DIE WEISSEN
BLÄTTER
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OHIO STATE
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OHIO STATE
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Die Weissen Bl&tter
Vol. 1
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Index
Sept. - Feb
1913-U
NR. 5 1914
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Eine Monatsschrift
JANUAR
nhalt:
Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampolla /
Franz Werfel, Neue Gedichte / Martin Buber f
Ereignisse und Begegnungen / Friedrich Burschell,
Renaissance, Barock und Rokoko / Max Brod f
Lob des einfachen Lebens / Kasimir Edschmid,
Bilder aus den Südvogesen/ A. Suares, Dosto-
jewski und die Frauen/Ludwig Hatvany, Zwecke
der Kunst /Rene Schickele, Zwischen denkleinen
Seen / Gustav Meyrink, Der G<
Leipzig /Verlag der weissen Bücher
S34030
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DIE WEISSEN BLÄTTER
FÜNFTES HEFT ERSTER JAHRGANG JANUAR 1914
INHALT:
Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampolla.. .. 423
Franz Werfel: Neue GetüAte 421
Martin Buber: Ereignisse und Begegnungen .. .. 442
Friedrich BursAell: Renaissance, Barock u. Rokoko 447
Max Brod: Lob des einfachen Lebens 464
Kasimir Edschmid: Bilder aus den Südvogesen .. 468
A. Suares: Dostojewski und die Frauen 476
Ludwig Hatvany: Zwecke der Kunst 485
Rene SAickefe: Zwischen den kleinen Seen 489
Gustav Meyrink: Der Golem 498
Feststellungen <auf gelbem Papier) 89—96
Kritische Schriften über Drama und Theater / Frank Wedekind,
Gesammelte Werke / Deutsche Dichter des lateinischen Mittel *
alters / Soren Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit /
Frühchristlich« Apologeten / Karl Schefflcr, Italien, Tagebuch
einer Rdse / Bucher«Bingange
Für unverlangte Manuskripte und Rezensionsexemplare kann
die Redaktion keine Garantie übernehmen.
Alle Rechte für sämtliche Beiträge vorbehalten.
BEZUGSBEDINGUNGEN:
Einzelne Hefte M 2.~, vierteljährlich M 5.—, halbjährlich
M 10.~-, jährlich M 18.— Bei allen Buchhandlungen erhältlich.
COPVRIOHT 1913 BV VERLAG DER WEISSEN BÜCHER . LEIPZIO
R.6
1914
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Eine Monatsschrift
FEBRUAR
nhalt:
A. Kolb, Besuch bd Duchesne / Walther Krug,
Zur Chronik der Zeit / Robert Walser, Sieben
Stüde / R. Gournai, Der Deutsche Kaiser /
Max Scheler, Der Bourgeois / Friedrich Alfred
Schmid Noerr, Paestum / Martin Buber, Ereig-
nisse und£ ; egegnungen / Kurt Wolfenstein, Auf-
w
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•51
Leipzig /Verlag der weissen Bücher
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DIE WEISSEN BLATTER
SECHSTES HEFT ERSTER JAHRGANG FEBRUAR 1914
INHALT: ^
A. Kolb: Besuch bei Ducnesne 527
Walther Krug: Zur Chronik der Zeit 543
Robert Walser: Sieben Stucke 555
R. Goumai: Der Deutsche Kaiser 565
Max Scheler: Der Bourgeois 580
Friedrich Alfred Schmid Noerr: Paestum 603
Martin Buber: Ereignisse und Begegnungen .... 615
Kurt Wolfenstein: Aufmachen 621
Gustav Meyrink: Der Golem 622
Feststellungen <auf gelbem Papier) 113 —124
Egmont Seyerlen, Die SAmcrrihfce Schani. Die Ge»<hi<htc eine»
Knaben / Jean Pauls Persönlichkeit/ zeitgenössische Berichte,
herausgegeben von B. Behrcnd / Ernst Städter, Der Aufbruch /
Charles Louis Philippe, Gesammelte Werke / Die Memoiren
des Herzogs von Saint-Simon / La Poesie Francaise da Mögen»
Age / Hans Brandenburg, Der moderne Tanz / K. P. Fl5gel,
Geschichte de» Groteskkomischen / Frftz Maothner, Beiträge
xa einer Kritik der Sprache / Jakob Baron von Uexfcull: Bau *
steine zu einer biologischen Weltanschauung / Möhler, Symbolik /
Die Denkwürdigkeiten des Kardinals von Retz.
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M 10.-, jährlich M 18.- Bei allen Buchhandiu^Si erhältlich.
COPYRIGHT 194 BV VERLAG DER WEISSEN BÜCHER • LEI P EI O
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NR. 7 1914
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Eine Monatsschrift
I i r ! ' r ' Y
MÄRZ
halt:
Rainer Maria Rilke, Puppen / Karl Otten, Mistra;
aus Albanien / Otto Kaus, Flaubert und Dosto-
jewski / Gottfried Benn, Ithaka / M. Benemann,
Drei Gedidite / Henriette Hardenberg, Verse /
Martin Buber, Ereignisse und Begegnungen /
Paul Boldt, DerVersudi zu lieben /Oskar Loerke,
Das Goldbergwerk / Gottfried Kölwel, Vier
Gedidite / Gustav Meyrink, Der Golem /
Feststellungen
Leipzig/Verlag der weissen Bächer
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DIE WEISSEN BLÄTTER
SIEBENTES HEFT 1. JAHRGAN O MARZ 1914
INHALT;
Rainer Maria Rilke, Puppen < Zu den WaAspuppen
von Lotte Pritzei) 615
Karl Otten, Mistra/ aus Albanien 643
Otto Kaus, Flaubert und Dostojewski 646
Gottfried Benn, Ithaka 672
M. Benemann, Drei Gediente 681
Henriette Hardenberg, Verse 684
Martin Buber, Ereignisse und Begegnungen 686
Paul Boldt Der Versuch zu lieben 691
Oskar Loerke, Das Goldbergwerk 695
Gottfried Kölwel, Vier Gedichte 717
Gustav Meyrink, Der Golem 720
Feststellungen 738
Die Argonauten. Eine Monatsschrift / Familie / Statistik / Rcik,
Arthur Schnitzler / Der Einzug des van der Goes / Hago
von Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen / E.V.
Bredt, Häßliche Kunst? / Der Dom !n Gefahr / Stefan George,
Der Stern de« Bunde« / Olaf Gulbranasoo, Fünfzig unver-
öffentlichte Zeichnungen / Der Blick. Eine Kunstzeitschrift
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COPYRIGHT 19(4 BV VERLAO DER WEISSEN BÜCHER LEIPZIG
DIE WEISSEN BLÄTTER
EINE MONATSSCHRIFT
ERSTER JAHRGANG
NR. 5 JANUAR 1914
AUS AUFZEICHNUNGEN
DES KARDINALS RAMPOLLA
Im Sommer vorigen Jahres Obergab mir der Kardinal
eine Anzahl Schriftstücke seiner Hand »zur beliebigen
Verwendung nadi meinem Todec. Ich glaube im Sinne
des großen Mannes zu handeln, der mich durch mehr
als zwanzig Jahre mit seiner Freundschaft auszeichnete,
indem ich gerade das folgende Stück seiner Aufzeich'
nungen jetzt schon, so kurz nach seinem Hingange ver-
öffentliche, da es mir geeignet scheint, viele schiefe
Urteile über ihn ins Rechte zu stellen. I. M. Ord. Ben.
DAS obliviscere populum tuum et domum patris tut konnte ich
nie recht über mein Herz bringen. Als Italiener liebe ich mein
Land über die andern, und ich kenne seine Geschichte. Wir haben
von Österreich immer nur Schlimmes erfahren, so oft es ihm passend
dünkte, sich um unsere Angelegenheiten zu kümmern. Wenn uns
aber auch alle Rachegedanken fern liegen, so wird man doch Sym-
pathien für die Monarchie in Italien vergeblich suchen. Führte Staats-
raison zu einem Bündnisvertrag wie dem Dreibund, so konnte
Oportunität dessen Anlaß sein, aber Oportunität ist immer eine
Politik der Verlegenheit und der fehlenden großen Ziele. Auf ein
Stabiles wie es das natürliche Volksempfinden ist, wird sich ein
italienisch-österreichisches Bündnis nie stützen können. Die Öster-
reicher wirtschafteten mit Beamten und Soldaten in unserem Lande
wie rechte Barbaren, und solche Brutalität des Subalternen ist es,
was der italienische Charakter am allerschlechtesten verträgt. Wir
empfinden ein Bündnis mit Österreich so unnatürlich, wie die Fran-
zosen das ihre mit Rußland als wider ihre Natur empfinden. Alles
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424 Aus AufzefaSnungen des Kardinals Rampotta
legt uns näher, in ein gutes Einvernehmen mit Frankreich und
Spanien zu kommen, und ein solches Einvernehmen und vielleicht
mehr als das herzustellen, war unsere leider vergebliche Mühe. Das
Veto Österreichs gegen meine Wahl, von Preußen unterstützt, er*
schütterte das Kollegium,- und daß es nachgab bewies mir, daß wir
in unserer ebenso eigensinnigen wie gefährlichen Politik um die weit*
liehe Macht, um diese Fiktion des Kirchenstaates, auch schon in
unserer geistigen Gewalt in Abhängigkeit gekommen sind von Mache-
ten, die zu beherrschen wir so lange vorgaben, bis wir von ihnen
beherrscht wurden. In der Politik wirtschaften heute die scheinbaren
Realitäten schneller ab als ehemals. Wir haben uns in Rom ohne
bezügliche Kompetenz so lange um die staatlichen Aufgaben der
Völker gekümmert, bis wir in den Staat einbezogen wurden als
Staatskirche (welcher Widersinn in dem Doppel worte!)/ wir sind im
Staate ein Funktionär geworden, nicht viel mehr als die Sicherheit^*
polizei oder eine sonstige Beamtung. Bismarck hat uns damals noch
überschätzt, als er zu Crispi im Karlsbad das vom Kriegschiff in
Civitavecchia sagte. Unsere politische Macht, die wir, d. i. die Kurie
zu haben glauben, ist nicht viel mehr als ein Intriguieren in Kleinig*
keiten,- bei wichtigen Anlässen sind wir höchstens ein Dekorations-
stück — unseres Kostümes wegen und der Ehrwürdigkeit unseres
Alters. Seit Pius IX. Tode ist es die einzige Aufgabe der kurialen
Politik, das Gesicht zu retten. Denn wir haben seitdem, wenn es
auch manchmal anders aussah, nur Niederlagen erlitten. Wir sind
aber immerhin schon so sehr Bedürfniseinrichtung der Staatsregierungen
geworden und besonders jener, die noch feudalistisch durchwirkt sind,
daß man uns, damit wir unser Gesicht bewahren und den Regierungs*
interessen tauglich bleiben, von Zeit zu Zeit einige Scheingefechte
gewinnen läßt. Wir stützen, was einmal durchaus nicht unseres Amtes
war, die Throne, ja sogar die heretischen. Man braucht uns als einen
Diener und so läßt man uns die Geste.
Jenes Veto, das meinen verehrten und lieben Freund Sarto auf
den apostolischen Stuhl brachte, hatte aber noch andere Träger hinter
sich als die Preußens wegen um den Bestand des Dreibundes be*
sorgte österreichische Regierung, die ja wohl, wie die Dinge liegen,
auch mit dem Papste Rampolla fertig geworden wäre wie mit dem
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Aus Aufzeidßnungen des Kardinals RampofCa 425
Kardinal hätte der Kardinal als Papst nichts als den platonischen
Wunsch einer Annäherung an Frankreich gehakt. Ich wollte aber ein
Mittel anwenden — meine römischen guten Freunde wußten darum
und also auch Österreich — das effektiver gewirkt hätte in der Rieh»
tung der Verwirklichung meiner Absichten mit Frankreich, die von
einem weiteren Plane eingeschlossen waren. Ich hätte als kirchlicher
Souverän mit dem Königreich Italien Frieden gemacht auf der Basis
des freiwilligen Verzichtes auf die ehemals der römischen Kirche ge-
hörigen Staaten und Städte. Auch Avignon hätte ich an Frankreich
offiziell herausgegeben. Ich weiß, ich hätte damit der Kurie das ein*
zige Instrument ihrer Politik genommen, aber ich hätte ihre Politik
damit ehrlich gemacht und sie von der Doppelzüngigkeit befreit. Die
der Kirche unwürdige und ihr Ansehen schädigende Komödie des
römischen Gefangenen hätte ein Ende gehabt und wir wären damit
wieder auf den Weg gekommen, der uns zum geistigen Imperium
geführt hätte, das allein uns von Gott dem Allmächtigen gegeben
ist/ denn unser irdischer Besitz ist ein Geschenk des Bösen.
Ich weiß, man nannte mich ehrgeizig und einen schlauen Fuchs,-
man vermeint mich grollend und verbittert seit jenem Veto. Es war
mein Irrtum, daß ich mich von Gott zu dem Werke bestimmt glaubte.
Er hat mich wohl zu schwach dafür befunden und es einem andern
nacb mir zu tun aufgehoben, und ich füge mich seinem Ratschlüsse.
Ich habe was ich tat und dachte zu allen Zeiten meines Lebens so
wenig als ein nur gerade durch mich Getanes und Gedachtes emp-
funden, fühlte mich immer so vollkommen als ein Werkzeug in der
Hand meines Heilands, daß mir auch ein Abwehren oder Wider*
legen welcher Meinungen über mich nicht zuzustehen schien. Ich kann
es vor dem Allmächtigen bezeugen, der mich bald vor seinen Richter-
stuhl rufen wird, daß ich nie in meinen reiferen Jahren eine Be-
leidigung oder Kränkung erfahren habe, nicht aus Stolz, sondern aus
der uns gebührenden Bescheidenheit in Gott. Ich lebte in einem Auf-
trag und in der Pflicht, ihn so gut ich konnte auszuführen. Ich wurde
geheißen, und des Heißenden Stimme ging weiter in meine Stimme.
Nichts als das. Ich sah nie mein Leben als mein eigenes an, son-
dern als ein mir mit allen seinen Inhalten von Gott gegebenes.
Umstände des Tages zwingen uns manchmal ein Verhalten auf, das
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426 Aus AufzeiaSnungen des Kardinals Rampoffa
als bewußt persönlich beeindruckt. Es ist aber eine Täuschung. Daß
wir uns von Fall zu Fall frei zu entscheiden scheinen, läßt uns auf
Gründe schließen oder Ursachen annehmen, die in einem Person-
bewußtsein und einem danach gerichteten freien Willen liegen. Aber
kein » freier Wille« bestimmt im Geringsten was wir tun. Wir können
nichts anderes als daß wir unsern »freien Willen« üben im Dienste
und zum Ruhme dessen, dem wir diese Täuschung danken und der
freier ist als wir. Ist aber einer freier als wir, wie es Gott ist, so
sind wir nicht frei, denn es gibt hier keine Unterschiede des Grades.
Gott allein ist als ein reiner Geist frei.
Ich muß mich schuldig bekennen, die intransigente Politik des Vati-
kans einmal mehr als gefördert zu haben. Es schien mir alles ge-
heiligt unantastbar, worauf je die Hand der Kirche geruht, was je
in der Kirche beschlossen war. Ich sprach wie alle andern von den
»Räubern«, und in jenen meinen Plan schloß sich ein, daß das
Königreich Italien unsere Rechte anerkenne und herausgebe was unser
war. Woran sich im selben Akte die Schenkung unseres Besitzes
an Italien geschlossen hätte. Ich bestand in den damals geführten
Verhandlungen mit den italienischen Staatsmännern und dem fran-
zösischen Gesandten auf dieser Form: erst zurückgeben und damit
anerkennen, dann schenken. Ich weiß, daß manche meiner Freunde
noch immer an dieser Bedingung festhalten: ich kann ihnen sagen,
sie wird nie erfüllt werden. Wir haben den rechten Augenblick ver-
säumt/ heute ist es zu spät dafür. Und ginge man je darauf ein,
so würde man es mit Opfern, die von uns verlangt würden, zu
kompensieren suchen, die vielleicht weit verderblicher in ihren Folgen
wären als der Entschluß: zu verzichten ohne vorhergehende Rück-
gabe. Wir sollten vor dem Handelsgeschäft, das heutige Politik ist,
immer auf der Hut sein. Wo die andern mit der bei ihnen kurrenten
Münze zahlen, die ohne Kurs ist bei uns, zahlen wir mit dem
Blute, das unser Herr für uns vergossen hat. Wir würden uns bei
jedem politischen Geschäfte zu denen setzen, die unter dem Kreuze
um das Kleid unseres Heilands würfeln.
Wir wissen es, daß man uns keinen schlimmeren Streich spielen
könnte, als die Herstellung des Kirchenstaates, der weltlichen Macht.
Wir würden alle Macht in den weltlichen Dingen und über sie ganz
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Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampoßa 427
verlieren, wären wir selber in sie so materiell einbezogen. Wir
wissen aber auch in Rom, daß man nicht daran denkt, und nie daran
denken wird. Leicht spielen wir also die Intransigenten, weil wir
mehr als hoffen, weil wir wissen, daß man uns nicht erhört und
beim Worte nimmt. Ist es also würdig, den gefangenen König zu
spielen? Ich stehe am Ende meines Lebens, die Menschen sind alle
bald weit hinter mir und vor mir wächst Gott in seiner unendlichen
Höhe auf. Ich spreche nichts Leichtfertiges, aber es steht mir altem
Manne vor dem Hingange zu, von menschlicher Verstrickung frei
zu sagen, was in meinem tiefsten Glauben gewurzelt ist . . .
Das Io sono la tradizione Pius IX. macht historische Erwägungen
überflüssig/ mehr noch tut dies als dieses Wort <das den der es
aussprach den Sonnenpapst nennen ließe, wäre er nicht eine dämo-
nische Macht gewesen) ein einsichtiger Satz Newmans, der lautet:
»Wer da sagt, die Kirche vermöge nur unter gewissen Voraus-
setzungen zu leben, der unterwirft sie irdischen Bedingungen. Die
Kirche ist nicht das Geschöpf von Ort und Zeit, von weltlicher Politik
und populären Launen. Unser Herr und Heiland erhält sie durch
weltliche Mittel, aber diese Mittel sind nur so lange nötig als Er sie
verleiht. Zieht Er sie zurück, so sind sie es nicht mehr. Die welt-
liche Macht ist während eines sehr langen Zeitraumes der Schutz
der Unabhängigkeit der Kirche gewesen, aber ebenso wie die Bischöfe
die ihre seit langer Zeit verloren haben, und deshalb nicht weniger
Bischöfe sind, ebenso würde das von ihrem Oberhaupte gelten,
sollte er die seinige verlieren.« Und in diesem Briefe an den Lord
Acton: »Keine kirchliche Lehre kann strenggenommen durch historische
Evidenz bewiesen, andrerseits aber auch nicht einfach durch sie
widerlegt werden.«
Der Kirchenstaat und sein Herrscher waren legitim in einer Zeit,
wo alle Macht feudale Form annahm, wenn sie überhaupt Macht
sein wollte. Die staatlichen Formen änderten sich, zerfielen, bildeten
sich neu, nach sozialen, nach nationalen Gesichtspunkten, was auch
den Begriff der Souveränität änderte. Der Kirchenstaat war feudal
oder er war nicht. Und als er nicht mehr war (weil er sich aus seiner
Natur nicht ändern konnte), da machte er in der Fiktion seiner
noch immer währenden staatlichen Macht einige Millionen Bürger zu
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428 Aus Aufzeichnungen des Kardinals Rampoda
Bürgern zweiter Klasse, ließ er die alte diminutio capitis des
römischen Rechtes wieder seltsam aufleben. Generationen wurden
vor die Alternative gestellt, entweder ihr Vaterland zu vergessen
oder aus der Kirche ausgeschlossen zu werden. Das ging so lange,
bis man merkte, daß das Beichtkind den Pfarrer wohl in allen reli-
giösen Dingen achtete, ihm aber in politischen die Türe wies. So
erlebten wir es bei den lebhaften und politisch feinfühligen Franzosen
und Italienern^ nur bei den Deutschen, die einen politischen Ver-
stand noch nicht haben und in Österreich, das nur einen subalternen
Beamtenverstand hat, erlebten wir das weniger oder gar nicht. Hier
machten sogenannte klerikale Parteien ihre kleinen Geschäfte mit
unserem großen Irrtum. Die Kurie versuchte es, auf dem politisch
falschen Weg, den sie ging, mit subtilen Unterscheidungen. Aber das
non expedit hatte endgültig verloren. Es ist nicht zu ermessen, wie
groß der Verlust ist, den die Kirche in der antiklerikalen Bewegung,
die 1870 einsetzte, erlitten hat und noch heute erleidet. Im über-
tragenen Sinn wird das Kind viel öfter mit dem Bade ausgeschüttet
als es im wörtlichen Sinn passieren mag. Die klerikalen Parteien
verloren eine Schlacht nach der andern, nicht in einem Religionskriege,
wie gesagt wurde, sondern in einem politischen Streit. Und fiele es
heute in einer spaßhaften Laune dem König Victor Emmanuel III.
ein, Pius X. die Schlüssel Roms auszuliefern, so fände sich der
Papst andern Tages in der Lage, sich mit Kanonen gegen die römische
Revolution zu verteidigen. Die Laune des Königs ist nicht zu be-
fürchten, denn man will dort nicht den Untergang der Kirche, die
man braucht/ denn die Kurie findet sich praktisch mit dem Zustande
der Dinge ab, den sie theoretisch verdammt. In wachsender Ent-
fernung von Rom gewinnt nur diese akademische Haltung eine fatale
Bedeutung, die sie bei uns im eigenen Lande gar nicht hat. Die
»Gefangenschaft« des Papstes hält die nicht-italienischen Katholiken
in einer Nervosität, der je nach Bedarf geschickt nachgeholfen wird
von den sogenannten katholischen Politikern jener Länder, die mit
diesem Specke ihre Mäuse fangen. Und Rom macht keinen Ein-
spruch, denn es braucht wie alle heutigen Regierungen, große und
kleine, vor allem eines: das Prestige.
Es liegt im tiefsten Wesen der päpstlichen Politik seit 1870, daß
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Aus Aufzeidbnungen des Kardinals Rampoffa
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ihre Äußerungen nicht bedeutender sind/ es liegt an ihrer Zwie-
spältigkeit, daß sie nichts ist als Intrigue oder Schein. Die päpstliche
Politik kann weder national, nodi sozial noch sonstwie menschlich
interessiert, also Politik im heutigen Sinne sein/ was sie treibt und
tut, sind Kartenkunststücke der Geschicklichkeit, mit denen die rö-
mischen Bureaus eine ernste Zeit verspielen. Ich nenne die römische
Politik nicht schlecht, weil ich eine bessere weiß. Sie kann, wenn
überhaupt sein, so nicht anders sein als sie ist: der Begriff der
Politik definiert sich für Rom überhaupt als ein schlechtes, denn die
Kurie hat nichts zu bieten und nichts zu nehmen,- sie ist keine
Wägerin streitender Interessen, also kein politischer Faktor, so lange
sie sich selbst in den Interessenstreit materiellen Besitzes stellt. Sie
kann, mit ihrem Anspruch auf die weltliche Macht, selbst zu den
sublimsten Steigerungen menschlicher Interessen wie Vaterlandsliebe,
nationaler Stolz, keinerlei Verhalten haben, weder ein förderndes
noch ein wehrendes. Aber Rom tut so, als ob es hier vermöchte,
um ein Prestige zu wahren, und die wirklichen politischen Mächte
tun der Kurie den Gefallen, leisten ihr den kleinen Gegendienst,
ihr diesen Wahn immer dann zu lassen, wenn sie irgend einen Vor-
teil dabei finden. Man gönnt ihr vor dem zuschauenden Publikum
einen Schritt vorwärts, um sie dafür heimlich drei Schritte zurück zu
drängen, wenn es ernst wird. Seit vierzig Jahren benutzt die Kurie
das gleiche Spiel Karten, dessen Trümpfe sie alle gezeichnet hat,-
die Mächte — wir wollen von ihrem Kartenspiel untereinander nichts
sagen — tun so als merkten sie den kleinen Betrug nicht und lassen
sie die kleinen Einsätze gewinnen, um die allein es Rom zu spielen
gestattet wird.
