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DIE WEISSEN 
BLÄTTER 




9 

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LIBRARf oftbe 
OHIO STATE 
UNIVERS ITY 




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OHIO STATE 
UNIVERS ITY 



Die Weissen Bl&tter 
Vol. 1 

Januaiy-IIarch 

19U 
Index 

Sept. - Feb 
1913-U 



NR. 5 1914 




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Eine Monatsschrift 




JANUAR 



nhalt: 



Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampolla / 
Franz Werfel, Neue Gedichte / Martin Buber f 
Ereignisse und Begegnungen / Friedrich Burschell, 
Renaissance, Barock und Rokoko / Max Brod f 
Lob des einfachen Lebens / Kasimir Edschmid, 
Bilder aus den Südvogesen/ A. Suares, Dosto- 
jewski und die Frauen/Ludwig Hatvany, Zwecke 
der Kunst /Rene Schickele, Zwischen denkleinen 
Seen / Gustav Meyrink, Der G< 



Leipzig /Verlag der weissen Bücher 



S34030 

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DIE WEISSEN BLÄTTER 

FÜNFTES HEFT ERSTER JAHRGANG JANUAR 1914 



INHALT: 

Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampolla.. .. 423 

Franz Werfel: Neue GetüAte 421 

Martin Buber: Ereignisse und Begegnungen .. .. 442 

Friedrich BursAell: Renaissance, Barock u. Rokoko 447 

Max Brod: Lob des einfachen Lebens 464 

Kasimir Edschmid: Bilder aus den Südvogesen .. 468 

A. Suares: Dostojewski und die Frauen 476 

Ludwig Hatvany: Zwecke der Kunst 485 

Rene SAickefe: Zwischen den kleinen Seen 489 

Gustav Meyrink: Der Golem 498 



Feststellungen <auf gelbem Papier) 89—96 

Kritische Schriften über Drama und Theater / Frank Wedekind, 
Gesammelte Werke / Deutsche Dichter des lateinischen Mittel * 
alters / Soren Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit / 
Frühchristlich« Apologeten / Karl Schefflcr, Italien, Tagebuch 
einer Rdse / Bucher«Bingange 



Für unverlangte Manuskripte und Rezensionsexemplare kann 
die Redaktion keine Garantie übernehmen. 

Alle Rechte für sämtliche Beiträge vorbehalten. 

BEZUGSBEDINGUNGEN: 
Einzelne Hefte M 2.~, vierteljährlich M 5.—, halbjährlich 
M 10.~-, jährlich M 18.— Bei allen Buchhandlungen erhältlich. 

COPVRIOHT 1913 BV VERLAG DER WEISSEN BÜCHER . LEIPZIO 



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1914 





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Eine Monatsschrift 




FEBRUAR 



nhalt: 



A. Kolb, Besuch bd Duchesne / Walther Krug, 
Zur Chronik der Zeit / Robert Walser, Sieben 
Stüde / R. Gournai, Der Deutsche Kaiser / 
Max Scheler, Der Bourgeois / Friedrich Alfred 
Schmid Noerr, Paestum / Martin Buber, Ereig- 
nisse und£ ; egegnungen / Kurt Wolfenstein, Auf- 



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Leipzig /Verlag der weissen Bücher 



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DIE WEISSEN BLATTER 

SECHSTES HEFT ERSTER JAHRGANG FEBRUAR 1914 



INHALT: ^ 

A. Kolb: Besuch bei Ducnesne 527 



Walther Krug: Zur Chronik der Zeit 543 

Robert Walser: Sieben Stucke 555 

R. Goumai: Der Deutsche Kaiser 565 

Max Scheler: Der Bourgeois 580 

Friedrich Alfred Schmid Noerr: Paestum 603 

Martin Buber: Ereignisse und Begegnungen .... 615 

Kurt Wolfenstein: Aufmachen 621 

Gustav Meyrink: Der Golem 622 



Feststellungen <auf gelbem Papier) 113 —124 

Egmont Seyerlen, Die SAmcrrihfce Schani. Die Ge»<hi<htc eine» 
Knaben / Jean Pauls Persönlichkeit/ zeitgenössische Berichte, 
herausgegeben von B. Behrcnd / Ernst Städter, Der Aufbruch / 
Charles Louis Philippe, Gesammelte Werke / Die Memoiren 
des Herzogs von Saint-Simon / La Poesie Francaise da Mögen» 
Age / Hans Brandenburg, Der moderne Tanz / K. P. Fl5gel, 
Geschichte de» Groteskkomischen / Frftz Maothner, Beiträge 
xa einer Kritik der Sprache / Jakob Baron von Uexfcull: Bau * 
steine zu einer biologischen Weltanschauung / Möhler, Symbolik / 
Die Denkwürdigkeiten des Kardinals von Retz. 



Für unverlangte Manuskripte und Rezensionsexemplare kann 
die Redaktion keine Garantie übernehmen. 

Alle Rechte für sämtliche Beitrage vorbehalten. 

BEZUGSBEDINGUNG hf": 
Einzelne Hefte M 2.-, vierteljährlich M 5.-MiaIbjährlich 
M 10.-, jährlich M 18.- Bei allen Buchhandiu^Si erhältlich. 

COPYRIGHT 194 BV VERLAG DER WEISSEN BÜCHER • LEI P EI O 
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NR. 7 1914 

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B I a t f e r 



Eine Monatsschrift 



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MÄRZ 



halt: 

Rainer Maria Rilke, Puppen / Karl Otten, Mistra; 
aus Albanien / Otto Kaus, Flaubert und Dosto- 
jewski / Gottfried Benn, Ithaka / M. Benemann, 
Drei Gedidite / Henriette Hardenberg, Verse / 
Martin Buber, Ereignisse und Begegnungen / 
Paul Boldt, DerVersudi zu lieben /Oskar Loerke, 
Das Goldbergwerk / Gottfried Kölwel, Vier 
Gedidite / Gustav Meyrink, Der Golem / 

Feststellungen 



Leipzig/Verlag der weissen Bächer 



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DIE WEISSEN BLÄTTER 



SIEBENTES HEFT 1. JAHRGAN O MARZ 1914 



INHALT; 

Rainer Maria Rilke, Puppen < Zu den WaAspuppen 

von Lotte Pritzei) 615 

Karl Otten, Mistra/ aus Albanien 643 

Otto Kaus, Flaubert und Dostojewski 646 

Gottfried Benn, Ithaka 672 

M. Benemann, Drei Gediente 681 

Henriette Hardenberg, Verse 684 

Martin Buber, Ereignisse und Begegnungen 686 

Paul Boldt Der Versuch zu lieben 691 

Oskar Loerke, Das Goldbergwerk 695 

Gottfried Kölwel, Vier Gedichte 717 

Gustav Meyrink, Der Golem 720 

Feststellungen 738 



Die Argonauten. Eine Monatsschrift / Familie / Statistik / Rcik, 
Arthur Schnitzler / Der Einzug des van der Goes / Hago 
von Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen / E.V. 
Bredt, Häßliche Kunst? / Der Dom !n Gefahr / Stefan George, 
Der Stern de« Bunde« / Olaf Gulbranasoo, Fünfzig unver- 
öffentlichte Zeichnungen / Der Blick. Eine Kunstzeitschrift 



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Einzelne Hefte M 2.—, vierteljährlich M 5.—, halbjährlich 
M 10.—, jährlich M 18.— Bei allen Buchhandlungen erhältlich. 

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DIE WEISSEN BLÄTTER 

EINE MONATSSCHRIFT 

ERSTER JAHRGANG 

NR. 5 JANUAR 1914 



AUS AUFZEICHNUNGEN 
DES KARDINALS RAMPOLLA 

Im Sommer vorigen Jahres Obergab mir der Kardinal 
eine Anzahl Schriftstücke seiner Hand »zur beliebigen 
Verwendung nadi meinem Todec. Ich glaube im Sinne 
des großen Mannes zu handeln, der mich durch mehr 
als zwanzig Jahre mit seiner Freundschaft auszeichnete, 
indem ich gerade das folgende Stück seiner Aufzeich' 
nungen jetzt schon, so kurz nach seinem Hingange ver- 
öffentliche, da es mir geeignet scheint, viele schiefe 
Urteile über ihn ins Rechte zu stellen. I. M. Ord. Ben. 

DAS obliviscere populum tuum et domum patris tut konnte ich 
nie recht über mein Herz bringen. Als Italiener liebe ich mein 
Land über die andern, und ich kenne seine Geschichte. Wir haben 
von Österreich immer nur Schlimmes erfahren, so oft es ihm passend 
dünkte, sich um unsere Angelegenheiten zu kümmern. Wenn uns 
aber auch alle Rachegedanken fern liegen, so wird man doch Sym- 
pathien für die Monarchie in Italien vergeblich suchen. Führte Staats- 
raison zu einem Bündnisvertrag wie dem Dreibund, so konnte 
Oportunität dessen Anlaß sein, aber Oportunität ist immer eine 
Politik der Verlegenheit und der fehlenden großen Ziele. Auf ein 
Stabiles wie es das natürliche Volksempfinden ist, wird sich ein 
italienisch-österreichisches Bündnis nie stützen können. Die Öster- 
reicher wirtschafteten mit Beamten und Soldaten in unserem Lande 
wie rechte Barbaren, und solche Brutalität des Subalternen ist es, 
was der italienische Charakter am allerschlechtesten verträgt. Wir 
empfinden ein Bündnis mit Österreich so unnatürlich, wie die Fran- 
zosen das ihre mit Rußland als wider ihre Natur empfinden. Alles 
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424 Aus AufzefaSnungen des Kardinals Rampotta 



legt uns näher, in ein gutes Einvernehmen mit Frankreich und 
Spanien zu kommen, und ein solches Einvernehmen und vielleicht 
mehr als das herzustellen, war unsere leider vergebliche Mühe. Das 
Veto Österreichs gegen meine Wahl, von Preußen unterstützt, er* 
schütterte das Kollegium,- und daß es nachgab bewies mir, daß wir 
in unserer ebenso eigensinnigen wie gefährlichen Politik um die weit* 
liehe Macht, um diese Fiktion des Kirchenstaates, auch schon in 
unserer geistigen Gewalt in Abhängigkeit gekommen sind von Mache- 
ten, die zu beherrschen wir so lange vorgaben, bis wir von ihnen 
beherrscht wurden. In der Politik wirtschaften heute die scheinbaren 
Realitäten schneller ab als ehemals. Wir haben uns in Rom ohne 
bezügliche Kompetenz so lange um die staatlichen Aufgaben der 
Völker gekümmert, bis wir in den Staat einbezogen wurden als 
Staatskirche (welcher Widersinn in dem Doppel worte!)/ wir sind im 
Staate ein Funktionär geworden, nicht viel mehr als die Sicherheit^* 
polizei oder eine sonstige Beamtung. Bismarck hat uns damals noch 
überschätzt, als er zu Crispi im Karlsbad das vom Kriegschiff in 
Civitavecchia sagte. Unsere politische Macht, die wir, d. i. die Kurie 
zu haben glauben, ist nicht viel mehr als ein Intriguieren in Kleinig* 
keiten,- bei wichtigen Anlässen sind wir höchstens ein Dekorations- 
stück — unseres Kostümes wegen und der Ehrwürdigkeit unseres 
Alters. Seit Pius IX. Tode ist es die einzige Aufgabe der kurialen 
Politik, das Gesicht zu retten. Denn wir haben seitdem, wenn es 
auch manchmal anders aussah, nur Niederlagen erlitten. Wir sind 
aber immerhin schon so sehr Bedürfniseinrichtung der Staatsregierungen 
geworden und besonders jener, die noch feudalistisch durchwirkt sind, 
daß man uns, damit wir unser Gesicht bewahren und den Regierungs* 
interessen tauglich bleiben, von Zeit zu Zeit einige Scheingefechte 
gewinnen läßt. Wir stützen, was einmal durchaus nicht unseres Amtes 
war, die Throne, ja sogar die heretischen. Man braucht uns als einen 
Diener und so läßt man uns die Geste. 

Jenes Veto, das meinen verehrten und lieben Freund Sarto auf 
den apostolischen Stuhl brachte, hatte aber noch andere Träger hinter 
sich als die Preußens wegen um den Bestand des Dreibundes be* 
sorgte österreichische Regierung, die ja wohl, wie die Dinge liegen, 
auch mit dem Papste Rampolla fertig geworden wäre wie mit dem 



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Aus Aufzeidßnungen des Kardinals RampofCa 425 



Kardinal hätte der Kardinal als Papst nichts als den platonischen 
Wunsch einer Annäherung an Frankreich gehakt. Ich wollte aber ein 
Mittel anwenden — meine römischen guten Freunde wußten darum 
und also auch Österreich — das effektiver gewirkt hätte in der Rieh» 
tung der Verwirklichung meiner Absichten mit Frankreich, die von 
einem weiteren Plane eingeschlossen waren. Ich hätte als kirchlicher 
Souverän mit dem Königreich Italien Frieden gemacht auf der Basis 
des freiwilligen Verzichtes auf die ehemals der römischen Kirche ge- 
hörigen Staaten und Städte. Auch Avignon hätte ich an Frankreich 
offiziell herausgegeben. Ich weiß, ich hätte damit der Kurie das ein* 
zige Instrument ihrer Politik genommen, aber ich hätte ihre Politik 
damit ehrlich gemacht und sie von der Doppelzüngigkeit befreit. Die 
der Kirche unwürdige und ihr Ansehen schädigende Komödie des 
römischen Gefangenen hätte ein Ende gehabt und wir wären damit 
wieder auf den Weg gekommen, der uns zum geistigen Imperium 
geführt hätte, das allein uns von Gott dem Allmächtigen gegeben 
ist/ denn unser irdischer Besitz ist ein Geschenk des Bösen. 

Ich weiß, man nannte mich ehrgeizig und einen schlauen Fuchs,- 
man vermeint mich grollend und verbittert seit jenem Veto. Es war 
mein Irrtum, daß ich mich von Gott zu dem Werke bestimmt glaubte. 
Er hat mich wohl zu schwach dafür befunden und es einem andern 
nacb mir zu tun aufgehoben, und ich füge mich seinem Ratschlüsse. 
Ich habe was ich tat und dachte zu allen Zeiten meines Lebens so 
wenig als ein nur gerade durch mich Getanes und Gedachtes emp- 
funden, fühlte mich immer so vollkommen als ein Werkzeug in der 
Hand meines Heilands, daß mir auch ein Abwehren oder Wider* 
legen welcher Meinungen über mich nicht zuzustehen schien. Ich kann 
es vor dem Allmächtigen bezeugen, der mich bald vor seinen Richter- 
stuhl rufen wird, daß ich nie in meinen reiferen Jahren eine Be- 
leidigung oder Kränkung erfahren habe, nicht aus Stolz, sondern aus 
der uns gebührenden Bescheidenheit in Gott. Ich lebte in einem Auf- 
trag und in der Pflicht, ihn so gut ich konnte auszuführen. Ich wurde 
geheißen, und des Heißenden Stimme ging weiter in meine Stimme. 
Nichts als das. Ich sah nie mein Leben als mein eigenes an, son- 
dern als ein mir mit allen seinen Inhalten von Gott gegebenes. 
Umstände des Tages zwingen uns manchmal ein Verhalten auf, das 



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426 Aus AufzeiaSnungen des Kardinals Rampoffa 

als bewußt persönlich beeindruckt. Es ist aber eine Täuschung. Daß 
wir uns von Fall zu Fall frei zu entscheiden scheinen, läßt uns auf 
Gründe schließen oder Ursachen annehmen, die in einem Person- 
bewußtsein und einem danach gerichteten freien Willen liegen. Aber 
kein » freier Wille« bestimmt im Geringsten was wir tun. Wir können 
nichts anderes als daß wir unsern »freien Willen« üben im Dienste 
und zum Ruhme dessen, dem wir diese Täuschung danken und der 
freier ist als wir. Ist aber einer freier als wir, wie es Gott ist, so 
sind wir nicht frei, denn es gibt hier keine Unterschiede des Grades. 
Gott allein ist als ein reiner Geist frei. 

Ich muß mich schuldig bekennen, die intransigente Politik des Vati- 
kans einmal mehr als gefördert zu haben. Es schien mir alles ge- 
heiligt unantastbar, worauf je die Hand der Kirche geruht, was je 
in der Kirche beschlossen war. Ich sprach wie alle andern von den 
»Räubern«, und in jenen meinen Plan schloß sich ein, daß das 
Königreich Italien unsere Rechte anerkenne und herausgebe was unser 
war. Woran sich im selben Akte die Schenkung unseres Besitzes 
an Italien geschlossen hätte. Ich bestand in den damals geführten 
Verhandlungen mit den italienischen Staatsmännern und dem fran- 
zösischen Gesandten auf dieser Form: erst zurückgeben und damit 
anerkennen, dann schenken. Ich weiß, daß manche meiner Freunde 
noch immer an dieser Bedingung festhalten: ich kann ihnen sagen, 
sie wird nie erfüllt werden. Wir haben den rechten Augenblick ver- 
säumt/ heute ist es zu spät dafür. Und ginge man je darauf ein, 
so würde man es mit Opfern, die von uns verlangt würden, zu 
kompensieren suchen, die vielleicht weit verderblicher in ihren Folgen 
wären als der Entschluß: zu verzichten ohne vorhergehende Rück- 
gabe. Wir sollten vor dem Handelsgeschäft, das heutige Politik ist, 
immer auf der Hut sein. Wo die andern mit der bei ihnen kurrenten 
Münze zahlen, die ohne Kurs ist bei uns, zahlen wir mit dem 
Blute, das unser Herr für uns vergossen hat. Wir würden uns bei 
jedem politischen Geschäfte zu denen setzen, die unter dem Kreuze 
um das Kleid unseres Heilands würfeln. 

Wir wissen es, daß man uns keinen schlimmeren Streich spielen 
könnte, als die Herstellung des Kirchenstaates, der weltlichen Macht. 
Wir würden alle Macht in den weltlichen Dingen und über sie ganz 



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Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampoßa 427 

verlieren, wären wir selber in sie so materiell einbezogen. Wir 
wissen aber auch in Rom, daß man nicht daran denkt, und nie daran 
denken wird. Leicht spielen wir also die Intransigenten, weil wir 
mehr als hoffen, weil wir wissen, daß man uns nicht erhört und 
beim Worte nimmt. Ist es also würdig, den gefangenen König zu 
spielen? Ich stehe am Ende meines Lebens, die Menschen sind alle 
bald weit hinter mir und vor mir wächst Gott in seiner unendlichen 
Höhe auf. Ich spreche nichts Leichtfertiges, aber es steht mir altem 
Manne vor dem Hingange zu, von menschlicher Verstrickung frei 
zu sagen, was in meinem tiefsten Glauben gewurzelt ist . . . 

Das Io sono la tradizione Pius IX. macht historische Erwägungen 
überflüssig/ mehr noch tut dies als dieses Wort <das den der es 
aussprach den Sonnenpapst nennen ließe, wäre er nicht eine dämo- 
nische Macht gewesen) ein einsichtiger Satz Newmans, der lautet: 
»Wer da sagt, die Kirche vermöge nur unter gewissen Voraus- 
setzungen zu leben, der unterwirft sie irdischen Bedingungen. Die 
Kirche ist nicht das Geschöpf von Ort und Zeit, von weltlicher Politik 
und populären Launen. Unser Herr und Heiland erhält sie durch 
weltliche Mittel, aber diese Mittel sind nur so lange nötig als Er sie 
verleiht. Zieht Er sie zurück, so sind sie es nicht mehr. Die welt- 
liche Macht ist während eines sehr langen Zeitraumes der Schutz 
der Unabhängigkeit der Kirche gewesen, aber ebenso wie die Bischöfe 
die ihre seit langer Zeit verloren haben, und deshalb nicht weniger 
Bischöfe sind, ebenso würde das von ihrem Oberhaupte gelten, 
sollte er die seinige verlieren.« Und in diesem Briefe an den Lord 
Acton: »Keine kirchliche Lehre kann strenggenommen durch historische 
Evidenz bewiesen, andrerseits aber auch nicht einfach durch sie 
widerlegt werden.« 

Der Kirchenstaat und sein Herrscher waren legitim in einer Zeit, 
wo alle Macht feudale Form annahm, wenn sie überhaupt Macht 
sein wollte. Die staatlichen Formen änderten sich, zerfielen, bildeten 
sich neu, nach sozialen, nach nationalen Gesichtspunkten, was auch 
den Begriff der Souveränität änderte. Der Kirchenstaat war feudal 
oder er war nicht. Und als er nicht mehr war (weil er sich aus seiner 
Natur nicht ändern konnte), da machte er in der Fiktion seiner 
noch immer währenden staatlichen Macht einige Millionen Bürger zu 



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428 Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampoda 



Bürgern zweiter Klasse, ließ er die alte diminutio capitis des 
römischen Rechtes wieder seltsam aufleben. Generationen wurden 
vor die Alternative gestellt, entweder ihr Vaterland zu vergessen 
oder aus der Kirche ausgeschlossen zu werden. Das ging so lange, 
bis man merkte, daß das Beichtkind den Pfarrer wohl in allen reli- 
giösen Dingen achtete, ihm aber in politischen die Türe wies. So 
erlebten wir es bei den lebhaften und politisch feinfühligen Franzosen 
und Italienern^ nur bei den Deutschen, die einen politischen Ver- 
stand noch nicht haben und in Österreich, das nur einen subalternen 
Beamtenverstand hat, erlebten wir das weniger oder gar nicht. Hier 
machten sogenannte klerikale Parteien ihre kleinen Geschäfte mit 
unserem großen Irrtum. Die Kurie versuchte es, auf dem politisch 
falschen Weg, den sie ging, mit subtilen Unterscheidungen. Aber das 
non expedit hatte endgültig verloren. Es ist nicht zu ermessen, wie 
groß der Verlust ist, den die Kirche in der antiklerikalen Bewegung, 
die 1870 einsetzte, erlitten hat und noch heute erleidet. Im über- 
tragenen Sinn wird das Kind viel öfter mit dem Bade ausgeschüttet 
als es im wörtlichen Sinn passieren mag. Die klerikalen Parteien 
verloren eine Schlacht nach der andern, nicht in einem Religionskriege, 
wie gesagt wurde, sondern in einem politischen Streit. Und fiele es 
heute in einer spaßhaften Laune dem König Victor Emmanuel III. 
ein, Pius X. die Schlüssel Roms auszuliefern, so fände sich der 
Papst andern Tages in der Lage, sich mit Kanonen gegen die römische 
Revolution zu verteidigen. Die Laune des Königs ist nicht zu be- 
fürchten, denn man will dort nicht den Untergang der Kirche, die 
man braucht/ denn die Kurie findet sich praktisch mit dem Zustande 
der Dinge ab, den sie theoretisch verdammt. In wachsender Ent- 
fernung von Rom gewinnt nur diese akademische Haltung eine fatale 
Bedeutung, die sie bei uns im eigenen Lande gar nicht hat. Die 
»Gefangenschaft« des Papstes hält die nicht-italienischen Katholiken 
in einer Nervosität, der je nach Bedarf geschickt nachgeholfen wird 
von den sogenannten katholischen Politikern jener Länder, die mit 
diesem Specke ihre Mäuse fangen. Und Rom macht keinen Ein- 
spruch, denn es braucht wie alle heutigen Regierungen, große und 
kleine, vor allem eines: das Prestige. 

Es liegt im tiefsten Wesen der päpstlichen Politik seit 1870, daß 



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Aus Aufzeidbnungen des Kardinals Rampoffa 



429 



ihre Äußerungen nicht bedeutender sind/ es liegt an ihrer Zwie- 
spältigkeit, daß sie nichts ist als Intrigue oder Schein. Die päpstliche 
Politik kann weder national, nodi sozial noch sonstwie menschlich 
interessiert, also Politik im heutigen Sinne sein/ was sie treibt und 
tut, sind Kartenkunststücke der Geschicklichkeit, mit denen die rö- 
mischen Bureaus eine ernste Zeit verspielen. Ich nenne die römische 
Politik nicht schlecht, weil ich eine bessere weiß. Sie kann, wenn 
überhaupt sein, so nicht anders sein als sie ist: der Begriff der 
Politik definiert sich für Rom überhaupt als ein schlechtes, denn die 
Kurie hat nichts zu bieten und nichts zu nehmen,- sie ist keine 
Wägerin streitender Interessen, also kein politischer Faktor, so lange 
sie sich selbst in den Interessenstreit materiellen Besitzes stellt. Sie 
kann, mit ihrem Anspruch auf die weltliche Macht, selbst zu den 
sublimsten Steigerungen menschlicher Interessen wie Vaterlandsliebe, 
nationaler Stolz, keinerlei Verhalten haben, weder ein förderndes 
noch ein wehrendes. Aber Rom tut so, als ob es hier vermöchte, 
um ein Prestige zu wahren, und die wirklichen politischen Mächte 
tun der Kurie den Gefallen, leisten ihr den kleinen Gegendienst, 
ihr diesen Wahn immer dann zu lassen, wenn sie irgend einen Vor- 
teil dabei finden. Man gönnt ihr vor dem zuschauenden Publikum 
einen Schritt vorwärts, um sie dafür heimlich drei Schritte zurück zu 
drängen, wenn es ernst wird. Seit vierzig Jahren benutzt die Kurie 
das gleiche Spiel Karten, dessen Trümpfe sie alle gezeichnet hat,- 
die Mächte — wir wollen von ihrem Kartenspiel untereinander nichts 
sagen — tun so als merkten sie den kleinen Betrug nicht und lassen 
sie die kleinen Einsätze gewinnen, um die allein es Rom zu spielen 
gestattet wird. 

Wenn wir uns einiger Taten solcher römischer »Politik« erinnern, 
so soll niemanden wundern, daß sie von nicht größerer Importanz 
sind, ja daß sie kleinlich sind und sein müssen, weil kein Ziel da 
ist. Jede Äußerung der Kurie zu den politischen Angelegenheiten 
wird so lange der effektiven Bedeutung entbehren als man vor aller 
Welt etwas zu wollen behauptet, dessen Erfüllung man heimlich 
fürchtet und dessen Nichterfüllung man sicher ist. In den römischen 
Seminaren wird immer noch als ein Rechtssatz gelehrt, was Suarez 
aufgestellt hat und was, um in der Geschichte nicht so weit zurück^ 



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430 Aus AufzeiSnungen des Kardinafs Rampoßa 



zugehen, Antonelli 1870 im Namen Pius IX. an die französische 
Regierung schrieb: »Die Kirche hat die Macht, zu richten über die 
Moralität und die Gerechtigkeit aller Handlungen, innerer wie 
äußerer, in ihrer Beziehung zu den natürlichen und göttlichen Ge- 
setzen. Da aber jede Handlung, ob sie nun im Auftrag einer 
höchsten Gewalt oder aus freien Stücken getan wird, von diesem 
Charakter der Moralität und Gerechtigkeit nicht ausgenommen wer* 
den kann, so ergibt sich, daß der Rechtsspruch der Kirche sich auf 
alle Dinge ausdehnt, denen diese Moralität sich verbindet.« Das 
Recht kam ihm zu, aber Pius X. hat 1904 und 1905 Loubet nicht 
abgesetzt. Was aber bedeutet eine politische Macht, die sich selbst 
immer dann ins Bedeutungslose begibt, wenn ihr das Handeln ob-» 
liegt? Die Rechte Roms über die weltlichen Herren der Erde sind 
für diese ungefährlich geworden, nicht weniger ungefährlich, wollen 
wir hoffen, als es die Rechte Roms für den Bestand des himmlischen 
Reiches sind nach dem Hirtenbrief des Kardinal -Erzbischofes von 
Salzburg <2. 2. 1901) in dem es heißt: »Der Himmel gestaltet, daß 
die Erde ihm ihre Befehle gibt/ der Diener ist in den Richter ver- 
wandelt und der Herr im Himmel billigt den Urteilsspruch, den 
jener über die Erde getan.« — Wir erinnern uns des Tages, da der 
Heilige Stuhl gegen die »Beleidigung« protestierte, die ihm Loubet 
damit antat, daß er den König von Italien in Rom besuchte. Ein 
paar Tage darauf wurde Kardinal Svampa nach Bologna, einer wie 
Rom ehmals päpstlichen Stadt, geschickt, um demselben König die 
Grüße des Papstes zu überbringen. Warum ist es bloß den kirch- 
lichen Fürsten erlaubt, den italienischen König zu begrüßen und den 
weltlichen Fürsten nicht? Warum schreckt man damit z. B. den Kaiser 
von Österreich, der nicht nach dem königlichen Italien kommen darf, 
was vielleicht für unsere Stammesgenossen in der Monarchie von 
Nutzen sein könnte? Svampa saß bei der Galatafel zur Rechten des 
Königs und war ganz Untertan, wie er an den Grafen Ferrari, den 
Präfekten von Bologna, schrieb. Wir wissen, daß man auf Bologna 
so wenig verzichtet hat wie auf Avignon: das steht in der offiziellen 
Eidesformel, mit welcher sich die neuen Kardinäle verpflichten »bis 
auf den letzten Tropfen ihres Blutes die Rechte der Kirche auf das 
zeitliche Patrimonium des Heiligen Stuhles zu verteidigen.« Diesen 



Aus Aufzeicßnungen des Kardinals Rampoüa 431 



Eid hat Svampa geschworen, und ich habe ihn geschworen. Möglich, 
daß Svampa die Rechte der Kirche bis auf den letzten Tropfen 
Bordeaux in seinem Glase leben ließ, als er mit dem König von 
Italien anstieß. Keiner von uns hat es anders getan. Und Pius X. 
ließ einen Altar beseitigen, um Platz zu schaffen für das Grabmal 
des exkommunizierten Sohnes des »Diebes« Victor Emmanuel. 
Mgr Borgomanero weiht in Konstantinopel eine italienische Kirche 
in Gegenwart des italienischen Gesandten und sagt, er sei glücklich, 
als Priester wie als Italiener, die Zeremonie im Zeichen des Glaubens 
und des Patriotismus zu vollziehen durch die Vereinigung der beiden 
Mächte. Der Kardinal Lorenzetti zieht in Lucca ein und befiehlt der 
Militärmusik, die ihn empfängt, den Königsmarsch zu spielen. Der 
Kardinal Cavallieri begibt sich in Venedig in die neuen Procuratien, 
um den König zu begrüßen. Pius X. hebt die Verordnung von 1870 
auf, nach der im Vatikan die italienische Fahne nicht gehißt werden 
darf — aber es sei genug dieser Dinge. Wir haben in unserem po- 
litischen System die Einheit unseres Handelns und unseres Redens 
verloren aus Eigensinn, einen Weg zu verfolgen, der uns in eine 
Sackgasse geführt hat, weitab von allem Leben. Derweil weidet 
unsre uns anvertraute Herde wer weiß wo. Die Kirche hat ihr 
Leben von der Christenheit, nicht aber ist es umgekehrt/ denn bevor 
die Kirche war, war die Christenheit/ und bevor Wort und Lehre 
war, war die Liebe. Die Kirche ist ein Lebendiges und nicht auf 
den Buchstaben begründet. Sie hat an eines Jeden Leben teil, weil 
Jeder Teil an ihr hat. Der ausgezeichnete Möhler sagte: »Die innere 
Lebenseinheit muß bewahrt werden, sonst wäre sie nicht immer die 
selbe christliche Kirche, aber das selbe Bewußtsein entwickelt, das 
selbe Leben entfaltet sich immer mehr/ wird bestimmter, sich selbst 
immer klarer: die Kirche gelangt zum Mannesalter Christi«. Keiner, 
hat er nur die Liebe und damit auch die Wahrheit, stellt sich außer*- 
halb die wahre, alleinige und allgemeine Kirche, der sich ihrem zeit- 
lichen Verhalten weltlichen Dingen gegenüber mit einem Zweifel 
daran unterwirft, wie ich es tat, einem Zweifel, ob dieses Verhalten 
zum Heile der Christenheit ist. Wir unterwerfen uns, aber löschen 
damit den Zweifel nicht aus, der aus unserer Liebe sprang und 
den wir um unserer Liebe willen bekennen müssen. In Rom kennt 



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432 



Aus AuJzeidSnungen des Kardinals Rampoßa 



man meine Ansichten zur Frage der weltlichen Macht/ ich habe nie 
ein Hehl daraus gemacht/ sollten auch die nicht-kirchlichen Christen 
und die Feinde der Christenheit davon erfahren, so halte ich dies 
für ein geringeres Übel als das durch Verschweigen. Ich werde was 
ich tat vor Gott verantworten können. Es wird meiner Sünden ge- 
ringste sein. 



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Tram WetftC Ntut Gtdüttt 433 



NEUE GEDICHTE 

Karf Kraus zugeeignet 

HEKUBA 

Mandimal geht sie durch die Nacht der Erde 
Sie, das schwerste ärmste Herz der Erde 
Wehet langsam unter Laub und Sternen, 
Weht durch Weg und Tür und Atem wandern, 
Alte Mutter, elendste der Mütter. 

So viel Mildi war einst in diesen Brüsten, 

So viel Söhne gab es zu betreuen. 

Weh dahin! ~ Nun weht sie nachts auf Erden, 

Alte Mutter, Kern der Welt, erloschen, 

Wie ein kalter Stern sich weiterwälzet. 

Linter Stern und Laub weht sie auf Erden, 
Nachts durch tausend ausgelöschte Zimmer, 
Wo die Mütter schlafen, junge Weiber, 
Weht vorüber an den Gitterbetten 
Und dem hellen runden Schlaf der Kinder. 

Manchmal hält am Haupt sie eines Bettes, 
Und sie sieht sich um mit solchem Wehe, 
Sie, ein dürftiger Wind von Schmerz gestaltet, 
Daß der Schmerz in ihr Gestalt erst findet, 
Und das Licht in toten Lampen weinet. 

Und die Frauen steigen aus den Betten, 
Wie sie fortweht ~~ nackten schweren Schrittes . . 
Sitzen lange an dem Schlaf der Kinder 
Schauen langsam in die Zimmertrübe 
Tränen habend unbegriffhen Wehes. 



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434 



Tranz Werfef, Neue GetfiSte 



EINES ALTEN LEHRERS STIMME IM TRAUM 

Durch einen Traum der Straße oder gar, 

Durch eine Straße im Traum 

Von fern kam deine Stimme wunderbar. 
Ich hörte kaum, groß zogen durch den Raum 
Die goldenen Begräbnisse, Turm und Baum 
Traten im Himmel ein — und tiefer Schaum 
Von Winter, Blum' und Damen regnete mich ein. 
In einem Traum der Straße hörte ich dich sein 
Im Straßentraum die Stimme aus begrabnem Jahr, 
Die Stimme, die einmal in einer alten Wohnung war. 

Ich hörte deine Stimm' und wie du heißt 

Und dachte an des Vaters Gestalt, 

Der mit dir sprach und dachte an der Ahnen Geist, 

Die unter Sternen reisen, mild und kalt, 

Und daß auch mich der Wind im Kreise reißt, 

Im Traum der Straße, die mein Vater vor mir wallt. 

Im Straßentraum dacht ich an einen Bart, 

An eine Hand, vereist und brauner Art. 

An ungeheure Worte dacht ich: war und alt. 

Im Straßentraum, da Gold vorüberfuhr, 

Und liebend ein Sonntagswind, 

Von fern erfuhr ich deine Spur, 

Und drehte mich nicht um, vom Träumen blind. 

Ich weiß nicht, wo du wandelst, weiß und nicht geschwind, 

Und ob du bist, oder im Traume nur. 

Doch von den Kerzen lind, die in mir sind. 

Hub eine in der Kirche an und ist entbrannt, 

Und ein Gefühl verloren und noch unbenannt 

Begann, o Straßentraum, im Wind unterm Azur. 



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Tram WtrfiC Ntut Gtdidtl 



DIE PROZESSION 

Aus dem eisern aufgebauten Blauen, 
Bricht ein Taumel ausgespannter Fahnen, 
Winde schmachten und die Kerzen tauen 
Doch die Fenster, die das Wunder ahnen, 
Sind verhangen von Herzen und Tüchern. 

Ja voran wird uns der Herr getragen, 
Seine Wunden hat er längst verwunden 
Und er lacht verrückt durch diese Stunden, 
Bauern singen hoch — doch aufgeschlagen 
Ungeheuern Blicks der Priester schreitet, in 
den Händen die Monstranz. 

Über Stiegen in die Kirche tauchen 

Tausend Betende und knieen wild. 

Kerzenwirrwarr bricht aus blauen Rauchen, 

Und es klingelt unter einem Bild. 

Da — Und Horn und Orgel brüllen unter Bögen. 

Und es ist geschehn — Ein letztes Weinen 
Wirft sich über abgemühte Brüste, 
Und der Chor von seiner kleinen Küste 
Schmeißt sich in des Himmels Diadem. 
Die Tenöre rasen durch die Runde. 
Weiß im Hängekieidchen knien die Kleinen. 
Und es sinken aus dem Kindermunde 
Süß Narzissen und Jerusalem. 



Die 



436 



Tranz WerfeC Neue Ge<fi<6te 



DER HELD 

Da kommt er mit ruhigen Augen. 

Im Haar den Strohkranz der Vernichtung, 

Und um den Mund gefaltet 

Lächelnd den Unsinn des Endes. 

Seht, wie er in der Feuersbrunst 
Steht auf der Leiter und rettet! 
Wie er aus dem schwarzen Wasser 
Die süße Ertrunkene trägt! 

Ewig fährt er ohne Schwere 
Hoch durch den dichten Novemberabend, 
Und seine zornigen Zähne blitzen 
Wild die Verwesung an. 

Und er stößt sich ab und ist leicht, 
Und wärmt die vergehenden Herzen 
An seinem Herzen und jubelt 
Dem maßlosen Tod ins Gesicht. 

Und ist so wie Gott, der Jüngling, 
Der gewölbten Busens sich schleudert, 
Von Trapez zu Trapez 
Himmlisch durchs furchtbare Blau. 



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Tranz WerfeC Neue Gedic6te 



437 



DER GUTE MENSCH 

Sein ist die Kraft, das Regiment der Sterne, 
Er hält die Welt, wie eine Nuß in Fäusten 
Unsterblich schlingt sich Lachen um sein Antlitz, 
Krieg ist sein Wesen und Triumph sein Schritt. 

Und wo er ist und seine Hände breitet, 
Und wo sein Ruf tyrannisch niederdonnert, 
Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung, 
Und alle Dinge werden Gott und eins. 

Unüberwindlich sind der Guten Tränen, 
Baustoff der Welt und Wasser der Gebilde. 
Wo seine guten Tränen niedersinken 
Verzehrt sich jede Form und kommt zu sich. 

Gar keine Wut ist seiner zu vergleichen. 
Er steht im Scheiterhaufen seines Lebens, 
Und ihm zu Füßen ringelt sidi verloren, 
Der Teufel, ein zertretner Feuerwurm. 

Und fährt er hin, dann bleiben ihm zur Seite, 
Zwei Engel, die das Haupt in Sphären tauchen, 
Und brüllen jubelnd unter Gold und Feuer 
Und schlagen donnernd ihre Schilde an. 



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438 



Tranz WeifeC Neue GediSte 



DAS JENSEITS 

Wir kommen wieder, wir kehren heim 
In dich, du gute Mutter unser. 
Schon hängt uns, hängt uns, über die Stirn, 
Mild über die Stirn des Todes Flieder. 

Wo fahren die feurigen Wolken hin, 
Wo tanzen die mutigen Flüsse her, 
Was will der Meere Spiel, 
Das Laub an der Wand des Himmels gerankt? 

Nun kehren wir heim, nun kehren wir ein, 
Mehr ist als Dasein — Gewesen sein, 
Stark ist der Tod, doch siehe das stärkste, 
Stärker als Tod ist Musik. 

In unsere Mutter kehren wir ein . . . 
Gott fährt über uns, der gute Mann, 
Da heben wir an und heben uns auf 
Arien selige schweben wir hin. 

Und hängen im Herzen der Sterblichen, 
Und locken die ewigen Tränen, 
Träne, klarer Planet! Hier leben wir, 
Leben in Gnade, sind nichts als Lied. 



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Tranz WerfeC Am GtdüAit 439 



EIN ABENDGESANG 

Nun uns zu Häupten die Fledermäuse und graue Adler streichen,, 
Und wir im Dunste einer vergehenden Wiese stehn, 
Geschiehts, daß atemeins wir uns flüchtige Hände reichen, 
Eh wir ins Gestrüpp und ins Licht des Schlafes eingehn. 

Das ist die Stunde, wo alles erwacht und letztes Erstaunen, 
In unsere wirr überwachsenen Herzen fällt, 
Daß wir sind — und daß gute und böse Launen 
Des Unverständlichen uns in die Welt gestellt! 

Wer hat mich gewollt, daß ich Bosheit im Busen wälze, 

Wer hat es gefugt, daß mich Güte süß überschwemmt, 

Wer gab mir die Demut — und wer mir den Stolz und die Stelze, 

Wer hat es vermocht, daß ich wandle mir selber so fremd? 

Und wie uns zu Häupten verderbliche Vögel jagen, 
Wir trüben uns alle und werden leichter und klein, 
Und sinken wir hin, so regnen von ziehenden Tagen 
Ferne Gefühle unseren Odem eins. 

Da schwebt das Schiff im Schaume der Schrauben wieder 
Eh unser Auge ins Leere hinüberreift. 
Seligkeit naht — wie wenn schon erlöschende Lider, 
Süß die unmenschliche Lippe des Dichters streift. 



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440 



Tranz WerfeC Neu* GediSte 



TEMPEL-TRAUM 

Wenn die Stunde saust, 
Und die Frühe säumt, 
Wacht der Sdiläfer schwer 
Wie Ertrunkner auf. 

Schlamm weilt auf der Stirn, 
Und ins Haargewirr 
Flechten Tang und Gras 
Braunen Bettelkranz. 

Und es ist ein Haus 
Voll von Sang und Hall 
Lampe lebt in Rauch 
Über Treppen hin. 

Eine Mutter geht . . . 
Und er weiß nicht wo, 
Duft und Stimme wir 
In der Höhe süß. 

Doch ein Priester ernst 
Schreitet in die Fern' 
Seinem Stabe nach, 
Goldnen Vogelknauf. 

Und Vestalin sitzt 
Bei dem Flammentier, 
Springt ein Wind herein, 
Hütet sie den Schoß. 

Wo der Tempelbau 
Oben offen ist 
Schwebt ein Adler groß 
Unterm Morgenmeer. 

Und die Schläferstirn 
Löset ein Gesang, 
Und das Herze wächst 
Mit der Flut des Nils. 



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Tran z WerfirC Neue GediaSte 



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MITTERNACHTSSPRUCH 

Fühle du zur Stunde dieser Nadit 

Dich zur Achse aller Welt gemacht 

Pocht nicht Hekuba in deinem Blut 

Ist die Träne die dein Auge tut, 

Nicht der Trank der Tränen, je geweint? 

Fühl dein Herz als Mühle alier Zeit 

Mühlrad schäumt im Strom mit Riesigkeit, 

Strom, der strömt und doch zu strömen scheint! 

Fremdes fühl, das ewig aus dir bricht, 

Fernsten Sterns auf deinem Nachtgesicht. 

Tram Werfe f. 



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Martin Bußen Ereignisse und Begegnungen 



EREIGNISSE UND BEGEGNUNGEN 

1. AUS EINEM GESPRÄCH 

...Du nimmst irgend etwas wahr,- etwa diesen Käfer, der eben 
an deinem Fuß vorüberkriecht. Was tust du? Du siehst von ihm 
gerade so viel, als nötig ist, um ihn, wie man sagt, als das zu er- 
kennen was er ist, das heißt um festzustellen, mit Welmen andern 
dir »bekannten« Erscheinungen er mehrere deutliche Eigenschaften 
gemeinsam hat/ und nun registrierst du ihn: »das ist ein Käfer«, 
oder, wenn du bewanderter bist, gibst du ihm den Sondernamen 
seiner Familie, und er ist für dich erledigt. Es kostet dich wenig 
Zeit und Mühe ihn zu erledigen, nicht wahr? Aber sieh, ich habe 
ihn aufgehoben/ willst du ihn nicht auf deine Hand nehmen? Und 
nun schau ihn an, schau ihn wirklich an, nicht mit den Augen allein, 
sondern mit aller wahrnehmenden Kraft deiner Sinnlichkeit, deiner 
Einbildung, deiner Person: taugt dir da dein Wissen noch? Du emp* 
findest, daß er sich bewegt, daß er lebt, daß er einen Willen, daß 
er eine Welt hat. Ja, das alles kannst du, wenn du dich damit be* 
scheiden willst, registrieren und bist wieder einmal fertig. Aber be- 
scheide dich nicht/ halte stand: was taugt es dir, daß du »weißt«, 
was Bewegung, was Leben, was Wille, was Welt ist? Du gibst dir 
die Definitionen an: eine physikalische, eine biologische, eine psycho- 
logische, eine philosophische gar. Hast du mehr getan, als Worte 
durch Worte zu erklären, Geheimnis auf Geheimnis zu beziehen? 
Aber sage dem Wissen, sage der Sprache ab. Sei als wäre die 
Welt in dieser Stunde geboren und selber neu begegnetest du diesem 
Neuen da, neu er dir wie du ihm. Als wäret ihr so wie ihr seid 
ins Sein hineingeboren, beziehungslos, wortlos und wunderbar. Du 
weißt nichts von Bewegung, aber du siehst den Bewegten/ du weißt 
nichts von Leben, aber du fühlst den Lebenden/ du weißt nichts von 



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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 443 



Willen, aber du neigst dich zum Wollenden/ du weißt nichts von 
Welt, aber die junge Welt umfängt dich und ihn. Die Glodten der 
Sprache verklangen in der Ferne, die Laternen des Wissens sind 
längst erloschen: halte der Stille, halte dem neuen Tag stand. Das 
Koordinatensystem der Beziehungen ist hinweggetilgt: du kannst nicht 
mehr orientieren. Nimm das Wesen, das du zwischen den Fingern 
hältst, mit deinem schwingenden Sinn auf und an/ gewahre es mit 
deiner Bewegung wie du es mit deinem Blick gewahrst, gewahre es 
in ihm wie du es außer ihm gewahrst, gewahre es als deine Form 
wie du es als deinen Inhalt gewahrst, gewahre seine Einzigkeit und 
seine Allheit: realisiere es . . . Aber jetzt — diese Anstrengung, diese 
armselige, gewaltige, stemmend greifende Anstrengung, die er macht, 
um sich zu befreien: erkennst du sie, erkennst du sie wieder? Wie 
war es doch, an jenem Tage deiner Erschütterung, als du dich ge« 
fangen entdecktest und ausbrächest? Schaudert es dich nicht? Nimmt 
dich nicht Schrecken und die Entzückung hin? Laß ihn los, sieh ihm 
nach, erstaune über ihn: das ist Bewegung, das ist Leben, das ist 
Wille, das ist Welt. 

2. DER ALTAR 

Das ist der Altar des Geistes im Abendland, einst aufgerichtet 
durch den Meister Matthias Grünewald in einer elsässischen Kloster« 
kirche und jetzt in einer andern elsässischen Klosterkirche zu schauen, 
aber allen Kirchen und aller Kirche übermächtig wie das Wort des 
Meisters Eckhart, der zwei Jahrhunderte vor ihm in den elsässischen 
Klöstern predigte. Diese beiden, Eckhart und Matthias, sind Brüder 
und ihre Lehren sind verschwistert. Aber Grünewald lehrt in der 
Sprache des Farbenwunders, die kein Deutscher vor und nach ihm 
geredet hat. 

Das ist der Altar des Geistes im Abendland und Kolmar ist groß 
wie Benares. Aber nur der Pilger, der in dieser Sprache berufen 
wurde, findet wahrhaften Einlaß. 

Wie alle großen alten Gebilde ist der Altar von unserer Zeit <in 
ihren ersten Tagen) auseinandergenommen worden. Als er noch ganz 
war, sah man ihn, da man zuerst vor ihn trat, geschlossen und auf 
den geschlossenen Flügeln die Kreuzigung. 



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444 



Martin Süßer, Ereignisse und Begegnungen 



Auf diesem Bilde ist ein Christus mit siechem Marterleib und 
aufgereckten Fingern der angenagelten Hände vor die Nacht der 
Welt gestellt und ihm zur Seite ein roter Täufer, der wie ein gi- 
gantischer Marktschreier auf ihn zeigt und seinen Spruch hersagt, 
und zur andern Seite ein Jünger, schwankend und verweht wie ein 
Irrwisch, und vor diesem zwei Frauen, die zwei Frauen der Erde, 
die zwei Seelen der Erde, die stehende Maria und die knieende 
Magdalena. 

Mariens Augen sind zugetan, Magdalenens Augen sind geöffnet. 
Mariens fahle Hände sind starr ineinander gepreßt und ohne Einzel- 
heit, Magdalenens blutdurchschimmerte Hände sind wild verschränkt, 
daß jeder Finger hervortritt wie ein junges Tier. Auf Marien ent- 
schwindet, was an Armein, über der Brust, am Kleidsaum Farbe 
ist, vor dem ungeheuren, tödlichen Weiß des Mantels, der sie, ein- 
deutig wie ein Leichentuch, umdeckt. An Magdalenen ist kein Fleck- 
chen Leibes und Gewandes, aus dem nicht Farbe riefe und sänge/ 
ihr hellrotes Kleid ist von tiefroter Schnur gegürtet, ein goldnes Gelb 
antwortet der strömenden Blondheit ihrer Haare, und noch der dunkle 
Schleier schillert. Sie ist der vielfältigen Farbigkeit angelobt wie Maria 
der einigen Farblosigkeit/ aber ihre Buntheit ist nicht vom Sinn ge- 
bunden, und Mariens Weiße ist dem Leben entsondert. Diese Zwei 
sind die zwei Seelen, keine von beiden ist der Geist der Erde. Vor 
der Nacht der Welt leuchten sie zu Füßen des Gekreuzigten in 
verschiedner und doch verwandter Geberde, als die Frage des 
Menschen. 

Dann öffnen sich die Flügel und stellen sich mit ihrer Rückwand 
zu beiden Seiten der inneren. Das Herz des Altars blättert sich auf. 
Und so ist es zu lesen: 

Zur Linken die Verkündigung. Die Verkündigung der Antwort. 

In der Mitte die Geburt. Da glüht auf kristallnem Gebirge der 
Morgen der Welt, unter ihm sitzt die Jungfrau mit dem Kinde, und 
zu höchst darüber entStürzen der göttlichen Glorie die Engelscharen 
wie Samenstaub einer unendlichen Blüte. In der Glorie sind sie noch 
überfarben, geeint im sonnenhaften Licht, aber da sie niederwallen, 
im Zwischenreich des Werdens glänzt jeder als eine Farbe auf/ und 
so knien und schweben sie musizierend links in dem Portal, jeder 



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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 445 

eine Farbe. »Denn das ist die letzte Matena, so ein Ding allein in 
ihm selbst stehet und jubilieret in seiner Exaltation.« Das ist das 
Wunder der Farben werdung, der Vielheitswerdung aus der Einheit: 
das erste Mysterium. Dieses Mysterium ist nur offenbart, nicht uns 
zugeteilt. Die überfarbne Glorie ist der Geist des Himmels, sie ist 
niebt der Geist der Erde, der sie sich nicht erschließt. Die Engel 
entstürzen ihr, aber sie schauen sie nicht. Wir vermögen nicht hinter 
der Vielheit die lebendige Einheit zu finden. Wenn wir die Farben 
hinwegtun, sehen wir nicht das Licht, sondern die Finsternis, mag 
sie auch berauschend und voller Verzückung sein. Wer den weißen 
Mantel umlegt, ist dem Leben entsondert/ und er erfahrt seine 
Wahrheit nur, solang er die Augen schließt. »Wir erkennen, daß 
Gott in seinem eigenen Wesen kein Wesen ist.« Unsere Welt, die 
farbige Welt, ist die Welt. 

So wären wir denn der Vielfältigkeit ausgeliefert wie Magdalena? 
Wären, wenn wir uns von der Gewalt des Wirklichen nicht ab- 
kehren und die Fülle unseres Erlebens nicht verleugnen wollen, aus- 
gestreut in die Dinge und in das Bedingte gebannt? So müßten wir 
ewig von Wesen zu Wesen und von Geschehen zu Geschehen 
irren, unfähig ihrer aller Einheit zu umschlingen? 

Da lesen wir weiter: 

Zur Rechten die Auferstehung. Das ist Nacht und Tag der Welt 
in einem: mitten im Sternenraum eine ungeheure, von Farbe wie 
von einem treibenden Safte geschwellte Sonne, von der lichtgelben 
Mitte über rote Strahlenkreise zum blauen Rand gedehnt, der in das 
Dunkel greift, und darin, über aufgestürztem Grab und hingesunknen 
Wächtern steil emporsteigend, in einem Mantel aus erster Morgen- 
röte, violetter Wetterwolke, Blitzesfeuer und hellstem Himmelsfernen- 
blau, der Auferstehende, Farbenbrand er selber vom Sonnenantlitz 
bis zu den demütigen Rosen der Füße. Was ist Magdalenens Bunt- 
heit vor seinem Weltenspektrum? Was ist Mariens weiße Einheit 
vor seiner allfarbenen? Er umschließt die Töne des Seins in seinem 
einigen Sinn, jeder Ton rein und gesteigert, alle verbunden unter 
dem Gesetz der weltbindenden Person. Sie schillern nicht, sie prangen 
in ihrem Selbst, um ein oberes Selbst gereiht, das sie alle, alle 
Farben und Engel und Wesen, aufgenommen hat und emporträgt. 



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446 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



Das ist das Wunder der Glorienwerdung, der Einheitswerdung aus 
der Vielheit: das andre Mysterium. Dieses Mysterium ist uns 
seibeigen zugeteilt. Die allfarbne Glorie, die allwärts erschlossene, 
aufsteigende, die Glorie der Dinge ist der Geist der Erde. 

Das ist nicht der Jude Jeschua, wandelnd und lehrend zu seiner 
Zeit auf galiläischer Erde/ es ist auch Jeschua/ das ist nicht der ein- 
geborne Logos, der aus seiner Zeitlosigkeit in die Zeit niedersteigt/ 
es ist auch der Logos/ — das ist der Mensch, der Mensch von All- 
zeit und Überall, von Jetzt und Hier, der sich zum Ich der Welt 
vollendet. Das ist der Mensch, der die Welt umfaßt und an ihrer 
Vielfältigkeit nicht vielfältig wird, vielmehr aus der Kraft seines 
Weltumfassens selber einig geworden ist, ein einig Tuender. 

Er liebt die Welt, er lehnt keine ihrer Farben ab, aber er kann 
keine aufnehmen, ehe sie rein und gesteigert ist. Er liebt die Welt, 
aber er kämpft um seine Unbedingtheit gegen alles Bedingte. >Er 
liebt die Welt zum Unbedingten hin, er trägt die Welt zu ihrem 
Selbst empor.« Er, der Einige, bildet die Welt zur Einheit. 

Unsere Welt, die farbige Welt, ist die Welt, aber sie ist es in 
ihrem Geheimnis: in ihrer — nicht ureinigen sondern geeinten — 
Glorie, und die Glorie ist aus dem Werden und aus der Tat. 

Wir vermögen nicht hinter der Vielheit die lebendige Einheit zu 
finden. Wir vermögen aus der Vielheit die lebendige Einheit zu tun. 

Martin Bußen 



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Triedricß BurscBeül Renaissance, Barodi und R06060 447 



RENAISSANCE, BAROCK UND ROKOKO 
EINE VORLÄUFIGE UNTERSUCHUNG 

I. 

Durch die Renaissance geschah die große Wendung, daß das Werk 
des Künstlers als eine freie, für sich daseiende Schöpfung aus dem 
früheren gottesdienstlichen Zweck herausgehoben wurde. Die Form 
oder die Schönheit oder die Kunst hatten, als sie den eigenen Wil- 
len in sich zu spüren begannen, die Herrschaft ihres eigenen Lebens 
proklamiert und dieses Leben erschien gleichgültig allen inhaltlichen 
Bedeutungen gegenüber. Die traditionelle Verpflichtung in der Wahl 
des Stofflichen galt nicht mehr und jedes beliebige Thema schien 
( freigegeben, um daran die neue Freude an der Gestalt zu beweisen. 
Aber in Italien war die hohe Anschauung, daß die Kunst reine 
Form, erhöhte Gestalt und schöner Ausdruck sei, von allem Anfang 
an so instinktiv den Künstlern eingeboren, daß sie sich nichts aus dieser 
Freiheit machten, sondern daß sie nur das, was schon irgendwie vor- 
gearbeitet dalag, das heißt nur das, was schon zu einem idealen, all- 
gemein geltenden Bild oder Symbol hinstrebte, für sich nahmen. Denn 
ihnen ging es nur um die Erhabenheit der Farben und der Linien und 
der tönenden Verse, und sie wollten sich keine Arbeit machen, indem 
sie sich erst lange mit der Reinigung des bloß Materiellen abgeben 
sollten. Den Germanen, die den Übergang nicht haben von Form zu 
Form, sondern immer die Lücke und das Fehlende sehen, blieb dies 
Geschäft vorbehalten und in Holland wurde der Anfang gemacht. 
Aber in Italien folgte auf die Form der Frömmigkeit und der ge- 
glaubten Bilder, die das ganz Allgemeine waren, der Weltzustand 
des Mittelalters, eben die künstlerische Form derselben Bilder, die 
nun geglaubt werden konnten oder nicht — dies blieb dem Einzelnen 
überlassen — aber die von jedem als schön und erhaben verehrt 



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448 



Triecfricß BursSeff, Renaissance, Barock" und R06060 



werden mußten. Die Bilder blieben trotzdem symbolisch, doch in dem 
neuen Sinne, daß sie wohl da waren und so wie sie erschienen, 
auch wirklich galten, aber hier war ein jenseitiges Reich gekommen, 
von dem nun keine Erlösung zu erwarten war und keine Offen- 
barung und in dem, wie Hegel einmal sagte, es kein Kniebeugen 
mehr gab. Die Kunst der Renaissance war mythologisch in dem 
Sinne, daß die Religion sich da ganz an die Pracht ihrer mythischen 
Bildungen verloren hatte/ und das künsderische Bewußtsein war zu- 
gleich ein mythologisches Bewußtsein geworden in dem Sinne, daß 
die Mythologie als das Reich der fest und bestimmt gewordenen 
Gestalten aufgefaßt wurde, wo der Glaube sein kann oder nicht, 
aber wo in jedem Falle das Symbol ist, wenn der Künsder die 
Schönheit dazu gegeben hat. Man muß auf dies Dazu achten, denn 
in der Renaissance teilt sich alles: Die Formen leben in der Selbstisch- 
keit gegen Gott. Die Kunst, einmal abgetrennt, mußte sich wieder 
in sich selber teilen, man sah die Form, man mußte nun auch den 
Inhalt sehen. Der Aristotelismus, das Begriflsspiel des Mittelalters, 
war rein negativ gewesen, hier hatte die Teilung sich immer aufge- 
hoben/ die Begriffe trieben sich zu Gott hinauf und wurden in ihm 
namenlos. Aber in der Renaissance wandelten sie sich platonisch 
um, sie wurden für sich genannt und blieben beruhigte Formen. 
Sie nun, die Formen, hießen das Göttliche, die Schönheit hieß die 
göttlichste Idee. Form und Inhalt traten auseinander/ dies ist aber 
die eigentümlich hohe Kultur der Renaissancekunst, daß die Form 
auch als der Mythos galt, als der Spiegel, in dem alle Dinge sich 
rein widerstrahlten und ihre Wahrheit erfuhren, und daß so zwischen 
Form und Inhalt kein Hiatus klaffte. Denn, ich wiederhole, da war 
die Mythologie, das Reich der festen Gestalten und dazu kam die 
Schönheit, die göttliche Idee/ beide, die Mythologie und die Schön- 
heit, bezogen sich aufeinander, die Schönheit war das reine in- 
haltslose Licht, sie sollte sich ergießen und an der Gestalt offenbar 
werden, und die Gestalten waren die Heiligen und Verehrten, aber 
ihre Stelle, das Gebet, war gleichsam frei geworden, sie schwebten 
irgendwo im Gedächtnis der Menschen, man mußte sie retten, der 
würdigste Platz war in der Schönheit gefunden, da wurden sie zu- 
hause und kamen zum ewigen Leben des Symbols. In der religiösen 



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TriedriS Bursdßed Renaissance. Barock und Rokoko 449 



Welt, im Mittelalter, ist das Symbol wohl auch ein übertragenes 
Ding, das Feierlichkeit hat und herausgehoben ist, aber die Schön- 
heit, die Geschlossenheit, das Entsprechen der Teile, würde hier nur 
hindern und zu schwer sein, denn immer muß das Nochnichtganz- 
zuendesein, die Beziehung auf Gott hervorsehen, es muß irgendwo 
sichtbar sein, daß das Symbol nicht ganz konzinn ist, es muß etwas 
Überspanntes darin sein oder auch ein Sprung oder eine Lücke, da- 
mit man fühle, daß hier noch etwas zu überwinden ist. Aber in der 
Renaissance muß die Schönheit sein und in diesem Reich muß alles 
bei sich und in sich beruhigt erscheinen. Denn das Leben ist wirr 
und unbefriedigt geworden, man kann glauben oder nicht, hier ist 
alles nebeneinander, der zur Buße Rufende und der nach irdischer 
Macht Strebende, und so sehr sie sich beide verwünschen, ihr Haß 
ist gleich und diese Worte: Sünder und Schwärmer haben den glei- 
chen Akzent, und darum ist der Zweifel geboten und der Schlaue 
siegt. Die Kunst muß sich da mythologisch binden, die Herrschaft 
der Phantasie tritt das Erbe der Glaubensherrlichkeiten an, und so 
stark verpflichtend wirkt dies Erbe, daß die Phantasie ganz sich auf- 
gezehrt haben muß und ganz befriedigt sein muß, um den Söhnen 
der sicheren und gottesgewissen Väter ein Reich sein zu können. 
Die Phantasie muß ihr Äußerstes hergegeben haben, sie muß in ganz 
jenseits liegenden, ganz unberührten Erscheinungen leben, die das 
Tiefste der Sehnsucht in der lebendigsten und sichersten Weise nach 
außen getrieben haben, in den Gestalten der ehrwürdigen Sagen 
und der für das Bewußtsein sich zur Sage bildenden Religion. 

Es war in Griechenland so, daß durch die Künstler die Religion 
aus ihrer Eingeschlossenheit und ihrem obskuren Dasein in den ein- 
zelnen Bezirken zum allgemeinen Besitze wurde, und in dem Augen- 
blick, wo sie übersehbar und bestimmt dastand, das Schicksal und 
der Götterhimmel und der Heroenkreis, war die Spannung gelöst 
und das Bewußtsein kam darauf, daß hier doch etwas geschaffen sei 
und daß die göttlichen Geheimnisse erst in dem Munde der 
Menschen zu klingen beginnen. Das Ganze, das jetzt erst Religion 
sein sollte, zerfiel in seine Teile/ früher, wo das Ganze dunkel war, 
schien auch der Teil ungewiß und war darum nur religiös zu er- 
leben/ nun erschien der Teil darstellbar und klar und er wurde zum 



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450 TriedriS BursSefC Renaissance, Boro* und R06060 



Mythos, von dem man singen kann und der sich im Stein isolieren 
läßt. Vom Munde der einen Generation ging es zum Munde der 
anderen, und er wurde immer weniger geheimnisvoll und immer mehr 
die Sage und Mythologie, die zur Freiheit des Künstlers wurde. 
Es war, wie der Philosoph aus der Dunkelheit der Kosmogonien 
die freie Klarheit seiner Metaphysik sich baute. Und wie beim Philo* 
sophen die Philosophie, so blieb die Kunst, die die Religion retten 
wollte, schließlich allein übrig. Die göttlichen Gestalten erschienen 
immer freier und schöner, aber das Bild war das Wichtige daran 
und trat so beherrschend auf, daß man vergaß, daß es ein Abbild 
sein sollte. 

Ein ähnlicher Vorgang spielte sich in ähnlicher, unterirdischer und 
von keiner Theorie reflektierten Weise in der Renaissance ab. Hier 
waren natürlich die Gegensätze entschiedener und weiter auseinander 
getreten. In der christlichen Welt war freilich keine Spannung zu 
lösen/ denn die Spannung war darin immanent und notwendig und 
das Prinzip selber. Es ist ganz deutlich zu sehen: da ist das Ge» 
spannte der Gotik und da das Starre der Byzantiner, und hier das 
Runde der Florentiner und die Pyramide des Lionardo und das 
Oval des Raftael. Das Gleiten und Hinüberfließen zum beruhigten 
Bilde konnte sich nur innerhalb dieser Renaissance abspielen. Was 
ich als historische Gegebenheit in reiner Isolierung sehen muß, ist 
freilich ein Prozeß/ ich nehme auch dessen Wesen und habe da eben 
den Akt der Mythologisierung und sehe wieder, wie die Form sich 
loslöst und zum Mythos der Schönheit wird, und wie die Inhalte 
frei werden und mit sich spielen lassen und doch in der Schönheit 
gerettet sind. Man sollte, meine ich, einmal dem nachgehen, wie die 
Renaissance die Gestalten ihrer Bilder von Generation zu Generation 
in Geste und Mienen und Kleidung freundlicher zusammenrückt und 
sie vertrauter in Zufriedenheit und Wohlsein inmitten der eigenen 
Landschaft wohnen läßt, bis es zu den ganz geschlossenen und be- 
friedigten Bildern kommt. Kein Zweck soll mehr außer dem Bilde 
sein/ von einer Abbildlichkeit im religiösen Sinne ist so wenig mehr 
die Rede, daß Lionardo, auch wenn er von kirchlichen Darstellungen 
spricht, immer den ganz allgemeinen Ausdruck der Historie hat. Die 
religiösen Inhalte entfernen sich vom Bewußtsein in solchem Grade, 



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Triedridi BursSeßl Renaissance, Barocfi und R06060 



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daß sie dem eigentlichen Leben fremd in einer eigenen distanten 
Welt leben und ruhig geworden sind und nicht mehr herüberreichen. 
Die Renaissance, die nur an die eigene Schöpfung glaubte, brauchte 
diese Welt der kühlen Mythologien / in der Schönheit wurde sie zum 
Schweigen gebracht. Hier war der Beruf und die Aufgabe der Re- 
naissance. 

II. 

Aber die Ruhe der Bilder blieb nicht unangefochten. In den ger- 
manischen Ländern erschütterte sie der Stoß der Reformation und 
brachte sie um ihre Wahrheit, in Italien, wo schon Michelangelo die 
letzten Möglichkeiten der geschlossenen Gestalt erschöpft hatte, löste 
der Gegenstoß der Jesuiten in der Kunst vollends ein entschieden 
neues Prinzip aus. In rein formalem Sinne bleibt zwar die Entwick- 
lung von der Renaissance zum Barock ein Kontinuum: die höchste 
Form der Zusammenfassung der bildhaften Erscheinung war nur mit 
dem entschiedensten Pathos und der Anspannung aller vereinigten 
Glieder zu leisten/ die renaissancehafte Kongruenz der Teile schlug 
notwendig, auf ihren letzten Ausdruck gebracht, in ihr Gegenteil um, 
wo alles Teilhafte zugunsten des Ganzen aufgelöst und in einer 
Bewegung fortgerissen erscheint. Der Rahmen bleibt immer noch die 
Grenze und das Bild wird nie geopfert, der stürmischste Affekt bricht 
sich an einem Punkte, der — soweit er auch immer hinausgeschoben 
wird — dennoch das Überspannteste in sich selber zurückschlingen 
läßt. Für das künstlerische Bewußtsein der Renaissance hat das Bild 
keinen Zweck außer sich, es herrscht und hat sein Reich, die gött- 
lichen Inhalte sind in vorherbestimmter Harmonie mit der Göttlichkeit 
der Form, und Gott ist selbst an dieser Göttlichkeit zum Namen 
geworden/ Gott auch hat sich hier sublimiert und ist ein Teil ge- 
worden, der klar und übersehbar in dem Höheren des Stils, in der 
Atmosphäre des großen Formenreiches lebt. So gewaltig war die 
Jenseitigkeit der Renaissancekunst, daß sie das Höchste noch dies- 
seits fand, noch allzu beschwert, und es heraufhob und ruhend machte. 

In den Barock dagegen brach der Schein von den neuen großen 
Erhebungen des Diesseits hinein, auch in der Kunst will der Mensch 
aus den Schranken heraus/ es scheint, ihn ziehe wieder die Unend- 



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lichkeit/ aber es bleibt beim Schein, er wird zur Weltlust pervertiert, 
und so sieht man diese Kunst in all ihrer Sehnsucht nach einer Auf- 
lösung dennoch überall irgendwie tief befangen und gebunden. So 
oft auch die Erlösung von oben her alles Gespannte hinauf zu reißen 
scheint, immer ist dabei das unbewußte Ideal zu spüren, das irdische 
Aufrecken, die irdische Kraftentfaltung zur gewaltigsten Erscheinung 
gebracht zu haben, das Oben ist hier immer ein Vorwand, damit 
das Unten ganz lebendig und nahe herangebracht werden könne, und 
dennoch nicht unmittelbar und schamlos sich gemein mache. Jetzt erst 
wurde gesagt, was in der Renaissance unmöglich war: daß die Kunst 
Schein sei. Für die Renaissance war das Bild Realität in dem hohen 
Sinne, wie Gott wirkliöS ist für den Frommen. Der Renaissance- 
künstler dachte nicht daran etwas vorzutäuschen/ dies war für ihn 
keine Frage, ob er an die Madonna glaube/ die Madonna war für 
ihn bestimmt die auserwählteste und lieblichste der Frauen, und außer 
dieser Vorstellung gab es nichts weiteres für ihn/ denn er konnte 
sich in ihr völlig erschöpfen. Im Barock konnte sich die Kunst nicht 
in dieser reinen Selbstgenügsamkeit erhalten, und man sehe zu, was 
das bedeuten mußte, da ja noch immer das Formgefühl der Renais- 
sance herüberragte und die Grenze, der Rahmen peinlich geachtet 
wurde. Der Barock, sagte ich, wollte teilhaben an dem Aufschwung 
des erregten Lebens, und da tritt nun die Antinomie auf, die seitdem 
nicht mehr aus der Kunst verschwinden sollte, ich meine : Die Kunst 
sollte das Äußerste des Lebens sein, dies stand fest, aber das 
Äußerste war nicht mehr in eine Jenseitigkeit hineinzubringen, denn 
dort war entweder die Bilder- und Namenlos igkeit des Gefühles, 
die Mystik und der Pietismus, zu Hause, oder der Zweifel hatte 
sich da eingeschlichen und alles dunkel gemacht. Der Zweifel an irgend- 
einer Jenseitigkeit aber wendet sich gleich zum Zweifel an der Kunst/ 
in diesen Zweifel nun hat sich die künstlerische Kraft des Barock 
tief, mit der Frische des Beginns, hineingebohrt, sie hat ihn produktiv 
gemacht, und sie ist an ihrer Antinomie, daß sie ein Äußerstes sein 
sollte und doch nicht transszendieren dürfe, an dieser lockenden und 
doch immer bloß möglichen Möglichkeit ganz umzuschlagen und ganz 
außer sich zu kommen, zum großen Stile geworden. Denn aller Ton 
lag ja auf dem Leben, auf dem vielen Unentdeckten, was dieses 



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TriedriS BursSelC Renaissance, Baroat und Rokoko 453 



Wort eingeschlossen hielt, und es war unmöglich, daß die Kunst ein 
genügsames Reich bliebe: das Leben scheint nicht mehr das wirre 
Leben der Renaissance, das einer Qberbauung, einer Rettung in die 
Schönheit bedurfte, sondern das Leben fordert jetzt für sich selber 
alle Bemühungen, und man sah es jetzt, man mußte zu dieser Ein« 
sieht kommen, daß das Leben, das wirkliche, gelebte Leben, ein an* 
deres sei als die Bilder und Formen, in denen zwar auch dieselbe 
Welle des Lebens floß, aber ewig und ruhend geworden und gleich* 
sam ohne Antwort auf die vielen Fragen, die damals gebietend sich 
vor alle Dinge stellten. Darum nannte man das Leben das Wahre, 
das Eigentliche, auf das es ankommt, und die Kunst nannte man 
den Schein oder auch den schönen Schein, denn in der Kunst sollte 
das Schöne sein, es hatte da seinen Platz, im Leben war es ver* 
ächdich, oder doch irgendwie nicht zur Sache gehörig. Die Schönheit 
tritt aus dem mythischen Charakter einer Idee heraus, sie verliert 
sich allmählich an die bloße Form im Sinne eines Mittels: sie ist 
nicht unmittelbar mehr, sie hat keine Wahrheit, keinen substantiellen 
Gehalt mehr in sich, sie ist ein Schein, der die schweren und un* 
durchsichtigen Dinge leicht und durchscheinend macht, aber man bleibt 
dabei, daß die Dinge schwer und undurchsichtig sind, man vergißt 
es nicht, wie man es in der Renaissance vergaß/ denn da war die 
Schönheit die Rettung gewesen. Hier aber, im Barock, kommt darum 
das merkwürdige Spiel und Gegenspiel zustande, das sich im gegen- 
seitigen Zuruf imposant hinaufsteigert und das Große dieses Stiles 
wird: da stürzen sich die schweren und noch ganz unmenschlichen 
Dinge in die Schranken der Formen und stoßen sich noch und wollen 
sich nicht ordnen lassen, die Landschaften, die toten Gegenstände, 
die Irrationalitäten der Gesichter, und dort wird die beruhigte Linie 
der Schönheit immer inhaltsloser, löst ihre festen Konturen auf, 
spielt buhlerisch und eins ins andre ziehend um die Dinge und schafft 
die Atmosphäre des Scheins, das Halbdunkel der Unkontrollierbar* 
keiten. Die Kunst sollte das Leben sein, wie es sich zum äußersten 
bringen ließe, sie sollte eine tönende Musik sein zu den pathetischen 
Vorgängen des Lebens/ und sie war doch um dieser gewußten Musik 
willen verurteilt der Schein zu sein und auch ein wenig die Lüge 
und die Verzerrung. Es kam darum so, daß man auf diesen Schein 



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Triedrid) BursdeBt Renaissance, Baroa$ und R06060 



trotzte und das Scheinende noch scheinender machte, indem man es 
immer näher an das Leben rückte, es kam so, daß man in die 
Kirchen trat, wo nicht mehr alles geordnet war wie für ein sera* 
phisches Auge, das jedem Ding immer ganz nahe ist und allen Raum 
bewältigt, sondern wo man gleich an der Tür wie durch das Dichte 
eines Waldes auf die Lichtung des Chores geführt wurde und wo 
die Säulen unmerklich aus der Geraden gerückt waren, um dem 
irdischen Gesichte die Illusion zu geben. Ja, die Kunst war hier das 
Reich der Illusionen geworden, der gewollten Täuschungen, man 
wollte bestimmt täuschen, man hatte es ja durchgemacht, daß man 
mit der Wahrheit des schlechten Lebens nicht fertig wurde und daß 
sie nie zu bewältigen war. Man mußte täuschen, wenn man das 
Werk haben wollte, denn die Jenseitigkeit war nicht zu haben, aber 
im Schein wurde die Wahrheit als die Erlösung und die andere 
Jenseitigkeit gefunden. Der Barock ging aus die Wahrheit zu suchen 
und er fand den Schein als die äußerste Wahrheit: Rembrandt 
aber hat diesen ganzen Weg am Ende noch einmal gehen müssen, 
nur umgekehrt, er suchte und fand wie Saul, der ein König wurde. 
In Rembrandt hat sich der Barock auf den Kopf gestellt, er hat ihn 
das oberste zu unterst gekehrt, er hat ihn erledigt und es war nach* 
her nichts mehr an ihm zu finden. Sehe man sich doch einmal das 
Gastmahl zu Emmaus an <ich meine das spätere der Bilder), da wird 
dies deutlich werden müssen. Dies Bild heißt in Worte übersetzt: 
da wurden ihre Augen geöffnet und erkannten Ihn. Man muß ver- 
stehen, wäre dies Bild in der Renaissance gemalt, so würde es 
heißen müssen: ihre Augen waren offen und der Herr ging in sie 
ein. Denn das ist doch klar geworden, in den Renaissancebildern ist 
keine Zeit mehr darin, man sieht höchstens noch den leisen Anstoß, 
den die Menschen und die Dinge sich gegeben haben, um nun für 
ewig in der Seligkeit ihrer Ruhe sich ausbreiten zu können. In den 
Barock ist das Da, die Zeit hineingekommen, in den Barock ist das 
Geringe, das Unfaßbare des Augenblicks, dieser letzte und höchste 
Schein, hineingekommen. Das Gastmahl zu Emmaus wäre nie in 
der Renaissance gemalt worden, oder es wäre dann eben das Abend* 
mahl. Das Gastmahl zu Emmaus bedeutet als Geschichte nicht viel, 
es ist ein kleiner Zug, ohne Folgen, es ist auch nicht auffällig und 



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Triedridß BurscBetT, Renaissance, Baroai und RoHoko 455 



absonderlich, wie etwa die Geschichte vom Tobias mit dem Engel 
und dem Fische, das in der frühen Renaissance gemalt wurde, wo 
man das Auffällige liebte, weil man so leichter aus dem Leben heraus 
kam. Was ich sagen wollte: der Barock mußte seinen ganzen Pomp 
aufgeboten haben, alle Flüchtigkeiten seines Scheines erschöpft haben, 
damit Rembrandt kommen könnte, der mit diesem Schein begann 
und ihn nun von Jahrzehnt zu Jahrzehnt tiefer suchte, bis er ihm 
ins Herz drang, bis er das Gastmahl zu Emmaus malte, diese Un- 
scheinbarkeit! Die Kunst des Barock ist damit fertig geworden, sie 
ist über sich hinausgekommen vom Schein zur Unscheinbarkeit/ denn 
es hat sich in diesem Gastmahl der Schein des Scheines enthüllt, die 
Zeitlichkeit, die gleich ihren Tod in sich hat/ man sieht das doch, 
man fühlt, da ist nun die Wahrheit hereingebrochen, die leuchtende 
Unscheinbarkeit des Herrn. 

m. 

In Rembrandt also hat sich die Flut des Barock, da sie sich so 
stark und herrlich überschlug, sich brechen müssen/ auf der Ober- 
fläche bleibt nun das Spiel und es verläuft sich farbig und seicht im 
Sande. Bevor ich aber vom Rokoko und seinem durchscheinend — 
undurchdringlichen Grunde spreche, muß ich noch davon reden, zu 
welchem Begriff sich das mythologische Bewußtsein der Renaissance 
durch den Barock hindurch abwandelte, damit man die Entzweiung 
deutlich sähe, die nachher im Rokoko eklatant wurde. In der Renais* 
sance war das Bild die symbolische, die ganz erfüllte Wirklichkeit, 
das Bild war einfach die Wahrheit, es gab nichts mehr über ihm und 
nichts mehr unter ihm. Denn Oben und Unten standen nur schein* 
bar da, es war in ihnen nur soviel Wahrheit, als Streben in ihnen 
nach dem Bilde war. Die Religion, sagte ich, mußte Mythologie 
werden, um eingehen zu können, und auch das Leben durfte nur 
das bedeuten, was in seiner wirren Fülle Gesetz und Haltung ver- 
sprach : die Geschichte, die auch ihrerseits mythologisch werden konnte, 
die Helden und die eingesetzten Würden. Den Schatz dieser Mytho- 
logien hat der Barock überkommen/ dies konnte offenbar nur um 
den Preis geschehen, daß ihre Symbolik da allegorisch werden mußte. 
Denn die Symbolik der Renaissancemythologien war hier, wörtlich 
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Triedn'oS BursSe/T, Renaissance, Barock und Rokoko 



gesagt, außer sich gekommen, die Symbolik lag nicht mehr aHein in 
dem Bilde darin/ das Bild der Renaissance war selig in sich selber, 
das Bild des Barock trägt seine Seligkeit zu Lehen/ es ist gleichsam 
darin der prächtige Widerschein von einem so gewaltigem Feuer, 
daß sein ursprünglicher Glanz nicht zu ertragen wäre. Der Barock 
ist in einem ganz hohen Sinne uneigentlich, er ist kein reiner Spiegel 
der Dinge mehr, er hat eingesehen, die Dinge sind immer das andere, 
das Unfaßbare, und so übertreibt er und täuscht mit Bewußtsein 
und begnügt sich damit, daß er ahnen lasse, die Wahrheit läge 
anderswo. In diesem Sinne ist er Allegorie und auch Rembrandt ist 
Allegorie,- denn es gibt bei ihm immer eine Stelle, eine Geste oder 
einen Blick, wo aus dem Bilde hinaus gewiesen wird in die Bilder- 
losigkeit. Die kühlen Mythologien der Renaissance sind vom Barock 
aus ihrer Ruhe gelöst worden/ das Leben kommt in sie hinein, 
aber nur als die Allegorie des Lebens/ denn von den Mytho- 
logien heißt es nun, sie seien die Fabelwelt, die Welt rührender und 
ergötzlicher Geschichten, nach Wahrheit dürfe da freilich nicht gefragt 
werden/ aber in dieser bunten, reichen und umfassenden Welt konnte 
das Leben herrlich gefaßt und sichtbar werden, das andere gerade, 
das uneigentliche/ die Uneigentlichkeit sollte ja gesucht werden, die 
von der bedrückenden Strenge der irdischen Gebundenheit erlösen 
könnte. Das Suchen nach dieser Uneigentlichkeit hat den Barock als 
Stil zusammengehalten/ ich sagte, der Barock hat den Schein ge- 
funden, aber er hat ihn blind gefunden, er wollte die Wahrheit und 
kam auf den Schein, und im Schein wollte er nur immer die Un- 
eigentlichkeit haben, er wollte die Uneigentlichkeit im Scheine betonen. 
Der Barock ist wie der Mensch, der seinen Traum auch im Wachen 
noch festhalten will, und da er sich sehr an ihn klammert und ihn 
oft sich zurückruft, mischt er manches von seinem wachen Leben in 
ihn hinein und ist sich dessen nicht bewußt: so ist die Uneigentlich- 
keit des Barock nie rein geworden und Schein und Wahrheit fließen 
in ihm ewig durcheinander/ man kann es auch so ausdrücken, im 
Barock liegt die Wahrheit immer an der Grenze und strahlt hinüber 
und herüber, es kann so sein, daß eine Grenze um das Bild ge- 
zogen ist und es heißt ausdrücklich: damit ist der Schein umschrieben/ 
der Schein weist ausdrücklich darauf hin, daß draußen das Andere 



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TriedriS Burs(6e(T, Renaissance, Barvdf und Rokoko 457 



ist, das Unfaßbare, oder es kann auch sein wie bei Rembrandt, daß 
schon ein Blick oder eine Geste die Grenze des Bildes wird und 
der Schein entblößt sich an ihnen und wird zunichte. 

IV. 

Wenn ich nun zum Rokoko komme, so will ich zuerst sagen, 
daß der Weg von der Renaissance über das Barock klar und ge- 
setzmäßig zum Rokoko hinführt und daß er mit runden Worten 
zu umschreiben ist — ich muß mich da notwendigerweise wieder- 
holen. In der Renaissance herrschte das Bild, da war alles beiein- 
ander, im Barock war das Bild das Spiel des Scheines mit der 
Wahrheit, aber das Spiel des Bildes war gebunden, es führte nur 
allegorisch aus sich heraus, auf das Andere, es blieb doch in sich, 
im Trotz seiner Uneigentlichkeit/ und im Rokoko ist nun der Trotz 
verschwunden und das Spiel des Bildes ist ganz frei geworden und 
steht ganz gleichgültig allem anderen gegenüber. Das Rokoko kennt 
gleichsam die Welt nicht: denn das ist eine schlechte Wahrheit, daß 
das Rokoko die Welt nur von der leichten Seite kenne. Wenn man 
da sieht, daß im Rokoko nichts ernst genommen wird, so soll man 
auch den Charakter dieses Unemstes sehen und erkennen, daß da 
eben von vornherein auf allen Inhalt, zu dem irgendwie eine Stel- 
lung gefunden werden muß, verzichtet worden ist. Man soll er- 
kennen, diese Welt der Tändeleien hat in sich die strengste Ver- 
pflichtung die ganze Welt zu sein,- es ist gar nicht auszudenken, wie 
es neben ihr noch etwas anderes geben könnte. Ich sage darum, das 
Rokoko ist völlig indifferent gegen die Wahrheit, das Rokoko ist die 
Kunst in ihrer höchsten Gleichgültigkeit, alles spielt da nur in sich 
selber/ und es mußte so kommen, die Renaissance hatte den Weg 
gewiesen, wie die Kunst in der Selbstischkeit gegen Gott bestand, 
der Barode war hinter den Schein der Selbstischkeit gekommen und 
hatte doch in dieser Hinsicht beharren müssen, das Rokoko wirft die 
Einsicht ganz beiseite, es kümmert sich nicht mehr um sie, sein Schein 
ist kein Schein mehr: denn der Schein hat die Wahrheit als das 
andere sich gegenüber. Der Schein des Rokoko ist seine ganze Welt, 
außer diesem Schein gibt es nichts weiteres, man achte darauf: sowie 
das Rokoko sich auf etwas anderes besinnt, auf irgendeinen Inhalt, 



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auf irgendein Pathos, ist es nicht mehr das Rokoko / es muß dann 
zu alten Formen greifen, es muß klassizistisch werden, oder es muß 
rhapsodisch werden, es muß stammeln und die Prophezeiung einer 
neuen Kunst sein. Das Rokoko ist so subtil in seiner Künstlichkeit 
geworden, daß es unendlich empfindlich ist und immer bereit zu sein 
scheint, sich ganz aufzulösen, das Bild des Rokoko ist nahe daran 
ein Teppich zu sein oder ein Stuck der Tapete oder sonst etwas 
Kunstgewerbliches. Es hat sich im Rokoko die absolute Entzweiung 
vollzogen/ das Rokoko hat die Konsequenz aus der Renaissance 
gezogen, da der Barock den Bruch nicht heilen konnte/ es ist mit 
dem Rokoko der merkwürdige Punkt in der Geschichte gekommen, 
wo die gewaltigste Spannung, das stärkste Auseinandergetrieben- 
sein von Gott und Welt, von Geist und Seele die Kunst ganz span- 
nungslos gemacht hat, ganz in sich spielend/ denn es sollte sich hier 
zeigen, daß die Kunst die großen Dissonanzen nicht erträgt, daß sie 
nicht alles umfaßt, sondern daß sie sich immer auf die Seite stellt, 
wo sie ihr Reich und ihre Ruhe finden kann, und im Rokoko hat 
es sich nun ganz entschieden gezeigt, daß sie für sich bleiben muß 
und nicht mitmachen kann, wenn, die Disharmonien des Lebens zu 
stark geworden sind. 

Die Welt des Rokoko ist so sehr Oberfläche geworden, daß, so- 
viel auch der Grund durchscheinen mag, er doch ganz undurchdring- 
lich ist, und man muß sagen, daß das Rokoko der äußerste und ent- 
schiedenste Stil ist, zu dem die Kunst hat überhaupt durchdringen 
können, man muß weiter sagen, daß die Kunst hier wieder anonym 
geworden ist wie in den frommen Zeiten. Der Gotiker ist ganz 
durchdrungen von Gott, er steht im Dienste des Höchsten und gibt 
seinen Namen auf, der Rokokokünstler hat mit nichts mehr etwas 
gemein, er ist ganz undurchdrungen, nichts rührt ihn an, und so ist 
auch sein Name gleichgültig, die Bilder sollen alle eins wie's andere 
sein/ denn es ist ja kein Grund vorhanden, warum sie verschieden 
sein sollten. Man weiß vom Rokoko, daß seine Benennung von jener 
Muschelform stammt, die in der Renaissancearchitektur die Rolle 
eines dienenden Teiles hatte. Es ist wichtig, daß aus einem so völlig 
leblosen Zierstück das Rokoko mit peinlichster Unermüdlichkeit seinen 
ganzen ornamentalen Aufwand bestritten hat, und nichts kann den 



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Triedridß BursSelC Renaissance, BaroaS und Rokoto 



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Charakter des Rokoko deutlicher madien als die Hingebung und das 
Raffinement, mit der diese ganz abstrakte und gleichgültige Form 
abgewandelt wurde. 

Nun aber folgt aus diesem Verhältnis ein weiteres: die Renais* 
sance begann damit, die Bilder in einen Rahmen zu zwingen, die 
Kunst war für sich in Harmonie, draußen war das andere, das wirre 
Leben. Aber die Herrschaft der Bilder mußte da gleich ihre Macht 
ausüben. Denn die Geschichte bleibt nicht in der Einseitigkeit be- 
fangen, daß nur das Leben zum Bilde strebt, sondern das Bild auch 
wendet sich dem Leben zu, klärt vieles auf und macht es ausdrück- 
licher. In der Renaissance hat die Kultur der Bilder auch eine Kultur 
des Lebens befehlen müssen. Am besten hat sie da wirken können, 
wo das Leben der Mythologie am nächsten war, am Hof und an 
der Kirche, und hier wieder hat sie am nachdrücklichsten Ordnung, 
Schmuck und Ruhe hineinbringen können, wo das Leben stumm war 
und nur ein großes Zeichen sein sollte, in das Sitzen in der Würde, 
in das Symbolische der Zeremonien und in den Pomp der Feste, die 
gleichsam immer für das spätere Gedächtnis hergerichtet waren. Ich will 
da an den Laurentianischen Festzug erinnern, wo man einen nackten 
Knaben ganz mit Gold überzog/ man konnte sich das goldene Zeit- 
alter nicht anders dargestellt denken, und es war gleichgültig, daß 
der Knabe nachher daran sterben mußte. Ist es denn nicht so, daß 
das Leben in der Renaissance nicht um des Lebens willen da zu 
sein scheint, sondern insofern es irgendwie in einen Rahmen ge* 
ordnet ist, insofern es gestellt ist/ scheinen nicht die Kostbarkeiten 
der Stoffe und seltenen Steine von der kühlen Haltung der Bilder 
her geschätzt zu sein, scheinen nicht die Menschen in den Möbeln 
und Kleidern ihrer Bilder zu leben, und darum ein wenig hilflos 
und traurig? Denn der Mensch wußte da noch um seine Nacktheit. 
Aber im Barock beginnt das Fleisch zu blühen, es will aus den 
Gewändern heraus, aber der Wurf der fliehenden Gewänder ist 
das Wichtigere dabei. Nicht daß das Fleisch triumphiere, — so un- 
vermittelt steht es nicht im Barock «— sondern daß die Hülle falle/ 
und das ist etwas anderes, das ist die typisch allegorische Haltung, 
die immer zwei negative Vorzeichen braucht, um ein Positives zu 
bezeichnen. Auch das Leben also wird allegorisch im Barock, man 



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'FrfedriS BursaSe/T, Renaissance, BaroaS und R06060 



beginnt mit Bewußtsein ein Doppelleben zu führen und immer weist 
eines auf das andere hin. Wie im Bilde der Kampf des Scheines 
mit der Wahrheit herrscht, so wendet auch der Schein des Lebens 
sich gegen die Wahrheit der inneren Brust, und der Schein wird 
vor ihr zum Pomp und zur Maskerade, er herrscht zwar immer, 
aber er hat das andere erkannt und bleibt in dieser Qualität. Und 
da nun auch das Bild zur Illusion geworden ist und der Augenblick 
darin sichtbar geworden ist, kann sich die Kultur der Bilder ungehemmt 
in das untere Leben, in die Hast herunterbegeben/ der Mensch um* 
stellt sich mit dem erdrückenden Prunk einer ganz uneigentlich ge- 
wordenen Pracht. In der Renaissance war nur das Stummsein, das 
Statuarische des Lebens vom Bilde betroffen, im Barock wird auch 
das Ungebärdige und der Fluß als Geste begriffen. Julius der Zweite 
hieb, wenn er zornig war, vom apostolischen Stuhl herab auf die Bischöfe 
ein, Ludwig der Vierzehnte aber warf, wenn er die Wut in seiner Faust 
zu spüren begann, lieber seinen königlichen Stab zum Fenster hinaus. 

Dies ganze Verhältnis von Bild und Leben wird jedoch erst für 
das Rokoko wahrhaft wichtig und hat erst da seine metapsycho* 
logische Notwendigkeit. Denn in der Renaissance ist das Bild in 
sich und das Leben ist gleichgültig, im Barock ist an der Grenze 
des Bildes schon alles gesagt, und was sich von da aus ins Leben 
fortsetzt, ist doch immer wieder nur in der Annäherung zum Bilde 
verständlich. Diese beiden Stile wollten eben keine Atmosphäre um 
sich schaffen,* sie hatten, was in der Atmosphäre des Lebens zum 
Bilde hindrängte, groß und entschieden gesteigert, sie hatten das 
Atmosphärische des Lebens im Umkreis ihrer Kunst vollkommen 
gereinigt, und man kann immer nur durch einen Sprung vom einen 
aufs andere schließen. Im Rokoko dagegen klafft zwischen Bild und 
Leben kein Hiatus mehr, der Rahmen des Bildes ist auseinander* 
gebrochen und fast mit den Windungen seiner zierlichen Arabesken 
auch das Lebendige in sich. Hier tritt nun *— zum mindesten — ein 
sehr tiefes Paradoxon auf, und es wird gefragt werden müssen, ob 
nicht damit eine ästhetische Unmöglichkeit behauptet sei. Denn das 
muß doch ein Gesetz von absoluter Gültigkeit sein, daß das Werk 
immer ein Jenseits des Lebens darstellen soll/ ich habe beim Barock 
angedeutet, daß da zwar eine Antinomie bestehen kann, aber diese 



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TriedriS Bursdseff. Renaissance, BaroaS und Roüo/to 461 

Antinomie ist da eben ein Diesseits geworden, ein Anstoß zum 
Werk, das Werk selber konnte nicht anders als jenseits blei- 
ben. Es entsteht beim Rokoko die Alternative entweder an seiner 
Kunstqualität zu zweifeln oder die Qualität des von ihm umfaßten 
Lebens selber als ein Jenseits anzusehen, als eine metapsychologische 
Ordnung/ und da ich den Zweifel nicht habe, da er mir vom Prinzip 
des Rokokostiles selber ganz ausgeredet worden ist, muß mir das- 
selbe Prinzip auch dies merkwürdige Jenseits des Lebens klar machen 
können. Es hieß: das Rokoko kenne die Welt nicht, denn es ist 
selber in sich die ganze Welt. Und ich muß nun hinzufügen, diese 
Welt ist ganz Form geworden. Die Renaissance hatte noch die Auf- 
gabe die göttlichen Inhalte ihrer Bedeutung zu entkleiden, und das 
Barode hatte noch den Kampf mit den zu schweren irdischen Dingen. 
Das Rokoko ist ganz allein Form in sich selber spielend, und was 
da sichtbar wird an Dargestelltem, das ist ganz leer und hält nichts 
in sich, das ist nur Spiel der Form und will nichts bedeuten. Nur 
das wird deutlich: es soll außer dieser Form nichts weiteres geben. 
Und hier ist nun der Punkt, wo es notwendig wird, daß die Form 
auch in das Leben eingreife und ihre Verpflichtung da sich vollends 
bewähre. Das Paradoxon des Rokoko beruht darauf, daß die Kunst 
auf ihre höchste Spitze, auf die höchste Gleichgültigkeit gebracht, 
auch gleichgültig wird der Distanz gegenüber, die sie vom Leben 
trennen soll, und daß hier kein Unterschied gesehen werden kann. 
Das Bild ist anonym geworden, der Genius des Künstlers tut nichts 
zur Sache, es kommt nur auf die Geschicklichkeit an, alles ganz mit 
der Form durchdrungen zu haben/ dies ist das Gesetz, und seine 
anonyme Harmonie, die nicht auf die Einmaligkeit des Werkes sich 
beschränken kann, umfängt auch das Leben und hebt es aus seinem 
dunklen Grunde hinauf in die Tyrannis ihrer Ordnungen. Darum 
ist es geboten hier von einer metapsychologischen Qualität des Lebens 
zu sprechen, weil die Tyrannis der Bildkultur dieses atmosphärische, 
alles durchdringende Gefühl geschaffen hat, daß auf die Ursprünge 
und Gründe, auf alle geheimen individuellen Gesetze und Zwecke 
keine Rücksicht falle, daß alles in dem einen erhöhten, in sich voll- 
endeten und reinlichen Stilbereiche vor sich gehe, wo der Schein kein 
Schein mehr ist, sondern gleich die ganze Welt. 



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462 7rieefri<£ Bursche Ol Renaissance, Barock" und R06060 



V. 

Die Idee, die die drei Stilkomplexe als höhere Einheit unter sich 
begreift, ist das Herrschaftsprinzip der Form oder besser des ge- 
formten Bildes. Das geformte Bild war selbstgerecht und selbst* 
genugsam geworden/ die religiöse Abbildlichkeit war aus ihm ver- 
schwunden und die Verehrung, die vorher dem Abgebildeten galt, 
rückte nun das freigewordene Bild, das allen Inhalt, der von oben 
oder unten hätte kommen können, unter die eigenen Gesetze brachte, 
in das bestimmte, gesonderte Reich der Kunst, das durch die drei 
Epochen hindurch für sich leben konnte und so gewaltig wurde, daß 
es am Ende auch das Leben zu sich heraufzog. Mit dieser Über- 
schreitung seiner Machtbefugnis aber war das Bild allen Gefahren 
preisgegeben und sowie im Rokoko einmal das Gesetz der Stil- 
verpflichtung außer Acht gelassen wurde, das heißt sowie ein Pathos 
oder ein seinsollender Inhalt in die Welt des Rokoko einbrach, mußte 
die Idee der Kunstherrschaft zu Falle kommen. Im Rokoko selber, 
in der spielerischen Welt der Form, hatte sich die Möglichkeit 
zum Sturze der Idee vorbereiten müssen. Denn die Inhaltslosigkeit, 
das Spielen der Form in sich selbst, konnte keine rein ästhetische 
Angelegenheit mehr bleiben/ alles Ästhetische ist irgendwie abstrakt 
und von irgend einem Substantiellen abgezogen/ das Ästhetische hat 
den Verzicht und die Beschränkung in sich. Das Rokoko aber war 
in seiner bestimmten Normierung des Lebens so sehr Welt in sich, daß 
es draußen nichts mehr sah und sich überallhin ausbreiten zu können 
glaubte. Das Paradoxon des Rokoko wurde darin gesehen, daß die 
Kunst in ihrer höchsten Gleichgültigkeit auch gleichgültig wurde den 
Grenzen gegenüber, die sie vom Leben trennt, und dieses Paradoxon 
muß nun dahin erweitert werden: das Ästhetische, das alle erreich- 
baren Formen des Lebens durchdrungen hat, muß notwendig zu 
einem außerästhetischen Charakter umschlagen, wo die Formen und 
die Künstlichkeit, das Spiel der Inhaltslosigkeit selber als wahres 
Leben und reine Unschuld aufgefaßt werden. Das Rokoko hat sein 
eigenes ästhetisches Ideal wirklich gelebt, es hat die Kluft über- 
Sprüngen, die die Sehnsucht zwischen Form und Leben gespannt 
hat, und es scheint mitten im Paradies der Erfüllung. Das Rokoko 
hat ganz die Form der paradiesischen Idylle und es wird gleich- 



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TriedriS BursSeß", Renaissance, Bamdf und R06060 463 



gültig, ob die Bilder wirklich gemalt und die Verse wirklich gedichtet 
werden, da ja hier die Natur selber der Künstler geworden zu sein 
scheint, der alles künsdich schön zubereitet hat. Das Rokoko hat die 
Herrschaft der Kunst so weit getrieben, daß sie Natur geworden 
ist/ und mit dieser Auffassung ist es reif geworden und mußte an 
seine Grenzen stoßen. Das Rokoko stand in dem Augenblick vor 
seiner Revolution, wo eingesehen werden konnte, daß es eine tin- 
form und eine Entwicklung des Lebens gibt und daß Natur erst im 
Geiste des Menschen zum Bilde wird. Aus der Revolution dieser 
Erkenntnis ist die Romantik hervorgesprungen, der nun die Aufgabe 
übergeben wurde von einem Prinzipe her die Trennungen wieder 
zu versöhnen, die durch die Selbstgerechtigkeit der Formen seit dem 
Mittelalter auseinanderklafften. 

TriedridS BurscBeff. 



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Max Brod", LoB des einfaden LeBens 



AUS DEM ZYKLUS 
»LOB DES EINFACHEN LEBENS« 

SONETT AN DIE GELIEBTE 

<Geliebte! Kind! 

Wie ist es schön, 

Daß wir beisammen sind.) 

Du bist nur Traum und Haut und Hauch und Pore 
Und rosa Seidenglanz in deinem Ohre 
Und Ewigkeit, zu Kinderspiel gewillt, 
Blutkreislauf du, in warmes Fleisch gehüllt. 

Du Mund in Unschuld, Nase ohne Sinn, 
Du Backe, einer roten Welle gleich, 
Die gleitend steigt, du rund und freudenreich 
Gewundnes Kinn und Stirne, Herrscherin . . . 

<Geliebte! Kind! 
Wie ist es schön, 

Daß Wolken gehn und Winde wehn.) 

In diesem Reiche von Analphabeten, 

Laßt mich zu euch, in euren Schatten treten! 

Hier ist der einz'ge Ruheort der Welt, 

Mein Pol und Stolz, der Atlas, der mich hält, 
Friedhof des Denkens, Spülbad, süß und blind, 
Und Ruhe wie im kühlen Wäschespind. 

(Geliebte! Kind! 

Wie ist es schön, 

Daß wir gesund und wirklich sind. 

Geliebte! Kind? 

Wie ist es schön, 

Daß wir einander nicht verstehn.) 



Di 



Max Brod, Loß des einfacßen Lf Berts 465 

AN EIN MÄDCHEN IM THEATER 

Auf dem abonnierten Sitz im Theater, Mädchen, wie schön 

Atmest du Regel aus, holde Gesetzlichkeit. 
Nicht umschweifend wie ich, von frevler Einsamkeit gährend, 

Trägst du am schaurigen Sumpf irre Fackeln dahin. 
Einem Sternbild vielmehr vergleich ich dich, wenn du in Zeiten 

Gleichen Abstandes hell aufgehst im nämlichen Kreis, 
Stets dich der gleichen Nachbarschaft freust, wie unter Gestirnen 

Göttlich ewiges Recht Platz und Gesellschaft bestimmt. 
Lüsterne schielen nach Wechsel. Doch du, die immer den gleichen 

Klatsch der Nachbarn erträgt, du mit schweigsamem Mund, 
Die das gleiche Opernglas auch den wenig verschiednen 

.Kleinstadtspielen erhebt, achtsam, weil so sioYs gebührt, 
<So erscheint der Orion seit je unter minderen Sternen, 

Blickt gelassen sie an, blickt und störet sie nicht) 
Lernte ich doch an dir, du engelhaft einfache Seele/ 

Was mir am schwersten fällt: Walten ruhiger Pflicht, 
Die das ihre in Frieden tut und ohne Erbittrung. — 

Doch du, seliger Stern, glänze und tröste so fort! 



AUSFLUG MIT DEN ELTERN 

Der Vater, kaum der Eisenbahn entstiegen, 
Vernimmt den klar und dunklen Kuckuckschall 

Aus Wäldern, die in langen Mulden liegen, 
Und nahe Felsen geben Widerhall. 

Gleich richtet er sich auf, er möchte fliegen, 
Und fragt mit Lust: »Wo ist der Wasserfalle 

Wenn Mühe abfällt, wenn das Schollenland 
Die Stadtangst und den Arger wie ein Schwamm 

In seine tausend Poren nimmt und bannt, 

Wenn dann im großen Forste Stamm bei Stamm 

Uns kühl behütet und der fremde Rand 

Des Hochgebirgs erstrahlt mit Alm und Klamm, 



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466 Max Brod, Loß des eiqfa&en Leßens 



Dann fühlt ihr, liebe Eltern, endlich wieder: 
Was leben heißt und wie man munter ist. 

O Mutter, lache nur vom Abhang nieder 

Dein Lachen, das man sonst noch ganz vergißt. 

Jetzt füllt es mir wie Licht den Kopf, die Glieder 
Und dreifach spüre ich, wie gut du bist. 

O möge niemand meine Rührung tadeln, 
Da ich euch schreiten sehe, da im Schwung 

Der glatte Boden brauner Tannennadeln 
Unter euch hinweicht und Begeisterung 

Mit allen Kräften, die das Leben adeln, 
Aus einem Quell euch anhaucht, eisig-jung. 

Schon mischt sich starke schöne Wanderröte 
In eurer Runzeln schwache Zeichnung ein. 

Ein Steingeröll bringt Vorsicht, Stolpernöte, 
Im Tale unten wird es besser sein. 

Nun ebnet sich der Weg und nur erhöhte 
Baumwurzeln krümmen seltner sich herein. 

Es dunkelt und der Mond hat seine Kühle 
Mit weißen Dünsten erdenhin gespannt. 

Wie ich nun Scherze noch und Worte fühle 
Und seh dabei der Wälder dumpfen Stand 

Und unter unsrem Brückeben eine Mühle, 
Mit Glitzern dran ein weites Wasserband, 

Da war es nicht, wie sonst wenn ich im Freien 
Mich rege, Ahnung und erhabne Glut. 

Es war nur Ruhe, ohne große Weihen 
Erdangeschmiegter Klang, beglücktes Blut/ 

Nun bin ich fromm bei meinen lieben Zweien 
Und reine Luft ist hier und alles gut. 



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467 



ERINNERUNG AN DAS ERSTE EXIL 

Da wir an Babels Wassern uns ganz glücklos meinten, 
Wie nah war unser Land und unsre hellste Zeit! 
Wir dachten Zions und wir weinten. 
Doch jeder Muskel dieses Volkes war bereit, 

Zu einem Hammer niederfallend zu erstarren. 

Die jungen Männer gingen aufrecht, unverdorrt, 

Ihr Sklavenmund sprach Königswort, 

Und unsrer Frauen Klagen und trau er schwarzes Haar, 

Das eine Wolke vor dem klarsten Himmel war, 

Es machte uns vor Ungeduld zu Narren. 

O eine Ungeduld riß uns, wie Jäterinnen Unkraut reißen. 
Durch unsrer Seele Korn anschritt ein Zittern, streng und jung. 
Und da ward nichts »schön' Blumec oder »bunter Schmuck« geheißen. 
Das Böse fiel. Gott selbst hielt Musterung. 

