rotalien  (Pulvinula)  bie  ßöufigften 
formen.  SJian  bejei^net  ben  Sieffeefcßlamm  ßäufig  aud)  nadj 
bet  ßertfdßenben  Foraminiferen  ©attung  alS  Globigerinen» 
©dßlamm  unb  mit  bemfelben  Siedete  mürbe  bie  Äreibe  ben 
Stamen  Textukrien*@cf)!amm  oerbtenen.  68  laßt  fid?  nidjt 
läugnen,  ba8  mifrofcopifdje  23ilb  oon  Äteibe  unb  Sieffee» 
fdflamm  erhalt  bureß  bie  3$erfd?iebenßeit  ber  maßgebenbeu  Fora* 
miniferen  ein  ehoaS  abmeidjenbe8  StoSfeßen,  allein  jaßlreicße  mit* 
ootfommenbe  ©dßaldßen  aus  anberen  ©attungen  ßeben  bie  IDiffe* 
ren3  mieber  etma8  auf,  benn  unter  ben  leßteren  merben  19  Sitten 
genannt,  meldße  gleidfoeitig  in  betreibe  unb  am  ©runbe  unferer 
Sfteere  gefunben  merben. 

Smmerßin  geßt  man  3U  meit,  menn  man  Äretbe  unb  Sief* 
feejdßlamm  al8  ibeutifcß  bejeidßnet.  3Bie  mir  gelegen  haben,  be* 
fteßt  bie  reine,  fdjneeroeiße  Jhreibe,  abgefeßen  oon  ben  größeren 

(453) 


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32 


Serfteinerungen,  faft  nur  anS  jietn  ft  einten,  goraminiferen  unb 
unbeftimmbaren  Äalffragmenten;  im  Üieffeefchlamm  bagegen 
fielen  auch  fiefelige  ©ebilbe  eine  ziemlich  mistige  9toHe.  So 
finbei  man  in  Stenge  bie  zierlich  gezeichneten  Schalen  ber&iefel* 
aigen  (Diatomeen),  bie  p^autaftifch  geftalteten  Äiefelgerüfte  bet 
©itterthierchen  (Radiolarien)  unb  enblich  Ueberrefte  non 
Äiefelfchwümmen. 

Segreiflicher  SEBeife  muß  bie  e^emtfc^e  3ufammenfeßung  beS 
SaeffeefchlammeS  burch  biefe  Kefeligen  Seimifchungen  beeinflußt 
werben  unb  in  bet  5£hat  ergibt  feine  2lnalpfe  nur  einen  ©e^alt 
con  etwas  über  60  pßt.  lohlenfauren  ÄalfeS,  währenb  bie 
übrigen  40  ber  ^auptfache  nach  (20—30  p(5t.)  auS  Äiefel* 
erbe  unb  fthwanfenben  Stengen  con  Shonerbe,  ©ifenorttb,  Sitter- 
erbe unb  aifalien  befteßen.  SDiefe  3ufammenfeßung  entfpricht 
nun  feineSwegS  ber  reinen  weißen  Äteibe,  bie  ja  beinahe  ganj 
auS  fohlenfaurem  Äalfe  befteßt,  wohl  aber  jener  gewiffet  Äreibe* 
mergel,  in  benen  man  auch  Äiefelgebilbe  dou  Seefchwämmen, 
fowie  mehrere  »ereinjelte  @ ittertljierchen  unb  ÄiefeUSdgen  (Dia- 
tomeen) finbet. 

3n  bem  Stängel  an  Äiefelerbe  in  ber  ©runbmaffe  bet  Jireibe 
beruht  ber  ^auptfädE^lidhfie  Unterfd^icb  berfelben  gegenüber  bem 
Stieffeefchlamm  unferer  Dceane.  ©S  bieten  fomit  bie  Äreibemergel 
ein  getreueres  Silb  beS  SaeffeefchlammeS  bar,  als  bie  eigentliche 
Äreibe.  aber  hat  biefe  ^Differenz  wohl  and)  con  anfang  an 
beftanben  ober  ift  fie  erft  bie  golge  einer  festeren  Seräuberung 
beS  urweltlidhen  SieffeefchlammeS? 

£Die  leßtere  Sermuthung  bringt  fich  unwillfütlich  auf,  wenn 
wir  unS  an  bie  eigentümlichen  ^Beziehungen  oon  Äreibe  unb 
geuerftein  erinnern.  3e  reiner,  b.  h-  ie  ärmer  bie  Äteibe  an 
fiefeligen  Seimengungen  ift,  befto  reichlicher  finbet  fiih  in  ber 

(454) 


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33 


Siegel  ber  geuerftein;  wo  bagegen  ber  leitete  fehlt,  ba  geigt  fi<h 
bie  üreibe  auch  faft  hnntet  oerunTeinigt,  fiefefhaltig  unb  gu  tedj* 
titfd^er  33erwenbung  untauglich- 

28ol)er  flammen  nun  biefe  geuerfteineinlagerungen  in  ber 
treibe?  Sin  periobift^e  Slieberfdhlage  een  amor^er  Äiefeletbe 
auf  bem  Sfoben  be8  urweltlichen  QceanS  Tonnen  mir  wohl  nicht 
benfen;  baju  l)ätte  e§  fyeifcer,  mit  Äiefeferbe  impragnirter 
Quellen  beburft,  bie  in  oarfchtebenen  $>erioben  empotfprubeften 
unb  wiebet  oerfiegteu,  nadjbem  fte  meilenweit  eine  bttfe  Schicht 
Äiefeletbe  ^intetlaffen  Ratten.  3u  biefer  ober  itgenb  einer  an* 
beren,  au8  djemifchen  ©runben  guläjfigen  Jpp^ot^efe  liefern  un8 
jebodfj  bie  ©rfdjeinungen  ber  3ef3tgeit  auch  nicht  ben  Schatten 
eine«  SlnhaltSpunfteS.  SRüffen  wir  aber  auf  eine  birette  chemifche 
gäflung  be8  geuerfteinS  oergidhten,  fo  bleibt  nur  nod?  bie  SJlög* 
lid^feit  einer  ©ntftehung  au8  organifirter  Äiefelerbe  übrig,  ©ine 
mifrofcopifche  Prüfung  ber  geuerfteinfnoßen  ergibt  nun  ba8  Sie* 
fnltat,  ba8  aflerbingS  Slefte  oon  Äiefelfchwämmen  unb  Sflgen 
(Pixidicula)  batin  oorfommen,  aber  feine§weg8  in  reid^lid^er 
SJlenge.  9118  eine  Slnljaufung  »on  Äiefelgehäufen  ober  fiefeligen 
STelet  teilen  Tonnen  wir  ben  geuerftein  barum  nicht  betrachten. 
©8  wäre  auch  wunberbar,  wenn  fidj  ehemals  bie  fiefelfdttaligen 
Slabiolarien,  .JTiefelfchwämme  unb  ©iatomeen,  beren  Slefte  im 
Stieffeefchlamm  ber  jefjigen  SJleere  überaß  »ertheilt  finb,  gu 
Änoßen  unb  Schichten  oereinigt  hätten. 

Sßiel  wabrfcheiniicher  fteflt  un8  ber  geuerftein  eine  nachträg» 
liehe  ©oncentration  ber  urfyrünglidh  in  ber  gangen  Äreibemaffe 
gerftreuten  Wiefel  erbe  bar.  35afür  frechen  mancherlei  ©rfinbe: 
fo  ba8  gehlen  oon  Slabiolarien  unb  ÄiefeUSllgen  in  ber  weifjett 
Äreibe  mit  geuerftein,  fowie  ber  eigentümliche  ©rhaltungSgu* 
ftanb  ber  Äiefelfchwämme.  löon  tiefen  testeten  ift  nämlich  nur 

XL  851.  3 («55) 


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34 


außnal)momcife  baß  gietlichc  ©ittergerüfte  erhalten;  in  ber  IHe^el 
liegt  lebiglich  bec  Slbbrucf  beß  ©chmammförperß  »or;  bie  Äiefel* 
fafetn  unb  fabeln  felbft  bagegen  finb  »ollftänbig  aufgelöft  unb 
bie  erftevn  meift  uur  burch  bie  fdjmarge  ober  rothlidje  StußfiU* 
lungßmafje  ber  binnen  9l;ren=(5anälc  angebeutet. 

iHngefichtß  biefet  ©hatjachen  liegt  bie  ÜJermutijung  nahe,  in 
beu  geuerfteinfnollen  bie  »erfchmunbeue  Äiefelerbe  jener  gerftörten 
Crganißmen  gu  jucken.  ©ie  mürbe  aufgelöft,  roeggeführt  unb 
burd)  molefulare  Slngieljung  an  beftimmten  ©teilen  concentrirt. 
©iub  aber  bie  geuerfteinfnollen  nur  baß  $>robuft  ehemaliger,  in 
ber  gangen  Äreibemaffe  gerftreuter  Äiefelorganißmen,  bann  tonnen 
mir  unß  ben  geuerftein  and)  mieber  in  feine  urjprünglidjen  ©le= 
mente  gerlcgt  benten  unb  in  biejem  galle  mürbe  bie  meifje  Äreibe 
menigftenß  in  cbemifcher  ^injic^t  nom  Sieffeefc^lamm  nid)t  gu 
unterfdjeiben  fein. 

SOiandjerlei  ©hatiadjeu  haben  SJpuille  5£-h c m 1 on  fogat 
gu  ber  3ktmutl)ung  geführt,  ber  jc^ige  ©ieffeefchlamm  bilbe  nur 
bie  oberfte  Slbtheilung  einer  Äreibeablagerung,  melche  fid) 
feit  ber  Äreibeperiobe,  möglidjerroeife  fogar  feit  nod)  früherer 
Beit  auf  bem  ©runb  ber  Dceane  abgejejjt  habe-  JDieö 
mürbe  nun  für  jene  faltigen  ©ebimente  eine  enorme  SDicfc 
»oraußieigen,  mooon  mir  freilich  niemalß  ben  bireften  S3emeiß 
gu  liefern  im  ©taube  fein  metben,  ba  unß  uufere  mechanifchen 
^)ilfßmittet  gmar  geftatten,  fleine  groben  auß  beu  tiefften  ?lb= 
grünben  beß  SDceanß  heeoorguholen,  nicht  aber  in  ben  ü)leereß* 
grunb  guni  3«>ecf  »on  SKeffungen  tiefer  eingubringen. 

©er  ©ebaufe  eineß  Bufammenhangß  ber  Äreibe  mit  bem 
©ieffeefchlamm  ber  ©egenmart  hat  in  ber  ©hat  mancheß  23e* 
ftechenbe.  ©chon  bie  3lehulichfeit  in  ber  chcmijdjen  unb  orga» 
nifchen  3ufammenjehung  beibet  }ptid)t  für  eine  gleichartige  ©nt* 


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35 


ftebung.  9lodb  aujfallenber  aber  berührt  ben  ©edegen  bte 
Uebereinftimmung  getriftet  erganiiebet  Ucberreftc  im  üiefjee* 
fdjlamm  mit  felgen  au8  ber  Äreibcfprmaticn.  SEBäbrenb  im 
allgemeinen  bie  ©efcböpfe  ber  ^et^eit  in  fcfyatfem  ©entraft  ju 
jener  ber  Ärcibeperiebc  ftefjen,  enthält  ber  5£ieffee?d)lamm  niefjt 
weniger  al8  19  ^oraminiferen»arten,  weldje  audj  in  ber  treibe 
retfemmen.  ©cd?  barauf  bef^ränft  fid)  bie  Uebereinftimmung 
ttiebt;  auch  unter  ben  Ijdjet  erganifirten  gieren  giebt  eS  eine 
a^afyl  ron  langlebigen  §ornten,  beten  SebenSbauer  am  9Jleere8* 
grunb,  jebedj  nur  bert  ton  ber  Äreibegeit  bis  in  bie  ©egen  wart 
reicht.  ©in  Sljeil  ber  fofftlen  Äiefelfdjwämme  ber  Äreibefcr» 
mation  fdftiefft  fidt>  auf  ba§  aflerengfte  an  einige  in  großer  Siefe 
ned)  jetjt  lebenbe  ©attungen  (Farrea,  Myliusia,  Aphrocallistes) 
an;  eine  Korallen  5lrt  au8  ber  meinen  Äreibc  (Caryopbyllia 
cylindrica  Reusa)  mürbe  neiterbingS  auch  bei  ©uba  unb  $)crtugal 
au8  Siefen  ren  6000  ftufj  fyernorgcfydt.  Unter  bett  ©eelilicn 
fyiben  bie  neueren  Sieffeeforfcfyungen  tterfdjiebene,  bi8  baljin  un* 
befannte  ©attungen  an8  SageSlidft  gebrad’t,  welche  mit  fddien 
ber  Äreibe3eit  bie  nadpfte  SSerwanbtfdiaft  befi^ett.  fDMjrere  @ee* 
fterne  (an8  ben  ©attungen  Astropecten  unb  Astrogonium)  laften 
fid)  am  beften  mit  ben  in  ber  weilen  Äteibe  ren  ©uffer  ror« 
femmenben  formen  nergleidjen ; unter  ben  Seeigeln  gehört  eine 
neue  £ieffee»art  einer  für  crlofdjen  geglaubten  Äreibc=@attung 
(Salenia)  an  unb  anbere  (Echinothuria  unb  Pourtalesia)  tragen 
ein  auffaHenb  allettljfunlidM  ©epräge.  aud)  unter  ben  5öid* 
luSTen  reiben  fid)  uerfdjicbene  arten  ben  mit  einem  gewiften 
fRedft  alä  „lebenbe  Sßetftcinetungen“  be3eidjneten  formen  an. 

©8  finb  jebed)  nid)t  allein  biefe  Sfyatfadien,  welche  un6  an 
eine  ©ontinuität  bet  Äreibe  mit  bet  ©egenwart  glauben  laften. 
aud)  bie  3?obenbefdjaffenl)eit  ber  Oceane  mad)t  eine  foldje  über» 

3*  («») 


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36 


auö  roaljrjdjeitilid?.  ©cfcrcanfungen  in  bet  Skrtheilung  pon 
SEßaffer  unb  gaub,  .pebungen  unb  ©enfungen  auSgebehnter 
ganbftriche,  Sluffteigen  pon  ©ebirgSjügen  finb  bem  ©eologen 
geläufige  SBegriffe;  aber  wenn  burd)  eitt  Bujammenwirfen  per» 
fdtiebenartiger  Äräfte  hin  unb  wieber  ©ebirge  non  15—20000 
$uß  .pehe  emporfteigeit  fonnten,  fo  geigt  unS  bie  genauere  litt* 
terfudjung,  baß  biefe  ©reigniffe  nur  burd)  bie  getpaltigfteu  2(n* 
ftrengungen  unb  ftetö  nur  im  Verlaufe  pßn  pielen  3al)rtanjcnben 
erfolgten. 

SBaS  finb  aber  biefe  burd)  enblofeS  {Rütteln , in  oielen  2lb* 
faßen  empor  getriebenen  ©ebirge  im  Söergleid>  31t  ben  Slbgritnben 
ber  Dceaue  mit  ihrer  riefigeu  SütSbehuung?  @6  ift  faurn  nod) 
jweifell)aft,  baß  bie  geologifd)en  ©reigniffe  ber  lebten  ©rb* 
perioben  feilte  funbamentale  2>eränberuttg  in  ben  Oberflächen* 
S3erhältniffen  h^orcufen  fonnten,  fonbern  baß  alle  Oielief* 
fd)wanfungett  auf  bie  ©ontinente  unb  bie  augrenjeuben  feierte« 
OJleereSregi onen  befeßränft  blieben,  ©ine  Umroanölung  beS  im 
SOiittel  ca.  10,000  ^uß  tiefen  atlantifdjen  ober  ftillen  OceanS 
in  'geftlanb  hätte  llmwälgungen  auf  ber  ©rbe  heroortufen  muffen, 
wofür  uuS  abfolut  feine  Beugniffe  porliegen;  fie  würbe  .Kräfte 
porauSfeßeti,  pon  benen  wir  uns  feine  Slorftetlung  gu  madjett  im 
©taube  finb. 

9iid)tS  nöthigt  unS  jur  21nnal)nte  fo  fuubameutaler  Umge* 
ftaltungen,  wohl  aber  fpridjt  außer  ben  genannten  ©rüttben 
noch  SRancßeS  bafür,  baß  bie  jeßige  Siertheilung  pon  Söaffer 
unb  2anb  ber  ^auptfadje  nad>  fdjon  feit  einer  {Reihe  pon  ©rb* 
perioben  befteßt.  Unter  biefer  SJorauSfeßung  bürfett  wir  aber 
ben  £ieffeefd)lamm  mit  3ted)t  baS  23anb  nennen,  weldjeS  bie 
3eßtjeit  unmittelbar  mit  ber  Äreibepericbe  perfnüpft. 

Sie  ©eologen  perwerfen  gegenwärtig  faft  ol)ne  SluSnaßme 

(438) 


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37 


bie  j£)t?pct^c[e  »on  pericbifd)  wieberfehrenben,  allgemeinen  6rb» 
recolutioneu.  25ie  neuere  Raturerfdjeinung  fe^t  an  bie  Stelle 
»on  gewaltfamen  Resolutionen  allmälige  ©»olution,  b.  Ij.  lang* 
fame,  ftetig  fortfdjreitenbe  Grntwicflung.  Unter  ben  ©rünbeu, 
welche  jur  enbgültigeu  23efeitigung  bet  ehemals  fo  beliebten 
.ftataftrophentheorie  führte,  war  ber  Rad)Wei8  be8  unmittelbaren 
3ufammenfyang§  ber  orgattifchen  Stopfung  »on  jwei  auf  ein» 
anbet  folgenben  ©rbperioben  mit  am  entfcheibenbften.  Run 
aber  bietet  un8  ber  Sieffeefchlamm  noch  weit  mehr:  nämlich  bie 
Kontinuität  mit  ben  Ablagerungen  einet  weit  $urücflicgenben, 
»erhältnifjmäfcig  alten  Krbperiobe:  ber  Äreibeformation. 

68  ^aben  unö  bie  Betrachtungen  über  bie  Kntftetjung  ber 
treibe  jiemlidj  weit  »on  unferem  eigentlichen  ©egenftanbe  ab* 
geführt;  wir  haben  einen  Blicf  geworfen  in  bie  Siefen  be8 
JDceanä  uub  auf  bie  bafelbft  »orfommenben  Sebewefen,  wir  haben 
ben  geologifdj  fo  wichtigen  Sieffeef^lamm  fennen  gelernt  unb  waren 
fchliefelich  genötigt,  unfere  Aufmcrffamfeit  ben  Hebungen  unb 
©enfungen  be8  Boben8,  ber  Kntftehung  ber  Kontinente  unb 
Rleere  jujuwenben.  68  bleibt  mir  jetjt  nur  noch  übrig,  wenig» 
ftenö  anbeutung8weife  bet  Begehungen  ju  gebenfeu,  welche  ben 
Sieffeefchlamm  unb  bie  Ärcibe  mit  ben  gewöhnlichen  Äalffteinen 
»erfnüpfen.  £Dafj  bie  meiften  ilalffteine  meerijchen  UrfprungS, 
bei  weldjen  wir  au8  oerfchiebenen  ©rünben  eine  Kntftehung  in 
anfehnlicher  Siefe  »orau8fcf}en  müffen,  erfüllt  finb  »ou  Seramini* 
fereu  ©ehäufen  »erfchiebener  ©attungen  (je  nad)  bem  Alter 
unb  Borfemmen  be8  betreffenben  ®eftein8),  ift  längft  betannt. 
greilid)  ift  ber  KrhaltungSjuftanb  biefer  ©eljäufe  feiten  fo 
günftig,  um  eine  Sfolirung  unb  genaue  mifrofcopifche  Unter» 
fuchung  gu  geftatten ; in  ber  Regel  finb  fie  mit  bem  Reben* 
geftein  innig  »erwachten,  djemifch  »ercinbert,  häufig  fogar  bi8 


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38 


jnr  Unfenntlidjfeit  jerftcrt.  9hm  hat  aber  neuetbingS  nament« 
lid)  ©Am bei  auch  bic  Äernfteindhen  faft  allenthalben  in  bet 
©runbmaffe  ber  .talffteine  nadjgewiefen.  @o  haben  n>ir  benn 
auch  hier  bie  ct)arafteriftiid)ett  ©lemente  be8  SieffeefdhlammS  unb 
ber  treibe  unb  bieS  berechtigt  unS  ju  bem  ©^luft,  fämmtlichc 
berartige  Äalffteine  als  erhärteten  unb  chemisch  mehr  ober  weni« 
get  ueränberten  Sieffeefdhlamm  311  betrachten. 

Somit  gewinnen  bie  Organismen  beS  93here8grunbeS, 
welche  wir  Ijeute  fennen  gelernt  haben,  ein  heroorragenbeS  Stater« 
effe,  benn  ein  anfetjulidjer  Shell  ber  feften  ©tboberflädhe  ijt 
baS  $)robu!t  ihrer  Sljätigfeit. 

28ir  finfcen  alfo  aud)  in  biefem  fratle,  wie  faft  überall  in 
ber  ©eologie,  grefje  Sßirfungen  aus  Keinen  Urfachcn  herrorgeben. 
3n  ber  SSl^at , nicht  bie  Vulfane  mit  ihren  finneblenbenben  Grr» 
fdjeinungen,  nicht  bie  ©rbbeben  mit  ihren  fürchterlichen,  aber 
meift  auf  Keine  ©ebietc  bejehränfteu  Verheerungen  tragen  311t 
llmgeftaltung  ber  Grbeberflädjc  baS  meiftc  bei;  weit  erfolgreicher 
ift  bie  unabläffige,  serftcrenbc  unb  aufbauenbe  Arbeit  beö  SBat« 
fer8  unb  neben  bcin  SBaffer  bie  ftille,  unbeachtete  Sh“tigfett  ber 
mierofeopiidben  Äreibe  unb  ??el$bilbner  in  ber  Siefe  beS  DceanS. 
„Ex  minimis  maxima“  tönt  e8  bem  Setfcijer  allenthalben  ent« 
gegen,  wo  er  bag  ©etriebe  in  ber  SBerfftätte  ber  9tatur  belaufet- 


Stutf  »cn  Q*  * b r.  Una»t  (S 6.  ®rimm)  in  Scrlin,  ®4cne6ni|,rftrn6«  17». 


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in  heit  fflanhelungcit  her  tlru?eU. 


3Jon 

{gbuorb  ©fettbriiggeti. 


Berlin  SW.  1376. 

23  erlag  uon  Carl  £>abel. 

(t.  (S.  l'abiriti'sdit  rttlajsbadjljaiiblMä.) 

33.  ©ilbrim  >®tttSe  33. 


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2>a$  JRci't  bet  lUbcrfcfung  in  frembe  (Strafen  irirb  mbcfmltcn. 


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•Kein  2anb  non  mdfsiger  2lugbehnung  ift  fr  fehr  wie  bie  ©chweig 
bag  Sattb  bet  ÜJtannigfaltigfeit  unb  ber  ©egenfähe  jmb  fte  wirb 
eg  bleiben  in  ihren  flimatifchen  unb  Sobenoerhältniffen,  in  ihrem 
©emifd)  non  2?ölFerinbit?ibuaIitäten,  in  ihren  politifdjen  unb 
focialen  Suftänben.  Clber  in  ben  lederen  ift  ein  bebeutenber 
©ntwidflunggprosefs  augenfällig;  bie©egenfäf3e  werben abgefchwädjt, 
nerfchieben  fich,  Beitftrbmungen  madjen  fid?  geltenb,  welche  bem 
2?ilbe  eine  anbere  Vertheilung  non  Sicht  unb  ©chatten  bringen. 

füiein  Vortrag  feil  bie  9teu$eit  gum  ©egenftanb  h<fren,  «her 
eine  rafche  -fRücffthau  in  bie  Vergangenheit  ber  fdjweigerifchen 
©ibgenoffenfdjaft  mag  bie  33ahn  offnen. 

©aga,  bie  9>oefie,  gaubert  ung  bag  erfte  33ilb.  Sir  fehen 
bie  Vtänner  non  ©djwnj,  Uri  unb  Unterwalben  beim  SDtonb» 
regenbogen  auf  bem  JRütli,  fie  reichen  fich  bie  £änbe  — „Sir 
finb  ein  Volf  unb  einig  wollen  wir  hanbeln"  — fte  fchwören 
in  nächtlidjer  Sanbggemeinbe  ben  Vunbegeib: 

„Sir  wollen  fein  ein  einzig  Voll  non  Stöbern, 

3n  feiner  9toth  ung  trennen  unb  ©efahr." 

JDie  brei  Sanbet  hatten  halb  ©elegenheit  ben  ©cbwur  gu  bewahren 
unb  bie  Streue  an  bem  fdjen  1291  besegelten  „erften,  ewigen 
SSunb."  ^ergog  Seopolb  non  ©efterreich  30g  1315  mit  großer 
£eeregmacht  hetan,  um  bie  ©chwnjer,  welche  fid)  bem  ©eberfam 

XI.  25!.  1*  (463) 


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unb  ben  ©teuer«  entgegen,  ju  jüdjtigen  unb  ju  unterjochen. 
35ie  ©d)lad)t  am  Vergärten  mar  bie  Sluttaufe  ber  jungen  Gib« 
genoffenfd)aft.  25ie  angeblich  nur  au8  600  ©djtDpgern,  400 
Urnern  unb  300  llnterwalbnern  befte^enbe  ÄriegSmadbt  fiegte  über 
ein  grofjeS  frieg8ge»obnte8  «£>eer.  3u  bemfelben  Sa^re  erneuerten 
bie  üanbleute  unb  Gibgenoffen  Den  ©d)»93,  Uri  unb  Unter» 
»alben  il)ten  Sunb  in  Srunnen. 

3»  3a^re  1332  trat  Sujern  in  ein  ©djufj«  unb  üru§» 
bünbnifj  mit  ben  brei  Söalbftätten  unb  jejjt  fonnte  ber  gre§e 
Dielbudjtige  ©ee  ben  Flamen  Sierwalbftätterfee  erhalten,  aber 
üblid}  »urbe  biejer  9Jame  erft  im  fiebge^nten  3a^unbert.  1351 
ging  3ürid)  in  ein  Sünbnifj  mit  ben  Sierwalbftätten,  1352  fam 
3ug  ju  ben  fünf  Drten,  bie  fid}  burdj  ben  Seitritt  t>on  ®laru8 
(1352)  unb  Sern  (1353)  jum  Sunbe  ber  nadjt  alten  Drte"  er« 
»eiterten. 

Jpier  ift  bie  Stage  am  ^JMatje,  cb  e8  jefct  fd)on  üblich  »ar, 
biefe  Gibgenoffen  ©d)»eijer  ju  nennen  unb  il)t  ®ebiet  <Sd)»eij? 
SDarauf  giebt  eiue  neue  Unterfudjung  jUDerläffige  Slnttoort. 1 ) 

2)urd)  bie  ©cblad}t  Don  Vorgarten  »urbe  ber  9lame  ber 
©dbwnjet  in  weitern  Greifen  befannt  unb  man  begann  mit  bem» 
felben  nid)t  nur  fie  allein,  fenbern  aud)  il)te  Gibgenoffen  Don 
Uri  unb  llnterwalben,  unb  mit  bem  Flamen  3dj»t)J  ober  ©c^weq 
aud)  bie  brei  Üätibet  überhaupt  311  be^ei^nen.  Si8  3ut  ÜRitte 
beß  tierjeljnten  3abrbunbertß  gebraudien  3(nnalen  unb  G^ronifen 
bie  tarnen  ©c^wnjer  unb  ©cb»D3  in  bem  hoppelten,  bloft  lofaleu 
ober  aber  auf  bie  brei  üänber  inßgefammt  begüglid^en  Sinne; 
ber  IJanbeßname  ©d)»ei3  fomrnt  boeb  aber  feltener  not  al8  ber« 
jenige  be8  Solfe8.  Grft  nach  ber  ÜJlitte  bc8  Diergebnten  3#’ 
bunbertS,  nad)  bem  Gintritte  dou  i*u3crn  unb  3ürid)  in  ben 
Sunb,  gab  ber  b»rau8  entftanbene  Ärieg  bet  erweiterten  Gib* 
genoffeufebaft  mit  Deftcrreid)  (1351—1355)  Seranlaffung,  bie 
(««<) 


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5 

|5mmt(ict)en  ©ibgenoffen,  aud)  bie  3ürid)er,  mit  bcm  tarnen 
„Schweiger"  gu  begeidjnen.  Unb  gwarthutbieSguerft  eine  cfterreid)if<he 
IDueQe 2),  währenb  bie  übrigen  öfterreichifchen  unb  alle  fchwäbifchen 
unb  einheimifchen  ©chriftfteHcr  noch  immer  3üricher  unb  Schweiget 
(„IHibgenoffen")  non  einanber  unterfcheiben.  SDreifdg  Sa^re  {pater 
machte  bann  ber  ©empadjerfrieg  biefen  weitern  ©ebraud)  beS 
9iamenS  ©chweiget  allgemein  üblich  unb  bie  ©reigniffe  beS  fünf» 
jeljnten  3afyrt)unbett3  bekräftigten  ihn.  33on  1386  an  nennen 
bie  öfterreichifchen  Annalen  alle  ©egner  DefterreichS  im  SBereidje 
ber  ©ibgenoffenfdiaft  einfad^  ©witeufeS;  allmälig  begannen 
bie  ©ibgenoffen  jelbft  fic^  {o  gu  h«i§en. 

£)ie  ©djlacht  bei  ©empach  1386  war  eine  neue  23luttaufe 
ber  gwar  oergrefjerten,  aber  noch  lange  nicht  baS  jefjige  ©ebiet 
umfaffenben  Schweig.  Stuf  öfterreidjifdjer  ©eite  fielen  bie  ©<f)ult* 
Reifee  een  Slarau,  3oftngen  unb  anbern  ©täbten  beö  SJlargaueS, 
wie  auch  Bürger  een  ©chaffhaufen,  unb  ned)  oft  l)aben  fich  bie 
Schweiger  weit  entfernt  een  bem  Söaljlfprud?  „ein  einzig  23olf 
een  Sßrübetn  gu  fein,"  in  blutigen  Kämpfen  auf  bem  heimatlichen 
33oben  unb  als  ©ölbner  in  fremben  Jpeeren,  wo  fid)  nicht  feiten 
Schweiger  \mb  felbfhRantonSgenoffen  feinblich  gegenüber  ftanben.3) 

3n  ben  Sruberfriegen  ber  Schweiger  mit  Schweigern  auf 
©djweigerbeben  waren  bie  politifdjen  fölottee  peteugirt  burd>  ben 
ccnfeffienellen  ©egeufaf}  unb  ber  (entere  fegar  überwiegenb.  25aS 
geigte  fid)  nicht  nur  im  SRefermatieuSgeitalter,  fenbern  aud)  nad)= 
her,  als  bie  fird)licbe  Trennung  ihren  93erlauf  genommen  hatte. 
3d)  erinnere  nur  aus  ber  erften  3eit  ber  Trennung  an  bie 
©chfacht  bei  .Rappel  (1531),  in  welcher  3wing(i,  als  gelbprebiger 
mit  bem  SBanner  »on  3ürich  auSgegogen,  fdjon  töbtlid)  oerwunbet 
war,  alS  ein  llnterwalbener  ihn  mit  ber  Jpellebarbe  burdiftiefj, 
worauf  fanatifirte  ©olbaten  in  roher  SLUtth  ben  Beichnam 
oiertheilten  unb  bann  als  ben  beS  „©rgfefjerS"  oerbrannten. 

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£)er  leßte  Äampf  biejer  '.Jlrt  — hoffentlich  bet  allerlefjte  für 
bie  Sdjmeig  — mar  ber  Sonberbunböfrieg  1847,  nid)t  jo  blutig 
3ma't  als  politijd)«fird)lid)e  itämpfe  früherer  3eit,  aber  „Cyiieu 
u«D  SMut"  mußte  bod)  bie  rafdje  l^utfcheibuuß  briugeu,  uad) 
meldier  bie  Sd)mei3  1848  iu  ein  neueö  3«talter  eintrat.  iluö 
bem  Staatenbunbe  mürbe  ein  33unbe8ftaat  unb  an  bie  Stelle 
ber  bemeglidjen  manbernben  £agfa$uugen  trat  33ern  alö  fefter 
ISunbeöfitj.  iMbgejeljeu  ooit  ben  Dtebefämpfeu  unb  3eituugd= 
bebatten  001130g  fid)  bie  ©rünbiutg  bed  neuen  iSuubed  rutyig  alö 
iHuebrucf  beö  tBolförnillend,  im  iÜergteid)  mit  35eutjd)lanb  uitb 
granfteid)  mar  baö  3al)r  1848  für  bie  Sdjmefj  ein  frieblidjeö 
3aljr;  ber  Sonberbunböfrieg  fyattc  bie  Sieaftion  rje^en  ben  gcrt= 
j erlitt  ^mar  nid)t  beseitigt,  aber  bod)  für  jetjt  otjmudditig  gemacht 
unb  bie  SJtänner,  metdje  berufeu  unb  befähigt  maren,  baö  neue 
SBerf  3U  geftalten  unb  inö  Üeben  311  führen,  bem*il)rieu  fid)  alö 
praftiidje  Staatömeije.  2fuf  bem  repnbltfanijd)en  töobeu  mürbe 
aud)  niemanb  oerfolgt,  ber  eö  maßte,  über  bie  9?cufd)öpfuug  eine 
abmeidjenbe  93leinuug  31t  Ijabeit  unb  31t  äußern,  barin  fal)  mau 
nod)  feinen  Uaubeöoerratlj  unb  aud)  feine  öefatjr. 

Um  bie  Stimmung  3U  djarafterifiren,  meldje  bamalö  iu  ber 
Sd)mei3  l)errjd)le,  fül)ve  id)  311'ei  Stimmen  auö  oerjdjiebeueu 
©egeubeu  beö  üanbed  an. 

diu  jeljr  auöge3ei<f)neter  glaruer  Surift,  ißlumer4)  äufjertc: 
„dö  mar  eine  fd)öue  3«it,  iu  melier  ber  neue  33uub  31t  Staube 
fam:  bie  gau3e  Schmeiß  burd;mel)te  ein  befounener,  »erftäubiger 
deift,  ber  bie  großen  gcrtjd)ritte,  meldje  ber  dntmurf  barbot,  311 
mürbigen  mufete  unb  fid)  an  baö  praftijd)  drreid)bare  l)ieltf  au» 
ftatt  t)ot)ten  24)eorieu  nad)3ujageu  ober  fid)  ängftlid)  au  fantonale 
3nterefjen  auguflammeru."  SBeuit  l)ier  mit  bem  Ülnöbrucf  „bie 
gau3e  Sd)mei3"  budjjtäblid)  31t  oiel  gejagt  ift,  jo  mar  bod)  baö 

(466J 


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7 


Urteil  im  großen  ©anjen  richtig,  bie  ©d;weig  freute  fid)  einer 
©rrungenfctjaft. 

©ans  fluberb  tonte  eb  freilich  aub  Uri.  Sükun  man  bie 
Frage  ftellt,  rreldje  ©djriftfteUer  Uri  tyale,  fo  erhält  man  sur 
Stottmert:  Puffer  unb  nodjmalb  Suffer  unb  wieberum  Puffer. 
SDiefer  eine  Sftann  l)at  in  bet  9teu$eit  bie  Urania  literata  ge* 
bitbet.  Gr  fannte  fein  Saub  unb  beffen  Seute  unb  für  bie 
$opograpl)ie  feiner  bergumfchlungeneu  Heimat  ift  er  eine  311* 
oerläffige  Autorität  geworben,  aber  alb  bpiftorifcr  unb  alb  iDrafel 
ber  geidjicfytlidjen  Gntwicflung  beb  Saubeb  ift  er  in  feiner  politifd;* 
fircfjlidjen  Ginfeitigfeit  ein  abjdjrccfcnbeb  33eifpiel  su  nennen. 
SDab  seigt  fein  Ijiuterlaffeneö  Jpauvtwerf.5)  „Unter  beu  gang 
fatbolifdjen  ©tänben  Sägern,  Uri,  ©djwtyg,  Unterwalben,  3ug, 
Freiburg  uub  SSallib  entftanb  jcueb  fatljolifdje  ©djufjbünbnifj, 
bab  bie  Dtabifaleu  fpcttweife  ©onberbnub  fyiefjen.  Gb  war  blcf) 
eine  geredete  Üftothweljr  gegen  Ungeredjtigfeiten  unb  23unbeboer* 
lefcungen,  welche  bie  Slabifalen  feit  Saljren  übten."  33on  biefem 
©tanbpunfte  aub  nennt  Suff  et  nur  biejeniejeu  „wal)re  Gibgenoffen", 
welche  an  bem  burd)  ben  wiener  Gongrefj  1815  gefdjaffenen 
SJunbe  für  alle  3eiteu  feftljalten  wollten,  bie  in  ben  Sagten  1847 
unb  1848  fiegreidjen  ©egner  finb  ihm  bie  Dtabifalen,  bie  Um» 
wütgungbpariei,  bie  gcinbe  ber  religiofen  unb  politifdjen  “greitjeit 
unb  fogar  — Freimaurer.  25iefen  fd;recflic^en  tarnen  oerbienen 
fie  it)nt  fchon  baburd),  bah  fie  bie  „oertannten,  oiel  oerläumbeten 
unb  ba^er  ungeredjt  gerafften  Sefuiten"  aub  ber  ©diweis  be» 
feitigten.  2)iefer  Sluffaffung  ber  ueueit  Süeubung  beb  fdjweigerifthen 
©taatbwefenb  gemäf}  fajjte  benn  auch  Suffer  fein  llrtljeil  über 
bie  Steugeftaltung  in  beu  ©afc  sufammen:  „Jpiemit  war  bie 
Sunbebreoolution  oolleubet  unb  bie  ©djweig  in  eiuen  neuen 
3eitraum  eiirgetreten.  SÖJab  bie  Dieoolutionb^artei  längft  fdjon  . 
angeftrebt,  war  erreidjt:  ber  mit  furzet  Unterbrechung  feit  mehr  alb 

(«7> 


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8 


500  3atyren  glücflicfj  beftanbene,  für  imb  für  erweiterte  Staaten* 
bunb  in  einen  23unbe8ftaat  umgewanbelt,  ber  fowoljl  burd^  er* 
gwungene  SBilbung  als  burd)  bie  funbgewotbenen  ©runbjäfje  ber 
fieghaften,  nun  herrfdjenben  Partei  ben  Äeim  ber  2lufiöfung  jdjon 
in  ftc^  trägt." 

So  jdjrieb  8uffer  im  Saljre  1854,  benn  biefe  3at)l  trägt 
baS  SBorwort  gu  feiner  ©efdjichte.  SßaS  et  als  Äaffanbra  pro* 
phegeite,  ift  nicht  eingetreten:  ber  SüunbeSftaat  ift  nicht  nur  nicht 
gut  Sluflßfung  gefommen,  fonbern  grabe  ua<h  20  Sauren  in  eine 
neue  i^afe  ber  (Stttwidlung  eingetreten. 

3d)  ^abe  jene  beiben  Stimmen  beS  glarner  unb  beS  urnet 
Staatflmanueö  einanber  gegenübergeftellt,  als  Scid^en  ber  3eit 
wie  fie  war,  aber  bie  (Srfaljrung  lehrt,  baf$  berfelbe  ©egenfafc 
in  ähnlicher  SluSprägung  fortbauert,  nur  ift  ein  neuer  Sonber* 
bunbStrieg  nicht  gu  befürchten.  5Bon  jeher  ift  bei  ben  wichtigen 
5lbfdhnitten  in  ber  (Sntwidlung  beS  eibgenöffifd^en  gebenS  bie 
{Religion  in  @efal)t  gewefeu,  aber  bem  jchweigertjchen  33elfe  hoch 
nidjt  abljanben  gefommeu.  SaS  Sterna  ber  {ReligionSgefaht 
wirb  auch  iw  Sufunft,  wo  ftaatliche  unb  fird)tid)e  Sntereffen  ftth 
berühren,  nicht  oerftummeu,  fo  lange  Äirdjenglaube  unb  ^Religion 
als  ibentifch  genommen  werben.  2118  Der  einigen  fahren  23or* 
»erfammlungen  gehalten  würben  gur  Serathung  über  eine  neue 
©unbeSreoifion  unb  auf  tatholifcher  Seite  auch  tt>ieber  üiel  oon 
ber  bamit  oerbuubcneu  OieligionSgefahr  bie  {Rebe  war,  ba  jagte 
eiu  alter  Äatholif  mit  weiten  paaren  im  Poggenburg:  „Prägt 
leine  Sorge  um  bie  Dteligion,  wer  fie  hat,  bem  wirb  fie  gewifi 
nicht  genommen." 

Sie  23unbe8»etfaffung  oon  1848  fefcte  an  bie  Stelle  beS 
StaatenbunbeS  ben  ißuubeSftaat,  ber  aber  bod)  baS  Äleib  beS 
StaatenbunbeS  nod)  behalten  unb  nicht  GrinheitSftaat  fein  follte. 
SaS  war  nun  ein  fchwierigeS  Problem,  in  beffen  fißfung  man 

c«*) 


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9 


ein  ftaatörecf)tlid)e8  jfunftwerf  erwarten  burfte.  £>b  eg  ju  ©tanbe 
fam? 

5Dte  Senbenj  bet  neuen  Bunbegrerfaffnng  würbe  non  bet 
Neoifiongcommiffion  in  ihrem  Berichte  com  26.  Spril  1848  ba= 
hin  angegeben:  „(Sin  göberatiofpftem,  welchegbiebeiben  ©lemente, 
bie  nun  einmal  in  bet  ©djtoeij  norfyanben  finb,  nämlich  bag 
nationale  ober  gemeinfame  unb  bag  fantonale  ober  bejonbere, 
atztet,  weicheg  jebem  biefet  (Elemente  giebt,  mag  ihm  im  3ntereffe 
beg  ©an^en  ober  feiner  Steile  gehört,  weicheg  fie  oerfdjmetat, 
Bereinigt,  weicheg  bie  ©lieber  bem  ©aujen,  bag  kantonale  bem 
Nationalen  unterorbnet,  inbem  fonft  feine  ©ibgenoffenfdjaft 
möglich  wäre,  unb  bie  Kantone  in  ihrer  Beteinjelung  ju  ©runbe 
gelten  müßten : — bag  ift’8,  mag  bie  jetzige  ©djweig  bebarf,  bag 
ift’g,  wag  bie  ©omnüffion  anftrebte  in  bem  ©ntwurf  einer  Bunbeg* 
»erfaffung,  beu  fie  ber  Uagfafjung  oorjulegen  bie  ©hre  f)at;  bag 
ift  ber  ©runbgebanfe  ber  ganzen  Arbeit,  ber  ©djlüffel  $u  allen 
Slrtifeln." 

SMefet  ©dpüffel  fdjieu  nun  and)  gegeben  ju  fein  in  bem 
9lrt.  3 ber  neuen  Bunbegoerfaffung:  „IDie  Äantone  finb  fouoerän, 
foweit  ihre  ©ouoeräuetät  nid)t  burd)  bie  Bunbegoerfaffung  be» 
fc^ränft  ift,  unb  üben  alg  foldje  alle  Ned)te  aug,  welche  nicht  ber 
Bunbeggewalt  übertragen  finb."  ‘Mein  in  2Sal)tl)eit  ift  bieg 
nur  eine  gormel,  welche  fid)  auftöft  in  bie  grage:  Söic  weit  finb 
bie  Äantene  unb  wie  weit  ift  ber  Bunb  fouoerän?  ober:  2Bo  bleibt 
cg  beim  Sitten  unb  wo  tritt  Neueg  ein?  Slugenfcheinlid)  ift  bag 
Bi8l)erige,  bie  jtantonalfouoeränetät  noch  bie  Negel,  weldje  cor* 
auggefe|t  wirb,  bag  Neue,  bie  Bunbegfouueränetät  bie  Sltjgnahme, 
bereu  Borf)anbenfein  ober  Berechtigung  nachgewiefen  werben 
mufe.6)  ®emgemä§  beftimmt  benn  aud)  biefe  Bunbegoerfaffung 
in  ihren  Slrtifeln  über  bie  ©cuoeränetätgredjte  ber  Sljetle  unb 
beg  ©anjen.  £en  jfantonen  werben  ihre  Berfa  jungen  garantirt, 

(4C9) 


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10 


aber  bie  Äautoue  fiub  ocrpflidjtet,  für  iljre  Sietfaffungen  bte  @5e» 
wäfyrleiftung  beö  23unbeö  nad^ufudjeu;  feie  Dledjtögei'cijgebuug 
unb  iKedjtöpflege  ift  beit  Äantonen  gelaffen,  aber  eö  finb  bod) 
gemiffe  i)ied)löfälle  an  ein  23unbeögerid)t  gemiejeu,  uub  ein  foldjeö 
„aber*  feljrt  bann  oft  mieber.  Bür  anbere  ©egeuftaube  ift  baö 
5)led)t  beö  23unbed  oorangeftellt,  3.  23.  „baö  3ollmefen  ift  Sadje 
beö  23unbeö;i  unb  „baö  fPoftroefeu  im  gan3en  Umfange  ber  (rib* 
genoffcufdjaft  mirb  oom23unbe  übernommen,"  aberCrntfdjäbiguugö* 
aniprüdje  ber  jtantone  finb  oorbeltallen  uub  uovmirt.  'du  mehreren 
(Stellen  ift  eine  Seljubarfeit  ber  2krfaffuug  angegeigt  unb  bem 
23uube  anljeimgeftellt,  nütljigeufaUö  burd)  neue  23eftimmungen 
einjugreifeu. 

Sel)r  bcutlid)  gab  biefe  üßerfaffuug  31t  erfettnen,  baß  mit 
il)r  bie  ftaatlidjc  CJntmicflung  ber  Sdfmeig  nid)t  abgejdjloffeu  fein 
feilte,  baff  auf  iljrer  ©ruublage  uub  bei  iljrer  23ermenbuug  ein 
weitem  Bortfc^ritt  beö  ©runbgebaufeuö  fidj  ergebeu  feile.  Sie 
bcmäljrte  fidj  gut  wäljrenb  eines  23icrtcljal)rl)unbertö  unb  cd  toar 
feine  tabelnbc  jbritif  berfelben,  foubern  grabe  eine  'dnerfeuuuug 
beö  Bortfdjrittö,  ben  fie  IjerbeigefiUjrt  fyatte,  baff  man  gegeu  baö 
(änbe  biefeö  3*itraumö  au  einen  »eitern  'duöbau  ber  23er f aff ung 
benfen  muffle  unb  fonnte,  für  ben  jejjt  ein  leljrreidjeö  Hoffnung* 
gebeitbes  23erfud)öftabium  31t  benufcen  mar. 

Um  bie  2enbcit3  ber  neuen  23uubeö»erfaffuug,  bem  gemein» 
{amen  unb  bem  fantonalen  Sntereffe  geredet  311  merbeit,  burd}  bie 
Drgaue  ber  Styätigfeit  ber  23unbefloerfammlung  Ijeroortreten  311 
laffeu,  fant  man  aud)  auf  ein  3tueifammerfi)|tem,  freilidj  in  be* 
beutenber  'dbmeidjung  001t  ber  norbamerifauifdje«  23erfaffung, 
auf  baö  -Jiebeneinauber  beö  9taticnalratl)ö  unb  beö  ©tänberatfyö. 
2i3äl)ienb  in  bem  Slationalratl)  bie  fJlatien  nadj  iljrer  23olfö3atyt 
oertreten  fein  follte  uub  bie  i’lbgcorbneteu  bireft  foon  bem  alö 

(liuljeit  erfdjeinenben  icfyme^erifdjen  23olfe  gemälzt  mürben,  l;atte 

(«0) 


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11 


jeber  Stanb  ober  jtauton  für  fid)  jujet  Stäuberätlje  311  u?at}len 
(bie  jpalbfantone  Cbmalben  unb  'Jtibmalbeu,  l’lppenjell — Slujjer* 
rljobeit  unb  3nnerrl)oben,  Safelftabt  unb  Sajellanb  je  eiueu). 
3luf  biefe  Sieije  fteUte  ber  flcine  Äanton  3ug  gmei  Stanberättye, 
jo  viele  mie  3ürid)  unb  Sern'  mäfyrenb  bie  volföreidiereu .ftantone 
im  9lationalratl)  nad)  ber  Sclfö3at)(  vertreten  waren. 

Sieget  für  bie  Öejd)äftötl)ätigfeit  ber  beibeu  Abteilungen 
ber  Snnbeöverjammluug  mürbe  eö,  bafj  IRationalratl)  itub  Staube« 
ratt)  gejonbert  uerljaubelten,  baff  aber  für  bie  Suubeöbejdjlüjje 
bie  3u[timmung  ber  beibeu  tliätlje  erfotberlid)  mar.  Sab  3mei* 
fammerjnftem  mürbe  jebod)  für  gemifje  Salle  gerabegu  aufgegeben, 
in  beiten  eine  Serjdjnie^ung  ber  beibeu  IRatlje  31t  einer  Sefyörbe 
gwecfmäfjig  gefuubeu  mürbe,  Art.  80  beftimmte:  „Sei  IBaljlen, 
bei  Auöübuug  beö  Seguabigungöredjtö  unb  für  Cf ntfd;eibuu{j  von 
Äompetei^ftreitigfeiteu  vereinigen  fid)  jebod)  beibe  Ulatlje  unter 
ber  Leitung  beö  ^räfibeuten  beö  9latioualratl)e8  3U  eiuer  gemein* 
fdjaftlidjeu  Serljanblung,  jo  taf)  bie  abfolute  9Jtel)rl)eit  ber 
ftimnteuben  jDiitglieber  beißer  Jliatlje  eutfd>eibet."  Saruad)  fiel 
aljo  für  joldje  Sälle  ber  ilnterjdjieb  gmijdjen  beut  Slatioualratl) 
unb  beut  Stäuberatl)  meg;  man  fatiu  aud)  jagen,  bajj  ber  Stäube» 
ratl)  ald  joldjer  geitmeilig  aujljörte. 

3n  uatürlidjer  SBeije  ergab  fid),  baf)  im  Stänberatl),  beu 
man  füglid)  alb  lRad)mud)8  ber  alten  üagja^ung  beö  fdjmeijcrtfdjeu 
Staatenbunbeö  anjeljeu  fonnte,  baö  Eonjervative  Element  über* 
miegenb  geltenb  mürbe,  gegenüber  ber  Sßttjdjrittöbemegung  beö 
■Jtatioualratljeö.  Sv  jel)r  ein  joldjer  Sualiöniuö  im  Serfafjuugö* 
leben  eiueö  Solfeö  beredjtigt  ift,  l)at  man  redjt  oft  bie  SDrgani» 
jation  beö  Stänberatljö  mie  fein  formell  bereebtigtee  Auftreten 
bei  mid)tigen  eibgenöjfijdjen  S^gen  getabelt. 

Alö  baö  3al)r  1872  ^eranrüefte,  mar  ein  neuer  iluöbau  ber 
Snnbeöoerfaffung  oon  ber  liberalen  Partei  in  Au0ftdjt  genommen 

(471) 


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12 


unb  Sorgfältig  »erbereitet,  aber  bie  {Reoifton  fanb  an  bem  Prüfung*» 
tage,  bem  12.  5Rai,  in  ber  nad)  bem  9ERobu8  be$S  3n)eifammer* 
f»ftem8  »orgenommenen  SSbftimmung  nod)  feine  ©nabe:  ber  ©nt» 
murf  ber  neuen  SBetfaffung  mürbe  »etmorfen  »en  einer  55te^rt>eit 
be8  ®d)meizer»olfe8  unb  ber  ©fänbe  (Äantone),  aber  btefe 
9Rei)ri)eit  mar  nic^t  grob  unb  jd)on  1874  fonnte,  mit  einigen 
dRebificationen  unb  ©ouceffionen,  ein  neuer  SHntauf  ju  bemfelben 
3ieie  non  ber  Sortfd)titt8partei  gemagt  merben  unb  et  führte  jum 
©elingcn  am  19.  ’Jlpril  1874. 

{Rad)  ber  SBerroerfung  ber  {Reoifion  im  grübling  1872 
oberten  bie  ffreubenfeuer  auf  ben  ringö  um  ben  SSiet« 

malbftätterfee,  SBötlerfe^üffc  »erfünbeten  bie  SRettung  beö  33ater* 
Ianbeö  unb  ber  {Religion!  3m  Senz  1874  mar  3ubel  im  anbern 
Säger.  93cn  ben  Äanjeln  ber  Ultramontanen  tönte  ein  fdjmerjenS* 
reicher  Kammer  über  bie  ber  Äivdie  angetane  Unbill  itnb  in 
einigen  Sanb8gemeinben  unb  homogenen  {J)refjerganen  mar  bie 
$tauermeiben»@timmung  über  bie  3$ergemalt.igung  ber  fantonalen 
©ouoeränetät  gre{j. 

Selirreid)  ift  eine  23ctrad)tung  ber  i'arteiftellung  bei  ben 
5Re»ifien841nternebmungen  in  benjabren  1848,  1872  unb  1874. 7) 

£en  Äern  ber  Slermerfenben  bilbeten  bei  adelt  brei  ?lb* 
ftimmungen  bie  Urfdbmeijer  oon  Uri,  ©d)m»z  unb  Untermalben. 
®ie  moden  nod)  immer  nidjt  nur  al8  einftige  ffiegtünber  fonbern 
aud)  al8  bauernbe  Saunerträger  ber  fcbmeizerijcben  greibeit  an* 
gefeben  merben  unb  finb  nidjt  311  überzeugen,  bafs  fie  unfrei  ge* 
merben  finb  burd)  gänglidje  llnterroerfung  unter  bie  römifdje 
Jtircbengemalt.  ©0  ift  e8  nicht  immer  gemefen.  ÜDie  ©efcbidjte 
ber  ©djmeiz  bat  Seiten  aufzumeiien,  in  beneu  bie  gutfatbolifdjen 
®d)meizct  bie  ftaatlidje  ©elbftänbigfeit  bed)  nidjt  mollten  »er* 
ftummen  laffen  »er  ben  IDiftaten  ber  römifdjeu  .£>ierard)ie. 

3118  Cie  {ReoifionStage  1872  unb  1874  bevnnfamen,  tönte 

(«?2) 


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13 


am  lauteften  Die  Dppofition  gegen  bie  „confefftoneOen  Strtifel" 
bet  ©ntwürfe,  beim  biefe  Slrtifel  waren  'Eingriffe  auf  SRom.  SDet 
inhaltflfchwere  3lrt.  49  bet  neuen  33erfaffung  Bon  1874  beginnt: 
SDie  ©laubenö»  unb  ©ewiffeuöfreiheit  ift  unBerlefclidh-  Diiemanb 
barf  gur  J^eilna^me  an  einer  5Religion§genoffenfdjaft  ober  an 
einem  teligiöfen  Unterricht  ober  gur  23ornahme  einer  religiösen 
£anblung  gegwungen  ober  »egen  ©laubeuöanfidhten  mit  ©trafen 
irgenb  weiter  Strt  belegt  werben.  — SDie  Ausübung  bürgerlicher 
ober  politischer  {Redete  barf  burdj  feinerlei  SBorft^riften  ober  33e* 
bingungen  fircf>lit^ct  ober  religiöfer  Statut  befd^ränft  »erben  je.  — 
©ehr  beutlid)  ftub  fobann  2lrt.  51  unb  52:  SDer  Drben  bet 
3e Suiten  unb  bie  iljm  affHHrten8)  ©efelljchaften  bürfen  in  feinem 
Steile  bet  @^»eig  Aufnahme  finben  unb  e8  ift  ihren  ©liebem 
jebe  SBirffamfeit  in  Äirche  unb  @djule  unterSagt.  SDiefeö  33er* 
bot  fann  burdh  33unbe8befdhlufj  auch  auf  anbere  geiftlidhe  Drben 
auögebehnt  werben,  bereu  SBirffamfeit  ftaatSgefahrlibh  ift  ober 
ben  ^rieben  ber  Äonfeffionen  ftört.  — SDie  ©rridhtung  neuer  unb 
bie  SBieberherftellung  aufgehobener  Älöfter  ober  religiöfer  Drben 
ift  unguläffig. 

SDie  SSefeitigung  ber  3efuiten  unb  bet  ihrem  Drben  affiliirten 
©efeUfchaften  war  Schon  in  ber  23erfaffung  Bon  1848  au8gefprodhen, 
neu  war  jefct  bie  3Barnung  an  anbere  geiftlidhe  Drben.  SJtan 
hatte  fich  in  ber  ©djweig  fdhon  baran  gewöhnt,  bie  3efuiten 
nidht  mehr  gu  fehen  unb  bie  ©raeuerung  jenes  23erbot8  machte 
im  fdhweigerif^en  33olfe  gar  feinen  ©inbruef,  auch  b<e  Abwehr 
gegen  ©rridhtung  neuer  Älöfter  unb  geiftlidher  Drben  nidht;  aber 
anberS  war  e8  mit  bem  2frt.  53  ber  neuen  SBetfaffung:  „SDie 
geftftetlung  unb  33eurfunbung  be§  ©ioilftanbeS  ift  ©ache  ber 
bürgerlichen  Sehötben.  SDie  33unbe8gefef}gebung  wirb  herüber 
bie  näheren  33eftimmungen  treffen."  SDie  33unbe§gefetjgebung  hat 
nicht  warten  laffen;  als  SBeinadhtSgefdhenf  erfdhien  baS  „SBunbeS* 

(*7J) 


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14 


gefefc  betreffenb  fteftftcllung  unb  2)eurfunbung  beä  GiuilftanbeS 
unb  btc  Gbe"  (uem  24  Gl)riftmenat  1874)  unb  bicfeS  ©efefj  ift 
mit  bem  33eginn  beö  3abre8  1876  in  .ftraft  getreten.  Sarin 
ftcbt  audi:  „©ine  firdjlidje  Srauung8feierlicbfeit  barf  erft  nach 
SBoÜjiebung  bet  gefetjlichen  Stauung  burd)  ben  bürgerlichen 
Sraubeamten  unb  ©orweifung  fceö  baberigen  ^bcfd>etnö  ftatt» 
finben."  Sie  (egaie  Stiftung  ber  ©l)e  liegt  alfe  in  bem  bürger* 
Itdjen  2lct,  bie  Giuilebe  ift  ebligaterifd),  bie  fircblidjc  SrauungS» 
feierlidjfeit  ift  fafultatiu,  ift  eben  eine  fteicrlicbfeit.  Sa  ging 
nun  ein  ©cbmergenßfdjrei  burdi  baö  £anb:  ^eibentbum  unb 
©encubinat  ftatt  bet  <briftlid)en  ©be!  @0  ungefähr  fcnnte  man 
bie  »erfcbiebenen  31eufjerungen  überfein  uitb  ©encubinat  würbe 
tecbnifdje  Sejcidjnung  für  bie  Giuilebe  in  ber  fatbolifd)en  Äangel» 
fpradje  unb  in  ben  ultramoutanen  ^Blattern,  ©egen  biefcn  Gen» 
cubiuat  würbe  mit  einem  ©ifer  beflamirt,  ber  nidjt  grcjjer  hätte 
fein  fcnnen,  wenn  eS  fid)  um  bie  Slufbebung  bc8  Gclibati?  für 
bie  fatbelifcbe  ©eiftlidjfeit  geljanbelt  hätte. 

81m  ftärfften  äußerte  fid?  über  SBefen  unb  93ebeutung  ber 
Giuilebe  ein  bifdjöflidjet  GommiffariuS  in  Sltibwalben  in  einer 
befenbern  33red?üre.  Sarin  fommt  ber  ©afj  cor:  „Ser  ©taat 
Win  eine  ©be  ubne  ©ett,  ebne  {Religion,  ebne  Äird?e,  ohne 
§>riefter,  ebne  ©aframent,  ohne  ©egen.  Söabrbaftig,  wenn  in 
ber  $clle  ba8  heiraten  noch  ber  33raud?  Ware,  fo  müfste  man 
meinen,  man  hätte  eine  Gopie  bauen  abgenemmen."  *Sa8  war 
ftarf,  alö  febon  baß  SBunbeßgefefj  in  Äraft  unb  Slußübung  fid? 
befanb,  aber  id?  b^e  nid?t  gebürt,  baf?  uen  ftaatlicber  ©eite  ba» 
uon  befenbetß  Stetig  genannten  wäre;  ber  ©taat  fühlt  ftd?  nicht 
erfd?üttert  bureb  {Pbtofen,  aud?  Wenn  fie  burd?  eine  i'efaune  auß» 
geftofjen  werben,  fenbern  fa§t  erft  baß  3uwibetbanbeln  gegen 
baß  ade  binbenbe  ©efefc. 

Sie  bifdwflicben  Gommiffatien  finb  Srgane  beß  33ifd?of’ß 

(474) 


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15 


unb  pflegen  fidi  in  feinem  ginn  gu  ciufjern,  aber  oft  in  einer 
Söcife,  mcldje  bem  Sifdjof  felbft  nidit  anftehen  mürbe.  (Sine 
anbere  Jnftruftion  al8  jener  Gfiferer  hatte  um  biefelbe  3«it  bet 
bischöfliche  (Sommiffat  in  Sugern.  @r  erflärte  im  „Satcrlanb" 
eg  fyabe  bie  bifd?cflid)e  Gurie  bic  ©eiftlidsen  beg  .ft'antong  Sugern 
begüglidj  ber  <$tje  bahin  inftruirt:  Sie  feilen  bem  Sklfe  fagen, 
bie  Cficile^e  fei  jefjt  burch  bag  bürgerliche  ©efefc  »crgefdirieben. 
Sebcr,  ber  ftdj  in  3wf»nft  »erehelichen  melle,  müffe  bähet  guerft 
alg  SSürger  biefe  (5l)e  eingeben,  unb  al8  (Sljrift  bürfe  er  fie  ein» 
gehen.  ©ann  aber  fei  er  alg  Gljrift  nach  nerpflidjtet,  bie  6lje 
aud)  nadj  bem  fird)lid;en  ©efeh  auch  fitdilid)  eingugeben,  bamit 
fie  nicht  bieg  »or  bem  Staat,  fenberit  auch  »er  ©ott  eine  recht» 
mafjige  llerbintung  fei.  2öet  tiefer  gerberung  ber  Äirdje  nicht 
entfprcche  unb  in  einem  fe  mefentüchen  $>unft  ihrer  2ehre  nicht 
auf  fie  Ijöte  — mag  natürlich  gang  »on  feinem  freien  SBitlcn 
abljange  — ber  fdjlicjje  fidj  felbft  bamit  au8  ihrer  33erbinbung 
au§.  ©8  feien  begbalb  ade,  bie  nur  bürgerlids  unb  nicht  auch 
firchlid)  h«roten,  alg  Bon  her  Äitdjengemeinfchaft  auggefchloffen 
gu  betrauten  unb  auch  f»  git  behanbeln;  ber  fird>Hdje  2$ctfehr 
mit  ihnen  höre  auf,  unb  bieg  auf  fo  lange,  alg  fie  im  SBiber* 
fprudj  »erharren." 

©iefe  ©rflätung  mar  legifdh  unb  correft  cont  Stanbpunft 
ber  fatboliichen  .Kirche  unb  eg  märe  gu  münfdjen,  bafj  alle  $aare, 
meldje  in  ben  ©heftanb  treten,  nach  ber  Stiftung  ber  ($he  burch 
ben  ©i»ilact  auch  bie  firchliche  ©infegnung  in  Slnfprudf  nehmen 
mürben,  ob  fie  3ur  fatholifchen  ober  gut  proteftantifchen  Äirdje 
gehören;  allein  ©ifferengen  merben  an  ber  ©agegorbnung  fein, 
nicht  nur  im  ©efolge  »on  SJtifdjehen,  fonbern  bei  ber  Spaltung 
ber  römifdsen  Äatholifen  unb  ber  Stltfatholifen,  bei  ber  burch 
bie  fchmeigerifche  Secelferunggftatiftif  nachmeigbaren  gtofjen  3ahl 
ber  Seftirer  im  £anbe,  mie  aug  anber*  Urfachen  unb  bie  Staatg* 

C475) 


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16 


beworben  werben  nod)  oft  gu  etfläten  haben,  baß  eine  ©ioilehe 
eine  rechtmäßige  ©he  fei,  mit  allen  Rechtsfolgen  einet  folchett, 
fpegieQ  unb  namentlich  für  bie  Äinbet. 

Such  ber  reformirten  ©eiftlichfeit  ber  Schweif  würbe  bie 
©inilehe  ein  ©tein  beS  SlnftoßeS,  wenn  fte  auch  nicht  mit  berfelben 
#eftigfeit  bagegen  aufgetreten  ift.  3) et  enangetifche  Äirchenrath 
©raubünbenS  fuchte  in  einem  SluSfchreiben  barguthun,  baß  baS 
33unbe8gefeß  betreffenb  geftftellung  beö  ©ioilftanbeS  unb  bie  ©he 
ben  bürgerlichen  Stet,  bie  (Sicilehe,  in  ber  3«itfolge  gwar  »otan* 
ftelle,  baß  aber  in  bemfelben  ©aße  baS  JPublifum  fogleich  auf 
bie  fircßliche  Trauung  ^ingerrtefeit  werbe,  fo  baß  gut  »oDgültigen 
©h«  t>ie  beiben  gufammengehörtgen  iflfte  erfotbetlich  feien.  @8 
würbe  aber  biefem  gewagten  3nterpretationS*33erfuch  »on  ber 
Regierung  beö  ÄantonS  baS  plaget  »erjagt. 

SDlit  ben  confeffioneDen  2lrtifeln  bet  neuen  SunbeSnerfaffung 
fteßt  im  engen  Bufammenhange  b.er  ©djulartifel,  &rt.  27.  2)er- 
felbe  beftimmt:  „5)ie  Äantone  forgen  für  genügenben  primär* 
untenicht,  welker  auSfdjließlich  unter  ftaatlidjer  Leitung  flehen 
fotl.  25erfelbe  ift  obligatorifch  unb  in  ben  öffentlichen  ©chulen 
unentgeltlich-"  2>iefer  ©aß  mit  feiner  auSfchließlich  ftaatlicben 
Leitung  beS  .^rimarunterrichtS  trägt  bie  ©ignatut  ber  2age8* 
fämpfe.  Sßenn  er  fo  genommen  würbe,  baß  baburdj  alle  Gin* 
mifchung  ber  Pfarrer  in  bie  33olfSfchule  ihrer  ©emeinbe  unter* 
bleiben  Jolle,  fo  wäre  baS  feßr  gu  bebauern.  3»  gar  manchen 
JDorfgemeinben  würbe  eS  fchlimm  mit  bet  ©chule  fteßen,  wenn 
nicht  ein  tüchtiger  Pfarrer,  »ielleicht  ber  eingige  wirtlich  gebilbete 
SRann  ber  ©emeinbe,  bem  ©cbulwefcn  feine  befonbete  gürferge 
gugewenbet  hätte. 

gut  »iele  unb  man  barf  gur  ©hre  ber  Schweig  fagen  bte 
meiften  Kantone  ift  bie  Rlahnung  an  einen  genügenben  primär* 
unterricht  überflüffig,  aber  nicht  für  alle.  SDie  33ilbung8atmo* 

(«7«) 


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17 


fpfyäre  ift  in  ben  Säubern  ber  Schweig  fo  oerfchieben  wie  ba$ 
Ältma  unb  ba  giebt  eS  Setggegenben,  in  benen,  um  ben  ©dju!« 
unterricht  genügenb  ju  machen,  bie  ©dfwierigfeiten  »eit  gtoffet 
finb  a!8  in  ben  ©täbtefantonen.  SBütbe  bott  bet  33unb  »ot» 
fcpteibenb  unb  befetjlenb  bteinfabten,  — sic  volo,  sic  jubeo  — 
fo  muffte,  wenn  er  fidj  biefeS  SRed^t  nähme,  et  auch  als  feine 
Pflicht  erfennen  bie  Hülfe  gut  Söefeitigung  ber  ©djwierigfeiten, 
»eiche  bem  gortfchritt  ber  ©djulbilbung  entgegenftehen.  3enet 
Strt.  27  »eift  ben  Kantonen  gu,  für  genügenben  ©ementat» 
unterricht  gu  forgen  unb  bieS  muffen  auch  bie  Äantone  als  eine 
Haftpflicht  anfeben.  SBenn  fie  biefeS  tfjun,  fo  »erben  auch  bie 
©emeinben  um  fo  eher  baS  Shtige  thun,  als  eS  eine  febt  et» 
treuliche  ©rfcheinung  in  bet  ©chweig  ift,  baff  bie  ©emeinben  ihre 
Äräfte  anftrengen,  um  ihre  ©dfule  gu  heben. 

3Die  Hauptfrage,  »eiche  »ir  an  bie  ffierfaffung  oon  1874 
gu  ftellen  hoben,  geht  auf  baS  SBerljältni§  ber  Äantonal»  unb 
SBunbeSfouberänetät.  ölrt.  3.  lautet  Tmchftäblich  wie  Slrt.  3 bet 
Söerfaffung  oon  1848:  „3)ie  Äantone  finb  fouoerän,  fotteit  ihre 
©ouneränetät  nicht  butdj  bie  23unbeSoerfaffung  befchtänft  ift, 
nnb  üben  als  fol<he  alle  fRedjte  auS,  »eiche  nicht  bet  SJunbeS* 
gewalt  übertragen  finb."  Ölbet  baS  ift,  »ie  ich  fct)on  notbet  an» 
gebeutet  höbe,  eine  mpftifche  gotmel,  welche  auch  «o<b  gebraust 
werben  fann,  wenn  baS  SSetbältnifj  umgefchlagen  ift.  ÜJian  fönnte 
glauben,  bie  gormel  fei  gleichlautenb  »ieberholt,  um  bie  Äantone 
gu  beruhigen.  3«  SBabrbeit  ift  bie  ßonfteHation  eine  gang 
anbere  geworben;  wichtige  unb  »efentliche  SRec^te  bet  ©elbft* 
herrli^feit  ber  Äantone  finb  an  bie  SBunbeSgewalt  übergegangen. 

SBenn  man  in  ber  föiilitärhoheit  cot  öltlem  ein  Äeungeichen 
ber  ©ouoeränetät  fehen  barf,  fo  haben  bie  Äantone  jefct  feinen 
Slnfpruch  auf  biefeS  @ouoeränetätS=!Recht.  SMe  ©efefcgebung 
übet  baS  fchweigerifdje  $mw\en  ift  fortan  Sache  beS  S3unbe8, 

XI.  252.  2 (4H) 


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18 


bie  3Cu8fü^rmtfl  bet  bezüglichen  ©efefce  in  ben  Äantonen  ift  ben 
fantonalen  23ehörben  gelaffen,  unter  Sluffidjt  be8  SBunbeS.  Darin 
ift  benn  nicht  einmal  ber  Schein  einer  fantonalen  Souoeränetät 
geblieben.  5Die  neue  SSerfaffung  will  ©inheü  ber  fdjweijerifdjen 
Slrmee,  ©inheit  in  ber  Organisation,  wie  in  ber  Snftruftion  unb 
in  ber  SluSrüftung  unb  ^Bewaffnung.  Der  ©runbgebanfe  war 
nic^t  neu,  aber  e§  beburfte  reiflicher  Ueberlegung  unb  grobe 
(Schwierigfeiten  waren  31t  überwinben,  um  ihn  als  lebensfähig 
unb  werfthätig  h*n3ufteHen.  Die  ©rfahrungen  ber  Schweis 
währenb  beS  großen  ÄriegeS  ber  beiben  groben  SRacbbarn  mußten 
bie  ©rfenntnib  feftigen,  bab  eine  grünbliche  Reform  beS  eibge* 
ttöffifcljen  SKilitärwefenS  nothwenbig  fei,  um  bie  Unabhängigfeit 
3U  bewahren.  Die  Schwer  fann  nie  aggreffto  fein,  aber  fie  fann 
auch,  wenn  ein  jtrieg  um  ihre  ©rennen  h^tum  auSbricht,  fich 
nicht  einfach  in  ihre  ^Neutralität  hüllen  wollen,  fonbern  fie  mub 
im  ©tanbe  fein,  bie  ^Neutralität  gegen  Uebergtiffe  3U  fd)üben 
unb  baS  fann  fie  nur  burch  eine  3um  raffen  ^anbeln  fähige 
Slrmee.  Unbeftritten  hat  bie  Schweis  in  bem  lebten  groben 
Kriege  ihre  Aufgabe  in  befter  SBeife  gelöft.  ©eben  wir  aber  auch  ben 
hoch  möglichen  galt,  bab  ein  9ta<hbar,  etwa  granfteidj,  bie  Schweis 
angreifen  wollte,  fo  würbe  eS  ihr  swar  nicht  an  33unbeSgenoffen 
fehlen,  fie  mübte  aber  boch  in  bemfelben  9Nabe  ihre  Selbftftäubig» 
feit  bewähren  wie  ein  gröberer  Staat.  Die  Schweis  ift  fein 
Üicljtenfteitt.  So  wenig  granfrei ch  eS  in  einem  folchen  galt  nur 
mit  bem  etwa  suerft  überrumpelten  ©enf  su  thun  hob«ß  würbe, 
fonbern  mit  ber  eibgenöffifchen  Slrmee  in  ihrer  ©efammtheit,  fo 
wenig  fönnte  eS  in  Unterhanblung  treten  mit  einseinen,  in  anberer 
SBesiehung  noch  fouoerän  genannten  Äantonen:  bie  fchweisetifche 
Souoeränetät  ift  bem  31u8lanbec  gegenüber  nur  repräfentirt  burch 
ben  33unb  unb  gefchübt  burch  «Me  friegSfäfjige  2lrmee. 

Die  föberaliftifchen  ©egner  ber  SBunbeSreoifion  fagten,  bie 

(47S) 


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19 


SJiilitärhoheit  fei  ein  unerläßlicher  Beftanttßeil  bei  Souoeränetät, 
biefeö  Slttribut  ben  Kantonen  entgießen,  ßeiße  ißnen  bie 
Souneränetät  entgießen,  fie  »erlören  aüeö  3Jladßt=  unb  Selbft* 
bewußtfein.  diejenigen,  welche  folcße  ©inwenbungen  malten, 
Ratten  als  ^oberaliften  9lecßt  mit  ißrer  feogif,  aber  ba8  ©efammt* 
woßl  bet  Schweig  fcßreibt  eine  anbete  8ogif  cor. 

die  Scßweig  ßat  jeßt  eine  $lrmee,  aber  nicht  ein  Oiec^t- 
die  bejonbern  Siechte  in  ben  Äantonen  ßaben  noch  bebeutenbe 
©eltung  unb  barin  liegt  gortbauer  fantonaler  Souoeränetät. 
@8  gilt  über  bieje  Buntfarbigfeit  ber  Siechte  aud)  jeßt  nodj,  wa8 
bie  ^Sroflamation  bet  fcßweigerifcßen  BunbeSBerfammlung  gur 
iSbftimmung  über  bie  reoibirte  Berfaffung  1872  auSfpracß: 
„Uroß  ber  Siecßt8glei<hßeit  unb  ber  ©leidßßeit  bet  Bürger  »or 
bem  ©efeß,  welche  bie  Berfaffung  Bon  1848  gewäßrleiftet,  ßai 
ber  Scßweiger  in  feinem  Baterlanbe  mebet  gleiches  Siecht,  noch 
ift  er  nor  bem  ©efeße  gleidß.  3n  ber  gleiten  Sadje  muß  ber 
einfache  Bürger,  ber  einßeiraifdße  wie  ber  frembe  ©efcßäftSmann, 
an  jebet  ÄantonSmarfe  wieber  einen  SiedßtSberatßer  fragen,  wa8 
©efeß  unb  Slecßt  im  2anbe  fei."  der  BerfaffungSentwurf  »on 
1872  wollte  bie  ©efeßgebung  über  ba§  gefammte  ©ioilredßt,  mit 
Snbegtiff  be§  BerfaßrenS,  gur  BunbeSfacße  mad)en,  bem  Bunbe 
aud)  bie  Befugniß  einräumen,  feine  ©efeßgebung  auf  ba8  ©traf» 
recht  unb  ben  Strafprozeß  auSgubeßnen;  bie  SiecßtSfprechung  felbft 
»erbleibe  ben  Kantonen,  diefer  ©ntwurf  würbe  aber  nicht  @e* 
fei}  unb  ber  neue  ©ntwurf  ging  wiebet  einen  Stritt  gurücf  unb 
»ergicßtete  auf  bie  3bee  eines  einheitlichen  fchweijerifdjen  SiecßtS; 
er  begnügte  ficß  mit  ber  ©inßeit  in  mehreren  Steilen  beö  SiecßtS, 
wo  ba8  3ntereffe  be8  Berfeßr8  eö  am  bringenbften  forbevte. 
demgemäß  beftimmt  für  jeßt  bie  neue  Berfaffung  im  Slrt.  64, 
baß  bem  Bunbe  bie  ©efeßgebung  gufteße:  über  bie  perfonlicße 
$anblung8fäßigfeit  unb  über  ade  auf  ben  .panbel  unb  SRobiliar» 

2 • (479) 


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20 


»erfei)r  bezüglichen  Stechtßoerhältniffe  (Dbligationenrecht,  mit  3n» 
begriff  beß  Jjpanbelß*  unb  3Bed)ielrechtß),  fo  wie  über  baß  Be« 
treibungßoerfahren  unb  baß  Äonfurßrecht.  Slngefügt  ift  auch,  <»l® 
bet  fünftigen  Bunbeßgejejjgebung  auheimgegeben,  baß  Urheber* 
recht  an  Söerfen  bet  Literatur  unb  Äunft. 

Sin  Sntwurf  eineß  fchweigerifchen  Dbligatiouenrechtß,  mit 
Sinfchluft  beß  ^anbelß*  unb  SBechfeltechtß,  liegt  bereitß  gebrucft 
oor,  ebenfaUß  ein  beut) eher  Sntwnrf  über  Schulbbetreibung  unb 
Äonfurß  unb  ein  ftangöfifcher  ©egenentwurf;  bie  übrigen  wichtigen 
im  Slrt.  64  aufgeführten  Themata  werben  ohne  3weifel  halb  in 
Angriff  genommen  werben.  Sber  bie  batauß  erwachfenbett  ®e* 
fefce  werben  auch  hen  SBunfch,  beffen  Berechtigung  fchon  oft  ge* 
nug  außgefprothen  ift,  nach  einer  gröberen  Sinheitlichung  ber 
fchweigerifchen  Siechte  ftarf  anregen. 

Sin  allgemeineß  fchweigerifcheß  Strafrecht  ift  in  ber  neuen 
Berfaffung  noch  nicht  ftgnalifirt,  aber  allgemein  ift  fefst  nach 
Slrt.  65  bie  Slbfdjaffung  bet  Stobeßftrafe,  mit  Borbehalt  bet  Be* 
ftimmungen  beß  SÖiilitärftrafgefe^eß  für  Äriegßjeüen;  ferner  ftnb  bie 
förderlichen  Strafen  unterfagt,  welche  in  mehreren  Steilen  ber 
Schweig  fo  beliebt  waren,  unb  in  Betracht  fommt  auch,  ba§  nach 
2lrt.  44  fein  Äanton  einen  Äantonßbürger  auß  feinem  ©ebiete  »er* 
bannen  barf,  waß  bißher  oorfam.  SDiefc  neuen  Beftimmungen  muffen 
eine  Steoifton  ber  fantonalen  Strafgefehbücher  heroorrufen,  weil 
babutch  wefentliche  Stücfe  auß  ber  ©Ueberung  ihreß  Strafen« 
fhftemß  heraußgenommeu  finb.  SDa  ift  eß  benn  nun  wohl  auch 
fragwütbig,  ob  bie  Sntftehung  eineß  fchweigerifchen  materiellen 
Strafrechtß  gu  ben  Unmöglichfeiten  gehöre  ober  alß  forcirte 
©leiöhmachetei  berechtigter  Berfchiebenheiten  ein  Uebel  wäre. 

®ie  fleine  Schweig  h«t  eine  größere  B^h*  non  Strafgefefc* 
hüchent  alß  eß  noch  hiß  cot  Bürgern  iu  SDentfchlanb  bet  §aU 
»ar.  SBäte  nun  biefe  Bielheit  wirtlicher  Slußbrucf  Berfchiebeuer 

(«80j 


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21 


SilbungSftufen  ber  Äantcne  unb  folcher  ©igenthümlicbfeiten  ber 
5?eoölferungen,  welche  auf  bie  ©eftaltungen  beS  Strafrechts  ein* 
wirfen  muffen,  fo  mühte  man  ber  JMelheit  auch  für  bie  3ufunft 
{Berechtigung  gugeftehen.  Slber  bie  ©efchichte  bet  fchweigerifdjen 
Strafgefehgebung  in  unfetem  Sahrhunbert  jeigt  unS  bie  Sache 
in  einem  anbern  8iä)t,  fte  geigt  unS,  ba§  bie  fantonalen  Straf* 
gefetjbücher  ebenfo  wie  biejenigen  ber  Uänber  SDeutfdjlanbS  ent* 
ftanben  ftnb  unter  bem  ©influh  ber  Beitftrömungen  ber  heutigen 
StrafrechtSwiffenfchaft,  oon  Beuerbach  an.9)  3)ah,  wenn  biefe 
{Richtung  weiter  oerfolgt  wirb,  gur  ©inheitHchung  beS  Straf» 
rechts  ber  beutfchen  Schweig  hin,  barauS  fein  fchäblicher  SÖMber* 
ftreit  mit  bem  SßolfSrechtSbewuhtfein  entfielen  würbe,  läfjt  fi<h 
wohf  fchon  barauS  abnehmen,  bah  Dbwalben  plö^UcS)  im  3ahte 
1863  aus  einer  ftrafrechtlichen  IßrajriS,  welche  noch  fehr  mittel* 
elterlich  war,  burch  ein  ©efefjbuch  moberner  Haltung  in  bie 
SReugeit  eingetreten  ift,  ohne  bah  feitbem  eine  ©mpörung  beS 
{ßolfSrechtöbewuhtfeinS  bagegen  fich  bemerflich  gemacht  hflt-  5?aS* 
felbe  gilt  oon  ©laruS,  welches  bei  feinem  burch  $)räcifion  unb 
Klarheit  auSgegeichneten  neuen  Strafgefehbudj  fich  beffer  befinbet 
als  bei  ben  aus  alteu  Seiten  überlieferten  unootlftänbigen  unb 
nicht  mehr  geitgemäfjen  Satzungen. 

ÜRan  foll  fich  nur  hüten,  ben  in  richtiger  a3erwenbung  fo 
wichtigen  33egtiff  beS  SBolfSrechtSbewuhtfeinS  gu  einer  Unflarheit 
werbenben  $)hrafe  3U  wachen. 

£iebei  will  ich  nicht  in  SHbrebe  fteUen,  bah  für  ein  fünftigeS 
f^weigerifcheS  Strafgefetj  ererbten  SBorftetlungen,  auf  religiofer 
©runblage  ruhenb,  {Rechnung  getragen  werben  mühte,  auch  wenn 
bie  3tnfchauung  nicht  überall,  ober  nicht  überall  in  gleicher  Stärfe 
fich  ftnbet.  3d)  habe  als  Sßeifpiel  bie  ©otteSläfterung  im  3luge. 

SDie  friminefle  Sehanblung  ber  ©otteSläfterung,  wie  beS 
bßfen  BluchenS  unb  SchwcrenS,  in  früherer  3eit  ruhte  auf  bem 

(«u 


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22 


©lauben,  bafj  ©ott  babutd)  junt  3otn  gereijt,  allerlei  Sanbplagen 
fenbe.  @d}on  ber  Äaifer  Suftinianuö  fagte  in  ber  9to»eUe  77, 
burdj  foldje  Verbrechen  entftänben  JpungerSnoth,  ©rbbeben  unb 
$)eftileng.  2te^nltd^  äußern  fidj  beutfd^e  SReichögefetje  unb  eine 
basier  Vetorbnung  übet  baä  gingen  unb  Schwören  non  1490 
fteQt  als  einen  ©tfahrungöfaij  ^in(  ba§  bet  allmächtige  ©ott 
beS^alb  »iele  heimliche  ©trafen  unb  offenbarlidje  plagen  über 
bie  9Renfd)heit  »erlange,  Ätieg,  Steuerung,  (Sterben,  |>agel,  SReif, 
Mifjwadhö  unb  bergleidjen  Unfälle.  Um  foldje  bie -Allgemeinheit 
treffenbe  Uebel  abguwenben,  erftijien  eö  nothroenbig,  rafdj  mit 
weltlichen  ©trafen  gegen  bie  9ftif[ett)üter  einjufd)reiteu , bereu  e8 
»iele  gab,  benn  bie  ©ercohnheit  be8  gludjenS  unb  Schwörend,  in  ben 
ftärfften  formen,  »at  im  Mittelalter  weit  allgemeiner  als  in  bet 
©egenwart  unb  e8  würbe  aud)  mancher  jftaftfajj  audgeftofcen,  au8 
bem  fic^ eine ©otteSläfterunfl conftruiren lie&.  5Die3ufammengehötig» 
feit  beS  gluchenä  unb  Schwörend  unb  ber  ©ottedläfterung  geigt 
beutlich  eine  fdjwpger  ©inung  »on  1517,  in  welcher  »erboten  finb 
bie  „fchantlichen  böfen  ©dhwüt,  bamit  ©ott  fo  jämmerlich  ge« 
läftert  wirb." 

55afj  man  bei  foldher  Anfchauung  energifch  bagegen  einfdhritt, 
ift  begreiflich,  aber  auffaüen  fann  hoch  bie  Vuntfarbigfeit  ber 
ftrafenben  IReaftion,  »on  ben  ©elbbufjen  bis  gu  ben  ©trafen 
an  Seib  unb  geben. 

3Bie  bei  ber  burd)  Säfterung  eines  Menidjen  entftanbenen 
©h^erlehung  fel)r  oft  ein  SBibertuf  eintreten  muhte  ober  ge« 
ftattet  war,  fo  audh  bei  ber  ©ottedläfterung,  unb  gwar  in  ber 
Äird?e  »or  ber  »erfammelten  ©emeinbe.  3«  einer  fühnenben 
Abbitte  geftaltete  e§  fi<h,  bafj  ber,  welcher  ben  Flamen  ©otteS 
gemifjbraudht  hatte,  nieberfnien  unb  ben  ©rbboben  füffen  muf)te. 
SDiefe  eigenthümlidhe  Sorm,  in  welcher  man  eine  tiefe  SDemüthigung 
fehen  fann,  war  in  bet  Schweig  jeht  gebräuchlich.  9ta<h  einem 

(«83) 


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23 


basier  ©trafgefefc  »on  1637  füllten  biejenigen,  weld)e  baß  erfte 
SJtal,  nad)  gefdjehener  33erwarnung,  mit  unbebautem  Schwören 
unb  glühen  fortgefahren  waten,  fid)  auf  bie  Änie  nieberlaffen, 
ben  Söoben  füffen  unb  ©ütt  um  SBergeiljuug  bitten,  auch  5 
©djiflinge  gut  ©elbftrafe  »erbeffern;  wet  gum  anbern  3)tal  beim 
gludjen  unb  Schwören  »erharre,  bet  füllte  neben  bem  ©tbfall  10 
©djiöinge  gut  23ufje  geben.  3m  ©t.  3mmer*$£l)al  (Äanton 
Söern)  mufete,  wer  ©ott  ober  feine  ^eiligen  gelüftet!  ober  un* 
Wütbig  geflucht  halte,  uad)  erftet  Slufforbetung  bet  Dhtengeugen 
fogleith  niebetfnien,  ein  Äteug  auf  baß  (Stbreid}  machen  unb 
baffelbe  füffen,  that  er  eß  nicht,  fo  würbe  et  um  4 s})funb  ge» 
büfjt. 

SeibeSftrafen  üerfdjiebener  2lrt,  förderliche  3üd)tigung, 
©tellung  inß  .£>alßeifen,  famen  gut  Slnwenbung.  ©inen  bitter« 
#umor  tljut  ein  öfterreichifcheß  2Beißtl)um  funb:  „3tem  welcher 
©ott  leftert,  bet  füll  an  leib  geftraft  werben  unb  bet  Slmtmann 
fott  3me  gwo  aidhen  .£>ofen  anlegen  unb  ain  bürte  Suppe  geben“ 
(baß  ift:  in  ben  ©todf  fpannen  unb  eine  $>rügelfuppe  geben.) 

©ine  feljr  empfiublicpe  unb  gugleidj  befcpimpfenbe  ©träfe 
war  in  bet  ©djweig  für  f eichen  gteeel  baß  Schwemmen.  33er 
fDlenfdj  wutbe  eine  lange  ©ttecfe  an  einem  ©eil  burdj  flieffenbeß 
Söaffer  gegogen.  häufig  ging  eine  2lußfteHung  am  Jpalßeifen 
»otan.  Sine  23efdhreibung  haben  wir  in  bet  SMutgeridhtßorbuung 
non  3«ndj  auß  bem  15  Sahrhunbert:  „Um  füldhen  fdhanblidhen, 
lafterlichen  2ug  unb  gtof)  Uebel  ift  eon  bem  genannten  31. 
nadh  ©nabe  unb  alfe  gerichtet,  baff  et  bem  3tachri<hter  befühlen 
werben,  bet  ihn  in  baß  ^alßeifen  fteHen  unb  gwo  ©tunb  batin 
laffen  ftehen  unb  bemnadh  barauß  nehmen  unb  bei  bem  IRüben 
neben  ein  ©djiff.in  baß  Söaffer  legen  unb  »on  bannen  in  bem 
Söaffer  (bet  öimmat)  biß  Stieberborf  gu  bet  anbern  S3abftube 
an  baß  Üanb  fdhwemmen  :c."  53iefe  ©träfe  beß  ©dhwemmenß 

(48*) 


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24 


ift  auch  tyiufig  in  ber  ©chweig  ben  SBiebertäufern  gu  Stheil  ge* 
worben,  man  hat  fie  aber  aud)  ertränft,  „fie  feilten  in  bem  ge» 
ftraft  werben,  worin  fie  fönbigte«,!  butd)  bie  SBiebertaufe.“ 
StobeSftrafe  war  ba8  Schwemmen  nicht. 

Auf  fdjwere  ©otteSläfterung  ftanb  auch  eine  furchtbare 
©träfe,  welche  ein  33eleg  ift  gu  bem  im  mittelalterlichen  ©träfe 
recht  oft  erfennbaren  ©treben  nach  Symmetrie  unb  $)aralleli8mu8 
in  ber  SBahl  ber  ©trafmittel  unb  gwat  im  Anfchluf!  an  ben 
©ah,  bah  bie  ©träfe  an  bem  ©liebe  genommen  werbe,  welche* 
gefreoelt  hatte,  hier  alfo  an  bet  läfternben  3«nge.  SDarin  war 
aber  noch  Siariation  unb  ©rabation:  ©chlifjen  unb  ©tutjen  ber 
3nnge,  Aufnageln,  Stuöfd^neiben.  Solche  3ungenftrafen  finb 
Wirflichauögefuhrt worben.1  °)  SefonberSfchauerlid}  iftbie^rogebur, 
wie  fie  in  fchweigerifchen  ^ochgetichtöformen  befchrieben  wirb: 
„SDtan  fod  ihn  als  einen  fchanblichen  Uebelthäter  ausführen  an 
bie  gewonliche  {Riehtftatt  neben  bem  ©algen  unb  ihm  allba  fein 
©enicf  auffpalten  unb  fein  gottSlefternbe  3ungen  h'nben  gum 
9tacfen  auSgiehen  unb  au8  bem  ^palö  fchneiben  unb  abhauen 
unb  biefelbe  heften  an  ben  ©algen,  barnad)  fein  .glaubt  abfchlagen 
unb  alfo  oom  geben  gum  Stöbe  richten,  auch  ben  Äopf  nnb  Äörper 
unter  bem  ©algen  cergrabeu,  bamit  ©ott  ber  Allmächtige,  feine 
liebe  ^eilige  unb  bie  heiligen  ©acramente  uon  biefem  SDtenfchen 
nicht  mehr  geunehrt  unb  geleftert  werben." 

gut  bie  neue  ©trafgefefcgebung  ift  bie  früher  gu  fotcher 
Strenge  führenbe  Auffaffung  ber  ©otteSläfterung  als  eines  33er* 
bredjenS  gegen  bie  Werfen  ©otteS,  al8  einer  SBerletjung  bet  gött» 
liehen  baburch  gum  3om  gereigten  SJtajeftät  aufgegeben  unb  in 
mehreren  bet  ©efefcbüdjet  !ommt  ber  9la me  ©otteSläfterung  gar 
nicht  mehr  »or.  2Bie  ber  code  ponal  überging  ba8  baierifche 
©trafgefehbud)  »on  1813  biefeS  bisherige  SDelift  mit  ©tiH» 
fdfweigen ; fo  auch  in  neuefter  3«it  baS  ©trafgefeijbuch  für  3üti<h, 

WM) 


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25 


tflargau  unb  anbete  fchmeijetifche  Kantone.  3n  ben  Veratmungen 
über  bie  Veugeftaltung  be§  beutfc^en  <Strafrec^tö  mürbe  bie  Stn* 
ßeht  taut  „baff  eine  aufgeflärte  ©efeffgebung  fid)  »on  ben  aber* 
gläubifchen  unb  jum  2heil  ftnbtfd)en  VorfteQungen,  melcbe  man 
bei  ber  Veftrafung  bieieS  Verbrechens  in  Verücfpd)tigung  gebraut, 
nicht  beeinflußen  laßen  bürfe."  Stttein  im  $lnfd)luff  an  baS 
hreuffifcffe  Strafgefeffbuch  non  1851  mürbe  ber  §.  166  beS  jefft 
gettenben  beutfchen  ©trafgefeffeS  beliebt:  „Söet  baburch,  baff  er 
öffentlich  in  befdjimpfenben  tSeufferuiyjen  ©ott  läftert,  ein  ^ergerniff 
giebt  — mirb  mit  ©efängniff  bis  3U  brei  3at)ren  beftraft"  unb 
motinirt  mürbe  bie  ^Beibehaltung  beS  SluSbrucfS  unb  VegriffS  bet 
©otteSläfterung  in  biefer  SSeife:  „Süie  unmiberlegbar  eS  auch 
ift,  baff  ©ott  nicht  als  burdj  eine  menfdßidje  ,£>anblung  »erleffbar 
gebacht  merben  fönne  unb  barum  auch  nicht  ber  Sicherung  burd) 
menfchliche  ©trafen,  mie  eine  beleibigte  irbßdje  ßßerfon  bebütfe, 
fo  bleibt  bed)  bie  nid}t  megjuteugnenbe  SJhätfacbe  befteffen,  baff 
jebe  ©otteSläfterung  eine  Verlegung  beS  religiefcn  ©efütßS  Anbeter 
enthält  unb  baff  biefeS  ©efühl  fchon  barum  auf  ben  Schuß  beS 
©efeßeS  Stnfpruch  machen  batf,  um  nicht  bie  Meinung  auffommen 
ju  laßen,  baff  ber  Staat  an  ber  ©rffaltung  beS  religiöfen  @e* 
ffihlS  im  SBolFe  feinen  Sntheil  nehme,  baßelbe  nielmeffr  als  etmaS 
©leichgültiges  betrachte." 

Sehnliche  Slnfcbauungen  fanben  fid?  idjon  in  bet  frühem 
»on  bet  utfprünglichen  Jheorie  abgehenben  SDoftriu11). 

5)a  in  bem  ein  ©omßromiff  enthaltenben  §.  166  beS  beutfcßen 
©trafgefeßbuchS  baS  Äergetniffgeben  jur  jpauptfadje  gemacht  ift, 
fo  fönnten  auch  bie  in  bem  §.  an  einanber  gereihten  §äUc 
als  „©rregung  öffentlichen  2lergernißeS " ftrafredßlich  bebanbelt 
merben , menn  baS  nicht  ein  juriftifd)  feßr  beben! lieber  Äautfcßuf« 
Vegriff  märe  unb  eine  SRubrif  ergäbe,  unter  roelcffe  ficb  fel>r  »er* 


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26 


fdjiebenartige  ©inge  aufammenroutfeln  laffen,  wie  eS  fdjon  ge* 
f drehen  ift. 

@o  wie  bie  ©adje  jefct  liegt,  wirb  bie  ©otteSläfterung  in 
ber  neueften  ©eje^gebung  entweber  negirt  ober  im  ÜBerbältnif) 
gut  alten  Auffaffung  unb  „frifdkn  ©raufamfeit"  feljr  milbe  be* 
banbeit.  ©aS  febt  gute  ©trafgefefcbud)  für  33afel*@tabt  oou 
1872,  welches  im  §.  84  in  ber  Raffung  gauj  mit  jenem  §.  166 
übereiuftimmt,  brobt  nur  ©efängnifj  bis  ju  einem  Sabte,  wie 
an<b  ber  neue  ©ntwurf  ber  öfterreicbijcben  ©trafgefejje  §.  180. 

3n  ber  ©cbweij  finben  wir  in  betreff  bet  ©otteSläfterung 
Strömung  unb  ©egenftrömung.  Sn  einigen  fatbolifcben  Äan» 
tonen  ift  biefelbe  nod)  als  ein  fcbwerer  greoel  bebanbelt.  ßujern 
(1860)  brobt  bem,  bet  »orjäfclicb  unb  mit  23eba<bt  ©ott  laftert 
unb  baburd?  öffentliches  Aergernifj  enegt,  BudjtbauS  bis  auf 
fed)S  Sabre,  Dbwalben  (1863)  Äetten*  ober  Buc^tljauöftrafe  bis 
auf  fedjS  Sabre,  @cbwt)j  (1869)  ©elbftrafe  ober  greibeitSftrafe 
bis  auf  »ier  3abre. 

©ie  Strenge  in  Sujern  unb  ObWalben  rubt  auf  ber  bort 
beftebenben  SBolfSaufidbt  unb  biefe  oerbieut  23erü(ffichtigung  unb 
Schonung.  ©aS  SSolf  bat  nicht  mebt  ben  alten  Abjdjeu,  aber 
bodj  Scheu  uor  bem  SJiifjbraucb  beS  göttlichen  9tamenS  unb  baS 
barf  man  nicht  auSjutilgenben  Aberglauben  nennen. 

Sollte  nun  bie  oetfdbiebene  Auffaffung  ber  ©otteSläfterung 
in  ben  „aufgeflärten"  unb  ben  glaubenseifrigen  Äantonen  ein 
^>inberni§  für  baS  Buftanbetommen  eines  einbeitlicben  fcbweige* 
rifeben  ©trafrecbts  fein?  3cb  glaube  nicht.  3<b  würbe  mich  in 
einer  beratbenbeu  Äommiffion  ganj  auf  ben  ©tanbpunft  oon  §.  166 
beS  beutfchen  ©trafgefefjbucbS  unb  beffen  ÜHotimrung  fteßen,  aber 
für  bie  Aufnahme  ber  ©trafbeftimmung  beS  basier  ©trafge» 
fefceS  »otiren.  3dj  bejweifle,  bafj  eS  in  ©eutfchlanb  feit  1872 
gut  33erbäugung  einer  ©efängnifjftrafe  oon  brei  3abren  für  ©otteS* 

(486) 


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27 


läfterung  gefommen  fei  unb  bie  9)otjanz*®trafe  »on  einer  fe*8» 
jährigen  .Retten*  ober  3u*thau6ftrafe  fteßt  in  Dbwalben  nur  auf 
bem  Rapier. 

2)a8  ffmftige  f*»eizerij*e  <Strafgefe^bu(f>  foH,  ba8  muß  ja 
angeftrebt  »erben , in  »ifjenf*aftH*er  unb  praftif*er  Söe^ie^ung 
auf  ber  £öhe  ber  Seit  fteßen.  25a8  !ann  au*  no*  gefdjeben, 
»enn  bie  ©otteSläfterung  in  ber  angegebenen  SBeife  in  bemfelben 
einen  $>toß  erhält.  3ut  gunbamentiruug  gehört  biefe  «Spezialität 
ni*t,  aber  eben  fo  »enig  ift  fie  unzeitgemäß.  ©aSfelbe  gilt  non 
anbetn  2hemata.  »el«be  in  beu  33erathungen  zur  ©pra*e  fommen 
»erben,  aber  ein  ©«heitern  be8  »ünfchbaren,  im  3uge  ber  f*»eize* 
rifdjen  9le*t0bilbung  liegenben  3Berfc8  ni*t  »eranlaffen  foUen. 
3*  behne  biefe  |>inbeutung  au*  au8  auf  23erf*iebenheiten  ber 
©trafgefeße  bet  franzöfif*eit  »du  benen  bet  beutf*en  ©*»eiz. 
55iefe  33erf*iebenheiten  finb  gar  ni*t  größer  als  bie  2lb»ei*ungen 
ber  beutf*f*»eizerif*en  @trafgefeßbü*er  »on  einanbet  unb  reb* 
li*er  Söitle  zur  33erftänbigung  auf  ber  33afi8  einer  flaren  ©in* 
fi*t  in  bie  ©rünbe  bet  33erf*iebeuheiten,  mit  Unterf*eibung 
be8  3Sefentli*eit  unb  Un»efentli*en,  fönnen  ohne  forcirte  33er» 
f*melzung  zur  Harmonie  führen. 

2)ie  3eit,  »el*e  mein  33ortrag  f*on  in  Slnfpru*  genommen 
hat,  nöthigt  mi*  ben  fo  eben  behanbelten  ©egenftanb,  »ie  wi*» 
tig  i*  alö  Surift  ißn  au*  halte,  ni*t  weiter  3U  oerfolgen.  ©8 
müßen  no*  anbere  SBanbelungen  ber  ©*»eiz  in  bet  Neuzeit, 
bie  mehr  ober  weniger  mit  ber  neuen  23unbe8oerfaffung  in  3u* 
fammenhang  fteßen,  in  bet  Äürze  3«  ®pra*e  fommen. 

drittel  5 ber  neuen  SunbeSoerfaffung  ftimmt  bu*ftäbli* 
überein  mit  bem  glei*zahligen  SSlrtifel  oon  1848.  @8  finbet 
fi*  barin  bie  SJeftimmung,  baß  ber  33unb  ben  .Rantonen  ihre  33er» 
faffungen  gemährleifte.  @8  f*eint  alfo  barin  ni*t8  geänbert  zu 
fein.  SDenno*  finb  bie  Kantone  jeßt  eifrig  babei  ißre  33er* 

(M7) 


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28 


faffungen  gu  änbetn,  um  btefelbcn  mit  ben  eingreifeuben  33e» 
ftimmungen  bcr  neuen  23unbe8üerfaffung  inö  ©leicbgenncbt  gu 
bringen  unb  bie  jfantcne  ftnb  nerpflicbtet , für  itjre  rcnibirten 
IBerfaffungen  bie  ©eroäbrleiftung  beö  33unbe8  nacbgufuchen ! ©§ 
ergibt  fid>  barauö  eine  3irfelbe»egung  unb  bie  Äantone  ftnb 
»cm  SBunbe  gegmungen  ihre  33erfaffungen  gu  änbern. 

Unneränbert  geblieben  ift  bie  ©ruppiruug  ber  Äantone  in 
Otepräfentatiü’J'emefratien,  gemifcbt»repräfentati»e  SDemefratien 
unb  reine  IDemofratien. 

[Reine  JDemefratien  ftnb  fed)8:  bie  Äantcne  Uri  unb  @laru8 
unb  bie  halbfantone  Cbtvalben,  fRibwalbett,  9lppengell=9luf}et» 
rbobett  unb  Slppengell*3nnerrboben.  ftnb  bie  ßanbögemein* 
bensjiantone,  welche  ihre  ©oucerdnelät  iu  bett  SanbSgemeinbeu 
auöüben.  25iefe  finb  alfo  bie  ©rfcbeinungSfcrmen  ber  reinen 
iDemofratie.  ®a  fcnnte  nun  jemanb  glauben,  l)ier  Ijabe  ber 
9fabifali$mu8  in  bet  ©cfjweig  feine  ©tatte;  wenn  er  fid}  aber  eine 
?anb8gemeinbe  in  Uri,  Dbwalben,  fRibmalben,  9lppengeQ*3nner* 
rieben  näher  betrachtet,  fo  finbet  et  im  ©egentbeil  überoiegenb 
einen  conferoatioen  ©eift.  [Riebt  »a8  bie  reinbemofratifdje  33er- 
faffung  bem  feuoeränen  aßclföroitlen  geftattet,  wegguräumen,  auf» 
gubeben,  bis  gum  9tibili8mu8  bin  gu  epperimentiren , ift  Söirf» 
liebfeit , fenbern  bie  ccnftante  Neigung  baö  hergebrachte  gu  er» 
halten,  auch  wenn  eö  nach  bem  3dtbebürfni§  nicht  mehr  halt* 
bar  erfebeint.  2Bir  feben,  ba§  nicht  bie  ftaatlicbe  SSerfaffung  unb 
bereu  ftornt  ben  33clfSgcift  beftimmt,  fonbern  ba§  biefer  anbete 
SSurgeln  unb  äJorauefebungen  bat.  2>ie  SBeeolferung  »on  Uri 
Unterwalben  unb  Snnerrbeben  ift  im  ©angen  ber  Sllpenwirtb* 
fchaft  ergeben  unb  ©tbiHet  läßt  in  feinem  richtigen  ÜOerftänbnift 
ber  ©cbweig  ben  5Reld)tbal  fagen: 

„$enn  fo  wie  il;re  Sllpcn  fort  unb  fort 
Riefelten  Äräuter  nähren,  ihre  SBrunnen 

(488) 


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29 


©teigförmig  fließen,  AJolfen  felfcft  unb  SBtnbe 
2)tn  gleichen  Strich  unmanbelbar  befolgen, 

©o  hat  bie  alte  ©itte  ^ier  »om  Ahn 
3um  @nfel  unreränbert  fortbeftanben. 

Stiebt  tragen  fte  »erwegne  Steuerung 
3m  altgewohnten  gleiten  ©ang  be8  ?eben8*. 

Söeiter  fommt  barm  feljt  in  Setradjt , baff  bie  SeBölfetung 
biefet  Kantone  fatholifd)  ift  unb  ber  Leitung  ber  ©eiftlidjfeit 
feljr  fügfam.  ©ie  ©eiftlichfeit  hat  int  fftinge  ber  ganbSgemein* 
ben  einen  ©hrenplaf}  unb  Berfäumt  eS  nicht,  in  bie  ^olitif  ftatl 
einjugreifen. 

Sei  biefet  Sachlage  war  e8  benn  nicht  3U  nerwunbetn, 
b afc  in  biefen  ganb8gemeinben*Äantonen  bie  neue  Setfaffung 
non  1874  anberö  angefdjaut  würbe  als  in  ©laruS  unb  Aujjer» 
rijoben,  welche  gröfetentheilS  ben  reformirten  jhiltuS  fyabm  unb 
niel  £anbel  unb  3nbuftrie.  3n  jenen  Äantonen  jammerte  man, 
bafj  burd?  bie  neue  SunbeSoerfaffung  ben  ganbSgemeinben  bie 
2lpt  an  bie  SBurjel  gelegt  fei  unb  fo  mufjte  e8  ihnen  butt  auch 
etjdjeinen,  benn  burdj  bie  Sefdfränfung  bet  fantonalen  (Sonne» 
ränetät  muffte  man  ftdj  bort  befonberS  Ijerabgefe^t  fühlen. 

©ie  alte  £errlichfeit  ber  SanbSgemeinben  fehrt  nicht  wieber; 
fte  h“fon  fortan  faum  mehr  als  „häusliche"  Angelegenheiten  ju 
behanbeln,  werben  aber  barum  bod)  bem  Solle  fehr  werth  bleiben, 
benn  wie  in  einer  gamilie  haben  bie  ©omeftifa  im  ^»auShalt 
ber  fleinen  gänbet  ba8  nach  fte  alle  Sürget  erfaffenbe  Sntereffe. 

©a§  bie  SanbSgemeinbe  als  altes  Äleinob  bem  Söffe 
theuer  bleibt,  hat  ftdj  in  neuefter  Beit  in  bem  gar  nicht  netto* 
graben  AppenjeEMKuhetrhoben  gegeigt,  ©ort  war  in  bem  erften 
(Entwurf  ber  burdf  bie  neue  SunbeSoerfaffung  neranla|ten  fRe» 
nifton  ber  fantonalen  Serfaffung  bet  Sorfchlag  laut  geworben, 
bie  ganbSgemeinbe  eines  ©he^8  t^ret  Äompetengen  gu  entfleiben, 

(48») 


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30 


nemlid)  bie  Slbftimmung  über  ©efefje  unb  wichtige  Sauten  in 
bie  ©emeiuben,  mittelft  geheimer  Stimmabgabe,  gu  »erlegen,  fo 
bafs  ber  orbenttidjen  SanbSgemeinbe  nur  2Sahlgefd)äfte  geblieben 
mären.  „Sermegne  Neuerung"  hätte  man  baS  nicht  nennen 
fönnen,  benn  biefe  SanbSgemeinbe  ift  bie  befudjtefte  »on  allen 
unb  ber  JRaum  auf  bem  freien  $elbe  mufi  grofc  fein;  babei  ftnb 
benn  ©iSfuffionen  faum  ober  garniert  ausführbar.  2)aS  Solf 
befd)ränft  fidj  bähet  auf  bie  Slbftimmuugen,  bie  auch  fdjon  fdjmet 
gu  leiten  finb.  SBenn  ber  Sanbammann  baS  üthetna  für  bie  2l&a 
ftimmung  »on  feiner  Tribüne  aus  genannt  bat,  fo  mirb  eS  »on 
bem  ein  Sprachrohr  »orftellenben  SanbeSmeibel  »crfüubigt,  tote 
auch  bemnädjft  baS  SRefultat  ber  Slbftimmung.  Sei  ber  Söahl 
beS  SanbeSmeibelS  mirb  geprüft,  ob  fein  Organ  ein  Sprachrohr 
entbehrlich  mache. 

2US  ber  genannte  Sorfdjlag  in  Setreff  ber  Äompeteng  unb 
IXhätigfeit  ber  SanbSgemeinben  funb  gemorben  mar,  famen  »on 
allen  Seiten  auS  bem  Seife  6infpra<hen  bagegen,  melche  feh» 
beutlich  gu  erfennen  gaben,  bafc  baS  Solf  SufjerrhobenS  »on  einer 
fo  mefentlichen  Seränberung  nichts  miffen  molle  unb  ba  befchlofc 
benn  auch  ber  SerfaffungSrath  am  24.  Februar  1876  einftimmig, 
bie  SanbSgemeinbe  fernerhin  mit  ber  »ollen  ©efehgebungSfcm» 
petenj  auSgurüften  b.  h-  natürlich,  fc  weit  biefe  Äompeteuj  mit 
ber  SunbeSoerfaffung  »om  SSpril  1874  »ereinbar  ift. 

„©Weiterung  bet  SolfSrechte"  ift  fdjon  lange  bie  Carole 
unb  bie  3ufunftSmufif  im  Saget  beS  fRabifaliSmuS  in  bet  Schmeij 
gemefen.  2Me  Serfaffung  »on  1848  mar  ben  gortfchrittSmännern, 
melche  fid)  ihr  3beal  ber  „reinen"  IDemofratie,  ber  Allmacht  beS 
SolfeS , gebilbet  hatten , ganj  ungenügenb  unb  auch  in  ber  Ser* 
faffung  »on  1874  erblicfen  fie  eine  Serftümmelung  ber  SolfS* 
red)te.  SBenn  fie  nun  bie  $rage  ju  beantmorteu  hatten,  ob 
ihnen  bie  SeraUgemeinerung  ber  SanbSgemeinben , in  benen  hoch 
(**>) 


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31 


(ErfcheinungSformen  bet  reinen  VolfSherrfchaft  gefeljen  werben, 
wünfchenSwerth  fei,  fo  würben  fie  freilich  mit  9tein  antworten, 
nicht  nur,  weil  in  ben  8anb8gemeinben  oon  Uri,  Unterwalben 
unb  Snnetthoben  trübe  Silber  bet  ©emofratie  fitf>  barftedten, 
fonbern  weil  ein  fo  unmittelbarer  SluSbrucf  beS  VolfSwillenS  wie 
in  ben  befteljenben  SanbSgemeinben  in  größeren  Verfammlungen, 
alfo  für  bie  größeren  Kantone  unb  gar  für  baS  gefammte 
©chweigetoolf,  nid)t  möglich  fei;  baS  in  rechtet  SBeife  aufge* 
Härte  unb  richtig  geleitete  Volf  müffe  in  ber  Slbftimmung  gut 
Urne  feinen  SBiüen  funbthun.  8ln  richtiger  Leitung  haben  fie 
eS  benn  auch  nicht  fehlen  laffen,  aber  bie  Urnen  haben  recht 
oft  in  ben  Äantonen  fctjr  bebenflic^e  Siefultate  geliefert,  So 
im  Äanton  $argau  bei  ber  Slbftimmung  über  Vetbeffetung  ber 
©eljalte  bet  VolfSfchullehrer,  wo  baS  Soll,  gegenüber  bem  Vor* 
fdjlage  ber  Regierung,  ^artnäcfig  oerneinte. 

2) er  nicht  gum  ©efefj  aufgerücfte  (Entwurf  einer  Öieoifion 
ber  VunbeSoerfaffung  oom  Saljre  1872  fam  bem  ©rängen  nach 
(Erweiterung  ber  VolfSrecpte  fehr  weit  entgegen , inbem  ber  §lrt.  89 
oorfdjlug:  SBenn  50,000  ftimmberechtigte  Vürget  ober  5 Äantone 
bie  iSbänberung  ober  Aufhebung  eines  beftehenben  VunbeSge» 
fefjeS  ober  eines  SunbeSbefchlufeeS,  ober  über  eine  beftimmte 
SRaterie  bie  (Srlaffung  eines  neuen  VunbeSgefefjeS  ober  VunbeS* 
befdjlufjeS  anbegehten,  unb  biefem  Segefyren  nicht  oertragSrecht» 
liehe  Verpflichtungen  beS  VunbeS  entgegen  flehen,  fo  haben  bie 
beiben  Diäthe,  wenn  fie  bem  Segelten  guftimmen,  ben  ein* 
fchlägigen  neuen  ©efeft*  ober  23efd)lufsoorfcbIag  gu  oereinbaren 
unb  bem  Volfe  gut  Annahme  ober  Verwerfung  oorgulegen. 
Stimmen  nicht  beibe  {Räthe  bem  Vegehten  gu,  fo  ift  baffelbe 
ber  Slbftimmung  beS  VolfeS  gu  unterteilen  unb  wenn  bie  3Ret)r* 
heit  bet  ftimmenben  Vürget  bafür  fich  auSfpricht,  fo  haben  bie 
fRätlfe  einen  entfpredjenben  @efe$*  ober  Vefchlufjoorjchlag  auf* 

(491) 


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32 


guftellen  unb  bem  SBolfe  gut  2lnnafyme  ober  Berwetfung  norgn» 
legen. 

Gine  folt^e  Gtweiterung  bet  Bolfßrecbte  ift  in  bet  jefct  gu 
fRedjt  befteljenben  Berfaffung  non  1874  bebeutenb  tebucirt,  bet 
^ebelbrucf  beß  Bolfßwitlenß  auf  bie  Bunbeßgefefcgebung  ift 
fdjwädjet  nach  21  rt.  89:  „für  Bunbeßgefefje  unb  Bunbeßbeftblüffe 
ift  bte  3uftimmung  beibet  SRätlje  erforberlidj.  Bunbeßgefefce,  fo* 
wie  allgemein  nerbiublidje  Bunbeßbefdjlüffe,  bie  nidljt  dringlicher 
Statut  finb,  fallen  übetbieß  bem  Bolfe  gut  Slnnafyme  obet  Berwet« 
fung  norgelegt  werben , wenn  eß  non  30,000  ftimmbetedjtigteu 
©djweigetbürgern  ober  non  ad&t  Äantonen  netlangt  wirb". 

Gin  fdjwietiget  Gegenftanb,  baß  CRec^t  bet  freien  Stiebet* 
laffung  unb  bie  Stedjte  bet  Stiebergelaffenen  im  Bett)ältnifj  gu 
ben  Stedten  ber  Bürget,  tonnte  in  bem  neuen  Bunbeßgefefc  nicht 
unberührt  bleiben,  aber  bet  befinitinen  ^Regelung  burdj  ein  non 
oben  etlaffeneß,  buvc^greifenfceß,  allgemeine  Geltung  bcanjprucben« 
beö  Gefef}  ftanben  bebeutenbe  ©djwietigfeiten  entgegen.  2)a3 
Gemeinbewefen  in  bet  ©cbweig  ift  fefyt  eigentümlich  unb  batan 
ftatf  gn  rütteln  ift  bebenflidj-  ©taat  unb  Gemeinbe,  bie  ,,ott» 
lit^e  ©elbftoerwaltung",  fyaben  eine  ftcf>  etgängenbe  Arbeit  unb 
bie  fdbweigetifd&en  Gemeinben  haben  biflher  einen  J^eil  bet  2lr« 
beit  im  ftaatlidjen  3ntereffe  gut  außgefü^rt.  2lbet  baß  B erhält« 
ni§  bet  Stiebergelaffenen  gu  ben  Gemeinbebütgern  würbe  immer 
mel)t  gu  einet  brennenben  gtage.  Gß  mu|te  babei  bie  £batfa<be 
feljr  in  bie  2lugen  fallen,  bafj  in  mannen  Gemeinben  bie  3a^l 
bet  Stiebergelaffenen  bie  bet  Bürget  weit  überftieg.  £>ie  Bolfß« 
gäljlung  non  1870  ergab  für  bie  ©tabt  Sugern  2206  Gemeinbe* 
bürget,  11,210  Stiebergelaffene.  Bon  biefen  Stiebergelaffenen 
waren  2664  ©djweigetbürger  anberet  Äantone,  8546  Bürger 
anberer  Gemeinben  beß  Äantonß  Sugern,  aber  nicht  nur  nicht 

Bollbürger  ber  Jpauptftabt,  cives  optimo  iure,  fonbetn  übet« 
(m) 


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33 


Ijaupt  nicht  Bürger  fcerfclfeen , wenn  auch  lange  ^ier  nieberge» 
laffen  unfc  ^ier  geboren.  3n  ben  10  3ahren  non  1860 — 1870 
hatte  fid)  bie  3al)l  ber  ©tabtbürger  8u$ern8  nur  um  204  Der* 
meljrt,  bagegen  bie  ber  uiebergelaffenen  ©djwei^erbitrger  um  2272. 

©tan  fieljt  auS  ber  Ausführlichfeit,  mit  melier  bie  fdjon 
lange  auf  eine  richtige  Söfung  ^arreube  gvage  in  ber  neuen 
SunbeSoerfaffung  (Art.  43  ff.)  behanbelt  ift,  welche  SBidjtigfeit 
man  betfelben  beilegte,  unb  bod)  ift  in  biefen  Strtifelu  bie  Sofung 
nur  angebahnt,  weiterer  gortfd>ritt  ber  3ufunft  an^eimgefteOt. 
5ßon  grobem  gelang  ift  ber  @at):  „S)er  niebergelaffene  ©chweijer* 
bürget  genieit  an  feinem  SBohnfihe  alle  Otedjte  ber  jfantonSbürger 
unb  mit  bieien  auch  alle  Rechte  ber  ©emeinbebürger".  SDann 
folgt  aber  eine  bebeutenbe  ©infehtänfung:  „SDer  SJiitantheil  an 
33ürget*  unb  ÄorporationSgütern,  fowie  baS  ©timmrecht  in  rein 
bürgerlichen  Angelegenheiten  finb  jeboch  h'eüon  ausgenommen, 
eS  wäre  benn,  bah  bie  Jtantonalgefebgebung  etwas  anberS  be* 
ftimmen  würbe.  — 3n  fantonalen  unb  ©etneinbeangelegenheiten 
erwirbt  er  (ber  niebergelaffene  ©chweigerbürger)  baS  ©timmrecht 
nach  einer  fftiebetlaffung  oon  brei  fDtonaten.  — 25ie  fantcnalen 
©efefje  über  bie  fltieberlaffung  unb  baS  ©.timmrecht  ber  lieber* 
gelaffenen  in  ben  ©emeinben  unterliegen  ber  ©enehmigung  beS 
33unbeSratheö". 

©S  ift  ^tet  noch  gar  nicht  bie  ©inwohnergemeinbe  an  bie 
©teile  bet  S3ürgergemeinbe  gefegt.  SBäre  bieh  im  ©ntwurf  ber 
nween  SBerfaffung  gefdjehen,  burdh  eine  rabifale  Umgeftaltung  ber 
58ürger=  unb  9UeberlaffungSoerhältniffe , fo  würbe  baS  unfehlbar 
bie  JReoifion  jum  §aU  gebraut  haben.  @8  ift  h^  noch  unter* 
fdfieben  baS  ©timmrecht  in  ©emeinbeangelegenhe'ten  unb  in  rein 
bürgerlichen  Angelegenheiten  unb  oom  SKitantheil  an  Sürger« 
unb  ÄorporationSgütern  ift  ber  niebergelaffene  ©chweigetbürger 
auSgefchloffen  — „e8  wäre  benn,  bah  bie  Äantonalgefefcgebung 

XL  25«.  3 (498) 


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34 


etwaö  Snbeteö  beftimmen  würbe".  Eö  lä&t  fid)  in  biefem  3u* 
fafj  ber  SBunfch  erfennen , bajj  baö  ^ergebta^ie  ejrclufioe  33ürger* 
thum  moberirt  werben  möge,  aber  als  Sorberung  ift  baö  nicht 
^ingefteUt.  2)abet  bat  bie  SBerfcfyiebenfyeit  beö  ©emeinbewefenö 
in  ben  oerfcbiebenen  Steilen  ber  ©chweig,  fpecieH  wefyl  bet 
frangDfifdjen  unb  beutjchen  ©d)weig  oorgefchwebt.  Ein  fo  be* 
bächtigeö  Auftreten  fonnte  benen,  welche  bie  Carole  „freie  9>tie= 
berlaffung"  im  9Jiunbe  führten  unb  benen  „3opfbürgerthum"  ein 
Lieblingöauöbrucf  war,  benen  überhaupt  ber  Entwurf  bet  neuen 
SJerfaffung  lange  nicht  bemofratijch  genug  war,  nicht  gefallen. 
9lber  ihre  35eflamationen  haben  bie  ruhige  Entwicflung  nicht  ge* 
ftört.  2Bie  richtig  jener  fSrt.  43  baö  geitgemäfj  SJtögliche  erfaßt 
hat,  ift  |'d)on  in  bet  furzen  3eit  feinet  ©eltung  ^etuor getreten. 
SDie  Äantone  finb  gegen  ben  „3öunfch"  nid^t  taub  gewefen;  bie 
Sortfchrittöbewegung  ift  in  Sluf)  gefommen. 

^ie  unb  ba,  wie  in  3üridj,  bat  man  ben  2Beg  eingefdjlagen, 
bie  Erwerbung  beö  Söürgervedjtö  wefentlich  gu  erleichtern.  3m 
SBaabtlanb  war  man  fd?on  »orljer  fo  liberal,  ben  Einwohnern 
einen  SJiitantheil  an  ber  fftufcung  bet  Äorporationögüter  gu  ge* 
ftatten.  ©iefe  Liberalität  hängt  gufammen  mit  ber  Neigung  bet 
frangöfifchen  ©chweiger,  fidj  mehr  an  baö  freie,  nicht  an  bie 
©emeinbe  gebunbene  ©taatöbürgerthum  StanfreichÖ  angufchliefcen. 
SluffaHenber  ift  e$,  auö  bem  conferoatioen  33afel  gu  »crnehmen, 
bafj  bie  ©rofjratböfommijfion  in  ihren  Serathungen  über  bie 
^^ciluncg  beö  bisherigen  ©tabtoermögenö  in  baö  Vermögen  ber 
gufünftigen  bürget  unb  SRiebergelaffene  umfaffenben  Einwohner* 
gemeinbe  unb  in  baö  Slermögeu  ber  33ürgetgemeinbe,  gu  bem 
JRefultat  gefommen  ift,  eine  foldje  £he^u«8  f<hon  betaiüirten 
Eingaben  ber  gu  fcheibenben  SBermögenÖftücfe  bem  ©rojjen  fRati) 
»orgufdhlagen.  ^Darnach  wirb  ber  Einwohnergemeinbe , welche 
faft  ibentifch  ift  mit  bem  Äanton  23afelftabt,  ba  biefer  nach  ber 

(494) 


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35 


Abfonberung  be8  jpalbfantenS  ©afel»8anb  fctum  nod)  ein  t'anb» 
gebiet  tyat,  ein  bebeutenbe8  ©ermögen  gufaHen,  befteßenb  in 
giegenfcßaften  unb  beren  6rle8 ; bagegcn  wirb  bie  ©ürgetgemeinbe 
aud)  nidjt  arm  werben,  il)r  bleiben  nid)t  nur  bie  ntilben  Stiftungen 
be8  ©ürgerjpitalS,  2üaifenhaufe8  unb  2llmofenamt8  mit  beren 
?5onb8,  fonbern  nerfd)iebcne  einträgliche  ©runbftücfe,  jo  baß  bie» 
fe8  Vermögen  ber  ©ürgergenteinbe  etwa  auf  1*  fOliUionen  gtanfett 
angefdjlagen  werben  fönnte. 

25ie  ftübtifcßen  wie  bie  ganbgemeinben  ber  Schweig  ljaben 
recht  oft  ein  bebeutenbeS  ©ürgergut,  befteßenb  in  Sßunn  unb 
Sßeib,  Sßeinbergen  :c.,  aud)  Kapitalien.  Sftan  will  aber  wal)r» 
genommen  t)aben,  baß  bisweilen  gu  ber  ©reßc  beb  ©ermögenS 
bet  ©emeinbe  bie  Kleinheit  ber  ^rioatoermögen  ber  ©ärger  in 
einem  ©egenfaß  ftel)e  unb  man  ßat  biefe  22al)rnel)mung  mitbe» 
nu|jt  gut  ©egrünbung  be6  fdjeittbar  parabopen  SaßeS,  baß  ein 
bebeutenbeS  ©ürgergut  bett  Bürgern  mef)t  fHadjtßeil  at8  ©ortl)eil 
bringe.  So  gang  parabop  ift  biefer  Saß  nicht,  enthalt  aber  auch 
gar  nid?t  eine  allgemeine  Wahrheit.  @8  fommt  eben  auf  bie  ©et» 
waltung  unb  ©erwertßung  be8  ©ürgergut8  an.  SBo  in  fleinen 
©emeinwefett  ber  ben  eingelnen  Bürgern  gufommenbe  ©ürgetnußen, 
gumal  al8  baare8  ©elb,  ihnen  ol)ne  Arbeit  in  ben  Scßoß  fällt, 
ba  liegt  bie  ©efaßr  nahe,  baß  bie  ©ärger  ober  hoch  manche  ber» 
felben  bie  Jpänte  in  ben  Sd)oß  legen  unb  Spießbürger  werben. 
2)er  ridjtige  ©ebraud)  be8  ©ürgernußenS  ift  feine  ©eftimmung 
für  gemeinnüßige  Bwecfe  unb  bagu  bietet  fid),  auch  über  bie  ben 
©emeinben  obliegenbe  Armenpflege  unb  bie  Sorge  für  Kirche  unb 
Schule  l)inau8,  ©elegenbeit  genug. 

3«  einer  freiertu  ©eftaltung  ber  ©erl)ältniffe  ber  ©ieberge» 
laffeiten  gu  ben  ©ürgern  mußte  ber  immer  reger  unb  großartiger 
fid)  geftaltenbe  ©erfeßt  führen,  £>aoon  ift  aber  Weber  eiu  gäng* 
licße8  Aufgeben  ber  ©ürgergenteinbe  in  eine  (Sinwohnergemeinbe 

3 * (495) 


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36 


nodj  eine  communiftifdje  23ernidjtung  beg  3?ürgergutS  netltwenbige 
Böige,  gegenüber  bet  (äugfyergigfeit  bet  Bürger  unb  unrernünftiger 
23ermenbung  bev  Sürgernufcen  läfjt  fidj  bodj  aud?  fjer»ert?eben, 
bafj  in  3eiten  allgemeiner  fRotlj  red^t  oft  ein  öürgergut  ©egen 
gebraut  Ijat. 

6ine  erfdjöpfenbe  33el?anblung  meineg  Sljemag  „bie  ©djweig 
in  ben  Sßanbelungen  bet  Sleugeit"  mürbe  ein  ä?ud}  ergeben.  3 d) 
fdjliejje  meinen  Sortrag  mit  .petoorljebung  einiger  ßüge  beö  @e* 
fammtbilbeg,  otyne  meld;e  feine  ©figgitung  mangelhaft  fein  würbe. 

5Huf  bem  Unterbau  bet  23unbc8oerfaffung  oon  1848  Formte 
ba8  ftaatlidjc  geben  ber  ©djroeig  in  einem  äMerteljafyrtjuubcrt  frdj 
günftig  entmicfeln.  ®ie  tjatte  bag  ©liicf  in  biefem  3ettraum 
im  Brieben  nadj  aufjen  gu  bleiben , benn  ber  Gonflict  mit  ^reufjen 
megen  Neuenbürg  fanb  einen  frieblidjen  2lu8trag  unb  bie  Bludjt 
ber  SÄrmee  33ourbafi8  oon  84000  ÜJfann  über  bie  ©rengeit  beT 
©djmeig  gab  biefer  ©elegenljeit  gu  geigen,  bafj  fie  bag  SpaUabium 
ber  Neutralität  gu  bemalten  miffe  unb  bie  ©elegentyeit  burd; 
«£>ülfe  in  großer  -Jlotl)  einem  grofjen  ■Jiadjbarn  fid)  gu  oerpflidbten. 
2Ber  ben  3uftanb  biefer  gelten  färntee  gelegen  unb  bie  Opfer  unb 
SJefdnoetben,  meldje  bie  ©cfymeig  auf  fid^  nehmen  mufste,  erfannt 
Ijat,  mirb  ifyr  bag  gob  nidt?t  oerfagen,  bafj  fie  in  biefer  3eit  eint 
Aufgabe  lüfte,  bie  rooljl  nidtjt  gröfjer  gemefen  märe,  wenn  bie 
Sourbafianer  alg  Beinbe  gefommen  mären.  ?Ü8  ber  .Krieg  ber  bei* 
ben  grofjen  9iad)barn  bcenbigt  mar,  fonnte  bie  ©djmeig  i^te 
frieblidjen  Aufgaben  im  eigenen  £aufe  mieber  aufne^men.  @8 
mar  ba8  nid)t  blofe  bie  ©djöpfung  ber  neuen  58unbe8oerfafjung, 
fonbern  in  Sßerbinbung  mit  biefer  maten  mistige  uelfgmirtljidjaft' 
lid)e  unb  äfynlidse  Probleme  ber  göfung  gugufüljren.  3n  biefer 
(Ridjtung  ift  benn  aud}  cieleg  in  ber  Neugcit  oon  1848  an  burdj 
ba8  3ufammenmirfcn  beS  33unbc8  unb  ber  .Kantone  gefdjeljeu. 

2>ie  ganbe8befd)affenl)eit  ber  ©dimeig  Ijat  midjtige  unb  foft* 

(496) 


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37 


ftnetige,  bcm  3ngenieurfacb  gugefallene  ßeiftungeu  ^ereorgcrufert: 
ben  Sau  ber  Stlpenftra&en , bie  ©djnfcbauten  gegen  bie  ^>ocEj* 
waffet  be8  ©ebirge8 , bie  ftlufjcorrectionen , bie  Grntfumpfung  bet 
©eegebiete  be8  3ura  unb  5iel>nlicfc)e§. 

Sludj  ©ifenbatynen  würben  für  bie  ©djweig  eine  Retbwen» 
bigfeit.  2118  \d)  not  halb  25  3afyrcn  in  bie  ©djweig  fam,  cyiftirte 
nur  bie  Heine  Sabn  gwifd)en  3üridb  unb  Saben  im  Stargau  unb 
wenn  man  je£t  ba8  ©ifenbabnnet?  auf  ber  Äarte  anfdbaut,  fo 
bat  man  Biele  unb  fonberbave  matbematifdje  Figuren  per  fiel). 
5Da8  größte  SSer!  wirb  bie  im  ©erben  begriffene  internationale 
©ettfyarbbatyn  mit  bem  Riefentunnel  fein,  welche  wegen  iljreö  weit» 
gteifenben  3ntereffe  eine  Söeitbatjn  genannt  werben  fann;  aber 
au d)  bie  in  bie  Älaffe  ber  SujruSbaljnen  fallenben  Rigibabnen 
erregen  in  ihrer  genialen  Äü^nl)eit  Sewunberung. 

3DeutHcf>  l>at  bie  ©djweig  in  jüngfter  Seit  bie  SDtatjnung 
Ne  quid  nimis!  (Rid)t8  gu  Biel)  in  Setreff  ber  (Sifenbafynen 
»erne^men  Tonnen;  man  greift  aud)  nid)t  metjr  fo  wie  früher  bie 
„reiche  ©ntwidlung  ber  Schienenwege",  benn  babei  bat  fidj,  wie 
in  anbern  Sänbern,  bie  „e^ibemifdfcje  ©ifenbabnfalamität"  einge» 
fteUt.  SDie  SunbeSoerfaffung  Bon  1874  enthält  nun  gwar  bie 
hirge  Seftimmung:  „SDie  ©efetjgebung  über  ben  Sau  unb  Setrieb 
ber  ©ifenbabnen  ift  Sunbe8fad)e",  aber  gefährliche  Serfudje  werben 
baburdb  nicht  auögefc^Ioffen  fein.  SBäbrenb  ber  ©eltung  jenes 
@a£e8  ift  bie  Sahn  Sern4;ugern  burdE?  ba8  ©ntlebudf,  nadbbem 
fie  noch  nicht  ein  3abr  in  Setrieb  gewefen  war,  gut  Siqnibation 
gefommen.  SDie  Sabn  batte  gtofje  lanbfcbaftlidbe  Reige,  aber  e8 
fehlten  bie  fonfHgen  Sebingungen  ber  Rentabilität. 

SoIle8  8ob  Beibient  bie  Reugeftaltung  be8  $)oft»  unb  Siete» 
grabben^efeaö/  welches  im  gangen  Umfange  ber  ©ibgeneffenfebaft 
SunbeSfadje  ift.  Sen  3abr  gu  3abr  fallen  bie  auf  ©rweiterung, 

(497) 


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38 


33etbefferuttg  unb  SBequemlidjfeit  für  baö  sJ)ublifum  gerichteten 
Anotbnungen  bet  biefen  Snftituten  mel)r  in  bte  Augen. 

©ie  ©djweiger  fönnen  mit  33efriebigung  auf  bte  ^leu^eit 
gurucJfdjauen.  ©et  ©taatSbau  ber  (Sibgenoffenfdjaft  ift  gefeftigt 
unb  wenn  nid)t  überall , fc  geigt  fid)  bod)  in  ben  fortgefchrinenen 
Äantcnen  ein  tljätigeS  Streben,  ben  gorberungen  ber  3e»t  gerecfct 
gu  werben.  geben  fyeifst  Ätieg  fügten!  ©iefe  ©runbrca^r^eit  gilt 
wie  für  bie  einzelnen  ÜRenfdjen  ebenfe  für  bie  ©taateit.  3®« 
Ijat  bie  ©d)meig,  wäl)renb  ber  Ärieg  ringe  umt)er  raf’te,  in  Statten, 
in  ©eutfd)lanb  im  3al)te  1866  unb  in  ber  größten  blutigeu  gelsbe 
ber  beiben  SRadjbarn , iljte  griebenäftellung  behaupten  tonnen,  aber 
fie  l>at  anbere  Äampfe  ju  hefteten  gehabt,  mit  Ärifen  unb 
©tocfitngen  be8  $anbel8  unb  ber  3nbuftrie,  mit  ben  fHaturgemalten 
gu  2?erg  unb  Sljal,  unb  mie  ©eutfdjlanb,  fo  l)at  bie  ©djweij 
in  ben  lebten  Saljren  ©nergie  gegen  ben  Ultramontanienmö  in 
bem  „Äulturfampf"  geigett  muffen;  3nternationale  uttb  Sozial* 
©cntofraten,  „bie  mal) reu  greunbe  unb  Wetter  ber  ©efeüfdjaft* 
l)aben  il)te  rotl)e  galjne  entfaltet;  bie  'Arbeiterfrage  ift  immer 
brebenber  tjeruorgetreten  unb  gabrifgefehgebung  ift  in  bem  in* 
buftrieflen  ganbe  ein  wichtiger  ©egenftanb  geworben,  ©ie  Schweif 
roirb  and)  fernerhin  gu  fämpfen  haben  unb  gu  beweisen,  baf;  fie 
gefuttb  unb  fräftig  ift! 


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2ittmerfungctt. 

1)  »on  2Bp§  im  Slnjeiger  für  fcpteeijerijcpc  @efd)i$te  1870 
9tr.  3,  egl.  gicfer  über  bie  Kntftebunggjeit  be§  ©djtoabenfpiegelg. 
2Bien  1874. 

2)  Kalendarium  Zwetlense  jum  3nljr  1352  (Monumenta  Germ. 
©.  ©.  IX,  689). 

3)  Selege  in  meinem  Sud):  Sie  ©choeijer  baljeim  unb  in  ber 
grembe  ©.241.  287.  298.  302. 

4)  Slumer,  £)anbfcud)  beg  fdjtej.  Sunbc8ftaat8rccbt8  I (1863)  136. 

5)  Puffer,  ©efcpid)te  be8  Äanton«  Uri.  1862. 

6)  Slumer  I,  145. 

7)  3m  3-  1848  teuren  für  bie  Setteerfung  61/,  Äantcne:  Uri, 
©cfiupj,  beibe  Uniertealben,  3ug,  9lppcn$ell  3-  911;.,  Steffin  unb  SkUig.  — 
3m  3-  1872:  Siefelben,  aber  baju  üujern,  greiburg,  Sippenjell  31.  5if)., 
©raubünbcn,  Sßaabt,  SUeuenburg,  ©enf.  — 3m  3-  1874  ftanben  an 
ber  ©eite  ber  Serteerfung  teiebcrum  ooran:  Uri,  ©d;teoj,  £btealben, 
fRibttalben,  3ug,  3tppcnjell  3.  9fy;  baju  fam  Sujern,  greiburg,  SBaHi« 
unb  Steffin.  3m  Steffin  batte  aber  ber  gtofje  Siatb  ba8  ©tanbcäöotum 
für  bie  3lnnal)ine  ber  neuen  Serfaffung  abgegeben,  in  ber  Solfgabftimmung 
teurbe  fte  oertocrfen. 

8)  9lad)bem  burd)  ba8  ©efep  oom  4.  3uli  1872  ber  Crben  ber 

©efellfdsaft  3efu  oom  beutjdjen  fJieidje  auggefcfloffen  war,  beftimmte  eine 
Sefanntmacpung  oom  20.  SDlai  1873,  teeldje  !ird;lict)e  ©enoffenfcpaften 
als  jenem  Orben  oerteanbte  (Kongregationen  anjufetjen  feien.  @8  ftnb 
aurgefüfyrt:  Sie  Kongregation  ber  fRebemptorijten  (Congregatio 

Sacerdotum  sub  titulo  Sanctissimi  Redemptoris),  bie  Sajariften  (Con- 
gregatio Missionis),  bie  Priefter  oom  t;eiligen  ©eifte  (Congr.  Sancti 
Spiritus  sub  tutela  immaculati  cordis  Beatae  Virginis  Mariae),  bie 
@ejetlf(f)aft  oom  ^eiligen  ^>erjen  3efu  (Societe  du  sacre  coeur  de 
Jesus).  Ot;ne  3®cife(  teirb  tiefe  9lufjät;Iung  autp  für  bie  ©dpoeij  mag. 
gebenb  fein. 

(«») 


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40 


9)  Die  Sd)weijer  baljeim  sc.  S.  337.  0etjr  ju  beachten  ift,  wie 
ftd)  ber  Script  beS  SuftijfoKegium«  an  ben  fleinen  Oiatf;  uon  93afel* 
(Stabt  über  ben  (Sntwurf  eine«  Strafgejefce«  (1870)  S.  5 äußerte: 
„Der  (Sntwurf  leljnt  ficß  nielfa<h  an  bie  neuen  ©efefce,  baS  preugiitbe, 
bairifcbe,  ncrtbeutfd;e  an.  (§«  ift  i[)in  bieg  jum  ißorrourf  gematzt  unb 
gefragt  worben,  ob  nic^jt  eine  SBeiterbilbung  beö  ba«Ierifcbcn  Straf  gef  e^c« 
richtiger  wäre,  hierauf  ift  einmal  $u  entgegnen,  baß  auch  ber  (Entwurf 
manche«  Den  bem  ^Bisherigen  beibehalten , unb  namentlich  im  (gebiet  ber 
Freiheitsstrafen  gefugt  bat,  ltnfere  l'erl;ältniffe  meglicbft  ju  berücffichttgen. 
Dann  aber  fann  man  webl  faum  Bon  einem  befonbem  baSlerifcben  ©traf* 
recht  ober  einer  burd)  2öiffenf<haft  unb  f)rajri«  erfolgten  SBciterhilbuug 
be«  ba«lerifcben  Strafgefefce«  fpred;cn.  (S«  ift  nun  feine  Srage,  ba§ 
jene  heutigen  ©efefec  fub  burch  flare,  präcife  Saffung  unb  Sprache  Per- 
tl;cilhaft  auSjeidmen,  unb  fie  fennen  baher  Bielfach  als  ©orbtlb  bienen. 
3ubeni  haben  wir  bei  unferm  GiBilgefefccntrourf  bie  (Erfahrung  gemacht 
wohin  ein  ju  große«  geftbalten  an  9tccht«cigenthümlichfeiten  führt.  Unb 
wenn  bie§  beim  CSir ürectjt  Born  Uebel  war,  fo  wäre  e«  Bon  größeren 
beim  Strafrecht,  welche«  noch  weniger  al«  jene«  Bon  lofalen  ober  natic* 
nalen  Sefonberheiten  abhängt,  fenbern  einen  uniBerferiern  Gl?313^ 
trägt". 

10)  SDIeinc:  Stubicn  jur  beutfehen  unb  jebweijerifeben  tRecht«* 
geeichte  (1868)  S.  295. 

11)  Sßächter’«  ?el)rbuch  II,  540  ff. 


(WO) 

‘X t u cf  hcn  ©cbr.  U 113er  (2l>.  QSrimm)  in  ©erlin,  -Scticnebcrgaftt.  17 ju 


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3V? 

unö  feine  ©eltimntung. 


£>effentli$er  ©ertrag,  gehalten  gum  ©eften  gemetnnüfciger 
Stiftungen  in  Gaffel 

POlt 

<&«««<!)  iKöfjC. 


ßrtlin  SW.  1S76. 

©erlag  Don  Garl  .£>  a 6 e l. 

(£.  <?.  ttiämti'sitn  HirlagsbndijianMarig.) 

33.  ©ityelrn  • Strafcf  33. 


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SRfdjt  bft  Ueberftfeuna  in  frcmbf  ©praßen  »irb  »ctbf  galten. 


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ly^S  wirb  roobl  Wandler  benfen,  ba|  ©etrachtungen  über  beit 
©oben  unbebingt  Pon  Sntereffe,  ja  notljwenbig  feien  ßeuteu  gegen* 
über,  bie  birect  mit  bem  ©oben  3U  thun  l)aben,  wie  ßanb=  unb 
gorftwirthe,  ©ärtner  u.  bgl.,  ba§  biefem  ©egenftanbe  bagegett 
ein  allgemeineres  Sntereffe  wol)l  fcf?n>erlidt>  abjugeminnen  fein  bürfte. 

©anj  abgefehen  pon  ber  allgemein  naturwiffenfchaftlichen  ©e= 
hanblung,  müffen  auS  ber  Sehre  Pom  ©oben  bie  Slbfdjnitte  übet 
bie  ^rincipien  bet  ©laffification  unb  baS  ©erhalten  ber  perfdjie* 
benen  ©obenarten  als  91  cf  erbeben  $u  ben  ©flanken  allerbingS 
©egenftanb  recht  eingebenbet  ©tubien,  unter  Buhülfenahme  noch 
anbetet  naturwiffenfchaftlicher  ©octrinen,  für  bie  betreffenben  gad}* 
leute  fein;  allein,  inbem  icfj  biefeS  ©ebiet  gar  nicht  berühre,  hoffe 
ich  bed)  3eigen  3U  fönnen,  baf)  genug  übrig  bleibt  3U  ©etrach- 
tungen,  benen  ft<h  fein  benfenber  SDienfch  oerfchliefeen  barf. 

5Jlan  barf  wohl  behaupten,  baf)  eS  faum  einen  ©egenftanb 
in  ber  ©atur  giebt,  Pon  welchem  bie  SQReb^abl  bet  SRenfdjen  fo 
unflare  ©egriffe  hat,  als  pon  bem  ©oben,  auf  welchem  fte  wan* 
beln,  ba§  ber  ÜJienfd)  eher  alles  9lnbete  fennen  unb  fchätjeit  lernt 
als  ben  ©oben,  baf)  wohl  faum  etwas  mehr  Port  ihm  perfannt 
Worben  ift,  als  bet  ihm  täglich  Por  Ulugen  Iiegenbe  ©oben,  ja 
ba§  et  am  aUerwenigften  ernftlich  über  bie  ©eftimmung  beS  ©0= 

XL  253.  1*  (503) 


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4 


benS  nadjgebac^t,  geschweige  eine  Ebnung  non  ber  ^otjen  SEBuhtigfeit 
biejcr  Seftimmung  bat. 

2)od)  fragen  mir  jmtädjft: 

3öaS  ift  benn  Söoben  unb  2t cfe r er be ? 

33  oben1)  ober  (Srbreid^  ift  zerfaBeneS  unb  mehr  ober  minbet 
Zerfe^teS,  beShalb  fowoljl  in  ber  gorm,  als  and)  in  ber  ©ubftanz 
oft  oöüig  oeränberteS  ©eftein,  welkes  oom  feften  gelSgtunb  loS* 
geriffelt  ein  neuer,  beweglicher,  batjer  felbftänbiger  .Körper  geworben 
ift.  3Sir  nennen  ihn  $ cf  er  hoben,  wenn  er  oermöge  feiner  Sage 
unb  8efd)affenl)eit  jur  (Sultur  benufjt  werben  fann,  unb  unter* 
fdjeiben  bann  noch  als  'Äcfererbe  ben  Jheü.  welker  zugleich 
organifche  Biefte  ober  fBtober  enthält,  beten  ju  Jage  Iiegenbe  unb 
mit  ber  SÄtmofphäre  in  birecter  SBechfelwirfung  ftehenbe  ©d)tcht 
Slcferfrume  heifct. 

Ülcfetboben  unb  Sltfererbe  finb  alfo  nur  nähere  33ezeichnungen 
für  einen  ganz  beftimmten  Jhe^  heS  bie  fefte  ©rbe  gleichfam  als 
SDecfc,  als  ©teinroft  überfleibenben  SobenS,  ber  nicht  feiten 
als  etwas  häfHidjeS,  ja  oerächtlichcS,  nufs*  unb  werthlofeS  angefeben 
unb  furzet  #anb  als  (Srbe,  ©taub,  ©chm uh  jc.  bezeichnet  wirb; 
ja  für  ben  noch  oerädjtlichere  ©hrentitel  nicht  gefreut  werben, 
Wenn  man  auf  einem  ©pajiergange  oon  einem  ©ewittenegen 
übcrrafcht,  miihfam  im  aufgeweichten  23oben  umherfchreiten  mu§. 

SDodh  sJtiemanb  benft  baran,  ba&  gerabe  biefer  oerwünfehte 
©dbmuh  eS  ift,  bem  baS  jahllofc  fpeer  ber  lebenben  SBefen, 
^Sflangen  wie  SJIjiere,  ja  ber  fBtenfdj  felbft  feine  ©jriftenz  oerbanft, 
ba§  biefer  ©taub  eS  ift,  ber  ihn  gleichfam  inbirect  erzeugt  hat, 
ber  ihn  nährt,  fleibet  unb  nach  feiner  irbifchen  äöanberfdjaft  wteber 
aufnimmt,  ber  bie  Gsrbe  überhaupt  erft  zum  freunblichen  Söofjnft^e 
beS  SDtenfdjen  machte  unb  ftch  unter  bem  33lumenteppich  oerbirgt, 
auf  bem  ber  SOlenfch  fo  gern  wanbeit. 

©rauen  erfaßt  ben  SDienfdjen,  wenn  et  tagelang  in  oegetationS* 

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5 


leerer  28üfte  umberirrt,  wenn  er  fid)  burd)  gelfenlabprinthe  burd)* 
winbet,  wenn  et  wochenlang  auf  bwbem  Ocean  werweilen  muff; 
ein  grüner  Strauch,  ein  »ogenbeö  Slebrenfelb,  eine  grüne  3nfel, 
bie  er  enblid)  erfpäljt,  fagen  ihm,  ba§  er  nicht  allein  unb  wer« 
laffen  fei.  Söie  oft  wirb  geflagt  über  ben  langen  Söinter ! fERan 
weife,  bafe  bie  Statur  alljäferlicfe  % grofeeS  StuferftefeungSfeft 
feiert,  bafe  ber  erfeljnte  grübling  Fommen  ttuife,  ber  unfere  gluren 
wen  fReuem  mit  bem  frifdten,  erquirfenben  @tün  ber  fptofjenben 
Saaten,  bie  SBiefeit  mit  bem  ölumenteppiCb,  bie  Söälbev  mit  bem 
SaubfCfemucf  wetfiefet,  man  eilt  in  baS  greie,  ben  »ieberfebrenben 
grüfeling  begrüben,  in  bem  milb  wärmenben  Sonnenlichte,  in 
ben  buftigen  Säften  ficfe  ju  ergeben,  ficfc  ber  werjüngten  fRatur  ju 
erfreuen  unb  einjuftimmen  in  ben  3ubelgefang : „3a,  tuunber* 
fcfeön  ift  @otte8  @rbe  unb  wertfe,  barauf  ein  €02 e it f d> 
jju  fein"  — 

28  ie  fdjwült  bocb  bas  $er$,  wenn  man  wom  hoben  SöevgeS* 
gipfel  binabfictjt  in  »eite  lacfeenbe  Jböier  mit  ihren  ©efilben 
»aüenber  Saaten  unb  SBiefenmatten,  umfäumt  unb  umfcfeattet 
won  28alb  unb  blübenbem  2aubgebüfcfe,  »elfter  ßontraft  gegen 
ben  nacften,  jacfigen,  gleicbfam  tobeSftarren  gelfen!  SBer  jollte 
ba  nifbt  benfen,  bafe  nicht  bie  maffiwe  6rbe,  biefe  Äugcl  won 
Stein  unb  @r,j  es  ift,  burcfe  welfbe  bie  fRatur  erft  ihre  fReije  wov 
uns  entfalten  fann,  »er  füllte  ba  nicht  ahnen,  bafe  »ir  bie 
fCfeöpferifcfee  Ära  ft  in  einem  befonberen  Äcrper  ju  fuchcn  hoben, 
ber  felbft  in  ber  2iefe  einer  getSfpalte  werborgen  fein  muh,  ouS 
ber  »ir  einen  fräftigen  Söaum,  »ie  gmifc^en  Jpimmel  unb  Grrbe 
f(h»ebenb,  bod)  üppig  emporftreben  feben? 

2>a  Fonnen  wir  »ohl  fragen:  2BaS  wäre  bie  @rbe  ohne 
S r b e ? 2Bar  eS  won  ©wigfeit  her  fo,  »ie  eS  jefet  ift  unb  »irb 
eS  bis  in  (fwigfeit  fo  bleiben;  gab  eS  einen  Anfang  unb  wirb 
ein  (fnbe  Fommen  ober  mit  anberen  SBcrten:  ift  bie  Sage  wom 

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6 


jüngften  Sage,  an  bem  aüeß  organifche  Seben  auf  Crtbeu  erftorbett 
fein  wirb,  eine  teere  ifjfyrafe  ober  ititf^t  ? 

55iefe  fragen  ju  beantworten  fotl  unjere  Stufgabe  fein  unb 
3Wat  lebiglid)  burd)  bie  ^Betrachtungen  über  ben  Stoben  unb  beffen 
SJeftimmung  in  Beit  unb  SJiaum. 

3u  biefem  3wecfe  muffen  wir  unß  gunächft  mit  bem  SBejeit 
bcß  Stobenß  oertraut  mailen.  Sie  naturwiffenfchaftliche  Unter* 
fudjung  bat  ju  ber  (Singangß  außgefprochenen  ^Definition  geführt. 
SBenn  jonad)  Stoben  bcr  Jgwuptfadje  nach  »eräitberteß  Selßgeftein 
ift,  io  fann  er  auch  aus  feinen  anberen  Steftanbtbeilen  befielen, 
alß  bie  ftnb,  auß  welchen  eben  baß  SRuttergeftein  befielt  ober  auß 
folchen,  bie  auß  beren  Umwanblung  entfteljcn  fonnten.  9hm  be* 
ftefyen  aber  bie  ©efteine,  welche  bie  fefte  ©rbe  jufatnmenfe^en, 
auß  Mineralien  unb  biefe  finb,  cpemijd)  betrachtet,  tljeilö  burchauß 
einfache  .törper,  jog.  Elemente,  theilß  Sterbinbungen  zweier  ober 
in  ben  mciften  fallen  melieret  (Elemente,  nach  feften  3al)lenge* 
feiert , woburdj  eben,  fowie  burd)  bie  §orm  biefelben  alß  inbioi* 
buellc  9iaturförper  gefenn^eichnet  finb. 

Söie  groß  auch  bie  3ahl  bcr  biß  jejjt  alß  nicht  weiter  3erleg* 
baren,  bahcr  alß  ©Iemente  betrachteten  Stoffe  fein  mag,  fo  noch 
»iel  größer  bie  3at)I  ber  Mineralien  fein  mag,  welche  wir  fennen, 
jo  ift  hoch  bie  3&hl  berer,  bie  wejentltdjen  Slntheil  an  ber  3u= 
fammenjeßung  ber  ©rbe,  alfo  ber  ©efteine  nehmen,  eine  höd)ft 
geringe,  unb  bet  oerjchiebene  6l)aractcr  ber  ©efteine  refultirt  weit 
mehr  auß  bem  Siengungßoerbältniß  ber  wenigen  conftituirenben 
üJiineralien,  alß  einer  großen  3<#  berfelben.  ©od)  fei  bemerft, 
baf)  ©efteine,  bie  nur  auß  einem  Minerale  beftanben,  nur  in  bem 
©innc  eriftiren,  bah  biefem  Minerale  nur  böd)ft  geringe  SJlengen 
anberer  «Stoffe , gleichfam  alß  SSerunreinigung  beigemengt  finb, 
bah  anbenttheilß  bie  Sftenge  ber  wejentlichen  Mineralien  feiten  5 
überfteigt,  wohingegen  gerabe  bie  untergeorbnet  beigemengten  oft 

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7 


unb  gwat  namentlich  bei  ber  llmwanblung  gu  Söoben  oon  großem 
©influffe  fein  fonnen. 

2>ie  heroorragenbften  gefteinöbilbenben  Mineralien  finb: 
Duarg,  Selbfpätlje,  ©limmer,  (Sljforit,  £ornblenbe,  Slugit, 
^alf,  2a If  unb  @t;p8  , bie  wichtigften  einfachen  Serbinbungen, 
au8  benen  biefe  beftehen:  Äiefel*,  2hon=,  &alf*  unb  2alferbe,  gu 
benen  fidf  bann  noch  ftehlen*,  ©djwefel*  unb  untergeorbnet 
ShDSb^orfäure  gefeilt,  toäl)renb  ©ifen  unb  Mangan  in  Serbinbung 
mit  ©auerftoff  unb  SBaffer  hauptfädhlich  al8  färbenbe  ©ubftang 
Auftreten,  benen  bann  auch  noch  bie  mobembe  organifdje  ©ubftang 
gugurechnen  ift.  £eijtere  fann  mitunter  bebeutenb  corwalten,  fo* 
bafj  man  wohl  non  #oIg*,  Sauberbe  u.  bgl.  fpricht,  unb  bet 
Mobet  mu§  wirflich  ber  Gsrbe  gugeredjnet  werben,  ba  er  eben  ba8 
tft,  Wa8  bie  Sflange  ber  @rbe  entnahm  unb  ihr  nach  bem  2obe 
gurücfgiebt. 

5>ie8  führt  unb  nun  barauf,  bah  erft  Soben  »orhanben  fein 
muhte,  beoor  e8  ißflangen  geben  fonnte.  @8  ift  läng  ft  erwiefen, 
bah  bie  Sflanje  be8  33oben8  nicht  nur  al8  ©tü&mnft  bebarf,  bah 
Siegen  unb  ©onnenfdjein  feine  Sfl&nge  heroorlocfen,  fonbern  bah 
htergu  33oben  gehört,  unb  gwar  ift  e8  ben  »erfchtebenen  ißflangen 
unb  ber  öntwicflung  ihrer  einzelnen  2heile  nicht  gleichgültig,  au8 
welchen  ©toffen  ber  Soben  gemifdht  ift  unb  wie  er  gemilcht  ift 
©et)t  oiele  unb  namentlich  fehr  niebrig  organiftrte  ^fangen 
ftnb  oft  auherorbentlich  wählerifch  in  biefer  Segiehuitg. 

£Die  ©eologie,  als  bie  SBiffcnfchaft,  welche  un8  bie  ©efchichte 
ber  ©rbe  lehrt,  weift  un8  burch  bie  in-  ben  ©efteinen  begrabenen 
Slefte  organifchet  SBefen  auf  ba8  Seftimmtefte  nach,  ba§  ba8 
pflangltche  unb  nach  *hm  erft  ba8  thierifche  ßeben  einen  Anfang 
genommen,  bah  e8  alfo  oorbem  eine  Seit  gab,  wo  noch  fein 
«rganifcheS  Sehen  eriftirte,  wo:  „bie  ©rbe  wüfte  unb  leer 
war". 

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8 


3n  biefe  Bett  fällt  ber  Anfang  bet  33obenbilbung , oorbent 
war  bie  Beit:  „ber  @rbe  ohne  ©rbe". 

©inen  folgen  Buftanb  oermag  aud)  bie  fünfte  $hantafie 
nicht  gu  fflffett.  JJiicht8  fidjtbar  aI8  tobte,  ftane  gelSmaffen, 
fdjauerlidje  Eltppenoolle  Säften  uttb  ©inöbeit,  nicht!  ^ötbat  al8 
ba8  beulen  beö  ©türme!,  ba8  fRaujdjett  be!  wübfchäumenben 
SJleere!,  Stiles  »emidjtenb  unb  oerfchlingeitb,  boch  l?alt ! 

Sar  eS  wirtlich  S3evnid)tuttg,  füllte  5?llle!  fpurlo!  oerfchwinben? 
ÜRit  sJtid)ten ! SDiefet  ©eift  bet  3crftörung,  weldjer  ton  jeher  in 
bet  fftatur  Raufet,  biefer  jtampf,  in  welkem  gleicbfatn,  um  mit 
ben  älten  gu  reben:  bie  Elemente  Suft,  Saffer  unb  (burd)  bie 
Äraft  beS  Drucfs  auch)  ba!  geuet  mit  ber  (Stbe  liegen,  ift  nur 
ein  St^eil  ber  Arbeit,  welcher  oollbra<ht  werben  muffte,  um  bie 
tobte  ©tbe  einer  höheren  ©ntwicflungephafe  enigegenguf  ähren,  bie 
Sltbeit,  um  au!  gel!  @rbe  gu  machen,  bamit  ber  (ätbball  ©(hau* 
platj  be!  organij^en  Beben!  werbe.  SDiefer  Äampf  ruht  unb 
raftet  nimmer,  halb  jdjreitet  er  ftitl  unb  auf  ber  fluchtigen  Seile 
ber  Beit,  in  bet  ber  SJienfd)  gu  folgen  oermag,  taum  bemerfbar, 
halb  in  gewaltiger  Aufregung  einher,  ^)ier  wirb  uttabläffig  an 
bem  feften  ©erüfte  ber  Gerbe  genagt,  bort  au!  unbetannter  liefe 
neu  bereitetes  ©eftein  gu  Jage  geförbert,  bie  ©rbe  gerüttelt,  baff 
fie  in  ihren  geften  erbebt,  Job  unb  33erberben  ber  Oberwelt  be* 
reitenb,  l)iet  t»«ben  bereit!  blühenbe  gluren  unter  ben  Stummem 
geborftener  gelfett,  unter  Sawinen  begraben,  ober  oom  überfluthen* 
ben  fDieere  oerfchluttgen , bort  oon  Solfenbrüchen  weggefpfdt  ober 
oom  ©türme  gertrümmert  unb  umhergeftreut 

SBefehen  wir  un!  biefe  Arbeit  genauer,  fo  finben  wir,  baff  fie 
wefentli<h  gweierlei  3lrt  ift,  nämlich  eine  medjanifdje,  bie  man  al! 
3ertrümmerung,  unb  eine  chemifche,  bie  man  al!  äferwit* 
terung  begeidjnen  tarnt.  Sollen  wir  ©infidjt  in  ba!  Sefen 
biefer  Slrbeit  gewinnen,  fo  ift  e!  oorerft  nothwenbig,  fie  gefonbert 

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9 


unb  bann  aud>  wieber  bie  non  2uft  unb  Sßaffer  gefonbert  31t 
betrauten. 

2(uf  ntechanifcbem  3Sege  wirft  bie  Suft  nur  birect,  wenn  fie 
heftig  bewegt  wirb,  inbirect,  inbom  fie  großen  Sßafferfluthen  ißre 
Bewegung  mittßeilt,  bie  23ranbung  ber  SBogen  unb  fomit  bie 
Serftcrung  felfiger  JHiiften  beförbert.  I)aö  SBaffer  bagegen  ift  baö 
energijdj  wirfenbe  Element  unb  jwar  in  feinen  brei  3uftänben, 
im  feften  als  (Siö,  im  flüffigen  unb  am  furdjtbarften  im  barnpf» 
förmigen.  OJiit  ber  Gfigenfcbait,  bei  bem  gefrieren  ficb  auögu= 
beßnen,  ift  baö  äßafjer  in  ben  »orßanbenen  gelörißen  unb  £ lüften 
eingejcßlcfjen,  nicht  nur  baö  primitiofte  unb  wirfjamfte  ©preng« 
mittel,  jonbent  aud)  baö  SDtittel,  woburcß  immer  neue  unb  neue 
©palten  gebilbet,  ©tiirf  für  ©tikf  oom  ©eftein  loögelöft  werben, 
weößalb  eben  in  ben  leeren  ©ebirgen  bie  gelSjacfen  ftetö  frijd) 
unb  neu  auöfeßen.  Ctlö  ©letfdjereiö  in  ben  Hochgebirgötßälern 
wirft  eö  im  Diutjcßen  unb  ©Rieben  jermalmenb  auf  bie  Unterlage 
unb  Tßalwänbe. 

Stollen  wir  bann  jeßen,  wie  flüffigeö  Gaffer  wirft,  fo  muffen 
wir  eben  in  baö  Hochgebirge  wanbern,  an  ben  £)letjcherbrud\  ben 
©turjbad)  u.  bgl.  3tt  ©taunen  oerfunfett  ob  bem  großartigen 
©cßaufpiel,  welches  alljäßrlüh  Taufenbe  unb  Taufenbe  001t  glach* 
Ianböbewoßnem  berbeilocft,  merft  man  erft  ju  jpät,  baß  ber  feine 
©pritßregen  nad)  unb  nad)  näßt,  aber  wie  ftaunt  man  erft,  wenn 
auö  ben  getrccfneten  Kleibern  eine  ©taubwolfe  auögeflopft  wirb. 

SDaö  ift  baö  bereits  auf  baö  'geinfte  jermaimte  ©eftein  — 
eö  ift  23oben  — , bem  fogar  jehon  organijdje  ©ubftanj  beigemengt 
ift,  ba  jelbft  auf  bem  ©letfdjereiö  windige  ip flanschen  ’)  ein  füm= 
merlitheö  25afein  friften  unb  beößalb  auch  üJiober  ßinterlaffett, 
welchen  ber  ©ebirgöbach  mitbringt.  3uglei«h  fe^cn  wir  ßier  baö 
SÖaffer  als  Transportmittel.  Jnocb  oben  in  jenen  eifigett  IHegionett, 
wo  Sßärme  feßlt  unb  ©onnenfebein  nicht  wirft,  waö  foll  ba  ber 

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©oben?  Söte  joH  umgefe^rt  ein  mit  Söoben  bebecft,  bie 
Gbene  ausgefüllt  merben,  menn  baS  bem  9Reere  .suetlenbe,  ?u 
33adjen,  gläffert  unb  mächtigen  Strömen  Bereinigte  SBaffer  nidjt 
ben  Sranöport  unb  bie  Ablagerung  übernähme?  3118  Stampf 
enblid)  feljen  mir  baS  Söaffer  mirffam  in  ben  Grbbeben  unb  3?ul* 
fanen,  mo  e3  eine  Äraft  äußert,  ber  mir  nidp  an  bie  (Seite  3U 
fejjen  vermögen , me  ©efteinSmaffen  unter  ber  Saft  be8  2>rucf8 
in  unbefannter  Siefe  (bie  aufjerbem  matyrjdjeinlicfi  für  ewige  Seit 
een  ber  Sinmirfung  ber  Atmofpbärilieit  abgefperrt  fein  würben) 
in  einen  übermittelt  33rei  oermanbelt,  ber  burd)  bie  (yrpanfiene* 
fraft  bes  ©ampfcö  ju  Sage  geförbert,  tt>eil8  ju  Staub  serftiebt, 
t^eilö  in  23erülmtng  mit  ber  Suft  unter  yeuererfieinung  a!8  -Sana 
fließt  unb  ju  ber  Bbee  töeratilaffung  gab,  aud)  baS  britte  (Element 
— ba§  geuer  — ftelje  im  Äampfe  mit  ber  (Srbe.3) 

Auf  djemifdjem  Söege  mirfett  Suft  unb  3Baffer  Berner  mit# 
burdj  t^ren  ©cltalt  an  Saucrftoff.  ©ie  Suft  umgiebt  bie  (5rbe 
überall,  bringt  Bermöge  ber  Seltnere  in  alle  leeren  Oiättme  ein, 
mäbrenb  bas  Sßaffer  nur  § ber  Grbe  bcberfenb  in  bem  übrigen 
©rittel  nur  zeitweilig  burd)  bie  Ulieberfdjläge  IjinTonnnt,  beSljalb 
aber  um  jo  meljr  immer  neue  Angrifföpunftc  finbet  unb  bejoitbers 
bejd)leunigenb  bie  3erjetung  t^erbeifütjrt,  menn  eö,  ma8  häufig  ber 
Sali , nod)  Äoblenfäure  mitbringt.  ©ie  d)cmijcbe  33eränbcnmg, 
bie  Aufnahme  Bott  Suft  unb  SBaffer  liat  eine  ‘Aufquellung,  jomit 
aud)  eine  med)anijd)e  Bertrümmerung  gur  Solge  unb  enbigt  oft 
mit  einer  völligen  Ummanblung  bes  Stop  (ber  ?0tetal)Blofe)  gegen» 
über  ber  blos  med)anijdjen  Umgeftaltung  (ber  ÜKetantorpboje), 
moburd)  bie  Glemcntarftoffe  auö  il?ren  bisherigen  SBerbinbungett 
gelöft  unb  auögefdbieben,  bafür  aber  gang  neue  Skrbinbungen 
gebilbet  ober  anbermärts  abgejdnebene  Stop  aufgenommen  merben. 

©a  nun  aber  bie  medjanifdien  unb  djentifdten  SBirfungen 
ftet§  gleichseitig  ftattftnben,  ba  Suft  unb  SBaffer,  mo  fte  nur 

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11 


fönnen,  aläbale  bie  Berftorungöprcbufte  entfernen  unb  in  tiefere 
Sagen  tranßportiren,  feben  mir  unaufl)allfam  ben  .3crftörungßpro3efj, 
ben  ißrojefe  ber  53obenbilbung  in  2l)ätigfeit. 

©o  ift  alfo  baß  milbe  iobeu  ber  Sßafferfälle,  bie  fdjäumenbc 
glutf)  bet  in  fdjnrinbelnbe  Siefe  Ijinabftnr^enben  ©iefcbäche  fein 
3Wecflofeß  fftaturfpiel;  i)iev  finb  bie  nimmer  rubenbeit  Sßodjwerfe 
3U  fehen,  weldte  baß  fefte  ©eftein  ber  2üpenfelfen  zermalmen  unb 
ben  ^lüffen  jene  Saften  non  ©teinmehl  liefern,  bie  biefe  in  bie 
Scaler  unb  weiter  hinab  in  bie  Gbenen  führen  unb  jwar  in  @e* 
meinfehaft  mit  bent  gel)eimiti§noüen  diemiidjen  SSirfen,  bem,  maß 
man  gewöhnlich  „bie  SSirfung  nom  3nh«  ber  3eit“  nennt. 

Sltleß  biejeß  bient  lebiglid)  bagu,  33obeit  ju  bilben  unb  ihn 
bahin  ju  bringen,  wohin  er  feiner  höheren  Söeftimmung  gemäfj 
gehört.  3'rar  rei§t  baß  s)3ieer  nicht  feiten  große  ©treefen  biefeß 
33obenß  wieber  fort,  allein  umgefehrt  wachfen  an  anberen  ©teilen 
burd?  3(njd)wemmung  wieber  bie  Ufer  unb  bie  periobifchen  lieber« 
fchwemmungen  tragen  nicht  wenig  jur  3(uffd)licfung  roit  53oben« 
maffe  bei. 

(Sine  britte,  in  ihrer  Tragweite  nicht  $u  unterfdjäfcenbe  9(rt 
ber  Sobenbilbung  feheit  wir  im  Sebenßprojefe  ber  ißflanjeit  jclbft. 
©ewiffe  Siechten , bie  alß  einhellige,  winjig  fleine  ©poren  an 
naeften  Seifen  haften  fönnen,  fonbern  eine  ©äure  ab,  welche  felbft 
baß  hörtefte  ©eftein  gleidjfam  anäfct,  baburdj  bie  Jpaftfteße  rer« 
gröfcert,  ber  s$  flanke  bie  Slußbreitung  geftattet,  mehr  unb  mehr 
aber  bie  ©efteinßunterlage  mürbe  macht,  ein  Vorgang,  ber  noch 
»erftärft  wirb  burch  bie  auß  ben  mobernben  ^flan^ent^eilen  nach 
unb  nach  horoovgehenben  ©äuren,  bie  fraftiger  wirfen  alß  unfere 
ftärfften  fHeagengien.  2)abci  finb  gewiffe  flechten  fo  beftimmt  auf 
bie  (Slementarbefchaffenheit  beß  fDtineralß  angewiefen,  bafe  man 
3.  53.  mit  Seidjtigfeit  an  ber  $ageßfläd?e  eineß  ©ranitß  mit  Äali« 

(SU) 


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12 


unb  Äalf«9tatronfelbfpath  Untere  burd)  bie  auffißenfcen  gleiten 
unteridieibett  fann. 

SMrect  Soben  bilbenb  een  feinfter  ^uloerfubftang  ftnb  bie 
große  ©ruppc  ber  eingelligen  tilgen  mit  jtiefelbüUe  — bie 

Diatomeen.  — 

SBir  braudien  nicht  erft  in  ber  Öeid)id)te  ber  (Srfcc  gurücfju* 
gefeit,  mo  mir  febeit,  mie  große  2änberftrecfcn  einft  mit  Stehen 
beberft  eine  glora  uttb  gauna  trugen  unb  mit  biefen  unter  neuen 
Ablagerungen  begraben  mürben;  aue  bem  SOiitgetljeilten , unter 
unferen  Augen  33orgef)enben,  erhellt  gur  (genüge , baß  ber  gegen* 
märtig  oorhanbene  Soben  meber  gu  gleicher  Seit,  noch  auf  gleiche 
SBeije  entftanben,  mithin  aud)  nicht  oon  gleicher  Selchaffen  heit  fein 
fbnne.  -Math  SilbungSgeit  unb  SilbungSroeife  unterfd)eiben  wir 
Dielmehr: 

1)  ^rimitiren  Sobett  ober  ©runbichutt,  b.  h-  ©oben,  ber 
an  Crt  unb  Stelle  auS  bem  unterliegenben  öeftein  entftanb; 

2)  Alluoialen  Soben  ober  gluthfdjutt,  b.  h-  bnreh  ftrömenöe 
©emäffer  unb  Siifte  auf  fecunbärer  (bem  Scftanbe  nad)  bauen 
Dölltg  oerfchiebener)  Sagerftätte  abgefeßter  Seben.4) 

Jpiergu  !ommt  bann  noch  bie  Ueberfleibung  ober  Smptägitirung 
mit  organijdien  dteften  unb  bie  dinntengung  burd)  @infd)lämntung 
alb  nidjt  abgcfdjloffene,  fottbern,  wenn  auch  nur  periobifche,  bodj 
bis  heute  fortgejeßte  Silbungen. 

2öeitn  mir  fo  im  Sorbcrgehenben  ben  Soben  feinem  SBefen 
nach  fennen  gelernt  unb  bie  Art  unb  Sßeife  ber  Sobeitbilbung  oer= 
folgt  ha^ett,  fo  erübrigt  eS  nur  noch,  ehe  mir  ben  Soben  als 
SRaturfcrper  auf  feine  öigenfdjaften  prüfen,  gunächft  bie  gerat  gu 
betrachten,  in  ber  bie  fUiineralbeftanbtheile  ben  Soben  bilben,  fca 
auch  bie  gorm  gum  3Befen  eines  -Dinge  gehört. 

3nt  primitioeu  Soben  bürfen  mir  nid)tÖ  AnbereS  ermatten 
als  im  birect  unterlagernben  föiuttergeftein  rorhanben  ift.  3unäd)ft 

(412) 


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13 


fcharffantige  ©efteinStrümmer,  vielleicht  gebleicht  unb  aerbröcfelnb, 
hierauf  mehr  unb  mehr  veränbert,  wo  möglich  burch  Auslaugung 
»on  löslichen  UmbilbungSprobueten  befreit,  umgefehrt  mit  9teu* 
bilbungen  verjehen,  immer  aber,  wenigftenS  theilweife  bem  3uftanbe 
feinfter  Pulverform  ftch  nähentb,  bem  3uftanbe  ber  fog.  ©arerbe, 
in  welchem  ber  ©oben  ben  böcJjften  ©rab  mechanifcher  3ertheilung 
unb  chemifther  Untbilbung  erlangt  hat,  bah  aljo  3.  ©.  vom  ©ranit 
bet  Duar3  in  höchft  feine  ecfige  Äönnben  unb  ©pUtterden , ber 
gelbfpath  in  Äaolin,  $bon  ober  Sehm  verwanbelt,  ber  ©limmer 
in  faum  noch  mifroSfopifch  fenntliche  Plättchen  gelodert  ift. 

3m  alluvialen  ©oben  wirb  bie  ÜRannigfaltigfeit  ber  9Jtijchung 
immer  größer,  je  weitet  man  in  bie  ©bene  binauöfommt,  ba  ja 
jeber  glufj  anbereS  9Raterial  herbeiführt;  auch  in  her  gorm  ber 
©obenbeftanbtheile  ^errfdjt  gröbere  ÜRannigfaltigfeit  unb  nur  in 
fofem  Uebereinftimmung,  als  baS  ©efteinSmaterial  vom  gelSblocf 
abwärts  burdj  ©erölle,  ÄieS,  ©ranb  unb  Sanb  bis  311m  feinften 
©taub  mehl  in  golge  beS  SranSporteS  gerunbet  unb  gefchliffen  ift. 

©er  wichtigfte  $heil  in  allen  ©obenarten  ift  baS  ©taubmehl. 
©8  ift  berjenige  $heil,  welker  nur  noch  als  lefcteS  3erfchung§= 
ftabium  bie  Söfung  unb  fonadh  bie  Ueberführung  in  ben  hft°n3* 
liehen  Organismus  vor  ftch  hat,  b.  h-  bie  Äoft  bet  Pflanjen, 
währenb  bie  weniger  jerfehten,  feinem  ©oben  fehlenben,  noch  beut* 
lieh  erfennbaren  SRineral*  unb  ©efteinSfragmente  mit  ber  3eit  ben 
Nachwuchs  hierfür  liefern,  vorerft  alfo,  als  tobteS  ©eftein,  ber 
Pflaiye  nur  Duartier  geben. 

©er  vom  tobten  ©efteine  abgefehiebene  ©obenbeftanbtheil  führt 
beShalb  auch  ben  9t amen  — ber  ©arerbe  — mit  bemfelben  Rechte, 
Wie  man  bie  burd  mannigfache  ©orarbeiten  von  fremben  3ufäj}eu 
befreiten  ©rgbeftanbtheile  ©arer3e  — nennt,  ©ie  ©arerbe  ift 
gleidfant  baS  ©inbemittel  im  ©oben  unb  auf  ihrer  9Renge  beruht 
ber  eigentliche  Sßerth  beS  ©obenS  — ber  ©ehalt  — unb  ber 

(513) 


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14 


wejentluhe  Untevfcbieb  oom  ©eftein  burd)  baS  ©erhalten  gum 
SBaffer;  ber  Stein  bleibt  auch  unter  SBaffer  Stein,  b.  h-  ein 
ftarrer  fefter  Äcrper,  wähtenb  bie  @rbe  erweicht,  3erfällt  unb  burd) 
9lufquelleit  ber  Staubtheile  eine  gefd)meibigc,  fügjame  fDlaffe,  in 
ber  Ijcc^ften  ©oteng  — gerfliefclidhen  Schlamm  — bilbet. 

Söie  wir  als  bie  uranfänglidjen  ©rogeffe  gur  ©obenbilbung 
mecbanifcbc  unb  djemijdjc  fennen  gelernt  haben,  jo  bleiben  biefe 
aud)  im  91  cf  erb  oben  wirfjam;  eS  ift  aber  offenbar  bie  wohltt)ätigfte 
unb  oorforglicbfte  (finridjtung  ber  Statut  für  bie  ©flangenwelt, 
bafj  bie  oölligc  9luflöjung  unb  Umwanblung  beS  bereits  gerfejjten 
©efteinS  auch  in  ber  ©arerbe  nur  langfam  oorjdjreitet.  SBürben 
umgefeljrt  namentlich  burd)  bie  auffrf^Iiefeenbc  SBirfung  bet  auS 
bem  SJlober  entwicfelten  Äohlenfäure,  mit  ber  3erfej}ung  auch  aß* 
gurafd)  bie  ©Iementarbeftanbti)ei!e  frei,  jo  würben  fie  aud)  löSlidj 
unb  eher  »om  Sßaffer  entführt,  alS  bie  ©flange  ihrer  bebarf  ober 
habhaft  werben  fann. 

Unterjudjen  wir  nun  ben  ©oben  als  neuen  jelbftänbigen 
Slaturförher  in  ©egieljung  auf  feine  ©ejd)af  fenheit,  jo  gejd)icl)t 
biejeS,  wie  überall,  jo  aud)  hier  nach  naturwiffenfdjaftlid)en  SJle* 
thoben,  inbem  wir  bie  nach  feften  fRegeln  operireuben  ©iScihlinen, 
wie  f>hhfif,  ©hemie,  SJiineralogie  unb  ©eognofie  thcilS  gur  Unter* 
fudjong  jelbft,  theilS  gur  ©rflärung  ber  S^atjaeS>en  unb  Grfcf)ei* 
nungen,  beS  3ujamment)angS  oon  Urjadje  unb  Sßirfung  gu  £ülfe 
nehmen. 

©er  ©oben  ift  gefenngeidjnet  burd)  gewiffe  ©igenjd)aften  unb 
gwar  finb  gu  unterfdjeiben : allgemeine  unb  bejonbere  wejentlidje 
©igenjdjaften,  bie  in  feinem  SBefen  begrünbet,  als  etwas  ©eftan* 
bigeS  fidh  geigen  unb  bie  SJiittel  gur  ©rfenntnifj  unb  Unterfd)eifcung 
ber  ©obenarten  abgeben,  jowie  jolche,  hierburd)  erft  heroorgerufene 
zeitweilige  3«ftänbe  ober  gufäHige  ©igenfdiaften. 

©ie  erfteren  finb:  Sarbe,  ©efüge,  ©orofität  unb  Sd)were. 

(M4) 


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15 


1.  ©iegarbc  fällt  guerft  in  bie  2lugen.  Sie  ift  bcfonberg 
in  öconomijcher  Jg>infic^t  oon  ©ebeutung,  ba  in  ihrer  ©erfdjieben* 
tjeit  bie  ©runburfadje  unb  ber  ©ittflu§  auf  bie  Temperatur  beS 
©oben§  gu  fucben  ift.  ©efanntlid)  werben  bunfelfarbige  Äcrper 
een  ben  Sonnenftrablen  ftärfer  erwärmt  alö  hellfarbige;  im  war* 
men  ©oben  aber  gebt  bie  3erfeßung  beö  9)iober§  raffet  i'or  fid), 
baö  Samenfom  wirb  be§balb  rafdjer  entwicfelt  unb  bie  ©flange 
wäd)ft  fräftiger  al8  im  falten  ©oben. 

3n  bem  Stcferboben  bebingt  bet  jdjwarge  9Jiober  gum  Theil 
felbft  bie  garbe,  allein  abgesehen  hieroon  finb  (Sijen  unb  SOiangan 
in  ihren  oerfcpiebenen  ©erbinbungen  mit  Sauerftoff  unb  SSaffer 
bie  färbenben  ©ubftangen  für  bie  oerjcßiebenen  Nuancen  oon  grau, 
rott),  braun,  grün  unb  gelb,  hoch  nur  für  gewiffe  primitiee  ©oben* 
arten  »on  einigermaßen  lebhaftem  Ton  unb  ©onftang.  3m  SO* 
gemeinen  tragen  bie  ©obettfarben,  wie  ÜlUeö,  wa8  ber  ©erwefung 
anheimfällt,  baS  büftere  ©ewanb  beö  Tobeö. 

2.  ©aö  ©efüge,  b.  h-  bie  8M  unb  SSßetfc , wie  bie  nach 
©eftanb,  gorm  unb  ©röße  oft  febt  oerjdjiebenen  ©emengtheile  im 
©oben  oerbunben  unb  gu  einem  ©angen  oereinigt  — gefügt  — 
finb.  2Bir  unterfebeiben  banach  einen  Iofen  ober  fchüttigen,  bähet 
leicht  beweglichen  ©oben,  in  welchem  bie  ©emengtheile  nur  bur«h 
ihren  gegenfeitigen  ©ruef  gufammengeljalten  werben,  bie  feineren 
Ttjeile  (im  troefnen  3ufl«nbe)  burch  ben  SSinb  aufwirbeln  unb 
einen  bünbigen,  in  welkem  burch  bie  ©aterbe  2ffle8  gu  einer 
gefchloffcnen,  gufammenbängenben  ÜJlaffe  oereinigt  wirb,  ©abei 
fann  ber  ©oben  hoch  noch  fdjeinbat  bidjt  ober  beutlich  fornig  unb 
in  anberem  Sinne  genommen  locfer  ober  feft  unb  gäbe  jein. 

3.  ©ie  ©orofität.  ©oren  ober  ©irculationßfanäle  für 
Sßaffer  unb  2uft,  in  bem  Sinne,  wie  wir  fie  bei  organifchen 
Äcrpern  finben,  hat  webet  ber  gel§  noch  bet  Sahen.  5Bir  oer* 
ftehen  unter  ©oren  nur  bie  burd)  bie  Slneinanberlagerung  ber 

(MS) 


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16 


©obenbeftanbtbeile,  welche  fid?  vermöge  ihrer  »erfchiebenen  gorm 
unb  ©rofje  niemals  allfeitig  berühren,  gebilbeten  £ohlräume.  3m 
förnigen  unb  loderen  ©oben  finb  fte  leicht  fidjtbar;  baß  fie  inbe§ 
in  jebem  ©oben  »orhanben  finb,  geigt  eben  baS  Verhalten  gum 
SBaffcr.  SJtit  Söaffer  benefct,  wirb  btefeö  halb  augenblicflich  ein* 
gefogen,  balb  erft  nad}  geraumer  Seit,  wobei  bann  ein  geholt* 
reifet  ©oben  aufjdiwillt  unb  groar:  Schm  ^erflic§t,  $boit  nur 
^laftifdj  wirb,  üorfboben  f«h  wie  ein  Schwamm  »erhält.  Sluf 
ber  ©orofität  bafirt  bie  ®urd)bringlichfeit  unb  gugleidj  ber  »er* 
fdjiebene  geuchtigfeitSguftanb  beS  ©obenS  als  eine  ^auptbebingung 
für  baS  $flangenleben. 

4.  2)ie  Schwere,  als  bie  golge  ber  SlngiebungSfraft  ift 
ber  2>rutf,  mit  welcher  ber  SÖobeit  auf  feiner  Unterlage  laftet. 
SBir  haben  hier  bie,  nur  burch  baS  ©ernicht  gu  beftimmenbe  ab* 
folute  Sdjwere,  bie  bei  fdjüttigem  ©oben  größer  ift  als  bei 
biebtem  ober  gar  lotferem  fe^r  potöfem,  g.  ©.  bei  Quargjanb  um 
bie  £älfte  größer  als  bei  Sehm  unb  bie  fpecififdfe  Schwere  gu 
unterfdjeißen,  welch  Sefctere  »orwiegenb  abhängig  ift  »om  ©eftanb 
unb  ©ehalt,  immer  aber  nur  innerhalb  geringer  ©rengen  fdjwanft. 

garbe  unb  ©efüge  brüefen  gleidjfam  baS  ©epräge  aus,  wo* 
bureb  ficb  gugleidf  bet  innere  SBerth  »erräth  unb  uns  in  ben 
Stanb  jefct,  bi«burch  auf  ben  ©eftanb  gu  (fließen,  foweit  er 
nicht  »or  '.Äugen  liegt,  anberntheilS  aber  auch  beurteilen  lä§t, 
wie  ficb  ber  ©oben  gut  ©tnwirtung  ber  Sltmofphärilien  »erhalten 
wirb.  5>iefeS  finb  eben  bie  oben  angebeuteten  3uftänbe,  baS  ©er* 
halten  beS  ©obenS  gu  Suft,  SBaffer  unb  SBärme  als  ben  ©e* 
bingungen  für  baS  ißflanjenleben : ob  ber  ©oben  baS  auf  ihn 
fallenbe  SBaffer  rafch  fafjt  unb  lange  hält  ober 'nicht,  ob  baffelbe 
leicht  wieber  barauS  »erbunftet  ober  burchgelaffen  wirb;  wie  ber 
©oben  fidb  auSbehnt  ober  beim  SluStrocfnen  gufammengieht ; ob 

(■•IG; 


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17 


«nbticfj  bie  SBävme  reflectirt  ober  gleidjfam  »crfd^lucft,  abjorbtrt 
unb  oon  it)m  anfgefpetcbert  wirb. 

33etrad)ten  wir  nun  nodj  ben  ©oben  in  Bejiebung  auf  ben 
5Raum,  welken  er  einttimmt,  fo  haben  wir  feine  borijontale  Auß* 
bebnung  nadj  Sänge  nnb  Vreite  — feine  Verbreitung  — unb 
feine  förfjertidje  Vtaffe  aud)  ltodb  nadf  bet  Siefe  — feine  SJtäcb* 
tigfeit  — in  baß  Auge  3U  faffett. 

SBaß  bie  ©rftere  betrifft,  fo  fetjt  bie  ©riftenj  beß  Vobenß, 
feine  Außforeitung  nidjt  nur  eine  fefte  ©runblage  oorauß,  welche 
fljn  tragen  fann,  fonbem  auch  eine  Sage,  unter  weldjer  et  fidj 
auf  berfelben  Raiten  fann,  ob  ftarf,  wenig  geneigt  ober  eben, 
hiermit  ftefft  bie  üJtädjtigfeit  bet  Vobenfotper  im  Bufammen^ang 
unb  eß  läfjt  ftd)  futj  außfpredjen: 

mit  junefymenbet  ©teile  nimmt  bie  aftädftigfeit  ab,  mit 
abne^menber  $u. 

Aber  auch  bie  relatioe  ^»ötie  ber  Sage  über  bem  föteereßfpiegel 
ift  für  bic  ÜJtädbtigfeit  in  bemfelben  ©inne  ton  CSinffu§,  inbem 
ber  Voben  ftetß  tieferen  Sagen  gugefüljrt  wirb  unb  erft  in  ber 
©bene  jur  fRu^e  gelangt.  ©leidbjeitig  fte^t  mit  $öbe  unb  Sage 
auch  nod)  ber  wef entließe  Unterfcfjieb  oon  sJ>rimitio=  imb  Alluüiai* 
hoben  ober  ©runb*  unb  §lutbfd)utt  unb  beffen  oerfdjiebene  Ver* 
breitung  unb  fütädjtigfeit  im  Bufammenbang,  ba  erfterer  ftetß 
bur«b  Abfindung  unb  Stußlaugung  becimirt,  legerer  fortwäbrenb 
bureb  Sin*  unb  Stuffcbwemmung  oermebrt  wirb. 

Snblicb  tft  für  baß  Verhalten  beß  Vobenß  gu  ben  Atmofpbä* 
tilien  bie  Sage  nod)  infofent  oon  2Bidjtigfeit  alß  man  babei  an 
bie  Vi<btung  ber  Abbad)ung  gegen  ben  jeweiligen  ©tanb  bet 
©ontte  benft. 

SBenn  fdjon  Sage  unb  Jpöbe  allein  wefentHcb  auf  bie  9Jtäd)* 
tigfeit  beß  Vobenß  im  Allgemeinen  influiren,  fo  finben  wir  burdj 

XI.  853.  2 (5U) 


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18 


Unterfudjung  bet  ÜJJädjtigfcit  felbft  unb  bet  Begebung  beS  Beben? 
gu  feiner  Unterlage  noch  »eitet  bemerfenSwertbe  Unterfdjiebe. 

SunSoft  Berbient  ber  Sagergtunb  felbft  unfere  Aufmerf* 
famfeit,  je  nach  feiner  topograpbifdjen  Befchaffenbeit  unb  feinem 
geognoftifdjen  Aufbau,  weSbalb  benn  fdjon  bet  Sprachgebrauch 
im  gemeinen  geben  febr  richtig  bie  AuSbrücfe  „©runb  unb  Beben“ 
mit  einanbet  Berbinbet,  weil  man  wol)l  ©runb  ebne  Beben,  aber 
niemals  umgefctjrt  Beben  ebne  ©runb  — wenn  auch  erft,  wie  in 
Tiefebenen  bei  allueialem  Beben,  in  grofser  Tiefe  — ftnbet.  3fn 
febr  Bielen  gäflen  fönnen  gewiffe  Gngenfdjaften  beS  Bebens  gar 
nicht  in  biefem  felbft,  fonbern  im  Sagergtunb  ihre  Urfadje  haben, 
wie  j.  B.  ftagnirenbeS  SBaffer  burdj  unburchlaffenben  @runb  ebet 
Jfälte  unb  SRäffe  burd)  auffteigenbe  Duellen  je. 

SBir  haben  ben  Brimitinboben  als  im  wef  entliehen  Beftanb 
ibentifd)  mit  feinem  ©runbgebirge  erfannt,  er  geigt  nur  bie  »er= 
fdjiebenften  ©rabe  ber  Betwitterung  ein  unb  beffelben  Materials, 
fomit  etwas  einheitliches;  nicht  fo  ift  eS  bei  bem  AßuBialboben. 
£iet  fonnen  alle  bie  Berbälhtiffe  auftreten,  welche  bie  ©eognefie 
in  bem  Aufbau  aßet  ebebem  butth  Ablagerung  entftanbenen  @e* 
birgSmaffen  fennen  lebrt  in  Begiebung  auf  Sagerung,  Schichtung, 
Abwechfelung  Bon  gröberem,  burd)  ftarfe  Strömung  berbeigefubrtem 
ober  ftaubförmigem,  auS  ruhigem  SBaffer  abgefeimtem  fßtateriale. 

Auf  bem  Borgefübrten  Bon  Beftanb  unb  Befchaffenbeit  be= 
rußt  nun  bie  (Slafftfication  bet  Bobenarten  nach  naturwiffenfdjaft* 
Höhen  ^prtncipicn,  wäbrenb  für  bie  öfenomifdje  SBertbbeftimmung 
beS  AcfcrbobenS  auch  noch  2age,  J£>ö^e  jc.  injofent  wefentlich  mit» 
fpredjen  als  bei  felbft  nach  Beftanb  unb  Befchaffenbeit  burdjauS 
gleichen  Bobenarten  bie  fERöglichfeit  ber  Bewirtbfchaftung  unb 
AuSnutjung  eine  febr  Berfchiebene,  wenn  nicht  gar  unmögliche 
fein  fann.  #ietBon,  als  ©egenftanb  befonberer  gacbftnbien  feß, 

C518J 


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19 


tote  ©ingangS  angebeutet,  nicht  »etter  bie  Stiebe  fein,  wogegen  ba§ 
fütitgetheilte  wohl  genügt,  um  bie  begriffe  über  ©oben  ju  ftyiren. 

SfBir  haben  ben  ©oben  als  einen  2 heil  ber  feften  Grrbe  fennen 
gelernt,  ber  twar  bie  oberfte  Derfe  beffelben  bilbet  unb  nachweisbar 
ein  3ertrümmerung8=  unb  3etfefcung$probuft  ihrer  jelbft  ift,  bet 
aber  eben  baburch,  bafe  in  ihm  ber  .ffampf  non  Suft  unb  SBaffer 
mit  bem  gelS  ber  ©rbe  »erförpert  würbe,  einen  neuen  SRaturförper 
barftellt,  auSgeftattet  mit  beftimmten  ©igenfchaften,  auf  ©runb 
beren  er  naturwiffenjchaftlid)  für  fid)  unterfucht  unb  betrieben 
werben  muhte. 

2ßir  wcnben  unS  nunmehr  jum  jweiten  2he'k  unferer  ©e* 
ttachtung,  nämlich  sur  Söfung  ber  §rage  übet  bie  ©eftimmung 
beS  ©obenS  als  ©lieb  beö  ©rbbatlS. 

SBenn  wir  etwas  für  jmecfloS  in  ber  ©atur  halten,  fo  rührt 
biefeS  Iebiglich  oon  unferer  Äurjfichtigfeit,  non  unferem  9J?angel 
an  ©infid}t  h«t*  ©$  fann  abfolut  in  ber  9iatur  nichts  3wecflofeS 
geben,  UtichtS  ift  in  ber  SBelt  feiner  felbft  willen  ba  unb  wenn 
auch  oft  nicht  im  Sehen,  fo  bodj  fidjerlich  im  2obe  bient  jebeS 
SEBefen  einem  anberen  unb  fonadj  mittelbar  bem  ©anjen  ju  feiner 
©rhaltung.  ©o  muh  benn  auch  bet  ©oben  einen  3»ecf,  feine 
©riften^  eine  ©eftimmung  haben. 

2Benn  man  an  ben  31 cf  erhoben  allein  benft,  würbe  eS  ganj 
abfurb  Hingen,  $u  fragen:  Söo^u  ift  ber  ©oben? 

SebeS  ©aatfelb  giebt  uns  barauf  jut  Antwort: 

„Der  ©oben  ift  Borljanben  um  uns  ju  ernähren,  unS  ju 
Heiben,  er  ift  alfo  offenbar,  wie  alles  anbere  in  ber  Statur  Iebiglich 
für  ben  fDtenfchen  ba." 

SfBir  wiffen  inbejj  längft,  bah  nicht  aller  ©oben  urbares  3lcfer= 
lanb  ift.  SfBir  fehen  nid)t  überall  Selber,  nicht  einmal  SBälber; 
e§  giebt  auf  ber  (Srbe  noch  unerme§Iiche  flächen  mit  ©oben,  tbeilS 
aller  ©egetation  bar,  theilS  faum  mit  5J?oo8  bebecft,  gefchweige 

2*  (519) 


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20 


benn  mit  waQenben  ©aaten  uitb  grucfctbäumen,  aijo  üöttig  un« 
fruchtbarer  unb  unbebauter  ©eben.  SSenn  »ir  unS  autfc  wohl 
einbilben  föttnen,  ber  Soben  in  ben  böseren  unb  falten  Sagen 
habe  ben  Bwecf,  ben  immer  neuen  fRac^fd^ub  $u  liefern  unb  mir 
»ollen  hier  nur  ben  SilbungSheerb  feljen,  fo  hört  folcher  SBabn 
auf,  »enn  man  feinen  Slicf  auf  bie  glüfyenben  ©anbtoüften  Slfrifa’S 
unb  Slfien’S,  auf  bie  ©teppen  Bon  Sorberaften,  bie  grauenhaften 
eiftgen  ©inöben  Sibiriens,  bie  ungeheueren  SBüften  ©übametifa'S 
richtet,  bie  jufammen  mehr  alö  ben  hoppelten  §lächenraum  von 
gans  Europa  einnehmen.  3a  felbft  in  unfetem  beimatlicfcen 
(Kontinent  finb  noch  ßtofee  ©treefen  als  Söüftereien,  @anb=  unb 
£atbeflä<hen,  Srümmerlialben,  Sümpfe,  SJtoore,  @0*  unb  ©chnee* 
felber,  oulfanifche  ©chlacfenablagerungen  jc.  ftchtbar  ohne  ©pur 
con  Ulnbau,  »eil  feines  ÜtnbaueS  fähig  unb  wir  haben  gefeiten, 
ba§  auch  felbft  in  ben  üppig  ften  g luten  nur  bet  fleinfte  Theil  beS 
bortigen  SobenS  wirflidje  Ülcfererbe  ift. 

JDiefe  Ißerfpectioe  berechtigt  ju  bem  Schluß,  ba§  nicht  aller 
Soben  $um  3lcf erbau  beftimmt,  alfo  auch  ttidht  birect  für  ben 
SBlenfchen  ba  fein  fömte,  ba§  er  oielmehr  eine  allgemeinere  Sefftm« 
mung  haben  muffe. 

Setfefcen  wir  unS  in  ©ebanfen  in  eine  jener  gelfenwüften, 
tn  benen  fein  Soben  ejriftirt.  Serfengenb  heifj  »erben  bie  ©onnen* 
ftrahlen  uon  ben  fahlen  SSänben  reflectirt,  auf  unerträgliche  ©lut 
folgt  empfutblich«  Äälte  in  f^roffem  ©egenfafc;  praffelnb  unb  un« 
aufbaltfam  ftörgt  ber  Stegen  horten  nieber,  im  Stu  einen  »ilb» 
fchäumeitben  Sach  bübenb,  ber  bie  ©bene  mit  ©ebirgStrümmem 
überfdjiittet,  aber  auch  faft  ebenfo  rafdj  oerfehwmbet,  »ie  er  ge« 
fommen,  ba  ift  »on  ©inbringen  beS  SBafferS,  Bon  ©peifung  nach* 
haltiger  Quellen  feine  Siebe. 

#iet  haben  wir  ben  ©chlüffel.  £>er  Soben  regulirt,  gleichwie 
baS  SJteer,  als  langfamer  SBärmeleiter  bie  Temperatur  ber  9t* 

(btO) 


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21 


mofpliäte  unb  vermittelt  ben  regelmäßigen  .Kreislauf  ber  (Gewäffer. 
SBenn  fenacb  Sanb  unb  SReer  ein  untrennbares,  in  fteteni  ©erlebt 
ftettenbe«  (Ganje  bilben  unb  ber  ©oben  ber  wefentlidje  Vermittler 
unb  ‘Regulator  für  tiefen  ©erfebr  ift,  fo  leuchtet  ein,  baß  burd) 
bae  Uebenuiegen  beS  unbebauten  ©obenS,  ber  geringe  2ßeil  wirf= 
lieben  SlcferbobenS  erft  culturfabig  werben  tonnte,  ©oitadi  bient 
bod)  wenigftenS  mittelbar  aller  ©oben  $ur  (frlialtung  ber  ©flaujen^ 
unb  Sßierwelt.  2)enu  bevor  ein  lebenbeS  SBefen  eriftiren  tonnte, 
mußte  erft  für  feine  Vafyrung  unb  (Srßaltung  geforgt  werben. 
SBeber  2ßier  noch  ^flange  lebt  von  Suft  unb  SSaffer  allein,  baS 
5£l)ier  (als  Siaubtßier  mittelbar)  von  ber  ©flanke,  biefe  aber  vom 
©oben  unb  jwar  von  ©oben,  wie  ißn  bie  Statur  bureß  bie  Sänge 
ber  3eit  gebilbet  tjat.  grifdjer  gepulverter  (Granit  ift  jwar  (Ge= 
fteinSpulver,  welches  alle  cßemifchen  ©eftanbtßeilc  enthält,  bie  eine 
©flanje  bebarf,  aber  fein  ©oben,  fein  (Gehalt  von  (Garerbe,  von 
in  folcßer  Umbilbung  begriffenen  SDtineraliubftanj,  wie  fie  ber 
Vflan3e  gur  Stabrung  einzig  unb  allein  bienen  tarnt. 

hieraus  gebt  wieber  hervor,  baß  bie  CSrbe  eine  ©eriobe  burd)» 
laufen  ßaben  muß,  in  ber  fie  fein  organifcßeS  Sebett  trug;  biefeS 
entwicfelte  fitß  erft  mit  bem  ©oben  unb  3war  auch  meßt  auf  einmal 
maffenßaft  unb  vollfommen,  fonbern  mit  ßödjft  winjigen  Anfängen 
unb  einfacher  Drganifation.  (Srft  feßr  allmäßlig  bevölferte  fid^ 
ber  ©oben  mit  ©flanken,  erfüllte  ficb  Suft,  SSaffer  unb  geftlanb 
mit  Sßieren,  immer  voHfommener  organifirt,  febe  neue  (Generation 
bie  vorbergebenbe  an  Slrteitreicbtbum  unb  organifeßer  (Somplication 
überflügelrtb. 

SSenn  wir  fo  in  ben  Girbfcßicßten  von  ben  jüngeren  ju  ben 
älteren  ßinabfteigen  unb  bei  ben  .Kohlenlagern  verweilen,  fo  müffett 
biefe  uns  lebten,  baß  bem  früheren,  unter  gewaltigen  Grbmaffen 
begrabenen  ©oben  noch  eine  befonbere  Slufgabe  gufiel. 

3ene  enormen  Äohlenmaffen  finb  nichts  weiter  als  ©flanken» 

CM) 


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22 


rcfte,  j$u  betten  ber  Äoblenftoff  nur  in  3orm  »on  Äotjlenfäure  auä 
ber  ßuft  genommen  jein  fonnte,  ein  Äörper,  ben  wir  für  baS 
thierijdje  fieben  gerabc^u  unter  bie  ©ifte  regnen;  jene  ^Sflangen* 
mafjen  mujjte  alfo  ber  Voben  heroorbringen,  gleichjam  um  bie 
ßitft  non  Äoljlenjdure  3U  reinigen  unb  fte  baburch  tüchtig  $u 
machen  für  baö  ßeben  unb  ©ebenen  l)öt)er  organifirter  SBejen.  *• 
©nblid)  nad)  langem  Düngen  unb  Äümpfen,  nad?  Dreifachen 
Vorbereitungen  erfdtien  aud?  ber  Plenjch  alä  baö  bechft  organifirte 
SBejen.  2lucfa  er  wollte  leben  unb  gleichwohl  bot  iljm  bie  Dlatur 
rtidjt  überall  bas  Völlige  bar.  So  gwang  it?n  benn  bie  9?otb, 
-£>anb  an  ben  'Pflug  gu  legen,  er  lernte  ben  2lcfer  bebauen  unb 
barnit  erlangte  ber  Voben  für  ben  Plenjcfyen  jeine  lebte  unb  ^öcbfte 
Veftimmung  — ben  21  n bau  gunt  21  der.  — 

3)er  2lcfetbau  erft  war  eö,  welker  ben  SRomaben  an  bie 
Scholle  banb,  ber  bie  Ptenjdjen  gufammenfülirte,  bet  fie  3ur  &a* 
ntilie,  ©emeinbe,  gunt  Staate  oerbanb.  llnjcre  gange  fittlidje,  in= 
buftriellc  unb  wifjenjd)aftliche  (Sultur  nerbanfen  wir  lebiglich  bem 
SJunbe,  welchen  ber  Plenjch  mit  feiner  SOiutter  ©rbe  jd}Io§,  ber 
©ultut  beS  Vobenö 

Unb  wenn  wir  mit  SdjiQer  jagen: 

2>ajj  ber  'JJienjd)  jum  ?i)ienjctjen  werbe, 

Stift’  er  einen  em’gen  2?  unb 
©laubig  mit  ber  frommen  (Srbe 
Seinem  mütterlichen  ©runb, 

jo  biirfen  wir  getroft  jchliefeen:  35er  jjludj,  welker  nadj  ber  be- 
bräijehett  Pipt^e  ben  erften  SOJenjchen  traf:  „3m  Schweifjc  beineß 
tHngcfichtS  joUft  bu  bein  Vrot  efjeit"  war  weber  ein  gludj  no±i 
ein  Unglücf  für  iljn,  jonbern  er  gereichte  it)m  gunt  gröfjten  Segen 
er  machte  ihn  erft  311m  einftigen  Veberrjcher  ber  Grbe. 

Piit  ber  fortjdjteitenben  ©ultur  enthielten  auch  Vebürfniffe 
unb  jo  erhielt  bann  auch  nach  U|1&  nach  ber  jehetnbar  nufcleje 

(in) 


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23 


SBoben,  an  ber  Oberfläche  forootyl  al!  im  Untetgrunb  für  ben 
SRenfchen  feinen  SBerth,  ja  nicht  feiten  eine  oolf!wirthfchaftliche 
©ebeutung. 

5Doch  e!  giebt  in  ber  Statur  nicht!  ©eftänbige!  al!  eben  bie 
Unbeftänbigfeit,  nur  ihre  Kräfte  unb  beren  ©efefce  finb  ewig. 