Wenn wir uns einiger Taten solcher römischer »Politik« erinnern,
so soll niemanden wundern, daß sie von nicht größerer Importanz
sind, ja daß sie kleinlich sind und sein müssen, weil kein Ziel da
ist. Jede Äußerung der Kurie zu den politischen Angelegenheiten
wird so lange der effektiven Bedeutung entbehren als man vor aller
Welt etwas zu wollen behauptet, dessen Erfüllung man heimlich
fürchtet und dessen Nichterfüllung man sicher ist. In den römischen
Seminaren wird immer noch als ein Rechtssatz gelehrt, was Suarez
aufgestellt hat und was, um in der Geschichte nicht so weit zurück^
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430 Aus AufzeiSnungen des Kardinafs Rampoßa
zugehen, Antonelli 1870 im Namen Pius IX. an die französische
Regierung schrieb: »Die Kirche hat die Macht, zu richten über die
Moralität und die Gerechtigkeit aller Handlungen, innerer wie
äußerer, in ihrer Beziehung zu den natürlichen und göttlichen Ge-
setzen. Da aber jede Handlung, ob sie nun im Auftrag einer
höchsten Gewalt oder aus freien Stücken getan wird, von diesem
Charakter der Moralität und Gerechtigkeit nicht ausgenommen wer*
den kann, so ergibt sich, daß der Rechtsspruch der Kirche sich auf
alle Dinge ausdehnt, denen diese Moralität sich verbindet.« Das
Recht kam ihm zu, aber Pius X. hat 1904 und 1905 Loubet nicht
abgesetzt. Was aber bedeutet eine politische Macht, die sich selbst
immer dann ins Bedeutungslose begibt, wenn ihr das Handeln ob-»
liegt? Die Rechte Roms über die weltlichen Herren der Erde sind
für diese ungefährlich geworden, nicht weniger ungefährlich, wollen
wir hoffen, als es die Rechte Roms für den Bestand des himmlischen
Reiches sind nach dem Hirtenbrief des Kardinal -Erzbischofes von
Salzburg <2. 2. 1901) in dem es heißt: »Der Himmel gestaltet, daß
die Erde ihm ihre Befehle gibt/ der Diener ist in den Richter ver-
wandelt und der Herr im Himmel billigt den Urteilsspruch, den
jener über die Erde getan.« — Wir erinnern uns des Tages, da der
Heilige Stuhl gegen die »Beleidigung« protestierte, die ihm Loubet
damit antat, daß er den König von Italien in Rom besuchte. Ein
paar Tage darauf wurde Kardinal Svampa nach Bologna, einer wie
Rom ehmals päpstlichen Stadt, geschickt, um demselben König die
Grüße des Papstes zu überbringen. Warum ist es bloß den kirch-
lichen Fürsten erlaubt, den italienischen König zu begrüßen und den
weltlichen Fürsten nicht? Warum schreckt man damit z. B. den Kaiser
von Österreich, der nicht nach dem königlichen Italien kommen darf,
was vielleicht für unsere Stammesgenossen in der Monarchie von
Nutzen sein könnte? Svampa saß bei der Galatafel zur Rechten des
Königs und war ganz Untertan, wie er an den Grafen Ferrari, den
Präfekten von Bologna, schrieb. Wir wissen, daß man auf Bologna
so wenig verzichtet hat wie auf Avignon: das steht in der offiziellen
Eidesformel, mit welcher sich die neuen Kardinäle verpflichten »bis
auf den letzten Tropfen ihres Blutes die Rechte der Kirche auf das
zeitliche Patrimonium des Heiligen Stuhles zu verteidigen.« Diesen
Aus Aufzeicßnungen des Kardinals Rampoüa 431
Eid hat Svampa geschworen, und ich habe ihn geschworen. Möglich,
daß Svampa die Rechte der Kirche bis auf den letzten Tropfen
Bordeaux in seinem Glase leben ließ, als er mit dem König von
Italien anstieß. Keiner von uns hat es anders getan. Und Pius X.
ließ einen Altar beseitigen, um Platz zu schaffen für das Grabmal
des exkommunizierten Sohnes des »Diebes« Victor Emmanuel.
Mgr Borgomanero weiht in Konstantinopel eine italienische Kirche
in Gegenwart des italienischen Gesandten und sagt, er sei glücklich,
als Priester wie als Italiener, die Zeremonie im Zeichen des Glaubens
und des Patriotismus zu vollziehen durch die Vereinigung der beiden
Mächte. Der Kardinal Lorenzetti zieht in Lucca ein und befiehlt der
Militärmusik, die ihn empfängt, den Königsmarsch zu spielen. Der
Kardinal Cavallieri begibt sich in Venedig in die neuen Procuratien,
um den König zu begrüßen. Pius X. hebt die Verordnung von 1870
auf, nach der im Vatikan die italienische Fahne nicht gehißt werden
darf — aber es sei genug dieser Dinge. Wir haben in unserem po-
litischen System die Einheit unseres Handelns und unseres Redens
verloren aus Eigensinn, einen Weg zu verfolgen, der uns in eine
Sackgasse geführt hat, weitab von allem Leben. Derweil weidet
unsre uns anvertraute Herde wer weiß wo. Die Kirche hat ihr
Leben von der Christenheit, nicht aber ist es umgekehrt/ denn bevor
die Kirche war, war die Christenheit/ und bevor Wort und Lehre
war, war die Liebe. Die Kirche ist ein Lebendiges und nicht auf
den Buchstaben begründet. Sie hat an eines Jeden Leben teil, weil
Jeder Teil an ihr hat. Der ausgezeichnete Möhler sagte: »Die innere
Lebenseinheit muß bewahrt werden, sonst wäre sie nicht immer die
selbe christliche Kirche, aber das selbe Bewußtsein entwickelt, das
selbe Leben entfaltet sich immer mehr/ wird bestimmter, sich selbst
immer klarer: die Kirche gelangt zum Mannesalter Christi«. Keiner,
hat er nur die Liebe und damit auch die Wahrheit, stellt sich außer*-
halb die wahre, alleinige und allgemeine Kirche, der sich ihrem zeit-
lichen Verhalten weltlichen Dingen gegenüber mit einem Zweifel
daran unterwirft, wie ich es tat, einem Zweifel, ob dieses Verhalten
zum Heile der Christenheit ist. Wir unterwerfen uns, aber löschen
damit den Zweifel nicht aus, der aus unserer Liebe sprang und
den wir um unserer Liebe willen bekennen müssen. In Rom kennt
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432
Aus AuJzeidSnungen des Kardinals Rampoßa
man meine Ansichten zur Frage der weltlichen Macht/ ich habe nie
ein Hehl daraus gemacht/ sollten auch die nicht-kirchlichen Christen
und die Feinde der Christenheit davon erfahren, so halte ich dies
für ein geringeres Übel als das durch Verschweigen. Ich werde was
ich tat vor Gott verantworten können. Es wird meiner Sünden ge-
ringste sein.
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Tram WetftC Ntut Gtdüttt 433
NEUE GEDICHTE
Karf Kraus zugeeignet
HEKUBA
Mandimal geht sie durch die Nacht der Erde
Sie, das schwerste ärmste Herz der Erde
Wehet langsam unter Laub und Sternen,
Weht durch Weg und Tür und Atem wandern,
Alte Mutter, elendste der Mütter.
So viel Mildi war einst in diesen Brüsten,
So viel Söhne gab es zu betreuen.
Weh dahin! ~ Nun weht sie nachts auf Erden,
Alte Mutter, Kern der Welt, erloschen,
Wie ein kalter Stern sich weiterwälzet.
Linter Stern und Laub weht sie auf Erden,
Nachts durch tausend ausgelöschte Zimmer,
Wo die Mütter schlafen, junge Weiber,
Weht vorüber an den Gitterbetten
Und dem hellen runden Schlaf der Kinder.
Manchmal hält am Haupt sie eines Bettes,
Und sie sieht sich um mit solchem Wehe,
Sie, ein dürftiger Wind von Schmerz gestaltet,
Daß der Schmerz in ihr Gestalt erst findet,
Und das Licht in toten Lampen weinet.
Und die Frauen steigen aus den Betten,
Wie sie fortweht ~~ nackten schweren Schrittes . .
Sitzen lange an dem Schlaf der Kinder
Schauen langsam in die Zimmertrübe
Tränen habend unbegriffhen Wehes.
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434
Tranz Werfef, Neue GetfiSte
EINES ALTEN LEHRERS STIMME IM TRAUM
Durch einen Traum der Straße oder gar,
Durch eine Straße im Traum
Von fern kam deine Stimme wunderbar.
Ich hörte kaum, groß zogen durch den Raum
Die goldenen Begräbnisse, Turm und Baum
Traten im Himmel ein — und tiefer Schaum
Von Winter, Blum' und Damen regnete mich ein.
In einem Traum der Straße hörte ich dich sein
Im Straßentraum die Stimme aus begrabnem Jahr,
Die Stimme, die einmal in einer alten Wohnung war.
Ich hörte deine Stimm' und wie du heißt
Und dachte an des Vaters Gestalt,
Der mit dir sprach und dachte an der Ahnen Geist,
Die unter Sternen reisen, mild und kalt,
Und daß auch mich der Wind im Kreise reißt,
Im Traum der Straße, die mein Vater vor mir wallt.
Im Straßentraum dacht ich an einen Bart,
An eine Hand, vereist und brauner Art.
An ungeheure Worte dacht ich: war und alt.
Im Straßentraum, da Gold vorüberfuhr,
Und liebend ein Sonntagswind,
Von fern erfuhr ich deine Spur,
Und drehte mich nicht um, vom Träumen blind.
Ich weiß nicht, wo du wandelst, weiß und nicht geschwind,
Und ob du bist, oder im Traume nur.
Doch von den Kerzen lind, die in mir sind.
Hub eine in der Kirche an und ist entbrannt,
Und ein Gefühl verloren und noch unbenannt
Begann, o Straßentraum, im Wind unterm Azur.
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Tram WtrfiC Ntut Gtdidtl
DIE PROZESSION
Aus dem eisern aufgebauten Blauen,
Bricht ein Taumel ausgespannter Fahnen,
Winde schmachten und die Kerzen tauen
Doch die Fenster, die das Wunder ahnen,
Sind verhangen von Herzen und Tüchern.
Ja voran wird uns der Herr getragen,
Seine Wunden hat er längst verwunden
Und er lacht verrückt durch diese Stunden,
Bauern singen hoch — doch aufgeschlagen
Ungeheuern Blicks der Priester schreitet, in
den Händen die Monstranz.
Über Stiegen in die Kirche tauchen
Tausend Betende und knieen wild.
Kerzenwirrwarr bricht aus blauen Rauchen,
Und es klingelt unter einem Bild.
Da — Und Horn und Orgel brüllen unter Bögen.
Und es ist geschehn — Ein letztes Weinen
Wirft sich über abgemühte Brüste,
Und der Chor von seiner kleinen Küste
Schmeißt sich in des Himmels Diadem.
Die Tenöre rasen durch die Runde.
Weiß im Hängekieidchen knien die Kleinen.
Und es sinken aus dem Kindermunde
Süß Narzissen und Jerusalem.
Die
436
Tranz WerfeC Neue Ge<fi<6te
DER HELD
Da kommt er mit ruhigen Augen.
Im Haar den Strohkranz der Vernichtung,
Und um den Mund gefaltet
Lächelnd den Unsinn des Endes.
Seht, wie er in der Feuersbrunst
Steht auf der Leiter und rettet!
Wie er aus dem schwarzen Wasser
Die süße Ertrunkene trägt!
Ewig fährt er ohne Schwere
Hoch durch den dichten Novemberabend,
Und seine zornigen Zähne blitzen
Wild die Verwesung an.
Und er stößt sich ab und ist leicht,
Und wärmt die vergehenden Herzen
An seinem Herzen und jubelt
Dem maßlosen Tod ins Gesicht.
Und ist so wie Gott, der Jüngling,
Der gewölbten Busens sich schleudert,
Von Trapez zu Trapez
Himmlisch durchs furchtbare Blau.
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Tranz WerfeC Neue Gedic6te
437
DER GUTE MENSCH
Sein ist die Kraft, das Regiment der Sterne,
Er hält die Welt, wie eine Nuß in Fäusten
Unsterblich schlingt sich Lachen um sein Antlitz,
Krieg ist sein Wesen und Triumph sein Schritt.
Und wo er ist und seine Hände breitet,
Und wo sein Ruf tyrannisch niederdonnert,
Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung,
Und alle Dinge werden Gott und eins.
Unüberwindlich sind der Guten Tränen,
Baustoff der Welt und Wasser der Gebilde.
Wo seine guten Tränen niedersinken
Verzehrt sich jede Form und kommt zu sich.
Gar keine Wut ist seiner zu vergleichen.
Er steht im Scheiterhaufen seines Lebens,
Und ihm zu Füßen ringelt sidi verloren,
Der Teufel, ein zertretner Feuerwurm.
Und fährt er hin, dann bleiben ihm zur Seite,
Zwei Engel, die das Haupt in Sphären tauchen,
Und brüllen jubelnd unter Gold und Feuer
Und schlagen donnernd ihre Schilde an.
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438
Tranz WeifeC Neue GediSte
DAS JENSEITS
Wir kommen wieder, wir kehren heim
In dich, du gute Mutter unser.
Schon hängt uns, hängt uns, über die Stirn,
Mild über die Stirn des Todes Flieder.
Wo fahren die feurigen Wolken hin,
Wo tanzen die mutigen Flüsse her,
Was will der Meere Spiel,
Das Laub an der Wand des Himmels gerankt?
Nun kehren wir heim, nun kehren wir ein,
Mehr ist als Dasein — Gewesen sein,
Stark ist der Tod, doch siehe das stärkste,
Stärker als Tod ist Musik.
In unsere Mutter kehren wir ein . . .
Gott fährt über uns, der gute Mann,
Da heben wir an und heben uns auf
Arien selige schweben wir hin.
Und hängen im Herzen der Sterblichen,
Und locken die ewigen Tränen,
Träne, klarer Planet! Hier leben wir,
Leben in Gnade, sind nichts als Lied.
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Tranz WerfeC Am GtdüAit 439
EIN ABENDGESANG
Nun uns zu Häupten die Fledermäuse und graue Adler streichen,,
Und wir im Dunste einer vergehenden Wiese stehn,
Geschiehts, daß atemeins wir uns flüchtige Hände reichen,
Eh wir ins Gestrüpp und ins Licht des Schlafes eingehn.
Das ist die Stunde, wo alles erwacht und letztes Erstaunen,
In unsere wirr überwachsenen Herzen fällt,
Daß wir sind — und daß gute und böse Launen
Des Unverständlichen uns in die Welt gestellt!
Wer hat mich gewollt, daß ich Bosheit im Busen wälze,
Wer hat es gefugt, daß mich Güte süß überschwemmt,
Wer gab mir die Demut — und wer mir den Stolz und die Stelze,
Wer hat es vermocht, daß ich wandle mir selber so fremd?
Und wie uns zu Häupten verderbliche Vögel jagen,
Wir trüben uns alle und werden leichter und klein,
Und sinken wir hin, so regnen von ziehenden Tagen
Ferne Gefühle unseren Odem eins.
Da schwebt das Schiff im Schaume der Schrauben wieder
Eh unser Auge ins Leere hinüberreift.
Seligkeit naht — wie wenn schon erlöschende Lider,
Süß die unmenschliche Lippe des Dichters streift.
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440
Tranz WerfeC Neu* GediSte
TEMPEL-TRAUM
Wenn die Stunde saust,
Und die Frühe säumt,
Wacht der Sdiläfer schwer
Wie Ertrunkner auf.
Schlamm weilt auf der Stirn,
Und ins Haargewirr
Flechten Tang und Gras
Braunen Bettelkranz.
Und es ist ein Haus
Voll von Sang und Hall
Lampe lebt in Rauch
Über Treppen hin.
Eine Mutter geht . . .
Und er weiß nicht wo,
Duft und Stimme wir
In der Höhe süß.
Doch ein Priester ernst
Schreitet in die Fern'
Seinem Stabe nach,
Goldnen Vogelknauf.
Und Vestalin sitzt
Bei dem Flammentier,
Springt ein Wind herein,
Hütet sie den Schoß.
Wo der Tempelbau
Oben offen ist
Schwebt ein Adler groß
Unterm Morgenmeer.
Und die Schläferstirn
Löset ein Gesang,
Und das Herze wächst
Mit der Flut des Nils.
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Tran z WerfirC Neue GediaSte
441
MITTERNACHTSSPRUCH
Fühle du zur Stunde dieser Nadit
Dich zur Achse aller Welt gemacht
Pocht nicht Hekuba in deinem Blut
Ist die Träne die dein Auge tut,
Nicht der Trank der Tränen, je geweint?
Fühl dein Herz als Mühle alier Zeit
Mühlrad schäumt im Strom mit Riesigkeit,
Strom, der strömt und doch zu strömen scheint!
Fremdes fühl, das ewig aus dir bricht,
Fernsten Sterns auf deinem Nachtgesicht.
Tram Werfe f.
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442
Martin Bußen Ereignisse und Begegnungen
EREIGNISSE UND BEGEGNUNGEN
1. AUS EINEM GESPRÄCH
...Du nimmst irgend etwas wahr,- etwa diesen Käfer, der eben
an deinem Fuß vorüberkriecht. Was tust du? Du siehst von ihm
gerade so viel, als nötig ist, um ihn, wie man sagt, als das zu er-
kennen was er ist, das heißt um festzustellen, mit Welmen andern
dir »bekannten« Erscheinungen er mehrere deutliche Eigenschaften
gemeinsam hat/ und nun registrierst du ihn: »das ist ein Käfer«,
oder, wenn du bewanderter bist, gibst du ihm den Sondernamen
seiner Familie, und er ist für dich erledigt. Es kostet dich wenig
Zeit und Mühe ihn zu erledigen, nicht wahr? Aber sieh, ich habe
ihn aufgehoben/ willst du ihn nicht auf deine Hand nehmen? Und
nun schau ihn an, schau ihn wirklich an, nicht mit den Augen allein,
sondern mit aller wahrnehmenden Kraft deiner Sinnlichkeit, deiner
Einbildung, deiner Person: taugt dir da dein Wissen noch? Du emp*
findest, daß er sich bewegt, daß er lebt, daß er einen Willen, daß
er eine Welt hat. Ja, das alles kannst du, wenn du dich damit be*
scheiden willst, registrieren und bist wieder einmal fertig. Aber be-
scheide dich nicht/ halte stand: was taugt es dir, daß du »weißt«,
was Bewegung, was Leben, was Wille, was Welt ist? Du gibst dir
die Definitionen an: eine physikalische, eine biologische, eine psycho-
logische, eine philosophische gar. Hast du mehr getan, als Worte
durch Worte zu erklären, Geheimnis auf Geheimnis zu beziehen?
Aber sage dem Wissen, sage der Sprache ab. Sei als wäre die
Welt in dieser Stunde geboren und selber neu begegnetest du diesem
Neuen da, neu er dir wie du ihm. Als wäret ihr so wie ihr seid
ins Sein hineingeboren, beziehungslos, wortlos und wunderbar. Du
weißt nichts von Bewegung, aber du siehst den Bewegten/ du weißt
nichts von Leben, aber du fühlst den Lebenden/ du weißt nichts von
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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 443
Willen, aber du neigst dich zum Wollenden/ du weißt nichts von
Welt, aber die junge Welt umfängt dich und ihn. Die Glodten der
Sprache verklangen in der Ferne, die Laternen des Wissens sind
längst erloschen: halte der Stille, halte dem neuen Tag stand. Das
Koordinatensystem der Beziehungen ist hinweggetilgt: du kannst nicht
mehr orientieren. Nimm das Wesen, das du zwischen den Fingern
hältst, mit deinem schwingenden Sinn auf und an/ gewahre es mit
deiner Bewegung wie du es mit deinem Blick gewahrst, gewahre es
in ihm wie du es außer ihm gewahrst, gewahre es als deine Form
wie du es als deinen Inhalt gewahrst, gewahre seine Einzigkeit und
seine Allheit: realisiere es . . . Aber jetzt — diese Anstrengung, diese
armselige, gewaltige, stemmend greifende Anstrengung, die er macht,
um sich zu befreien: erkennst du sie, erkennst du sie wieder? Wie
war es doch, an jenem Tage deiner Erschütterung, als du dich ge«
fangen entdecktest und ausbrächest? Schaudert es dich nicht? Nimmt
dich nicht Schrecken und die Entzückung hin? Laß ihn los, sieh ihm
nach, erstaune über ihn: das ist Bewegung, das ist Leben, das ist
Wille, das ist Welt.
2. DER ALTAR
Das ist der Altar des Geistes im Abendland, einst aufgerichtet
durch den Meister Matthias Grünewald in einer elsässischen Kloster«
kirche und jetzt in einer andern elsässischen Klosterkirche zu schauen,
aber allen Kirchen und aller Kirche übermächtig wie das Wort des
Meisters Eckhart, der zwei Jahrhunderte vor ihm in den elsässischen
Klöstern predigte. Diese beiden, Eckhart und Matthias, sind Brüder
und ihre Lehren sind verschwistert. Aber Grünewald lehrt in der
Sprache des Farbenwunders, die kein Deutscher vor und nach ihm
geredet hat.
Das ist der Altar des Geistes im Abendland und Kolmar ist groß
wie Benares. Aber nur der Pilger, der in dieser Sprache berufen
wurde, findet wahrhaften Einlaß.
Wie alle großen alten Gebilde ist der Altar von unserer Zeit <in
ihren ersten Tagen) auseinandergenommen worden. Als er noch ganz
war, sah man ihn, da man zuerst vor ihn trat, geschlossen und auf
den geschlossenen Flügeln die Kreuzigung.
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444
Martin Süßer, Ereignisse und Begegnungen
Auf diesem Bilde ist ein Christus mit siechem Marterleib und
aufgereckten Fingern der angenagelten Hände vor die Nacht der
Welt gestellt und ihm zur Seite ein roter Täufer, der wie ein gi-
gantischer Marktschreier auf ihn zeigt und seinen Spruch hersagt,
und zur andern Seite ein Jünger, schwankend und verweht wie ein
Irrwisch, und vor diesem zwei Frauen, die zwei Frauen der Erde,
die zwei Seelen der Erde, die stehende Maria und die knieende
Magdalena.
Mariens Augen sind zugetan, Magdalenens Augen sind geöffnet.
Mariens fahle Hände sind starr ineinander gepreßt und ohne Einzel-
heit, Magdalenens blutdurchschimmerte Hände sind wild verschränkt,
daß jeder Finger hervortritt wie ein junges Tier. Auf Marien ent-
schwindet, was an Armein, über der Brust, am Kleidsaum Farbe
ist, vor dem ungeheuren, tödlichen Weiß des Mantels, der sie, ein-
deutig wie ein Leichentuch, umdeckt. An Magdalenen ist kein Fleck-
chen Leibes und Gewandes, aus dem nicht Farbe riefe und sänge/
ihr hellrotes Kleid ist von tiefroter Schnur gegürtet, ein goldnes Gelb
antwortet der strömenden Blondheit ihrer Haare, und noch der dunkle
Schleier schillert. Sie ist der vielfältigen Farbigkeit angelobt wie Maria
der einigen Farblosigkeit/ aber ihre Buntheit ist nicht vom Sinn ge-
bunden, und Mariens Weiße ist dem Leben entsondert. Diese Zwei
sind die zwei Seelen, keine von beiden ist der Geist der Erde. Vor
der Nacht der Welt leuchten sie zu Füßen des Gekreuzigten in
verschiedner und doch verwandter Geberde, als die Frage des
Menschen.
Dann öffnen sich die Flügel und stellen sich mit ihrer Rückwand
zu beiden Seiten der inneren. Das Herz des Altars blättert sich auf.
Und so ist es zu lesen:
Zur Linken die Verkündigung. Die Verkündigung der Antwort.
In der Mitte die Geburt. Da glüht auf kristallnem Gebirge der
Morgen der Welt, unter ihm sitzt die Jungfrau mit dem Kinde, und
zu höchst darüber entStürzen der göttlichen Glorie die Engelscharen
wie Samenstaub einer unendlichen Blüte. In der Glorie sind sie noch
überfarben, geeint im sonnenhaften Licht, aber da sie niederwallen,
im Zwischenreich des Werdens glänzt jeder als eine Farbe auf/ und
so knien und schweben sie musizierend links in dem Portal, jeder
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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 445
eine Farbe. »Denn das ist die letzte Matena, so ein Ding allein in
ihm selbst stehet und jubilieret in seiner Exaltation.« Das ist das
Wunder der Farben werdung, der Vielheitswerdung aus der Einheit:
das erste Mysterium. Dieses Mysterium ist nur offenbart, nicht uns
zugeteilt. Die überfarbne Glorie ist der Geist des Himmels, sie ist
niebt der Geist der Erde, der sie sich nicht erschließt. Die Engel
entstürzen ihr, aber sie schauen sie nicht. Wir vermögen nicht hinter
der Vielheit die lebendige Einheit zu finden. Wenn wir die Farben
hinwegtun, sehen wir nicht das Licht, sondern die Finsternis, mag
sie auch berauschend und voller Verzückung sein. Wer den weißen
Mantel umlegt, ist dem Leben entsondert/ und er erfahrt seine
Wahrheit nur, solang er die Augen schließt. »Wir erkennen, daß
Gott in seinem eigenen Wesen kein Wesen ist.« Unsere Welt, die
farbige Welt, ist die Welt.