Gott war uns nah und kam in unsre Höhlen, 
Da schliefen wir auf hartem Fels und Gott trat ein. 
Auf unsre Wangen, blaß und kalt und rein, 
Herniedertroff sein Wort gleich siedeheißen ölen 

Und macht uns laut aufheulen durch die Nacht. 

O dieser Schmerz war groß, von allen Seiten 

Liefen Gequälte her wie nach der Schlacht. 

Einander küßte man, man mußte eng beisammen stehn, 

Denn jedem war dies Gräßliche geschehn: [uns bereiten.« 

»Da unser Gott des Nachts nicht ruht, wie konnten wir zur Ruhe 

Nein, damals waren wir nicht elend, nein, damals noch nicht! 
Wir hatten ja noch Lieder zu verstecken 

Und Harfen, alle Weidenbäume längs des Stromes zu bedecken, 
Und unsrer Seelen ungestüme Pflicht! 

Friedloses Volk, doch damals noch nicht ganz verbannt, 

Du rastest und der zweite Tempel stand. 

Und was dann folgte, daß man sich nach deiner Bürde, 

Nach deinem Nachtgespenst, das doch noch Gott war, sehnen würde, 

Deine gottlose Zukunft war dir heiter unbekannt. 

Max Brod. 



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468 Kasimir Etfs<6müf, Bitter aus den Säduogesen 



BILDER AUS DEN SÜDVOGESEN 

1. 

TVTIE dieser Seee, des weißen und schwarzen, Patoisnamen : biantch 
W mä, nor mä! dunkel und vokalisch heraufkommen aus der 
fernen Tiefe eines romanischen Dialekts, so liegen sie da, klüftig und 
zerrissen in der entflammten Orgel des Sturms. In den Kesseln 
flattert und rast das Geschiebe des Nebels, das Wasser zischt auf 
und dampft und die aufgestellten Wände der Felsen bis in das Ge- 
strähne des Fichtenmeers hinauf steigt das riesige Gejohl des Winds. 
Plötzlich mit überanstrengtem Gebrüll reißt der Sturm die eine Seite, 
frei von Nebeln, nackt auf und die Ranke des gegenüberliegenden 
Ufers steht steil mit ausgemeißelten und nordisch kühnen, ange- 
strafften Linien da im leis rauchenden Wasser. Dann wirren Nebel 
darüber, Wolkenballen sausen brodelnd hinein und in maßlosem 
Aufruhr tobt die weiche Masse des Dunstes im Griff des Winds. 

Über den Kamm saust der Sturm, pflückt die Worte vom Mund, 
rast, zischt und heult wie eine Sirene. Nimmt Nebelmassen, knetet 
sie zusammen, wirft sie in die Luft auf wie Fontänenstrahlen, 
knattert in einem endlosen Zug sie über den Kamm und klatscht sie 
gleich Fahnen gegen den Rand der aufsteigenden Kieferwälder, die 
knirschen und rauchen. Wolken fliegen wie Ballen über die Haide 
und schnüren die Ferne zu. Tau perlt im Gestrüpp und als zwei 
Hunde mit erschütterndem Gekläff hinter einem Hasen jagend Kreise 
über die Haide ziehen, bricht die Sonne das erste tiefblaue Loch in 
die Revolte. 

Und nun strömt der Rauch aus den Schluchten, überall steigen 
aus den Altaren der Forste weiße Dampfschwaden in die ausge» 
breitete Wärme und Täler tauchen heraus, die schroff sind mit den 
Kanten der Felsen, den Kanzeln aus Granit und rotbrauner Haide. 



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Kasimir EdsSmid. Bifder aus den Südvogesen 



469 



Doch alles ist noch ohne Jahreszeit, ist so später Herbst wie es 
aufkommender Sommer sein könnte, ist anonyme Jahreszeit, Zeit* 
losigkeit im Sturm, sind Felsen, die sich beruhigen im Ansturm der 
Winde, Forste, die in der Sonne liegen und denen Herbst kein 
Blatt verfärbt und Frühling nichts bedeutet, sondern nur dieses: 
Sturm ! 

Und überall strahlend in den aufgewölbten Mittag brechen die 
Teiche auf und die Weiher, die tiefeingebettet in den Höhlen liegen, 
auf denen, leicht bewegt, die Sonne nun verzittert wie ein eng* 
maschiges, tiefrotes Netz, oder die glasig geschliffen hochstarren 
gleich Jade und gedunkeltem Malachit. 

Gegen die Dämmerung rast der Sturm noch einmal über den 
Kamm und bricht mit Nebeln ein in die Wälder des Wurzelstein, 
in dem die Hexen nisten. Aber der Abend wird klar und verläuft 
bräunlich und wie Zinnober über dem See von Retoumemer. Dort 
steht ein Forsthaus. Vor einem halbdutzend Jahren waren wir hier, 
Siebenzehnjährige, und die Douaniers waren hinter uns. Aber wir 
vertrauten uns dem Chemin des Dames und es war ein guter Weg 
mit seinen Serpentinen und in einer Dachluke des Forsthauses, 
zwischen Gebälk und im Mond, spielten wir Karten die Nacht . . . 

Spät abends in einem ziellosen Geblitz von Sternen brachen 
kreisende Lichter aus dem Berg und Kegel roten Lichts stachen in 
die Landschaft. Die Feuer brannten eine halbe Stunde und erregten 
den Wald und dann fuhr mit Fahnen und Geschrei ein Autobus 
an dem aufglühenden See vorüber. 

2. 

Nicht daß es ein Bad ist, Gerardmer, auch nicht daß es schön ist 
und köstlich und an einem See voll Zartheit liegt, will all dies be* 
deuten: Daß es französisch ist, gibt ihm die Lässigkeit und die Linie 
und läßt alles begreifen und bleibt die Mitte und das Verstehen* 
können auch der Wege, die zu ihm führen und derer, die weiter* 
ziehn. So die lange Reihe der Seee, die von Retoumemer herüber 
bis an es heran reichen, deren Ufer weiß sind von Reif und in deren 
zarten Oberflächen die Röte schwimmt vom Dach eines geziegelten 
Hauses und die pastellhafte Kurve des gesänftigten Höhenzugs mit 



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470 Kasimir EdsSmid, Bifder aus den Südvogesen 



dem aufflammenden Gelb der Birken. Und den bleichen Mond und 
die Kaskaden und den Saut des Cuves und den dunklen Farm bei 
den Fichten, wie den milden Aufstieg zu den Höhen mit Kühen 
und den Matten nach den Gipfeln, auf denen überall mit breit« 
ausgeholten Formen helle Landhäuser liegen wie große Aeroplane, 
die in das Köstliche dieser Ebene jede Minute abzustoßen scheinen. 
Und gleicherweise versteht sich, noch weit von der Stadt, diese Szene 
am Brunnen, wo ein Schulhaus liegt im Gewirr zersplitterter Häuser: 
Jene Parade des Lehrers über die Sauberkeit kindlicher Nägel und 
die Lust der Bestätigten, der Eifer am Wasser jener, die zu leicht 
befunden wurden und dann jener Einzug von hundert Holzpantoffeln 
über die Treppe im Sang und Takt der Marseillaise. 

Selbst auch da liegt noch deutlich dieser Duft und führt dieses 
nahe: Wo das dünne Gesträhn der Fontaine Paxion schon in ein 
königliches Meer von Matten weist, wo das Tal der Moselotte durch 
ein glänzendes lichtes Land mit hellen Wegen, vorbei am Gesang 
der Webereien, wie befreit und erhoben zieht und die zerstreuten 
Chalets mit zinkbeschlagenen Fronten wie große starke Vögel mit 
blitzenden und weißen Brüsten an den Bergrücken hocken und auch 
das Düstere des Lac des Corbeaux ein versöhnlicher Himmel, leicht 
gemischt aus Messing, Silbergrün und grauglänzendem Lila, lächelnd 
übersteigt. 

Weil es noch früh ist am Tage und spät im Jahr, sieht man nicht 
viele Menschen in diesem Bade Gerardmer. Nur das noch dampfende 
Weiß straßenlanger Leinen, die gerade gewebt wurden, bleicht auf 
allen Wiesen um die Stadt. Aber die Promenaden laufen vornehm 
um den See, zärtlich wehmütig fallen Blätter über die Wege, die 
bereift sind. Eine klare Oktobersonne mit festlichem Orange rinnt über 
die verschlossenen Läden der großen und ländlichen Hotels und über 
den Park mit den Villen und Chalets. Die weißen Brote und Trauben 
leuchten aus den Läden, das Land ist voll Licht, in dem schwanke 
Nebel erzittern. Zwischen den Bäumen erkennt man nur leicht ver- 
schwommen einen Zug Infanteristen, deren Hosen rot brennen und 
die im Stechschritt den Platz umqueren. Vor der Mole liegen viele 
Ruderboote und ein farbig aufgetakeltes Segelschiff wiegt sich ge- 
lassen auf den blitzenden Wellen. Und indem aus dem Rauch des 



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Kasimir Edscßmtd, BiCder aus den Südvogesen 471 



Sees plötzlich und sich lösend eine Motorjacht stampfend heraus- 
bricht, tun die Uhren der Stadt, eine vornehm und mit feiner Ruhe 
hinter der anderen zurücktretend, einen Stundenschlag. 

3. 

Hier hat sich ein Komplex Historie hingelagert. Dies kleine Tal 
war die Kulturstätte des Oberelsaß. Unglaublich den Höhenzug 
dominierend, reckt Murbach seinen Torso auf. Chor und Querschiff 
nur sind erhalten. Und doch ist dieser Rest zusammengeballte 
romanische Stärke von ungeheuerer Kraft. Seitlich der Vierung laufen 
die hohen Türme, von einem Sattel verbunden, in die Höhe und 
geben der breiten Brust ein unsagbar Beschwingtes. Die Türme sind 
schön gesäult und diese französischen Einflüsse, die durchbrochenen 
Fenster, motivisch wiederkehrende Schachbrettfriese und die viele 
Ornamentik, die die Breite mildert und doch der Fläche das Aus- 
gespannte nicht raubt, bewirken Eleganz in dem Athletischen der 
Struktur und geben der Wucht und Würde Aufstieg, Grazie und 
etwas Fliegendes. Im Ganzen: Gewalt — wie ein maßloses, edles 
Tier, ein wenig verächtlich herabschauend, steht die Kirche in dem 
viel zu kleinen, verlassenen Tal. Niederdrückend und hoch spannen 
sich innen in Chor und Querschiff die Bogen zu einem Gewölbe, 
das voll ist von Sonne, Erschauern und dem Sang einer Biene. 

Hier wurde Pirmin, von Reichenau her verschlagen, angesiedelt — 
im achten Jahrhundert — das Kloster wuchs, ward Fürstabtei, reichst 
unmittelbar, gefürchtet, berühmt. Sie dehnten ihre Herrschaft weit aus, 
kolonisierten, expansierten sich, gründeten Kirchen, Filialen, besaßen 
über hundert Dörfer und Städte, wurden die Zentrale der Geistig- 
keit. Zeitweis hatten sie sogar Luzern. An den Gründungen der 
Umgebung läßt sich im Maß der Baustile ihre Geschichte verfolgen. 
Zuerst Lautenbach, dem sie eine romanische Kirche bauten, auch 
stiernackig, vollflankig und auch wieder gemildert und versöhnt durch 
anmutige Säulenbogen. Drinnen im Chor sind noch hellblitzende alte 
Fenster, das Gestühl ist mit expressionistischen, lüstern verrenkten 
Tierbildagraffen geziert, eine wundervoll geschnitzte Barockkanzel hängt 
im Schiff. Die alten Säulen sind barock verstuckt und das Ganze ist 
noch nicht jener verhängnisvollen »stilechten« Renovierung verfallen, 
33 



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472 Kasimir Edscßmtd, Bifder aus den Südvogesen 



die mancherorts im Elsaß so sehr beliebt ist. Denn auch der Sand- 
stein hat eine von den Jahrhunderten gezeitigte Seele und diese liegt 
als Stimmungsgehalt mehr und vielmals tiefer gesenkt in den Um- 
arbeitungen der Barockzeit als in der hellgestrichenen, korrekt ursprüng- 
lich hergerichteten Formalität, die dem Auge nicht wohl tut, dem 
Gefühl aber lästig ist. 

Dann gründeten die Murbacher St. Leodegar in Gebweiler, zu 
zwei Fassadentürmen einen starken Vierungsturm, mit allen Zeichen 
des Übergangs ins Gotische. 

Und als viel später die Abtei aufgehoben und in ein weltliches 
Ritterstift gewandelt ward, zogen die Murbacher nach Gebweiler und 
bauten die klassizistische jüngere St. Leodegar, ganz im Typ der 
schweren Zentrale, aber im Signum einer ganz anderen Zeit. Der 
Altar trägt die Bundeslade, ein Sarkophag öffnet sich, aus dem 
(volles Rokoko) Wolken steigen, die Engel höher tragen bis ganz 
oben zu dem weiten, von gelbem Licht durchstrahlten Auge Gottes. 

Und da neben diesen beiden das kleine Gebweiler noch eine große 
Kirche der Dominikaner hat, erschrak es ob dieses allzureichen 
Segens und verwandelte ihr Schiff zur Markthalle und den Chor 
zum Konzertsaal. Den Knaben der Stadt aber hing es viele Schilde 
auf, die ihnen unter großen Pönitenzen verboten, mit Steinen nach 
diesem Gebäude zu werfen. 

Am alten Rathaus hängt neben dem Zeichen der Stadt, einer rot- 
und blauen Zipfelmütze, das Wappen: Der springende Hund von 
Murbach wie ein Protest gegen dies fabrikenstampfende Tal. 

4. 

Langsam gleitet die Sonne aus dem Tal in einem Streif, der die 
Höhen hinaufeilt, die Luft bekommt etwas Stehengebliebenes voll 
von tiefer Farbe und plastischer Ruhe. Keine Vögel singen mehr 
und wie der Abend die Dörfer zudeckt, geht selbst kein Wind. 
Wenige Leute, die die Straße queren, machen schlürfendes Geräusch. 
Nur die schweren Kirchen widerstehen mit ihrem wuchtigen Kontur 
der Dämmerung. Dann brechen die Lichter aus den Fenstern, hart 
hämmern die Glocken über die Dächer und die kleinen Städte, fern 
Industrie, Eisenbahn und Kultur, sind tot. Mit stillen, aus Jahrzehnten 



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Kasimir EdsSmiJ, Bifder aus den Südvogesen 



473 



heraufgewachsenen Gesten, beginnt dann das Leben in den Häusern, 
die voll Heimlichkeit sind und Gebälk. 

Madame tritt in die Tür, hebt den geschwungenen Hafen anmutig 
und lächelnd bis schräg vor das Gesicht und meldet das Essen. Sie 
trägt die dampfende Suppe über die Diele hinüber in das andere 
Zimmer mit den großblumigen, seltsam abgedämpften und verbrauch- 
ten Tapeten und den dreieckten verblaßten Rideaux. Vom Ofen geht 
Wärme langsam durch das Zimmer, das Ofenrohr mit den spirali- 
schen Windungen knistert, in der Ecke unter dem großen ovalen 
Spiegel steht ein Klavier, auf dem alte Notenbücher liegen, die merk- 
würdige Stiche haben und in denen Stücke stehen von Rameau. Das 
Weiß der Decke, Silber, die großen blutroten Räder Schinken, glitz- 
gelber Wein in schlanken Karaffen atmen Schönheit und Feierlich- 
keit. Die Gläserkanten funkeln, der trübe Spiegel beschlägt sich mit 
Wärme, auf dem Ofen beginnt ein Spielzeug zu gehen und im Ge- 
stühl und dem Parterre hebt ein Knacken an. Die Scheiben der 
Fenster sind angelaufen, Madame bringt neuen Wein. 

Über dem Tal liegt der Sternhimmel und wenige Laternen ver- 
breiten ein seltsames Spiel von Schatten und geheimnisvollem Licht. 
Von den Kreuzungen fallen rotgelbe Streifen in das schräge und 
auf- oder absteigende Gekrümm einer Straße, und wie sie im Weiter- 
sdieinen nur noch hellere Vertiefungen des Dunkels sind, lösen sich 
alle Dinge zu neuen abenteuerlichen Formen in ihnen auf. Diese 
gespenstischen Toreinfahrten wirken mit riesigen Dimensionen, Trep- 
pen, die im Schatten liegen, reißen sich maßlos plötzlich in die Höhe. 
Große Fronten von Ökonomien mit mittelalterlichem Gedunkel und 
kopfgroßen Fenstern voll gelben Lichts ganz oben, türmen sich seit- 
lings auf, wo die andere Breite der Straße tief und düster in Gärten 
und Höfe fällt. Hinter dem vorspringenden Dach eines Stalles ver- 
schwindet die schnelle Silhouette eines Liebespaares, kreuzweis die 
Arme verschnürt. 

Später/" nach dem elften Stundenschlag läuft der Mond über die 
Stadt. All diese kleinen Vogesenstädte haben eine place du tilleul 
oder wie sie immer heißt/ von alten starken, selbstbewußten Häu- 
sern quer umringt, mit einem alten Baum, einem Brunnen, der immer 
rauschend in lange Tröge fällt, an denen das Eisenwerk schön ist 



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474 



Kasimir Edscßmid, Bilder aus den Südvogesen 



und die Form alt. Drüber kriecht der Mond, in großen Linien ziehen 
über die Dächer die straffen Gurten der Höhenzüge, die blau und 
silbern sind. Scheu weichen die Laternen zurück. Aus der Schmiede 
klopft noch als einziger Laut in der Nacht ein Hammer und blinkt 
Rotlicht. Dann spielt der Mond die ganze Nacht mit Geschnitz, 
Gebälk, Giebeln und Gestühl. 

Ein paar Rufe, kurzes Geklirr, das ist die Sensation, die der 
Morgen aufjagt. Es dauert lang bis die Sonne ins Tal kommt, aber 
sie macht früh hell und die Schornsteine verströmen weiß und ton« 
los hellen Rauch in die Rosastriche am Himmel. Die Glocken häm- 
mern die Viertelstunden herunter und die Stille wächst. Kaffee qualmt 
in dem Zimmer, voll von schwerem Holzwerk und kleinen Fen- 
stern. Zwei Männer treten ein, langsam grüßen sie, Worte fallen 
von ihrem Mund, als wäre es Mühe, sie trinken einen Likör, stehn 
schwerfällig, indem ihre Blusen sich blähen, auf, grüßen und gehen. 
Dann schlägt es acht. 

Und nun beginnt die einzige Seltsamkeit. Denn das ist die Zeit 
der Schule, und da diese schweren und schönen Kinder nur in der 
letzten zusammengerafften Minute diesen Gang tun und am Ende, 
oben, des Städtchens eines laufend beginnt und unterwegs alles aus 
aufgerissenen Toren sich anschließt, unbewegt, springend und stumm, 
so braust das harte Melos der Holzschuhe durch die eingeschlafene 
Stille als wie ein vielstimmiger Choral. 

5. 

Dies ist die Gegend starkgeschichteter Berge und des Herbstes. 

Viele Marienfäden verspinnen sich in die Matten, und diese laufen 
die Abhänge hinunter und wechseln hinüber in die steile Schönheit 
steinerner Wege. Dies sind ganz die Vogesen: braunrote Flächen 
ausgespannt in die Sonne und Abhänge voll von Geröll und dem 
wunderbaren Spielwerk der Linien, beherrschter Kraft, Sehne, Mus- 
kel und schwerer Herbigkeit. Überall stehen Heidelbeeren, blau und 
solche, die noch rot sind wie Johannistrauben. Anemonen und graue 
Skabiosen stehen in der Waldung. Hasenlatrig und Tausendgulden- 
kraut, schwedischer Klee, Moschusmalve und Bitferich betupfen das 
Gebirg. Brombeeren strecken sich an sonnigen Plätzen, und ihre 



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475 



Früchte erreichen ungeahnte Süße, und Tollkirschen mischen sich in 
sie mit ihren tiefschwarzen Fruchtknospen, glänzender als japanischer 
Lack. Zerzaust mit Ziegenbärten von Moos wagt sich Buchenwerk 
noch ein Stück höher. Dann aber ist alles Matte und Gestein, das 
sich breit in die Sonne legt und herrlich stark ist und einsamer als 
je, weil die Fermen schon seit Michael geschlossen sind und der 
Gesang der Kuhglocken in die Täler glitt. 

Nur wenige erlauchte Gipfel geben in einer überschwenglichen 
Ausgestreutheit das Bunte, Viele und die Augen Verführende in 
geballten und durch die Distanz heroischen Zusammenhängen. Ein 
Konzert von Schlünden und Aufstiegen umkreist den Horizont. Die 
Last der Gipfel spreitet sich ausgebuchtet oder in konvexer WöU 
bung in die Kessel. Abhänge sausen zur Ebene. Steinige, zerhackte 
Klippen hemmen den Fall der Kämme und reißen sie plötzlich hinab. 
Und aus der strengen Herrlichkeit des Steingerölls und der Echo, 
den waldlos nackten, muskulösen Bergrücken, den Kesseln und dem 
unendlichen Gekreuz gestraffter, sich schneidender und überschlagen* 
der Linien baut sich der Wahnsinn und die Wucht eines Panoramas 
von niederschlagender Gewalt. 

Dann aber ist alles voll Herbst. 

Braunroten Schaum schlagen die Wellen der Wälder nach den 
Gipfeln, denen die dunklen Fichten sich entgegenstemmen und wie 
zerstäubter Ocker ist der Abend über ihnen. Hügel und Berge, 
Täler und Furchen hinan ist alles aufgeflammt und fällt glühend 
zurück in die Rinnen und Weiher, in denen Forellen auffunkeln 
und färben sie voll mit reifem Karmoisin und Inkarnat. Wie Bäche 
rinnen die kleinen Dörfer in die großen Täler, an denen die Reben* 
terrassen aufsteigen, und wie eine entrollte Fahne breitet sich der 
Herbst, gesammelt aus tausend kleinen Wimpeln, aus durch das 
Sankt Gregoriental, das trieft von dem blendenden Weiß des Käses, 
der Butter und des Brotes, und prescht mit Brausen über die hohen 
Kathedralen hinein wie ein Meer in das silbrige Gefäß des Ried. 

Kasimir Edsc6mi<f. 



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476 



A. Suares, Dostojewski und die Trauen 



DOSTOJEWSKI UND DIE FRAUEN 



S ist im letzten Grunde nicht wahr, daß man das Gleichgewicht 



I v zwischen Fleisch und Geist halten kann. Eines reißt das andere 
immer mit fort. In allen großen Dichtern ist die Materie besiegt. 
Je mehr sie das Fleisch liehen, um so mehr fürchten sie es. Oder 
mißtrauen ihm zumindest. Was wäre in Wahrheit eine Kunst, die 
nicht idealistisch ist? Ja was selbst ein Gedanke? 

Wie er in der Liebe ist, das ist das große Geheimnis des Mannes, 
und ist jenes, das der Künstler am meisten verbirgt. Kennt man 
dieses Geheimnis, so kennt man den übrigen Charakter. Ich denke 
nicht nur an die Liebe des Künstlers für seinen Gott oder für seine 
Kunst, sondern an seine Liebe zur Frau, an alle diese Gedanken 
des Fleisches, welche das Bewußtsein nicht kennt und welche das 
Herz nährt, ohne sie immer zu benennen, nährt in einem Räume 
des Mystischen. Und oft ist das Geheimnis des Mannes nicht in 
dem, was er von sich an das Objekt seiner Liebe hingibt, sondern 
viel mehr in all dem, was er für sich behält, was er verbirgt, was 
er nie sehen läßt und niemandem anvertraut. 

Von Buch zu Buch fuhrt Dostojewski eine bizarre Menage mit 
den Frauen. Was für traurige und brennende Liebesnächte! Ich suche 
in ihm den Schlüssel zu seinen Meisterwerken. Sein Leben hat nicht 
alles gewagt, was seine Werke vollendet haben. Seine Werke haben 
nichts dunkles mehr, wenn man sie mit seinem Leben beleuchtet. 

Er schloß in Sibirien eine seltsame Ehe mit der Witwe eines 
Arztes, einer unglücklichen und schon etwas gealterten Frau. Eine 
Ehe, wie man sie in seinen Romanen sieht: Nächte des Mitleids 
und der Wut, eine Mischung von Tränen, Hysterie, Leiden und 
Gewissensbissen. Dostojewski und seine Helden heiraten, wie man 
die längste Marter in allen Arten der Todesstrafen wählt. Es han- 
delt sich darum, das Kreuz auf sich zu nehmen, und oft ohne alle 




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A. Suares, Dostojewski und die Trauen 477 

Hoffnung. Das Verlangen ist hier nur ein Reiz mehr des Opfers. 
Das Fleisch sucht, schwach sogar, nicht sein Vergnügen, sondern 
seinen Beweis und seine Traurigkeit. 

Die Seele gibt sich ohne Freude hin, nicht wie einem Versprechen 
des Glückes, sondern einer Art zerreißenden Elends, einer Fatalität 
ihrer Wahl. Das wäre wenig, wenn man, ohne Hoffnung für das 
eigene Glüdc, die Illusion bewahrte, es einem andern zu geben. Aber 
so ist es nicht. Die Ehen Dostojewskis vollenden eine Glücklosig- 
keit, die nicht sich erfüllte, heirateten sich die Liebenden bloß nicht, 
sondern die sie zum Wahnsinn führte, wenn sie sich nicht ent- 
schlossen hätten, das Unglück voll zu machen. Denn dies ist das 
Ende: die Ehen Dostojewskis sind das vollendete Unglück. Im 
Grunde ist er gegen das Fleisch bis dahin, daß nichts ihm gelingen 
dürfe, nicht das, was es erhält, noch das, was nicht zu erreichen es 
so sehr gelitten hat. Es erreicht nichts als sein Elend. Und das ist 
alles was es verdient. 

Er hat für die prauen eine brennende und schmerzliche Zärtlich- 
keit. Man möchte sagen, er hat ein Bedürfnis danach, von ihnen zu 
leiden, und trotzdem es ihm davor graut, sie leiden zu machen, weiß 
er doch, daß er ihnen immer ein Anlaß zum Leiden ist. Ein Ver- 
langen nach ihnen, grenzenlos, eine Angst, sie zu berühren, ein 
Grauen, sie und sich zu befriedigen. Eine Furcht vor ihnen allen 
ist in ihm, und gerade dadurch ziehen sie ihn an. Er konnte ganz 
gewiß die Gegenwart von Frauen nicht entbehren/ und ohne in 
irgendwas das Glück einer Frau machen zu können, mußte er träumen, 
eine Frau würde ihn glücklich machen. 

Seine erste Ehe ist schrecklich: sie stinkt nach Häßlichkeit und 
Schmutz des Hauses. Eine bettlägerige Liebe. Hier wollte Dosto- 
jewski sein eigenes Sakrifizium. Er hat eine Züchtigung gesucht/ er 
hat eine Sünde abgebüßt, die ich fühle, die ich sehe und die ich nicht 
nennen will. 

Später nimmt er, kaum Witwer von dieser Witwe, ein junges 
Mädchen zur Frau. Er hatte eine Leidenschaft für junge Mädchen, 
und niemand hat gewußt wie weit die ging. Er gehört zu jenen, für 
welche die Unschuld und die erste Jugend die Blüte in der Blüte ist, 
die Liebe der Liebe. 



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478 A. Sucres, Dostojewski und die Trauen 



Der Fürst Muischkin ist, in der Liebe, Dostojewski selber. Er 
verlangt für die Wollust die feinste der Frauen, sucht dieses Lächeln 
zwischen Herz und Fleisch, das der Charme der jungen Mädchen ist/ 
er träumt mit ihnen von den Zärtlichkeiten der Liebhaber, ob sie 
schmeichelnde Hände haben, ob sie Gefühl für unschuldige Lieb- 
kosungen haben, ob sie wie Kinder sein können . . . 

Erschreckt sehe ich auf das Leben einer Frau mit einem solchen 
Mann, und auf das Leben eines solchen Mannes mit irgendeiner Frau. 
Er kann ihr nur seinen fleischlichen Schatten geben, mit allen Miseren, 
die ihm anhaften wie gleich viele blessierte Glieder an Hautfetzen 
hängen. Für alles andere bewahrt er ein ewiges Schweigen. Er 
bricht es nur, um sich in fiebrigen Peinen und Leidenschaften zu 
wälzen. Die Freude solcher Menschen ist immer stumm, so wenig 
zählt sie. Ihr Schmerz allein ist beredt. 

Eine Frau muß mit ihm leiden. Muß, sage ich. Denn er weiß, 
daß das ihre Berufung ist, wenn sie wahrhaft Frau ist. Sie muß 
leiden und ihm ist es ein Müssen, daß er daran leidet, leiden zu 
machen. So erkennen sich die Geschlechter, und lieben sich schließlich. 
Die Liebe ist in diese Praxis hineingeboren. Anders maskiert das 
egoistische Vergnügen alles. 

Welche Geduld braucht eine Frau, ist in ihr, um das Leiden zu 
ertragen, das aus einem solchen Manne sich gebiert! Die Geduld 
einer Frau ist ihre Stärke. Welcher Mut ist in ihr, um ihren Glaubeji 
an das Leben zu behalten! Für den Mann muß sie, wenn sie liebt, 
den Glauben haben, wenn sie ihn für sich selbst verloren hat. Sie 
kann den Willen eines solchen Mannes nicht betrügen/ sie kann nicht 
die ganz einzige Lehre seines Werkes vergessen: daß der Glaube 
an das Leben, coüte que coüte, die unerschöpfliche Mutter der 
Schönheit ist. 

Eines Mannes Weib sein ist hart. Aber es ist auch mehr wert 
als eine jener fetten Prostituierten zu sein, welche zwischen Paris 
und Nizza aus ihrem Mannshaß Bücher machen, indem sie sich 
selber im Spiegel abschlecken. Und weil sie die Schmach der Eigen- 
liebe sind, halten sie sich für Künstlerinnen. Nicht der Lais, die ihre 
Pusteln kratzt, sondern ihnen verdankt man die Züchtigung, eine 
Ewigkeit lang in den Schlamm ihrer Geschwüre und den Brei ihrer 



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479 



Exkremente zu tauchen, die Reize, die sie sich gefunden haken, die 

scheußlichen Vergnügen, die sie da kosten. 

Di quella sozza scapigliata fante, 

Che lä si graffia con l'unghie merdose, 

Ed or s'accoscia, ora e in piede stante. 

<Inf. 28, 44>. 

Weil er sie leiden sah, und weil er die Frauen leiden machte, 
ganz mit Leidenschaft verlangend, sie zu erheben und zu heilen : des- 
halb kennt sie Dostojewski besser als irgendeiner. 

Er sieht sie bald grausam wie den Vorwurf des Fleisches, bald 
süßer als die nährende Milch im Munde, aber immer alle toll: toll 
egoistisch oder toll sich zu geben, toll darauf den Mann zu töten, 
oder toll darauf, sich ihm zu opfern. Er kennt ihre einzige Leiden- 
schaft, dieses ewige Erwarten, in dem sie fluten: immer die gleiche 
schlafende Eva, die darauf wartet, daß der Finger ihres Gottes ihr 
den Funken mitteilt und sie zum Leben ruft. 

Und in dieser währenden Erwartung errät er immer ihre ewige 
Täuschung, ihre ewige Verzweiflung: also muß man für sie leben! 
Sie können das Leben geben, aber nicht haben! Man muß ihnen 
das Feuer einblasen, welches der Seele ganzes Leben ist/ man darf 
nie diese unsterbliche und heikle Flamme fallen lassen. Und weil es 
verhängnisvoll ist, daß man nicht immer für sie die Flamme nähren 
kann, darum müssen sie die Duperie des ganzen Geschenkes be- 
klagen, das sie mit sich selber dem Manne und der Liebe machen 
wollten. 

Er ahnte ihre grausame Glut, diese eisigen Rankünen, welche de« 
Herd der Zärtlichkeit und des Verlangens bedrohen. Er ließ ihn wie 
eine schwächliche Andeutung dieser sinnlichen Seele, dieser perversen 
Scham, dieser unschuldigen und jungfräulichen Wollust, welche im 
Gefühle junger Mädchen zittern und welche das leidenschaftliche 
Rasen der schuldigen Frau anfachen als ein unauslöschbares Bedauern. 

Alles in ihnen ist passiv. Ihr Opfer hat zuweilen die Heftigkeit 
eines egoistischen Appells an die Gewalt, die sie aber zurückstoßen. 
Sie geben in das Genommenwerden etwas wie ein brennendes Wohl- 
gefallen, um später daraus einen unbarmherzigen Vorwurf zu machen. 
Sie sind in ihren scharfen Düften ganz die Blüte, die den Pollen 



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480 A. Suares, Dostojewski und die Trauen 



verlangt, befruchtet zu werden verlangt, während sie doch die Illu* 
sion haben, nichts als zu resignieren. Sie sind auch die Frucht, 
welche sich die Sonne zum Reifwerden erhofft, und welche die Reife 
verfluchen wird, nach der ihr Fruchtfleisch begierig ist. 

Erwarten, immer erwarten, um nie erhört zu werden, — das ist 
die Frau. Er ist mehr als ein Mann, dieser Dostojewski/ und um das 
mehr,, was er mehr Dostojewski ist. Mehr als ein Mann und mehr 
als eine Frau. Alle diese Männer und alle diese Frauen in ihm 
sind alle ganz er selber, jedes ganz er selber, für eine Zeit und nicht 
untereinander verbunden. Das Ich vervielfacht sich auf diese Weise. 
Der Mann, der dieses fatale Geschenk bekommen hat, trägt natür«- 
lieh in das Leben und in seine Werke die Formen des Traumes. 

Der so vielfache und so eine Dostojewski sinnt die Liebe mit 
zwei oder drei oder mehr Frauen/ denn er hat in sich zwei oder 
drei oder mehr Männer, für jede Frau, die er liebt, einen. Sei es, 
daß er das Verlangen in seinem Fleische hat, sei es, daß er einem 
seltenen Idol oder der Jungfrau einen Kult weiht. Verschwendung 
der Liebe, Teilung, die einem mächtigen und mysteriösen Bedürfnis 
entspricht. Er muß die Seele haben, und das Fleisch. Mit der Lust 
muß er die Tränen haben. Und im Brande der befruchteten Frau 
muß er auch die Jugend haben, die Blüte oder selbst die Kindheit. 

Er ist nicht weit davon, derselben Frau zwei oder drei Männer 
zu erlauben, weil er sie in sich selber findet/ und alle drei in ihm 
haben Bedürfnis nach der Frau, die er liebt. Aus diesem dunklen 
Grunde heben sich die seltsamen Helden seiner Bücher: alle zusammen 
in der gleichen Liebe, geben nur einen, ihn, Dostojewski. Daher 
diese geduldige Analyse, welche eine Seite des Charakters nur in 
funktioneller Verbindung mit einer andern Seite betrachtet. Daher 
auch dieses Zusammenstimmen im Leben und besonders in der 
äußersten Liebe alles dessen, was unverstehbare Gegensätzlichkeit 
für den Geist ist. 

Das Begehren dieses Mannes nach dem jungen Mädchen zittert, 
eine Feuernelke im Beet, von Blütenblättern schwer. Die Leidenschaft 
für die Unschuld, der Elan zur jungfräulichen Form hin, diese 
brennende Essenz, die so mächtig und so subtil ist, daß ein ver- 
gossener Tropfen jede andere Liebe ganz parfümiert, und merkbar 



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A. Suares, Dostojewski und die Trauen 



481 



noch ist in der gemeinsten Liebe, — ihr widersteht Dostojewski nie. 
Übrigens ist das junge Mädchen nur in uns. 

Ich glaube, er sucht die Jungfrau in jeder Frau/ er kann nur sie 
lieben. Diese Predilektion reißt ihn fort, trägt ihn in den dritten 
Himmel, wo sie ihn hinabzusteigen zwingt bis zu diesem Frühlings- 
furor, wo die Lüsternheit des Mannes sich an das Kind wendet. 
Er kommt dahin, nicht aus Laster, sondern aus Tugend der wall- 
fahrenden Leidenschaft. Dieses Übermaß ist den Sklaven des brutalen 
Appetites schwer verständlich zu machen. 

In dem nach Liebe unersättlichen Manne zuckt und klopft eine 
Leidenschaft, die über alle Begierden herrscht: eine Liebe zu haben, 
in der alle Lieben ineinander verschmelzen und sich verschlingen. Er 
ist Frau und er ist Mann/ er ist Liebender und er ist Vater/ er 
ist Fleisch für seine Seele wenn sie rast/ er ist ganz Seele für das 
Verlangen seines Fleisches. Und er will die Unschuld, weil sie unter 
allen Essenzen der Liebe die unersetzlichste ist. An Wagner er* 
innert er mich, der mit einem Eifer gleicher Art darauf aus ist, die 
Liebe der Liebenden durch Verwandtschaft zu vervielfachen und der 
vor den verbotenen Graden nicht zurückschreckt. Der Liebende ist 
der Bruder seiner Geliebten. Siegfried ist fast der Sohn seiner Ge- 
liebten und so oft er an sie denkt, denkt er an seine Mutter. Kundry 
stiehlt einen Sohneskuß von den Lippen des keuchenden Parsival. 

Man erzählt mir, Dostojewski hauste mit einem kleinen Mädchen 
— ich war nicht erstaunt. Und ich bin sicher, hätte er hiervon 
sichtbare Fakten gelassen, ich schlüge die Annalen des verborgenen 
Mannes auf. 

Man glaube nicht, man sei in dem Maße sinnlich, in dem man 
leidenschaftlich ist. Es kann geschehen, daß der Furor der Sinne mit 
der Leidenschaft wächst. Aber die leidenschaftliche Imagination ist 
auch einer Art fleischlicher Idealität unterworfen. Nichts schwitzt aus 
ihren Räuschen/ und der sinnliche Brand verbraucht sich darin, die 
Schwierigkeit zu suchen. 

Dostojewski ist bigam: dies zumindest. Ich spreche nur von seinen 
Intentionen. Die Leidenschaft begegnet selten ihrem Objekt/ seltener 
noch findet man die zwei oder drei Frauen, die man in einer begehrt. 

Das Mitleid mit einer Frau, die man weniger liebt als man von 



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I 

482 A. Suares, Dostojewski und die Trauen 



ihr geliebt wird, ist eine böse Passion. Sie führt manchmal sicherer 
zum Tode als die andere. So übersteigt die Wut des Selbstopfers 
weit jene Wut, die man darein legt, sich die andern zu opfern. 

Er wollte sie alle beide: die eine für sich, und sich für die andere 
auch. Ein verschwiegenes Geheimnis bekennt Dostojewski: sich der 
Frau geben, die uns liebt und die von uns ihr Heil erwartet/ und 
die Frau nehmen, die wir lieben, von der wir die Lust erwarten,- 
jene welche die Leidenschaft leben macht und jene, welche sie tötet. 
An dem düsteren Abend im Jdiot' wachen die beiden Männer, der 
Geliebte und der Gatte, das Opfer und der Henker, bei derselben 
Frau, die zwiefach war und die tot ist, auch sie Opfer und Henkerin. 
Und am Ende: die Lust, die man verlangt und das Heil, das man 
austeilt, schmelzen in der unergründlichsten Pein zusammen. 

Was nur ist dieses Suchen nach dem Schmerz in einem Gefühle, 
das dem Manne aus seiner Natur heraus das größte Glück ver- 
spricht? Ist es nicht das Verhängnis im Bewußtsein? Es scheint, daß 
Mann und Frau nicht für das gemeinsame Leben geschaffen sind. 
Die Leidenschaft währt mehr oder weniger lange, aber sie ist kein 
Zustand der Dauer. Die Leidenschaft lebt wie das Drama vom 
Kampf und löst sich im Tode. Je mehr Mann und Frau sich lieben, 
um so verhängnisvoller ist es für sie, vereint und vermischt zu 
leben. Dem Genius der Gattung, den nur der Augenblick kümmert, 
substituiert sich der Genius der Zärtlichkeit, welcher die konträren 
Elemente zusammenzustimmen und aus einem vorübergehenden 
Zustand einen dauernden zu machen vorgibt. Eine solche Gewalt- 
tätigkeit gegen die Natur geht nicht ohne Schmerz. Und ich sage, 
daß er notwendig ist. Die menschliche Liebe unterscheidet sich da- 
durch von der natürlichen Liebe der andern Kreaturen und selbst von 
der der meisten Menschen, wenn man so viele elendeste Paare bedenkt. 

Damit Mann und Weib einander leiden können, müssen sie an- 
einander leiden. Das ist das Gesetz. Ich spreche von dem im Be- 
wußtsein vollendeten Menschen. 

Die Übereinstimmung kommt nur aus dem Opfer. Der am meisten 
liebt, der leidet am meisten. Gewöhnlich bekommt die Frau das 
schmerzhafte Teil/ und oft wählt sie sich die Rolle aus. Aber der 
bessere Mann läßt sie ihr nicht. 



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Das Herz ist in der Liebe zu sehr entwürdigt, wenn es nicht 
leidet. Allein das Leiden gibt uns unsere menschliche Würde zurück. 
Wo ist der tief Liebende, den Amor nicht zur Verzeihung der 
schlimmsten Beleidigungen herabwürdigt? Man muß groß von der 
Frau leiden, um seiner selbst würdig zu bleiben in der Liebe, die 
man einer Frau gibt, und sogar in der Liebe, die sie uns bewilligt. 

Und es ist nicht nur das Geschlechtlich -Natürliche, das sich im 
Manne und in der Frau entgegenstellt. Wenn die Herzen Mitschul- 
dige sind, so ist es das Schicksal nicht. Das Elend, die Krankheit, 
die Trauer, alles was jeden Menschen unter einer Schicksals vollen 
Maske peinigt, das demaskiert sich in der Liebe und nimmt zwischen 
Liebenden das Gesicht des andern an. 

Die Liebe ist das, was uns am meisten von den Alten trennt. 
Unsere Leidenschaft ist so brennend und so groß nur, damit wir in 
uns die Einung der beiden Welten vollziehen können: das christ- 
liche Herz bewohnt das heidnische Fleisch/ und das heidnische Fleisch 
spukt im christlichen Herzen. Es ist unsere Liebe, die uns zeigt, 
daß wir nicht eine Welt in uns von der andern trennen können 
ohne uns vom Ganzen der Welt auszuschließen. 

Das Mysterium der Liebe und das des Schmerzes sind eins. Ich 
glaube nur an leidende Liebe. Und der Schmerz ist nicht die Krank- 
heit: der Schmerz ist eine Bereicherung. Psyche hätte ihren Gott 
nicht verloren, hätte sie ihn aus der Schlaflosigkeit des Schmerzes 
und nicht aus dem Schlafe des Vergnügens aufgeweckt. Ohne den 
Schmerz ist die Liebe nur ein Schatten ihrer selbst. 

Die Alten kannten den Schmerz nicht, weil sie ihn zu besiegen 
glaubten. Und wir, wir müssen ihn retten. Der Schmerz ist nicht 
der Ort unseres Verlangens, sondern der Ort unserer Gewißheit. 
Die Alten sind allzu fleischlich. Ich sage nicht, daß wir aus dem 
Schmerz eine Auserwählung machen müssen. So viel als nötig muß 
man alles tun, sich von ihm zu befreien. Aber kennen muß man 
ihn. Der wahre Mann ist nicht der Herr seines Schmerzes, nicht 
dessen Flüchding, nicht sein Sklave: er muß des Schmerzes Er- 
löser sein. 

Auf der chrisdichen Passion, die dem Leben so viele Wiederhalle 
und Tiefe gegeben hat, darauf müssen wir ein neues Leben er- 



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484 



richten. Und dessen Freude wird allein die Größe sein. Denn wo 
das Leben ist, ist auch die Freude, selbst in den Todesstrafen. 
Leben, das ist Freude haben, um welchen Preis immer. Weder die 
Größe noch die Schönheit sind ohne Leid wertvoll. Also wandle der 
Mensch nicht mehr ohne eine innere Trauer, als welche Preis gibt 
allem: der Tau der Tränen auf einem wunderherrlichen Antlitz. 
Man sollte sich nicht rühmen, den Menschen auf ein Alter zurück- 
zubringen, das er nicht mehr hat, noch in ihm auszutilgen irgend 
eine der Mächte, welche die Vergangenheit in ihn gegeben hat und 
die ihm nötig waren, weil er sie sich gegeben hat. Der Schmerz ist 
eine hohe Macht. 

Statt irgendwas zu zerstören, müssen wir alles in uns vollenden 
und zu Ende bringen. 

Wenn es nötig wäre, die christliche Leidenschaft zu rechtfertigen, 
so sagte ich, sie hat die Liebe erschaffen durch den unendlichen 
Preis, den der Schmerz ihr gibt. Die Kunst ist ein Übermaß der 
gleichen Ordnung, wenn man sie mit dem Spiele vergleicht. Bei den 
Alten ist die Liebe eine junge Flamme, die leuchtet und sich ver- 
zehrt. Unsere Liebe ist ein währendes Feuer und das zu währen 
verlangt, ein Glutbecken, das seine Flammen in dem Maße belebt 
als es sie verschlingt, eine alles Leben nährende Hitze. Die Liebe 
der Alten ist nur die Hülle der unsern: den Sinnen ist das Herz 
zugegeben. 

A Suares. 



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Ludwig Matvany, Zwecke der Kunst 485 



ZWECKE DER KUNST 

DER bleiche Maharadja von Brama-Datta lag im Sterben. 
Ein Leben lang war es stets seine einzige Sorge gewesen, 
wie man die träge Zeit vom Aufstehn zum Schlafengehn mit mög- 
lichst viel Zerstreuungen ausfüllt. Er hielt die schönsten Frauen in 
seinem Harem, die edelsten Pferde in seinem Stall — und das Küssen 
hat ihn gelangweilt und das Reiten ihn nur ermüdet. Wenn er ge- 
wann beim Spiel, so ließ er den Gewinnst unberührt auf dem Tisch 
liegen, und wenn er verlor, so tat er einfach einen Griff in den 
großen Geldsack, den zwei hinter ihm stehende Diener immer bereit 
hielten und schmiß die Gelder mit einer gleichgültigen Gebärde hin. 
Die Segel seiner nervösen yacht knatterten reiselustig auf offener 
See, mit einer Mannschaft, den Wink des Herrn erwartend, — aber 
die blasse, feine Herrenhand zauderte zu winken. Da geschah es in 
einer schlaflosen Nacht, daß er vom launischen Wunsth erfaßt, sich 
in einer Sänfte zu Schiff tragen ließ, um sofort darauf loszufahren. 
Die gelbglühenden Ufer Asiens und Afrikas glitten vor seinem fahlen 
Blick, die Wolkenkratzerderamerikanischen Häfen,die ausRuß und Rauch 
und Nebel und Dampf mit tausend schimmernden Fenstern hervor- 
blitzten, konnten ihn nicht ans Ufer locken und wurden kaum eines 
fangsamen Augenaufschlags gewürdigt, — und in Europa, wo der 
Maharadja das Land betrat, rollten ihn Expreßzüge und Automobile 
durch die Aufregung großer Städte, die ihn aber nicht mehr auf- 
regen konnten. 

Nun lag der Maharadja in seinem damastenen Bett und fühlte 
den Tod nahen. Die tötliche Ermattung der Glieder war ihm eine 
solche Freude, daß kein Arzt ihn heilen, keine Frau ihn pflegen, kein 
Diener ihn berühren durfte. Nur seinen Sohn, den blonden Prinzen 
Rosch-Ha-Kipur hielt er -krampfhaft umarmt, streichelte und herzte 



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4S6 



und küßte ihn, und die Getreuen, die im Halbkreis um ihn herum- 
standen, hörten, wie er sprach mit einer Stimme, die sich todesmüd 
aus wundem Innern hinausrang. »Die Zerstreuung zerstreut nicht, 
sie zerstückelt. Das Stückwerk meines jämmerlichen Daseins geriet 
in furchtbaren Widerspruch mit der Welt. Sie hat sich grausam an 
mir gerächt. Ich war unglücklich, sehr unglücklich, und mußte in 
meinem Jammer auch noch die Verachtung meiner Untertanen — ja, 
ja die Verachtung, was bedarf es vor dem Tod all' der dummen 
Schmeicheleien? — ich mußte eure achselzuckende Verachtung über 
midi ergehen lassen. Aus dem Leben meines Sohnes soll der Wider- 
spruch verschwinden. Sein Leben hat voll und hell, im Einklang mit 
dem Leben des Alls zu sein. Helft mir, ratet — wem soll ich ihn 
anvertrauen? Wer von euch kann das Leben dieses blonden, fürstlichen 
Kindes zum Ausdruck alles Daseins machen und ihn so zum leuchtenden 
Verehrtsein unter Menschen und zum strahlenden Glück erziehen?« 

Da trat aus der Reihe der Zuhörer ein heiliger Mann hervor, 
der all' seine Tage auf einer Säule betend verbracht hat und der 
nun in das königliche Haus berufen war, um für die Gesundheit 
seines sterbenden Herrn zu beten. 

»Gib ihn mir — begann der Fakir - dein blondes, fürstliches Kind. 
Er wird sich jung und schlank auf eine Säule neben der Meinen 
stellen und, bis er grau wird und alt, seine Jahre auf der Säule 
stehend, in andächtiger Betrachtung des Alls verbringen. So wird 
dein Wunsch erfüllt und dein Sohn ein verehrtes, ruhmvolles, glück- 
lich-ruhiges Dasein in herrlichem Einklang mit der Ruhe des Alls 
verbringen.« 

Ein Zucken des Unmuts fuhr durch das kranke, zerwühlte Ge- 
sicht des Maharadja, und man vernahm, daß er wie ein gequältes 
Kind in heiserem Gestön nervöse Fragen vor sich hin murmelte: 
»Ruhe? Wo ist Ruhe? Was ist Ruhe? Ruht die Sonne? Ruht der 
Mond? Ruhen die Sterne? Ruht das Meer? Ruht die Zeit? Warum 
soll der Mensch ruhen? Ruh ist Tod, Leben ist Unruh! In dir, 
heiliger Mann, verehren die Menschen die Ruhe des heiligen Tods. 
Lehrt mir, sagt mir nur, wie soll mein Sohn in der unruhigen 
Wirrnis des Lebens verehrt und glücklich und ruhmvoll sein?« 

»Gib ihn mir« <— schrie ein Mann, der eben aus Europa kam, um 



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Ludwig Hatvany, Zwecke der Kunst 487 



dort das Neueste in Ackerbau und Handel, im Fliegen und Fahren 
zu erlernen — »ich will dem blonden Prinzen zeigen wie man Fabriken 
baut, Kanäle gräbt, Eisenbahnlinien zieht, den Boden fruchtbar macht, 
Schulen gründet, Wege durch Felsen und Berge bricht, Städte ord- 
net, Gesetze macht, Handel treibt und mit teuflischen Waffen sieg- 
reiche Kriege führt. Dein blonder Fürst soll ein Mann der Tat sein, 
— denn nur ein nützliches und zweckmäßiges, rasdos-unruhiges Leben 
kann in Einklang mit der nützlichen und zweckmäßigen Unruh' alles 
Seins zum leuchtenden Verehrtsein unter Menschen und zum strahlenden 
Glück führen.« 

Es war von neuem eine unmutige Geste des Fürsten, die dem 
Sprechenden das Schweigen gebot. Schon wieder konnte man ge- 
lispelte Fragen hören: »Zweck und Grund — Grund und Zweck! 
Was ist Grund? Was ist Zweck? Wer so spricht, ist ein Lügner, 
ein Fälscher, ein dummer Kerl, der sich selbst täuscht. Das Glück 
ist sonder Falsch. Das Glück ist keine Täuschung. Oder es gibt 
kein Glück auf dieser Welt.« »Mein armes — du mein ärmstes, gutes 
Kind!« seufzte der Fürst, rang seine schwachen Hände und die 
gebrochenen, verzweifelten Vateraugen fielen nun auf den Poeten, 
dessen Gedichte er sich in besseren Tagen gerne vorsingen und 
dessen Fabeln er gar oft erzählen ließ. 

Der Dichter holte tief Atem und begann also zu sprechen: 
»Dein blonder Prinz hat verträumte, schöne Augen, die blau sind 
wie Kornblumen im Feld. Ich will machen, daß aus seinen Träumen 
Kunstwerke erblühen. Er soll ein Künstler sein, nicht um die 
Menschen zu belehren, nein, — sie holen ja ihre Belehrung ganz 
anderswo, nicht um sie zu veredeln, nein, — sie lassen sich ja 
überhaupt nicht veredeln, nicht um ihnen den Jammer des Daseins zu 
erleichtern — nein ! — die Leutchen unterhalten sich ja bei Spiel und Tanz 
und fröhlichem Gelage, — auch nicht, damit er in seiner Kunst der 
Natur einen Spiegel entgegenhalte, denn sie ist sich ja selbst der 
schönste Spiegel allüberall. Ob er nun eine Fabel sinnreich zu Ende 
führt, ob er auf die Suche nach einem Reim geht, ob er Figuren in 
Holz schnitzt oder mit einem dünnen Pinsel die Farben der starken 
Natur abringt, — es ist gleichgültig, was er tut, wie er tut, wieso, 
weshalb und warum er tut. Mir haben europäische Schiffer von einem 
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488 



Ludwig Hatvany, Zwetäe der Kunst 



Manne mit langem, weißen Bart, mit wilden, rollenden Augen und 
mit einer zerquetschten Nase erzählt, der einst in einer Stadt, die die 
Leute von dort drüben, ich weiß nicht recht warum, die Ewige nennen, 
mit nach rückwärts gebeugtem, wehem Nacken und gekrümmt auf einem 
Gerüst hockend, die Wände einer großen Kapelle bemalt hat. Und die 
Kapelle, wo dieser Mann Jahre und Jahre verbracht, wo er gear- 
beitet, gerungen, geschuftet und schließlich, wie mir die Schiffer sagen, 
Großartiges oder doch ihrem rohen, europäischen Sinn großartig zu 
sein Scheinendes, fertig gebracht hat, — diese Kapelle war, denk 
dir, o Fürst, auch bei hellichtem Tag dunkel, wie die Stunde der 
Dämmerung, so daß die Gemälde sich, wie durch einen Flor, eben nur 
erraten, kaum sehen ließen. Daraus ist zu erkennen, wie ganz und 
gar hinfällig auch unser bestes Werk ist, und daß es ja gar nicht 
auf das Werk, allein nur auf den Trieb ankommt, diese Werke zu 
schaffen. So ist es auch erklärlich, daß die Menschen selbst den 
Künstler eines mißlungenen, unvollkommenen Werkes verehren, 
wenn sie nur diesen heiligen, unsinnigen Trieb zu schaffen in ihm 
fühlen. Dieser Kampf um einen Erfolg, der kein Erfolg ist, diese 
Arbeit um eine Wirkung, die nirgend wirkt, dieses fortwährende 
Streben, das nur einen Zweck hat, ziellos zu sein und sofort zweck» 
los wird, wo es sich irgendein Ziel steckt, setzt einen armen Mann 
wie mich, in Einklang mit der rasdosen Unruhe der Natur, die 
grundlos und zwecklos und nutzlos Welten aus dem Nichts für das 
Nichts schafft. Gib ihn mir, den Prinzen, deinen blonden Sohn, ich 
will ihn zu Tagen schöpferischer Unruhe, zum fiebernden Schaffen 
schlafloser Nächte, zum Wahn des Selbst- und Weltvergessens, zu 
unsrer strahlend-glücklichen Qual erziehen, auf daß die Leute in ihm 
den Künstler, den besten, vollsten Ausdruck der Zweck- 
losigkeit alles Daseins mit Ruhm verehren.« 

Der Maharadja nickte mit einem leisen Nicken seines Hauptes, 
löste die Hand aus der Hand seines Sohnes und schob dann den 
blonden Prinzen sanft dem Dichter zu. 

Ludwig Hatvany. 



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Rene' S&idiefe, ZwisSen den H feinen Seen 



ZWISCHEN 
DEN KLEINEN SEEN 

ER HAT CHRISTUS GEKREUZIGT! 

EIN Schlachtname — Kiew — wert, lange im Gedächtnis der euro- 
päischen Menschheit bewahrt zu werden. Nein, man soll nicht 
vergessen! Vergessenheit bringt falsche Stärke und schwächlichen 
Leichtsinn. 

Wir haben, in Deutschland, Könitz gehabt, wo auch ein Ritual- 
mordprozeß versucht wurde. Aber ein solcher Prozeß, ohne die 
tiefere Entsetzensmusik vorausgegangener Pogrome, ohne daß in 
allem Für und Wider im Gerichtssaal die Drohung neuer Massen- 
verfolgungen zittert, grollt, . . wirkt nur lächerlich. 

Sie sind von erschreckender Ernsthaftigkeit — dort drüben. 

Und doch: scheint nicht schon lange Zeit verflossen, seitdem die 
Kosaken in Israel waren?.. 

Zur Hunnenzeit und später, vor hundert Jahren, ging es uns 
Christen ebenso. Die Hunnen waren kaum über dem Bach, da 
hatten sie sich schon in eine Art Sage, die Sage von einer wahrhaft 
höllischen Erscheinung verwandelt. Ein Albdruck war gewichen. 
Man rieb sich die Augen und besah den Schaden. 

Denn wenn wir ihn nicht über uns haben, können wir uns nur 
mit größter Mühe einen Begriff von einem Kosaken machen. Es ge- 
hört eine intellektuelle Anstrengung dazu, deren einfache Leute nicht 
fähig sind. 

* 

Keine großen Gebirge, keine Wüsten trennen uns von ihnen, und 
selbst Meere wären kein Hindernis. Heute gibt es nur noch eins, 
das die Völker trennt: die Seele. Ich weiß... 



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< 



490 Rene' Scßicüefe, Zwischen den Meinen Seen 



Ich weiß, daß auch dieser Artikel maschinenmäßig hergestellt wird, 
und ich kenne das Geheimnis der Fabrikation. Gab es nicht eine 
Zeit, wo jeder Straßenjunge in Frankreich dem >perfiden Albionc 
die unangenehmsten Kehrreime ins Gesicht pfiff? Als der Kapitän 
Marchand, ein tapferer Kopf und überdies das Kolonialidol vieler 
Pariser Saisons, vor den Engländern die Trikolore niederholen und 
Faschoda räumen mußte? Die Regierung der Republik knirschte 
hörbar mit dem Tintenfaß, das französische Volk schrie auf — wie 
laut! wie laut! 

Zuerst in den Zeitungen. 

In allen Zeitungen! 

Und dann in den Kaffeehäusern und den zahllosen Kneipen des 
Landes: diesem tausendfältigen Echo der Presse, von wo die po- 
litischen Erregungen der Stunde in die Familien verschleppt werden, 
bis, auf einmal, ein einziger Schrei aus allen Häusern des Landes 
und aus dem Boden selbst zu steigen scheint. . . 

Perfides Albion! Und ich erinnere mich, wie dieser aufrichtige 
Wutschrei, mit dem ganz Frankreich das haßerfüllte Gesicht gegen 
England wandte, — kassiert wurde. Es dauerte etwas länger, die 
Regierung drückte sanfter auf den Knopf, die Leitung wurde nicht 
vom Schock der Empörung erschüttert: die Presse sandte ihre psycho- 
magnetischen Wellen in Abständen und sorgfaltigen Abstufungen 
ins Land, aber, als dann der Termin für das Verbrüderungsfest an- 
gesetzt werden konnte und die Begeisterung erst in Gang gekommen 
war, da regnete der heitere Himmel Frankreichs soviel Rosen auf 
den Nachbar und Freund, wie noch nie, seitdem der dritte Napoleon 
nach Italien gegangen war. Und jetzt . . Jetzt singen sie in den Kinder- 
schulen ein Lied, worin es heißt, die Engländer seien herrliche Men- 
schen, tapfer, klug, schön, ja, alles in allem, fast Franzosen. . . 

Trotzdem. 

Tausend Jahre Menschentum trennen uns von dem Orient, der 
in ozeanischen Wellen gegen die Ostmarken Europas schlägt: ein 
Wehr, das mit Deutschlands Macht steht und bricht <— Herrschaften!) 

Rußland: das ist die — sehr flüchtige — Quarantäne für einen 
heranwandernden Weltteil, . . in der täglich die widernatürliche Hoch- 
zeit mit diesem Teile gefeiert wird. Ein kleiner europäischer Kopf, 



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Rene' 5<£i<£efe, ZwisSen den Minen Seen 491 



ein Tierbändigerkopf, der einen ungeheuren, von Urkräften strotzen- 
den Leib regiert, indem er ihn gewaltsam niederhält in mystischer 
Sklaverei. Bis er ihn eines Tages gegen Europa losläßt . . . Denn er 
ist nur stark mit ihm und durch ihn. Er nährt sich von ihm, ja, er 
existiert nur durch ihn. Das »europäische Rußland« ist ein geogra- 
phischer, aber weder ein politischer, noch weniger ein kultureller Be- 
griff. Rußland ist, geistig gesprochen, der klimatische Übergang vom 
Asiatischen ins Europäische, eine Akklimatisierungsstation, ein Trai- 
ning und — letzten Endes — eine Kriegsschule, wo wir unsere 
schlimmsten Feinde ausbilden. 
Und ja, auch das: 

Ein märchenhaftes Land, voll Genie, Harmonikaklängen und Me- 
lancholie . . und allen grellen Farben höchster Erdenfreudigkeit, wil- 
dester Weltverlorenheit. Ein vulkanischer Hexenkessel von Glaube 
und Aberwitz, zielloser Inbrunst und traumhafter Prophetie ... in 
einer Atmosphäre von Glut und Sdinee und Kerzenschein, durch 
die, schmale, niedre Kentauren, flink und lautlos wie Raubtiere, im 

blutigen Zwielicht, die Kosaken reiten. 

* 

Aus dem Wundersumpf strecken neue Generationen gerade, blanke 
Arme empor. Wie lange schon! 

Wir können, von hier, nicht beobachten, wie sie wachsen. Noch 
wägen, was sie in die Hände der Nächstgeborenen legen, bevor die 
Erde sie zurücknimmt. 

Manchmal hab ich sie wie im Traum gesehn. O diese Scharen 
großer Vögel, die sich hie und da über dem heiligen Sumpf hastig 
sammeln und aneinanderrücken, den Kopf nach Westen, zum Himmel 
Europas gewandt! 

Sind nicht auch sie ein Spuk, die Vision eines Diesseitigen? 

Vielleicht werden sie doch einmal auffliegen . . und den Glanz 
ihrer Flügel als einen neuen Himmel über jene fernen Länder 
breiten, . . 

deren einzige Laute, die klar und deudich zu uns dringen, Schreie 
von Schmerz und böser Wollust sind . . 

aus einem Murmeln wie von Litaneien, die unabsehbar weite 
Acker beten. 



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492 



Rene' Sdidtefe, ZwisSen den lifeinen Seen 



STILLE BETRACHTUNG 
NACH DEN ZABERNER TAGEN 

»Als ich noch Landrat war, Himmeldonnerwetter..« 
<Graf Westarp bei der Besprechung der Interpellation 
über die Zaberner Ereignisse im Reichstag ) 

»Wir sind ein junges Volk, haben vielleicht allzuviel 
noch den naiven Glauben an die Gewalt, unterschätzen 
die feineren Mittel und wissen noch nicht, daß, was die 
Gewalt erwirbt, die Gewalt allein niemals erhalten kann.« 

<Der Reichskanzler Bethmann Holl weg in einem Brief 
an Professor Lamprecht, der nach der Interpellation über 
die Zaberner Ereignisse veröffentlicht wurde.) 

»Nun ist die Reihe an eurhe, sagte Schwarzhaar, als die ersten 
Nachrichten aus Zabern kamen. 
Die Reihe an uns? 

Wann haben wir denn aufgehört, an der Reihe zu sein? 

Seit vierzig Jahren wohnt, bis über die Augen bewaffnet, ein 
rothaariger Koloß in diesem Land, er hockt auf dem Rand der Vo- 
gesen, um seine grobgestiefelten Beine in der Ebene, die Rebhügel 
hinauf kommen und gehn die Jahreszeiten. Er drückt auf das kleine 
Land wie auf die Mitte einer riesigen Schaukel — ja, und das ist 
denn auch das berühmte europäische Gleichgewicht. Und es geschieht 
wenig in der Welt und nichts wichtiges, ohne daß man hier, wo 
des Kolosses Stiefel stehn, ein leises oder hartes Schwanken spürte. 
Ein politischer Seismograph könnte die geringsten Erschütterungen 
der »Weltlagec verzeichnen. — Hier, wo die Absätze auf seinem 
Leibe drücken, schlägt das Herz Europas am unruhigsten . . und 
auch am schmerzhaftesten. 

Ist es ein Wunder, wenn da jeder elsäßische Bauer ein Europäer 
wenigstens insofern ist, als er darauf schwört, mit ihm könnte zu* 
gleich Europa geholfen werden? Der Reisende kann sich in jeder 
Dorfkneipe sagen lassen, daß »die Deutschen und die Franzosen 
nur zusammenzuhalten brauchten, damit — « Nun, damit endlich Ruhe 
ins Land käme und, außerdem, mehr Sicherheit in die europäischen 
Verhältnisse. Daß sie nebenbei für die allgemeine Abrüstung 
schwärmen, versteht sich von selbst. Sie möchten Gewicht und Ge- 



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Rene' S&idiefe, ZwisSen den Meinen Seen 



493 



ruch jener Stiefel von märchenhaftem Umfang los sein! Aber das 
gilt weniger für die Bauern, als für die Bürger in den Städten. 
Obwohl die »wiedergewonnenen Brüder«, seitdem sie wieder »zu 
Hause« sind, in der deutschen Armee als »Wackes« traktiert wer- 
den, gehn die Bauern noch immer gern zu den Soldaten, und sie 
scheinen sich dort nicht schlechter zu bewähren, als zur Zeit des 
ersten Napoleon, wo sie das Hauptquartier mit den robusten Lauten 
ihres Dialekts erfüllten . . . 

In diesem Land, das sich sehr zäh und, wenn es gereizt wird, 
auch sehr laut weigert, schlankweg zu vergessen, was nicht vergessen 
zu werden verdient, und das bißchen französische Blut, das durch 
seine Adern lacht, in der Umarmung einer sadistischen Germania 
aus den Poren zu schwitzen, in diesem Land gibt es eine Stadt, die 
am schnellsten, unmittelbar nach dem Krieg, wie die Geschichts- 
schreiber sagen: an die deutsche Vergangenheit anknüpfte und Bis- 
marck eine »Ergebenheitsadresse« übersandte. Das ist Zabern. 

Es hat lange gedauert und kostete Mühe. Aber schließlich ist es 
gelungen . . . Allerdings mußte schon das Militär die Sache in die 
Hand nehmen. Zabern wurde germanisiert . . . Mit diesem Fremd- 
wort bezeichnet man im neuen deutschen Reich einen sehr schwie- 
rigen Handgriff der Verwaltungskunst. Er besteht darin, Sonntags- 
spaziergänger und Kegelschieber von Amts wegen fuchsteufelswild, 
ja wenn möglich, zu Rebellen zu machen. Diese Kunstübung erfreut 
sich in Preußen eines solchen Ansehns, daß ein Landrat, dem sie ge- 
lingt, damit das Anrecht erwirbt, bei den nächsten Wahlen als Kan- 
didat der konservativen Partei aufgestellt zu werden. In Ermangelung 
eines preußischen Landrats fanden sich in Zabern ein paar blutjunge 
Leutnants und ein offenbar etwas äldicher Oberst. 

Während einiger Tage herrschte da, mitten im Frieden, die Militär- 
diktatur. Die Offiziere veranstalteten eine Razzia, der neben halb- 
wüchsigen Gassenjungen und ehrbaren Bürgern ein Rechtsanwalt und 
die hohe Magistratur selbst zum Opfer fiel. Sogar der Staatsanwalt 
wurde festgenommen. Ein kleiner Leutnant eilte, von Soldaten mit 
aufgepflanztem Seitengewehr begleitet, durch die Straßen und rief, 
nachdem er unter dem Schutz der Bajonette Schokolade eingekauft 
hatte: »Wer lacht, wird verhaftet.« Ein andrer setzte einen lahmen 



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494 



Rene SSitfefe, Zwiscßen den Meinen Seen 



Schuster außer Gefecht, indem er ihm den Degen in den Schädel 
trieb. Aber im Beriebt las ich, daß er nach dieser Tat völlig erschöpft 
auf einen Stuhl gesunken sei .... Es scheint, daß der Koller, der 
den Wahnsinnsausbruch dieser Tage bewirkt hatte, selbst über seine 
zweifellos überspannten Kräfte ging. Der Junge war neunzehn Jahre 
alt, und er hätte vielleicht längst Abbitte geleistet, aber er durfte, er 
konnte nicht/ des »Königs Rode« brannte vielleicht wie ein Nessus- 
hemd, aber »Tabu« schrien die Militärs und zeigten mit dem Finger 
auf das bunte Stück Tuch: »Tabu, Tabu«, und im Reichstag, vor 
dem ohnmächtigen Bürgerzorn der Abgeordneten, hob der Kriegs* 
minister beschwörend die Hand und wiederholte, zum Säulenheiligen 
erstarrt, vom hohen Rednerpult: »Tabu!« . . . Auf der Tribüne saß 
der »Hauptmann von Köpenick« und grinste sonntäglich — der Augurl 
»Tabu« murmelte er und nickte. 

* 

Unser Wein wächst an der großen europäischen Straße, die das 
Mittelländische Meer mit der Nordsee verbindet. Die Rebhügel sind 
voll und zart geschweift wie eine ruhende blonde Frau, die sich auf 
ihren Arm aufstützt . . . Unser Wein ist leicht und von der Farbe 
reinen Goldes. Er verwandelt die Menschen, die in meine Heimat 
kommen, um dort zu bleiben, seit mehr, als einem Jahrtausend, ver- 
wandelt sie, unmerklich, ohne Gewalt, macht sie heller, leichter. 

Da er rein aus der Brennerei unsrer guten Sonne fließt, ist es 
kein Wunder, daß er, in aller Stärke, die Seele unsrer Luft, unsrer 
Erde enthält und sie verschenkt. Und Menschen erobert. 

Und seht, wie die, die das Land bewohnen, sich zu verteidigen 
verstehn, bewundert doch ~ statt die Hörner zu senken, weil ihr rot 
seht — billigt ihren, für ein kleines Volk beispiellosen, so zähen wie 
schmiegsamen Trieb zur Selbstbehauptung, — ihren »heimlichen Wahn* 
sinn«, wie mir einmal ein unheimlich berührter Sachse sagte. Der 
hatte getan, wie die meisten unsrer (wohlwollenden) Rezensenten 
zu tun pflegen. Er verbrachte mutig seine Ferien hier, bereit, alles 
zu verstehn und alles zu verzeihen. Er verstand nichts, aber er ver- 
zieh trotzdem, weil er festgestellt hatte, daß die Elsäßer noch immer 
deutsch sprachen. <Was gar nicht so dumm von ihm war!) 



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Rene 5&ic6efe, ZwisSen den Meinen Seen 495 



Dieses an geschichtlichen Wechselfällen überreiche Volk scheint, 
wenn man näher zusieht, in Wirklichkeit gar keine Geschichte zu 
haben. Es bricht nicht zusammen und gibt jedem Druck nur soweit 
nach, wie es ihm wohl ansteht. Dafür durchdringt es die, so auf ihm 
lasten, mit seiner ungeduldig leichten, schwerleichten, geduldigen Seele. 

Unsre alten reichsunmittelbaren Städte sind nicht >tot«, Reichen« 
weier, Türkheim, Oberehnheim mit ihren Türmen und Wällen keine 
bloßen Gemütsreize wie etwa das romantische Rothenburg ob der 
Tauber, das sich auf Ansichtskarten vielleicht sogar besser ausnimmt. 
Sie leben, und wenn ich sage: sie leben, so will das nicht heißen, 
daß sie von der Fremdenindustrie mit Erfolg ausgebeutet werden, 
oder daß in ihren Straßen so und soviel mal im Jahr farbenfroher 
Mummenschanz getrieben wird, oder daß Sektionen des vortreff- 
lichen Vogesenklubs die geschichtlichen Erinnerungen wachhalten. Sie 
wären gerade so lebendig, wenn sie sich nicht erinnerten und wer- 
den es bleiben, solange die Wesensart dieser alten freien Bürger- 
schaften von Vater auf Sohn übergeht und sie ihr Weißbrot backen 
und ihren Wein trinken und, bald tatenlustig, bald zurückhaltend, 
dem doppelten Echo lauschen, das sich seit undenklichen Zeiten 
zwischen Rhein und Vogesen verfängt. 

Wer Gottfrieds Herzschlag zu hören vermag, wer die Pasquille 
der Straßburger Reformatoren und die lachenden, pathetisch aus- 
brechenden Schriften ihrer Gegner liest und von den Kämpfen der 
Bürgerschaft unter Jakob Sturm wie unter Dietrich, von den Plebis- 
ziten, den Verhandlungen in Bordeaux und den Septennatswahlen 
und heute in eine wichtige Sitzung des Landtags geht, der wird 
immer denselben Himmel über sich haben und immer dieselben 
Stimmen vernehmen. 

Die neu ankommen, bilden kleine Kleckse auf unsrer Landschaft, 
ihre Stimmen dissonieren. Aber bald haben sie, oder, wenn nicht 
sie selbst, so doch ihre Kinder, ihre Enkel unsre Farbe und sprechen 
wie wir. 

Die andern bleiben nicht. 

Allerdings gibt es auch viele Soldaten, die in Kasernen leben. 
Aber die bleiben erst recht nicht. 

Und über Fluß und Ebene und über den Rebenhügeln schwebt 



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496 Ren/ SSidtefe. ZwisSen den k feinen Seen 



das Lächeln der Heiligen Odilia, stark und anmutig und ein ganz 
klein wenig spöttisch — so weit das Lächeln einer Heiligen spöttisch 
sein kann. 

Ich träume weiter. 

von Anmut, die sich bis zur Ekstase steigert, 
von Leichtigkeit — selbst im Gewaltsamen, 

von Musik, die noch immer Musik ist, auch wenn der Schlag auf 
die große Trommel plötzlich die Dissonanzen entfesselt und die 
Roheit den Belagerungszustand verhängt. 

Die Musik geht weiter, — wie das Leben. 



RUF 

Sechzehn-, Siebzehn-, Achtzehnjährige...! 
in den alten, grauen Steinkästen, 

wo noch das einzige Zimmer, das nicht bis in den letzten Winkel, 
in seinem ganzen nackten Viereck von der wagerechten Anordnung 
der Folterbänke eingenommen ist, 

das Physikzimmer mit der großen Bogenlampe 

an die Anatomie erinnert,... 

und den großen Höfen, diesen Zwingern, in denen, feucht, klebrig, 
schwer wie ein Albdruck, die Schreckgespenster ursprünglicher Men- 
schennot nisten — ihr kalter Schweiß dringt durch Mauern und Holz- 
werk, durch das große Tor und vergiftet die Stadt — 

mit den Winkeln und Verstecken jugendlichen Aufruhrs, in die 
sich die heisern Laute der Schulglocke wie eine Meute Jagdhunde 
werfen, um euch auseinander zu jagen, in die Kniee, auf den Bauch 
vor die Schlüsselgewalt völlig unmystischer Altphilologen, in die 
Kniee, auf den Bauch, in die Kniee, auf den Bauch, . . . 

besonders ihr aus den Germanis ierungskasernen der Grenzländer, 
wo Wagner als ein rabiater Militärkapellmeister und Kant als der 
Verfasser grundlegender Artillerieschießvorschriften weiterleben und 
der blaßrote Tinte blutende Schatten Goethes von Kaisergeburtstags- 
rednern mit weltpolitischem Blick aus dem Orkus geschleift und 



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Rene' SSicüefe, ZwisSen den 6 feinen Seen 



497 



zwischen die »Spitzen der militärisdien und Zivilbehörden« unsanft 
an den Tisch gesetzt wird, . . . 

und die ihr endlich, der Schule entronnen, zwischen zwanzig und 
dreißig, eines Tages, ahnungsvoll, zum erstenmal, 

die große, barbarische Sonne Deutschlands aufgehn seht, die weiß- 
glühende Stahlscheibe in Rauchschwaden über den Schloten, 

und die Musik vernehmt der Wälder und Flüsse und des nörd- 
lichen Meeres: 

wir schlagen euch Brücken! 

wir bereiten euch den Weg! 

Rat* SSidefe. 



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49S 



Gustav Meyrint, Der Gofem 



DER GOLEM 

ROMAN 

(Fortsetzung) 

IV 
PRAG 

Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dün- 
nen fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich hörte, wie 
ihm vor Kälte die Zähne aufeinanderschlugen. 

Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, 
sagte ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Woh- 
nung zu kommen. — 

Er aber lehnte ab. — 

»Ich danke Ihnen, Meister Pemath,c murmelte er fröstelnd, »leider 
habe ich nicht mehr soviel Zeit übrig/ — ich muß eilends in die 
Stadt. — Auch würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt 

auf die Gasse treten wollten. — Schon nach wenigen Schritten! 

Der Platzregen will nicht schwächer werden!« — 

Die Wasserschauer fegten über die Dächer hin und liefen an den 
Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom. 

Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drüben im 
vierten Stock mein Fenster sehen, das vom Regen überrieselt aus- 
sah, als seien seine Scheiben aufgeweicht, — undurchsichtig und höcke- 
rig geworden wie Hausenblase. 

Ein gelber Schmutzbach floß die Gasse herab und der Torbogen 
füllte sich mit Vorübergehenden, die alle das Nachlassen des Un- 
wetters abwarten wollten. 

»Dort schwimmt ein Brautbukett«, sagte plötzlich Charousek und 
deutete auf einen Strauß aus welken Myrten, der in dem Schmutz- 
wasser vorbeigetrieben kam. 



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Gustav Meyrinü, Der Gofem 



499 



Darüber lachte jemand hinter uns laut auf. 

Als ich mich umdrehte, sah ich, daß es ein alter vornehm geklei- 
deter Herr mit weißem Haar und einem aufgedunsenen krötenartigen 
Gesicht gewesen war. 

Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurück und brummte 
etwas vor sich hin. 

Unangenehmes ging von dem Alten aus/ — ich wandte meine Auf» 
merksamkeit von ihm ab und musterte die mißfarbigen Häuser, die 
da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen neben- 
einander hockten. 

Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen! 

Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus 
dem Boden dringt. — 

An eine niedrige gelbe Steinrnauer, den einzigen standhaltenden 
Überrest eines früheren langgestreckten Gebäudes hat man sie an- 
gelehnt — vor zwei, drei Jahrhunderten — wie es eben kam, ohne 
Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. — Dort ein halbes, schief- 
winkliges Haus mit zurückspringender Stirn/ — ein andres daneben 
vorstehend wie ein Eckzahn. 

Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, 
und man spürte nichts von dem tückischen feindseligen Leben, das 
zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende 
in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel ver- 
bergen hilft. 

In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Ein- 
druck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es ge- 
wisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie 
gäbe, wo sie erregt eine lautlose geheimnisvolle Beratung pflegen. 
Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, 
das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und 
und fallen in den Regenrinnen nieder, — und wir nehmen sie mit 
stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen. 

Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spuk- 
haften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die 
heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens 
und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können, — es 



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500 Gustav Meyrink, Der Golem 



tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kom- 
mender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern. 

Und lasse ich die seltsamen Menseben, die in ihnen wohnen wie 
Schemen, wie Wesen — nicht von Müttern geboren — die in 
ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefugt 
scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je 
geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten 
bergen, die mir im Wachsein nur noeb wie Eindrücke von farbigen 
Märchen in der Seele fortglimmen. 

Dann wacht in mir heimlicb die Sage von dem gespenstischen 
Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im 
Ghetto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und 
ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er 
ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob. 

Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde 
erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde 
genommen ward, so müßten auch, dünkt mir, alle diese Menseben 
entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, lösebte man irgend- 
einen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine 
zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein 
dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses — in 
ihrem Hirn aus. 

Was ist dabei für ein immerwährendes schreckhaftes Lauern in 
diesen Geschöpfen! 

Niemals sieht man sie arbeiten — diese Menschen, und dennoch 
sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten 
mit angehaltenem Atem — wie auf ein Opfer, das doch nie kommt 

Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trete jemand in ihr 
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, 
dann fallt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie 
in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd 
abstehen. 

Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, 
sich seiner zu bemächtigen. 

»Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe 
genommen ist«, sagte Charousek zögernd und sah mich an. — 



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Gustav Meyrmf, Der Gofem 



501 



Wie konnte er wissen, woran ich dachte? — 

So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande 
sind auf das Gehim des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende 
Funken, fühlte ich. — 

» wovon sie nur leben mögen !< sagte ich nach einer Weile. 

»Leben? — Wovon? — Mancher unter ihnen ist ein Millionärlc 

Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen! — 

Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken. 

Für einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Tor- 
bogen gestockt und man hörte bloß das Zischen des Regens. 

Was er nur damit sagen will: »Mancher unter ihnen ist ein Mil- 
lionär^ 

Wieder war es, als hätte Charousek meine Gedanken erraten. 

Er wies nach dem Trödlerladen neben uns, an dem das Wasser 
den Rost des Eisengerümpels in fließenden braunroten Pfützen vor- 
beispülte. 

»Aaron Wassertrum ! Er zum Beispiel ist Millionär, — fast ein Drittel 
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen sie es denn nicht, HerrPernath?!« 

Mir blieb förmlich der Atem im Mund stecken. »Aaron Wassertrum! 
Der Trödler Aaron Wassertrum Millionär?!c 

»Oh, ich kenne ihn genaue, fuhr Charousek verbissen fort und 
als hätte er nur darauf gewartet, daß ich ihn frage. »Ich kannte auch 
seinen Sohn, den Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehört? 
Von Dr. Wassory dem — berühmten — Augenarzt? — Vor einem 
Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm gesprochen, — von 

dem großen Gelehrten. Niemand wußte damals, daß er seinen 

Namen abgelegt und früher Wassertrum geheißen. — Er spielte sich 
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft und wenn 
einmal auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tief- 
bewegt so mit halben Worten hin, daß sein Vater noch aus dem 
Ghetto stamme, — sich aus den niedrigsten Anfängen heraus unter 
Kummer aller Art und unsäglichen Sorgen empor ans Licht habe 
arbeiten müssen. 

Ja! Unter Kummer und Sorgen! 

Unter wessen Kummer und unsäglichen Sorgen aber und mit 
welchen Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt! 



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502 Gustav Meyrinfi, Der Gofem 



Ich, aber weiß, — was es mit dem Ghetto für eine Bewandrnis 
hat!c Charousek faßte meinen Arm und schüttelte ihn heftig. 

»Meister Pernath, ich bin so arm, daß ich es selbst kaum mehr 
begreife, ich muß halb nackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, 
und ich bin doch Student der Medizin, — bin doch ein gebildeter 
Mensch!« 

Er riß seinen Überzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, 
daß er weder Hemd noch Rock an hatte und den Mantel über der 
nackten Haut trug. 

»Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmächtigen, 
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, — und noch heute ahnt 
keiner, daß ich — ich der eigentliche Urheber war. 

Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, 
der seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbst* 
mord getrieben hat 

Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug! sage ich Ihnen. Ich 
allein habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, 
habe die Beweise geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein 
in dem Gebäude Dr. Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht 
war, wo kein Geld der Erde, keine List des Ghetto mehr vermocht 
hätten den Zusammenbruch, zu dem es nur noch eines unmerklichen 
Anstoßes bedurfte, abzuwenden. 

Wissen Sie, so — so wie man Schach spielt. 

Gerade so wie man Schach spielt. 

Und niemand weiß, daß ich es war! — 

Den Trödler Aaron Wassertrum, den läßt wohl manchmal eine 
furchtbare Ahnung nicht schlafen, daß einer, den er nicht kennt, der 
immer in seiner Nähe ist und den er doch nicht fassen kann, — ein 
anderer als Dr. Savioli — die Hand im Spiele gehabt haben müsse. 

Wiewohl er einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu 
schauen vermögen, so faßt er es doch nicht, daß es Gehirne gibt, die 
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen unsichtbaren ver- 
gifteten Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an 
Gold und Edelsteinen vorbei, um die verborgene Lebensader zu 
treffen.« 

Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wilcL 



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Gustav Meyrint, Der Gofem 503 



»Aaron Wassertrum wird es bald erfahren/ genau an dem Tage, 
an dem er Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage! 

Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten 
Zug. — Diesmal wird es ein Königsläufergambit sein. Da gibt es 
keinen einzigen Zug bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine 
verderbliche Entgegnung wüßte. 

Wer sich mit mir in ein solches Königsläufergambit einläßt, der 
hängt in der Luft sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an 
feinen Fäden, — an Fäden, die ich zupfe, — hören Sie wohl, die 
ich zupfe, und mit dessen freiem Willen ist's dahin.« 

Der Student redete wie im Fieber und ich sah ihm entsetzt ins 
Gesicht. 

»Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daß 
Sie so voll Haß sind?« 

Charousek wehrte heftig ab: 

»Lassen wir das — fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals 
gebrochen hat! — Oder wünschen Sie, daß wir ein andres Mal dar- 
über sprechen? — Der Regen hat nachgelassen. — Vielleicht wollen 
Sie nach Hause gehen?« 

Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plötzlich ganz ruhig 
wird. Ich schüttelte den Kopf. 

»Haben Sie jemals gehört, wie man heutzutage den grünen Star 
heilt? — Nicht? — So muß ich Ihnen das deutlich machen, damit 
Sie alles genau verstehen, Meister Pernath! 

Hören Sie zu: Der ,grüne Star' also ist eine bösartige Erkrankung 
des Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein 
Mittel dem Fortschreiten des Übels Einhalt zu tun, nämlich die 
sogenannte Iridektomie, die darin besteht, daß man aus der Regen- 
bogenhaut des Auges ein keilförmiges Stückchen herauszwickt. 

Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche Blendungs- 
erscheinungen, die fürs ganze Leben bleiben, der Prozeß des Er- 
blindens jedoch ist meistens aufgehalten. 

Mit der Diagnose des grünen Stars hat es aber eine eigene 
Bewandtnis. 

Es gibt nämlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo 
die deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurücktreten, und in sol- 
35 



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504 Gustav Meyrin6, Der Gohm 

dien Fällen darf ein Arzt, trotzdem er keine Spur einer Krankheit 
finden kann, dennoch niemals mit Bestimmtheit sagen, daß sein Vor« 
ganger, der andrer Meinung gewesen, sich notwendigerweise geirrt 
haben müsse. 

Hat aber einmal die erwähnte Iridektomie — die sich natürlich 
genau so an einem gesunden Auge wie an einem kranken ausführen 
läßt, stattgefunden, so kann man unmöglich mehr feststellen, ob früher 
wirklich grüner Star vorgelegen hat oder nicht. 

Und auf diese und noch andere Umstände hatte Dr. Wassory 
seinen scheußlichen Plan aufgebaut 

Unzählige Male — besonders an Frauen — konstatierte er grünen 
Star, wo harmlose Sehstörungen vorlagen, nur um zu einer Ope- 
ration zu kommen, die ihm keine Mühe machte und viel Geld ein- 
trug. 

Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand/ da ge- 
hörte zur Ausplünderung auch keine Spur von Mut mehr! 

Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in 
jene Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft 
sein Opfer zerfleischen konnte. 

Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! — Begreifen Sie?! Ohne das 
geringste wagen zu müssen! 

Durch eine Menge fauler Veröffentlichungen in Fachblättern hatte 
sich Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu 
setzen verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und 
anständig waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu 
streuen gewußt. 

Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die 
natürliche Folge. 

Kam nun jemand mit geringfügigen Sehstörungen zu ihm und ließ 
sich untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tückischer Plan- 
mäßigkeit zu Werke. 

Zuerst stellte er das übliche Krankenverhör an, notierte aber ge- 
schickt immer nur, um für alle Fälle später gedeckt zu sein, jene 
Antworten, die eine Deutung auf grünen Star zuließen. 

Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frühere Diagnose 
vorläge. 



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Gustav Meyrfrtf, Der Gofem 



505 



Gesprächsweise ließ er einfließen, daß ein dringender Ruf aus dem 
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Maßnahmen an ihn er- 
gangen sei und er daher schon morgen verreisen müsse. — 

Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er so- 
dann vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich soviel Schmerzen 
wie möglich. 

Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht! 

Wenn das Verhör vorüber und die übliche bange Frage des Patienten, 
ob Grund zur Befürchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat er 
seinen ersten Schachzug. 

Er setzte sich ihm gegenüber, ließ eine Minute verstreichen und 
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz: 

»Erblindung beider Augen ist bereits in der allernächsten Zeit 
wohl unvermeidlich!« 



Die Szene, die naturgemäß folgte, war entsetzlich. 

Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen 
sich in wilder Verzweiflung zu Boden. 

Das Augenlicht verlieren heißt alles verlieren. 

Und wenn der wiederum übliche Moment eintrat, wo das arme 
Opfer die Knie Dr. Wassory 's umklammerte und flehte, ob es 
denn auf Gottes Erde gar keine Hilfe mehr gäbe, da tat die Bestie 
den zweiten Schachzug und verwandelte sich selbst in jenen — Gott, 
der helfen konnte! 

Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachspiel, Meister Pernath! — 

Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei 
das einzige, was vielleicht Rettung bringen könne, und mit einer 
wilden, gierigen Eitelkeit, die plötzlich über ihn kam, erging er sich 
mit einem Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes 
Falles, die alle mit dem vorliegenden eine ungemein große Ähnlich- 
keit gehabt hätten, — wie unzählige Kranke ihm allein die Erhaltung 
des Augenlichts verdankten und dergleichen mehr. 

Er schwelgte förmlich in dem Gefühl, für eine Art höheren Wesens 
gehalten zu werden, in dessen Hände das Wohl und Wehe seines 
Mitmenschen gelegt ist. 

Das hilflose Opfer aber saß, das Herz voll brennender Fragen, 



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506 Gustav MeyrinH, Der Gofrm 



gebrochen vor ihm, Angstschweiß auf der Stirne, und wagte ihm nicht 
einmal in die Rede zu fallen, aus Furcht: ihn ~ den einzigen, der 
noch Hilfe bringen konnte — zu erzürnen. — 

Und mit den Worten, daß er zur Operation leider erst in einigen 
Monaten schreiten könne, wenn er von seiner Reise wieder zurück 
sei, — schloß Dr. Wassory seine Rede. — 

Hoffentlich — man solle in solchen Fällen immer das beste hoffen — 
sei es da nicht zu spät: sagte er. 

Natürlich sprangen dann jedesmal die Kranken entsetzt auf, erklärten, 
daß sie unter gar keinen Umständen auch nur einen Tag länger 
warten wollten, und baten flehentlich um Rat, wer von den andern 
Augenärzten in der Stadt sonst wohl als Operateur in Betracht käme. — 

Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den ent- 
scheidenden Schlag führte. 

Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in 
Falten des Grams und lispelte schließlich bekümmert, ein Eingriff 
seitens eines andern Arztes bedinge dann leider eine abermalige 
Bespiegelung des Auges mit elektrischem Licht, und das müsse — 
der Patient wisse ja selbst wie schmerzhaft es sei — wegen der 
blendenden Strahlen geradezu verhängnisvoll wirken. 

Ein andrer Arzt, also ganz abgesehen davon, daß so man« 
ehern von ihnen gerade in der Iridektomie die nötige Übung fehle — 
dürfe, eben weil er wiederum von neuem untersuchen müsse, gar 
nicht vor Ablauf längerer Zeit, bis sich die Sehnerven wieder erholt 
hätten, zu einem chirurgischen Eingriff schreiten.« 

Charousek ballte die Fäuste. 

»Das nennen wir in der Schachsprache Zugzwang, lieber Meister 

Pernath! Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, — 

ein erzwungener Zug nach dem andern. 

Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den 
Dr. Wassory, er möge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine 
Abreise verschieben und die Operation selber vornehmen. — Es 
handle sich doch um mehr noch als um schnellen Tod, die grauen« 
hafte, folternde Angst, jeden Augenblick erblinden zu müssen, sei ja 
das Schrecklichste, was es geben könne. — 

Und je mehr das Scheusal sich sträubte und jammerte: ein Auf« 



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Gustav Meyrint, Der Gofem 507 



schub seiner Reise könne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto 
höhere Summen boten freiwillig die Kranken. 

Schien schließlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach 
und fugte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan 
aufdecken konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen 
jenen unheilbaren Schaden zu, jenes immerwährende Gefühl des Ge- 
blendetseins, das das Leben zu stetiger Qual gestalten mußte, — die 
Spuren des Schurkenstreiches aber ein für allemal verwischte. 

Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. 
Wassory nicht nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher 
Arzt, dem es noch jedesmal gelungen sei die drohende Erblindung 
aufzuhalten, — es befriedigte gleichzeitig seine maßlose Geldgier und 
fröhnte seiner Eitelkeit, wenn die ahnungslosen, an Körper und Ver- 
mögen geschädigten Opfer zu ihm wie zu einem Helfer aufsahen und 
ihn als Retter priesen. 

Nur ein Mensch — der mit allen Fasern im Ghetto und seinen 
zahllosen, unscheinbaren — jedoch unüberwindlichen Hilfsquellen wur- 
zelte und von Kindheit an gelernt hat auf der Lauer zu liegen wie 
eine Spinne, der jeden Menschen in der Stadt kannte und bis ins 
kleinste seine Beziehungen und Vermögensverhältnisse erriet und 
durchschaute, — nur ein solcher — halb-hellsehender möchte man es 
beinahe nennen, konnte jahrelang derartige Scheußlichkeiten verüben. 

Und wäre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk 
noch, würde es ins hohe Alter weiter betrieben haben, um schließ- 
lich als ehrwürdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit 
hohen Ehren, künftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen 
Lebensabend zu genießen, bis — bis endlich auch über ihn das große 
Verrecken hinweggezogen wäre. 

Ich aber wuchs ebenfalls im Ghetto auf und auch mein Blut ist 
mit jener Atmosphäre höllischer List gesättigt, und so vermochte ich 
ihn zu Fall zu bringen, — so wie die Unsichtbaren einen Menschen 
zu Fall bringen/ — wie aus heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft. 

Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der Ent- 
larvung, — ihn schob ich vor und häufte Beweis auf Beweis, bis 
der Tag anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory 
ausstreckte. 



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508 Gustav Meyrink, Der Gofem 



Da beging die Bestie Selbstmord! — Gesegnet sei die Stunde! 

Als hätte mein Doppelgänger neben ihm gestanden und ihm 
die Hand gefuhrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amyl- 
nitrit, die ich absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Ge- 
legenheit hatte stehen lassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch 
an mir die falsche Diagnose des grünen Stars zu stellen, — ab- 
sichtlich und mit dem glühenden Wunsche, daß es dieses Amylnitrit 
sein möchte, das ihm den letzten Stoß geben sollte. 

Der Gehirnschlag hätte ihn getroffen, hieß es in der Stadt! — 

Amylnitrit tötet, eingeatmet wie Gehirnschlag — aber lange konnte 
das Gerücht nicht aufrecht erhalten werden.« 



Charousek starrte plötzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein 
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel 
nach der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trödlerladen lag. 

»Jetzt ist er allein,« murmelte er, »ganz allein mit seiner Gier 
und — und — und — mit der Wachspuppe!« 

Mir schlug das Herz bis zum Hals. 
Ich sah Charousek voll Entsetzen an. 

War er wahnsinnig? Es mußten Fieberphantasien sein, die ihn 
diese Dinge erfinden ließen. 

Gewiß, gewiß! Er hat alles erfunden, geträumt. 

Es kann nicht wahr sein, was er da über den Augenarzt grauen- 
haftes erzählt hat. Er ist schwindsüchtig und die Fieber des Todes 
kreisen in seinem Hirn. 

Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen. 
— Seine Gedanken in eine freundliche Richtung lenken. 

Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine 
Erinnerung das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, 
wie es damals in mein Zimmer mit runden Fischaugen durch die 
aufgerissene Tür hereingeschaut hatte. 

Dr. Savioli! Dr. Savioli! — ja, ja, so war auch der Name des 
jungen Herrn gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh 
flüsternd anvertraut als den des vornehmen Mieters, der von ihm 
das Atelier gemietet hatte. — 



- 



Gustav Meyrinfi, Der Goftm 509 



Dr. Savioli! — Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. 

Eine Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich 
mit schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstürmten. 

Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzählen, 
•was ich damals erlebt, da sah ich, daß ein heftiger Hustenanfall sich 
seiner bemächtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch 
unterscheiden, wie er sich mühsam mit den Händen an der Mauer 
stützend in den Regen hinaustappte und mir einen flüchtigen Gruß zunickte. 

Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, — fühlte ich, — 
das unfaßbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese 
Gassen schleicht, Tag und Nacht, und sich zu verkörpern sucht. — 

Es liegt in der Luft und wir sehen es nicht. Plötzlich schlägt es 
sich nieder in einer Menschenseele, — wir ahnen es nicht, — da, 
dort, — und ehe wir es fassen können, ist es gestaltlos geworden 
und alles ist längst vorüber. 

Und nur noch dunkle Worte über irgend ein entsetzliches Ge- 
schehnis kommen an uns heran. 

Mit einem Schlage begriff ich diese rätselhaften Geschöpfe, die rings 
um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie trieben willenlos 
durchs Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt — 
— so wie vorhin das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vor* 
überschwamm. 

Mir war, als starrten die Häuser alle mit tückischen Gesichtern voll 
namenloser Bosheit auf mich herüber, — die Tore aufgerissene schwarze 
Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, — Rachen, die 
jeden Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend 
und haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte. 

Was hatte zum Schluß noch der Student über den Trödler ge- 
sagt? — ich flüsterte mir seine Worte vor: — Aaron Wassertrum 
sei jetzt allein mit seiner Gier und seiner Wachspuppe. 

Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben? 

Es muß ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, eines 
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu überfallen 
pflegt, die man nicht versteht und die einen, wenn sie später un- 
erwartet sichtbarlich werden, so tief erschrecken können wie Dinge 
von ungewohnter Form, auf die plötzlich ein greller Lichtstreif fällt. 



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510 Gustav Meyrm/t, Der Gofem 



Ich holte tief Atem um mich zu beruhigen und den furchtbaren 
Eindruck, den mir Charouseks Erzählung verursacht hatte, abzu- 
schüttein. 

Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur war* 
teten: — Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin 
so widerlich gelacht hatte. 

Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte 
mit vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses 
gegenüber. 

Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten gemeinen Zügen zuckte 
vor Erregung. 

Unwillkürlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, daß sie wie 
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drüben jenseits der 
Gasse stand, ihr immerwährendes Lächeln um die Lippen. 

Der Alte war bemüht ihr Zeichen zu geben und ich sah, daß sie 
es wohl wußte, aber sich benahm, als verstünde sie nicht. 

Endlich hielt es der Alte nicht länger aus, watete auf den Fuß- 
spitzen hinüber und hüpfte mit lächerlicher Elastizität wie ein großer 
schwarzer Gummiball über die Pfützen. 

Man schien ihn zu kennen, denn ich hörte allerhand Glossen fallen, 
die darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes gestricktes 
Tuch um den Hals, mit blauer Militärmütze, die Virginia hinter dem 
Ohr, — machte mit grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht 
verstand. 

Ich begriff nur, daß sie den Alten in der Judenstadt den »Frei- 
maurert nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemanden 
bezeichnen wollten, der sich an halbwüchsigen Mädchen zu vergehen 
pflegt, aber durch intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe 
sicher ist. — — — ■ — — — — — — — — 

Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drüben im Dunkel 
des Hausflures verschwunden. 



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511 



V. 

PUNSCH 

Wir hatten das Fenster geöffnet um den Tabakrauch aus meinem 
kleinen Zimmer strömen zu lassen. 

Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen 
Mäntel, die an der Türe hingen, daß sie leise hin und her schwankten. 

»Prokops würdige Haupteszierde möchte am liebsten davonfliegen«, 
sagte Zwakh und deutete auf des Musikers großen Schlapphut, der 
die breite Krempe bewegte wie schwarze Flügel. 
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern. 

»Er will,« sagte er, »er will wahrscheinlich « 

»Er will zum ,Loisitschek' zur Tanzmusik«, nahm ihm Vrieslander 
das Wort vorweg. 

Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den Klängen, 
die die dünne Winterluft her über die Dächer trug. 

Dann nahm er meine alte zerbrochene Guitarre von der Wand, tat 
als zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem 
Falsett und gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied: 

»An Bein-del von Ei-sen 

recht alt 
»An Stränden net gar 

a so kalt 
»Messinung, a' Räucherl 

und Röhn 
»und immerrr nurr putzten 



»Wie großartig er mit einemmal die Gaunersprache beherrscht!« 
Und Vrieslander lachte laut auf und brummte mit: 

»Und stok-en sich Aufzug 

und Pfiff 
»Und schmallern an eisernes 

G'süff. 
»Juch, — 

Und Handschuhkren, Harom net san 



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512 Gustav Meyrin/f, Der Gofem 



»Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim ,Loisitsdiek' der 
meschuggene Nephtali Schaffraneck mit dem grünen Augenschirm, und 
ein geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und gröhlt den Text 
dazu«, erklärte mir Zwakh. »Sie sollten auch einmal mit uns in 
diese Schenke gehen, Meister Pernath. — Später vielleicht, bis wir 
mit dem Punsch zu Ende sind, — was meinen Sie? — Zur Feier 
Ihres heutigen Geburtstages?« 

»Ja, ja kommen Sie nachher mit uns,« sagte Prokop und klinkte 
das Fenster zu, — »man muß so etwas gesehen haben.« 

Dann tranken wir den heißen Punsch und hingen unsern Ge- 
danken nach. 

Vrieslander schnitzte an einer Marionette. 

»Sie haben uns förmlich von der Außenwelt abgeschnitten, Josua,« 
unterbrach Zwakh die Stille, »seit Sie das Fenster geschlossen haben 
hat niemand mehr ein Wort gesprochen.« 

»Ich dachte nur darüber nach, als vorhin die Mäntel so flogen, 
wie seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt«, antwortete 
Prokop schnell wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: 
»es sieht gar so wunderlich aus, wenn Gegenstände plötzlich zu 
flattern anheben, die sonst immer tot daliegen. Nicht? — Ich sah 
einmal auf einem menschenleeren Platz zu, wie große Papierfetzen, 
— ohne daß ich vom Winde etwas spürte, denn ich stand durch 
ein Haus gedeckt, — in toller Wut im Kreise herumjagten und 
einander verfolgten, als hätten sie sich den Tod geschworen. — 
Einen Augenblick lang schienen sie sich dann beruhigt zu haben, 
aber plötzlich kam wieder eine wahnwitzige Erbitterung über sie und 
in sinnlosem Grimm rasten sie umher, — drängten sich in einen 
Winkel zusammen, um von neuem besessen auseinander zu stieben 
und schließlich hinter einer Ecke zu verschwinden. 

Nur eine didee Zeitung konnte nicht mitkommen, sie blieb auf 
dem Pflaster liegen und klappte haßerfüllt auf und zu, als sei ihr 
der Atem ausgegangen und als schnappe sie nach Luft. 

Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was — wenn am 
Ende wir Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären, wie solche 
Papierfetzen? — Ob nicht vielleicht ein unsichtbarer unbegreiflicher 
»Wind« auch uns hin und her treibt und unsre Handlungen bestimmt, 



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Gustav MeyrfnU. Der Gofem 513 

während wir in*unserer Einfalt glauben unter eigenem freien Willen 
zu stehen? 

Was, wenn das Leben in uns nichts anderes wäre, als ein rätsel« 
harter Wirbelwind?! — Jener Wind, von dem die Bibel sagt: weißt 

du von wannen er kommt und wohin er geht? Träumen 

wir nicht auch zuweilen, wir griffen in tiefes Wasser und fingen 
silberne Fische, und nichts anderes ist geschehen, als daß ein kalter 
Luftzug unsere Hände traf?« — 

»Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ists mit Ihnen?« 
sagte Zwakh und sah den Musiker mißtrauisch an. — 

»Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzählt wurde, — 
schade, daß Sie so spät kamen und sie nicht mit anhörten, — hat 
ihn so nachdenklich gestimmt«, meinte Vrieslander. 

»Eine Geschichte von einem Buche?« 

»Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam 
aussah. — Pernath weiß nicht, wie er heißt, wo er wohnt, was er 
wollte, und trotzdem sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein 
soll, lasse es sich doch nicht recht schildern«. 

Zwakh horchte auf. 

»Das ist sehr merkwürdig,« sagte er nach einer Pause, »war der 
Fremde vielleicht bartlos und hatte er schrägstehende Augen?« 

»Ich glaube,« antwortete ich, »das heißt, ich — ich — weiß es ganz 
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?« 

Der Marionettenspieler schüttelte den Kopf: »Er erinnert mich nur 
an den ,Golem'«. 

Der Maler Vrieslander ließ sein Schnitzmesser sinken: 

»Golem? — Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen 
Sie etwas über den Golem, Zwakh?« 

»Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse«, ant- 
wortete Zwakh und zuckte die Achseln. »Man verweist ihn ins 
Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis 
vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang 
spricht dann jeder von ihm und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuer* 
liehe. Werden so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich 

an der eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der 

Ursprung der Geschichte reicht wohl ins XVII. Jahrhundert zurück, 



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514 



Gustav MeyrinG, Der Gofom 



sagt man. Nach verloren gegangenen Vorschriften der Kabbala soll 
ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen — den sogenannten 
Golem — verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe, die Glocken 
in der Synagoge läuten, und allerhand grobe Arbeit tue. 

Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur 
ein dumpfes halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, 
auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen 
Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen 
Kräfte des Weltalls herabzog. 

Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das 
Siegel aus dem Munde des Golem zu nehmen versäumt, da wäre 
dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen ge~ 
rast und hätte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen. 

Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel ver~ 
nichtet habe. 

Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von 
ihm übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in 
der Altneusynagoge gezeigt wird.« 

»Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Ka'iser auf die Burg be- 
rufen worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sieht» 
bar gemacht haben,« — warf Prokop ein, — »moderne Forscher be- 
haupten, er habe sich dazu einer Laterna magica bedient.« 

»Jawohl, keine Erklärung ist abgeschmackt genug, daß sie bei den 
Heutigen nicht Beifall fände«, — fuhr Zwakh unbeirrt fort. — »Eine 
Laterna magica! — Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben 
solchen Dingen nach ging, einen so plumpen Schwindel nicht auf 
den ersten Blick hätte durchschauen müssen. Ich kann freilich nicht 
wissen, worauf sich die Golemsage zurückführen läßt, daß aber irgend 
etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel sein Wesen 
treibt und damit zusammenhängt, dessen bin ich sicher. Von Geschlecht 
zu Geschlecht haben meine Vorjahren hier gewohnt und niemand 
kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das perio* 
dische Auftauchen des Golem zurückblicken, als gerade ich!« 

Zwakh hatte plötzlich aufgehört zu reden, und man fühlte mit ihm, 
wie seine Gedanken in vergangene Zeiten zurückwanderten. 