2Bir  wiffen,  baß  fich  alle!  mit  ber  Beit  in  «Stoff  unb  gorm 
änbert,  bajj  fortwährenb  ^Regenerationen  ftattfinben  unb  ba  bet 
©oben  felbft  erft  ba!  iRefultat  oon  ©eränberungen  unb  Umge» 
ftaltungen  ift,  fo  fann  man  wohl  fragen:  SBirb  ber  ©oben  feine 
SJeftimmung  al!  Stcferboben  für  immer  behalten? 

©chon  bie  5Slten  haben  biefe  gtage  erörtert,  inbem  fie  meinten: 
„ber  ©oben  werbe,  wie  alle!  in  ber  SBelt  nicht  jünger,  fonbem 
älter,  er  tonne  am  (Snbe  feine  3eugung!traft  gang  verlieren“  unb 
ba  biefe  grage  immer  unb  immer  wieber,  wenn  auch  in  anberet 
gorm  auftaucht,  ift  fie  wohl  einer  (Erörterung  wertl). 

2Öir  fönnen  in  biefer  ©egiehung  ruhig  in  bie  ßufunft  feljen. 
JDie  Statur  forgt  burdh  ihre  mechanijchen  unb  chemifchen  ÜRittel 
in  au!reidjenbem  SRaaße.  2)urch  erftere  wirb  ber  ©oben  fort  unb 
fort  hauptsächlich  quantitatio  oermehrt,  burch  leitete  im  ©eftanb 
unb  ber  ©efchaffenheit  oeränbert  unb  gwar  ift  bie  wohUhätigfte 
©eränbeeung  bie,  ber  aUmähligen  äuflöfung  noch  nngerfe&ten 
2Rineral!  unb  Ueberfüljrung  in  ben  Bnftanb  al!  ^Sflan^ennährftoff. 
©ebenflicher  fcheinen  babei  bie  auf  3lu!laugung  hinaublaufenben 
©eränberungen  gu  fein,  obwohl  anbererfeit!  erft  gerabe  burch  bie 
9lu!laugung  gewiffer  ©eftanbtheile  ein  ©oben  ber  ßultur  jugänglich 
gemacht  wirb,  unb  bie  fünftlidje  (Sultur,  namentlich  bie  jweef* 
mäßige  Stu!nußung  ber  Sehren  ber  Sng'enieurwiffenfchaften  ift 
nicht  feiten  beftrebt,  biefen  ©ro^efj  ju  befdjleunigen. 

SSie  hier,  fo  muß  ber  SRenfdj  überall  erft  eingxeifen,  um  ben 
©oben  cullurfähig  ju  machen.  ($!  giebt  feine  natürlichen  ©etreibe* 
felber,  ©bftgärten  unb  Seinberge.  SDiefe  mußte  ber  SRenfd)  erft 

(S23) 


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24 


fdjaffeit.  2)urd)  jwecfmäljig  erprobte  Mittel  — burch  'Düngung, 
SJtelioration  u.  bgl.  wirb  auch  bie  Seugungöfraft  beö  Sobenö  nicht 
nur  erhalten,  fonbern  fie  wirb  gesteigert  in  bem  'Diaafee  ale  bie 
jfenntnifj  »om  ©oben  unb  bie  jfenntnifj  oom  Verhältnis  gu  ben 
im  Scben  oortjanbenen  ober  nicht  »orljanbenen  ©ubftanjeit  311* 
nimmt. 

SDiefe  Betrachtung  legt  uni  eine  anbere  nabe,  anfnüpfenb  an 
bie  oben,  bei  Beschreibung  beS  Bobenö,  berührte  Slbatjadje,  baf$ 
©runb  unb  öoben  ftetö  gufammengehörige  begriffe  finb,  um  beten 
Verhältnis  jur  organischen  Statur,  namentlich  aber  311m  Sieben 
unb  Sreiben  ber  SDtenjchen  alö  Ei^elwefen,  wie  im  Serbaitbe  jur 
©emeinbe  unb  jum  Staate,  fur^  311m  Seiferleben  311  unterjud)en. 

SDtögen  bie  Erhebungen  auf  ber  Erbe  baö  Diefultat  continen* 
taler  ober  lofaler  Aufquellungen  unb  Aufrichtungen  ober  baö  oul* 
fanifchet  Aufschüttungen  fein,  mit  benen  anbernortö  bie  Einfen* 
fungen  für  bie  grofjen  SJteereöbecfen  #anb  in  .£>anb  gingen,  bie 
Slhöler  finb  oorwiegettb  burch  AuöwaSdjung  entftanben,  fo  ba§  bie 
Serge  nur  bie  ihr  noch  nicht  anheimgefallenen  Otefte  barfteßen. 

SDiefe  Eonfiguration  ber  Erboberfläche,  biefer  SEÖcdjfel  non 
Berg  unb  £l)al,  ber  gormenreichthum  ober  bie  Monotonie  ber* 
felben  ift  abhängig  »on  ber  Beschaffenheit  ber  bie  fefte  Erbrinbe 
3ufammenfehenbcn  ©efteine,  fowie  beren  Ablagerungöart  unb  golge. 
Sie  übt,  nebft  ber  auflagemben  Bobenbecfe  nicht  nur  jaljlrcidje 
unmittelbare  Söirfungen  auf  bie  Außenwelt  auö,  wie  burch  Ser* 
theilung  unb  Art  ber  Quellen,  Eharafter  bet  Vegetation,  technifche 
Ausnutzung  unb  Auöbeute  nujjbarer  goffilien,  Eultur*  unb  Söirth* 
jchaftöfhfteme  beö  Boiftnö,  wie  fie  bereits  besprochen  würben,  fon* 
bertt  auch  fth*  wesentliche  Söirfungen  auf  Sehen  unb  Treiben  ber 
SKenfcheit  ober  anberö  auögebrücft  auf  Quantität  unb  Qualität 
bet  menfchlichen  Anfiebelung,  auf  phhfifche  unb  geiftige  Shätigfeit. 

3n  erfter  Sinic  wirb  allerbiitgö  bie  Bewohnbarfeit  eineö  Erb» 

(034) 


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U5 


ftridjS  oon  ben  flimatifchen  33erhältniffen  abhängig  gemacht,  bann 
aber  ift  eS  bet  Sobenbau,  fowohl  ber  innere  als  ber  äugere,  bcm 
bie  uncerfennbarften  unb  tiefeingreifenbften  (Sinflüffe  gugufdjreiben 
finb 

S)iefe  geigen  fich  gunädjft  in  ber  ©tärfe  ober  f.  g.  IDicfttigfeit 
ber  SBeoölferung  unb  gioat  berart,  bag  biefelbe  oon  ber  fruchtbaren 
9tieberung  auS  gunegmenb  im  mittellosen  formenreichen  ©ebirgS* 
lanb  butcfj  bie  inbuftrielle  33efd)äftigung  ihren  Jpöhepunft  erreicht 
unb  ebenfo  nach  bem  Hochgebirge  gu  wieber  abnimmt. 

©ie  geigen  firf)  ferner  in  ber  33ertbeilung  unb  gorrn  ber 
Wohnorte,  ja  oft  jogar  in  ber  33auart  ber  Käufer,  ©diou  ber 
fltomabe  wählt  forgfältig  bie  ©teile,  auf  ber  er  fein  luftiges  Seit 
auffchlägt,  um  wie  oielmehr  mugten  überall  bie  SJlenfdjen  für 
bauembe  5Bol>nplä^e,  je  nad)  bem  3wecf,  ben  fie  oonoiegenb  im 
Singe  Satten  — ob  $?obenbenürtf)jd?aftung,  irgenb  ein  Snbuftrie* 
3ioeig,  Söergbau,  .fpanbel,  Sicherheit  gegen  lebenbe  geinbe,  ©d)ug 
gegen  flimatijdje  Ucbel  u.  bgl.  ficS  bie  geeigneten  ©teilen  auS* 
fucfjen.  SBar  bie  Strahl  getroffen,  fo  mugte  ficS  notgwenbig  bie 
Boom  ber  SBognorte  — ob  um  einen  fUJlittelpunft  gejdjloffen,  ob 
längs  einer  Sinie,  Öach,  2.balfol)le,  SBetgrücfen  jc.  oertheilt  ober 
ob  mit  oößig  gerftreuten  (Singelgehöften  — ben  Dberfladjenoer* 
Sdltniffen  anjd)liegett. 

©o  fchmterig  eS  auch  im  (Singeinen  fein  mag,  fpecielle  9tad)= 
weife  gu  liefern,  fo  lägt  fid>  bod)  im  ©rogen  unb  ©angen  be* 
Raupten,  bag  ber  heutige  SDtenfd)  mit  allen  feinen  (Sigenfdjaften 
baS  enblidje  iprobuct  aller  ber  phpfifdjen  unb  geiftigen  (Sinbrüdfe 
fei,  burd)  weldje  bie  ihn  umgebenbe  Slugenwelt  auf  ihn  unb  feine 
S3oräliern  oon  Slnbeginn  an  gewirft  hat  unb  bag  bie  Uuterfd)iebe 
ber  SBölferftämme,  bie  grogen  Ungleichheiten  ihrer  pbpfifdjen  »nie 
ihrer  geiftigen  (Sntwicfelung  grogentgeilS  ihre  Urfache  in  ber  phh= 
fifcgen  Ungleichheit  ber  Sänber  haben.  3ebe  ©chtoierigfeit,  welche 

(5»5) 


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26 


ber  ©obenbau  bem  2eben  bietet,  regt  an  gu  ihrer  ©eftegung,  jebet 
©ortbeil  gu  feiner  sJluönutjung,  bab  ÖCUeÖ  übt  unb  ftärft  ben  @ei|'t. 
3e  mannigfaltiger  bieje  aber  finb,  um  fo  mannigfaltiger  ift  bie 
gtiftige  Anregung,  unb  ba  biejee  in  geologifcb  ccmplicirt  gebauten 
Segcnben  meiftenö  ber  gall,  fo  ftnben  mir  aud)  l)ier,  unter  übri* 
genb  gleichen  Umftänben,  burchfdjnittlid}  eine  ^ö^ere  geiftige  @nt« 
wicfclung  bet  ©ewobnet  alb  in  einförmigen  Sbenen,  bie  wenig 
Stoff  für  geiftige  Anregung  bieten. 

9Jlag  nun  bie  ©ejdjäftigung  ber  ©ewobner  fein,  welche  fie 
wolle,  ein  #auptförberer  für  ben  materiellen  Söoblftanb,  fei  eb  in 
©egiebung  auf  ^ubnujjung  beb  oon  ber  CRatur  in  ber  fRäbe  ®e= 
botenen  unb  ©erwertfjuug  berfelben  nach  aufcen  ober  in  ©egiebung 
auf  -£>erbeifcbajfung  anberweiter  ©ebürfitiffe  ebenfo  wie  für  bie 
geiftige  (lultut  unb  ©erfdjmelgung  bgw.  ©enoifchung  ber  ererbten 
bobenftänbigen  (Sigentbümlicbfeiten  ift  ber  ©erlebt  unb  eb  be= 
barf  wohl  nicht  beb  überall  tbatjäcblicb  begrünbeten  ©adj toeifeb, 
bafj  bie  natürlichen,  wie  fünftlicben  ©etfebrbwegc  mit  bem  ©o* 
benbau  in  innigjtem  3ufantmenbange  fteben. 

3a  felbft  auf  bie  böchfte  Steigerung  beb  ©erfebrb,  alb  welche 
fich  ber  Ärieg,  bab  Iejjte  ORittel  ber  ©olitif  auffaffett  läßt,  wenn 
auch  eineb  »on  groei  entgegengefejjteit  Seiten  aubgehenben  ©er* 
febrb,  ber  fich  gegenjeitig  gu  h»’bern,  gu  befchränfcn,  ja  gu  oer* 
nichten  fudjt,  ift  ber  ©obenbau  oon  wichtigem  ©influf). 

Snblich  ift  nun  noch  bem  ©obenbau  ein  febr  wefentlicher 
(jinfluf)  auf  bie  Sefunbljeit  ber  ©emobner  gugufchreibett  unb  gwar 
fommeit  hier  fowol)l  bie  ©obenform  unb  bie  SSärmeleitungbfäbig* 
feit  ber  Sefteine  befonberb  für  bie  flimatifeben  ©egiebungen  in 
©etraebt,  alb  auch  ber  Untergrunb  in  ©egug  auf  ben  (Sbarafter 
ber  Duellen,  namentlich  aber  bie  oberfte  ©obenbeefe  felbft.  Sefctere 
alb  ©augrunb  an  unb  für  fich  fowobb  alb  auch  burdj  ihr  ©er* 
bältniß  gum  überbeeften  Srunbgebirge  burch  emporbringenbe  geuch* 

(SÜ6) 


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27 


tigfctt  unb  Grljalationen  oon  ©afcn,  fotoie  burd?  bereit  Söecbfel* 
wirfung  mit  ber  Sltmofpbäre,  woburcb  eben  in  bejonberen  fällen 
ber  ©oben  ju  einem  ©ammdplag  oon  Äranfbeiten  förbernber 
SBerwejungöftoffe,  ja  für  Äranfbeitöfeime  jelbft  wirb,  bie  it)m  in 
§orm  oon  ißiljjporen  u.  a.  jugeführt  unb  unter  günftigen  33e* 
bingungen  jur  3eit  frei  gemacht  werben. 

Söenn  aud)  nic^t  bireit  als  ÄranfbeitSfeime,  jo  bod}  als  Ur* 
fac^e  mancher  Grfcheinungen  im  SSoblbefinben  ber  Bewohner  muß 
es  noch  angejeben  werben,  bafj  birect  bie  leichte  3erftäubung  nieler 
SJobenarten  auf  bie  üb^tigfeit  ber  Zungen,  ber  .fpaut,  ber  säugen  jc. 
einwirft  unb  bafj  mittelbar  ber  9)iitgenu§  nariabeler  SJiengeu 
erbiger  ©ubftanj,  wie  fie  bie  jut  Nahrung  bieitcnben  $ flauten 
bem  33oben  entzogen  unb  angereidjert  bitten,  auf  bie  ©ejunbbeit 
oft  ooit  bauembem  Ginfluffe  ift. 


©o  tröftlid)  nun  auch  bie  ÖluSficbt  ift,  bafj  ber  $}oben  in 
feiner  mittel*  wie  unmittelbaren  33ejiebung  jur  organifchen  Ütatur 
unb  in  feiner  relatio  haften  öeftimmung  3um  SHenfchen  gerabe 
burch  baS  3wtbun  ber  fOienfcbeit  mebt  unb  mehr  ficb  geeigneter 
geftaltet  biefem  3l»ecfc  3U  bienen,  fo  ift  bod)  mit  all  bem  S3or= 
auögebenben  nicht  >MeS  beseidjnet,  waS  fid)  über  bie  Söeftimmung 
beS  33obenS  fageit  liefje.  GS  fragt  ficb  nod? : 
ob  ber  33oben  nicht  auch  eine  SJeftimmung  bat  in* 
nerbalb  ber  ^5^afen,  welche  bie  Grbe  als  SBeltförper 
burcbläuft'? 

2)en  SSerjud)  ju  machen,  biefe  Stage  beantworten  $u  wollen, 
müffen  wir  einen  großen  ©c^ritt  jurücftbun,  ja  fogar  bie  wahr* 
jcbeinlicbfte  $ppotbefe  über  bie  SMlbung  ber  Söeltförper  jelbft  ju 
Jpülfe  nehmen. 

2Bir  benfen  unS  bie  Söelt  urjprüuglicb  als  eine  ©unftmaffe, 
jebeS  ©runbelement  anögeftattet  mit  beftimmten  fpecifijcben  Gigen* 

fSJ7> 


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28 


jdjaften,  allen  gemeinfam  bie  ©d}were.  Sermege  ber  Steteren 
mußten  bie  ©runbftoffe  einem  fDiittelpunfte  $uftrcben,  ber  Sewc* 
gütig,  in  geige  beffen  Dling*  unb  Salleitbilbung  fjerccmef.  Unter« 
be|$  nun  biefe  gefonberten  Sailen  als  ©injelinbioibuen  bem  ut* 
fprütiglichen  ©efefce  felgten,  bilbeten  fie  befenbere  s.))tittelpunfte  für 
bie  ihnen  oerblicbenen  ©toffelemente.  2>ie  Schwere  erscheint  als 
3?rnrf,  als  sfßreffnng  auf  ben  fÖiittelpunft , ber  Trucf  würbe  unb 
wirb  nod)  beute  umgefetjt  in  Söärme;  ber  Schwere  entgegen 
arbeitenb  unb  ihr  au  einer  beftinimten  ©renje  baS  ©leichgewidjt 
haltenb  wirft  bie  IHotatieuSfvaft. 

®urd)  beu  T'rucf  unb  bie  jebent  ©runbftoffe  innewohnenben 
@igcnthümlid)feiteu  faitben  fid?  bie  gleidjartigen  jufammen,  nach 
bem  ©tabe  ber  chemifchen  Serwanbfdjaft  bilbeten  ftd)  einfache  3n« 
bieibuett  unb  djemifdje  Setbinbungen  ju  feften  Äörpem,  ju  ÜRi* 
neralien  unb  ©efteinen,  bie  fid)  im  Allgemeinen  nach  bem 
fpecififchen  ©ewidjte  um  ben  SEKittelpunft  rangirten,  wenn  nicht 
gegenseitige  £inbemiffe  eriftirten. 

Sei  biejer  Silbung  beS  feftcu  GrbballS  würbe  jwar  ciel 
©auerftoff,  SBafferftoff  unb  ©tiefftoff  uevbraudjt,  allein  bet  liebet* 
jehuf?  oon  SSafferftoff  unb  ©auerftoff  blieb  als  eine  djemifche  Set* 
binbung  — als  SBaffer  — , als  Äerper  im  fliiffigen  Suftanbe, 
ber  nur  jeitweife  burd)  $emperaturerniebrigung  ben  3nftanb  ber 
feften  frpftallinifchen  fDtinerale  erlangt,  übrig  unb  bie  Suft  enblich 
als  blofjcS  ©emenge  ber  beiben  ©afc  ©auerftoff  unb  ©tiefftoff 
mit  untergeorbneten  ÜJlengen  anberer  ©afe,  namentlich  Ächten* 
jäure. 

5Jlad)bem  biefe  ©onbetung  oolljogen,  neigte  auch  bie  erfte 
SfyaSe  ber  ©rbgefchidite  ihrem  ©nbe’  ?u.  5ßir  bürfen  biefe  Seit, 
im  .Ipinblicf  alif  anbere  Sßeltförpcr,  bie  ©onnenjeit  ober  Serbren* 
nungSjeit  nennen,  ba  ber  wefentlidie  Sorgang  innerhalb  berfelben 
bie  Serbinbung  ber  ©Iemente  mit  ©auerftoff,  bie  Dribation  ober 

(WS) 


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29 


Verbrennung  unter  ßtd?t=  unb  SSärmeentwicflung  gewefen  fein  mujj. 
JDabei  läfjt  ftdb  amtebmen,  baff  in  biefer  gewaltigen  Stufregung, 
beoor  fid)  bie  total  oerbrannten,  b.  b-  mit  bet  unter  ben  beglei» 
tenben  Umftänben  l)ö<jbftmegli(^en  ©auerftoffmenge  oerbunbenen 
Körpern  gu  ftarren  fötincralien  aneinanberfcbloffen , ihre  gegen* 
feitige  Beweglidjfe'tt  geftattete,  bafe,  wie  in  einem  burcfaauä  flüf* 
ftgert  Körper  (fDtagma)  bie  SRotationäfraft  bie  Bilbung  bes  an 
ben  $olen  abgeplatteten  ©ptjaroibä  — bie  ©runbgeftalt  ber  Grbe 
— beroorrief. 

©ofort  begann  nuitmebr  ber  Äampf  ber  beiben  Glemente  (im 
©inne  ber  SUten  gefprodjen)  Sßaffer  unb  Suft  gegen  bie  6rbe,  bie 
Bilbung  beä  Bobenä,  bie  ^Btjafe  ber  Cfrbe  mit  @rbe  (Boben),  bie 
Bert  ber  (Stiftet^  beä  organijcbm  Sebenä,  beffen  bödjfte  (Sntwicfe* 
lungäftufe  nad)  menfdjlidjen  Gegriffen  erreicht  ift. 

©o  ift  alfo  bie  jweite  $bafe  bet  (Frbe  baburd)  cbaracterifirt, 
baff  ber  fefte  Orbbatl  eine  2)erfe  oon  Boben  trägt,  unb  burcb  unb 
auf  biefem  baä  crganifcbe  geben  ficfe  abrollt. 

SBir  fennen  felbftoerftänblid)  bie  (Srbe  nur  in  biefem  3uftanbe 
au§  eigener  Stnfdfauung.  2Bie  fte  im  Saufe  ber  Beit  fo  geworben, 
muffen  wir  etfdjlieffen,  unb  gwar  ttjeilö  burd)  Bnbnifenabme  fo8= 
mifcber,  weit  außerhalb  ber  Grrbfpfyäre  im  SBeltraume  oorgebenbet 
(Srf  Meinungen,  tbeilä  auä  ber  in  ber  (Srbe  felbft  burdf  unjwet* 
heutige  Settern  oerjeidfneten  ©efcbicbte,  nämlid)  ber  ©efdjidfte  ber 
SRineralien,  ber  ©efteine,  ber  Formationen  unb  ber  organiftben 
©dföpfungen. 

Db  ber  jefjige  3uftanb  im  SBefentlidjen  fo  bleibt,  wie  er  ift, 
unb  wenn  nidjt,  wie  lange  er  fo  bleibt,  butdf  Welche  Vorgänge  er 
oeränbert  unb  fdjliefflidj  beenbet  wirb,  um  einem  anberen  Snftanbe, 
nämlidj  ber  britten  Vbafc  in  ber  (Srbentwicflung,  Sßlafc  ju  machen, 
baä  finb  Fragen,  bie  fitfj  febet  benfenbe  SJtenfdj  fd£?on  oorgelegt  hat 
unb  beten  Beantwortung  burcfiauä  nicht  in  baä  fReidj  ber  Unmög» 

(529; 


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30 


lidjfeit  fallt,  fofem  wir  bie  Vorgänge  in  bet  ©orgeit  unb  Sefctgeit 
einer  tintigen  SBürbigung  unterteilen  unb  uns  bie  folgen  biefet 
Hergänge  vergegenwärtigen. 

Sie  wir  aus  ber  ©efcpichte  bet  @rbe  wiffen,  ift  ©oben*- 
bilbung  unb  organiftheS  geben  eng  unb  innig  mit  einanber  »er* 
fnüpft. 

Äennen  unb  muffen  wir  nun  auch  ba,  wo  nur  bie  ©eob* 
Ortung  ber  govm  gu  ©ebote  fteht,  nicht  aber  bie  bet  pbhftologi= 
fdpen  Vorgänge  im  Organismus  jelbft  im  3weifel  bleiben,  welkem 
ber  beiben  ber  grofcen  JReichc  ber  organifdjen  fRatur  wir  ein  ©e* 
bilbc  guredjnen  foHen , fo  lagt  biefeS  nur,  ba§,  wie  SlHeS  in  ber 
9fatur  o^ne  Sprung  ineinanber  übergebt,  fo  auch  ©flange  unb 
2bier,  bie  beiben  gormen,  in  benen  fiep  uns  baS  organijtfee  geben 
offenbart,  in  ihren  Uranfängen  innig  mit  einanber  »erfnüpft,  wenn 
nicht  gar  eines  gemeinfamen  UrfprungS  felbft  finb.  2>ie  phpfto* 
logifchen  Vorgänge,  bie  gebenSbebingungen  beS  ©efthöpfS  geben 
unS  erft  SRittel  an  bie  £anb,  bemfelben  bis  auf  wenige  9lu$* 
nahmen  feine  richtige  Stelle  anguweifen,  ihr  ©erpältnif)  gu  ein* 
anbet  unb  gum  ©oben  flar  gu  erfennen. 

9fur  bie  ©flange  unb  gwar  bie  birect  ©^lorop^rjQljaltige  ober 
mit  einem,  wenigftenS  in  ©egiepung  auf  ben  gebenSprogefj  bem 
fich  ähnlich  oerpaltenben  Äörper  (SDiatomin,  ©hpco» 
eprem  ober  öratrophptl)  begabte  ©flange  fnüpft  unmittelbar  an  bie 
anorganifche  fRatur  an.  3nbem  fie  fich  ber  ihr  burep  gtept  unb 
SSBärtne  bargebotenen  Äräfte  bemächtigt,  ift  fie  im  Staube,  ihre 
fRaprung  unmittelbar  ben  ©eftanbtpeilen  bet  guft,  beS  SöafferS 
unb  beS  ©ebenS  gu  entnehmen  unb  in  3HjeiIe  ihrer  felbft  — in 
©flangenfubftangen  — umguwanbeln.  Sämmtliche  IRahrungSftoffe, 
welcher  Slbfunft  fie  auch  fein  mögen,  ftnb  aber  »ollfommen  oer« 
brannte  ober  mit  bem  chemifchen  SluSbrucfe  h^ftojrtbirte  anorga* 
nifepe  Elemente  unb  bie  ©ilbung  beS  sPfIangenförperS  auS  ihnen 

(5JU) 


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31 


befteht  im  5Befentlid)en  barin , fcafj  bie  Jlraft,  mit  welcher  ber 
©auerftoff  an  bett  (Elementen,  namentlich  an  bem  Äohlenftoff  in 
bem  £auptnabningSmittel,  bet  Äcblenfäure,  haftet,  aufgehoben  wirb. 
2>ie  ^Pffange  abforbirt  gleichfam  Äoblenfäure,  uerwenbet  ben  jfohlen* 
ftoff  unb  giebt  ben  gu  neuen  Berbinbungen  nicht  nöthigen  Sauet« 
ftoff  als  überfchüffige  JluSfdjeibung  an  bie  ^tmofphäre  gurücf. 
SDiefer  Brogefj  führt  ben  Barnen  — bet  Sljfimilatien. 

@ang  anberS  ift  bet  Berlauf  bet  fiebenSthätigfeit  im  thieri» 
fd?en  Organismus  unb  in  bem  bet  dilorop^tjllfreien  fog.  ©chma* 
rohet'Bflangen.  3hre  Bohrung  befteht  entweber  birect  aus  ben 
burch  ben  pflanzlichen  Brogefj  oorgebilbeten  B»obucten  ober  bei  ben 
gleifchfreffem  (jeboch  ^ter  nur  mittelbar)  auS  Sleifdj  felbft.  SDet 
SebenSprogefj  ber  2^»^  »ft  ein  wahrer  BerbrennungSptogefc,  ba 
gut  Umbilbung  ber  Bahnmg  in  thierif<he  Brobucte  ©auerftoff  auf* 
genommen  unb  Äohlenfäure  auSgehaucht  wirb,  ©iefer  Berbren* 
nungSprogefj  ift  eS  auch,  ba  et  mit  einer  beftimmten  Energie  oor 
fich  geht,  welcher  unfere  .Körperwärme  bebingt,  unfere  BtuSfeln  gut 
Seiftung  mechanifchet  Arbeit  befähigt  unb  unfere  geiftige  Übätigfeit 
unterhält,  eS  wirb  baburch  jener  2he»i  ber  oon  ber  Bflange  auf* 
gefpeiefjerten  .Kraft  — ber  SBärme  — wiebet  frei  unb  fefjrt  als 
burch  Bermittelung  ber  Bflnnge  oon  ber  anorganifchen  Batur  nur 
erborgt  in  biefe  wieber  gurücf. 

Slber  auch  bie  anbete  oon  ber  Bflange  abjorbirte  .Kraft  — 
baS  Sicht  — wirb,  freilich  erft  burch  fünft licheS  Jperoorrufen  ber 
©ntgünbungStemperatur  — bie  oon  bet  Bftange  an  um  fo  gröfjer 
fein  mu§,  je  weiter  bet  mit  ber  Begetation  begonnene,  in  ben 
BermoberungSreften  (2orf,  Braun*,  ©teinfohlen,  Slnthragit, 
©raphit  uhb  ^Diamant)  fortgefetjte  Brogefi  ber  ©auerftoff*  unb 
SBafferauSfcheibung  begw.  relatioen  ,f ohlenftoffanreicherung  gebiehen 
ift  — »ieber  frei.  !DaS  Btobuct  biefeS  fünftlichen,  unter  Sicht* 

(531) 


/ 


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32 


erfdjeinung  coHjogenett  IBerbrennungäprozeffeä  ift  baffelbe,  wie  bei 
bem  tbicriftben  SebenSprocef),  nämlich  .(toblenfäure. 

^ierauö  gebt  beroor,  baff  baä  pflanzliche  Sehen  alä  ein  pro» 
burirenbeä,  ba§  tbierijcbe  al§  ein  confumirenbeä  fid)  gegenseitig 
bebtngen,  baf?  fie  nicht  nur  zur  Regelung  beS  großen  Sebenäbauä» 
balteä  neben  einanber  befteben,  fonbern  fo  redbt  eigentlich  für  ein» 
anber  befteben  muffen,  immerbin  aber  baä  erfte  cor  bem  zweiten, 
wenigftenä  in  ben  Uranfängen  eriftiren  muffte,  worauf  bann  crft 
febeä  nach  ben  äufferen  SBebingungen  in  ben  Späteren  (Generationen 
ficb  3U  fucceffioe  complitirteren  gormenfreifcn  entfaltete. 

3nfoweit  hiernach  burdj  baä  pflanzliche  unb  tbierifche  Sehen 
bauptfächlich  ber  äfreiälauf  ber  Äoblenfäure  ber  Sitmofphare  gere* 
gelt  erfcheint,  unb  wir  feine  in  Setradjt  fommenbe  anberweite 
Gonfumtion  »on  biefem  Stoffe  fennen,  ba  im  (Gegenteile  bie 
Pflanze  noch  eine  weitere  .ftoblenfäutequelle  in  ben  organifchen 
33ermoberungäreften  ftnbet  unb  eine  nicht  zu  unterfchäjjenbc  3ufubt 
bitrch  bie  fünftliche  Söerbrennung,  namentlich  ber  au§  bem  ©choofje 
her  Grbe  betüorgezogenen  fofftlen  fPftanzenrücfftänbc  zu  $eiz*  unb 
Seuchtzwecfen  erfährt,  bfirfen  wir  mit  3u»erfi<ht  in  biefer  ^>in* 
ficht  auf  ein  Bis  in  unabfebbare  gernen  fortbeftebenbeä  organifdjeä 
Sehen  f<hlie§en. 

3u  einem  burchauä  anberen  SRefultate  gelangen  wir  inbe§, 
wenn  wir  alle  Sebenßbebingungen  ber  organifchen  SBefen  in  SBe» 
tracht  ziehen  unb  ihr  SBerbältnifj  zum  Soben  felBft  »erfolgen. 

SRuffte  fchon  unzweifelhaft  gewiffen  urgefdjichtlic^en  SBoben 
bie  Aufgabe  Zufällen  burch  Erzeugung  einer  enormen  Pflanzen» 
maffe  bie  Grbe  »orzubereiten  für  Gntwicfelung  Ijöber  organifirter 
SBejen;  bat  bet  23oben  fort  unb  fort  bie  Aufgabe,  ^Regulator  für 
SÜBärme  unb  ben  Äreiälauf  ber  (Gewäffet  Zu  fein,  Aufgaben,  bie 
wir  zu  ben  Jpauptbebingungen  beä  organifchen  Sebenä  zu 
fennen  gelernt  haben,  fo  ift  unmenbt  zu  bebenfen,  ba§  gerabe 

(5J2) 


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33 


burdj  bie  fortlaufenbe  ©obenbilbung  ein  ©erbrauch  an  ßuft  unb 
SBaffer  bebingt  ift,  ber  bem  ewigen  .Kreislauf  für  immer  ent* 
Zogen  wirb. 

©icht  alles  Söaffer,  welches  als  SDunft  auS  bem  fDieere  auf* 
fteigt,  in  Söolfen  übet  baS  Sanb  getragen  hier  nieberfäüt,  oom 
©oben  filtrirt  unb  fo  in  ben  Untergrunb  geführt  wirb,  fotnmt 
wieber  in  ben  Duellen  ju  Sage  um  jum  sDieere  juri'ufjufliefeen. 
©in  Sbeil  unb  wenn  auch  im  ©erhältnifc  jum  ©anzen  ein  nur 
fehr  minuttöfer  Sbeil  bleibt  jjurücf,  tbeilS  im  Untergrunb,  hier  um 
©erbinb  ungen  mit  feften  SJHneralförpern  zu  neuen  feften  SDRineral* 
fördern  einzugeben,  bort  um  biefe  Umbilbung  bis  jum  ©tabiurn 
ber  feinften  ©arerbi,  ben  bödift  möglichen  ©erbrennungS*  (Dri* 
bationS*)  unb  SafferungS*($t>bratifirunge=)ftufen  einzugeben,  wo* 
bureb  eben  biefer  Ölntbeil  SBaffer  als  Sßaffer  unb  gleichzeitig  auch 
Suft  oerloren  gebt. 

©o  unenblicb  lang  wir  uns  nun  auch  bie  Seit  benfen  mögen, 
innerhalb  welcher  bie  ©irculatien  beS  SöafferS  in  bet  uns  be* 
fannten  SSeife  oor  ficb  gebt,  fo  mufe  fie  bod'  einmal  ein  ©nbe 
nehmen. 

©8  mu|  eine  Seit  fommen,  wo  alles  SBaffer  unb  alle  ßuft 
gleichfam  felbft  zu  fDiineral  geworben,  zur  ©obenbilbung  oerbrauebt 
fein  wirb.  SBie  bann  für  alle  bisher  bagewejenen  organifd?en 
SSefen  ber  ©oben  nicht  nur  fOiutter,  ’Ämme,  ©orratbSfammer, 
.Küche  unb  ©rab  war,  fo  wirb  er  aud)  mit  jenem  Seitpunfte  — 
baS  ©rab  ber  gefammten  organifchen  Söelt  fein. 

Damit  ift  baS  ©nbe  ber  zweiten  ©baje  ber  ©rbentwicfelung 
bezeichnet,  innerhalb  welcher  wir  behaupten  bürfen: 

„ber  ©oben  ift  ber  wiebtigfte  Sheil  ber  ©rbe" 
unb  wohl  wertb,  über  fein  SBefen  unb  feine  ©eftimmung  nachge* 
bacht  zu  buten. 

Nunmehr  bürfen  wir  e§  auch  wagen,  bie  ©eantwortung  ber 

XL  253.  3 (MJ) 


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34 


grage  anjuftreben:  SBarum  würbe  bie  (?rbe  nicht  in  einer  un« 
unterbrochenen  golge  $u  einem  feften  ©all,  warum  mufjte  rorerft 
SBaffer  unb  Euft  übrig  bleiben? 

SBohl  mag  SBaffer  unb  Euft  alö  gwei  befonbere  füllen  burdj 
ihre  33ertheilung  unb  bie  ÜJtannigfaltigfeit  ber  in  ihnen  fid?  ab» 
fpielenben  ©rfcheinungen  ber  ®rbe,  non  unferem  ©tanbpunfte  aus 
betrachtet,  $um  ©dhrnucf  gereichen;  ihrem  Uebrigbleiben  bei  ber 
feften  Grbbilbung  lag  ein  höherer  3n?ecf  ^u  ©runbe. 

5)a8  Uebrigbleiben  war  nur  ein  zeitweiliges,  wenn  auch»  über 
einen  für  unfere  begriffe  unfaßbaren  3«traum  außgebehnteß;  Euft 
unb  SBaffer  füllten  ebenfowohl  in  bem  feften  ©erüfte  ber  @tbe 
oerfd)winben  unb  felbft  feft  werben,  wie  eS  bie  übrigen  mit  flat* 
lerer  chemifcher  ©erwanbtfchaft  begabten  IBerbinbungen  längft 
norbem  geworben  waren.  ©ie  werben  e8  auch  werben,  wie  auß 
ben  obigen  ©chlüffen  folgt,  allein  bie  ganz  befonbere  (Eigenart, 
burch  bie,  bie  3eit,  in  welcher  fie  es  werben,  lehrt  unö,  baß  bie 
Verzögerung  hierbei  auch  ihren  3»ecf,  ja  wie  wir  woßl  ange- 
nehmen berechtigt  finb,  ihren  cornehmften  3wecf  batin  hatte,  or* 
ganijebe  SBejen  heroor^ubringen,  bie  ©tbe  pm  ©djauplafc  orga* 
nifcher  unb  in  beffen  bödjfter  ©ntwicfelung  organifcher,  geiftig 
begabter,  über  ftcb  felbft  unb  über  3«>ecf  unb  ©ejttmmung  ber 
fftatur  nachbenfenber  SBefett  zu  madten. 

5Rit  ber  Verzehrung  ber  Euft  wirb  auch  bie  oon  ber  Sonne 
ber  ©tbe  überfommenbe  SBarme  etlöjeben,  bie  ©rbe  wirb  in  ihrer 
britten  (Sntwirfelungiphafe  einen  Etnblicf  gewahren,  ben  wir  im 
£inblicf  auf  ben  5Jtonb  wohl  ahnen  fönnen. 

®er  SOtonb,  welcher  nur  ber  ©rbmaffe  befißt  unb  ben  wir 
aus  bemfelben  Urfprung  ableiten  müffen  wie  bie  @rbe  felbft,  hat 
ficherlid)  feine  Vhafen  auch  rafdjer  burchlaufen.  3n  feinet  ^weiten 
war  oietleicht  bie  @rbe  nod)  in  ihrer  erften.  ©ie  war  ihm  leucb» 
tenbe  unb  wärmenbe  ©onne  babunh,  baß  bie  ©onberung  ren 

(534) 


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35 


@rbe,  äßafjer  unb  2uft  nicht  allein  nod)  nicht  ooll^ogen,  fonbern 
im  ©egentheile  noch  weit  riicfmärtS  bie  Verbinbuttg  ber  fpecifijch 
leichteften  TOetallelemente  — bet  Ullfalten  — mit  Sauerftoff,  alfo 
eine  Verbrennung  mit  bebeutenber  Hie^t=  unb  SBarmeentnncfelung 
in  oollem  ©ange  war,  wie  eS  bie  Sonne  je£t  für  bie  <5tbe  ift. 
Vornämlid)  au§  bem  Mangel  gewiffer  cptifdjer  (Srjcheinungen 
müffen  wir  annehmen,  ba§  ber  OJionb  ein  ftarrer  fefter  .Körper 
ift,  bem  jegliche  $ülle  oon  SSiaffer  unb  2uft  fehlt,  ber  nichts* 
beftoweniger  eine  mit  bet  CSrboberfläc^e  oergleichbare  Konfiguration 
aufweift. 

(Sine  wahre  Ungahl  äd^t  oulfanifcher,  tiefiger  Vergformen  mit 
Arateren  unb  ßaoaftrömen  lä§t  barauf  jchliefsen,  ba§,  wie  jetct  auf 
ber  Krbe  bie  oulfanijcbe  Jhötigfeit  immer  gröbere  unb  gröbere 
‘Xnftrengungen  macht,  ihre  Schlote  immer  höher  unb  höher,  gegen 
bie  ber  Vorgeit,  aufbaut,  ihre  Vrobucte  eine  immer  gunehmenbere 
SDtannigfaltigfeit  unb  Gomplicirtheit  ber  Sujammenfebiung  bieten, 
jo  aud)  bie  lebten  Äraftanftrengungen  beS  in  uttntebbare  liefen 
hinabgebrungenen  3öafferS  mit  ben  lebten  VulfanauSbriichen  er* 
lojch,  währcnb  weite  Vertiefungen  nur  alb  ehemalige  5Dieereb= 
betfen  ju  beuten  finb. 

So  haben  wir  benn  in  bem  änblicf  ber  Sonne,  ber  Gebe 
unb  beS  jJJionbeö  bie  ‘Jufeinanberfolge  ber  brei  groben  Kntwicfe* 
lungöphajen  ber  @rbe  jelbft,  über  bie  hinaus  noch  weitet  gu  folgern 
une  jeber  Inhalt  fehlt. 


Slnmerfungcn. 

1)  Unter  allen  ffierfen  über  Vobenfunbe  müffen  bie  Ben  g.  21.  gallou. 
DreSten.  &.  Scpcnfelb  186"2u.  05  oorangefteUt  werben.  3«  ihnen  ift  nach 
acht  naturwiffenfcbaftlichen  ©runb  jähen  »erfahren  unb  bereits  ein  reicher 
Schah  ccn  Erfahrungen  aufgefpeitpert.  Dabei  finb  biefe  Slerfe  in  einer 
fo  eleganten  anfprechenben  SESeife  Betragt,  tag  — feitbem  ich  biefelben,  im  2ln* 

3*  («5) 


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36 


jdjlujj  an  meine  ©orleiungen  über  ©eognofie,  ben  »eiteren  Specialcourfen 
über  ©obenfunbe  für  bereinige  8anb»  unb  $orftwirtl)e  ju  ©runb  gelegt, 
mehrere  ©ortragScpclen  in  $adwreinen  gehalten , ein  großer  Sbeil  ber  Diebe» 
»cifen  fiel?  meinem  ©ebanfengang  unauSlöfchlich  eingereiht  bat,  bie  bann  auch 
in  bie  eorliegenbe  Sfizje  übergegangen  ftnb. 

2)  Oie  einzeilige,  colonienweife  lebenbe  rotbe  2llge  — Protococcus 
nivalis  — , welche  auch  bem  §irn  ben  rüttjen  Schein  cerleiht. 

3)  3n  meinem  oorjai)rigen  Vertrage  über  Srbbeben  unb  ©ulfane 
(j.  202  biefer  Sammlung)  habe  ich  meine  '.’lnfichten  herüber  entmiefeit 
unb  glaube  bargethan  ju  haben,  bafj  im  Snnern  ber  Srbe  gar  feine 
feurigen  SRaffen  epiftiren,  fenbern  ba§  aller  fteuerfebein  ber  ©ulfane, 
l'aeen  tc.  erft  ein  mit  bem  StuStreten  ber  überh»feten  — lebiglich  burch 
©affer  unter  hohem  Orucf  bereiteten,  burch  Oampf  emporgetriebenen  — 
©taffen  erfolgenbcS  StageSphänomen  ift. 

4)  Sine  allgemeine,  gleichzeitig  bie  Srbc  bebeefenbe  Uebcrfchemmung, 
eine  ©eltflutl)  (diluvium,  Sintflutb)  hflt  e*  niemals  gegeben,  eS  fann 
alfo  auch  con  feinem  biluoialen  ©oben  bie  fRebe  fein.  Obwohl  noch 
anbere  ©elfer,  außer  ben  alten  Hebräern,  ^lutpfagc  haben,  fo  ift  eS  bo<h 
oornämlith  bie  Dtoacbifche  gluth,  welche  unter  bem  Schein  einer  höheren 
Offenbarung  im  ^>erjen  ber  europäifchen  ©flfer  wurzelt.  ®a  »ich  bie 
Hebräer  bie  Srbe  als  Scheibe  bauten  ohne  Dtampe,  fo  liegt  fchon  in  ber 
Sage  felbft  ber  ©iberfprud).  SS  fann  bei  Slufftellung  ber  DJlpthe  nur 
bie  Slbficht  obgewaltet  haben  eine  religiofe  3bee  zu  cerftnnlichen,  bie  beS» 
halb  auch  nur  eine  allegorifche  Auslegung  zuläßt,  daraufhin  beutet  fchon 
ber  Dtame  .Dioal;"  im  SanSfrit:  ber  Schiffer,  woron  ftch  baS  ©ort 
.Dlachen“  erhalten  hat. 

5)  Sine  fct>r  eingehenbe  ©ehanblung  biefeS  feljr  wichtigen  ©egen» 
ftanbeS  liefert,  unter  DJiittheilung  zahleicher  ©etailunterfucbungen  unb 
©elegen  baS  clafftfche  ©erf : „OeutfcblanbG  ©oben,  fein  gcologifcher  ©au  unb 
beffen  Sinwirfung  auf  baS  ?eben  ber  ©tenfeben  con  ©ernharb  eon  Sotta*. 


(536) 

!Tru(f  oen  QSebr.  Uitfler  ($b.  Qjrtmni)  in  ©erlin,  iScbcnfbfrflrrftr.  17». 


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r 

^ (^arnl\ttrl>ilil 

ill t di it c I Cirnict’s» 

©ejeidjnet 

ton 

^ditri  foffiti, 

Lic.  tbeol.. 

fjrtbiöer  gu  Steabefcurfl. 


örrlin  SW.  1S70. 

93  c r 1 a g von  ßfltl  ^>abel. 

(£-.  \0.  Uribirittidi»  J^JrlQnsbnditinnblnr.jj.) 

33.  • Str.l|t  33. 


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3)aÄ  5Re*t  btt  Ueberfcbung  in  frtmbc  ©pratfen  wirb  coibfbalt«. 


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lieber  beit  ©enfer  ©ee,  fidj  wieberfpiegelnb  in  feinen  tief» 
blauen  glulfyen  flammt  plöfclicb  ein  unheimlicher  geuerfebein.  ©8 
ifl  fein  Sßefuo,  ber  bie  9lad?t  beit  faoopifeben  Neapel  erleuchtet. 
@8  ifl  bie  Sacfel  ber  3ntolerang,  bie  fid?  auf  be’m  $)lafj  non 
©bampel  angegünbet  bat*  ©inen  Scheiterhaufen  umgiebt  Äopf 
an  jfopf  bort  ba8  proteftantifebe  äßolf.  Unb  auf  bem  Scbeiter* 
baufen  — ber  auf  bem  SBIocf  bafifct,  an  einen  $)fabt  befefligt, 
einen  ©djwefelfrang  um  fein  gramgebleidfleö  £aupt,  gwei  23ücbet 
gebunben  an  feine  ^üften,  ber  grofle,  unterfefcte  SJiann,  mit 
flammigem  breiten  ©cbulternpaare,  ba8  ernfte,  elegifcbe,  abgehärmte, 
lange  ooale  @efi(bt  mit  enetgifebet  9tafe,  bunflen  finnenben  Sugen 
unb  eollem  Sart  um  SDiunb  uub  jfinn,  ba$  ifl  ber  ©panier 
ÜJiidjael  ©emt’p'JReoeö,  ein  gweiunboiergigjäbriger.  SRocb  beut 
morgen  bat  bet  gewaltige  Sötann,  ein  Seuergeifl  wenn  irgenb 
einer,  ben  ©alein,  feinen  großen  ©egner,  um  SBergeibung  an* 
gegangen;  eö  war  in  bem  9taum,  ben  ©aloin  ibm  angewiefen, 
bort  in  bem  flnflern  Äetfer,  wo  bie  üble,  feuchte,  falte  8uft  ibm 
ba8  Slugenlidjt  gu  rauben  gebrobt  unb  baS  ©ewürm  feine  Äleiber 
gernagt  batte,  ©aloin  batte  ficb  oon  ibm  gurüefgegogen.  SOor 
bem  SRatbbauS  batte  bann  ©eroet  fein  Urtbeil  angebört.  S5Ja8  er 
getban,  antwortete  ber  ©panier,  baö  habe  er  getban,  um  @otte$ 
©bre  gu  forbern.  3u  flerben  fei  er  bereit,  ©r  bitte  um  bie 

XI.  2M.  < 1*  (M9) 


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4 


©nabe  be8  Sdjwerte8.  Der  Senat  war  unerbittlidb.  Seroet 
fyatte  nochmals  feine  Unfd^ulfc  beteuert  unb  ©ott  laut  um  Set* 
gebung  für  feine  (Knfläger  gebeten,  ©egen  fDtittag  war  SRidjael 
auf  bet  (Ridjtftätte  angefommen.  Dort  war  er  niebergefatlen  auf 
fein  (ängeficbt,  unb  fjatte  wieber  gebetet,  lange  brunftig  gebetet. 
Dann  ^attc  er  bie  Umftefjenben  um  ifytc  gürbitte  bei  ® ott  et* 
fudE>t.  3efjt  flammt  e0  auf  unb  e8  umjüngelt  ifyn  ring8  um  ben 
.^oljftof).  Misericordias,  Misericordias,  ©nabe,  ©nabe!  fdjreit 
er  ba  au8  bem  ^euer,  mit  fpanifdjem  Slccent,  aber  fo  burdjbringenb, 
baff  ba8  gefammte  Sol!  gufammenfdjricft  unb  nor  Sdjrecf  erbleicht. 
Da  will  ba8  $0(3  nid)t  brennen,  bie  Sünbel  finb  fo  grün.  @8 
ift,  al8  ob  ^>olg  unb  geuer  fid)  fdjämten,  folgern  SRenfdfenfreoel 
gu  bienen.  Unb  e8  werfen  mitleibige  Seelen  trocfene  btcnnenbe 
Sünbel  bem  Spanier  auf  ben  Seib.  So  ftet)t  er  im  Saud?  unb 
in  bet  Dual  eine  fjalbe  Stunbe.  Dann  fdjreit  er  nod)  einmal: 
3efu,buSol)nbe8  ewigen  ®otte8,  erbarme  bid>  meiner!" 
Unb  bann  ift  er  Ülfdje,  er  unb  fein  Such-  (27.  Dctob.  1553.) 
Seit  21fdje  genommen,  31t  21  f die  geworben.  Sber  gwifcfyen  ©eburt 
unb  Dob,  wie  nie!  Se^neu,  gorfdjen,  (Ringen;  wie  »iel  Siebe, 
Dteue,  9Ranne8muttj.  Unb  nun  . . . SCfdje!  — 

Dodf  wo  ift  ber  Gatacalla,  bet  ifyu  3U  Üobe  gemartert  Ijat? 
Der  Sero,  ber  Diodetian?  Der  fyetbnifdje  Äaifer,  bet  ben 
fpanifdjen  ©fjriften  l)at  fjiugeridjtet?  ©in  |>eibe,  ntrgenb:  aOc 
feine  ,£>äfd)er  finb  ©giften.  ©Triften?  3a  (Römlinge;  Sdjergen 
ber  gefrönten  Unfeljlbarfeit.  Der  SRann,  um  ben  nun  fid?  *Me8 
brangt,  bem  2ltle8  banft,  nor  bem  9lfle8  nieberftnft,  ift  ba8  &orque* 
maba  ober  XimeneSV  SBie  fyeifjt  bet  3nquifitor,  berfo  liod)  haftest, 
ba8  «paupt  gen  Fimmel  unb  in  ben  JÖolfen  ben  Slicf?  ©8  ift 
fein  römifdjer  3nquifitor:  ©8  ift  ©alnin,  ber  ftüfyrer  ber 
fProteftanten.  UnD  au8  ber  (Seife  non  Beugen,  bie  iljn  be* 
wunbernb  umgeben,  ba  ragen  Ijeroor  bie  großen  (Reformatoren 

(MO)  v 


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uni)  teilen  il)m  bie  $)alme  beö  Sieges.  Sef)t,  wie  fie  fid)  brangen, 
wie  fie  ftd^  neigen  cor  beS  ^Hfarben  ener gifdjer  grömmigfeit! 
2lm  engften  fdjmiegt  fid)  an  (Salein  Ulridj  3»infllir  als  wate 
eS  if)tn  Söonne,  auS  beS  Scheiterhaufens  immer  neu  aufqualmenben 
fRaud)  3U  erfehen,  bafc  „bem  ©otteSläfterer  nit  ber  ?uft  gelaffeu 
werbe."  sieben  ihm  weibet  fid)  an  bem  @otte8gerid)t  3ol)anne8 
JDefolampab  auS  93afel,  ber  ben  „freclen  Spanier“  fo  „ftolg, 
cermeffen,  ganffüd)tig"  befunben,  „ba|  alles  nit  an  ihm  befdjüft." 
25er  «Dritte  im  33unbe  ift  9ftartin33utjer  auS  Strasburg,  ber 
fdjon  lange  barauf  gebrannt  hatte,  ben  uncerfchümten  teuerer, 
welcher  bie  alten  heiligen  33äter  ber  Äirche  oon  bet  Sörücfe  ge» 
werfen,  öffentlich  in  fteine  Stücfe  gu  jerreifeen.  33on  ber  anbern 
Seite  naht  ber  milbe  SJlelanchthon,  unb  beglücfwünfd)t  Salem 
gu  bem  frommen  unb  benfmiirbigen  33eifpiel,  baS  er  burd)  biefe 
Einrichtung  für  bie  gefammte  fftacbwelt  aufgefteflt  habe.  3hm 
pflichtet  UrbanuS  9^ l) e g t u 8 bei;  fehe  er  bodj  nid)t  ab,  wie  man 
biefer  Schlange  aller  Äefcereien,  beS  Eartnacfigften  unter  allen 
9Jlenfd)en  hätte  fchonen  foDen.  Unb  SHeyanber  .palefiuS 
gratulirt  ben  fRid)tettt,  „bie  ©enfer  hätten  fid)  um  bie  gefammte 
Äirdje  cerbient  gemacht,  bafs  fie  ben  neuen  9Jtat)omet  befeitigt." 
Unb  Galüiu  gegenüber  bid)t  um  ben  Scheiterhaufen,  ba  flehen 
feine  gteunbe:  SercetS  Söeid)tiger  auf  bem  lebten  ©ang,  ©uillaume 
garel  coran.  2)urd)  2Bort  unb  $hat  begeid)net  er  cor  aller 
Seit  als  gottlos,  feige  unb  graufam  bie  9üd)ter,  welche  eS  nicht 
wagen  füllten,  einen  SJlenfdjen  h*ngutid)ten,  ber  burd)  feine 
^äfternngen  ciel  taufenb  ÜJlal  gu  fterben  cerbiente.  25a  ift  33uQinger 
con  3ürtd),  beffen  Seele  noch  immer  fchaubert,  fo  oft  fie  ber 
fpanifdjen  Äejjereien  gebenft.  25enn,  fagt  er  neben  fid)  gu  einem 
fPolen,  wenn  Satan  felber  auS  ber  Eölle  fäme,  er  würbe  fich 
bet  SRebeweife  beS  Spaniers  bebienen.  3a,  antwortete  ^etruS 
Sftartpr,  ber  bie  IBemerfung  härte,  Sercet  ift  ber  lebenbige  Sohn 


6 


beS  SLcufctö,  bcffen  peftbringenbe  unb  abfcheulicbe  Üehre  überall 
»erfolgt  »erben  mufj.  Unb  ©ega  unb  ©iret  unb  ©rnpaenS  unb 
3an<hi  unb  5Ru8culu8,  fie  alle  in  ^eiligem  GhoruS,  ben  brennenbett 
Scheiterhaufen  umringenb,  rufen  „Heil  Gal»in,  Heil  bem  Senat 
»on  ©enf : 35ie  fatbolifcbe  3nquifition  gu  ©ienne  bat  ben  Äe^er 
niebt  unterbrüefen  fönnen:  ba8  proteftantifebe  ©eridit  gu  ©enf 
l;at  ibn  3U  9lfc^e  germalmt.  9lun  mögen  bie  Äatholifen  fid)  rühmen 
ihrer  OrbnungSliebe  unb  il)re8  CSiferS  für  ©ott:  bie  proteftantifebe 
Birdie  ift  bodj  frömmer.  ©a8  bat  fie  bewiejen  bureb  ben 

Scheiterhaufen  »on  ©enf!" 

3n  ©oltaire’8  allgemeiner  ©efdjid^te  bev  ©itten  nimmt  ber 
fromme  Scheiterhaufen  »on  ©enf  cbenfooiel  IRaum  ein 
als  10,000  unb  100,000  anberc.  Unb  mit  JRed)t.  Die  reich* 
haltigen  golterfammern,  bie  auögefucbteften  Äerferqualen  unb  all' 
bie  ©eeen  »on  ©lut,  »eiche  bie  Söalbenferfriege  aufgefammelt 
haben  unb  bie  fpanifche  Snquifition  unb  bie  frangöfifd)en  ©er* 
folgungen  ber  Hugenotten,  fie  entipringen  naturgemäß  au8  bem 
©runbfaß  bebrömifdbenitatholiciSmuS,  ber  alle  freie  gorfebung 
in  geuer  unb  ©lut  erftieft.  Allein  in  ©enf  »irb  ber  freie 
©ibelforfcber  einge ferfert,  gefoltert,  oerbrannt  »on 
9>roteftanten!  68  finb  freilich  alleö  fProteftanten,  beren  SSiege  - 
im  ÄatholicißmuS  geftanben  hat.  Slber  bie  Hinrid)tung  be8 
©paniere  gu  ©enf  ift  beitnoch  eine  preteftautifdie  2hat,  eine  na* 
türlidje  unausbleibliche  Frucht  be8  bam ali gen  s).'roteftantiSmu8. 
Galcin  ift  ber  5Rann,  ben  ber  ©efammtprotcftantiemuS  feiner  3eit 
beauftragt  hat,  behufs  öffentlicher  t* oSfagung  b e8  fProteftan* 
tiSmuS  »on  aller  unb  jeber  Äeßerei,  ben  Angreifer  ber 
hergebrachten  üehre  »on  ber  ©reieinigleit,  angefichtS  bc8  d?riftlid>en 
©uropa,  in  bieglammen  gu  ftürgen.  fJfidjt  6al»in  ift  fchulbig 
ber  Jl)at,  fonbetit  ber  $>roteftauti8mu8  feiner  3cit. 
©aß  aber  ber  $>rcteftanti8mu8  jener  3«it,  baß  bie  ebenjo  feurige  wie 

(Mi) 


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7 


aufrichtige  grömmigfeit  bet  {Reformatoren  fold}’  eine  blutige 
grud^t  jeitigen  fonnte  unb  mufjte,  bag  ift  jeine  Berurtbeilung ; 
bie§  ift  bet  vollgültige  SöetveiS,  baff  wir  mit  unferm  9>roteftan= 
tigmug  beute  bei  ben  {Reformatoren  beö  fed^ebnten  Sabrbunbertg, 
jo  grofs,  brao  unb  fromm  fie  aud)  jein  mögen,  nicht  fteben  bleiben 
bürfen.  Söie  Seroet’g  ©efebief  ber  9Ra§ftab  ift  für  bie  Gnt» 
artung  beg  bibelfeften  ^roteftantigmug  oon  1521  in  ben  fetjer* 
frejferijchen  Befenntnif}Ȥ)roteftantigmug  non  1553;  jo  ift  nodf 
beute  Seroet’g  Beurteilung  ein  9Raf)ftab  für  bie  SBabtaftigfeit 
ber  ©ottegliebe,  bie  nitbt  ben  Braberbafj  will  unb  ben  Brubet* 
morb,  fonbern  bie  3)ulbung  unb  jene  echte  Brübetli  djfeit, 
welche  ben  Srrenben  jehont. 

SDb  Seroet  geirrt  bat  unb  worin,  bag  wollen  wir  bi«  «icht 
entfärben.  Söenn  ber  berühmte  Slrjt,  beffen  eine  «Schrift  in 
wenig  fahren  fünf  Auflagen  ’)  erlebte,  ber  Sntbecfer  beg  Blut» 
umlaufg,  ber  ©rfinbet  bet  üergleidjenben  ©eograpbie 
unb  |>erauggeber  ber  beften  Uluggabe  beg  fptolemaeug; 
ber  Slftrologe  unb  ÜRatbematifer,  3U  beffen  Büjfen  in  {Porig  bie 
Bifdjöfe,  ©rafen  unb  (5r3bijcböfe  lernenb  jafcen,  ber  Uninerjal* 
gelehrte,  wenn  ber  auf  ©inem  ©ebiete,  bem  tbeologijdjen  ©ebiete 
geirrt  bat,  jo  fann  er  barum  boeb  noch  ein  @brenmaun  fein  unb 
nach  ber  SBabteit  reblich  geforfebt  haben,  unb  ift  in  feinem  Srren 
fein  ©runb  notbanben,  ihn  3U  martern  unb  3U  »erkennen.  Unb 
wenn  er  nun  nur  bag  mutbig  bnrcbgefübrt  bat,  wag  ber  reforma» 
torijebe  |>aupt»  unb  ©runbjatj  gebot;  wenn  er  biblifch  unb  tbeo* 
logifd)  weiter  gefeben  bat,  wie  bie  gelben,  bie  ihn  »erbrannt 
haben;  wenn  er  tiefer  bineingebrungen  ift  in  bie  ©ebeimniffe  ber 
©ottegliebe,  in  bag  ^>erj  ber  göttlichen  ©rbarmung,  ift  eg  bann 
»erboten,  feinen  gorfebungen  nad^u  geben,  blojf  begwegen,  weil  er 
einftmalg  ben  {Reformatoren  alg  Äe^er  gegolteu  bat  unb  alg  ©otteg« 
läfterer?  93Rit  Seroet  beginnt  eine  britte  {Reformation  neben  bet 

(543) 


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8 


Sutljer’S  unb  beS  ©oncil  uon  ©ribent:2)  bie  9ieformation  beS 
freien  23  ibel*©ebanfen’S,  bie  9t ef  ormation  beS  (Styrift  ug» 
fronen  ©ewiffenS,  bie  Oteformation  ber  ©otterf  füllen 
OJtenfch  lieh  feit.  ©afj  biefe  ^Reformation  in  mannen  23e» 
giehungen  höher  fteht,  als  bie  9teformation  auS  bem  fuedjtifchen 
SBillen  unb  auS  ber  Borherbeftimmung  gu  Jpimmel  unb  Jpöüe: 
baS  mag  wol)l  bie  3ufunft  lehren.  9tur  fo  oiel  möchte  fdjon 
jefjt  unfern  Seitgenoffen  flat  fein,  bafj  wir  bem  ÜRärtprer  non 
©enf  Unrecht  thun,  wenn  wir  fein  ©harafterbilb  geichnen 
wollten  mit  ben  Farben  unb  bet  <5eber  feinet  Berbammer.  ©eroet 
ift  baS  3enbilb  nicht,  gu  bem  ü)n  ©aloin’S  ©elbftoertheibigung 
hat  ftempeln  wollen. 

©ürfen  wir  nicht  baran  gweifeln,  bafc  üfticbael  ©eroet  ben 
größten  ORännern  feiueö  grofcen  SahrhunbertS,  auch  einem  ©aloiu, 
ebenbürtig  gut  ©eite  geftellt  werben  muf), 3)  bann  l)at  bie  ©efdjidjte 
ein  tRecht  auf  eine  unbefangene  partei(ofe3eid)nung  feitteö  Cf.^arafter= 
bilbeS.  Um  bteö  gu  gewinnen,  muffen  wir  gu  ben  Quellen  auf» 
fteigen,  unb  ifyn  felber  Ijören  unb  fein  S£l)un  betrauten,  ©er 
gerichtliche  ©chlüffel  gu  ©eroet’S  ©harafter  ift  feine  grömmig« 
feit,  ©in  bebeutenber  Anatom,  praftifcher  2irgt  unb  mebicinifdjet 
©chriftfteller,  burch  feine  lebten  eilf  3al)re  geibargt  beS  ©rgbijdjof’ö 
^almier  gu  23ienne,  weif}  er  beim  gerichtlichen  SBet^ör  'gu  ©enf 
auS  ben  erften  fiebgehu  Saljren  feines  gebenS  nichts  wichtigeres 
gu  melben,  als  baff  feine  SSäter  4(5 ^ t i fte  n gewefen  feien,  »on 
altem  ©beUStamm*)  unb  baf)  er  gu  ©ouloufe  auf  ber  Suriften 
Unioerfität  gum  erften  9Rale  eine  Bibel  gefunben  unb  mit  feinen 
ÜJtitfchülern  ein  ©oangelium  gelefeit  habe,5)  unb  bafc  er  feit  ber 
ÜSouloufet  23ibelfinbung  ein  Bibelfotfchet  (etudieux  de  la  Ste 
Ecriture),  geworben  fei,  mit  ©ifer  für  bie  SBaljrheit  auSgerüftet®,) 
ein  ^riftlicheS  geben  geführt  (pense  avoir  vecu  comme  un 
chretien),  unb  in  feinen  theologifchen  Schriften  nichts  anbereS 


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9 


beabfidftigt  fjabe,  atö  feine  Seele  $u  retten  (ae  sauver)  unb  ben 
guten  ©elftem  31t  Reifen  (aider  lea  bona  esprits);  unb  ba§  et 
Der  ©ott  unb  feinem  ©ewiffeu  (selon  Dieu  et  sa  conscience) 
ubergeugt  fei,  ba8  Steckte  gejagt  unb  baö  Siedjte  getljan  31t  Ijabeu, 
unb  nedj  tjeute  glaube,  in  guter  '.Hbfidjt  ©uteö  3U  tljun  (bieu  fait 
ä bonne  inteution);7)  feilte  er  aber  beim  gorfchen  nach  bet  2öal)t» 
beit  (enquerir  la  verite«)  fittj  geirrt  haben,  fo  fei  et  bereit,  fidj 
beffent  gu  (affen  (a’il  a failli,  qu’il  est  pret  ä s’amender), 
unb  bitte  um  ©nabe  unb  ©rbarnten  (demande  miaericorde, 
criant  niercy.)a)  @ben  biefet  2lrgt  ftirbt  um  feines  ©laubenö 
willen  unb  bie  lebten  SSorte  beö  Sterbenbeu  in  ben  flammen 
lauten  gerabe  wie  feiue  erften : „3efu,  buSohn  beS  ewigen 
©otteö,  erbarm  btcb  meiner!"  3Jtuf3  ba  nicht  angefid)t8  biefet 
Si^atfac^en  jeber  unbefangene  Bcrfdjer  an  ben  ©bara^et  Seroet’8 
mit  bet  SBorauefefjung  ^erange^en , bafj  ber  Sterbenbe  ein 
frommer  SJlann  gewefen  fei;10)  infofern  nämlich  Srommigfeit 
nic^t  (seifet,  bie  gemje  SBa^r^eit  fd)on  Ijabe n unb  üben,  fonbetn 
um  ©ottes  Sßillen  in  Jr>er3,  Söort  unb  $hat  nach  bem  ©uten 
aufrichtig  ftreben. 

Semet  lernte  oon  ben  Suben  (hebraica  veritas),  lernte  ooit 
ben  Jpeiben  (Plato,  Zoroaater,  Trismegistua),  lernte  oon  ben 
SUtuhamebanern  (Alcoran).  Slber  in  feinet  grömmigfeit  war  et 
ein  ©h^ift;  benn  alle  feine  grömmigleit  wuselt  in 
ber  gefchi^tlich'lebenbigen  'Perfon  unb  bem  ©eifte 
©hr*fti-  3n  ber  ©,rftling8  = Schriftuom  3al)re  1531  **)  fagt 
Seroet  unter  anberm:  „ C5 tj r i ft u ö ift  unfer  gtiebe,  unfere  ®e* 
rechtigfeit  unb  unfere  Heiligung.  (S ^ r i ft u ö ift  bie  Seele  ber 
Söelt  (anima  mundi),  ja  mehr  noch  als  bie  Seele;  benn  burdj 
ihu  leben  wir,  nicht  blojj  im  geglichen,  fonbern  auch  *m  ewigen 
geben:  ba8  3eitlid)e  hat  er  unä  im  SBorte  gegeben,  baö  ewige  im 
Bleifche('ilbenbmahl!)  gefc^enft. 1 '•*)  9Dtehr  alö  ben  ©lang  ber  Jpertlich* 

(MS) 


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10 


feit  möchte  ich  ihn  nenne«;  feenn  ben  ^errn  ber  ^errlicfcfeit  nennt 
ben  ©efreujigten  fßauluß.  ©r  ift  ein  ©teru,  unfer  SRorgen* 
ftern.  ©r  ift  baß  gicht  ber  SBelt,  baß  8ic^t  ©otteß,  baß  gid?t 
ber  SBölfer.  2)er  ©lang  »on  feinem  Slngefidjt  erleuchtet  ben  ganzen 
Stimmet.  CS^riftuö  ift  bie  ©otteöfraft,  butdj  melcbe  bie  ©efammt* 
heit  ber  35inge  geschaffen  mürbe.  2)ie  fRebe  »cm  gefreujigten 
©hriftuß  hat  mit  ihrer  munberbaren  giebeßgemalt  bie  SBelt  ihrer 
^»errfchaft  uutermorfen  unb  mirb  fie  fich  meiter  u ntermerfen, 
ohne  Sßaffengetäuf  ch  bie  ©cifter  gef  an  gen  f ühtenb. 1 s) 
3n  ©hrifto  finbeft  bu  bie  gefammte  SEBeieheit  be§  SSaterS:  in 
feinem  SRunbe  baß  neue  ©efefs  unb  beß  alten  Slußlegung,  baß  SBert 
©otteß,  roelcheß  un(S  bie  ©rfenntnifi  bc§  Söaterß  bringt.14)  2>enn 
ein  mahrhaftiger  ©ehorfam  unb  ©ott  böchft  roohlgefäDig  ift  eß, 
menn  mir  unfer  23erftänbnih  unter  bie  SRacbfoIge  ©hrifti  gefangen 
nehmen  (captivamus)  febaf)  mir  non  allem,  maß  ©r  ge* 
fagt  hflt,  überzeugt  finb  unb  in  gunerficbtlichem 
©tauben  baran  fefthalten.  3a  fo  innig  hat  ©ott  feinen 
©ot)n  geliebt,  bah  bieß  eine  ©ebct  »ent  ©lauben  an  ©hriftum 
für  unß  bie  ©teile  beß  gefammten  ©efefjeß  uertritt 1 5)  nub  unß  meit 
gröheren.5Rufcen  bringt,  menn  mau  eß  beobachtet  nlß  jeneß.  3)ie 
gejammten  SBorte  beß  gefdjichtHchen  ©hriftuß  haben  nur  ben  einen 
3mecf,  bafe  mir  alle  glauben  feilen,  er  fei  ©otteß  ©oljn,  unb  auf 
fein  .£>eil  alle  »ertrauen.  Unb  baß  ift  meiner  gehre  eigentlich^ 
Sunbament  (Et  hoc  est  mihi  potissimum  fundamentum).  2>er 
gefdjidjtlidje  ©hriftuß  ift  mein  einziger  gehrmeifter. ,6) 
SDiefer  ©hriftuß  hat  guerft  baß  ©»angelium  geprebigt;  auß  feinen 
Slußfpüchen  erhält  bie  gefammte  gcljre  ber  Slpoftel  erft  ihren  S3oü* 
finn,  Sicht  unb  ©lanj.  Sille  ^rebigten  ber  STpoftel  in  ber  Sfpoftel« 
gefchichte  hanbeln  baß  eine,  bah  ft«  biefen  lebenbigen  3eiu  unß 
»or  bie  Shtgen  fteHen  unb  unß  ba»on  überführen,  ba§  biefer 
SRenjd)  ©hriftuß  fei,  ©otteß  ©ohn,  ber  ^seilanb. 17)  SBaß 

(MS) 


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11 


aber  bie  wiffenfdjaftlictie  ©rörterung  bet  ^etfon  beS  SB  orte  8 be* 
trifft,  fo  mu§  mau  alle  befomtene  Unterfudfung  auf  bie  gefd)id)t» 
lidbe  ^erfon  3efu  ©btifti  richte«.  $ür  ©en  habe  id)  ba8 
2Bort  ergriffen  (pro  quo  dico.)  Uub  baS  ift  aud)  fd?on  ber  Bwecf 
bei  ber^rebigt  beS3ol)anne3. 18)  33ietleid)t  fagft  bu,  ba§  eS  wenig 
nüfje,  baS  äußere  gefd)id)t!idie  9(ngefid)t  3efu  ©Ijrifti  gu  fel)en. 
3ä>  aber  fage,  baf}  eS  bir  Biel  nüfct,  wenn  bu  gläubig  fdjauft 
(multum  prodesse,  si  credendo  videas.)  So  lange  bir  Un» 
glaube  unb  Spott  im  bergen  wohnt,  fd)auft  bu  ihn  unwürbig 
an,  unb  fprichft:  „3Ba$  ift  baS  für  ein  fBienfdb,"  als  wollteft  bu 
ben  ©lenfdjen  Berfleinern,  unbefannt  mit  beS  SDlenfcben  ©otteS* 
natur.  Slber  bift  bu  erft  gläubig  geworben,  fo  wirft  bu  Bon 
biefem  Slntlijj  nie  wieber  bie  Singen  wenben  (nunquam  oculos 
divertas):  ©enn  beS  gleifd'eS  Slugen  3iel)en  beö  ©eiftcS  Slugen 
mit  fid)  fort. 1 9)  So  bängt  benn  aÜeS  Ben  ber  ©rtenntnifj  beS  ge» 
fd)icbtlid)en  ©b*iftu8  ab,  unb  wenn  wir  il)n  nid)t  fennen,  ben 
5Kenfdjen  ba,  fo  fennen  wir  ni  d)tS. 20)  So  grefje  ©inge  l>it  aufl* 
gewirft  bie  glcrreidie  änfunft  3eiu  Gljrifti,  bafj  alles  Berwanbelt 
ift,  ber  Fimmel  neu  unb  neu  bie  ©rbe.  3n  ben  Jpimmel  bat  er 
unS  auffteigen  laffeit;  burd)  bie  Offenbarung  feines  fRätfyfel wertes 
(oracnlo)  b«t  ©ott  felbft  fid)  nnS  aufgefdileffen.  3n  bie  S£bore 
©otteS  ftnb  wir  cingetrcten,  waS  bort  Berborgen  lag  erfd)auenb 
unb  fein  SBort  mit  nuferen  Rauben  betaftenb  unb  feinen  ©eift 
in  unS  felberwaljrnetjmenb.2  J)  Unb  haben  wir  auf  noch  fo  mannid)» 
faltige  Söeife  bie  9teid)tt)ümer  Gbrifti  erforfdit,  fo  meinen  wir 
bodj  mit  bem  allen  nichts  gejagt  311  ^aben,  baS  feiner  SBürbe 
entfpräd)e  (pro  ejus  dignitate  nihil  mihi  dixisse  videor.)  3a, 
9)aulu8  felber  weifj  fid)’S  nicht  anberS  gu  erflären,  als  bafj 
er  Bor  Ghrifto  in  Staunen  auSbricbt  über  bie  Sänge  unb  SBeite, 
bie  Sc Ijäfje  unb  ©efyeimniffe  ©otteS. 2 2)  — So  ber  gwaugigjähtige 
SetBet. 

(547) 


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12 


!DaÖ  3ahr  tarauf  in  feiner  g» eilen  © d)tift 3 3)  lefen  wir 
folgenbe  3leu§erungen : ,,3d)  fage  bie,  bafj  bu  nimmer  in  einem 
anbern  ©lauben  fanuft  gerettet  werben,  als  wenn  bu  gtaubft  ber 
fDienfd)  3efuS  felber  fei  ©otteS  Sohn,  ber  für  beinet 
Seelen  Jpeü  gegeben  ift  unb  gelitten  l)at  jur  Sül)ne  für  beine 
Sünben  (pro  expiandis  tuis  peccatis.) 34 ) Siegen  bod)  in  biefet 
Sache  bie  fo  flaren  unb  beutlid)en  Sefenntniffe  3of)anniS  beS 
2äufer8  unb  ber  SJiartha  unb  beS  .pauptmaunS  unb  beS  fftatbanael 
unb  beS  Sefd)nittenen  not.  3a  möchte  in  ber  ©iufalt  unb  im 
©lauben  3ener  meine  Seele  fterben  unb  nicht  in  ben  Spifjfinbig» 
feiten  irgenb  eines  non  unfern  Sehrern35).  SDenn,  wie  wir  ehemals 
nad)  (Shrifti  Silbe  gefdjaffen  worben  finb,  fo  werben  wir  auch 
nunmehr  nach  ©hrifti  Silbe  erneuert  unb  wiebergeboren.  fDaS 
Sfteich  ber  3uben  war  ein  9ieid)  beS  gleifcheS;  ein  IReich  beS 
^leifdjeS  auch  baS  3leid)  ber  Reiben,  bem  wir  angehörten. 36)  2>aS 
Meid)  beS  lebenbigeit  ©hriftuS  ift  ein  @eifteS  = 0ieid). 
Unb  ber  Uebergang  com  gleifd)  jum  ©eift,  ber  auch  ben  ©in* 
gang  bilbet  in  ©h^fti  9teidj,  et  gefehlt  burd)  Seine  ©rfenutnif) 
unb  burd)  ben  ©lauben  an  3hn,  infofern  er  fid)  »oUjiehen  mufj 
burd)  eine  h<wmlifd)e  fHeu*@eburt,  bis  ju  welcher  hin  wir  nichts 
als  ieelifche  ÜRenfdjen  finb  (animales  homiues):  unb  biefe  Um* 
gebürt  liegt  butchauS  nicht  (nullateuus)  in  ben  eigenen  prüften 
beS  9)tcnfd)en  begrünbet,  fonbern  muh  beginnen  unb  fid)  oolleuben 
in  Äraft  beS  3ugeS  oom  Sater  unb  in  ber  .Kraft  Seiner  @r* 
leud)tung,  ba  @r  auS  lauterer  ©nabe  ruft  unb  rechtfertigt,  welche 
©r  miß : benn  nicht  hängt  eS  ab  non  unferm  kaufen  ober  Soßen, 
fonbern  oon  ©otteS  ©rbarmeit  (Dei  miserentis.)“  37)  So  ber  ein* 
unbäwanjigjährige  Seroet. 

Unb  biefem  ©lauben  bleibt  Seroet  bis  an  feinen  Job  ge« 
treu.  3n  ber  Schrift,  bie  er  einunb^wanjig  3ahr  fpäter  heraus 
giebt, 3S)  treffen  wir  biefelben  Sefenntniffe,  nur  noch  mehr  in  @e* 

{i4*> 


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13 


betSerfaljrung  gehäuft,  biblifcfier  fortgebilbet,  tiefet  erfaßt,  unmittel* 
batet  auf  8 Scben  angemanbt.  38o  1531  uub  1532  nur  „■gieitanb'1 
ftaub,  ober  „©ein  .^eilanb,"  ba  fe^t  er  nunmehr  „mein  .peilanb 
unb  giirfprechet"  ober  „unfer  ^eilaub  unb  getreuer  ,£>err"  u.  bgl. 
Unb  manche  neue  2lu8fptüd)e  feiner  £ergen8frömmigfeit  Brechen 
ba  gu  ©lüttsen  unb  fruchten  h^or. 

3n  ber  „SBieberherfteHung  be8  (ihiiftenthum8"  lefen  mir: 
„99iit  aO’  bet  3nbrunft,  beren  id>  faljig  bin,  ^abe  ich  wen  jenem 
©efalbten,  ber  allein  un8  gum  Beiden  gefegt  ift,  mir  inftänbtgft 
bie  ©rfenntnifj  ber  SSahrljeit  »on  bem  ewigen  ©otteßwort  erbeten 
(cognitionem  hujus  veritatis  instanter  orans);  auch  einiges  burdf 
feine  ©nabe  erlangt  (aliquid  per  ipsius  gratiam  obtinui),  ob» 
mobl  ich  nicht  coHfommen  bin  noch  »ollfommen  ergriffen  habe.29) 
©er  lebenbige  9Renf<henfohn  ©hT*fiu^  ift  ba8  B t el  ber  gangen 
33ibel,  auch  be8  alten  58unbe8.  IMbgefchattet  würbe  er  f<hon  ehe 
et  fam,  in  SJienfchen  unb  anbern  ©efcböpfen.  Sßenn  bu  »on 
9lbam  anhebft,  9lbel,  £>enocb  unb  9ioah  unb  bann  übergehft  gu 
allen  Patriarchen,  Äönigen,  Prieftern  unb  Propheten 3 °),  f c wirft  bu 
in  ihnen  ben  ©chatten  ^ r t ft i finben.  Unb  nicht  blofj  in 

ihren  petfonen,  auch  ihten  tSemtern,  wie  bet  <£>irt,  ber  Scferß* 
mann,  ber  SBeingartner  ein  ©chatten  be§  wahren  Ritten,  be8 
wahven  9ltfet8mann’8  unb  SBeingartner’8,  Gljrifti,  war.  3a  in 
ben  fruchten  ber  ©rbe  felbft,  in  ben  ©h^»»  in  ben  ©teinen, 
in  ben  perlen,  in  ben  ^Mafien,  in  ben  ©chäijen,  in  ben  Duellen 
in  ben  fflüfien,  in  ben  Srunnen,  in  bem  Siegen,  in  ben  Sßolfen, 
in  ben  ©onnern,  in  ben  SMi^en  unb  SBinben  würbe  baß  ©e* 
heimnih  non  ©hriftp  abgebilbet  (figurabatur.)  3n  ber  ©peife 
be8  Parabiefeß,  im  Söianna,  in  ber  fRuthe  9laron’8,  in  ber  l)ölgernen 
©tift§hütte,  in  bet  ehernen  Schlange,  in  ber  S3unbe8labe,  in  ben 
golbenen,  filbernen  unb  anberen  ©efajjen,  in  bem  SSaffer  gebenben 
§el8,  in  bem  fteinernen Stempel,  in  bcm(?cfftcin;  im  Semen,  im  Stbler, 

('S«) 


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14 


in  bet  Sturtel,  in  bet  Staube,  im  .Kalbe,  im  gamme  unb  ben  übrigen 
SDingen  würbe  ©hriftuß  abgefdjattet.  Unb  atleß  waß  ©hriftum  ab* 
fchattete, baß würbe auch in ihm erhalten.  GcriftallerSDingeSln* 
fangunb  ©nbe.  3n  ihm  i ft  baß  SRufter,  baß  3beal  unb 
bie  gülle  aller.3')  93on  feiuem  fRujjen  finb  unß  ÜJlinerale 
Stiere  unb  ^>flanjen  jur  ©peife,  Stranf,  ÜJiebicin,  .Körper» 
fcbmudf  ober  ©innenreij,  ohne  bafj  fie  in  (jtyrifto  abgei  chattet 
wären  unb  ohne  bafj  6r  allein  fie  unß  barreichte  (et  eos 
solus  ipee  praestet.)  Unb  foHteft  bu  baß  jefct  noch  nicht 
oerftehen,  fo  wirft  bu  eß  Ijernadjmalß  felgen  im  inwenbigen 
SDtenfc^en  (in  interno  homine  baec  postea  videbis34).  33om 
©eben  mufi  man  übergehen  $ur  Slnbetung:  benn  bie  Anbetung 
fefjt  baß  ©djau  eit  oora  uß  (adoratio  visioiiempraesupponit:) 
„SBer  mid?  anbetet,  bet  betet  ben  33ater  au,  gleich  wie  wer  mid) 
fielet,  bet  fielet  benSater" 3S).  3m©eifiemufcgefehenwerben, 
waß  im  ©eifte  foll  angebetet  werben  (videri  debet  spiritu, 
quod  spiritu  adoratur).  33om  ©Ratten  mufj  aber  bie  SBaljt* 
heit  unterfchieben  werben.  SDarum  fage  ich,  bet  geib,  bie  ©eele, 
bet  Stob,  bie  Jpötle,  alle  früheren  ©erichtßftrafen,  alle  ©infichten, 
alle  SBiffenfdjaften,  waß  man  fie^t,  hört,  riecht,  fehmeeft,  fühlt, 
ber  ©ngel  unb  bet  Teufel  SDienfte  aDe,  fowie  ber  Fimmel,  bie 
©rbe,  bie  ©onne,  ber  SDtoub  unb  alles  Uebrige  ift  »orübergeljenb, 
ift  im  ©chatten  oorübergegangen,  bie  SBahrljeit  war  barin  nicht, 
fonbern  nur  jener  großen  bleibenben  SBahrheit  — ©chatten. 
3n  ©hTUto  allein  ift  bie  SBahrheit,  bie  ©wigfeit,  in  ihm 
allein  bie  gan^e  Sülle  unb  unfer  ganjeß  $eil.  ©r  allein  fei  über 
alleß  immer  unfer  gebenebeiter  ©ott.  Simen.34) 

SOtan  fiehh  ber  berühmte  Slr^t  unb  fRaturforfcher,  oon  neuem 
immer  richtet  er  auf  ©hriftum  b*e  äugen  feineß  ©eifteß;  laufet 
feinen  SBorten,  bie  ihm  biß  in’ß  innerfte  £ers  bringen  (viscera 
penetrare)  unb  umarmt  ben  @etteß*@ohn  mit  reinem  Söufen.35) 

(550) 


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15 


Denn  angenehm  ift  e8  unb  lieblich  für  bie  @eifte8menfcben,  »o* 
©btifto  reben  gu  bürfen  unb  ©eine  ©ebeimniffe  tiefer  gu  ergrünben. 
„3bn  gu  erfennen,  fagt  er,  ftrenge  id)  aß’  meine  Äräfte  an;  id) 
finne  Jag’  unb  9iäd)te,  inbem  id)  fein  ©rbarmen  anflebe  unb 
ber  magren  ßrfenntnifc  Offenbarung.3*)  können  wir  bodj  uid)t 
felber  unfer  £etg  erleudjten.  Denn  gleidjwie  jenes  Hidjt  be8 
SBeltaß’8,  meines  ben  Jag  »on  ber  fftadjt  Jcbieb,  in  ©inen  £immel8« 
förpet  gufammengewaebfen  ift  (in  unum  solare  corpus  concreta) 
unb  »on  ihm  au8  überfliegt  gu  ben  anbern,  fo  ift  jenes  wef ent« 
lic^e  Urlid)  t ©otteS  (primaria  illa  et  substantiabilis  Dei 
lux)  in  ben  einen  Äßrper  3efu  i ft i gletcbfam  gu« 
fammengewatbjen  unb  ftrablt  »on  bort  au8  auf  unß  übet. 
Unb  in  biefet  Urfonne  l)«t  aud)  bi«  anbere  ©onne  erft  ibr  ©ein 
(habet  esse)  unb  bebält  ihre  fpmbolif<be  Sebeutung  in  ben  Dingen. 
Denn,  wie  mir  jagen,  baff  in  ber  ©onne  baS  urfptünglidje  Hiebt 
fei,  unb  Detfdjiebene  niebrigere  Hicbtgrabe  in  ben  oetfebiebene* 
©ternen:  fo  ift  eS  au<b  in  följrifto,  bamit  et  immer  ber  erfte  fei 
unb  3dler  £aupt. 3T)  Denn  ber  eine  @ ^ r i ft u ö fpiegelt  wieber 
in  ber  einen  33 Übung  ©eines  HeibeS  alles  ©öttlidje  unb 
9Jlenfd)li<be;S8)  gleichwie  audjafle  übrigen  Dinge  inibm  eins 
finb.  ©ott  unb  ßJtenfd)  finb  in  3bm  ünö.  ^immel  unb  ©rbe 
ftnb  in  ihm  einS.  ©rift  ber  mabte  allmächtige  ©cbßpfer 
unb  ber  wahre  3ebooab-  3bm  aflein,  bet  mit  ©ott  bem 
33ater  in  ber  ©inbeit  beö  SBefenS  unb  beö  ©eifteS  regiert,  fei  in 
©wigfeit  Sftubtn,  Sieidj  unb  aße  ©ewalt.  2lmen.“  39)  @8  möchte 
wohl  bie  gange  33oreingenommenbeit  be8  mittelalterlichen  ©tanb* 
punftS  bagu  gehören,  um  einem  33eter,  bem  ©briftuS  ßJtenfcb, 
©ott,  3eb<wab»  ©entralmenfcb,  Gentrum  beö  SBeltaUS,  Urbilb 
afier  Dinge  ift,  abfidjtlidhe  Häfterung  unb  Sßerunglimpfung  3efu 
©hrifü  oorguwerfen. 

3nbefs  an  wem  nun  einmal  feit  brei  3abtbunberten  ber 

(MI) 


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16 


SRafel  bei  Äefjerei  Hebt,  ben  ift  man  wid^t  Jo  fd?nell  geneigt, 
al§  ©otteSfinb  aufgunefymeu.  ©rimbete  bod?  <5en>et  feinen  ©laubcn 
nid)t  auf  bie  33ifd)ofS»etfanimlungen  nod)  auf  bie  lanblaufigeu 
©efcnntniffe  bei  .ftirdie,  fonbern,  ein  JReicfcSumnittelbarer,  auf 
ßfyrifti  ©elbftgeugniffe  allein. 

„©briftuS,  fagt  er,  ber  gefd)id)tlid)e  ©fyriftuS  ift  mir  ber 
einzige  Goangelift  (unicus  evangelista).  ©briftuS  fclber 
prebigte  ba§  ©oangelium  beS  fRcidieS;  bis  in  ben  Stob  nerfönbeub, 
baff  ©r  ©otteS  ©ol)tt  fei,  unb  benen,  bie  baS  glauben,  alles 
©lütf  uerl)eifjenb  (fausta  omnia  annuntians.)  9luf  biefen  ÜlrtiFel 
ift  er  geftorben,  bafj  ©r  ©otteS  <8oI)n  fei.40)  Unb  batum  ift  audb 
unS  ber  @ol)n  ©otteS  aÜeS  unb  umfaßt  (contiuct)  in  fid>  alles. 
@r  gilt  unS  als  unfer  ©ater,  ©ruber,  ^err  unb  ftreunb  (ipse 
est  nobis  pater,  frater,  dominus  et  amicus);  ©r  ift  unfer  fpriefter, 
Stempel,  Slltar  unb  Dpfer;  Gr  ift  unfere  ^Rechtfertigung, 
©ctföbitung  unb  alles  fonft.4  ’)  ?lud)  fcnntenmir  unS  munbern, 
baft  bie  f'rebigt  »on  Sefu  bem  ©otteSfoljne  ehemals  ben  3uben 
als  ein  ?lergernifc  unb  ben  Reiben  als  eine  Stfjorljeit  eridüen, 
wenn  mir  nidit  fäljen,  bofc  nod)  heute  fold)c,  bie  fid)  für  ©Triften 
l)alten,  Slnftoft  baran  nehmen  unb  cS  für  tljöricbt  auSgeben.  3a 
bafc  biefer  OJienfd)  ba  ber  @ol)n  ©otteS  fei,  baS  moHen  fte  mcber 
hören  nod)  glauben,  fonbern  rufen  mit  ©aipl)aS:  ,,©r  I?at  ©ott 
geläftcrt.  Äteujige!  Äreujige!"4  -)  SDuabet  lieber  tiefer,  meint  tu  jur 
Siebe  Sefu  gelangt  fein  mirft,  bann  maljrfyaftig ! mirft  bu  inniglich 
(penitus)  an  ©hrifto  fangen,  neu  3hm  abhängen  unb  in  3btn 
mit  beinern  gangen  bergen  getrageu  mcrben,  bergeftalt,  ba§  mebet 
Stob  nod?  (Edjrecfen  bid^  fünnen  lofjreifjen  non  ©urer  gegenfcitigea 
Siebe,  gleid)  mie  eS  bem  moltl  geübten  sJ)auluS  erging.  fRöm.  8, 
35—39.  SDie  Siebe  ift  eS,  bie  cud)  in  ben  ©ingemcibeu  ©hrifti 
(in  visceribus  Christi)  niebcrlegt,  erfüllt  unb  »oltenbct  (reponit, 
complet  et  perficit.)  (Scbaue  ©hriftum  an,  ber  fid)  bit  fo  l)in« 
(SM) 


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17 


giebt  (exhibet),  baf*  bu  ihn  lieb  haben  fonneft,  gleich  al§  einen 
j^reunb  unb  9?ruber  unb  beinen  33etfübner  in  aller  Sdjulb; 
ber  fo  bid)  liebt,  baf;  e8  ihm  eine  ^reube  war,  für  bid)  in  ben 
©ob  geben  3U  bürfen.  Heber  a ließ  madjt  SDid?  mir  liebenS* 
würbig,  ob  guter  3efu§,  bet  Äeld),  ben  ©u  für  mid) 
getrunfen  buff»  ba§  SBerf  meiner  SHerföbnung.  ©rofj 
tft  bie  Äraft  biefer  ^er^mabl  (dilectionis)  unb  Siebe  (amovis:) 
melcber  ber  Glaube  ben  38eg  babnt  (cui  praevia  fides. 4a)  ©arum 
beten  wir  311m  33ater  in  feinem  fRanten,  weil  ©t  in  ©brifto 
nufer  tßater  geworben  ift;  beten  im  tarnen  be8  Sobneg,  ben 
©ott  für  utt8  gegeben;  beten  im  tarnen  be§  beiügcu  @ ei fte§ , 
ben©t  un§  mitgetbeilt bat.  Slbetbie  non  ber  heiligen  Schrift 
gefegten  ©renjen  (limites  positos)  überfchreiteit  wir 
nicht."  44) 

©8  ift  nicht  Slrt  wiffenfdjaftlicber  Scbriftftedcr,  in  ihre  SBerfe 
©ebete  einjuftecbten.  3lu<b  will  ber  Slrjt  SJiicbael  Seroet  feine 
3Rufiergebete  geben.  ©a8  eine  Gebet  beS  $errn  genügt  ihm 
für  ade  Beiten.  2lbet  gerabe  wie  er  in  feine  mebicinifcfjen 
Söetfe  biblifcbe  SluSeinanberfetjungen  einflicbt,  weil  fein 
£>er$  in  bet  33ibel  lebte,  fo  burd)wirft  er  feine  tl)eelegifd)en  SBerfe 
mit  ©ebetöfeufsern:  weil  feine  tbeologifchen  Stubien  oen  @e» 
beten  getragen  waten.  3Ba8  er  fdjreibt,  baö  fdjreibt  er  uor  bem^errn. 
©er  ftebt  neben  ihm,  unb  fiel)t  ihm  ju.  ©er  Sdjreibenbe  fitjt 
31t  ben  ^üfeen  be§  9iReifter8  unb  laufdjt  auf  feine  ÜJBinfc.  SBarum 
fod  er  nidit  ©en  anreben,  beffen  ©egenwart  ihm  gewiß  ift,  ja 
ihn  befeelt  mit  9Rutb,  wie  fie  ihm  Sicht  giebt  unb  .Kraft?  Set 
biefem  füRanne  ift  nichts  ©emadjteS  in  feiner  'tftömmigfeit,  feine 
.Kunft  unb  fein  -jpeudjelwefen.  2$ie  feine  Sunge  atbmet,  fo  betet 
feine  Seele,  weil  fie  lebt,  ^ören  wir  nun,  wie  ber  9Ranu 
betet,  ben  ade  ^Reformatoren  für  einen  Saftetet  ©otteS  unb 

Scbänber  ber  ©Iwe  ©brifti  auSgefdtrieen  haben,  ©leid)  bie  33  or* 
XI.  *51.  2 (553) 


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18 


rebe  (Prooemium)  ber  „SBieberherfteDung"  fd)liefjt  ©eroet  mit 
folgenben  SSorten:4  5)  „SD  3efu  ©hrifte,  ©otteS  ©ohn,  oom  #immel 
un8  gegeben,  ber  Du  un8  bie  aufgeidjloffene  ©ottheit  in  Dir 
jelber  fidjtbar  ojfenbarft,  ad)!  fdjliefje  Did)  Deinem  Änedjte  auf, 
auf  ba§  jene  fo  begliche  Offenbarung  in  SSMrflidjfeit  mir  et* 
fd)l  offen  fei.  Deinen  guten  ©eift  unb  Dein  fo  wirffame8  SBort 
reiche  je$t  bem  glebenben  bar;  meinen  ©eift  unb  meine  gebet 
lenfe  (mentem  meam  et  calamum  dirige),  bafj  id)  Deiner  ©ott* 
beit  $errlid)feit  gu  eerfünbigen  unb  bem  wahren  AuSbrucf  au 
Did)  AuSbrucf  gu  geben  im  ©tanbe  fei.  Diefe  ©adje  ift  ja 
bie  Deine  (causa  haec  tua  est),  unb  will  Deine  £errlid)feit 
»om  Sßater  unb  bie  Deines  ©eift’8  entfalten;  eine  ©adje,  bie 
burd)  göttlichen  Antrieb  fid)  mir  gut  ©ebanblung  bargeboten  fy»t 
(divino  quodam  impulsu  tractanda  sese  mihi  obtuKt),  ba  id? 
um  Deine  fyimmliidje  Süabrbeit  beforgt  war  (sollicitus.)  ©U 
gu  bet)anbeln  tyabe  id)  einftmalS  begonnen  unb  jefct  non  neuem 
werbe  id)  gegwungen  (cogor)  fie  gu  bet)anbeln , ba  erfüllt  ift  in 
Sßabrbeit  bie  3eit,  wie  id)  eS  au8  ber  ©ewife^eit  ber  ©adje 
felber  unb  au8  ben  offenbaren  3eid)en  ber  Seit  jefjo  allen 
grommen  bartf)un  will.  Die  Üeudjte  foüen  wir  ja  nidjt  oet* 
bergen,  ba8  l)aft  Du  un8  jelbft  gelehrt;  barum  webe  mir,  wenn 
id)  ba8  ©oangelium  nid)t  oerfünbigte.46)  ©8  ift  eine  allen 
©Triften  gemeiufame  Angelegenheit,  um  bie  e8  fid) 
l)ier  banbeit,  eine  Angelegenheit,  ber  wir  alle  oerpflichtet  finb 
(cui  omnes  tenemur.)  ©8  erübrigt  noch,  lieber  Öefer!"  — fo 
gel)t  ba8  ©cbet  wieber  unmittelbar  in  bie  Abljanblung  über  — 
bafe  5)«  bis  an’8  ©nbe  für  ©hriftum  freunblid)  gefinnt  bleibft 
(ut  te  pro  christo  benevolum  usque  ad  finem  exhibeas)  unb 
bie  gange  ©adje  aul)örft  in  ber  jRebe  ber  3Bal)rbeit,  (sermonc 
veritatis),  ungegiert  unb  ohne  aDe  ©cpminfe  (absque  aliquo 
fuco). 47)  — DaS  ©nbebe8erften3?ud)e8  „oon  bem  SPerberben 

(SM) 


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19 


bet  Seit  unb  ihrer  Erneuerung  butd)  Ehriftum" 4 *)  fcbliefet  mit 
ben  Sorten:  „©arum  bitten  mir  ©id),  o ^>err  3efu  Ehrifte, 

um  ©ein  ©ottee  CReid^.  @8  regiere  auf  Erben  ©eine  Saht* 
beit!  Sefcfeneibe,  ob  .perr,  unfer  perg,  bafe  mir  nicht  miebet  non 
ber  ©djlange  übermunbeit  merben.  ©ieb  ©einem  Änecbte,  ©einem 
Streiter,  bafe  er  gegen  ben  teufUfc^en  ©cfelangenbracfeen,  (ber  bie 
©eroalt  bem  Sty^e  b.  i.  bem  $)abfte  gegeben  h<*0  mit  ©einer 
großen  ©emalt  männlich  ftreite,  unb  bie  nun  folgenben  — L II. 
p.  411  sq.  — ©ebeimniffe  ber  JperjenSbefcfeneibuug  alfo  auf* 
fdjliefee,  bafe  ©ein  Sud)  9UIen  aufgef<bioffen  fei.  ©enn  ©u 
jelber,  ber  ©u  nicht  lügen  fannft,  Ijaft  ja  bem  ©aniel  geoffenbaret, 
baf)  bie  ©üefeer  beiber  Seftamente  mähtenb  be8  33eftef)en8  be8 
römifeben  fReicfeeö  bureb  3etftörung  be8  Stljiereö  aufgefcbloffen 
metbeu  foQen,  mie  fie  jefet  aufgefcbloffen  merben.  Unb  bafe  bann 
©ein©eri<bt8tagim Fimmel  fifeen  unb burefe ©eine ftreitenben 
©ienet  ba8  porn  be8  2lnticferifi’8  jerftört  unb  ©ein  IReid)  für 
©eine  peüigen  Ijer  geftellt  merben  mirb  (restituatur)."  — 4 9) 
Unb  an  einem  anbern  Orte,  naebbem  ©eroet  feine  Slnftcfet  oon 
bet  33erflüd)tigung  ber  Saufe  burefe  Erteilung  an  fleine, 
be8  ©laubenä  unfähige  ^inberso)  auegefptoefeen,  fährt  er  unmittel* 
bar  fort:  „£>fe  allmäcbtiger  93ater,  SSater  bet  Sarmbergigfeit, 
reifee  boefe  un8  Elenben  betauö  au8  biefen  ^infterniffen  be8  Sobe8, 
burd)  ben  fRamen  ©eiue8  ®ol)ne8,  3efu  Eferifti,  unSereS  pertn. 
Dfe  ©ofen  ©otteS,  3efu  Ehrifte,  ber  ©u  für  un8  geftorben  bift, 
auf  bafe  mir  nicht  ftürben,  eile  un8  jur  pülfe,  bafe  mir  nicht 
bennoefe  fterben. S1)  ©a8  eine  bitten  mir  ©iefe  flefeenb,  mie  ©u 
un8  felber  gelehrt  Ijaft : ©ein  9lame  merbe  geheiligt,  ©ein  ?Reicfe 
fomme,  unb  ©u  felber,  ob  perr,  aebfomm!  3nber  Offen» 
barung  ruft  ©eine  SBraut,  bie  Äircfee,  betenb : Äomm ! ©er  ©eift 
©einer  ©öfene  ruft  bort  betenb:  Äomm!  3eber,  ber  ba8  höret, 
rufe,  bete,  fage  mit  3ohanne8:  Äomm!  — ©emife  mirft  ©u 

2 * (*55) 


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20 


fommen,  ber  ©u  gefagt  tjaft:  3(6  fomme  balb.  Dffenb.  22. 
Unb  beit  Slutidjrift  wirft  ©u  burc6  ©eine  Slnfuuft  fieser  3er  ft  Ören 
2 2ljeff.  2.  ©aß  gefc6e6e!  Simen. 5 *) 

9?od^  be^eictynenber  faft,  wie  foldje  am  ©djiuß  ber  £aupt* 
abfdt)nitte  feiner  SBerfe  ficb  gewiff ermaßen  als  Simen  einftnbeube 
©ebete,  finb  für  ba8  innere  ©laubenSleben  be8  „ÄeßerS"  bie 
unwiüfübrlid)  mitten  in  ber  SluSeinanberfeßung  feinem 
£erjen,  gleidjfam  unbewußt,  entftrömenben  ®ebet8feuf$er.  „£)fy 
3efu,  ©u  ©ol)n  @otte8,  erbarme  ©idj  bcc^  jeßt  unterer,  baß 
wir  ©id)  erfennen  al8  ®otte6  ©oijn."43)  „©et  £>err  3efu8 
Gßriftu8  wolle  machen  (faxit),  baß  bie8  alles  bei  un8  einen  glüdf* 
licken  3lu8gang  gewinne."54)  „06  (5tjrifte  Sefu,  unfer  ^tert* 
©ott  (domine  deus  noster),  fei  un8  bo<6  gegenwärtig,  adb! 
lumm  bodj,  fie^’  barein  unb  ftreite  für  un8  (pugna  pro  nobis.)"55) 
„fllidjt  au8  ber  jgjode  erft  werben  wir  auferftefyen  noch  ba8 
fünftige  ©eridjt  fürsten,  ba  wir  fdEjon  jeßt  mit  bem  ewigen  geben 
begnabigt  finb  (aeterna  vita  jam  donati.)56)  3«  Welkem  un8 
alle,  ba8  bitte  idj  (0  utinam)  führen  möchte  unfer  allcrmilbefter 
§en  3efu8  ©ßriftu8,  ®otte8  ©oßn,  biefeS  unfeteS  ewigen  gebenS 
Urheber  unb  Söollenber.  Simen."57) 

3nbeß  nießt  bloß,  wo  et  bie  Äirdße  baut:  gerabe  fo  brunftig 
betet  ©eroet,  wo  er  bitter  wirb  unb  fein  ©ifer  auflcbert  unb  er 
ba8  SSernunft«  unb  23ibeUwibrige,  ben  $ej:enfyuf  angreift  unb 
wiber  bie  33elial8finber  feine  33liße  fd^lenbert.  ©inige  SMfpiele 
faßen  wir  oben.  3um  ©djluß  nodß  etn8.  „SSer  in  Söaßrßeit 
glaubt,  fagt  ©eroet,  baß  bet  fPabft  ber  Statidßrift  fei,  ber  muff 
au(6  in  SBaßrßeit  glauben,  baß  bie  papiftifeße  ©reieinigfeit,  bie 
papiftifeße  Äinbev taufe  unb  bie  anbern  papiftifdßen  ©acramente 
£eufel8leßren  finb.  0ß  3efu  Gßrifte,  ©otteS  ©obn ! ©u  aörr* 
milbefter  33cfreier,  ber  ©u  fo  ßäufig  ba8  23olf  au8  Slngft  unb 
9tötßen  befreit  ßaft,  adß!  befreie  ©u  uu8  ©lettben  au8  ber  ba» 

(V.6) 


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21 


bplonifchen  ©efangenfdjaft  beg  Antichrift’g,  aug  feiner  Jg>euc^eleir 
SEprannei  unb  Abgötterei.  Amen.ss) 

SSJlan  fietjt,  ©eroet  ift  nicht  ber  ©ottegläfterer,  ben  ©aloin 
ung  fdjilbert.  SBet  aufmerlfam  ben  armen  SBerflagten  angebört 
bat,  ber  wirb  bem  ^>^ilo[op^c«  Q.  ©aiffet  recht  geben,  bet,  nach* 
bem  er  Galoin’g  Seridjt  übet  ©eroet’g  Job  angeführt,  alfo 
fortfäbrt:  „3ch  glaube  nicht,  bafj  ber  tbeotogifdje  ganatigmug  je* 
malg  etmag  fo  gtaufig  Äalteg  einem  SDienf^en  eingegeben 
bat,  als  biefe  Sßorte  ©aloin’g.  SBag?  mürbe  ich  ju  ©aloin 
fagen,  bu  bift  bamit  noch  nicht  gufrieben,  baff  bu  bem  ©eroet 
bag  geben  genommen  baft;  bu  rniüft  noch  feinem  Sterben  bag 
Siegel  ber  ©chanbe  aufbrücfen?  SJiagft  bu  immerhin  Ärieg 
geführt  haben  gegen  feine  3been;  bag  fann  ich  oerftehen,  benn 
bu  hielteft  fie  für  falfch-  2)afc  bu  feine  © driften  gerftör  ft,  inbem 
bu  fie  für  gefährlich  anftebft,  immerhin ! obmohl  eg  genügt  hätte, 
fie  ju  roiberlegen.  2>af)  bu  Jpanb  anlegteft  an  feine  $>erfon, 
ba§  bu  einen  geiftigen  3rrthum  mit  Einrichtung  beftrafteft,  bag 
ift  ein  Attentat,  für  melcheg  bu  bie  Sßerantroortung  mit  beinern 
3ahrhunbert  theüft.  Aber  nachbem  bu  einen  Unglücfltchen  ge» 
fchlagen  haft  in  feinen  3been,  in  feinen  33üchetn,  in  feinem 
gebengobem,  nimm  menigfteng  feine  ©fjte  *n  Acht.  33emeife, 
bafj  bag  oon  ihm  aufgeftellte  ©oftem  abfurb,  oermegen,  gott* 
log  fei;  aber  fage  nicht  bafj  er  lüge.  — SDiefe  aufrichtige 
Srömmigfeit,  beten  bu  beinen  $einb  berauben  millft,  meil  fie 
bag  einzige  ©ut  ift,  bag  ihm  bleibt,  fie  bricht  h^™01  allüberall: 
in  feinen  ©üdjern,  in  benen  nach  Ablauf  oon  jmangig  Salden 
biefelbe  gehre  miebererfcheint,  nur  feuriger  noch  unb  gefeftigter; 
in  feinen  Briefen  an  Sujjer  unb  an  Decolampab,  bie  er  ermübet 
unb  erzürnt  hat  mit  feinen  fortmährenben  Stagen;  in  feinen  @e» 
richtgoerhören,  mo  er  in  ben  Sormen  feiner  Anfchauung  bigroeilen 
nachgebenb,  bag  ffiefen  augbrücflich  feft^ält ; in  feinem  Appel  an 

(M7) 


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22 


bie  ©djroeigerfirdjett,  bie  er  ft*  fd;meid)elt  gu  fernen  Meinungen 
gurücffutjren  gu  fönnen;  cnblid?  in  feiner  »nerfdjütterlidjen  2Bet* 
gerung  ba8  ©eringfte  gu  miberrufen,  gerabe  fo  nad?  mie  »or 
ber  gäöung  be$  Urttjeilö.  ©u  mitlft  in  biefer  Seftänbigfei t 
nid^tfl  fetyen,  als  ben  Gfigenftnn  eines  ©tolgeS,  ber  ft*  meigert, 
fid?  gu  bemütljigen.  ©od)  wie?  «Spat  ©eroet  nidjt  eingemiQigt, 
»er  bir  fidj  beugen  gu  taffen  jenen  fpanifdjeu  ©tolg,  ben  btt 
iljm  gum  Serbredjen  redjneft?  «paft  bu  itjn  nidjt  gu  beiuen 
Süfjen  gefefyen?  .pat  et  bid)  nidjt  um  Sergeiljung  gebeten? 
3 Baß  fämpfte  beim  in  il)m  an,  gegen  betne  unb  SareU'S  »ereiute 
Sitten,  a(3  itjr  »on  it)m  2lbfd)mörung  »erlangtet,  baS  lieben  iljm 
»erfpredjenb  gum  gofyn?  2Bar  ba$  audj  nodj  ©tolg?  tflugen* 
fdjeinlidj,  nein,  eS  mar  fein  ©emiffett  unb  fein  ©taube."19) 

Üljeologijdje  ^Befangenheit  hat  nur  gu  oft  bie  £ ergeu  »er* 
borben  unb  bie  Urteile  ungeredjt  gemalt,  ©ie  Sibellehre,  fagt 
fie,  ift  mit  ber  Äirdjentefyre  einä.  SBeil  nuu  ©erret  »on  ber 
Äirc^enle^re  meidet,  ift  er  Üetjer;  meit  Äetjer  irreligiös;  meil 
irreligiös  unfittlid?,  meil  unfittlid)  tyotjl  uttb  »ermegen  unb  manlel* 
müttjig  unb  djarafterleS.  3e  ^ö^er  man  fi*  genötigt  fatj,  beS 
©panierS  geniale  fRaturanlage  gu  greifen,  um  fo  tiefer  fudrte 
man  feinen  fitttidjen  S^arafter  in  bett  ©taub  gu  gieren,  ja 
als  (vfjarafter  iljn  gerabegu  gu  »ernidjten. 

Unbefangene  aber  merben  als  djarafterloB  mobl  nimmer* 
mebt  einen  (Sbelpagett  fdjelten,  ber,  ba  ihm  an  beS  ÄaiferS 
«pofe  alle  Sreuben  unb  (S^ren  lächelten,  auf  alle  ^reuben  unb 
ben  .pof  beö  ÄaijerS  »ergidjtete,  um  bie  SSaljrljeit  erforfdjen  gu 
föniten.  Dber  ift  (harafterloS  ein  gelehrter  ©panier,  ber  ber  erfte 
©cbolaflifer  feiner  Nation  batte  merben  fönnen,  unb  nun  alle 
©cholaftifer,  butd)  bie  fein  SSij}  fo  »iet  fRuhm  geerntet,  über 
ben  Raufen  mirft,  meil  er  fie  a!8  Verführer  erfeiutt  uttb  baS 
fird)li*e  ©ebäube  nod)  einmal  anfängt  »on  ben  frunbamenten? 


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3ft  djarafterlob  ein  aragonifd;er  3urift,  ber  bie  33ibel  auf  ben 
©diilb  ergebt,  3abrjchnte  el;e  eiu  anberer  Sanbbmann  eb  wagte, 
fi*  auf  ein  öibelwort  gu  berufen?  3ft  djarafterlob  ein  3üngling, 
ber  eb  unternimmt  gegen  bie  gefammte  nadvuicänifdje  .ftircbe 
bie  edjte  G^riftuSIe^re  non  bem  ÜJIcnfcben,  ber  ©ett  wäre, 
eben  weil  er  »ofler  CDienjdj  ift,  bem  Urteil  ber  Äiidje  311  unter* 
breiten,60)  unb  für  bieie  biblifdje  6l)riftuble^re  alb  SDiann  lebt, 
leibet  unb  ftirbt.  „Giljrifte,  Su  © oljn  beb  einigen  ©otteb, 
erbarme  Sich  meinet!"  fo  lautet  fein  eifteb  unb  leljteö  ©ebet. 
Jpätte  er  gebetet : ©hrifte,  Suewiger©ohn@otteb,  erbarme  Sich 
meinet!"  ©aloin  hätte  ihn  freigefprochen.  ©emi  weifj  bab.  Sie 
^Reformatoren  haben  eb  ihm  unzählige  5Rale  norgehalten.  Allein 
er  hält  an  feinem  ©lauben;  benu  feine  ©ebetbweife  ift  ihm  bie 
biblifdje;  bie  ©alcinijcbe  auf  einen  jeufeitigeu  ©ohn  hinroeifeube, 
bibelmibrig.  Sarum  ftirbt  er  lieber,  alb  baf)  er  anberb  betet, 
wie  eb  ©otteb  SBort  norfchreibt.  ©in  überangftlidjeb  ©ewiffen 
mag  bab  fein,  aber  djarafterlob,  nimmermehr. 

3nbefj  wanf elmüthig  foO  ber  fDlävtnrer  gewefen  fein.  !8orn 
Urtheil  ©aloin’b  beruft  er  fidj  auf  b ab  Urtheil  ber  Schwerer* 
jtirdjen.  Unb  alb  ber  UMenncr  Äirdjenrath  ben  ©eroet  nor  fein 
©ericht  3urü(fforbcrt,  bittet  ©eroet  fu&fäBig  bie  ©enfer  SRic^ter, 
ihn  bedi  in  ©enf  gu  laffen  unb  nidjt  na*  iOicnne  3U  fenben.61) 
iSUein  ift  benit  bab  wanfelmütljig,  SRenfdjeit  fennen?  Unb  ljat 
bie  ©efthichte  nicht  in  grojjartigfter  SBeife  ©ernetb  ÜJtenfdjen* 
fenntuifj  beftätigt,  bahin  bafj  bie  anbern  ©djwe^erfitdjen  milber, 
liberaler,  eoangelifdber  über  bie  „Äe^er"  badjten,  alb  ©alniit;  unb 
©alein  hinwiebetum  enangelifcber  alb  bie  fatljolifdjeH  3nguifilionb* 
Sribunale?  — SBanfelmütljig  foU  eb  ferner  fein,  bafj  ©eroet  in 
ber  ©d)wei3  ftd?  gur  proteftautifchen,  in  ^ranfreidj  3ur  fatijolifdjen, 
unb  bann  wieber  in  ber  ©d}Wei5  3ur  proteftantifdjen  Äirche  hielt, 
allein  bie  2ljatfadje  ift  irrig,  ©eroet  hat  fidj  nie  3m  pro* 


24 


teftantifchen  Jtird)e  gehalten.  311$  Spanier  war  ihm  bie  ßin» 
heit  ber  Kirche  ütel  gu  lieb,  alö  baß  er  je  in  bie  3etrcifeung  be8 
. 8eibeö  ßhrijti  gewilligt  hätte.  2lu«h  nimmt  et  gleich  in  feinen 
beiben  erften  Schriften,  fobalb  er  nur  garbe  befennt,  eine  SDJittel* 
ftellung  ein,  gwifdjen  beti  Lutheranern  unb  ben  SJtencheu. 
3u  Staufenben  gab  e§  ja  währeub  be8  XVI,  3ahrhunbert$  innerhalb 
ber  fatholifchen  Äirche  eoangelifch  ©efinnte  bie,  ihrem  mpftifchen 
©lauben  getreu,  bie  fachlichen  hanblungen  fid?  biblifd)  auä* 
beuteten  unb  an  ber  Deformation  ihrer  &ir<he  oon  innen  arbeiten 
halfen,  ohne  je  einen  ©efallen  baran  gu  finben,  burch  21  ufi tritt 
bie  Äirdjenfpaltung  gu  oergrcßern.  3nfofern  fie  burch  äußeren 
Stnfcßluß  an  bie  geiftig  umgebeuteten  ßeremonien  baö  blinbe 
Seif  täufdßten,  erfcfoeiiit  biefe  Llnbequemung  au  bab  hergebrachte 
aflerbingö  als  Sünbe;62)  aber  mit  SBanfelmuth  hatte  nichts 
gu  thun.  Sei  ben  agents  provocateurs  be8  ßaloiniSmuö63} 
»ar  bie  öffentliche  Serfpottung  ber  betenben  jfatholifen  gum 
$)rincip  erhoben.  Seroet’8  3})rincip  ftanb  höhet.  SMe  chriftliche 
fDemuth,  ihrer  reineren  ßrfenntniß  fidh  bemüht,  jd)onte  gerne 
ber  Schwachen,  iitbem  fie  für  ba8  ptaftifcße  Leben  baS  SSIte  fo 
lange  bulbete  unb  hinnahm,  bis  baö  Deue  fertig  auSgeftattet 
»ar.  — Sanfelmüthig  fotl  eö  ferner  fein,  baß  üftidjael  Seroet 
erft  bie  Decßte  ftubirt  h°t,  bann  ©otteSgeleßrtheit,  barauf  @rb* 
funbe, 64)  bann  SKatßematif,  Sternfunbe  unb  Sternbeuterei,  bann 
SJtebiciu,65)  bann  SBeltweiSheit,  Daturwiffenfchaft  unb  wieber 
©otteSgelehrheit.  3ft  biejer  Sßorwurf  ernft  gemeint,  bann  finb 
bie  genialften  unb  beften  fötänner  jener  3eiten  ÜRiranbnla,  Deucijlin 
gaber  StapulenfiS,  ßapito,  SRelanchthmt,  Sega  SSanfelmüthige. 
Unb  wer  Seroet  genauer  fennt,  ber  weiß,  wa8  Seroet  auch  treiben 
mochte,  feit  feiner  Sibelfinbung  in  Souleufe  biö  an  feinen  2ob 
blieb  er  immer  nur  ba§  eine:  Sibelftubent  (etudieux  de  la 
Ste.  ecriture).  Unb  babei  wußte  er  oon  Anfang,  baß  er  in 
(160) 


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25 


feinem  barbarifchen  Safyrijunbert  um  feiner  freien  gewiffenhafteu 
Söibelftubien  willen  mürbe  ft  erben  muffen,  ©leid)  im  erften 
Sriefe,  ben  mir  non  ©eroet  haben,  noch  ehe  er  irgenb  etmaö  hat 
brutfen  laffen,  ftfyreibt  er  an  Decolampab,  biefer  lege  ihm  bie 
SReinung  bei,  bafe  fein  Stäuber  noch  SRiffethäter  bürfe  beftraft 
unb  getöbtet  werben;  er  rufe  ©ott  gum  3eugen,  bafe  er  jene 
SReinung  butcfeauä  oerabfcheue.  3lbet  maä  id)  einftmalä  gefagt, 
ift  bie$,  bafe  e$  miT  hart  er f e i nt , bie  SRenfchen  barum 
gu  tobten,  weil  fie  in  irgenb  einer  grage  üb[er  Jb a'8 
SSerftänbnife  berSibel  irren."66)  ©o@eroet  1530.  Um  1546 
in  einem  33rief  an  Galoin’3  greunb  Slbel  9>epin,  fc^reibt  et:  „(58 
folgt  ber  Äampf,  unb  bie  3«t  ift  nahe.  Sen  ©ieg,  wer  wirb 
ben  baoon  tragen  über  baß  Silier  ber  Offenbarung?  Sie 
©djrift  fagt:  Sie  fein  3eidjen  nicht  angenommen  haben.  [j©ein 
3eid;en  ift  bie  ©djullehre  oon  bet  Sreieinigfeit.  Safe  |mir 
wegen  biefer  Sache  bie  ScbeSftrafe  beoorfteht,  baö 
weife  ich  gewife.  21  b er  barum  lafe  id)  ben  5Ruth 
nicht  finfen.  fBtö^te  itfeboch  gern  al8  Sünger  ähnlich 
werben  meinem  ÜReifter.*7)  SJtidjael  ©eroet  flaute  bem  ülobe 
in’ß  Slngeficfet  wäferenb  feiner  gangen  tfeeologifdjen  Saufbahn, 
©äre  er  wanfelmütfeig  gewefen,  er  hätte  fidj  befdjränfen  fönnett 
auf  eineö  jener  anbern  gächcr,  in  benen  er  fo  ©rofeeö  geleiftet 
hat.  SSarum  blieb  er  bei  ber  33ibelunb  ftarb  für  bie  23ibel?68.) 
©eil  et  ein  3Rann  war,  nicht  jener  launenhafte  Änabe,  oon 
bem  feine  Raffet  fabeln:  manfelmüthiger  alö  er  felbft. 6y.) 

Snbefe  biefelben  ©egnev,  bie  ifen  wie  einen  übermütigen 
launenhaften  SBuben  oerlachen,  bie  geihen  ihn  bü<h  wieber  bet 
£artnäcfigfeit.  Unb  in  bet  5£bat,  ein  richtiger  „Äefeer"  mufe 
ein  hoefemüthiger,  ftteitfüd)tiger,  eigenfinniget  Stofefopf  fein,  ber 
fid)  oon  Siiemanb  belehren  laffen  will.  ©ar  ba§  ©eroet?  ©enn 
wir  ©eroet  neben  bie  ^Reformatoren  halten,  fo  beftanben  fie  alle 

(661) 


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26 


hartnäcftger  auf  bem  3)u<hftaben  ihrer  SÖleinung.  „Ueber  änö* 
brfufe  ängftlid)  mtdj  h^umguftreiten,  baß  ift  nicht  mein  ©hm: 
mag  einer  baß  fo  nennen  ober  anberß;  auf  biefe  SBcife  eint^eüen 
ober  auf  jene.  9iur  auf  bie  Sache  fommt  c8  mir  an.  üDte  aber 
»erhalt  fi<h  fo  mie  idj  gejagt."70),  Seroei  mar  fo  wenig  un« 
gelehrig,  bah  fid?  noch  heute  nadiweifen  Iaht,  welchen  t^eologifdven 
unb  mebicinijc^en  gehrern  er  fich  jebeßmal  angefdjloffen  habe, 
unb  welche  getreu  er  »on  gutljer  angenommen,  welche  non 
SDielan^thon,  Decolampab,  Söu^er,  (Sapito  u.  f.  f.  ©obalb  ihm 
in  ber  Unterrebuug  mit  anbern  JReformateren  feine  frühere  2Jibel* 
erflärung  alö  ungurei  dienb  fich  erweift,  geht  er  banfbar  auf  bie 
neuen  ©efichtßpunfte  ein.  So  fdjliefjt  er  fidj  mit  jebem  3ah«  mehr 
ben  burd)  ihr  älter  heilig  geworbenen  gehrformen  ber  Äircbe  an; 
nur  bie  mit  ber  33ibel  oöüig  unoereiubaren  ©ogtnen  weift  Sernet 
auch  gulefit  nod),  ja  mit  wachfenber  (Sntrüftung  »on  fich  ab. 

28ie  wenig  ftreitfücbtig  aber  Seroet  war,  geigt  bie  SBeife, 
wie  er  im  Streit  »erfährt.  SBo  er  wen  öffentlich  angreift,  läßt 
et  bie  ^erjoncn  aus  bem  Spiel  unb  holt  fi<h  on  bie  ©odje. 
31on  biejer  ?Hegel  giebt  eß  bis  1552  nur  brei  äußnahmen:  bei 
üuthcr,  guchö,  ÜJianarb.  3m  Söhre  1532  nennt  er  mit  »Hamen 
Luther  ba,  wo  er  gegen  ihn  auftreten  muh,  ober  nicht  ohne  gu« 
»or  Luther®  ©tauben  biß  über  bie  Sterne  erhoben  gu  hoben; 

1536  nennt  er  ben  2lrgt  geontjarb  §uchß,  wo  er  ihn  befampft, 
aber  nur  weil  gudjß  ben  alten  würbigen  ©hampiet,  7I)  Seroet’ß 
geljrer,  auf  fo  unmürbige  Söeife  öffentlich  burchgehecfcelt  Isot; 

1537  nennt  er  ben  ärgt  Solenn  SOianarb,  wo  er  ihm  entgegen* 
tritt,  bocfa  nicht  ohne  außbrücflich  bie  33emerfung  hingugufügen: 
„Söie  gerne  hotte  ich  feineß  fllamenß  oerfchont,  wenn 
Hoffnung  gewefen  wäre,  bah  er  im  Stanbe  fei,  baß 
Seine  gu  »erbeffern.  £)enn  unter  biefer  Öebing  ung 

r»«3) 


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27 


pflege  icp  bet  gebenben  gu  fcbonen:  nicht  etwa  weit  ic p 
ben  .Sfampf  gegen  fie  freute."  T5) 

©ercet  gürnte  bem  ©egner  nicht.  „Äann  i<p  bo<p  com 
geinbe,  wo  er  bie  SBaprpeit  befennt  (3.  58.  fDiubameb)  mept 
lernen,"  fagt  ©ercet,  „al#  non  punbert  gügen  ber  Unfern." 
«Darum  erfucpt  er  feiue  ©egner,  audf  mit  feinem  9famen  ftpo* 
nenb  umgugeben.7  3)  SBeit  er  Decolampab’8,  Supet’8,  ÜRelancp* 
tpon’8,  Gfalcin’8  9?amen  cerfcpont,  pofft  er  ein  ©leidbe#.  Deco» 
Iampab’8  ©dpmäpbriefe  gegen  ipn  werben  mit  Nennung  feine# 
Flamen#  »eröffenttid^t.  — 58utjer  gerreifft  ©ernet’#  @pre  in  ©tücfe, 
— »on  ber  Mangel  unb  in  feinen  oberläitbifdpen  fHunbftpreiben. 
SRelandptpon  in  ben  neuen  5Äu#gaben  feine#  ©cpriftbemeife# 
(1535  seq.)  tjäuft  mit  wacbfenber  (Erbitterung  ©cpmäpmort  auf 
©cpmäpmort  gegen  ben  fpanifcpen  „teuerer".  Unb  Palnin  in 
feinem  ^auptmerfe  branbmarft  ben  „Äepet"  mit  bem  ÄainSjei* 
cpen,  unb  giebt  feinen  tarnen  ber  SBeracbtung  ber  fRacpwelt 
prei#,  natpbem  er  feine  Werfen  pat  3“  5?lf<pe  cerbrennen  laffen. 
SBa#  Söunber,  bap  ba  enblicp  ©eroet  in  feiner  „SBieberperfteQung 
be#  (Ebriftentpum#"  audj  feine  ^auptgegner,  Galcin  unb  Seeland}« 
tpon  mit  tarnen  nennt  unb  fie  fräftig  gurücfmeift  (1553)?  — 
Sßelcper  eprgeijige  unb  ftreitfüd)tige  SRenfcp  fenbet,  wie  ©crcei 
wieberpolt  getpan,  feine  Angriffe  3apre  lang  corper,  epe  er  fie 
brucfen  läfjt,  panbfcpriftlicp  feinen  ©egnern  gu,  wenn  er  ipnen 
nitpt  al#  SRitarbeitem  unb  grennben  certraut,  unb  fiep,  wie 
©eroet  cor  ©ericpt  beTenut,  belepren  (affen  mellte  unb  beitragen 
an  feinem  Speil  jut  ©teuer  ber  SSaprpeit?  5)ap  ber  55rageniet, 
burdp  fein  übergroße#  SSertrauen  3U  SRännern,  roie  Galoin  unb 
‘Jlbel  $)epin,  bie  ipm  feine  £anbf<priften  bann  gurücfbepielten  74) 
unb  fie  ben  fatpolifdjen  fjnquifttoren  übermittelten,  nitpt  nur 
wiffenfcpaftlidj  aufgepalteu  unb  gefepäbigt  mürbe,  fonbern  auep 
an  geib  unb  geben  bebropt,  wem  bringt  ba#  ©eparbe?  ©iepet 

(Ml) 


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28 


bem  ©panier  nidjt,  ber,  ob  er  gleiß  felbet  bei  faßolifcßen  2Raßt* 
fyabern  nißt  geringen  SlnfefyenS  genof),  boß  niemals  feinen  gern* 
ben  mit  gleicher  ©ßäbigung  »ergolten  ober  auß  nur  ben  (Eal* 
»inijßen  ©pionen  eigene  ©pione  gegenüber  gefteüt  ßat.  ©eine 
noble  fpanifße  Äampfweife  »erbot  eS  ßm,  butß  anfdjmcirguug 
ftember  fftamen  feines  9ta menS  ©lang  gu  eßöljen.  33cn  allem 
{jeroftratifßen  (Sfyrgeig  war  feine  ©eele  frei. 

2lbet  barum  wufjte  er  boß,  baff  es  eine  (Eljre  fei,  ber  SBafyr* 
fyeit  gu  bienen  unb  eine  §)flißt,  mit  bem  empfangenen  $>funbe 
gn  wußern,  „auf  bafc  aüeS  ©ott  gum  9faßme  geteiße".  (ES  fiel 
ßm  nißt  ein,  fein  gißt  unter  ben  ©ßeffel  fteden  gu  wollen, 
etwa  aus  gurßt  »or  ÜJtenfßen  ober  auS  SEobeSfurßt.  allein, 
wenn  ein  5Dtann,  beffen  geiftige  Segabung  Ijeute  felbft  feine  ent* 
fßiebenften  SBiberfaßet  ber  ber  größten  5Rännern  feines  gro§en 
3al)ßunbertS  an  bie  ©eite  fteUen,  fein  gebenSwetf,  an  bem  er 
21  3afyre  gearbeitet,  nißt  efyer  IjerauSgiebt,  als  in  feinem  SobeS* 
faljre  unb  bann  noß  oljne  Flamen : 75)  fo  fann  man  folß’  einen 
fötenfßen  nißt  efytgeigig  nennen.  £>ber  ift  etwa  baS  eljrgeigig 
im  böfen  ©inn,  wenn,  naßbem  man  (1534)  bei  mebicinttßen 
©tubien  in  4J)ariS  eine  fo  weittragenbe  (Sntbecfnng  wie  bie 
beS  SÖlutumlaufS 76)  gemaßt,  feine  SSorlefungen  barübet 
fyält,  feine  33üßer  barüber  fßreibt,  fonbern  naß  19  3al)ten,  gnr 
©teuer  ber  Sßaljßeit,  feine  mebicinifße  (Entbecfung  gelegen!» 
liß  unb  wie  gufällig  in  einem  namenlofen  ßeologifßen 
SBerfe  »eröffentlißt?  3ft  baS  eljrgeigig,  wenn  man  mit  bem 
wunderbaren  ©praßtalent,  wie  ®er»et,  begabt;  ber  fpanifßen, 
italienifßen,  frangöfifßen  ©praße  mäßtig,  beS  gatein,  ©rießifß, 
^jebräifß  gu  gefßweigen,  unerfßrocfen  ftetS  unb  feines  ©eifteS 
gewärtig,  getragen  »on  bem  propljetifßen  £oßgefül}l,  baS  ßm 
feine  ^eilige  ©aße  einflöfjte,  niemals,  nißt  in  Spanien,  nißt 
3talien,  nißt  in  granfreiß  eS  unternimmt,  feiner  33egeifterung 

(564J 


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freien  gauf  $u  taffen  in  einer  Siebe  an  baS  33olf  ober  fte  umju* 
feßen  in  eine  ü£fyat  be§  öffentliche«  ÜRarftS?  (Solche  großartige 
SBolfSfcenen,  wie  wir  fie  in  bem  geben  Bwingli’8,  gutßer’S,  ga* 
reU’S,  ©aloin’S  nicht  wenige  treffen ; ©eenen,  welche  biefe  9Rän* 
net  biß  in  bie  SSolfen  erhoben  mtb  ihren  {Ruf  bureß  alle  ganbe 
trugen,  wir  finben  fie  auch  nicht  annäßernb  in  bem  ftiüen  »er* 
borgenen,  wiffenfcbaftlicßen  geben  ©ernet’S.  5Rit  ben  2Bie* 
bertäufern  oft  jufammengeworfen,  ßat  ©ernet  ihren  Qlufrußr 
theoretifch  unb  praftifcß  gerabe  fo  entfeßieben  »erbammt, 77)  wie 
er  ber  Broinglianer  SMlberftürmerei  »erbammte  ober  bet  ©almni* 
ften  .perauSforberungen  ober  ber  {Römlinge  Slutaltäre.  Bmmer 
nur  wirfenb  für  bie  ©emeinnerftanblicßfeit  beS  diriftli* 
cßen®lauben8,  bei  feinen  SBetfen  bie  ©infießt  ber  Äinber, 
bet  alten  SB  eibet  »on  ber  ©affe,  bet  fcßieläugigen  Söänlelfönget 
unb  Sarbiete  beriufficßtigenb  (vetulae,  lippi,  tonsores);  noiß  in 
feinem  Äerfer  ju  Sßienne  bie  einfa elften  geute  als  9lrgt  gerne 
umfonft  bebienenb;  bureß  feine  pßantafieoolle  Sluffaffung  unb 
allegorienreicße  ©mache  bem  gemeinen  fötanne  gar  rnoßl  »erftänb* 
lieh,  hat  er  fieß  boeß  nie  mit  bem  Sßolle  gemein  gemalt;  noeß,  um  bie 
©unft  ber  fBRaffe  3«  gewinnen,  auf  feine  f p a n i f <ß  e SB  0 r n e ß m b e i t 
»erdichtet,  ©eben  in  feinet  erften  ©cßrift  ftetlt  fieß  ber  ©besage 
beS  faiferlicßen  SeicßtoaterS  78)  bet  ORenge  gegenüber.  „Sene 
{ßetgleicße" , fagt  er  (1531),  „bie  id)  foeben  brauste,  mögen  bir 
»ietleidjt  etwas  craff  erfeßeinen.  3lber  wunbere  bieß  barüber  nicht. 
25ie  ©cßwäcßeren  muß  man  mit SJiilch  tränTcn".79)  Unb  im 
SwbeSjaßre  1553  erflart  ©eroet  ,u):  „©leicß  wie  einftmalS  bie 
jübifdje  33olfSmenge  biejenigen  {Propheten,  welcße  ccm  {Reicße 
©ßrifti  erhabenere  Slnfcßanungen  hatten  (sublimiora  videbant), 
gleich  wie  SBütßenbe  (furioses)  unb  Unfinnige  (insanos)  behau» 
beite:  fo  macht  e§  heute  gerabe  noch  bie  {JReugc  allüberall 
(vulgus  Universum).  Unb  fo  gefeßiebt  e§  immer,  baß,  bie  tor 


allem  auf  ©hriftum  blicfen  (qui  Christum  prae  aliis  vident), 
haß  Äreui  erbulben  müffen  unb  bie  SBerfolgungen."  <Se t* 
»et  fab,  wie  bie  grofce  Söiaffe  bet  ©elel)tten  (vulgus)  blinfclingß 
ihren  23orbetern  folgte;  wie  bie  SJlehraahl  felbft  bet  proteftanti« 
fchen  §>rebiger  unb  ^rofefforen,  bie  feine  SBerfe  nie  gelegen,  ge» 
fchweige  gelefen  hatten,  fie  unoerhört  Berbammten;  et  gemährte, 
»ie  umciffenfd)aftli(h  felbft  bie  .päupter  Derfuljren,  ein  ^anl 
Speratuß,  bet  ba  brucfen  läfet  (1534),  ba§  „aUeß,  »ie  eß  im 
neuen  Ueftament  geotbnet  ift,  unb  nid^t  anberß,  eben  mit  folgen 
Suchftaben  unb  Sßorten,  mit  betreiben  gebet  unb  Sinte  guoor 
im  alten  Seftament  muffe  gefchtieben  fein";81)  ein  gutber,  ber 
ben  3acobuß»23rief  barum  für  unecht  unb  eineß  Slpoftelß  unmür» 
big  hält,  »ie  Jacobuß  über  ©lauben  unb  SBerfe  baß  SBiberfpiel 
lehre  oon  fPauluß;  ein  Rlelauchthon,  bet  bei  3lbtaham,  SRofeß, 
.piob,  SDaoib  biefelbe  gehre  oon  bet  Unfterblid)feit  beß  Rienlchen, 
son  ber  5)reieinigfeit,  Bon  ber  Rechtfertigung,  Bon  bet  & träte 
finbet  alß  bei  ©hrifto  unb  St.  ‘Bthanafiuß,  unb  oon  SDogmeuge« 
fdjidjte  ebenfo  »enig  eine  Slhnung  hflt  J»ie  »on  biblifdjer  Shec’ 
logie;  ein  (£aloin,  ber  eß  wagt,  ben  Wann,  ber  bie  ©öttlith« 
feitbeßü)len}(hen8*)am  SBeifpiel  Ghtifti  bemeift  unb  burch  alle 
feine  Schriften  ©hriftum  barfteHt  alß  ben,  bet  auch  leiblich  baß 
ganje  Siefen  unb  bie  ganje  Ratur  ©otteß  (totam  essentiam  et 
totam  Dei  naturam)  in  ftcb  habe,  gu  folch’  einem  Äefjer  ya 
btanbmarfen,  »eichet  allen  Sinn  für  baß  ©örtliche  auß  bem 
©ebächtnijj  ber  Rienichen  Bertilgen  »in81)  unb  Ghrifto  bie 
SJienfchheit  rauben.  M) 

Slngefichtß  fo  trüber  ©rfahrungen,  »ar  eß  ba  bem  Sercet 
ju  Berbenfen,  bafe  er  fich  mit  jebem  Sah«  mehr  gurücfgog  auß 
bem  ©e»ühl  ber  Rienge,  bie  ihn  oerfannte?  ©thaben  über  ben 
Parteien,  feine  gehre  alß  ©eljeimlehre  behanbelnb,  fah  er  halb 
bem  Äampfgemühle  ju,  um,  »o  er  gefragt  »utbe,  Bornehm  alß 

(166J 


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31 


* 


©cHebgricfeter  gu  entleiben;  halb,  abgefdjieben  oon  ben  u«* 
bequemen  greunben  unb  gehäffigen  geinben,  liefe  et  fidfe  bicfet 
an  bet  ®<ite  bet  (Sngel  unb  bet  tmbetn  £immelSbürget  nieber, 
um  at$  $>rophet  ®otteS  gegen  bie  entflammte  $6De  gu  ftteiten. 
ginben  mir  boffe  in  bem  merfwütbigen  ÜJtanne  oereint  jene  frieb* 
liehe  Seelenruhe,  unffenfebaftlicbe  Unbefangenheit  unb  parteilofe 
©eebaditung,  bie  et  (einer  grammatifch'fritifchen  SluSlegung,  8S) 
feinem  @efdjicht0fiun  86)  unb  feinem  finnigen  fiiaturoerftänbnife 
oerbanft;  anbererfeitS  jene  übet  ©terne,  Sonnen  unb  ©Selten 
ftd>  hintoegfefeenbe,  oom  £immel  au$  unmittelbar  butchgreifenbe, 
glntbige,  aber  auch  »ergehrenbe  ©egeifterung.  9lun  hatte  bet 
fpamfcbe  9rgt  9Jtenf(henfenntnife,  ©eelenerfaferung  unb  praftifdben 
©cbarfblicf  genug,  um  gu  miffen,  bafe  für  einen  (Sfergeigigen 
beibe  Stoßen  gleich  unglücflicfe  gemählt  roaten,  bie  eines  über  ben 
Parteien  thronenben  ©djiebSrichterS,  ben  fftiemanb  anetfennt, 
wie  bie  eines  auS  ben  Söolfen  fprecijenben  Propheten,  ben 
'Riemanb  höten  will-  '-Sber  ©eroet  benft  nicht  an  @h«  unb 
©ortbeil,  fonbetn  an  ben  ©ieg  bet  SBahrfeeit.  (Sin  an  ©ortheil 
unb  ©hTe  benfenber  Derjchmifeter  ©cfelaufopf,  roie  bie  (Segnet 
ben  ©panier  fdhilbern,  bet  mufete  überzeugt  fein,  bafe  er  burcfj 
3bipred)en  unb  iDagwifchentreten  fein  Biel  nicht  erreichen  fönne 
Serret  aber  tritt  an  bie  ÜRebicinet  mit  ben  Porten:  „3n  biefer 
ftreitigen  ©ache  hoben  nach  meinem  (Dafürhalten  feiner  oon  bei= 
ben  Sl^eilen  baS  SSefen  felbft  getroffen.  SRidjt  bafe  ich  mich  für 
fo  bebeutenb  hielte,  um  mich  gleidjfam  als  ©cfeiebSrichtet  über 
jene  Streitfrage  in  ber  SJtitte  niebergulaffen ; ober  gewillt  märe, 
mich  butch  beiber  Sheile  ©etbammung  bie  geinbfchaft  aller  mir 
gugugieljen.  Allein  um  flliemanb  baS,  ltsaS  ich  umfonft  empfan* 
gen,  oerguenthalten,  noch  auch  baS,  maS  ben  Sterblichen  frommt, 
ju  unterbrücfen : io  miß  ich  baS  jefet  inS  SERittel  fefeen,  oon  bem 
ich  meine,  bafe  eS  ber  SBaferheit  näher  fommt."  87)  Unb  ben 

(567) 


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32 


Sltyeologen  fagt  er  gur  Ee^e:  „66  erljellt,  baf?  id}  webet  mit  jenen 
noch  mit  biefen  in  StOcm  l'ibereinftimme  noch  audj  uneinig  bin. 
Stile  fcheinen  mir  einen  Ülfyeil  ber  SBahrljeit  ju  haben  unb  einen 
Üljeil  be6  3rrthum6,  unb  jeber  blirft  auf  be6  Slnbern  Streunt 
ceräd}tlich  fyetab:  feinen  eigenen  aber  fieht  Viemanb".  **)  Um 
ber  SBahrfjeit  willen  opfert  ber  ©panier  ftreunbfchaft,  6hre,  ©in* 
fiufj,  Vortheit  unb  ©IM. 

3nbefj  nicht  ber  ©d)ieb6ricbter  hat  ben  Scheiterhaufen  beftie* 
gen,  fonbern  ber  l'rophet.  55er  ©djauer  einer  3ufunft6welt 
ift  eg,  ben  bie  SDiitwelt  cerbrennt,  ©ercet'6  ©harafterbilb  fann 
nicht  oerftanben  werben  ohne  biefen  marfanten  prophetifchen 
3ug.  ©ein  propl)etifd)e6  Sewufjtfeiu  müffen  wir  be6balb  etwas 
näher  beleuchten. 

©dhon  oben  haben  wir  gefehen,  bafe  feiner  reichen  fiiblichen 
^Phantafie  bie  Vergangenheit  in  lebenbige  ©egenwart  ftch  cer* 
wanbeit.  55en  gefd}ichtlicben  (5f?riftu8,  bort  fielet  er  ihn  cor  fidh 
flehen.  Uncerwanbt  hält  et  auf  ihn  ben  SBUcf.  66  tönen,  breh* 
nen  feine  Söorte  ihm  burd}  bie  6ingeweibe.  Unwiberftehiiih 
tritt  er  bem  ^leilanb  näher  unb  näher:  jefct  hat  er  ihn  in  feine 
SIrme  gefaxt  unb  ruht  au6  an  feinem  .fperjeu  mit  reinem  SBufen 
unb  bur<h  be8  £eibe6  Singen  werben  bie  Stugen  be6  ©eifte6  nad}* 
gezogen:  er  hat  ©ott  gefd^ant  unb  er  betet  ihn  an.  Unb  ©ott 
glauben  noch  ihn  anbeten  fann  Vicmanb  anber6  nl§  bort  in 
©hrifto:  ebenfowenig  wie  außerhalb  ©hrifto,  fagt  ©ercet,  bet 
3ube  ober  ber  ©aracene  ben  wahren  ©ott  fdjauen  ober  anbeten 
fann.  3<h  aber,  im  felben  Stugenblicf,  wo  id)  meine  Slugen 
aufhebe8S),  fefje  id)  mit  bem  ©djauer  5ol}anne6  jene6  ©eheim* 
wort,  wie  e6  au6  ber  ©wigfeit  311  un6  fommt;  ich  fehe  mit  bem 
©eher  55anicl  Sefum  ©hriftum  auf  ben  SBoIfen  be6  Rimmels 
nieberfteigen;  id}  fehc,  wie  6r  baljerfährt  auf  bem  cierräbrigen 
SSagen  be6  Jpeieftel  unb  unter  ben  SJfcrthen  beö  3ad}arja,  unb 

r.ßf») 


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33 


unb  wie  er  bcrt  ftjjt  auf  bem  Sijroue  beS  3efajaS.  Unb  ba 
biefe  ©rf<beinungen , bie  nun  »ergangen  ftnb , ein  Äunftgebilbe 
ber  göttlichen  SEBeiö^eit  waren,  fo  nötigt  midj  bie  ©djrift  ju 
fagen,  bafc  baS  ewige  SBort  barinnen  gegenwärtig  war.90) 
„2)enn  3dj  felber,  ber  idj  rebe,  fiefye  ba  bin  id^"  3ef.  52.  ©ben 
jener,  ben  bit  bort  mit  ben  £dnben  betafteft:  jenes  göttliche 
©ilbnifj,  jejjt  ein  wirflidjer  8eib,  — benn  bu  fieljft  Ujn  reben, 
banbeln,  leiben  ben  gefdjidjtlidjen  ÜJlenfdjen  3efu8  »on  91a* 
garetb,  eS  war  einft  eben  baffelbe,  waS  ©ott  ift,  unb  nun  ift 
e8  eben  baffelbe,  wa8  ber  SRenfdj  ift,  unb  al8  OJlenfdj  bleibt 
e8  ©ott  unb  als  ©ott  bleibt  e8  fDtenfdj  unb  bleibt  in  ©ott 
wie  guoor.91)  — ©oldje  Slugenblicfe  gßttlidjer  ©eberfdjaft 
wie  fie  bem  @er»et  würben , wenn  er  in  ber  ©djrift 
la8,  bie  'Äugen  auf  ba8  3iel  gerietet,  (scripturae  scopus 
est  Cliristus),  wenn  er  betenb  feine  ©ebanfen  nieberfdjtieb, 
unb  mit  bem  .pimmelSfbblüffel  (clavis  est  Christus)  un* 
abläfftg  an  bie  SleidjSpfotten  fbblug  (sine  missione  palsando), 
bi8  fie  ibm  fic^  öffnete« : foldje  SHugenblicfe  ber  ©ntjüdung 
fdjrieb  bann  @er»et  nidjt  fidj  felber  gu,  fonbern  ©ott  bem  .perrn. 
„©enn,  fagt  er  mit  Sutljer  1531,  ber  ©eift  be8  9Jtenfdjen  wirb 
immerbar  in  SBefifj  genommen,  entweber  »om  ©otteSgeift, 
ober  »om  St eufelSgeift,  unb  über  ben  SJienfdjengeift  entipinnt 
ftdj  ein  jfampf  ber  ^ß^eren  ©ewalten  (super  hoc  conti ngit  di- 
gladiatio):  benn  felbft  bann,  wo  wir  »om  böfen  ©eift  bin  unb 
bet  bewegt  werben,  mabnt  un8  bennoeb  bisweilen  ber  ©otteS* 
geifi9*).  Unb  auS  ber  SSergangenbeit  in  bie  3ufunft  ift  für 
ben  Propheten  nur  ein  ©djritt.  @r  fönnt  in  ©ott  alles  gegen* 
wartig:  benn  er  fd>aut  in  bie  ©wigfeit.  Unb  foOteft  ©u,  from* 
mer  Befer,  bei  f oldjett  ©efidjten  nibbt  immer  folgen  fönnen  unb 
unb  bie  SBeife  ber  3ewgung  3efu  unb  bie  §üUe  feinet  ©ottbeit 
beit  (divinitatis  ejus  plenitudinem)  mit  ©einem  SSerftanbe  nibbt 

XI.  554.  H f™'1) 


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34 


meinen,  bann  glaube  nur  feft,  baf;  3efuß  ber  ©hriftuß»9Jteffia6 
ift,  ben  föott  bit  gegeugt  als  ©einen  Jpeilanb  (crede  semper 
eum  esse  Messiam  a Deo  genitum  salvatorem  tuurn.)  — 
©aß  allein  (unioe)  rnufjt  ©u  glauben,  um  in  ©hrifto  gu  leben. 
3 cf}  aber,  fagt  bet  fpanifche  ©eher,  habe  mit  all’  ber  3nbrunft, 
beren  id)  fähig  war,  bie  ©rfenntnifj  biefet  3Bahri}eit  inftänbigft 
(instanter)  mir  erbeten  oon  jenem  fjcljen  ©efalbten,  ber  allein 
unß  gum  3eidjen  gefefct  ift;  unb  habe  ein  ©tue!  oon  jener  ©r» 
fenntnif}  (aliquid)  burd)  feine  ©nabe  erhalten,  obwohl  id)  webet 
nolltommeu  bin,  noch  eß  ooUfommen  ergriffen  fjabe95).  ©od} 
$)auluß  felber  hatte  eß  ja  nid)t  ooUfommen  ergriffen,  ©enn  eß 
Rauheit  fid)  t}ier  groeifelloö  um  baß  größte  ©eheimnifi  bet  gtöm* 
migfeit,  ein  ©tücf  ©wigfeit : um  bie  geheime  ©otteß»iDf  fenba* 
rung  oon  ben  3al)tl}unberten  her  (manifestationem  divinam  a 
saeeulis: tf4)  bie  felbft  in  ber  läpoftel  3eiten  uid)t  oöttig  funb  ge» 
ti}an  nod}  überhaupt  ber  großen  9)1  enge  je  unbefonnen  anoer* 
traut  worben  wat'J5).  3ohanneß,  ber  Äpoftel  jd}on  war  burd} 
mannigfache  Sitten  ber  ©laubigen  erfudjt  unb  auf  ber  anbern 
©eite  burd}  ©bion  unb  ßerintf}  gum  Sieben  gebrängt  worben, 
alS  enblid?  itad}  oielem  gaften  unb  Seien  er  jenen  gewaltigen 
Slußjprud)  tljat:  „3m  Slnfang  war  baß  2öort.u  ©ß  ge» 
nügte  bamalß  (sat  erat)  gum  .peile,  gu  glauben,  bafj  3efuß  jener 
©ejalbte,  bet  9)leffiaß  fei,  unb  als  9Jtejfiaß  ©otteS  ®ol}n,  ber 
.peilanb  (esse  Messiam  tiliuin  Dei  Salvatorem).  ©urd}  baß 
Sertrauen  (fiducia)  auf  biefen  9)lejfiaß  allein  würbe  baß  rohe 
Soll  gerechtfertigt,  obwohl  eß  bie  ® o tt^eit  ©Ijrifti  nicht 
recht  »erftanb  (quam vis  Christi  divinitatem  non  plene  eog* 
nosceret).  ©a  nun  bie  Sehre  oon  ©hrifti  ©ottheit  nur  3Be* 
nigen  befannt  war  (a  paucis  sciretur)  unb  bamalß  ÜJtaugel  an 
d}riftlid}en  ©chriftftellern  ^errfc^te  (scriptorum  penuria)  unb 
ttnfenntnifj  ber  ^eiligen  Sprache  (linguae  sanctae  imperitia) 

(lio; 


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35 


hingufam,  fo  ging  nur  gu  balb  bie  wahre  Uebetliefe« 
rung  unter  (mox  periit  vera  traditio)  unb  b ie  ©pefulanten 
über  baö  3enfeit$96)  ftürgten  fid)  in  bie  ©hriftenheit  unb 
geraffen  un8  ©ott  ben  Jpernt. " 3e£t  aber  »erben  mir  ben 
normet  nie  geflauten  ©ott  mit  frei  enthülltem  Slngefichte  fehen 
unb  »erben  eö  flauen,  »ie  in  unö  felber  feine  Klarheit  »iebet* 
ftrahlt.97)  ©ie  ooQe  Offenbarung  freilich  unb  ber  SBatyrheit 
entfcheibenber  ©ieg  trifft,  fagt  ©ereet,  erft  in  baß  3ahr  1585. 
©enn  nach  Offenbarung  Sohanniö  12,  o.  t»  bleibt  bie  Äirdje  in 
ber  SBüfte  nach  ihret  Stuckt  oolle  1260  Sage,  will  fagen  pro« 
phetifdj  12603ah*e.  ©ie  gludjt  ber  jtirdje  aber  begann  (325) 
mit  ber  ©pnobe  oon  fRicaea,  wo  ber  Äaijer  SRöndj,  ber  SBifdjof 
Äönig,9  8)  ©ott  ber  £err  aber  in  brei  ©tücfe  gerfpalten  »utbe99). 
©eitbem  gilt  eä  Äampf  »iber  ben  ©rachen,  ben  $>abft; 
unb  in  unferer  Beit  ift  er  heQet  benn  je  entbrannt,  unb  in  bie» 
fern  Äampfe  ftreiten  (nach  Apoc.  12,  ».  7.)  auf  ber  ©eite 
SKidjael’S  feine  ©ngel,  unb  ber  ©rache  wirb  hinau8gewotfen.  — 
©8  ift100)  befannt,  wie  bet  ©ol)n  be§  XVI.  3a^t:^unbert8,  auf 
bie  3afjlen  ber  Offenbarung  3ohanni8  podjenb  unb  oon  feiner 
33otliebe  für  ©ternbeuterei  getragen,  fid>  baö  taufenbjahtige  SReich 
auömalte,  unb  in  bem  SfRidjael  ber  Offenbarung  12,  7 fich  felber 
abgefpiegelt  fah,  ben  ÜRidjael  ©eroet.  ©a8  »at  bie  SSrt  ber 
Beit.  StUe  ^Reformatoren  mehr  ober  minber  haben  e8  mit  bem 
SBeltenbe  unb  ber  beoorftehenben  SBieberfunft  ©hrifti  «ab  bem 
taufenbjährigen  fReidj  gu  thun;  unb  »ie  Luther  im  3ahte  1522 
erflürte:  „3<h  bin  bet  5)eutfdjen  Prophet"  fo  haben  alle  in 
ihrem  geben  ©tunben  gefannt,  »o  fie  fich  alö  unmittelbare 
£eil8organe  ber  SBahrheit  anfahen,  burdj  bie  ©ott  felber  gu 
bet  SRenfchheit  rebet,  unb  beren  Sßeleibigung  tobeöwürbige  @ot* 
teflläfterung  ift.  3e  mehr  nun  „in  biefcr  lebten,  betrübten  Beit“ 
Bwingli,  Oecolampab,  33uher,  ©aloin,  guthet  unb  5Relamhthon 

3*  (471) 


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36 


auf  foldj  eine  hetnorragenbe  $)rophetenfteflung  für  ©otteS  SReichS» 
fact^e  Anfpruch  malten,  um  fo  mehr  empört  e8  ben  @ernet, 
wenn  eben  jene  SJlänner  jeinen  Bufammenljang  mit  ©ott  für 
SBahnfinn,  jeine  ©ottergebung  für  fatanifche  Söefeffenheit  aus* 
fdjtieen.  „ganatifche  SöuthauSbrüche,  SRelandjthon , fdjiltft  25u 
öffentlich  jene  göttlichen  IReben  non  ©hrifti  .£>immelStaufe  unb 
nerfpotteft  fte  fdjamloS  (impudenter.)  2) et  ^eilige  ©eift 
»itb  non  25  ir  unb  25einen  ungeiftlichen  gteunben  für  unftnnige 
SButh  auSgegeben“ ,01).  @ernet  läftt  ftch  beöljalb  in  feiner  Ueber» 
geugung,  bah  er  ein  Prophet  ©otteS  fei,  ein  5Runb  ber  5Bahr» 
heit,  nicht  ine  machen,  unb  fthliefct  fein  23ud)  „non  bet  Sßieber* 
herftetlung  beS  ©hriftenthumS"  mit  ben  SBorten:  „SBaS  auch 
immer  bie  ©ngel  jemals  erfannt  haben  mögen,  baS  haben  fie 
non  empfangen,  gleichwie  auch  wir  (angeli  . . . sicut  et 

nos.)  ©ebenebeit  batum  fei  ©r,  gebenebeit  non  Sahrhunbert 
gu  3al)rhunbert , bet  feine  eigene  (non  unS  übet  feine  Serien 
mitgetheilte)  SBeiSheit  unS  felber  in’S  Jperg  gegoffen  (infundens) 
unb  unS  gu  erfennen  gegeben  h at  (hanc  de  se  nobis  cognido- 
nem  dedit.)  ©ebenebeit  feien  in  3hm,  bie  in  Söahrheit  glau* 
ben,  bah  ©r  ©otteS  (Sohn  fei,  ber  non  ©wigfeit  in 
©ott  wieberftrahlt  (filium  Dei  ab  aeterno  in  Deo  relucen- 
tem)  unb  in  ©wigfeit  regiert.  Amen.  Amen."10*) 

@o  ber  fpanifdje  Prophet,  ©r  hat  ft<h  mehrfach  nerrechnet, 
wie  baS  ben  3ufunft8fchauern  gu  gehen  pflegt.  Aber  wer  will  fagen, 
bah  er  ein  ßügenprophet  gewefen  fei?  SBer  Sernet’8  ßehrent» 
wicfelung  unbefangen  nerfolgt,  ber  wirb  non  feiner  lebten  Sehr* 
form  eher  behaupten,  bah  fte  mit  bem  Aberglauben  feiner  Beit 
oetfejjt,  als  bah  fte  non  Unglauben  getragen  gewefen  ift.  ©r 
hat  geint:  aber  geftrebt  hat  er  nach  ber  SBahrheit  mit  aufrich» 
tigern,  lauteten  bergen.  25arum  finb  in  unferem  Sahrhuubert 
nitle  ber  ©egner  ©ernet’S  non  bem  SBorwurf  ber  muthwilligen 

(MJ) 


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/ 

37 


©otteSläfterung  unb  bei  Jeufelei  abgeftanben.  2)a  fie  nun  aber 
um  jeben  ^reiS  ihn  tenucd)  gum  Äe|er  ftempeln  wollten,  um 
bet  Äirdje  gu  bienen,  fo  haben  fie  eS  unternommen,  ben  geift* 
oollen  ©panier  als  einen  unfittüdjen  gemeinen  9Renfd)en 
3U  branbmatfen. 

gafft  man  unfittlich  als  unmeralifdj  überhaupt,  b.  h-  felb» 
ftifcf),  eigennüfcig,  fo  ift  barauf  gut  ©enüge  geantwortet  wor» 
ben.  ©eroet  ift  nichts  weniger  als  felbftifd).  3um  SJlärtprer 
geboren,  »ergibt  er,  bet  Slrgt  nur  gü  oft,  baff  eS  auch  feine  Pflicht 
ift,  0eib  unb  £eben  fidj  gu  fchonen. 

SSerfte^t  man  unter  unfittlich  gef<hlechtlich5gemein,  bann 
bridjt  biefem  Sßorwurf  bie  ©pi^e  ab  ein  förperlicheS  ©ebrechen, 
baS  webet  gu  ©ereet’S  gebgeit,  gefdjweige  nachher,  Ijat  in  3®eifel 
gegogen  werben  fönnen103).  3nbefj  aus  bem  fatholifd}  freien 
33ienne  fommenb,  ahnte  ©eroet  nicht,  baf)  er  in  ©enf  ber  beft» 
belauerte  5Jlann  feines  SatyrljunbertS  war.  Söenn  er  trofj  beffen 
in  ber  fo  ftreng  für  jbirchengudjt  gugef 1 nittenen  ©tabt,  wo  jeber 
&cä)  unb  jebe  ©chanfwirthin  gu  ©aloin’S  ©pionen  gehörten, 
nur  einer  einzigen  gweibeutigen  fRebenSart,  bie  noch  bagu  fein 
©ebredjen  bemänteln  feilte,104)  gegiehen  werben  fonnte,  fo  mufcte 
©eroet,  für  einen  oielgereiften  Sirgt  beS  üppigen  fedfSgehnten 
3al)rhunbert8,  auch  in  feinen  ©djergwerten  merfwürbig  rein  ge» 
wefen  fein.  SöaS  enblict)  jenen  .^eirathSantrag  betrifft,  ben  er 
in  ©harlieu  gemacht ,05),  fo  nmf  fi<h  babei  nichts  Unehrenhaftes 
herauSgefteHt  haken-  ©onft  hätten  bie  ÜRänner,  bie  bei  ©eroet 
fo  überaus  fcharffinnig  na<h  Verbrechen  fugten,  eS  ihrem  langen 
Sflnflageregifter  eingefügt:  waS  nicht  gefeilt). 

@$  erübrigt  bie  unparteiifcfje  Antwort  auf  einen  Vorwutf, 
ber  faft  allgemein  gegen  beS  ©panietS  fittlichen  (5^ araf tcr 
gefdjleubert  wirb.  SDaS  ift  ber  Vorwurf  freier,  fdjamlofer  Üüge, 
begiehentlith  ÜReineib. 

(471) 


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38 


Siefe  lejjte  Auflage,  Don  wem  geht  fte  auS?  33on  3:h«ologen. 
Unfete  eDangclifdhen  ©eridbte  Don  3eju  haben  für  SEfyeolegen  ferne 
geringere  ©taubwürbigfeit,  als  bie  erblichen  ©ericfetSoerbanb- 
lungen  etwa  in  bem  calointfc^ert  ©enf.  2Ser  ftc^  nun  aber  mit 
©eteinbarung  ber  oier  ©oangelien  wiffenfd^aftlid^  befc^Sftigt  hat, 
ber  wirb  gugeben,  bafj  noch  feineöwegeS  einet,  gwei,  brei  ober 
gar  ade  Dier  ©Dangeliften  Sügner  gewefen  finb,  weil  fte  in  Ort?-, 
Seit»  unb  anbern  fragen  fidb  unter  einanber  ober  ficfc  felber 
wibetfpvedjen.  Unb  hat  man  butcb  bie  Sitten  felbft  gablreicfce 
©riminal  = >))rogeffe  auö  bem  Saljthunbert  9Rac<hiaDent’§  Fennen 
gelernt,  bann  wirb  mau  faft  in  jebem  $>rogeffe  offenbare  SBibet» 
fyrüdje  ber  hodhftehenbften,  unbefcboltenften  unb  glaubnnirbigften 
3eugen  anfübren  tonnen,  ebne  bafj  eä  einem  etnfallen  wirb,  bie 
gebauten  3eugett  abfidhtlicber  ©ntftellung  ber  SBahrheit,  ber 
£üge  ober  beS  SOieineibS  gu  begücbtigeu.  Unb  nun  erft  bie  än« 
getlagten  felber!  Sdt)  will  fein  ©ewidjt  batauf  legen,  wie  leidjt 
bie  bei  ©erhören  bamalg  übliche  Roller,  ber  Werter  feuchte  Äältr, 
^infternifj  unb  namenlofe  Unfauberfeit  bem  ©efangenen  ba§  &e> 
bädhtnifj  trüben  unb  ben  @inn  Derwirren  tonnte.  Slber  icb  er* 
innere  baran,  ba§  in  bem  neueren  ©trafprogefc  e8  gum 
gehört,  gur  ©elbftanflage  bürfe  ©iemanb  gegwungen  werben. 
Unb  wie  nun?  wenn  bie  Dermeintlichen  ?ügen  unb  HJteineibe 
©eroetö  nichts  al3  leere  (Srftnbungen  feinblither  SRichter  unb  ©f= 
ridjterftatter  finb,  über  bereit  Unfenntnifc  Don  ©eroefä  Sehen 
unb  SDenfen  bie  neuere  gotfdjung  gut  SageSorbnung  übergebt* 
Snbefj,  wie  bem  aiub  fein  mag,  wenn  wir  nur  auf  fieberen  ©e» 
weis  hi«  Seroet  ber  2üge  geiljen  bütfen,  nicht  aber  auf  bie  Unter' 
fteUungen  jener  Äeherriditer , benen  fo  unenbUcb  Diel  baran  ge» 
legett  war,  bafj  er  gelogen  haben  möchte:  bann  müffen  wir  über 
©ernet  nrtheilen,  wie  ©eroet  über  feinen  Biennet  SDrucfer:  „eie 

CiT«) 


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39 


©htenmann,  ber  nichts  anbereS  fagen  will,  alö  bte  2Baht» 
heit."’08) 

@o  haben  un§  ©erret’S  eigene  SBorte  unb  Jhoten 
gu  einem  felbftftänbigen  Urtheil  über  feinen  ©harafter  geführt: 
einem  Urtheil,  ba§  beibe  in  ihrer  Roheit  beläßt,  ben  ©enfer 
5Rofe§  unb  ben  93ienner  GliaS.  G§  mar  Galrin’8  ©cbulb, 
ber  frömmfte  ®ehn  feiner  3eit  gu  fein.  PS  war  ©erret’8 
©chulb,  über  fein  Jahrhunbert  hiuauSgueilen.  Unb  finb  e8 
-tefjer,  bie  am  ?llten  flehen,  nachbem  bie  Äirche  ihre  eigene  93er* 
gangenheit  glücflicb  übermunben  hat,  fo  ift’8  ein  .ftefcer  in  einem 
anbern  ©inne,  ber  bie  @lauben8funbamente  feiner  3eit  erfdmt» 
tert,  um  au8  neuen  fefteren  Duabern  einen  3ufunft8bau  3U  er» 
richten.  Soli  ein  „Äefcet"  mar  fütichael  ©erret:  für  fein  Jahr* 
hunbert  gemeingefährlich.  Unb  um  fein  Jaljrhunbert  rer  be8 
©paniere  qrunbftürgenben  Sehren  311  retten,  hat  ih«  Galrin  rer» 
brannt.  £)arum  hflt  fein  Jahrhunbert  Galrin  ©lücf  gewünfdjt 
gu  feiner  mutigen,  eblen,  frommen  $hat. 

©erret  gehört  bem  XIX.  Jahrhunbert.  3\irum  faffen  wtr 
3um  ©chlufc  be8  5Jtanne8  Gbarafterbilb  in  wenigen  3ügen 
gujammen. 

©panier,  Gbelmattn,  au8  altchriftlidiem  Juriftengefcblecbt, 
unter  fötaurenmerben  unb  Jubenuerfolgungen  grofj  geworben, 
burch  bie  3nquifitien  für  ewig  ber  Solerang  gewonnen,  gu  freie» 
rem  ©enfen  rom  gürftenergieher  fflragentenS  gefault,  rom  ©eicht» 
rater  Äarl  V.  in  allen  Uebungen  ber  ^römmigfeit  auögebilbet, 
an  be8  ÄaiierS  £of  währenb  be8  .ftrönungSgugeS  buttb  Jtalien 
mit  aller  Äunft  unb  ^err!id;feit  bet  SBelt  befannt  gemalt, 
fennt  er  fein  grefjereS  Greignif)  in  feinem  Sehen,  al8  ba§  et 
eine  Sibel  gefunben.  fortan  rergiditet  er  auf  Suft  unb  Gljte 
unb  Ginfluf),  bie  ihm  in  ben  ©cboofj  fallen  weiften.  Gr  hat 
nur  noch  eine  Rafften,  Jefum.  ©iefen  Jefu8  gu  gewinnen  unb 

fST») 


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40 


aller  Sßeft  gu  offenbaren,  tag  ift  fortan  feineö  geben«  3kL  SBa« 
3efu,  feinem  .jpergenöfteunbe,  wiberftrebt,  ba«  wirft  er  mit  bet 
ganzen  ©lutlj  eine«  fpanifchen  [Ritter«  gu  Soben.  ©einem 
greunbe  3efu«  gehört  bie  SBelt.  Sbcr  biefem  3efu«,  bem  weit* 
gefdfichtlicben  £eilanb,  bem  petfönlichen  ©otteflfehn  wagt  fein 
unperäu&erlidje«  [Recht  auf  bie  Äirdje  ftreitig  gu  machen  jene 
leichtfertige  ©«hullehre  non  ber  Dreieini  gfeit,  welche  mit 
bet  58ibel  nicht  ftimmt  noch  mit  ber  SBernunft  fleh  reimt.  Um 
3efu  willen  barf  man  mit  bem  ©ehriftprincip  nicht  ba  ein  ©nbe 
machen,  wo  mau  cor  bem  Sllerheiligften  fteht.  [Rein,  wenn 
irgenb  eine  gehre  ber  Äirche  an  bet  ^eiligen  ©chrift  geprüft  unb 
an«  ihr  reformirt  werben  muh,  f«  ift  eö  bie  gehre  non  ©ott 
unb  ben  brei  sJ)erfonen.  güt  biefe  Uebergeugung  fucht  ©eroet 
nacheinanber  alle  [Reformatoren  gu  gewinnen.  @r  ift  ba«  feinem 
greunbe  fdjulbig,  für  ben  er  fpricht.  Der  [Reformatoren  Snt* 
wort  ift  Sann,  Seht  unb  Sob.  Sornehm,  ftolg  unb  oerwegen 
lacht  ©eroet  ihrer  Drohungen.  fRie  hat  er  einen  [IRenfehen  ge* 
fürchtet  noch  al«  feinen  gehrer  auerfannt.  Son  Sugenb  auf 
fdjaut  er  bem  Stob  in«  'Äuge.  ©8  ift  fo  füf)  für  bie  SBahr* 
heit  fterben.  So  ift  er  ein  [Reformator  geworben  wibet 
SBillen;  ein  [Reformator,  ber  ba  gu  reformiten  anfing,  wo  bie 
Zubern  aufgehört  hatten,  aber  bie  ©djullehre  oon  ber  Dreiet* 
nigfeit  ift  allgemein  angenommen.  SBer  fie  oerwirft  ober  gar 
oerfpottet,  ber  reigt  aDüBerall  ba«  Soll  gur  SButh-  ©eitbem  et 
©egner  ber  hergebrachten  Raffung  oon  bet  Dreieinigfeit  gewor- 
ben, barf  ÜMichael  nie  wiebet  ben  Soben  feine«  bei&geliebten 
©panien  betreten.  [Reich  begabt,  wie  wenige  in  feinem  großen 
3ahrhnnbert,  auf  allen  gelbem  ©poche  madjenb,  bie  er  berührte, 
muh  er  fliehen  au«  Safel,  Sugäburg,  ©trahburg,  $agenan. 
Such  gpen  unb  ^ari«  werben  ihm  balb  gu  enge.  SUe  ÜRafje 
feine«  3ahrhunbertö  paffen  bem  [Riefen  nicht.  [Rur  ein  ©rgbifchof 

(M6) 


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41 


hat  ihn  »erftanben,  9>eter  ^almier  in  93ienne.  3)och  @al»in 
läfjt  ihm  auch  h*et  feine  Siulje.  SRidjael  be  SßiHeneuee,  al8 
&e$er  benuncirt,  wirb  in  ben  Äerfet  geworfen.  9U8  et  entfliegt, 
wirb  er  in  ©enf  »erbraunt. 

9lutoritätenfrei,  wie  »ieöeicht  fein  gweiter  im  fechSgehnten 
3abrhunbert,  aber,  wo  eS  bie  SBibeüe^re  gilt,  bis  gur  Qlengftlicb* 
feit  gewiffenhaft;  felbftloS  faft  ohne  ©renge,  friebfertig,  gelehrt 
nnb  gelehrig;  baS  ftiHe  ©tubirftübchen  unbebingt  »orgiehenb  bem 
lauten  ÜRarft,  ben  ©jrtremen  abholb,  bem  SBortftreit  fremb,  in 
ben  9lu8brücfen  unaufhörlich  wedjfelnb,  in  ber  Sache  feft ; im 
©lüde  übermüthig,  iu  wibrigen  ©djicffalen  ©ott  oertrauenb,  feft 
unb  finblich  fromm;  fitchgläubiger  Äatholif  bis  jum  fiebgehnten 
Lebensjahre,  feit  bet  Sßibelfinbung  in  Souloufe  fchriftgläubig  bis 
in  feinen  5£ob,  freieoangelifch,  $)roteftant  niemals,  aber  auch  nie 
wieber  fPabftoetgötterer,  hat  SOtichael  Seroet  p SReoeS,  ber  Slrta» 
gono»9ia»arrefe  bur<h  feinen  freien,  unbebingten,  rücffichtSlofen 
93ibel«5RabifaIi8mu8  2lHe  nadjeinaubet  fich  gu  geinben  gemalt, 
gür  baS  SSolf  lebeub,  forfchenb,  helfenb ; auf  bie  ewige  Seltgfeit 
auch  ber  ©eringften  (vetalae,  lippi,  tonsores)  bebacht,  hflt  er, 
mit  Ausnahme  »on  S3ienne,  nitgenb  fich  länger  als  ein  Saht 
aufhalten  fönnen,  ohne  bem  Scheiterhaufen  gegenüber  geftellt  gu 
werben:  ein  Salamanber,  beffeit  ©lement  baS  geuet  ift.  ©ich 
felbft  genug  in  ber  ihm  oon  ©ott  gegebenen  Äraft,  erhaben  über 
baS  gufällig  ihm  Segegnenbe  in  feiner  trabitioneQen  Umgebung, 
getragen  oon  bem  ihm  einwohnenben  föniglichen  ©eift,  fein  Biel 
im  Sprunge  gu  erreichen  gewohnt,  fragt  er  nicht  nach  ber  wüften 
SBelt  um  ihn  her,  ein  aragonifcher  Löwe  gu  ben  güfcen  3efu. 
Criginell  unb  genial,  halb  ©rftnber,  halb  ©ntbecfer,  »on  feinen 
Beitgenoffen  »erlaffen,  »erhöhtet  unb  »erfannt,  für  fein  3ahrhun» 
bert  fdjeinbat  erfolglos,  nur  ba§  feine  ©prupSlehre  fünf  Auflagen 

erlebte  unb  fein  $)tolemaeu6  gwei,  hat  9Ri<hael  mit  feinem  guten 

(uv 


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42 


©ewiffen  bem  Fimmel  fich  um  fo  näher  gefügt,  je  weiter  ihn 
bie  @rbe  non  ftd?  ftie§.  3n  allen  SBiffenfdjaften  fcharfftnniger 
Secbachter;  geftem  ©chüler,  Ijeute  Sefyrer,  morgen  SJIeifter  irnb 
SJiufter,  hat  er  nie  etwas  Roheres  fein  wollen,  als  SSibelftubent. 
©ein  oerjebrenber  geuereifer  für  bie  SBaljrheit  in  allen  JReligio* 
nen,  bei  3oroa[ter,  ÜJiofeS,  SriSmegiftuS,  $lato,  6^riftu§  unb 
SRuhameb,  feine  ehrliche  ©erabheit  in  allen  Singen  unb  SJZamt* 
haftigfeit  auch  ben  böcbfteu  ©pifjen  gegenüber,  fein  nicht  fcp?f* 
hängerifdjeS,  nicht  trübfeligeS  unb  matteS,  fonbern  ftifd&eS,  frc* 
heS,  rechtfchaffneS  ß^riftenleben  liefen  ihn,  auch  wo  er  angeflagt 
war  oor  ©ericht,  als  ben  eigentlichen  dichter  etföheinen,  ber  roei* 
ter  fah,  als  bie  Scholle,  an  ber  fein  gujj  haftete;  weitet  als  bie 
fur^e  Spanne  3eit,  in  ber  feine  9>ulfe  fdhlugen;  weiter  al§  bie 
Heine  ©rbenwelt,  ber  baS  2ltom  feines  £eibe6  angebörte.  ®aS 
£e rj  bei  feinen  ÜJtitmenfchen,  baS  ,£>aupt  im  £>immel,  ben  2lrm 
um  feines  göttlichen  greunbeS  3efu  ©chulter,  ben  ©eift  bei  ©ott : 
fo  ragt  ber  bleiche  fpanifche  SRiefe  oom  ©enfer  Slutgerüft  in 
unfer  Sahrhunbert  unb  fragt  eS  auS  feinen  glammen:  „Setwcr* 
fen  hat  mich  weine  3«t.  ©elebt  habe  id?  für  bie  Fachwelt.  Ser* 
ftehft  bu,  waS  ich  gewollt  unb  wofür  ich  geftorben  bin?"  . . . 


(5>rs> 


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9fnmerfuttgen. 


1)  Syruporum  universa  r.itio  1537.  1545.  1546.  1547.  1548. 

2)  ©.  9Hcin  ?utber  unb  Seroet.  3?erlin  bet  ®leflenburg  1875. 

3)  Stäbelin,  ©aloin  1.  428. 

4)  qu.  3.  be«  23.  Slug.  1553  $u  ©enf. 

5)  qu.  4.  I.  1.  — SBie  e8  bamal«  in  Souloufe  auSjab,  barüber 
€>.  V.  IRaumer.  3xxf4?enbud)  1874.  111.;  — über  Serßets  Sibelftellung: 
4>tlgenfelb’S  3eitfdjrift  1875.  I. 

6)  ayant  zele  de  verite  qu.  19.  1.  1. 

7)  qu.  10.  cf.  qu.  20.21.  — auch  qu.  2 be§  15.  Slug.  1553. 

8)  qu.  15.  »gl.  IRaumer’S  Staiibenbucb.  1874.  ®.  77 — 98. 

9)  qu.  16.  cf.  qu.  4 be«  14.  Slug.  1553. 

10)  Sefr  richtig  fragt  Saiffet  ben  bie  Slufricbtigfeit  be«  ©lauten« 
»on  Sernet  fcejtteifelnben  Salbin:  quVst  ce  qui  luttait  en  lui  contre 
tos  instances,  unies  a celles  de  Farel,  quand  vous  lui  demandiez 
une  abjuration  avec  la  vie  pour  recompense?  Etait-ce  encore 
l’orgueil?  evide  i ment  non;  c’etait  sa  conscience  et  sa  foi  p.  223. 

11)  De  Trinitatis  erroribus.  L.  VII.  fol.  78a. 

12)  temporalem  nobis  in  verbo  dedit,  et  aeternam  in  carne 
lncrifecit. 

13)  mirabili  virtute  mundum  subjecit  et  subjiciet  et  sine  strepi- 
tu  armorum  mentes  ducit  captivas. 

14)  fol.  78b.  »gl.  Sbeolog.  Stub.  u.  Ärit.  1875.  ©.  720  f. 

15)  ut  hoc  unicum  de  fide  in  Christum  praeceptum  sit  loco 
nniversae  legis  subrogatum.  fol.  82  b. 

16)  Nam  Christus  est  mihi  unicus  magister. 

17)  esse  Christum,  filium  Dei,  salvatorem.  fol.  82  b. 

(57») 


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44 


18)  fol.  86b.  — Dicfcfi  Pro  quo  dico,  fo  mitten  in  bei  SRebe, 
^at  etwas  (SrfjafrcneS  unb  ©rgreifenbe«.  ©erabe  feiere  naiue  Slu8brücf>e 
feiner  ffremmigfeit  ftnb  am  allerbejeictynetften. 

19)  nam  oculi  carnis  trabunt  secam  oculos  mentis.  fol.  90a. 

20)  fol.  109a.  21)  fol.  109b.  22)  fol.  112a. 

23)  Dialogorum  de  Trinitate.  L.  II. 

24)  fol.  9 b. 

25)  Utinam  in  simplicitate  et  fide  istorum  moriatur  anima 
mea  et  uon  in  versutiis  alicujus  ex  magistris  nostris.  fol.  10  b. 

26)  quod  erat  nostrum.  Solche  untDiflfürlidje  (Sinjdjaltungen 
beweifen  am  beften  bie  303at)rl;eit  feiner  ©enfer  SiuSfage,  ba§  er  nic§t 
»on  3uben  ftamme. 

27)  fol.  30b. 

28)  Restitutio  Christianismi.  a.  1553. 

29)  p.  51.  30)  p.  217. 

31)  in  eo  (Christo)  est  omniuru  specimen,  omnium  idea  et 
omnium  plenitudo. 

32)  p.  218  sq.  33)  p.  219. 

34)  In  solo  Christo  est  veritas,  aeternitas,  in  eo  solo  est  tota 
plenitudo  et  tota  salus  nostra.  Sit  ille  solus  super  omnia  semper 
benedictus  Deus.  Amen.  p.  2 47. 

35)  syncero  pectore  verum  Christum  et  eum  totum  divinitate 
plenum  agnoscimus  (fol.  11a.  De  trinit.  error.). 

36)  In  eo  (Christo)  cognoscendo  jugiter  laboro,  dies  noctesque 
meditor,  ejus  misericordiam  implorans  et  verae  cognitionis  revela- 
tionem.  p.  248. 

37)  p.  253.  »gl.  fcilgenfelb’S  3«tför.  XIV.  2.  ©.  241-263. 

38)  Unus  Christus  divina  et  humana  in  unius  sui  corporis 
plasmate  recapitulat.  p.  269. 

39)  Cui  soli  cum  Deo  Patre  in  substantiae  et  Spiritus  unitate 
regnanti,  sit  in  aeternum  gloria,  imperium  et  omnis  potestas. 
Amen.  p.  286. 

40)  p.  290.  41)  p.  296.  42)  p.  292.  43)  p.  353. 

44)  p.  707.  45)  p.  4. 

46)  Stucf)  »or  @eric§t  beruft  er  fi<$  auf  bie«  biblijebe  SDRcti»  feiner 
®d)riftfte(Ierei.  Car  Notre  Seigneur  nous  a commande  en  S. 
Matth.  X.  que  ce  que  lni  nous  aura  revele  en  secret,  que  nous 
ne  le  devons  point  cacber,  mais  le  communiquer  aux  autres:  et 
aussi  dit  au  V.  Ch.  que  la  lumiere  qu'il  nous  aura  donne,  nous 
(MO) 


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45 


ne  la  devons  point  mettre  sous  le  banc,  ni  sous  l’escabelle,  mais 
en  Heu  qu’elle  luise  aux  autres,  et  que  ainsi  selon  Dieu  et  sa 
conscience  il  pensoit  avoir  bien  suivi  tous  les  passages  de  la 
Ste.  Ecriture  qui  parlent  de  telle9  questions  et  aussi  les  premiers 
anciens  Docteurs  de  l’Eglise  caet.  caet.  (qu.  10  be8  23.  Slug.  1553 
im  ©enfer  Sßer()5r.) 

47)  p.  4.  Restit. 

48)  De  Regeneratione.  L.  I.  p.  410  ber  Restit. 

49)  Da  servo  tuo,  militi  tuo,  ut  contra  draconein  serpentem 
diabolum,  qui  potestatem  Bestiae,  i.  e.  Papae  dedit,  potentia  tua 
magua  viriliter  pugnet  (p.  410  Restit.). 

50)  «8gl.  gjlagajin  b.  »u8l.  1875.  ©.  333—336. 

51)  ©ertet  betet  auch  im  9lamen  bc8  heiligen  ©eifteS.  3um 
heiligen  ©eift  betet  er  barum  nictyt,  weil  für  biefe  @ebet8weife  fein  SBei» 
fpiel  au8  ber  23ibel  aufgebracht  werben  fann:  Ad  Spiritum  sanctunx 
nec  ante  nec  post  incarnationem  leguntur  seorsim  factae  preces 
(Restit.  p.  707.).  Stud;  im  Sßetcn  ift  ©er»et  bibltjcber  Ideologe! 

52)  p.  576.  ber  Restit. 

53)  Restit.  p.  22. 

54)  Restit.  p.  287.  ©d;lu§  be8  Prooemium  ju  L.  III  de  fide 
et  justicia  regni  Christi. 

55)  Re9tit.  p.  356.  Schlug  ber  SJorrebe  ju  De  regeneratione 
supema. 

56)  SLlgl.  3ahrb.  f.  proteft.  SE^cologie.  1876.  ©.  421 — 450. 

57)  Restit.  p.  627. 

58)  Restit.  p.  670.  58gl.  $ilgenfelb’8  3citfd;r.  XIX.  3.  ©.371-388. 

59)  M.  Servet  p.  222  sq.  Paris.  1859. 

60)  judicabit  ecclesia  (de  Trinit.  error.  L.  I.  f.  2a.)  — »gl. 
feine  (Srflarung  »er  bem  ©enfer  ©eriept,  bei  Steffel  I.  314  qu.  31. 

61)  il  s’est  jette  k terre  avec  larmes,  requerant  qu’on  le  jugeät 
ici,  et  que  Mess,  fissent  de  lui  ce  qn’il  leur  plaira,  requerant  ne 
l’y  envoyer  point,  qu.  be8  31.  3tug.  1553.  p.  316  bei  2red)fel  I. 

62)  qu.  be8  31.  Slug.  1553:  s'il  n’alloit  point  ä la  Messe  a 
Vienne  ? Ilp.  que  oui  et  qu’il  etoit  force,  et  que  St.  Paul  fit  bien 
le  semblable,  eutrant  au  temple  comme  les  Juifs,  commeut  est  con- 
tenu  au  22.  Chap.  des  actes,  qu’il  allcgue:  et  puis  apres  a con- 
fesse  qu’il  a peche  en  ce,  mais  que  c’etoit  pour  crainte  de  la  niort 
(1.  1.  bei  Srecbiel  I.). 

(Ml) 


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40 


63)  bie  Saloin  in  feinen  ©riefen  ermutbigl,  mäbrenb  er  felber  fe^r 

fid)  aue  ben  ©gingen  bei  ©erabr  $u  gieren  Beiß. 

64)  lieber  ©eroet  al«  ©eograpb  ©.  Äoner'8  3eitf(fcrift  für  @rb* 
funbe  1875.  S.  182  — 222. 

65)  3Bie  Sercet  ein  Ptebijiner  »urbe,  barüber  ©.  ©cfcben'S  ftiinif. 
1875.  9tr.  8 u.  9. 

66)  bet  fUlc«beint.  3t.  25.  ©.  393. 

67)  bei  fDlcflbeim.  3t.  95.  ©.  415. 

68)  ©.  „Sernet  unb  bie  53ibet‘  in  tpilgenfelb'0  3eitfd)r.  1875.  I. 

69)  ©.  „£>ie  Joleranj  im  3eitalter  ber  ^Reformation*  in  b.  SRaumer’8 
Safc^enbueb.  1875.  ©.  104—  137. 

70)  De  syruporum  ratione.  fol.  27  a. 

71)  lieber  ©bampier  ©•  25irtboB’0  SCrdji».  ©anb  61a.  1874. 

72)  Nomini  ejus  pepereissem,  si  sperassem,  eum  sua  posse 

emendare.  Hac  enim  ratione  viventium  purco:  non  (juod  in  eos 

pugnam  detrectem.  (Syrupor.  ratio.  fol.  39  b.) 

73)  Seeundo  Te  per  Deum  oro,  ut  nomini  meo  et  famae  parcas 
(1531  an  ßecolatnpab  bei  sJJio3^eim  31.  25.  p.  393.). 

74)  »gl.  ©erbet  an  'Pepin.  ©ei  2Roflbeim  3t.  55.  ©.  415. 

75)  25ie  Restitutio  Christianisini  erfebien  anonptn.  9t ur  hinten 
M.  S.  V.  beutet  ben  Michael  Servet  Villanovanus  Bon  ferne  an. 

76)  »gl.  preper:  pboftolog.  3eitftbr.  1876. 

77)  cf.  28.  9lug.  1553  ©enf  bei  5£red)fel  I.  309. 

78)  »gl.  ,2)ie  ©eiebtoäter  Äaifer  Äarl  V.,*  im  ÜJtagajin  be«  3lu0- 
lanbe«  1874.  9tr.  14.  16.  18.  — u.  Äabni«,  Äircbengefcbitbtl.  3«tf(br. 
1875.  ©.545—  616. 

79)  Crassae  istae  similitudines  tibi  forte  videbuntur.  Sed  ne 
mireris,  infirmiores  oportet  lacte  potare.  Tibi  autem  in  sequentibus 
erit  solidus  cibus.  (De  Trinit.  error,  fol.  68b.) 

80)  Restitutio  p.  720. 

81)  cf.  Paulus  Speratus  oon  ©ofatf.  ©raunftbw.  1861. 

82)  Si  divinitatem  alicubi  inhabitare  credas,  an  putes,  eam 
alibi  quam  in  komine  habitare?  Est  profecto  in  homine  plenitudo 
illa  oinnis  et  major  quam  unquam  intellexit  mundus  (Servet: 
Dialog.  I.  fol.  6 b.). 

83)  cui  hoc  unum  fuisse  propositura  palam  est,  ut  omnem 
divinitatis  sensum  ex  hominum  memoria  deleret  (Calvin : Defensio 
orthod.  fid.  contra  Servetum  p.  57.). 

84)  ©enfer  ©rfenntniß,  bei  9Jio8beim.  31.  25.  ©.  445. 

(58V) 


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47 


86)  lieb«  2>enn'i  üefjrer  in  b«  grammatijdvhitijc^en  Ülueicgung 
Paulus  Burgensis  S.  in  3öcflct’d  SSewete  ItS  QHauben«.  1874.  3uni. 

86)  3$elemaim,  Äin^enjeitung  1876,  <3.  143. 

87)  De  Syruporum  ratione.  fol.  3 b. 

88)  De  justicia  regni  Christi  a.  1532.  p.  92. 

89)  Ego  enim  eo  ip-o  quod  oculos  erigo,  video  Joauuis  visione 
oraculuin  illud  ab  aeterno  veuiens,  video  Jesum  Christum  in 
nubibus  coeli,  speculatore  Daniele  venientem,  in  quadrigo  Ezechielis 
et  inter  myrtos  Zachariae  equitantem,  et  in  solio  Esaiae  sedentem 
(fol.  116a.  De  Trinit.  err.). 

9t))  Et  cum  hoc  fuerit  rationis  divinae  artifieium,  cogor  dicere 
fuisse  logon  (1.  1.). 

91)  Ego  ipse,  qui  loquebar,  ecce  adsum  Esai  52.  Ille  ipse, 
quem  oetdis  cernis  et  manibus  tangis,  divina  illa  effigies  est,  nunc 
corpus:  erat  hoc  ipsutn,  quod  Deus,  et  nunc  est  hoc  ipsum  quod 
homo,  et  manet  Deus  et  in  Deo  sicut  antea  (1.  1.). 

92)  Spiritus  hominis  semper  aut  spiritum  diaboli  sessorem 
habet,  et  super  hoc  contingit  digladiatio:  Nam  etiam  si  a malo 
spiritu  agitemur,  semper  tarnen  Spiritus  Dei  nos  aliquando  monet 
(fol.  73a.  De  Trinit.  errorib.). 

93)  Restitutio  p.  51. 

94)  Prooem.  libror.  de  Trinit.  in  ber  Restitutio. 

95)  Magnum  et  sublime  est  hoc  Christi  mysterium,  quod 
apostolorum  tempore  non  temere  in  vulgus  emittebatur  (Restit. 
p.  19.). 

96)  ÜJiagajin  b.  Sluälanbea.  1876.  3.  333 — 336. 

97)  Deum  antea  non  visum,  nos  nunc  revelata  facie  videbimus 
et  lucentem  in  nobis  ipsis  intuebimur  (Prooem.  libb.  de  Trinit.). 

98)  Constantino  Imp.  facto  tune  monacho  et  Sylvestro  in 

Papam  Regem  converso,  necesse  fuit,  faciem  orbis  inverti  (p.  398. 
Restit.)  * 

99)  tripartitum  Deum  caet.  (Restit.  p.  22.). 

100)  cf.  9Jlc«fyfim.  illnb.  33erf.  93  sq.  — Henry  III.  125  sq. 
Sredjfel  I.  122  sq. 

101)  Fanaticos  tu  clamas  furores,  qui  de  coelesti  Christi 
baptismo  sunt  divini  sermones,  quos  tu  impudenter  cavillaris. 
Spiritus  sanctus  tibi  et  tuis  animalibus  insanus  furor  censetur 
(Restit.  p.  720:  Apolog.  ad  Melanchthon). 

(WJ) 


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48 


102)  Restitutio  Christianismi  p.  734. 

103)  »gl.  Steffel  I.  306.  gr.  18.  unb  314.  gr.  26. 

104)  bei  SSre^jel  1.  311. 

105)  a.  a.  £>.  I.  314. 

106)  ogl.  ^roteftant.  Ätnbenjeitg.  1875.  '3.  931  — 935. 


(584) 

(Etui  con  48 c b r.  Ungtt  (16.  (Stimm)  in  Berlin,  Scbctieberjerffr.  17a. 


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2)ie 

erfteit  Anfänge  öer  £)eUkuttbe 

imb 

bic  Jtebipn  int  alten  Aegypten» 


(Eint  knltnrjtsdiirfitlidit  $ki|jt 


Bon 


Dr.  grttft  Sdjrotmmar, 

iDocent  in  iöutapf|t. 


ßerltn  SW.  1376. 

Verlag  » o tt  6 a r l .£>  a b e l. 

(iC.  iß.  iafttrit j'scfcf  Ujrl3g»ijact)t:ara!!i.-rg.) 

33.  3BiI$«!m  • Strafe  33. 


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2)a«  9icd;t  tct  Ucfretfcfung  in  frcmtc  Sprachen  u>iib  mfcctyaltcn. 


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cv 

entwicfelter  unb  bebeutungöoollet  un$  feilte  Äunft  unb  Söiffen* 
jcfcaft  in  ihren  oerfdjiebenen  ©eftaltungen  erfdjeinen,  unb  je  mehr 
burch  ben  Sdjarffinn  menfchlicfjen  ©eifteö  bie  SBcbürfniffe  unfeteä 
täglichen  8ebenö  firfj  oerfeinerten  unb  oerebelten,  befto  begreiflicher 
ift  baö  Streben  bie  Anfänge  aller  fulturellen  ©rrungenfchaften  ju 
etfcrfchen  unb  ben  Urfptung  bet  geiftigen  Sdjäjje,  beten  wir  un8 
heute  erfreuen,  31t  ergrünben.  Safe  äfunft  unb  2Bif]enfcf)aft  nur 
in  ftufenweifer  ©ntwicflung  fich  311  üeroollfommnen  oermochten, 
ift  wef)l  jebent  ©ebilbeten  befannt,  eü  fragt  fich  nur,  wie  ftanb 
«3  um  bie  Urfprünge  biefer  erhabenen  ©fiter  ber  9Jienf<hheit,  unb 
welchen  ©ang  nahm  bie  ©utwicflung  ber  einzelnen  ©eifte8tl)ätig« 
leiten  innerhalb  ber  früf)eften  Beitepochen. 

Sie  ©rörteruug  biefer  ober  ähnlicher  fragen  hat  ihre  greffen 
Schwierigfeiten,  unb  nicht  ohne  33ebenfen  fann  man  fidj  an  bie 
Söfung  berfelben  machen.  Dbgleicf)  man  e8  Riebet  nicht  mit 
Philofophil<hen  Problemen  gu  tf)un  hat  unb  obgleich  feinetlei 
Skrhältniffe  tranäcebentaler  $ftatur  eine  berartige  Unterfuchung 
uub  bereit  Söeurtfjeilung  ftören,  biefelbe  »ielmehr  auf  bie  ©tforfchung. 
realer  Singe  fi<h  begieljl,  fo  führen  un§  biefe  Unterfuchungen  boefy 
auf  ein  ©ebiet,  wo  bie  fUipthe  bie  23al)rheit  oerbrängt,  unb  wo 
ti  fchwierig  eridjeint  31t  behaupten:  hier  enbet  bie  Sabel,  hier 

XI.  JS5.  1 (J8t> 


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bie  3Baljtt)eit.  3n  bet  ©ejchicfcte  ift  mehr  als  in  ber  ^fyilefepbie 
baS  fforfcbungSoermegen  burch  geitlicfe  unb  raumlidje  S^erfcältnifTe 
begrengt,  aber  bie  Ijobete  3nte0igeng  lehrt  uuS  bieie  ©rengen 
erweitern , unb  ben  geiftigen  jporigont  immer  freier  unb  offener 
not  unferen  ©innen  gu  entfalten.  5ü$o  not  3ai}rhunberten  ein 
urtheilSlofer  blinber  ©laube  bie  2>eutung  unerflärlicber  ©rfcbei* 
uungen  auS  bcm  Sehen  bet  9iatur  ober  ber  ältcften  Äultnr  gu 
oermitteln  ftrebte,  bort  wirft  heute  mit  befferem  unb  fixerem 
©rfolge  ein  burd)  oernünftigeS  SDenfen  gefdjuIteS  Urtheil  im 
SSerein  mit  ben  ©rrungenfchaften  mobernet  SBiffenfc^aft.  5Rur 
fo  würbe  eS  möglich,  trof}  beö  geitlichen  ÜlbftanbeS,  ber  unfere 
©poche  ®Dn  hem  3«italter  eiued  grauen  SllterthumeS  trennt, 
manche  g^ät^fel  einer  cerloren  gegangenen  jfultur  einfacher  unb 
nötiger  ju  (Öfen,  als  bieS  ben  Seftrebungen  einer  früheren 
SBiffenSperiobe  gelingen  fonnte.  5Die  ©ntgifferung  ber^ieroglnphen, 
bie  ©rfotfdjung  ber  Äeilfdjtift  hoben  unS  Ijötbft  merfwürbige  unb 
feltfame  tÄuffdjlüffe  geboteu,  unb  nur  fie  höbe«  eS  ermöglicht, 
einen  ©itiblicf  in  baS  Seben  Bieter,  fd^cn  längft  uom  ©rbbatl 
nerfdbtounbener  Nationen  gu  erlangen. 

Ob  ber  ÜJtenfclj  gu  allen  Beiten  fowohl  als  eingelneS  3u« 
binibuum,  als  auch  als  SJHtglieb  einet  ©efeüfchaftSflaffe  ober  eines 
Stammes  um  bie  ph9fif<he  ©rljaltung  feiner  felbft  Sorge  getragen, 
wiffen  wir  nicht.  35aS  33eftreben,  burch  natürliche  ober  fünftliche 
9Jtittel  feinen  DrganiSmuS  gefunb  gu  erhalten,  bürfte  bis  gu 
einem  gewiffen  ©rabe  jebod)  bem  rohen  SRaturnolfe  ebenfowenig 
gemangelt  hoben,  als  einer  auf  einer  norgefchrittenen  Äulturftnfe 
ftehenben  Nation.  Schon  bet  ©rhaltungStrieb  im  Kampfe  mit 
ber  fftatur  unb  wilben  Spieren  gwang  ihn,  fid)  gegen  bie  feinblichen 
©inflüffe,  bie  auf  ihn  allerwärtS  eiuftürmten,  gu  wehren  unb 
gegen  franffjafte  3ufäHe  gu  fchüfjen,  unb  biefer  Schuh,  ben  er 
feinem  ÜBerftanbe  unb  feiner  33ilbung  entipred;enb  fud’te,  war 
<»*») 


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gewiß  mit  ein  ftactcr  gur  Entwidlung  einer  praftijehen  Slhätigteit, 
bie  ißm  gur  Seit  ber  Jtranft?eit  ^itfreidje  <panb  gu  bieten  vermochte, 
unb  bie  fid)  allmätig  gu  einer  £et)re  tjeranbilbete , meiere  oft 
©enefung  gu  bringen  im  Stanbe  mar,  näinlid)  ber  Jpeiltunbe. 
2)ie  Entftet/ung  ber  Jpeilfunbe  hängt  bemnad)  innig  mit  ber 
Entwicflung  eincö  fulturellen  Sebenö  bet  menfcßlidjen  9ia<?e 
gufammen,  unb  mir  tonnen  unö  eine  ©ejd)i<hte  ber  erfteren  gar 
nid)t  ohne  Sufammenhang  mit  ber  ©efeßiehte  ber  lederen  benten. 

SDie  vorhiftorifche  3eit  beö  SJtenjdjengefchlechteS  in  ben 
Äteiö  unferer  Betrachtungen  gu  gießen , erfe^eint  gewagt,  unb 
biirfte  fdjeinbar  gu  bloßen  ^ppot^etifdjeu  Bewertungen  9lnlaß 
geben;  nießtöbeftemeniger  wollen  wir  felbe  nicßt  unberührt  taffen, 
wenngteid)  unö  herbei  nur  tRüctfcßlüffe  geftattet  finb,  bie  auf 
meßr  ober  weniger  BJat}rfd)einticbfeit  fußeu.  SDie  nieten  intet* 
effanten  gunbe  unb  (Grabungen,  welche  bie  ©eolegen  neranftalteten, 
um  bie  Urgefcßid)tc  ber  Ü)icnjd)eit  immer  beutlidjer  unb  offen* 
funbiger  gu  geftatten,  hat’en  unö  über  vielerlei  Momente  ber 
üßätigfeit  beö  frütjeften  9)tcnfcbengejchled)teö  Äunbe  gegeben; 
wir  tonnen  mit  giemlidjcr  ©enauigfeit  '-Muffdjluß  geben  über 
gewiffe  Sweige  ber  Snbuftrie,  bie  man  in  atlerätteften  3eiten 
geübt,  über  bie  Sßaffen,  bie  man  befeffen,  über  bie  fohlen,  bie 
man  bewohnt  unb  über  bie  ©rabftätten,  bie  man  errichtet.  35ie 
fDterfmale  futturetlen  gebenö,  bie  unö  in  ben  Ueberreften  mannig* 
facher  21  rt  erhalten  finb,  liefern  unö  bergeftalt  bie  Öontouren 
gu  einem  wertßvollen,  bie  Urguftdnbe  unfereö  ©efcßlecßteö  bar* 
ftellenben  Bilbe,  gu  welchem  bie  lebhafte  gantafie  gelehrter 
gor  jeher  bie  farbenreidien  $one  geliefert,  unb  beffen  BoHenbung 
wir  ben  mehr  weniger  richtigen  Schlußfolgerungen  ber  ©eteßrten 
nerbanfen.  inwieweit  bie  SMuffaffung  unb  SDarfteHuug  betfelben 
unanfechtbar,  bieö  gu  unterjuchen  ift  nicht  unfere  Aufgabe,  hoch 
bietet  ber  Umftanb,  baß  viele  Eigenheiten  unb  ©ewoßnßeiteu  bei 


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fpäteren  SBölferfdbafteu  ftdb  oorfinben,  bie  auf  ererbte  ©ebraudje 
unb  «Sitten  gurüdgeführt  inerben  muffen,  ein  merthoolleS  Äenn* 
jjei^en  für  bie  Stidjtigfeit  be§  Urtljeilß.  — fragen  mir  nun,  mie 
eS  um  bie  pflege  ber  Äranfen  befteOt  mar,  mie  man  gegen  fetbe 
»erfuhr,  ob  man  fie  uor  nachteiligen  Ofinfiüffen  gu  fdbü^en  unb 
ihnen  gu  helfen  »erfuditc,  fo  fehlt  un§  barfiber  jebe  pofitioe 
Slngabe. 

Subbocf,  ber  berühmte  englifche  2lrd)äolege  oermuthet,  ba| 
fJteugeborne,  beren  SJh'itter  furg  nach  ber  ©eburt  ober  mätjrenb 
be§  SäugeuS  ftarben,  mit  ben  £ejjtern  gugleid)  begraben  mürben, 
benn  nur  fo  fonnte  er  fidb  bie  grofje  »on  Äinberffeletten 
erflären,  bie  neben  meiblidien  Sfeletten  in  ben  ©rabftätten  beS 
SteingeitalterS  gefunben  mürben.  $£>em  entfpredjenb  fdjeint  eS 
nid)t  unglaublich,  bah  aud?  Äraufheiten,  bie  bie  geiftungßfäliigfeit 
beS  Bnbiuibuume  aufhoben,  in  jener  Beit  gleidjbebeutenb  mit  bem 
Slufgeben  beS  (Srfranften  felbft  gemefen  fein  bürften.  (58  ift 
g.  23.  bei  manchen  ^nbiauerftämmeu  heute  noch  üblich,  ©djmet* 
fraitfe,  für  beren  ©enefung  man  geringe  Hoffnung  Ijccgt,  fern 
»on  bem  Drtc  ber  SHnfieblung  auSgufejjen,  unb  fie  fo  bem  fichern 
Stöbe  gu  überliefern.  SDie  Scpthen,  ein  in  ber  ©egenb  be§ 
heutigen  23effarabien  lebenbeS,  friegerifdbeö  23olf,  übet  mclcheS  bei 
^erobot  ausführliche  SJtittheiluugcn  gu  finben,  töbteten  ihre 
Äranfen,  um  bie  üeiben  berfelben  abgufürgen;  mährenb  bie  SDIaffa« 
geten,  melche  bie  2leltcfteu  ihres  Stammes  fdjlachteten  unb  als 
gieblingSgeridit  uerfchmauften , ihre  oerftorbenen  Äranfcn  unter 
bem  SluSbtucfe  beS  SBebauernS  beerbigten,  meil  fie  hierbutch 
beS  gleifdjgenuffeS  »erloren  gingen.  23on  ben  Spartanern  ift 
e§  befannt,  bah  fie  bie  9?eugebornen,  falls  fie  ihnen  nidit  genug 
fräftig  unb  gefunb  etfduenen,  bem  Stöbe  überantm orteten,  inbem 
fie  fie  in  eine  23erge§fluft  am  StapgeteS  matfen  unb  felbe  bort 
elenb  gu  ©runbe  gehen  liehen.  Unb  fo  bürften  bie  älteften,  ber 

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mgejchichtlidjeit  (Epoche  angehörenben  33ölfer  bejonbere  ©cbonung 
für  baS  Sehen  einzelner  Snbioibuen  nic^t  gefannt  haben,  gumal 
bann,  wenn  bie  (Erhaltung  berfelben  mit  SJiühen  ober  ©orgen 
»erfnüpft  id}icn. 