So wären wir denn der Vielfältigkeit ausgeliefert wie Magdalena?
Wären, wenn wir uns von der Gewalt des Wirklichen nicht ab-
kehren und die Fülle unseres Erlebens nicht verleugnen wollen, aus-
gestreut in die Dinge und in das Bedingte gebannt? So müßten wir
ewig von Wesen zu Wesen und von Geschehen zu Geschehen
irren, unfähig ihrer aller Einheit zu umschlingen?
Da lesen wir weiter:
Zur Rechten die Auferstehung. Das ist Nacht und Tag der Welt
in einem: mitten im Sternenraum eine ungeheure, von Farbe wie
von einem treibenden Safte geschwellte Sonne, von der lichtgelben
Mitte über rote Strahlenkreise zum blauen Rand gedehnt, der in das
Dunkel greift, und darin, über aufgestürztem Grab und hingesunknen
Wächtern steil emporsteigend, in einem Mantel aus erster Morgen-
röte, violetter Wetterwolke, Blitzesfeuer und hellstem Himmelsfernen-
blau, der Auferstehende, Farbenbrand er selber vom Sonnenantlitz
bis zu den demütigen Rosen der Füße. Was ist Magdalenens Bunt-
heit vor seinem Weltenspektrum? Was ist Mariens weiße Einheit
vor seiner allfarbenen? Er umschließt die Töne des Seins in seinem
einigen Sinn, jeder Ton rein und gesteigert, alle verbunden unter
dem Gesetz der weltbindenden Person. Sie schillern nicht, sie prangen
in ihrem Selbst, um ein oberes Selbst gereiht, das sie alle, alle
Farben und Engel und Wesen, aufgenommen hat und emporträgt.
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446 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
Das ist das Wunder der Glorienwerdung, der Einheitswerdung aus
der Vielheit: das andre Mysterium. Dieses Mysterium ist uns
seibeigen zugeteilt. Die allfarbne Glorie, die allwärts erschlossene,
aufsteigende, die Glorie der Dinge ist der Geist der Erde.
Das ist nicht der Jude Jeschua, wandelnd und lehrend zu seiner
Zeit auf galiläischer Erde/ es ist auch Jeschua/ das ist nicht der ein-
geborne Logos, der aus seiner Zeitlosigkeit in die Zeit niedersteigt/
es ist auch der Logos/ — das ist der Mensch, der Mensch von All-
zeit und Überall, von Jetzt und Hier, der sich zum Ich der Welt
vollendet. Das ist der Mensch, der die Welt umfaßt und an ihrer
Vielfältigkeit nicht vielfältig wird, vielmehr aus der Kraft seines
Weltumfassens selber einig geworden ist, ein einig Tuender.
Er liebt die Welt, er lehnt keine ihrer Farben ab, aber er kann
keine aufnehmen, ehe sie rein und gesteigert ist. Er liebt die Welt,
aber er kämpft um seine Unbedingtheit gegen alles Bedingte. >Er
liebt die Welt zum Unbedingten hin, er trägt die Welt zu ihrem
Selbst empor.« Er, der Einige, bildet die Welt zur Einheit.
Unsere Welt, die farbige Welt, ist die Welt, aber sie ist es in
ihrem Geheimnis: in ihrer — nicht ureinigen sondern geeinten —
Glorie, und die Glorie ist aus dem Werden und aus der Tat.
Wir vermögen nicht hinter der Vielheit die lebendige Einheit zu
finden. Wir vermögen aus der Vielheit die lebendige Einheit zu tun.
Martin Bußen
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Triedricß BurscBeül Renaissance, Barodi und R06060 447
RENAISSANCE, BAROCK UND ROKOKO
EINE VORLÄUFIGE UNTERSUCHUNG
I.
Durch die Renaissance geschah die große Wendung, daß das Werk
des Künstlers als eine freie, für sich daseiende Schöpfung aus dem
früheren gottesdienstlichen Zweck herausgehoben wurde. Die Form
oder die Schönheit oder die Kunst hatten, als sie den eigenen Wil-
len in sich zu spüren begannen, die Herrschaft ihres eigenen Lebens
proklamiert und dieses Leben erschien gleichgültig allen inhaltlichen
Bedeutungen gegenüber. Die traditionelle Verpflichtung in der Wahl
des Stofflichen galt nicht mehr und jedes beliebige Thema schien
( freigegeben, um daran die neue Freude an der Gestalt zu beweisen.
Aber in Italien war die hohe Anschauung, daß die Kunst reine
Form, erhöhte Gestalt und schöner Ausdruck sei, von allem Anfang
an so instinktiv den Künstlern eingeboren, daß sie sich nichts aus dieser
Freiheit machten, sondern daß sie nur das, was schon irgendwie vor-
gearbeitet dalag, das heißt nur das, was schon zu einem idealen, all-
gemein geltenden Bild oder Symbol hinstrebte, für sich nahmen. Denn
ihnen ging es nur um die Erhabenheit der Farben und der Linien und
der tönenden Verse, und sie wollten sich keine Arbeit machen, indem
sie sich erst lange mit der Reinigung des bloß Materiellen abgeben
sollten. Den Germanen, die den Übergang nicht haben von Form zu
Form, sondern immer die Lücke und das Fehlende sehen, blieb dies
Geschäft vorbehalten und in Holland wurde der Anfang gemacht.
Aber in Italien folgte auf die Form der Frömmigkeit und der ge-
glaubten Bilder, die das ganz Allgemeine waren, der Weltzustand
des Mittelalters, eben die künstlerische Form derselben Bilder, die
nun geglaubt werden konnten oder nicht — dies blieb dem Einzelnen
überlassen — aber die von jedem als schön und erhaben verehrt
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Triecfricß BursSeff, Renaissance, Barock" und R06060
werden mußten. Die Bilder blieben trotzdem symbolisch, doch in dem
neuen Sinne, daß sie wohl da waren und so wie sie erschienen,
auch wirklich galten, aber hier war ein jenseitiges Reich gekommen,
von dem nun keine Erlösung zu erwarten war und keine Offen-
barung und in dem, wie Hegel einmal sagte, es kein Kniebeugen
mehr gab. Die Kunst der Renaissance war mythologisch in dem
Sinne, daß die Religion sich da ganz an die Pracht ihrer mythischen
Bildungen verloren hatte/ und das künsderische Bewußtsein war zu-
gleich ein mythologisches Bewußtsein geworden in dem Sinne, daß
die Mythologie als das Reich der fest und bestimmt gewordenen
Gestalten aufgefaßt wurde, wo der Glaube sein kann oder nicht,
aber wo in jedem Falle das Symbol ist, wenn der Künsder die
Schönheit dazu gegeben hat. Man muß auf dies Dazu achten, denn
in der Renaissance teilt sich alles: Die Formen leben in der Selbstisch-
keit gegen Gott. Die Kunst, einmal abgetrennt, mußte sich wieder
in sich selber teilen, man sah die Form, man mußte nun auch den
Inhalt sehen. Der Aristotelismus, das Begriflsspiel des Mittelalters,
war rein negativ gewesen, hier hatte die Teilung sich immer aufge-
hoben/ die Begriffe trieben sich zu Gott hinauf und wurden in ihm
namenlos. Aber in der Renaissance wandelten sie sich platonisch
um, sie wurden für sich genannt und blieben beruhigte Formen.
Sie nun, die Formen, hießen das Göttliche, die Schönheit hieß die
göttlichste Idee. Form und Inhalt traten auseinander/ dies ist aber
die eigentümlich hohe Kultur der Renaissancekunst, daß die Form
auch als der Mythos galt, als der Spiegel, in dem alle Dinge sich
rein widerstrahlten und ihre Wahrheit erfuhren, und daß so zwischen
Form und Inhalt kein Hiatus klaffte. Denn, ich wiederhole, da war
die Mythologie, das Reich der festen Gestalten und dazu kam die
Schönheit, die göttliche Idee/ beide, die Mythologie und die Schön-
heit, bezogen sich aufeinander, die Schönheit war das reine in-
haltslose Licht, sie sollte sich ergießen und an der Gestalt offenbar
werden, und die Gestalten waren die Heiligen und Verehrten, aber
ihre Stelle, das Gebet, war gleichsam frei geworden, sie schwebten
irgendwo im Gedächtnis der Menschen, man mußte sie retten, der
würdigste Platz war in der Schönheit gefunden, da wurden sie zu-
hause und kamen zum ewigen Leben des Symbols. In der religiösen
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TriedriS Bursdßed Renaissance. Barock und Rokoko 449
Welt, im Mittelalter, ist das Symbol wohl auch ein übertragenes
Ding, das Feierlichkeit hat und herausgehoben ist, aber die Schön-
heit, die Geschlossenheit, das Entsprechen der Teile, würde hier nur
hindern und zu schwer sein, denn immer muß das Nochnichtganz-
zuendesein, die Beziehung auf Gott hervorsehen, es muß irgendwo
sichtbar sein, daß das Symbol nicht ganz konzinn ist, es muß etwas
Überspanntes darin sein oder auch ein Sprung oder eine Lücke, da-
mit man fühle, daß hier noch etwas zu überwinden ist. Aber in der
Renaissance muß die Schönheit sein und in diesem Reich muß alles
bei sich und in sich beruhigt erscheinen. Denn das Leben ist wirr
und unbefriedigt geworden, man kann glauben oder nicht, hier ist
alles nebeneinander, der zur Buße Rufende und der nach irdischer
Macht Strebende, und so sehr sie sich beide verwünschen, ihr Haß
ist gleich und diese Worte: Sünder und Schwärmer haben den glei-
chen Akzent, und darum ist der Zweifel geboten und der Schlaue
siegt. Die Kunst muß sich da mythologisch binden, die Herrschaft
der Phantasie tritt das Erbe der Glaubensherrlichkeiten an, und so
stark verpflichtend wirkt dies Erbe, daß die Phantasie ganz sich auf-
gezehrt haben muß und ganz befriedigt sein muß, um den Söhnen
der sicheren und gottesgewissen Väter ein Reich sein zu können.
Die Phantasie muß ihr Äußerstes hergegeben haben, sie muß in ganz
jenseits liegenden, ganz unberührten Erscheinungen leben, die das
Tiefste der Sehnsucht in der lebendigsten und sichersten Weise nach
außen getrieben haben, in den Gestalten der ehrwürdigen Sagen
und der für das Bewußtsein sich zur Sage bildenden Religion.
Es war in Griechenland so, daß durch die Künstler die Religion
aus ihrer Eingeschlossenheit und ihrem obskuren Dasein in den ein-
zelnen Bezirken zum allgemeinen Besitze wurde, und in dem Augen-
blick, wo sie übersehbar und bestimmt dastand, das Schicksal und
der Götterhimmel und der Heroenkreis, war die Spannung gelöst
und das Bewußtsein kam darauf, daß hier doch etwas geschaffen sei
und daß die göttlichen Geheimnisse erst in dem Munde der
Menschen zu klingen beginnen. Das Ganze, das jetzt erst Religion
sein sollte, zerfiel in seine Teile/ früher, wo das Ganze dunkel war,
schien auch der Teil ungewiß und war darum nur religiös zu er-
leben/ nun erschien der Teil darstellbar und klar und er wurde zum
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450 TriedriS BursSefC Renaissance, Boro* und R06060
Mythos, von dem man singen kann und der sich im Stein isolieren
läßt. Vom Munde der einen Generation ging es zum Munde der
anderen, und er wurde immer weniger geheimnisvoll und immer mehr
die Sage und Mythologie, die zur Freiheit des Künstlers wurde.
Es war, wie der Philosoph aus der Dunkelheit der Kosmogonien
die freie Klarheit seiner Metaphysik sich baute. Und wie beim Philo*
sophen die Philosophie, so blieb die Kunst, die die Religion retten
wollte, schließlich allein übrig. Die göttlichen Gestalten erschienen
immer freier und schöner, aber das Bild war das Wichtige daran
und trat so beherrschend auf, daß man vergaß, daß es ein Abbild
sein sollte.
Ein ähnlicher Vorgang spielte sich in ähnlicher, unterirdischer und
von keiner Theorie reflektierten Weise in der Renaissance ab. Hier
waren natürlich die Gegensätze entschiedener und weiter auseinander
getreten. In der christlichen Welt war freilich keine Spannung zu
lösen/ denn die Spannung war darin immanent und notwendig und
das Prinzip selber. Es ist ganz deutlich zu sehen: da ist das Ge»
spannte der Gotik und da das Starre der Byzantiner, und hier das
Runde der Florentiner und die Pyramide des Lionardo und das
Oval des Raftael. Das Gleiten und Hinüberfließen zum beruhigten
Bilde konnte sich nur innerhalb dieser Renaissance abspielen. Was
ich als historische Gegebenheit in reiner Isolierung sehen muß, ist
freilich ein Prozeß/ ich nehme auch dessen Wesen und habe da eben
den Akt der Mythologisierung und sehe wieder, wie die Form sich
loslöst und zum Mythos der Schönheit wird, und wie die Inhalte
frei werden und mit sich spielen lassen und doch in der Schönheit
gerettet sind. Man sollte, meine ich, einmal dem nachgehen, wie die
Renaissance die Gestalten ihrer Bilder von Generation zu Generation
in Geste und Mienen und Kleidung freundlicher zusammenrückt und
sie vertrauter in Zufriedenheit und Wohlsein inmitten der eigenen
Landschaft wohnen läßt, bis es zu den ganz geschlossenen und be-
friedigten Bildern kommt. Kein Zweck soll mehr außer dem Bilde
sein/ von einer Abbildlichkeit im religiösen Sinne ist so wenig mehr
die Rede, daß Lionardo, auch wenn er von kirchlichen Darstellungen
spricht, immer den ganz allgemeinen Ausdruck der Historie hat. Die
religiösen Inhalte entfernen sich vom Bewußtsein in solchem Grade,
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Triedridi BursSeßl Renaissance, Barocfi und R06060
451
daß sie dem eigentlichen Leben fremd in einer eigenen distanten
Welt leben und ruhig geworden sind und nicht mehr herüberreichen.
Die Renaissance, die nur an die eigene Schöpfung glaubte, brauchte
diese Welt der kühlen Mythologien / in der Schönheit wurde sie zum
Schweigen gebracht. Hier war der Beruf und die Aufgabe der Re-
naissance.
II.
Aber die Ruhe der Bilder blieb nicht unangefochten. In den ger-
manischen Ländern erschütterte sie der Stoß der Reformation und
brachte sie um ihre Wahrheit, in Italien, wo schon Michelangelo die
letzten Möglichkeiten der geschlossenen Gestalt erschöpft hatte, löste
der Gegenstoß der Jesuiten in der Kunst vollends ein entschieden
neues Prinzip aus. In rein formalem Sinne bleibt zwar die Entwick-
lung von der Renaissance zum Barock ein Kontinuum: die höchste
Form der Zusammenfassung der bildhaften Erscheinung war nur mit
dem entschiedensten Pathos und der Anspannung aller vereinigten
Glieder zu leisten/ die renaissancehafte Kongruenz der Teile schlug
notwendig, auf ihren letzten Ausdruck gebracht, in ihr Gegenteil um,
wo alles Teilhafte zugunsten des Ganzen aufgelöst und in einer
Bewegung fortgerissen erscheint. Der Rahmen bleibt immer noch die
Grenze und das Bild wird nie geopfert, der stürmischste Affekt bricht
sich an einem Punkte, der — soweit er auch immer hinausgeschoben
wird — dennoch das Überspannteste in sich selber zurückschlingen
läßt. Für das künstlerische Bewußtsein der Renaissance hat das Bild
keinen Zweck außer sich, es herrscht und hat sein Reich, die gött-
lichen Inhalte sind in vorherbestimmter Harmonie mit der Göttlichkeit
der Form, und Gott ist selbst an dieser Göttlichkeit zum Namen
geworden/ Gott auch hat sich hier sublimiert und ist ein Teil ge-
worden, der klar und übersehbar in dem Höheren des Stils, in der
Atmosphäre des großen Formenreiches lebt. So gewaltig war die
Jenseitigkeit der Renaissancekunst, daß sie das Höchste noch dies-
seits fand, noch allzu beschwert, und es heraufhob und ruhend machte.
In den Barock dagegen brach der Schein von den neuen großen
Erhebungen des Diesseits hinein, auch in der Kunst will der Mensch
aus den Schranken heraus/ es scheint, ihn ziehe wieder die Unend-
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TriedriaS BursSefT, Renaissance, BaroaS und R06060
lichkeit/ aber es bleibt beim Schein, er wird zur Weltlust pervertiert,
und so sieht man diese Kunst in all ihrer Sehnsucht nach einer Auf-
lösung dennoch überall irgendwie tief befangen und gebunden. So
oft auch die Erlösung von oben her alles Gespannte hinauf zu reißen
scheint, immer ist dabei das unbewußte Ideal zu spüren, das irdische
Aufrecken, die irdische Kraftentfaltung zur gewaltigsten Erscheinung
gebracht zu haben, das Oben ist hier immer ein Vorwand, damit
das Unten ganz lebendig und nahe herangebracht werden könne, und
dennoch nicht unmittelbar und schamlos sich gemein mache. Jetzt erst
wurde gesagt, was in der Renaissance unmöglich war: daß die Kunst
Schein sei. Für die Renaissance war das Bild Realität in dem hohen
Sinne, wie Gott wirkliöS ist für den Frommen. Der Renaissance-
künstler dachte nicht daran etwas vorzutäuschen/ dies war für ihn
keine Frage, ob er an die Madonna glaube/ die Madonna war für
ihn bestimmt die auserwählteste und lieblichste der Frauen, und außer
dieser Vorstellung gab es nichts weiteres für ihn/ denn er konnte
sich in ihr völlig erschöpfen. Im Barock konnte sich die Kunst nicht
in dieser reinen Selbstgenügsamkeit erhalten, und man sehe zu, was
das bedeuten mußte, da ja noch immer das Formgefühl der Renais-
sance herüberragte und die Grenze, der Rahmen peinlich geachtet
wurde. Der Barock, sagte ich, wollte teilhaben an dem Aufschwung
des erregten Lebens, und da tritt nun die Antinomie auf, die seitdem
nicht mehr aus der Kunst verschwinden sollte, ich meine : Die Kunst
sollte das Äußerste des Lebens sein, dies stand fest, aber das
Äußerste war nicht mehr in eine Jenseitigkeit hineinzubringen, denn
dort war entweder die Bilder- und Namenlos igkeit des Gefühles,
die Mystik und der Pietismus, zu Hause, oder der Zweifel hatte
sich da eingeschlichen und alles dunkel gemacht. Der Zweifel an irgend-
einer Jenseitigkeit aber wendet sich gleich zum Zweifel an der Kunst/
in diesen Zweifel nun hat sich die künstlerische Kraft des Barock
tief, mit der Frische des Beginns, hineingebohrt, sie hat ihn produktiv
gemacht, und sie ist an ihrer Antinomie, daß sie ein Äußerstes sein
sollte und doch nicht transszendieren dürfe, an dieser lockenden und
doch immer bloß möglichen Möglichkeit ganz umzuschlagen und ganz
außer sich zu kommen, zum großen Stile geworden. Denn aller Ton
lag ja auf dem Leben, auf dem vielen Unentdeckten, was dieses
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TriedriS BursSelC Renaissance, Baroat und Rokoko 453
Wort eingeschlossen hielt, und es war unmöglich, daß die Kunst ein
genügsames Reich bliebe: das Leben scheint nicht mehr das wirre
Leben der Renaissance, das einer Qberbauung, einer Rettung in die
Schönheit bedurfte, sondern das Leben fordert jetzt für sich selber
alle Bemühungen, und man sah es jetzt, man mußte zu dieser Ein«
sieht kommen, daß das Leben, das wirkliche, gelebte Leben, ein an*
deres sei als die Bilder und Formen, in denen zwar auch dieselbe
Welle des Lebens floß, aber ewig und ruhend geworden und gleich*
sam ohne Antwort auf die vielen Fragen, die damals gebietend sich
vor alle Dinge stellten. Darum nannte man das Leben das Wahre,
das Eigentliche, auf das es ankommt, und die Kunst nannte man
den Schein oder auch den schönen Schein, denn in der Kunst sollte
das Schöne sein, es hatte da seinen Platz, im Leben war es ver*
ächdich, oder doch irgendwie nicht zur Sache gehörig. Die Schönheit
tritt aus dem mythischen Charakter einer Idee heraus, sie verliert
sich allmählich an die bloße Form im Sinne eines Mittels: sie ist
nicht unmittelbar mehr, sie hat keine Wahrheit, keinen substantiellen
Gehalt mehr in sich, sie ist ein Schein, der die schweren und un*
durchsichtigen Dinge leicht und durchscheinend macht, aber man bleibt
dabei, daß die Dinge schwer und undurchsichtig sind, man vergißt
es nicht, wie man es in der Renaissance vergaß/ denn da war die
Schönheit die Rettung gewesen. Hier aber, im Barock, kommt darum
das merkwürdige Spiel und Gegenspiel zustande, das sich im gegen-
seitigen Zuruf imposant hinaufsteigert und das Große dieses Stiles
wird: da stürzen sich die schweren und noch ganz unmenschlichen
Dinge in die Schranken der Formen und stoßen sich noch und wollen
sich nicht ordnen lassen, die Landschaften, die toten Gegenstände,
die Irrationalitäten der Gesichter, und dort wird die beruhigte Linie
der Schönheit immer inhaltsloser, löst ihre festen Konturen auf,
spielt buhlerisch und eins ins andre ziehend um die Dinge und schafft
die Atmosphäre des Scheins, das Halbdunkel der Unkontrollierbar*
keiten. Die Kunst sollte das Leben sein, wie es sich zum äußersten
bringen ließe, sie sollte eine tönende Musik sein zu den pathetischen
Vorgängen des Lebens/ und sie war doch um dieser gewußten Musik
willen verurteilt der Schein zu sein und auch ein wenig die Lüge
und die Verzerrung. Es kam darum so, daß man auf diesen Schein
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454
Triedrid) BursdeBt Renaissance, Baroa$ und R06060
trotzte und das Scheinende noch scheinender machte, indem man es
immer näher an das Leben rückte, es kam so, daß man in die
Kirchen trat, wo nicht mehr alles geordnet war wie für ein sera*
phisches Auge, das jedem Ding immer ganz nahe ist und allen Raum
bewältigt, sondern wo man gleich an der Tür wie durch das Dichte
eines Waldes auf die Lichtung des Chores geführt wurde und wo
die Säulen unmerklich aus der Geraden gerückt waren, um dem
irdischen Gesichte die Illusion zu geben. Ja, die Kunst war hier das
Reich der Illusionen geworden, der gewollten Täuschungen, man
wollte bestimmt täuschen, man hatte es ja durchgemacht, daß man
mit der Wahrheit des schlechten Lebens nicht fertig wurde und daß
sie nie zu bewältigen war. Man mußte täuschen, wenn man das
Werk haben wollte, denn die Jenseitigkeit war nicht zu haben, aber
im Schein wurde die Wahrheit als die Erlösung und die andere
Jenseitigkeit gefunden. Der Barock ging aus die Wahrheit zu suchen
und er fand den Schein als die äußerste Wahrheit: Rembrandt
aber hat diesen ganzen Weg am Ende noch einmal gehen müssen,
nur umgekehrt, er suchte und fand wie Saul, der ein König wurde.
In Rembrandt hat sich der Barock auf den Kopf gestellt, er hat ihn
das oberste zu unterst gekehrt, er hat ihn erledigt und es war nach*
her nichts mehr an ihm zu finden. Sehe man sich doch einmal das
Gastmahl zu Emmaus an <ich meine das spätere der Bilder), da wird
dies deutlich werden müssen. Dies Bild heißt in Worte übersetzt:
da wurden ihre Augen geöffnet und erkannten Ihn. Man muß ver-
stehen, wäre dies Bild in der Renaissance gemalt, so würde es
heißen müssen: ihre Augen waren offen und der Herr ging in sie
ein. Denn das ist doch klar geworden, in den Renaissancebildern ist
keine Zeit mehr darin, man sieht höchstens noch den leisen Anstoß,
den die Menschen und die Dinge sich gegeben haben, um nun für
ewig in der Seligkeit ihrer Ruhe sich ausbreiten zu können. In den
Barock ist das Da, die Zeit hineingekommen, in den Barock ist das
Geringe, das Unfaßbare des Augenblicks, dieser letzte und höchste
Schein, hineingekommen. Das Gastmahl zu Emmaus wäre nie in
der Renaissance gemalt worden, oder es wäre dann eben das Abend*
mahl. Das Gastmahl zu Emmaus bedeutet als Geschichte nicht viel,
es ist ein kleiner Zug, ohne Folgen, es ist auch nicht auffällig und
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Triedridß BurscBetT, Renaissance, Baroai und RoHoko 455
absonderlich, wie etwa die Geschichte vom Tobias mit dem Engel
und dem Fische, das in der frühen Renaissance gemalt wurde, wo
man das Auffällige liebte, weil man so leichter aus dem Leben heraus
kam. Was ich sagen wollte: der Barock mußte seinen ganzen Pomp
aufgeboten haben, alle Flüchtigkeiten seines Scheines erschöpft haben,
damit Rembrandt kommen könnte, der mit diesem Schein begann
und ihn nun von Jahrzehnt zu Jahrzehnt tiefer suchte, bis er ihm
ins Herz drang, bis er das Gastmahl zu Emmaus malte, diese Un-
scheinbarkeit! Die Kunst des Barock ist damit fertig geworden, sie
ist über sich hinausgekommen vom Schein zur Unscheinbarkeit/ denn
es hat sich in diesem Gastmahl der Schein des Scheines enthüllt, die
Zeitlichkeit, die gleich ihren Tod in sich hat/ man sieht das doch,
man fühlt, da ist nun die Wahrheit hereingebrochen, die leuchtende
Unscheinbarkeit des Herrn.
m.