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Gustav Meyrink, Der Gofem 



515 



Wie er den Kopf aufgestützt dort am Tische saß und beim Scheine 
der Lampe seine roten jugendlichen Bäckchen fremdartig von dem 
weißen Haar abstachen, verglich ich unwillkürlich im Geiste seine 
Züge mit den maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er 
mir so oft gezeigt. 

Seltsam, wie ähnlich ihnen der alte Mann doch sah! — 

Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt! 

Manche Dinge der Erde können nicht loskommen von einander, 
fühlte ich, und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorüber- 
ziehen ließ, da schien es mir mit einemmal gespenstisch und unge- 
heuerlich, daß ein Mensch wie er, trotzdem er eine bessere Erziehung 
als seine Vorfahren genossen und Schauspieler hätte werden sollen, 
plötzlich wieder zu dem schäbigen Marionettenkasten hatte zurück« 
kehren können um nun abermals auf die Jahrmärkte zu ziehen und 
dieselben Puppen, die schon seiner Vorväter kümmerliches Erwerbs- 
mittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen 
und schläfrigen Erlebnisse vorführen zu lassen. 

Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich/ sie 
leben mit ven seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da 
haben sie sich in Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn ge- 
wohnt und ihn rast- und ruhelos gemacht, bis er wieder heimkehrte. 
Darum hält er sie jetzt so liebevoll und kleidet sie stolz in Flitter. 

»Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzählen?« forderte Prokop 
den Alten auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob 
auch wir gleichen Wunsches seien. 

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll,« meinte der Alte zögernd, 
»die Geschichte mit dem Golem läßt sich schwer fassen. So wie 
Pernath vorhin sagte: er wisse genau wie jener Unbekannte ausge- 
sehen habe und doch könne er ihn nicht schildern. Ungefähr alle 
dreiunddreißig Jahre wiederholt sich ein Ereignis in unsern Gassen, 
das gar nichts besonders aufregendes an sich trägt und dennoch ein 
Entsetzen verbreitet, für das weder eine Erklärung noch eine Recht- 
fertigung ausreicht: 

Immer wieder begibt es sich nämlich, daß ein vollkommen fremder 
Mensch, bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus 
aus der Richtung der Altschulgasse her, — in altmodische verschossene 



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516 Gustav Meyrinfi, Der Gofem 

Kleider gehüllt, gleichmäßigen und eigentümlich stolpernden Ganges, 
so, als wolle er jeden Augenblick vornüber fallen, durch die Juden« 
Stadt schreitet und plötzlich unsichtbar wird. 

Gewöhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden. 

Ein andermal heißt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis be~ 
schrieben und sei zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem er aus- 
gegangen: einem uralten Hause in der Nähe der Synagoge. 

Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hätten ihn um eine 
Ecke auf sich zukommen sehen. Trotzdem er ihnen aber ganz deutlich 
entgegen geschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Ge« 
stalt sich in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner ge- 
worden — und schließlich ganz verschwunden. 

Vor Sechsundsechzig Jahren nun muß der Eindruck, den er hervor» 
gebracht, besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich, — 
ich war noch ein ganz kleiner Junge — daß man das Gebäude in 
der Altschulgasse damals von oben bis unten durchsuchte. 

Es wurde auch festgestellt, daß wirklich in diesem Hause ein 
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt. 

Aus allen Fenstern hatte man Wäsche gehängt, um von der Gasse 
aus einen Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der 
Tatsache auf die Spur gekommen. 

Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an 
einem Strick zum Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum 
aber war er in die Nähe des Fensters gelangt, da riß das Seil und 
der Unglückliche zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schädel. 
Und als später der Versuch nochmals wiederholt werden sollte, 
gingen die Ansichten über die Lage des Fensters derart auseinander, 
daß man davon abstand. 

Ich selber begegnete dem »Goleme das erstemal in meinem Leben 
vor ungefähr dreiunddreißig Jahren. 

Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu und wir 
rannten fast aneinander. 

Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorge- 
gangen sein muß. Man trägt doch um Gotteswillen nicht immer* 
während, tagaus tagein die Erwartung mit sich herum, man werde 
dem Golem begegnen. 



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Gustav Meyrinf, Der GoCem 517 



In jenem Augenblick aber, bestimmt — ganz bestimmt noch ehe 
ich seiner ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: 
der Golem! Und im selben Moment stolperte jemand aus dem 
Dunkel des Torflures hervor und jener Unbekannte ging an mir vor- 
über. Eine Sekunde später drang eine Flut bleicher aufgeregter Ge- 
sichter mir entgegen, die mich mit Fragen bestürmten, ob ich ihn ge- 
sehen hätte. 

Und als ich antwortete, da fühlte ich, daß sich meine Zunge 
wie aus einem Krämpfe löste, von dem ich vorher nichts 
gespürt hatte. 

Ich war förmlich überrascht, daß ich mich bewegen konnte, und 
deutlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich, wenn auch nur den 
Bruchteil eines Herzschlags lang — in einer Art Starrkrampf be- 
funden haben mußte. 

Über all das habe ich oft und lang nachgedacht und mir dünkt, 
ich komme der Wahrheit am nächsten, wenn ich sage: immer einmal 
in der Zeit eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie 
durch die Judenstadt, befällt die Seelen der Lebenden zu irgend einem 
Zweck, der uns verhüllt bleibt, und läßt wie eine Luftspiegelung 
die Umrisse eines charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht 
vor Jahrhunderten hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung 
dürstet 

Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde für Stunde, und wir 
nehmen es nicht wahr. Hören wir doch auch den Ton einer schwir- 
renden Stimmgabel nicht, bevor sie das Holz berührt und es mit- 
schwingen macht 

Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne 
innewohnendes Bewußtsein — ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein 
Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen 
herauswächst — 

Wer weiß das? 

Wie in schwülen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur Un- 
erträglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, könnte es da nicht 
sein, daß auch auf die stetige Anhäufung jener niemals wechselnden 
Gedanken, die hier im Ghetto die Luft vergiften, eine plötzliche 
ruckweise Entladung folgen muß? — Eine seelische Explosion, die 



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518 Gustav Meyrinü, Der Gofem 



unser Traumbewußtsein ans Tageslicht peitscht, um — dort den Blitz 
der Natur — hier ein Gespenst zu schaffen, das in Mienen, Gang 
und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der Massenseele un- 
fehlbar offenbaren müßte, wenn man die geheime Sprache der For- 
men nur richtig zu deuten verstünde? 

Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes an- 
künden, so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das 
drohende Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der ab- 
blätternde Bewurf einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die 
einem schreitenden Menschen gleicht: und in Eisblumen am Fenster 
bilden sich die Züge starrer Gesichter. — Der Sand vom Dache 
scheint anders zu fallen als sonst und drängt dem argwöhnischen 
Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die sich 
lichtscheu verborgen hält, werfe ihn herab und übe sich in heimlichen 
Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. — Ruht das 
Auge auf eintönigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, be- 
mächtigt sich unser die unerfreuliche Gabe überall mahnende bedeut- 
same Formen zu sehen, die in unsern Träumen ins Riesengroße aus- 
wachsen. Und immer zieht sich durch solche schemenhafte Versuche 
der angesammelten Gedanken herden die Wälle der Alltäglichkeit 
zu durchnagen, für uns wie ein roter Faden die qualvolle Gewißheit, 
daß unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern Willen 
ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch 
werden könne. 

Wie ich nun vorhin Pernath bestätigen hörte, daß ihm ein Mensch 
begegnet sei, bartlos, mit schief gestellten Augen, da stand der 
»Golem« vor mir, wie ich ihn damals gesehen. 

Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir. 

Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas Uner- 
klärliches nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang, dieselbe 
Angst, die ich schon einmal in meinen Kinderjahren verspürt, als die 
ersten spukhaften Äußerungen des Golem ihre Schatten voraus warfen. 

Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knüpft sich an 
einen Abend, an dem der Bräutigam meiner Schwester zu Besuch 
gekommen war und in der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt 
werden sollte. 



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Gustau MeyrutK, Der Gofem 



519 



Es wurde damals Blei gegossen — zum Scherz — und ich stand 
mit offenem Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten 
habe, — in meiner wirren kindlichen Vorstellung brachte ich es in 
Zusammenhang mit dem Golem, von dem ich meinen Großvater oft 
hatte erzählen hören, und bildete mir ein, jeden Augenblick müsse 
die Türe aufgehen und der Unbekannte eintreten. 

Meine Schwester leerte dann den Löffel mit dem flüssigen Me- 
tall in das Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, 
lustig an. 

Mit welken zitternden Händen holte mein Großvater den blitzen« 
den Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf ent- 
stand eine allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander, 
— ich wollte mich hinzudrängen, aber man wehrte mich ab. 

Später, als ich älter geworden, erzählte mir mein Vater, es wäre 
damals das geschmolzene Metall zu einem kleinen ganz deutlichen 
Kopf erstarrt gewesen, — glatt und rund, wie nach einer Form ge- 
gossen, und von solch unheimlicher Ähnlichkeit mit den Zügen des 
»Golem«, daß sich alle entsetzt hätten. 

Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hille!, der die Re- 
quisiten der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse 
Lehmfigur aus Kaiser Rudolfs Zeiten, darüber. Er hat sich mit 
Kabbala befaßt und meint, jener Erdklumpen mit den mensch- 
lichen Gliedmaßen sei vielleicht nichts anderes als ein ehemaliges 
Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der bleierne Kopf. Und der 
Unbekannte, der da umgehe, müsse das Phantasie- oder Gedanken- 
bild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig gedacht 
habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in regel- 
mäßigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen Sternstellungen, 
unter denen es erschaffen worden — wiederkehre, vom Triebe nach 
stofflichem Leben gequält. 

Auch Hilleis verstorbene Frau hat den »Golem« von Angesicht 
zu Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefühlt, daß man sich im 
Starrkrampf befindet, solange das rätselhafte Wesen in der Nähe 
weilt. 

Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur 
ihre eigne Seele habe sein können, die — aus dem Körper getreten 



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520 Gustav Meyrfnf, Der Gofem 



— ihr einen Augenblick gegenüber gestanden und mit den Zügen 
eines fremden Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte. 

Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemächtigt, 
habe sie doch keine Sekunde die Gewißheit verlassen, daß jener 
Andere nur ein Stück ihres eignen Innern sein konnte. 

»Es ist unglaublich«, murmelte Prokop in Gedanken verloren. 

Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grübeln versunken. 

Da klopfte es an die Türe und das alte Weib, das mir des 
Abends Wasser bringt, und was ich sonst noch nötig habe, trat 
ein, stellte den tönernen Krug auf den Boden und ging stillschwei- 
gend wieder hinaus. 

Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer 
umher, aber noch lange Zeit sprach niemand ein Wort. 

Als sei ein neuer Einfluß mit der Alten zur Tür hereingeschlüpft, 
an den man sich erst gewöhnen mußte. 

»Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man 
nicht loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder 
auftauchen sieht«, sagte plötzlich Zwakh ganz unvermittelt. »Dieses 
erstarrte grinsende Lächeln kenne ich nun schon ein ganzes Menschen« 
leben. Erst die Großmutter, dann die Mutter! — Und stets das 

gleiche Gesicht, — kein Zug anders! Derselbe Name Rosina/ 

es ist immer eine die Auferstehung der andern.« 

»Ist Rosina nicht die Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum?«, 
fragte ich. 

»Man spricht so«, meinte Zwakh, »Aaron Wassertrum aber 

hat manchen Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiß. 
Auch bei Rosinas Mutter wußte man nicht wer ihr Vater gewesen, 

— auch nicht was aus ihr geworden ist. — Mit fünfzehn Jahren 
hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. 
Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich 
mich dunkel entsinne, — der ihretwegen in diesem Hause begangen 
wurde. 

Wie jetzt ihre Tochter spukte damals sie den halbwüchsigen Jungen 
Im Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, — ich sehe ihn öfter, — doch 
sein Name ist mir entfallen. Die andern sind bald gestorben und ich 



Gustav Meyrin/i Der Goftm 



521 



meine, sie hat sie alle frühzeitig unter die Erde gebracht Ich erinnere 
mich aus jener Zeit überhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie 
verblichene Bilder durch mein Gedächtnis treiben. So hat es damals 
einen halb blödsinnigen Menseben gegeben, der nachts von Schenke 
zu Schenke zog und den Gästen gegen ein paar Kreuzer Silhouetten 
aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken machte, 
geriet er in eine unsägliche Traurigkeit, und unter Tränen und 
Schluchzen schnitzelte er ohne aufzuhören immer das gleiche scharfe 
Mädchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war. 

Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte 
er — fast als Kind noch — eine gewisse Rosina, wohl die Groß- 
mutter der heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber 
verlor. — 

Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die 

Großmutter der jetzigen Rosina gewesen sein.« — — 

Zwakh schwieg und lehnte sich zurück. — 

Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt 
immer wieder zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn 
und ein häßliches Bild, das ich einmal mit angesehen: — eine Katze 
mit verletzter Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd — trat vor 
mein Auge. , 

»Jetzt kommt der Kopf«, hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander 
mit geller Stimme sagen. 

Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann 
an ihm zu schnitzen. 

Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und Ich 
rückte raeinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund. 

Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel und Josua Prokop 
füllte wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge 
der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster/ — manchmal ver- 
stummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, — wie 
sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug. 

Ob ich denn nicht mit anstoßen wolle, fragte mich nach einer 
Weile der Musiker. 



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522 



Gustav Mtyrüi/i Der Gofem 



Ich aber gab keine Antwort. — So vollkommen war mir der Wille 
midi zu bewegen abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den 
Gedanken den Mund zu öffnen verfiel. — 

Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die 
sich meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vries- 
landers funkelndes Messer blinzeln, — das ruhelos aus dem 
Holze kleine Späne biß, — um die Gewißheit zu erlangen, daß ich 
wach sei 

In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder 
allerlei wunderliche Geschichten über Marionetten — und krause 
Märchen, die er für seine Puppenspiele erdacht. 

Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen 
Dame, der Gattin eines Adligen, — die in das versteckte Atelier 
heimlich zu Savioli zu Besuch komme. 

Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische, 
triumphierende Miene. — 

Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, überlegte ich, was sich damals 
ereignet hatte, — dann hielt ich es nicht für der Mühe wert und für 
belanglos. — Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte 
ich jetzt den Versuch machen zu sprechen. 

Plötzlich sahen die drei am Tische aufmerksam zu mir herüber und 

Prokop sagte ganz laut: »Er ist eingeschlafen«, so laut, daß 

es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte. 

Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter und ich erkannte, daß 
sie von mir sprachen. 

Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht 
auf, das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte 
mir in den Augen. — 

Es fiel ein Wort — wie — »irr sein« — und ich horchte auf die 
Rede, die in der Runde ging. 

»Gebiete, wie das vom ,Golem' sollte man vor Pernath nie be- 
rühren,« sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, — »als er vorhin von 
dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. 
— Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt.« 

Zwakh nickte: »Sie haben ganz recht Es ist, wie wenn man mit 
offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche 



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Gustav Meyr/nt, Der Goftm 



523 



Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der 
Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt, ein flüchtiges Berühren 
nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken.« 

»War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch 
erst vierzig sein«, sagte Vrieslander. 

»Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung woher 

er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen 
tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Ge* 
statt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein be- 
freundeter alter Arzt gebeten, ich möge mich seiner ein wenig an« 
nehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo 
sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten 

beunruhigen würde, aussuchen.« Wieder sah Zwakh 

bewegt zu mir herüber. 

— »Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und 
schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand ge- 
gründet. — Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem 
Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. — Fragen 
Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in 
seiner Erinnerung wachrufen könnten, — wie oft hat mir das der 
alte Arzt ans Herz gelegt! — Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, 

wir haben so eine gewisse Methode/ wir haben seine 

Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, — möchte ich's nennen, — so 
wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige 
Erinnerung knüpft.« 

Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein 
Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen 
Händen das Herz zusammen. 

Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, ein Ahnen, — 
als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem 
Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durch- 
schritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die 
Ursache zu ergründen. 

Jetzt lag des Rätsels Losung offen vor mir und brannte mich 
— unerträglich — wie eine bloßgeiegte Wunde. 



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524 Gustav MeyrtnH, Der Go'em 

Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Er- 
eignisse nachzuhängen, — dann der seltsame von Zeit zu Zeit immer 
wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir un- 
zugänglicher Gemächer gesperrt, — das beängstigende Versagen meines 
Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, alles das 
fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung. Ich war wahnsinnig 
gewesen und man hatte Hypnose angewandt, — hatte das — 
»Zimmer« verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern 
meines Gehirns bildete — und mich zum Heimatlosen inmitten des 
mich umgebenden Lebens gemacht. 

Und keine Aussicht, das verlorene Je wieder zu gewinnen! 

Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem 
andern vergessenen Dasein verborgen/ — begriff ich, — nie würde 
ich sie erkennen können: — eine verschnittne Pflanze bin ich, — ein 
Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, 
den Eingang in jenes verschlossene »Zimmer« zu erzwingen, müßte 
ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt in die 
Hände fallen?! • 

Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde er« 
zählte, zog mir durch den Sinn und plötzlich erkannte ich einen 
riesengroßen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagen* 
haften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen 
sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum. 

Ja! auch in meinem Falle würde der Strick reißen, wollte ich ver- 
suchen in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken. 

Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und 
nahm etwas unbeschreiblich erschreckendes für mich an. 

Ich fühlte: es sind da Dinge — unfaßbare — zusammengeschmiedet 
und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg führt, 
nebeneinander her. 

Auch im Ghetto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand 
finden kann, — ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur 
zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter 
die Menschen zu tragen!! 

Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe und das Holz 
knirschte unter der Klinge des Messers. 



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Gustav Meyri/t/f, Der Gofem S25 



Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es 
denn nicht bald zu Ende sei. 

Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war 
es, als habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann 
ruhten seine Augen lange auf mir, — befriedigt, daß sie mich endlich 
gefunden. 

Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und 
starrte unverwandt auf das hölzerne Antlitz. 

Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu 
suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein und plötzlich ge* 
wannen die Züge des Holzkopfes schreckhaftes Leben. 

Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das 
Buch gebracht. 

Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur 
eine Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen 
aufhörte und ängstlich flatterte. 

Dennoch blieb ich mir — wie damals — des Gesichtes bewußt 

Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders 
Schoß und spähte umher. 

Meine Augen wanderten im Zimmer umher und eine fremde Hand 
bewegte meinen Schädel. 

Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Mienen und 
hörte seine Worte: um Gotteswillen, das ist ja der Golem. 

Und ein kurzes Ringen entstand und man wollte Vrieslander mit 
Gewalt das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend: 

»Was wollt Ihr, — es ist doch ganz und gar mißlungen « Und 
er wand sich los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die 
Gasse hinunter. 

Da schwand mein Bewußtsein und ich tauchte in eine tiefe Finster- 
nis, die von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich, 
wie es mir schien, nach einer langen langen Zeit erwachte, da erst 
hörte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen. 

»Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie 
schüttelten, c — sagte Josua Prokop zu mir, »der Punsch ist aus und 
Sie haben alles versäumt.« 



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526 Gustav Meyrirtt, Der Gofem 



Der heiße Schmerz, Ober das, was ich vorhin mitangehört, über* 
mannte mich wieder und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt 
habe, als ich Ihnen von dem Buche Ibbur erzählte — — und es 
aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen könne. 

Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die 
Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, 
nicht durchdringen. 

Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel um und lachte: 

»Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird 
Ihre Lebensgeister erfrischen. c 

Gustav Meyrinb. 
(Tortsetzung fofgt.) 



Für die Redaktion verantwortlich: 
Ert'S» Ernst StfiwaßaS — Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kreuzstraße 3 b. 
Für Österreich-Ungarn verantwortlich: Hugo He (Ter, Wien I, Bauernmarkt 3. 
Gedruckt in der O ßzin von PoescBef etTrepte in Leipzig. 
Papier von Edm. Obst in Leipzig. 
Alle die Weißen Blätter betreffenden Zusendungen sind zu rich'en an die 
Redaktion der Weißen Blätter, Charlottenburg, Sybelstraße 22. 

Diesem Heft liegen Prospekte folgender Firmen bei: R. Piper 'SD Co, G.m.b.H. 
München, Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, die 

wir aufmerksamer Beachtung empfehlen. 



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DIE WEISSEN BLÄTTER 

EINE MONATSSCHRIFT 

ERSTER JAHRGANG 

NR. 6 FEBRUAR 1914 



BESUCH BEI DUCHESNE 

L 

^OEIT ich über die heilige Katharina und die heilige Walburga 
O schrieb, sind nur wenige Jahre verflossen und doch ist es schon 
nicht mehr dieselbe Zeit. Jetzt erst realisiere ich, wie reizvoll es war, 
religiösen Problemen nachzuhängen, während sie so ziemlich niemand 
interessierten. Ich sage dies nicht aus Hochmut. Es sind Beleuchtungs- 
fragen, und jeder kennt ja ihren Belang. Wir wissen, daß eine zu 
offene Helle die Dinge schlagen und ihrer Intimität berauben kann/ 
wie sehr dagegen jenes andere gehemmte und entkräftete Licht alles 
verstärkt und verdeutlicht, was es bestrahlt/ — Mitsommer vielleicht, 
während das voll entfaltete Laub regungslos unter dem bedeckten 
Himmel hängt. 

Eine frühe, noch ungewohnte Christenheit sah alles so grell, daß 
sie verwirrten Sinnes die Geschichte ihres Kultus wob. Aber seit 
Dezennien, ja seit Jahrhunderten schon hat sich ein stetig wachsender 
Indifferentismus wie Wolkenbänke aufgeschichtet. Die Dinge der 
Religion ließ man links liegen, hörte auf, sich zu ereifern. Immer 
weiter glitten sie wie Abgeschiedene von uns weg, und immer we- 
niger »gehörten sie her«. 

Merkwürdigerweise gärte dabei das christliche Agens wie ein 
Sauerteig in uns rer entfrommten Welt unbeschadet weiter, fand andere 
Ventile, pflanzt^ sich in unserer Philantropie wie zu einem blühen- 
den Stabe auf und modifizierte von Grund auf unsere Kriegsführung 
und unsere Sitten. Es war erstaunlich zu sehen, wie gut gerade der 
Katholizismus es vertrug, daß man ihn in Ruhe ließ, und abgewandten 
Sinnes lieber fliegen, forschen und entdecken lernte. Ja, es schien, als 
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528 A Kofi, BesuS ßei Dudesn* 



atme er indessen von den Strapazen unserer tausendjährigen Miß* 
Verständnisse aus/ sachte begann er schon der bitteren, unleidlichen 
Rinde sich zu entziehen, in die Menschenhände ihn verbaut hatten, 
glitt einer neuen Kurve zu und evoluierte wie ein Planet. Ja, man 
kann sagen: seine Idee evoluierte in dem Maße, als seine Dogmen 
an Presenz und Deutlichkeit verloren. Nichts gleicht ja so vollkommen 
einer Kugel als diese Idee. Und so drehte sie sich nur um ihre 
Achse, als sie, ohne doch von uns abzurücken, wie der Neumond 
unserem Gesichtskreis entschwand . . . Aber leider sind wir daran, 
ihn auf seiner Bahn noch einmal störend aufzuhalten. Aus der Pe- 
nombra unserer Gleichgültigkeit soll er noch einmal vorschnell ans 
Licht, und wenn nicht alles trügt, so kommt wahrhaftigen Gottes der 
Katholizismus jetzt in Mode. 

Auf irgend einen Umschwung mußte man ja gefaßt sein. Mit 
der Liebe als »Topik« ist es bekanndich vorbei, sie muß sich erst 
von der Publizität erholen, die wir ihr ein Jahrzehnt lang ange- 
deihen ließen, so daß wir eine Zeidang lieber nichts mehr von 
ihr hören. Wer hinzukommt, wie ein Rad ausläuft, der harrt der 
neuen Schwingung: so sind heute die Unerfahrensten blasiert. Und 
daran ist ja nichts auszusetzen. Wohl aber, daß man darauf ver- 
fiel, nunmehr das Religiöse gewissermaßen als Novität auf seine 
Zugkraft hin zu erproben! Auch der laueste Katholik sieht heute 
entsetzt eine Menge Leute deudich Miene machen, den Katholizismus 
zu >entdedcenc Nicht als ausübende Katholiken versteht sich, nur als 
imaginäre, die allen Ernstes glauben, aus Sport, und wie man Wag- 
nerianer und später Antiwagnerianer war, so könne man auch ka- 
tholisch sein. Ein grotesker Wahn, wenn man bedenkt, daß der Be- 
griff Amateur-Katholik so wenig wie der des Amateur-Soldaten 
existiert. Und zöge einer in Helmbusch und Epauletten einher, und 
würfe sich gar in eine Generalsuniform, weil sie ihm so gut gefällt, 
so hätte er doch erst recht mit militärischen Dingen nichts zu schaffen t 
es sei denn, daß er dem Stande beitritt und sich dem Drill unter- 
zieht. So fragt der Katholizismus nicht nach Velleitäten, er frägt 
nicht, wer für den Pomp seiner Zeremonien und Gewänder, auch 
nicht, wer für den suggestiven Zauber des Meßopfers schwärmt, 
sondern er frägt nur, wer eingeht durch das kaudinische Jocb, das 



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A. Kofß, Besucß ßei Du&esne 



529 



bis auf weiteres den einzigen Zugang bildet zu einer ehrwürdigen 
und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden 
Feste, daß nur mehr die ganz Einfältigen, die freiwillig Gedanken- 
losen oder Leute von sehr merkwürdiger Abstraktionsfähigkeit ihre 
Besatzung bilden. Und er fordert von diesen wenigen, daß sie es 
über sidi bringen, die wankende Burg um ihres ewigen Grundrisses 
willen nidit zu verlassen. Er fordert, daß sie, wenn auch ohne Mu- 
sion und des Einsturzes gewärtig, den täglich unleidlicheren Ver- 
hältnissen sich fügen. Er frägt nicht, welche Grimassen sie dabei 
schneiden. Es genügt ihm, daß sie nicht ausziehen. Denn er bedarf 
ihrer als Pfeiler für den kommenden Umbau. 

In Rom, bei einem Kardinal, der ein sehr heiliges Leben führte, 
war eines Tages im engsten Zirkel von der letzten Papstwahl die 
Rede/ und auch von den politischen Intrigen, die damals in allen 
Kanzleien so üppig und offenkundig in Blüte kamen, daß am Tage 
der Entscheidung einer der Botschafter mit der Prognose: »Ce sera 
un petit pape« — im Gegensatz zu Leo XIII. — unumwunden her- 
ausrücken durfte. Der Neffe des Kardinals wagte zu bemerken, daß 
sich der hl. Geist während dieses letzten Konklaves sehr passiv 
verhalten habe. »Et vous croyez«, sagte der Kardinal, nicht etwa 
ironisch, sondern mit der Fassung und erfahrenen Gelassenheit des 
Veteranen: »Et vous croyez que dans cent ans nous aurons en- 
core ces chlnoiseries-lä?« Mögen manche Katholiken ungläubig die 
Köpfe schütteln, mögen sie den Neokatholiken unbegreiflich dünken: 
dies waren seine Worte. Und hier möchte ich etwas über Konvertiten 
einschalten, was nur scheinbar nicht hierher gehört. 

Zwischen ihnen und den angestammten Katholiken herrscht so oft 
eine merkwürdige Fremdheit, als wären sie gar keine richtigen Glaubens- 
genossen. Der alte Bau, der für uns die edle Patina der Jahrhunderte 
trägt, steht wie frisch getüncht und so hart und plötzlich ~- und so 
neuartig vor ihren Augen. Nichts von seinen Herrlichkeiten ist ihnen 
noch geläufig. Als nouveaus riches sind sie über Nacht zu dem ge- 
langt, was den Erbangesessenen selbstverständlicher Besitz ist, und 
dies je inniger sie sich damit verwachsen wissen. Daher nichts vor- 
nehmeres, aber auch nichts selteneres als ein Konvertit dem man 's 
nicht anmerkt. 



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In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu 
bleiben, ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß 
eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, 
da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als 
über ein so gefährliches und verwirrendes Thema nachdenken. Und 
ich begreife sie sehr wohl. Seinem Geiste nach ist der Katho- 
lizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu insgeheimes und 
zu irisierendes. Für die Armen da, gewiß, aber wie ein König für 
die Armen da ist, so ist er in seinem unantastbaren Adel denen so- 
gleich entzogen, die in ihn hinein geheimnissen oder ihm mit Ana- 
chronismen zu nahe treten. Denn er kennt kein Zurück/ und durch- 
schrittene Bahnen umkreist er kein zweites Mal. O wüßte Claudel, 
wie weit dieser Geist seiner versteinerten Muse entschwebt ist, wie 
wenig ihr erledigtes Mittelalter den Unaufhaltsamen betrifft! 

Wenn mir vorhin die Konvertiten einfielen, so geschah es, weil 
mir bei der Äußerung des Kardinals, die ich zitierte, unwillkürlich 
ihre erschrockenen Mienen vorschwebten. Der junge Diakon hingegen, 
an den sich die Worte richteten, vernahm sie mit einem beschau- 
lichen Lächeln. Er sollte sich bald darauf durch einen zu furwitzigen 
Modernismus seinem Seminar mißliebig machen, auch sollte ihm — 
gerade nach Torschluß — dünken, daß er für die Aviatik oder die 
Armee — er stammte aus einer französischen Offiziersfamilie — pre- 
destinierter gewesen wäre, als für den Priesterstand, den er offen- 
bar ein wenig vorschnell erwählt hatte. In dieser Verfassung kam er 
nach München und besuchte mich hin und wieder. Bei seinem skep- 
tischen Naturell konnte von einem Glauben, der »Berge versetzt«, 
nicht die Rede sein. Intelligent und rege, aber der Wissenschaft, der 
Technik zugewandt und ohne jede Einstellung für das Religiöse, läßt 
sich denken, wie ihm heutzutage in seinem Stande zumute sein mußte. 
Seine Ironie war zu wenig gespielt, sein Achselzucken zu vielsagend, 
seine Munterkeit zu sehr die eines gefangenen Eichhorns, kurz, sein 
Stichwort war die Qual, — man brauchte es gar nicht lange zu suchen. 

Eines Tages erschien er plötzlich zu ungewohnter Stunde, sich zu 
verabschieden. Es habe sich eine Vikarstelle für ihn geboten/ ob er 
die annähme, wisse er noch nicht, und er zuckte die Achseln/ doch 
jedenfalls kehre er nach Frankreich zurück. 



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A. KofS, Besucß Bei DuSesn« 



531 



Die Fenster standen groß offen und es war ein Frühlingstag, daß 
ihn die Gestorbenen unter ihren Erdhügeln spüren mußten. Als eine 
verwegene Negation des Todes rauschte er mit allen Schauern her- 
ein, sein Licht hing sich wie ein Lockruf an den blassen und eleganten 
Abbe und hob mit so weher Schärfe die Tragik seines Daseins her- 
vor, daß ich aufatmete, als er wieder ging. Doch gleich darauf hielt 
ich es selber im Hause nicht mehr aus. Draußen, unter freiem Him- 
mel, angesichts der Straßen, der blühenden Anlagen, da gab es die 
vieljährigen Bäume, die oft erstorbenen und nun wieder ergrünten, 
und Menschen aller Art, erst da ließ sich das Schicksal des jungen 
Abbes wieder einreihen und erdrückte nicht mehr. Da erst konnte man 
sich ein Herz fassen, kalte Dinge in den Tag hineinzudenken. 

Zwei Jahre waren vergangen, als ich ihn unvermutet wieder traf. 
Er hatte sich in einem Lyzeum ganz der Erziehung junger Knaben 
gewidmet, seine Hoffnungslosigkeit schien glücklich eingedämmt/ ich 
fand ihn »zusammengerissen« und gefestigt, ohne daß er doch im 
Stillen von seiner Skepsis das geringste eingebüßt hatte/ er zuckte 
die Achseln womöglich noch höher als zuvor, und nie war Einer 
seines Zeichens der Dogmen so ungewiß. 

»Warum gehen Sie nicht weg?« fragte ich starr. 

»O nein,« sagte er sehr ernst, »es ist keine Sache, die man 
desertiert.« Dabei kam ein so anderer Ausdruck in sein Gesicht, 
daß ich vor Ehrfurcht erschrak, und ich begriff, daß eine Weihe wie 
die, welche er empfangen hatte, dem Flüchding zum Brandmal 
werden müßte. Ja, für den Augenblick wollte mir alles andere ge- 
ring scheinen im Vergleich zu dem Leben dieses im eigenen Lager 
mißkreditierten und verdächtigten Abbes, der mit so großer Selbst- 
verleugnung auf seinem Posten blieb. Weil hinter diesem Katho- 
lizismus, dem wir doch sonst lieber heute als morgen davon- 
liefen, das Rätsel steht, das wie eine noch ungehobene Monstranz 
weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes 
inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann aus- 
strahlt. 

Wird mich der Leser verstehen, wenn ich ihm das Bild nenne, 
das da plötzlich vor mir aufstieg? Ein kleiner Reitertroß, welcher 
dem vorsichtig nachziehenden Heere voransprengt, verwehrte Grenz- 



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A KotB, BesuS Bti DuSes/te 



linicn erkundend, ohne Deckung, verfallen, namenlos, und dennoch 
vom Sturm seiner Gesinnung sich zu opfern hingerissen, weil dort 
einige Helden liegen müssen, wo die kommenden Vielen freien Durch* 
zug über neue Brücken finden sollen. Und auch jene Kundschafter 
schwebten mir vor, die sich als erste in die mörderische Luft erhoben, 
um sie für andere zu besiegen. Von dem mystischen Generalissimus 
aber, der heute eine solche verschwindend kleine Schar durch seinen 
Geist beseelt und vielleicht ohne es zu wissen, auf ihren gefahrlichen 
Vorposten zurückhält, von Duchesne will ich nun sprechen. 

II. 

Ich wäre glücklich, wenn es mir gelänge, das Bild des Mannes zu 
umreißen, der sich aus dem unmöglichen Kompromiß zwischen 
Skepsis und Gläubigkeit seine gedankliche Würde und Unabhängig« 
keit rettete, und — - klug wie eine Schlange — die Desinvoltura seines 
Geistes bis in ihre kleinsten, spöttischesten Züge vorbehielt, während 
er sich doch als ein Gebundener aller Waffen begab/ — der heute 
mit einer Selbstverleugnung ohnegleichen als Trumpf einer Partei 
steht, die nur darauf sinnt ihn auszustoßen, während er durch sein 
geistiges Prestige ihre Wagschale hält/ — ■ der über die obskuren 
Tage, durch welche sich der Katholizismus durchringen muß, wie ein 
blühender Äst hinausreicht, und dessen Schatten so beseelt eine 
Schwelle überhängt, die er nicht beschreiten wird. Es gibt heute auf 
der Welt keine stolzere Gestalt, und keine, die so einsam steht, 
wie Duchesne. Nicht mit den Unbedachten und den Fanatikern, die 
blindlings ein zerfallendes Gemäuer verteidigen, sondern weil er 
dessen unerschütterliche Basis ergründete, nur deshalb verharrt er 
standhaften Fußes inmitten des immer hastigeren Gerölles. Gar 
manche Werte, als unvergängliche ausgegeben, wird es ja als ver- 
gangene vor sich hintreiben. Aber keine Kunst wird es dann sein 
und keines Scharfblickes wird es mehr bedürfen, sich zu einem 
Katholizismus zu bekennen, von dem die düstere, unziemliche und 
abgenützte Wörtlichkeit sich endlich löste! 

Ich war zum erstenmal nach Rom gekommen und wußte noch 



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A Ko/B, BtsuS 6*i Ducfosne 



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nichts von Duchesne, als mich eines Tages Barrere auf die Gäste 
aufmerksam machte, die er für den Abend erwartete: er hob den 
soeben zum Monseigneur ernannten Abbe Duchesne vor allen an- 
deren hervor und bestimmte mich in seiner impulsiven und gutigen 
Art zu seiner Nachbarin. Nun war ich aber noch übertrieben jung, 
wenn man so sagen darf und eine viel zu unwichtige Person, um von 
dem neuen Würdenträger geführt zu werden. Man beförderte mich 
also an seine Linke. Es war alles was sich machen ließ. Zu seiner 
Rechten saß — zart und pariserisch — die sehr reizvolle junge Gattin 
eines französischen Deputierten. Sie verstand es sogleich, sich mit einer 
huldigenden kleinen Phrase Duchesne zuzuwenden, und ich beneidete 
sie um ihre Sicherheit, erschrak jedoch, als sie ihn dann fast unver- 
weilt auf religiöse Themen hin unternahm. Allein sie trug sich als 
strenggläubige Katholikin und ohne Furcht. Leo XIII., obwohl schon 
ein Sterbender, hatte sie noch empfangen, und ihr seinen Segen ge- 
währt ... sie war so glücklich . . . dieser unvergeßliche Eindruck . . . 
»Und werden Sie sich einige Zeit in Rom aufhalten?« fragte Duchesne. 
»Ach nein, leider nicht.« Sie müsse wegen der ersten Kommunion 
ihres ältesten Kindes zurück. 
»Schade«, sagte er. 

Es entstand eine kleine Pause/ man reichte ihr eben den Fisch, 
aber dann erklärte sie eifrig, sie wolle jedenfalls den Ablaß gewinnen, 
bevor sie Rom verließ. Hatte Monseigneur ihn schon gewonnen? 
»Non,« gab er zur Antwort, »j'attends qu'il y ait un rabais.« Und 
ohne aufzusehen, ließ er ihr ruhig Zeit sich zu sammeln. Ihr Gatte 
fing die bestürzte, fast hilfesuchende Miene nicht auf, mit der sie 
über den Tisch zu ihm hinsah, indes ich mich schnell zurücklehnte, 
um Duchesne mit einem unauffälligen Blick zu überfliegen. Mein 
Herz tat einen großen Ruck und stand horchend still. O diese hohe 
wie in kühner Abwehr geschwungene Braue! dies aufblitzende, be- 
drohliche Feuer des Auges! und welcher Ernst hinter dieser 
grimmigen Maske! Jene unverbriefte augenblidtliche Sicherheit, zu 
der eine intuitive Erkenntnis hinreißen kann, trug mich da, — des 
Pfeils nicht achtend, wo er lag — schnurgerade zu dessen Ausgangs- 
punkt hin. Nein, bei Burgunder und Salmi gab dieser Mann nichts 
zum Besten von dem, was der Brennpunkt seines Lebens war. Be- 



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A Ko/B, BesucB Bei DuSesnc 



dachte sie es nicht und zog sie keine Schlüsse, die anmutige Frau, 
die sich die Dinge zugute hielt, deren letzte Konsequenzen er trug? 
Sein zierlicher violetter Mantel, als seidenes Nichts über den Sessel 
zurückgeschlagen, hing er ihm nicht wie mit eisernen Schließen am 
Halse an? und entnahm sie nichts der so wenig klerikalen, der so 
priesterlichen Prägung dieser tragisch in sich gekehrten Zügel — 

Ach! so neu war dies! wie wenn Berge zurücktretend ein Tal 
einlassen. Ich war so entzückt, daß sich mir alles festlich erhöhte: 
das Silherzeug wie neu gehäuft, als spende es seine Pracht zum 
ersten Male, und auch die Blumen! 

Aber leider ist hier zu viel von mir selbst die Rede, denn 
ich muß zur Erklärung manches einschalten, so wenig es sonst her- 
gehört. Mit sechs Jahren steckte ich schon in einem Kloster, das ich erst 
mit zwölf, beflügelten Schrittes, auf immer verließ. Der Begriff und das 
Hochgefühl, ja die Würde der Freiheit bestand für mich darin, daß 
ich nunmehr mit Klosterfrauen, spitzenbesetzten Heiligenbildern auf 
Tortenpapier und den frommen, aber so faden Öldrucken, vor 
welchen es in keinem Saale, keinem Korridor, keinem Vorplatz ein 
Entrinnen gab, auf immer außer Kontakt treten durfte. Dies hatte 
der furchtbare Klosterjargon bewirkt, in dem das Erhabene und 
Unbegreifliche, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, 
ohne Unterlaß hereingezogen wurde. Kein Anlaß war zu gering, 
um uns von Gott zu sprechen. Schneller als man glaubt hat aber 
die geheimnislose Aufmachung des Geheimnisvollen das religiöse 
Bewußtsein eines Kindes zerstört und es wendet sich so bald als 
möglich von einer Sache ab, die man ihm mit beschämend albernen 
Reminiszenzen behing. Ich war mit so mächtigen Aversionen aus 
meinem Kloster ausgetreten, daß ich mich fortan allen religiösen Er- 
örterungen und dem Umgang kirchlicher Personen mit anstößiger 
Deutlichkeit entzog und meiner Abneigung für sie auch dann, ja 
dann erst recht mit wahrem Behagen treu blieb, als ich angefangen 
hatte, dem Problem des Katholizismus still für mich allein mit ge- 
spanntem, ja leidenschaftlichem Interesse nachzuhängen. 

Und nun zurück zu jener Tafel: aber ich glaube, es werden 
einige schon begriffen haben, warum da mein Herz so plötzlich 
aufschlug und zu jubilieren anfing, und warum es da wie eine 



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A. Koß. BesuS Bei DuSesne 535 

Lerche immer wieder zum blauen Ziel emporstieg und sidi nicht 
halten ließ. 

Tags darauf bestürmte ich Barrere, mir zu einer Unterredung unter 
vier Augen mit Duchesne zu verhelfen. Ihnen kann er's nicht ver- 
weigern, und mich machen Sie für den Rest meiner Tage glücklich, 
beteuerte ich. 

Aber Barrere ließ sich durch meine melodramatische Geste nicht 
beirren. Er dachte nicht, was ein jeder an seiner Stelle gedacht 
hätte: die Kleine wird mich blamieren, wenn ich ihr willfahre. Er 
zögerte nur einen Augenblick lang, dann schickte er eine Zeile zu 
Duchesne hinauf: dieser wohnte nämlich im selben Hause, wenn 
auch nach einer anderen Himmelsrichtung und fast eine Viertel Meile 
Weges entfernt. Denn das Dach des Palais Farnese ist weitläufig 
wie ein Stadtviertel und birgt einen ganzen Komplex verschiedenster 
Wohnungen. Es hat sogar seine Slums sozusagen, unkontrolliert 
bare Schlupfwinkel, aus welchen allerlei lichtscheues Volk sich nicht 
mehr vertreiben läßt. 

Duchesne schickte den Boten mit der Antwort zurück, daß er 
mich am folgenden Morgen empfangen könne. Als Leiter des Archäo- 
logischen Institutes hatte er eine hochgelegene, aber stattliche Flucht 
von Zimmern inne. Beklommen erstieg ich die vielen Stufen und 
begriff den Ansturm nicht mehr, der mich mit solcher Macht zu 
diesem Schritt getrieben hatte: er erschien mir plötzlich so anmaßlich 
und ungenügend motiviert. Worüber hatte ich mich nur gestern so 
aufgeregt? Wegen , des Kleides, nicht wahr, das ich mir von Hause 
nachschicken ließ und dessen Überhang man vergaß, so daß ich es 
nicht tragen konnte. Lag mir denn auch wirklich so übermenschlich 
viel an solchen Fragen? welchen Fragen? ... ich wußte auf der Welt 
nicht mehr, was ich Duchesne sagen wollte, und angsterfüllt zog ich 
die Klingel. 

Der Diener verneigte sich stumm, zum Zeichen, daß ich erwartet 
sei, und aus dem Halbdunkel trat eine Katze hervor, die sich ohne 
Zögern meiner annahm und mir voranschritt. Zwar hätte nichts farb- 
loser sein können als Duchesnes Empfang. Mir jedoch, da ich vor 
ihm stand, verscholl alles Alltägliche, und alles Zufällige stürzte mir 
zusammen wie Kulissen, die aus dem Wege müssen, und mein 



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A. Ko(6, Besudü Bei DudSesne 



wahres Leben umgab mich wie ein Paradies. Kindheit und Jugend 
von mir fortgeweht und selbst die Jahre, die noch vor mir lagen, 
im voraus abgesponnen, gehörten mir nicht mehr an, keine Zeit, nur 
diese eine denkwürdige Stunde/ kaum ein Gesdiöpf, nur ein Ge- 
danke, so stand ich vor ihm/ nicht von dem Zimmer wahr* 
nehmend, in dem ich stand, nur den Himmel, der durch die Scheiben 
sah: rosige Wolkenstreifen über den Janiculus. Es ist Abend, 
dachte ich. 

»Guten Morgen t, sagte Duchesne. 

Doch ich blieb unter dem vagen Eindruck eines Abendhimmels 
und sah so klar, wie ohne diese unverhoffte Begegnung mein Weg 
sich verengte und ich abstürzte. Aber im magischen Schein dieses 
sinkenden Tages, der ein aufziehender war, dünkte es mir mit nichten 
wunderbar, daß der ausgerechnet einzige Mensch auf dieser Erde, 
vor dem ich mir — wie ich nun einmal beschaffen war — die Be- 
stätigung, das »Geländerc dessen holen würde, was ich mir nun 
schon lange — Sprosse für Sprosse — trotzig aufbaute, hier vor mir 
stünde mich zu vernehmen. Die Tatsache war schon vergessen, daß 
sich mein Leben bisher zu einer Mosaik heftiger, stets unerfüllter 
Wünsche mit erstaunlichem Tempo zusammensetzte. Stand doch auch 
mein Umgang mit Menschen damals im Zeichen des erbitterten, weil 
unstillbaren Wunsches auf einen Stuhl zu steigen, und was ich 
gerade meinte oder dachte furchtbar hinauszuschreien, um die Nicht- 
achtung zu übertönen, die meine apercus samt und sonders erfuhren. 
Die sogenannten reifen Leute pflegen ja den Werdenden jeden Kre- 
dit auf eigene Gedanken um so systematischer zu verweigern, je 
gedankenloser sie selber sind. Und doch trägt Einer seine paar 
Ideen, wenn überhaupt, schon sehr früh ungeklärt mit sich herum, 
und sich selbst überlassen kommt vielleicht nichts seiner Bedrängnis 
gleich. 

Aber hier stand der gewaltige Duchesne und ihm bekannte ich 
da in hastigen Umrissen die ganze Not meiner geistigen Existenz: 
wie ich auf meiner Flucht von all denjenigen Dingen, die mir so 
früh verleidet wurden, dem menschlichen Geiste auf allen mir zu- 
gänglichen Gebieten, nur nicht den religiösen, nachzuspüren begann, 
wie aber alle diese der Religion entfremdeten, oder sie ignorierenden, 



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A. Koß, BesuS Bei DuSesne 537 

ja sie scheinbar negierenden Pfade, sich mir zu guter Letzt als Um« 
Schreibungen jener selben Mysterien bekundeten, deren Sinn, ja deren 
Wahrheit mir eine zu unumwundene und plumpe Wörtlichkeit so 
früh raubte/ wieso ich die Leute nicht verstünde, die es sich unter« 
sagten, den Dogmen nachzuhängen aus insgeheimer Furcht, sie dann 
bezweifeln zu müssen, und wie feig, wie träge, wie wenig menschen« 
würdig mir dies erschiene/ um so mehr als sie den spekulativen Ge- 
danken auf das äußerste anzuspornen vermöchten, und es eine Art 
gab sfe zu jagen und zu verfolgen, bis sich ihre Fassetten zu einer 
vieldeutigen Einheit blitzend zusammenballten, daran sich von neuem 
Alles erproben, die kühnsten, furwitzigsten Spiele treiben ließe, die 
selbst mit dem schwindligen Kosmos bemessen, ihre Schwingung 
behielt ... die vielen Wohnungen auch wirklich birgt, von welchen 
geschrieben steht, und also auch Hürden den Einfältigen gewährt/ 
daß sich der Freie aber nur deshalb zufrieden gibt, weil hier ein 
Geheimnis hinter dem anderen lauert, und Unerforschliches hinter 
dem Erforschlichen wie im Sternenraume immer neue Kreise ein- 
bezieht. Eine solche Einsicht, meinte ich, in einem Zuge fortredend, 
hatte so sehr den Charakter des einreißenden Affektes, daß man 
wohl scheuen könne ihn vor sich selber auszuplaudern .... daher 
das so sehr fakultative dessen, was man Frömmigkeit nennt und 
für einen Bestandteil des Religiösen hielt, während es ein vielfach 
sich lösendes Abzeichen sei. 

Duchesne unterbrach mich mit keinem Wort. Am Fenster stehend, 
und halb mir zugekehrt, hörte er mich an. Ich meine, wir sind so 
empfindlich geworden, gerade in solchen Dingen, fuhr ich fort, denn 
wir neigen so stetig vom Sichdichen weg! Wem der Katholizismus 
seit Generationen, wem er sehr tief im Blute sitzt, der scheint heute 
Nichtkennern unverständlich, fast hostil. Schon fordert er den Altar 
als Hintergrund für Priestergewande. Mönchstrachten und Kloster- 
schwestern im Straßenbild sind nicht glücklich 

Die Sonne senkte Streifen goldenen Staubes herein. Bald wird sie 
sinken, dachte ich, und meine Worte fingen an sich zu überstürzen : 
durch das überdauernde und grenzenlose der Konnexe war eine 
Sache groß. Alle Künste aber strebten seit vielen tausenden von 
jähren an den Schleiern unseres Kultes zu weben und waren von 



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538 A. Kotß. BesuS Sei DuSesne 



jeher durch den Pulsschlag oder den Gedanken eminent katholisch. 
Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer ver- 
drängt, das universalste zum einschichtigen, die Sache, deren Schlag- 
wort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge. So kehrt 
fast Jeder um, wo dennoch ein Weg über jene Himmelsbrücke bis 
zum alten Hellas hinüberreicht, das sich als gewaltiger Aufruf, als 
elementarer Auftakt der Messianischen Zeit aus der Versenkung 
hebt. Und die Gestalt des Erlösers . . . Hier brach ich ab. War es 
denn nötig etwas hinzuzufügen? Mußte der Mann, zu dem ich mit 
geweiteten Augen hinübersah, nicht mit einem Blick erraten, wie sich 
auf dem eingeschlagenen Wege die Prinzipien, die man mir als 
Gegensätze gelehrt hatte, ins Unabsehbare versöhnten und wie bren- 
nend ein solcher Verdacht mich innerlich einschloß und umzüngelte? 
Vielleicht hatten ihn schon viele geschöpft/ ich konnte es nicht wissen, 
da ich ihn noch von niemand vernommen und zu niemand ge- 
äußert hatte. Unter den geistvollen und mir unendlich überlegenen 
Menschen, die ich schon kannte, war mir doch keiner vorgekommen, 
dem ich gerade in solchen Dingen die Autorität zugestanden hätte, 
mir diesen Verdacht zu bestätigen oder zu bestreiten/ keiner, dessen 
Widerspruch mich nicht unbeschreiblich gereizt hätte, um dann an- 
zunehmen, daß ich es besser wüßte . . . 

Wozu hatte ich jetzt gesprochen, wenn dieser hier alle diese Dinge 
nicht erriet? 

Monseigneur, schloß ich unvermittelt, [täusche ich mich oder habe 
ich recht? 

Und Duchesne antwortete mir ohne zu zögern. 

Aber mein Gehirn war plötzlich wie ausgelöscht und leer und ein 
Büschel Fräsien, deren Duft ich bisher nicht wahrgenommen hatte, 
ward überwältigend. Ihre archaische Seele ausatmend — diesem ewi- 
gen Echo von Hoffnung, Frühling, unglücklicher Liebe — bestimmten 
sie den Klang dieser Stunde und trugen ihre schwere und doch so 
beschwingte römische Luft ins Unermessene hin. 

Duchesne saß mir jetzt gegenüber und sprach unter anderem von 
den Katholiken Deutschlands. 

>En Allemagne on aurait fait de moi un Döllinger,« sagte er, 
»ici on m'a fait Monseigneur.« 



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A. Kofß, BesuS Sei Ducßesne 



539 



Und es fiel mir ein, daß Barrere sich fast ein wenig verwundert 
über die Befriedigung geäußert hatte, welche ihm diese Ernennung 
bereitete. Ich begriff die Genugtuung so wohl. — 

Aber ich fühle, wie ungeduldig der Leser auf mich wird. Du- 
chesnes Antwort ist es, die er wissen möchte, und ich kann sie ihm 
nicht sagen, denn mein Besuch ist kein Interview gewesen. 

Genug, daß dieser wegen seines Liberalismus so viel angefeindete 
Mann der beißenden Sarkasmen, der bitter-frivolen Witze, sich als 
ein heiliger Priester entlarvte. Die Entdeckung, obwohl gleich bei der 
ersten Begegnung so vorschnell geahnt, war so wichtig, daß ich so- 
gleich wußte, bevor ich es erfahren lernte: daß mein Leben, was 
immer es mir bringen oder verwehren würde, dennoch in dieser 
Unterredung mit Duchesne seinen eigendichen Abschnitt fand und 
in ein vor oder nach ihr zerfiel. Ja ich verließ ihn so ganz von 
diesem Bewußtsein eingenommen, daß ich wie im Traum die vielen 
Stufen hinabging, die ich so bang erstiegen hatte. Vor dem kühlen Palast 
lag jetzt der Campo di Fiore in der Mittagsglut. Wo sich träge und 
lau, und doch nachhaltig wie ein Lied, sanfte Levkojen häuften, nahm 
ich meinen Stand, zu glücklich um mich von der Stelle zu rühren. 
Nichts war ja sinnlos und alles hing zusammen. 

Ein paar Tage später traf es sich, daß ich infolge einer Konfusion, 
in Duchesnes Wagen von einer Gesellschaft mit ihm zurückfuhr. 
Wir sprachen dabei über das holperige Pflaster, die zunehmende 
Hitze und die mangelhafte Beleuchtung des nächtlichen Rom. 

Als bald darauf bei ihm selbst ein Empfang stattfand, kam ich 
ihm nicht in die Nähe und als ich mich in der Folge wieder nach 
Rom begab, suchte ich ihn nicht mehr auf. 

Die Jahre verstrichen, ohne daß ich ihn wiedersah. Von dem neuen 
Kurs begünstigt, hatte einstweilen in den klerikalen Blättern des 
halben Kontinents jene berühmte Hetzjagd auf ihn eingesetzt, bei 
welcher er nicht besser als ein Ketzer behandelt und seiner Er- 
nennung zum Mitglied der französischen Akademie mit täglich neuen 
Insulten entgegengetreten wurde. Ein Buch, das unter Leo XIII. 
niemand zu rügen wagte, stand plötzlich auf dem Index, und der 
Augenblick schien endlich gekommen, wo er, der ungerechtfertigten 
Angriffe müde, durch einen offenen Bruch entgegnen würde. Wenn 



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A KolB, Besudb Bei DucBesne 



die Nichtkatholiken darauf wetteten, so konnten ihn seine feindlichen 
Glaubensbrüder kaum erwarten. Aber idi wußte zu genau, daß er 
diesen den Gefallen nicht tun würde, um mich auch nur zu erkun- 
digen, welchen Entschluß er getroffen hatte. 

Es wurde Mittsommer über die häßliche Kampagne, ich war gerade 
in London und wollte nach Deutschland zurück, als ich durch eine 
Zeitungsnotiz erfuhr, daß Duchesne sich in Paris befand. Plötzlich 
lebte da übermächtig der Wunsch in mir auf, ihn wiederzusehen. 
Seine Adresse war schnell ermittelt, ich schrieb ihm, daß ich über 
Paris führe und fragte an, ob er mich empfangen wolle. Die Ant- 
wort war ein kleines Billett, mit sorglicher Angabe der Untergrund- 
bahn und der Stationen, wo ich ein- und umsteigen müsse, um am 
schnellsten vom rechten Ufer zu ihm hinüberzukommen. Möglichst 
bald, denn er sei im Begriff in die Bretagne zu fahren! Ich reiste 
sogleich, war abends in Paris, und kündete mich für den nächsten 
Morgen bei ihm an. An der Hand seiner Vermerke legte ich, bald 
über, bald unter der Erde, dem komplizierten Weg zu seiner ver- 
lorenen kleinen Sackgasse zurück, in der sich zweistöckige Häuser 
altmodisch aneinanderreihten. Ich eilte eine Stiege hinauf, trat rasoS 
durch eine Türe — wie damals stand er am Fenster — kein Jani- 
culum mehr ~ gesenkte Jalousien, um das Sonnenlicht zu dämpfen/ 
wie damals wußte ich nichts von dem Raum um mich her. Ich hatte 
mich verschleiert, wie man das unwillkürlich tut, wenn man jemand 
nach acht Jahren wiedersieht/ sein verändertes Aussehen aber war 
es, das ich mit Bestürzung wahrnahm. Nicht, daß er krank oder 
stark gealtert schien, es war nodi das schnell bereite, fast bedroh- 
liche Aufblitzen des Auges, die kühne und gebieterische Abwehr, 
aber es war auch die Furche des Kummers, etwas so bitteres, ein 
so wühlender Gram, daß mir — ich muß gestehen — einen Augen» 
blick König Lear durch den Kopf schoß, wie er in seiner Verlassen- 
heit die sturmgepeitschte Natur zum Zeugen erlittenen Unrechts an- 
ruft. Es war nur eine andere Zügelung, aber es war dieselbe Ge- 
hetztheit. 

»Sie wissen,« sagte er, »auf welche Weise man mich zur Strecke 
zu bringen sucht«. 

»Aber so vergebens«, meinte ich achselzuckend. 



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A Ko(6. SesuS Bei Ducßesne 541 



»Keine Waffe scheint dafür zu schlechte, und er deutete auf die 
Blätter und Zeitschriften, die ihm offenbar soeben zugekommen 
waren. Vor ihm lag eine Revue aufgeschlagen. 

»Ist Ihnen das schon bekannt?« fragte er, und er nannte die Be- 
schuldigungen, die in heuchlerischen und perfiden Protesten gegen ihn 
erhoben wurden. 

»Warum in aller Welt lesen Sie dieses Zeug«, rief ich und starrte 
ihn verwundert hinter den verschnörkelten Gittern meines Schleiers 
an. Aber er machte kein Hehl daraus, wie sehr es ihm zu Herzen 
ging. Ich war aufgesprungen. 

»Monseigneur«, rief ich, »Sie müssen doch wissen, daß Sie der 
Halt einer verstreuten kleinen Gemeinde sind, die einfach durch die 
Tatsache, daß Sie da sind, lediglich durch den Eindruck Ihrer Existenz 
beherrscht, verankert, durch Sie allein gehalten ist.« 

»Es freut mich«, sagte er, doch ohne daß seine Züge sich er- 
hellten. »Aber sehen Sie — es können doch auch Rechtdenkende an 
mir irre werden, wenn sie alle diese Schmähungen lesen.« Und er 
deutete wieder auf die Blätter hin. 

»Das ist mir zu viel Bescheidenheit«, gestand ich. 

Wir sprachen dann von anderen Dingen, aber auch sonst war 
eine Unfireude und Entmutigung an ihm, die ich nicht kannte. 

Brütend lag die Straße vor mir, als ich wieder aus dem Hause 
trat, aber ich ging zu Fuß meinen langen flimmernden Weg. 

Ist uns nicht, als wollten wir immerzu gehen, ungestört unser 
Lebtag lang, wenn infolge eines starken Kontaktes ein geistiger 
Pendel in uns schwingt? Es kann sein, daß dann unsere Füße ganz 
mechanisch einsetzen, nicht wahr, oder wie eingewurzelt stehen. 
Zwar hatte ich Duchesne gegenüber die richtige Note wohl nicht 
getroffen. Schnell fertig hatte ich unüberlegt geglaubt, er würde sich 
mit ein paar schlechten Witzen und einem ironischen Achselzucken 
über den obskuren Tumult hinwegsetzen, der ihn verfolgte, und 
während er meinen Besuch als eine Sympathiekundgebung erwartete, 
hatte ich ihm nur Lebhaftigkeit bezeigt. Es war gewiß schade, den- 
noch konnte mich das Bedauern darüber nur flüchtig stören. So leicht 
wog da alles Persönliche! So unnachhaltig erwies es sich! 

Ich erinnere mich keines heißeren Tages wie jenes 14. Juli in Paris. 



542 



A KotB, BesuS Bei Ducßesne 



Die Häuser waren beflaggt, aber die Straßen schienen zu trauern, 
da keine Fahne sich regte. Erst nachts, als ich zur Bahn fuhr, be- 
lebte sich das Bild. Singendes Volk schwärmte durch die Straßen, 
und alle Leierkästen der Stadt orgelten durch die Luft. Bin Mädchen 
tanzte, hoch erhobenen Kopfes, unter dem dunklen Himmel, von 
gaffenden Zuschauern umringt. 

Doch welch barscher Novemberwind wirbelte die Blätter von 
der feuchten Erde auf, als ich wiederkam! Alles Laub dahingerafft 
und schon vergessen. Aber ich will nur den einen Moment heraus- 
greifen, da ich im Flur von Professor Bergsons Hause der Aus- 
gangstüre zuschritt und er mich geleitete. Ich weiß nicht wie es kam, 
daß vor seiner offenen Schwelle und dem niedrigen Himmel, der 
seinen erstorbenen und verwehten Garten überhing, Duchesnes Name 
zwischen uns fiel, und wir seiner einzigartigen Stellung in der geistigen 
Welt gedachten. Und Bergson sprach von dem Katholizismus im 
Lichte dieses größten Katholiken, der, so klug, so wohl beraten und 
durch den Irrtum anderer gewitzigt, laudos jenen treibenden und 
lang ersehnten Schritt voranging, der den Schismatikern mißlang. 

So klar entstand jetzt zwischen uns sein undeutliches, von den 
Nebeln des Tages verhülltes Bild, als sei er schon entseelt und als 
hätte sich sein Schatten zu uns gesellt. Bergson drückte die Klinke 
wieder zu. Wir mußten lächeln. So ohnmächtig also verhielt sieb 
hier der Tod, so wenig würde es für ihn zu holen geben, wenn er 
da rufen würde! 

Annette Kofß. 



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Waftfier Krug. Zur Cßronid der Zeit 



543 



ZUR CHRONIK DER ZEIT 



STADT UND LAND 

DER Städter ist ein ärgerlicher Mensch. Entweder schlendert er 
nachlässig durch die Straßen oder er zeigt eine Eile, die an 
Schlangen erinnert: entweder ist er unendlich geschäftig oder gleich' 
gültig und gönnerhaft, wie wenn ihn nichts betreffe. Sein Wesen ist 
Eleganz, modische Kleidung, verbindliche Bewegungen. Sein Gespräch 
kurz, telegraphisch oder liebenswürdig glatt. Diese Städter sehen sich 
nicht nur in den Kleidern ähnlich, die die Männer aus London und 
die Frauen, mondänenhaft ohne Ausnahme, aus Paris beziehen, 
sondern auch in den Bewegungen, ja Gesichtern. Sie sind modisch 
und sozusagen charakterlos. Die Mode ist ja ein Wechsel in der 
Uniform. Diese Städter tragen keine Kleider sondern Uniformen. 

Auch die Stadt trägt eine Uniform. Die Stadt früherer Zeiten 
war keine Stadt in unserm Sinn. Sie war etwas eng begrenztes, in 
sich Abgeschlossenes, mit engen Beziehungen von Nachbar zu Nach« 
bar, von Viertel zu Viertel. Daher das Stadtbild und seine Kenn* 
zeichen: Krumme Gassen, hohe Giebel, Buntes und Mannigfaltiges. 
Unsere Stadt dagegen ist nichts Abgeschlossenes, sondern etwas 
Aufgeschlossenes, frei daliegendes, mit Verkehr übers Land und 
übers Ausland. Kein nachbarlicher Verkehr, keine Bekanntschaft von 
Viertel zu Viertel. Fremde bewegen sich schnell durch Straßen, die 
gerade sind, damit die Schnelligkeit befördert wird. Und eine namen- 
lose äußere Gleichheit erleichtert dem einzelnen das äußere Leben, 
das er selbst nun nicht mehr zu gestalten braucht. Auch die Stadt 
trägt Uniform. Die Häuser gleichen einander, die Straßen und Plätze 
gleichen einander. Und kommt man in die nächste Stadt, so erlebt 
man nur eine Wiederholung. 
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544 



Wo solche Uniform vorhanden ist, wie sollte da das Innere an- 
ders sein! Man hat etwas Glattes, Handliches nötig, um der Schnellig- 
keit des Lebens gewachsen zu sein. So innerlich wie äußerlich. Das 
Glatte, Handliche ist längst gefunden. Es ist auch hier die Eleganz. 
Auch innerlich sind diese Städter nur elegant. Das heißt: sie haben 
gewisse verbindliche, den Nachbar möglichst schonende, nämlich liberale 
Gedanken. Sie empfinden mit einem gewissen, niemand verpflichtenden, 
glatten Gefühl, das sich aus Sentimentalität, Sinnlichkeit und ein 
wenig Musik zusammensetzt. Im übrigen ist man kühl und ver- 
pflichtet sich nicht. Erscheinungen, die darüber hinausgehen, staunt 
man an wie merkwürdige Tiere. Die Kunst ist zwar in Mode, aber 
als Gegenstand intellektueller Betrachtung. Als Sache des Herzens 
wird sie belächelt. Das heiße Herz stellt bloß. So findet man in 
diesen Städten entweder glatte oder, wie sie sagen, interessante Kunst. 
Desgleichen Literatur und Musik. Namendich aber das »Interessante« 
ist bevorzugt. Man versteht darunter eine gewisse Neuigkeit der 
Problemstellung, der Aufmachung, Reichtum an »geistreichen« Wen- 
dungen und dergleichen Dinge mehr, die den kurzen Verstand als 
neu reizen. Während der andere Verstand weiß, daß alle diese 
»interessanten Details« aus zweiter Hand sind und nur dazu dienen, 
über den Mangel an Gestalt hinweg zu täuschen. Weiß, daß vor 
allen andern Künsten eine »interessante« Musik das Komischste 
und Tollste ist, was einem unterkommen kann. 

Da man nun, wenn man nicht auf Kopf und Hand gefallen ist, 
alles lernen kann, nur nicht die Kunst des heißen Herzens, so sind 
denn Tausende von Buchschreibern, Bildermalern, Holz-, Stein- und 
Erzhauern, Erbauern und Musikanten am Werk, auf eine »inter- 
essante« Art Buchstaben, Farben, Hölzer, Steine, Metalle und Noten 
zu häufen und damit ein kaufmännisches Geschäft zu betreiben. 

Der Kaufmann überhaupt ist das Zeichen dieser Stadt. Nach und 
nach dringt sein Kalkül in alle Kreise. Selbst der Beamte mit allen 
seinen zugeknöpften Taschen erschließt sich ihm. Die kühle, gelassene, 
mit Geld und Geldeswert rechnende Art, nicht verpflichtet durch 
eine Idee des Kopfes oder Herzens, das ist die Art, die als Ideal 
dem Städter vorgaukelt. Das ist sein Heiligtum. 

Was ist da natürlicher, als daß Geld und äußerliche Güter lächer- 



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lieh uberschätzt werden? Daher denn auch bei denen, die nicht so* 
viel haben, die Sucht, zu tun, als ob sie soviel haben. Die Lust 
am Schein. Man muß reich sein oder reich scheinen. Ein Drittes gibt 
es nicht. Und der Luxus, von Jahr zu Jahr gestiegen zu ekel- 
erregender Höhe, reizt zur Luxusimitation. Da sieht man prächtig 
Gekleidete: zu Hause aber hocken sie schäbig in Winkeln und durch 
die Gassen irrt frierend der Geist. Da sieht man auch solche, die 
ängstlich sind, nicht »vornehm« zu erscheinen. Sie sind ja keine 
Bürger mehr und müssen Herren von Adel sein. Sie verrufen die 
bürgerliche Kost und alle 14 Tage kommen sie zum Sekt zusammen. 
Ihre Dichter, mit dem Einglas spielend, skandieren nach Geschäfts' 
schluß die Verse großer Welt. Und Augen, ach so trostlose Augen, 
stieren auf lauter Verödetes. Snob ist nicht Berlin-West, Snob ist 
diese Erdkugel, die doch immer noch Gott in Händen hält. 

Geht auf dieser Erde nun einer aus und sucht und findet wirk- 
lich noch eine einfache Frau, die da spricht, da ihr Sohn sich einen 
Namen gemacht hat: »wenn es nur auch recht ist, was er schreibt!« 
— da wird es Licht um den, der gesucht hat. Wenn es nur auch 
recht ist, was sie denken, reden und handeln ! Aber wer von diesen 
Städtern fragt danach! Und fragt nicht vielmehr: wenn was wir tun 
und reden nur modisch ist! Ihr alle, Ihr guten Idealisten, die Ihr von 
den Errungenschaften dieser Jahre redet, von dem Streben nach Ein- 
fachheit und Schlichtheit, Klarheit und Echtheit, nach Natürlichkeit 
und Anschluß an die Tradition, auf Gebieten, auf welchen es auch 
sei, die Ihr etwa hinweist auf Ausgaben alter Schriften und Denk- 
mäler jeder Art, wie sie wieder gemacht und gekauft werden, auf 
Gestaltungen vieler Kreise, die das Verlangen deutlich werden lassen, 
an Vergangenes wieder anzuknüpfen, ~ Ihr alle lauft in den Wolken 
spazieren. Der Sport ist Mode, die Natur ist Mode, die Kunst ist 
Mode, die Literatur ist Mode. Es gibt gar nichts, das nicht, kaum 
geboren, zur Mode würde. Es liegen auf den Tischen der Reichen 
die teuren Bücher, weils Mode ist. Es liegen aber auch auf den 
Tischen der Armen die billigen Bücher, weils Mode ist. Diese Stadt 
und ihre Kultur, so sehr sie nach der Einfachheit der Natur strebt, 
so sehr ist sie nur bequem und glatt, nur gefallig und geleckt. 

Und nun zu sehen, wie dieser Städter ansteckend wirkt, wie er 



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546 Waltßer Krug, Zur Cßronit der Zeit 

das Land betört, daß es ihn nachäfft, so gut es kann, wie der ganze 
geleckte, platte und hartherzige Kram hinaustransportiert und mitten 
auf den Wiesen aufgestellt wird, in den fernsten Winkeln, auf den 
höchsten Bergen, wie die ganze Welt mit der Bronze der Eleganz 
überzogen wird! Die Eleganz aber schlägt nach innen wie ein Gift 
und macht das Blut des Herzens kalt und gerinnen. Ein Tummel- 
platz arbeitender und nicht arbeitender Elegants: das wird die Welt 
werden, wenn der Stadter sie besiegt haben wird. 

Indessen, ich preise den Bauer nicht. Der zu preisende Bauer, das 
ist ein Thema von ehemals. Es gibt keine Bauern mehr. Man wird 
sie vergebens suchen. Die Stadtseuche hat sie alle vertilgt. Selbst 
dort sind sie gestorben, wo die Stadt fern lag, im Schwarzwald, in 
der Schweiz. Nur noch Mischlinge gibt es, Zwitter von Stadt und 
Land. Und diese sind schlimmer als alles andere. Denn sie haben 
zwar das Hohle, Kalte, Anmaßende des Städters, aber nicht, was 
Liebenswürdiges an ihm war. Wenn's hochkommt, ist der Schweizer 
Wirt, der Schwarzwälder Handelsmann. 

Wo ist das, was den Bauer festband an die Erde, den Boden? 
Ihm die Gestalt dessen gab, das aus dem Boden gekommen ist, ver- 
wachsen mit Wald, Baum, Feld und Matte, stehend gegen den 
Horizont gleich Pflanzen und Tieren <und so, wie man, tiefen Sinnes 
voll, von Menschen nur noch Irre stehen sieht)? So steht der Bauer 
nicht mehr da. Er hat ja schon die Unsicherheit des Städters, der, 
wenn er »draußen« ist, nicht mehr weiß, wie er seine Gliedmaßen 
gebrauchen, wie er die Hände regen und die Füße stellen soll. So 
schon ist der Bauer. 

Wie sollte es auch anders sein! Seine Gedanken sind ja beim 
Geld, beim Handel. Was ist der Wald ihm? Futter für eine 
Papierfabrik. Das Feld? Ein Bauplatz. Sein Haus? Eine Wohnung 
für Fremde. Die Fabriken fressen Löcher in seine Äcker und Wiesen, 
in seine Berge und Forsten. Ja, sie fressen seine Heimat an und 
verzehren sie wie eine scheußliche Krankheit, wie ein zehrendes Gift. 
Es gibt Gegenden in Deutschland, wo die Werkstätten der Industrie 
mit der grandiosen Kraft des Symbols als Geschwüre am Körper 
der Natur dem Auge sich darbieten. Der Bauer aber sieht es und 
sieht es nicht. Er kennt seine Welt nicht mehr, er kennt die Stimme 



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WaftSer Krug, Zur Cßronid der Zeit 



547 



des Waldes nicht mehr, das Rausdien der Felder nicht mehr. Sonst 
müßte er ja inne werden, was Unheimliches hier geschieht. Er wird 
es aber nicht inne. 

Er kann es auch nicht mehr inne werden. Außer in der Mode, 
die freilich kommen wird oder schon da ist. Aber dann hat es ja 
keinen Sinn. - Sind Köpfe nicht Zeichen der Kraft? Wie wenig 
Bauernköpfe sieht man noch! Wie soll da Bauernart wieder zu 
Kräften kommen! Trifft man in deutschen Städten noch Köpfe von 
1500? Sie sind alle abgestorben. Und da sie abgestorben waren, 
konnte die Stadt werden. Dem Schädel des deutschen Bauern aber 
ist die Stadt schon eingeschrieben. Auch dort, wo weder Stadt noch 
Fabrik ihn je gesehen hat. Der Bauer hört und liest und spricht 
davon und das merkt man ihm an. Seine Züge beginnen schon zu 
verlaufen wie die jener Bauern, die abends aus der Fabrik heim* 
hasten, um schnell noch das Feld zu bestellen. Man hat diesen Typus 
gepriesen. Man hat gesagt, er stelle den glücklichen Mittelweg, ja 
geradezu den Ausweg dar. Er habe das Verdienst der Stadt und 
auch den Segen des Landes. Aber immer noch gilt, daß niemand 
zween Herren dienen kann. Und immer noch rächt sich furchtbar 
solcher Dienst. Diese Fabrik- oder Stadtbauern sind arm, verhetzte 
Zwitter, Taumelnde zwischen Stadt und Land, krank an übergroßem 
Verbrauch des Körpers und ganz wirbelig in Herz und Hirn. Ihre 
Gesichter sind blaß und ihre Züge welk und abgespannt. Nur die 
Hände noch scheinen die alten. Und wenn die Väter es noch tragen, 
die Söhne tragen es nicht mehr und die Enkel werden als Kinder 
sterben, wenn man sie nicht vollends zu Städtern macht. Es gibt 
keine Mittelwege, es gibt nur Entweder — Oder. Es gibt nur Stadt 
oder Land, kein Stadt-Land und keine Landstadt. — Komm Stadt 
und unterjoche dein Land. Mache aus Wiesen und Ackern Fabriken 
und Kiesgruben. Überziehe die Häuser und Straßen mit deinem 
Glanz und spritze in die Adern das Serum deines Geistes. Und da 
es schon sein muß, so sei es schnell. Schneide auch unsere fleischernen 
Herzen heraus und gib uns steinerne dafür. Wir wollen sie tragen, 
gekleidet, wie die letzte Mode es befiehlt. 



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548 WaftSer Krug, Zur Cßronifi der Zeit 



DER BALLETTMEISTER DIESER ZEIT 

Welchen Wert man wieder auf den Tanz legt! Es begann mit der 
Duncan. Aber ihr Grundsatz des Zurückgreifens auf die Echtheit der 
Antike mußte an dem Mangel musikalischer Befähigung scheitern. 
Die unzähligen emanzipierten Tänze, die nun folgten, waren, so 
verschieden sie sich auch orientierten, doch eben nur emanzipiert. 
Die Russen warfen dagegen die Frage auf, ob nicht etwa bei der 
Verdammung des traditionellen Balletts Mängel der Technik mit 
Mängeln des Instituts verwechselt worden seien. Bis endlich die 
Schule Dalcroze einen gewissen Ausgleich suchte, den Rhythmus 
mystisch-realistisch deutend. 

So war in tausend Mannigfaltigkeiten eine Fertigkeit wieder auf- 
erstanden, die vordem nur noch dem Operettenhaften des Daseins 
zu dienen schien oder doch in tote Formen zu erstarren gedroht 
hatte. Der Tanz ward ernster Männer wieder würdig, die Hof* 
theater öffneten wieder ihre Türen und nichts mehr ließ man sich ent- 
gehen. Es wurden dazu Bücher geschrieben, es wurden Bilder gemalt 
und Statuen gemeißelt. Ja auch die deutsche Musik, sonst in hohem 
Ernste solchem Treiben abhold, machte sich zu Zugeständnissen 
bereit. Schon in Straußens Zarathustra schielten einige Takte be- 
denklich nach Wien hinüber. In der Salome wurde eine exotisch- 
naturalistische Tanzesraserei serviert. Im Rosenkavalier vergessenste 
Formen bis zum neuesten Wiener Walzer neu hergerichtet. 

Die Situation war immerhin kritisch. Die Duncan dachte an eine 
Rückkehr zur Natur der Kunst aus der Künstlichkeit des Lebens. 
Dalcroze baute auf der seelisch-leiblichen Mystik des Rhythmischen 
eine ganze Schule auf. Das russische Ballett konnte als Atavismus 
aufgefaßt werden. Strauß aber nahm die Aufgabe frisch von außen, 
von der Seite des Effekts. Ein Walzer wirkt, es lebe der Walzer! 
Die verrückte Form der Oper wird auch diesen tollsten Natura- 
lismus gestatten. Die Illusion der Bühne wird — so hofft man — 
nachher schon wieder aufleben. Und der Anachronismus? Er gehört 
ja in die Rumpelkammer der Natürlichkeit. — Wo aber wollte das 
alles hinaus? 

In dieser Krisis schrieb Max Reger, äußerst beunruhigt, daß er 



WaftSer Krug, Zur CßronfJS der Zeit 549 

zu spat komme, eine Ballettsuite für großes Orchester: Entree, 
Colombine, Harlequin, Pierrot und Pierrette, Valse d'amour, Finale. 
Da ihm die Plastik des Dramatischen völlig fehlt, er sich aber gleich* 
wohl auf die Seite der liberalen Natürlichkeit schlagen möchte, be- 
stellt er sich und seinen Hörern eine ideelle Bühne, ein imaginäres 
Ballett, und verfertigt dazu eine naturalistisch schildernde Musik, — 
soweit dies im Gebiet des Imaginären möglich ist. In der Valse 
d'amour zwar fällt die Idee untern Tisch. Die imaginäre Bühne wird 
zur realen, der Musiker lüpft das Bein und gibt — die Kopie des 
neuesten Dreivierteltaktes der Wiener Schule. Naturalisten werden 
das naturalistisch finden. Sonst aber ist der Schein des Imaginären 
gewahrt: Die Musik will den Vorgang illustrieren, den der Hörer 
aufgefordert wird, sich selber darzustellen. 

Daß sie es nicht kann, hat mit der Richtung nichts zu tun, son- 
dern liegt in der Person Regers begründet, der wie jeder heutige 
Künstler über seine Grenzen sich von Jahr zu Jahr weniger unter« 
richtet zeigt. Denn das, was seiner Musik das Fratzenhafte gibt, ist 
die namenlose Diskrepanz zwischen Wollen und Können, zwischen 
musikalisch-absoluter, kontrapunktisch gelehrter Veranlagung und der 
Sucht, Naturalismen nach Strauß, Debussy, Schönberg zur Schau 
zu tragen. Diese Floskeln sind das Wirkende. Und Reger ist mit 
der Einverleibung des modernen Barocks so weit gediehen, daß er 
ganze Sätze aus Floskeln und sentimentalen Phrasen zusammen- 
stückelt. Seine Anlage dringt nur noch im Finale und in der Entree 
bis zum Ton durch. Und auch sie zeigt sich verändert. Sie ist noch 
händelscher geworden als sie schon war, noch gemachter. Wie Entree 
und Finale gegen Ende mühselig mit Hilfe des Blechs heraufgetrieben 
werden, das ist unerhört rohe Madie. Es ist auch völliges Aus-der- 
Rolle-fallen. 

Aus welcher Rolle? Schlimme Frage! Sicherlich aus der Illustration: 
Das vorgestellte Ballett ist ganz und gar abhanden gekommen. Aber 
auch aus jeder ideellen. Denn bei solchen Partien denkt man nicht 
einmal mehr an eine Kategorie des Balletts. An alles andere. Ein 
Kritiker freilich meinte, es sei wirkliche Fastnachtsmusik. Möglich, 
daß irgendeine verrückte oder widerlich sinnlich -süße Oboenfigur 
karnevalistisch wirkt. Damit ist doch aber nicht gesagt . . . Regers 



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Talent liegt so unbedingt auf dem Gebiet absolutester Musik, daß 
es durch jede Zweckbestimmung zur Karrikatur werden muß. Es 
ist, als ob er etwa selbst, der Koloß, im Rödichen auf den Brettern 
hüpfte. Wie aber, wenn er sich dann plötzlich, so wie er ist, am 
Klavier niederläßt und händelsch anhebt? 

Indessen Reger will, daß man ihn irgendwie mit dem Ballett in 
Beziehung bringt. Und das ist dann freilich der zweite Punkt des 
Interesses. Man ist dankbar dafür. Reger hat sich nun gewissermaßen 
aufgedeckt. Man erfährt nun und hat es schwarz auf weiß vom Ur- 
heber selbst, daß diese tiefen und empfindungsreichen Adagios, die 
wir bisher bewundert haben, nur Duette sind zwischen Pierrot und 
Pierrette. Daß aller Weltschmerz bei Kolombinen landet. Daß die 
Gottesnähe des hundertsten Psalms in einer Entr^e erscheint, in 
einem Pinale wieder schwindet. Bisher waren da immer noch Zweifel 
erlaubt. Das Ungesunde, das man spürte, als Sentimentalität, als 
Sinnlichkeit, als Verweichlichung und gleichzeitige Verrohung, als 
viehische Kraft und weibische Ohnmacht: Das alles konnte immer 
noch irgendwie gedeutet werden. Nun wissen wir, daß es haltloser, 
ohnmächtigster Zynismus ist. Und wenn alle Musik, auch der er« 
habenste Gesang Beethovens, aus dem Geschlechte kommt, so tritt 
doch das Geschlecht ins Blut und die Hand schreibt es nieder. Hier 
aber gibt es keinen Umweg, keinen Geist, keine Seele, kein Herz 
und kein Hirn. Hier ist ein Mensch so ohne Zentrum, daß alles 
ganz unmittelbar vor sich geht. Hier schreibt nicht mehr die Hand, 
sondern . . . 

Furchtbarste Verwüstung einer Kunst, wenn selbst absolute Musik 
zu solchem Ende kommt! Man sitzt da, rot vor Scham, daß in 
Deutschland solches möglich ist, daß es angenommen und gebilligt — 
was sage ich? gepriesen wird. Der Anstand verlangt, daß man's in 
Ruhe anhört. Und man kann das schließlich nur, weil man sich damit 
tröstet, daß solches Musizieren im Grunde eine völlig belanglose 
Sache, etwas Gleichgültiges, eine Null ist. Daß immer schon alles 
Langweilige und Widerwärtige heute in die Mode gekommen und 
morgen wieder vergessen worden ist. Jemand sagt: »Ich halte mir 
das viel schlimmer vorgestellt.« Ein anderer erwidert: »Wäre es 
doch schlimmer gewesen!« Aber welches Gespräch! Was ist das für 



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Waftßer Krug, Zur CßroniK der Zeit 



551 



eine Kunst, die dem einen besser als geglaubt, dem andern nicht 
sdilimm genug dahergekommen ist! 

Der Harlequin konnte der Heiterkeit nicht entgehen. Die Floskeln 
wirkten und das Publikum lachte. Doch war die Heiterkeit nicht die 
über den Harlequin <an den gewiß niemand mehr dachte), sondern 
darüber, daß ein Musiker schamlos genug ist, solches anzubieten. 
Instinktiv empfanden die Hörer das Perverse dieser imaginierten Bühne, 
die immer wieder sich vergißt, dieser schildernden Musik, die immer 
wieder zum Absoluten strebt, dieser Sprache, deren Geilheit sich 
immer wieder humorisch maskieren möchte. In der glücklichen Reak- 
tion des Volkes erwiderten sie mit Heiterkeit und streng genommen 
war Reger damit abgetan und ausgelacht. Das geheime heilige 
Fluidum hatte von Seele zu Seele gewirkt und wieder einmal war 
die tiefe Gerechtigkeit des Volksurteils erprobt worden. 

Doch wirkungslos verhallte der lachende Spruch in den musi- 
kaiischen Räumen der Welt. Die Sachverständigen schritten ans Werk, 
zogen die Fahne des Witzes, Humor genannt, als des Wirkenden 
unsrer Tage : Das Ballett aus der Ecke des Komischen gesehen, das 
war Regers musikalischer Blick. Und so ward er ernannt zum Ballett- 
meister dieser Zeit. 



REINHARD WUCHNER 

Am zweiundzwanzigsten Januar 19 . . schritt Reinhard Wuchner über 
die Grenzen seines Verstandes. Schon abends hatte er zu Leuten 
aus dem Dorfe gesagt, heute nacht werde es hell werden, er habe 
einen rostigen Schlüssel, er müsse den Himmel aufschließen und den 
Petrus ablösen. Gegen dreiviertel zwölf Uhr bemerkte man in dem 
Zimmer des Gasthauses, in dem er wohnte, einen Feuerschein. Als 
man, da die Tür verschlossen war, zum angelehnten Fenster ein- 
steigen wollte, drückte Wuchner das Fenster zu. Nun brach man 
die Tür auf. Da sah man denn auf dem Nachttisch lichterloh Tücher 
und Papiere brennen. Wuchner aber stand ruhig davor, und als man 
ihn mit Gewalt entfernte, sagte er, er habe kein Feuer gesehen, son- 
dern nur die Muttergottes. 



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552 



WaMer Krug. Zur CBronii der Zeit 



Was kettet uns an diesen Vorgang? Ist es die Logik des Fünfzig* 
jährigen, dessen Sinnlidikeit in Trunk, Feuer und Frommsein einen 
Ausweg sucht? Oder vielmehr der Wahnsinn, der den Geist die 
Formen dieser Welt nicht mehr finden läßt? Oder etwa gar die Ein- 
heit aus beidem, der Charakter der Handlung, die Tat selbst? 

Es ist wohl etwas anderes. Denn es kann nicht geleugnet werden, 
daß ein seltsames Aulmerken sich unserer bemächtigt hat. Man 
denkt nicht: der arme Kerl! Oder: um Gotteswillen, was hätte da 
passieren können! Sondern etwa: Welch reicher Mensch in all seiner 
grenzenlosen Unbedingtheit! Wie arm dagegen wir an das Leben Ge- 
bundenen! Wir gehen ein durch die Türen und blicken aus den 
Fenstern nach dem Mond. Wir hüten das Feuer im Herd und in 
der Ampel. Wir schauen auf zu den Bildern Petri und Mariä. Er 
aber läßt die rasende Flamme ihn umhüllen und schließt den Himmel 
auf und siehe, die Glorie der Muttergottes ist vor ihm. Welch un- 
geheure Freiheit, Unbedingtheit, Hemmungslosigkeit! Wo ist da 
Erde und Welt, Zeit und Raum? Entschlossen durchschreitet er die 
Grenzen und steht leibhaftig vor dem Gotte, von dem wir nicht 
einmal den Namen wissen. Doch nur entschlossen? Er weiß ja vor- 
her, was geschehen wird, was er tun wird. Wenn aller Kräfte in 
tiefster Nacht auseinanderliegen, wird das Licht ihn umleuchten, der 
da wach und rüstig ist. 

Eine Ahnung von der Herrlichkeit des Ich, das in den Wahnsinn 
eingeht: das ist es, was am Beispiel dieses armen Teufels und Narren 
uns hinreißt, uns Freie jeder Richtung, die wir spüren, wie hier 
einer einfach das tut, was wir andern tun möchten. Bewegt stehen 
wir da. Aber dann sehen wir, wie die Geschichte schließlich ausgeht. 
Wie Wuchner von Gendarmen abgeführt und vor den Richter ge- 
stellt wird, wie er hier kleinmütig sich entschuldigt, daß das Feuer 
an der Kerze sich entzündet habe und daß er's habe brennen lassen, 
weil es so kalt gewesen sei. Dann wird er ins Irrenhaus gebracht. 
Das Ideal der äußersten Freiheit ins Narrenhaus! Aber die Klugen 
haben es ja vorausgewußt. Darum sind sie auch unbewegt geblieben 
und haben nur bedauert, daß Alkohol und erbliche Anlage den Fall 
hinreichend erkläre, der im übrigen wieder einmal zeige, welcher An- 
teil an der Zerrüttung der katholischen Kirche zukomme. 



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Waßfrr Krug, Zur CßroniS der Zeit 



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Die Vernunft — das ist das Schlimme an den freien Geistern, die 
leere Nützlichkeit, deren Hirn noch immer Gedanken ausschwitzt. 
Diese Herrn, die in ihrer Scheu vor dem Wunderbaren so schön 
alles beieinander haben und jede Regung des Geistes »auf die natür- 
lichste Arte zu erklären wissen, haben irgendwann einmal einen 
Altar errichtet, darauf geschrieben steht: »Dem Menschenverstand«. 
Nun suchen sie ihn und finden ihn doch nicht mehr. Mit all ihren 
großartigen Werkzeugen geht es ihnen nicht anders als den Tieren, 
die der Instinkt verläßt, wenn die Umwelt sich ändert, wie den 
Wespen, die ihre eigenen Larven nicht wiedererkennen, da man den 
unterirdischen Gang inzwischen verändert hat. Sie finden den Altar 
zwar noch, aber sie erkennen ihn nicht mehr. Sie begreifen nicht 
mehr, was das heißt »dem Menschenverstand«, sie rütteln an dem 
Stein, weil er ihnen den Weg versperrt. 

Voll tiefen Sinns. Denn der Menschenverstand ist nicht der, den 
sie geglaubt haben. Weder scheut er das Wunderbare noch ist er 
frei nach ihrem Sinn. Sondern, sofern er wahrhaft gesund ist, hat 
er eine uralte Kraft, zu erkennen das Wahre und das Falsche, 
das Rechte und das Unrechte, die Kraft, dem Leib zu geben, was 
des Leibes ist, und dem Geist, was des Geistes ist. Er hat den 
Geist wieder frei gemacht von der Freiheit der Freien jeder Richtung. 

Was ist dem armen Narren denn geschehen? Vielleicht ist sein 
Geist nicht einmal krank? Vielleicht ist das Geistige immer gesund 
und vermag gar nicht zu erkranken? Denn auch die denken, die 
wir geisteskrank nennen, und oft ist die Schärfe ihres Denkens eine 
solche, daß es uns graut. Aber sie denken wie Träumende. Und da 
viele Arten von Versen wie die Gedanken Träumender sind, so 
werden oftmals ihre Gedanken zu Gedichten. Wie wir denn das 
Zarteste aus Hölderlins Zeit des Irrsinns haben. Sie denken wie die 
Träumenden und die Dinge erscheinen ihnen schief und fremd und 
weder fest noch rund. Es schwindelt sie. Und wie ein Wolf über- 
fällt sie das Gedächtnis früherer Zeit und raubt ihnen das Gegen- 
wärtige. Krank ist nicht ihr Geist. Aber ihr Hirn als die Form, 
durch die der Geist in Zeit und Raum eintritt, als das Werkzeug, 
das ihm den Weg in unsere Welt bahnt, als das Sieb, das alles 
zurückhält, was auf dieser Welt nichts nütze ist. Nun hat er kein 



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Waftter Krug, Zur Chronik der Zeit 



Mittel mehr, sich verständlich zu machen. Nun bricht er mit allem 
durA, was Sieb und Zaun, durchlöchert wie sie sind, nicht halten 
können: mit der steinschweren Vergangenheit und mit den Fetzen 
von Gedanken, die sich um Dinge mühen, die wir Irdischen, Leib« 
eigenen nicht wissen. Vielleicht schauen sie Gott. Aber die Trümmer 
des Bildes müssen wie Fratzen uns erschrecken. Und nur wenn das 
Sieb des Hirns völlig vernichtet wäre, könnten sie uns sagen, was 
sie sehen. In diesem heiligen Augenblick aber haben sie keine Form 
mehr für uns und sterben. 

Wo bleibt die katholische Schuld? Sind nicht das Fegefeuer und 
die Muttergottes und Petrus und der Schlüssel die schwachen Krücken, 
an denen der arme Narr sich noch vor unsre Tür geschleppt hat? 
Man sage denn, sie hätten ihn gehindert, Gott zu schauen. 

WaCtßerKrug. 



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RoSert Walser, Sie Ben Stüdie 555 



SIEBEN STUCKE 

DAS EISENBAHN-ABENTEUER 

EINMAL machte ich eine Eisenbahnfahrt, wobei ich ganz allein 
in einem Wagenabteil saß wie der gedankenreiche Eremit in 
seiner schweigsamen, weltabgelegenen Klause. Auf irgendeiner Station 
hielt der Zug an, die Türe wurde mit beamtenhafter Schroffheit auf« 
gerissen, und zu mir hinein in das sonderbare, auf Rädern gestellte 
Zimmer stieg eine Frau. Es war mir nicht anders, als wenn der 
Sonnenschein ins nächtlich-schwärzliche Küpe einstiege, so hell mutete 
mich die liebe frauliche Erscheinung an, die wie auf Besuch zu mir 
kam. Freundlich sagte sie guten Abend. Wer als ich war glücklicher 
darüber? Der Zug setzte sich alsbald wieder in Bewegung und hin- 
aus in die Nacht und ins unbekannte Land wurde die Kammer 
getragen, in welcher nun zwei Personen saßen, die sich gegenseitig 
freundlich anschauten. Ein Lächeln ergab ein Wort und indeß die 
Räder fleißig fort und fortrasselten, hatte ich wie ein Schelm und Dieb 
die passende Gelegenheit wahrgenommen, saß schon an ihrer Seite 
und legte den Arm um ihre reizende Figur. Emsig arbeiteten die 
Räder, und Gegenden, die ich nicht kannte, flogen draußen in der 
stillen Mitternacht an uns beiden glücklichen Leuten vorüber. Emsig 
arbeitete ich mit meinen Lippen auf den ihrigen, die kösdich waren, 
wie Lippen eines Kindes. Ein Kuß lockte den andern hervor, ein 
Kuß folgte auf den andern. Ich ließ mir bei dem süßen Geschäft 
so recht Zeit, und da wurde ich zum Künstler im Küssen, zum 
Künstler in der Liebkosung. O wie die Liebe, die Süße lächelte mit 
dem schönen Mund und mit den schönen dunklen Augen, welche, 
indem sie in die meinigen schauten, mich küßten. Paradiseslüsternheit 
lag auf ihren Lippen und Paradieseslust glänzte ihr aus den Augen. 
Ich unterdessen hatte es so recht schön gelernt, wie man es anstellen 



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RoBert Wafser, Sießen Stüde 



muß, um dem Kuß den höchsten Reiz abzugewinnen und ihm die tiefste 
Wonne mitzugeben. Unter unserem lusterfullten Liebesgemach rasselten 
immerfort die Räder und der Zug sauste durch die Länder und wir 
zwei hielten uns umschlungen wie die Seligen in den überirdischen 
Gefilden, Wange an Wange gedrückt und Körper an Körper, als 
seien wir vorher zwei verschiedene Gedanken gewesen, doch jetzt 
nur noch ein einziger. Wie beglückte es mich, daß sich das süße Ge- 
schöpf durch das, was ich tat, glücklich fühlte. Ihren wonnigen Liebes- 
durst zu stillen machte mich zum Glücklichsten der Sterblichen, machte 
mich zum Gott. Doch jetzt blieb der Eisenbahnzug wieder stehen, die 
reizendste der Frauen stieg aus, während ich weiterfahren mußte. 

DIE STADT 

Es war an einem sonnigen Wintertag, als der Reisende mit der 
Eisenbahn in der Stadt anlangte. Eine einzige zusammenhängende 
Freundlichkeit war die ganze Welt. Die Häuser waren so hell, und 
der Himmel war so blau. Zwar war das Essen im Bahnhofsrestaurant 
herzlich schlecht mit hartem Schafsbraten und lieblosem Gemüse. 
Aber das Herz des Reisenden war mit einer eigentümlichen Freude 
erfüllt. Er konnte es sich selber nicht erklären. Die Bahnhofshalle 
war so groß, so licht, der arme alte Dienstmann, der ihm den Koffer 
trug, war so dienstfertig mit seinen alten Gliedmaßen und so artig 
mit seinem alten zerriebenen Gesicht. Alles war schön, alles, alles. 
Selbst das Geldwechseln am Schalter des Wechselbureaus hatte einen 
eigenen undefinierbaren Zauber. Der Reisende mußte nur immer über 
alle die wehmütig-warmen Erscheinungen lächeln, und weil er alles, was 
er sah, schön fand, fühlte er sich auch wieder von allem angelächelt. Er hatte 
sein Mittagessen verzehrt, seinen schwarzen Kaffee mit Kirschwasser 
ausgetrunken und ging jetzt mit eleganten, leichten, scherzenden Schritten, 
so recht reisendenmäßig, in die wundervolle uralte Stadt hinein, die 
da blendete im gelblich-hellen Mittagssonnenlicht. Menschen jeglichen 
Schlages, Mädchen, Knaben und erwachsene Leute gingen eilig an 
dem Gemächlichen und Vergnüglichen vorüber. Der Reisende konnte 
sich so recht Zeit nehmen. Die Leute aber mußten an ihre täglichen 
Arbeitsplätze eilen, daß es nur so an ihm vorüberglitt, wie deutliche 



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RoSert Wafser, Sießen Städte 



557 



und doch wieder undeutliche und unverständliche Geistererscheinungen. 
Wie kam dem schauenden und denkenden Fremdling der Anblick 
des täglichen Lebens so rätselhaft und fremdartig vor. Da kam er 
über eine hohe, breite, freie Brücke, unter welcher ein großer blauer 
Strom herrlich-tiefsinnig vorüberfloß. Er stand still, es überwältigte 
ihn. Zu beiden Seiten des Stromes war die alte Stadt aufgebaut, 
graziös und kühn. Leichten, milden Schwunges ragten die Dächer in 
die helle heitere Luft. Es glich einer romantischen Musik, einem un- 
vergänglichen, reizenden Gedicht. Er ging langsamen, sorgfältigen 
Schrittes weiter. Mit jedem neuen Schritt ward er aufmerksam auf 
eine neue Schönheit. Alles kam ihm wie altbekannt vor und doch 
war ihm alles neu. Alles überraschte ihn und indem es das tat, be- 
glückte es ihn. Auf hoher Plattform stand ein uralter wunderbarer 
Dom, der mit seinem dunkelroten Stein in der blauen Luft stand 
wie ein Held aus undenklich alten Zeiten. In der Sonne, auf den 
Fensterbänken lagen wohlig ausgestreckt die Katzen und alte Mütter- 
chen schauten zu den Fenstern hinaus, als seien die alten schönen 
Zeiten wieder lebendig geworden. O, es war so schön für den Reisenden, 
daß er in der gassenreichen, halbdunklen, warmen Stadt so angenehm 
und leicht umherspazieren konnte. Burgen und Kirchen und vor- 
nehme Patrizierhäuser wechselten mit dem Marktplatz und mit dem 
Rathaus ab. Mit einmal stand der Reisende wieder im Freien, dann 
stand er wieder in einer stillen, feinen Vorstadtstraße, gelblich an- 
gehaucht vom süßen, lieben Winterlichte, dann schaute er an einem 
Wohnhaus hinauf, dann ging er wieder, dann fragte er einen Knaben 
nach dem Weg. Zuletzt stand er auf einer kleinen anmutigen, von 
einer Mauer eingefaßten, luftigen Anhöhe und von hier aus konnte 
er die ganze Stadt so recht überblicken und aus dem befriedigten 
Herzen grüßen. 

DAS VEILCHEN 

Es war ein dunkler warmer Märzabend, als ich durch das reizende, 
gartenreiche Villenviertel ging. Vielerlei Menschenaugen hatten mich 
schon gestreift. Es war mir, als schauten die Augen mich tiefer und 
ernster an als sonst und auch ich schaute den vorübergehenden Menschen 
ernster und länger in die Augen. Vielleicht ist es der beginnende 



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Roßert WaCser, Sießen Studie 



Frühling mit der wohllüstigen warmen Luft, der in die Augen einen 
höheren Glanz legt und in die Menschenseelen einen alten und neuen 
Zauber. Frauen nehmen sich in der Frühlings- und Vorfrühlingsluft 
mit den weichen Brüsten, die sie tragen und von denen sie gehoben 
und getragen werden, wunderbar aus. Die Gartenstraße war schwärzlich 
aber sehr sauber und weich. Es kam mir vor und ich wollte mir 
einbilden, ich gehe auf einem weichen, kostbaren Teppich. Voll Melo- 
dien schien die Atmosphäre. Aus der dunklen geheimnisvollen Garten- 
erde streckten schon die ersten Blumen ihre blauen und gelben und 
roten Köpfchen schüchtern hervor. Es duftete und ich wußte nicht 
recht nach was. Es schwebte ein stilles, angenehmes Fragen durch 
die süße, dunkle, weiche Luft. Ich ging so, und indem ich ging, schmeichelte 
sich ein zartes unbestimmtes Glücksgefuhl in mein Herz hinein. Mir 
war zu Mut, als gehe ich durch einen herrlichen, lieben und uralten 
Park, da kam eine schöne, junge, zarte Frau auf mich zu, violett 
gekleidet. Anmutig war ihr Gang und edel ihre Haltung, und wie 
sie näher kam, schaute sie mich mit rehartig-braunen Augen selt- 
sam scheu an. Auch ich schaute sie an und als sie weiter gegangen 
war, drehte ich mich nach ihr um, denn ich konnte der Lust und dem 
hinreißenden Verlangen, sie noch einmal, wenn auch nur im Rücken, 
zu sehen, nicht widerstehen. Wie eine Phantasie -Erscheinung glitt 
die reizende Gestalt mehr und mehr in die Ferne. Ein Weh durch- 
schnitt mir die Seele. »Warum muß sie davongehen ?c, sagte ich mir. 
Ich schaute ihr nach, bis sie im zunehmenden Abenddunkel verschwand 
und wie ein süßer, übersüßer Duft verduftete. Da träumte ich vor 
mich hin, es sei mir ein großes, frauen förmiges Veilchen begegnet 
mit braunen Augen und das Veilchen sei nun verschwunden. Die 
Laternen indessen waren schon angezündet und strahlten rötlich-gelb 
in den blassen Abend. Ich ging in mein Zimmer, zündete die Lampe 
an, setzte mich an meinen altertümlichen Schreibtisch und versank 
in Gedanken. 

DIE KAPELLE 

In der Großstadt, mitten in dem unabsehbaren Meer von gleich- 
förmigen Häusern findet sich in einem finsteren Hof eine Art von 
Kapelle, in welcher allerlei Leute aus den niederen Ständen zum 



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RoBcrt Wafser, Sießen Städte 



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freundlichen Gottesdienst zusammenkommen. Audi ich war einmal 
in der Versammlung. Ein drolliges, munteres Dienstmädchen, dem ich 
gut war, hatte mich eingeladen, mitzukommen, und ich bereute nicht, 
daß ich mit ihr gegangen war. Ehrbare Bürger, die mehr an die 
Hoheit des Geldes als an die Hoheit und Herrlichkeit Gottes glauben, 
hängen den armen, schlichten Leuten, die in die bescheidenen Ver- 
sammlungen gehen, gern diesen oder jenen Spottnamen an, und ver- 
suchen lächerlich zu machen, was den gläubigen und unschuldigen 
Seelen heilig ist. Auch ich also ging eines Abends, da schon in den 
dunklen Straßen die Lichter brannten, zu den Kindern in die Versamm- 
lung. Ich will gern die Leute, die noch an einen Gott glauben, Kinder 
nennen. Kinder sind mitunter geistreicher als die Erwachsenen, und 
die Unklugen sind mitunter klüger als die Klugen. Gewiß!, es kam 
auch mich ein Anflug spöttischen Lächelns an, als ich eintrat in das 
kindlich -fromme Lokal, dessen Wände weiß waren wie die zier- 
lose, schmucklose Unschuld selber. Ich setzte mich jedoch still nieder, 
und alsbald fingen die Leute, Männer wie Frauen, an zu singen 
wie aus einem einzigen frohmütigen Munde zum Lobe Gottes. Engel 
schienen zu singen, nicht schlichte, schlechte Menschen. Von dem süßen 
jungen, blühenden Glauben getragen, hallte der Gesang, gleich einem 
feinen Duft, der die Eigenschaft hat, zu tönen, hin und her und ver- 
hallte an den Wänden. Ich schaute mit eigentümlichen Empfindungen, 
ganz bezaubert von den Tönen, zur Decke des Saales hinauf, welche 
blau war, wie ein milder träumerischer Himmel. Weiße Sterne waren 
in den hellblauen Grund hineingezeichnet, und die Sterne schienen 
zu lächeln vom göttlichen Himmel hinab auf die jubilierende Ver- 
sammlung. Eine heitere Kraft lag in dem Gesang, und der Gesang 
selber war ein sonderbares, leichtes, liebes Wesen, welches auf 
geistergleiche Weise lebte. Die, die sangen, schienen sich zu freuen 
über den Gesang, doch schienen sie nicht zu ahnen, wie die Töne 
sich von ihnen sonderten und ihr eigenes Leben in der Luft des 
Saales lebten. Es klang, als werde es geboren und lebe eine kurze 
Weile und müsse alsdann sterben. Aber es fing von Neuem wieder 
an zu tönen und sich am sterblich-schönen Dasein zu erfreuen. 
Ruhig und liebevoll glitzerten und schimmerten die goldenhellen 
Kerzenlichter hinab in das Singen, das einem Himmel glich an Keusch- 
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Robert Walser, Sieben Städte 



heit und Schönheit, und als sie mit dem Gesang innehielten, mußten 
sie lächeln, die lieben guten Leute, wie kleine Kinder, die ihre Auf- 
gabe vollendet haben und sich nun darüber freuen. Nach einer 
Weile war der Gottesdienst beendet, und ebenso still, wie sie die 
Kapelle aufgesucht hatten, verließen die Leute sie wieder. 