©a  matt  bem  Sebenben  in  bet  ^ranf^eit  nicht  oiel  gu  leiften 
vermochte,  jo  trachtete  man  ben  üßcrftorbeneu  befto  mehr  Slnerfen* 
nung  unb  (Ehren  gu  goDen  unb  bteö  in  bet  mannigfadjften  SBeife, 
unb  auch  fyier  jinben  mit  bie  gleiten  auf  ©rabition  betuljenben 
Vorgänge  oon  praehiftorifchen  unb  hiftorijdjen  3eitaltern.  ©ie 
Fachwelt  ftaunt  wohl  mit  fRedjt  übet  bie  ©rofcartigfeit  unb 
ÜHächtigfeitberaegpptifchen  ^pramiben,  bie nicfctß attbcreö  als  ©rab* 
ftätten  vernehmet  ober  ruhmreicher  9>erfonlichfeiten  barftellen.  ©od* 
wenn  njir  an  bet  £anb  bet  ©ejd^id^te  ober  ber  5TRpt^e  nachforjchen, 
ob  in  einet  noch  frühem  3eit  berühmte  SSerftorbene  burdj  ©enf* 
mäler  geehrt  würben,  fo  ift  eS  wohl  gweifelloS,  bafj  jelbjt  bie 
^ßpramiben  ihre  SSorbilber  gehabt  haben  bürften,  bie  bis  in  ein 
fabelhaftes  Seitalter  gurücfreichen.  3US  Setjpiel  hierfür  Tonnen 
bie  von  anbern  SBölferj^aften  befannten  unb  in  ä^nlid^er  SBeife 
geübten  (Ehrenbezeigungen  für  iHuftre  Siebte  gelten,  dornet  er* 
3ählt  von  ©rabhügeln,  bie  mau  bem  Slnbenfen  ^>eftot’S  unb 
anberer  Führer  errietet  hatte,  unb  2l<hilleS  ehrte  ben  verftor* 
benen  greunb  unb  ©enofjen  $atrofle8  butth  ein  ©rabmal, 
beffen  ©urdimeffer  1 00'  betragen  haben  f oll.  © e m i r a m i S,  ©emah» 
üu  beS  ÄönigS  jRinuS  hat  nad)  bet  Svabition  ihrem  verftorbenen 
©alten  gu  Dlinive  eine  ©rabftätte  errichtet  in  ©eftalt  eines  hohen 
SetgeS,  bet  9 ©tabien  (5400‘)  hDth  unb  10  ©tabien  breit  wat, 
unb  noch  lange  nadj  bet  3erftcrung  9tiniee’S  beftanben  haben 
fotl.  33on  biefen  jagenhaften  ©enfmäletn  nimmt  bie  ernfte 
SBiffenjchaft  feine  weitere  ?fletig,  wohl  aber  ton  ben  Uebcrreften 
bet  ©rabmaler,  welche  allein  beutliche  Äunbe  geben  von  einem 

Äulturleben,  baS  fid)  allmälig  entwicfelt  unb  auSgebilbet  hatte, 

rwu 


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unb  welchen  mir  bic  widjtige  2^atfad)e  oerbanfen,  baff  Saufenbe 
3aljre  cor  ber  hiftorifdjen  Seit,  IBeerbigung  menf<hlid)et  geilen 
ebenfowohl  als  SBerbrennung  berfelben  ftattgcfunbeu  Ijatte.  — 
3)ie  Urnen,  weldje  bie  2lft^e  ber  IBerftorbenen  enthalten,  unb  bie 
©rabftätten,  »reiche  menfchliche  ©felctte  aufweifen,  laffen  mit 
Stecht  oermuthen,  bafe  man  bie  irbifdjen  Ueberrefte  ber  lobten 
aufzubemahreu  fud)tc;  ob  e8  au8  Pietät  für  ben  3krftorbenen 
geidjai},  ober  ob  ber  ©ebrauch  religiofen  Slnfchauungen  entlang 
barüber  haben  wir  faum  annähernbe  Sermuthungen.  — 

fragen  wir  nun  weiter,  wie  e3  in  biefen  fpäteren  3eiten  um 
bie  «jpeilung  »on  Äraufheiten  geftanben  haben  mochte,  fo  finb 
Wtr  aud)  auf  blofje  Sßermuthungen  angewiefen.  Sßir  haben  fcf>on 
oben  angebeutet,  baff  infolange  bet  ÜJienfdj  im  .Stampfe  um8 
3)afeiit,  fein  nacfteö  üeben  ju  »ertljeibigen  hatte,  fo  lange  bi'ufte 
er  faum  nm  ben  hänfen  fftebenmenfchen  Sorge  getragen  haben, 
ükn  ber  Seit  an  feboch,  wo  bie  fötenfchen  ju’  58olfevfd)aften 
cereint,  Dtaub*  unb  ÄriegS^üge  unternahmen,  wo  fie  fidj  gegen* 
feitig  befämpfteu  unb  überfielen,  wo  bie  Sudjt  zu  herrfchen  butdf 
8ift  unb  ©ewalt  ertrofet  würbe,  unb  bie  rol)e  Straft  ben 
Mächtigen  zum  Siege  übet  bie  (Schwachem  oerljalf,  ba  gab  e8 
wohl  bei&e  Kämpfe  unb  Schlachten;  sPfeil  unb  äJurffpiefs,  Äeule 
nnb  Schleuber  Derurfad)ten  manche  lebensgefährlich*  Sktlefjung 
unb  Gontufion,  unb  wenn  ber  äSerwunbete  nach  Jpilfe  gerufen, 
fo  fcnnte  ihm  biefe  fein  Äampfgenoffe  wel)l  nid)t  oerfagen.  SDie 
heilbringenbe  Äraft  ber  Pflanzenwelt  fd;eint  wohl  junüchft  bei 
ben  SBerleftten  »erfucht  worben  ju  fein,  Sölätter  unb  jträuter,  bie 
in  würziger  SEBalbluft  blühten,  ©räfet  bie  auf  üppigen  SBiefen 
grünten,  wareu  rafd)  z«t  ^anb,  nnb  mit  felben  bebecfte  unb  oer* 
banb  man  bie  fdjmerzhaften  unb  oerwunbeten  SE^eite  beS  Äörperi, 
währenb  ein  erquicfenber  2runf  ben  2)urft  beS  ftieberubeit  löfchte 
nnb  ben  ©chmadjtenben  erfrifchte.  SÖtandjerlei  £anbgtiffe  waren 

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wohl  auch  in  Slnwenbung  gefommen,  um  bei  Sterrenfungen  eher 
Änochenbrüchen  baß  2?eftreben  ber  Ijeilenben  Statur  ju  unterftüjjeu, 
unb  fo  fcürflen  manuelle  £ilfe!eiftungen  bei  oielfadjen  liebeln 
burd}  bie  SRotl)  oeranlafjt,  juerft  oerfudjt  werben  fein,  unb  bie 
(Styirurgie  in  ihren  tcljeftcn  Slnfängen  in  mehr  äl^nlid'cv  3Beife 
bei  allen  belfern  fich  entwicfelt  Ijaben.  3)ie  SBirfung  ber  ^>ftan= 
$enfteffe  l)atte  mau,  nadjbent  fie  in  äufjerlidier  Slnwenbuugßferm 
manchmal  gute  ÜMenftc  geleiftet,  auch  weitere  bei  innevn  .ftrauf» 
heilen  oerfucht,  unb  burd)  ja^lreidje  ©rfahrung  belehrt,  felben 
einen  meljr  weniger  günftigen  ©iuflufs  auf  ben  Crganißmuß 
guerfannt.  !Tie  Jpeilfunbe  Slegvptenß  unb  ©vied'enlanbß  liefert 
$al)lreid)e  33ei'^xele  ren  ber  erprobten  unb  beliebten  Heilfraft 
einzelner  Jlrciuter,  bie  fid)  in  lleberlieferungen  auö  älteften  3citert 
erhalten  hatte. 

Sb Sag  uriptünglid}  bie  Stcthwenbigfcit  gebet,  wntbe  fpäter 
$ur  Uebung  ober  ©cwehnljeit,  unb  man  bradjte  e8  fdjlicfjlid) 
baljin,  baf;  man  Untetfcheibung  31t  machen  cevmcdde,  wo  ben 
iteibenben  bie  £ilfe  ju  reifen,  unb  weld'e  SSBa^l  jit  tieffen  war, 
um  burd)  bie  Jpilfeleiftung  einen  (Erfolg  ober  Sinken  3U  erzielen. 
SMeß  war  natürlich  nidd  Jebermanno  Sache,  unb  ba  bie  Unter» 
ftnfjung  Ä'ranfer  burd)  Statt)  unb  £h“t  flewifj  Sluerfennung 
unb  ^Belohnung  fanb,  fo  gab  c8  manche  2>ienft»  unb  Heilbe* 
fliffeue,  bie  burd}  biefe  menfcbenfreunblidje  55:^ätt{\feit  31t  ©hre  unb 
Slnfehen  gelangten,  unb  Sichtung,  ja  felbft  Verehrung  genoffen.  53ie 
Sin  men  jener,  bie  ^uerft  unb  jumeift  fidj  mit  ber  Heilfunbe  befaßten, 
ocrlieren  fich  inß  mnthifche  Slltertl)um;  man  bejeichnete  ©etter, 
Halbgötter  unb  ÜJienfdjen  alä  bie  erften  (ärfinbev  unb  SBerbreiter 
ber  jpeilfunbe  fowohl  bei  ben  Slegpptern  aie  ©riechen.  SSon  ben 
©ettheiten  Dfiriß,  S3acd)u8,  Hermes,  (S)lercur)  unbütpollo 
war  im  Sllterthum  bie  Sage  oerbreitet,  ba§  fie  fich  mit  Heilung 
»on  Äranfheiten  befaßten,  wäl)tenb  wiebei  ©hiton,  SleSculap, 

(193) 


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SRelampuS  als  mctffifdie  $>erfonen  nerebrt,  unb  nad)  ihrem 
£obe  unter  bie  ©etter  nerjefft  mürben,  ob  ber  groffen  53erbienfte,  bie 
fie  ftd)  um  bie  SRenfd'ffeit  enterben  Ijatten , inbcm  fie  bie  2lr$nei* 
funbe  flcübt,  unb  nid)t  nur  SBotyltffäter  iffrer  Beit^cncffcn  c\errefetr, 
fcnbern  aud;  33erbilber  für  bie  SRacfcmelt  gemorben  ftnb.  ©aff  in 
ber  Seretyrung  ber  ©ottfyeiten  aud)  bie  5Ratur  in  ibrcn  »erfdnebon« 
artigen  ©rfdjeimtn^eir  nerebrt  mürbe,  leffrt  itnS  bie  ©efdudjte 
ber  SJintffolegie  unb  ©bmarb  2wler  •)  fagt  über  ben  Urfprung 
beffelben  ganj  treffenb:  „bie  crfte  unb  tyereorragenbfte  unter  ben 
llrfadjen,  melcfyc  bie  S^atfadjen  ber  täglidjen  ©rfatyrung  ju 
9)Ju%n  umbilben,  ift  ber  ©laube  an  baß  Selebtfein  ber  ganzen 
9iatur,  ber  in  feiner  tyodiften  ^orm  gur  $)erfonification  gelangt." 
©o  ffatte  man  nach  ben  frülieftcn  Slnfdjauungen  ©owe  unb 
93?onb  fid?  ton  menfdjlidjer  9iatur  gebad)t,  unb  fie  menfddidien  3?e* 
griffen  entfpredjenb,  entroeber  als  9Rann  unb  fuau  betrachtet  mie 
bei  ben  Snbianern,  ober  als  SJruber  unb  ©djmefter  mie  bei  ben 
Ütegnptiern,  mo  fie  and)  als  ©otttyciten  Jfig  unb  CfiriS  oerefyrt 
mürben,  ©er  .fpelioS  ober  Sonnengott  ber  ffomerifdjen  ©efange 
griff  perfßnlid)  in  bie  ©dfftffale  ber  SRenfcfyeit  ein,  unb  becfte 
mit  feinem  ftrablenben  üidite  bie  ©djänblicfyfeiten  ber  ©etter  unb 
SEJienfdjen  auf  — fein  Söunber,  baff  man  iffm  in  ©riecbenlanb, 
©örien  unb  fRom  Stempel  erbaute  unb  Sltare  errichtete.  Sn 
gleicher  SBcife  el>rte  man  bie  ©eftirne  beS  Rimmels  als  belebte 
unb  befeelte  SBcfen,  eine  9lnfchauung,  bie  fid>  noeff  bis  in'S  SRittel* 
alter  ffinein  erhalten  Ijat,  betete  ju  ©otterbilbern  in  ©riedjenlanb, 
ju  SLpiercn  in  Slegnpten  als  ben  ©nmbolen  bet  ©ötter,  benen  fie 
geheiligt  maren,  unb  beljnte  ben  religiöfen  ÄultuS  fdfliefflicb  auf 
alle  9taturerfdjeinungen,  bie  menfdjlicffer  Raffung  unb  ©eutung 
unerflärlid)  feffienen,  auS.  ©er  ©onner*  unb  {Regengctt,  ber 
©ott  beS  ÄviegeS,  beS  SlcferbaueS  unb  beS  StobeS,  ber  in  allen 
pelutljeiftijchcn  ^Religionen  fitfc  roieberfinbet,  ift  nur  bie  fPerfoni« 

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]] 


fkation  jener  uucrflätlidjen  ©ewalten,  bie  bie  SDBclt  beberrfdjen, 
unb  baS  ©djidffal  ber  SJienfdjen  beftimmen. 

2)iefe  mptbifdien  SBorftellungen,  bie  au8  nieberften  OfeligionS« 
fulten  entfprangen , erflären  e8,  bafj  man  fidb  in  ben  frübeften 
3eiien  nidjt  allein  im  ©inne  bet  Anbetung  unb  Ißprebrung 
an  bie  belebte  itnb  ^jcrfcnificirte  Statur  wanbte,  fonbertt  bajj 
man  aud)  gut  Seit  ber  9iotb  unb  ber  Äranf^eiten  »on  iljr  ,£>ilfe 
unb  Siettung  erwartete.  SMeS  gefcbal)  fowobl  flgürlid)  als  wirflidj, 
unb  äußerte  ficb  nad)  gwei  JRidjtungen  in  mpftifdjer  unb  natu* 
raliftifdjer  äöeife,  unb  gwar : in  gang  concreten  formen,  wie  wir  fie 
in  ben  mebicinifdien  ?el)ren  be§  Slltert^um’g  »ertreten  finben. 
JDie  erftere,  b.  i.  bie  mwftifdje  &orm,  in  weldjer  bie  .£>eilfunbe 
gur  ©eltung  gelangte,  würbe  in  ben  älteften  ©podjen  itberwiegenb 
unb  faft  auGjdtliefjlidiin  SSegppten  geübt,  wa^renb  bie  naturaliftifd;e 
JRidbtung  bet  SJiebigin  erft  allmälig  nach  Slbftreifung  ber  au§ 
ISegppten  überfommenen  lehren  unb  ©runbjä^e  bouptfacblidb  im 
flaffifdien  Sanbe  ber  Hellenen  SBurgel  faf)te  unb  bort  gut  bedjften 
SBlütbe  gelangte.  SORit  ber  SDarftelluHg  ber  mpfliftben  Sebren 
ber  9Jlebicin  fommen  wir  auf  bie  ^eilfunbe  ber  ^egpptier  gu 
fpredben. 


i. 

2legupten  ba8  Üanb  ber  SSunber  unb  ber  Sagen,  befjen 
Äulturanfange  in  eine  Seitepotbe  reidjen,  über  welche  wir  nur 
33enn utljungen  haben , unb  beffen  Äulturniebergang  3U  einer  Seit 
erfolgte,  wo  bie  ©toilifation  in  ©uropa  erft  aufgubämmern  begann, 
biefeö  ?anb  lieferte  ftetS  eine  §üHe  intereffanter  unb  ftaunenSwertper 
SRomente  für  ben  Souriften  unb  ben  gorfdber.  ©in  regenlofer 
blauer  Fimmel  bebnte  fids  bamalS  wie  beute  über  ben  größten 

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12 


Sfyeil  eine8  SReiteß,  beffen  Snnereß  »en  einem  fegenipenbenbem 
Blufje  burdjjdjnitten  wirb,  ber  in  unerfannter  unb  ned*  ^eul« 
nitt  genau  beftimmter  Entfernung  feinen  Urfprung  nimmt,  ber 
butt  baß  Steigen  feiner  gluttyen  bie  geudjtigfeit  bcß  33cbeaß 
ermöglicht,  unb  feine  23ewol)ner  in  ungc  ft  Örter  SBefyagtidjfeit  ernährt. 
0teidj  an  feltenen  unb  eigentfyümlidjen^robuften,  erregte  Slepüpien'ß 
liebliche  unb  lebenbige  $)flangen=  unb  feiue  nierfwürbige  2t?ier* 
weit  ftete  33ewunberung.  5)ie  üppige  f$lora  einerfeitß : bie  pra4t* 
»olle  9?i(afagie,  bie  wilbwadjfenbe  Äaftußftaube,  bie  $)almenwälber 
unb  Spfomorenhaine  im  Snnetn  be8  2)elta,  bie  weifje  Sotoßblume 
mit  ihrer  nahrhaften  Söurgel  unb  ben  fd^madljaften  Samen,  bie 
»ieloerwenbbare  jefct  außgeftorbene  $)apprußftaube  — anberfeitß 
bie  reiche  $auna : ooran  baß  gewaltige  3Rilpferb,  baß  an  »crwelt* 
lite  S^iergeftalten  erinnert,  baß  plump  geformte  Ärofobil,  ber 
am  Dlilufer  fd^leic^enbe  Sdjneumon,  ber  ^eilige  3biß,  — aü’ 
biefe  unter  einem  fyeifceu  JUima  entftanbenen  Stopfungen  waren 
für  ben  grembling  »cn  unwiberfte^lid'em  Oleine.  5)er  lernbegie* 
rige  ©riete,  ber  fein  SÖiffen  in  SHegppten  gu  bereitem  ftrebte,  ber 
auf  Eroberung  außgeljenbe  SRömer,  ber  baß  sJiillanb  gu  unterjoten 
fam,  fie  alle  waren  »ou  beni  3«uber  bieieß  ganbeß  ebenfo  umftridt 
wie  ber  Dieifenbe  unferer  Uage,  ben  bie  Sehnfutt  nat  SBunber» 
hingen  nat  Slegppten  führt,  ober  wie  ber  gelehrte  gorfdjer,  ber  im 
ehemaligen  $)hara°nenlanbe  neue  Söiffenftaft  mit  alter  Kultur  gu 
»ereinen  ftrebt.  5)enn  fo  wie  bie  fftatur,  war  aud)  baß  9JoIf 
ber  alten  3legpptier  gang  merfmürbig.  Sine  h°hc  geiftige  2h«t* 
traft  geituete  biefelben  »or  allen  anbern  ber  bewohnten  unb 
belebten  Srbfirite  Slfien’ß  unb  5lfrifa’ß  auß,  unb  ergeugte  eine 
Suprematie  im  ©ebiete  ber  Äunft  unb  beß  SBiffenß,  bie  ben 
fpätern  flaffifdjen  Seltern  gut  9fiatahmun8  biente. 

Eß  hält  nitt  ftwei  biefe  geiftige  SSJiatt,  gu  ber  fid)  bie 
9lilbewohncr  aufgeftnmngen  hatten,  linferm  Serftänbnifce  gu  er* 

(»5« 


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13 


fdbließen.  ©ie  Jljäti^Ieit  unb  ^ciftungöfä^tgfeit  eines  SolfeS 
fonnte  leidet  eilte  bebeutenbe  ©ntwicfelung  nehmen  in  einem  Sanbe, 
wo  bie  günftigften  flimatifdjen  unb  Sobenterhältniffe  torwalten, 
baS  ton  SReeren  gefchüt}t,  ©enerationen  hinburdj  ton  frembeu 
©roberetn  terfdjont,  ton  flugen  ©eSpoteu  beherrfdjt  unb  ton 
f cblauen  $>rieftern  regiert  war.  ©ie  zahlreichen  unb  unterlegt 
erhaltenen  SRonumente  ber  Saufunft,  fowie  bie  Ueberrefte  eines 
hohen  geiftigen  Kulturlebens,  liefern  berebte  3eugniffe  für  Me 
einftige  ©röße  bet  alten  Slegpptier. 

Stuwer  ben  für  unfere  Kenntniffe  unS  ju  ©ebote  ftehenben 
Duellen  bet  griechifdjen  ©djriftfteQer  unb  ben  Slngaben  ber  heiligen 
(Schrift,  hat  unS  bie  ßntjijferung  ber  ^atniruSrolIen  bie  übet» 
rafdjenbfte  unb  intereffantefte  Slufflärung  über  tiele  ©inge,  unb 
barunter  auch  ber  3Rebicin , gegeben , unb  bie  jetzige  SBiffenfdjaft 
hat  erft  babuTcß  für  manche  unglaubwürbig  erfdjeinenbeüRitheilung 
anberet  9trt  bie  tolle  SeftStigung  erhalten,  ©ie  ^aptruSroHen 
beten  3nf<hriften  burcß  Saßrhunberte  für  bie  Äulturgefdjidjte  beS 
^tamibenreidjeS  unentzifferbare  fRäthfel  bilbeten,  bie  3eichen 
unb  Silber  ber  ©rabmüler  unb  ©äulen,  bie  Söanbgemälbe  auf 
DbeliSfen  unb  Uempelmauern,  bie  mit  Figuren  aller  58rt  bebecften 
Seinwanbftreifen,  mit  benen  bie  SRumien  eingehüüt  waren,  fie 
alle  würben  burd)  bie  mit  feltenem  (Sdjarffinn  unb  bem  größten 
SHufwanb  ton  ©elehrfamfeit  unternommene  ©ntzifferung  ber 
^)ieroglphhenf^r*ft  für  bie  SBiffenfdjaft  neuerbingS  aufgefdjloffen. 
©ergeftalt  würben  aud)  tiele  fünfte,  bie  auf  wiffenfdjaftliche 
2h®tigTeit  be§  aeg^ptifchen  33olfeS,  unb  aufärztli<he33organge 
bei  bemfelben  fith  beziehen , für  unS  flar  unb  terftänblicß.  SllleS 
beutet  tyn  auf  bie  große  ORacht  unb  ben  ©influß  bet  $)riefter, 
unb  ber  religiöfe  ©harafter,  bet  alle  $hätigfeiten  beeinflußte,  war 
ebenfo  auf  bie  ftaatlidjen  ©inridjtungen  als  auf  bie  wiffenidjaft» 
lifheit  Seftrebungeit  ISegpptenS  ton  nad^haltiget  ©inwirf ung,  unb 

(»7J 


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14 


fo  fam  eg,  bafs  einzelne  3n>eige  beg  SBiffeuggebieteg,  wie  @efd?idjte, 
Geologie  unb  fpijilofopljie,  9lftronomie  unb  beten  täugmüdjfe, 
bie  Slftrologie,  wo  bet  üJipfticigmug  bett  günftigften  SBoben  fanb, 
in  oiel  bebeutenberem  fDiafce  gebieten  als  jene  Bweige  ber  SEBiffen* 
, wo  bie  Vorgänge  bet  9tatur  mit  forfdjenbem  unb  prüfenbem 
©eifte  ju  ergrünben  waren. 

IDesfyalb  (jatte  aud)  bie  SJtebicin,  bie  gleidjerma§ftt  tn 
Slegppten  iljren  Urfprung  unb  i!>re  äugbilbung  genommen  im 
Vergleid)  3U  ben  übrigen  SSiffenggweigen  ficfy  mäßiger  entwirfeln 
fönneu.  .piergn  fam  nodj  ber  feciale  Uebelftanb,  bajj  bie  oberften 
©efellfdjafgtlaffen  bag  Volf  in  ungemein  begpotifdjer  SSeife  be* 
fyerrfdjten  unb  augfaugten.  Urfpnmglid?  bürfte  wo!)l  bie  öeljanb* 
lung  franfer  3Renfdjen,  bie  wie  Safttfyiere  betrautet  würben,  gar 
nidjt  geübt  worben  fein.  3«  einer  Seit,  wo  man  2000  ÜRaun  brei 
3aljre  lang  befd)äftigte,  einen  einjtgen  ©tein  oon  (Slepljautine  na<§ 
©aig  ju  fdjleppeu,  wo  bet  ifanal  nad)  bem  rotfyen  SReere  120,000 
Ülegoptiern  bag  Sebeu  foftete, s)  unb  ber  Van  ber  großen  ‘Poramibe 
20  Saljre  fyinburdj  bie  Arbeit  oon  360,000  9Renfcfyen  iu  5lnfprudj 
nafyrn,  wag  mag  ba  wofyl  ein  ÜRenfdjenlebeit  wert!)  gewefen  fein?  — 
©päter  jebod),  alg  bag  unterbrüefte  Volf  gegen  feine  .petrfdjer  reool* 
tirte,  alg  man  bie  (Erlernung  oon  (bewerben  begann,  *)  unb  bie 
Arbeit  einen  sJ)reig  befam,  ba  Ijatte  aud)  bag  SRenfdjenleben  unb 
bie  (Erhaltung  ber  ©efunbfyeit  einigen  Sffiertlj,  unb  oon  ba  au 
batiren  wol)l  bie  erften  eruftlidjen  Verfudje  gut  Vefyanblung  ber 
Äranfen. 

©ie  mebicinifdjen  teilten  unb  £ljätigfeiteu  waren  foweijl  in 
ifyrer  urfprünglidjen  gorrn  alg  aud)  jpäter  mit  moftifdjen  51er* 
ftellungen  innig  oerfnüpft.  ©ebete,  SRiten,  3eremonien  mannig* 
fadjer  Ülrt  mifdjten  fid)  in  bie  üefyreit  ber  .peilfunbe,  unb  bie 
SRagier  ober  ^rieftet  waren  bie  Vermittler  gwifdjeit  ben  franfen 
ÜRenfdjen  unb  ben  unficfytbaren  ©ewalten.  3n  einem  fo  t^ec« 

(»W) 


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15 


fratifdjen  Staate,  wie  eö  Slegnpten  war,  wo  bie  'Priefter  tie  mädj* 
tigfte  Stellung  einna^men,  baä  Steif  unb  bie  Benige  beZerrfdjten, 
Abgaben  für  bie  ©ottZeiteu  unb  Sempel  einZeimften,  Opfer  in 
©eftalt  »on  SOfjieren  unb  gelbfrücZten  einZoben,  fidj  felbft  aber 
»on  allen  brütfenben  Saften  ju  befreien  wußten  — bort  fonnte 
eö  nid)t  SBunber  ue^meu,  bafj  biefe  fyod^geefyrte  unb  beuorjugte 
Bafte  bie  SluSübung  bcr  SDiebiciit,  bie  in  ifyrer  3trt  aucZ  alö  ein 
3Jlittel  jut  Stergröfjeruug  beö  SlnfeZnö  uub  bet  ÜJlac^t  anjufe^en 
war,  in  ben  Sereid)  iZter  SBirffamfeit  jogen.  — 

£a$  Baftenfpftem  war  faum  in  einem  mittelalteilidjen  geu* 
balftaat  fo  auSgebilbet  alö  unter  ben  ‘Äegpptiern,  unb  felbft  bie 
sJ>rieftec  rangirten  nacZ  »erfdjiebeneu  Slbftufungeu,  unb  burften 
je  nad)  iZter  Slfyätigfeit  fid>  nur  an  gewiffe  23efdjäftigungen  galten. 
2Die£5berpriefter  befaßen  bie  grofjte  9Jiac^t,  unb  bie  ©eZeimniffe,  bie 
fie  in  ifyren  SJtpfterien  bewaljrteu,  würben  nur  ben  eiugeweiZten 
^rieftern  unb  ben  Königen  mitgetZeilt,  bie  bemnacfy  unter  bern 
ßinflufj  biefet  ZecZften  Bafte  ftanben.4)  3m  ©anjen  gab  eö  8 
»erjdjiebeue  priefterflaffen,  bie  i^re  Attribute  unb  33erufSpflid)teu 
in  i^ren  gamilien  erblich  aufred)terl)ielten,  uub  uuter  biefeu  waren 
bie  fPaftopljoren,  'priefter,  welche  bei  feierlidjen  ©elegenZeiten 
unb  ^)tejeffienen  bie  ©etierbilber  unb  Sempelinfignien  trugen, 
jene  Blaffe,  welche  ficb  aubfdjlie&licZ  mit  Teilung  »on  Brautzeiten 
befaßten.  3«  einer  anbern  Blaffe  gehörten  bie  Üaridjeuten 
ober  ßinbalfamirer,  fPriefter,  welche  alte  auf  bie  3ubereitung  bet 
Seidjen  unb  SDtumifuirung  berfelben  bezüglichen  Qtnorbnungen  ju 
notl führen  Z^tteu. 

2>ie  SeZren  ber  trieftet  waten  tZeilö  feiere,  weltZe  burdj 
m ü n b l i cZ  e Ueberlieferungen,  tZeilö  feiere,  weldje burd?  f cZ  r i f 1 1 i d)  e 
3luf$eid}nungen  ben  öingeweiZten  fuubgegeben  würben.  3)ie 
ßrfteren  waren  »oll  ppeimlichfeit  unb  SDlpfticiamuö,  unb  gtiecZijdje 
ScZriftftetler,  welche  und  »oit  bem  ftaatlicZeu  unb  pri»aten  Sehen 

(.m 


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10 


AegtptenS  fo  intcrreifante  fDtitthcilungen  ^interlie§en,  welche  auS 
eigener  Anfchauung  ihre  Äcnntniffe  tou  Sanb  unb  Leuten  gewonnen 
unb  währenb  UjveS  Aufenthaltes  im  ^>^araoncniawbe  non  aegtp* 
tifdben  9>rieftern  felbft  manche  wiffenfdiaftliche  Aufflärung  erhalten 
hatten,  fchweigen  wieHerobot5)  mit  ber  größten  Hartnücfigfeit 
wo  e8  ftch  um  bie  ©eheimlehren  ber  aegpptifdien  ^>riefter  hantelt, 
ober  bringen  wie 'Plutarch6)  ober  ©ioboruS7)  nur  eine  un* 
flare  3ufatnmenftelluttg  ton  aegt>ptifch*mtftifdten  Sehren  mit 
griechisch* philtfcphHdten  Anfchauungen  termengt,  Schiller 
brüeft  in  feinem  befannten  ©ebidjte  ,,©a8  terfchleierte  23ilb  ju 
Sa!8",  wo  ber  Uneingeweihte  mit  ©ewalt  ben  Schleier,  ber  bie 
SJtpfterien  beeft,  gu  lüften  iud^te  unb  barob  befinnungöloS  ju  ©oben 
ftürgte,  in  poefietoUer  Seife  au8,  wa8  unter  beit  fDtpfterien  ter* 
muthet  warb:  ©ie  ©rgrünbung  ber  ewigen  Sattheit. 

©ie  fdjriftlichen  ^riefterlehren  waren  im  ©egenfafce  $u  ben 
münblidjen  feine  terbotenen§rüd)te;  GlemenS  ton  Alejranbrien 
erjählt,  baf)  unter  ben  36  SBüchern  ber  fpriefterlebre  ober  ber 
hermetifchen  Siffenfchaft,  6 33üd)et  au8fd)lie&lich  ton  ben  ,tranf* 
heiten  unb  Heilmitteln  hantelten , unb  ba§  bie  ^aftophoren  ben 
Inhalt  berfelbcn  Tennen  mufjten. s)  Sa8  bie  fPriefter  erbacht, 
ober  in  ihrem  Aberglauben  fidj  suredjtgelegt,  wa§  göttliche  ©in* 
gebung,  überfinnlidte  VorfteUung,  fubjectite  Auslegung  unb  fdjlaue 
©etttung  für  richtig  erfcheinen  liehen,  ta§  würbe  gefammelt,  unb 
galt  für  ben  ©ober  aller  theeretifdjen  unb  praftifdjen  ©elehrfam* 
feit,  bereit  ftete  Hüter  bie  ^rieftet  blieben. 

©ie  erceptionelle  Stellung,  welche  biefe  Äafte  bemnaeb  ein* 
nahm,  würbe  ton  berfelben  auch  geh^ifl  auSgebeutet,  nnb  fie 
hatte  fid)  burd?  bie  Verbreitung  unb  pflege  ter  Siffenfchaften, 
3«  beiten  and?  bie  SRebicin  g5l)lte,  nicht  geringe  Verfcienfte  erworben, 
©er  Stuf,  beffen  ficb  bie  fPriefter  ob  ihrer  auSgebreiteten  Äennt* 

niffe  unb  großen  ©elehrfamfeit  erfreuten,  brang  weit  über  bie 
(600) 


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17 


©rengen  ifereä  üüaterlanbe§,  unb  uadj  3>lutarb9)  ^aben  bie  »ei* 
feftett  ÜJiänner  unter  ben  ©rieten  wie  Solon,  St«le8,  Slato, 
2)emofrito3,  ^ptljagoraS  unb  2lnbere  nid^t  nur  ihre  31u3* 
bilbungaudaegpptifben  Rauben  gewonnen,  fonbern  auch  ben  iHuljtu 
aegpptifber  2Bei$l)eit  weiter  Berbreitet.  JDiefe  Bon  ben  griebifb«* 
©eletrten  unb  'P^ilofcp^en  gerühmte  SBei&teit  begeg  fib  gumeift 
auf  religiöfe  unb  mpftifbe  2>inge,  unb  biefe  waten  e§  wieber, 
bie  beu  SRuf  großer  ,£>eiligfeit  erzeugten  unb  bie  ^rieftet  gerabegu 
jwangen,  in  Segug  auf  gebengwetfe,  «Sitten  unb  ©ebräudje  be* 
fcnbeut  uub  ftrengeu  Serpflibtungen  fib  gu  unterwerfen.  Siele 
biefet  allmälig  gu  ©efefeen  fib  umwanbeluben  ©ebote,  bezogen 
fib  auf  bie  pflege  unb  Sorgfalt  be8  ÄörperS.  So  galt  bie 
©ircumcifion,  biefe  eigent^ümlic^e  tbgienifbe  SDlaferegel  al8  wib* 
tigeS  $)oftulat  beä  9)rieft<tttum’$,  unb  biefet  3e«*nonie  muffte 
fid?  auch  unterbieten,  als  er  fib  in  bie  ^rieftet« 

fafte  aufnetmen  liefe.  ©8  war  ferner  ©efefe, ,0)  „bafe  bie  ^rieftet 
fib  alle  btei  Sage  am  gangen  Körper  fbeeren  unb  gweimal  je* 
ben  Sag  uub  jebe  9iad}t  babeu  mufften."  3Ba8  urfprünglib  bie 
^rieftet  baten,  würbe  {pater  aub  mit  gewiffen  ÜJiobificationen 
nom  Solte  gehalten.  3luf  Seintaltung  be8  jtörperö  würbe  gefe» 
ten,  unb  gegen  ba8  ©ntftefeen  bou  Äranffeeiten  butb  eine  Älei* 
ber*  unb  Speifeorbnung  Sorforge  getroffen. 

3öie  fel}t  man  bie  Jfteinlidfteit  in  23egug  auf  bie  pflege 
be8  Äörperä  beachtete , erteilt  au8  beu  Bielen  Sanität  Soor» 
f b r i f t e n , bie  im  a Hgemeinen  ©ebraudfe  waren,  häufige  SSafbuugeu 
unb  Säber  im  t^etliQen  'Jtil,  ©inreibungen  be8  Äörper8  mit  rie* 
ctenben  Delen  unb  Salben,  Säuberungen  in  Sempelu  unb  SUotn* 
täuferu  waren  in  tägiger  Uebuug,  unb  niele  biefet  üJlafenatmen, 
bie  mau  3atb»nberte  tiuburb  bei  eingeluen  orientalifben  Sölferu 
übte,  werben  bort  pm  Steil  teute  nob  in  Sluwenbung  gegogen. 

3u  inniger  Serbinbung  mit  ber  .ppgiene  ftanb  bie  Si  o 8 m e t i f , 

XI.  255.  a (°ul  > 


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18 


unb  burdj  felbe  bebingt,  bcr  Söunfdfe  fidb  gu  fdbmücfeu  unb  gu 
gieren.  SieS  ift  um  fo  etflärlidber,  als  bie  grauen,  bie  bei  ben 
Slg^tiern  eine beocrgugtereStetl  ttng  einnahnten  als  bei  irgenb  einem 
anbern  Volte  beS  SlltertljumS,  fidb  burth  h°hc  ©enufefudbt  unb 
©inn  für  öffentliche  Vergnügungen  befonbetS  beroortbaten. 1 ') 

ÜJtetaQfpiegel,  Äämme,  Dehlbüdjfen,  ©farabäen,  IRinge, 
$aarnabeln  unb  anbere  3«natbe,  bte  in  ben  ©artopfeagen  ge* 
funben  mürben,  maren  ebenfo  gierige  mie  gmedfmäfeige  Vebelfe 
gur  ISuSfdbmütfung  beS  Äör}>er8.  SDlunbpillen  auS  OJtaftij:  unb 
£onig,  SJhinfeen  unb  SBadbbolber l2)  gaben  bem  Slthem  einen 
angenehmen  Suft,  gleich  ben  Gadbouj:  frangöftfdber  Slpotbefer; 
haarmülfte  unb  grifuten,  unter  benen  mir  gang  erquifite  Vor* 
bilber  für  bie  Gl)iqnonS  unferer  Samen  finben,  gierten  baS 
hältst.13)  Sie  SBanbgemalbe  auf  ben^empelmänben  in  Sbe&«“ 
geftatten  uns  bte  Annahmen,  bafe  man  nicht  nur  gu  glängen  liebte 
fonbern  auch  mit  Sorgfalt  fidb  gu  fdjmüdfen  mufete.  3n  ben 
„Ijiftorifdben  Snfdferiften,"  bie  ein  b^orragenber  Steg^tologe, 
Sümtdben,  in’S  Seutfdbeübertragen  unb  bie  gefcbicbtlidbe  SetailS 
auS  ben  bpaftifdben  Kriegen  ber  9>bar£toueufönige  enthalten, 
pnbet  fidb  eine  ©teile,  bie  oon  ben  ^arfum'S  ber  alten  SlegppHer 
Äunbe  giebt.  ,4)  SBenn  eS  unfern  ©bfm^er»  gelingen  föitnte, 
baS  göttliche  „ana“  miebergugeminnen,  ein  foSmetifdheS  SRittcl, 
baS  in  überfdhmenglidher  ©djilbetung  „bie  ^aut  bem  ©olbe  unb 
©Ifenbetn  ähnlich,  unb  mie  »on  himmlifdhem  ©ternenglangeftrahlenb 
erj^einen  läfet",  fo  hätten  bie  Sermatologen  unferer  Sage  eine 
leichte  Arbeit,  mo  eS  fidb  um  bie  Verbefferung  einer  trauten  £aut 
ober  eines  »ernadbläffigten  SeintS  h^nbelt. 

2Bir  fehen  bemnaä),  bafe  man  felbft  im  alten  Slegopten  nebft 
löthetlidber  pflege,  ben  2uyu8  fo  meit  er  auf  äußern  3*errath 
unb  Verfdjönerung  beS  ÄörperS  fidb  begog,  nicht  aufeer  Sicht  liefe; 
trofe  allebem  mufe  man  anerfennen,  bafe  bie  Slegnptier  ein  eminent 
(602> 


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19 


ernfteS,  ja  böftcreö  Bolf  waren.  3b*e  grobe  Hinneigung  3U  reli* 
giöfen  unb  mpftifdjen  Hanblungen,  bie  ©rofjartigfeit  unb  *prad)t 
ihrer  Stempel,  bie  bingebungSooQe  unb  finblidje  Berebrung  ihrer 
©ötter  unb  ©oi^en  waten  berebte  Beugen  eines  tiefen  ©laubenS* 
lebenS.  Se^tereS  erfläri  auch  ben  mächtigen  ©influfj,  ben  ade 
3trten  non  Bermittler  erlangten,  bie  bie  Bedienungen  gwifdjen 
unficbtbaren  9ftäd)ten  unb  irbifdjen  SBefen  gu  Unterbalten  »er» 
ftanben,  unb  berart  gelangten  SBabrfaget  unb  Jraumbeuter  gu 
5lnfebn,  unb  bie  Leiter  aller  geiftigen  unb  geiftlicben  Begebungen 
gu  SJlacht  unb  SBütben.  £Die  ^rieftet  wußten  aber  auch  fn 
fluger  SBeife  bie  irbifdjen  3uftänbe  mit  überirbijcben  Berbältniffen 
in  ©inflang  gu  bringen,  in  ben  ©eftirnen  fucbten  fie  bie  Be* 
f<büj}er  ber  ÜRenfcben  unb  ibreS  leiblichen  SöoblS,  unb  ben  ©ott» 
beiten  eigneten  fie  eingelne  Äörpertbeile  als  unter  ihrer  Dbbut 
ftebenb  gu. 1S) 

3e  tobet  unb  unwiffenbet  baS  Bolf  war,  mit  befto  gröberer 
©<beu  fab  man  bann  auch  auf  bie  Bermittler  gwifdjen  SJtenfcben 
unb  ©öttern.  3)aS  gange  ©ebabren  beS  ^3riefterftanbeS  war  »on 
mnftiftbem  Hanbeln  erfüllt,  unb  bie  ärgtlicbe  Sbätiöfett  war  ein 
ergiebiges  Uetrain  für  felbeS.  3)ie  IStt,  wie  bie  Magier  unb 
^rieftet  SlegpptenS  ihre  SOtad)!  gu  behaupten  wufjten,  biente  für 
alle  Beiten  gum  glängenben  Borbilbe  für  jenen  ©tanb,  ber  ftetS 
bie  geiftige  Jperrfdjaft  in  Hänben  gu  halten  ftrebte.  5)ie  begeifterten 
Propheten  3uba8  unb  3StaelS,  bie  ©eher  ©riedjenlanbs,  bie 
^rieftet  UtomS,  fie  fßnneit  nur  als  geiftige  Badjfolger  ber 
agpptifdjen  ^rieftet  gelten,  gleichwie  bie  ©eiftlic^en  im  SSJtittel* 
alter  ben  ©upranaturaliSmnS  als  befte  ©tütje  ihrer  9Jtacbt  be* 
tracbtenb,  nur  baburcb  ibte  bettfcbenbe  ©tellung  gu  behaupten 
»erftanben.  3)er  SDRpfticiSmuS  erfdjeint  bemnacb  gu  allen  3eitert 
als  eine  bem  SKenidjengejcblecbte  innewcbuenbt  ©laubenSneigung, 
an  welcher  eS  in  ber  Äinbbeit  ber  Äultur  unerfcbütterlid)  bängt, 

2*  (6U3> 


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20 


I 


oljne  ba§  jebodj  mit  guneljmenber  Steife  unb  Vilbung  ber  ©laube 
an  wunberbare  unb  überirbiftfje  3)inge,  gumal  iit  bet  fDtebicin, 
gänglidj  abgefdjüttelt  wirb. 1 *) 

@S  leibet  feinen  3*»eifcl,  bafj  bie  ägpptifdjen  'JJriefterärjte 
tro£  ifyreS  mpfttfdjen  ©ebaljtenS  fttij  audj  bemühten,  womöglidj 
gegen  bie  Äranfljeitenbiteft  einjujd&reiteu,  entfpredjenb  benftnbifdjen 
unb  unflaren  ’ilnfdjauungen,  bie  man  non  bem  Siefen  ber 
Jfranffyeit  felbft  Ijatte. 1T)  !Die  praftifdje  SJiebicin  war  ja  ftetS 
bie  Vorläuferin  bet  t^eoretifdjen,  unb  triebt  nur  in  ben  ältefteu 
3eiten  ber  mebicinifdjen  Äunft  ging  bie  Veljanblung  ftetS  ber 
VegeicJjnung  für  eine  Äranfljeit  oorauS,  fonbern  audj  Ijeute  nodj 
»erfudjt  man,.freili(^  in  anderer  SBeife,  bie  JtranfljeitSipmptome 
guerft  gu  befämpfen,  oft  beoot  notfy  baS  Siefen  ber  Grrfranfung 
flar  erjdjeint.  2)er  (Srfolg  fyatte  in  ber  SDtebicin  ftetS  feinen 
großen  2Bertl}  unb  bie  medicinifdje  SBiffenfdjaft  tjatte  barum  non 
jeljer  baS  Votredjt  genoffen,  in  fpeculatinem  unb  mpftif^em  ©eifte 
auSgebeutet  gu  werben,  unb  je  unoerftänblid^er  eine  8el)re  etfdjien, 
befto  lei^tere  Verbreitung  fanb  fie  unb  um  fo  beffer  war  bieS  für 
if)re  ©rfinber.  Dfyne  Verufung  auf  bie  ©efjeimleljren  beS  Sllter* 
tl^umS  genügt  eS  auf  bie  grofjen  mebicinifdjen  Sdjwinbel«@r« 
rungenfdjaften  beS  lebten  SaljrljunbettS  Ijinguweifen,  »on  benen 
leiber  nur  einige  ber  wotjloerbienten  Vergeffenljeit  anljeimgufallett 
beginnen.  3ft  ber  Somnambulismus,  ber  SJteSmeriSmuS,  bie 
Jpomoopatljie,  bet  Spiritismus  etwa  beffer  als  bie  ägpptifdje 
SJtpftrf? 


1L 

2)ie  aegpptifdjen  ^riefterär^te  Ratten  nun,  wie  bemerft,  auf 
3Weifadje  SBeife  bie  Teilung  ber  Äranfljeiten  angeftrebt,  entweber 
in  gorm  beä  reinen  ÜJtpfticiSmuS,  indem  fte  fidj  au  bie  ©ötter 
um  Diatlj  wanbteu,  Sträume  gurec^t  legten,  unb  Vefdjwörung 

(,60t) 


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21 


von  ©eiftern,  bie  man  in  bem  ftanfen  Körper  »ermuthete,  unter» 
nahmen  — ober  in  ber  5öeife,  baf)  man  nach  ben  93orfd)riften 
ber  bermetifchen  SBiffenfchaft  eine  regelrechte  S3ebanblung  »er* 
füllte.  £Die  STraumbeuter  unb  9ßahrfager  haHen  Me  Aufgabe, 
bie  burch  Traume  bewerffteöigten  Kunbgebungen  ber  ©ottheit 
gu  erflären,  unb  mußten  in  mistigen  focialen  unb  politifchen 
fragen  ebenfo  ihre  ÜReinung  abgeben,  als  bort  wo  eS  ficf)  um 
bie  ©efunbfyeit  banbette.  35ie  Grtjebung  beö  biblifdjen  3ofef, 
eineö  ftremblingS,  gu  einem  aeguptifcben  Statthalter  läfd  be= 
urtijeilen,  weites  Slnfeben  Jraumbeutung  unb  Slftrologie  genof), 
wie  feljr  man  alle  Sudeten  93orgänge  »on  bem  ©influfj  h^e*01 
©ewalten  ableitete  unb  welche  93el»hnung  jener  harrte,  bie  eine 
günftige  Deutung  gu  bieten  im  Staube  waren.  — SDiefe  über» 
irbifchen  ©ewalten  unb  ©etfter  hielten  bei  Kranfljeiten  eine 
wichtige  Stolle,  man  betrachtete  fie  als  in  ben  Körper  ber 
^Betroffenen  eingebrungene  SDämcnen,18)  unb  bie  gegen  bie 
Kranfheiten  »orgunehmenbe  SBebanblung  begwecfte  eben  bie  93er* 
treibung  berfelben.  SJiaSpero,  ein  »orgüglicher  Slegnptologe, 
hat  eine  in  ber  Bibliotheque  nationale  gu  $)ariS  befinblidje 
Säule  (stele)  worauf  eine  bur<h  ©porciSmuS  unternommene  93e* 
hanblung  »ergeichnet  fleht,  entgiffert,  beren  furger  SluSgug  folgenber* 
ma§en  lautet.18)  „©in  afiatifcher  ^)ring  aus  93o<htan,  fam  gu 
SthamfeS  XII.,  ber  beiläufig  1260  »or  ©h*ifto8  hwtfchte,  mit  ber 
Sitte  um  einen  SBaljrfager  bebufS  Sehanblung  einer  fronten 
Königstochter,  bie  »on  einer  fdjrecflichen  KTanfheit  ergriffen  war. 
JDer  König  lieh  einen  ber  erfahrenden  trieft  er  gut  Kranfen 
reifen,  hoch  war  er  troj}  aller  SBemübungen  nicht  im  Stanbe, 
ben  JDämon  auSgutreiben.  SihamfeS  wanbte  fich  nun  an  ben 
©ott  föhunfu,  ber  feinen  SteUcertreter  in  ©eftalt  eines  ©öjjen 
gur  Kranfen  fanbte.  Selber  würbe  mit  großen  ©hren  in 

Socbtan  empfangen,  unb  ber  SDämon,  ber  bis  baljin  bie  fpringefjtu 

(60'.) 


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22 


befeffen  batte,  entfernte  fi<h  unter  gtofeer  ©bretbiehtng  cor  beut 
©tanbbilb  bet  mächtigen  ©ottbeit,  unb  bie  Äranfe  genaS." 
Selbftoerftänblicb  hatte  man  bte  Diener  bet  groben  ©ottbeit 
reichlich  befdjenft  unb  mit  prächtigen  ©aben  wiebet  nad?  jpaufe 
gefanbt. 

Die  Dämonomanie  galt  au  allen  Beiten;  bie  cultioirtera 
äegppter,  Ölffpret  unb  Werfet  bet  alten  SBelt  glaubten  an  ©eiftet 
unb  Dämonen,  unb  auch  bei  ben  weniger  cultioirten  Nationen 
alter  unb  neuer  Beit  begegnen  wir  mitunter  gleiten  3been.  @0 
beftebt  beute  noch  bei  einigen  Sölferfchaften  ber  ©laube,  ba§ 
jebe  franfbafte  Seränberung  beS  ÄerpetS  burdb  einen  böfen  ©eift 
»eranlafjt  wirb,  unb  ein  frangöfifc^er  9ieifenber,  b’Drbignp*0) 
ergäblt  bie  ergöfclicbe  S£batfac^e,  bafj  man  in  Patagonien 
behauptet,  {eben  Ätanfen  bewobne  ein  böfet  Dämon,  babet 
fübrenbie  „5Jlebiciumänner"  ftetS  eineDrommel  mit  Teufels» 
figuren  bemalt  bei  ft<b  herum,  unb  fragen  biefelbe  am  Sette 
beS  jtranfen  um  ben  böfen  ©eift  aus  bem  Äörpet  gu  oertreiben. 
3n  äbnlicbet  SBeife  bebanbelte  SftubenS  biefen  ©egenftanb  in 
einem  prad)toolIen  ©emälbe,  bet  in  ben  faifetlidjen  ©allerien 
beS  SBiener  Selnebere  befinblidjen  „JeufelSauStreibung",  bie  aus 
bem  3abre  1620  ftammt.  Dafelbft  wirb  bie  Teilung  non  $ob« 
fücbtigen  unb  Sefeffenen  unternommen,  beneu  ber  berüchtigte 
3gnafc  oon  gopola  fraft  feiner  heiligen  5Jiad)t  bie  IranfbeitSetjeugen* 
ben  Dämonen  au8treibt,  bie  fobann  feuerfpeienb  au8  bem  genfter 
binauSfabren.  Der  mebicinifcbe  ©eifterglaube,  ber  im  älter» 
tbume  ein  allgemeiner  war,  bat  fid)  fonach  bis  in  fpätere  3eit* 
alter  treu  erhalten,  oft  freilich  in  einer  »iel  nachtbeiligern  unb 
befcbämenbern  gotm.  @0  bat  ber  £ejren»  unb  DeufelSglaube  beS 
SKittelalterS,  welcher  bie  böfen  ©elfter  für  bie  Urfachen  oor* 
banbener  Seuchen  hielt,  in  feinen  SGBirfungen  oiel  ärger  unb  oiel 
bösartiger  gehäuft,  al8  ber  Solls*  unb  Dämonenglaube  bet 

606j 


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23 


SBilben  unb  ber  ©öfcenbiener.  SBeniger  tot)  aber  nicht  minbet 
lächerlich  erfcbeint  bet  moberne  ©piriti8mu8,  ber  mit  Serftorbenen 
unb  au6  fremben  Selten  betbeigerufenen  ©eiftem  cerfebrt,  unb 
Ärantfjeiten  butd)  felbe  ju  feilen  corgiebt,  wie  mit  bteS  not 
einigen  Sauren  in  einem  cor  bem  Hefter  Sriminalgericbt  ab» 
gegabelten  projeffe  faben,  wo  ein  fpiritiftifcber  SCrgt  burd) 
©itirung  ber  ©elfter  £umbolbt’8  unb  Slrago’e  einen  epileptifdjen 
Jfriaben  beiten  31t  fönnen  unternahm,  ©rfdjeint  ein  folget  Sot» 
gang  nicht  ciel  bemitleiben8wertber  cor  bem  Urteil  einer  wiffeu* 
fdbaftlicben  gorfdjung,  al8  ber  ©laube  ber  aegtyptifcben  Sterte  an 
bie  Ptacbt  ber  IDämonen? 

gragen  toit  nun,  wie  e8  ftcb  mit  ber  bireden  Sebanbluug 
in'Jlegppten  cerbielt,  fo  finben  wir,  bah  manbort,  icoinbenfrübeften 
Äulturepodjen  gatali8mu8  unb  5Jtcftici8mu6  in  ooüfter  Slütbe 
ftanben,  admälig  mit  fortgefdjritteuer  jfultur  fid)  felbft  an 
Srjtlicbe  Sebanblung  gewagt  unb  praftifcbe  Piebicin  in  au8* 
gebebnter  2öeife  geübt  batte.  £Die  bei  gtie<bif<ben  Autoren  cor* 
finblicben  bieSbegüglidjen  Angaben,  rühren  fowobl  con  münblicben 
Berichten  ber,  welche  ben  in  Steppten  reifenben  griedjifcben  ©e* 
lehrten  mitgetbeilt  würben,  jum  S£^eil  auch  au8  ben  mebicinifcben 
«Schriften,  welche  einen  Stbeil  ber  bermetifchen  Sucher  au8ma<bteu, 
bie  im  2}ltertl)um  befannt  waren,  für  un8  aber  cetloreu  gingen, 
wenn  anberS  biefelben  nicht  neuetbingS  bur<h  ben  fogleich  3U 
erwäbnenben  mebicinifcben  papbruS  6ber8  wieber  gu  Jage  ge* 
forbert  würben.  @ed)8  Südjer  ber  bermetifchen  2Biffenf<baft 
waren,  wie  früher  bemerft,  mebicinifcben  3nbalt8  unb  felbe  fcbeinen 
eine  jiemlich  lügenhafte  SDarftellung  con  ber  Anatomie  unb 
Pathologie  umfaßt  ju  haben.  9ta<b  PaufaniaS  glaubte  man, 
bah  fcie  ägpptifcbe  ©ottbeit  Jb0**')  ÜOtt  einaelnen  gorfcberu 
für  ibentifch  mit  einer  anbern  ©ottbeit,  $erme8  gehalten,  bie* 
felbe  cerfajjt  batte.  Jperme8  (nicht  mit  ber  griechifchen  ©ott» 

(607) 


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24 


beit  gleichen  9tamen8  $u  »erwedhfeln)  war  fcer  Sage  nach  ber 
Schöpfer  alle«  SBiffenS  unb  bemnadh  auch  ber  |>eil!unbe,  unb 
bat  feine  mebicinifcben  Äenntniffe  auf  fteinernen  Säulen  (stele) 
eingegraben  **),  »on  felben  übertrug  man  bie  3nfdjriften  auf 
$>ap»ru8rolIen,  unb  ber  3n^att  berfelben  biente  ben  ^»riefter» 
ärjten  jur  genauen  ^Befolgung.  9118  23eifpiel,  wie  ftrenge  bie 
Sehren  ber  bermetifdjen  ©tebicin  gehalten  würben,  gilt  bie  9ln» 
gäbe  non  35ioboru823)  „bafc  bie  9ferjte  bie  2?ebanblung  nach 
ben  ©runbfä^en  einer  burd)  lauge  Seitraume  beobachteten,  unb 
non  ben  beften  Siebten  gufammengeftellten  ÜRetbobe  leiten  mußten." 
Die§  erleichterte  auch  bie  mebicinifdhen  ©ingriffe,  benn  wenn 
man  fid)  nach  ben  b«ilig«u  ©obiceS  Ijtelt  unb  bie  Äranfen  ntd^t 
retten  fonnte,  fo  war  ber  9lrgt  non  jeber  Sdjulb  frei,  bebanbelten 
bie  9ferjte  aber  nach  eigenem  ©utbünTen,  fo  würben  fie  mit  bem 
$obe  beftraft. 

2>en  fpateren  griedjifdjen  fÄerjten  muffen  bie  jfenntniffe  ber 
^ermetifc^en  fKebicin  fe^r  finbifd)  erfdjienen  fein,  unb  ©alen34) 
fagt  auSbrücflich , „baff  felbe  fe^r  albern  ftnb",  tro^bem  finb 
felbe  für  bie  ^Beurteilung  ber  ügpptifchen  SOtebicin  oon  ^obem 
äöerttje,  ber  noch  bebeutenb  gefteigert  würbe  burdb  bie  ©nt» 
gifferung  einer  $)ap»ru§roHe,  welche  ber  beutfche  ©elebrte  ©ber8 
früher  in  furgem  9tu8äuge*5),  in  jüngfter  3«t  aber  in  »oll* 
ftänbiger  lleberfefcung**)  mitgetheilt,  unb  welchen  ^>api>vuö  er 
für  bie  »erlorengegangene  bermetifche  SJlebiciu  hält57)-  SDb 
biefe  SBermuthung  richtig  ift  ober  nicht,  bleibt  ber  ^Beurteilung 
einer  fadhmännifdjen  Äritif  überlaffen,  für  un8  hanbelt  e8  fi<h 
nur  um  ba8  wiffeufcbaftlidje  unb  fultureße  Sntereffe  ba8  wir 
einer  autbentifdhen  SJtittbeilung  entgegenbringen  müffen,  welche 
bie  Sdjilberung  »on  Äranfheiten  unb  beren  5?ebanblung  auö 
einer  altersgrauen  Bcitc^jccfce  enthält,  unb  un8  einen  ©inblitf 

C608) 


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25 


geftattet  in  bie  Art  unb  Söctfe  wie  matt  in  Aegnpten  »ot  etwa 
3500  Sagten  SRebicin  getrieben.  * 8) 

5)er  §>a}?tmi8  (Sber8  beftetjt  au8  110,  auf  fd^ön  unb  wohl* 
erhaltenen  Stellen  gef<hriebenen  ©eiten,  unb  gerfäUt  in  gahlreid)e 
Abfcbnitte  unb  Jfapitel.  35er  Beginn  ber  ^appruS  lautet  folgenber» 
mafsen:  „@8  fängt  an  ba8  jfapitel  »cm  bereiten  ber 
Argneien  für  alle  Äörpertheile  ton  ^erfenen",  unb  enthält 
©prüdfe  eingegeben  oom  ,,Beherrfcber  be8  All’8"  gur  Befeitigung 
be8  Unheils,  weites  bie  Äranfen  »on  ben  25ämonen  erleiben. 
35er  weitere  Sntyalt  biefe8  AbfchnitteS  ift  ein  ©emifdj  ron 
magifdben  unb  mtoftifdien  Borfdhriften,  unb  enthält  Anrufungen 
an  bie  ©ottheiten,  wie  g.  B.  „SRödhte  mich  3fi8  feilen  wie  fie 
£oru8  heilt«  een  allen  liebeln."  hierauf  folgen  ©prüdje,  "bie 
bei  ber  Bereitung  ber  Arzneien  gu  t>altert  finb. 

55er  gweite  Abfafj  enthält  ein  .Kapitel  »on  bem  Srinfen 
ber  Argneien  fammt  ©prüdben,  bie  hierbei  gu  fagen  ftnb,  wenn 
bie  Äranfen  bie  SRebicamente  nehmen,  ©o  lautet  einer  wie 
folgt:  „SRätfytig  finb  bie  3auber  über  ben  Argneien,  eg  fommen 
bie  Argneien,  e8  femmt  bie  Teilung  ber  55inge  in  biefem  bergen 
unb  biefem  Körperteile"  unb  fchliefft  mit  benSBorten:  „©efprodjen 
beim  2 ran!  ber  Argneien  ber  Drbnung  gemäfc  einmal.“  — 35er 
©ebrauefy  ber  Argneien  war  ftetS  non  ber  Aeufjerung  ^eiliger 
©prüdie  begleitet,  unb  felben  fdjrieb  man  bann  auch  bie  gute 
äöirfung  berfelben  gu.  ©ewöhnlicb  muffte  ber  Argt,  ber  bem 
Kranfen  bie  SRebicamente  reichte,  bie  Formeln  fpredben,  unb  e8 
finbet  fi<b  in  einer  anbern  ^ieroglp^^iftijen  SReliquie,  bie  al8 
berliner  mebicin.  95appru8  befannt  ift,  ein  fold^er  ©prudf»,  bet 
nadb6hal,ae’9)  folgenbermafcen  lautete:  „Erhebe  55id)  in  guter 
unb  collfommener  ©efunbljeit  für  immer,  mögen  alle  Krantfpeiten, 
bie  in  55ir  fteefen,  gerftört  werben,  35ein  Auge  möge  burdj  ^>tah 
(@ott)  geöffnet  werben,  unb  S5ein  SRunb  burdh  ©ofarie." 

<cof>; 


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26 


3m  9>ap9tu8  @bet8  folgt  auf  ba8  Kapitel  be8  ärgneitrinfenS 
ba8  bet  Äranfbeiten  unb  bet  bagegen  gu  reidjenbeu  Webicamente, 
ein  Äapitel,  ba8  6ber8  für  ben  intereffanteften  S£b«l  be$  gangen 
2Berfe8  hält.  Obgleich  wir  biefen  umfangreidjen  §)ap»ru8  nidjt 
im  SDetail  »erfolgen  fonnen,  fo  fügten  wir  nadj  ben  befannten 
Angaben  unb  äuSgügen  nut  footel  an,  baf)  bie  mebkinifebe 
^>at^ologre  ben  äegpptiern  nidjt  nur  nicht  fremb  war,  fonberu 
baf)  einzelne  ©ebiete  berfelben  eine  beachtenswerte  SBürbigung 
gefunben  Ratten.  SDic  S3efdjreibungen  bet  Äranfbeiten  finb  mit 
ben  in  reidjltdjer  Wenge  angegebenen  Heilmitteln  untermengt, 
unb  bie  leiteten  in  »erfebiebenartigften  3ufammenftellungen  an» 
einanbergereibt.  Stuf  bie  ärgneien  gegen  Saucbleiben  folgen 
Wittel  gegen  Äopf*  unb  Hergfranfbeiten,  gegen  lieber  unb 
3udfen  in  ben  ©liebern,  gegen  guf)*  unb  IRücfenteiben  u.  f.  w. 
äm  meiften  berücffidbtigt  waten  mobl  bie  in  äegppten  enbemifeben 
Uebet,  unb  gu  benen  gebürten  91  u gen*  unb Hautfranfbeiten. 
3n  erfter  8inie  gäblen  bie’Äranfbeiten  ber  äugen,  welche 
im  ^apptuS  6bet8  einen  9 ©eiten  grofjen  Umfang  einnebmen, 
unb  ©ebilberungen  enthalten,  bie  für  bie  moberne  Dpb^almologie 
man(b  intereffante  ängabe  enthalten  bürfte.  äugenleiben  waren 
in  äegppten  eine  wahre  üanbplage,  wabrfcbeinlitb  burdb  ben 
feinen  Söüftenfanb  unb  bie  tropifebe  H^e  »eranlafjt;  beute  no(b 
finb  bösartige  ©tfranfungen  ber  Sinbebaut  be8  äugeS  bafelbft 
häufig,  unb  bienen  befanntli<b  in  unferet  SBiffenfdbaft  auch  gur 
Segeidbnung  einer  febweren  SMennorrboe.  — SDie  alten  äegpptier 
batten  nun  in  ihrer  J^ctmat  reichliche  ©elegenbeit  äugenleiben 
genauer  gu  ftubiren,  unb  erfreuten  ftcb  fdbon  im  ältertbum  be8 
9iufe8  bebeutenber  äugenärgte.  SDie  ^erferfönige,  bie  ben 
grietbifdjen  äergten  ba8  größte  33ertrauen  febenften,  batten  gut 
33ebanblung  »on  äugenleiben  ägpptifdbe  äergte  in’8  ganb  gerufen, 

unb  wenn  bie  SBermutbung  eingelner  ©elebrten  richtig  ift,  fdbeint 
(610) 


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27 


man  in  2legppten  fogar  ben  Staarfdjnitt  fd)on  gelaunt  ju 
haben.  — ©bet8  führt  unter  ben  mannigfachen  gotmen  bet 
äugen  franfheiten  unb  beten  SehanblungSarten,  bie  man  gefannt 
gu  haben  fc^eint,  an:  ben  9iebel  im  äuge,  bie  ©ntgünbitng  bet 
äugen,  ba8  Deffnen  be8  SehfelbeS  in  ben  Pupillen  hinter  ben 
äugen  butch  ba8  SJeftreicben  beö  ängeS  mit  bem  (Safte  ©erdjoru8, 
fomie  Heilmittel  über  bie  ©ontraction  bet  Pupillen. 

IBegüglid)  bet  Hautfranfheiteu  ßnb  in  bem  Pappru8 
@bet8  einzelne  bürftige  SIngaben  gu  finben,  bie  ftd)  jebodj  nur 
auf  bie  änführung  eingelner  ÜRittel  gegen  ben  Äopfgrinb,  gegen 
ben  äuSjchlag,  gegen  baß  äuSfallen  unb  ©raumerben  bet  Haare  ic. 
begießen.  — Deutlicher  al8  ber  p.  ©.  lafjt  un8  bie  heilige 
Schrift  unb  fpütere  Sdhnftfteller  »ermuthen,  ba&  mannigfache 
Hautleiben  in  äegppten  häufig  »otfamen. 

Obenan  bürfte  mopl  ber  in  ben  9tiUänbern  gahlreidjer  al8 
in  anbern  ©ebieten  äften8  unb  äftifaS  3U  beobachtenbe  äuSfafc 
flehen:  bie  Elephantiasis  Graecorum  ober  Lepra  Arabum,  mie 
ba8  Uebel  non  ben  äergten  be8  ÜJtittelalterS  benannt  mürbe. 
Die  in  ägpptifdjer  Sflaoerei  lebenben  3uben  maren  »on  bieiem 
enbemifchen  Uebel  gemifc  nicht  »erfchont,  unb  bie  im  alten 
Üeftamente50)  befchriebenen  namentlich  mit  gled  unb  @ejchmür8* 
bilbung  einhergehenben  Hautleiben  begehen  fich  mohl  grofjentheilS 
auf  Heprafranfc.  ©ben|o  fann  man  bie  iu  ber  heiligea  Schrift 
angegebenen  hP8«enif<beu  unb  therapeutifchen  93t ahnahmen  gegen 
biefeS  Uebel  als  lofalen  SSerhältuiffen  entnommen  betrachten. 

©ine  öfter  oorfommenbe  Ä'ranfheit  bürften  bie  „Uchet" 
gemefen  fein,  ba  eine  Sefchteibung  berfelben  fomohl  im  Pappru8 
6ber8  al8  im  berliner  mebicin.  P.  gu  finben  ift.  äl8  Stplprobe 
ber  ägpptifchen  Pathologie  moUen  mir  eine  Sefdjreibung  biefer 
Äranfheit  nad)  bem  berliner  PappruS  folgen  laffen.11)  SDafelbfl 

heifct  e8  »on  einem  ifranfen:  „Sein  Unterleib  ift  fchmer,  bet 

(ciu 


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28 


Nlunb  feineö  NlagenS  ift  TranT,  fein  H*r3  brennt,  in  ber  Nacht 
quält  iisn  ber  35urft;  geht  er  gu  Stuhle,  fo  »erfaßt  fein  ?eib  bie 
Entleerung.  5n  feinem  Unterleibe  ift  Entgünbung,  unb  wenn 
er  ftch  ergebt,  fo  gleißt  er  einem  5Renf<hen,  ben  man  hiubert, 
fich  gu  bewegen."  — 

3ßir  finben  in  biefer  ©dfilberung  wohl  eine  gange  SReibe 
nun  ©nmptomen,  bie  auf  ein  ferneres  Reiben  hiugubeuten  fcheinen, 
boch  wäre  eS  gewagt,  burch  felbe  eine  beftimmte  Äranf^eit  er* 
Tennen  gu  wellen. 

3BaS  nun  bie  eigentlichen  Heilmittel  ber  Aeguptier  betrifft, 
fe  haben  wir  bloße  23ermuthungeu  über  biefelben.  3f errate« 
hält  fie  für  feßr  einfach3*)  unb  glaubt,  baß  man  fte  wie 
Nahrungsmittel  nehmen  Tenne,  unb  bei  beten  (gebrauch  nichts 
wage.  SDie  Nerwenbung  fclcher  inbifferenter  Niebicamente  erfebeint 
jebecb,  wenn  wir  ben  $}apnruS* Angaben  felgen,  nicht  recht 
glaublich,  »orauSgefeßt,  baft  man  barunter  auch  anbete  als  auf* 
lüfenbe  ober  abfühtenbe  Heilmittel,  bie  in  ber  ägvptifcben  Niebicin 
eine  wichtige  Nolle  fpielten,  verftanben  hatte,  ober  baff  gtiechifdhe* 
^hilafcbhen  Abführmittel  ebenfo  ungefährlich  erfchienen  als 
Nahrungsmittel.  — Alle  ©teilen  febech,  bie  von  Niebicamenten 
hanbeln,  verrathen  ihre  Segiehungen  gum  SDarmfanal.  3n  bem 
mebicin.  berl.  ^ap.  finbet  ftd)  g.  33.  unter  verfchiebenartigen 
Heilfermen  auch  eine,  bie  gur  Heilung  bei  Harnverhaltung  bient,  * 3) 
unb  gwar:  SBein,  Noft  een  SBrenge  unb  Nleerfalg  gu  gleichen 
Sheilen  als  8.  ln  ft  i er  gu  benußen.  Anbere  He^fctmeln  ent* 
halten  wieber  hüthft  wiberliche  unb  eTelerregenbe  ©ubftangen  bei 
innerlichen  unb  äußerlichen  Seiben;  fo  Ercremente  von  S^iefen* 
Harn  von  SNenfchen,  ©alle  vom  .falbe,  IBerfchlucTen  non 
Eibechfen  etc. 

3m  9?ap.  Eb.  finb  Niifchungen  arematifcher  (Stoffe  erwähnt, 

Ätipbii  welche  gu  Näucherungen  in  ben  Tempeln  ober  bei 

(612)  . 


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29 


Opferungen  Slnwenbuug,  bc<^  audj  al8  Heilmittel  öenufcuug 
fanben.  Plutardj  befdjreibt  eine  foldje  SJiifdjung *4),  weldje, 
wenn  fte  getrunfeu  wirb  „ba8  3nnere  gu  reinigen  unb  ben 
Unterleib  gu  erweisen  fdjeiut."  Stnbere  im  pap.  @ber8  mit* 
geteilte  Äppfyi*9iecepte  bürften  purfümeriemittel  gewefeu  fein, 
benn  einige  bienten  „ben  ©etudj  bet  Äleiber  unb  be§  Haufeä 
angenehm  gu  madjen",  wäfjrenb  anbete  in  gorm  non  DJiunbpiDen 
bie  (ärfrifdjung  be8  2ltljem8  begwecften. 

2)ie  ungeheure  SJienge  ber  »erfcfyiebenften  Strgneiftojfe  erllärt 
e8,  bafj  man  fdjon  im  SUtertfjume  Slegppten  für  ein  8anb  Ijielt, 
baf$  reid)  an  Heilmitteln  unb  Slergten  war,  unb  bei  Homec 
Ijeifit  e8:ss) 

„ . Aegyptos,  wo  niel  bie  ndljrenbe  (Srbe 

„2rägt  bie  Sürge  gu  guter  unb  öiel  gu  fdjäblidjer  Piifdjung. 
„So  audj  jebet  ein  'Ärgt,  bie  (Sterblichen  all  an  (Srfaljrung 
„Ueberragt."  — 

Pliniu8,  3)ioboru8,  plutardj,  alle  türmen  3legppten8 
iReidjtijum  an  Jpeilmittelu,  unb  fein  Sunber,  ba8  man  felbe  gerne 
unb  fyäufig  »erwenbete. 

3m  ‘Allgemeinen  fdjeint  ber  ©efunbljeitSguftanb  ber  23e» 
wohnet  AegpptenS  ein  günftiger  gewefen  gu  fein,  unb3fo!rate8 
ber  fRebner  hebt  fogat  bie  lange  SebenSbauer,  bereu  fich  bie 
Aegpptier  gu  erfreuen  Ratten,  befonberS  Ijetoor.  Ob  bie  flima» 
tifd^en  SBerhältniffe,  ob  bie  mäßige  SebenSweife,  beren  mau  ftch 
in  Aegppten  befleißigte,  bagn  beigetragen  Ijaben,  ift  nicht  gn 
beftimmen.  Sebenfaöa  fdjeint  Unmäßigfeit  im  (Sffen  unb  Stinfen 
»erachtet  gewefen  gu  fein,  unb  ber  pappruS  Prpfje56)  (fo  ge* 
nannt  nadj  bem  Auffinbet  biefer  pappru8rolle  in  Sieben  im 
3aljre  1847)  enthält  eine  IReitje  oon  SebenSregeln,  bie  gleichzeitig 
al8  tiätetifdje  SBorfchriften  gelten  fönnen.  „(Sin  Saftet  ift  bie 
23öUerei."  „ölenb  ift,  wer  feinem  33audje  fröljut,  ober  wer  oer* 

(613) 


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30 


bringt  feine  Beit  in  Unbewufctbeit : Dicfleibigfeit  berrfcht  im 

#aufe  Solcher"  u.  f.  ». 

3)ie  ätiologifchen  Rlomente,  benen  man  baß  ©ntfteben  ber 
Äranfbeiten  gufcbrieb,  fucbte  man  im  Berbauungßfanal,  unb  eß 
fcheint,  bafc  man  bie  pbwfifäen  Hebel  non  bem  ©enuffe  gewiffer 
Rabrungßmittel  ableitete.37)  — SDaß  befolgen  einer  »ernünftigen 
SDiätetif  batte  wobt  ihren  ^ngienifdhen  Rufcen(  felbftoerftänblich 
fonnte  jebocb  baß  ©ntfteben  ber  äfranfbeiten  baburdb  nidbt  »er* 
hütet  »erben.  Sie  ^rieftet  gingen  au<b  hierin  mit  bem  ent* 
fprechenben  Beijpiel  »oran  unb  Rattert  mit  äufjerfter  Strenge 
gewiffe  Spei  jeregeln  befolgt.  ^Mutard)  erwähnt  übet  biefelben  :* 8) 
„S5afj  bie  ^rieftet  nidbt  allein  bie  meiften  SJrteu  »on  hülfen* 
ftüdbten,  Sd}af*  unb  Scbweinefleijcb  »erabfcbeuen,  fonbern  auch 
bei  ihren  religiöfen  Reinigungen  baß  Saig  »on  ihren  Steifen 
entfernen,  um  nid^t  butdb  feinen  Reig  bie  Begierbe  gum  ©ffen 
unb  Srinfen  gu  oermebren."  Srohbem  ging  man  in  ber  gürforge 
für  bie  ©ejunbbeit  noch  weiter  unb  batte  ben  Berbauungßfanal, 
ben  Sünbenbocf  für  alle  Hebel,  befonbetß  malträtirt.  So  war 
eß  Sanbeßfttte,  ba&  man  in  jebem  SRonate  einmal  feinen  Körper 
3 Sage  binburd)  reinigte  unb  gwar  butcb  Slnwenbung  »on  Brecb* 
mittein,  gaffen  unb  Jripftieren. 39)  SSenn  nun  bie  ©efunben 
auß  gurdjt  erfranfen  gu  fönnen,  mit  fteten  „Reinigungßmitteln“ 
fidb  quälten,  wie  mag  eß  erft  um  bie  Bepanblung  ber  Uranien 
befteUt  gewefeu  fein!  SSenn  wir  ben  Angaben  beß  SSriftoteleß40) 
©lauben  fdbenfen  bürfen,  fo  waren  bie  Äranfen  faft  beffer 
batan  alß  bie  ©efunben,  benn  ein  ©efef}  »erbot  ben  ägnptifchen 
Slergtcn  bei  ©iutritt  einet  heftigen  ©rftanfuug,  gleich  gegen  felbe 
eingufcbreiten,  unb  erft  am  4.  Sage  ober  mehrtägiger  Beobachtung 
fonnte  man  gu  9>utgir»  unb  Brechmitteln  greifen.  3n  biefen 
©runbfäfjen  feben  wir  bemnach  rohe  ©mpirie  mit  tbeilweifem 
Ribilißmuß  gepaart,  unb  ba  über  ben  ©ebrauch  »»u  Blut* 

(614) 


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31 


entrungen  beglaubigte  Angaben  gu  finben  finb,41)  jo  lönuen 
mir  e8  mohl  auSfprechen,  bafj  bie  Äranfen  im  alten  Pharaonen« 
reiche  in  gemiffer  Segiehung  nicht  arger  baran  mären  als  jene 
Unglüdlidjen,  bie  unter  bem  (Sinfluffe  bet  gehren  gmeier  in  unfer 
3al)rl)unbert  fyineinreidjenben  drgtlic^en  Äorophäen  ftanben, 
nämlich  SRafori  unb  SrouffaiS,  ben gelben  beS  (EontraftimuluS 
unb  Cer  Sbetläffe.  3ebenfaflS  hätte  ber  Strgt  in  3Jioliöte’§ 
„malade  imaginaire“  mit  feinem  „purgare  unb  clysteriumdonare„ 
ebenfo  mie  bie  gange  mebicinifc^e  3unft  beS  17.  3aljrfyunbert8 
im  alten  Ölegopten  ftammcermanbte  Seelen  gefunben! 

in. 

liefen  (Erörterungen  gufolge  unterliegt  eS  feinem  Bmeifel, 
baff  man  gegen  bie  mannigfachften  ÄranfheitSguftänbe  halb  gum 
Supranaturalismus  unb  balb  gu  einer  mtrfltdjen  £>eümetl)obe 
griff,  ober  beibe  nad}  Umftänben  in  abergläubifcher  Söeife  mit* 
einanber  oerbanb.  @8  fragt  ftdj  nun,  mie  eS  um  bie  gunbamental* 
lehren  ber  SJiebicin,  um  bie  Anatomie  unb  bie  fPhhft°l03ie  Se’ 
ftanben  batte. 

Stflem  Ulnfdjeine  nad?  bürften  bie  ägpptifchen  ^rieftet 
anatomif<be  Äenntniffe  befeffen  haben,  ba  ihnen  jorcobl  burdf 
bie  Berglieberung  ber  Dpferthiere  als  auch  bureb  bie  (Ein* 
balfamirung  ihrer  2obten  bagu  (Gelegenheit  geboten  mar,  unb 
SRanetho,  ein  im  3.  3ahrhunbert  oor  (Ehr.  lebenber  ägßptifdjet 
SdfriftfteHer,  beffen  ©laubmürbigfeit  oon  fpäteren  gorfdjern 
jebedf  angegmeifelt  mirb,  fchreibt  »en  anatomifd)en  Suchern: 
„»tbctbiS,  ber  Sohn  beS  9JieneS  hat  bie  ÄönigSburg  in  SJtemphiS 
gebaut,  unb  »on  ihm  hat  man  Sucher  über  Anatomie,  benn  er 
mar  ein  SKrgt"4*).  3n  bet  fpätern  3eit  hielt  man  bie  Stegpptier 
fogar  für  baS  erfte  Solf,  baS  Anatomie  getrieben,  hoch  mar  bieS 
burchauS  nicht  ber  galt,  unb  mir  müffen  bie  ben  2leg»ptiern 

(614) 


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32 


gugefcbriebcuen  anatomifchen  Äenntnifje  für  je^r  niebrig  anidjlageu. 
5Die8  lägt  fidj  au8  Bielerlei  auf  authentijchen  Ouelleu  fußenden 
Angaben  erfcbließen.  $Jot  SlQem  an8  ben  Gtinbaliamirungen 
felbft.  2)ie  5Krt  unb  Seife,  wie  mau  bei  felber  gu  Seife  ging, 
fonnte  bie  anatomifchen  Äenntniffe  gewiß  nicht  förbern,  weil 
mau  nicht,  wie  $>liniu8  »ermüdete,  bie  geitfjeuöffuuugen  au8 
wiffenfc^aftUdjen,  fonbern  au8  rein  reli giöfen  ©rünben  Botnabm 
uub  weil  man  nicht  jebeSmal,  fonbern  nur  in  eingelnen  gäUeu 
mittelft  einer  fehr  mittelmäßigen  ORethobe  bie  Äopf*  uub  58au<b* 
^6ßle  Bon  ihrem  3u^alte  befreite,  ohne  weitere  Serüeffidjtiguug 
auf  bie  anatomifchen  SBerljältuiffe  bet  Jförperfpfteme.  SDie  durch 
SDfumification  beabfidjtigte  6rbaltung  ber  Ueichname  beruhte  auf 
bem  ©lauben  oon  bet  Unftetblidjfeit  ber  ©eele  unb  bereu 
Sanberung,  eine  teligiöfe  'Äufitbt,  bie  bei  ben  Äegpptiern  ^uerft 
23oben  gefaßt  hatte-  SDiefelben  betrachteten  ba8  gebeu  im  3enfeit8 
alg  eine  gortfeßung  ihrer  irbifcben  Laufbahn,  nur  mit  bem 
Unterfcbiebe,  baß  man  bafelbft,  außer  man  gelangte  in  bie  Unter» 
weit,  frei  Bon  allen  ÜJtühfeligfeiten  unb  ^lacfereien  fitb  befinde, 
eine  ©laubenbleßre,  bie  befanntlidj  au<b  in  ben  monotheiftifcben 
SReltgionen  gum  $h«il  3U  finden.  9iur  glaubte  man,  baß  „bie 
Seligen"  manchmal  au8  ber  ^immlifc^eu  Soßuung  in’8  ©rbreicß 
gu  wallen  pflegten,  uub  ihre  ©räber  auffucbten,  weshalb  man 
bie  irbifcben  füllen,  in  benen  fie  einmal  gehäuft,  möglichft  gut 
3u  erhalten  trachtete.4*)  2)ie  SRumification  gedieh  fctchertna^eu 
3U  einer  befonbern  Äunft,  unb  wurde  für  eine  befonbere  ^rieftet* 
Haffe  gu  einem  einträglichen  ©ewerbe.  .fperobot  uubSDiobotuS44) 
jchilbem  ben  dabei  3U  befolgenden  Vorgang  wie  folgt:  fRad)» 
bem  bie  23erwanbten  be8  Ükrftorbenen  mit  ben  (Sinbalfamirern 
ÜRficffpradje  genommen,  um  je  nach  Dlang  unb  Vermögen«« 
nerhältuiffeu  bie  ÜRumificiruug  auSguführen,  würbe  ber  Leichnam 

ben  sPriefteru  übergeben.  @8  gab  breierlei  im  greife  terfchiebene 
(616) 


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33 


arten  ber  Ginbalfamirung,  bc<if  nur  bet  ber  erften  unb  theuerften 
würbe  bie  Bauch*  unb  jfopfhöhle  geöffnet,  wäljtenb  bet  ben 
anbern  bie  Äörperhöhlen  unoerlefft  biteben.  — Die  Äopfhöhle 
tnurbe  in  ber  Söeife  con  ihrem  3nhalte  befreit,  baff  man  baS 
©effirn  mittelft  eines  Trummen,  hafenförmigen,  gebogenen  GifenS 
burch  bie  Bafenlödjet  ^erauögog,  unb  barauf  roohlriedhenbe 
SRittel  ^ittetttgo§.  — f$ür  bie  Deffnung  ber  Bauchhöhle 
gab  eS  [einen  eigenen  $)rofector , TiaQaoxiorijg,  ber  mit 
einem  fdharfen  Stein  an  ber  linfen  Seite  beS  Unterleibes  einen 
tiefen  Schnitt  machte  unb  alfogleidh  baoon  lief,  ba  bie  um» 
ftebenben  Berwanbten  mit  Steinen  nach  ihm  warfen.  Diefer 
»on  DioboruS  berootgehobene  Umftanb  fafft  einen  fonberbaten 
Sßiberfprudj  in  fid),  unb  tä§t  nermuthen,  baff  bie  aegnptier,  fo 
fehr  fie  burch  ÜJtumiftcirung  bie  Seiber  ber  Beworbenen  für  bie 
Gwigfeit  gu  erhalten  ftrebten,  bennoch  bie  Eröffnung  beS  SeidffnamS 
als  eine  ftrafroürbige  Gntweibung  betrachteten.  Die  burdh  ben 
3>arafdbifte8  geöffnete  Bauchhöhle  würbe  »on  ben  ^rieftera  ge» 
reinigt,  mit  Palmwein  unb  Spegereien  aUet  3rt  gefüllt,  gu* 
genaht,  unb  bie  Seiche  hierauf  burch  70  Jage  in  einer  Batron» 
löfung  beiaffen.  Bach  Ablauf  biefet  3eit  würbe  ber  Seichnam 
abermals  gereinigt,  mit  Beinbern  auS  Sinnen  unb  BiffuS,  bie 
mit  ©ummi  beftrichen  waren,  umwicTelt,  in  einen  hölgernen 
©arg,  ber  nach  menfdhlidhen  ©onturen  unb  bem  Seichnant  ent* 
fprechenb  »erfertigt  war,  gelegt  unb  oon  ben  Berwanbten,  an  eine 
5Banb  beS  ©rabmalä  gelehnt,  aufbewahrt.  Derartig  bemalte 
unb  3ahrhunberte  binburch  wohlerhaltene  .^olgfatTopbage  finb, 
gumeift  ohne  Inhalt,  in  allen  nennenSmerthen  europäifdhen  93?uieen 
gu  fehen.  2Senn  wir  nun,  wie  bemetft,  bie  föcumificirung  burch» 
auS  nicht  als  einen  bie  wiffenfdhaftlichen  Begebungen  förbernben 
Borgang  begeiebnen  Tonnen,  fo  liefert  fdbon  ber  Umftanb,  baff 
ber  $)rofecter  nach  Gröffnung  ber  Bauchhöhle  fich  au$  Aurcht 

t,  tu.  ’ 3 


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34 


bot  Steinigung  flüchten  mufcte,  umfomehr  ben  Seweig,  ba§  bic 
religiöfen  ©runDfafce  jebe  anatomifche  Sorfdjung  beeinträchtigten. 

2lu8brucfgroeifen  für  anatomische  Serbinbungen  toaren  wohl 
befannt,  unb  6ber8  fuhrt  eine  Stelle  an,  wo  e§  h«§t:  bn§  in 
ben  Schläfen,  im  Stopfe,  ben  £)htra  nnb  ben  ©efäfcen  je  4, 
in  ben  Rauben  unb  Süjjen  je  6 Slutgefäfje  perlaufen,  hoch  fehlt 
jebe  nähere  etflärenbe  Angabe  baffer,  ob  man  unter  ber  h'wo« 
glpphif^en  33egeid)nung  Slutgefäfee,  Kercen  ober  gar  5Ru8feln 
»erftanben  hoben  tonnte. 

SJtit  ber  ^h^fiologte  mar  eg  auch  nicht  beffer  beftellt 
alö  mit  ber  Anatomie.  So  ergäbt  9lulug  ©elliuG45),  bafj  bie 
©emchnheit  ber  Körner  unb  ©riechen,  bie  Kinge  am  Kingfinger 
ber  linfen  £anb  gu  tragen,  »on  einer  ägnptif^en  Sitte  abftamme, 
inbem  man  bei  ber  ©töffnung  menfdjli^er  Leichname,  wie  bieß 
tn  Slegnpten  ber  galt  toar,  einen  fehr  garten  Kero  gefunben 
hatte,  ber  »on  biefem  Singer  auGgeljenb  mit  bem  bergen  in 
Sßetbinbung  fteht.  — Berner  glaubte  man,  bafe  ba8  £>erg  »on 
bet  ©cbitrt  biö  gum  50.  SebenGjahre  jährlich  um  j 8oth  gu* 
nehme  unb  »on  ba  an  um  ebenfooiel  abnehme,  wag  ben  ©intritt 
beg  2obeG  »eranlafjte. 

©ine  wiffenfchaftlidhe  fKebicin  gab  eg  bem  Angeführten  gu* 
folge  im  alten  Aegppten  nicht,  Defto  auggebreiteter  war  jeboch 
bie  praftijehe  ärgtliche  Shätigfeit,  unb  bie  3ahl  jener,  welche  ftd} 
mit  ber  Teilung  »on  Äranfheiten  befaßten,  fdjeint  eine  fehr  be* 
beutenbe  gewefen  gu  fein.  3?aG  ^eilgefdjäft,  bag  utfprüuglid} 
bie  ^'riefter  befergten,  ging  mit  Der  3eit  in  bie  $änbe  »ou 
8aien,  rejpectioe  Aergten,  über,  bie  fobann  al8  folche  überall 
ttirften.  2)a8  Äaftenfnftem  hatte  aud)  auf  biefen  Staubfeinen  unser* 
fennbaren  ©infiufe.  Sowie  ber  Acferbauer,  ber  ©ewerbtreibenbe, 
ber  £anbelgmann  u.  f.  w.  nur  ihrer  erlernten  ü£l)ätigfeit  »orftehen 
burften,  ficlj  burch  befonbere  Uebung  »crttjeilhafte  Äunftfertigfecten 

C618) 


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35 


nnb  jtunftgriffe  aneigneten,  welche  fie  ißten  bireften  fftacbfommen 
»ererbten,  bie  bann  bie  (Summe  ber  ererbten  Äenntniffe  burdj 
SBeiterbilbung  »ergrößerten,  fo  Ratten  auch  bie  Ülergte,  bie  fi d) 
nur  je  mit  einzelnen  ÄranfbeitSformen  befaffen  burften,48) 
geroiffe  praftifeße  Äenntniffe  gefammelt,  bie  fie  ihren  Familien* 
güebern  reieber  al8  ©rbtbeil  binterließen.  SBäbrenb  nun  einer» 
feitS  bie  »on  ben  Borcltern  gewonnene  (Srfabrung  tm  Bereiche 
be§  ärjtlidjen  SBiffenö  »on  unleugbarem  fftußen  für  bereu  9lad)< 
fommen  war,  batte  anbrerfeitS  ba8  Äaftenreefen,  »erwöge  beffen 
ber  Sohn  ba8  ©ereerbe  ober  bie  STljaiigfeit  beö  BaterS  ju  ergreifen 
bemüßigt  war,  ben  geiftigen  $cri3ont  gefef5li<b  eingeengt,  unb 
bie  inbimbueüe  8eiftung8fäbigfeit  gtüctfelloS  beeinträchtigt. 

3n  ber  praftifeben  ^eilfunbe  offenbarte  fid)  barum  jumeifi 
ber  ÜJiangel  eine8  freien  8licfe8,  einer  reeitauSfcbauenben  9luf* 
faffung  unb  (Sombination  in  ber  Beurteilung  einjeluer  ©tfcfjei* 
nungen,  ÜJtemente,  bie  bie  ©runblage  einer  mebicinifcben  ®ia» 
gnoftif  bilben.  @8  gab  lauter  Spejialiften  aber  feine  gefaulten 
Serjte,  unb  nur  ba,  reo  eS  fidb  um  äußerliche  Jtra«r^eitSformen 
ßanbelte,  batte  biefe  einfeitige  Dichtung  fidb  mit  9iußen  »erreertben 
laffen.  3)ie  SSegoptier  batten  bemnadj  and)  in  ber  Bebanblung 
gereifter  Äranfbeit8formen  ficb  einen  bauernben  0iubm  erreorben, 
ber  lange  noch  nach  ber  Bernicbtung  ber  Selbftftänbigfeit  ißreS 
SReidjeS  anbielt.  Söir  haben  fd?on  oben  be8  SiufeS  ertoäbnt, 
beffen  ficb  bie  ägpptifcben  ^ugenärjte  außerhalb  ißreS  .£>eimat§* 
lanbe8  erfreuten,  auch  al8  (Dermatologen  überragten  fie  ißre  mebi* 
cinifcben  Seitgenoffen.  — 9118  3ur  Beit  ber  römifeben  SBeltberr* 
febaft  bet  römifebe  IRitter  ©of  finit  8 an  einem  glecbtenübel 
litt,  ließ  fein  faif etlicher  frteunb  Beto  einen  ägBptifdjen  9lrjt 
nach  SRom  fommen , ber  nach  »otlenbeter  Äur  reich  befebenft  nach 
$aufe  febrte47).  f'liniuö  ergäbt  ferner,  baß  unter  Äaifer 

2iberiu8  ein  anfteefenber  befer  9tu8f<blag  au8  9(fien  nach  Italien 

3*  (619> 


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36 


»erftftleppt  würbe  (morbus  tanta  foeditate  ut  quaecunque  mors 
praeferenda  erat)4®);  um  nun  biefet  Seuche  leichter  §evc  gu 
werben,  lieft  man  aegnptifcbe  Slerjte , bie  in  ihrer  Heimat  mit 
biefem  Uebel  fdjon  oertraut  waren,  nach  5Rom  gut  S?ebanblung 
fommen,  welche  nach  anfcbeinenb  glücflichen  Teilerfolgen  grofte 
33eute  nach  Taufe  foppten. 

3Ba8  bie  (Sftirurgie  anlangt,  bie  a!8  ein  3weig  bet  ptaf« 
tifd^en  ÜRebicin  überwiegenb  mit  dufteren  liebeln  gu  tftun  tjat, 
bürfte  felbe  in  Segneten  faum  mit  gleichem  (ftfolge  al8  anbere 
mebirinifdfte  Jftdtigfeiten  geübt  worben  fein.  Tiergu  fehlten  bie 
notfywenbigen  anatomifchen  Äenntniffe  uub  entfprechenben  3n» 
ftrumente49).  3)ie  in  2legnpten  befannteften  operatinen  (Ein- 
griffe : bie  (Jircumcifton,  unb  bie  beftufä  @inbalfamirung  noth* 
wenbige  Eröffnung  bet  UntetleibSftöftle,  gefdjaft  nicht  mit  metaH* 
nen  Snftrumenten , fonbern  mit  einem  idjarf  gugefpifcten  aetftio» 
pifcben  Steine;  Gh“ba8sn)  gibt  einige  Stbbilbungen  biefer  in 
ben  ÜRufeen  non  Surin,  Serben  unb  SBetlin  »orftnblidben  3n» 
ftrumente,  bie  ba8  55u8feften  einer  roft  geformten  Älinge  ftabeu, 
wie  fte  etwa  an  ben  bei  un8  gebräuchlichen  fRafirmeffern  gu  fehen 
fiub.  Such  chirurgifche  Tanbgriffe  bürften  nicht  nur  in  ben 
früfteften,  fonbern  auch  *n  bet  fpätern  Seit  nicht  feftr  befannt 
gewefen  fein,  unb  e§  wäre  einmal  einigen  aegpptifchen  Ülerjten 
ob  ihrer  bie8bejüglicften  Ungefchicflichfeit  halb  übel  ergangen. 
35er  ^Jerferfonig  S5atiu851)  f>atte  fid)  nämlich  auf  bet  3<tgb 
eine  fßerrenfung  im  guftgelenfe  gugegogen.  3)ie  an  feinem  Tefe 
befinblichen  Seibdrgte,  2legpptier,  Derfucftten  ben  au8  bem  ©elenfe 
getretenen  Änödjel  wiebet  eingurichten , boä}  oetgebenS,  unb  fte 
hatten  burd)  ungwecfmäftigeS  Sieben  unb  3erren  bie  folgen  ber 
©ontufion  nur  gefteigert,  fo  baft  bet  Äönig  qualoolle  Sage  unb 
fftdcftte  »erbrachte.  35a  würbe  uun  bem  Tettfdber  mitgetheilt, 
baft  unter  ben  (befangenen  ein  griedbifcher  3lrgt,  35emofebe8,  pdf 

((90) 


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feefinbe,  bem  eß  auch  nach  furger  Seit  gelang,  ben  Äönig  »über 
Beflfcmmen  ton  feinem  Reiben  gu  befreien.  3118  nun  -Datiuß 
mit  leinen  geibärgten  einen  futgen  $>rogefe  matten,  unb  fie  für 
Ujre  Ungefc^icfli^feit  auf  fPfähle  fpiefjen  lafjen  wollte,  ba  tjat 
btfi  IDemofebeß  Fürbitte  felbe  ton  fdjeufdichem  £obe  gerettet.  — 

SBahrlidj  ein  ebler  3ng  eine®  Slrgteß  gegen  feine  GoKegen, 
wie  man  ihn  im  SDRittelalter  con  einen;  Sänger  üSeSculap’ö  gegen 
feine  3unftgenoffen  !aum  »ergeic^net  hätte,  benn  31  grippa , ein 
gu  (jnbe  beß  15.  3a^r^unbertß  wirfenbet  geiftooller  Slrgt,  fdjilbert 
feine  SeHegen  alß  „homines  omnium  scelestissimi,  discor- 
dissimi  et  invidentissimi“  5a);  wahrfcheinlid}  hätte  ein  mittel« 
altrrlic^er  Setlega  ftatt  beß  $)fahlfpie{jenß  eine  milbere  üobeßart 
rcrgej^lagen! 

Söerfen  wir  noch  einen  2Mid  auf  bie  materielle  ©eite  beß 
ärgtlidjen  ©tanbeß  in  Slegppten.  — SBir  bürfen  annehmen,  baf} 
bie  tfleigte  fowohl  alß  ^rieftet  unb  jpäter  auch  alß  ton  hieratchi» 
i<hen  geffeln  befreite  fUiänner  in  ber  ©efellfc^aft  eine  widrige 
SRcOe  gefpielt  haben.  3nbetn  fie  bie  ©efunb^eit  ihrer  Sltit» 
bnrger  überwachten,  waren  fie  für  baß  geben  beß  Singeinen 
oerantwortlich , unb  ba  fie  nach  ftrengen  SBeifungen  torgehen 
mußten,  fo  werben  fie  fich  wohl  gehütet  haben,  ihr  eigeneß  geben 
burd)  Uebertretung  gefefjlithet  SBorfc^riften  gu  terwirfen.  Unter 
fcldjen  Serhältniffen  werben  fich  wohl  alle  bie  £eilfunbe  auß« 
nbenben  §)erfonen  für  ihre  SDtühewaltung  fdjabloß  gu  halten  gefugt 
haben.  Sllß  ^rieftet  nahmen  fie  fich  ihren  ^heil  con  Opfern, 
Abgaben  unb  ©efchenfen,  unb  alß  3lergte  im  engem  ©inne  er« 
hielten  fie  eine  birefte  33egal)lung.  Urfprünglid)  beftanb  felbe  in 
Naturalien,53)  unb  bafür  mufjten  fie  für  Sebermann  mit  ihrer 
Äunft  gu  2?ienften  fein,  fpäter  aber  würben  fie  begatjlt,  unb 
toahtfcheinlid)  nicht  fchlecht.  Söir  befifcen  wohl  feine  fichetn 
Nachrichten,  wie  man  in  3legppten  bie  3lergte  hcnorirte,  bei  ben 


38 


Petferfönigcn  unb  in  {Rom  »ulten  fidj  bie  Gpigouen  berfelbeu 
jeboch  grofje  {Reichthümer  gu  ft^affeu. 

2)ie  Ginbalfamirer,  welche  als  bie  pathologifchen  ütuatomea 
beb  alten  Slegppten  angujehen  waren,  wufjten  für  iljre  gweifelbohne, 
mühenollen  Stiftungen  recht  anftanbige  Siedlungen  gu  machen, 
©o  foftete  bie  SJiumificirung  einet  Seiche i4)  nach  bet  etften 
Jflaffe  1 Stalent  Silber,  ^ i.  2000  fL  £>.  SB.;  nadj  bet  gweiten 
.Rlaffe  20  SRinen  = 600  fl.,  unb  nur  bie  britte  Älaffe  foftete 
eint  getingere  Summe.  2)iefe  preibccuraute  finb  um  fo  auffälliger, 
alb  bie  S3iDigfeit  beb  Sebenbunterhaltb  in  Slegppten  eine  fabel* 
hafte  »ar.  SSebenft  mau  nun,  ba|  bie  SRumificirung  butch 
ein  religiöfeb  ©efefc  ootgej^rieben,  ba|  aegppten  bidjt  beoclfert, 
unb  nut  einet  einzigen  priefterfafte,  ben  Saridjeuten,  bie  Gin* 
fcalfamirung  ootguneljmen  geftattet  »ar,  fo  fann  man  bab 
jä|rlid|e  Ginfommen  biejet  Ginbalfamiter  alb  eiu  fe|r  bebeu* 
tenbeb  neranfchlagen. 

3um  Sdjluffe  wollen  wir  nod?  bet  Pflege  ber  SBiffenfdjaft, 
bereu  einen  widrigen  Bweig  bie  Plebicin  bilbete,  in  ätütje 
gebenfen.  — Gb  ift  »o|l  unnöttflg  |etoorju|eben,  ba§  in  eiuera 
Sanbe,  beffen  geiftige  Sdjä|e  alleb  SBiffen  beb  ootljeflenif^tn 
Sllterthumb  übertrojfen  Ratten,  unb  beffen  Sanb  alb  bie  SBiege 
griechifdjet  Äuuft  uub  {Religion  gu  betrauten  ift,  bie  SBiffen* 
fdjaft  aud)  eine  ernfte  Jpeimftätte  befa|.  Gb  gab  gal)lreidje  Spulen, 
wo  eifriger  Unterricht  erteilt  unb  mit  Strenge  überwacht  würbe. 
SRabpero  entzifferte  eine  im  britifcheu  SRufeum  oorhanbene 
Papptubrofle,  *s)  aub  bet  gu  entnehmen,  ba|  felbft  bie  äiinber 
gum  Unterricht  fleifjig  angehalten  würben.  „Seben  Sag,  fo 
lautet  eine  Stelle  bafelbft,  alb  2>u  in  ber  Schule  warft,  fam 
JDeine  SKutter  gu  2)einem  £ehret,  uub  überbrachte  für  25id} 
Stob  unb  ©etränfe  nom  Jpaufe."  — 3)iejeb  beutet  barauf  h*u, 

ba|  bie  Äinbev  einen  großen  $h«1  beö  2ageb  behufb  beb  Unter* 
(62 v 


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39 


rid>tS  fid j in  bet  ©dfule  aufseiten,  unb  bert  in  einer  Slrt 
$)enftonat  lebten,  wobei  bie  Nahrungsmittel  »on  ben  Grlteru  in 
natura  »erabfolgt  würben.  2?ei  fehlenbet  Sufmerffamfeit  unb 
gleif)  ha»«  ber  Stocf  beS  NiagifterS  rühmlich  nachgeholfen,  unb 
man  »erfuhr  hiebei  gerabe  nicht  mit  großem  gartfinn,  felbft 
wenn  bie  Stubenten  fdjon  über  baS  Knabenalter  hinaus  waren. 
„£>  Schreiber,  helfet  eS  bann  weiter,  fei  nicht  trage,  fonft  wirft 
2)u  grün  unb  blau  gefdjlagen!"  — ®er  Unterricht  würbe  un» 
entgeltlich  »erabreicbt  ober  foftete  eine  !aum  nennenSwerthe 
©umme.  3)ioboruS  56)  oeranfdjlagt  bie  d^ieljung  eines 

Knaben  bis  3ur  ereidjten  fNannbarfeit  auf  20  (Drachmen  b.  i. 
etwa  6 — 7 fl.,  worunter  auch  bet  Lebensunterhalt  311  uerfteheu 
ift.  ©0  wie  noch  heute  bie  arabifchen  $eOahS  SBu^elftauben 
fauen  unb  fi«h  fümmerlich  nähten  unb  fleiben,  fo  hat  auch  früher 
baS  23olf  bie  Nahrung  oon  ben  grüßten  beS  gelbeS,  bie  baS 
üppige  Crtbreich  mühelos  erzeugte , entnommen,  unb  fid?  ent* 
fpredjenb  genährt  unb  erhalten. 

(Der  hähefe  Untenicht  umfafete  alle  »on  ben  ^rieftern 
gewahrten  ©eheimleljren,  unb  aud)  jenen  Shell  ber  mebicinifchen 
Siffenfchaften,  beffen  wir  fchon  oben  gebachten;  unb  felbft  h^hete 
Schulen  im  Sinne  unferer  ^fabemieen  ober  Uniöerfttäten  fdbeinen 
fchon  in  früherer  3eit  beftanben  3U  haben.57)  9Nit  bem  Niebet* 
gange  beS  ägpptiftt^cn  NeidjeS,  welches  einft  als  erobernbe  9Nad)t 
feine  Na^baroölfer  fi<h  tributpflichtig  gemacht  hatte,  ift  baS  Laub 
felbft  fchliefjlidj  eine  Seute  frember  Krieger  geworben,  bie  jebe 
geiftige  Strömung  »ernidjteten.  9(lS  fobann  baS  perfifdje  3odj  bet 
Na ubfucht  unb  SBiQfür  frember  Satrapen  bie  Bügel  fchiefeeu  lieh 
unb  baS  Laub  iu  feinem  Kulturleben  ertöbtet  fehlen , ba  war 
auch  ber  Untergang  beS  alten  NeidieS  befiegelt,  unb  bie  an* 
wadjfenbe  Ntacht  ber  ©riechen  unb  Nlacebonier , welche  unter 
bem  grofjen  Sllejranber  bie  SBeltfeerrfchaft  au  ftd>  rifeen,  hatte 

(62J) 


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40 


jchließlich  bie  ©elbftftänbigfeit  Üegpptenß  »ollenbß  gerftcrt.  ©och 
noch  einmal  Rollte  baß  alte  5>hara<>nenlanb  in  ftrahlenbem  Stumme 
erglänjcn,  als  bie  Nachfolger  Slletanbet’ß  beS  ©roßen,  bie  9>tol v 
mäer  bie  ^jerrfc^aft  übet  Segppten  antraten,  unb  ber  oerfaUenen 
äöifjenfchaft  in  bet  großartigen  $afenftabt  Slleranbria  eine  neue 
©tätte  grünbeten.  — ©ie  ©elehrfamfeit  bet  alten  Vielt  erblühte 
noch  einmal  in  bet  neuen  £auptftabt  Slegpptenß,  unb  bieß  in 
»iel  bebentenbetem  SJtaße  alß  je  ju»or.  grifcheß  geben  pulfirte 
in  ben  morfchgemorbenen  Kanälen,  reelle  eine  meithinreidjente 
Jt  ultut  »ermittelt  l)atte,  unb  baß  im  SNpfticißmuß  ergraute 
Siegelten  mußte  bem  in  natürlicher  griffe  erftrahlenben  £ellae 
jeinen  iptaß  in  ber  ätulturgefchichte  räumen. 

SlUeß  »aß  Äunft  unb  SBifjenfchaft  in  jener  »on  hetlemfcfeem 
©eifte  beeinflußten  ©poche  ijetncrbrachte,  concentrirte  ftch  jefet 
in  ber  Nefibeng  ber  gagiben  unb  bie  gorjehungen  ber  Natur* 
miffenfehaften  erftreeften  fi<h  auf  alle  ©ebiete  menschlichen  SBiffenß, 
bie  auch  hier  bie  beften  ^jülfßmittel  »orfanben.  ©aß  lärmenie 
unb  geräujch»olIe  Sllejranbrien , baß  $)ariß  ber  alten  SSelt,  bai 
alle  Nationalitäten  ber  antifen  Neiche  in  feinen  Ntauern  fah, 
bot  nicht  nur  für  Vergnügungen,  fonbern  auch  für  alle  Sitten 
»cn  ©tubien  baß  günftigfte  Üerrain.  Segpptier,  Suben  uni 
©riechen  wetteiferten  in  ber  pflege  unb  im  ©ifet  für  bie  SBiffen» 
fchaften,  unb  bie  mebicinifchen  ©tubien  entfalteten  fich  in  em« 
fterer  SBeife.  Nebft  ber  großen  Vibliothef,  einer  ber  größten 
33nchet=  unb  ©chriftenfammlungeu,  bie  in  bet  gejammten  SBelt  je 
errietet  mürben,  l^atte  eine  großartige  afabemifche  Stiftung,  bal 
„Nlujeum" i8),  ein  glänjenbeß  3eugniß  abgelegt  für  bie  geiftige 
©röße  bet  Ptolemäer,  ©ieß  ^lerrichergejchlecht  halle  1™$  fe'nct 
großen  Neigung  jur  Fracht  unb  außfehmeifenben  Verjchwenfcung 
ben  Sßiffenfchaften  im  älterthum  angelegentliche  pflege  angebeißen 
laffen,  unb  babuteß  nicht  nur  feinem  3eitalter  bauernben  Nu^m 

(6S4) 


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41 


erworben,  fonbern  ift  auch  bet  9la<hroelt  mit  glängenbem  Sei» 
fpiel  uorangegangen,  ba8  namentlich  oon  ben  Äunft  unb  fhacht 
liebenben  florentinifd)en  dürften,  ben  3Jlebiceern , ben  ebelften 
gerbet etn  aller  Äunftbeftrebungen  nadjgeahmt  mürbe.  Unter  ben 
Slbtheilungen  be8  alejraubrinifchen  ?ERufeum’8  bilbete  bie  ÜJieDkin 4 *) 
einen  mistigen  SUjeil  bet  eiet  bafelbft  errichteten  gacultäten; 
felbe  h“ke  auch  b“8  ©tubium  bet  9laturgef<hichte  burch  <5r* 
tidjtung  botanifcher  unb  goologifcher  ©arten  eifrig  gepflegt  unb 
guerft  eine  anatomifche  Saji860)  für  bie  mebicinifdje  SBiffen» 
fdjaft  gu  fchaffen  oetfuchi.  2)ie  in  SUejranbrien  befinbliche  $och» 
fchule  bilbete  ben  3lu8gang8punft  einer  neuen,  ber  natura» 
liftiichen  Dichtung , bie  für  bie  griedjijche  unb  tömifche  SJiebkin 
auSfchlaggebenb  war,  unb  bie  ©efdjidjte  ber  ÜRebicin  lehrt,  baf? 
ber  @ntmicflung8gang,  ben  bie  £eilfunbe  noch  im  nachflaffifchen 
Sllterthum  fomie  im  SJlittelalter  genommen  in  eorgüglidhfter  Söeife 
burch  bie  aleranbrinifche  SOiebicin  beeinflußt  gemeien.  — 


(6S4) 


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Ätttnerfungen. 


1)  Die  Anfänge  bet  Kultur.  Unterfuc^ungen  über  bie  ©ntteidlung 
ta  SRptfyjbgie,  pljitojopljie,  ^Religion,  Äunft  u.  Sitte.  — Stuä  bem 
6«gUf$en.  geipjig  1873,  I,  281. 

2)  Herodot  historiarum  libri  IX  Lipsiae  1815;  II  c.  175 
a.  c.  158.  ogl.  aucb  Sudle,  ©ejdjtdjte  ber  ©iöilijation  je.  Deutjd? 
>ca  8rn.  SRuge,  Setpjig  1870,  I,  81. 

3)  „^prantiben  unb  DbeliSfen  »urben  in  ben  ältefteu  3eiten  gebaut, 
ton  btt  fpätere  Seit  unb  jebe  Station , bie  ein  nü&lid>eS  ©enterbe  treiben 
tonte,  baute  feine  ^pramiben  mef)r. " — Berber,  Sbeen  jur  ©efc^te 
tu  ÜRcnftbfyeit,  Tübingen  1827,  III,  104.  — 

4)  »gl.  Mjlemann,  Spott)  ober  bie  äBiffenft^jaft  bet  alten  'Seguptier, 
©ittingen  1855. 

5)  I,  c.  61  ff. 

6)  Plutarchi  Chaeronensis  Moralia  etc.  Edit.  Wyttenbach. 
Leipzig  1827.  De  Iside  et  Osiride  II  p.  401  ff. 

7)  Btßkiathfxtj  hrropixr,  Bipontii  1793,  lib.  I c.  11,  C.  27  ff. 

8)  .Kurt  Sprengel,  ©efdn^te  ber  'Xrjneifunbe,  J£>atle  1793,  I 
8.  48. 

9)  a.  a.  D. 

10)  Herodot  I.  II,  c.  37. 

11)  'Paulo,  St.  9teal*©ncpclopäbie  ber  flaffijcben  ?lltertl;um9U)ijfen« 
j$aft,  Stuttgart  1864. 1 S.  305;  ferner  Herodot  1.  II  c.  111 ; Diodorus 
I c.  27. 

12)  b.  fpäter  'Paporu«  ©ber«. 

13)  Rimmel,  the  book  of  Perfums,  London  1868  p.  35. 

14)  C ha  bas,  Etudes  sur  l’antiquite  historique  d’apres  les 
sonrces  egyptiennes.  Paris  1873  p.  161. 

(GJ7) 


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44 


15)  Sie  <2>cnne  ober  bei  ©ott  9ia  befdjü^tc  ben  &opf,  ©inubi« 
Slafe  unb  Hippe,  £>atE)or  bie  2lugcn,  ©elf  bie  3dßne  ic  (Maury,  de 
la  magie  daas  l'antiquite).  255a«  ba«  aegppt.  SUtertßum  in  feinet 
fröhlichen  ©infalt  geglaubt,  ba«  ^at  ba«  ct>tiftlidje  SJtittelalter  in  nainet 
grömmigfeit  naeßgeabmt.  Sa«  erfte  ©lieb  be«  Saumen«  befeßüßte  ©ott 
bei  3L?ater,  ba«  jroeitc  bie  heilige  3nngfrau  jc.  bie  übrigen  Steile.  — 
Slugenfranfe  mußten  bie  heilige  Ölara  anruren,  befanb  bie  ©ntjünbung 
ji(h  an  irgenb  einer  anbern  ©teile,  io  mußten  fie  fid)  an  ben  heiligen 
Slntcniu«  menten.  Um  fteß  biefc  ^immlifc^en  SBefen  geneigt  ju  machen, 
mar  e«  notßwenbig  ihnen  ©elb  ju  jaßlen,  unb  fo  mürbe  bie  3lu«übung  ber 
Duacffalberei  eine  bebeutenbe  ©innahmbquelle ; cf.  Sr  aper,  ©efeßießte 
ber  geiftigen  ©ntwicflung  ©uropa«.  31.  b.  ©ngl.  Heipjig  1865,  II  ©.  108. 

16)  35  i rcß o»,  Ueber  bie  fpeilfräfte  befl  Örgani«muS  (Sammlung  ge» 
mein»,  »iff.  Vorträge  $eft  221)  .Seit  ber  alteften  3eit  ift  ber  ©egen* 
faß  jwifeßen  ber  wifjenjeßaftlicben  unb  abergläubifeßen  ÜJiebicin  ein  offen 
auSgejprocßener  geblieben.*  — 

17)  Sie  Äenntniffe,  bie  mir  heute  Bon  ber  ÜJiebicin  ber  alten  äegpptier 
befißen,  begießen  ließ  meßr  auf  bie  33ebanblung«arten  al«  auf  bie  Äranfßeit«* 
formen  unb  beren  23cjeicßnungen,  unb  eS  märe  gewagt  siele  unferer  jeßigen 
patßol.  S3egriffe  mit  ben  Angaben  ber  altaegppt.  Stutoren  in  ©entlang 
bringen  ju  wollen. 

18)  fließt  nur  in  Slegcpten  unb  fpäter  in  ©riecßenlanb  war  ber 
©laube  an  Sdmonen  al«  ÄranfbeitSerreger  allgemein,  fonbern  auch  iw 
ÜJlittelalter  unb  felbft  in  ber  SReugcit  galten  £>epen  unb  Seufel  bdufig 
al«  folcße;  fo  würbe  in  Sjegebin  (Ungarn)  felbft  gu  Anfang  biefeö 
Sahrßunbert«  ein  alte«  2Beib  wegen  .überwiefener*  ftererei  auf  offenem 
SRarfte  lebenbig  serbrannt. 

19)  Jules  Soury,  Revue  des  deux  Mondes  1875,  15  Fevrier. 

2ü)  L'homme  americain  in  Tylor’s:  3lnfange  ber  Kultur  I 33. 

21)  llßlemann,  .^antbueß  ber  aegppt.  3ltterthum«funbe,  Seipjig 
1857,  II  33.  256  S. 

22)  Sprengel  a.  a.  D.  S.  41. 

23)  a.  a.  ©.  1.  I c.  82. 

24)  f udjjXev  oti  nSiirtti  eWi,  Edit.  Kühn  XI  p.  789. 

25)  3fitfchrift  für  aegppttfeße  Spraye  unb  3llterthum«funbe  son 
Sepfiu«  1873  9to.  3 n.  1874  «Ro.  5. 

26)  3>rofpectu«  fPappro«  ©her«  confernirt  in  ber  Unröerfitaröbiblio» 
tßef  ju  Seipjig.  ©in  ßieratijcße«  £>antbuiß  altaegpptifcßer  Slrjneifunbe  jc. 
ßeraubgegeben  ton  ©eorg  ©ber«  unb  Subwig  Stern.  1875. 

(6SS) 


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45 


27)  3u  ben  bisher  Mannten  non  SJtebicin  banbelnben  papnruärollen 
gehört:  2)er  ©erliner  mebic.  $)appru«,  ein  in  Serben  unb  eine  im  Sri* 
tif&  SJiufeum  aufbewabrte  Stelle;  alle  non  geringerem  ©ertpe  al«  bie 
(Skrffch«  (3eitf<hrift  f.  aegppt.  Sprache  ic.  1874,  5.) 

28)  (SberS  batirt  bie  Slbfaffung  feine«  'Pap.  au«  ben  erften  3apr* 
bnnbcrten  beS  neuen  Reiche« ; lefctere«  ift  nach  ben  ^Berechnungen  Bon 

l hepfiu«,  Srugfch,  SJlariette  auf  1600 — 1700  b.  Clpr.  ptrücfjufübren;  cf. 
ßpaba«  S.  14. 

29)  Etades  etc.  I.  c.  p.  51. 

30)  III  B.  Mos.  14  u.  15;  IV,  5. 

31)  Chabas,  Melanges  egyptologiques  Paris  1862  u. 

Jpäfer,  2et)rbud)  b.  ®efd)icbte  b.  5Jiebicin,  3ena  1875, 1 S.  53. 

32)  Sprengel  a.  a.  O.  S.  56. 

33)  Chabas,  Etudes  etc.  p.  61. 

34)  SDa«  Äoppi  war  eine  SJtifcbung  non  16  »erfcbiebenen  Subttanjen, 
febe  eine  9Jtinne  (450  grmm)  fcbwer,  u.  j.  J£>onig,  ©ein,  SRoftnen,  ®al* 
gan,  £>ar|,  ÜJiprrben,  SUppalt,  ©acphclber,  Äalmuä  je.  de  Jside  et 
Osiride  l.c.  81. 

35)  Öbpffee  IV,  228. 

36)  Siefer  f)ap.  ift  nach  ßpaba«  „le  plus  anciea  livre  du 
monde*  u.  nach  ?autp  eine«  ber  intereffanteften  ©erfe  ber  altägppt. 
hitteratur,  ba«  felbft  wieber  eine  Äepie  eine«  ©erbe«  fein  fofl,  beffen 
älter  auf  5400  3ahre  oeranfchlagt  wirb.  — Sitzungsberichte  ber 
fgl.  bair.  Slfabemie  ber  ©iffenfchaften.  Stümpen  1869,  II,  530  ff. 

37)  vofxllovrei  ino  tu jv  rpei povruiv  jitmiv  narx$  r«;  v>o:;t*c  to7- 
«■»  ivfipuirrouriv  ylyverHat  Herod.  II  c.  77. 

38)  de  Jside  etc.  I.  c. 

39)  Herodot  a.  a.  0.;  Diodorus  I,  82. 

40)  De  Polit.  1.  III,  2,  15. 

41)  Scbrfpffopfe  au«  abgcfcpnittenem  Siinbäbom  würben  in  ®räbern 
gefnnben  u.  üepfiu«  gebenft  einer  äbbilbung  be«  Schröpfen«.  $aefer, 
a.  a.  D.  S.  57. 

42)  8autp,  pappru«  ‘prtjffe,  Sitzungsberichte  ic.  Slüncpen  1869, 
n,  533. 

43)  Sa«  »on  Sepfiu«  nach  einem  in  Jurin  befhtblicpen  $)appru« 
ebirte  .Scbtrnbucb  ber  alten  Slegpptier*  gibt  Sluffcplüffe  über  zahlreiche 
religiöfe  Vebren  unb  (Gebräuche  u.  bem  üblichen  Ueicbenceretnoniel.  (paulp 
St.  9t.  Gncpcl.) 

44)  Herodot  II  c.  86,  Diod.  I c.  91. 

(62») 


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46 


45)  Noctes  atticae  1.  X c.  10. 

46)  Herodot  II  c.  84. 

47)  Plinius  Histor.  natural.  L.  29,  93. 

48)  ßbenbafelbft  L.  26,  2 u.  3. 

49)  3n  ber  aegppt.  Slbtljeüung  b eS  ^Berliner  HJinfeumS  befinb« 
fid)  Sancetten,  ‘pincetten  unb  3JJcffcr.  (§aefer  ©.  57)  &B  fragt  frtfc  nnr, 
ob  biefe  Snftrumente  nid)t  einer  fpätern  ßpecfjr  angeboren.  — 

50)  Etudes  etc.  p.  334. 

51)  Herodot  III  c.  129. 

52)  „als  überaus  bSfe,  janffüdjtige  unb  neibift^c  9Jlcnfcben.* 

53)  Diodorus  I.  c.  82. 

54)  Sbenbafelbft  I,  91. 

55)  Jules  Soury,  Contes  et  Romans  de  1’  ancienne  Egypte. 
Revue  des  deux  Mondes  1875,  15.  Fevrier. 

56)  I c.  80. 

57)  3n  §eliopoli3  beftanb  eine  priefterfcbule , in  SEljeben  eine 
Sötilitärafabemie  unb  in  'DtempbiS  eine  ©eleljrtenfdjule;  »äljrenb  biefe 
Spulen  bloß  einzelne  gafultäten  repräjentirten , foU  in  S^enu  etwa 
2500  3af)rc  rer  unferer  Slera  eine  ?trt  Unitierptät  beftanben  Ijaben,  in 
welker  bie  oerfebiebenften  ©iffenSjweige  in  bibactifcfyer  SBetfe  »orgetragen 
würben.  — 2luSfül)rli$e  SKittbeilungen  liefert  Sautb.  .lieber  bie  alt* 
aegbptifebe  .£>od)fcbule  Ben  ßbenu*  in  b.  ®i bun gflberidjt.  b.  ÄgL 
«fab.  b.  »ijf.  in  2Rün<$en.  ^tft.  klaffe  1872  I ©.  29  ff. 

58)  'Partbeo,  baS  alejranfc rinif «^e  ÜRujeum.  Berlin  1838. 

JRitft^I,  bie  alej.  Sibliotljcfcn  :c.  SreSlau  1838. 

©eniger  in  SSirdfewS  „wiffenftbftl.  Verträgen"  £>eft  231. 

59)  JDraper,  @efd)id)te  b.  geift.  (Sntwicflung  ic.  I ©.  349. 

60)  §ür  bie  mebicin.  Ülbtbeilung  würbe  ein  anatomijcbcS  Sweater 
Ijergeridjtct,  wef)tn  nicht  bloß  2ci(bnaute  famen,  fonbern  auch  ?ebtnbe, 
nämlitb  jnm  Sebe  Bevurtbciltc  Serbrecber.  Sraper,  ®ef$id)te  Berßen« 
flicte  gtrifc^cn  ^Religion  unb  ©iffenfdbaft.  Seipjig  1875  ©.  21. 


(630) 

iErud  ten  ®cbr.  Unget  (Ifc.  Örimm)  in  Berlin,  £c$rnebfrgfTftt.  17t. 


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Qd)IUcr  mtö  KoulTnuu 


43on 


Dr.  3o(jömw$  Sdjmibt. 


ßcdtn  SW.  1S76. 

33erlag  coit  Carl  £ a b e I. 

(£.  <£>.  Vnbtrfti’sdjt  BtrlagsindjIiaüblBtig.) 

33.  SbitycIm-StTayt  33. 


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$aä  SRcdjt  btr  Uebcrfcfeung  in  ftcmbc  £pra<f>cn  »itb  mfc^alttn. 


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Unter  ben  Flamen  ber  Sinteren,  bie  auf  ©thiOerS  £>idh=- 
tnng  neu  (5influ|  waten,  finben  wir  in  fämmtlidjen  Biographien 
unb  gitteraturgefchichten  benfenigen  StouffeauS  oergeichnet.  ©o 
irabeftritten  biefer  Ginflu§  im  SlUgemetnen  anerfannt  wirb,  fo 
ttenig  genau  ift  inbeö  feine  Bebeutung  im  ©ingelnen  erfotfdji 
£ieS  foD  alfo  bie  Stufgabe  fein,  ber  wir  bie  felgenbe  Betrachtung 
wibmen.  9Rßge  eS  unö  gelingen,  bie  für  bie  ©ntwidflung  ©thiHerS 
nichtigen  BeriihrungSpunfte  mit  Stouffeau  hetoorguheben,  ohne 
babei  in  baß  Bilb  be8  nationalften  unfeter  SDidjter  irgenbwelche 
frembartigen  3üge  hineingutragen.  — 


3U§  im  3al)re  1773  ber  üierge^njä^rige  ©Ritter  bie  fPflang» 
fdjule  auf  ber  ©olitübe  begog,  war  ein  3ahrgehni  oetfloffen, 
jeitbem  JRouffcau  burd)  bie  Veröffentlichung  beö  ©mil  ben  fRu^m 
feines  SRamenS  in  ber  gebilbeten  ©efeHfcfjaft  gang  ©urepaS  oer» 
breitet  ^atte.  SnSbefonbere  in  2)eutjdjlanb  würbe  ber  Verfaffer 
bet  fReuen  ^>eIoife,  beS  ©ociaten  GontractS  unb  beö  ©mit  nicht 
nur  oon  SRannern  unb  3ünglingen,  fonbern  auch  oon  Stauen 
unb  Jungfrauen  fchwärmerifch  oerehrt.  Äein  SBunber  alfo,  bafj 
biefe  ©chriften  auch  in  bie  {Räume  ber  fDtilitärafabemie  brangen, 
unb  bafe  feurige  Äepfe,  wie  ©filier,  lebhaft  oon  ihnen  ergriffen 
teutben.  Von  welchem  3ahre  baS  Vefairatwerben  ©c^iHetS  mit 
Diouffeaufchen  SBerfen  batirt,  ift  nicht  genau  gu  ermitteln.  Broar 
flammt  baS  erfte  birecte  3eugnifj  bafür,  baS  ©ebicht  ber  2n* 
thelogie  „SRouffeau",  früheftenS  auS  bem  3ahre  1780.  SBaht» 
jheintich  war  aber  biefe  Vefanntfchaft  fchon  gemacht,  als  bie 
erften  3been  gu  ben  Stäubern  in  feinem  ©eifte  fich  geftalteten. 

XL  >56.  1*  (633) 


uiqmzea 


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4 


2tuch  gebt  auS  ben  3euflniffen  feiner  gehret  unb  SRitjcbüler 
nom  3abre  1773  ^etDor,  ba§  et  bamalS  fdjon  beS  grangöjtfcben 
fytnteidjenb  mächtig  war,  um  frangöfifche  Büchet  mit  geicbtigfeit 
gu  tefen.  3«  einem  Briefe,  ben  er  im  Februar  1775  an  feinen 
3ugenbfreunb  59lofer  fdjreibt,  beijjt  eS:  „Gmporenb  fommt  eS 
mit  »or,  wenn  ich  einer  Strafe  entgegen  geben  fuß,  wo  mein 
inneres  Bewujjtfein  für  bie  JHet^tlic^feit  meiner  |>anblungen 
fpricht.  Sie  geetüre  beS  Boltaire  bat  mir  geftern  noch  febt  Bieten 
Berbtujj  gemacht."  Schwerlich  fann  mit  biefeni  Berbtufc  etwas 
anbereS  gemeint  fein  als  bie  Strafe,  welche  ben  auf  bem  tiefen 
Berbotener  Schriften  BoltaireS  ertasten  ÄarlSfchüler  ereilte.  GS 
ift  angunebmen,  ba§  ein  gleiches  Berbot  fich  auf  bie  Schriften 
fRouffeauS  erftreefte;  um  fo  jüftet  inbeS  wirb  bie  Berbotene  grudjt 
gefchmecft  haben. 

Befanntlicb  befafj  ber  jugenbliche  Schiüet  eine  febr  erreg* 
bare,  für  frembe  Ginbrücfe  leicht  empfängliche  5Ratur,  mdbtenb 
ihm  jene  fichere  bichterifche  Sntuition  mangelte,  burch  bie  ©oetbe 
Bon  Bornberein  auf  ben  richtigen  2Beg  gu  feinem  großen  gebenS* 
giele  geführt  würbe.  Grft  bureb  manniebfaebe  .Rümpfe  unb 
Strungen  muffte  er  über  fich  felbft  flar  werben  unb  gu  bem  fich 
emporarbeiten,  wogu  fein  ©eniuS  ihn  berufen  batte.  Sagu 
fommt,  bafi  ber  auS  bem  elterlichen  .paufe  frübgeitig  auf  fremben 
Soben  Berpflangte  Änabe  in  ber  Slnftalt  gwat  einige  gleichgeftnnte 
üfameraben  fanb,  baff  aber  feine  wahrhaft  imponirenbe  ?)erfönlich* 
feit  ihm  näher  trat,  ber  er  fi<b  batte  freiwillig  anfcbliefjen  unb 
unterorbnen  fönnen.  Bis  gu  bem  Slugeublicfe,  wo  et  ben  greunb* 
fcbaftSbunb  mit  Römer  fcblofj,  war  er  wefentlid}  auf  fich  felbft 
unb  feine  Bücher  angewiefen.  Sllleo,  was  fein  etiergifcher  ©ei|t 
auS  ben  Büchern  beiauSlaS,  mufjte  beßbalb  mit  boppelter  SOiacht 
auf  feine  gange  Gntwicfelung  gurüefwirfen.  So  gewann  er,  um 
nur  GinigeS  angnbeuten,  an  Rlopftocf  einen  Jpalt  für  feine 
religiöje  Begeifterung  unb  feinen  paitg  gurn  Grbabeuen;  jo 
füllte  er  fich  ferner  Curd)  Sbafefpeare,  ©oetbeS  ©oetj  unb 

(631) 


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5 


©erftenbergS  llgolino  3«  groffartigen  bramatifcben  ©ntwürfen 
angeftadjelt;  fc  befriebigte  er  cor  allem  burd)  eifriges  üefen  be§ 
fpiutardj  ben  ©rang  feiner  ©inbilbungSfraft  nach  Saaten  unb 
antifer  .pelbengtäfje.  33on  allen  biefen  ©inbtütfen,  fo  bebeutfam 
fie  aud)  waren,  wanbte  fid)  ein  feber  an  eine  befcnbere  ©eite 
feines  SefenS.  fRouffeau  trifft  ben  wärmften  ^ulSfdjlag  feines 
ganjen  3ugenbleben§.  3n  ifjrn  finbet  er  nur  baSjenige  auS* 
geführt  un6  in  berebte  SBorte  gefleibet,  waS  er  im  ©runbe  beS 
eigenen  ^er^enS  empfinbet.  3nbem  er  fRouffeau  lieft,  finbet  er 
gleidffam  ftdj  felbft. 

hierin  liegt  jugleidf  bie  ©rofse  wie  bie  ©ren^e  biefeS  ©in* 
fluffeS.  IRouffeau  war  für  il)n  Weber  ber  $oet,  beffen  ©idftungen 
er  ftdj  mit  SBorliebe  l)ätte  jum  SRufter  nehmen  fonnen;  bagu 
wiberftrebte  fein  todjfliegenber  ©eift  gu  feljr  ber  con  fRouffeau 
erwählten  ibpHifdfen  ©idjtungSart.  ?lnbererfeitS  bot  er  il)m  audf 
fein  jufammen^angenbeS  Scftem  ber  ^bilofopfyie,  beffen  ©äfce 
auf  bie  f$ülle  feiner  jweifelnben  trugen  beftiebigenbe  Entwert 
geben  fonnten.  „3d>  ^abe  immer  nur  baS  auß  pbilofoptifd)en 
©ibriften  genommen,  fdjreibt  er  felbft  im  fSprif  1788,  waS  ftd^ 
bitbteriid)  füllen  unb  beljanbeln  läfjt".  ©iefer  ©efidjtSpunft  ift 
cor  allem  auf  baß,  waS  er  con  fRouffeau  fid)  angeeignet  tat, 
an3uwenben.  ÜRit  ber  ganzen  Söärme  feines  jugenblidben  ^er^enS 
cermotfite  er  bie  2ieblingSibeen  beffelben  ju  erfaffen  unb  in  fidj 
weiter  ju  geftalten,  weil  fie  ber  Stimmung,  auß  weidet  feine 
bidbterifd)e  2?egeifterung  entquoll,  wefentlid)  entfprad)en.  ©ine 
folcbe  9lrt  ber  JRecepticität  fdjliefet  natürlich  bie  bewufjte  SuS* 
Übung  einer  Äritif,  fowie  ein  ©tubiren  im  eigentlidjen  ©inne 
beS  3BorteS  auS.  2Bie  wäre  eS  fonft  moglidj,  baf;  bie  im  3al)re 
1784  gefdmebene  Slbljanblung  über  bie  ©cbaubüljne  als  eine 
moralifdte  Slnftalt  ben  tarnen  SRouffeauS  nid)t  einmal  erwähnt, 
obwohl  il>r  3nl)alt  in  gerabem  ©egenfalje  ju  bem  berühmten 
S3riefe  an  b'üllembert  ftet>t?  ?n  berfelben  Jlbfyanblung  wirb 
ber  SRetljebe  ber  i'f)ilantt)tepinen,  bie  bod)  con  93afebcw  im  ©eifte 

(635) 


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6 


beS  ©mil  gegrünbet  waren,  mit  l)öd?fter  ©eringfchcihung  gebaut. 
Ueberatl  ba,  wo  Schiller  reflectirt,  fehen  mit  ihn  eignen  Sahnen 
folgen,  bie  oft  weit  genug  oon  benen  SiouffeauS  abweichen.  5Bo 
er  bagegen  bidjterifd}  fdjaffenb  unS  entgegen  tritt,  um  in  ben 
@rgüffen  feiner  Jpelben  bie  tiefften  Regungen  feines  eigenen 
$ergen8  gu  offenbaren,  ba  taffen  fidj  ohne  SERü^e  unb  beutlidj 
genug  Anflänge  an  SRouffeau  eernehmen. 

S5a8  erfte  unb  berebtefte  BeugniS,  welches  ©Ritter  unS  oon 
feiner  ffierefyrung  für  Siouffeau  binterlaffen  ijat , ift  bie  an  baS 
@rab  beffetben  gerichtete  Dbe  ber  Anthologie.  Sie  einfame 
©rabftätte  auf  ber  ^appelinfel  beS  ^arfeS  oou  (Srmenonoille 
war  in  jenen  Beiten  ein  beliebtes  Sterna  für  beflamatcrifche  unb 
bid>terifd^e  SBerherrlichung.  „3n  ben  afabemifchen  Sieben,  ergäbtt 
SRifarb,1)  war  eS  Sitte,  baS  länblidje  SDRonument,  welches  man 
SRouffeau  unter  ben  Augen  ber  SRatur  errichtet  ^atte,  weit  über 
jene  ftolgeu  SJtaufoleen  gu  erheben,  in  benen  bie  Ueberrefte  ber 
^enfcher  beftattet  liegen."  Äaum  aber  hat  bie  $>bantafie  eines 
frangöfijchen  SeflamatorS  ÄühnereS  leiften  tonnen  als  bie 
jugenblidje  fDRuje  unfereS  Schiller.  Äeine  garbe  ift  ihm  glangenb 
genug  für  bie  Sugenbgrefje  feines  gelben,  feine  gu  fchwarg,  um 
bie  Sßermorfenheit  ber  ©egner  beffelben  gu  branbmarfen.  Un» 
faßbar  büntt  eS  feinem  beutfchen  ©emüthe,  bafc  ein  fDiann  wie 
SRouffeau  als  graugofe  geboren  werben  tonnte.  „$a,  fd^on  ich’ 
ich  unfre  (Snfel  ftaunen,  wenn  beim  Älang  betebenber  ^ofaunen, 
aus  grangofengräbetn  SRouffeau  fteigt."  3n  feiner  23ergücfung 
oergifjt  hier  ber  Sichter,  baf;  SRouffeau  felbft  nichts  weniger  als 
grangofe  fein  wollte,  fonbern  biefen  gegenüber  fich  ftetS  mit 
Stolg  ben  Bürger  oon  ©enf  nannte.  SRoch  mel)r  gu  oerwunbern 
ift  eS  aber  jebenfaUS,  baf?  am  Schluß  ber  Obe  eS  oem  SJetfaffet 
ber  Sefenntniffe  heifjt:  „©eh  bu  heim  gu  beinen  Stübern — 
©ngeln,  benen  bu  entlaufen  bift."  Offenbar  hat  ftd>  im  ©eifte 
beS  bidjtenben  SünglingS  ber  SSeife  oon  ©enf  gu  bem  oerflärten 
?>ringip  ber  Freiheit  umgeftaltet,  nach  welcher  er  felbft  um  fo 

(G3*5) 


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7 


feuriger  fidj  feljnt,  je  mefjr  er  unter  bem  S)tu(fe  feiner  23er« 
Ijältniffe  gu  leiben  Ijat.  2>ie  alles  überfdjreitenbe  Söegeifterung 
für  feinen  gelben  lä&t  fid>  nur  bann  richtig  verfielen,  wenn 
wir  in  bem  verfolgten  Slouffeau  ein  Sbbilb  beS  von  unwürbigen 
geffeln  bebrüdften  2)id)ter§  bet  Stäuber  erfennen.  SDaS  ©ebidjt 
tft  eben  nidjt  nur  ein  ,£)»mnu8  auf  3ean*3acque8,  eS  ift  gugleidj 
eine  jugenblid)  ftbermüfljige  JftiegSerflärung  gegen  alles,  waS  ftd^ 
bet  in  Stcuffeau  »erforderten  3bee  unbegrengter  Sreiljeit  entgegen* 
fefjt;  ein  SuSbrucf  beS  $affe8  unb  ber  23eradjtung  gegen  „biefeS 
8ebenS  3aljrmarft8bubelei,"  unter  welker  bie  matjnenbe  Stimme 
ber  großen  ©eifter  ungeljört  »erhallt. 

SIS  Spider  im  3a1jre  1800  eine  SuSgabe  feiner  ©ebidjte 
»eranftaltete,  übte  er,  wie  an  ben  metften  Stüden  ber  Sntfjologie, 
fo  aud)  an  unferm  ©ebidjte  ftrengeS  ©eridjt.  23on  ben  »ietgefjn 
Stroben,  bie  eS  urfprünglidj  befafj,  lief)  er  aufier  ber  GtingangS* 
ftroplje  nur  nod>  bie  fiebente  befteljen,  unftreitig  bie  befte  beS 
gangen  ©ebiditeS.  Sie  enbigt  mit  bem  berühmten  SuSfprudje: 
„Stouffeau  fällt  burdj  ©Triften  — Stouffeau,  bet  auS  ©Triften 
Sötenfdjen  wirbt."  SDtit  biefen  Sorten  befennt  jtdj  ber  ©idjter 
unumwunben  gu  ben  teligiöfen  Snfdjauungen  StouffeauS. 
Säljrenb  iljm  in  feiner  Äinbtjeit  aufrichtige  Srommigfeit  nidjt 
fremb  geblieben  war,  batte  er  mit  bem  erwadjenben  Selbftbewufjt* 
fein  balb  alle  Beffeln  firdjlidjer  Sutorität  ftolg  »on  ftd)  ab* 
gefdjüttelt.  SaS  fonnte  bem  Süngling  in  biefet  Sage  willfommener 
fein,  als  jener  SDeiSmuS  ber  natürlidjen  Steligion,  burdj  welken 
Stouffeau  (Jljriftentljum  unb  ÜJtenfdjentfjum  mit  einanber  gu  »er* 
föhnen  fudjt  unb  auf  ©runb  beffeu  er  balb  gegen  bie  Snmafjung 
beS  ortljobojren  ÄirdjenglaubenS,  balb  gegen  ben  frivolen  Spott 
ber  Streiften  unb  SRaterialiften  gu  Selbe  gieljt?  Äüljtt  wie 
Stouffeau  geht  er  über  bie  Siberfprüdje,  welche  eine  foldje  Suf* 
faffung  notljwenbig  mit  ftd)  bringt,  tjinweg.  tDtan  fennt  bie 
23egeifterung,  mit  weldjet  ber  mit  bem  DffenbaruugSglauben 
gerfallene  faoopifdje  23ifar  gu  wieberfjotten  9Men  gerabe  »on 

(637) 


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8 


bet  SDtajeftät  bet  ^eiligen  (Schrift  unb  bet  .^eiligfeit  beS  ©tan* 
geliitmS  fptidjt.  ©ine  ähnliche  Vereinigung  ton  ©egenjäfcen 
^abeit  wir  tot  un$,  wenn  toit  in  bet  Vorrebe  gu  ben  Stäubern, 
einem  ©tücfe,  in  welchem  man  fdjwetlich  eine  Sinologie  bet 
Steligion  oermuthet,  folgenbe  ©äj?e  lefen:  „Sluch  ift  jefct  ber 

gro§e  ©efdjmacf,  jeinen  ©ifc  auf  Äoften  bet  Religion  fpielen 
gu  lafjen,  bafc  man  beinahe  für  fein  ©enie  mehr  paffirt,  »enn 
man  nicht  feinen  gottlojen  ©atpr  auf  ihren  fyeüigften  ©ab r* 
beiten  fi<b  Ijerumtummeln  läfjt.  ©ie  eble  ©infalt  ber  Schrift 
mu§  fi(b  in  alltäglichen  9lffembleen  Don  ben  fogenannten  wijjigen 
Äöpfen  mifchanbeln  unb  in’S  gädjerliche  Dergerren  laffen;  benn 
was  ift  fo  b^ig  unb  ernftbaft,  ba§,  wenn  man  e8  falfcb  Der» 
btebt,  nicht  belacht  werbeu  fann?  — 3<h  tonn  hoffen,  baf?  i<h 
bet  Steligion  unb  ber  wahren  9)1  oral  feine  gemeine  Stäche  Der» 
fchafft  ^abe,  wenn  ich  biefe  mutwilligen  Schriftterächter  in  ber 
9>erfon  meiner  fchänblichften  Stäuber  bem  SHbfcheu  ber  ©eit 
überliefere." 

©he  wir  gu  ben  Stäubern  jelbft  mtS  wenben,  ift  e8  unfere 
Pflicht,  gwei  Sleufjerungen  Schillers  gu  erwähnen,  aus  welchen 
ebenfalls  feine  Vegeifterung  für  Stouffeau  ungweibeutig  heroor» 
gebt.  3n  ber  im  ©ürtembergifchen  Stepertorimn  erfchienenen 
Selbftfritif  ber  Stäuber  auS  bem  3abte  1782  beifct  e8:  „Suerft 
Don  bet  ©abl  ber  §abel.  Stouffeau  rühmte  e8  an  bem  'Jllutard), 
bafj  er  erhabene  Verbrecher  gum  Vorwurf  feiner  Sd)ilberungeu 
wählte,  ©enigftenö  bünft  e8  mich,  feiere  bebürfen  nothwenbig 
einer  ebenfo  großen  SDoftö  Don  ©eifteSfraft  alö  bie  erhabenen 
Smgenbhaften,  unb  bie  ©mpftnbung  beS  SbfcheuS  oertrage  ftth 
nicht  feiten  mit  Shttbeil  unb  Vewunbetung. " Vcrfehrt  wäre  eS, 
auS  biefen  ©orten  fdjliefcen  gu  wollen,  bafj  «Schiller  burch 
Stouffeau  auf  bie  3bee  ber  Stäuber  geführt  worben  fei.  ©ie 
äufcete  Anregung  bot  ihm  befanntlich  eine  in  £aug8  fehwäbijehem 
SJtagagin  Deroffeutlidjte  ©rgählung  ton  gwei  feinblidjen  Vrübern, 

unb  in  biefe  gorm  gofj  er  ben  gangen  Snhalt  feines  jugenblich 

(«»> 


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9 


gliibenben  <£>ergenS.  ©aö  aber  betratet  jene  llleujjerung,  baf$  er 
ftdi  mit  Vorliebe  auf  jRouffean  beruft,  um  bem  $>ublifum 
gegenüber  bie  feltfame  Sabl  feineö  Stoffes  gu  entfcbulbigen  unb 
um  ficb  felbft  auf  bem  fübn  betretenen  Sege  fixerer  gu  fügten. 

So  aber  ijat  {Rouffeau  jene  Steuerung  getljan?  Dbroobl 
er  in  feinen  Serfen  oielfad)  auf  jpiutard)  unb  bie  gelben  beffelben 
gu  fprecben  fommt,  finb  jebod)  an  feinet  biefer  Steden  biefe 
Sorte  gu  ftnben.  ©lücflicberweife  ^at  Spider  felbft  in  einet 
Slnmerfung  bie  Duelle  feineS  (SitateS  angegeben;  eö  ift  ein  Stuf* 
fn£  ron  £elfrid?  fPeter  Sturg:  ©enfwürfigfeiten  3.  3. 

IRouffeauS. 2)  ©er  Snljalt  biefcS  HluffafceS,  weither  bei  aller 
S3erebrung  IRouffeauS  bod)  aud)  fd)on  Anfänge  unbefangener 
Jfritif  enthält,  ftüfct  fidj  auf  bie  ?lufgeid)nungen  ber  Sdjweigerin 
Sulie  oen  33onbeli!’)  unb  bie  münbfjcben  33erid)te  mehrerer 
8reunbe  unb  Scannten  be§  ^tjilcfc^ljen.  l)ei§t  bafelbft  auf 
Seite  28:  „Senn  fRouffeau  oon  ber  @efcbid)tc  fpraef»,  fo  bat 

er  oft  wieberbolt,  bafj  nur  bie  ©efdjidite  ber  föreiftaateu  ergäbt 
gu  werben  oerbiene;  benn  — eö  folgen  je£t  bie  Sorte,  wie  fie 
IRouffeau  felbft  gefügt  haben  feil  — „in  einer  fSRonardjie  bängt 
immer  eiue  IReibe  großer  Segebenbeiten  an  einer  Heibenfdjaft 
ober  gufädigen  fRidjtung  beö  unbeftimmten  (SbarafterS  be8 
dürften,  ©ie  @efd;id)te  oon  gtaufreid;  liefert  unö  nur  Äarl  V., 
8 rang  I.  unb  j£>einrid>  IV.  oon  eigentbnmli^em  @eift.  HouiS  XIV 
oerbient  bie  Sßergötterung  feiner  Schmeichler  nicht;  aber  er  war 
ein  .Renner  großer  Heute.  ^Mutard?  bat  barum  fo  berTI*<b* 
33iogra:pbien  gefdjrieben,  weil  er  feine  balbgrofjen  SRenfcben 
wählte,  wie  eS  in  ruhigen  Staaten  ©aufenbe  gibt,  fonbern  grofje 
©ugenbbafte  unb  erhabene  SBerbrecber.  3«  ber  neuen  ©efdjicbte 
gab  cS  einen  5Rann,  bet  feinen  sJ'infel  oerbient,  unb  baS  ift  ber 
®raf  oon  8ieSque,  ber  eigentlich  bagn  ergogen  würbe,  um  fein 
SBaterlanb  oon  ber  ^errfebaft  ber  ©oria  gu  befreien.  9Ran  geigte 
ihm  immer  ben  ^ringen  auf  bem  ©brone  oon  @enua;  in  feiner 
Seele  war  fein  anberer  @ebanfe,  als  ben  llfurpar  gu  ftürgen." 

(639) 


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10 


Diefe  etwas  bunt  burcheinanber  gewürfelten  Sä^e,  beren 
3nhatt  in  ber  $ljat  ganj  an  Rouffeaug  DenfungSart  erinnert, 
müfjen  auf  ©Rillet  eine  befonbete  Slnjie^ungefraft  gehabt  haben. 
Denn  nidjt  nur  fanb  et  in  ihnen  eine  Rechtfertigung  feiner 
Räuber,  fonbern  fie  wiefen  ihn  gugteicfj  auf  ben  gelben  feines 
jweiten  bramatifdjen  SBerfeS  hin.  SBenn  ein  Rouffeau  ben 
gieöfo  beS  $)infel8  eines  ^Mutardj  für  würbig  hielt,  wie  fonnte 
ein  ©egenftanb  bem  nad)  großen  republifanifdjen  Entwürfen 
fudjenben  Dichter  warntet  empfohlen  fein!  Sluch  hat  Schiller 
felbft  unS  ein  Beugnifj  für  ben  Einfluh  RouffeauS  auf  bie 
SBahl  feines  §ieSfo  gegeben.  3n  ber  Erinnerung  an  ba8 
$)ublifum,  bie  ant  18.  3anuar  1784  »or  ber  erften  Sfafführung 
beS  StücfeS  in  Rtannheim  öffentlich  angefchlagen  würbe,  ruft  er 
auS:  „gieSfo,  oon  benj  ich  »crläufig  nichts  (Empfehlen bereS  3U 

fagen  weih,  als  bah  ihn  3-  3-  Rouffeau  am  ^erjen  trug." 

„ 9tlleS  ift  gut,  wie  eS  auS  ben  ^>5nben  beS  Urhebers  ber  Dinge 
hernorgeht  — StUeS  entartet  unter  ben  $änben  beS  Rtenfchen", 
baS  finb  bie  bciben  in  fid?  »unerträglichen  Säfte,  auf  beneu 
Rouffeau  feine  welterfchütternben  Sehren  gegrünbet  hat. 
beS  »cm  Schöpfet  eingepflan3ten  guten  JleimeS  foll  fid)  ber 
Rienfch  in  ber  »erfehrteften  unb  unnatürlichften  SBeife  entwicfelt 
haben;  unb  3war  gerabc  »ermöge  ber  ebelften  unter  allen  ihm  »er» 
liehenen  ©abeu,  berDenffraft,  benu  ber SJienfd), welcher benft, ift  „ein 
entartetes  SBefeu.“  Statt  nun  3U  geigen,  wie  überhaupt  fid)  ber 
fRenfch  hätte  anberS  entwicfeln  fönnen,  betont  Rouffeau  atleiu 
bie  negatioe  Seite  ber  Sache,  ben  troftlofen  Buftanb  ber  Unnatur, 
welcher  burd)  bie  Siüilifation  horoorgerufen  ift,  unb  beu  er  mit 
ben  SSorten  fenngeidjnet:  ber  fRenfd)  ber  bürgerlichen  ©efellfchftft 
(l’bomme  civil)  wirb  in  Äned)tfdjaft  geboren,  unb  lebt  unb 
ftirbt  in  Äncchtfchaft."  Die  beften  focialen  Einrichtungen,  fagt 
et  mit  bitterer  3ronie,  finb  bie,  welche  bie  Ratur  beS  SRenfchen 
am  meiften  untergraben.  ES  gilt  alfo,  entfehieben  mit  ber  Äuttur 

(6tO) 


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11 


ju  brechen  unb  fi<b  ganj  ber  Slatur  in  bie  Arme  3U  werfen, 
hinaug^ueilen  au8  ber  »erpefteten  guft  beS  achtzehnten  3atyrt)unbert8 
in  bie  jungfräulichen  SSälber,  bie  noch  nicht  burd)  ben  ©djweib 
beS  gefnedhteten  Tagelöhners  in  ladhenbe  Bluten  oerwanbelt  finb, 
unb  in  benen  allein  bie  Brei^eit  nod)  eine  «Stätte  fich  bewahrt  hat. 

Diefem  locfenben  3utufe  folgt  bie  ^Ijantafte  unfereS  jugenb* 
licken  Dichters;  fein  |>elb,  Äarl  SJloor,  fdnittelt  ben  ©taub  ber 
©täbte  unb  Unioerfitäten  »on  feinen  Bübeu  unb  eilt  mit  feinen 
©efeflen  in  bie  §reü>eit  »erheibenben  böl)mifcben  SBälber.  Dort 
fdhlagen  fie  ihr  9laä)tquartiet  auf  unb  führen  ein  freies  geben, 
freilich  auf  fonberbare  SBeife,  inbem  fte  aller  menfdhlichen  Drbnung, 
inSbefonbere  bem  ©igenthum,  ben  Ätieg  bi§  an’S  ülleffet  erflären. 
(Sine  foldje  göfung  beS  Problems  würbe  in  bet  Thfll  wenig  nach 
SlouffeauS  ©efchmacf  gewefen  fein,  ber  perfönlich  gegen  jebe 
revolutionäre  Auflehnung  eingenommen  war.  Unb  hoch  liegt  in 
bem  ©erfahren  $arl  ÜJloorS  eine  gogif,  bie  fid}  wohl  auf  ben 
@ajj  beö  focialen  ©ontractS  berufen  fann:  „baS  ©igenthum  ift 
nur  ein  Siecht  bet  Uebereinfunft;  Oiaub  unb  Diebftaljl  gibt  eS 
nur  beShalb,  weil  eä  ©igenthum  giebt."  AflerbingS  finben  wir 
in  bem  Drama  ftatt  beä  oom  ^btfofoptyeu  erträumten  ibpßifdhen 
SiaturjuftanbeS  nur  einen  Tummelplat}  bet  rolieften  Äräfte,  eineu 
©ehauplatj  ber  gemeiuften  ©erbrechen.  3nbeffen  ein  gewiffer 
3ufammenhang  läbt  ftd>  nicht  ableugnen;  h^  wie  borf  ftefit  fidf 
ein  gefefjlofer  Slaturfaat  bem  gefdhichtlid)  geworbenen  ©taat 
ber  ©efe^e  unb  ber  Äultur  gewaltfam  entgegen. 

Die  gro^e  Anzahl  biefer  fRäuber  fönnte  unS  nichts  als 
©erachtung  unb  Abfdheu  einflöben,  ftänbe  nicht  an  ihrer  ©pitje 
Äarl  5Jloor,  ber  ©rafenfohn,  ben  bie  fchnebefte  Ungerechtigfeit 
auS  ber  menfchlichen  ©efeßfchaft  verftoben  hat;  ein  3beal  menich* 
lieber  Siaturfraft,  oerfdhwenberifch  auSgeftattet  mit  aßen  ©aben 
beS  ÄorperS  unb  ©eifteS.  „3wei  SJlenfchen  wie  ich,  fagt  er  von 
ftch  felbft,  würben  h'uteichen,  ben  gangen  Sau  ber  fütlidJeit 
SBelt  ju  vernichten."  SBaS  treibt  ihn  aber  ?u  biefem  Verhängnis* 

<«*D 


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12 


»ollen  .ftampf  gegen  bie  fittlicbe  SBelt?  ©8  ift  bie  Uebergeugung, 
bnfj,  um  mit  Steuffeau  gu  fprechen,  ber  9Jtenf<b  frei  geboren  fei, 
unb  bod)  tbatfätblicb  fitf?  überall  in  Ueffeln  befinbe.  9ütd) 
febeiut  nur  baS  wahrhaft  fittlid),  waS  natürlidj  ift,  bie  Statut 
beS  SRenfcben  beruht  aber  in  ber  Freiheit.  Stuf  biefe  »ererbten, 
baS  helfet  auf  feine  ©igenfdjaft  als  ÜJtenfd)  »ergiebten.  5>afe  biefe 
Stouffeaufcben  ©ebanfen  in  bet  Stuft  unfereS  SiäuberbauptmannS 
leben,  geigt  ficb  unS,  wenn  er  auSruft:  ,,3d)  foU  meinen  8etb 
preffen  in  bic  Sdjnürbruft,  unb  meinen  2BiHen  fd)nüren  in  bie 
©efefee.  2>a0  ©efefe  bat  gurn  Scbnecfengange  »erborben,  waS 
Slblerflug  geworben  wäre.  £)aS  ©efefe  feat  n»<b  feinen  großen 
SJtann  gebilbet,  ober  bie  Freiheit  brütet  Äoloffe  unb  ©rtremitäten 
auS.  — SRein  ©eift  bürftet  nad)  2baten,  mein  ?ltbem  na<fe 
Freiheit!"  ?n  biefem  glübenben  Streben  nadj  fdjranfenlofer 
Freiheit,  in  biefem  üluflebnen  gegen  bie  beftebenben  ©efefee  liegt 
ber  ©runbton  ber  Stäuber,  welchen  ber  3>i<bter  felbft  burd)  bie 
göwenoignette  mit  bem  fötotto  „in  tyrannos“  ungweibeutig  au8* 
gefpreeben  bat,  unb  bet  feinen  biftorifdien  Stadjflang  fanb,  als 
ber  Stationalconüent  bem  5)id)ter  ber  Stäuber  baS  Sürgerredjt 
ber  frangöfifefeen  Stepublif  »erlieb. 

©ine  foltfee  9luflebnung  gegen  bie  Safeungeit  ber  menfcfelicfeen 
©efellf^aft  ift  unbenfbat  obne  bie  grünblidjfte  Serad)tung  ihres 
gangen  2bun8  unb  Treibens.  Unb  gwar  gebt  bei  Stouffeau  biefe 
©eringf<büfeung  feiner  3«*  £anb  in  £anb  mit  einer  fefewärmerifthen 
Serebrung  für  baS  ^elleinfe^e  unb  tömifdie  Slltertbum,  wie  et  eS 
fid)  »on  feinen  Änabenjabren  an  burd)  eifriges  £efen  beS  ^lutard) 
in  feiner  ^J^antafte  geftaltet  tyat.  3w  gwölften  Sriefe  ber  .peloife 
empfiehlt  er  neben  bem  Stubinm  ber  alten  ©ejefeidbte  nur  noch 
bie  @eSd)icbte  ber  Schweig,  weil  biefelbe  ein  freies  nnb  einfatfeeS 
8anb  fei,  „wo  man  antife  SJtünner  in  mobernen  3«ten  finbet." 
Sind)  fdjeint  ihm  bie  alte  @eid)icbte  beShalb  ber  neueren  fo  un* 
enblich  »orgugiehen  „weil  man  ebebem  gtofee  IDinge  mit  fleinen 
SRitteln  ausführte,  währenb  man  hcut3ufa3e  getabe  baS  ©egen* 

(€43) 


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tpeil  tput."  — Äein  3»3  in  bet  pinreißenben  Serebfamfeit 
fRouffeauö  pat  »opl  fpmpatpifdpet  ben  bitptcnben  Äarlöfcpület 
ergriffen,  al8  biefe  »ergötternbe  Sewunberung  beö  Slltettpumö, 
»erbunben  mit  bem  greife  beö  ißlutarcp  unb  feinet  gelben.  Slucp 
et  patte  im  liefen  bet  Siograppieu  beö  $)lutar<p,  in  beten  Seftf} 
er  fiep  3U  fefeen  gewußt  tjatte,  bie  feligften  ©tunten  genoffen,  in* 
bem  et  übet  bie  .fterrlicpfeit  unb  ©röße  bet  alten  Seit  ben 
Sammer  unb  bie  ÄleinlitpEeit  feinet  eignen  Sier^ältniffe  »ergaß. 
5äud>  fcßrobt  er  nocp  im  Sapre  1788  an  eine  greunbin:  „66  ift 
bra»,  baß  ©ie  bem  fpiutard)  getreu  bleiben;  baö  pebt  unS  übet 
biefe  platte  ©enetaticn  unb  matpt  unö  gu  3eitgenoffen  einet 
befjeren,  traftooDeren  ÜRenfcppeit.“  ©o  ift  eö  benn  ©t^iüer 
felbft,  beffen  ©timme  mir  in  bem  Sluöruf  oernepmen,  mit  welchem 
fein  $elb  auf  bet  Süpne  fiep  einfüprt:  „9Rit  efelt  not  biefem 
tintenEleeffenben  ©äculutn,  wenn  icp  in  meinem  'Plutarcb  lefe 
»on  großen  fIRenfepen."  Gin  äuöruf,  melden  et  halb  barauf  in 
ein  „fPfui"  auöflingen  läßt  „über  bieö  fcplappe  Gaftratenjapr* 
ßunbert."  ©erbet  tonnten  in  bet  ©pat  bie  gehren  fRouffeauö 
»on  bet  SerbetbliepEeit  bet  Gioilifation  nießt  aufgefaßt  »erben. 

Sie  mastig  bie  mit  fRouffeau  getpeilte  Sotliebe  für  bie 
gelben  bet  antifen  Seit  auf  bie  $)pantafie  beö  ©icßterö  einwirEt, 
geigt  fiep  aueß  an  anbern  ©teilen  ber  fRäubet.  £arl  ÜRoot  et» 
Eennt  baö  Siefentßal  wiebet  „wo  et  alö  Jpelb  Slejranber  feine 
ÜRacebonier  in’ö  ©reffen  führte,  unb  ben  grafigten  Jpügel,  an 
welchem  et  ben  perfifeßen  ©atrapeu  niebetwatf."  Senn  et  beö 
fRadjtö  bie  Üaute  ergreift,  um  fein  geängfteteö  ©ewiffen  gu  be* 
ruhigen,  fo  befingt  er  bie  Segegnung  beö  Srutuö  mit  Gäfai  in 
bet  Unterwelt.  Gö  ttöftet  ißn,  ließ  felbft  im  Silbe  bee  Srutuö 
gu  befpiegelu:  „Srutuö  ift  bet  größte  fRömet  worben,  ba  in 
Satetö  Stuft  fein  Gifen  brang."  Gr  füljlt,  wie  gern  aud)  et 
ein  Srutuö  geworben  wäre,  unb  muß  fid)  mit  Gntfeßen  gefteßeu, 
baß  et,  wie  eö  in  ber  Sorrcbe  ßeißt,  in  bet  ©pat  nur  ein 
Gatiliua  geworben  ift.  Öludi  Ülmalia  weiß  iptcr  .Klage  um  ben 


14 


Derlorenen  ©eliebten  feinen  rührenberen  2lu8brncf  gu  geben,  al§ 
inbem  jte  fidj  in  bie  Seele  bet  änbromache  hineinphantaftrt  unb 
ben  äbfdjieb  .£>eftor8  befingt.  ÄofinSfp  enblich,  bet  al8  ein 
gwetter  Sltoor  fidj  berufen  fühlt,  bie  Ungerechtigfeiten  bet  bürger- 
lichen Seit  gu  rächen,  fteht  nicht  an,  ben  bewunberten  Stäuber- 
hauptmann mit  bem  Stemer  SJtariuS  gu  Dergleichen;  fdjon  längft 
hat  et  fi<h  gewünfdjt,  „ben  SJtann  mit  bem  nernichtenben  ©liefe 
gu  fehen,  wie  er  fafj  auf  ben  Ruinen  non  Äarthago."4) 

©in  foldjeS  ^)ineinDerfe^en  in  eine  entfehwunbene  Seit 
termag  aber  bem,  Der  mit  feinet  eigenen  3«it  gerfaflen  ift,  boch 
nur  geringe  ©ntfehäbigung  gu  bieten.  Stroft  finbet  er  allein  in 
unb  mit  ber  Statur;  fie  ift  ihm  bet  3nbegriff  aller  ©oüfommen- 
heiten  unb  bietet  in  reicher  gülle  ihm  ba8,  wa8  er  bei  ben 
SJtenfchen  fo  fchmerglich  Dermifjt.  „$>a8  ©ilb  ber  Statur,  fagt 
ber  faoopifche  ©ifar,  bot  mir  nur  Harmonie  unb  ©benmafj,  ba8 
beö  SJtenfchengefcfjlechtS  bietet  mir  nichts  als  ©etwirrung  unb 
Unotbnung.  ©inflang  herrfd?b  unter  ben  ©lementen,  unb  bie 
SJtenfchen  finb  im  ©hao8.“  ©örtlich  faft  ftimmt  bamit  bet  äu8- 
ruf  Äatl  ÜJtoerS  überein:  „68  ift  hoch  eine  fo  göttliche 

Harmonie  in  ber  feelenlofen  Statut,  warum  foHte  biefet  SJtifcflang 
in  ber  oernünftigen  fein?"  Such  hat  ber  ^Dichter  bem  Stäuber- 
hauptmann trof}  feines  blutigen  ^janbtnetleS  eine  für  feniimentale 
Schwärmerei  unb  Stouffeaufdje  Staturanbacht  fo  empfängliche 
Seele  gegeben,  bah  wir  oft  mehr  geneigt  finb,  an  ben  träumetifdjen 
Süngling  als  an  ben  oerwegenen  Jpelben  gu  glauben.  IDie  äugen 
&arl8  füllen  fid)  mit  Spänen  beim  änblicf  ber  finfenben 
Sonne,  unb  gerührt  ruft  er  au8:  „So  ftirbt  ein  $elb."  3» 
berfelben  Scene  finben  wir  weiterhin  bie  ergteifenben  Sorte 
„68  war  eine  3eit,  wo  fie  mir  fo  gerne  floffen  — o ihr  Sage  be8 
griebenS.  2>u  Schloß  meiner  ©äter,  ihr  grünen  fchwärmerifchen 
SL^äler!  Sraure  mit  mir  Statur!"  Unb  aI8  er  bem  näterlidhen 
Schlöffe  cerftohlen  fich  nähert,  ba  füfst  er  doH  Snbrunft  bie 
©aterlanbSerbe;  aHe8  bis  auf  bie  Sdjwalbennefter  im  SchlDhh°fe 

(644) 


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15 


feffelt  feine  ©liefe  unb  erweeft  in  feinem  ttouernben  ©emüthe 
bie  füfcen  ©rinnetungen  bet  Äinbheit.  ©et  wilbe  Sohn  bet 
IRatur,  bet  gegen  alle  menfdjlidjen  Safjungen  in  titanenhaftem 
Uebermuthe  fid)  auflehnt,  et  wirb  im  Ulnblicf  ber  fRatur  gu  einem 
liebenSwütbigen  Äinbe. 

3n  grellen  CSontraft  gu  biefem  Silbe  feines  gelben  ^at  bet 
©ichter  granj,  ben  Stüber  beffelben,  gefegt.  „91uS  bem  fRatur* 
fohne  wirb,  wenn  et  auSfchweift,  ein  {Rafenbet;  anS  bem  Böglinge 
ber  Äunft  ein  fRichtSwürbiger.“  SDiefe  auS  bem  fünften  Stiefe 
über  äfthetif<he  ©tgiehung  entnommenen  Sorte  paffen  oortrefflich 
auf  baS  feinbliche  Stüberpaar.  Stang  ÜRoor,  jene  SluSgeburt 
menfchlidjer  Serwotfenheit,  beweift  fielt  baburd)  als  Begling  bet 
Äunft,  ba§  et  bei  allen  feinen  Schanbthaten  ein  „homme  civil" 
gu  bleiben  »erfteht;  er  hütet  fidj  wohl,  mit  bet  bürgerlichen  ®e* 
fellfthaft  gu  gerfallen  unb  befolgt  beShalb  äußerlich  ihre  Dtbnungen 
unb  ©efefje,  um  insgeheim  fie  befto  abfcheulicber  gu  umgehen. 
Sie  ift  eS  aber  möglich,  fo  nrafj  man  fragen,  ba&  baS  feige 
Saftet  fo  lange  über  «Sitten  unb  ©efefee  triumphirt?  SaS  baS 
Stücf  felbft  unS  barüber  fagt,  ift  wenig  tröftlich.  3n  träger 
©leicbgültigfeit  läfct  bie  grofje  SRenge  alles  feinen  Seg  gehen, 
wie  eS  eben  geht,  Grft  bie  IRäuber  müffen  nach  bem  Schlöffe 
fommen,  um  bie  Sdjanbihaten  beS  unnatürlichen  Sohnes  gu 
entbeefen  unb  ben  Slhüter  gn  beftrafen.  So  entfpricht  ber  fociale 
Buftanb,  ben  unS  baS  Stücf  aubeutet,  in  ber  3hot  jenem  ©fei* 
begriffe,  ben  nach  einem  2tu8fprud)e  ©oetljeS  Sfiouffeau  unb 
©iberot  oon  ber  menfdjlithen  ©efeüfchaft  »erbreitet  hoben.  SDie 
©efejje  fcheinen  nur  ttorhonben,  um  oon  Schlauen  unb  SRächtigen 
gu  ihrem  Sortheil  unb  gum  fRadjtheil  beS  SolfS  gemijjbraucht 
gn  werben.  „Sohl  giebt  eS,  ruft  gtang  höhnifch  «uS,  gemein* 
fchaftlidje  fPacta,  bie  man  gefdjloffen  hoi,  bie  $)ulfe  beS  Seit* 
cirfelS  gu  treiben,  ©och  biefe  Snftalten  finb  nur  für  ben  9>öbel! 
©er  gnäbige  $err  giebt  feinem  fRappen  bie  Sporen  unb  galoppirt 
weich  über  ber  weilaub  Grate.  ©aS  5Red)t  wohnt  beim  lieber* 

(645) 


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16 


wattiger  unb  bie  ©cbraufen  unferer  Äraft  finb  untere  ©efefce." 
$aben  wir  ^ier  ntd^t  beufelben  ©runbfafc,  welchem  {Rouffeau  in 
{einem  focialen  Contract  folgenben  SuSbrucf  gegeben  ^at:  ,,©o* 
halb  man  ungeftraft  ungehorfam  {ein  fann,  fann  man  eS  auch 
mit  DDÜem  Siebte  (legitimement)  unb  ba  ja  ber  ©tariere 
immer  {Recht  ^at,  fo  fommt  eS  nur  barauf  an,  eS  {o  einguridjten, 
baf}  man  ber  ©tariere  fei."  91  ur  wenn  wir  eine  folche  ©efelljchaft, 
bie  eben  jo  jebt  auf  ber  Snmafcung  unb  {Rieberträchtigfeit  ber  einen 
als  auf  ber  Summheit  unb  Schwäche  ber  anbern  beruht,  alS 
^>intergrunb  unferer  ftabel  oorauSfejjen,  ift  eS  ebenfalls  erflärlidj, 
ba§  ber  eble  ©eift  eines  Äarl  9Roor  gu  fo  ungeheuren  Ser* 
irrungen  gezwungen  werben  fonnte.  3war  gefteht  er  felbft  am 
Schluffe  beS  StrauerjpielS,  baf)  eS  ein  thörichteS  Unterfangen  war, 
bie  Söelt  bar<h  ©reuel  gu  netfdhöneru  unb  bie  ©efefce  burdj 
@eje$oftgfeit  aufrecht  gu  erhalten,  unb  reumüthig  bietet  er  fein 
Sehen  bar  gut  ©übne  biefeS  DerhängniSnoOen  SrrthumS.  Jnbeffen, 
mit  welchem  SRed^te  burfte  ber  Siebter  feinen  gelben  auf  biejen 
wahnfinnigen  ©infall  gerathen  laffen,  wenn  nicht  in  bet  $ha* 
nach  feiner  Snficht  etwas  faul  wäre  im  gangen  ©etriebe  beS 
mobernen  SebenS,  wenn  nicht  bem  Bwange  ber  beftehenben  Ser* 
hältniffe  gum  5troj)  bie  heiligen  gorberungen  ber  Satur  gut 
©eltung  gebracht  werben  müßten?  2öo  biefer  wunbe  Slecf  liegt, 
baS  h°i  nnS  ©djilter  weit  faßbarer  als  in  bem  phantaftifchen 
©ewebe  ber  {Räuber  in  bem  britten  feinet  ©rftlingSwerfe,  ber 
Souife  SDlHIeritt  gegeigt. 

5DRit  glücflichem  £acte  hat  3fflanb  biefeS  ©tücf  „Äabale 
unb  Siebe"  getauft.  Ser  SBelt  ber  Siebe,  bie  fidj  auf  bie  {Rechte 
beS  .fpergenS  beruft,  tritt  gegenüber  bie  SBelt  ber  Sorurtheile, 
ber  ©tanbeSunterfchiebe  unb  ber  oerberblichen  Sntriguen.  Such 
hier  alfo  ift  ber  ©runbton  ber  {Rouffeaufchc  ©egenfah  con 
Olatur  unb  Äultur.  SSie  im  erften  Steile  ber  {Reuen  Jpeloife 
bie  Serwicffuitg  barauf  beruht,  baf;  ©t.  fPreujr,  ber  „petit 
bourgeois  sans  fortune“  fid?  in  feine  Schülerin,  bie  Sochter  eines 

(646) 


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17 


abelftolgen  Sarong  oerliebt,  fc  läfjt  Sattler  feinen  gelben 
getbinanb,  ben  ©ofyn  beS  ORinifterprüfibenten,  gu  ber  armen 
Mochtet  feineö  SRufiflehrerS  non  Siebe  entbrannt  fein.  Slug  biefem 
5Ri§oerhältnif}  aber,  bag  fRouffeau  ben  Stoff  gu  ibpHifdjen 
©djilberungen  unb  £etgengergief$ungen  ber  Siebenben  bietet,  fjat 
© datier  mit  bramatifdjer  Äürge  unb  ergreifenber  (Energie  eine 
tragifche  Äataftropfye  gu  eutwitfeln  gemußt.  IRouffeau,  in  ber 
28ahl  feiner  SRittel  nicht  eben  fpröbe,  finbet  in  ber  fRachgiebig* 
feit  feiner  Jpelbin  einen  bequemen  Slugweg  aug  biefem  Äarnpf 
ber  fRatur  gegen  bie  9Robe.  3n  ©chillerS  SEtauetfpiel  geftaltet 
fid)  btefer  Gonflict  oon  oornt)erein  weit  einfe^neibenber  unb 
furchtbarer,  weil  er  burcf}  bie  gange  Anlage  beS  ©tütfeg  gu  einem 
©egeniafce  oon  33olf  unb  gürft  fid)  erweitert.  UnwiUfürlid)  tritt 
an  bie  ©teile  bet  fRatur  bag  unterbrütfte  SSolf  mit  feinen  Sin» 
rechten  auf  Steifheit  unb  ©lütf,  an  bie  ©teile  ber  Unnatur  aber 
ber  §ürft  mit  feinet  begpotifdjen  ÜRachtooHfommenheit  unb  feinem 
augfehweifenben  £ofe.  Um  bag  Ungeheuerliche  biefeg  Gontrafteg 
auggumalen,  ift  ber  ^Dichter  nicht  oor  ben  greUften  Bügen 
gurütfgefd)tetft.  Gin  SanbeSoater,  ber  um  feinen  Süften  gu 
ftöhnen,  ohne  Sebenfen  bag  Seben  unb  bie  @hre  feiner  Saubeg* 
finber  in  fchmählichem  ©eelenoerfaufe  oerräth  — ein  SRinifter, 
bet  butch  ein  Setbrechen  gu  feinet  Stellung  gelangt  ift  unb  ber 
bie  Seibenfchaften  beg  dürften  mit  oerfchmi^ter  5Rid)tSwürbigfeit 
gu  feinem  Sortheil  auggubeuten  oerfteht  — unter  bem  gangen 
$ofgefinbel  nur  eine  fPerfon,  unb  gwar  eine  ÜRaitreffe,  bie  ung 
Sichtung  einguflöfien  oetmag  — bem  gegenüber  ein  tüchtiger  aber 
ungebilbeter  SSürgerftaub , ber  fcfsutjlcg  ber  SSMCfür  beg  dürften 
unb  bem  frechen  Uebermuthe  ber  Vornehmen  preiggegeben  ift, 
bie  Vornehmen  aber  „ oerfdjangt  rot  ber  Söahrheit  hinter  ihren 
eigenen  Saftern,  wie  hinter  Schwertern  ber  Ghetubim."  9Ru| 
eg  ba  nicht  f deinen,  bafj  bie-  Kultur  nur  begwegen  alle  formen 
beg  politifchen  unb  focialen  Sebeng  ^erüorgebradht  hflti  um 
wenigen  Seocrgugten  mit  fdjreienber  Ungerechtigfeit  ben  gangen 

XI.  25«.  2 (637) 


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18 


©enuff,  ber  5Renge  beg  33olfe§  aber  bte  gauje  Oual  beS  SebenS 
gu  überweifen? 

SDie  Schroffheit  folget  Slnfcffauungen  teilt  ©Ritter  mit 
JRouffeau;  benn  wenn  bie  übrigen  ©djriftftefler  ber  Slufflärung 
bei  aller  ^olemif  gegen  ba3  Seffebenbe  bocff  mit  ben  SBorurtbeileu 
bet  Dornefymen  SSelt  nid}t  brechen  wellten,  fo  muff  man  eä  bem 
33ütger  »on  ©enf  gewiffermaffen  nadjrübmen,  baff  er  auch  in 
biefer  Schiebung  fein  SSlatt  cor  ben  fDlunb  nahm.  Offen  fpriefft 
er  in  feinen  Sefenntniffen  »on  feinem  unauölöfdjlidjen  .paffe  gegen 
bie  33ornebmen  a!§  bie  SBebrücfer  beö  SBolfeS.  Söenn  er  beweifen 
will,  baff  ber  »om  Slbbe  ©t.  gierte  geplante  ewige  griebe  ein 
Unbing  fei,  ruft  er  au8:  „3cff  frage,  cb  e8  auf  ber  ffielt  einen 
einzigen  dürften  gibt,  ber  ebne  (Sntrüffung  auch  nur  ben  ®e* 
banfen  ertrüge,  geredet  fein  ju  müffen,  ieff  will  nicht  fagen  gegen 
gtembe,  fonbern  gegen  feine  eignen  Untertanen.  — 2)a8  Sßolf 
feufjt  im  SBorauö,  wenn  feine  Herren  »on  ihrer  väterlichen  güt» 
forge  ju  ibm  f preßen."  Sßefannt  ift  bie  fdjarfe  ©iatribe  gegen 

ben  Slbel,  bie  er  bem  Sorb  SBomffon  in  ben  SDßunb  gelegt  bat,  unb 
bie  in  bem  ©affe  gipfelt,  baff  bet  Slbel  einer  gamilie  nichts 
anbereS  beweife  ald  bie  ©iebfläffle  unb  bie  ©cbamlofigfeit 
iffrer  üBorfabten.  Slucff  im  perfönlicffen  Serfebr  mit  ben  Ser* 
nehmen  machte  et  fein  £effl  au8  biefer  ©efinnung.  3n  einem 
S3riefe  3.  SB.  an  ben  ©rafen  »on  Saftic  befdjwert  er  fi<h  übet 
eine  ber  9Kutter  feiner  Sfferefe  wibetfabtene  Unbill  unb  fagt : 
„3t  bal?e  oerfudjt,  bie  arme  grau  gu  troffen,  inbem  ich  fte  über 
bie  [Regeln  ber  »ornebmen  SBelt  unb  ber  feinen  ©rgieffung  be» 
lehrte;  ich  ba^e  tr  gezeigt,  wie  gemein  (roturiers)  bie  SBorte 
©ereefftigfeit  unb  9JienfchIi<h^it  waren,  unb  baff  es  ficb  gar  nicht 
bet  SOßübe  »erlobne,  SDienftbeten  gu  hatten,  wenn  fte  nicht  bagu 
bienten,  ben  ülrmen,  welcher  fein  ©igentbum  ^urücf forbert,  au§ 
bem  |)aufe  gu  jagen." 

33on  biefen  focialen  SDiiffffänben  wenben  wir  un§  ju  ben 
gelben  beö  ©tücfeS.  gür  fie  ffat  bag  ßeben  nur  einen  ©nbgwecf  — 

(«48) 


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bie  giebe.  „2)u,  gouife,  unb  idh  unb  bie  Siebe,  ruft  gerbinanb 
aug,  Hegt  nicht  in  biefetn  Sittel  ber  ganje  Fimmel?  @in  gabeln 
meiner  gouife  ift  ©toff  für  3ahrhunberle,  unb  ber  SEraum  beg 
gebeng  ift  aug,  big  idj  biefe  S^räne  ergrünbe."  Unb  ähnlich 
fdjreibt  3ulie  an  ihren  ©eliebten:  „SBie  eg  mir  fdjeint,  ift  e« 

nicht  recht,  wenn  bu  fagft:  lafc  ung  leben  um  ju  lieben.  Stein  5)u 
hätteft  fagen  muffen:  lafj  ung  lieben,  um  3n  leben.“  3ugteidj 
fühlen  wir  aber  aug  ben  ©erhältniffen,  weld;e  biegiebenben  umgeben, 
bafj  eg  ein  oerhängniguotleg  @ef<heuf  beg  ^jimmelg  ift,  ein 
warmeg  ^exj  ju  haben.  ©on  bem,  weither  eg  empfangen  hat, 
fagt  Stouffeau  im  26.  ©riefe  feineg  Stomang:  „(Sin  Opfer  ber 
©orurtheile  wirb  er  in  wiberftnnigen  SJtarimen  ein  unbefiegbareg 
£inberuig  für  bie  gerechteren  33ünf<he  feineg  |>er3eng  finben. 
£Die  SEBelt  wirb  ihn  bafüt  beftrafen,  bafj  er  gerabe  @efüt)le  uon 
jeglidher  ©adje  hat  unb  baff  er  mehr  nach  bem,  wag  wahrhaftig 
ift,  urtljeilt  alg  nadj  bem,  wag  ßonuenienjen  erforbern."  55iefen 
abfurben  SQtajrimen  ber  Söelt  tritt  getbinanb  mit  füljnet  ©tim 
entgegen:  „SBet  fann  ben  ©unb  3weier  ^>et3en  löfen,  ober  bie 
SEöne  eineg  Slccorbg  augeinanbet  reifen.  3dj  bin  ein  (Sbelmann; 
lafjt  boch  fehen,  ob  mein  Slbetgbrief  älter  ift  alg  ber  Stifj  3um 
unenblithen  SBeltaH!"  Unb  weiterhin:  „SJteine  Hoffnung  fteigt 
um  fo  höher,  je  tiefer  bie  Statur  mit  ßonueniensen  gerfaüen  ift. 
SEBir  wollen  fehen,  ob  bie  SJtobe  ober  bie  SDtenfdjheit  auf  bem 
§)taije  bleiben  wirb."  SBeniget  fühn  aber  ebenfo  fchwärmerifch 
träumt  gouife  uon  einet  sufünftigen  3«it,  wo  bie  ©chranfen  beg 
Unterfchiebeg  einftilrgen,  wo  con  ung  abfatlen  alle  bie  oerhafjten 
hülfen  beg  ©tanbeg,  unb  SOtenfdjen  nur  SJtenfdjen  finb.  Söag 
bie  giebenben  3U  biefem  Kampfe  gegen  bie  9luf$enwelt  ermuthigt, 
ift  bie  unwiberftehlidhe  Uebergeugung,  bafj  ber  SJtenfdj  mehr  bem 
bergen  alg  bem  ©erftanbe  gehorchen  müffc.  Unb  gwar  erwäthft 
biefe  Uebergeugung  aug  jenem  Sbealigmug  beg  Sj e^eng,  jenem 
Äultug  ber  fd)6nen  ©eele,  welchen  Stouffeau  alg  bie  l)öd;fte  unb 
cin3ige  Ouefle  menfthlicher  ©lücffeligfeit  gepriefen  hat.  „SJtein 


20 


3beal  »on  ©lücf,  fagt  gerbinanb,  gieljt  ftd)  genitgiamer  in  mid? 
felbft  gurücf.  3«  meinem  bergen  liegen  alle  meine  2Bünfd}e 
begraben."  Unb  wie  baS  fd)lichte  öürgetmäbchen  barin  SS^roft 
finbct,  baf;  fie  in  bet  llnfdjulb  i^reS  JpergenS  ben  Sieichthum  be* 
jif}t,  bet  in  ©otteS  Slugen  mehr  werth  ift  als  ©chmucf  unb 
j>rädjtige  &itel,  fo  feuf^t  bie  ftolge  Babty  in  bet  §üHe  beS  9teid)« 
thumS  »ergebeng  nach  S3efriebigung.  ,,©a8  finb  fcbledjte, 
erbärmliche  SJienfdjen,  meint  fie,  bie  fic^  entfefjen,  wenn  mir  ein 
warmeS,  l)erslic^e8  SBort  eutwifdjt".  3h*  £erg  h“11^*  bei  all 
bem  SSoHauf  ber  ©inne,  weil  fie  »cn  bem  Surften  fidj  fagen 
mufe:  „Slber  fann  er  auch  feinem  bergen  befehlen,  gegen  ein 
gtofjeS,  feuriges  $erg  gro§  unb  feurig  gu  fragen?  jtann  er 
fein  barbenbeS  ©ehirn  auf  ein  eingigeS  fdjöneS  ©efüfjl  ejrequiren?" 

2)iefe  93ergotterung  beS  .£>ergen8,  fo  ibßllifd)  unb  unfdhulbig 
fie  aud)  fdheinett  mag,  hat  hoch  ihre  gefährliche  ©eite.  SBenn 
eS  baS  ,£>erg  allein  ift,  waS  bem  5Jteuf<hen  feinen  SBerth  »erleiht, 
fo  batf  er  aßen  Slntlagen  bet  SSernunft  gegenüber  fid)  fühn  auf 
baffelbe  berufen.  „3ch  fenne  mein  Jperg  unb  fenne  bie  SJtenfchen" 
mit  biefen  SB  orten  tritt  ber  SSerfaffer  ber  SBefenntniffe  »or  ben 
Shi»n  beS  SBeltenrichterS,  unb  hoch  hat  fein  £>erg  ihn  nicht  »er* 
hinbert,  gegen  baS  erfte  unb  natürlichfte  ©efühl  beS  menfchlichen 
#ergen8  gu  fehlen  unb  feine  Äiubet  in’S  SinbelhauS  gu  bringen. 
Sludf  Babty  SJtüforb,  bie  gut  SDiaitreffe  h crabgef unTeue  Tochter 
eines  fürftlidjen  ©efdjledjtS,  weif;  bie  »ernichtenben  Sor würfe 
SerbinanbS  mit  ben  SBorten  gu  entfräften:  „Sie  ftolg  fonnte 
mein  £erg  jebe  StnHage  meiner  fürftlidhen  ©eburt  wibcrlegen." 
3a,  waS  nodj  fdjlimmer  ift,  wenn  baS  $crg  in  ber  2hat  bett 
gangen  3nhalt  beS  Bebens  auSmadht,  fo  hält  feinen  leibenf^aft» 
liehen  Snforberungen  feine  Otücfficht  auf  aubere  Pflichten,  mögen 
fie  noch  f°  he>l*8  fe*n»  me^r  ftanb;  baS  qpetg  rnuf;  befriebigt 
werben  um  jeben  $)rei8,  wcnicht,  fo  hat  baS  Beben  feine  33e* 
beutung  »etloren.  Stach  biefen  ©rnnbfäfjen  fehen  wir  benn  auch 
bie  gelben  ©chißerS  unb  SRouffeauS  »erfahren.  3ulie  »ergibt 

(6S0) 


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21 


bie  Siücfftdjten  auf  ihre  gamilie  unb  flieht  ihre  (S^re  preiS; 
^erbinaub  vergiftet  auf  einen  blejjen  33erbad^t  hin  feine  angebetete 
Seuife.  5)ie  fftatur  hat  }t<h  in  bie  entfetyüdjfte  Unnatur  uerirrt. 
Souffeau  leiste  wol)l,  wie  verwerflid?  bie  SJiittel  fmb,  mit  benen 
St.  preur  ba$  £>erg  feiner  ©d)ülcrin  umfiricft,  unb  fügte  beS« 
Wb  gu  betn  20.  Vriefe  bie  Slnmerfung  ^in^u,  bie  wörtlich 
auch  auf  ben  gelben  »en  Äabale  unb  Siebe  anguwenben  ift: 
„2Ran  fühlt,  baf)  er  bie  Sugeitb  aufrichtig  liebt,  aber  feine 
Seibenfdjaft  führt  ihn  auf  Slbwege.  SBemt  feine  grof;e  3ugenb 
ibn  nicht  entfdjulbigte,  fo  märe  er  mit  all  feinen  frönen  IRebenS« 
arttu  nur  ein  gemeiner  Verbrecher."  9luch  in  einzelnen  Bügen 
macht  ftd)  biefe  Unnatur  fühlbar.  SBic  unangenehm  berühren 
nnS  bie  geiftreich  geschraubten  Antworten  SouifcnS,  mit  welchen 
ba$  arme  Vürgermäbchen  bte  »ernehme  Sah;  befdjeimen  foK! 
Sie  fomifch  ift  eS,  wenn  ©t.  ^renjr,  als  er  gum  erften  Plale 
ba8  ©ct)lafgimmer  3ulien8  betritt,  im  Saumei  beS  GntgüifenS 
fich  wie  ein  Äinb  freut,  Sinte  unb  Rapier  bafetbft  gefuuben  gu 
haben,  um  feine  ©efütjle  fefort  nieberfchreiben  gu  fennen! 

(Sine  befonbere  Veachtung  oerbient  bie  Werfen  ber  Sabp 
SKilfcrb.  Äarl  Sweften  hat  fie  ben  tn’S  SBeiblidje  überlebten 
Sctb  Vomfton  auS  ber  fReuen  Jpeloife  genannt5.)  SBenn  biefet 
SuSbrucf  auch  etwas  gu  weit  geht,  fo  Iäf)t  ftch  hoch  nicht  leugnen, 
baß  bie  ©runbgüge  beS  8orbS,  beffen  SBerth,  wie  3ulie  fagt, 
geringer  wäre,  wenn  er  feine  SBallungen  beffer  begatjmte,  in  bem 
@h«raftcr  ber  Vrittin  fich  wieberfinben.  i/litch  fie  befiel  jenes 
unberechenbare  ©emifch  »on  Seibenfdjaftlichfeit  unb  ©rofjmuth, 
fen  erhabenem  Pflichtgefühl  unb  glütjenber  ©innlichfeit,  welches 
baS  SRineau  ber  SWtagSmenfchen  weit  überragt.  ©ie  hat  ihre 
Sugenb  nur  beSwegen  geopfert,  um  burdj  ihren  <$influ§  auf 
ben  gürften  bie  fchlimmften  Uebelftänbe  ber  ^Regierung  ab« 
gufchaffen  unb  unerlannt  eine  Söohlthaterin  beS  bebrüeften 
VolfeS  gu  werben.  SBie  ber  Sorb  auf  bie  ^>anb  ber  leibenfdjaft» 
Ii<t>  geliebten  3ulie  versiegtet,  fobalb  er  non  ihrem  Verhältnis 

(Ml) 


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22 


gu  St.  ^reur  unterrichtet  ift,  fo  entfagt  auch  bie  Sabp  bem  33e* 
ftjje  ^erbiuanbg,  nadjtem  il>r  bie  £iefe  unb  {Reinheit  bet  ©efühle 
ber  Siebenben  bie  Slugeit  über  fich  felbft  geöffnet  hat;  unb  ÜRacht, 
{Reichtum  unb  SBohHeben  hinter  fich  laffenb,  entzieht  fie  fid> 
burch  fchneüe  flucht  ihrer  unwürb'gen  Stellung. 

3wifchen  ben  {Räubern  unb  ber  Souife  9RiHerin  liegt  bie 
erftc  {Bearbeitung  be§  gieöfo.  2 )a§  SchtHer  auf  bie  SBahl  biefeS 
Stoffes  burch  {Rouffeau  hingewiefen  würbe,  haben  ttJ*r  i^cn 
oben  erwähnt.  Sludj  in  biefem  Stüde  fehlt  e8  nicht  an  (Singel* 
heilen,  bie  un§  an  {Ronffeaug  SieblingSibeen  erinnern;  fo  ber 
SluSfpruch,  in  welchem  Die  ©täfin  ihre  Siebeßfchwärmerei  gu* 
fammenfafjt:  „Siebe  hat  nur  ein  ©ut,  thut  33ergicht  auf  bie  gange 
übrige  Schöpfung".  Unb  wenn  bie  93erfchworcncn  ben  wunberlidjen 
©infall  haben,  ben  ©rafen  oon  Sauagua  burch  baö  ©emälbe  oon 
bej  (Stmotbung  ber  23irginia  aus  feiner  erheuchelten  Schlaffheit 
gu  erwecfen,  fo  wenbet  fid>  auch  hie*  wieber  bie  9)hantafie  be8 
SMchterö  gu  ben  oon  {Rouffeau  fo  lebhaft  empfohlenen  ©eftalten 
bet  alten  ©efchichte.  3m  ©rohen  unb  ©äugen  fteht  aber  ber 
$ie8fo  außerhalb  beS  3been frei  feg,  ber  unS  bisher  befchäftigt  hat; 
»or  allem  fehlt  ihm  jene  rabifale  fPolemif  gegen  bie  beftehenben 
Safjungen  beö  SahrhunbertS,  welche  burch  bie  beibeu  anbern 
Stüde  fo  oernehmlidh  fich  hinburdjgieht.  Ulllerbingg  hat  Schiller 
fein  {Drama  ein  republifanifcheS  2rauetfpiel  genannt  unb  in  ber 
(Erinnerung  an  bag  fPublifum,  bie  er  ber  SRannheimer  Umarbeitung 
beS  StüdeS  »oranfchidte,  fogar  oon  bemfelben  gejagt:  „SBenn 
Äleingeifterei  unb  SRobe  ber  {Ratur  fühneu  Umrife  befchueiben, 
wenn  taufenb  lächerliche  (Sonoeniengen  am  groben  Stempel  ber 
©ottheit  ^erumfünfteln,  fo  fann  Dasjenige  Schaufpiel  nicht 
gwedloS  fein,  bag  uns  ben  Spiegel  unferer  gangen  Äraft  oor 
{Hugen  hält."  Snbeffen  ift  in  biefem  republifanifchen  Strauer» 
fpiel  nur  ein  eingiger  {Republifaner : ber  alte  ©errina;  bie 
übrigen  ©erfchworenen,  gieSfo  mit  einbegriffen,  finb  ihrem 
(Shatafter  unb  ihren  2(nfid)ten  nach  gerabe  bag  ©egentljeil  oon 

C652) 


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bem,  maS  man  unter  biefem  tarnen  gu  »erflehen  pflegt.  Bon 
bem  Kampfe  gegen  SDtobe  unb  Gonoenieng  ift  aber  erft  redpt 
widjtS  in  biefem  Stüde  gu  »erfpüren,  unb  enblicp  ift  ber  gtoifcpen 
fticelen  giebeStänbeleien  unb  eprgeigigen  BerfcptncrungSplänen 
pin  unb  per  ftpmanfenbe  gieSfo  fdjroerliip  ein  Spiegel  unfeter 
gangen  Äraft.  Dpne  3»eifel  entfpredpen  foldpe  Sleufjerungen 
mepr  bet  Stimmung  beö  2)idpter§  felbft  als  bem  Snpnlte  feines 
IDidptteerfeS.  SJtan  fönnte  nun  meinen,  eS  fei  gerabe  ein  gort» 
ftpritt  im  Seifte  be8  JDidpterS,  bap  er  fidp  pier  non  ben  mit 
jugenblidper  Ueberfcpmenglicpfeit  erfaßten  9louffeauf<pen  3b een 
fern  gepalten  pat.  3n  biefem  Sinne  fagt  Stoeften:  „Scpon 
erpob  er  fiep  über  KcuffeauS  abftracte  SDoctrinen  gu  ber  »apt» 
paft  gefcpidptlidpen  Ginfiept,  ba§  bie  ftaatlicpen  gormen  in  notp» 
menbiger  SSecpfelroirfung  gu  bem  Sangen  ber  geiftigen  unb  fitt* 
liepen  3«ftünbe  beS  33olfeS  ober  feiner  pettfepenben  Älaffen  fiepen, 
ba§  in  einer  corrumpirten  Sefetlfcpaft  mit  fUtenfepen,  wie  er 
SenuaS  befte  fUlänner  ftpilbert,  ein  freies  StaatSaefen  nidpt 
mcglicp  ift."  SDiefe  3lnfi<pt  fepeint  mir  aber  mepr  in  baS  Stüd 
pineingutragen,  alS  ber  2)icpter  felbft  beabjttptigt  pat.  fRidptig  ift 
eS,  bap  StpiDet  auS  fRouffeauS  SEpeorien  fidp  über  bie  practifdpen 
33ebingungen  eines  rcpubltfanifcpen  SemeinwefeuS  niept  auf« 
Raren  fonnte.  SBar  bodp  fRouffeau  g.  33.  über  bie  Srunbgüge 
feiner  peimatlidjen  Senfet  Berfaffung  fo  im  Srrtpum,  bafj  er 
fie  alö  3Jtufter  pries,  »äprenb  fie  in  iprer  bamaligen  Seftalt 
auf  bie  Sebrücfung  unb  Beootmunbung  ber  großen  Stajorität 
burep  eine  Reine,  fepr  beoorgugte  Stinoritat  pinauSlief.  38enn 
aber  S<piHer  in  bem  angebeuteten  Sinne  über  fRouffeau  pinauS* 
gepen  »ollte,  fo  patte  er  bo<p  cor  allem  in  feinem  gelben  ein 
eigenes  politifdpeS  3beal  »erförpetn  unb  an  Stelle  beS  gieSfo 
etwa  einen  Bettina  gum  Stittelpunfte  feines  JrauetfpielS  maepen 
müffen.  Statt  beffen  pat  uns  ber  Sicpter  felbft  in  ber  Bor» 
rebe  gu  bem  Stüde  feine  „politifdpe  Sdpmädpe"  befannt  unb 
gegeigt,  wie  eS  bie  l'etfon  beS  gieSfo  mit  iprem  rounberbaren 


24 


©emifdb  Den  glübenßer  ©dbwatmerei  unb  ftaatSfluger  Sntrigue 
war,  bie  üjn  gut  33ebanblung  feines  ©egeuftanbeß  reigte.  S8a§ 
ferner  feine  Sluffaffung  Don  ber  ©efdbidbte  betrifft,  fo  war  fte 
bamalß  nodb  gängtit^  in  fRouffeaufdjer  ©ubjectimtät  befangen. 
„fDlit  ber  £)iftorie,  Reifet  eß  in  bet  Erinnerung  an  baß  fPublifum, 
getraue  idb  mir  balb  fertig  gu  werben:  benn  id?  bin  nidit  fein 
©efdbidbtfcbreiber  unb  eine  eingige  grofie  SHufwadung,  bie  id)  burcb 
bie  gewagte  Erbidbtung  in  ber  Sruft  meiner  Swfdjauer  bewttfie, 
wiegt  bei  mit  bie  ftrengfte  tyiftorifdje  ©enautgfeit  auf."  ©er 
©idbter  beß  gießfo  befinbet  ftd)  alfo  in  berfelben  traumhaften 
3beenwelt,  wie  bet  ©id)ter  ber  fRäuber  unb  ber  Scuife  9)?iflerin. 
©er  Unterfdbieb  Hegt  nur  barin,  baf)  wegen  bet  gangen  Anlage 
beß  complicirten  ©tücfeß  weniger  bie  uadb  innen  geFebrft 
JReflejrion  als  bie  nach  auften  geftaltenbe  ^hantafie  beß  ©icbterß 
in  9tafprudj  genommen  würbe. 


3n  eine  wefentlidb  anbere  ©pbäre  treten  wir  ein  mit  bem 
©on  hartes.  SWerbingß  gilt  bie§  nur  non  bem  fertigen  ©tiicfe; 
bie  erften  Anfänge  beffelben,  wie  fie  tom  3a1jte  1784  biß  1786 
in  £eften  ber  0*ü)einifd>en  Sbalia  erfdjienen,  Fnüffen  ba  au,  we 
wir  ben  ©idfter  Don  Äabale  unb  Siebe  oertaffen  haben.  SBie 
jene  ©ictitung  ein  bürgerliche«  SSrauerfpiel  gewefen  war,  fo  follte, 
nach  ©tbiöerä  eigenem  Slußfprudhe  ber  ©on  Äarloß  gu  einem 
Samiliengemälbe  auß  foniglidjem  ^>aufe  werben.  Stucfe  lag  ber 
Äeru  beß  ©angen  wieber  in  bem  feinblidjen  ©egenfajge  doh 
SJtobe  unb  ©onoenieng,  Don  fftatur  unb  Unnatur,  ©urdf  bie 
33anbe  ber  Siebe  wirb  ©lifabetb  gu  ©on  &arloß  bingegogen, 
bie  Siänfe  bet  $)elitif  machen  fie  gut  ©attin  beß  fBaterß  ibteß 
©eliebten.  ©iner  foldben  $)olitif  gegenüber,  bie  fDtenfdbenbergen 
wie  Jbrämermaaren  oerbanbelt,  beruft  fidb  ©on  Äarloß  auf  bie 
„ fRedjte  feiner  Siebe"  unb  fpettet  über  bie  „gormel  am  91ltar" 
welche  nur  bagu  bient,  beit  abgefdblojfenen  $anbel  in  ben  ÜSugen 
beß  spöbelß  gu  ^eüi^en.  ©ie  Königin  beugt  ficb  gwat  äufjerliih 

(654) 


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25 


»or  ben  ihr  auf  gegwmtgenen  ^)f!t«^ten,  ihr  £erg  aber  lehnt  fid^ 
gegen  biefelben  auf  unb  bewahrt  bie  utfprüngliche  Neigung. 
SroftloS  unnatürlich  ift  baS  Verhältnis  »on  Vater  unb  Sohn. 
„SBeldj  traurige  ©ewalt,  ruft  ÄarloS  bem  Äonige  gu,  treibt  ber 
Vatur  noch  nie  »erirrte  SöeUen  So  feltfam  gegen  ihren  Strom." 
9ln  Philipp  felbft  rächt  fich  bie  uumenfchlidje  Äälte  ber  operrfch* 
jucht  burch  baS  untilgbare  Verlangen  nach  SRitgefühl;  er,  ber 
„beö  SBeinenS  füfje  jjreuben"  nicht  fennt,  muh  fith  both  bie 
wtenbliche  8eere  feines  ^ergenS  geftehn  unb  uergebenS  nach  einem 
jKenfchenhergen  fid)  umfehen,  baS  ihn  oerfteben  unb  lieben  fönne. 
3n  ber  v))ringeffin  ©boli  bietet  fid)  unS  ein  ©egenbilb  gut  Sabp 
fDlilforb;  beibe  finb  grofie  Seelen,  unb  beShalb  über  bie  Schranfen 
ber  Sitte  erhaben:  „Vur  Reine  Seelen  fniecn  Der  ber  Siegel, 
bie  grofce  Seele  fennt  fte  nicht."  Seinen  fchärfften  SluSbrucf 
finbet  aber  ber  ©ontraft  non  fftatur  unb  Unnatur  in  bem  Äampfe 
ber  unterbrächen  fDtenfchheit  gegen  bie  mit  ber  Snquifition  auS* 
gerüftete  Hierarchie  ber  fatholifcben  Äirche.  Hier  »ernehmen  wir 
ben  £cn  wieber,  bet  unS  fdjon  auS  ber  an  fRouffeau  gerichteten 
JDbe  entgegenflang,  ben  ber  Siebter  aber  in  feinen  erften  Sramen 
nicht  angefdjlagen  h«t-  .,3<h  »iß  eS  mir  gut  Pflicht  machen, 
fdjreibt  er  an  Steinwalb,  in  ber  Sarftellung  ber  3nquifition  bie 
proftituirte  9Renf<hheit  gu  rächen  unb  iljre  Sdjanbflecfcn  fürc^ter* 
tid)  an  ben  ^tanger  gu  ftellen."  Siefet  ©ifer,  ber  fid}  in 
ber  erften  Vearbeitung  nod)  weit  energifcher  als  in  ber  feigen 
Raffung  beS  StücfeS  geltenb  macht,  erinnert  unS  lebhaft  an  baS 
Voltaire'fdje  „ecrasez  l’infame.“  Um  aber  biefeS  Ungeheuer  eines 
»ergerrten  ©hriftenthumS  gu  befämpfen,  bebient  er  ftch  mit  Vor« 
liebe  bet  Sdjlagroorte  fRouffeau’S,  beS  fRouffeau,  ber  aus  ©Triften 
SDienfchen  wirbt.  So  heifet  eS  g.  V.  Dom  bringen:  Sein  Jfjetg 
entglüht  für  eine  neue  Sugenb,  Sie  ftolg  unb  ficher  unb  fidf 
felbft  genug,  Von  feinem  ©tauben  betteln  will  — @r  benft  — 
Sein  Äopf  entbrennt  ton  einet  feltfamen  (Sljimäre:  er  oerehtt 
ben  fJRenfbhen."  Unb  als  ber  SRatquiS  an  bet  X^atfraft  beS 

(SIS) 


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26 


Iiebefdjmadjtenben  ©on  ÄatloS  cergweifelt,  ruft  er  auS:  „So 
ffie^e  benn  auö  bem  ©ebiet  ber  ©Ijriften,  ©ebanfenfreiljeit! 
Sünberin  93ernunft,  befefyre  bidj  gur  frommen  JoMjeit  wieber! 
Berbrid)  beiu  SBappen,  ewige  fRatur! 

@8  ift  befannt,  bafj  SdjiHer,  wäljrenb  er  an  biefem  ©rama 
bid&tete,  atlmäfylid)  felbft  eine  gang  anbere  Stellung  gu  feinem 
SBerfe  gewann;  er  war  feinem  utfprünglidjen  gelben,  bem  Soljne 
$)l}ilipf>8,  an  Bahren  »orauSgefptungen  unb  tjatte  meljr  unb  meljt 
fein  Sntereffe  bem  SRarquiS  i'ofa  gugewanbt.  ©iefe  Umwanblung 
war  cor  allem  burtf)  bie  ernftere  23efdjäftigung  mit  ber  ©efdfidfte 
fyereorgerufen.  begonnen  batte  er  baS  SEBerf  mit  ber  fR  o?eüe 
con  St.  fReal,  unb  als  er  e8  »oDenbete,  ^atte  er  SRonteSquieu 
gelefen  unb  jene  umfaffenben  Stubien  unternommen,  au8  benen 
feine  «Schriften  über  bie  fRieberlanbifdje  ©efe^id^te  fyetrorgeljen 
füllten.  ©8  mujj  fid)  bemnad)  für  un8  fragen,  ob  unb  wieweit 
baSfenige  3beal,  weldjeS  ber  SRarquiS  fPofa  be8  nollenbeten 
©ramaS  nertritt,  nod)  fRoufjeaufdje  Büge  an  fid?  trägt.  Unleugbar 
ift  e8  gunädjft,  bafj  ber  5Raltefer  SRitter  uid)t  minber  wie  ber 
SSürger  »on  ©enf  ein  fonbetbarer  Schwärmer  ift;  benn  wenn 
audj  bie  Stirn  be8  jugenblidj  feurigen  fPofa  weniger  fRungeln 
geigt  al8  bie  bei  griesgrämigen  unb  mifantljrcf>ifd)en  3ean* 
3«cque8,  fo  ift  bodfj  ba8  33erbältni8  gu  ben  realen  ©htgen  biefet 
Seit  bei  bciben  gleidj  unflar  unb  gleich)  phantaftifd).  ©benfo 
augenfdjeinlid)  ift  e8,  baf?  beibe  in  ber  negativen  Seite  i^reS 
3beal8  übereinftimmen;  beibe  Raffen  rtic^td  glüljenber  als  jeben 
ISbfolutiSmuS  in  Äir^e,  Staat  unb  ©efeOfd^aft  unb  wollen,  ba§ 
fobalb  wie  möglich  auf  immer  mit  ifym  gebroden  werbe,  ferner 
wufs  man  gugeben,  baf)  ba8  Sbeal  beS  ÜRarquiS  wie  baSjenige 
{ReuffeauS  einen  ibtjDlifc^en  ober,  wenn  man  will,  eubämoniftifdjen 
©Ijarafter  an  fidf  trägt.  3?eiben  gilt  e8,  bie  DRenfdjen  glücflidj, 
ba8  8eben  fdjön  gu  machen.  „SD  Königin,  ba8  geben  ift  bodf 
fdjön,  ruft  ^)ofa,  als  er  ahnt,  bafj  feine  Stunbe  gefdjlagen  ^at, 
unb  fafjt  in  biefem  „bodj"  all’  ben  3ammer  gufammen,  ben  »er* 

(«56) 


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27 


bienbete  Selbftjucht  über  bie  SDtenfchheit  fyetaufbefdjrooren  hat- 
tet $ring  unb  fPofa,  fagt  ©Rillet  im  VIII.  ^Briefe  über  5)on 
ÄarloS,  haben  einen  enthuftaftifdjen  ©ntmurf  gebilbet,  ben  glücf» 
lichften  3uftanb  herBotgubtingen,  ber  bet  SDtenfchheit  erreichbar 
ift."  Sie  enblidj  in  ber  fPhantafie  StouffeauS  Sbpllifc^eö  eng 
mit  .£>etoi}<hem  [ich  »erfd>iüiftert,  fo  aud)  in  ber  beS  ÜJIarquiS. 
Jrof}  feinet  Siebe  gu  bem  geben  geht  er  fteubig  in  ben  Job. 
„Ser  entbecft  nicht,  h«f3t  eö  im  XII.  Briefe,  in  bem  ganzen 
Sufammenhange  feines  gebenS,  bah  feine  gange  ^hantafie  non 
Silbern  romantifcher  ©reffe  angefütlt  unb  burdjbrungen  ift,  baff 
bie  gelben  beS  fpiutard)  in  feiner  Seele  leben,  unb  bah  fi<h  alfo  unter 
jwei  2luS»egen  immer  ber  tjeroifc^e  gunächft  ihm  barbieten  muh?" 