In Rembrandt also hat sich die Flut des Barock, da sie sich so
stark und herrlich überschlug, sich brechen müssen/ auf der Ober-
fläche bleibt nun das Spiel und es verläuft sich farbig und seicht im
Sande. Bevor ich aber vom Rokoko und seinem durchscheinend —
undurchdringlichen Grunde spreche, muß ich noch davon reden, zu
welchem Begriff sich das mythologische Bewußtsein der Renaissance
durch den Barock hindurch abwandelte, damit man die Entzweiung
deutlich sähe, die nachher im Rokoko eklatant wurde. In der Renais*
sance war das Bild die symbolische, die ganz erfüllte Wirklichkeit,
das Bild war einfach die Wahrheit, es gab nichts mehr über ihm und
nichts mehr unter ihm. Denn Oben und Unten standen nur schein*
bar da, es war in ihnen nur soviel Wahrheit, als Streben in ihnen
nach dem Bilde war. Die Religion, sagte ich, mußte Mythologie
werden, um eingehen zu können, und auch das Leben durfte nur
das bedeuten, was in seiner wirren Fülle Gesetz und Haltung ver-
sprach : die Geschichte, die auch ihrerseits mythologisch werden konnte,
die Helden und die eingesetzten Würden. Den Schatz dieser Mytho-
logien hat der Barock überkommen/ dies konnte offenbar nur um
den Preis geschehen, daß ihre Symbolik da allegorisch werden mußte.
Denn die Symbolik der Renaissancemythologien war hier, wörtlich
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456
Triedn'oS BursSe/T, Renaissance, Barock und Rokoko
gesagt, außer sich gekommen, die Symbolik lag nicht mehr aHein in
dem Bilde darin/ das Bild der Renaissance war selig in sich selber,
das Bild des Barock trägt seine Seligkeit zu Lehen/ es ist gleichsam
darin der prächtige Widerschein von einem so gewaltigem Feuer,
daß sein ursprünglicher Glanz nicht zu ertragen wäre. Der Barock
ist in einem ganz hohen Sinne uneigentlich, er ist kein reiner Spiegel
der Dinge mehr, er hat eingesehen, die Dinge sind immer das andere,
das Unfaßbare, und so übertreibt er und täuscht mit Bewußtsein
und begnügt sich damit, daß er ahnen lasse, die Wahrheit läge
anderswo. In diesem Sinne ist er Allegorie und auch Rembrandt ist
Allegorie,- denn es gibt bei ihm immer eine Stelle, eine Geste oder
einen Blick, wo aus dem Bilde hinaus gewiesen wird in die Bilder-
losigkeit. Die kühlen Mythologien der Renaissance sind vom Barock
aus ihrer Ruhe gelöst worden/ das Leben kommt in sie hinein,
aber nur als die Allegorie des Lebens/ denn von den Mytho-
logien heißt es nun, sie seien die Fabelwelt, die Welt rührender und
ergötzlicher Geschichten, nach Wahrheit dürfe da freilich nicht gefragt
werden/ aber in dieser bunten, reichen und umfassenden Welt konnte
das Leben herrlich gefaßt und sichtbar werden, das andere gerade,
das uneigentliche/ die Uneigentlichkeit sollte ja gesucht werden, die
von der bedrückenden Strenge der irdischen Gebundenheit erlösen
könnte. Das Suchen nach dieser Uneigentlichkeit hat den Barock als
Stil zusammengehalten/ ich sagte, der Barock hat den Schein ge-
funden, aber er hat ihn blind gefunden, er wollte die Wahrheit und
kam auf den Schein, und im Schein wollte er nur immer die Un-
eigentlichkeit haben, er wollte die Uneigentlichkeit im Scheine betonen.
Der Barock ist wie der Mensch, der seinen Traum auch im Wachen
noch festhalten will, und da er sich sehr an ihn klammert und ihn
oft sich zurückruft, mischt er manches von seinem wachen Leben in
ihn hinein und ist sich dessen nicht bewußt: so ist die Uneigentlich-
keit des Barock nie rein geworden und Schein und Wahrheit fließen
in ihm ewig durcheinander/ man kann es auch so ausdrücken, im
Barock liegt die Wahrheit immer an der Grenze und strahlt hinüber
und herüber, es kann so sein, daß eine Grenze um das Bild ge-
zogen ist und es heißt ausdrücklich: damit ist der Schein umschrieben/
der Schein weist ausdrücklich darauf hin, daß draußen das Andere
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TriedriS Burs(6e(T, Renaissance, Barvdf und Rokoko 457
ist, das Unfaßbare, oder es kann auch sein wie bei Rembrandt, daß
schon ein Blick oder eine Geste die Grenze des Bildes wird und
der Schein entblößt sich an ihnen und wird zunichte.
IV.
Wenn ich nun zum Rokoko komme, so will ich zuerst sagen,
daß der Weg von der Renaissance über das Barock klar und ge-
setzmäßig zum Rokoko hinführt und daß er mit runden Worten
zu umschreiben ist — ich muß mich da notwendigerweise wieder-
holen. In der Renaissance herrschte das Bild, da war alles beiein-
ander, im Barock war das Bild das Spiel des Scheines mit der
Wahrheit, aber das Spiel des Bildes war gebunden, es führte nur
allegorisch aus sich heraus, auf das Andere, es blieb doch in sich,
im Trotz seiner Uneigentlichkeit/ und im Rokoko ist nun der Trotz
verschwunden und das Spiel des Bildes ist ganz frei geworden und
steht ganz gleichgültig allem anderen gegenüber. Das Rokoko kennt
gleichsam die Welt nicht: denn das ist eine schlechte Wahrheit, daß
das Rokoko die Welt nur von der leichten Seite kenne. Wenn man
da sieht, daß im Rokoko nichts ernst genommen wird, so soll man
auch den Charakter dieses Unemstes sehen und erkennen, daß da
eben von vornherein auf allen Inhalt, zu dem irgendwie eine Stel-
lung gefunden werden muß, verzichtet worden ist. Man soll er-
kennen, diese Welt der Tändeleien hat in sich die strengste Ver-
pflichtung die ganze Welt zu sein,- es ist gar nicht auszudenken, wie
es neben ihr noch etwas anderes geben könnte. Ich sage darum, das
Rokoko ist völlig indifferent gegen die Wahrheit, das Rokoko ist die
Kunst in ihrer höchsten Gleichgültigkeit, alles spielt da nur in sich
selber/ und es mußte so kommen, die Renaissance hatte den Weg
gewiesen, wie die Kunst in der Selbstischkeit gegen Gott bestand,
der Barode war hinter den Schein der Selbstischkeit gekommen und
hatte doch in dieser Hinsicht beharren müssen, das Rokoko wirft die
Einsicht ganz beiseite, es kümmert sich nicht mehr um sie, sein Schein
ist kein Schein mehr: denn der Schein hat die Wahrheit als das
andere sich gegenüber. Der Schein des Rokoko ist seine ganze Welt,
außer diesem Schein gibt es nichts weiteres, man achte darauf: sowie
das Rokoko sich auf etwas anderes besinnt, auf irgendeinen Inhalt,
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458 7riedric£ Burse6e(T, Renaissance, Barock" und Roüo6o
auf irgendein Pathos, ist es nicht mehr das Rokoko / es muß dann
zu alten Formen greifen, es muß klassizistisch werden, oder es muß
rhapsodisch werden, es muß stammeln und die Prophezeiung einer
neuen Kunst sein. Das Rokoko ist so subtil in seiner Künstlichkeit
geworden, daß es unendlich empfindlich ist und immer bereit zu sein
scheint, sich ganz aufzulösen, das Bild des Rokoko ist nahe daran
ein Teppich zu sein oder ein Stuck der Tapete oder sonst etwas
Kunstgewerbliches. Es hat sich im Rokoko die absolute Entzweiung
vollzogen/ das Rokoko hat die Konsequenz aus der Renaissance
gezogen, da der Barock den Bruch nicht heilen konnte/ es ist mit
dem Rokoko der merkwürdige Punkt in der Geschichte gekommen,
wo die gewaltigste Spannung, das stärkste Auseinandergetrieben-
sein von Gott und Welt, von Geist und Seele die Kunst ganz span-
nungslos gemacht hat, ganz in sich spielend/ denn es sollte sich hier
zeigen, daß die Kunst die großen Dissonanzen nicht erträgt, daß sie
nicht alles umfaßt, sondern daß sie sich immer auf die Seite stellt,
wo sie ihr Reich und ihre Ruhe finden kann, und im Rokoko hat
es sich nun ganz entschieden gezeigt, daß sie für sich bleiben muß
und nicht mitmachen kann, wenn, die Disharmonien des Lebens zu
stark geworden sind.
Die Welt des Rokoko ist so sehr Oberfläche geworden, daß, so-
viel auch der Grund durchscheinen mag, er doch ganz undurchdring-
lich ist, und man muß sagen, daß das Rokoko der äußerste und ent-
schiedenste Stil ist, zu dem die Kunst hat überhaupt durchdringen
können, man muß weiter sagen, daß die Kunst hier wieder anonym
geworden ist wie in den frommen Zeiten. Der Gotiker ist ganz
durchdrungen von Gott, er steht im Dienste des Höchsten und gibt
seinen Namen auf, der Rokokokünstler hat mit nichts mehr etwas
gemein, er ist ganz undurchdrungen, nichts rührt ihn an, und so ist
auch sein Name gleichgültig, die Bilder sollen alle eins wie's andere
sein/ denn es ist ja kein Grund vorhanden, warum sie verschieden
sein sollten. Man weiß vom Rokoko, daß seine Benennung von jener
Muschelform stammt, die in der Renaissancearchitektur die Rolle
eines dienenden Teiles hatte. Es ist wichtig, daß aus einem so völlig
leblosen Zierstück das Rokoko mit peinlichster Unermüdlichkeit seinen
ganzen ornamentalen Aufwand bestritten hat, und nichts kann den
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Triedridß BursSelC Renaissance, BaroaS und Rokoto
459
Charakter des Rokoko deutlicher madien als die Hingebung und das
Raffinement, mit der diese ganz abstrakte und gleichgültige Form
abgewandelt wurde.
Nun aber folgt aus diesem Verhältnis ein weiteres: die Renais*
sance begann damit, die Bilder in einen Rahmen zu zwingen, die
Kunst war für sich in Harmonie, draußen war das andere, das wirre
Leben. Aber die Herrschaft der Bilder mußte da gleich ihre Macht
ausüben. Denn die Geschichte bleibt nicht in der Einseitigkeit be-
fangen, daß nur das Leben zum Bilde strebt, sondern das Bild auch
wendet sich dem Leben zu, klärt vieles auf und macht es ausdrück-
licher. In der Renaissance hat die Kultur der Bilder auch eine Kultur
des Lebens befehlen müssen. Am besten hat sie da wirken können,
wo das Leben der Mythologie am nächsten war, am Hof und an
der Kirche, und hier wieder hat sie am nachdrücklichsten Ordnung,
Schmuck und Ruhe hineinbringen können, wo das Leben stumm war
und nur ein großes Zeichen sein sollte, in das Sitzen in der Würde,
in das Symbolische der Zeremonien und in den Pomp der Feste, die
gleichsam immer für das spätere Gedächtnis hergerichtet waren. Ich will
da an den Laurentianischen Festzug erinnern, wo man einen nackten
Knaben ganz mit Gold überzog/ man konnte sich das goldene Zeit-
alter nicht anders dargestellt denken, und es war gleichgültig, daß
der Knabe nachher daran sterben mußte. Ist es denn nicht so, daß
das Leben in der Renaissance nicht um des Lebens willen da zu
sein scheint, sondern insofern es irgendwie in einen Rahmen ge*
ordnet ist, insofern es gestellt ist/ scheinen nicht die Kostbarkeiten
der Stoffe und seltenen Steine von der kühlen Haltung der Bilder
her geschätzt zu sein, scheinen nicht die Menschen in den Möbeln
und Kleidern ihrer Bilder zu leben, und darum ein wenig hilflos
und traurig? Denn der Mensch wußte da noch um seine Nacktheit.
Aber im Barock beginnt das Fleisch zu blühen, es will aus den
Gewändern heraus, aber der Wurf der fliehenden Gewänder ist
das Wichtigere dabei. Nicht daß das Fleisch triumphiere, — so un-
vermittelt steht es nicht im Barock «— sondern daß die Hülle falle/
und das ist etwas anderes, das ist die typisch allegorische Haltung,
die immer zwei negative Vorzeichen braucht, um ein Positives zu
bezeichnen. Auch das Leben also wird allegorisch im Barock, man
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460
'FrfedriS BursaSe/T, Renaissance, BaroaS und R06060
beginnt mit Bewußtsein ein Doppelleben zu führen und immer weist
eines auf das andere hin. Wie im Bilde der Kampf des Scheines
mit der Wahrheit herrscht, so wendet auch der Schein des Lebens
sich gegen die Wahrheit der inneren Brust, und der Schein wird
vor ihr zum Pomp und zur Maskerade, er herrscht zwar immer,
aber er hat das andere erkannt und bleibt in dieser Qualität. Und
da nun auch das Bild zur Illusion geworden ist und der Augenblick
darin sichtbar geworden ist, kann sich die Kultur der Bilder ungehemmt
in das untere Leben, in die Hast herunterbegeben/ der Mensch um*
stellt sich mit dem erdrückenden Prunk einer ganz uneigentlich ge-
wordenen Pracht. In der Renaissance war nur das Stummsein, das
Statuarische des Lebens vom Bilde betroffen, im Barock wird auch
das Ungebärdige und der Fluß als Geste begriffen. Julius der Zweite
hieb, wenn er zornig war, vom apostolischen Stuhl herab auf die Bischöfe
ein, Ludwig der Vierzehnte aber warf, wenn er die Wut in seiner Faust
zu spüren begann, lieber seinen königlichen Stab zum Fenster hinaus.
Dies ganze Verhältnis von Bild und Leben wird jedoch erst für
das Rokoko wahrhaft wichtig und hat erst da seine metapsycho*
logische Notwendigkeit. Denn in der Renaissance ist das Bild in
sich und das Leben ist gleichgültig, im Barock ist an der Grenze
des Bildes schon alles gesagt, und was sich von da aus ins Leben
fortsetzt, ist doch immer wieder nur in der Annäherung zum Bilde
verständlich. Diese beiden Stile wollten eben keine Atmosphäre um
sich schaffen,* sie hatten, was in der Atmosphäre des Lebens zum
Bilde hindrängte, groß und entschieden gesteigert, sie hatten das
Atmosphärische des Lebens im Umkreis ihrer Kunst vollkommen
gereinigt, und man kann immer nur durch einen Sprung vom einen
aufs andere schließen. Im Rokoko dagegen klafft zwischen Bild und
Leben kein Hiatus mehr, der Rahmen des Bildes ist auseinander*
gebrochen und fast mit den Windungen seiner zierlichen Arabesken
auch das Lebendige in sich. Hier tritt nun *— zum mindesten — ein
sehr tiefes Paradoxon auf, und es wird gefragt werden müssen, ob
nicht damit eine ästhetische Unmöglichkeit behauptet sei. Denn das
muß doch ein Gesetz von absoluter Gültigkeit sein, daß das Werk
immer ein Jenseits des Lebens darstellen soll/ ich habe beim Barock
angedeutet, daß da zwar eine Antinomie bestehen kann, aber diese
■Bigitized by Geogle
TriedriS Bursdseff. Renaissance, BaroaS und Roüo/to 461
Antinomie ist da eben ein Diesseits geworden, ein Anstoß zum
Werk, das Werk selber konnte nicht anders als jenseits blei-
ben. Es entsteht beim Rokoko die Alternative entweder an seiner
Kunstqualität zu zweifeln oder die Qualität des von ihm umfaßten
Lebens selber als ein Jenseits anzusehen, als eine metapsychologische
Ordnung/ und da ich den Zweifel nicht habe, da er mir vom Prinzip
des Rokokostiles selber ganz ausgeredet worden ist, muß mir das-
selbe Prinzip auch dies merkwürdige Jenseits des Lebens klar machen
können. Es hieß: das Rokoko kenne die Welt nicht, denn es ist
selber in sich die ganze Welt. Und ich muß nun hinzufügen, diese
Welt ist ganz Form geworden. Die Renaissance hatte noch die Auf-
gabe die göttlichen Inhalte ihrer Bedeutung zu entkleiden, und das
Barode hatte noch den Kampf mit den zu schweren irdischen Dingen.
Das Rokoko ist ganz allein Form in sich selber spielend, und was
da sichtbar wird an Dargestelltem, das ist ganz leer und hält nichts
in sich, das ist nur Spiel der Form und will nichts bedeuten. Nur
das wird deutlich: es soll außer dieser Form nichts weiteres geben.
Und hier ist nun der Punkt, wo es notwendig wird, daß die Form
auch in das Leben eingreife und ihre Verpflichtung da sich vollends
bewähre. Das Paradoxon des Rokoko beruht darauf, daß die Kunst
auf ihre höchste Spitze, auf die höchste Gleichgültigkeit gebracht,
auch gleichgültig wird der Distanz gegenüber, die sie vom Leben
trennen soll, und daß hier kein Unterschied gesehen werden kann.
Das Bild ist anonym geworden, der Genius des Künstlers tut nichts
zur Sache, es kommt nur auf die Geschicklichkeit an, alles ganz mit
der Form durchdrungen zu haben/ dies ist das Gesetz, und seine
anonyme Harmonie, die nicht auf die Einmaligkeit des Werkes sich
beschränken kann, umfängt auch das Leben und hebt es aus seinem
dunklen Grunde hinauf in die Tyrannis ihrer Ordnungen. Darum
ist es geboten hier von einer metapsychologischen Qualität des Lebens
zu sprechen, weil die Tyrannis der Bildkultur dieses atmosphärische,
alles durchdringende Gefühl geschaffen hat, daß auf die Ursprünge
und Gründe, auf alle geheimen individuellen Gesetze und Zwecke
keine Rücksicht falle, daß alles in dem einen erhöhten, in sich voll-
endeten und reinlichen Stilbereiche vor sich gehe, wo der Schein kein
Schein mehr ist, sondern gleich die ganze Welt.
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462 7rieefri<£ Bursche Ol Renaissance, Barock" und R06060
V.
Die Idee, die die drei Stilkomplexe als höhere Einheit unter sich
begreift, ist das Herrschaftsprinzip der Form oder besser des ge-
formten Bildes. Das geformte Bild war selbstgerecht und selbst*
genugsam geworden/ die religiöse Abbildlichkeit war aus ihm ver-
schwunden und die Verehrung, die vorher dem Abgebildeten galt,
rückte nun das freigewordene Bild, das allen Inhalt, der von oben
oder unten hätte kommen können, unter die eigenen Gesetze brachte,
in das bestimmte, gesonderte Reich der Kunst, das durch die drei
Epochen hindurch für sich leben konnte und so gewaltig wurde, daß
es am Ende auch das Leben zu sich heraufzog. Mit dieser Über-
schreitung seiner Machtbefugnis aber war das Bild allen Gefahren
preisgegeben und sowie im Rokoko einmal das Gesetz der Stil-
verpflichtung außer Acht gelassen wurde, das heißt sowie ein Pathos
oder ein seinsollender Inhalt in die Welt des Rokoko einbrach, mußte
die Idee der Kunstherrschaft zu Falle kommen. Im Rokoko selber,
in der spielerischen Welt der Form, hatte sich die Möglichkeit
zum Sturze der Idee vorbereiten müssen. Denn die Inhaltslosigkeit,
das Spielen der Form in sich selbst, konnte keine rein ästhetische
Angelegenheit mehr bleiben/ alles Ästhetische ist irgendwie abstrakt
und von irgend einem Substantiellen abgezogen/ das Ästhetische hat
den Verzicht und die Beschränkung in sich. Das Rokoko aber war
in seiner bestimmten Normierung des Lebens so sehr Welt in sich, daß
es draußen nichts mehr sah und sich überallhin ausbreiten zu können
glaubte. Das Paradoxon des Rokoko wurde darin gesehen, daß die
Kunst in ihrer höchsten Gleichgültigkeit auch gleichgültig wurde den
Grenzen gegenüber, die sie vom Leben trennt, und dieses Paradoxon
muß nun dahin erweitert werden: das Ästhetische, das alle erreich-
baren Formen des Lebens durchdrungen hat, muß notwendig zu
einem außerästhetischen Charakter umschlagen, wo die Formen und
die Künstlichkeit, das Spiel der Inhaltslosigkeit selber als wahres
Leben und reine Unschuld aufgefaßt werden. Das Rokoko hat sein
eigenes ästhetisches Ideal wirklich gelebt, es hat die Kluft über-
Sprüngen, die die Sehnsucht zwischen Form und Leben gespannt
hat, und es scheint mitten im Paradies der Erfüllung. Das Rokoko
hat ganz die Form der paradiesischen Idylle und es wird gleich-
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TriedriS BursSeß", Renaissance, Bamdf und R06060 463
gültig, ob die Bilder wirklich gemalt und die Verse wirklich gedichtet
werden, da ja hier die Natur selber der Künstler geworden zu sein
scheint, der alles künsdich schön zubereitet hat. Das Rokoko hat die
Herrschaft der Kunst so weit getrieben, daß sie Natur geworden
ist/ und mit dieser Auffassung ist es reif geworden und mußte an
seine Grenzen stoßen. Das Rokoko stand in dem Augenblick vor
seiner Revolution, wo eingesehen werden konnte, daß es eine tin-
form und eine Entwicklung des Lebens gibt und daß Natur erst im
Geiste des Menschen zum Bilde wird. Aus der Revolution dieser
Erkenntnis ist die Romantik hervorgesprungen, der nun die Aufgabe
übergeben wurde von einem Prinzipe her die Trennungen wieder
zu versöhnen, die durch die Selbstgerechtigkeit der Formen seit dem
Mittelalter auseinanderklafften.
TriedridS BurscBeff.
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Max Brod", LoB des einfaden LeBens
AUS DEM ZYKLUS
»LOB DES EINFACHEN LEBENS«
SONETT AN DIE GELIEBTE
<Geliebte! Kind!
Wie ist es schön,
Daß wir beisammen sind.)
Du bist nur Traum und Haut und Hauch und Pore
Und rosa Seidenglanz in deinem Ohre
Und Ewigkeit, zu Kinderspiel gewillt,
Blutkreislauf du, in warmes Fleisch gehüllt.
Du Mund in Unschuld, Nase ohne Sinn,
Du Backe, einer roten Welle gleich,
Die gleitend steigt, du rund und freudenreich
Gewundnes Kinn und Stirne, Herrscherin . . .
<Geliebte! Kind!
Wie ist es schön,
Daß Wolken gehn und Winde wehn.)
In diesem Reiche von Analphabeten,
Laßt mich zu euch, in euren Schatten treten!
Hier ist der einz'ge Ruheort der Welt,
Mein Pol und Stolz, der Atlas, der mich hält,
Friedhof des Denkens, Spülbad, süß und blind,
Und Ruhe wie im kühlen Wäschespind.
(Geliebte! Kind!
Wie ist es schön,
Daß wir gesund und wirklich sind.
Geliebte! Kind?
Wie ist es schön,
Daß wir einander nicht verstehn.)
Di
Max Brod, Loß des einfacßen Lf Berts 465
AN EIN MÄDCHEN IM THEATER
Auf dem abonnierten Sitz im Theater, Mädchen, wie schön
Atmest du Regel aus, holde Gesetzlichkeit.
Nicht umschweifend wie ich, von frevler Einsamkeit gährend,
Trägst du am schaurigen Sumpf irre Fackeln dahin.
Einem Sternbild vielmehr vergleich ich dich, wenn du in Zeiten
Gleichen Abstandes hell aufgehst im nämlichen Kreis,
Stets dich der gleichen Nachbarschaft freust, wie unter Gestirnen
Göttlich ewiges Recht Platz und Gesellschaft bestimmt.