DER TÄNZER 

Ich sah einst im Theater einen Tänzer, der mir und vielen andern 
Leuten, die ihn ebenfalls sahen, einen tiefen Eindruck machte. Er 
verspottete den Boden mit seinen Beinen, so wenig Schwere kannte 
er und so leicht schritt er dahin. Eine graziöse Musik spielte zu 
seinem Tanz, und wir alle, die im Theater saßen, dachten darüber 
nach, was wohl schöner und süßer könne genannt werden, die leicht- 
fertigen lieblichen Töne oder das Spiel von des lieben, schönen 
Tänzers Beinen. Er hüpfte daher wie ein artiges sprungfertiges, 
wohlerzogenes Hündchen, welches, indem es übermütig umherspringt, 
Rührung und Sympathie erweckt. Gleich dem Wiesel im Walde lief 
er über die Bühne, und wie der ausgelassene Wind tauchte er auf 
und verschwand er. — Solcherlei Lustigkeit schien keiner von allen 
denen, die im Theater saßen, je gesehen oder für möglich gehalten 
zu haben. Der Tanz wirkte wie ein Märchen aus unschuldigen, 
alten Zeiten, wo die Menschen, mit Kraft und Gesundheit ausge- 
stattet, Kinder waren, die miteinander in königlicher Freiheit spielten. 
Der Tänzer selber wirkte wie ein Wunderkind aus wunderbaren 
Sphären. Wie ein Engel flog er durch die Luft, die er mit seiner 
Schönheit zu versilbern, zu vergolden und zu verherrlichen schien. 
Es war, als liebe die Luft ihren Liebling, den göttlichen Tänzer. 
Wenn er aus der Luft niederschwebte, so war es weniger ein Fallen 
als ein Fliegen, ähnlich wie ein großer Vogel fliegt, der nicht fallen 
kann, und wenn er den Boden wieder mit seinen leichten Füßen 
berührte, so setzte er auch sogleich wieder zu neuen kühnen Schritten 
und Sprüngen an, als sei es ihm unmöglich, je mit Tanzen und 
Schweben aufzuhören, als wolle, als solle und als müsse er unauf- 
hörlich weitertanzen. Indem er tanzte, machte er den schönsten Ein- 
druck, den ein junger Tänzer zu machen vermag, nämlich den, daß 



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Roßtrt TPo/str, Sitßtti Stächt 561 



er glücklich sei im Tanze. Br war selig durch die Ausübung seines 
Berufes. Hier machte einmal die gewohnte tägliche Arbeit einen 
Menschen selig — aber es war ja nicht Arbeit, oder aber er bewältigte 
sie spielend, gleich, als scherze und tändele er mit den Schwierig« 
keiten, und so, als küsse er die Hindernisse, derart, daß sie ihn lieb 
gewinnen und ihn wieder küssen mußten. Einem heiteren, über und 
über in Anmut getauchten Königssohne aus dem goldenen Zeitalter 
glich er, und alle Sorgen und Bekümmernisse, alle unschönen Ge- 
danken schwanden denen dahin, die ihn anschauten. Ihn anschauen 
hieß ihn gleich auch schon lieben und verehren und bewundern. Ihn 
seine Kunst ausüben sehen, hieß für ihn schwärmen. Wer ihn ge~ 
sehen hatte, träumte und phantasierte noch lang nachher von ihm. 

DIE SONATE 

Angenehme Wehmut — Schmerz, der den Stolz nicht kränkt. 
Freude über solcherlei Schmerz. Ein leichter, gefälliger Gram. Selige 
Erinnerungen. Die Erinnerungen üppig wie eine blühende Wiese. 
Leises, wehmutreiches Andenken. Jetzt eine Schar von Vorwürfen, 
die er sich selber macht. Nur die Vorwürfe, die man sich selber 
macht, sind schöne. Die andern soll man und will man vergessen. 
Man hat zuletzt niemandem als nur sich selbst Vorwürfe zu machen. 
O, daß doch alle, alle Menschen nur allein sich selbst und sonst 
niemandem etwas vorwerfen wollten. Reue? Ja, Reue! Reue ist süß 
und tönereich. Die Reue ist ein Weltreich, unendlich und unermeßlich 
an Ausdehnung. Aber die Reue ist etwas Zartes. Kaum vernimmt 
man sie. Freude über die Reue. Ein edles Herz freut sich über 
eine edle Empfindung. Dann will ich auch etwas von Hoffnungs- 
losigkeit dabei haben. Engel sind ohne Hoffnung, haben Hoffnung 
nicht nötig. Hofft ein Engel? Nein. Engel sind über alle, alle Hoff- 
nungen erhaben. Etwas Engelgleiches soll in der Sonate tönen, die 
ich im Sinne habe. Doch soll auch Hoffnung wieder dazwischen 
klingen, wie wenn jemand ganz, ganz arm und verlassen ist und 
dennoch immer, immer wieder hofft, gleichsam wie aus lieber, alter 
kindlicher Gewohnheit. Jetzt wieder Freude, und zwar Freude über 
jemandes andern Freude. Reine Kindlichkeit, reines glückliches Mit* 



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Roßert Walser, SieSen Studie 



empfinden. Selig sein im Gedanken, daß jemand anders es ist. Ist 
nicht die Musik selber so? Ist nicht die Musik selber selig, darüber, 
daß sie Herrlichkeit, Heiterkeit und Seligkeit verbreitet? Dann und 
so kommt eine unsagbare perlende Verzagtheit. Stilles, süßes Weinen. 
Auflösung in eine göttlich schöne Schwäche. Ein Weinen über sich 
selber und über alles was da ist und je da war. Nicht ein Ent- 
setzen, nicht ein Grauen. Die Sonate hier verbietet derlei Heftig- 
keiten. Sanft wie ein leicht betrübter blauer Himmel will und soll 
sie tönen. Ihre Farbe ist das matte Edelweiß der Perle, und ihr Ton 
ist das Entschuldigen. Es gibt keine Schuld, weil es zu viel gibt, es 
gibt keinen Schmerz, weil er zu groß, zu gewaltig ist für das Ver- 
ständnis. Weil es zu viel Enttäuschungen gibt, gibt es keine, soll es 
mit ein — einmal keine geben, keine mehr, keine mehr geben. Ah, 
dergleichen und ähnliches soll sich in der Sonate, von welcher ich 
träume, widerspiegeln, und ein junges schönes Mädchen, welches sieb 
mit Leichtigkeit einzubilden vermag, sie sei ein Engel, soll sie spielen. 
Ein Engel muß die engelgleiche Sonate spielen, und es muß her- 
niedertönen aus dem Himmel des Spieles wie himmlischer Trost, wie 
himmelreichähnliches Behagen/ denn eine reizende Behaglichkeit, eine 
tiefsinnige Vergnügtheit denke ich dem Werke einzugeben. Schmerz 
und Freude sind wie Freund und Freundin, die sich umhalsen, um- 
armen und küssen. Lust und Weh sind wie Bruder und Schwester, 
die sich geschwisterlich lieben. Das liebliche sonnige Entzücken ist 
die Braut, und der Kummer, der sich ihr ins Herz schleicht, ist der 
Bräutigam. Genugtuung und Enttäuschung sind unzertrennlich. 

DAS GEBIRGE 

Ich mußte mich an die Stille erst gewöhnen, auch an die rauhe 
Bergluft. Alles atmete Einsamkeit und Reinheit, alles war Ruhe, 
Stille und Größe. Im Anfang meines Aufenthaltes schneite es noch. 
Es schneite noch manchmal auf die ausgedehnten Weiden und auf 
die vielen schönen Tannen herab, aber nach und nach wurde es 
wärmer. Auch in die Berge kam der süße Knabe Frühling und be- 
glückte das Land mit seinem schönen, glücklichen Lächeln. Die blauen 
und gelben Blumen sprossen aus der Erde hervor, und der Felsen 



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RoSert Wafstr, Sießett Städte 



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bekam ein milderes, weißeres, weicheres Aussehen. Des Nachts 
hörte ich in all der wundersamen tiefen Stille nur das ruhige leise 
Plätschern eines Brunnens. Einsam stand im Schwarz der Nacht 
als noch schwärzerer Fleck das Wirtshaus da. Ein einzelnes Fenster 
etwa war erleuchtet. Ich las viel. Bei schlechtem Wetter saß ich in 
der kleinen, heimeligen, reinlichen Stube und beschäftigte mich mit 
dem Ordnen und Zerlegen von allerlei Gedanken. Ich war ein 
rechter Müßiggänger. Eine alte ruinenhafte Klosterkirche war in der 
Nähe. Doch ich schenkte dem Gebäude längst schon keine Auf- 
merksamkeit mehr. Ich war in der Gegend kein Fremder mehr. Mich 
lockte es, immer wieder zu den Tannen, diesen Königinnen, zu 
gehen und bewundernd an ihnen emporzuschauen. Ich staunte immer 
wieder von Neuem über ihre Zierlichkeit, Pracht und Schönheit, 
über die Hoheit, deren Abbild sie sind, und über den Edelsinn, 
den sie verkörpern. Wohin ich schaute, überall waren Tannen/ in 
der Ferne und in der Nähe, unten in der Schlucht und oben auf 
dem Rücken der Berge. Die Berge wurden immer grüner und schöner, 
und es war süß für mich, im hellen warmen Sonnenschein über ihre 
weichen, milden und üppigen Weiden zu gehen, auf denen jetzt die 
lieben treuen Tiere friedlich und wonnig weideten. Pferde und Kühe 
standen oder lagen, zu schönen Gruppen vereinigt, unter den präch* 
tigen, langästigen Tannen. Die Blumen dufteten, alles war ein Sum- 
men, ein Singen, ein Sinnen und ein Ruhen. Die ganze Bergnatur 
schien ein glückliches, liebes, fröhliches Kind zu sein, und ich ging 
jeden Tag, am Vor» oder am Nachmittag, zu diesem Kinde hin 
und schaute ihm in die glänzend-unschuldigen Augen. Mir war, als 
werde ich selber dadurch mit jedem Tag schöner. Muß mich nicht 
die Betrachtung und der sorgfaltige Genuß von etwas Edlem und 
Schönem schön und edel machen? Ich bildete mir solcherlei jedenfalls 
ein und ging in der Gegend herum wie ein Träumer und Dichter. 
Die holde Dichterin Natur dichtete immer größere und schönere 
Gedichte/ indem ich so stand oder still davonging, war es mir, als 
spaziere und lustwandele ich in einem Gedicht, in einem tiefen, 
sonnenhellen, grünen und goldenen Traum herum, und ich war 
glücklich. Es war kein Geräusch, das nicht anmutig klang, alles war 
ein Klingen, ein Tönen, bald ein nahes, bald wieder ein entferntes, 



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RoBtrt Walser. Sit Ben 5 tuet* 



ich konnte nur horchen, es genießen und mit meinem Ohr es trinken. 
Bin paarmal machte ich weitere Ausflüge, meistens aber blieb ich 
in inniger sanfter Nähe warm daliegen, bezaubert vom blauen Him- 
mel und gebannt von der himmlisch -schönen, weißen Götterland- 
schaft, die mich wie mit großen weichen Götterarmen zu sich zog. 
Alle Begierden, weiter in die lichte Ferne zu wandern, starben an 
dem Entzücken und am Genuß, die die Nähe mich empfinden ließ 
mit ihrem beseligenden Tönen. Von allen Weiden tönten die Glocken, 
die die Tiere am Halse leise schüttelten beim sanften Grasen. Tag 
und Nacht tönte es und duftete es. Ich habe einen solchen Frieden 
nie gesehen und ich werde ihn nie wieder so sehen. Eines Tages 
reiste ich ab. O wie oft, wie oft drehte ich mich beim Weggehen um, 
damit ich all das Schöne, das ich nun verließ, noch einmal sähe, die 
heiteren Berge, die lieben roten Dächer zwischen den edlen Tannen, 
den stolzen Felsen, das ganze reizende Gebirge. 

Roßert Walser. 



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R. Gournai, Der DeutsSe Kaiser 565 



DER DEUTSCHE KAISER 

DER englische König, exempli causa, ist eine rechtliche Institution 
der Verfassung Englands, aber wie Institutionen tun, er ist 
auch eine Gestalt, welche die Persönlichkeiten überdauert, die sich 
in der Folge der Generationen in ihr gehaben , eine psychische Form 
ist diese Gestalt, die das jeweilige Psychologische ihrer Inhaber an 
Wirksamkeit und Dignität übertrifft. Selbst das Genie, das sich ihrer 
zu bedienen scheint, erhebt sich auf ihrer Grundform. 

Während also, um allgemein zu sprechen, das Gesetz der Ver- 
fassung das Individuum zu einer Person macht, zum Zaren, zum 
King, wird es seinerseits wieder übertroffen durch eine plastische 
Gewalt, welche die Person zur Gestalt macht. Nehmen wir an, daß 
alle Völker die gleiche Verfassung hätten, ja wir können sogar wirt- 
schaftliche und soziale Verhältnisse als unterscheidende Ursache fort- 
lassen, so wäre noch nicht jene tiefste Quelle geschlossen, aus der 
der Herrscher der Russen der Russen Vater und Väterchen ist, der 
King der Gentleman unter den Gentlemen. Nun mag dem König 
aus dem Staatsrecht sein Dasein als König allein garantiert sein, 
garantiert ist es ihm nur innerhalb des Gebietes des Ausdrücklichen, 
während die Fülle seines Daseins nur in der statuarischen Energie 
jedes Staatenaufbaues sich erhält, welche in der »Gestalt« sich aus- 
prägt. 

Die preußische Geschichte hat nicht mit derselben Sicherheit die 
Figur eines preußischen Königs gegossen, wie die Engländer ihren 
King über alle Unterschiede hinaus, selbst die des Geschlechtes, ihn 
bestimmten. Es gelingt uns nicht wie den Engländern, unweigerlich 
im König zu haben, was wir von ihm erwarten. Wir stellen die 
Varianten leicht über das Thema, und der so rücksichtslos und ein- 
seitig vorgebrochene deutsche Individualismus kennt überhaupt kein 



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566 R. Gournai Der DeutsSe Kaiser 

»Thema«/ er betrachtet das Einmalige als das Wertvolle, und sdion 
in diesem Sinne das Unerwartete, während aller politischer Aufbau 
seinen Halt darin findet, das jedem durch sein eigenes Wesen Be- 
kannte zu überhöhen. In dem größeren und vor allem in dem ak- 
tivsten Teil Deutschlands gilt als typisch am Individuum das Indi- 
viduelle, und der Rest lebt heute nur noch von der Negation dazu. 

Aus diesem Zustand konnte dem einzelnen Mann, der an der 
Spitze des Deutschen Reiches steht, kein inspirierender Anhauch 
werden. Von dem letzten preußischen König, der sein Großvater 
war, überkam ihm die Haltung des obersten Kriegsherrn/ das wurde 
nun ein wichtiges Inegredienz der kaiserlichen Würde, aber wir werden 
später sagen, warum kein ausfüllendes. Wilhelm der Erste, durch 
Kriege und die Reichsbegründung eine historische Größe schon als 
er den »Charakter-Major« annehmen mußte, überdeckte den Mangel 
an charakteristischer Ausprägung, den die kaiserliche Würde zeigte. 
Als sie den jetzigen Kaiser aufnahm, war sie noch durchaus 
amorph. 

Jene »plastische« Funktion des staadichen Lebens dauert solange, 
wie der Staat dauert und überdauert ihn, aber die Wege, wie sie 
ihren Einfluß zu Stande bringt, sind unendlich verschieden, und tragen 
das Charakteristische ihres Werkes mit sich. 

Sie bringen alle eine mehr oder weniger produktive Zumutung 
an den König, eine Zumutung, welche ihren Druck nur in höchst sel- 
tenen Fällen durch formulierte Willensakte zur Geltung bringt, son- 
dern durch bald so, bald so verkleidete Selbstverständlichkeit. Mag 
sein, daß diese Verkleidung das Agens im Fortschritt des nationalen 
Schicksals sei, das Schicksal selbst liegt in jener Selbstverständlichkeit. 

Und sucht man in Deutschland zu ihr vorzudringen, so scheint 
sie sich aus der Diskussion über die Haltung herauszuschälen, welche 
der einzelne in diesem Land zur Person des Kaisers einzunehmen 
habe. Wie wenig positive, formende Wünsche sind direkt an die 
Gestalt des deutschen Kaisers laut geworden, aber man führt 
seine Sache, indem man untereinander die Geste zu ihm kon- 
trolliert, und während die Liberalen den Konservativen ihren »By- 
zantinismus« vorwerfen, begnügen diese sich, den Liberalen zu sagen, 
ihre Auffassung vom Kaiser sei ebenso »liberal« wie die vom 



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R. Gournai, Der Deutseße Kaiser 



567 



König. Man kennt diesen Streit, und wem brächte er noch neues 
als denen, welche ihn aktiv und berufsmäßig fuhren? Aber er hat 
Voraussetzungen, welche im Streit um Aktualitäten wenig beachtet 
werden, und doch sind diese Voraussetzungen bei aller theoretischen 
Ferne bindender als man glaubt. 

Die »byzantinischec Art wünscht die individuelle Person des 
Herrschers zu negieren, und daher erscheint diese als das Leben 
einer wie immer definierten höchsten Macht. Die abstrakte, objektive 
Maßgabe des Gesetzes als Ganzen tritt nicht mit dem Übergang* 
losen »Sollen« auf, sondern in einem Willen, den man als eine Art 
Versöhnung auffassen könnte zwischen Vorschrift und Befolgung, als 
schlüge da der Willen des Gesetzes und das Wollen des Staats- 
angehörigen und Untertanen im Herrscher zusammen. Jedenfalls ist 
dieses königliche Dasein das Gesetz in seiner natürlichen Komplexion, 
ohne jeden Abbruch wie er im bloßen »Sollen« liegt, und das Bedürfnis 
solcher Komplexion ist historisch so gesichert, so unter allen Um* 
ständen gegenwärtig, daß es keines anderen Nachweises für sie be- 
dürfte und ihre theoretische Konstruktion nur dem Nachweis ihrer 
Teile zu dienen braucht. 

Was man nun unter der byzantinischen Haltung des Monarchen 
versteht, das ist die grundlegende Form der Repräsentation oberster 
Macht, welche vor allen Dingen Unabhängigkeit von der Exe* 
kutive und den Wechselfällen der Machtausübung bedeutet, ohne 
sie praktisch auszuschließen, denn streng genommen ist der entlegenste 
Akt der Etikette noch Exekutive. Im Interesse der Darstellung 
letzter Macht liegt es jedenfalls, die Absorption des Individuums 
von seiner Stellung zu prästieren, denn die äußerste und lediglich über* 
geordnete Macht bekäme etwas temporäres, von Erfolg und Miß- 
erfolg abhängiges, anzuerkennendes und bestreitbares, wenn ihr In- 
haber seine Haltung aus ihrer Anwendung bezöge. Vielmehr läßt 
sich die Konstanz und Unangreifbarkeit der höchsten Macht und 
ihrer Bedeutungen nur durch die Gesten der Unbewegtheit, psycho- 
logischer Unerreichbarkeit darstellen, und dem entspricht das Indivi- 
duum in seinen Formen der Ehrerbietung. 

Was nun Unterschiede in der Grundhaltung eines Herrschers macht, 
ist die Vielfältigkeit der Bedeutungen, die in ihm wohnen. Er kann 



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R. Gourrtaf, Der Deutsdße Kaiser 



ja der Vater sein seines Volkes, und ebenso der Richter/ so hat jeder 
Herrscher die Geste eines fundamentalen »Berufes«, welcher dann eigen« 
tümliche, aber nie ihre Herkunft verleugnende Erweiterungen findet, die 
sich nur an den konkreten Fällen charakterisieren ließen. Jedenfalls voll« 
zieht sich die Einbegreifung aller Staatsangehörigen in die Herrscherge- 
stalt durch moralische Angleichung einer bestimmten Art. Jeder Stand, 
jeder Beruf hat seine Ehre, die immer eine Verteidigungsstellung der 
persönlichen Integrität an ihrer exponierten Stelle ist/ es sind gefärbte 
Ehren, die dadurch, daß sie aller Möglichkeit sich zu gefährden ent- 
zogen werden, zu einem Gipfel der Vornehmheit sich emporführen 
lassen, sozusagen aus dem Bedürfnis einer vollendeteren Anschauung 
ihrer selbst, und diese Entstehung spiegelt sich prinzipiell in der Be- 
ziehung jedes Herrschers auf einen Beruf wieder. Von da aus be- 
stimmt sich auch die Gestalt in ihren Tugenden, und wir haben 
andererseits das Paradox, daß der Ursprung der intangiblen Gestalt 
des Herrschers zugleich seine engste Beziehung zur Exekutive her- 
stellt, das liegt eben im »Beruf«. Die Unnahbarkeit des Herrschers 
ist um so mehr ausgesetzt, je mehr spezielle Leistungen von der 
höchsten Stelle ausgehen, und um so mehr bedarf es auch der Sorg- 
falt, um der Gestalt ihre Breite zu garantieren. 

Aber nun geht der Liberale so vor, daß er die Person des Herr- 
schers nur menschlich nimmt, d. h. prinzipiell unerweiterbar, und der 
Herrscher gilt einfach als Träger einer »schweren Aufgabe«, der 
»schwersten«, wie man manchmal in einem dunkeln architektonischen 
Drange zugibt. Die Person des Herrschers dient als eine Art Orien- 
tierungsstück in der Verfassung, eine Art geometrischen Ortes für 
ihre Festsetzungen, und überlebt lediglich ex definitione die ver- 
schiedenen Herrscher. Die Tatsache der persönlichen Spitze in allen 
Staaten ist die alleruninteressanteste für die liberale Auffassung, ihre 
Verdienste liegen vielmehr in der Präzisierung der rechtlichen Zu- 
sammenhänge, nicht in ihrer seelischen Besetzung. Der Herrscher bleibt 
Privatperson, als die er primär überhaupt immer erscheint, und nur so 
übt er manchmal eine gewisse besondere Wirkung aus, die Fontane in 
extremen Fällen liebenswürdig und tiefsinnig beschrieben hat. Man be- 
merkt bei manchen Liberalen eine außerordentliche Geschiedenheit, ja 
Jenseitigkeit zur herrschenden Familie, die gar keine Empfindlichkeit des 



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R. GournaC Der DeutsSe Kaiser 



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Staatskürgers einschließt, sondern diesen Zustand ganz natürlich nimmt, 
obgleich er gerade auf das Menschliche geht. Nun liegt in der by- 
zantinischen Überhöhung des Individuums ja wieder eine Einheit 
zwischen Untertanen und Herrscher ausgedrückt, welche der Libera- 
lismus nicht anerkennt, weil er die Überhöhung nicht anerkennt, bei 
jener Einstellung ist also der »Bruch« viel gründlicher als im kon- 
servativen Gefühl — aber sollte die persönliche Eindringlichkeit, 
welche gerade in größter sozialer Distanz bei den prinzipiell Skep- 
tischen so deutlich auftritt, eine Kompensation sein? Sie ist jeden- 
falls nicht konservativ/ die rein gesellschaftliche, unpsychologische 
Haltung zur Person des Herrschers ist überhaupt ein Kriterium des 
echten Konservativismus. Überflüssig an Bismarck und Friedrich Wil- 
helm IV. zu erinnern. — 

Wie setzen sich nun die betrachteten Schemen an den Daten des 
deutschen Kaisertums durch? Wie wirken diese Voraussetzungen in 
diesem Fall? 

Das Byzantinische, oder, wenn man es frei von historischen Ex- 
tremen nennen will, das Rituelle, hat natürlich die positiveren An- 
knüpfungen. Sie liegen vor allem in der obersten Kommandogewalt 
des Kaisers. Die Unterordnungsverhältnisse, die in sie auslaufen, 
finden in der einen letzten subjektiven Ausfluß, eine absolute Maß- 
geblichkeit, und damit ist der Schwerpunkt bezeichnet, von dem aus 
der Kaiser seine Autorität überhaupt zu stabilieren hätte. Aber ohne 
Zweifel sind die allseitigen Übertragungen der Machthaltung gerade 
von dem militärischen »Beruf« aus ungeheuer schwierig/ diese Auto- 
rität, ihr Sinn, ihr Ausdruck rundet sich widerwillig zu einer uni- 
versalen Vornehmheit ab/ ist darin das gerade Gegenstück zur 
Gentlemanvornehmheit. 

Denn die moralischen Qualitäten der Soldaten sind Aufspeiche- 
rungen zu potentiellen Leistungen, also in ihrem Optimum und unter 
den modernen Friedensverhältnissen reine Dispositionen, während 
die sekundären Erscheinungen, wie Disziplin, minutiöse Pflichttreue, 
welche in Erscheinung treten, lediglich den besonderen Kreis even- 
tuell obliegender Pflichten umschreiben, als Kontrolle der Bereitschaft 
dienen und immer untergeordnet und jedenfalls relativ sind, sich mit 
der vollen Aktivität und Eingesetztheit des Bürgers nicht vergleichen 



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lassen. Diese Pflichten fallen ihrerseits gänzlich aus dem Konstruk- 
tiven des bürgerlichen Daseins, sie sind destruktiv und in der Durch- 
führung momentan. Nun geht die moralische Erziehung des Prie- 
sters zum Beispiel auch auf die moralische Disposition mehr als auf 
die konsequente, eigennützige Aktion/ aber die Schätze der Güte, 
Milde, Liebe sollen eben jedem vorkommenden Fall der Bedürftig- 
keit oder auch nur des Mangels an ähnlicher Gesinnung beim anderen 
dienen, sie sind gerade besonders leicht umsetzbare Energie/ wäh- 
rend die Temperierung des Soldaten letzten Endes gar nicht über- 
greifen kann, weil sie auf negative Gewalt geht, die ihn um jede 
menschliche Verbindung bringt, und nur in den Mitteln ihrer Durch- 
führung, also mit der gewissen Schwächung ihres absoluten Gehalts, 
werden Tugenden entwickelt: Tapferkeit, Gerechtigkeit. 

Daraus schon folgt, daß der Zugang zu der militärischen Gestalt 
für die Untertanen besonders schwierig ist. Denn in der hier typi- 
schen Geste des Gehorsams liegt ja nicht einmal das Opfer des 
ganzen Ichs, das Ich tritt vielmehr mit der Fiktion auf, auf eine be- 
stimmte Leistung gänzlich reduziert zu sein. Der absolute militärische 
Gehorsam auf allen Gebieten, wie unter Friedrich Wilhelm L, hat sich 
ja selbstverständlich nicht gehalten/ nichtsdestoweniger ist es der ge- 
mäßigtere Begriff der Disziplin, in dem sich die Devotion, die Ab- 
hängigkeit von der höchsten Person äußert: er bestimmt die Geste, in 
der die Autorität anerkannt wird, — wie der Engländer zu seinem 
König spezifisch höflich ist. 

Indem die kaiserliche Gestalt sich im Soldatischen fixiert, von der 
Tradition des preußischen Königs immer wieder regeneriert, erhält 
nun ihre Erweiterung zur »vollkommenen Vornehmheit« notwendig 
etwas provisorisches, das man in jeder »Abrundung des Berufes« 
durch das Medium der »Vornehmheit« des Herrschers vermuten 
könnte, aber hier ist es evident und schwer zur Ruhe zu bringen. 

Vor allem, daß der Beruf des Soldaten, soweit als er Beruf ist, 
überhaupt nicht moralisch ist, nach dem tapfern Worte Moltkes. Ab- 
solute Entsetzungen, wie »Vernichtung«, um es indifferent zu sagen, 
erfordern absolute Mittel. Es liegt in der soldatischen Ehre daher 
eine gewisse Unvergleichlichkeit mit anderen Ehren, die notwendig 
festgehalten wird, denn jede andere Ehre betont ja gerade den 



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Entschluß jedes Berufes, die Gemeinsamkeit der moralischen Grund- 
sätze mit anderen Berufen aufrecht zu erhalten, nur der Soldat 
macht davon die Ausnahme, weil seine wesentliche Leistung überhaupt 
nicht mit der Arbeit anderer koexistieren kann. Man bemerkt die 
Ungefugigkeit der Begriffe, die die Tatsache unterbauen sollen, daß 
die militärische Autorität, ihre Geste, die Achse der kaiserlichen Ge- 
walt in Deutschland tatsächlich ist. 

Andererseits zersprengt sie nicht unser Schema, sondern stellt einen 
extremen Fall zu ihm auf, den die intuitive Kraft einer nationalen 
Gesinnung immer noch zum natürlichsten von der Welt machen könnte. 
Aber die Sonderbarkeit des vorliegenden Falles wächst nur durch 
den Umstand, daß die militärische Autorität, so sehr sie auf Autori- 
tät aufgebaut ist, in ihrer höchsten Ausprägung am wenigsten zu 
jener »königlichen c Umwandlung des Individuums, zu seiner Er- 
weiterung in die »Gestalt« geeignet ist. Das Militärische eignet sich 
vortrefflich zur Aufrichtung von Autorität, aber eben darum nicht 
zur Aufrichtung ihrer konstanten, letzten Sammlung im Monarchen. 
Eben wurde das Provisorische in der Totalverfassung einer höch- 
sten Person besprochen, die das Militärische zum Kern hat/ in 
anderer Weise gilt das Charakteristikum des Provisorischen für die- 
sen Kern selbst. 

Der Kaiser stellt ja nicht nur die Quelle der exekutiven militärischen 
Macht dar/ er ist vielmehr der oberste Leiter selbst. Hier schiebt sich, 
und das ist bezeichnend, kein Reichskanzler vor. Aus der höchsten 
Sphäre, nämlich der rituellen, unpersönlichen Verehrung, ist er damit 
schon ausgeschlossen, weil sein Dasein in hervorragendem Maße von 
Erfolg und Mißerfolg abhängig ist. Alle stabileren, unpersönlicheren, 
unanwendbaren, bildhaften Qualitäten, die ihm zufließen als dem 
Landesherrn, dem Bischof, dem Richter, können die Tatsache nicht 
unwirksam machen, daß die oberste Feldherrnstellung auf das Indi- 
viduum in ihr hinlenkt, auf seine praktische Eignung, und daß das Pri- 
vileg einer Familie auf diese Stellung ganz zufällig scheint, während 
das monarchische Privileg an sich von Zufälligkeit am weitesten entfernt 
ist. Nur unter einer Bedingung ließe sich vorstellen, daß die höchste 
Macht im Staate durch einen Soldaten sich echt darstellt, wenn näm- 
lich dieser Staat selbst sich als ein Provisorium ansehen müßte, sein 



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572 R. Gournaf, Der DeutsSe Kaiser 



bleibender Sinn überhaupt selbst in Frage stünde und damit die 
tiefste Quelle des Herrsdiertums, — und das könnte immer nur durch 
Krieg eintreten, im Momente dringender Notwehr. Sie wird dann 
eben sein »Letztes und Höchstes <. Die Tatsache, daß Preußen 
unter einer so anormalen Bedingung groß geworden ist, hängt ihm 
noch nach, es bewahrt seine Geschichte in der konditionellen Autori« 
tat seines Soldatenherrschers bis in diese Gegenwart. Aber nun stellt 
das Kaiserreich seinem ganzen Auftreten nach doch das endgültige 
Ende jenes »Provisoriums« dar, dessen tapfere, nüchterne und wenig 
übersinnliche Durchhaltung Preußens besondere Leistung war, an der 
die Staaten, welche nun einen Kaiser haben, nur im letzten Moment 
teilgenommen haben, und ausdrücklich ohne die Bedeutung ihres 
staatlichen Daseins Preußens anzugleichen, womit ihre Mitarbeit an 
der Ausbildung des Kaisertums von vornherein etwas indirektes be^ 
kommen hat. Direkt kann sie nun bei der gegenwärtigen Reichsver- 
fassung auch nur dem Kaiser als Heereskaiser zukommen, und darin 
liegt gerade eine Verschärfung des Preußentums : der deutsche Kaiser 
ist mehr Heereskaiser als der preußische König früher Heereskönig 
war. Der Rest ist in der Hauptsache nur eine repräsentative Aner- 
kennung durch die Bundesstaaten, die weitere Ausbildung der Kaiser* 
liehen Gestalt dürfte er wesentlich nur aus Preußen erwarten, aber 
der preußische Konservativismus hält sie ängstlich an der Stelle fest, 
die an sich am allerexponiertesten, am unfugsamsten für eine Ent- 
wicklung ist. Jedoch einen starren Konservativismus gibt es unmög- 
lich, einen akademischen höchstens, und den dauernd so wenig, wie 
es eine begrenzte künstlerische Initiative gibt. Nur die Theorie ver- 
mag ihr eigenes Leben zu unterbinden, sie hat Grenzen — und 
somit wenden wir uns zum »Liberalismus«. 

Wir sind es schuldig geblieben, darzulegen, wie die Tatsache, daß 
es zum Aufbau einer höchsten, dauernden Würde in einer Nation 
komme, beim Individuum sich ansehe/ aber die Objektivität der 
ganzen Verbindung zwischen Nation und Herrscher machte einen 
solchen Exkurs überflüssig. Der Konservativismus bestimmt den 
Wert des Menschen überhaupt an gewissen Eigenschaften, die man 
extrem nennen möchte, sehr tiefliegenden Qualitäten, die über die 
Kräfte des einzelnen zu gehen scheinen, und aus der Gesamtheit 



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R. Gournai. Der DeutsSe Kaiser 573 



erst hervortreten. Hingegen nun der Liberalismus stellt den Ein- 
heitspunkt aller menschlichen Äußerungen überhaupt, den Menschen, 
über jede seiner Leistungen/ und er erwartet von ihm alles, indem 
er nichts von ihm erwartet. Während also der Konservativismus 
den Menschen von Natur mit der Schutzschicht einer gewissen Be- 
Stimmung eintreten läßt, gibt ihn der Liberalismus als eine Kraft 
preis, die durch die Reibung mit einer vielfältigen, unendlichen Um- 
welt erst zu einer Bestimmung kommt Dort der tragende Mensch 
also — und hier der geschäftige, beide in einem Gebilde auftretend, 
ja beide ein Mensch, und der Unterschied ist eine Akzentfrage. Er 
scheint in diesem Lande dennoch eine Entscheidung zu verlangen, 
denn er hat Gesinnungen hervorgebracht, politische Gesinnungen, 
die sich bei uns stoßen, während sich die Begriffe, aus denen sie 
hervorgehen, nicht notwendig kreuzen/ suchen es erst in der Kon- 
sequenz auf einem Gebiet, wo sie vielleicht nicht maßgebend sein 
dürften: eben auf dem politischen. Sie mögen vielleicht schuld sein, 
daß unsere Politik eine sonderbare Uneigendichkeit hat. 

Der liberale Mensch ist bei uns immer der »freie Mensche ge- 
wesen und damit zugleich der Abgeschlossene/ das liberale Interesse 
geht also auf das Individuum, und von dem Individuum geht es aus. 

Diese Richtung des Interesses aus der Einzelheit des Menschen 
ist überhaupt fundamental, unvermeidlich/ aber wir sind die abso- 
lutesten Individualisten! 

Und während wir in der Schätzung des Individuums die unge- 
heuersten Schwankungen durchgemacht haben im »Warum «, ist 
sicherlich die Schätzung der Besonderheit, individueller Merklichkeit 
bei uns durchaus konstant geblieben. Wir schätzen den Menschen 
also unsozial/ seine stärksten Wirkungen auf die Gesamtheit ändern 
nichts daran, und auf dieser Linie bewegt sich unser ganzes libera- 
listisches Denken auch in diesem Moment, in dem die Energie der 
Nation seine schärfste Spiegelung im wirtschaftlichen Menschen findet. 

Wir vermögen diesen Punkt nicht sogleich zu verlassen. Der 
Werther-Mensch schuf der deutschen Idee vom Menschen wieder 
seinen Platz in Europa,- er war die Proklamation des Menschen 
seiner eigenen Gefühle, welcher nur durch sympathetisches Verstehen 
in seiner Einzelheit zu erreichen war, der »Mensch in sich«, der 



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574 



Wesensmensch. Der so geneigte Mens* lebte schon in der empfind- 
lichsten Verbindung zur Welt/ der alte Goethe sudite noch dieser 
Empfindlichkeit ihre Verstehbarkeit zu erhalten durch objektive ästhe- 
tische Maßstäbe, aber schon unter ihm romantisierte sich das Ich 
vollkommen, das Wesen wurde aus dem Original Kuriosität/ es 
wurde ganz wirkungslos, beziehungslos, ein zum Nichts degradiertes 
X. Das Ich entwertete sich vollkommen, radikal, bis in die Tie r en der 
Nation, aus denen er ohne Zweifel emporstieg: es entstand em ent- 
schiedener Glauben an die Unglaubhaftigkeit eines absoluten persön- 
lichen Wertes. Nach der allgemeinen Ansicht des heutigen Tages 
ist das Ich nun unterhalb der Schwelle sozialer Erfaßbarkeit — das 
Fremdwort ist so gut: Palpabilität/ d. h. es hat in dem Maße, als seine 
Eigentümlichkeit Maßgabe seines Wertes sein sollte, sich der Ver- 
gleichbarkeit entzogen. Etwas anderes drückt sich im Verfall unserer 
Kultur seit vierzig Jahren nicht aus, als die Skepsis und Unlust, welche 
dieser Entdeckung folgte. Ohne Zweifel haben andere Völker Europas 
einen solchen Prozeß ebenfalls durchgemacht, auch sie haben sich sub- 
jektiviert, aber sie haben auch einer vollkommenen gegenseitigen Ent- 
ziehung wie bei uns zu steuern gewußt, durch gewisse objektive und 
haltbare Maßstäbe, die für die Gegenseitigkeit des persönlichen Ver- 
kehrs gelten, auf dem Gebiet der Manier, des Taktes, der Reserve, — 
jener englischen Soziabilität, auf welcher die Begriffe englischen staat- 
lichen Lebens aufgebaut sind. In unseren amerikanisierten Städten 
fehlt nur eines: die Erfreulichkeit, daß es überhaupt Menschen gibt, 
der allgemeine und durchgeführte Entschluß, ihn mit einem gewissen, 
vielleicht nicht hohen, aber konstanten Wert über Null anzusetzen. 
Der einzelne Mensch »an sich« ist uns der diskreditierte Mensch »in 
sich«/ wir haben den Wesensindividualismus auf ein Minimum der 
Bewertung hinabgedrückt, das nur einem theoretisch hochbegabten 
Volke möglich ist, aber darum haben wir auch nicht die Freude an 
großen Zahlen, wie der Amerikaner, der sie liebt, weil er mit ihnen 
den Grundwert jedes Amerikaners multipliziert, während unser Jar- 
gon sich in »Zuständen«, »Verhältnissen«, »Konjunkturen« bewegt, 
worin der Mensch ein mathematisch-punktförmiges Etwas ist, von 
dem kein eigenes Leben ausgeht. 

Der deutsche Liberalismus hat aber doch mit dieser Reaktion nicht 



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P. Goumai Der DeutsaSe Kaiser 



575 



seine Grundrichtung geändert, und ist von dem Maßstab der Be- 
sonderheit, Eigentümlichkeit, ja der Unvergleichlichkeit nicht abge- 
gangen. Er ist damit unpolitisch geblieben, wie er früher war/ die 
romantisch verstandene Individualität kommunizierte ja nur durch Sym- 
pathie, durch Dualität, aber nicht durch ein drittes, ein gemeinsames 
Objekt, — der gegenwärtige, nicht minder in seiner neuen Richtung 
fortgeschrittene Liberalismus schätzt ein ebenso disparates Geschöpf. 
Die gegenwärtige Regierung plant nach ihren eigenen Worten »die , 
Politik so langweilig als möglich zu machen, damit wir unüberwind- 
lich reich werden«/ das beweist schon ausreichend, daß der Erfolg 
der Nation von der Erwerbstätigkeit des einzelnen zu erwarten ist, 
möglichst ohne irgendwelche Reibungen mit den Angelegenheiten der 
Gesamtheit. Im Prinzip wendet sich diese Politik wieder an den be- 
rühmten deutschen »Träumer«, an einen Träumer, der Geld ver- 
dient. Aber es ist doch wichtig, diesen neuen »Einzelnen« anzu- 
schauen, denn die objektivierende Kraft der Geschichte läßt keines 
ihrer Felder leer, so schlau sich auch menschliche Klugheit und Vor- 
sicht ihrem verhängnisschweren Griff entziehen möchten. 

Dieser neue »Einzelne« ist wertvoll, insofern es ein hervorragen- 
des, durch die Kombination seiner Wirkungen unvergleichliches Energie- 
zentrum ist/ natürlich bleibt, da die Kräfte des bloßen Gefühls und 
Gedankens echolos und schattenlos geworden sind, in dieser Nation 
nur der reine Wille übrig, der sich in seinen Taten zu quali- 
fizieren hat und dies um so mehr tut, als er von seinen Taten un- 
geprägt bleibt und in der Initiative lebt. Das Unternehmen steht 
ihm also über dem Geschäft/ das Individuum vermeidet die Rück- 
wirkung seines Berufes auf sich, es gibt keinen Beruf, sondern nur 
einen allgegenwärtigen Maßstab des Erfolgs: das Geld. Dieser 
Willenmensch, der die Welt in Energiezentren zerlegt, deren Leistungs- 
einheit in Geld gezahlt wird, ist ebenso einzeln wie der Wesens- 
mensch, den er überrannt hat, ebenso in seiner Einzelheit vereinzelt, 
leer: der dynamische Mensch, dessen konstante Qualitäten nur der 
Isolation gegen andere dienen, also Spontaneität, Initiative, Bemerk- 
lichkeit heißen und wir sind vielleicht schon verstanden. 

Jeder Herrscher stellt ein »Wesen« dar/ die Bedingungen sind 
durch die Entwicklung des deutschen Subjektivismus heute durchaus 
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576 



R. Gournai Der DeutsSe Kaiser 



gehemmt. Das Individuum besitzt als solches bei uns nicht Achtung ,- 
die Ehrfurcht vor seiner repräsentablen Steigerung hat also keinen 
Boden. Sie wird ihm kurzgesagt weder im Untereinander der Nation 
zugetraut, aus angegebenen, unglaublich radikalen Gründen, noch 
vollends im Übereinander begriffen. Aber so lange es Politik gibt, wird 
die Vorstellung der Nation vom Wert des Menschen im Herrscher 
Wesen haben, die Notwendigkeit wird in diesem echt deutschen 
Dilemma zur Unerbittlichkeit: die vom Wesen entfernte, verschnit- 
tene Willensindividualität, die die Einheit des Menschen verkennt, 
wird eben Wesen, seelischer Typus, indem sie von der Unzerstör- 
barkeit des Menschen so deutlich zeugt wie von seiner Entsteilbar- 
keit, und richtet sich nun im Träger gegen alle Bedingungen wesent- 
lichen Daseins, tritt auf als Impulsivität, Beweglichkeit, Initiative, 
Partei/ demonstriert sich durch die sekundären Bedingungen, um es 
anders zu wenden, durch die ein Charakter sich ausdrückt, aber die 
niemals Charakter sind. Nur der Charakter selbst, diese tiefere Tiefe 
der Psyche, besitzt das statische Gleichgewicht, welches der Nation 
wenige, umfassende Züge heute und immer entgegenhalten kann. 

Aber ist nicht dieses Dilemma, in zufälligerer Form, schon in den 
Tendenzen des preußisch-deutschen Konservativismus beobachtet 
worden? Die Unfähigkeit, den Herrscher zu einer ganz rituellen Hal- 
tung zu stützen, seine Fesselung im Imperatorischen, drückt sich da 
nicht die Schwäche des deutschen Individualismus aus? Jedenfalls be- 
weist die militärische Attitüde des Herrschers die Insuffizienz der 
konservativen, anschaulichen Kräfte/ die Frage nach dem Wert des 
Menschen an sich ist in sich zu berechtigt, als daß sie sich ganz um- 
gehen ließe, die Schwankungen und Voraussetzungen der Antwort 
sind fundamentaler Besitz der nationalen Kultur/ diese Insuffizienz 
ist der liberale, ichtheoretische Anteil am Konservativismus und macht 
ihn erst echt deutsch. 

Aber umgekehrt, der wesenlose, formale Sinn unseres Individua- 
lismus ließe sich gar nicht an der Kaiserlichen Gestalt realisieren, 
wenn er nicht seinerseits erst Bildsamkeit aus der Imperatorischen 
Haltung des Kaisers bekäme. Der Kaiser ist spontan, stellt die ein- 
dringliche Anpassung über das eigenwillige Schaffen, betont nicht die 
intime Kontinuität, sondern das immer wieder neue Einsetzen, und 



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577 



sah in jüngeren Jahren in jedem Könnenden einen Konkurrenten, 
wie er jeden zu gewinnen sucht und bereit ist, auf der Stelle fallen 
zu lassen. Das sind Instinkte des modernen handelnden Menschen, 
aber da es sich beim Kaiser um das Gegenobjekt, das Geld, am 
allerwenigsten handelt, wären diese Qualitäten, die in sich gar keinen 
Ausdruck haben, gar nicht wirkungsfähig gewesen, wenn sie nicht 
in einem engeren Rahmen schon königlich durchlebt worden wären, 
und das ist eben bei uns das Militärische. Unser Liberalismus und 
unser Militarismus ergänzen sich aufs Natürlichste/ dem aktivistischen 
Radikalismus läßt sich nur durch die militärische Geste eine Haltung 
geben. Alle kaiserlichen Reden sind Initiativreden, aber in Befehls- 
form: die Haltung des Befehls, differenziert durch ein bedeutendes 
stilistisches Talent, bildet den Obergang vom militärischen zum indi- 
viduellen Kaiser. Die »Konservativen«, welche den persönlichen 
König nicht ganz aufgeben könnten, sehen ihn nur konsequent fort- 
geführt in einem Herrscher, welcher seine Überlegenheit über das 
bloße Individuum nur mit einer Geste dartun kann, welches eben 
Individualität, Forcierung der Einzelheit und Trennung auf gleicher 
Höhe, aber nicht zur Höhe ausdrückt. Sie enragieren sich für das 
Militärische daran, von dem persönlichen, so wenig Ludwig XTV. 
ähnlichen habitus sind sie betroffen/ sie halten es für zufällig, wäh- 
rend es nur die Erweiterung ihrer eigenen Idee ist, deren spezifische 
Inkarnation sie hypnotisiert. Das Individuelle, die menschliche Un- 
verkennbarkeit des Höchsten als repräsentative Attitüde, ist ein lo- 
gisches Produkt unseres deutschen Geistes, und nur ihm möglich. 
Aber während es bei den Konservativen naheliegt, daß sie die per- 
sönliche Note des Kaisers für eine bloße Fortsetzung seiner mili- 
tärischen Rolle halten, ist es wahrhaft tragikomisch, daß die Liberalen 
über diesen durchaus menschlichen Kaiser erstaunen, welcher doch 
mehr ihr Kaiser ist, als der Kaiser der preußischen Konservativen. 

Wir werden also immer individuelle, unverkennbare Töne des 
Willens an dieser Stelle hören, alle vom Militärischen her stilisiert, 
alle auf kürzestem Wege an die Bereitwilligkeit der Natur sich wen- 
dend, und man wird diese Kaiserlichkeit verstehen, weil es die ist, 
die jeder versteht, zu verstehen imstande ist. Man könnte sich trösten, 
und sagen, daß wir Deutsche von Politik nichts verstehen, zu jenen 



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Spannungen also, die zwischen Persönlichem und Unpersönlichem 
entstehen und den Staat gliedern, fast unfähig sind, und daß dieses 
unpolitische, unstaadiche Kaisertum, das wir zwar verstehen, aher 
auf Grund einer Unsicherheit, die der Deutsche in politicis mit Recht 
immer empfinden wird, nicht zu billigen wagen, daß dieses Kaiser- 
tum das Maximum einer positiven Beziehung zur Politik ist, und 
sogar merkwürdig schnell sich so herausgestellt hat. Denn sicher reprä* 
sentiert es uns/ aber mit allseitiger Hilfe so, daß es niemals zu 
jener Stabilität kommen kann, welche es den unmenschlichen, und 
dennoch von Menschlichkeit so durchaus füllbaren Formen des Staates 
geben müßte. 

Nun mag unsere deutsche Auffassung vom »Kaiser«, an den 
strengen Rechten der Politik gemessen, zu eng sein, zu beschränkt, 
sie ist aber auch wieder zu weit für sie. Sie übertrifft den Zwang 
des Staates zugunsten eines sublimeren Zustandes, der freilich fern 
genug ist. Das militärische der Kaiserlichen Gestalt ist unter dem 
Niveau großen politischen Zusammenhangs, aber das Individualistische, 
wenn es auch die individuellsten Formen annimmt/ ist jenseits der 
Notdurft der Berufe, und konstituiert eine wichtigere Entscheidung 
über die Bestimmung menschlicher Gemeinschaft. Tatsächlich nämlich 
den Glauben an ihre Genialität. 

Wir haben nicht ein Wort von der Person des gegenwärtig 
regierenden Kaisers gesprochen/ wir hätten uns damit Unrecht ge- 
geben, denn was unter konservativen Kräften verstanden wurde, 
muß das Individuum immer und unter allen Umständen über sich 
hinaustreiben zur Paradoxie des typischen Individuums. Nun ist die 
Person des gegenwärtigen Kaisers in der Tat vollkommen unbekannt, 
und sein Nachfolger, welcher auch eine Individualität sein wird, wird 
ebenso unbekannt bleiben. 

Wirklich ist für das moderne Europa der Höhepunkt seines 
Wissens um den Menschen schon lange überschritten/ der Mensch 
taucht wieder in die Dunkelheit zurück, aus der ihn die Antike ein- 
mal hervorholte, und auf ihre Weisen die Renaissance und das 
christliche Mittelalter. Deutschland hat in diesen drei Jahrhunderten 
der Moderne ungeheuere Ergebnisse über den Menschen gehabt/ 
es gibt nun das Beispiel eines fast bewußten, tiefen Ausruhens vom 



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R. Gournai Der DeufsäSe Kaiser 



579 



Menschen, die Unkenntlichkeit der höchsten Stelle findet sidi wieder 
in der lethargischen Haltung der sozialisierten Massen, welche am 
Mensch gründlichst vorbeizugehen gewillt sind und damit die Kosten 
seiner ungeheueren Hervortreibung bezahlen. Hier versagen, aus 
einer Ökonomie der Nerven und durch die Unergiebigkeit einer 
vom alten Ruhm lebenden egozentrischen Bildung, alle intuitiven, 
den Menschen selbst anschauenden Kräfte. Die Politik, wenn wir nicht 
ganz Unrecht haben, muß in diesem Land heute leer ausgehen in 
allen ihren wesentlichen Teilen, und nur die, welche noch die toten 
Formen der großen kulturellen Erfolge hundert Jahre zurück be* 
sitzen, und die disziplinarisch Geaichten haben die Selbsttäuschung 
oder den Mut, ganze Politik zu machen. 

Aber jene doppelte Unkenntlichkeit des Menschen ist vielleicht ein 
besseres Symptom, daß uns der absolute Mensch nicht mehr lange 
nachhängen wird, ein besseres Symptom als aller Reichtum, welcher 
der Trost einer wesenlosen Politik geworden ist. 

R. Gournai. 



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580 Max S riefen Der Bourgeois 



DER BOURGEOIS 
I 

UNTER den mannigfaltigen Zeichen, die uns das Absterben 
der Lebensordnung anzeigen, unter deren Kraft und Richtung wir 
noch leben, sehe ich keines, das überzeugender wäre als die tiefe Ent- 
fremdung, die heute die, in ihrer besonderen Ordnung besten Köpfe und 
stärkstenHerzen angesichts dieser Lebensordnung erfüllt. Die Geschichte 
dieser Entfremdung ist noch gar jung. Ich finde die neue Haltung, die ich 
hier im Auge habe, zuerst — wie es zu erwarten ist — bei Ge- 
lehrten und Dichtern, — der Weltmensch mag »Träumer« sagen — 
etwa bei Gobineau, Nietzsche, J. Burkhard, Stefan George. So ver- 
schieden die Genannten in allem sind, was für Menschen wesent- 
lich ist — darin empfanden und dachten sie gleichartig: daß die Ge- 
samtheit der Kräfte, die das Charakteristische des Ganzen unserer 
gegenwärtigen Lebensordnung aufgebaut haben, nur auf einer tiefen 
Perversion aller geistigen Wesenskräfte, auf einem wahnbedingten 
Umsturz aller sinnvollen Ordnung der Werte beruhen könne — 
nicht also auf geistigen Kräften, die, der normalen »Natur des Men- 
schen« angehörig, nur die in der uns bekannten Geschichte üblichen 
Veränderungsbreiten ihrer Auswirkung gefunden hätten. Könnten 
Leute, die heute noch bewußt oder unbewußt »mitmarschieren« und 
die ihr Entfremdungsgefühl noch nicht zum Standort einer Betrach- 
tung aus der geistigen und historischen Vogelperspektive emporge- 
worfen hat, angesichts der oben Genannten bemerken, daß es stets 
und überall Außenseiter gegeben habe, die, sei es kämpfend gegen 
die Kultur ihrer Tage, sei es gleichgültig und souverän vor ihr standen 
<wie Fichte gegen das Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit«, der 
Aufklärung wie Goethe vor den Befreiungskriegen), so sollten diese 



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Max SaSefer, Der Bourgeois 



581 



ein Doppeltes bedenken: Jene »Entfremdung« gegen das »Narrenschi ff 
der Zeit« — schon Bismarck liebte das hübsche Wort — erfaßt 
stärker und stärker auch die eigentlichsten Kinder der Zeit selbst, 
erfaßt auch nicht mehr bloß »Dichter und Denker«, sondern z. B. 
auch den Großkaufmann W. Rathenau, und den mit den lebendigen 
Kräften unseres Wirtschaftslebens am innigsten durchdrungenen und 
vertrauten Nationalökonomen Werner Sombart. Mit Gerede wie 
»Träumer«, »weltferne Romantiker« usw., mit denen — paradoxer- 
weise — gerade unsere weltfernsten Schreibtischgelehrten die neue 
Haltung abzutun pflegen, ist hier wirklich nichts zu machen. Dazu ist 
es nicht etwa die besondere historisch-tradierte Gesinnung einer be- 
stimmten politischen, kirchlichen oder Kulturpartei oder die Veilletät 
eines bestimmten literarischen Kreises, was zu den neuen Problem- 
stellungen über Wesen und Herkunft des »Geistes« geführt hat, 
der unsere Lebensordnung trägt. Die Entfremdung geht darum 
auch nicht auf diese oder jene einzelne Seite oder Erscheinungs- 
gruppe unserer Lebensordnung, sondern auf deren Totalität und sie 
muß dies, da sie in letzter Linie gegen den Typus Mensch selbst 
gerichtet ist, der die Existenz und Fortdauer dieser Lebensordnung 
letztlich verbürgt. Diese Merkmale aber finde ich bei keiner der Be- 
wegungen zusammengefaßt, die man in den letzten Jahrhunderten 
als solche der »Restauration« oder der »Romantik« bezeichnet hat. 
Ich finde sie nicht einmal bei Rousseau oder Tolsto), die wohl als 
die radikalsten Kulturrevolutionäre ihrer Epochen und Völker gelten 
können. Beide predigen im Grunde nur Moral gegen den zivilisierten 
Menschen an sich und seine typischen Fehler, Laster, Einseitigkeiten. 
Sie besitzen nicht das historische Bewußtsein eines bestimmten, eng- 
umschriebenen Typus, der zu Enstehung und Aufbau der kapitalisti- 
schen Lebensordnung geführt hat und sie immerfort trägt. Sie suchen sich 
auch nicht diesen Typus zu erklären, sondern tadeln und moralisieren. 
Es ist nicht der eigentümliche, machtvolle Eindruck, mit dem Som- 
bart sein Buch über den Bourgeois beginnt, der sie leitet: »Der vor- 
kapitalistische Mensch: das ist der natürliche Mensch. Der Mensch, 
wie ihn Gott geschaffen hat. Der Mensch, der noch nicht auf dem 
Kopfe balanziert und mit den Händen läuft <wie es der Wirtschafts- 
mensch unserer Tage tut), sondern mit beiden Beinen fest auf dem 



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582 



Max Sdefer, Der Bourgeois 



Boden steht und auf ihnen durch die Welt schreitete Auch die deutsche 
Romantik war in allen ihren Vertretern eine bloß geistige Kultur- 
partei, die oberhalb, ja bewußt jenseits der »Lebenswirklichkeit«, die 
sie sich hinter bunten Kirchenfenstern selbst verbarg, bei Nacht, Mond 
und in stiller Liebe und Freundschaft ihren Reigen wob. Sie kam 
kaum zum Leiden an der Wirklichkeit, da sie sie floh und da ihr 
das Ethos, sie neubilden und formen zu wollen, fehlte. Jenen neueren 
»Entfremdeten« fehlt dieser Zug und damit auch jenes sentimentale 
romantische »Zurück« — sei es in die Natur, sei es nach Hellas 
oder in das Mittelalter. Sie wissen, daß es ein »Zurück« nicht gibt, 
sondern nur ein Vorwärts in ein ganz Neues, Unbekanntes oder in 
Tod und Verderben. Auch der Gegenstand der Entfremdung hat 
sich mächtig geweitet. Die Entfremdung der Romantik z. B. betraf 
im Grunde nur den Menschen und die Kultur der Aufklärung. Nun 
aber hat die Anschauung und das Miterleben des zur vollen Reife 
gekommenen Hochkapitalismus das Auge auch für die primitivsten 
Anfänge und die ersten Spuren des Geistes und der Gesinnung 
geschärft, deren sechs Jahrhunderte lange Evolution in dem »auf den 
Händen laufenden Menschen« kulminierte. Wir suchen die ersten 
Fußspuren des Bürgers schon im 13. Jahrhundert, das auf allen 
Gebieten der Geschichtswissenschaft immer mehr als die große Wende 
der Zeiten erscheint, in der ein neuer »Mensch« sich durchsetzt, der 
unabhängig von seiner nationalen, religiös kirchlichen, politischen 
Spezifikation auch in die ältesten Institutionen, z. B. die katholische 
Kirche seinen neuen Geist ergießt. 

Die neue Entfremdung, ein ganz undiskutierbares und unmittel- 
bares Erlebnis, ist zweifellos auch der seelische Ausgangspunkt für 
das Problem von Wesen und Ursprung des »kapitalistischen Geistes«, 
das seit einer Reihe von Jahren — den Anstoß dürfte W. Sombarts 
»Der moderne Kapitalismus« <1902> gegeben haben — einige unserer 
besten Köpfe, ich nenne Max Weber, Ernst Troeltsch, Salz in Atem 
hält. Hier sei nur von Sombarts neuem Buche die Rede, »Der 
Bourgeois«, in dem er den Versuch macht, an Stelle der einzelnen 
Kausalketten, die er in seinen vorher erschienenen Arbeiten »Luxus 
und Kapitalismus«, »Heerwesen und Kapitaiismus«, zwecks Ver- 
ständnis der kapitalistischen Lebensordnung verfolgte, eine Be- 



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Max SaSefer, Der Bourgeois 583 

Schreibung dieses »Geistes« zu geben und ein Gesamtgefüge der zu 
ihm ruhrenden Kausalreihen zu entwickeln, in dem die früher bei ihm 
so stark vermißte Frage nach der Art und dem Maße der Ab- 
hängigkeit und Unabhängigkeit der Variabilität der einzelnen Reihen 
eine bestimmte Antwort erhält. 

Sombarts wundervoll aufgebautes Werk zerfällt in zwei Haupt« 
teile, dessen erster der Beschreibung des Wesens und der Ent- 
Wickelung des kapitalistischen Geistes, dessen zweiter der tieferen 
und schwierigeren Frage nach seinen Quellen und Ursachen gewid- 
met ist. Im ersten Teile scheidet er mit Fug und Recht zwei Haupt- 
komponenten dieses »Geistes« : den (positiven) »Unternehmungsgeist«, 
der das nach Macht, Herrschaft, Eroberung, Organisation vieler 
Willen unter einen kühnen, energischen, auf Formung großer Massen 
abzielenden rationalen Zweck gierige Element darstellt und den 
(negativen) »Bürgergeist«, der im Gegensatz zum seigneuralen Geist 
ein neues System von Tugenden und Wertschätzungen entwickelt, 
ja bestimmte Weltbilder und metaphysisch-religiöse Systeme. Er ver- 
folgt die nationalen Entfaltungsformen dieser beiden Elemente des 
kapitalistischen Geistes und beschließt den ersten Teil mit einer über- 
aus merkwürdigen Analyse des Bourgeois von »einst« und »jetzt«. 
Im zweiten Teil, betitelt, »Quellen des kapitalistischen Geistes« sucht 
er seine »biologischen Grundlagen«, ein Kapitel, in dem der kapi- 
talistische Geist als der umfassende Ausdruck eines bestimmten Typus 
Mensch erscheint, an dessen Konstitution die verschiedenen westeuro- 
päischen Völker von Anfang an in verschiedenem Maße anteilnehmen ,• 
es folgen als weitere »Quellen« »die sittlich-religiösen Mächte« des Ka- 
tholizismus, Protestantismus und Judaismus, die »sozialen Umstände«, 
die Wirksamkeit des modernen Staates, die Wanderungen, die Gold« 
und Silberfunde, die Technik, die vorkapitalistischen Berufe, die bereits 
fertigen kapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsformen selbst. Nach 
dem gewaltigen Aufbau von Stoffmassen, mit denen Sombart spielend 
operiert, nach dem Versuch, den Kapitalismus aus den tiefsten und 
ältesten Wurzeln der europäischen Geschichte zu begreifen, nach der 
furchtbaren Anklage gegen unsere Lebensformen, die — mit oder ohne 
Wille des Verfassers ■— die 462 Seiten umfassende Darstellung ge- 
worden ist, trotz des kühlen, nüchternen Tons in zehnter Potenz furcht- 



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Max SSefer, Der Bourgeois 



barer als alle Anklagen und alles Wutgebrull der herrschenden sozia- 
listischen Parteien Buropas und ihrer Theoretiker zusammengenommen, 
wirkt der l 1 ^ Seiten betragende »Ausblick auf die Zukunft«, der uns 
wie durch eine ganz feine Ritze eine Aussicht auf die langsame Ver- 
zappelung des Riesen »Kapitalismus« bringen soll, fast wie ein ironi- 
ischer Scherz. Sombart durfte nichts hierüber sagen — oder viel mehr. 
Wie es jetzt dasteht, wirken die drei Ursachen, die er als Todes* 
keime des Kapitalismus ansieht — Verflachung im Rentnertum, Ver- 
bureaukratisierung der Unternehmungen, Sinken des Geburtenüber- 
schusses — im Verhältnis zu den vorher geschilderten Kräften, die 
sein Wachstum und seine blühende Gesundheit hervorbrachten, ein 
wenig gar zu disproportioniert: So, wie wenn man von der Mücke 
auf der Nase eines Riesen dessen Tod erwartet! 

Wichtiger als die Frage, ob Sombart die Natur und die Ursachen 
des kapitalistischen Geistes richtig erkannte, wird — dies lehren schon 
ältere Kritiken der neuen Problemstellung, die Sombart mit M. Weber, 
Tröltsch und dem Verfasser teilt — auch diesmal wieder die Frage 
sein, ob es so etwas wie einen »kapitalistischen Geist« als erste 
Ursache der kapitalistischen Ordnung überhaupt gibt. Sowohl die 
Vertreter der ökonomischen Geschichtsauffassung als — merkwürdiger- 
weise — viele unserer tüchtigsten Historiker pflegen dies zu leugnen. 
Jene sagen, es gäbe zwar einen »kapitalistischen Geist«, — aber dieser 
sei eine bloße Folgeerscheinung der kapitalistischen, ökonomischen 
Organisationsformen und der technischen Produktions formen, die sich 
mit sachhafter Notwendigkeit aus den älteren entwickelt hätten. 
Diese aber meinen, die typischen Motivationen des Wirtschaftsmenschen 
seien in der Geschichte im Grunde immer dieselben gewesen, es hätte 
z. B. stets Streben nach Reichtum über den standesgemäßen Unter- 
halt hinaus gegeben, stets Erwerbs- und Arbeitstrieb über die Be- 
dürfhisdeckung einer noch begrenzten Gemeinschaft hinaus etc. und 
es gäbe hier nur teils Stärkenunterschiede, teils Unterschiede der 
Verbreitung stärkerer Grade dieser Motive über größere Gruppen/ 
es habe immer den Gegensatz von Rechenhaftigkeit und Gefühlstra- 
ditionalismus gegeben usw. Nicht die neuen Grundeinstellungen des 
Trieblebens und das neue Ethos eines neuen Typus Mensch — wie wir 
lieber sagen möchten als neuer »Geist« — hätten den Kapitalismus er- 



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Max Sdßefer, Der Bourgeois 585 

zeugt, sondern nur Faktoren wie Rüdewirkung der durch eine prinzipiell 
gleichförmige Motivation sich bildenden ökonomischen Verhältnisse« 
auf den Menschen, Fortschritte der Wissenschaft und Technik, steigendes 
Wachstum der städtischen Bevölkerung usw. hätten das, was wir 
Kapitalismus nennen, schließlich zur Kumulationswirkung gehabt. 
Daß Sombart — zuerst in seinen Grundlagen des Kapitalismus — 
mit diesen Ansichten gebrochen hat, erscheint uns als sein unbestreit- 
barstes Verdienst. Die Vertreter der ökonomistischen Geschichts- 
auffassung verwechseln das Problem des Ursprungs des Kapita- 
lismus mit dem seiner jeweiligen Umformung und Fortbildung — 
wie schon Sombart selbst und noch schärfer Max Weber hervor- 
gehoben haben. Gewiß! Ist einmal die kapitalistische Unternehmungs- 
form vorhanden und zur vorherrschenden geworden, so wachsen die 
Menschen wie von selbst in dieses »Milieu« hinein/ sie müssen 
zwangs sozial-wirtschaftlicher Notwendigkeit — auch wenn sie nicht 
dem kapitalistischen Typus Mensch angehören — in derselben Rich- 
tung mitmarschieren und werden außerdem durch Tradition seitens 
der älteren Generation und durch die echten Angehörigen dieses 
Typus auch mit der neuen Triebeinstellung seelisch angesteckt. In- 
sofern vermitteln die kapitalistischen Organisationsformen die jeweilige 
Fortdauer auch des kapitalistischen »Geistes«. Aber eine Frage ganz 
anderer Ordnung ist der Ursprung dieser »Formen« selbst. So irrig 
die Methode gewisser Sprachpsychologen ist, den Ursprung der 
Sprache in Analogie mit den Ursachen ihrer Fortbildung verstehen 
zu wollen, oder gewisser Biologen, den Ursprung einer pflanzlichen 
Organisationsform in Analogie mit ihren Standortsvariationen, so 
verkehrt ist es, den Ursprung des Kapitalismus in Analogie mit den 
Ursachen seiner bloßen »Entwicklung« begreifen zu wollen. Der kapi- 
talistische »Geist« kann auch bereits bestehen, ehe er sich in be- 
stimmten »Formen« niederschlug. »B. Franklin war mit kapitalistischem 
Geist erfüllt zu einer Zeit, wo sein Buchdruckerbetrieb der Form 
nach sich in nichts von irgend einem Handwerksbetrieb unterschied« 
<M. Weber). Auch kann der ursprüngliche »Geist«, der zum Kapi- 
talismus führte, Intentionen ~ z. B. äußerst religiös transzendente 
und spezifisch welthasserische — gehabt haben, die später im Fort- 
geben des bloß sekundär, durch die schon bestehenden Formen des 



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586 Max Sdefer, Der Bourgeois 

Wirtschaftens reproduzierten »Geistes« völlig ausfielen. Erst all- 
mählich beginnen wir die Rolle zu ahnen, die makroskopisch in der 
Geschichte die Verdrängung von Ideenzusammenhängen und 
Zielinhalten gehabt hat, deren ursprüngliche zugehörige Triebein- 
Stellungen ohne jedes Bewußtsein ihres ursprünglichen Sinnes und 
Inhaltes träge weiterschwingen — derselbe Vorgang, dessen Auf- 
findung sieb mikroskopisch in der Psychopathologie des Individuums 
so fruchtbar erwiesen hat. Ich bin überzeugt, daß eine ganze Reihe 
von Baugesetzen der historischen Causalität, welche die ökonomische 
Geschichtsauflassung als universal historisch gültig behauptet, für den 
durdi den kapitalistischen Geist abgegrenzten Spielraum des histo- 
rischen Seins und Geschehens volle Gültigkeit besitzt. Daß Klassen' 
bildungen also Einheiten von Wirtschaftsinteressen erst sekundär 
zu Standeseinheiten, Sitteneinheiten, Bildungseinheiten, politischen 
Parteieinheiten, ja selbst in gewissem Maße zur Bildung von Na- 
tionaleinheiten <s. deutscher Zollverein) führen/ daß Reichtum zu po- 
litischer Macht führe,- daß Bevölkerungswachstum und Wohlhabenheit 
im umgekehrten Verhältnis stehe und ökonomische Motive die Menge 
und Art der Reproduktion in erster Linie bestimmen/ daß technisch- 
ökonomische Anwendbarkeit von Erkenntnisresultaten — ganz jen- 
seits der auf pure »Wahrheit« gerichteten Intention der einzelnen 
Forscher — schon in Auswahlprinzipien, Denk-Formen und -Me- 
thoden den Charakter der Wissenschaft und Weltanschauung der 
modernen Welt bestimmt hat, usw. sind Regeln solcher Art. Aber 
ich behaupte, daß der ganze Inbegriff von Gesetzmäßigkeiten dieser 
Art durchaus keine universal historische Bedeutung besitzt, wie die 
ökonomische Geschichtstheorie annimmt, sondern soweit und nur so- 
weit gilt, als das Subjekt der Geschichte der Mensch von jener typi- 
schen Erlebnis- und Triebkonstruktur ist, die Sombart als »kapi- 
talistisch« bezeichnet. Für den Geschichtsverlauf des vorkapitalisti- 
schen Menschen gelten aber diese Abhängigkeitsarten der Elemente 
der historischen Wirklichkeit nicht/ ja bei einigen jener Sätze gerade- 
zu die entgegengesetzten Regeln, z. B. daß durch Abstammung und 
Tradition geeinter Stand sich auch bestimmte Rechts- und Bildungs- 
formen erwirkt, vor allem aber zu einer gewissen qualitativen 
und quantitativen Einheit und Gleichartigkeit des Besitzes, also zu 



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587 



einer Klassenbildung allererst hinführt. Eben darum ist auch alles 
Erwerbsstreben des vorkapitalistischen Typus durch die Idee des 
»standesgemäßen Unterhalts« bestimmt, abgemessen und be- 
grenzt. Und ähnlich ist es hier die politische Machtstellung, die all- 
überall schon die bloßen Spielräume und Möglichkeiten der Reichtums- 
bildung beschränkt und bestimmt/ nicht aber der Reichtum die Macht 
und deren Umfang. Der Grundherr drüdct unter Umständen seine 
zinspflichtigen Bauern und beutet sie aus. Aber nicht durch seinen 
Reichtum ist er Grundherr geworden, so wie z. B. später vor der 
Revolution die französische Roture, die sich vermöge ihres Geldes 
der Güter, Titel und Würden des alten französischen Adels be- 
mächtigt. Es sind also überall die politischen Standesvorrechte die 
den Reichtum im Gefolge haben oder haben können, nicht um- 
gekehrt dieser jene wie unter der Herrschaft des »kapitalistischen 
Geistes«. 

Nur in anderer Richtung verkennen einige Historiker die Eigen- 
art des Problems. Sie sehen vor den Bäumen den Wald nicht, vor 
der Fülle der Einzelerscheinungen nicht die Umrißlinien des Ganzen, 
sehen nicht die Struktur des neuen Ethos, auch als neuer Wirtschafts- 
gesinnung. Selbst gebunden durch die kategoriale Struktur des Er- 
lebens, die in ihrem eigenen Zeitalter die Herrschaft führt, vermögen 
sie sich nicht wahrhaft in den Typus des vorkapitalistischen Menschen 
einzuleben. Und da sie diesen verkennen, so können sie auch die 
Eigenart des kapitalistischen Typus nicht klar sehen. Darum über- 
sehen sie an erster Stelle, daß die Wandlung der herrschenden Ideale 
und Wunschbilder weit wesentlicher ist als jene der historischen Vor- 
gangswirklichkeit. Gewiß hat es auch in vorkapitalistischer Zeit Ein- 
zelne, ja ganze Gruppen gegeben deren Erwerbstrieb über die Idee 
des standesgemäßen Unterhaltes hinausging. Aber die Hauptsache ist, 
daß dies nicht als normal und rechtmäßig, sondern als eine abnorme 
Erscheinung allgemein empfunden wurde und daß die betreffenden 
selbst im schrankenlosen Erwerb nicht eine »heilige Pflicht« sahen, son- 
dern nur mit »schlechtem Gewissen« sich diesem Trieb hingaben. Das 
Neue ist eben, daß dies Abnorme zum Normalen wird, und daß 
es mit »gutem Gewissen«, ja mit der Sanktion einer »Verpflichtung« um- 
kleidet betrieben wird. Daß also z. B. das, was jüdisches Recht und Ge- 



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588 



Max SaSefer, Der Bourgeois 



setz nur dem Juden, und audi ihm nicht überhaupt, sondern nur dem 
Fremden gegenüber erlaubt, <Zinsnehmen und Reklame etc> allge- 
meine Einrichtung wird, daß das, was ursprünglich nur den heimatfernen, 
traditionsentlasteten Kolonisten gegen die ihm gleichgültigen Fremden 
beseelt, das, was den Ketzer gegen die verhaßte kirchliche Gemeinschaft, 
zur allgemeinen Regel wird, daß überall »Fremdenrecht« und »Frem- 
denmoral c zum herrschenden und zentralen Recht und zur anerkannten 
Schätzungsweise wird, — darin ist die Grundtendenz des Wandels der 
» Wirtschaftsgesinnung« zu sehen. F. Tönnies hat zuerst die tiefgreifende 
Scheidung zwischen aufTreu und Glauben verbundener »Gemeinschaft«:, 
die allen Gruppengliedern als Ganzes fühlbar einwohnt, in der Ver- 
trauen und Solidarität herrscht, und »Gesellschaftc gemacht, in der 
von prinzipiellen Mißtrauen beseelte, miteinander konkurrierende, ratio- 
nale Subjekte ihre Interessengegensätze durch Verträge ausgleichen. 
Ich habe gezeigt, daß die letzte philosophische Fundierung dieses 
Unterschiedes schon auf der grundverschiedenen Gegebenheit des 
seelischen Seins und Erlebens des »Anderen« beruht. In Gemein- 
schaft ist der Andere mit seinem inneren Leben in Gestus und 
Äußerung selbst wahrnehmungsmäßig da und gegeben, all sein Tun 
und Sichäußern wird aus der bekannten Gesinnung heraus un- 
mittelbar verstanden, so lange nicht besondere Enttäuschungen vor- 
liegen. In der »Gesellschaft« ist der Andere zunächst von außen 
gesehen, ist ein sich verändernder Körper, »hinter« dem Gedanken, 
Gefühle, Entschlüsse wohnen, die erst mühsam zu erschließen 
sind. Der »Hintergedanke« wird hier zur Form des Gedankens über- 
haupt. Und das ist nun vielleicht die allgemeinste Formel für die 
Umgestaltung der Wirtschaftsgesinnung, daß die in diesem Sinne 
»gesellschaftlichen« Wertschätzungen immer tiefer auch in die 
»Gemeinschaften« eindringen oder »Gemeinschaftsgeist« immer mehr 
durch »Gesellschaftsgeist« innerlich zersetzt und aufgelöst wird. 
Ebensowenig aber beachten jene Historiker, welche eine besondere 
neuartige kapitalistische Wirtschaftsgesinnung leugnen, daß jenes nicht 
durch den standesgemäßen Unterhalt begrenzte vorkapitalistische 
Erwerbsstreben, das sich zweifellos findet, in dieser Zeit ge- 
rade gezwungen war, irreguläre, dem eigentlichen Wirtschaftsleben 
nicht zugehörige Bahnen einzuschlagen. Phantastische Projekten- 



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Max Saßeftr, Der Bourgeois 
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589 



macherei, Schatz« und Goldsucherei, alchymistische Bestrebungen, syste- 
matisch unternommene Raubzugunternehmungen, Spiel und Aus- 
beutung des Aberglaubens — kurz lauter Bestrebungen, die neben 
dem normalen Wirtschaftsleben einherliefen, waren damals die einzig 
möglichen Bahnen, in die sich unter der Herrschaft der vorkapitali- 
stischen Wirtschaftsgesinnung jene Art von Erwerbstrieb ergießen konnte. 
Und darin besteht nun das Neue, daß sich im Laufe der Anbahnung 
der kapitalistischen Organisations« und Rechtsformen eben die Trieb- 
einstellung, die früher nur in dunklen Gassen und abseits von der Heeres- 
straße des Lebens sich abenteuerlich auszuwirken vermochte, zur 
beherrschenden Seele des regelmäßigen Wirtschaftslebens wurde/ 
ja, daß die zu solcher Betätigung nötigen menschlichen Eigenschaften 
die Sanktion der Moral und des Rechtes, ja selbst der Religionen und 
Kirchen erhielten. Daß dazu nun triebartig wird, ja suchtartig, was vor- 
her noch auf Grund von besonderen Luxus- und Wohllebensinteressen 
von einzelnen ausdrücklich und bewußt gewollt und geplant war/ daß es 
weiter unabhängig von den besonderen Individualcharakteren, die in 
die Gruppen eintreten, zur Struktur des die Einzelnen umfassenden 
Gesamtgeistes wird,- daß es auch Weltanschauung und Wissen- 
schaft bestimmt, indem es die vorwiegend auf Qualitäten gehende 
contemplative Erkenntniseinstellung der mittelalterlich-antiken Welt- 
anschauung in die quantifizierende, rechnende Einstellung verwandelt — 
ohne Ahnung der forschenden Individuen — : Das alles macht die tiefe 
Totalwendung aus. In all dem handelt es sich nicht um ein bloß 
graduelles Mehr oder Weniger des Erwerbsstrebens — etwa durch 
die steigende Übervölkerung der Städte hervorgerufen — sondern um 
das Inkrafttreten neuer Motivations strukturen des wirtschaftlichen 
Handelns, die gegen die älteren eine pure Umkehrung darstellen. 
Es ist kein Gradunterschied, ob die Richtung der Motivation des 
Händlers — wie schon K. Marx gesehen — Ware -Geld -Ware oder 
Geld-Ware-Geld ist/ ob — wie ich anderenorts gezeigt — die Lebens- 
werte den Nutzwerten in jeder konkreten praktischen Sphäre, in 
Straf- und Zivilrecht, übergeordnet werden oder prinzipiell unterge- 
ordnet werden, wie im Zeitalter des Kapitalismus, so daß schließlich 
auch Grund und Boden, Menschenarbeit und geistige Güter aller 
Art den Warencharakter annehmen. So wie die neue quantifizierende 



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590 Max SaSefer, Det Bourgeois 



Wissenschaft, »im Gegensätze zu der antiken Trennung der arbeiten- 
den Hand von dem wissenschaftlichen Geiste, die schöpferische 
Verbindung der Industriearbeit mit dem wissenschaftlichem Nach- 
denken« <W. Dilthey), nicht eine Fortbildung der der qualitativ- 
organologischen Weltansicht des Mittelalters und der Antike darstellt, 
sondern einen schroffen Bruch mit ihr, so auch die neue Wirtschafts- 
und Arbeitsgesinnung, die mit jener eine strenge innere Stileinheit 
darstellt. Die Galilei, Lionardo, Benedetti, Ubaldi, welche die neue 
Dynamik der antiken Statik hinzufügen, knüpfen überall an Auf* 
gaben der Festungstechnik, der Schiffahrt, des Städtebaus, der Schiffs- 
konstruktion und Schiffsausrüstung an. Nicht eine nachträgliche »An- 
wendung« rein spekulativ gewonnenes Naturerkenntnis ist darum auch 
die neue Technik/ sondern diese Erkenntnisart mit ihrem Ziel auf die 
»undae quantitates« ist selbst bereits aus dem neuen Bürgergeiste 
geboren und in ihren Kategorien bereits durch den neuen Willen zur 
Herrschaft über die Natur bestimmt. Wohl »meinten« die Forscher- 
individuen nur der »Wahrheit« zu dienen. Aber ihre intellektuelle 
Organisation selbst, die Kategorien, in denen sie beobachteten und 
forschten, waren bereits durch eben den Geist der Rechenhaftigkeit be- 
stimmt, der sich im neuen kaufmännischen Hauptbuche seine Form 
gegeben hatte. Wie stark die irreführende Neigung vieler Historiker 
ist, auf ein mangelndes Können zu schieben, was faktisch einem 
grundverschiedenen Willen und einer neuen Gesinnung entspricht, 
zeigt Sombart — der diese Neigung so scharf bekämpft — selbst 
an zwei Stellen seines Werkes. So fuhrt er einmal die mannigfachen 
Fehler und Ungenauigkeiten der vorkapitalistischen kaufmännischen 
Rechnungsbücher ganz ernstlich auf mangelhafte Rechenkunst der Be- 
teiligten zurück/ die nach Keutgen bestehende Lückenhaftigkeit vieler 
mittelalterlicher Stadtgesetze auf die zu geringe rationelle Denkfähig- 
keit. Wer sähe aber nicht, daß die erste Erscheinung einfach auf 
der größeren Gleichgültigkeit gegen genaue zahlenmäßige Be* 
Stimmungen, aus der Einstellung auf die noch qualitativ umgrenzten 
Hauptposten beruht/ die zweite aber darauf, daß prinzipiell die 
ganze Gesetzgebung nur als eine Erfüllung der Lücken dessen galt, 
was nicht schon durch Gemeinschafts-Sitte, Tradition, Treu und 
Glauben als geregelt galt? Es ist immer wieder derselbe geschichts- 



Max Sdüe/er, Der Bourgeois 



591 



philosophische Grundfehler, in den unsere Moral-, Rechts-, Kunst- 
Wirtschaftsgeschichte so ungemein leicht verfällt: die geschichtlichen 
Tatsachen bereits auf unsere kapitalistische Geistesstruktur, ihre 
Maßstäbe und Ideale zu beziehen und ein »Nichtkönnen« da zu sehen, 
wo ein anderesWollen, eine andere Gesinnung, ein anderes Ethos, 
vorlag. Immer noch ist es der heimliche Glaube unserer »Gebildeten«, 
daß z. B. die Griechen eine Produktionstechnik und eine auf Maß und 
Zahl aufgebaute naturbestimmende Wissenschaft in unserem Sinne 
nur darum nicht besaßen, weil sie eben noch »nicht so weit waren«. 
Was faktisch ein Nichtwollen war — selbstverständlich gegenüber 
einer Gott und vernunftdurchdrungenen Welt, einem »Kosmos«, der 
Liebe, Anschauung, Verehrung allein fordern konnte — hält man 
auch hier für ein Nichtkönnen. Aber erst die Bntgottung, Bntseelung 
und Entwertung der Natur und Welt, welche der hyperdualistische, 
Gott und Welt, — Seele und Körper auseinander reißende, pro- 
testantische Geist der Neuzeit bewirkte, der neue Welt- und Qualitäten- 
haß, der ihn mehr wie eine neue Gottesliebe regierte, konnte die 
Natur als die träge Massenhaftigkeit sehen, die man durch formende 
Arbeit erst zu einem Wohngebäude für Menschen einzurichten habe. 
Dies Beispiel diene für viele. 

IL 

In dem deskriptiven Teile seines Werkes stellt Sombart das 
Wesen des Unternehmungsgeistes und des Bürgergeistes in getrennten 
Abschnitten dar. Das psychologische und das genetische Verhältnis 
der beiden Grundkomponenten des kapitalistischen Geistes bildet 
ohne Zweifel die tiefste Schwierigkeit, die sich der Losung des Prob- 
lems entgegenstellt. Schon indem Sombart sein Buch »Der Bour- 
geois« betitelt, zeigt er, daß es der Bürgergeist ist, dem er das 
genetische Primat in der Bildung des kapitalistischen Geistes einräumt. 
Was für diese seine Auflassung spricht, ist vor allem die Frage, 
wie sich die positiven, kraftvollen, weite Pläne fassenden und erwä- 
genden, kühnen und organisationsschaffenden Naturen, die sich zur 
»Unternehmung« großen Stils als geeignet erwiesen, gerade dem Wirt- 
schaftsleben und zwar in seiner normalen Breite zuwandten, ihre 
Kräfte gerade darein ergossen. Denn eben darin liegt die Paradoxie des 
AI 



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592 



Kapitalismus, daß Mens dien der genannten, biologisch und geistig hoch» 
wertigen Eigenschaften, die sicher nicht von Hause aus zur Betätigung 
im wirtschaftlichen Erwerbsleben drängen, hier die Führer des Wirt- 
schaftslebens werden. Der Krieg, der Staatsdienst, der Kirchendienst, 
die koloniale Unternehmung, eventuell Straßenraub, Piraterei und ähn- 
liches, das »liegt« doch von Hause aus dieser Geistesart viel näher als 
Gewerbe, Handel, Industrie, das bietet ein weit adäquateres Feld ihrer 
Kraftbetätigung. Wieso flössen diese Kräfte in das Wirtschaftsleben? 
Wieso kam es, daß sie diesem in der Antike und im frühen Mittelalter 
verachtetsten Zweig der menschlichen Betätigung ihre heiße, große, stür- 
mische Seele gaben? Wieso wurde der heldische und geniale Menschen- 
typus auf ein Gebiet gedrängt, dessen Wesen nüchterne, kontinuierliche 
Arbeit und Rechnung ist? Man kann auch sagen : Wieso wurde das pure 
Wachstum des Geschäftes und der Unternehmung — das doch ursprüng- 
lich ganz zur Sphäre der Privatinteressen gehört — mit einer rein- 
sachlichen Hingabe und mit einer auf Unterhalt und Bedarf nicht mehr 
bezogenen genialen Hastigkeit ergriffen, die ihrer eigensten Natur nach 
nur überindividuellen Werten, dem Staate, der Religion, dem Glauben, 
dem Kriege für das Vaterland, der Wissenschaft und Kunst sich zuzu- 
wenden pflegen und sich früher auch nur ihnen zuwandten? Daß man 
sein Leben und seine Kräfte für Staat und Land, für den geglaubten 
Gott, für Kunst und Wissenschaft aufreibe, das ist natürlich und sinn- 
voll. Aber wieso konnte an die Stelle dieser Dinge der neue, der 
»kapitalistische« Heroismus für das »Geschäft« und sein Wachstum 
treten? Man kann sich nur denken, daß diese Kräfte, die einmal vor- 
handen nach Betätigung verlangten, zwangsläufig sich dem neuen 
Felde zuwandten, und dies darum, da die bereits vom Bürgergeiste 
langsam umgeformte Ordnung der Gesellschaft, ihre neue Moral, ihr 
neues Rechtsbewußtsein usw. die Erfassung adäquaterer Gebiete 
ausschloß, ja diese zum Teil als Qbel und Verbrechen brandmarkte 
und sie eben damit zwang, auf dem Boden der neuen wirtschaft- 
lichen Ziele der Dampf für den neuen Fortschritt zu werden. 

Die alten Kräfte hatten ihre »Moral« verloren und die neue 
Bürgermoral nahm sie in ihre Dienste und spannte sie an ihren 
Wagen. Nicht also der Unternehmungsgeist, die heroische Kompo- 
nente im Kapitalismus, nicht der »Königliche Kaufmann« und Organi- 



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Max SaUftr. Der Bourgeois 593 



sator, sondern der ressentiment erfüllte Kleinbürger, der nadi größter 
Lebenssekurität und Berechenbarkeit seines angsterfüllten Lebens durstet 
und das von Sombart so trefflich geschilderte neue bürgerliche Tugend- 
und Wertsystem ausbildet, schritt in der Bildung des kapitalistischen 
Geistes voran. Gewiß kommt alle quantitative Größe, aller Macht- 
hunger über die Natur und ihre Kräfte, all die Bewältigung neuer, 
großer Massen durch organisatorischen Willen, stammt die ganze 
wilde Schönheit der kapitalistischen Welt, gleichsam die Saekulari- 
sierung der religiösen und Machtromantik zur technischen und Utili- 
tätsromantik nicht aus dem »Bürgergeiste«. Er allein hätte nimmer 
den Kapitalismus erzeugt. Und es wäre ein Mißverständnis des 
Sombartschen Buches, wenn man aus dem in dieser Hinsicht ein- 
seitigen Titel »Der Bourgeois« dieses als seine Meinung folgern 
wollte. Der Bürgergeist, für sich genommen, strebt zur wohlgepflegten 
Herde und ist im Kerne auch wirtschaftlich unfruchtbar. Wer aber 
darum sagen wollte, daß die Träger des »Unternehmungsgeistes,« der 
neue Herrschaftswille über die Natur, daß mit einem Worte die 
geistig, ethisch und biologisch aktiven, positiven, die — mit Max 
Weber zu reden — das »Heldenzeitalter des Frühkapitalismus« be- 
gründenden Kräfte voranschreitend die kapitalistische Ordnung ent- 
wickelt hätten, der gibt auf die obengestellte Frage keine Antwort. 
Auch die geistvolle Wendung W. Rathenaus, der die Gesamt- 
erscheinung vom geistigen Standort des Unternehmers ansieht, es 
sei gar nicht zu fragen, wie der Staatsmann zum rechnenden Bour- 
geois und geschäftlichen Unterhändler für die besitzende Klasse ge- 
worden sei, sondern wie sich langsam der Gewerbetreibende und 
Kaufmann mit einer Art staatsmännischer Gesinnung gegenüber seinem 
Geschäfte und Unternehmen erfüllt habe und dieses wie ein selbst- 
ständig wachsendes uns forderndes Wesen ansehen gelernt habe, gibt 
die Antwort nicht. Der Staat ist eben faktisch eine überindividuelle Wirk- 
lichkeit/ das Geschäft — wie groß es immer sei und wie vieler Men- 
schen Interessen an seinem Bestände und seinem Gedeihen teilnehmen — 
ist es nicht und es heißt, einer Illusion und Fiktion dienen, es also 
zu behandeln. Wie kam es zum Dienste an dieser »Fiktion?« Daß 
die wesendichen Fortschrittsphasen innerhalb der Geschichte des 
Kapitalismus an den Unternehmertypus geknüpft sind — das freilich 



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594 Max SaSefer, Der Bourgeois 

duldet gar keinen Zweifel. Audi die Führung in den ursprünglichsten 
größeren Leistungen des Frühkapitalismus hatte stets dieser Typus 
und nicht der sparende, sein Gewerbe, Handwerk oder kleines Kauf« 
geschäft langsam erweiternde Kleinbürger, wie der Florentiner Woll- 
händler, die englischen tradesmen, die französischen marchands, die 
jüdischen Schnittwarenhändler oder gar die Seif made men im Stile 
von Ohnets »Hüttenbesitzer«, die »bekannten Knoten der ersten 
Generation«, wie sie Sombart nennt. Es ist selbst nur eine liberal- 
kleinbürgerlich-spießige Geschichtskonstruktion, welche diesen Typus 
und den Übergang des kleinen Handels und Handwerkskapitals in 
Produktionskapital in den Vordergrund stellt, um dann über das 
furchtbare, exzessive Naturphänomen des Kapitalismus die »sittliche 
Weihe« einer durch »Treue, Fleiß und Sparsamkeit« entstandenen 
normalen geschichtlichen Kumulationserscheinung auszugießen» in deren 
Werden alles gemäß der »sittlichen Weltordnung« zugegangen sei/ der 
Brave belohnt und der Böse bestraft wurde. Aber eine andere Frage 
als die nach den Fortschritten und ursprünglichen Leistungen ist die 
Frage nach dem Geiste und der Geistesart, durch die jene Leistungen 
möglich wurden. Und hierin eben ging der »Bürgergeist« voran. Es 
ist darum besonders erfreulich, daß Sombart besonders im sechsten und 
siebenten Kapitel seines Budies die Übergangserscheinungen, die 
von den älteren Auswirkungsformen des kühnen, kraftvollen Unter- 
nehmungsgeistes in die neuen eigentlich kapitalistischen herüberführen, 
einer eingehenden Betrachtung unterwirft. Solche sind ihm besonders 
die Söldnerfuhrer und die Bandenführer der italienischen Renaissance, 
in denen der Erwerbszweck der »Unternehmung« freilich noch durch 
Ruhmgier in Schranken gehalten ist, denen aber schon durch die Aufgabe 
der Fürsorge für die Bande zum Teil ähnliche Aufgaben obliegen, 
wie dem kapitalistischen Unternehmer. Innerhalb der Grundherrschaft 
und den italienischen Tyranneien des Trecento und Quattrocento, in 
denen der moderne Staat, absolutes Fürstentum, berechnende und 
allseitige Organisation großer Massen für bestimmte Zwecke — ohne 
moralische Hemmung — geboren sind, bilden sich gleichfalls die großen 
Kräfte der Organisation und Herrschaftskunst über Menschen zu 
rationellen Zwecken aus. Überall bildet der zusammengesetzte Typus 
von Kriegsmann und Erwerbsmensch den Übergang. Mit Verwun- 



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Max Sdüefer, Der Bourgeois 595 



derung hören wir die Zahlen der Freibeuter, Seeräuber, Entdeckungs- 
fahrtunternehmer mit Erwerbszwecken, die es bis ins 17. Jahrhundert 
in Italien, Frankreich, England, selbst Deutschland gab, Typen, die 
ganz allmählich in die italienischen Handelsgesellschaften und in die 
großen Handelskompagnien des 16. und 17. Jahrhunderts ubergehen. 
Ganz im Sinne des oben Gesagten gewahren wir an der Spitze der 
holländischen Faktoreien und der ostindischen Kompagnien und der 
englisch-ostindischen Kompagnie eine Menge Angehörige des Adels, 
»denen sich hier ein Ersatz bieten mochte für die verminderte Tätig» 
keit des Berufekriegers im Heimadande«. Freibeutergeist erfüllt alle 
diese Unternehmungen, die später bekanntlich zum Ausgangspunkt auch 
großer politischer Machterweiterungen geworden sind. Es folgen als 
neue Typen die Feudalherrn, die häufig in Verbindung mit bürgerlichen 
Geldmännern an ihre ursprünglich nur der Bedarfedeckung und dem 
seigneuralen Luxus dienende Grundherrschaften Industrien angliedern 
und ihre Wirtschaft allmählich zu einer Erwerbs Wirtschaft ausgestalten. 
Die innigste Verbindung von Feudalismus mit moderner Erwerbsgier 
zeigen die auf die Negersklaverei begründeten Plantagenbesitzer der 
Südstaaten Nordamerikas. Der Fürst und der Staatsbeamte mer- 
kantilistischer Färbung, der den Staat zum Vertreter der Ware 
macht (reinster Typ Colbert) gehen überall weit hinaus über die 
noch stark mit traditionalistischem Geist erfüllte Kaufmannschaft und 
werden deren Vorbild. Gustav Wasa, Colbert, Friedrich d. Große, 
Frh. v. Heinitz entsprechen diesem Typ, wobei die absolute Fürsten- 
gewalt allein schon die Gefahr einer zu großen Bureaukratisierung 
ausschloß und das unternehmerische Vorgehen leicht, schmiegsam, 
beweglich gestaltete. Gegen das Ende des 17. Jahrhunderts gesellt 
sich zu diesen Unternehmertypen ein Heer von Spekulanten, in denen 
sich Projektenmacherei und Unternehmungsgeist verbinden (Südsee- 
schwindel in England, Lawsches System in Frankreich) und die die 
Spielwut der Menge gewaltig anstacheln. 

Die Anfange des Bürgergeistes findet Sombart in Florenz um die 
Wende des 14. Jahrhunderts. Sein typischer, menschlicher und litera- 
rischer Ausdruck ist ihm L. B. Alberti, der in seinen Büchern Del 
governo della famiglia alles das schon gesagt haben soll, was später 
Defoe und B. Franklin <- der seit langem als der »Heiligec des Bürger- 



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596 Max Saoefer, Der Bourgeois 



geistes gelten darf — auf englisch gesagt haben. Sombart fuhrt den 
»Bürgergeist« in letzter Linie auf einen biopsydiisdien Typus zurück, 
der nur auf Grund der Blutmischung verstanden werden kann. Ge« 
rade an dieser gefahrlichsten, dem Angriff derer, die »wahr« und 
»beweisbar« für identisch halten, offenliegendsten Stelle seines Wer* 
kes, müssen wir ihm prinzipielle Zustimmung zollen. Wer mit vielen 
Grundtypen des Menschentums vertraut und feste, klare Bilder von 
diesen in seinem Geiste die seelische Einheit eben dieses Typus in 
allen seinen Lebensäußerungen einmal geschaut und gefühlt hat, der 
wird sich durch niemanden aufschwatzen lassen, daß hier ein Werk 
des »Milieu«, der »Erziehung«, der Anpassung und Gewohnheit 
vorliege. Aber das muß auch wohl Sombart zugestehen, daß er einen 
strengen Beweis für diese These nicht geführt hat. Was ist nun 
aber dieses sonderbare Naturspiel des Menschen, das Sombart 
»Bourgeois« nennt? Man hat in neuester Zeit auf verschiedene 
Weisen versucht, zwei Typen zu scheiden, unter deren eine sicher 
auch der Bourgeois fällt. H. Bergson scheidet den »homme ouvert« 
von dem »homme clos«, W. Rathenau den »Mutmenschen« vom 
»Furchtmenschen«, W. James den aus einem Bewußtsein des Über* 
flusses von Leben, Geist, Kraft entspringenden Typus der »Selbst« 
hingäbe« von dem Typus der »Selbstbeherrschung«. Sombart, der 
die beiden Typen mit ihrer besonderen Ausdrucksform innerhalb des 
Wirtschaftslebens allzusehr gleichsetzt, spricht von verschwenderischen 
oder seigneuralen und haushälterischen oder bourgeoisen Naturen/ 
solchen, deren Wesen luxuria oder avaritia ist, solche, die wesendidi 
»herausgeben« und solche, die wesentlich »hereinnehmen«. Keine der 
genannten Begriffsbestimmungen erschöpft den Kern dieses nur an* 
schau* und fühlbaren Wesensgegensatzes/ jede ist in ihrer Art rieh« 
tig. In unendlich vielen Beziehungen spricht sich dieser Wesensgegen« 
satz aus. Der erste Typus liebt das Wagnis und die Gefahr, hat 
das unreflektierte Selbstwertgefühl, das in Liebe zur Welt und der 
Fülle ihrer Qualitäten von selbst überströmt und alles neidische oder 
eifersüchtige Sichvergleichen mit anderen fernhält/ »sorgt« sich nicht 
für sich und die Seinen, nimmt das Leben leicht und läßt leben und 
nimmt nur ernst, was die Personsphäre der Menschen berührt/ er 
hat das große, unbegründete Vertrauen zu Sein und Leben, das alle 



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Max SScfer, Der Bourgeois 597 



apriori kritische, mißtrauische Haltung ausschließt/ ist kühn, Opfer* 
freudig, large in allen Dingen und wertet die Menschen nach ihrem 
Sein und nicht nach ihrer nutzlichen Leistung für die Allgemeinheit. 
Der zweite Typus lebt von vornherein unter dem natürlichen Angst» 
druck des minderwertigen Vitaltypus, der ihn Gefahr und Wagnis 
scheuen läßt/ der den Geist des Sichsorgens, damit die Sucht nach 
Sicherheit und Garantie in allen Dingen, nach Regelhafiigkeit und Be- 
rechnung aller Dinge gebiert/ er muß sich selbst sein Sein und seinen 
Wert verdienen, sich durch Leistung sich selbst beweisen, da eben 
in jenem Zentrum der Seele Leere ist, wo im anderen Typus die Fülle 
ist/ an Stelle der Liebe zur Welt und ihrer Fülle tritt die Sorge, mit 
ihr, der Feindlichen, fertig zu werden, sie quantitativ zu bestimmen, 
sie nach Zwecken zu ordnen und zu formen. Wo jener gönnt und 
leben läßt, da vergleicht dieser und will übertreffen. Seine Herrschaft 
wird zum System schrankenloser Konkurrenz führen und zum Fort- 
Schrittsgedanken, in denen nur das Mehrsein über einen Vergleichsfall 
(Mensch oder Lebens- oder Geschichtsphase) hinaus als Wert überhaupt 
empfunden wird. Wo jener schaut und kontempliert oder in sachhaften 
Willensakten sich verlierend aufgeht, da wird dieser sorgen und 
rechnen, über die Mittel die Eigenwerte der Ziele, über die Be- 
ziehungen das Wesen der Sachen vergessen. Wo jener seiner Natur 
und ihrer inneren Harmonie vertraut, wird jener mißtrauisch gegen 
sein Triebleben ein System von Sicherungen errichten, durch das er 
sich beherrscht und züchtigt. Auch das scheidet: »Der Eine fragt, 
was kommt darnach/ der andere, was ist recht/ so aber unterscheidet 
sich der Freie von dem Knechte <Storm>. Noch viel wäre über die- 
sen Gegensatz zu sagen und doch nichts Erschöpfendes. Er muß 
erschaut und gefühlt sein. Nicht folgen können wir Sombart, wenn 
er diesen Gegensatz — hier offenbar von Freuds Theorien berührt — 
in letzter Linie auf Gegensätze des geschlechtlichen Liebeslebens 
zurückführt. Gewiß ist der Bourgeois auch das Gegenstück einer 
»erotischen Natur«, wenn man mit »erotisch« hier das alle ge- 
schlechtliche Scheidung weit überragende und viel ursprünglichere 
Moment der emotionalen Hingabe an Werte überhaupt <Welt, 
Gott, Vaterland, Schönheit usw.) versteht. Aber, daß sich diese zen- 
trale Typenverschiedenheit nun auch im Geschlechtsleben ausspricht, 



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598 



Max SaSefer, Der Bourgeois 



der Mann, für den die Frauen etwas bedeuten, meist auch einen Zug zur 
wirtschaftlichen Verschwendung hat, der Geizige meist auch geschlecht« 
lieh wenig reizbar ist, das erscheint doch mehr als eine nebensächliche 
und untergeordnete Folge dieses umfassenden Konstitutionsunter- 
schiedes als seine Ursache. Die mehr als fragwürdige Freudsche 
Lehre, wonach alle Arten von Liebe bloße » Ausstrahlungen « der 
libido sind, hätte Sombart nicht voraussetzen sollen. Außerdem finde 
ich, daß Sombart seinen Bürger weit besser und schärfer zeichnet 
als seinen Seigneur, dem er oft Züge verleiht, die diesem Typus 
erst angehören, wenn er verlumpt und sozial überflüssig wird. Som- 
bart möge doch gerade hier nicht vergessen, daß gerade die nicht 
mehr auf edle Lebensqualitäten gehende, liebegeleitete, sondern 
bloß auf den Sinnesgenuß bei vielen Weibern oder auf Geld und 
Besitz abzielende (Geldheirat, deren Bedeutung er selbst in seinem 
Luxus und Kapitalismus so klar hervorhob!) Vermischung des seig- 
neuralen Typus mit dem Bürgertypus ohne Zweifel eine Haupt- 
ursache zum Sieg des Bourgeoistypus und zum Untergang des 
seigneuralen Typus darstellt. Gerade die wahllose und von der 
Bewegung des Gesamtgemütes losgelöste gesteigerte Geschlechts- 
sinnlichkeit ist eine spezifisch bourgeoise Erscheinung, wie sehr 
auch die Bürgermoral sie nur mit »schlechtem Gewissen« und darum 
heimlich und in dunklen Winkeln sich betätigen läßt. Eine Welt 
scheidet die seigneurale, helläugige, vornehme und ritterliche Liebes- 
emotion der Provencer Dichter und des Minnesangs von der ver- 
künstelten Sinnlichkeit des 18. Jahrhunderts in Frankreich, wo auch der 
Adel bereits mit der bourgeoisen Roture und ihren Instinkten völlig 
durchsetzt ist. Der Dualismus von »Denken« und »Sinnlichkeit«, der 
Ausfall der sie verbindenden Sphäre von Leidenschaft und tiefer 
Gemütsbewegung ist überall und auch hier ein echt bürgerliches Phä- 
nomen. Zu der Aufdeckung des Bürgergeistes in Albertis Familien- 
büchern hat Sombart einen in mehr als einer Hinsicht wertvollen 
Schritt getan. Zunächst ist hierdurch der Beweis erbracht, daß die 
neue Bürgermoral nicht erst auf protestantisch-calvinistischem Boden 
entstanden ist/ eine Tatsache, die schon durch die frühe Ausbildung 
des Kapitalismus in Florenz und Oberitalien erwartet werden konnte. 
Alberti zuerst erklärt ganz offen die Sparsamkeit nicht für eine Not- 



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599 



wendigkeit für die Armen, als die sie stets galt, nicht für eine Tugend 
im Sinne der christlichen Askese, im Sinne der »freiwilligen Armut«, 
sondern als eine Tugend für die Rei dien. Was wir selbst anderenorts 
als eine der Haupttriebkräfte der modernen Bürgermoral — nicht der 
christlichen, wie Nietzsche irrig meinte — im einzelnen aufwiesen, 
das Ressentiment — hier Ressentiment gegen den seigneuralen 
Lebensstil — ist nach Sombart »der Grundzug in den Familienbüchern 
Albertis«. Aus kindischem Haß gegen die Signori gewinnt er seine 
Maximen. Und in ekelhaftester Weise fälscht der Irreligiöse und zugleich 
Kurientreue dabei die chrisdichen Werte herab, indem er den der 
Befreiung des Geistes dienenden christlich-asketischen Regeln (Keusch- 
heit, Einfachheit der Lebensweise usw.), geboren aus tiefstem inne- 
ren Reichtumsgefuhl und ritterlichster Haltung gegen die »Neigungen« 
überall die gemeinen militärischen Zwecke seines Wollwebersinnes 
unterschiebt. Gefolgschaften, wie sie der Seigneur liebte, sind ihm 
»schlimmer als wilde Bestien«. Die Sparsamkeit ist ihm eine »heilige« 
Tugend! Die Umwertung der christlichen Tugenden in die Utilitäts- 
moral, die Ausgießung des sie tragenden Pathos auf die neuen 
Krämermaximen erscheint hier in so naiver und so grotesker Gestalt, 
daß man sie — hier einmal gesehen — auch in den verstecktesten 
späteren Formen immer wieder erkennen wird. Die Maximen, unter 
denen der Kaufmann gute Geschäfte macht <»Ehrlich währt am 
längsten«, Zuverlässigkeit in der Einhaltung von Verträgen, »reelle« 
Bedienung, kredithebende bürgerliche Wohlanständigkeit, onestä, hone- 
tete, honesty, die Geschäftsmaxime der »Solidität«, deren zugehörige 
Inbegriffe von Handlungen), die auch solchen echter Tugend irgendwie 
äußerlich gleichen können, werden jetzt — zu Tugenden umgelogen. Von 
diesem ersten Anfang der Verschiebung und Umkehrung aller sonst in 
der Geschichte geltenden Lebenswerte an verfolgt Sombart den Wandel 
der fuhrenden Lebensideale des jeweilig herrschenden Typus des Bour- 
geois bis zum »modernen Wirtschaftsmenschen« unserer Tage. Im 
»Bourgeois alten Stils« behielt die vorkapitalistische Vorstellung, daß 
Wirtschaft dem Wohle des Menschen diene noch eine gewisse Gültig- 
keit. Noch fuhrt das »Rentnerideal,« führen in der Ferne fühlbare 
Ziele, zu denen Erwerb und Reichtum dienen soll, ihre Herrschaft. 
Die modernen Unternehmer aber sagen übereinstimmend auch das 



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600 



Max ScBefer, Der Bourgeois 



Gegenteil von diesem »Ideale« aus. Ihnen ist Blüte, Wachstum des 
Geschäfts als eines selbständigen Wesens, ist die Steigerung der 
Überschüsse so Selbstzweck geworden, daß dadurch jede Rückbezie- 
hung auf Menschenwohl und -wehe <mit Einschluß ihres eigenen) 
völlig verschwindet. Der Unternehmer folgt oft wider Willen der Ex* 
pansionstendenz der Unternehmung, des »Geschäfts«. Mit vollem Recht 
hebt Sombart das hilflos Monomanische in den Antworten hervor, 
die Leute wie Carnegie, Rockefeller, Dr. Strausberg auf die Frage, 
warum sie das alles taten, gaben. Ein hier fragender Sokrates könnte 
die Antworten in der Tat nur als Zeichen eines monomanischen Wahn* 
sinns erklären. Die vier infantilen Ideale: das sinnlich Große <der 
»Riese«) / die rasche Bewegung <Kreisel)/ das Neue und das Macht- 
gefühl scheinen Sombart als die Leitideen des herrschenden Wirt- 
schaftstypus. So geistvoll die Bemerkung ist, wir möchten ihr nur 
so weit folgen, als sie die ungeheure Vereinfachung und den Rückfall 
in den Primitivismus des Motivationslebens in unserer Zeit (bei 
äußerster Differenzierung des Denkens, das diesen einfachen Motiven 
dient) zum Ausdruck bringt. Sombart zeigt nicht den Grund der Er- 
scheinung. Er dürfte darin liegen, daß <sei es mit einem Operetten- 
schlager, sei es mit einem neuen Absatzartikel, sei es mit einem 
organisatorischen Großbankunternehmen) derjenige heute am meisten 
Erfolg hat, der in seiner eigenen seelischen Haltung am meisten die 
»Masse« in sich selbst trägt. Die Massewerte selbst entspringen ja durch 
Dedifferenzierung der Individuen in unwillkürlicher Nachahmung aller 
von allen. Die Masse ist eo ipso das, was der Mensch als »Kind« ist. 
Sie ist das Kind im Großen. Dem entspricht die moderne Geschäfts- 
maxime: Größter Absatz (gleichgültig welcher Qualität) und kleiner 
Gewinn vom Einzelstück. Wer das Gefühl für die größte Absatz- 
fahigkeit einer Sache hat, hat den Erfolg. Daß die besondere Rein- 
heit der Massenseele, der Massenbedürfnisse — paradoxerweise in 
einem Individuum — selbst wieder eine gar nicht massenhafte, son- 
dern äußerst seltene Sache ist, also nur eine Minorität es ist, die 
der Masse klug und richtig zu dienen vermag, das liegt durchaus in 
der Forderung der Logik. Auch die bürgerlichen Tugenden des 
Alberti und des Franklin haben ihren Ort gewechselt. Früher hatte 
sie der Mensch — heute sind sie in die Geschäfte selbst hineinge- 



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I 

Max SSefer, Der Bourgeois 601 

I 

I 

wandert. Sie sind das öl des Geschäftsmechanismus geworden. Fleiß 
beruhte früher auf Willensakten der Person. Heute reißt das Geschäfts- 
tempo den Unternehmer in sein eigenes Tempo hinein. Analog sind 
Sparsamkeit und Solidität innere Regeln des Geschäftsmechanismus 
geworden, die ein seigneurales Verhalten des Inhabers des Geschäfts 
in seiner Privatwirtschaft oder die persönliche Unsolidität des gegen- 
wärtigen Inhabers einer »soliden Firma« nicht ausschließen. Wie mit 
der Klugheit der »Maschinen« und »Methoden« die menschlichen 
Personen nicht schritthalten konnten, so auch nicht mit den »Tugenden« 
der Geschäfte. — 

Sombart hat auch den Versuch gemacht, das unendlich weit schwie- 
rigere Problem der Ursachen des kapitalistischen Geistes anzugreifen. 
Er hat besonders über die biologischen Anlagen der Völker, aus 
deren Zusammensetzung und sukzessiver Blutmischung sich die 
Naturgrundlage der europäischen Geschichte aufbaut, über die Wir- 
kung der großen Religionen und Philosophien eigenartige Thesen — 
wie uns scheint oft fragwürdiger Art — aufgestellt. Wir hotten 
anderenorts hierauf zurückzukommen. 