SlnbrerfeitS  ift  aber  ber  gortfchritt  in  ber  Stimmung  fomohl 
»ie  in  ber  Seltanfchauung  Schillers  unoerfennbar.  Sit  fühlen, 
bah  mir  hinaus  finb  über  baS  unfruchtbare  Setteiben  ber  ©egenfä^e, 
bah  bie  Hoffnung  in  ihm  fi<h  regt,  bie  Sbeale  feines  ^jerjenS 
auch  nemirflicht  gu  fehen.  Selch  Slbftanb  non  bem  Stäuber* 
hauptmann,  bet  ben  ^Mutarch  im  Äopfe,  baS  SOtorbgemehr  aber 
in  ber  $anb  hat,  bis  gu  jenem  oon  ben  ebelften  ©ebanfen  ge* 
tragenen  $)ofa,  ber  mit  ^elbenmuth  für  eine  grohe  Sache  in  ben 
Job  gel)t.  55er  SJidjter,  ber  bisher  mit  ber  gangen  Äraft  feines 
©eniuS,  auf  bie  Allgewalt  beS  .pergenS  trohenb,  an  ben  gugen 
beS  SeltgebäubeS  gerüttelt  hat,  glaubt  nunmehr  an  eine  ©nt« 
toicflung  beS  9Jtenfchengef<hlechtS  gut  Freiheit  unb  SJoUfommenheit. 
Seil  et  fidj  mit  ber  ©efdjicbte  auSgeföhnt  hat,  ift  er  nicht  mehr 
eingig  unb  allein  barauf  bebaut,  baS  Seftehenbe  eingureihen. 
Sährenb  Dtouffeau  Bon  einem  hinter  unS  liegenben  Statur* 
guftanbe  träumt,  ben  bie  Äultur  unS  un»iebetbringli<h  entrih, 
träumt  ber  £elb  beS  StücfeS  Bon  einem  Bor  unS  liegenben, 
burd)  Jlnfpannung  aHet  ebelften  jfräfte  gu  eneichenben  Sbeale 
Boflfommener  Breihett  unb  fronet  SDtenfchlichfeit.  Senn  eS 
benfbar  ift,  bah  in  -RatloS  unb  |)ofa  bie  nad)  Stouffeau  unser* 
föhnlichen  ©egenfäjje  Bon  Bürft  unb  Unterthan  in  »armer  §reunb» 

<«7) 


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28 


fdjaft  gum  SSotjIe  beg  ©angen  fidj  cerbünben,  fo  läfct  cg  fxd) 
au<b  annebmen,  baß  einft  auf  ©runb  eineg  f olcben  ©tituernebmenB 
gwifdjen  gürft  uub  Sßol!  ein  neuer,  ber  9Jtenfd$eit  roürbiger 
Suftanb  erwadjfe.  Semgemäß  finb  e8  nidjt  mehr  bie  fubjeftioeu 
©mpfinbungen  ber  Siebe  unb  g-reunbfdjaft  allein,  in  welchen  bie 
gelben  beg  Stüdeg  aufgeben;  oielmebr  muffen  fidj  ifyre  Seiben* 
fünften  unter  einen  ijiftorifdjen  SBeltgwecf  beugen,  melier  SCuf= 
Opferung  unb  Setbftentfagung  non  ihnen  cerlangt.  Äarlog  be* 
fämpft  bie  erfte  ftürmifdjc  ©lut  feiner  Siebe,  unb,  um  feine 
Königin  butd)  große  ÜEtjatcn  ficb  gu  cerbienen,  will  er  felbft, 
ber  fatbolifdje  $)rittg,  gum  gübrer  ber  proteftantifcben  fRebeüen 
fid)  madjen.  Unb  ber  SRaltefer  läßt  e8  nid)t  beim  ©dm’ärmen 
allein  bewenben;  er  ftirbt  für  ein  Sbeal,  bag  et  in  bem  lieber* 
maß  ber  33egeifterung  nur  allgufcbnell  gu  ocrwirflitben  gebadbte. 

ffienn  alfo  SEweften  behauptet,  Son  Äarlog  fei  weient* 
lieb  oon  Sftouffeaufdjen  Sbeen  übet  Staat  unb  Äird?e  er» 
füllt,  fo  bat  biefer  Saß  nur  bann  cofle  9ii(btigfeit,  wenn  man 
befdjränfenb  bingufügt,  baß  biefe  SRouffeaufcben  3been  burd»  bie 
cerflärenbe  .Straft  beö  bid)terifd)en  ©eniug  fibon  ciel  con  ißt« 
parabopen  ©infeitigfeit  cerlcren  !>aben.  ©er  Siebter  bat  einen 
großartigen  SBerfucb  gemacht,  bie  Äluft  gu  überbrüefen,  bie  bnt 
fUaturmenfeben  con  bem  SJtenfdien  bet  ätultur  trennt,  ©r  bat 
in  ber  greubtgfeit  feineg  biebterifdjen  S<baffen8  neuen  Sebertg* 
mutb  unb  mit  bem  fßiutbe  ein  3beal  gewonnen,  bag,  wenn  eg 
aueb  ttod)  febwanfenbe  Umriffe  geigt,  boeb  mit  einer  bi'toriieb 
möglieben  ©ntmieflung  oereinbar  ift.  ÜJian  wenbe  nicht  ein,  baß 
ja  bie  SEräger  biefeg  3beal8  im  Srama  unterliegen.  SBenn 
giegfo  ftirbt,  fo  haben  wir  aHerbingg  feine  anbere  ©mpfinbung, 
alg  baß  na<b  bem  SEobe  beg  batbftrebenben  3üngling§  ©etwa  in 
ba8  alte  ©baog  gurücffallcn  wirb.  Sßenn  ^ofa  ftirbt,  fo  lebt 
fein  Sbeal,  bag  ber  Siebter  gu  bem  unfrigen  gemadtt  bat,  mit 
ftegeggewiffer  3uoerfidit  in  ber  Seele  beg  Jpörerg  fort. 
traurige  3uftanb  ber  9Kcnf<bbe»t,  weldten  uug  bie  fDfonardjte 

(656) 


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29 


9>f)ilipp8  »ott  Spanien  reprdfentirt,  ift  allerbingS  eine  ©erimmg 
beS  menjc^licpen  ©erftanbeS,  eine  furchtbare  SKuftratien  gu  bet 
©ehanptung  SfiouffcauS,  baff  unter  ben  ^länben  be8  SQRenfchen 
aUe8  entarten  muffe,  ©er  menjc^Iidjc  ©erftanb  finbet  aber  fein 
Gorcecti»  in  bet  ©atur,  weltbeSchillernicht  mehr  mit  3touffeaufd)er 
Schroffheit  in  offenen  ©egenfafc  gu  allen  SBetfen  be8  menjdj» 
li^en  ©eifteS  oerfejjt.  3m  ©egentheil;  au8  bet  ©atur,  bie  als 
eine  nach  unwanbelbaren  ©efefcen  wirfenbe  SDlad^t  über  alles 
(Eigenmächtige  unb  SSitlfürlidhe  ergaben  ift,  fdjöpft  ber  menfdh* 
liehe  ©eift  ftetS  »on  neuem  bie  Äraft,  um  con  2lu8fd)reitungen 
in  bie  rechte  ©ahn  wieber  eingulenfen  unb  eblere  unb  fyoljete 
Biele  für  bie  3ufunft  fi<h  gu  fefcen.  fRur  in  biefem  ©inne  ift 
e8  gu  oerfte^en,  wenn  ©filier  im  XI.  ©riefe  al8  ben  eigent* 
liehen  ©chlüffel  gu  feinem  ©rama  ben  ©atj  aufftetlt:  „©idjtS 
führt  gura  ©uten,  waS  nid^t  natürlich  ift." 

3Bie  weit  ©filier  fdfjon  bamals  non  einer  einfeitigen  Stuf* 
faffung  be8  ©aturbegriffS  in  SRouffeaufcbem  ©inne  entfernt  war, 
geigt  un8  ein  ©lief  in  bie  p^itofop^if^en  ©riefe.  3»«  theilt 
ber  gut  pfyilofopfyifdjen  ©peculation  fich  wenbenbe  ©ichter  mit 
bem  ©erfaffer  bet  Jpeloife  bie  begeifterte  Uebergeugung,  bajj  bie 
menfcpdje  ERatur  fid)  nid)t  »otlenbeter  offenbaren  fönne  als  in 
greunbf^aft  unb  Siebe;  aud)  ihm  gilt  bie  Siebe  als  ber  ©nbgwecE 
ber  Schöpfung,  als  bie  Seiter,  auf  ber  wir  gut  ©ottäljnlidfjfeit 
emporflimmen.  ©o  feht  nun  biefe  SRetaphpfif  ber  Siebe  ben  2ln= 
fidjten  SulienS  unb  ihres  ©eliebten  auch  entfpredjen  mag,  fo 
wenig  entfprid^t  ber  ©rwtbgebanfe,  auf  welkem  ber  ©ichter  bie* 
felbe  aufbaut,,  ben  Theorien  SRouffeauS.  (Er,  ber  Äünftler  unb 
Slnhänger  ©hafteSburpS , erfennt  nämlich  in  ber  Statut  ein  ftufen* 
mäfjig  georbneteS  göttliches  Äuuftwerf,  welches  er  in  pantbeiftifeper 
SBeife  mit  ©ott  felbft  ibentipeirt.  ©ie  ERatur  in  ihrer  ©efammt* 
peit  ift  ihm  baS  »ollfommene  Slbbilb  beS  göttlichen  SEBefenS, 
unb  febeS  (Eingelwefen  fügt  fiep  auf  bet  ihm  gufommeuben  Stufe 
harmonifdh  bem  ©angen  ein.  SBenn  fomit  baS  Unioerfum  mit 

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30 


©ott  uitb  biefer  wieberum  mit  ber  Siebe  ibentifdj  ift,  fo  muf? 
bie  liebenbe  SReufcpenfeele  bet  Slbglang  ber  pöcpften  33ollfommen* 
peit(  unb  bie  Seele  überhaupt  bie  üragetin  göttlicher  Spätigfeiten 
fein,  gut  bie  fdjöpferifche  Spätigfeit  bcö  pöcpften  SBefenß  weif;  aber 
Stappael  feinem  greunbe  3uliuß  feinen  erhabeneren  Slußbrucf  ju 
nennen  alß  bie  Äunft;  unb  gerabe  in  ihr  fap  befanntlicp  SRouffeau 
ben  Sinfang  »om  ©nbe.  SDiefeß  Sneinanbergreifen  bet  beiben 
begriffe  9latur  unb  Äunft  ift  ber  gangen  ÜJietpobe  ütouffeauß 
gerctbeju  entgegengefept. 

Stuf  ©runb  biefer  fimftlerifd?eu  €Dieta^^pftf  fucpt  nun  ©duDer 
baburcp  gu  einer  SJloral  gu  gelangen,  baff  er  bem  fd^c^ferifcfaen 
ifßringip  bet  Siebe  ben  ©gcißmuß  gegenüberftetlt.  Stuß  ber  3bee 
einer  nöflig  felbftlofen  Siebe,  bie  ihren  SRittelpunft  in  bie  ittcpie 
beß  ewigen  ©angeu  fefjt,  folgert  er  bann,  bah  «6  «ne  Sugenb 
geben  muffe,  bie  audj  ohne  ben  ©lauben  ber  Unfterblicpfeit  auß* 
langt  unb  auch  auf  ©efahr  ber  Skrnidjtung  baß  nämlidje  Opfer 
wirft,  ©o  ift  ihm  alfo  bie  5£ugenb,  obwohl  fte  allerbingß  auf 
ber  Siebe  beruht,  bennodj  burcpauß  feine  felbftifd^e  ^ergenßoet« 
»ergötterung,  fein  tbpOifcpet  Slbglang  einet  frönen  ©eele.  ©ie 
ift  ihm  melmepr  eine  ftrenge,  auf  feben  ©igennup  33ergicpt  leiftenbe 
©ittlicpfeit.  3n  biefer  ©arftellung  begegnen  fiep  in  eigentpüm* 
lieber  SBeife  fRouffeaufdje  unb  Äantfcpe  ©lemente.  Butrejfenb 
hat  barüber  Äuno  gifeper  gefagt:  „©epilier  griinbet  bie  Sugenb 
auf  bie  Siebe,  gwar  auf  bie  uneigennützige,  aber  bed^  auf  bie 
Siebe,  alfo  auf  Steigung.  Äant  grünbet  fte  auf  feinerlei  Steigung 
fonbern  bloß  auf  baß  ©efep,  er  »erneint  jebe  Slrt  ber  Neigung 
alß  ein  frembartigeß  unb  unreineß  fittlicheß  SKotic.  Sn  ber 
Sluffaffung  ber  Hugenb  fompatpifirt  ©epilier  mit  Äant,  in  bet 
33egrünbitng  berfelben  mit  Siouffeau." 6) 


SOrit  bem  Slbfcplufj  ber  ppilofoppifcpen  ^Briefe  finb  wir  be* 
reitß  biß  3U  bem  Sahre  1789  gelangt.  Sluß  bem  Sapre  »erper 

ftammt  baß  erfte  3eugnif),  auß  bem  fid)  ergiebt,  wie  fepr  ©cpitlet 

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31 


»on  jener  bitfyprambifdjen  Ueberfdjteenglidjteit  abgefommen  war, 
mit  welcher  er  einfi  baS  ©rab  »on  ©rmcnonoifle  bejungen  batte. 
jRadjbem  er  nämlich  baS  geben  SDiberotS,  welches  ^rau  SBanbeul, 
bie  Stochtet  beffelben  »erfaßt  batte,  mit  großer  SSefrtebtgung 
gelefen,  fdjreibt  er  barüber  an  .Korner:  „©8  ift  eigentlich  nur 
wenig,  waS  bieje  Biografie  »on  ibm  aufbewabrt  bat.  SDiefeS 
wenige  ift  mir  ober  ein  gtofjer  ©ctat}  »on  SEBabrbeit  unb  funplet 
©töfje  unb  mir  wertber,  als  waS  wir  »on  Siouffeau  haben." T) 
SDiefe  Semerfung  enthalt  jwat  nur  tnbirect,  aber  »ernebmlich  ge» 
nug,  eine  Serurtbeilung  jener  prätenticfen  ©elbftüerberrlicbung,  bie 
ben  ©runbgng  in  ben  Befeuntniffen  SRoufjeauS  bilbet.  Sludj 
erfcheint  ein  foldjer  Stabei  um  jo  bebeutfamer,  wenn  man  bebenft, 
wie  wegwetfenb  Stouffeau  in  feinen  SRemoiren  ftcb  über  feinen, 
ehemaligen  greunb  SDiberot  auSgefprochen  bat.  ©8  fommt  bingu, 
baf}  Schiller,  als  et  um  biefelbe  Beit  eine  Sftecenfion  bet  2luto* 
biogra^bie  ©olboniS  »erfaßte,  eine  noch  b^ere  Sleufjerung  über 
9touffeau8  3)erjönli<bfett  mit  einfliefjen  lief;.  „Slucb  bflt  ©olboniS 
gefällige  ÜJieinung  »on  ihm  felbft,  jagt  er  bafelbft,  gar  nichts  »on 
bem  anftofjigen,  wibrigen  ©goiSmuS,  womit  fo  »iele  weit  größere 
©cbriftfteHer  ihre  gefet  brücfen  — eine  Bemerfung,  bie  fidj  bem 
fRecenfenten  »orgügüch  in  bem  XVI.  unb  XVII.  Äapitel  beS 
britten  StbeileS  aufgebrungen  bat,  wo  unfer  Slutor  feine  3«fammen» 
funft  mit  3-  3-  ?Rouffeau  betreibt.  2Sie  gern  würbe  man 
einem  ©olboni  ein  parteiifcheS  Urtbeil  über  biefen  ihm  fo  be<hft 
frembartigen  ©barafter  »ergieben  haben,  unb  hoch  bürften  wenige 
gefer  fein,  benen  nach  gefung  biefer  ©teile  bet  gto&e  philafshbifö6 
S5i<hter  neben  bem  italienifchen  Äomöbienfcbreiber  nicht  — febt 
flein  erfchien." 8)  SDiefe  ©orte,  welche  ficb  auf  ba8  fchnobe  Be* 
tragen  begieben,  mit  bem  SRouffeau  feinem  Berebrer  ©olboni  in 
fPariS  begegnete,  bebürfen  feines  weiteren  ©ommentarS.  ©ie 
geigen  beutlich,  bafj  fRouffeau  in  ©chiHerS  Singen  nicht  mehr  bet 
über  alles  gob  erhabene  SBeife  geblieben  ift,  baff  feine  gange 

fPerfönlicbfeit  »ielmel)t  für  ihn  etwas  unbegreifliches,  ja  gerabegu 

(661) 


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32 


etwas  abftofcenbeS  ^at.  Um  fo  auffaQenber  ift  eg,  wenn  wir  in 
einem  mit  9ted)t  gefcbäfcten  unb  in  ben  £änben  bet  3ugeub  be» 
fmblidjen  Sudjc  ©chillerS  $lerfönlicbfeit  auf  eine  Sinie  mit  ber* 
jenigen  SRouffeauS  gefteüt  ftnben.  SBieljoff,  bet  rütjmlic^ft  befannte 
33iograpb©d)ilIerS,  batnämlid)  behauptet,  baf)  SRouffeau  „fteibenfenb 
unb  bodjgefinnt,  nid)t  nur  von  ähnlichem  ©djicffale  foubern  fogar, 
wenn  wir  recht  berietet  finb,  von  a^ntic^er  Üörperform  wie  ©djiflet 
gewefen  fei."  35er  Setidjt,  auf  beit  wir  tytx  cerwieien  werben, 
ftammt  aus  bet  gebet  bet  3ulie  von  Sonbeli,  welche  bie  ©in» 
brücfe  ihrer  furgeu  Begegnung  mit  bem  fcbwätmetif(b  cerebrten 
fRouffeau  furg  aufgegeicbnet  bat-  fftacbbem  nun  Sieboff  einige 
©ä£e  aus  biefer  ©cbilberung  mitgetbeilt  ba*r  fügt  er  bü»ä»; 
„3n  biefer  fßerfönlUbfeit  festen  bie  Statut  unfern  ©Rillet  gum 
^beii  »orgebilbet  gu  ba&en-"8)  SBaS  gunäcbft  bie  Ste^nUc^feit 
bet  Äcrperform  betrifft,  fo  läfst  fidj  über  SÖlenj^en,  bie  wir  felbft 
nicht  gefannt,  barüber  fdjwerlicb  etwas  BeftimmteS  auSfagen. 
©oeiel  ftebt  inbeS  feft,  baff  wol)l  fftiemanb  oon  felbft  barauf 
fommen  würbe,  in  bem  Silbe  beS  blonben  unb  fdjlanfen  Schwaben 
eine  2lebnlicbfeit  mit  bem  unterjefjten,  bunllen  unb  in  fidj  »er« 
fdjloffenen  ©enfet  gu  entbecfen.  SDiefe  gtage  mag  febüdj  wegen 
ihrer  untergeorbneten  Bcbeutung  babin  geftellt  bleiben.  Sie 
verhält  eS  fidj  aber  mit  ber  behaupteten  Sebnlidbfeit  ber  ©chicffale 
unb  ber  9>erfönli<hfeit?  Um  bie  gängige  Unbaltbarfeit  einer 
folgen  parallele  eingufeben,  vergegenwärtige  man  fidj  nur  folgeube 
ÜJiomente:  Schüler  geniest  im  ^>aufe  ber  ©Itern  unb  in  ber 
Stnftalt  beS  ^ergogS  eine  ftrenge  unb  geregelte  ©rgiebung.  ©dfon 
als  3üngling  gelangt  er  gum  vollen  Sewufftfein  feines  25ichter» 
berufeS;  ihm  opfert  er  alle  übrigen  {Rücfftdjten  fteubig  auf,  unb 
nach  entbebrungSvollen  aber  fruchtbaren  SSanbetjabren  erreidEjt  er 
Seimar,  wo  er  im  Sunbe  mit  einet  ihm  ebenbürtigen  ©emablin 
unb  in  greunbfdbaft  mit  ben  ebelften  unb  größten  ©eiftern  ber 
Station  mit  ganger  Siebe  ftch  ben  b°f)en  Bielen  feines  ©eniuS 
bingibt.  3n  biefeS  Seben  coli  raftlofen  Schaffens,  voö  trübet 

f«62; 


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33 


@nttäufd)ungen,  aber  aud)  cett  fyofyer  unb  inniger  greube  ragt 
wie  ein  bunfler  ©Ratten  ein  gefährliches  löruftleiben  hinein, 
weld^eö  ben  mit  großartigen  Entwürfen  beschäftigten  ©idfter  in 
bet  SMiitße  beS  SDianneSalterS  batjinrafft.  — Unb  Dtouffeau? 
©et  SJtutter  beraubt,  wäcßft  er  an  ber  ©eite  eines  pfjantaftifdjen 
23ater8  tyxan  unb  entläuft  als  Änabe  feinem  Sehrmeifter,  um  ftch 
»on  Abenteuer  gu  Abenteuer  in  immer  traurigere  SJerlegenßeiten  ju 
ftür^en ; babei  gerät!)  fein  weidjeS  unb  urfprünglid)  ebleS  ©emütl), 
»ot  allem  burd)  ben  entfittlicßenben  Umgang  mit  grau  o.  33aren3, 
auf  gefährliche  Abwege.  @rft  nacßbem  er  fiebenunbbreißig  3aßr 
alt  geworben,  fommt  et  wie  burd)  3ufall  gum  SSewußtfein  feineS 
©eniuS  unb  lenft  plöfclid)  bie  Äugen  ber  Nation  auf  fid).  Äber 
aucß  je^t  noch  üerfdjmäht  er  jebeS  SDlittel,  um  3U  einet  oernünftigen 
©jrifteng  gu  gelangen.  ©t  nimmt  bie  ©herefe  Seoaffeur,  ein 
lieberlid)e8  unb  gang  gewöhnliches  ©efcßöpf,  gu  fid)  unb  bringt, 
wenn  wir  feinet  eigenen  ©arftellung  folgen,  bie  mit  ihr  erzeugten 
hinter  in’S  ginbelhauS.  9?ad)  ber  Meinung  Änberer  feilen 
biefe  Äinber  bet  ©herefe  8at  nicht  einmal  bie  feinigen  gewefen 
fein. 1 °)  Utachbcm  er  mit  ©rimm  unb  ©iberot  gebrochen,  gerfällt 
er  ber  Dieihe  nach  mit  allen  feinen  §reunben  unb  ^reunbinnen. 
Sowohl  ber  große  SBeifaü,  ben  feine  23erfe  ernten,  wie  bie  23er* 
folgungen,  bie  fie  ißm  geitweife  gugießen,  bienen  nur  bagu,  feine 
SKenfdjenfcheu  bis  gum  hödjften  ©rabe  gu  fteigern.  ©infam 
ftirbt  er  im  ßödjften  ©reifenalter  in  einem  an  ffiaßnfinn  grengenben 
Suftanbe.  — Saßtlich,  abgefeßen  baoou,  baß  beibeS  große  SDtänner 
unb  ©cßriftfteller  waren  unb  baß  beibe  oiel  non  .firanfßeit  ßeim* 
gefueßt  würben,  läßt  fid)  faum  eine  größere  ä>erfd)iebcnßeit  beS 
SebenSgangeS  benfen.  Unb  nicht  anberS  »erhält  eS  fid)  mit 
ben  ©hafteten.  SSaS  foü  man  non  einem  IDtanne  benfen,  oou 
bem  ©t.  Seune,  einer  ber  griinblichften  Äenner  ber  frangöfifeßen 
Sitteratur,  fagen  muß,  baß  er  fid)  burcßauS  nicht  genire,  gu  lügen, 
fcbalb  feine  franfßafte  ©igenliebe  im  ©piel  ift,  unb  beffeu  Siete 
gur  ©räfin  Jpoubetct  man  in  ber  ©hat  uidjt  treffender  begeidjnea 

SC  256.  3 (G63J 


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34 


fann  als  „bie  Siebe  eines  ©att>r6",  wie  ©t.  fDtarc  ©irarbiu  jte 
genannt  hat.11)  jReufjeau  fyat  baS  welthifterifche  ©erbienft,  bie 
©unbeu  feines  SahrhunbertS  Har  wie  Sftiemanb  aufgefcecft  unb 
jeinen  3eitftencffen  burcb  IXuffteUung  grofjartiger  ©efidhtSpunfte 
bie  Suft  gut  Jpeihmg  berjelben  eingefiejjt  gn  ^aben.  S>ie  4?anb, 
mit  ber  et  auf  bie  ©unben  wieS,  war  aber  leibet  feine  faubere. 
©aS  @d)ißer  betrifft,  jo  mag  man  noä)  jo  jtreng  übet  bie  ÄuS* 
jchreitungen  jeinet  Sugenbjafyre  urteilen  unb  mit  3ulian  ©djnubt 
Bon  einem  „SJtpthuS"  jvredjeu,  bet  ihn  gu  einem  lügenhaften 
•Dichter  gemacht  habe.  3)a8  aber  jtcl)t  bem  gegenüber  fcft  unb 
ift  jebenfaßS  fein  9Jh)tt)uS,  baff  ©chiflet  auS  ben  ©türmen  ber 
3ugenb  heraus  burd)  ftrengeS  Arbeiten  an  fid)  jelbft  gu  einem 
SJlanne  fid)  heranbilbete,  in  welchem  bie  eble  [Reinheit  unb 
@re§e  bet  fünftlerifdjen  3beale  unb  bet  Slbel  ber  ©efinnung 
noüfommen  harmonijdj  fid?  entjprad)en.  ©in  ©ergleid)  mit  ber 
9>erfönlid?feit  [RouffeauS,  falls  et  ernfttjaft  gemeint  ift,  wäre  für 
il)n  im  ©runbe  nichts  als  eine  33ejd)impfung. 

Um  aber  bcc^  ben  oben  angeführten  ©orten  einen  Dteft 
non  ©at)rl)eit  gu  lafjen,  muf)  man  gugeben,  baff  ©tbiflct  im 
Saufe  feines  bewegten  SebenS  geitweife  Stimmungen  aitljeimge* 
fallen  ift,  bie  unS  an  bie  bei  IRoufjeau  gut  gweiten  3latur  ge* 
worbene  ©erftimmung  erinnern,  Stimmungen,  auS  welchen 
©ebidjte  wie  bie  Diejignation  unb  bie  greigeifterei  ber  Seiben* 
fdjaften  herBorgingen.  9lud)  ift  eS  nicht  gu  Betwunbern,  bafs  ein 
jo  feuriger  ©ei ft  wie  berjenige  ©djißerS,  wenn  bie  ^»inbemifje 
beS  realen  SebenS  aßgu  Iäftig  ftch  ihm  entgegen  [teilten,  oen 
freubigem  9JlutI)e  in  oergweifelnben  SDJifjmuth  umjehlug  unb  in 
biefem  SRifemutl)  nicht  nur  mit  fid)  jelbft  fonbern  auch  mit  ber 
gangen  ©eit  unb  ben  SRenjdjen  gerfiel.  3u  einem  fold)en  3«* 
ftanb  lernte  ihn  £uber,  ber  greitnb  ÄörnerS,  in  SreSben  fennen, 
als  baS  unerquidlidje  5Ber^ältni§  gu  bem  gräulein  Bon  Srnim, 
baS  ©d)ißer  gu  löfeit  fich  fcheute,  fowie  bie  gweifelnbe  ©erge  um 
jeine  fernere  ßufunft  feinen  ©eift  in  beftänbiger  Unruhe  unb 

(6Ci)  • 


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35 


Aufregung  erhielten,  ©o  erflärt  eS  fidj,  bafj  Huber,  als  er 
©oetbeS  2affo  gelefen,  barübet  oon  OJiaing  auS  im  3abre  1790 
an  Äorner  febreibt:  „9ln  bet  SBafyrfyeit  ber  einjelnen  ßbaractere 
ift  burepauS  nichts  auSäufefsen.  SEaffo  lebt  ^wiefacb  für  un8  in 
{Rouffeau  unb  noch  3emanb,  beffen  33ilb  bei  feiner  Trennung 
con  uns  mi<b  nid)t  »etlaffen  bat."  Siefet  „nodj  Semanb"  ift 
©(filier  unb  gwat  ber  ©ebiHer,  wie  er  »oll  Unmutb  aus  SreSben 
fdjeibet,  um  in  SBeimar  ein  neues  2eben  ju  beginnen.  Safj 
foldje  taffoartigen  Buftanbe  bei  ©editier,  ebenfo  wie  bei  ©oetbe, 
nur  »crübergeljenbe  Stimmungen  waren,  bafür  wirb  eS  feiner 
Beroeife  bebürfeu.  Unjweifeltjaft  ift  ber  ©runbton  feines  8eben8 
eine  bie  5Belt  mit  intern  Treiben  freubig  ergreifenbe,  ftetS  jum 
Äampfe  bereite,  ftetS  neuen  Hoffnungen  {Raum  gebenbe  fraftooUe 
3Rännliebfeit. 


SBenn  nun  aueb  ber  ©lang,  in  weldjem  bem  Sünglinge  bie 
©eftalt  {RouffeauS  etfebienen  war,  not  ber  reiferen  ßinfiebt  be8 
SRanneS  erbleidjen  mufjte,  fo  ift  il)m  bo<b,  wie  wir  au8  ber  an* 
geführten  {Recenfion  erfaßen,  {Rouffeau  als  Sinter  „ber  grofje 
g>^ilofo^tfc^c  Siebter"  geblieben.  ßS  ift  ba8  ein  fe^t  bejeiebnenbet 
SluSbrucf  für  bie  ^uffaffung,  welebe  ©editier,  ber  felbft  im  Saufe 
feiner  ßntwicflung  ein  pbilofopbifcber  Siebter  geworben  war,  oon 
{Rouffeau  nunmehr  gewonnen  bat.  ßr  fieljt  in  ib«t  weniger 
ben  teuerer  auf  politifebem,  focialem  unb  päbagogifebem  ©ebiete 
als  ben  Siebter  ber  {Reuen  Hetoife-  2Benn  er  in  bet  Bertbeibigung 
beS  [Recenfenten,  $u  ber  er  fieb  in  golge  feines  UrtbeilS  über 
Bürger  genötigt  fab,  gelegentlieb  bie  gelben  ber  bebeutenbften 
{Romane  aufjäblt,  fo  finben  wir  bafelbft  {RouffeauS  3ulie  neben 
ÄlopfteefSßibli,  SBielanbS^fpebe,  ©oetbeS  2ßertl)er  unblRiebarbfonS 
ßlariffe  genannt.  Unb  in  feinem  Sluffafje  übet  naioe  unb  fen» 
timentalifebe  Siebtung  wibmet  er  unter  ben  neueren  elegifeben 
Poeten  cor  allem  (Rouffeau  eine  eingebenbe  Befpreebung.  ßS 
bleibt  uns  alfo  no<b  übrig,  für  fciefe  ßntwicflungSperiobe  unferS 

3*  (6«5) 


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36 


Sicbterö  baö  Serbaltniö  feiner  gieblingögebanfen  gu  benjenigen 
Stouffeauö  in  furgen  3ügen  barguftellen. 

Unfere  Setradjtung  beö  Sen  It'arloö  ^attc  mit  ben  SBorten 
Scbiflerö  gefc^lcffen:  „StidbtS  führt  gum  ©ulen,  waö  nicht  natürlich 
ift".  Sticht  minber  gilt  bem  gurGrforfdbung  bet  Äunft  fidb  wenbenben 
Sichter  bet  ©tunbfafc:  „Sticbtö  führt  gum  Schönen,  waö  nid^t 
natürlich  ift."  9luö  bet  9lrt  beö  Öerbältniffeö,  in  welkem  Äunfteb* 
ject  unb  Äünftler  gur  Statur  fielen,  entwicfeln  fid>  ihm  bie  beiben 
gtunblegenben  Segriffe  beö  Hainen  unb  Sentimentalifchen.  „3 )a» 
mit  ein  ©egenftanb  nai»  {ei,  fagt  er.  ift  eö  nötbig,  ba§  bie  Statur 
mit  ber  Äunft  im  Gontraft  ftetje  nnb  fie  befchäme".  Unb  non 
ben  Hellenen,  welche  unö  im  £omer  baö  ewige  SJtufter  naioet 
Sichtuugöart  f)interlaffen  haben,  b«fj*  eö:  „53ei  ben  ©rieten 
artete  bie  Äultut  nicht  fo  weit  auö,  ba§  bie  Statur  barüber  »er» 
laffen  würbe."  Sem  gegenüber  fdjilbert  et  mit  folgenben  tief 
empfunbenen  SBorten  bie  Stimmung,  auö  welcher  bie  fentimentalifcbe 
Sichtung  her» orgelt:  „SBir  fetjen  in  ber  uncernünftigen  Statur 
eine  glücflidjere  Schwefter,  bie  in  bem  mütterlichen  Jpanfe  gurücf» 
blieb,  auö  welchem  wir  im  Uebermutbe  unferet  Freiheit  berauö 
in  bie  frrembe  ftürmten.  SJtit  fchmerglichem  Verlangen  febnen 
wir  unö  bafyin  gurücf,  fobalb  wir  angefangen,  bie  Srangfale  bet 
Jt'ultur  gu  erfahren,  unb  hören  im  fernen  Sluölanbe  ber  Äunft 
ber  SJtutter  rübrenbe  Stimme."  Sllfo  auch  jefjt  noch  flagt  ber 
Siebter  ber  Stäuber,  wenn  auch  in  gang  anberem  Sone,  übet 
bie  Srangfale  ber  Kultur  unb  febnt  fid)  auö  bem  3tt>iefpalt 
feineö  £etgenö  nach  bet  Harmonie  ber  Statut  wie  ein  Äinb  nach 
ber  »erlaffenen  SJtutter  gurücf.  Siefe  fcbmerglicbe  Sebnfucbt 
blieb  ibm  fein  gangeö  geben  l}inburcfj  eigen,  „ttnfer  ©efübl  für 
bie  Statur,  fagt  er  fpäter  einmal  »on  fidt>  felbft,  gleicht  ber 
Gmpfinbung  beö  Äranfen  für  bie  ©efunbbeü." 

•£>ter  liegt  meineö  Sracbtenö  ber  fPunft,  in  welchem  auch 
für  bie  gefammte  fernere  @ntwicf(ung  Sdnllerö  eine  fompatbifebe 

Berührung  mit  bem  ©eifte  Stouffeauö  ftattfinbet.  Senn  gu* 

(«*«) 


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37 


gegeben  auch,  bafe  jene  fenttmentalifd)  gefärbte  Statur*  unb  Seit» 
anfehauung  bamalg  in  2)eutfd)tanb  allgemein  Derbreitet  mar,  fo 
haben  bod?  menige  ber  Beitgenoffen  biefelbe  mit  fo  grofeer  Snner« 
lidjfeit  erfaßt  unb  mit  fo  tiefen  ©ebanfen  befruchtet  al8  ©filier. 
2)a8  Unreife  feiner  jugenblidjen  ©chmärmerei  für  3ean=3acque8 
mar  übermwtben;  ber  eble  .fern  berfetben  fomie  bic  ©rnnb» 
ftimmung,  au8  ber  fie  hetuorging,  mären  geblieben.  Stuch  fonnte 
e8  ihm  nicht  fonberlich  fchmer  faden,  fich  trofe  feiner  23efchäftigung 
mit  Äant  biefe  Stimmung  $u  bemahren,  ba  biefelbe  mit  bem 
©eifte  ber  fritifchen  Schute  burdfaug  nicht  in  Siberfprucfe  ftanb. 
3mar  läfet  fich  faum  ein  größerer  ©egenfafe  augbenfen,  als  ber* 
jenige  jmifchen  ber  nüchternen  Äritif  beS  norbbeutfehen  ^)h^cfDb^e« 
unb  ber  feinreifeenben  Ueberfdtmenglichfeit  beS  ©enfer  9iomantifer8. 
Sir  miffen  aber,  bafe  auch  &ant  3«  fRouffeau  fich  htngejogen  fühlte, 
unb  feine  Schriften  gern  lag,  rcie  fehr  ihm  auch , nach  feinem 
eignen  ^cdhft  cfearafteriftifchen  9CuSf^>rud>,  bie  Schönheit  beS  2lu8* 
bruefg  bag  SBerftänbnife  berfetben  erfchmerte. 1 1 ) Söeibe  ÜRänner 
folgten  unftreitig  batin  bem  fubjectioen  Buge  ihrer  Beit,  bafe  fie 
fich  nid)t  fcheuten,  mit  altem  lleberlieferten  grünblich  su  brechen. 
Ü>a6  Äantifdhe  a priori  bürfte  faum  einen  fefcarferen  ©egenfafc 
ju  bem  2)inge  an  fid)  barftetten,  als  ber  JRouffeau’fdje  fRaturju* 
ftanb  ju  ber  gefcfeichtlichen  ©ntmicflung.  Sag  nun  Schitterg 
Stellung  3U  ben  beiben  SRännern  betrifft,  fo  fahen  mir  fefeon  bei 
Gelegenheit  ber  p^tIofopl>if Aeu  Söriefe,  bafe  ihn  ber  ©ang  feiner 
eignen  bichterifdjen  Speculation  bemog,  ben  ©egenfat)  in  ber 
Jugenblehre  Äantg  unb  Slouffeaug  auSjugteichen.  ©iefen  23er* 
fuch  führte  er  nun  in  ber  Seife  au§,  bafe  er  in  bem  23egriff  ber 
fchönen  Seele  Sinnlichfeit  unb  Sernunft,  Pflicht  unb  CReigung 
gur  Harmonie  gelangen  liefe,  unb  alfo  bie  mit  ber  fRatur  ein8-- 
gemorbene  Sittlichfeit  jum  Sbeal  erhob.  ©8  ift  unfdfmer,  in 
biefem  3beale  neben  ber  ©inmirfung  beS  fategorifchen  3gipetatio8 
noch  Büge  ber  belle  ime  IRouffeauS  ju  erfennen.  Sie  fehr 
auch  Hunt  für  ifen  in  ben  23erbergrunb  trat,  fo  gefdjah  eg  bo<h 

(«67) 


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38 


nicht  in  bem  5Diaße,  baß  baburcb  bie  non  JRouffeau  empfangenen 
Smpulfe  gänglich  ertöbtet  mären.  Ueberaü  ba,  mo  eS  fit^  im 
Allgemeinen  um  baS  Serljältniß  beS  benfenbert  itnb  empfinbenben 
SWenfchen  gut  Statur  ^anbelt,  geht  ber  Sichter  mit  ©ntfchieben* 
heit  auf  bie  ©runbanfdjauung  SHouffeauö  3m ücf. 

©änglich  »etfdjieben  non  ben  S^eotien  beS  ©enferS  ift  nun 
aber  baSjenige  ©ebanfcngebäube,  meines  ©filier  auf  ©runb 
jener  fentimentalen  Siaturanfchauung  errietet  hat.  {Rouffeau  hatte 
im  Settrauen  auf  fein  Staturecangelium  über  bie  gefammte 
Äultur  feines  3ahrhunbert3  ben  Sann  auSgefprochen,  unb  ob* 
mot)l  er  felbft  auf  feine  gebidjteten  unb  componirten  Operetten 
nicht  menig  ftolg  mar,  in  feinem  Sriefe  an  b’älembert  baS  Sheater 
als  eine  Sitten*  unb  Staturnerberbenbe  3nftitution  unbarmhergig 
»erurtheilt.  ©iner  folchen  Weigerung  tonnte  ber  Sichter  unmöglich 
beipflichten,  mcntt  er  nicht  felbft  an  feinem  Serufe  oergmeifeln 
mellte.  3m  ©egentheil  feljen  mir  Schiller  »on  früh  auf  bemüht, 
ben  ©ruft  unb  bie  äöürbe  feiner  jtunft  auf  philofophifdjem  SBege 
gu  begrünben.  Schon  oben  haben  mir  auf  bie  Slbhanblung  über 
bie  Schaubühne  als  eine  moralifche  iBnftalt  ocrmiefen.  Sie  bort 
entmicfelten  Staftdjten  mußte  er  bei  tieferer  ©inficht  in  baS 
SBefen  ber  Äunft  beträchtlich  umgeftalten,  unb  gmar  in  einem  für 
JReuffeauS  Slnfichtcn  noch  ungünftigeren  Sinn.  Sie  Jtunft 
überhaupt  in  ben  Sienft  ber  ÜRoral  gu  ftellen,  fdjien  ihm  eine  ihrer 
unmürbige  Slnforbcrung.  Sie  gilt  ihm  uielmehr  mie  er  es  in 
bem  ©ebicht  „bie  Äünftlcr"  auSführt,  als  bie  Ijöchfte  unb  eicgenfte 
Offenbarung  beS  SRenfcßengeifteS,  unb  gmar  beShalb,  meil  fie  bie 
SBelt  beS  ©eifteS  mit  bet  Sinnenmelt  in  ber  benfbar  noflfommenften 
SBeije  Bereinigt.  Son  hi«  auS  geht  ber  Sichter  nod)  einen  Schritt 
meitcr.  SBenn  bie  Äunft  in  bet  $hat  baS  eigentliche  fcebenSelement 
beS  menfchlichen  ©eifteS  ift,  fo  mirb  auch  nur  an  ißter  .panb 
bet  ÜJtenjd)  gu  ber  eingebüßten  Setlfommeuheit  ber  Statur  gurücf* 
lehren  tonnen.  So  gelangen  mir  gu  bem  großartigen  ©ebanfen 

einer  äfthetifdjen  ©rgiehung  beS  SRenjchengefchlechteS,  melchen 
(668) 


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39 


©dpHer  in  ben  Briefen  an  ben  Jperjog  bou  2luguftenburg  in 
bemielben  Saljre  auöführte,  in  welchem  balb  barauf  auch  bet 
8luffah  über  naioe  unb  fenli mentalife^e  Sichtung  erfdjieit.  SBie 
man  in  ber  SJefyre  JRouffeauö  Bon  bem  fRaturmenjchen  eine 
Utopie  gejeljen  hat,  jo  wirb  eS  auch  nicht  fdjwer  faden,  in  biefer 
aftl)etifd)cn  @rjiehungöiel)te  ctwaö  Utopifcheö  gu  etblicfen.  Seben* 
fallö  ift  unS  ber  Berfaffer  bie  lefcte  Antwort  auf  bie  grage,  wie 
benn  ber  fötenfeh  burd)  baö  ©chöne  ju  bilben  fei,  fdjulbig  ge« 
blieben,  immerhin  ift  aber  jehon  bie  Bebeutung  fceö  ©d)önen 
für  bie  ©r^iehung  gur  ©ittlidjfeit,  welche  Schiller  unumftöfjlich 
nachgewiefen  hat,  ein  ©ebanfe,  ber  alle  Sheorien  non  ber  23er* 
betblichfeit  ber  Äultur  in  ihrem  innerften  SBefen  angreift.  Unb 
benncch  hat  Schiller  bie  erften  Borauöfejjungen,  Bon  benen  feine 
Uutcrfuchung  auögeljt,  an  fRouffeau  angefuüpft.  2118  er  bie  erfte 
Qtbtheilung  ber  23riefe  in  ben  Jporen  »eröffentlichte,  fe^te  et 
an  bie  ©pi£e  berjelben  bas  Sßort  OJouffeauÖ:  „Si  c’est  la 
raison  qui  fait  1’homme,  c’est  le  sentiment  qui  le  conduit“. 
Offenbar  wollte  er  mit  biefent  SRotto  anbeuten,  baf?  er  für  bie 
3wecfe  berjenigen  ©rjiehung,  welche  er  im  2(uge  hat,  weniger 
an  baS  SlbftractionöBermögen  beß  BerftanbeÖ  alö  an  baS  ©efühl, 
infofern  eö  unmittelbar  auf  alle  Jriebe  unb  fträfte  beö  9Jienfd)en 
einwirft,  appellire."  „Ser  53cg  jum  stopfe,  jagt  er  im  achten 
Briefe,  muh  burd)  baö  .per^  eröffnet  werben.  2luöbilbung  beö 
©mpfinbungöoermogeuö  ift  baö  bringenbe  Bebürfniö  ber  3eit, 
nicht  bloö  weil  jie  ein  SCRittel  wirb,  bie  oerbefferte  ©inficht  für 
baö  lieben  wirffam  ju  machen,  fonbern  felbft  barum,  weil  fie 
jur  Berbefferung  ber  ©infidjt  wirft."  Siefer  ©ebanfe,  bem 
fRouffeau  auö  Bollem  .perlen  beiftimmen  würbe,  erhält  unter  ben 
.pänben  @d)tllerS  aber  jofort  eine  bem  ©eifte  beö  ©mil  entgegen* 
gefegte  2lnwenbung.  Unter  ©efühl  uerfteht  nämlich  ©d)iQer 
nicht  jene  ©mpfinbfamfeit,  welche  baö  mit  ber  fRatur  ibentificirte 
SRenfchenljerj  allen  ©türmen  ber  Seibenfdjaft  preiögiebt;  er  be» 

trachtet  eö  Bietmehr  nur  infofern,  alö  eö  bie  Borauöfejjung  unb 

(<*!>) 


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40 


©runblage  311  bcmjenigen  menfc^ltdien  Stiebe  bilbet,  ben  er 
ben  Spiettrieb  nennt,  unb  ber  aQe  finnlid)cn  unb  fittlicben 
Äräfte  3U  polier  Harmonie  pereinigt.  ©em  cntfpricht  aud)  bie 
Stuffaffung  beß  Staturbegriffeß,  welcher  wir  in  ben  äftbetifd^cn 
Briefen  begegnen.  „©ie  Statur,  Reifet  eß  am  Anfänge  beß 
britten  S3riefe§,  fängt  mit  bem  3Jtenid)en  nicht  befjer  an,  alß 
mit  ihren  übrigen  SBerfen:  fie  haubelt  für  ilin,  ioo  er  alß  freie 
3nteHigen3  noch  nid)t  jelbft  tyanbeln  fann.  Siber  eben  baß  macht 
ihn  jum  SJlenfdjen,  baff  er  bei  bem  nid)t  ft i 11  c ftefyt,  mag 
bie  b 1 e Statur  auß  ihm  madite,  fenbcrn  bie  gä^igfcit 
befijjt,  bie  (Stritte,  welche  jene  mit  ihm  anticipirte,  burd)  Skr* 
nunft  wieber  rütfwärtß  3U  thun,  baß  Söerf  ber  Stoth  in  ein 
SBerf  feiner  freien  Söalji  umgufdjaffen  unb  bie  phpftfd)e  Stoth* 
Wenbigfeit  3U  einer  moralifdjen  3U  erheben."  SSir  fel>en,  wie 
fehr  Sd)itlcr  ftetß  beß  fategorifd>en  Jmperatipß  eingebenf  ift. 
SSährenb  Steuffeau  abfichtlid)  bei  bem  ftille  fielet,  waß  bie  Statur 
auß  bem  SKenfchen  gemacht  bot  unb  jeben  Äeim  intellectueller 
©ntwicflung  ignorirt,  beginnt  für  Schiller  baß  9)tenfd)enwürbige 
erft  ba,  wo  ber  SJtenjd)  auß  eigener  Selbftbeftimmung  fid)  @e* 
fejje  porfebreibt.  ©aff  fold)e  ©efefce  ber  Skrnunft  nidjt  etwa 
mit  benen  ber  Statur  übereinftimmen,  geht  auß  ben  folgenbeit 
3eilen  berpor:  „Sr  fommt  3U  fid>  auß  feinem  finniiehen 

Schlummer,  erfennt  fich  alß  SJtenfd),  blirft  um  fid)  her  unb  finbet 
fid)  — in  bem  Staate,  ©er  3wang  ber  33ebürfniffe  warf  il)« 
hinein,  ehe  er  in  feiner  Freiheit  biefen  Stanb  wählen  fonnte; 
bie  Stoth  ridjtete  benfclbeu  nad)  bloßen  Staturgefefceu  ein,  ehe 
er  cß  nach  Skrnunftgefefjen  fonnte."  Stouffeau  will  beu  Anfang 
alleß  llebelS  gerabe  barauß  erflären,  baf)  ber  SJtenfd)  fid)  ein« 
fallen  läf$t,  pon  ben  Staturgefejjen  abguweichett.  Schiller  fe|tt 
hier  ben  burd)  beu  3wang  ber  Stoib  unß  aufgebrungenen  ©e» 
fcjjen  ber  Statur  bie  Skrnunft  mit  ihrer  fclbft  beftimmenben 
Freiheit  alß  baßjenige  ^Jringip  gegenüber,  welcheß  allein  bem 
Sßefen  beß  SD?enfd>eu  entfpricht,  unb  geigt  nun  an  bem  Skifpiel 

(CIO) 


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41  ■ 


ber  ©he  auf  ba$  Sreffenbfte,  wie  bet  OKenfch  im  ©taube  ift, 
burd)  feine  §teii)eit  beu  gemeinen  (5i)atactet  beS  0iaturge[etje8 
auSgulöfchen  unb  gu  »erebeln.  „@o  holt  er,  ^ei§t  ed  an  ber 
begegneten  ©teile  weiter,  auf  eine  fünftlidje  Seife  in  feiner 
33otljährigfeit  feine  Äinbljeit  nad),  bilbet  fid)  einen  0laturftanb 
in  ber  3bee,  ber  ihm  gwat  butd)  feine  ©rfahtung  gegeben,  aber 
burd)  feine  33ernunftbeftimmung  notljwenbig  gefegt  ift,  leil)t  fid) 
in  biefem  ibealifchen  ©tanb  einen  ©nbgwedf,  ben  er  in  feinem 
wirflidjen  0laturftanb  nicht  fannte  unb  eine  SBa^l,  beten  er 
bamalS  nicht  fähig  war,  unb  »erfährt  nun  nicht  anberS,  als  ob 
er  »on  »otn  anfinge  unb  beu  ©taub  ber  Unabhängigfeit  au8 
hellet  ©inficht  unb  freiem  ©ntjehluffe  mit  bem  ©tanb  ber  33er* 
träge  »ertaufebte.  — 2luf  biefe  9lrt  entfielet  unb  rechtfertigt  ftd) 
bet  33erfnch  eines  münbig  geworbenen  33olfe8,  feinen  01  a tut* 
ftaat  in  einen  fittlichen  umguformen."  Siefe  Sorte,  welche 
mit  unoerfennbarer  SBegiehung  auf  bie  ftangöfifche  Sfecolution 
gefdjtieben  finb,  geigen  unS  ben  merfwürbigeit  ©egenfafc  »on 
0laturftanb  unb  0faturftaat.  Sen  leüteren  nennt  ber  Siebter 
aud)  ben  wirflichen  Ofaturftanb  unb  ben  ©tanb  bet  Verträge, 
b.  h-  et  meint  bamit  ben  gefcfjichtlidb  geworbenen  3uftanb  bet 
SJfenfchheit  mit  feinen  taufenb  @d)äben  unb  franfbaften  @r* 
fdjeinungen,  benfelben  3ufianb,  gegen  welchen  Siouffeau  in  feinem 
©ocialen  ©ontract  gu  Selbe  gegogen  war,  gegen  beffen  33egeicf)nung 
als  Sftaturftaat  er  fich  aber  entfdjieben  »erwahrt  haben  würbe. 
Sem  gegenüber  »erweift  unS  ©dhiBer  auf  eineu  ibealen  0?atur« 
ftanb,  welken  ber  gut  fittlichen  Steilheit  erwachte  9)len]'d)engeift 
fid)  entwirft,  gleichfam  ein  retrofpectbeS  23ilb  »on  ber  urfptüng* 
liehen  33ollfommenbeit  beS  menfdhlichen  SafeinS.  Siefer  0fatur* 
ftanb  in  ber  3bee,  bem  er  jebe  Siealität  ber  ©rfahrung  abfprid^t, 
hat  burdhauS  nichts  33crwanbteS  mit  bem  »on  Ufouffeau  gepriefenen 
0faturguftanbe.  Senn  gugegeben  felbft,  JRouffean  habe  nidht  ge* 
meint,  ba§  ein  folget  0fatnrgnftanb  für  bie  gange  9ftenf<bheit  in 

ber  Sirflidhfeit  »orbanbeu  gewefen  fei,  fo  ift  eS  hoch  ungweifel* 

(611) 


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42 


haft,  baf?  er  ton  bem  [Begriffe  ber  Statur  ängftlich  jebe  Untoö» 
fommenheit  fern  hielt  unb  für  bie  ©rgieljung  be8  eingelnen 
SJtenfchen  nichts  Jpo^crcS  begwecfte,  als  baff  berfelbe  ein  Statur» 
menfdj  werten  unb  bleiben  foDe. 

33on  ber  Statur  gelangen  »ir  gleidjfam  wie  non  felbft  gur 
Äultur.  Söenn  wir  fragen,  woher  benn  jene  taufenb  ©chäben 
ber  SJtenfchh«*  ftammen,  antwortet  ber  SSerfaffer  in  fchetnbarer 
Uebereinftimmung  mit  Stouffeau:  „IDie Kultur  felbft  war  e8,  welche 
ber  neueren  SJtenfdjheit  biefe  Söunbe  fdjlug."  SBohl  gu  beachten 
ift  inbeö,  baf)  er  nicht  ton  ber  gefammten  SJtenfcbheit  überhaupt, 
jonbern  fpeciell  non  ber  neueren  SJtenfcbheit  fpricht.  @8  bat 
nämlich  nach  fein«  Uebergeugung  in  ber  $hat  eine  3eit  gegeben, 
bie  33lüthegeit  be8  griechifchen  SllterthumS,  in  welcher  bie  Äultur 
fo  weit  e8  möglich  tft,  bem  ätßefen  beS  SJtenfchen  entfprach,  wo 
bie  Sßelt  ber  ©innen  mit  ber  ber  SJtoral  in  ©inflattg  ftanb,  unb 
bie  ©efammtheit  ber  menfchlichcn  Äräfte  gu  toller  (Entfaltung 
gelangte,  ©rft  mit  bem  Verfall  ber  Stntife  fam  bie  SJtenfcbheit 
auf  fo  gefährliche  Slbwege,  baf)  bie  ton  ber  Statur  gewollte 
Totalität  ternichtet  würbe.  „2)ie  ßennttung,  welche  Äunft  unb 
©elehtfamfcit  in  bem  inneren  SJtenfchen  anfingen,  machte  ber 
neue  ©eift  ber  [Regierung  tollfommen  unb  allgemein.  @8  war 
freilich  nicht  gu  erwarten,  bah  bie  einfache  Drganifation  ber  erften 
Siepubtifen  bie  ©infalt  ber  erften  ©itten  unb  SJerhältniffe  über* 
lebte;  aber  anftatt  gu  einem  ljöl>ere»t  animalifchen  heben  gu  fteigen, 
fanf  fie  gu  einer  gemeinen  unb  groben  ÜJtedjanif  herab.  3ene 
fpolppennatur  ber  griecbifcben  ©taaten,  wo  jebeö  Snbitibuum  eines 
unabhängigen  hebend  genofj  unb,  wenn  e8  noth  that,  gum  ©äugen 
werben  fonnte,  machte  je£t  einem  lunftreichen  Uhrwer!  §>laj),  wo 
aug  ber  3ufammenftücfelung  unenblicb  tieler,  aber  leblofer  SLljetlc 
ein  mechanif^cS  heben  im  ©angen  fich  hübet."  Erörtern  ter* 
gweifelt  ber  Siebter  nid)t  an  einer  befjeren  3«Tunft.  „GS  muf) 
bei  uuS  ftehen,  ruft  er  au§,  bie  Jotalität  unfrer  Statur,  welche 
bie  Äunft  gerftört  hat,  burdj  eine  böhcte  Äunft  wieberhergufteKeu." 

(6T2) 


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43 


Sollte  biefe  2ßirfung,  fo  lautet  bie  Frage  »etter,  oielleicbt  con 
be»  Staate  gu  erwarten  fein?"  SDaS  ift  unmöglich,  bettn  bet 
Staat,  wie  er  jefft  corbanben  ift,  bat  baS  Uebcl  gefdjaffen,  unb 
ber  Staat,  »ie  ihn  bie  Vernunft  in  ber  3bee  fid)  aufgiebt,  an» 
ftatt  biefe  beffere  3Dienfd)beit  begrünben  gu  fönnen,  müfete  felbft 
erft  barauf  gegrünbet  »erben.  SDarauS  entfielt  nun  bie  Folgerung, 
man  muffe  gn  biefem  3»ecfe  ein  SBerfgeug  auffud)en,  welches  ber 
Staat  uidjt  ^ergibt,  unb  Quellen  eröffnen,  bie  fid)  bei  aller  po» 
litifd?eu  unb  focialen  Verberbniff  rein  unb  lauter  erhalten  haben. 
,£>iejeS  SBerfgeug  ift  bie  fd)öne  Äunft,  biefe  Quellen  öffnen  fid) 
in  ihren  unftcrblid)en  SDiuftern." 

9Rit  biefer  Söenbuttg  nimmt  Sd)iller  gleicbfam  9lbfd)ieb  non 
bem  Sdjauplafj  ber  ^)olitif.  Sd)merglid)  enttäufdjt  burdj  beit 
SuSgang  ber  fo  beffnungSnoll  begrüßten  frangöfifd)en  Öienolution 
cerpflangt  er  bie  3bee  ber  Freiheit  non  bem  (gebiete  beg  Staates 
auf  bagjenige  ber  jfunft.  Smmer  meffr  »ar  in  ihm  baS  Sbeal 
jener  Freiheit  unb  ©leic^^eit  erblafft,  für  baS  er  einft  im  Sinne 
beS  Socialen  GontracteS  fo  ftürniifd)  bie  Sange  gebrochen.  SaS 
fittlid)  Sd)öne  »ar  bagegen  gum  Gentralpunct  feines  gangen 
SDenfenß  unb  SidjtenS  geworben,  unb  mit  bem  Grnfte  einer  wahr« 
baft  religiöfen  Vegeifterung  gab  er  fid)  biefer  3bee  bi»-  @c  ruft 
er  am  Sdjlufje  beS  neunten  VriefeS  bem  jungen  Freunb  bet 
SBabtbeit  bie  berrlic^en  Söorte  gu:  „®er  Gruft  beiner  ®runb» 
taffe  »irb  beine  Seitgenoffen  non  bir  fd)eud)en,  aber  im  Spiele 
ertragen  fie  fie  nod);  ibr  @efd)macf  ift  feufdjer  als  il)t  -jperg  unb 
hier  mufft  bu  ben  fdjeuen  Flüchtling  ergreifen.  Verjage  bie 
SBiUfür,  bie  grioolität,  bie  Oioffigfeit  auS  ihren  Vergnügungen, 
fo  toirft  bu  fie  unoermerft  aud)  auS  ihren  ©efinnuugen  cerbannen. 
SSo  bu  fie  fiubeft,  umgieb  fie  mit  eblen,  mit  groffen,  mit  getft» 
reid)en  Formen,  fdjlieffe  fie  ringsum  mit  ben  Smnbolen  beS  Vor« 
trefflichen  ein,  bis  ber  Schein  bie  SBirflid)feit,  unb  bie  Äunft 
bie9iatur  überwinbet."  9118  bie  leffte  Aufgabe  ber  dftbetifeben 
©rgiebung  erfennt  alfo  Schiller  baS,  »aS  fRcuffeau  unmöglich 

(673) 


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44 


bünftc:  bie  Snntfeefe  «cn  fftatur  unb  Äultur.  ©ieS  3beal, 

welches  bic  perlenen  einft  nerwirflidjten,  eS  ift  auefe  für  uttS, 

wenn  audb  unter  anberen  Umftänben  unb  auf  anberen  Söegen 

erreichbar;  benn  „bie  Sonne  Römers,  fiefee,  fie  läcfeelt  audfe  unS."  — 

®a  wir  bem  ©ebanfengange  Sd)ilIetS  bis  feie^er  gefolgt  finb, 

wirb  eS  faum  nodj  im  SBefentlidfen  einer  weiteren  Stflärung  beS 

UribeilS  bebftrfen,  weld'eS  er  in  feinem  Sluffafee  über  naice  unb 

fentimentalifefee  JDidftung  über  SRouffeau  gefällt  Ijat.  9fur  gut 

23eurtl)eilung  SdjiHerS  felbft  fei  eS  feere  orgel?  oben,  bafe  et  offen* 

bar  auS  Spmpatfeie  mit  ber  ©mpfinbungSweife  fRouffeauS  and} 

für  baSjeuige,  was  er  an  feiner  J'enfwcife  tabeln  mufe,  bie  ebelften 

©rflärnngSgrünbe  aufgufudben  bemüht  ift.  6t  beginnt:  „fRouffeau, 

als  ©iefeter  wie  als  ^'bilcfopfe,  feat  feine  anbere  Senbeng,  alS 

bie  fftatur  entweber  gu  fuefeen,  ober  an  ber  Äunft  gu  räcfeen.  3e 

nadjbem  fein  ©efüfel  entweber  bei  ber  einen  oDet  bei  ber  anbern 

verweilt,  finben  wir  ifen  halb  elegifd)  gerührt,  halb  gu  3ueenalifcfeer 

Satire  begeiftert,  balb,  wie  in  feinet  3ulie(  in  baS  $elb  ber 

3bplle  entgücft."  — ©er  anfdfeeinenbe  Sßiberfprud),  bafe  Stillet 

auS  ber  hoppelten  Senbeng,  bie  er  feinem  ÜSutor  guiefereibt,  un* 

«ermittelt  in  bie  ©reitfeeilung  übergefet,  finbet  barin  feine  gofung, 

bafe  feier  bie  3bpHe  als  eine  Unterart  ber  elcgifdfeen  ©iefetung  be* 

fonberS  feeroorgefeoben,  unb  ber  ©legie  im  engeren  Sinne  ent* 

gegengeftellt  wirb,  ßefetere  fteOt  bie  fftatur  als  einen  ©egenftanb 

ber  SBcfemutfe  bar  — fie  rüfert;  erftere  bagegen  als  einen  ©egen* 

ftanb  ber  freute  — fie  entgücft.  (Sr  fätjrt  fort:  „Seine 

©iefetungen  haben  unwibetfprecfelicfe  poetifefeen  ©efealt,  ba  fie  ein 

♦ 

3beal  befeanbeht;  nur  weife  er  benfelben  nicht  auf  poetifefee  SBeife  gjt 
gebraudjen.  Sein  ernfter  (Sfearnftcr  läfet  ifen  gwar  nie  gut  Frivolität 
feerabfinfen,  aber  erlaubt  ifem  auch  nicht,  fidfebiS  gumpoetifdben  Spiele 
gu  ergeben.  Söalb  burefe  geibenfefeaft,  balb  burefe  2lbftraction  ange* 
fpannt,  bringt  er  eS  feiten  ober  nie  gu  beräftfeetijefeen  Freiheit,  welcfee 
ber©id)ter  feinem  Stoff  gegenüber  behaupten,  feinem  gefermittfeeilen 
mufe.  (Sntweber  ift  eS  feine  frnnfe  Gfmpfinblicfefeit,  bie  übet  ifen 

(674) 


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45 


herrfchet  unb  feine  ©efühle  bis  gum  peinlichen  treibt;  ober  eS 
ift  feine  SDentfraft,  bie  feinet  3magination  geffeln  anlegt  unb 
burdj  bie  Strenge  beö  Begriffs  bie  Slnmuth  beS  ©emalbeS  ner* 
nietet.  SBeibe  ©igenfdjaften,  beren  innige  SBechfelmirlung  unb 
Bereinigung  ben  Poeten  eigentlich  auSmacht,  finben  fidb  bei  biefem 
Sdjriftfteller  in  ungemohnlich  ^ot?em  ©rab,  unb  nidjtö  fehlt,  als 
bah  fie  fidf  auch  mitflid)  mit  einanber  Bereinigt  äußerten,  bah 
feine  Selbftthätigfeit  fich  mehr  in  fein  ©mpfinben,  bah  feine 
©mpfanglichfeit  fich  mehr  in  fein  ©enfen  mifchte."  Bon  biefer 
Äritif  ber  SarfteBungSmeife  BouffeauS,  in  melier  mir  neben 
bet  unferm  dichter  eigenthümlidjen  Reinheit  unb  BtUbe  beS  9tu§= 
brucfS  gugleidj  baS  Sreffenbe  beö  Sabels  bemunbetn,  geht  er  enb* 
Hch  gu  einet  Befptedjung  beö  Bouffeaufcheu  BaturibealS  übet. 
„Sähet  ift  auch  in  bem  Sbeale,  baS  er  non  bet  Ptenfchbeit  auf* 
ftellt,  auf  bie  Schtanfen  berfelben  gu  Biel,  auf  ihr  Bermögeu  gu 
menig  Bücfftcht  genommen,  unb  überall  mehr  ein  Bebürfnifj  nad) 
phbfifdjet  Buhe,  als  nach  moralifcher  Uebereinftimmung 
barin  fid)tbar.  Seine  leibenfchaftliche  ©mpfinblichfeit  ift  fchulb, 
bafe  et  bie  SBenfdfheit,  um  nur  beS  Streits  in  berfelben  recht 
balb  loS  gu  merben,  liebet  gu  bet  geiftlofen  ©infürmigfeit  beS 
erften  StanbeS  gurüdgeführt,  als  jenen  Streit  in  bet  geiftreidjen 
Harmonie  einer  burdjgeführten  Bilbung  geenbigt  feljen,  bah  er 
bie  jtunft  lieber  gar  nicht  anfangen  taffen,  als  ihre  Boüenbung 
ermatten  mill,  furg,  bah  er  baS  ßiel  lieber  niebriger  ftecft  unb 
baS  3beal  lieber  herabfetjt,  um  eS  nur  befto  fdjneller,  umeS  nur 
befto  ficherer  gu  erreichen." 

2Sit  ftehen  am  Schluffe  unfrer  Betrachtung.  Snbem  mir 
Schillers  ©ebanfenoerhaltniS  gu  Bouffeau  unterfuchten,  finb  mir 
in  auffaUenber  2Beife  an  bie  ^auptftabien  in  ber  ©ntmicflung 
unferS  SidjterS  felbft  erinnert  morben.  3uerft  fahen  mir  ihn, 
mie  er  boB  peffimiftifdjen  SBeltüberbruffeS  bie  jugenblicbe  Stirn 
in  Balten  gog,  um  ein  fecfeS  pfui  auSguftohen  über  baS  tinten* 
fledffenbe  Säculum  unb  baS  fdjlappe  Gaftratenjabrbunbert.  So* 

(G75j 


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46 


bann  oermanbelte  et  fid)  Der  unfern  äugen  in  ben  non  ben  Isert* 
lichften  Hoffnungen  für  bie  3ufunft  ber  ÜRenfchheit  getragenen 
sJJlarquiß  sJ)ofa,  beffen  Dptimißmuß  wir  mieberfinben  in  ben  än* 
fangßroorten  beß  ©ebichteß  „bie  Äünftler" : „SBie  fd>ön,  o ÜJienfch, 
mit  beinern  f>almengmeige  ©tehft  bu  an  beß  Sa^r^unbertd  ffteige 
3n  ebler  [teiger  SJlcmnlichfeit!'1  S3on  hier  auß  mürben  mit  gu» 
le$t  gu  ben  äftfjetifd^en  Briefen  geführt,  auß  benen  unß  bie  oon 
beiben  Cjrtremen  gleich  weit  entfernte  SJiahnung  entgegentönt: 
„gebe  mit  beinern  3aljrbunbert,  aber  fei  nicht  fein  ©efchöpf;  leifte 
beinen  3eitgenßtfen  aber  maß  fte  bebürfen,  nicht  maß  fte  loben." 
Unb  maljrlich  ber  «Dichter  mar  berechtigt  gu  folchet  SRaljnung; 
er  felbft  hat  ihnen  geleiftet,  maß  fie  beburften.  3n  bem  lebten 
feinet  ©ramen,  bem  SeH,  ^intcrlie§  er  feinem  politifdj  gefallenen 
33olfe  ein  äkrmächtniß,  baß  ihm  mehr  uub  mehr  über  feine 
mähren  Sebenßbebingungen  unb  ßiele  bie  äugen  geöffnet  hat. 
Unb  hier  finb  mir  gum  lejjten  fDiale  neranlafct,  einen  Süd  auf 
Stouffeau  gu  merfeh.  äu<h  er  hat  trof}  feiner  äbneigung  gegen 
baß  Sweater  pie  Helben  bet  ©chmeig  alß  roürbigen  ©egenftanb 
ber  tragifchen  Söiufe  empfohlen.  „2Baß  geht  unß  ein  ^ompefuß 
unb  ©ertoriuß  anV,"  ruft  ©t.  fPreur  mit  23egug  auf  bie 
claffifchen  Helten  beß  Corneille  auß.  „©teile  man  hoch  in  23ern 
Bürich,  im  H°ag  bie  alte  3raiughetr{chaft  beß  Haufeß  Deftreid) 
bar,  unb  bie  Siebe  gum  33aterlanbe  unb  gur  Freiheit  mirb  alß» 
bann  bie  2heilnahme  für  foldjeStücfeermecfen.''  ©aß  ermattete 
freilich  Stouffeau  nicht,  baff  umgefehrt  aud)  burd)  folche  ©tücfe  bie 
fchlummernbe  Siebe  gum  23aterlanbe  unb  gur  Freiheit  im  Hergen 
beß  Sßolfeß  ermeeft  merben  fönne;  unb  hoch  ift  unß  ©eutfdhen, 
menn  mir  auf  bie  Beit  feit  ©djillerß  £obe  gurüeffehen,  bie  pro* 
phetifd)  mahnenbe  ©eftalt  beß  greifen  ättinghaufen  bafür  bet 
fchönfte  Söemeiß. 

(676) 


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Shtmerfuitßcn. 


1)  91 1 färb,  granjof.  8itt.-@efcb.  IV.  ©.  423. 

2)  £>.  fp.  Sturj.  ©efammclte  Söerfe.  II.  ©.  1 ff. 

3)  Utber  fcie  Schiebungen  biejer  Same  ju  SKouffeau  cgi.  (5.  S3o» 
bemann:  3ulic  b.  Sonbcli. 

4)  ^lutard?.  üllariuS,  5tap.  40. 

5)  5t.  S£u?eftcn,  ©filier  in  feinem  SßerfjältniS  $ur  SBiffenfc^aft.  ©.12. 

6)  5tuno  §if<$cr,  ©djiller  als  fPfjilejopb  ©.  26.  Ser  ÜBortrag 
beffelben  SerfafferS  „bie  ©elbftbefenntniffe  ©filier«"  nimmt  ebenfalls 
9tücffi<$t  auf  bie  Schiebungen  beS  SDicbterS  ju  IKouffeau. 

7)  Sriefwe^fel  mit  5tcrner.  I.  ©.  254. 

8)  SUIgem.  8itt.*3tg.  1789  9tr.  13.  2>a8  reccnfirte  £Buc^,  meines 
Bon  ©djatj  ins  Scutfdje  überlebt  mar,  trägt  bcn  Xitel : Memoires  de 
M.  Goldoni,  pour  servir  ä l’histoire  de  sa  vie  et  ä celle  de  eon 
theätre.  Paris  1787. 

9)  3$icljoff»£>offmcifter,  ©djillerS  8eben  1.  ©.  66.  3"  fürjli<b 
crfcbiencnen  Umarbeitung  beS  SkrfcB  ift  bie  ©teile  mit  9iccbt  unterbrüdt. 

10)  ÜJlan  ogl.  inSbefonbere  einen  2luffa§  ber  ©eorge  ©anb  in  ber 
Rev.  des  deux  Mondes  (1863),  betitelt:  les  Charmettes. 

11)  Ste  Beuve,  Causeries  du  lundi  VII  ©.  326.  St.  Marc-Gi- 
rardin  in  ber  Rev.  des  deux  Mondes  (1853). 

12)  ÄantS  5fi?crfc,  IjcrauSg.  Ben  ftartenftein.  VIII.  S.  618. 


(C77) 

Sratt  ccn  (Bt&r.  U ti  3 e i (Sb.  (irimm)  in  Sttltn,  £ djcnt  trrjirftr.  17». 


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oiutf & tut}*  c&tnu 


in 

H(g$lafrika* 


Vertrag,  gehalten  im  gebruar  1876 
ron 


Dr.  ^uMoti, 

tttilanC  ^tefefier  in  ©rcifämalt. 


ßrrlin  SW.  1S7Ö. 

23  c r l a g non  (Sari  £ a b e I. 

(<C.  ijp.  i'obrrilj’jdj;  nnligshndijionWnni!.) 

M.  ffiilWm  • Stnjf  33. 


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SDaß  SRccht  bet  Uebetfefcnng  in  fttmbe  ©praßen  Bttb  rorbebaltea- 


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I 


I 


I 


^nfcem  id)  beabfidjtige,  einige  Schitberungen  gü  geben  »on  ®e* 
genben  unb  336lfern,  welche  gu  ben  weniger  gefannten  geböten 
dürften,  müfcte  ich  faft  befürchten,  bie  Stnfmerffamfeit  für  etwaß 
«Ugu  fetnliegenbe  Singe  in  ISnfptuch  gu  nehmen,  wenn  nicht  ge» 
tabe  in  neuefter  Seit  baß  allgemeine  Sntereffe  etwaß  mehr  auf 
jene  ©egenben  geteuft  worben  wäre. 

Seitbein  baß  neu  erwachte  Sntereffe  für  bie  ©rforichung  beß 
gewaltigen  Sontinentß  non  Sfrifa  eine  faft  ununterbrochene  9teihe 
größerer  ©ntbecfungßreifen  in’ß  geben  rief,  bilbeten  faft  außfchliefj» 
lieh  bie  nörbtidjen,  öftlichen  ober  f üblichen  jfüftenlänber  ben  9luß» 
gangßpunft  für  biefelben.  Sie  SBeftfüfte  unb  namentlich  ber  mehr 
äquatoriale  Sheil  berfelben  blieb  bagegen  fo  wenig  berüeffi  (tätigt, 
ba&,  mit  Slußnahme  einiger  größerer  Stromgebiete,  wie  beß  SRi» 
ger,  beß  Galabarfluffeß,  unb  in  neuerer  3«t  beß  Dgowe,  man  auch 
tynte  noch  behaupten  fann,  baß  unbefannte  ©ebiet  beginne  hier 
beinahe  überall  bereitß  an  ber  Äüfte  felbft. 

SRidjt  alß  ob  eß  ganglid)  an  SSerfudjen  gefehlt  hätte,  auch 
ton  biefer  Seite  her  bie  geogtaphühen  Serhaltniffe  ber  Sinnen* 
länber  gu  erforfchen,  hoch  würben  biefe  Seftrebungen  im  ©äugen 
nnt  »on  feljr  geringem  ©rfolg  begleitet. 

Sn  ungewöhnlicher  SEBeife  würbe  baß  Sntereffe  für  biefe 

257.  1*  (681) 


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4 


©egenben  in  neuerer  3«t  rege  gemalt  burd^  bie  tebenbigen 
©cfyilberungen  eines  ber  glücfticheten  Sftetfenbeu  25  u Gbatüu, 
welcher  in  ben  3at?ren  1857—59  »on  »erjchiebenen  fünften  ber 
frangöfifcben  Kolonie  ©abun  glürflid)  »orbrang.  @8  waren  aQer* 
bingS  bafelbft  butch  ben  Englänber  Vruce  SBalfer  unb  mehrere 
ftangöfijche  jReifenbe  bereits  mancherlei  geocgrapbjtfc^e  Entbecfungen 
gemacht  worben,  bennod)  aber  erregten  fein  Vorbringen  gu  bem 
bamalS  noch  feljr  wenig  befannten  friegerifchen  VolfSftamme  bet 
§an  Sieger,  fowie  bie  ÜJtittheilungen  übet  ben  .Kannibalismus  ber« 
felben,  fowie  bie  p^antafttfc^en  ©chilberungen  ber  Sthietwelt  jener 
fchwer  zugänglichen  SBilbniffe  allgemeine  ©enfation.  Sftufj  man 
auch  einräumen,  baf)  eS  biefer  talentocHe  SReifenbe  mit  ber  SSaht* 
heit  nicht  immer  feljr  genau  genommen,  unb  bafj  namentlich  feine 
wunbetbaren  Berichte  über  bie  ©ewohnheiten  beS  ©oritla  SJlähr» 
chen  bet  Eingeborenen  ihren  llriptung  oerbanfen,  bie  beu  liefern 
als  felbftexlebte  Shatjachen  anfgetifd,t  würben,  jo  fann  es  hoch 
nicht  in  'Jbrebe  gefteüt  werben,  bah  berfelbe  unbegweifelt  baS 
SBerbienft  hat,  mit  einer  ungewöhnlichen  VeobadjtungSgabe  eine 
Sülle  oon  ethnographifch  unb  geographU<h  hödjft  iuterefjauten, 
»on  allen  fpäteren  JReijenben  beftätigten  Shatjadhen  gu  ermitteln 
unb  bie  allgemeine  ÜHufmerfamfeit  guerft  in  heroorragenber  SBeife 
auf  biefeS  intereffante  BorjdjungSgebiet  gelenft  gu  haben. 

9luf  biefem  SBege  wirb  gegenwärtig,  feitbem  ber  mächtige 
Dgeweflnh  für  ben  £aubel  erjchlofjeu  ift,  gang  befonfcerS  eifrig 
»on  SDeutfdjcn  jowohl  als  »cnfftangofenoorgegangen.  ^)ier erreichte 
guerft  einet  ber  tKngeftellten  beS  SDeutfchen  ^)anbel§haufeS  SBoet* 
mann,  ^perr  Emil  ©djulge  auf  einer  ^aubelSerhebition  baS  ferne 
8anb  »on  £>fanba,  14  Stagereifert  »on  ben  äufjerften  Baftoreien 
entfernt,  unb  eS  würbe  aisbann  »on  ben  Btangofen  SDRarquiS  be 
Eompiegne  unb  SDiarfh  1873  noch  etwas  über  biejen$)unft  hinaus 
»otgebrungeu,  währeub  gegenwärtig  qperr  Dr.  genjj,  auSgcfenbet  »oit 

iß«) 


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5 


ber  äfrtfattifdjen  ©efcll  jehaft,  gum  gweiten  SERale  nachDfanba  gegan* 
gen  ift,  mit  bem  bestimmten  {plane  oon  bott  au?  weitet  in?  innere 
gu  bringen.  5)  Ungmeifelt)aft  bürfte  biefer  SBeg  non  ber  SSeft» 
füfte  au8  bie  günftigften  (Jijancen  barbieten,  obgleich  bet  obere 
Cgowe  wegen  bet  rei§enben  Stromfdhnetlen  feh*  Schwierig  gu 
befahren  ift,  ba  fdjwarge  £änbler  hie*  »eit  in?  3nnere  gehen 
unb  e8  nicht  So  fehr  grofje  Schwierigfeiten  hat  für  auSgebeljntere 
{Reifen  Begleiter  gu  finben. 

93on  anberen  neueren  Unternehmungen,  welche  hie*  genannt 
werben  tonnten  unb  meift  Reinere  {Reifen  oon  SRiffionaren  ober 
anberÄüftelebenben  ©uropäern  betreffen,  wiHid)  nur  bie  1862  oon 
bem  beutfchen  Sotaniter  ©.  3Jiann  unb  bem  befannten  englifchen 
{Reifenben  23urton  auSgeführte  ©rfteigung  beö  ©amaroongebirgeS 
heroorheben.  £err  5Rann,  ber  Später  in  3Rabaga8car  geftorben 
ift,  hielt  fich  über  ein  Sah*  lang  in  SSictoria,  einer  5Riffion8* 
ftation  am  Suffe  be8  ©ebirgeS,  auf,  oon  wo  au8  er  gahlreidje 
9tu8flüge  in  baffelbe  machte  unb  bie  ^auptgipfel  beffelben  mehrfach 
erflieg. 

Die  naheliegenbe  Srage,  weffhalb  e8  einer  Slngahl  unterneh* 
menbet  unb  auch  mit  guten  ^>ülf8mitteln  au8gerüfteter  {Reifenber 
bisher  noch  nicht  hat  gelingen  wollen,  in  irgenb  beträchtlicherem 
Umfange  in  ba8  3nnere  be8  8anbe8  gu  gelangen,  bürfte  einige 
©rläuterungen  in  demjenigen  finben,  wa8  ich  heute  über  8anb 
unb  2eutc  in  jenen  ©egenben  mitgutheilen  mir  erlaube,  wobei 
ich  oorgugSweife  bie  Stämme  ber  dualla  ober  ©amaroon*fReger, 
bei  welchen  ich  beinah  S»ei  3ah*e  gubrachte,  gu  fctjUbern  haben  werbe. 

©he  ich  mich  nun  gu  einer  Schilberung  biefe8  SßolteS  felbft 
wenbe,  bürfte  e8  angemeffen  erfcheinen,  gunächft  bie  S3efchaffenheit 
be8  oon  bemfelben  bewohnten  £anbe8  in  Jürgen  3ügen  oorguführen. 

©8  gehört  ber  Slufj,  ber  feinen  {Ramen  oon  bem  ^crtu* 
giefifchen  SBort  ©amarcouS  erhalten  hflt,  welche?  fo  Diel  beifit 

(683) 


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6 


als  fleine  Ärebfe  ober  Ärabben,  bie  in  großer  SRenge  hier  gefan» 
gen  unb  genoffen  werben,  mit  in  ba8  Bereich  ber  gabireichen 
SRünbuugggebiete  con  glufjfpftemen,  bie  in  fo  auggebeljnter  SBetfe 
ben  innerften  Stbeil  beö  ©uineifchen  5Reerbufen8  einnebmen,  unb 
wegen  be8  SRei^t^umS,  ben  fie  an  bet  ©ewinnung  eines  ber 
wichtigfien  bortigen  JpanbelSartifel,  beß  ^almölS  barbieten,  an 
ber  Äüfte  ben  tarnen  ber  Delflüffe  führen. 

2)em  fReifenben,  welcher  auf  bem  gewöhnlichen  Sege,  ber 
Äüfte  entlang,  nachbem  er  üagog  paffirt  bat,  guerft  biefe  ©egen* 
ben  berührt,  fällt  fdjon  Dom  Skiffe  au8  ber,  oon  ben  biö^er 
gefebenen  Steilen  ber  Äüfte  abweidjenbe  Gbaracter  berfelben  auf. 
Berfdjwunben  ift  bie  hügelige  üanbfchaft,  welche,  offene  ©rag* 
fiepten  ober  Bufdjlanb  barbietenb,  bis  babin  oorwaltete;  bagegen 
nehmen  auSfcbliefflidj  niebere  fumpfige  IDeltabilbungen  bie  Äüfte 
ein,  bebecft  oon  ben  auggebebnteften  SRangrooefümpfen,  ben 
fogenannten  ©wamp’8,  ober  an  benjenigen  ©teilen,  welche  beffereS 
£aub  befifcen,  ba8  nicht  ber  Ueberflutbung  mit  ©alg  ober  Bracf* 
waffcr  au8gefef$t  ift,  bebecft  mit  einer  gewaltigen  Salbeegetation 
oon  wahrhaft  gigantifchen  formen.  Sir  werben  biefe,  oon  galjl 
lofen,  labprinthifd?  oetbunbenen  Safferfattälen  ober  Grcefg  burch* 
gogenen  ©umpfwilbniffe  alöbalb  noch  einer  näheren  Betrachtung 
untergeben.  Unterbrochen  wirb  biefe  allgemeine  Bilbung  be8  hau* 
be§  nur  gwifchen  ben  glufjfoftemen  be8  Galabar  mtb  Gantaroon 
bur<h  bie  gewaltige  oulfanifdje  Grhebung,  bie  in  ben  3>if8  oon 
gernanbo  fPo  unb  Gamaroon  ihre  größte  <£>ol)e  erreicht,  ©leid} 
ben  ©äulen  be8  $ercule§  aus  ben  $lutben  be§  SReereg  faft  un» 
mittelbar  bis  gu  einer  ^öhe  oon  über  13000'  emporfteigenb,  unb 
oon  einer  mächtigen  Salboegetation  big  nahe  3um  ©ipfel  bebecft, 
gewähren  biefelben  ungweifelhaft  ben  grofjartigften  Ginbrucf, 
welchen  man  an  ber  gangen  Äüfte  erhält.  Slber  auch  ber  Gh«* 
racter  ber  Gutopäifdfen  tÄnfiebelungen  erfcheint  hier  oevänbert. 

(684) 


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7 


3kr|d)»unben  finb  bie  ftattlichen  gaftoreigebäube  unb  ftatt  iljrer 
gewahrt  man  nur  eine  Snaatjl  großer  abgetafelier  (Schiffe,  bie 
fogenannten  $ulf’b,  in  ben  gtufemünbungen  liegenb,  welche  ben 
hier  fi<h  aufhaltenben  (Europäern  3ugleidj  alb  SBaarenmagajine 
unb  Söohnpläfee  bienen.  (Denn  noch  nid^t  hat  eb  ber  (äuropäifchen 
(Sultur  gelingen  fonnen,  theilb  »egen  beb  »exberblic^en  (Slima’b, 
theilb  bet  un fieberen  Bnftänbe  falber  unter  biefen  unabhängigen 
»üben  9leger»ölfern,  bie  faft  beftänbig  im  Kampfe  mit  einanber 
begriffen  ftnb,  bauernb  feften  gufe  ju  faffen. 

Söenben  »ir  unß  nun  jurn  (Samaroonfluffe  felbft,  fo  gelangt 
man  in  ber  4°  notbl.  »om  Slequator  gelegenen  SDtünbung  beb* 
felben  junächft  in  ein  weüeb  9Jlünbungbbec!en,  welches  eher  ben 
(Siubrucf  eines  beträchtlichen  SJleerebarmeb,  alb  etneb  gluffeb  ge* 
währt,  inbern  bie  SBafferpt^e  fiefe  nach  allen  9iid)tungen  meilen» 
»eit  aubbept,  in  einigen  fogar  feine  Ufer  erfennen  läfet.  9lach 
©üboften  ^in  breitet  fich  eine  unbegrängte  SBaffeTflädje  aub, 
welche  bie  SDiünbung  eineb  bet  £auptjuflüffe,  beb  »on  ©üben 
her  fommenbeu  Euaqua  bilbet,  wohinein  fid^  mitunter  33oote 
»on  ben  braufeen  anfetnben  ©Riffen  »erirren,  weldje  bann  nach 
tagelangem  Umfeetirren  in  einet  unwirtlichen  SBilbnife  unser* 
richtetet  ©ad)e  jurütffeferen.  (Daß  gahrwaffer  beb  gluffeb  ift  näm» 
lieh  fo  fd^»ierig,  bafe  gröfeere  ©pffe  nur  mit  £ochwaffer  ben  Stufe 
hinaufgehen  fßnnen,  unb  auch  bann  nur  mit  «pülfe  eineb  genau 
ortbfunbigen  Bootfeu.  (Diefer,  ein  Sieger  in  33elI*2;own,  hält  eb 
aber  nicht  für  nötfeig,  »ie  feine  (Suropäifd)en  (Sollegen,  bie  bei 
SBinb  unb  SBetter  braufeen  bie  ©djiffe  erwarten,  am  ^3lafee  ju 
fein,  wiewohl  er  für  jebe  Safyrt  10  Bftr.,  alfo  »on  jebem 
ber  früher  monatlich  einlaufenben  (Dampfer  bie  Summe  »on 
20  8ftr.  erhält,  fonbetn  et  wartet  eb  ruhig  ab,  bafe  man 
nach  bem  4 beutf^e  SDReilen  entfernten  (SamaroonS  ein  (Boot 
fenbet,  ihn  abjufeolen.  ©o  wiberfährt  eb  ben  (Dampfern  ber  2lfri* 

(■6M) 


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8 


fanifchen  Gompagnie,  »teilen  eS  fonft  nor  allem  auf  3eiterjpar* 
ni§  anfommt,  mitunter  mehrere  Jage  in  ber  Söiünbuug  befl 
$luffe8  liegen  ju  muffen,  wie  ich  einmal  felbft  erlebte;  ber  erfte 
Stag  oetgiug  mit  bem  SHb^clen  beö  fcootfen  unb  am  folgenbeu 
fonnte  mau  wegen  fcßweren  SRegenS  fein  Ufer  erfennen. 

@eßen  wir  nach  biefem  fleinen  Aufenthalt,  wie  er  einmal 
bei  äfrifanifchen  Reifen  jum  Unnerraeiblichen  gehört,  unferen 
5Beg  nach  GamaroonS  weitet  fort.  Störgenb,  foweit  baS  äuge 
reicht,  gewahrt  man  fyiet  ©puren  menfchlidjer  SBohnpIäße,  benn 
e$  werben  unterhalb  GamaroonS  felbft  bie  Ufer  bicfeS  großen 
SöafferbecfenS  überall  nur  oon  gänjlid)  unbewohnbaren  ORau* 
grooefümpfen  eingenommen,  unb  bie  benachbarten  SDrtfchaften  ber 
Gingeborenen  liegen  weitab  nom  großen  gluße  an  ben  Heineren 
ßuflüffen,  wo  fid)  infelartig  ©teilen  befferen  fulturfähigeu  Ban* 
beS  norfinben.  9iut  feiten  gewahrt  man  auf  bem  gluffe  ein  Ganoe, 
welches  entweber  nach  biefen  SDrtfchaften,  ober  nach  ben  &if«h» 
grünben  an  ber  äußeren  glußmünbung  fich  ju  begeben  im  33e= 
griff  ift. 

Gtwa  jwei  teilen  unterhalb  GamaroonS  oerengert  fid)  baS 
weite  SBafferbecfen  flufeartig,  boch  bleibt  ber  gluß  immer  noch 
boh  einer  impofanten  33reite,  welche  noch  bei  GamaroonS  felbft 
faft  eine  ^albe  beutfcße  SJteile  beträgt.  SJlan  erfennt  nun  bie 
Ufer  genauer,  faft  ununterbrochen  h«tf<hen  h'er  bie  SDiangrone« 
wölb  er,  beren  monotones  blaffeS  Grün  mit  ben  mannichfachen 
ftarbentönen,  bie  man  fonft  gewohnt  ift,  nicht  anmutig  fontraftirt. 
SDie  gorm  unb  Färbung  ihrer  S3elaubung  erinnert  einigermaßen 
an  unfere  Söeiben,  bodj  ftreben  bie  fchlanfen  ©tämme,  welche 
fehr  jum  SBauen  gefdjäßte  pfähle  Bon  etfenhartem  £olj  liefern, 
burchfchnittlich  ju  beträchtlidherer  dpöhe  empor. 

AnberS  wirb  bagegen  bie  Grfcheinung,  wenn  man,  am  Ufer 
felbft  fteljenb,  in  baS  Snnere  biefer  SDicfichte  hineinblicft.  SDie 


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9 


wirflife  Grffeinung  überttifft  alle  33erfteflungen,  weife  man 
fif  bauen  gemalt  fyat.  2)a  fielen,  gleif  fam  auf  Ijolje  Steigen 
gefteQt,  bie  galjßofen  Stämme,  oftmals  4 — 5'  Ijof  über  bem 
Sf  lamniboben  ergaben,  fo  bafj  man  gwiff  en  frem  SBurgelwerf 
fyinburf  frief  en  fann.  3>of  aufjer  biefem,  ben  Stamm  tragenben 
Säulenwcrf  erffeint  ba?  ©ange  wie  oerwaffen  burf  ble  galjU 
lofe  SJtenge  ber  non  aßen  Seiten  au?  ben  Stämmen  unb  heften, 
bi?  3U  ben  fleinften  Skrgweigungen  fyerab,  beroorfommenben 
größeren  unb  fleineten  Sutgeln,  bie  ftf  in  unentwirrbarer 
Seife  bnrf  freugen,  halb  wie  ftarfe  Säulen  ben  (Srbboben  errei» 
f en,  balb  wie  gefrümmte  Saue  ober  Ijerabljüngenbe  Seile  naf 
aßen  Stiftungen  auSgefpannt  finb,  oft  frei  in  ber  2uft  enbigenb. 

2>a?  9tuge  wenbet  fif  oerwirrt  ab,  in  biefem  negetabiliff  en 
üabprinf  oergeblif  naf  einem  Stuljepunft  fuf  enb.  Soweit  ba§ 
Suge  reift,  gewahrt  man  wäljrenb  ber  ©bbe  groiffen  biefem 
SBurgelwerf  nur  oben  ff  wargen  Sf  lammbobeit,  benn  fein  anbere? 
©ewäf  § fann  t)ter  geheimen,  ba  wüfytenb  ber  gluf  biefe  Sümpfe 
meift  ootn  SBaffer  bebeeft  finb. 

Stur  gabireif  e,  fe^r  hurtige  buntgefärbte Ärabben  beleben  biefen 
Sf  lammboben,  unb  ein  fleiner  feltfamer  §iff 5)  mit  fonberbat 
torgeguoflenen  Sugeu  büpft  in  gabßofen  Sfaaren  fo  beljenbe 
barauf  unfer,  bafj  man  tröffe  gu  erblitfen  glaubt. 

Sn  biefe  reinen  fDtangrooewalber  ff  liefen  fif  in  ber  Siegel 
weiter  aufwärt?  folfe  ber  SSambu^alme3)  nnb  bie  eigent^üm» 
lifen  9)anbanuS=2Dicfifte  an,  weif  legiere  namentlif  oftmal? 
in  größeren  untermifften  Seftänben  bie  glufjufer  umfäumen, 
unb  nif  t minber  f aracteriftiff  für  biefe  fumpfigett  ©ebiete  finb. 
Ueberbie?  finben  fif  auf  in  ber  SJtangroDetegion  häufig 
Steflen,  weife  non  fe^r  mannif fafem  ©ebüff  unb  hoben  93üu* 
men  eingenommen  ftnb. 

Suf  bie  Sljierwelt  meibet  bie  oben  SJtangrooeroälber.  Stur 

(6*7) 


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10 


bic  bunten  (SiSoögel4)  fteljt  man  tjäufig  auf  ben  3n>eigen  übet 
bem  Söaffer  lanetnb,  fowie  an  günftigen  ©teilen,  wo  feidrtere 
33änfe  fid)  finben,  gapireidje  Sieüjeroögel  im  äöaffet  ftebenb,  unter 
benen  ftd}  namentlid}  bie  frönen  ©Überreifer  bemerflid}  madben. 
©eiten  überrafdjt  baS  (Sance  ein  trägeS  ätrofobil  im  ©djtafe, 
bod)  ftürgen  fid)  biefe  fier  feft  freuen  Sfiere  in  ber  Siegel  in  baS 
fdjlatnmige  SBaffer,  beuor  man  3eit  fat  fie  genauer  gu  erlenuen  5). 
9?odj  weniger  laffen  ftd)  (Slepfant  unb  Siilpferb  fier  blicfen; 
erfterer  liebt  bie  fofen  Urwälber,  in  beten  äußerft  mannigfaltiger 
Vegetation  er  reidjlid)  Stafrung  finbet,  wäfrenb  man  baS  gluß« 
pfcrb  norgugSweife  oberhalb  ber  Vracfwafferregion  itt  ben  glüffen 
antrifft,  ba  wo  bidjte  SRöfricfte  bie  Ufer  entnehmen6). 

Unbefcfreiblid)  cbe  unb  nieberbrücfenb  finb  CFauoereifen  burcb 
folcfe  fDiangrooewilbniffe , bodf  beginnt  glücflidjetweife  überall 
einige  ÜJleilen  flußaufwärts  eine  großartige  unb  fel}r  mannid)* 
facfe  Vegetation  unb  mit  ifr  eine  bunte  Tierwelt. 

£)od)  uerlaffen  wir  biefe  wenig  einlabenben  Söilbniffe,  um 
uns  nad}  bem  jDrte  GametoonS  felbft,  ober,  wie  berfelbe  in 
ber  Gingeboreneit=©pradje  genannt  wirb,  SDualla  gu  begebeu. 

9iur  bie  Slnwefenfeit  oon  meift  etwa  einem  falben  5)u$enb 
oon  ©Riffen  läßt  l)ier  baS  Votfanbeufein  eines  aufefnlicben 
£anbelSplaßcS  erfennen,  beim  außer  einem  ftattlicfen  fDiijfionS* 
gebäube  gewahrt  man  am  glußufer  nur  große,  oott  ftarfeu  fPal* 
lifabengäunen  umgebene  Söaarenfdjuppen. 

2)aS  füblitfe  Ufer  beS  glufjeS  ergebt  fid)  fier  [teil,  inbem 
40  — 50‘  t}ol}e , aus  bilunialen  gef  m unb  ÄieSbänfen  gebilbete 
Uferberge  ftd)  fier  ergeben. 

SDiefe  Snfcfen  finb  bicft  bebecft  mit  üppig  grüueu  Vananen, 
bereu  ferrlidfe  Siiefenblätter  überall  im  tropifdfeu  Slfrüa  bie 

unmittelbare  Släfe  menfd)lidl)er  SBofnungen  angeigen.  3»if*e« 

(688) 


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11 


ihnen  ergeben  ftdh  jahlreidhe  GocoSpalmen,  n>eld£)e  hier  mdjt  min* 
bet  in  allen  Drlfdjaften  nahe  bem  SOieete  jahlreidj  anjutreffen 
ftub.  (Die  Schiffe  gewagten  einen  eigentümlichen  Slnblicf,  inbem 
fie  nidjt  nur  »ßHig  abgetafeit,  fonbern  aud)  jum  ©diut^e  gegen 
bie  ©onue  unb  bie  gewaltigen  [Regen  mit  einer  Botlftänbigen 
Sebadjung  oetfehen  ftnb,  welche,  wie  bei  ben  Jütten  ber  (Sin* 
geborenen,  meift  aus  ^almblattmatten  ^ergeftellt  ift.  (Diefe 
luftigen  £Dädjer  erfüllen  iljrert  3wedf  »ollfommen,  l)aben  inbeffen 
ben  €Rad?t^eil  ber  geuergefä^rlit^feit.  SBähtenb  meines  Slufent* 
halteS  ging  auf  biefe  SBeife  eine  £ulf  in  bie  8uft,  inbem  ihr 
2>ad)  burdb  einen  Sunfen  beS  in  ber  [Rähe  befinblidbcn  (Dampfers 
in  33ranb  geftecft  mürbe.  &n  irgenb  eine  [Rettung  non  ©ütcrn 
fonnte  habet  nicht  gebadet  werben,  weil  baS  ®<hiff,  wegen  ber 
grofjeu  SRenge  non  <Sc^ie§puIt>er  unb  ©pirituofen  in  ber  ?abung, 
fd^leunigfl  »erlaffen  werben  nutfjte. 

£Die  ©d^iffe,  burdpgehenbS  grofje  S3arljdbiffe  non  anfehnlidhcm 
Stonnengehalt,  bleiben  meift  fo  lange  im  glufj  liegen,  bis  fie  ihre 
©üterlabung  oerfauft,  unb  eine  coUftänbige  Kabung  an  Palmöl 
unb  anberen  f»robucten  eingenommen  haben,  was  burchfdbnittlidh 
faft  ein  3a^r  bauert.  (Dann  werben  fie  wieber  aufgetafelt  unb 
fegeln  Ijeim.  [Rur  bie  gto§e  £ulf  beö  .£>errn  SBoermann,  ein 
mäßiges  ©djiff  non  600  SlonS,  liegt  tjier  für  immer  ftationirt 
unb  eS  fommen  jährlidp  3»ei  Hamburger  ©thiffe  heraus,  um  neue 
©fiter  3U  bringen  unb  bie  getauften  §)robucte  heimjuffthren. 

Verweilen  wir  gunädjft  einen  Slugenblid  auf  bem  ftattlichen 
©d^iff,  welches  mir  fo  oftmals  gaftlidhen  Aufenthalt  gewährte. 

Auf  bem  geräumigen  .fjinterbecf  ift  auS  planten  eine  Art 
.£>auS  errichtet,  weld;e8  ein  SBohnjimmer  unb  ein  paar  ©djlaf* 
Jammern  barbietet ; bie  [Räumlichfeiten  finb  natürlich  hei  SBeitem 
befchränfter,  als  fie  ein  £auS  auf  bem  Sanbe  gewähren  fann, 

(693) 


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bod?  fällt  bicS  gegenüber  ben  rieten  23ortheilen,  wel^e  baS  Seben 
auf  ben  ©duffen  barbietet,  fautn  tnS  ©ewidjt.  .ßier  ift  gunächft  bie 
frifdje  ©cebrife  gu  erwähnen,  welche  baS  gange  3al}t  hinbutdj 
täglich  oon  10  ober  1 1 Ufjt  33ormittag8  fich  ergebt  uub  bis  ©on* 
nenuntergang  webt,  beren  gefunben  ©influ§  man  auf  ber  SSaffer« 
fläche  beS  gtuffeS  coli  geniest,  währenb  fchon  bie  bidjt  am  bluffe 
Uegenben  Jütten  hierin  feijr  benachteiligt  ftnb.  (Diefer  reget» 
müfsig  auö  SBeften  wehenbe  23inb,  ber  SRachtS  unb  in  ben  grub* 
ftunben  in  ber  SRegel  mit  einem  entgegengefcfcten  Sanbwinbe  ab* 
wedjfett,  trägt  nirfjt  wenig  bagu  bei,  eine  Angahl  non  ißlä^en  wie 
©alabar,  ©amaroonS,  ©abuu  weit  gefunber  gu  machen,  als  fie 
eS  fonft  nach  ihrer  Sage  innerhalb  fumpfiget  glufjmünbungen 
fein  fönnten.  Seiber  geht  man  inbeffen  biefeS  wohltätigen  ©in* 
fluffeS  »ertöten,  fobatb  man  nur  wenige  SSJleilen  ins  Sanb  geht, 
unb  ftetS  bat*  i«h  ben  erfrifchenbcn,  fühlenben  ©influ§  bet  ©ee* 
brife  auf  baS  angenehmfte  empfunben,  wenn  ich  nac§  nionate* 
langem  Aufenthalt  in  anberen  (Dörfern  nach  ©amaroonS  gurüct* 
feljrte. 

©8  bürfte  hier  am  Orte  fein,  über  baS  oerrufene  Jflima  ber 
weftafrifanifchen  ätüfte  einige  23emerfungen  gu  machen.  3iel}t  man 
nur  bie  Temperaturnerhältniffe  in  33etrad}t,  fo  fönnte  eS  wunber* 
bar  erfteinen,  baff  baffelbe  noch  oerberblidier  für  ©uropäer  ift, 
als  bie  ertrem  heilen  ©egenben  OftinbienS  unb  beS  continentalen 
Aftifa.  (Die  aHerbingS  feljt  h<te  mittlere  Temperatur,  welche 
gwifdjen  19  — 20°  SR.  betragen  mag,  wirb  eher  but<h  bie  feh* 
gleichmäßige  SBärme,  als  burch  ertrem e £ifjegrabe  heroorgebracht, 
wie  fie  im  Snnern  beS  ©ontinentS  fo  melfad)  beobachtet  werben. 
3<h  entfinne  mid)  niemals,  in  ben  hetßeften  ßeiten  eine  ßohere 
Temperatur  als  28  ®r.  SR.  beobachtet  gu  haben.  (Der  gewöhn* 
liehe  ©tanb  beS  Thermometers  in  ben  heifceften  ©tunben  beS 

(690) 


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13 


STageS  ift  23—25  ©t.  5R.,  in  ber  fidleren  SRegengeit  gwifdjen 
20  unb  23  ©r.,  feiten  barunter,  währenb  Temperaturmapima 
»on  über  30  @r.  nicht  feiten  im  Snnern  beß  GontincutS 
beobachtet  werben  ftnb.  Dagegen  fehlt  e8  burdjauS  an  einiget* 
mafjen  beträchtlicheren  iSbfühlungen;  furg  »er  «Sonnenaufgang 
fieht  man  ba8  Thermometer  noch  meift  giemlich  nahe  an  20  ©r. 
flehen.  5Rur  in  ber  troefenen  3eit,  wo  bie  nächtliche  2Ibfühlung 
am  ftärfften  ift,  h®t  man  gewöhnlich  16—17  ©r.,  wa8 
al8  äufjerft  fühl  empfunben  wirb;  15  ©r.  ift  ber  niebrigfte 
Thermometerftanb,  ben  ich  alöbann  nur  au8nahm8weife  beob* 
achtete.  Die  tägliche  Temperaturbiffereng  bürfte  baljer  nur  au8» 
nahmBweife  in  ber  troefenen  SahreSgeit  10  ©r.  SR.  erreichen, 
bewegt  fich  aber  in  ber  SRegel  innerhalb  feht  enger  ©rengen. 

Der  tücfifche  Ghatacter  be8  Älima  fcheint  oielmehr  »orgug8* 
weife  burch  bie  eptreme  geudjtigfeit  ber  £uft  bebingt  gu  fein, 
welche,  cerbunben  mit  einet  $üHe  organifchet  Äeime  in  ber  Suft, 
eine  gerftörenbe  SBirfung  hemorbringt,  non  beten  Umfauge  man 
fchwer  eine  SorfteOung  geben  fann.  Schwerlich  bürfte  e6  Diele 
anbere©egenben  geben,  bie  anSRegenreithtbum  ber  weftafrifanifchen 
Äüfte  gleichfamen. 

2lm  fdjlimmften  ift  in  biefer  $inficht  bie  ©egenb  bei  Gap 
fPalmaB  unb  ber  fRegerfreiftaat  Liberia  barau,  wo  man  im 
gangen  Sahre  nur  wenig  regenfreie  Tage  h«ben  foD,  bann  aber 
eine  gang  unerträgliche  J^i^e.  Diefe  ©egenb  ift  auch  in  ber  Ttjat 
eine  ber  »erberblichften  für  (Europäer.  Ülucb  ift  ba8  Gap  burch 
bie  .fpäufigfeit  ber  bafelbft  »otfommenben  Schiffbrüche  berüchtigt, 
bereu  SRehrgahl  burd)  bie  faft  beftäntige  llnburchfichtigfeit  ber 
Ultmofphäre  bebingt  ift. 

3u  ber  GamaroonBgegenb  wirb  bie  fDiaffenhaftigfeit  ber 
fRegengüffe  gu  einem  großen  Ttjeile  turd)  bie  hohen  ©ebirge 

• (SW) 


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14 


begünftigt,  wie  man  benn  aud)  im  ©ebirge  felbft  unb  an  feinem 
$ufje  nie!  mehr  Siegentage  bat,  als  in  weiterer  Gntfernung  bauen. 
JDie  eigentliche  Siegengeit  beginnt  gu  Gnbe  3uni  unb  hält  ben 
3uli  unb  Stoguft,  häufig  auch  noch  ben  größeren  übeil  beS 
September  an.  SBäbrenb  biefer  gangen  3«t  ftnb  bie  Stegengüffe 
fo  gewaltig  unb  anbaltenb,  bafj  für  SBocben  äße  Gommunication 
unterbrochen  ift.  2)ie  glüffe  fcbwellen  reifjenb  an  unb  finb  febr 
fdjwierig  gu  befahren,  häufig  fiebt  man  bann  Leichname  »on 
$)erfonen,  bie  in  ben  oberen  glufjgebieten  unb  ©umpfgegenben 
»erunglüöft  finb,  im  glufj  treiben.  SDocb  ift  eS  nichts  Seltenes, 
innerhalb  biefer  Siegenperiobe  eingelne  febr  feböne  Üage,  mit= 
unter  felbft  eine  halbe  SBocbe  lang  anbauemb  fcböneS  SBetter  gn 
haben. 

Stuf  biefe  naffe  3al)re8geit  folgt  bann  bis  Secember  bie 
Seit  ber  ©ewitterregen  ober  bie  Üornabo«3eit.  SJiit  bem  erften 
Gintreten  biefer  UornaboS  fiebt  man  bie  Siegengeit  als  beenbet 
an.  ^öchft  eigentümlich  ift  bie  Grfcbeinung  biefer  ©ewitter* 
ftürme,  weite  baS  tropifebe  ©ewitter  in  feinet  gewaltigften  Gr* 
fteinung  geigen.  SJieift  am  öftlicben  ^jorigont  bilbet  ft<b  eine 
tiefbunfle  8uft,  bie  fcbnetl  ft<b  weiter  am  ^immel  auSbebnt. 
SDie  bis  babin  träftig  mel)enbeSeebrife  ftirbt  hinweg  unb  uun  fann 
baS  fdjleunige  jperauffommen  beS  Unwetters  nicht  mehr  gweifel» 
baft  fein.  3Jtit  ungewöhnlicher  Sdjnelligfeit  »erfinftert  fi<h  ber 
Fimmel,  aber  beoor  bet  Siegen  berauffommt,  erfolgt  ein  SBinb» 
fto§  oon  folget  .£>eftigteit,  bafj  bie  gange  umgebeube  Statur  förmlich 
in  Aufruhr  fteint.  3)aS  Schiff  wirb  gegen  bie  mächtige  Strömung 
im  Sluffe  an  bet  Sinterfette  berumgebrebt  unb  ftöbnt  in  allen 
gugen;  Stühle,  SüifdEje  unb  alles,  was  nicht  nagelfeft  ift,  fliegen 
an  33 erb  b«um.  Unmittelbar  auf  biefen  SBiubftofj  folgt  ein 
wolfenbruchartiger  ©ewittergufj,  begleitet  pon  ben  b«ftigften 

(692) 


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15 


electrifdjen  ©ntlabungen;  bie  gitlfternih  ift  fo  bebeutenb,  baff 
Lefen  ober  Schreiben  unmöglich  wirb. 

©lüdflicherweife  bauert  ber  £>r!an  in  feiner  urfptünglichen 
Jpeftigfeit  gewöhnlich  faum  eine  Biertelftunbe  an,  bann  mäfcigt 
fidh  ber  SIBinb,  wenn  auch  baS  ©ewitter  noch  eine  ©tunbe  ober 
mehr  angubauern  pflegt.  SBirbelftürme,  jene  ©eifjel  ber  tropifchen 
amerifanifchen  ©egenben,  finb  gum  ©lürf  hier  unbefannt.  SDiefc 
SwrnaboS  finb,  obgleich  fie  Bielerlei  Betheerungen,  namentlich  an 
ben  leidjtgebauten  Jpütten  bet  ©ingeborenen  anridhteu,  bte  oft 
gang  gufammenftürgen  ober  beren  S)äd;er  fortgeweht  werben,  bodh 
Bon  äufjerft  wohlthätigem  ©influffe.  S)ie  Lufttemperatur  finft 
ftetS  fehr  erljeblidi  unb  faft  plöfjlich  mit  bem  ©intritte  bc8  Sfcor» 
babo  um  mehrere  ©rabe,  unb  wunberbat  erfdjeint  nach  folgen 
atmofphärifdhen  Äataftrophen  bie  Feinheit  unb  35ur<hfidhtigleit 
ber  Luft.  SDie  fernften  ©ebirge,  non  benen  man  gewöhnlich 
nichts  fteht,  treten  aisbann  mit  wunberbarer  ©(hälfe  h^^or. 
3m  Allgemeinen  ift  bie  5)urdhfidhtig!eit  bet  Atmofphäre  eine 
feht  geringe,  fthöne  gernfid)ten  fehr  feiten.  Au§er  nach  ftarfen 
©ewittern,  befonberS  ben  StornaboS,  hat  man  folche  nur  in  ben 
früheften  SÖiorgen»  unb  ben  fpäten  Abenbftunben,  höchftenS  bis  eine 
©tunbe  nad)  Aufgang  unb  oor  Untergang  ber  ©onne.  ©elbft 
in  SBictoria  waten  bie  hohen,  fehr  nahen  Berggipfel  faft  auS= 
nahmSloS  ben  Sag  über  Bethüllt.  ©onft  ift  übrigens  Bon  ber 
©djönheit  eines  SropenmorgenS  hier  nidht  Biel  ©uteS  gu  fagen: 
ein  feuchter  nafjfalter  fRebelbunft  lagert  auf  bem  33 oben  unb  bie 
Shanbilbung  ift  baS  gange  3ahr  über  fo  bebeutenb,  bah  man 
einen  9Jtorgen*©pagiergang  nur  mit  einer  totalen  SJurdhnäffung 
erfaufen  fann. 

©iefe  3ahreSgeit  bet  mit  anhaltenb  fdhönem  SBetter  ab* 
wechfelnbeit  ©ewitterregen  geht  aisbann  im  ©ecember  burdh  baS 
allmähliche  Aufhören  ber  lederen  in  bie  BöHig  regenlofe  trodfene 

(6*3) 


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16 


3a^reSgeit  über,  welche  ben  Sanuar  unb  Februar,  oft  auch  ned) 
einen  2^eü  beß  SDRar^  einnimmt.  Sie  Segetation  nimmt  in 
biefer  Beit  ber  ©ürre  an  offeneren  Stellen  einen  traurigen  ©ha‘ 
racter  an,  »iele  Säume  oerlieren  Ujr  gaub,  unb  aud?  baß  35er* 
fchwinben  be§  größten  2^eilS  ber  bunten  3nfectenwelt  gewährt 
einen  gewifferma§en  winterlichen  ©harac*er-  ©ie  ^aljUofen 
Sümpfe  trocfnen  grofeentheilß  auß,  unb  eß  ift  biefeß  baljer  bie 
Sahreßgeit,  welche  fid?  ju  außgebehnteren  ganbreijen  am  beften 
eignet,  foweit  fcldje  freilich  burd)  bie  fonftigen  3uftänbe  möglich 
finb.  ©ennod)  reicht  bie  in  ben  fdjattigen  SBälbern  nie  per» 
fiegenbe  Sobenfeuchtigfeit,  fewie  bie  ©haubilbung  au§(  gabt* 
reiche  ©ewädbfe  im  üppigften  ©tun  ju  erhalten,  unb  auch  ber 
gaubfaH  oieler  Säume  macht  nicht  ben  ©inbrucf  einer  h^ft’ 
Höhen  Ofatur,  inbem  bei  bem  Abfall  ber  Slätter  gewöhnlich  bereit« 
bie  Änoßpen  ber  jungen  heroorzubrechen  pflegen,  ^»erbft  unb 
Frühjahr  alfo  geroiff ermaßen  gleichzeitig  aufgutreten  fdbeinen. 

Som  SJfärj  bi«  3uni  hat  man  alßbann  wiebet  eine  Jornabo* 
3eit  mit  ©ewitterregen,  worauf  mit  bem  ©intritt  ber  [Regenzeit 
baß  Saht  abgefdjloffen  erfcheint. 

Sei  biefer  im  ©angeu  wenig  fcharf  gefonberten  Abgrenzung 
ber  Sahveßzeiten  ift  eß  nicht  zu  oetwunbern,  ba|  bie  3eitrechuung 
nach  Sahren  ben  ©ualla«5Regern,  wie  wohl  überhaupt  ben  Negern, 
gänglich  fremb  ift.  3hte  3«trechnung  gefchieht  nur  nach  fßionben, 
waß  natürlich  nur  für  bie  nächftliegenben  Sebüvfnifje  außreichenb 
ift.  Sie  wiffen  eß  recht  geuau,  wie  oft  ber  5Ronb  noch  Zu 
wechfeln  hat,  beoor  bie  [Regen  ternmen  ober  aufhören,  zu  welch«« 
SRcnbe  gcwiffegefte  gefeiert  ober  gewiffe  Arbeiten  im$elbe  ober  fonft 
gemacht  werben  müffen.  ÜRehrfadj  begegnete  eß  mir,  bafj  geute, 
bie  ich  alß  Segleiter  engagirt  hatte,  mir  tagten:  ber  neue  5Hcnb 
(natürlich  war  ber  SeUmonb  gemeint)  wirb  morgen  fommen, 
wirft  ©u  mich  nun  bezahlen?  Siuft  fragte  mich  ein  alter  9leger, 

«9») 


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17 


auf  ben  BRonb  beutenb,  in  wie  Diel  Jagen  et  wohl  doB  fein 
weroe?  5Huf  meine  (Srwiberung,  ich  fönne  e§  jo  nic^t  jehen, 
fönne  aber  uadjfeljen  unb  e§  ihm  genau  jagen,  jagte  et  fopf* 
jchüttelnb:  „3h*  SBeißen  ^abt  SlBeS  im  Sud),  ber  fchwarge 
SJtann  hat  ÜlfleS  im  Äopj".  .jpiugcgen  ift  e8  jeltjam,  baß  fte 
für  ©retgniffe,  wel^e  not  einer  Steife  een  Sauren  erfolgt  jinb, 
gar  fein  3«tmaß  mehr  befißen;  fic  haben  bann  nur  ganj  un» 
beftimmte  Segeidjnungen,  3. 58.  gur  Seit,  als  25er  ober  Sener  noch 
gang  jung  ober  noch  nicht  geboren  war,  unb  Sehnliches.  Suf 
biefe  Söeije  weiß  3.  58.  fein  einiger  biejer  Bieget  genau,  wie  alt 
er  ift,  ba  jegliche  gorm  für  berartige  Sufgeicßnungen  fehlt. 

25od)  eS  bleibt  mir  noch  übrig,  einige  ©rläuterungen 
übet  bie  gerftörenbe  Gewalt  beb  weftafrifanifdjen  ÄltmaS 
3u  geben.  58egreiflidjerweife  werben  butcb  bie  mit  hoher 
Jemperatur  faft  immer  oerbnnbenen  hohen  geudjtigfeitSgrabe 
bet  Sltmofphäre  bie  d}emi]chen  3erjej}unggfräfte  berjelben 
erheblich  gefteigert.  3n  einem  gan3  ungefannten  ©rabe  wer« 
ben  baher  aBe  BJletafljachen  angegriffen,  welche  bem  JRoften 
unb  Drubiten  auSgejeßt  finb.  2ajchenul)ien,  jelbft  bie  beften, 
ftel)en  meijt  nach  wenigen  BRonaten  ftiB,  man  finbet  baher  ge» 
wöhnlidj  5föanbuhten  mit  grobem  Bläberwetf  in  ©ebraud),  bie 
weuigftenS  3ahre  lang  im  ©ange  bleiben.  UebrigenS  emp* 
finbet  man  bei  bem  jo  regelmäßigen  täglichen  ©ange  ber 
©onne  ben  BRangel  einer  Uhr  faft  nur  3ur  Blegeugeit.  Jvaurig 
werben  europäijdse  SDieubleÖ  gugerichtet,  bie  in  aüen  gugen  auS» 
einanber  gehen,  jo  baß,  wenn  man  ein  Schubfach  einer  (Sommobe 
ober  eincb  ©chranfeS  herauSgiel)en  >oiB,  leicht  baS  ©ange  aus» 
einanberjäBt.  Blecht  jchlimm  finb  bie  giebhabcv  ber  BJlufif  baran, 
ba  bie  BRehrgaljl  ber  Snftrumeute  ebenfalls  nid)t  3U  erhalten  finb. 
<DaS  Glaoier  ift  jo  gu  fagen  unmöglich,  unb  auch  bie  ©eige 
jdjeint  baffeibe  ©diidjal  gu  treffen,  wenigftenS  ergäljlte  mir  Jpert 
XI.  257.  2 c««J 


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18 


5U)crmät)ten  in  Gamatoond,  welcher  bieg  3nftrument  gejptelt 
hatte,  bafj  it)m  ein  folc£>e8,  meldheö  er  eine  3«1  lang  an  fcer 
SBanb  hatte  Rängen  laffen,  beim  33erfudje,  e§  3U  gebrauten,  in 
©tücfe  auöeinanber  gefallen  fei. 

5Redt)net  man  fyierju  nodj  bie  ja^llofen  ©paaren  ber 
ameifen,  Termiten,  Söiotten  jeglicher  art,  melcfee  unablüffig  bem 
3etftürungSmerf  nadjgehen(  unb  auf  eine  oftmals  gang  unbegraf* 
lidje  SBeife  überall  einjubringen  miffen,  fo  fann  man  fidj  ungefähr 
ein  33ilb  machen  non  ben  plagen,  benen  ber  reifenbe  »Jlatur* 
fotfcljer  in  jenen  ©egenben  auögefe^t  ift. 

SBenben  mir  unS  nunmehr  jn  bem  8eben  unb  Treiben  auf 
bet  Jpulf,  fo  erregt  junäd^ft  bie  jcljroarje  Bemannung  betfelbeo 
unfer  3ntereffe.  9ln  30—40  früftige  junge  Surfdljen,  Ätoo«9teger, 
bilben  biefelbe,  ba  aufjer  bem  Agenten  felbft  nur  ein  paar  28ei§e, 
bie  benfelben  in  ber  Leitung  ber  ©efdjäfte  uuterftüfcen,  anmefenb 
finb.  SDiefe  jfroonneget  bilben  an  ber  ganjen  meftafrifanifcben 
Äüfte  ein  fo  eigenthümlidjeö  (Slement,  bafe  mir  fte  etma§  näher 
fdnlbern  müffen.  33i8  311m  Gongo  herab  finbet  man  fie  auf  aOen 
©d)iffen  unb  in  allen  gaftoreieu  unb  fie  otrridjten  bafelbft  alle 
arbeiten;  fogar  bie  englifd)en  Äriegäf^iffe,  bie  fyiet  ftationirt  pnh, 
haben  eine  SDienge  fdjmatger  SDtatrofen,  fämmtlid?  Äroo=9teger, 
ba  man  megen  ber  ©efahren  beS  Älimag  bie  meijjen  SKatrcien 
fernere  arbeiten  nicht  gern  Herrichten  läfjt. 

©chmerlidh  fönnte  ohne  biefe  Ijarmlofen,  forglofen,  genüg* 
famen,  ftetö  Reitern  SRenfdjen  ber  europäifd^e  Ser!el)t  an  fielen 
Drten,  bei  bet  abneigung  ber  unabhängigen  9teger  gegen  äße 
arbeit,  aufrecht  erhalten  rcerben.  3n  ber  2hat,  wenn  man  hi*i{ 
^*eute  bei  oft  fernerer  arbeit  unb  ber  elenbeft  benfbaren  Äoft 
ftctS  heileren  ©inne8,  unter  ©ingen  unb  ?adjen  ihr  Söerf  rer* 
ridjten  fielet,  fo  fann  man  fidj  mit  manchen  üblen  (SigenjdjafttB 
beS  DlegerdiaracterS  auSföhnen.  Ge  ift  mahr,  bafj  fie  auch  träge 

(«9«) 


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19 


ftnb,  unb  febr  jur  Arbeit  ungehalten  werben  müfjen,  bo|  fte 
biebifd?  unb  im  ^cd)ften  ©rabe  unguoetläffig  unb  forgloö  finb; 
baS  finb  aber  fo  gu  fagen  IRaffeeigentbümlicbfeiten,  für  welche 
man  ben  Gingeluen  nicht  »erantwortUcb  matten  fann, 

^Dagegen  fann  man  faum  »erträglichere  unb  genügfamere 
ffltenjcben  ftnben;  Hanf  unb  ©treit,  ebne  welche  bie  Gamaroon» 
Sieger  nicht  fcheinen  befteben  gu  fönnen,  finbet  man  feiten  unter 
ihnen,  ©iebt  man  auf  einer  langen  Jßootfabrt  einem  etwas  £abaf 
ober  23reb,  fo  wirb  er  eS  ficher  mit  allen  Gametaben  tbeilen. 
- SDiefe  Gamerabfchaftlichfeit  gebt  fo  weit,  bafj  niemals  einet  ben 
anberen  »errätb;  ift  3.  23.  ein  SDiebftabl  gefächen,  fo  laffen  fich 
Ätoo^eger  eher  auSpeitfcbeu,  als  bafj  fte  einen  anberen  oerrietben, 
wäbrenb  bei  ben  Gamaroon=5Regetn  Slngebet  unb  ©pione  leicht  gu 
finben  finb. 

Die  ^leimatb  biefeö  {RegerftammeS  ift  ber  Äüftenfaum 
nörblid)  unb  öftlich  um  G ap  ^almaS,  ein  8anb,  weicheS  fo  arm 
ift,  ba§  bie  jungett  Üeute  gang  allgemein  auf  einige  Sabre  *“  bie 
grembe  gu  geben  genötljigt  finb,  um  fidf  bie  9Jtittel  3m  ®rün= 
bung  einet  gamilie  gu  erwerben,  ©ie  »erbingen  fich  in  bet 
{Regel  auf  ein  ober  gwei  3abr,  am  liebften  in  größerer  Gefell* 
f^aft,  bie  fich  einen  ber  älteften  gum  £eabmann  erwählt,  welcher 
eine  2lrt  Gommanbo  führt  unb  mit  welchem  alle  23erbanblungen 
geführt  werben.  3b«  Unterhaltung  ift  ungemein  einfach,  fie 
erhalten  nichts  als  ein  reichliches  Öuantum  5Rei$,  ben  fie  ge= 
wohnlich  ohne  jegliche  Butbat  »ergebreu.  SBirb  gefchlachtet,  fo 
fallen  ihnen  bie  Gingeweibe  unb  Äöpfe  gu.  Äann  man  eS  buben, 
fo  fauft  man  ab  unb  gu  einige  gifche  für  fie.  3br  monatlicher 
8of)n  ift  4 Sftr.  in  ©ütern,  boch  erhalten  fte  ihn  erft  nach  abge* 
laufener  ©ienftgeit,  um  bem  obnebieS  febr  gewöhnlichen  Gntlaufen 
eine  ©renge  gu  fefcen. 

StRan  fann  eS  wunberbar  finben,  wie  eine  .Jpanb  »oll  Guto* 

2'  (697) 


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20 


pder  tjier  ficket  gu  leben  unb  einen  jo  beträchtlichen  ^janbelä* 
»erfepr  gu  d ermitteln  im  ©tanbe  ift.  Jpier  mufc  man  inbeffen 
in  Erwägung  gieren,  baf}  eß  für  bie  Häuptlinge  gewiffermagen 
Lebensfrage  ift,  mit  ben  jtaufleuten  auf  gutem  gufce  3U  ftehen, 
unb  bah  in  gälten,  me  ©ewalttpätigfeiten  begangen  ftnb, 
alle  Europäer,  trep  bet  fonft  oft  nicht  befonberen  Harmonie, 
gufammenftepeu.  @in  jebeß  bort  im  gluffe  liegenbe  ©epiff  gaplt 
bem  Häuptlinge,  Dor  beffen  Ufer  eß  gu  iSnfet  liegt,  eine  jäpr* 
liehe  Abgabe  Don  100  Lftr.,  ben  jogenannten  jtumi,  wofür  fiep 
biefe  Häuptlinge  Derpflicpten,  ©cpup  unb  ©ieperpeit  für  i'er» 
fonen  unb  Gigentpum  ber  SBeipen  gu  gewähren.  £>ie  anberen 
Häuptlinge  erhalten  eine  geringere  Abgabe  oon  10  Lftr.  kommen 
baher,  »aß  freilich  fehr  feiten  ift,  SJteutereien  unter  ben  Ätec» 
Siegern  tor,  fo  requirirt  bet  betroffeue  Ölgent  bie  bewaffnete  SJlacpt 
beß  Häuptlings,  unter  beffen  ©cpup  er  fiep  gefteflt  pat,  unb 
biefer  hält  fiep  alßbann  auch  außnahmßloß  für  rerpflichtet,  eingu» 
jepreiten  unb  bie  Empörer  in  Äetten  gu  legen.  Uebrigeuß  fönnen 
fiep  bie  Guropäer  jo  giemlicp  auf  ipre  &roo«Leute  nerlaffen,  welcpe 
bafür  forgen,  baf}  piet  feine  Ölußfcpteitungen  feitenß  bet  Gin« 
peimifepen  ftattfinben,  benn  bie  gegenfeitige  Ölbneigung  ber  Staffen 
ift  giemlicp  außgefproepen  unb  giebt  eß  g.  S3.  für  bie  Äroo*9leger 
fein  gtöpereß  33erqnügen,  als  einen  GamarDDn*9Jiann  beim  ©teplen 
gu  ertappen,  greilicp  fiept  eß  auf  bet  anberen  ©eite  mit  bem 
guten  Söillen  ber  Häuptlinge,  @cpup  beß  Gigentpumß  ber  Äauf« 
leute  gu  gewähren,  niept  befonberß  auß.  Gß  ift  offenfunbig,  bah 
biefe  Häuptlinge  oftmals  Den  größeren  5)iebftäplen  in  ben 
Söaarenjcpuppen  am  Lanbe  fepr  gut  unterrichtet  finb.  fDlan 
beftiept  bie  Söacpe  paltenben  Äroo«  Sieger,  gräbt  fiep  unter  ber 
SLanb  pinburep  ober  gept  burep  baß  55acp,  unb  fo  werben  oft  in 
einer  Slacpt  gang  beträchtliche  JDiebftäple  außgefitprt.  £>er 
Häuptling  erfepeint  alßbann  mit  ber  parmlcfeften  SOliene,  beflagt 

(698) 


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21 


baS  Borgefaßene  unb  terfichert,  9lfle8  aufbieten  gu  »ollen,  um 
bie  Uebelt^äter  gu  ermitteln,  wabrenb  er  in  ber  ü£fyat  ficb  ton 
benfelben  einen  beträchtlichen  'Jlnt^eil  ber  Beute  bat  geben  laffen, 
um  fie  nicht  gu  «erratben.  SDenn  ber  Siebftabl  gilt,  »ie  bei  ben 
(Spartanern,  bei  biefeu  Siegern  nur  bann  für  fcbimpflich,  wenn  er 
mißlingt. 

3)odb  ben  weitaus  intereffanteften  Slbeil  beS  SdjiffSlebenS 
gewährt  ber  Berfebr  mit  ben  ©ingebotenen  felbft.  2>a  b»er  tom 
Häuptling  bis  gum  Sflaten  b«rab  ein  Seber  £>anbel  betreibt, 
unb  jämmtlicbe  ©efchäfte  an  Borb  ber  Schiffe  abgemacht  werben, 
fo  benftbt  täglich  ton  Sonnenaufgang  bis  gut  ÜJlittagSgeit  ba» 
felbft  ein  üufjcrft  lebenbigeS  buntes  Treiben,  welches  gu  bem  ori* 
gineöften  gehört,  waS  man  an  ber  gangen  itüfte  feben  fann. 
25ort  lernt  man  alle  angefebenen  8eute  perjönlicb  fennen,  man 
fiebt  baS  Treiben  ber  8eute,  lernt  ihre  Bebürfniffe  fennen,  fo 
ba§  man  terbältnifjmäfng  fcbnefl  ton  ihren  eigentümlichen  Sitten 
unb  ©emobnbeit  fidf  unterrichten  fann. 

3)a  nun  bei  einem  jeben  ©efchäfte  eine  größere  Sngabl 
geute  betl)eiligt  gu  fein  pflegt  unb  biefe  fdjwer  einig  werben, 
fo  fann  man  fich,  ba  alle  berartigen  Betbanblungen  mit 
grobem  8ärm  betrieben  werben,  baS  ©ejcbrei  unb  ben  8arm  tot* 
ftellen,  welch««  £unberte  biefer  Scbwargen  “«  33otb  beS  Schiffes 
terurjachen.  ÜRitunter  geratben  bie  Streitenben  fogar  fo  fyaxt 
aneinanber,  bafj  eS  gu  Sbätlichfeiten  8«  fommen  brobt.  -£>ier« 
gegen  wirb  inbeffen  ftetö  fcbleunigft  eingefdjritten  unb  bie 
Streitenben,  falls  fie  ftd)  nicht  beruhigen  wollen,  über  Borb  in 
ihre  ©anoeS  getrieben,  ba  als  ftrenge  Siegel  aufrecht  erhalten 
»irb,  bafe  Siiemanb  hier  angetaftet  werben  barf.  ©ine  laye  $anb* 
babung  biefeS  ©runbfaheS  würbe  bie  Schiffe  nicht  «ut  häufig 
gum  Sdjauplab  ton  $änbeln  machen,  beren  Tragweite  fcbwer  ab« 

(699; 


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22 


gufeljen  wäre,  fonbern  auch  bem  freien  Serfehr  unb  opanbel 
ttefentlichen  Abbruch  thun. 

So dj  id)  werbe  nunmehr  gu  einer  näheren  ©dhilbcrung  biefeß 
eigentümlichen  fftegetoolfeß  übergeben. 

Sie  Gamaroon*  ober,  wie  fie  richtiger  genannt  werben, 
SuaQa=9teger  geboren  einet  aufehnlidhen  Sölferfamilie  an,  welche 
baß  gange  ©ebiet  beß  gluffcß  unb  feiner  JDueMänber  eingunehmen 
fdheint.  3m  9torboften  grenzen  fie  an  bie  in  ©Uten  unb  Sprache 
»erfd)iebenen  Galabar=@tämme  unb  bilbet  hier  baß  eigentümliche, 
jebocb  fieser  gu  ben  Suatla  gehötenbe  ©ebirgßoolf  bet  Safhwiri, 
bie  ©renge,  wogegen  bie  an  fie  gtengenben  ©tämme  beß  3nnern 
gang  unbefannt  ftnb. 

sJtad)  ihrer  Srabition  ift  ber  gegenwärtig  Gamaroonß  be* 
wohnenbe  ©tamm  nidjt  utfprünglidh  bafelbft  anfäffig  gewefen, 
fonbern  oor  etwa  100  3aljren  auß  ber  ©egenb  beß  Äwafroa* 
gluffeß,  wofelbft  je^t  fe^t  wilbe  ©tämme  ijaufen,  l)ergefommen. 
3h*e  Soroäter  hätten  bamalß  lange  Beit  mit  ben  bamaligen  Se* 
wobnern  t?on  Gamaroonß  Hanbel  getrieben,  bann  hätten  fie  einen 
©roberungßgug  bahin  unternommen  unb  baß  2anb  für  ftd?  in 
Sefi£  genommen.  Sic  Setwlferung  würbe  gu  ©flauen  gemalt, 
unb  fdjeint  gänglich  in  ben  fiegreicben  ©tamm  aufgegangen,  ba 
man  heutzutage  feine  ©puren  beffelben  mehr  oorfinbet. 

Samalß  hanbelte  man  noch  nicht  mit  fPalmöl,  fonbern  nur 
mit  ©flauen  unb  ©Ifenbein.  Sie  SSeifjen  famen  mit  ihren  Schiffen 
nicht  ben  glufj  herauf,  fonbern  anferten  braunen  in  bet  SJtünbnng. 

Sie  Säbfunft  ihrer  Häuptlingßfamilien  leiten  fie  uon  bem 
halb  mpthifch  geworbenen  großen  Häuptling  Sela  ab,  weidbet  gut 
Seit  ihrer  Sefi^nabme  uon  Gamaroonß  herrfdhte.  9Uß  bie 
birefteften  9?a<bfommen  beffelben  gelten  bie  Häuptlinge  beß 
©tammeß  bet  Seile,  wie  berfftameuon  ben@nglänbern  forrumpirt 

(700) 


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23 


»erben  ift,  benn  in  bet  ©uatlafpractje  nennen  fie  fic^  23ela 
cber  23ele. 

5Z5ie  Häuptlinge  ber  übrigen  ©tämme,  namentlich  bie  ©eibo’S 
unb  Slfma’S,  finb  aHerbingS  ebenfalls  Sfacfyfommen  »on  ©ebnen 
Bcla’S,  boeb  wirb  ihnen  nicht  ein  gang  gleicher  9iang  einge* 
räumt,  namentlich  ben  2l!wa’$.  SJtan  behauptet,  bie  Häuptlinge 
biefeö  Stammes,  welcher  gegenwärtig  ber  gahlrcichfte  unb  burch 
leinen  auSgebehnten  Hanbel  ber  mächtigfte  geworben  ift,  flammten 
mütterlidjerfeitS  non  ©flaoenblut  ab,  woher  bie  Slfwa’S  non  ben 
übrigen  ©amaroonnegern  nicht  für  ebenbürtig  angefehen  werben. 
Ser  2tame  2lfwa  rührt  übrigens  nicht,  wie  man  glauben  fönnte, 
auS  bem  $)ortugiefifchen,  fonbern  ift  ein  verbreiteter  einheimifcher 
5lame  Äwa,  wie  er  ftdj  auch  in  ber  23egeichnung  beS  Äwalwa* 
Stoffes  geigt. 

©ie  9iamenbegeichnung  gefehlt  bei  allen  ©uat(a=iRegern 
betartig,  baf)  ein  jeber  gum  Stamme  ©ehörige  ben  ©tammnamen 
führt,  welchem  fein  befonberer  9iame  beigefügt  wirb,  ©o  heif)t 
g.  23.  Äing  23ell  ©umbe,  er  würbe  alfo  in  ber  ©ingeborenen» 
fpradje  Sela  ©umbe  genannt  werben.  ©a  inbeffen  biefe 
6ingeborenen«9lamen  oft  fchwer  »erftänblich  fiub,  fo  führt  ein 
jeber  Gamarooit»SReger  itberbieS  einen  befonberen  tarnen  für  ben 
Setfehr  mit  SBeifjen,  unter  bem  er  auch  ben  Büchern  geführt 
wirb,  ©och  bei  ber  fehr  grofjen  B^hl  bet  Slfwa’S  unb  23ell8 
reichen  natürlich  bie  gunächft  oerwaubten  chriftlichen  Saufnamen 
bei  Seitem  nidht  auS  unb  eS  fornmen  bann  fonberbare  Flamen* 
gtbungen  gu  Sage,  ©a  giebt  eS  SioerpoolS  unb  Bonbons,  unter 
Slnbern  g.  23.  einen  Looking  Glass  Bell,  einen  Bottle  beer  Bell, 
ja  felbft  baneben  einen  Empty  bottle  beer  Bell. 

9luf  einer  ©anoereife  mit  23eH«2euten  würbe  mir  als  führet 
betfelbeit  ein  baumlanger  jferl  gang  harmtoS  als  Long  beef 

(701) 


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24 


Bell  oorgeftellt,  ohne  ba§  im  ©eringften  3emanb  etwas  ©chlimmeS 
babei  gebadjt  hätte. 

SDte  äucer  berührte  gtcfje  Sebeutung,  welche  bet  &bftammung 
beigelegt  wirb,  ift  eine  bet  djaracterifiifdjften  Srfcheinungcn  bei 
biefen  lieget«;  eS  ^errjc^t  bei  tiefen  rohen  fOölfetn  eine  fo  auS* 
gebrochene  ©eburtSariftofratie , wie  man  fie  nur  bei  cnuliftrten 
SSölfern  finben  !ann.  Ueberalt  werben  bie  freien  flieget  als  eine 
beDorredjtete  Slriftofratie  bett  ^albfreien  unb  ben  ©flauen  gegen* 
übergeftetlt.  Die  (enteren  beiten  Älaffen,  bebeutenb  an  ängahl 
übetwiegenb,  bilben  bie  «fpauptmenge  Cer  Seoölferuug.  @S  ift 
bier  nothwenbig,  über  baS  ©flaoenwefen  bei  biefen  fRegern  einige 
nähere  ©rlänterungen  ju  geben,  ba  übet  baffelbe  cielfad)  uidbt 
gang  jutreffenbe  2lnf<hauungen  oerbreitct  finb.  &ö  wäre  ein 
großer  3rrthum,  gu  glauben,  bie  ©flaoerei  unb  bet  ©flaoenhanbel 
bei  ben  fRegern  fei  eine  burch  bie  Sebürfniffe  bet  ©uropäifchen 
©ultur  in  heilen  Öänbetn  heroorgebrachte  3n[titutiou.  Vielmehr 
ift  bie  ©flaoerei  als  eine  mit  bem  SBefen  unb  ©haracter  ber 
fchwargen  SRaffe  oerbunbene,  urfprünglid)e  ©tfdjeinung  angufehen. 
SiS  3um  Senegal  hinauf,  non  woher  tiele  flieget  in  bem  frangö* 
ftfdjen  ©abun  leben,  erftrecft  fich  bei  allen  SBölfern  bet  SBeftfüfte 
bet  idjarfe  Unterfchieb  non  freien  unb  Unfreien,  unb  überall  in 
unabhängigen  Territorien  befteht  bie  ©flanerei  in  auSgebehntem 
fföaajje.  Sei  ben  Dualla  fliegern  ift  eS  für  einen  jeben  ange* 
feljenen  flJlann  gan3  unumgänglich  eine  Sflanen  3U  haben, 
um  fRubeter  für  feine  ©anoeS  3U  haben,  namentlich  aber  für 
bie  Verrichtung  einer  Slngahl  nou  Arbeiten , bie  als  ©flaoenarbeiten 
nnb  folglich  als  eines  freien  fBRanneS  nicht  würbig  angefehen  wer» 
ben.  £iergu  gehören  namentlich  bie  gelbarbeiten,  bie  non  ©flauen 
unb  Söeibern  cerrichtet  werben,  unb  eS  ift  biefem  unglücflidjen 
Umftanbe  ^atiptfäc^lic^  gugufchteiben , baf*  bie  ©ultur  beS 
Nantes  h*er  1°  barnieberliegt,  ba  eS  überall  an  SlrbeitSfräften 
c jm ) 


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25 


fehlt.  9tur  bie  $)ortugiefen  fyaben  ihre  (Solonieeu  ju  einiget 
Slüthe  gebraut,  ba  fie  bie  ©Hanenarbeit  bis  in  bie  lebten  Satyre 
hinein  bort  hefteten  liefen.  2HS  bagegen  cor  einigen  Sagten 
bie  ©Hauerei  aud)  non  ©eiten  Portugals  abgefchafft  würbe, 
würbe  bet  $>lantagenbau  auf  biefen  Snfeln  gänglidj  in  Btage 
gefteUt.  ©et  Serfuch,  Krooneger  ju  importiren,  fdjlug  wegen  bet 
erwähnten  Abneigung  gegen  biefe  Arbeiten  gang  fehl,  unb  fo  blieb 
ber  ßolonialregierung  nichts  übrig,  als  thatfädjlich  ein  Äuge  3U* 
gnbrüdfen,  unb  ben  3mport  non  ©Hanen,  welche  als  Arbeiter  ein* 
geschmuggelt  werben,  nicht  mit  gu  großer  ©trenge  gu  nnter* 
brücfen.  'Portugiefifche  ©Hanenhänbler  finb  noch  gegenwärtig 
auf  bem  weiten  glu&gebiet  beS  Dgowe  unb  in  benachbarten 
©erritorien  fehr  thätig,  unb  eS  fanben  währenb  meiner  lebten 
lÄHWefenheit  in  ©abun  mehrere  Grrpebitionen  eines  ftaugöfifchen 
Kanonenbootes  gegen  biejelben  ftatt. 

©ie  eigentliche  Klaffe  ber  ©Hanen,  um  welche  eS  ftd)  h‘e* 
hanbett,  ift  ihrem  Herrn  gegenüber,  ber  fie  geraubt  ober  getauft 
hat,  butchauS  rechtlos  unb  wirb  als  twllfommeneS  ©igenthum 
betrachtet,  ©erfelbe  tann  fie  beliebig  nerfaufen  unb  fogar  baS 
Umbringen  eines  ©flaoen  burch  ben  £>errn  würbe  nicht  als 
ftrafbar  angefehen  werben,  ©er  9>rei3  eines  ©Hanen  betrug  in 
(SamaroonS  5 Kroo  ober  ißfb.  ©tri.  SBirb  ein  ©Hane  getöbtet, 
fo  tann  bie  Sache  ftetS  burch  Segahlung  gut  gemacht  werben, 
©elbft  ber  ©ob  eines  £albfreien  tann  auf  biefe  SBeife  gefu^nt 
werben,  währenb  ber  ©ob  eines  freien  SRegerS  unbebingt  Slut» 
rache  nach  fi<h  sieh*- 

Sei  biefen  Serhältuiffen  tonnen  ©ie  fich  norftellen,  bah  baS 
geben  non  ©flanen  nicht  befonberS  geartet  wirb,  unb  bei  ben 
oft  norfomtnenben  SDRenfchenopfetn  werben  bie  Unglücflichen  oft 
barbarifch  ^ingefd^tac^tet.  @8  fommt  fogar  nor,  ba§  Häuptlinge, 
benen  eS  nicht  gelingt,  folche  Dpfer  burch  Ueberfall  eines  feinb* 

(7P3) 


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26 


ließen  ©tamme8  gu  erlangen,  ßeimlicß  einigen  ißter  eigenen 
©flauen  ben  .Ropf  abftßlagen  taffen,  nm  biejelben  al8  Jtopßäen 
ßeimgubringen,  wa8  mau  felbft  Ring  Seil  nacßfagte.  (Sin  ber* 
artiger  §all,  welcßet  bie  2lbftßeuli<ßfeit  biefet  SBerßältniffe  cßaraf* 
ierifirt,  ereignete  fieß  bei  bem  2obe  bc8  uralt  geworbenen  Ring 
SBiÜiam  non  iöimbia.  25iefer  alte  2)e8pot,  melier,  wie  man 
fagte,  beinahe  ein  älter  non  100  Saßren  erreicht  ßaben  foUte, 
war  bereite  feit  einer  Steiße  non  Sauren  fo  fdfmacß,  baß  man 
feinen  $ob  beftänbig  erwarten  fonnte;  man  war  baßer  auf  bie 
Slotßweubigfeit,  ein  Dpfer  bei  feinem  $obe  gu  ßaben,  gefaßt. 
SJtan  ßatte  gu  biefem  SSeßufe  einen  ©flauen  non  einem  benaeß* 
barten  ©tamme  gefauft.  0118  ber  Häuptling  geftorben  war, 
beauftragte  man  ben  ©flauen,  angebließ  für  ben  Häuptling,  ein  Grab 
gu  graben.  9118  et  e8  gegraben  ßatte,  warf  man  ißn  gu  Söeben 
unb  fd)üttete  fouiel  Grbe  auf  ißn,  baß  ber  Unglücflicße  lebenbig 
begraben  würbe. 

33egreifUd)  ift  e8  baßer,  baß  bie  ©flauen  c8  burdßgängig 
feßr  fureßten,  uerfauft  gu  werben,  unb  meßrfaeß  faß  icß  fclcße 
Unglücflicße,  bie  naeß  Gamaroonb  uerfauft  würben,  mit  Jpänben 
unb  güßen  fieß  weßten,  fu  baß  fie  in  .Retten  gefeffclt  in  ba8 
Ganoe  gefeßleppt  werben  mußten.  Gine  feßt  allgemeine  Gr* 
feßeinung  ift  bie  ftrengc  Slbfonbetung  ber  ©flauen  aueß  ßinfi(ßtlicß 
ber  SBoßnungen.  Uebetall  finbet  man  neben  ben  ^Dörfern  ber 
freien  Sieger  gefonberteSflauenbörfer,  gu  weiten  unmittelbar 
an  erftere  fieß  anfeßließenb , gumeilen  aueß  ftunbenweit  bauon 
entfernt  bei  beu  Plantagen,  bie  fie  gu  bebauen  ßaben. 

©onft  barf  man  fieß  übrigens  bie  SBeßanblung  ber  ©flauen 
©eüen8  ißrer  Jpertn  feine8meg8  ßart  oorfteüen,  namentlich  wa8 
bie  Slrbeit  anbelangt,  wirb  ißnen  feßr  wenig  gugemutßet  unb 
fie  werben  bagu  immer  nur  auf  gütlicßem  Söege  angeßalten. 
gür  bie  abgelieferten  fProbucte  be8  $elbbaue8  entfcßäbigen  fie  ißre 

(7W) 


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27 


fetten,  wie  ich  glaube,  immer  burcb  Heine  Begabungen  unb 
finben  eS  auch  gang  natürlich,  bah  bie  ©Hanen,  wenn  fte  ihnen 
nichts  geben  wollen,  auch  ihrerseits  lieber  fautlengen  nnb  nichts 
bringen,  ©o  fanb  ich  3.  33.  in  Sföungo,  bah  bie  freien  feinen 
Palmwein  oon  ben  ©Hanen  befommen  fonnten,  wenn  biefe  nicht 
»orauSbegablt  würben.  Niemals  bube  ich  bemerH,  ba§  ein  ©Hane 
wegen  SErägbeit  geflogen  worben  wäre;  er  würbe  bemjenigen, 
welket  ihn  im  (Sanoe  3. 58.  gu  feljr  bebrängen  würbe,  angu» 
ftrengen,  gan3  ruhig  fagen:  ©u  willft  mich  umbringen. 

©onberbar  ift  eS,  bah  bie  ©Hanen  mit  bem  neräcfjtlidjen 
Sorte  SRigger  begegnet  werben,  weites  allgemein  als  Schimpf« 
wort  gebräuchlich  ift.  ©as  beleibigenbfte  Sort,  waS  man  einem 
freien  lieget  fagen  fann,  ift,  ihn  einen  Bufbuigger  gn  nennen. 

Bei  weitem  gasreicher  als  bie  eigentlicher.  ©Hanen  ift  bie 
jflaffe  ber  fpalbfreien,  welche  bereits  giemlid)  auSgcbebnte  Sterte 
befitjen.  ©abin  geboren  gunäc^ft  alle  üftachfomtncn  non  ©flanen. 
©enn  man  giebt  ben  ©Hanen  faft  immer  Seiber,  um  bamit 
bie  3&S  unb  9Ka<bt  beS  ©tammeS  3U  nermebren.  ©iefe  non 
©Hanen  ©eborenen  finb  nun  nid^t  mehr  ©igentbum  ihrer  Herren, 
fonbern  werben  als  wirflid)e  ©tammeSangebörige  betrachtet,  fowie 
auch  bie  gasreichen  Siathfommen  non  freien  Negern  unb  ©Ha« 
niunen  ober  $albfreieu,  welche  ebenfalls  gu  biefer  Älaffe  gerechnet 
Werben,  ©ie  fönnen  ungebinbert  ^anbel  für  fid)  felbft  treiben 
unb  Ber mögen  erwerben,  fo  bah  oiele  unter  ihnen  gang  ange« 
febene  8cute  finb.  9?ur  haben  fte  in  ben  S3erfammlungen  über 
©tammeSangelegenbeiten  feine  ©timme,  unb  bleiben  überbauet 
non  ben  mancherlei  Borrechten  ber  freien  Sieger  auSgej^loffen. 

Senben  mir  unS  nun  3U  ber  Betrachtung  ber  pbbf*fd?eu 
unb  geiftigen  ©igenfchaften,  fo  ift  hier  gleich  »orweg  3U  bemetfen, 
bah  bie  ©uaüa  3U  ben  woblgebilbetften  unb  förderlich  »öS» 
entmicfelten  ©tämmen  gu  rechnen  finb.  ©ie  Färbung  ber  Jpaut 

(705) 


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28 


ift  rote  bei  allen  SBeftafrifanern  ein  tiefeß  SBraun,  roeldjeß  in 
bet  Sijat  am  treffenbften  mit  ber  garbe  beß  gebrannten  Äaffee 
gu  oergleicben  ift;  tieffcbwarge  fiebt  man  nie,  wie  wohl  ftdj  fenjt 
febr  »ielfadje  iHbftufuugen  in  bet  Sntenfität  bet  gärbung  bei  ben 
einzelnen  Snbipibuen  rorfinben.  9ludj  fraufbafter  Mangel  bet 
gärbung,  Sllbinißmuß  in  »erfcbiebeuem  @rabe,  ift  burchauß  nicht 
feiten,  unb  mehrfach  trifft  man  ooBfommene  Sllbinoß  mit  oott» 
fommen  weitem,  febr  gartem  Seint,  nur  burch  baß  betfblonbe  SBcO* 
baar  unb  ihre  ©eftchtßbilbung  ihre  Staff e oerratbenb.  @inen 
febt  unangenebmen  (ginbrucf  macht  partieller  Sllbinißmuß,  wobei 
eine  Sfogabl  oon  größeren  ober  fleineren  Jpauipartieen  weil 
bleibt,  fo  bafj  feiere  Seute  oollfemmen  gefcheeft  etfebeinen.  2)te 
gigut  ift  bei  ben  ÜJtännern  burcbfchnittÜcb  grefc  unb  »obige» 
formt  robnft,  bie  ©eftchtßgiige  oft  außbrucfßeoll,  unb  fönnte  man 
fie  mitunter  ft^ön  nennen,  wenn  nicht  bie  bäfeütben  ßigen* 
tbiimüebfeit  beß  Stegertiipuß , bie  etwaß  flach gebrüefte  Stafe  unb 
ber  unfdjöne  SJtunb,  ftetß  betcorträten.  3)ie  Unterfcbeibung  ber 
einzelnen  ^5^t>fiognomieeu  fällt  im  Slnfange,  wenn  man  ftch  noch 
ui<bt  an  ben  Stegertppuß  gewöhnt  bflt-  giemlich  fchwer,  bo<h  über* 
geugt  man  fid}  halb,  baf)  bie  Snbwibuen  ebenfo  cbarafteriftifche 
9)bbftD3nomien  befi|en,  alß  bei  cieilifirten  Stationen.  Sehet 
bagegen  bie  immer  wieberfebrenbe  ^Behauptung,  bie  Sieger  be* 
fäfjen  feine  entwicfelte  SBabenmußfulatur,  noch  nicht  auf  gegeben 
ober  wenigftenß  auf  gang  beftimmte  Stämme  bejehränft  wirb, 
fann  ich  nicht  einfeben,  ba  man  bei  allen  ben  SBölfern,  welche 
ich  g«  feben  ©elegenbeit  hatte,  fo  woblentwicfelte  Grremplare  in 
$ütle  unb  güKe  feben  fann,  alß  nur  fonft  eine  Siaffe  aufguweifen 
haben  fann.  SBeniger  ©ünftigeß  läfft  fich  »en  ben  grauen  fagen, 
»eiche  meift  flein  unb  unanfebnlich  »on  Statur,  unb  nach  unfern 
©mpfinbung  recht  büfjlicb  ftnb , fo  bah  eß  mich  in  ©abun  bei 
bem  fchönen  Seife  ber  ÜJtpongwe  überrafchte,  auch  bet  bem  weib* 

(7o«; 


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29 


ließen  Steile  ber  Seoöllerung  j ebene  unb  ftattlic^e  Figuren  unb 
nid)t  feiten  anmutige  ©eficßtSbilbung  gu  treffen. 

Son  ben  <DuaQa*9tegern  wirb  great  gejagt,  baß  fie  garte 
unb  gierliche  gormen  gang  befonbetS  an  ben  grauen  fräßen, 
boeß  bürfte  namentlich  bie  überaus  frühgeitige  Serßeirathung  roo^l 
gu  btefer  ©ricbetnung  beitragen. 

3n  bem  ungünftigen  ©inbruefe  ber  SuaHa*grauen  tragt  nicht 
wenig  iijte  ©ewoßnheit  bei,  baS  ^paar  einfach  futg  abgufdjeeren, 
wie  bie  ÜJlänner,  wäßtenb  fonft  bei  ben  meiften  Siegeroölfern  mel 
(Sorgfalt  auf  bie  Anorbnung  beS  Haupthaares  cerwanbt  wirb. 
3Jlpongwe*grauen  fc^eiteln  eS  g.  58.  fehr  gi erlich  in  brei  gängS* 
wülfte,  bie  oft  burch  chignonartige  ©inlagen  befonberS  erhöht 
werben.  Sei  einigen  (Stämmen  fomnten  bort  felbft  fehr  fonber* 
bare,  hei”»’  ober  thurmförmige  Haarfrifuten  nor. 

Sei  ben  Suada  bemerfte  ich  befonbete  Haartracht  nur  bei 
SJiännetn,  bie  mitunter  in  gang  unfpmmetrifchetSöeifebenäSopf  fahl 
fcheeren.  3uweilen  trifft  man  $)erfonen,  welche  fidj  baS  Haar  tang 
hetabhängenb  wachfen  laffen,  unb  eS  in  3öpfe  gufammenbrehen.  Alle 
biefe  Sonberbarfeiten  ßängeu  inbefjen  mit  abergläubischen  Sor* 
ftedungen  gufammen,  benn,  wie  ich  erfuhr,  hätten  biefe  geute 
befonbete  ©elübbe  abgelegt. 

SartwuchS  ift,  wie  bei  ben  meiften  SRegerraffen,  fehr  fpärlicß 
unb  ein  einigermaßen  entwicfelter  Sart  gilt  als  große  3«erbe. 

©ine  eigenthümliche  «Sitte  aller  ©amaroonueger  ift  eS,  fich 
bie  Augenwimpern  auSgureißen,  wobureß  man  fie  leicht  namentlich 
non  Äroonegern  unterfcheiben  fann.  ©ang  allgemein  tjerrfcijt  bie 
, (Sitte,  ©eficht  unb  Sruft  mit  gasreichen  Sättowirungen  gu  be* 
beden,  in  benen  bie  größte  SJiannicßfaltigfeit  ber  giguren  herrfebt 
SSir  wollen  nunmehr  einige  Slicfe  auf  baS  geiftige  geben 
biefeS  SolfeS  werfen.  ©S  ift  feltfam,  baß  bie  feßwarge  .'Kaffe  oon 
benen,  welche  fie  auS  langjährigem  Serfehr  fennen,  in  ber  Siegel 

O'Jl) 


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30 


in  jang  entgegengefe|ster  Stiftung  beurteilt  mirb.  SBäfyrenb  bie 
©inen,  mie  ter  gtofee  Oieiienbe  8ioingftone,  nur  bie  8id}tfeiten 
fetten  unb  bie  Sftangel  entfdjulbtgen,  fie^t  bie  Sftebrjafyl  ber  5Rei* 
jenben  alles  im  ungünftigften  8idjte. 

SDürfte  au$  Ijier  bie  SBaljrljeit  in  bet  SOiitie  liegen,  fo  mirb 
bccf)  ein  unbefangener  23eurtl}eiler  fdfmerlidb  umljin  fönnen,  bet 
fdjmarjen  9iaffe  im  ©anjen  einen  ttieberen  ©rab  ber  SRenfd^eit 
3ugnerfennen. 

Söenben  mir  nttS  nun  gu  ben  ©uallannegern,  fo  haben  mir 
eS  mit  einem  aufgemecften,  regfamen,  lebhaften  33olfe  ju  tfyun, 
beffen  geiftige  Begabung  feineSmegS  gering  anguftfylagen  ift. 
©dfnetle  SuffaffungSgabe,  gutes  SSeobacfytungS*  unbSRachabmungS» 
talent  finb  ihnen  in^o^etn  fDiaafje  eigentümlich;  bie  ©enauigfeit, 
mit  ber  fie  bie  9iatur  beobachten,  hat  mich  oft  in  ©rftaunen  ge» 
fefct.  Sie  unterfcfyeiben  fe^r  genau  jeben  IBogel,  jebeu  gifdj  mit 
befonberem  SRamcn  unb  ahmen  bie  Stimmen  nieler  S3ögel 
täufd^cnb  nach- 

3^r  Talent  für  bie  ©rlernung  non  ©praßen  ift  bebeutenb. 
23ei  ben  ©abunnegern  3.  SS.  finb  8eute,  melt^e  neben  einer  Sin» 
30^1  einheimifdher  Sprachen  noch  mehrere  europäifdhe  ©praßen 
fpredjen,  3.  ©.  frangöfifdh,  englifch  unb  portugiefifch,  nicht  feiten; 
unb  menn  man  non  ©amatoonS  auS  bereits  in  ben  nächft  lie» 
genben  JDrtfdjaften  SRiemanb  mehr  finbet,  meldjer  ©nglifch  0 erfleht, 
unb  mit  SDolmetfdjern  reifen  mufl,  fo  liegt  biejeS  nur  baran,  bafl 
biefe  8eute  Don  bem  SSetfeht  mit  gremben  burdjauS  auSgefdfloffen 
finb.  kommen  fie  einmal  nach  ©amatoonS,  fo  bütfen  fie  bie 
©djiffe  unb  , Raufer  ber  SBeiflen  nicht  betreten,  bamit  bie  @e» 
heimniffe  beS  £anbel0  nicht  Derrathen  metben. 

3^r  ©ebädjtnifj  ift  jgerabegu  bemunbernSmerth,  maß  na» 
mentlid)  in  il)rem  ^anbelSoerfehr  herBortritt.  £)ier  erfd^eint  eS 
gan3  munberbar,  mie  biefe  8eute,  Don  benen  manche  Summen 

(708) 


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31 


umfe^en,  wie  manches  rcfpcftable  ©efcbäft  bei  unS,  alle  bie  jabl* 
reifen  ©injelnbeiten  ohne  Aufzeichnungen  im  Äopf  behalten 
fönnen.  ©elbft  bei  ©ingen,  welche  tot  3abven  gefdjeben  finb, 
wiffen  fie  noch  genau  feben  heften,  unb  wenn  febr  häufig  3<mf 
unb  ©treit  torfommt,  fo  liegt  biefeS  gewöhnlich  weniger  an  ber 
SJiangelbaftigfeit  beS  ©ebädjtniffeS,  als  an  bent  33eftreben  ju 
übertortbeilen. 

Siicbt  minber  bettorjubeben  ift  ib*e  ©ewanbtbeit  in  ber  Siebe, 
wie  man  befonberS  in  ben  fo  häufigen  Süetfammlungen  anjuer» 
fennen  ©elegenbeit  bat.  ©ogenannte  $)alaoer  abjubalten,  in  benen 
©treitigfeiten  unb  SiedjtSprogeffe  ober  allgemeine  ©tammeS*An» 
gelegenbeiten  »crbanbelt  werben,  erfc^eint  faft  als  ein  ^ebenste* 
bürfnifj  für  bie  ©cbwarjen;  fie  bebürfen  fortwäbrenber  Aufregungen. 
Hanbelt  eS  fid>  um  eine  wichtigere  Angelegenheit,  fo  ift  eS  in  ber 
2b®l  intereffant,  eine  foldbe  33erfammlung  jn  beobachten,  ©er 
ganze  £>rt  einfcbliefjlich  ber  SBeiber  ift  auf  bem  ^alaterplatje  bei 
bet  SBobnung  beö  Häuptlings  eerfammelt,  bie  äkrfammlung  fifjt 
um  einen  grofeen,  rechtecfigen,  freien  $>latj  be*um,  in  welchen  bie 
Siebnet  berrertreten.  Siur  freie  unb  angef ebene  SJiännet  bürfen 
natürlich  ba$  2Bort  ergreifen.  ©3  werben  lange  unb  oft  febr  ani* 
mirte  Sieben  gehalten,  welche  man  mit  mufterbafter  Siube  anbört, 
worauf  bann  erft  SBeifaQbejeugungen  ober  baS  ©egentbeil  laut 
werben.  Hat  e'ne  Slnjabl  ton  Siebnern  gefprocben,  fo  tritt 
enblid)  ber  Häuptling  b^tor  unb  hält  weift  eine  febr  lange  unb 
bewegte  Siebe,  bie  mit  bem  auSbrucftoQften  S)atboS  gesprochen 
wirb,  ©ine  bilberreiche,  33ergleiche  liebenbe  AuSbrucfSweife,  mit 
oft  febr  treffenben  ©infällen,  fommt  b*et  jut  ©eltung  unb  Hefe 
mich  oftmals  bebauern,  betartigen  oratorifchen  Stiftungen  nicht 
folgen  zu  fönnen. 

©ürfte  nun  bie  foeben  gegebene  fürje  ©barafteriftif  eS  bar* 
tbun,  ba§  wir  eS  bw*  mit  feinem  unbegabten  23olfe  ju  tbun 

009) 


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32 


haben,  fo  tritt  auf  ber  anberen  (Seite  bereor,  ba§  biefe  Vegabung 
fi dj  nur  auf  bie  unmittelbar  ftnnliche  Sphäre  bcö  SDenfeuS  erftrecft 
25a$  Ueberfinnlitbe  ift  bcm  fReget  nur  ein  ©egenftanb  beS  SchrecfenS, 
über  welchen  nadjgubenfen  er  ftd?  fürchtet.  Ueberbaupt  beftebt  fein 
Stieb,  über  bie  ©rünbe  ber  (frfcfceinungen  nad)gubenfen.  2)enSBeif}en 
erfennt  ber  fReger  unbebingt  als  ein  Söefen  höherer  Orbnung  an. 
3<to  hflbe  felbft  non  einem  SRanne,  ber  oiel  mit  äcJeifcen  gu  tbun 
gehabt  hatte,  hören  muffen:  „bie  weiten  SRänner  finb  wie  ©ctt 
felbft".  SDiefeS  allein  macht  jenes  bunfelfte  ©ebiet  in  bem  geiftigen 
Sieben  ber  fReger,  ihren  unoertilgbaren  Aberglauben,  oerftänblicb. 
UeberaU  treten  bie  Acufccrungen  biefeß  Aberglaubens  bem  fRei* 
fenben  entgegen;  man  ift  genötigt  ihm  ^Rechnung  gu  tragen,  wenn 
man  baS  SSefen  ber  Sieger  oerftehen,  mit  ihnen  lebeu  will. 

Schon  im  gewöhnlichen  geben  fpielen  Baubermittel  unb  ge» 
heimnifcooUe  Stänfe  eine  grofce  SioDe.  .pat  Semanb  irgenb  ein 
wichtiges  Unternehmen  oor,  fo  wirb  er  gewifj  nicht  unterlaffen, 
eine  SRebigin  gu  machen.  Auch  bie  33ehanblung  Äranfer  befteht 
wefentlich  in  ber  Vornahme  geheimnifcootler  Vefdjwörungen  unb 
Verabreichung  oon  ßaubermitteln,  um  ben  angenommenen  böfen 
Sauber  gu  bannen,  wenn  auch  bie  grauen  gewiffe,  heüiam  wir« 
fenbe  Argneifräuter  gu  finben  wiffen,  welche  fie  in  betreff enbeu 
gällen  anwenben. 

©eljt  ein  SRann  auf  ben  gifchfang  ober  auf  bie  3agb,  fo 
macbt  er  eine  SRebigin,  um  guten  ©rfolg  gu  haben.  ÜDiefeS  erlebte 
ich  oft,  am  eigenthümlichften  in  einem  §aüe  am  ©aboon,  alß  ich 
einen  9Rpougwe*ÜRann  in  meine  S)ienfte  genommen  hatte,  um  eine 
Scefuh  für  mich  ou  erlegen.  SDiefc  Sljiere  müffen  mittelft  .par* 
punen  erlegt  werben,  wogu  grofje  ©efchidlicbfcit  gehört,  woher 
eS  nur  SBenige  oerftehen.  AIS  ber  SRann  mehrere  Sage  lang  oer* 
gebenS  auSgegangen  war,  ol)ne  ben  Shieren  beifommen  gu  fönnen, 

erflärte  er,  er  muffe  jejgt  einige  Sage  9iuhe  haben,  um  grofje 

(noj 


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33 


fDtebigin  gu  machen,  feine  grau  muffe  iu  ben  Sufch  unb  Der» 
fdjiebene  Äräuter  fammeln.  ©r  braute  mit  al8bann  auch  mehrere 
Äräuter  unb  eine  3trt  Saumrinbe,  woraus  bet  SBunbertranf  be« 
reitet  werben  feilte,  Don  beneu  ba8  eine,  wie  et  Jagte,  bewirfe, 
ba|  baS  Ztyez,  welches  et  erlegen  würbe,  recht  Diel  gett  habe. 
3118  ich  hierüber  lachte  unb  ihm  meine  Sktwunberung  auSbrüdfte, 
ba|  et  als  ein  fo  oerftänbiger  SOiann  fo  etwas  glaube,  erwiberte 
et,  bie  SBeifjen  feien  Derjchieben,  für  bie  6d}wargen  fei  füiebt jta 
nöthig,  fein  33ater  habe  fo  gethan  unb  fein  ©rofwater,  unb  ihm 
werbe  eS  auch  Reifen. 

9tidjt  minber  allgemein  Detbreitet,  als  biefe  SJlebiginen,  fiub 
Slmulette,  itgenb  ein  geheimnißDolIer  ©egenftanb,  bet,  eingewicfelt 
in  eine  fleine  Schnur  ober  einen  Heiuen  üöeutel  um  ben  ,palä 
getragen,  feinen  fraget  gegen  Äranfheit  unb  böfen  Sauber  fehlten 
füll.  üDerartigeSlmulette  fieht  man  bei  ben  Derf  Rieben  ften  Stämmen. 
Sei  ben  Äroo*9legetn  fah  ich  fte  häufig,  bei  ben  gan  bemerfte  ich 
fie  meift  in  gorm  Don  Römern  unb  Älauen  dou  Biegen  ober 
auf  bet  3ngb  erlegten  Slntilopen,  welche  au  ber  ftetö  getragenen 
SDiunitionötafche  befeftigt  waren.  3118  ich  einem  foldjen  feine  Jafche 
abfaufte,  hätte  ich  auch  gern  b‘e  batan  befinblichen  Slmulette  mit» 
befommeu,  hoch  wollte  er  fich  nicht  bagu  Derftehen,  fich  Don  feinen 
^eifigthümern  gu  trennen. 

©ine  grofje  JRoHe  fpieleu  biefe  Amulette  unb  Baubermittel 
befonberS  im  Äriege,  unb  e8  fjerrfcht  bei  ben  ©uafla  ber  beftimmte 
©laube,  fich  burch  biefelben  gegen  feinbliche  Äugeln  feft  machen 
gu  fönnen,  freilich,  p^ne  bafe  ein  folget  ©laube  fie  gu  befonberen 
«£>elbeu  machte. 

Jpier  nun  ift  ber  3(rt  ber  eigeuthümlichen  ^ejrenprogeffe  gu 
gebenfen,  welche  bei  ben  Siegern  ber  Söeftfüfte  eine  fo  grofee  Stolle 
fpielen.  SBirb  Semanb  eines  Verbrechens  angeflagt,  beffen  et  nicht 

überführt  werben  fann,  wa8  befonberö  wegen  ber  feht  häufigen 
xi.  2i7.  3 (ni> 


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34 


23ef<hulbigung  bet  £ej:erei  oorfommt,  fo  wirb  feine  ©dhulb  ober 
Unfdjulb  baburdj  an  ben  Sag  gebraut,  bajj  man  ihn  gwingt,  einen 
Sranf  non  einem  giftigen  £>olge,  bei  ben  55ualla  ift  baS  fogenamtte 
©af^a=SBcob  im  ©ebrauch,  gu  fidf  gu  nehmen.  ©ntlebigt  et  fidj 
beffelben  burd?  ©rbredfjen,  fo  gilt  et  für  unfdjulbig,  im  anbeten 
$aHe  bagegen  wirb  er  für  fdjulbig  erfannt. 

5Diefet  fdjauetlidje  ©laube,  welket  gahUofen  fDienfdhen  baS 
ifebeit  foftet , ift  übrigens  bod)  aud)  anbererfeitS  nid?!  in  aüen 
Bällen  gang  ohne  ©runb.  ©S  giebt  gefährliche  ^Jflangengifte  bcrt, 
unb  non  glaubwürbiger  ©eite  wirb  gang  beftimmt  eerfichert,  baf 
Süergiftungen  nicht  feiten  »orfommen. 

311S  ich  einft  in  einem  23afele*S)orf  am  Siembofluffe  oier  Heute, 
gwei  junge  SBeiber  unb  gwei  9)länner,  wegen  ^jeyerei  befdjulbigt 
fab,  welche  in  Äetten  gefeffelt  not  bet  ajerfammlung  fafjen, 
brücfte  ich  meinem  ©aftfreunbe  Huembe,  einem  ber  intelligenteften 
Sieger,  bie  id?  tennen  gelernt  habe,  meinen  Stbfdjeu  über  bie  ©ad)« 
auS.  SDiefer  fagte  mir  inbeffen,  er  ^alte  bie  Heute  eher  für  fdjulbig 
unb  geigte  mir  ein  fPaar  fleine  SBüubel  vergifteter  Slabeln,  bie  bei 
iljnen  gefunben  fein  füllten.  Sßürbe  mit  biefen  Siabeln  ©djlafenben 
bie  Jpaut  geriet,  fo  müßten  fte  fterben.  UeberbieS  glaubte  er  feft 
baran,  bafj  man  feine  ÜJtutter  auS  (Siferfudjt  über  feinen  Sieich* 
tbum  vergiftet  habe. 

3ft  ein  Häuptling  geftorben,  fo  liegt  überbieS  feinem  Siadhfolger 

bie  Verpflichtung  ob , eine  möglidjft  grofje  IJlngahl  »on  Heuten  eines 

fremben  ©tammeS  in  feine  ©ewalt  gu  befommen  unb  nmgubringen. 

55ie  ©c^äbel  biefer  Opfer  werben  forgfältig  aufbewahrt;  ber 

Häuptling  tangt  mit  ihnen  an  bem  Befte  gu  ©hren  beS  Verftor* 

benen  unb  fenft  bei  großen  ©elegenheiten.  55anu  finben  förmlich« 

SDtenfchenjagben  ftatt.  55er  junge  Häuptling  bemannt  einige  .ftriegS* 

canoeS  unb  begiebt  fid)  in  entlegene  Greef’S,  wo  bann  in  ber 

Siegel  harmlofe  Bifcher  ober  arglos  »orüberfommenbe  ©anoeS  feft* 
<712} 


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35 


gehalten  unb  bie  Ungliicflicben  als  befangene  Ijeimgebra^t  unb 
auf  eine  jcheufjliche  Söeife  Eingerichtet  werben.  Sin  wahnftnniger 
Jaumel  foB  fich  bann  beS  gangen  BolfeS  bemächtigen;  man  führt 
wilbe  Jänge  auf,  ber  Häuptling  langt  mit  ben  Äöpfen  ber  Sr* 
fchlagenen,  unb  felbft  bie  SBeiber  taffen  ihre  SButlj  an  ben  geid)» 
namen  ber  Srfchlagenen  aus,  inbem  fte  fie  mit  gangen  burdjbohren. 

freilich  finb  biefe  jRaubgüge  nicht  immer  fo  erfolgreich,  benn 
bie  ©chrecfenSfunbe  Don  bem  Job  eines  mächtigen  Häuptlings 
Derbreitet  fach  balb,  unb  jeber  ift  auf  feiner  £ut.  @o  erging  e8 
einem  jungen  Häuptlinge  8od  griffe  in-SamatoonS,  welcher  we* 
nige  3ahre  Dor  meiner  Stnfunft  feinem  Bater  in  ber  jperrfehaft 
über  ben  gasreichen  ©tamm  bet  9>tiffo  BeB’S  gefolgt  war.  gange 
Seit  blieb  er  erfolglos  in  feinen  Bemühungen,  befangene  gu 
machen,  fo  baf)  man  ©pottlieber  auf  ihn  machte,  in  benen  er  ein 
Änabe  genannt  würbe,  ber  noch  feinen  BRann  gelobtet  habe. 
Snblich  gelang  eS  ihm,  in  einer  entlegenen  Bai  jenfeitS  Bimbia 
ein  hatmlojeS  Sifdjetcanoe  gu  übertafchen,  beffen  3nfaffen  fich 
aber  alle  big  auf  einen  retteten,  welcher  taubftumm  war  unb  ihre 
Burufe  nicht  hörte,  ©iefer  arme  Jaubftumme  würbe  nun  heim* 
geführt  unb  fiel  gum  Dpfer,  aber  als  bie  ©ache  befannt  würbe, 
machte  man  neue  gieber,  in  benen  bem  Häuptlinge  gefagt  würbe, 
„einen  SOfann  habe  er  noch  nicht  getöbtet,  fonbern  einen  gif<h." 

Sinmal  bei  ber  Betrachtung  ihres  Aberglaubens,  bürften 
eiuige  Bemerfungen  über  ihre  religiöjen  BorfteBungen  am  Drte 
fein,  wenn  fchon,  wie  ©eorg  ©chweinfurth  fehr  treffenb  bemerft, 
bie  religiöjen  BorfteBungen  fo  roher  Bölfet  ein  fchlüpfrigeS  ®e= 
biet  finb,  auf  welchem  man  nur  aBguleid)t  irrt.  S)ie  ©uaBa  Der» 
ehren  DorgugSweife  gwei  ©ottljeiten,  BRungi  unb  Biengo  ober 
3ßung.  BRungi  fcijeint  als  ein  unnahbares  hödjfteS  SBefen  gebacht 
gu  werben,  baS  in  ungugänglichen  SBilbniffen  feinen  ©ifc  hat. 
Berunglücft  3entanb  auf  räthfelhafte  SSeije,  fo  jagt  man  wohl 

3*  ms) 


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36 


„fDlungi  hat  ihn  gu  ftd)  genommen.“  SBeit  mehr  ^etBortretenb 
ift  bagegen  bet  Äultuß  beß  fRiengo,  bet  häufig  bei  »tätigen  äu= 
Gelegenheiten  befchworen  wirb.  3ft  bet  fRiengo  im  SDotfe  et* 
fdjienen,  fo  bavf  fRiemanb  bei  Sobeßftrafe  fid?  leben  laffen,  außer 
ben  wenigen  Gingeweihten.  2Da  eß  roobl  nur  feiten  einem  SBeifeert 
gu  ibe‘l  »erben  bütfte,  eine  folche  23efchwöruug  mitjumadjen,  fo 
will  icb  eine  folche,  welcher  ich  Gelegenheit  hatte  beiguroohnen, 
fcbilbern.  3<h  wobnte  in  Ülbo,  in  bem  {laufe  Des  Häuptlings 
SRguaffa,  unb  war  eineß  £ageß  in  meinem  SBohnraum  bejcbäftigt, 
alb  plöfelich  eine  iÄngapl  SBeiber  unb  junget  üeute  in  benfelben 
einbrangen  unb  bie  5£b“r  oerfcbloffen.  3tb  begann  gegen  bieß  un> 
befugte  Ginbringen  unb  bie  iktfiuftcruug  Ginjprache  gu  erbeben, 
Doch  wntbe  ich  oou  meinem  Begleiter  auß  Gamatoonß  bebeutet, 
fRiemanb  bütfe  betauß,  benn  bet  fRiengo  fei  erfdjienen,  unb  wer 
ibn  erblicfe,  muffe  fterben.  3nbeffen  wünfcbte  ÜRguaffa,  bafe  icb  bei 
bet  Sache  gegenwärtig  fei  unb  liefe  mich  rufen.  Üllß  icb  binau* 
ging,  tief  mit  eine  Stimme  auß  bem  Haufe  gu:  „wenn  SDu  ibn 
fiebft,  ftirbft  2)u  fofort."  Gin  9Rann  lief  mit  einem  langen  Stabe 
herum  unb  tbat  mehrere  Schlage  auf  baß  ©ach  übet  jebet  St?“1- 
2)er  Häuptling  fafe  mit  einigen  bet  älteften  2eute  oot  einem 
Keinen,  mit  iRohrftäben  eingegäunten  ^piafe  unb  winfte  mit  fpiaß 
gu  nehmen,  worauf  ich  mich  gu  ihnen  auf  bie  Gtbe  fefete.  3n 
bem  umgäunten  9>lafee  ftanben  einige  junge  Söananen  unb  anbere 
Gebüfcpe ; ich  hatte  biß  Dahin  nicht  gewufet,  bafe  eß  getifcppla? 
war,  ba  auch  f«?«ft  betgleicheu  33ergäunungen  gum  Scpufee  junget 
Bananen  nor  ben  3tegen  gebräuchlich  finb.  älot  ben  SRännern 
lagen  ein  paar  junge  23auanenfchöfelinge  gum  Ginpflangen,  einige 
reife  ^Bananen  unb  witbe  juchte,  einige  33 Anbei  Sauber fräuter, 
ein  Stopf  mit  Palmwein  unb  ein  Huhn.  Gine  3«t  lang  würben 
beftänbig  halblaut  Saubetformeln  gemurmelt,  bann  ergriff  bet 
Häuptling  baß  Gefäfe  mit  Palmwein,  fchwenfte  eß  mehtmalß,  gofe 

(JU) 


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37 


etwas  auf  bie  ©rbe  unb  franf  etwas,  worauf  eS  bie  Sfiunbe  machte 
unb  aud)  an  mid)  gelaugte.  ©ann  würbe  bie  Umgäunung  geöffnet, 
unb  man  pflangte  bie  jungen  Sßananen  ein  unb  legte  bie  übrigen 
©inge  baneben.  ©arauf  würbe  etwas  non  bem  fPalmwein  batauf 
gegoffen  unb  ein  3eber  ber  SRei^e  nach  fpie  aus  auf  bie  ©teile, 
©er  Häuptling  ergriff  bann  baS  -£>uhn,  fdjmenfte  eS  mehrmals 
herum  unb  gab  eS  ^erum,  gulefet  ergriff  eS  einet  unb  rifj  ihm 
barbarifd)  ben  Unterfdjenfel  ab,  fo  ba§  er  nur  an  ber  £aut  hing, 
ba§  gappelnbe  3J)ier  mürbe  bann  übet  bie  Dpferftelle  gehalten, 
jo  bafj  einiges  23lut  barauf  tröpfelte,  ©ann  würben  bie  trübte 
unb  Kräuter  eingegtaben,  abermals  Palmwein  barüber  gegoffen 
unb  ber  IReifye  nadj  befpieen,  ber  Palmwein  freifte  nod)  einmal 
unter  fortmaljrenbem  ©emurmel,  bann  würbe  bie  Umgdumung 
oerjchloffen  unb  bie  ©etemonie  war  beenbigt. 

Slknn  idj  bie  8eute  fragte,  wcShalb  id?  fcen  ÜRiengo  habe 
fe^en  fönnen,  fagten  fte  mit,  ein  SBeifcer  fei  ftarf  genug,  um 
ihn  fehen  gu  fönnen. 

Weber  bie  gottbauer  ber  ©eele  nad)  bem  Stöbe  befi^en  fte 
wohl  nur  gang  unbeftimmte  Sorftellungen.  ©ie  glauben  aÜerbingS, 
baf)  bie  ©eele  noch  fortbauert,  aber  an  einen  £>rt  fommt,  wo 
fie  gut  JRulje  gelangt  unb  nicht  mehr  thätig  fein  fann.  , ©inen 
©efpenfterglauben  giebt  eS  baljet  nicht. 

3ft  3emanb  geftorben,  fo  haben  gunddjft  bie  Klageweiber 
ihre  Aufgabe  gu  erfüllen;  fämmtlid)e  weibliche  Angehörige  beS 
SBerftorbenen,  unb  je  nach  bem  SRange  beffelben,  eine  größere  An* 
gahl  fid)  anfchliehenber  SSeiber  burd)giehen  h«ulenb  baS  ©orf  unb 
fefcen  bieS  bei  bet  £ütte  beS  33erftorbenen  fo  lange  fort,  bis  ber* 
felbe  begraben  ift. 

©ie  ÜJldnner  bagegen  machen  baS  ©reignifs  ber  Seit  burdj 
baS  Abfeuern  oon  ©ewehten  funb,  waS  meift  in  ber  gtühe  beS 
ÜJtorgenS  gefchieht  unb  oft  eine  iReihe  oon  Sagen  fortgefefet  wirb. 

ais; 


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38 


3e  angefeljener  ber  Serftorbene,  um  fernehr  ^uloer  wirb  oer< 
fnallt.  Oft  würbe  ich  mitten  in  bet  9tadjt  durch  ba?  furchtbare 
©eheul  biefer  SBeiber  unb  bie  ©ewehrfaluen  aufgewecft,  fe  bafe  man 
hatte  glauben  tonnen,  bet  geinb  ftehe  fdjou  im  ©orf. 

Stirbt  Semanb  an  einem  fremben  £>rt,  fo  muffen  feine  9ln* 
gehörigen  ftembc  Sßeibcr  bagu  annehmen.  So  fam  einft  ein 
mit  befannter  Gamareon=3Jlann  in  OKungo  gu  mir  mit  bet 
Sitte,  ihm  gu  Reifen,  fein  Änabe  fei  ihm  p'iöfjlich  geftorben  unb 
bie  SBeiber  wollten,  ohne  ein  $aat  glafdjcn  9ium  gu  erhalten, 
ihre  Pflicht  nirfit  erfüllen,  ©er  alte  Sötann  war  übrigen?  tief 
befümmert  übet  ben  Serluft  feine?  Äinbeö,  unb  nie  werbe  idj 
ben  fchmerglicbcn  SluSbrucf  rergeffen,  mit  bem  er  mir  einige  Sage 
fpäter  fagte,  al?  bet  Sang  ftattfanb:  „©u  Ijörft  bie  Beute,  ba? 
ift  fein  Spiel." 

©et  Serftorbene  wirb  fobann  immer  in  feinem  eigenen 
,£>aufe,  welche?  auf  eine  furge  3«t  oerlaffen  gu  werben  pflegt, 
begraben.  Siele  Beute  .bleiben  fogar  wafjrenb  beffen  in  bem 
Tarife  wohnen.  Selbft  ©flauen,  für  bie  fidj  feine  v£>ütte  fiubet, 
werfen  wenigften?  in  bet  unmittelbaren  9iälje  ber  Jütten  begraben. 
3118  ich  einft  in  einem  fleinen  ©orfe  am  Äwafroa  oon  einem 
2lu?fluge  ^eimfe^rte,  fanb  id}  eine  Slngahl  Beute  befchaftigt,  un* 
mittelbar  an  bet  SBanb  meiner  Jpiitte  ein  ©rab  gu  graben,  unb 
erfuhr,  bafj  hier  ein  © flaue  begraben  werben  foDe.  Grft  al?  idb 
gum  Häuptling  fc^icfte  unb  ihm  erflärte,  ich  würbe,  wenn  biefe? 
gefdjähe,  fofort  in  ein  9ladjbarborf  gehen,  ftanben  bie  Beute  oon 
ihrem  Sortjaben  ab.  ©iefe  Sitte  be?  Segtdbniffe?  in  ben 
Jütten  fdheint  übrigen?  ben  ©uaüa  eigentümlich  gu  fein, 
wenigften?  hob«  ich  fie  fonft  nirgenb  angetroffen. 

9teun  Sage  nach  bem  Sobe  finbet  ba?  grofee  geft  gu  ©hren 
be?  Serftorbenen  ftatt.  ©enn  9 Sage  braucht  nach  ibrer  Sor» 
ftellung  bie  Seele,  um  gu  ihrem  beftimmten  Drte  bet  9tuhe  gu 

(716) 


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39 


gelangen.  @6  giebt  fein  anbereß  Greignif;  im  £eben  bet  Sieger, 
melcfceß  fo  großartig  gefeiert  mürbe.  Sie  ©ebnrt  eineß  JUnbeS 
cber  eine  ,£>ochgeit  merben  mehl  gelegentlich  burd)  Sänge  gefeiert, 
fcech  nidjt  entfernt  in  bem  Umfange  alß  ein  8eid^enbegängui§. 

3ft  ein  OJiaun  ober  eine  grau  Don  SHnfehen  geftorben,  fo 
ift  bie  gange  Seeölferung  beß  Drteß  Derfammelt,  oft  ftrömen  auch 
auß  fcen  Nachbarorten  bie  Seute  Ijerbei.  Ungeheure  Galebaffen 
mit  $>altnmein,  9lutn  unb  23rantmein  finb  ^erbeigebrac^t, 
Sdfaafe,  3iegen,  Sdjmeine,  £ühnet  merben  reichlich  gefc^lac^te  t 
unb  mau  fchmauft  unb  trinft  um  fo  macferer,  alß  felbft  rooht» 
habenbe  geute  für  gemohnlidj  r.ut  Don  Sifchen  gu  leben  pflegen; 
je  großer  aber  bie  greigebigfeit,  um  fo  mehr  mirb  bet  SBerftorbene 
baburdg  geehrt. 

S>er  Sang  bauert  ben  gangen  Sag  unb  meift  auch  bie  gange 
Üftadjt  h*nbur<h  unb  eß  mirb  hierin  eine  unglaubliche  Slußbauer 
an  ben  Sag  gelegt.  SJlandje  gefte  bauern  brei  Sage  lang,  man 
jdjläft  nur  am  Sage  ein  menig,  um  bann  fofort  mieber  auf  bem 
Sangpla^  gu  erscheinen.  Set  gärrn,  meldjer  babei  gemalt  mirb, 
ift  für  europäifche  Dhren  oft  gang  unerträglich.  2)‘e  Jpaupt* 
tolle  spielen  babei  bie  unoetmeiblichen  Srommeln  unb  Raufen, 
©rftere  finb  außgeljöhlte  33aumftämme,  meldje  an  bem  obern 
Gabe  mit  ftraff  gespanntem  Biegenfeü  übergogen  finb,  meldjeß 
mit  beiben  Jöänben  fräftig  bearbeitet  mirb.  Ueberbieß  ha*  man 
grofje,  trogförmig  außgehöljlte  .polgpaufen,  melche  mit  hdlgernen 
Schlägeln  angefdjlagen,  einen  JpßHenlätm  oerutfachen.7)  Allerlei 
Sitten  Don  Schellen,  ©locfen,  SBledjpaufen  DerDoüftäubigen  biefe 
SRnfif,  melche  alßbamt  noch  burd?  baß  taftmäfjige  .fpänbeflatfchen 
unb  ben  ©efang  ber  ben  Sangplafj  umftehenben  SBeibec 
ergängt  mirb. 

38aß  ben  Sang  felbft  betrifft,  fo  mufe  man  jebe  SSorfteÜuug, 
bie  mir  Dom  Sangen  haben,  bei  Seite  fefcen,  menn  man  fich  ein 

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40 


23ilb  bacon  machen  wiH.  ©in  3eber,  Spännet,  Sßeiber,  felbft 
hinter,  tanjt  für  fid),  ohne  fidj  um  bie  ÜRittanjenben  3U 
lümmern. 

DaS  Donjen  befielt  in  einem  tadmäßigen  ^ortfeßreiten  in 
tänjelnbem  Stritte,  wobei  fidj  einer  hinter  bem  anbetn  um  ben 
ganzen  $>laß  ^erum  bewegt.  Dabei  ift  ber  ganje  Äörper  in 
Irampfhafte  3ucfungen  oerjeßt,  eS  ift  ein  ©djütteln  beb  ÄörperS 
unb  3ucfen  ber  SRuSfeln,  welches  eher  einen  fdjauerlidjen  als 
anmutigen  ©inbtuef  macht.  ©in  jeglicher  ©chatten  non  ©a* 
lauterte  ift  ben  Sänken  ber  {Reger  burcßauS  fremb. 

Natürlich  finb  bei  folchen  ©elegeuheiten  namentlich  bie 
grauen  bemüht,  ißren  ©djmucf  gu  geigen.  3ßre  nach  unfern 
Gegriffen  wenig  gureid)enbe  Toilette  erfcheint  freilich  faum  ober 
nur  burch  feltfame  3uthaten  oermehrt,  aber  eS  wirb  ba8  neuefte 
nnb  buntefte  ©tücf  3eug  angelegt.  Dagegen  finb  perlen,  £>a  18« 
unb  Slrmbänber  »erfchwenberifch  angebracht,  ©ehr  gewöhnlich 
werben  bann  feßwere  meffingene  {Ringe  an  ben  Süßen  getragen, 
welche  beim  Sang  flappcrnb  aneinanberfchlagen.  ©ehr  beliebt 
finb  auch  lange,  weiße,  bis  über  ba8  Änie  reichenbe  ©frümpfe 
europäifdjen  ^abrifatS,  währenb  fonft  jegliche  9lrt  gußbefleibung 
»erfeßmäbt  wirb.  Säud?  mit  fleinen  ©löcfcßen  behängt  man 
ftch  gern. 

3n  bem  allergrößten  ©taate  ficht  man  ba8  Söeib,  wenn 
e8  als  2?raut  non  einem  3uge  feftlicf»  gewußter  2eute  in  ba8 
£au6  ihres  ©atten  geführt  wirb. 

©ine  folche  SBraut  faß  ich  berartig  mit  perlen  bebeeft,  baß 
fie  fid)  faitm  bewegen  fennte,  ber  gange  Äerßer  erfchien  förmlich 
mit  perlen  gepangert. 

9luch  bie  9Ränner  tragen  einige  3ierrathen,  boeß  befchränfen 
ftch  biefelben  auf  .£>at8bänber  »on  perlen  nnb  {Ringe,  fowie  bie 
allgemein  am  ^anbgelenfe  getragenen  breiten  ©Ifenbetnringe, 

(718) 


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41 


»eldje  fie  felbft  cerfetttge«.  Sßon  europäifchen  ÄteibungSftücfen 
befifcen  bie  SSohlhabenberen  gwat  fämmtlid}  Dielerlei,  bod)  werben 
biefe  Gegenftänbe  meift  nur  angelegt,  wenn  fie  bei  auherorbent* 
lidjen  Gelegenheiten  gu  SBeifjen  Jcmmen,  feiten  in  ihren  eigenen 
ffierfammlnngen. 

2affen  Sie  unS  gum  @<hluh  enblith  noch  einige  Slicfe  werfen 
auf  ba§  Familienleben  biefetffteget.  gamilie  gu  haben,  unb  gwar  eine 
möglichft  grc§e,  ift  baS  Streben,  welches  einen  3eben  befeelt. 
5Ran  fann  ben  fReidjthum  eines  SJtanneS  giemlidj  beurtheilen, 
wenn  man  erfährt,  wie  niele  grauen  et  hat,  kenn  f obalb  3e* 
manb  feine  Ginnahmen  fid)  foweit  oermehten,  wirb  er  gewifj 
eine  neue  grau  anfdjaffen,  eine  nach  unfern  Gegriffen  freilich 
fonbetbare  Slrt,  Gapitalien  angulegen.  Häuptlinge  befifcen  20 
unb  mehr  grauen;  wer  fonft  etwas  gelten  will,  hat  wenigftenS 
ihrer  2 ober  3. 

SDie  grauen  gelten  restlich  als  Gigenthum,  unb  fönnen  als 
foldheS  auch  oerfauft  ober  felbft  terpfänbet  werben.  33eftehen 
©treitigfeiten  gwifdjen  gwei  Stämmen,  fo  werben  biefe,  falls  fie 
burch  Segahlung  ausgeglichen  werben  fonnen,  häufig  burch  33e* 
gahlung  ton  SBeibern  beigelegt,  ba  biefe  als  hö<hft«  SBerthobjefte 
angefehen  werben,  üfticht  feiten  würben  bei  bebeutenben  Gelb* 
forberungen  SBeiber  in  fPfanb  gegeben. 

SBiH  Semanb  eine  grau  nehmen,  fo  muh  er  bem  Später  ber 
Grwählten  biefelbe  baher  für  eine  mehr  ober  minber  erhebliche 
©umme  abfaufen.  3e  angefehener  ber  Sßater,  um  fo  mehr  Der* 
langt  er  für  feine  Mochtet;  wie  ich  erfuhr,  Derlangten  bie  Haupt« 
linge  in  GamatoonS  1000  Scaler  für  ihre  Siebter,  eine  Summe, 
welche  nur  bie  rcicpften  8eute  erfchwingen  fönnen.  3—400  Schaler 
bürfte  ber  gewöhnliche  Kaufpreis  für  eine  grau  fein.  GS  ift 
natürlich,  bah  unbemittelte  8eute  nicht  in  bet  8age  finb,  eine 
grau  gu  faufen;  biefe  wenben  fid?  bann  an  ben  Häuptling,  ber 

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42 


ihnen  eine  grau  »erfcbafft,  wofür  fre  fiä)  oft  jahrelang  gu 
SDienften  »erpflichten  muffen. 

@8  formte  ben  gefdjilberten  Serhältniffen  gufolge  feinen, 
bafc  bie  Stellung  ber  grauen  eine  fei}t  ungünftige  fei,  unb  fxe 
eher  al8  Sflacinnen  befyanbelt  würben.  2)iefe8  ift  jeboch  feines» 
wegeS  bet  gaH,  bie  Stellung  einer  freien  grau  bleibt  immer  eine 
geartete  unb  e8  treten  ihre  Angehörigen  felbft  bafüt  ein,  ba§ 
fie  nicht  fchledjt  beljanbelt  wirb.  Sonberbare  Anfdhauungeu 
fommen  hierbei  gum  Sorfchein.  So  war  ich  einft  erftaunt,  in 
9Rungo  einen  Sohn  Äing  Af  wa’8  mit  einer  Schaar  »ott  Se» 
waffneten  gu  fehen,  ba  h*er  nur  Seute  »on  Seil  $£own  gewöhnlich 
oetfehren  unb  Hanbel  treiben.  (Sr  erzählte  mir,  er  habe  ein 
fPalaoet  mit  einem  5Rungo=2Raun.  ©etjelbe  ^abe  eine  Rechter 
»on  Äing  Afwa  gut  grau  unb  biefe  fei  geftorben,  worüber  Äing 
Afwa  feht  ergürnt  fei  unb  Segahlung  »erlange.  A18  ich  be= 
merfte,  hierfür  fönne  ber  9Rann  hoch  Stifts,  erwiberte  er,  er 
felbft  habe  eine  SSodjter  biefeö  SRanneö  gut  grau,  welche  fidj 
gang  wohl  in  Afwa  2own  befinbe;  wie  e8  benn  gugehe,  bafj 
Äing  Afwa’ 8 Tochter  in  SRungo  geftorben  fei? 

SBirb  eine  grau  in  einen  fremben  Stamm  uerheiratl)et,  fo 
gelten  ihre  Äinber  al8  Stamme8angehörige  unb  haben  befonbere 
Sorrechte  an  bem  Orte,  woher  bie  Sötutter  ftammt.  Seht  ge« 
wohnlich  nehmen  bähet  SJtänner  ihre  grauen  »on  bem  Orte  her, 
wohin  fie  Hanbel  treiben,  um  ihren  (Sinflufj  bafelbft  gu  »ermehreu. 

Glicht  minber  hodj  begehrt,  al8  ber  Sefifc  »ou  grauen,  ift  »on 
allen  biefen  Negern  eine  möglidhft  grofce  Angaljl  »on  Äiubern.  Se* 
fommt  eine  grau  feine  Äinber,  fo  ift  bieö  ein  fchHmmeS  §)ala»er,  ber 
3Raun  »erlangt  feine  Äauffumme  gurürf.  3n  ber  (Regel  haben 
inbeffen  bie  grauen  feiten  mehr  al8  gwei  Äinber.  5Die  ange* 
fehenen  2eute  haben  bähet  meift  fehr  grofje  gamilien.  Son  bem 
alten  Häuptlinge  IDeibo  würbe  gerühmt,  er  habe  fo  »iel  Söhne, 

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43 


baß  biefelben  allein  ein  gangeg  Ätieggcanoe  bemannen  fönnten, 
wogu  etwa  60  9Jiann  gehören.  3u  ben  Arbeiten  ber  grauen 
gehören  neben  ben  l)äu8Ii(^en  Stern  d)tungen  »ojrgugäweife  bie 
gelbarbeiten,  ,bie  ißnen  gum  größten  Steile  an^eimfaQen.  SDie 
gelber  werben  am  Gnbe  ber  trocfenen  Seit  beftedt : man  brennt 
baä  trocfen  geworbene  ©rag  unb  SBufcßwetf  nieber  unb  bearbeitet 
ben  Stoben  mit  ber^arfe.  2)am,  CEaffaba,  einGalabtum  mit  tiefigen 
Stlättern,  Stataten,  ©tunbnüffe,  Sdiaig,  fowie  eine  Heine  Stöhnen* 
art  finb  neben  ben  Stananen  bie  tjaupttäc^lidjen  ©ulturpflangen.  — 
An  ©etreibepflangen  fef)lt  eg  gang,  bie  ÜJiatßfolben  werben  tjalb* 
reif  geröftet  unb  bie  eingelnen  Äötner  »ergebt,  wogu  ein  Sieger* 
magen  gehört.  2)ie  3ubereitung  ber  ©peifen  ift  eine  feljr  ein* 
fadje.  'Palmöl  unb  ber  überall  reichlich  wacßfenbe,  fel)t  fdjarfe 
Pfeffer  werben  babei  ftetg  in  Anwenbung  gebracht.  Anftatt  beg 
Palmöls,  weites  nur,  wenn  eS  gang  frifd)  aug  ben  grüßten  gu* 
bereitet  wirb,  erträglich  ift,  hflt  man  guweilen  an  eingelnen  Drten 
ein  oegetabilifdjeg  gett,  weldjeg  aug  ben  grüebten  eineg  Staumeg 
gewonnen  wirb,  unb  einigermaßen  ber  Stutter  ähnlich  ift. 

©igenthümlid)  ift  bie  Sitte,  gut  Stauer  für  ÜBerftorbene  fidj 
gewiffer  Speifen  gu  enthalten.  Stad)  bem  Sange  gu  (äbren  beg 
Sterftotbeneu  beginnt  bie  Srauer  für  bie  Angehörigen,  fte  legen 
bann  ein  ©ewanb  oon  einem  gewiffen  bunflen  Stoffe  an  unb 
enthalten  fid)  auf  einige  2Bod)en  einiger  ber  gangbarften  8ebeng= 
mittel,  wie  ber  Stananen,  SJamg  unb  einiger  anberer.  SSoßl* 
habenbe  oetfepaffen  fid)  in  biefer  3^it  Steig,  wäbrenb  Unbe* 
mittelte  fid)  mit  3Diaiö  behelfen  müffen. 

3um  Schluffe  fei  mir  noch  »erftattet,  über  ben  £>anbelg* 
»etfeht  unb  bie  SSerbinbung  bet  eingelnen  Stämme  mit  einanber 
einige  Stemerfungen  gu  mad)en.  ©ine  eigene  Snbuftrie  giebt  eg 
bei  ben  ©amaroon*9tegern  nicht  mehr,  fie  ift  burd)  ben  Jpanbel 
mit  eutopäifchen  <probucten  ocüig  gn  ©runbe  gegangen.  SBaffen, 

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44 


Äleibung  unb  Scfimucf  werben  ganjlidj  burdj  ledere  geliefert. 
2) er  $anbel  felbft  betrifft  auSidjliefjlidh  Palmöl  unb  Elfenbein, 
aber  obwohl  biefe  'Probucte  thrilweife  giemlid}  weit  au8  bem 
3nnern  be8  8anbe8  bekommen,  unb  bie  gange  SBeeötfcrung  »am 
Häuptlinge  herab  bis  3um  Sclaoen  Hanbel  treibt,  fo  ftnbet  bod) 
feine8wege8  ein  weiterer  SBcrfehr  nach  bem  3nnern  be8  2anbe8 
hin  ftatt.  iÄuS  bemjenigen,  was  id)  oben  über  ben  häufig  »or* 
fommenben  SBtenfchenraub  mittheilte,  läfct  ftc^  entnehmen,  wie 
grof$  bie  allgemeine  Unfidjerheit  ber  SBertjaltniffe  ift.  Hiergu 
fommt  noch,  bafe  wenn  irgenbwo  ein  SDiann  umgebracht  ift,  nid}t 
ber  Später  bafür  oerantwortlich  ift,  fonbern  fein  gefammter 
Stamm,  fo  bafj  bet  erfte  SBefte,  welker  bem  betroffenen  Stamme 
in  bie  .pänbe  fällt,  bafür  büffen  muff.  9luf  biefe  SBeife  giebt  e8 
faft  immer  eine  SÄngahl  Drte,  in  beten  Seteidj  ein  Stamm 
wegen  berartiger  Srinbfeligfeiten  firf>  nid)t  wagen  barf.  So 
wagten  e8  3.  SB.  bie  SJiungoleute  nie,  in  gellen  flächten  nad) 
ihren  feljt  ergiebigen  giftgrün  ben  3U  gehen  au8  furcht  oor  ben 
23imbialeuten,  oon  benen  fie  einftmalS  gu  ©hren  eineö  *^ret  »er* 
ftorbenen  Häuptlinge  einen  ÜJiann  ermorbet  Ratten ; in  bie  Sftähe 
biefeö  £>rte8  gu  gehen,  hätte  um  feinen  $)rei8  fe  einer  fcerfelben 
gewagt.  2lit8  biefem  ©runbe  reicht  ber  bireete  HanbelSoerfebr 
felbft  ber  bebeutenbften  Hänbler  nur  bis  gu  beu  gunächft  ge» 
legenen  Drtfdjaften,  bie  faft  fämmtlid)  in  einet  Stageretfe  gu 
erreichen  finb.  ©inen  bireeten  Haubel  mit  biefen  Drten  geftatten 
fie  ben  Söeifcen  in  feinem  Salle,  fo  bafj  e8  gang  aufcerorbentlid* 
feiten  oorfommt,  b afj  ein  SBeifjer  felbft  bie  nächftgelegenen  Orte 
befucht.  ©8  würbe  mir  baljer  auch  «u*  au6  bem  ©runbe 
möglich,  mich  ken  meiften  berfelben  längere  Seit  aufguhalten, 
weil  man  wufjte,  ba|  ich  mich  um  ben  Hanbel  nicht  befümmerte. 
Ausgenommen  bie  größeren  Orte,  wie  Abo  unb  SBuri  (erftered 
befteht  au8  fünf  ringeinen  SDorffchaften  unter  eben  fo  vielen 

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45 


Häuptlingen  unb  ift  wohl  ebenfo  »olfreich  alg  Gamaroong), 
welche  »on  allen  Gamaroonleuten  befugt  werben,  Ijat  jeher  bet 
beiben  H>auptftämme  feine  eigenen  Hanbelgpläjje.  2Die  äfwag  per» 
meiben  biejenigen  Drte,  welche  »on  ben  33eU’8  befudjt  werben 
nnb  umgefebrt.  '.fluch  biefe  Orte  ptobuciren  bei  weitem  nicht 
alleg  Del  felbft,  wag  n ad)  Gamaroon  gebraut  wirb,  fonbern  haben 
wiebet  weitere  33erbinbungen  nach  bem  Snnern.  @o  3.  23.  pro» 
bucirt  SJlungo,  ein  grofjet  £>rt,  ber  »on  ben  23eH’g  befugt  wirb, 
gat  fein  Palmöl,  obwohl  fehr  »iel  »on  bort  fommt,  wag  alleß 
in  bet  weitet  ftromaufwärtg  gelegenen  ©egenb  »on  23along  ge» 
Wonnen  wirb.  ^Dorthin  felbft  p gehen,  gesotten  aber  bie  Seute 
»on  3Rungo  benen  »on  Gamaroong  ni<ht,  fo  bafc  eg  mir  etft 
nach  langem  »ergeblichen  Semühen  möglich  würbe,  borthin  3U 
gelangen,  wohin  »ot  mir  noch  nie  ein  SBeifjer  gefommen  war. 
kleinem  einzigen  Gamaroonbegleiter  war  eg  bort  nidbt  einmal 
geftattet,  ftd>  ein  fPaat  Hühner  p faufen,  welche  bort  fowie 
Biegen  nnb  ©djaafe  erftaunlid)  billig  waten.  3)erfelbe  wufjte 
fpäterhiu  in  Gamaroong  nicht  genug  feinen  Helbenmuth  p 
rühmen,  mich  nach  biefem,  in  brei  Sagereifen  erreichbaren,  fernen 
Sanbe,  weicheg  nur  fehr  wenige  Seute  aug  Gamaroong  felber  be» 
fucht  hatten,  begleitet  p haben.  SDiefe  fo  eben  angebeuteten 
S3erhältniffe  mögen  genügen,  um  einigeg  Sicht  p werfen  auf  bie 
©chwierigfeiten,  »on  biefer  Äüfte  aug  irgenb  wie  ing3nnete  beg 
Sanbefi  p gelangen. 