Lüsterne schielen nach Wechsel. Doch du, die immer den gleichen
Klatsch der Nachbarn erträgt, du mit schweigsamem Mund,
Die das gleiche Opernglas auch den wenig verschiednen
.Kleinstadtspielen erhebt, achtsam, weil so sioYs gebührt,
<So erscheint der Orion seit je unter minderen Sternen,
Blickt gelassen sie an, blickt und störet sie nicht)
Lernte ich doch an dir, du engelhaft einfache Seele/
Was mir am schwersten fällt: Walten ruhiger Pflicht,
Die das ihre in Frieden tut und ohne Erbittrung. —
Doch du, seliger Stern, glänze und tröste so fort!
AUSFLUG MIT DEN ELTERN
Der Vater, kaum der Eisenbahn entstiegen,
Vernimmt den klar und dunklen Kuckuckschall
Aus Wäldern, die in langen Mulden liegen,
Und nahe Felsen geben Widerhall.
Gleich richtet er sich auf, er möchte fliegen,
Und fragt mit Lust: »Wo ist der Wasserfalle
Wenn Mühe abfällt, wenn das Schollenland
Die Stadtangst und den Arger wie ein Schwamm
In seine tausend Poren nimmt und bannt,
Wenn dann im großen Forste Stamm bei Stamm
Uns kühl behütet und der fremde Rand
Des Hochgebirgs erstrahlt mit Alm und Klamm,
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466 Max Brod, Loß des eiqfa&en Leßens
Dann fühlt ihr, liebe Eltern, endlich wieder:
Was leben heißt und wie man munter ist.
O Mutter, lache nur vom Abhang nieder
Dein Lachen, das man sonst noch ganz vergißt.
Jetzt füllt es mir wie Licht den Kopf, die Glieder
Und dreifach spüre ich, wie gut du bist.
O möge niemand meine Rührung tadeln,
Da ich euch schreiten sehe, da im Schwung
Der glatte Boden brauner Tannennadeln
Unter euch hinweicht und Begeisterung
Mit allen Kräften, die das Leben adeln,
Aus einem Quell euch anhaucht, eisig-jung.
Schon mischt sich starke schöne Wanderröte
In eurer Runzeln schwache Zeichnung ein.
Ein Steingeröll bringt Vorsicht, Stolpernöte,
Im Tale unten wird es besser sein.
Nun ebnet sich der Weg und nur erhöhte
Baumwurzeln krümmen seltner sich herein.
Es dunkelt und der Mond hat seine Kühle
Mit weißen Dünsten erdenhin gespannt.
Wie ich nun Scherze noch und Worte fühle
Und seh dabei der Wälder dumpfen Stand
Und unter unsrem Brückeben eine Mühle,
Mit Glitzern dran ein weites Wasserband,
Da war es nicht, wie sonst wenn ich im Freien
Mich rege, Ahnung und erhabne Glut.
Es war nur Ruhe, ohne große Weihen
Erdangeschmiegter Klang, beglücktes Blut/
Nun bin ich fromm bei meinen lieben Zweien
Und reine Luft ist hier und alles gut.
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ERINNERUNG AN DAS ERSTE EXIL
Da wir an Babels Wassern uns ganz glücklos meinten,
Wie nah war unser Land und unsre hellste Zeit!
Wir dachten Zions und wir weinten.
Doch jeder Muskel dieses Volkes war bereit,
Zu einem Hammer niederfallend zu erstarren.
Die jungen Männer gingen aufrecht, unverdorrt,
Ihr Sklavenmund sprach Königswort,
Und unsrer Frauen Klagen und trau er schwarzes Haar,
Das eine Wolke vor dem klarsten Himmel war,
Es machte uns vor Ungeduld zu Narren.
O eine Ungeduld riß uns, wie Jäterinnen Unkraut reißen.
Durch unsrer Seele Korn anschritt ein Zittern, streng und jung.
Und da ward nichts »schön' Blumec oder »bunter Schmuck« geheißen.
Das Böse fiel. Gott selbst hielt Musterung.
Gott war uns nah und kam in unsre Höhlen,
Da schliefen wir auf hartem Fels und Gott trat ein.
Auf unsre Wangen, blaß und kalt und rein,
Herniedertroff sein Wort gleich siedeheißen ölen
Und macht uns laut aufheulen durch die Nacht.
O dieser Schmerz war groß, von allen Seiten
Liefen Gequälte her wie nach der Schlacht.
Einander küßte man, man mußte eng beisammen stehn,
Denn jedem war dies Gräßliche geschehn: [uns bereiten.«
»Da unser Gott des Nachts nicht ruht, wie konnten wir zur Ruhe
Nein, damals waren wir nicht elend, nein, damals noch nicht!
Wir hatten ja noch Lieder zu verstecken
Und Harfen, alle Weidenbäume längs des Stromes zu bedecken,
Und unsrer Seelen ungestüme Pflicht!
Friedloses Volk, doch damals noch nicht ganz verbannt,
Du rastest und der zweite Tempel stand.
Und was dann folgte, daß man sich nach deiner Bürde,
Nach deinem Nachtgespenst, das doch noch Gott war, sehnen würde,
Deine gottlose Zukunft war dir heiter unbekannt.
Max Brod.
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468 Kasimir Etfs<6müf, Bitter aus den Säduogesen
BILDER AUS DEN SÜDVOGESEN
1.
TVTIE dieser Seee, des weißen und schwarzen, Patoisnamen : biantch
W mä, nor mä! dunkel und vokalisch heraufkommen aus der
fernen Tiefe eines romanischen Dialekts, so liegen sie da, klüftig und
zerrissen in der entflammten Orgel des Sturms. In den Kesseln
flattert und rast das Geschiebe des Nebels, das Wasser zischt auf
und dampft und die aufgestellten Wände der Felsen bis in das Ge-
strähne des Fichtenmeers hinauf steigt das riesige Gejohl des Winds.
Plötzlich mit überanstrengtem Gebrüll reißt der Sturm die eine Seite,
frei von Nebeln, nackt auf und die Ranke des gegenüberliegenden
Ufers steht steil mit ausgemeißelten und nordisch kühnen, ange-
strafften Linien da im leis rauchenden Wasser. Dann wirren Nebel
darüber, Wolkenballen sausen brodelnd hinein und in maßlosem
Aufruhr tobt die weiche Masse des Dunstes im Griff des Winds.
Über den Kamm saust der Sturm, pflückt die Worte vom Mund,
rast, zischt und heult wie eine Sirene. Nimmt Nebelmassen, knetet
sie zusammen, wirft sie in die Luft auf wie Fontänenstrahlen,
knattert in einem endlosen Zug sie über den Kamm und klatscht sie
gleich Fahnen gegen den Rand der aufsteigenden Kieferwälder, die
knirschen und rauchen. Wolken fliegen wie Ballen über die Haide
und schnüren die Ferne zu. Tau perlt im Gestrüpp und als zwei
Hunde mit erschütterndem Gekläff hinter einem Hasen jagend Kreise
über die Haide ziehen, bricht die Sonne das erste tiefblaue Loch in
die Revolte.
Und nun strömt der Rauch aus den Schluchten, überall steigen
aus den Altaren der Forste weiße Dampfschwaden in die ausge»
breitete Wärme und Täler tauchen heraus, die schroff sind mit den
Kanten der Felsen, den Kanzeln aus Granit und rotbrauner Haide.
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Kasimir EdsSmid. Bifder aus den Südvogesen
469
Doch alles ist noch ohne Jahreszeit, ist so später Herbst wie es
aufkommender Sommer sein könnte, ist anonyme Jahreszeit, Zeit*
losigkeit im Sturm, sind Felsen, die sich beruhigen im Ansturm der
Winde, Forste, die in der Sonne liegen und denen Herbst kein
Blatt verfärbt und Frühling nichts bedeutet, sondern nur dieses:
Sturm !
Und überall strahlend in den aufgewölbten Mittag brechen die
Teiche auf und die Weiher, die tiefeingebettet in den Höhlen liegen,
auf denen, leicht bewegt, die Sonne nun verzittert wie ein eng*
maschiges, tiefrotes Netz, oder die glasig geschliffen hochstarren
gleich Jade und gedunkeltem Malachit.
Gegen die Dämmerung rast der Sturm noch einmal über den
Kamm und bricht mit Nebeln ein in die Wälder des Wurzelstein,
in dem die Hexen nisten. Aber der Abend wird klar und verläuft
bräunlich und wie Zinnober über dem See von Retoumemer. Dort
steht ein Forsthaus. Vor einem halbdutzend Jahren waren wir hier,
Siebenzehnjährige, und die Douaniers waren hinter uns. Aber wir
vertrauten uns dem Chemin des Dames und es war ein guter Weg
mit seinen Serpentinen und in einer Dachluke des Forsthauses,
zwischen Gebälk und im Mond, spielten wir Karten die Nacht . . .
Spät abends in einem ziellosen Geblitz von Sternen brachen
kreisende Lichter aus dem Berg und Kegel roten Lichts stachen in
die Landschaft. Die Feuer brannten eine halbe Stunde und erregten
den Wald und dann fuhr mit Fahnen und Geschrei ein Autobus
an dem aufglühenden See vorüber.
2.
Nicht daß es ein Bad ist, Gerardmer, auch nicht daß es schön ist
und köstlich und an einem See voll Zartheit liegt, will all dies be*
deuten: Daß es französisch ist, gibt ihm die Lässigkeit und die Linie
und läßt alles begreifen und bleibt die Mitte und das Verstehen*
können auch der Wege, die zu ihm führen und derer, die weiter*
ziehn. So die lange Reihe der Seee, die von Retoumemer herüber
bis an es heran reichen, deren Ufer weiß sind von Reif und in deren
zarten Oberflächen die Röte schwimmt vom Dach eines geziegelten
Hauses und die pastellhafte Kurve des gesänftigten Höhenzugs mit
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470 Kasimir EdsSmid, Bifder aus den Südvogesen
dem aufflammenden Gelb der Birken. Und den bleichen Mond und
die Kaskaden und den Saut des Cuves und den dunklen Farm bei
den Fichten, wie den milden Aufstieg zu den Höhen mit Kühen
und den Matten nach den Gipfeln, auf denen überall mit breit«
ausgeholten Formen helle Landhäuser liegen wie große Aeroplane,
die in das Köstliche dieser Ebene jede Minute abzustoßen scheinen.
Und gleicherweise versteht sich, noch weit von der Stadt, diese Szene
am Brunnen, wo ein Schulhaus liegt im Gewirr zersplitterter Häuser:
Jene Parade des Lehrers über die Sauberkeit kindlicher Nägel und
die Lust der Bestätigten, der Eifer am Wasser jener, die zu leicht
befunden wurden und dann jener Einzug von hundert Holzpantoffeln
über die Treppe im Sang und Takt der Marseillaise.
Selbst auch da liegt noch deutlich dieser Duft und führt dieses
nahe: Wo das dünne Gesträhn der Fontaine Paxion schon in ein
königliches Meer von Matten weist, wo das Tal der Moselotte durch
ein glänzendes lichtes Land mit hellen Wegen, vorbei am Gesang
der Webereien, wie befreit und erhoben zieht und die zerstreuten
Chalets mit zinkbeschlagenen Fronten wie große starke Vögel mit
blitzenden und weißen Brüsten an den Bergrücken hocken und auch
das Düstere des Lac des Corbeaux ein versöhnlicher Himmel, leicht
gemischt aus Messing, Silbergrün und grauglänzendem Lila, lächelnd
übersteigt.
Weil es noch früh ist am Tage und spät im Jahr, sieht man nicht
viele Menschen in diesem Bade Gerardmer. Nur das noch dampfende
Weiß straßenlanger Leinen, die gerade gewebt wurden, bleicht auf
allen Wiesen um die Stadt. Aber die Promenaden laufen vornehm
um den See, zärtlich wehmütig fallen Blätter über die Wege, die
bereift sind. Eine klare Oktobersonne mit festlichem Orange rinnt über
die verschlossenen Läden der großen und ländlichen Hotels und über
den Park mit den Villen und Chalets. Die weißen Brote und Trauben
leuchten aus den Läden, das Land ist voll Licht, in dem schwanke
Nebel erzittern. Zwischen den Bäumen erkennt man nur leicht ver-
schwommen einen Zug Infanteristen, deren Hosen rot brennen und
die im Stechschritt den Platz umqueren. Vor der Mole liegen viele
Ruderboote und ein farbig aufgetakeltes Segelschiff wiegt sich ge-
lassen auf den blitzenden Wellen. Und indem aus dem Rauch des
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Kasimir Edscßmtd, BiCder aus den Südvogesen 471
Sees plötzlich und sich lösend eine Motorjacht stampfend heraus-
bricht, tun die Uhren der Stadt, eine vornehm und mit feiner Ruhe
hinter der anderen zurücktretend, einen Stundenschlag.
3.
Hier hat sich ein Komplex Historie hingelagert. Dies kleine Tal
war die Kulturstätte des Oberelsaß. Unglaublich den Höhenzug
dominierend, reckt Murbach seinen Torso auf. Chor und Querschiff
nur sind erhalten. Und doch ist dieser Rest zusammengeballte
romanische Stärke von ungeheuerer Kraft. Seitlich der Vierung laufen
die hohen Türme, von einem Sattel verbunden, in die Höhe und
geben der breiten Brust ein unsagbar Beschwingtes. Die Türme sind
schön gesäult und diese französischen Einflüsse, die durchbrochenen
Fenster, motivisch wiederkehrende Schachbrettfriese und die viele
Ornamentik, die die Breite mildert und doch der Fläche das Aus-
gespannte nicht raubt, bewirken Eleganz in dem Athletischen der
Struktur und geben der Wucht und Würde Aufstieg, Grazie und
etwas Fliegendes. Im Ganzen: Gewalt — wie ein maßloses, edles
Tier, ein wenig verächtlich herabschauend, steht die Kirche in dem
viel zu kleinen, verlassenen Tal. Niederdrückend und hoch spannen
sich innen in Chor und Querschiff die Bogen zu einem Gewölbe,
das voll ist von Sonne, Erschauern und dem Sang einer Biene.
Hier wurde Pirmin, von Reichenau her verschlagen, angesiedelt —
im achten Jahrhundert — das Kloster wuchs, ward Fürstabtei, reichst
unmittelbar, gefürchtet, berühmt. Sie dehnten ihre Herrschaft weit aus,
kolonisierten, expansierten sich, gründeten Kirchen, Filialen, besaßen
über hundert Dörfer und Städte, wurden die Zentrale der Geistig-
keit. Zeitweis hatten sie sogar Luzern. An den Gründungen der
Umgebung läßt sich im Maß der Baustile ihre Geschichte verfolgen.
Zuerst Lautenbach, dem sie eine romanische Kirche bauten, auch
stiernackig, vollflankig und auch wieder gemildert und versöhnt durch
anmutige Säulenbogen. Drinnen im Chor sind noch hellblitzende alte
Fenster, das Gestühl ist mit expressionistischen, lüstern verrenkten
Tierbildagraffen geziert, eine wundervoll geschnitzte Barockkanzel hängt
im Schiff. Die alten Säulen sind barock verstuckt und das Ganze ist
noch nicht jener verhängnisvollen »stilechten« Renovierung verfallen,
33
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472 Kasimir Edscßmtd, Bifder aus den Südvogesen
die mancherorts im Elsaß so sehr beliebt ist. Denn auch der Sand-
stein hat eine von den Jahrhunderten gezeitigte Seele und diese liegt
als Stimmungsgehalt mehr und vielmals tiefer gesenkt in den Um-
arbeitungen der Barockzeit als in der hellgestrichenen, korrekt ursprüng-
lich hergerichteten Formalität, die dem Auge nicht wohl tut, dem
Gefühl aber lästig ist.
Dann gründeten die Murbacher St. Leodegar in Gebweiler, zu
zwei Fassadentürmen einen starken Vierungsturm, mit allen Zeichen
des Übergangs ins Gotische.
Und als viel später die Abtei aufgehoben und in ein weltliches
Ritterstift gewandelt ward, zogen die Murbacher nach Gebweiler und
bauten die klassizistische jüngere St. Leodegar, ganz im Typ der
schweren Zentrale, aber im Signum einer ganz anderen Zeit. Der
Altar trägt die Bundeslade, ein Sarkophag öffnet sich, aus dem
(volles Rokoko) Wolken steigen, die Engel höher tragen bis ganz
oben zu dem weiten, von gelbem Licht durchstrahlten Auge Gottes.
Und da neben diesen beiden das kleine Gebweiler noch eine große
Kirche der Dominikaner hat, erschrak es ob dieses allzureichen
Segens und verwandelte ihr Schiff zur Markthalle und den Chor
zum Konzertsaal. Den Knaben der Stadt aber hing es viele Schilde
auf, die ihnen unter großen Pönitenzen verboten, mit Steinen nach
diesem Gebäude zu werfen.
Am alten Rathaus hängt neben dem Zeichen der Stadt, einer rot-
und blauen Zipfelmütze, das Wappen: Der springende Hund von
Murbach wie ein Protest gegen dies fabrikenstampfende Tal.
4.
Langsam gleitet die Sonne aus dem Tal in einem Streif, der die
Höhen hinaufeilt, die Luft bekommt etwas Stehengebliebenes voll
von tiefer Farbe und plastischer Ruhe. Keine Vögel singen mehr
und wie der Abend die Dörfer zudeckt, geht selbst kein Wind.
Wenige Leute, die die Straße queren, machen schlürfendes Geräusch.
Nur die schweren Kirchen widerstehen mit ihrem wuchtigen Kontur
der Dämmerung. Dann brechen die Lichter aus den Fenstern, hart
hämmern die Glocken über die Dächer und die kleinen Städte, fern
Industrie, Eisenbahn und Kultur, sind tot. Mit stillen, aus Jahrzehnten
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Kasimir EdsSmiJ, Bifder aus den Südvogesen
473
heraufgewachsenen Gesten, beginnt dann das Leben in den Häusern,
die voll Heimlichkeit sind und Gebälk.
Madame tritt in die Tür, hebt den geschwungenen Hafen anmutig
und lächelnd bis schräg vor das Gesicht und meldet das Essen. Sie
trägt die dampfende Suppe über die Diele hinüber in das andere
Zimmer mit den großblumigen, seltsam abgedämpften und verbrauch-
ten Tapeten und den dreieckten verblaßten Rideaux. Vom Ofen geht
Wärme langsam durch das Zimmer, das Ofenrohr mit den spirali-
schen Windungen knistert, in der Ecke unter dem großen ovalen
Spiegel steht ein Klavier, auf dem alte Notenbücher liegen, die merk-
würdige Stiche haben und in denen Stücke stehen von Rameau. Das
Weiß der Decke, Silber, die großen blutroten Räder Schinken, glitz-
gelber Wein in schlanken Karaffen atmen Schönheit und Feierlich-
keit. Die Gläserkanten funkeln, der trübe Spiegel beschlägt sich mit
Wärme, auf dem Ofen beginnt ein Spielzeug zu gehen und im Ge-
stühl und dem Parterre hebt ein Knacken an. Die Scheiben der
Fenster sind angelaufen, Madame bringt neuen Wein.
Über dem Tal liegt der Sternhimmel und wenige Laternen ver-
breiten ein seltsames Spiel von Schatten und geheimnisvollem Licht.
Von den Kreuzungen fallen rotgelbe Streifen in das schräge und
auf- oder absteigende Gekrümm einer Straße, und wie sie im Weiter-
sdieinen nur noch hellere Vertiefungen des Dunkels sind, lösen sich
alle Dinge zu neuen abenteuerlichen Formen in ihnen auf. Diese
gespenstischen Toreinfahrten wirken mit riesigen Dimensionen, Trep-
pen, die im Schatten liegen, reißen sich maßlos plötzlich in die Höhe.
Große Fronten von Ökonomien mit mittelalterlichem Gedunkel und
kopfgroßen Fenstern voll gelben Lichts ganz oben, türmen sich seit-
lings auf, wo die andere Breite der Straße tief und düster in Gärten
und Höfe fällt. Hinter dem vorspringenden Dach eines Stalles ver-
schwindet die schnelle Silhouette eines Liebespaares, kreuzweis die
Arme verschnürt.
Später/" nach dem elften Stundenschlag läuft der Mond über die
Stadt. All diese kleinen Vogesenstädte haben eine place du tilleul
oder wie sie immer heißt/ von alten starken, selbstbewußten Häu-
sern quer umringt, mit einem alten Baum, einem Brunnen, der immer
rauschend in lange Tröge fällt, an denen das Eisenwerk schön ist
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474
Kasimir Edscßmid, Bilder aus den Südvogesen
und die Form alt. Drüber kriecht der Mond, in großen Linien ziehen
über die Dächer die straffen Gurten der Höhenzüge, die blau und
silbern sind. Scheu weichen die Laternen zurück. Aus der Schmiede
klopft noch als einziger Laut in der Nacht ein Hammer und blinkt
Rotlicht. Dann spielt der Mond die ganze Nacht mit Geschnitz,
Gebälk, Giebeln und Gestühl.
Ein paar Rufe, kurzes Geklirr, das ist die Sensation, die der
Morgen aufjagt. Es dauert lang bis die Sonne ins Tal kommt, aber
sie macht früh hell und die Schornsteine verströmen weiß und ton«
los hellen Rauch in die Rosastriche am Himmel. Die Glocken häm-
mern die Viertelstunden herunter und die Stille wächst. Kaffee qualmt
in dem Zimmer, voll von schwerem Holzwerk und kleinen Fen-
stern. Zwei Männer treten ein, langsam grüßen sie, Worte fallen
von ihrem Mund, als wäre es Mühe, sie trinken einen Likör, stehn
schwerfällig, indem ihre Blusen sich blähen, auf, grüßen und gehen.
Dann schlägt es acht.
Und nun beginnt die einzige Seltsamkeit. Denn das ist die Zeit
der Schule, und da diese schweren und schönen Kinder nur in der
letzten zusammengerafften Minute diesen Gang tun und am Ende,
oben, des Städtchens eines laufend beginnt und unterwegs alles aus
aufgerissenen Toren sich anschließt, unbewegt, springend und stumm,
so braust das harte Melos der Holzschuhe durch die eingeschlafene
Stille als wie ein vielstimmiger Choral.
5.
Dies ist die Gegend starkgeschichteter Berge und des Herbstes.
Viele Marienfäden verspinnen sich in die Matten, und diese laufen
die Abhänge hinunter und wechseln hinüber in die steile Schönheit
steinerner Wege. Dies sind ganz die Vogesen: braunrote Flächen
ausgespannt in die Sonne und Abhänge voll von Geröll und dem
wunderbaren Spielwerk der Linien, beherrschter Kraft, Sehne, Mus-
kel und schwerer Herbigkeit. Überall stehen Heidelbeeren, blau und
solche, die noch rot sind wie Johannistrauben. Anemonen und graue
Skabiosen stehen in der Waldung. Hasenlatrig und Tausendgulden-
kraut, schwedischer Klee, Moschusmalve und Bitferich betupfen das
Gebirg. Brombeeren strecken sich an sonnigen Plätzen, und ihre
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Früchte erreichen ungeahnte Süße, und Tollkirschen mischen sich in
sie mit ihren tiefschwarzen Fruchtknospen, glänzender als japanischer
Lack. Zerzaust mit Ziegenbärten von Moos wagt sich Buchenwerk
noch ein Stück höher. Dann aber ist alles Matte und Gestein, das
sich breit in die Sonne legt und herrlich stark ist und einsamer als
je, weil die Fermen schon seit Michael geschlossen sind und der
Gesang der Kuhglocken in die Täler glitt.
Nur wenige erlauchte Gipfel geben in einer überschwenglichen
Ausgestreutheit das Bunte, Viele und die Augen Verführende in
geballten und durch die Distanz heroischen Zusammenhängen. Ein
Konzert von Schlünden und Aufstiegen umkreist den Horizont. Die
Last der Gipfel spreitet sich ausgebuchtet oder in konvexer WöU
bung in die Kessel. Abhänge sausen zur Ebene. Steinige, zerhackte
Klippen hemmen den Fall der Kämme und reißen sie plötzlich hinab.
Und aus der strengen Herrlichkeit des Steingerölls und der Echo,
den waldlos nackten, muskulösen Bergrücken, den Kesseln und dem
unendlichen Gekreuz gestraffter, sich schneidender und überschlagen*
der Linien baut sich der Wahnsinn und die Wucht eines Panoramas
von niederschlagender Gewalt.
Dann aber ist alles voll Herbst.