Im Leben des individuellen Geistes ist klare Bewußtwerdung der 
uns unterbewußt leitenden, seelischen Faktoren nicht ein gleichgültiger 
Zuwachs von Erkenntnis zu diesen, die wir dann »anwenden« 
könnten, wie ein erkanntes Gesetz der äußeren Natur. Der Prozeß 
des Erkennens ist hier selbst ein Prozeß der Befreiung und der 
langsamen Abtötung jener Kräfte. Nichts ist tötlicher für ein altes 
Erlebnis, mit dem wir »nicht fertig« wurden, als der Strahl der Er- 
innerungshelle, der darauf fallt. Eben dies gilt auch für die Funk- 
tion, welche die historische Erkenntnis gegenwärtig an der Struktur 
des kapitalistischen Geistes zu vollziehen sich anschickt. Indem wir 
die Struktur uns vergegenständlichen, hört sie auf, uns zu beherr- 
schen — sinkt sie unter uns. Sombarts Werk, dem neben seiner Er- 
kenntnisbedeutung diese Heilkraft der historischen Besinnung in 
hohem Maße einwohnt, ist ein weithin sichtbares Flammenzeichen, 
daß die Tage des »Kapitalismus mit gutem Gewissen« vorüber sind. 
Was er uns an Zukunftsperspektiven schuldig bleibt, ersetzt diese 
Heilkraft seines Buches: »Es ist das Glück des Historikers, daß seine 
»Tatsachen« ihrem Wesen nach niemals so fertig, so unabänderlich, 



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602 



Max Sa$e/er, Der Bourgeois 



so unerlösbar sind wie die vergangenen »Tatsachen« der Naturge- 
schichte, die nur erschlossen sind. Denn erst im Sinnzusammenhang 
des Ganzen der Menschengeschichte — mit Einschluß ihrer jeweiligen 
Zukunft ~ erhält hier die vergangene »Tatsache« selbst — nicht etwa 
ihre bloße Deutung und Auffassung durch den Historiker — ihren 
vollen Gehalt. Noch sind wir alle nicht frei genug vom »Geiste des 
Kapitalismus«, um den Menschentypus, der ihn trug, voll »verstehen« 
zu können. Noch müssen wir ihn mehr oder weniger hassen — und 
das heißt mißverstehen. Aber die Zeit, da wir auch ihn noch lieben 
dürfen, wird kommen. Dann wird er vielleicht eine versöhnlichere 
Gestalt im neuen Bilde annehmen, als die ist, die Sombart von ihm 
zeichnet. Im Bilde eines armen, monomanischen Riesen, der in der 
Erde dunkel sinnlos wühlen mußte, sich selbst alles versagend, was 
die Wonnen des irdischen und himmlischen Lichtes bestrahlen, schuf 
er — kraft einer Art von welthistorischer Arbeitsteilung «— den Tanz- 
und Tummelplatz für einen neuen Menschen, sich selbst dessen un- 
bewußt, — was er tat und darum nicht ohne den tragischen Charakter 
eines blinden Helden. Aber seine volle historische Tatsächlichkeit 
selbst und erst recht ihr »Bild« in unserem Geiste, wird ganz davon 
abhängen, was wir und unsere Kinder tun. — — 



Max Scßefer. 



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Tritdricß Affred S&müf Noerr, Paestum 



PAESTUM 
EINE ELEGIE 

L 

DIE VORFRÜHE 

Gewalt brach an. Der Nacht geschah Gewalt. 
Wahllos erwachte schwankender Alarm. 
Schwer lallend kam verhallter Glockenschlag 
Aus noch verschlafnem Tal. Kam Hahnenschrei 
Aus grauen Mauern. Und es brach ein Streif 
Aus bleichem Osten: Plötzlich angesagt 
Dem Schlummer und dem traumlos stillen Land, 
Wie eines Herrschers, der noch ferne ist, 
Gebietender und rätselhafter Bote. 
Der stand und blühte/ reifte und umwand 
Mit unwillkommen kaltempfangnem Schein 
Die starrgezackte Wand des Nachtgebirgs 
Und den in Abwehr schwarz geballten Wald. 

Ach, wie ein Weib, aus gnadentiefem Schlaf 
Jäh aufgeschreckt, sich in den Arm des Manns 
Gerissen fühlt, und fremder Zeugungskraft 
Feindlich und wehrlos unterjocht: so schwoll, 
Vom Lichte schwanger, freudlos noch, die Welt 
Mit Form und Farben. Denn verhaßt und schwer 
Ist unsrer Erde die Geburt des Tags. 
Nun aber sprang des Lebens dunkles Tor. 
Aus allen Himmeln klang vertrauter Laut, 
In Wind und nahen Wassern war Gesang 



TriedriS Alfred Sdsmid Noerr, Paestum 



Und aller Dinge Sprache wurde hell 

Und menschlichen Gedanken froh verwandt: 

Der Tag trat in den Saal. Von Kraft umblitzt, 

Rief er bei Namen jede Kreatur. 

Und jede Kreatur erzitterte 

Im innersten Gefüg vom Widerhall 

Und leuchtete in ihrem Namen auf: 

Gewölk ward Wolke, die gelöste Wand 

Der Berge wurde Kuppe, Hang und Fels, 

Die graue Fläche ward Gefild und Steg/ 

Und ein entfernter Donner rief: Das Meer! 

Das heilige Meer, das sein besonntes Band 

Auch heute um die neue Schöpfung schlang. 

So schuf, ein Kind, der Tag sich seine Welt, 

Die einzige. Das schönre Werk vielleicht 

Ein andrer Tag/ ein anderes gewiß 

Der künftige: denn was die Nacht besaß, 

Kehrt nie zurück. 

Doch dies begehrt der Mensch, 
Daß etwas daure. Nicht ein Wandrer nur 
Und ein im Wandern Schauender zu sein 
Und loszulassen jegliche Gestalt, 
Wenn sie der Strom ruft, dünkt ihn gut genug. 
Ihm ward am Anfang andrer Schöpfung Macht 
Und des Befehlens wunderbare Kraft: 
Daß stehen bleibe, was er schön genannt. 



n. 

DER MORGEN 

Froh solchen Denkens, tiefgesenkten Haupts, 
Doch leichten Schrittes, weil mir unbewußt 
Erwartung brannte, bot ich nun die Stirn 



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Triedricß Alfred Scßmtd Noerr, Paestum 



Dem Seewind, der miteins herüber strich 
Und hob das Auge stolzen Mutes. 

Da 

Stand über braunes Steppengras erhöht 
Poseidons Tempel. Schattend. Weiterhin 
Noch größrer Wunder Ahnung oder Ausklang, 
Gereihte Säulen, Giebel und Gebälk, 
Grauknöchern: Das vergitterte Geripp 
Vom Himmel ab geschleuderter Giganten, „ 
Die langsam hier im Dünensand vermodern. 

Und mir entsank der Sprache rascher Mut. 
Herwandern sah aus meinen flachen Tagen 
Ich winzig mich im griechischen Gefild, 
Bin später Gast und schon verräterisch 
Nach Rückkehr schielend, flüchtigen Besuchs, 
Vorwitzig, viel betastend, nichts gewillt 
Und zwecklos, wie ein Ameis, der am Stamm 
Hinauf, hinab läuft, ohne Sinn und Rast: 
Nicht anders auch am Riesenbaum der Zeit 
Erschien ich mir, wie ein Insekt, im Schorf 
Uralt erstorbener Vergangenheit 
Tiefhin verirrt, ganz ratlos und beraubt 
Des Rückwegs in die leichte Gegenwart, 
Die über mir mit fernen Blüten schaukelt, 
Schon nicht erreichbar mehr dem Nahenden. 
Und so gefangen in Vergangenheit, 
Gebannt ins unvertraute Labyrint 
Unsagbar fremd gealterter Gestalt, 
Steh ich in Tages Mitte, umgewandt, 
Ein Griechenträumer/ und es hallt mein Gang 
Unwirklich laut in den gespaltnen Hallen. 
Sieh: Alles hier ist zauberhaft erstarrt: 
Kalt ragt der Schaft/ stumm lastet das Gebälk/ 
Verharrschtes Leben, schweigsam. Mit Gewalt 
Zerbrochne Säulen, noch im Sturz geballt, 



TriedriS Alfred 5<£mid Noerr, Paestum 



Stückweis dem Grund verwachsen, ragen auf 

Aus hartem Gras, nun jegliches für sich 

Ein Monument. Und selbst die Gräser stehn 

Wie Bäume, aufrecht, ernsthaft und verteilt. 

Doch wo der Himmel zwischen Steinwerk leuchtet, 

Ist seine Form von gelben Säulenschäften 

Wie eine hohe Amphora geschnitten: 

Am Hals metallblau / an geschwungner Mitte 

Meergrün glasiert/ und unten, angeschmiegt 

Dem Fuß, als Zeichnung kühner Töpferhand, 

Gebirge, die der Schnee deckt, die auf Hängen 

Zerstreute, weiße Statten stiller Menschen, 

Noch tiefer unten grüne Fluren tragen 

Mit Bäumen und mit Büffelherden/ klein, 

So klein, daß nur das Aug hält, was der Stift 

Verlieren müßte in der Zeichnung. Welt 

Und Jahreszeiten nur ein Farbenhauch, 

Geschöpft aus Gottes freier Phantasie, 

Ein Bilderspiel, ein Traum, für einen Blick, 

Der dauern könnte, wie der Stein. Und so, 

Aus Luft und Fernsicht wunderbar gefugt, 

Unwirklich, greifbar, leuchtet das Phantom. 

Und wie Du wanderst, wechselt Form und Bild: 

Jetzt silbergrau der Hals, mit blauem Schmelz 

Der hochgewölbte Bauch belegt/ der steile 

Und schmale Fall des Fußes am Gefäß 

Voll Krakelur der Gräser/ auf den Grund 

Die freigeschwungne Landschaft eingeschmolzen, 

Bald Heide, bald Gebirg und bald das Meer. 

Und alles dies ist nicht der Tempel selbst, 

Ist nur das Leben zwischen Stein und Stein. 

So edel nämlich fügte sich der Form 

Der Stein, so weise zwang ihn hohe Kunst: 

Daß seiner Linien Gegenform im Raum 

Zu neuer Formen Offenbarung ward 

Und daß aus Säulen um des Gottes Altar 



TriedricS Äff red Sdsmid Noerr, Poes tum 



Des Weihgefäßes hohes Sinnbild trat. 
Wo aber sind, dem Göttlichen so nah 
Und Göttern so verwandten Schöpfersinns 
Die Menschen, die Gestalter? Lange sah 
Der Gott, die goldne Tagesbahn im Bogen 
Vom Frühgebirg zur abendlicben Flut 
Rastlos erneuernd, ihres klaren Sinns 
Froh sonnenwärts gewandte Augen strahlen 
Er, ein Genoss des tätigen Geschlechts. 
Dann aber langsam losch, wie ein Gespräcb, 
Das allzuwach und starken Andrangs war, 
Die Zwiesprach. Und es erbte von Geschlecht 
Sich Müdigkeit und Abkehr zu Geschlecht,. 
Und innrer Unrast andre Gottesangst 
Erdachte Andres viel. 

Wann aber, Welt, 
Wann kommt die Menschheit wieder, so, wie die, 
Die solcher Kunst und Großheit kundig war? 
Wann solcher Einfalt ungeschmückte Tat 
Und wann die Zahl der fromm Verstehenden? 
Wohl muß es so sein, daß die Menschen einst 
Viel höher waren, oder mehr als die, 
So nun auf Flügeln durch die Lüfte fahren, 
Auf Stahlpalästen quer durchs Weltmeer stampfen 
Und fernen Qualms den reinen Horizont 
Fremd und gewaltsam, ohne Melodie, 
Zu gradem Ziel durchschneiden: Mächtig scheint 
Der Wille und sein vielgeschäftiger Sieg 
Im Allerlei und dünngewalzten Sinn 
Des Daseins uns. Doch heimlich wohnt die Angst. 
Sie aber waren riesiger im Geist 
Und, wenn auch karger wollend, mächtiger 
Und so auf Erden, wie uns Sehnsucht bleibt. 
Ihr zürnt, Genossen? Nun, so sagt mir doch 
Was groß und dauernd ist. Denn wahre Kunst, 
Gewalt des Geists und einig Weltgefuhl 



- 

TriedriS Alfred Scßmid Noerr, Paestum 



Der ungebrochnen Tat weiß nur von Größe, 
Gehalt und Sinnbild: Und uns alle fallt 
Gelächter an und Fluch der Kleinheit. 

Schweigt! 



DL 

DER MITTAG 

Schon brennt der Mittag näher. Hart und blau 
Engt sich der Schatten um den Stein. Die Welt 
Ist gottesnah und lauschend, so wie einst 
Der Stunde tief geheimes Zeichen ahnend/ 
Und schleierlos, ein Glanzstreif, ruht das Meer. 
Zu schweben scheint im Zittern heißer Luft 
Ganz weiß von Licht Poseidons Heiligtum 
Und leichter träumt es sich aus solchem Schlaf. 

Gebete und Gesänge möcht' ich hören 

Aus diesem Tempel, da der Glaube noch 

Jung und gewiß war und wie Morgenwind 

Vom Meer herüber, fruchtbar und gesund. 

Und niedersteigen möcht 7 im Opferzug 

Ich mit dem hohen Chor der weißen Priester 

Zur nahen Dünung, Sänftigung des Schwalls 

Vom Gott zu bitten, oder günstige Fahrt, 

Da schon die Flut den nackten Fuß umgiert, 

Dem Landmann drohend, doch den Schiffer lockend 

Und so, mit ruhlos wechselndem Gesang, 

Vom Glück den Menschen rauschend und vom Tod: 

Das große Gleichnis unseres Geschicks. 

— Vertan das Opfer,- ausgetönt im Wind 

Die Hymnen, die euch ehrten jeden Tag, 

Urheilige Gewässer: Täglich wich 

Unmerklich eure Welle, wo am Strand 

Die Scheiterhaufen immer seltner brannten, 



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TriedHcß Affrtd 5<6mid Noerr. Patstum 



609 



Unmerklich löschend so ein Endgeschlecht 
Euch scheu noch Ehrender. 

Doch stehen blieb, 
Stein über ihrem Staub, der Tempel: stolz, 
In zeitvernichtender Allgegenwart, 
Dem Meer gebaut. 
Nun, da der Glaube tot 
Und verstummt der Gesang der Bekenner, 
Ruhend in sich und geheimnisvoll 
Jenem von Anfang verschwistert: 
Der weithin atmenden Salzflut 
Geweiht und dem rollenden Seegang, 
Bleibt, über der wechselnden Menschen 
Gedächtnis erhoben, 

Poseidons Haus und des Glaubens Gebild 

All künftigem Ahnen ein Zeichen, bestehn: 

Gleich tief, gleich rätselvoll 

Glaube wie Meer: 

Aufbrandend in Mensch heltsgezeiten 

Und wieder ebbend/ vielstimmig 

Im Wandel der Sprachen, die Zeiten hindurch, 

Siegreich ein rauschender Zaubergesang, 

Unendlich: Glaube, wie Meer. 



IV. 

DER ABEND 

Des Mittags honigsüße Ruh ist um. 

Und da nun schon ein goldgesäumter Streif 

Wie zum Empfang gelagerten Gewölks 

Am tiefen Abend horizonte brennt, 

Das Taggestirn ins Flutbett zu geleiten/ 

Da schon vom Land ein dunkler Windhauch stößt 

Und fern hinaus die Meeresfläche kräuselt, 

Geschäftigen Diensts, dem Gott die Ruhestatt 



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I 



610 TriedriS Alfred SSmüf Noerr, Paestum 



Sanft aufzulockern und aufs neu zu glätten, 

Erheb ich mich und setze meinen Fuß 

Auf Heide, unscheinbar Gemäuer bald 

Und allerlei Geröll, meerwärts. Es scholl 

Hier einst der Markt der Stadt vom frohen Lärm 

Der Heimgekehrten, der Begierigen 

Auf Neuigkeiten, bunt, aus aller Welt 

Und der Geschäftigen. Nun schreite ich 

Durch Dünengras. Wo übers heiße Feld 

Jetzt Bienen taumeln, lag einst Schiff bei Schiff 

Im guten Hafen, froh des Heimatstrands: 

Dies alles, zur Erinnrung eingeschrumpft, 

Ist nun audi Jahresring am Baum der Zeit, 

Zeitlos: Mir ist, als schritt ich körperhaft 

Quer durch die Ewigkeit, ich lebend noch 

Erzitternd, fremdher, schwerlich ungestraft. — 

Und weiter, weithin unfruchtbaren Wegs, 

Geh' ich hinaus. Und rückwärts schon versinkt 

Das Heiligtum im welligen Land. Voraus 

Jedoch erhebt sich Buschwerk und Gemäuer: 

Ein Wachtturm aus der Sarazenenzeit, 

Auf Klippenrand, jenseits der Brandung Saum, 

Einst trutziglich ins Meer gebaut,- damals, 

Als schon die Tempel binnenwärts, gestürzt, 

Nicht anders standen, als sie heute stehn. 

Und heute, an den Wachtturm angelehnt, 

Armselige Hütten, freundlich überwölbt 

Von hundertjährigem Steineichenpaar 

Und Kinderlärm im braunen Heidekraut: 

Die Wacht im Meer ein breiter Bauernhof. 

Und trocknen Fußes schreit ich durch den Ring 

Des letzten Halbjahrtausends. Nahe schlägt 

Mit leisem Schaumschlag, weiß, das Wellenband 

Ans flache Land, verläuft und stirbt im Sand 

Und hebt sich neu, lebendigen Atems. 

Hier, 



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TrtofriS Atfrtd SSmicf Notrr, Partum 



611 



Hier steh' ich denn am Rand der Gegenwart: 

Unendlich hin seh ich im Abendglanz 

Die Wellen tanzen, gleißen und verheißen 

Bin Undeutsames. Gänzlich leeren Spiels/ 

Gestaltlos lockend/ fernsten Horizonts 

Mit Farben trügend: wie der Zukunft ziemt. 

An Muscheln aber, öden Sand und Tang 

Verwesungsschaudernd stößt mein Fuß. Mein Blick, 

Mein Wille, ganz vereinsamt, stürmt zurück, 

Wo überm Hügelrand, im Abendblau, 

Die hohen Giebel schweigsam trauern/ wo 

Die höchsten Säulen noch das Weltmeer schauen. 

Einst schenkte diese unserem Wunschgeschlecht 

Okeanos, der unerforschliche. Dann, 

Unsäglich kargend, den reisigen Turm 

Streitklirrender Zeiten. Zuletzt 

Ein schmutzig Gehöft, zur Notdurft des Fischers 

Am Gegenwartsstrand. 

Soeben tritt hervor 

Aus der rauchichten Tür seiner Hütte 

Der bäurische Fischer. 

Und zum Beweis, daß ich bin, 

Daß ich seines Geschlechts bin, 

Seines Daseins Genosse, jetzt und hier, 

Seines Atems teilhaftig: 

Grüßt er mich mürrisch. 

Ach! fernab steht 
Meine Seele in Götterhallen, 
Welche dahin sind! 
Meeresjenseits grüß ich Genossen, 
Welche vielleicht einst 
Kommen werden, wenn dieses Leben, 
Dieses Gehöft hier und diese Stunde 
Tief im Land und im Sande vermodern 
Und das Träumen der Gegenwart 
Tausendjähr'ge Erinnrung ist. 



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TriedriS Affred ' SSmid Noerr, Paestum 

V. 

DIE NACHT 

Die Sonne dieses Tages sank ins Meer. 

Bs blaßt sein Bild und dämmert. Zwielicht ätzt 

Die Farben fort. Still frißt Verwitterung. 

Mühselig ist der Rückweg nun. Bs trägt 

Ihn kein Erwarten mehr. Kein Wunsch mehr prüft 

Das Maß der Kräfte und der Wandrung Ziel. 

Ein Säulenhain, nah dem Gestrüpp, erhebt, 

Geborstnen Wohllauts, stumm den Lobgesang 

Der gütigen Mutter, der Erhalterin 

Ceres, der Äckersegnenden: und rings 

Dorrt Scholl und Steppe. Gottgeweiht und blind 

Und wie von Alter kindisch aber lallt 

Er noch vergessne Hymnen. Alles, was 

Einst Geist, fruchtschwere Wahrheit war und laut 

Umjauchzt von Freude: Tot ist das. Und nur 

Der Stein lobt noch die Götter: Fruchtbarkeit 

Und Glück des Meeres. Dunkler Fluch vertrieb 

Die Segensreichen, auf beglückter Stätte 

Verbunden einst: Die Göttin morgen wärts 

Zu Hängen des GebirgS/ den Gott des Meers 

Jedoch gen Abend, öd liegt nun das Feld. 

Was aber ist solch heiligen Zwanges Sinn? 
Und wo ist Dauer, wenn bei Göttern nicht? 
Andacht schaut sie auf ewigem Thron. Doch sie, 
Sie treibts, zu wachsen, denn es wächst die Zeit, 
Nur unser Leben frißt Vergangenheit: 
Wohin denn tritt der Fuß der Sterblichen 
Und nicht dem Untergang entgegen? Weh, 
Schon soviel Schönheit war auf dieser Erde 
Und soviel Sehnsucht, die das Wunder schuf: 
Vergebens. Dämmrung fraß, Nacht nahm sie fort 
Und künftige Tage kennen sie nicht mehr. 



Trietfricß Affred Scßmid Noerr. Paestum 



Jetzt nodi ist ahnend Rückschau hier gegönnt: 
Noch glänzt dem Gott, schon fern erhöht, das Haus. 
Doch ferner rollt und ferner seine Brandung, 
Der Wind schon übertäubt sie. Bald, wie bald 
Wird sie vom schwärmenden Gesumm der Bienen, 
Vom Sommerlärm der Heide ganz erstickt sein: 
Und dann ist Stille. Letzte Stille schleicht 
Durch gottverlaßnes Land und knirschend wankt 
Und bebt von Grund auf das Gebäu und stürzt, 
Mit letztem Donner fern den Gott zu grüßen, 
Der ihn dereinst mit Salzschaum angesprüht. 
So wird es sein. 

Still weiter wächst die Zeit. — 
In ihres Wachstums Adern aber, Gott 
Und Mensch und alle Schönheit nährend, kreist 
Der Ewigkeit kostbarstes Blut: der Glaube, 
Der allen Lebens letztes Gleichnis bleibt. 

Und was war nun der Tag? Ein Atemzug, 

Ein Lichtgedank, ein Lächeln, ein Verzug 

Von weniger, als von Erinnerung: 

Ein Blinzeln nur im ewigen Schlaf der Dinge. 

Und nun kam wiederum, von je gewohnt, 

Die Nacht: das flüchtig-leise Augenschließen 

Des ewig aus sich selber wachen Geists. 

Und also wacht ich auf aus diesem Tag, 

Und meiner Irrfahrt in Vergangenheit. 

Und unsere Sterne standen über mir. 

Kuhläuten/ Büffelherden zogen heim, 

Gesenkten Haupts und bösen Blicks vorbei 

An schwarzen Tempelmassen. Rauch stieg auf 

Vom nahen Schilfzelt lagerfroher Hirten 

Und durch die Nacht glomm Herdglut und Gesang. 

Am samtnen Himmel aber, abendwärts, 

Stand tief des Jahres Wunder: der Komet, 

Lotrechten Schweifes überm Weltmeer. Jetzt 



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614 



TriedriS Äff red SSmüf Noerr, Paestum 



Noch diesen Augen vorgerückt, ein Ding, 
So furchtbar, groß und wirklicher Gestalt, 
Als dieser Stern, auf dem wir Mensch sind. Jetzt 
In Ewigkeit nichts mehr: Gedächtnislos 
Ins Unausdenkliche vergangen, wie 
Aus Unausdenklichem heran gefahren, 
Ein nennbar Ding nur diesen Augenblick. 
Und doch im Weltenbaum der Zeit ein Strich, 
Ein goldner Nerv, des Glaubens ewigem Puls 
Benachbart und verschlungen auch, vielleicht: 
Was stammelt noch das Wort? Durchzückt miteins 
Stand ich. Denn mir wie Heimat war die Nacht 
Und das Gewölbe, voll von Sternen, und 
Das Rauschen ferner Brandung: Alles dies, 
Was schön ist, glaubenswert und unfaßbar. 

Triedricß ACfred Scßmid Noerr. 



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Martin Bußer. Ereignisse und Begegnungen 



615 



EREIGNISSE UND BEGEGNUNGEN 

3. MIT EINEM MONISTEN 

ICH lernte vor kurzem einen Monisten kennen. 
Ich merkte auf den ersten Blick, daß er ein vortrefflicher Mensch 
war. Das Vortrefflichsein scheint übrigens durch den Monismus wesent- 
lich erleichtert zu werden. Wir andern haben nur Erschwerungen zu 
bieten. 

»Sie sind Mystiker«, sagte der Monist und sah mich mehr ver- 
zichtend als strafend an. So stelle ich mir einen Apoll vor, der es 
verschmäht, den Marsyas zu schinden. Er unterließ sogar das Frage- 
zeichen. Aber seine Stimme war leutselig. Ja, er brachte es zustande, 
sublim und vortrefflich zugleich zu sein. 

»Nein, Rationalist«, sagte ich. 

Er geriet aus der schönen Haltung. »Wie ... ich meinte . . .«, 
äußerte er. 

»Ja,« bekräftigte ich, »das ist die einzige meiner Weltansichten, 
der ich es erlaubt habe, sich zum Ismus zu verbreitern. Ich bin da- 
für, daß die Ratio alles aufnehme, alles bewältige, alles verarbeite. 
Nichts kann ihr widerstehen. Wie dürfte so ein lumpiges »Ding« 
wagen, sich gegen ihren Anspruch zu empören? Sie kriegt sie alle 
unter. Und nichts kann sich vor ihr verbergen. Wo fände es ein 
Mauseloch, in das ihre Kategorien nicht hinabreichten? Sie klaubt 
sie alle, alle auf. Ich finde das herrlich. Nur keine halbe Arbeit, 
nur keine Neunzehntelarbeit! Nur nichts übersehen, nur nichts ver- 
schonen, nur nichts bestehen lassen! Sie hat nur dann etwas getan, 
wenn sie es vollständig getan hat. Sie macht sich an die Welt heran 
und macht sie zurecht. Welch ein Meisterstück! Die rationalisierte 
Welt! Die Welt ohne Lücke und ohne Widerspruch! Die Welt als 
Syllogismus!« 



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616 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



»Nein, aber...«, wandte er ein. 

»Ganz recht«, konzedierte ich, »Sie würden es anders formulieren, 
etwa: die Welt als die vollständige Induktionsreihe. Bitte, es kommt 
mir nicht darauf an/ ich bin auf jeden Fall einverstanden. Wenn 
nur ganze Arbeit gemacht wird! Da gibt es freilich welche, die die 
Grenzen verwischen. Die mag ich nicht. Aber für Sie bin ich ein- 
genommen. Sie sind mir nur noch, trotz allem, nicht vollständig 
genug. Wenn Sie vollständig wären, würde ich Hurrah schreien. 
Aber Sie lassen noch immer irgendwo verschämte Teleologien ein. 
Das sollte nicht sein. Wenn der Menschenwille restlos bestimmt ist, 
so ist es ganz gleichgültig, daß er dieses Bestimmtsein nicht über- 
blickt, die Zukunft als von sich abhängig vorstellt und meint nicht 
Durchgang sondern Ursprung zu sein: in den Augen Ihres Ideals, 
des Betrachters der vollständigen Induktionsreihe, wäre er unfrei 
und muß es daher auch für Sie sein«. 

»Jedoch . . .«, rief er dazwischen. 

»Gewiß,« erwiderte ich, »die Moral . . . Aber das kann meine 
Neigung für hemmungslosen Rationalismus nicht beeinflussen. Ich 
denke ihn mir als ein engmaschiges Netz, das alle Phänomene ein- 
fängt und dem keins wieder entschlüpfen kann. Gestehet nur der 
Seele keine Sonderstellung zu! »Führt« sie »zurück«, bis sie nicht 
weiter zurück kann! Drückt sie an die Wand! Duldet nichts, was 
sich euren einreihenden Befehlen entziehen möchte! Ruhet nicht, ehe 
die Welt vor euren prüfenden Blicken steht wie eine wohlgeordnete 
Registratur! Dann habt ihr bewiesen, daß der Geist der Herr ist 
und daß er nur die erstbeste seiner Töchter auszusenden braucht 
und sie bindet die Welt und den Vater dazu. So muß es immer 
von neuem geschehen, von Geschlecht zu Geschlecht. Bis er wieder 
den Finger hebt und alle Fesseln zerfallen und die Welt sich dehnt 
und die Zettel eurer Zettelkästen wild umherfliegen im spielenden 
Sturm.« 

»So also . . .«, konstatierte er ärgerlich. 

»Ja«, bestätigte ich und leugnete nichts. »Sie haben mich durch- 
schaut. Wir brauchen auch gar nicht zu warten. Was im Menschen- 
reich von einer Zeit zur andern geschehen muß, geschieht allzeit von 
Augenblick zu Augenblick im Menschen. Wenn der Kreis gezogen 



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Martin Bußen Ereignisse und Begegnungen 617 



ist, der reinliche Kreis der Weltbegreifbarkeit, und wenn alles ein- 
gebannt und alles Denken als Energieform und aller Wille als 
Kausalitätsform entlarvt ist, dann schwingt Selbst, die heimliche 
Lerche, sich aus dem Kreise auf und tiriliert. Ihr hattet das Ich zer- 
legt und aufgeteilt, da schwebt es unberührt über euren Künsten, 
das unantastbare. Ihr mögt meine Seele als ein lockeres Aggregat 
von Empfindungen enthüllen: da rührt sie sich und fühlt empor- 
gereckt den Glanz der Nacht oder ingrimmig die Not eines Kindes, 
und ist Kristall/ und wenn sie schläft, fliegen all eure Formeln und 
Berechnungen wie Motten um ihren feurigen Traum. Ihr mögt die 
Elemente aufzeigen, aus denen ich bestehe, die Wandlungen, die 
an mir geschehen, die Gesetze, die mich zwingen: wenn ich ganze 
einmalige Gestalt mich zum Tun hebe und mich entscheide, bin ich 
Element, ich Wandlung, ich Gesetz, und die Blitze der Schöpfung 
zucken in meinen beginnenden Händen. Welcher Stoffe Verbindung, 
welcher Tiere Nachkomme, welcher Funktionen Knecht ich bin, das 
ist mir ersprießlich zu hören — und ist mir nichtig, wenn ich Un- 
endliches zu denken, Unendliches zu schauen wage und ihm ver- 
woben mich als Unendlichen erfahre. Daß es eine Zeit gab, da der 
Mensch nicht auf der Erde war, die Kunde nehme ich willig auf — 
und kenne ihre Sprache nicht mehr, wenn mir in der Flamme des 
erlebten Augenblicks die Ewigkeit entgegenschlägt/ daß einst die 
Erde erkalten und der Mensch verschwinden wird, lasse ich mir gern 
erzählen — und habe es vergessen und vernichtet, wenn meine Tat 
hinaus ins uferlose Werden brandet. Das ist das glorreiche Paradox 
unseres Daseins, daß alle Begreifbarkeit der Welt nur ein Schemel 
ihrer Unbegreifbarkeit ist. Aber diese Unbegreifbarkeit hat eine 
neue, eine wundersame Erkenntnis zu spenden/ die ist wie die 
Adams, der sein Weib Chawa erkannte. Was die kundigste und 
kunstreichste Verknüpfung von Begriffen versagt, das gewährt das 
demütige und getreue Erschauen, Erfassen, Erkennen irgend eines 
Dinges. Die Welt ist nicht begreifbar, aber sie ist umschlingbar: durch 
die Umschlingung eines ihrer Wesen. Jedes Ding und Wesen hat 
zwiefache Beschaffenheit: die passive, aufnehmbare, bearbeitbare, 
zerlegbare, vergleichbare, verknüpfbare, rationalisierbare, und die 
andre, die aktive, unaufnehmbare, unbearbeitbare, unzerlegbare, un- 



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I 

618 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



vergleichbare, unverknüpfbare, unrationalisierbare. Diese ist das Ge- 
genübertretende, das Gestalthafte, das Schenkende in den Dingen. 
Wer ein Ding wahrhaft erlebte, daß dessen Selbst ihm entgegensprang 
und ihn umfing, hat darin die Welt erkannte 

»Sie sind also doch ein Mystiker«, sagte der Monist, als ich inne- 
hielt, und er lächelte. Weil er zu Wort gekommen war? Weil er Recht 
behielt? Oder weil es einen Monisten lächern muß, wenn so ein 
Kerl sich nach weitläufiger Verstellung endlich doch als heilloser 
Reaktionär entpuppt? Oder überhaupt. . .? Laßt uns nicht nach Mo« 
tiven forschen und uns jedes Menschenlächelns, sofern es nicht ge- 
radezu boshaft ist, freuen. 

»Nein,« antwortete ich und sah ihn freundlich an, »da ich doch 
der Ratio einen Anspruch zubillige, den ihr der Mystiker verwehren 
muß. Und überdies fehlt es mir an Verneinung. Ich kann nur Zu« 
stände verneinen, aber nicht das winzigste Ding. Der Mystiker kriegt 
es wahrhaft oder scheinbar fertig, die ganze Welt, oder was er so 
nennt, alles, was ihm seine Sinne an Gegenwart und Gedächtnis 
darreichen, auszurotten und hinwegzuschaffen, um mit neuen, ent- 
leibten Sinnen oder einer ganz übersinnigen Kraft zu seinem Gotte 
vorzudringen. Mich aber geht eben diese Welt, diese schmerzens- 
reiche und köstliche Fülle all dessen, was ich sehe, höre, taste, un- 
geheuer an. Ich vermag von ihrer Wirklichkeit nichts hinwegzu- 
wünschen, nein, nur noch steigern möchte ich diese Wirklichkeit. 
Denn was ist sie doch? Die Berührung zwischen dem unsäglichen 
Kreisen der Dinge und den erlebenden Kräften meiner Sinne, die 
mehr und anderes sind als Ätherschwingung und Nervenstrom und 
Empfinden und Verknüpfen von Empfindungen, — die leibhafter Geist 
sind. Und die Wirklichkeit der erlebten Welt ist um so mächtiger, 
je mächtiger ich sie erlebe, — sie verwirkliche. Wirklichkeit ist keine 
feststehende Verfassung sondern eine steigerungsfahige Größe. Ihr 
Grad ist funktionell abhängig von der Intensität unseres Erlebens. 
Es gibt eine gemeine Wirklichkeit, die hinreicht, damit die Dinge 
verglichen und klassifiziert werden. Aber ein Andres ist die große 
Wirklichkeit. Und wie könnte ich sie meiner Welt geben, als indem ich 
das Gesehene mit aller Kraft meines Lebens sehe, das Gehörte 
mit aller Kraft meines Lebens höre, das Getastete mit aller Kraft 



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Martin Bußer, Ereignisse und" Begegnungen 619 



meines Lebens taste? Als indem ich mim über das erlebte Ding neige 
mit Inbrunst und Gewalt und die Schale der Passivität mit meinem 
Feuer schmelze, bis mir das Gegenübertretende, das Gestalthafte, das 
Schenkende des Dinges entgegenspringt und mich umfängt, daß ich 
darin die Welt erkenne? Wirkliche Welt — das ist offenbare, er- 
kannte Welt. Und die Welt kann nicht anderswo erkannt werden 
als in den Dingen und nicht anders als mit dem tätigen Sinnengeist 
des Liebenden.« 

»Ja, dann . . .«, behauptete der Monist. 

»Nein, nein,« protestierte ich, »Sie irren sich: da ist ganz und gar 
kein Einvernehmen mit Ihren Lehrsätzen. Denn der Liebende, das 
ist einer, der jedes Ding, das er erfaßt, beziehungslos erfaßt. Es 
fällt ihm nicht bei, das erlebte Ding in Relationen zu andern Dingen 
einzustellen, da ihm ja zu dieser Stunde kein andres lebt als dieses, 
dieses geliebte allein in der Welt, die Welt ausfüllend, es und die 
Welt einander ununterscheidbar deckend. Wo ihr mit flinken Fingern 
die Gemeinsamkeiten herausholt und in bereite Kategorien verteilt, 
schaut er traumgewaltigen und urwachen Herzens das Ungemein« 
same. Und dieses ist die schenkende Gestalt, das Selbst des Dinges, 
das ihr in den reinlichen Kreis eurer Weltbegreifbarkeit nicht zu 
bannen vermögt. Was ihr aushebt und zusammenbringt, das ist 
ewig nur die Passivität der Dinge. Ihre Aktivität aber, ihre wirkende 
Wirklichkeit offenbart sich einzig dem Liebenden, der sie erkennt. 
Und so erkennt er die Welt. In den Zügen des Geliebten, dessen 
Selbst er verwirklicht, gewahrt er das rätselhafte Angesicht des Alls. 

Echte Kunst ist eines Liebenden Kunst. Der solche Kunst treibt, 
dem erscheint, da er ein Ding der Welt erlebt, die heimliche Ge* 
stalt des Dinges, die keinem vor ihm erschien, und auch er sieht sie 
nicht, sondern er fühlt ihren Umriß mit seinen Gliedern und ein 
Herz schlägt an seinem Herzen. So lernt er die Herrlichkeit der 
Dinge, daß er sie sage und lobpreise und die Gestalt den Menschen 
offenbare. 

Echte Wissenschaft ist eines Liebenden Wissenschaft. Der solche 
Wissenschaft treibt, dem tritt, da er ein Ding der Welt erlebt, das 
heimliche Leben des Dinges gegenüber, das keinem vor ihm gegen- 
übertrat, und gibt sich ihm anheim, und er erfährt es, gefüllt von 



620 



Martin Bußer, Ereignisse und" Begegnungen 



Geschehen bis an den Rand seines Daseins. Sodann deutet er das 
Erfahrene in schlichten und fruchtbaren Begriffen und ehrt das Ein- 
same und Unvergleichbare, das ihm widerfuhr, durch bedachtsame 
Redlichkeit. 

Echte Philosophie ist eines Liebenden Philosophie. Der solche 
Philosophie treibt, dem öffnet sich, da er ein Ding der Welt erlebt, 
der heimliche Sinn, das Gesetz des Dinges, das sich keinem vor ihm 
öffnete, und nicht wie ein Gegenstand, sondern als täte sich ihm der 
eigene Sinn, der Sinn all der Zeit seines Lebens und all der Ge- 
schicke und seines leidvollen und erhabenen Denkens Sinn, er- 
schütternd auf. Und er, der also Erschütterte, merkt auf die Wei- 
sung und ruft an: »O du Ding, ein Ding der Welt, du maßloses 
ausgespanntes Ding, so rede zu mir!« Und er vernimmt es und 
weiß: >So ist das Sein, so wird das Werden, in diesem Dinge wohnt 
der Sinn der Welt.« So nimmt er das Gesetz des Dinges, das er 
vernommen hat, mit botmäßiger und schöpferischer Seele an und 
setzt es als das Gesetz der Welt ein, und hat daran nicht vermessen 
getan, sondern würdig und getreu. 

Alle echte Tat ist eines Liebenden Tat. Alle echte Tat kommt 
aus der Berührung mit einem geliebten Ding und mündet im All. 
Alle echte Tat gründet aus der erlebten Einheit Einheit in die Welt. 
Nicht eine Eigenschaft der Welt ist die Einheit, sondern ihre Auf- 
gabe. Einheit aus der Welt zu bilden ist das unendliche Werk. 

Und um dieses Monismus willen, lieber Monist . . .« 

Er stand auf und reichte mir die Hand. Wir sahen einander an. 

Laßt uns an den Menschen glauben! 



Martin Bußer. 



Kurt "Woffenstem. Aufwachen 621 



AUFWACHEN 

Kaltes leerblaues Licht glitzert durch Bis und Glas 
In mein Auge, entträumt, welches nach fernem Schlaf 
Aufgedeckt nun und zitternd 
Wieder Leben sieht, und sein Sehn. 

O mein grelles Gehirn, Wache und Krampf und Schuß, 
Wie entließest du dich, ließest du dich hinweg, 
Wurdest Kissen und Stille, 
Und befreundet dem weichen Mond. 

Und indessen du lagst, wirkte für dich mein Herz, 
Schneller, aufatmender, füllender, ja wie voll 
Wuchs ich Armer mit Träumen, 
Mit Gebirgen erfüllter Lust. 

Nicht mehr mußten Gesicht, Zunge und Hände tun, 
Was erdachter Befehl, innerster Fremde Stoß 
Und das Ziehen der Ziele 
Tags aufdrängen vertieftem Blut. — 

— Was nun wieder ans Bett glitzert durch Eis und Glas 
. . . Sonne des Winters hält Fülle und Fließen an 
Und die Blicke zum Weltmeer 
Spitz versammelt ein Ruf ins Hirn. _ 

Kurt Woffenstein. 



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622 Gustav Meyrfnt, Der Gofem 



DER GOLEM 
ROMAN 

<Fort3«zung> 

VI 
NACHT 

Willenlos hatte ich midi von Zwakh die Treppe hinunterfahren 
lassen. 

Idi spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus 
drang, immer deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und 
Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen und man hörte, 
wie sie draußen vor dem Torweg mitsammen sprachen. 

»Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum 
Teufelholen.« 

Wir traten hinaus auf die Gasse und ich sah, wie Prokop sich 
bückte und die Marionette suchte. 

»Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst«, 
brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein 
Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder, — in kurzen Inter- 
vallen — wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze 
Pfeife sog. 

Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm 
und beugte sich noch tiefer herab. — Er kniete beinahe auf dem 
Pflaster. 

»Still doch! — Hört ihr denn nichts?« 

Wir traten an ihn heran. — Er deutete stumm auf das Kanal» 
gitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen 
wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab. — 

Nichts. 



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623 



»Was wars denn?« — flüsterte endlich der alte Marionettenspieler, 
doch sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk. 

Einen Augenblick — kaum einen Herzschlag lang — hatte es mir 
geschienen, als schlüge da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte — 
fast unhörbar. — Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte, 
war alles vorbei/ nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungs- 
echo weiter und löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des 
Grauens auf. — 

Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck. 
»Gehen wir / — was stehen wir da herum!«, mahnte Vrieslander. 
Wir schritten die Häuserreihe entlang. — 
Prokop folgte nur widerwillig. 

»Meinen Hals möcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien 
in Todesangst.« 

Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie 
leise dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt. 

Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster. 
»SALON LOISITSCHEK«. 
»Heinte großes Konzehr« 
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit ver- 
blichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war. 

Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete 
sich die Eingangstür nach innen und ein vierschrötiger Kerl mit ge- 
wichstem schwarzem Haar, ohne Kragen — eine grünseidene Kravatte 
um den bloßen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem 
Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt — empfing uns mit Bücklingen. 

»Jä, ja, das sin mir Gästäh. Pane Schaffiranek, rasch einen 

Tusch!« setzte er über die Schulter in das von Menschen überfüllte 
Lokal gewendet hastig seinem Willkommengruß hinzu. 

Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten 
liefe, war die Antwort. 

»Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man«, 
murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während 
er uns aus den Mänteln half. 

»Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei 
mir versammelt«, beantwortete er triumphierend Vrieslanders er- 
43 



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624 Gustav Meyritt^ Der Gotem 



staunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch 
Geländer und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke 
getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette 
sichtbar wurden. 

Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter 
denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zer- 
lumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, 
schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen 
Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und 
Zigaretten hinter dem Ohr, — Viehhändler mit haarigen Fäusten und 
schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache 
der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und 
blatternarbige Kommis mit karrierten Hosen. 

»Ich stell ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön un« 
gestört sein«, krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen und eine 
Rollwand, beklebt mit kleinen tanzenden Chinesen, schob sich lang« 
sam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten. — 

Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im 
Zimmer verlöschen. 

Eine Sekunde eine rhythmische Pause. 

Totenstille, als hielte alles den Atem an. — Mit erschreckender 
Deutlichkeit hörte man plötzlich wie die eisernen Gasstäbe fauchend 
die flachen herzförmigen Flammen aus ihren Mündem in die Luft 

bliesen dann fiel die Musik über das Geräusch her und 

verschlang es. 

Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame 
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor. 

Mit langem wallendem weißem Prophetenbart, ein schwarzseidenes 
Käppchen — wie es die alten jüdischen Familienväter tragen — auf 
dem Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern — starr 
zur Decke gerichtet — saß dort ein Greis, bewegte laudos die Lippen 
und fuhr mit dürren Fingern — wie mit Geierkrallen in die Saiten 
einer Harfe. — Neben ihm in speckglänzendem schwarzem Taffet- 
kleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen — ein Sinnbild 
erheuchelter Bürgermoral — ein schwammiges Weibsbild, die Zieh- 
harmonika auf dem Schoß. 



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Gustav Meyrint, Der Gofom 625 

Bin wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instru- 
menten — dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab. 

Der Greis hatte ein paarmal in die Luit gebissen und riß den 
Mund weit auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. 
Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen 
Röchellauten begleitet, ein wilder Baß: 

»Roo — n — te, blau — we Stern 

»Rititit« — (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort 
die keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt — > 

»Roonte blaue Steern 

Hörndlach ess i' ach geern«, 

»Rititit« 

»Rothboart, Grienboart 

allerlaj Stern« 

»Rititit, rititit.« 

Die Paare traten zum Tanze an. 

»Es ist das Lied vom »chomezigen Borchu«, erklärte uns lächelnd 
der Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der son- 
derbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. 
»Vor wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei Bäckerge- 
sellen: Rotbart und Grünbart — am Abend des »Schabbes Hagodel« 
das Brot — Sterne und Hörnchen — vergiftet, um ein ausgiebiges 
Sterben in der Judenstadt hervorzurufen, aber der »Meschores« — 
der Gemeindediener — war infolge göttlicher Erleuchtung noch recht- 
zeitig daraufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadt- 
polizei überliefern. Zur Erinnerung an die wundersame Errettung 
aus Todesgefahr dichteten damals die »Lamdonim« und »Bocheriech« 
jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als Bordellquadrille hören.« — 

»Rititit — Rititit« 

»Rote blaue Steern — « immer hohler und fanatischer 

erscholl das Gebell des Greises. — 

Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den 
Rhythmus des böhmischen »Schlapak« — eines schleifenden Schiebe- 
tanzes über, bei dem die Paare die schwitzenden Wangen innig an- 
einander preßten. 



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626 



Gustav Meyri/tt, D*r Gofem 



»So recht. Bravo. Ah da! fang, hep, hep!« rief von der Estrade 
ein schlanker junger Kavalier im Frack — das Monokle im Auge — 
dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silber« 
stück in der Richtung. Bs erreichte sein Ziel nicht: Ich sah noch, wie 
es über das Tanzgewühl hinblitzte, da war es plötzlich verschwunden. 
Ein Strolch — sein Gesicht kam mir so bekannt vor — ich glaube, 
es muß derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben 
Charousek gestanden — hatte seine Hand hinter dem Busentuch 
seiner Tänzerin, wo er sie bisher hartnäckig ruhen gehabt, hervor* 
gezogen — ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne 
auch nur einen Takt der Musik auszulassen — und die Münze war 
geschnappt. Nicht eine Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, 
nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten leise. 

»Wahrscheinlich einer vom »Bataillon«, nach der Geschicklichkeit zu 
schließen,« sagte Zwakh lachend. 

»Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom »Bataillon« ge- 
hört,« fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem 
Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. — Ich verstand 
gar wohl. — Es war wie vorhin, — oben auf meinem Zimmer. Sie 
hielten mich für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte 
etwas erzählen. — Irgend etwas. 

Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß 
vom Herzen in die Augen. — Wenn er wüßte, wie weh mir sein 
Mitleid tat! - 

Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler 
seine Worte einleitete, — ich weiß nur, mir war, als verblute ich 
langsam. Mir wurde immer kälter und starrer. Wie vorhin, als ich 
als hölzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. — Dann 
war ich plötzlich mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig 
umhüllte, — einhüllte, wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch. 

Zwakh begann: 

»Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Ba- 
taillon. 



— — — no, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er 
voller Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. — Schon als 



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Gustav Meyrink, Der Gofem 



627 



Jüngling kannte er nichts als Studium. Trockenes entnervendes Stu- 
dium. Von dem, was er sich durdi Stundengeben mühsam erwarb, 
mußte er noch seine kranke Mutter erhalten. — Wie grüne Wiesen 
aussehen und Hecken und Hügel voll Blumen und Wälder, erfuhr er, 
glaube ich, nur aus Büchern. Und wie wenig von Sonnenschein in 
Prags schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst. 

Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht/ das war eigent- 
lich selbstverständlich. — 

Nun, und mit der Zeit wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter. 
So berühmt, daß alle Leute — Richter und alte Advokaten — zu 
ihm fragen kamen, wenn sie irgend etwas nicht wußten. — Dabei 
lebte er ärmlich wie ein Bettler in einer Dachkammer, deren Fenster 
hinaus auf den Teinhof schaute. 

So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hülbens Ruf als Leuchte 
seiner Wissenschaft wurde allmählich Sprichwort im ganzen Lande. — 
Daß ein Mann, wie er, weichen Herzensempfindungen zugänglich sein 
könnte, zumal sein Haar schon anfing weiß zu werden und sich nie- 
mand erinnerte, ihn je von etwas anderem als von Jurisprudenz 
sprechen gehört zu haben, hätte wohl keiner geglaubt. Doch gerade 
in solchen verschlossenen Herzen glüht die Sehnsucht am heißesten. 

An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl 
schon als Höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: — 
als nämlich Seine Majestät der Kaiser von Wien aus ihn zum Rek- 
tor magnificus an unserer Universität ernannte, — da ging es von 
Mund zu Mund, er habe sich mit einem jungen, bildschönen Fräulein, 
aus zwar armer aber adliger Familie, verlobt. 

Und wirklich schien von da an das Glück bei Dr. Hulbert einge- 
zogen zn sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er 
doch seine junge Gattin auf Händen, und jeden Wunsch zu erfüllen, 
den er ihr nur irgend von den Augen abzulesen vermochte, war 
seine höchste Freude. 

In seinem Glück vergaß er jedoch keineswegs, wie es wohl so 
manch anderer getan hätte, seiner leidenden Mitmenschen. »Mir hat 
Gott meine Sehnsucht gestillt,c soll er einmal gesagt haben, — »er 
hat mir ein Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein 
Glanz vor mir hergegangen ist seit Kindheit an — er hat mir das 



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628 Gustav Meyrint, Der Gofcm 

lieblichste Wesen zu eigen gegeben, das die Erde tragt. Und so will 
ich, daß ein Schimmer von diesem Glück, soweit es in meiner kleinen 
Macht steht, auch auf andere fällt.« 

Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten 
annahm wie seines eignen Sohnes. Vermutlich in der Erwägung, wie 
wohl ihm selbst ein solch gutes Werk getan hätte, wäre es ihm am 
eigenen Leib und Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugend' 
zeit passiert. Wie aber nun auf Erden manche Tat, die dem Men- 
schen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht gleich der einer fluch* 
würdigen, weil wir Menschen wohl doch nicht richtig unterscheiden 
können zwischen dem, was giftigen Samen in sich trägt und was 
heilsamen, so begab es sich auch hier, daß aus Dr. Hulberts mitleids* 
vollem Werk das bitterste Leid für ihn selbst entsproßte. 

Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem 
Studenten und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daß sie der Rek* 
tor gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, 
um sie zum Zeichen seiner Liebe mit einem Strauß Rosen als Ge* 
burtstagspräsent zu überraschen, in den Armen dessen antraf, auf 
den er Wohltat über Wohltat gehäuft hatte. 

Man sagt, daß die blaue Muttergottesblume für immer ihre Farbe 
verlieren kann, wenn der fahle schweflige Schein eines Blitzes, der ein 
Hagelwetter verkündet, plötzlich auf sie fällt/ gewiß ist, daß die Seele 
des alten Mannes für immer erblindete an dem Tage, wo sein Glück 
in Scherben ging. Am selben Abend noch saß er, der bis dahin 
nicht gewußt, was Unmäßigkeit ist, hier beim »Loisitschek« — fast 
bewußtlos vom Fusel — bis zum Morgengrauen. Und der »Loisit- 
schek« wurde seine Heimstätte für den Rest seines zerstörten Le- 
bens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines Neubaus, 
Im Winter hier auf den hölzernen Bänken. — 

Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte hatte man 
ihm stillschweigend belassen. 

Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berühmten 
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daß man Ärgernis nähme an 
seinem Wandel. 

Allmählich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel 
in der Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gründung 



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629 



jener seltsamen Gemeinschaft, die man noch heutigen Tags »das 
Bataillon« nennt 

Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk 
für alle die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War 
irgend ein entlassener Sträfling daran zu verhungern, schickte ihn 
Dr. Hülben splitternackt hinaus auf den Altstädter Ring — und das 
Amt auf der sogenannten »Fischbanka« sah sich genötigt, einen An« 
zug beizustellen. Sollte eine unterstandslose Dirne aus der Stadt ge- 
wiesen werden, so heiratete sie schnell einen Strolch, der bezirkszu- 
ständig war, und wurde dadurch ansässig. 

Hundert solcher Auswege wußte Dr. Hulbert und seinem Rate 
gegenüber stand die Polizei machtlos da. — Was diese Ausge« 
stoßenen der menschlichen Gesellschaft »verdienten«, übergaben sie 
getreulich auf Heller und Kreuzer der gemeinsamen Kassa, aus der 
der nötige Lebensunterhalt bestritten wurde. — Niemals ließ sich 
auch nur eines die geringste Unehrlichkeit zu schulden kommen. — 
Mag sein, daß angesichts dieser eisernen Disziplin der Name »das 
Bataillon« entstand. 

Pünktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglücks 
jährte, das den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts 
beim »Loisitschek« eine seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrängt 
standen sie hier: Bettler, Vagabunden, Zuhälter und Dirnen, Trunken« 
bolde und Lumpensammler, und eine lautlose Stille herrschte wie beim 
Gottesdienst. — Und dann erzählte ihnen Dr. Hulbert dort von der 
Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen — gerade unter 
dem Krönungsbilde Seiner Majestät des Kaisers — , seine Lebens« 
geschiente: — wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben 
und später Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle 
kam, wo er mit dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner 
jungen Frau trat — zur Feier ihres Geburtstages und zugleich zum 
Gedächtnis jener Stunde, da er dereinst um sie anhalten gekommen 
und sie seine liebe Braut geworden war, — da versagte ihm jedes- 
mal die Stimme und weinend sank er am Tisch zusammen. — Dann 
geschah es wohl zuweilen, daß irgend ein liederliches Frauenzimmer 
ihm verschämt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halb- 
welke Blume auf die Hand legte. 



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630 Gustav Mtyrint, Der Gofem 



Von den Zuhörern rührte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum 
Weinen sind diese Menschen zu hart, — aber an ihren Kleidern 
blickten sie herunter und drehten unsicher die Finger. 

Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten 
an der Moldau. — Er wird, denke ich, erfroren sein. 

Sein Leichenbegängnis sehe ich noch heute vor mir. — Das 
»Bataillon« hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mög- 
lich zu gestalten. 

Voran ging der Pedell der Universität in vollem Ornat: in den 
Händen das purpurne Kissenpolster mit der güldenen Kette darauf 

und hinter dem Leichenwagen in unabsehbarer Reihe das 

»Bataillon« barfuß, schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. — Einer 
von ihnen hatte sein Letztes verkauft und ging daher: Leib, Beine 
und Arme mit Lagen aus altem Zeitungspapier umwickelt und um- 
Bunden. 

So erwiesen sie ihm die letzte Ehre. 

Auf seinem Grabe, draußen im Friedhof, steht ein weißer Stein, 
darein sind drei Figuren gemeißelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen 
zwei Räubern. Von unbekannter Hand gestiftet. — Man munkelt, 
Dr. Hulberts Frau soll das Denkmal errichtet haben. 

Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vor- 
gesehen, danach bekommt jeder vom »Bataillon« mittags »beim 
Loisitschek« umsonst eine Suppe/ zu diesem Zwecke hängen hier 
am Tisch die Löffel an den Ketten, und die ausgehöhlten Mulden 
in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt die Kellnerin 
und spritzt mit einer großen blechernen Spritze die Brühe hinein und 
wenn sich einer nicht ausweisen kann als »vom Bataillon«, so zieht 
sie die Suppe mit der Spritze wieder zurück. 

Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz 
die Runde durch die ganze Welt.« 



Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner 
Lethargie. Die letzten Sätze, die Zwakh gesprochen, wehten über 
mein Bewußtsein hinweg. Ich sah noch, wie er seine Hände bewegte, 
um das Vor- und Zurückschieben eines Spritzenkolbens klar zu 
machen, dann jagten die Bilder, die sich rings um uns herum ab- 



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Gustav Mtyrint, Der Goftm 



631 



rollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so gespenstischer 
Deutlichkeit an meinem Auge vorüber, daß ich in Momenten ganz 
mich selbst vergaß und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen 
Uhrwerk. 

Das Zimmer war ein einziges Menschengewühl geworden. Oben 
auf der Estrade: Dutzende Herren in schwarzen Fräcken. Weiße 
Manschetten, blitzende Ringe. Eine Dragoncruniform mit Rittmeister- 
schnüren. Im Hintergrund ein Damenhut mit lachsfarbigen Straußen- 
federn. 

Durch die Stäbe des Geländers stierte das verzerrte Gesicht Loisas 
hinauf. Ich sah : er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war 
da und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rücken dicht ganz dicht 
an der Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen. 

Die Gestalten hielten plötzlich im Tanzen inner der Wirt mußte ihnen 
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch, 
aber leise/ sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte/ man fühlte es 
deutlich. Und doch lag der Ausdruck hämischer wilder Freude in 
dem Gesicht des Wirtes. 

In der Eingangstür steht mit einemmal der Polizeikommissär in 
Uniform. Er hat die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. 
Hinter ihm ein Kriminalschutzmann. 

»Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? — Ich sperre die 
Spelunke. Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die 
Wachstube !c 

Es klingt wie Kommandos. 

Der Vierschrötige gibt keine Antwort, aber das hämische Grinsen 
bleibt in seinen Zügen. 
Bloß starrer ist es geworden. 

Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch. 
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein. 

Die Gesichter sind plötzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen er- 
wartungsvoll hinauf auf die Estrade. 

Eine vornehme schwarze Gestalt kommt gelassen die paar Stufen 
herab und geht langsam auf den Kommissär zu. 

Die Augen des Kriminalschutzmannes hängen gebannt an den 
herankommenden schwarzen Lackschuhen. 



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632 Gustav MeyrtnM, Der Gofem 



Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen ge- 
blieben und läßt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den 
Füßen und wieder zurückschweifen. 

Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich über 
das Geländer gebeugt und verbeißen das Lachen hinter ihren grau« 
seidnen Taschentüchern. 

Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstück ins Auge und spuckt 
einem Mädchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins 
Haar. 

Der Polizeikommissär hat sieb verfärbt und starrt in der Ver- 
legenheit immerwährend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristo^ 
kraten. 

Er kann den gleichgültigen glanzlosen Blick dieses bartlosen unbeweg- 
lichen Gesichtes mit der Hackennase nicht ertragen. 

Es bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder. 

Die Totenstille im Lokal wird immer quälender. 

»So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Händen auf 
den Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen« — flüstert der Maler 
Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier. 

Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: »Ah — Hm.« 

er kopiert die Stimme des Wirtes: »Jä, jä, das sin mir 

Gästäh — da schaut man.« Ein schallendes Gejohle explodiert im 
Lokal, daß die Gläser klirren/ die Strolche halten sich den Bauch vor 
Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand und zerschellt. Der vier- 
schrötige Wirt meckert uns erläuternd und ehrfurchtsvoll zu: »Seine 
Durchlaucht Exzellenz Fürst Fern Athenstädt.« 

Der Kavalier hat dem Beamten eine Visitkartehingehalten. Der Ärmste 
nimmt sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen. 

Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter 
geschehen wird. 

Der Kavalier spricht wieder: 

»Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, — äh — 
sind meine lieben Gäste« — Seine Durchlaucht deutet mit einer nach- 
lässigen Armbewegung auf das Gesindel, »wünschen Sie, Herr Kom- 
missär, — äh — vielleicht vorgestellt zu werden?« 

Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert etwas 



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633 



von »leidiger Pflichterfüllung« und rafft sich schließlich zu 

den Worten auf: »Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht.« 

Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hinter- 
grund auf den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im 

nächsten Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen 

Rosina am Arm herunter in den Saal. 

Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen. 
Der große kostbare Hut sitzt ihr schief und sie hat nichts an als 
lange rosa Strümpfe und — einen Herrenfrack auf dem bloßen 
Körper. — — — 

Ein Zeichen: Die Musik feilt ein wie rasend 

»Rititit — Rititit« — 

und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaro- 
mir an der Wand drüben ausgestoßen hat. 

Wir wollen gehen. 

Zwakh ruft nach der Kellnerin. 

Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte. 

Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch. 

Der Rittmeister hält die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich 
langsam mit ihr im Takt. 

Die Menge hat respektvoll Platz gemacht. 

Dann murmelt es von den Bänken: »Der Loisitschek, der Loisit« 
schek«, die Hälse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt 
sich ein zweites noch seltsameres. Bin weiblich aussehender Bursche 
in rosa Trikots, mit langem blondem Haar bis zu den Schultern, 
Lippen und Wangen geschminkt wie eine Dirne und die Augen 
niedergeschlagen in koketter Verwirrung, — hängt schmachtend an 
der Brust des Fürsten Athenstädt. 

Bin süßlicher Walzer quillt aus der Harfe. 

Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen. 

Mein Blick sucht voll Angst die Türe: der Kommissär steht dort 
abgewendet, um nichts zu sehen, und flüstert hastig mit dem Kriminal« 
Schutzmann, der etwas einsteckt. — Es klirrt wie Handschellen. 

Die beiden spähen herüber auf den blatternarbigen Loisa, der 
einen Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelähmt — das 
Gesicht kalkweiß und verzerrt vor Entsetzen — stehen bleibt. 



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634 Gustav Meyrinf, Der Gofem 



Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: 
Das Bild, wie »Prokop lauscht, — wie ich es vor einer Stunde ge- 
sehen — über das Kanalgitter gebeugt — und ein Todesschrei gellt 
aus der Erde empor, c 



Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund 
und biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzahne, daß 
es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort 
hervorbringen kann. — 

Ich kann die Finger nicht sehen, — weiß, daß sie unsichtbar sind 
— und doch empfinde ich sie wie etwas körperliches. 

Und klar steht es in meinem Bewußtsein: sie gehören zu der 
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der 
Hahnpaßgasse das Buch »Ibburc gegeben hat. 

»Wasser, Wasser !e schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den 
Kopf und leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen. 

»In seine Wohnung schaffen, Arzt holen — der Archivar Hillel 

kennt sich aus in solchen Dingen zu ihm bringen !c — beraten 

sie murmelnd. 

Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop 
und Vrieslander tragen mich hinaus. 

Gustav Meyrinß. 
C Fortsetzung folgt.) 



Für die Redaktion verantwortlich : 
Erif» Ernst SaSwaBaS — Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kreuzstraße 3 b. 
Für Österreich-Ungarn verantwortlich: Hugo Heßer, Wien I, Bauernmarkt 3. 
Gedruckt in der Offizin von PoescßeC 9t Trepte in Leipzig. 
Papier von Edm. OBst in Leipzig. 
Alle die Weißen Blätter betreffenden Zusendungen sind zu richten an die 
Redaktion der Weißen Blätter, Charlottenburg, Sybelstraße 22. 



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» 



DIE WEISSEN BLÄTTER 

EINE MONATSSCHRIFT 

ERSTER JAHRGANG 



NR. 7 MÄRZ 1914 



PUPPEN 

Zw den Wacßspuppen von Lotte Pritzef 

T TM den Umkreis zu bestimmen, in den die Existenz dieser 
\JL Puppen fällt, könnte man von ihnen vermuten, daß es ihrem 
Dasein gegenüber keine Kinder gibt, dies wäre gewissermaßen die 
Vorbedingung ihres Entstehens gewesen, daß die Welt der Kinder 
vorüber sei. In ihnen ist die Puppe endlich dem Einsehen, der Teil- 
nehmung, der Lust und dem Kummer des Kindes entwachsen, sie 
ist selbständig, sie ist groß geworden, frühalt, sie hat alle Unwirk- 
lichkeiten ihres eigenen Lebens angetreten. 

Wie bei gewissen Studenten, hat man sich nicht audi vor den 
dicken, unveränderlichen Kinderpuppen tausendmal gefragt, was später 
aus ihnen würde? — Sind nun hier die Erwachsenen zu jenen, von 
echten und gespielten Gefühlen überpflegten Puppen-Kindheiten? 
Sind hier ihre, in menschlich übersättigte Luft flüchtig hineingespielten 
Früchte? Die Scheinfrüchte, deren Keime nie zur Ruhe kamen, bald 
von Tränen fast fortgewaschen, bald der glühenden Dürre der Wut 
ausgesetzt oder der Öde des Vergessenseins/ eingepflanzt in die 
weichste Tiefe einer maßlos sich versuchenden Zärtlichkeit und hun- 
dertmal wieder herausgerissen, in einen Winkel geschleudert zu kan- 
tigen, zerbrochenen Dingen, verschmäht, verachtet, abgetan. 

Ernährt mit Scheinspeise wie der »Ka«, das Wirkliche, wo's ihnen 
durchaus sollte beigebracht werden, verwöhnt an sich verschmierend, 
undurchdringlich und in dem äußersten Zustand vorweggenommener 
Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgend einer 
Stelle einzunehmen/ ohne eigenes Urteil, nachgiebig gegen jeden 
44 



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636 Rainer Maria ßt'/Xe, Puppen 



Lappen und doch, wenn er einmal angeeignet war, ihn auf eine be- 
sondere Art besitzend, nachlässig, selbstgefällig, unrein/ nur im Augen- 
aufschlag einen Moment wach, dann sofort mit den unverhältnis- 
mäßigen berührbaren Augen offen hinschlafend, wohl kaum imstande 
zu unterscheiden, ob das mechanische Lid auf ihnen liegt, oder jener 
andere Gegenstand, die Luft/ träge: hingeschleift durch die wechseln- 
den Emotionen des Tages, in jeder liegen bleibend/ wie ein Hund 
zum Mitwisser gemacht, zum Mitschuldigen, aber nicht wie er empfäng- 
lich und vergeßlich, sondern eine Last in beidem/ eingeweiht in die 
ersten namenlosen Erfahrungen ihrer Eigentümer, in ihren frühesten 
unheimlichen Einsamkeiten herumliegend wie mitten in leeren Zimmern, 
als ob es nur gälte, das neue Geräumige mit allen Gliedern grob 
auszunutzen, — mitgezogen in die Gitterbetten, verschleppt in die 
schweren Falten der Krankheiten, in den Träumen vorkommend, ver- 
wickelt in die Verhängnisse der Fiebernächte: so waren jene Puppen. 
Denn sie selber bemühten sich nie in alledem/ lagen dann vielmehr 
da am Rande des Kinderschlafis, erfüllt höchstens von dem rudimen- 
tären Gedanken des Hinunterfallens, sich träumen lassend/ wie sie's 
gewohnt waren, am Tag mit fremden Kräften unermüdlich gelebt 
zu sein. 

• 

Wenn man überlegt, wie dankbar Dinge sonst für Zärtlichkeiten 
sind, wie sie unter ihnen sich erholen, ja wie ihnen (wenn man sie 
nur liebt) selbst die härteste Abnutzung noch als eine zehrende Lieb- 
kosung anschlägt, unter der sie zwar schwinden, aber gleichsam ein 
Herz annehmen, das sie um so stärker durchdringt, je mehr ihr Kör- 
per nachgibt <fast werden sie dadurch in einem höheren Sinne sterb- 
lich und können jene Wehmut mit uns teilen, die unsere größte 
ist — >/ wenn man dies überlegt und sich erinnert, welche feinfühlige 
Schönheit gewisse Dinge sich anzueignen wußten, die ins menschliche 
Leben ausführlich und innig einbegriffen waren/ ich meine da nicht 
einmal, daß es nötig sei, in Madrid, durch die Säle der Armeria zu 
gehen und die Rüstungen, Helme, Dolche und Doppelhänder anzu- 
staunen, in denen die reine, kluge Kunst des Harnisch fegers unend- 
lich übertroffen wurde durch ein Etwas, das der stolze und feurige 



Rainer Maria Riflie, Puppen 637 

Gebrauch diesem Gewaffen hinzufügte/ ich denke nicht an das Lachein 
und Verweintsein im Innern oft getragener Steine, ich wage nicht, 
an eine gewisse Perle zu denken, in der das Ungewisse ihrer Unter- 
wasserwelt zu so geistiger Bedeutung gesteigert war, daß die ganze 
Unkenntlichkeit des Schicksals in ihrem schuldlosen Tropfen sich zu 
beklagen schien/ ich überspringe das Innige, das Rührende, das Ver- 
lassen-Nachdenkliche von vielen Dingen, die mich durch ihr schönes 
Eingewöhntsein ins Menschliche, da ich vorüberging, erschüttert haben/ 
nur ganz einfache möcht ich rasch aufrufen: einen Nähstode, ein 
Spinnrad, einen häuslichen Webstuhl, einen Brauthandschuh, eine 
Tasse, den Einband und die Blätter einer Bibel/ nicht zu reden von 
dem großen Willen eines Hammers, von der Hingebung einer Geige, 
von dem gutmütigen Eifer einer Hornbrille — , ja wirf nur jenes 
Spiel Karten auf den Tisch, mit dem so oft Patiencen gelegt wor- 
den sind, schon steht er im Mittelpunkt weher, längst anders über- 
holter Hoffhungen. Wenn man sich dieses alles gegenwärtig machte 
und man fände im selben Augenblick — sie unter einem Haufen 
teilnahmsvollerer Dinge hervorziehend — eine unserer Puppen: sie 
würde uns fast empören durch ihre schreckliche dicke Vergeßlichkeit, 
der Haß, der, unbewußt, sicher immer einen Teil unserer Beziehun- 
gen zu ihr ausmachte, schlüge nach oben, entlarvt läge sie vor uns 
da, als der grausige Fremdkörper, an den wir unsere lauterste 
Wärme verschwendet haben/ als die oberflächlich bemalte Wasser- 
leiche, die sich von den Überschwemmungen unserer Zärtlichkeit 
heben und tragen ließ, bis wir wieder trocken wurden und sie in 
irgend einem Gestrüpp vergaßen. Ich weiß, ich weiß, wir mußten solche 
Dinge haben, die sich alles gefallen ließen. Der einfachste Verkehr der 
Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus, mit einer Person, die etwas 
war, konnten wir unmöglich leben und handeln, wir konnten uns höch- 
stens in sie hineindrücken und in ihr verlorengehen. Der Puppe gegen- 
über waren wir gezwungen, uns zu behaupten, denn wenn wir uns an 
sie aufgaben, so war überhaupt niemand mehr da. Sie erwiderte 
nichts, so kamen wir in die Lage, für sie Leistungen zu übernehmen, 
unser allmählich breiteres Wesen zu spalten in Teil und Gegenteil, 
uns gewissermaßen durch sie [die Welt, die unabgegrenzt in uns 
überging, vom Leibe zu halten. Wie in einem Probierglas mischten 



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638 Rainer Maria R/fie, Puppen 



wir in ihr, was uns unkenntlich widerfuhr, und sahen es dort sich 
färben und aufkochen. Das heißt, auch das erfanden wir wieder, sie 
war so bodenlos ohne Phantasie, daß unsere Einbildung an ihr un- 
erschöpflich wurde. Stundenlang, ganze Wochen mochte es uns be- 
friedigen an diesem stillhaltenden Mannequin die erste Seide unseres 
Herzens in Falten zu legen/ aber ich kann mir nicht anders vor- 
stellen, als daß es gewisse, zu lange Nachmittage gab, in denen 
unsere doppelten Einfälle ermüdeten und wir ihr plötzlich gegenüber 
saßen und etwas von ihr erwarteten. Möglicherweise lag dann eins 
von jenen Dingen in der Nähe, die von Natur häßlich und dürftig 
und deshalb voll eigner Ansichten waren, der Kopf eines Kaspers, 
der nicht umzubringen war, ein halbzerbrochenes Pferd, oder etwas, 
was Lärm machte und es ohnehin kaum erwarten konnte, uns und 
diese ganze Stube mit allen Kräften zu übertönen. Aber wenn nicht/ 
wenn nichts dalag und uns auf andere Gedanken brachte, wenn jenes 
beschäftigungslose Geschöpf fortfuhr, sich schwer und dumm zu 
spreizen, wie eine bäurische Danae nichts anderes kennend, als den 
unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung: ich wollte, ich könnte 
mich entsinnen, ob wir dann aufbegehrten, auffuhren und dem 
Ungeheuer zu verstehen gaben, daß unsere Geduld zu Ende wäre? 
Ob wir dann nicht, zitternd vor Wut, vor ihr standen und wissen 
wollten, Posten für Posten, wofür sie unsere Wärme eigentlich ge- 
brauche, was aus diesem ganzen Vermögen geworden sei? Dann 
schwieg sie, nicht aus Überlegenheit, schwieg, weil das ihre ständige 
Ausrede war, weil sie aus einem nichtsnutzigen, völlig unzurechnungs- 
fähigen Stoff bestand, — schwieg und kam nicht einmal auf den 
Gedanken, sich darauf etwas zugute zu tun, ob es ihr gleich zu 
großer Bedeutung verhelfen mußte in einer Welt, in der das Schicksal, 
ja Gott selber, vor allem dadurch berühmt geworden sind, daß sie 
uns anschweigen. Zu einer Zeit, wo noch alle bemüht waren, uns 
immer rasch und beschwichtigend zu antworten, war sie, die Puppe, 
die erste, die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, das uns 
später immer wieder aus dem Räume anhauchte, wenn wir irgendwo 
an die Grenze unseres Daseins traten. Ihr gegenüber, da sie uns 
anstarrte, erfuhren wir zuerst <oder irr ich mich?) jenes Hohle im 
Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht 



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Rainer Maria Mi*. Puppen 639 



die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Ab« 
gründe hinüberhöbe. Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, daß wir 
uns gehen und anleiten lassen, unsere erste Neigung dort anzu- 
legen, wo sie aussichtslos bleibt? So daß überall in den Geschmadc 
jener unüberlegtesten Zärtlichkeit die Bitternis sich verteilte, daß sie 
vergeblich war. Wer weiß, ob nicht mancher später, draußen im Leben, 
aus solchen Erinnerungen den Verdacht nimmt, daß er nicht zu 
lieben sei? Ob nicht in dem und jenem seine Puppe heillos weiter« 
wirkt, so daß er hinter vagen Befriedigungen her ist, einfach aus 
Widerspruch gegen das Unbefriedigtsein, mit dem sie sein Gemüt 
verdorben hat? — Ich entsinne mich, auf dem Herrenhaus eines ab- 
gelegenen russischen Gutes, in den Händen der Kinder, eine alte 
vererbte Puppe gesehen zu haben, der die ganze Familie ähnlich 
sah. — Es könnte ein Dichter unter die Herrschaft einer Marionette 
geraten, denn die Marionette hat nichts als Phantasie. Die Puppe hat 
keine und ist genau um so viel weniger als ein Ding, als die Marionette 
mehr ist. Aber dieses Wenigersein-als-ein-Ding in seiner ganzen 
Unheilbarkeit, enthält das Geheimnis ihres Übergewichts. An die 
Dinge muß sich das Kind gewöhnen, es muß sie hinnehmen, jedes Ding 
hat seinen Stolz. Die Dinge dulden die Puppe, keines liebt sie, man 
könnte meinen, der Tisch wirft sie ab, kaum sieht man fort, liegt 
sie schon wieder auf dem Fußboden. Anfänger der Welt, die wir 
waren, konnten wir über nichts überlegen sein, als höchstens über 
einen solchen halben Gegenstand, der uns hingelegt worden war, wie 
man den Tieren in den Aquarien einen Scherben hinlegt, damit sie 
an ihm ein Maß und Kennzeichen ihrer Umwelt fänden. Wir orien- 
tierten uns an der Puppe. Sie lag tiefer von Natur, so konnten wir 
unmerklich gegen sie abfließen, uns in ihr sammeln und, wenn auch 
ein wenig trübe, die neuen Umgebungen in ihr erkennen. Aber wir 
begriffen bald, daß wir sie weder zu einem Ding noch zu einem 
Menschen machen konnten, und in solchen Momenten wurde sie 
uns zu einem Unbekannten, und alles Vertrauliche, womit wir sie 
erfüllt und überschüttet hatten, wurde uns unbekannt in ihr. 

Daß wir dien aber dann doch nicht zum Götzen machten, du Balg, 
und nicht in der Furcht zu dir untergingen, das lag daran, will ich 
dir sagen, daß wir dich gar nicht meinten. Wir meinten etwas ganz 



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640 Rainer Maria Riße, Puppen 

anderes, Unsichtbares, das wir über dich und uns, heimlich und 
ahnungsvoll, hinaushielten, und wofür wir beide gleichsam nur Vor- 
wände waren, eine Seele meinten wir: die Puppenseele. 

• * 
* 

Große mutige Seele des Schaukelpferds, du Wellenbadschaukel 
des Knabenherzens, die die Spielzimmerluft aufregte, daß sie wie 
über den berühmten Schlachtfeldern der Erde sich überschlug, stolze, 
glaubwürdige, fast sichtbare Seele. Wie du die Mauern, die Fenster- 
kreuze, die täglichen Horizonte zum Schwanken brachtest, als rüt- 
telten schon die Stürme der Zukunft an diesen überaus vorläufigen 
Übereinkünften, die, im Anstehn der Nachmittage etwas so Unüber- 
windliches annehmen konnten. Ach wie rissest du einen, Schaukel- 
pferdseele, hinaus und hinüber ins unaufhaltsam Heldische, wo man 
heiß und glorios unterging mit der schrecklichsten Unordnung in den 
Haaren. Dann lagst du daneben, Puppe, und hattest nicht soviel 
Unschuld zu begreifen, daß dein heiliger Georg das Tier deiner 
Stumpfheit unter sich wiegte, den Drachen, der unsere flutendsten 
Gefühle in dir zur Masse werden ließ, zu einer perfiden gleichgül- 
tigen Unzerbrechlichkeit. — Oder du, überzeugte Seele der Tram- 
bahn, die in uns fast überhand nehmen konnte, wenn wir nur mit 
einigem Glauben an unsere Wagennatur in der Stube herumfuhren. 
Seelen, ihr, aller der einsamen Spiele und Abenteuer/ einfältig ge- 
fällige Seele des Balls, Seele im Geruch der Dominosteine, uner- 
schöpfliche Seele des Bilderbuchs. Seele der Schultasche, gegen die 
man schon ein wenig mißtrauisch war, weil sie's oft ganz offen mit 
den Erwachsenen hielt/ taube Trichterseele der braven, kleinen Blech- 
trompete: wie wart ihr alle leutselig und beinahe greifbar. Nur du, 
Puppenseele, von dir konnte man nie recht sagen, wo du eigentlich 
warst. Ob du dich gerade bei einem aufhieltest, oder bei der schläf- 
rigen Kreatur da drüben, der man dich beständig einredete/ sicher 
verließen wir uns oft einer auf den anderen und am Ende hielt dich 
keiner, und du wurdest mit Füßen getreten. Wann warst du eigendich 
jemals gegenwärtig? Am Geburtstagsmorgen vielleicht, wenn eine 
neue Puppe dasaß und sich fast etwas Körperwärme aneignete von 
dem noch warmen Kuchen neben ihr? Oder am Vorabend von 



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Rainer Maria Ritte. Puppen 641 



Weihnachten, wenn die bisherigen Puppen die überwiegende Nähe 
der künftigen ahnten durch die seit Tagen unzugängliche Zimmertür? 
Oder, mit mehr Wahrscheinlichkeit, wenn eine Puppe so plötzlich 
hinfiel und häßlich wurde: da war's eine Sekunde, als überraschte 
man dich. Audi, glaube ich, warst du imstande, so ungenau weh- 
zutun wie beginnender Zahnschmerz, von dem man noch nicht weiß, 
wo er eigentlich sein wird, wenn die Lieblingspuppe Anna plötzlich 
verloren ging, nie wiedergefunden werden sollte in alle Ewigkeit: 
weg war. Aber im Grunde war man so beschäftigt, dich zu erhalten, 
daß man keine Zeit hatte, dich festzustellen. Ich habe kein Urteil 
darüber, wie es ist, wenn ein kleines Mädchen stirbt und eine ihrer 
Puppen (vielleicht eine, die bis dahin recht vernachlässigt war) nicht 
von sich läßt, auch ganz zuletzt nicht, so daß das arme Ding, 
ordentlich dürr und welk von der heiß zehrenden Fieberhand, ins 
Ernste, Endgültige mit hineingerissen wird: ob dann ein bißchen 
Seele sich in ihm sammelt, neugierig, eine wirkliche Seele zu sehen? 

« 

O Puppenseele, die Gott nicht gemacht hat, du, von einer un- 
besonnenen Fee launisch erbetene, von einem Götzen mit Überan- 
strengung ausgeatmete Ding-Seele, die wir alle, halb ängstlich, halb 
großmütig, erhalten haben und aus der keiner sich völlig zurück- 
nehmen kann, — o Seele, die nie recht getragen worden ist, die 
immer nur, beschützt von allerhand altmodischen Gerüchen, in Auf- 
bewahrung war <wie die Pelze im Sommer): siehe, da sind nun in 
dich die Motten gekommen. Zu lange hat man nicht mit dir gerührt, 
nun schüttelt dich eine Hand, besorgt und mutwillig zugleich, ~ sieh 
sieh, da flattern aus dir alle die kleinen wehleidigen Falter hervor, 
unbeschreiblich sterbliche, die im Augenblick, da sie zu sich kommen, 
schon anfangen, von sieb Abschied zu nehmen. 

So haben wir dich am Ende recht zerstört, Puppenseele, indem 
wir dich in unseren Puppen zu pflegen meinten, sie waren wohl 
schon die Larven, die dich ausfraßen ~, da erklärt es sich auch, daß 
sie so dick und träge waren und daß an sie keine Nahrung mehr 
anzubringen war. 

Nun flüchtet dieses neue, scheue Geschlecht hervor und flattert 



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Rainer Maria Rittie. Puppen 



durcb unser dunkles Gefühl. Sieht man es, man möchte sagen, daß 
es kleine Seufzer sind, so dünn, daß für sie unser Ohr nicht mehr 
ausreichte, sie erscheinen, schwindend, an der schwankendsten Grenze 
unseres Gesichts. Denn dies allein beschäftigt sie: hinzuschwinden. 
Geschlechdos wie die Kinderpuppen selbst es waren, finden sie 
keinen Untergang in ihrer anstehenden Wollust, die nicht Zufluß 
noch Abfluß hat. Es ist, als verzehrten sie sich nach einer schönen 
Flamme, sich falterhaft hineinzuwerfen <und dann müßte der augen- 
blickliche Geruch ihres Aufbrennens uns mit grenzenlosen, nie ge- 
wußten Gefühlen überfluten). Wie man das so denkt und aufsieht, 
steht man, fast erschüttert, vor ihrer wächsernen Natur. 

Rainer Maria Rifäe. 



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Kart Offen, Mistra, aus Afßanien 



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MISTRA/ AUS ALBANIEN 

|\ER Morgen senkte die zitternden Lote seiner ungewissen Blicke 
1— J auf die Ebene zu Fußen dem Taygetos, die noch fröstelnd 
vom Tau der Nadit versdiauerte. Mit der steigenden Sonne, die 
weit hinter der Berge Granitgewölben ansdiwoll, schrumpften Nebel 
und Dunst zu Schatten, die Kälte und Blindheit um uns senkten. 

»Die Quelle hier am Grund der steilen, schwarzen Höhe, ent- 
stand durch ein Erdbeben. Qualm und Feuer brachen plötzlich aus 
den Kluften und dann versiedite das Wasser oben in der Stadt, 
das letzte Lebendige von Anbeginn zog sich zurück aus ihren 
Trümmern und Gräbern. Nun mahlt die Sonne gelben Staub aus 
ihren Steinen. Um uns aber wachsen und blühen Reben und Zypressen, 
und den Ziegen fehlt es nie an saftigem Gras auf den Weideplätzen 
der Niederung.« 

Der Sohn des Popen Papanikolaou deutete seitwärts vom Tayge- 
tos auf eine gelbe Felswand. Ockerfarben rauchte Lohe trocken in 
die blendende, gesättigte Bläue des Firmamentes. 

Im Zickzack führten Maultiersteige zwischen hohen gelben Mauern 
hinan, aus deren Fugen buntes Unkraut leise wuchert. Klagend 
öffnet sich endlich der Weg wie eine Trompete. Uralte Steine sind 
kantig, hartnäckig schief eingelassen, wie Keime felsiger Saat ragen 
sie spitz empor. Dazwischen wackelt Gras, mannshoch, trübe und 
schmutzig. Ein breites ungeschmücktes Tor springt vorsichtig über 
den Kehricht. In seinem Schatten lauert hinterhältig die erste Kirche, 
glühendrot. Eingestürzt und knöchern klafft die Krypta, von Gestrüpp 
wirr umhaart/ eine Kuppel rollt trübe grüne Ziegel, Schuppen fauler 
Fische gleichend. Hohe Häuser, durchlöchert, ohne Fenster. Kubische 
Backöfen zweckloser Gluten, rechts und links Ruinen einödiger 
Paläste, gebraten in der Tage Hitze, gefroren in der feuchten Kälte 
der Nächte. Ratten, Füchse und Hyänen poltern und klabautern 



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Karf Otten, Mistra, aus AfBanien 



durch das Gerümpel. O Stadt der Geister, hieratisch strenge Quader* 
Straßen. Ihr Kirchen mit den blassen und roten Heiligen, flach und 
zeigend, mit der Geste an die bröckelnden Mauern angeheftet. 
Hinter den Altären ärmliche Säcklein aus Kattun, Knochen der Arme 
und Beine, Schulterschaufeln, Schädel von Kindern klein und Weibern, 
wie Knicker im Säckchen aufgehängt. Die trockene Luft staut sich 
vom Dunst des Knochenmehls geschwängert und vergeht in sich. 
Ihr prächtigen Säulen schwersten Marmors mit den infantilen Kapi- 
talen in Hast geschnitzt, Wirrnis und Angst der Ornamente, die 
Spiralen und Kurbeln und Knäuel in den Spinngewebeecken häufen. 
Der Pantokrator blickt auf Gras und Knochen, auf Staub und Moder 
aus streng gefesselten Mondaugen. Fledermäuse und Uhus hocken 
in den Nischen hinter dem pentelischen Gerüste des Ikonostasios. In 
diesem Kerker ließ Konstantinos Paläologos sich schmachten und von 
erruhter Größe umträumen. Hier schlug man ihm den Nacken durch 
und sein weicher Mund spie blaues Blut und biß in die grünende Erde. 

Konzentrisch kreisen Gassen um schiefe Plätze, wo Grassamen 
flattert, vorne dröhnen deine Paläste wie Burgen, ihr Rücken knackt 
im Staub der Hütten. Trübes Leuchten vom glatten Glanz polierter 
Fensterkreuze! Angst der Brücken, Flucht versprengter Straßen, er- 
stickt im Mörtelstaub, Bruch und Trümmersturz. Euch wusch der 
Regen der Gewitter blind, was die Bluttränen deiner Völker nicht 
vermochten, von raschem Tode dahingerafft. Atemlosigkeit und Zug 
und verklammerte Angst deiner Wege. Hier sollten Europas Bor- 
delle angepflanzt werden. Beim Schein des dicken Mondes, der des 
Taygetos rissige Flanken abwärts kugelt, erheben sich Georgios, 
Leonidas, Loukas aus ihren Höhlen, rappeln sich die Skelette aus 
den Massengräbern. Mörder auf Weg und Steg, Hinterhalt, Verrat, 
Erpressung. Wie ließe sich das letzte Geheimnis der Raffinesse 
dieser Weiber kristallisieren! Und die Angst vor dem Mord und 
die Mysterien der roten Laterne. Die trüben Gefängnisse von Athen 
und Nauplia müssen her und die Irren aus den Klöstern Thrakiens. 

Die letzte Rettung für euer Siechtum, für den Sturz in die Tiefe 
der Verwesung ist das Kloster der Frauen, das offen wie ein Schoß 
am Berge klebt. Festung der Keuschheit, mauergekrönt, Zinnen aus 
Bernstein, funkelnde Tiefe der Goldmosaiken im Hallen der Gewölbe. 



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Karf Offen, Mistraj aus Afßanien 



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Ihr Nonnen, die ihr im Hof in starrer Stummheit schleicht, ihr 
müßt eure Gewänder wechseln! Fort mit den verwaschenen, ver- 
schossenen Kaftans, die olivenfahle Trübnis hilflos spiegeln. Gotr 
steh euch bei! Ihr wurdet fett und mundfaul und eure Zöpfe sind 
Dochte, die nunmehr Schweiß saugen. Das öl der Frömmigkeit habt 
ihr verbrannt und nun jammert ihr dem Heiland -Bräutigam eures 
Singsangs ungestillte Trostlosigkeit zu, bis an euren Tod. Und ihr 
werdet eurer Knochen liebliches Rund den bruchigen Skeletten zu- 
gesellen zu freudlosem Todesbeischlaf. 

Nonnen Mistras, ihr verkörpert die muffige Unfruchtbarkeit des 
Todes dieser Stadt. Ihr macht sie lebendig, ihr infiziert sie immer 
wieder mit unstillbarer Sucht nach Enkeln. Aber die Straßen und 
Häuser, die Kirdien und Ställe sind monotonen Schicksals geborstene 
Krüge. Soviele Fenster soviel Blindheit, soviel Brücken soviel Dürre, 
soviel Dächer soviel Blöße, soviel Kuppeln soviel Schweigen und 
Bosheit. Du stummes Tier in der Haut des Berges, du maskierte 
Leiche mit dem Visier des Goldes, noch niemand erkannte ich dich von 
der Ebene aus. Du bist scnamlos und zwingst uns in deinem Leib 
zu wühlen, du öffnest Gruben und Fallen um uns zu Fall zu 
bringen. Die rosigen Brüste deiner Kuppeln, die braunen Haare 
deiner lechzenden Steingefilde schmachten lüstern aus der Front. 

Schützender Traum des letzten Byzantiners! Der Moslem trieb 
die Schafe deiner Wehren in das Bett der reißenden Tiefe, ertränkte 
deine Wälle mit Blei und schminkte deine Wege mit Blut. Die Häute 
deiner Weiber wehten von den Beinknochen deiner Männer und 
deine Gewölbe bersten von Kadavern und Spinnen. Nun walten 
Mumien braun und dürr der Stille. Ihr Atem weht Staub, ge- 
schwängert von widerlichem Duft. Von oben sendet der Lawinen- 
rutsch und -stoß Felsgeröll, Sand und Bäume, deine letzten Stützen 
einzurammen. Das Maultier, das den Nonnen Mehl und Wasser 
zuträgt, muß jedes Frühjahr andere Wege suchen. Bis die letzte 
den weißen Schleier unterm Kinn zum Stricke windet und mit dem 
Kopfe: Tod! in den Wind der Berge läutet. 

Karf Oüen. 



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FLAUBERT UND DOSTOJEWSKI 



GRUNDRISS EINES VERGLEICHES 



»Wir nehmen keine DurAsdmittsphilosophie an, 
denn wir glauben an das Ende, sehen das Ende, wollen 
das Ende, denn wir selbst — sind ein Ende, oder 
wenigstens der Anfang vom Endete 



Meresdikowsky. 



UF die Gefahr hin, des ärgsten Asthetizismus geziehen zu 



J~~\ werden, möchten wir von der Behauptung ausgehen, daß keine 
Nation, keine Volkseinheit, keine von jenen natürlichen Größen, 
welche duren das Fluidum Sprache zusammengehalten werden, sterben 
kann, auszusterben wagt, ohne ganz bestimmte Möglichkeiten ver- 
wirklicht zu haben, die, gesondert betrachtet, einen ausschießlich 
künsderischen Wert zu haben scheinen. Die Künstler haben aller- 
dings alle persönlichen Beziehungen zum sogenannten Leben größten- 
teils aufgelassen, um sich auf einen diplomatischen Verkehr mit den 
unmittelbaren Realitäten zu beschränken <die da heißen: Geld, Pu- 
blikum usw.)/ um ein Ideal aufzustellen, das zwischen Sein und Un- 
sein hängend eine ewig quälende Frage gebiert, anstatt eine ewig 
gültige Antwort zu schaffen. Nun : das Hinhorchen nach diesem be- 
ständig lispelnden, murmelnden, gurgelnden Rätsel, das Herum- 
schleichen um das Lager der Sphinx, das kosmische Nichts- Wissen 
und Nichts- Wissen- Wollen können so viel zehrende Wollust und 
freudige Pein mitteilen, daß ein schmerzlicher Verzicht in der Ein- 
sicht liegt, jede bisher erreichte künstlerische Vollendung sei in jedem 
einzelnen Falle nur in vollkommener Übereinstimmung mit einer 
nationalen Eigenart erreicht worden. Der Beweis dafür ist am leich- 





Otto Kaus, Ttaußtrt und Dostojewski 647 



testen durch die Beobachtung gegeben, daß gerade die extremsten 
Realisierungen ästhetischer Möglichkeiten am deutlichsten die Ent- 
fernungen ahnen lassen, welche Volk von Volk trennen. Obwohl 
eine beängstigende Analogie aus allem Gedanklichen jener Werke 
herausgelesen werden kann, die man als »klassisch« ansehen muß/ 
obwohl die Zauberformeln, Schlußfolgerungen/ Wahrheiten und Lögen 
letzten Endes immer dieselben sind/ obwohl uberall der Stein der 
Weisen ein Synonym für Gold ist/ obwohl überall dieselbe Sonne 
aufgeht, derselbe Mond scheint, derselbe unbekannte Gott waltet. 
Jedes Volk, jeder Mensch steht am Ende seiner Tat oder seines 
Lebens vor derselben Mauer, dem gleichen Abgrund. 

Aber die Wege, auf denen er zu seinem Ziele gelangt, sind bei 
jedem verschiedene. Der Tod gleicht alle Unterschiede aus, aber 
Krankheiten gibt es viele. 

Flaubert und Dostojewski standen beide vor derselben Aufgabe: 
das Epos. Beide haben ihre Aufgabe rühmlich vollbracht, so daß 
man die Empfindung hat, sie hätten nicht nur irgend ein Ausdrucks- 
mittel ihrer Rasse vervollkommnet, erschöpft, sondern mehr: als 
hätten sie das ganze Schicksal ihres Landes beschleunigt, nach einer 
Seite hin erfüllt, als würden sie jetzt teilnehmen an jedem Sieg, an 
jeder Niederlage, als leisteten sie ihren Brüdern Gesellschaft bei der 
Arbeit und in der Muße, in Freud und Qual, im Wachen und 
Träumen. Man denkt durch sie, man spricht durch sie, man liebt 
durch sie/ sie sind die Linse im Auge und ein Schleier über allen 
Dingen/ ein Schleier, der nicht verhüllt, sondern aus Glanz und 
Licht gewoben zu sein scheint, denn die kleinen und großen Dinge 
empfingen die Gabe des eigenen Leuchtens, des sprechenden Lichtes. 
Beide Dichter bestanden dieselbe Prüfung, beide beantworteten das 
Rätsel der Sphinx mit der gleichen Lösung. Das stimmt so genau, 
daß es sich sogar an literar« historischen Begriffen nachweisen läßt: 
Frankreich und Rußland sind die einzigen europäischen Nationen, 
die ein realistisches Epos besitzen (wobei wir unter Realismus den 
Gipfelpunkt des Klassizismus verstehen möchten). 

Daher leiten wir die Berechtigung ab, diese zwei Namen in einem 
Atem zu nennen. Mehr als sie einander gegenüberstellen, kann man 
unmöglich tun/ zu vergleichen, das heißt: Analogien aufzudecken, 



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Otto Kaus. Tfaußert und Dostq/ews/ti 



<und Gegensätze sind auch Analogien, negativer Art) ist ein frucht- 
bares Beginnen nur bei Phänomenen, die sich in der Entwicklung 
befinden/ fertige Tatsachen widerstreben jeder Annäherung. Ich 
glaube nicht, daß sich die beiden Dichter irgendwie befreundet hätten, 
gemeinsame Interessen, gemeinsame Gewohnheiten gefunden hätten, 
wenn sie sich in ihrem Leben jemals begegnet wären, — etwa zur 
Zeit, da Flaubert an der »Education sentimentale« und Dosto- 
jewski am »Idioten« schrieb. Es wäre bei einer kühlen Verbeugung 
geblieben. Der Franzose hätte sich höchstens über das linkische Be- 
nehmen des Russen gewundert und der Russe hätte sich gedacht: 
schon wieder so einer, der die Verderbnis aussät. <Vide: die Fran- 
zosen im »Spieler«.) Man denke nur an den Zwiespalt zwischen 
Dostojewski und dem romanisch angehauchten Turgenjeff, der wieder 
der beste Freund Flauberts war! 

Denn das ist auch eine Tatsache, welche den engen Rahmen der 
puren Ästhetik sprengt: daß nur jenen Individuen die Fähigkeit ge- 
geben wurde, »klassisch« zu wirken, welche es verstanden, die ver- 
borgenste Fiber ihres Fleisches mit dem hellsten Strahl ihres Geistes 
zu verweben/ welche sich einem Prozeß der restlosen Entmateriali- 
sierung unterwarfen, welche keinen Unterschied kannten zwischen 
Werk und Leben. Deren Dasein neben dem Werke wie ausge- 
löscht, in Demut versunken wirkt. Durch diese Einsicht dringt man 
in ein wild umstrittenes und geizig überwachtes Gehege. Und es 
scheint in der Tat von vornherein keine vernünftige Beziehung 
zwischen der Art und Sitte zu liegen, nach welcher ein Mensch geht, 
steht, liebt und ißt, und den Zielen, die er beim Schreiben und 
Schatten verfolgt. Aber es ist von vornherein auch ein kunst- 
fremdes Phänomen: daß ein Mensch im Sakko anders spricht, als 
ein Mensch in der Toga. Die Seele des Dichters ist doch einfach 
ewig, nicht wahr? und die Römer hatten auch einen Alltag? Harmonie 
der Farben und Linien, Kontrapunkt, Steigerung und Spannung 
sind überall möglich? Und doch sind das Dämme, Schranken, gegen 
welche Generationen und Generationen ihre Heere entsenden, ohne 
sie überwinden zu können. Bis einer kommt, dem die letzte Prüfung 
keine Prüfung ist, das letzte Opfer kein Opfer, der aus der größten 
Nähe zu den Dingen, die höchste Kunst, die letzte Ferne schafft. 



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Otto Kaus, TtauBert und Dostojewski 



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Nicht als ob ihm dann alle Hilfsmittel mühelos zuströmten, auch 
seiner harren unendliche Mühen, blutige Niederlagen — aber der 
Erfolg ist eigentlich in ihm, noch bevor er einen Finger gerührt hat. 

An Dostojewskis Werk haben die zehn Jahre Katorga und die 
Zwangsarbeit in Sibirien kaum einen geringeren Anteil, als seine 
rechte Hand, welche die unberechenbare Arbeit Wort für Wort, 
Buchstaben um Buchstaben praktisch erledigte. Flauberts Reise nach 
Ägypten ist wichtig wie irgend eines seiner Werke. Und zwar darf 
man die Bedeutung dieser Ereignisse nicht einfach daraus deduzieren, 
daß sie den Künstlern Stoff und Material boten/ der Zusammen- 
hang ist tiefer, intensiver. Die Reise nach Ägypten entspricht einer Er- 
oberung der Welt, ist im Leben Flauberts, was im Leben Europas 
die Entdeckung Amerikas bedeutet. Wenn sie unterblieben wäre — 
nun, so wäre etwas Anderes, Gleichwertiges geschehen. Aber es 
mußte geschehen. Dostojewski trug Sibirien in sich, weil er ganz 
Rußland in seiner Seele trug/ weil seine Seele bald wie ein Leichen- 
tuch über Rußlands Leiche lag, bald wie eine Fahne von der höchsten 
Zinne flatterte/ er ertrug Sibirien so leicht, weil er schon hundert 
Belastungsproben durchgemacht hatte: jeder seiner Gedanken barg 
in sich das Klirren der Ketten, das Hämmern der Bergwerke, das 
Klatschen der Knuten. Den einen fesselt der Versuch, vor seinem 
Lande zu fliehen, die Seele seines Volkes ebenso zu verleugnen, 
wie er seine eigene Seele verleugnen möchte, stärker an seine 
Mission, als jede Vaterlandsliebe. Der andere sieht aus der tiefsten 
Schmach die alldurchdringende Erlösung wachsen. 