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'Jlitmcrfuncicn. 


1)  Leiter  ift,  wie  nunmehr  befannt  würbe,  e«  aud)  i>icr  £>erm  Dr. 
2enß  niefet  gelungen  feinen  (Borfaß  auSjuführen,  inbem  er  etwa«  jenfeit« 
ber  Bon  ben  frangöfifc^en  Seifcnben  erreichten  Stelle  Bon  bem  Stamme 
ber  Dftheba  feftgefyaltcn  werben  ift. 

2)  Periophtlialmus  papiiio. 

3)  Rhaphia  esp. 

4)  Halcyon  senegalems  unb  Ceryle  rudis  fief>t  man  Ijier  befen* 
berg  häufig. 

5)  ®e  wohnlich  wirb  hier  C.  cataphractus  angetreffen,  feltener  C. 
vulgaris  11  nglücf  «fälle  burch  ätrofobile  jinb  im  ©anjen  feiten,  bedj  würben 
wäl)renb  meiner  Dlnwcfenheit  1873  3 Camaroonleutc  in  wenigen  SBcchen 
bei  25>uri  Sacht«  heim  Subcm  au«  bem  Gnnoe  gelegen. 

6)  (Dennoch  finben  ftch  auffälligerweife  bei  ÜJialimba,  an  ber  äußeren 
üJtünbung  be«  großen  gluffes,  galjlreic^e  #ippopotamu«,  wo  fte  öfter« 
fogar  in  ber  Sranbung  be«  9J?eercö  angelroffen  werben  füllen. 

7)  (Sine  befonbere  Erwähnung  oerbient  hier  eine  eigentümliche  5lrt  non 
Signal-Trommel,  welche,  foweit  mir  befannt,  bei  feinem  anberen  Stamm 
ber  Äüfte  in  ber  5lrt  angewenbet  wirb,  wie  bei  ben  Gamarocn-Segern. 
di  befteht  biefe  Trommel,  bie  fogenannte  (Slimbe,  an«  einem  länglichen, 
auggel;chltcn,  circa  2 jfuß  langen  Stüde  £>olj  Bon  annähemb  elliptifchem 
Duerfchnitt,  beffen  Ü(u8f;5l)lung  an  ber  oberen  finaleren  Seite  eine 
rinnenförmige  fchmale  Oeffnung  benßt.  (Diefe  Sinne  ift  burch  eine  mittlere 
SHerbinbung  in  jwei  etwa«  ungleiche  Hälften  abgetbeilt,  fo  baß,  je  nach* 
bem  man  mit  einem  Schlägel  ben  Sanb  anf^lägt,  jwei  Slrten  »erf^ieben 
hoher  Töne  entftel;en,  je  nad;bem  man  bie  rechte  ober  bic  linfe  Seite  an- 
f<h!ägt.  4>icrburdh  unb  burch  ben  uerfdjiebenen  9if)t)thmuä  he«  Trommeln« 
B erfteben  bie  (Sammaroonneger  eine  große  Stnga^l  »on  Signalen  au«$ubrüc!en, 
fo  baß  Dermittelft  biefer  Trommeln  eine  förmliche  iJirt  »on  Telegraphen* 

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47 


feftem  ^ergefteUt  »erben  fann.  33ermittelft  ber  Xromracl  fcum  j[eber  ein* 
jelne  UJiann  im  SDorfe  fofort  ^erbeigerufen  »erben,  ja  eS  erfriert  mir 
bnrtfeauS  unzweifelhaft,  bag  umftänblic^ere  ÜJiittljeilungen  burd>  bas  5Erom* 
mein,  gemacht  »erben  fßnnen.  Oft  würben  bei  ben  ©anoereijen,  »elrfje 
icb  auf  ben  nerjcfiebenen  glüffen  beS  ©amarcongebieteS  machte,  »om 
Bluffe  aus,  »üfjrenb  wir  an  Sßrfem  »crüber  fuhren,  lange  2ßet^>felgefpräc^e 
turcf»  bie  trommeln  geführt,  obwohl  wir  mitunter  faum  8eute  am  Ufer 
feljen  fcnnten.  6twa8  Sle^nlitficS  ift  mir  fcnft  in  feinem  ber  anberen 
tRegerftamme,  toeldje  ic§  fenncn  gelernt  fyabe,  cergcfcmmen. 


(T2S) 

$niif  Den  ®efer.  n 119er  (21).  ®riimn)  tn  Berlin,  Stf)Ciitbträtritra§e  17». 


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(Etthmdtelmtgsgaiig 


ber 


itnb 


irlig^r  jltaith  for  £urflpm$t|sn  ©rahmmmtg* 


2}cn 


iit  einet  UeberfiebtS-.ftarte  bei  beutfeben  @rabmcffung6-?[rbeUen. 


ßcrlin  SW.  1S76. 

SBerlag  con  Carl  # a b e I. 

(£.  $.  1'nbftHl’lljje  Btrtogsäeiij!i«iib!B3g.) 

33.  ©iI6flm'Etr.i§e  33. 


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Sa«  Mcdjt  ber  Ucbcrfe&ung  in  frcmbc  ©praßen  tcitb  ccrbepalitn. 


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@0  lange  man  bie  @rbe  ald  Jitugel  betrachtete,  reifte  ed  gut 
Seftimmung  ihrer  ©töfje  aud,  bie  8änge  eined  ©tabbogend  ober 
eined  anberen  aliquoten  Slheiled  itjreS  Umfanged  gu  meffen,  unb 
bed^alb  finb  bie  Unternehmungen  gut  Seftimmung  ber  ©röfje 
ber  (Stbe  ©rabmeffungen  genannt  worben,  eine  Benennung, 
»eiche  auch  fpäter  beibehalten  worben  ift , ald  ed  fich  nicht  blöd 
um  bie  ©töfse,  fonbern  auch  um  bie  ©eftalt  bet  @rbe  handelte. 

Um  fich  bie  ©rmittelung,  ber  wieoielte  Theü  Umfanged 
ein  gemeffener  Sogen  ift,  gu  erleichtern,  »erlegte  man  benfelben 
gewöhnlich  in  ben  tflieribian,  benn  auf  biefe  Söeife  ergab  fich  aud 
ben  an  ben  ©nbpunften  bed  Sogend  angeftetften  Seobad)tungen 
ber  SKetibian'^öhe  eined  unb  beffelben  ©eftirnd  über  bem 
Jporigonte,  um  wieciel  bet  eine  »on  biefen  fünften  nörblicher 
ober  füblicher  lag,  ald  ber  anbere1)- 

Siel  fchwietiger  unb  umftanblicher  war  bagegen  bie  SDteffung 
ber  8änge  bed  Sogend  auf  ber  ©rboberflache.  25iefe  Älippe  gu 
»etmeiben,  ift  erft  im  3.  1617  bem  -fpoHänber  SBillebrotb  ©nelliud 
gelungen,  inbem  er  ftatt  ber  birecten  SJleffung  bie  Triangulation  an= 
wanbte  *).  @r  »etbanb  bie  beiben  ©täbte  Sllfmar  unb  Sergen  op 
Boom,  gwifchen  benen  er  eine  ©rabmeffung  audführen  wollte,  butch 
eine  ©reiecfdfette,  mafj  bie  2)teie<fd»infel  nnb  in  bet  ©egeitb  »on 
2epben  eine  ©runblinie.  Son  biefer  audgeljenb  berechnete  er 

XI.  »58.  1»  (128) 


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alle  Sreiecfsfeiten  unb  fcpliefslicp  bie  Sinie  ‘Jlfmarsöergen  op 
3oom  auf  trigonemetrijcpem  SBege.  9iacpbem  er  aucp  nocp  ben 
SBinfel  ermittelt  patte,  welcpen  biefelbe  mit  bem  burcp  iSlfmar 
gelegte«  SJteribiane  bilbete,  b.  i.  ipr  Sgimutp,  fonnte  er  ferner 
ben  Utbftanb  ber  burcp  jene  beiben  ©täbte  gelegten  3)atallelfteife 
berechnen.  Siefen  nun  betrachtete  er  als  ÄreiSbogen  unb  bie  in 
(traben,  fülinuten  unb  ©efunben  auSgebrücfte  Sänge,  ober  bie 
Slmplitube  beffelben  ergab  fiep  ipm  auß  bem  Unterfcpiebe  ber 
an  jenen  beiben  Orten  gemeffenen  ^olpöpen.  9lu8  ber  93etgleicpung 
biefet  beiben  Elemente  erpielt  er  bann  fcpliefslicp  bie  Sänge  beS 
©rabbogenS.  SaS  oon  ipm  für  benfelben  gefunbene  fRefultat, 
28500  JRpeinl.  fRutpen  ober  55072  Seifen  ift  gwat  noch  fepr 
ungenau,  nämlicp  runb  2000  Seifen  gu  flein,  aber  gleichwohl 
gebührt  ©neßiuS  baß  SBerbienft,  bie  23apu  gebrochen  unb  ben 
Söeg  gegeigt  gu  haben,  welcher  bei  ©rabmeffungen  befolgt  werben 
raufe,  wenn  fie  ben  gorberungen  ber  Söiffenfcpaft  genügen  follen. 

Sie  een  ©nefliuS  befolgte  SJtetpobe  fanb  balb  allgemeinen 
Slnflang  unb  würbe  50  3apre  fpater  een  ^icarb  bei  ber  »on 
bemfelben  gwifepen  fPariS  unb  SmienS  unternommenen  ©tab* 
meffung  angewenbet,  welche  »on  Sa  $ire  unb  Eaffiui  in  ben 
Sapten  1700 — 1718  nörblicp  bis  Sünfircpen  unb  füblidp  bis  $)er» 
pignan  fortgejept  worben  ift. 

Sie  bei  biefet  SReffung  angewanbten  Snftrumente  patten 
bereits  wefentlicpe  2)en>oflfemmnungen  erfahren,  inbem  fie  mit 
gernröpren  unb  biefe  SSepufS  feparfer  Einfteflung  auf  bie  Objecte 
mit  gabenfreugen  auSgeftattet  worben  waren.3)  2lucp  waren  bie 
fRedmungSmetpoben  Derbeffert  worben,  inbem  bie  Sreiede  nicht 
mepr  als  ebene,  wie  noep  bei  ©neßiuS,  foubetn  als  fppärifcpe 
bepanbelt  worben  waren,  ©leicpwopl  paben  bie  SRefultate  ben 
gepegten  Erwartungen  niept  gang  entfproepen. 

9luS  bem  füblicpen  Speile  ber  SReffung  ergab  fiep  bie  Sänge 

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etne§  ®rabe$  ju  57098  Jotfen  unb  au§  bem  netblichen  311  56960. 
9Ran  folgerte  ^tetauS,  bafj  bie  ©rbe  feine  Äuget,  |onbern  an 
ben  geleit  ftarfer  gefrümmt  fei,  als  unter  bem  2lequatcr,  bafj 
fie  alfo  eine  citronenartige  ©eftalt  habe,  wa8  mit  ber  2tnficht 
non  fRewten  unb  $upghen8  im  SBiberfpruche  ftanb , inbem  biefe, 
auf  tie  ©efefje  bet  ©raoitation  unb  @djwungfraft  fufjenb,  be« 
haupteten,  bafj  bie  ©rbe  an  ben  ^olen  abgeplattet,  alfo  fcbwädhet 
gefrümmt  fei,  als  unter  bem  'Äeguator. 

Jpierauß  entbrannte  ein  fjeftiger  ©ele^rtenftreit,  unb  oon 
jefjt  an  fyanbelte  e8  fidj  nicht  mehr  bloS  um  bie  ©rcfje,  foubern 
auch  um  bie  ©eftalt  ber  @tbe.  Um  eine  ©ntfdjeibung  fyerbei» 
3ufü^ren,  bejchlofj  bie  sJ)arifer  üHfabemie,  bahin  ju  wirfen,  bafj 
3»ei  neue,  weit  oon  einanber  entfernte  ©rabmeffungen  auSgeführt 
würben,  bie  eine  unter  bem  Slequater,  bie  anbere  in  ber  fftälje 
beS  9Rorbpol8,  unb  e8  gelang  ihr,  bie  3uftimmung  beS  ÄenigS 
Subwig  XV.  gu  erlangen. 

$0  gingen  nun  i.  3.  1735  £e  la  ßonbamine,  tßouguer 
unb  ©obin,  begleitet  oon  noch  anberen  ©eiehrten  unb  Sechnifern 
nach  ©üb=9(merifa,  wo  fie  auf  ber  ^)od)=@bene  oon  Quito,  7360 
ftufj  über  bem  SReere  bie  SReffung  eines  46£  SSReilen  langen 
ÜReribianbegen8,  gwift^en  Sarqui  unter  3°4'  32"07  füblicher 
S3reite  unb  Gote8qui  unter  6°  T 31  “07  ncrblidjer  SSreite,  beffen 
SMmplitube  alfo  3°  7'  3"  46  betrug,  außfüljrten.  ©ew6^nli(%  führt 
biefeS  Unternehmen  bie  heute  triebt  mehr  jutreffenbe  Benennung 
„peruanifche  ©tabmeffung*  unb  ba8  babei  in  Slnwenbung  ge» 
fommene  fRormal«3Rafj  ben  fRamen  toise  du  P^rou.  fRadt) 
bem  Vorgänge  oon  ©nefliuö  würben  auch  hierbei  bie  beiben 
©nbpunfte  beS  OReribianbogenS  burdh  eine  SDreiecföfette  oerbunben 
unb  ber  ©entrolle  wegen,  ftatt  einet  einigen  ©runblinie,  noch 
eine  jweite  gemeffen.  SDie  birecte  SReffung  hatte  für  bie  nörblidje 
runb  6273  unb  für  bie  füblid)e  5259  üoifen  ergeben,  bie  auf 

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bie  erftere  geftüjjte  35reiecfSrechnung  bagegen  für  le^tere  1 Sehe 
weniger.  55  ie  ©iffereng , welche  runb  bet  Sänge  betrag, 
galt  in  bamaliger  Beit  als  guläffig,  würbe  aber  ben  heutigen 
Slnforberungen  nicht  entfprechen,  benn  bei  bem  33effeTf<hen  £afte= 
Apparate  fann  man  ben  wahtfdjeinliihen  gehler  einer  gemeffenen 
Sinie  auf  ^otsVwit  bet  gemeffenen  Sänge  anfefsen,  unb  bei  bei 
i.  3.  1865  gemeffenen  fpanifdjen  SSaftS  non  14-5  Kilometer 
Sänge  beträgt  berfelbe  nur  ber  gangen  Sänge. 

S5ie  gweite  (gjrpebition , welche  auS  23iaupertuiS , Güairault, 
GamuS,  Semonnier  unb  Dut^ier  guiammengefefjt  war  unb  an 
welcher  fidj  auch  GelfiuS  betheiligte,  ging  1736  nach  Sapplanb 
unb  maj}  in  ber  ©egenb  non  Sontea  einen  SDieribianbcgen  reu 
nahe  einem  ©rabe.  SBeil  bie  Slmplitube  hier  nur  ben  britten 
Shell  oon  ber  ber  peruanifchen  ©rabmeffung  betrug,  fo  wutbc 
bie  Arbeit  ciel  früher  »cllenbet  unb  fonnten  bie  Oiefultate  feben  nach 
gwei  Sauren  befannt  gemacht  werben.  S)eShaIb  war  bieS  Unter* 
nehmen,  obfehon  eS  in  Söegug  auf  Sorgfalt  unb  ©enauigfeit 
hinter  bem  erfteren  gurücfftanb,  non  großer  SBichtigfeit.  SJlaupertuiS 
fanb  für  bie  Sänge  eines  5J?eribiangrabeS  unter  bem  ^clarftci’c 
57437  Seifen,  währenb  biefelbe  gwifdjen  $)ariS  unb  arnienb 
nach  fPicarb’S  DJleffung  57060  S.  betrug.  35a  alfo  ber  nerbliie 
©rabbogen  größer  als  ber  ^arifer  gefunben  worben  war,  jo 
folgerte  man  barauS,  bah  et  flacher  als  legerer  fei,  roaS  jt 
©unften  ber  oon  Sftewton  unb  .pupghen’S  aufgeftellten  Se* 
hauptung  fprach-  3n  bemfelben  Sinne  fiel  bie  Grntfdgeibung  auS, 
welche  etwaö  fpäter  baS  Siefultat  ber  peruanifchen  €Dieffung 
lieferte,  benn  nach  Souguer  war  unter  bem  lÄequatet  bie  Sänge 
eines  SDieribiangrabeS  56753  S.,  alfo  deiner,  als  unter  ber  SJreite 
»on  Paris.  9116  nun  gar  noch  Sacaitle  umS  Saht  1750  bie 
Sänge  beS  SJleribiangrabeS  am  Äap  ber  guten  Hoffnung  größer, 
als  unter  bem  9lequater  gefunben  hatte,  fo  fonnte  faum  noch 

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ein  3w>eifel  obwalten,  gumal  ba  bereits  mefjtfad)  bie  ©rfaijrung 
gemacht  worben  war,  bah  baS  ©efunben*$enbel,  wenn  man  fid) 
bem  Aequator  nähert,  nerHirgt  werben  muh,  was  bafiir  fpridjt, 
baf?  unter  bem  Slequator  bie  ©djwerfraft  fdjwädijer  ift,  als  unter 
höheren  ©reiten,  bah  alfo  bie  (Entfernung  Dom  fütittelpunfte 
ber  (Erbe  gunimmt,  je  mehr  man  fic^  bem  Slequator  nähert. 

Newton  unb  <£)upghenS  waren  alfo  aus  bem  langen  ©treite 
als  «Sieger  fyeroorgegangen,  unb  non  nun  an  galt  eS  als  un» 
gweifeltyaft,  baff  bie  (Erbe  bie  ©eftalt  eines  burdj  Umbre^ung 
einer  CSOipfe  um  ihre  Heine  Sljre  entftanbenen  Körpers  habe,  alfo 
ein  9ictationSellipfoib  fei.  ©leidhwohl  gebührt  granfreidj  ber 
Shilpxt,  in  einer  ftrage  non  fo  ^o^er  wiffenfd^aftlid^er  ©ebeutung 
bie  (Sntfdheibung  ^erbeigefü^rt  gu  haben. 

33erf<h  wiegen  batf  aber  hierbei  nicht  werben,  bah  bie  genannten 
SReffungen  in  fo  fern  nicht  gang  unter  einanbet  übereinftimmten, 
als  bie  auS  ihnen  gefolgerte  Slbplnttung  ber  (Erbe  oerfchieben 
ansfiel,  je  nachbem  man  bie  Arbeiten  mit  einanber  combinirte, 
unb  non  jejjt  an  fam  eS  barauf  an,  biefe  3öiber}prüd)e  gu  ent» 
fernen. 

(Sine  ©orftetlung  Don  ber  ©rohe  ber  Abplattung  gewinnt 
man  am  ©infadjften,  wenn  man  bie  8änge  bet  (Srbajte  mit  bet 
beS  Äquatorealen  SDutdfjmeffetS  oergleicht.  3n  abgerunbeten  ßatylen 
auSgebrüdft  ift  legieret  1719  geogtaphifdhe  SReilen  lang  unb  bie 
(Erbaje  um  5}  SJleilen  b.  h-  nahe  um  ben  brei^unbertften  Styeil 
lürger.  SDen  ©rud)  7frn  nun  nennt  man  bie  Abplattung. 
Stan  pflegt  inbeffen  nicht  bie  beiben  genannten  JDurdjmeffer 
felbft,  fonbern,  was  aber  auf  baffelbe  ^inauSfommt,  ihre  Hälften, 
alfo  bie  halbe  grofje  unb  bie  halbe  Heine  Are  bet  SReribian» 
(Ellipfe  mit  einanber  gu  Dergleichen,  fo  bah  man  unter  ber  Ab* 
plattung  ben  Söerth  oeS  ©rudheS  perfte^t,  ben  man  erhält,  wenn 

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8 


man  bie  25ifferen$  ber  beiben  halben  91  reu  jener  öllipfe  burtb 
bie  halbe  grofse  9(re  bioibirt. 

JDafj  bei  ben  Unterfnchungen  über  bte  ©eftalt  ber  @rbe  bie 
©ebirge  unb  S^äler  nid^t  in  93etrad)t  fommen  fönnen,  liegt  anf 
ber  Jpanb.  SBenn  man  fidj  baä  gefammte  geftlanb  hinweg  nnb 
baä  SOteer  über  bie  gange  6rbe  auögebreitet  bentt,  fo  fteüt  bie 
SJteeregfläche  bie,  fo  ju  fagen,  tbeale  Dberfläthe  teS  6tbförperS 
al§  eines  6tlipfoib8  ober  ©phäroibS  bar.  Au8  biefem  ©rnabe 
werben  bei  allen  ©rabmeffungö'Arbeiten  bie  Stefultate  auf  bie 
2)teere8flä<he  bezogen. 

25 ie  oorerwähnten  SBiberfptüche  betrafen  tjauptfäc^Üc^  bie 
©reffe  ber  Abplattung.  Au8  bet  franjöftfchen  unb  lappläubifdjen 
©rabmeffnng  g.  23.  hatte  fidj  T*y,  an8  bet  frangöfiichen  unb 
peruanifcheu  yjy  ergeben,  unb  ber  oon  fRewton  auf  theoretischem 
SBege  gefunbene  SBerth  ^ lag  gwifdjen  jenen  beiben.  2>ieje 
großen  25ijferenjen  fpornten  gu  immer  neuen  SReffungen  auch  “ 
anberett  £änbern  an.  2>a  man  einmal  ben  2Beg  gefunben  hatte, 
welcher  an8  Biel  führen  mufjte,  fo  würbe  berfelbe  auch  behatrlid} 
oerfolgt.  ©o  würben  auf  Antrieb  be83efuiten93oScooid)  in  berlRäh* 
»onfRem  ooniJemaire  unb  2)o8cooich  felbft  (1751—1753),  in  ber 
SRdhe  »on  Suriu  oott  93eccaria  (1768),  unb  in  UJtähren  unb  Ungarn 
oon  bent  3efuiten  ÜieSganig  ©rab^föteffungen  auSgeführt.  68  mar 
fihon  bamalS  bie  SSermuthung  erwacht,  bafj  bei  SReffuugen  in  ber 
SRähe  oon  ©ebirgen  burd)  eine  oon  biefen  bewirfte  Ablenfuug  beö 
SleilcthS  abweichenbe  CRefultate  hetoorgerufett  werben  fönnten,  unb 
au8  biefem  ©ruube  hatte  23o8cooich  bie  erwähnteu'JReff ungen  in  ebenen 
©egenben  unb  in  möglidjfter  gerne  oon  ©ebirgen  angeregt.  68  ift 
ihm  jeboch  nicht  gelungen,  feine  Abficht  gu  erteilen,  benn  in  ber 
s))o=6bene  finb  fehr  bebeutenbe  8oth»Ablenfnugen  hrroorgetreten. 
Auch  fdjeinett  leibet  bie  bei  biefen  Unternehmungen  angewenbeten 

Snftrumente  noch  3u  unooUfommen  gewefen  unb  oon  ©eite  ber 

im 


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9 


^Beobachter  unb  fRedjner  Sälfchungen  auögeübt  worben  gu  fein,  jo 
bajj  fie  al$  unbrauchbar  betrachtet  worben  finb.  Slehnlicheä 
©chicffal  hat  auch  bie  6h*«efU<he  ©rabmefjung  betroffen,  welche 
auf  SBefehl  be$  Äaijerg  ©ambp  oon  bem  Sefuiten  ShawaS  iu 
ber  ©bene  oon  i'efing  (1702)  auägeführt  worbeu  ift,  uub  au 
welcher  ftd)  fogar  ein  faiferlicher  $)ring  betheitigte,  weil  bie  8änge 
ber  babei  in  Snweubung  gef om  menen  ÜRafceinheit  fraglich  tft- 
©rwähnenöwerth  ift  an  biefer  ©teile  noch  bie  oon  SBotkooid) 
augeregte  amerifanifche  ÜReffung,  welche  in  ben  weiten  ©beiten 
$>enjploanien8  oon  bem  ©nglänber  fDtafon  unb  bem  ämerifanet 
fDijron  (1764—1768)  auSgeführt  worben  ift.  ©ie  mähen  mit 
ber  ÜRefefette,  aber  mit  möglichfter  ©orgfalt,  einen  SfReribian» 
SBogen  oon  nahe  1J  ©vab  unb  fanben  benfelben  unter  39°  12' 
nerblichev  SJreite  gu  56888,  ftatt  56955  SEoifen,  wa8  in  58e* 
tracht  ber  unoollfommenen  ÜRethobe  immerhin  genau  genug  ift. 
SHuch  bie  oon  SReuben  SBurrow  in  Dftinbien  (1790)  angeführte 
©rabmefjung  ift  nicht  in  ben  Ganon  ber  mafegebenben  'Arbeiten 
aufgenommen  worben,  weil  bie  gur  2lnwenbung  gefommenen 
Snftrumente  noch  fo  unooUfcmmen  gewefen  waren,  ba§  ben  IRe» 
fultaten  tro^i  be8  großen  gleifseö  unb  ber  ©orgfamfeit  ber  2lu8» 
führenben  nicht  bie  erforberliche  ©d?ärfe  gugefprochen  werben  fann. 

(Sine  neue  ©poche  begann  mit  ber  gweiten  frangöfifchen 
©rabmefjung,  welche,  wieberum  oon  ber  Ölfabemie  angeregt,  noch 
unter  ifubwig  XVI.  begonnen  unb  felbft  butch  bie  ©türme  ber 
jReoolution  nicht  unterbrochen  worben  ift.  9Ran  hatte  bie  Jper» 
ftetlung  eineö  neuen  fRormaUSRafseS  als  £auptgwecf  hingeftellt 
unb  biefeö  i'luöbängefchilb  fdjeint  bem  Unternehmen  ben  gehofften 
©chufc  gewährt  gu  haben. 

2)a$  neue  9Raf;  füllte  ber  gehnmiöionte  2h«*t  bei  @tb* 
meribian*£luabranten  fein,  unb  beShalb  muf}te  biefer  mit  mög« 
lidjfter  Schärfe  beftimmt  werben.  ÜRit  ber  Ausführung  biefer 

(7SS) 


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10 


SSrbeit  würben  bie  Slfabemifer  Sfiedjain  unb  ©elambre  betraut. 
2118  SDReribian  gur  23eftimmung  ber  Sange  beb  Cuabranten  feilte 
ber  non  $)ariS  genommen  unb  bie  Triangulation  über  $)er> 
pignan,  ben  füblicben  ©nbpunft  ber  erften  SReffung,  ^inau§  bis 
23arccIona  auSgebehnt  »erben.  ©iefer  ©rängpunft  ift  fpäter 
aud)  nod)  Übertritten  »orben,  inbem  23iot  unb  Sirago  bie 
Triangulation  bie  germentera  fortgefüljrt  ^aben,  fo  ba|  bie 
Slmplitube  be8  gangen  23egenS  12°  22'  betrug.  ©ie  grölten 
ÜRathcmatifer  unb  gcfdjicfteften  äRecbanifer  granfrcidjS  Ratten 
ft  gur  iSuSffihrung  be8  großen  SSierfeö  nereinigt.  ©ie  gur 
Slnwenbung  gefommenen  Jnftrumente  unb  Apparate  »aren  be« 
beutenb  nernoüfommnet  worben,  inbem  g.  23.  bie  2Binfelmefj« 
Snftrumente  (Tijecboliten)  ftatt  ber  früher  im  ©ebraueb  ge« 
wefenen  Ouabranten  23eQfreife  erhalten  ijatten  unb  ber  2?afi8« 
Apparat  non  33orba  mit  ben  non  iijm  erfunbenen  ÜDietaHther« 
mometern  auggerüftet  worben  war.  23erba’S  ÜJiefsftangeu  be« 
ftanben  au8  ^Matina  unb  tTugen  etwas  fürgere  jfupfcrftangen, 
welche  mit  erfteren  au  bem  einen  Gtnbe  burd}  Schrauben  feft 
nerbunben  waren.  23eibe  Stangen  fonnten  fid)  alfo  ber  Tem» 
peratur  gemä§  unabhängig  non  einanber  auSbehneu  unb  gufam« 
mengieljen,  unb  au§  bem  Unterjcbtebe  ihrer  SuSbehnung  fonnte 
man  bie  Temperatur  ber  gangen  Stangen  fdjätfer  ableiten,  alä 
aus  ben  Angaben  ber  Ouecffilberthermemeter,  wobei  eS  immer 
fraglich  gewefen  wäre,  ob  lefctere,  felbft  bei  ber  jebeinbar  innigften 
^Berührung  mit  ben  Stangen,  biefelbe  Temperatur  wie  biefe  ge« 
habt  hätten. 

*Ro<h  ehe  baS  SBerf  in  ber  angegebenen  2lu8behnung  ooö* 
enbet  war,  mufften,  um  bem  ©rängen  beS  9fational»6onnentS 
gu  genügen,  fRefultate  geliefert  werben,  ©ie  Sänge  ber  neuen 
50ia|  = ©inheit,  baS  SJleter,  feilte  in  fürgefter  grift  feftge* 

<736) 


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11 


(teilt  »erben,  unb  fo  fam  eS,  baff  biefe  53eftimmung  mangelhaft 
auSfiet.  !ßtan  betrachtete  fie  auch  nur  als  eine  prcoiforifche 4). 

SDemohneracbtet  ift  biefe  gmeite  frangofifche  ©rabmeffung 
als  etn  ruhmcolleS  Unternehmen  gu  begeidjneu  unb  granfreichS 
SBerbtenft  ift  um  fo  höh«-  angufchlagen,  als  eS  troj}  ber  milben 
inneren  Kämpfe  baS  Sntereffe  an  roiffenfchaftlicben  Arbeiten  be= 
mafyrt  unb  anbere  Sauber  gut  9ia<heiferung  angeregt  hat.  @8 
entftcmb  ein  mähret  SBettftreit,  fo  baf)  e8  balb  in  ©uropa  nur 
menicge  Sauber  gab,  mo  feine  ©rabmeffung8=3lrbeiten  au8geführt 
mürben. 

SBährenb  bisher  gut  Seftimmung  ber  SDteribian  = ©nipfe 
immer  nur  gmei  unter  oevfcfjiebenen  9)olhol)en  gcmeffene  9fte* 
tibtanbogen  mit  einanber  oerbunben  roorben  maren,  oerfuchte  8a 
iMace  beren  mehrere  gufammengufaffen,  aber  e8  gelang  ihm  nicht, 
bie  habet  auftreteuben  Söibetfptüche  in  miffenfchaftlidjer  (Strenge 
unb  mit  ÜBetmeibung  millfürticher  Sinnahmen  3U  bejeitigen.  5Me 
SJüttel  hiergu  aufgufinben,  mar  ©aufi  nnb  Segenbre  oorbehalten. 
©leidjgeitig,  aber  unabhängig  oon  einanber,  mürben  fie  auf  bie 
SRethobe  ber  fleinften  Quabrate  hingeführt,  melche,  menn 
mieberbolte  SReffungen  einet  ©tcfje  oetfcfjiebene,  oon  einanber 
abmeicbenbe  SRefultate  geliefert  • haben,  ben  mahrfcheinlichften 
SBerth  gu  finben  lel)tt.  £at  man  3.  8.  eine  8inie  gehnmal 
gemeffen  unb  gehn  Derfdjiebenc  Sßerthe  gefunben,  fo  nimmt  man 
inftinftio  unb  oon  je  her  «iß  mahrfcheinlichfte  Sänge  biefer  Sinie 
ba8  arithmetifche  SRittel,  tyex  ben  gehnten  2he'i  ter  Summe 
aller  eingelnen  SSerthe.  SDie  Slbmeidjungen  biefer  legieren  oon 
bem  SJJittelroerthe  fafjt  man,  ba  berfelbe  als  ber  mähte  SGkrth 
betrachtet  merben  mu§,  obgleich  er  eigentlich  nur  ber  mahr« 
f<heinlidjfte  ift,  als  bie  gehler  ber  eingelnen  SDteffungen  auf. 
SBilbet  man  oon  biefen  bie  Quabrate  unb  fummirt  man  biefelben, 
fo  ift  biefe  Summe  ftetS  flehter,  als  menn  man  ftatt  beS  aritt)* 

(737) 


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12 


mctifdjcn  SÖlittelS  irgenb  einen  anbern  SBerth  als  ben  wahren 
annehmen  itnb  bie  Summe  ber  $et)lerquabrate  bilbeit  wollte, 
hierauf  nun  begießt  fid?  bie  Senennung  „iBtethobe  ber  fl  ein» 
ften  Du  abrate."  Sie  ift  auch  bann  anwenbbar,  wenn  burdj 
SJleffungen  ober  Seobad)tungen  mehrer  e unbefannte  ©rofcen  et» 
mittelt  werben  fallen  unb  bie  ÜJleffungen  mehr  ©Eichungen  lie» 
fern,  als  ju  biefer  Ermittelung  etforberlich  finb.  ÜJtan  ernbtet 
babei  ben  großen  ©ewinn,  bafj  man  nid)t  3U  willffirlidien  60m* 
binationen  ber  fDfejfungen  genöfaiget  wirb,  fonbern  nach  feft* 
ftehenben  ^tingipien  »erfahren  fann.  Auch  erhält  man  nicht 
bloS  bie  wahrfcheinlichften  Söertfje  ber  gefugten  ©röfjen,  fonbern 
gugleich  bie  wahrf^einlithen  fehler,  welctie  in  jenen  wahvfchein» 
lichften  Söerthen  noch  ju  befürchten  finb,  unb  bie  fehler »©ränjen. 

SDiefe  SJfethobe  wirb  gegenwärtig  nicht  bloS  bei  geoba* 
tifchen,  fonbern  auch  bei  aftronomifchen  unb  phpfifalifchen  Ar» 
beiten  angeweubet,  wenn  eS  fich  um  eine  wiffenfdjaftliche  Er» 
mittelung  ber  wahrfcheinlichften  Söerthe  beobachteter  ©röfcen 
banbeit.  Stuf  bie  Eombination  mehrerer  ©rabmeffungen  unb 
Ausgleichung  ber  gwifchen  benfelben  beftehenben  3Biberfprüd?e  ift 
fie  juerft  con  SBalbecf  (1819)  in  AbS  angewenbet  worben,  nach» 
bem  noch  bie  englifd)e,  jroei  oftinbifche  unb  eine  fchwebijche  befannt 
geworben  waren. 

3n  Englanb  waren  bis  Enbe  beS  »origen  3ahrhunbertS 
feine  namhaften  geobätifchen  Arbeiten  auSgefühtt  worben;  baS 
Unternehmen  Sftorwoob’S,  weldjer  in  ben  3ab«n  1633—1635 
gwifchen  Bonbon  unb  $)orf  einen  Sogen  »on  2$  ©rab  ober  nahe 
40  5)1  eilen  mit  ber  SDlefefette  gemeffen  hatte,  ift  bloS  »on  ^ifto* 
rifchem  Sntereffe.  Aber  burch  bie  i.  3.  1783  »on  ©eneral  tRe» 
begonnene  Jriangulirung  beS  ifanbeö  waren  bie  Vorarbeiten  für 
eine  ©tabmeffung  gegeben,  unb  SJlubge  führte  biefelbe  1800 
bis  1802  auS.  Sie  umfaßte  anfänglich  nur  einen  Sogen  »on 

(738) 


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13 


nabeg  u 3 ©rab,  oon  Sunnofe  auf  ber  3njel  SBigb*  big  ©lifton 
bei  ©oncafter,  ift  batauf  big  gu  ben  @^etlanbg=3uicht  fortgefejjt 
worben  uub  bat  fcbliejjlicb  eine  Augbeljnung  oou  beinahe  11 
©rab  erhalten. 

3n  Oftinbien  finb  nadf  Surrow’g  3«t  gwei  neue  ©rab* 
mefjungen  com  fülajor  i?ambton  i.  3.  1802  begonneu  unb  nadj 
beffen  Tobe  non  ©oereft  fortgefetjt  worben;  ber  gugeborige  951e» 
ribianbogen  enthält  21$  ©rab  unb  erftrecft  fich  oom  ©ap  ©o* 
worin  big  in  bie  SRätje  beg  ,£>imalapa=©ebirgeg. 

3n  Schieben  würbe  in  ben  3afyren  1801 — 1803,  nachbem 
man  in  ber  alten  lapplänbifchen  SDleffung  »on  SOlaupertuig  »et* 
fdjiebene  SJiängel  unb  gebier  entbecft  batte,  auf  Anregung  ber 
Afabemie  in  ©torfbolm  eine  SBieberbolung  unb  ©rweiterung 
berfelben  non  ©oanberg  auggefübrt,  wobei  man  möglicbft  barauf 
23ebacf}t  nahm,  bie  früher  begangenen  Seglet  gu  oermeiben.  91a« 
mentlicb  würben  bei  ber  SBafigmeffung  eiferne  fDlefjftangen  ftatt 
bölgernet  angewenbet  unb  ber  ©inftufj  ber  Temperatur  in  39e» 
tracht  gegogen. 

Ang  biefen  eben  genannten  »ier  ©rabmeffungen  nebft  bet 
petuanifchen  unb  neuen  frangöfifcben  ^atte  3Balbecf  bie  ©röfce 
beg  Duabranten  beg  ©rbmeribiang  gu  5130878’4  Toifen  unb 
bie  Abplattung  gu  ^ergelcitet. 

SBäbrenb  biefet  Seit  lam  eine  neue  ©rabmeffung  ^iitju. 
©auf)  b“tte,  nachbem  non  ihm  bie  Theorie  in  meifterbafter  SBeife 
berichtiget  unb  erweitert  worben  war,  gwifdjen  ©öttingen  unb 
Altona  eine  Triangulation  auggefübrt  unb  butcb  biefe  Arbeit, 
bie  bannooetfcbe  ©rabmeffung  genannt,  einen  wertbuoflen  S8ei» 
trag  gut  Skrfcbärfung  bet  bigberigen  Söeftimmuugen  ber  ©rb* 
©onftanten  geliefert,  ©r  bat  babei  ben  t>on  ibm  erfunbenen 
heliotrop  in  Slnwenbung  gebracht,  bicfeg  wichtige  Snftrument, 
burch  weicheg  bag  ©infteHen  beg  ^erntohrg  auf  entfernte  Objecte 

(739) 


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14 


bebeutenb  erleichtert  unb  mitunter  gerabegu  erft  ermöglicht  wirb, 
inbem  butd)  Burücfroerfung  beß  Sonnenlichtes  oon  fleinen,  wenige 
Duabratgoü  entbaltenben  ebenen  Spiegeln  ein  Sonnenbilb  erzeugt 
wirb,  welches,  auS  gro&en  Entfernungen  gef  eben,  wie  ein  Stern 
erfdjeint  unb  fdjarf  beobachtet  werben  fann,  wie  3.  53.  gwifdfen 
bem  53  roden  unb  Snfelöbetge  (nabe  15  teilen)  gefächen  ift. 

©ie  bannöoerfcbe  ©rabmeffung  nun  ift  oon  Sdjmibt  in 
©öttingcn  i.  3-  1829  auf  33eraulaffung  »on  ©auf)  gu  ben  oon 
Söalbecf  benüf}ten  Arbeiten  bi«P9«3ogen  worben.  Snbem  er  auf 
ähnliche  SBeife  wie  biefer  0 erfuhr,  fanb  er  für  ben  Quabranten 
5130779*0  Steifen  unb  für  bie  Abplattung  welche 

3ablenwertbe  oon  ben  Söalbetffcben  noch  immer  abweicbenb  ge» 
nug  finb. 

gür  bie  Setminberung  biefer  Unficberbeit  war  eö  baber  oon 
großer  SBidjtigfeit,  ba§  halb  barauf  noch  3 neue  ©rabmeff ungen 
bingufamen,  nämlich:  bie  bänifche,  gwifcben  gaueuburg  unb 
gpfabbel  oon  Schumacher,  25irector  ber  Sternwarte  in  Altona, 
welche  fpäter  oon  Anbrä  fortge jefjt  worben  ift,  bie  rufftfcbe  gwi* 
fdjen  38mail  an  ber  SRünbung  ber  SDonan  nnb  guglenaeS  bei 
^ammerfeft  oon  3B.  Struoe  unb  ©eneral  Senner  unb  bie 
preufeifdje  gwifcben  fKemel  unb  Srung  oon  S3effel  unb  33aeper 
auSgefübrt s). 

3ü.  Struoe,  ber  berühmte  3)irector  ber  Sternwarte  oon 
$)ulfowa , wirb  oon  33acper  ber  feinfte  unb  gefcbicftefte  33eob» 
achter  genannt 6),  ben  eS  je  gegeben  bat.  ©urdb  93eifpiel  unb 
gehre  ift  bie  SBeoba^tungSfunft  oon  ihm  wefentlid)  geförbert 
worben,  SDie  Söinfelmeffungen  3.  33.  ftnb  bie  oon  ihm  burch 
Einführung  bet  9iicbtuug8*33eobacbtungen  wef entlieh  eereinfaebt 
worben;  auch  b«t  « guerft  auf  bie  ^Biegung  ber  gerutöbre  auf* 
merffam  gemalt  unb  gegeigt,  wie  bie  auö  berfelben  h^ocr» 
gehenben  gehler  bejeitigt  werben  föunen. 

(740) 


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15 


©benfo  fyod)  finb  bie  SBerbienfte  gu  erachten,  weldje  fich 
SBeffel  unb  Baeper  um  Die  ©rabmeffungS » Arbeiten  erworben 
haben.  Beffel  hat  für  alle  Beobachtungen  unb  föteffungen  bie 
ftrengfte  Befolgung  ber  ©pmmetrie  als  $)ringip  aufgefteQt  unb 
gegeigt,  wie  bte  3nftrumentalfel}ler  butd)  bie  Anotbnung  ber 
Beobachtungen  möglichft  wtichäblich  gemalt  werben  fönnen.  ferner 
hat  er  auch  bie  S.^eorie  bebeutenb  »ercodfommnet,  inbem  er 
neue  unb  ft^ätfere  fütethoben  für  bie  Berechnung  ber  geographi* 
fchen  Sage,  für  bie  Ausgleichung  non  Söinfelmeffungen  unb 
IDreiecfSnefcen  unb  für  bie  Berechnung  jphäroibijdher  SDreiecfe 
geliefert  hat. 

Sßeil  bie  ©rbe  feine  Äugel  ift,  fonbern  nur  eine  fugelähn* 
liehe,  b.  i.  fphäroibifdje  ©eftalt  hat,  fo  finb  bie  SDreiecfe  auf 
ihrer  Oberfläche  in  SBaljrheit  feine  fphärifchen,  fonbern  fpl)ä* 
roibifche.  SDie  ©eiten  berjelben  finb  feine  ÄreiSbögen,  fonbern 
hoppelt  gefrümmte  Sinien,  welche  man  geobätifche  ober  auch 
fürgefte  Sinien  nennt,  »eil  fic  bie  fürgefte  ©ntfetnung  gweier 
fünfte  auf  ber  ©rboberfläche  angeben,  ©in  gwifchen  2 fünften 
auf  einet  glatten  gefrümmten  flache  auSgefpannter  gaben  giebt 
ein  Bilb  einer  folgen  Sinie. 

£>aS  »on  Beffel  unb  Baepet  h^auSgegebene  2Berf:  „£>ie 
©rabmeffung  in  Dftpreufjen",  ift  bie  befte  IRichtfchour  für  geobä» 
tifche  Arbeiten  unb  in  ben  meiften  Säubern,  welche  ber  gegen» 
»artigen  europäifchen  ©rabmeffung  beigetreten  finb,  wirb  nach 
ben  in  bemfelben  entwicfelten  üJiethoben  gearbeitet. 

SRachbem  Beffel  feine  eigene  ©rabmeffung  »oflenbet  hatte, 
unternahm  er  eS,  aus  ben  »on  ©«hmibt  benü^ten  unb  ben  3 
neu  hinäu3e*ßmmenen  SQieffungen  neue  fRefultate  ^erguleiten. 
9la<h  ihm  ift  bie  Sänge  beS  ©rbquabranten  = 5131179-81  3wifen 
unb  bie  Abplattung  = sra7)- 

AIS  etwas  fpäter  einige  ber  Don  Beffel  angewenbeten  ©rab» 

(Ml) 


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16 


meffungen,  bie  englifdse,  rufftfc^e  unb  cfttnbiftfec  noch  erweitert 
waren  unb  9Rncleat  i.  3-  1848  am  Gap  ber  guten  Hoffnung 
eine  neue  9Refjung  auSgeführt  Ijatte,  unternahm  Aitp  eine  neue 
^Bearbeitung  beS  »orhanbenen  5Raterial8.  81adj  U?m  ift  bie  8ange 
beS  ©rbquabranten  5131251*25  Seifen,  alfo  nur  71*44  S.  ober 
r ilinj  größer  alß  nach  Seffel,  unb  bie  Abplattung  = 

©a  bie  am  ©ap  »on  5Raclear  außgeführte  SJieffung  fi<h  an 
bie  übrigen  fo  gut  anfchltefet,  baff  fic  een  Air»  gugejegen  werben 
fonnte,  fo  folgt  barauS,  ba|  bie  Ärümmung  ber  {üblichen  i)alb* 
fugel  »on  ber  ber  ncrblichen  nidjt  wefentlid)  »erfdjieben  fein  fann. 

Sei  allen  feit  {Remton  unternommenen  Arbeiten  war  man 
»on  ber  ^ppotljefe  auSgegangen,  baf)  bie  Grbe  ein  SRotationS« 
©Üipfoib  fei.  Söeil  fid>  aber  immer  unb  immer  SBiberfprücfee 
groifdjen  benfelben  gezeigt  bitten»  fo  fucpte  man  nunmehr  ben 
®runb  baoon  in  ber  Siangelhaftigfeit  biefer  Annahme,  ©eßbalb 
unterfufhten  3ame8  unb  ©larfe  juerft  bie  {form  ber  SRcribiane. 

Sie  fanben  nun,  bafj  bei  ber  Annahme  bet  efliptifc^cn  gom 
bie  SBiberfprüdje  am  fleinften  finb,  baff  alfo  biefe  ©eftalt  eine 
größere  SBahrfcheinlichfeit  für  ftd)  hat»  alfl  bie  nicht  »eüiptifche, 
unb  fo  blieb  jefjt  noch  ju  unterfuchen,  ob  bie  ©rbc  ein  ÜRota* 
tienßferper  fei.  ©ieß  unternahm  juerft  ber  ruffifche  ©eneral 
Schubert  i.  3-  1859.  ©r  betrachtete  bie  ©rbe  als  ein  brei« 
ajrigeS  ©llipfoib  b.  h-  ol$  einen  Äötper,  bejfen  Aequator,  fo 
wie  auch  alle  mit  bemfelben  parallel  geführten  Schnitte  ©lüpfen, 
unb  nicht  greife  finb,  fam  aber  feht  balb  »on  biefer  Anftcht 
gurücf.  ©afür  mürbe  biefelbe  »on  ©apitain  ©larfe  aufs  9iene 
aufgenommen,  ohne  bah  eS  ihtn  jeboch  trofc  mieberbolter  Ser« 
fuche  gelungen  wäre,  ein  breiajrigeS  ©llipfoib  aufjufinben,  wetcbeS 
allen  ©rabmeffungen  entfprdche,  unb  mir  ftehen  hier  oor  einer 
offenen  fvrage. 

So  lange  man  bie  ©rbe  als  ein  5Rotatien8*©llipfeib  unb 

(7«i 

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17 


baljer  alle  fDieribiane  als  congruent  betrachtete,  war  man  bereif  * 
tiget,  bie  Unterfudjung  auf  bie  Seftimmung  non  SJieribian*  ober 
Sreitengraben  gu  fufjen,  woher  bie  Benennung  „Sreitengrab» 
meffung“  flammt.  ©eitbem  aber  bie  JRotationSgeftalt  ange* 
gweifelt  wirb,  brängt  fidj  bie  Unterfuchung  auf,  ob  bie  @rabe 
eines  unb  beffelben  ^ßaraüelfreifeö  burdjweg  gleich  grefe  fiub. 
SEBeil  nun  burcp  bie  @rabe  ber  ^)araQelfreife  bie  gecgra^^ifd^e  Sänge 
angegeben  wirb,  fo  nennt  man  berartige  Unternehmungen  Sängen* 
grabmejfungen.  ©ie  erforbern  ebenfalls  geobätifche  unb 
aftronomifdhe  Arbeiten.  Grftere  beftehen  barin,  ba§  bie  ©rö&e 
einer  fReihe  »on  Sögen  eines  i>araHelfreifeS  burdj  Ttiangula* 
tionen  ermittelt  unb  in  Sängenmaf)  auSgebrücft  wirb,  währenb 
burd)  bie  aftronomifchen  Seobadjtungen  ber  Sängen»  ober  Beit* 
Unteridjieb  ber  Gnbpunfte  eines  jeben  folgen  SogenS  beftimmt 
wirb,  b.  h-  um  wieoiel  eine  an  bem  einen  Gnbpunfte  richtig 
gehenbe  Uhr  mehr  ober  weniger  geigt,  als  eine  foldje  am  auberen 
Gnbpunfte  genau  in  bemfelben  SJtcmente.  Äommen  h*er^e* 
gleich  langen  Sögen  eines  unb  beffelben  fParaöelS  gleiche  3eit* 
Unterfchiebe  gu,  ober  finb  wenigftenS  bie  einen  ben  anberen  pro» 
portional,  fo  ift  bieS  ein  3eidjen,  bafc  bie  betreffenben  Sögen 
äfreiebögen  finb;  wibrigenfaUS  gehören  fie  anberen  Guroen  an- 

Sie  ^auptjdjwierigfeit  liegt  in  bet  Seftimmung  beS  gleich» 
geitigen  Moments,  wogu  man  Anfangs  bie  Seobachtung  aftro» 
nomifchet  Gridjeinungen,  als:  Serfinfterung  oon  ©onne,  ÜJionb, 
3upiterS«Trabanten  u.  f.  w.  unb  fpäter  ^uloerblifce  unb  Jpelio» 
tropenfignale  benähte. 

©ie  erfte  Sängengrabmeffung  nach  wiffeujcbaftli<ben  'J>rin» 
gipien  ift  uuter  45°  nörblicher  Sreite  oon  ber  9Jhut bring  ber 
Gircnbe  burch  Sranfreid)  über  ben  SJlont  GeniS,  Turin  unb 
SJiailanb  bis  §iume  auSgeführt  worben,  förangöfiid'er  ©eitS 
begannen  bie  Arbeiten  mit  ber  Triangulation  unter  Seitung  oon 

XL  258.  2 (7<s) 


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18 


Brouffeaubs)  i.  3.  1811,  melche  balb  im  erften  3aljre  burch 
einen  beHagenSmertheu  Unfall  eine  erhebliche  ©törung  erfuhr, 
inbem  auf  bem  SHont  b’Dr  ber  33  lifc  in  bie  ©ignab^pramibe 
einfehlug,  baS  5Jlejj*3nftrument  gerftörte  unb  ben  3Bädjter  tebtete. 
3n  Stalien  mürbe  biefe  Triangulation  non  öfterreit^ifdjen  unb 
farbinifdjen  ©eneralftabö» Offizieren  biö  &iume  fortgefefct.  Bei 
ben  aftronomifchen  Arbeiten,  gu  melden  fPuloerblihe  angeroenbet 
mürben,  trat  auf  bem  90tont=(Seniö  eine  bebeutenbe  S)iffereng 
auf,  inbem  ba3  beobachtete  3lgimnth  um  nahe  50  ©efunben 
Heiner  gefunben  mürbe,  als  baö  berechnete.  5)a  ftd?  aud)  bei 
bem  Südngen»Unierfchiebe  gmifdjen  Turin  unb  SDiailanb  eine  be* 
beutenbe  SDiffereng  gmifchen  Beobachtung  unb  ^Rechnung  herauf 
fteUte,  fo  fudhte  man  bie  Urfadje  in  ber  burch  bie  3llpert  be* 
mirften  £oth*91blenfung,  unb  hielt  beähalb  bie  Arbeit  nicht  für 
mafegebenb  gur  ©ntfcheibung  ber  förage , ob  bie  parallele  mitf» 
lieh  Greife  ober  anbere  (5uroen  feien. 

Jpierburch  nicht  abgefchrecft  mürbe  in  ftranfreich  etma  10 
3at)re  fpüter  eine  ueue  üängengtabmeffung  oon  Breft  über  ‘pariS 
bis  ©trafjburg  unternommen.  $bet  auch  hierbei  ift  ber  3mecf 
nicht  erreicht  morben,  inbem  bie  aftronomifchen  Beobachtungen 
oon  ^ariS  bis  Brcft  nach  bem  Urteile  oon  ^uiffant  unbrauchbar 
maren  unb  felbft  bie  iiüngenbiffereug  ^ari8*©traf}burg,  melche  gut 
beftimmt  gu  fein  fchien,  nicht  bie  erforberlidje  ©chürfe  hatte. 
91ach  ben  neueften  guoerläffigen  SDieffungen  nämlich  beträgt  bie» 
felbe  2 1 SJlin.  39’05  ©et.  in  Beit,  mährenb  biefelbe  bamalß  um 
3-5  ©et.  Heiner  gefunben  morben  mar. 

(Sinen  neuen  Sluffchmung  erfuhren  bie  Sängeugrabmeffungen, 
als  bet  elettrifche  ©trom  für  bie  Telegraphie  in  Änrnenbung  ge» 
fommen  mar.  2)ie  3)uloetfignale  mürben  nunmehr  burch  eiet* 
trifche  oerbrängt,  moburch  bie  Beobachtungen  bet  3eit=Unterf<hiebe 
erheblich  »erfchdrft  mürben.  5Die  erften  berartigen  Operationen 
<■«; 


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19 


überhaupt  finb  pon  SBalfer  unb  ©oulb  in  Sftorbamerifa  unter* 
nommen  worben,  bie  erfte  in  ©eutfdjlanb  aber  oon  SB.  Meters 
gwifdjen  Stltona  unb  Schwerin.  ©ie  grofsartigfte  ift  pon  SB. 
Stntoe  inS  geben  gerufen  worben  tftadj  bem  pon  ihm  i.  3. 
1857  entworfenen  unb  pon  bet  ruffifdjen  Regierung  genehmigten 
$)lane  ift  fie  längs  beS  52.  ^>araüetö  pon  23alentia  an  ber 
SBeftfüfte  pon  Srlanb  biö  DrSf  an  bet  ©ränge  gwifdjen  Ulufj* 
lanb  unb  Sibirien  gut  SluSfühtung  gefommen.  ©ie  praftifc^en 
arbeiten,  gu  welken  fPreufjen,  Belgien,  granfreidj  unb  ©nglanb 
ii?te  3)1  it  wirf  ung  gugefagt  hulteu,  ftnb  gegenwärtig  pollenbet. 
©ie  ©riangulationen  waren  in  ©nglanb,  gtanfreid)  unb  Bel* 
gien  bereits  porhanben  unb  in  ©nglanb  aufjerbem  nodj  bie  pon 
2tirp  gwijchen  Balentia  unb  ©reenwidj  auSgeführte  Sängen* 
©ifjereng.  3n  9>reu&en  feilten  bie  auS  früherer  3eit  h^ftam* 
menben  geobätifchen  arbeiten  burch  neue  erfejjt  werben  unb  bie 
Oberleitung  berfelben  würbe  burd)  Königliche  KabinetS=Orbre  bem 
©eneraüieutenant  g.  ©.  Baeper  übertragen.  3n  SRufjlanb  würben 
bie  ©riangulitungen  burd)  @enerntftabö=Offigiere  auSgeführt.  ©ie 
3eit*Unter jehiebe  finb  1864  unb  1865  pon  ©reenwid)  bis  Sa* 
ratow  auf  ben  Jpaupt*Stationen  pon  benjelben  Beobachtern  unb 
mit  benjelben  Snftrumenten  ermittelt  worben,  pon  Seiten  Sftufj* 
lanbS  pon  bem  ©enetalmajer  gorjd)  unb  bem  Oberft  SplinSfi, 
pon  Seiten  fPreufcenS  oon  einem  Obferpator  bet  Sternwarte  gu 
Bonn,  Dr.  Siele.  3m  3al)te  1864  finb  bie  .paupt*  ober  Sinien* 
Stationen  Uiofenthal  bei  BreSlau  unb  Seipgig  mit  ber  Siefereng* 
Station  Berlin,  wo  fProfejfor  Dr.  görfter,  ber  ©irector  ber 
Sternwarte  beobachtete,  unb  bie  Sinien « Stationen  SRieuport, 
©teenwich  unb  Jpaferforbweft  mit  ©reenwid),  welches  gugleid)  als 
Oiefereng«@tation  biente,  oerbunben  worben,  i.  3.  1865  SRofen* 
thal,  SBarfchau,  ©tobno,  BobruiSf  mit  ber  Diefereng  = Station 
Königsberg,  unb  BobruiSf,  Drei,  SipetSf,  Saratow  mit  bet  9te* 

2*  (745) 


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20 


fereng*Station  SERoÖfau.  9iachbem  fchliefclich  noch  bie  Sangen* 
biffetengen  gwifchen  Saratow,  Samara,  Drenburg  unb  SDröf 
tollenbet  worben  finb,  haben  bie  praftijehen  Arbeiten  biefer  gro§» 
artigen  Sängengrabmejjung  ihren  Äbfcbluf}  erreicht 9). 

9ieu  war  hierbei  bie  Einführung  ber  SRefeteng  * Stationen, 
woburch  bie  Elimination  ber  perjönlicfcen  Eieichung  erhielt  mürbe, 
Eö  war  ben  Äftronomen  langft  befannt,  baff  ein  unb  biefelbe 
Etjdjeinung  oon  gwei  Beobachtern  nicht  in  bemfelben  Äugen« 
bliefe  wahrgenommen  wirb.  55er  Unterfchieb  in  ber  ßeitbauer 
welche  gwifchen  ber  Sinneö*Äjfection  unb  bem  Bewufctwerben 
berfelben  »erfüefit,  ift  nicht  bei  allen  SJlenfdjen  berjelbe,  unb  bietin 
befteht  bie  fogenannte  perfönlidbc  Eleidjuug,  welche  biö  auf  eine 
Sefunbe  anwadjjeu  fann.  35er  barauö  betDDt3ehenbe  fehler  fann 
babutch  eliminirt  werben,  bah  bie  Beobachter  nach  BoHenbung 
einer  Sängenbeftimmung  bie  Stationen  »ertaujdben  unb  barauf 
bie  Ärbeit  wieberholen.  35et  auö  biefen  beiben  Beftimmungen 
gebilbete  fJRittelwerth  wirb  bann  frei  oon  bem  burch  bie  perjön» 
liehe  Eieichung  hetoorgerufenen  ge^jer  |e{n  fc«  (Einführung 
ber  3Refereng=Stationeu  ift  ein  folcher  Staticnöwechfel  nicht  nöthig. 
SBenn  g.  B.  bie  8ängen»Unterfchiebe  gweier  Stationen  A unb  B 
gegen  eine  brittc  R gefunben  worben  finb,  inbem  in  R berjelbe 
Beobachter  »erblieben  ift,  ein  gweiter  bagegen  guerft  in  A unb 
bann  in  B fungirt  hat,  jo  finb  bie  üängen=Unterjcbiebe  AR  unb 
BR  mit  ein  unb  bemfelben  petfönlichen  gehler  behaftet.  Bilbet 
man  auö  benfelben  einfach  burch  Subtraction  ben  Sängen=Unter» 
jehieb  AB,  jo  wirb  biefer  Dort  jenem  gehler  befreit.  3n  biejem 
gaHe  nennt  man  R bie  9>tefereng»Station,  A unb  B bagegen 
Sinien»Stationen. 

55a  bie  Breitengrabmefjungen  hauptfädjlich  gut  Beftimmung 
ber  gorm  unb  Erojje  ber  SJteribiane  bienen,  bie  Sdngcngrab* 
mefjungen  bagegen  bie  Elemente  gu  ber  Unterjuchung  liefern,  ob 

(746) 


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21 


feie  ©rbe  wirtlich  ein  [Retaiiongförper  ift,  fo  müffeu  burch  bie 
Kombination  beibet  2lrten  beibe  Btagen  gugleidj  beantwortet  wer» 
ben  formen.  ©on  biefem  ©ebanfen  auSgehenb,  entwarf  ber  ®e* 
neratlieutenant  Dr.  ©aeper  t.  3.  1861  ben  $)lan  gu  einet  mittel* 
eutepcufchen  ©rabmeffung  unb  entwicfelte  benfelben  in  bet  (Schrift 
„lieber  bie  Bigut  unb  @rö§e  ber  ©rbe."  '2(u^erbem  legte  er  ber 
preufcifchen  Regierung  einen  für  biefelbe  befonberS  abgefafjten 
©ntwurf  ocr,  beffen  Sprache  fo  übetgeugenb  war,  ba§  biefelbe 
an  bie  ^Regierungen  ber  benachbarten  Staaten  bie  ©inlabung  er» 
gehen  lief;,  fidf  an  bem  oon  Saeper  eorgefd)lagenen  Unternehmen 
gu  betheiligen  unb  gu  biefem  3wecfe  SeooHmächtigte  ober  ©om* 
miffarien  gu  ernennen.  3n  Böige  beffen  fanb  bereits  im  Stpril 
1862  bie  erfte  3ufammenfunft  einiget  ©ommiffarien  auS  Sachfen 
nnb  Cefterreid)  ftatt,  in  Weidner  notläufige  Serathungen  gepflogen 
würben.  ©on  ba  an  batirt  fich  ber  ©eginn  biefeS  großen  intet* 
nationalen  Unternehmens,  welche®  feitbem  ein  fo  allgemeines 
Sntereffe,  eine  fo  bebeutenbe  iluSbehnung  gefunben  l)at,  bafs  bie 
Hoffnungen  beS  Urhebers  weit  übertroffen  worben  finb.  SHuch 
gab  fich  hierin  bie  hohe  3lner!ennung  funb,  welche  ihm  bafür 
gegoUt  würbe,  baff  er,  als  früherer  SRitarbeiter  ©effelS,  im  Sinne 
unb  ©eifte  beffelben  fortwirfte  unb  baS  höhere  ©ermeffungS« 
Wefen  in  ^)reu§en  auf  eine  Stufe  ber  ©ollfommenheit  gebracht 
hatte,  welche  bis  bahin  noch  nirgenbS  erreicht  worben  war.  SDie 
unter  feiner  Leitung  oon  ber  trigouometrifchen  iSbtheilung  beS 
königlich  ^teufjifchen  ©eneralftabS  auSgeführten  unb  oon  ihm 
herausgegebenen  Arbeiten  gelten  noch  heute  a'ä  5Jtufter*9lrbeiten 
unb  werben  unter  bie  wichtigften  ©lieber  beS  neuen  wiffenfchaft* 
liehen  ©auwerfeS  gewählt. 

Schon  im  Saljre  1861  waren  oon  oielen  Staaten  ©citrittS* 
©tflarungen  eingegangen , ber  3eitfolge  nach  oon  Branfreich, 
2)änemarf,  Sachfen*@otha,  HeHanb,  fRufjlanb,  Schweig,  ©aben, 

(747) 


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22 


.Königreich  Sadjien , Italien,  Defterretcb , Schweben  unb  91er* 
»egen,  Säuern,  föiecflenburg,  .jpanneoet  unb  Selgien,  worüber 
©eneral  Saener  im  fRooember  1882,  in  bem  crften  ©eneralbe* 
ridjte,  fERittheilung  gemacht  hat.  3n  bemfelben  wirb  bie  Sil* 
bung  eineö  Gentralbüreauß  in  Serlin  in  Sorfcfclag  gebracht, 
wonach  alfo  ber  Sdjwerpunft  nach  ^teufjen  »erlegt  werben  feilte, 
jo  bafj  eß  für  unfer  Saterlanb  Ghtetttadje  würbe,  baß  interna* 
ttonale  Söerf,  beffen  .Keim  in  feinen  Scheefj  gelegt  werben  war, 
in  einer  feiner  politifchen  9Rad)tfteHung  würbigett  SBeife  ju  fer* 
bem,  bamit  bie  anberen  baran  betheiligten  Staaten  eertrauenßootl 
bie  GentralfteQe  ba  beiaffen  tonnten,  wo  fie  fid^  thatfächlidh  oon 
jelbft  gebilbet  hatte-  ©eßhalb  hat  benn  au*  bie  Staatß*9legie* 
rung  Sorge  getragen,  bafj  bie  erforberlichen  fBJittel  oon  Seiten 
ber  Uanbeßoertretung  bewilligt  würben. 

Unterbeffen  entwicfelte  fid)  baß  Unternehmen  in  erfreulich  ft  er 
SBeife,  wie  bet  ®eneral*23ericht  für  1883  bet unbete,  welcher  be* 
reitß  SRefultate  non  ÜRecflenburgifchen  unb  $)reujjijchen  Sriangu* 
lationen  unb  SRittheilungen  über  oerfchiebene  in  Cefterreich, 
fPreufjen,  Stufjlanb,  Sachfen,  Schweben  unb  in  ber  Schweij  auß* 
geführte  prnftifche  Arbeiten  braute,  fo  bah  General  Saeoet  eß 
wagen  tonnte,  eine  ©eneraUGenferen^  in  Sorfchlag  ju  bringen. 
SDiefer  Sorfdjlag  fanb  allgemeinen  Entlang,  bie  Gonferena  würbe 
in  Serlin  oom  15.  biß  22.  ßftober  1884  abgehalten  unb  war 
faft  oon  allen  betheiligten  Staaten  befdjicft  worben.  S5ie  bren* 
nenbfte  Stage  war  bie  ber  Drganifation.  3Ran  einigte  fi<h  in* 
beffen  balb  baljin,  bafj  für  bie  obere  Leitung  ber  ganzen  ©rab* 
meffung  bie  Silbung  einer  permanenten  Gommiffion  nothwenbig 
fei,  währenb  bem  Gentralbüreau  bie  Ausführung  ber  Sefdjlüffe 
berfelben  obliegen  feilte. 

3n  golge  beffen  würben  oon  ber  ©eneraUGonfereug  burch 
SBahl  fieben  Seooßmä^tigte  ju  fötitgliebern  ber  permanenten 

CH8) 


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23 


Gommiifipn  mit  bem  §tftrenem  Raufen  an  ber  tgpitje  ernannt. 
3um  ^>räfibenten  beS  Qentralbüreau'ä  würbe  53  aeter  erwählt, 
welkem  and)  bie  93ilbung  unb  Sinridjtitng  bicfcg  DrganS  über* 
taffen  würbe. 

<Sebr  wichtig  war  ber  33efd)lu§,  bafj  auf;er  ben  aftrenemi* 
fcben  unb  geebätifdjen  Arbeiten  and)  niteflitifdje  auSgefiiljrt  unb 
in  jebetu  Sanbe  auf  einen  einzigen  fRudpnnft  begegen,  fowie  ferner 
bafj  bie  üluflpunfte  ber  eingelnen  Sänber  unter  etnanber  terbunben 
unb  bie  in  ben  midjtigften  ©eeljäfen  beftefjenben  $)ege!  in  ba8 
niteQitifcfye  fftefc  aufgenommen  werben  feilten. 

©ei  aden  geebätifdjen  Operationen  begießt  man  fidj  auf  bie 
ibeale  Dberffädje,  welche  bie  @rbe  Ijaben  mürbe,  wenn  fie  fein 
%eftlanb  batte,  fonbern  über  unb  über  mit  SDReet  bebecft  wäre.  @8 
müffen  baljer  alle  auf  bem  fteftlanbe  angeführten  SReffungen 
auf  ben  5Reeregfpiegel  Ijin  rebucirt  werben.  SDiefe  Stebuction  ift 
tnbeffen  einfadjer,  alb  e§  fürs  Qjrfte  gu  fein  fdjeint.  5>enft  man 
fid)  ein  auf  bem  ^eftlaube  auggebreiteteg  ©Teiecfgncfs  auf  bie 
ÜReeregflädje  projicirt,  fo  werben  bie  SBinfel  fo  unmerflidj  ge* 
änbert,  baf$  feine  Serbefferung  berfelben  nötljig  ift,  unb  non  ben 
S5xeiecf8=@eiten , welche  gwar  fämmtlidj  fleiiter  werben,  braucht 
bie  JRebuction  nur  für  eine  einige,  bie  @runblinie  beregnet  gu 
werben,  inbem  ade  übrigen  auö  biefer  einen  unb  ben  SSinfeln 
butdj  fRedjnung  Ijergeleitet  werben.  SBie  nötljig  aber  bei  ben 
©runblinien  bie  fRebuction  auf  ben  3Recre8lj  Orient  ift,  geigt 
folgenbe  3ufammenftellung. 

2?ei  ber  ton  SBeffel  bei  Königsberg  in  einer  Seeljclje  non 
16‘4  Seifen  gemefferten  ©tunblinie  ton  935  Seifen  Sangt  Ijatte 
biefe  JRebuction  4-046  Sinien  b.  i.  nafje  ^^Viro  ber  gangen 
Sange  betragen,  bei  bet  in  einer  Seeljöfje  ton  360  Seifen  ge* 
wefftnen  fpanifdjen  SBafiS  ton  7524  Seifen  Sänge  f Seifen 
b.  i.  unb  bei  ber  in  einer  Seeljölje  ton  1226  Soifen  ge» 

(749) 


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24 


mcffenen  nörblidjen  peruanifdjen  S3afi8  oen  (»273  Toijeu  Sänge 
235  Steifen  ober  2SV5. 

S)ie8  beroeift,  wie  wichtig  für  bie  Triangulationen  eine  ge* 
naue  Äenntnifj  ber  (Srbebung  über  ben  SReereSfpiegel  ift.  SDiefe 
lann  aber,  wenn  fte  ben  heutigen  Slnforberungen  genügen  foH, 
nur  butdj  geometrifd^e  fRioellementS  gewonnen  werben. 

$)ajd)en,  ber  frühere  SeooQmäcbtigte  oott  SRecflenburg,  bat 
ben  23ewei8  geliefert,  ba§  bie  geometrifeben  9iiüeHement8  ungleich 
genauer  au8gefül)rt  werben  fönnen,  al8  bie  trigouometrifeben. 
(5r  bat  ben  £>öl)en=Unterfd)ieb  gweiet  3 SJteilen  con  einanbet 
entfernten  fünfte  nach  beiben  SRetboben  beftimmt  unb  al8  wahr* 
jcbeinlicben  geiler  be8  trigonometrifeben  fRioellementS  6 3<?ü,  bei 
bem  geometrifeben  bagegen  nur  $ 3oQ  gefunben.  (Sine  Seftätigung 
hierfür  liefert  bie  Setgleidjung  beS  in  ben  Sauren  18(57  unb 
18G8  jwift^en  SBetlin  unb  ©winemünbe  oom  geobätifeben  3u» 
ftitute  au8gefübrien  geometrifeben  9tioellement8  mit  bem  ron 
S3äper  i.  3-  1840  jwifd)en  benfelben  beiben  fünften  unter* 
nommenen  trigonometrifeben.  33ei  legerem  bat  ftcb  ber  wahr* 
fcbeinlicbe  gebier  $u  6 ©ecimeter,  bei  elfterem  bagegen  nur  ju 
1 (Sentimeter  ergeben.  SDet  ©runb  liegt  banptfäd)licb  in  ber 
Strahlenbrechung,  welche  bei  ben  geometrifeben  9tioeflemeut8  faft 
»oUftänbig  eliminirt  werben  fann,  wenn  ficb  ber  Beobachter  ftetß 
foaufftetlt,  bafs  bie3iellatten  nadboorwärtö  unb  rücfwärtS  gleich  weit 
»on  ibm  entfernt  ftnb.  Bei  ben  trigonometrifeben  9ti»eHement8  fudjt 
man  bie  (finwirfung  ber  Strahlenbrechung  baburd)  ju  befeitigen, 
baff  man  auf  ben  beiben  fünften,  beten  <£>6benunterfcbieb  gefudjt 
wirb,  gleichzeitig  unb  gegenjeitig  beobachtet,  allein  bie  Annahme, 
auf  welche  man  angewiefeu  ift,  baf)  bie  SBege  be8  SidjtftrablS 
nach  oorwärt8  unb  rücfwärtS  congruent  feien,  ift  uidjt  in  aller 
©trenge  richtig. 

3118  ein  fe^v  wichtiger  auf  jener  (Konferenz  gefaxter  Befd)lufj 

(750J 


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25 


ift  ferner  Ijeroerguijeben,  ba§  ^enbelbeobadjtungen  an  möglicbft 
»ielen  aftronomifchen  fünften  angefteUt  werben  feilten,  weil  bie 
3ntenfität  ber  Schwere  mit  ber  ©eftalt  ber  ©tbe  in  innigem 
Bufammenfymge  fteht. 

Senn  bte  @rbe  eine  ooHfemmene  Äuget  non  burdjweg  gleichet 
fDidjtigfeit  wäre  unb  fid)  in  abfoluter  3tu^e  befdnbe,  fo  würbe 
auf  alten  fünften  it)rer  Oberfläche  bie  Schwerhaft  gleich  grof) 
fein,  mithin  ein  unb  baffelbe  ^)enbet  überall  in  einer  beftimmten 
3eit  gleich  eiet  Schwingungen  machen  unb  bie  Sänge  beö  Se» 
fuubenpenbelö  überall  gleich  grof)  fein.  aber  feine  »ou  biefen 
Sebingungeu  ftnbet  ftatt.  25ie  ©rbe  ift  fein  rutjenber  Äerper, 
fonbern  t)<*t  ajrenumbrehung  unb  beSljalb  macht  ftdj  noch  eine 
anbere  jfraft,  bie  Schwunghaft  geltenb,  welche  ber  Schwerhaft 
entgegenwirft  unb  baher  auch  Zentrifugal»  ober  gliehfraft  ge» 
nannt  wirb.  SDutcf)  fte  erhalten  alle  UJtaffentheildjen  ba6  23e» 
ftreben,  fich  non  bet  Umbtet)ung8«2he  ju  entfernen,  unb  bieö  in  fo 
höherem  ©rate,  je  weiter  fie  oon  berfelben  entfernt  ftnb.  Unter 
bem  ISequator  ift  baher  bie  Sirfung  ber  Schwunghaft  am  ftdrfften 
unb  wirb  bie  Schwerhaft  am  ftdrfften  abgefchwächt;  nach  ben 
§)olen  h*»  wirb  biefe  abfchwädjung  geringer  unb  an  ben  9>oteu 
felbft  ju  SRuEL  aber  auch  wenn  bie  ©tbe  nicht  rotirte,  fönnte 
bie  Schwerhaft  nicht  überall  gleich  l3tDfe  fein,  benn  wegen  ber 
Slbplattung  finb  nicht  alle  fünfte  bet  ©rboberfläcbe,  abgefehen 
»on  ben  Sergen,  £h»ler»  3C-  com  üRittelfjunfte  gleich  »eit  ent» 
fernt.  auch  au8  biefem  ©runbe  mu§  bie  ©chwerhaft  unter  bem 
aeqnator  am  fchwdchften  fein,  weil  h«r  bte  (Entfernung  oem 
©entrum  am  größten  ift,  unb  nach  ben  $)olen  hi»  ber  abplat» 
tung  gemäfj  immer  ftärfer  unb  ftdrfer  werben,  ©in  unb  baffelbe 
§>enbel  wirb  alfo  unter  bem  aequator  am  langfamften  unb  nad) 
ben  $)olen  ht»  immer  rafcher  unb  rafcher  fchwingen.  OJlan  fann 
baher  umgefehrt  auö  ber  anjaljl  ber  Schwingungen,  welche  ein 

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26 


fPenbel  »on  einer  beftimmten  Sänge  in  einer  beftimmten  3«t 
»oUeubet,  auf  bie  ©re§e  ber  ©djwerfraft  unb  ferner  auf  ben  8b« 
ftanb  »om  Zentrum  fchliefjcn. 

3n  SBerlin  ift  nad)  SSeffelg  i.  3.  1835  auf  ber  Ijiefijjen 
Sternwarte  auggefüljrten  öeftimmungcu  bie  Sänge  beg  einfachen 
Sefunbenpenbelg,  auf  bag  SJiittelwaffer  ber  Dftfee  bei  Swine* 
münbe  bezogen,  = 440739  §>arifer  Sinien  ober  994-232  9)lm., 
»eräug  für  ben  Aequater  990-988  5)lm.  unb  für  bie  ^)cle 
996-142  5)im.  heroorgeht.  Jpieraug  lä^t  ftdj  ferner  berechnen, 
bafs  ein  Deubel,  weldjeg  unter  bem  Aequator  in  einem  Sage 
86400  S djii'in gungen  macht,  bert  alfo  ein  Sefunbenpenbel  ift, 
in  Berlin  täglich  141  unb  an  ben  sPolen  224  Schwingungen 
mehr  »oÜenbet. 

äßenn  man  »om  Aequator  aug  nad)  ben  $>olen  Ijingctjenb 
an  »etfdjiebenen  fünften  mit  ein  unb  bemfelben  ißenbel  bie  An* 
jal)I  ber  täglichen  Schwingungen  beobachten  wellte,  fo  würbe 
man  baraug  bie  Bunaljme  ber  Schwerfraft  unb  wenn  au^erbem 
bie  'polhehen  ber  Seobachtunggorte  befannt  wären,  bie  ©reffe 
ber  Abplattung  Verleiten  fonuen. 

SDie  erften  ^enbelbeobadjtungen,  welche  jur  öeftimmung  ber 
©eftalt  ber  @rbe  benüf}t  werben  finb,  hat  Souguer  bei  ber  perua* 
nifchen  ©rabmeffung  auggeführt.  Alg  barauf  felche  noch  an 
mehreren  anberen  Drteu  wieberholt  werben  waren  unb  bie  Sie* 
fultate  mit  bencn  ber  ©rabmeffungen  »erglühen  würben,  fanb 
man  nicht  bie  gehoffte  Uebereinftimmung.  SDian  lieh  fi<h  inbeffen 
hierbnrch  nicht  abfchtecfen,  fenbern  fühlte  fid?  »ielmeht  »eranlafjt, 
bie  Sache  weiter  ju  »erfolgen,  um  fo  mehr  alg  bie  Siefultate 
nicht  bieg  »en  benen  ber  ©rabmeffungen,  fenbern  auch  unter 
einanber  abwicheu.  So  hatte  j.  33.  ber  englifthe  Sd)iffg*(5apitain 
Äater  i.  3-  1816  auf  mehreren  «Stationen  ber  englifchen  ©rab* 
meffung  §)enbelbeoba<htungen  angefteüt  unb  tro£  aller  Sorgfalt 

(75*) 


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27 


unb  5öh"ifye  für  bie  Abplattung  JRefultate  erhalten,  welche  gwifdien 
weiten  ©tänjen  fcbwanften.  SieS  war  bie  fßeranlaffung,  baff 
Den  ©eiten  ©nglanbs,  granfreichS  unb  StujflanbS  mehreren  Schifft 
ßapitaiiren  aufgetragen  würbe,  an  uerfdjiebenen,  i)auptfäd)lidi  nufer» 
eurcpäifdjen  Jfüftenpunften  $)enbelbeobachtungen  anguftellen  ' °). 
SieS  ift  nun  aud)  wirflich  gur  Ausführung  gefommen,  aber  bie 
SRefultate  ijaben  noch  nic^t  gang  ben  ©rwartungen  entiprochen, 
inbem  bie  für  bie  Abplattung  abgeleiteten  SBerthe  nicht  nur  unter 
einanber,  fcnbern  auch  mit  benen  ber  ©rabmeffungen  bifferirten. 
Sie  treueren  ©rabmeffungen  haben,  wie  bereits  erwähnt  werben, 
für  bie  Abplattung  nabe  ergeben,  wäbtenb  bie  auS  ben  er« 
wäbnten  $)enbelbeobad)tungen  betoorgegangenen  SSertfe  ftd)  gwi» 
fd?e n 5^-5  unb  ^ bewegten,  fo  baff  nad)  lederen  bie  ©rbare 
fürger  fein  müfte,  etwa  eine  SSiertetmeile,  als  nach  ben  ©rab» 
meffungert. 

Um  ben  ©runb  beS  SBiberftreitS  biefer  beiben  SöeftimmungS« 
weifen  aufgufinben,  beSbalb  feil  alfo  nach  bem  SBefdiluffe  ber 
©eneral=(5cnfereng  auf  moglichft  Dielen  aftrenomifcben  Stationen 
ber  eurcpäifchen  ©rabmeffung  auch  baS  fPenbel  beobachtet  werben. 

Sa  biefe  fünfte  faft  fämmtlidj  mitten  auf  tcm  geftlanbe 
unb  nicht,  wie  bie  meiften  früheren  $cnbel=®tationen  auf  Snfeln 
ober  an  ber  WeereSfüfte  liegen,  fo  wirb  eS  fidf  geigen,  ob  bie 
contincntalen  fünfte  unter  einanber  haemoniren  unb  ber  beo« 
bartete  äöiberftreit  nur  gwifchen  continentalen  unb  ojeauifdjen 
fünften  ftattfinbet. 

Sie  3r.tenfität  ber  Schwere  muf,  abgesehen  Don  einer  Un» 
gleidnnäfigfeit  ber  Sichtigfeit  in  ber  Jiefe,  ba  am  größten  fein, 
wo  bie  fefte  ©chaale  unferer  ©rbe  am  bichteften  ift.  Auf  einer 
continentalen  ©tation,  beren  Umgebung  meilenweit  nur  aus 
feften,  alfo  im  ©egenfafe  jnm  Weere  auS  biebteren  Waffen  be» 
fteht,  müfte  man  eine  größere  Sntenfität  ber  Schwere  Dermutljen, 

(TS3) 


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28 


al$  auf  Keinen  (Silanben  mitten  im  großen  Dceane,  beten  Um* 
gebung  auf  große  ©trecfen  ßin  meniget  bidjt  ift ; benn  bie  ©i<ß* 
tigfeit  beä  SBafferS  ift  ja  erßebücß  geringer  als  bie  mittlere  ©idj* 
tigfeit  ber  fcften  Seftanbtßeile  bet  Grbe.  9tuf  bem  (Kontinente 
müßte  bemnacß  baß  ?>enbel  rafcßet  fcßwhtgen  alä  unter  gleitßer 
Steile  auf  3nfeln.  SDie  Seobacßtungen  wiberjpredßcn  inbeffen 
biefer  Argumentation,  unb  fo  fragt  e§  fi<ß,  wie  fidß  biefer  SBiber* 
fprudß  erflären  läßt.  SfKan  ßat  bieS  auf  folgenbe  SSeife  ceriuißt. 

3n  j$olge  ber  AngießungSfraft,  weltße  eon  bem  geftlanbe 
auf  ba$  ajtcer  auSgeübt  wirb,  muß  leßtereö  an  ben  Äüften  ßößer 
fteßen  al8  im  offenen  ßgeane,  unb  man  will  burdß  Sledßnung 
gefunben  ßaben,  baß  biefer  Unterfcßieb  bis  auf  mehrere  $unbert 
Buß  anwadßfen  fann.  SBenn  fiöß  bie8  beftätigen  fottte,  bann 
müßten  bie  Äüfienftridje  ifolirter  3ufeln  bem  SJtittelpunfte  ber 
@rbe  um  jenen  Setrag  näßet  fein,  als  bie  ber  ^eftlanber,  unb 
baßer  eine  größere  3nteufität  ber  ©tßwere  befunben.  Auf  biefe 
SBeife  glaubt  man  baS  rafdßere  Stßwingen  beS  i'enbelö  auf  ifo* 
litten  3nfeln  erflären  gu  fönnen. 

SBie  antegenb  unb  förbernb  bie  erfte  allgemeine  Äonfereng 
gewirft  ßat,  geigen  bie  aQjäßrlidj  erfcßienenen  @eneralberi(ßte. 
Sefoubetä  ßeroorgußeben  ift,  baß  burdß  jtöniglicße  ÄabinetS» 
Drbre  ber  ©cnerallieutenant  Saener  beooßmädßtigt  würbe,  ba8 
»on  ißm  in  Sorfcßlag  gebradßte  (KentTaUSüreau  gu  eröffnen,  unb 
baß  baffelbe  bem  BJtinifter  ber  geiftlitßen  jc.  Angelegenßeiten  unter* 
ftellt  würbe.  2>iefe  Eröffnung  erfolgte  ben  1.  April  1866.  ©eine 
oolle  Slßätigfeit  fonnte  baffelbe  jebotß  beö  Äriegeö  wegen,  weltßer 
autß  in  anberen  Sänbern  auf  bie  @rabmeffung8*Arbeiteu  ßem* 
menb  wirfte,  nießt  fofort  entwidfeln.  3m  3aßr  1867  aber  wut* 
ben  biejelben  überall  aufö  Bleue  wiebet  aufgenommen.  $Daß  in* 
gwifeßen  ba8  3ntereffe  baran  nidßt  abgenommen  ßatte,  geigte  füß 
aueß  bei  ber  in  bemfelben  3nßre  in  Serlin  tagenben  gweiten  all* 

(75«) 


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29 


gemeinen  Gonfereng.  Spanien,  Portugal  unb  JRufjlanb  Ratten 
ihren  Beitritt  erflärt  unb  ba  jefjt  faft  aBe  Staaten  ©uropa’8 
theilnahmen,  fe  »urbe  befchloffen,  bie  Benennung  „mitteleuro* 
päifche  ©rabmeffung“  einfach  in  „europaifctje  ©rabmeffung"  ab* 
guänbern. 

Unter  ben  beratenen  fragen  fteheu  in  erfter  Sinie  bie  Un* 
terfuchungen  über  bie  Snteufität  nnb  {Richtung  ber  Sattere. 
9tad)bem  biefelben  bereits  auf  bet  erften  aBgemeinen  Gonfereng 
bringenb  empfohlen  worben  waren,  tjatte  man  an  nieten  Drten, 
namentlich  in  ber  Schweig,  in  {Pteufjcn  unb  Sachsen  Behufs  bet 
Beftimmung  ber  Sntenfttät  ber  Schwere  {Penbelbeebadjtungen 
angefteBt,  bagegen  nur  an  wenigen  Drten  Unterfucfjungen  übet 
bie  Slblenfung  beS  SotheÖ. 

Siefe  ilblenfung  läfjt  fic^  ni(f)t  birect  beobachten,  fonbern 
nur  burch  Vergleichung  ber  auf  geobätifchem  SBege  berechneten 
Sage  eine?  Drteö  mit  ben  {Refultaten  unmittelbarer  aftronomifcher 
Beobachtungen  finben.  §ür  ben  Sreiecföpunft  auf  bem  Brocfen 
.3.  B.  giebt  bie  {Rechnung,  wenn  man  non  Berlin  außgeht  unb 
Entfernung  unb  Slgimuth  ($immel0richtung)  au8  ber  neuen 
Triangulation  entnimmt,  alö  sPoll}öhe  5°  48'  2-12“  unb  als 
geographifche  Sänge,  in  3eit  auggebrücft,  1 1 50t.  6-546  S.  weft* 
lieh  »on  Berlin,  währenb  burch  unmittelbare  Beobachtung  für 
erftere  51°  48'  10"59  (Baeper  unb  Sabebecf)  unb  für  letjtere 
11  50t.  6-340  S.  (Wibrecht)  gefunben  worben  ift.  Sie  beob* 
achtete  9>olhöhe  ift  alfo  um  8"47  größer  unb  ber  beobachtete 
Sängen*Uuterfchieb  um  0-206  S.  Heiner,  als  ber  berechnete  Söertlj. 
Stach  ben  unmittelbaren  Beobachtungen,  mühte,  wie  bie  Sied)* 
nung  ergeben  Ipat,  ber  Stationöpunct  auf  bem  Brocfen  259-6  50t. 
nörblicher  unb  58  550t.  öftlicher  liegen,  alb  nach  ber  geobätifepen 
{Rechnung.  @ö  müffen  h»«  alfo  örtliche  Störungen  oorhanben 
fein  unb  mit  größter  SBa^rfdjeinlicbfeit  eine  Slblenfung  ber  nor* 

(75S) 


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30 


malen  9tidjtung  bet  Sdjwerfraft,  b.  i.  eine  Ablenfung  beö  2?tei= 
lotl)e8  ftattfinben.  ©a  bie  birect  gemeffene  ^olt)ol)e  gu  groff  ge» 
funben  worben  ift,  fo  mufj  ber  fdjeinbare  £origont  nad)  Serben 
t)in  tiefet  liegen,  alö  er  feilte,  fo  baf)  alle  (Sterne  am  nerblid?en 
£immel  l)öl)er  gu  fielen  fc^einen,  alö  fie  wirflid)  etfebeitten  roür* 
ben,  wenn  feine  Störung  »ortjanben  wäre,  ©aß  fdjeinbare  ßenitl) 
liegt  alfe  nörblid?  oom  wahren,  wenn  man  non  ber  bebeutenb 
fleineren  ieitlicfcen  Ablenfung  abfieljt.  ©ie  »ertifale  3ljre  beö  Viefj» 
3nftrumente8,  beren  Verlängerung  baö  Firmament  im  wagten 
3euitl)  treffen  füllte,  muß  l)ier  nad)  Ütorben  geneigt  fein,  ©a 
aber  bei  ber  Aufftetlung  eineß  foldjen  bie  9iid)tung  beö  Vlei» 
lotl)8  alö  9icrm  bient,  fo  muf?  biefe  Ijier  non  ber  wahren  nor» 
malen  Sage  abweidjen  unb  bie  nach  oben  verlängert  gebaute 
Oüdjtuug  beß  £ott)eS  nörblid)  »on  bem  wahren  Bcnttl)  baß  gir* 
mament  treffen.  3luö  biefem  ©runbe  wirb  »on  Vielen  eine  folr^e 
Ablenfung,  wie  auf  bem  Vrocfen,  eine  nörbli<f)e  genannt,  »on 
Anbeten  bagegen  in  Anbetracht  ber  9iid)tung,  nach  welcher  t)in 
ber  Sd)werpunft  beö  gotljcö  auö  feiner  normalen  8age  gegogen 
wirb,  eine  jüblidje. 

fragen  wir  nun  weiter  nad)  ber  Urfadje  bet  gotl)=Ablen* 
fungen,  fo  liegt  eönabe,  an  eine  Angiefyung  »on  ©ebirgömaffen 
gu  benfen,  ober  aud)  an  ben  ©influfc  unterirbifdfer  Ablagerungen, 
welche,  wie  g.  V.  ©rglager,  baö  mittlere  SJtafj  ber  ©ichtigfeit 
beö  feften  ©rbförperß  überfc^reiten.  @8  ift  inbeffen  aud)  möglich, 
bafc  Jpohlungen  in  ber  Siefe  im  uegatiuen  Sinne  wirfen.  ©ie 
in  ber  sPo»(Sbene,  iu  ber  Sdjweig,  iu  Sd)ottlanb  n.  f.  w.  beob» 
achteten  Anomalien  fd)einen  für  bie  Angietjung  ber  ©ebirgömaffen 
gu  fpredjen,  wäljrcnb  bei  ber  oftinbifdjen  ©rabmeffung  ber  Jpi* 
malapa  nid)t  ben  erwarteten  ©influf)  geäußert  l)aben  ioD.  Veim 
Äaufafuö  finbet  nadj  £>.  Struoe 1 *)  bie  auffallenbe  ©rjdjeinung 
ftatt,  baf)  baö  2cth  auf  ber  fliorbfeite  angegogeu,  auf  ber  Süb» 

(70«; 


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31 


’rite  bagegen  jdjcinbat  abgeftohen  wirb,  »aß  nur  burd)  unge» 
ircl}nltd)e  unterirbifche  Suftänbe,  welche  Dtedeid>t  auf  bem  oulfa» 
nifdjen  (i^arafter  ber  f üblich  nom  ÄaufafuS  gelegenen  ®egenb 
berufen,  zu  erflären  ift.  Stuf  unterirbifcb  reirfenbe  .fträfte,  roeift 
auch  bie  in  bet  ©egenb  non  ÜRoSfau  beobachtete  8oth:’2lbleufung 
bin,  reo  hoch  feine  ©ebirgSmaffen  in  ber  [Rahe  finb,  welche  eine 
ioldje  neranlaffen  fönnten. 

SDiefer  ©egenftanb  bietet  bemgufolge  ein  reiches  Selb  ber 
Sorfchung  bar,  mtb  eS  fommt  junächft  barauf  an,  möglichft  oiele 
Si)atjachen  gu  fammeln.  !Äus  biefem  ©runbe  hat  ©eneral  Baepet 
in  neuefter  Beit  im  Jparge  zahlreiche  Beobachtungen  arcfteUen 
laffen.  @ö  ift  unmöglich,  h‘er  auf  bie  (Sinjelheiten  näher  eingu* 
gehen.  BloS  jooiel  mag  ermähnt  reerben,  bah  bort  baS  SRajri* 
mum  ber  3lblenfung  in  Bezug  auf  ^olljöhe,  etroa  13,5  ©efuuben 
nicht  auf  bem  Brocfen  felbft,  fonbern  norbreeftlid)  oon  bemfelben, 
bei  Jpargbutg,  beobachtet  reorben  ift.  Bugleich  hat  es  fid)  aber 
auch  gegeigt,  ba|  h‘CT  ebenfalls  unterirbifche  Buftänbe,  einerfeitS 
Grjlager,  anbernfeitS  Jpöhlen  einen  ©influh  haben  bürften12). 

SSeil  fich  auS  ben  neueften  Unterfuchungeu  ergeben  hat,  bah 
üothablenfungeu  nicht  nur  auf  aftronomif^e  Beftimmungen,  fon* 
üern^auch  auf  bie  SReffungen  non  Jporigontalreinfeln  einen  ©influh 
auSüben,  unb  reeil  berfelbe  bei  leiteten  gröber  ift,  als  man  biS= 
h«r  geglaubt  hat,  fo  mühte  man  eigentlich  bei  Triangulationen 
auf  jebem  JDreiecfSpunfte  bie  [Richtung  ber  ©chreere  prüfen,  unb, 
Kenn  fie  nicht  normal  ift,  ben  (Sinftufj  ber  äblenfung  in  [Rech* 
nung  ziehen,  reaS  bisher  noch  nicht  gefdjehen  ift.  Stuf  bem 
Brocfen  3.  B.  fteigt  biefer  ©influh  bei  einzelnen  SBinfeln  nach 
meinet  Unterfuchung  bis  i ©efunbe. 

fünfte,  an  welchen  eine  anomale  [Richtung  ber  ®djreere 
ftattfinbet,  eignen  fich  nicht  5ur  Beftimmung  ber  ©eftalt  ber 
Grbe.  Senn  eS  fidf  bagegen  um  bie  Unterfuchung  hanbelt,  reo 

(7S7J 


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32 


bie  Krümmung  ber  6rbe  con  ber  regelmäßigen  ©eftalt  abweidfjt, 
fo  muß  man  gerate  foldjen  fünften  nadjfpüten. 

©in  gweiter  Punft,  über  welchen  bie  gweite  allgemeine  Äon« 
fereng  Beratungen  gepflogen  fyat,  betrifft  bie  2Raß*&ngelegen» 
feiten,  ®ie  fpradj  ben  SBunfd)  auß,  baß  nähere  Unterfudmngen 
über  bie  mit  bet  3eit  fyercortretenbe  unb  non  ©eneral  Baecer  an 
cerfdjiebenen  Ptaßftäben  entbecfte  Berdnberlidifeit  bet  sHußbelj* 
nungS»©oefficenten  angefteüt  unb  in  ©uropa  ein  unb  baffelbe 
9ftaß=  unb  ©ewidjtßfpftem  eingefüfyrt  werben  möchte.  Unter  ben 
möglidjer  SBeije  in  Betragt  fommenben  ®laß=©inl)eiten  habe 
baß  Pieter  bie  größte  SBafyrfdjeinlidjfeit  ber  änna^tne  für  fidj, 
unb  beßljalb  fei  eß  wünfdjenßwertlj,  baß  ein  neueß  europäifdbeß 
fftormaUÜReter  fyergeftedt  unb  gu  biefem  3»edEe  ein  internatio* 
naleß  europäifdbeß  Büteau  für  Piaße  unb  ©ewidjte  gegrünbet 
werbe. 

3n  geige  biefer  Äunbgebung  Ijat  ©eneral  Baeper  für  baß 
©entralbüreau  nad?  ©teintyeilß,  beß  genialen  Phlndjener  Pfyp* 
fiferß  Angabe  einen  neuen  ©omparater  anfertigen  unb  nad)  beffen 
Bollenbung  eine  fReilfe  con  Piaßftäben  mit  ber  Beffelfdjen  Seife 
eergleidsen  laffen,  barunter  mehrere  Pleter*©täbe  oon  ©laß,  weldfje 
auß  bet  medjauifdjen  Dfficin  con  ©teinljeil  ßercorgegangen  finb. 
55ie  Beffelfdje  Seife  ift  1823  non  gortin  in  Pariß  cerfertiget 
unb  con  Slrago  unb  3<trtmann  mit  bet  Seife  du  Perou  cer* 
glidjeu  worben  unb  wirb  auf  ber  ©ternwarte  con  Äönigßbetg 
aufbewaljrt 1 *).  55a  bie  Soife  con  Peru  gegenwärtig  unbraud)bar 
unb  aud)  baS  parifer  9?ormal=Pteter  (metre  des  archives), 
weldjeß  anß  piatina  befielt,  nid?t  gang  uncerfefyrt  fein  feil,  fo 
ift  bie  Beffelfdjc  Soife  alö  ein  Urmaß'4)  gu  betrachten,  uub 
bie  mit  il)t  rergltcbenen  ÜJieterftäbe  werben  ein  SDiittel  bieten,  um 
bie  Sänge  beß  neuen  Pleterß,  weldjeß  bie  ingwifchen  in  pariß 
inß  Seben  getretene  internationale  Pieter  = Äemmijfion  tjerfteden 

(758) 


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33 


»irb,  ju  unterfucben  imb  feftguftellen,  wie  weit  baffelbe  mit  bet 
Sange  beS  legalen  SJieterS  oon  443-296  ^arifer  Sinien  überein* 
ftimmt. 

25ie  {frage  wegen  ber  Sängen«!?lenberung  bet  SDftahftäbe  hat 
noch  nic^t  beantwortet  werben  fönnen.  3m  ftdEjerften  würbe  eS 
nach  ter  Slnftdjt  beS  ©eneralS  SBaeper  {ein,  ©runblinien,  welche 
bereits  früher  gemeffen  worben  finb,  aufs  {Reue  unb  mit  ben* 
{eiben  SRehftangen  nachgumeffeu,  wobei  man  bloß  auf  bie  Heraus* 
fefjung  angewiefen  wäre,  bah  bie  Sänge  ber  ©runblinie  im  Saufe 
ber  3eit  unoeränbert  biefelbe  geblieben  ift,  was  wohl  mit  «Sicher* 
heit  angunehmen  ift,  wenn  nicht  ingwiidjen  (Srberfdhütterungen 
ober  böswillige  SBetfdjiebungen  ber  (änbpunfte  »orgefommen  finb. 

lieber  bie  §eft{e£ung  eines  allgemeiuen  {RuflpunfteS  für 
nicellitifche  Arbeiten  ift  man  webet  in  biefer  gweiten  noch  in 
ben  barauf  folgenben  Conferengen  fchlüffig  geworben,  obfdjon 
biefer  $)unft  oon  größer  SBichtigfeit  ift,  inbem  eS  feftfteht,  baf} 
bie  9Reere$flächen  nicht  überall  gleich  1?°$  liegen-  {Rad}  ben 
frangöftl'chen  {RioeßementS  liegt  baS  SRittelw  affet  beS  ÜJteereS  bei 
SUtarfeiUe  um  1*022  2R.  tiefer  als  baS  beS  atlantifdjen  CceauS 
bei  Sßrcft 1 s),  unb  aus  bem  Stnfc^Iuffe  ber  beutfchen  ©rabmef* 
fung8»{Rbeflement8  au  jene  frangöfifchen  hat  fid?  ergeben,  bah 
erftereS  um  1-0917  3R.  tiefer  liegt,  als  bie  Dftfee  bei  Swine* 
münbe'6).  SDaS  SRittelmeer  {cheint  überhaupt  tiefet  als  äße 
anberen  Europa  befpülenbeu  SDieere  gu  liegen,  fo  bah  man  eS 
für  3we<fmähig  hallen  fönnte,  als  {Rormalfiäche  ben  mittleren 
Söafferftanb  beffelbeu  an  einem  beftimmten  {Pnnfte,  3.  33. 
bei  SRarfeifle  angunehmen,  wie  bereits  »on  ©eiten  ffranfreidjS 
gefchehen  ift.  Slßeiu  in  (Jtwägung,  bah  für  baS  23effel{d}e  @rb* 
(§ßip{oib  ber  mittlere  Sßafferftanb  ber  Dftfec  bei  ©winemünbe 
als  {Rormalfiäche  bient,  bürfte  hoch  rcohl  biefem  leiteten  ber 
33orgug  gebühren. 

XL  25g.  3 fr  59) 


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34 


SBir  ßaben  gefeßen,  baß  eg  big  jeßt  noch  nicht  gelungen  ift, 
für  bie  ©eftalt  ber  ©rbe  ein  fRotation8*@tlig?foib  aufgufinben, 
welches  mit  allen  an  ben  ueridjiebenften  Orten  auggefüßrten 
SRefjungen  im  ©inflange  ftänbe,  baß  and)  burcß  bie  2lnnaßme 
eines  breiajrigen  ©Qipfoibg  bie  SBibetfprücße  nicßt  befeitigt  wer» 
ben,  fo  baß  man  fcßließlicß  gu  erfterem  gurücfgefeßrt  ift.  9Ran 
ßat  nunmehr  bie  Uebergeugung  gewonnen,  baß  bie  ©rbe,  abge* 
jeßen  oon  ber  burcß  bie  ©ebirge  unb  Scaler  oerurfacßten  Uu* 
tegelmäßigfeit  in  bet  ©eftalt,  fein  regelmäßiger  Äörper  ift.  ©cßon 
Seffel  ßat  ftc^  baßin  geäußert,  baß  felbft  bann,  wenn  bie  ©rbe 
fein  geftlanb  ßätte,  fonbern  über  unb  über  mit  eiuem  abfolut 
rußigen  SReere  bebecft  wäre,  ißre  Oberfläcße  feine  regelmäßige 
©eftalt  ßaben  würbe,  baß  »ielmeßr  eine  folcße  rein  ibeal  fei.  ?ür 
jene  tßatfäcßlicße  Oberfläche  ber  ©rbe,  oon  welcher  bie  be8  OceanS 
einen  £ßeil  hübet,  ift  in  neuerer  3«t  bie  Benennung  ©eoib 
in  33or|cßlag  gebracht  werben,  für  bie  ibeale  bagegen,  für  welche 
fieß  ein  einfacher  matßematifcßer  SuSbrucf  auffteüen  läßt,  wag 
aueß  meßrfaeß  oerfueßt  worben  ift,  bie  Benennung  ©pßäroib  1 7). 

^Demgemäß  ift  bie  Aufgabe  ber  gegenwärtigen  ©rabmeffung 
eine  hoppelte,  nämlicß  erftenS,  biejenige  ibeale  ©eftalt  feftgufteüen, 
welcße  fieß  ber  tßatfäcßlichen,  bem  ©eoib  am  beften  anfcßließt  unb 
gweitenS  bie  SäuSfcßreitungen  be8  leiteten  in  Segug  auf  bie  ibeale 
©eftalt  gu  unterfueßen.  ©ie  'luflöfung  beS  erften  ©ßeilg  biefer 
Aufgabe  geßt  bei  bet  in  allen  Üänberu  ©uropa'  g ßertfeßenben 
eiufigen  Jßätigfeit  in  nicht  ferner  ißrer  Soüenbung  ent* 
gegen,  ©er  gweite  2ßeil  bagegen  bietet  fo  reicßlicßen  ©tojf,  baß 
ein  SObfcßluß  ber  Slrbeiteu  nießt  abgujeßen  ift. 

©8  werben  fieß  immer  unb  immer  neue  ©efießtspunfte  er* 
geben,  welcße  gu  neuen  Unterfucßungen  aufforbern  werben.  21uS 
biefem  ©runbe  ßat  bie  ^reußiieße  ®taat8=5Regierung  ein  perma* 
nenteg  Snftitnt,  baß  geobätijeße,  gefeßaffen,  welches  bie  Ar* 

(760) 


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35 


beiten  beö  ©entralbüreauS  bet  europäifcben  ©rabmeffung  auS* 
fiteren,  nnb  wenn  biefe  beenbet  fein  werben,  eine  fPftanäfdnile 
für  ©eebäfie  unb  bie  mit  berfelben  nerwanbten  SBiffenfdjaften 
fein  feil.  Seine  ^auf3t*9tufgabe  ift  in  erfter  8inie  bie  fpftema* 
tifcbe  9lu8bilbung  junger  Scanner  in  bet  Ijcfyeren  ©eebäfie ; ferner  feil 
baffelbe  neue  J^eorien  unb  fRedfynunggmetljoben  prüfen  unb  felbft 
auf  bie  33ertoHfommnung  bet  norhanbenen  Sebacht  nehmen,  Un= 
terfuchungen  über  bie  ^hbfif  ber  @tbe  anftellen,  3.  5B.  über  bie 
Sntenfität  unb  fRidjtung  ber  2 cb  Werftaft,  über  ben  ©rbmag* 
netiSmuS,  über  terreftrifebe  Strahlenbrechung,  über  ben  mittleren 
SBafferftanb  ber  Sfteere,  über  bie  3lenberung  bet  2lu8behnung8* 
©oefficienten  u.  f.  w. 

©8  bleibt  jetjt  ned)  übrig,  einen  Uebetblicf  über  ben  gegen« 
wärtigen  Stanb  ber  europäifd^en  ©rabmeffung  gu  geben,  unb  ju 
bem  3werfe  fcU  bargelegt  werben,  wa8  bi8  jef3t  in  ben  eingelnett 
8änbern  unfere8  ©rbtheilS  gefcf>e^en  ift.  3 d)  beginne  mit  ber 
SBefprechung  ber  ®rabmeffung8<?lrbeiten  im  beutfdjen  Sfteid^e  unb 
lege  gut  ©rleidjterung  beö  UebetbÜcfS  aufjerbem  eine  Ueberficbt8= 
farte  oor,  auf  welcher  alle  bi8  je$t  ausgeführten  beutfdjen  unb 
ein  $beil  ber  cfterreidjifchen  fUteffungen  graphiüb  bargeftetlt  finb. 

25ie  Slriangulaticnen  im  beutfdjen  Reiche  ftnb  3um  Stheil 
fdjen  rer  SBeginn  ber  europäilchen  ©rabmeffung  auSgeführt  war* 
ben,  wie  3.  SB.  1)  bie  ©rabmeffung  in  Dftyreufjen,  non  S3effel 
unb  33aener,  2)  bie  Äüftenuermeffung,  nom  Äönigl.  $)reufj.  ®e* 
neralftabe  unter  93aener8  Leitung,  welche  nen  ber  SSeidjfelmün« 
bung  nach  ber  Dbermünbung  unb  barüber  IjirtauS  einerseits  bis 
üftbetf,  anbernfeitS  bis  föerün  fuhrt,  3)  bie  fßetbinbungen  ber 
^reufeifdjen  unb  SRuffifcben  SDreiedSfetten  bei  Sh01*!  nnb  $at» 
nowij},  ebenfalls  »om  Äonigl.  §)reuf).  ©eneralftabe  unter  SaecerS 
Leitung,  4)  eine  SSerbinbung  gwijdjen  33erltn  unb  ben  weftlichen 
©reieefen  non  ÜRecflenburg  auch  ned?  nom  ^>reu%ifc^en  ©eneral« 

3*  (T61) 


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36 


ftabe  unter  Söaeperß  Leitung,  5)  bie  .Ipauptbreiecfßfetten  bet  $>reu* 
fjifchen  hanbeßtriangulation  öftlid)  Bon  bet  Sßeichfel  unb  gwifdben 
äßeichfel  unb  SDber,  6)  bie  ^annccerfd^e  ©rabmeffung  non  ©aujj, 
7)  bie  33aperifd)e  ganbeßoermeffung  non  ber  £önigl.  ©teuer* 
Gataftet=Gommifficn  in  @emeinfd)aft  mit  bem  topegrapfyitd^eu 
©üreau  beö  Äönigl.  33aperifd)en  ©enernlftabcß,  7)  bie  Triangu* 
lation  »on  SJtecflenburg. 

Uteumeff  ungen  im  ©cbiete  fceß  beutfchen  Weidjeß  finb:  1)  eine 

2) reiecfßfette  bc§  geobätifchen  3nftitutß  non  ^Berlin  biß  an  ben 
Taunuß,  welche  noch  nicht  x?eröffentlid)t  ift,  2)  bie  erft  gum  Tljeil 
Beroffentlichte  55reiecfßfette  beffelben  3nftitutß,  welche  fid>  an  bie 
b orige  anfchliefjt  unb  burd)  23aben  unb  ben  ©Ifafc  biß  an  bie 
Schweiger  55reiecfe  ^inabfü^rt , iubem  bie  ©abenfchen  ©rab* 
meffungß=iKrbeiten  Bon  ber  ®ro§l)ergoglich  33abeuf<hcn  ^Regierung 
bem  fPreuhifdjen  geobätifdjen  3nftitute  übertragen  worben  ftnb, 

3)  bie  f<hleßwig:l)Dlfteinfcben  ©reiecfe  bet  fpreufjifchen  Sanbeß* 
triangulation,  4)  bie  märfifch'fdjlefifdje  .Rette  ber  9>teuf?ifchen 
Sanbeßnermeffung  gwifcljen  ^Berlin  unb  Sreßlau,  5)  bie  idjlefifch* 
pofenfche  Äette  berfelben  53chörbe,  6)  bie  Triangulation  beß 
Äonigreichß  ©achfen,  welche  noch  nicht  nerfffentlicht  ift. 

JDie  gu  biefen  Triangulationen  gehörenben  ©runblinien  ftnb 
folgenbe:  bie  Jtßnigßberger  Bon  23effel  unb  SSaeper  gemeffen,  2)  bie 
^Berliner  Bom  9>reu§.  ©eneralftabe  unter  SBaeperß  Leitung,  3)  bie 
fdileftfihe  ebenfallß  unter  ©aeperß  Leitung,  4)  bie  ©rcfeenhainet 
unter  Leitung  Bon  SBtuhnß  unb  Sftagel,  5)  bie  SBraafet,  früher 
Bon  ©chumacher  unb  neuerbings  Bon  ber  fPreufjifchen  Sanbeß* 
Bermeffung,  6)  bie  33onner  Born  preuhitchen  ©eneralftabe  unter 
ÜBaeperß  Leitung,  7)  bie  rbeinbaperifche  gwifchen  ©peper  unb 
£>ggerßheim,  8)  bie  fränfifche  bei  SRürnberg  uub  9)  bie  altbape» 
rifche  bei  üRüncben. 

(7«2) 


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37 


3n  SBetxcff  bet  sablreicben  aftronomijeben  fünfte  unb  bet 
SRioeHementS  weife  id)  auf  bie  beiliegenbe  Äarte  bin. 

@8  folgen  jefct  noch  bie  Slrbeiten,  reelle  außerhalb  bei 
beutfdjett  SReidjeS  auSgeführt  worben  finb. 

Belgien  Ijat  ein  fettiges  ©reiecfSnef}  mit  2 ©runblinien 
bei  Semmel  unb  Dftenbe,  nnb  3 afttonomifdjen  fünften.  Sfti; 
»ellementS  ftnb  nod)  nicht  »ercffentlicbt. 

©änematf  bat  eine  ooüftänbig  für  fid)  abgefcbloffene  ©rab* 
meffung,  welche  non  ©cbumacber  begonnen  |unb  uuter  Seitung 
beö  GtatSratbS  Slnbrä  in  Äopenbagen,  einem  ber  elften  jetjt 
lebenben  ©eobäten  fortgefefjt  worben  ift.  ©ie  ©reieefe  betfelben 
fcbliefjen  ficb  im  ©üben  an  bie  beutfdjen  unb  im  SRorben  an  bie 
febwebifeben  an,  ftütjen  ficb  auf  2 ©runbUnien,  bie  alte  Sraacfet 
unb  bie  jfopenbagener  unb  enthalten  bie  aftronomifcb  beftimmten 
fünfte  .Kopenhagen,  Spfabbet,  Altona  unb  Sauenburg.  ©et  erfte 
unb  jweite  33anb  ift  bereits  oeröffentlicbt  unb  bet  ©ruef  beS 
btitten  unb  lebten  23anbe§  wirb  bereits  norbereitet. 

©nglanb  bat  ftcb  swar  nicht  an  bet  europätfeben  ©rab* 
meffung  beteiliget,  aber  feine  fdjon  »orber  gelieferten  unb  be= 
reitS  befprodjenen  Arbeiten  bieten  für  biefelbe  ein  ^ödjft  wertb»elle3 
SJlaterial. 

3n  granfrei  d),  welches  bie  berühmte  ©rabmeffnng  gwi» 
fdjen  ©ünfireben  unb  gormentera  geliefert  bat,  ift  feitbem  ein 
nioeHitifcbeS,  baS  gange  Sanb  übetfpannenbeS  9 Re£  ^ergefteßt 
worben,  welches  an  ©üte  ben  neuen  ^)täcifionS'9lioeHementS  in 
ben  übrigen  Sänberu  gleicbfommt.  Ülufeerbem  ftnb  in  ber  9Reu* 
geit  einige  telegraphische  Sängenbeftimmungen  unb  aftronomifebe 
SER  eff  un  gen  auSgeführt  worben.  Ueberhaupt  ift  in  biefem  Sanbe 
ein  reges  3ntereffe  an  ber  je^igen  ©rabmeffung  erwart. 

3n  3talien  ift  eine  neue  Triangulation  begonnen  unb  oon 
©icilien  bis  SÄpulien  geführt  worben.  @ie  enthalt  bis  je$t  5 

(763) 


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38 


neue  ©runblinien  unb  tft  in  2 ©egenben  übet  bat)  abriatifdje 
5Jteer  hinüber  mit  ben  öfterreidjijdfyen  ©reiecfen  in  ©almatien 
»erbunben,  inbem  gwifd)en  giffa  unb  Tremiti  unb  weiter  füblidb 
gmifdjen  (Sorfu  unb  ber  ^roning  D traute  non  ben  italienijdjen 
unb  öfterreidbifdben  ©eobäten  gemeinsam  SBinfelmeffungen  au§= 
geführt  worben  finb.  2lud)  finb  gasreiche  aftronomifebe  ÜRef= 
fungen  unb  einige  telegrap^ifc^c  öeftimmungen  »oOgogen  worben. 

De  ft  erreich  befifjt  ein  ©reiedfünefc,  welches  baS  gange  JReidj 
bebedft,  im  Sitben  bis  Albanien  binabfteigt,  10  ©runblinien 
enthält,  fid}  an  alle  Triangulationen  ber  9tad)barlänber  anfdjliefjt 
unb  fe^r  halb  oollenbet  fein  wirb.  9lucb  finb  gafylreidje  aftrono* 
mifc^e  unb  teleg rap^ifr^e  8ängen«33eftimmungen  auögefübrt  nnb 
niüetlitiftfje  Arbeiten  begonnen  worben. 

3n  Portugal  ift  bie  Jpälfte  bet  für  bie  Triangulationen 
erforberlicben  Söinfelmeffungen  oollenbet.  iSftronomifcb  beftimmt 
finb  6 (Stationen,  ©ie  alte  noch  mit  b^J^nen  3Jtefjftangen  ge* 
nteffene  ©runblinie  wirb  eine  Steumeffung  mit  einem  neuen 
Apparate  erfahren. 

3n  fftufjlanb  gieljt  fidj  bie  oon  SB.  Strune  gelegte  ©reiecfS» 
fette  beS  Are  du  meridien  oon  ber  Sötünbung  ber  ©onau  bis 
nach  bem  ©iömeere  b»n  unk  enthalt  250  ©reieefe  mit  10  ©runb* 
linien  unb  13  aftronomifd)  beftimmten  fünften,  ©er  Are  du 
parallele  Europöen  bet  Struoefcben  fldngengrabmeffung  enthalt 
auf  rnfftfebem  23 oben  290  Triangel  mit  8 ©runblinien  unb  9 
aftronoraifdben  fünften.  Slufjerbem  giebt  ftdE>  in  ber  SBreite  oon 
47£  ©rab  eine  Äette  oon  Äidjenef  (weftlicb  »on  Dbeffa)  bis 
Slftradjau  bin,  wrldje  179  ©reieefe  unb  2 ©runblinien  enthält, 
©nblicb  wirb  ba8  Aföttigreidj  sJ)olen  oon  mehreren  ©reiecfSfetten 
bebeeft,  welche  fich  an  bie  öfterreiebifeben  unb  preuhifdjen  ©reieefe 
anfdjlicfjen. 

Schweben  unb  (Norwegen  hflken  gwei  mit  einanber 

(764) 


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39 


parallele  unb  Don  9lorb  nach  ©üb  laufenbe  betten,  wclt^c  fidj 
im  9Zotben  bei  ©otneä  an  baß  rufftfche  91ef5  unb  im  ©üben 
an  baß  bänifche  anfcfjlie&en , aber  noch  nid?!  gang  ootlenbet  finb. 
©ie  werben  buttfj  eine  Don  ©tocfljolm  über  ©hriftiania  nadf 
bergen  laufenbe  Duerfette  mit  einanber  Derbunben  unb  ent» 
galten  6 ©runblinien.  Üelegraphifche  Sängenbeftimmungen  ftnb 
gwifchen  ©tocfholm  unb  ß^riftiania,  Sunb  unb  S3erlin  außge* 
füljtt  worben. 

©ie  Schweig  befifct  ein  bereits  Dollenbeteß,  aber  noch  rtic^t 
DeröjfentlicbteS  9ie^  Don  32  ©reiecfen.  Stuf  8 fünften  ftnb 
Slgimuth,  Sange,  $PoU)61)e  unb  §>enbellänge  beftimmt  worben, 
©aß  nioellitifche  9lefj  ift  über  baß  gange  Sattb  außgebreitet  unb 
fd)lie§t  fi<h  an  alle  Üiadjbarftaaten  an.  ©ie  Don  ber  ©djweig 
balb  bei  SBeginn  ber  eurcpäifdjen  ©rabmeffung  befunbete  emftge 
Sthatigfeit  t)at  wefentiich  bagu  beigetragen,  bafj  balb  auch  in 
anberen  ©taaten  ein  regeß  3ntereffe  für  biejeß  Unternehmen  et» 
wachte. 

3n  Spanien  ift  ein  ©reiecfßnefj  über  baß  gange  Sanb 
außgebreitet.  33iß  je§t  finb  auf  362  ©reiecfßpunften  erfter  Drb« 
nung  bie  SSinfel  gemeffen  werben,  ©runblinien  finb  gwar  nur 
2,  bei  fölabribejoß,  füblich  Don  ÜJtabrib,  unb  bei  Sugo  im  notb» 
weftlidjen  Steile  beß  Sanbeß  norhanben,  bafür  ift  aber  Die  erftere 
unter  allen  irgenb  wo  gemeffenen  bie  längfte  (14£  Äilom.)  unb 
genauefte.  ©in  S'iiDellementßgug,  welker  mehrere  $)olpgone  unb 
2500  Seftpunfte  enthält,  geht  quer  burd}  bie  spalbiufel.  9)olhölje 
uttb  Slgimuth  ift  auf  5 fünften  gemeffen  worben.  31  n ber 
©pifje  ber  fpanifchen  ©rabmeffungß=Slrbeiten  fteht  ber  ©eneral 
3baneg,  ber  gegenwärtige  $)räfibeitt  ber  permanenten  ©ommiffion 
bet  europäischen  ©rabmeffung18). 

SSuß  bem  Sillen  geht  heroor,  bafj  bie  praftifchen  Arbeiten 
ber  eutopäifchen  ©rabmeffung  ihrer  balbigen  Sßollenbung  ent» 

(7  65) 


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40 


gegenfehen,  unb  eä  ift  gu  fyoffen,  baß  bie  ^Berechnungen  bereiten 
in  gleich  erfreulicher  Seife  fortfd)  reiten  »erben.  2) er  ©ettinn, 
ben  biefeS  großartige  Unternehmen  liefern  »itb  unb  fdjon  jeßt 
liefert,  befteht  aber  nicht  bloS  batin,  baß  über  bie  ©eftalt  unb 
©röße  ber  ©rbe  nerfchärfte  SRefultate  herootgehen  »erben,  fon» 
bern  auch,  ein  allgemeines  Sntereffe  am  ©tubium  ber 
beS  (SrbförperS  erwacht  ift,  inbem  bie  hierauf  begüglichen  Unter» 
fudjungen  faft  in  allen  8änbetn  unferS  ©rbtheilS  begonnen  haben. 


(766) 


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41 


3(nmcr  hingen. 


1)  (Die  im  Altertpume  au«gefüprten  ©rabmeffungen  »erben  au«, 
füprlicp  bef  proeben  in  ber  Schrift  Bon  Dr.  Sorenj  p o i ep : .©ejebiepte 
unb  ©pftem  ber  SBreitengrabmeffungen.  gregfing  1860.*  Sie  Quellen« 
fepriften  für  bie  jpäteren  ©rabmeffungSarbeiten  bi«  in  bie  neuefte  3«it 
»erben  in  ber  publifation  be«  geobeetifepen  Snftitut«  angegeben,  welche 
unter  bem  Xitel : ,3ufammcnfte(iung  ber  Literatur  ber  ©rabmeffung«» 
arbeiten,  SBerlin  1876*  erf (bienen  ift. 

2)  Eratosthenes  Batavus  de  terrae  ambitus  vera  quantitate 
a Willebrordo  Snellio.  Lugduni  Batavorum  MDCXVII.  3$on 
SSJluf c^enbroef  umgearbeitet  finbet  fiep  biefe  Schrift  in:  „Physicae 
experimentales  et  geometricae  dissertationes  etc.  Leyden  1729.“ 

3)  lieber  bie  Anbringung  be«  gemrobr«  giebt  juerft  ÜJlcrin  (Sci- 
entia  longitudinum,  1634)  fftaepriept.  — ©rfinber  be«  gabenfreuäe«  mar 
ber  ©nglänber  @a«c eigne  (Philosoph.  Transact.  XXX.  603). 

4)  Siefem  Uebelftanbe  fuc^te  man  burep  $erabfepung  ber  9lormal« 
temperatur  abjupelfen,  inbem  f pater  gefegliep  feftgeftetlt  würbe,  tag  ba« 
auf  ©runb  ber  Borläufigen  SBeftimmung  angefertigte  unb  au«  platina 
beftepenbe  9tormal«  HJteter  (metre  des  archives),  bei  0°C  genommen, 
bie  Sänge  Bon  443-296  Sinicn  ber  864  Sinien  entpaltenben  Stoffe  Bon 
Peru  bei  13°  R (mittlere  SSBärme  bei  ben  S3afi«meff  ungen  auf  ben  £ocp. 
ebenen  non  Quito)  Ijaben  fotlte,  unb  biefe  Sänge  Würbe  ba«  legale 
Pieter  genannt.  (93ergl.  Delambre  et  Mechain.  Base  du  Sy- 
steme metrique  decimal.  Paris  1806 — 1810.  III.  135 — 139).  Aber 
auefj  tu  rep  biefe  erfünftelte  äieftimmung  ift  ber  3»ecf  niept  erreicht 
»orten;  ta«  legale  Pieter  ift  niept  ber  jepnmillicnte  Xpeil  be«  (Srb* 

XI.  2 SS.  4 (767) 


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42 


quabranten,  fentern  btcfcr  enthält  nacfc  95ef  f e I’d  SeftfteÜung  5131179-81 1 
Steifen,  ober,  mit  ber  für  bie  ffänge  beb  legalen  SJleterb  foeben  ange* 
gebenen  rebucirt,  10000855-76  Bieter,  fo  baß  bie  neue  9Jlaß*(5in» 
heit  um  nafe  */io  SWülimeter  ju  für}  ift. 

5)  SDicfe  3 ®rabmcffungb*Slrbeiten  fmb  in  fclgenben  SBerfen  »er» 
cjfentlitht: 

Andrae,  Den  danske  Gradmaaling.  Vanb  1 unb  2 fmb  fce* 
reitb  erftbienen,  ber  britte  wirb  }um  SDrucfe  »orbereitet. 

W.  Struve,  Are  du  meridieu  de  25°  20'  entre  le  Dauube  et 
la  mer  glaciale  etc.  St.  Petersburg  1860. 

SBeffel  unb  SO a et? er,  ©rabmeffung  in  Dftpreußen  unb  ihre  23er» 
binbung  mit  preußifeben  unb  ruffifeben  2>rciecfbfettcn.  Berlin  1838. 

6)  3.  3-  Söaeper,  lieber  bie  gigur  unb  ©reffe  ber  ©rte.  Söerlin 
1861.  ©eite  15. 

7)  3n  'Dietermaß  umgcwantelt  ift  nach  SBeffel: 

2)ie  halbe  große  Sire  a = 6877307*16  'Dieter 

bie  halbe  fleine  Sipe  b = 6356078-96  , 

ber  Quabrant  beb  Slequaterb  = 1001759-20  , 

ber  £}uabrant  eineb  Dleribianb  = 10000855-76  , 

8)  Brosseaud,  Mesure  d’un  arc  du  parallele  uioyen 
Limoges.  1839. 

9)  £Die  l!ängenbiffercn}en  een  ©reenwid?  bi«  ©aratcw  frnben  ftch 
im  ©eneral-SBerichte  ber  europäifthen  ©rabmeffung  für  1871,  ©.  47 — 49. 

10)  Slubführlid)  behanbelt  teirb  tiefer  ©egenftanb  in  ten  .Unter» 
futfjungen  über  tie  ©eftalt  unb  @rüße  ber  ©rbe  »on  fh-  g<f<h<r- 
Sarmftabt  1868.* 

11)  Söeritbt  über  bie  Ükrbanblungen  ber  am  21.  bis  30.  ©eptember 
1871  ju  älüett  abgehaltenen  britten  allgemeinen  ©onferenj  ber  europäi» 
fct>en  ©rabmeffung.  söerlin  bei  SKeimer,  1872. 

12)  ©inen  Ueberblicf  über  tiefe  intereffanten  ©rfttjeinungen  im 
$arje  giebt  bie  ter  f ublicatien  beb  geobätifeben  3nftitutb  ,21'trcncmifih» 
geobatifebe  Arbeiten  im  3ah«  1875*  beigegebene  ßarte. 

13)  Sie  23effel’f^e  Seife  ift  ein  recbtwinfelig  pri«matifd>er  ©tab, 

aub  weichem  ©ifen  mit  fenfrec^t  gegen  bie  Sire  abgefchnittencn  ©ntfladien, 
19-34  ?inien  breit  unb  4 5 Linien  tief.  3h«  ?üngc  beträgt 

natb  ber  »on  Slrago  unb  3ah*tmann  mit  ber  Seife  »cn  ^)eru  bei 
13°  R aubgeführten  Vergleichung  863-9992  Sinien,  beren  Jene  genau 
864  enthält. 

(7fiS) 


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43 


14)  (Sin  jweiteS  folcbeS  tlrmaafj,  nümlid)  eine  ebenfalls  Pen  § er  t in 
angefertigte  Steife,  wirb  in  (Dorpat  aufbewabrt. 

15)  Nivellement  de  la  France.  Bourges  1864.  I,  568. 

16)  2)aS  SPräcifions-SHipellement , auSgefüfyrt  Pen  bem  geebatifc^en 
Snftitute.  (Srfter  ©anb.  (Berlin  bei  Stanfiewicj.  Seite  117. 

17)  Siel;e  3.  23.  Sifting:  Ueber  unjere  fejjige  Äenntnifj  ber  ©e» 
ftalt  unb  ©reffe  ber  (Srbc.  ©öttingen  1872.  Seite  9. 

18)  lieber  bie  allgemein  anerfannte  SBortrerflicbleit  ber  jpanijeben 
Slrbeiten  fpriept  fidj  ber  portugiefifebe  (Sommiffar  'Pe reira  ba  Silca 
in  bem  ©eneratberidjte  für  1875  auf  Seite  205  alfo  auS:  „Sur  ces 
entrefaites  l’Espagne,  aotre  voisine,  commencait  ses  gigantesques 
travaux  geodesiques,  qui,  quoique  inacheves  encore,  constituent 
dejä  par  leur  qualite  et  leur  perfection  une  des  merveilles  de  la 
Sciences.“ 

19)  Hingabe  bcS  Nivellement  de  la  France,  weltbeS  auf  (Befehl 
beS  ministere  de  l’agriculture  etc.  auSgefüfyrt  unb  in  ©curgeS  1864 
Beröffentlicbt  worbeu  ift.  SDaffelbe  giebt  eine  ganje  Oieibe  Pen  mittleren 
SBafferftänben  auf  baS  ©iittelwaffer  bei  SDlarfeiQe  bezogen,  j.  8.: 

3m  fUlittelmeere  3m  atlant.  iDcean 

©ei  9li$$a  - 0 056  9J1.  ©ei  ©anonne  + 0-856  ÜJl. 

„ Stoulen  - 0-039  , , SDieppe  + 0 659  , 

, (Sette  + 0-013  „.  , St.  Ola^aire  + 0-747  , 

, Slgbe  + 0-114  , , Hericnt  + 0-990  , 

, Ha  OlcupeUe  + 0-108  „ 

3m  Äanale 

©ei  (Dunferque  + 0-776  3)i. 

, (SalaiS  + 0-753  „ 

„ ©eulcgne  + 0-863  , 

„ St  Sülale  + 0 945  , 


©eritptigungen. 

Seite  5,  3eile  10  Ben  unten  ftatt  31. *07  foÜ  eS  beigen  31*39. 
Seite  14,  3eile  5 Pen  unten  hinter  „ftnb*  ift  „bie"  ju  [treiben. 

(76») 

®ni4  Bon  ®t6r.  Ung*t  (16.  ®rimtn)  ln  Cerlin,  ®(6öne6«tgftfh.  17». 


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unfc 


kr  $km  kr  4»ft«r 

in  Gelten*  uitb  Otcmerjeit 


33on 

Dr.  g.  ^n^n$. 


9Jiit  einer  Äarte  be«  SRfyeintfjaleä. 


ßcrlin  SW.  1376. 

33  e r l a g cott  6arl  a b e l. 

(£.  t£.  i'üärriti'iijt  B;;iggslmi|^on5;ii!ig.) 

33.  ®ilb«lm  • $tn§«  33. 


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2>a3  9icd)t  btr  Ucbcrfc^ung  in  frcmbc  ©praßen  »irb  »orfc^altcn. 


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w t r o m unb  SDR  e n f <h ! Sinnenb  betrautet  bag  SDRenfdjen» 
finb  am  ©eftabe  ber  blauen  Stromwogen  bie  Bluthen:  woher 
fommen  fie,  wohin  eilen  fte?  — 3n  ber  Bewegung,  ber  nie 
raftenben,  bie  ba8  SEBaffer  unb  ben  SORenfchen  djarafteriftrt,  liegt 
ber  93erglei<hung8punft,  ber  immer  unb  immer  wieber  ben  alten 
Sang  non  bet  Slehnlichfeit  gwifctjen  Blufjlauf  unb  SDRenfchenteben  er* 
neuern  läfst.  3ft  jeboch  biefet  SBergleicb  fdjon  jutrejfenb  für  baä  3nbi* 
Dtbuum,  fo bietet  bie SRebeneinanberfe^ung  con  Strom  unb  Soll 
noch  mehr  bet  Sinologien.  2)ie  Duellen  unb  9Rinnfale  machen  ben 
Blu§  gewaltig,  wie  bie  Äraft  unb  ber  3utritt  be8  ©ingelnen  bie 
©riftenj  be8  93olfe8,  be8  Staates  ermöglichen.  ©rwägt  man  ferner, 
in  wie  weit  bie  SDRöglichfeit  unb  bie  SRidjtung  aQe8  SerfehtS  com 
Strcmlaufe  abhängt,  in  wie  weit  Dom  Jjpanbet  unb  Serleht 
ba8  S)afein  unb  bie  SBohlfahrt  ber  SRation  abhängt,  fo  wirb  bie 
mnthologifche  Steigerung  be8  Stromes  jum  menfchlichen  Silbe, 
unb  bie  uralte  Verehrung  ber  Ströme  als  ©öttet  etflärlich. 
SReben  bie  -JpimmelSgötter:  Sonne  unb  SDRonb  muhte  al8  (5rben* 
gott  guerft  bet  nahrungSfpenbenbe,  lebenbringenbe  Blufegott 
treten. 

Unb  fo  oerehrt  nidjt  nur  ber.  Srahmane  im  ©angeS,  unb 

XL  S59.  1*  (773) 


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4 


bet  Sletbiopier  im  9Rilu8  ben  „heiligen"  ©trem,  au<b  ©uropa 
befi^t  in  bem  ©tromlaufe  be8  5Rb eines  bie  glut,  bie  ber 
©ermane  al8  „Skater  SR^ein"  bereifet,  unb  in  bet  et  bie 
©cblagaber  feines  £eben8pulfe8  erbtieft. 

„©ort  mödjt’  id?  fein,  an  beinen  gluten  möcbt’  idj  fein."  — 
Selber  SPeutfcbe  ljätte  no<b  nicht  begeiftert  biefe  ober  eine  ähnliche 
Stpoftropbe  an  ben  Liebling  ber  eurcpäifdjen  ©ulturmelt  ^inauS* 
gefungen?  SRatürtid^ ! Statut  unb  ©efebiebte,  ©age  unb  9Rptbu8 
haben  bie  reidjften  ©aben  iljreß  §üCt^ornö  über  bie  Sttjeinlanbe 
auögefdjüttet.  Stber  nicht  nur  bie  ragenben  33urgen  unb  bie 
glängenben  2)ome,  bie  golbenen  fRebeugetänbe  unb  ber  lebenbige 
©trom  jie^en  bie  bergen  ber  ©eutfdjen  fyin  gu  jenen  gluren,  e8 
ift  üielme^r  ba8  tief  im  ©eutfcJjen  eingetnurgelte  33etnufjtfein,  bafj 
hier  bie  ftarfen  SBurgeln  feiner  äfraft  Bon  jeher  lagen,  ba8  ihn  fingen 
unb  jagen  lafjt  Born  „heiligen  SSater  IRhein."  jRidjt  wunbern 
barf  e8  un8  beShalb,  baf)  nicht  nur  ber  beutfdje  SDic^ter  nimmer 
fatt  wirb  Born  9R^ein  unb  feiner  ©ebene  3U  fingen,  ba§  nicht 
nur  ber  beutfdje  ÜRalet  nimmer  ermübet  feine  5Rappe  mit  fR^etn» 
ffiggen  gu  füllen,  bafe  nicht  nur  ber  beutfdbe  ©efdjiebtSf Treiber 
unb  fRationalöfonom  immer  non  fReuem  auf  rbeinif^e  SBer^ütt* 
niffe  gurüefgreift,  fonbern  bafj  jabüofe  Sbgefanbte  ber  gangen 
gebilbeten  SBelt  jährlich  feine  Ufer  über  fd)  wem  men,  ba§  feine 
SBellen  gange  ©paaren  Bon  ©ßbnen  9tlbion8  fcbaufeln,  bafj  amb 
ben  ^rangmann  unb  ba8  Äinb  be8  ©itbenö  bie  ftarbetipradjt 
feiner  Ufer  gum  <PurcbtBanbern  anlodft.  68  ift  ber  flaffifcbe 
33oben  6uropa’8  für  ba8  fJRittelalter,  ben  ber  gremb1 
ling  mit  9Reugierbe  unb  Jntereffe  betrachtet.  68  ift  ba8  fRheiw 
tbal  ba8  .jperg  ©uropa’8,  in  ba8  bie  33ölferftröme  Bon  allen 
Himmelsrichtungen  einfluten,  ©uropa,  ba8  h#t  SBelt  &** 
fifjt  feines  ©leidjen  nicht.  — 

(7U) 


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5 


Um  auf  bem  93oben  ber  geographifchen  Sßerhältniffe  biefe 
SSeltbebeutung  ber  0M)einlanbe  ju  begreifen,  faffen  mir  bie  @e* 
ftaltung  beS  geglieberten  (Suropa’S  in’S  Suge.  SDaS  burd} 
©lieberbilbung  entmicflungS*  unb  lebensfähige  (Suropa  reicht  non 
bet  Sübfpifje  Spaniens  bis  ju  einer  Sinie  jtmfchen  Slrdjangel 
unb  Äertfdj.  Bieht  man  eine  Sinie  nom  (5ap  Sßincent  bis  SJioSfau, 
een  9. — 55.  Sängengrabe,  fe  fchneibet  biefe  gerabe  in  ber  SJiitte 
baS  Mheinthal  unb  jwar  in  ber  ©egenb  beS  SOiittelrheinthaleS 
groifchen  Strajjburg  unb  SDtainj.  !Äber  nicht  nur  in  ber  Sänge 
(Suropa’S  bitbet  baS  IRheinthal  ben  SJlittelpunft,  aud^  bie  33 reite 
(Suropa’S  fchneibet  baffelbe.  3ieht  man  zur  Seftimmung  ber 
größten  Sreite  (Surcpa’S  eine  ßinie  com  (Sap  Süzzuto  *)  in 
(Salabrien  bis  zum  (Sap  2Brath  in  Siorbfchottlanb,  fo  liegt  baS 
IRheinthal  genau  im  ©iittelpunfte  biefer  2ljre,  unb  jmar  fchneibet 
fich  bie  23reitenlinie  mit  bet  Sängenlinie  oberhalb  bet  fDiüubung 
beS  StecfarS.  9Jtit  mathemathijch«  ©etoifjheit  ergiebt  fich  barauS 
baS  Siefultat:  baS  Siljeinlanb  bilbet  ben  SDfiittelpunft  (Suropa’S 
unb  i$n>ar  genau  ber  Strich  »on  fDlainj  bis  Strasburg,  ben  mir 
fcpon  non  biefem  Stanbpunfte  auS  als  SDlittelrheinlanb  bezeichnen 
muffen. 

(SS  finb  aber  nidjt  nur  biefe  rein  geemetrifchen  (Srwägungett, 
fonbern  aud?  oto*  nnb  hbbtographifche  ©rünbe,  bie  jut  (Srflärung 
ber  SBeltbebeutung  ber  fRheinlanbe  beitragen.  33ilben  bie  'Älpen 
bie  33afis  unb  baS  Shufgrat  (Suropa’S,  fo  ftrömen  bie  ©emäffet 
beS  SiheinS  oon  bem  (Sentralpunfte  betfelben  auS,  unb  jmat 
unter  einer  foldjen  SBinfelneigung  ber  beiben  «pauptgeroäffer  feines 
DberlaufeS,  ba§  ber  eine  2h«1  betfelben,  ber  SSotbet*  unb 
i^interrhcin,  fich  mit  feinen  Söuellhäuptent  ben  gangbarftcn  $)äffen 
beS  2llpengebirgeS  im  Süben,  bem  St.  ©ottljart  unb  bem 
Splügen  nähert,  ber  anbere  2h«1  betfelben,  bie  3lar  unb  ihr 

(775) 


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6 


Stoffgebiet  eiue  leitete  ©erbinbung  nad)  bem  ©enfetfee  unb  ben 
üRbonelanbeu  gu  ^erfteüt.  9iad?  ©ereinigung  bet  beiben  Jpaupt* 
geroäffer  in  ber  9tälje  bet  entfehiebenen  SBenbung  be«  Stromeö 
nach  9lorben  münbet  in  baS  9t^cint!jal  bie  eine  ber  gwei  grofcea 
natürlichen  s})affagen  ber  ÜRfyeinlanbe  nadjäßeften:  bie  Deffnung 
gwifchen  3D  unb  ©oubS,  baS  SBölfertljot  non  ©eifert,  ©en 
,£>anbel8t>erfeht  in  erfter  Sinie  mufjte  gwifchen  Stbein  unb  9tb°uc 
biefe  ©infenfung  hetoorrufen;  SJtittelbeutfchlanb  unbSübfranftdch, 
bie  Dftfeelänber  unb  baS  SRittelmeer  fanben  Ijier  ihre  natürliche 
©erfehrSftrafje.  ©em  ^pänbler  felgt  bet  Stieget!  ©in  ©orftof) 
aus  Süboften  muffte  tjier  einem  politif<b»geeinigten  SBolfe  ge* 
lingen  gegen  oereingelte  ©ebirgSftämme  am  rechten  CRljeimtfcr.  ©in 
geeinigtes  rechtSrheinifdjeS  ©elf  fann  bagegen  mit  Üeidjtigfeit  bie 
Pforte  beefen.  ©iefen  ©influfi  in  politifcher  ©egiehung,  ber  non  bie* 
fer  fPaffage  in  baS  5Rhdnthal  fich  auSbebnen  mufete , paralifirt  ber 
einer  anbern  greifen  fpaffage,  au  bie  mir  fegleicb  gelangen,  ©cn  ber 
engen  Sugenb  teS  ebern  93iittelrbcintbaleä  gwifchen  ©egefen  unb 
(Scfjwargwalb  erweitert  ficb  baS  (Stremgebiet  gum  gewaltigen 
©ufen  een  SDlaing,  in  ben  beS  ÜJiaineS  breite  ©rücfe  gum  ©ften 
©eutfdjlanbS  feine  fluten  ergießt,  ©ilbet  ber  Strom  een  ©afel 
big  SDfaunbeim  gwei  gleidimäfjig  breite  ©benen  gur  Siechten 
unb  gur  hinten,  beren  ©leichheil  ber  ©eftaltung  baS  lange 
Sdjwanfen  beS  ÄampfeS  gmifeben  Siemcrn  unb  ©ermanen, 
grangefen  unb  ©eutfeben  erflärt,  unb  beren  iSbgefcbteffenbeit 
hier  bie  ©jrifteng  felbftänbiger  JRheinthalftaaten  in’S  Ueben  rief,  fo 
bewirft  ber  ©influff  beS  SiecfarS2)  unb  ber  Austritt  beS  SDiainS 
burch  ben  ©ebirgSriegel  beö  @pe§hart’S,  baf)  ftd?  hier  gu  ©unften 
beö  rechtSrheinifchen  UfetS  eine  weite  ©bene  con  SQiaing  bis 
.£>auau,  »Dn  ^ranffurt  bis  SBormS  entwicfelt.  ©iefe  fruchtbare 
Siefebene  begünftigte  nach  SiuStrocfnung  bcS  (Bee’8,  in  ben  ber 

(778) 


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7 


jejjige  Sötittelrpeih  itt  biefet  ©egenb  einft  münbete,  bie  Anlage 
»on  Stabten  unb  bie  Slnfammlung  einer  ftarfen  öenölferung, 
bie  gefräftigt  eS  pier  in  ber  ©egenb  non  5Öiamtpeim  bis  Sötaing 
am  leicpteften  unternehmen  fonnte,  baS  linfSrt>einifc^e  Ufer  in 
23efifj  gu  nehmen  unb  bie  ®ewalt  ihrer  Saffen  Strom  auf, 
Strom  ab  gu  erproben.  3ebeS  23olf,  baS  non  Dften  fommenb 
bie  rpeinifepen  8anbe  erobern  wollte,  muffte  bei  ber  SBoben* 
geftaltung  beS  füblicpen  2Jlittelrpeinlaube8  not  SUIem  ben  33erfucp 
machen  fiep  in  ben  23efif)  biefeS  ÜJlainger  ©elänbeS  gu  feijen,  um 
non  heraus  mit  nereinten  unb  gereiften  Kräften  feine  ißerftßffe 
non  allen  Seiten  ber  SlngriffSfront  auS  gegen  baS  9tpeintpal  gu 
unternehmen.  (Sin  S3olf,  baS  im  Sefifce  biefer  recptSrpeinifcpen 
©auen  non  £>ften  au$  feine  ^errfepaft  gu  erweitern  fuepte,  war 
burep  feine  Stellung  Bon  Botuperein  gegenüber  einem  gleicpen 
©egnet  auf  bem  Unten  fltpeinufer  begünftigt.  SDiefe  nämlicp 
erlaubte  ipm  auS  bem  |>interlanbe  beS  üflainS,  ben  Scalern  bet 
Äingig,  ber  9iibba,  bet  Setter,  beS  SRecfar’S  ftetß  neue  Scpaaren 
als  SlngriffScolonnen  an  fid)  gu  giepen  unb  fie  übet  ben  Sipein 
Borgufenben.  ©alt  eS  pier  baS  $erg  beS  SipeintpaleS  unb  bamit 
bie  ^errfepaft  in  Europa  gu  erobern,  fo  muffte  ber  (Stöberet 
ftetS  pier  Bon  Steuern  burepgubreepen  Betfucpen.  ©alt  es  baS 
Sipeinlanb  gu  behaupten,  fo  mufften  Bon  einer  linfStpeinifcpen 
Station  pier  bie  grofften  fortificatorifcpen  23efeftigung8=2(nlagen  et* 
rieptet  werben,  einen  möglicpft  ftarfen  $Damm  ben  pier  permanenten 
Sellen  bet  SBölferflutpen  entgegengufefcen.  £>pne  ben  gefieberten 
üöefitj  beS  SltittelrpeintpaleS  war  beSpalb  ftetS  Bom  militärifepen 
unb  panbelSpolitifcpen  Stanbpunfte  auS  bie  .^errfepaft  am  Sipein, 
bie^egemonie  in  (Suropa  unmöglich.  Sagen  wir  in  militärifeper 
uub  panbelSpolitifcper  3?egiepuug,  fo  gepen  wir  Bon  bem 
(StfapruttgSgtunbfafse  auS,  bafj  ein  .jpanbelSweg  unb  eine  Seit* 

(177) 


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8 


fttafte  ohne  militärifchen  Schuft  unb  politifcheö  Sagwifchentreten 
auf  bie  Sauer  nicht  gu  behaupten  ift.  .Rönnen  wir  bie  militärifche 
Sftiou  mit  ber  $hätigfeit  ber  Bibern  oergleichen,  bie  baö  SBlut 
hinauöfenben  gum  Schule  ber  Peripherien,  fo  ben  .£>anbel  mit  ber 
ber  Piuöfeln  unb  Sehnen,  beten  ©efunbheit  unb  Sadjöthum 
in  Sechfelbegiehung  gnr  Shätigfeit  beö  gleidjmäfjig  fräftivg 
roHenben  Pulöfdjlageö  fteht. 

“Die  Balje  unb  ihr  glufcgebiet  ift  »iet  gn  eng  unb  unbebeutenb, 
alö  bafj  fie  einem  baö  linfe  fRheinufer  behaupteten  @robereroolfe 
eine  §ront»  unb  BeferoefteOung  hätte  gewähren  formen.  35er 
.Jjunbörücf  mit  feinen  Salbbergen  bietet  Bortljeile  für  bie  Bet* 
theibiguug,  bodj  muff  biefelbe  eine  rein  örtliche,  ohne  Bütffidjtnahme 
auf  contincntale  93erhältniffe  bleiben.  Bad)  Offen  führt  in  bieten 
tauben  {üblich  bet  Schiefergebirgefette  nur  eine  Paffage,  bie 
natürliche  Strafje  non  Biaing  über  Sllgep  {üblich  beö  Sonneröbergeö 
nach  .Raiferölautern  unb  £Befc.  3)ie  Sichtigfeit  ber  ßnbpunfte 
Ble$  unb  Biaing,  alö  Stüftpunfte  ber  ßuerftrafje  beö  Btittel* 
rfjeintljaleö  an  feiner  widjtigfteu  Stelle,  ber  Scrth  einet 
glanfenftellung  auf  bem  Sonneröberge  geht  jdjon  auö  biefet 
Betrachtung  henwr.  Sehnlichen,  wenn  auch  untergeorbneteren 
Serth  für  bie  militärifdje  Betjerrfchung  beö  BUttelrljeinthaleö 
unb  beö  .panbelöwegeö  non  Seften  nach  Often  befijjen  ade  päffe 
beö  .partgebirgeö,  fo  bie  non  Sürfljeim  , Beuftabt,  Üanbau  :c. 
Sie  waren  bie  eingigen  Sege,  non  benen  auö  Offenfioftöfte 
baö  Blaiutljal  hinauf  bis  nach  Böhmen  hinein  oom  Biittelrhein 
auögehen  fonnten.  Ser  ©ebirgöriegel  gwifdjen  Bingen  unb 
Bonn  fe^te  nicht  nur  einft  bem  Strom  bie  @renge,  auch  ben 
Bölferoetfehr  unterbrach  biefer  natürliche  Sali.  @rft  baö  BajaQen* 
gebiet  bet  Btofel  geftattet  bem  Bljeinlanbe  wieber  mit  bem 
Snnern  beö  ganbeö  in  Berbinbung  gu  treten,  unb  gwar  ift  eö 

(778; 


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9 


bieömal  bie  weftliche  Seite,  bie  biefer  §lufj  aufichlie&t.  Allein 
erftenö  ift  baö  eingefchnittene  ÜRofelthal  gu  jd)mal,  unb  bann 
bie  Hochebenen  ber  (Sifel,  beö  Hochwalbeö  unb  beö  Hunbönnfö 
gu  feinen  ©eiten  gu  rauh  nnb  unwirtlich,  um  an  bent  S)lu$= 
fluffe  ber  ÜRofel  eine  breite  ©ffenfioftellung  gu  ermöglichen.  UJon 
(Sobleng  bis  Syrier  ift  eö  eine  ilinie,  feine  glätte,  bie  längft  bem 
©trome  baö  Snnere  beö  linfötheinifchen  ©chiefergebirggebieteö 
mit  ber  ßperationölinie  beö  fRheinftromö  oerbinbet.  SM  ber  füb» 

lieh  »on  $rier  biö  fDtej}  unb  fRancp  breitet  fich  eine  .Reffellanb« 
fdjaft,  gebilbet  turch  ÜRofel,  ©aar,  ÜReurtlje  unb  Sölieö,  auö, 
bie  parallel  mit  bet  rheinifchen  tlferlanbfchaft  groifdjen  ÜRaing 
unb  ©trajjburg  laufenb  bagu  beftimmt  war,  bie  Üertheibigungö* 
fteQung  bei  einem  SÄngriffe  auf  baö  linföliegenbe  ©tromgebiet 
beö  ÜJiittelrheinö  gu  bilben  unb  anbererfeitö  in  fRefercefteHung 
bie  Gruppen  bereit  gu  galten  gu  einem  SBorftofj  gegen  baö  üRittel» 
theinlanb.  Hier  mußten  gut  Beit  beö  Äampfeö  um  ben 
JRheiu  — unb  bewegt  biefer  nicht  feit  gwei  3ahrtaufenben 
bie  Söeltgefchichte?3)  — ©entralpunfte  wie  $»ier,  ÜRefc,  fRancp 
entftehen.  £Die  Unmittelbarfeit  ber  Dffenfioe  war  jeboch  biefer 
©egenb  »erjagt  im  öegenjafje  gur  ginie  ÜRaing,  SSormö, 
©trafcburg,  unb  alle  Äunft  fann  biefer  Sanbfchaft  unb  biefer 
Stellung  ben  natürlichen  (Sharafter  ber  SBertheibigung  nicht 
nehmen.  üDiefe  SHbgefchloffenheit  beö  ÜRofelbecfenö  mufcte  aufjer» 
bem  bie  geid)tigfeit  ber  fcoötrennung  »om  rheinifchen  SSerbanbe 
»on  pornherein  ermöglichen;  bie  SBertheibigungöfteQung  trägt  ge» 
wohnlich  ben  .Reim  gur  3folirung  in  fich. 

2Bie  im  ©üben  ber  ÜRain  gu  offenfioer  Bewegung  gegen  bie 
JRheinlinie  herauöforbert,  jo  geben,  wenn  auch  im  geringeren  @rabe, 
im  fRorben  bie  $)arallelflüffe  wie  8ahn,  ©ieg,  SSipper,  SRuhr, 
Hippe  bie  natürliche  SBeranlafjung  gur  33efejjung  ber  fRheinebene 

(7T9) 


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10 


burd)  Sorriicfeit  bet  (Stämme  »on  Often  t?er.  3Saß  bat  ben  hinter* 
länbern  biefet  bluffe,  bte  in  nachfter  leichter  33erbinbung  mit 
bem  SBefer*  unb  ©mßgebiete  fteljen,  bet  Seften  beß  fRbeineß 
entgegen jufe^en?  fRicbtß  alß  ben  unbebeutenben  auf  bem  dibeine 
fenftedbt  ftehenben  glufjlauf  bet  Slljr  unb  baß  ©ewäffer  ber 
@rft,  beffen  mit  bem  9tf)ein  paralleler  8auf  ihn  alß  Safiß  im 
SBeltfampfe  untauglid)  macht.  SIS  £interlanb  bie  unfruchtbaren 
SBafaltfegel  bet  Qrifel  unb  bie  SJtoorlanbfchaft  bet  Senn!  Such 
hier  alfo  »on  Sonn  bis  SEBefel  — unb  nehmen  mit  bie  ?clu§= 
tinnen  ber  ?)§,  Setfel,  Sedjte  Ijinju  b*S  31«  3uibet*©ee  — bat 
bie  Sobengeftaltung  ben  »on  Often  nadj  23eften  »orrücfenben 
Stämmen  bie  ©unft  beS  Slngriffß  »erliehen;  aud)  h^*  war  baS 
Dtljeinlanb  »on  Often  auß  leidster  3U  erobern  als  non  SBeften 
auß  311  behaupten.  Unb  hemmte  aud?  baß  ©ifellanb  im  Sterten 
ber  SJiofel  baß  weitete  Sotbtiugcn  nad)  Söeften,  fo  riefen  bie 
Ebenen  »on  (Eöln  big  Utrecht  bie  Stußbehnung  eftlicher  Sölfer« 
ftröme  bie  3u  ben  niebrigen  ©rensmäden  bet  Slrbennen  ja  bie 
3u  bet  Sffiulbe  bet  ©einelanbfchaften  hrctwr. 

Raffen  mir  fchlie&lich  biefe  ©runbgcfclje,  t»el<be  bie  @e« 
ftaltung  beS  9?l?cintbalcS  für  bae  Sölferleben  unb  feine  Äämpfe 
barbietet , 3ufammen,  jo  fehen  wir  im  Oberläufe  bie  Chancen 
für  bie  ©robetung  »ott  Often  ober  Söeften  auß  giemlid?  gleich 
gering:  im  Söeften  jchüfjte  ber  3ura,  im  Often  ber  Sobeniee. 

Slüerbingß  ift  im  geringen  ©rabe  bie  Sefejjung  »on  Often 
auß  erleichtert  burch  ben  Sufen  beß  ^öhgaueß.  5)ie  grc§e 
Deffnung  nach  ©übwefteu  bei  Safel  begünftigt  ben  CriujUifi 
(üblicher  (Elemente,  hoch  trifft  biefet  ©ulturftrom  auf  bie  halber 
beß  @chwat3walbeß  im  Often,  bie  ihm  ben  ©utchgug  »erfperren. 
3m  ÜJtittelrheintl)al  biß  3um  Stecfar  bietet  feine  ©eite  beß  Stbein» 
thaleß  für  ben  Singreifer  entfcheibenbe  Sortheile:  linfß  nub  red?tß 

(7&0) 


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11 


bei  parallele  ©ebirgöwaU  ber  Sogefen  unb  beS  SchworgwalbeS 
mit  feinen  furgen  Slufjläufen.  3e£t  aber,  am  Grinfluffe  beS 
S^ecfarÖ,  beginnt  bie  Sage  energifch  gu  fteigen  3U  ©unften  beS 
regten  fRbeinuferS.  Den  ©inffuff  ber  Sübweffpforte  gleißt 
nicht  uur  aus,  fonbern  überwiegt  ber  SlngriffSfeil,  ber  com 
SJlainger  Seelen  gegen  baö  gange  SBiittelrbeinthal  bie  Spiije 
fe^rt.  Sei  gleicher  SBiberffanbsfraft  am  linfen  unb  regten 
JRIjeinufeT  muf)  ber  Serftoff  non  SJlaing  aus  entfdjeibenb  in’ö 
©ewidff  fallen,  .jpier  treffen  ffd)  im  fffiittelpunfte  bie  JRabien  ber 
Slhölet  beS  SogelsbergeS,  beS  SpeffbatteS,  beS  DbenwalbeS,  be§ 
DaunuS.  ^>ier  muffte  ftch  im  Äriege  bie  .£>auptfeffung,  im  Soeben 
bas  ipalatium  erbeben.  Senngleid)  btr  ©ebirgsgug  am  Durchbruch 
bes  ÜRittelrbeineS  bem  Sölfercorffoffe  Stberffanb  leiftet,  fo  wirft 
bie  JBraft  beS  fDtainger  SecfenS  boeff  noch  fort,  auch  biefen  gu 
überwinben  unb  über  ben  üaunuö  bie  Serbinbung  mit  ber 
Babnmünbung,  welche  ber  ©tofelfeil  bebrobt,  beeguffeHeu.  9ln 
Bahn  unb  iDiofel  muhte  ein  Äampf  um  ben  ER^ein  am  längften 
fdjwanfen,  hier  baS  Bahngebiet  unterffüfft  non  SOßain  unb  Sieg, 
bort  bie  Binie  ber  SJlofel,  bie  in  ber  Botbringer  Stufenlanbichaft 
ihr  auSgiebigeS  fflefercoir  befiel-  9lur  eine  Sereinigung 
öftlidjer  Stämme  fonnte  ber  geeinigten  äSeftmacht  gegenüber  hier 
bas  Sibeintbal  behaupten;  cereingelt  würben  bie  ©auen  bes  Bahn* 
tbaleö,  beö  Siegtbales  u.  a.  eine  leichte  Seute  beö  an  ber  fDiofel 
concentrirten  ©egnerS.  3m  iRorben  oon  Sonn  bietet  ein  Ser» 
ftoff  oou  Offen  aus  meffr  Sortbeile,  jeboch  iff  ein  Solf,  bem 
gewaltige  SRenfchenmaffen  abgehen,  bei  einer  Sefeffung  ber 
beHänbifch’belgifchen  ©benen  leicht  ber  ©efaffr  auSgefefff  fi<h  mit 
einer  gahlreichereu  Urbecölferung  gur  Schwächung  feiner  eigenen 
Stammeöeigentbümlicbfeiten  oermifchen  gu  müffen:  bas  Serrain 
iff  gu  auSgebebnt. 

<wi> 


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12 


Söaö  au  anbern  Stellen  beß  SR^eiut^aleS  fRacenmifcfenng 
unb  iRacenerbaltung  betrifft,  fo  wirb  auß  ben  eben  erwähnten 
©rünben  im  obetn  Stremlauf,  in  ber  Schweig,  eine  SRifchung 
fidj  leicht  ooOgiehen  fenncn.  3m  ÜJtittelrfyeintfyal  wirb  ein 
©lement  cbfiegen,  unb  nur  an  ber  Deffnung  ber  Siclferpforte 
nach  Sübroeften  eine  tiefgeßenbe  fRaccnfteuguug  ermöglicht  fein. 
9ln  ben  übrigen  fünften  beß  SOiittelr^eintbaleß  wirb  bie  fiegenbe 
9tace  bie  anbere  eutweber  in  bie  ©ebirge  ber  SBogefen  werfen  eher 
fie  abforbiren;  ber  natürliche  3ufluß  butd)  baß  fDiain*  unb 
fRecfartßal  ift  fo  ftarf,  baß  bie  befiegte  fftace  ol)ne  SReferora 
feinen  SBiberftanb  entgegenfeßen  fann.  Stuf  bet  SBeftfeite  ift 
bie  SBeßauptung  einer  oom  9?hcine  abgebrängten  fRace  nur 
im  ©ebiete  bet  ooui  Dften  faft  hermetifch  abgefthloffenen  Iott)= 
ringer  Stufenlanbfdhaft  möglich-  3m  ©roßen  unb  ©angen 
bat  jebeß  mit  oereinter  ÜJtacht  auß  bem  Dften  beß  ÜRbwigebieteö 
heroorbtedjenbe  SBolf,  geftüßt  oon  oerwaitbten  Stämmen  im 
SRücfen,  bei  ben  natürlichen  SBethäWniffen  ber  SRbciuebene  einen 
äkrfprung  cor  bem  baffelbe  Biel  anftrebenben  ©egner  auf  bem 
linfen  Ufer,  2)ie  Siölfer  folgen  ben  ©ewäffern.  Sinb  in  einem 
Stromgebiete  eine  größere  '.Jlngahl  oon  fRebenflüffen  auf  einem 
ber  beiben  Ufer  oorbanben,  fo  wirb  ein  9$olf,  baß  mit  feinen 
Stämmen  biefen  Slußläufett  abwärtß  ber  .jpauptlinie  ber  Stent* 
ftellurtg,  bem  Buge  beß  .jpauptftremeß,  guftrebt,  mit  um  fo  mehr 
Slußfitbt  auf  ©rfolg  in  bie  ©roberungß»  unb  ©rhaltuugßpolitif 
eintreten,  je  größer  bie  2lngal)l  ber  ibm  gu  ©ebete  ftebcnben 
Slußläufe  gegenüber  ben  Kanälen  fein  wirb , bie  oon  ben 
©egneru  befeß»  finb.  5)aß  nicht  nur  in  neuer  Beit,  fonbern  auch 
in  ben  fernften  gerieben  ber  33ölfergefd}icbte  bie  Stämme  ftetß  bie 
fruchtbaren  ©clänbe  längß  beu  Slußtßälern  auffudjten,  unb  längß 
biejer  natürlichen  Straßen  bie  l’lußbreitung  anftrebten,  feßen  wir 

(7*2) 


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13 


al§  eine  burdj  ben  ©ntwicfelungsgang  aller  ©ulturöölfer  be* 
fannte  SShatfache  oorauS. 

©eftüfjt  auf  biefe  ©efefje,  welche  auf  gleichbleibenben  Ser» 
hältniffen  betuhenb  ba8  Sölferleben  beeinfluffen,  wellen  wir  fe|t 
im  ©ingelnen  ju  beweifen  »erfudben,  in  wie  weit  bie  ©efcbicfjte 
beS  bergen  8 non  ©utopa  ftetS  abhängig  war  non  ben  ©eftaltungS» 
nerljältniffen  be8  rbeinifdjen  Stromgebietes.  Satürlidb  werben 
bie  ©ulturintereffen  jeber  einseinen  ^eriobe  bie  golgen  au8  ben 
natürlichen  Sßer^ältniffen  oeränbetn,  unb  e8  ift  bie  Aufgabe  bie 
fRefultante  auS  biefen  beiben  Kräften,  bem  gleid>bleibenben  gaftor 
be8  fRbeinftromeö  unb  bem  wethfelnben  gaftor  be8  5Bor1jerrfdhen8 
non  ©efammtintereffen  ober  non  particulariftijdjen  Neigungen, 
ber  ©entralifation  ober  ber  ©ecentralifation,  im  Stromgebiete 
linfS  unb  rechts  ju  gewinnen! 

SDie  ©letfcher  beginnen  jurücf  guweichen,  bie  glüffe  fan* 
gen  an  in  Setten  fidj  gu  beruhigen,  ba  erscheint  auch  ber 
2Renf<h  im  Sibirien  Slctteleuvopa’S,  unb  ber  Höhlenbär  lehrt 
ihm  fohlen  3U  graben  um  barin  auf  fRaub  ju  lauern,  unb 
nom  SRammuth  fteht  er  ab  Süjjwafferquellen  ju  finben,  bie 
eifige  3)ecfe  ber  glüffe  gu  butchbrechen,  h*nun*cr  ju  gelangen 
in  ba8  Slhal  wo  Suchen  unb  (Sichen  aitfangen  gu  grünen. 
©a8  fRennthier  burchmifjt  bie  Steppen  ©uropa’8  in  gweimaliget 
SBanberung.  (Kn  ben  Ufern  ber  Ströme,  ber  ©aronne,  ber  Seine, 
ber  5Raa8,  be§  IRheineS,  lauert  ber  SRenfch  feiner  Seute  auf, 
wie  heute  an  ben  fRebenflüffen  ber  gena,  beö  Äeltma  in  ben 
2unbra8  »on  Sibirien.  9ln  ben  gurten  ber  3H , bei 

5Raing  unb  an  bet  gahnmünbung  überrafchte  ber  ©iSgeitmenfch 
mit  Steinäxten  bewaffnet  fchwimmenb  ober  in  auSgehöhlteu 
Saumftämmen  jebiffenb  bie  arglofe  beerbe  ber  fRennthieve,  um 

ihr  Slut  bem  SRenfchen  jum  geben  ju  laffen  Solche  unb  ähnliche 

na) 


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14 


©jenen  feben  wir  im  ©dreier  bet  pröbiftoriieben  ^Dämmerung. 
3n  jenen  grauen  gerieben  ber  menftplteSen  58orgei4id)te,  wo 
ber  ©ttom  nodj  in  mehreren  uneingebämmten  Sfrmen  bie  SBiefen* 
trätet  burcbflutete,  wo  einzelne  £orben  auf  erhabenen  fünften 
ber  SRfyeinebene  ober  in  ben  ^ö^ten  an  ber  Sabn  unb  ber  Senne s) 
i!)t  fitmmerlicbeS  Seben  trifteten,  wo  üliammutty,  9ta8born  unb 
fRenntbier  bie  IDfdjungeln  ber  Stbeinnieberung  burdjftreiften,  ba 
gab  eS  nur  ben  Äampf  beg  dinjelnen  gegen  bie  Unbilben  ber 
Sfiatur  unb  bie.  Gorppbäen  beö  Sl^ierreic^eö,  feinen  Äampf  eineg 
Stamm  eg  gegen  einen  anbern  ©tamm,  fein  Gingen  einer 
Nation  gegen  eineanbere,  furjnod)  feine  rbeinifdje  ©efcfjidite. 
SBaten  cS  ginnen  ober  Sappen,  Sagfen  ober  Sigurer , bie  einfteng 
in  bem  ©ammerlicbte  ber  SRorgenrötfye  i^re  (Sriftenj  im  3Rtjein« 
tbale  möglicbft  treuer  oerfauften,  ifyr  SDafein  ^at  feinen  Ijiftori» 
fdjen  nur  einen  naturwiffenfc^aftlic^en  2Bertfj.  Gnrft  wenn  io 
erften  Strahle  ber  URorgenfonne  non  Dften  aug  bie  bionben 
Gelten  auf  3agbjügen  juerft  einzeln  unb  balb  ftammweije  in  ben 
©auen  beg  JRbeintbaleg  als  Herren  erfdjeinen,  fann  man  oon 
gefd^idjtli^en  Sfnfnnpfunggpunften  unb  culturellen  S^atjacbra 
reben. 

SMe  ©riftenj  bet  Gelten  im  3R^eintl)ale  non  SRainj  bis 
9l»end>eg  (=  Aventicum)  bezeugen  nicht  nur  bie  fRadbricbten  ber 
ftaffifdjen  Autoren,  fonbern  bafür  jeugt  auch  i^r  fRacblafj  in  ben 
©räbetn  bie  in  biefen  ©egenben  fidj  überall  mit  ben  oerjierten 
bauchigen  Urnen,  bem  Seidjenbtanb,  bem  ©djmucfe  ber  SJronceringe 
unb  ber  fRationalwaffe  beg  Äelteg  ftd^  corfinben. 6)  SBag  non 
bet  ehemaligen  39efet)ung  beg  Ober»  unb  9DRittelr^eintl)aleg  burtb 
bie  Äelten  gilt,  wirb  auch  bie  SBaljrheit  fein  bei  Seftintmmtg 
bet  bt^Dtif«h  «Heften  SBeoelferung  beg  9tieberrbeineg.'  iDafür 
jeugen  non  3UIem  bie  bitecten  SEBorte  Gäfarg. 7)  55ie  Srtrirtr, 

(764) 


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15 


ein  8tamm  in  ber  9iafje  beS  heutigen  Stier,,  rühmen  ftd)  gwar 
in  einem  3eitraume,  wo  fie  allein  nod)  bie  Sapferfeit  unb  bie 
©itienftrenge  bet  altgaflifdjen  SJorgeit  bewahrten,  germanifdjeT 
Slb  fünft,  allein  itjre  ©rbfeinbfdjaft  gegen  bie  ©ermanen  beweift 
baS  ©egentheil  ü)re8  SBorgebenS.  3n  ^iftorif^et  3cit  finb  aller* 
bingS  bie  Äelten  auf  bet  gangen  SRheinlinie  im  Stücfguge.  3uerft 
befehlen  bie  ©ermanen  bie  ©benen  be8  SRieberttjeineö,  bann 
mußten  bie  Heloetier  »or  Slriooift  bie  ©betten  ber  ÜJlittelrfyein» 
ebene  raumen,  unb  unmittelbar  batauf  malten  bie  ©ueben 
unter  genannten  Heerführern  ben  großartigen  SSerfuc^  in  ber 
heutigen  f5tandje«6omte  an  ber  ©renge  beS  9il)ein=  unb  9thone= 
gebieteö  eine  beherrfchenbe  Stellung  gwtfchen  Slorbfee  unb  SJlittel* 
meet  eingunehmen.  iäuS  biefen  gefchicßtlichen  SE^atfat^en,  ber 
fdjon  in  ben  Anfängen  ber  Uebetliefetung  gefchehenen  SSefeßung 
bet  5fliebertheinebene  burd)  ©ermanen  unb  ber  im  SJlorgenlidjte 
ber  ©efd)idjte  ftdj  ooHgiehenben  Räumung  ber  SJtittelrheinebene 
burd)  bie  Äelten  im  3ufamnunhange  mit  bet  Sbatiacbe,  baß  im 
4.  Sahrhuubert  D.  ©hr-  bie  Äelten  wegen  Ueberoölfetung 
©roberungSgüge  nad)  ©üben  unb  Offen  aueführten  unb  babei 
bis  nach  fflom  unb  35elphi  »orbrangen,  geht  bie  3Bahrfd)einli<h* 
feit  herocr.  baß  bie  ©etmanen  bereits  im  4.  Sahthunbert  d.  ©ßt- 
non  Storboffen  au 8 auf  bie  Äelten  brangten  unb  ihnen  bis  auf 
Strioeift  ©tüd  für  ©tücf  bas  9lh«nthal  abrangen.  ®djon  bei 
biefem  Äampfe  begünftigte  bie  ©ermanen,  bie  nach  allen  sJtadj» 
richten  in  bet  Sedjnif  ber  SB  affen  ben  Äelten  unterlegen  waten, 
bie  Sortheile  bet  Säöffnungen  auf  ber  Oftfeite,  bie  ^rontfteüung 
am  SJlain,  bie  Unterftüßung  beS  offenen  HinterlanbeS  8).  SDer 
Slorboften  2)eutfd)lanbS  war  oon  ben  ©ermanen  bereits  befeßt; 
bie  gut  SuSwanberung  getriebenen  Äelten  giehen  über  bie 
gtaifd)en  Sllpen  nach  Stalien  unb  auS  ben  eftlicßen  9lhein» 

H85) 


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16 


lanbfdhaften  in  ba8  ©onautbal,  biö  bet  ©urchbruch  ber  ©ermanen 
Bom  ?01ain  au§  nach  Süb*2Befien  einen  Äetl  in  biefe  SBinfel» 
flellung  trieb  unb  bie  öftlich  unb  weftlidj  be§  5Rbetnftreme3 
fitjenben  Stämme  entmeber  wie  bie  Sojet  unb  <£>eloetier  jut 
neuen  äugwanberuug  gwingt  ober  fie  unterjocht.  ©er  Sibein* 
fitem  war  bet  Sauf,  in  bem  bag  ©efchofj  abgefchleubert  würbe, 
bie  (Jinbeit  bet  Äeltifcben  SBobnfi^e  gu  fprengen  unb  bie  23er» 
binbung  gwiichen  ©enau*  unb  Sibonefelten  ju  gerfchneiben. 

9lodj  gur  ßeit  beö  *})tolemüu8  aber  (im  2.  3ahrh-  n.  6b*-) 
finb  bie  ©ebiete  nicht  bloö  beö  JR^eineS,  fonbern  auch  beg 
9tecfar8  unb  beg  9J}ain8  boü  feltifdber  Drtgnamen.  Stammt  ber 
9tame  {Rb««  hoch  fe^bft  oon  feltifd^er  Bunge  ab  = ber  2Beg,  ber 
fPfab!  ©ie  tarnen  blieben  ober  würben  munbgerecht  ge* 
macht;  bie  alten  Sewobner  fchicften  ftdb  an,  im  Siaufe  ber  3«t 
beutfche  Sprache  unb  £t>pen  anjunebmen.  fRamen  non  Stabten 
aug  ber  3«t  be8  $)tolemäu8  wie  Alisum,  Artaunum.  Sego- 
danum,  Meliodunum,  Artobriga  jc.  bezeugen  bie  ©täbtegrün* 
bung  im  3nnern  ©eutfdjlanbg  burd?  bie  Äelten.  Son  feltifcben 
Stabten  am  9tbe*n  fuhren  wir  an:  Batavodurum  = Säten* 
bürg,  Bonna  =*  Sonn,  Moguntiacum  «=  SDRainj,  Borbetomagus 
= SBormg,  Noviomagus  = Speper  ober  fReuftabt,  Argento- 
ratum  = Strasburg,  Lupodunum  = Sabenburg,  Brocomagua 
= Srumat. 9)  2lud)  6öln  unb  @obleng  burften  ihren  Ur* 
fprung  ben  Äelten  gu  Berbanfen  ha^fn  unb  oon  ben  Stömern 
fpäter  nur  neue  Flamen  erhalten  hüben.  Sei  ber  Anlage  ihrer 
Stabte  benufjten  bie  Stnftebler  gewöhnlich  eine  ganbgunge,  welche 
bie  ©inmünbung  eineg  fRebenfluffeg  in  ben  $auptftrom  ge» 
bilbct  hatte,  fo  bei  5Raing,  Söormg,  Strasburg.  @8  gefdjab 
bieg  Bor  SlDem  wegen  be8  natürlichen  Sdmjjeg  burch  bie  beiben 
f?lu§I5ufe,  unb  bann  um  ben  ^anbelgpetfehr  bem  fRebenflufj 

(786) 


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17 


entlang  für  bie  neue  ©tabt  gu  gewinnen.  3u  ©djiffahrt  imb 
3Baffer»erfehr  fielen  bie  Jfelten  überhaupt,  wie  jdjcn  ihre  fielen 
Slamen  für  SBaffer,  Sacb,  $lu§  etc.  beweifen,  in  engfter  S3e» 
giehung.10)  3)a  fie  fidj  na<h  Gäfat  »ortrepdj  auf  ben  ©djifiS* 
bau  »erftanben  1 J),  wirb  man  nicht  irre  gehen  ihnen  bie  erften 
Anfänge  ber  {R^einfd^iffaljtt  gugufdhreiben,  bie  aüerbingS  wegen 
ber  bieten  Untiefen  unb  Aeftuarien  Anfangs  einen  rein  örtlichen 
G^arafter  tragen  mochte.  3)ie  ©täfcte  an  ber  föiünbung  ber 
Slebenflüffe  waren  bie  ©tapelpläjje,  bie  alten  ©dhiffet*3nnungen 
in  Strasburg  ©petjer,  SBormS  mögen  fid?  bereite  in  jene 
9)eriobe*  gurftcffühten  Iaffen.  SBie  bie  feltifdien  SB  Örter  ac-Ufer 
mit  ©teinbamm,  rhigol-AbgugSgraben  (bähet  SRiegel  am  ÄaifetS* 
ftuhl,  Rigomagus,  Rigodulum)  beweifen,  waren  fie  auch  rührig 
bie  ©ümpfe  beS  SUjeinthaleS  auägutrocfnen  unb  bie  Altwaffer 
beS  feines  abguleRen.  3ebod}  Iä|t  fid)  biefe  ihre  Shötigfeit 
fcbwet  im  (Singeinen  nadjweifen,  ba  bie  römift^e  SBafferbaufunft 
bie  feltijäje  Arbeit  »erbecft  hot,  unb  bie  feltifcbe  SBortforfdmng 
noch  auf  jungen  «ü^en  ftcbt.  Aber  nicht  nur  bie  .fteime  gur 
©taatenbilbung,  bie  Anfänge  beß  Jpanbele  unb  beS  SferfehrS 
»erbanft  baS  Sftfyeintfjal  ben  gelten,  auch  bie  Anfänge  beS  S3erg* 
baueö  unb  ber  SJletaHfabrifation,  23roncen  unb  SRüngen,  bie 
Siegungen  »on  Biteratur  unb  SBiffenfdjaft  rief  ber  Äelte  an 
unfercm  ©trom  in’ 8 Beben.  SBirb  audj  bie  Anficbt  Binbenfdjmit’ß, 
baf)  non  ©üben,  oon  (Strurien,  bie  Ausfuhr  »on  fabrifmäjjig 
hergefteEten  33roncegegenftänben  nach  Siotben  auSging,  in  ihrer 
Allgemeinheit  faum  begweifelt  werben  fönnen,  fo  wirb  bedb  bie 
Stage  fein,  ob  wir  für  frühere  3 eiten,  wo  ber  (Sinflttf?  9Rem8 
nodh  nid|t  bie  £onbel8wege  geebnet  hotte,  feine  S3eweife  hoben, 
ba|  bie  Gelten  bereits  felbftftänbig  -Bergbau  unb  SRetaEinbuftrie 
betrieben,  ©trabo  unb  SDiobor  berieten  »on  ben  gortfdhritten 

XL  259.  2 797) 


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18 


bet  Äelten  im  Sergbau;  ©äfar11)  bejeic^rtct  fie  auSbrücflic^  all 
ein  33olf  ijöchfter  JRüljrigfeit,  bal  mit  einem  aulge^eidjneten  9tad>« 
aljmungltalent  begabt,  aöeö  uacb  Angaben  $u  perfettigen  im  ©tanbe 
wäre.  58 cn  bet  ®efd)icflid)feit  bet  feltifcben  Arbeiter  legt  ein 
ebrenbeä  3eugnif$  bet  Umftanb  ab,  bafj  bie  tRömer  pcn  ben 
Siturigern  bal  SBetginnen,  non  ben  Xlefinern  bal  SSetfilbeni 
lernten. ,s)  SBie  wabr|d)einlid)  ift  nun  bei  bem  ©influffe,  ben 
SRaffilia  (=2RarfeiQe)  auf  alle  ©ulturperfyaltniffe  ©aQienl  aul* 
übte,  bei  bem  ^anbelöperfebt,  bet  bal  9Ri>ein=  unb  JR^cnetlja  t 
binab  pon  bet  Oftfee  gum  fölittelmeer  jog,  unb  „bet  allem  'Xu« 
f^eine  natb  bie  IBeranlaffung  gut  ©rünbung  bet  pb*fäifdjen 
9heberlaffung  gab“, 1 3)  bafjoon  pbönigifcben  unb  fpäter  beDenifcben 
unb  etrutifcben  gabrifaten  bie  Anregung  gur  felbftftanbigen  33e* 
treibung  bei  SBetgbauel  unb  einet  einbeimifdjcn  5Retallinbuftrie 
aulging.  5)en  Jpanbelloerfebt  grünbete  in  SBefteurcpa  bal  .per* 
beibolen  bei  3innl  «ul  ©nglanb,  bal  bie  ^hönigier  einfadbet 
unb  gefabtlofet  auf  bem  ganbwege  bezogen,  bet  fowol)l  übet 
bal  ,£>odjplateau  pon  gangrel  an  bie  ©eine,  all  bequemer  auf 
bem  Umwege  burd)  bal  fRbeintfyal  fid)  gieren  fonnte.  SDie 
£fyatjad;en  ferner,  bafs  bal  befte  Äupfer  in  ©allien  gefunben 
würbe14)  in  S3erbinbung  mit  ber  3inneinfubt,  ferner  bamit,  bafe 
ftdj  bie  Äetten  eifetnet  SBütfel  all  ©elb  bebienten,  bafj  Säfat 
bie  SJlenge  ber  ©ifengruben  unb  in  Sctbinbung  bamit  bie  Äunft 
bet  SBituriger  ©tollen  gu  treiben  aulbrücflid)  ^ert? or^ebt 1 s)  be* 
weifen  bie  3?efanntfdjaft  ber  ©allier  mit  bet  ©ewinnung  unb 
Verarbeitung  non  SBronce  unb  ©ifen.  3)afj  bie  Anregung  ba» 
gu  pon  $remben  aulging,  ift  Ijiebei  pon  geringerer  Sebeutung, 
all  ber  Umftanb,  bafj  fie  in  ber  Verbinbungllinie  groifdjen  ben 
3inninfeln  unb  bem  ©mpotium  am  SRittelmeere,  SJtaffilia,  ge* 
legen  nad)  allen  9tadmd}ten  ber  Xutoren  eine  hodjentwicfelte, 


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19 


einheimifd)e  Nletaüinbuftrie  $ur  3«it  bet  Slnfunft  bet  Körner  in 
ihrem  eigenen  2anbe  betettS  befafcen. 

@tn  weitetet  wichtiger  Snbuftriejweig,  ben  bie  Gelten  im 
Nbeinttjale  guerft  anbauten,  ift  bie  Gewinnung  be8  ©algeS.  Sott 
©chöuebecf  bie  25ürfheim  gie^t  fidj  in  bet  SriaS  eine  ©inlagerung 
ton  reichen  ©alquellen,  benen  bie  äitefte  336lferwanbetung  bet  Äel» 
ten  gefolgt  gu  fein  fdjeint.  ffür  SJJenfc^en  unb  Stluere  war  ja  bie8 
Stineral  ein  nothwenbigeS  Nahrungsmittel,  unb  bie  ©algqueOen 
galten  al$  heilig-  ©ntftanben  groiithen  ©halten  unb  £ermunbuten, 
Snrgunben  unb  Alemannen 1 *)  um  ihren  Seftfc  blutige  Äriege 
in  ^iftorifc^ec  3«it,  fo  wirb  fidj  für  bie  frühere  bie  Äenntnifj 
unb  bet  betrieb  bet  Solquellen  butd)  bie  inbuftrießen  Äelten 
oorau8fe£en  taffen.  3)iefe  Annahme  betätigen  bie  Namen  ber 
Saljorte;  bie  Namen  ber  Orte  .fjaß,  f)alle,  fjaflftabt,  ^allein 
beweisen  bie  ©rünbung  biefer  ©al^ftebeteien  butd)  bie  Äelten.1 7) 
SDie  2)eutf<hen  nannten  biefe  Namen  mit  ber  Sutgel  sal: 
Saalfelb,  Salzburg,  Salbungen,  ©aljwebel.  3)a8  ©alj  wirb 
aufcet  (betreibe,  beffen  Sau  bie  Ntaffilioten  angeregt  halle« ' 8) 
unb  aufer  bem  Sernftein,  ber  nach  Notbitalien  unb  ben  Nhone= 
lanbfdjaften  gelangte,  ber  ^auptauSfuhrartifel  au8  bem  Nheinthal 
nach  bem  ©üben  gewefen  fein,  wofür  man  SNufterwaffen,  ©chmucf, 
Oet  unb  SBein  au8  bem  ©üben  eintaufchte.  2)ie  SBerbinbung  be8 
leltifchen  NheinthaleS  mit  ben  bem  .fjeüeniSmuS  unterworfenen 
Nhonegauen  fowie  mit  ber  eigenthümlichen  ©ulturwelt  ber’ßtrurier 
»tat  aber  nicht  nur  für  bie  Sefriebigung  ber  materiellen 
Sebütfntffe  ton  Sebeutung,  bet  ©üben  farrbte  nicht  nur 
Schwerter  unb  Ninge,  ben  Söeinfrug  unb  bie  Delflafche,  mit 
il?«en  famen  im  (befolge  bie  ©runbbebtngungen  eines  geregelten 
S3ertehre8:  bie  fNünje  unb  bie  Schrift.  Nadlern  ber  Serfehr 
fotteit  entwicfelt  war,  ba§  an  bie  ©teile  be8  ungeregelten  STaufch* 

2*  (789) 


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20 


banbelS  ber  ©inbeitöfap  bet  dritten  SBertbbeftimmung  treten 
mufjte,  begann  bie  (ginfubr  maffiliotifcber  SJlüngen  nom  ©üben  in 
baS  3U)eiutbal.  3ebod)  and)  auf  biefem  ©cbiete  blieb  bet  Äelte 
nid)t  lange  paffinet  3uf (bauet;  jcbon  lange  nor  ©äfar  prägten 
bie  Äelten  felbft  SDlünjen!  ©ie  ©efdncflid)feit  bet  gallifcben 
SRünjmeifter  fpäterer  3eit  gebt  barauS  betnor,  bie  gRünjen 
»on  Äaifern,  bie  bloß  in  ©aflien  betraten,  alfo  bloß  i?iet 
prägen  liefen,  ujic  bie  non  ^etricuö,  §)oftumulS,  bie  9Rüngen 
ibrct  ©egnet  in  3talien,  befl  SBaletianuß,  ©alliemcß  an  @d)önbeit 
»eit  übertreffen. 19)  21  m jRbetne  ftnben  fid)  befonber«  in  ber 
©<b»eij,  in  Sßaben,  in  SBiirtemberg,  in  bet  ?Hbet feltifd^e 
SRiinjen.  33on  17  norliegenben  Äeltenmünjen  auß  ber  Umgegenb 
ber  alten  ©tabt  SBormS  finb  3 non  ©olb,  7 oop  ©ilbet,  6 non 
Tupfer,  1 non  SBronce;  auf  breien  non  ihnen  fteben  griedjifdje 
23ud)ftaben.  ©ie  meiften  bet  feltifdjen  SJh'tngen  tragen  bafl 
SRationalfpmbol  beß  fPfetbeS  — oft  auf  2lner8  unb  SleoerS.  ©ie 
SDienftbenföpfe  bebecft  entweber  eitt  Jpelm  ober  ein  (Sieben* 
blättertran^;  auf  bcm  Söirbel  ftecft  nielfad)  ein  balbmonb* 
förmiger  .paarpfeil.  ©ie  fogenannten  9tegenbcgenf<büffelcben 
(scutellao  Iridis)  befteben  auö  ©olb  unb  finb}  nur  auf  einer 
©eite  mit  Seidjen  geprägt,  ©ie  Äöpfe,  Stbiergeftalten,  ©pmbole 
finb  fdjarf  unb  <barafteriftif<b;  manche  erinnern  an  bie  beften 
SJiünjeu  ber  IRöraergeit.20)  9Jlit  ben  SRünjen  »anbert  bie 
griecbifcbe  ©cbrift  ein,  bie  SRamen  non  Königen  unb  ©tämmen 
finbeu  ficb  in  griecbifcben  Sucbftaben  auf  ben  SÄünjen;  bie 
.jpelnctier  batten  Jpeerliften  in  griecbifcben  Sablseidjen;  in  SSatfop 
im  SBocontifdjen  ©au  bei  Üloignon  fanb  ficb  eine  3nfd)rift  in 
griecbifdjet  ©cbrift,  bie  fOiommfen  alö  feltifcb  beutet21).  Solange 
nod)  ©äfar  nicht  feine  ©icge  errungen,  unb  SluguftuS  noch  ttid)t 
Imperator  »ar,  hielt  ficb  bie  griecbifcbe  ©cbrift,  bis  bie  rßmifcben 

(790) 


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21 


Einrichtungen auch  bag römifchefülüngroefen brachten,  fpottjmann25) 
hält  e3  für  gar  nicht  unwahrfcheinlich,  bafj  griechifche  Schrift  bamalg 
not  (Säfar  big  gunt  Unterthein  oorbtang.  fDtit  bet  Schrift  brang  auch 
bie  griechifche  Sprache,  wenn  auch  in  geringem  Umfange,  im 
SUhmithale  cor,  unb  e§  liefen  fidj  wohl  manche  eingewanberte 
unb  jefct  germanifirte  Sorte  auf  bie  Einflüfje  biefer  frühem 
^eriobe  gurücf führen. 

©ichjer  aber  trugen  bie  teligiöfen  ÜBerfteKungen  ber  fDiaffilioten 
bagu  bei,  bem  £anbel§gotte  .fjermeg  feine  ^räbonberanj  auf 
theinifcfeem  ©oben  anjubahuen.  2)iefe  SJerfudje  bie  fRheinlanbe 
ju  heüenifiTen  »ernichtet  jeboch  halb  mit  bem  Streiche  ber  be* 
»atmeten  Sauft  bet  ©ermane.  ^etmeS  »anbte  feinen  Siegel 
lauf,  bie  Sftufen  flohen  »ieber  nach  Süben.  Schon  bringt  bet 
Satbar  füriooift  mit  feinen  f<h»eifeuben  Sueben  in  bag  ©elänbe 
beS  reichen  $äbuetlanbeg  not;  bag  ganb  fällt  ihnen  als  Sheet* 
beute  an;  ganj  ©allien  3ittert  cot  ben  germanifchen  Sremblingen; 
ein  jnjeiter  cimbrifcher  ©chrecfen  fcheint  bie  Seit  au§er  Singel 
bewegen  gu  »ollen:  ba  erfcheint  ber  fiegreiche  Sät  beg  Sohneg 
beg  Sübeng  an  ben  ©rennen!  ®er  Ärieggfunft  unb  ber 
bihlomatifchen  Ueberlegenheit  beg  fRümerö  gelingt  eg  bag  Steuer 
ber  ©efchiihte  »ieber  in  feine  4)änbe  31t  bringen  unb  bie 
Barbarei,  bie  über  Sübmefteuropa  hereinjubrechen  brohtc,  nicht 
nur  aufguhalten,  fonbern  fie  umjuwanbeln  unb  fie  jurn  SSortljeil 
beg  römifchen  S3olfeg  3U  benit^en.  (Säfar  unb  Slriooift!  ÜJtit 
ber  fRiebetlage  beg  ©efolggfürften  im  JRheinthal  beginnt  bie 
3 weite  $)eriobe  für  bag  fRfjeinthal  ansubrechen:  SDer  Ein3ug 
unb  bie  ^errfebaft  römifcher  Eultur  im  jfeltenlanbe 
am  Schein  unb  in  ben  ©ermanengauen  in  feinem 
Stromgebiete.  Säfjt  man  eine  neue  Epoche  ber  Seit» 
gefrischte  mit  jener  ©eifterfchlacht  auf  ben  catalaunifchen 

(791) 


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22 


gelbetu  beginnen,  jo  ift  eine  neueföcodje  ber  mitteteuropäifcben  6 u l« 
turgefcbidjtegu  fefcen  mit  jenem  ©iege  beb  römiidjen  $)ilumS  über  bie 
germanifcbe  ©treitart  an  bet  Pforte  gmifcben  sJtbone=  unb  flifyeintbal! 

SDtu&te  ficb  Gäfar  bamit  begnügen  burd)  feine  fRbein» 
Übergänge  ben  Germanen  gegenüber  eine  SDemonftration  gum 
Semeife  bafür,  „wer  jperr  am  Schein  fei"  gu  liefern,  fo  ging 
SluguftuS,  gum  unbeftrittenen  Sefij}  ber  SRacbt  gelangt,  baran, 
»or  'Mem  bie  SÄ^einflrenje  gum  ©d)ufce  beb  JReicbeS  auf 
tömifdje  SBeije  gu  organifiren.  6r  erfannte  bie  Söicbtigfeit  bieier 
natürlicben  ©renglinie  für  bas  fReidj  unb  fudjte  beötjalb  fie  felbft 
in  ben  gehörigen  SertbeibigungSguftanb  gu  fefcen  unb  bas  ganb 
hinter  ibr  burd}  SlngtiffSftiege  feiner  Dffenftcfäbigfeit  gu  berauben. 
3n  fftarbonne  cerfügte  et  beSbalb  fd?on  im  3abre  27  o.  ®br. 
bie  ©intbeilung  ©aüiene  in  cier  ^rocingen.  Sei  biefer  neuen 
unb  erften  ©intbeilung  ©aUienS  bübete  er  gur  ftrafferen  Drga« 
nijation  ber  ©rengmebr  auS  bem  con  germanijcben  ©tämmen 
berechnten  linfen  JRbeinufer  eine  befonbere  SProcing:  ©ermania. 
9iacb  SDio  (JaffiuS 4 3)  reichte  biefe  con  ben  Duellen  beS  JRbeinS 
bis  gu  feiner  SDiünbnng:  eb  mar  bie  erfte  Einigung  ber  fRbein* 
lanbe,  menn  autb  nur  com  militärifcben  ©tanbpunfte  auS.  Sie 
umfaßte  n ad)  fPtolemäuS  im  fftorben  baS  tfanb  ber  Satacer  mit 
bem  befeftigten  i?ager  con  Castra  vetera  bei  Xanten,  baS  SluguftuS 
nad)  ber  goHianifcben  fRieberlage  gegen  bie  fJtorbbeutfcben  an» 
gelegt  batte.  Stuf  bieS  folgte  bie  ©tabt  ber  Ubier,  bie  Colonia 
Agrippina,  ©ßln,  mo  fpäter  ber  DberbefeblSbaber  con  Unter« 
germanien  — legatus  Augusti  propraetore  Germaniae  infcrioris 
biefi  er  mit  coDem  Sittel44)  — feine  jRefibeng  aufftblug.  &ud? 
(Sobleng,  5Raing,  SBormS,  Babern,  ©trafjburg  fcbeinen  fdson  gur 
Seit  bes  SDrujuS  mistige  tümifibe  SBaffenplälje  gemefen  gu  fein. 
Siebt  Legionen  batte  b**r  Castra  vetera  bis  Aventicum  (im 

(798) 


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23 


(Janton  greiburg)  an  ber  Rfyeingtenge  in  ben  beiben  SLbeilen 
beö  römifdjen  ©etmanienS,  Unter*  unb  JDbergermanienS,  3luguftu6 
Bereinigt.  „(Die  #auptmad)t  beS  Reiches" 25 ),  ein  drittel  ber  ge* 
fammten  Regimenter  beS  tömifd}en  Reimes,  ftanb  l)ier  non  2lugft 
bis  Santen  in  beftänbiger  33ereitfd)aft  bie  Vefetyle  Rom'8  gu  boü* 
gieren.  100,000  ÜJiann  ftern  truppen  Bereinigte  hier  in  ben 
gahlreidhen  geftungen,  (Saftellen,  (Burgen  ber  Jfaifer  um  entroeber 
unter  ben  Sljronnadjfolgern  ober  unter  feinen  Vertrauten  einen 
mädjtigen  Äcil  bamit  gmifdheu  bem  noch  immer  unftdjeren  ©allien 
unb  bem  ftetS  gum  Ätieg  bereiten  (Deutfd)lanb  eingutreiben.  3m 
3abre  14  o.  6^r.  gab  SluguftuS  ben  Dberbefehl  am  Rhein  unb 
an  bet  (Donau  an  feinen  friegStücbtigen  ©tieffohn  (DrufuS  ab. 
5)ieier  fdjmiebete  bie  eifernen  betten  bie  Äraft  (DeutfdjlanbS  gu 
bänbigen.  (Die  erfte  gürforge  beS  tömifdhen  Ätonpringen  war 
e§,  bie  großen  Heftungen  Castra  vetera,  Moguntiacum  = fDiaing, 
Argen  toratum  = ©trafcburg  theilroeife  neu  angulegen,  tfyeilweife 
auSgubauen  unb  biefe  brei  SJüttelpunfte  burdj  eine  Reihe  uon 
mehr  al6  50  CSafteUen26)  gu  einet  unburc^bringlidjen  9Rauer 
gu  oerbinben.  (Diefet  jugenblidje  $elb,-  ber  bie  SUpenföfyne 
RhätienS  unb  VinbelicienS27)  in  ihren  Slpenhorften  heintgefudjt, 
hatte  bie  ReidjSgrenge  bereite  bis  gur  (Donau  oorgefdjoben  unb 
ben  ©ermanen  im  ©üben  bie  CRöglidjfeit  eines  ©inbrucheS  über 
bie  (Donauljodhebene  nach  Dberitalien  auf  biefe  5öeife  abgefdjnitten. 
Von  gmei  ©eiten  gebadste  er  bie  freien  (Deutfdjen  gu  umgarnen, 
Bon  ©üben  unb  SBeften.  äBahrenb  ber  grofce  SBnffenplafj  oon 
Augusta  Vindelicorum,  Slugöburg,  im  ©üben  bie  Römer  gegen 
germaniftbe  Vorftöfje  becfte,  fdmf  er  fidh  im  2Beften  butd ) bie  Anlage 
großer  (Depots  unb  ©taublager  längs  ber  Rheinlinie  bie  fiebere 
©peratienSbaftS  gu  feinem  raftloS  erftrebten  3iele:  bie  23elt* 
herrfchaft  RomS  burtb  Vegwingung  unb  Romaniftrung  ber 

(793) 


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24 


©ermanen  gu  fiebern,  ben  Umfturg  ber  Gultur  bureß  bie  ©arbeitet 
auf  bie  5Dauer  gu  »erßüten.  Augusta  Ilauracorum,  Äugft, 
legte  er  am  2lnfang8puufte  einer  regelmäßigen  ©ßeinfaßrt  am 
©ßeinfnie  unb  gnr  ©ießerung  ber  natürlichen  ©erbinbung 
gwiicßen  ©aUien  unb  ben  ©onaulänbern,  au8  bem  ©aonetßal 
gum  ©obenfee  ßetübet,  an.  68  war  ein  con  ber  ©atur  oor* 
gefeßriebener  geftungSpunft.  6r  mußte  al8  ÄriegSplaß  beS* 
ßalb,  wie  al8  ©tapelplaß  für  ben  Sranfitoerfeßr  au8  bem 
fübweftlicßen  ©eutfcßlanb  naeß  bem  ©ßonetßal  unb  bem  Mittel» 
meer  balb  »on  gleicher  Söiißtigfeit  werben,  ©afel  würbe  fpäter 
©rbe.  ©ei  ber  ©ereinigung  ber  pauptgewäffer  be8  ©bein§  gu 
einem  ©fronte,  — ein  s3)unft,  ber  in  ber  früßeften  Beit  feßon  al8 
UebergangSftelle  feine  ©ebeutung  erhalten  fjatte,  — bort,  wo  bie 
©ogefenpäffe  oon  ©aarburg  unb  3abern  ben  ©erfeßr  in  bie 
SRofelgegenben  ermitteln,  legte  et  an  bem  alten  feltifcßen  ©tapel* 
plaße  Argeutoratum,  ber  ©ilberburg,  bie  gweite  .pauptfeftung 
an:47)  ba8  ßeutige  ©traßburg.  ©einen  Jpauptwaffenplaß,  gleich 
gut  2)efenfioe  unb  JDffenftoe  nötßig,  bilbete  bie  9Äünbung8ftede 
be8  §luße8,  ber  fttß  mit  feinen  Söafferabern  am  weiteften  in 
öftlicßer  ©ießtung  in  ba8  3nnere  IDeutfcßlanbS  erftreeft,  IängS 
bem  bie  ©orftöße  aller  mittelbeutfcßen  ©tämme  bi8  ßet  oom 
Slßütinget*  unb  ©ößmerwalb  oor  fidß  geßen  müffen,  ber  ©cßlüffel 
25eutjcßlanb8,  bie  ältefte  ©tabt  am  ©ßein  — 9Jtaing.  Jpier  in 
ber  ©äße  waren  in  ber  3eit  Gäfar’848)  bie  erften  germanifeßen 
©tämme,  ©angionen  unb  ©emeter,  gebrängt  reit  öftlicßen 
©ölfern  unb  begierig  naeß  8anb,  übet  ben  bisherigen  ©rengftrom 
befeßritten,  ßatten  bie  frueßtbaren  ©ane  ber  linfen  ©ßeinebene 
uon  ©taing  bis  ©traßburg  befeßt  unb  bie  feltifcßen  ©iebiomatrifer 
in  ba8  25unfcl  beS  ©ogefuS  gurücfgefcßeucßt.  jpier  war  bie 
©efaßr  am  größten  burtß  neue  ©ölfergüge,  bie  ben  ©ßein  über* 
a»*; 


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25 


fdjreiten  mürbe«,  bie  mistigen  ^äffe  beg  SDonnerSbergeä  unb 
beö  .IpattgebirgeS  gu  »erlieren  unb  ben  (Strom  ber  germanifdjen 
(Einmanberung  bis  in  baö  Saarbecfen  »orbringen  fehen  gu 
muffen,  Schon  Slgtippa  batte  beSljalb  in  (Erfenntnifj  bet 
ftrategifdjen  unb  politifdjen  Sebeutung  biefeö  fpiafceä  ber  ÜJiain* 
münbung  gegenüber  ein  fefteö  Stanblnger  angelegt.  ©rufuS 
mäblte  ibn  gum  ‘ÄuSgangöpunfte  feiner  Operationen  unb  grünbete 
mit  ber  2.  Legion  äugufta  unb  ber  14.  ©emina  eine  umfang* 
reiche  Heftung,  ba§  castrum  Moguntiacum  39).  Sei  einer  Sänge 
»on  6500  gufj  lag  eö  auf  ber  Jpühe  gmifchett  bet  heutigen  Stabt 
fölaing  unb  bem  ©orfe3ahN>ach-  6ine  ©oppelgufjmauer,  flanfirt 
»on  mächtigen  Shütmen,  umgog  bcn  Sagetraum.  Son  hinten 
(==  Fontana)  bis  gum  Saget  legte  ber  »orforglicbe  Selbherr  einen 
30,000  §ufj  langen,  in  feiuet  größten  (Erhebung  125  gujj  h^h«« 
JKquäbuft  an.  Seinen  Flamen  bemabrt  noch  heute  bie  ©rufen* 
lache  = Drusi  lacus.  3a  felbft  über  bem  fRtjein  befeftigte  er 
eilten  Srücfenfopf,  baö  heutige  (Safte(l  = castellum,  unb  fafjte  ba» 
mit  feften  §u§  auf  bem  rechten  Siheinufer.  3m  Sngefidjte  be8 
großen  SBaffenplageO,  bet  ginnengefrönten  3toingburg  fonnte  bieä 
am  leicpteften  gefchehen.  Deftlich  ber  Heftung  bem  Scheine  gu 
lag  baö  municipium,  bie  bürgerliche  Stabt,  roo  bie  cives  Romani, 
bie  römifdjen  Sürger,  in  abgefonberten  Duartieren  neben  ben 
(Eingeborenen,  ben  cives  Taunenses,  ihre  ©efchäfte  betrieben, 
©aä  rheinifcbe  Scbiefergebitge,  beffen  groffe  (Enbpunfte  fSJtaing 
unb  (Sein  bilben,  fieberte  ©rujuö  bitrch  Heine  ^eftungäanlagen. 
©aö  Castellum  Bingium  = Singen  beefte  ben  fRahethalpafj; 
in  Vosalia  = 3Sefel  unb  Baudobriga  = Soppart  lagen  römifche 
SJiilitärabtheilungen.  3n  letjterer  Stabt  garnifonirte  fpäter  ein 
ärtiDerieregiment. so)  ©er  michtigfte  sPunft  unterhalb  Soppart 
mar  bie  fBiünbungSgegenb  ber  5)iofel,  mo  ftdj  »on  Often  h*t 

(195) 


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26 


baß  fcatjntfyal  öffnet  unb  fidj  nach  SSeften  Me  SBaffetBetbinbung 
nadj  Syrier  erftrecft.  25rufuß  muß  tyier  ebenfalls  ein  GafteÜ  ge* 
grünbet  ober  ein  oorbanbeneß  oerftärft  haben  gum  ©dju$e  ber 
©egenb  gegen  bie  (Sinfälle  ber  (5t?eruöfer  aus  bem  £abntbale, 
unb  Conlluentes  = (£obleng  wirb  beßbalb  ftbon  Bon  ©ueton  alß 
•^auytort  erwähnt.31)  SBie  eß  bie  SRatur  ber  ä^alöffnungcn 
Borfdjreibt,  erbeben  fidi  aud)  befeftigte  Säger  im  SBieber  SBaffin 
in  Antumn;icum  = ®nbernacb,  an  bet  ÜRünbung  Der  9tbr  in 
Sentiacum=@ingig  unb  am  ©nbe  beß  tbeinifdjen  SDurdJbrudwß 
an  ber  ©teile  Bon  Sonn  baß  castra  ßonnensia  gegen  bie  auf 
bie  JRemer  fdjen  feit  ©afarß  Beit  erbitterten  ©Dgambrer.  CScln 
unb  baß  grofje  ©tanblager  auf  bem  gürftenberge  bei  Xanten 
bilbeten  ben  äbfdjlufj  biefeß  riefigen  Sertbeibigungßfyftemß  im 
Serben. 