Braunroten Schaum schlagen die Wellen der Wälder nach den
Gipfeln, denen die dunklen Fichten sich entgegenstemmen und wie
zerstäubter Ocker ist der Abend über ihnen. Hügel und Berge,
Täler und Furchen hinan ist alles aufgeflammt und fällt glühend
zurück in die Rinnen und Weiher, in denen Forellen auffunkeln
und färben sie voll mit reifem Karmoisin und Inkarnat. Wie Bäche
rinnen die kleinen Dörfer in die großen Täler, an denen die Reben*
terrassen aufsteigen, und wie eine entrollte Fahne breitet sich der
Herbst, gesammelt aus tausend kleinen Wimpeln, aus durch das
Sankt Gregoriental, das trieft von dem blendenden Weiß des Käses,
der Butter und des Brotes, und prescht mit Brausen über die hohen
Kathedralen hinein wie ein Meer in das silbrige Gefäß des Ried.
Kasimir Edsc6mi<f.
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476
A. Suares, Dostojewski und die Trauen
DOSTOJEWSKI UND DIE FRAUEN
S ist im letzten Grunde nicht wahr, daß man das Gleichgewicht
I v zwischen Fleisch und Geist halten kann. Eines reißt das andere
immer mit fort. In allen großen Dichtern ist die Materie besiegt.
Je mehr sie das Fleisch liehen, um so mehr fürchten sie es. Oder
mißtrauen ihm zumindest. Was wäre in Wahrheit eine Kunst, die
nicht idealistisch ist? Ja was selbst ein Gedanke?
Wie er in der Liebe ist, das ist das große Geheimnis des Mannes,
und ist jenes, das der Künstler am meisten verbirgt. Kennt man
dieses Geheimnis, so kennt man den übrigen Charakter. Ich denke
nicht nur an die Liebe des Künstlers für seinen Gott oder für seine
Kunst, sondern an seine Liebe zur Frau, an alle diese Gedanken
des Fleisches, welche das Bewußtsein nicht kennt und welche das
Herz nährt, ohne sie immer zu benennen, nährt in einem Räume
des Mystischen. Und oft ist das Geheimnis des Mannes nicht in
dem, was er von sich an das Objekt seiner Liebe hingibt, sondern
viel mehr in all dem, was er für sich behält, was er verbirgt, was
er nie sehen läßt und niemandem anvertraut.
Von Buch zu Buch fuhrt Dostojewski eine bizarre Menage mit
den Frauen. Was für traurige und brennende Liebesnächte! Ich suche
in ihm den Schlüssel zu seinen Meisterwerken. Sein Leben hat nicht
alles gewagt, was seine Werke vollendet haben. Seine Werke haben
nichts dunkles mehr, wenn man sie mit seinem Leben beleuchtet.
Er schloß in Sibirien eine seltsame Ehe mit der Witwe eines
Arztes, einer unglücklichen und schon etwas gealterten Frau. Eine
Ehe, wie man sie in seinen Romanen sieht: Nächte des Mitleids
und der Wut, eine Mischung von Tränen, Hysterie, Leiden und
Gewissensbissen. Dostojewski und seine Helden heiraten, wie man
die längste Marter in allen Arten der Todesstrafen wählt. Es han-
delt sich darum, das Kreuz auf sich zu nehmen, und oft ohne alle
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A. Suares, Dostojewski und die Trauen 477
Hoffnung. Das Verlangen ist hier nur ein Reiz mehr des Opfers.
Das Fleisch sucht, schwach sogar, nicht sein Vergnügen, sondern
seinen Beweis und seine Traurigkeit.
Die Seele gibt sich ohne Freude hin, nicht wie einem Versprechen
des Glückes, sondern einer Art zerreißenden Elends, einer Fatalität
ihrer Wahl. Das wäre wenig, wenn man, ohne Hoffnung für das
eigene Glüdc, die Illusion bewahrte, es einem andern zu geben. Aber
so ist es nicht. Die Ehen Dostojewskis vollenden eine Glücklosig-
keit, die nicht sich erfüllte, heirateten sich die Liebenden bloß nicht,
sondern die sie zum Wahnsinn führte, wenn sie sich nicht ent-
schlossen hätten, das Unglück voll zu machen. Denn dies ist das
Ende: die Ehen Dostojewskis sind das vollendete Unglück. Im
Grunde ist er gegen das Fleisch bis dahin, daß nichts ihm gelingen
dürfe, nicht das, was es erhält, noch das, was nicht zu erreichen es
so sehr gelitten hat. Es erreicht nichts als sein Elend. Und das ist
alles was es verdient.
Er hat für die prauen eine brennende und schmerzliche Zärtlich-
keit. Man möchte sagen, er hat ein Bedürfnis danach, von ihnen zu
leiden, und trotzdem es ihm davor graut, sie leiden zu machen, weiß
er doch, daß er ihnen immer ein Anlaß zum Leiden ist. Ein Ver-
langen nach ihnen, grenzenlos, eine Angst, sie zu berühren, ein
Grauen, sie und sich zu befriedigen. Eine Furcht vor ihnen allen
ist in ihm, und gerade dadurch ziehen sie ihn an. Er konnte ganz
gewiß die Gegenwart von Frauen nicht entbehren/ und ohne in
irgendwas das Glück einer Frau machen zu können, mußte er träumen,
eine Frau würde ihn glücklich machen.
Seine erste Ehe ist schrecklich: sie stinkt nach Häßlichkeit und
Schmutz des Hauses. Eine bettlägerige Liebe. Hier wollte Dosto-
jewski sein eigenes Sakrifizium. Er hat eine Züchtigung gesucht/ er
hat eine Sünde abgebüßt, die ich fühle, die ich sehe und die ich nicht
nennen will.
Später nimmt er, kaum Witwer von dieser Witwe, ein junges
Mädchen zur Frau. Er hatte eine Leidenschaft für junge Mädchen,
und niemand hat gewußt wie weit die ging. Er gehört zu jenen, für
welche die Unschuld und die erste Jugend die Blüte in der Blüte ist,
die Liebe der Liebe.
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478 A. Sucres, Dostojewski und die Trauen
Der Fürst Muischkin ist, in der Liebe, Dostojewski selber. Er
verlangt für die Wollust die feinste der Frauen, sucht dieses Lächeln
zwischen Herz und Fleisch, das der Charme der jungen Mädchen ist/
er träumt mit ihnen von den Zärtlichkeiten der Liebhaber, ob sie
schmeichelnde Hände haben, ob sie Gefühl für unschuldige Lieb-
kosungen haben, ob sie wie Kinder sein können . . .
Erschreckt sehe ich auf das Leben einer Frau mit einem solchen
Mann, und auf das Leben eines solchen Mannes mit irgendeiner Frau.
Er kann ihr nur seinen fleischlichen Schatten geben, mit allen Miseren,
die ihm anhaften wie gleich viele blessierte Glieder an Hautfetzen
hängen. Für alles andere bewahrt er ein ewiges Schweigen. Er
bricht es nur, um sich in fiebrigen Peinen und Leidenschaften zu
wälzen. Die Freude solcher Menschen ist immer stumm, so wenig
zählt sie. Ihr Schmerz allein ist beredt.
Eine Frau muß mit ihm leiden. Muß, sage ich. Denn er weiß,
daß das ihre Berufung ist, wenn sie wahrhaft Frau ist. Sie muß
leiden und ihm ist es ein Müssen, daß er daran leidet, leiden zu
machen. So erkennen sich die Geschlechter, und lieben sich schließlich.
Die Liebe ist in diese Praxis hineingeboren. Anders maskiert das
egoistische Vergnügen alles.
Welche Geduld braucht eine Frau, ist in ihr, um das Leiden zu
ertragen, das aus einem solchen Manne sich gebiert! Die Geduld
einer Frau ist ihre Stärke. Welcher Mut ist in ihr, um ihren Glaubeji
an das Leben zu behalten! Für den Mann muß sie, wenn sie liebt,
den Glauben haben, wenn sie ihn für sich selbst verloren hat. Sie
kann den Willen eines solchen Mannes nicht betrügen/ sie kann nicht
die ganz einzige Lehre seines Werkes vergessen: daß der Glaube
an das Leben, coüte que coüte, die unerschöpfliche Mutter der
Schönheit ist.
Eines Mannes Weib sein ist hart. Aber es ist auch mehr wert
als eine jener fetten Prostituierten zu sein, welche zwischen Paris
und Nizza aus ihrem Mannshaß Bücher machen, indem sie sich
selber im Spiegel abschlecken. Und weil sie die Schmach der Eigen-
liebe sind, halten sie sich für Künstlerinnen. Nicht der Lais, die ihre
Pusteln kratzt, sondern ihnen verdankt man die Züchtigung, eine
Ewigkeit lang in den Schlamm ihrer Geschwüre und den Brei ihrer
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479
Exkremente zu tauchen, die Reize, die sie sich gefunden haken, die
scheußlichen Vergnügen, die sie da kosten.
Di quella sozza scapigliata fante,
Che lä si graffia con l'unghie merdose,
Ed or s'accoscia, ora e in piede stante.
<Inf. 28, 44>.
Weil er sie leiden sah, und weil er die Frauen leiden machte,
ganz mit Leidenschaft verlangend, sie zu erheben und zu heilen : des-
halb kennt sie Dostojewski besser als irgendeiner.
Er sieht sie bald grausam wie den Vorwurf des Fleisches, bald
süßer als die nährende Milch im Munde, aber immer alle toll: toll
egoistisch oder toll sich zu geben, toll darauf den Mann zu töten,
oder toll darauf, sich ihm zu opfern. Er kennt ihre einzige Leiden-
schaft, dieses ewige Erwarten, in dem sie fluten: immer die gleiche
schlafende Eva, die darauf wartet, daß der Finger ihres Gottes ihr
den Funken mitteilt und sie zum Leben ruft.
Und in dieser währenden Erwartung errät er immer ihre ewige
Täuschung, ihre ewige Verzweiflung: also muß man für sie leben!
Sie können das Leben geben, aber nicht haben! Man muß ihnen
das Feuer einblasen, welches der Seele ganzes Leben ist/ man darf
nie diese unsterbliche und heikle Flamme fallen lassen. Und weil es
verhängnisvoll ist, daß man nicht immer für sie die Flamme nähren
kann, darum müssen sie die Duperie des ganzen Geschenkes be-
klagen, das sie mit sich selber dem Manne und der Liebe machen
wollten.
Er ahnte ihre grausame Glut, diese eisigen Rankünen, welche de«
Herd der Zärtlichkeit und des Verlangens bedrohen. Er ließ ihn wie
eine schwächliche Andeutung dieser sinnlichen Seele, dieser perversen
Scham, dieser unschuldigen und jungfräulichen Wollust, welche im
Gefühle junger Mädchen zittern und welche das leidenschaftliche
Rasen der schuldigen Frau anfachen als ein unauslöschbares Bedauern.
Alles in ihnen ist passiv. Ihr Opfer hat zuweilen die Heftigkeit
eines egoistischen Appells an die Gewalt, die sie aber zurückstoßen.
Sie geben in das Genommenwerden etwas wie ein brennendes Wohl-
gefallen, um später daraus einen unbarmherzigen Vorwurf zu machen.
Sie sind in ihren scharfen Düften ganz die Blüte, die den Pollen
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480 A. Suares, Dostojewski und die Trauen
verlangt, befruchtet zu werden verlangt, während sie doch die Illu*
sion haben, nichts als zu resignieren. Sie sind auch die Frucht,
welche sich die Sonne zum Reifwerden erhofft, und welche die Reife
verfluchen wird, nach der ihr Fruchtfleisch begierig ist.
Erwarten, immer erwarten, um nie erhört zu werden, — das ist
die Frau. Er ist mehr als ein Mann, dieser Dostojewski/ und um das
mehr,, was er mehr Dostojewski ist. Mehr als ein Mann und mehr
als eine Frau. Alle diese Männer und alle diese Frauen in ihm
sind alle ganz er selber, jedes ganz er selber, für eine Zeit und nicht
untereinander verbunden. Das Ich vervielfacht sich auf diese Weise.
Der Mann, der dieses fatale Geschenk bekommen hat, trägt natür«-
lieh in das Leben und in seine Werke die Formen des Traumes.
Der so vielfache und so eine Dostojewski sinnt die Liebe mit
zwei oder drei oder mehr Frauen/ denn er hat in sich zwei oder
drei oder mehr Männer, für jede Frau, die er liebt, einen. Sei es,
daß er das Verlangen in seinem Fleische hat, sei es, daß er einem
seltenen Idol oder der Jungfrau einen Kult weiht. Verschwendung
der Liebe, Teilung, die einem mächtigen und mysteriösen Bedürfnis
entspricht. Er muß die Seele haben, und das Fleisch. Mit der Lust
muß er die Tränen haben. Und im Brande der befruchteten Frau
muß er auch die Jugend haben, die Blüte oder selbst die Kindheit.
Er ist nicht weit davon, derselben Frau zwei oder drei Männer
zu erlauben, weil er sie in sich selber findet/ und alle drei in ihm
haben Bedürfnis nach der Frau, die er liebt. Aus diesem dunklen
Grunde heben sich die seltsamen Helden seiner Bücher: alle zusammen
in der gleichen Liebe, geben nur einen, ihn, Dostojewski. Daher
diese geduldige Analyse, welche eine Seite des Charakters nur in
funktioneller Verbindung mit einer andern Seite betrachtet. Daher
auch dieses Zusammenstimmen im Leben und besonders in der
äußersten Liebe alles dessen, was unverstehbare Gegensätzlichkeit
für den Geist ist.
Das Begehren dieses Mannes nach dem jungen Mädchen zittert,
eine Feuernelke im Beet, von Blütenblättern schwer. Die Leidenschaft
für die Unschuld, der Elan zur jungfräulichen Form hin, diese
brennende Essenz, die so mächtig und so subtil ist, daß ein ver-
gossener Tropfen jede andere Liebe ganz parfümiert, und merkbar
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A. Suares, Dostojewski und die Trauen
481
noch ist in der gemeinsten Liebe, — ihr widersteht Dostojewski nie.
Übrigens ist das junge Mädchen nur in uns.
Ich glaube, er sucht die Jungfrau in jeder Frau/ er kann nur sie
lieben. Diese Predilektion reißt ihn fort, trägt ihn in den dritten
Himmel, wo sie ihn hinabzusteigen zwingt bis zu diesem Frühlings-
furor, wo die Lüsternheit des Mannes sich an das Kind wendet.
Er kommt dahin, nicht aus Laster, sondern aus Tugend der wall-
fahrenden Leidenschaft. Dieses Übermaß ist den Sklaven des brutalen
Appetites schwer verständlich zu machen.
In dem nach Liebe unersättlichen Manne zuckt und klopft eine
Leidenschaft, die über alle Begierden herrscht: eine Liebe zu haben,
in der alle Lieben ineinander verschmelzen und sich verschlingen. Er
ist Frau und er ist Mann/ er ist Liebender und er ist Vater/ er
ist Fleisch für seine Seele wenn sie rast/ er ist ganz Seele für das
Verlangen seines Fleisches. Und er will die Unschuld, weil sie unter
allen Essenzen der Liebe die unersetzlichste ist. An Wagner er*
innert er mich, der mit einem Eifer gleicher Art darauf aus ist, die
Liebe der Liebenden durch Verwandtschaft zu vervielfachen und der
vor den verbotenen Graden nicht zurückschreckt. Der Liebende ist
der Bruder seiner Geliebten. Siegfried ist fast der Sohn seiner Ge-
liebten und so oft er an sie denkt, denkt er an seine Mutter. Kundry
stiehlt einen Sohneskuß von den Lippen des keuchenden Parsival.
Man erzählt mir, Dostojewski hauste mit einem kleinen Mädchen
— ich war nicht erstaunt. Und ich bin sicher, hätte er hiervon
sichtbare Fakten gelassen, ich schlüge die Annalen des verborgenen
Mannes auf.
Man glaube nicht, man sei in dem Maße sinnlich, in dem man
leidenschaftlich ist. Es kann geschehen, daß der Furor der Sinne mit
der Leidenschaft wächst. Aber die leidenschaftliche Imagination ist
auch einer Art fleischlicher Idealität unterworfen. Nichts schwitzt aus
ihren Räuschen/ und der sinnliche Brand verbraucht sich darin, die
Schwierigkeit zu suchen.
Dostojewski ist bigam: dies zumindest. Ich spreche nur von seinen
Intentionen. Die Leidenschaft begegnet selten ihrem Objekt/ seltener
noch findet man die zwei oder drei Frauen, die man in einer begehrt.
Das Mitleid mit einer Frau, die man weniger liebt als man von
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I
482 A. Suares, Dostojewski und die Trauen
ihr geliebt wird, ist eine böse Passion. Sie führt manchmal sicherer
zum Tode als die andere. So übersteigt die Wut des Selbstopfers
weit jene Wut, die man darein legt, sich die andern zu opfern.
Er wollte sie alle beide: die eine für sich, und sich für die andere
auch. Ein verschwiegenes Geheimnis bekennt Dostojewski: sich der
Frau geben, die uns liebt und die von uns ihr Heil erwartet/ und
die Frau nehmen, die wir lieben, von der wir die Lust erwarten,-
jene welche die Leidenschaft leben macht und jene, welche sie tötet.
An dem düsteren Abend im Jdiot' wachen die beiden Männer, der
Geliebte und der Gatte, das Opfer und der Henker, bei derselben
Frau, die zwiefach war und die tot ist, auch sie Opfer und Henkerin.
Und am Ende: die Lust, die man verlangt und das Heil, das man
austeilt, schmelzen in der unergründlichsten Pein zusammen.
Was nur ist dieses Suchen nach dem Schmerz in einem Gefühle,
das dem Manne aus seiner Natur heraus das größte Glück ver-
spricht? Ist es nicht das Verhängnis im Bewußtsein? Es scheint, daß
Mann und Frau nicht für das gemeinsame Leben geschaffen sind.
Die Leidenschaft währt mehr oder weniger lange, aber sie ist kein
Zustand der Dauer. Die Leidenschaft lebt wie das Drama vom
Kampf und löst sich im Tode. Je mehr Mann und Frau sich lieben,
um so verhängnisvoller ist es für sie, vereint und vermischt zu
leben. Dem Genius der Gattung, den nur der Augenblick kümmert,
substituiert sich der Genius der Zärtlichkeit, welcher die konträren
Elemente zusammenzustimmen und aus einem vorübergehenden
Zustand einen dauernden zu machen vorgibt. Eine solche Gewalt-
tätigkeit gegen die Natur geht nicht ohne Schmerz. Und ich sage,
daß er notwendig ist. Die menschliche Liebe unterscheidet sich da-
durch von der natürlichen Liebe der andern Kreaturen und selbst von
der der meisten Menschen, wenn man so viele elendeste Paare bedenkt.
Damit Mann und Weib einander leiden können, müssen sie an-
einander leiden. Das ist das Gesetz. Ich spreche von dem im Be-
wußtsein vollendeten Menschen.
Die Übereinstimmung kommt nur aus dem Opfer. Der am meisten
liebt, der leidet am meisten. Gewöhnlich bekommt die Frau das
schmerzhafte Teil/ und oft wählt sie sich die Rolle aus. Aber der
bessere Mann läßt sie ihr nicht.
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Das Herz ist in der Liebe zu sehr entwürdigt, wenn es nicht
leidet. Allein das Leiden gibt uns unsere menschliche Würde zurück.
Wo ist der tief Liebende, den Amor nicht zur Verzeihung der
schlimmsten Beleidigungen herabwürdigt? Man muß groß von der
Frau leiden, um seiner selbst würdig zu bleiben in der Liebe, die
man einer Frau gibt, und sogar in der Liebe, die sie uns bewilligt.
Und es ist nicht nur das Geschlechtlich -Natürliche, das sich im
Manne und in der Frau entgegenstellt. Wenn die Herzen Mitschul-
dige sind, so ist es das Schicksal nicht. Das Elend, die Krankheit,
die Trauer, alles was jeden Menschen unter einer Schicksals vollen
Maske peinigt, das demaskiert sich in der Liebe und nimmt zwischen
Liebenden das Gesicht des andern an.
Die Liebe ist das, was uns am meisten von den Alten trennt.
Unsere Leidenschaft ist so brennend und so groß nur, damit wir in
uns die Einung der beiden Welten vollziehen können: das christ-
liche Herz bewohnt das heidnische Fleisch/ und das heidnische Fleisch
spukt im christlichen Herzen. Es ist unsere Liebe, die uns zeigt,
daß wir nicht eine Welt in uns von der andern trennen können
ohne uns vom Ganzen der Welt auszuschließen.
Das Mysterium der Liebe und das des Schmerzes sind eins. Ich
glaube nur an leidende Liebe. Und der Schmerz ist nicht die Krank-
heit: der Schmerz ist eine Bereicherung. Psyche hätte ihren Gott
nicht verloren, hätte sie ihn aus der Schlaflosigkeit des Schmerzes
und nicht aus dem Schlafe des Vergnügens aufgeweckt. Ohne den
Schmerz ist die Liebe nur ein Schatten ihrer selbst.
Die Alten kannten den Schmerz nicht, weil sie ihn zu besiegen
glaubten. Und wir, wir müssen ihn retten. Der Schmerz ist nicht
der Ort unseres Verlangens, sondern der Ort unserer Gewißheit.
Die Alten sind allzu fleischlich. Ich sage nicht, daß wir aus dem
Schmerz eine Auserwählung machen müssen. So viel als nötig muß
man alles tun, sich von ihm zu befreien. Aber kennen muß man
ihn. Der wahre Mann ist nicht der Herr seines Schmerzes, nicht
dessen Flüchding, nicht sein Sklave: er muß des Schmerzes Er-
löser sein.
Auf der chrisdichen Passion, die dem Leben so viele Wiederhalle
und Tiefe gegeben hat, darauf müssen wir ein neues Leben er-
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484
richten. Und dessen Freude wird allein die Größe sein. Denn wo
das Leben ist, ist auch die Freude, selbst in den Todesstrafen.
Leben, das ist Freude haben, um welchen Preis immer. Weder die
Größe noch die Schönheit sind ohne Leid wertvoll. Also wandle der
Mensch nicht mehr ohne eine innere Trauer, als welche Preis gibt
allem: der Tau der Tränen auf einem wunderherrlichen Antlitz.
Man sollte sich nicht rühmen, den Menschen auf ein Alter zurück-
zubringen, das er nicht mehr hat, noch in ihm auszutilgen irgend
eine der Mächte, welche die Vergangenheit in ihn gegeben hat und
die ihm nötig waren, weil er sie sich gegeben hat. Der Schmerz ist
eine hohe Macht.
Statt irgendwas zu zerstören, müssen wir alles in uns vollenden
und zu Ende bringen.
Wenn es nötig wäre, die christliche Leidenschaft zu rechtfertigen,
so sagte ich, sie hat die Liebe erschaffen durch den unendlichen
Preis, den der Schmerz ihr gibt. Die Kunst ist ein Übermaß der
gleichen Ordnung, wenn man sie mit dem Spiele vergleicht. Bei den
Alten ist die Liebe eine junge Flamme, die leuchtet und sich ver-
zehrt. Unsere Liebe ist ein währendes Feuer und das zu währen
verlangt, ein Glutbecken, das seine Flammen in dem Maße belebt
als es sie verschlingt, eine alles Leben nährende Hitze. Die Liebe
der Alten ist nur die Hülle der unsern: den Sinnen ist das Herz
zugegeben.
A Suares.
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Ludwig Matvany, Zwecke der Kunst 485
ZWECKE DER KUNST
DER bleiche Maharadja von Brama-Datta lag im Sterben.
Ein Leben lang war es stets seine einzige Sorge gewesen,
wie man die träge Zeit vom Aufstehn zum Schlafengehn mit mög-
lichst viel Zerstreuungen ausfüllt. Er hielt die schönsten Frauen in
seinem Harem, die edelsten Pferde in seinem Stall — und das Küssen
hat ihn gelangweilt und das Reiten ihn nur ermüdet. Wenn er ge-
wann beim Spiel, so ließ er den Gewinnst unberührt auf dem Tisch
liegen, und wenn er verlor, so tat er einfach einen Griff in den
großen Geldsack, den zwei hinter ihm stehende Diener immer bereit
hielten und schmiß die Gelder mit einer gleichgültigen Gebärde hin.
Die Segel seiner nervösen yacht knatterten reiselustig auf offener
See, mit einer Mannschaft, den Wink des Herrn erwartend, — aber
die blasse, feine Herrenhand zauderte zu winken. Da geschah es in
einer schlaflosen Nacht, daß er vom launischen Wunsth erfaßt, sich
in einer Sänfte zu Schiff tragen ließ, um sofort darauf loszufahren.
Die gelbglühenden Ufer Asiens und Afrikas glitten vor seinem fahlen
Blick, die Wolkenkratzerderamerikanischen Häfen,die ausRuß und Rauch
und Nebel und Dampf mit tausend schimmernden Fenstern hervor-
blitzten, konnten ihn nicht ans Ufer locken und wurden kaum eines
fangsamen Augenaufschlags gewürdigt, — und in Europa, wo der
Maharadja das Land betrat, rollten ihn Expreßzüge und Automobile
durch die Aufregung großer Städte, die ihn aber nicht mehr auf-
regen konnten.