Dabei gibt es wenige Künstler, die uns, sobald wir uns ent- 
schlossen haben, ihr Werk als Hintergrund ihrer Persönlichkeit, ihre 
Persönlichkeit als Hintergrund ihres Werkes in unser Blickfeld auf- 
zunehmen, gleich diesen beiden in der ersten Impression so viel 
Enttäuschungen, so viel Erstaunen mitteilen. Es überfällt uns ein 
Gefühl der Befremdung, welches durch die wenigen Verständlich- 
keiten, die sich hier und da von selbst ergeben, nur noch ärger be- 
lastet wird. Denn alle unmittelbar auffallenden Analogien vertragen 



650 



Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski 



nicht die leiseste Nachprüfung und schrumpfen zusammen, wenn man 
sie zu Eingangspforten zu besserem Verständnis erweitern will. Vage 
Analogien wären z. B. alle rein äußerlichen Übereinstimmungen, 
zwischen Leben und Oeuvre <wir haben einige schon genannt: »Sa- 
lammbö« — Reise nach Ägypten »Erinnerungen aus einem Totenhaus« 
— Katorga, die Liebe zu Madame Schlesinger — Madame Arnoux/ 
Dostojewskis Epilepsie — das periodische Irresein der Fürstin Mischkin)/ 
ferner alles, was die »Rasse« durch einfachen aktuellen Kontakt ab- 
gefärbt zu haben scheint. Die Einfachheiten der Dichter sind ganz 
anderer Art, und eine unmittelbare Wärmeproduktion durch primi- 
tive Reibung ist bei ihnen ausgeschlossen/ alle Strahlen, die von 
ihnen ausgehen, kommunizieren wohl mit Lichtquellen, die hinter, 
vor und neben ihnen stehen, aber beim Durchgang durch das Me- 
dium ihrer Seele sind die Ablenkungen und Reflexionen so vielfach 
und kompliziert, daß man es Zufall nennen könnte, wenn der Aus- 
trittsstrahl parallel zum Einfallstrahl schwingt: Zufall, wenn wir uns 
nicht in der Sphäre der Notwendigkeiten bewegten. Es wirkt banal, 
gerade weil es logische Berechtigung hat, Foma Fomitsch gegenüber 
vom »Schmarotzerproblem« zu sprechen/ in »Madame Bovary« das 
Provinzielle aufzudecken /Petersburg als Verwaltungsstadt im »Doppel- 
gänger« wiederzufinden/ die »Legende« ohne weiteres mit dem Livre 
d'heures du Chevalier d'Etienne von Fouquet zu verknüpfen. Wir 
halten es sogar für voreilig, ohne weiteres den Idioten als den rus- 
sischen Christus zu begrüßen, aus Salammbö die Hochkultur zu er- 
kennen, aus welcher Flaubert schafft. Das höchste Gebot des Russen 
heißt: unterwerfe dich dir in dir ist die Einheit! Mag sich ihm 
auch gleich Einheit als Zusammenhang mit dem Volk interpretieren, 
so müssen wir seinen Spuren folgen und zuerst die Grenzen seiner 
objektiven Einheit zu zeichnen suchen. Der Franzose sieht im Ich 
den größten Feind der Allgemeinheit (unterwerfe dich) und zerhackt 
und zerstückelt sich, bis er alle Schwere von sich abgewälzt hat. 
Aber wir müssen diesen Zerbröckelungsprozeß mitmachen, wenn 
wir sein Ziel begreifen wollen. 

Am eindringlichsten kann man den Unterschied zwischen den beiden 
Betrachtungsweisen an einer nebensächlichen Einzelheit erläutern. 
Luschkin besucht Raskolnikow und_ was uns der Dichter zuerst mit- 



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Otto Kaus, TCaußert und Dostojewski 651 



teilt, Ist, daß dieser Mensch besondere Sorgfalt auf seine Wäsche 
legt. Flauberts erste Sorge besteht darin, uns über die Vermögens- 
verhältnisse seiner Helden aufzuklären. Ganz abgesehen davon, daß 
man im ersten Falle von einer Kontrastwirkung sprechen könnte 
<der verlotterte Raskolnikow — der Modegeck Luschkin), was nur einen 
guten Beweis für die Kommunion von Technik und Seele beim form* 
los gelästerten Russen erbringt, ist es so naheliegend, auf die »Kul- 
tur« des Franzosen hinzuweisen, dem es selbstverständlich wird, 
daß ein Mensch, der einem bestimmten Zensus angehört, seine äußere 
Erscheinung nach bestimmten Ansprüchen kombiniert. Und doch ist 
andererseits das russische Problem mit dem Abscheu unserer Jour- 
mütter vor Leuten mit schmutzigen Krägen nicht abgetan. Die Platt- 
heit der zweiten Argumentation entwertet den Tiefeinn der ersten. 

Man braucht sich jedoch nur vorzuhalten, daß der Weg vom Be- 
griff: Mensch, zum Begriff: Hemd, ein ganz anderer ist, als von: 
Mensch zu »Kapital« <ob kürzer oder länger, ist in diesem Augen- 
blick unwichtig), um einzusehen, daß man uns ebensowenig ver- 
bieten kann, unser Augenmerk auf die Details zu lenken und sie in 
den großen Zusammenhang einzubeziehen, als man uns verwehren 
könnte, von Rembrandts Lichtreflexen, selbst mit Ausscheidung seiner 
Köpfe, seiner Augen, seiner Palludamente direkt auf seine Religio- 
sität zu schließen, von Watteaus »flachem Dreieck« ohne Beachtung 
der Masken und Schäferinnen, des farbigen Rausches und des Flucht- 
bedürfnisses, welches die Paare in die Cytherenbarke treibt <wie vor 
einer Sintflut eigener Art), unmittelbar auf eine hinter der Kulisse 
des Genusses und der Lust <die aufsteigenden Äste der Figur) 
schlecht kaschierte Lebensöde und Leere, auf ein Nicht-beherrschen- 
können der Welt überzugehen <die weit ausgreifende, im Vergleich 
zum lastenden Objekt viel zu wuchtige Grundlinie). 

Alle die Analogien, die wir früher zu verurteilen schienen, müs- 
sen uns jedoch, wenn wir uns anstatt von der Oberfläche gegen den 
Mittelpunkt, in der entgegengesetzten Richtung bewegen, wieder in 
den Weg treten, und vielleicht sogar dasselbe Vorzeichen tragen, 
dieselben Werte bergen, die wir jetzt verleugnen müssen, da sie als 
Ausgangspunkt viel zu seitlich liegen. In weiten Umrissen ist der 
Eindruck, den Flaubert und Dostojewski als einheitliche Phänome 
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652 Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski 



mitteilen, Ist der Zwiespalt, den ein rationelles Verstehen -Wollen 
zwischen ihrem Leben und Schaffen erkennen muß, durch folgende 
Überlegungen umschrieben: 

Wir wissen, daß beide Dichter von furchtbaren, zentnerschweren 
Sorgen besonderer Art erfüllt waren, die durch ihre Dimensionen, 
ihre Gewaltsamkeit und Fülle an Stoff und Bedeutung das Werk, 
die Mühe um das Werk zu überragen, zu erdrücken drohen/ welche 
ihre Persönlichkeiten, die bei ungenauer Betrachtung schmächtig und 
ungebunden, uninteressiert, schwach erscheinen, eben weil sie von 
der Atmosphäre ihrer eigenen Welt aufgesogen werden, in einen 
Quadernbau von Gedanken und Gefühlen, Stärken und Schwächen, 
Bewußtheiten und Verborgenheiten verwandeln. Hinter ihrer Freiheit 
wächst ein ungeheurer Zwang, wie auf einen Zauberwink ist unser 
Urteil über ihr Menschentum verschoben. Für uns Westeuropäer, 
die selbst der Sozialdemokratie wenig Geschmack mehr abgewinnen, 
und unser Realitätsbedürfnis durch Rekordberichte und Sturzflüge 
decken, für uns Deutsche, .die wir das »Mutter, mich hungert« in 
den »Webern« schon als ein Minus an der Kunst des Werkes emp- 
finden, hat es etwas Befremdendes, daß Dostojewski, in dem wir 
einen so ausgezeichneten Romanschriftsteller, »Romancier«, schätzen, 
wirklich und tatsächlich unsäglich unter dem Zweifel litt, ob die Bauern- 
befreiung wünschenswert sei oder nicht, ob Christus oder die Auf- 
klärung siegen werde/ warum die Geschworenengerichte in Rußland 
schlecht funktionieren, welches Ziel, welche Formel das russische 
Volk aus den Niederungen der unaufrichtigen Ergebenheit und un- 
tätigen Unzufriedenheit reißen könnte/ ob es überhaupt diesem Volke 
gelingen könnte, sich zur Einheitlichkeit emporzuranken/ ob der 
»Deutsche« recht habe oder der Bauer. Der Dichter empfindet jede 
Zwiespältigkeit im Millionenreich als einen Riß durch seine eigene 
Seele, erlebt die ganze Nuancenskala der russischen Gärungen, Hoff- 
nungen, naiven Ideale und fieberhaft verzweifelten, höllisch gewalt- 
samen Methoden/ quält sich in unbeschreiblicher Weise um Fragen 
rein politischer, nationalökonomischer, soziologischer Natur, bis hin- 
unter zum großen Problem: warum die Tiere gequält werden? Seine 
Kunst entwickelt sich ganz abseits von diesen Sorgen, in seinem 
ganzen Werk findet sich kein einziger Satz, der als Programm oder 



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Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski 



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auch nur als persönliche »Ansicht« aufgefaßt werden könnte. Bs 
wäre uns ganz unmöglich, ohne Zuhilfenahme von intellektuellen 
Überlegungen und rational erhärteten Erfahrungen, also von kunst- 
fremden Elementen aus den Schriften des Dichters auch nur die 
Pose des »Apostelhaften« zu konstruieren, die ihm (sozusagen nach 
beglaubigten Zeugnissen) zukommt. Andererseits ist es besonders in 
der letzten Zeit eine beliebte Aufgabe für die Vertreter der ver- 
schiedensten Doktrinen geworden, aus den Werken des Dichters 
Systeme zu deduzieren, philosophischer, juristischer, pädagogischer Art, 
Systeme der Weltpolitik, des Glaubens. Für einen, der sich bemüht 
hat, das ungeheure Feld des Dunkels, der Nacht, der Verschwiegen- 
heit zu durchmessen, das Dostojewskis Gedanken von seiner Kunst 
trennt, ist die Erfolglosigkeit solcher Versuche eine bewiesene Tat- 
sache, solange sie das Hauptgebot übersehen: »Unterwerfe dich dir«. 
Alles, was man in dieser Richtung zusammenstellen mag, ist mit 
Bezug auf den Dichter selbst unwahr und erlogen, denn es findet 
sich sicher auf der nächsten, wenn nicht auf derselben Seite das 
Gegenteil mit derselben Schärfe, Wahrscheinlichkeit, mit demselben 
Glaubenseifer vorgetragen. Immer und überall herrscht ein tadelloses 
Gleichgewicht — , wenn auch von einem streng ästhetischen Stand- 
punkt aus seine Werke oft überzuquellen scheinen, unökonomisch ge- 
nannt werden dürfen. Darin liegt sogar der beste Beweis für das 
unbedingt Irrationale im Schaffen Dostojewskis: daß seine Lücken 
nicht durch intellektuelle Nahten geschlossen werden. 

Es handelt sich hier nicht um die relativ einfache Frage, daß die 
Tendenz immer die Kunst trübt. Tendenz im gewöhnlichen Sinne ist 
allerdings ein grobes Unding, das sich sofort als kunstfremdes Ele- 
ment verrät/ aber Zola, Tolstoj, Gogol — und sogar Flaubert haben 
uns gezeigt, wie tückisch, wie heimlich, wie unterirdisch sich ein 
Nebensinn im Herzen einer Welt einnisten kann, um ihr reines Rollen 
zu stören. Und Dostojewski war der Überzeugung, daß eine jour- 
nalistische, den Zwecken des Tages gewidmete Tätigkeit weit größere 
Bedeutung besitze, als das vollkommenste Kunstwerk. Man stutzt 
einen Augenblick und möchte sich fragen, wo die Unaufirichtigkeit 
steckt? im Denker oder im Dichter? 

Dabei kommen die Gedanken Dostojewskis nicht einmal als Bah- 



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Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski 



ncn der Anregung, als Hilfsmittel zur Materialbewältigung in Be- 
tracht. Von der Idee: Mensch bis zum einzelnen Menschen ist die 
Distanz um so größer, je größer der Eigenwert der Idee ist, und 
ein abstraktes System <z. B. Nihilismus) ist imstande, den Zugang 
zur Erscheinung vollkommen zu versperren. Man merkt es auch bei 
Dostojewski. Das Werk, das sich am meisten auf gedankliche Strö- 
mungen zu berufen scheint, die »Dämonen«, geht etwas auseinander, 
ist zerfahren, lückenhaft und lebt mehr vom Glänze seiner Bruder 
als vom eigenen Lichte/ die Distanz zwischen Vorbereitung und Kata- 
strophe, zwischen den Vielen und dem Einzelnen ist hier am größten, 
unser intuitives Verstehen wird *u stark in Anspruch genommen, 
denn es fehlen die Zwischenstufen, die zur Höhe führen. Der Egoist, 
der Obei nassem Schnee«) eine Dirne, die ihn um Liebe anbettelt, 
unter die Schwelle ihrer möglichsten Erniedrigung hinabdrückt, indem 
er ihr seine eigene Niedrigkeit aufbürdet, ist meilenweit entfernt 
von jedem menschlichen Zusammenhang. Aljoscha Karamasoff, den 
man nicht ohne Berechtigung als den Wortführer des Dichters an- 
sehen könnte, wächst nicht um ein Haar über den Rahmen des Wer- 
kes hinaus, nicht einen Augenblick schläft oder schlummert der Künst- 
ler, auch nicht so lange, als z. B. Gogol benötigte, um sich aus 
Tschitschikotts Kalesche in eine jagende Siegestroika hinüber zu 
träumen. Oder etwa im Tagebuch des Starez Sossima? Aber dem 
Christus des Heiligen steht doch der Großinquisitor Iwans gegen* 
über. Man könnte sogar annehmen, da der Starez ähnliche Dinge 
spricht, wie sie Dostojewski in seinen politischen und literarischen 
Artikeln erörtert, der Dichter habe sich selbst widerlegt, indem er 
sich ein Gegengewicht schuf. Damit verlieren wir aber auch das Recht, 
die Gestalt Aljoschas anderswo anzupacken als bei der sinnvollen 
Funktion, die ihr im Plane des Romanes zugeteilt ist. 

Und doch ist der Dichter ohne diesen Ballast von Sorgen undenk- 
bar, als könnte die materielle, stoffliche Fülle seines Lebens die 
beste Basis für die immaterielle Erscheinungswelt abgeben. Wenn 
wir uns in die politischen Schriften Dostojewskis versenken, beginnt 
sich sogar das Geheimnis zu lüften/ nicht so, daß wir es verstehen 
und erklären könnten, sondern wie sich alles bei Dostojewski lichtet 
und klärt: in einer transzendenten Wahrheit. Ein Teil der Wahr- 



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Otto Kaus. 7/iaußert und Dostojewski 655 



heit steckt schon in der Einsicht, daß Dostojewski keinen Men- 
sehen geschaffen hat, der so spricht wie er/ so warm, so be- 
wüßt, so sicher. Am sichersten ist er dort, wo seine Prinzipien in 
jene Unbestimmtheit münden, die Strachoff als einen wesentlichen 
Zug seiner konkreten Anschauungen hervorhebt. Und während uns 
im ersten Augenblick die Ehrlichkeit, Überzeugungskraft und sach- 
liche Festigkeit, mit welcher er seine weltlichen Ziele verfolgt, das 
Rätsel noch mehr verwirren möchte, indem wir hinter dem »Journa- 
listen« Dostojewski plötzlich ein ganz anderes Gesicht erblicken, als 
hinter dem Künsder, im ersten Falle ein bewegtes, mitleidendes, mit* 
erlebendes, im zweiten Falle ein kaltes, ausdrucksloses, ehernes, zu 
teilnahmslosem Schauen erstarrtes, — fühlen wir bald, daß gerade 
aus diesem Widerspruch die Einheit erwächst. Der Denker, der 
Mens<h Dostojewski muß auf der Erde gehen lernen, um sich zum 
allgemeinen, zum Christus, zum Himmel, zur ewigen Ruhe empor- 
schwingen zu können, und die Fähigkeit, diese ewige Ruhe in sich 
zu fassen Vielleicht dieselbe Harmonie mit der ganzen Welt, das- 
selbe Gefühl des Glückes, »so stark und so süß, daß man für die 
wenigen Sekunden einer solchen Seligkeit zehn Jahre seines Lebens, 
ja sogar das ganze Leben hingeben könnte«, das ihn und Fürst 
Mischkin vor den epileptischen Anfallen erfüllt,) macht ihn zum Künst- 
ler, zum Nachahmer Gottes / ebenso wie ihn die Anerkennung 
des Volkes zum vollen Menschen, zum Priester erhebt, weil er 
noch vor dem Volke zu existieren beginnt, führt ihn die Erkenntnis 
Gottes zu den Dingen, zu sich selbst zurück, weil sie über ihnen 
steht. Die Wege sind kongruent, weil sie dieselben Extreme ver- 
binden/ sie gehen vom Ich zum unpersönlichen, ewigen Du und 
streifen alle Abstufungen der dritten Person. Die Zone des Schwei- 
gens und der Dunkelheit ist uns erhellt und belebt, wenn wir er- 
kannt haben, daß hier Gott wohnt. Und die Unbestimmtheit der 
Prinzipien kann uns nicht mehr den Blick trüben, die Unbestimmtheit, 
die dann am stärksten ist, wenn er »Christus« sagt <denn Christus 
ist nur der Sohn Gottes), sobald wir entdecken, daß es dasselbe 
Schwanken ist, das den Rauch bewegt, welcher von einem Opfer- 
altare aufsteigt: schwankend und schwebend mit Naturnotwendigkeit 
nach oben. Der Altar ist: Rußland. 



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656 Otto Kaus, Tfoußtrt und Dostojewski 



Flauberts Sorgen sind ganz anderer Art. Was beim Russen Slawo- 
philismus, Orthodoxie, Christus, Nihilismus heißt, wird hier Ästhetik, 
Realismus, Romantik, Rhythmus. Für die Interessen seines Vater* 
landes hat Flaubert kaum mehr als Verachtung übrig, er kann sich 
für kein Problem erwärmen, die extremste volkswirtschaftliche Er» 
kenntnis, zu welcher er nach der tiefgreifenden Umwälzung von 1870 
<die sogar ihn mit seltsamer Unmittelbarkeit gepackt hatte) gelangt, 
fordert: daß sich das Volk bedingungslos dem Ausspruch einer Aka- 
demie der Wissenschaften unterwerfe. Darin liegt allerdings kein 
Hauch von monistischem, unklarem, halb-religiösem Geiste, nicht 
einmal von jenem Geiste, in dessen Umarmung der heilige Antonius 
eine zweifelhafte Seligkeit findet, sondern nichts als die Forderung 
nach Präzision/ und wenn er solche Gedanken ausspricht, so tut er 
es mit der Geste: »So laßt mich endlich in Ruhe/ ich habe anderes 
zu tun, als eurem Wirrwarr zuzusehen, ich muß am Schreibtisch 
sitzen und Sätze drechseln, c Aber ebenso bestimmt, wie wir an 
Dostojewskis Aufrichtigkeit und Hingebung glauben, ebenso fest sind 
wir von der Unaufrichtigkeit dieser abwehrenden Geste überzeugt. 
Warum sieht er doch die Unordnung und läßt sich zu idealen Vor- 
schlägen verleiten? Mögen die noch so sehr von jeder realen Be- 
dingung fern sein, so zeigen sie uns doch an, daß ihn die Fragen 
im Innersten quälen. Das ist die Tragik im Leben Flauberts, daß er 
nur solange eine Beziehung zur Welt hat, als diese Pose der Ab- 
lehnung unaufrichtig ist, daß sein Empfängnisorgan der Schmerz ist. 
Er steht fortwährend knapp vor der Gefahr, sich vollkommen von 
jeder Erscheinung abzuschließen und sobald er sich zur endgültigen 
Ablehnung entschließt, ist auch seine Kunst vor die letzte Mauer 
gestellt. Diese tiefe, bohrende Qual zeigt uns die Richtung, die wir 
einschlagen müssen, wenn wir irgendeine Gemeinsamkeit zwischen 
dem Lebensprinzip Flauberts und dem Dostojewskis entdecken wol- 
len. Muß jedoch überhaupt eine Gemeinsamkeit bestehen? Wir 
nehmen es an, da selbst ihre Gegensätze nicht vollkommen bezie- 
hungslos sind, sondern gleichsam Glieder einer und derselben logi- 
schen Kette. 

Flauberts Geist ist durchwirkt und durchzogen von Theoremen, 
Methoden, Regeln über Kunst und Kunstfertigkeit/ er doziert, ist 



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»Literaturpapst«. Dostojewski ist Apostel, Prediger, Allmensch und 
seine ästhetischen Überzeugungen sind möglichst einfach. Der alte 
Ichmenjeff spricht sie aus: »Bs ist ja nicht Gott weiß wie hoch und 
erhaben, das sieht man . . . Bei dir ist alles viel einfacher, viel ver- 
ständlicher. Bs ist wie . . . wie vertrauter, als hätte ich selbst alles 
erlebt.« Damit soll nicht gesagt sein, daß sich der Russe vor allen 
künstlerischen Problemen verschlossen hat/ Dostojewski war ein aus- 
gezeichneter Kunstkenner und Kritiker und trug den heterogensten 
Phänomenen ungeteiltes Verständnis entgegen <Cid, Phedre). Aber 
erstens gibt es für Dostojewski auch in abstrakten Kunstfragen keine 
Rätsel, sein Urteil findet keine Hindernisse/ es ist instinktiv und 
stellt leicht zwischen sich und den einzelnen Phänomenen die Beziehung 
her, die seinen Bedürfnissen entspricht/ — zweitens münden seine 
ästhetischen Gedankenbahnen immer in den Begriff Volk und damit 
zugleich in das große Meer seiner politischen Sorgen/ jene kamen 
vor, nicht nach diesen/ der große Kampf zwischen »Westlertum« und 
»Slawophilismus« ist ein Kampf um Tendenzen, welche das ganze 
Leben Rußlands umfassen, nicht nur seine künstlerische Produktion, 
ebenso wie der Nihilismus erst in dem Augenblick zur Tatsache 
wird, da er sich zur literarischen Polemik zuspitzt. Man denke an 
die Komplimente, die Flaubert an jene Kritiker austeilt, welche aus 
der »Education« sein Urteil über historische Ereignisse und Per- 
sönlichkeiten erraten möchten/ hat er ein Recht zur Ablehnung jeg- 
licher Interpretation? Von einem ästhetischen Standpunkt müssen wir 
ihm dieses Recht zugestehen, wenn auch nicht so leicht wie dem 
Russen, — ist sein eigenes Gewissen jedoch fleckenlos rein? Kann 
er sich selbst freisprechen? Die ungeheure Gewissenhaftigkeit mit der 
er jede Emanation der Zeit, die er schildern will, studiert und unter- 
sucht, kann man wohl auf die Hemmungen zurückführen, welche 
zwischen ihm und der Erscheinung lagen, auf die Substanzkruste, 
die ihm das »Ding an sich« verbarg. Wir würden ihn von jedem 
persönlichen Interesse freisprechen, wenn nicht eben die Werke 
selbst mit den Worten der Weisheit, anstatt mit denen der Wahr- 
heit zu uns sprächen. Vergleichen wir einmal die beiden Freundes- 
paare : Raskolniko w-Rasumichin, Frederic Moreau-Charles Deslauriers . 
Die ursprüngliche, einfache Funktion, die ihnen zukommt, ist die, 



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einen Kontrast zu schaffen, — letzten Endes den ewigen Kontrast 
Hamlet-Fortinbras. Aber bei Dostojewski hört dieser Kontrast nie 
auf, er setzt sich über das einzelne Faktum in gerader Linie fort/ 
bei Flaubert finden sich die Freunde wieder und die Verschmelzung 
der Prinzipien, die sie vertreten sollten, läßt in uns etwas mehr zurück, 
als jene wort» und begriffslose Erkenntnis, die uns der Russe mit- 
teilt, eine Einsicht, die sogar präziser, enger ist, als die Formel, 
welche Flaubert gerade nach Vollendung der »Education« sich und 
den andern fortwährend vorhält: »man schafft nicht sein Schicksal, 
sondern man erduldet es.« Als hätte er in der »Education« auch 
jene Trostlosigkeit mitformuliert, die wir aus dem Satze nur dann 
herauslesen, wenn wir die aktuelle Veranlassung kennen, die ihn 
aus der Seele des Dichters lockt. Er muß z. B. erklären, warum er 
nicht geheiratet habe. Um unseren Gedanken bis zur letzten Konse- 
quenz zu fuhren, wollen wir uns ganz objektiv und banal fragen: 
sagt Flaubert die Wahrheit <die ureigene Wahrheit, die Wahrheit 
vor sich selbst), wenn er seine Ehelosigkeit auf diese Ursache zurück- 
führen will? Steckt nicht etwas von derselben Unaufrichtigkeit darin, 
die wir früher auch in der Geberde zu sehen glaubten: »Laßt mich 
in Ruhe!« 

Flaubert operiert mit dem Sicherungskoeffizienten einer Lüge 
<Lebenslüge?>. Dostojewski ist wahrhaftig bis in die Haarwurzeln. 

Und wenn wir es uns nicht verschweigen dürfen, daß auch das 
rein Schicksalsmäßige bei Flaubert eine schwache Färbung wie von 
individuellem Erleben bekommt, die kaum wahrnehmbar sein mag, 
weil sie so subtil ist, wie es die Lüge eines Wahrheitssuchers sein 
muß, so müssen wir annehmen, daß nur die Aufrichtigkeit, Festig- 
keit und tatsächliche Fundierung seiner eigenen Überzeugung ihm zu 
sehen verwehrt, wie grausam das Urteil klingt, das er über die 
Februarrevolution fällt/ genau so unzweideutig wie der Ekel vor 
der Kommune, die er miterlebt und die er in seinen Briefen, ohne 
die Zubilligung des geringsten, mildernden Umstandes verdammt. Er 
erlaubt sich eine ganz minimale, aber doch merkbare Verschiebung, 
indem er begründete Negation mit Objektivität verwechselt. Das 
Motto der »Dämonen« würde man widerspruchslos billigen, auch 
ohne die Voraussetzungen zu kennen, die den Nihilismus zur größten 



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Otto Kaus, TCaußert und Dostojewski 659 



Verirrung des russischen Geistes stempeln. An den Voraussetzungen 
kann man zweifeln, am Werke nicht. Flaubert darf wohl sagen: 
c'est comme ca! — aber nicht weil es nicht anders hätte sein können, 
sondern weil es so war. Um diese unscheinbare, beinahe unfaß- 
bare Spanne unterscheidet sich der Realismus Flauberts vom Realis- 
mus Dostojewskis. Der Russe hat uns ganz in der Hand, er könnte 
uns führen, wohin er will, wir würden ihm glauben, auch wenn die 
Wirklichkeit anders wäre, als er sie schildert/ Flaubert steht und 
fällt mit der Welt, die er schildert. Jener gibt eine reine Wahr- 
heit, dieser ein richtiges Urteil. 

Man erlaube uns ein einziges Mal eine Abschwenkung auf 
deutsches Gebiet. So schmal die Spalte scheinen mag, welche das 
Prinzip des russischen vom Prinzip des französischen Realismus 
trennt, erweitert sie sich vor unserem geistigen Auge zu einem 
tiefen Abgrund, sobald wir die Möglichkeit erwägen, ob nicht aus 
ihr eine gar seltene Wunderblume hervorsprießen könnte: der deutsche 
Stil. Damit dieser Seitensprung nicht ganz überflüssig anmute, wollen 
wir darauf hinweisen, daß die Einschiebung eines dritten Gliedes 
zwischen die zwei Gebiete, die wir heute durchforschen, uns zum Be- 
wußtsein bringt, daß die Beziehungen, die von Pol zu Pol gehen 
<Romanen und Slaven), mehr als zufällige sein müssen/ und sich 
zu einer Synthese vereinigen müssen, deren Existenz wir eben erst 
ahnen, wenn wir ein verbindendes, ausgleichendes Prinzip hinzunehmen. 

Aber widersprechen wir uns nicht, wenn wir Flaubert ein richtiges 
Urteil zuerkennen, nachdem wir auf seine Lebenslüge hingewiesen 
haben? Wir könnten uns leicht retten, indem wir die allgemeine 
Eigenschaft der Franzosen feststellten, die natürliche Lebensentwick- 
lung an einem bestimmten Punkte durch eine Linie der Praktizität 
<und alles Rationale ist eine Emanation des praktischen Geistes), 
durch eine Konvention abzuschneiden. Gerade bei Flaubert glauben 
wir jedoch diese Beweisführung nicht ohne eine entsprechende Vor- 
bereitung antreten zu können, denn das Niveau seines Daseins und 
seines Schaffens ist nicht das einer Konvention, sondern einer höheren 
Synthese. Während andere vielleicht vor dem Nichts stehen, mußte 
er, als Franzose, sich selbst zum Nichts erst durcharbeiten, durch die 
Konvention hindurch zur tieferen Synthese zurückfinden. Beim Russen 



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Otto Kaus, Tfaußtrt und DostojewsKi 



hat auch das »Vorurteil« den Charakter einer freieren Konzeption 
und gewährt der schöpferischen Kraft einen gewissen Spielraum, ver- 
rät sozusagen von selbst seine Grenzen und die Lücken, die es 
nicht ausfüllen konnte. Was für jeden seiner Landsleute ein Vorteil 
ist: daß er es sich, ausgehend von einem angeborenen oder aner- 
zogenen, sicheren Standpunkte der Zucht, erlauben darf, hemmungs- 
los originell zu sein, einen großen Teil von sich, auch jenen Teil, 
der dem Gelderwerbe nachjagt, als Luxussache zu betrachten/ sich 
von der Geburt an zu differenzieren, — wurde für Flaubert zum 
Nachteil. Er mußte die Konvention mit ihren eigenen Waffen be- 
kämpfen, Logik und Methode, und außerdem noch ihre unmittel- 
bare Deduktion abweisen, den Subjektivismus, der umso gefähr- 
licher ist, als er sieb als ihre Negation gebärdet. Dann erst beginnt 
der Kampf mit der Erscheinung. Daher der Selbstvernichtungsdrang, 
der nicht grausam und scharf genug sein konnte, damit der Künstler 
zur natürlichen Wiege des Lebens zurückkehrte. Er konnte es sich 
nicht erlauben, die Stilforderungen, welche durch die Tradition ge- 
geben waren, unmittelbar zu übernehmen und einfach weiter zu ent- 
wickeln, seine Kunst entzieht sich jeder direkten historischen Ab- 
leitung/ — Dostojewski fühlt in Gogols »Mantel« alle seine eigenen 
Ideale vorausgeahnt. Flaubert mußte selbst den unendlich langen 
Weg der Reife begehen, alle Zuflüsse und Ausläufer in sich auf- 
nehmen und verfolgen/ so wurde ihm die Gnade seiner Rasse zum 
Fluche von dem er sich langsam befreien mußte. Eine Verallge- 
meinerung antizipierend könnte man sagen: aus seinen artistischen 
Theoremen klingen Reminiszenzen der Bartholomäusnacht mit, in 
welcher derselbe Kampf erstickt <nicht entschieden) wurde, den Flaubert 
mit jedem Satze wieder auskämpft/ den Kampf zwischen einer ur- 
wüchsigen, heftig andrängenden Vielheit und Wahrhaftigkeit und 
einer Einheit, die sich schon zur Lüge und Form kristallisiert hat. 
Nur ist es gerade diese Einheit, die er überwinden und jene Viel- 
heit, die er vorlassen muß, um sie dann zu einer höheren Harmonie 
zu führen. Der Katholizismus ringt mit dem Protestantismus, die 
Göttin Vernunft drängt sich dazwischen und zum Schluß zergehen 
alle Phantome der Vergangenheit in einer alldurchdringenden Atmo- 
sphäre der Gegenwart. 



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Otto Kaus, TüxuBert und Dostofewsti 661 



Subjektiv muß die Rasseneigentümlichkeit bei Flaubert daher mit 
dem entgegengesetzten Wert belehnt sein/ was dort ein Nutzen ist, 
wird hier zum Schaden, was dort Freiheit heißt, wird hier zum 
Zwang. Und in der Tat können wir auf Schritt und Tritt beobachten, 
wie der Dichter nach einem Prinzip der »mißverstandenen Praktizitätc 
arbeitet. Mit Zuhilfenahme Bergsonscher Postulate darf man sagen, 
Flaubert sei immer krampfhaft bestrebt gewesen, seine Intuition 
durch seine Vernunft zu ersticken/ die gerade Linie umzubiegen. 
Während wir bei Dostojewski, trotz des anfänglichen Widerspruches, 
beim Eindringen in seine Denkertätigkeit immer intensiver den aller- 
tiefsten Zusammenhang seines Wesens begreifen, gerade weil wir 
uns sagen: alles das ist meilenweit entfernt von seinem Werke/ 
keine seiner Gestalten ist auf irgend einer dieser Phasen stehen- 
geblieben, sondern jeder Mensch, den er schildert, durchschneidet die 
ganze Entwicklung des Dichters vom Anfang bis zum Ende, geht 
mit bis zum Äußersten, — beobachten wir es bei Flaubert mit ge- 
heimer Angst, wie er bestrebt ist, das Geheimnis, das ihn empor- 
heben könnte, unter der Tarnkappe seines Geistes verschwinden zu 
lassen/ den losen Schmetterling der Ewigkeit mit dem Netze der 
Zeitlichkeit einzufangen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, das leider 
nicht damit endet, daß das Fleisch auflodert zur Flamme, sondern 
daß die Flamme zum Schluß nur schwach unter der Asche fort- 
glimmen kann. Je mehr die Enden des Ringes sjch nähern, desto 
größer wird die Spannung, wird die Gefahr. Und da endlich die 
Seele vom Flechtwerk ganz umsponnen ist, wird ihr jede freie Äuße- 
rung, jede Vollendung unmöglich. »Bouvard und Pecuchet« sind 
nicht nur unvollendet, sondern, in einem höheren Sinne, unmöglich. 
Dostojewski erreicht in den »Brüdern Karamasoffc und in der 
Puschkinrede den Gipfel. 

Die Lebenslüge Flauberts wollen wir konkret dahin deuten, daß 
er sich seine Aufgabe zu erleichtern glaubt, indem er bei der Kunst 
anknüpft, während er sich dadurch nur Hemmungen in den Weg legt. 
Er will einen Abgrund, den man nur in weiten Bogen überfliegen 
kann, durch einen mühsamen Ab- und Aufstieg überwinden. Bei 
seinen persönlichen Erlebnissen verrät sich derselbe Zug in dem Be- 
dürfnis, jeden einzelnen Augenblick, ohne sich Zeit zum Ausreifen, 



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Otto Kaus. Tfaußert und Dostojewski 



Vorbereiten, zur Gärung zu lassen, sofort zu einer Formel, zu einer 
Bewußtheit umzugestalten. Die Folge davon ist, daß alles Schmerz- 
liche doppelt schmerzlich wirkt, und selbst alles Freudige einen Miß* 
ton der Verlegenheit und Peinlichkeit weckt. Reaktionen, die wir mit 
Bestimmtheit erwarten, bleiben aus und dafür durchbrechen den 
ruhigen Verlauf des Geschehens gewaltsame Ausbrüche, die teils 
unzulänglich, teils ungerecht anmuten, und sich nicht erklären ließen, 
wenn man nicht den Stachel des inneren Zweifels mitberechnete, 
der den Dichter fortwährend plagt. Derselbe Zweifel, der aus allen 
seinen Werken atmet, und die Erde nie zu einer Kirche mit einem 
hohen Turm, sondern stets zu einem Wohnhaus für Menschen um- 
gestaltet. 

So daß man sich zum paradox klingenden Satz berechtigt fühlt: 
Flauberts Ökonomie mündet in grenzenlose Verschwendung, Dosto- 
jewskis Hemmungslosigkeit in größte Sparsamkeit. Denn eine Öko- 
nomie, die einen zwingt, zehn natürliche Entwicklungsphasen durch 
ebensoviel Nebenbedeutungen und Bedingtheiten zu ersetzen, wobei 
sich zum Schluß doch nur die natürliche Synthese durchringt, be- 
deutet einen Mißbrauch von Energie, gegen den die ungeheuren Ent- 
ladungen des Russen als eine tröstende Wohltat abstechen. Flaubert 
könnte man als einen Pointillisten ansprechen. Jede Linie setzt sich 
aus hundert Unterbrechungen zusammen, ist die stärkste Konzentra- 
tion und Vereinfachung einer verworrenen Vielheit, die jedoch nur 
um den hohen Preis erreicht wird, daß eben die endgültige Linie selbst 
hundertfach unterbrochen wird. Wie leicht kann durch die kleinste 
Ritze die Verderbnis eindringen! 

Und andererseits: wie ungeheuer muß die ursprüngliche Kraft, 
die angeborene Berufung sein, wenn der Dichter über alle Abgründe 
sicher zum Ziele schreitet! Gerade darin liegt sein Heroismus, daß 
er nur Linien zeichnet, die kaum sich selbst tragen und darauf ver- 
zichtet, die feste Gerade zu ziehen, die alle Möglichkeiten in sich 
aufsaugen kann, ohne abgelenkt zu werden. Wären die Vorbeding* 
ungen zum großen Verzicht nicht in ihm gewesen, hätte er sie nicht 
bis zur äußersten Konsequenz erfüllt, so hätte er nicht seine Mission 
zu Ende führen können. Die Verzweiflung, welche Dostojewski über 
jede Verirrung der russischen Seele ergreift, ist nicht stärker, son- 



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Otto Kaus, Tbufort und Dostojewski 



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dem nur aufrichtiger, als der so kühle, anmaßungs volle Ausdrude, 
der in dem Antlitz einer reinen Schönheit ruht. Die reine Schönheit 
ist die Rettung vor der größten Not und nur wer den Niedergang, 
die unendliche Ratlosigkeit seiner Zeit in sich aufgenommen hat, 
kann sich zum Hochmut emporschwingen, ohne zu Falle zu kommen. 
Die bedingten Schönheitsideale gehen nicht so sehr an der Hyper- 
trophie ihres eigenen Prinzips zugrunde/ sondern sie verkümmern 
zugleich mit den Saftröhren, die sie mit dem Leben verbinden. Und 
das unbedingte Schönheitsideal ist nur das verschämte Bekenntnis 
einer Todesahnung. 

Es soll hier nicht untersucht werden, ob Flaubert das Recht hatte, 
dieses Urteil über sein Land zu fällen. Wichtig ist nur, daß ihm 
seine Zeit Recht gab, als sie bei Sedan in Schlamm und Blut unter« 
ging. Ob der Tod nur den Beginn einer Wiedergeburt bedeutet, ist 
eine Frage des Glaubens/ wir wollen es nicht vor Flaubert be- 
haupten, der uns davon abzuraten scheint, nicht vor Dostojewski 
bejahen, der uns dazu auffordert. Wir können jedoch zu den zwei 
ästhetischen Paradoxen, mit denen wir unsere Ausführungen eröff- 
neten <die Verschmelzung von Mensch und Künstler im klassischen 
Werke, Realismus als Gipfelpunkt des Klassizismus), ein drittes hin- 
zufügen: daß nur der vollkommene Ausdruck der Zeit Eingang in 
die Ewigkeit findet. 

Und unsere Behauptungen durch einige Widersprüche belegen: 
Dostojewski gesteht selbst ein, den Realismus, »der an das Phan- 
tastische grenzt«, über alles zu lieben — und gibt uns eine Wirk- 
lichkeit, die uns wie ein Schein umtaumelt/ Flaubert lacht darüber, 
daß man ihn zum Pontife des Realismus ernennt und gibt uns einen 
Schein, der die Konsistenz der Wirklichkeit hat. Dostojewski bemüht 
sich ununterbrochen, soviel Subjektivität in sein Schaffen zu legen, 
als ihm überhaupt möglich ist/ er geht soweit, daß er die eigentüm- 
lichsten, krankhaftesten Realitäten seines Lebens in seine Kunst über- 
nimmt, ~- der allgemeine Eindruck ist der einer opferfreudigen Selbst- 
Verleugnung/ Flaubert donnert mit lauter Stimme seine Forderung 
nach Zerstörung der Persönlichkeit in die Welt hinaus und seine 
Werke verraten so deutlich die Erlösung, die sie einem persönlichen 
Zweifel des Dichters bringen. Nur weil das Persönliche des Künstlers, 



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Otto Kaus, TtauBert und Dostqjews/ti 



erst durch die subjektivste Sublimierung in der Atmosphäre der All- 
gemeinheit aufgeht, schmiegt sich auch das Werk der Geberde des 
Allgemeinen an. Aber eines wissen wir: Dostojewski hat durch kein 
Werk auch nur eine teilweise Erlösung gefunden, der Pondus seines 
Daseins blieb jederzeit unvermindert in ihm hängen/ bei Flaubert 
kann man eine stetige Purifizierung und Festigung seiner Beziehungen 
zu sich und zur Welt verfolgen/ »Madame Bovaryc erledigt ihm 
die Provinz, »Salammbö« die Romantik, »Bducation sentimentale« 
die Großstadt. Damit findet sein Leben einen Abschluß und kann 
sich nun dem Zuge der Erschlaffung ergeben. Seine Beziehungen 
zur Welt haben eine konkrete Form gefunden, sie sind am auf- 
richtigsten dann, wenn er vom Balkon seines Landhauses aus die 
Sonntagsausflügler mit einem Opernglas beobachten kann. Er hat 
aus seinen Erfahrungen soviel gelernt, daß er sich selbst wider- 
sprechen darf. Oder ist es nicht eine der seltsamsten Situationen: 
Flaubert, der Künstler mit den strengen Forderungen, schreibt im 
letzten Jahrzehnt seines Lebens zwei Komödien, und trägt sie von 
Bühne zu Bühne und bemüht sich, den Ratschlägen von Direktoren 
und Schauspielern folgend, seine Werke den kleinlichsten Bedingungen 
anzupassen. Mit der offenen Begründung: ich möchte etwas Geld 
verdienen! — nachdem er kurz vorher genau auseinander gesetzt 
hat, es wäre lächerlich, daß ein Dichter, der für die Ewigkeit schafft, 
eine Belohnung von der Zeit fordert. Aber diese Kontraste können 
ihm nicht mehr schaden. Früher reizte ihn das Wort einer Frau 
zum Morde — jetzt ist er eingekapselt in Sicherheit und Methode. 
Allerdings folgt jetzt die Periode seines künsderischen Niederganges, 
eine Periode der Ziellosigkeit, in der seine Strenge gegen sich selbst 
in eine sklavische Unterwerfung unter seine eigene, zum Götzen er- 
hobene Methode umschlägt. Das Schicksal fügt es, daß es außerdem 
die Zeit seiner grenzenlosen Vereinsamung ist, da ihm ein Freund 
nach dem anderen hinstirbt und er eben auf den Verkehr mit den 
eigenen Götzen angewiesen ist. In den »Trois contes« rekapituliert 
er noch einmal die Entwicklung seiner Kunst, und was dann in ihm 
zurückbleibt, ist, trotz der Rettung, die er durch die »Tentation« 
versucht, nichts als der Begriff: Bourgeois. Zu viel, um eine Welt 
zu lieben, zu wenig, um eine Welt zu schaffen. 



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Otto Kaus, Tfaußert und Dostoj'ewsKi 665 



Was uns an Dostojewskis Alltag am meisten auffällt, ist die Ge- 
walt. Mag auch hinter den ungeheuren Dimensionen, in welche sein 
Lehen in dem Augenblick der Entladung entströmt, und die während 
der Vorbereitung seine Seele wie stets gespannte Federn von Innen 
dehnen, nichts anderes stecken als der Endeffekt eines Lirzweifels, 
— warum sind wir bei ihm eher geneigt mit seinen eigenen Worten 
diesen Zweifel nur als den »Scharfsinn eines tieferen Gefühles« 
aufzufassen? den Schmerz als eine Erkenntnis, nicht die Erkenntnis 
als eine Qual? Die Widersprüche in seinem Leben sind so groß, 
daß sie, anstatt uns niederschmetternd zu überfallen, uns einfach ver— 
anlassen, unser Verständnis auszuschalten und uns ganz dem »tie- 
feren Gefühl« zu überlassen. Dostojewski wird unschuldig zum Tode 
verurteilt, steht auf dem Schafott, ertragt zehn Jahre Sibirien, das 
erste Werk, das er nach seiner Rückkehr schreibt ist das heiterste 
Buch der Weltliteratur »das Gut Stepantischikowo«. Und später wird 
er erklären, er sei wie Puschkin ein treuer Diener des Zaren. Von 
seinem Freund, der jahrelang mit ihm arbeitet, den er nach jedem 
Anfall rufen läßt, um die Depression leichter zu überwinden, mit 
dem er jeden Tag viele Stunden verbringt, wird er behaupten: »Er 
verkehrt mit mir nur, weil er keinen Menschen hat, mit dem er reden 
kann!« Seine Loyalität kann auch das unverschuldete Verbot der 
»Zeit« nicht erschüttern, das ihm den Lebensunterhalt raubt und ihn 
zwingt, mit seiner schwangeren Frau ins Ausland zu fliehen. Muß 
nicht in ihm eine noch stärkere Gewalt stecken, als es die der 
Zaren ist? Die Erklärung liegt zum Teil darin, daß er eigendich 
nicht gegen eine konkrete Macht, sondern gegen das Gespenst des 
blinden Zufalls kämpft. Als wollte er die Situation auf die Spitze 
treiben und sich vor die letzte Prüfung stellen, verspielt er in Baden- 
Baden das wenige Geld, das er mitgenommen hat, und geht nun 
einer Periode entgegen, die bitterer sein dürfte, als die Zwangsarbeit 
in Sibirien. Jedenfalls steckt in dem Gefühl der Gesundheit, das ihn 
erfüllt, wenn er Ziegelsteine zum Bau einer Kaserne trägt, mehr 
Heiterkeit, als in den verzweifelten Bettelbriefen, die er aus Dresden 
nach Hause schickt: ein neugeborenes Kind, eine stillende Frau, 
der »Idiot« unter der Feder — und buchstäblich kein Brot. 

So finden wir in den alltäglichen Einzelheiten der beiden Dichter- 



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666 Otto Kaus. Tfaußert und Dostojewski 



leben dieselben Gegensätze ausgeprägt, welche die ewigen Werte ihrer 
Schöpfungen unterscheiden, — selbst in jenen Einzelheiten die schein« 
bar unabhängig vom immanenten Willen, vom persönlichen Fluidum 
der Menschen sind. Beide Dichter sind Söhne von Ärzten, Flauberts 
Vater ist ein berühmter Chirurg, Dostojewski wächst in einem 
Armenkrankenhaus auf. Flaubert erlebt den Sturm der Banausen 
gegen die >Madame Bovary«, Dostojewski steht auf dem Schafott. 
Dem asketischen Flaubert, den Schöpfer des hl. Antonius, kann man 
sich nicht ohne eine Fülle an Hilfsmitteln des Lebens, ohne Deko- 
ration und Inszenierung vorstellen, bevor er sich zum Schreibtisch 
setzt, muß er seinen Blick von vielen Reizen reinigen, die ihn ab- 
lenken könnten, wenn nicht ein eherner Wille ihm befiehle. In den 
»Erniedrigten und Beleidigten« sehen wir ein graues, ödes Man- 
sardenzimmer, einen wackligen Schreibtisch, einen Mangel jeglichen 
Komforts, der uns umsomehr ergreift, als er vom Dichter des Ver- 
schwenders Dimitri selbst nicht besonders beachtet zu werden scheint. 
Er klagt, aber er hält es doch aus. Die kahle Trivialität wirkt mehr 
als Ganzes, als im Detail, obwohl sie sich aus Details zusammen- 
setzt. Last not least, Dostojewski erleidet jeden Monat einen epU 
leptischen Anfall, Flauberts Epilepsie ist milde und zeigt sich nur 
selten. 

Vom Alltäglichsten wollen wir auf die größte Perspektive über- 
gehen und ein letztes, gewagtes Experiment anstellen/ diese Linien 
bis dahin verfolgen, wo sie sich zur letzten Fiktion verknoten, bis 
zum Gottbegriff. Wenn wir vom Gottbegriff alles Materielle, Dog- 
matische, Schon-Geformte abstreifen <»der Katholizismus ist nicht 
mehr Christentum und geht in Götzendienst über, der Protestantis- 
mus aber nähert sich mit Riesenschritten dem Atheismus und wird 
zu einer schwanken, veränderlichen und nicht ewig feststehenden 
Sittenlehre.« Dostojewski contra Gradowsky) und ihn einfach als gewal- 
tigen, gewaltigsten Hintergrund ausspannen, wie zeichnet sich das 
Profil der beiden Dichter gegen diesen Grund ab? Eigentlich zeigt 
nur der Franzose ein Profil, der Russe verschwindet vollkommen im 
Schatten der Gottheit, seine Adern kommunizieren mit ihren Adern, 
als schliefe er in ihrem Schöße, von einer blutreichen Placenta ge- 
borgen/ seine Wesenheit verschwimmt mit ihrer Allheit, — nicht als 



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667 



ob er vom Geiste des Herrn erdrückt und überwältigt würde, son- 
dern als wäre sein leb ein Symbol der Gottheit, die Gottheit ein 
Symbol seiner Seele. Es gibt keinen Franzosen, der sidi nicht vor 
dem weitesten Horizont in einer gewissen Verkürzung zeigte/ irgendwo 
bricht sein Glaubenseifer ab und biegt in Menschliches um. Ebenso 
wie die gerade Linie der Griechen direkt in die Unendlichkeit führte, 
um nie mehr die Horizonte der Erde zu durchschneiden, während 
der Bogen der Römer aus der Erde wuchs, um zur Erde zurück« 
zukehren/ ebenso wie Rom seine Pforten Christus nie eröffnete und 
sich nur seinem Namen ergab, um seinen Geist vergewaltigen zu 
dürfen, während sich durch das ganze griechische Mythos Vor* 
ahnungen und Erfüllungen des Messiasproblems verfolgen lassen, 
— ebenso hat sidi der liebe Herrgott in Frankreich immer sehr wohl 
gefühlt, wahrscheinlich weil niemand jemals so recht an ihn geglaubt 
hat und ist in Rußland die Gotteslästerung an der Tagesordnung, 
weil jeder, auch der Skeptiker, an ihn glaubt. Mit Ketten, die man 
nicht trägt, oder nicht fühlt, braucht man nicht zu klirren, aber Kö- 
nige glauben oft, unter der Last ihrer Krone zusammensinken zu 
müssen. Pascal geht von der Mathematik aus und gelangt zur 
Mystik/ das würde nichts besagen, wenn nicht seine Mystik im 
Grunde nichts anderes wäre, als die Weiterführung seiner mathe- 
matischen Methode, — wo sie doch die Aufhebung jeder Methode 
bedingt. Oder hat Huysmans an Gott geglaubt, der noch von der 
Schwelle des Klosters seinem Kritiker zuruft: c'est Cait! Der 
französische Skeptizismus war immer stark genug, um nicht nur 
dem Teufel einen Platz neben Gott, sondern auch Gott Gleich- 
berechtigung neben dem Teufel einzuräumen, — da ihm beide stets 
Begriffe waren und keine Wesenheiten, Formen und keine Inhalte. 
Gott ist höchstens das »Ich«, <— und mit diesem für Flaubert der 
Feind. 

In der Bibel steht es geschrieben, Jehova habe den Lehm ange- 
haucht und ihm dadurch eine ewige Seele eingeflößt. Für Dosto- 
jewski hat dieser Vorgang Realitätswert, er wiederholt sich bei jeder 
Geburt vor seinen Augen, — für Flaubert ist es nichts weiter als 
ein guter Ausdruck. Dostojewski vermischt seinen Atem mit dem 
Atem des Schöpfers, noch bevor dieser den Lehm berührt, noch be- 
46 



668 



Otto Kaus, Ttaußtrt und Dostojewski 



vor sich seine Atome mit den Atomen der Materie vermischt haben/ 
und deswegen sind för ihn alle Rätsel gelöst, noch ehe sie geformt 
werden, alle Fragen kaum mehr als rhetorische Fragen, alle Kon-» 
traste geebnet, noch ehe sie zur Reibung gelangen. Daher die Ent- 
spannung, Befreiung, die aus den gefahrlichsten Situationen heraus» 
wächst Alle Ereignisse sind nur Wiederholungen von mythischen 
Geschehnissen einer ewigen Wiederkunft und teilen dem Leser ein 
Gefühl des Deja-Vu mit. »Es ist wie — — wie vertrauter, als 
hätte ich selbst alles erlebt, t Die Verhältnisse zuspitzend, könnte 
man sagen: daher muß Fürst Mischkin die geliebte Vase der Gene» 
raiin umschmeißen, weil er sie schon in dem Augenblick umgeworfen 
hat, in dem er gebeten wird, darauf zu achten. So konnte dem Dich« 
ter das große Wunderwerk gelingen, aus dem Planlosen ins eherne 
Gesetz zu wachsen, — • weil der Mittelpunkt seiner Werke gar nicht 
in dem Räume liegt, in dem sie sich entwickeln, sondern in einem 
höheren, von dem aus die Übersicht eine unmittelbare, zwanglose,, 
freie ist/ von dem aus man kein Opernglas braucht, um die Sonn- 
tagsausflügler zu beobachten. 

Flaubert hingegen steigt nicht aus höheren Sphären zu den Men- 
schen herab, sondern lebt mitten unter ihnen, ist Mensch unter 
Menschen. Er muß fortwährend die Ansatzstelle suchen, wo sich 
der himmlische Sauerstoff zur Erde verdichtet und muß darauf be- 
dacht sein, nicht daneben zu greifen. In Frankreich findet er seinen 
Gott nicht und muß ihn anderswo suchen — aber auch in Tunis ver- 
strickt er sich in Sorgen um die Legionenordnung der Punier, um 
die Essenzen und Wohlgerüche der karthagischen Frauen, um die 
Attribute der Gottheit. Es sind dieselben Schlingen, in denen er 
sich verfing, sobald er vom Schreibtisch aufstand, um auf die Straße 
zu gehen. Alle Versuchungen des heiligen Antonius fuhren noch 
immer nicht zur Erlösung, selbst nicht, da sich alle Attribute der 
Gottheit im Meere des Allseins vermischen. Mystischer Pantheismus 
ist ein Kompromiß und keine Lösung. Man vergleiche, wie sich die 
Prophezeiung erfüllt, welche an Julian ergeht <er werde Vater und 
Mutter töten) und wie die obenerwähnte Vase in Scherben zersplit- 
tert. Löwen und Bären, Schlangen und Panther begleiten Julian auf 
seinem verhängnisvollen Wege, ~ Fürst Mischkin hat nichts als sich 



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Otto Kaus, Ttaußert und Dostojewski 669 



und seinen Zwang. Die transzendente Beziehung ergibt sich dem 
Russen unmittelbar aus den Dingen, die ihn umgeben, aus dem Staub, 
der auf den Möbeln liegt, aus der »Lucia«, die in einem Wirtshaus 
letzten Ranges heruntergeleiert wird, aus der Tücke des Hausdieners, 
aus der Stimme eines Mädchens, die um Hilfe schreit. Flaubert sieht 
seine Aufgabe darin, unter kreisenden Bergen die Maus herauszu- 
locken, er wälzt kompakte Massen und dreht und wendet sie, bis 
alle Flächenstrahlungen zu einem Lichtpunkt konvergieren, der eine 
extremste Differenzierung zu sein scheint und die intensivste Kon« 
zentration ist. Der Nagel, an dem Archimedes die Welt aufhängen 
wollte! <Und doch ist das Resultat ein ganz anderes als bei Balzac: 
Balzac bringt alles, was er weiß, Flaubert nichts von dem, was er 
weiß, nur weiß). 

Von der Gottidee aus können wir uns die kühnsten Sprünge er- 
lauben und zur Verallgemeinerung übergehen/ auch alle jene Ver- 
allgemeinerungen akzeptieren, die von Russen oder gar Freunden 
des Dichters gemacht werden und uns im ersten Augenblick be- 
fremden, da sie gar zu unmittelbar am Werk oder an der Person 
anknüpfen. Der Franzose findet zuerst die Konvention und dann 
die Synthese, Rußland (ein Bauern- und Kosakenvolk, das sich nur 
widerstrebend einer ad hoc geschaffenen, unzulänglichen Verwaltung 
fugt, die es immer als fremd und überflüssig empfindet) zuerst die 
Synthese und dann die Konvention. Infolgedessen ist die Synthese 
des Franzosen eine Sublimierung des Sinnlichen <der Besitz schafft 
Grenzen), der Stil des Russen: eine Befruchtung des Irdischen durch 
übersinnlichen Samen. Jener wird auch das Zwecklose nur durch den 
Willen erringen, dieser selbst den Alltag durch die Geduld der Kate- 
chumenen zu beherrschen suchen. 

Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Fürst Mischkin wirft die 
Vase um, während er die christliche Liebe predigt/ aber in der Epi- 
sode schwingt nicht ein Ton von Skeptizismus, von »tragischer Ironie« 
mit. Flaubert entthronte den heiligen Geist, als er ihn in einen aus- 
gestopften Papagei verwandelte. Für den Idioten wurde die drohende 
irdische Niederlage zu einem Siege/ auch Saulus stürzte vom Pferde 
und verzichtete auf die Eroberung von Damaskus, als er zum Pau- 
lus wurde. Da die sterbende Magd mit brechendem Auge den Pa- 



670 



Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski 



pagci anblickt, erkennen wir genau, daß sie nicht ins Himmelreich 
eingehen wird/ daß die ewige Seligkeit eine Lebensluge ist. 

Erst jetzt dürfen wir Foma Fomitsch als den typischen russischen 
Schmarotzer ansprechen, den Helden aus dem »dunkelsten Winkel 
der Großstadt«, als ein Opfer des Westlertums, des vom Volke ab* 
gewandten Subjektivismus betrachten, Raskolnikow und Dimitris Er- 
lösung durch Liebe als die Erlösung der ganzen Menschheit deuten. 
Und wir dürfen auch sagen : die suggestive Wirkung, die vom Zalmph 
der Tauit ausgeht, verrät nicht einen Glauben, sondern einen Aber- 
glauben/ Flaubert als Mystiker entbehrt der Sicherheit, die ihn nie 
verläßt, wenn er mit Frederic Moreau das Pflaster der Boulevards 
tritt, selbst in der Situation, die dem Paris seiner Zeit am meisten 
entspricht: In der Burg des Herodes, wo die Menschen unter den 
Trümmern von Götterstatuen einherzugehen scheinen. Der Mangel 
der höheren Wahrscheinlichkeit, der seiner Romantik anhaftet, be- 
stätigt seinen Realismns. Wie konkret sind die Ausfuhrungen Dosto- 
jewskis, wenn sie zu den abstraktesten Dimensionen fuhren, wie 
lebendig ist sein Allmensch. Flauberts letzte Weisheit, der Bour- 
geois — ist ein phantastisches Gespenst. Bei jenem wird die Aus- 
nahme zur Regel, ist die Dunkelheit hell — bei diesem wird die 
Regel zur Ausnahme, ist die Helligkeit dunkel. Bei Dostojewski 
fangen die Menschen an zu leben, erst wenn sie auftreten/ sie öffnen 
die Tür und steigen aus dem Leeren, sie treten ab und fallen ins 
Nichts. Aber wir haben sie erkannt. Flaubert räumt alle Mißver- 
ständnisse fort, flieht jede Überraschung — und zum Schluß verstehen 
wir seine Helden ebensowenig wie im Anfang. Der Russe bringt 
eine Analyse, die fortwährend Synthese gebiert, die Synthese der 
Franzosen löst sich in Analyse auf und verschlingt sich zum gordi- 
schen Knoten, den »Bouvard und Pecuchet« vergeblich zu entwirren 
suchen. 

Aber wo sich diese Widersprüche kreuzen, muß eine Gemeinsam- 
keit liegen, die wir nur dunkel ahnen, wenn wir sagen: Rasse. Oder: 
Mensch. Nehmt dem Franzosen seinen Stil und er wird selbst die 
Lust am Absinth verlieren, solange ihr dem Russen seinen Brannt- 
wein laßt, wird er Gott finden. 



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Otto Kaus. T/außtrt und Dostojewski 671 

Und wenn wir die beiden, dem Inhalte nach so verschiedenen 
Systeme gegenüberstellen, — (Dostojewski: »Es muß sieb jeder an 
der allgemeinen Sünde mitschuldig fühlen« Flaubert: »Der Künstler 
muß, wie ein Gott, überall und nirgends sein«) — spricht aus ihnen 
nicht dieselbe Zauberformel : daß sich das Unendlich-Kleine nur vom 
Unendlich-Großen aus fassen läßt? 

Otto Kaus. 



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672 



Gottfried Ben/t, ItBaka 



ITHAKA 

PERSONEN: 

Alb recht, Professor der Pathalogie 
Dr. Rönne, sein Assistent 
Studierende der Medizin 
Der Student Kautski 
Der Student Lutz. 

Im Laboratorium des Professors. 
Am Ende eines Kurses. Der Professor, Studierende der Medizin. 

Professor: 

Und nun, meine Herren, habe ich Ihnen zum Schluß noch eine 
ganz köstliche Überraschung aufgespart. Hier sehen Sie, habe ich die 
Pyramidenzellen aus dem Ammonshorn der linken Hemisphäre des 
Großhirns einer vierzehntägigen Ratte aus dem Stamme Katull ge- 
färbt und siehe da, sie sind nicht rot, sondern rosarot mit einem 
leicht braunvioletten Farbenton, der ins Grünliche spielt, gefärbt. Das 
ist nämlich hochinteressant. Sie wissen, daß kürzlich aus dem Grazer 
Institut eine Arbeit hervorgegangen ist, in der dies bestritten wurde, 
trotz meiner eingehenden diesbezüglichen Untersuchungen. Ich will 
mich über das Grazer Institut im allgemeinen nicht äußern, aber ich 
muß doch sagen, daß mir diese Arbeit einen durchaus unreifen Ein« 
druck machte. Und sehen Sie, da habe ich nun den Beweis in Hän- 
den. Das eröffnet nämlich ganz enorme Perspektiven. Es wäre mög- 
lich, daß man die Ratten mit langem, schwarzen Fell und dunklen 
Augen von denen mit kurzem, rauhen Fell und hellen Augen auch 
auf diese feine färberische Weise unterscheiden könnte, vorausgesetzt, 
daß sie gleich alt sind, mit Kandiszucker ernährt, täglich eine halbe 
Stunde mit einem kleinen Puma gespielt und bei einer Temperatur 
von 37,36° in den Abendstunden zweimal spontan Stuhlgang ge- 



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Gottfried Benn, Itßafia 



673 



lassen haben. Naturlich darf man nicht außer acht lassen, daß ahn« 
liehe Erscheinungen auch unter anderen Bedingungen beobachtet wor- 
den sind, aber immerhin erscheint mir diese Beobachtung einer ge- 
nauen Veröffendichung wert, ja fast möchte ich sagen, ein Schritt 
näher zur Erkenntnis der großen Zusammenhänge, die das All be- 
wegen. Und damit guten Abend, meine Herren, guten Abend. 

(Die Studierenden ab bis auf Kautski und Lutz.) 

Lutz: 

Wenn man nun, Herr Professor, dies Präparat genau angesehen 
hat, läßt sich dann irgend etwas anderes sagen als : so, so, dies ist 
also nicht rot, sondern rosarot mit einem leicht braunvioletten Farben- 
ton, der ins Grünliche spielt, gefärbt? 

Professor: 

Aber meine Herren! Zunächst gibt es über die Färbungen der 
Rattenhirne die große dreibändige Enzyklopädie von Meyer und 
Müller. Die würde zunächst durchzuarbeiten sein. 

Lutz: 

Und wenn das geschehen wäre, würden sich dann irgendwelche 
Schlüsse ergeben? Irgendetwas Funktionelles? 

Professor: 

Aber, mein Lieber! Schlüsse! Wir sind doch nicht Thomas von 
Aquino, hi, hi, hi! Haben Sie denn gar nichts gehört von dem Morgen- 
rot des Konditionalismus, der über unserer Wissenschaft aufgegangen 
ist? Wir stellen die Bedingungen fest, unter denen etwas geschieht. 
Wir variieren die Möglichkeiten ihrer Entstehung, die Theologie ist 
ein Fach für sich. 

Lutz: 

Und wenn sich eines Tages Ihr gesamtes Auditorium erhöbe und 
Ihnen ins Gesicht brüllte, es wolle lieber die finsterste Mystik hören, 
als das sandige Geknarre Ihrer Intellektakrobatik und Ihnen in den 
Hintern träte, daß Sie vom Katheder flögen, was würden Sie dann 
sagen? 

<Dr. Rönne tritt ein.) 
Rönne: 

Herr Professor, ich gebe Ihnen hiermit die Arbeit über die Lücke 



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674 Gottfried Benn, Itßata 



im Bauchfell des Neugeborenen zurück. Ich habe nicht das geringste 
Interesse daran, einer bestimmten, in gewisser Richtung vorgeschulten 
Gruppe mir unbekannter Leute die bei einer Sektion gefundene 
Situation einer Bauchhöhle so zu schildern, daß sie sie sich nun vor- 
stellen kann. Auch vermag ich es im Gehirn nicht, dies Spiel, diese 
leichte und selbstgenugsame Naivität eines Einzelfalles zu zerstören 
und aufzulösen. 

* 

Professor: 

Ihre Gründe sind recht töricht, aber gut, geben Sie her. Genug 
andere Herren interessieren sich für diese Arbeit. Wenn Sie aber 
etwas weniger kurzsichtig wären, als Sie mir zu sein scheinen, wurden 
Sie begreifen, daß es sich gar nicht um diesen Einzelfall handelt, daß 
vielmehr die Systematisierung des Wissens überhaupt, die Organi- 
sation der Erfahrung, mit einem Wort, die Wissenschaft bei jeder 
Einzeluntersuchung in Frage steht. 

Rönne: 

Vor 200 Jahren war sie zeitgemäß, als sie aus der Vollkommen- 
heit von Organen die Weisheit Gottes erwies und aus dem Maule 
der Heuschrecken seinen großen Verstand und seine Güte. Ob man 
aber nicht nach weiteren 200 Jahren ebenso darüber lächeln wird, 
daß Sie, Herr Professor, drei Jahre Ihres Lebens darauf verwandten, 
festzustellen, ob sich eine bestimmte Fettart mit Osmium oder Nil- 
blau färbt? 

Professor: 

Ich habe nicht die geringste Absicht, mich mit Ihnen über Allge- 
meinheiten zu unterhalten. Sie wollen diese Arbeit nicht machen. 
Gut, dann gebe ich Ihnen eine andere. 

Rönne: 

Weder werde ich beschreiben, ob bei dem Senker in das Frucht- 
land von Frau Schmidt die Dünndarmschlingen im 6. oder 8. Monat 
durch den bewußten Spalt getreten sind, noch wie hoch bei einer 
Wasserleiche gegen Morgen das Zwerchfell stand. Erfahrungen sam- 
meln, systematisieren — subalternste Gehirntätigkeiten ! — Seit hundert 
Jahren verblöden sie diese Länder und haben es vermocht, daß jeder 
Art von Pöbel die Schnauze vor Ehrfurcht stillsteht vor dem größ- 



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Gottfried Benn, Itßaüa 675 

tcn Bettpisser, wenn er nur mit einem Brutschrank umzugehen weiß/ 
aber sie haben es nicht vermocht, auch nur das Atom eines Ge- 
dankens aufzubringen, der außerhalb der Banalität stände! Einen 
aus dem anderen kebsen/ möglichst nah am Nabel bleiben und den 
Mutterkuchen nicht verleugnen — das sind Ihre Gedanken / — Maul- 
wurfspack und Affenstirnen — eine Herde zum Speien! 

Lutz: 

Denn was schaffen Sie eigentlich? Hin und wieder buddeln Sie 
eine sogenannte Tatsache ans Licht. Zunächst hat es ein Kollege 
vor zehn Jahren bereits entdeckt/ aber nicht veröffendicht Nach fünf- 
zehn Jahren ist alles beides Blech. Was wissen Sie eigentlich? Daß 
die Regenwärmer nicht mit Messer und Gabel fressen und die Fairen- 
kräuter keine Gesäßschwielen haben. Das sind Ihre Errungenschaften. 
Wissen Sie sonst noch was? 

Professor: 

Zunächst ist es gänzlich unter meiner Wörde, auf diesen Ton zu 
antworten. 

Lutt: 

Würde? Wer sind Sie? Antworten sollen Sie. Los! 

Professor: 

Ich will mich dem Rahmen einfügen. Gut. Also, meine Herren, 
Sie sprechen wegwerfend von Theorien, meinetwegen. Aber in einem 
Fach mit so eminent praktischen Tendenzen: Serum und Salvarsan 
sind doch keine Spekulation? 

Lutz: 

Wollen Sie vielleicht behaupten, Sie arbeiten deswegen, damit 
Frau Meier zwei Monate länger auf den Markt gehen kann und 
damit der Chauffeur Krause zwei Monate länger sein Auto fährt? 
Außerdem — kleinen Leuten den Tod bekämpfen, wen's reizt — — — 
Und um es gleich zu sagen, Herr Professor, kommen Sie nun nicht 
mit dem Kausaltrieb. Es gibt ganze Völker, die liegen im Sand und 
pfeifen auf Bambusrohr. 

Professor: 

Und die Menschlichkeit? Einer Mutter das Kind erhalten, einer 
Familie den Ernährer? die Dankbarkeit, die in den Augen aufblinkt — 



676 



Rönne: 

Lassen Sie's aufblinken, Herr Professor! Kindersterben und jede 
Art Verrecken gehört ins Dasein, wie der Winter ins Jahr. Bana- 
lisieren wir das Leben nicht. 

Lutz: 

Außerdem interessieren uns diese praktischen Gesichtspunkte nur 
ganz oberflächlich. Worauf wir aber eine Antwort erwarten, ist dies : 
woher nehmen Sie den Mut, die Jugend in eine Wissenschaft ein« 
zufuhren, von der Sie wissen, ihre Erkenntnismöglichkeit schließt mit 
dem Ignorabismus? Weil es zufällig Ihrer Klabusterbeere von Ge- 
hirn genügt, in der Zeit, wo Sie sich nicht fortpflanzen, Statistik über 
Kotsteine zu betreiben? Mit was für Gehirnen rechnen Sie? 

Professor: 



Rönne: 

ich weiß! Ich weiß! Feldherrntum des Intellekts! Jahr* 

tausend aus Optik und Chemie! Ich weiß, ich weiß: weil die Farben- 
blinden in der Minderzahl sind, haben Sie auch eine Erkenntnis. 
Aber ich sage Ihnen, wagen Sie es, noch ein einziges Mal Ihre 
Stimme zu erheben zu den alten Lugen, an denen ich mich krank 
gefressen habe: mit diesen meinen Händen würge ich Sie ab. Ich 
habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zerkaut! Ich habe ge- 
dacht, bis mir der Speichel floß. Ich war logisch bis zum Kot- 
erbrechen. Und als sich der Nebel verzogen hatte, was war dann 
alles? Worte und das Gehirn. Worte und das Gehirn. Immer und 
immer nichts als dies furchtbare, dies ewige Gehirn. An dies Kreuz 
geschlagen. In dieser Blutschande. In dieser Notzucht gegen die 
Dinge — , o, wenn Sie mein Dasein kennten, diese Qualen, dieses 
furchtbare am-Ende-sein, von den Tieren an Gott verraten und Tier 
und Gott zerdacht und wieder ausgespieen, ein Zufall in den Ne- 
beln dieses Landes — ich sage Ihnen, Sie würden still und ohne Auf- 
hebens abtreten und froh sein, wenn Sie nicht zur Rechenschaft ge- 
zogen werden wegen Gehirnverletzung. 

Professor: 

Herr Kollege, es tut mir unendlich leid, wenn Sie sich nicht wohl- 



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Gottfried Benn, Itßada 



677 



fohlen. Aber, wenn Sie degeneriert, neurasthenisch, oder was weiß 
ich, an mittelalterlichen Bedürfnissen zugrunde gehn <— was hat das 
mit mir zu tun? Was ereifern Sie sich gegen mich? Wenn Sie zu 
schwächlich sind für den Weg zur neuen Erkenntnis, den wir gehen, 
bleiben Sie doch zurück. Schließen Sie die Anatomien. Betreiben Sie 
Mystik. Berechnen Sie den Sitz der Seele aus Formeln und Korol- 
larien/ aber lassen Sie uns ungeschoren. Wir stehen über die Welt 
verteilt: ein Heer: Köpfe, die beherrschen, Hirne, die erobern. Was 
aus dem Stein die Axt schnitt, was das Feuer hütete, was Kant 
gebar, was die Maschinen baute — das ist in unserer Hut. Unend- 
lichkeiten öffnen sich. 

Rönne: 

Unendlichkeiten öffnen sich: eine mächtige Großhirnrinde über- 
gestülpt trottet etwas dahin/ Finger stehen wie Zirkel/ Gebisse sind 
umgewachsen zu Rechenmaschinen <— o man wird ein Darm werden 
mit einem Kolben oben, der Systeme absondert. . . . Perspektiven! 
Perspektiven! Unendlichkeiten öffnen sich! — 

Aber wegen meiner hätten wir Quallen bleiben können. Ich lege 
auf die ganze Entwicklungsgeschichte keinen Wert. Das Gehirn ist 
ein Irrweg. Ein Bluff für den Mittelstand. Ob man aufrecht geht 
oder senkrecht schwimmt, das ist alles nur Gewohnheitssache. — 
Alle meine Zusammenhänge hat es mir zerdacht. Der Kosmos rauscht 
vorüber. Ich stehe am Ufer: grau, steil, tot. Meine Zweige hängen 
noch in ein Wasser, das fließt/ aber sie sehen nur nach Innen, in 
das Abendwerden ihres Blutes, in das Erkaltende ihrer Glieder. Ich 
bin abgesondert und ich. Ich rühre mim nicht mehr. 

Wohin? Wohin? Wozu der lange Weg? Um was soll man sich 
versammeln? Da ich einen Augenblick nicht dachte, fielen mir nicht 
die Glieder ab? 

Es assoziert sich etwas in einem. Es geht etwas in einem vor. 
Ich fühle nur noch das Gehirn. Es liegt wie eine Flechte in meinem 
Schädel. Es erregt mir eine von oben ausgehende Übelkeit. Es liegt 
überall auf dem Sprung: gelb, gelb: Gehirn, Gehirn. Es hängt mir 
zwischen die Beine herunter. ... ich fühle deutlich, wie es mir an 
die Knöchel schlägt — — runterkratzen. . . . 



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Gottfried Be ritt, Mafia 



O so möchte ich wieder werden: Wiese, Sand, blumendurch- 
wachsen, eine weite Rur. In lauen und in kühlen Wellen tragt einem 
die Erde alles zu. Keine Stirne mehr. Man wird gelebt. 

Kautski: 

Aber sehen Sie um unsere Glieder das Morgenrot? Aus der 
Ewigkeit, aus dem Aufgang der Welt? Ein Jahrhundert ist zu Ende. 
Eine Krankheit ist gebrochen. Eine dunkle Fahrt, die Segel keuch« 
ten/ nun singt die Heimat über das Meer. 

Was Sie vertrieben hat, wer will es sagen? Fluch, Sündenfall, 
irgendwas. Jahrtausende waren es ja auch nur Anläufe. Jahrtausende 
blieb es ja auch latent. Aber dann, vor hundert Jahren kam es plötz- 
lich zum Ausbruch und schlug wie eine Seuche über die Welt, bis 
nichts mehr übrig blieb als das große fressende herrschsüchtige Tier: 
der erkennende Mensch/ der reckte sich von Himmel zu Himmel und 
aus seiner Stirne spielte er die Welt. Aber wir sind älter. Wir sind 
das Blut/ aus den warmen Meeren, den Müttern, die das Leben 
gaben. Sie sind ein kleiner Gang vom Meer. Kommen Sie heim. 
Ich rufe Sie. 

Rönne: 

Was sagen Sie? Das Blut . . .? Das Meer . . .? Das Blut ist warm. 
Die Meere waren warm, das habe ich auch gehört. Dann wäre es 
zu heilen, wenn sie zurück an die Meere gingen? 

Professor: 

Lassen Sie sich von Rönne nicht irre machen. Er ist durch Denken 
ohne ernste, zielgerichtete Arbeit etwas zermürbt Es wird solche 
Opfer geben müssen auf unserem Weg. 

Rönne: 

Es hat das mittelländische Meer gegeben/ vor unvordenk- 

liehen Zeiten/ aber es gibt es immer noch. Vielleicht war das das 
Menschlichste, das es gegeben hat? Meinten Sie das? 

Professor (fortfahrend): 
Aber meine Herren, alle diese merkwürdigen Bedürfnisse und 
Gefühle und auch das, von dem sie sprachen: Mythos und Erkennt- 



Gottfried Benn, Malta 



679 



nis, wäre es nicht möglich, daß es alte Schwären unseres Blutes sind, 
von alten Zeiten her, die sich abstoßen werden im Laufe der Ent- 
wicklung, wie wir das dritte Auge nicht mehr haben, das nach hinten 
sah, ob Feinde kämen? Die hundert Jahre, die es Naturwissen- 
schaften und aus ihnen Technik gibt, wie hat sich alles Leben doch 
verändert. Wieviel Geist ist der Spekulation, dem Transzendentalen 
untreu geworden und richtet sich nur noch auf die Formung des 
Materiellen, um neuen Bedürfnissen einer sich erneuernden Seele 
gerecht zu werden! Könnte man nicht bereits von einem homo faber 
sprechen, statt von einem homo sapiens wie bisher? Sollten sich nicht 
vielleicht im Laufe der Zeit alle spekulativ-transzendentalen Bedürf- 
nisse läutern und klären und still werden in der Arbeit um die 
Formung des Irdischen? Ließe sich nicht von diesem Gesichtspunkte 
aus die naturwissenschaftliche Forschung und das Lehren des Wissens 
rechtfertigen? 

Kautski: 

Wenn Sie eine Gilde von Klempnern heranbilden wollen: ja. 
Aber es gab ein Land: taubenumflattert/ Marmorschauer von Meer 
zu Meer, Traum und Rausch — 

Rönne: 

. . . Gehirne: kleine, runde/ matt und weiß. 

Sonne, rosenschößig, und die Haine blau durchrauscht. 

Blühend und weich die Stirn. Entspannt an Strände. In Oleander 

die Ufer hoch, in weiche Buchten süß vergangen . . . — 

. . . Das Blut, als bräche es auf. Die Schläfen, als erhofften sie. 

Die Stirn, ein Rinnen wie von flüggen Wassern. 

O es rauscht wie eine Taube an mein Herz: lacht — 

lacht — Ithaka! — Ithaka! . . . - 

O, Bleibe! Bleibe! Gib mich noch nicht zurück! O welch 
ein Schreiten, so heimgefunden, im Blütenfall aller 
Welten, süß und schwer . . . 

Ich will dir eine Tat tun, bleibe, bleibe! O, was ist 
Kerker und was ist Tod. Rausch, Rausch ist stärker 
als der Tod. 

(Ergreift den Professor) 



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680 



Gottfried Benn, Itfiaka 



Professor: 

Aber meine Herren, was haben Sie denn vor? Ich will Ihnen ja 
gerne entgegenkommen. Ich versichere Ihnen, ich werde in Zukunft 
in meinen Kollegs immer darauf hinweisen, daß wir die letzte Weis« 
heit hier nicht lehren können, daß daneben philosophische Kollegs 
zu hören seien. Ich werde das Fragwürdige unseres Wissens durch« 
aus zum Ausdruck bringen . . . (schreiend) Meine Herren, hören Sie! 
Wir sind doch schließlich Naturwissenschaftler, wir denken nüchtern. 
Was wollen wir uns in Situationen begeben, denen — sagen wir — 
die heutige Gesellschaftsordnung nicht gewachsen ist . . . Wir sind 
doch Ärzte, wir übertreiben doch die Gesinnung nicht. Niemand 
wird erfahren, was hier geschah! Hilfe! Hilfe! 

Mord! Mord! 

Lutz (ergreift ihn ebenfalls): 

Mord! Mord! Schaufeln her! Aufs Feld den Modder. Von unserer 
Stirne sollen Geißeln gehn in dies Gezücbt! — 

Professor (gurgelnd): 
Ihr grünen Jungen! Ihr trübes Morgenrot! Ihr werdet verbluten 
und der Mob feiert über euerm Blut ein Frühstück mit Prost und 
Vivat! Erst tretet den Norden ein! Hier siegt die Logik! Überall 
der Abgrund: Ignorabimus! Ignorabimus! 

Lutz 

<ihn mit der Stirn hin und her schlagend): 
Ignorabimus! Das für Ignorabimus! Du hast nicht tief genug ge- 
forscht. Forsche tiefer, wenn Du uns lehren willst! Wir sind die 
Jugend. Unser Blut schreit nach Himmel und Erde und nicht nach 
Zellen und Gewürm. Ja, wir treten den Norden ein. Schon schwillt 
der Süden die Hügel hoch. Seele, klaftere die Flügel weit/ ja, Seele! 
Seele! Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch. Wir rufen 
Dionysos und Ithaka! — 

Gottfried Benn. 



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M. Bntmann. Drei GtJidlt 



681 



DREI GEDICHTE 
GEBET 

Ich bin vor Dir nur ein kleines Gesicht 
Und lege es manchmal in Deine Hände, 
Denke manchmal: Bring' es zum Ende, 
Aber verlaß mich nicht. 

Du redest hart durch die andern, 
Wollte doch nur am Bache wandern, 
Und im Spiegel Dich sehen. 

Laß mich ein wenig seitwärts stehen 

Nur als Dein Hauch, 

Nimm mich nicht zum Gehrauch, 

Wie die, die Dich künden. 

Ich will mich hinter Deines Mantels Falten 

Selber finden, 

Und dann mich halten. 

Ich bin vor Dir nur ein kleines Gesicht 
Und lege es manchmal in Deine Hände, 
Denke manchmal: Bring' es zum Ende, 
Aber verlaß mich nicht. 



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682 



M. Benemann, Drvi Gedicßte 



DIE WISSENDE 

Ich weiß: Daß irgendwer jetzt durch die Nacht 
Nach meiner Seele heiß verlangend greift, 
Ich weiß: Daß einer längst an mich gedacht, 
Und daß ich nun in ihm emporgereift. 

Ich weiß: Daß irgendwo die lichte Nacht 
Verlodert hin in übersterntem Glanz, 
Daß Tage, wie des tiefsten Sommers Kranz, 
Durch einen Einklang trunken angefacht. 

Und irgendwo rauscht Bach und Meer und Strom 
Durch zweier Schläge Herzempfanglichkeit, 
Und überschlossen ragt von einem Dom 
Der Schwur von aller Ewigkeit. 

Doch irgendwann sinkt welkes Laub zur Nacht 
Aus Händen, die einander müde sind, 
Und Schwüre löst ein lockrer Herbsteswind, 
Da Zweie hell einander angelacht. 



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M. Benemann, Drei Gedichte 683 



HERR, NUN ISTS ZEIT 

Herr nun ist's Zeit. Es stehen Katastrophen 
Am Horizonte wie erstarrt in Waffen. 

Herr es ist Zeit, sie nun herbei zu raffen 
Und ein Entsetzen in das leere Gaffen 

In Deiner Völker ausgehrannten Ofen 

Ein neues Grauen schwer hinein zu schaffen. 

Herr es ist Zeit, uns Späher zu vernichten, 
Die wir Dich nur wie ein Phantom erdichten: 

Daß wir das Unerfaßliche nicht mehr befassen . . . 
Herr es ist Zeit Dieb nun allein zu lassen. 

Maria Benemann. 



47 



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Henriette Hardenberg, Vers* 



VERSE 

FÜR MEINEN BRUDER 

In deiner Schärfe blutet dein schmaler Gedanke. 

Deine Rippe zittert, wenn du die Kante senkst, 

Wenn es klirrt durch deine Freiheit. 

Peitscher, deine untergegangenen Augen verraten dich, 

Und die Hand, am Kopfe gebogen. 

Du erinnerst dich goldener Flüsse 

Und ziehst ihre Wege nach. 



AN EINEN 
Der Bucklige spricht. 

Die Glaswände sind zerbrochen zwischen uns, 
Und ich seh dich viel klarer 
Und bin freigeschüttelt. 
Du, ich muß Riese sein: 

Ich bin so weit, daß du in meine Kirche wandern sollst 

Und alle frommen Dinge sehen: 

Ich will, daß du jetzt alles weißt von mir. 

Hör, meine Glocke brüllt für dich nach dir. 

Wie Feuer schlägt sie in mich ein, 

Bis du sie niederlegst mit deinem Willen, 

Ihr Tönen meiner Schmerzen wandelst. 



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Henriette Hardenberg, Verse 



685 



DEM FREUND 

Meine Stirn ist dein großer See. 
Du mußt midi lieben. 
Meine Linien führe im an dich heran, 
Daß sie dich rühren. 

Du bist weit zu erreichen an allen Seiten, 

Und meine Tiefen dehnen sich langsam — 

Ich kann sie nicht bringen, 

Wenn ich zart bin: 

So schmerzen wir uns immer. 

Ich bin dein matter, hängender See, 

Ich muß dich immer umlehnen. 

Henriette Hardenßerg. 



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686 



Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



EREIGNISSE UND BEGEGNUNGEN 

4. DER HELD 

Hauptmanns Odysseus und Wedekinds Simson zeigen mir schi 
fer als je, wie die akklamierten Dichter der Zeit den Sinn ihi 
Berufung vergessen. 

Ich habe Hauptmann manches mensdienselige Gefühl, Wedeki 
manches staunende Besinnen über die Grenzhaftigkeit und Üb< 
grenzhaftigkeit des Menschen zu danken, aber im will dank! 
sein, wenn ich an sie als Personen denken darf: jetzt sind sie I 
mich nichts als Kundgebung <— Kundgebung des schmerzlichst 
Vorgangs. 

Dieser Odysseus und dieser Simson sind der Sphäre ihrer in 
tionalen Ganzheit entrissen, der eine in kausale, der andre in psych 
logische Wahrscheinlichkeit eingestellt, und Dichter haben das get 
Darüber hilft mir keine Erinnerung an frühere Gaben hinweg. 

Der homerische Held ist nicht »verständlich«, sondern wirkli 
Seine Dichter, die zahllosen des Mythos und die letzterschienen 
des epischen Berichts, haben die Wirklichkeit eines elementaren Me 
sehen geschaut, als seine Zeitgenossen oder als in seinem Gedäd 
nis Erzogene, und haben sie gebildet, wie Dichter einer ungebrochen 
Zeit bilden: indem sie den Helden Wunder erleben, Wunder t 
ließen. Das Wunder ist die natürliche Sprache der naivsten Frömmi 
keit, der Frömmigkeit zum Helden. Es bedeutet nicht, wie ein Heutig 
es übersetzen mag, eine Ausnahme vom Naturgesetz, sondern d 
Ursprüngliche und Gesetzgebende, das Tun des zentralen, des ei 
scheidenden Menschen, wie es notwendigerweise dem Hingegeben 
und Andächtigen erscheint. Was darin bildnerische Aussprache find 
ist das ungeheure Erlebnis der Führerschaß. Der Held tut nt- 



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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



687 



Übermenschliches, sondern die anderen tun Unterheldisches. Der 
Held ist das Maß der Dinge. 

Diese Anschauung mag als primitiv-kausal bezeichnet werden, 
man könnte sie auch vorkausal nennen, weil sie allem vorausgeht, 
was heute ursächliche Weltorientierung heißt. Diese hat ihre Ent- 
stehung in dem Trieb, sich dem Irrationalen gegenüber durch Wissen 
und Voraussehen der Zusammenhänge, durch Einteilung und Ein- 
richtung des Geschehens zu behaupten/ sie hat ihre bestimmende 
Entfaltung empfangen, als der Mensch stärker als die Andacht vor 
dem Helden die Begierde verspürte, nicht länger in dessen Hände 
gegeben zu sein, statt des heldischen das »allgemein-menschlichec 
Maß aufzurichten und an Stelle der elementaren, unbegreiflichen, als 
Wunder begeisternden Tat das zweckmäßige, verständige und ver- 
ständliche Handeln zum richtunggebenden Gesetz zu machen. Nun 
erst wird der Held als Ausnahme, bald auch nicht mehr als Aus- 
nahme angesehen. Es bildet sich die Weltbetrachtung aus, die alles 
Tun und alle Täter, und so auch den Helden, in das Getriebe der 
Ursachen und Wirkungen einreiht, ihn daraus erklären, ja, wenn 
sie es nur zu übersehen vermöchte, daraus berechnen zu können sich 
unterfängt. 

Ihr entgegen aber verharrt, an wehrhaftem Bewußtsein wachsend, 
die ursprüngliche, die mythische Anschauung. Wie sie das Geschehen 
der Welt als ein überkausal sinnvolles weiß, so erscheint ihr die 
Tat des Helden als eine gesteigerte Offenbarung des Weltsinns. Sie 
leitet sie nicht aus dem Getriebe der Ursächlichkeit ab, sondern er- 
faßt sie aus dem Willen des Göttlichen, sich zu verwirklichen. Sie 
erklärt den Helden nicht, sondern stellt sein Bildnis dar, das die irratio- 
nale Bedeutung, die undeutbare, nur eben darstellbare manifestiert. 
Ihr Träger ist der Dichter. Seine Berufung ist so tief gegründet, daß 
er sich, wie Homer, als den Zweck des Helden empfinden darf/ denn 
im Helden wird der Sinn wirklich, aber im Mythos wird diese Wirk- 
lichkeit endgültig offenbar. Und es ist der Dichter, in dem der Mythos 
zum Worte wird. 

Die rationale Betrachtung des Helden mag um der Stiftung einer 
einheidichen Weltorientierung willen berechtigt sein, von höherer 
Legitimität ist die Frömmigkeit des Dichters. Er hat die riesenhafte 



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■ 



688 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



Aufgabe, das heroische Wunder immer wieder lebendig zu machen, 
jeder Zeit von neuem, daß es nicht etwa als Ausnahme vom Natur« 
gesetz, sondern als das Ursprüngliche und Gesetzgebende, das Tun 
des zentralen, des entscheidenden Menschen, daß es mit Hingabe 
und Andacht als die fundamentale Tatsache empfunden werde, die 
nicht aus den andern, sondern aus der die andern zu verstehen sind. 
Er muß der kompakten Rationalität seiner Zeit gewachsen sein, daß 
er sie berichtige, aber von ihr nicht wieder berichtigt werden könne. 
Er muß die Gewalt und die Würde einer inappellabel Instanz 
haben. Er muß die Wirklichkeit seines Blickes so groß, so unan- 
zweifelbar vor den Blick der Menge einsetzen, daß ihr die Wahr- 
heit ihrer Tage zum Trug und das scheinhafte Bild des Gedichts 
zur innern Wahrheit der Welt werde. Er darf die stoffliche Wucht 
des Wunders mindern, aber nur um es seelenhafter, nicht um es 
wahrscheinlicher zu machen/ er darf das sichtbare Maß des Helden 
dem unsern annähern, aber nur um uns innerlicher zu überwältigen, 
nicht um uns den Glauben zu erleichtern. Er darf, er soll Kausalität 
geben, aber die seiner Vision, die in sich notwendig und sinnvoll 
zusammenhängend ist, nicht die des »historischen Verständnisses«. 

Hauptmann will den freiertötenden Odysseus wahrscheinlicher, 
glaubwürdiger machen/ aber er ist nur nichtig geworden und aus 
einem Täter, dessen Rede selber Tat ist, ein Sprecher so langwieriger 
ob auch wohlklingender Worte, daß ich ihm auch das klägliche biß- 
chen Tat, das er zuletzt zu vollbringen vorgibt — daß er vier waffenlose, 
betrunkene Kerle auf etliche Meter Entfernung abschießt — nicht glauben 
mag. Dieser Dichter hat einst den »Florian Geyer« geschrieben, ein 
Werk, in dem heroischer Atem weht/ aber diese Erinnerung ist alles 
eher als Trost. Damals ließ er sich von einer Art des Sehens, die 
in unserer Zeit erstarkt ist <es ist eine große Art, die das Heldische 
im Volk verwurzelt und aus ihm aufkeimend sieht), anregen, er ge- 
staltete sie/ jetzt läßt er sich von der Unart, der Unkraft, dem »Ver- 
ständlichmachenwollen«, das in unserer Zeit wuchert, bestimmen, er 
macht es mit. Die kompakte Rationalität der Zeit, die ihm schon 
in den »Emanuel Quint« hineinreden durfte, hat ihn hingenommen. 

Anders, aber nicht geringer vergeht sich Wedekind gegen den 
ewigen Sinn des Helden. Bei Hauptmann ist das heroische Wesen 



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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 689 

in seiner Beziehung zur Welt entstellt, bei Wedekind in seiner 
innern Struktur. Hauptmanns Odysseus ist kausalisiert: er bringt 
nichts zustande, was nicht der normale Mensch nach den allgemein 
anerkannten energetischen Formeln zustande bringen kann/ Wedekinds 
Simson ist psychologisiert: es geschieht nichts mit ihm, ohne daß er 
mit kundiger Selbstanalyse erforschte und mit pointierender Dialektik 
vortrüge, was er dabei empfindet und warum er es empfindet. Seine 
Taten werden durchaus der mythischen Oberlieferung gemäß berichtet, 
sie sind nicht geschmälert worden, aber ihr Geist ist ihnen genommen, 
und statt seiner ist ihnen ein Geist angestückt worden, der um seine 
>Motive< Bescheid weiß und auch in der Terminologie beschlagen ist. 

Der biblische Held hat keine Psychologie. Der angeschaute Held 
hat keine Psychologie. Freilich, auch der unheldische Mensch stellt in 
jedem Augenblick eine Totalität dar, die unendlich mehr und wesent- 
lich anderes ist als die Summe ihrer »Teilec, d. h. der Produkte der 
psychologischen Analyse/ auch ihn zerlegen ist irgendwo ein Unrecht. 
Aber er rechtfertigt es durch sein Dasein: weil er selber gelockert, 
disparat ist, weil in ihm selber, mag er noch so einfältig sein, ein 
Auseinander waltet. Des Helden Wesen jedoch ist in seiner Ge- 
stalt: in seiner fugenlosen Ganzheit, seiner stoßkräftigen Geschlossen- 
heit/ er hat sein Erleben mannigfach, leibhaft und einig wie er sein 
Tun hat, aber er hat keine »Motivec/ er ist vielfältig, aber wie ein 
Gedicht, nicht wie ein Wörterbuch/ er weiß um die Blitze seiner 
Leidenschaften, aber nicht um die Elektrizität. An ihm vollzogen 
wird die psychologische Analyse zum Widerspruch: weil der Held 
die Offenbarung der Ganzheit ist. Der Dichter aber, der ihn so 
analysiert, sündigt wider den Geist/ denn ihm, dem Dichter, war 
vom Geiste aufgegeben, die mythische Anschauung zu tragen und 
zu hüten. Er darf den Helden beschreiben, wie einen Baum/ er darf 
ihn erzählen, wie ein Erdbeben/ aber er darf ihn, den in seiner 
Einigkeit Bestehenden, nicht als einen zerlegbaren Mechanismus vor- 
fuhren. Der Held des Dichters darf sagen, was er fühlt, aber nicht, 
wie es zugeht, daß er es fühlt — denn sonst ist er, der wirklichste 
Mensch, ins Fiktive hinabgesunken. Der Held des Dichters darf 
prahlen, darf lügen, aber er darf nicht jene selbstanalytische > Wahr- 
heit« reden, welche die Zersetzung der Wirklichkeit ist. 



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690 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 



Die Helden sind die Gipfelungen und Knotungen des mensch« 
heitlichen Geschehens. In ihnen offenbart sich dem Menschen leuch- 
tend und unmittelbar der Charakter der Unableitbarkeit und Un« 
zerlegbarkeit, der allem Geiste innewohnt, aber sich einzig hier, in der 
zentralen Gestalt, vollkommen äußert. Doch der Trieb zum Ableiten 
und Zerlegen, den die von ihm Besessenen den Trieb zum Erkennen 
heißen <und wahrlich, er hat dessen Antlitz wie der Antichrist das 
Antlitz Christi hat), hält vor dem Helden nicht ein/ ja, sich an diesem 
zu üben ist sein heftigster Genuß: wo könnte sich seine Lüstern* 
heit so sättigen, wo könnte er so viel Wirklichkeit vernichten wie 
hier? Aber er ist betrogen. Wie in der Sage die lebendige Helena 
von den Göttern aus Troja entrückt wird und der Kampf um ein 
Schattenbild tobt, so ist es nicht der Held, sondern ein wesenloses 
Gespenst, um das sie sich bemühen. Bis die realisierenden Menschen, 
und unter ihnen der an Äußerung mächtigste, der Dichter, voran, 
den Trug besiegen, den Helden heimführen und in seine Herrschaft 
einsetzen. 

Wie aber, wenn der Dichter den Sinn seiner Berufung vergißt 
und an den Popanz glaubt? 

* 

Martin Bußer. 



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Pauf Bofdt, Der Versuch zu faßen 



691 



DER VERSUCH ZU LIEBEN 
EINE NOVELLE 

TV/TLHELM kannte das hübsche Mädchen ein paar Monate. Es 
W erfuhr alles. 

Sein Kleid war von einer Damenhand geschmückt, die Schuhe oft 
gewöhnlich. Es lächelte maßvoll, man konnte nicht zu schnell schrei- 
ten — aber es sagte: »leb bin nicht grazil, icb bin fett« . .? 

Sein Name war langweilig. Die Freunde hörten es Stefa Frühling 
nennen und nahmen Wilhelms Einfall hin/ das hübsche Mädchen 
wurde gewöhnt, andere Worte zu hören. 

Als sie spazieren gingen und Wilhelm sagte: »Ich hab dich gern, 
aber ich küsse die Mädchen nicht«, lächelte Stefa Frühling mit rot 
geöffneten Lippen, drohend: »Das sag ich meiner schönen Schwester!« 

Sie gingen oft spazieren. Sie drangen unbesorgt in verlassene Gär« 
ten ein. Es war noch Winter da draußen vor der Stadt. Stefa Früh- 
ling erzählte, wovon sie nachts geträumt hatte: »vom Verreisen ans 
Meer«, »von einem Himmel ohne Häuser« — und wurde Schwatz- 
liese gescholten. Alsbald schrie sie mit großer Kunst wie eine Elster, 
wurde gelobt und echote alle Vogelrufe nach. 

Abends fror Stefa Frühling, Wilhelm trug sie in seinem Paletot. 
Das große Wickelkind krallte die Hände in sein Haar, eine unge- 
sunde Zärtlichkeit. 

Er ging nach Hause: Sie ist nicht fett, das ist nicht präzis. Sie 
ist prick. Wie sie schrie, die pricke Drossel. 

Stefa Frühlings Familie lud ihn ein. Während man plauderte, 
saßen auf dem Sofa blond und schwarzhaarig Mutter und Mädchen. 
»Dame und Damenjunges« dachte Wilhelm. 

Dann war der Winter zu Ende. Die Tage fielen auseinander, und 
Wilhelm verließ die Stadt. 



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692 PaufBoCft. Der Versu<6 zu fießen 

Ihr braun gesiegelter Brief lag morgens zwischen dem Teeporzellan. 
Er gab ihn seinen Fingerspitzen zum Spielen. Das Format der Um« 
schlage differierte/ aber das graphische Bild auf den Briefen hatte 
photographische Ähnlichkeit. In gleichem Tempo schrieb sie ihre gro- 
ben, flüchtigen Buchstaben über kleine und große Kuverts. 

Im April reiste Wilhelm zurück, durch die Wälder. Die Sonne 
glänzte und schwankte. »Ich werde in der Stadt eine Postkarte schrei- 
ben: Ich bin hier, ich freue mich. Wir wollen spazieren gehen.« 

In den Straßen fühlte er das Tupfen von Luft und Sonne in 
seinem Gesicht. Alles erwartete ihn hier. Alle Müdigkeiten und An- 
sammlungen waren fort. 

Das Zimmermädchen brachte die eingegangenen Briefe. Wilhelm 
sah nach der Handschrift und bog einen zwischen den Fingern: er 
würde lächeln bei der Lektüre. Da fiel Stefa Frühlings Photographie 
dunkel über die roten und grünen Tropfen der Briefmarken auf den 
Schreibtisch. 

Am gleichen Nachmittag sagte Stefa Frühling: »Ich werde hei- 
raten«. 

»Natürlich«, sprach er, »wirst du das.« 

»Aber ich werde mich zunächst verloben und dann diese Spazier- 
gänge aufgeben.« 

»Wenn du verlobt bist, gratuliere ich dir. Ich habe auch ein kleines 
Geschenk. Denke an mich, solange es vorhält.« Er hatte einen Kar- 
ton Konfekt in der Tasche. 

Sie sah ihn an. Die Größe seines Gefühls während der Reise 
machte ihn verlegen. Werde ich mich morgen grämen? dachte er. Ich 
liebe sie, wenn sie fort ist/ wenn ich sie sehe, tue ich sonst nichts 
mehr. 

Er sagte zögernd: »Ich habe dich nicht geküßt. Ich wußte niemals, 
ob wir uns liebten. Ich weiß es wieder nicht.« 

»Hattest du nicht Angst, daß ich dich verlassen könnte?« 
»Ja, im Grunde war ich feige.« 

»Und jetzt, da ich dich allein lasse, küssest du mich jetzt?« 
»Vielleicht.« 

Sie redeten/ sie gingen achtlos mit den Worten um/ sie infizierten 
sich mit ihnen. 



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PaufBoüft Der Versiuß zu rußen 



693 



»Wenn wir uns die Hände geben, sehen wir unsere Augen später 
nicht mehr?« 

Stefo Frühlings Stimme veränderte sich: »Idi bin doch so un- 
schlüssig. Ich muß jetzt allein sein. Ich muß mich entschließen. Ich 
werde alt. Heiraten, das ist wenigstens etwas Neues. Das andere 
wäre freilich schöner, was ich nicht bekomme. Wir kriegen es ja 
nicht fertig.« 

»Ja,« sagte Wilhelm, »wir würden auch nicht mehr vollbringen als 
heiraten: Anekdoten zusammentragen, das Zufallige annehmen, weil 
es neu ist.« 

»Wenn ich es nicht brauchte, wenn ich etwas anderes hätte/ ich 
würde mich freuen, wenn ich nicht zu heiraten brauchte. Meine Mutter 
rät mir dazu. Sie hat Furcht, ich könnte wieder ausbrechen. Sie 
meint, wir sollen jetzt nicht zusammen sein.« 

»Heirate«, sagte Wilhelm mitleidig und sah sie an und sah ihren 

Mund: Sehr hübsch, sehr hübsch, dachte er — aber was für 

Gefühle sonst! 

Unterwegs zu den Häusern der Stadt begann er die Trennung 
zu erleben. Das Gesicht der Tage alterte. 

Er fand in seinem Zimmer die Lampe ohne öl. Es war niemand 
mehr in der Küche. Da setzte er sich an den Schreibtisch und roch 
an Stefa Frühlings Briefen. Die Sekunden stachen ihn. »Heute kann 
ich sie nicht mehr sehen!« sagte er. Es wurde Schmerz in ihm. 

Er machte Spaziergange mit seinen Freunden und spielte abends 
Schach. Er bat sie in halbem Scherz, ihm eines ihrer Mädchen zu 
überlassen: »Ich altere frauenlos. Ich bin jähzornig geworden. Suizid 
drängt sich auf. Ich begreife nicht, daß ich keine Frauen habe.« 

»Wir haben auch nur unser Auskommen, keine Rede von Aus- 
schweifung. Uns allen fehlt das Tierherz des Zuhälters.« 

»Was soll ich tun?« 

»Dich um nichts kümmern. Die Frühling heiraten lassen, wen sie 
will. Wie wolltest du sie lieben, da es Liebe nidit gibt!« 

»Ist also mein Gefühl Schwindel? Ich bringe es nie heraus.« 

»Pah, möchtest du mit ihr schlafen? Du lügst, wenn du nicht geil bist!« 

Das Gespräch ging weiter, doch Wilhelms Gedanken versteckten 
sieb hier. Er verlangte Hilfe von der Skepsis gegen die Leidenschaft. 



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694 



Paut Bofdt, Der VersuS zu ßeßen 



In der Nacht fand er keinen Schlaf. Sein Körper blieb heiß. Die 
Vorstellung seines Verlustes wurde maßlos. Trotzdem wußte er, »ich 
liebe sie nicht«, und hatte Stöhnen in der Kehle. 

»Die schlimmen Tage werden nicht heilen!« Er versuchte es mit 
Sexualität, aber die Fleischesjugend einer Kokotte erlag seinen 
seelischen Strapazen. Er holte sich Ekel und nervöse Tränen und 
saß den Rest dieser Nacht halluzinierend am Schreibtisch. 

Am dritten Abend besuchte er eine Gesellschaft. Das Haus leuch- 
tete wie ein fremder Stern. 

Stefa Frühlings Mutter wurde ein wenig verstört, ein wenig böse, 
als sie ihn sah, sagte: 

»Herr Kreißler, wir wollen uns aussprechen wie ein Mensch zum 
andern«, sagte, »die Kleine ist zu Hause und weint.« — — Er 
sagte: »Ah, das Kind einer Dame!« Zitternd. Freudeweiß. 

Er ging in der Straße. Seidener Fluß Erotik! Luft, die Frauen 
mit den Brüsten gepreßt hatten, fiel auf ihn. Im Cafe schrieb er ihr. 
»Bleibe meine Freundin! Ich habe niemanden. Ich gehe zu Grunde, 
wenn du mich verlässest. Ich altere frauenlos. Ich kenne die Dirnen 
aller Stände, aber ich bin kein Tier mehr. Meine Gute wurde jäh- 
zornig nach und nach. Du hast mein Herz geboren, nun herze es *— 
du junge Mutter! 

Sie treffen sich. Mondabends. Der Garten ist grün und die Luft 
hell. Wilhelm redet nicht mehr. Alles ist entstellt. Er sieht ihr Ge- 
sicht und empfindet Schweigen und Haß. Er sitzt schmerzmüde bei 
ihrer Angst. Er beobachtet die Mädchenangst in ihren Augen. Er 
spricht freundlich mit ihr und küßt sie nicht. Er genießt die Ver- 
geltung für das, was er an drei Tagen gelitten hat. Seine Grausam- 
keit erfrischt ihn. Er hilft ihr nicht, sieht ohne Mitleid, daß ihre Lieb- 
kosungen täppisch und jungfräulich bleiben und bekommt einen Schluck 
Küsse über die Lippen. Ihr Kuß ist mager und hat den Geruch von 
Tränen. 