3og  fid)  bä^ft  wabrfd)einlidb  fd^o«  in  ber  jfeltengeit  eine 
.panbelcftraffe  Bon  ben  5Raingegenben  ben  IRbein  aufwärtß  gut 
fRetfavmünbung  unb  längß  ber  3U  b^nber  burd)  baß  Sbor  oon 
Seifort  in  baß  9i^onetl)a!,  fo  war  eß  bie  gweite  £anblung  ber 
JDefenfioe  Bon  ©eiten  beß  erften  tömifeben  gelbberrn  am  fRbeine 
bie  Stellungen  am  linfen  SR^einufer  bnrdj  eine  grofce  SDiilitär* 
ftrafce  gu  oerbinben.  Söaren  bie  gebahnten  Jpeerftrafjen  fdion 
für  eine  aggrejfioe  $)olitif  Stom’ß  notbwenbig,  fo  war  bie  ÜHn= 
legung  einer  großen  Serbinbungßftrafje  Bon  ber  ©dbweig  biß  gur 
fRorbfee  noch  unerläßlicher,  wenn  eß  fidj  am  iRl)etne  in  erfter 
tdiuie  um  Sicherung  eineß  wenig  fultioirten  Sanbeß  mit  feinbfeliger, 
unbegwungener  Seoölferung  banbeite.  Sßefeftiguncg  bet 

9tb«inftra§e  Bon  Slugft  nad)  ©öln  mußte  nach  Anlage  bet  $£bal* 
bedungen  bie  erfte  SSRaßnabme  gut  ftänbigen  Sefeßung  beß 
linfen  iRbcinuferß  fein.  2)aß  ©ebot  ber  Äriegßpolitif  ging  b*er 
febem  anbern  Sntereffe  Boran.  SERit  bem  JDurcbbreöben  bet 

(796) 


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27 


<Stra§e  burd)  EBülber  unb  Sümpfe, 3 s)  bem  Unternehmen  beö 
langwierigen  unb  foftfpieligen  Sttafjenbaueä , ber  j giefetung 
»on  Baumaterial,  bet  geiftung  »on  ©pannbienften  trat  bie 
romijdje  Sultur  in  bie  erfte  birefte  Berbiubung  mit  ben  ganbeb« 
cinwohnern.  ©urd)  bie  grotynbiefte  lernten  bie  germantfdpfeltiicben 
Bewohner  beb  fft^eint^aleS  bie  SHacht  ber  römifchen  ^erridjaft 
lernten,  unb  auf  bet  fReichbfttafie  30g  nact)  bem  gegionär  unb 
bem  cursus  publicas,  bet  fReichbpoft,  balb  auch  ber  römifdje 
£änblet  einher,  ber  bie  Früchte  füblicher  Snbuftrie  gegen  bie 
9laturprobufte  norbttdjer  ßanbwirthichaft  eintaufcbte.  ©em  fDiatb 
folgte  9)letcut  auf  bem  ^u§e!  Ein  ben  mit  Wraben  unb  Bruft* 
waU  gefdiütjten  .^auptfttafjen  fviae  consulares  unb  militares) 
toaren  in  beftimmten  Entfernungen  Wet'äube  $ur  Unterhaltung 
einer  gewiffen  iHngatjl  non  ^fetben  angebracht,  §)oftftationen 
= mutationes.  Bon  Slagemarfcb  $u  Sagematfch  waren  Etappen 
= mansiones  errichtet,  wo  bie  marfchirenbensSEruppen  lagerten,  unb 
bie  reijenben  ©taatbbeamten  übernachteten,  ©ic  Äoften  für  bie 
3>oft,  bie  Unterhaltung  ber  Stationen  unb  Etappen  fielen  ben 
|)rooinjialen  311.  ©0  mürbe  ben  Einwohnern  ber  ©taatbftrafjen 
jwat  eine  Saft  aufgebürbet,  aber  mit  ihr  fam  bie  Berührung 
mit  ber  Eultnr,  bie  Befanntfdjaft  mit  römifcher  Sprache  unb 
©itte,  ber  Eluffchmung  beb  .panbelb,  ber  Slubtaufch  bet  ^robufte. 
©ie  SRömerftrafeen  finb  am  h et n bie  (Sultur Leiter! 

gag  ber  großen  Eljrenftrafje  bie  Berbinbnng  be§  fftorbenb  mit 
bem  ©üben  ob,  fo  burchfchnitten  biefe  grofje  Dperationblinie 
eine  Elngahl  oon  JQuerftrafcfn,  bie  längft  ben  Shalungen  hintiefen. 
Ein  ben  Äreujungöpunften  ber  ©trafcenjüge  entftanben  natürliche 
Berfehrömittelpunfte;  neben  bem  Eaftell  bort  entftanb  gewöhnlich 
eine  ^anbelöftätte,  ein  Municipium  ober  ein  Civitas.  jgjatte 
Sluguftub  gpon  alb  Elubganggpunft  ber  ©trafjenfpfteme  Wallt  eng 

C7Ü7) 


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28 


(unb  35eutfd?lanb8)  beftimmt,  fo  begann  ber  (ff?ef  feines  ©eneral« 
ftabeS,  SSgrippa,  mit  ber  9(u8füt?rung  ber  widrigen  SJiaffregel 
Qjallien  mit  bem  9it?e in  in  ben  ftrategifdjen  .^auptlinien  in 
birefte  Serbinbung  gu  bringen.  S5a8  neue  tömifdje  ©tragen* 
fpftem  erhielt  feinen  füfittelpunft  in  bem  ;um  |)auptbepöt  et» 
wählten  Stier,  ba8  non  ber  JRIjeinebene  in  einem  fixeren  Sufeu 
gurücfgegogen  in  erfter  £inie,  wie  fdjon  erwähnt,  bie  5Bort^eile 
einet  gebecften  ©efenfiofteUung  gemährte,  ftaft  in  bet  ÜHitte 
gwifd?en  Ober»  unb  9tiebcrrl?ein  bot  fid)  non  l?ier  au8  bie  leidbtefte 
Serbinbung  mit  ben  rfyeinifd'en  ©renjtanben  unb  feinen  brei 
£auptfeftungen  Goln,  fOtaing,  ©trafjburg  bar.  9tad?  einem  bet 
SSJtarmagen  gefunbenen  9DReilenfteine  l)atte  »bie  -fjeerftrafje  nad? 
Geht,  bie  auf  bet  .£>öl)e  beS  linfen  Si?alranbe8  ber  SRefel  führte, 
9lgrippa  felbft  angelegt.  £>ie  23orftcfee  ber  ©ermanen  am  fRieber« 
rl?ein  gur  3^it  beS  9(uguftu8  malten  biefe  Serbinbung  in  erfter 
8inie  nötl?ig.  S)ie  zweite  .£>auptftraf?e  oerbanb  auf  ber  fürgeften 
8inie  beS  alten  S6lfetn>ege8  über  ben  .£mnb8rücf  Stier  über 
Singen  mit  fDtaing.  ©ie  50g  fid?  non  Singen  gugleid)  ab  3U 
ben  römifdjen  Drtfcbaften  bei  Gobieng  unb  oertrat  auf  bieier 
©trerfe  bie  glufefatyrt,  ba  n)af)tfd?einlid?  ber  fRI?ein  am  Singer« 
Iod>e  bamalS  nod?  nid?t  fdjiffbat  roar.  2)ie  britte  ^>auptftra§e 
mufete  non  Srier  nad?  ©trafjburg  gieljen.  Unb  gwar  gefd?al?  bie? 
in  ber  erfteu  ^eriobe  ber  römifd?en  Dffupation  übet  5Jle$ 
= Divodurura,  ba8  nad?  Stier  ben  roid?tigften  $lafj  in  ber  SReferee« 
ftellung  be8  9Rofel*@aarbeden8  bilbete  unb  ben  Süden  ber  gront 
non  9Raing«©trafjburg  becfte.  ©ie  gog  über  ©aarburg  burd? 
ben  >})afs  non  3<«bern  nad)  bet  fteftung  be8  (SIfaffeS. 3 *)  9118 

in  fpäterer  Seit  febcd?  eine  birefte  Serbinbung  gwifcfeen  ben 
beiben  ^läfcen  fRotf?  tl?at,  baute  man  einen  neuen  ©trafcengug. 
Ssiefet  gog  non  Srier  nad)  ©üboften  über  ben  SaruSwalb,  über 

(798) 


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29 


@t.  SBenbel  nach  bem  Älofter  äßerfdjweilet  bei  $omburg,  wo 
er  fidj  mit  ber  bireften  Straffe  »on  9)te£  nach  ÄaijetSlauten, 
bem  DonnetSberge  unb  nad)  Süjet)*5Rainj  freute.36)  Von  bott 
30g  feine  Valjn  quer  burd)  baS  pfäljifche  £>mterlanb  (=3Seftrid)) 
übet  fpitmafen,},  längft  ber  lauter  uad)  Slltenftabt,  um  bort  in 
bie  grofce  SR^eiuftrofee  einjumünben.  2tUe  biefe  #auptftrafjen 
waren  unter  ftcfy  butd)  Querftrafien  (.compendia)  »ertnüpft, 3e) 
bie  unfern  Vidnalwegen  entfprechenb  urfprüngli’dj  non  ben 
fPromngialen  $nt  Vetbinbung  ihrer  SHebetlaff  ungen  angelegt, 
jebod)  con  ben  Gruppen  ebenfalls  al§  ÜRarfchroute  benujjt 
würben.  ©o  umfdflang  baS  roeftliche  S^ltjeingebiet  in  turjer  Beit 
ein  BoQftänbigeSStefcDon^eerftrafjen,  welche  bie  Jpauptafcern  für  ben 
militärifdjen  unb  commetciellen  Verteilt  würben.  Die  ©tragen, 
bie  nach  beftimmten  ©efe^en  liefen  unb  münbeten,  waten  bie 
natürlichen  ©rünber  ber  ftäbtifchen  SSnfieblungen,  bie  balb  längs 
ben  Straffen,  an  ben  Äreujungen  betfelben  unb  an  ihren 
SJtünbungen  als  bie  (SrpftallifatiouSpuntte  ber  (Jultur  in’S  8eben 
traten. 

3lber  bet  römifdje  2lar  blieb  nicht  auf  bem  Unten  JRbeinufet 
befdjräntt,  er  richtete  feinen  ging  auch  in  bie  rechtSrheiniichen 
©aue.  Das  Quellgebiet  ber  Donau  ift  auf  baS  innigfte  mit 
bem  Stheingebiet  »ertnüpft;  im  Sterben  grenzen  bie  SJtaingewäffer 
an  bie  Donaujufiüffe  Siaab,  SUtmühl,  .SBernih,  im  ©üben  finb 
bie  Stecfarqueöen  ben  Donaujuflüffen  ber  rauhen  91  Ip  in 
nädjfter  Stadjbarfchaft.  Der  Qberthein  umfliegt  in  großem 
Vogen  bie  Donau,  unb  bie  Stichtung  beS  DonaulaufeS  fteht 
fenfrecht  auf  ber  beS  SthdneS,  fo  bafs  ein  Vorbringen  längs  bem 
Donauthale  in  bkefter  Stiftung  auf  ben  Sthein  ftie§.  Stach 
ber  Veftegung  ber  Vinbelicier  unb  Othätier  war  ben  Steinern 
biefer  8änberbufen  bloSgelegt,  unb  ba  bieS  8aub  nach  bem  9lb* 

(799) 


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30 


gug  bet  SJlarcomannen  nach  SÖßfymen  oon  ©inmobnern  entblößt 
war,  belebten  bie  tömifcben  Goborten  im  Saufe  beS  1.  3abr* 
buubertS  n.  ©br.  ob««  SJiberftanb  ba$  jefcige  babifdje  uub 
muttem  betgifcbe  ©ebiet.  ©attiet,  bie  in  ihrer  £eimatb  nichts  gu 
oerlieren  batten,  fauben  fid)  als  Änfiebler  ein,  unb  eine  gmei» 
heutige  ©eoölferung 37)  gaQitcb*r6miicber  3noafioB  bemächtigte 
fitb  beS  fruchtbaren  fRecfargebieteS  unb  meiter  bis  gut  SBaffer» 
treibe  gmifcben  fRegnijj  unb  3>onau.  SBon  hier  auS,  bem  fo» 
genannten  SDecumatenlanbe,  bebrcpte  bet  Legionär  bie  Setbinbung 
bet  fDtainlinie  mit  bem  innern  fDeutfcblanb,  unb  oon  fDiaing, 
SBinbifdb  unb  SRegenSburg  au$  f^ob  fitb  bicfer  Sänbercomplejr 
a!8  Äeil  in  SDeutfdjlanb  ein,  Offen fiobemegungen  non  ©ubmeften 
auS  gu  bemalen  unb  gu  oerbüten.  Säjjt  fi(b  auch  ein  birefter 
©trafjengug  gut  SSerbtnbung  beS  £Rt)ein=  unb  DonaulanbeS 
gmifcben  SORaing  unb  SiegenSburg  bis  jefct  nicht  nacbmeifen,  fo 
liegt  bodj  bie  SBermutbung  febt  nabe,  bafc  na<b  SSoUenbung  bet 
gto§en  SefeftigungSltnie  oon  bet  JDonau  gunt  fDRain,  bem  fo» 
genannten  babtianijcben  SBalle,  bie  SRljetn*  unb  JDonaulinie  burcb 
eine  bamit  parallel  laufenbe  ©trabe  auf  fiem  fütgeften  SBege 
oetfnüpft  mat.  Sender38)  glaubt,  ba|  eine  folcbe  in  bet  9Räbe 
oon  ©üngburg  bie  fDonau  uberfcbritt  unb  burcb  baS  ^ilStbat 
na<b  ©Slingen  unb  an  ben  SRecfat  bis  ©annftabt  lief,  um  übet 
Srucbfal  bei  ©peoet  in  bie  grobe  fRbeinftrafje  eingumünben.  33on 
beS  ungmeifetbaft  röraifcben  Stabten  nennen|mir;  in  biefem  Söufen 
9ReicbeS  Solicinium  «**  Sumelocenna  = ORottenburg,  Civitsas  Aquen 
sis  = Saben»©aben,  Lupodunum  = Sabenbutg  Civitas  Severiana 
Nemetum  = £eibelbetg. 3 9)  SRadj  betSSefefjung  beS CR^ein*5Donau* 
minfelS  oerbreitet  ficb  bie  romtfcbe  ©ultu*  baS  SRecfartbalfaufmärtS 
bis  gum  SRitteHaufe  beS  SRainS,  unb  bie  ^aubelSoetbimbungen 

teilten  oon  bter  auS  burcb  baS  SRegni^t^al  bis  nach  Söbmen 

(800) 


1 


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31 


trafc  an  bet  Saale  bis  gum  2bütingetwalb.  *")  SSäbrenb  bie 
Sanbebmtbeibigung  beb  ©rengwafleb  in  ©übweftbeutfcbtanb  bie 
(Rabientbäler  bet  jtingig,  SRibba  unb  bet  fränfifcben  ©aale  in 
itjren  ©cbujj  nahm  unb  über  ben  $aunub  an  ben  SRljein  münbete, 
war  eine  ähnliche  SBefifcnaljtne  SRorbweftbeutjcblanbb  bei  bet  gang 
»etidjiebenen  Statut  biefet  im  füMid^en  ütjeil  »on  bet  Sahn  bib 
gut  Sippe  aub  'ParaQeltbälern  beftebenben  ©aue  unb  bet  im 
nctblidjen  Stbeil  ebne  geffeln  fidb  etftrecfenben  ©bene  nicht 
möglich,  ©enn  war  auch  nach  2lubwanberung  ber  ©pgambrer,41) 
nach  ben  gelbgügen  beb  ©rufub  unb  beb  ©emitian  bib  gut  @lbe 
unb  bib  gut  ^Ptotnng  Sranbenburg  bet  5Rert>  bet  notbifeben 
©tämme  gelähmt,  jo  gerbracb  hoch  halb  barauf,  alb  ber  grätet 
bereitb  an  bet  SSefet  ben  (Recbtbfptuch  fpradj,  bie  fübne  ©t* 
bebung  Slrmin’b  unb  bet  ©beruhter  bie  tömifchen  Slblet  am 
rechten  Ufer  beb  Untertbeinb.  ©ie  3wingbutg  Sllifo  war  get» 
ftött,  bet  SRb««  ft«  bib  ÜJiaing!  SBie  ein  eleftrifchet  Schlag 
butch3U(fte  ber  ©ieg  im  Üeutoburget  SBalb  bie  gange  Sinie  bet 
angtengenben  getmanifeben  Seifer,  einen  gweiten  ©imbetngug 
fürchtete  Sluguftub  unb  feine  (Rätbe!  ©och  bie  3wietta<bt 
jmifchen  ben  SRorbbeutfcben,  bie  ©betubfet  an  bet  ©pifce,  unb 
bem  SReiche  im  ©üben,  bab  SRatbob  in  (Böhmen  unb  SDRäbten 
geftiftet  hatte,  oerbinberte  bamalb  bie  Sernicbtung  bet  tömifchen 
$errfchaft  am  (Rhein  unb  an  ber  ©onau.  ©ermantcub  machte 
in  (Rorbbeutfdjlanb  bib  ffiefet  unb  @lbe  feine  ©iegebgüge;  fein 
(Ringen  ieboch  mit  Sfrmin  [blieb  unentf  (hieben.  ©en  ^ringen 
töbtete  balb  bie  ©ifetfucht  [beb  ©äfarb,  ebenfe  oemichtete  bet 
(Reib  in  33älbe  bie  auffeimenbe  ©aat  bet  ©inbeit  (Rotbbeutfch* 
lanbb.  ©ermanicub  fiel  wie  Slrmin  !|  ©et  Sebtänget  unb  bet 
(Befreiet  ©eutfchlanbö  fielen  ;betn  gleichen^  Soofe  gum  Opfer. 

SlQein  auch  uach  bem  3«fuQ  beb  ©betubferbunbeb  [wagte  bet 

(Ml» 


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{Römer  nicht  mehr  ben  33erfud)  bie  äßälber  ©eutfdbianbß  mit 
feinen  Gehörten  ju  litten.45)  9lm  {Rieberrbein  blieb  am  rechten 
Ufer  ein  fcfymaler  8anbftrid?  alß  ©renglaub  unbewohnt  joberlalß 
SBeibe  benutzt.  SDurdb  eine  ftarfe  ©renjmehr  non  Gafteflen, 
Stürmen  unb  SBäDen  becften  fie  ben  {Rhein  auf  ber  ©trecfe  neu 
Gmmericb  biß  jur  Sippe. 43)  SBirb  ftch  nach  ben  Unterfudhungen 
©chnetberß  nicht  bezweifeln  laffen,  bafi  auch  auf  bem  redbtenlfRhein* 
ufer  ©trafcenjüge  in  baß  Snnere  35eutfdhlanbß  an  bie  Gmß  unb 
Söefer  führten,  fo  läfjt  ftdj  für  bie  Slnbauet  ber  ©trafcenbenufjung 
nach  ben  ^elbjügen  beß  ©ermanieuß  Don  (©eiten  ber  {Römer 
!ein  9lnhaltßpunft  gewinnen.  2)aju  fommt  |ber  llmftanb,  bafj 
fid?  auf  bem  rechten  «Rtjeinufcr  biß  Göln  hinauf  nicht  eine 
römifdhe  ©tabtanlage  nadjweifen  vlägt, .fein  Umftanb,  J>er  unß 
nur  auf  einen  jd)Wadben  SBerfeljr  am  {Rieberrhein  .jroifdben  ben 
{Römern  unb  ben  (Germanen  beß  rechten  3R^einufer§  fdhlie§en 
ld§t.  SDie  (Germanen  jagen  fidh  gerabeju  Dom  rechten  fR^einufer 
in  baß  Sanbeßinnere  jurücf,  unb  ber  SRIjein  war  hier  jweiJSabt« 
hunberte  lang  bie  ©renge  jwifdhen  ben  {Römern  unbß  ben 
£>eutf<hen. 44)  SDet  {Betfeljr  wirb  | fidh  auf  ben  nothwenbigften 
Slußtaufdh  non  3nbuftrie=2lrtifeln  gegen  {Rohprobufte  befdhränft 
haben. 

Raffen  wir  baß  JRefuItat  ber  auf  |ben  natürlidhen  33oben* 
»erhaltniffen  bafitenben  SBefetjung  r^einifc^en  ©tromgebieteß  burdh 
bie  {Römer  jufammen,  fo  läfet  fich  bet  auf  ber  ©tunblinie  SafeU 
Ulm  ruhenbe  Sänberftrid) , bet  fich  innerhalb  beß  ©renzwalleß 
an  Sauber  unb  SRaht  gufpifd,  biß  nadh  Santen  hinab,  mit  einem 
auf  ber  2)onaulinie  aufftehenben,  im  ©üben  am  breiteften  auß* 
gebehnten  Äeile  Dergleichen,  ben  bie  römifdhe  Gentralftaft,  bie 
Dom  {Rhonethal  unb  über  bie  Slpenpäffe  Don  Stalien  auß* 
ging,  hineintrieb  gwifdhen  ©aüien  unb  ©eutfchlanb.  3e  breitet 

(803) 


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33 


biefe8  Äeile6  ©urdjf  djnitt,  um  fo  nafjer  eine  ©egenb 
bem  VH n 3 r t f fSpunfte  ber  beiben  Jpebel  b eö  römifdjen 
(5ulturftrome8  lag,  bie  non  ©üboften  unb  fpdter 
tj auptf äd)Hd?  non  ©übweften  unb  SBeften  au8  (8nou 
Syrier,  lefctereS  fpäter  fRefibeng  ber  Äaifer)  an  festen,  befto 
energifdjer  unb  bauernberwirfte  berGrinflufj  römifdjer 
©efittung  unb  ©efinnung,  f üblidjer  Sprache  unb 
(Sitte,  gallifdj*italifd)er  3nbuftrie  unb  Sedjnif  eiu 
auf  bie  non  ben  SBälfcben  befjerrfcf^ten  ©aue  ©üb» 
weftbeutf  d)lanb8. 

@8  tjiefce  „©ulen  nadj  Sitten  tragen",  wollten  wir  ben 
Gultureinflufj  ber  fRomer  auf  beutfdje  ©erljältniffe  in  ben  eingelnen 
©ebieten  be8  wirttjfdjaftlidjen  ?eben6,  be8  ^anbelSoerfe^ve,  ber 
Silbung  ^ier  ffiggiren.  3ut  ©enüge  Ijaben  gorfdjer,  wie  ©djöpflin, 
5Rone,  ©reuger,  ©rambadj,  galfe,  $)eucfer,  $autu8  jc.  barauf 
tjingemiefen.  3ebcd)  fann  nid}t  genug  betont  unb  Ijeroorgeljeben 
werben,  in  meid}’  intenfiner  äöeifc  bie  römifdje  ©ioilifation 
in  ben  gmei  3afyrl)unberten  ber  fRufee  am  fRfjrine  auf  unfere 
batbarifeben  ©erfahren  eingemirft  l}at.  ©ergleidjen  wir  bie 
©djilberung  ©ermauienS  bei  £acitu8:4S)  „im  ©angen  ooH 
rauljer  SBälber  unb  ^ä§lid^er  Sümpfe",  — eine  ©djilberung, 
bie  im  ©rofjeu  unb  ©angen  tor  bem  ©rfdjeinen  ber  fRömet 
aud)  für  baß  SRljeintljal  gelten  mochte  — mit  ben  entgürfenben 
Söilbetn  in  beß ' SlufoniuS  fJRofefla  auö  bem  4.  3af)rf}unbert, 
ben  niebrtgen  3uftanb  be8  ^anbelS,  ber  im  ©innenlanbe  unb 
früher  aud}  im  fRljeinlanbe  auf  Saufdjnerfefyr  beruhte,  bie  33e= 
fdjäftigung  beS  ©ermanen  „gange  Sage  am  ^eerbe  unb  am 
Beuet  gugubringen,"  feine  Äleibung:  ben  SRarttel,  ben  ber  ©ern 
gufammenljält,  rol}  gebrannte  Söpfe,  feine  ©efäfse,  bie  Grblöd)cr, 
bie  5SoI}nungen  ber  ©eutfdjen,  ben  gegorenen  ©erftenfaft,  il)t 

XI.  259  . 3 (603) 


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34 


©etrünfe,  bie  ©antonalpolitif  mit  ben  ©tammegfürften,  bic 
rohen  Kehllaute  ber  ©ebitggfpradje;  Dergleichen  wir  biefe 
Silber  mit  ben  ©migfeügbauten  ber  rfyeinifdj*remifd)en  Stabte, 
mit  ben  tjerrlic^en  Stoncegefäfjen  aug  ©trurien,  mit  ben  SRarmor* 
bäbern  gu  Saben  unb  ben  2Jio}aifböben  gu  Sabenmeiler,  mit 
ben  ©rgriiftungen  unb  ben  $>urpurge»ünbern  beg  ©übeug,  mit 
ber  Söeinfultur  unter  bem  Patronate  ber  römifdhen  ©äfaren,  mit 
bem  gefdjloffenen  ©angeu  einer  römifdjen  ©entralpolitif,  mit  bem 
©lange  beg  Sicefaiferg  in  SDiaing,  mit  ber  Gücetonianifchen 
Sprache  ber  ©ebilbeten,  fo  »erben  ung  biefe  fünfte  eine  SBor* 
ftellung  dou  ber  aufjerorbentlichen  Gulturentwicfluug  am  JR^etn 
unb  in  Subbeutfdjlanb  geben  fönnen. 46) 

£>ie  Spraye  fü^rt  ung  al6  3eugiu  bie  grüßte  {Romg  cor; 
faft  äße  Söorter  bet  beutfdjen  Spraye,  bie  übet  bie  {Begriffe  in 
be8  Sacitug  ©ermania  tyinauggefyen,  bie  mehr  alg  bie  {Rothburft 
beg  SJiaterialg  für  bag  tägliche  geben  augbrücfen,  finb  ber 
»älfdjen  Sprache  entnommen.  25ie  tömifchen  ©otoniften  iu  ben 
Keinen  {Romg  am  {Rhein  lehrten  bem  ©pgamber  nnb  bem  ©Ratten 
bie  SJiauer  (rnurus)  bauen,  bie  Pforte  (porta)  einfügen,  bie 
Siegel  (tegula)  brennen,  ben  Kalf  (calx)  anmenben.  ©elbft  bie 
£auggerütfye:  ©imer  unb  Dhm<  ©djcppen  unb  gogel,  ©eibel 
unb  glafdje,  Keldj  uub  gafc,  Spiegel  unb  ©dpffel,  {Rab  unb 
Kette,  £ifd)  unb  Safel:  adeg  bieg  braute  ber  eingewanberte 
{Römer  bem  ftaunenben  ^rooingialen.47)  ©elbft  £olgf<huhe  uub 
stiften,  Kleiberfchranf  unb  'Pfühl,  bie  in  jebem  Sauetnhaufe  fich 
oorfinben,  finb  römifcfyer  abftammung.  ©eife  unb  $)ech,  Del 
unb  SBein  finb  ferner  offenbar  {Rohftoffe  füblichen  Urfprungg, 
baljer  mir  auch  ihre  Sereitung  erft  doh  ben  ©üblänbern  gelernt 
haben.  Unfere  Kohlenbrenner  brennen  noch  h«wte  ©ch®0^* 
»albe  ihre  SReilet,  »ie  eg  Sarro  unb  'Pliniug  oorgejdjrieben 

(8W) 


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35 


Ijaben. 4 s)  5Benn  aud)  unfere  9Jla§e  uttb  ©ereilte  im  ÜJlittelalter 
in  neric^tebenen  Reifen  bet  heutigen  ganbe  bie  alte  römifdje 
Benennung  Berloren  ^aben,  fo  ift  eg  bag  ^efthalten  bet  Ser* 
fyältnifjgahlen  ber  rßmifchen  2^eilma^e,  welche  unä  auf  bie 
9iömet,  bie  ©ohne  beg  SDRarg  unb  beö  OJierfur,  alg  bie  Sringet  oon 
SJlafj  unb©ewid)t  hinleiten.  gierten  biefe  ©türmen  algSßerthmeffer 
ein,  fo  wanberte  auch  mit  biefer  Umwanblung  be8  alten  Saufdj* 
hanbelö  bag  gange  ©pftem  ihrer  Söerth*  unb  ÜJlafjbeftimmungen 
in  ©eutfdjlanb  ein. 

aber  nicht  nur  bie  formen  aud)  ben  3n halt  beg  materiellen 
gebenö  änberte  ber  ferner  am  fRljein  unb  baburd)  fpäter  aud) 
im  innetn  üDeutfdjlanb.  S)a8  (Sinfalgen  unb  (Sinräudjeru  be8 
$leifdjeg  in  Botlfommcner  2öeife  lernte  ber  beutfd)e  Slcferer  Bom 
römiieben  Colonen.  Unfere  Utationatfpetfe,  wie  bie  ftrangofen 
Bon  ung  behaupten,  bag  ©auerftaut  haben  wir  Bon  ben  ©üb* 
lanbem  geerbt;  Äompoft= compositum  heifjt  baffelbe  jet)t  nod)  in 
oftfränfifdjen  SRunbarten.  2)ic  eingemachten  SJepfel  nerrathen 
burd)  ih«n  Sfamen  im  babifdfen  Dberlanbe  noch  jejjt  ihren 
UTfprung:  ©ummiftopfel  nennt  fte  bort  bet  ganbmann,  nid)t  non 
©ummiatabicum,  fonbent  Bon  composita  poma. 4 9)  aepfelfdjnihe 
lernte  bet  ©uebe  Born  civis  Romanus  an  bet  ©onne  börren;  biefer 
wieg  ihm,  wie  man  ben  ©enf  bereitet,  bie  SRettige  folgt,  Swiebel 
unb  5Jtug  einmadht.  „$aben  bie  ©eutfehen,  fragt  SJione,  ÄSfe, 
Semmeln,  Qjffig,  9Jloft,  Sutter,  Äudjen  erfunben,  warum  haben 
fie  benn  biefe  ©egenftänbe  Bon  caseus,  similago,  acetum,  mustum, 
butyram,  coctum,  genannt?“  ©dhwing*  unb  Soümehl  finb 
ebenfaflg  römiid)e  ©rrungenfdjaften,  unb  Äägfudjen  unb  Jtli^c, 
©triebein50)  unb  Sorten,  warum  werben  fie  am  SRhön  unb  in 
©übbeutfchlanb  am  ledferften  bereitet,  — ohne  ber  Äodjfunft  bet 
norbifchen  .Rüche  bamit  gu  nahe  treten  gu  wollen!  — unb  warum 

3*  C«04) 


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36 


gilt  bie  9Rel}lfpeife  nodj  fyeute  bott  »ielfad}  bem  Sanbmann 
alä  eine  Sdjüffel  feineg  URenu’8,  bie  einen  mefentlidben  Sljeil 
bejfelben  bilben  mufj? 

Slbet  nidjt  nur  biefe  ^robufte  bet  (dbmargen  Äunft,  aud) 
felbft  bie  fRot)probufte  gum  großen  £ljeil,  benen  je|t  fRiemanb 
meljr  ben  fremben  Slauffdjein  anfeljen  »iß,  finb  BtembUnge,  bie 
auf  unferemSoben  afflimatiftrten.  „tyxe  ©Reifen  finb  einfad}: 
milb  roadjfenbeb  Dbft,  frifdjeg  SBilbpret  unb  geftanbene  URild?", 
fo  fdjübert  Sacitug  ben  täglidjcn  Äüdjengettet  bet  germanitdsen 
,£jau8frau. 5 ')  IRatürlid}!  Sie  Ratten  nid;t§  beffeteS;  mellten 
fte  fid}  beffer  näljren  unb  fid)  feiner  Reiben,  fo  mußten  fte  »on 
iljren  geiftigen  Sormünbcrn  lernen,  ben  Stapg  gu  bauen  unb 
^ianf  unb  Sein  angupflangen.5’)  &ud)  jfoljlrabi  unb  fRübe, 
Sinfe  unb  (5rbfe,  Äümrnel  unb  Spargel  tragen  italienifdbe  fRamen, 
unb  mud)8  ber  Spfelbaum  in  unfeten  SBälbetn  urfprünglid}  milb, 
fo  „flammen  bie  cblen  Säume  unferer  ©arten  »on  Bweigen, 
bie  über  bie  9llpen  gebraut  unb  auf  ben  einljeimifdben  Stamm 
gepfropft  mürben."  53) 

SBirfen  leiblid^e  Sorgänge  auf  pfpdjijdje  ^Regungen,  fo 
fijnnen  mir  fdjon  »om  p^pfiologifdjen  Staubpunf te  aug  auf  bie  Ser* 
änberung  fdjliefjen,  bie  in  bem  ©etmanen  »erging.  Jpatte  ber 
©ermatte  fid}  Borger  begnügt,  fdjmeifenb  auf  ben  milben  ^>ö^en 
ben  Sät  unb  ben  Ur  mit  bem  Steinljammer  uiebetguljauen  unb 
bem  fdjnellen  $irfd)e  auf  gottigem  *})ferbe  nad)  gu  Ijefcen,  fo 
treten  mit  ber  oeränberten  Üebengmeife  neue  fReroen,  SRuefel* 
fafern,  ©eljirnfibetn,  anberg  geftaltete  Slutförperdjen  unb  bamit 
auch  anbere  Seelenregungen  ein.54;  glätte  fernmirfenb  ber 
IRemer,  blo8  burd)  ben  «ftanbel  auf  biefe  Setänberung  eingemirft, 
fo  märe  e8  in  Saljrtaufenben  »ietleid?t  erft  »er  fid}  gegangen, 
baff  ber  Stierbänbiger  bem  freien  Sägerleben  entfagte  unb  feinen 

(906) 


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37 


Äofyl  ruhig  baute,  allein  ber  birefte  ©tue!  beS  9iömer8,  bie  Um» 
geftaltung  bet  IRbeinebene  au8  Giebel  unb  ©umpf  gu  Reitern 
Fimmel  unb  lat^enben  gluren  gmang  ben  r^eiutfe^en  ©ermauen 
feine  SebenSweife  fctjneQer  gu  änbetn.  3Rur  bet  fiegenbe  gegionät 
war  im  ©tanbe  ben  belegten  t^einifc^en  Barbaren  in  Äürge 
gu  einem  Derbältnifjmäfcig  cinilifirten  (Solonen  umgugeftalten. 
©et  ©tern  bet  Steilheit  fanf,  bie  ©onne  bet  ©ultur  erftanb 
an  feinet  ©teDe! 

Allein  bie  ^Berührung  mit  9tom  wirfte  im  fRbeiutbal  nid^t 
nur  auf  bie  (Singeinen  unb  auf  ifyte  gebenSweife,  fonbern  auf 
bie  ©efammtfjeit  unb  bie  Umgeftaltung  ihrer  poütifcben  unb 
focialen  S3erbältniffe.  ©ie  ©täbte  mit  ihren  ©onfuln  unb 
©efutionen  blieben  auch  in  bet  ÜBerfafjung  römifcb,  naebbera  ber 
§tan!e  unb  aiemanne  bie  ©rengwebr  butd)brod)en  unb  bie 
{Rijeinebene  überfluttjet  batte.  Unb  biefe  ©täbte  mit  römifdjet 
SBerfaffung  unb  mit  ber  au8  {Römern  unb  ©etmanen  gemifebten 
33et>ölferung  würben  fpätet  bie  ©tunblage  für  bie  ©ntftebung 
einet  neuen  SBelt,  als  ba8  2ebn8fpftem  in  ütrümmer  ging.  SBegen 
bet  leichteren  Sßerbinbung  mit  bem  Dften  unb  ©üben,  bem 
©djufce  gegen  bie  ©infälle  bet  ©ueben  unb  ©bfliten  bu*<b 
ben  fR^emfhrom  waten  e8  not  allem  bie  ©täbte  be8  linfen 
{RbeinuferS,  welche  ih«  Sebeutung  unb  ben  Äetn  ibtet  S3e» 
»ölferung  auch  bureb  bie  SRacbt  bet  SSclferwanberung  hinbutcb* 
retteten.  3n  33afel  unb  ©trafjburg,  ©peper  unb  3Sotm8,  fDiaing 
unb  Göln  concenttirte  ftd)  bie  ©ultur  be8  ©übenS;  e8  waren 
biefe  non  ber  üRatur  begünftigten  §>läf}e  bie  S3rennpunfte,  wo 
fid?  römifebe  Sitte  unb  Sprache,  Literatur  unb  ©ecbni!  erhielt 
um  fte  fpäter  wieber  binauöleu^ten  gu  (affen  in  bie  SBälber 
@ermanien8.  $Ro<b  b^te  ia  ba&en  bie  graeiöfen  Bewohnerinnen 
biefer  {Rbeinftäbte  in  ihrer  natürlichen  anmutl)  unb  gefälligen 

(807) 


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38 


Äleibung,  in  iljren  tielfadj  fübtid}  gefdjnittenen  3ügcn  bie 
§ül}lung  unb  bie  (Erinnerung  an  italifd)e  ©ragie  unb  Slbftam» 
mung  erhalten.1  s) 

SDer  £anbel,  ber  SUjermometer  ber  (Eultur,  bet  feine  SBaaren 
biö  an  bie  D ft  fee  unb  bie  SBeic^fel  trug,  brachte  im  ©efolge 
and}  eine  Sßeränberung  ber  religiöfen  üBerljältniffe  am  ?R^ein. 
SDer  wettergewaltige  SBobawDbin,  ber  im  Sturm  ba^erfä^rt 
unb  bem  Kämpfer  ben  Sieg  oerleiljt,  »anbeite  fiep  gum  SerfeprS* 
gott  ÜKercnr,  ber  mit  ben  ©ütern  beS  £anbel6  ben  Segen  ber 
(Eultur  überhaupt  mit  feinem  ©olbftabe  peranlocft.  (ES  waren 
tetfdjiebene  Umftänbe,  welche  fdjliejjlid}  bie  ©leidffepung  beö 
.ftimmelStaterS  unb  beS  SBerfe^rSgotteS  perbeifüprteu.  SSom 
gallifdjen  QJlercur,  SteutateS,  fagt  (Säfar,  er  fei  ©ott  ber  greifen 
nnb  SSBege,  (Erftnbet  bet  Äünfte  unb  SBiffenfdjaften,  furg  er 
becft  ft£^>  in  feinen  (Eigenfdjaften  mit  bem  Silbe  ber  pßdffiteu 
(Eutwicflung  beö  #erme8=9Jlercur. 5 8)  Jeuto,  ein  9lame  für 
Söoban,  warb  nun  non  ben  ©ermanen  als  Stammtater  ber 
JDeutfdjen,  ton  bem  bie  Könige  ipr  ©efdjledjt  ableiten,  terepri 
SDa  nun  SBoban-Steuto  biefelben  |>auptattribute  beftpt,  wie  ber 
römifdfe  ÜJlercur  unb  ber  gadifdje  SeutateS:  ben  fdjitpenben 
gRantel  unb  ben  fcpimmernben  $elm, 5 7)  fo  war  bie  ©leidjfe^ung 
ber  pödfften  germaniftpen  ©ottpeit  burcp  Sermittlung  bc8  gatli» 
fcpen  SEeutateS  mit  bem  römifdpen  ©ßtterbilbe  leidet  perguftellen, 
baS  al8  Sinnbilb  beö  römifcpen  (EultureinfluffeS,  als  SSorbilb  beS 
SübenS  felbft  unb  feinet  SilbungSfaftoren  angefepen  unb  tereprt 
würbe.  93on  feiner  ©Ortzeit  finbet  ftdp  eine  foldje  torperrftpenbe 
Sngapl  ton  Sotitfteinen,  Silbfaulen,  Tempeln,  Seinamen,  wie  ton 
biefem  germaniftrten  5Eeuto«5Dlercuriu8.  Ueber  100  3nf<prif» 
ten,  bie  bem  50ietcur  gewibmet  ftnb,  gaplt  Srambacp  auf;  über 

20  Seinamen  inbittbualiftren  feine  allgemeine  rßmifdj=latinifdje 

(808) 


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39 


Begegnung. 58)  Sein©ultu8  utib  bet  feiner  ÜDtutter  fJRaja,  foioie 
feiner  ©emaljlin  {Ro8merta  waren  e8,  bie  ben  iBoben  für  bie 
Aufnahme  einer  neuen  religißfen  änfdfauung  oorbereiteten,  welche 
baS  rafdje  Aufleuchten  be8  ©terne8  non  3uba  mit  ermöglichten. 
ÜRercur  unb  9Jlaja  bereiten  bie  Anbetung  oon©hriftu8 
unb  üftaria  cor!  ©et  23erfei)r8gott  ebnet  bem  ©ott  ber  Siebe 
ben  Seg.  — 

@8  würbe  ben  {Raum  biefer  Sfigge  überf<±>reiten,  wollten  wir 
noch  ben  ©influfj  {Rorn’8  auf  bie  ©ntftehung  bet  höhere«  23ilbung, 
ber  Äünfte  unb  2öiffeuf<haften,  betreiben.  ©8  ift  natürlich, 
ba§  bie  {Römer,  bie  Umgeftalter  bet  materiellen  Serhältniffe 
am  {Rhein,  auch  bie  Schöpfet  ber  geiftigen  ©ntwicflung  am 
{Rhein  ««b  in  ©eutfdjlanb  würben.  Schrift  unb  sörief,  UReifter 
unb  Sdjule  »erbanfen  wir  bem  Süben  fo  gut,  wie  SRauetn 
unb  ^foften,  Del  unb  SBein.59)  ©a8  oierhunbertjährige  SSohnen 
neben  bem  erften  ©ulturoolfe  ber  ©tbe  gwang  im  fortwährenben 
Äampfe  gegen  geiftige  unb  politische  Ueberlegenheit  ben  freiheitS» 
burftigen  ©ermanen  alle  iBovtheile  ber  S3ilbung8elemente  fidj 
angueignen  um  ben  Äampf  um’8  ©afein  gu  befielen.  Unb 
brachen  auch  bie  ©rengwätle  unb  33urgen  en  blich  bem  Anfturm 
bet  länbergietigen  granfen  unb  Alemannen,  bie  römifche  ©ultur 
hatte  im  {Rheinlanbe  gu  feften  gu§  gefaxt,  al8  ba§  bie  {Barbaren 
fie  hatten  ganglich  oernichten  fönnen.  ©ie  ©eutfchen  liebten  bie  iß  et» 
eingeltheit  bet  SBohnungen,  fie  ha&ten  bie  ©inftiebigung  ber 
Stabte,  unb  fo  würbe  in  ben  ©tunbgügen  bie  rötnif<h*gallifche 
SBUbung  oon  ben  {Reften  ber  oom  Schwert  oerfchonten  ©inwchner 
erhalten,  ba8  ber  Fachwelt  gu  überliefern,  wa8  ber  Strom  nicht 
mit  fich  fortgeriffen  hatte.  SSurbe  nach  ber  ©roberung  be8 
linfen  {RheinufetS  Anfangs  be8  5.  3ahrh««bert8  auch  ber 
SBunberban  {Rom’8  in  ©eutfdflanb  gevftört,  getftelen  bie  9)aläfte 

(809) 


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40 


am  Diieberrbein  unb  bie  ganbbäufer  um  ÜRaing,  fanfen  bie 
Stempel  beb  Juppiter  optimus  maximus60)  unb  beb  Mercorius 
rex  non  ben  Äeulenfcblägen  bet  blauäugigen  Alemannen  getroffen 
in  Strümmer,  au8  ben  Sluinen,  bie  im  9itjetnt!jal  jerftreut 
lagen,  erblühte  neues  geben,  unb  bet  ©amen  bet  Bilbung 
rettete  ftd?  längft  be8  ©tromeS  gu  neuem  Krwadjen.  ©ie  9ln» 
gewöbnung  ber  recbtörbeinifcben  ©ermanen  an  römit'cben  8uyu8 
unb  römifcbe  JHeije  war  butd)  bie  ©ewalt  ber  Umftänbe  gu 
eingreifenb  »or  ftd)  gegangen,  als  baß  ber  Befifc  ber  Knfel, 
treten  auch  bebeutenbe  Slbgüge  an  ber  Krbfdjaft  ein,  nicht 
wenigfteuß  in  beu  IReften  gefiebert  geblieben  wate.  Jpätte  aber 
bamalß  ein  Särionift  bie  mattbergigen  ©aÜier  übermannt,  b*tte 
ber  DU)ein  nidjt  Sabrbunberte  lang  bie  ÜJiacbt  be8  getmanijeben 
greibeit8triebe8,  bie  ©ewalt  ihrer  KrpanftonSfraft  gebämmt,  bie 
Ufer  ber  goire  unb  ber  DUjone  ®ären  baö  Kapifa  beutjeben 
^elbenmarfefi  geworben,  in  ben  SBonnegnuen  SJlaffUia’ß  unb 
Stolofa’8  wäre  bie  heutige  Äraft  f<bon  bamalS  oerfiegt  unb 
»erborrt ! 

©er  rafebe  Uebergang  non  ber  Barbarei  gur  Uebercultur 
batte  bie  Äörper  ber  norbifebeu  Söiänner  entnerot,  unb  gu 
©flauen  be@  römifeben  ©eifteö  waren  bie  gelben  ber  KberuSfer 
berabgefunfen.  ©ie  Äümpfe  um  ben  JK tj c i n unb  bie 
©ultur  am  Di  bei n ermöglichten  eß,  baf)  im  langen  Düngen 
eine  neue,  bauernbe  Kpocbe  ficb  Borbereiten  fonnte:  bie  ber  Kultur« 
berrfebaft  getmanifeber  Diationen  in  Kuropa.  ©er  Dibeinftrom 
war  ber  Vermittler,  ber  ben  feften  Buub  fcblofj  gwifdbeu  bera 
freibeitßliebenben  ^»elbenfobn  be8  rauben  DiorbenS  unb  ber 
febimmernben  Braut  bc8  reichen  ©übenö! 


<jlü) 


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41 


9lttmcrfungcn. 

1)  ®ei  Einnahme  her  Sörcitelinie  war  bie  GMieberung  »on  Italien 
im  ©üben  unb  Großbritannien  im  Serben  beftimmenb.  gut  (Jap  bi 
üeuca  mürbe  Sap  IRijjuto  al8  ©ubpunft  angenommen,  meil  biefe  üinie 
baß  iHücfgrat  Stalien«  burepfepneibet,  bie  Vinic  üeuca*Wratp  aber  Stalien 
meftlicp  liegen  läßt. 

2)  Saß  bet  Etecfar  fiep  früher  meitcr  norblich  bei  Sribur  in  ben 
Schein  ergoß,  nnb  baß  feinem  ehemaligen  9aufe  biefe  i'anbfcbaft  be8  füb- 
liepcn  EJüttelrpeintpalcS  ipren  (Sbarafter  ber  Sicfebcne  mit  »erbanft:  bar* 
über  »erglcicpc  9J!one:  SabifcpeS  Elrepi»  1.  ©.  20  f. 

3)  3>ergleitbe  im  Elflgemeincn  über  bas  fDlittelrpeintpal  unb  feine 
natürlichen  SLiölferftraßen,  femie  über  bie  Scbeutung  biefe«  üänberftricbeS 
be8  SSerfafferS  .©tubien  jur  älteften  ©efepiepte  ber  tKheinlanbc"  l.Elbtp. 
auch  bcäüglicp  ocrfdjiebcner  anberer  mciter  unten  be^anbclter  fünfte  ift 
hier  nähere  Stufffärung  gegeben,  llcbrigenä  erlaubt  fuh  ber  ^erraffet 
bie  0ittc  feinen  EluSfüprungen  mit  ber  Karte  in  ber  £anb  folgen  ju 
mellen. 

4)  4>gl.  über  bie  poftglaciale  3<üt  in  (Europa  ba6  SMlb  con  Gbgar 
Cuinet  .Sie  ©cpöpfung*  2.  0.  ©.  1—21. 

5)  3n  ben  fohlen  beß  2apntpale8  fanb  jüngft  o.  (Sohaufen  OTammutpS* 
fnochen  neben  menschlichen  Knocpenfragmcnten;  in  ber  Glufenftcinerhefcte 
entbeefte  ©chaaffhaufen  fürjlicp  fRcnntpier*  unb  SJtenfcpenfnocpen  neben 
einanber;  »gl.  ba8  6orrespcnbcn;blatt  b.  ©efellfcp.  f.  Anthropologie  1875; 
u.  ben  Bericht  über  bie  VI.  SBerfammlung  beutfc^cr  9tntI;rop.  in  EHüncpen, 
3.  ©ißung. 

6)  0g I.  Safcpcnbucp  f.  ©efepiepte  u.  Elltcrtbumßf.  in  ©übbcutfchtanb 
1.  ©.  131;  au8  neueiter  3cit  »gl.:  .Kaufmann:  bie  Elltbelcetier  »or 
ber  remifepen  ^errfepaft,  6.  ».  'Paulus:  bie  Elltcrtpümer  in  Württem- 
berg, bc8  0efaffer8:  0emerf.  j.  präpift.  Karte  ber  SHpeinpfalj. 

7)  bell.  gal).  II,  4.  Siefenbach:  Origines  Europaeae  @.  129. 
Tacit.  Germ  28.  görftemann:  ©efep.  b.  beutfehen  ©praepitamme«  1. 
©.  317.  llfmger:  bie  Anfänge  ber  beutfepen  ©ejebiepte  @.  192  ff. 

8)  $olpmann:  germanifepe  Elltertpümcr  ©.  227  ff.  3e»ß:  bie 
Seutfcpen  u.  ipre  Elacpbarftämme;  ein  ncuefteS  ^auptmerf  über  biefe 
gragen  pat  Slmclb  geliefert  mit:  Einnebelungen  unb  SBanberungen  beut* 
feper  ©tämrne.  Siefe  Werfe  finb  auep  in  anberen  berührten  fünften 
ju  »ergleicpcn. 

9)  Söacmeifter : alemannifepe  Wantcrungen,  feltifcpe  Briefe. 

XI.  2S9,  4 (811) 


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42 


10)  üJJone:  fcltifdje  gorjchungen,  llrgefdji^te  teS  babifcbcn  2anbeß. 

11)  bell.  galt.  III,  12. 

12)  fDlommfen:  rem.  ©efch-  III.  ©.  219.  Safcbenbucb  f.  ©eiebiebte 
u.  f.  m.  1.  8.  223. 

13)  3uftin  43,  4;  üinbenfebmit:  bie  ’äüterttmmer  unferer  Ijtibntjt^en 
©erjeit  III.  23.  1 £>.  ©eilagc.  Ser  iHobenbadjer  gunb  mit  feinem 
etrurifeben  Äantharuß  gibt  einen  eclatanten  ©eweiß  für  baß  ©efteben  Pon 
fcanbclßcerbinbungen  beß  IKbcintbalß  mit  bem  ©üben  bereits  im  2.  3abr» 
bunbert  eor  (5^riftu«:  a.  a.  £>.  III.  23.  V.  £>.  lieber  porrömifeben  $>an* 
bei  pgl.  außerbem  ©entbe:  über  ben  etrur.  Saufcbhanbel  nach  b.  ©erben. 

14)  bell,  gall  IV,  20.  Plinius  nat.  hist.  34,  2:  cß  war  baß 
fogenannte  ?ipianif<be  Äupfer. 

15)  bell.  gall.  V,  12.  VII,  22. 

10)  Tacit.  Annal.  13,  57.  Arnmian  Marcell.  28,  5. 

17)  ©on  allen  inbegermanifeben  SBertern,  bie  ,©alj*  bebeuten,  fangen 
bloß  bie  in  ben  feltifcben  ©pracben  mit  h an:  corn.  haiein,  cytnr.  halan; 
pgl.  Surtiuß  gr.  @tpm.  ©.  501,  gief  pgl.  SBßrterbucb  ber  inbogerm. 
©pratben  S.  8k9.  ©aemeifter  feit,  ©riefe  ©.  53.  ©.  £>eljn:  baß  ©«4 
©.  33.  51.  Sie  Slnficfjt,  man  hätte  £>aU,  $>alle  Pen  ben  ©erfaufßbatlen 
genannt,  ift  einfach  lächerlich,  fftennt  man  einen  Crt  Pen  einem  ©cbäube, 
baß  beeb  nach  feiner  ©rünbung  entftanben  fein  mußte  ober  nicht  oiel» 
mehr  Pen  einer  charafteriftifcbcn  (Sigenfdjaft  beß  Sterrainß?  Sic  Analogien 
Pon  ©aljburg  unb  £>aüftabt  jinb  fprcebenb  genug;  ober  nannte  man  auch 
©aalfdb  nach  einem  ©aal  unb  niebt  nach  beut  Saljfluffe  ber  ©aale? 

1 8)  Safür  fpricht  außer  Stellen  bei  ben  Slutoren  bie  SBabrnebmung, 
baß  in  ben  Pfahlbauten  bie  Äornfrücbte  egpptifcben  llrfprungß  fmb,  fo 
©erfte,  Söeijen,  ^irfc.  ©irebo»:  Sie  llrbeoßlferung  (Suropa’ß  ©.  39,  40. 
Sen  ©ernfteinhanbel  am  iH^ein  jeßt  ©enthe  in  bie  3eit  Pon  $efiob  biß 
auf  £annibal;  pgl.  ÜJlonatßfcbrift  f.  rbcin.*»cftph-  ©cfcbidjtßf.  II.  1. — 3.  $). 
©.  10-15. 

19)  Revue  uumism.  1838.  p.  330. 

20)  Sie  fDlünjcn  pon  SBormß  befinben  ficb  in  pfäljifcben  pritat. 
ammlungen;  eine  prächtige  Äeltenmün^e  auß  Porcäfarifcbcr  Beit  befißt 
Dberft  ton  ©emming;  bie  Segenbe  auf  il;r  nennt  einen  Äönig  Pon 
Srier  Sntutiomar;  bie  meiften  ©pemplare  auß  ber  SRheingegenb  in  beffen 
Sammlung  finbflRachbilbungenmacebonifcherSEetrabra^mien,  fog.Philippiftt. 

21)  9icm.  ©efchidjte  III  ©.  213.  9lnm. 

22)  ©erm.  Slltertl;.  ©.  119.  23)  Dio  Cassius  53,  12. 

24)  Scß  ©erfafferß  , ©tubien  jur  älteften  ©efeh-  beß  SR^cinl.  * I.  S.  55. 

(811) 


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43 


25)  praecipuum  robur  Rhenum  juxta,  commune  in  Germanos 
4,  5.  Gallosque  subsidium,  octo  legiones  erant  jagt  Tacitus  Annal. 
Heber  bte  ©ertbeilung  ber  rcmifd)en  Legionen  Dgl.  ©rambad):  codex 
inscriptionum  Rhenanarum  ©gleit. 

26)  per  Rheni  ripam  quinquaginta  amplius  castella  direxit: 
Florus  IV,  12. 

27)  lieber  Argentoratum  = ©trafjburg  Dgl.  ©acmeifter  alemannifcbe 
SEBanber.  0.  115. 

28)  ©gl.  „©tubien*  I 0.  48  ff. 

29)  hierüber  u.  über  ba«  folgenbe  Dgl.  peucfer:  bie  beutjcbe  ÄriegS« 
gef<bid)te  ber  Urjeit,  3.  Sit).  %.  Sitter  unb  3at)rb.  b.  ©er.  D.  2tltertb). 
im  Sfjeinlanbe  XVII. 

30)  notitia  imperii  occidentalis  C.  39. 

31)  Sueton.  Caligula  8. 

32)  ©trajje  Den  strata,  atrata  Don  sternere;  viam  sternere  = einen 
2Beg  binitretfen,  weil  bie  ©äume  juerft  ju  fällen  waren. 

33)  peuder,  3.  Sfj-  beS  angef.  SBerfefl  ©.  252. 

34)  Jtinerarium  Antonini  ed.  Parthey  372. 

35)  SDie  batjeriftbe  fPfalj  unter  ben  Scmern  0.  60;  tjier  aud) 
©.  22  bie  Literatur  über  bie  Sömerftrajjen  am  Sfjtin. 

36)  ©lene’«  Urgefc^idjte  Den  ©oben  I.  0.  137. 

37)  Tacit.  Germ.  29. 

38)  'Peutfer  3.  5£f).  0.  399. 

39)  ©rambad) : ©aben  unter  rem.  $errjcf)aft  0.  21  ff.  'JJicne’S 
Urgejtbicbte  d.  ©ab.  I.  0.  204  ff.;  pauluS  l)at  allein  in  SEBürtemberg 
über  600  rämijdje  2Bobnpla&e  entbeeft;  über  Solicininm  Dgl.:  Ublanb'S 
©(triften  $.  Sefd),  b.  SD.  u.  0.  8 ©.  ©.  269  ff. 

40)  ©gl.  bie  ©roncefunbe  Don  Überfranfen , bie  jur  ©ergleicbung 
aufgeftellt  waren  in  ber  präl)iftcrifd)en  SluSftellung  ©atjern«  in  SBlümben 
Sluguft  1875. 

41)  Sueton  Tiber.  9,  Octav.  21. 

42)  ©ei  bem  ©eftreben,  bte  ll;at  SlrminS  ju  eerfleinern  ober  gar 
ju  leugnen,  weifen  wir  auf  biefe  Ibatiatbe  bin,  bajj  ohne  Slrmin«  3S^at 
ba«  rechte  SR  beinufer  nitbt  frei  geworben  wäre  Den  römifebem  SDrucfe. 
9EBa«  bie  Semer  teiften  fennten,  beweift  ©ermanicu«;  ebne  'JlrminS 
SEBiberftanb  hätte  biefer  fieser  SDeutfcblanb  bi«  jur  (Slbe  remanifirt,  unb  bie 
ffranfen  wären  unmöglifb  gewefen  sc. 

43)  ©tbnetber:  ©eiträge  jur  alten  ®efdj.  u.  Stopograpb-  beö  Sbeinl. 
1.  u.  5.  Selge. 

(BIS) 


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44 


44)  Taeit.  Annal.  12,  54.  ©cbneiber  1.  geige  ®.  73. 

45)  Tacit.  Germ.  befenber«  5 — 25. 

46)  ÜJian  ogL  mit  ben  ©ebilberungen  beS  Stacitu«  bie  bamit  über» 
einftimmenben  gunbe  een  ber  Sürfbevner  ^Ringmauer,  bie  febr  wahr» 
fcbeinlicb  germaniftben  llrfprumjä  iinb;  im  Sürth-  ?Ütertbum«Derein. 

47)  ÜJlone’6  Urgefcb.  I.  S.  84  ff. 

48)  üftone’fi  Urgefcb.  I.  ©.  87. 

49)  ÜRone«  Urgeftf).  I.  ©.  98. 

50)  Stribeln  ober  ©traubein  (in  ÜJlittelfranfen)  een  striblitae  abju» 
leiten;  Säte  giebt  ein  SRecept  ^iefür  fc^on  170  3abrc  p 6br-  an;  »gl. 
ÜRone  I.  ©.  101. 

51)  Tacit  Germ.  23.  52)  ÜRone  I.  ©.38. 

53)  ÜJione  I.  ©.  45.  5$.  £>ebn : ßulturpflangen  u.  $au«tbiere 
©.  451  ff. 

54)  93.  4>ebn  a.  a.  £).  ©.  454.  SSanbelte  ficb  auch  nidjt  bie  Scbäbel» 
form?  „bie  (Kultur  brüeft  ben  ©d)äbel  breit*,  behauptete  ©tbaaffbaufen 
auf  ber  6.  SBerfammlung  ber  beutfd>cn  ?tntI;ropologen  in  ÜRün<ben. 

55)  3n  großen  Stabten  we^felt  tjauptfäc^lic^  bie  männliche  Söe* 
Dölferung;  tiefer  Umftanb  unb  bie  SLbjatfcubie,  baß  »or  2111cm  bie  grauen 
ben  ©tammcStupu«  (Änferriren,  mögen  erflaren,  warum  bie  rbeinifeben  grauen 
in  ihrer  (Srfcbeinung  noch  jeßt  füblicbe  Üieminiöccnjcn  an  fub  tragen;  »gl. 
SReicf) : ©tubien  über  bie  grauen;  »gl.  bie  ©rgebniffe  ber  ©tatiftif  in: 
bie  baperifdje  3ugenb  nach  ber  garbe  ber  Äugen,  ber  fDaare  unb  ber 
$aut  oon  Sr.  ÜRapr. 

56)  £Die  Sdjrift  be«  SBerfaffer«  ,bie  ©runbibee  be«  £>erme«  rem 
»ergleicbenben  mptbelogiftben  ©tanbpunfte  au«";  ^olßmann:  beutfebe 
üüptbologie  ©.  35.  ff.  Caesar  bell.  gall.  VI.  17. 

57)  £)ol|$mann  a.  a.  £).  ©.  37,  Tacit.  Germ.  2:  Ser  ©olbbelm 
be«  ÜBoban  ©plfagining. 

58)  SBrambacb:  codex  inscript.  Rhenan.,  SBaben  unter  röm.  ^)err« 
febaft  ©.  30. 

59)  ©ebrift  = scriptum,  Sörief  = breve,  ÜJleifter  = magister,  ©cbule 
= scbola. 

60)  Sem  Supiter  finb  mit  ÜRetcur  bie  meiften  religiofen  Senfmäler 
am  SR^ein  geweiht ; bie  cbriftlicben  ^riefter  wanbetten  feine  Stätten  ge» 
wßhnlicb  in  Äircben , Äapellen  u.  f.  w.  be«  3t.  i'eter  um,  wie  bie  be« 
ÜRerFur  in  ÜRid;el«bergc  unb  ÜRicbelSfircben ; »gl.  SBolf:  ^Beiträge  jur 
beutftben  ÜRptbologie  a.  m.  O.  u.  be«  Sßerf.  ©tubien  jur  beutfeben  üRp> 

-thologie  ,2lu«lanb*  1876. 

(814) 

Emtf  oon  © 1 1 r.  Ungrr  (Sb.  QSrumu)  in  Vcrltn,  ©d)cnfttr,jtntrnj)?  17  a. 


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Uebcr 


unb 


usruianM^ 


>* 

Vortrag,  gehalten  im  ujiffenfdjafttic^en  Vereine  ju  ©reifßmalb 
am  21.  Olooember  1875 

von 

'Prof.  Dr.  3.  IHiinter. 


ßcrlin  SW.  1ST6. 
SSerlag  »oitdarl  .£)  a b e [. 

(i C.  tS.  iaimti  sljt  Srrlagtbnititjanitlnnß). 

33.  ©ilbelm  ■ Strikt  33. 


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3 )aä  9icdjt  bcr  UtberfffcHng  in  ftcmbt  ©prad>cn  »irb  cerbcljalten. 


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^iJie  [title  Söalbeinfamfeit,  feie  Ufer  jdjilfumjäumter  @een, 
bie  ©eftabe  bet  eroig  bewerten  fDIeete  finb  e8,  311  beten  Sefud) 
id)  fcen  gefer  einlabe,  um  unter  meiner  güljrung  bort  eine  ©type 
eigenartig  geftatteter  Spiere  feiner  geneigten  23ead)tung  3« 
untergietjcn,  bie  bei  biofeer  Nennung  tyrer  Planten,  ©tynecfen, 
läJluftyeln  u.  f.  tt>.,  tym  3«iar  genugfam  befannt  fein  bürften, 
aber,  ald  ber  Sluäbrucf  beS  fRiebern,  alö  bie  (Symbole  ber 
£rägl)eit  unb  gangfamfeit,  tym  fo  menig  ber  Söeadjtung 
bisher  merty  etftyienen,  baß  er,  »eit  entfernt  tyre  33efanntfd)aft 
3U  fudjen,  fie  üielmeljr,  eö  fei  benn  mit  2lu8naßme  tyrer  @e* 
ßänfe  unb  ©traten,  abfic^tlid?  mieb,  oieUeidfet  fcgar  mit  21  b= 
[tyeu  fid)  oon  tynen  roanbte. 

SBenn  id)  bemungeadjtet  e8  n?age  bem  £efer  3U3umutl)en, 
fit^  geitroeilig  mit  großenteils  fo  unfdjönen  ©efdjityfen  geiftig 
ju  befdjäftigen,  jo  glaube  id)  bei  tym  um  beäroiHen  auf  5(tad)= 
jrdjt  regnen  gu  bürfen,  rceil  mo^lbefannte  5Ral)rung§mittel  toie 
3.  üRieSmufdjeln,  duftem  unb  bergleiten,  bed)  aud)  bem 
Äreife  ber  SBeicfetfeiere  angeboren  unb  ^ingermufteln  unb 
J^fa^lroürmer  immerhin  beöljalb  fdjon  ber  58ead)tung  mertl) 
finb,  weil  bet  Serben,  ben  fie  unferet  impofanten  bcutfdjen 
.^anbelS:  unb  Äriegßflotte  gufügen,  nod)  immer  unb  3war  3U 

XL  260.  1*  (817) 


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4 


©unften  ©nglanbö,  ben  etwa  möglichen  ©ewinn  unferer,  ber 
beutfcßen  Dlßebereien  fdjmälert ! 

©ie  ileferinnen  biefet  Beilen  aber  werben,  beffeu  bin  idß 
gewiß,  weit  eßer  bem  SBerfaffer  9Zac^ftcbt  angebeißen  (affen,  weil 
ißnen  einerfeitß  ber  ßerrlidje  ÜRufcßelfaal  im  9ieuen  sJ)alaiö  gu 
^otSbam,  ber  ©tolg  unfereö  griebrieß  beö  ©roßen  ebenfo  in 
freunblicßer  Ülücferinnerung  geblieben  fein  wirb,  wie  fte  ja 
anbererfeitö  faft  oßne  alle  äuenaßme,  23ereßrcrinnen  ber  SOlufdjeU 
fdjalen^Probucte  in  folgern  ©rabe  finb,  baß  fte  biefelben  für 
würbig  genug  ernsten,  um  fte  an  geeigneter  Stätte,  als  be* 
»orgugten  ©eßmuefgegenftanb,  als  5Br of <^e  3U  tragen. 

23eftimmten  mieß  biefe  nnb  anbere  ©rünbe,  bie  fDlufcßel* 
tßiere  nnb  ©cß  ne  den  in  ben  nacßfolgenben  SMattem  einer 
eingeßenben  23etracßtung  gu  untergeben,  fo  würbe  icß  boeß  nicht 
im  Sinne  ber  Sefcr  gu  ^anbelrt  glauben,  wollte  ich  unterlaffen 
ißm  biefelben  uneingerabmt  »orgufüßren.  3um  »ollen  älerftänbniß 
bcrfclben  gu  gelangen,  wirb  nur  eben  bann  möglich  fein,  wenn 
wir  fie  im  3ufammenßangc  mit  ber  übrigen  S:l)icvwclt  unb  ins* 
befonberc  ber  näcßftuerwanbten  ©nippen  in  Setradjt  gießen. 
3unücßft  finb  SDiufcßettßiere  unb  ©eßneefen  bem  weiteren  23e* 
griffe  ber  SÖcicßtßiere  (Mollusca,  wie  fie  bie  neuere  3»»I»gie 
nennt)  untergnorbnen , beren  9lame  fieß  auf  bie  fnocßenlofe 
weieße  Sßierfubftang  grünbet,  weil,  wie  e8  g.  23.  bie 
feßwarge  SBalbfcßnecfe  gut  ©enüge  bartßut,  bafl  ©ßier  aueß 
oßne  alles  ©eßäufe  »cUftünbig  fein  unb  waßrenb  feines 
gangen  Hebend  befteßen  fann. 

SSeicßtßiere  aber  entbehren,  im  ©egenfaße  gu  ben  SBirbeU 
tßieren  nießt  bloS  bcs  innern,  feften  Jifnocßengerüftcö,  fonbern 
aueß  beo  ©eßirnö  unb  illücfenmarfcö,  b.  ß.  ber  eßarafteriftifeßen 
9ier»cncentra  berfclben,  bie  aud)  ber  atlercinfacßften  gifeßfotra1) 
nießt  feßlen.  ©cn  ©licbertßicrcn  gegenüber,  wie  g.  23. 

(SIS) 


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5 


SBeöpen,  Jfäfern,  Ä'rcbfcn  u.  f.  tu.  rermiffen  wir  in  ben  2Bei4= 
toteren  jenen  gierigen  ©lieberbau  rielgatyliger  ©jrtremitäten 
unb  Hingt  e§  ballet  faft  wie  Srcnie,  wenn  wir  bei  SBeidj* 
toteren  benno4  ron  einem  gufje,  einer  @et)le  reben,  auf 
welkem  fi4  ba§  träge  Sfyier  burt^S  geben  fdbiebt.  — 9tid^t 
minber  geljt  ben  SiJeidjtljieren  bet  fpmmetrif4  — ftraljlige 
Sau  ab,  wie  wir  il)n  in  faft  „gecmetrif4ft  Gonftruction"  bei 
ben  @tral)ltt)ieren  bewunbern;  nur  mit  ben  SBütmern 
tfjeilen  fie  bie  feitlidje  ©ommetrie,  otyne  jebo4  beten  Se» 
fonberfyeit  gu  befifcen,  nämlid?  bie  SBieberfyolung  gleit^wert^er 
©liebet. 

2>ie  Organe,  weiten  bie  Aufgabe  obliegt,  baö  unbebeefte 
ober  mit  Skalen  »erfefjene  SL^ier  fortgubewegen,  bie  jogenannten 
animalen  Organe,  finb  uon  benen,  weld^e  bie  Slufgabc  Ijaben, 
baS  SL^ier  gu  ernähren,  ben  negetatieen,  täumli4  getrennt; 
nid?t  io  immer  bie  Organe,  weldje  bie  ärt  (species)  in  ber 
©egenwart  conftant  gu  erhalten  beftimmt  finb,  bie  ©enerationS» 
otgane,  auf  gwei  Snbioibuen  »ertfyeilt.  -- 

Unterwerfen  wir  gunä4ft.  al8  befannteren  Siepräfentanten  ber 
i£d>necfen,  bie  grofie  2Beinbetg'8f4«ecf e unferer  Unterfu4«ng 
fo  feben  wir  fie  mit  bem  fc^raubig  gewunbenen,  weitmiinbigen 
©etjäufe  anf  bem  SJtücfen,  auf  iljrer  ©oljle  fortf^leic^en,  lang» 
fam  gwar,  bo4  audj  ofyne  gu  ftraucfyeln.  3J?it  einem  ftüljlet* 
paar  unb  gwei  auf  wcmegli4  no4  längeren  (Stielen  fifcenben 
äugen  fonbirt  fie,  ob  unb  wo  fidj  ifjr  fRafyrung  bietet,  bie  fie 
mit  itjrer  funftscll  gebauten  3ungea)  fidj  angueignen  ftrebt. 
Äalt,  wie  eg  bie  farblofe  Slutflüifigfeit  nit^t  9lnber§  guläfct,  in 
fi4  abgefcbloffen,  conftant  in  feinen  fleißigen  fülantel  getjüQi, 
fc^leppt  ba8  träge  38ei44ier,  wie  einft  ©iogenetS,  fein  5Bo^nbau8 
fammt  feinem  behäbigen  34  über  frelb  unb  ftlur,  über  ber 
SBicjen  ©riin,  wofyl  felbft  in  bie  Saumfrone  hinauf,  wie  e8 

(»19) 


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6 


bie  Sartenfdjuccfe  311  beS  Särtncrö  geibwefen  alltäglich  thut, 
ober  aud)  über  bie  üangfelbcr  untermeerijcber  'Präriecn,  wie  bie 
£eerfchaaven  ber  Seef  djncdfen. 

Dbfdjen  nicht  ohne  Aperg,  wie  ba§  Coraflenthicr,  bie 
Seeanemone  u.  bgl.  füljlt  baö  Schnecfcnherg  nur  in  ieltenen 
fällen  unb  auch  bcdj  nur  in  fel?r  bebingtcr  SSeife,  Verlangen 
nach  gleid^geftalteten,  ebenjowcnig  giebe  = bebürftigen  SBefen,  ja 
woljl  mitten  burd)3  .perg  bringt  baö  ©armiofyr,  unb  io  lebt  baS 
$l>icr  beß  Schnecfenhaufeä  einfam,  abgefchlofjen,  ftd)  jelbft 
genügenb;  bev  (Erhaltung  feineö  3chS  unb  feiner  31  rt  ftd> 
wibmenb. 

3n  ßrfüflung  bicfev  republifaniichen  SBeftrebungcn  fönnen 
3ablreidje  Schnecfenthiere  nicht,  umhin,  f ol)len  ja  uren  Äalf, 
ben  fie  iljren  Suttermatcrialien  entnehmen,  auf  ber  Obcrfläd)e  ityreb 
99tantclS,  aus  bort  befinblidjen  gat)lreidjen  ©riijen  abguicbeiben  unb 
unter  Sufafc  mehr  ober  weniger  intenfiocr  ftarbftoffe  plaftifch  gu  ge* 
ftalten:  gu  taufenbevlei  gierigen,  napfförmigen,  jdjraubig *ge= 
wunbenen,  glatten  unb  bornigen  Skalen;  eine  guft  unb  Sreube 
für  ben  Gonchplienfammlcr,  iowie  überhaupt  für  IStte,  bie  im 
Sanbe  bc6  Secftranbeö  ßrtjolung  unb  Unterhaltung  juchen,  — 
für  Jung  unb  3llt. 

Erfreuen  ftd>  bie  (frbauer  bev  Sdjnecfcngehäufe,  bie  fopf* 
füljrenben  3® eidjttjiere  (Cephalophoren,  wie  fie  bie  SBiffen* 
fdjaft  nennt)  inßbefonbere  bie  Saudjfüfjler  (Gasteropoda),  im 
großen  Sangen  beS  guoov  turg  bcidjriebenen  23aue$,  fo  trifft  bie 
Soraugie^ung  bod)  nic^t  gu , ba§  wir  bamit  eine  Sfigge  ent* 
werfen  hatten,  welche  auf  bie  9Ruf chclthiere,  namentlich  bie 
Blättcrfiemer  pafjte. 

ftreubeleer  unb  nieift  ohne  alle  Slnjchauung  oon  ber  färben* 
reichen  Sinnenwelt,  im  Stumpffimt  perbringen  fie  ihr  langes 
geben,  fei  eä  auf  bem  Srunbe  ber  ftlüffe  unb  Süjjwafferjeen,  fei 

f«2o; 


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7 


e8  auf  bem  ©runbe  be8  SfteerftranbeS;  auf  beilfcrmigem  gufje 
.langfam  fortfriechenb,  ober  au8nahm8weife  fdhwimmenb  burch 
3ufammenf<hlogen  ihrer  beiben  ©chalenhalften ; ober  wie  e8 
öfterer  bergatt:  burd)  felbftgefponnene  gäben  (einenSöpffuS) 
ober  burch  felbfler^eugten  Äalfmörtel  prometheuöartig 
angefdjmiebet,  nadjbem  fte  nur  wähtenb  ber  rofigcn  Beit  ifyreö 
BugenblebenS,  ftrubelnb  in  wirbelnben  Steigen,  oermöge  iljreß 
SBimperfegelS  ber  feffellofen  greiljeit  %i(l)aftig  gewefen  waren. 

Äopflo8,  in  be8  3Borte8  oerwegenfter  ©ebeutuug,  in  ber 
SSfyat,  ohne  ade  Slnbeutung  cine8  Dom  Körper  abgefejjten  Äopfe8, 
jumeift  auch,  (oicdeicht  nur  mit  alleiniger  Ausnahme  ber 
&ammmuf(hetn),ohne  'Äugen,  ol)ne9tiech*  unb®ef<hmacf8organe, 
adenfafl8  mit  bem  ©inne  be8  8ldgemcingefiU)l§  unb  be8  @ehör8 
begabt,  wanbeln  bie  Sftufchelthierc  ein  wenig  beneibentSmertfyed 
©afein  ab. 

Äu8nahm8lo8,  jo  wie  biefe  ©efdjöpfe  be8  Äopfe8  entbehren, 
fehlen  ihnen  auch  bie  Äaumetfjeuge,  (namentlich  jene  Diel* 
bewunberie  funftood  conftruirte  3unge  ber  ©chnccfcn,  beren 
Berührung  fchlimmere  golgen  Ijerbeifütjrt,  wie  wenn  un8  ber 
2öwe  belecft,  benn  felbft  ba8  fonft  fo  gut  Derficherte  Geraden* 
tljier  lecfen  bie  ©chnerfen  befanntlid)  mit  Seichtigfeit  au8  ihrem 
harten  ©ehäufe  heraitö).  Stur  ein  ^aar  blattartig  geftaltete 
fleine  £autlappen  beuten  bie  Sage  berSJtunböffnung  an  unb  muffen 
bie  jahlreidj  bort  angebrachten  SBimpern  ben  bauernb  an» 
gehefteten,  crwachfcncn  Sljieren  Stahrung  juführen;  währenb 
bie  freilebenben  SJtufchelthiere  fich  hoch  ad  in  jur  Stahrung8* 
quede  htnbewegen  fönnen. 

©er  fleiid)ig»häutige  SJtantel  umfchlicfct,  mehr  ober  weniger 

Dollfommen  ba8  einfach  gebaute  Jperj,  ba8  ©armrohr,  bie  Üeber 

unb  bie  ©enerationöorgane;  wirb  aber  felbft  unb  jwar  au 8» 

nahm8lo8  non  einer  hoppelten,  oon  ben  ©rufen  be8  9)tantel8 

(821) 


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8 


erzeugten  Äalffdjale  cingeichloffen,  bte  mittelft  eines  einfachen 
ober  hoppelten  Sthalenfchließmu8fel$  unter  bera  SBillentSeinfluffe 
bc8  2l)iete8  fteßt,  bem,  aber  auch  nur  meeßanifeh,  entgegen» 
wirft : ein  elaftijd>e8,  fogcnannteS  ©cßloßbanb,  außen  auf 
einem  Steile  ber  fouft  freien  ©cßalenränber  angebracht.  8äng$ 
ber  Slnßeftwtg  be8  ©cßloßbanbeS  ftnben  fieß  »ielfadj  auch  tooßl 
noch  auf  ben  einanber  gegenüber  geteilten  ©cßalettränbcrn 
(Erhabenheiten  unb  SBertiefungen  (©  I c § gähne),  behufs  weite» 
ren  fieberen  SBerfcßluffeS  ber  ©cßalenßälften. 

2luf  biefer  tßeilS  actioen,  tßeilS  paffiuen  Sßätigfeit  ber 
©cßalenjcßließer  unb  be§  ©cßloßbanbeS  beruht  eS,  baß  man 
bie  Sufter  für  tobt  unb  folglich  für  ungenießbar  l)ält,  wenn 
fie  flafft,  umgefebrt  aber,  fo  lange  ber  3BilIen8einfluß  noch 
jur  ©eltung  fommt,  b.  ß-  fo  lange  bie  dufter  fähig  ift,  bie 
Schalen  ju  fcßließett,  hält  man  fie  unb  mit  JRecht  für  genuß» 
fäßig,  weil  fte  noch  lebt. 

Sie  im  33orfteßenben  in  großen  Umriffen  ffigjirten  ©djnecfen» 
unb  ÜRujcßeltßicre  bilben  nun  aber  nicht  ben  alleinigen  Snßalt 
beS  Shfcr*ÄrcifeS,  ben  man  unter  bem  Gotlecti»»9tamen:  3®  eich» 
tßiere  3ufammenfaßt;  benn  unjweifelßaft  fchließen  fid>  ben 
fopfführenben  33aucßfüßlern , b.  ß.  ben  ©eßneefen,  bie 
■Rielfüßler  (Heteropoden)  an,  bei  benen  ein  fielformiger 
gloffenanßang  bie  flache  Sohle  ber  33aud>füß(er  oertritt,  tßcilö 
mit  einem  ©dßälcßen  auf  bem  ßlücfen,  Bon  ber  gorm  einer 
phrpgifchen  SSJtüße  ober  thcilS  in  ein  fpiralige8  ©cßäufc  gang 
unb  gar  jurüdgießbar.  3ßnen  reißet  fieß  fobann  eine  anbere 
Drbnung,  bie  ber  gloffenfüßler  (Pteropoden)  an,  benen  gwei 
flügelartigc  Ausbreitungen  beö  99tantel8  a!8  lofomotorifcher 
Apparat  bienen,  tßcilS  fcßalcnloS,  wie  bie  SBalfitcßfcßnecfc  (Clio 
borealis  L.)  tljeilS  in  glaöhcde  ober  wenig  gefärbte  jierlidjc 

(815) 


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9 


<Sdjäld)en  cingcfcnft  ron  bcr  ^crm  bcr  fftothmcin*  ober 
<S^ampagnctgläfer. 

Sefteht  über  bic  Serwanbtichaft  btcfer  (erstgenannten  bciben 
©ruppen  mit  ben  fcpffüljrcnbeit  35?etd^t^tcrcn  feine  abmeidjenbe 
Sänfidjt,  fo  ift  bieg  be<h  nid)t  ber  ^atl  mit  ben  in  ihrem  Sau 
fd)on  fo  erheblich  fortgefdjvittencn  Kopffüßlern  (Cephalopoda), 
ben  auch  »ol)l  »genannten  „Ärafen"  ober  2intenfii<hen, 
polypus  im  claffiic^en  Slterthum  genannt,  mährenb  bie  (änglänbet 
fie  theilmeiie  and)  roobl  „Cuttlefish"  nennen,  »eil  eine  $lrt 
mit  ihren  9lrmen  bem  „Kutteldarme"  gleicht.  — 

(58  befißen  biefe  „Grafen",  fo  mie  bie  ©chnecfe,  eine 
fchleimabjonbernbe  äußere  .pautoberflädje,  bcd)  ift  biefe  nur  in 
fetjr  menigen  gälten  oon  einem  mehr  ober  »eniger  innig  an= 
baftenben  ©chalengehüuic  bebecft.  ÜJieiftenö  jeigt  bie  fcßlüpfrige 
naßfalte  Jpaut  bcr  Unbcfchalten,  namentlich  ber  eigentlichen 
Jintenfifche,  fcne8  »unberbar  wedjfelnbe  ftarbenfpiel,  ba8  nur 
mit  bem  be8  GßamäleonS  oergleichbar  ift,  burch  Shromatophoren. 
SBährcnb  ber  untere  ü£l)eil  bed  meift  eplmbttfcßen,  feltener  facf* 
artigen,  in  feinem  JRücfen  einen  flachen,  länglich  * eiförmigen 
Knorpel  ober  Knochen  tragenben  $h'er§  vielfach  eine  SD o pp eU 
f l o f f e befißt,  erfennt  man  an  bem  auf  bem  ©djcitelpole  gelegenen 
uon  8 ober  10,  feltener  jahlreicßeren  Slrmen  umftellten  SJtunbc  mit 
hornigem  'papageifchnabel  unb  unter  bemfelben  einen  SBirbel 
non  Slrmen  tragenb,  — an  ben  bort  feitlich  angebrachten  großen, 
floßenben  Singen,  fofort  ben  Kopf  bc§  ShirrcS,  ber  fogar 
eine  SÄrt  fnorpeliger  ©d)äbelfapfel  einfd)ließt  mit  einem  h>m* 
artigen  -Jteroenfnoten.  fBian  mürbe  ihn  ®el)irn  nennen  fönnen, 
»enn  fid)  nid)t  im  SeibeS » Snnern  noch  j»ci  faft  gleichgroße 
9teroencentra,  »ie  bei  ben  ©d)nccfen  fänben! 

Unterhalb  ber  ?(ugen  finbet  fid)  eine  ©ürtelfpalte  faft  ring8 

um  ben  Ueib  hcrumf  an  einer  beftimmten  ©teile  oon  einem 

(8») 


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10 


fnerpclig«flciid'igcn  SRcljr  überragt,  tag  fich  in  tag  innere  be8 
geibeß  offen  münbet.  ©irb  ber  facfartige,  mit  Söaffer  erfüllte 
geib  bc®  Sbiercß  contprimirt,  fc  tritt  baß  ©aff er  burcb  bcn 
„Seichter"  tyeraub  unb  crtpcilt  burd?  SHüdftofj  tcm  fdjwimmenben 
Spiere  eine  rücf läufige  Bewegung,  wie  bie  an  einem  gewiffen 
englifdjen  Äanenenboote  probeweife  angebrachten  bptraulifcbcu 
üJlotoren.  — 5m  5nncrn  beb  großen  ^eljlraumcb,  ben  ber 
flcifcbigc  9)iantcl  bilbet,  befinben  fiep  ber  Sarmfanal,  bie  gebet, 
bab  arterielle  unb  eenöfe  .jperg,  bie  .Stiemen  unb  ber  hinten» 
beutcl  mit  feinem  fdiwargbraunen  ©ecrct,  ber  „Sepia".  — 

Sic  ber  Sefctwclt  angeberenben  beiten  Dieiben  ber  „.Strafen", 
buvcb  ben  SBcfip  een  2 eher  4 .Stiemen  (baractcrifirt,  finb  fleifd?* 
freffcnbe,  räuberifcbe  Spiere  een  ©repentiffere^eu,  mie  fte 
überhaupt  wobl  taum  (bie  ©augetpiere  unb  Jp.iie  außgenemmcn) 
in  ber  Sbierwclt  eerfemmcn  bürfteu,  een  ber  gange  een  einem 
Soll  biß  juv  gänge  een  über  24  gufeen! 

Sie  Slrme  beb  bei  bem  unlängft  an  ©nglanbß  gefapreellen 
Äüften  geftranbeten  beutfepen  Sumpfet  „©epilier"  gefebenen 
„Guttlefi jepeß"  waren  narib  bem  SBeridpte  amerifanifeber 
Bettungen3)  über  12  «Suff  lang  unb  een  ber  Sid'e  eineß  'Hianneß* 
armeß,  cellfommen  fäpig,  bie  irbifdjen  9iefte  ber  äkrunglücften 
3U  umfaffen  unb  beren  ©ebein  abgufnagen,  teie  man  ja  auep 
een  anberer  ©eite  weif?,  bap  teppelt  fo  lange  unb  teeit  ftärfere 
Slrmc  im  ©tanbe  waren,  gtcfic  iHubcrboete  31t  umfpannen,  um 
beren  lebenten  Jnpalt  in  grunbleje  Siefen  mit  unwiberfteplicbcr 
.Straft  binab3U3ieben. 

Sic  eerbältnipmäpig  ned)  fepr  junge  IBefanntfcbaft  mit 
lebenten  Originalen  tiefer  gemalttbätigen  ©ecungebeuev  lief) 
bie  alten  ©agen,  wie  fte  auß  $)liniuß  3cit  unß  überfemmen 
unb  um  1555  burep  ben  sJ)robft  een  ©trengnäß,  Dlauß  ÜJiagnuß, 
bann  aber  noep  im  corigen  3abrpunbertc  com  norwegifeben 

(SU) 


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11 


Söifdjcfc  pontoppiban  »orgctragen  würbe,  boep  auf  Spat jaepen, 
wenn  autp  auf  falftpoerftanbcnen  berupenb,  erfennen.  Sie  früher 
für  eine  Garricatur  gehaltene  Stbbilbung  beb  ©ccmoiidbG 
erweift  fid)  nad;  StccnftrupS  SDuftration,  alb  ungefepiefte  fftaep* 
bilbung  eines  „Strafen"  (Arcbiteuthis  monachus  ober  A.  dux 
Steenstr.)  Sie  (Sjrifteng  einiger  \Hrten  beS  SepiffSbooteS 
(Nautilus  pompilius  unb  N.  urabilicatus)  in  ben  Dccanen 
ber  Srooenjonc  ift  oon  erpeblidper  ©ieptigfeit  geworben  für  bic 
Grflärung  unb  baS  rieptige  ©erftänbnif;  jabireieper  ©e|talten, 
bie  fid)  nur  ned)  foffilifirt,  aber  Den  ber  ©ilurgeit  ab,  in  ber 
3ura=  unb  Äreibeperiobe  il)re  poepfte  ©lütbe  erreidjenb,  boep 
bis  gur  ©egenwart  im  „Nautilus“  lebenb  erhielten.  Sßie  ftänbe 
eS  um  unfer  SBifjen  über  bie  9(mmon8börner,  bie  Senncrfeile 
(Belemniten)  bie  Drtpoceratiten  u.  f.  w.  wol)I  nod)  beute,  wenn 
wir  nidit  bic  Urenfel  ber  untergegangenen  Urnmapncn  jur  gyanb 
Jütten,  nm  ipren  ©au  311  erforfcbenV 

3d)(icfscn  fid)  an  bie  ©nippe  ber  fopffübrenben  SBcidjtpiere 
bie  uorgenannten  IReipen  ber  Äielfüpl er,  gloff  enfüplet 
unb  meglicperweife  ber  ftopff üpler  eng  an,  fo  läpt  fiep  nid)t 
in  Slbrcbe  ftellen,  bap  bie  Sltmfloffer  (Brachiopoden) , gu 
benen  bie  einft  io  maffenpaft  bic  9)lcere  bewobnenben  Sotb« 
mu itbc ln  (Terebrateln)  geboren,  ftd)  auf  baS  3nnigfte  ben 
3Weifcpaligen9Kuf<peltpieren,ben  ©lätterfiemern  anreipen. 

5lber  aueb  bie  fogenannten  PiolluScoiben:  bie  9)looS« 
tpiere  (Bryozoa)  nämlid)  unb  bie  9)lantcltpierc  (Tunieata) 
gepören,  ber  lepteren  ©nippe  ungwcifclpaft  näher  ftelienb, 
jebenfaÜS  nod)  in  ben  ÄreiS  ber  Söeicptpiere.  — 

Sie  Angehörigen  beiber  Älaffen  befipen  wenigftenS  nod) 
ein  91  e r 0 e n centrum  (Ganglion)  mit  fernen;  beibe  entbepren 
eines ÄopfeS,  mäprenb ipre innern Organe feitlicp.fpmmetrifd) 
angeorbnet  finb;  beiber  Älnffen  Angehörige  finb  in  eine  äpüße 

(8SS) 


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12 


etngejchloffen,  He  wie  bei  ben  PlooStbieren  auö  (Sbitin  ober 
Äalf,  bei  ben  Pia nteltbieren  aber  au8  oegetabilifchem  Bell» 
ft  off  (Cellulose)  bcfteljt. 

Jpat  man  bie  in  ihren  meift  äierlidjcn  Sechern  ft^enben 
SJiopgt^ierc  frütjer  für  Polnpen  gebalten,  wie  eö  ftdj  3.  33-  auS 
ben  noch  gangbaren  äbbilbungen  3U  Dten'8  fftaturgeichicbte 
erweifen  läfct,  fo  ipricbt  bod)  gegen  eine  berartige  33erwanbtf*aft, 
einmal  bet  fReroenfnoten  unb  bann  eor  9Ulem  bcr  in  ber  weiten 
Ueibe^böblc  frei  aufgebängte  SDarmfanat,  wenn  auch  baS  un* 
aufbörli(b«fcbwingenbe  IRäberorgan  an  bem  au8  ber  SBedjerbüHe 
beroortretcnben  oorberen  Steile  be8  2b>ere8  an  ben  Sentafelfranj 
bcr  Polopen  erinnert  unb  ihre  (felonieen,  namentlich  ber'auö 
Äalf  erbauten  Stöcfe,  benen  bcr  ßoraüen  oft  täuft^enb  ähnlich 
finb.  Siefe  fdjwet  3erftörbaren  ©ebäufe»(5olonieen  machten  e§, 
ba§  bie  einft  bie  llrmeere  bewobnenben  ©rpo3oen  fi(b  au8  bet 
Silurgeit,  bet  Jura*  unb  Äreibepericbe  binburth  bi§  3ur  ®egen« 
wart  erhielten,  fo  baf?  ein  b’Drbignn  jowie  ber  in  ©reiföwalb 
oerftorbene  Dr.  oon  .pagcnoro  ben  frangöfijdjen  unb  belgifcben 
9Roo8tbiercn  »iele  3abre  fleißiger  ftorichungen  wibmen  tonnten. 

SBcrbeit  bie  SBolfSbilbungSoereine  ihren  Üefern  bie  Arbeiten 
»on  .pagenow’8  einftenS  3ugänglicber  machen,  fo  ift  nidbt  gu  3weife(n, 
ba§  manche  Äunftgewerbe  nod)  bie  »ielgeftaltigen  PlooStbier« 
gebäufe  3U  „2)ejftn8"  allerlei  Slrt  31t  »erroertben  Seranlaffttng 
finben  bürften. 

«lüchlig,  wie  c$  füglich  nicht  anberö  gefchcben  barf,  fei 
auch  noch  mit  wenigen  SBorten  bcr  „Pianteltbierc  (Tunicata) 
gebucht,  tiefen  auBfcbliefeltchen  unb  nur  tm  Seewaffer  lebenben 
5CRoHu§coiben,  bereu  faefartiger  an  beiben  'Polen  offener  Piantel 
au8  oegetabilifchem  Bdlftoff  beftebt,  ber  allen  fonftigen 
tbicrifchcn  Sßefen,  in  folcher  Slußgtebigfeit  wenigftenS,  wenn 

nicht  überhaupt,  gdn3lid)  fehlt.  Äopfloö  gwar,  befi$en  fie 
(«sc; 


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13 


jebod)  ein  ^>erj,  in  welchem  baS  Vlut  einmal  Bon  linfS  nad) 
rechts  unb  bann  Dan  rechts  nad)  linfS  wogt;  ein  fdjief  ben 
länglichen  &örper  burchjiehenbeo  Dicht  $ur  Äiemenathraung  unb 
einen  35arm  mit  Heber.  — '})fianjen  fie  fid?  and?  buvd)  Gier 
fort,  jo  gehen  auö  biefen,  merfmürbigermeije,  nicht  nur  bauemb 
Bereinigte  „SwiUinge"  nach  2(rt  ber  befannten  ©iamefen  herBor, 
fonbcrn  fogar  Bielfach:  „Vierlinge".  — 

Ginen  unauSlöjchlich»bleibenben,  magijdjen  Ginbruc!  erzeugen 
bie  manbernben  jubmatinen  Seelaternen,  bie  logenannten  geuer* 
gapfen  (l’yrosomen),  jchroimmenbe,  burchfichtige  Shietcolonieen 
wärmerer  Semen.  Vicht  minbet  intcreffant  finb  bie  in  gleich» 
mäßigem  Sempo  Söaffer  idjlucfenben  unb  ausftoßenben  ebenfalls 
burchfichtigen  ® a l p e n colonieen,  bie  nothwenbiger  23eife  wegen 
beS  rücfwärtS  auSgeftoßenen  33afferS  fchwimmenb  im  9)leere 
BorwärtS  treiben.  5>iefe  theilS  einzeln,  tt)eilS  fettenartig  an 
einanbcr  geliebten  2-hiercolonieen  waren  eS,  an  bcnen  58. 
Bon  Ghamiffo,  ber  beutfche  Sichter  unb  naturforfchenbe  Dieijcnbe, 
einft  bie  erften  Beobachtungen  über  ben  Generations wechfel 
machte,  ohne  bcren  Ginfügung  in  bie  mobcrne  Vaturgejdjichte 
bieje  fich  noch  >n  ben  Äinberjchuhcn  unjerer  Slltoorbern  befinben 
würbe,  fo  baß  wir  nicht  einmal  ben  uno  9Renfchen  boch  fo 
wefentlich  interejfirenben  Vanbwurm  in  feinem  Verhältniffe  gut 
ginne  beS  Schweinepeifches  oerftehen  unb  begreifen  würben. 
Vieles  fönnte  bem  Vorerwähnten  noch  • h*n3tt8ef“8t  »«ben, 
' müßte  nicht  ber  >})lan  biejeS  SchriftchenS  fich  ben  3ntcntionen 
ber  Herren  Diebacteure  unb  ber  Herren  Verleger  anbequemen. 

SluS  biejem  rein  äußerlichen  Grunbe  wenbe  id)  mich  baher 
fofort  unb  ausschließlicher  ber  Slufgabe  gu,  bie: 

DJluj cßelthiere  unb  Sdjnecfen 
tn  ihrem  Verhältnijfe  gur  SSifienfchaft  einerjeito  unb  in 

1087) 


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14 


ißren  ©ejießungen  $um  cpauShalte  ber  'Jlatur  unb  bed 
Plenfcßen  anbererfeitd,  beä  'Meeren  $n  beleuchten. 

©eßeit  reit  in  ©cßiüer'ö  ehemaligem  fDiitft^iiler,  (Secrge 
ßuoier  au$  iDlömpelgarb,  ben  ^Reformator  unb  ©egrünber  bet 
neueten  3oologie,  inöbeionbere  ben  ©egrünber  beü  heut  all* 
gemein  angenommenen  natürlidjen  ©nfternä  bet.  il^ierreelt,  bad 
auf  ben  $umeift  oon  ßuoiev  guetft  erfannten  ©auplänen  beruht, 
jo  fönnen  reit  nic^t  umhin  bie  ©eßneefenthiere  alä  biejenigen 
3u  bezeichnen,  an  benen  ber  große  ©aumeifter  bie  gtunblegenben 
©tubien  für  fein  fpäter  fo  folgenreich  geworbenes  SSerf  begann, 
bat),  reeitn  man  eben  nur  bie  Ueberjcßriftcn : Sßirbclloie  unb 
SBirbeltßierc  bet  'Srt  änbert,  baß  in  ©teile  be$  SöorteS  „©Jirbel* 
lofe"  bie  oon  il)m  früher  barunter  fubfumirten  2 hier f reife 
unmittelbar  jelbft  einfchaltet,  fofort  im  Ulioeau  ber  (Segen« 
reart  fteht.  3ln  ben  „äßeicßtßieren"  oerbiente  fieß  ber  fpätcre 
.perr  oon  (iuoier  feine  iRitterfperen  im  reirfließen  Sinne  beS 
SöorteS;  fie  führten  ihn  in  ben  ©cßeof)  ber  Academie  des  sciences, 
reo  er  ßiner  ber  unftcrblicßen  „©iergig"  rearb.  35ocß  nießt  für 
bie  reiffenjeßafttieße  3ool‘>3<e  allein  würben  bie  Sßeießtßiere  bc« 
beutungbooll,  auiß  bie  (Seognojie,  ber  praftijeße  ©erg* 
bau,  bie  Ideologie  enblicß,  profitirten  oon  ben  ©etailftubien 
über  biefe  2ßiergruppe,  foreie  bie  moberne  fRaturphilojopßie,  bet 
eö  um  bie  ßeßren  l$ß.  SDarrein’8  gu  tßun  ift. 

S)er  burtß  ben  SSeicßthierförper  ajfimilirte  foblenfaure 
Äalf,  bureß  bie  plaftif  beS  £)rganiSmu8  ju  (Scßäufen  unb  • 
©cßalen  geftaltet,  ift,  reeil  er  eben  organifitt  oetreanbt 
worben  ift,  in  einer  SJeife  oerbießtet  unb  erßärtet,  baß  bie  in’S 
ßcben  gerufenen  jpartgebilbe  eine  unoerreüftlicße  fDauer  erßalten 
ßaben  unb,  Beugen  einer  längft  oerflungenen  pcrrlicßfcit,  über 
Perioben  Sericßt  erftatten,  bie  oßne  fie  feibft,  unerfennbar  ge» 

blieben  fein  roürbcn. 

(8*8) 


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15 


£>en  ©cbicbtenfelgen  ber  ©rbrinbe,  tuie  bie  ©eegnofte 
bartbut,  finb  beftimmte  fReiben  non  fIRujcbeln,  Scbnedfen  unb 
anberen  SBeichtbieren  eingebettet  unb  hüben  biefe  {eljr  weientlicbe, 
nie  feblenbe  9DierfmaIe,  fo  baff  e6  511  fiebern  ©eblüffen  führt, 
wenn  auf  ©runb  ber  fid)  finbenben  organifirt  gewefenen  ©in» 
ftbliiffe  bie  angefproebene  Stiebt  ihre  Sluglegung  finbet. 

Sugleicb  aud)  gewinnt  burd)  bae  ©tubcum  bet  concbpliole» 
gifeben  SBerfteinerungen  bie  ©eichichte  ber  SLt>tertr»elt  ^etbnJtt^tfge 
Sluffcblüffe.  Sitten,  ©attungen,  gamilien,  ja  ganje  Drbnungen 
traten  auf,  beftanben  zeitweilig  in  großer  SMütbe,  um  ipätcr 
mietet  abjutreten,  juroeilen  faft  ohne  ade  ©puren  non  uers 
roanbten  tfifefen  jurüdflaffcnb,  mäbrenb  b'f  unb  ba,  ucreinjeite 
Sitten  unb  Gattungen  roenigfteng,  ftcb  biö  gitr  ©egenwart  er» 
hielten. 

@0  fetten  wir  in  bem  älteften  Ueberganggfalfe  längft  unter» 
gegangene  ©rabberner  (Orthoceratiten)  auö  ber  ©ruppe  ber 
Äcpffüfcler  gleichseitig  mit  Üodjmujcbeln  (Terebratula  livorica 
v.  Buch)  beren  nermanbte  ©lieber  nod)  beute  in  unfern  3Reercn 
leben.  5>ie  mit  ben  Slmmongbörnern,  welche  nur  bis  gur  Äreibc» 
Seit  berabreitben,  gleichseitig  lebenben  JReprafentanten  ber  ©attung 
Nautilus  (beS  (Sd^iffSbooteS)  finben  in  ben  noch  jefjt  lebenben 
fRautiliben  ihre  lebten  ©lieber.  Jn  ber  ©teinfo^lengeit  allein 
lebte  eine  ©attung  bet  8ungenj<bnecfe,  (Anthracasia  King),  fpäter 
tritt  fie  nicht  ipieber  auf,  aber  mit  ihr,  ober  nieHeid)t  fc^on  oor 
ihr  lebte  im  jtoblenfalfftein  eine  ilocbmujcbel  (Terebratula  pugnus 
Mart)  fowie  ein  Productus  gigauteus  Sw.  ^Dergleichen 
©ebneefen  unD  9Rufdjeln  finb  d)arafteriftifcb  für  bie  betrejfenbc 
gormation,  man  nannte  fte  baljer  „Heitmufcbeln."  ©ine  foldje 
ffeitmufcbel  ift  für  bie  3«<bfteinperiobe  bie  Scblotbeim’fcbc 
tfocbmufcbel  (Terebratula  Schlotheimii  v.  Bch.);  für  bie  weihe 
Ärcibe  ift  e8  3.  33.  Gryphaea  vesicularis  Lmk. 

(SS»; 


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16 


ginbet  man  bei  Störungen  gur  (Suffudjung  oon  ÜDietallen, 
Salden,  Äolpen  bie  eine  ober  bie  anbere  Seitmufdjel,  fo  ift  man 
über  bie  ©$id?t,  in  ber  fid)  ber  Grbbofyrer  befinbet,  fofort 
erientirt.  5Dfan  erwartet  feine  ©teinfoljlen,  wo  tid>  Groptjaeen 
ober  Goniatiten  geilen,  ginbet  man  aber  Terebratula  vulgaris, 
fo  ift  man  ber  ©teinfalggruppc  näfyer  unb  boljrt  oertrauensooü  fort. 

GS  bebarf  nid?t  crft  weiteret  33eweije,  bafe  auf  bergleitfcen 
fidjergeftellte  Hjatfadjcn  fufjcnb,  ber  praftifdje  Bergbau 
feine  fegenbreidjen  Slrbeiten  eröffnen  unb  getroft  fortfefjen  fann, 
objdjon  bie  Unfoften,  weldje  fid?  an  feine  Jijätigfeit  anfdjtiefjen, 
oft  jdjon  gurücfgcfdjretft  fjaben,  weil  ber  üaie  fie  für  weggeworfen 
tyielt.  'planlofes  llml;erfül)len  war  eb  itidjt,  waS  uns  bas 
©tafjfurter  uncticfyöpflicbc  Äali»  unb©teinjal3lager  cvfdpliepen  half. 
Unter  forgfältiger  SJcadjtung  ber  ^eitmufdjcln  unb  ber  bauernb 
fid?  ergebenben  golgerungen  fonntc  beb  Söergmannb  übun  unb 
Senfen  foidje  Grfolge  erzielen  unb  baburd)  3ur  Geltung  fommen. 

(Sine  2f)eovie  ber  Gntwicfelung  ber  Sbiere  unb  Spangen, 
wie  fic  bie  SeScenbengsSfjeotie  jefjt  mit  großer  Gnergie 
gu  begrünben  bemüljt  ift,  fann  aber  cbenfo  wenig  oon  9)iufcfyel* 
t gieren  unb  ©djueefeu  Umgang  nehmen,  ©inb  bodj  oon 
ben  14000  Wirten  jc£t  etwa  wiffcnjdjaftliify  fcftgeftcflter  Sftufdjel* 
tljiere  bereite  an  8 — 9000  untergegangen  unb  alb  völlig  auS* 
geftorben  3U  betrauten,  unb  oon  ben  22,000  ©djnetfeuarten 
bürften  nur  and)  nodj  15,000  leben.  — 3öiü  eine  ben  gerberungen 
ber  gogif  Jltedjnung  tragenbe  berartige  Sljeorie,  nid)t,  einer 
Fata  morgana  glei$,  in  ber  8uft  fdjwcbcn,  fo  muf;  fic  ben 
Grfatyrungen,  welche  bie  3öeidjtf)iere  an  bie  .panb  geben,  forg« 
faltig  Diedjnung  tragen. 

2)ie  Geologie,  bie  ^cljrc  oon  ber  Gntroicfelungbgefdjicfyte 
ber  Grbe,  entnahm  ber  Gruppe  ber  SBcid't^iere  eines  il?rer 
fictyerftcn  gunbamentc. 

(?J30) 


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17 


Sfött  ber  bloffen  Behauptung,  baff  bermaleinft  Hebungen 
unb  Senfungen  ber  (ärboberflädje  ftattgefunben  b^ben  muffen, 
um  gewiffe  ©t^iei^tcnfteOungen  unb  gagerungSoerbältnijfe  bet 
ßrbrinbe  3U  erflären,  ift  an  unb  für  ficb  nid)t8  erflärt. 

Gin  unnerroerflicbelS  3eugniff  für  bie  betreffenbe  tbeoretijcbe 
Behauptung  liefert  nun  aber  bie  Steinbattel  be8  fDiittel« 
meereS  (Lithodomus  lithophagus  Cuv.),  ein  groeifcbaligeö 
SJiuftbeltbier,  ba§  burd?  Äie men  atbmet  unb  biefer  gorm  bet 
Itbmung  entfprecbenb,  aud)  nur  im  SBaffer,  unb  3»«  im 
Seero affet  gu  leben  nermag. 

B 0 h a b f cb  fanb  biefeß  längft  befannte  9Jlu j^eltbier  im  3atjre 
1750  auf  eiet  burd?  föniglicbe  Äeften  bei  ^»egguoli  wieber  auögegra* 
benenSäulen  »on42guff4>öhe,  bie  au§  Gepolino,  einer  eigentbüm» 
Höffen  Dföarmorart  non  IRegroponte  gemeiffelt  unb  bereinft  bemStem» 
pel  bcä  (3upiter)  SerapiS  angeffört  hatten.  8er bet,  melier 
biefelbeit  Säulen,  bereu  eb  aber  nur  nod)  brei  waren,  im  3abte 
1773  fal),  berietet,  wie  Boffabjcb  fcffcn,  baff  au<b  ihm  e§  febr 
auffällig  erfcffienen  fei,  baff  fitff  in  einer  £öffe  eon  9 gnff  über  bem 
Bobcn,  auf  welchem  bie  Säulen  fteffen,  eine  3 §uff  breite4)  3one 
geige,  welche  au8  meift  6 Soll  tiefen  Bohrlöchern  bcrgeftetlt  werbe, 
in  bencn  ficb  notb  oielfacff  woblerhaltene  Sdbalen  ber  9Reer« 
batteln  fänben.  ©iefe  an  unb  für  ftcb  unfdjeinbare  3;ba*f®d?c 
führte  gu  folgenreicben  Unterfucbungen  unb  oielfadjen  Grflärungen, 
an  benen  ficff  aud)  @ötbes)  f.  3-  beteiligte.  SHuf  bie  eingeb enbften 
Prüfungen  ber  Sachlage  burcb  Breiilaf,  fRiceolini  unb  befonberö 
be§  englifcben  Geologen  2 pell  geftüfft,  nimmt  man  jefft  all« 
gemein  an,  baff  ber  SeropiStempel,  welcher  in  ber  3eit  gwiicben 
2luguftu8  unb  ipabrian  erbaut,  burcb  <$eptiminö  SeoeruS 
erneuert  unb  im  3abre  412  guerft  burd)  Ütlaricb,  bann  455  burd) 
Genferid)  guglcidj  mit  ber  cinft  blühenden  Stabt  ^ogjnoli,  fo* 
weit  gerftört  würbe,  alö  cö  eben  f ol eben  fänben  möglich  mar, 

XL  260.  2 f831) 


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18 


bag,  fage  ich,  bie  legten  Üempelfäulen  in  einet  nod)  fpäteren 
Bett  famrnt  bem  ©runbe  unb  ©eben,  auf  welkem  fie  ftanben, 
fo  tief  gefunfen  fein  muffen,  bag  fie  »on  ben  meerbewohneuben 
©teinbat teilt  in  bet  ehemaligen  SBafferlinie  in  Angriff  ge* 
nommen  unb  in  ben  Buftaitb  »erfegt  finb,  in  welchem  fie  fi<h 
gente  noch  ftnben ; bag  biefe  aber  auch,  nach  ftattgehabter  all* 
feitiger  2lnbohrung,  mit  bem  löoben  roieber  jur  gegenwärtigen 
Sluthhöhe  ^eraufgeftiegen,  b.  h-  alfo  wieber  gehoben  fein 
muffen. 

3n  ber  $£hat  »ft  bur<h  ben  Ülbt  3orio  auS  aufgefunbenen 
@<henfung8*Urfunben  ermittelt  worben,  bag  bie  ©egenb  um 
fPogguoli  im  fUtittelaltcr  unter  SSaffer  geftanben,  gu  Anfang  beS 
15.  Sahfhunbertb  aber  jur  gegenwärtigen  $6he  gehoben  worben 
ift,  io  bag  in  ben  betreffenben  Urfunben  bie  sPhrafe  ihr«  »olle 
Berechtigung  befigt,  gemäg  weither  wba8  frifch  aufi  bem 
SB  aff  er  emporgeftiegene  Hieulanb“  bem  neuen  Befiger 
übergeben  worben  ift. 

3n  biefem  hiftorifth  unb  fachlich  begrünbeten  gactum,  baS 
wir  ber  minirenben  (ärbeit  ber  ©teinbattel  »erbanfen,  liegt 
ber  funbamentale  Beweis  für  bie  ©iöglichfeit,  wenigftenS 
partieller  ©rboberflä<hen*Beränberungen,  butch  unterirbifege, 
in  biefem  gatle,  »ulfanifehe  Äräfte.  — Die  IRaturwiffenfchaft, 
ihrer  inbuctioen  5Jtethobe  gemäg,  fnüpft  an  baB  Bewiefene  an 
unb  folgert  wohlberechtigt  weiter,  bag,  alfo  j.  8.  bie  ©oraDfen* 
bänte  gloriba’S,  welche  theilweife  fegon  weit  im  3nnem  ber  «£>alb* 
infei  lagern,  einer  aHmägligen  Bobenergebung  biefe  Lagerung 
»erbanfen  unb  bag  ^ögenjüge  auS  fföufcgelfalf,  beffen  £aupt« 
bcftanbtheile,  bie  ihn  bilbenben  SRufcgeln  unb  ©ehneefen,  welcge 
leidet  nachweislich  einft  unter  ©eewaffer  nur  epiftiren  tonnten, 
in  baS  Snnete  beS  fegigen  geftlanbeS  nur  baburch  gelangen 
tonnten,  bag  fie  fammt  ihrer  gagerftätte  gehoben  würben  unb 

(632) 


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19 


fogar  ber  gulefst  ihren  gufe  bejpülenbe  ©tranb  immer  meiter 
hinaus  in  ©ee  oertegt  worben  ift. 


Sßenben  wir  un8  nun  gur  (grörterung  ber  grage,  welche 
Aufgaben  haben  SJtuff  ein  unb  @f  necfen  im  £auSl)aIte 
ber  Statur  gu  löfen,  jo  fann  if,  ohne  burf  aUgugrofje 
Äürge  bie  Äiarijeit  ber  äuSeinanberfetjung  gu  beeinträchtigen, 
bod)  nicht  umhin,  mich  nach  gwei  Stiftungen  h«n  gn  »erbreiten. 

©er  fohlenfaure  Äatt,  beffen  bie  in  ben  füfcen  unb 
falgigen  SBaffern  lebenben  (Konfplien  gum  ©falenbau  in  fo 
umfangreicher  SBeife  bebürfen,  muh  jetbftoerftänbfich  auS  bem 
umgebenben  SJtebium  felbft  entnommen  werben,  ©ie  (Jonfumtion 
be3  ÄalfeS  einerfeitö,  nnbererfeitS  aber  beffen  Serbiftung  auf 
einen  Heineren  Staunt  unb  beffen  UnloSlif  maf  ung,  bewerffteUigt 
eine  berartige  Serbünnung  ber  ©alglöfungen,  bah  ^ anberen 
©hteren  möglich  wirb,  in  benfelben  gu  leben,  ©aburf  werben 
bie  ff  alenbilbenben  Sffieif  ficre  gu  Stegulatoren  be§  jfalfgel)alte8 
ber  ©ewäffer,  inSbefonbere  ber  SJteere  unb  arbeiten  mit  ben 
ßoradenthieren6)  gemeinfam  an  ber  SBertheilung  ber  SBärme 
unb  geuf tigfeit  über  bie  (Kontinente  unb  halfen  am  Aufbau  ber 
Gfrbrinbe  burf  maffenhafte  Sinljäufung  ihrer  ©elfäufe  unb 
©falen. 

Stift  minbere  Seaftung  bürfte  jene  ftide  Arbeit  ber 
SSeif thiere  oerbienen,  weife  ftf  baburf  befunbet,  bah  |te 
theilö  auö  fubmarinen  ^flangen,  feilS  butf  Slffimilation 
mifrogf  opiff  ;fleinfter  thieriff  er  gebengformen  aller 
Srt,  ihren  fleiff reif cn,  eigenen  geib  aufbauen,  ber  wieberum 
feinerfeitS  gahlreifen  anberen  Schieren,  ober  auf  bem 
SJtenff  en  gur  Stahrung  bienen  fann. 

©ierig,  wie  if  eg  einft  im  Jpafen  »on  Sergen  (Storwegen) 
fah,  faugt  berSeeftern  bie  SJtieSmuff  el  au8,  bie  ftf  nur  oon 

2*  C83J; 


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20 


Snfuforien  unb  mifrobfooifchen  jfrebbchcn  erndljrt.  — 2>er 
Slufternfif  djer,  (Haematopus  ostralegus)  trägt  feinen  Flamen 
nicht  o^ne  ®runb  unb  unfere  Ärähen  wiffen  fich  in  ber 
SBintergeit  aub  ben  an  bab  Ufer  ber  ©ewäffer  geratenen 
35talermuf<heln  ein  leefereb  SRaljI  ju  holen.  f)olarfüchfe, 
Sölojchubratten,  2Baf<hbären,  ja  felbft  '.Äffen  betbeiligen 
fid?  an  ber  mit  ßjtufchelthieren  rcidjbeie^ten  offenen  ßlaturtafel 
unb  bie  norbifdjen  unb  fübtidjen  Bartenwale  (Balaena 
mysticetus  australis)  mürben  nid}t  im  ©tanbe  fein,  ben  ©e= 
barf  oon  $htan  unb  Sifdjbein  ju  beefen,  menn  nie^t  bie  Clio 
borealis,  ein  Heiner  gloffenfüjjler  in  meilenlangen  Bügen  burd?  bie 
^)olatmeere  fdjwimmenb,  bootblabungbmeife  bem  ungeheuren 
Stachen  unerfättlid)cr  Bartenwale  zugeführt  roerben  fönnte. 

ßrmeift  ftcb  bie  Bebeutung  ber  5Jlufd}eltl}iere  für  ben 
cpaubljalt  bet  fomit  alb  eine  nicht  unerhebliche; 

fo  ift  bieö  b och  in  SRücfficht  auf  ben  a n § h a 1 * beb  9Jtenf<hen 
in  noch  höherem  @rabe  ber  gaß;  fei  eb,  baff  fie  unb  n üblich 
unb  för  ber  lieh  merben,  fei  eb,  bafj  fie  gu  benen  gehören,  bie 
„bab  ®ebilb  oon  föienfchenhanb"  ijaffcrtb,  nur  gerftörenb 
mirfen.  — 


SBirb,  nach  Befeitigung  ber  Büune  unb  Reefen  gmifchen 
ben  'Äcferflächcn,  mie  fie  im  gauenburgifdjen  unb  .fiolfteinifchen 
heute  noch  überaß  fortbeftehen,  ber9ta<htheil  ber  fäcferf  ehneefe 
(Limas  agrestis  L.)  bei  unb  auch  nicht  mehr  fo  fd}mer  unb  in 
bem  Umfange  empfunben,  wie  bieb  früher  ber  gafl  war,  wo 
nod}  ähnliche  Umzäunungen  beftanben,  fo  flagt  bod}  auch  ber 
Partner  zuweilen  heute  noch  über  biefeb  „lulturfeinblidje" 
©efdjöpf  unb  mit  fRedjt,  inbem  eb  ber  SBanberheuf^recfe  an 
©efräfcigfeit  wenig  nachfteht.  — 

ßonftanter  unb  fernerer  treffen  unb  brohen  mit  2ob  unb 

<***) 


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21 


SBerberben  bie  entfe^Iid^en  „SBü^leteien"  unb  Serheerungen  beß 
f a Ijlwurmß  (Teredo  navalis  L.)  unb  ber  gingermufcheln 
ober  §)f)otaben. 

äm  üftarfe  unfereß  fRationaloermögenß  gehrt  3aljt  auß 
3atjr  ein  bie  erhebliche  Summe,  welche  SDeutfdjlanb  an  6ng* 
lartb  gu  jaulen  hat  für  baß  in  unfern  $äfen  noch  nid)t  auß» 
füljrbare  Äupfern  beß  äufseren  Schiffßbobenß.  SSie  ungern 
aber  aud)  immer  ber  beutföe  Streber  bie  Summen  bucht, 
welche  bie  erfte  ^petfteQung  unb  bie  conftante  Unterhaltung  beß 
Äupferbobenß  oeranlafjt,  fo  ift  er  bodh  auch  fidjer,  bajj  in  geige 
bet  fdjönen  (Sntbecfung  ber  (änglänber  Jpowatb  unb 

92Rajer  SSatfon  hinfort  bie  heimtücfif<h<minirenben  SBeichthiere 
webet  baß  geben  ber  Schiffß’Sefajjung,  noch  auch  bie  roerthoolle 
gabung  bebrohen  unb  gefähtben  fönnen. 

3u  feinem  nicht  getingen  Schieden  erfannte  ber  berühmte 
•Seefahrer  JDampiet  im  $afen  een  üJlinbanao,  bafe  Schiff  unb 
Söte,  trofj  eineß  nur  einmonatlichen  2lufenthalteß  in  jenem 
£afen,  SBeßpenwabenartige  Sefchaffenheit  angenommen  hatten 
unb  gut  gortfejjung  ber  Seereife  oöHig  unbrauchbar  geworben 
waren.  — Sehnliche  böfe  ©rfahrungen  machte  man  in  ben 
bracfifchen  Suchten  3amaifa’ß,  £>ft*  unb  Söeftinbienß,  im  Mittel» 
meere  unb  felbft  an  ben  jfüften  ,£>oltanbß.  — 

3mmer  bereit  ihre  mechanifchen  Sähigfeiten  gu  befunden, 
ift  ihnen  feine  $olgart  gu  weich  ober  gu  hart;  ob  eß  non 
ÜBeiben  ober  Rappeln,  com  bittern  (Sebrelenholge  ober  bem  harten 
5eafholge  (Tectonia  grandis)  ftammt.  3u  5 Saften  fchon 
füllen  biefe  lebenben  Sohrmafdjinen  6id)enfernholg  (eß  fei 
benn burd) gahlreich  eingefchlagene  eiferneUlägel  burch  Sermittlung 
beß  Seewaffetß  mit  einem  (Sifenfalge  burchtränft)  gerftören 
fönnen. 

Sieben  eß  bie  ^fahlroürmer  (Teredines)  auch,  im  Setlaufe 

(8Ji) 


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22 


bcr  gängSfafern  ber  £>ölger  ju  bohren,  fo  fönnen  fie  bodj  auch 
»on  aujfen,  redhtwinflig  auf  bereu  gängSajre  leidet  einbringen, 
ja  bie  $>ho laben  feinen  biefe  9iidjtung  oorwiegenb  ju  fudjen. 
Äcinc  Snprägnation  ber  böiger,  (jene  obenerwähnte  be8  6idjeu= 
holgeS  oielletc^t  ausgenommen)  bot  bisher  fixerem  ©chufc  alö 
Greofot,  roie  fid)  bieS  aus  ben  auf  ber  sf)arifer  58elt=äuSfteHung 
1867  burd)  bie  faifertidje  Slbmiralität  auSgeftellten  groben  ergab. 
UebcratI  waren  bie  9>fablffiürmer  in  bie  oom  Greofot  nid)!  bureb* 
tränften  ©teilen  ber  halfen  eingebrungen.  gür  fein  europäiftheS 
jbüftenlanb  hatte  bie  maritime  SDlaulwurfSarbeit  ber  Söohrwürmer 
aber  eine  größere  Sebeutung  als  für  .^ollanb,  weites  mit 
foftjpieligcn  gafdjinen  unb  'Pfafylrocrfen  fein  bem  5)lecre  ab* 
gewonnenes  Stieflanb  einbeidjte.  ©eit  1730  fdjon  ift  man 
bort  in  bie  Sothwenbigfcit  oerfcöt  ber  SetftörungSluft  biefeS 
böfen  geinbeS  mit  allen  erbenfbaren  SKitteln  entgegen  ju  treten. 
Slmftcrbam  unb  SBcnebig,  beibe  auf  9)fal)lroftcn  erbaut,  febweben 
in  gleichet  ©efaht.  Such  bie  oom  Sogen  ju  Senebig  nad) 
Gbina  entfanbten  Äunbfdjafter  brauten  feine  anberen  £ülf8= 
unb  ©(bu^mittel  als  bie  längftbefannten  gurücf  unb  noch  immer 
muffen  in  SBenebig  bie  pfähle  ber  ©porne,  bie  gumeift  baS 
SlngriffSobjeft  bilben,  alle  5 3aljre  erneut  werben. 

Ser  feberfieläljnlicbe  längliche  Äörper  beS  i'faljl»urmS 
(Tcredo  navalis  L.)  erreicht  eine  gange  oon  naljegu  einem 
gufje  unb  trägt  am  oorbern  Äörperenbe  ein  $)aar  fleiner  weitJ 
flaffenber,  ringförmiger,  gegähnelte  Sippen  tragenber 
©i^äldjen,  bie  nach  Snfidjt  ber  Herren  $>rof.  5)löbiu8  unb 
Dr.  SDieper7)  baS  S3o^rwerfgeug  bilben,  wie  uor  ihnen  febon 
DSler8)  barthat,  wäljrenb  £ancocf9)  in  ben  fünf*  bis 
feö&Sfeitigen,  frpftallinifchen  Äiefclfpifcen  am  gufse  unb  ben 
SDiantelränbern  baffelbe  fucht.  Ser  mittlere  Sbril  beS 
ÄörperS  geigt  fid?  in  einen  röhrenförmigen  ÜJlantel  gehüllt,  auS 

(936) 


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23 


welchem  am  Hinteren  Äörperenbe  tie  beiben  Sftljemrfljrcn  ge» 
fontert  tyerBorragen.  0en  ©ecretionen  beS  -5J?antelS  eerbanfen 
bie  SunnelS,  welche  bie  $)fablwürmer  bohren,  weht  ihre  &alf* 
auSfleibung. 

©tnb  auch  bie  Seiftungen  ber  ging  ermufdjeln  (Pholaden) 
im  großen  Sangen  benen  ber  $)faf)lwürmer  gleich,  fo  unter* 
fdjeiben  fid>  beibe  S^ierformen  nicht  nur,  fonbern  auch  bereu 
33ohr(6cher  wefentlicb.  ®aS  S^ier  ber  ^'fjolabe  ift  faft  »ööig 
bebecft  non  gwei  fel)r  harten,  größeren,  an  beiben  @nben 
ftaffenben  unb  gw ei  Heineren,  accefforifdjen  Ä'alffc^alen  (Schloff* 
platten),  bie  ebenfalls  auf  ber  Slufsenflädje  längs  ber  3—6  jüngeren 
SlnwachSftreifen  fefearfe  Sahnreihen  befifcen,  mit  benen  fie  nach 
SKebiuS  unb  Weher  itjre  Äanäle  bohren,  bie  mit  ber  not* 
fdjreitenben  3unafjme  beS  ÄorperS  — refp.  ©chalenoelumS 
fid?  entfprechenb  erweitern,  ebne  jebodj  mit  Äalfrehren  auS* 
getleibet  gu  werben.  £>aS  Jljier  leuchtet  fRadjtö  unb  giebt  einen 
gefuchten  Secferbiffen  ab. 

Sügt  man  gu  ben  oorgenannten  Sol)rmufcheln,  bie  eben 
erwähnten  Wcerbatteln  (Lithodomas  lithophagus)  fewie  bie 
©aricaoen  unb  gebenfen  wir  fchliefflid}  auch  nod)  ber  »on 
ben  Äüften  beö  WittelmeereS  fchon  längft  befannten  ©ec*  ober 
Weerbafen  (Aplysia  depilans  Lern.),  beren  Scrührung  man 
fchon  im  Slltherthume  mieb,  weil  bie  Jpaut  anfchwoH  unb  bie 
£aare  auSgingen,  wie  eS  noch  >m  notigen  3ahrh“nberte  S3ohabfch 
beftätigte,  fo  wäre  ber  ÄreiS  ber  fdjäblichen  Wufdjclthiere  hiet» 
burch  umfehrieben. 

Smmerhin  ©chatten  genug!  Sod)  mo  foüte  auch 
©chatten  fehlen,  wo  fooiel  Siebt? 

®er  Sidjlfeiten  ber  SBeicbthiergruppen  giebt  eS  genügenb  unb 
finb  biefe  eines  tieferen  SingeljenS  wohl  Werth. 

Direct  unb  inbirect  bienen  bie  SBeichthiere  atS  menjeh» 

(W) 


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24 


liebe  Nahrungsmittel  felbft,  ober  bodj  gur  Erlangung  geeigneter 
SRät>rmittel.  -Kleinere  .Kalmare  (Loligo  piscatorius,  Omm a- 
strephas  sagittatus  d’Orbigny)  werben  an  ben  New=gi.'unfclaubS* 
banfS  een  amerifanifeben  unb  europäifd;en  giiebern  in  fe  großen 
Nlaffen  gefangen  unb  gepöfett,  bafj  beren  Ernte  alljährlich 
4 — 5000  ga§  überfebreitet.  Ser  .Kabcljaufang  an  biefen 
gelfeninfeln  ift  im  Söefentlidjen  burd)  ben  gang  bet  Äal» 
mare  unb  Sanbmufcbcln  (Mya  arenaria)  bebingt.  Eben» 
falls  als  Äöber  gum  gijebfange  bient  an  ben  Äüften  Suropa’S: 
bie  gingetmufcbcl  (Pholas  Dactylus)  bie  ÜJlieSmuf (bei 
(Mytilus  edulis  L.)  beren  im  Firth  of  Forth  wohl  an 
40  Niillionen  gejammelt  werben.  Sie  Sanbmufcbel,  (Mya 
arenaria);  bie  perjmufcbel  (Cardium  edule  L.)  unb  bei  |)ort: 
patrief  in  Englanb  befonberS:  baS  Äinfhorn  (Buccinum  un- 
datum  unb  Fusus  antiquorum  L.)  — 

Nlel)r  notb  als  in  biefer  inbirecten  äöeife  bienen  bie  Seid}» 
tbiere  [elbft  als  Nahrungsmittel.  ES  beburfte  faum  ber 
beftätigenben  Erfahrungen  eines  Eoof,  grepcinet,  Seecbep  unb 
anbeter  Seefahrer,  welche  »on  ihren  EntbecfungSreifen  auS  ber 
injelreicben  Subfee  heimfebrenb,  unS  berichteten,  bafj  alle  ftranb« 
bewohnenben  SBölferfdjaften,  fei  cS  beS  3eit»ertreibeS  willen,  fei 
cS  auS  junger  bagu  getrieben,  bie  mannigfaltigen  am  See» 
Stranbe  zugänglichen  Scicbthiere  prüften,  fofteten  unb  oer» 
gehrten.  — 

Sluffatlenber  ift  eS,  baff  SinnenlanbSbewobner,  benen  bie 
Natur  einen  fo  großen  Neichthum  tmn  Eonfumptibilien  taufenb» 
facher  2trt  erfcblofj,  auf  ben  ©enu§  bet  ganbfebneefen  uerfrelen. 

Sie  Eingangs  febon  als  fParabigma  gur  Ebarafteriftif  ber 
Sdjnecf  en  benufjte ScinbergSfcbnecfe  (Helix  Pomatia  L.)  unb 
mehrere  berfelben  cerwar.bte  irrten  (H.  rhodostoma  L.  H.adspersa 
Müll.A  H.  vermiculata  Müll.)  auS  bem  Silben  Europa'S  unb  bem 
<««) 


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25 


Sterben  äfrila’S,  war,  nad)  unoermcrflidjen  Seugniffen  remtjc^ct 
Scpriffteller  ein  in  fo  großartiger  SEÖeije  beoorgugter  ©egenftanb 
ber  alten  9?cmer,  baß  fte  biefelben  fogar  in  eigenen  Ställen, 
Cochlearia  genannt,  mäftetcn.  3Die  SBeißen  »on  SReate  waren 
feßr  beliebt,  bie  größeften  begog  man  auS  SUptien,  alS  bie 
|tßmacf^afteften  aber  galten  bie  Solitaner.  9Rit  einem  »leige 
auS  SDtoft,  SBeigenntehl  unb  bgl.  warben  fte  gu  einem  folgen 
Äörperumfange  ergogen,  baß  'PliniuS  gu  feiner  ISbenbmahlgeit 
bod?  nur  beren  brei,  nebft  gwei  giern  unb  einem  ©erftenludjen 
gu  »erfpeifen  oermodjte.  Dbjcßon  ^eutgutage  bie  Schneden* 
mäftung  im  Sinne  ber  alten  Dtömer  nid)t  mehr  in  'Ausführung 
gelangt,  fo  wirb  bcd)  oon  ben  Sdjneclenbaucrn  jowoßl  in  2irel, 
als  namentlich  auch  in  Söürttemberg  eine  abfichtlicße  gütterung 
berfelben  bie  gu  ber  3«'*  bewerfftelligt,  wo  fie  ben  SBinterbecfel 
auSbilben,  um  fie  gur  rechten  3eit  gut  ^anb  gu  hflben-  3e 
10,000  Stücf  werben  bann  in  ein  gaß  oerpadt  unb  an  Älöfter  ober 
nach  5Bien  »erfenbet,  wo  man  noch  ben  2Rnth  ha*r  bie  freilich 
nicht  mehr  fo  „fdjnecfenfetten"  Sh^re  gelocht,  gebacfen  ober  fonft 
wie  präparirt,  auch  troß  ißreS  nie  oöllig  gu  bejeitigenben 
Schleimes  gu  uetfpeifen.  — Saß  bie  in  ber  fogenannten 
„Steinperiobe"  lebenben  SRenfdjen  auch  @d)neden  ber  See« 
lüfte,  g.  33.  baS  Äinlhorn  (Buccinum  variegatum)  fowie  bie 
Litorina  litorea  Bergehrten,  ift  mehrfach  erwiefen. 

Slber  auch  bie  9teii)e  ber  SRufchelthiere  ftellte  wohl  in 
aüen  3eiten  ben  33ewohnern  ber  Seelüften  ihr  reichliches 
ßontingent.  Auf  ben  gifchmärlten  gu  2oulon,  SRarfeille,  ©enua, 
SBenebig  u.  f.  w.  ftnbet  man  bie  Arapedes,  b.  h-  Äamm« 
mufcßeln  (Pecten)  unb  bie  ÜReerbatteln  (Lithodomus 
lithophagus  unb'Pholas  dactylus  L.);  inSBorbeaup  bie  Anomia 
undnlata;  auf  irifcßen,  cnglifcßen  unb  fchottifchen  gifcßmärlten: 
Scheibenmufcheln  (Solen  siliqua)  beSgleichen  in  33enebig : bie 

(«3») 


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26 


Copa  longa  (Solen  vagina)  unb  §)ecten«9lrten.  5ün  ber  Äüfte  non 
Jftftngo  in  3apan  bürfen  gewiffe  Sd)eibenmut<he!n  überhaupt  nur 
auf  23efeljl  beb  bortigcn  Sehnbfürften  unb  auch  nur  bann  ju  anber« 
weiter  Slbgabe  gefifdjt  werben,  wenn  beb  Üftifabo  bebfaflfige 
SBünfche  junor  ihre  ©rlebigung  gcfunben  ^aben.  ©an3  ohne 
©runb  ift  ber  in  ©nglanb  gebräuchliche  fJiame  „2Sittwen«8uft" 
für  bab  &h'er  ber  glufsperlenmufchel  (Unio  margaritifer  L.) 
ficherlicb  wohl  auch  nicht  unb  ju  bem  mobenten  „@arum",  einer 
amboinifchen  üunfe,  bie  man  ber  bei  ben  alten  Römern 
©ebräuchlidjen  gleichwertig  erachtet,  wirb  ber  Sßaeaffan 
(Tellina  gari)  alb  wefentlichfter  SJeftanbtheil  neben  ©cwürjen 
unb  Olinenöl  benutzt.  — 

ginben  an  cnglifchen  Äüften  nach  Sohnfton10)  auch  bie 
^erjmufcbeln  (Cardium  edule  L.)  nicht  bl  ob  in  91ethial}rcn, 
fonbern  alljährlich  nom  grüljling  bib  jum  .jpcrbfte  ihre  fchr 
gasreichen  Verehrer,  fo  gleid)t  bcd>  beren,  fowic  überhaupt  feineb 
anbern  föiufchelthiereb  Verbrauch,  bem  ber 

fDtiebmufchel  unb  ber  Slufter. 

33eibe  finb  im  »ollen  ©inne  beb  SBertb  „SMfbnabrungbmittel", 
nur  leiber  nicht  bei  unb.  33eibc  werben  in  großem  9Diafeftabe 
abfi^tlich  gezüchtet  unb  forglich  gepflegt;  beibe  auch  feilen  bie 
nüfjlichc  ©igenthümlid)feit,  bie  ©ine  mit  einem  ffipfjub,  bie 
Slnbere  mittclft  eineb  Äalfmörtelb,  ben  bab  £l)ier  felbft  bereitet, 
fich  an  fefte  Äörper  bann  anguheften,  wenn  fie  bab  SSimper« 
fegel  abgewotfen,  bab  fie  im  Saroenleben  3U  freier  ©rtbbewegung 
befähigte. 

Hon  beiben  üliujcheln  ift  leiber  nur  bie  ü)li ebmufcpel 
(Mytilus  edulis  L.)  im  ©ebiete  ber  Oft  fee  gur  Sucht  geeignet, 
bafelbft  aber  heimifd)  unb  fann  auf  ihren  natürlichen  ©tanberten, 
3.  S3.  nörblidj  »en  fHügen  eine  ftattliche  ©rüfie  bib  3"  Sänge 
erreichen.  — 

(MO) 


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27 


®aä  bie  breifeitigen , aufcen  fdjwargblauen,  innen  lichtblauen 
(Skalen  außfüllenbe  SE^ier  ift  mit  31»  ei  UftuSfeln  berfelben  an* 
gemahlen,  befitjt  blättrige  .Siemen,  eine  grofje  Heber,  licrg, 
JDarm  unb  ben  abwärts  gerichteten,  non  Jpautlappen  umfteflten 
ÜJiunb.  3h*e  Vermehrungsfähigfeit  ift  aufserotbentlich  grojj  unb 
tonnten  bie  uielfachen  Quantitäten  ber  2Jiuttertl)iere  alljährlich 
gewinnbar  gemacht  werben,  wenn  man  ben  mit  SBimperfegel 
umher  fid)  tummelnben  jungen  Harnen  (Gelegenheit  gur  'ilnheftung 
mittelft  ber  feibenartigen,  auS  einer  Rufjbrüfe  jecernirten  Raben, 
bcS  VpffuS,  gewähren  würbe. 

55n  ben  Äüften  pommernS  unb  wahrjcheinlich  aud) 
PtedlenburgS  gefdjieht  aber  nidjtSgu  ihrer  Vermehrung,  weit 
man  bie  ®enufj=  unb  VerbraudjSfähigfeit  bet  3Ruf<hel  entweber 
nicht  tennt  ober  beren  Vcrwenbung  als  VahrungSmittel  perhorreScirt. 
SlnberS  benfen  barüber  bie  Slnwohner  ber  .Sieter  unb  ülpenraber 
Sucht.  2)ert  gürtet  man  fie  an  Pfählen  (Vieler  Pfahlmufd)eln) 
ebenfo  wie  in  Rranfreicp,  wo  bet  „Moule“  einen  Ptaffenoerbrauch 
finbet,  feitbem  HouiS  XVIII.  ihr  bie  Sulaffung  gur  .poftafel 
geftattete  unb  fie  fomit  ben  parifer  ©ourmanb’*  unb  bann 
ben  VolfSfüdjen  guführte.  ©ah  ich  fcocfc  felbft  noch  im  3-  1867 
alltäglich  in  bem  gu  meiner  bamaligen  SBohnung  gehörigen 
©arten  oiele  Scheffel  leerer  Schalen  gum  Erccfnen  auSgebreitet, 
beren  ©rbauer  in  ben  Speifewirthfchaften  beS  Ptontmartre  ihre 
Verwenbung  gefunben  hotten,  währenb  bie  getrocfnetcn  Schalen 
gu  weitern  technifdjen  3»ecfen  benufct  werben  feilten. 

Seitbem  ber  fdjiff brüchige  ©pt.  Patri!  Sßalton  i.  3-  1235 
bie  Rrangofen  mit  ber  irifdjen  3üthtungSmethobe  ber  PtieS* 
mufdjel  betannt  gemacht  hotte,  blühen  bie  „Bouchots“  an  ben 
lüften  beS  atlantifchen  PteereS;  aber  auch  ber  wählerische 
Schotte  oerfdjmäht  bie  „Shells“  nicht,  bie  beS  Firth  of  Forth 
fetfige  Stränbe  beüölfem,  obfehon  freilich  an  40  ÜJiill.  Stücf 

fS41) 


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28 


ißre  iänwenbung  als  Äöber  gumgifcßfange  ftnbcn.  Sie  appetitlichen 
Sifdjlaben  Honbon’S  finb  alltäglich  mit  frifchcn  „Shells“  »eriorgt, 
bie  auch  in  Norwegen  unb  Sünemarf 1 felbft  in  Salglafe  gcpöfelt 
Sßcrwenbung  finbeu.  3n  Stalien  blühte  bie  Ntieömufcßdgucht 
beim  Slrjenal  gu  Slenebig  gur  Seit  ber  Nepublif  fc^on  unb 
waren  bie  oon  Nouegrabi  in  Salraatien  tommenben  Ntieömujcheln 
(o  beliebt,  baß  man  beten  „SSereblung"  gern  beroerfftetligte. 
Nach  Äobelt1*)  mibmet  man  im  @olf  »on  Sarent  ber  SRieÖ» 
mufchelgueßt  große  Slufmerffamfeit.  3e  oier  Pfahle  werben 
in’8  Nleer  gerammt  unb  burd)  Saue  über  Äreug  oerbunben. 
Sin  bie  een  benjelben  frei  ßerabßängenben  Sauenben  jeiU  fich 
bie  junge  Harne  maffenbaft  an,  unb  fönnen  bie  genießbaren 
ÜRufeßeln  jeßon  nach  18  ÜJlonaten  geerntet  werben.  Sin  250 
pfählen  ergießt  man  gegen  S470  ©entner  Ntufcßeln,  welche  bie 
Äoften  berSlnlage  nicht  nurbeefen,  fonbem  noch  gureießenben  Ueber* 
fcßujj  gewähren,  wie  eö  bifUgerweije  eine  fo  müßeoelle  Slnlage 
unb  Slrbeit  beanfprueßen  muß. 

Sei  ber  weitoerbreiteten  SBeliebtßeit  ber  Ntiedmujcßel  al3 
Nahrungsmittel  würbe  beten  @cnuß  hoch  nicht  gang  unbebenl* 
lieh  fein,  wenn  man  nicht  gelernt  hätte,  bie  ©enußfäßigfrit 
oöllig  fteßer  gu  ftetlen,  baS  £ßicr,  wie  man  eS  nennt,  gu  oerebeln. 
Sluö  bem  unreinen  SBaffer  beS  ScßlammbobenS,  wo  ed  bie 
meifte  gufagenbe  Nahrung  finbet,  muß  baffelbe  in  reinefi  SSafftr 
gebracht  werben,  um  unftßäblicß  unb  reinjeßmeefenb  gu  werben. 

Ser  beutjeße  gifdjerei*SBerein  wibmet  fuß,  wie  man  weiß, 
betben  Aufgaben  mit  Sorgfalt  unb  ift  bemüht,  nidßt  nur  überall  bie 
gur  Slngucßt  nötßigeu  SJeranftaltungen  in’S  Heben  gu  rufen,  fonbern 
aueß  &>c  notßwenbige  ©orrectur  an  bem  ©rgogenen  angubringen  unb 
fann  man  nur  wünjeßen,  baß  beffen  Slnftrengungen  oon  ©rfolg 
gefrönt  werben  möchten,  greiließ  muß  ißm  auch  baS  beutjeße 
SSolf  entgegenfommen  unb  fein  SBorurtßeil  jeßwinben 

(842) 


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29 


laffeit,  baß  ber  Verbreitung  biefeS  anberwartß  |o  beliebten 
VoltßnaljrungSmittelä  bisher  »ielfach  ^inbernb  entgegenftanb.  — 
ÜDafj  in  ber  S^at  berartige  Voreingenommenheiten  ber 
außgebetjnterenUiuhung  auch  bet  21  uft etn  bei  unß  entgegenfteljen, 
tann  man  felbft  in  Äreifen,  wo  man  beten  h°hen  ^teifi  nid^t 
fdjeut  unb  gu  freuen  nöthig  hat«  alltäglich  erleben,  Sonft  ift 
ja  bie  2lufter  überall  ba,  wo  fid)  ©lieber  i^reö  ©efchlecbtö,  ich 
meine  Strten  berjelben  finben,  ©egenftanb  beö  auSgebchnteften 
©ebrauchß,  jo  bie  etwa  3"  grofee,  mit  angebrücften  Schuppen* 
blättern  »erfehene,  runblidje Stufte r beö  üJtittelmeereö  (Ostrea 
cristata  Poli),  ferner  oie  an  ben  pfählen  Venebigö  befannte, 
mit  fdjief  eiförmiger,  gefdjnabelter  Schale  uerfehene  dufter 
beß  abriatifdjen  ÜJieeteS  (0.  adriatica  Lam.)  welche  biß 
4"  QJröfje  erreicht  unb  am  Schlofjbanbe  auf  ber  Snnenfeite 
geja^nt  erfc^etnt;  fobann  bie  f er  b e f u jj  a u ft  er  an  ber  fran  göfifchen 
Äüfte  bei  Voulogne,  $a»re  be  ©räce,  nach  Ärßget  audj  an  ben 
Schleßwigfchen  Äüften,  beren  gleiich  inbef?  fchweter  »erbaulich 
fein  foQ.  — Vor  2tQem  bie  an  ben  Dftfüften  ber  norb« 
amerifanijchen  greiftaaten  ^eimifd^e  „norbifche  SHufter" 
(0.  borealis  Lam.)  mit  länglich*eiförmiger  Schale  unb  welligen 
Schuppenblättem ; begleichen  bie  canabijche  21  u ft e r (0. 
eanadensis  Lam.)  biß  6"  lang,  langgegogen,  nach  oben  ftd)  »er» 
breiternb,  bicffchalig,  mit  concerer  oberer  klappe;  ferner  bie 
»irginifche  dufter  (0.  virginica  Lam.)  mit  Schalen,  beren 
obere  jblappe  flach,  fdjmal,  länglich,  bicf  unb  blättrig  erjcheint. 
3<ihiteich  ftnb  auch  bie  formen  unb  2lrten  ber  Sluftern,  welche 
fi<h  mit  rücfmärtß  gerichteten  3äljnen  an  (Sorallengweige  ober 
SJlanglewutgeln  anheften,  wie  0.  crista  galli;  0.  folium; 
0.  plicatula  Gualt.  u.  f.  w.  — Sdjon  au8  ben  »orftehenben 
Stnbeutungen  geht  heroor,  bafj  ba§  ©efchlccbt  (genus)  bet 
duftem  in  ber  ©egenwart  nicht  nur  in  allen  3onen  ber  ßrbe, 

(843) 


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30 


fonbern  auch  fo  galjlreicf)  »errieten  ift,  wie  einft  in  ber 
Sriagformation  bag  ©efdjlecht  bet  Gryphaeen  (Schnabel* 
auftern),  »en  benen  fid)  nur  noch  eine  3lrt  big  jur  ©egenwart 
iebenb  erhalten  hat. 

2öie  wichtig  nun  auch  für  bie  norbamerifanifdjen  grei* 
ftaaten  bie  burdj  brei  Slrten  an  ihrer  ßftfüfte  »ertretene 
31  u ft  et  in  nationalöfonomifcher  33ejiei)ung  ift,  inbem  fte  wie 
@tur$13)  berichtet,  bcr  SBefafjung  »on  6—700  größeren  unb 
Heineren  Schiffen  preichenbc  ©riftenjmittel  liefert  unb  bei  @r» 
trägen  een  ficherlich  27  fUliB.  Steffeln  alljährlich,  auch  ber 
arbeitenben  Älaffe  ju  3—5  ©rofehen  fdjon  ein  julänglidjeg, 
nahrhafteg  unb  fehmaefhafteg  ©ericht  gewährt,  währenb  an 
2$  9DM.  fPfunb  aug  btn  Schalen  herauggenommene,  in  33lech* 
buchten  eingelötete  Sluftern  einen  nicht  ju  eerachtenben  ©rporr* 
artifel  nach  bem  Snnem  ber  weftlichen  Staaten  unb  fomit  be* 
merfengwerthen  Slrbeitgeerbienft  bieten,  fo  haben  bodj,  ^umal  bie 
Slcclimatifation  ber  eirginifchen  Slufter  in  ©nglanb  feinen 
rechten  ©rfolg  hatte«  b*e  amerifanifchcn  äuftern  nicht  bag 
3ntereffe  für  ung,  wie  bie  hefmifdjen,  in  ber  Dtorbjee  unb  an 
ben  europäifd)en  lüften  beg  atlantifchen  DJleereg  lebenben  eh* 
baren  3luftern  (Ostrea  edulis  L.)  — 

SDer  frönen  ©ntbeefung  bänifcher  ©elehrten,  eineg  Steenftrup, 
gotchhammer,  SBorfaae  »erbanfen  wir  nähere  Äenntniffe  über 
bie  Dlahrunggmittel  beg  9Dfenfchen  ber  „Steinjeit“,  inbem 
eg  jenen  gotfehern  gelang,  an  ber  Dtorboftfüfte  3ütlanbg  bet 
©renoa  in  oft  10  guf)  biefen  Sagen  bie  Speifeabfäde  (Kjökken- 
möddinger) jener  Urmenfchen  aufjufinben  unb  3U  analpfiten. 

ganben  ftch  aut  Änodjen  »on  etwa  15  SBögeln  unb  Säuge* 
thicren,  fo  ergaben  ftd)  boch  auch  bie  Schalen  nieler  Sdjnecfen 
unb  fötufcheln  unb  unter  biefen  »orwiegenb  3lufternftalen. 
hiernach  fann  man  ben  JRömern  nicht  bag  Serbienft  »inbiciren. 


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31 


guerft  auf  ben  ©enufj  ber  Sluftern  »erfüllen  gu  fein,  ober  wie 
Äönig  Sacob  non  ©ngtanb  gu  bemetfen  pflegte,  „guerft  ben 
fDtuth  gehabt  gu  haben,  bie  erfte  dufter  gu  »erfpeifen".  Seth  < 
wie  bem  auch  fei,  ba8  fann  nicht  beftritten  werben,  bajj  ©ergiu8 
Drata,  gu  ©raffuS  Seiten  im  Sajanifchen  lebenb,  gleich»iel 
au8  weichen  fBiotioen,  e8  guerft  »erfuebt  unb  oerftanben  hat» 

31  u ft  e r n gu  oerebeln,  beren  ©efdjmacf  gu  oerbeffern  unb  felbft 
biejenigen  wiebet  genufcfähig  iu  machen,  bie  auf  bem  einft 
gewifi  fehl  fchwierigen  £anbtran8porte  een  Srunbufiuni  (Srin* 
bifi)  [eine  ^unbgrube  eortrefflidjer  abriatifcher  Sluftern]  ge» 
litten  hatten,  Jpeute  mürbe  ihm  ber  Bucriner  @ee,  ber  fid)  fo 
Diele  3ahrl)unberte  hinburd)  fo  »ortrejflich  gur  fäufterngucht  be« 
mäl)rt  finben  lief),  biefe  $Rögü<bfeit  nicht  mehr  gewähren,  weil, 
wie  nach  Äobelt:  Sargioni  Stogetti“)  berichtete,  aüSftrömenbe 
©afc  jefct  aQe  eingelegten  Sluftern  tobten.  — Soch  nicht  nur 
non  Srinbifi  Derfchafften  fid;  bie  alten  iHömer  fSuftern,  fonbern 
fie  holten  fie  feit  Gäfar’8  3eiten  fchou  auö  ©rofjbritannien 1 5) 
unb  3lpiciu8  oerftanb  e8  fogar  fchon,  fie  bem  Äaifer  Jrajan  bi8 
nach  Werften  nadjgufenben.  — 

Sei  einem  fo  f)ßhcn  älter  ber  beftänbigen  Nachfrage  nach 
äuftem  muf  e8  un8  SBunber  nehmen,  baf  bie  natürlichen 
Srutftätten  berfelben,  bie  äufternbänfe  nicht  fchon  längft 
erjd)6pft  jtnb,  weil  allein  g.  S.  an  ben  englifchen  lüften  3af)t 
au8,  Sa^t  ein  gegen  60 — 80  Uiiüionen  ©tücf  gefangen  werben, 
oon  benen  Bonbon  allein  an  13  5RilI.  @tücf  oerbraucht,  unb  bie 
frangöftfehen  Sänfe  nahegu  an  55  9JtiH.  Sluftern  an  §)ari8  ab» 
geben  müffen.  — 9Rad)  neueften  ^Berichten  beträgt  ber  ÜBerti) 
ber  SahteSprobuction  4 ÜRiH.  £.  (Sterl. 

Um  einet  fo  foloffalen  Biad)ftage  gu  genügen,  würbe  fchon 
1375  ein  Baid)f(h<mgefe|5  burdj  Äönig  ©buarb  III.  nothmenbig, 
ba8,  wenn  e8  auch  allenfalls  nur  bagu  beitrug,  wäljrenb  ber 

(845) 


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32 


fBJonate  SJlai  bi$  14.  September  bie  SBänfc  gu  fronen,  jeben* 
falls  bod>  beren  6nt»ölferung  fyinberte.  3ft  bod>  eineföiutter« 
au  ft  er  nach  ®a  ft  er  ’S  Unterfudjungen  im  Stanbe  einer  9iad)* 
fommenjdjaft  non  100,000  Jungen  ba8  geben  3U  geben,  ja  na$ 
§)o li  fogar  »on  1,200,000. 

3»eierlei  muffte  inbeffen  nod)  Ijingufommen , um  bie 
Slufternbänfe  conftant  leiftungSfäfyig  ju  erhalten.  ©in  mal 
muffen  bie  jungen,  non  ihrer  erften  änbaftungäfteüe  abgeleften 
Stuftern  non  itjrer  Sörutftätte  entfernt  werben,  um  h'mftigen 
©enerationen  iSnftebelungSpläjge  unb  gureidjenbe  9fal)rung  3U 
gewähren,  inbem  fie  felbft  nad)  anbem  gur  Slufgucbt  geeigneten 
Sagerbctten  tranöpcrtirt  unb  minbeftenß  3 Jat)re  lang  bafelbft 
gemäftet  werben.  So  bann  muffen  äferanftaltungen  getroffen 
werben,  um  auf  geeigneten  Untiefen  berÄüfte  (Sänfen)  ben  frifdj  au8 
benßiem  auSgefrodjenen,  bewimperten  Sarnen  reid)lid)e@elegenbeit 
gut  Stnijeftung  gu  gewahren  unb  fie  »or  ©efafjren  freier  3U  ftellen. 

3u  biefem  ©nbgwecfe  muff  man  im  eigentlidjften  Sinne 
be$  SJorteS  „äuftern  auöfden,  bie  jnnge  SBrut  gur  9tn* 
fieblung  gu  bringen  füllen  unb  für  ba$  2tu8pflangen 
ber  reifen  Sßrut  auf  geeignete  gutterpläjge  eifrigft 
Sorge  gu  tragen  nerfteljen  unb  bemüht  fein!"  — 

SDie  SluSjaat  bewerffteUigt  man  in  Slmerifa,  wie  in  ©uropa 
mittelft  einer  gwölfgäljnigen  ©abel,  bogenförmig  bie  Sefcaufter 
auöftreuenb,  wie  ber  Säemann  fficigen  fäet.  3)er  bagu  beftimmte 
©runb  barf,  wegen  unguretdjenben  gutterö  fein  Sanbboben 
aber  aud)  fein  Sd)lammboben  fein,  weil  bie  junge  Srut  in 
bemfelben  leidjt  erflitft.  SDagegcn  eignet  fic^  jd)lammiger  ©e* 
fd)iebefanb  auf  Sänfen,  bie  aud)  gur  3eit  ber  ©bbc  nid)t  blo8 
liegen,  fonbern  etwa  4— 5 ' tief,  conftant  unter  bradifd)em 
ober  Seewaffer  bleiben  unb  genügenben  Sdjutj  gegen  ben 

Slnpratl  ber  SBogen  bieten.  S)ie  SfuSfaat  gcfd)iel)t  am  paffenbfteu 
(8*6) 


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33 


tm  SRonat  yDf?är§  unb  muh  {ebenfalls  ®nbe  ?lpril  beenbet 
jein.  SDie  frifdj  befäeten  gelber  marfirt  man  burdj  eingeftecfte 
lange  SBaumgweige,  wie  eS  gut  93egeicbming  beS  gabrwafferS 
bei  ung  gefdjiebt  (Briefen  genannt)  unb  überläßt  eS  bann  bet 
©eepoligie  fcarüber  311  wachen,  bah  biebifdjerweije  bie  ©aatfämpe 
nicht  abgefifebt  werben. 

©ie  (grnte  ber  jungen  93rut,  (welche  fi(b  an  getfcblagenen 
Bicgelfteinen,  leeren  5Iufternfcbalen,  fünftlicb  cementirten  Siegeln  k. 
angefiebelt  bat),  wirb  ebenfalls  gut  (Sbbcgeit  mittelft  bblgernet 
Sftecpcn  au8gefül)rt.  ©ie  ergielte  93rut  wirb  bann  gu  93oot  nach 
ben  futterreichften  fpiateau'S,  ge ttw eiben,  gebracht,  bort  auS* 
geftreut  unb  wäbrenb  breier  Sabve  wenigftenS  ungeftert  erbalten, 
um  fid)  notlfommen  auSbilbett  gu  tonnen;  eoent.  tranSportirt 
man  fic  gulef)t  auch  nod),  wie  3.  93.  nach  Dftenbe,  in  93affinS, 
bie  täglich  mit  teinftera,  frijebem  ©eewaffer  gefpeift  werben,  um 
ben  ©efehmaef  ber  Sluftern  gu  »erbeffern.  — 

2)iefen  allgemein  angenommenen  fPrincipien  entipreebenb, 
bewirtbfebaftet  man  bie  fubmarinen  2lufternfelber  grunfreidjS, 
6nglanbSunb9lmerifaS.  .fann  man  nun  auch  ben  93eftrebungen 
QLofte’S,  beS  FDlitgliebcS  ber  bamalS  faiferlicben  Sfabemie  ber 
SBiffenjdjaften,  gur  Hebung  ber  jebt  berabgefommenen  ftangöftfdhen 
Sluftcrnbänfe,  namentlich  bei  ^rcacbon  unD  ®t.  93ricuj-,  feine 
9lnerfennung  nicht  oerfagen,  fo  ift  eS  bo<h  Stbatfacbe,  bie 
Born  lanbwirtbf^aftlicben  FDiinifterium  ^reuhenS  gum  Stubium 
bet  Iroc^gcpriefenen  (Softe’fcbcn  ©cbüpfitngeit  auSgefanbte 
Gommiffion,  auS  ben  Herren  $>rof.  SDiöbiuS,  £)berfif<bmeifter 
Befeticb  unb  9Bafferbaumeifter  S£oUe  beftebenb,  fcl)t  93 i eie 8 
«UtbcrS  fanb,  a!6  fte  eS  erwarten  muhte  unb  lautet  bet  officiell 
abgeftattete  33eticbt  beS  $rn.  SS.  Stolle16)  babin,  bah  bie  am 
SRittelmcer  auSgefübrten  Anlagen  fammtlid}  mihglüeft  unb 
gettweiben  bafelbft  aud)  gat  nicht  angelegt  finb!  ©obann,  bah 

XI  2«P.  3 (M7) 


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34 


bie  9(nlagen  in  91  rcadjon,  welche  bis  1840  gang  getunter* 
gewirthichaftet  waren,  bod)  aud)  nur  im  feparirten  faiferlichen 
9tufternparfe  l*al}illon  einen  leiblich  loljnenben  Ertrag  lieferten, 
wäfjrenb  alle  übrigen  »ielgerühmten  änlagen  bem  Verfalle  wieber 
gueilten,  fo  bie  Parfö  non  3§le  be  9ie,  33reft,  St.  33rieur  u.  f.  to. 
SDie  gettweiben  bei  Sremblabe  am  Itnfen  Seubre*Ufer  ent* 
fpradjen  wenigftenS  ben  9lnforberungen;  allein  fie  permechten 
auch  nicht  bie  neue  Sera  be$  2lniternmarfte8  gu  begrünben, 
unb  Paris  fah  fid)  genötigt,  gut  Secfung  fetneö  bamaligen 
SebarfS  f<hcn,  frembe  £ülfe  in  änfprud)  gu  nehmen. 

23eit  günftigere  Stefultate  ergaben  bie  engliichcn  Sluftem» 
brut*  unb  Sudjtanftalten. 

Sie  füböftlid)  unb  füblich  an  ben  lüften  pon  Gjjer  gelegenen 
Sänfe,  feit  Gäfar'S  3eiten  fd^on  im  flotten  Setriebe,  waren  noch 
heute  gur  Probuction  ber  „9tatipeS"  bie  geeignetften  unb  un* 
unterbrochen  ergiebig!  — 

Sie  ^>erne»bap«banf,  circa  5 Du.«5Dleilen  grof*,  bient  gur 
Slngudjt  ber  33rut,  welche  bann  nach  ber  bidjt  babei  gelegenen 
5!Jiaftanftalt,  auf  einem  glädjcnraume  pon  circa  1 Ou.*ÜHeife, 
ihrer  weiteren  Gntwicflimg  gugefüljrt  wirb.  Sie  Shitftable-’Sanf, 
in  1— 1£  gaben  SBaffertiefe,  wirb  als  längft  bewährt  befunbene 
ge tt weibe  mit  Sungoietj  non  gasreichen  englijehen,  felbft 
frangöfifchen  3udjtanftalten  befchicft  unb  an  400  gifdjer  betheiligen 
fich  mit  ca.  150  Sooten  an  ber  Slufternfif^erei. 

Sefonbcre  Seadjtung  aber  oerbienen  gwei  neuere  3udjt» 
anftalten;  bie  6 ine  gu  tReculoaS  in  ber  .perne*ban,  burd> 
53Jr.  granf  Sucflanb,  bem  Gurator  ber  gif<herei«9lbtheilung 
ber  Äeniington-Grh^‘**on  angelegt  unb  bie  Snbere  auf  ber 
3nfel  Jpapling,  gwifchen  bem  herrlichen  93righton»9lquarium 
unb  Southampton  äufeerft  günftig  an  ber  Sübfüfte  GnglanbS 
gelegen  auf  900  9tcreS  SSafferfläche.  Sie  leitete  33rut*  unb 

<848) 


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35 


Sudjtanftalt  befafj  Bon  250,000  aufgelegten  9)iutterauftern  im 
Stuguft  beffelben  Satjreü  fchon  gegen  6 iDlitlionen  Srutauftern, 
alfo  ungefähr  24  3ungc  oon  einer  2i(ten.  3m  Saljillonparfe 
bei  Slrcadjon  ^atte  man  ef  IjödjftenS  auf  8 3unge  pro  9)tuttcr» 
aufter  gebraut!  — 

Seiber  entbehren  unfere  fdjleßwigfchen  9lorbfecfüften 
gur  3eit  wol)l  noch  aller  begleichen  33eranftaltungcn,  weit  bie 
i^rev  Beit  mit  ber  .frone  ©änemarff  abgefdfloffenen  unb  nedj 
nicht  abgelaufenen  ^'achtfontrafte  ber  Ginführung  verbefferter 
Anlagen  hinberlid)  entgegen  fielen,  ©inb  bod)  oon  55  frühem 
Stuftentbänfen  bereits  15  eingegangen!  !Dem  ungeachtet  erfreut 
fid)  bie  .fpörnum*  unb  Gllenbogenbanf  eines  guten  9iufe8 
unb  liefert  „Gibumtiefe"  g.  3-  nueb  nod)  eine  recht  gute, 
fälfchlich  fogenannte  „^jolfteiner  Slufter",  ba  hoch  an  .pol« 
fteing  fRorbfee«f üften  bis  jefjtnech  feine  Slufternbanf  befte^t  unb 
bie  Jpclfteiner  Dftfec*.füfte,  fo  wie  wohl  überhaupt  alle,  jeben* 
falls  bie  beutjchcn  Dftfee « füften  ihrer  niebern  SBinter* 
t c m p e r a t u r willen,  ber  Sluftern  jucht  f ein  bli  d>  entgegenftehen. 1 7 ) 
2>er  3luSfaat  in  ber  Gegenb  ber  ©reiffiwalber  Die  trat  ohnehin 
fthon  ber  futterarme  ©anbboben  hinberüch  entgegen,  unb  waren 
auch  wohl  bie  (Strömungen  beS  SSetbenf  nicht  in  Segnung 
gegogcn! 

Surbe  burih  bie  oben  gufammengefteüten  Sha^at^en  cr* 
wiefen,  baff  SBeichthiere  a(S  91ahrung8mittel  für  baf  Seben 
ber  Golfer  bereits  eine  beachtenswerte  9Me  fpielen,  fo  [äfft 
fich  auch  auf  anbcrn  @efid>tSpunften  erweifen,  baf;  fie  in  uicl« 
facher  SBeife  fich  anberweitig  jur  Geltung  gu  bringen  »ermcchten, 
unb  finb  bie  flüffige’n  ©ecretionen  fowohl,  als  auch  bie 
funftuotl  aufgebauten  ©chalen  in  biefer  IRücfficht  einer  ein» 
gehenberen  Grläuterung  werth- 

3* 


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36 


Seit  bem  frübeften  Slltcrtbum  bis  in  bie  fpätcre  römijd)« 
Äaiferjeit  hinein  ftanb  fccr  tprifcbe,  ipäter  aud)  anterroärtS 
gewonnene  Scbnccfenpurpur  im  ijcdjften  3tnfeben,  beim  bie 
Eeroänber  ber  Ercfjen  jener  Seit,  gürften  unb  .peerfübrer,  pcben= 
priefter  unb  Eblen  beS  SelfeS  mußten  mit  tiefer  ^radjtfarbe 
gefärbt  fein,  nie  unb  mann  cS  galt,  SBürbe  unb  apebeit  5« 
Entfaltung  unb  ©eltung  31t  bringen. 

Siefer  garbftoff  aber  mürbe,  wie  ^liniuS18)  berietet,  ren 
Scbnecfen1*)  gewonnen,  bie  iljn  „im  Sdjlunbe  in  einer  weifen 
Slber"  beherbergten.  ©en  gröfeern  Jljieren  werbe  ber  Iropfen, 
benn  mel)t  fänbe  fid)  nicht,  nach  28egnabme  ber  Schale  entzogen. 
25ie  Heineren  Spiere  preffe  man,  um  gum  Safte  gu  gelangen, 
ber  anfangs  weidlich  bief,  bann,  nach  3ufafj  reu  Saig  gründet 
unb  enblicb  nad?  Einwirfung  beS  Siebtes  unb  3ufn?  einer 
bunfleren  garbe  ber  s})urpurjcbnecfcJ0)  idjarlacbrotb  »erbe. 
35er  Scbnccfenpurpur  oerbielt  ficb  alfo  umgefebrt  rote  bie  heutigen 
pradjtpoflcn  rotben  2lniltn*garben,  bie  im  Siebte  auSbleieben. 

35ie  Sdjroierigfeit  ber  (Gewinnung  beS  SebnecfenpurpurS, 
foroie  ber  babureb  entftebenbe  botye  'Preis  einerfeits,  roie  bie 
fpäter  aufgefunbenen  pegetabiliidjcn  garbftoffe,  namentdeb  aber 
bie  Entbecfung  ber  ÄermeSbeeren,  enblieb  aber  ber 
Godjenille  liefen  ben  Scbnecfenpurpur  gänglieb  in  Hergeffcn» 
beit  geraden  unb  blieb  berfelbe  wohl  nur  nod)  bei  irifebeu  unb 
englifcben  giftbetn  gum  Satoroiren  ber  Slrmc  in  Eebrandj.  3)a» 
gegen  finbet  ficb  bie  auch  fc^on  im  2lltertl)um  befannte  „Sepia*, 
ber  3nbalt  beS  SintenbeutelS  ber  Äalmare  (Loligo  vulgaris 
unb  ber  Sepia  officinalis),  in  bet  Malerei  als  braune  garbe 
in  Sßerroenbung  unb  ift  burdj  bie  jebt  fo  beliebt  geworbene 
Spri^ntalerei  roieber  gu  neuer  Eeltung  gelangt.  — 

Winter  aßgemein  befannt  ift  baS  fetbenartige,  bräunlidje 
Eejpinnft  ber  großen  Stecfmufcbel  (Pinna  nobilis  L.),  bie 

(MO) 


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37 


3Ji  u f dj  e l j e i b e (Byssus).  ©leid)  bet  SBafferfpinne  (Argy  ronecta 
aquatica  L.),  unb  rote  jo  oiele  ÜJJu^elt^iere  eö  tljuit,  fpinrtt 
bicfe  oft  2'  lange  SJiufdjel  au8  einer  ©tüfe  ityreö  33eilfußeö, 
unter  Söaffer,  6“  lange  gäben,  ben  töpffuS,  ber  jebodj  nur 
gur  pälfte  feiner  Sänge  gebrauchsfähig  ift.  — gabrifen  in  Staren!, 
Palermo  unb  9ieapel  »erarbeiten  bie  feibenartigen  gäben  gu 
jg)anbfd)u^en,  ©trumpfen  unb  anbern  ©eroeben. 

Bannigfacher  als  e3  bie  ©ecretionen  bet  SBeidjttyicre 
gulaffen,  ift  bie  SSerroenbung  ber  ©ehäufe  unb  ©djalen 
berfelben.  — 

©aö  roertfyüodfte  ©ungmaterial  für  bie  ÜJtaftfultur 
englifdjer  SSeintrauben,  bie  oon  'Br.  Bercbitl)  bei  Sioerpool  bis 
3ur  ©chroete  oon  26  pfunb  gegürtet  rourben,  bilbeten  nebft 
ftifcben  5iafenfd)i(^ten,  roic  id)  eä  felbft  faij,  31  u ft  er  n fdjalen!  — 
Süß  Poliermaterial  fo  roie  gum  ©chärfcn  ber  ©chnäbel  ber 
©anarienoögel  cerroenbet  man  bie  im  iRücfen  ber  ©epia  gelegenen 
Äalffdjalen.  — ©ie  großen,  innen  rcfarotljen  glügelfdjnecfen 
(Strombus  gigas)  fielet  man  in  ©arten  ber  SJifjeber  unb  ©djiffö» 
capitainc  als  IRafeneinfaf fung8«Baterial  perroanbt.  — 
©ie  Skalen  ber  pergmufcheln  (Cardium  edule,  C.  rusticura) 
»erben  roährenb  be§  SSinterS  »on  gifdjern  ber  Äüften  DftfrieS» 
lanbö  Ijaufenroeife  ^erbeigctragen,  um  baraue  Äalf  gu  brennen. 
— ©ie  gierliche  pippepu§:5Rufdjel  ift  gur3ucht  oon  Simpel* 
pflangen  für  ©tubenfenfter  unb  in  SSeranbaö  befonbcrö  in 
Elnfehen  unb  ©unft.  ©ie  ©cftalen  ber  Äammmufcheln  (Pecteu 
maximus  L.  bes.)  bienen  alSfogenannte  ,,(£oquitlen*©chaten" 
in  ©teile  ber  Steller  gur  Einrichtung  feiner  9iagout8,  unb  bie  oon 
fteineren  Äammmuf^elthieren  ftammenben,  auf  ben  .pebriben, 
auch  Wohl  3um  Sbrahmen  ber  Büch.  ©ie  butchfcheinenben  bünnen 
©chalen  ber  Placuna  placenta  benutzt  man  in  Glyina  gu  un* 
burihfiihtigen,  aber  hoch  Sicht  burctjlaffenben  genfterjcheiben 

(851) 


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38 


unb  ein  5 Gentner  fcfywereö  Gyemplar  oon  faft  6'  ginge  bet 
Tridaena  gigas,  weldfeb  grang  I.  oongranfreicb  non  oenetianiidjen 
Äaufleuten  gum  ©efdjenf  erhielt,  ootirte  ber  fpätere  Grbe, 
gubwig  XV.,  ber  Äirdje  ©t.  ©ulpice  in  §)arib,  wo  eb  nodj 
l>cute  gum  £aufbecfen  bient. 

SDie  aubgicbigfte  unb  gefctymadfooHfte  ÜOcrweubung  fanben 
fd)ön  geftaltcte  uub  gefärbte  ©djnecfenjdjalcn  unb  fBiufdjeln  in 
ber  9Rufdjelgrotte  bei  ©anbfouct  unb  im  SDiufd^elfaale  beb 
9teuen  Calais  bei  fPotbbam  burd?  griebricfy  ben  ©rofcen. 
Sludj  auf  ben  Üftipptifdien  unferer  grauenweit  feljlen  wdjl  nur 
feiten  gierlidje  3Kurer=  unb  jr>alictiegel)äufe ; fo  wie  Heinere 
©djalen  unb  ©efyäufc  aller  Slrt  unfere  üJlufdjelfift^cn 
becoriren  muffen.  — 

äijäljrenb  bie  getigerte  $)orgcllanfd?necfe  (Cypraea 
tigris  L.)  ben  SBebürfniffen  beb  Stabaffdjnupferb  Oiedjnung 
tragen  mufe,  bie^ocfen  = fPorgellanfd)necfe  (Cypraea  caurica 
L.)  auf  ben  Äummeten  uub  anbcrn  Steilen  beb  ^ferbegefdprrb 
unferer  mittelbeutfdjen  gradjtfuljrleute ; C.  erosa  L.  unb  C. 
Annulus  in  Reiften  unb  ber  SEürfei  alb  SDecoration  angebradjt 
wirb,  finb  bie  oon  ben  grauen  an  ben  Äüften  ber  ÜJialebiren 
unb  jefjt  audj  Söeftafrifa’b  gefammelten  „Gauri  = 93lufd)eln“ 
ober  Biwbtb  in  gcanba,  (Cypraea  moneta  L.),  feit  langer  Seit 
alb  Saufdpnittel,  b.  1 j.  alb  ©elb  im  binnenlänbifdjeit  Jpanbel  ber 
alten  Söelt,  in  ©ebraudf.  ÜJlan  fanb  fie  in  Hünengräbern  bei 
©tolpe*1)  unb  anberwärtb  (alfo  bereits  in  ber  ©teingeit),  wie 
eb  nod)  ^eute  in  Bengalen  gefd)iel)t,  obfdjon  bort  @olb  unb 
Silber  alb  ^>anbel8=  unb  SSaufdjocrfeljrbmittel  in  güüe  oerbanben 
finb.  5 )afj  Gaurimufdjeln  burd)  gang  Gcntralafrifa  alb  5Jiünje 
in  ©eltung  fid)  befinben,  »erbanfen  fie  woljl  bet  SBcrwenbung 
im  ©claoentyanbel,  bei  welkem  fie  in  3at)lung  gegeben  würben, 
unb  bafj  fie  nodj  tjeutc  in  ülfrifa  reellen  SBevtf)  befitjen , erweift 

(85») 


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39 


ft$  audj  barauß,  baß  nad)  profeffor  ^artmann**):  oon  äbpffinien 
biß  gum  Senegal,  bie  jungfräulichen  Negerinnen  g.  B.  gu  SDar* 
3?erta  unb  2>ar=©d}illuf,  iljre  ©cßürgen  mit  benfelben  benähen, 
wie  in  gemiffen  Gegenben  ©eutfdjlanbß  nedj  jeßt  bie  ©pecieß* 
ttjaler  auf  ben  Sacfen  unb  SRöcfen  ber  teilen  Bauern  prangen, 
ober  wie  ber  Stofefe  feinen  SBampum  mit  ÜRufcßeln  fdjmücft, 
ober  ber  Bewohnet  Neu=Guinea’ß  feinen  Leibgurt.  — 

©odj  mogu  bebarf  eß  nod)  ber  Beroeife  oon  fo  fernen 
Negionen,  um  bargutßun,  baß  SRujdjelfchalen  unb  ©djnecfen* 
gefyäufe  mit  ober  ol?ne  oorgängige  Bearbeitung  alß  3iet*atf)en 
aud)  bei  unß  taufenbfältige  Berroenbung  finben? 

fertigen  mir  nid)t  unfere  Gelbtafdjen  unb  gur  Bewahrung 
ooit  ©titfereMltenfilien  beftimmten  Ääftdjen  auß  polirten,  perl* 
mutterglängenbcn  llnionenfdjalen  unb  fourniren  mir  nidjt  unfere 
Bifitenfartentäfchdjen  mit  perlmutterfdjalftücfen?  2)ie  foftbaren  fo* 
genannten  Parifer  8uj:ußmeubleß  ftroßen  »on  gierlich  gugefdjnittenen 
unb  alß  Einlage  beftimmten  Perlmutter*  unb  £)l)rmujd)elftü(!en 
in  oft  pradjtüoll  irifirenben  formen.  Bon  ©an  grancißco 
allein  würben  g.  B.  1867  gegen  3713  ©acf  a 2 Bufßelß  im 
SBertlje  oon  36,000  55oKarß  fNeero^ren  (Haliotis  rufescens 
unbCracherodii)  über  Gßina  unbNem*Porf  nad)  Europa  gebraut. 
2>ed}  maß  min  baß  fagen  gegenüber  bem  großartigen  Jpnnbel  mit 
perlmutterfdjalen  ? gtanfreidj  importirte  baoon  g.  B.  1854: 
953,507  Äilo’ß;  Großbritannien  1855:  20,120  Gtr.  unb  Hamburg 
1855:  13,430  Gtr.  im  äBertlje  oon  235,120  Pif.  Beo. 

Neben  ben  Perlmutter fcßalen  unb  ben  muuberooll 
irifirenben  SEReeroßren  (Haliotis)  briöiten  bie  burd)  bie  beiben 
Italiener  $ppa  unb  SJiagarelli  auß  ben  ©cßalenf lügelftüden 
ber  rotßmünbigen  S I ü g c 1 f djnecfe  (Strombus  gigas  L.) 
unb  ber  roth=  unb  btaunmünbigen  ^elmfdjnecfe  (Cassis  rufa, 
C.  tuberosa  Encycl.,  C,  madagascariensis  L.)  guerft  ßcrgefteHten 

(8S3) 


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40 


Objecte  al§  S djmucf gegenftünbe  etften  SiangcS!  9io<h 
in  ber  jüngften  3eit*3)  iah  fid>  ein  Bericbterftatter  über  bie 
neueften  ÜJiobeartifel  ceranlaßt,  auf  bie  gu  Blumen,  dameen, 
ju  $alSbänbern,  SSrmbänbern,  Brod?en,  Ohrringen,  Bianicbetten« 
fnöpfen,  95tcbaiHon8  unb  Jpaarnabeln  oerwanbten  Äunft*  unb 
Sebmucfjacben,  welche  bie  Jnbuftric  auS  ber  rethntünbigen 
jflügcljchnecfe  ^erjufteden  oerfteht,  mit  fftachbrucf  hinguweiien.  — 
■RreiSfägen  oerfchiebener  ©reffe  unbBegabnung,  an  Spinbein 
befeftigt,  welche  burd)  SBafferfraft  ober  Sampfmaicbincn  in 
retirenbe  'Bewegung  geje^t  werben,  bienen  gur  Bejeitigung 
ber  Oberhaut  unb  ber  obem  Schichten  ber  flügclformigen  'JMatten 
oben  genannter  ÜJlujcbeln,  um  enblidj  gu  ber  nahe  ber  Jnnen« 
fläche  ber  9)iujd)el  gelegenen  reth»  ober  braungef ärbten 
Schicht  ju  gelangen,  bie  fid?  als  Staffage  (glcichfam  al8 
fRahmcn)  für  bie  au$  ber  ^)erlmutteri^i^t  hcrguftellenben 
Sigur  eignet.  — ÜJiit  anfdjeinenber  geiebtigfeit  unb  alö  3fugni§ 
eines  fid>ern  BlicfcS  fdjwinben  per  ben  fdjnell  ficb  brehenben 
Diabdien  bie  fenft  jo  fdjroer  gu  bearbeitenben  £agen  ber  Schalen» 
fubftang  unb  halb  erfennt  man  bie  entftel}enben  BcuguetS, 
Äopfe  unb  bergleichen  Figuren,  welche  im  $autrelief  auS  ber 
$)erlmutterfchicbt  herauStreten.  ©latt  polirt  unb  in  golbene 
fRahmen  gefaxt,  bilben  bie  auS  ben  glügelftücfen  jurcr  heraus» 
gelöften  „dameen",  jenen  augenblicflich,  aber  mit  rollern  tüecbt 
oielbcwunberten  unb  rielgefuchtcn  Schntucfgegenftanb,  ben 
wohl  Äcine  unterer  Samen  beSaoouiten  bürfte!  — 

Unb  wenn  UetjtcreS  bed?  ber  ^all  fein  feilte,  gegen: 
perlen 

aber  bürfte  bedj  Äeinc  berfelben  genügenb  gefeit  fein,  jene 
„.pimmelSthränen",  jene  Shautropfen  be§  Rimmels,  bie  nach  ber 
Sage  ber  Orientalen,  in  bie  geöffnete  5ftufcbel  faöenb,  bert  gu 
„ffcrlen  erftarrten" ; einft  ba§  Bkibcgefchcnf  für  tic  ©ötter  beS 

(8i«) 


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41 


Altertums,  um  fiegur  Erfüllung  menfchlicher  SBünfche  gu  be* 
ftimmen,  unb  aud}  fpäter  baS  3Beihgefd)enf  — für  bie  Jungfrau 
ÜJtaria  unb  bie  .^eiligen  ber  Fattjolifr^en  Gtjriftenfycit.  — Unb 
in  ber  Slfyat  begaubern  bie  perlen : burd)  ihren  milben  ©lang, 
ihren  filberfarbigen,  faft  fd)wärmerifd)en  Schimmer,  burd)  ihre 
garte  2)urd)fid)tigfeit  bei  aller  Jpürte,  burd)  ihre  meift  eble 
id)öne  gorm!  — 

Äein  SBunber,  wenn  fie  baS  Auge  beS  Sterblichen  in  ned) 
höl)erm  Grabe  feffeln,  alb  ber  feuerfprül)enbe  2)iamant.  Äein 
Sßunber  aber  aud),  wenn  nod)  in  ben  Jahren  uon  1837 — 55 
perlen  im  SBerthe  bou  mel)r  als  20  UJlillienen  grcS.  in  Gnglanb 
unb  granfreidh  importirt  mürben,  unb  bie  Jpal8gefd)meibe 
englifcher  £)ergoginnen  noch  im  Jahre  1867  auf  ber  ^arifer 
SBeltauSftellung  alle  SäJelt  feffelten. 

Soch  mir  muffen  eS  unS  uerjagen  hier  über  ben  perlen» 
lurub  ber  alten,  mittelalterlichen  unb  neuern  3£it  und  meiter  gu 
Berbrciten,  ba  ja  bereits  burd}  uon  SDJ artenß84),  ÜJiöbiuS81) 
unb  oon  Jpehling*6)  eine  folchegülleBon  $hatiathen  gufammen* 
geftellt  worben  ift,  bah  eS  faft  unmöglich  f£in  bürfte,  bem  oon  ben 
betreffenben  iHutoren  Angeführten  sJleueS  ^fn^ugufügen.  — Gbenfo 
fdjroierig  bürfte  eS  aber  auch  fein,  über  bie  © tructur  unb  bie 
Gntroicfelung  ber  perlen  fJteueS  gu  ermitteln,  naebbem  bie 
Sßiffenfdjaft  ihrer  eigenften  Aufgabe  getreu,  nachfidjtSleS  ben 
Schleier  Bon  ben  in  baS  mpftifche  ©eroanb  ber  Sage  unb 
Segenbe  gehüllten  perlen  roeggegogen  unb  unS  beroiejen  holt 
bah  fie  eben  nichts  finb  als  eine  hanfhafte  SBiebc rholung 
ber  Schalen fub ft ang  felbft,  ein  ben  2Beid)thieren  an  fid) 
grembeS,  geinblicheS,  ein  — nun  fagen  mir  eS  mit  einem 
SBort,  eine  Art  „üithopäbion! " — 


xi. 


260. 


4 (855) 


I 


42 


tUnmcrtungen. 

1)  j.  33.  bem  Amphioxus  lanceolatus  Yarr. 

2)  cf.  5£rnf$el,  Da«  @ebi§  ber  ©djneden.  »erlin.  4.  1856 
bi«  61.  ?ief.  1-4. 

3)  N ew-York- Mercury.  Novbr.  1875.  „Terrible  discovery 
on  the  Bottom  of  the  Sea.  A Victim  of  the  „Schiller.“  Dis- 
aster Found  in  the  Clutcbes  of  a submarine  Monster. 

4)  9la$  ©^leiben,  Da«  OTeer,  »erlin  1869.  8.  @.  413,  eine 
12  guf)  breite  3»«*;  na<b  ©pallanjani,  Travels  in  the  two 
Sicils.  1.  84,  88,  eine  2 gujj  breite  3one. 

5)  3ur  9laturtoiffenjd)aft.  II.  1823.  ©.  79. 

6)  ©hinter,  lieber  GoraUentljiere.  Berlin  1872.  ©.  21. 

7)  gauna  ber  Äicler  »u$t.  ©.  127  c.  tab.  u.  ©.  138  c.  tab. 

8)  Philosopbical  Transactions.  1846.  111.  ©.  342. 

9)  Annals  and  Magazine  of  nat.  hist  1845.  XV.  p.  114. 
(SEBiegm.  Slrdpr  f.  9lat.  1836.  II.  419.) 

10)  Ginleitung  in  bie  GondjpKologie.  ed.  Bronn.  Stuttgart 
1853.  ©.  32. 

11)  W.  F.  O.  üeins,  Om  Muslingefangst.  Kjoebenhavn  1856. 
8°  c.  tab. 

12)  3oolo0'f<^et  ©arten.  1874.  ©.  8. 

13)  3-  3-  ©turj,  Slufternbctrieb  in  ülmerifa,  granfreid;  unb 
Gnglanb.  Söerlin  1868.  8. 

14)  3oologifd)er  ©arten.  1874.  ©.  8. 

15)  Plinius  historia  naturalis.  »d).  IX.  Gap.  54. 

16)  Ä.  5toüc,  Die  'Tlufternjudjt  unb  ©eefifd)erei  in  granfreicb 
unb  Gnglanb.  »erlin  1871.  4.  c.  XVIII  Tab.  lith. 

17)  Sari  SRibiu«,  lieber  ’Äuflem-  unb  ©Kef)muf$el*3u$t. 
»erlin  1870.  8.  c.  Slabb. 

18)  Hist.  nat.  »d).  IX.  Gap.  36—39. 

19)  9lad?£)libi  non  Area  nucleus  unb  Buccinura  echinophorum. 


43 


20)  Bei  Murex  brandaris  Lan.,  bie  man  baffit  hielt»  fonnte  Dlibi 
feinen  purpurfaft  finten.  £)ten,  3lllg.  9laturgefdj.  33b.  V.  9lbtl).  1. 
1835.  8.  <S.  484,  wätytenb  Saeage  IDuthiet’«  (Ann.  d.  sc.  nat. 
4.  serie,  t.  XII.  1859.  p.  34—37  unb  33igio  nebjt  p.  PlartenS 
„Purpur  unb  perlen",  $eft  214,  @.  10,  baran  feftijalten,  baf? 
Murex  brandaris,  M.  trunculus  unb  Purpura  haemastoma  in  ihrer 
©djleimbrüfe  ben  Purpur  ergeugen. 

21)  SBeridjte  bet  ^Berliner  ©efeüfdjaft  für  9lnthropologie,  (Sino- 
logie unb  Urgefchidjte.  1872.  8.  @.  3. 

22)  Ibid.  1.  c. 

23)  3fl«fWrte  leipjiger  3eitung  9lr.  1685,  16.  Dctober  1875. 

24)  (Sammlung  gemeinterftanblidjer  wiffenfdjaftlidjer  33ortr5ge, 
herauägegeben  pon  3i.  Pinpom  unb  gr.  t.  fjotbenborff,  Serie  IX., 
^>eft  214,  Prof.  Dr.  o.  Platten«,  Purpur  unb  perlen. 

25)  PRßbiu«  in  Slbbblgn.  a.  b.  (gebiete  b.  ÜRaturroiffenfdjaft, 

Hamburg  1858.  4.  (33b.  IV.  Slbth-  1.)  ©.  6. 

26)  5th-  b-  £efjUng,  3)ie  Perlmufdjeln  unb  ihre  perlen,  ifpg. 

1859.  8.  c.  VIII.  tabb.  litb. 


(S57) 

3>nid  ccn  O'tfcr.  Unjct  (Sb.  (Stimm)  in  Bnltn.  ©d>bneb«atrfhrat«  17a. 


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f * ! 

$W%  liml  i'ranl-|furt  ait(  3ffatt|( 

Sie  Beilegungen  öes  flidjters  |tt  feiner 
llntrrftaöh 


JDarcjeftetlt  oon 

Dr.  ■g5if5<fm  <S!tid{fr 

ju  granfmrt  a.  9JJ. 


Sie  audj  ber  SRenjeb  in!  Seite  fi*  entfalte, 
Sie  er  an*  ftrebe,  Selten  gu  bur<$meffen, 
(Gefettet  bleibt  er  immer  an  bfe  <£d?cüe, 

Wuf  bie  ber  3ufaQ  ber  (Geburt  ibn  warf. 


ßrrlin  SW.  1376. 

33  e r I a g »on  Carl  $abel. 

(<l.  <0.  jLndrrit)*sd)r  flfrlagsbndjtnniJnng.) 

33.  SÜbelm*gtTa&e  33. 


2>a«  Utbfr(efeun3«tfd)t  in  frcmbe  ©pradfen  tcitb  »orbttyaltfn. 


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ovetn  beutjdjer  SDidjtet  hat  feinet  Sßaterftabt  ein  fo  fd)öneg 
©hrenbenfmal  gefegt  als  ©oethe.  Stieb  baö  ©chicffal  fo  »iele 
Slnbre  früh  fort  oon  bet  ©tätte  bet  ©eburt,  ehe  bie  Umgebungen 
einen  ©influf}  auf  i^te  Silbung  üben  fonnten,  fo  war  e3  ihm 
»ergßnnt,  biefen  (Einfluß  mit  33ewuf)tfein  $u  empfinben.  ©oethe 
hat  bie  ©inwirfung  feiner  Umgebungen,  bet  tobten  wie  bet 
belebten  — mit  unerreichter  pfpchologifcher  9Jieijterf<haft  wiebet» 
gegeben;  granffurt  in  bet  ©pod;e  oon  1762—1778  unb  bie  be* 
beutenben  üftännet  bet  ©tabt  finb  jebem  ©ebilbeten  in  Seutfdj* 
lanb  befannt.  Unb  bodj!  3Bie  oiel  fehlt  ju  einem  »ollen  befrie= 
bigenben  Serftcmbnifj  biefet  8eben8=  unb  SBilbungSgefd^idjte  für 
Seben,  ber  ihren  ©djauplafc  gar  nicht  ober  nur  unootTfommen 
fennt?  SBieleä  hat  ©oethe,  al§  et  „Sichtung  unb  SBahtheit"  herauf* 
gab,  nur  anjubeuten  für  paffenb  gehalten,  waö  jefct  unbebenflich 
ganj  auggefprochen  werben  fann.  3n  manchen  fünften  hoi  feilt 
©ebächtnifj  ihn  getäufdjt.  Siele  gocalitäten,  welche  et  erwähnt, 
finb  jefct  ooUftänbig  umgeänbett,  wäljrenb  anbte  mit  feltener 
Steue  ihr  altertümliches  ©eptäge  bewahrt  hoben.  Sie  ©oethe» 
literatur  unb  bie  §ranffirrtet  gocalliteratur  hoben  mit  feltener 
{Rüftigfeit  fich  in  bie  £änbe  gearbeitet,  um  atlefPuncte  in  wünfchenS» 
werthe  Klarheit  3U  fefsen.  Sie  Äenntnifi  biefer  Literatur  in  Set« 

XL  96  X.  1*  (861) 


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4 


binbung  mit  langjähriger  topographifthet  änfchauung  ber  Stabt 
ift  bie  ©runblage,  auf  weither  ber  33erf.  in  moglichft  fuapper 
gorm  ben  (Kommentar  311  ©oetbe'8  Scnfmurbigfeiten,  foweit  fte 
grauffurt  betreffen,  aufgubauen  gebenft.  Sen  ©taten  ift  bie  fech8> 
bdnbige  Ausgabe  non  ©oetbe’8  SBerfen  eon  18fiO  gu  ©runbe 
gelegt,  reelle  burd)  ihr  oeQftänbigeS  fRamenregifter  ba8  'Jlufjuchen 
ber  einzelnen  f>erfönli<bfeiten  erleichtert. 


Sie  JRegierungbform  ber  Stabt  grauffurt,  welche  feit  1495 
bae  fRecht  einer  SReicbSftabt  erlangt  hotte,  begegneten  bie  .Renner 
berfelben  al8  „eine  gemäßigte  Slriftofratie"  ober  al8  „au6  ärifto» 
fratie  unb  Scmofratie  gufammengefejjt".  3bre  ©runblage  war 
gunächft  ber  au8  bem  Slufftanb  ber  Sabre  1612— 16  beroorgegan» 
gene  Vertrag.  Si8  1612  lag,  nachbem  bie  Vemegung  non  1525 
mit  bem  Sauernftieg  niebergefchlagen  worben  war,  ba8  Stabt» 
regiment  in  ben  Rauben  be8  fPatriciatS,  b.  h-  berjenigen  gamilien, 
welche  al8  bie  SWitglieber  ber  ©anerbfehaft  9llt»8imbnrg  einen 
feftgefchloffenen  SlbelSoerein  bilbeten.  2lu8  ihrer  fDtitte  waren 
bie  gwei  erften  9tath8bdnfe  beinahe  gänglich  befejjt  unb  obwohl  bie 
brüte  Vanf  für  bie  ^anbwerter  beftimmt  mar,  fo  wählten  hoch 
nicht  bie  Sünfü.  fonbern  auch  biefe  Stellen  würben  nach  ber 
SBahl  beß  5Ratl)8  befe^t,  unb  e8  würbe  bafür  gejorgt,  ba§  biefe 
feine  8eute  traf,  welche  ben  $>atriciern  JDppofition  machen  würben. 
SB  eher  bei  ber  ©efetjgebung,  noch  bei  ber  Verwaltung  ber  Stabt 
war  bie  Vürgerfchaft  betheiligt,  bie  ginangen  ber  Stabt  aber 
waren  arg  gemittet.  5Run  oerlangten  1612  bie  SBürger  bie  SKit» 
theilung  ber  faijerlichen  ^rioilegien  unb  brachten  mancherlei  S3e» 
fchwerben  oor.  Ser  SRath  waubte  ftch  an  ben  Äaifer  um  $ülfe, 

ber  nun  Gommiffarien  gur  Beilegung  ber  entftanbenen  SBirren 

(862) 


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5 


ernannte,  unb  mit  beten  ©enehmigung  fam  bet  jogenannte 
33üt  gern  ertrag  non  31.  ©ecember  1612  gu  ©tanbe.  ©atnadj 
foUte  bet  Statt}  oorübergebenb  um  18  ÜRitglieber  oermehrt  werben, 
welche  bie  Bürger  in  boppelter  5än3al)l  oorfklugen.  6b  feilten 
nie  mehr  alb  14  Limburger  unb  überhaupt  nikt  ju  nah  oerwanbte 
?>er jenen  im  Stathe  jein;  eb  jollte  eine  (Jommijfion  non  neun 
SJtäunern  jährlik  bie  ©tabtredjnungen  prüfen,  bie  ganje  Bürger* 
fkaft  fid)  in  3ünfte  ober  ©ejelljkaften  begeben  u.  j.  m.  lieber 
bie  Slubfütytung  biefeb  Bertragb  aber  entjtanben  ton  Steuern 
©treitigfeiten  unb  grofje  Unruhen,  bie  jkliefjlik  ju  bem  ©ecrete 
ber  Äaijerlitben  (Sommijfion  non  1616  unb  jut  garten  Beftrafung 
bet  Sluftührer,  an  bereu  ©pijje  SBincenj  gettmilk  ftanb,  führten. 
Sn  biejem  ©ecret,  „bab  Sranbfijc"  genannt,  würben  bie  meiften 
Beftimmungen  beb  Bürgemrtragb  wieber  aufgehoben,  bie  3ünfte 
unb  ©tubengejetljdjaften  (mit  SluSnahme  bet  Limburger,  ber 
grauenfteiner  unb  beb  ©rabuirtencottegiumb)  würben  caffirt,  bet 
Steunerausfkufj  würbe  ftillfkweigenbb  abgej^afft.  itlnftatt  ber 
3ünfte  unter  gewählten  3unftmeiftern  ftanben  nun  blob  ©ewerb* 
nereine  unter  ©efkwetenen,  bie  ber  0ftath  ernannte,  ©ie  Bürger» 
jdjaft  würbe  feit  1614  in  Quartiere,  julefd  14  an  ber  3ahh  8U3 
meift  31t  friegeriiehen  unb  $>oli3ei*3wecfen,  eingekeilt  nnb  bie 
Sßorfteher  ober  (Kapitäne  betfelben  bilbeten  fortan  bab  SRittelglieb 
jwtjchen  Statt)  unb  Bürgcrfkaft,  freilich  °hne  irgenb  welche  poli* 
tijdje  «Rechte  *).  ©o  hatte  jejjt  ber  Statt)  gefiegt,  aber  bie  ©tfüüung 
ber  an  ficb  berechtigten  gorbetungen  ber  Bürgerfkaft  war  bamit 
nur  hinaubgefkoben.  3«  Anfang  beb  18.  3ahrl)unbertb  erneuerte 
fich  ber  ©treit.  Stach  ber  jpulbigung,  welche  bie  ©tabt  1705 
bem  neuen  Äaifer  Sojeph  I.  leiftete,  baten  bie  bürgerlichen  Qber* 
officiere  ber  14  Quartiere  im  Stamen  ber  Bürgerfkaft  um  Bcftä* 
tigung  bet  jtaijerliken  ^)rinilegien  unb  um  Äbtjülfe  ihrer  Befkwer* 

(863) 


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6 


ben  gegen  ben  {Rath-  Der  Äaifer  ernannte  1713  je  für  bie  pe* 
Ittift^en  unb  fRedjnungSfachen  eine  eigene  Gommiffion,  unb  burch 
bie  Äaiferlichen  $auptrefo(utionen  »on  1725,  26  unb  32  mürben 
bie  Srrungen  beigelegt,  ©er  Vürgernertrag  mürbe  in  manchen 
fünften  gebeffert,  ein  felbftänbiger  ViirgerauSfdmfj,  baS  fogeuannte 
„GoUeg  ber  Ginunbfünfgiget"  3ur  Vertretung  ber  Vürgerfchaft 
eingefe^t,  bie  fog.  „bürgerliche  Gegenfcbreiberei"  eingerichtet  unb 
baS  „$Reunet*GolIeg"  jur  Gontrole  bet  ginanjüetwaltung  wieber« 
hergefteHt.  ©er  JRath  beftanb  auS  43  ©titgliebern , bie  in  btei 
Vänfe,  jebe  ju  14  ÜJtitglieber,  abgetheilt  waren.  3«  bet  erften 
ober  „Sdjöffenbanf“  gehörte  feit  1606  auch  ber  GerichtSfchultbetj!, 
moburdj  biefe  Sauf  auf  15  SRitglieber  tarn.  Urfprünglich  war 
ber  Schulreife  ber  faif  er  liehe  Statthalter  gewefen;  bie  Stabt 
taufte  feine  Stelle,  nachbem  fie  biefelbe  mehrmals  pfanbweije 
erworben,  1372  enbgültig  an  fich,  woburch  ber  Sehultheife  ber 
erfte  ftäbtifche  Veamte  würbe,  feit  Äarl  VII.  auch  burch  feine 
Stelle  „faiferlicher  Otath-"  Gleich  nach  bem  Üob  eines  Stabt* 
fchultheifjen  würbe  jur  Sßahl  feines  9tad)folgerS  gefchritten;  e? 
gefdjah  bieS  weniger  wegen  einer  um  bie  9Jtitte  beS  achtzehnten 
SahrhunbertS  noch  obwaltenben  Unficherheit  ber  '„Hnfpritcfee  -),  benn 
noch  1648  unb  1680  hatte  ber  Äaifer  baS  SKahlrecfet  ber  Stabt 
felbft  als  „wohlfunbirt"  anerfannt,  als  auS  alter  Gewohnheit. 

Vei  ber  Söabl  fdjrieb  jebeS  DtathSglieb  brei  Schöffen  auf 
einen  3ettel,  bie  btei  meiftbeftimmten  tarnen  in  bie  .Kugelung 
unb  bie  golbene  Äugel  fefauf  ben  ©djultheifeen.  ©er  9tath,  an 
beffen  Sbifec  zwei  jährlich  neu  gewählte  Vürgermeifter  ftanben, 
hatte  bie  Verwaltung  ber  Stabt  unb  übte  bie  SRechte  ber  8anbeS* 
hoheit  auS.  ©ie  Vürgerfchaft  würbe  »ertreten  burch  ben  9luSs 
fdjufe  ber  51er,  ber  fi<h  burch  eigene  SBafel  ergänzte,  burch  bie 
Veuner,  welche  ber  SluSfchufe  Dorfdjlug,  burch  bie  28er,  auS  beu 

(9M) 


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7 


14  Duartieren  ermaßt,  unb  butd)  bie  SD  r ei  et,  welche  bie 
SSahlen  gu  ben  ftäbttfdjeu  Remtern  controlirten.  3m  rei<h§* 
ftäbtifchen  Gollegio  Ijatte  Branffurt  auf  bet  rheinif<hen  33anf 
feinen  ©Sifj  unb  gehörte  gum  oberrheinifchen  greife. 

SDie  ©taatSfirdje  iu  Btanffurt  war  bie  lutherifche.  Äatljolifen 
unb  Oiefcrmiite  waren  au8  bem  {Rath  auSgefdjIoffen.  SDie  btei 
Gollegiatftifte  gu  ©t.  5ßartt)olomäuS,  ©t.  Seonijarb  unb  gu  Unfrei 
Sieben  Stauen  auf  bem  Sßerg,  fowie  bie  brei  Älöfter  bet  ©atme» 
liter,  SDominicaner  unb  Äapugiuer  behaupteten,  in  Böige  faifet» 
liehet  $>ritilegien  bet  ftäbtifdjen  SuriSbictiou  nicht  untergeben 
gu  fein  unb  gu  bet  ©tabt  nur  im  Serhältnif)  uon  {Rachbarn 
gu  fteljen;  fte  ftanbeu  unter  bem  ©<hufce  beö  Äurfürften  oon 
{Btaing  unb  bie  Gollegiatftifte  noch  unter  fid)  in  enget  23erbinbung, 
SDief}  9Serhältni§  trug  in  fidj  ben  Äeim  galjlreidjet  3ertrürfuiffe, 
fowel)l  wenn  bie  ©tabt  eine  SSerbefferung  einführen  wollte,  bei 
welker  biefülitwirfung  bet  fatl)olifchenGerporationen  nicht  entbehrt 
werben  fonnte,  als  auch  wenn  fie  gu  ungewöhnlichen  Gontribut 
tionen  ber  ©tabt  hetang^ogen  »erben  feilten.  9lu<h  bet  ßutritt 
gu  ben  Sünften  würbe  ben  Äatholifen  erfchwert.  SDen  {Refor* 
mitten  gegenüber,  welche  mit  {Reichtum,  £anbel8gewanbtheit 
unb  auswärtigen  Söetbinbungen  auSgeftattet  waren,  nahm  bie 
Giferfucht  bet  luthetifthen  23ürgerfchaft  ben  SRantel  bet  {Recht* 
gläubigfeit  um.  — {Reformirte  {Rieberlänber  trafen  1555  in 
Btanffutt  ein,  aber  fchon  1561  würbe  ihnen  ber  öffentliche  re* 
formirte  ©otteßbienft  unterfagt,  worauf  Diele  weggogen  unb  ihren 
{Reichtum  unb  ihre  SBetriebfamfeit  ber  fPfalg  (Branfenthat* 
©djönau,  ©t.  gambrecht)  unb  ber  ©raffeijaft  .fjanau  gufommen 
liefen.  3n  bem  gu  bem  letztgenannten  ©ebiete  gehörigen  Blecfen 
SSocfenheim  hieben  bie  Brauffurter  {Refor  mitten  feit  1595  ihren 
©otteßbienft.  1601  würbe  ihnen  erlaubt,  not  bem  23o<fenheimet 

(86ij 


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8 


S^orc  non  granffurt  ein  bölgerneä  Sel^auö  auffü^ren  ju  taffen, 
ober  fdjon  1608,  nadjbem  eine  geuerbbrunft  bag  ©eiijauö  gerftört 
batte,  würbe  jeneö  3ugeftänbnifs  wieber  gutücfgenommen.  SB«* 
gebeng  waren  wieber^olte  @efud}e  beim  Siatb,  rergebenS  bie 
33erwenbung  ber  benachbarten  reformirten  gürften.  1686  würbe 
fogar  im  SRatb  bejdjloffen,  feine  weitere  '-BorfteQung  ber  Sieformirten 
in  biefer  ©adje  anjunehmen.  1731  fdjreibt  Äep Hier  4):  „9Ran 
brauet  3War  nur  eine  halbe  ©tunbe,  um  nach  SJecfenbeim  ju  fab* 
ren,  aber  e8  foftet  eine  ©ietbfutfcbe  ju  4 fpetfonen  für  bie  ©onntag* 
33ormittag8=©otte8bienfte  jätjrlic^  wenigftenS  60  fRt^Ir.;  bie  Stn> 
gabt  ber  Äutfdjen  gebt  auf  250,  wenn  alle  beifammen  finb,  weil 
»iele  norne^me  unb  »ermcgenbe  ^erfonen  in  granffurt  ber  re* 
formirten  Oleligioit  juget^an  finb,  unb  man  bafycr  im  ©prü<h* 
wort  faßt : bie  9iömifcb=.ftatboliicben  tjättcn  bie  Äircbcn,  bie  2u* 
t^erifdjen  ba§  Regiment,  bie  Siefermirten  baö  ©elb."  ©rjt 
1787  würbe  beit  Sieformirten  eine  freie  ©emeinbeoerfaffnng 
unb  ber  2?au  gweier  .Kirchen  in  ber  ©tabt  jugeftauben. 

©ie  3 üben5)  beweinten  feit  1462  an  ber  norböftlicbeu 
©renje  ber  älltftabt  eine  jwifdjcn  jwei  ÜJiauetn  eingejdjloffene 
unb  mit  brei  J^eren  oerwa^rte  enge  ©affe,  welche  am  14.  3a* 
nuar  1711  mit  ber  ©pnagege  ganj  abbrannte,  aber  febon  1 “ 13 
grö^tent^eilb  wieber  erbaut  war.  ©ie  Suben  burften  nur  in  ihrer 
©affe  Wonnen,  unb  würben  »ielfacb  in  ihrem  .panbel  befdjränft 
unb  mit  Abgaben  belaftet.  ©o  mußten  fie  mit  befonberen 
©teuern  bae  Siecht  erfaufen,  an  ©onn*  unb  djriftlidjen  geiertagen 
junaebft  bie  ©affe  oerlaffen  unb  bann  ba8  ©tabttbor  paifiren 
gu  fönnen.  23on  ben  öffentlichen  ©pagiergängen  waten  fie  bis 
1806  auBgefdjleffen. 

©ie  3uben  genoffen  eine  giemlid)  freie  ©emeinbe=33erfaffnng 

unter  gwölf  jelbftgewäblten  „fBaumeifteru".  ©a6  „©djanbge* 
(»6«) 


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9 


mälbe"  unter  feem  33rütfenthurm  würbe  1709  noch  auf  ©taatS» 
foften  erneuert  uub  erft  1802  befeitigt;  fein  ©egenftanb  war 
bie  angebliche  Sffiarterung  eineö  ßhriftenfnäbleinS  ©im cn  burd) 
Suben,  n>eld>e  1275  ober  1475  in  Jrient  gefcheljen  fein  feilte. 
(Srft  bad  Söombarbement  Den  granffuvt  bureb  bie  grangofen,  weld)e3 
ben  tt>eftlid)en  2heii  ber  Subengaffe  einäfdjerte,  hob  179ß  biefeS 
SBerbet  de  facto  auf,  uub  bergürft  Primas  befeitigte  bie  33efd)rän« 
tung  de  jure  in  ben  3al)ten  1809  uub  1810.  ©egenwärtig  ilel)t 
nur  uod)  eine  Läuferreihe  ber  3ubcngaffe  unb  aud)  biefe  geigt 
gahltcidje  £üden. 