Nun lag der Maharadja in seinem damastenen Bett und fühlte
den Tod nahen. Die tötliche Ermattung der Glieder war ihm eine
solche Freude, daß kein Arzt ihn heilen, keine Frau ihn pflegen, kein
Diener ihn berühren durfte. Nur seinen Sohn, den blonden Prinzen
Rosch-Ha-Kipur hielt er -krampfhaft umarmt, streichelte und herzte
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4S6
und küßte ihn, und die Getreuen, die im Halbkreis um ihn herum-
standen, hörten, wie er sprach mit einer Stimme, die sich todesmüd
aus wundem Innern hinausrang. »Die Zerstreuung zerstreut nicht,
sie zerstückelt. Das Stückwerk meines jämmerlichen Daseins geriet
in furchtbaren Widerspruch mit der Welt. Sie hat sich grausam an
mir gerächt. Ich war unglücklich, sehr unglücklich, und mußte in
meinem Jammer auch noch die Verachtung meiner Untertanen — ja,
ja die Verachtung, was bedarf es vor dem Tod all' der dummen
Schmeicheleien? — ich mußte eure achselzuckende Verachtung über
midi ergehen lassen. Aus dem Leben meines Sohnes soll der Wider-
spruch verschwinden. Sein Leben hat voll und hell, im Einklang mit
dem Leben des Alls zu sein. Helft mir, ratet — wem soll ich ihn
anvertrauen? Wer von euch kann das Leben dieses blonden, fürstlichen
Kindes zum Ausdruck alles Daseins machen und ihn so zum leuchtenden
Verehrtsein unter Menschen und zum strahlenden Glück erziehen?«
Da trat aus der Reihe der Zuhörer ein heiliger Mann hervor,
der all' seine Tage auf einer Säule betend verbracht hat und der
nun in das königliche Haus berufen war, um für die Gesundheit
seines sterbenden Herrn zu beten.
»Gib ihn mir — begann der Fakir - dein blondes, fürstliches Kind.
Er wird sich jung und schlank auf eine Säule neben der Meinen
stellen und, bis er grau wird und alt, seine Jahre auf der Säule
stehend, in andächtiger Betrachtung des Alls verbringen. So wird
dein Wunsch erfüllt und dein Sohn ein verehrtes, ruhmvolles, glück-
lich-ruhiges Dasein in herrlichem Einklang mit der Ruhe des Alls
verbringen.«
Ein Zucken des Unmuts fuhr durch das kranke, zerwühlte Ge-
sicht des Maharadja, und man vernahm, daß er wie ein gequältes
Kind in heiserem Gestön nervöse Fragen vor sich hin murmelte:
»Ruhe? Wo ist Ruhe? Was ist Ruhe? Ruht die Sonne? Ruht der
Mond? Ruhen die Sterne? Ruht das Meer? Ruht die Zeit? Warum
soll der Mensch ruhen? Ruh ist Tod, Leben ist Unruh! In dir,
heiliger Mann, verehren die Menschen die Ruhe des heiligen Tods.
Lehrt mir, sagt mir nur, wie soll mein Sohn in der unruhigen
Wirrnis des Lebens verehrt und glücklich und ruhmvoll sein?«
»Gib ihn mir« <— schrie ein Mann, der eben aus Europa kam, um
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Ludwig Hatvany, Zwecke der Kunst 487
dort das Neueste in Ackerbau und Handel, im Fliegen und Fahren
zu erlernen — »ich will dem blonden Prinzen zeigen wie man Fabriken
baut, Kanäle gräbt, Eisenbahnlinien zieht, den Boden fruchtbar macht,
Schulen gründet, Wege durch Felsen und Berge bricht, Städte ord-
net, Gesetze macht, Handel treibt und mit teuflischen Waffen sieg-
reiche Kriege führt. Dein blonder Fürst soll ein Mann der Tat sein,
— denn nur ein nützliches und zweckmäßiges, rasdos-unruhiges Leben
kann in Einklang mit der nützlichen und zweckmäßigen Unruh' alles
Seins zum leuchtenden Verehrtsein unter Menschen und zum strahlenden
Glück führen.«
Es war von neuem eine unmutige Geste des Fürsten, die dem
Sprechenden das Schweigen gebot. Schon wieder konnte man ge-
lispelte Fragen hören: »Zweck und Grund — Grund und Zweck!
Was ist Grund? Was ist Zweck? Wer so spricht, ist ein Lügner,
ein Fälscher, ein dummer Kerl, der sich selbst täuscht. Das Glück
ist sonder Falsch. Das Glück ist keine Täuschung. Oder es gibt
kein Glück auf dieser Welt.« »Mein armes — du mein ärmstes, gutes
Kind!« seufzte der Fürst, rang seine schwachen Hände und die
gebrochenen, verzweifelten Vateraugen fielen nun auf den Poeten,
dessen Gedichte er sich in besseren Tagen gerne vorsingen und
dessen Fabeln er gar oft erzählen ließ.
Der Dichter holte tief Atem und begann also zu sprechen:
»Dein blonder Prinz hat verträumte, schöne Augen, die blau sind
wie Kornblumen im Feld. Ich will machen, daß aus seinen Träumen
Kunstwerke erblühen. Er soll ein Künstler sein, nicht um die
Menschen zu belehren, nein, — sie holen ja ihre Belehrung ganz
anderswo, nicht um sie zu veredeln, nein, — sie lassen sich ja
überhaupt nicht veredeln, nicht um ihnen den Jammer des Daseins zu
erleichtern — nein ! — die Leutchen unterhalten sich ja bei Spiel und Tanz
und fröhlichem Gelage, — auch nicht, damit er in seiner Kunst der
Natur einen Spiegel entgegenhalte, denn sie ist sich ja selbst der
schönste Spiegel allüberall. Ob er nun eine Fabel sinnreich zu Ende
führt, ob er auf die Suche nach einem Reim geht, ob er Figuren in
Holz schnitzt oder mit einem dünnen Pinsel die Farben der starken
Natur abringt, — es ist gleichgültig, was er tut, wie er tut, wieso,
weshalb und warum er tut. Mir haben europäische Schiffer von einem
34
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Ludwig Hatvany, Zwetäe der Kunst
Manne mit langem, weißen Bart, mit wilden, rollenden Augen und
mit einer zerquetschten Nase erzählt, der einst in einer Stadt, die die
Leute von dort drüben, ich weiß nicht recht warum, die Ewige nennen,
mit nach rückwärts gebeugtem, wehem Nacken und gekrümmt auf einem
Gerüst hockend, die Wände einer großen Kapelle bemalt hat. Und die
Kapelle, wo dieser Mann Jahre und Jahre verbracht, wo er gear-
beitet, gerungen, geschuftet und schließlich, wie mir die Schiffer sagen,
Großartiges oder doch ihrem rohen, europäischen Sinn großartig zu
sein Scheinendes, fertig gebracht hat, — diese Kapelle war, denk
dir, o Fürst, auch bei hellichtem Tag dunkel, wie die Stunde der
Dämmerung, so daß die Gemälde sich, wie durch einen Flor, eben nur
erraten, kaum sehen ließen. Daraus ist zu erkennen, wie ganz und
gar hinfällig auch unser bestes Werk ist, und daß es ja gar nicht
auf das Werk, allein nur auf den Trieb ankommt, diese Werke zu
schaffen. So ist es auch erklärlich, daß die Menschen selbst den
Künstler eines mißlungenen, unvollkommenen Werkes verehren,
wenn sie nur diesen heiligen, unsinnigen Trieb zu schaffen in ihm
fühlen. Dieser Kampf um einen Erfolg, der kein Erfolg ist, diese
Arbeit um eine Wirkung, die nirgend wirkt, dieses fortwährende
Streben, das nur einen Zweck hat, ziellos zu sein und sofort zweck»
los wird, wo es sich irgendein Ziel steckt, setzt einen armen Mann
wie mich, in Einklang mit der rasdosen Unruhe der Natur, die
grundlos und zwecklos und nutzlos Welten aus dem Nichts für das
Nichts schafft. Gib ihn mir, den Prinzen, deinen blonden Sohn, ich
will ihn zu Tagen schöpferischer Unruhe, zum fiebernden Schaffen
schlafloser Nächte, zum Wahn des Selbst- und Weltvergessens, zu
unsrer strahlend-glücklichen Qual erziehen, auf daß die Leute in ihm
den Künstler, den besten, vollsten Ausdruck der Zweck-
losigkeit alles Daseins mit Ruhm verehren.«
Der Maharadja nickte mit einem leisen Nicken seines Hauptes,
löste die Hand aus der Hand seines Sohnes und schob dann den
blonden Prinzen sanft dem Dichter zu.
Ludwig Hatvany.
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Rene' S&idiefe, ZwisSen den H feinen Seen
ZWISCHEN
DEN KLEINEN SEEN
ER HAT CHRISTUS GEKREUZIGT!
EIN Schlachtname — Kiew — wert, lange im Gedächtnis der euro-
päischen Menschheit bewahrt zu werden. Nein, man soll nicht
vergessen! Vergessenheit bringt falsche Stärke und schwächlichen
Leichtsinn.
Wir haben, in Deutschland, Könitz gehabt, wo auch ein Ritual-
mordprozeß versucht wurde. Aber ein solcher Prozeß, ohne die
tiefere Entsetzensmusik vorausgegangener Pogrome, ohne daß in
allem Für und Wider im Gerichtssaal die Drohung neuer Massen-
verfolgungen zittert, grollt, . . wirkt nur lächerlich.
Sie sind von erschreckender Ernsthaftigkeit — dort drüben.
Und doch: scheint nicht schon lange Zeit verflossen, seitdem die
Kosaken in Israel waren?..
Zur Hunnenzeit und später, vor hundert Jahren, ging es uns
Christen ebenso. Die Hunnen waren kaum über dem Bach, da
hatten sie sich schon in eine Art Sage, die Sage von einer wahrhaft
höllischen Erscheinung verwandelt. Ein Albdruck war gewichen.
Man rieb sich die Augen und besah den Schaden.
Denn wenn wir ihn nicht über uns haben, können wir uns nur
mit größter Mühe einen Begriff von einem Kosaken machen. Es ge-
hört eine intellektuelle Anstrengung dazu, deren einfache Leute nicht
fähig sind.
*
Keine großen Gebirge, keine Wüsten trennen uns von ihnen, und
selbst Meere wären kein Hindernis. Heute gibt es nur noch eins,
das die Völker trennt: die Seele. Ich weiß...
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<
490 Rene' Scßicüefe, Zwischen den Meinen Seen
Ich weiß, daß auch dieser Artikel maschinenmäßig hergestellt wird,
und ich kenne das Geheimnis der Fabrikation. Gab es nicht eine
Zeit, wo jeder Straßenjunge in Frankreich dem >perfiden Albionc
die unangenehmsten Kehrreime ins Gesicht pfiff? Als der Kapitän
Marchand, ein tapferer Kopf und überdies das Kolonialidol vieler
Pariser Saisons, vor den Engländern die Trikolore niederholen und
Faschoda räumen mußte? Die Regierung der Republik knirschte
hörbar mit dem Tintenfaß, das französische Volk schrie auf — wie
laut! wie laut!
Zuerst in den Zeitungen.
In allen Zeitungen!
Und dann in den Kaffeehäusern und den zahllosen Kneipen des
Landes: diesem tausendfältigen Echo der Presse, von wo die po-
litischen Erregungen der Stunde in die Familien verschleppt werden,
bis, auf einmal, ein einziger Schrei aus allen Häusern des Landes
und aus dem Boden selbst zu steigen scheint. . .
Perfides Albion! Und ich erinnere mich, wie dieser aufrichtige
Wutschrei, mit dem ganz Frankreich das haßerfüllte Gesicht gegen
England wandte, — kassiert wurde. Es dauerte etwas länger, die
Regierung drückte sanfter auf den Knopf, die Leitung wurde nicht
vom Schock der Empörung erschüttert: die Presse sandte ihre psycho-
magnetischen Wellen in Abständen und sorgfaltigen Abstufungen
ins Land, aber, als dann der Termin für das Verbrüderungsfest an-
gesetzt werden konnte und die Begeisterung erst in Gang gekommen
war, da regnete der heitere Himmel Frankreichs soviel Rosen auf
den Nachbar und Freund, wie noch nie, seitdem der dritte Napoleon
nach Italien gegangen war. Und jetzt . . Jetzt singen sie in den Kinder-
schulen ein Lied, worin es heißt, die Engländer seien herrliche Men-
schen, tapfer, klug, schön, ja, alles in allem, fast Franzosen. . .
Trotzdem.
Tausend Jahre Menschentum trennen uns von dem Orient, der
in ozeanischen Wellen gegen die Ostmarken Europas schlägt: ein
Wehr, das mit Deutschlands Macht steht und bricht <— Herrschaften!)
Rußland: das ist die — sehr flüchtige — Quarantäne für einen
heranwandernden Weltteil, . . in der täglich die widernatürliche Hoch-
zeit mit diesem Teile gefeiert wird. Ein kleiner europäischer Kopf,
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Rene' 5<£i<£efe, ZwisSen den Minen Seen 491
ein Tierbändigerkopf, der einen ungeheuren, von Urkräften strotzen-
den Leib regiert, indem er ihn gewaltsam niederhält in mystischer
Sklaverei. Bis er ihn eines Tages gegen Europa losläßt . . . Denn er
ist nur stark mit ihm und durch ihn. Er nährt sich von ihm, ja, er
existiert nur durch ihn. Das »europäische Rußland« ist ein geogra-
phischer, aber weder ein politischer, noch weniger ein kultureller Be-
griff. Rußland ist, geistig gesprochen, der klimatische Übergang vom
Asiatischen ins Europäische, eine Akklimatisierungsstation, ein Trai-
ning und — letzten Endes — eine Kriegsschule, wo wir unsere
schlimmsten Feinde ausbilden.
Und ja, auch das:
Ein märchenhaftes Land, voll Genie, Harmonikaklängen und Me-
lancholie . . und allen grellen Farben höchster Erdenfreudigkeit, wil-
dester Weltverlorenheit. Ein vulkanischer Hexenkessel von Glaube
und Aberwitz, zielloser Inbrunst und traumhafter Prophetie ... in
einer Atmosphäre von Glut und Sdinee und Kerzenschein, durch
die, schmale, niedre Kentauren, flink und lautlos wie Raubtiere, im
blutigen Zwielicht, die Kosaken reiten.
*
Aus dem Wundersumpf strecken neue Generationen gerade, blanke
Arme empor. Wie lange schon!
Wir können, von hier, nicht beobachten, wie sie wachsen. Noch
wägen, was sie in die Hände der Nächstgeborenen legen, bevor die
Erde sie zurücknimmt.
Manchmal hab ich sie wie im Traum gesehn. O diese Scharen
großer Vögel, die sich hie und da über dem heiligen Sumpf hastig
sammeln und aneinanderrücken, den Kopf nach Westen, zum Himmel
Europas gewandt!
Sind nicht auch sie ein Spuk, die Vision eines Diesseitigen?
Vielleicht werden sie doch einmal auffliegen . . und den Glanz
ihrer Flügel als einen neuen Himmel über jene fernen Länder
breiten, . .
deren einzige Laute, die klar und deudich zu uns dringen, Schreie
von Schmerz und böser Wollust sind . .
aus einem Murmeln wie von Litaneien, die unabsehbar weite
Acker beten.
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492
Rene' Sdidtefe, ZwisSen den lifeinen Seen
STILLE BETRACHTUNG
NACH DEN ZABERNER TAGEN
»Als ich noch Landrat war, Himmeldonnerwetter..«
<Graf Westarp bei der Besprechung der Interpellation
über die Zaberner Ereignisse im Reichstag )
»Wir sind ein junges Volk, haben vielleicht allzuviel
noch den naiven Glauben an die Gewalt, unterschätzen
die feineren Mittel und wissen noch nicht, daß, was die
Gewalt erwirbt, die Gewalt allein niemals erhalten kann.«
<Der Reichskanzler Bethmann Holl weg in einem Brief
an Professor Lamprecht, der nach der Interpellation über
die Zaberner Ereignisse veröffentlicht wurde.)
»Nun ist die Reihe an eurhe, sagte Schwarzhaar, als die ersten
Nachrichten aus Zabern kamen.
Die Reihe an uns?
Wann haben wir denn aufgehört, an der Reihe zu sein?
Seit vierzig Jahren wohnt, bis über die Augen bewaffnet, ein
rothaariger Koloß in diesem Land, er hockt auf dem Rand der Vo-
gesen, um seine grobgestiefelten Beine in der Ebene, die Rebhügel
hinauf kommen und gehn die Jahreszeiten. Er drückt auf das kleine
Land wie auf die Mitte einer riesigen Schaukel — ja, und das ist
denn auch das berühmte europäische Gleichgewicht. Und es geschieht
wenig in der Welt und nichts wichtiges, ohne daß man hier, wo
des Kolosses Stiefel stehn, ein leises oder hartes Schwanken spürte.
Ein politischer Seismograph könnte die geringsten Erschütterungen
der »Weltlagec verzeichnen. — Hier, wo die Absätze auf seinem
Leibe drücken, schlägt das Herz Europas am unruhigsten . . und
auch am schmerzhaftesten.
Ist es ein Wunder, wenn da jeder elsäßische Bauer ein Europäer
wenigstens insofern ist, als er darauf schwört, mit ihm könnte zu*
gleich Europa geholfen werden? Der Reisende kann sich in jeder
Dorfkneipe sagen lassen, daß »die Deutschen und die Franzosen
nur zusammenzuhalten brauchten, damit — « Nun, damit endlich Ruhe
ins Land käme und, außerdem, mehr Sicherheit in die europäischen
Verhältnisse. Daß sie nebenbei für die allgemeine Abrüstung
schwärmen, versteht sich von selbst. Sie möchten Gewicht und Ge-
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Rene' S&idiefe, ZwisSen den Meinen Seen
493
ruch jener Stiefel von märchenhaftem Umfang los sein! Aber das
gilt weniger für die Bauern, als für die Bürger in den Städten.
Obwohl die »wiedergewonnenen Brüder«, seitdem sie wieder »zu
Hause« sind, in der deutschen Armee als »Wackes« traktiert wer-
den, gehn die Bauern noch immer gern zu den Soldaten, und sie
scheinen sich dort nicht schlechter zu bewähren, als zur Zeit des
ersten Napoleon, wo sie das Hauptquartier mit den robusten Lauten
ihres Dialekts erfüllten . . .
In diesem Land, das sich sehr zäh und, wenn es gereizt wird,
auch sehr laut weigert, schlankweg zu vergessen, was nicht vergessen
zu werden verdient, und das bißchen französische Blut, das durch
seine Adern lacht, in der Umarmung einer sadistischen Germania
aus den Poren zu schwitzen, in diesem Land gibt es eine Stadt, die
am schnellsten, unmittelbar nach dem Krieg, wie die Geschichts-
schreiber sagen: an die deutsche Vergangenheit anknüpfte und Bis-
marck eine »Ergebenheitsadresse« übersandte. Das ist Zabern.
Es hat lange gedauert und kostete Mühe. Aber schließlich ist es
gelungen . . . Allerdings mußte schon das Militär die Sache in die
Hand nehmen. Zabern wurde germanisiert . . . Mit diesem Fremd-
wort bezeichnet man im neuen deutschen Reich einen sehr schwie-
rigen Handgriff der Verwaltungskunst. Er besteht darin, Sonntags-
spaziergänger und Kegelschieber von Amts wegen fuchsteufelswild,
ja wenn möglich, zu Rebellen zu machen. Diese Kunstübung erfreut
sich in Preußen eines solchen Ansehns, daß ein Landrat, dem sie ge-
lingt, damit das Anrecht erwirbt, bei den nächsten Wahlen als Kan-
didat der konservativen Partei aufgestellt zu werden. In Ermangelung
eines preußischen Landrats fanden sich in Zabern ein paar blutjunge
Leutnants und ein offenbar etwas äldicher Oberst.
Während einiger Tage herrschte da, mitten im Frieden, die Militär-
diktatur. Die Offiziere veranstalteten eine Razzia, der neben halb-
wüchsigen Gassenjungen und ehrbaren Bürgern ein Rechtsanwalt und
die hohe Magistratur selbst zum Opfer fiel. Sogar der Staatsanwalt
wurde festgenommen. Ein kleiner Leutnant eilte, von Soldaten mit
aufgepflanztem Seitengewehr begleitet, durch die Straßen und rief,
nachdem er unter dem Schutz der Bajonette Schokolade eingekauft
hatte: »Wer lacht, wird verhaftet.« Ein andrer setzte einen lahmen
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494
Rene SSitfefe, Zwiscßen den Meinen Seen
Schuster außer Gefecht, indem er ihm den Degen in den Schädel
trieb. Aber im Beriebt las ich, daß er nach dieser Tat völlig erschöpft
auf einen Stuhl gesunken sei .... Es scheint, daß der Koller, der
den Wahnsinnsausbruch dieser Tage bewirkt hatte, selbst über seine
zweifellos überspannten Kräfte ging. Der Junge war neunzehn Jahre
alt, und er hätte vielleicht längst Abbitte geleistet, aber er durfte, er
konnte nicht/ des »Königs Rode« brannte vielleicht wie ein Nessus-
hemd, aber »Tabu« schrien die Militärs und zeigten mit dem Finger
auf das bunte Stück Tuch: »Tabu, Tabu«, und im Reichstag, vor
dem ohnmächtigen Bürgerzorn der Abgeordneten, hob der Kriegs*
minister beschwörend die Hand und wiederholte, zum Säulenheiligen
erstarrt, vom hohen Rednerpult: »Tabu!« . . . Auf der Tribüne saß
der »Hauptmann von Köpenick« und grinste sonntäglich — der Augurl
»Tabu« murmelte er und nickte.
*
Unser Wein wächst an der großen europäischen Straße, die das
Mittelländische Meer mit der Nordsee verbindet. Die Rebhügel sind
voll und zart geschweift wie eine ruhende blonde Frau, die sich auf
ihren Arm aufstützt . . . Unser Wein ist leicht und von der Farbe
reinen Goldes. Er verwandelt die Menschen, die in meine Heimat
kommen, um dort zu bleiben, seit mehr, als einem Jahrtausend, ver-
wandelt sie, unmerklich, ohne Gewalt, macht sie heller, leichter.
Da er rein aus der Brennerei unsrer guten Sonne fließt, ist es
kein Wunder, daß er, in aller Stärke, die Seele unsrer Luft, unsrer
Erde enthält und sie verschenkt. Und Menschen erobert.
Und seht, wie die, die das Land bewohnen, sich zu verteidigen
verstehn, bewundert doch ~ statt die Hörner zu senken, weil ihr rot
seht — billigt ihren, für ein kleines Volk beispiellosen, so zähen wie
schmiegsamen Trieb zur Selbstbehauptung, — ihren »heimlichen Wahn*
sinn«, wie mir einmal ein unheimlich berührter Sachse sagte. Der
hatte getan, wie die meisten unsrer (wohlwollenden) Rezensenten
zu tun pflegen. Er verbrachte mutig seine Ferien hier, bereit, alles
zu verstehn und alles zu verzeihen. Er verstand nichts, aber er ver-
zieh trotzdem, weil er festgestellt hatte, daß die Elsäßer noch immer
deutsch sprachen. <Was gar nicht so dumm von ihm war!)
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Rene 5&ic6efe, ZwisSen den Meinen Seen 495
Dieses an geschichtlichen Wechselfällen überreiche Volk scheint,
wenn man näher zusieht, in Wirklichkeit gar keine Geschichte zu
haben. Es bricht nicht zusammen und gibt jedem Druck nur soweit
nach, wie es ihm wohl ansteht. Dafür durchdringt es die, so auf ihm
lasten, mit seiner ungeduldig leichten, schwerleichten, geduldigen Seele.
Unsre alten reichsunmittelbaren Städte sind nicht >tot«, Reichen«
weier, Türkheim, Oberehnheim mit ihren Türmen und Wällen keine
bloßen Gemütsreize wie etwa das romantische Rothenburg ob der
Tauber, das sich auf Ansichtskarten vielleicht sogar besser ausnimmt.
Sie leben, und wenn ich sage: sie leben, so will das nicht heißen,
daß sie von der Fremdenindustrie mit Erfolg ausgebeutet werden,
oder daß in ihren Straßen so und soviel mal im Jahr farbenfroher
Mummenschanz getrieben wird, oder daß Sektionen des vortreff-
lichen Vogesenklubs die geschichtlichen Erinnerungen wachhalten. Sie
wären gerade so lebendig, wenn sie sich nicht erinnerten und wer-
den es bleiben, solange die Wesensart dieser alten freien Bürger-
schaften von Vater auf Sohn übergeht und sie ihr Weißbrot backen
und ihren Wein trinken und, bald tatenlustig, bald zurückhaltend,
dem doppelten Echo lauschen, das sich seit undenklichen Zeiten
zwischen Rhein und Vogesen verfängt.