Es dauert eine lange halbe Stunde, dann sagt Wilhelm: »Wir 
wollen gehen.« 

Pauf Bofdt. 



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Osäat Loerfa Das Gofdßergwert 695 



DAS GOLDBERGWERK 

ERBARME dich, großer Pharao und gib Wasser den Ver- 
dürstenden! 
Höre an, Herr: 

In der Wüstengebirge einem, wohin du unser achthundert verbannt 
hast, denen deine Gnade ihr Leben schenkte, gibt es ein Goldberg- 
werk. Daher kommen wir fünf, die hier vor dir im Staube lie- 
gen, als Abgesandte. Seit einem Jahre wohl hat es nicht mehr ge- 
regnet, die Zisternen sind brach, die Brunnen sind leer. Mensch und 
Tier schreien, und alle sterben aus. An hundert Männer und Frauen 
und Kinder sind schon tot. Acht Tagereisen ist es von unserem Berg- 
werk bis zu diesem fruchtbaren Garten der Heimat. 

Uns fünfen gab man vom letzten Brot und vom letzten Wasser, 
daß wir reisten: zu dir, Pharao. 

Den Sonnengott selber dürstete in der endlosen Wüste, und er 
kam in unser Bergwerk trinken. Durch den Gürtel leeren kochenden 
Dampfes beugte er jeden Morgen aus seiner Höhe das glühende 
Angesicht, und er trank und trank aus unsera vier Quellen, bis sie 
matt und erbärmlich wurden, und ihr Widerhallen in den Felsen 
nur noch röchelte und dann hinsank. Des Gottes Hände sind un- 
sichtbar und greifen alles beim Ursprung: da konnten wir ihnen 
nicht wehren. Nun ist der Gott satt und geht einen anderen Weg 
vorbei am Gebirge, aber sie, die nicht nebenaus können, kommen 
alle um. 

Pharao, rette, die du noch am Leben findest! Schicke eilends eine 
Karawane, soviel Schläuche sie tragen kann! Entsende eilends die 
Kundigsten im Brunnenbau, damit sie vielleicht einen neuen Quell 
in der Tiefe des Gebirges auftun. Die Quelle wird nicht Wasser, 
sondern Leben ergießen. Sie wird durch die erfrischten Menschen 



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696 



Oskar Loer/k Das Gotäßtrgwerfi 



zu den Göttern aufwärts fließen, aufrecht wie ein Springbrunn. Die 
Quelle bist dann du, und sie spricht deinen Namen. 
Sei du die Quelle!« — 

Ob die fünf Botschafter diese Gebete aus der Wüste an das Ohr 
des Pharao getragen hatten? *— 

Wie ein riesiger, schwarzer Stadtwall stand das verfluchte, gold- 
reiche Gebirge der westlichen Hinöde gegen den Himmel, heiß rings- 
um, ringsum dunstend und stinkend. Von seinen höchsten Zinnen 
war bis in den zitternden Horizont hinein nichts zu sehen als Geröll 
oder unfruchtbarer Sand. 

Und die achthundert Menschen, Gerechte und Verbrecher, Greise 
und nachgeborene Säuglinge, Töchter und Mütter, Söhne und Väter, 
krochen wie Ungeziefer durch ihren großen Steinhaufen und er- 
starben schon vor dem Tode: das Leben reichte ihnen nicht mehr in 
die Füße hinab, es siechte in den Fingern, es wollte in den Kehlen 
nicht mehr tönen. Seit ein paar Tagen war das Bergwerk stumm. 

Kein Tor verschloß es nach außen, kein Bewaffneter stand im 
Weg. Alle waren jetzt frei, und fast alle blieben. Sie begriffen endlich 
das Herz der Wüste, an dem sie wohnten, sein Schlag dröhnte in 
ihren Köpfen. Zuerst waren viele geflohen mit Speise, soviel sie 
schleppen konnten, doch ohne Trank, und das Geschrei der Hyänen 
bei Nacht, hinter dem Himmel, zeigte die Stätten ihres Todes an. 
Manche waren umgekehrt und dann meist unterwegs, vor oder in 
dem Bergwerk umgebrochen. Nun ging nur selten noch jemand, ver- 
zweifelt begriffen sie ihre Machtlosigkeit vor der Wüste. Ihre Arbeit 
stand still. 

Sie lagen im Schatten ihrer Binsenhütten, die elend an den Felsen 
klebten, sie hockten im Dunklen in den Arbeitsstollen der Berge, 
sie saßen wie aus Gewohnheit hinter den trockenen, steinernen 
Goldwäschertischen, die Arme glatt ausgestreckt, und die Millionen 
Funken der Goldstäubchen darauf brannten ihre stumpfen Augen 
blind. Ihre kleine Oase am Ostrand wurde Asche, die Bäume wur- 
den steif, das Gras schwarz. Kein Euter gab mehr Milch, die letzten 
Ziegen meckerten kaum noch, die letzten Antilopen von Zeit zu 
Zeit, wenn sie die schwarze Angst wie ein Wahnsinn packte, die 
Gänse taumelten. 



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Osiar Loerfte, Das Goftfßergwert 



697 



Wer Wasser stehlen wollte, wurde von den anderen erschlagen, 
und doch lag kein Wächter mehr vor den unreinen Lachen, weil die 
Wächter sich gegenseitig getötet hatten, wenn einen die Gier nach 
Wasser gepackt hatte. Die Felshöhlen mit dem letzten Korn und 
Mehl aus der Heimat galten soviel wie das Erz/ man konnte vor 
Durst nicht mehr essen. Kein Aufseher waltete. 

Die Tage des Aufruhrs, des Bürgerkriegs und Mordes waren 
vorüber. 

Die Gehirne erschlafften und schlugen Gespensterschlachten. Der 
Wahnsinnige, ein junger Priester aus der Gegend von Memphis, 
um den sich längst niemand gekümmert hatte, wurde zuletzt wieder 
angehört. Man verstand seine irren Reden, nickte mit dem Kopfe 
und schloß die Augen. Der Priester saß noch immer zuhöchst im 
Gebirge, im Auslug über die runde Weite. Die Sehnsucht nach der 
Heimat sollte ihn verrückt gemacht haben. Anstatt Erz aus den 
Tiefen zu meißeln, hatte er oben einen ungeheuren Felsen bearbeitet, 
der jetzt wie eine gigantische menschliche Fratze anzusehen war, 
nasenlos, mit einem starr offenen zahnlosen Maul, einem kleinen, 
trotz mühevoller Meißelarbeit nur angedeuteten und gleichsam aus* 
gelaufenen Augenloch und einem großen natürlichen. Der Priester 
war verbannt worden, weil er ehrgeizig den Gott seines Gaues über 
die angeseheneren Nachbargötter zu erhöhen getrachtet hatte, und 
hier verkündete er im Irrsinn seinen neuen Gott weiter, den Fliegen 
und Skorpionen und seinem eigenen Echo. Er schlief in dem höhlen« 
gleichen Augenloch des Kolosses auf den notdürftig verdeckten Fels« 
runzeln, doch manche Nacht ging er, ein brennendes Kikibündel 
schwingend, wie ein ruhloser Gedanke in dem großen Götterkopf 
umher, schrie und klagte. Als man ihm schließlich zu trinken ver- 
wehrte, sprach er nichts dawider, erhob auch nicht seine Hand, er« 
krankte und blieb auf seinem Lager. Der Widerhall seines Gesanges 
hatte in den Schluchten gewohnt, nun hatte das stumme Grauen 
auch sie. Alle Morgen schleppten sie die Toten der Nacht weit vor 
das Bergwerk hinaus. 

Die Boten kamen nicht wieder. Man suchte sie im Himmel rings« 
um, und die Augen starben in den Himmel hinein. 

Aber eines Morgens bohrte sich etwas durch die ösdiche rosa« 



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698 Oskar Loerft, Das GoldBergwtrt 



graue Dunstwand und wuchs heran. Da krochen alle von ihren 
Matten, aus den Schachten, von den Steinhöhen wie verborgenes 
Gewürm auf eine Beute. Ein Greis rief dem andern zu : Nun kommt, 
die ihr wie die Lause in der Wüste wohnt, kommt, ihr Glückseligen. 
Stöhnen und Jauchzen erwachte hier hinter der Welt. Ein Kind öff- 
nete den Tierpferch, Ziegen und Antilopen kamen heraus und liefen 
in dem elenden Menschenknäuel mit, der Karawane entgegen. 

Als diese nahe war, erhoben sich schluchzende Stimmen : »Es ist 
der Pharao selbst. Seht die Krone der beiden Länder. Das Erbarmen 
kommt. Seht Pharao, den starken jungen Krieger. Seht das schöne 
junge Weib an seiner Seite, die Königin, im Schmucke von Weiß- 
gold und Lazuli.c 

Die meisten warfen sich schon lang auf den Felsgrund, viele 
weinten, und es rief wie aus der Erde: hilf uns, hilf uns. Kein 
Verbrecher war jetzt hier unter den manchen Verbrechern, außer 
einem. 

Das war Hesi, ein Leichenräuber und Leichenschänder. Die Letz- 
ten knieten nieder, nur er nicht. Seine schwarzen Augen glühten 
fern auf der, die neben dem Pharao heranritt. Sein Haupt war 
aufrecht, und, als wäre er kein Todgeweihter, drängte er sich über 
die Hände seiner Brüder hinweg durch die vordersten Reihen. Dann 
blieb er, bleich wie vor der Erscheinung eines Gottes, stehen, schat- 
tete die Augen mit den Händen ab und starrte auf die Königin. 
Seine Beine bebten wie die Beine der Tiere, die neben ihm standen, 
sein Blut war so traurig und schwer wie das ihre, und jetzt war 
auch sein Herz so erschrocken wie das der Tiere. Seht, er liebte 
die Königin. 

Er hörte nicht auf die Worte Apaanchus, des Pharaos, die der 
zum Gruße sprach. Er sah an ihm vorbei und zuckte nur nach der 
Seite zusammen, wenn er sich von Apaanchus Blick getroffen fühlte. 

Er war am Verdürsten so gut wie alle, doch drängte er sich 
nicht herzu, als Wasser- und Weinschläuche verteilt wurden. 

Er war der Rüstigsten einer, doch eilte er sich nicht, mit anderen 
huldigend den Fürsten vom Tiere zu heben. Er sah bloß ein Weil- 
chen auf die vielen Sklavenkinder, die schüchtern den Kamelen die 
Flanken streichelten und sie küßten, als wären dies die Götter der 



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Oskar Lo*r6e. Das GoCcfargwtrt 699 



Heimat, von denen sie manchmal dunkel gehört, doch dann zwang 
seine Seele seine Augen zurück auf die Königin. 

Deren Blick war in schwermütiger Verwunderung umhergegangen 
unter den armen Verworfenen, die sich labten und denen dabei der 
Schweiß ausbrach und die Schläfen dick wurden und schnell zu 
schlagen begannen. Sie saß noch immer hoch auf ihrem prunkvoll 
gesattelten Kamele, das seinen gelben Kopf stolz in die Höhe hielt. 
Plötzlich fühlte sie, wie sie ganz und gar in einem einsamen, groß 
aufgegangenen Anschaun gleichwie im Schatten stand. Sie griff an 
den Zügel, als wollte sie ihr Tier beiseite wieder in die Sonne 
ziehn. Doch hielt sie inne und sagte: 

>Deine Augen fragen mich etwas.« 

Er antwortete: »—Ich weiß es nicht. Züchtige mich darum nicht.« 
»Du hast noch nicht getrunken.« 
»Du sagst es.c 

»Man sagt, ihr stürbet Durstes.« 
»Du sagst es. — Wer bist Du?« 
»Das Weib des Pharao, Zait, die Königin.« 
Vier aus ihrem Gefolge wollten sich auf ihn stürzen und ihn 
fortzerren. Doch Zait wehrte ab und sagte: 

»Laßt ihn. Er spricht ehrerbietig. Laßt ihn sprechen. Wer bist du?< 

»Ich heiße Hesi.« 

»Du bist von hoher Abkunft?« 

»Nein Königin, meine Anverwandten waren Weber in ihren 
Hütten, Bauern in den Marschen, Hirten in den Sümpfen des Nordens.« 
»Warum bist du hier?« 

Hesi schwieg, errötete sehr und warf sich jäh auf die Knie und 
Ellenbogen, dann klagte er sich an: 

»Ich habe die Gräber deiner Vorfahren, der hohen Götter, be- 
raubt. Ich kroch bei Nacht hinein auf den Wegen des Südwinds 
und der Vögel, denn ich war sehr arm und hungerte, weil man 
mich aus meinem Amte gejagt hatte.« Weinen schüttelte seinen 
Körper, als er nach einer Weile hinzufugte: »In Gerechtigkeit«. 

Er erhob sich, und in unendlicher Traurigkeit sah er fort nach 
dem Horizont, und dem Horizont erzählten seine Augen. 

Er hatte der Zunft der Balsamierer angehört. Junge tote Frauen 

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Ostar Uxrfif, Das Go(cf6ergwer6 



kamen oft unter seine Hände, vornehmer und schöner, als sie ihm 
je erreichbar sein konnten. Der Knabe träumte ihrer Schönheit nach. 
Auf seine Frage, warum sie mitunter erst einige Tage nach dem 
Tode seiner Zunft überlassen wurden, hatte er mit Grauen gehört, 
es geschähe aus Vorsicht, weil die Toten häufig geschändet worden 
seien. Da hatte er begriffen, warum sein Stand so verachtet wäre, 
warum ihm die Nachbarmädchen feindlich auswichen, und nach einem 
halben Jahre hatte er sich an einem Weibe, aus dem unter seinem 
Schnitte noch warmes Blut über seine Hände gelaufen war, selber 
vergangen. Mütterliche Fürbitte hatte ihn damals vor der Verban- 
nung bewahrt, doch er war verloren. Nicht viel später wurde er in 
einer Grabkammer beim Raube ertappt, und er, der Dreißigjährige, 
mußte es nun schon zwölf Jahre eine Gnade heißen, damals nicht 
hingerichtet worden zu sein. 

Die Königin hatte ihn in seinem klagenden Schweigen vor der 
Wüste betrachtet. Und darum wehrte sie nun ihren Dienerinnen, 
die sie endlich von ihrem Kamele heben wollten. Sie stieg ohne Hilfe 
von dem Rücken des Tieres und wandte sich an Hesi. 

»Euch soll geholfen werden, Hesi. Eure Botschaft hat mich wie 
eine Geißel geschlagen. Ihr habt mich gejammert, und ich sprach zu 
Apaanchu, dem Pharao, meinem Gemahl: Rüste mir ein Tier und 
dir, ich will das Elend in der Wüste sehen und mit dir ratschlagen 
und sinnen und helfen. Darum sind wir durch die Öde gereist, 
Bruder von Schakalen.« 

»Königin,« erwiderte Hesi traurig, »und dann reitet ihr wieder 
heim und erzählt, ihr rittet, Brüder von Schakalen. Königin, deine 
Worte sind gut, deine Worte sind bitter, deine Worte sind bitterer 
als Vogelgalle. Mich dürstet sehr, mir schwindelt.« 

Er drehte sich um, man reichte ihm eine Schale, ließ sie aus gro- 
ßem Schlauche volllaufen. Hesi trank und trank, und als die Schale 
halb leer war, schoß ihm durch den Kopf, er müsse den Rest der 
Königin darreichen. Er taumelte bei diesem Gedanken, eine Antilope 
scheuerte sich an ihm, da streckte er den Arm mit der Schale an ihr 
Maul und fiel hin. Ein paar Gewaffhete fragten die Nächststehenden 
nach seiner Hütte und trugen ihn auf das Lager. 

Nach ein paar Stunden erwachte er. Er setzte die Türmatte bei- 



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OsJfar Loerüe, Das Goü/BergwerJt 701 



settc und legte sich wieder. Er konnte einen großen Teil der An* 
Siedlung übersehen. Geradeaus, ziemlich fern, war das königliche 
Lager inzwischen aufgeschlagen worden, viele große weiße Zelte. 

Den Pharao, umgeben von Gefolge und einem hellen Haufen 
Verbannter, bemerkte er rechts tief in einem Felsenkessel, in dem 
sich aus alter Zeit her ein leerer Brunnenschaft befand. Die Bau« 
meister hatten ihn geprüft und stiegen eben herauf. Sie schüttelten 
den Kopf, und alle gingen weiter. »Sie werden nichts finden«, sagte 
Hesi vor sich hin, aber es tat ihm nicht weh. Er wandte sich ab 
und blieb liegen. 

Da hörte er Stimmen über sich. Er sprang auf. Linker Hand, den 
Felspfad herab, kam ein anderer Haufen, dessen Mitte die Königin 
war. Sie strebten einem anderen Brunnenloch zu, das unweit seiner 
Hütte in früheren Jahrhunderten geschlagen war/ ein breiter Stein« 
wall umgab seinen Rand, lange Leitern hingen in seine Finsternis hinab. 

Hesi drängte sich hinzu, nahm einem anderen die Hacke aus der 
Hand und sprang die Sprossen hinab, ohne die Königin anzusehen, 
doch wollte er nicht sich und seinen Brüdern dienen, sondern nur 
ihr allein. Er wollte für sie arbeiten, aber kein Wasser finden, sonst 
zöge sie ja wieder heim. So schickte er in Körben durch die Men- 
schenkette auf den Leitern, von Hand zu Hand, nach oben, zu ihr, 
was die harten Zeiten hinabgestreut hatten, Geröll, Tierknochen, 
zerbrochene Gerate, Gold, ein paar Menschenschädel. Alles sollte die 
Königin grüßen, alles belud seine vor Darben und Erregung ver- 
zückte Seele mit Zärtlichkeit, und die Körbe stiegen steil in die lichte 
Höhe wie aus eigener Kraft. Stunden vergingen, bevor die Härte 
der Brunnensohle kam. »Laß!« sagte der Baumeister neben Hesi, 
ohne mit seinem Hammer nur einmal anzuklopfen. Er stieg langsam 
hinauf, Hesi folgte ihm Schritt' für Schritt. Der Tiefenkundige war 
ein eider Mensch, der die Wüstensklaven verachtete und nicht warten 
konnte, seine Kenntnis der Erdengeheimnisse zu offenbaren. Der 
unsägliche Jammer, den seine Worte in den Herzen aufwecken 
würden, schmeichelte seinem Gelüst nach Gewalt. 

»Königin«, sprach er, »verwirf mich nicht aus deiner Gnade, aber 
in diesen Bergen ist kein Wasser verborgen. Unsere Augen werden 
es nicht sehen«. 



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Osfar Loer6e, Das GoCdBergwerA 



»Was dann?c fragte Hesi zuckenden Mundes Zait. »Ihr zieht heim, 
und aus uns, den Brüdern von Schakalen, soll Fraß der Schakale 
werden.« 

»Du lügst«, sagte die Königin zu dem Kundigen, wankend 
vor Schrecken, mit zorniger Stimme! »Geh abseits, du sollst fürder 
nicht geachtet sein vor dem Angesicht des Pharao. Sucht ihr an* 
deren!« 

Zait wandte sich. Nacht fiel von ihrem bleichen Gesicht und um- 
gab ihre Schritte, und ihre Seele schrie zu Hathor, der Göttin. Von 
Gefährtinnen gefolgt, ging sie langsam zu ihrem Zelt und verschwand 
darin. Einer Dienerin befahl sie, Pharao zu sich zu bitten. Er kam 
bald und ging zu ihr. 

Die Bergleute taten sich alle zusammen und klopften, wo die 
Wasserfinder hinwiesen, fiebernd, durch die jäh über ihre Seelen ge- 
hängte Finsternis tiefer geschwächt als zuvor. Die Pestilenz ihres 
versiegelten Lebens fuhr, stöhnend in ihrem Atem aus. Die Hirne 
schmerzten, schwer, als wäre das Gold, das sie sonst gruben, in 
ihren Köpfen, und als müßten sie die Köpfe spalten. Sie sprachen 
nicht, sie weinten nicht, sie pochten, als riefen sie wen aus der Tiefe, 
sie bauten, als bauten sie Gräber. 

Die Sonne wurde schon dunkel. 

Die Kinder hatten sich fast alle vor den äußersten Wachen zu- 
sammengetan, sehr krank fast alle, und alle sahen immer wieder zu 
den Königszelten hinüber. Dort wohnten die Götter. Sie wohnten 
draußen vor dem Schicksal. 

Hesi war in seine Hütte zurückgegangen. Seine Glieder waren 
kühl, doch sie glühten von innen bis in die Monde seiner Finger- 
nägel. Er ging nicht trinken, obwohl ihn wieder dürstete. Er schlug 
seine Schlafmatte gegen die Felswand, daß der Staub davonstob, 
und legte sie mit großer Sorgfalt zurecht. Dann stand er fange 
davor und sann nach. Er weinte ja? Und dann ging er fort. 

Er stand am Pferch der Kamele. Es wurde dort zum Abend 
Wasser ausgeteilt. 

»Gebt mehr Wasser!« 

Er hatte einen Napf voll, dann noch einen bekommen. 
»Ich will mehr!« sagte er, nachdem er ausgetrunken hatte. 



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Osftar Loerte. Das GofdSergwtrt 



»Ich darf dir nicht mehr geben«, sagte ihm der Aufseher. »Es 
sind eurer viele.« 

»Ich sage dir, gib mehr!« antwortete Hesi mit drohend geballter 
Faust für alle. 

Er stieg mit dem zum drittenmal gefüllten Napf zu dem irren 
Priester hinauf. Es trieb ihn hin zu ihm, der geheim war für das 
Geheime, ein Mensch wie ein Acker und wie das Gras auf dem 
Acker. Krank lag der Priester in seinem Kote auf den Matten. Hesi 
streichelte ihm die Wangen, als wäre er ein Weib, und labte ihn. 
Der Sieche trank, tastete dabei mit den Fingerspitzen über die ge* 
schwollenen Adern an Hesis Hand, legte sich dann nieder und blieb 
teilnahmslos abgewendet. Hesi saß hinter ihm, an die Felswand ge« 
lehnt, und sah vor sich in dem Loch des steinernen Gottesauges 
die Abendröte untergehen. Plötzlich weckte er in großer Angst den 
Kranken und klagte : »Du, wir sterben jetzt alle, soviel wir hier sind. 
Auch der Pharao und sein Weib. Das werden wir töten. Das haben 
mir die Rinder meines Vaters gesagt, denn ich sehe sie heute wieder 
grasen, ganz schwarz, nur an Bauch und Knöcheln rot. Ich habe ihnen 
bunte Schilftroddeln und Decken geflochten, ich habe sie mit süßem Teig 
gemästet. Ich strecke meine Hand und halte ihre Hörner darin, und 
wenn ich die Hand betrachte, so ist sie leer. Sie redeten aber. 

Und ich schließe dann die Augen und strecke wiederum die Hand 
aus, und das tote Weib, an dem ich mich verging, liegt blutend 
auf ihrer Fläche, und wenn ich die Hand betrachte, so ist sie wieder 
leer. Doch die Tote sprach, wie das Vieh. So greife ich ganz 
Agyptenland, und ich griff nichts. Doch ganz Ägyptenland bedrängte 
mich mit seiner Rede. Ihr werdet heute Nacht sterben, Pharao.« 
Der Kranke erhob sich steif wie in Furcht und Zustimmung, kroch 
zu Hesi, klammerte sich mit Armen und Beinen an ihn, als er« 
klettere er einen Baum, preßte und drückte ihn, und dann hei er ab 
wie eine Frucht. 

Hesi stieg hinab, vergiftet von dem Gedanken des riesigen Götzen« 
kopfes, der wie ein Turm über dem Bergwerk zu wachen und 
gebieten schien, er lief durch die schwarze Nacht zu dem tief- 
sten Brunnen bei seiner Hütte, um den nun alle Insassen des Berg« 
werks versammelt waren, er vertrieb die Arbeitenden aus seiner 



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OsMar Loerfa Das GofdBergwtrfi 



Tiefe in unablässigen Reden des Hasses, er fing selbst an zu arbeiten 
und zwang aus der Kraft vergebener Liebe die Willenlosen zu Werk- 
zeugen seines Willens. 

Es war wie ein Gesumm von wilden Wespen um die Tiefe. 
Immer neue Köpfe tauchten in den steinernen Kelch und sogen 
Empörung und Wut aus den Worten Hesis, der schlug und schlug, 
draufzu, draufzu, und dazwischen drohte und schrie wie ein Trun- 
kener 

»Packt sie! Steinigt sie! Sie sollen uns büßen, alle beide, für alle 
Pharaonen seit Ewigkeit, von denen keiner seinen Fuß hier hatte, 
seit Ewigkeit. Ah, sie müssen büßen für alle, die daheimgeblieben 
sind und nicht ein einziges Mal in dreißig und sechzig und achtzig 
Lebensjahren unser gedachten. Straft ganz Ägypten in ihnen! Soviel 
Menschen daheim, soviel Steine auf sie! Straft in ihnen alle, die 
jahrtausendelang im Nil getrunken haben und uns vergaßen und 
jene vergessen haben, die vor uns hier mit ihren Händen an den 
Felsen kratzten jahrtausendelang. Zerreißt sie! Laßt sie büßen selbst 
für alles Vieh, weil es sein Maul wässerte und hüpfte auf seinen 
Füßen und unser nicht gedachte, und für alle Vögel, die vor Freude 
flattern, weil sie ihr Herz geletzt und auf den Bäumen um uns nicht 
geklagte 

Er brüllte heiß und lang auf und dann schüttelte sich sein Körper 
weinend in einem Krampf. 

Oben wuchs ein Murren. »Holt eure Felshauen,« rief man, »hebt 
Steine auf! Packt sie fester!« Ein langer Mensch, der seine großen 
Hände aufhob und warnte, wurde in den Brunnen gestoßen, wo 
er mit gebrochenen Schenkeln wimmernd liegen blieb. 

»Jedem soll es so ergehen, der widerspricht«, rief es oben. 

»Ja, seid fest!« schrie Hesi, mitten an der Leiter hangend, und seine 
Seele buhlte mit Zait. Dann sprang er wieder herauf, unter seine 
Kameraden. »Laßt euch nicht durch Versprechen blenden. Sie wer- 
den euch Reichtümer verheißen, wenn ihr ihnen das Leben laßt, aber 
acht Tagereisen ist's nach Hause und in dreien seid ihr verschmachtet. 
Hört nicht auf sie! Tötet! 

Süß wird das Weib des Pharao zu euch reden wie nie eine Frau, 
Ich höre es schon in beiden Ohren schallen, daß ich entrückt werde, 



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OsJfar Loerfo, Das Gofdßirgwerfi 705 



und muß es mit den Zähnen überknirschen. So wird sie zu mir 
reden: Hesi, du, ich schenke dir ein Haus und einen Weingarten, 
von Trauben blau und voll von alten Feigenbäumen, und du brauchst 
nicht selber ernten, Affen werden in den Kronen auf und ab klettern 
und die Früchte pflücken. Aber ich werde sie dafür erwürgen. 

Und du dort, zu dir höre ich sie reden: Ich schenke dir einen 
fetten Acker, achtzig Worfelweiber und Schafe, die Saaten einzu- 
trampeln samt Eseln, sie zu dreschen. Hörst du, laß ihr süßes Fleisch 
dich nicht betören, zertrümmre mit deinem Stein die Musik ihres 
Mundes ! ^ 

Und ihr Weiber da, laßt mich euch die Geschenke'nennen, bevor 
sie es tut, mit denen sie euch belügen wird. Hört, ich, Hesi, der 
Ärmste, ich schenke euch Kikibündel mit Saft für eure Lampen, Ala- 
basterstützen in euer Bett und grüne Schminke, ihr, die ihr heut 
sterbt, ich schenke euch Kyphipillen aus Myrrhen, Ginster, milden 
Weihrauch und Honig, ihr Geierfraß, und schaffe euch Meerkatzen 
zum Spielzeug, Netze zum Vogelfang, ihr Stinkende und schon Ver- 
weste unter der Sonne, vor denen mir ekelt, ich schenke jedem von 
euch die Länder Tenu, Charu, Keft und Fenech, ihr Unrat und Kot 
in der Wüste!« 

Bei diesen Worten brauste der Zorn eines vor Durst und Ohn- 
macht verrückten Weiber blindlings gegen ihn selbst auf, als rede 
schon die Königin, und ein Stein flog ihm an seinen erhobenen Arm. 
Er bückte sich, nahm ihn auf, zeigte ihn zärtlich und redete unter 
einem irrsinnig schluchzenden und schreienden Lachen: 

»Seht, seht! Tut so gegen sie! So habe ich euch doch den Haß 
gelehrt, die Ehre der Unterdrückten und Zertretenen. Ihr seid ja 
Tote. Tote kann man nicht töten. Wohlan denn, säumt nicht mehr! 
Kommt, kommt!« 

Dabei lief er voran und wälzte den Menschenhaufen gegen das 
königliche Lager. Rasch waren die Kamele hingeworfen und gebun- 
den, die Wachen, Soldaten und Offiziere gefesselt, fortgeschleift und 
in die Schächte des Bergwerks gestürzt. Geschick und Kraft wogen 
wie nichts gegen die fünffache Zahl der rasenden Gegner, denn es 
waren nur wenig mehr Krieger in der Begleitung des Pharao, als 
für gewöhnlich mit den Lebensmittelkarawanen in die Wüsten zogen. 



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706 OsMar Loerte, Das Gold6ergwer& 



Hesi hatte sich zwei schwere Golderzklumpen als Waffe erlesen und 
schwang sie über sich, und sie gleißten von innen wie glühende 
Steine gegen Pharao und Zait. Die standen hoch vor ihrem Zelte. 
Haß zerrte alles in Hesis Gesicht gegen den zuckenden Mund hinab. 
In seinen beiden Augen lag aber nur Zait allein wie auf zwei 
Scheiterhaufen. Er sprang in großen Sätzen vor und wollte Zait 
packen, ganz gleich, ob er mit ihr gesteinigt würde/ er wollte sie 
für sich allein in einen Winkel schleppen und sie erwürgen oder ver- 
gewaltigen. Er spolperte im Sprung und schlug hin. Sofort jedoch 
richtete er sich empor. Er hatte Geifer in den Mundwinkeln. Die 
Frauen entsetzten sich vor ihm, und ein paar Männer hielten ihn 
gar fest. Er heulte und winselte in ihren Händen. 

Der Haufe quoll dicht im Kreis um Apaanchu und Zait auf. Da 
war es, als hätten Pharaos, des Sohnes der Götter, Haupt und das 
verwundert bleiche Gesicht Zaits, den Steinen befohlen, noch in den 
Händen der Empörer zu bleiben. Alle warteten, während das Feuer 
von den Fackeln und Bränden strömte, auf Worte, auf die Ver- 
teidigung ihres Königs. Der schwieg. Hesi verstummte. Da sagte 
Apaanchu unbewegt: 

iWas wollt ihr?« 

»Steinigen — *■ * steinigen,« jammerte es in Chören, jammerten fern 
die Gebirge mit. 

Der Pharao ging auf einen jungen Menschen, der sich voran- 
drängte, zu, und gab ihm einen Backenstreich. Dann trat er einen 
Schritt zurück und hob die groß aufgetanen Augen gegen die 
strömenden Feuer, dann auf Zait, die wie aus Stein hinter ihm 
stand. Seine unverwirrte Gewalt erschreckte den Haufen der Sklaven, 
als hätte der Blitz jemand erschlagen. Seine Stirn war wie hundert 
von ihnen, seine Augen hundert, sein Mund, seine Hände. Nach 
langer Betrachtung Zaits sprach er: 

»Grabt nach Wasser!« 

Die Antwort war ein anschwellendes Geheul und einige lahme 
Steinwürfe. 

»Ihr Toren!« schrie Apaanchu sie da an. »Was ladet ihr auf 
euch!« Und nach kurzem Beschluß, feierlich: »Ich schwöre euch bei 
den Göttern, Wasser wird springen, ehe es tagt. Und des zum Be- 



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weis befehle ich euch: Nehmt allen Wein und alles Wasser aus den 
Schläuchen, trinkt es, gießt es aus. Ich und die Königin begehren 
keinen Tropfen vor dem Trunk, den diese Berge bewahren. — Wollt 
ihr uns nun dennoch töten, wehe euch! Niemand wird euch in die 
Freiheit führen, wie es in meinem Herzen beschlossen war.« 

Da ließen sie in schauerndem Verwundern ab, gegen Apaanchu 
und Zait vorzudringen. Viele warfen sieb in Reue vor ihnen zu 
Boden und klagten sich an, viele wichen weit zurück, manche stürzten 
zu den Weinschläuchen. Und selbst Hesi wurde weich. In sein Hirn 
stieg ein Fiebertraum von Freiheit, und seine Augen wurden glück« 
lieh, Zait länger im Leben zu sehen. Ermattet kehrte er sich ab und 
stieg in den Brunnen unterhalb seiner Hütte, zu hämmern, zu graben. 
Er schickte alle fort, die ihm helfen wollten. 

Sie gingen und verkrochen sich wieder in Hütten und Schachten. 
Der grausame Rausch der Verzweiflung war rasch vorüber. Jeder 
von den Aufrührern hörte seinen einsamen Tod in seine Ohren 
reden, ob er auch mit andern sprach oder sich qualvoll zum Schlaf 
ausstreckte. Viele folgten, in Haufen geteilt, mit ihren Fackeln wieder 
den Brunnenmeistern. Überall pochte es lastbar. 

Apaanchu führte Zait langsam gegen Osten, ohne daß ihn jemand 
zu gehen hinderte. Außer Hörweite, in einem groben Steingeröll, 
blieb er stehen. 

»Verzeih du mir meinen lügnerischen Schwur,« sagte er, »denn 
die Götter vergeben ihn nicht. Ich tat ihn nur, um eine Stunde für 
den Abschied von dir zu gewinnen, mein junges armes Weib. Du 
bist aufrecht und gefaßt wie ich: wir reisen nun nach Osiris Hallen. 
Laß sie drum unsern Trank aus Ägypten trinken, wir brauchen ihn 
nicht mehr.« 

»Mich dürstet. Midi dürstet, Apaanchu.« Sie brach in ein 

schluchzendes Weinen aus. »Ich will nicht sterben. Mir graut vor 
dem Tode. Ewig will ich leben.« 

Er stützte sie und schwieg. Dann redete er sanften Tones: 
»Ich flehte zu den Göttern, daß sie mich nicht ewig leben ließen. 
Vor dem ewigen Leben befiel midi das Grauen. Es befiel mich so 
tief, daß ich weiter die Götter bat, sie möchten auch die anderen 
Menschen nicht ewig leben lassen, auch die geringsten nicht. Aber 



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708 



Oskar Loer£e, Das GofcfßergwerM 



mein Grauen war noch nicht gestillt, und ich betete sie an, sie möchten 
auch den Tieren ihr Leben nicht immer lassen, die doch keinen Be- 
sitz in ihren Händen und keine Weisheit in ihren Herzen haben. 
Sucht sie, flehte ich, in den Kronen und Rindenspalten der Bäume 
und unter den Felsplatten der Höhlen. Und sieh, die großen Götter 
haben all meine Bitten gewährt. Auch du bist von der göttlichen 
Gnade nicht ausgenommen, Zait, denn sonst könnte ich dich nicht 
so lieben wie jetzt.« 

Zait erwiderte: »Ich danke dir für deine Bitte, Pharao, und danke 
den Göttern für die Gewährung. Wenn du mir nicht zuvorgekommen 
wärest, hätte ich vielleicht deine Bitte getan. Nun du aber vor den 
Göttern lagst und Gnade fandest, so bin ich betrübt, daß ich wieder- 
komme zu den Knien der Götter und nicht Gnade finde. Die Un- 
gnade ist das, was auf mir lastet. Ich kann mich unter die Gnade 
nicht beugen, da sie mir nicht frei ist, sondern im Zwang wie eine 
Verachtung hingeworfen. Ich will nicht in der Sklaverei des Todes 
stehen!« Und schluchzend fügte sie hinzu: »Du mußt, du mußt 
mich leben lassen!« 

Endlich faßte sie sich ein wenig und sprach in einer düsteren, ge- 
waltsamen Verzücktheit: »Du, der Pharao, kannst nicht lügen. Und 
wenn du schwörst, ist es Wahrheit. Der Brunnen wird quellen! Und 
als sie unsere Tiere banden und unsre Sklaven fesselten und schlugen, 
wußte ich: Der Brunnen wird quellen. Es war mir alles wie ein 
sonderbares, erregendes Bild: die Augen schaudern, aber die Seele 
lacht. Die Glieder zittern vor Entsetzen, aber die Seele vor gieriger 
Freude. Der Brunnen wird quellen.« 

»Die Brunnen quellen daheim, mein Weib, und der Nil leuchtet 
wie eine ewige Straße. Aber hier ist die Wüste. Hör, wie es im 
Schachte schallt: Fels Fels Stein bleibt Stein.« 

»O, ginge erst die Sonne auf!« 

»Die Sonne geht nicht auf.« 

»Sie muß aufgehen und dich mir zeigen, fremder Mann«, sagte 
Zait unendlich bange. »Ich sehe dich nicht im Dunkel und rufe: 
Apaanchu, Apaanchu. — Ja, hier fühle ich dein Haupt, — hier deine 
Arme, — hier deine Hände. Wie aber fängt es die Seele an, die 
deine zu ertasten, die schon unterwegs ist nach den Hausungen der 




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Ostar Loer/fe, Das Gotdßergwerk 709 



Ewigkeit. Meine kann nicht mit, Apaanchu, kann nicht, sinkt unter 
in diesen häßlichen Steinen wie in einem See, gezogen wie von Ge- 
liebten: weil sie bleiben wollen und du nicht. Sie sinkt unter in den 
Schluchten dieses Bergwerks, in der Wüste, im Himmel, — sie wird 
von ihnen aufgesogen wie das Licht. Sie gehorcht mir ja nicht, wenn 
ich sage: komm, es ist Zeit aufzubrechen. Rufe sie mir zurück, 
Apaanchu, auf die Reise zu Osiri.c 

»Ich brauche nicht rufen, weil ich sie bei mir fühle. Und auch deinen 
Leib will ich hegen, solang ich noch kann. Wenn die Steine geflogen 
kommen und wir bluten, will ich mein Gewand in Streifen reißen 
und deine Wunden einhüllen. Dann werden die herzlosen Steine 
fühlen, daß sie keine Macht über uns haben, und wütender daher- 
geflogen kommen, und ich will weiter Binden reißen und dich halten, 
und also werden wir sterben.« 

»Auch ich möchte so, Apaanchu, mit 'dir gesteinigt werden und 
dich dein Gewand in Streifen reißen sehen und die Streifen um meine 
Glieder binden. Auch ich möchte sehr bluten, wenn wilder die Steine 
geflogen kommen und möchte leiden. Apaanchu, von meinen Gliedern 
wird nicht eins zu schmerzen vergessen, doch davor furchte ich mich 
nicht, — aber dann, dann leben! Ich will unköniglich und bloß und 
preisgegeben in Scham knien, doch dann leben. Ich kann nicht ster- 
ben. — Wie ist diese Nacht grausam, o ginge dod> erst die Sonne 
auf!« 

»Zait, ist dies gar so schwer: die Sonne geht nicht auf?« 

»Still, Kleingläubiger! Still! Ich weiß, sie geht auf. Schon wird es 
blau in Ägypten und strömt wie blaue Wehmut zwischen der Störche 
breitem Flug. Kann es denn sein, daß ich hier liege, finster und kühl, 
und dort in Ägypten wird es Morgen? Kann es dort Morgen wer- 
den, wenn ich tot bin? 

Der Tauber gurrt: Das Tal ist hell, merkt es! Die Paviane heben 
ihre Pfoten zur Sonne auf. Und schon liegt die Welt überschwemmt 
von Liebe und ist reich an allem Segen. Die Vögel im Laube* paaren 
sich und die Mäuse in den Scheunen. Die gelben Kornhaufen laufen 
über und selbst der Drescheresel darf von den Ähren naschen. O, 
alles Getier hat es besser als ich, noch die Wachtel, die vor dem 
Ichneumon zitternd im Papyruswald wohnt. 



* 



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710 



Oskar Loerfie, Das GofdBtrgwtrü 



Der Morgen wird Mittag und der Mittag Abend werden und die 
Stunden werden bestehen. Muß denn ich nicht dabei sein, Apaanchu? 
Mir ist, als müßte ich immer dabei sein. Kannst du den Wind in 
einem Sack fangen, kannst du den Mond mit einer Binsenmatte aus- 
löschen? Der Wind fährt aus und der Mond wächst feurig rund. 
Ich bin wie der Wind und ich bin wie der Mond. Kannst du denn 
zum Süden sagen: werde Norden? Kannst du zum Nil sprechen: 
lisch doch aus? Ich bin wie der Süden, ich bin wie der Nil, und du 
sprichst zu mir: lisch doch aus! Wie bist du fremd! 

Ich sage doch ich und das ist, als sagte ich ewig. Und wenn ich 
das nicht darf, so hat mich all mein Leben belogen und ich muß es 
anders lernen. Warum fließt mir dann rasches Blut in den Adern 
und nicht fauler grauer Schlamm! — Wenn ich heute davon muß, 
so seien alle meine Leiden verflucht, denn sie waren zu tief dafür. 
— Und meine Freuden seien verflucht, denn sie haben mir nichts von 
dieser Nacht gesagt, und ich hätte sie früh erwürgen sollen. Meine 
Traume haben mich belogen, denn sie wußten nichts vom schnellen 
Tode. Ich fange an, sie recht zu sehen, gib mir Zeit! 

Ich habe Freundinnen gehabt, das tut mir weh. Siehe, heut früh 
wird ein fremdes Schiff in den Hafen zu Memphis kommen, sie wer- 
den hinabgehen und Schmuck erhandeln, Purpuriaken und weiße 
Wurzeln, um das Bad zu süßen, Asantgewürz — : und ich beneide sie 
darum. Sieh, Apaanchu, dieser Neid ist auch zuviel Fessel für den Tod. 

Ich bin ihnen feind! — — 

Die Feindschaft ist am Leben überschüssig für das Sterben. 

Und die Liebe ist überschüssig. 

Ich will anfangen wie ein Schüler. 

Ich beginne schon mit der Liebe, Apaanchu.« 

>Arme, Verirrte du! — Was habe ich dir getan?« 

»— • Du hast mir dies getan, Apaanchu: daß ich sterben muß.« 

»Oh! — Dich schlägt ein Gott mit Dunkelheit.« 

»Schenke, schenke mir die Zeit für das Licht. Alle Dinge haben 
mich betrogen. Auch du, auch du, Apaanchu, hast mich betrogen, 
weil du mich geliebt hast. Liebe lügt ewigen Schimmer vor.« 

»So hättest du auch~mich betrogen, Zait, denn auch du hast mich 
geliebt.« 



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Ostiar Loer/te, Das Gobfßergwerb 



711 



»Ja, Apaanchu, ich habe dich betrogen, aber jetzt betrüge ich nicht 
mehr. Ich habe dich losgelassen in meinem Frost, ich smke in meine 
Einsamkeit.« 

»Und mich treibt noch der Schmerz, daß du Untreue mir ent» 
schweben willst und doch nirgendwohin entschweben kannst, näher 
an dich heran.« 

»-— Apaanchu, so sind wir tief verschieden. Mit einer Wehmut 
jenseits der Liebe nehme ich diese Erkenntnis aus unserer Drang- 
sal. Schenke mir Zeit, mehr zu erkennen: um deiner Liebe willen. 
— Vielleicht kommt aus der Erkenntnis auch meine Liebe noch 
zurück. Nein, faß mich nicht an! Nicht mehr. Vorbei ist dies alles.« 

»Ich fasse dich an, weil ich mich schenke. Das ist alles, was ich 
jetzt kann.« 

»Apaanchu! Das sind Worte ohne Sinn. Oder lehre mich ihren 
Sinn. Wenn ich erschlagen liege, wo ist dann dein Geschenk, Apaanchu? 
Nein, du kannst dich nicht schenken. — Nicht einmal den Stein kannst 
du mir schenken, der mich erschlägt. 

Es ist grauenvoll, Apaanchu, ich sehe hell, wenn ich leben könnte, 
der Stein ist mir lieber als du. Er ist mir auch lieber als ich. Und 
die Luft, in der ich stehe, und der Weg, den ich trete. Erst müßte 
ich dir sie schenken und dann mich.'" Du wärest sehr traurig ohne 
sie, im Leeren vor mir, und sehntest dich nach ihnen. Sprich, Apaanchu, 
muß ich denn die Steine, die mich töten werden, nicht mehr lieben 
als dich? 

Der Mensch ist dem Menschen das Fremdeste. 

O, über die Ohnmacht, die die Götter uns gaben! Wie ekelt 
mich davor. Ägyptenland, Ägyptenland! könnte ich doch sprechen: 
Stank sei dein Meer wie eines Trunkenen Gespei! Ein Schwindel 
fasse Schilf und Rohr, und es breche um in seiner Schwäche! Ihr 
Berge, zertreten seid ihr, wie ein Töpfer Ton tritt! — O Traurigkeit!« 

»Zait, ja! O Traurigkeit! Ober dich, nur über dich. Nun fange 
auch ich an, dir fremder zu werden. Nie grollte ich dir, außer nun, 
um dieses Abschieds willen.« 

Da schwiegen sie und horchten auf das Pochen in Hesis Brunnen. 

Doch fern, oben in dem Götterkopf, wurde es lebendig. Viele 
Menschen stiegen hinauf, Fackeln irrten daran umher, aus seinen 



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712 



Ostar Loerfo, Das Goüfßergwerli 



Augen schien die Dunkelheit zu zucken. Etwas wie Murmeln und 
Rufen scholl in der Ferne. 

Nach einer Weile wurde es in Hesis Brunnen still. 

Hesi stieg die lange Leiter herauf, und als sein Körper zur Hälfte 
über die runde Brüstung ragte, blieb er stehen. Seine Hände glitten 
zuckend über die Holme und obersten Sprossen und landen keine 
Ruhe. Sein Gesicht war verwandelt, mild und verklärt und wie schon 
verwesend. Er starrte lange zu Apaanchu und Zait hinüber. Nach 
einer Weile rief er laut, aus seiner Tiefe: »Zait!« 

Die Königin erschrak und sagte dann zu Apaanchu: »Er ruft uns«. 

»Du irrst. Er rief deinen Namen.« 

Zait hatte ein paar Schritte auf den Brunnen zu getan, Apaanchu 
haschte sie bei der Hand und sagte: »Willst du folgen, wenn dein 
Henker dich ruft?« 

Zait erwiderte: »Ja, es zieht mich. Rede ich mit ihm, so werde 
ich noch einen Hügel aus Worten zwischen mich und den Tod bringen. 
Ich will ihn anflehen, vielleicht läßt er sich erbitten. Nein, halte mich 
nicht, hindre mich nicht, du Fremder.« 

Sie sagte diese Worte in traumhafter Kühle, so ganz in sich und 
alles abweisend, daß Apaanchu sehr erschrak und in ratlosem Ent- 
setzen ihr folgte. Tu es nicht, wollte er flüstern, doch 'sie war in 
ihrem Göttlichen wie ein fremdes, geweihtes Tier, das man nicht 
anreden kann, und an ihrer menschlichen Würdelosigkeit hatte er 
keinen Teil. 

Hesi erbebte, als er die Königin vor sich treten sah. 

»Warum willst du mich töten?« fragte Zait nach einem Schweigen, 
bevor er geredet hatte. 

»Damit du nicht länger lebst als ich«, sagte Hesi mit einer grau* 
samen Innigkeit! 

»Ja, das verstehe ich«, erwiderte Zait aus der Wahrheit ihrer 
jüngsten Wandlung. 

»Doch ich will dich nicht mehr töten, 'damit ich nicht länger lebe 
als du. Ich will alle, die vorhin in meine Verzweiflung gestimmt und 
sich an dir vergangen haben, beschwören. Sie werden sich alle vor 
dir auf die Erde werfen und flehentlich Abbitte tun. — Und dann 
werden wir alle zusammen sterben. Dies ist unabwendbar.« 



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Os6ar Loer&e, Das Gofdßtrgwert 713 

■ — - — — — — -_ . l 

»I<fi will dich nicht mehr hören, du Furchtbarer.« 
Hesi schwieg und sah sie lange an. 

Da Zait sich dennoch nicht zum Gehen wandte, siedete der Haß 
in Apaanchu empor, und er fuhr sie mit verzweifelten Worten an. 

Apaanchu,c erwiderte ihm Zait, »ich habe dir gesagt: du 
hast keinen Teil an mir. Du hast nicht mehr Teil an mir als dieser 
dort.« 

»Ein guter Kebsmann«, sagte Apaanchu bebend. 
Zait erwiderte ihm nichts. 

Doch Hesi sah die Königin an und sprach mit einer Stimme, die 
ruhig war, als erzähle er ein Märchen: »Ach, wie wollte ich dir 
dienen, einer Magd gleich. Ich wollte dir einen Schwan in glühender 
Asche braten, ihn mit einem Strohwisch abstäuben, dir Brombeeren 
zum Nachtisch suchen und dich in allem betreuen. ~ 

Ach, und gingest du vor mir zu deinen Vorfahren, so würde ich 
dir das Scherbchen Weizen auf die letzte Reise messen. Die Töpfer- 
öfen sollten rauchen, und ich zöge dir viele Dienerinnen aus Ton 
daraus hervor, du solltest im Hause des Todes auch glücklich sein 
durch mich: Ein Zedernschiffchen mit Ruderern, einen Weinkrug aus 

Holz, Amulette, von mir mit Reiß geschnitzt, alle Fülle vom 

Glücke in den Häusern des Lebens weiß ich nicht soviel, Königin. 
Wie wollte ich dir dienen.« 

»Apaanchu!« rief Zait fast ohne Willen aus, wie wenn dieser sie 
schützen sollte. 

Apaanchu antwortete in immer steigendem Zorn über das Ge- 
spräch: »Der Narr tut mir fast leid.« 
Zait sagte verträumt: »Er tut dir leid?« 

Apaanchu entgegnete, erzürnt über diese neue Güte gegen den 
Sklaven: »Nun, Leichenräuber, sprich nur, was du dieser zu schenken 
hast.« 

Zait weinte über dieses Wort, doch Hesi sagte: 
»Nichts, nur mich, und die kahlen Berge, auf denen unsere Füße 
stehen. Doch ich will dir nichts von dem Elend hier sagen. Doch 
dürfte ich 's, es würde, indem du es hörtest, ganz sanft.« 

»Erzähle denn, Hesi. Alles ist jetzt gleich. Jetzt und immer gilt 
nur, was ist in seinem Augenblick und was kommen wird. — Einst 



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714 



Oskar Loerte. Das GofdßergwerR 



war Apaanchu der Pharao, einst war Hesi ein Dieb, einst war 
Zait —€ 

Hesi fahr fort: »Einst war Zait das Weib eines Sklaven im 
Wüstenbergwerk. — Du kommst in Bitternis und großes Geseufze. 
Zwar gehst du alle Tage nadi Gold aus, dorn bitter tuts, wo es 
dein Finger faßt. Die Schachte winden sich tief in den Stein, von 
der Sonne ab, doch stehe ich im Dunklen vielleicht mit magrem 
Lämpchen hinter dir und helfe dir, den harten Felsen mit Feuer 
spröde zu machen und mit Eisen zu spalten. Und wenn wir Kinder 
hätten, die müßten schon, was die Hacke abschlug, an ihre kleinen 
Brüste pressen und wegschleppen. Nein, graue dich nicht! Sie ster- 
ben selten in den Schachten, ihre Füße bekommen Schwielen, damit 
laufen sie ins Sonnige, sie laufen zu der Reihe der Manner, die in 
steinernen, groben Mörsern zerstampfen, was sie bringen. Sieh, 
vielleicht sitze ich an einem solchen Mörser und ein Sohn ist der 
Bote zwischen dir und mir.« 

Apaanchu sagte geschüttelt, mit versiegender Stimme: »Erlaubst 
du ihm denn schon, von deinem und seinem Sohn zu sprechen?« 

Zait erwiderte: »Ich hasse ihn ja, mir graut vor ihm, aber es 
liegt so weit wie Ägypten und ist so lügenhaft.« Dann schrie sie 
auf: »Ah laß! <— Hesi, ich verbiete dir, von unserem Sohn zu 
sprechen!« 

Hesi sagte: »Von unserm Sohn. Nun lag's doch in deinem Munde, 
das Holde.« 

Apaanchu sprang zu und riß sein Schwert über den Sklaven 
empor. 

Hesi lächelte und sprach: »Wie irrst du doch! Dein Weib und 
ich irrten nicht so. Es bleibt alles ein Spiel der Worte, bis das 
Ende — -« 

Apaanchu unterbrach ihn. »Du sollst nichts in ihr finden, was 
sie mit dir gemein hat und wäre es nur dies, daß ich irrte und ihr 
nicht.« 

Zait schauderte auf und sagte: »Uns ist ja nichts gemeinsam.« 

Und Hesi sagte: »Nein, Pharao, nichts. Denn sieh, was hier an 
Leben verfließt, ist alles einsam. — Zait und Hesi, sie stehn viel- 
leicht einer dicht beim andern und mahlen Erzgestein auf den Mühlen, 



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Oskar Lotrh. Das Gottfforgwtrt 715 



aber ihre Zungen sdilafen sdiwer. — Sie werden vielleicht zusammen 
Greise und sitzen krumm an schrägen Granitplatten und waschen 
und waschen: keiner aber spricht ein Wort.« 

Apaanchu griff sich an die Kehle und unterbrach ihn mit lastbar 
gedämpfter Stimme: »Ach Zait, soll die Schmach, daß er so redet, 
noch nicht zu Ende sein?« 

Zait sagte zitternd: »Es ist nur Spiel. Zum Gruseln, Apaanchu. 
Ich höre nur ein Abenteuer, das gewiß nicht für mich sein wird. Ich 
höre doch nur das Neue, das ich noch nicht kenne und das ich ge« 
rechter lernen will als das Alte. Das alte Leben wurde heute eitel 
Schmerz und nichts als weher Überfluß. — - Wozu bist du und wozu 
ist dein Land mit allen den Vögeln aus Arabien, die jetzt, gesalbt 
mit Weihrauch, darüberhin fliegen?« 

Als hätte sie sie gerufen, strichen vier magere Geier von den 
östlichen Felsen her im ersten Morgengrau über sie hin. Zait sagte 
ganz versunken: 

»Wozu diese bunten Wickel Leben: Vögel? Ihr wart mir so freund 
einst, jetzt seid ihr mein Schmerz/ mein Schmerz, der fliegt und der 
grüne Federn hat und hohle Posen und Schöpfe, Gekröse. Welch 
Überfluß, wozu? Ihr alle seid ein Stückchen meines Schmerzes und 
hebt es und tragt es und lebt es und sterbt es: ihr Ibisschwärme 
über den Sykomoren und ihr Pelikane im Morast, ihr Marabus, die 
ihr mit dem kahlen Kopfe mir zunickt und nickt, — und was du 
irgend nennen kannst. — Was von mir werdet ihr morgen sein und 
heben und leben und sterben? Überfluß meines Glückes vielleicht? 
Ich weiß nicht, laßt mich sinnen. — Und du, Apaanchu, du heißt 
es Schmach, wenn ich ein grauses Märchen noch anhören will, das 
dieser da im Munde hält, ein süßes —« 

Da ließ Apaanchu sein Schwert aus der Faust fallen, nahm es 
auf, erhob es hastig und erschlug Zait. 

Sie sagte im Sterben: »Siehst du, nun habe ich den Tod gelernt, 
du fremder Mann. Du aber?« 

Hesi sprang über den Brunnenwall und wollte neben Zait nieder« 
stürzen. Der Pharao sprang ihm entgegen, und sie rangen mitein« 
ander. Hesi war müde und schwach, seine Knie zitterten, und er 
wehrte sich gegen Apaanchus würgende Hände nur wie gegen eine 
49 



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716 Osäar Locr&t, Das Goüfßerywerk 



Angst Im Schlaf. Dann starb er wie ein Baum, dessen Zeit er- 
füllt ist. 

Apaanchu nahm sein Weib auf seine Arme und trug es fort, um 
es zu begraben. Er ging über die Geröllhalde, auf der sie ihren 
Abschied genommen hatten, und suchte die kleine verdorrte Oase. 

Die Späher zuhöchst um das Götterstandbild hatten nun deutlich 
gesehen, daß keine Tiere am östlichen Himmel aufgetaucht und wie- 
der im Feisicht verschwunden waren, sondern eine zweite Karawane 
war nahe. Die Obersten der Kornspeicher, der Häuser der Gerech- 
tigkeit und der Streitmacht von Ägypten hatten Rat gehalten, nach- 
dem der junge Pharao in Übereile fortgezogen war, und einen 
zweiten Zug, reich an Wasser, Korn und allem Gut, ausgerüstet 
und am nächsten Tage dem andern nachgesandt. 

Man suchte nun den Pharao, um es ihm zu melden. 

Er schickte die Boten von sich und starrte ihnen nach, bis die 
neue Karawane in dem Bergwerk war. Dann befahl er Umkehr und 
Aufbruch, führte alle Überlebenden heim nach Ägypten und schenkte 
den meisten die Freiheit. Nur der Irre wurde vergessen und kam 
um, und seitdem liegt das Bergwerk verödet. 

Os6ar Loer6e* 



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Gottfried KöCweC Vier GediSte 



717 



VIER GEDICHTE 
EIN ERNTELIED 

Ihr wißt, das alle Körner, die guten und die läsen, 
sich aus verdorrten Ähren lösen. 

Die einen fallen aus dem Scheffel auf die Tenne 
und wandern durch den Höllenleib der Henne, 
andre werden in den Mühlen zerrissen 
oder brechen unter den Gebissen 
hungeriger Pferde, 
viele aber, die unbeirrt 

des Weges gehen, suchen ihre Gräber in der Erde, 
bis die Auferstehung in ihnen wurzelig wird. 

Fragt nicht: Warum? Denn eure Frage verendet 
schmerzhaft im unendlichen Gewölbe, 
wenn ihr nicht glaubt, daß alle Körner dieselbe 
Reise gehen, die sich im Leben ewig vollendet. 



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718 



Gottfried KöfweC Vur G«fi4t* 



EWIGE STUNDE 

Ich sah an einem himmelblauen Tag 
nichts, als die wunderlichen Wolken wehn, 
und fühlte meine Erde schaukelnd gehn, 
auf der ich, süß vom Licht gekreuzigt, lag. 

Die Stunde, die ich lebend so vollbrachte, 
war weise wie ein hungeriges Tier/ 
ich wußte nicht mehr, daß ich selig lachte, 
ich lachte, denn ich wußte nichts von ihr. 

Als wiegte jemand ohne Aufenthalt 
mich ewig fort von Tor zu Toren,, 
war ich plötzlich tausend Jahre alt 
und plötzlich ungeboren. 

AUF DER WALDWIESE 

Föhren, die im Glanz des Mittags blauten, 
drängten an die reife Wiese, hielten 
tiefgespannt den Atem an und schauten 
auf die Falter, die im Tanze spielten. 

Als die Tänzer müde waren, boten 
farbenlaute Blumen weiche Sessel 
an/ die gelben überschrien die roten, 
blaue drängten vor die weiße Nessel. 

Wolken, die vor Neugier schwollen, tauchten 
aus dem Himmelsmeer/ die Bäume hauchten 
plötzlich mächtig auf/ Applaus, das dünne 
Donnnern eines fernen Hochgewitters, 
wehte wogend über die Tribüne. 



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Gottfried KöfweC Vier GediSte 



719 



DER HEILAND 

Wenn der Al>end niederfällt 
leise in die lauten Straßen 
und die Lichter heimlich quält, 
die erstehen und verblassen, 
geht der Heiland durch die Stadt. 

Mädchen führt er an den Händen 
vor die bunten Fenster hin, 
daß sie Gold und Seide fanden 
für den törichtjungen Sinn/ 
denn der Heiland will erlösen. 

Manner, die vor Sehnsucht brennen, 
fuhrt er weise dann herbei/ 
sündig wird er keinen nennen, 
wer nur ehrlich brunstig sei/ 
denn der Heiland will erlösen. 

Dann in Spielen und Konzerten 
weckt er Geigen und Gesänge, 
daß ein Rausch die wirren Herden 
Leiden stundenlang verdränge/ 
denn der Heiland will erlösen. 

Fällt die späte Nacht den Straßen 
in den seligmüden Schoß, 
um sich auszuruhen, blasen 
Engel aus dem Sternenschloß: 
Heil den Menschen, die erlöst sind! 



Gottfried Köfwef. 



720 



Gustav Meyrin/f, Der Goftm 



DER GOLEM 
ROMAN 

(Fortaetzung) 

VII 
WACH 

Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen und ich hörte, 
wie Mirjam, die Tochter des Archivars Hiiiel, ihn eben ängstlich 
fragte und er sie zu beruhigen trachtete. 

Ich gab mir keine Mühe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, 
und erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daß Zwakh erzählte, 
mir sei ein Unfall zugestoßen und sie kämen bitten, mir die erste 
Hilfe zu leisten und mich wieder zu Bewußtsein zu bringen. 

Noch immer konnte ich kein Glied rühren und die unsichtbaren 
Finger hielten meine Zunge/ aber mein Denken war fest und sicher 
und das Gefühl des Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wußte 
genau, wo ich war und was mit mir geschah, und empfand es nicht 
einmal als absonderlich, daß man mich wie einen Toten herauftrug, 
samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hilleis niedersetzte und — 
allein ließ. 

Eine ruhige natürliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heim« 
kommen nach einer langen Wanderung genießt, erfüllte mich. 

Es war finster in der Stube und mit verschwimmenden Umrissen 
hoben sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem matrieuch- 
tenden Dunst ab, der von der Gasse heraufschimmerte. 

Alles kam mir selbstverständlich vor und ich wunderte mich weder 
darüber, daß Hillel mit einem jüdischen siebenflammigen Sabbath- 
leuchter eintrat, — noch, daß er mir gelassen »guten Abende wünschte 
wie jemandem, dessen Kommen man erwartet hat 



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Gustav Meyrmi, Der Golem 721 



Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas 
besonderes bemerkt hatte, — trotzdem wir einander oft drei* 
bis viermal in der Woche auf den Stiegen begegnet waren, — 
fiel mir plötzlich stark an ihm auf, wie er so hin und her ging, 
einige Gegenstände auf der Kommode zurechtrückte und schließ« 
lieh mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls siebenflammigen 
anzündete. 

Nämlich: sein Ebenmaß an Leib und Gliedern und der schmale 
feine Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau. 

Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht älter 
sein als ich: höchstens 45 Jahre zählen. 

»Du bist um einige Minuten früher gekommen«, — begann er 
nach einer Weile — »als anzunehmen war, sonst hätte ich die 
Lichter schon vorher angezündet.« — Er deutete auf die beiden 
Leuchter, trat an die Bahre und richtete seine dunklen tiefliegenden 
Augen, wie es schien, auf jemand, der mir zu Häupten stand oder 
kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte. Dabei bewegte er 
seine Lippen und sprach lautlos einen Satz. 

Sofort ließen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und 
der Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte 
hinter mich: Niemand außer Schemajah Hille! und mir war im 
Zimmer. 

Sein »Du« und die Bemerkung, daß er mich erwartet habe, hatten 
also mir gegolten! 

Viel befremdender als diese beiden Umstände an sich wirkte es 
auf mich, daß ich nicht imstande war, auch nur die geringste Ver- 
wunderung darüber zu empfinden. 

Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich 
— wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand 
auf einen Sessel wies, und sagte: 

»Es ist auch nichts wunderbares dabei Schreckhaft wirken nur die 
gespenstischen Dinge — die Kischuph — auf den Menschen/ das 
Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnen« 
strahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend.« 

Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern 
sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte 



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722 



Gustav Meyrm/f, Der Golem 



sich mir gegenüber und fuhr gelassen fort: »Audi ein silberner 
Spiegel, hätte er Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert 
wird. Glatt und glänzend geworden gibt er alle Bilder wieder, die 
auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung, « 

»Wohl dem Menschen« — , setzte er leise hinzu, »der von sich 
sagen kann: Ich bin geschliffen.« — Einen Augenblick versank er in 
Nachdenken, und ich hörte ihn einen hebräischen Satz murmeln: 
Lischuosecho Kiwisi Adoschem.« Dann drang seine Stimme wieder 
klar an mein Ohr: 

»Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich 
wach gemacht. Im Psalm David heißt es: 

»Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte 
Gottes ist es, welche diese Veränderung gemacht hat.« 

»Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten, so wähnen 
sie, sie hätten den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie 
ihren Sinnen zum Opfer fallen und die Beute eines neuen viel 
tieferen Schlafes werden, als der war, dem sie soeben entronnen 
sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und das ist das, dem du dich 
jetzt näherst. Sprich den Menschen davon und sie werden sagen, du 
seist krank, denn sie können dich nicht verstehen. Darum ist es 
zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden. »Sie fahren dahin 
wie ein Strom — 

Und sind wie ein Schlaf, 

Gleich wie ein Gras, das doch bald welk wird — 
Das des Abends abgehauen wird und verdorret« 

Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht 
hat und mir das Buch »Ibbur« gab? Habe ich ihn im Wachen oder 
im Traum gesehen? — wollte ich fragen, doch Hillel antwortete 
mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte fassen konnte« 

»Nimm an, der Mann, der zu dir kam und den du den Golem 
nennst, bedeute die Erweckung des Toten durch das innerste Geistes« 
leben. Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in 
Staub gekleidet! 

Wie denkst du mit dem Auge? — Jede Form, die du siehst, 



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Gustav Meyrinf, Der Gofem 723 



denkst du mit dem Auge. Alles was zur Form geronnen ist, war 
vorher dn Gespenst.« 

Icn fühlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert ge- 
wesen, sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in 
ein uferloses Meer. 

Ruhevoll fuhr Hille! fort: 

»Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben/ Schlaf und 
Tod sind dasselbe.« 

» kann nicht mehr sterben?« — Ein dumpfer Schmerz er* 

griff mich. 

»Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und 
der Weg des Todes. Du hast das Bucb »Ibbur« genommen und 
darin gelesen. Deine Seele ist schwanger geworden vom Geist des 
Lebens«, hörte ich ihn reden. 

»Hillel, Hillel, laß mich den Weg gehen, den alle Menseben gehen: 
den des Sterbens« — sdirie alles wild in mir auf. 

Smemajah Hilleis Gesicht wurde starr vor Ernst. 

»Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch 
den des Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud 
steht: »Ehe Gott die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel 
vor, darin sahen sie die geistigen Leiden des Daseins und die 
Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen die einen die Leiden auf 
sich. Die andern aber weigerten sich und diese strich Gott aus dem 
Buche der Lebenden.« Du aber gehst einen Weg und hast ihn aus 
freiem Willen beschritten — wenn du es jetzt auch selbst nicht mehr 
weißt: Du bist berufen von dir selbst Gram dich nicht: allmählich, 
wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen 
und Erinnerung sind dasselbe.« 

Der freundliche, fast liebenswürdige Ton, in den Hillels Rede aus- 
geklungen war, gab mir meine Ruhe wieder und ich fühlte mich ge- 
borgen wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiß. 

Ich blickte auf und sah, daß jetzt viele Gestalten im Zimmer waren 
und uns im Kreis umstanden: Einige in weißen Sterbegewändern, 
wie sie die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und 
Silberschnallen an den Schuhen — aber Hillel fuhr mir mit der 
Hand über die Augen und die Stube war wieder leer. 



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724 



Gustav MeyrinH, Der GoCem 



Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine 
brennende Kerze mit, damit im mir hinaufleuchten könne in mein 
Zimmer. 



Im legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer 
kam nicht und ich geriet statt dessen in einen sonderbaren Zustand, 
der weder Traumen war, noch Wachen, noch Schlafen. 

Das Licht hatte ich ausgelöscht, aber trotzdem war alles In der 
Stube so deutlich, daß ich jede einzelne Form genau unterscheiden 
konnte. Dabei fühlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der 
gewissen qualvollen Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ahn* 
lieber Verfassung befindet. 

Nie vorher in meinem Leben wäre ich imstande gewesen, so 
scharf und präzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Ge- 
sundheit durchströmte meine Nerven und ordnete meine Gedanken 
in Reihe und Glied wie eine Armee, die nur auf meine Befehle 
wartete. 

Ich brauchte bloß zu rufen, und sie traten vor mich und erfüllten, 
was ich wünschte. 

Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein 
zu schneiden versucht hatte, — ohne damit zurecht zu kommen, da 
sich die vielen zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den 
Gesichtszügen decken wollten, die ich mir vorgestellt, — fiel mir ein 
und im Nu sah ich die Lösung vor mir und wußte genau, wie ich 
den Stichel zu fuhren hatte, um der Struktur der Masse gerecht zu 
werden. 

Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrücke und Traum* 
gesiebter, von denen ich oft nicht gewußt: waren es Ideen oder Ge* 
fühle, sah ich mich jetzt plötzlich als Herr und König im eigenen 
Reich. 

Rechenexempel, die ich früher nur mit Ächzen und auf dem Papier 
hätte bewältigen können, fugten sich mir mit einemmal im Kopf 
spielend zum Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten 
Fähigkeit, das zu sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: 
Ziffern, Formen, Gegenstände oder Farben. Und wenn es sich um 
Fragen handelte, die durch derlei Werkzeuge nicht zu lösen waren, 



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Gustav Mtyrinü Der Gofem 725 



— philosophische Probleme und ähnliches — , so trat an Stelle des 
inneren Sehens das Gehör, wobei die Stimme Schemajah Hilleis die 
Rolle des Sprechers übernahm. 

Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil. 

Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloßes Wort an meinem 
Ohr hatte vorübergehen lassen, stand wertgetränkt bis in die tiefste 
Faser vor mir, — was ich »auswendig« gelernt, »erfaßte« ich mit einem 
Schlag als mein »Eigen«*tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich 
nie geahnt, lagen nackt vor mir. 

Die »hohen« Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzien- 
rätlich biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden beklext, mich von 
oben herab behandelt hatten — demütig nahmen sie jetzt die Maske 
von der Fratze und entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bett- 
ler, aber immerhin Krücken für einen noch frecheren Schwindel. 

Träumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit 
Hille! gesprochen? 

Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett. 

Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte/ 
und selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich über« 
zeugt hat, daß der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig 
vorhanden ist, wühlte ich mich wieder in die Kissen. 

Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der 
geistigen Rätsel, die mich rings umgaben. 

Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurück« 
zugelangen, bis zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort 
aus — glaubte ich — könnte es mir möglich sein, jenen Teil meines 
Daseins zu überblicken, der für mich, durch eine seltsame Fügung 
des Schicksals, in Finsternis gehüllt lag. 

Aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als 
daß ich mich in dem düstren Hofe unsres Hauses stehen sah und 
durch den Torbogen den Trödlerladen des Aaron Wassertrum 
unterschied. 

Als ob ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem 
Hause gewohnt hätte — immer gleich alt und ohne jemals ein Kind 
gewesen zu sein! 

Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben weiter zu schürfen 



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726 Gustav Meyrinü Der Gofem 



in den Schächten der Vergangenheit, da begriff ich plötzlich mit 
leuchtender Klarheit, daß wohl in meiner Erinnerung die breite Heer* 
Straße der Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht 
aber eine Menge winzig schmaler Fußsteige, die wohl bisher den 
Hauptpfad ständig begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet 
worden waren: »Woherc, schrie es mir fast in die Ohren, »hast du 
denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben fristest? Wer 
hat dich Gemmenschneiden gelehrt — und — gravieren und — all 
das andere? Lesen, schreiben, sprechen — und essen — und gehen, 
atmen, denken und fühlen? 

Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich 
mein Leben zurück. 

Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge 
zu überlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt 
dazu, was lag vor diesem und so weiter? 

Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt 

Jetzt! Jetzt! nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der 

mich von dem Vergessenen trennte, mußte überflogen sein 

da trat ein Bild vor mich, das ich auf der Rückwanderung meiner 
Gedanken übersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit der 
Hand über die Augen — genau wie vorhin unten in seinem 
Zimmer. ] 

Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch weiter zu forschen. 

Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die 
Reihe der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und 
gangbar sie auch zu sein scheint. Die schmalen verborgenen Steige 
sinds, die in die verlorene Heimat zurückfuhren: das, was mit feiner 
kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht 
die scheußliche Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterläßt, 
— birgt die Lösung der letzten Geheimnisse. 

So, wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner Jugend, wenn 
ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornähme von Z 
bis A, um dort anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen be- 
gonnen, — so, — begriff ich, — so müßte ich auch wandern können 
in die andere ferne Heimat, die jenseits alles Denkens liegt. 

Eine Weltkugel an Arbeit wälzte sich auf meine Schultern. Auch 



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Gustav Meyrinfi, Dtr Goftm 727 



Herkules trug eine Zeitlang das Gewölbe des Himmels auf seinem 
Haupte, — fiel mir ein, und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus 
der Sage entgegen. Und wie Herkules wieder los kam durch eine 
List, indem er den Riesen Adas bat: »Laß mich nur einen Bausch 
von Stricken um den Kopf binden, damit mir die entsetzliche Last nicht 
das Gehirn zersprengte, so gäbe es vielleicht einen dunkeln Weg — 
dämmerte mir — von dieser Klippe weg. 

Ein tiefer Argwohn, der Führerschaft meiner Gedanken weiter blind 
zu vertrauen, beschlich mich plötzlich. Ich legte mich gerade und ver- 
schloß mit den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu 
werden durch die Sinne. Um jeden Gedanken zu töten. 

Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte 
immer nur einen Gedanken durch einen andern vertreiben und starb 
der eine, schon mästete sich der nächste an seinem Fleische. Ich flüchtete 
in den brausenden Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten 
mir auf dem Fuß/ ich verbarg mich im Hämmerwerk meines Herzens: 
nur eine kleine Weile und sie hatten mich entdeckt. 

Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte: 
»Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlüssel zur Kunst des 
Vergessens gehört unsern Brüdern, die den Pfad des Todes wandeln/ 
Du aber bist geschwängert vom Geiste des Lebens.« 

Das Buch Ibbur erschien vor mir und zwei Buchstaben flammten darin 
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, 
mächtig gleich einem Erdbeben, — der andere in unendlicher Ferne: 
der Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem 
Haupte die Krone aus rotem Holz. 

Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand über 
meine Augen und ich schlummerte ein. 



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728 



Gustav Meyrinf, Der GoCem 



VIII 
SCHNEE 

Mein lieber und verehrter Meister Pernath! 

Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und höchster Angst, 
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, — 
oder besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. — Ich hätte 
keine Ruhe sonst — 

Sagen Sie keiner Menschenseele, daß Ich Ihnen geschrieben habe. 
Auch nicht, wohin Sie heute gehen werden! 

Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir — »neulichc — (Sie werden 
durch diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie 
waren, erraten, wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fürchte mich, 
meinen Namen darunter zu setzen) — soviel Vertrauen eingeflößt — 
und weiter, daß Ihr lieber seliger Vater mich als Kind unterrichtet 
hat, — alles das gibt mir den Mut, mich an Sie, als vielleicht den 
einzigen Menschen, der noch helfen kann, zu wenden. 

Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Dom« 
kirche auf dem Hradschin. f 

Wohl eine Viertelstunde lang saß ich da und hielt den Brief in 
der Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern 
nacht her umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen — weg* 
geweht von dem frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. 
Ein junges Schicksal kam lächelnd und verheißungsvoll — ein Früh« 
lingskind — auf mich zu. Ein Menschenherz suchte Hilfe bei mir. — 
Bei mir! Wie sah meine Stube plötzlich so anders aus. Der wurm« 
stichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden drein und die vier 
Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch herumsitzen 
und behaglich kichernd Tarock spielen. 

Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll 
Reichtum und Glanz. 

So sollte der morsche Baum noch Früchte tragen? 

Ich fühlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher 
schlafen gelegen in mir — verborgen gewesen in den Tiefen meiner 



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Gustav Meyrinf, Der Gofem 



729 



Seele — verschüttet von dem Geröll, das der Alltag häuft, wie eine 
Quelle losbricht aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht. 

Und ich wußte so gewiß wie ich den Brief in der Hand hielt, 
daß ich würde helfen können, um was es auch ginge. — Der Jubel 
in meinem Herzen gab mir die Sicherheit, daß das Geschehnis fest 
stand als reifer Bau. 

Wieder und wieder las ich die Stelle: »und weiter, daß Ihr lieber 
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat c, 

— mir stand der Atem still. — Klang das nicht wie Verheißung: 
»heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein?« 

Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt mir das 
Geschenk entgegen, die Rückerinnerung nach der ich durstete, — würde 
mir das Geheimnis offenbaren, — den Vorhang heben helfen, der 
sich hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte! 

»Ihr lieber seliger Vaterc , wie fremdartig die Worte klangen, 

als ich sie mir vorsagte! — Vater! — Einen Augenblick sah ich das müde 
Gesicht eines alten Mannes mit weißem Haar in dem Lehnstuhl neben 
meiner Truhe auftauchen — fremd, ganz fremd und doch so schauerlich 

bekannt dann kamen meine Augen wieder zu sich und die Hammer* 

laute meines Herzens schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart. 

Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit verträumt? Ich blickte 
auf die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fünf. 

Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel 
und schritt die Treppen hinab. Was kümmerte mich heute das Geraune 
der dunkeln Winkel, die bösartigen engherzigen verdrossenen Be- 
denken, die immer von ihnen aufstiegen: »Wir lassen dich nicht, 

— Du bist unser, — wir wollen nicht, daß du dich freust — das 
wäre noch schöner, Freude hier im Haus!« 

Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gängen 
und Ecken her um mich gelegt mit würgenden Händen: heute wich er 
vor dem lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb 
ich stehen an Hillels Tür. 

Sollte ich eintreten? 

Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz 
anders heute — so als dürfe ich gar nicht hinein zu ihm Und schon 
trieb mich die Hand des Lebens vorwärts — die Stiegen hinab. 



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Gustav M*?rin/i, Der Gofem 



Die Gasse lag weiß im Schnee. 

Ich glaube, daß viele Leute mich gegrüßt haben, ich erinnerte mich 
nicht, ob ich ihnen gedankt — Immer wieder fühlte ich an die Brust, 
ob ich den Brief auch bei mir trüge: 

Es ging eine Wärme von der Stelle aus. — — 

Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengänge auf 
dem Altstätter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes 
Gitter voll Eiszapfen hing, — hinüber über die steinerne Brücke mit 
ihren Heiligenstatuen und dem Standbild des Johannes von Nepomuk. 

Unten schäumte der Fluß voll Haß gegen die Fundamente. 

Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehöhlten Sandstein der 
heiligen Luitgard mit »den Qualen der Verdammtenc darin: dicht 
lag der Schnee auf den Lidern der Büßenden und den Ketten an 
ihren betend erhobenen Händen. 

Torbogen nahmen mich auf und entließen mich, Paläste zogen lang* 
sam an mir vorüber mit geschnitzten hochmütigen Portalen, darinnen 
Löwenköpfe in bronzene Ringe bissen. 

Auch hier überall Schnee, Schnee. Weich, weiß wie das Fell eines 
riesigen Eisbären, 

Hohe stolze Fenster, die Simse beglitzert und verreift, schauten 
teilnahmslos zu den Wolken empor. 

Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vögel war. 

Wie ich die unzähligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, 
jede so breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank 
Schritt um Schritt die Stadt mit ihren Dächern und Giebeln vor 
meinem Sinn. — — — — — — — — — — — — — — — 



Schon schlich die Dämmerung die Häuserreihen entlang, da trat 
ich auf den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum 
Thron der Engel. — 

Fußtapfen — die Ränder mit Krusten aus Eis — führten hin zum 
Nebentor. 

Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene 
Töne eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. — Wie Tränen- 
tropfen der Schwermut fielen sie in die Verlassenheit. 



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Gustav Meyrin/i, Der GoCem 



731 



Ich hörte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die 
Kirchentüre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel und der goldene 
Altar blinkte in starrer Ruhe herüber zu mir durch den grünen und 
blauen Schimmer sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster 
auf die Betstühle niedersank. Funken spähten aus roten gläsernen 
Ampeln. 

Welker Duft von Wachs und Weihrauch. 

Ich lehne mich in eine Bank. Mein Blut wird seltsam still in diesem 
Reich der Regungslosigkeit. 

Ein Leben ohne Herzschlag erfüllte den Raum — ein heimliches ge* 
duldiges Warten. 

Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf. 

Aus weiter, weiter Ferne drang das Geräusch von Pferdehufen 
gedämpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte näherkommen und 
verstummte. 

Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufällt — 



Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen 
und eine zarte schmale Damenhand hatte meinen Arm berührt 

»Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler, es widerstrebt 
mir, hier in den Betstühlen von den Dingen zu sprechen, die ich 
Ihnen sagen muß.« 

Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nüchterner Klarheit. 
Der Tag hatte mich plötzlich angefaßt 

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, 
daß Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier 
herauf gemacht haben.« 

Ich stotterte ein paar banale Worte. 

» aber ich wußte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor Nach« 

forschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns 
gewiß niemand nachgegangen.« 

Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame. 

Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon 
am Klang ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die 
damals voll Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahn* 
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732 Gustav Meyrink, Der Gofem 

paßgasse flüchtete. Ich war auch nicht erstaunt darüber, denn ich hatte 
niemand anders erwartet. 

Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Dämmerung 
der Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein 
mochte. Ihre Schönheit benahm mir fast den Atem und ich stand wie 
gebannt. Am liebsten wäre ich vor ihr niedergefallen und hätte ihre 
Füße geküßt, daß sie es war, der ich helfen sollte — daß sie mich 
dazu erwählt hatte. — 

»Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, — wenigstens so- 
lange wir hier sind — die Situation, in der Sie mich damals gesehen 

haben, c sprach sie gepreßt weiter »ich weiß auch gar nicht, wie 

Sie über solche Dinge denken « 

— »Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in 
meinem Leben war ich so vermessen, daß ich mich Richter gedünkt hätte 
über meine Mitmenschen«, — war das einzige, was ich hervorbrachte. 

»Ich danke Ihnen, Meister Pernath«, sagte sie warm und schlicht. 
»Und jetzt hören Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Ver- 
zweiflung nicht helfen oder wenigstens einen Rat geben können.« 
— Ich fühlte, wie eine wilde Angst sie packte, und hörte ihre Stimme 
zittern. — »Damals im Atelier damals brach die schreck- 
liche Gewißheit über mich herein, daß jener grauenhafte Oger mir 
mit Vorbedacht nachgespürt hat. — Schon durch Monate war mir 
aufgefallen, daß, wohin ich auch immer ging, — ob allein, oder mit 

meinem Gatten, oder mit mit — mit Dr. Savioli, — stets das 

entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trödlers irgendwo in der Nähe 
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielen« 
den Augen. — Noch zeigt sich ja kein Heichen, was er vorhat, aber 
um so qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir 
die Schlinge um den Hals! 

Anfangs wollte mich — Dr. Savioli damit beruhigen, was denn 
so ein armseliger Trödler wie dieser Aaron Wassertrum über- 
haupt vermöchte — schlimmsten Falles könnte es sich nur um eine 
geringfügige Erpressung oder dergleichen handeln, aber jedesmal 
wurden seine Lippen weiß, wenn der Name Wassertrum fiel. Ich 
ahne: Dr. Savioli hält mir etwas geheim, um mich zu beruhigen, — 
irgend etwas Furchtbares, was ihm oder mir das Leben kosten kann. 



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Gustav Meyrinit, Der Goftm 



733 



Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: 
daß ihn der Trödler mehrere Male des Nachts in seiner Woh- 
nung besucht hat! — Ich weiß es, ich spüre es in jeder Faser met* - 
nes Körpers: Bs geht etwas vor, das sich langsam um uns zusammen« 
zieht wie die Ringe einer Schlange. — Was hat dieser Mörder dort 
zu suchen?— Warum kann Dr.Savioli ihn nicht abschütteln? — Nein, 
nein, ich sehe das nicht länger mit an/ ich muß etwas tun. Irgend 
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt« 

Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie ließ 
mich nicht zu Ende sprechen. 

»Und in den letzten Tagen nahm der Alb, der mich zu erwürgen 
droht, immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plötzlich erkrankt, 
— ich kann mich nicht mehr mit ihm verständigen — darf ihn nicht 
besuchen, wenn ich nicht stündlich gewärtigen soll, daß meine Liebe 
zu ihm entdeckt wird — / er liegt in Delirien und das einzige, was 
Ich erkundigen konnte, ist, daß er sich im Fieber von einem Scheu- 
sal verfolgt wähnt, dessen Lippen von dner Hasenscharte gespalten 
sind— Aaron Wassertrum! 

Ich weiß, wie mutig Dr. Savioli ist/ umso entsetzlicher — können 
Sie sich vorstellen? — wirkt es auf mich, ihn jetzt gelähmt vor einer 
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Nähe eines grauenhaften 
Würgengels empfinde, zusammengebrochen zu sehen. 

Sie werden sagen, ich sei feige f — und warum ich mich denn nicht 
offen zu Dr. Savioli bekenne, — alles von mir würfe, wenn ich ihn 
doch so liebe — : alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber — « 
sie schrie es förmlich heraus, daß es wiederhallte von den Chor« 
galerien, — »ich kann nicht! — Ich hab' doch mein Kind, mein liebes, 
blondes, kleines Mädel! Ich kann doch mein Kind nicht hergeben! — 
Glauben Sie denn, mein Mann ließe es mir!? Da, da, nehmen Sie 
das, Meister Pernath« — sie riß im Wahnwitz ein Täschchen auf, 
das vollgestopft war mit Perlenschnüren und Edelsteinen — »und 
bringen Sie es dem Verbrecher/ — ich weiß, er ist habsüchtig — er 
soll sich alles holen, was ich besitze, aber mein Kind soll er mir 
lassen. — Nicht wahr, er wird schweigen? — So reden Sie doch 
um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein Wort, daß Sie mir helfen 
wollen!« 



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734 



Gustav Meyrittf, Der Gofom 



Es gelang mir mit größter Mühe, die Rasende wenigstens soweit 
zu beruhigen, daß sie sich auf eine Bank niederließ. — 

Ich spradi zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre, zu- 
sammenhanglose Sätze. 

Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daß ich selbst kaum 
verstand, was mein Mund redete. — Ideen phantastischer Art, die 
zusammenbrachen, kaum daß sie geboren waren. — 

Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mönchs- 
statue in der Wandnische. — Ich redete und redete. Allmählich ver- 
wandelten sich die Züge der Statue, die Kutte wurde ein faden- 
scheiniger Überzieher mit hochgeklapptem Kragen und ein jugendliches 
Gesicht mit abgezehrten Wangen und hektischen Flecken wuchs daraus 
empor. 

Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mönch wieder da. 
Meine Pulse schlugen zu laut. 

Die unglückliche Frau hatte sich über meine Hand gebeugt und 
weinte still. 

Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der 
Stunde, als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals über- 
mächtig erfüllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas. 

»Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet 
habe, Meister Pernath« — fing sie nach langem Schweigen leise wieder 
an. »Es waren ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben — 
und die ich nie vergessen konnte die vielen Jahre hindurch c 

Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut 

» Sie nahmen Abschied von mir — ich weiß nicht mehr, wes- 
halb und wieso, — ich war ja noch ein Kind — und Sie sagten so 
freundlich und doch so traurig: 

»Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, 
wenn Sie je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir 
Gott der Herr, daß ich es dann sein darf, der Ihnen hilft. c — Ich 
habe mich damals abgewendet und rasch meinen Ball in den Spring- 
brunnen fallen lassen, damit Sie meine Tränen nicht sehen sollten. 
Und dann wollte ich Ihnen das rote Korallenherz schenken, daß ich 
an einem Seidenband um den Hals trug, aber ich schämte mich, weil 
das gar so lächerlich gewesen wäre.c 



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Gustav Meyrinf, Der Gofrm 



735 



Erinnerung! 

— Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein 
Smimmer wie aus einem vergessenen fernen Land der Sehnsucht 
trat vor mich — unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines Mädchen 
in weißem Kleid und ringsum die dunkle Wiese eines Schloßparks — 
von alten Ulmen umsäumt Deutlich sah ich es wieder vor mir. — 



Ich mußte mich verfärbt haben/ ich merkte es an der Hast, mit der 
sie fortfuhr: »Ich weiß ja, daß Ihre Worte damals nur der Stimmung 
des Abschieds entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und — 
und ich danke Ihnen dafür.« 

Mit aller Kraft biß ich die Zähne zusammen und jagte den heulen« 
den Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurück. 

Ich verstand: Eine gnädige Hand war es gewesen, die die Riegel 
vor meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem 
Bewußtsein geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen 
herübergetragen: Eine Liebe, die für mein Herz zu stark gewesen, 
hatte für Jahre mein Denken zernagt und die Nacht des Irrsinns war 
damals der Balsam für meinen wunden Geist geworden. 

Allmählich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins über mich und kühlte 
die Tränen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog 
emst und stolz durch den Dom und ich konnte freudig lächelnd der 
in die Augen sehen, die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen. 

Wieder hörte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das 
Trappen der Hufe. — 

Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt. 

Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen und aus 
geschlichteten Bergen von Tannenbäumen raunte es von Flitter und 
silbernen Nüssen und vom kommenden Christfest. 

Auf dem Rathausplatz an der Mariensaule murmelten bei Kerzen- 
glanz die alten Bettelweiber mit den grauen Kopftüchern der Mutter- 
gottes ihren Rosenkranz. 

Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des 
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete 



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Gustav Meyrirtf, Der Gofem 



grell, von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bühne eines 
Marionettentheaters. 

Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand 
und daran an der Schnur ein Totenschädel, ritt klappernd auf hölzer- 
nem Schimmel über die Bretter. 

In Reihen fest aneinander gedrängt starrten die Kleinen — die Pelz- 
mützen tief über die Ohren gezogen — mit offenem Munde hinauf 
und lauschten gebannt den Versen des toten Prager Dichters Oskar 
Wiener, die mein Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach: 

»Ganz vorne schritt ein Hampelmann, 
Der Kerl war mager wie ein Dichter 
Und hatte bunte Lappen an 

Und torkelte und schnitt Gesichter, c 



Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz 
mündete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da 
in der Finsternis vor einem Anschlagszettel. 

Ein Mann hatte ein Streichholz angezündet und ich konnte einige 
Zeilen bruchstückweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein Be- 
wußtsein ein paar Worte auf: 



VERMISST! 
1000 fl Belohnung 
Alterer Herr . . . schwarz gekleidet . . . 

Signalement: 

. . . fleischiges glattrasiertes Gesicht . . . 
Haarfarbe: weiß 

. . . Polizeidirektion . . . Zimmer 



Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam 
hinein in die lichdosen Häuserreihen. 

Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen 
Himmelsweg über den Giebeln. 



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Gustav Meyrinf, Der Gofem 



737 



Friedvoll schweiften meine Gedanken zurück in den Dom f und die 
Ruhe meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom 
Platz herüber, schneidend klar — als stünde sie dicht an meinem Ohr 
— die Stimme des Marionettenspielers durch die Winterluft: 

»Wo ist das Herz aus rotem Stein? 

Bs hing an einem Seidenbande, 

Und funkelte im Frührotschein c 



Gustav Meyrinfi. 
(Tortstttung fofgt.) 



BERICHTIGUNG: 

Das Gedicht »Aufaadrcnc im Heft 6 ist von Herrn Alfred, nidit Kurt Wolfenstein. 



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738 



Teststeffungen 



FESTSTELLUNGEN 



Die Argonauten. Eine Monatsschrift. Herausgegeben von Ernst Blaß. Heide!« 
berg, Richard Weißbach. — Wir erachten es als unsere schöne Pflicht, unsere Leser 
von dieser Zeitschrift in Kenntnis zu setzen, und wünschen den Argonauten gute 
Fahrt, die sie so glücklich begonnen haben, mit Orpheus als Geleitsmann und 
Lynkeus als Lotsen, dem Sänger und dem Späher. Es sprechen in diesem ersten 
Hefte außer dem Herausgeber (in herrlichen Gedichten und vortrefflichen Worten 
Ober Werfeis »Wir sindt) A. Kronfeld, Leonard Nelson, Friedrich Burschcll und 
Robert Musil. D. R. 

Tamifie. Ein einfacher Mann las von Familientagen und wurde aufmerksam, 
daß es doch was schönes sei, so als Einzelner zu einer großen Familie zu gehören, 
die da alle Jahre einmal zusammenkäme, sich begucke und berate. Es ließ ihn nicht 
ruhen, und er forschte in dem Geäst und Verzweig seines Stammes und konstatierte 
erfreut eine stattliche Zahl — ich glaube es waren 74 — von Onkeln, Tanten, 
Vettern, Kusinen, Nichten usw. Und er hielt sich darin auf dem Laufenden, kümmerte 
sich — er hatte nichts zu tun und genoß in beschaulichem Alter seine guten Renten 
— um die 74, und hatte keine ruhige Stunde mehr. Eine weitläufige Familie ist 
bei den heutigen unruhigen Zeitläufen eine ununterbrochene Kette dramatischer 
Ereignisse meist nicht freudiger, sondern trauriger Art. Die Gesundheit unseres so 
kräftigen Mannes zerrüttete sich im Lauf eines Jahres beängstigend. Die Arzte rieten 
ihm, dies und das aufzugeben. Er gab nichts auf — als seine Familie. Da erholte 
er sich rasch wieder. R. I. K. 

5tatistiH. — Die Kriminalität nimmt mit der Kälte zu. Hat es 10 Grad unter Null, 
muß man die Sträflinge, die ihr Teil abgesessen haben, mit Gewalt aus den Ge- 
fängnissen bringen, in die sie sehr bald wieder einziehen, geärgert darüber, daß die 
Erlaubnis, in einem warmen Gefängnis zu weilen von dieser absurden Formalität 
abhängt, daß man was angestellt haben muß. Widerwillig stellen sie also was an. 
So wächst die Kriminalität mit der Kälte. — Eine andere Statistik: die Schweiz hat 
die meisten Selbstmörder. Ein frommes Land, ein gebirgiges Land, — deshalb die 
Selbstmorde? Tirol und die andern östlichen Alpenländer sind bergig und fromm, 
kommen aber selbstmörderisch erst an siebenter Stelle- Ist die Armut Ursache? Das 
sehr arme Irland liebt das Leben so sehr, daß es sich tötend an achter Stelle kommt. 
Der Reichtum? Preußen ist ein, man sagt, reiches Land, und kommt an zweiter 
Stelle. Da wäre ein Punkt. Aber England kommt an vierter und Armut gibt es 
eigentlich da nur in London. Immer noch bleibt die Schweiz unerklärt. Der Selbst« 



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TeststtCfungen 



raord hat wohl überhaupt keine sozial oder national oder religiös bestimmten Ur- 
sachen. Und was die Schweiz anlangt, so geht sie in der Selbstmordstatistik an der 
Spitze, weil — alle Engländer, die sich umbringen wollen, nach der Schweiz reisen. 
Ecco, sagt Herr Kerr. R. I. K. 

Reif, Arthur SSnitzfor aCs PsycBofog. Bruns, Minden. — Dieses Buch psycho« 
analysiert Gestalten Schnitzlerscher Erfindung. Es nimmt ihre Seele heraus, setzt an 
ihre Stelle die der psychoanalytischen Theorie, konkludiert und siehe, zuweilen 
stimmen die Ergebnisse. Manche entlegenen Stellen der Werke erhalten dabei 
untereinander Verbindung, unterbücherliche Zusammenhänge tauchen auf. Oder doch 
die Möglichkeit solcher. Interessant ist das Buch. 

Und ganz verblendet. Der Irrtum ist: Gestalten eines Dichters hätten eine kausal 
verständliche Seele. Sie haben aber nur eingeschobene und wieder abgebrochene 
Stücke davon, eine Benützung davon, oft nur den Schimmer. Das ganze Unter- 
fangen geht darum von einer falschen Voraussetzung aus. Personen eines Dicht- 
werkes wie lebende Menschen behandeln, ist die Naivität des Affen, der in den 
Spiegel greift. Der Mensch im Buch ist nie bloß aus sich selbst zu verstehen, er 
ist nicht voll, sondern ausgestopft mit Absichten und Interessen des Dichters. Ins- 
gesamt psychologisches, Ethisches umschlossen) bilden sie das, was wir — wahr- 
haftig mit einem Noch- Fremd wort — das Ästhetische nennen. Es ist auffallend, 
wie unempfindlich Reik für sein Vorhandensein ist, wenn er sich eine Stelle zu er- 
klären sucht. 

Beweist durch diesen Irrtum Schnitzler nichts für die Psychoanalyse, so zeugt 
doch diese ein wenig wider ihn. Man erhält den beklemmenden Eindruck: Arthur 
Schnitzler sei kein ganz unwürdiges Objekt für sie. Dieser Wienerische Autor ent- 
hält, zieht man auch alle Entstellung ab, doch überraschend viel Sentimentalität. 
Spezies Beischlaf und Totenkopf, oder Liebesnacht und Duellmorgen oder Impostiert- 
sein von verrucht komplizierten Bösewichten. Und ähnliche Dinge, die der — nicht 
wenig an die Manifestationen von spirits erinnernden — Banalität des Unbewußten 
entsprechen. Man fühlt es, wenn er melancholisch wird, wenn eine Welle von 
Stimmung heraufkommt, wenn er bedeutsam wird. Im — auch bei andren immer — 
trüben Schaffensgrund fühlt man es, wo das Werk nicht ganz über ihm zugewachsen 
ist. Auf diese Stellen legt Reik unerbittlich den lobenden Pinger. Denn er zeigt 
uns tiefe (freilich vorpsychoanalytische) Ahnung eines großen Dichters. 

Außer daß es Schnitzler in dieser Weise ein wenig kompromittiert, hat dieses 
Buch nichts an sich, was es aus der Fülle der psychoanalytischen Literatur aus- 
sondern sollte. Es ist nicht der erste Versuch, diese zur Klärung künstlerischer 
Fragen zu verwenden. Es ist auch kein Versuch, der sich durch besonders künst- 
lerisches Gefühl von den übrigen auszeichnete. Er steht und fällt in seinem Wert 
mit ihnen. Ich halte alle Versuche für wertvoll, und die psychoanalytischen in ihren 
Ursprüngen für geistvoll. Sie gaben mehr oder doch anderes, als die gewöhnliche 
Psychologie gab und schienen auf viele Gebiete, wo dieser Wissenschaft Bedeutung 
zukommt <so gewiß auch auf die Ästhetik), neues Licht zu werfen. Aber diese Ab- 
zweigung der Psychologie verfällt immer mehr in Lächerlichkeit. 



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740 



Teststetfungen 



S. Freuds Grundgedanken sind gewiß eine geniale Intuition und es steckt in ihnen 
eine große Möglichkeit für die sonst sehr sterile Psychologie des Emotionalen, Aber 
sie ist bis heute nicht zur wissenschaftlichen Wahrheit geworden. Statt daß man 
nach dem ersten Finderglack und der ersten Absteckung des Umfangs zur metho- 
-dischen Durcharbeitung geschritten wäre/ — soweit bis man den Kriterien genügt/ die 
heute in der Wissenschaft von dem, was gelten will, gefordert werden, — ergoß 
man sich in eine völlig extensive, expansive, imperialistische Ausnützung der neuen 
Idee. Die Psychoanalyse wurde zum Universalschlüssel. Man weiß heute noch nicht, 
ob die Freudschen Grundgedanken richtig sind oder Modifikationen bedürftig, und 
die Anwendungen überschwemmen schon alles. Vom Herzbuben der Tarockkarten 
Dis zum Volkslied erklärt sich alles aus Verdrängung infantiler Sexualität, Sexuali- 
tät, Bisexualität und einigen wenigen andren Voraussetzungen. Wissenschaftlich 
organisierte Ideenflucht hat ein kultivierter Psychologe dieses hemmungslose Sich- 
verbreiten genannt. Solche Eignung einer Hypothese zum alles erklären ist wissenschaft- 
lich prima vista verdächtig/ daß sich die Tatsachen panikartig einer Hypothese fügen, 
beweist immer etwas gegen die Hypothese. Auch die Pythagoräer lasen mit freudiger 
Überraschung im Wesen der Zahlen von eins bis zehn das Wesen aller Dinge und 
hatten doch manchen Entschuldigungsgrund für sich, der heute fehlt. V. S. 

Der Einzug des van der Goes. — Es ist pedantisch, die Leute zu schelten, 
■daß sie für das neue Bild aus Spanien in das Kaiser Friedrich-Museum gehen und 
seit Jahren für andere Bilder dort keine Zeit gehabt haben. Das Neue ist die liebens- 
würdigste Verführung, es ist das Dauerndste an unserer Jugend, und der van der 
Goes ist neu, trotzdem es sich um was altes handelt. "* 

Dieses Alte trifft sich freilich sonderbar mit unserer Moderne/ ein kaltes Bild und 
ein ungläubiges,- man bemerkt eine gewisse Taubheit gegen das Allergrößeste in 
dem, was dargestellt ist. Nun ist aber Ungläubigkeit in jener Zdt Krankheit ge- 
wesen und van der Goes starb irrsinnig: auch dies reizt die Leute zum Besuch: 
les nerveux se cherchent. 

Für unsere labilen Sinne ist das Bild also besonders lebendig. Unter die vollkom- 
menen Schwerpunktes sichere Physiognomik der Eycks etwa sind durchaus por- 
trätische Gesichter geschoben, in denen sich zu der flämischen Deutlichkeit etwas 
von der tückischen Beobachtung der Desequilibrierten mischt. Nun ist die Bindung 
der Frömmigkeit immerhin noch stark genug, um nicht die bloße Banalität, die wahl- 
lose Treffsicherheit dieses umgekehrten van Gogh triumphieren zu lassen/ aber es 
gibt da doch nur Leben, wie die Gegenwärtigen es im Malerischen verstehen und 
zwar im besten Fall unerbittliche und durchkonstruierte Zufälligkeit. Aber in den 
■geschweiften Ohrfeigengesichtern der Statisten durch die Fenster, in der querulanten 
Langweile des Kindes besteht dieser eigenwillige und eigentumslose Maler auf seiner 
schlimmen Anwartschaft. 

Die bloße Malerei dieses Bildes ist höchster Bewunderung wert, wenn auch das 
Bild nicht ebenso hoher Sympathie. Selbst seine einseitigsten Bewunderer können 
tmendlich von ihm lernen. Doch ist seltsam, daß die Hand des stehenden Königs 
dermaßen auf Wirklichkeitstäuschung gemalt ist, daß sie über die Bildebene 



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7eststeffungen 



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hinausfallt, also plötzlich vor jedem andern Gegenstand auf den Beschauer zu ge- 
sehen vird. 

Jedermann kennt die Glückwünsche, die sich die Acquisiteure des Bildes er* 
werben haben/ ob dieses Bild gleichermaßen zu beglückwünschen sei, in dieser 
Stadt zu leben, das ist problematisch. Denn für die Zeit der ersten Sensation 
ist es peinlicherweise in den Raum des Genter Altares so gestellt worden, daß 
es die Seitenflügel dieses Schatzes fast verdeckt/ auf diesen Seitenflügeln be- 
finden sich Engel, die so wahrhaft vom Himmel auf diese Erde hinabgestiegen sind, 
wie sie von dieser Erde einmal hinaufschwebten. Aber diese brüskierten Bilder 
sind seit langem im Museum und lassen sich nicht noch einmal kaufen/ sie sind 
zwar länger dort als irgendeiner der dort Angestellten, doch fehlt ihnen die Gabe 
beiderseits ersprießlicher Kooperation, durch weiche sie sich von diesen angestellten 
Herren die richtige Schätzung erwürben. Aber wenn es für diese preußisch gewor- 
denen Bilder im Museum eine Ehre ist, so bedeutende Historiker zu Direktoren 
zu haben, so ist es auch umgekehrt eine Ehre für diese Beamten, solche Bilder in 
ihren sinnlos gebauten Kammern zu haben, von denen die erste gleich mit einer 
toten Wand anfängt. Diese Ehre haben die betreffenden Herren augenscheinlich 
nicht empfunden/ dafür waren sie jedenfalls nicht empfindlich, als sie die Eycks durch 
die Vorstellung des van der Goes verstümmelten: das fällt auf sie zurück, denn 
die Integrität eines schönen Bildes berührt das alles nichts. Für ein schönes Bild ist 
der korrespondierende Verwalter ein Kompositum von Bader (für den Firnis; und 
.Zeremonienmeister <für Platz und Illumination), und weiter gar nichts/ ein Kunst- 
historiker montiert sich erst in den Zusammenhängen zwischen Bildern, und wie 
wenig schert das gerade ein Bild! Es kann freilich niemanden entlassen, es hängt 
an seiner verfinsterten Wand, während der Obskurant herumläuft. Aber dafür hat 
es die Aussicht, ihn zu überdauern, und diese Aussicht ist sicher wie der Tod. 

Jedoch die Lebenden können nicht ebenso resigniert sein/ es ist für sie alle un- 
angenehm, daß man wegen Kunsthistorie, oder um den Wert des Ankaufs über 
alle Frage zu stellen, eine bis auf die Knochen symptomatische Rücksichtslosig- 
keit begeht. Diese Wissenschaft der Parallelen, die sich im Endlichen schneiden, 
hat sich hier wirklich ihr besonderes Symbol bereitet, indem sie zwei unvergleichlich 
schöne Bilder zu einander längs und mit dem Rücken auf dreiviertel Meter Abstand 
gestellt hat, — tröstlich nur, daß auch ein Bild seinen Rücken hat! R. G. 