3 uv  3eit  Den  ©oetheS  3ugenb  war  bie  ä^egreujung  ber 
©tabt  eine  bereite,  gebilbet  burch  gwei  ejccentrifd)e  A'teife,  welche 
fid)  am  fübweftlicben  ©nbpunft,  am  SDfain,  berührten 

55er  innere  fRing,  welcher  gwei  Sbere,  wenn  aud)  nicht  mehr 
gef  d)l  offen,  aufgeigte : ben  2)ornl)eimer  Shurm  (abgebrochen  1705) 
unb  bie  Äatbarinenpforte  (abgebrochen  1790)  unb  an  gwei 
anbern  fünften : an  ber  Laafengaffe  unb  am  ©alghauS, 
burchbredjeu  war,  umfdjlofj  mit  mittelalterlichen  ÜRauern  unb 
2h«rmen  bie  ÜHltftabt;  feine  ©teile  ift  noch  ietjt  burd)  ©trafcen 
bejeid)net,  welche  ben  fftamen  „©raben"  führen:  SBetlgraben 
(wo  bieJRahmcn  ber  gabireichen  SBeÜwebergunft,  ber„5BülItnappeii" 
aufgeftetlt  waren),  löaugraben  (jefjt  neuer  fDiarft),  L°45  unb 
Bimmergraben,  ^pitfe^graben.  5)ie  letztgenannte  ©trede  beftattb 
am  längften;  fie  würbe  erft  ju  @nbe  beS  fechSgebnten  Sahrhun* 
berts  angebaut.  55er  ©rabeu,  beffen  ©ruub  eine  mit  fRujjbäunten 
befehle  Süiefe  bilbete,  war  burd)  Lirfd)e  belebt,  ©eit  1440  fanb 
baS  fährlide  Jpirfchef  fen  ftatt,  wegu  ber  tRatl)  gasreiche  ©äfte 
einlub  unb  reid)lid;en  Sft>eiu  auS  bem  Diathefeller  fpenbete.6) 
5)er  äufeere  Umfang  ber  ©tabt  war  urfprünglid)  ebenfalls  mit 
einer  bethürmten  SDtauer  unb  einem  ©raben  umgeben,  aud)  mit 

(8«7; 


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10 


feftcn  Shoren  unb  an  benfelben  mit  oorliegenben  Söerfen  oerftärft ; 
feit  1628  würbe  aber  ein  Söatl  mit  11  Saftionen  unb  100  $)a« 
rifer  guft  breiten,  »cm  Socfenheimet  S^or  ibig  gum  Untermain 
hoppelten,  SBaff  ergraben  noch  barum  gelegt.  2)ie  SBälle  waren 
mit  Sinben  bepflangt  u.  bienten  als  ©pagiergang.  ©achfenhaufen 
war  in  äljnlidjer  Söeife  mit  fünf  Saftionen  befeftigt. 

£>ie  breiwocftentliche  (17.  3uli  bis  !).  Sluguft  1552)  »er« 
gebliche  Selagerung  ber  »on  einer  taiferlicben  Sefaftung  uertbeibigten 
©tabt  granffurt  burdj  bie  eerbünbeten  proteftantifcften  gürften  non 
©achfen,  Sranbenburg,  SJieflenburg,  Reffen,  Sraunjchweig,  Dlben-- 
burg  u.  f.  w.  gab  Seranlaffung  gu  bem  großen  »on  Gonrab 
gab  er  gegeichncten,  oon  .fianS  ©rao  auS  Slrnfterbam  in  Jpolg 
gefchnittencn  *})lan  oon  ©tabt  unb  ©cgenb.  IDiefer  fogen.  Sela* 
gerungSplan  ift  oerfleinert  bem  gweiten  Sanbe  oon  UerSner’S 
Ghronif  unb  bem  gweiten  £efte  beö  9tvd^io§  für  granff.  @efd>. 
unb  .ftunft  beigegeben;  ein  neuer  Slbbrud  ber  ßriginalholgftöcfe 
ift  1861  bei  Ä.  Ärutthoffer  erschienen.7) 

9tocft  näher  gu  ©oethe’S  Seit  reicht  ber  50terian'fcbe  ©tabt* 
plan,  beffen  oerfcftiebene  iSuflagen  in  bie  Seit  gwifchen  1628 
unb  1770  fallen/) 

Söir  fehen  barauS,  bah  im  ©cgenfaft  gu  ben  engen  ©affen 
unb  ben  bidjtgebrängten  Raufern  ber  Slltftabt  ber  gwifchen  beiben 
SefeftigungSringen  ft<h  auSbehnenbe  ©tabttheil  mehr  länblichen 
unb  Serftabtcharafter  geigte.  Sreite  Straften  unb  grofte  freie 
9>läfte  (gifdjerfelb,  Älapperfelb,  'PctcrSfirchhof,  Ciahmhof  u.  f.  w.) 
waren  mit  meift  niebrigen  Raufern  eingefaftt.  £ier  reihten  ficft 
ftraftenweife  bie  guhrmannSwirtftfchaften  mit  geräumigen  .£)öfen, 
unb  bagwifchen  SRuft*  unb  Sleicftgärtcn  unb  bie  Siergärten  ber 
$)atricier  unb  reichen  Äaufleute  ober  auswärtiger  gürften.  SDer 
fRoftmarft  unb  $)arabeplaft  war  mit  Säumen  bepflangt.  SDie  Straften 
(868) 


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11 


waren  mit  S3afalt  gepflaftert,  aber  meift  nicht  gewölbt,  fonbetn 
nach  ber  Sötitte  ju  gefenft. 

(Sine  öffentliche  ©trafjenbeleuchtung  war  guerft  1707,  bann 
1711  (.Krönung  Äatl8  VI.)  oerfucht,  auch  burd)  ein  faiferli<he8 
SRefcript  non  1724  eingefchärft  worben,  aber  1762  entfdjlof)  man 
fidj,  bie  Laternen  unb  fonftigeS  Subehör  auf  ©taatöfoften  anju» 
fchaffen,  »egen  ber  Unterhaltung  aber  eine  ©teuer  auf  fantmtlidje 
Raufer  ber  ©tabt  ju  legen.  $>ie&  batte  feine  ©<bwierigfeiten,  ba 
bet  fat^olifcbe  6leru8  für  feine  ©ebäube  ficb  wiberfpenftig  (f.  oben 
©.  7)  unb  bie  auswärtigen  Surften,  ©rafen  unb  Sje rrn  für  ihre 
93efi^ungen  fid)  fäumig  erwiefen,  iljreö  SS:^eil8  ju  bem  gemein» 
nü^igeu  SBerfe  beantragen.  ©8  war  ba  guerft  ein  9teid)Sbofratb8* 
SRefcript  non  1762  erfotberlicb,  worauf  bie  Laternen  allmählich 
auf  600  »erwehrt  würben.  3um  SranSport  innerhalb  ber  ©tabt 
waten  feit  1709  ©änften  oielfad)  üblich  unb  felbft  für  einen 
5Jtann  »om  Stange  be8  ©tabtfchultheifjen  fdjicflicb-  £>ie  ©ebüht 
für  ihren  ©ebrauch  war  jebeSmal  12  Är.  — Um  bie  Seit  oon 
©oetlie’8  ©eburt  waren  bie  Raufer  noch  nicht  numerirt , fonbern 
jebeS  mit  einem  ©innbilb  oerfehen,  oon  bem  e8  ben  Slawen 
führte,  welcher  feinem  angefeffenen  33  ärger  unbefannt  war.9) 
(Stft  bie  Ueberfluthung  ber  ©tabt  mit  Stemben  butd)  bie  ©in* 
quartirung  in  Solge  ber  frangöfifchen  Sefefcung  (feit  1759)  machte 
e8  nothwenbig,  ben  ^udhftaben  be8  ©tabtquariierö  unb  eine  Saljl 
an  febe  ^aubthür  anjufchreiben. 

Sranffurt  jählte  um  bie  Seit  oon  ©oetheS  ©eburt  etwa  30000 
chriftlicbe  ©inwohner  in  3000  Raufern.  5)ie  3«hl  ber  Suben  ift  fehr 
»etf «hieben  unb  wohl  immer  ju  hoch  angegeben  worben,  ba8  lefjtere  au8 
bem  ©runbe,  weil  bamalS,  wie  noch  je^t,  oiele  in  bet  Umgegenb 
wohnenbe  ben  Sag  über  ihrer  ©efdjäfte  wegen  ftch  in  ber  ©tabt  auf» 
hielten  unb  oiel  auf  ben  ©tragen  oerfehrten.  SBenn  wir  bie  Ueber» 

(869) 


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12 


füDung  berjubengaffe  auch  noch  fo  hoch  neranfchlagen,  fo  bürfen  toix 
bei  ber  au§erorbentlirf)en  ®d)malbeit  ber  nur  2—3  genfter  breiten 
Raufer  bie  berjuben  faum  ^ßt>er  fchäfjen , als  auf  ein  Sebntd 
bet  djriftlicben  Setwlferung.  — ®o  war  ba8  ©emeinwefen  be* 
fchaffen,  in  welches  ber  ©dsneibergefefle  ©eorg  griebrich  ©oethe 
einwanberte.  Gr  war  1658  gu  Slrtern  an  ber  Unftrut  als  ©ot)n 
eines  $uffd)mieb’8  geboren  unb  in  granffurt  in  erfter  @h*  mit 
ber  ©djneiberSwittwe  21nna  Glifabeth  gufc  feit  1687  »erfyeiratljet. 
Gr  geugte  in  biefer  Gl)e  fünf  Ä'inber:  1.  SartholomäuS,  geb. 
1688,  über  beffen  fpätere  ©chicffale  nichts  befannt  ift;  2.  Johann 
©ichael,  1690—1733;  3.  Jol}.  Jafob,  1694-  1717;  4.  Jper= 
mann  3afob,  geb.  1697,  3inngic^ermeifter,  fam  in  ben  IRath 
unb  ftarb  1761.  ©eine  brei  ©ohne:  ».  Jol).  griebrich  (1728 
-33);  b.  Joachim  (1732-33)  u.  c.  Job.  GaSpar  (1737-42) 
ftarben  im  ÄinbcSalter.  5.  Johann  -»Ricolang  (1700—1705). 

fRad)  bem  im  3al)re  1700  erfolgten  2obe  feiner  grau  war 
griebrid)  ©eorg  ©oethe  in  gweiter  Gbe  feit  1705  mit  ber  SBittwc 
Gornelia  ©chelborn,  geb.  SBalter,  geb.  1668,  ber  woblbabenben 
SBefifcetin  beö  „SKeibenbofS",  eines  1843  abgebrochenen  ©aftbofeS 
auf  ber  3etl  (?R.  68)  uertjeirat^et.  2lug  biefer  Ghe  entfprangen 
brei  jfinber:  1.  Jlttna  ©ibclla  (geb.  unb  geft.  1706);  2.  Job- 
griebrid)  (1708—1727)  unb  3olj.  GaSpar,  beS  SichterS  Slater, 
(1710— 178ü).  ®er  Se^tgenannte  fonnte  nicht  in  ben  SRatb 
gelangen,  nicht  bloff  barum,  weil  fein  ®d)wiegeroater,  3.  33.  Sejtor, 
©tabtfdjultheif)  war10),  fonbern  auch,  weil  GaSpar  ©eetbeS 
©tiefbruber,  Hermann  Jacob,  fid)  im  SRatb  befanb,  inbem  butcb 
faiferl.  SRefolution  oon  1725  »on  einem  gu  Grwal)lcnben  geforbert 
würbe:  „bafj  nicht  fdion  fein  SBater,  ©oljn,  Sruber,  ©efd?wifter* 
finb,  Schwiegervater,  Sochtermann,  ©egenfd)»ager,  leiblicher 
©chwager  ober  ©chweftermann  fich  im  SRatb  befincen."  griebridj 

(870} 


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13 


©eorg  ©oettje  ftarb  1730,  feine  SBittme  1754.  — ©<bon  früher, 
a!8  bie  ©oetbe’fcbe  gamilie,  war  bie  Uejrtor’fdje  nad)  granffurt 
gefommen.  Set  Seylotfdje  ©tammbaum  läfjt  ftd?  bis  auf  ©eorg 
SBeber  gu  3Seifer§l)etm  an  ber  Sauber  gurücfcerf eigen,  ©oetbeS 
UrurgTofmater,  Sodann  SBolfgang,  meldjer  feinen  fRamen  in  Septot 
überfefste,  geb.  1638  gu  fReuenftein  im  ^cbenlc^e’fc^en,  mar 
©onfulent  unb  elfter  ©cnbicuS  gu  granffurt  feit  1691  unb  ftarb 
1701.  ©ein  (Snfel  gleiten  fRamenS,  geb.  1693,  f 1771,  mar 
Dr.  juris  unb  feit  1747  ©tabtfdjult^eife,  aud?  Äraft  feines  2lmte8 
laifetl.  SBirflidjet  ©ebeimratb-  (Sr  mar  cermäblt  mit  2lnna 
fölargaretba  Sinbijeimer  (geb.  1711,  geft.  1783)  SEodjter  beS 
Dr.  juris  unb  ÄammergeridbtSptocuratorS  gu  SBefjlar,  (SorneliuS 
£inbfyeimer. 

^Drittes  Äinb  unb  erfte  Smdjter  nach  gmei  im  frü^eften  Äiu» 
besaitet  cerftorbenen  ©öbnen  mar  Äatfyarina  (Slifabetb  Sejrtot, 
(geb.  1731,  geft.  1808)  getraut  am  20  Mug.  1748  mit  3ob* 
GaSpar  ©oetlje,  Dr.  juris  u.  faiferl.  SSBirüidjen  fRatb-11) 

lieber  bie  fpätern  ©djicffale  ber  ffiobnung  beS  ©rofjeaterS 
Sejrtor  berietet  ©oet^e  an  ©djitler  unter  bem  17.  ’Huguft 
17971*):  nber  fRaum  meines  grofmäterlidben  |>aufe8,  ^)ofe8  unb 
©artenS  ift  auS  bem  befdjränften,  patriardbalifcben  3uftanbe,  in 
meldjem  ein  alter  ©cbultt)ei§  een  granffurt  lebte,  burd)  Ilug 
unternebmenbe  fötenfdben  gum  mädjtigften  Sfaaren»  unb  SSRarft* 
plaj}  oeränbert  morben.  Sie  Slnftalt  ging  bureb  fonberbare  3«* 
fälle  bei  bem  ©ombarbement  3uli  1796)  gu  ©runbe  unb 
ift  jefct,  gröfstentbeilS  als  ©d)uttbaufen,  uod?  immer  baS  Soppelte 
non  bem  (12000  fl.)  mertb,  maS  cor  elf  3abren  »on  bem  gegen» 
märtigen  ©efifjer  an  bie  9R einigen  begablt  mürbe",  ©egenmartig 
finb  burd?  baS  gmif(ben  bem  Älapperfelb  unb  bet  großen  grieb» 
berget  ©affe  fid)  erftreefenbe  ehemals  Septorfcbe  ©efifjtbum  gmei 

(871) 


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14 


©tragen : bie  Heine  griebberget  ©affe  unb  bie  ©elbehirfch'Strafje 
hinburchgeführt;  bieö  gange  SSreal  ift  non  neuen  ©ebäuben  be» 
becft.  — Sin  9fad)bar  be8  ©tabtfchultheifjen  war  ber  Pfarrer 
©djleiffer;  beibe  ergäben  fid)  mit  SBerfut^en  feltfamer  Dculi» 
tungen  »on  fangen,  g.  33.  fPfirfidje  auf  einen  SEBeinftocf,  SRofen 
auf  einen  Apfelbaum,  worüber  noch  eigen^änbige  aufgeidjnungen 
SEejrtorS  »orhanben  finb. 

©oetheS  ©Item  wohnten  in  einem  alten  $aufe  am  ^irfdj» 
graben  (jefot  9ßo.  23),  beffen  Sefifserin  bie  ©rofcmntter  ©oraelia 
war.  Der  <Sd^uIttjei§  nahm  »on  ber  bei  ber  ©ntbinbung  feiner 
Softer  bewiefenen  Ungefdjicflichfeit  ber  £ebamme  Sßeranlaffung, 
ben  SBunbargt  ©eorg  ©igiSmunb  Schlicht  als  @eburt8helfer 
unb  ^ebammenle^rer  anguftellen.  SDiefer  würbe  am  2.  IDecbr. 
1749  verpflichtet,  ftarb  aber  fchon  1754. 1 *) 

£Da8  gegenüberliegenbe  Od^fenftei n’fdh)e  £au8  (9lo.  18) 
ift  jetjt  faft  ba8  eingige  ber  gangen  ©eite,  welches  bi8  gum  mef» 
fingeiten  2:hütflopfer  h«ab  ben  alten  ©hataHer  bewahrt  hat. 
©8  ift  feit  lange  ©ifj  be8  33anfhaufe8  3»hann  Wertend  unb  in 
feinet  gangen  Slnlage,  burch  SHäumli^feit  ber  Sßorplätje,  £öhe  ber 
©tocfwerfe  :c.  weit  anfehnlicher  al8  ba8  ©oethe’fche  £au8,  ein 
StppuS  be8  für  eine  eingige  gamilie  berechneten  fPatricierhaufed. 

$Die  brei  ©ohne  be8  S3orgänget8  »on  ©oetheS  ©rofwater, 
be8  ©tabtfchultheifjen  Dd)8  »on  Ddjfenftein,  welche  ben  Äna» 
ben  gu  muthwiHigen  ©treiben  angereigt,  waren:  3oh-  Sebaftian, 
1700—1757,  Äreidgefanbter,  Heinrich  SBilhelm,  1702 — 1751, 
Senator,  beibe  unöerheirathet,  unb  £>einri<h  ©hriftoph,  1712 
bi8  1773,  gürftl.  Sfenburgij^er  ©eheimerath  in  Dffenbach,  welch« 
bie  gamilie  im  ©rof?h«g°9thnm  Reffen  fortgepflangt  hat. 

9lach  bem  1754  erfolgten  Sobc  feinet  Wutter  ßornelia  fchritt 
3»hann  Sa8par  gum  Umbau  feines  Kaufes,  ba  aber  eine  am 

(873) 


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15 


27.  3uli  1719  erlaffene  unb  nodj  1749  eingefdjärfte  Sauorbnung 
bie  Ueberfyäpge  nur  im  erften  ©to<f  geftattete,  fo  faß  er  fid),  um 
bieß  ©efefc  gu  umgeben,  gu  jenem  »on  ©oetße  fo  anfdßaulicß  ge: 
fdjilberten  aHmäßlicßen  Umbau  »eranlaßt.  £Die  Unbequeralidßfei» 
teu  biefeö  SetfaßrenS  trieben  ben  A'naben  gu  9lußf!ügen,  auf  melden 
er  aümäßlid)  feine  Saterftabt  fennen  lernte,  ©t  ermähnt  gunädßft 
bie  5Jt  ainbrüd  e,  weldje,  nacßbem  ißt  gwei  ßölgerne,  butcß  ba8 
SBaffer  gerftörte  Srücfen  »orßergegangen  waren,  nad)  ber  großen 
Ueberfdßwemmung  beS  ÜJlainS  non  1342  auf  14  gewölbten  Sogen 
rußenb,  in  einer  Sänge  non  950  unb  einer  Sreite  non  27$  guß 
au8  rotßen  ©anbfteinquabern  erbaut  würbe;  bann  ben  ©aalßof, 
Welcher  auf  ber  ©teile  beS  822  non  Subwig  bem  grommen  erbauten 
$>alatium  fteßt.  21  uS  ber  ältefteu  Beit  ift  nur  ein  £ßeil  ber 
©tunbmauer  erhalten;  bie  jeßt  in  ein  3iwmer  »erwanbelte  ÄapeUe 
gut  ßeiligen  ©lifabetß  ift  waßrfcßeinlicß  in  ber  erften  Hälfte 
beS  breigeßnten  SaßrßunbertS,  ber  weftlicße  Sßeil  beS  ©ebäubeS 
nacß  bem  ÜJtain  1717,  ber  öftlidje  1842  aufgefüßrt.  2)er  Sau 
nad)  ber  ©aalgaffe  »on  1604  geigt  nodß  ßeute  bie  unregelmäßige 
gagabe  unneränbert,  welcße  $>lotßo  bei  ber  .Krönung  3ofepß$  II. 
butd)  feine  ©rleucßtung  fo  grell  inS  Stcßt  feßte.14) 

5)er  Äaiferbom  gu  @t.  SartßolomäuS  ift  ber  Stiftung 
nadß  bie  ättefte  Kirdje,  bet  ©tbauung  nacß  bie  gweite  (nacß  bet 
©t.  SeonßarbS  Äircße)  non  granffurt.  2ln  bem  jetzigen  Sau 
Würbe  »on  1238 — 1512  gearbeitet. 

SÖaßlftabt  würbe  granffurt  burcß  bie  golbene  Sülle  1356; 
ber  erfte  Äaifer,  welcher  nidßt  in  $acßen,  fonbern  in  granffurt 
gefrönt  würbe,  war  2Jlar  II.  1562,  nacß  ißm  ÜRattßiaS  1612, 
gerbinanb  II.  1619,  Seoßolb  I.  1658,  ÄarlVI.  1711,  Karl  VII. 
1742,  grang  I.  1745,  3ofepß  II.  1764,  Seopolb  II.  1790  unb 
grang  II.  1792,  bagegen  Ofubolf  II.  1575  unb  gerbinanb  IH. 

(8JJ) 


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16 


1637  mürben  in  OlegenSburg,  3ofepfy  1.  1690  in  StugSburg  ge» 
frönt.  3n  Solge  bcS  Stanbeö  »cm  15.  Sluguft  1867,  melier 
ba8  ,Rird)cnbadJ  »erjeljrte,  ba8  ©eroölbe  befdjabigte  unb  bie  ©loden 
beß  SfjurmS  fcbmolj,  ift  ber  Sau  einer  auSgebetjnten  (Erneuerung 
unterzogen  worben,  ©er  Sburm  wirb  auögebaut  unb  baö  hang* 
hau8  ber  Äirche,  bereu  ältefter  Sheil,  melcbet  niebriger  af§  bol 
©f)or  unb  bie  Sburmhafle  war,  auf  gleiche  ^ölje  mit  biefeu 
gebraut. 

3n  ber  Äircfce  Hegt  Äaif  er  ©untrer  »onSdjmargburg  begraben, 
beffen  hcbenälauf  auf  eine  jugenblidje  ^fyantafie  einen  befonber« 
tiefen  (Einbruch  ju  madben  pflegt  unb  benfelben  aucf)  auf  ben  jungen 
©oetfye  nicht  »erfe^lte.  9lm  27.  Wai  1349  mar  ©untrer  mit 
aßen  Seiten  ber  föniglicfcen  Sßürbe  Ijalbtobt  auf  einer  Satyrt 
nad)  ftranffurt  gebracht  morben.  Slm  17.  3uni  »erdichtete  er  auf 
baö  Sleicb,  nannte  ftd)  mieber  ©raf  ©untrer  »on  ©cfemargburg 
unb  entbanb  SRatl?  unb  Sürgerfchaft  »on  ^ranffurt  %e8  (Eibe$. 
3m  18.  3uni  ftarb  er  im  Sohanniterhofe  am  „fdjmargen  Sobe“, 
ber  gleichzeitig  binnen  72  Sagen  2000  Wenfchen  ^inraffte. 

©eine  Familie  lieg  ihm  ein  ©enfmal  in  ber  Witte  be8  hohen 
G^oreS  ber  ©omfirche  fegen,  melcheS  im  ©eebr.  1352  »oßenbet, 
1743  aber  auf  Slnorbnung  Äaijer  Äarl  VII.  an  bie  ©eite  beä 
(Eingangs  ber  faiferlichen  SBa^lfapeße  »erfegt  mürbe,  bei  melier 
©elegenljeit  fämmtfidje  eS  umgebenbe  SBappenfchilbe  cermed)felt 
unb  mit  rotljer  garbe  überftrichen  mürben.  3uf  Seranlaffung  ber 
dürften  »on  ©chmargburg  ift  e8  jebotfc  1855  auf  ©runblage  von 
ßeiebnungen  auS  bem  3al)re  1716  mieber  in  feinem  früheren 
3uftanb  gergefteßt  morben'5). 

Pfarrei fen  Ijiefj  ber  burd)  einen  Iiegenben  (Eifenroft  für 
ba§  Siel)  mtgugcinglich  gemad)te  ©ang  gmifchen  ber  tftorbfeite  be» 
©ome§  unb  ber  1829  abgebrochenen  WidjaelSfapeße;  er  bilbet 

(874) 


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17 


jefct  einen  SJjeil  beö  ©omplaijeS  unb  ift  fammt  ben  eingebauten 
Buben  netfdjteunben.  3tm  Sßieberchetn  beifjt  eine  fold^e  Bocalität 
Äirdjeifen. 

S)ie  ©trafje,  welche  bern  Änaben  ©oetfye  unb  feinen  ©piel« 
genoffen  ben  Umweg  burch  -£>afengaffe  ober  ÄaUjarinenpferte 
fparen  unb  birect  Bom  8iebfrauenberg  nach  bet  3«l  fügten  fotlte, 
ift  etwa  fyunbert  3a^re,  nadjbem  fie  biefe  Befdjwetbe  auSgefprocben 
(1855),  burd)  Abbruch  gweier  Raufet  auSgefüfytt  worben. 

93 on  ben  „burgartigen  Käumen  innerhalb  bet  ©tabt,  beten 
3at)t  fefyr  gtofj  war",  nennt  ®oe%  ben  Kütnberget  £of 
gwifchen  fUtarft  unb  ©djnurgaffe,  urfprünglich  Verberge  bet  bie 
9Keffe  bejietjenben  Kürnberger  Äanfleute;  baS  ßompoftell, 
norböftlidj  Bom  -Dom,  bem  Äurfütften  Bon  SORainj  gehörig;  baS 
BraunfelS16)  am  giebfrauenbetg,  1495  unb  96  ©ifj  be8 
5Reiä)8fammetgeridjt8,  im  SRoobt.  1631  Bon  ©uftan  äbolf  bewohnt, 
ffjatet  als  .podjgeitSfyauö  unb  ÄauffyauS  benutjt,  Bon  1694  bis 
1859  @igentl)um  bet  ©efellfdjaft  grauenftein;  enblid)  baS  ©tamm* 
i)au§  beret  Bon  ©talbutg,  weites  gu  ©nbe  beS  adjtgehnten 
Sa^t^unbertS  abgebrochen  würbe , um  bet  ©eutfehreformitten 
Äitdhe  fpiatj  gu  machen.  SDie  gamilte  ©talbutg  fommt  1447 
guerft  in  granffurt  Bot  unb  ift  1808  im  9Rann8ftamm  erlofdljen. 
SBähtenb  bet  Belagerung  1552  war  3ot)cmn  Bon  ©talbutg  alteret 
Bütgetmeifter. 

3)aS  IRatbbauS,  bet  Körnet  genannt,  enthält  ben  Äaiferfaal, 
welcher  1711  gelegcntlid)  bet  .Krönung  jfatlS  VI.  mit  gefubelten 
Bruftbilbern  Bon  Äaifern  Berfehen  würbe,  wofür  ber  Söialet  Gontab 
Unfin  (geb.  1660,  -}■  1717)  freilich  auch  nur  500  fL,  einfd^lie^ltd^ 
bet  ©ündjerarbeit,  Bom  Kath  erhielt,  ©eit  1843  ift  an  beten  ©teile 
in  bie  Kifdjen  eine  Keitje  oon  jfaiferbilbern  burdf  Surften,  Bereine 
uub  fPtioaten  gefegt  worben,  welche  theilweife  auf  Äunftwertfy 

XT.  861.  2 (87.'|) 


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18 


Hnfpruch  machen  föunen. 1 8)  2)er  Haiferfaal  wirb  gu  ben  Schul» 
actuS  (progreffionen)  beS  ©pmnafiumS  benufct  unb  hat  feit 
feiner  Sßieberherftellung  noch  gweimal  politischen  3toecfen  gebient: 
1848,  alö  gwifd)eu  Vorparlament  unb  Parlament  ber  gängiger» 
auSfchufj  l)ier  öffentlich  regierte,  unb  im  Sluguft  1863,  als  baS 
SSanfett  beS  gürftentageS  hier  ftattfanb. 

Schon  bem  Hnaben  fiel  eS  auf,  „bah  nur  noch  Plafc  für 
baS  Silb  eines  Äaifetö  bliebe."  25aS  merfmürbige  Sujammen» 
treffen,  welches  in  bie  leiste  Sifdje  beS  HaiferjaalS  ben  lebten 
römifchen  Äaifer  brachte19),  ift  in  ber  neueren  ©ejdjichte  nicht 
ohne  ©egenftücfe. 

S)ie  paulS  firdje  bei  Som  (San  Paolo  fuori  le  mura)  war 
gut  Aufnahme  ber  Silbniffe  fämmtlicher  päpfte  beftimmt,  aber 
nad)  'PiuS  VII.  war  in  Sorte,  wie  nach  Srang  II.  in  granffurt 
fein  plat)  mehr  übrig.  Sebod)  bie  Uöfungen  beS  Problems  waren 
oerfchieben:  unter  jenem  'Pap ft  brannte  bie  paulSfirdje  nieber, 
unter  graug  II.  würbe  baS  Seich  aufgelöft.  3m  SegierungSge» 
bäube  ju  8ima  war  ebenfalls  ein  Saal  für  bie  Vilbniffe  ber 
Vicefßnige  oou  'Peru  beftimmt;  boch  fanb  gerabe  eine  Seihe  oon 
nur  44  Hopfen  piajj,  oon  piggaro  bis  peguela;  ber  Saal  war 
gefüllt,  als  baS  £eer  ber  Patrioten  in  üirna  einrüefte  unb  ber 
fpanifchen  Jpcrrfc^aft  ein  6nbe  machte.  Sind)  im  CSapiteljaal  beS 
HlofterS  PfafferS  war  1819  nur  noch  plafc  für  ein  Sappen, 
baS  beS  lebten  SlbteS  piactbuS. 

SSittlerweile  war  baS  JpauS  fertig  geworben  unb  häusliche 
Sefchöftigungen  bannten  nach  ungewohnter  greiheit  ben  Hnaben 
an  bie  oerfchönerte  cjjeimath10)-  — Seheu  wir  gunächft,  wie 
mittlerweile  bie  gamilienoerhältniffe  fich  geänbert  hatten!  'Huf 
Soijann  SBolfgang  folgten  noch  fünf  Hinber,  oon  benen  aber 
nur  bie  ältefte  Sdjwefter,  (Cornelia,  gu  reiferen  3ahren  heran» 

(87C; 


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19 


roudje.  SDiefe  Äinber  waren:  1)  (Sornelia  S'tieberife  (Ifyriftiane, 
geb.  7.  S)ec.  1750,  getraut  1.  SRoobr.  1773  mit  Sodann  ©eorg 
©djloffer,  bamalS  matfgräflid)  babifebem  Smtmann  gu  (fmmen» 
hingen,  feer  1739  in  granffurt  geboren  war  unb  1799  nach  einem 
fefyr  bewegten  Sieben  alß  ©pnbicuS  feiner  SBaterftabt  »erftarb. 
Sornelia  ftarb  1777  gu  (fmmenbingen.* ’)  2)  Hermann  Sacob, 
1755 — 59;  3)  Äatljarina  (Slifabetl)  1754 — 56;  4)  Sofyanna  9)ia» 
tia,  1756 — 59;  5)  ©eotg  Ülbolf,  1760 — 61.  S3on  weiteren  ga= 
milienereigniffen  ermähnen  mir,  baff  bie  „lebhafte  Sante",  Soljanna 
5Rarta  Sejrtor  (1734  — 1823)  im  Saljte  1751  mit  bem  Jpan= 
beißmann  ©eorg  2lbolf  SJtelber  (1725 — 1780),  unb  bie  „ruhigere 
Jante",  2lnna  SJiaria  (1738—1794)  im  Saljre  1756  mit  bem 
^rebiger  Dr.  theol.  3otf.  Sacob  ©tarcf  (1730—1796)  fidj  uer= 
ijeiratijete. 

2118  temporäre  ^jaußgenoffen  nennt  @oelt)e  bie  gut  2tuß* 
fdjmücfung  ber  neuen  SBofynung  oermenbeten  Äünftlcr.  SDlan 
fennt  brei  granffurter  ÜDlaler  9tamen8  #irt.  griebrid)  Gbriftopb, 
©efyn  beß  SDialetS  5Diid)ae(  ©onrab,  geb.  1685  gu  3)urlacb,  1717 
in  granffurt  »er^eirat^et,  f 1763,  unb  feine  ©öljne  griebricfy 
. 2BiU}elm,  1721—1772  unb  £einrid},  1727—96. 

©eorg  ütrautmann,  furpfälgifdjer  Hofmaler,  mar  1713 
in  3®eibrMen  geboren  unb  ftarb  1796  gu  granlfurt.  ©ein 
©oi)n  3ot).  ^eter,  1745—92,  war  ebenfalls  fötaler.  Gbriftian 
©eorg  ©d)üf3,  geb.  1718  in  glötßijeim  a.  25i.,  fam  1731  nadj 
granffurt;  1744  »ertjeiratijete  er  fidj  unb  mürbe  23 ärger  als  S)erfen= 
unb  3iwmermaler.  ©päter  bilbete  er  fid)  unter  bem  ©djuij 
Bon  jpäcfel’S,  ber  ü)tn  feine  ©alerie  gut  SSetfügung  fteHte,  alö 
Slanbfc^aftSmalet  auS.  (fr  mürbe  oon  Dcrfdjiebenen  .pöfen  be= 
fd)äftigt  unb  bereifte  ben  9i^ein  unb  bie  Sdjroeig  gum  23eljuf 
lanbfdjaftlidjer  ©tubien.  (fr  ftarb  1791.  Seine  brei  ©öljne 

2*  «77) 


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20 


gtang  (1753—81),  3»hann  ©eorg  ('1755—1813),  welchen  ©oethe 
1787  in  (Rom  feinten  lernte  **),  unb  Heinrich  Sofeph  (1760—1822) 
unb  feine  Sechter  fphilibpine  (1767 — 97),  wibmeten  ft<h  eben  fall« 
bet  .ftunft.  (Sin  gleichnamiger  Sleffe  beS  (Shriftian  ©eorg  Schuß, 
(1758—1823),  gewöhnlich  ©<hüt}  ber  Setter  genannt,  würbe 
ton  bem  dürften  Primas  mit  ber  Drbnung  unb  ^erfteDung  bet 
»on  ben  aufgehobenen  Älöftern  ber  ©tabt  granffurt  zugefallenen 
©emalbe  betraut,  hat  aber  ba8  unbebingte  Vertrauen  be8  orgle« 
fen  dürften  getäufcht  unb  bie  beften  bet  ihm  ancertranten  Äunft« 
fchäße  zu  eigenem  Stufcen  »erlauft. JS)  3uftu8  Sunfer,  geb.  1701 
gu  Sftatng,  fam  frühzeitig  nach  ffranffurt,  »erheiratbete  ftcfe  baielbft 
1726,  lebte  fpäter  einige  Seit  gu  Bonbon  unb  ftarb  1767.  ©ein 
©ohn  Sfaaf  (1727—1789)  war  ebenfalls  9Mer.  3oh-  (Sonrab 
©eefah,  geb.  1718  in  ©rünftabt , furpfälgiidber  nnb  lanbgtäf« 
ließ  hcfftfcher  Hofmaler,  lebte  in  ©armftabt  unb  ftarb  bafelbft 
1768.14) 

(Der  ©chaublah  bc8  Änabenmärchenö  hat  feitbem  feinen 
Flamen  gewechfelt.  ©oetße  fagt:  „3<h  fam  in  bie  ©egenb,  welche 
mit  Siecht  ben  Flamen  „„©cßlimme  SJlauer*"  führt,  benn  e* 
ift  bort  niemals  ganz  geheuer."  SD«  Änabe  ©oethe  fchien  alfo  • 
tn  bem  Samen  eine  Slrt  SJlafel  ju  finben,  unb  ebenfo  haben  1855 
bie  33ewohner  bet  ©affe  eine  Seränberung  beffelben  in  ,r@tift8- 
ftraße"  nachgefucht  unb  erhalten.  3n  ber  Sßat  aber  hat  fcieie 
©affe  ihren  Samen  »on  bem  Sefißet  einer  großen,  mit  einer 
SJlauet  eingefaßten  Siegeufcßaft  in  berfelben  SamenS  ©Inmrnt 
erhalten  unb  femmt  im  14.  3abtbunbert  als  ©tymmengaffe,  im 
17.  ale  ©chlimme=50lnuet  »or.  ©ie  jte^t  im  Sogen  »on  ber 
Beil  am  ©encfenbergifcßen  ©tift  »orbei  gum  (Si^enbcimer  2hurm- 
©er  ehebem  in  ber  SDtaucr  be8  ©encfenbergifchen  botanifchen 
@arten8  beftnblicße  Srunnen,  gufammenbängenb  mit  bem  „fjifcb* 

(S7S) 


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21 


born",  nach  welchem  ba§  gegenübetliegenbe  $aug  (heute  „33ütger= 
perein")  ben  Flamen  führte,  welcher  für  bag  Sßorbilb  be8  int 
Änabenmätthen  oorfommenben  p^antaftifc^en  33runnen  galt,  ift  mit 
bem  Abbruch  ber©tift6l)äu]’er  unb  ber  Verbreiterung  ber  ©trafie  1866 
uerfdjnjunben.  — Slug  ber  ©chitberung  ©oethe’8  oon  feiner  gehrzeit 
in  einer  öffentlichen  ©dfule  geht  heroor,  wie  weit  bie  reiche  ©tabt 
gegen  bie  Eleinen  monarchifchen  proteftantifdjen  ©taaten  SDeutfdj» 
lanbö  in  biefer  ^Beziehung  jurücfgeblieben  war.  granffurt  befafj 
batnalö  nur  (Sine  ftäbtifcf)e  Schule,  bag  ©pmnafiutn.  Sieben 
biefem  aber  unb  einigen  fatholifchen  Schulen  war  aller  öffentliche 
Unterricht  ber  ©peculation  einet  ©djulmeifter^unft  überlaffen, 
welche  in  ben  fogenannten  „Cuartierfchuleu"  ihr  bürftigeö  ©efdjäft 
betrieb.  5)ie  (Jonceffion  ju  einem  folgen  ©efchäftöbetrieb  mufjte 
bet  Unternehmer  »om  Staat  erfaufen,  unb,  einmal  erlauft,  war 
bie  Goncefficn  erblich  non  Später  auf  ©ohn,  ober  oon  ÜKann  auf 
Stau,  unb  oerfäuflich  oon  £anb  ju  Jpanb.  SDie  ©chulhalter 
hatten,  wie  jebe  anbte  Jnnung,  ihre  93erfammlungen,  eine  gemein» 
fame  Äaffe  unb  felbftgewählte  33otfteher.  3)ie  Quartierfchulen 
füllten  gemäjj  ber  „©chulorbnung"  oon  „©cholarcheu  unb  fPrä» 
bicanten"  ober  oon  „9iath8oerorbneten  zu  ben  Schulen"  beauf* 
fidjtigt  unb  reeibirt  werben,  wag  aber  oft  Jahrzehnte  hiubutdj 
nicht  gefchah-  3n  ben  jQuartierfchulen  würben  Änaben  unb 
SRäbchen  jeben  Süterä  oereint,  oft  200  unb  mehr  in  eine  burnpfe 
©tube  zufammengebrängt,  com  Sötorgen  big  Slbenb  in  gehre  unb 
Bucht  gehalten,  im  jfatecbigmug , gefen  unb  Schreiben  geübt, 
wohl  auch  im  Rechnen  unterrichtet,  wofür  bie  ©djulorbnungen 
„für  bie,  fo  wohlljabenb  finb,"  zwei  @ulben  quartaliter  anfefcte, 
unb  enblich  wenig  „Sluöerlefenen  in  ber  fPrioat"  auch  «o<h  etwaö 
franzöfifch  beigebracht,  sieben  biefen  Duartierfchulen  gab  eg  nodj 
Zahlreiche  „SBinfelfchulen"  unb  an  bie  200  „©chulftöhrer  unb 

(879) 


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22 


^erumläufet"  ertbeilten  ^)ricatunterricbt  Sieter  Suftanb  bauerte 
big  gum  (gnbe  beS  18.  SabrbunbertS. 

©cctl)e  ergäbt  imS  ben  SorfaH,  wegen  beffen  er  bent 
gemeinsamen  Unterricht  halb  triebet  entgegen  würbe.  Ser  2>ater 
übernahm  trieber  bie  Leitung  ber  23 Übung  feines  ©ebnes,  uab 
auS  biefer  3«t  bcfi^t  bie  granffurter  ©tabtbiblictbet  ein  Jpeft 
©dönfdiriften  unb  Crrercitten  in  beutfder,  lateinifd«,  griedtifder 
unb  frangöftfd«  ©prade,  weldbeS  ©eet^e  in  feinem  fieberten 
bis  neunten  Sa^re  gefdgrieben  unb  Dr.  .peinrid  2BeiSmannIJ) 
berauSgegeben  bat-  @S  enthalt  tbeilS  Sictate  beS  SateTS,  tbeüS 
eigene  Ausarbeitungen  beS  ©ebnes  in  prefaifcher  unb  poetiidet 
gcrm.  @S  ergiebt  ficb  aber  auS  ben  ©eburtSjabren , ba§  ber 
„SRarimilian"  in  ben  Änabengefpräd«  nicht  Älinger  getreten 
fein  fann,  meldet  im  21.  SebenSjabre  nccb  baS  ©ttmnafiunt  be* 
fucbte,  alfo  im  fedftett  unmoglid  f<bon  lateinisch  gefprcdett 
bat.  — 

©oetbe’S  Sater  gehörte  gu  ben  „Burücfgegegenen , weide 
unter  fid?  niemals  eine  ©ecietat  maden"  (@.  SB.  IV,  22).  ©eine 
Scrgänget  unb  ©efeflen  waren  bie  Srüber  llffenbad:  1)  3ada> 
riaS  (1683 — 1732),  weidet  1727  jüngerer  Sürgermeifter  war  unb 
als  ©düffe  ftarb.  Auf  gtofjen  {Reifen,  weide  er  in  bem  Sude: 
„ {Reifen  burd  {Rieberfadfen,  .SpoHanfc  unb  Gnglanb  “ (2  Sönfce, 
4°,  granffurt  unb  üeipgig  1753 — 54)  befdtieb,  bvadte  er  eine 
Siblictbef  ron  30—40000  Sänben  unb  SRanufcripten  gufammen, 
Weldte  nod  bei  feinen  Sebgeiten  gröfjtentbeilS  an  bie  Unirerfitit 
©cttingen  »erlauft  würbe,  bod  »ermadte  er  bie  auf  bie  ©efdidte 
ber  ©tabt  granffurt  begügliden  .jpanbfdriften  bet  granffurter 
©tabtbibliotbel,  wo  fid  aud  fein  gelehrter  Sriefwedfd,  M 
Sänbe  ftarf,  befinbet.  2)  3ol)ann  griebrid  (1687 — 1769),  trat 
gleich  feinem  Sraber,  ben  er  auf  feinen  {Reifen  begleitete,  ©animier 

(SSO) 


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23 


unb  Äunftfreunb  unb  aufjetbem  felbft  23aumeifter.  ©t  war  1749 
jüngerer  unb  1762  älterer  Sürgermeifter.  ©eine  Sammlungen 
farncn  nadj  ©cttingen. 

(SS  gehörte  ferner  ju  biefent  Greife  bet  fdfjon  erwähnte 
Wreüjerr  fyriebrid)  »on  «p a cf e I,  ein  geborener  ^olfteiner,  ber  burcb 
£>eiratl)  mit  ber  reifen  SBittwe  eines  ^errn  »ott  JRljoft  non 
©ifenfyatb  in  ben  Sefifc  beS  .£>aufeS  p ben  gwei  Säten  (S)önge8* 
gaffe  40)  gelangte  unb  im  Januar  1760,  78  Saljrc  alt,  als  faiferl. 
Cbriftnjadjtmeifter  ftarb;  unb  3olj.  fDtidjael  non  SoSn,  »eiltet 
aber,  — entgegen  ©oetfjeS  Hingabe  (TV,  23),  baff  SoSn  nidfjt  auS 
Rranffurt  gebürtig  gewefen  fei,  — hier  1694  geboren  war.  6r 
ftammte  auS  einem  wegen  ber  SReligion  im  fedjgefynten  Sabrljunbert 
au§  ben  9tiefcerlanben  auSgewanberten  @efd)ledjt  unb  würbe  1753 
»on  .König  ^riebtidj  II.  gum  @efyeime=9tatl)  unb  -StegierungS* 
braftbenten  ber  ©raffcbaften  SeHenburg  unb  Singen  ernannt, 
unb  auf  feine  Sitte  1766  in  ben  IRufyeftanb  »erfe£t;  er  blieb 
jebod)  in  Singen,  wo  er  1776  ftarb.  — Dr.  3otj.  ^fjit.  örtfy 
(1698 — 1783),  Serfaffer  beS  fed)8bänbigert  SBerfeS:  Kommentar 
über  bie  5fr  auf  für  ter  ©tatuten,  bie  fogenannte  „©tabtreformation" 
1731 — 74,  ber  Hlbfyanblmtg  über  bie  {ReidjSmeffen  1765  unb  bet 
©ammlung  merfwütbiger  SRec^tSbdnbel"  1763 — 78,  17  Steile, 
»ermatte  30,000  fl.  gu  einem  SBaifenljauS. 

Sol).  ©ebaftian  »on  ßdjf  en  ftein,  ber  ältefte  jener  brei 
»on  ©oetlje  auS  feinen  früt)eften  3ugenberinnetungen  erwähnten 
Srüber  (welche  übrigens  biefeS  ^auS  nur  bis  1753  bewohnten), 
madfyte  ftc^  bei  feinem  1756  erfolgten  $£obe  burdj  bie  allem  ^>er* 
fommen  guwiberlaufenbe  Hlnorbnung  eines  einfachen  Seidjenbegäng* 
niffeS  bemerflid).  ©ein  Seifpiel  tjat  nicht  allgemeine  9ladjfolge 
gefunben,  benn  ein  unS  aufbewaljrteS  brei  ©eiten  langes  Ser* 

geidjnifj  ber  SluSgaben  bei  einem  Seidbenbegänguife  beS  befferen 

(881) 


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24 


SRütelftanbeS  an8  bem  Sa^te  1788  ergiebt,  obgleich  uicbt  äße 
Stubrifen  auSgefüllt  finb,  immerhin  eine  ©efammtanSgabe  ccn 
425  fl.  26  £r. 

Die  ©encfenbergifdje  gamilie  flammt  auS  griebberg  in  ber 
SBetterau,  wo  3oh-  ^artmann  ©encfenberg  1655  geboren  würbe; 
er  fam  1682  als  tSrgt  nach  grautfurt  unb  ftarb  bafelbft  1730. 
©ein  £auS  #afengaffe  3,  ift  1874  abgebrochen  worben.  @r 
batte  brei  ©ohne:  1)  Jpeinrid)  (S^riftian  (greiherr  non)  ©., 
geb.  1707  gu  granffurt,  §>rof.  ber  SRec^te  unb  ©tmbicuS  an  ber 
^odjfdjule  gu  ©ottingen,  ^cntat^  in  Sieben  unb  in  anberen  2ln= 
fteflungen  be8  gürften  »on  £>ranien  unb  9laffau,  fceS  Sanbgrafen 
»on  Darmftabt,  beS  HKarfgrafen  Bon  SlnSbacb,  nahm  1744  feinen 
SBohnfij}  iit  ber  Saterftabt  al8  Äangleibirector,  £ofrath  unb 
ÄreiSgefanbter,  würbe  jeboch  fdjon  gu  ©nbe  be6  3ahre8  1745 
als  ffflitglieb  be8  9Reid)8^of8rattj6  nach  SSien  berufen  unb  ftarb 
bort  1768.  @r  h'“^^  gmei  ©ohne:  a.  SftcnatuS  geopolb 
©hriftian  Äarl  (1751 — 1800),  unb  b.  <tart  ©hriftian  Jpeinrid^ 
(1760—1842),  mit  welchen  bet  ©encfenbergifdje  Ü)tanne8ftamm 
erlofdjen  ift.  2.3oh-  (Shcifttan,  geb.  1707,  fonnte,  ba  fein  SSater  burch 
ben  1719  erfolgten  Serluft  feines  ^aufeS  beim  „großen  ©hnften* 
branb"  in  feinen  Serhaltniffcn  gurücfgefommen  war,  erft  1737 
in  ©ottingen  promooiten.  1737  würbe  er  2lrgt  in  granffurt, 
1744  aufjerorbent lieber,  1751  orbentlicher  ganbphbfKuS , 1755 
©tabtp^tjficue,  1757  heffco*caffelfc^er  geibargt  unb  .fpofrath-  ®r 
ftarb  am  15.  9?db.  1772  in  golge  eines  ©turgeS  Bom  ©erüfte 
beim  Sau  feines  SurgerhoSpitalS.  @r  war  breimal  »ermäbit, 
aber  feine  beiben  Äiuber  ftarben  in  früher  3ngenb.  — ©oetheS 
Slnmerfung  (IV,  24),  „ba§  er  nur  wenig  unb  in  oornehmen 
Raufern  practicirt  Ijabe ,JJ  ift  bahin  gu  berichtigen,  bah  er  bei 

einer  auSgebreiteten  llrajciS  gwifdjen  armen  unb  Speichen  nur  in 

(882) 


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25 


fo  fern  einen  Unterzieh  machte,  als  er  bie  elfteren  auf  feine 
Jtoften  mit  Slrgnei  unb  2eben3mitteln  oerfab-  ©urd)  Stiftung 
com  18.  Öluguft  1763  Gemachte  er  feiner  SBaterflabt  fein  SBer9 
mögen  »on  95000  fl.  nebft  ,£>au8  unb  Sammlungen  für  ein 
mebicinifdjeä  Snftitut  unb  ein  {Bürger*  unb  23eifaffen>^>ofpital17). 

3.  3ob-  (SraSmuö,  geb.  1717,  Senator  unb  oerfd)iebenet 
fKeictfSftänbe  Jpofratb,  fam  1746  in  ben  9tatb,  mürbe  1761  einer 
bereits  1749  begangenen  Bälfchung  megeti  fuflpenbirt;  1769  führte 
man  ihn  gu  enger  SBermabrung  auf  bie  .fpauptmacbe,  mo  er  ohne 
eigentlichen  sProce|  bis  gu  feiuem  £obe  (1795)  blieb.  *s). 

©oetbe  ba*  unä  (IV,  13)  ben  Suftanb  Cer  Parteiung  ge* 
fd)ilbert,  in  melden  ber  'ÄuSbruch  DeS  fiebenjdl)rigen  Äriegeö  ben 
Staat  unb  bie  eigene  Bamilie  oermicfelte.  3m  Sommer  1757 
fließen  bie  Branffurter  Sruppcn  gur  {Heilsarmee,  ©er  Stabt  felbft 
tücfte  erft  im  folgenben  Sabre  ber  Ärieg  näher.  {Rad)  bem  Ser3 
lauf,  melden  ber  Selbgug  oon  1758  genommen  batte29),  maren 
bie  Brangefen  für  ben  folgenben  ©intet  auf  bie  Duartiere  in  ber 
©etterau  angemiefen,  unb  bagu  mar  ber  {Befifc  oon  Branffurt 
unentbehrlich,  aber  in  bie  {Diauern  biefet  {Reid)8ftabt  fonnten  bie 
Btangofen  nur  burch  ben  Ueberfaö  oom  2.  Sanuar  1759  gelangen. 
3n  feiner  furgen  (Srgäblung  biefeS  (äreigniffeä  ermähnt  ©oetbe 
nur  bie  Uebermältigung  bet  (Sonftabler*  unb  .pauptmache  (IV  25), 
e$  mar  aber  ein  combinirter  ^lan,  beffen  'Ausführung  ber  ^ting 
Soubife  bem  Srigabier  oon  ©urmfer  aufgetragen  batte, 
unb  monad)  gleichgeitig  ba§  Affentbor  befefd  unb  oon  ben  bereits 
früher  unter  bem  Sormanb  beS  ©urd)gug§  eingebrungenen  Sruppen 
ihre  {Begleitung  oon  Branffurtet  Stabtfolbaten  am  SBornbeimer 
2£b«rm  (in  bet  gabrgaffe)  entroaffnet,  unb  hierauf  bie  beiben  ge* 
nannten  ©adjtbäufet  übermältigt  mürben. 

Sei  biefem  Ueberfaö  maren  bie  brei  ^öd>ftert  Branffurtet 

(883) 


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26 


äDfftriere  beteiligt,  intern  fcet  Cberft  Slljeobot  SBiUselm  een 
$)appenl?eim  am  Slffentbor  cemmanbirte,  ber  Cberftlieutnant 
Soft.  C?ra8mu8  non  Älettenberg  (1698 — 1763)  bie  ,£>anpt« 
Wadje,  unb  bet  SJtajor  3ol).  9ticolau8  Slejrtor  (1703 — 1765)  bie 
Gr8corte  befehligte 2 9). 

@8  waren  etwa  7000  fßtann,  für  beren  (Sinquartirung  unb 
Verpflegung  gunäcbft  gu  forgen  war.  Vürgermeifter  waren  ba* 
ma!8  ber  Dr.  mod.  SiemigiuS  (Seif f ert  non  Älettenberg 
(1693—1766),  ber  Vater  ber  „fdjenen  ©cele"  au8  Söilbelm 
SCReifter  unb  Vruber  be8  oben  genannten  Sol?-  6ra8mu8,  unb 
Dr.  jur.  Vic.  Stütfer.  ©iefen  gun<id?ft  lag  bie  fdjwierige  Slnf» 
gäbe  ob,  oljne  allen  anberen  ©d)uf3,  al8  bie  ViHigfeit  ber  fran» 
göfifdsen  SJJadjtljaber,  bie  Seiftungen  bet  (Stabt  meglidsft  gering, 
möglidjft  fdsenenb  für  ben  £anbel,  gumal  wätjrenb  ber  SJleffen, 
unb  mügtid)ft  rafd?  feftjufefien.  VereitS  am  19.  Sanuar  war 
ein  modus  vivendi  in  biefer  £infid)t  gefunben;  immertsin  be* 
trugen  bie  aufjerorbentlichen  9lu8gaben  ber  ©tabt  für  bie  erften 
brei  fDtonate  1759:  gegen  320,000  fl. 

lieber  ba8  ftanjöftfdje  Sweater  in  bem  1859  abgebrodsenen 
(Soncertfaal  im  Sungfyef  (©.  SB.  IV.  28)  t?at  $v.  non  8 6p et 
umfangreidje  Stubien  angeftellt 3I). 

SBäbrenb  ber  ©djladjt  bei  Sergen  (IV,  30)  begab  fidfe 
Vater  (Mectt?e  in  feinen  am  ^aibeweg  9lr.  32  belegenen  ©arten, 
welcher  nods  jefjt  am  (Singang  bie  3nfd)rift  17  FG.  25  geigt, 
alfo  oon  3 et).  Stiebt,  ©eorg  ©eetlje  1725  getauft  ober  angelegt 
war  unb  1808  nach  bem  Siebe  ber  Stau  Statt?  oerfteigert 
würbe. 

25af)  jebod?  Verwunbete  an  bem  ©oettjefdjen  $aufe  norbei  nadj 
bem  in  ein  Sagaretb  umgewanbelten  Siebfrauenflofter  gebradjt 
worben  feien,  ift  ein  ©ebädstuifjfebler,  inbem  ein  foldbeS  nie  enftirt 

(8M) 


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27 


bat,  unb  bamit  nur  baß  Äarmeliterflofter  gemeint  fein  fann, 
»on  bem  wir  anberweitig  wiffen,  bafj  eß  atß  Äranfenbauß  biente 
unb  welcbeß  audj  je  gelegen  ift,  bajj  gwijcben  bem  SBerger  ©ddadtt» 
felb  unb  bem  Älofter  baß  Gcetbe’jd'e  .£auß  fid)  mitten  innen 
befanb,  maß  mit  bem  £iebf  rauen  = @tif  t nid)t  ber  gall  ift.  Sen 
»ielgejud)ten  „Solnietjcber",  weldien  Seiger  jegar  mit  bem  9iatb 
©djneiber  ibentifkirt  bat,  b°be  id>  enbtidfj  in  einem  effkieflen 
Slctenftütf  autbentijd)  aufgefunben.  Gr  biefi  Sie  ne  unb  erhielt 
für  fein  Solmetfcben  2 fl.  wedjentlidj 3 *). 

Sie  Äünftler , welche  ber  .ftcnigßlicutenant  auf  Gmpfeblung 
feineß  .fjaußberrn  in  ffiabrung  fej}te  (IV,  27),  jinb  unß  alle  neu 
früher  ber  befannt,  mit  Slußnaljme  non  3Sob-  2lnbr.  SSenj.  9totbs 
nagel,  geb.  1729  gu  gorft  am  33ud)  in  granfen,  weldfer  1747 
nad)  granffurt  !am,  1751  Bürger  würbe  unb  bie  nen  Gcetbe 
erwähnten  2ßad)ßtud)fabrifen  grünbete.  Gr  ftarb  1804. 

granffurt  würbe  wäbrenb  beß  Ätiegeß  nen  ben  grangejen 
bejetjt  gehalten,  fflur  bie  fDfeffen  ^inburdi  gegen  fie,  bamit  eß 
für  bie  gremben  nidjt  an  SSobnung  unb  ©taHung  mangele, 
einen  grefjen  S^etl  ber  Infanterie  unb  fdmmtlid)e  fReiterei  auß 
ber  (Stabt.  Gegen  Gnbe  beß  Äriegeß  würbe  bie  Struppengabi 
meljt  unb  mehr  »erminbert  unb  gulefjt  blieb  nur  baß  ^Regiment 
GIjaf?,  bejjen  gwei  erfte  ^Bataillone  am  23.  gebr.  1763  fid)  auf 
ben  5Seg  nad)  ber  £eimatb  begaben.  Sie  beiben  anberen  Sa; 
taillone  folgten  am  25.,  unb  am  27.  reifte  ber  frangöftjdje 
©tabteommanbant  ab. 

Ser  blöbfiunige  junge  3Rann,  SRünbel  beß  S3aterß  Goethe, 
burdj  ben  SBolfgang  fo  früh  bie  Gewohnheit  beß  Sictirenß  an* 
nahm  (IV,  44),  war  ber  fRecbtßcanbibat  Glauer33).  Set 
•Oaußgenoffe , welcher  nach  bem  SSbgug  beß  Äönigßlieutenantß  in 
baß  Goethe’ jc^e  £>auß  eingeg  (IV,  35),  war  3ob.  griebr.  9Ro* 

(MS) 


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28 


tife  auß  2ßormß  (1717—1771),  fönigl.  bänifcher  gegatioußratb, 
»ericfeiebeuer  Stäube  unb  gürften  £ofratb  unb  Äreißgefanbter 
gu  granffitrt,  Sierfaffer  einer  ^ifterifd>=biplomatifd)en  älbtyanblung 
oem  Urfprung  ber  IReicfeßftäbte,  inßbefonbere  feiner  Saterftabt. 

Süß  neue  giguren  auf  bem  fettjam  gemunbenen  Silbungßroeg 
Goetbe’ß  treten  unß  l)ier  entgegen  ber  „ÜKefop  mit  Gbonocf  unb 
^ertücfe"  (IV,  39),  ber  SRector  beß  Gpnmafiumß  3ob-  Georg 
5Übred)t  (1728  Gonrector,  1747  Ötbjunct  best  IRectorß  unb  1748 
SRector,  -J-1770)34)  unb  bie  beiben  Seniorengrefeniuß  unb  i'litt 
(IV,  45).  3ob.  'Pt)il.  grefeniuß,  geb.  1705  ju  fRieberroiefen 
bei  Sllgei,  Sol;n  beß  bortigen  ^farrerß,  ftubirte  in  großer  2>ürftig 
feit  1723—25  ju  Strafeburg,  unb  mürbe,  nacfebem  et  in  meb* 
reren  Stellen  gu  Giefeen  unb  ©armftabt  gemirft  batte,  1743  an 
bie  St.  ^eterßfircfee  gu  granffurt  berufen,  unb  1748  gum  ,£aupt* 
prebiger  ber  Satfüfeerfircfee  ernannt.  Gr  ftarb  1761  unb  barf 
nacfe  t appenberg’ß  gorfchungen  35)  als  baß  Urbilb  beß  „Ober» 
feofprebigerß"  in  ben  „Sefenntniffen  einer  fcfeönen  Seele"  (SBilfe. 
SReifter,  6.  Sucfe)  betrachtet  rcetben.  2) er  oon  ihm  befebrte  frei* 
geiftige  General  mar  ber  fächfifcfee Generallieutenant  »on  S)pb«r“i 
töbtlicfe  »ermunbet  in  ber  Schlacht  bei  Sergen,  grefeniuß  feat  ein 
eigeneß  Such  barüber  »erfafet:  Sieg  ber  SIfaferbeit  über  ben  lln* 
glauben,  granffurt  1759.  Sofe.  Saccb  litt,  ber  fRacfefolger 
»on  grejeniuß,  geb.  1727  gu  SBetter  in  Reffen,  mar  feit  1748 
Pfarrer  in  Gaffel  unb  fam  »onfRinteln,  nicfet  »on  SRarburg, 
mie  Goetfee  angiebt,  nach  granffurt.  3n  fRinteln  mar  er  feit 
1745  ff)rofeffor  unb  mürbe  1762  gum  Senior  in  granffurt  er* 
mäfelt,  mo  et  1773  ftarb. 

fRocb  eine  Gruppe  »on  ÜRännern  haben  mir  gu  ermähnen, 
melcfee  nach  bem  Geftänbnife  beß  fDicfeterß  „einen  bebeutenben 

Ginbrucf  auf  feine  Sugenbgeit  geübt"  (IV,  49)..  @ß  maren  bieß: 

(886) 


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29 


1.  Sodann  SDaniel  Dlenfdjlager,  geb.  1711  al8  ©cljn  eines 
wof)U)abenben  franffurter  Kaufmanns,  welket  in  Seidig  unb 
©trafjburg  ftubirt  unb  1736  promooirt  fyatie,  Stalien  unb  granf= 
retd)  bereifte,  1737  äbüofat  in  granffurt,  1738  fäd)ftfdj«polnifd)et 
^cfagent  unb  1748  faiferlid)erftreil)m,  in  betreiben  Saljre ©enator, 
1761  <Scf)6ff  würbe  unb  1778  ftarb.  ©eine  „örläuterungcn  gur  got» 
benen  SSuQe"  erfdjienen  1766.  6t  war  feit  1747  mit  Sara  (pon) 
Drt  l)  »erfyeiratijet  unb  fyatte  gtoei  ©öfyne,  beten  ältefter  Sol). 
$)l)fKpp  (1749—1813)  taubftumm,  aber  bennod)  guerft  ftanf* 
furter  Slrtitterielieutenant  unb  bann  ^effen=barmftäbtifdjer  Dber» 
forftmeifter  war.  SDet  gweite  ©olju,  3oI).  9ticolau8,  (1751 
m 1820)  war  ©d)6jf;  ein  ©ot)n  beffelben  ftarb  1812  of)ne  9tad)< 
fommen.  9tad)  ben  ^orfcfyungen  oon  8appenberg  (a.  a.  D. 
©.  184)  unterliegt  e§  feinem  B weifet , ba§  Dlenfdjlager  ba8  Ur* 
bilb  be8  „SRarci§"  in  ben  „ SBefenntniffen  einet  frönen  ©eele"  ift. 

2.  griebridj  gubwig  5R eineef,  geb.  1707,  SBeinbänbler 
glei  dj  feinem  Sßater,  würbe  1729  geabelt,  als  er  fidj  mit  SERatia 
Sultane  »onJDamm  i>crl)eiratt)ete;  fpäter  würbe  er  .^ofratl)  unb 
t3olnif^*fä(^fif(^er  ©cljeimer  gfriegSratl).  5Rad)  bem  1735  er» 
folgten  Stöbe  feiner  ©attin  oerl)eiratt)ete  fid)  ».  tlteinecf  1741 
junt  gweiten  SJlale  mit  ©ufanne  ©ertrube  oon  ©tedfum;  et 
ftarb  1775  unb  Ijinterliefj  au8  jeber  feiner  ©Ijen  einen  ©ofyn 
unb  eine  Stodjter.  ©8  ift  alfo  nid)t  ridjtig,  bafj  feine  „etngige" 
SSodljtet,  wie  ©ötlje  fagt,  burdj  ben  #au8freunb  entführt  würbe. 
SDiefe  Stodjter  war  SJtaria  ©alome  (1735 — 1803),  il)t  ©atte 
bet  franffurter  Sftajot  Slleranbet  jftenef,  f 1768.  SDie  Stodjter 
beffelben,  ©Ijriftina  SRargaretlja , geb.  1760,  »erl)eitatl)ete  fid) 
1779  mit  Sol).  5 Tlay.  33aur  »on  ©pffenedt,  f 1822,  beren 
©oljn  Sbalbert  als  cfterreid)ijd)er  gelbmarfdjallsgieutenant  1870 
gu  ging  geftorben  ift.  SDie  Stodjter  %.  8.  oott  DleinecfS  au8 

(887) 


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30 


gmeiter  ©fee,  Gfearlotte  ©opfeie,  geb.  1747,  feeiratfeete  1776  ben 
greifeertn  ©uftan  oon  3»Henfearbt,  fgl.  frangöfifdjen  .paupt» 
mann  beS  DlegimentS  BtDeibritcfen.  — Set  ©ofen  elfter  ©fee, 
Sluguft  ©feriftian  Öubmig  ©onrab  oon  Dleinecf  (1733 — 89), 
roalbecfifcfeer  ©efeeimratfe  u.  Jpofridjter,  fefete  bie  gamilie  in 
SBalbecf  fort;  bet  ©ofen  gmeiter  ©fee  Ülbalbert  („bet  jüngere 
©ofen"  bei  ©oetfee),  geb.  1749,  ftarb  1822  gu  granffurt.  Sie* 
fern  featte  ber  Sater,  mit  ©uterbung  ber  übrigen  .ftinber,  ben 
größten  SStjeit  feineö  ScrmögenS  gugeroanbt.  Sei  SlbalbertS 
2obe,  meldet  nur  einen  unefeelicfeen  ©ofen  Äarl  (f  1829)  hinter» 
liefe,  mar  ein  grofeer  Sfeeil  ber  ©rbfcfeaft  in  ungeregeltem  «pauS* 
fealt  aufgegangen.  Siacfe  bem  2xbe  biefeö  ©ofeneS  Äarl  fiel  baS 
Dieinecf  jefee  Sefifetfeum,  pauß  unb  ©arten,  als  feerrenlojeS  @ut 
an  bie  ©tabt,  roelcfee  einer  bejahrten  ©nfelin  beS  pofratfeS  »on 
jReiuecf,  Sodjter  beS  SBalbecf’fdjen  .pofritfeterS , bie  non  einer 
penfien  als  pofbame  ber  pergogin  non  'Jiaffau  fümmerlidi  lebte, 
1838  eine  Diente  oon  100  fl.  aus  bem  grofeoäterlicfeen  Vermögen 
auf  SebenSgeit  bewilligte. 3 6)  3.  gtiebriefe  SBilfeelnt  DJlalapart, 
auö  einer  italienifcfeen,  guerft  nad)  2)1  onä  (Sergen)  in  glanbern, 
bann  naefe  grantfurt  auägemanberten  gamilie,  welche  jefet  SKola» 
pert  fiefe  fefereibt  unb  in  bereu  Sefife  feit  1657  bie  ©afgroerfe 
gu  ©oben  fid)  befanben.  ©r  mar  geboren  1700  in  ber  perr* 
fefeaft  ©olmS*SraunfelS , mürbe  1753  geabelt  unb  ftarb  1773 
als  feeffen=caffelj(feer  unb  fefewebifefeer  Söiajor.  ©ein  ©arten  an 
ber  Socfenfeeimer  ganbftrafee  ift  jefet  parceüirt  Dir.  62,  64,  66. 

4.  peinriefe  ©ebaftian  püßgen,  geb.  1744  gu  grauffurt, 
geftorben  1807  als  fürftlicfe  öttingifefeer  Diatl)  unb  feeffen»feom* 
burgifefeer  pofratfe,  Serfaffer  ber  „Dlacferidjten  oon  grauffurter 
Äünftlern  unb  jtunftfaefeen“  (1780)  unb  perauSgeber  beS  „3lr* 
tiftifdjen  SRagaginS"  (1790).  Sie  naefe  feiner  Eingabe  (in  Die u* 
(8  88) 


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31 


ariet»)  oerfertigte  „äBunberfame  Ubt"  befindet  fid)  gegenroärtig  itt  _ 
23efi£  beß  Dr.  jur.  Ulbert  Slecf  iu  granffurt. 

25ie  reigenbe  ©rgäblung  beö  SBerbättniffeß  gu  ©retdjea 
melcbe  baß  fünfte  23ud)  füllt,  ift  oon  bem  25id}tet  fo  uubeftimmt 
gehalten  morben,  ba§  bet  (Kommentator  feinen  ^tn^altßpun£t  fin- 
det. 9tur  bem,  wie  eß  febeint,  unausrottbaren  $>olfßglauben 
müffen  mir  entgegentteten , metdfer  auch  mieberbolt  feinen  SBeg 
in  bie  fPreffe  gefunben  bat  (no<b  neueftenß  in  ©cberr:  ©oetbe’ß 
Sugenb),  alß  ob  baß  1860  niebergeriffene  £auß  gurn  puppen» 
jdjräufcben  („öobbejdjänfeldje"  nach  granffurter  Slunbart,  SBeifs» 
ablergaffe  29)  ber  ©cbauplat}  feiner  Siebe  gemefen  fei.  ©agt 
bod?  ©oetbe  felbft:  „icb  fam  uicbt  mieber  in  biefe  ©egenb"  (IV, 
52) , mäfyrenb  baß  begegnete  .tpauß  faum  50  ©dritte  »on  ©oe* 
tye’ß  23aterbauß  entfernt  lag. 

3ur  (Kontrolc  unb  ©rgciugung  oon  ©oetbe’ß  ©djilberung 
ber  Ärönung  haben  mir  je£t  in  31.  oon  3lrnetb’ß  SJiatia  2^e* 
refia  unb  3ofepb  II.  (Sßien  1867)  eine  mertboolle  Duelle,  ba« 
gegen  fdjneiben  unß  ÄriegFß  Uuterjucbuitgen 37)  febe  Hoffnung 
ab,  iu  ber  mpfteriöjen  Unterfucbung  gegen  ©oetbe’ß  ©enoffen 
je  flat  gu  fe^en. 

31uß  3lrnetb’ß  SBerf  erbalten  mit  auch  fcbäijbare  ©rgän» 
gungen  gu  bem  33ilbe  ber  .Krönung.  25ie  SBobnungen  ber  bobe“ 
$errfcbaften  roaven  fe^r  fc^Iec^t.  25er  römifebe  .König  batte  im 
(1872  abgebrochenen)  ©ronftett’f^en  ©tifte  blojj  ein  fleineß 
©cblafgimmer  unb  gar  feine  JRäumlicbfeiten  für  feine  Seute;  bie 
(Kmpfangßgimmer  maren  fo  flein,  bajj  man  fidj  faum  barin  um« 
bteben  fonnte,  auch  fonnte  man  fein  SBort  barin  reben,  ohne 
in  ben  Üiebengimmetn  gehört  gu  metben,  ba  bie  Smifcbenmanb 
nur  auS  Srettera  beftanb,  bie  fo  jcblecbt  gefügt  maren,  bajj  baß 
Siebt  burebfebien.  25er  Ä'aijer  batte  au|er  feinem  ©cblafgimmer 

(889) 


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32 


wenigften«  nod)  gwei  .Kammern  für  bie  55ienerfcbaft.  einige 
Stage  cor  bet  Krönung  wollte  ber  römifche  Äönig  bei  fchönem 
SBetter  auögeben,  um  fid)  bie  ©tabt  anguteben.  SJlan  bebeutete 
ibn,  ba«  fei  gegen  bie  ZHquette,  nic^t  einmal  in  ben  ©arten 
bürfe  er  geben.  Stuf  feine  Semerfung,  baff  barüber  in  ber  gel* 
benen  •Sude  nicht«  beftimmt  fei , unb  auf  fein  sSnbrängen  er* 
laubte  man  ihm  wenigften«  am  frühen  ÜRergen  auögugehen,  um 
bie  prächtigen  ©chiffe  ber  rheinifdben  Äurfürften  gu  feben.  — 
55 ie  Bänfereien  über  bie  Zeremonien  bauerten  bi«  gum  Stag  cot 
ber  Krönung  fort;  noch  am  2.  Slpril  fanb  eine  Zonfereng  barüber 
ftatt.  Sofeph  betrachtete  bie  Zeremonien  bet  .Krönung  mit  San* 
gen  unb  hotte  feinen  guten  ©runb  bagu.  55er  fltürnberger  Sür* 
germeifter,  welcher  an  ber  ©pifee  einet  S5eputation  be«  9inrn* 
berget  fRathe«  bie  SReichöFIeinobien  überbrachte,  hotte  ihm  ancer* 
traut,  ba§  bie  .Krone  14  unb  ber  gange  ÄrönungSornat  130 
95funb  wiege.  55iefe  Saft  mühte  8^  ©tunben  lang  getragen 
werben.  Z«  ging  bcffer  al«  er  gebacht;  gwat  hotte  bet  Äaifer 
con  ber  .Krone  gwei  rothe  glecfen  auf  ber  ©tim  unb  flagte  übet 
.Kopffchmergen , aber  Sofeph  machte  fein  Jheil  gut  burch,  nur 
würbe  ihm  feljr  heih-  — 3toch  melbet  Sofeph  über  eine  wenig 
befannte  Zpifobe:  „55ie  aufgeftefltcn  Stuppen  hoben  bie  Seute 
auf  eine  furchtbare  SEBeife  gefcblagen,  aber  guletjt  hot  ftch  ber 
^>öbel  bergeftalt  gerächt,  bah  eine  Zompagnie  ©renabiere  toll* 
ftänbig  gefprengt  unb  faft  mit  .Knitteln  tcbtgefchlagen  werben 
ift.  ©chliehlich  hoben  bie  Gruppen  Steuer  gegeben  unb  4—5 
fPerfenen,  barunter  ein  adjtgehniährige«  fDtäbdjen,  finb  con  ihren 
.Kugeln  gefallen."  Slobt  blieb  nur  ba«  ÜRäbchen,  SRaria  iRnna 
Setter,  eine«  ©chubfärther«  S£o<hter. 

©ie  ©teile,  wo  bie  Ochfenfüche  ftanb  (VI,  64),  ;ift  noch 
fefet  burch  wer  ^flafter  eingelaffene , mit  OK.  begegnete 

(«90) 


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33 


Steine,  nörblid)  »on  ber  9licolaifird>e,  fenntlid)  gemalt,  ©oethe 
erinnerte  fich  ntd?t  mehr,  »er  bei  bem  Äampf  um  ben  £><hfen 
ben  Sieg  bauen  trug,  ob  bie  SJtetjger  ober  2Beinfchröter;  e§ 
»aten  aber  bie  lederen.  — 5Jtit  bem  erften  S^eil  »on  „S)i<h* 
tung  unb  SBa^eit"  geht  ber  bauernbe  Aufenthalt  ©oethe’8  in 
granlfurt  gu  ©nbe.  2Bir  fehen  iijn  guerft  feit  1765  in  Ceipgig, 
welche  Stabt  er  an  feinem  19.  ©eburtötag,  am  28.  Auguft  1768 
»erlief.  Am  1.  September  tarn  et  in  granffurt  an  unb  »er* 
brachte  etwas  über  anbetthalb  Saijre  in  ber  Saterftabt,  bod)  war 
biefer  Aufenthalt  »ielfadj  burd)  bie  Sachwirfuug  bet  in  Ceipgig 
überftanbenen  Äranfheit  getrübt.  3n  biefem  3uftanbe  war  er  bem 
©influfj  ber  grl.  Sufanna  Katharina  »on  Älettenberg  (1723 
— 1774)  gugänglid),  einer  greunbin  feinet  fSJlutter,  „auS  beten 
Unterhaltungen  unb  Sriefeit  bie  Sefenntniffe  einer  fdjönen  Seele 
entftanben  finb"  (IV,  108).  Sei  Dlenfdflaget  unb  grejeniuS  haben 
wir  eingelne  Segnungen  biefer  merfwürbigen  ©pifobe  2Bilhelm 
SDteifterS,  wie  fie  Dr.  Cappenberg  entwicfelt  hat,  bereits  angeführt. 
Jpiet  finb  als  weitere  gu  erwähnen:  fPhilo  ift  griebrich  ©arl  »on 
3Jtofer  (1728—1793),  unb  ber  „abelige  Apoftel"  ift  griebrich 
Bon  Sülcw*fpiüßfow  (©.  28.  III,  272  u.  275).  ©nblidj 
ber  Argt,  „ein  unerf tätlicher,  fdjiau  bliefenber,  freunblich  fptechen» 
ber,  übrigeng  abftrufer  Söiann"  (IV,  108)  ift,  gufolge  ©oethe’S 
brieflicher  Sltittheilung  an  Caoater,  ber  Dr.  3-  g.  SJtef),  welcher 
1724  in  Tübingen  geboren  war  unb  feit  1765  als  Argt  in  granf» 
furt  lebte,  wo  er  1782  ftarb.  ©oethe’S  Segleiter  auf  ber  Ser« 
gnügungSveife,  welche  er  im  Suni  1772  in  bie  Sogefen  machte  (IV, 
132),  war  griebrich  Ceopolb  2Bep(anb,  weldjer  1772  gu  Straf}* 
bürg  promooirte  unb  in  bemfelbeu  3ahte  Su  granffurt  alb  Argt 
aufgenommen  würbe,  ©r  lebte  feit  1782  als  hcff^karmftäbti* 
feber  Jpofralh  unb  Ceibargt  beS  ©rbpringen  gu  SucbSweilet  unb 

XI.  261.  3 (891) 


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34 


ftarb  1787.  — 3n  1770  begab  fid)  ©oetbe  nacb  ©trafcburg,  wo 
er  am  6.  SJuguft  1771  promo»irte.  Sin  btefe  Promotion  fmtpft 
fid)  eine  grunblofe  Sage  »oh  faurn  geringerer  3äbigfeit  als  bte 
oben  erwähnte,  auf  ©retdjen  begüglicbe.  G«  ift  bte  »on  einer 
JDiffertation  übet  bie  glühe,  weltbe  ©oetbe  bei  biefer  @e» 
legenbeit  »erfafct  unb  fpäter  in  granffurt  berauggegeben  ^abe. 
5Dtefe  6rbid)tung  be§  Dr.  med.  unb  5fud)bänbler«  JBogler  in 
^alberftabt,  weither  unter  bem  Flamen  g.  ©looet  eine  ©djmäb* 
fchrift  gegen  ©oetbe  »eroffentlid)t  bat 3 8) , erhielt  eine  gerciffe  Gon* 
fiftengbaburd),  bah  eine  achtbare  berlin  er  Sucbbanblung  biefeStbrift 
lateinijd)  unb  beutfd)  unter  ©oetbe’«  Flamen  berauögegeben  bat39), 
iflbcr  jcbon  in  bemf eiben  Sab«  (1839)  bat  Stob,  ©cbneibet40) 
unb  1841  ^)rof.  »on  ber  .pagen  Sluggaben  bevDissert.  de  pu- 
lice  »on  1684,  88,  1704,  ff.  nacbgewiejen,  beten  3ubalt  in 
einer  fd)alen,  gum  großen  £beü  unanftänbigen  ©atpre  auf  bie 
Suriften  ber  früheren  Seit  beftebt. 

lieber  ben  wahren  fRamen  beS  unter  bem  fj)feubon»m 
Dpigiu«  3ocoferiu8  »erborgenen  SSerfaffet«  ber  Dies,  de 
pulice  ift  nod)  nichts  fiebere«  befannt.  Söellet  (Index 
pseudonylnorum.  Lps.  1856)  nennt  Dtto  Philipp  3ann* 
ftblifet,  weither  1653  gu  tpanau  geboren  war,  in  Sperbern 
üRarburg  unb  3ena  ftubirte,  1678  gu  Jpeibelberg  Dr.  jur.  würbe, 
Slboofat  am  ffanbgericbt  gu  Jpanau,  1682  $)rof.  bet  Serebtfam* 
feit  unb  ©eftbfehte,  1683  aufeerorbentlidjer,  1684  orbentlither 
5)rofeffor  ber  SRecbtflwiffenftbaft  gu  SRarburg  würbe,  wo  er  1729 
geftorben  ift.  ©eine  juriftifthen  ©thriften  erfthienen  gefammelt 
gu  granffurt  1698.  Dbgleid)  fonad)  bereit«  eine  fleine  Lite- 
ratur über  bie  ungweifelbafte  gälichung  SBoglet’8  eriftirt,  ift  bte* 
felbe  »on  Jtarl  fRofenfraug  (SäHg.  3tg-  14.  3uni  1865  S3ei» 
(692) 


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35 


tage)  alb  ädjt  bebanbelt  worben,  wogegen  Styobor  Greizenad) 
(«.  3-  1865  ©.  2799)  replijirte. 

Ueber  ©oetbe’b  St^atiqfeit  alb  IRechtbanwalt  finb  wir  je£t 
burd)  ^)rof.  Äriegf’b  umfaffenbe  Schrift  unterrichtet  * 1 ).  Unter 
ben  ©enofjen  beb  fröhlichen,  gefetligen  Treibens , welches  ben 
jungen  SDoctor  in  ber  SSaterftabt  erwartete,  nennt  ©oetbe  ju 
Anfang  beb  12.  33u«heS  (@.  SB.  IV,  162)  ben  „Äaftenfcbreiber" 
(SSerwalter  ber  ftäbtifcben  Sltmenfaffe  imb  Sluffeber  über  ben 
Friebbof  unb  bie  Slnorbnung  ber  23eerbigungen)  Johann 
Jacob  9liefe.  9locb  1814  gebenft  ©oetbe  mit  23ebagen42) 
„jener  fo  ruhigen  alb  unfdjulbigen  Seiten,  in  welcher  wir  eine 
heitere  unb  luftige  Jugenb  genoffen.  2lud)  habe  icfa  meinem 
@obn  bie  9tarbe  an  bem  rechten  Zeigefinger  oorgewiefen,  welche 
©ie  mir  fchlugen,  alb  ich  mit  bemfelben  unter  einer  ^orftbaub» 
laube  etwab  jcbalfifd)  auf  ein  beranfommenbeb  Frauenzimmer 
beutete,  bem  wir  beibe  gewogen  waren.  SBir  bereiteten  unb  eben 
einen  Seilet  ©thinfen  zu  oerzebren,  unb  ©ie  halten  bab  auf» 
gehobene  Reffet  in  ber  .panb,  welcheb  z«  meiner  S3eftrafung  fich 
etwab  eilig  nieberfenfte."  Jn  bemfelben  23 riefe  an  SRiefe  wirb 
„unfer  Ftänzchen"  genannt,  womit  Fräulein  SRaria  Katharina 
Franjibfa  GreSpel,  fpäter  cerebelichte  Jacquet,  gemeint  ift,  beren 
SBrubet,  ber  £ofratb  Grebpel,  welcher  bei  ber  s|>oft  angefteHt 
war,  gleichfalls  zu  ©oetbe’ b Jugenbfteunben  gehörte.  Jn  bem 
©ebid)t:  ©tammbuch  3ob-  §)eter  jRegniet’b  (©.  SB.  I,  463)  finb 
mit:  „23on  ^)oft  unb  Äirch’  zwei  gtofce  SDieb’ " Gtebpel  uub 
IRieje  gemeint. 

Sin  biefet  ©teile  mag  auch  ein  literarifcher  Jrrtbum  berief)» 
tigt  werben,  welcher  fidj  in  allen  Abgaben  ©oetbe’b  fortgeerbt 
hat.  SDie  ©ubfcription  auf  Älopftocf’b  ©elebrtenremtbli!  betrug 
(®.  SB.  IV,  116)  nicht  einen  Souibb’or,  fonbern  einen  $ba,ct 

3*  (»«) 


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36 


gouibb'or  ober  ©olb  = 1|  S^lr.  3n  bie  lebten  Sage  beö  3ahre8 
1774  fällt  bah  Serhältnifj  ©oethe’b  gu.hili  (©lifabeth  Schöne« 
mann).  S)er  33ud)hnnbler  gu  granffurt,  Äarl  Sügel,  butd)  feine 
grau  ein  fRcjfe  non  hili,  hat  in  feinem  1857  erschienenen  Suche 
„2)ab  |)uppeubau8"  ein  würbigeS  SDenfmal  biefer  grau  errichtet, 
welche  in  ihrem  fpäteren  lieben  gegeigt,  bafj  bie  „Staat8bame", 
bie  ber  alte  ©oethe  nicht  gur  Schwiegertochter  haben  wollte,  ben 
Äctn  in  fich  trug,  auch  in  ben  fchwerften  Schicffalen  — fchwereren 
al8  ihr  üorauöfidjtlich  bie  Serbinbung  mit  ©oethe  auferlegt  haben 
würbe  — aufrecht  gu  fielen,  gu  tragen,  gu  entfagen  unb  nie  bie 
Freiheit  beö  ©ntfchluffeb  gu  nerlieren.  — 2lnna  ©lifabeth  Schöne= 
mann  war  geboren  in  bem  paufe  am  großen  Äornmarft  9lr.  15 
unb  am  23.  3uni  1758  getauft.  3h*  Sater,  3oh-  SBolfgnng 
S d)  ö n e m a n n ftarb  1763;  ihre  DJlutter,  geborene  b’DroiUe, 
fe$te  nach  feinem  Sobc  bab  Sunfgejchäft  fort.  Sei  Serwanbten 
beS  Diamenö  b’Droille  wohnte  üili  in  ßffenbach  unb  gwat  in 
bem  paufe  „auf  bem  hinjenbetge"  (IV,  221),  wo  ber  ©ratn* 
matifer  Dr.  med.  Äarl  gerbinanb  Secfer  fpäter  eine  ©rgiehungb« 
anftalt  errichtete ; hier  würbe  and)  bie  Verlobung  gili’8  mit 
©oethe  gefeiert. 

©oethe  fchreibt  (IV,  223),  bah  er  „non  ber  Sanbftrafje  gmi« 
fchen  Dffeubadj  unb  granffurt,  bie  Stufen  hinauf»  welche  gu  ben 
Steingärten  führen,"  gum  SRö  berberg  gelangt  fei.  ®ieb  ift  ein 
3nthum,  eb  fann  oielmehr  nur  ber  auf  ber  liufen  fDtainfeite 
gelegene  SKühlberg  gemeint  fein,  beffen  l)ödifter,  eine  herrliche 
SluSficht  bietenber@ipfel  benn  and)  com  grauffurter  SerfdjönerungS« 
»erein  alb  ®oethe’8=9tuhe  gugänglid)  gemacht  worben  ift.  hilf 
»ermählte  fich  am  25.  'Jluguft  1778  mit  bem  Strapurger  Sanfiet 
Sernharb  griebrid}  con  Sürcfheim  (1752 — 1831).  2lub  biefer 

®he  entjpraugen  cier  Söhne:  gtiebridj,  Äarl,  SJilhelm  unb 

(®M) 


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37 


£einti<ß  unb  eine  Softer  6li)'abetß.  3m  Saßte  1793  mußte 
Surtfßeim  fließen,  um  nidßt  ber  ©uiUotine  ju  cerfaUen;  er  wanbte 
fidß  mit  feinen  ©ößnen  Äatl  unb  2Bilßelm  unb  feiner  Sodßter 
n ad?  granffurt.  3ßm  folgte  fpäter  feine  ftrau,  roelcße,  aiö  23äuerin 
gefleibet,  mit  intern  älteften  ©cßne  an  ber  £anb,  ißren  jüngfteit 
auf  bem  ?lrm,  ju  ffuß  big  nacb  ber  2$aterftabt  gelangte.  ÜDie 
Familie  woßnte  längere  3eit  in  bem  ©ontarb’fdjen  ©arten  cor 
bem  Untermaintßor  unb  jog  fpäter  nacß  6rlangen.  SRacß  bem 
(Siege  ber  gemäßigten  Parteien  §ranfreicßg  feßrte  bie  Sutrfßeim’fcße 
gamilie  nad)  ©traßburg  jutütf.  Sili  ftarb  am  6.  fötai  1817 
auf  ißvem  ®ut  gu  &raut=©rger§beim  im  ©Ifaß.  5) er  Srauet* 
brief  beg  ©atten  an  feinen  Sugenbfreunb,  ben  Surgermeifter  non 
Sranffurt  Dr.  3oß.  SBilß.  SReßler  aug  ©traßburg43)  enthält 
bie  ©teile:  „ÜJlein  Sroft  ßinnieben  finb  bie  Äinbet,  bie  alle 
oßne  SSugnaßme  ber  9Jtutter  pflege  unb  Silbung  einen  reichen 
Ätang  flecßten."  — 3ng  3aßr  1775  fällt  bag  ©ebidjt  an  *peter 
•£>ierom)mug  ©cßloffet,  roeldjeg  in  ben  2Berfen(l,  464)  abge= 
brucft  ift  unb  guerftin  ©tßlofferg  fPoematia  (granffurt  1775)„ 
erfdjien.  3n  ber  fünften  Beile  muß  eg  jebocß  „SRomet"  ftatt 
„SRicßter"  ßeißen44).  — Srft  im  3aßte  1792  faß  ©oetße,  alg 
et  im  SHuguft  gum  .£>ergog  non  SBeimar  ing  Saget  ber  SBerbün» 
beten  reifte,  bie  SSaterftabt  unb  bie  ÜJiutter  roieber.  6t  certoeilte 
ßier  com  13.  big  20.  Sluguft. 

2llg  er  auf  ber  DRüdfeßr  con  bem  unglücflicßen  gelbgug 
©nbe  Dctober  in  Syrier  angelangt  war,  erßielt  er  (®.  SB.  IV, 
474)  „mitten  im  Unßeil  unb  Sumult  einen  cerfpäteten  33 tief 
feiner  SDRutter,  ein  23latt,  bag  an  jugenblid)  rußige,  ftäbtifd>= 
ßäuglicße  Serßältniffe  gar  wunbetfam  erinnerte,"  inbem  bie 
fHRutter  beauftragt  war,  anguftagen,  ob  ißr  ©oßn  nad)  bem  Stöbe 
feineg  Dßeimg,  beg  ©dßöffen  Stejdor  (f  19.  ©ept.  1792)  geneigt 

f391> 


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38 


fei,  eine  5Rati)6ftelIe  in  Sfranffurt  angunehmen,  wenn  ihn  bie  goW 
bene  Äuget  träfe.  ©oethe  beantwortete  biefe  Anfrage  erft  na6 
feiner  Stücffehr  nad)  Söeimar  am  24  ©ecbr.  unb  groar  im  ab* 
leijnenben  ©inn.  2) et  SBrief  ©oethe’S  ift  im  gweiten  Banbe 
non  Stiemer’ö  SRittheilungen  über  ©cethe  unb  in  ÄriegfS 
©encfenberg  (©.  378)  mitgetfyeilt.  3n  bem  SBriefe  ift  nur  bie 
©anfbatfeit  gegen  ben  .£etgog  alö  Ablehnungegrunb  angeführt, 
in  ber  „Champagne  in  Stanfreich"  (a.  a.  ©.,  ©.  475).  ftnb  als 
Weitere  fötotioe  angeführt  bet  unliebere  Buftanb  feinet  eben  erft 
(am  2 ©ec.  1 792)  aus  ben  Jpänben  ber  «rangofen  befreiten,  noch 
non  Ärieg  umtobten  Baterftabt  unb  feine  innerliche  ©ntfrembung 
non  ben  ftäbtifchen  Bebürfniffen  unb  ^werfen. 

©inen  längeren  Aufenthalt  nahm  ©oethe  wieber  in  bet 
Baterftabt  im  SDtai  beS  folgenben  3ahre8,  wo  er  feinen  .pergeg 
gut  Belagerung  oon  SDIaing  begleitete.  6r  arbeitete  in  ^ranffurt 
ein  fPaar  SBocben  mit  ©ötnmetriug  unb  »erliefe  bie  ©tabt  am 
26.  SJlai  1793  (©.SB.  IV,  499) 4 5).  Bach  bet  ©ahitulatiou 
non  SDlaing  erhielt  er  am  24.  3uli  Urlaub  gut  Jpeimfebr.  @t 
traf  mit  feinem  Schwager  ©chloffer,  ber  unterbefc  feine  gweite 
©ochter  3ulie  »ertöten  hatte,  in  ^>eibelberg  gufammen,  ermunterte 
in  Sranffurt,  wo  er  nom  11.  bis  19.  Aug.  »erweilte,  bie 
Sftutter,  ihre  Bedungen  gu  Betfaufen,  (@.  SB.  IV,  605)  fonft 
„wußte  er  oon  feinem  Aufenthalt  in  ftranffurt  wenig  gu  tagen* 
(©.  SB.  IV,  510).  Am  28.  Auguft  lehrte  et  nach  SBeimat 
gurücf. 

Beffer  finb  wir  burd)  ©oetheä  Briefe  übet  feinen  Aufent* 
halt  in  granffurt  feit  3.  Auguft  1797  unterrichtet  (©.  SB.  IV, 
514).  Offenbar  hatte  ihn  bei  bem  früheren  Beiuch  in  ber 
Baterftabt  ber  ungewohnte  Anblicf  »on  ÄtiegSfcenen  unb  «Reiben, 
bie  allgemeine  Unficherheit  ber  Berhältniffe,  bie  gahlreichen  @nt» 

(896) 


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39 


täufcfcungen  betyerridjt  unb  abforbirt;  je£t  fal)  er  mit  ben  9(ugen 
beö  neugierigen  jfremben  bie  ©atcrftabt  wiebet,  il)ren  lebhaften 
93erfet)t,  ihre  grofjftäbtifdje  bauliche  6ntwicfelung;  baS  Sweater 
beurteilte  unb  fcbematifirte  et  als  Kenner.  3m  weiteren  Verlauf 
feines  QlufenthaltS  mertt  man  ben  ©riefen  ©oethe’S  an,  wie  er 
wieber  fyeimifch  wirb  in  ber  ©aterftabt,  wie  ihn  bie  baulichen 
©eranbetungen  intereffiren.  6t  wieberljolt  bie  Klage  feiner  3u» 
genb  (<&.  SB.  IV.  4)  non  bem  mangelnben  fDutdjbtudf  gwifdjen 
Beil  unb  giebfrauenberg  unb  nergleidjt  bie  ©auart  ber  ffncanf» 
futtet  Raufet  mit  ber  non  Seidig.  jfreunben,  welche  mit  fftanl» 
futt  nid?t  nähet  befannt  finb , fudjt  et  ein  lebhaftes  ©ilb  bet 
©aterftabt  unb  ihrer  6igenthümlichfeiten  gu  entwerfen. 

Um  nun  in8  6ingelne  übergugeljen,  jo  war  bie  frangöfifdje 
Kriegs  * 6ontribution  (®.  SB.  IV,  515)  ber  ©tabt  »on 
©eneral  3outban  nach  ber  Kapitulation  »om  14.  3uli  1796 
auferlegt.  ©ie  betrug  etwas  über  10  ÜJtiüionen  §ranc8<6). 

S)aS  ©chweiget’fche  .pauS  auf  bet  Beil«  je£t  Siuffifc^er  4pof, 
(@.  515.  519)  war  furg  cor  ©oethe’S  Slnwefenheit  in  granffurt 
burd>  ben  furpfälgifchen  ©aurath  »en  fPtgage  für  ben  Kauf» 
mann  Sllefjina  genannt  oon  Schweiger,  großartig  im  italie* 
nifchen  ©tpl  erbaut.  SDaS  ©ethmann’fche.ftüherDonSfiiefe’fche 
@ut  (©.  516),  auf  welchem  .petr  oon  ®d)wargfopf  wohnte,  ift 
bie  im  o.  9tothf<hilb’f<hen  ©eftfj  beftnblid^c  ©tünebutg,  mit 
neu  erbautem  ©chlofj  unb  ^arfanlagen. 

®et  gejchidte SDecorationSmaler  ©eorg  guenteS,  (©.  516 
518)  auf  welchen  @oethe  mehrmals  gurücffommt,  war  1756  in 
SJtailanb  geboren  unb  wirfte  oon  1769  — 1805  in  ffranffurt; 
fpäter  war  er  in  $ari8;  et  ftarb  1821  in  feiner  ©aterftabt 
2)ie  gleifchbänfe  (@.  519)  — ®oethe  oermeibet  feinem  Sorte» 
fponbenten  gu  lieb,  ben  heimifchen  31u8bruct  ©chirnen  anguwen* 

(S»/J 


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40 


ben  — finb  erft  feit  1864  in  bet  gangen  «Stabt  »erteilt  werben ; 
bet  föiarft  gar  ift  etft  1871  in  ben  oberen  ifyeil  bet  Stabt  net* 
legt  worbeu. 

®ie  beiben  reformitten  Setbäufer  (S.  519)  finb,  nadjbem 
bie  fReformirten  lange  gum  ©otteßbienft  na<b  Socfenbeim  bat* 
ten  ^inau@fal>ren  muffen  (S.  228),  non  1788 — IX) , ba8  fran* 
göfifcbe  au  bet  StabtaUec  (©oetbeplab),  ba8  beutfcbe  am  großen 
Äornmarft  erbaut. 

„5)ie  neu  erbaute  8utbetifcbe  .pauptfircbe"  (S.  519),  an 
»eltbet  ©oetbe  jo  b«be  Äritif  übt,  ift  bie  $>aulbfirtbe,  wie  fie 
feit  ihrer  ©töffnung  1 888  genannt  »urbe,  urfprünglicb  Satfüffer« 
fircbe,  ein  im  breigebnten  3abt[)unbert  aufgefübrtefi  ©ebäube, 
»eltbe8  1782  »egen  Saufälligfeit  gefdjloffen  unb  1786  abgebrochen 
»urbe. 

5?er  3»if<benraum  Bon  mehr  al8  Bier  3ab«n  war  Beranlafjt 
burtb  ben  Streit  gwifdjen  bem  SRatb  nnb  ben  bürgerlißen  <5ol* 
legien,  »el<be  gunäcbft  gur  ginangcontrole  berufen  waten,  aber 
ber  Setjutbung  nitbt  »iberfteben  fonnten,  fitb  beftänbig  in  bie 
^Regierung  eingumifcben  unb  wegen  beS  'fMafjeä  unb  ber  gern 
bet  Äirtbe  ihre  Sebingungen  gu  machen.  'Xutb  nadjbem  am  6. 
3uni  1787  ber  erfte  Spatenfticb  gum  San  bet  neuen  Äirdje 
getban  war,  wieberbolten  ft<b  biefe  Streitigfeiten , über  welche 
bie  6ntf<beibung  bei  ben  Jpofbaumeiftem  in  2)armftabt,  fDtaiug, 
SRannbeim,  Stfürgburg  unb  Stuttgart  unb  enblitb  beim  Cber* 
bofbauamt  in  Serlin  gefutbt  würbe.  Srft  im  grübjabt  1789, 
alfo  natb  Serluft  Bon  gwei  Saujabren,  nahm  man  bie  unter* 
brodjene  Arbeit  »ieber  auf,  welche  baburdj  notb  eergügert  würbe, 
bafj  e8  nötbig  war,  ben  gangen  maffinen  Sau  auf  <pfablrofte  gu 
grünben. 

3Ran  war  bis  gum  Sluffcblagen  beS  DadjeB  gebieben,  alö 

(898) 


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41 


am  22.  Dctcber  1792  Güftine,  Bon  üftainj  fommenb,  bie  ©tabt 
befehle  unb  ihr  jwei  SJliUionen  ©ulben  ©ontribulion  auferlegte. 
3war  würbe  baö  Äirchenbach  noch  BoQenbet,  aber  311m  SluSbau 
ber  Ätr<^e  liefen  bie  burd)  bie  beftänbi^eu  .Kriege  jerrütteten 
ginanjen  bet  ©tabt  eö  nicht  fommen.  Ser  ©locfenthurm  blieb 
auf  gwei  ©tocfwerfe  befc^ranft  unb  bie  Sreppenhäuier  entbehrten 
beö  Sluöbauö.  ©0  iah  fie  ©oethe;  feine  Sleufeetungen  beziehen 
fid)  uic^t  allein  auf  ben  äfthetifchen  Söerth  beö  .Kirchenbaueö,  fon* 
bern  auch  auf  bie  Urfadjen,  welche  biefe  fSftifjftänbe  hetocrgerufen. 
Sie  ©teile  (©.  520):  „Sie  ^aupturfadje  non  ben  in  früheren 
Beiten  »ernachläfftgten  öffentlichen  ’Änftalten  ift  wol)l  eben  im 
©inne  ber  Unabhängigfeit  bet  einjelnen  ©ilben,  Jpanbroetfe,  unb 
bann  weiter  in  fortbauernben  ©treitigfeiten  unb  änmaa&ungen 
ber  Familien,  jflöfter  unb  Stiftungen  ju  fucben,  ja  in  ben  Bon 
einer  ©eite  lobenöwürbigen  ©eftrebungen  ber  ©ürgerfchaft.  Sa* 
burch  warb  aber  ber  fRatl),  er  mochte  fich  betragen  wie  er  wollte, 
immer  gehinbert,  unb  inbem  man  über  ©efugntffe  ftritt,  fonnte 
ein  gewiffer  liberaler  ©inn  beö  allgemein  ©ortljeilhaften  nicht 
ftattfinben,"  gibt  auch  einen  SBinf  übet  bie  ©rünbe,  welche  ©oethe 
ahhielten,  bie  angebotene  ©teile  im  fRegierungöcoHegium  feinet 
©aterftabt  anjunehmen47). 

©egen  baö  h°he  @piel  in  ben  SBirthflhäufern  ber  ©tabt 
unb  auf  beutfchhettiichem  ©runb  unb  ©oben,  welches  ©oethe 
in  bem  ©riefe  Bom  19.  Sluguft  1797  (©.  521)  erwähnt,  finb 
bie  Sehörben  mit  fdjarfen  ©bieten  eingefchritten.  Äm  2.  fRoubr. 
1797  würben  alle  SBirthe,  welche  $afarbfpiele  bulben,  ferner  alle 
SRitipieler  unb  ©anfhalter,  wofern  fie  tjiefiger  Suriöbiction  unter* 
wotfen  finb,  mit  einer  ©elbftrafe  Bon  500  Sftthlr.  bebroht  3m 
{Rücffatl  follen  bie  SBirthfchaften  auf  unbeftimmte  Beit  gefdjloffen, 
bie  übrigen  ©djulbigen  mit  hoppeltet  ©träfe  angefehen  werben. 

(«») 


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42 


SBür^er  utib  (Einwohner  ioQen  »crantroortlid)  gemacht  werben, 
bafj  fein  bei  ihnen  wobnenber  «rember  .fjafarbfpiele  treibe.  !8n« 
gebet  feilen  ein  Srittel  ber  ©traffumme  ober,  wenn  feine  Selb» 
ftrafen  erfannt  worben,  50  Oittjtr.  ^Belohnung  ex  aerario  erbalten. 

iNudj  bie  »on  ©oetbe(@.  521)  erwähnte  Sßiebetbejablung 
ber  Ätiegöfcbulben  bat  bewegliche  2lufforberungen  beb  ’RatbS 
»om  18.  3uli  unb  10.  Sluguft  unb  (Erinnerungen  ber  fRecbnungS» 
commiifion  »om  23.  2luguft  unb  12.  Dctober  1797  bet»orge« 
rufen4  8). 

©oetbe’ 8 ÜRutter  batte,  bem  fRatbe  iljreö  ©ebnet!  folgenb, 
am  1.  9)iai  1795  ibr  Jpaub  für  22,000  fl.  mit  4000  fl.  Ülngab« 
lung  an  ben  ffikinbänbler  93lum  »erlauft,  welcher  baffelbe  bereits  am 
17.  Februar  1790  mit  0000  fl.  ©eminn  weiter  »erfaufte.  ©oetbe’8 
SRutter  jog  in  baS  .pauö  gum  „©olbenen  Srunnen"  (SRofjmarft  8) 
unb  wobnte  ^ter  bis  gu  ihrem  am  13.  September  1808  erfolgten 
Sobe.  21m  18.  fRocember  1808  würbe  ber  ©oetbe’icbe  ©arten 
»or  bem  ffriebberger  Sbor  »erfteigert.  ©er  2lrgt  »on  ©oetbe’8 
SRutter  mar  ibr  fReffe,  Dr.  Sobann  ©eorg  ©a»tb  SKelbet,  geb. 
1772,  geft.  1824.  ©en  S3rief,  welchen  ©oetbe  am  19.  ©ept. 
an  Dr.  föielber  richtete,  habe  id>  guerft  nach  bem  Original  ab« 
bruefen  laffen49). 

fRacb  bem  ©obe  ber  SRutter  fab  ©oetbe  feine  33aierftabt 
erft  am  12.  ©eptember  1814  wiebet. 

©ie  OberpoftamtSjeitung  empfing  ibn  mit  folgenbem,  »om 
13.  batirten  2lrtifel:  „©eine  ©rceUenj  ber  berjoglid}«fä<bfifcb'Wei» 
marifche  ©cbeimeratb  <£)*.  »on  ©oetbe,  ber  gröfjte  unb  noch 
lebenbe  altefte  .peroS  unferer  Literatur,  ift  geftern,  »on  SKieSbaben 
fommenb,  bi«*  in  feiner  SSaterftabt  eingetroffen,  bie  jwangig 
(richtiger  fiebgebn)  Sabre  lang  beffen  erfreulicher  ©egenwart  be« 
raubt  war."  ©ie  ffeftlicbfeiten,  welche  ihm  bei  feiner  2lnmefenbeit 

i*w» 


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43 


gelegentlich  ber  Sluffübrung  beS  Jaffo  augeblidb  im  St^eater  be* 
reitet  würben  unb  noeb  in  bet  achten  Auflage  non  SeweS’  Beben 
©oetbe'S  (1873,  II,  494)  befebrieben  flehen,  finb,  wie  sJ)rof. 
Creigenacb  (Aüg.  3tg.  1872.  9tr.  186,  öeilage)  naebgewieien 
bat,  eine  93ii>ftification  SBiUemer’S,  (ÜRorgenblatt  1814,  2tr.  233) 
»eld)ec  leine  SKitbürger  babureb  wegen  ihrer  ©leiebgültigfeit  ta» 
beln  wollte.  AIS  (ärbiebtung  ift  bie  ©efebiebte  icbon  in  bemielben 
Sabre  (SORorgenblatt  1814,  2lr.  313)  naebgewiefen  worben.  23 om 
24.  (September  bis  10.  SDctober  war  ©oetbe  in  c^cibelberg  unb 
S)armftabt, 5 °)  ber  erften  ffeier  bes  18.  DctoberS  wobnte  er  in 
^ranffurt  bei  (®.  SB.  IV,  679).  21m  Abenb  begab  er  ficb  ttacb 
bem  Sanbfif}  ber  Familie  SB  i 11  ent  er,  ber  unweit  JDberrab  an 
ber  linfen  SJlainfeite  gelegenen  © erb  ermüble,  um  oon  bort 
auS  bem  ©djaufpiel  ber  auf  Arnbt’S  Anregung  auf  allen  23er» 
gen  auflobernben  Dctoberfeuer  beiguwobnen 5 '). 

@o  flüchtig  biefe  ^Begegnung  mar,  fo  nachhaltig  waren  ihre 
folgen;  haben  wir  bod)  in  itjr  nielleicbt  baS  beftimmenbe  fBtotio 
für  bie  groeite  Slbeinreife  gu  fueben.  Am  24.  fDlai  1815  »erliefe 
©oetbe  SBeimar,  am  27.  trifft  er  in  jfranffurt  ein,  wo  er  nur 
lurge  3eit  oerweilt,  aber  boeb  ©elegenbeit  finbet,  mit  SBillemer 
gu  ftjtecben  unb  ibm  bie  fefte  3ujage  gu  geben,  im  Saufe  beS 
©ommerS  oon  SBieSbaben  auS  gu  längerem  Aufenthalte  auf  ber 
©etbermuble  eingufebren.  ®iejent  23erfpred)en  fommt  ©oetbe 
nach  am  12.  Auguft.  Auf  ber  ©erbermitble  begannen  im  23er* 
febr  mit  ber  anmutbigen  fleinen  grau  jene  hellen  fonuigen  Jage, 
beten  Abglang  in  bem  33ud)e  Suleifa  beS  ©ioanS  unS  fo  fteunb» 
lieb  anmutbet.  S)iplomatifcbe  unb  färftlidbe  iBefucbe  ftörten  bie 
erften  Jage  feines  Aufenthaltes  auf  ber  ©erbetmühle:  balb  aber 
burfte  er  gang  ficb  unb  feinen  greunben  leben.  5)a  ging  eä  biu» 
auS,  wie  in  feiner  Sugenb,  nach  ben  alten  befannten  Stätten: 

(900 


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44 

in  ben  Sßalb,  gum  Serftbauß,  auf  ben  ©anbbof,  ober  in  ben 
„©cbwanen"  nach  fRieberrab.  5Sm  26.  fäuguft  wohnte  ©oetbe 
auf  bem  Sorftbaufe  ber  ^odigeit  beß  ©tabtbaumeifterß  3eban* 
Sriebritb  Cfbriftiait  e 8 ö (1785  — 1845)  mit  Stäulein  3obamw 
fReuburg  bei. 

„Saß  ©ilb",  über  welcbeß  ©cetbe  atß  übet  „fcbrecflitfe  alb 
beuticbeß  neubentfdbeß  ©epinfel"  (©.  ©oifferee  I.  269)  ftcfc  ent. 
fetjt,  ift  ber  heilige $ubertuß  ron  3.  35.  $)affarant,  bem  ftsateren 
3tt>pector  ber  ©täbel’ichen  ©alerie;  eß  befinbet  fid>  gegenwärtig 
in  ber  ©täbtifcben  ©emälbefammlung  gu  Stanffurt. 

Ser  28.  Sluguft,  ©eetbe’ß  ©eburtßtag,  gu  bem  ber  tTeue 
©oifferee  (I.  271)  noch  am  27.  Otbenbß  fpät  mit  ber  Laterne  Serbeer» 
gweige  gefauft  batte,  geftaltete  fidi  gu  einer  gang  befenberen  Seiet. 

©oifferee  fdireibt  barüber: 

„Sie  Samilie  Söillemer,  £)err  ©cbarf  unb  feine  Srau  (geb. 
©Müemer),  Sti£  ©djleffer  (©tabtgericbtßratb,  ©obn  non  Dr.  £ie* 
rcnomuß  $>eter  ©diloffer,  bem  ©ruber  »on  ©oetbe’ß  ©djwaget, 
[rrgf.  ©.  19];  geb.  .1780,  geft.  1851),  bet  Jfaftenfdbreiber  fRiefe 
(»rgl.  eben  ©.  35),  alter  ©djuffamerab  een  ©eetbe,  unb  ©eebed 
finb  fdjen  mit  bem  alten  .petrn  beim  Stübftücf  eerfammelt.  Saß 
gro§e  ©artenbauß  war  gang  mit  ©d?ilf  außgegiert,  wie  Halmen* 
bäume  ^wifdben  ben  Senftern  gebunbeu,  oben  überbängenb.  Sn 
bet  hinteren  ©ianb,  wo  ber  8lte  fafe,  war  ein  großer  ©pifefdsilb 
con  ^nubfrängen  angebracht,  barinnen  ein  runber  .Kräng  reu 
©lumen,  nad)  ber  Sarbentbeorie  georbnet.  §\tt  brachten  ihm 
bie  Brauen  beß  £aufeß,  «rau  ©Mllemer  unb  Brau  ©töbel  (Seebto 
SBillemcr’ß,  fpäter  Stau  Dr.  Sbomaß)  gwei  .fterbe,  ben  einen 
»ofl  ber  iebönften  Brächte,  ben  anbern  mit  ben  pradbtigften,  metft 
außlänbifdsen  ©lumen.  8luf  ben  .ft örben  lag  ein  Surban  eom 
feinften  inbiftbeu  2RuffeIin,  mit  einer  Sorbeetfrene  umfrängt, 

(90S) 


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45 


alles  in  änfpielung  auf  feine  jetzige  ^iebljaberei  für  bie  orten» 
talifdie  $)oefie,  bejonberS  weil  auch  unter  feinen  ©ebichten  ein 
grofceS  8ob  bcS  ©urbanS  oorfommt.  grau  ©täbel  Ijatte  baju 
bie  äluSficht  auS  ©oethe’S  genfter  auf  bie  ©tabt  granffurt  recht 
Ijübfch  ge,$eid}net,  unb  grau  SiHemer  einen  fleinen  Ärans  Bon 
gelbblumen  aufgeflebt,  worein  fie  einen  paffenben  ©prud)  auS 
bem  JDinan  gefchrieben  ^atte,  unb  unter  bie  3eid)nung  einen 
paffenben  auf  Jpcififen'S  ©eburtSftabt5-) 

©hrmann43)  Ijatte  allegorifche  Silber  Bon  ben  SafyreS» 
jeiten  gefehlt;  CS^riftian  Schloff  er  eine  Äreujabna^me  Bon 
©aniel  non  Solterra.  SJlorgenS  tjatte  grau  $ollweg 44)  in  einem 
Soote  SJtufif  machen  laffen,  feljr  fc^öne  Harmonien.  ©8  war 
fo  eingerichtet,  baf)  fie  anfing,  als  ©oetl)e  eben  aufftanb.  ©i, 
ei,  jagte  er  etwas  ängftlich  unb  bebenfiieh,  ba  fommen  ja  gar 
9)tufi!anten;  hoch  fanb  er  fidj  balb  gured^t , weil  bie  SJtufif  |el;r 
gut  war.  ©amt  gab'S  ein  fötifwerftänbnifj  mit  einem  ©ucaten, 
ben  ber  Sllte  burd)  feinen  Sebienten  Äarl  an  bie  SJtufifauten 
jd)icfte.  ©ie  wollten  unb  fonnten  natürlich  nidjtS  uehmen,  e$ 

war  baS  ^heaterorchefter,  unb  fanben  fidj  baburd}  beleibigt.  — 
Sillemer  eröffnete  ben  Stijd)  mit  einer  paffenben  Snrebe  unb 
Slufpielung  auf  greimaurerfittc  unb  brachte  ©oethe’S  ©efunb« 
heit  au§  in  1748er  (Rheinwein.  ©urdjgehenbS  l)errfd^te  eine 
muntere  ©iimntung.  ©ann  tarn  ein  Srief  Born  ©onfiftorium 
mit  bem  gebrueften  6rlaubmf$)d)cm  jur  JpauStaufe  eines  an  bie» 
iem  Sage  geborenen  unehlichen  ©ohneS  Solfgang.  ©in  ^weiter 
Srief  fam  in  Äuittelnerjen  Bon  einem  föteifterfänger  ©hriftian, 
batin  war  eine  turge  Sieberholung  Bon  ©oethe’S  Siographie, 
foweit  fie  jetjt  gebrueft  ift,  mit  ben  Planten  aller  feiner  2Jtäbchen 
in  ben  Sieimen,  aber  ohne  ben  (einigen,  ©oethe  merfte  eS 
gleich,  beibe  ©pdjje  waren  Bott  Dr.  ©hrntaun." 

CK«; 


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46 


Sßir  fömten  an  tiefer  Stelle  baS  genuhreiche  lieben  nicht 
weiter  »erfolgen,  welches  ©oetbe  in  ber  SBaterftabt  führte,  net» 
fdsent  burd)  l'iebe  unb  ffreunbfebaft,  burd)  S^reube  an  ber  fliatur 
unb  ber  Äunft  unb  jenen  Sauber,  welchen  Sugenberinnerungen 
auf  ben  gereiften  5Jtann  üben.  31  m 8.  Sept.  »rar  ©oetbe  nad) 
frranffurt  übergefiebelt  in  Sßiflemer’S  .paus  am  gahrtber  „gum 
rotben  99tännd)en“  (je^t  ‘JUt’fdje  33abeanftalt);  nad)  einem  noch» 
maligen  furzen  Söefud)  auf  ber  ©etbermühle  reifte  et  am  19. 
mit  Sulpig  itad)  ^eibelberg  ab,  wo  Äarl  Üluguft  mit  ihm  gu» 
fammentreffen  feilte.  Sa  fid?  bc8  £ergogS  ISnfunft  oergögerte, 
lieh  ©oethe  burd)  SoiffetSe  SSiUemcr  bitten,  mit  fölarianne  unb 
ben  Seinen  nad)  Jpeibelberg  gu  fommen.  Jpier  Bereinigte  bet 
24.  uub  25.  nod)  einmal  ben  fleinen  greuubesfreis ; „oon  Su* 
leita  war  mein  A’ommcn,  gu  Suleifa  mar  mein  @el)en."  ©oetbe 
fah  fDiariannen  nie  mieber,  aber  bie  wenigen  SBocben  oertraulitben 
üerfebrs  mit  ber  liebenSwürbigen,  anmuthigen  Srau  begrünbeten 
ein  bis  gu  beS  SidjterS  Sobe  bauernbeS,  burd)  einen  lebhaften 
SBriefwcdhfel  genährtes  äterbältnih- 

Sie  für  baS  folgenbe  3al)r  geplante  fRbeintetfe  muhte  unter» 
bleiben,  weil  SJteper,  ©oetbe’S  IReifegefährte,  fich  burd)  einen 
Sturg  beS  SBagenS  nid)t  unerheblid)  »erlebte. 

©oetbe  hatpl'eine  SLiaterftabt  nicht  mieber  betraten , aber  bie 
granffttrter  greunbe  bilbeten  fortan  eine  ftiUe  ©emeinbe,  bie,  in 
regem  SBerfebr  mit  SBeimar,  |fein  höheres  Siel  fannte,  als  bie 
pietätoolle  pflege  berjenigen  33eftrebungeu , welche  ber  grohe 
greunb  mit  ihnen  geteilt.  Sie  hatten  baS  SBerbienft,  bah  bet 
am  2.  Secbr.  1817  erfolgte  Austritt  ©oetbe’S  auS  bem  ffranf« 
furter  SBürgeroerbanbj5  5)  nid)t  nod)  fchlimmer  aufgenommen  mürbe, 
unb  bah  Ibennod)  fein  fiebgigfter  ©eburtStag  in  ^ranffurt  feier- 
lich) begangen  werben  fonnte.  SBir  roiffeu  aus  ben  „SageS*  unb 

(SM) 


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47 


Sabregfyeften,"  baff  ©oetlje  feinen  fiebrigsten  ©eburtStag  auf  ber 
SReife  gtöifdjen  4pof  unb  Äarlßbab  jubrachte,  um  in  gemeinter 
Seife  bet  Seiet  beffelben  au8gumeid?en. 

8lm  Sreitag  ben  '27.  fanb  eine  SSotfeier  im  Sranffurter  9Ru* 
feum  ftatt,  am  ©eburtätage  felbft  mürbe  eiu  Seftmahl  ton  etma 
200  ©ebecfen  im  ©aale  ,beS  „SeibenbufcbeS"  (heute  Hotel  de 
l’Union)  teranftaltet,  unb  babei  ©oethe’S  33üfte  mit  einem  gol* 
benen  gorbeerfranje  gefchmücft,  meldier  mit  ©maragben  befefct 
mar,  unb  bie  Snfcbrift  trug:  „bem  Liebling  ber  3Jiufen,  3ot)anu 
Söolfgang  ton  ©oetbe  ton  ^Bürgern  feiner  Siatcrftabt  gemeint", 
©iefj  ©efcbenf  mürbe  am  ©djluffe  ber  Seiet  eingepacft  unb  nach 
Seimat  gefanbt.  5lm  2lbenb  mar  Seft*5Borfteüung  im  SE^eater; 
eä  mutbe  Staffo  gegeben  mit  einem  tom  ©djaufpieler  Sei b net 
gefprodjenen  Prolog.  2ln  Dr.  Stelber,  einen  ber  Urheber  bet 
Seiet,  fanbte  ©oetlje  feinen  ©anfbrief  für  bie  Stitglieber  beS 
Gomite,  meldje  ibm  jenen  Ätanj  gefanbt,  unb  fonnte  nicht  um* 
bin,  in  beffen  ©ingang  gu  terfidjern,  „baff  et  mit  feinet  lieben 
Saterftabt,  ungeachtet  aufgehobener  bürgerlicher  23er* 
hältniffe,  fid)  aufs  3nnigfte  terbunben  fühle."5*) 

©te  ©eburtStaggfeier  ©oetfje’ö  in  Sranffurt  follte  nicht  ohne 
Sdgen  bleiben,  ©ulpig  23oifferde  mar  baju  nach  Sranffurt 
gefommen;  er  hatte  ben  28.  2tug.  1819  bei  SBürgermeifter 
SEhonxaSmitSlhormalbfen  ^gebracht , in  Stuttgart  mar  et  mit 
©an  ne  cf  er,  bem  ©chmaget  ton  23oiffer4e’8  Sreunb  unb  fpäteren 
©chmiegertater  ©ottlieb  Heinrich  fRapp,  befreunbet,  — fein 
Söunbet,  ba§  im  Äreife  bet  Verehrer  ©oethe’S  ber  fpian  eines 
plaftifchen  ©enfmalä  für  benfelben  auftauchte  unb  balb  greifbare 
©eftalt  geroann.  2lm  8.  ©ecbr.  1819  fanb  bie  erfte  ©ifcung 
beS  Gomit<$  ftatt.  ©ie  IBerhanbtungen,  meldje  bis  1825  bauerten, 
blieben  befanntlich  erfolglos,  bie  23üfte  unb  ©tatuette  ©oethe’S 

(905) 


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48 


»on  SRaud)  ift  ihr  eingigeS  ßrgebnif),  währenb  baS  riejenhafte 
flroject  eines  ÜempelS  auf  bei  Spijje  ber  Waininfel,  wie  eS  bereits 
im  „9il}einifd)en  Stafchenbuch"  für  1822  abgebilbet  war,  nie 
»erwirflicht  worben  ift.  3<h  habe  (a.  a.  £>.  S.  106 — 1 14)  nadh 
ben  in  ©oifferöe’S  33riefwechfel  gerftreuten  Waterialien  ben  ©ang 
ber  üer^anblnngen  bargefteüt,  unb  will  i)ier  nur  gwei  intereffante 
Steufjerungen  ©oethe’S  berüorl)eben.  Slm  14.  3au.  1820  fdbrieb 
©oethe  an  Soifferöe : „Sollte  eS  nicht  etwas  bebenflid)  fein,  einen 
Silbhauer  baljin  gu  fenben,  wo  er  feine  formen  mehr  finbet? 
wo  bie  Statur  nach  ihrem  Siücfguge  fich  nur  mit  bern  Stothwen* 
bigen  begnügt,  was  gum  Sajein  atlenfatlS  unentbehrlich  fein 
möchte;  wie  fann  bem  Warmer  ein  SBilb  günftig  fein,  auS  bem 
bie  gülle  bes  Gebens  »erfchwunben  ift?"  iSm  11.  Sept.  jehreibt 
er:  „Unter  ben  hlaftifdjen  Bierben  jenes  WouumentS  gebenfen 
Sie  einer  üampe,  welche  als  herfömmlicheS  Beiden  eines  geiftigen 
SleifjeS  allerbingS  gu  billigen  ift.  Stun  mache  ich  “ber  bie  Be- 
merfung,  bah  id?  webet  SbenbS  noch  in  ber  Stad)t  jemals  gearbeitet 
habe,  jonbern  blofs  beS  WorgenS,  wo  ich  ben  IRahm  beS  SLageS 
abfehöpfte,  brf  bann  bie  übrige  3eit  gu  Ääfe  gerinnen  mochte." 

2)ie  nächfte  Sßegiehung  ©oethe’S  gu  feiner  SBaterftabt  ergab 
fich,  nachbem  er  auch  »om  Sranffurter  Senat,  wie  non  ben  anbern 
Seutfchen  Staaten,  baS  |)ricilegüim  erlangt  hatte,  um  ben  Stach* 
bruef  ber  ©efammtauSgabc  feiner  SBJerfe  gu  »erhinbern.  9lm  13. 
3anuar  1826  richtete  ©oethe  folgenbeS  55anf*Scbreiben  an  ben 
Senat  »on  granffurt: 

„©inem  hohe«  Senat 
Verehrung  unb  Vertrauen! 

Stiemanb  wirb  leugnen,  bah  bemjeuigeu  ein  befonbereS 
©lücf  gugebadjt  fei,  ber  fich  gern  U1'b  mit  Sreuben  feiner 
Sßaterftabt  erinnert.  Wir  ift  eS  geworben,  inbem  ich  mich  rühmen 

(9ti6) 


E 


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49 


batf,  burdj  ©eburt  einer  ber  nier  ©täbte  anjugehören,  welche  tbre 
Freiheit  non  ben  alterten  Seiten  h*r  bifl  auf  ben  fyeutiflen  Jag 
erhalten  hoben.  ©ewiß  ift  fein  f ebenerer  iölicf  in  bie  ©efc^td?te, 
alb  berjenige,  ber  unb  belehrt,  wie  bie  ©täbte  beb  nörblicben 
nnb  füblichen  Deutfdblanbs  butd}  , Stechtlicbfeit,  • 3u* 

nerläffigfeit  bie  bebeutenbften  .Körper  gebilbet  unb  fowoßl  über 
bem  SOteer,  alb  über  ben  58er  gen,  inbem  fie  Seben  unb  .panbel 
nerbreiteten , fid?  bie  größten  SBortßeile  gu  fiebern  wußten. 
Daher  ift  folgen  Korporationen  angugehören  für  ben  benfenben 
unb  fübienben  fDtenfchen  non  ber  grüßten  Söichtigfeit,  unb  et  ehrt 
fi<b  felbft,  wenn  er  auöjufprecbeti  wagt,  baß  er  beb  treuen  bie« 
bem  ©inneb  feiner  friiheften  ©tabtgenoffen  fid)  auch  entfernt 
unter  ben  mannigfaltigften  Umftänben  unb  33ebingungen  nicht  un- 
wertb  ju  erwetfen  bab  ©lücf  hotte-  jo  wenn  man  ihm  bab 
3eugniß  nicht  nerfagt,  baß  et  ben  gemäßigten  gteifinn,  eine 
rajtlofe  SJ^ätigfeit  unb  geregelte  ©elbftliebe , rooburep  feine 
^Mitbürger  aubgegeichuet  finb,  an  [ich  in  ben  nielfälligften  Sagen 
ju  erhalten  getrachtet  hot-  — Nehmen  beeljalb  bie  hochverehrten 
freien  ©täbte,  beren  febe  ich  mit  bet  (Empftnbung  eineb  ÜRit« 
bürgerb  betrachten  barf,  meinen  netpflichteten  Danf,  baß  fie 
but<h  ein  entfehieben  aubgefproepente  §)rinilegium  mir  unb  ben 
5Ji einigen  bie  economijcben  SBorttjeile  unabläffig  bemühter  ©eifteb« 
atbeiten  hohen  gufiepern  wollen. 

Darf  i<h  nunmehr  mit  ber  Hoffnung  fchließen,  baß  biefe 
glücflicpe  (Einleitung  aud)  fünftig  anbern  ©titgenoffen  ber  lite= 
rarifchen  SBelt  gu  ©ute  fommen  werbe,  fo  empfinbe  ben  IBotgug 
boppelt  mich  ebenfo  getroft  alb  nerehrenb  unterzeichnen  gu  fönnen. 

Söeimar,  ben  13.  Ban.  1826.  (Eineb  h^*»  ©enatß 

gang  gehovfamfter  Diener 
3op.  SBoIfg.  non  ©oetpe. 

XI.  J«l.  4 (W)7) 


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50 


2lu8  bet  Raffung  bicfcS  Schreibens  erhellt,  baf;  e8  gleich* 
lautenb  auch  ben  Senaten  non  Hamburg,  Sübecf  unb  SBremen 
überfchicft  würbe. 

©oetlje’S  Job  fiel  in  eine  politifd)  aufgeregte  Seit,  unb 
fpeciefl  in  gtanffurt  nahm  bet  IDitrchgug  bet  ^3 ölen  im  5Jlärg 
1832  alle  3ntereffen  in  iänfbruch.  Hörne’8  unb  3Ö.  Stengel’ 8 
Schmähungen  gegen  ben  ariftofratifdjen  ÜJtinifter  fielen  in  ber 
Seit  gerabe  auf  fruchtbaren  Hoben,  unb  fo  fanb,  wenigftenf!  in 
ber  Deffentlidjfeit,  ©oethe’8  Job  rridbt  bie  SL^eilna^me , welche 
fich  gegiemt  hätte.  ©rft  1836  fonnte  ba8  3)enfmal  ©oethe’8 
wiebet  augeregt  werben.  (58  gefchah  biefj  auf  einer  ©eueral* 
oetfammlung  be8  ÄunftoereinS  am  11.  December.  9lm  12.  Stärg 
be8  folgenben  3ahre8  fanb  bie  erfte  Sifjiung  eines  gu  biefem 
Swecfe  gufammengetretenen  ©omitä  ftatt.  9lm  22.  Dctober  1844 
fonnte  ba8  oon  Schwanthaler  geformte,  non  Stiglmeier  in  München 
gegoffene  SDenfmal  in  bet  StabtaUee,  welche  fortan  „©oetheplafc" 
genannt  würbe,  mit  entfprechenben  ^eierlidhfeiten  enthüllt  werben. 
91  n bemielben  Sage  würbe  an  feinem  ©eburtshaufe  eine  35enf= 
tafel  angebracht.51)  — Schon  not  HoHenbung  biefeö  öffentlichen 
SDenfmalS  hotte  ein  Herein  non  btei  Stännern : ^einrid)  StpliuS, 
Starfwart  Seufferhelb  unb  ßbuarb  SRfqjpell  burch  ben  Silbhauer 
Starke  ft  in  9Railaub  ein  fitjenbeS  Slatmorbilb  beS  SteifterS  an» 
fertigen  unb  baffelbe,  ©oethe’8  früher  au8gefprochenem  Shunfche  5 8) 
gemäfj,  in  ber  SorhaUe  ber  Stabtbibliothef  auffteden  laffen 
(1840). 

©in  weiteres  £>enfmal  hat  bem  9lnbenfen  ©oethe’8  geftiftet 
Äarl  She°bor  [Reiffenftein  in  feinen  photogrctyhifd)  »eroielfdltigten 
„SBÜbern  gu  Dichtung  unb  äöahrheit,"  welche  in  ber  grö|t» 
benfbaren  Sreue  alle  in  ©oethe’8  Sugenbgefdncbte  erwähnten 
granffurter  üocalitäten  unferem  9luge  oorüberführen. 

CW«;  


ftnmtrfuttßen. 


1)  @oetfye«  SBerfc  IV,  46.  Äriegf  @efd)id)te  »on  granffurt  1871. 
3.  237—417.  SfJlcriß  3tabt»erfaffung  ber  9ieid)«ftabt  granffurt  1785. 
L 210,  122,  143. 

2)  ®.  SB.  IV.  12. 

3)  5)a8  Stäfjere  in  meinem  Suffafc  im  biftorifdjen  Üafdjenbud?. 
5.  golge.  3»eiter  Jahrgang  1872.  3.  201,  ferner  Dr.  g.  Stbarff 
im  'Urc^iö  für  granffurt«  Oefc^iefjte  unb  Äunft.  9teue  golge  II.  255. 
©.  SB  IV,  224. 

4)  Steifen.  Ausgabe  non  1751.  3.  1473. 

5)  © SB.  IV.  47.  SB.  Stridfer,  3m  Steuen  Steid)  1872  I.  611. 
3eitfd)rift  für  tDeutfdje  Äulturgeftbic^te  1856.  3.  463.  703.  1859.  3. 
564.  3.  3-  ©cf>ubt,  Sübifdje  'Dierfwürbigfeiten.  granffurt  unb  8eif)jig 
1714.  4,  befonber«  ber  jweite  Streit.  Äriegf,  S3ürgerj»ifte.  granffurt 
1862.  3.  405.  3.  ©•  © ottf rieb  ©bronifa.  granffurt  1657.  3.  688. 
689.  .£).  gab  er  SBefcbr.  »on  granffurt  1788.  I.  325.  460. 

6)  ®.  SB.  IV.  3.  Äriegf,  2)eutfd)e8  33ürgert(jum  im  SJiittelalter. 
granffurt  1868.  3.  403-7. 

7)  ®.  SB.  IV.  5.  Slrctrio  für  granffurt«  ®efcbicf>tc  unb  Äunft. 
Steue  golge.  I.  275  (1860.)  ©»inner,  Äunft  unb  Äiinftler  in 
granffurt  1862.  3.  68. 

8)  Slrdji»  für  granffurt«  ®efd)id>te  unb  Aunft.  5 $eft.  ©»inner 
a.  a.  £).  0.  150 — 154. 

9)  «rd)i».  9t.  g.  I.  354  (1860)  3m  Steuen  mi>.  1873.  I.  52. 

4*  (»09) 


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52 


10)  TOittbeilungen  b e«  Sietein*  für  ©ejcbicbte  unb  2Utertl)umefunbe 
411  Branffurt  a.  TO.  I.  186.  &.  SB.  IV,  22. 

11)  Stammbaum  am  Schluff  »on  TO.  SJelli-@ontarb,  Beben 
in  Branffurt  1850.  X.  Söanb.  Slilbniffe  in  , ©ebenfblätter  an  @cetbe" 
Branffurt,  Segler.  1845.  4°. 

12)  ®.  SB.  IV.  11.  Slriefwecbfel  jwifcben  Schiller  unb  ®cetbe. 
2lu«gabe  ton  1856.  I.  351.  tärdjiB.  '31eue  Beige.  11.  438  (1862). 

13)  ©.  SB.  IV,  2. 

14)  Streit?.  £eft  I.  unb  III.  @.  SB.  IV,  65. 

15)  Slrchi».  Jpeft  III.  VIII.  TOittbeilungen  I.  74.  128.  Dr.  Kerner, 
bie  SBabl-  unb  SrSnungbfirdje  ic.  §.  1857.  I ?er«ner,  (ibronif  nen 
Branffurt  II.  107. 

16)  Dr.  £5.  Slolger  (©oetbe'«  Statcrbau«.  Branffurt  1863.®.  2) 
leitet  ben  Kamen  be«  .f)auje«  SBraunfcl«  een  einem  braunrotben  Sanb- 
ftcinblocf  ab.  Der  Slraunfel«  gehörte  aber  ber  gleichnamigen  patrider* 
familie,  welche  au«  Sraunfel«  bei  ©iejfen  ftammt,  eergl.  SB a 1 1 e n n , 
örtliche  Sefcbreibung  t>.  8-  IV  236. 

17)  TOittbeilungen  IV.  111.  144. 

18)  Die  beutfeben  Aaifer  nach  ben  Silbern  be«  Äaiferfaal«  im  Kcmcr 
|u  Branffurt  in  Äupfer  geftcchen  unb  in  Barben  auSgefübrt,  mit  ben 
Beben«bejcbrcibungcn  ber  Aaifer  een  Sllb.  Schott  unb  Ä.  ^)agen 
Branffurt,  .£).  Aeöer.  — Äriegf,  ©efebiebte  »on  Branffurt  1871  S.  2(t2. 

1 9)  „©«füllt  ftnb  aUe  SBänbc  bi«  an  ben  legten  Saum,  fein  weit'rer 
Aaifer  hätte  mit  jeinem  S'ilbnig  Kaum"  Sl.  Ä 0 p i f cb. 

20)  Dr.  0.  Steiger  bat  lieb  burib  feine  Schrift:  ,©ocfbe«  S'ater- 
bau«."  Branffurt  1863.  4".  ein  unzweifelhafte«  Sterbienft  um  bie  Dope- 
grapbie  beffelben  erwerben.  Seine  fpäter  aber  aufgeftellte  änfiebt,  auch 
Briebr.  TOaj  Älinger  jei  in  bemfelben  ©ebäube  gebaren,  entbehrt  allen 
örunbe«.  SBir  wiffen  au«  juBcrläüigen  gamilien-Kacbricbten,  bah  Älinger 
in  bem  fegt  neugebauten  $aufe  SKlerbeiligengaffe  49,  früher  zum  "Pal Be- 
bau m genannt,  gebeten  würbe.  Die  fritifebe  llnterfucbung,  welche  'Prof. 
Dr.  Dbeober  Greijenacb  in  ber  germaniftifeben  Section  ber  Philologen 
iterfammlung  ju  Siel  mitgetbeilt  hal » Habet  fiep  im  25.  Stanbc  ber 
„preunifeben  Jahrbücher"  unb  im  Slu«jug  in  ben  „TOittbeilungen*  111. 
66.  Da  bie  irrige  Stelgerjcbe  Slnficbt  in  bem  ©ebenfblatt  für  bie  SBe- 
fueber  be«  ©oetbebaufe«  ju  Branffurt  al«  unzweifelhafte  Jl;atfacbe  ange- 
führt ift  unb  al«  fclcfje  auch  in  K.  Seif«  iönd? : „Die  Brau  Kath" 

(Ü1U) 


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63 

oerfommt,  je  mar  e«  nJtfyig,  bin  abermals  bagegen  gu  proteftiren. 
©ergl.  auch  bie  geftfdtrift  jum  jehnten  3uriftentage.  granffurt  1872. 
©.  96. 

21)  Scmelia’8  ß^aratttriftif  finbet  fid>  @.  9B.  IV,  73;  itjr  ©ilb* 
ni§  nad)  fcn  3ei<bnung  be*  ©ruber«  in  „©oethe*  ©riefen  an  Üeipjiqet 
greunbe*  berauSg.  ».  O.  3ah*>  üeipjig  1349  nnb  ebenba  eine  2lnjaf)l 
©riefe,  meid*  jene*  Baratt etbilb  oeroollftänbtgen.  (©.  245  ©ote  muff 
(Sero cf  ft.  ©erolb  ftetjen.) 

22)  ®.  S5B.  IV,  388. 

23)  ®.  SB.  IV,  581.  582.  679. 

24)  lieber  alle  bie  ©enannten  finbet  man  »eitere  91nd) rieten,  tn 
bem  SBerfe:  ©enator  Dr.  © »inner,  Äunft  unb  Äünftler  in  grantfnrt 
1862,  nebft:  3ufäfce  unb  ©erichtigungen  1867,  »eiche«  jugleid)  bie  ja^l» 
reichen  3rrtbümer  in  ©agier’*  Äünftlerlerifon  berichtigt. 

25)  'Äu*  ©oethe«  Änabenjeit.  1757 — 59.  SRittheilungen  au«  einem 
•Originalmanufcript  ber  granffurter  ©tabtbibliothef.  SERit  6 ©eiten 
gacfimile.  grantfurt  1846. 

26)  9lr<hi»  für  granffurt«  ©efdjidjte  unb  Äunft  1854.  Vl.  199. 

27)  Uebn  Dr.  med.  3.  @ht-  ©endenberg:  3-  9W.  'Kappe« , 
geftreben  gehalten  im  naturgefchichtl.  ÜJlufeum.  granffurt  1842.  unb 
®.  ©triefer  ©efchidjte  ber  §eilfunbe  in  granffurt  a.  5Bt.  g.  1847 
©.  143.  207.  329.  352.  364. 

28)  Ueber  bie  ganje  gamilie  ift  jeßt  bie  £auptquefle:  @.  ?.  Äriegf 
bie  ©rüber  ©endenberg.  g.  1869,  unb  ©.  91.  ©cheibel,  bie  ©enefenberg. 
Stift«häufer.  g.  1867.  4°. 

29)  Srejfen  bei  ©aul)eim  30  Äuguft,  bei  'Ämoneburg  21  Sept.  1758. 

30)  len  ® ortlaut  ber  ©eriebte  berf eiben  finbet  man  in  ben  Kit» 
theilungen  an  bie  'Kiiglieber  be«  granffurter  ©er.  für  ©ejd).  I.  273. 

31)  ©oethe«  'Berte,  ©erlin,  ©uftao  $empel.  20.  S£t>eil  ©. 
303—8.  35er  (Soncertfaal  abgebübet  im  ©eujahr«blatt  be«  grantfutter 
©erein«  für  ©efepiebte  etc.  1872  »on  Ä.  Sh-  ©eiffenftein. 

32)  2B eitere*  über  bie  franjöftfcbe  Occupation  hobt  id)  mitgetheilt 
in  meiner  „©äcularfcprift,"  giantfurt,  9Cnffart£>  1859,  unb  „3m  ©euen 
DWth"  1873,  ©o.  27. 

33)  Äriegf,  ©endenberg  3.  320. 

34)  Äriegf,  ©endenberg  ©.  325.  Die  ©endenbergifebe  Sibliothet 
beftfct  au«  211b recht«  ©acplag  einen  Bucian,  griechijch  unb  lateinifch,  21u8* 
gäbe  ton  3-  %■  ©eifc,  Smfterb.  1743.  3 ©änb«  4°. 

(»U) 


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54 


35)  «Reliquien  bet  grln.  Snf.  Äatb-  Ben  Älettenberg.  Hamburg 
1848.  @.  227. 

35)  lieber  bie  ®ntfübrung*gef(bi<bte  bet  5Eo<btet  »ergl.  (©triefet) 
©oetbe’«  Hejiebungen  ju  feiner  Haterftabt.  granffurt  1862,  ©.  42—47, 
3m  bleuen  SReiib  1872.  I.  376 — 381,  Jtriegf«  ©endenberg  ©.  369. 

37)  Äriegf,  ©endenberg,  ©.  325 — 328. 

38)  ©oetbe  al*  üRenftb  unb  Sdjriftfteder.  1823.  granffurter  9Ru- 
fenm  1857  SRc.  11. 

39)  ©oetbe’«  Abbanblung  über  bie  gläbe.  Berlin,  A.  Dunder,  1839. 

40)  SRobert  ©<bneiber,  in  ben  fritiftben  3abtt“<bwi  f“*  beutfd>e 
SRe<bt*ttiffenf<baft  1839.  V.  474.  „ffiterarifeber  H et  rag".  «Reue*  3<*b1' 
bueb  ber  8erlinif<ben  ©efetlfcbaft  für  beutle  ©pratbe  unb  Altertum*, 
funbe  IV,  225. 

41)  Äriegf,  beutfebe  öulturbilber  au*  beut  18.  Sabrbunbert  nebft 
Anbang:  ©oetbe  al«  SRedjt«an»alt.  ?eipjig  1875. 

42)  «Dlittbeilungen  be*  granffurter  Herein*  für  @ej<bi(f)te  unb  Alter- 
tbumSfunbe  ju  granffurt  a.  2JI.  1860.  I.  136. 

43)  ebenba  V.  92. 

44)  35ie  granffurter  3ri*  »cm  27  Auguft  1825  gibt  ba*  «Räbere 
über  bie  Heranlaffung  be*  ©ebidjt*. 

45)  «Die  Briefe  ©oetbe«  an  Sämmerring  in  SRubelf  ®agner> 
©.  SE.  non  Sämmerring*  Beben  unb  Herfebr  mit  feinen  3eitgenoffen- 
Seipjig  1844.  I,  1. 

46)  'IRittbeilungen  be*  granffurter  Herein*  ic.  IV,  355. 

47)  2)a«  Habere  in  meiner:  Haugefcfcicbte  bet  f>aul*fir«fje  (Har- 
fügerfirefte)  1782—1813.  4°.  (Heujabrtblatt  be*  granffurter  Herein* 
für  ©eftbiebte  unb  AltcrtbumSfunbe  für  1870.) 

48)  granffurter  SRatb«*  unb  Stabtfalenber  für  1798.  ®.  43.  45.  46. 

49)  Heuere  @efd)id)te  »on  granffurt,  ron  Dr.  JB.  ©trider.  granf- 
furt  1874.  ©.  104. 

50)  ©ulpij  Hoifferee.  ©tuttg.  1862.  1.  225.  227. 

51)  dRittbeilungen  be*  granffurter  Herein*  etc.  V.  87.  lieber  ben 
ganjen  Aufenthalt  ftnb  ju  nergl.  ©cetbe«  Hriefe  an  g.  A.  2Belf,  Hcrlin 
1868. 

52)  glutb  unb  Ufer,  2anb  unb  #äben 
Hübmen  feit  geraumer  3eit 

®o  bein  kommen,  fc  bein  ©eben, 

3eugen  beiner  S^ätigfeit. 

(»i») 


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55 


3)ie  3eid>nung  mit  biefet  Unterfc^rift  ift  burd>  Äupferftid)  Btrüielfältigt 
tnorben.  !Da  ®oett)e  ba8  SBlättdjen  häufig  mit  feinet  batirten  Unterfdjrift 
nerfal)  unb  al«  Slnbenfen  »erf^enfte,  fo  Jfjat  man  bie  3ei(f)nung  lange  für 
fein  eigene«  Üöetf  gehalten. 

53)  Hebet  med.  Dr.  ©jriftian  (S^tmann  netgl.  meine  .©eiträge 
jut  ärjtlie^en  Sulturgejd)id)te"  granffurt  1865,  wo  auch  &.'i  treffliche 
humcriftifd)e  Schriften  abgebrudt  ftnb. 

54)  geb.  ©ermann,  ©lütter  be«  preufj.  'JJiiniftetS  a.  2).  Sluguft 
Bon  ©ethmann-^ollaeg. 

55)  Äriegf,  ©endenberg  ©.  329. 

56)  JDa8  9täf)ere  in  meinet  „steueren  @ef (hielte  b.  granffurt"  ©.  105 

57)  ebenba  ©.  250—253. 

58)  ebenba  ©.  112. 


(SU) 


Drurf  wen  (Äfbr.  Ungfr(2b.  (Brimm)  in  Urrlin,  ^iboncbrr^crftr  17*. 


5l(inal|assn  auf  Ctlebes. 


6iitc  9teifeerinnenntg. 


Sortrag,  gehalten  in  Srcßben  im  5föärj  1876 


Den 


ßrrlin  SW.  1876. 
Sßerlag  con  (5  a r I .£>  a b e l. 

(<£.  (0.  i’nDrriti'sdir  Bnlagsbatfcljc^öiBng.) 

33.  ©ilbclm*  Strafe«  33. 


!Da8  JRtd)t  bcr  Uefreriefcung  in  frembc  Spraicn  trirb  rcrfcefjalt«. 


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v5än  fyoQänbifdjer  ©d)riftfteller  fagt  »on  bem  3nfel=2lrd)ipel  ber 
öftüdjext  ^albfuget,  baff  et  ficb  wie  ein  ©maragbgürtel  um  ben 
Slequator  winbe  ober,  wie  eb  frönet  mit  ben  eigenen  SBorten 
beb  tDidjterb  fyeifjt:  „Insulinde,  dat  zieh  daar  slingert  om  den 
evenaar  als  een  gordel  van  Smaragd“1),  unb,  in  ber  Sl)at, 
treffenb,  in  furgen  SSorten,  wie  nur  ein  ©idjter  ein  33il£>  «or 
bie  «Seele  matt,  ift  biefeb  23ilb.  2lub  bem  tiefen  S3lau  beb  tro= 
pifeben  SReereb  anffteigenb  unb  gegen  bab  tiefe  ©tau  beb  ©onnen= 
buräjglüljten  tropifdjen  -ßimmetb  fid>  abbebenb,  winben  fid)  Diel* 
geftaltig  ungäblbare  Saufenbe,  unermefjlidje  ©dfübe  bergenbe 
?änber  unb  Snfetn  unb  (äilanbe  um  ben  ©leicber.  SBenn  man 
nad)  SJionate  tanger  Seereife  burdf  ben  Stlantifdjen  unb  3u= 
bif^en  SDcean,  uaebbem  bie  eingig  fdtöne  gleichmäßige  ga^rt  mit 
ben  ^affatwinben  fidj  alb  ruhiger  ©enufj  beb  Sebenb  bat  empfin- 
ben  taffen  unb  bie  wilben  ©türme  im  ©üben  äfrifab  bie  San» 
tafie  mit  erhabenen  ©inbrüefen  belebt  haben,  — hoch  überfättigt 
ton  aH  bem  £uft  unb  SÖaffer  — bie  ©unbaftrafje  einfährt  unb 
bab  entgücfte  Sluge  gum  erften  SJlale  ben  Dom  tropifdjen  3Reere 
umraufditen  $>atmenwalb  erfpäht,  bann  glaubt  man  in  SBahrhrit 
an  bab  com  ^immel  gefallene  Gbelgeftein  beb  ©iebterb!2) 

XI.  262.  1*  (917) 


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4 


3nt  Dftinbiidien  Archipel,  foweit  er  bie  fRieberlänbifcbe  Ärone 
fe^rnücft,  ift  e8  »or  allem  3a»a,  welches  ben  bie  £eimath  Ver* 
laffenben  angieht.  Vietet  e8  boch  bei  georbueten  SBerhältniffen 
einen  Gentralpunft  für  alle  menfölidjen  Veftrebungen  in  biejem 
Steile  be8  CftenS:  bem  Staat8manne,  bem  9J?ilitär,  bem  93et* 
waltungSbeamten,  bem  $)flanger,  bem  .Raufmanne,  bem  gcrfdjcr 
ein  reicf>e8  gelb  gum  SBirfen  unb  ©rftreben.  3a»a  ift  e8  habet, 
bem  ber  grofje  Bug  ber  SBanbernben  »cm  SDßutterlanbe  gern  gu* 
ftrömt,  unb  fügt  e8  ba8  ®efd)icf,  ba§  er  biefe  gefegneten  ©efilbe 
»erlaffen  mufc,  um  auf  ben  „SBuitenbegittingen",  auf  ben  Aufien* 
poften,  bem  ©lücfe  nadjgujagen,  fo  tbut  er  e8  meift  mit  bem 
©efühle  be8  VebauernS,  benn  er  fürstet  fid)  »er  bem  man» 
derlei  SJiangel,  ben  et  gu  erleiben  h®t  in  weniger  »on  bet  .Rultur 
bebauten  ©egenben.  Unter  ben  „Aufjenpoften"  »erfte^t  man 
alle  colonialen  9iieberlaff  ungen  auf  Sumatra,  Vorneo,  ßelebeS3), 
ben  SSJioluffen,  5£imor,  gloreS  unb  wie  fonft  bie  »ielen  mit  fremb 
flingenben  tarnen  benannten  Snfeln  begeidjnet  finb.  9lur  gwei 
©egenben  in  ben  „Suitenbegittingen",  möchte  id}  fagen,  nimmt 
ber  erfahrene  unb  unerfahrene,  neue  unb  ältere  V ärger  jener 
tropifc^en  ©efilbe  »ou  ber  allgemeinen  fötinberjdjäjsung  au8,  ba8 
fiub  bie  £od)länbet  Sumatra’8,  bie  „$>abangfchen  33o»enlanben* 
unb  bie  „fDlinahaffa"  im  korben  »on  GelebeS.  3n  erfterer  finb 
e8  bie  IReige  be8  Älima’8  nnb  bie  9Ratur|chcnheiten,  welche  ben 
Aufenthalt  als  einen  begebrenSwerthen  ertdjeinen  taffen,  in  ber 
fDiinahaffa  finb  e8  neben  ben  gleiten  Vorgügen  nod)  bie  georb* 
neten  unb  ci»iliftrten  Buftänbe,  welche  ba§  Verweilen  bort  nid^t 
gu  einer  Verbannung  ftempeln. 

Die  'JfJiinahaffa  ift  fürwahr  ein  »on  ber  9Ratur  fehr  eigen* 
artig  abgefchloffeneS^anb,  unb  ebenjo  unterfetjeibet  e8  fi(h  burd)  ba8 
wa8  S^enfchenleben  angeht  in  auffaüenber  Söeife  »on  allen  9iach* 

(918) 


5 


barlänbetn  nid)t  nur  auf  GelebeS  felbft,  fonbern  auch  oon  allen 
anberen  3nfeln  beö  Slrd^ipelö. 

SSeJanntlid)  zieht  eine  grofje  jufammen^ängenbe  .Rette  tl}ä= 
tiger  Sßulfane  über  Sumatra,  Saoa,  Sßali,  8ombo!,  ©umbama, 
gloriö,  Simor  oon  SBeften  nach  Dften  unb  Kenbet  fic^  bann 
über  23anba  nad)  Sterben  zu  ben  BiolufJen,  ko  befonberb  im 
SBeften  ber  grefjen,  gerabe  mie  Gelebeö  geftalteten  oierarmigen 
Snfel  ^almaljera4)  bie  Sieifye  ber  fdjönften  tätigen  SBulfane  mie 
Söatjan,  Btafjan,  £ibore,  Sernate  u.  a.  liegen.  Sßon  l)ier  aber 
bringt  bie  continuirlidje  .Rette  feuerfpeienber  S3erge  fcheinbar 
plctjtich  n ad)  SBeften  übet  auf  GelebeS  unb  jmat  auf  bie  Btina» 
^affa,  unb  fefjt  fidb  oon  biefer  Kiebcr  gerabe  nach  Serben  ju 
fort  über  bie  ©angUSnfeln  auf  bie  Sßhilippinen.5) 

So  ift  bie  Btinaljaffa  al§  bie  nörblidjfte  ©pi^e  oon  Gelebeg 
ein  ejrquifit  oulfanifcbeg  unb,  geologifch  gesprochen,  neue§  Sanb, 
Kahrenb  im  ©üben  berfelben  nicht  nur  ber  Blangel  an  2?ul= 
fanen,  fonbern  auch  bie  tfyatfädjlid}  oorfommenben  ©efteine  — 
Kie  j.  5?.  f<hon  bie  bie  SJMnatyaffa  ganz  nah  begrenjenben  ©olb* 
biftricte  — auf  ein  oiel  größeres  Stüter  be§  ganbeö  weifen-  Stludj 
bie  SJrabilionen  ber  SBemofyner  ber  Btinahaffa  reben  — oiefleicfyt 
nur  in  zufälliger  Uebereinftimmung  — oon  einem  neuerlicheren 
Gntftetyen  biefer  nörblidjen  SBerlängerung  oon  GelebeS.  Btan  zählt 
an  jmanjig  thätige  SBulfane6)  in  biefem  nur  circa  90  D»Btei(en 
großen  SDiftricte,  barunter  einen  oon  über  2000  Bieter  .£>6l}e; 
baneben  geben  eine  SReilje  jum  S^eil  noch  eulfanifd)  bemegter 
Äraterfeen,  eine  ÜJlenge  oon  ©olfataren  unb  ©d)tamm=Sl>uU 
Janen,  bie  fid)  über  grofje  ©ebietc  erftreden,  fomie  ungezählte 
heifje  Duellen,  unb  man  fönnte  faft  ohne  Uebertreibung  fagen, 
tägliche  Grbbeben  Seugnifj  oon  bem  geologifdijen  Gharafter  be8 
StanbeS. 

(919) 


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6 


Söie  nun  bie  Olatur  bic  OJiinahaffa  ju  einem  in  fid)  abge« 
fd^loffenen  ©ebiet  geftempelt  h«t,  fo  t^at  eg  bie  politifhe  0e« 
meinfchaft  bet  SOienfdjen.  „SJlinahaffa" 7)  heifjt  jo  nie!  wie  „Vun« 
beögenoffenfchaft",  unb  wenn  audj  uriprünglid)  biefe  Sunde!« 
genoffenfdEjaft  feine  {ehr  enge  war,  fonbctn  nur  zeitweilig  »iiffain 
würbe  in  gemeinfamer  SSbwe^r  jüblid)er  ober  non  außen  fern« 
menber  geinbe,  unb  bie  nieten  fleinen,  gang  felbftünbigen  SDi» 
ftricte  fict)  meift  unter  einanber  befetjbeten,  fo  befielt  fcocb  jejjt 
biefe  politifdje  ©emeinfdjaft  unter  bet  Verwaltung  ber  ^oüänber 
in  hö<hft  auögefprochenet  SSeife  im  ©egenfah  ju  ber  nur  mittel« 
baren  iäbtjängigfeit  ober  ber  gänzlichen  Unabljängigfeit  ber  ben 
©üben  bet  9Dtinahaffa  begtenzenben  ©iftricte. 

2)ie  relatin  ftärfere  ©enölferung  biefeä  8anbe8,  circa  100,000 
Seelen  auf  90  ü*3Jieilea  — ftarf  benötferte  ©egenben  ©urcpa’S 
beherbergen  auf  gleichem  glüchenraum  10  SfJlal  fo  niel  Vtenfchen 
— bie  günftige  ©liebetung  feinet  Äüften,  — an  einer  eteüe 
ift  baß  £anb  fo  fdjmal,  bafs  man  in  ^met  ©tunben  non  einer 
Äüfte  zur  anberen  reitet  — baS  troj)  bet  9iä^e  beS  Stequator! 
auf  ben  .pochebenen  milbere  Snfelflima,  bie  ungemeine  grudst« 
barfeit  be§  nulfanijchen  VobenS  unb  nieHeidjt  eine  natürliche 
Anlage  bet  Vewohnet  mögen  Ülnziehungäpunfte  gewefen  fein, 
welche  bagu  beitrugen,  bie  OJtinahaffa  z“  bem  zu  wachen, 
waö  fie  ift  — im  ©egenfaj*  zu  winber  benorzugten  „Vuiten* 
poften". 

3wei,  unabhängig  non  einanber  norgehenbe,  ja  fid)  manch« 
mal  entgegenwirfenbe  gactoren  famen  hier  Zut  ©eltung:  SDie  auf 
pefuniüten  ©ewinn  gerichteten  Veftrebungen  ber  Otiebcrlanbifchen 
Oiegierung,  (Sutturen  non  bem  fDlutterlanbe  wertbnellen  l'rebucten 
angulegen,  unb  bie  ibeeDen  Siele  non  OJtiffienüren,  barauf  ge« 
richtet,  ba8  enangelifhe  Ghnftenthum  einzuführen. 

<92U) 


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7 


©eben  wir,  wie  biefe  beiten  (Slemente  auf  ein  feit  langen 
Beiten  für  fid>  lebenbeä  unb  erft  feit  einigen  3afyrl)unberten  mit 
eutßpäifdjen  Stationen  in  oberflädjlicbjer  Söerüfyrung  fteljenbeS  33ol! 
»irften,  aber  ffijjiren  wir  erft  furj  bie  Art  biefeS  ffiolfeö. 

3wei  9tacen  ttyeilen  fidb  in  ben  SBefijs  beS  £5ftinbifdjen  Snfel* 
Archipels:  bie  SJlalanifdje  unb  bie  ?5apuanifc^e;  erftere  fdjlie&t 
fidj  ben  oftafiatifdben  335lferf<baften  an,  (entere  eine  Stace  sui 
generis,  wenn  fie  nicht  in  weitere  S3ejie^ung  ju  ber  IRegerrace 
Afrifa’8  gu  fejjen  ift.  25ie  SJialapen  ftnb  im  Allgemeinen  gellere, 
gelblidje  unb  bräunliche  SJtenfdben,  mit  langem  ftraffen  fcbwarjen 
dpaar,  Reiner  Statur,  etwas  fdjiefftebenben  Augen  nnb  ferner» 
ragenben  SBacfenfnodjen.  ©ie  §)apiia§8)  ftnb  im  Allgemeinen 
bunflere,  bräunliche  unb  fdEtwärglidtje  SJtenfcben,  mit  furjem, 
fraufen  .paar,  fleiner  unb  mittlerer  Statur,  gerabefteljenbeu  Augen 
nicht  fo  auffallenb  ^ernorrageuben  Sadfenfnocben  unb  nielleid^t 
mit  einer  ftärferen  Prognathie  (»orragenbem  llntergeficht  unb 
gurücfliegenber  Stirn)  begabt9).  3n  ben  beiten  Grjrtremen  finb 
Sippen  beiber  SRacen  unfdjwer  oon  einanber  unterfcbeibbar,  aber 
bie  Abftufungen  in  jeber  berfelben,  bie  ffiariaticnöbreite  jeber  ber 
beiben  formen  unb  eor  Allem  bie  burd?  23ermifcbung  beiber  feit 
langen  Briten  probucirten  Abfentmlinge  an  ben  ©renjbiftricteu 
laffen  fie  fo  ftufenweife  in  einanber  übergeben,  baf}  e§  ^äufta 
fdbroierig  fein  bürfte,  in  einem  Snbicibuum  ju  unterfdjeiben,  ob 
5Btalapif<he8  ober  PapnanifcbeS  S3lut  »orwiege. 

3m  Allgemeinen  Raufen  bie  SJlalanen  im  SBeften  be§  Ar» 
<bipel$,  bie  Papiia§  im  Dften10).  gaft  auf  jeber  non  ben  SDialapen 
bewohnten  Snfel  tragen  biefe  anbere  fRatnen  ober  finb  ihnen  oon 
ben  (Europäern  anbere  Siamen  gegeben  worben.  So  beiden  bie 
SÖialapcn  non  Sumatra:  S3atta8,  SampongS,  fRebjange  u.  a.,  bie 
SDialapen  oon  Sana:  Sunbanefen  unb  Saoanen,  bie  Söialapea 

(921) 


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8 


pon  (JelebeS:  SöugiS,  fJRafaffaren,  Alfuren  u.  f.  w.  5«  Allen 
aber  t)abert  wir  ÜRenfdjen  oon  SRalanifchem  Stamme,  nur  mehr 
über  weniger  pon  einem  ©runbtppuö  weg  mobificirt  burd)  Sultur, 
üebenSweife,  flimaiifd)e  23erl)ältniffe  unb  burd)  eine  tReihe  ton 
Umftanben,  bie  gu  analpfiren  uno  bei  bem  heutigen  ©taube  ber 
Anthropologie  nicht  möglich  tft. 

2>er  ,£>auptfif}  bet  fPapuaS  tft  jefct  9teu«@uinea,  im  fRorben 
AuftralieitS,  allein  eS  liegen  eine  fReibe  pon  Anzeichen  per,  tat; 
biefe  Diace  früher,  b.  h-  »or  langen  Beiten,  ben  gangen  oftinbi« 
fdjen  Archipel  beoölfcrte  unb  erft  allmählich  gurücfgebrängt  unb 
pernichtet  würbe,  ober  bafs  fich  bie  fReuaufömmlinge  mit  ihnen 
permifchten.  Auf  GelebeS,  unb  fpecieH  in  ber  9Riuahaffa,  ift 
lein  autodjthoneS  papuanifdjeS  (Slement  entbecft  worben" ),  unb 
baS  .^ineinfpielen  biefeS  GlementeS,  pon  bem  man  hier  auö  fpä» 
terer  3eit  weih,  war,  wie  eS  fcheint,  rein  äu§erlid?er  Statur  unb 
ift  auch  feineSwegS  bcbeutenb  genug  gewefen,  um  bie  föialapeu 
phpfifch  umgugeftalten  ober  überhaupt  phüftfch  auf  fie  einguwirfen. 
(SS  weifen  jeboch  manche  Sitten  auf  eine  intimere  2?eeinfiuffung. 
Db  biefe  pon  aufjen  gugetragen  würbe,  ober  ob  fie  pon  einem 
pernidhteten  einheimifchen  Element  hetrührt,  bürfte  fchwet  gu 
etuiren  fein.  2>ie  ÜRöglichfeit,  bah  bie  anwanbernben  fSJialaoen 
ein  pon  5Renf<hen  unbewohntes  8aub  fanbeu,  läht  fich  nicht  au§* 
fchliehen.  3h*e  $rabitionen  weifen,  fo  weit  man  fie  bis  je$t 
fennt,  auf  fein  23clf,  welches  bie  SRinatjaffa  oot  ihnen  bewohnte, 
fonberu  nur  barauf,  bah  fie  nicht  auf  biefem  Soben  „entftanbcn“. 
Söir  fennen  bähet  in  ber  SRinahaffa  nur  einen  ÜRenfchenftamm: 
bcn  SDlalapifchen  ober,  ba  man  gewohnt  ift,  biefen  fRatnen  in  einem 
engeren  ©inne  gu  gebraudhen:  ben  9Ralapo=pohmefifchen. 

©chon  per  3ahthul  berten  ftanben  biefe  Scheite  oon  (SelebeS 
unter  ber  33otmähigfeit  ber  Sultane  pon  Sernate  uub  libore  im 

(922) 


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9 


Dften  ober  unter  berjertigen  mäßiger  fübltc^er  JReicbe,  wenn 
biefe  Söotmäfjigfeit  auch  nid^t  oiel  ju  fagen  gehabt  haben  ober 
nur  temporär  in  SBirflicbfeit  auggeübt  worben  fein  mag.  Um 
bie  fSJiitte  beg  16.  3a^r^unbert8  febeinen  bie  ^ortugiefen  ficb 
^uerft  in  ber  ÜJiinabaffa  eine  3cit  (ang  niebergelaffen  3U  haben, 
ihnen  folgten  ©nbe  beS  16.  ober  am  beginne  beg  17.  Sa^r^un» 
bertg  bie  ©panier,  beibeg  eminent  eolonifatorifebe  Nationen ; fie 
führten  bag  C51?riftent^um  ein,  unb  oielleicbt  erfennt  man  noch  in 
einigen  pbnfifdjen  3ügen  ber  Söewobner  ber  SOtinabaffa  bie  ©puren 
biefer  fftbnen  ©ioilifatoren.1  *)  Um  bie  SSJiitte  beg  17.  Sabrbunbertg 
haben  bie  Jpollänber  fie  oerbrängt  unb  fiub  feitbem  mit  gan$  furjet 
Unterbredjung  in  bem  33efitj  beg  Sanbeg  gebliebeu.  SHHein  ber 
SDiftrict  gewann  feine  beroorragenbe  23ebeutung  big  in  bie  brei» 
fjiger  Sabre  biefeg  Sabrbunbertg.  .fjier  beginnt  bie  (Sinroirfung 
jener  beiben  (fingangg  genannten  gactoren:  ber  colonifirenben 
^Regierung  unb  bet  ebriftianifirenben  5Riffionäre  auf  ein  33olf, 
weldjeg  fo  gut  wie  ol)ne  tiefere  ©ultur  in  unferem  ©inne  war. 
35ie  (äinfliiffe  ber  fPortugiefen  unb  ©panier  batten  fidj  gänglit^ 
»erwifebt  unb  bie  ber  .poflänber  waren  unbebeutenb  geblieben, 
©egen  (fnbe  beg  18.  Sabrbunbertg  fudjten  biefe  bag  ©Triften® 
tbum  wieber  eingufübren,  aber  bet  ©rfolg  mar  gering. 

3m  beginne  biefeg  Sabrbunbertg  berrfebten  no<b  tobe  ©itten. 
5)er  SRenfd)  ging  faft  naeft.  @r  lebte  in  fleinen  ©emeinfebaften, 
in  unbebeutenben,  begpotifd)  regierten  gamilienftaaten;  in  bem 
nur  circa  90  □»üReileit  umfaffenben  ©ebiete  würben  eine  gro§e 
fReibe  netfdjiebener  Sialecte  gefproeben,  bie  faft  fo  febr  oon  ein* 
anber  bifferirten,  wie  unfere  mobernen  ©pracben,  b.  b-  fo  |ebr, 
baf)  man  fi(b  gegenfeitig  nicht  oerftanb;  wer  nicht  ber  engeren 
gamiliengenoffenfcbaft  angebörte  mar  ein  geinb,  er  würbe  ge* 
tobtet,  wo  man  ihn  fanb;  bag  £eben  galt  niebtg  ober  wenig; 

(923) 


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10 


möglicbft  Diele  menfcfyltdje  ©<bäbel  Den  erfdjlagenen  feinten  in 
bet  £ütte  ober  in  bem  gemeinfatnen  Skrfammlungßort  beß  ©orfel 
aufgubängen  war  ein  ©folg  unb  eine  @^re;  eß  ^errfdjte  ftrenge 
©flaDerei  unb  Stedjt  über  geben  unb  Sob  bei  bem  (Singeinen 
gegenüber  bem  (Singeinen;  bei  bem  S3au  eineß  ,£>aufeß  mujjte 
man  unter  jeben  $)fabl,  auf  bem  cß  ruljte,  SJtenfcbenföpfe  legen; 
wenn  ber  ,£>err  ftarb  warb  tyrn  ber  JVopf  beß  ©flauen  mit  inß  @rab 
gegeben13);  Unfittlidjfeit  unb  Unmäfjigfeit,  grud)tabtreibung14) 
unb  übermäf)igeß  Arbeiten  ber  grauen,  neben  jenem  febon  er* 
wähnten  £inbernif}  gur  Skrmebrung  ber  SJtenfcben : bem  Söbten 
beß  geinbeß  um  in  ben  S3efij}  feineö  Äopfeß  gu  gelangen,  liefen 
bie  23eoölferung  nicht  anwaebfen;  feine  Sßege  aufser  für  SBilbe 
begehbare  burdjgogen  baß  ganb;  ©eeräuber  Dom  Sterben  unb 
Dften  oerbeerten  bie  ©tranbnieberlaffungen  mit  bebenflidjer  Dtegel« 
mä&igfeit,  führten  bie  Söeoölferung  fort  uub  brangen  tief  inß 
ganb,  ben  geringen  Sefifc  gerftörenb  unb  jebe  ©tabilität  ber 
SBerljältniffe  untergrabenb ; Drbmtng,  Sitte  unb  Jf eufdjfyeit  waren 
nur  in  ben  bejdjeibenfteu  Anfängen  Dorbanben;  bie  Religion  be* 
ftanb  geroifjermaa&cu  in  einem  glbnencultuß  mit  einem  2Buft  Don 
Aberglauben  — furgum  bie  Sewoljner  ber  SJtinabaffa  befanben 
fidj  Dor  50  Sabren  in  jenem  3uftanbe,  in  welchem  wir  beute  noch 
bie  beibnijdjen  SBewobnet  Don  Gentra!»(Selebeß,  Don  ^almabera, 
Don  9teu»@uinea  unb  bie  Seroobner  Dieter  anberer  ©egenben  im 
oftinbifeben  Sfrdji^el  jeben. 

9t un  aber  nabmen  bie  Beamten  ber  $anbel  treibenben  ,pot* 
länber  bie  3ügel  ber  Siegierung  ftraffer  in  bie  Jpaub,  unterftüfct 
Don  einet  gang  geringen  SDtilitärmacbt,  bie  mehr  bureb  moraliicbeß 
Uebergewicbt  alß  bureb  faftifcbeß  eine  3toDe  fpielte.  ©ie  gwangen 
bie  Söcwobner  gute  SBege  angulegen,  weldje  bie  entfernteren  fünfte 

ber  jötinabaffa  leicht  oerbanbeu,  fie  regelten  baß  geben  in  ben 

<«♦) 


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11 


Sörfern,  unterftüljten  bie  Häuptlinge  mit  ihrer  SDlatfct,  übteu 
©erichtßbarfeit  au8,  befristen  bie  Sinnen  gegen  bie  Uebetgtiffe 
ber  9Jiäd)tigen,  fchafften  fpäter  bie  Sflaoerei  ab,  mehrten  bie  pc» 
riobifch  wiebetfehrenben  Seeräuber  für  immer,  unb  milderten  bie 
Sitten  auf  bie  uerfdjiebenfte  SEÖeife.  SlUeä  biefeä  traten  fie  nach 
bemfelben  meifen  'Priucip,  welches  i^re  Dbcr^errfdjaft  über  baS 
gange  weite  SReidj  möglich  machte  unb  macht,  nämlich  baf)  fie 
burd)  ben  SORunb  ber  eingebornen  Häupter  regieren,  währenb  baS 
Bolf  fidj  felbft  gu  regieren  wähnt.  Sie  führten  bie  Sftalapifche 
Sprache  (sensu  strictione)  als  Umgangs*  unb  SRegierungefprache 
ein,  errichteten  Schulen  unb  gwangen  »er  Slllem  ben  Silben  gegen 
mäßiges  Entgelt  Plantagen  angulegen,  mit  beren  grüßten  fie  bie 
Speicher  GuropaS  bereicherten. 

2>er  Bulfanifdje  fruchtbare  Sieben  ber  bewohnten  Hochebenen 
eignete  fich  befonberS  gut  Gaffeecultur  unb  ber  Sebetn  befannte 
SDtanabo=Gaffee' 5)  (nach  ber  Hauptftabt  bet  3Jiinahaffa  benannt) 
bemeift  noch  heute  bie  SRidjtigfeit  beS  ©ebanfenS.  Sie  erften 
SSerfuche  ben  Gaffee  bort  gu  bauen  batiren  in  ben  Beginn  biefeö 
SahrhunbertS  gurücf,  boch  erft  feit  ben  gwangiger  fahren  würbe 
bet  Stnbau  rationell  betrieben.  Sieben  Gaffee  pflangte  man  Gacao, 
ber  hauptfädjlich  nach  ben  ^)^Uip>p>inifdhen  Snfeln  auSgeführt  wirb ; 
SDiusfatnüffe,  bie  befonberS  in  SImerifa  ihren  Slbiafj  finben;  man 
»erfuchte  ben  Snbau,  aber  mit  geringem  Grfolge,  non  „93ianila= 
Hanf“,  bort  „Äoffo"  genannt  (Musa  textilis);  bie  gabrifation 
»on  Sauwerf  auS  „©umutu"  (Arenga  saccharifera);  bie  Gul» 
tuten  Bon  Sabaf,  Seibe,  Banille  unb  anberen  9>robucten,  eS 
würben  bie  ^errlidbften,  roh  eßbaren  fruchte  auS  anberen  Sheileu 
beS  SlrdjipelS  eingeführt,  Biehgucpt  getrieben,  sPferbegu<ht  unter* 
ftüfct,  neuerbingS  Sanbwirthfchaftliche  SluSftellungen  Beranftaltet 
— in  einem  SBorte  man  oerfuc^te  unb  nerfucht  nach  beften  Ätäf» 

(9S5) 


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12 

ten  unb  beftcm  ©tfien  au§  bem  tterhanbenen  (Elementen  unb  mit 
ben  befcfjeibenen  ÜRittel«,  bic  ben  mit  biefen  Aufgaben  23etrauten 
gu  ©ebote  flehen,  baS  18otf  ber  fKinahaffa  auf  eine  lje^ere  Stufe 
gu  l)ebeu,  ben  €D?enfdjen  Sicherheit  beS  (Eigentums,  2uft  am 
(Erwerben  unb  miibere  Sitten  gu  fdsenfen. 

3u  g!eid)er  3eit  aber  fam  ber  anbere  gactor  in»  Spie!:  baS 
SBirfctt  ber  c^riftlidjen  fflRifftonäre.  Sefcheiben  anfangenb,  aber 
mit  bem  energischen  (EnthufiaSmuS  ber  ganatifer  waren  e3  guerft 
einige  wenige  £ollänber  unb  3)cutfd)e,  welche  baS  (Enangelium 
in  jette  ©egettben  trugen,  welche  lehrten  unb  in  £anbwerfen 
unterwiejen,  Sittengejeße  prebigten  unb  ihr  gangeä  geben  bem 
Biele  weihten  „auö  bev  SBerbammniß  oerfaUetrcn  Reiben  ber  Selig* 
feit  theilhaftige  öhriften  gu  machen".  £>ie  jeßt  bort  weilenben  12 
europäischen  SOtiffionäre  leiten  mit  Jpftlfe  einer  großen  ISngabl 
inlänbijdher  Unterweifer  circa  125  Schulen,  in  benen  jährlich 
circa  10,000  Äinber  unterrichtet  werben  im  gefen,  Stechnen, 
Schreiben  unb  anberen  elementaren  ©ingen,  im  9Jtalamjd)en  unb 
^otlänbifcheu.  3)ie  SRijftonäte  werben  non  ?9tiffion8gefeUfchaftett 
in  ^sollanb  unterhalten.  'Äußer  biefen  SRiffionbfchulen  giebt  eä 
noch  eine  große  3aßi  »on  bet  fRegieruug  unb  ben  ©ingeborenen 
felbft  unterhaltene  Schulen.  Die  füJtifftonäre  taufen  circa  5000 
SRenfchen  im  3aßre,  fo  baß  non  ben  100,000  (Einwohnern 
ber  SRinaßaffa  nur  noch  ein  geringer  Srudßheil  he*bnifch  ift, 
ltnb  fie  fdjließen  circa  1000  (Ehen  jährlich-  Sie  finb  eö,  welche 
bie  SRenfdjen  gu  iReinlichfeit  unb  Drbnung  anljalten,  furgum, 
welche  fie  mit  ©imlifation  ubertiinchen  unb  fie  in  baö  (J^riften* 
thum  einftthrett. 

©lücflicheicweife  finb  CE^rifteut^um  unb  (Eultur  feine  ©egen« 
fäße,  unb  fo  arbeiteten  fieß  ^Regierung  unb  SERijfionäre  in  bie 

<£>an be,  nielfach  chne  eS  3“  wollen,  jeber  feinen  eigenen  SBeg 

(m) 


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13 


getjenb  unb  jeber  fid  in  erfter  Sinie  ben  @rfolg  Dinbicirenb.  litt* 
Dermeiblidj  fam  eS  gu  Ungufömmlidfeiten,  unter  bencn  bte,  weide 
man  begliicfen  wollte,  litten  unb  leiben,  begrciflickrmeife  mußte 
»on  beiben  ©eiten  getappt  werben,  ehe  man  ben  befferen  2Beg 
fanb  unb  finbet,  aber  wir  fehen  jebenfallS  augenblicflid)  baS  SSolf 
ber  fölinahaffa  in  einem  fdnellercn  (IntwidelungSgange  begriffen 
— wie  weit  unb  wohin  er  führen  wirb,  bürfte  jdwer  a priori 
mit  ©iderheit  gu  beftimmen  fein.  25od  befinben  ftd  bie  SJtina* 
haffaet  momentan  feineSwegö  in  einer  unglücflidjen  Sage:  SBe* 
wohnet  eines  oon  bet  9tatur  nach  jeber  Dlidtung  h*n  reidb  be» 
badten  ©obenS,  ber  leisten  @rwerb  gulcißt,  gefieberte  unb  ftieb» 
liäje  3«ftänbe,  unb  viele  Äöpfe  beforgt,  um  circa  100,000  SJien« 
fden  gu  „cioiliftren"  unb  ihnen  bie  Sßoljldateu  unierer  Gultur 

gugänglid  ju  maden. 

25 aß  in  Söirflidfeit  ©ieleS  nidt  fo  auöfie^t,  wie  man  e§ 
fdeinen  laffen  mödte,  wirb  benjenigen,  ber  fid  überhaupt  um 
ben  @ang  menfdlidet  33inge  befümmert  hat,  nidt  SBunbet 
nehmen,  ©ieüeidt  wirb  gu  viel  gefdulmeiftert  unb  nidt  genug 
praftifd  gelehrt  com  Sanbbau  unb  Jpanbwerf;  mit  ben  Söohl* 
thaten  ber  Gultur  bringt  man  jenen  Sftaturfinbern  aud  ihre  sJtadä 
deile,  fie  finb  unferen  Saftern  leidster  gugänglid  als  unjeren 
Stugenben,  unb  nehmen  Unarten  an,  weide  atlmählid  3«  Sehlem 
werben  fönneu.  Mein  wer  wollte  biejen  ©erfud,  ein  Dfaturcolf 
gu  einem  Gultumolf  gu  ergießen,  mißbilligen,  ober  wer  wollte 
gu  wehren  fuden,  unb  wer  oor  allem  jähe  nidt  einem  felden 
„(Syperiment"  mit  Sntereffe  gu?  ©iel  mehr  als  ein  foldeS  ift  eS 
nidt.  £ier  wädft  augenblicflid  nod  SßidtS  ober  wenig  oon 
innen  heraus,  fonbern  2lHeS  wirb  »on  außen  hineingetragen,  ein 
weniger  weijeS  ©orgeßen  non  ©eiten  ber  gwei  baS  ffiolf  bear* 
beitenben  gaftoren  unb  ein  felbftänbig  erwadenbet  unb  nidt 

(9*7) 


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14 

ftreng  geleiteter  SBolfßgeift  fann  bie  Bemühungen  een  Sabrgebnten 
über  ben  Raufen  werfen  unb  afleß  ohne  Stteifel  geleiftete  iHu» 
forifcb  madben. 

35a  ft <b  an<b  8ebrer  unb  ßeiter  beß  33olfß  feineßwegß  einig 
unb  ftar  barüber  finb,  wobin  fie  baffelbe  fübten  werben,  ba  fie 
»ieDeidjt  nicht  Har  barüber  fein  fönnen,  inbem  ftd)  ebenfo  wenig 
mit  eiuem  gangen  Bolfe  wie  mit  bem  einzelnen  Snbioibuum 
„ejcacte"  Grperimente  auf  bem  SBege  ber  ©rgiebung  unb  geiftigen 
©ntwieflung  anftetlen  laffen,  fo  bat  man  wobl  noch  feinen  ©runb 
mit  „©tolg"  auf  baß,  wag  biß  jefct  gefcbel)en  ift,  gu  feben,  benn 
erft  bie  3eit  foü  erweifen,  ob  auch  etwaß  fRecbteß  geleiftet  würbe, 
ob  nicht  baß  Bolf,  ftatt  auf  eine  b^bere  seiftige  unb  fittlicbe 
Stufe  geführt  gu  werben,  naebbem  eß  alle  Urfprüngticbfeit  beß 
SBefenß  unb  bamit  baß  @lücf  beß  üftaturmenfeben  oetloren,  ficb  alß 
unfähig  erweift,  auf  biefem  SBege,  ber  feine  ©ntwicfelung  non 
innen  b«auß  war,  »orguf freiten,  unb  bann  auf  bem  SBege  ber 
,£>albbilbung  flehen  bleibt,  oltne  bie  Äraft  bebeutenbere  ©teifter 
gu  probuciren  unb  behaftet  mit  allen  Reblern  unb  Baftern,  welche 
£albbilbung  — geiftige  unb  fittlicbe  — ohne  Leitung  mit  ficb 
führt,  fölan  febe  auf  »iele  bet  früheren  fpanifeben  Golonien  in 
Slmerifa! 

©inen  unwiebetbringlicben  0^acf>tbeil  aber  führt  biefe  ©nt» 
wicfelung  jebenfaüß  mit  ficf>,  ein  Siadhtheit,  ber  aKerbingß  non 
nicht  Bielen  alß  folcher  erfannt  wirb  — faft  alle  Urfprünglichfeit 
wirb  oerwifebt;  ber  ©tbnologe  muh  bier  fdfneU  fein,  faüß  er  noch 
etwaß  etbaftben  will  non  ber  ©itte  beß  Bolfeß,  faüß  er  noch  »on 
ber  ©pracbe,  non  ber  Ueberlieferung,  oon  ber  {Religion,  »on  ber 
fPoefie,  oon  bem  <£>anbwerf  beß  fDienfcben  ber  SJiinabaffa  fommen* 
ben  ©efcbledjtern  berichten  foü.  ©lücfticberweife  fann  gweierlei 
tTÖften:  er  ft  lieb  bet  Umftanb,  bah  an  anbeten  ©teilen  beß  Slrcbipelß 

(92$) 


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15 


nodj  ungegarte  SBölferfchafteu  in  itjrer  Urfprünglicbfeit  beharren, 
SU  benen  bi»  er  leiue  Stritte  lenfen  !ann,  wenn  et  will,  unb 
bet  benen  et  in  allet  §üOe  noch  ju  unterfucben  ftnbet,  wa8  ibm 
unterfudben8wertb  erfcbeint,  unb  swat  bei  58olf8ftämmen,  welche 
benen  ber  SRinabaffa  nad}  oielen  fRidjtungen  bin  nabe  »erwanbt 
finb,  unb  sweitenä  bet  Umftanb,  bah  fowcbl IRegierungSbeamte  al8 
aud;  5Riffionäre  feit  Seginn  mit  einanber  wetteiferten,  nm  2lHe8, 
roa8  un8  non  ben  (Sigentbiimlicbfeiten  be8  33olfe8  ber  9Rinabaffa 
intereffiren  fönnte,  aufgugeicbnen;  unb  fo  ift  fcenn  bie  Literatur16) 
übet  biefe  nörblicbfte  ©pi^e  oon  (5elebe8  nicht  anberS  als  eine 
febt  bebentenbe  gu  nennen. 

3tuS  biefer  gunbgrube  fc±)öpfeit  wir  gur  ©barafteriftif  bet 
23olf8art  bie  folgenben  ©päne. 


(Srgäblungen: 

(58  war  ecnmai  eine  grau,  bie  fRimba  b*e§,  unb  ibt  SRann 
bie§  SRumimpunu.  ©ie  batten  feine  Jfinber  unb  wohnten  am 
©tranbe.  IRimba  pflegte  jeben  9Rorgen  an  bet  Slufsmünbung 
Söaffet  s«  fd}6pfen  unb  ftet8  war  fie  bort  allein  gu  biefem  3roecfe. 
Qcinntal  jebocb,  al8  fie  wieber  SSaffet  fdjöpfen  wollte,  fab  fie  ein 
Ätofobil  in  ber  ©ee.  2118  biefeS  bie  SRimba  am  ©tranbe  erblicfte, 
fam  e8  an8  8anb.  SBäbtenb  e8  an’8  8anb  fam  merfte  JRimba 
aber,  bah  e8  fein  Ärofobil  ntebt  war,  fonbern  ein  üRann. 

©er  ÜRamt  fragte  Ofimba : „SBiUft  Sn  meine  Stau  werben?" 
fRimba  antwortete:  „©aS  gebt  nicht,  benn  ich  bin  »erbeiratbet." 
2lbet  ber  fJRaun  bat  unb  flehte  bi8  fie  nachgab,  unb  fo  lebten 
fie  mit  einanber. 

Einmal  fagte  ber  SJiann:  „SÖenn  bu  ein  Äinb  befommft 
nnb  e8  ein  Änabe  ift,  fo  muh  et  JRumambi  beihen*“  darauf 

(929) 


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16 


ging  et  an  bie  ©ee  ttub  mürbe  wieber  ein  Ärofobil.  Siimba 
aber  febrte  gu  ihrem  Spanne  gurücf. 

9lacb  10  SRonaten  befarn  Sflimba  einen  ©ebn.  9iacb  bet 
üblichen  3eit  niuftte  bemfclben  ein  9lame  gegeben  merben,  nnb 
ber  ©ewofjnbeit  gemäfj  nerfammelten  ftd)  afle  ©lutöoerwanblen 
gu  biefem  gefte.  ©a§  ftrofobil  war  aud>  gefommen  mit  nod> 
Bielen  anbcren  Ärofobilen  unb  fagte,  baf)  fie  auch  SlutgDerwanbte 
feien;  fie  batten  aber  alle  bie  ©eftalt  Bon  fERenfcben  angenommen. 

©amalS  ronrbe  greunbjcbaft  gefcbloffen  gwifcben  IRumim* 
punu  unb  bent  ÄTofobil,  welches  gu  il)m  gefagt  batte,  ba§  eS 
Äoiugotan  bei fje. 

2118  Äoingotan  mit  feinen  ©enoffen  gurüeffebreu  wollte,  fagte 
er  gu  Diumimpunu:  „gveunb,  wenn  jRumambi  grofs  geworben  ift, 
mu&t  ©u  ibm  folgenbes  mittbeilen  unb  er  foH  eS  autb  feinen 
Äinbern  unb  Äinbcßfinbern  mittbeilen : SBenn  Semaitb  au8  feiner 
9?a<hfommenfcbaft  über  bie  SJlünbung  irgenb  eineg  gluffeg  fe£en 
wiH,  braucht  er  nicht  ängftlid?  gu  fein  unb  muf)  nur  rufen:  „„ O 
©rofjoater!  forge  für  ©einen  Gnfel!"“ 

©o  gefdjab  e§.  SBenn  3emanb  eine  glufjmünbung,  wo 
Ärofobile  gewöhnlich  häufen,  überfebreiten  wollte  unb  nur  jene 
SBorte  rief,  fo  fonnte  er  ohne  Ütngft  an  ben  ©tranb  geben  ober 
ben  glufj  burcbfdjroimmen. 

©atutn  fagt  mau  noch  jefjt,  wenn  man  ein  Ärcfebil  fiebt 
mit  4 3eben  au  ben  güfcen,  bafj  eä  ftetö  ein  Ärofobil  gewefen 
fei,  bat  c8  aber  5,  fo  ift  e$  ein  Sibfömmling  Bon  Äoingotan,  bent 
SJater  Bon  9iumambi. 1 J) 


Gin  9lffe  wollte  einmal  über  einen  DKeereöarm  gwifiben  gwei 
Snfeln.  Slbcr  er  fonnte  nidjt,  benn  ba8  SBaffer  war  iebr  tief, 
©a  fab  er  mebre  Ütofobile,  bie  riefen:  „2lffe,  wir  werben  ©idj 

(930J 


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17 


aufreffen!"  — „ÖJut",  antwortete  er,  „aber  t^r  feib  nicht  genug 
um  mich  gan$  aufjufreffen,  fyolt  noch  eure  jfamerafcen  gerbet." 
S)aö  traten  bie  .f  rofebile. 

5)er  Slfe  jagte  nun:  „Stellt  euch  in  eine  SReifye  »on  einet 
Seite  511t  anberen,  itnb  ich  »erbe  üälfen,  ob  ihr  jejjt  genug  feib, 
um  mich  gan^  aitfjufreffen  ober  nod)  nicht  genug." 

5)ie  Ärofobile  traten  »ie  ihnen  geheifeen.  Sefet  hatte  bet 
Slfe  einen  SBeg  um  über  baö  Sßiaffer  3U  fommen.  (Sr  fng  3U 
3äl}len  an  non  bort,  »0  er  ftanb,  bis  an  bie  anbere  Snfel;  et 
ffsrang  »en  einem  auf  bag  anbere  unb  jäljlte  1,  2,  3,  4 u.  f.  ». 
biß  an  ben  lebten.  SDann  jprang  er  an6  Ufer,  fab  ftdj  um,  unb 
fagte:  „Jpa ! fea!  nun  habe  ich  auf  eud)  2We  »ie  auf  meine 
Sflaoen  getreten  unb  ihr  »erbet  mir  nie  mehr  etwas  anljabett 
Icnnen!" 


(Sine  Sdjilbfröte  wufete  baff  einige  2tfen  feljr  böje  unb  nei* 
bifd)  auf  fte  waren.  Sie  rief  fie  baljer  eines  2age3  unb  jagte: 
„SBenn  eg  eud)  redjt  ift,  fo  »ollen  wir  3ufammen  auf  bet  Sanb* 
ban!  ^ifdjc  fangen."  Sehr  vergnügt  ging  bie  Schaar  >3fen  mit 
bet  Sdjilbfrote  nach  bet  Sanbbanf,  benn  pe  »ufeten,  bafe  bie 
Scbilbfröte  jeljr  gut  fftpen  fonntc.  9118  fie  aber  an  ben  Straub 
lamen,  jähen  fie  bafe  et  troefen  gelaufen  war. 

2>ie  Slfcn  fragten  bie  Sdjilbfröte  baljer,  »ie  fie  SDtufdjeln 
fangen  fönnten. 

!Die  Sdjilbfröte  erflärte  e8  ihnen  unb  jagte:  „Sebet  mufe 
fidj  eine  ofenfteljenbe  SDfujt^el  juchen.  SBenn  iljr  Sille  eine  ge* 
funben  habt,  bann  ruft  e§  cinanber  ju  unb  fteeft  ju  gleidjer  3«t 
bie  .£>anb  3»ifchen  bie  Schalen." 

Sie  folgten  ber  Sdjilbfröte  uub  fteeften  3U  gleicher  3eit  bie 

XL  262.  2 (231) 


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18 


•gtänbe  gwtfdjen  bie  ©dealen,  aber  bfe  TOufdjeln  jdjloffen 
unb  Hemmten  bie  $änbe  feft. 

9tun  fingen  bie  affen  rot  ©<bmer3  31t  fe^reien  unb  beulen 
an,  aber  fennten  nicht  loSfommen.  3)aS  äöaffer  ftieg  triebet, 
fie  würben  eon  ben  SBogen  überflutbet  unb  ertranfcn  alle,  aber 
bie  ©djilbfröte  ging  anS  Sanb  unb  fagte:  „9iun,  ihr  follt  mich 
nicht  trieber  ärgern." 


Smprooi firte  ©efänge: 

©efang  einiger  3ünglinge,  bie  betrübt  finb  über  baS 
SSeggeben  eines  frönen  SJtäbcbenS. 

£>  ©tern  con  Sonfea,  wo  will  ft  bu  ^inge^en?  ITu  rer* 
Iocfteft  beine  ©efpielen  3ur  gröblicbleit;  jefct  baft  2onfea 
»erlaffen ; beine  ©cfpielen  finb  ftill  geworben,  weil  ber  (eucbtenbe 
©tern  uutergegangen  ift.  ©ie  ging  nad)  Äema,  um  nid)t  3U* 
rü^ufebren ; fte  febrt  nicht  gutücf,  weil  fie  auS  Siebe  bort* 
bin  ging. 


©efänge  eines  SWäbcbenS  beffen  ©eliebter  fern  ift. 

1. 

£>  SSogel  auf  bem  ©ifenbaum,  giebibm  SRad^rir^t;  mir  fehlt 
9ti<btS;  f<bon  non  fern  erlennt  fte  ibrett  gteunß;  fie  etfennt  ibn 
an  feinem  langfamen  ©ang  unb  b«t  ib«  lieb;  aber  ift  er  auch 
weit  weg  auS  ihren  äugen,  jo  b“t  fie  fein  S3ilb  bocb  in  ihrem 
^ctgen. 

2, 

2BaS  tljut  mein  23erlobter  oietieicht  je^t?  5öieflei<bt  unter* 
hält  er  fidb  ober  er  fi|t  ftiUe. 

(932) 


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19 


SBie  fern  weilt  ber  ©egenftanb  meinet  ©ebanfen,  in  Weid)’ 
fernem  £anb?  Äel)re  gurücf,  bafj  wir  unS  wiebetfeben. 

SBenn  ein  Stenfd)  wie  ber  SQMnb  »orbeigebt,  fo  nehme  id) 
Hinang  auS  meinem  Stunb  unb  fenbe  eS  ihm. 

SBäre  id)  ein  Söget,  id)  würbe  mid)  auf  baS  £auS  beS 
©egenftanbeS  meiner  ©ebanfen  fefjen. 

9t  cf),  fönnte  er  bod)  feine  geliebte  ©pielgenofjtn  feben!  3dj 
bin  gu  fe^r  betrübt,  ba§  id)  ihn  nid)t  feben  fann. 

3d>  ge^e  weinenb  mitten  auf  bie  ©trafse,  aber  id)  febe 
il)n  nicht. 

3«h  fann  nicht  mehr  fdjlafen,  fetbft  mitten  in  ber  Sacht 
benfe  id)  an  unfer  ©lücf. 


©efang  eines  3üngling§,  beffen  Bantilie  gegen  feine 

^»eirath  ift. 

D SlutS»erwanbte  unb  ©Item,  weigert  euch  nicht  länger 
unb  beutet  eS  nicht  fdjted)t;  für  fte  ift  bie  Beit  ba;  wiberfefjt  euch 
baher  nicht  mehr;  »erbietet  eS  nid)t  länger,  benn  ihr  werbet  e8 
hören,  bafj  er  fte  aud)  gegen  euer  Setbot  beiratbet. 


©efänge  »on  Sünglingen  unb  Stäbchen,  bie  fidj 
lieben. 

1. 

3üngling.  ©d)on  als  wir  flein  waren,  ©eliebte,  »er* 
fptachen  wir,  unS  nie  untreu  gu  werben. 

Stäbchen.  Seit  2Du  mir  ©eine  Siebe  »erfprochen,  ba&e 
ich  ntid)  feinem  Snbeten  gugewenbet. 

Süngling.  Son  bem  Slugenblicf  an  als  S5u  gut  3Belt 

2 * (9S3J 


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20 


famft,  tjaft  Su  e8  mir  angetan  unb  feitbem  fyaben  meine  ©e* 
banfen  Siet)  nid?t  oerlaffen. 

SERäbdjen.  betrüge  midi)  nidjt  met)r,  ©eliebter,  benn  meine 
©ebanfen  »eilen  nur  bei  Sir. 

3üngling.  SDiein  ©emüll)  ift  nur  oon  Sir  eingenommen, 
benn  felbft  Seine  33er»anbten  liebe  id). 

SJläbdjen.  2ludj  meine  ©ebanfen  finb  nur  auf  Sid)  ge* 
richtet,  benn  felbft  Seine  SBerwanbten  liebe  id). 

Süngling.  ©id)er  ift  e8  fcfyön,  un8  gufammen  gu  jet)en, 
benn  Su  bift  fc^ön,  ©eliebte;  wie  Diel  mefjr  alfo,  »enn  wir 
gufammen  finb. 

9)täbc^en.  @8  ift  befannt,  bafj  unfere  Jpergen  Bereinigt 
finb,  ©eliebter,  unb  man  fteljt  mid)  barauf  an. 

3üngling.  ©djon  feit  einem  3al?r  finb  mir  uerlobt. 

SRäbdjen.  3n  biefem  Satyr  »ollen  wir  un8  Derbin  ben 
unb  »arte  icty  auf  Sid),  ©eliebter,  wenn  Su  mid)  nidtyt  ge« 
taufet  tyaft. 

3üngling.  SBenn  i d)  an  Sid)  benfe,  ©eliebte,  unb  ift 
e8  SJiitternadtyt,  fann  id)  nic^t  fttylafen. 

SJläbdtyen.  SBenn  icty  Sid)  nidtyt  erringe,  ©eliebter,  io 
gietye  idty  e8  Bor,  eine  Sungfrau  3U  bleiben  unb  nidtyt  <tu  tyeirattyen. 

Süngling.  SBenn  bie  ©ntfctyeibung  getroffen  ift,  »erbe 
idty  Sir  allein  folgen,  benn  idty  liebe  Sid). 

SSJläbctyen.  SBenn  Seine  Sorte  etyrlidty  gemeint  finb,  @e* 
liebtet,  jo  folge  icty  Sir  allein,  benn  icty  liebe  Sicty. 

2. 

3üngling.  3dty  will  bie  alte  Erinnerung  an  unfere  Siebe 
erneuen,  benn  baburcty  »erben  wir  uu8  Dereinen. 

SDläbctyen.  Scty  glaube  Seinen  Sügen  nidtyt  metyr.  ©cd 

(934) 


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21 

idfy  ©einen  gügen  nod)  glauben?  Ein  Sinteret  l)at  fid)  fdjon 
um  mid>  beworben. 

Süngling.  |>öre  auf  ©einen  befannten  ©pielfametab; 
wenn  ©u  micfy  nodj  lieb  fyaft,  fo  freie  idj  ®id)  fidjetlicf). 

9Jiäbd)en.  E8  ift  traurig,  ben  befannten  ©pielfamerab 
ju  fefyen;  er  wirb  geliebt,  aber  wag  fott  man  t^un,  wenn  man 
nidjt  meljr  fann. 

3üngling.  SSJie  fönnte  id)  bie  Eebanfen  an  ©idj  oer« 
treiben  unb  ©id)  cergeffen?  3d)  will  bie  Erinnerung  an  ®id) 
auglöfdjen,  aber  fie  fommt  immer  wieber  jum  93crfd»ein. 

5Rabd)en.  ®efje  ©idj  mit  berjenigen  in8  Einoernefymen, 
bie  ©u  fdjon  umworben  fyaft,  benn  aud)  mir  fyat  fidj  ein  2ln* 
berer  genähert,  ber  midj  umwirbt. 

3iingling.  23ebenfe  ©idj  erft  gut,  ei )e  ©u  unfere  8lb= 
fpradje,  bie  wir  jung  getroffen,  oergiffeft,  bamit  ©u  fein  Ee* 
reuen  tjaft,  wenn  ©u  einem  änberen  ©ein  58ort  gegeben.  . 

Stäbchen,  ©u  jpridjft  midj  wieber  an,  aber  ity  benfe 
nicfjt  meljr  an  ©id?,  unb  id?  will  bag  alte  33etfpred;en  nidjt 
erneuen. 

Süngling.  Slut^  id)  .fyabe  fc^on  gebadjt,  bafj  bag,  wag 
Wir  un8  jung  oerfprodien , nic^t  gefdjefyen  fann. 

Sliäbdjen.  S3on  jefct  an  werbe  id)  ®ir  nid)t  mel)t  glau* 
ben,  benn  ©u  warft  immer  ein  gügner. 

3. 

5Räbd)en.  3Benn  id)  an  unfer  fttifjereg  Elücf  benfe,  werbe 
idj  traurig. 

Süngliug.  SJlein  Unrecht  gegen  ©id)  Ijabe  id)  fcbon  oft 
befannt.  SSenn  ©u  jütnen  willft,  fo  gürne  bem,  bet  ©id)  be= 
trogen  Ijat. 

(935) 


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22 


ÜJiabdjeu.  ©u  benfft  nid)t  mehr  an  unfer  früheres  ©lücf. 
Sich,  ich  bin  immer  betrübt,  wenn  id)  an  ©id)  ben!e. 

3üngling.  ©eil  ©u  mich  früher  fdjledjt  behanbelt  haft, 
fo  will  id)  ©einer  Don  jetjt  an  nidjt  mehr  benfen. 

fDiäbchen.  ©enn  ©eine  früheren  ©efühle  »ieberfehren, 
fo  bin  aud)  ich  wieber  gut. 

3üngliug.  ©ie  Siebe  fommt  bei  ©einen  ©orten,  unb 
bähet  wenben  fi<h  meine  ©ebanfen  ©ir  wieber  ju. 

Sftabchen.  ©enn  ©eine  ©orte  wahr  finb,  ©eliebter,  fo 
braune  id)  non  je£t  au  feine  £erj)'d)mergen  mehr  ju  haben. 

Süngling.  ©einenb  fc^neifccft  ©u  bie  fpinangnufc  ent* 
jtoei,  »eine  nicht  mehr,  benn  nur  ©idj  »erbe  ich  nehmen. 

3Jtäbcben.  ©ine  junge  ^inangnufj  »erbe  ich  für  ©ich 
entjmei  fdjneiben,  junger  ©eliebter.  ©ie  junge  9)inangnufj  werbe 
ich  entzwei  fdjneiben,  benn  ©ich  liebe  ich- 

3üngling.  ©teefe  ein  ©tüd  ber  jungen  §>inangnu§,  bie 
©u  entzwei  gefchnitten  ha  ft,  in  meinen  SJtunb  unb  meine  @e* 
fühle  werben  ftetö  bei  ©ir  fein. 


©p  techweifen: 

©aä  SDteffer  ift  gut,  aber  ber  ©til  ift  fchlecht.  ©aö  h«&t: 
ber  «Btann  wiü  fleißig  fein,  aber  feine  faule  jfrau  ^inbert  ihn 
batan. 

©r  wirb  non  einem  bürren  3»eig  feftgehalten.  ©a§  heiftt : 
ber  gteie  ift  mit  einer  ©flaoin  oerheirathet. 

©ie  ©tim  ift  nod)  weih-  ©a$  heifet : SJtan  beftjjt  für 
©t»a$  nodj  nicht  bie  nötige  Äenntnijj. 

©t  ift  unglücfti<her»eife  inS  äuge  geftcchen.  ©aS  he*§t: 
©r  hat  auf  feinem  ©ege  eine  ©dränge,  eine  5Jtau$  gefehen  ober 

(93«) 


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23 


•eiuen  S3ogel  rufen  fyören  — eg  bedeutet  Unglücf,  er  mufj  gurücf* 
feeren,  weil  bie  Solange,  bie  SOiauö,  ber  23ogeI  il)n  ing  'Äuge 
gefielen  Ijat. 

3d)  gefye  erft  haben.  ©a8  fyeifjt  3.  23.:  3d&  gelje  fifcfyen. 
Äug  Äberglauben  oerfdjweigt  man  bie  Äbfidjt. 

3dj  gelje  erft  ben  23a[t  con  einem  23aum  gu  einem  Äopf» 
tudfy  abftreifen.  5)ag  tyeißt  3.  23.:  3dl)  geije  ein  9iei8felb  beat= 
beiten;  el)e  ber  ^rieftet  bieg  nie^t  erlaubt  Ijatte,  wagte  mau  eg 
nidjt  gu  fagen,  gewiffetmaafjen  gu  „berufen." 

@r  fyat  glügel.  ©ag  Ijeifjt:  Sr  fann  nirgenb  lange  aug* 
galten. 

Simmerlaug.  @0  fyeifjt  Semanb  ber  ang  Jpaug  gefeffelt  ift. 

©ag  ©orf  ift  fefyr  Ijeijj.  @0  fagt  man  oon  einem  ©otfe, 
in  welchem  eg  »iele  Äranfe  giebt  ober  in  bem  »iele  Siftmifdjet 
wohnen. 

©u  bift  ein  Sötann,  wenn  tdj  überwwtben  werbe. 

SDenfe,  efye  ©u  fpridjft,  benn  ber  9)funb  fyat  Seine. 


SRattyiel. 

3wei  ©djweftern  tyaben  ftd)  innig  lieb;  wo  Sine  tyingefyt, 
gelten  beibe  Ijin;  geljen  fie  audj  weit  weg,  wenn  fie  gurücffeljren, 
finb  fie  nitfjt  mfibe.  ©ie  Äugen. 

Sin  Heiner  ©ee  ift  umftanben  oon  einet  großen  3al}l  Sifd^et ; 
eg  ift  nidjt  gu  gälten,  wie  oft  fie  auftjoleu,  aber  feiner  fängt 
Bifdfje  in  biefem  ©ee.  ©ie  Äugen. 

Sin  ©tücf  Jpolg,  bag  eine  antere  gorm  fyat  alg  anbere8 

(937) 


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24 


£d3;  wenn  eß  2Burgel  fdjlägt,  fo  ^at  eß  feine  Blätter,  unb  bat 
eß  Blätter,  fo  festen  itjm  bie  Sßurjeln.  @in  ©ebijf. 