Hugo von HofmannstBaf, Die Wege und die Begegnungen. Erster Druck" der 
Bremer Presse. — Mit diesem Stück Prosa in Nachtblau und Gold tritt die mit 
Spannung erwartete Bremer Presse zum erstenmal in die Erscheinung. Es handelt 
sich hier um anderes und um mehr als einen Verlag, um mehr auch als um das 
Buchgewerbe in Luxusdrucken. Die Bremer durchstöbern nicht die Druckoffizinen nach 
seltenen schönen Schriften, sondern sie schaffen sich ihr eigenes Letternmaterial, hier 
eine ganz admirable Antiqua mit holzgeschnittenen Initialen, Kopf- und Schluß- 
stücken/ nicht dem besten Binder auf dem Markte wird die Bindung übergeben, 
sondern es wird in der Werkstätte der Presse selber diese Arbeit besorgt mit ebenso 
großem handwerklichem Können als mit bestem Geschmack. Der Idtende Gedanke 



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Teststeffungen 



der Bremer Presse ist nicht, irgendwelche Bucher sehr gut herzustellen/ hier diri- 
gieren nicht kunstgewerbliche Absichten, sondern sie dienen einer Idee: diese ist 
bestimmend und so wurde auch alles Technische vollendet. Köstliche Arbeit wird 
hier nicht an ein Beliebiges oder Zufälliges verschwendet, sondern an in bestimm- 
tem Geist Gewähltes/ ein bedeutendes Programm ist aufgestellt und wird in diesen 
Drucken zur Erfüllung kommen, deren technische Vollendung als ein äußeres Zeichen 
sichtbar machen soll, was sich hier vollzieht: der Druck von des Tacitus Ger- 
mania mit Borchardts Übersetzung mag zur Orientierung mehr noch und deutlicher 
dienen als diese kostbare kleine Prosa Hofmannsthals, welche des Dichters bekannte 
Art und Weise wiederholt: von Träumen schwere Luft um einen Gedanken spie- 
lend, der noch alle geburthafte Weiche hat und zur begrifflichen Deutlichkeit sich 
vielleicht nie verhärten kann. Wofür keiner wie Hofmannsthal den Ausdrude hat. 
Dem Schwebenden alle Schwere zu lassen und dem Enteilenden doch währende 
Gegenwart. Ganz subjektiv zu sein und doch den Dingen, den ungeänderten Wirk- 
lichkeiten ganz verhaftet. Wie gesagt: Borchardts Tacitus wird das Wollen der 
Bremer Presse deutlicher hinstellen vor die Wenigen, nicht jene, welche gutgedruckte 
seltene Bücher sammeln, sondern die, denen die Wiedergeburt des deutschen Geistes 
starke Not ist. B. 

E. W. B reift, Häßfide Kunst? Mit So Tafefn in Li<£tdru<6, C. Kufin Vertag. 
München. — In der Einleitung gibt der Herausgeber als den kunstpädagogischen 
Zweck seiner ausgewählten Bildwerke an, jenen, die vom »Häßlichen« der neuen 
Kunst ablehnend sprechen, zu zeigen, daß dieses »Häßliche« auch in der ganz kon- 
ventionell verehrten alten Kunst vorhanden sei. Also eine Aufgabe aus der Gegend 
des Kunstwartes: Belehrung des Spießbürgers über Dinge, die mit der Belehrung 
am allerletzten beizubringen sind. Zusammen damit geht dann selbstverständlich die 
Verflachung nicht nur, sondern auch die Fälschung des Problemes, das hier, in den 
Künsten, gar nicht beim rein Gegenständlichen liegt. Wäre das Gegenständliche in 
der Kunst auch nur im geringsten bestimmend, dann wäre ja auch das landläufige 
Urteil der Ahnungslosen, das um »Schöne und »Häßliche geht, vollauf berechtigt, 
denn es gibt schöne und häßliche Gegenstände. Um seiner Aufgabe einen Sinn zu 
geben, muß der Verfasser geistige Proleten wie Rosenberg und ähnliche »Kunst- 
kritiker« ernst nehmen, was man sonst wohl nicht tut. Die Gattung dieser Schrei- 
ber ist in einem ganz andern Kapitel abzuhandeln als in einem, das mit der Kunst 
zu tun hat. Das was der Banause für Kunst und Kunsturteil hält, muß ihm un- 
benommen bleiben. Kunstschaffen nicht nur, sondern auch Kunstaufnehmen ist keine 
allgemeine, erlernbare Fähigkeit. Man muß sich über das Verunglückte und Über- 
flüssige des Textes mit den gut reproduzierten Bildern trösten, die, wenn auch 
nichts neues, so einiges altes bringen, das man gern immer wieder sieht, wozu wir 
aber nicht Klinger und nicht Dietz und nicht Böcklin rechnen, die da neben Rem- 
brandt, Gaugin und Signac aufmarschieren. Woraus man sieht, daß der Verfasser, 
mehr Publikum als Künstler, mehr über das Publikum gedacht hat als über die 
Kunst. Was uns für einen Kunstkritiker nicht der rechte Weg scheint. B. 

Der Dom in Gefafir. - Geistige Güter haben einen recht unmerklichen Tod 



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bei ihrer Beerdigung erst gibt es die argen Katastrophen, aber als Anzeigen nur 
Kleinigkeiten, Symptome, und Symptome sind die Feigheiten unter den Wahr- 
heiten. Es gehört etwas Mut dazu, solche Wahrheiten zu sagen, während die Tat- 
sachen noch zu schwach sind, sie zu tragen. 

Die Berliner Feuerwehr wurde am 12. Februar dem Kaiser vorgestellt, zu- 
erst in Parade, dann bei der Arbeit. Zu diesem zweiten Teil diente das nächst- 
liegende und ungeeignetste Objekt in Berlin, der Dom von Berlin. »Die Feuerwehr- 
leute stürmten in das Innere«, von außen wurde ein passender »bedrohtere Turm 
reichlich begossen und bestiegen, dann Halt gepfiffen, und die Kirche spielte bei den 
folgenden Demonstrationen nicht mehr mit. 

Nun ist wahr, der Protestantismus hat keinen Übergang vom Diesseits zum Jen- 
seits/ seine Leitern reichen nicht in einem Stück zu Gott, und der Begriff der Heiligen 
ist also ziemlich beliebig. Aber obgleich dieser Glaube etwas vom Skelett hat, so 
besitzt er doch eine Epidermis und diese zarte Hülle müßte empfindlich sein, sonst 
wäre die ganze Sache im Kern tot. Es gibt auch sehr viele Leute noch, wenn auch 
bürgerlich und langweilig, die in der Kirche das Gotteshaus sehen und mit Be- 
deutung ihren Hut abnehmen und sich still verhalten, wenn sie dort sind. Es gibt 
sogar Leute, die nicht eigentlich gläubig sind, aber deren Pietät sich in den herge- 
brachten Formen bewegt, und das gehört sich so. 

Und gerade dieses Gotteshaus, weil es dem Schloß gegenüberliegt, wird zum 
Voltigierbock für Feuerleute benutzt und zur Demonstration, wie geschickt sie 
Wasserstrahlen aussenden/ dabei denkt man sich nichts, man kommt nicht »auf den 
Gedankenc, aber das beweist, daß man nichts fühlt und in einer anderen Luft lebt 
als die Dinge vertragen, die so verehrt sein sollen. Man ist nicht in Sympathie mit 
den Leuten, deren Achtung und Respekt den Thron schützen und man harmoniert 
unwissentlich mit denen, die ihrerseits alles tun, und dafür verworfen werden, daß 
sie aie rvirene proranieren. 

Die frommen Blätter und die Pastoren schweigen alle über diese Affäre, und es ist 
möglich, daß die Steine dieser undeutschesten Kirche nicht zu reden vermögen/ wenn 
man ihnen aber die schon lahme Zunge ausreißt, darf man nicht Jammern, wenn der 
rote Saft nachstürzt. R. G. 

Stefan George, Der Stern des Bundes. Georg BonaZ Berfin. — Man weiß 
ja: der Kreis um George nahm nicht das Sublime seines Gedichtes auf, sondern 
seine naiv- blöde Oberhebung, daß er die wahre Welt auf seinen Schultern trage, 
Heiland und Atlas in Einem, und daß sein Name heilige. Die ganz unfruchtbaren 
Jünglinge ließen sich mit Schauern heiligen, es entstand der »Kreise, es verödeten 
die Blätter für die Kunst, und die »Jahrbücher für die geistige Bewegunge ver- 
kündeten, die Gründung des Reiches läge ganz und allein in ihrer Hand. Die 
Wasser, welche die abgestorbene Welt verdeckt und verschlungen hatten, liefen ab, 
und aus der Arche des Jahrbuches stiegen die »Geistganzenc und redeten. Nun 
ist auch mit diesem letzten Buche George selber zu ihnen getreten, ist »Kreis« ge- 
worden. Der Feind ist zu Boden gerungen, die »gute« Sache hat gesiegt, man 
zelebriert nicht mehr für den Kreis, sondern für jedermann, der 3 Mark Eintritt zahlt. 



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Teststetfungen 



* * iW>iHiMMiiMiiM«<«MMi>W>'>WiiMM«i ■ ■ • • MM» ■ • MM» MB* • • «HB • • MI • • MM • • • • MW • * • • MM» • • • 

Der Tempel ist nach außen gestülpt, was sich, da er papieren war, leicht machen 
ließ. Man brennt denselben Weihrauch, man hat die gleiche Geste, dasselbe Wort : 
mit Betonung wird gezeigt, daß man gewonnen hat, oder »reüssiert« hat Oder 
man tut so, was ja auf dasselbe herauskommt in einer Zeit, wo der Kredit wich» 
tig und entscheidend ist. Es ist nicht ganz deutlich, wer oder was der Stern des 
Bundes ist: man hat die Wahl zwischen einem Knaben, Maximin der Zweite 
vielleicht, oder — es ist widerlich dies sagen zu müssen — Gott. In einem andern 
Buche aus dem »Kreise steht der Satz über George: »Es ist kein Zufall, daß er 
aus dem Schoß der Kirche kam.« Wir notieren diese vorsichtig nachbauende Schwen- 
kung ins Neueste, Allerneueste nur. Pfäffisches war hier immer schon genug. Noch 
zu diesem neuen Buche zu sagen: es gießt noch einmal das Mißlungene, Matte im 
Siebenten Ring auf, hat Steigerungen zum Gedichte dort, wo das Liebeserlebnis 
mit jenem Knaben zu stärkerer Bildhaftigkeit drängt, und ist im Ganzen überlagert 
von den Schwaden Weihrauchs der Gottanbeter : George ist sich nun selber Mythus 
geworden. Alle Treuges und Heislers und Wolfskehls dichten in ihn hinein, aus 
ihm heraus: gerade daß er noch die Wortfüge gibt, erkennbar auch sie schon mehr 
aus ihm lieben Worten, die weder schön noch deutsch sind noch im Sinn der Sprache 
richtig gebildet. Und Gott, dies letzte Aufgebot dieses nicht einmal mehr in seiner 
Würde sicheren Mannes, sei ihm verboten. Der Seinen Namen so nennt wie George 
in diesem Buche, der betet nicht in seiner Stille, sondern macht vor Zuschauern 
einen theatralischen Kniefall. O. S. 

OCaf Gufßransson, Tünfzig unveröffentfießte Zeichnungen. Herausgegeßen von 
Alfred Mayer. München Bei G. Mäffer. - Irgendwelche Fakten durch irgendeine 
Verwandtschaft untereinander zu koordinieren, das gibt oft einem ganz Irrealen das 
Aussehen eines Wirklichen. Irgendeine Zeichnung mit lauter Richtigkeiten, die auf 
den Eindruck des »Lebens« zielen, das ist nur eine ganz grobe Versammlung von 
Faktizitäten, die gar nichts miteinander gemein haben. Denn, die Realität ist ein 
ganz isoliertes und autonomes Faktum und besteht aus sich selber. Die Realität ist 
die Individualisation konfuser Fakten, Ist ihre Verdichtung/ der Punkt ist das realste 
Faktum und Ausgang der Linie. Setzt der Zeichner seine Linie aus Analogie oder 
aus Sentimentalität, so mißversteht er seine Kunst, so wie ein Mathematiker seine 
Wissenschaft nicht verstünde, der in ein Kalkül seine personliche Abstammung oder 
seine Anschauung über das Frauenstimmrecht hineinbrächte. Das Wunder Rem- 
brandtscher Zeichnung, das Delacroix begriff, ist ihre Illogizität, ist ihre Linie, die 
das reale Summum gibt, die Quintessenz der Fakten, ihr Dogma gewissermaßen. 
Die Kubisten dürfen sich auf diesen Satz nicht berufen, der ja nur eine intuitive 
Erkenntnis beschreibt, welche allein die künstlerische ist. Der Künstler, der sein 
Werk durch eine Rechnung zu gewinnen meint, verrechnet sich. So macht man Sessel, 
aber keine Bildwerke. Die Gesetzmäßigkeit, die wir nachher in einem Bildwerk finden, 
kam aus der Tatsache des Werkes, nicht ging sie ihr voran. Die Zeitung, in der 
Gulbransson sein Werk veröffentlicht, orientiert über ihn gar nicht, nicht einmal 
sentimen talisch / er ist nicht, was man einen Karikaturisten nennt/ weder ist er das 
im Gefühl, das sich mit einem invertierten Pathos äußerte, noch in der Zeichnung, 



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Teststeffungen 



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die sich gar nicht in dem billigen Spaß der Übertreibungen ausgibt. Er fixiert das 
Flüchtige jeder Erscheinung in der Linie, die das intensivste Leben der Erscheinung 
mitteilt oder ausdrückt oder entscheidet. Er tut das so sicher und mit solcher 
spielenden Leichtigkeit wie keiner unter den heute Zeichnenden und drückt mehr 
aus als hundert malende Expressionisten. Er verzichtet auf keine Farbe, aber er 
kocht sie ein, bringt sie auf ihren Extrakt/ er macht es sich schwerer damit, denn 
die Farbe kann mit ihrer Sinnfälligkeit berauschend überrumpeln. Er verzichtet auf 
jedes Mod6I£, aber er preßt das Plastische an die Peripherie, wo es Linie wird, und 
macht es sich schwerer damit, denn man kann um die Zeichnung nicht herumgehn 
wie um die Plastik. Er zeigt das Hinten mit, wenn er das Vorne zeichnet. Er 
bringt das immer etwas Kindliche, das Malerei und Plastik haben, in eine hohe 
Spiritualität, die ganz entmaterialisiert ist, von Malfarbe, Leinewand, Ton, Stein 
befreit. Hier braucht der Geist nicht mehr Materialien, um sich mitzuteilen, er drückt 
sich in sich selber aus, ohne ein stoffliches Medium und ohne das Verführerische, 
das die stofflichen Medien der Bildkünste schon für sich selber haben, — o die schöne 
blaue Farbe, o der schöne schwarze Stein ! — Hier ist ein Buch über G. mit einem 
guten kurzen Text und vielen Blättern, die man nicht kannte. B. 

Der Bfidt. Eine Kunstzeitscßrifi. - Es ist höchste Zeit, daß in der babylonischen 
Verwirrung heutigen Kunstschaffens und Kunstsehens eine reinliche Ordnung ge« 
schaffen wird. Daß hier wie in allen anderen Dingen Ordnung sein muß, daran 
wollen wir auch unter den widerlichsten Umständen festhalten. Ordnung heißt nicht 
Reaktion, heißt auch nicht Anpassung- Aber irgendwie Krach machen heißt auch 
nicht revolutionieren. Achte Barthaare an Ölbildern definieren nicht nur keine neue 
Kunst — wenn neu in der Kunst überhaupt einen Sinn hat — sondern steigern nur 
die Chancen aller jener handgefertigter Scheußlichkeiten, welche, von der »Scholle« 
etwa hergestellt oder von Stuck, die sonst gute Stube des Bürgers verunzieren. 
Der Unsinn der einen treibt den unsicheren Kunstfreund mit Anführungszeichen 
in den Stumpfsinn der andern. — Kritiker und Kunstzeitschriften wittern etwas. 
Nicht nur die Händler. Die erstem merken, daß sie nicht mehr auf der Höhe ihrer 
Höhe sind. Also üben sie eine kleine Schwenkung nach links ein, aber ihr von Haus 
aus gebrechlicher Organismus kann die Bewegung nicht mehr vertragen / sie werden 
zu sitzen kommen zwischen dem von ihnen gewärmten Stuhl und dem andern, den 
wir ihnen wegziehen, um uns darauf zu setzen. — Die Kritiker denken in das Bild 
hinein und so immer daneben. Sie haben ein »Kriterium«, was immer sagt, daß 
man außerhalb der Sache steht. Und nicht in ihr. Sie treiben mit Bildern Mißbrauch, 
indem sie sie auf beiläufiges, ganz ungegründetes Theoretisieren beziehen, zu dem 
ihnen die Ästhetik nicht Recht gibt, weil sie keine haben. Oder sie konstruieren die 
Welt der Bildwerke vom Werke eines Malers aus, das sie zum Gesetze machen. 
Oder sie haben »Stimmungen« wie der Oskar Bie. Oder sie bestreiten ihren 
kritischen Aufwand vom Mißtrauen, indem sie so tun als wüßten sie schon das 
Wahre, aber es hätte in dieser verworfenen Zeit keinen Wert, es zu sagen. — 
Wir wollen alles das nicht- Wir wollen uns nicht um die Kunst kümmern als 
Draußenstehende, sondern von ihrem Erlebnis als von einer selbstverständlichen 



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746 TeststelTungen 

Tatsache ausgehen- Wenn irgendwas auf der Welt, so hat die Kunst die größte 
Realität. Wir werden sehr subjektiv sein, gar nicht vorsichtig. Wir haben keine 
diplomatische, sondern eine menschheitliche Aufgabe. Und die Kunsthändler sollen 
uns schon ganz wurst sein. — — — So lautet ein Prospekt, den man uns schickt. 
Erscheint dieser »Blick« nicht, dann sind wir jedenfalls um keine Enttäuschung reicher. 



Für die Redaktion verantwortlich: 
Eni' Ernst SSwaBaS — Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kreuzstraße 3 b. 
Für Österreich-Ungarn verantwortlich: Hugo Helfer, Wien I, Bauernmarkt 3. 
Gedruckt in der Offizin von PoesSef et Trepte in Leipzig. 
Papier von Edm. Oßst in Leipzig. 
Alle die Weißen Blätter betreffenden Zusendungen sind zu richten an die 
Redaktion der Weißen Blätter, Charlottenburg, Sybelstraße 22. 



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'Festsieffungen 



FESTSTELLUNGEN 

• 

Otto Brafjtn, Kritische S Stiften üßer Drama und THeater. Berit n, S. Tisdher 
Verfag. — Neben Hermann Bahra Aufsätzen wird diese Sammlung der Brahm- 
sehen Schriften das wichtigste Dokument für die Geschichte dessen sein, was man 
die moderne Literatur nennt, einer Periode, die abgeschlossen hinter uns liegt, in 
ihren Strebungen und Zielen überschaubar und bestimmbar. Ja mehr als Bahr, der 
als Mitschaffender mehr noch Partei ist, wird die kritische Tätigkeit Brahms (auch er 
Partei, doch nicht dichterisch mitbestimmte) diese Zeit deutlich machen in der Stärke und 
in der Schwäche ihrer Positionen. Es stellt ein hohes Zeugnis für Brahms ethischen 
Willen sowohl als für seinen gut ausgebildeten Geist aus, daß, was nie als ein 
Buch beabsichtigt war, was immer nur für den Tag geschrieben wurde und des 
Vergänglichen im Objekte genug enthält, sich doch zu der starken Einheit und 
inneren Einheitlichkeit eines Buches mit Anfang und Ende zusammenschloß, was 
nicht nur als ein Verdienst des geschmackvoll edierenden Schienther anzusprechen, 
sondern eben Ausdrude Brahmschen Wesens ist. Er hatte seine Grenzen: dies ist 
kein Vorwurf, denn keiner kann über sich selbst wegspringen. Er füllte seine Gren- 
zen aus: dies ist höchstes Lob, denn es verlangt dies Hingabe und Arbeit eines 
ganzen Lebens. Es ist doch sehr viel, daß man imstande ist ein Buch, das von 
Theaterstücken und Schauspielern und allerlei sonstigen Putilitäten handelt, mit aller 
Teilnahme, ja mit Vergnügen am Schreiben des Verfassers zu Ende zu lesen ohne 
zu ermüden. Brahm schrieb ein gutes, sachliches Deutsch, das nie flunkerte, seinen 
Charakter ganz von der Ergriffenheit und Beherrschung des Stoffes bekam, und 
das belebt wird von einer gar nicht preziös tuenden Grazie und einer nie auf' 
dringlich werdenden Ironie Sein Wissen sagt er wie ein Weltmann, ohne den je 
mit der Geste besonders auszuzeichnen/ und die Affekte seines Fühlens lassen ihn 
auch in stärkster Begeisterung nie lyrisch stammeln, denn er hat einen sauberen, 
an sich haltenden Geist, der sich in der Limitierung beherrscht. Und er ist nie 
witzig um witzig zu sein. Er will gar nicht Aufsehen machen. Er ist immer an- 
gezogen wie jedermann und wie es Brauch und Situation verlangen. Ich will nicht 
fragen, ob sich das Brahmsche Wesen so fein und wohltuend etwa nur deshalb 
vorstellt, weil es sich von dem aufgeregten Hintergrund heutigen Schreibens über 
das Theater stark abhebt, denn solche Frage wäre Frage nach dem Menschlichen 
und indiskret. F. B. 

Erster deutsaSer Herßstsafon. — Von den 300 Nummern des Katalogs hätte 
ich an die 200 gern entbehrt und statt deren mit Vergnügen die besten der neueren 
Bilder von Meidner, Pechstein, Oppenheimer, Hädcel und einigen andern gesehen. 



Teststetfungen 



Denn die Kubisten interessieren midi nicht. Ich kann mir nichts melancholischeres 
denken, als was ich einmal bei Feldmann in Cöln sah: die Ausstellung eines leben- 
digen Künstlers, Picassos, drei Zimmer voll schöner, schöner Bilder und dahinter 
ein viertes, mit den letzten kubistischen Arbeiten gewürfelt, düster wie eine mit 
lehmfarbenem Mosaik ausgeschlagene Grabkammer, Picassos letzte »Periode« ! Ich 
sah mich um, ob nicht der Künstler in einer Ecke am Strick baumelte. Mich fror. 
— Neugierig, wie ich bin, habe ich eine Anzahl kubistischer Traktate mit Fleiß ge- 
lesen. Einige sind, stellenweise, hübsch geschrieben. Und wenn man sie gelesen hat, 
braucht man sich keine kubistischen Bilder mehr anzusehen. Man nickt und geht 
mit Respekt vor soviel anständiger Verbohrtheit weiter. Im Herbstsalon hing ein 
kubistisches Bild mit einem rosa Kokotten briefchen. das so recht in die algebraische 
Umgebung hineingepatzt war. Da blieb man denn wieder stehen und freute sich: 
Wie hübsch doch so ein hundsgemeines Rosa sein kann Eine frisch eingetroffene 
Ladung Tschechen wies ebenfalls solche Farbenve'leitäten auf. Man freute sich — 
und marschierte entschlossen vor die Farben, die Farben Kandinskys. Eine bren- 
nende Aprikosenblüte, von der wir, mit unsern Europäernerven, vielleicht von den 
kleinen, zarten Japanholzschnitten geträumt haben: etwas wie die große, glühende 
Apotheose eines Utamaro. Es ist das Liebenswürdigste von den Kompositionen, 
die dort einen einzigen brennenden Dornbusch bilden. Aber die andern sind wahr- 
scheinlich stärker. Kandinsky ist nun auf seiner Suche soweit vorgedrungen, daß 
seine Maieret nur noch eine Musik in Farben scheint. . . Vor bald hundert Jahren 
haben die Romantiker begonnen, davon zu sprechen. Kandinsky hat es als erster 
erreicht: Alles Gegenständliche ist aufgegeben, man erkennt von irgend welchen 
»Vorlagen« nicht mehr, als etwa in einem Stück absoluter Musik an Nachahmungen 
(Vogelruf, Geräusch) auftaucht. Aber bitte: vor Nachahmungen dieses genialen 
Einzelfalls sei flehentlich gewarnt . . . 

Die andre Säule des Herbstsalons: Franz Marc. Der Salon hätte das eine oder 
andre seiner älteren Bilder zeigen sollen. Es ist immer reizvoll, nicht nur Bilder, 
sondern auch ein Stück Entwicklung zu sehen. Der Weg Franz Marcs ging vom 
Dekorativen ins Seelische. Er begann damit, daß er Tiere malte, wie eben ein 
Maler Tiere malt, jetzt erzählt er von ihnen. Mit franziskanischer Liebe. Wie die 
heilige Katrei vor Meister Ekehart ausrief: »Herr, ich bin Gott geworden!« so 
könnte man von Franz Marc sagen, er sei Tier geworden. . . »Was,« ruft Fitze- 
butze, der Räsonneur der jüngsten Malerei ergriffen aus, »was heißt das! was hat 
das mit Malerei zu tun?« — Es gibt Künstler, bei denen das Handwerk gar keine 
Rolle mehr spielt. Nicht, als ob sie es verleugneten. Aber ihre Inbrunst ist so groß, 
daß die ergriffene Seele das sonst so lüsterne Auge betört und das Gesicht dem 
Gefühl hörig macht. Die Bilder von Franz Marc: Wälder voll ausschreitenden Lieb- 
reizes und schlank gewachsener, nein, noch im Wachstum sich streckender Kraft, 
seine Tiere noch ganz in die Schöpfung versponnen, — saftig, leuchtend, stark. Und 
ich finde diese Inbrust eines Intellektuellen ergreifender, als etwa die rührende Un- 
geschicklichkeit des Zöllners Rousseau — den sie schlucken mit Haut und Haaren: 
verständnisvoll. R. S. 

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Teststeffungen 



Tranf Wede/find, Gesammelte Werte. Sechs Bände. Münden, G. Müffer. Der 
sechste Band enthält Wedekinds letztgeschriebenes Werk, die Simson-Tragödie — 
von ihr aus muß, wer immer über dieses Dichters Schaffen urteilte, den Weg zu- 
rüdegehen und ihn noch einmal und wieder erleben. Führt er auch immer noch über 
Gipfel nicht nur, sondern auch über Niederungen: W. steht durch diese Tragödie 
dieses höchste erreichte Ziel, in einem andern und bedeutungsvollen Licht. Wer 
diese Tragödie schreiben konnte, dem bedeutete das Dichten nie die gelegentliche 
Übung eines schönen Talentes, dem war es von tiefsten Sinn bewegter Wille auch, 
mehr einem Volke sein zu müssen, als ein irgendwelcher Schönmacher. Dieser Mann 
hat mit ganz andern Dingen noch gerungen als mit, sagen wir, seinen ,, Stoffen", 
der trug noch andere Lasten als die angenehme Bürde des Talentes,- der hat, nicht 
vom künstlerischen Asthma gequält, das Leben ganz anders bei den Hörnern ge- 
nommen als die sog. Naturalisten das, was sie als das Leben vermeinten. Wedekind 
ist der größte Dichter dieser Zeit, weif er auch ihr leidendster Mensch ist, der sich 
dichterisch äußerte. Keine Zeit verträgt ihre Großen: aber manchmal anerkennt sie 
sie negativ: die unsere hätte Wedekind gar zu gerne verhungern lassen. Um dem 
zu wehren sang er seine Lieder zur Guitarre auf dem Podium. Da sagte man schnell: 
ein Clown, ein Variete! und wollte sich ihn so vom Halse scharfen, da er schon 
nicht materiell auszuhungern war. Also erklärte man, sein Geld sei falsch. Aber er 
hat den Sieg behalten. Damit, daß er nichts sonst tat, als immer stärker der zu 
werden, der er war. Er wurde nicht billiger, im Gegenteil! Aus dieser ethischen 
Härte sprang der Simson, eine Tragödie, wie sie die Deutschen seit Kleist nicht 
besaßen. Mit welchem Namen nur ein Zeitpunkt fixiert sein soll, kein Vergleich, 
bei dem Simson über den Homburg sowohl wie über den Guiskard den Sieg ge- 
wänne. Den Einwurf Hebbel meint man doch wohl nicht ernsthaft. — Auf den 
ersten Seiten dieser Zeitschrift war gesagt worden, die moderne Literatur hätte uns 
nur Bücher gegeben, aber kein Werk — dieses Urteil ist in einem Falle, aber nur 
in dem einen, als unzutreffend zu bezeichnen. Wedekinds Schaffen gab ein Werk. 
Hat es die Risse und Schründe seines Urhebers, so seien wir beglückt davon, daß 
sich hier nie einer versiellte und anders tat als er war. Daß er noch unter einem 
andern Schicksal steht als dem des Dichters, das legt ihn uns besser ans Herz, ver- 
binde t ihn stärker mit dem Menschheitlichen noch. Übrigens: auf keinerlei Grup- 
pierungen oder Einzelschulen der sogenannten „Moderne" fällt auch nur die Spur 
eines Verdienstes um diesen Dichter Frank Wedekind. Die „Moderne" kann sich 
ihn mit nichts zuschreiben. Er ist Einer ganz für sich immer gewesen, hat bei keinem 
ästhetischen Programm Schulden gemacht. Warum erkennt es kein Theaterdirektor 
als seine größte Pflicht (die vielleicht auch sein bestes Geschäft ist;, Wedekinds Werk 
zu spielen, nicht dieses oder das, sondern jedes? Nicht nur die deutsche Schaubühne 
würde dabei gewinnen. F. B. 

Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters In deutschen Versen von Paul 
von Winterfeld. C. H. Bedi Münden. Der umfangreiche Band ist aus dem Nach- 
lasse W.s von Hermann Reich, dem Verfasser des gedankentiefen Mimus -Werkes, 
herausgegeben und eingeleitet. W. war ein etwas genialischer Mann mit einem St offwissen 



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Teststeffungen 



auf seinem Gebtete der mittellateinischen Philologie wie es in gleichem Umfang, 
und, man kann das bei ihm « irklich sagen, in gleicher Tiefe Wenige besitzen. Nicht 
ganz zü seinem Glücke übte er auch ein kleines versifikatorisches Talent, dessen 
Zeugnisse als Lyrik anzusprechen, nicht anginge. Einer von jenen Dilettanten war er, 
die Gefühle haben und gar keine Anschauung, keine innere Figur. Dieser dichternde 
Zustand, diese leichte Banalität des nichts als Gefühligen, das schon Wunder was 
auszudrücken meint, wenn es Seelenschmerz sagt, kommt auch in diesen Ober* 
tragungen überall dort zum Vorschein, wo die unbedeutende Vorlage solches Dichten 
unterstützt, verschwindet aber zum Glück in den starken Stücken, wie dem Wal« 
tharius, dem Notker, ganz. W., ein feinorganisierter Mensch, merkte wohl hier die 
Distanz und zog nicht in den engen Kreis seines Vermögens was nicht hineinge- 
hörte. Sicher ist auch dieses freundliche Resultat nicht an solchen sprachschöpferischen 
Phänomenen wie etwa Rudolf Borchardt zu messen, auch nicht an geringeren als 
Borchardt, wie Vesper, aber es ist auch keineswegs in die Gegend zu stellen, wo 
sich Fuldas Meier Helmbrecht aufhält. Im Ganzen eine respektable Arbeit, die kaum 
ein anderer unternehmen wird und die immerhin ein Bild von der Art der Dichtung 
gibt, die, schon deutsch im innern Wesen sich lateinisch ausdrückt, in welchem Um« 
stände schon das Urteil liegt, daß das wahrhaft Große zu schaden ihr nicht be« 
schieden sein konnte. Denn diese Dichter übersetzten sich selber, gaben ihr eigenes 
dichterisches Element auf. B. 

Sören Kierkegaard und die PSifosopßie der InnerßaSfeit. Von TSeodor Haeafer. 
MünaSen, J. F. SaSreißer. Von der Bedeutung Kierkegaards wisse die heutige 
Zeit nichts, was nichts gegen die Wirkung und Bedeutung ausmache, doch aber 
bliebe es die Aufgabe des philosophischen Menschen und sein Stolz und sein Glück, 
ein lebendiges Sein in ein lebendiges Wissen zu heben und dort zu sichern. Das 
unternimmt der Verfasser in seiner oft bis zum Schimpfen temperamentvollen Schrift, 
die nicht nur zeigt, daß er mit Nutzen Schelers Collegien gehört hat und auch sonst 
eine vortreffliche Erudition besitzt — ohne Spur gelehrter Pedanterie — , sondern 
auch hellen Sinn für Leben und Zeitdinge und stolzen Mut zu Urteilen, deren 
Gründe oft tiefer liegen als im bloß Intellektuellen. Vortrefflich ist alles gegen den 
Monismus, Mauthner, Naumann, ästhetisierende Kunstüberschätzung, Systemethiker, 
vortrefflich alles für Bergson, Strindberg, Dostojewsky, Kraus Gesagte: zu all dem 
kann man nicht anderer Meinung sein als der Verfasser. Wohl aber im Hauptthema. 
K. hat nicht nur das vollständigste Buch über sich selbst in allen seinen Büchern 
geschrieben, das alle Bücher anderer überflüssig macht, sondern er hat überhaupt 
nichts anderes geschrieben als sich selber/ er ist das einzige Thema seiner Bücher/ 
alle Wege, die er geht, sind freiwillige Umwege zu sich selber,- er kommt immer zu 
sich selber zurück: kommt nicht zu Gott, schleppt Gott in seine Höhle/ er war 
Sokrates noch einmal und ein Dialektiker von solcher Inbrunst, daß es ihm sogar 
den religiösen Charakter geben konnte, ihm, der nur im Sinne des protestantischen 
Paradoxes religiös war, dessen genialer Zu- Ende- Denker er war und dessen defini- 
tiver Erlediger. Womit die große Bedeutung Kierkegaards keineswegs historihziert 
werden soll! Was übrigens auch damit geschähe, wenn in Erfüllung ginge, was der 



Tiststeffungett 



Verfasser 'wünscht: daß ihn die Philosophen berücksichtigen mögen. Ich vermisse 
meinerseits K. gerne in den Systemen der berufsmäßigen Lehrkanzler/ bei den wenigen 
heutigen Denkern ist er sicher existent, und für mich muß ich zum Verfasser be- 
merken, daß ich vor 23 Jahren — ich war ein junger Student — zum erstenmal 
Entweder« Oder las (der Titel des Buches zog mich in den Laden, in dessen Fenster 
das Buch lag) und daß mir seitdem zum immer stärker drängenden Erlebnis die 
Existenz dieses aufregenden Ingenium wurde, wenn es mir auch nicht gelang, dieses 
Erlebnis in höherem Maße auszudrücken, als es nach meinem eben nicht sehr großen 
Vermögen geschah. In all der Zeit war mir K. stärker als irgend sonst was die 
laute Mahnung des Christentums, die nicht immer deutlich gehörte, aber nie nicht 
gehörte. Keinem bin ich mit meinem inneren Leben stärker verpflichtet. Der Leser 
entschuldige diese allzupersönliche Bemerkung zum Verfasser hin, der, wie manchmal 
zum Schimpfen, so manchmal auch in das Mißtrauen des snobistischen Entdeckers 
fällt, der auf seine Primeurs eifersüchtig ist und da vielleicht lieber glauben möchte, 
man hätte sich die Kenntnis Kierkegaards mit schnellen Fingern erst kürzlich aus 
des Verlegers Diederieh großem Kulturbottich gefischt, in dem neben Horneffer auch 
Kierkegaard schwimmt — beides, wie der Verleger schwört, zur Rettung des deutschen 
Geistes und dito Seele. — Ich muß noch eine unanständige Bemerkung des Ver- 
fassers abweisen. Er schreibt in einer Anmerkung: „Die Gedanken Claudels sind 
schon dadurch verdächtig, daß sie von Franz Blei in Deutschland eingeführt werden. 
Was aber seine Dichtung angeht ..." Der Verf. will so Claudel durch mich er- 
ledigen und gibt mich summarisch noch dem Käufer seiner Meinung drein. Es 
schmeichelt mir, daß Verfasser mich bei seinen Lesern nicht nur überhaupt als be- 
kannt, sondern sogar als sehr fixiert bekannt voraussetzt. Was er aber für die 
Prägung einer kurrenten Münze hält, dürfte doch wohl nur ein recht fades über- 
nommenes Klische sein, das sich die schnell arbeitende Journaliere für ihren Bedarf 
fertigen muß/ die Zeitungsleute haben ein Recht darauf, das nicht zu kennen oder 
zu verstehen, worüber sie ein Urteil abgeben gegen Zeilenhonorar. — Unanständig 
ist es vom Verfasser — nicht, daß er mich nicht kennt natürlich, aber daß er Claudel 
durch den diskreditieren will, der zuerst (vor fünf Jahren!) zwei außerordentliche 
(moderne, nicht „mittelalterliche") Dramen von ihm übersetzt hat. Denn nur das 
geschah — Gedanken Claudels (die ich nebenbei gar nicht bedeutend finde) habe 
ich nie „eingeführt". Der Verfasser scheint übrigens nur die „Verkündigung" zu 
kennen, anders würde er nicht so Einfältiges über den Dichter sagen, den, wie es 
in einem Programmbuch von Hellerau geschah, einen neuen Dante zu nennen natür- 
lich ebenso einfältig ist. Auch dieses Hellerauer Claudel-Buch kennt der Verfasser 
noch, in dem einige, und wie ich glaube, meist jüdische Verfasser über Claudel sich 
geäußert haben, wozu der Verf. bemerkt: „Was in Deutschland um Claudels Namen 
herum entsteht, ist etwas sehr Merkwürdiges: ein literarisch- jüdischer Neokatholi- 
ctsmus ohne jede wahrhaftige innere oder auch nur äußere Tradition . . . Spaß- 
katholiken, Gimpel, Hanswürste, Leichenräuber und Aasvögel." Der Verf. sieht zu 
schwarz. Die paar entwurzelten Juden, die vielleicht Neigung zeigen, in eine bet- 
bruderhafte Verblödung fallen zu wollen, oder die paar poveren Christenjünglinge , 



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*Feststeffungen 



die ihre traurige Dichterei um kleine Heilige, Kardinäle und schöne Beichtkinder 
mäßig ausschweifen lassen — ist das eine Zeirerscheinung, die auch nur irgendwas 
mit dem Glauhen zu tun hat, für irgendwas symptomatisch wäre als dafür, daß 
irgendwas heutzutage immer bei Hohlköpfen und «Herzen Mode wird für eine We.le? 
Wäre das mehr, dann könnte man auch das Tangoranzen an den Nabel der Welt 
binden. Aber die heute viel geübte Lust zu schimpfen ist so Passion geworden — 
mit so nachlassendem Denken — daß sie sich auf die skurilsten Objekte stürzt und 
deren Wichtigkeit übertreibt, nur um sich Genüge zu tun: die fünf Schimpfworte 
des Verfassers geben den ganzen fünf „Neokatholiken" eine Existenz, die sie vor* 
her sicher eher zu bezweifeln als zu behaupten geneigt waren. F. Blei 

Trüfdristiicße Apo-ogeten. Aus dem GrieaSisaSen und Lateinischen Erster 
Band. Mü iaSen, J. Kösef. — In der bekannten und sehr geschätzten Bibliothek 
der Kirchenväter erschien dieser Band als der 12., in der Reihe der frühchristlichen 
Apologeten als der erste/ er enthält als die wichtigsten Stfidce die Apologien des 
Aristides und Justins des Märtyrers, des Tatian Rede an die Bekenner des Griechen- 
tums und des Athenagoras Bittschrift für die Christen/ in sehr gewissenhaften Ober* 
Setzungen (von Rauscher, Julius, Kukula und Eberhard) und mit allem gelehrten 
Notenapparat. Was diese Dokumente für die Geschichte der christlichen Dogmatik 
so wertvoll macht ist, daß ihre Verfasser Heidenchristen waren, welche, in griechischem 
Kulte erzogen und in der alten Philosophie gebildet, erst in der zweiten Hälfte 
ihres Lebens Christen wurden, nicht immer zum Vorteil der Kirche, in die sie nicht 
nur die Heftigkeiten der Frischbekehrten hineintrugen, sondern auch vieles von dem 
Sektengeiste, der ihnen aus der heidnischen Zeit anhaftete. Die Kirche brauchte 
Jahrhunderte um das Phantasma der orientalisch*ch istlichen Derwische zu verdauen. 
Diese Verdeutschung der Dokumente gibt dem gebildeten Leser die sehr zu dankende 
Möglichkeit, Dinge, über die er sonst nur lesen konnte, selbst zu lesen. Heute 
sind die Mystiker Mode, — es wäre für das Denk n d»r aus geistiger Insuffiziens 
für Seuse, Bergson und Mme Guyau Schwärmenden <und nichts als Schwärmenden) 
sehr gesund, sie begäben sich in die härtere Schule der Patres,- Staat und Mode 
ist allerdings mit diesen Herrschaften nicht zu machen, denn von ihnen führen keine 
leichten und gefälligen Wege ins Gefühlige, sondern steile und weite ins Geistige. 
Der Augenaufschlag und das Wortspiel tun es da nicht/ ein zart plätscherndes 
Salongespräch geben sie nicht her/ und einer blassen Erotik esoterischen Charakters 
kann man mit Justin kein hektisches Rot auf die Wangen zaubern wie es den 
Alamodeschwärmern mit Heinrich von Nördlingen gelingen soll. Aber wer weiss? 
Denen, die heute alles befingern, gelingt vielleicht auch, die Kirchenväter zur Mode 
einer »geistigen Bewegung« zu machen. B. 

Rudoff Hans BartsaS, Vom sterbenden Ro/tofo. Mit Lithographien von 
Hugo Steiner, Leipzig, Staaafmann. — Der Verleger schickte mir das Buch persönlich 
wohl in der Meinung ich verstünde was besonderes vom Rokoko und vom schönen 
Buch. Ich hatte dadurch zum erstenmal Gelegenheit, etwas von Bartsch zu lesen, 
der eine angenehme Unterhaltung bietet, wenn man die Unterhaltung aus Büchern 
denen mit einer Frau vorzieht, zu denen Leuten ich allerdings nicht gehöre. Ich bin 

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Teststeffungen 



nicht für unterhaltend« Bücher, was nicht heißt, daß ich die langweiligen liebe. Idi 
bin eher für unterhaltende Frauen, was nicht heißt, daß ich die amüsanten liebe 
Das Buch ist sehr schön gedrudtt, aber die Zeichnungen von Steiner verderben es. 
Sie sind, man weiß nicht weshalb, auf den Stein gezeichnet ohne eine Spur vom 
besonderen Reiz der Lithographie und ohne den geringsten Verstand des Zeichners 
dafür. Peinliche Zeichnereien mit harten Farben koloriert, fein ausgeführt wie Eti- 
ketten auf Weinflaschen. Kein Schattenstrich ist vergessen. Um den Geist zu ka- 
pieren, in dem heute einer das Rokoko künstlerisch geben kann, sei dem Zeichner 
Karl Walser empfohlen. Um zu erfahren, was eine Lithographie ist, möge er sich 
Bonnards Daphnis und Chloe ansehn oder Klossowskis Li i hos zu Meier Gräfes 
Orlando und Angelika, welches famose Buch (bei P. Cassircr erschienen) auch dem 
Verleger Staackmann zeigen wird, wie man derlei macht. Ich glaube nur nicht, daß 
die Autoren dieses Verlages das Besondere einer Ausstattung nötig haben. Sie werden 
dadurch nicht besser, sondern durch die Pretension der Darbietung schlechter. F. B. 

karf ScBefffcr, Itafon, TageßucB einer Reife, mit 118 Voffßifdern, Infefverfag 
1913. — Ein Deutscher, dem deutschen Wesens Errettung aus hohlem Scheindasein 
am Herzen liegt, sucht auch im Süden Wegweiser, die ihm neue Wege zeigen und 
alte bestätigen sollen. Die Enttäuschung ist furchtbar. Zwar findet er in antiker 
Architektur Gewähr für die Richtigkeit des heute angestrebten sachlichen Stils und 
schon in Verona wölbt sich ihm die Brücke über Jahrtausende hinweg Dafür aber 
wird ihm die Renaissance zum konventionellen Renommierstil. Selbst in den stärksten 
Werken, dem Gattamalata, dem Colleoni. wittert er den Anfang des schmählichen 
Endes, das unsere Zeit bedeutet, und gegen Raffael empfindet er einmal gar das 
Gefühl des Hasses. 

Erstaunt fragt man sich, wie ein Deutscher so überrumpelt werden kann, da doch 
den Deutschen die Kunst Italiens geläufiger zu sein pflegt als ihre eigene Die Er« 
Klärung Schefflers reicht nicht hin, daß den in Deutschland isoliert stehenden Werken 
zuwachse, was Konvention daran sei, während in Italien ihnen in der ungeheuren 
Gemeinschaft jede Physiognomie abhanden komme. Denn was zuwächst, ist Reich- 
tum des Geistes, nicht des Herzens. Die Leere, die Scheffler immer wieder fröstelnd 
empfindet, war auch in Deutschland. Es ist also doch wohl so, daß auch Scheffler 
das typisch deutsche Schicksal ereilt, nur umgekehrt. Die Sehnsucht treibt auch in 
ihm eine Idee herauf. Während aber die meisten nicht die Kraft haben, die Ideen hoch 
genug zu treiben, und schließlich mit dem Ideal einer schönen Eleganz sich abfinden, 
läßt Scheffler nicht ab von der Forderung seelischer Werte und an ihr muß das 
italienische Mach-Werk grausam scheitern- 

Diese Umkehr aber ist nicht so selten, wie Scheffler meint. Er hatte nicht nötig, 
sich so nachdrücklich zu rechtfertigen. Denn die Gemeinde derer, denen dieses von 
Herzen kommende Buch zu Herzen gehen wird, ist immerhin recht ansehnlich und 
alle, in denen die Fülle der deutschen Sprache und die Wahrhaftigkeit der deutschen 
Kunst noch lebt, wird das Italienische zwar irgendwie mitreißen, aber auch irgend- 
wie erkälten. Wer aber erst Wege deutscher Zukunft sucht, wie kann er in den 
südlichen Provinzen zureichendes Gelände finden? Es sei denn, daß zweierlei ihn 



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Teststeffungen 



reizt: Die Sympathie der grandiosen Selbstverständlichkeit antiker Profanarchitektur 
und die Kontrastierung welsdien und gotischen Wesens, wie es in Italien nicht nur 
die Werke der deutschen, sondern vor allem die deutsch beeinflußten älteren Meister 
möglich machen. 

Dies findet denn auch Scheffler Dabei ist aber nicht so sehr das Historische von 
Bedeutung: die hypothetische Brücke von der Antike zur Gotik läßt sich geschieht' 
lieh wohl kaum halten. Sondern das Theoretische. Denn wenn auch Wörter wie 
gotisch, faustisch, kolossalisch, artistisch, sentimentalisch manchen Leser nicht viel 
mehr als Wörter bleiben werden, so ist dodi der Kern durchaus wesenhaft: die 
Kunst der Sachlichkeit gegen die Kunst der Illusion, die Kunst des Herzens gegen 
die des Temperaments, Wahrheit gegen Eleganz. Da treten dann die Griechen in 
toto, von den Römern die Profanarchitektur und die Bildniskunst, die frühesten Ita- 
liener, die altdeutschen Meister, die Niederländer, die neueren Franzosen auf die 
eine Seite und dem griechischen Tempel fügt sich sozusagen das gotische Fenster 
ein. Auf der andern Seite aber steht, mit gesundem Menschenverstand und in der 
geschickten Dekoration der Oper, das Wesen der italienischen Renaissance, eine 
elegante Aufmachung der Antike für den italienischen Salon. Drei Männer aber 
bleiben, kämpfend und fast grollend, abseits: Leonardo, Michel Angelo, Tintoretto, 
Geister des gotischen Ideals in der Umwelt des Renaissancehaften. 

Dieser Schluß, den ein Deutscher mit der ganzen Kraft seines Herzens zieht, 
macht das Buch so wertvoll, daß man es jedem männlich denkenden zur ernsten 
Lektüre wünschen möchte. W. K. 

BEI DER REDAKTION GINGEN EIN: 

Aus dem Verlage Hermann Barsdorf, Berlin : A. J. Storfer : Marias Jungfräuliche 
Mutterschaft- 

Aus dem Verlage Georg Müller, München: Denkwürdigkeiten des Kardinals von 
Retz, herausgegeben von Benno Rüttenauer, drei Bände/ Jean Pauls Persönlida- 
keit, herausgegeben von Eduard Berend,- Brentano: Aloys *<£> Imelde. 

Aus dem Insel- Verlag: Schurig: W.A.Mozart, sein Leben und sein Werk, zwei Bände. 

Aus dem Mercure de France, Paris: E. Pilon: Portraits de sentiment/ C. Culmont, 
La Poesie Francaise du Moyen-Age. 

Aus dem Verlage Nouvelle Revue Francaise, Paris: J. Renard: 1'oeil clair/ Pierre 
Hamp: 1'enquete,- du Gard: Jean BarotS/ C. L. Philippe: Charles BlanoSard. 

Aus dem Verlage Charpentier, Paris, Pawlowski: Voyage au Paris de la 4 C dimension. 

Aus dem Verlage Oesterheld, Berlin, Kobor: Der Preis des Lebens. 

Aus dem Verlage A. Juncker, Berlin, Wied: Pastor Sörensen. 

Aus dem Verlage Bruno Cassirer, Berlin: Die Plastik der Ägypter. 

Aus dem Verlage E. Rentsch, München, Rene Beeh (M. Barka) : Maierbriefe aus Algerien. 

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Testsieflungen 



FESTSTELLUNGEN 

Egmont Seyerfen. Die 5<£merz(icf>e Scham. Die GesSiSte eines KnaBen um 
19oo. BerDn, S. Tistßer. Soziabel sein heißt auch nachgiebig sein. Man ist es 
manchmal sogar dort, wo man es um keinen Preis sein sollte: in den Künsten. Lobt 
Dinge, die halbgelungen sind, aus einer schlampcrten Höflichkeit heraus oder aus 
Scham darüber, daß im Grunde alles, was da geschrieben wird, so gar elend und 
ein bißdien weniger Elendes schon eine kleine Freude ist. Der immer lebhafte Wunsch, 
daß etwas über alles Maß vortrefflich sei — was in den Künsten allein zählt — 
betrügt sich oft, tut, als fände er sich erfüllt, um — weiter die Hoffnung zu nähren. 
Der Roman ist das Schmerzenskind der deutschen Literatur. Der Deutsche faßt sein 
Weitbild lieber in die lyrischen und musikalischen Formen, isoliert wie er sich, nicht 
aus Tugend, sondern aus Not, gern gefällt und individuell, wie er sich gerne hat. 
Er ist gerne bei sich allein, sein Zugehörigkeitsgefühl zu den Menschen ist nur 
theoretisch, praktisch stuft er sich, verhält sich, verabstandet sich, wird sozial, besten- 
falls soziabel, menschlich nie. So fällt auch der deutsche Romandichter, wenn er 
nicht fremde Muster kopiert, gern ins Vage/ füttert die Landschaft mit seinen Ge- 
fühlen auf/ stopft seine Menschen mit seinen Psychologien voll, die tramer ihre 
Herkunft vom Autor betonen/ redet zu seinem Text zu viel und meist ohne Welt- 
kenntnis, ohne Weltbild, was zu haben man vom Romandichter schließlich verlangen 
muß, denn er hat es nicht mit sich, sondern mit der Welt zu tun. Gut räsonnieren 
konnte von den neueren nur der verstorbene Knoop,- wenn er es auch ein wenig 
trocken tat, ließ man es sich doch gefallen, denn ringsum gab es des Gefühligen 
allzuviel und mediokren Geistes auch. Dann gab es die vortrefflich gefaßte Familien- 
geschichte der Buddenbrooks, deren leitmotivische Hebungen nur besorgt machten 
für das von diesem Verfasser Kommende: daß es ihm in seinen Büchern immer an 
so einer „dichterischen" Extratour belieben möchte, an so einer lyrischen falsch- 
tönenden Begleitstimme, die den Stoff des Romanes adeln soll? Oder wie? Es ist 
nicht einzusehn, warum der Romandichter sich noch eine Extralegitimation als Dichter 
damit geben muß, daß er mit der Linken eine kleine Harfe im Diskant zupft. Er 
ist dann eben nicht bei seiner Sache, nicht in ihr, nicht von ihr durchdrungen: er 
vergißt sich nicht und hat keine Ehrfurcht. Geschlinge, das nur eine künstliche und 
nicht Leben gebende Luft aufblies, waren H. Mann's Romane von der Herzogin, 
bis in der Kleinen Stadt sein Wesen den Boden fand, worauf fest stehen. Hier glückte 
das Artificum vollkommen, die schillernde Bewegtheit des musivisch zusammen- 
gesetzten Bildes ließ gern übersehn, daß keiner dieser Menschen seine eigene Kontur, 

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Teststeffungen 



sein eigenes Bewegungsgesetz hatte. Darum heißt es auch die kleine (pointellierte) 
Stadt. Der Verfasser des Wilfeber wird sein Buch wohl selbst nicht als einen Roman 
wollen/ hier wird mit deutschen Zuständen abgerechnet von einem starken zornigen 
und begeisterten Menschen, was wichtiger und wertvoller ist, als das formal Roman- 
hafte, das entlehnt und ein Vorwand ist, an den Leser leichter mit den Dingen zu 
kommen, die ihm zu sagen sind. Dann noch Hauptmanns Quint: ein Werk, das 
der Dichter schon als junger Mensch in sich trug („der Apostel") und das so zu 
einer Stärke auswuchs wie keines sonst. — Unter den hier genannten Büchern (an- 
dere sind nicht zu nennen) steht eines abseits und darüber: Musils Verwirrungen, 
die eine neue Welt in die Welt stellen und nicht die alten Kunstbestände variieren/ 
Ein schlankes Buch ohne eine überflüssige Zeile/ zusammengehämmert auf die größte 
Dichtigkeit/ auf einer Höhe der Intellektuafität, die bis dahin von keinem deutschen 
Romane erreicht oder auch nur erstrebt wurde. — Solche Betrachtung dem Roman 
von Seyerlen vorausschicken, heißt ihn bedeutungsvoll finden,- und er ist es nach den 
beiden Seiten hin, nach der schlimmen und der guten. Als ein Ganzes nicht etwa 
mißlungen, sondern irrtümlich von Haus aus, enthält er einige Male zehn bis zwanzig 
Seiten ersten Ranges. Ais Ganzes arbeitet er den Restbestand des Entwicklungs- 
romanes auf, der vor Jahren einmal in der Fassung Hesses bürgerlich entzückte/ 
Lebensgeschichte, in der alles viel zu eitel und auf den Helden bezogen, vom Helden 
aus gewertet wird/ Parteilichkeit des Zwanzigjährigen. Tausend Details werden mit 
längst faliter Psychologie ins Breite gezogen, weil sie sich — von der psychologistischen 
Einstellung aus — auf kein anderes Niveau bringen lassen. Hier also Abweg, Vor- 
irrung, Irrtum, Jungdeutschestes. Aber dann: die Episode des Kinderfräuleins, die 
andere der Schauspielerin, die Schwester des Gutsherrn, das Pferderennen: das ist 
gar nicht mehr autorliche, sondern dichterische Darstellung/ ist gar nicht mehr in- 
tellektuelles Nacfagebären, sondern köstliche Frucht mit schöner Kraft aus dem Leibe 
gestoßen. Seyerlen ist 24 Jahre alt, seiner Jugend sei verziehen (wenn auch heute 
nicht mehr erlaubt) daß er glaubte, die psychologischen Sandsäcke schleppen zu müssen ! 
sei dies und anderes verziehen, um der großen Seiten seines Buches willen. Er 
wird wissen, was das Leben lebenswert macht, und nicht mehr Kraft und lang- 
weiligen Fleiß daran vergeuden, das Zeug alles hinzuschreiben, was das Leben nicht 
begehrenswert macht. Die Kunst ist kein Spiegel des — wie man so sagt — Lebens, 
sondern, wenn schon einer, des Lebens. Die psychologischen Proben darauf, daß 
zwei mal zwei vier ist: das ist ein Besitzgut des Familienblattromanes. In dem 
Leben, das wir meinen, ist zwei mal zwei immer fünf. F. B. 

Jean Paulis PersönfiaSßeit/ zeitgenössisaSe Beridite, gesammeft und Serausgegeßen 
von Eduard Beßrend. Mit 15 BifdßeigaBen. Müncßen, G. Müfler. — Eine große 
Liebe zu diesem Dichter der Himmel und der Abstürze wird es schmerzlich emp- 
finden, daß die heutigen Deutschen ihn nicht lesen und wird das zu ändern versuchen. 
Der Inselverlag tat das auf dem ehrlichen Wege einer Neuausgabe: Der Schul- 
meisterreise aus dem Quintus. Aber zu dem für den heutigen Geschmack eingerich- 
teten und bearbeitenden Titan, welche Schändung einer übernahm, der sich einen 
Dichter selber nennt, hätte der Verlag nicht zustimmen sollen. Wer den Titan nicht 

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Teststeffungen 



liest, hat sich das selbst zuzuschreiben, nicht dem Buche. Die schönste Erinnerung 
an den Dichter ist dieses Buch von Behrend, das Gedrucktes und Ungedrucktes über 
seine Persönlichkeit aus zeitgenössischen Quellen in vortrefflicher Zusammenstellung 
enthält. „Ich bin nicht der Mühe wert gegen das was ich gemacht habe", meinte 
Jean Paul ebenso bescheiden wie stolz, und man muß seiner Bescheidenheit recht 
geben. Trotzdem werden alle die wenigen, die das, was er gemacht hat, noch lesen, 
sich gerne über den Menschen unterrichten lassen, der so außerordentlich sympathisch 
etwas wie ein sublimer Philister ist im Vordergründe seiner Existenz. F. 

Ernst Stadfer. Der AufBrudy. Vertag der Weissen BücBer, Leipzig. — Aus 
dem eigenen Ich und aus dem Gefühl der anderen zu sprechen: dazwischen scheint 
dem Dichter die Wahl gestellt, — daß er sie aber nicht trifft, macht ihn zum Dichter: 
er allein kennt das Feld zwischen beiden. Dennoch verrät er sich oft durch Nach- 
barschaft. Auf die stammelnde Ich-Lyrik setzte George den Trumpf eines Gegensatzes. 
Unsere Lyrik ist zwischen den Extremen hin- und hergeschleudert worden, die uns 
mehr über ihre äußersten Möglichkeiten belehrt haben als in der Kenntnis ihrer 
innern Fähigkeiten bestärkt. Nicht so diese Gedichte. Stadler gab bereits Über- 
setzungen von Jammes heraus (bei Kurt Wolff): der seltene Fall einer dem Ori- 
ginal weit überlegenen Schöpfung, denn das billige Franziskanertum Jammes' hat 
bei Stadler echte Töne bekommen. Diese Übersetzung stammt wohl aus der Zeit 
der letzten Gedichte des »Aufbruchs«, die für sich hätten erscheinen sollen, unab- 
hängig von den früheren, deren Gehalt noch oft erzwungen scheint, wenn auch die 
Form schon sicher sich gibt. Die neueren Gedichte aber haben nichts vom Expe- 
riment, jenen willkürlichen Schwerpunktsetzungen, in denen eine artistische Über- 
fähigkeit sich heute ausbreitet. Diese Gedichte stammen aus der geläuterten 
Atmosphäre eines Lebens, das selbst in seinen tiefsten Abhängigkeiten eingedrungen 
ist und sich in sie ergab/ es sind keine religiösen Gedichte, aber sie sind fromm, 
sie sind keine diskutablen Gedichte, aber sie sind vollkommen einnehmend, es sind 
nicht einmal gedruckte Gedichte, sondern die Gedichte einer Stimme, sind nicht ein- 
mal gedichtete Gedichte, sondern notwendige Zufälle aus einem getragenen Leben. 
Es besteht die Manier, nach Erfüllungen solcher Art Erwartungen auszusprechen, 
aber hier wäre das falscher noch als sonst/ es hieße das ein Leben voraussagen, in 
dem alles was wir Zielen Untertan kennen nur Begleitung ist. R. G. 

CBarfes Louis Pßifippe, Gesammefte Werte. JeSs Bände. Herausgegeßen 
von Wifßefm Südef. Egon TfeisSef et de., Berfin. — Dem zu früh verstor- 
benen Dichter, den das heutige französische Schrifttum als einen seiner Besten hält, 
wirbt diese Ausgabe, der leider der Blanchard fehlt, eine Gemeinde, die ihm aus 
unsern besten Lesern zu wünschen ist, jenen etwa, die Max Brods Tschechisches 
Dienstmädchen oder Sternheims Busekow lieben, zwei Arbeiten, die wir wegen ihrer 
in Deutschland so ungewohnten Beschränkung und Vereinfachung, die aus sich 
selber zur höchsten Steigerung des Auszudrückenden führen, so sehr schätzen. Mit 
den genannten deutschen Namen soll Verwandtschaft zu Phillippe nur insoweit an- 
gezeigt werden als hier wie dort eine strenge Sauberkeit waltet, Sachlichkeit und 
Hingabe ohne diese gewisse Nachhilfe, wie sie sich unbemittelte Autoren aus dem 

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TeststelTungen 



nie crscfiöpfbarcn Schatzhaus ihrer sogenannten Psychologien leisten. Bei Philippe 
ist ein Gefühl zur Menschheit waltend, das man früher einmal bei ihm mit Weiner- 
lichkeit verwechselt hat, bis man darauf kam, wie innerlich fest dieses Gefühl ist 
und wie gar nicht falscher, künstlerischer Notbehelf dazu, Dinge aufzublasen, denen 
mit Kunstverstand kein Atem gegeben werden kann, weil der Autor diesen 
Verstand nicht hat. Die Übertragung der Bücher durch W. S. ist gut lesbar. B. 

Die Memoiren des Herzogs von Sainf-Simon. ÜBersetzt von H. Tfoerfte. 
Zwei Bände. Mit Iffustrationen. Mündßen, G. Müffer. — Der Hof Ludwig des 
Vierzehnten. Nad) den Denkwürdigkeiten von Saint-Simon. Herausgegeßen 
und eingefeitet von W. Weigand. IOustriert. Leipzig. Insefverfag. — Daß aus 
den berühmten Aufzeichnungen des grausam-hart sehenden und richtenden Herzogs 
gleich zwei Ausgaben vor den deutschen Leser gestellt werden, möge ihn in der 
Wahl nicht schwankend machen: er kann beide lesen, denn beide haben ihre be- 
sonderen Meriten, wenn auch unserem Geschmacke die Ausgabe des Insel verlags 
mehr zusagt. Sie ordnet ihre Auswahl um den König als zentrale Figur, die sie 
ja auch für Saint-Simon war und noch über den Tod des Königs hinaus blieb: 
das giebt der Auswahl eine gute Lesbarkeit, ähnlich der einer Biographie- Die 
Ausgabe Müllers folgt den Memoiren wählend nach gutem Geschmack aus den 
dreißig Bänden der französischen Ausgabe, bringt das Abgerundete einzelner Porträts 
und das Pointierte einzelner Geschehnisse. Die Inselausgabe enthält in 168 Seiten 
Einleitung von Weigand eine sehr schöne Studie über Zeit und Verfasser der 
Memoiren, welche von Sainte-Beuves bekanntem Aufsatz, den Müllers Aus- 
gabe als Einführung bringt, nicht ersetzt werden kann. In dieser Bilder nach 
Stichen aus der Zeit, in Weigands Ausgabe meist Bilder nach Originalporträts 
aus Gailerien, ganz vortrefflich von Emil Schaeffer ausgesucht und beschrieben 

G. M. 

La Poesie Trancaise du Moyen-Age. Pecueif de Textes. Par C. Oufmont. 
Paris, Mercure de Trance. — Die Philologie ist eine deutsche Erfindung/ sie hat 
ihre Unarten <wie alles Deutsche), aber auch ihre Vorzüge <wie nicht alles Deutsche) ,• 
wo man sie mit einem guten weltmännischen Verstände angenommen hat, wie in 
England, (eistet sie meist vorzügliches/ wo man sie, wie in Deutschland, oft um 
nichts als ihrer selbst willen betreibt, leistet sie oft so Abstruses wie den Apparat, 
der sämtliche ortographische Verschiedenheiten sämtlicher Ausgaben eines Autors 
notiert, der zwischen 1830 und 1870 geschrieben hat,- wo man sie aber, wie in 
Frankreich, so gut wie gar nicht akzeptiert hat, gibt es nur zufällig eine gute Aus- 
gabe eines alten Textes und auf den einen Zufall kommen zwei Dutzend miserable 
Bücher ohne Wert. Man denke etwa an Ausgaben der Pleiade oder Theophiles 
oder Villons, um von älteren Literaturwerken zu schweigen, die, wenn überhaupt, 
von Deutschen ediert werden, wie in den Stuttgarter Publikationen des L. V. Dieser 
Jammer ging dem kenntnisreichsten und urteilsichersten französischen Literarhisto- 
riker A. van Bever zu Herzen. Von ihm stammt der Plan dieser Sammlungen älterer 
Literatur, die unter seiner Direktion veröffentlicht werden. Dieser erste Band reicht 
vom 11. bis zum 15. Jahrhundert/ die Texte sind genau/ die älteren Stücke werden 

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Teststeffungen 



in Obersetzungen beigegeben, den neueren Noten zu einzelnen Worten/ und die 
Auswahl ist vortrefflich / man bedauert, daß es nur 370 Seiten sind. Denn hier 
wurde im Dichterischen gewählt, unbestimmt vom landläufigen Urteil, das sich nach 
weiß Gott welchen pädagogischen Zielen bildete. Gäbe man bei uns irgendeinem 
Gymnasiallehrer die Aufgabe einer Anthologie mittelalterlicher Lyrik, man weiß 
von vornherein, er würde seinen ganzen Aufwand mit Walthcr betreiben und 
Nif hart wahrscheinlich ganz unterschlagen: das Vordrängen Walthers hat das üb« 
liehe Bild, das gefälschte unserer großen Lyrik zustande gebracht. Es täte uns das 
Buch not, das wie dieses französische unsere großen Dichter aufweist. Borchardts 
Aufgabe wäre das oder Buttes. B. 

Hans Brandenburg. Der moderne Tanz. Mit BifdBeigaßen. München, Sei 
Georg Müffer. — Bies großes Buch über die Historie des Tanzes, vieles Wissen 
mit Witz und Geist paraphrasiert, erfährt durch dieses Buch Brandenburgs etwas 
mehr als die nötigen Ergänzungen im Historischen, insofern es nicht nur die Ge- 
schichte des heutigen Tanzes enthält, sondern was wesentlicher ist, die Erscheinungen 
dieses heutigen Tanzes aus dem Ganzen dieser Zeit deutet, mit keiner andern Vorein- 
genommenheit als dieser durchaus zu billigenden, daß der Verfasser im Tanz die 
Befreiung, die so nötige, aus dem nichts als Intellektuellen und Nutzhaften, das 
unsere Zeit so knechtet, sieht. Sehr zu loben ist an dem Buche, daß der Verfasser 
sich ganz frei hält von nahliegenden lyrischen Exaltationen und ähnlichen Beiläufig* 
keiten, wie sie immer gern für unklare Gedanken lückenbüßend einspringen. Er bleibt 
sachlich und versteht es, seinen Gedanken eine plastisch deutliche Form zu geben, 
läßt sie nie im Gefühligen nach dem Relativen verschwimmen. So kam etwas De- 
finitives zustande, das seinen guten Platz beanspruchen darf. Das Sensualistische 
der Kunst des Tanzes wird nirgends zugunsten einer öden Körperpädagogik ge- 
leugnet, aber doch auch nicht zu eben so öder sinnlicher Genießerei heruntergebracht. 
Des Verfassers Ernst geht hier eher oft zu weit, so in der Ablehnung der Russen, 
deren Kunst sehr groß und viel mehr ist als verfallendes Ballettanzen. Und deren 
Kunst im einzelnen, der Pawlowa zum Beispiel, mehr ist als Spitzentanz. Wir 
geben unsrerseits gern alles von der Duncan her zu datierende Tanzen hin für die 
Russen, die alle diese Mimiken natürlich auch können. Dieser Einwand geht nur 
auf eines der zwölf Kapitel des Buches, das des Verfassers bisher beste Arbeit 
und den gebildeten Lesern sehr zu empfehlen ist. F. B. 

K. T. TfögeC GesaSiaSte des Krotes66omisd>en. NaaS der AusgaSe von 1788 
neu BearBeitet und ßerausgegeßen von Max Bauer. MünaSen. G. Mü/Ter. — 
An diesem Buche erlebte der alte Philosophieprofessor von Liegnitz wenig Freude : 
als es zum erstenmal gedruckt wurde, war er schon tot. Als es zum zweitcnmale 
erschien, da war der Archivar Ebeling aus Dresden darüber gekommen und hatte 
es erneuert, und wie er meinte, verbessert, d. h. er führte es bis auf seine Zeit 
weiter, entrüstete sich über Nestroy und fügte eine begeisterte Geschichte jener 
größten deutschen Vereinsverblödung, die sich Schlaraffia nennt, hinzu und was derlei 
Komik mehr ist. Was den Nestroy anlangt, ist der neue Bearbeiter M. Bauer ja 
mit Hilfe des geänderten allgemeinen Urteils nicht mehr der Ansichten Ebelings, 

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Teststeffungen 



aber in puncto Schlaraffia und Grüne Insel bedauert er, von diesen Gesellschaften 
nicht so wie er es wünschte informiert worden zu sein. Da auch diesem Bearbeiter 
des alten Buches sich die Begriffe weder des Komischen noch des Grotesken klar 
und deutlich gaben, und er danach sein Feld nicht abstecken konnte, verfiel auch er 
darauf, die Beispiele für menschliche Verblödung in eine Geschichte des Komischen 
zu beziehen. Wo gut vorgearbeitet ist, im Historischen und Literarhistorischen, wo 
die Urteile fixiert, die Werte definiert sind, da hält das Buch was es im Titel ver- 
spricht. Hier ist der alte Flögel wesentlich und gut ergänzt, auch illustrativ. Wo aber 
in neuen Zeiten neue Gebiete dargestellt werden sollen, da fehlt einmal der rechte 
Schlüssel, der sie erschließen soll — der gut determinierte Begriff des Komischen. 
Grotesken — und fehlt auch das was ihn zur Not ersetzen könnte: das instinktive 
Urteil, das sich auf den Geschmack stützt. Da gibt es nichts als jurnalistisch.es Ge- 
rede über Possenkomiker Berlins oder Wiens oder über diese und jene Variete- 
nummer. Gewiß gehörte das in das Buch, aber anders als es hier geschehen ist. 
So hat der alte Flögel zum drittenmal keine reine Freude an seiner Arbeit erlebt, denn 
sie kam hier nur in die fleißigen Hände eines belesenen, aber kaum gelehrten und 
schon gar nicht tief oder originell denkenden Mannes. Der aber Bibliotheken ge- 
leert und das Buch damit gefüllt und was ehemals 170 Seiten stark war auf tausend 
gebracht hat, aus denen man sich über eine Unmenge Gegenständliches informieren 
kann. G. M. 

'Fritz Mautkner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3. Band. Zur Grammatik 
und Logik. 2. Auflage. Stuttgart, Cotta. 

Mit zahlreichen kleinen Zusätzen und Verbesserungen erscheint hier der pikanteste 
Teil des bekannten gelahrten Werkes in zweiter Auflage. Eine Vorrede, an deren 
Schluß sich der Verfasser auf den Filzpantoffeln des Satzes »Mein guter Leser, lebe 
wohl« mit einem heiteren und nassem Auge empfiehlt, erzählt u. a., der Verfasser 
wolle seine Lehre »Hominismus« genannt wissen. Schon der »Pragmatist« F. C. Schiller, 
der sein Buch »Humanism« nannte, hatte dem alten Wort »Humanismus«, in dessen 
Kern die pathetische Anthropolatine schlecht gezähmter Christen lag, die ihres 
Herrn und ihrer Zähmungsmittel vergessen hatten, zusammen mit der alten 
Renaissance -Tendenz, die Antike gegen Christliches auszuspielen, einen Sinn 
erteilt, der das zweite Element ganz von sich abstieß, den Menschen vom homo 
sapiens der Alten ganz zum homo faber des modernen Industrialismus machte und 
auch das erste erheblich verringerte, indem es die »Nur «-Menschlichkeit all unserer 
Ideen, Begriffe, Erkenntnisse, behauptete und betonte. Mauthner findet aber selbst 
in F. C Schillers fadem Pragmatismus noch zuviel »Menschenwürde« und sagt darum 
lieber »Hominismus«, wobei man offenbar noch etwas mehr an den Wald und die 
Affen denken soll. Mauthners Werk ist nicht nur als ein philosophisches, sondern 
als der Inbegriff der Philosophie selbst gemeint. »Philosophie ist die Grenze der 
Sprache selbst, der Grenzbegriff, der limes: ist Kritik der Sprache, der Menschen- 
sprache.« Als einen der Ableger des kantischen »Kritizismus« — und schon dadurch dem 
positiven Geiste der jungen Philosophie der Gegenwart zuwider — gibt es sich selbst/ 
nur, daß Vernunft-Kritik hier gar noch zu Sprach-Kritik geworden ist. Aber das ganz 

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Teststeffungen 



Sonderbare der Mauthnerschen Einstellung ist hierdurch noch nicht bezeichnet. Es 
gab immer schon extremen Nominalismus, der selbständige Bedeutungserlebnisse leugnet 
und jede Bedeutung, jeden Begriff auf einen mehr oder weniger willkürlichen Herr- 
schaftsbereich von sprachlichen Reaktionen des Menschen gegen Einzelsensationen 
zurückführte. Aller Zerfall (angherrschender Gedankenwelten ist seit dem Mittel« 
alter historisch durch eine solche Richtung begleitet. Aber aller Nominalismus hatte 
bisher irgend einen positiven Endsinn. Bald galt es, durch ihn die Welt vor über- 
wucherndem Begriffsgestrüpp für die sinnlichen Beobachtung zu retten / bald diente er 
dem Mystiker zur Verherrlichung seiner wortlosen Schau <so jetzt bei Bergson)/ 
bald — gerade umgekehrt — dem Zwecke, die schöpferische Kraft der Sprache und 
menschlicher »Satzung« zu zeigen <z. B. Hobbes, H. Poincare). Bei Mauthner 
nichts von dem Allem! Hier ist überall purer Nihilismus, dem Sprache allmächtig 
ist und der sie zugleich verachtet, das letzte Wort — und ein »artikuliertes Lachen« 
über das große »Nichts«, das bei der Subtraktion Welt minus Sprache — gemäß dieser 
Lehre — übrig bleibt, die letzte Geste. Aber bei der Wahl zwischen den beiden 
Hypothesen, ob es erst die Sprache sei, die ein »Chaos von Empfindungen« zu 
einem Kosmos von Dingen gestaltet oder ob Herr Mauthner vermöge einer 
sonderbaren Verquerung seines Geistes — bedingt durch sein Milieu — die 
Welt zur jeweiligen Notierung einer Wortbörse macht, so daß ihm das Sonnen- 
licht durch einen ungeheuren Mückenschwarm von Worten verborgen wird, bevor« 
zuge ich — die letztere. Die »Verquerung« besteht darin, daß Herr Mauthner nicht 
in Worten denken kann, ohne auch zugleich über sie zu denken. Aber man kann 
nicht zugleich über das Wort Tintenfaß und über das Tintenfaß denken ! Das Wort 
»Tintenfaß« ist ein neuer Gegenstand. Will man an Beides zugleich denken, so 
denkt man — an keines von Beiden. So bleibt das Nichts ! Sie irren, Herr Mauth- 
ner, wenn Sie meinen, die Logik zur Grammatik degradiert zu haben. Aber Sie 
trafen vielleicht bis zu einem gewissen Grade die faktische »Logik« von Berlin W. r 
wo man über alles redet und von nichts was weiß. Dieses »Nichts« verwechselten 
sie mit dem — Universum. — Keine Kleinigkeit! — 

Eine Menge feiner, netter Beobachtungen, wie sie ein so geistreicher Mann wie Herr 
Mauthner (Geste: Voltaire en miniature) erwarten läßt, eine ebenso große wie ober- 
flächliche Gelehrsamkeit, bietet das Werk ohne Zweifel. Als Summe vortrefflich, 
als Ganzes — unmöglich- Einzelne Thesen hier zu kritisieren oder zu zeigen, wie 
grundlos Mauthner an allen neueren denkpsychologischen und sprachphilosophischen 
Arbeiten (Husserls Idee einer »reinen Grammatik« und Reform der Logik, Martys 
Sprachphilosophie, Külpe, Bühler usw. usw.) vorübergegangen ist, ist nicht dieses 
Orts. M. S. 

Jadoß Baron von UexkutT: Bausteine zu einer Biofogiscßen WeftansaSauung . 
T. Brudtmann, München 1913. 

Zu den zentralsten Problemen der Gegenwart gehört es, der Biologie ein philo- 
sophisches Fundament zu geben, in dem sie sich ihrer Einheit und Autonomie 
gegenüber der anorganischen Naturwissenschaft und gegen die Psychologie bewußt 
werde: Eine Aufgabe, die endgültig nur durch ein Zusammenarbeiten von Biologie 

119 



Teststeffungen 



und Philosophie geleistet werden kann. Neben Roux, Driesch und Bergson ist nie« 
mand hierzu so innerlichst berufen und durch sein vielseitiges fachliches Wissen, 
vereinigt mit seinen eigenen Forschungen zur Entwickelungsmechanik so kompetent 
wie Baron von Uexkull. Wenn Roux neuerdings <s. bes. sein Buch über Kausalbetrach- 
tung und Verworns »Conditionismus«) mit besonderer Schärfe das methodologische 
Problem förderte, Driesch <s. Ordnungslehre) seinen, noch allzu schematischen Vita- 
Iismus an die allgemeinsten Fragen der Erkenntnislehre in vielem glücklich anknüpft, 
Bergson umgekehrt die Frage, wie weit die mechanische Naturansicht und ihre 
Kategorien durch das Leben bereits bedingt seien, in den Vordergrund stellte, so weift 
Uexkull durch seine hier gesammelten populären Aufsätze zwar auf einem Niveau 
geringerer begrifflicher Schärfe, aber mit wundervoller Klarheit und Anschaulichkeit 
die philosophischen Probleme der Biologie auch für den Laien zu entwickeln und 
sie mit konkreten Zeitfragen in lebendige Verbindung zu bringen. Die völlige Frei- 
heit von Schultraditionen, die z. B. noch heute in Deutschland dem Problem der 
Entwicklungsgeschichte der Arten und seiner Darwinistischen »Lösung« ein dem 
faktischen Stande der Biologie nicht im entferntesten entsprechendes Gewicht ver- 
schaffen, wirkt besonders erfrischend. Daß sich die moderne auf Mendels Sätze ge- 
gründete exakte Erblichkeitslehre zu Darwinschen Stammtafeln etwa wie Chemie zur 
Aichymie verhalten, daß ein aufklärendes, entwidcelungsmechanisches Experiment 
über das Wesen des Lebens mehr zu sagen weiß als alle möglichen Hypothesen 
über Artenumwandlung, ist immer noch nicht zum klaren Bewußtsein selbst vieler 
Fachleute gekommen. Bei Uexkull wird es — bis zur historischen Ungerechtigkeit 
gegen Darwin — aber auch diese rechtfertigt der ernste Wille zum Neuen — hart 
und kalt gesagt. Von den positiven Ergebnissen Uexkulls hebe ich — hier nur kur- 
sorisch — folgende als besonderer Beachtung würdige hervor: 1. Seinen vollberech- 
tigten Kampf gegen die mechanistisch-materialistische »Nachtansicht«, die uns die 
gedanklich von der Physik konstruierte Welt bewegter Stoff teilchen als die »eigent- 
liche« und »wahre« Wirklichkeit aufschwatzen will — als entferne jeder Schritt 
von der einförmigen Tastempfindlichkeit eines niedersten Tieres das Leben vom 
Universum, anstatt es ihm näher zu bringen. Freilich, genügend philosophisch fundiert 
ist dieser Kampf bei Uexkull nicht. Dazu wäre nötig, Ursprung und Grenze der 
mechanischen Reduktion der Qualitäten genau aufzuweisen. 2. Die hier mehr popu- 
läre, aber in ungemein anziehender Weise auseinandergesetzte Unterscheidung 
Uexkulls <s. bes. sein früheres Werk »Innenwelt und Umwelt der Tiere)« der 
objektiv wirksamen »Umwelt« und der für die Tiere selbst gegebenen »Merkwelt«,- 
welch letztere keineswegs mit den subjektiven, seelischen Empfindungen 
der Tiere zusammenfällt. Diese »Merkwelten« können ohne alle Art von frag- 
würdiger »Tierpsychologie« studiert werden. So etwa ist der Seestern, der Feind 
der Pilgermuschel, für diese (durch ihre hundert Augen) nur ein »Etwas von be- 
stimmter Größe und Bewegung«/ außerdem ein Etwas von bestimmtem Geruch, 
der sich jedoch von allen möglichen anderen chemischen Wirkungen für sie nicht 
unterscheidet. Uns ist der Seestern auch als Form, Farbeneinheit usw. gegeben, 
aber ohne Geruchsqualität. In der Zeichnung und Ausmalung dieser »Merkwelten«, 

120 



TeststetTungen 



die dem Aktionssystem des Tieres genau entsprechen, bekundet Uexkull eine be- 
sondere künstlerische Begabung. Bei Anpassungsstudien ist stets diese »Merkwelt« 
des Tieres, vermöge deren sich das Tier nur Einiges aus der Fülle des Universums 
zu seiner Umwelt herausschneidet, nicht aber unsere menschliche SpezialUmgebung 
zugrunde zu legen, — wie es Darwin und Spencer taten, die damit nur die mensch- 
liche Umgebung hypostasierten und fälschlich zur Welt an sich machten. Wie weitet 
sich durch diese Idee die Natur und wie wächst ihr innerer Reichtum! Wie ent- 
puppt sich gerade die Naturansicht Darwins und Spencers, die so stark gegen 
»Anthropomorphismus« wetterten, als engster anthropomorphistischer Philisterstand- 
punkt! Auch hier ist noch nicht Alles philosophisch präzisiert. Aber die Richtung 
der Uexkullschen Betrachtungsart weist auf den rechten Weg. 3. Zu Beginn des 
wundervollen Aufsatzes über das Tropenaquarium, den jeder Aquariumsbesucher 
vorher lesen sollte, erzählt Uexkull eine kleine Geschichte von einem Waschbottich, 
deren Sinn — fast mehr noch, als Uexkull selbst weiß — den Streit zwischen 
Mechanistik und Vitaiismus in der Biologie erleuchtet. Ein kleines hessisches Bauern- 
mädel fragt: »Wo hat der Vater den Waschbottich her?« Er hat ihn — sagt das 
Brüderchen — von einem Baum im tiefen Wald heruntergeholt/ da hing er an den 
Zweigen, wie in unserem Garten die Apfel. — Dagegen erzählt ein kleines Ber- 
liner Dienstmädchen der Hausfrau, es habe heut gesehen, wie die Waschbottiche 
»jemacht« werden. Aber — fragt es hinzu — wie wird denn das Holz > je macht - 
Das — sagt die Frau — nimmt man von den Bäumen, die draußen im Tiergarten 
stehen. Aber — wo werden die Bäume denn »jemacht.« Die »werden nicht gemacht/ 
die wachsen von selbst«. Ach was — so das Mädel — irgendwo werden sie schon 
»jemacht« werden. — Hier sind zwei Welten. In der einen erklärt man sich Ge- 
machtes nach Analogie mit Gewordenem. In der anderen Welt hat der Geist die 
umgekehrte Tendenz. In der Welt, wo alles »entsteht« und »wächst« sind die Leute, 
die glauben, daß alles »jemacht« wird, lächerlich. Sie gelten als blind für »das 
Wesentliche und den großen, wunderbaren Zusammenhang des Gesamtwerdens«. 
In der anderen Welt sind Jene faule Träumer, die nicht arbeiten wollen und die 
keinen Sinn für »Fortschritt« haben. Mechanistik und Darwinismus sind Bilder vom 
Leben, die Leute »jemacht« haben, die in der Welt des »Machens« leben. Sie wenden 
Verstandeskategorien / die sich in der künstlichen Beherrschung der toten Welt, in 
Arbeit und Fabrikation gebildet haben, auf ein Etwas an, an dessen Eigenart diese 
zersplittern müssen: auf das Leben. Sie tragen auch in die lebendige Natur den 
»Fortschritt« hinein. Uexkull gehört nach Geistesart, Charakter, Herkunft usw. ganz 
der Welt an, wo alles entsteht und wächst. Das mag seine Objektivität oft ein 
wenig schädigen/ aber es beleuchtet scharf und klar die nicht minder große »Sub- 
jektivität« der herrschenden mechanistischen Schulen, deren Vertreter sich nur »ob- 
jektiv«dünken, weil sie in der Mehrzahl sind. M. S. 

Möfifer, Sym6ofi6. Neue Ausgabe, Regens hurg, Kösef. — 
Der neue Abdruck von Möhlers »Symbolik« dürfte und sollte nicht nur den 
engeren theologisch interessierten Kreisen willkommen sein. Wenn irgend ein 
Werk, so vermag es diese tiefste, lebendigste und anschauungsgesättigste Ausein- 

121 



Testste Hungen 



andersetzung der dogmatischen Unterschiede und Glaubensgegensätze der christ- 
lichen Kirchen, die wir von katholischer Seite aus besitzen, klar zu machen, daß die 
Dogmen (auch die scheinbar weit- und lebensfernsten) noch etwas anderes sind 
als Ergebnisse abstruser Spekulationen (für die sie der Rationalismus ansieht), als 
konventionelle Zeichen, in denen sich eine Gemeinschaft gleich wie in einer Fahne 
das Bewußtsein ihrer Einheit gibt (als die sie seit Hume dem Nominalismus und der 
Soziologie gelten) und als »Beschreibungen frommer Gefühle«, für die sie der Herrn' 
huter Schleiermacher ansah: Ausdruck und Sinnformierung der tiefsten inneren 
Lebensgegensätze der betreffenden Gruppen. Auch wer sie jenseits von wahr und 
falsch stehend hält, — wie der Ungläubige — sollte sie als die komprimiertesten 
Anschauungsbilder der geistigen Grundhaltungen schätzen, die sich in der Geschichte 
in der Mannigfaltigkeit des Lebensstoffes und verzweigt auf die Teile der Kultur- 
tätigkeit, Wirtschaft, Recht, Kunst, Wissenschaft usw. jeweilig entladen. Möhlers 
Werk mag in Einzelheiten durch die historische und theologische Forschung über- 
wunden sein. Die Großlinigkeit seiner Gesamtauffassung, die Wucht und die 
lebensvolle Schönheit seiner Darstellung erteilen ihm klassischen Charakter. Der 
persönliche und historische Standort des Autors zwischen der noch durch Goerres 
und die Seinen genährten romantischen Lebendigkeit der Anschauung und der 
größeren Klarheit, Präzision und Genauigkeit der modernen theologischen Wissen- 
schaft, gibt dem Werke seine besondere Fruchtbarkeit und sein besonderes Gleich- 
maß zwischen Erlebnis und Begriff, die weder vorher noch nachher wieder zu er- 
reichen waren. Der Höhepunkt des Werkes ist die Auseinandersetzung der Glaubens- 
gegensätze der lutherischen und der katholischen Kirche und die Entwicklung der Idee 
der »Kirche« überhaupt. Wie die sola fideslehre und das neue, die Tradition und das leben- 
dige Lehramt ausschaltende protestantische Schriftprinzip, wie die Umrechnung auch der 
Liebe in die »heillosen Werke«, die Idee innerer Solidarität der Menschheit in Sitt- 
lichkeit und Heilsgewißheit auflösten und dadurch die lebendige Wurzel der Kirchenidee 
abgruben, wie der innere Bruch zwischen Religion und Ethos, zwischen Christus als Er- 
löser und Heilsbringer und Christus als Lehrer und sittliches Vorbild, als das er z. B. 
auch in der katholischen Idee der »Nachfolge Christi« figuriert, zu dem neuen 
Dualismus von Gottesreich und Welt führten — das wird in den Mittelpunkt des Ganzen 
gestellt/ und es wird gezeigt, wie Schritt für Schritt sich von diesem Quellpunkt aus 
das ganze viel verästelte System der Glaubensgegensätze entwickeln mußte und 
dabei die Reformatoren durch die Sachlogik ihrer Grundidee immer weiter und weiter 
getrieben wurden, als sie anfänglich selbst wollten. So besonders in der Sakramenten- 
lehre. Die Haltung Möhlers gegen die heretischen Lehrer ist stets von einer 
schönen Largesse und Loyalität, die nur den besten Sinn der gegnerischen Auf- 
stellung zugrunde legt/ sie ist gegen die einzelnen von feiner Abstufung des Urteils 
und gegen Luthers Person atmet sie überall eine große menschliche und religiöse 
Sympathie, die indes die geradlinige Charakterhaftigkeit der eigenen religiös kirch- 
lichen Stellung nie schmälert. 

Möge die dankenswerte Neuauf läge die religiöse Lage klären und solchen nützen, die 
nur mit historischen und psychologischen Interessen an das Werk herangehen. M. S. 

199 



Test Stellungen 



T. Kfuge, Zur NacBfofge End) Schmidts. TreiBurg, Troemer. — Als der 
Damenprofessor abtrat, begann der Damenfeindliche Herr Roethe »heiter sich be- 
scheidender Resignation« nicht erst hinzugeben, denn er tat das seit dem Jahre 1887, 
wo er seine einzige literarische »Tat« vollbrachte, wenn Reinmar den Zweter heraus- 
zugeben Oberhaupt schon was ist. Sicher nicht mehr als was jeder Seminarist zu- 
stande bringt Von dieser Leistung ruht sich dieser Mann seit 27 Jahren auf seinem 
Lehrstuhle aus, darin andern seines Berufes nicht unähnlich, seinem Schwager 
E. Schröder z. B., der 13 Jahre brauchte, um einen Textabdruck der Kaiserchronik 
zu liefern, oder Burdach, der vor lauter Titeländern überhaupt nie zum Arbeiten 
kommt aber dafür gut bezahlt wird. Es wäre kein Grund da, von dieser längst 
bekannten Affenschande unserer titel-, ämter- und würdenreichen Professoren im 
Fache der Literatur zu reden, wenn gegen sie nichts sonst vorläge, als daß sie weder 
was können noch was leisten. Neuerdings machten sie sich aber wichtig in Ange- 
legenheit der Besetzung von Schmidts Lehrstuhl: sie treten allen in den Weg, die 
ein Verdienst haben, und suchen ihresgleichen auf den Stuhl zu bringen, um in der 
»heiter sich bescheidenden Resignation« ihres Nichtstuns und Nichtskönnens nicht 
gestört zu werden. In den Blättern liest man, es sei schwer, Schmidt einen Nach- 
I olger zu finden/ schwerer noch scheint es, einen zu finden, der noch unbedeutender 
ist als der Roethe. Daß wir zu mindest drei Dozenten in Deutschland haben, von 
denen jeder einer zehnmal mehr bedeutet als zwanzig Erich Schmidts, das weiß jeder 
Gebildete, kennt sie, schätzt sie, liebt sie. An Tüchtigkeit nicht zu übertreffen ist 
Petersen in Basel. Rudolf Unger in München danken wir das bedeutendste Werk 
literarhistorischer Art, das neben Gundelfingens, des dritten, ,Shakespeare und der 
deutsche Geist' in den letzten so und so viel Jahren nach Heyms , Herder' erschienen 
ist: den , Hamann'. Unger, Gundelfingen Petersen : man treffe die Wahl, wenn man wirk- 
lich nur von der Frage nach dem Bedeutendsten die Qual hat. Aus Kluges Broschüre er- 
fahren wir, wenn wir es nicht schon wüßten, daß man mit guten Gründen unter 
den Unbedeutendsten wählt und daß man da, das Unbegreifliche ist Ereignis, keinen 
finden kann, der noch unbedeutender wäre als der Roethe, — jeder Vorgeschlagene 
überragt ihn um die Dicke zweier aufeinander gelegter Broschürchen immer noch 
Und das kann er »heiter sich bescheidend« nicht dulden. M. 

Die Denkwürdigkeiten des KardinaCs von Petz. Herausgegeben von B. Rüt- 
tenauer. Drei Bände. Münden Sei Georg Müßer. — »Les grands genies doivent 
peser leurs paroles, elles restent, et c'est une beautc irreparable« — dieses schöne 
Wort Chateaubriands fällt einem bei Saint-Simon ein, den sein Haß gegen den 
König und die Maintenon falsch machte, der ihn aber so prachtvoll zu schreiben 
verstand, daß die Schönheit des Bildes über seine Wahrheit täuscht bis auf unsere 
Zeit, deren Demokratismus ja mit Wohlgefallen den »asiatischen Despoten« und 
die »Königliche Mätresse« sieht. Retz hatte keine so großen Objekte. Verzehrte 
Saint-Simon ohnmächtiger Zorn, daß er immer nur in der Antichambre blieb, wo 
er sehen lernte, so verzehrten diesen Italiener vielfachere Feuer. Denn er war Ca- 
tilina, Don Juan und Tartuffe, von einem Priesterrock zusammengehalten, und war 
so von seinem achtzehnten Jahre an ein Berechnender. In seinem Brevier lag als 

133 



Teststelfungen 



Lesezeichen ein Dolch. Die Fronde, in der er eine Rolle spielte, war eine kleine 
Sache, von kleinen Leuten inszeniert, unter denen er der am wenigsten kleine war: 
daher, daß man ihn groß nannte. Das heißt, so nannten ihn unter seinen Zeitgenossen 
der Advokat Patru, die Kammerfrau de Motteville und Frau von Sevigne, der ja 
auch Pradon besser gefiel als Racine. Der Kardinal Paul de Gondi von Retz 
stammte aus der italienischen Gesellschaft von Astrologen, Spitzbuben, Giftmischern 
und Wucherern, welche die Katharina von Medici unter ihren Röcken nach Frank- 
reich gebracht hatte. Retz, der Kardinal, ist der Extrakt dieser Gesellschaft,- ein 
Schüler des Vincenz von Paula, war er Atheist bis in seine Sterbestunde,- aber es 
gibt Predigten dieses teuflischen Mannes, die von einem Heiligen sein könnten. 
Den Kardinalshut, der ihn schweres Geld kostete, brauchte er zum Schutz vor einer 
Regierung, deren Gegner er war, um ihr Herr zu werden/ und dann sah er den 
Hut auf Richelieus und auf Mazarins Haupte. In seinen Memoiren lügt er mit 
außerordentlichem Geschick, indem er die Wahrheit mit der Lüge und die Lüge mit 
der Wahrheit dosiert. Er verschweigt seine Dunkelheiten nicht, aber er arrangiert 
sie, sehr großer Schriftsteller, der er ist,- er gibt sich so viel Licht, daß sich höchst 
einfach daraus die Schatten erklären sollen- Man hat den Eindruck, dieser Paul de 
Gondi ist der sehr komplizierte Mensch, der von sich sprechend und als ein Schrift- 
steller zum erstenmal in die Geschichte des menschlichen Geistes tritt. Er hat keine 
Vorläufer. — Der Herausgeber der vorliegenden Ausgabe benützte eine alte Über» 
tragung, die er nach dem Original ergänzte,- Einleitungen bringen alles Wissens- 
nötige bei/ manche der zahlreichen Bildbeigaben möchte man entbehren, so besonders 
Frauenbildnisse nach Stichen, die allzudeutlich Schablone sind und nicht die Spur 
eines Porträthaften haben. F. B. 



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DIE Weißen Blätter beginnen mit dem März- 
lieft ihr zweites Halbjahr. Die ersten sechs 



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Hefte werden den Lesern den Eindruck dessen, 
was wir uns bei Gründung der Zeitschrift vor* 
nahmen, gegeben haben, obschon wir selbst es 
einsehen, daß uns manches nicht so gelang, wie 
wir es erstrebten. Wir wenden uns nicht an die 
unbekannte Menge, das Publikum, nicht an die 
Menschen, die nur an den Tag und seine Schlag- 
worte denken. Die Weißen Blätter betreiben 
keine Bildungskolportage. In den Weißen Blättern 
äußert sich nicht individuelle Laune, sondern Hin- 



■j in den erschienenen Nummern wohl manches 



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3 gäbe an eine große Aufgabe. Sie versuchen, sich £ 

2 vom Beiläufigen frei zu halten und zum Unbe- f. 

* £■ 

* dingten der Wahrheit zu kommen. Die Weißen £ 

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* Blätter wenden sich an Leser, welchen ein starkes * 

* * 

* Gefühl der Verantwortung und der Opfer hei- £ 

* ... * 

* sehenden Pflicht innewohnt. Diese Leser werden t 

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•j gefunden haben, was Ihnen die Weißen Blätter £ 

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Eben, weil wir das Blatt der jungen Generation 
sein wollen, geben wir auch älteren Leuten in 
Aufsätzen das Wort, deren Verständnis für das 
Kommende sich fest gebildet hat, und die um so 
besser für die Jungen wirken können, da sie nicht 
mehr selbst im Kampf stehen, der sie erregen und 
verwirren kann. Die jungen Dichter, die wir vor- 
stellten, müssen für sich selbst durch ihre Werke 
reden. 

Wir wollen auf dem Wege, den wir beschritten 
haben, weitergehen, und uns bemühen da zu ver- 
bessern, wo wir Fehler gemacht haben. Dazu 
sollen uns die Leser helfen, die, wenn auch noch 
nicht die Weißen Blätter, so doch ihr zukunfts- 
frohes Programm lieben. Wir wissen wohl, daß wir 
von dem sogenannten großen Publikum nie ge* 
lesen werden. Das ist auch unser Ehrgeiz ebenso- 
wenig, wie das, uns in eine gemachte ästhetische 
Exklusivität zu begeben, und so eine Zeitschrift 
zu machen, an denen nur Herausgeber und Mit- 
arbeiter Freude haben, und sonst keiner weiter. 



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AUS DEM INHALTSVERZEICHNIS 
des ersten Semesters (September 1913 / Februar 1914) 
**************************************** 



Alain, Heilmittellehre, 

— Die Suffragetten, 

— Kleine Vorschläge zum Leben 
Franz Blei, Samuel Butler, Eine 

Fußnote 

— Die Katholiken in Deutschland 
Max Brod, Von Gesetzmäßig- 
keiten der Kritik 

Martin Buber, Ereignisse und Be- 
gegnungen : 

1. Aus einem Gespräch 

2. Der Altar 

3. Mit einem Monisten 
Friedrich Burschell, Barock und Ro- 
koko, eine vorläufige Unter- 
suchung 

Kasimir Edschmid, Bilder aus den 

Südvogesen 
Carl Einstein, Ober Paul Claudel 
S. Friedländer, Dionysisches Chri- 
stentum 

R. Gournai, Der Deutsche Kaiser 

— Deutsche Weltpolitik — und 
kein Krieg 

Ludwig Hatvany, Zwecke d. Kunst 
Wilh. Hauscnstcin,Georg Büchner, 
Von ethnograph. Sammlungen 



L AUFSÄTZE 

Ulrich Hegendorff, Zur Rehabili- 
tierung der Tugend 
Kurt Hiller, Prolog 
A. Kolb, Besuch bei Duchesne 
Walther Krug, Krankheiten 

— Der Meister 

— Zur Chronik der Zeit 

— Stadt und Land 

— Der Ballettmeister dieser Zeit 

— Reinhard Wuchner 
Robert Musil, Politisches Bekennt- 
nis eines jungen Mannes (Frag- 
ment) 

Rampolla, Aus Aufzeichnungen 
E. E. S., Der Beruf des Dichters 
Max Scheler, Der Bourgeois 

— Versuche einer Philosophie des 
Lebens 

Ernst Stadler, Romain-Rolland: 

Jean Christophe 
A. Suares, Dostojewski und die 

— Verona (Frauen 
%* Von dem Charakter der kom- 
menden Literatur 

Felix Weltsch, Daniel und die 

Wissenschaft 
Emile Zola, Briefe an Cezanne 



**************************************** 



II. GEDICHTE 



Rudolf Borchardt, Wannsee 
Max Brod, Lob des einfachen 
Lebens : 

Sonett an die Geliebte 



Max Brod, An ein Mädchen im 
Theater 

Ausflug mit den Eltern 
Erinnerungen an das erste Exil 



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Albert Ehrenstein, Sommer 


IV. Der Abend 


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Walter Hasenclever, Die Todes- 


V. Die Nacht 


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Emile Verhaeren, Die Abend- 




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Mecfitild Lichnowsky, Der letzte 


stunden (übersetzt von Paul 


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Traum des Traurigen 


Zech) 


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Otto Pick, Dem Bürgermädchen 


Franz Werfe], Neue Gedichte: 


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Mein Tag 


Hekuba 


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Rene Schickele, Hymnen und Pam- 


Eines alten Lehrers Stimme 


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phlete: 


im Traum 


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Engel des Pamphlets 


Die Prozession 


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Der hinkende Teufel 


Der Held 


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Widmung an d. Tänzer Nijinski 


Der gute Mensch 


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Tragödie 


Das Jenseits 


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Die Schwarze 


Ein Abendgesang 


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Lobspruch 


Tempel -Traum 


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* 


Friedrich Schmid-Noerr, Vier Ge- 


Mitternachtsspruch 


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dichte: 


— Zwei Oden und ein Lied: 


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Der Rabe im Schnee 


Unsterblichkeit 




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Verliebte Vogelscheuche 


Näher mein Gott 


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Gegenwart 


Ein Lied 




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Ewige Wiederkehr 


— Die Unverlassene 


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— Paestum. Eine Elegie: 


Kurt Wolfenstein, Aufwachen 


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I. Die Vorfrühe 


Paul Zech, Der Blassen Blonden 


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II. Der Morgen 


in der Ferne 


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III. Der Mittag 


(Siehe auch Emile Verhaeren ) 


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HL DRAMATISCHES 


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Herbert Eulenberg, Krieg dem 


Erik-Ernst Schwabach, Das Pup- 


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Krieg. Eine bürgerliche Be- 


penspiel der Liebe, ein Akt 


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gebenheit in einem Aktus 


Franz Werfel, Der Besuch aus 


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Ed. Kehlmann, Dialog vom Gral 


dem Elysium. 


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IV. EPISCHES 


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Franz Blei, Abenteuer 


Rudolf Leonhard, Sechs Lesenden: 


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Kasimir Edschmid, Maintonis 


I. Saul unter den Propheten 


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Hochzeit, eine Novelle 


II. Don Juan vor der Hölle 


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III. Die Erweckung des Cc- 
thegus 

IV. Der Wandrer Franziskus 

V. Die Sünden des Heiligen 
Franz von Assisi 

VI. Sebastian im Gestühl 
Paul Merkel, siehe Ren6 Schikele 
Gustav Meyrink, Der Golem. Ein 



I. Schlaf 
D. Tag 

III. J 

IV. Prag 

V. Punsch 

VI. Nacht 



Ren£ Schickele, Zwischen den 
kleinen Seen (I und II sind 
unter dem Pseudonym Paul 
Merkel erschienen) 

Carl Sternheim, Busekow. Eine 
Novelle 

Robert Walser, Sieben Stücke: 
Das Eisenbahn-Abenteuer 
Die Stadt 
Das Veilchen 
Die Kapelle 
Der Tänzer 
Die Sonate 
Das Gebirge 



II 



**************************************** 

V. FESTSTELLUNGEN <GLOSSEN> 

G. Fuchs, Die Frau in der Kari- 
katur (Langen, München) 



Frühchristliche Apologeten. Aus 
dem Griechischen und Latei- 
nischen. 1 .Bd. (Kösel, München) 

Barres - Anekdoten 

R. H. Bartsch, Vom sterbenden Ro- 
koko (Staadcmann, Leipzig) 

E. Behrend, Jean Pauls Persönlich- 
keit (Müller, München) 

F. Blei, Landfahrer und Abenteurer 

(Müller, München) 
H. Brandenburg, Der moderne 

Tanz (Müller, München). 
O. Brahm, Kritische Schriften über 

Drama und Theater (S.Fischer, 

Berlin) 

Der Bücherwurm (Verlag des 
Bücherwurm, Dachau) 

G. K. Chesterton, The Victorian 
Age in Literature (William <D 
Norgate, London) 

K.F. FIögel,Geschichted. Grotesk- 
komischen (Müller, München) 



Georgian Poetry 1911/1912 (The 
Poetry Bookshop, London) 

R. de Gourmont, Reflexions de la 
vie (Mercure de France, Paris) 

Th. Haedcer, Sören Kierkegaard 
und d. Philosophie d. Innerlich- 
keit (J. F. Schreiber, München) 

G. Hauptmann, Lohengrin (Ull- 
stein, Berlin) 

Erster deutscher I ierbstsalon 

Der Hof Ludwigs des Vierzehnten 
(Inselverlag, Leipzig) 

Hölderlin i. d. Inselbücherei (Insel- 
verlag, Leipzig) 

Hölderlins sämtl. Werke (Müller, 
München) 

Von Köpenick bis Zabern 

Kluge, Zur Nachfolge Erich 
Schmidts (Troemer, Freiburg) 

E. Lissauexs Cyclus „1813", siehe 



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Die Monumentalität des Dürf- 
tigen 

Ch- Louis Philippe, Gesammelte 
Werke (Fleischet, Berlin) 

St. Mallarme, Poesies (Nouvelle 
Revue Franchise, Paris) 

Thomas Malory, Der Tod Arthurs 
(Inselverlag, Leipzig) 

Fr. Mauthner, Beiträge zu einer 
Kritik der Sprache, Bd. III. 
(Cotta, Stuttgart) 

Möhler, Symbolik (Kösel, Mün- 
chen) 

Die Monumentalität des Dürftigen 
(E.Lissauers Cyclus „1813") 

Mahler Müller, Idyllen <K. WolfF, 
Leipzig) 

C. Oulmont, La Poesie Franchise 
du Moyen-Age (Mercure de 
France, Paris) 

Kardinal von Rctz, Denkwürdig- 
keiten (Müller, München) 

K.Riezler, d. Erforderlichkeit d.Un- 
möglichen (Müller, München) 

Saint-Simon, Memoiren (Müller, 
München) 



K. Scheff ler, Italien : Tagebuch einer 

Reise (Inselverlag, Leipzig) 
Schrenck-Notzing, Mediumistische 

Materialisationen (Reinhardt, 

München) 
E.Seyerlen, Die schmerzliche Scham 

(S. Fischer, Berlin) 

E. Stadler, Der Aufbruch (Ver- 
lag der Weißen Bücher, Leipzig) 

Paget Toynbee, Lettres de la 
Marquise du Deffand ä Horace 
Walpole 

(Methuen, London) 
J. v. Uexkull, Bausteine zu einer 
biologischen Weltanschauung 
(Bruckmann, München) 

F. Wedekind, Gesammelte Werke 
(Müller, München) 

F. Werfel, Wir sind (K. Wolff, 
Leipzig) 

Winckelmanns kleine Schriften zur 
Geschichte der Kunst des Al- 
tertums (Inselverlag, Leipzig) 

P. v. Winterfeld, Deutsche Dichter 
des lateinischen Mittelalters 
(C. H. Beck, München) 




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