©ib. 

‘ 3dj  bitte  um  fÄufmerffamfeit  10  fötal,  100  fötal,  1000  fötal, 
9 fötal.  3di  bin  ber,  meiner  ben  ©peer  unb  baß  ©d)wert  in 
ben  Beben  fteefen  foD.  3d)  fpredje  feine  Unwahrheit  mehr.  3<$ 
bin  nidjt  frumm  unb  blinb  (in  geige  non  gügen).  fJtidjt  ohne 
@runb  Ijabc  id)  baß  9ted?t  ben  ©peer  unb  baß  ©djwert  in  ben 
Beben  gu  fteefen,  benn  ich  bin  ber  Slbfömmling  oon  jenen,  weldse 
©peere  unb  Schwerter  wie  biefe  in  ben  Beben  geftedt  haben, 
fötein  Bcrfaljr  ©iwi  ift  ber  ©ibgeneffe  een  SBenfar  ju  Äali, 
jur  Seit  alß  bie  Bunbeßgenoffen  bert  ben  6ib  ablegten.  3U8 
mein  ©refjeater  ©imi  beti  ©peer  in  ben  Beben  fteefte,  bewegte 
fid)  bie  ©rbe  unb  alß  SBenfar  baß  ©cbwert  in  ben  Beben  fteefte 
fuljr  ein  Bli^ftral)!  Ijernieber.  SDeßbalb  fürchte  ich  mid?  nicht 
ben  ©peer  in  ben  Beben  ju  ftedfen  unb  über  bie  freujweije  ge* 
legten  SBaffen  311  febreiten,  e SBailan!  3d)  werbe  ben  tapferen 
öteringfeepang  anrufen,  benn  in  feinem  ©ruub  fann  man  noch 
bie  3eidjen  t>on  bem  oielfältigen  ©teefen  ber  ©peere  unb  $wci* 
fdjneibigen  ©djwerter  fe^en,  alß  unfere  Berfabren  beu  @ib  ab» 
legten.  3eb  rufe  aud)  ben  tapferen  fötuntuuntu  an,  benn  auf 
feinem  ©runb  b“Kcri  unfere  Bäter  ben  @ib  abgelegt  unb  bie 
©peere  unb  jweifd)neibigen  «Schwerter  in  ben  Boben  gefteeft. 
Äommt,  la^t  unß  ^ujammen  ben  ©peer  unb  baß  jweijdjneibige 
©tbwert  iu  ben  Boben  fteefen. 

äßet  nun  unter  biefen  bie  llnwat)tbeit  fpriebt  wirb  Per» 
wuubet  ebenfo  tief  wie  ber  ©peer  uub  baß  ©djwert  in  ben  Boben 
geben,  unb  er  wirb  geftoeben  Pon  bem  ©teebenben,  geflogen  pcn. 

(938) 


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25 


bem  ©tojjenben,  gebaeft  »on  bem  ^acfcnbett,  gebrücft  non  bem 
2)rüefenben,  o SBailan!  — 1,  2,  3,  4,  5,  6,  7,  8,  9!  D SBailan! 

(3efct  werben  ©peer  unb  ©ebwert  freugweife  tief  in  ben 
33  oben  geftecft). 

3eb  bitte  um  sKufmerffamfeit  10  9Jtal,  100  SJtal  1000  9M 
9 SDRaL  3<b  bin  berjenige  welcher  über  ©peer  unb  ©ebwert 
jebreiten  foO.  3<b  fprec^e  feine  Unwahrheit  mehr,  ich  bin  ni<bt 
frumm  unb  blinb  (in  ^olge  oon  Bügen).  Siicbt  ohne  ©runb 
habe  id)  ba§  9te<bt  über  Speer  unb  ©ebwert  gu  jebreiten,  benn 
ieb  bin  ber  eebte  Slbfömmling  oon  benen,  welebe  über  ©peere 
unb  ©ebwerter  gefehlten  finb.  SDRein  SOcrfatjr  ©iwi  ijt  ber 
©ibgenoffe  »on  SBonfar,  alg  bie  33  unbeögen  offen  gu  Äali  ben 
(Sib  ablegten,  ©eebalb  fürebte  ieb  nrdjt  über  ©peer  unb  ©ebwert 
gu  jdjreiten,  benn  ieb  bin  alt  geworben  unb  glüeflieb,  (weil  ich 
feine  Unwahrheit  jpreebe)  o SBailan!  1,  2,  3,  4,  5,  6,  7,  8,  9! 
o SBailan! 

(3e£t  febreitet  ber  33etreffenbe  3 Sltal  über  bie  SBaffert). 

23on  jejjt  an,  ©ibgenofje,  jprieb  nicht  mehr  jdjteebt  über  mxij. 


©otteggeriebt. 

^Derjenige  non  3weien,  welker  am  längften  unter  SBaffer 
bleiben  fann  wirb  al8  jcbulbloß  angejeben.  33ei  biejem  SSorgang 
jpriebt  man  folgenDeö: 

JD  SBailan,  befebirmenbet  Slettefter!  33ejcbirmer  ber  ÜJtitge« 
nojjen,  ihre  (b.  b-  berer,  welebe  bie  $>rebe  befteben  feilen)  Sie» 
febirmer!  Slutb  ihr  23ejcbirmer  biejet  ©ewäfjer,  ihr  habt  bort  bie 
Beineroanb  unb  bie  ©efebenfe,  auf  welebe  it)r  alö  Sejebirmer  auf 
©rben  unb  bort  oben  iHnjprueb  maebt.  2>u  cot  Stilen  SBailan, 
SRuntuuntu  unb  3toringfeepang,  bie  ihr  ba§  Äleine  unb  ba8 

(9J9) 


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26 


©rofce  gufammenbringt,  unb  wäre  es  in  bet  Siefe  beö  fDieetel 
»erborgen,  Ijinbert  ben  unter  biefen  ^erfonen,  welker  ber  2üge 
bieut,  uub  »ermefyrt  ben  Sltbem  beffen,  ber  bie  ©aljrbeit  liebt, 
benn  bem  2lufrid)tigen  gel)t  e§  wie  bem  ftnfenben  Stein.  8a§ 
ben  »on  beiben,  ber  bet  2üge  bient,  fdjnell  nad?  oben  treiben,  wie 
ben  ©abbagabba  (Stippe  eines  ißalmblatteä),  o ©ailan!  1,  2,  3, 
4,  5,  6,  7,  8,  9!  £)  ©ailan! 

(9tun  wirb  Stein  unb  23lattrippe  inö  ©affet  geworfen  unb 
bie  9>robe  getjt  »or  fidj). 

2)ie  ©ntftefyuugSgefcfyidjte  biefeö  ®otte8urtl}eil£>  wirb  fol* 
genbermaafeen  überliefert: 

ÜJtcifter  goljc  ging  einmal  auf  bie  ©ilbfdjweinjagb  jufammen 
mit  feinen  ©enoffen  SJtafala,  Senbu!  unb  ©ola  unb  feinem 
Sflaoen  Sintingon.  @8  würbe  ein  ^Ubbactj  gebaut  um  bie  beften 
Stüde  Steifd}  gu  trodnen  unb  aufgubewaljren  unb  ber  Sflaoe 
Ijatte  bie  Üluffidjt.  Stäubern  in  lurger  Seit  uiele  Schweine  er* 
legt  worben  waren,  fal)  80I50  einmal  nadj  bem  Slufbewaferteu 
unb  fanb  fefyt  wenig  »or.  Sefyr  böfe  befdjulbigte  er  ben  Sflaoen 
al8  ben  SDieb,  bodj  biefer  [teilte  eg  Ijartnäcfig  in  ätbrebe. 

heftig  erzürnt  wollte  ber  Jperr  ifyn  ermorben,  aber  feine  ®e* 
noffen,  bie  e8  »erübt  Ratten,  bulbeten  e8  nidjt  unb  überrebeten 
iljn  nadl?  furger  33eratl)fd)lagung,  bie  Sad^e  burd)  eine  ^robe 
gwifdjen  ifyrn  unb  feinem  Sflaoen  auögumadjen.  Sie  begaben 
fidf}  an  ben  §luf?,  unb  nadjbem  bie  nottywenbigen  SSorbereitungen 
getroffen  worben  waren,  proponirte  ©ola,  baff  £oljo  nnb  Sin* 
tingon  beibe  in8  ©affer  gefeit  feilten,  um  unterjutaudjen,  unb 
baff  bann  berjetiige,  welcher  am  längften  unter  ©affer  bleiben 
fönnte,  ber  llnfdjulbige  fei.  3uerft  weigerte  8ofyo  fid)  bie  $>robe 
anguneljmen,  ba  er  e8  mit  feiner  ©ürbe  nidljt  für  »ereinbar  Ijielt 
mit  bem  Sflaoeu  gufammen  in0  ©affer  ju  !geljen.  Seine  ®e* 
(»«) 


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27 


noffen  aber  überrebeten  ihn,  unb  er  fe^te  ju  gleicher  3cit  mit 
Sintingon  ben  rechten  Bujj  in§  SBaffer.  Sa  würbe  aber  bie 
grofee  3el)e  Soho’S  fo  Den  einem  üreb»  geswicft,  baf}  er  erjchrecft 
feinen  guf)  jurücfyog.  Unangenehm  berührt  hietburch  fdjlug  er 
Der  nochmals  ju  beginnen  uub  ftatt  feineö  rechten  $ufce8  ba8 
(Sube  feiner  8ange  in8  SBaffer  ju  fteefen.  ÜJlan  geftattete  eS  ihm, 
aber  als  er  bie  £an$e  im  SBaffer  hi«lt,  fchnellte  ein  SBilbfchwein 
plöfclich  fe  nahe  an  U)m  oorbei,  bafj  er  unwillfürlich  bie  SSBaffe 
aufheb  unb  nach  bem  (Schwein  ftach,  ehe  ber  ©flaue  Sinttngon 
ftd)  gerührt  hatte.  5Rach  biejer  unwiberleglichen  §)robe  fam  mau 
überein,  ben  ©flauen  uufdjulbig  $u  erflären  unb  frei  $u  laffen. 

„©eit  bem  (nach  *>er  ©efdjlechtSrechnung  noch  nicht  500 
3ahr)  batirt  ber  ©ebrauch  ber  SBaff  erprobe." 


(»*i; 


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28 


2(nmcrfunßcn. 

1)  3>cwe8  2)effcr,  ber  unter  bem  Flamen  „Sltultatuli"  ba8  Snf» 
fehen  erregenbe  unb  5!luffe^«t  tcrbicncnbc  ©ud>:  .Max  Havelaar  of 
the  Koffie-Veilingen  der  Nederlandsche  Handelsmaatscbappij“  unb 
fpäter  nieleö  Stnbere  (Ideen,  Minnebrieven  u.  a.  m.)  fdjrieb,  wag  in 
ber  mobernen  nieberlänfcifcben  Literatur  einjig  baftel)t.  3n  „Max  Have- 
laar“ wirb  bic  ©ebrücfung  bcr  Saoancn  nad)  Selbftertebtent  be8  i>er- 
fafferß  gefd|ilbert.  SSäljrenb  eine  englifdjc  unb  frangöfifdjc  llebcqe^ung 
biefeß  merftrürbigen  unb  im  boebften  @rabe  beaebtenßwertben  ©uebe* 
eyiftirt,  fehlt  leiber  noch  eine  beutle. 

2)  3<b  »erließ  int  Satire  1H70  Suropa  auf  einem  Segetjcbiff  unb 
fntr  um  ba8  (£ap  ber  guten  Hoffnung  nach  Sana,  oermeilte  ein  Sabr 
auf  ber  3nfel  (lelebeß,  befuebte  bann  bie  'Philippinijcbcn  3nfetn  unb  im 
Sabre  1873  3tcu.©uinca,  ncrblicb  non  Stuftralien. 

3)  SÖtan  muß  Sumatra,  ©ornco,  6elebc8  auSfprccben , nicht 
Sumatra,  ©orneo,  öelcbeS,  wie  meift  gelehrt  wirb.  (f8  ift  neuerbingS 
nen  gjerrn  Stiebet,  einem  auSgcjeicbnetcn  .Kenner  ber  Sterbbälfte  oen 
(felebcß,  ucrgejdjlagen  werben,  ,Sclces",  mit  S,  ju  febreiben,  weil 
baß  2Bcrt  abjuleiten  fei  nun  „sula  besi“,  b.  i.  ©ifeninfet,  unb 
c8  ift  biefer  ©orfdjlag  ton  einigen  Scbriftfteflern  acceptirt  worben. 
3Utein  im  tDcutfcben  würbe  man  baß  „s“  am  ©cginn  bc8  ®ortc6  meid} 
außjpredjcn,  walfrcnb  c8  l>art  außgefproeben  werben  jott.  Ülm  riebtigften 
ftbriebe  man  c8  im  £eut|d;en  baffer  tiefieidjt  mit  9,  allein  ba  biefeß 
ungebräucblicb  unb  ba  (Sclebcß  feit  bangem  töürgerred;t  erwerben  bat,  fe 
halte  i<b  e8  nicht  für  geboten,  baoon  abjugeljen. 

4)  Siefe  merfwürbig  geftaltetc  Snfel  l;eißt  ^>almal;era , nicht  (Gilelo, 
wie  cielfacb  auf  .Karten  $u  lefen  ift.  @ilolo  (3)jd)ilele  ju  fpreeben)  ift 
nur  rin  SMftrift  auf  £atmabera. 

5)  Sietie  3t.  St.  SBallace:  SDer  tDIalapifcbe  Strchipel.  ©b.  L 
.Karte  jur  phbfifchen  (Geographie.  (Scutjcbe  31u8gabe.) 

6)  2>ie  bauptfäcblichlten  nnb:  ber  Älabat,  ganj  im  Sterben,  6377 
Sufj  hoch,  bcr  Saputan,  5791  Sug  ho^'f  ber  2cfon,  5090  gujj, 
bie  dua  sudara  (2  ©rüber)  4260  §ujj  hct^r  ^cr  (Snipcng  je. 

(W2; 


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29 


7)  perr  Stietel  ßat  torgefcplagen,  ÜJtinapafa,  mit  einem  „f",  ju 
fepreiben,  Per  Ableitung  wegen  ton  esa,  eins,  allein  in  biefem  Salle 
würbe  man  baS  f im  Scutfcpen  weiep  auSfprecpen,  währenb  eS  fdjarf 
auSgcfprocpen  werben  foß;  eS  entfpriept  bem  beutfepen  jj. 

8)  (§S  peigt  /Papua"  unb  nicht  .püpüa",  wie  meift  gejagt  wirb, 
ton  bem  SJialagifcpen  papüwah  (fiepe  u.  31.  Favre,  Dictionuaire 
Malais- francais,  II.  S.  110  unb  Marsden  Diet.  of  the  Malayan 
Language  S.  226),  auep  pert  man  ton  SJtalapen,  unb  biefe  ftnb 
tjier  maafjgebenb,  nie  Papim,  fenbern  nur  papüa.  Sie  peflänber 
jc^reiben  Papoea,  bie  granjofen  Papoua. 

9)  Siepe  meine  Slbpanblungen:  .Slntpropologifcpe  SJtittPeilungen 
über  bie  papuafi  ton  9teu*@uinea.  Sleugerer  pppfifeper  pabituS*, 
in  SJtittpeilungen  ber  Slntpropclogifcpen  ©efeflfepaft  ju  SBien  1874, 
.lieber  bie  IDtafoor'fcpe  unb  einige  anbere  papua ■ Sprachen  auf 
9leu*©uinea*  in  SipungSber.  ber  !.  f Ülfabemie  ber  SBiffenfcp.  ju 
SBien  1874;  „stetigen  über  ©lauben  unb  Sitten  ber  papuaS*  in 
SJtittp.  b.  ®ej.  für  ©rbfunbe  ju  SreSben  1875;  unb  .lieber  135  Papua* 
Scpäbel"  in  SJtittpeilungen  aus  bem  Ägl.  joclogijcbcn  DJinjeum  ju 
SreSben.  peft  I.  1875. 

10)  SBallace  (I.  c.)  legt  bie  ©renjlinie  jwifepen  biefen  jwei 
ßJienfcpenracen  cftlicfj  ton  GelcbeS,  wäprenb  bie  ©renjlinie  jwifepen 
ber  inbomalapifcpen  unb  auftromalapijcpen  SStjicrwelt  weftlicb  ton  GelebeS 
terläuft.  Siefer  Umftanb  giebt  GelebeS  eine  intereffantc  Sonberftellung. 

11)  ©erlaub  giebt  auf  ber  Harte  ju  SBaip’  ,3lntpropologie  ber 
Staturtölfer*  (33b.  V.  peft  1,  Malaien)  auf  ber  norbofilicpen  palb* 
infcl  ton  GelebeS  PapuaS  an,  icp  fennte  jeboep  im  SEepte  niept  finben, 
auf  raelcpe  Slutorität  pin.  ©erabe  biefe  9lngabe  pat  mich  teranlafjt, 
über  baS  Saorfommen  ton  PapuaS  an  jener  Stelle  nacpjufpüren , allein 
icp  fanb  auep  niept  ben  leifeften  pofttiten  Slnpaltepunft  jur  IKecptferti* 
gung  biefer  Slnnapmc. 

12)  3n  ber  Stdpe  beS  ca.  2000  §uj)  poep  liegenben  großen  See’S 
ton  Scnbano  faßen  bie  peßen  unb  oft  auep  naep  unferem  ©efepmaefe 
fepönen  ©efupter,  befonberS  ber  grauen,  auf.  Saß  niept  etwa  bie  p6pe 
über  bem  PteereSfpiegel  eine  Slbbleicpung  ber  bunfleren  .pautfarbe  be* 
binge,  beweift  baS  bunfel  gebliebene  Golorit  anberer  unter  äpnlicpen  Iler* 
pälhiiffen  lebenber  Stämme.  3cp  toiQ  jenes  jeboep  nur  ganj  ter* 
mutpungSweife  auSfprecpen  unb  5 war  befonberS  beSpalb,  weil  an  anberen 

(hj; 


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30 


Orten  te$  (HrcbipelS  gerate  bic  2lbfömmlinge  her  portugiefen  auffaflen- 
berweife  fchwär^er  finb  als  bic  übrigen  ©ingeborenen. 

13)  91  ur  allmählich  »edieren  fiep  bie  alten  ©ebräuepe;  noch  wäh* 
rent  meines  'iiufcntbalteS  in  ©anabo  (1871)  j<heuten  fiep  meine  (Diener 
im  -Tunfetn  aflein  auSjugepen,  als  einige  ©eilen  »on  ba  ein  hercorragen- 
berer  ©ann  geftorben  war.  Sic  fürchteten,  man  werbe  fie  tobten,  nm 
ihren  ,lfcpf  jenem  mit  in'S  ©rab  $u  legen.  SiefeS  ftepfabfcplagen  ge» 
j (hiebt  nur  pintcrrücfS,  aus  bem  Serftecf.  £cr  ©erber  ftürgt  fiep  auf 
ben  9ticptS  Slpnenten  unb  jeber  Äopf  ift  iptn  recht,  Ob  jene  gurept 
bamalä  noch  eine  begrünbete  war,  fonnte  ich  nicht  eruiren,  aber  jeben» 
faßs  war  fie  »orpanben,  wenn  man  es  auch  an  Ort  unb  ©tefle  ungern 
wahr  haben  Wüßte,  ©o  pat  ftcb  noch  ©ancpeS  erhalten  ober  jepwinbet 
Iangfam,  wie  Opfer  an  bie  ©ötter  ober  ©eifter  trop  beS  SefenntnijTeS 
ber  chriftlichen  SKeligion,  wie  »ielfältiger  'Aberglauben,  ber  fiep  ja  auch 
bei  unS  in  reichem  ©aafje  aus  peibnifeper  3eit  erhalten  pat,  wie  eine 
©enge  anberer  ©ebräuepe,  bie  »er  ber  Kultur  fcpwinben.  Unter  (Un- 
terem finbet  man  noch  jept  in  einigen  SDiftricten  ber  ©inapaffa  (paffan, 
SRatapan),  wie  fürjlicp  §err  ©ilfen  befannt  gemacht  pat  (Tijdschrift 
vor  Indische  taal-,  land-  en  volkenkunde.  XXI.  ©.  374,  1874), 
tie  ©ittc,  ben  menftplicpen  ©cpäbel  fünftlicp  ju  beformiren.  „©6  ge» 
fepiept  ungefähr  eine  ©oepe  nach  ber  ©eburt.  ©an  binbet  ein  mit 
2cinenlappen  umwicfelteS  Srettcpen  mit  Sänbern  feft  gegen  bie  ©tint. 
Seben  ©orgen,  wenn  baS  Äinb  gebabet  wirb,  löft  man  eS  auf  furje 
3eit.  SDaS  wirb  ungefähr  fünfzig  bis  fecpjig  Sage  fortgefept.  früher 
war  eS  ein  Sorrecpt  beS  SlbelS;  jept  aber  ift  bie  ©itte  wenigftenS  bei 
bem  popen  Abel  abgefommen  unb  allmählich  auf  ben  gewöhnlichen  Sauer 
übergegangen,  bei  bem  fie  heute  noep  jientlicp  aßgemein  auSgeübt  wirb.* 
©8  war  mir  baS  wäprenb  meines  Aufenthaltes  in  ber  ©inapaffa  niept 
befannt  geworben,  unb  icp  pielt  baper  baS  juerft  »on  perm  SRiebel 
gemelbete  Sorfommen  einer  äpnlicpen  ©itte  in  bem  jübweftlicp  »on  ber 
©inapaffa  gelegenen  Siftricte  Suol  (1.  c.  XVIII.  ©.  196,  1872  unb 
3eitfcprift  für  ©tpnologie,  III.  ©.  110,  1871)  für  eine  »ereinjelte  unb 
lofale  ©rjepeinung"  unb  »ermutpete,  ,ba§  eS  fiep  pier  um  eine  ©in» 
wanberung  panbele,  »ießeiept  »on  ben  Philippinen  per,  »on  wo  biefer 
©ebrauep  fepon  befannt  geworben  ift,  um  ein  jufäßigeS  Serfcplagen, 
wie  cS  fepr  oft  im  ganjen  Arcpipcl  »orfommt,  unb  ba§  eine  Samitie 
»ießeiept  nur  tiefen  Sraucp  beibepalten  pabe  unb  auSübe.*  (3ritjcpr. 

(SU) 


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31 


für  (Sinologie,  1872,  IV.  S.  203).  Stucb  Herr  SRiebel  f;ie!t  bie 
Sitte  nic^t  für  eine  fytimifcf'e,  er  jagte  (1.  c.):  „Eiefe  ©ewobnlieit  ift 
pofttio  nicht  auf  9lorb*©eIebeä  urjprünglich,  jonbern  eingeführt",  benn 
er  fanb  fie  nicht  bei  ben  „primitioen  (Sinwanberern  unb  jeßigen  Haupt* 
ftämmen",  jonbern  nur  bei  ben  »fpäter  angefommenen  Setooljnern*  eini» 
ger  Sanbjcbaften.  Sitlein  nach  ber  oben  gegebenen  fJJlittfyeilung  bc$  4>rn. 
SBilfen  ^anbclt  c§  Jicf?  bod)  wohl  um  eine  einheimifche  Sitte,  wcnigftenS 
in  jo  fern,  a(3  wir  eine  frühere  ÖeOolferung  biejer  ©egenben  nic^t 
fennen.  3d?  ha^e  eä  auth  für  nicht  untraftrjdjcinlicb,  baß  man  bei  ge> 
jebieftem  unb  jehneflen  fJtachjpüren  ?(cl)nlicbeS  notb  an  anberen  Orten 
ber  -öiinabafja  auffinben  wirb;  eö  erwäcbft  außerbem  bie  Stufgabe,  auf 
anberen  3"jeln  beö  fUlalapifcben  9lrchipcl8  biejer  Sache  genau  nach* 
jugeben.  CSS  jebeint  fref)  hier  um  eine  über  bie  gange  (5rbe  oerbreitete 
Sitte  ju  banbeln,  welche  bie  oeri^iebenften  i'ölfet  unabhängig  oon  ein* 
anber  unb  jelbjtänbig  außbilbetcn. 

14)  91ocb  jeßt  cultieiren  bie  meiften  grauen  im  ©arten  am  Haufe 
bie  ju  biejeni  3wecfe  gebräuchlichen  $)flanjen. 

15)  ©3  hc'fjt  richtiger  ÜJlanabo,  nidjt  SJlenabo,  wie  oielfacb  ge* 
jehrieben  wirb. 

16)  Sie  befinbet  fich  Ijauptjäc^Iidj  in  hoHänbijchen,  jurn  Xheil  in 
Snbien  jelbft  (3aoa)  gebrueften  3eitfchriften,  oon  benen  als  bie  ^er»cr- 
ragenberen  bie  folgenben  ju  nennen  wären: 

Tijdschrift  voor  Nederlandsch  Indie. 

Tijdschrift  yoor  Indische  taal-,  land-  en  volkenkunde. 

Natuurkundig  Tijdschrift  voor  Nederlandsch  Indie. 

Bijdragen  tot  de  Indische  taal,  land  en  volkenkunde  van  Ned.  Ind. 

Geneeskundig  Tijdschrift  vor  Nederlandsch  Indie. 

Tijdschrift  voor  Nijverheid  en  landbouw  in  Nederlandsch  Indie. 

Verhandelingen  van  het  Bataviaasch  Genootschap  van  Künsten 

en  Wetenschappen. 

Mededeelingen  van  wege  het  Nederl.  Zendelinggenootschap 

u.  a.  m. 

17)  Sßefanntlid)  ha^en  •Ktofobilc  an  ben  SBorberfüßen  5,  an 
ben  Hinterfüßen  4 3chcn* 


(944) 

!Tru<f  ten  (j&efcr.  Unger  (Ufy  (iJrimm)  in  ttolin,  2<$ön«fcergtrftra|e  17a« 


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ßtffitig’si 


kr 


Vertrag 

»on 

froftat, 

@pmnaflal>S)ir(ctor. 


üerlin  SW.  1876. 

93  erlag  Don  @arl  £abel. 

(£.  iß.  l'nbiriti’sdit  ItirlagsbndjbanMang.) 

33.  S!i[(rlm-£trj§e  33. 


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35nl  SRccfet  btt  Uebtrfcfcung  tn  htmbt  ©pradjen  wirb  corbffyalttn. 


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bet  beutfdjen  gitteratur  bie  oerjchiebenfte  unb  oft  gerabep  ent« 
gegengefehte  ^Beurteilung  erfahren.  ©enn  währenb  bie 
einen  ihn  alb  eine  Sirt  weltlichen  (Snangeliumb  unb  ballet  alb 
ein  SBolfbbuch  iw«  beften  Sinne  beb  SBorteb  betrauten,  jehen  bie 
anberen  in  ihm  eine  ,£>erab}ehung  beb  chriftlichen  Qjfaubenb  unb  fud)eit 
bie  gectüre  bebfelben  foniel  alb  möglich  ju  befchränfen.  ©er  ©runb 
für  biete  ÜJiannigfaltigfeit  bet  Anfid>ten  liegt  gum  ©^eil  in  bet  reli» 
giöfen  ©enbeng  beb  Stücfeb,  bie  bei  ben  einen  eben  fo  Diel  Spmpa« 
tbie  alb  bei  ben  anberen  Antipathie  etwecft,  jum  ©h*ü  «bet  auch  «« 
bet  SSetfdjiebenheit  bet  ©efichtdpunfte,  beb  teligiöfen  ober  beb 
äftbetifdjen,  Dcn  benen  aub  bet  9tathan  behaftet  wirb.  3d> 
fdhirfe  gleich  toraub,  bah  «<b  benfelben  oon  theologifchem  Stanb» 
punfte  aub  betrachten  will  unb  bah  bab  ©rama,  meiner  Meinung 
nach,  wenn  eb  richtig  gewürbigt  werben  foQ,  auch  aßrin  oon 
biefem  Stanbpunft  aub  betrachtet  werben  muh.  in  äfthe» 

tifcher  ^jinficht  bietet  eb  fo  niete  Schwächen,  bah  f«<h  bie  Ab« 
neigung  Scpillet’b,  bet  nur  ton  biefem  ©efidjtbpunfte  aubging, 
gegen  unfer  Stücf  wohl  erflären  läht1):  Unleugbar  fchlechte  unb 
mangelhafte  SBerfe,  eine  33orfabel,  bie  fo  aubgebehnt  ift  wie  in 
feinem  anbeten  ©rama  unfetet  gitteratur,  unb  Unwahrfcheinlich» 


feiten,  welche  aud)  bem  blöbeften  Auge  aujfallen  unb  einleuchten 

XI.  »6.1.  1*  (9I9) 


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4 


muffen,  ©alabin  begnabigt  einen  Tempelherrn  wegen  einer 
flüchtig  wahrgenommenen  Aehnlidjfeit  mit  feinem  oerfchotlenett 
©ruber  Affab,  — ein  ©reigniff,  weites  fRathan  felbft  als  ein 
SBunber  unb  gwar  als  ein  nicht  geringes  bezeichnet,  Nathan 
nimmt  eine  Daja  gut  Gfrgieherin  fRedjaS,  bie  jeben  Augenblid 
bemüht  ift  Unfraut  gu  fäen  unter  ben  ebeln,  non  iRathan  in 
SiechaS  ©eele  auSgeftreuten  ©aamen,  bet  Tempelherr  entbrennt 
plofflich  unb  ohne  baff  ber  Didier  eine  SRotioirung  gegeben 
hätte,  in  Siebe  gu  feiner  ©chwefter  unb  ber  Patriarch  gar 
braucht  ben  Älofterbruber  ©onaffbeS  als  Söerfgeug  gur  Ausführung 
feinet  nieberträchtigen  $>!üne  — U nwahrfcbeinlicbfeiten  welche  ffdj 
leicht  noch  um  baS  hoppelte  5Raff  oermehreu  lieffen.1)  SBie  aber 
wenn  ber  Dichter  biefe  fehlet,  felbft  bie  flechten  93er fe  *)  beabpchtigt 
hatte  unb  wenn  ftd)  biefelben  bei  richtiger  ^Betrachtung  als  eben  fo 
niete  ©orgüge  erweifen?  Denn  non  theologifdjem,  ober  richtiger  oon 
religiöfem  ©efidhtSpunfte  aus  muff  ber  fRathaubeurtheilt  werben,  weil 
et  felbft  bie  ©chlufffdjrift  beS  ©treiteS  bilbet,  in  welchen  Sefflng 
burdj  bie  Verausgabe  ber  fogenannten  ©olfenbüttler  Fragmente 
mit  bem  Vauptpaftor  ©oege  in  Vantburg  geraden  war.4)  @8 
würbe  gu  weit  führen,  wollte  ich  auf  ben  ©egenftanb  biefeS 
©treiteS  naher  eingehen,  ber  für  bie  ©ntwidelung  unferer  Theo» 
logie  non  funbamentaler  ©ebeutung  ift4);  Iper  genügt  bie  8e= 
merfung,  baff  Sefftng  befchulbigt  worben  war  ft<h  burch  bie 
Verausgabe  ber  Fragmente  als  einen  $einb  beS  ©hnffenthumS, 
ja  ber  ^Religion  überhaupt  erwiefeu  gu  haben.  Auf  ©oegeS  ©e* 
trieb  ber  (Senfurfreiheit  beraubt  unb  an  ber  gortfeffnng  beS  ©treiteS 
gehinbert  nerfudpe  er  eS,  wie  er  felbft  ftdh  auSbrücft,  auf  feiner 
alten  Mangel,  bem  Theater,  gu  prebigen,  unb  fo  entftanb  1779  ber 
fRatffan,  bie  gtangenbfte  ^Rechtfertigung  beS  Dichters  unb  ein  ner* 
nichtenber  ©dffag  für  feinen  ©egner. 

9BaS  ift  baS  eigentliche  SBefen  ber  SReligion  unb  wie  »erhält 

(950) 


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5 


ftd)  gu  bemfelben  bte  oerfchiebene  ©laubenöform  bet  eingelnen 
©efenntniffe?  — ©iefe  Stage  bilbet  ben  9Rittelpunft  unfereö 
©tama  unb  wirb  in  ber  befannten  Parabel  oon  ben  brei  {Ringen 
beantwortet.  ©ie  {Religion  gleißt  einem  Swinge  unb  gwar  einem 
{Ringe,  bet  bie  Äraft  befifjt  cot  ©ott  unb  9Renfdben  angenehm 
gu  machen;  fagen  wir  alfo:  bie  {Religion  ift  eine  Äraft.  ©ie 
SBitfung  einer  jeben  Äraft  aber  bängt  oon  gewiffen  ©ebingungen 
ab  unb  wirb  unter  Umftönben  paralpfirt  burd?  ben  SBiberftanb, 
welchen  fte  ftnbet.  ©aber  äußert  bie  {Religion,  ber  wahre  {Ring, 
feine  Äraft  nicht  bei  jebem,  fonbern  erforbert  eine  ©ebingung: 
ben  ©tauben  ober  bie  3uoerficbt,  benn  ber  {Ring  b<*tte  bie  ge* 
beime  Äraft  cot  ©ott  unb  fOtenfcben  angenehm  gu  machen,  wer 
in  biefer  3uoerficbt  ihn  trog-  Seblt  biefe  3u»erfidjt,  fo  ift  ber 
SFting  ein  bloßer  3'erratb,  ein  äußerer  ©efif*  unb  wirf  et  nur 
gutucf  unb  nicht  nach  aufjen.  ©ie  Äraft  ber  {Religion  ober  beö 
SRingeS  äufjert  ficb  nicht  mechanifcb,  fonberu  bpnamifd)  unb  et* 
fcrbert  ein  ÜRitwirfen  oon  ©eiten  beö  SRenfdjen,  eine  innere 
Stbätigfeit  beSfelben,  benn  eS  ftrebe  jeber 

„©ie  Ärart  beß  Steine  in  feinem  {Ring  an  Sag 
,3u  legen!  Äemme  biefer  Äraft  mit  Sanftmutb 
„2Rit  berjlicber  ©erträglichfeit,  mit  ©obltbun, 

„9Jlit  innigfter  Srgetentjeit  in  ©ott 
,3u  £ilfl“) 

©ie  {Religion  ift  alfo  eine  Äraft,  welche  bie  SRitwirfung 
beS  9Renfchen  berauSforbert  unb  fid?  in  bereiter  SBeife  äußert: 
in  unferm  ©erbältnifj  gu  ©ott  unb  in  unjerm  ©erbältnifs  gum 
{Rachften.  ©rgebung  in  ©ott  unb  Siebe  gum  {Räcbften:  bartn 
geigt  fid)  baS  wahre  SBefen  unb  bie  rechte  Äraft  ber  {Religion, 
unb  baö  ift  eS,  waö  bem  innerften  Äern  nach  allen  {Religionen 
gemeinfam  ift.  ©enn  alle  oerlangen  oon  unS  ©elbftoerleugnung 
©ott  unb  Siebe  ben  ÜRenfchen  gegenüber  unb  unterfcheiben  fidb 

(Sil) 


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6 


nur  in  bem  ©rabe  unb  in  ber  fHrt  unb  SBeife,  wie  fte  beibefi 
»on  unö  fotbern,  unb  hiernach  benimmt  fich  auch  ba8  fRang»er* 
haltnife  ber  ^Religionen,  um  welche«  eS  fld>  in  8efftng©  fRathan 
fdjeinbar,  aber  auch  nur  i^einbat  hanbelt.  SDenn  e8  fönnte  feinen 
größeren  Srrtfyum  geben,  al8  ben  ©lauben,  Seffing  habe  in 
feinem  sRatban  ben  38lnm,  ba0  3ubenthum  unb  ba8  (Sänften* 
tbutn  raiteinanber  Dergleichen  unb  bie  brei  ^Religionen  nach  ihrem 
2Berth»erhültni§  beurtheilen  wollen.  23are  e8  f(hon  an  unb  für 
fid?  unglaublich,  bafc  geffing  hinüber  überhaupt  hätte  jweifelhaft 
fein  ober  feine  gefer  in  ßweifel  glauben  fönnen,  fo  fpricbt  ba« 
gegen  eoibent  ber  Umftanb,  ba§  jwar  ©alabin  ein  SRahomebaner, 
*Rathan  ein  3ube  unb  ber  Patriarch  ein  Ghüft,  aber  feiner  »on 
biefen  breien  ein  eigentlicher  Vertreter  unb  SRepräientant  feiner 
fReligion  ift.  ©0  hat  feineu  guten  ©runb,  weshalb  geffing  ge» 
rabe  ben  $>atriarchen  jum  ©h^iffe»  unb  fRatljan  jum  3uben  ge* 
macht  hat,  einen  ©runb,  auf  welchen  ich  fpäter  jurücffommen 
Werbe,  aber  thöricht  ift  e8,  geifing  ben  fBorwurf  ju  machen,  al8 
habe  er  ba8  C5hr*f*entf)l*m  gegen  ba8  3ubentl)um  ober  gar  gegen 
ben  38lam  herabfefjen  wollen. 

©8  hanbelt  fich  nämlid)  in  unferem  2>rama  nicht  blöd  um 
ba8  SSÖefen  ber  ^Religion,  fonbern  auch  um  ba8  SBerhältnifj  bet 
SRenfchen  ju  bemfelben.  35ie  fReligion  ift,  wie  wir  gefehen 
haben,  eine  Äraft,  welche  ftd)  in  boppelter  Segiehung,  auf  ©ott 
unb  auf  bie  9Renfd)en  äußert,  aber  nur  bann  üufeert,  wenn  ihr 
im  3nnern  be6  9Renj<hen  ein  3ug  entgegen  fommt.  SBit  haben 
ferner  behauptet,  bafj  jwifchen  ben  einzelnen  ^Religionen  ein 
©rabunterfchieb  herrfdjt  unb  bafj  bie  9lrt,  wie  ftch  bie  ©elbft* 
»erlcugnung  ber  ©ottheit  gegenüber  äu§ert,  eine  »etfdnebene  ift. 
3m  ^eibenthum  äußert  fie  fid?  burch  Opfer,  im  Subenttium 
aufcer  burch  Opfer  auch  noch  auf  innere  SBeife,  burch  ©rfenntnifj 
ber  ©ünbe  unb  burch  23ufce,  im  ©h^ftenthum  blo8  auf  innere 

<9Si) 


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7 


äßeife,  burch  Eingebung  beö  ^erjeuß  an  ©oft  unb  burd}  bie 
Heiligung  befifelben.  2)er  3ßlam  ift  in  btefer  $inftcht  bem 
©fyriftentljmn  oerwanbt,  aber  burd)  feinen  fataliftifchen  Bufl  non 
ihm  oerfdhieben,  ba  er  jwat  ben  Sßillen  be8  ÜJtenfdhen  unter 
einen  höheren  beugt,  ihn  aber  nicht  in  SShäHgfeit  fefct.  Bon 
unfetem  93erljältni§  3U  ©ott  hängt  auch  baß  gu  ben  SJtenfchen 
ab.  Sille  SReligionen  fefjen  ein  fittlic^eö  Berhältnif)  ber  SRenfchen 
ju  einanber  oorauß,  welcheß  nur  burd)  ben  Umfang  »erfdjieben  ift,  je 
nad^bem  ber  ÄreiS,  auf  melden  fi<h  bie  Pflicht  ber  Siebe  erftredft, 
großer  ober  Keiner  gesogen  wirb.  Urfprünglid)  werben  bie 
©ßtter  nur  alß  ©Otter  ber  Familie  unb  beß  #aufeß  betrautet, 
unb  bie  fittliche  Pflicht  befchränft  fid?  auf  bie  ©Hebet  ber  Fa- 
milie, balb  aber  behüt  fid)  biefer  ätreiß  auß  auf  ben  ©tamm 
unb  anf  baß  Bell.  ©0  finb  alle  Ijeibnifdjen  {Religionen  auf  ber 
böseren  ©tufe  ber  ©ntroicflung  Bolfßreligionen,  alle  tjeibniidjen 
©otter  Bolfßgötter.  2 5aß  3ubentl)um  erfennt  gwar  ©ott  alß 
einen  einigen,  ber  auch  übet  bie  Reiben  mit  unbefchränfter  ätl» 
mad)t  maltet,  aber  ba  er  Tut)  nur  ein  SBolf  3U  bem  feinen  er* 
wählt  l)c»t,  fo  ift  Seljotw  nid)tß  befto  weniger  Bolfßgott  unb  bie 
fittlidje  Pflicht  beft^ränft  auf  ben  3uben  unb  baß  {Recht  Siebe 
3U  forbern  abhängig  oon  ber  äbftammung  oon  3acob.  25er 
©ajj:  bu  foDft  lieben  beinen  {Rächften  wie  bid)  felbft,  hat  baher 
feine  nationale  ©renje,  benn  ber  {Rächfte  ift  ber  SRitjube,  unb 
eß  gibt  feine  {Religion,  weiche  fo  fet)r  baß  ©efühl  beS  $affeß 
unb  ber  {Rache  nährt  wie  bie  jübifdje.  2)er  Begriff  ber  B?rgel* 
tnng,  welch«  einerfeitß  jur  Bufje  unb  3ur  Betfnirfdjung  leitet, 
wirb  anbererfeitß  fe^r  äußerlich  gefaxt  in  bem:  äuge  um  äuge 
unb  Bahn  um  3ah«  unb  führt  3U  einem  {Radjeburft , welcher 
afleß  menf^liche  ©efühl  beleibigt.  25ie  heiligen  ©griffen  ber 
3uben  felbft  3eugen  baoon,  unb  berfelbe  3>falm  137,  welcher  fo 
fdjön  bie  ©ehnfucht  ber  ©efangenen  auflfbridjt,  bie  an  ben  SBaffern 

(9i3j 


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8 


33abelß  fifcen  unb  »einen,  wenn  fte  an  3ion  geben!en,  idjtiejjt 
mit  bem  furchtbaren  SBunfche:  Du  ücrftörte  Mochtet  Sabel,  wohl 
betn,  ber  dir  Betgilt,  wie  bu  unfl  gethan  ^aft;  wohl  bem,  bet 
beine  jungen  «Rinbet  nimmt  unb  gerfchmettert  fie  an  ben 
©tein",  unb  audb  in  unfern  Drama  Hingt  bei  9iathan  biefeS 
©efüljl  burdj,  ba  er 

©ejürnt,  getobt,  fidj  unb  bie  SBclt  oenrünfcbt 
„Der  öbriftenbeit  ben  uimerjöbnlitbften 
jugefhworcn." T) 

Der  Sßlam  behüt  baß  fittliche  Serhältnifc  auß  Bon  ben 
Stammeß»  auf  bie  ©enoffen  beß  ©laubenß,  wüthet  aber  eben 
beßljalb  mit  §euer  unb  Schwert  gegen  alle,  welche  nidjt  2Htalj 
alß  eingigen  ©ott  unb  9Jiuhatneb  als  feinen  ^rophrien  etfennen. 
©rft  baß  ©hriftenthum,  wclcbeß  alle  nationalen  Schtanfen  bur<h* 
brodjen  hat  unb  nach  welchem  ©ott  alle  Sölfer  unb  fDtenfchen 
mit  gleicher  Siebe  umfaßt,  hat  bie  wahre  Humanität  in  bie  SBelt 
gebracht  unb  bie  9täd)fteuliebe  gur  allgemeinen  fDtenfchcnliebe  er* 
Weitert.  Daß  }d)öne  ©leichnifj  tom  barmhergigen  Samariter 
foricht  aufö  innigfte  ben  Äern  beö  ©pangeliumß  auß,  welchen 
©hriftuß  ohne  Silb  in  bie  SBorte  f leibet:  Siebet  eure  geinbe, 
fegnet  bie  euch  fluchen,  tljut  wol  benen,  bie  euch  hafte«  uub 
bittet  für  bie,  fo  euch  beleibigen  uub  perfolgen,  auf  bafe  ihr 
Äinber  feib  eureß  SBaterß  im  Fimmel,  benn  er  läfct  feine  Sonne 
aufgehen  über  ©ute  unb  Söfe  unb  regnen  über  ©credjte  nnb  Un* 
gerechte.8)  Diefe  gang  felbftlofe  unb  uneigennützige  Siebe,  bie  auß  ber 
Eingabe  an  ©ott  heroorgeht,  ift  ber  Äern  beS  (5t>riftenthumS,  unb 
ba|  Seffing  baö  ©hriftenthum  in  biefem  Äeru  erfafct  hat,  beweift 
am  beutlichften  bie  Meine,  aber  fdjöne  Schrift:  baß  Deftament 
beß  3ohauneß,  bet  an  bie  Seinen  wieberholt  bie  Mahnung  rieh* 
tete:  „Äinblein,  .liebet  euch  untereinanber“,  unb  auf  bie  $rage, 
warum  er  immer  biefelbe  SDRahnung  wiberhole,  antwortete:  „weil 

(954) 


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9 


eS  ein  SBefc^l  beS  $errn  ift  unb  weil,  wenn  ihr  ba$  allein  t^ut, 
ihr  genug  ttyut." 

Äehren  wir  »on  tiefer  'Sbfc^weifung  wieber  jum  Segriff 
ber  [Religion  jurücf.  Die  [Religion  ift  eine  Äraft,  unb  gwar  bie 
Äraft  bet  @elbft»erleugnung  nnb  Siebe,  aber  biefe  Ärafi  !ann 
einerfeitS  gehemmt,  anbererjeitS  »erftärft  werben,  in  bem  SRaße, 
baß  felbft  baS  (S^riftentljum,  bie  [Religion  bet  Siebe,  leine  Spur 
berfelben  etfcheinen  läßt  unb  baß  int  Subenthum,  welches  prebigt: 
bu  foOft  beinen  ffeinb  Raffen,  bie  felblofefte  Siebe  fyeroorttitt. 
Dort  haben  wir  einen  Patriarchen,  hier  einen  [Rathan,  jenen  um 
fo  mehr  ju  »erachten,  alb  er  baS  ©ebot  ber  Siebe  tennt,  aber 
ihm  wiberftrebt,  biefen  um  jo  höher  5«  lehren,  als  er  troß  bet 
mcglicbft  größten  Jpinberniffe,  welche  ihm  burch  Slbftammung, 
©rjiehung  unb  ©efdjicf  auferlegt  werben,  $u  bem  Äerit  ber  [Re» 
ligion  hiwburchbringt  unb  weit  über  bie  ©djtanle  feinet  ©lau» 
benS  l}inau@ge^t.  $'wc  ^anfcelt  eS  fich  nidjt  um  eine  Serth* 
fdjäßung  zweier  [Religionen,  fonbern  jweier  SRenfcßen.  DaS 
Drama  lehrt:  bie  [Religion  ift  fein  äußerer  33efiß  unb  fein  Äleib, 
welche^  bir  einen  Serih  t?erleif>t.  Streite  nicht  barum,  ob  beine 
[Religion  bie  beffere  ift,  fonbern  fomme  bem  fittlicben  ©ebot 
berfelben  nach-  [Riehl  bie  [Religion,  bie  bu  befennft,  gibt  bir 
einen  ÜBotjjug,  fonbern  bie  2lrt  unb  Seife,  wie  bu  fie  im  Seben 
bewährft.  ,£>aft  bu  bie  wahre  [Religion,  wehe  bir,  wenn  bu  baS, 
wa8  ©eift  unb  Seben  ift,  jum  tobten  unb  töbtenben  3?uchftaben 
machft;  ^aft  bu  einen  anberen  ©tauben,  wohl  bir,  wenn  bu  ben 
fittlicben  ©ehalt  berfelben  ergriffen  h4l  unb  ftatt  bloßer  gotteS» 
bienftlicber  formen  werfthätige  Siebe  iibft. 

Der  Patriarch  oerfehrt  bie  dwiftliche  Sehre  in  ihr  ootlftän» 
bigeS  ©egentheil  unb  ift  nicht  nur  nicht  ein  Sßertretcr  unb  JRepräfen* 
tant  berfelben,  fonbern  ber  ©egenfaß  aller  [Religion,  bie  »erforderte 
©elbftfucßt,  ber  UrtwpuS  pfäffifebett  ^>od)muthS  unb  priefterlidjer 

M (955) 


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10 


£errfd)}ud>t,  bet  fo  weit  »en  jeber  wahrhaft  religtöfen  unb 
ftttlidjen  ©mpfinbung  entfernt  ift,  bafj  er  bet  bet  einem 
Äiube  burd)  einen  3uben  etroieienen  Sohlthat  immer  »ou 
neuem  in  bie  SEBorte  auöbricht:  Jh“t  nicht«,  bet  3ube  wirb  »er* 
»erbrannt.  Ulathan  ift  nicht  ein  Siepräfentant  beS  3ubenthum8, 
fonbern  ein  JppuS  echter  Selbftoerleugnung,  bet  ohne  ein  ©hrifi 
ju  fein,  jo  obwohl  bie  ©triften  ihm  baS  größte  Seib  jugefügt 
haben,  hoch  baS  chriftlicbe  ®ebot  ber  fteinbeSliebe  im  »oüften 
SJiafee  erfüllt.  3n  (Math  hatten  nämlich  bie  ©haften  währenb 
Slathan«  Ülbwefenbeit  alle  3uben  mit  SBeib  unb  Äinb  ermorbet 
unb  unter  bicfen  auch  Nathan«  förau  mit  fieben  hoff«un38uoflen 
Söhnen,  welche  in  jeineö  trüber«  ^>aufe,  ju  bem  er  fie  geflüchtet, 
inSgefammt  »erbrannt  waren.  Drei  Jage  unb  9iäd)te  hatte  er 
in  9lfd?e  unb  Staub  oor  (Mott  gelegeu  unb  geweint,  „beiher  mit 
(Mott  auch  wohl  gerechtet,  gezürnt,  getobt,  fich  unb  bie  9Belt  »er* 
toünjcht,  ber  C5l?riftenl>ett  ben  unoerfebnlicbften  £af)  jugefchworen. 
„35och  nun",  fo  evjählt  er  felbft  unS  ben  Sieg,  ben  er  über  fich 
erfocht, 

.Joch  nun  tarn  bie  'Beraumt  allmählich  wieber. 

.Sie  fprad)  mit  fanfter  Stimm’:  unb  bocb  ift  (Sott! 

„Joch  »or  auch  (Motteß  SRathfchluß  baß!  ffiohlan! 

,Äomm,  übe,  maß  bu  längft  begriffen  baft; 

,2Baß  ftcherlich  ju  üben  fehlerer  nicht 

,9llß  ju  begreifen  ift,  wenn  bu  nur  willft 

„Steh*  auf!*  3ch  ftanb  unb  rief  ju  (Mott:  ich  will, 

,3öitlft  bu  nur,  bafj  ich  will-*) 

3n  biefem  Stugenblicf  unb  in  biefer  Stimmung  MlathanS 
erfdjeint  ber  Älofterbruber  uub  übergibt  ihm  ein  ©hrifteufinb. 
fRathan  nahm  e«,  trug  eS  auf  fein  Säger,  fü§t’  eS,  warf  fich 
auf  bie  Äniee  unb  fchluchjte:  „(Mott!  2tuf  fieben 'bod)  nun  fchon 
eine«  wieber." 

(91«)  - 


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11 


5ftit  noQftem  9ted)ie  barf  ber  Älofterbruber  oon  biefer  £anb» 
lungäweife  Nathan  gegenüber  auärufen: 

,33ei  ®0tt  ihr  feib  ein  ©hrift,  ein  beffrer  ©brift  war  nie.* 

Unb  wenn  fftathan  hierauf  erwiebert: 

und!  benn  maä 

.SDiicb  @ud>  jum  (5l;riften  macht,  baä  macht  Such  mir 
,3um  3uben*10) 

fo  formen  biefe  Sorte  feinen  anberen  Sinn  haben  alä  eben  ben, 
bah  tn  biefer  ©efinnung  fRathan  jeben  9Rcnfchen  wie  einen  @e* 
ncffen  feineö  Siolfeß  betrachtet  unb  an  ihm  Siebe  übt.  wie  eä 
baä  ©efefc  oorfdcreibt! 

Sürbe  aber  fRathan  fid)  nur  burd)  feine  Samariterliebe 
au^eichnen,  fo  würbe  er  wobl  ber  fromme,  aber  nicht  ber  2Beife 
beiden  bürfen.  Senn  feine  Seiäbeit  liegt  nicht  nur  Darin,  baß 
et  Cab,  waä  er  thut,  überhaupt  mit  SBewufjtfriu  thut,  fonbern  auch 
barin,  bah  feine  ©otteeerfenntnif)  eine  tiefe  ift  unb  bah  er  «her  baä 
Seien  ber  ^Religion,  unb  baä  23erhältnih  bre  einzelnen  9t eligionen  ju 
einanber  nacfagebacht  hat.  Senn  fRatban  cbriftlicb  ha«belt  unb  hoch 
ein  3ube  bleibt  unb  bleiben  will,  fo  hat  baä  feinen  tiefen  ©runb.  ©e* 
ftatten  Sie  mir,  bah  id)  noch  einmal  auf  ben  Söegriff  Cer  9teligion 
jurücffomme.  35aä  eigentliche  Sefen  ober  bet  Aetn  berfelben 
ift  ©elbftoerleugnung  unb  Eingabe,  aber  jeber  Aern  ift  umgeben 
non  einer  Schale,  einer  fdjühenbtn  ^»üfle,  unter  bet  er  h«tan* 
reift,  bie  ihn  aber  oft  auch  «erhütlt.  91  Ile  9ieligion  muh  fich, 
wenn  fie  fich  nicht  auf  ben  einjeluen  befchränfen,  fonbern  in 
einem  Hülfe  Sur$cl  fdjlagen  ober  nielmeht  auS  einem  Helfe  her* 
auäroachfen  foD,  in  einer  beftiminten  9lrt  ber  ©otteäoerebrung, 
in  beftimnrten  Sitten  unb  ©ultuagebräuchen  äuhern.  !Daä  ift 
eä,  waä  Salabin  fagt: 


,3h  bäd^te, 

JDag  bie  SReligionen,  bie  id>  3)ir 


(957) 


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12 


(genannt,  bed)  wohl  ju  unter] Reiben  wären 
©iS  auf  bie  Älcitung,  bis  auf  ©peif  unb  SEranf*.11) 

hierin  liegt  ba$  Uuterfcheibenbe  ober  baS  ^>oftti»e  bet  £Re* 
ligionen,  baS  aber  ebenfo  nothwenbig  ift,  wie  bie  ^Religion  felbft 
Slllgemeine  ©egriffe  eyiftiren  ebenfo  wenig  wie  fcr^erlofe  ©eifiet. 
IDbne  Äörper  »erflüchtigt  fid>  bet  ©eift,  ohne  ©efenntnifj  loft 
fid>  bie  Religion  in  Schwärmerei  ober  leere  Ubftraction  auf. 
3ebe8  ©olf  brüeft  feiner  ^Religion  baS  ©epräge  fetneS  nationalen 
©haracterS,  jeber  fReligionSftifter  berfelben  baS  ©epräge  feines 
©eifteS  auf,  unb  nur  in  biefer  inbioibueDen  Uuöprägung  ift  bie» 
felbe  überhaupt  lebensfähig.  ®ie  gricchifche  ©ötterwelt  ift  nichts 
anbereS  als  bie  3bealifirung  beS  heüeren  gt-ict^tfc^en  SebeuS  unb 
ber  phantafielofe  ©rnft  unb  bie  ftttlicbe  Strenge  beS  JRömerS 
fpiegelt  fich  wieber  in  ber  altitalifchen  fDlpthologie.  fSRofeS  unb 
ÜRahomeb  haben  ihre  ^Religion  lebensfähig  gemacht,  inbem  fie, 
felbft  in  bem  geben  ihres  ©olfeS  rourgelnb,  ihr  ihren  ©eift  ein* 
hauchten,  unb  ber  $u(6f(hlag  ber  milben  Jpoheit  unb  fittlicheu 
9Rajeftät  Gbrifti  ift  in  bem  ©ebot  ber  djriftlidjen  Siebe  ebenfo 
fühlbar  als  fich  bie  fJReffiaShoffnung  feines  ©olfeS  in  einer  an» 
beren  JReihe  feiner  fReben  auSfpricht.  ©8  wäre  hüdift  intereffant 
ben  fRachw  eiS  gu  führen,  welche  ©inwirfungen  baS  ©hriftenthum 
auf  feinem  ©ange  burch  bie  ©efchidde  oon  ben  ©ölfern,  bie 
ftd)  3U  ihm  befannt  haben,  erfahren  hat.  S)enn  wenn  ber  Älofter« 
bruber  bemerft: 

,3ft  benn  nicht  baS  ganje  ©hriftenthum 
„ÜlufS  3ubenthum  gebaut?  ©8  hat  mich  oft 
.©eärgert,  hat  mir  Xhränen  g’nug  gefoftet, 

,2ßcnn  ©hriften  gar  fo  fehr  oergeffen  tonnten, 

,iDaß  unfer  £ierr  ja  felbft  ein  3ube  war*  l!) 
fo  ift  baS  ebenfo  unleugbar  wal)r,  als  bafc  auch  bie  beibnifcheu 
©ölfer  einen  ©influfc,  wenn  auch  nidht  immer  einen  »erebelnben, 

(956) 


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13 


auf  baSfelbe  geübt  haben.13)  {Rur  baburdj,  baff  eine  {Religion  fidj 
bem  SBefen  eines  33oIfeS  affimiliert,  fann  fie  ihre  etliche  Stuf« 
gäbe  erfüllen  unb  nur  baburdj  baS  S3ol!  gur  aalten  CReligiofität 
ergiehen.  ©S  ift  gwar  wahr,  bafj  bieje  ©dja le,  baS  $)ofttine  in 
ber  {Religion,  ben  eigentlichen  Äern  berfelben  oft  faum  nodj  gut 
©rfdheinung  fommen  Iafct  unb  ihren  malten  ©ehalt  nerbunfelt, 
aber  nichts  befto  weniger  ift  eS  ein  otganifdjeS  ©ebilbe  unb  hat  feine 
innere  Berechtigung.  5)abei  ift  feboc^  gu  bemerfeu,  baf},  wührenb 
bet  eigentliche  Äern  ber  {Religion  berfelbe  bleibt,  baS  3leuf)ere, 
unb  mit  ihm  alle  biejenigeu  BotfieHungen,  welche  baS  innere 
SBefen  berfelben  nicht  berühren,  »anbeibar  unb  ber  Betanberung 
unterworfen  ftub.  25ie  religiöfen  Bestellungen  einet  jebeu  {Re* 
ligion  haben  ihre  ©efehichte  unb  werben  burdh  ben  jebeSmaligen 
BilbmtgSguftanb  beS  BclfeS  bebingt.  2)ie  {ReligionSgefcfcichte 
fteht  baher  im  engften  3ufammenhang  mit  ber  ©ulturgefdjichte, 
benn  bie  fortfchreitenbe  ©ultur  bilbet  auch  ben  ©lauben  um  unb 
ift,  bewufjt  ober  unbewußt,  beftrebt  ihm  eine  gotm,  ich  möchte 
faft  fagen  einen  Hörtet  gu  geben,  welcher  bem  religiöfen  ©eifte 
abäquat  ift  unb  ihn  fo  »oUfommen  wie  möglich  gut  ©rfdheinung 
bringt.  {Reue  ©ulturperioben  wirfen  baher  auf  baS  ©ebäube  beS 
alten  ©laubenS  auflöfenb  unb  gerfefjenb,  aber  wenn  eine  {Religion 
überhaupt  ben  Äeim  ber  SBahrheit  in  ftch  trägt  ober  wenigftenS 
noch  im  ©tanbe  ift  baS  ethifche  heben  eines  BolfeS  gu  tragen 
unb  gu  förbern,  — benn  im  anberu  gaHe  erftarrt  fie  unb  ftirbt 
allmählich  ab  — fo  fdjafft  fie  ftch  ein  neues  Organ,  neue  Bor* 
fteflungen,  eine  geiftigere  3lrt  ber  ©otteSoerehrung,  welche  bem 
gangen  3uftanbe  ber  {Ration  entflicht.  ©uchen  wir  uuS  baS 
©efagte  an  einem  Beifpiel  flar  gu  machen,  ©ine  finblidie  Bot* 
ftedung  fann  fidj  baS  SBirfen  ©otteS  gumal  in  feiner  Begleitung 
auf  baS  heben  beS  eingelnen  nicht  anberS  als  ein  wiflfürlicheS  b.  h- 
gufüßigeS  unb  wunberbareS  benfen  unb  glaubt  ©ott  gerne  mit 

(959) 


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14 


einet  {Reihe  Don  Wienern  umgeben,  welche  {einen  SBiüen  ooD* 
führen  unb  jum  @chu$  feiner  2lußerwählten  benimmt  finb,14)  baß 
entwicfelte  unb  gebilbete  teligiöfe  ©ewufjtfein  erfennt  nicht  nur, 
baf)  eine  folche  lüorfteHung  ©otteß  unwürbig  unb  unmöglich, 
fonbern  auch,  bafs  fie  gefährlich  unb  fd?äblid)  ift.  ©otteß  fc^öpfcri» 
fdje  unb  er^altenbe  S^ätigfeit  collgieht  fi db  nad)  ewigen  9tormen 
nnb  innerhalb  bet  ©efefce,  welche  ber  Ülußbrucf  feine©  eigenen 
©itlen«  unb  ©efenß  finb,  unb  ftatt  l^immlicbet  ©eiflet.  an  benen 
mit  feine  SSergeltung  üben  fßnnen,  finb  {JJlenjdjen,  ftetblidje 
SRenfdten,  benen  wir  £Danf  abguftatten  nerpflidjtet  finb,  bie  SBoQ* 
ftrecfer  feine«  SiDefi.  @o  wirb  bet  begriff  beß  ©unberß  um« 
gebilbet  unb  Den  bem  einzelnen,  gufäfligen  unb  willfürlichen 
©efdjehen  »erlegt  in  ben  harmouifchen,  gefetymäfjigen  unb  geiftigen 
Sufammen^ang  bet  £>inge.  3n  biefem  Sinne  fagt  Nathan: 
,2)er  ©unter  födjfteß  ift, 

,3)aj}  un«  bte  wahren,  edjten  SBunbet  fo 
.Slütäglicb  werben  fßnnen,  werben  follen. 

„Ob”  biefeß  allgemeine  ©unter  hätte 
„(Sin  ®enfenber  wc^l  fcbwerlitf)  ©unter  Je 
.©enannt,  waß  Sintern  bloß  fo  beißen  müßte, 

.(Die  gaffenb  nur  baß  tlngcwßhnlicbftc 
,£aß  Sleufte  nur  »erfolgen.*'5) 

SRecha  ift  nämlich  eben  Don  bem  Tempelherrn  auß  bem  geuer 
errettet  worben,  glaubt  aber  bafe  ein  Don  ©ott  gefenbeter  ©ngel 
fie  auf  feinem  weiten  gittieh  burd)  baß  geuer  getragen  h0^  ba 
9iati)an  felbft  fie  ja  gelehrt,  „baff  ©ott  gum  ©eften  betet,  bte 
i^n  lieben,  auch  SBunbet  fonne  thun."  9tathan  bagegeu 
geigt  ihr,  bafe  ©ott  für  fie  unb  ihreß  ©leiden  nicht  nur 
ftünblich  ©unter  tfjue  unb  fdjon  Don  ©wigfeit  getfjan  habe, 
fonbern  bafc  eß  auch  wuubetbar  genug  fei,  wenn  ein  5Renfdj, 
gumal  ein  Tempelherr  fie  gerrettet  habe.  ba  man  nod)  nie  gehört, 

(wo) 


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15 


.Daß  Salabin 

3e  eined  Stempelberm  »erfchont,  bafj  je 
(Sin  Stempelherr  oon  iljm  oerjcbont  ju  werten 
©erlangt,  gehofft;'  l6) 

unb  alö  fie  in  eben  bieiem  Umftanbe  nur  eine  Söeftätigung  i^refl 
®lauben8  fiet)t,  jeigt  i^r  fRathan,  bafc  biefer  SBatjn  nur  au8 
einer  SUnma^ung  be8  ÜRenjd)en  beroorgebe  unb  ben  fdjnöbeften 
Unbant  nach  fid)  3»elje : 

»Stolj!  unb  nic^td  als  Stolj!  ber  Stopf 
,©on  (Sifen  will  mit  einer  (Übern’  3ange 
,®ern  ans  ber  ®lutl)  gehoben  fein,  nm  felbft 
,®in  Stopf  »cn  Silber  ftd)  ju  bunten.  — 'Pal}! 

,Unb  waS  eS  jebatet,  fragjt  tu?  was  eS  fc^abet? 

. ,2Ba8  hilft  eS?  burft  ich  nur  hinwieber  fragen. 

.Denn  bein:  Sieb  ®ott  um  fo  fiel  näher  fühlen 
„3ft  Unfinn  ober  ®otte8läfterung.  — 

,9Wcin  eS  fchabet;  ja  eS  fchabet  aHerbingS.  — 

.Äommt!  hört  mir  ju.  (Rieht  wahr?  (Dem  2ßejen,  tag 
.(Dieb  rettete,  — eS  fei  ein  (Sngel  ober 
.(Sin  ÜJlenfeh,  — bem  mostet  ihr  unb  bu  befonberS 
,@ern  wieber  »iele  große  Dienfte  tljun? 

.(Rieht  wahr?  — 91un  einem  (Sngel,  waS  für  Dienfte 
,§ür  große  SDienfte  tönnt  ihr  bem  wohl  thun? 

,3he  tönnt  ihm  banfen,  ju  ihm  feufjen,  beten, 

.Jtönnt  in  (Sntjücfung  über  ihn  jerfchmeljen, 

.Äönnt  an  bem  Stage  feiner  geier  faften, 

.Hlmofen  jprenben.  — Stiles  nichts.  — Denn  mich 
.Deucht  immer,  bah  ihr  felbft  unb  euer  SHächfter 
.hierbei  weit  mehr  gewinnt,  als  er.  (Sr  wirb 
, (Rieht  fett  burch  euer  Saften,  wirb  nicht  reich 
.Durch  euer  Spenben,  wirb  nicht  herrlicher 
.Durch  eu’r  (Sntjücfen,  wirb  nicht  mächtiger 
.Durch  eu’r  ©ertraun.  sJti<ht  wahr?  Slflein  ein  üRenfch-* 

(961) 


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16 


JDiefe  2Juffaffung  beß  Söunberbegriffß  burd^iefyt  fo  fe^r  baß 
ganje  2)tama,  bafj  fid)  barauß  aDe  bie  fdjeinbaren  im  Anfänge 
erwähnten  DJlängel  ctflären,  bie  nur  bet  äfthetifdjen,  aber  nid^t 
bet  religiöfen  Betrachtung  Umtahrjcheinlichfeiten  unb  gehler  ftnb. 
9tichtß  fonnte  beutlither  baß  SBirfen  ber  Borfeljung  betoeifen,  alß 
bie  Sänge  ber  Borfabel,  welche  unß  bie  oerfchlungenen  ©efdjicfe 
»on  ÜKenfchen  geigt,  bie  ©ott  auf  tuuuberbare  SBeife  leitet,  nichtß 
mehr  ben  Beroeiß  baför  liefern,  bafs  ©ott  auch  bi*  bergen  ber 
9Jienf<hen  lenft,  alß  bie  Begnabigung  beß  Tempelherrn  butch 
©alabin. 

,,©ieh’,  eine  ©tim,  fo  ober  fo  gewölbt; 

„Der  Siücfen  einet  9tafe,  fo  oielmet>t 
„9110  fo  gefül;ret;  ülugenbraunen,  bie 
, 9tuf  einen  fcharfen  ober  ftumpfen  jtnoepen 
,,©o  obet  fo  ft<h  fd)tängeln;  eine  Sinie, 

.Sin  Bug,  ein  ©infei,  eine  galt’,  ein  ÜRaal, 

„Sin  nichts  auf  eines  wilben  SuropäerS 
„©efuht:  — unb  bu  entfommft  bem  geu’r  in  Stilen! 

„DaS  war  fein  SBunber,  wunberfücht’geS  Bolf?'"6) 

©o  bleibt  fRe^a’ß  fRettung  febenfallß  ein  SBunber 
,bem  nur  möglich,  ber  bie  ftrengften 
,6ntfd)lüffe,  bie  unbänbigften  Entwürfe 
.Der  Äönige,  feijr  ©piel  — wenn  nicht  fein  ©pott  — 

„@em  an  ben  fchwachften  gäben  lenft.’9) 

3n  biefer  ^inficht  fagt  ©eroinußSü)  mit  5Re<ht,  ba|  biegabel 
in  9iatt)cm  meifter^aft  angelegt  ift,  wo  eine  SHeibe  bunfler,  »er* 
fdjlungener,  jufäDig  fd^einenber,  unbegreiflicher  Begebenheiten 
aule^t  in  einem  lichten  fünfte  jufatmnenfaDen,  bie,  inbem  fte 
aDe  ©chicffalßmafchinerie,  alle  unmittelbaren  ©ingriffe  ber  ©ott* 
heit,  alle  Söunbcr  fiihn  leugnen  unb  aufheben,  ber  Söunber  grßfjteß, 
eine  Borjehung,  preißnoll  oerfünben,  bie  bie  SOienfchen  alß  ihre 
Äinber  lenft  unb  feinen  ©perling  ohne  ihren  SBiHen  fallen  läfjt." 

(9«2) 


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17 


freilich  hot  man  Sefflng  auS  bieder  Umbilbung  fce§  ©unber* 
Begriffs  Bott  fitdjltdjer  (Seite  gerabe  einen  ©orwurf  gemalt  unb 
ihn  befchulbigt,  baff  er  bie  ©ebeutung  beS  §)ofttinen  in  ber  Sie» 
ligion  überhaupt  nerfannt  höbe,  — unb  fyier  ift  bet  ^)un!t,  wo 
bie  Steigungen  für  unb  wiber  ben  SDid)tet  unb  fein  SDratna  ein» 
anber  fchroff  gegenüber  fteijen.  IDenn  ba8,  waS  bie  einen  an 
Hjm  tabeln,  ber  rationa!iftifd)e  3ug,  bie  SJliffachtuug  beö  gefdjidjt» 
ItcB  ©eworbenen,  bie  £erabfefcung  De8  fpeciftfch  6t>riftli(ben,  DaS 
gerabe  ift  eS,  waä  Den  ©eifall  unb  bie  Suftimmung  anberet 
finbet,  welche  bie  FirdjIicBcn  ©ogmen  unb  ©ebrdudje  in  ihrer 
großen  SOtehrgaht  für  oeraltet  unb  wiberfinnig  holten.  Iie§e 
ftd)  gut  ^Rechtfertigung  SeffingS  leidet  ber  Umftanb  anführen, 
baff,  wie  wir  normet  gejagt  hoben,  burdj  baS  pofitine  ©lement 
ber  Religion  ber  wahre  Äern  betfelben  Bielfach  nerhüllt  wirb, 
ba§  ©ebrdudje  unb  2?ogmen,  urfprünglich  ber  9lu§brucf  eines 
lebenbigen  ©laubenS,  atlmätjlig  erftarren  unb  abfterben  unb  bafj 
ber  3«ftonb  bet  Drthobejie  gut  3eit  SeffingS  ein  Derartiger  war, 
baff  burd;  ba8  ??ormenwefen  ber  ©eift  ertöbtet  unb  bie  ^Religion 
non  einer  feligmadjenben  .traft  gu  einem  dufferen  ?och  heeabge» 
fe£t  würbe.  Allein  fo  niete  ©ered)tigung  alles  biefeS  auch  hot, 
fo  bebatf  eS  bod)  bei  Seffing  einer  folgen  ©ntfchulbigung  um  . 
fo  weniger,  als  et  gar  nicht  non  obigen  ©orwürfen  getroffen 
Wirb,  ©erabe  Darin  geigt  fich  bie  geiftige  ©rofje  beS  SWanneS, 
baff  et  inmitten  einer  Seit,  in  welcher  eine  unbutbfame  Drtho» 
borie,  bie  an  Stelle  beS  fittlicben  ©erbdltniffeS  beS  SDlenfdjen  gu 
©ott  ein  äußerlich  iuribifdjeS  gefegt  unb  ber  ^Religion  ber  Siebe 
ben  ©eift  ber  ©erfolgung  eingehaudtt  hotte,  unb  eine  flad?e  &uf» 
fldrung,  bie  ohne  Sinn  für  bie  poetifdjen  ©laubenSfttmbole  ber 
©elfer  bie  ^Religion  auf  wenige  Dünne  ©egriffe  beftiüierte  unb 
ohne  Slljnung  non  ber  ©ebeutung  beS  religiofen  ©efüljlS  nur  bet 
nüchternen  ©erftänbigfeit  baS  ©ert  rebete,  — bafs  er  in  einer  fol* 

XI.  »«3.  2 (»63) 


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18 


chen  Seit  ftdj  übet  beibc  eri?ob  unb  mit  gewaltiger  ©timme  eben* 
fowoljl  bet  ftarren  ©ogmatif  gegenüber  baS  SHet^t  bet  gorfchung 
unb  bet  Vernunft,  alö  auch  ben  ’Äutflärern  gegenüber  b a$  {Recht 
beö  religißfen  ©laubenö  unb  beö  >})ofiticeu  in  bet  {Religion  pre* 
bigte.  8lu8  bieier  Stellung  Seffingö  erfläten  fid?  bie  jum  $beil 
fo  wiberfprechenben  ÄuSfprüche  beöfelben,  ba  er,  unbebiugt  unb 
für  ade  (gebiete  baS  {Recht  bet  freien  ftorfcbung  in  änfprucb 
nehmenb,  jebeö  ©pftem  unb  jebe  {Richtung  oon  ihrem  eigenen 
©tanbpunfte  auö  $u  halten  unb  $u  oertheibigen  fudjte* 1 ).  Sreffenb 
fagt  baher  ©erüinuS22):  „So  lieb  geffing  burch  bie  SEiefe  bet 
iuteHectuellen  ©rfenntnijf  bem  philofophifchen  ©etracfcter  ber 
menfdjlichen  SDinge  wirb,  fo  wirb  er  bem  hiftorijcben  noch  lieber 
burcb  feine  Schonung  ber  ©olföbegtiffe  unb  alleö  beffeu,  was  in 
bem  ©lauben  ber  SRenfchen  heilig  geworben  war.  ©ein  ©ruber 
Äarl  unb  9Roie§  SRenbelSfohn  Ratten  ihn  gerne  ju  einem  ©ecten« 
haupt  gemacht,  hätten  gern  gejehen,  bafe  er  gleich  bei  Verausgabe 
ber  Fragmente  fich  auf  ihre  ©eite  geftellt,  ftatt  ba§  et  ber 
JDrthobojrie  baS  SBort  ju  reben  fchien.  Allein  geffing  hnfete  auS 
VerjenSgrunb  alleö  ©cctenmachen  unb  würbe  feine  ©öttiu  felbft, 
bie  Sßatjrheit,  »erlaffen  haben,  wenn  fie  eine  ©ecte  fyätte  ftiften 
wollen,  unb  auS  biefem  @ruube  fließt  feine  parabojre  2Biberfejj* 
lichfeit  gegen  alles  ülubjcblicfcenbe.  fonnte  baher  auch  ber 
9tuffldrung8fucht  beö  {Ricolai  nicht  genug  thun,  mit  bem  er  in 
ben  lebten  Safjren  beäljnlb  auch  nicht  »iel  oerfehrte.  @r  wollte 
ber  2üelt  nid)t  mißgönnen  fich  aufjuflären,  f^rieb  er  an  feinen 
©ruber,  er  würbe  fid)  oerabfeheuen,  wenn  feine  ©chrifteu  etwas 
anbercö  beredten,  als  biefe  gro&e  {Sbfidjt  ju  beförbern.  ©r 
wollte  aber  nur  nicht  baS  unreine  SEßaffer  weggiefcen,  ehe  er  wiffe, 
woher  anbereö  nehmen."  „üeffing  wollte  {Religion  unb  ^h*l»’ 
fophie  ebenfo  wenig  oermifcht  wiffen,  als  früher  |>hilofophie  unb 
^)oefie.  ©r  pl)ilofopl)irt  jwar  felbft  über  {Religion  unb  {Religionö* 
c**) 


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19 


begriffe,  aber  nur  in  ber  Jpeffnnng,  ben  greigeiftern  tolerante 
Achtung  gegen  bie  fiunoollen  ©ogmen  ber  ^Religion  einjuflößen,“ 
eine  Jpoffnung  bie  freilich  nicht  in  bev  Sirflichfeit,  faum  in 
unierem  3)rama  in  ©rfülluug  gegangen  ift.  Sir  haben  nämlich 
in  bem  Tempelherrn  einen  ©haracter,  ber,  ganj  im  ©inne  ber 
Aufflätung  beö  18.  SahrßunbertS  gehalten,  ein  ftreigeift  ift  uab 
fi<h  nicht  nur  über  bie  SBorurtheile  feines  ©tanbeS,  fonbern  auch 
über  bie  feiner  ^Religion  erhaben  bünft.  Abftammenb  non  einem 
mnfelmännifdjen  Bater  unb  einer  cßriftlicher  SDRutter  unb  einem 
Drben  angehörig,  ber  fiel?  oor  allen  anberen  butch  freie  Anfichten 
auSjeichnete,  — maß  ift  eS  Sunber,  roenn  er  ben  ©tauben,  in 
bem  er  erlogen  ift,  für  Aberglauben  hält  unb  in  feinem  Sahn 
benfelben  überwunben  $u  haben  intolerant  wirb?  5)enn  bie 
wahre  Tolerang,  {ehr  oerfchieben  oon  ©leicßgiltigfeit,  geht  nur 
auS  lebenbiger  Uebetgeugung  eon  ber  Sattheit  beß  eigenen 
©laubenS  hetoor  unb  befteht  eben  barin,  baff  wir  auch  bei  anberen 
ben  fittlichen  Äern  ihrer  Uebergeugung  unb  bie  gefchichtliche  Be« 
rechtigung  beftimmter  ©pmbole,  ©itten  unb  ©ebräudje  aner« 
fennen.  Ser  freilich  in  biefe  baS  eigentliche  Seien  ber  ^Religion 
feßt,  witb  ebenjo  intolerant  fein,  wie  berjenige,  welcher  ihre  ©nt« 
ftehung,  ihre  Bebeutung  nnb  ihre  Berechtigung  überhaupt  oer» 
fennt.  Auf  bem  erfteren  ©tanbpuufte  fteht  2>aja,  auf  bem 
lederen  ber  Tempelherr.23)  güt  2)aja  befteht  bie  fReligion  nur 
in  ber  äußeren  gorm  unb  ift  ihr  nur  ein  ©ewanb,  welches  man 
auS*  nnb  angießt,  ohne  baß  bie  Befcßaffenßeit  beö  £ergenS  ba« 
butch  beeinflußt  wirb,  ©ie  liebt  fRecßa  aufrichtig  unb  fcßäßt 
bie  guten  ©igenfeßaften  fRatßanS  ßoch,  aber  eben  auS  ihrer  Siebe 
flammt  ihr  BefeßtungSeifer.  fRedra  hat  äußerlich  nicht  ben 
rechten  ©tauben,  unb  barum  muß  fie  oetloren  gehen.  9Rit  SRecßt 
nerfpottet  fie  ber  Tempelherr: 

2*  (9«r,) 


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20 


„Sßünfch  euch  ©IficF!  £>at S ferner  gehalten?  Safjt 
6uch  nicht  bie  Sieben  fdjrecFen!  ga^ret  ja 
5Jitt  ®ifer  fort  ben  §immel  $u  bereitem, 

3Benn  il)r  bic  ®rbe  nicfjt  mel)r  Fönnt " S4) 
ift  aber  in  feinem  blinben  Sifer  gegen  ben  oermeintlidben  aber» 
glauben  ebenfo  ungerecht  unb  läfjt  fi  dj,  unfähig  bie  fittlidje 
©rö§e  9iathan8  ju  erfaffen,  fogar  bagu  hinreifcen,  ben  Patriarchen 
um  (Rath  3u  fragen.  SBefonberg  oerbafjt  ftnb  bem  Sempelberm 
bie  ?uben,  nicht  etwa  »egen  fittlicher  ©ebredjen  ober  fonftiger 
3Ra!el,  fonbern  weil  fie 

„Siefe  StcnfchenmäFelei  $uerft 
„©etrieben* 
weil  fte 

,3uerft  ba®  auöerwäblte  SBolF  fleh  nannten." 

„Slie,*  fährt  er  fort,  .trenn  ich  btefeS  SSolF  nun  jwar  nicht  bajjte, 
.Sodf  wegen  feine®  (Stolze®  ju  »erachten 
„Stich  nicht  entbrechen  Fßnnte?  ©eine®  ©tolje® 

„Sen  e®  auf  Gbrift  unb  Slufelmann  »ererbte, 

„9tur  fein  ©ott  fei  ber  rechte  ®ott!  — 3br  ftufjt, 

.Sah  ich,  ein  ®jrift,  ein  Sempeiberr,  fo  rebe? 

,5Bamt  l;at  unb  wo  bie  fromme  fRaferei, 

.Sen  beffem  ®ott  ju  haben,  biefen  beffem 
.Ser  ganzen  Sielt  als  beften  aufjubringen 
„3n  ihrer  fchwär^eften  ©eftalt  ftcb  mehr 
,®ejeigt,  al®  hier,  al«  je^t?" 2J) 

3n  btefem  (Sifer  wirb  et  blinb  unb  ungerecht  gegen  ftch 
unb  anbere  unb  muh  fleh  mehr  «‘«mal  «ine  bittere  3ure<ht» 
weifung  gefallen  (offen,  freilich  bie  Schale  nur,  wie  fRathan 
gleich  bet  ihrem  erften  3nfamnientreffen  richtig  erfennt,  ift  bitter, 
ber  Äern  ift’8  nicht,  unb  ohne  3»eifel  wirb  bet  Sempelhetr 
auch  jum  jweiten  Piale  fein  Sehen  in  bie  Sdjanje  fragen, 
felbft  wenn  e®  nur  „für  ein  Subenmabchen"  wäre.  Senn  bie 

(966) 


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21 


Sfcftat  ift  fein  ©lernent,  bad  müftige  geben  befommt  ihm  nicftt, 
unb  eingenommen  gegen  bad  duftere  Sefenntnift  löft  ficft  iftm 
bie  ^Religion  »ollftdnbig  in  bad  fittlicfte  £anbeln  auf. 

3n  biefer  .pinficftt  bilben  gum  Jempelfterrn  gwei  anbetc 
religiöfe  Sppen  ben  ©egenfaft,  ber  SDerwifcft  3ll*#aft  unb  ber 
Älofterbruber  23onafibe8.  S3eibe  ftaben  ficft  über  bie  SBorurtfteite 
iftred  ©laubend  erhoben,  — wenn  man  freilich  aucft  bie  gtage 
aufmerfen  fönnte,  welcftem  ©lauben  ber  ©ermifd)  überhaupt  an* 
gehört,  — beibe  nennen  9latftan  ihren  Breunb  unb  bet  Ä1  öfter* 
brubet  ihn  fogat  einen  Steiften,  aber  beibe  o erlernten  ed,  baft 
bie  Religion  ficft  mitten  im  ©eroüftl  bed  gebeng  butcft  bie  fitt* 
licfte  Sftat  bemähren  muffe,  beibe  fliehen  bie  SBelt,  in  bereu  ©e* 
triebe  fie  ficft  nicftt  gurecht  finben  fönnen,  fonbern  beren  Sftot» 
heiten  unb  ©cftwäcften  fie  nur  erfennen.  311  jpafi,  gum  ©roft* 
fcftaftmeifter  bed  ©ultand  ernannt  unb  in  ben  ©tanb  gefeftt  eine 
groftartige  SBoftltftdtigfeit  gu  üben,  fehnt  ficft  hoch  nach  b«  äöäfte 
unb  flieht  aud  ber  SBelt,  benn  er  burcftfchaut  nicht  nur  bie  Jftot» 
fteit  bed  ©ultand,  ber 

,33ei  ftunbertaufenben  bie  ÜRenjcften  brücft, 

,9tuämergelt,  plünbert,  martert,  würget  unb 
,@in  URenfcftenfreunb  an  ©injelnen  fcfteinen  wiB* 
fonbern  er  tabelt  aucft  fich  felbft: 

„3i>aS,  ed  wäre 

„Glicht  ©ecferei  an  folchen  ©ecfereien 
„Sie  gute  Seite  bennoch  audjufpüren 
,Um  9tntt)eii  biefer  guten  ©eite  wegen 
„Sn  biefer  ©ecferei  ju  nehmen?  *•) 

<$r  wirb  ed,  mie  fRatftan  ficft  audbrücft,  g’rab  unter  ben 
SKenfcften  ein  SRenfcft  gu  fein  oerletnen,  benn  für  iftn  ift  ed  »aftr: 
„31m  ©anged,  am  ©anged  nur  gibtd  fDlenfcften.*7)  Unb  »ie  911 
£afi  nacft  öem  ©anged,  fo  fehnt  ficft  ber  gute  Äofterbruber,  bem 

(M7) 


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22 


e8  ein  ®reuel  ift  feine  .pönbe  in  bic  treltltdjen  Jpänfcel  ntifchen, 
fein  SRäödjen  in  fo  oieleS  ftccfeu  unb  Äunbfdjafter  be§  Patriot* 
<heu  fein  gu  muffen,  unb  ber  bodj  alö  Äloftcrbrubet  pünftlid?  bet 
Pflicbt  be8  ©ehotfatnS  nacbfonimt,  be8  Iag8  woljl  bunbertmal 
nach  Slabor.  Jher  freilidj  fo  benft  wie  ber  Älofterbruber: 

„2üenn  an  ba8  ©Ute, 

,SDae  ich  ju  ttyun  oermcine,  gar  $u  nab 
„2Ba$  gar  $u  fdjlimmeS  grcnjt,  fo  tl)u  id?  lieber 
,S?a8  ®ute  nicht;  weil  wir  ba8  Schlimme  jwar 
,So  nicmlitb  iunerläfjig  fennen,  aber 
„Sei  weitem  nicht  ba«  ©ute*2") 

Wer,  fage  id>,  fo  benft,  ber  tl>ut  gut  fid)  fo  balb  al8  möglich 
eine  ©iebelei  auf  Üabor  ju  erbnun,  benn  e8  wirb  nur  ein  3«s 
fall  fein,  wenn  er  nicht  ba$u  mitfyilft  ba$  Sefc  ju  oetlbringen. 

91ur  Ufatlian  allein  l)at  bic  fReligion  iit  itjrer  SBahrftett 
erfaßt,  als  bie  fidr  in  ber  Siebe  bewäl)rcnte  Ära  ft,  bie  auf  be* 
ftimmter  Ueber$eugung  beruht  unb  fiib  in  beftiminteu  formen 
unb  ©ebräueben  äußert  unb  äußern  nmf).  2Sie  febr  er  fid?  felbft 
übermunben  unb  bie  Scbranfe  feineö  ©laubenö  burebbroeben  tjat, 
wie  feljr  er  erfennt,  baf?  alles,  was  er  fonft  feiu  eigen  nenut, 
Statur  unb  ©lücf  ihm  jugetheilt  bat  unb  er  nur  beit  Sefi£ 
fRedjaS  allein  ber  2ugenb  perbanft,  ift  idton  früher  berperge* 
hoben,  aber  bieieö  alles  würbe,  wie  bereits  bemerft,  iltm  noch 
nicht  ben  Seinamcn  beit  Steifen  perleiben.  fDeitn  auch  0ittah 
unb  @alabitt  jeigett  fid>  liebeooll,  groffmüthig  uttb  bureb  Sor* 
urtheil  ihrer  ©laubenSfafcung  nicht  beengt,  aber  wenn  and'  $a« 
labin  nie  perlangt  hat,  bafj  allen  Saunten  eine  fliittbe  wadtfe, 
wenn  er  au  dt  beftrebt  ift: 

„Te8  ^fehlten  Slilbe 
®ie  fontor  SluSwabl  über  Sef  unb  ©utc 
Unb  §lur  unb  SBüftenei,  im  Sonnenfcbcin 

(968) 


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23 


Unb  Siegen  ftd)  verbreitet  — nad}$uüffen 
Dt>n’  bocb  be4  4>öcbfteti  immervolle  £)ant 
3u  baten," 

wenn  er  audt  grefemütbig  bem  Tempelherrn  tag  2ebeu  fcbenfl: 
er  folgt  tjierin,  ol)ne  fid)  beö  eigentlichen  ©runbeß  ber  ©ulbung 
bemufft  ju  fein  unb  fid)  über  feine  .^anblungßmeife  SRcdienfcbaft 
gegeben  ju  haben,  nur  feiner  natürlichen  Neigung,  unb  eg  bürfte 
ung  nid)t  wunbern,  menn  er,  wie  uns  biefeß  in  ber  flljat  non 
bem  f)iftorifd>eu  ©alabin  beriddet  wirb,  in  einzelnen  fällen  gan^ 
entgegengefefct  banbeite. 

fRttr  bei  [Ratban  finb  mir  beffeit  gaitj  gemif),  baff  er  nie 
anberg  banbeln  mirb,  roie  er  gcl)anbclt  bat,  unb  baff  er  bie 
©ulbung,  welche  er  übt,  nie  311  verleugnen  im  ©tanbe  fein  mirb. 
ÜDenn  er  bat  fid)  felbft  übermunben  unb  ben  ferneren  .Kampf 
3Wifd)en  s)>flid)t  unb  Neigung,  auf  bem  nad)  ber  fPbilofopbie 
Äantg  überhaupt  bie  ®ittlid)feit  beruht,  burchgefämpft,  er  weif) 
eg,  bafc  menn  aud)  einer  ber  brei  [Ringe  ber  mal)re  ift  unb  fein 
muf),  bed)  ber  ©treit  barum  fruddlog  unb  thörid)t  ift,  meil  eben 
bie  [Religion  fein  äußerer  33efitj,  fonbern  ihrem  inner«  Sßefen 
nad)  ©nnftmutb,  ber^lidre  23etträgliddeit,  Söol)ltbwn  uub  innigfte 
©rgebenbeit  in  @ott  ift,  er  fiel)t  eß  aber  aud)  ein,  bafj  bie  [Reli* 
gion  etmag  gefdiiditlidi  Wemorbeneg  unb  barum  aud)  in  ihren 
äußeren  formen  unbebingt  berechtigt  ift.  3war  fönnte  eg  fdieU 
nen,  alg  menn  fid)  'Ratban  nid)t  bloß  ffeptifd),  fonbern  aud) 
gleicbgiltig  3«  bem  äußeren  rcligiöfen  Gultug  verhalt,  nnb  geffhtg 
felbft  giebt  geroiff ermaßen  bie  2?ereddigmtg  31t  biefer  9luffaffung, 
»eun  er  gelegentlich  erflärt,  baf)  9iatl)au’g  Abneigung  gegen  po» 
fitive  [Religion  von  jcl)cr  and'  bie  feinige  gemefen  fei.  91  bet 
näher  betrachtet  crmcift  ficb  baß  bod)  alß  ein  3rrtbum30)  T)enn 
menn  [Ratban  ©alabin  gegenüber  behauptet,  ber  cdite  [Ring  fei 
beinahe  ebenfo  unermeiglid),  mie  bie  mul)re  [Religion,  fo  ift  tiefe 

(S69) 


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24 


Säuberung  nicht  nur  ber  ganzen  ©Ablage  nach  bem  Sultan 
gegenüber  geboten,  fonbern  auch  feineSwegS  ohne  jete  2Bahrh«it 
SDenn  wie  bet  echte  SRiug,  So  erweift  fich  auch  bie  wahre  SReligion 
nur  burch  iljre  SSirfungen,  aber  biefer  SöeweiS  beS  ©cifteS  unb 
ber  .Straft  ift,  obwohl  allein  möglich  unk  guläffig,  bo<h  nur  für 
benjenigen  binbenb,  bet  bereits  oon  ber  SBatjrheit  berfelben  über» 
geugt  unb  auch  unbefangen  genug  ift,  ben  SDtifjbrauch  in  Slbgug 
gu  bringen,  ben  menf^lictje  Schwachheit  unb  SLljor^eit  mit  ihr 
getrieben  haben.  @S  fe£t  aljo  ein  Solcher  23eweiS  immer  ein 
SerhSltnife  ber  Pietät  oorauS  unb  ift  ohne  baSfelbe  überhaupt 
nicht  gu  führen,  ba,  wie  SRathau  richtig  Ijeroorhebt,  bie  SReligio« 
tcen  fich  oon  ©eiten  ihrer  ©rünbe  nicht  unterfcheiben , fonbern  fich 
alle  auf  göttliche  Offenbarung  berufen,  ©ieje  Pietät  befifct  auch 
fRathan  unb  will  baher  nicht  als  3ube  fcheinen.  ©r  ift  3ube  unb 
bleibt  3ube  unb  bewahrt  für  fich  treu  bie  ©afcungen  ber  SBäter. 
„SDenn  grünben"  fagt  er, 

„Mc  fid)  oi<ht  auf  ©ejchichte? 
„©efchricben  ober  überliefert!  Unb 
.©cfhichte  muß  hoch  wohl  allein  auf  Streu’ 

„Unb  ©lauben  angenommen  werben?  — Sticht?  — 

„Stun,  weffen  Streu  unb  ©lauben  gietjt  man  benn 
„SÄm  wenigften  in  3weifel?  boch  ber  ©einen? 

„$och  bereu  SSlut  wir  finb?  boch  beten,  bie 
,$5on  Äinbheit  an  uns  groben  ihrer  Siebe 
.©egeben?  Oie  uns  nie  ge  teufet,  als  wo 
.©eteufcht  ju  werben  uns  hc*lfamcr  war?"11) 

3wat  föunte  man  hi«  einwenben,  bah  fRatljan  felbft  feinem 
©runbfahe  untreu  wirb,  ba  er  in  ber  ©rgietjung  JRecha’S  alles 
^ofitioe  abftreift  unb  tihr  nur  bie  ©runbjabe  einer  Vernunft* 
religion  einimpft,  welche  baS  ©emeingut  aller  werben  follte. 
Allein  biejenigen,  welche  biejen  ©iuwurf  erheben,  oerfennen  nicht 

(STU) 


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25 


nur,  baff  eg  ftdj  tjier  um  ben  ©lauben  eines  ©in^elnen,  ni<^t  um 
beu  einer  ©emeinfchaft  banbeit,  benn  eine  fold^e  fanu  einmal 
ebne  pofitiüe  3utbat  nicht  befielen  unb  ift  ebne  biefelbe 
nicht  lebensfähig,  fonbern  auch,  bafj  9techa  bem  biftorifeben  23oben 
entnommen  ift,  butcb  melden  baS  pofitioe  religiöfe  23e!enntni| 
bebingt  »itb.  0iecba  ift  für  fRatban  nur  ein  anoertrauteS 
Pfanb;  ©briftin  oon  ©eburt,  bie  Pflegetochter  eines  3uben, 
bie  dichte  eines  mobamebanifeben  ©ultanS  — »ie  foB  fte  erlogen 
»erben?  ,,©i  freilich"  fagt  ber  Älofterbruber: 

„klüger  hättet  ihr  gei^an 
„äßenn  ihr  bie  ©hnftin  burch  bie  jroeite  £)anb 
„5118  ©h^ftin  auferjiehen  laffen;  aber 
.©o  hättet  ihr  baS  Äinbdjen  eure«  greunbeS 
.Slueb  nicht  geliebt.  Unb  Äinber  brauchen  Siebe, 

„SBarS  eines  wilben  Spiere«  Sieb’  auch  nur, 

„3u  folchen  3ahren  mehr  als  (Sbriftentbum. 

,3um  ©hriftenthume  hat«  noch  immer  3eit 
„SBenn  nur  baS  Stäbchen  fonft  gejunb  unb  fromm 
„Sßor  euren  Slugen  auf  gewachten  ift, 

„So  blieb  ’S  oor  ©otte«  Slugen,  was  es  mar.',,) 

©icber  bat  fftatban  hierin  nicht  Unrecht  getban,  aber  foBte 
er  eS,  er  felbft  erfldrt  ftd}  bereit  oor  bem  üRecbenfcbaft  ab^ulegen, 
ber  — unb  biefer  2tuSfpru<b  ift  nicht  bet  geringfte  23e»ei8 
feiner  2BeiSbeit,  — 

„Mein  ben  SWenfchen  nicht 
9lach  feinen  2haicn  braucht  ju  richten,  bie 
©o  feiten  feine  Saaten  fmb.*”) 

©8  »ar  nicht  meine  äbficht  eine  <Sb«a ctcriftif  ber  in  bem 
Drama  auftretenben  Perfonen  ju  geben,  bie  Äuno  gifcher  in  un» 
übertrefflicher  äöeife  geliefert  b®t,  ich  »oflte  nur  bie  aBgemeinen 

©eficbtSpunfte  einer  Dichtung  barlegen,  bie  »ie  feine  anbere  auf 

c»n> 


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26 


bnß  fittlidi  religiöfe  l'ebctt  unfereä  SBoIfeö  ju  toirfen  geeignet  ift. 
Sollte  idj  überzeugt  ober  nid)t  überzeugt  haben,  icf>  empfehle 
immer  non  neuem  bie  Scctiire  beS  tieffinnigen  SDrama  anb 
fdflie&e  mit  ben  frönen  Sorten  ©uftap  Sdjmabß: 

,,9lud)  biefer  9tatban  ift  ncd)  immer  frifcb, 

,3ft  Seben,  wie’«  bie  cd)tc  2)id)tung  ift. 

„©ein  ©leidmifj  Pon  ben  Dringen  funfeit  nod), 

»3um  Sinnen  unb  3U111  3weifel  weeft  cß  noch- 
„Sod  warum  baren  fp roden,  wenn  fein  Sort, 

„Sein  eigene?,  nur  l;arrt  »en  unfern  Sippen 
„(Sin  tbeuereß  25ermäd)tnif},  außjugeljn? 

,®ewäbrt  ibtn  Stille  bicfein  ernften  3öort; 

„äiewegtß  in  eurem  ®eift;  unb  angftet’ß  cud 
. ,So  ruft  etnper,  maß  ibr  in  eigner  ÜBruft 
„SJon  Ucberjeugung  unb  een  ©lauben  begt 
„Äcin  ©ert  ift  furchtbar,  wenn  ben  pörer  cß 
,9Jiit  innrem  ©egenwert  gerüftet  finbet. 

,2)rum,  Sreunb  unb  Siberfader,  bordet  auf! 

„Dtur  Segen  bringen  fann  ein  ©idterwert." 


(978) 


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'Jlnmcrfmt  fielt. 


I)  Stiller  bat  gu  gwei  »erfeßiebenen  3<dten  i'on  »erfeßiebenen  @e« 
fießtöpunften  auS,  fehr  uerfdjiebcn  über  ten  SRatßan  geurtßcilt.  Ser 
Stert  beß  Vertrages  nimmt  iöegug  auf  bie  Abßanbtung  Schiller?  über 
tiaiue  unb  fentimentatifeße  SDidjtunej.  3nbrm  er  ben  Untcrfcßieb  ber  Äo* 
mßbie  unb  ber  Xragßbie  bejpridjt,  jagt  er,  baß  ber  Xragöbienbicßter 
feinen  ©egenftanb  immer  practifd),  ber  Äomßbienbicßtcr  ben  feinigen 
immer  tßeeretifcß  beßanble,  auch  wenn  jener,  wie  Üefjtng  in  feinem 
9latban,  bie  ©ritte  hätte  einen  tbecretifd'en,  biejer  einen  praetifeßen  Stoff 
gu  bearbeiten.  Ser  Xragifer  muffe  ficb  not  bem  rußigen  Diaifennement 
in  Acßt  nehmen  unb  immer  ba?  .perg  intereffiren,  alfe  turd'  beftänbige 
©rregung  ber  tfcibenfdcaft  feine  Äunft  teigen,  unb  bieie  Abunft  fei  um 
fo  größer,  je  mehr  fein  ©egenftanb  abftracter  Diatur  fei.  ,3m  Diatban 
bem  SÖ3eifen , jo  fügt  er  in  einer  Anincrtung  hingu,  ift  bieje?  nicht  ge* 
feßehen ; ßier  bat  bie  froftige  Dlatur  bcS  <Stoffeß  ba6  gange  AUmftwcrf  er* 
faltet.  9t ber  üeffing  wußte  felbft,  baß  er  fein  Xrauerjpiel  jtßrieb  unb 
uergaß  nur  menfeßlitßer  2Beife , in  feiner  eigenen  Angelegenheit  bie  in 
ber  Sramaturgie  aufgcftctltc  ?eßre,  baß  ber  Siebter  nidjt  befugt  fei,  bie 
tragifeße  gerin  gu  einem  anbern  al6  tragijeßen  3t»ccf  anguwenben.  Ohne 
feßr  wejentlidje  Sßeränberungcn  würbe  ci  faum  mßglid;  gewefen  fein, 
biefe?  bramatifeße  ®ebid?t  in  eine  gute  Xragßbie  umguftßaffen;  aber  mit 
bie?  gufätligen  i!eranberungen  mßcßtc  es  eine  gute  Äotnebie  abgegeben 
haben.  Sem  letzteren  3wccf  nämlicß  hätte  ba?  '■patßctifd'e,  bem  erftern 
ba?  Oiaifonnircnbe  aufgeopfert  werben  muffen,  unb  cS  ift  wol  feine  grage, 
auf  welchem  een  beiben  bie  Schönheit  bieje?  ©ebießtä  am  meiften  berußt 
(XII  pag.  199).  ©ang  anberS  Hingt  bie  furge  ©rwüßnung  beß  Dlatban 
in  bem  Auffaße:  Sie  Schaubühne  alß  eine  moratifeße  Amtalt  betraeßtet: 

(97J) 


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28 


„fRidtigere  Begriffe,  gelauterte  ©runbfäße,  reinere  ©efüblc  flicßcr  wm 
feier  au«  burd  äße  Sbern  beS  BolfeS ; ber  SRebel  ber  Barbarei,  bei 
finftercn  Aberglaubens  Derfdwinbct,  bie  dtadpt  weid)t  bem  fiegenben  Sicht 
Unter  fo  Dielen  herrliden  grüßten  ber  befferen  Bül)ne  »iß  id  nur  £»« 
auSjeidnen.  3öte  aßgemein  ift  nur  feit  wenigen  Satiren  bie  Sulbung 
ber  tReligionen  unb  Seelen  geworben?  — 91  cd  el;e  uni  fRathan  ber 
3ube  unb  ©alabin  ber  Saracene  befdämten  unb  bie  göttliche  Sehre  nnl 
prebigten,  baß  (Ergebenheit  in  (ädott  oon  unferem  SBahncn  “brr  ®ott  1® 
gar  nic^t  abhängig  fei  u.  f.  w.'  (X.  pag.  77). 

2)  9iur  auf  einen  punft  wiß  ich  nDCh  aufmerffam  machen,  nämlich 
auf  bie  Doßftänbig  unflare  unb  »erworrene  (Ehronclegie.  Sie  $wnblung 
bei  Stüdeö  faßt  in  baS  3aljr  1192  — an  baS  (Snbe  bei  nach  ber  (Er* 
oberung  AccaS  abgefd)loffenen  äßaffenftiflftanbeS.  Sicca  hatte  f«h  am 
2.  3uni  1191  ergeben  unb  Philipp  II.  bereits  im  Auguft  1191  bie 
fRüdreife  angetreten,  als  ber  SBaffenftiflftanb  abgefcploffen  würbe.  3» 
bem  Stüde  aber  wirb  Philipp  II.  noch  als  in  Paläftina  anwefenb  tor* 
ausgejeßt,  ba  er  nach  Pein  Biunfde  beS  Patriarchen  bie  epanb  baju  bieten 
fofl,  ftch  SalabinS  ju  bemächtigen,  wenn  er  ft<h  ju  feinem  Bater  nach 
ber  auf  bem  Libanon  belegenen  Befte  begeben  werbe  (1,3).  Bebenflidxr 
ift  bie  Chronologie  in  Be$ug  auf  IKecha.  tReda  ift  ror  18  Sah™ 
bur<h  ben  .(Uofterbruber  Statban  übergeben  worben,  als  fich  ber  Bater 
nach  @aja  werfen  mußte,  um  biefen  Ort  gegen  Salabin  ju  oertheibigen. 
3u  ihrer  (Erziehung  hatte  tUattjan  Saja  ins  £>auS  genommen,  weide  fie 
feit  ihrer  erften  Äinbl;eit  gepflegt  unb  fie  nad  tRedaS  eigenen  Serien 
eine  SDRutter  fo  wenig  miffen  taffen.  tReda  ift  alfo  18  3abre  unb  Safa 
annähernb  fo  lange  in  iUatbanS  f)aufe.  AnbercricitS  aber  erfahren  wir, 
baß  SajaS  ÜJiann  ein  (Ebelfnedt  in  Äaifcr  gricbridS  fjecr  mit  bieiem 
im  gluße  ÄalpcabnuS  ertrunfen  war.  Sa  biejeS  aber  am  10.  3nni 
1190  gefdah,  fo  fann  Saja  faum  2 3ahte  in  BathanS  ^)aufe  unb 
SReda  mußte  nidt  älter  als  5 Sahre  fein,  jurnal  @aga  non  Salabin 
erft  1187  erobert  würbe  unb  OtedaS  Bater  bei  Alcalcn  fiel,  welches 
Salabin  ebenfaÜS  erft  1187  einnahm  (IV,7).  Ser  Sidter  läßt  wol 
ablidtlid  bie  (Ehronologie  unbeadtet.  wenn  aud  nidt  redt  cinjufebu  ift, 
weshalb  er  eine  Weiße  hiftorijder  ÜJiomentc  hrrDorßebt. 

3)  Sie  SSejdaffenheit  ber  Bcrfc  ift  bem  gangen  (Sharafter  bei 
©tüdeS  angepaßt,  wie  Bejfing  felbft  in  einem  Briefe  an  SR  ander  com 
18.  Sec.  1778  fagt,  er  habe  wirflid  bie  Berte  nidt  beS  äßelflangeS 

(»74) 


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29 


wegen  gewählt,  fonbern  »eil  fr  glaubte,  baß  ber  orientalifebe  Son,  ben 
er  bod)  bifr  unb  ba  angeben  muffe,  in  bfr  f)rofa  ju  fe^r  auffallen 
bürfte.  Sie  9?erfe  im  fftatban  ftnb,  fagt  g.  98.  ©Riegel  in  ber  lebten 
feiner  Seriefungen  über  bramatifdje  Äunft  unb  Sitteratur , oft  fyart  unb 
nacbläfftg  gearbeitet,  aber  wahrhaft  bialogifcb,  unb  ihr  nortbeilhafter 
©nfluß  ift  tctdjt  ju  fpüren,  wenn  man  ben  Jon  beS  ©tücfeS  mit  bfr 
$>rofa  feiner  Dorbergebenten  Dergleicbt,  unb  an  feinen  S ruber  feb  reibt 
?efftng  am  1.  Sejember.  1778:  „9)ieine  iprofa  bat  mir  Den  jeher  mehr 
3eit  gefeftet,  al«  Sßerfe.  3a,  wirft  Su  fagen,  als  foldje  93erfe!  — 
SJlit  ©laubniß;  itb  bäcbte,  fte  wären  Diel  fdjlecbter,  wenn  fte  Diel  beffer 
Wären."  ®r  gab,  wie  WemeDer  trejfenb  bemerft,  ben  3®mben  mit 
Slbficbt  feine  größere  ^ormpoüenbung,  weil  er  Den  bein  ®runbfaße  auS- 
ging,  baß  ber  bramatifebe  93er«  als  folget  feine  felbftftänbige  Schönheit 
in  Ülnfprucb  nehmen  bürfe,  unb  baß  burcbauS  funftgereebte  Scrfe  ju  fe^r 
ju  bloßer  Seclamatien  Derleiten.  ©o  ftnben  wir  niebt  bloS  ben  3ambu8 
in  allen  güßen,  felbft  im  fünften  mit  bem  ©ponbeuS,  ja  fegar  mit  bem 
SrocbäuS  Dertaufdrt,  fonbern  autb  brei  breijebnfilbige,  fünfybn  jwölf« 
ftlbige,  fünf  neunfilbige  unb  eilf  a^tfilbige  SBerfe.  Sie  in  ber  jweiten 
9lu8gabe  gemachten  Serfudje  einzelne  biefer  93erfe  ju  Derbeffern,  febeinen 
mir  nur  jum  geringften  Sl) eile  gegtücft  ju  fein.  cfr.  §r.  3ara<fe. 
Heber  ben  fünffüßigen  3ambu8,  mit  befonberer  SRücfftcbt  auf  feine  S3e- 
banblung  bur<b  ffefftng,  ©cbiller  unb  ©oetlje  I.  1866. 

4)  Sie  fogenannten  9Bolfenbüttler  Fragmente  ftnb  SKuSjüge  au8 

einer  größeren  ©djrift  be$  Hamburger  ^rofeffor  Hermann  ©amuel 
SReimaruS:  „©ebußfebrift  für  bie  nemünftigen  Verehrer  ©otteS"  unb 
würben  oon  üefitng  a!8  angeblich  auf  ber  Sibliotbef  in  9Bolfenbüttel 
gefunben  mit  wiberlegenben  Ulnmerfungen  in  3 auf  einanbeTfolgenben  Slb- 
tbeilungcn  berauögegeben:  1.  Son  ber  Sulbung  ber  Seiften  J774. 

2.  'l'on  9>erfcbreiung  ber  Vernunft  auf  ben  Äanjeln.  3.  Unmöglicbfeit 
einer  Offenbarung,  bie  alle  auf  eine  gegrünbeteärt  glauben  fönnen.  4.  Saß 
bie  Südjer  beS  alten  Seftaments  nicht  gefebrieben  feien  eine  ^Religion  ju 
offenbaren.  5.)  5>om  Surcbgang  ber  SSraeliten  burd)  ba8  rotlie  9Jleer. 
6.  Sen  ber  SluferftehungSgefcbicbte  1777  unb  7.  3wecf  3efu  unb  feiner 
3ünger  1778.  ©ne  Ülnaltjfe  ber  ganzen  ©ebrift  Don  9ieimaru8  giebt 
SaDib  ©trauß  in  feinem  Sud?:  Hermann  ©amuel  IReimaruS  unb  feine 
©djußfcbrift  für  bie  nemünftigen  Sereßrer  ©otteS  üeipjig  1862. 

5)  ©ne  ©efdjicbte  beS  Streits  unb  feiner  Sebeutung  für  bie 

(97S) 


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30 


Stbeologie  flieht  Äarl  Schwär^:  ©.  S.  Effing  als  Hjectogc,  Volle  1854. 
Sine  bibliothefarifche  UngefäUigfeit,  wie  ©erninuS  ficfe  außbrüeft  — heffing 
ijatte  nätnlid)  eine  grage  nach  ptattteut jebeti  IBibclauSgaben  auf  her 
Sholfenbüttler  töifcliotljef , bie  er  gerate  am  Sterbebett  feiner  ©attin  er* 
l)ielt,  unbeantwortet  gelaffen  — war  oieQeic^t  ber  ©runb,  bag  ©oeje 
heffing  wegen  ber  Verausgabe  ber  anfangs  jiemlieb  unbeachtet  gebliebenes 
gragmente  angriff.  SS  gefchab  biefeS  1778  in  4 Slrtifeln  ber  jegen. 
fehwarjen  Leitung  3iegraS,  bic  er  bann  unter  bem  Xitel:  ,SlwaS  »er* 
läufiges  gegen  beS  Vmn  Vorrat!}  heffrng  mittelbare  unb  unmittelbare 
Singriffe  auf  unferc  aflerheiiigftc  Dteligicn'  gefammclt  hcrauSgab.  Seffutg 
antwortete  1778  mit  feiner  'Parabel,  lieg  barauf  feine  Sljriomata  folgen  unb 
fchlog  biefen  erften  gelbjug  mit  ben  eilf  Stücfen  beß  2lnti*©oeje.  Siefer 
erwiberte  in  ,?ejfingß  Schwächen",  Stüc!  I unb  2,  beren  erfteß  fcel* 
forgerifche  Slnfprachcn  enthält  unb  beren  j weites  bie  Sereitwilligfcit  er* 
flärt,  mit  heffing  barüber  ftreiten  ju  wollen,  ob  bie  chriftliche  iKcligion 
beftehen  fönne,  wenn  bie  '-öibel  »erloren  gehe,  bocb  iotle  heffing  erft 
fagen,  waß  für  eine  ^Religion  er  unter  ber  chriftlichen  »erftehe.  hejfing 
antwortete  in  ber  „Stöthigen  Slntwort  auf  eine  jcl;r  unnethige  grage  beS 
Verrn  Vauptpaftor  ©oeje",  bag  er  unter  ber  chriftlichen  jRctigion  bie* 
jenigen  ©laubenßlehren  »erftche,  welche  in  ben  Symbolen  ber  »ier  erften 
3ahrhunberte  enthalten  jeien.  3n  bem  britten  Stücf  »on  heffing* 
Schwächen  ging  ©oeje  hierauf  jroar  nicht  näher  ein,  aber  hefftng  »et* 
folgte  biefen  ©ebanfen  weiter  in  ber:  „9iö tilgen  Slntwort  auf  eine  fehr 
unnütpige  grage,  * Srfte  geige  1778  unb  wibcrlegt  in  bcrfelben  bie  S3e* 
bauptung,  bag  alle  hehrer  ber  chriftlichen  Äircbe  ohne  Untcrfchieb  bet 
Parteien,  bic  S3ibel  für  ben  einjigen  hehrgrunb  ber  chriftlichen  Religion 
gehalten,  bereits  »or  bem  Srfcbeinen  ber  „St öligen  Slntwort"  war  »ou 
bem  töraunfepweigijehen  9Jtinifterium  ein  SSerbot  ber  gragmente  unb  beS 
Slnti-@oeje  erlaffen  worben,  unb  heffing  entjehlog  fi<b  bcßhalb,  als  ihm 
»om  Vermöge  auch  bie  CScnfurfreitjeit  genommen  unb  unter  Slnbrohung 
fchwerer  Ungnabe  unb  Strafe  bie  S5efanntmachung  anberer  Stücfe  ber 
gragmente  unterfagt  würbe,  bem  geinbe  »on  einer  anberen  Seite  in  bic 
glanten  ju  fallen.  Sr  nahm  ju  biefem  3wecf  einen  Stoff  aus  S?occac* 
cioß  iDecamerone  »or,  ben  er  bereits  früher  bramatifch  ju  bearbeiten  ficb 
entfctjloffen  hatte.  So  cntftanb  aus  ber  Srjäblung  »cm  3uben  'Diel- 
chifebef,  'Jiatl)an  ber  Steife,  ben  heffing  »om  Sluguft  1778  bis  'JOiärj 
1779  pollenbete  unb  auf  Subfcription  bruefen  lieg. 

(976) 


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31 


G)  Skt  3,  Scene  7.  7)  Skt  4,  Scene  7. 

8)  Plattl).  V,  23.  44  u.  45.  9)  Skt  4,  Scene  7. 

10)  Skt  4,  Scene  7.  11)  Skt  3,  Scene  7. 

12)  Slct  4,  Scene  7. 

13)  SUi8fi%lid)ea  barüber  giebt  i'ecfi) : ©ej^idjte  ber  Slufflarung. 

14)  $ebr.  I,  14.  15)  Skt  1,  Scene  2. 

16)  Slct  1,  Scene  2.  17)  ebenbajelbft. 

18)  ebenbafelbft.  19)  ebenbaflebft. 

20)  @ef<hid;te  ber  beutfrfjcn  Sichtung,  5.  Slufl.  23b.  IV  pag.  453. 

21)  Veffing  l;atte  j.  23.  fogar  in  einem  früheren  Streite  @oeje8 
mit  jeinem  freifinnigen  SlmtSgencffen  Sllberti,  roelt^er  aus  bem  Atrien* 
gebete  bie  SLkrfludjung  ber  Reiben  auSgclaffen  unb  in  feiner  Schrift 
über  bie  Religion  ben  Seufel  nicht  auibnicflid)  anerfannt  hfltte,  für 
®oeje  'Partei  genommen. 

22)  ®efcb.  bet  beutfchen  £Did;tfunft.  pag.  457. 

23)  Sie  ausführlichere  Plotioirung  ber  in  bem  Vertrage  gegebenen 
Sluffaffung  ber  (Sharaftere  fiel)e  bei  Äuno  gijeher:  SeffingS  Ratl;an  ber 
Söeife.  Stuttgart.  3-  6otta  1894. 

24)  Slct  3,  Scene  10.  25)  Slct  2,  Scene  5. 

26)  Slct  1,  Scene  3. 

27)  Eie  Perfon  te8  SU<£>afi  beabfichtigte  tfefjing  urfprünglich 
noch  in  einem  Racbjpiel:  „Ser  Eermifch*  mietet  auftreten  ju  laffen. 
Stach  Sünders  i'ermuthung  („i?effing8  Station  ber  Sfüeife"  1863)  fotlte 
ber  Eermifch  e«  roahrfcheinlich  am  ®angeS  nicht  au$halten,  jonbem  fich 
au8  ber  Süüfte  mieber  ju  Rathan  jurüefgejogen  fühlen  unb  erfennen,  mie 
hoch  ber  meife,  für  oiele  jcgengreich  mirfenbe,  bie  Pt  üben  be«  üeben«  ge» 
faßt  ertragenbe  Rathan  über  ben  perüfeben  SBeifen  fte^e  unb  fo  felbft  ju 
einem  thätigen  Üeben  gemonnen  merben. 

28)  Slct  4,  Scene  7.  29)  Skt  1,  Scene  3. 

30)  Uejftng  felbft  fpridjt  feine  Slniichten  hierüber  ganj  unjmeibeutig 
in  ben  Semerfungen  über  bie  (^ntftebung  ber  geoffenbarten  Religion 
au$:  „Eie  Unentbebrlichfeit  einer  pofitioen  Religion,  fagt  er,  oermöge 
melcher  bie  natürliche  Religion  in  jebem  Staate  narf)  beffen  natürlicher 
unb  zufälliger  53ef chaff en^eit  mobifteirt  mirb,  nenne  idi  bie  innere  SBabr» 
heit  berfelben,  unb  biefe  innere  SBahrheit  ift  bei  einer  fo  groß  mie  bei 
ber  anbereti.  Sille  pofitioen  unb  geoffenbarten  Religionen  ftnb  folglich 
gleid;  rnaljr  unb  gleich  falfcb.  ®lcid)  mabr:  infofern  ee  überall  gleich 
nothmentig  gemefen  ift,  fich  über  ocrfchiebene  Singe  ju  Dergleichen,  um 
ilebereinjiimmung  unb  Sinigteit  in  ber  öffentlichen  Religion  heroorju» 

(977) 


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32 


bringen.  ©leid)  falf$:  tnbrm  nidjt  fcwoljl  ba«,  Worüber  man  fleh  »er* 
glichen,  neben  bem  3Bef  entliehen  befielt,  f entern  baS  ©eientlic^e  fchwächt 
nnb  berbrängt.  Sie  befte  geoffenbarte  ober  pofitice  SReligion  ift  bie, 
Welche  bie  wenigften  conbcntionellen  3ufafce  jur  natürlichen  Religion  ent* 
hält,  bie  guten  SBirfungen  ber  natürlichen  ^Religion  am  wenigften  ein* 
fchranft.* 

31)  «ct  3,  ©eene  7.  32)  «et  4,  ©eene  7. 

33)  9lct  5,  ©eene  4. 


(978) 

Dtucf  een  QSebr.  Bngti  (Üb.  Wrfmm)  in  Cftltn,  e^önebngttfttaS«  >7». 


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$£>ie 


im  ©Ihintwrigiatljfti  l[iir$i0ni|«ni  Jidbiifdfo. 


23on 


@uftöo  ^(botyl)  Höggwatlj. 


ß erlitt  SW.  1876. 

33  e r I a g oott  (Jarl  $ a 6 e l. 

(f.  tS.  ütrlagsbat^bonblong.) 

33.  35?illjtlm  • Strafet  33. 


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Sa«  Uebtrie$ung«re$t  in  frembe  ©praßen  t»irb  sorbffyalttn. 


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feit)  ift  bereits  feit  einem  3afyrl)unbert  SJiandjeö  in  ganzen 
Supern  unb  befonbern  Slbtianblungen  »on  mineralogifcher, 
geologifcher,  archäologischer,  ^iftorifc^er  unb  tedjnift^er  ©eite 
»ercffentlidjt.  (Sine  eingehenbe  allgemeine  Ueberfidjt  bet  heutigen 
tecßnifchen  unb  merfantilifdfen  ©ebeutung  biefer  3nbuftrie  ift 
aber  nid)t  norhanben,  unb  biefe  mit  einigem  ‘Änbetn,  was  bamit 
in  unmittelbarer  S3ejiel)ung  fte^t,  ju  geben,  ift  bie  Senbenj  ber 
gegenwärtigen  Slätter.  (Die  SJiitheilungen  grünben  fidj  auf  meine 
eigenen  lÄnfchauungen  unb  (Srforfdjungen  an  Ort  unb  ©teile 
unb  auf  bezügliche  fltotijen  funbiger  $reunbe,  zugleich  mit  S8c= 
nußung  einiget  fd)riftftellerifcher  Quellen1). 

SDie  an  bet  fllalje  liegenben  fleinen  ©täbte  ober  ftlecfen  Ober* 


ftein  unb  3bar  nebft  ben  angrenjenben  ©emeinben,  welche  bem  dürften* 
thum  angeboren,  finb  bie  SBiege  ber  Sldjatfcbleiferei , beten  Ur* 
fprung  ficfy  bis  in  baS  fünfzehnte  Sahtljunbett  mit  ©idjerheit 
»erfolgen  läßt,  unb  welche  noch  heute  jum  ©egen  beS  t>on  fleißigen 
SERenfchen  bewohnten  ©ebieteS  fortblüht.  3n  bet  neuften  3eit 


hat  bieS  ©ewetbe  einen  großartigen  Sluffchwung  genommen,  weil 
mit  bem  gefteigerten  ÜujruSbebürfniß  in  gleichem  üJiaße  bie  tedj" 


nifchen  £>ülf8mittel  fich  cerocQfommnet  haben. 

XI.  264.  1*  (»SU) 


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4 


SieDeidjt  mcdjteu  meine  SRittbeilungen  barüber,  geneigte 
üefer,  gum  Sefud)e  biefer  3nbuftrie*@egenb  anregen,  unb  für 
biejen  3*»ecf  mag  e8  mir  geftattet  fein,  gunätbft  in  ber  Äürge 
ben  mehrfach  intereffanten  SBeg  angubeuten,  melcber  non  ben 
Ufern  be8  9i^ein8  in  jenes  ©ebiet  fübrt. 

Son  ber  ©ifenbabnftaticm  Singerbrüd  bei  Singen  am 
fRfyein  erreichen  mit  mit  bem  Safynguge  in  ein  unb  einet  falben 
©tunbe  ben  Jpauptort  beö  JabrifgebieteS  Dberftein.  einen 
Slid  auf  ben  in  bet  üftergenfonne  gli^etnben  fWtjein , auf  bie 
Sfebengärten  beö  fRiebetmalbefl,  unb  ba8  ©cbienengeleife  trägt 
un8  rafd)  IanbeinmörtS , bem  Saufe  ber  jftalje  folgenb,  nad)  bem 
beilfräftigen  ©oolbab  Äteugnadj  mit  feinen  ©alinen.  hinter 
SJlünfter  am  ©tein  mengt  ficb  ba8  J^al  plßfslidj;  in  fü^nen 
formen  emporragenbe  fiorpbprfelfeu  treten  ju  beiben  ©eiten 
be8  ^lufjeS  ferner,  al8  bie  SSacbter  be8  9la^etl?al8,  bie  ©bene 
»cn  Singen  bi8  Äreugnadj  beberrfdjenb.  ©inet  ber  madjtigften 
gelfen , bet  faft  fenfredjt  au8  ber  fRabe  aufgufteigen  fdjeint,  bet 
JRbeingrafenftein  trägt  bie  krümmet  einer  Surg  , ber  frühere 
©ijj  ber  SR^etncgrafen  gum  ©tein;  meiter  gurücf  minft  bie 
©betnburg,  meiere  gut  3eit  eine  Sefte  be8  matfern  SRefermatienä* 
fämpen  gtang  c.  ©idingen  mar,  jej$t  aI8  frieblid?e8  2Birtb8> 
bau8  bem  SBanbeter  ©rquidung  bietet.  .Raum  f?at  ber  folgenbe 
Sunnel  un6  au8  feinem  fDunfel  entlaffen,  fo  ift  bie  ©cenerie 
mie  mit  einem  3auberfd)lag  oeränbert.  2Bir  beftnben  un8  in 
einem  meiten  Sl^alfeffcl,  mo  bie  Sobenfultur  ber  ©bene  mieber 
in  ihr  SRecbt  eintritt;  befcnberS  ftub  e8  SabadSpflangungen, 
meldje  b^  fci«  «paupternäbrungequelle  ber  Semebner  bilben. 
3ur  Üinfen  labet  un8  bet  fDipbobenberg  gu  ruhiger  Seftbaulidb« 
feit  ein.  3m  festen  3abtbunbert  baute  frdj  biet  ein  fd)ettijcbet 
©infieblet  ©ifibobue  eine  Älaufe;  balb  fiebelten  fttb  ÜJißntbe  unb 

(983) 


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5 


9lonnen  an,  meldße  lange  unter  bem  mäißtigen  ©rßuß  Bon 
GIjunnainj  frieblicß  mit  einanbet  Rauften.  Die  Tonnen  unter 
güßrung  ißrer  gelehrten  ISbtiffin,  ber  ß.  «fjilbegarb  Berließen  bie 
jfloftergebäube  guerft,  unb  bie  9Rön<ße  felgten  ißnen  1650,  butdß 
bie  SBirren  bet  fReformation^eit  Bertrieben;  balb  Betfielen 
bie  großartigen  ©ebäuließfeiten  in  ©cßutt  unb  SWober,  nnb  mit 
ber  3«t  ging  fogar  bie  fPfiugicßaar  über  bie  feltenften  Sau» 
benfmale  (§8  ift  ba8  Serbien  ft  beb  Berftorbenen  SeftßetS  beb 
SDiftbobenbetgS  -£>etrn  2Sannemann,  bie  2ir<ßiteftur  gleicßfam  neu 
entbedt  unb  wie  Pompeji  aub  bem  Schutt  aubgegraben  ju  ßaben. 
£Die  mie  ein  $)ßöni;t  entftanbenen  SRuinen  ßat  er  mit  gefeßmad» 
Bollen  fparfanlageit  umgeben  unb  babei  fo  feinfinnig  bie  oon 
einzelnen  Krümmern  gebotenen  fDiotioe  mit  ju  ben  Anlagen 
benußt,  baß  aug  bem  Sitten  unb  fReuen  ein  ßarmonifdßeg  ©anje 
entftanben  ift.  Sei  SKonjingen  oerengt  fieß  ber  Sßalfeffel 
mieber;  auf  ben  umießließenben  ^ößen  oon  grauem  ©anbftein, 
ber  ein  auSgejieicßneteS  Saumaterial  bilbet,  wirb  ein  Bortrefflirßer 
2Bein  erzeugt,  ein  feuriger  ©efetle,  toenn  ibm  aueß  bie  feine 
Slume  beb  fRßeinb  fehlt.  3n  ber  gerne  ßeben  fieß  bie  mäcß* 
tigen  krümmer  ber  Surg  2)ßaun  Bom  Jporijonte  ab,  tno  einft 
bab  fagenummobene  füßne  ©cfrßlecßt  ber  SBilb»  unb  fRßeingrafen 
fein  #oflager  ßielt.  Som  ©täbteben  Äirn  ab  treten  bie  Seife« 
ju  beiben  ©eiten  beb  glußeb  eng  jufammen,  unb  bie  fRaße  müßlt 
fi<ß  faft  geroaltfam  ißr  Seit  buteß  ben  bunflen  5Relapßpr,  bet 
in  neufter  Beit  bie  fPflafterfteine  für  $)arib  liefert.  Salb  fdßrt 
bie  Saßn  bureß  bunfle  Junnelb,  balb  über  Siabufte,  ober  ber 
nötßige  SRaum  $um  SBege  ift  in  bie  fteile  gelbtnanb  eingeßauen; 
babureß  wirb  bem  Sorüberfaßrenben  in  faleibobfopiftßer  Äbroetßb* 
lung  eine  fReiße  ber  pifanteften  Silber  oor  Stugen  gefüßrt.  ©o 
bietet  futj  oor  Dberftein  bie  ©egenb  einen  grabegu  einjigen 

(SS*) 


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6 


änblid,  weiter  ft<h  burcb  feine  bigatte  Gigentbümlicbfeit  felbft 
im  gluge  bem  Gebäd)tni§  utteerge&lidb  einprägt-  Gine  mächtige 
gelßmaffe  ber  gangen  Gebirgßmanb  b®t  !ft<b  burd?  (Spaltungen 
einftmalö  oon  ber  pöhe  loägelöft  unb  ift  in  baß  ©bal  hinab* 
geführt.  Bum  !£heil  bängt  fie  über  ber  ganbftrafje,  ben  ääanberet 
mit  Sernidjtung  bebrobenb.  Äeiue  Äunbe  auß  Ijiftorifc^CT  3ett 
melbet  ben  Gintritt  bet  Äataftrophe,  unb  hflt  fi<h  fogar  e*ne 
gamilie  ben  faft  breiecfigen  9iaum  gmifcben  ber  ©pifje  beß  „ge* 
fallenen  Reifens"  unb  ber  Gebirgßmanb  gu  ihrer  fröhlichen  SBeb* 
nung  erforen  unb  nur  bie  grontfeite  ber  pütte  burch  eine  tünftlicbe 
Stein*  ober  Üehmmanb  her3efteUt.  ©ie  SDtacht  ber  Geroohnh«t 
läfjt  hi«  baß  fcheinbar  Gefährliche  ber  Sage  »ergeffen. 

9toch  ein  Tunnel,  unb  ber  Sahnhof  Cberftein  ift  erreicht. 
Gr  hat  eine  »unterooHe  Sage  unb  gemährt  bie  befte  SSußftcht 
auf  baß  malerifcbe  ©tabtdmn  unb  bie  nmfdjliefienben  ÜJielaphor* 
felfen.  Bwif&en  ber  gu  unfern  güfsen  fchäumenben  9tahe  unb 
ber  fdjroffett  gelfenmanb  ift  für  menfchliche  SBohnungen  roenig 
fRaum  »orhanben,  beßbalb  fteigen  bie  pduferreihen  teraffenformig 
in  bie  Jpö^e.  3m  pintergrunbe  ragen  faft  lotljted't  emperftrebenbe 
Reifen , oon  melchen  gmei  Surgtrümmer  tragen : baß  alte  unb  baß 
neue  Schloff  beß  längft  untergegangenen  ©pnaften*Gefchlecbtß  ber 
Grafen  oon  ©hun  unb  öberftein.  ©er  gelten,  beffen  gu§  bie  9iabe 
befpült  mit  ben  fpärlidjen  Ueberreften  ber  alten  Surg  geigt  in 
ber  SKitte  feiner  norbern  mie  eine  SRauer  auffteigenben  Söanb 
ein  mühfam  in  baß  Geftein  eingebaucneß  Äirdjtein,  gu  meldbem 
fteile  gelfenftufen  führen.  Gin  überrafdjenber  Slnblid,  ben  man 
aDenfallß  auf  einer  mit  überfchmäuglicber  fPbantafie  gemalten 
Stbeaterbeforation  in  gutem  Glauben  benimmt,  „b*er  »uirb 
Greiguif).“  Sud?  h*et  muffte  bie  oft  unb  in  oielen  Sariationen 
mieberfehrenbe  Sage  oon  einem  Srnbertnorb  unb  barauf  erfolgter 

C9M< 


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7 


©üßnung  burcß  3?auen  eines  ©otteSßaufes  ben  SSnla^  jur  ©nt« 
fteßung  geben.  ©in  ©raf  non  Dberftein,  fo  erjagt  bie  Sage, 
fiürgt  in  grimmer  ©iferfucßt  feinen  Söruber  burd)  baS  33urgfenfter 
bie  SelSroanb  ßinab;  3ur  ©üßnung  ßößlt  er  mit  eigner  £anb 
ben  Seifen  auS  unb  trägt  felbft  bie  ©teine  jum  Äircßenbau  in 
bie  «g)ö^e.  Ser  2lbt  »om  Sifibobeuberg  erteilt  bei  ©inweißung 
beö  ©otteSßaufeS  bem  törubermerber  bie  Slbfolution,  unb  biefet 
bridjt  tobt  ju  ben  Süßen  beä  ß'ircßenfürften  jufammen.  ipifto* 
rifcß  ift,  baß  um  baS  3aßr  1482  ßiet  an  ©teile  einer  baufällig 
geworbenen  Äapelle  ein  größeres  Äircßlein  in  gotßifcßem  ©tple 
erbaut  mürbe,  mie  bieS  aus  einer  nocß  norßanbenen  3aßre$3aßl 
in  ben  bunten  ©laSfenftern  ßeruorgeßt.  SBeiter  jurüd  ergebt  ficß 
eine  ßößere  SelSpartßie  mit  bem  auSgebeßuten  Strümmerfomplej: 
bet  neuen  SBurg.  SaS  ©anje  ift  mit  ßübfcßen  Slnlagen  »erfeßen, 
fo  baß  man  bequem  auf  bie  ßöcßften  fünfte  gelangen  fann,  oon 
welcßen  man  eine  entjücfenbe  äuSficßt  auf  ben  roilben  Stßal* 
feffel  mit  bem  freunblitßen,  rüßrigen  Dberftein  unb  bie  einfcßließen« 
ben  SBerge  ßat.  Sem  löaßnßofe  gegenüber  fließt  auf  ber  linfen 
©eite  bet  Sbarbacß  in  bie  9taße.  Setfelbe  ift  ein  HeineS  @e* 
birgSroaffer,  beffen  SBafferfraft  norjugSroeife  ben  treibenben  Saf* 
tor  für  bie  gan3e  Slcßatinbuflrie  bübet;  mit  folgen  feinem  Saufe 
unb  erreichen  in  etwa  20  Söiinuten  auf  lieblichem  Stege  immer 
aufmärtSfteigenb  baS  ©tübtcßen  3bar,  welcßeS  ficß  mit  feinen 
faubern  Käufern  lang  geftrecft  uadß  bem  ©teinfaulenberge  ßin« 
gießt.  Seßterer  mar  in  früherer  Beit  ber  .fpauptfunbort  für  bie 
Sicherte.  3bar  fcwie  Dberftein  machen  einen  beßäbigeu  ©inbrucf. 
5ftan  fießt  3war  feine  »runfoollen  ©rünberrooßnungen,  aber  aucß 
feine  »erfallenen  Jpütten;  reinliche,  nette,  wenn  aucß  befcßeibene 
Käufer  geben  bem  ©ebiete  feinen  freunblitßen  ©ßarafter.  ©8 
hängt  ficß  einem  bei  febem  ©cßritt  bie  SBaßrneßmung  auf,  baß 

0>»J 


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8 


hier  burdj  gleif)  eines  babei  bod?  luftigen  BölfchenS  ein  gefnnber 
SRittelftanb  hetporgegcmgen  ift.  [©eine  giebt  Seber  Beicheib  übet 
bie  gabrifation,  ein  3eber  ift  bamit  pertraut,  wenn  er  auch  burd) 
feine  iJebenSfteHung  nicht  bireft  mit  ihr  in  Berbinbung  ftetjt. 
Bur  hier,  wo  fid)  feit  Sahrhunberten  jbie  Strabition  pererbte, 
founte  baS  j@ewerbe  gn  einer  folgen  Blüthe  gelangen.  35ie 
Erfahrung  tyat  gelehrt,  ba|  baö  (gemaltfame  Berpflangen  ber 
Achatfdjleiferei  auf  anbern  Beben , wie  bieS  bei on ber 8 nach  bet 
(Sntbecfung  ber  brafilianifchen  Achate  geic^eijeu  ift,  ju  feinem 
glüdlichen  Befultate  geführt  hat,  unb  ba§  felche  StabliffemantS 
balb  wieber  eingehen  mußten.  Befteljen  auch  anberwdrtS  nod? 
(Schleifereien,  wie  in  ©djlefien,  Böhmen,  Sprol  sc.,  welche  nur 
burch  £anbarbeit  betrieben  werben  , fo  finb  biej'e  bocp  oon  ganz 
untergeorbneter  Art;  für  ben  Sffielthanbel  ift  fein  Drt  pon  folcher 
Bebeutung  wie  bag  Birfenfelb’fche  ^abrifgebiet,  bier  furj  bie 
gabrif  genannt,  obgleich  bie  (Einheit  einer  folgen  nicht  befiehl, 
unb  jebet  babei  Betheiligte  felbftftänbig  für  feine  eigene  Bedmung 
beschäftigt  ift. 

SBenu  auch  bem  näheren  3®ecfe  biefer  Blätter  bag  ©eologiiche 
ferner  liegt,  fo  mag  boch  nach  ber  bezüglichen  5Rittheilung  meines 
Baterg,  3afob  Böggerath,  augjüglich  au8  einer  feinet  populären 
Schriften  h^t  aufgenommen  werben.  3n  ber  Umgegenb  pon 
Dberftein  unb  Sbat  befinbet  fich  in  großer  Berbreitung  pon  meb* 
reren  Bteileu  unb  zugleich  in  bag  preufjifche  ©ebiet  meilenweit 
fich  erftreefenb,  mächtige  Ablagerungen  eineg  eruptipen  fchwarjen, 
bräunlichen  unb  grauen  ©efteinS,  welches  bie  geologifdje  ÜBiffen* 
fchaft  2Jtelaphpr  (fchwarjen  ^orphpr)  nennt.  (SS  befiehl  baS» 
felbe  wesentlich  auS  einem  feinförnigen  ©emenge  einer  gelbfpath* 
art  (spiagioflaS)  mit  Augit  unb  .pornbleube  unb  titanhaltigem 

Biagneteit'enflein.  3n  ben  Reifen  biefeg  ©efteinS  lagern  bie 

(»6«) 


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9 


Äcßate  in  jeßr  unregelmäßiger  Verbreitung,  gang  ootgüglicß  an 
folgen  Stellen,  wo  baf(elbe  meßr  ober  weniger  in  einem  oerroit* 
terten,  aufgelöften  3uftanb  ficß  befinbet.  2Jlan  fann  gwei  gönnen 
unterfcßeiben , in  welchen  bie  2lcßate  anftreten;  entweber  finb  eö 
fugeiförmige,  ellipfoibifcße,  manbel*  unb  bimförmige  .Körper,  wellte 
oft  jeßr  unregelmäßige  gönnen  befißen  — bie  ©eologie  nennt 
bieje  Steinförper  fDfattbeln  — ober  bie  flcßate  erfüllen  bie  Spalten 
beö  ÜUelapßorg.  Die  üJtanbeln  finb  oon  eerjcßiebener  ©töpe,  non 
berjenigen  einer  ^jaieU  ober  Vaumnuß  biß  gu  bem  ©urcßmeffet 
oon  mehreren  guß.  Sie  enthalten  bie  wertßooDften  Äcßate,  welcße 
aus  jcßönfarbigem , gebänbertem  unb  geftreiftem  Stein  befteßen, 
wäßrenb  bie  SluöfüQungen  bet  Spalten  meift  einfatbige  unb  un= 
burcßficßtige  oon  geringem  SBertße  liefern. 

Urfprünglicß  war  ber  fötelapßpr  eine  laoaartige,  gejcßmol» 
gene,  gäße  SJiaffe,  bie  au§  bem  Innern  ber  Qrrbe  ßeroorgebrocßen 
ift,  au$  welcßer  ©afe  unb  IDämpfe  ficß  entwicfelt  ßaben.  JDiefe 
bläßeten  bie  ÜJiaffe  auf,  unb  ließcu  nacß  bem  ©rfalten  unb  geft« 
werben  berjelben  leere  Slafenräume  oon  ber  ©eftalt  bet  '3cßat* 
manbeln  gurütf,  eine  ©rfcßeinung,  welcße  ficß  trioial  mit  ben 
Vlajen  im  SBeißbrobe  unb  Äutßen  oergleicßen  läßt.  Später,  alö 
ba8  ©eftein  nacß  unb  nacß  oerwitterte,  würbe  burcß  einftcfernbe 
unb  oietleicßt  aucß  oon  unten  auffteigenbe  ßeiße  SBaffer  bie 
Äiefelerbe  auö  bem  SJtelapßpr  aufgelöft,  unb  fciefe  8öfung  in 
bie  leeren  SKanbel»  unb  Spaltenräume  eingefüßrt.  £Die  ‘ilcßate 
finb  ba8  Vrobuft  beb  lieber) cßlagö  biefer  SRaffen,  unb  bie  oet* 
fcßiebenen  üagen  berjelben  beuten  bie  SBejcßaffenßeit  ber  jebeöma» 
ligen  Söjungen  an,  welcße  nacß  unb  nacß  gu  Stein  würben. 
SRieberfcbläge  oon  reiner  Äiejeletbe  wecßieln  mit  jolcßen,  welcße 
ftembe  Veftanbtßeile , 2.ßon,  ©ifeuoj^b,  9Jlanganojrpbul  u.  f.  w. 
entßalten,  unb  baßer  finb  bie  oerjcßiebenen  Duargoarietäten,  welcße 

(987J 


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10 


in  ben  fölanbeln  ben  Sidjat  bilben,  non  »erfchiebenen  färben  unb 
fonftiger  S3efrf>affenljeit.  ©ie  fötanbeln  begehen  nämlich  au8 
concentrifdj  übereinattber  gebilbeten,  oft  feßr  feinen,  abwecbfelnben 
Sagen  non  (S^alccbo«,  Onor,  Garneol,  3a§pi8,  ^»otnftein,  Ulmetbplt, 
Ounr$  u.  f.  io.,  aUeö  in  großer  ÜRannigfaltigfeit  ber  $atbe,  ©urci* 
fidjtigfeit  unb  ©cbönheit2). 

©ie  ©£winnung  ber  ÜHcbate  gefcbielit  burch  ftoDenartige 
33aue,  welche  an  ben  ©ehangen  ber  pfeifen  in  ben  ÜRelaphor 
getrieben  werben,  ©er  23ergbau  ift  ein  feljt  unregelmäßiger  unb 
faum  ein  folcber  3U  nennen,  ba  bie  Stoßen  mit  ben  nerfdiiebenften 
SSeubungen  nnb  nach  ^Richtungen  getrieben  werbeu , wo  Spuren 
non  2ldat  im  ÜRelaphor  norfommen.  ©ie  5Baue  finb  in  ber 
Sßat  mit  gucbSlöcbern  ju  nergleidien. 

©ie  in  früheren  3*iten  in  ber  ©egeub  fefyr  ergiebig  gerne* 
fenen  Sunborte  für  fdjöne  Stdrate  haben  ben  erften  Smpulä  ju 
ben  Schleifereien  gegeben,  ©a  bie  Achate,  Jabpife  unb  anbere  febene 
Quarj=SBarietätcn  in  biefer  ©egenb,  oft  auSgewafcbcn  au8  bem 
SJielapbpr*  ©eftein  auf  ber  Oberfläche  unb  in  ben  betten  bet 
glüffe  unb  S^acbe  umberlicgen,  fo  fonnte  bie  »Jlufmerfiamfeit  ba* 
rauf  febou  frühe  geriditet  gewefen  fein,  unb  auch  bie  3?ennßung 
biefer  febönen  Steine  burch  einfaches  Schleifen  ihrer  Oberfläche 
jur  ©arfteüung  uon  ©eräthen  unb  Sdimucf  lag  nabe.  Sange5) 
fagt  in  biefer  SBe^iehung.  „SSMr  haben  alfo  hier  eine  uralte  heimliche 
Snbuftrie  »or  un8,  ba  man  ja  im  früheften  SRittelalter  achatne 
Clmulette,  Siegelfteine,  and?  wohl  Sd?wertgriffe  u.  f.  w.  lehr  werth 
hielt,  baß  man  gleich  anfangs,  fobalb  bie  bunfeln  SBälber  be§  91abe* 
gau8  ber  (Kultur  ficb  öffneten,  bie  offen  ju  Sage  liegenben 
Sldjate  ju  fdjleifen  nerfuchte.  Sßirb  e8  ju  gewagt  erfebeinen, 
wenn  wir  ben  Urfptung  in  bie  3eiten  ber  Karolinger,  bie  wahr* 
fcheinlid)  bie  erften  ©rafen  be8  fRaljegauS  ernannten,  »erlegen, 

(H88) 


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11 


unb.  muffen  wir  nicpt  fogat  an  bie  Beiten  ber  Nibelungen  benfen, 
wenn  wir  unb  erinnern,  bafj  einige  ber  gewaltigen  Necfen,  wie 
ber  finftere  pagen  unb  ber  füljne  punotb  non  punolbftein,  am 
§u&e  beb  Sbarwalbeb,  bem  feigen  Drohneefeu  unb  punolbftein, 
adern  SKnfdteine  nach  ihre  Burgen  Ratten  unb  ba§  fte  jebenfallb 
Ulchate  zu  fdjleifen  wußten.  Balmung,  beb  ©iegftiebb  Schwert, 
hatte  einen  .Knopf  een  Sabpib  „grüner  noch  alb  ©rab."  Die 
©teile  ber  Nibelungen  lautet  nad)  ber  ©imrocf’fchen  Ueberfe^ung: 

„Der  oenneffene  pagen  legte  über  bie  ©djulter  bin 
©eine  lichte  SBaffe,  au?  beren  Änaufe  febten 
Nlit  ^ctleai  ©lang  ein  SaÄpib,  grüner  noch  alb  ©rab 
SSobl  erfannte  Ärieml;ilb,  ba§  ©iegfrieb  einft  fte  befug.* 

23enn  aud)  erft  in  einer  Urtunbe  oon  1 544  eine  Schleiferei, 
örtlich  ©d)leifmüble  ober  Schleife  genannt,  erwähnt  wirb, 
fo  erfieht  man  bod)  aub  einem  Schreiben  oon  1600,  bafj  fdjon 
im  Sa^re  1497  auf  „ Gagebeiner " (Ghalcebone)  in  bem  ©ebiet 
gegraben  würbe  unb  bafj  ber  britte  Gentnet  an  bie  perrfdjaft 
abgegeben  werben  mufcte;  in  bem  benachbarten,  je^t  preufjifchen 
©t.  SBenbel  würbe  bie  Ulchatgräberei  urfunblid)  feben  1454  be* 
trieben.  Ntan  fann  alfo  getroft  auch  ben  Anfang  ber  gabrifa* 
tion  in  bab  fünfzehnte  Babthunbert  fefjen,  ba  bie  gewonnenen 
©teine  jebenfaUß  in  ber  ©egenb  oerarbeitet  würben,  unb  bie 
perrfebaft  fid}  bie  Abgaben  in  ©elb  unb  nicht  in  Nolsmaterial 
hätte  aubbegahlen  laffen,  wenn  feine  Ginrichtungen  gur  Bear* 
beitung  ber  ©teine  oorhanben  gewefen  wären. 

3u  Ulnfaug  beb  fiebgehnten  Bahrhunbertb  würben  unter  ben 
oerfertigten  SBaaven  No  cf*  unb  pembenfnepfe,  Degengriffe,  Nofen* 
hänge  unb  ftreuge,  überhaupt  nur  febr  einfache  ©achen,  genannt, 
welche  oermuthlich  burch  haufirenbe  Schleifer  in  ben  benachbarten 
©täbten  unb  ©chlöffetn  feil  geboten  würben.  3«  biefer  Seit 

(989) 


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12 


mufe  baß  ©ewerbe  einige  Sbebeutung  erlangt  feaben,  benn  fcben 
auö  bem  Safere  1609  ejriftirte  eine  3»nftorbnung , welche  ©raf 
9)feil4>p  ftrang  con  2>feun  unb  Dberfteiu  für  feine  „leibeigene 
Untertanen  unb  .jpanbwerfßgenoffen"  erliefe , unb  gwar  fowofel 
einen  für  bie  ©i^leifer  wie  einen  für  bie  ^tatbo^rer,  weite 
con  nun  an  alß  getrennte  3wnfte  auftreten.  Unter  ben  cielen  fit 
fpäter  raft  aufeinanberfolgenben^errftaften  würbe  biefe  Drbnung 
groat  meferfat  mobificirt,  blieb  aber  bot  immer  bie  23afiß  für 
alle  fpätere  '.flbänberungen.  SDurt  einen  ftrengen  3unftgwang 
unb  butt  ängftlite  Sewaferung  aüet  gabtifgefeeimniffe  glaubte 
man  bie  3nbuftrie  am  beften  gu  forbern.  £»aß  'Jlußwanbetn  war 
ben  Stleifern  oerboten  unb  eß  würbe  ifeneu  ©rlafe  com  ÜJtilitär* 
bienft  gewährt,  auch  fonnten  nur  ©oferte  oon  90leiftern  gum 
©ewerbe  gugelaffen  werben.  JDem  ftönen  ©efcblette  traute  man 
nitt  red)t  in  Söegug  auf  baß  Slußplaubcrn,  beßfealb  war  bem  ÜRanne 
cerboten,  fid?  bei  ber  ^rofefficn  con  ber  $rau  Reifen  gu  laffen. 
25afe  bie  Arbeiter  leichtlebig  waren,  beweift  bie  23eftimmung, 
bafe  ber  geferling  bei  feinem  (Eintritt  ein  Viertel  ©ein  fefcen 
mufete,  unb  ein  gleüfeeß,  wenn  er  gum  ÜJleifter  getreten  würbe. 
Slm  3unfttage  würbe  bei  ber  IKetnungßablage  ber  Ueberftufe 
nat  gutem  rfeeiniften  23raud'e  oertrunfen;  ohne  £änbel  ift  eS 
bei  folten  ©elagen  nid)t  immer  feergegangen,  benn  § 20  ber 
3unftorbnung  bebrofet  ben,  „weiter  bie  gauft  fahren  läfet  ober 
com  gebet  giefet"  mit  1 ftlorin  ©träfe. 

2)ed)  fonnte  bie  3nbuftrie  fit  bei  ben  politiften  SSerfeält* 
niffen,  weldje  baß  gänbten  fcrtwäferenb  gum  3anfapfel  bet  lefenß* 
berechtigten  ©eitlediter  matten  unb  baburt  bie  £errftaft 
immer  wedjfeln  liefeen,  nitt  rufeig  entmicfeln,  wogu  not  bejonbetß 
ber  breifeigjäferige  Arieg  beitrug,  beffen  SRatwirfungen  not 
SDecennien  nat  bem  weftpfeäliften  ^rieben  jebe  gewerblite  Sfeätig* 

(990) 


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13 


fett  lärmten.  SDie  frangöftfche  ^Resolution  hob  bie  3unftorbnung 
gefehlte!?  auf;  bie  Schleifer  unb  ©obrer  beftanben  aber  nach  wie 
uor  als  gefcbloffene  Snnungen,  bis  enblicb  burch  ben  SBienet 
Straftat  cd«  1815,  2ßerf  ber  SRetternich’fcben  3etfplittcrung8po* 
litif,  baS  ©ebiet  au  Dlbettburg  fiel,  unb  1817  non  ihm  über« 
nommen  würbe.  gäbt  auch  wegen  ber  Sfolrrt^eit  beß  Reinen 
SürftentfyumS  unb  ber  Sbgefcbiebeubeit  Bon  ber  entfernten  Sen« 
tralgewalt  manches  in  ben  ftaatlidien  Einrichtungen  gu  wünfehen 
übrig,  fo  ift  bod)  anguerfennen,  ba|  bie  Dlbenburgifche  Regierung 
ber  äd^atinbuftrie  ihre  liebeBoüe  Sufmerffamfeit  gugewenbet,  unb 
nicht  wenig  bagu  beigetragen  ^at,  bab  baS  ©ewerbe  gn  ber 
hoben  EntwicfelungSftufe  gelangt  ift,  auf  welker  eS  beute  ftebt. 

©rabe  Bor  bunbert  fahren  madbte  ein  ©eletjrter,  fRamenS 
Eollini,  ber  SDireftor  beS  naturbiftorifeben  5Rufeum8  beS  j?ur= 
fürften  Bon  ber  f)falg  gu  SRannbeim,  eine  Steife  in  baß  'Mat» 
gebiet  unb  legte  feine  intereffanten  ^Beobachtungen  in  einem 
eigenem  SBerfe  nieber.4)  Er  mufjte  fidb  feine  Jtenntniffe  beim« 
lidb  Berfdbaffen,  unb  gäblte  non  ber  Duelle  bis  gur  5Rünbung 
beS  3barbacbe8  26  Schleifereien.  Er  gibt  eine  fReUje  Bon  bort 
Berfertigten  SBaaren  an,  unter  welchen  auS  einem  Stüdf  gefebnittene 
fHdhatbofen  gu  erwähnen  finb,  unb  fagt,  bab  bie  2tdbat= 
waaren  bou  Dberftein  beinahe  in  gang  Europa  befannt  feien. 
SDie  9ngabl  ber  Schleifet,  Slchatbobrer  unb  ©olbfchmiebe  berechnet 
et  auf  250  SRann. 

3u  Anfang  beS  achtgebnten  3abrhunbert8  würben  guerft  ge* 
fdjliffene  Schate  in  Silber  unb  Stombaf  gefaxt,  woburch  natürlich 
ein  gröberer  gormenreichtbum  für  bie  SBaaren  gefchaffen  würbe. 
SDie  geute,  welche  fidb  bamit  befchäftigten,  würben  ©olbfchmiebe 
genannt  unb  beftanben  als  3unft  für  fiefa ; fo  entftanb  bie  Dbet« 
fteiner  „bijouterie  fausse“,  welche  gur  3eit  ber  doOini’fchen 

(991) 


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14 


Jfteife  fcßcn  40  Reiftet  johlte,  heute  aber  alö  felbftftünbiger  @e* 
werbögweig,  ba  bie  SÖteßrjaßl  ber  ©olbfcßmiebe  ficß  nur  mit 
reinen  SHetallmaaren  befaßt,  ga^lreid^en  SBemcßnern  be§  gürften« 
tßume  Arbeit  unb  örot  gibt,  ©ie  rührigem  ©olbfdjmiebe,  melcße 
ju  einigem  Vermögen  gelangt  waren,  betrieben  allmählich  bie 
9)rofeffion  nicßt  mehr  jelbft,  jonbetn  besorgten  nur  ben  SBerfauf 
bet  JBaaren,  unb  bitbeten  feit  1780  ftßon  einen  eigenen  JpanbeU* 
ftanb,  bureß  welchen  regelmäßig  bie  granffurter  unb  Seidiger 
ÜReffe  bejegen  mürbe.  Sie  ließen  bei  felbftftänbigen  fBteiftern 
auf  SSeftettung  arbeiten,  wie  bieö  noch  heute  gefeßießt.  Strbeit* 
geber  unb  Arbeiter  fteßen  fich  unabhängig  gegenüber,  babureß 
finb  bei  biefer  Snbuftrie  bie  in  ben  leßten  3aßren  fo  grell  ßer’ 
Borgetreteneu  Uehelftänbe  beö  gabritwefene  gar  nicßt  norßanben. 

Um  bie  epoeßemaeßenben  (Sntbecfungen  unb  (Srfinbungen, 
welchen  baö  ganje  ©emetbe  in  biejem  Saßrßunbert  einen  fo  be* 
beutenben  gortfeßritt  3U  cerbanfen  ßat,  in  ißret  ganjen  Tragweite 
mürbigen  ju  fönnen,  ift  eö  nötßig,  Borßet  einen  (Sinblicf  in  bie 
Secßnif  bet  gabrifation  ju  tßun.  ©ie  SSafferfraft  beS  3barbacߧ, 
bet  9taße  unb  anberer  Sßaffetlüufe  bet  ©egenb  finb  jum  SSettiebe 
bet  nielen  Schleifereien  benußt.  ©ie  Schleiferei  ober  SSerf* 
ftatt  befteßt  in  einem  Keinen  einftöcfigen  ©ebäube.  (Sin 
unterfcßläcßtigeS  SBafferrab  feßt  bie  Scßleiffteine  au8  weißem, 
feftem,  feinfötnigem  Sanbftein  bet  Sriaö « gormation  angehörig, 
beren  4 bi§  5 in  Bertifalet  gage  auf  einet  Slcßje  liegen,  iu  to* 
tirenbe  ^Bewegung.  3wifcßen  bem  SBafferrab  unb  ber  9(chfe 
ber  Scßleiffteine  befinben  fieß  3wei  Äammtäber,  welcße  bie  SRo» 
tation  befcßleunigen.  ©ie  Scßleiffteine  haben  einen  ©ureß* 
meffer  Bon  5 bie  5$  guß  unb  eine  ©iefe  bdu  14  3oD  al8  Sdßleif* 
fläcße.  ©ie  ©efeßwinbigfeit  ber  Umbreßung  beö  Scßleiffteine  ift 
burcßfcßnittlicß  breimal  in  ber  Sefunbe,  alfo  180  OJtal  in  ber 


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15 


SJlinute,  jomit  10,800  mal  in  ber  Stunbe.  2>ie  Schleifbahn 
legt  baljer  an  bem  wibet  btefelbe  gehaltenen  Sdjleifobjefte  in  bet 
Stunbe  eine  Strecfe  non  169,646  bi§  186,613  guf)  äutücf  ober 
7 biö  8 geographifche  Steilen.  Stuf  ben  Scbleifflächen  finb  £ohl= 
unb  Diunbfehlen  eingemeifjelt,  welche  je  nach  bem  ju  jchleifenben 
2lcf>atftein  ju  gebenbe  ^otm  bei  bet  Arbeit  benu^t  werben,  3ln 
jebem  Sdjleifftein  fönnen  jwei  Schleifet  gleichzeitig  arbeiten. 

23ei  91u8wahl  bet  Sdjleifffeine  mujj  cot  allem  barauf  gefehen 
werben,  bah  fie  feine  Sprunge  ober  SRifee  zeigen,  weil  fte  bei  ber 
enormen  Schwunghaft  leicht  in  Stücfe  zetfprengt  werben  nnb 
baö  Sieben  ber  Arbeiter  gefährben  fönnen,  wie  ftd)  bieö  oft  unb 
noch  in  ben  lebten  Salden  in  einer  Schleiferei  ereignete,  in  welcher 
burch  bie  mit  furchtbarer  ©ewalt  herauSgejchleuberten  Stücfe  Sir» 
beiter  gelobtet  ober  cerwunbet  unb  3Bänbe  unb  ©achwetf  ber 
£ütte  zerftört  würben. 

Sinncetwirrenbeö  ©eräufch  empfängt  unö,  wenn  wir  in 
eine  fold)e  in  ooller  Ölrbeit  fich  befinbenbe  Schleifftube  ein» 
treten;  fanfenb  breljen  ftch  bie  ciele  Gentner  ferneren  Schleif» 
fteine.  ©inen  eigenthümlichen  SCnblicf  gewähren  bie  Schleifer; 
fie  liegen  auf  ber  SZorberfeite  beö  ÄörperS  auf  einem  für  bie  ©ruft 
halb  cplinbtifdj  auSgehöhltem  Schemel,  unb  brücfen  bie  9ld)ate 
entweber  mit  ber  Jpanb  ober  cermittelft  eines  an  ben  Stein  ge» 
fitteten  Stäbchens  feft  an  bie  Schleifbahn;  mit  ben  güfjen  ftemmen 
fie  fich  gegen  Duerleiften,  welche  am  gufjboben  aufgenageft  finb. 
9tur  in  biefer  Sage  fann  bie  ganze  Ä'örperfraft  wirfen,  welche 
nöthig  ift,  um  ba8  Schleifobjefl  energifch  gegen  bie  Schleifbahn 
Zu  brücfen;  auch  ift  e8  ben  Arbeitern  nur  fo  möglich,  ben 
Schliff  mit  bem  9luge  genau  cerfolgen  unb  prüfen  z«  fönnen. 
SSon  jebem  Schleifftein  läuft  fortwährenb  auS  einer  Oiinne  Söaffet 
auf  bie  Schleifbahn,  unb  burch  bie  ftarfe  griftion  bietet  ber  z« 

(993) 


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16 


fdjleifenbe  ©fein  pracbtcofle  gicbterfcbeinungen  bat,  welche  je  nach 
bet  9lrt  bet  Steine  in  ben  garben  »etfdjieben  mobificitt  ftnb.4)  SDie 
Arbeit  in  jenet  Sage  be8  Schleifers  ift  felbftoerftänbficb  eine  an* 
ftrengenbe,  aber  bodj  nicht  fo  gefunbljeitSfcbäblich,  wie  man  wohl  an* 
nehmen  fönnte,  ba  auf  eine  Stunbe  Slrbeit  eine  fRuheftunbe  folgt,  in 
weiter  entweber  bie  Steine  burdj  Berfpalten  mit  einem  Jammer  gum 
Schleifen  oorbereitet  werben,  ober  welche  gang  bet  SK u fee  gewibm  et 
ift;  auch  beträgt  bie  burchfchnittliche  tägliche  BetriebSgeh  nicbt 
über  6 — 7 Stunben. 

Sinb  bie  Steine  gcfdjliffen,  io  werben  fie  auf  bet  polier* 
majchine  geglättet;  biefe  befielt  au8  einem  (Splinbet  ocn  hartem 
$olg,  welcher  burd)  Steibriemen  mit  bet  SBelle  ber  Schlciffteine 
in  Berbinbung  fte^t.  25er  Stein  wirb  einfach  gegen  ben  roti* 
renben,  mit  Stripei  beftridjenen  (Solinber  gebrücft;  bie  Arbeit  ift 
eine  leidste,  unb  wirb  gewöhnlich  non  Äinbetn,  fogenannten  ^)o* 
lietjungen  »errichtet.  @in  gefehlter  Schleifer  fann  heute  1$ — 3 
Sthaler  täglich  oerbienen,  boch  rebucirt  ftd)  bei  folgen,  welche 
fich  mit  orbinären  SBaaren  befaffen,  ber  Berbienft  auf  15  Sgr. 

©rötere  unb  wertbeoHere  Stücfe  werben,  beoot  man  fie  gum 
Schleifen  bringt,  mit  einer  Steinfäge  entgwei  gefdmitten.  25a8 
3erfägen  gejchieht  mit  einer  rotirenben  Stahlfcheibe,  welche  mit 
Smirgel  ober  SDiamantftaub  beftrichen  ift.  2)ie  ädjate  werben 
burch  eine  Staljlfpi^e  mit  eingefefjten  fleinen  SDiamanten  burd}* 
bohrt,  welche  butdj  eine  Schnur  mit  ber  £anb  in  rotirenbe 
Bewegung  gefegt  wirb.  3)a§  JperfteOen  »on  -pohlgefäfcen  ift 
eine  mühfame  unb  langwierige  Slrbeit  unb  bebarf  einer  großen 
©ejchicflichfeit;  bie  Steine  werben  but<h  »iele  nach  cinanber  I 
rotirenbe  flehte  Sdjleiffteine,  welche  bie  gorm  ber  gu  fdjaffenben 
9lu§höhiung  haben,  auögefolbt.*) 

Unter  ber  frangöfiichen  ^»errfcbaft  war  bet  Söaarenabfafc  ein 

P«) 


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17 


feljr  geringer,  erft  mit  bet  2?efifcetgreifung  bur<h  Dlbenburg  be* 
gann  bie  2leta  eineä  beffern  SfuffdjwungS  für  bie  ^abrif.  «Raufet* 
fachlich  ift  biefet  gmei  Wementen  gu  verbauten;  einmal  ber  @t= 
fehliefiung  ber  groben  SScbatfunbe  am  Uruguap  unb  ber  ©infüljrung 
unb  33etooUfommnung  be8  ©teinfärbenö. 

25ie  ©eroinnung  ber  ffldjate  au8  ben  einheimifchen  ©ruben 
mar  halb  nicht  mehr  im  ©tanbe,  bem  Sebarf  gu  enlfpredfen,  ba 
bie  günftigen  3eitverhältntffe  eine  immer  größere  Wenge  non 
©teinen  gur  ftabrifation  erheifdjten.  3mar  maren  fdjon  früher 
burch  ^»änbler  au8  fremben  ©egenben  neue  ©teine  nach  bem 
©ebiet  gebraut  unb  bort  verarbeitet  morben,  mie  SergfrvftaH, 
inbifdjer  heliotrop  unb  ©arneol  u.  f.  m.,  aber  bieö  fennte  auf 
bie  25auer  nicht  genügen.  • 25a  mürben  gu  2lnfang  bet  bteifeiget 
Sabre  non  auSgemanberten  Sbarer  ©geifern  am  Uruguan 
in  ©übamerüa  gang  bebeutenbe  'Mjatlagerftätten  entbecft,  au8 
melden  bie  Slchatmanbeln , befonberS  fdjöne  Dnnre  unb  ©arbo* 
nv jre  entljaltenb,  ohne  viel  Wühe  gemonnen  merben  fonnten,  ba 
fte,  au8gemafd)en  au8  bem  Welaphpr,  lofe  in  ben  ?(u|betten 
liegen.  3m  Sabre  1834  fam  ber  erfte  SranSport  au,  mclcbet 
giemlid)  moblfeil  nerfauft  mürbe,  ba  bie  ©cbiffSfapitaine  ihn  als 
Sallaft  in  ihren  ©djiffen  mitgenommen  hatten.  9iun  manberten 
noch  mehrere  Schleifer  nach  ©übamerifa  au8,  melcbe  in  berfelben 
©egenb  immer  neue  2l<hatlagerftätten  erhoffen,  fo  bab  bie  ftch 
jährlich  fteigeruben  SranSporte  bis  auf  ben  heutigen  Sag  ben 
33ebarf  ber  Sabrif  noUftänbig  becfen;  aucb  ift  bie  Srgiebigfeit 
be8  bortigen  9Sorfommen8  eine  fo  grofjc,  bah  ber  23ebarf  auf 
lange  3eiten  neHfommen  gefiebert  ift.  Wit  ben  machfenben  23er» 
fehrSmitteln  vergröberte  fid>  auch  bie  ©infuhr  anberet  frember 
©teine;  enblich  merben  noch  einheimifche  ©teine  verarbeitet,  bereu 
Wenge  aber  in  umgefehrtem  93erhältni§  gu  ben  fogenannten  23ra» 

XL  264.  2 P») 


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18 


filianent  fldj  immer  mehr  oerminbert,  wenn  fie  auch  mitunter 
an  Schönheit  ben  eingeführten  Slchaten  nichts  nachgeben,  unb 
befonber«  al«  Ntaterial  gu  ben  Kameen  febr  gefdjäfct  finb. 

SDie  Äunft,  bie  Naturfarbe  ber  Staate  gu  erhöhen  ober  ihnen 
gar  eine  gang  anbere  gatbe  gu  geben,  beruht  oorgügtidj  auf  ihrer 
mifroffopifchen  fPorofttät,  welche  e«  geftattet,  bafj  bie  Steine  ftdj 
»on  einer  färbenben  Subftang  burd)bringen  laffen,  welche  an 
JDauerhaftigfeit  ber  Naturfarbe  nidit  nacbfte^t.  @3  ift  beroot« 
guheben,  baff  ft<h  bie  brafilianifdjen  Steine  beffet  färben  laffen, 
als  bie  eiutjeimifdjen , ba  jene  potöfer  finb,  al«  biefe.  5)ie 
Äunft  be«  gätben«  ift  eine  febr  alte;  gewife  finb  eiele  ber  frönen 
(Eameen,  welche  un«  ba«  flaffifc^e  SUterthum  in  grober  Nienge 
binterlaffen  bat,  au«  gefärbten  Steinen  gefchnitten.  (Sine  Stelle 
be«  römifcben  Naturforfcher«  ’JMiniu«  beutet  barauf  h*n,  baff 
ben  Stilen  ba«  gätben  nicht  unbefannt  war,  wie  bie«  mein  93a tet 
nachgewiefen  bat7)*  2 )a«  ©eheimnifj  bat  ficb  oermuthlich  *n 

3talien  au«  alten  Bitten  burcb  Strabition  erbalten,  bis  bet  3ufatt 
baffelbe  in  ben  tBeftjj  ber  gabrif  brachte;  bie  römifcben  Äünftler, 
welche  ßameen  fchneiben,  wenben  babei  ba«  gätben  bet  Steine 
an.  Nönter,  b*et  Nomanen  genannt,  tarnen  in  ben  lebten 
Sabrbunbaten  häufig  nach  Dberftein  unb  tauften  jdjön  ge« 
bänberte  Stdjate  für  bie  italienifdjen  Cameenfchneiber.  2)a« 
Schidfat  brachte  einen  3batet  $anbel«mann  mit  einem  foldjen 
beb  gätben«  tunbigen  Nomanen  im  Schulbgefängnifj  gu  i'ari« 
gufammen;  ber  Staliener  plauberte  ba«  ©eheimnif)  au«,  bet 
3)eutfcbe  wufjte  e«  nid)*  gu  feinem  33ortheil  auSgubeuten  unb 
feit  bem  Anfang  ber  gwangiger  3ahre  ift  baffelbe  ©emeingut  ber 
gabrif.  Um  j ebene,  braun  unb  fdjwarg  gebänberte  Dnnre  h et» 
gufteflen,  legt  man  ben  Stein  in  ein  ©efäjj,  welche«  mit  burch 
SBaffer  oerbünnten  c^onig  gefüllt  ift,  unb  fefct  baffelbe  auf  ben 

(996) 


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19 


Dfen,  bamit  bie  glüjfigfeit  eine  mäfeig  erhöhte  Temperatur  er* 
hält.  91ad)  meuteren  Stagen  — bie  3«it  ift  Bon  bet  gtöfjem 
ober  ntinbern  fPorofität  be8  ©tein8  abhängig  — wirb  berfelbe 
in  fiebenb  beifee  ©cbwefelfäure  gebracht.  2) et  in  bie  fPoren  ein* 
gebtungene  £onig  wirb  burd)  bie  ©cbwefelfäure  in  Äoble  net* 
wanbeit,  unb  auf  biefe  SBeife  werben  garben  com  liebten  SBraun 
in  allen  %'iaucen  bis  jurn  tiefften  ©cbwarj  bero  «gebracht,  wäb= 
renb  bie  ficb  bur^iebenben  weiten  ©treifen  beS  ©teine8  wegen 
ibrer  fDidjtigfeit  nicht  im  geringften  baoon  angegriffen  werben; 
ba8  SBeife  wirb  fogar  uoeb  oerfebönert.  ©inige  Sabre  ü erbet 
batte  man  fdjon  bie  ©ntbeefung  gemacht,  gemiffe  ©balcebone 
butcb  einfaches  Sßrennen  in  bod)rotbe  ©atneole  jn  tnetamorpbo* 
fiten.  2lucb  bie  au8  Snbien  fommenben  pracbtooll  boctpwtben 
©arneole  haben  xljre  fcbßne  garbe  bem  einfachen  Srennen  3U 
oerbanfen.  35a8  33 erfahren  finbet  feine  ©tflärung  barin,  baf) 
ba8  in  ben  ©leinen  enthaltene  ©ifenojrpbul  butcb  bie  £ifee  in 
rotbefl  ©ifenoppb  umgewanbelt  wirb.  9Jtit  biefen  ©ntbeefungen 
war  natürlich  ba8  ©ignal  gu  einer  {Reibe  Bon  33erfud)en  gegeben, 
welche  noch  lange  nicht  enbgültig  abgefchloffen  ift;  mit  bet  Beit 
fam  man  bagu,  ein  fdföneS  ©elb,  3Mau  unb  ©tau  in  allen 
©chattirungen  berpftellen.  SDie  in  ben  fogenannten  5Roccafteinen 
Borfommenben  9Roo8*  unb  SJaumjeicbnungen  (fog.  3)enbriten) 
werben  butcb  Slefeung  unb  ©inbrennung  Bon  |>6Henftein  imitirt; 
auch  tabirt  man  auf  einer  SBadjSbecfe,  welche  übet  einen  ©tein  ge* 
jogen  ift,  3ei<bnungen  <*0«  Slrt»  fefet  fie  ben  ©impfen  Bon 
gluorwafferftoffffiure  au8,  woburch  bie  auSrabirten  ©teilen  in  ben 
©tein  eingeäfet  werben,  ©in  foldjeö  non  einem  Sbaret  Äünftler 
faubet  au8gefübrte8  Strcbitefturbilb  befanb  ft<b  auf  bet  SBiener 
SBeltauSftellung.  tteberbaupt  finb  bie  21  chatarbeiten  Bon  ©berftein 

2*  (997) 


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20 


unb  3bat  auf  ben  cerfditebenen  3ubuftrie*  Zustellungen  bet 
jüngern  3«t  öielfadb  prämiirt  worben. 

Sei  folgen  §ortf «dritten  tu  ber  £e<bnif  unb  bei  bet  ©eroifj* 
beit,  bafc  bet  Sebarf  non  {Rohmaterial  auf  lange  3«t  i^inaufl 
gefiebert  ift,  fonnte  ftcb  unfet  Snbuftriejweig  immer  freiet  ent* 
wicfeln  unb  fidj  norgugSweife  ben  feineren  Arbeiten  guwenben, 
inSbefonbete  ber  (Eameen*  unb  3ntagliof<bneiberei,  wel<be  feit 
bem  frangöfifdben  .ftrieg  frifd?  aufgebläht  ift.  55ie  Äunft,  unter 
gefdjicfter  Senufcung  ber  üctfd?iebenen  färben ftreifen  ein  etba» 
beneS  Silb  in  ben  ©tein  ju  fdbueiben,  ift  eine  uralte,  unb  gehört 
auch  ^ier^in  ba8  in  jüngfter  3«t  »iel  befprocbene  pradbttcüe 
Dnpjcegefä§  au8  bem  9la^ta|  bc8  nerftcrbenen  Jpetflegg  »on  Staun* 
fdbweig.  (Einige  au8  bem  gürftentbum  Sirfenfelb  ftammenbe 
©teinft^neibcr,  mellte  butdb  bie  Äataftropfye  con  1870  au8  $)ari8 
auBgewiefen  »aren,  Reiben  fich  gang  in  ihrer  ,£>eimatb  nieberge* 
laffeit  unb  ZtelierB  errietet.  Sei  ihrer  (Arbeit  ift  ein  tüdjtigeö 
©treben  etfennbar,  unb  beute  bekräftigen  ficf>  fdjou  etwa  240 
8eute  bamit.  (Ein  foldjeß  ©teinfd^nciberatelier  bietet  einen  freunb* 
lid)en  Slnblitf.  5)er  {Raum  ift  burbb  ein  grofjeS,  eine  gange  ©eite 
be8  3*mwer8  einnebmenbcS  genfter  erhellt;  nad)  ber  Sic^tfette 
gugewenbet  fifjt  ber  tRcifter  mit  feinen  ©efyülfen  unb  Sebrlingen, 
jebet  an  einem  Keinen  ^olgtijdj,  unter  welkem  ein  Sretrab  an* 
gebracht  ift;  auf  bem  Sifd^e  befinbet  ficb  ber  ©djneibeapparat. 
Zn  einet  2Belle,  weldjc  butd^  ba8  Sretrab  in  Seweguug  gefegt 
wirb,  fonnen  ©tablfpifjen,  je  nadb  Sebürfnifj  non  ber  »erfebie* 
benften  geinbeit,  fogenannte  3eiger,  eingefdbraubt  werben.  (Der 
guter  guredbt  gefdbnittene  ©tein  wirb  nun  mit  ber  linfen  Jpanb 
gegen  ben  rotirenben  3eiget  gebrüdft,  unb  burdb  (Drehen  berfelben 
werben  auf  bem  ©tein  bie  erforbetlidjen  Linien  b«*»orgebra(bt( 
wäbrenb  bie  JHedite  ben  3eiger  fortwäbrenb  mit  ©iamantftaub 

(99S) 


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21 


befeuchtet,  welcher  mit  £>el  gemifcht  ift,  unb  pon  3cit  gu  3eit 
ben  Stein  mit  einem  Süppchen  abwifd)t,  um  ben  gemachten  gort* 
fcfjritt  genau  befichtigen  gu  fönnen.  23  or  bem  2lrbeitenben  ftelft 
baß  SRobeH,  gewöhnlich  ein  ©npßabbrucf , welker  größer  wie 
bie  gu  fchneibenbe  Gamee  ijt,  unb  ein  Spiegelten,  um  fowohl 
pon  bem  Sftebefl,  wie  pon  ber  Gamee  eine  Ülnficht  con  allen 
Seiten  gu  gewinnen.  3Ran  hat  fogat  nach  photographifchen  23or* 
lagen  Gameen  gefchnitten,  'Portraitß  u.  bergl.  SReiftenß  wirb 
nach  antifen  fJRuftern  gearbeitet,  welche  'Jlrbeit  noch  immer  ben 
beften  '.Sbfafc  finbet.  Sntaglio’ß  b.  h-  oertiefte  Silber  werben  oom 
gewöhnlichen  Änopf  biß  gum  feinen  fRingftein,  ^etfchaft  ober 
gröfjern  ©efäfj  gejchnitten,  welche  mit  CRamenßgügen , SSappen 
unb  mit  IDarfteHungeit  aller  9trt  petjehen  werben.  Gß  finb 
piele  tüchtige  Äünftler  h*er  tätig,  welche  neben  berühmten 
©röfeen  ber  Steinfchneiberei  in  iRom,  g loten,  unb  ^)ariß 
würbig  ihren  f»lafj  behaupten.  55er  S3erbienft  ift  ein 
ein  fleißiger  unb  gefchitfter  Steinfchneiber  perbient  minbeftenß 
5 Shaler  täglich,  außgegeidjnete  Äünftler  aber  noch  oiel* 
mehr.  Gameen  werben  im  greife  non  U Schaler  alß 
gewöhnliche  IDutjenbrnaare,  aber  auch  je  nach  fünftleriftem  Söerthe 
gu  100  ^halern  unb  auch  »eit  barüber  angefertigt.  SDie  ^älfte 
beß  Slbfafjeö  pon  Gameen  unb  Sntagließ  geht  nach  9ierbamerifa. 

Sepor  ich  sum  Schüfe  eine  Ueberfidjt  über  ben  heutigen 
Staub  bet  gabrif  gebe,  möchte  ich  noch  einer  ftaatlichen  Gin» 
richtung  gebeuten,  welche  bie  Hebung  beß  gangen  ©ewerbeß  gum 
3wec!  hat.  S5ieß  ift  ber  feit  1853  eingefefcte  „©ewerberath;" 
er  befteht  auß  £anbelßleuten,  21c^atfd)leifern,  SÄchatbohrern,  ©olb* 
fchmieben  unb  gwei  anbern  angefehenen  Sürgern  beß  gabrif* 
gebieteß,  im  ©angen  auß  15  SRitgliebern , unb  hat  bie  gunttion 
baß  ©ewetbe  gu  überwachen,  unb  ber  ^Regierung  Sorjchläge  gur 


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22 


äkrbefferung  unb  Hebung  beffelben  $u  unterbreiten.  früher  war 
ihm  aud)  bie  ©ißciplinaraufftcht  über  90Reifter  unb  Lehrlinge  an* 
uertraut;  bie  barauf  begüglidjen  33eftimmungen,  welche  immer 
nod)  etwaß  nach  ber  alten  3unftorbnung  fdjmecften,  finb  aber 
burdj  bie  norbbeutfdje  ©ewcrbeorbnung  »en  1869  aufgehoben 
»erben,  ©eine  ©innahmen  begieht  er  auß  ben  öffentlichen  ©tein« 
auftienen,  »on  welchen  1 pGt.  beß  ©rtrageß  an  ben  ©ewerberath 
abgegeben  »erben  mufc.  ©r  h«t  fid?  baß  SEöoljl  ber  Snbuftrie 
angelegeu  laffen  unb  burch  feine  SBorfdjläge  fdjon  manche  33er* 
befferungen  in’ß  Sehen  gerufen.  9tu8  eerfchiebenen  nicht  tyexfyn 
gehörigen  ©rünben  h^ttc  bie  Regierung  ihn  aber  auf  ben  9luß* 
fterbeetat  gefegt,  unb  ift  bcßljalb  bem  ©oueernement  ein  9lach* 
feiger  üorgefdjlagen , welcher  unter  bem  Sitel:  „ffabrifrath"  bie 
Sunftionen  einer  preufjifdjen  ^anbelöfammer  alß  ©ewerbefammer 
erhalten  feil,  welcher  eielleicbt  jet$t  fdjen  gur  iltußführung  ge* 
fommen  ift.  3n  3bar  unterhält  ber  ©ewerberath  eine  perma* 
nente  Slußftellung,  in  welcher  SBaaren  ber  »erfchiebenften  Strt, 
bie  in  bem  ftabrifgebiet  angefertigt  finb,  311m  33erfauf  außftehen. 
©in  33efuch  biefer  fegenannten  ©ewerbehalle  ift  intereffant,  weil 
man  fich  h»r  am  heften  ein  SBilb  wen  ber  SKannigfaltigfeit  ber 
gabrifatien  mad)en  fann. 

©8  ift  nicht  leidet,  einen  ©efammtüberblic!  über  ben  heutigen 
©tanb  ber  Dberftein  * 3barer  tSchatinbuftrie  gu  gewinnen,  weil 
bie  Sntereffen  unter  31t  ciele  9)tenidien  gethcilt  finb,  uub  beß* 
halb  manche  ßahl  nur  nach  einer  allgemeinen  ©chafjung  ange* 
geben  werben  fann. 

Dberftein  unb  3bar  mit  3ufammen  7400  ©inwohnern  ftnb 
ber  J£>auptft^  ber  Snbuftrie,  unb  biefe  beiben  Drte  ftellen  baß 
größte  Contingent  gu  ben  Slrbeitern;  aufjerbem  finb  aber  noch 

»iele  gu  bem  gürftenthum  geherenbe  unb  einige  benachbarte 

(1000) 


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23 


preufjijdje  SDcrfer  unb  ©emeinben  mit  ber  gabrifatien  bcfdjäftigt. 
Sluf  2Mrfenfelb’fd)em  ©cbiete  arbeiten  1129  ©Reifer,  252  SSdfyat« 
botyrer,  241  ©teinfdjneiber  unb  ©raneure  unb  643  ©olbfdpniebe; 
mir  feljlt  bie  3aljl  ber  auf  preufjifdjem  ©ebiete  wcfyncnben  ©djlei* 
fer  unb  Üidjatboljrer;  ©raceure  urtb  ©olbjdjmiebe  finb  bort 
entwcber  garnidjt  ober  nur  in  geringer  SDienge  »erlauben, 
©djleifereiett  giebt  cS  im  gürftentljum  141,  baoon  finb  91  ein* 
fadje  unb  25  hoppelte,  b.  I).  burdj  ein  Söafferrab  werben  gwei 
©djleifen  betrieben,  welche  311  beiben  ©eiteu  beß  Söadjeö  gegen* 
über  liegen;  natürlich  fönnen  biefe  nur  an  ©teilen  angelegt 
werben,  wo  ein  ftarfeß  SBaffergefälle  ift.  Stuf  preufeifdtem  @e» 
biete  ftetyen  40  ©d^Ieifen,  baoon  finb  32  einfach  unb  4 hoppelt, 
im  ©anjen  alfo  241  ©djleifereien,  in  weldjeu  jufammen  720 
©djleifftcine  in  2l)ätigfeit  fittb.  Unter  beit  ©djleifen  werben 
gwei  mit  SDampfmafcbieuen  betrieben,  ba  oft  baß  Söaffcr  feljlt 
3nt  Jatyre  1872  würben  an  eiuljeimifdjcn  ©feinen  600 
Gentner  im  SBertlje  non  8—10,000  2l)frn.  verarbeitet.  £>ie 
5 — 6000  Gentner  importier  ©feine,  welche  in  öffentlichen 
Sluttionen  oerfteigert  worben,  erhielten  einen  betrag  non  ungefähr 
200,000  SL^lr.  33efonberß  fdjöne  ©tücfe  werben  unter  ber  $anb 
»erfauft  unb  fann  man  il)reit  SÖertl)  auf  50,000  S£l)Ir.  jdjätjen; 
fdjliefslid)  wäre  nod)  ber  bei  ber  gabrifation  oerbraudjte  IDiamant 
(ictymarjer  SDiamant,  ©arbonat)  unb  2)iamantftaub  (SDiamant* 
borb  genannt)  mit  10—15,000  Sll^lr.  angufefjen,  fo  baf)  ficb 
barauß  ein  ©ejammtoerbraud}  an  ^Rohmaterial  im  SBertfye  oon 
über  einer  Viertel  SJtiDion  Sljalern  ergiebt.  SBä^renb  ber  ©rloß 
aufi  ben  Sluftionen  im  Satyre  1862  gn  64,200  2.tylr.  angegeben 
wirb,  ift  er  alfo  in  10  Salden  um  mehr  wie  baß  ^Dreifache  ge« 

ftiegen.  9iadj  einet  officiellen  Berechnung  ergaben  bie  Steins 

(1001) 


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2 4 


onttionen  wäljrenb  20  3aljren  (oon  1847—1867)  bic  Summe 
von  1,350,000  Sl)lt. 

3ur  gabrifaticn  »erben  norgugßroeifc  folgende  Duarg=Sarie* 
taten  oerwenbet:  &d?at,  Gljalrebon  unb  lidjtbraune  biß  fdjwarge 
Dnpre,  fowoljl  cinljetmift^e  wie  auß  Uruguay  imyortirte,  tyodl}* 
rotljer  inbifdjer  Garneol,  melier  ©arbcupj:  genannt  wirb,  wenn 
et  mit  weiten  ober  braunen  ©treifeu  burdjgogen  ift,  inbifdjet 
Jpclictrot?,  grüner  ft^lefifd?ct  (iljryjeyraß,  einfarbiger  unb  bunter 
eintyeimifdjer  3aßpiß,  fäc^fifd^er  unb  fibiriidjer  Sanbjaßpiß,  brau* 
ner  Äugeljaßpiß  auß  Slegppten  unb  rotier  auß  Söaben,  geftreifter 
welfiger  ^)albopal  unb  brauner  £olgopal,  rotier  unb  gelber  Gifen* 
tiefe!,  eiufyeimifdjer  ^polgftein  (oerficfclte  Jpelgerj,  fdjmeigerifdjerunb 
brafilianifdjet  23ergtryftall  mit  feinen  Ülbarten,  bem  nelfenbrauncn 
Siaudjtcpaß,  bem  topaßgelbeu  Gitrin  unb  bem  fanft  rötfylid)  ge* 
färbten  baprifdjen  Siefenquarg,  enblidj  eintyeimijdjer  »ie  brafiliani* 
fdjer  »iolblauer  älmetfypft.  Sn  ben  lebten  3aljren  würbe  aud) 
fibirifdper  Söialac^it  iu  größeren  Quantitäten  oerarbeitet.  J^ietljer 
gehören  nod)  bie  fünftlidjen  ©laßflüfje,  barunter  audj  golbfledige 
9iadjat)mungen  oon  Üayißlaguli  unb  Sloanturin,  während  ber 
c$te  Sapißlaguli  auß  Sljibet  unb  ber  edjte  golb»  unb  filberfdjim» 
mernbe  fibirifdjc  5Jloanturin  nur  wenig  gut  Anwendung  tommen. 

Sie  JHeilje  ber  auß  biefen  ©teinen  oerfertigten  SBaaren 
läuft  eine  lange  ©fala  oom  einfach  gejdjliffcnen  Üldjatfteindjen 
biß  gum  »ollenbeten  Äunftwcrf  burd).  Ser  siluffdjwung,  ben  bie 
©teinjdjneiberei  genemmeu,  fann  nicht  oetfdjlen,  einen  erljöljten 
§crmenfimi  gu  erweefen,  welcher  auch  SOtodellcn  für  anbete 
SÖaaren  gu  ©ute  femtnen  mufc;  fdjon  jefct  geljt  eine  grofje  Quan* 
tität  ron  SSaaren  nadj  Bonbon,  Diew*'l)orf  u.  f.  w.,  um  bort  in 
cdjt  ©olb  gefaxt  alß  wertvoller  ©djmud  in  ben  Handel  ge* 

bradjt  gu  werben,  iäuß  ben  taufenberlei  Cbjeften  wären  fyetoor* 

(1002) 


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25 


gußeben:  ©djmucfgegenftänbe  aßet  Art  oon  bem  befdfeibenen 
Adjatringlein  biö  gu  bem  ä jour  gefaxten  Gotlier  auö  Serg» 
frpftall;  inöbefonbere  Stodjen,  Dßrringe,  Üudß*  unb  ^aatnabeln, 
Gameen  unb  Sntaglio’ö  gu  Srodßeu  unb  öiiugfteinen.  Sei  ben 
Gameen  ift  ßeute  bie  gelblidßweiße  biö  weiße  Batbe  für  baö 
SUb,  braunfdjwarg  unb  rofa  für  ben  gonb  am  beliebteren,  bodß 
finb  aud)  fdßöne  Siingfteine  graubraun  auf  reifem  ©runb  ge» 
fudjt.  Sie  Steiße  ber  oerfertigten  öiippfacßen  ift  eine  nodß 
größere,  oorgüglidß  Sojen,  ©djreibgeuge,  Sßiergeftalteu,  3uwelen« 
unb  Smlettenfäftcßen,  fPetjcßafte,  Safen,  ©egalen,  befonbetö 
feßöne  auö  Sergfrpftall,  Saffen,  Heine  Seffertteller,  fBieffer»  unb 
©abelgriffe,  ©riffe  gu  ©töcfen  unb  Stegenfdßirmeu , geulter, 
©dßacßjpiele,  2lfd>enbec^er , geuergeuge,  Äaftcßen  für  Bünbßelgcßen, 
ÄUcfer  für  bie  Änabenfpiele  u.  f.  ro.  Aucß  werben  oiele  Äabinet* 
fteine  oerfauft;  bie»  finb  burcßjdmittene  Sldjatmanbeln,  weldße  an 
ißrer  Surdjfcßnittöfladße  gcfdjliffen  finb,  um  bie  innere  SSejrtur  beö 
©teineö  gu  geigen,  außerbem  Steibfdjalen  für  fötaler  unb  Gßemifer, 
galgbeine  für  Sucßbinber,  Sriüengläfet  auö  SergJnjftall  u.  f.  w. 
3u  ben  neueften  fProbuften  bet  Snbuftrie  gehören  Stormalgewicßte 
unb  fötaaßftäbe  oon  SergfrpftaH  gu  eßemifeßen  unb  pßofifalifcßen 
Unterfudßungen,  weldße  weßl  in  ißrer  3»«fmäßigfeit  folgen  auö 
ber  Segirung  oon  ‘JMatina  unb  Sribium  nießt  nadjfteßen  bürften 
unb  bereitö  in  oielen  dßemijeßen  Saboratorien  unb  pßpfifalifeßen 
ÄabinettenAnwenbung  gefunben  ßaben.  Gin  ooflftänbigeö Saaten» 
oergeitßniß  würbe  Diele  ©eiten  auöfüllen;  im  Allgemeinen  !ann 
man  fagen,  baß  bie  gabrit  Alleö  madßt,  waö  beftellt  wirb, 
wenn  nur  eine  fötöglicßfeit  ber  Jperftellung  oerßanben  ift.  Auf 
Verlangen  werben  felbft  ©ößenbilber  auö  Sergfrpftafl  in  fclcß’ 
edßter,  unoerfdljtßter  Sriginaltradßt  fabricirt,  baß  ber  glaubenö» 
treue  Subbßaanbeter  gewiß  nitßtö  an  feinem  Renaten  auögufeßen 

(1003) 


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26 


ftnbet,  ja  not  einigen  3afjten  führten  einzelne  .^anbelßleute  noch 
für  40,000  £l)lr.  Heine  olinenförmtge  butdjboijrte  Onnjre  au§, 
ttjetdjc  nach  Siegten  unb  in  bie  ©ahara  gingen,  um  bie  33e» 
wohnet  Slftifa’ß  mit  Amuletten  ju  nerfeben.  Obgleich  eigent» 
liehe  ©belfteine  in  bet  Stege!  im  S3ir!enfelb’fdjen  nicht  gefehlten 
»erben  unb  nur  feiten  ächte  Sopafe  unb  Sllmanbine,  fo  führt 
buch  @.  8ange  an,  bah  »er  einigen  fahren  auß  einem  3taua* 
marin  (Geröll)  non  15  $>funb  ©eroidjt,  ber  für  3000  ^ranfen 
erworben  war,  eine  Jöüfte  beß  Äaiferß  Stapolecn  III.  gefdjliffen 
unb  gejehnitten  worben  fei. 

55er  Slbfaf}  ber  ©aaren  gedieht  burä)  bie  ^anbelSIeutc,  ent* 
Weber  bireft  auf  SefteBung  ober  burch  23ejug  ber  gröberen 
SJtaffen.  3n  allen  bebeutenberen  Söäbern  unb  europäijehen  Jpaupt« 
ftäbten  finb  größere  Stieberlagen , felbft  am  Stiagara  unb  in 
ben  Umgebungen  beß  SJtontblanc  werben  Dberfteiner  ©aaren  als 
amertfanifche  unb  fchwei^erif^e  nerfauft.  55ie  grobe  SJteffe  non 
9tifchnei*9towgorob  in  Stublanb,  bie  regelmäbig  non  einem 
Oberfteiner  Kaufmann  befudjt  wirb,  nermittelt  bie  löerbreituug 
nach  (fentralafien.  3n  ber  neueren  Beit  geht  oiel  nach  bem 
Orient.  Brüher  gingen  bie  für  21merifa  beftimmten  ©aaren 
meiftenß  über  $)ariß,  burch  bie  ©reigniffe  con  1870  unb  71  finb 
aber  bireftc  ^anbelßoetbinbungen  mit  fSmerila  angebahnt  wor* 
ben.  55ie  ^anbetßleute  fnüpfen  auf  ihren  nieten  unb  groben 
Steifen  immer  neue  SJerbinbungen  an;  fie  bringen  neue  ©teine 
mit,  jum  $heit  hanöelu  fte  auch  mit  echten  3uwelen,  fo  bab 
baburch  bie  ganje  gabrif  einen  erweiterten  ©eficbtßfteiß  belommt, 
unb  ihren  ©aaren  eine  immer  gröbere  ÜBerbreitung  fiebert. 

55et  Umfcblag  bet  ganjeu  Babrif  bürfte,  außfcblieblicb  ber 
SJtetallarbeiten  für  bie  bijouterie  fausse,  auf  eine  SJliQion  Sbaler 
jährlich  hinaußgehen. 

(1004) 


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27 


©ewifj  ift  tiefer  h°<hft  eigentümliche  3»eig  ber  nater« 
länbifdjen  3nbu[trie  einer  eingeljenben  Beachtung  wert-  5)et 
fRaturforfcher  !ann  hier  (in  einer  fReihe  ber  intereffanteften  Crr= 
fdjeinungen  feine  Beobachtungen  anfteflen,  ber  jfünfiler  tiefe  ©in* 
blicfe  in  ben  Progef}  thun,  wie  ein  Äunftgewerbe  fid>  non  §anb* 
toerfSbanben  frei  gu  machen  ftrebt,  ber  Stedjnifer  non  einfachen 
erfahrenen  Arbeitern  manchen  ^anbgriff  erlernen,  ber  auch  cwber* 
wcitig  gu  oerwertl)en  ift,  unb  felbft  ber  8aie  wirb  fich  an  bcm 
Auffchrounge  eines  urbeutfchen  ©ewerbeS  erfreuen,  unb  gerne 
,£erg  unb  ©inn  an  ben  h*ten  lanbfchaftlichen  Steigert  ber  Um* 
gegenb  erquicfen.  5Dem  BolfSwirthe  muffen  tie  bortigen  Ber* 
hältniffe  gerabegu  mie  eine  £5afe  in  bet  SßJiifte  ber  mobernen 
fociabbemofratifchen  Agitationen  erscheinen.  2>a  feber  Arbeitet 
mie  Arbeitgeber  felbftftänbig  baftetjt,  fo  finben  5Bül)lereien,  welche 
bie  3nbuftrie  in  ihrem  ftertfdmtte  hemmen  ober  gar  mit  Ber* 
nidjtung  bebrohen  fönnten,  hier  feinen  empfänglichen  Beben. 

3d)  befchüefje  meine  5)iittl)eilung  mit  ein  paar  ©teilen  au8 
ber  Abljanblung  oon  meinem  Bater  über  bie  ©efcpichte  unb 
fRedjSnerhältniffe  ber  Achatinbuftrie,  weldje  bie  ©tellung  berfelben 
im  ^sanbel  unb  ©ewerbc  gegen  anbere  oerwanbte  3nCuftriegweige 
befpricht. 

„2>ie  Birfenfelber  Adjatinbuftrie  hflt  in  il?rer  unb  in 
ihrem  Umfang  feine  birecte  unb  mefentliche  ©oncurreng,  benn 
mag  anberwärtg  aug  fogenaunten  ^salbebelfteiuen  in  ©chmud  unb 
SRippjadben  in  ^anbfdjleifereien  bargeftellt  wirb,  ift  oerhältnifjmä* 
fcig  non  geringer  Bebeutung  unb  auch  gewöhnlich  teurer,  als 
bie  Birfenfelber  ©rgeugniffe  gleicher  Art.  Sie  großen  faiferlich 
ruffifdsen©teinfchleitereien  gu  ÄaUsatinenburg,  Äolpwan  unb  Peter» 
hof,  ebenfo  einige  prioatfchleifereien  gu  Petersburg  nerarbeiteu 
meift  gang  anbere  ©teine,  ©ranite,  Porphpre  u.  f.  w.  unb  be* 

(1005) 


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28 


fonberö  au  cf)  SDialadjite  gu  größeren  ©egenftänben,  fBafen,  Ganbela« 
bem  u.  f.  w.,  glatten  gum  gourniren  foftbarer  Sijcfce  unb  anbetet 
5R  obilien,  welche  gu  ©ejdjenfen  an  dürften  unb  anbere  l)oih3 
fteljenbe  $>erfonen  beftimmt  werben.  Sie  frönen  ©laSflüffe, 
welche  alle  ächte  ©belfteine  immittiren,  wie  jold)e  je£t  in  9>ari8 
unb  an  manchen  Drten  in  Seutfcf)lanb  bargeftellt  werben,  bieten 
feinen  birecten  ©rfaj  für  bie  gefchliffenen  Achate,  ©ergfrpftatle 
u.  f.  w." 

„3u  ben  weichem,  nicht  metallijchen  9föineralfubftangen,  welche 
anb erwarte  gum  £heil  3«  ähnlichen  3wecfen , wie  bie  epalbebel» 
fteine  verarbeitet  werben,  gehören  SBernftein,  einige  Jtchlenarten 
ber  «Sprubelftein  von  Äatlsbab,  Serpentin,  Alabafter,  SKarmot 
n.  f.  w.  Sie  SBernfteinarbeiten  aus  bem  norbbeutfchen  Äüfteu* 
lanbe,  beten  Anfertigung  in  jüngerer  3eit  einen  grofjen  Aufichwung 
gewonnen  hat,  befielen  aHetbingö  in  Scf)mucf*  unb  9lippfachen, 
aber  von  gang  befonberet  Art  unb  machen  gum  $th«l  beStjalb, 
gum  Sheil  aber  auch  wegen  ihres  ^c^ern  ^reifes , welcher  ficf> 
gerabe  bei  größeren  ©egenftänben  bebeutenb  fteigert , ben  Achat* 
waaren  farm  irgenb  (Soncurreng.  Sie  ©annel»  unb  ^echfohle 
wirb  nur  gum  Slrauerfchmncf  verarbeitet  unb  fommt  als  ©pecia» 
lität  verhältnifernäfeig  nur  wenig  in  betracht.  S3on  ben  ÄatlS* 
baber  Sprubelfteinen,  welche  gum  Sheil  auch  gu  ähnlichen  Sachen 
wie  bie  Achate  verarbeitet  werben,  ift  ihrer  Säeichheit  wegen  unb 
weil  fie  meift  ein  büftereS  Anjel)«c  unb  wenig  ©lang  haben,  ba» 
bei  opaf  finb,  eine  größere  ^robuction  ber  barauS  gefertigten 
Sachen  niemals  gu  erwarten,  unb  ungeachtet  beS  Alters  biefet 
gabrifation,  ift  fie  ftets  nur  ber  pflege  weniger  Jpanbarbeiter 
verblieben.  Auch  ber  Serpentin,  beflen  ^Bearbeitung  in  jüngerer 
3eit  fehr  in  bie  £öl)e  gegangen  ift,  theilt  bie  SBeichheit  unb  bäö 

büftere  Anjehen  mit  bem  ÄarlSbabet  Sprubelftein.  Ser  Serpen* 

(1006) 


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29 


tin  eignet  ficb  gar  nicht  gum  ©chmucfftein,  ifk  mit  wenigen  2Ui8=> 
nannten,  wie  g.  33.  Sftötfet  für  2tyothefen  unb  cbemifdje  gabrifen, 
©dealen,  Söärmfteine,  S)intenfäffer  u.  f.  w.  nur  gu  Arbeiten  für 
bie  Biwmerar^iteftur,  etwa  auch  gu  Kapitalen,  ©imgwerf  u.  f.  w. 
im  Sleufeern  ber  ©ebaube.  Sehnlich  »erhält  e8  fich  mit  bem  Sla» 
bafter,  SEJfarmor  unb  noch  anbern  fchönfarbigen  Steinen,  obgleich 
auch  barauS  33afen,  Uhrgebäufe,  Statuen  u.  f.  w.  gefertigt  wer* 
ben,  faum  aber  SRippiadhen  unb  gar  feine  ©egenftänbe  gum 
weiblichen  Schmucf.  Sie  finb  eigentlich  blo3  Bierfteine  für  bie 
fd}one  Srdjiteftur.  So  hat  alfo  bie  alte  Scbatinbuftrie,  wie  ge* 
fagt,  in  feinet  SBeife  irgenb  wefenttid^e  3Rioalen.  Sebe  Steinart  hat 
in  ber  technischen  unb  artiftifdhen  Snwenbung  ihre  ©renge,  wenn 
audh  biefe  burdh  ^inübertpielen  ber  ©ebiete  in  einanber  nicht 
immer  fcharf  abSdjneibet." 

„SDie  Sirfenfelber  ©ewerbthätigfeit  fcheint  nadh  ihrem  SBachten 
in  ber  jüngften  Beit  ihren  Jpohepunft  nodh  nicht  erreicht  gu  haben. 
Söet  würbe  nicht  biefem  feltenen  unb  intereffanten  ©ewerbe  fer» 
nereS  ©ebeihen  unb  Slüljen  im  3ntereffe  ber  fleißigen  Arbeiter 
be8  5Rahegaue8  wünfdhen ; 3hm  u«b  ihnen  baher  auch  ba§  befte 
©lücfauf  »on  betgmännifdher  Seite." 


(IOOT) 


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Slnmcrfuitflctt. 


3um  SEitel:  2)cr  Serfaffer  biejer  Schrift,  ©uftaB  Sbolph  9l5gge* 
ratb,  ftarb  am  11.  2)ecember  1875.  «Sein  trauember  SBater , Dr. 
3acob  Utöggcrath,  Serghauptmann  a.  2).  unfc  *})rcfeffcr  an  ber  Unioerp* 
tät  Senn,  bat  pc  ,um  ©rucf  befSrbert. 

1.  (Sine  Sbhanblung  non  meinem  Sater  über  bie  ©efc^it^te  unb 
JRe^täuerijältniffe  ber  Schatinbuftrie,  abgebrutft  in  SraPert,  3citfc^rift 
für  Sergrecht,  Sanb  XV,  v<peft  2,  welche  auch  einige  patiftifdje  Angaben 
enthält,  ift  in  fo  weit  mit  benufct,  als  bieje  ftd)  auf  bie  neueften  93er* 
hältnifte  bejiel,'cn. 

2.  Streng  wiffenf^aftlie^  unb  ausführlich  ift  baS  ©eologijcbc  Bom 
Schat  abgehanbelt  in  3-  Süggerath,  Ueber  bie  Schatmanbeln  in  ben 
9Jlelahh?ren.  3®ei  Senbjchreiben  an  2B.  cjpaibinger,  abgebrutft  in  $>aU 
binger,  Saturwifjenfchapliche  Sbljanblungen.  9Jiit  Sbbilbungen.  93b.  3. 
Eien  1849. 

3.  Srgl.  Sange,  ©.,  bie  $albebclfteine  ber  gamilie  beS  Quarjt« 
unb  bie  ©ef dpthte  ber  9lchat»3nbuftne,  Äreujnach,  1868. 

4.  Collini,  C.,  Journal  d’un  voyage  qui  contient  differentes 
observation  s sur  les  agates  et  le  basalte  etc.  Sföannheiut,  1776.  Such 
ins  Seutjdje  üfcerfe^t  Den  3-  ©■  ©chrcter.  ÜJiannheim,  1777.  Selbe 
Sucher  enthalten  Biele  Sbbilbungen. 

5.  Srgl.  über  bieje  Sicbterj Meinungen  eine  Sbhanblung  Bon  meinem 
Sater,  in  9)oggenborP,  Snnalcn  ber  'Plwpf  unb  dljemie,  Sanb  150  1873, 
©.  325  p.  p.  Such  im  SuSjuge  abgebrutft  im  ^cliterfjnifdjen  (Zentral* 
Slatt  Bon  Dr.  ©chneibertnann  unb  Äellerbauet.  3al;rg.  10.  ©.  107. 
Seipjig.  1874. 

(1008) 


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31 


6.  3lbbilbungen  aller  3(rbeit8*3ßorri<btungen  befinben  fiel)  in  bera  oben 
dürfen  Sudje  Bon  Goflini  unb  in  einer  2tbbanblung  Bon  25ippel  in 
SBeftermann’b  3al)rb.  ber  itluftrirten  beufft^en  SDlonatbljefte.  SBanb  3. 
33raunf<btteig  1858. 

7.  93rgl.  Utöggeratl),  3-,  2Me  Äunft  Dn^re,  Sarneole,  Gfjalce* 
bone  unb  anbere  ©feinarten  ju  färben,  jur  (Erläuterung  einer  ©teile 
beb  Plinius  Secundus.  3n  Äarften  unb  oen  Secben,  9lr<biti  für  3Jiine* 
ralogie  u.  f.  w.  33anb  23.  Serlin,  1848. 


JAN  3 \ - ' 


aoo») 

Innf  »cn  Stfcr.  nngti  (S$.  Wrimni)  in  Bulin,  e<$cntSerg*rfhrai«  17*. 


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