Wer Gottfrieds Herzschlag zu hören vermag, wer die Pasquille
der Straßburger Reformatoren und die lachenden, pathetisch aus-
brechenden Schriften ihrer Gegner liest und von den Kämpfen der
Bürgerschaft unter Jakob Sturm wie unter Dietrich, von den Plebis-
ziten, den Verhandlungen in Bordeaux und den Septennatswahlen
und heute in eine wichtige Sitzung des Landtags geht, der wird
immer denselben Himmel über sich haben und immer dieselben
Stimmen vernehmen.
Die neu ankommen, bilden kleine Kleckse auf unsrer Landschaft,
ihre Stimmen dissonieren. Aber bald haben sie, oder, wenn nicht
sie selbst, so doch ihre Kinder, ihre Enkel unsre Farbe und sprechen
wie wir.
Die andern bleiben nicht.
Allerdings gibt es auch viele Soldaten, die in Kasernen leben.
Aber die bleiben erst recht nicht.
Und über Fluß und Ebene und über den Rebenhügeln schwebt
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496 Ren/ SSidtefe. ZwisSen den k feinen Seen
das Lächeln der Heiligen Odilia, stark und anmutig und ein ganz
klein wenig spöttisch — so weit das Lächeln einer Heiligen spöttisch
sein kann.
Ich träume weiter.
von Anmut, die sich bis zur Ekstase steigert,
von Leichtigkeit — selbst im Gewaltsamen,
von Musik, die noch immer Musik ist, auch wenn der Schlag auf
die große Trommel plötzlich die Dissonanzen entfesselt und die
Roheit den Belagerungszustand verhängt.
Die Musik geht weiter, — wie das Leben.
RUF
Sechzehn-, Siebzehn-, Achtzehnjährige...!
in den alten, grauen Steinkästen,
wo noch das einzige Zimmer, das nicht bis in den letzten Winkel,
in seinem ganzen nackten Viereck von der wagerechten Anordnung
der Folterbänke eingenommen ist,
das Physikzimmer mit der großen Bogenlampe
an die Anatomie erinnert,...
und den großen Höfen, diesen Zwingern, in denen, feucht, klebrig,
schwer wie ein Albdruck, die Schreckgespenster ursprünglicher Men-
schennot nisten — ihr kalter Schweiß dringt durch Mauern und Holz-
werk, durch das große Tor und vergiftet die Stadt —
mit den Winkeln und Verstecken jugendlichen Aufruhrs, in die
sich die heisern Laute der Schulglocke wie eine Meute Jagdhunde
werfen, um euch auseinander zu jagen, in die Kniee, auf den Bauch
vor die Schlüsselgewalt völlig unmystischer Altphilologen, in die
Kniee, auf den Bauch, in die Kniee, auf den Bauch, . . .
besonders ihr aus den Germanis ierungskasernen der Grenzländer,
wo Wagner als ein rabiater Militärkapellmeister und Kant als der
Verfasser grundlegender Artillerieschießvorschriften weiterleben und
der blaßrote Tinte blutende Schatten Goethes von Kaisergeburtstags-
rednern mit weltpolitischem Blick aus dem Orkus geschleift und
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Rene' SSicüefe, ZwisSen den 6 feinen Seen
497
zwischen die »Spitzen der militärisdien und Zivilbehörden« unsanft
an den Tisch gesetzt wird, . . .
und die ihr endlich, der Schule entronnen, zwischen zwanzig und
dreißig, eines Tages, ahnungsvoll, zum erstenmal,
die große, barbarische Sonne Deutschlands aufgehn seht, die weiß-
glühende Stahlscheibe in Rauchschwaden über den Schloten,
und die Musik vernehmt der Wälder und Flüsse und des nörd-
lichen Meeres:
wir schlagen euch Brücken!
wir bereiten euch den Weg!
Rat* SSidefe.
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49S
Gustav Meyrint, Der Gofem
DER GOLEM
ROMAN
(Fortsetzung)
IV
PRAG
Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dün-
nen fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich hörte, wie
ihm vor Kälte die Zähne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen,
sagte ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Woh-
nung zu kommen. —
Er aber lehnte ab. —
»Ich danke Ihnen, Meister Pemath,c murmelte er fröstelnd, »leider
habe ich nicht mehr soviel Zeit übrig/ — ich muß eilends in die
Stadt. — Auch würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt
auf die Gasse treten wollten. — Schon nach wenigen Schritten!
Der Platzregen will nicht schwächer werden!« —
Die Wasserschauer fegten über die Dächer hin und liefen an den
Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drüben im
vierten Stock mein Fenster sehen, das vom Regen überrieselt aus-
sah, als seien seine Scheiben aufgeweicht, — undurchsichtig und höcke-
rig geworden wie Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floß die Gasse herab und der Torbogen
füllte sich mit Vorübergehenden, die alle das Nachlassen des Un-
wetters abwarten wollten.
»Dort schwimmt ein Brautbukett«, sagte plötzlich Charousek und
deutete auf einen Strauß aus welken Myrten, der in dem Schmutz-
wasser vorbeigetrieben kam.
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Gustav Meyrinü, Der Gofem
499
Darüber lachte jemand hinter uns laut auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich, daß es ein alter vornehm geklei-
deter Herr mit weißem Haar und einem aufgedunsenen krötenartigen
Gesicht gewesen war.
Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurück und brummte
etwas vor sich hin.
Unangenehmes ging von dem Alten aus/ — ich wandte meine Auf»
merksamkeit von ihm ab und musterte die mißfarbigen Häuser, die
da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen neben-
einander hockten.
Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus
dem Boden dringt. —
An eine niedrige gelbe Steinrnauer, den einzigen standhaltenden
Überrest eines früheren langgestreckten Gebäudes hat man sie an-
gelehnt — vor zwei, drei Jahrhunderten — wie es eben kam, ohne
Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. — Dort ein halbes, schief-
winkliges Haus mit zurückspringender Stirn/ — ein andres daneben
vorstehend wie ein Eckzahn.
Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf,
und man spürte nichts von dem tückischen feindseligen Leben, das
zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende
in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel ver-
bergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Ein-
druck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es ge-
wisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie
gäbe, wo sie erregt eine lautlose geheimnisvolle Beratung pflegen.
Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern,
das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und
und fallen in den Regenrinnen nieder, — und wir nehmen sie mit
stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.
Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spuk-
haften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die
heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens
und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können, — es
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500 Gustav Meyrink, Der Golem
tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kom-
mender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menseben, die in ihnen wohnen wie
Schemen, wie Wesen — nicht von Müttern geboren — die in
ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefugt
scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je
geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten
bergen, die mir im Wachsein nur noeb wie Eindrücke von farbigen
Märchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlicb die Sage von dem gespenstischen
Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im
Ghetto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und
ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er
ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde
erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde
genommen ward, so müßten auch, dünkt mir, alle diese Menseben
entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, lösebte man irgend-
einen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine
zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein
dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses — in
ihrem Hirn aus.
Was ist dabei für ein immerwährendes schreckhaftes Lauern in
diesen Geschöpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten — diese Menschen, und dennoch
sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten
mit angehaltenem Atem — wie auf ein Opfer, das doch nie kommt
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trete jemand in ihr
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten,
dann fallt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie
in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd
abstehen.
Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe,
sich seiner zu bemächtigen.
»Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist«, sagte Charousek zögernd und sah mich an. —
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Gustav Meyrmf, Der Gofem
501
Wie konnte er wissen, woran ich dachte? —
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande
sind auf das Gehim des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende
Funken, fühlte ich. —
» wovon sie nur leben mögen !< sagte ich nach einer Weile.
»Leben? — Wovon? — Mancher unter ihnen ist ein Millionärlc
Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen! —
Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
Für einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Tor-
bogen gestockt und man hörte bloß das Zischen des Regens.
Was er nur damit sagen will: »Mancher unter ihnen ist ein Mil-
lionär^
Wieder war es, als hätte Charousek meine Gedanken erraten.
Er wies nach dem Trödlerladen neben uns, an dem das Wasser
den Rost des Eisengerümpels in fließenden braunroten Pfützen vor-
beispülte.
»Aaron Wassertrum ! Er zum Beispiel ist Millionär, — fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen sie es denn nicht, HerrPernath?!«
Mir blieb förmlich der Atem im Mund stecken. »Aaron Wassertrum!
Der Trödler Aaron Wassertrum Millionär?!c
»Oh, ich kenne ihn genaue, fuhr Charousek verbissen fort und
als hätte er nur darauf gewartet, daß ich ihn frage. »Ich kannte auch
seinen Sohn, den Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehört?
Von Dr. Wassory dem — berühmten — Augenarzt? — Vor einem
Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm gesprochen, — von
dem großen Gelehrten. Niemand wußte damals, daß er seinen
Namen abgelegt und früher Wassertrum geheißen. — Er spielte sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft und wenn
einmal auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tief-
bewegt so mit halben Worten hin, daß sein Vater noch aus dem
Ghetto stamme, — sich aus den niedrigsten Anfängen heraus unter
Kummer aller Art und unsäglichen Sorgen empor ans Licht habe
arbeiten müssen.
Ja! Unter Kummer und Sorgen!
Unter wessen Kummer und unsäglichen Sorgen aber und mit
welchen Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
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502 Gustav Meyrinfi, Der Gofem
Ich, aber weiß, — was es mit dem Ghetto für eine Bewandrnis
hat!c Charousek faßte meinen Arm und schüttelte ihn heftig.
»Meister Pernath, ich bin so arm, daß ich es selbst kaum mehr
begreife, ich muß halb nackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her,
und ich bin doch Student der Medizin, — bin doch ein gebildeter
Mensch!«
Er riß seinen Überzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen,
daß er weder Hemd noch Rock an hatte und den Mantel über der
nackten Haut trug.
»Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmächtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, — und noch heute ahnt
keiner, daß ich — ich der eigentliche Urheber war.
Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen,
der seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbst*
mord getrieben hat
Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug! sage ich Ihnen. Ich
allein habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen,
habe die Beweise geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein
in dem Gebäude Dr. Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht
war, wo kein Geld der Erde, keine List des Ghetto mehr vermocht
hätten den Zusammenbruch, zu dem es nur noch eines unmerklichen
Anstoßes bedurfte, abzuwenden.
Wissen Sie, so — so wie man Schach spielt.
Gerade so wie man Schach spielt.
Und niemand weiß, daß ich es war! —
Den Trödler Aaron Wassertrum, den läßt wohl manchmal eine
furchtbare Ahnung nicht schlafen, daß einer, den er nicht kennt, der
immer in seiner Nähe ist und den er doch nicht fassen kann, — ein
anderer als Dr. Savioli — die Hand im Spiele gehabt haben müsse.
Wiewohl er einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermögen, so faßt er es doch nicht, daß es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen unsichtbaren ver-
gifteten Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an
Gold und Edelsteinen vorbei, um die verborgene Lebensader zu
treffen.«
Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wilcL
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Gustav Meyrint, Der Gofem 503
»Aaron Wassertrum wird es bald erfahren/ genau an dem Tage,
an dem er Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten
Zug. — Diesmal wird es ein Königsläufergambit sein. Da gibt es
keinen einzigen Zug bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine
verderbliche Entgegnung wüßte.
Wer sich mit mir in ein solches Königsläufergambit einläßt, der
hängt in der Luft sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an
feinen Fäden, — an Fäden, die ich zupfe, — hören Sie wohl, die
ich zupfe, und mit dessen freiem Willen ist's dahin.«
Der Student redete wie im Fieber und ich sah ihm entsetzt ins
Gesicht.
»Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daß
Sie so voll Haß sind?«
Charousek wehrte heftig ab:
»Lassen wir das — fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals
gebrochen hat! — Oder wünschen Sie, daß wir ein andres Mal dar-
über sprechen? — Der Regen hat nachgelassen. — Vielleicht wollen
Sie nach Hause gehen?«
Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plötzlich ganz ruhig
wird. Ich schüttelte den Kopf.
»Haben Sie jemals gehört, wie man heutzutage den grünen Star
heilt? — Nicht? — So muß ich Ihnen das deutlich machen, damit
Sie alles genau verstehen, Meister Pernath!
Hören Sie zu: Der ,grüne Star' also ist eine bösartige Erkrankung
des Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein
Mittel dem Fortschreiten des Übels Einhalt zu tun, nämlich die
sogenannte Iridektomie, die darin besteht, daß man aus der Regen-
bogenhaut des Auges ein keilförmiges Stückchen herauszwickt.
Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche Blendungs-
erscheinungen, die fürs ganze Leben bleiben, der Prozeß des Er-
blindens jedoch ist meistens aufgehalten.
Mit der Diagnose des grünen Stars hat es aber eine eigene
Bewandtnis.
Es gibt nämlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo
die deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurücktreten, und in sol-
35
Digitized by Google
504 Gustav Meyrin6, Der Gohm
dien Fällen darf ein Arzt, trotzdem er keine Spur einer Krankheit
finden kann, dennoch niemals mit Bestimmtheit sagen, daß sein Vor«
ganger, der andrer Meinung gewesen, sich notwendigerweise geirrt
haben müsse.
Hat aber einmal die erwähnte Iridektomie — die sich natürlich
genau so an einem gesunden Auge wie an einem kranken ausführen
läßt, stattgefunden, so kann man unmöglich mehr feststellen, ob früher
wirklich grüner Star vorgelegen hat oder nicht.
Und auf diese und noch andere Umstände hatte Dr. Wassory
seinen scheußlichen Plan aufgebaut
Unzählige Male — besonders an Frauen — konstatierte er grünen
Star, wo harmlose Sehstörungen vorlagen, nur um zu einer Ope-
ration zu kommen, die ihm keine Mühe machte und viel Geld ein-
trug.
Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand/ da ge-
hörte zur Ausplünderung auch keine Spur von Mut mehr!
Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in
jene Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft
sein Opfer zerfleischen konnte.
Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! — Begreifen Sie?! Ohne das
geringste wagen zu müssen!
Durch eine Menge fauler Veröffentlichungen in Fachblättern hatte
sich Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu
setzen verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und
anständig waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu
streuen gewußt.
Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die
natürliche Folge.
Kam nun jemand mit geringfügigen Sehstörungen zu ihm und ließ
sich untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tückischer Plan-
mäßigkeit zu Werke.
Zuerst stellte er das übliche Krankenverhör an, notierte aber ge-
schickt immer nur, um für alle Fälle später gedeckt zu sein, jene
Antworten, die eine Deutung auf grünen Star zuließen.
Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frühere Diagnose
vorläge.
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Gustav Meyrfrtf, Der Gofem
505
Gesprächsweise ließ er einfließen, daß ein dringender Ruf aus dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Maßnahmen an ihn er-
gangen sei und er daher schon morgen verreisen müsse. —
Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er so-
dann vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich soviel Schmerzen
wie möglich.
Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
Wenn das Verhör vorüber und die übliche bange Frage des Patienten,
ob Grund zur Befürchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat er
seinen ersten Schachzug.
Er setzte sich ihm gegenüber, ließ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
»Erblindung beider Augen ist bereits in der allernächsten Zeit
wohl unvermeidlich!«
Die Szene, die naturgemäß folgte, war entsetzlich.
Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen
sich in wilder Verzweiflung zu Boden.
Das Augenlicht verlieren heißt alles verlieren.
Und wenn der wiederum übliche Moment eintrat, wo das arme
Opfer die Knie Dr. Wassory 's umklammerte und flehte, ob es
denn auf Gottes Erde gar keine Hilfe mehr gäbe, da tat die Bestie
den zweiten Schachzug und verwandelte sich selbst in jenen — Gott,
der helfen konnte!
Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachspiel, Meister Pernath! —
Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei
das einzige, was vielleicht Rettung bringen könne, und mit einer
wilden, gierigen Eitelkeit, die plötzlich über ihn kam, erging er sich
mit einem Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes
Falles, die alle mit dem vorliegenden eine ungemein große Ähnlich-
keit gehabt hätten, — wie unzählige Kranke ihm allein die Erhaltung
des Augenlichts verdankten und dergleichen mehr.
Er schwelgte förmlich in dem Gefühl, für eine Art höheren Wesens
gehalten zu werden, in dessen Hände das Wohl und Wehe seines
Mitmenschen gelegt ist.
Das hilflose Opfer aber saß, das Herz voll brennender Fragen,
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506 Gustav MeyrinH, Der Gofrm
gebrochen vor ihm, Angstschweiß auf der Stirne, und wagte ihm nicht
einmal in die Rede zu fallen, aus Furcht: ihn ~ den einzigen, der
noch Hilfe bringen konnte — zu erzürnen. —
Und mit den Worten, daß er zur Operation leider erst in einigen
Monaten schreiten könne, wenn er von seiner Reise wieder zurück
sei, — schloß Dr. Wassory seine Rede. —
Hoffentlich — man solle in solchen Fällen immer das beste hoffen —
sei es da nicht zu spät: sagte er.
Natürlich sprangen dann jedesmal die Kranken entsetzt auf, erklärten,
daß sie unter gar keinen Umständen auch nur einen Tag länger
warten wollten, und baten flehentlich um Rat, wer von den andern
Augenärzten in der Stadt sonst wohl als Operateur in Betracht käme. —
Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den ent-
scheidenden Schlag führte.
Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in
Falten des Grams und lispelte schließlich bekümmert, ein Eingriff
seitens eines andern Arztes bedinge dann leider eine abermalige
Bespiegelung des Auges mit elektrischem Licht, und das müsse —
der Patient wisse ja selbst wie schmerzhaft es sei — wegen der
blendenden Strahlen geradezu verhängnisvoll wirken.
Ein andrer Arzt, also ganz abgesehen davon, daß so man«
ehern von ihnen gerade in der Iridektomie die nötige Übung fehle —
dürfe, eben weil er wiederum von neuem untersuchen müsse, gar
nicht vor Ablauf längerer Zeit, bis sich die Sehnerven wieder erholt
hätten, zu einem chirurgischen Eingriff schreiten.«
Charousek ballte die Fäuste.
»Das nennen wir in der Schachsprache Zugzwang, lieber Meister
Pernath! Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, —
ein erzwungener Zug nach dem andern.
Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den
Dr. Wassory, er möge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine
Abreise verschieben und die Operation selber vornehmen. — Es
handle sich doch um mehr noch als um schnellen Tod, die grauen«
hafte, folternde Angst, jeden Augenblick erblinden zu müssen, sei ja
das Schrecklichste, was es geben könne. —
Und je mehr das Scheusal sich sträubte und jammerte: ein Auf«
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Gustav Meyrint, Der Gofem 507
schub seiner Reise könne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto
höhere Summen boten freiwillig die Kranken.
Schien schließlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach
und fugte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan
aufdecken konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen
jenen unheilbaren Schaden zu, jenes immerwährende Gefühl des Ge-
blendetseins, das das Leben zu stetiger Qual gestalten mußte, — die
Spuren des Schurkenstreiches aber ein für allemal verwischte.
Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr.
Wassory nicht nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher
Arzt, dem es noch jedesmal gelungen sei die drohende Erblindung
aufzuhalten, — es befriedigte gleichzeitig seine maßlose Geldgier und
fröhnte seiner Eitelkeit, wenn die ahnungslosen, an Körper und Ver-
mögen geschädigten Opfer zu ihm wie zu einem Helfer aufsahen und
ihn als Retter priesen.
Nur ein Mensch — der mit allen Fasern im Ghetto und seinen
zahllosen, unscheinbaren — jedoch unüberwindlichen Hilfsquellen wur-
zelte und von Kindheit an gelernt hat auf der Lauer zu liegen wie
eine Spinne, der jeden Menschen in der Stadt kannte und bis ins
kleinste seine Beziehungen und Vermögensverhältnisse erriet und
durchschaute, — nur ein solcher — halb-hellsehender möchte man es
beinahe nennen, konnte jahrelang derartige Scheußlichkeiten verüben.
Und wäre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk
noch, würde es ins hohe Alter weiter betrieben haben, um schließ-
lich als ehrwürdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit
hohen Ehren, künftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen
Lebensabend zu genießen, bis — bis endlich auch über ihn das große
Verrecken hinweggezogen wäre.
Ich aber wuchs ebenfalls im Ghetto auf und auch mein Blut ist
mit jener Atmosphäre höllischer List gesättigt, und so vermochte ich
ihn zu Fall zu bringen, — so wie die Unsichtbaren einen Menschen
zu Fall bringen/ — wie aus heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der Ent-
larvung, — ihn schob ich vor und häufte Beweis auf Beweis, bis
der Tag anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory
ausstreckte.
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508 Gustav Meyrink, Der Gofem
Da beging die Bestie Selbstmord! — Gesegnet sei die Stunde!
Als hätte mein Doppelgänger neben ihm gestanden und ihm
die Hand gefuhrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amyl-
nitrit, die ich absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Ge-
legenheit hatte stehen lassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch
an mir die falsche Diagnose des grünen Stars zu stellen, — ab-
sichtlich und mit dem glühenden Wunsche, daß es dieses Amylnitrit
sein möchte, das ihm den letzten Stoß geben sollte.
Der Gehirnschlag hätte ihn getroffen, hieß es in der Stadt! —
Amylnitrit tötet, eingeatmet wie Gehirnschlag — aber lange konnte
das Gerücht nicht aufrecht erhalten werden.«
Charousek starrte plötzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel
nach der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trödlerladen lag.
»Jetzt ist er allein,« murmelte er, »ganz allein mit seiner Gier
und — und — und — mit der Wachspuppe!«
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
War er wahnsinnig? Es mußten Fieberphantasien sein, die ihn
diese Dinge erfinden ließen.
Gewiß, gewiß! Er hat alles erfunden, geträumt.
Es kann nicht wahr sein, was er da über den Augenarzt grauen-
haftes erzählt hat. Er ist schwindsüchtig und die Fieber des Todes
kreisen in seinem Hirn.
Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen.
— Seine Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine
Erinnerung das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe,
wie es damals in mein Zimmer mit runden Fischaugen durch die
aufgerissene Tür hereingeschaut hatte.
Dr. Savioli! Dr. Savioli! — ja, ja, so war auch der Name des
jungen Herrn gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh
flüsternd anvertraut als den des vornehmen Mieters, der von ihm
das Atelier gemietet hatte. —
-
Gustav Meyrinfi, Der Goftm 509
Dr. Savioli! — Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf.
Eine Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich
mit schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstürmten.
Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzählen,
•was ich damals erlebt, da sah ich, daß ein heftiger Hustenanfall sich
seiner bemächtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch
unterscheiden, wie er sich mühsam mit den Händen an der Mauer
stützend in den Regen hinaustappte und mir einen flüchtigen Gruß zunickte.
Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, — fühlte ich, —
das unfaßbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese
Gassen schleicht, Tag und Nacht, und sich zu verkörpern sucht. —
Es liegt in der Luft und wir sehen es nicht. Plötzlich schlägt es
sich nieder in einer Menschenseele, — wir ahnen es nicht, — da,
dort, — und ehe wir es fassen können, ist es gestaltlos geworden
und alles ist längst vorüber.
Und nur noch dunkle Worte über irgend ein entsetzliches Ge-
schehnis kommen an uns heran.
Mit einem Schlage begriff ich diese rätselhaften Geschöpfe, die rings
um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie trieben willenlos
durchs Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt —
— so wie vorhin das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vor*
überschwamm.
Mir war, als starrten die Häuser alle mit tückischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich herüber, — die Tore aufgerissene schwarze
Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, — Rachen, die
jeden Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend
und haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte.
Was hatte zum Schluß noch der Student über den Trödler ge-
sagt? — ich flüsterte mir seine Worte vor: — Aaron Wassertrum
sei jetzt allein mit seiner Gier und seiner Wachspuppe.
Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
Es muß ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu überfallen
pflegt, die man nicht versteht und die einen, wenn sie später un-
erwartet sichtbarlich werden, so tief erschrecken können wie Dinge
von ungewohnter Form, auf die plötzlich ein greller Lichtstreif fällt.
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510 Gustav Meyrm/t, Der Gofem
Ich holte tief Atem um mich zu beruhigen und den furchtbaren
Eindruck, den mir Charouseks Erzählung verursacht hatte, abzu-
schüttein.
Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur war*
teten: — Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin
so widerlich gelacht hatte.
Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte
mit vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses
gegenüber.
Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten gemeinen Zügen zuckte
vor Erregung.
Unwillkürlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, daß sie wie
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drüben jenseits der
Gasse stand, ihr immerwährendes Lächeln um die Lippen.
Der Alte war bemüht ihr Zeichen zu geben und ich sah, daß sie
es wohl wußte, aber sich benahm, als verstünde sie nicht.
Endlich hielt es der Alte nicht länger aus, watete auf den Fuß-
spitzen hinüber und hüpfte mit lächerlicher Elastizität wie ein großer
schwarzer Gummiball über die Pfützen.
Man schien ihn zu kennen, denn ich hörte allerhand Glossen fallen,
die darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes gestricktes
Tuch um den Hals, mit blauer Militärmütze, die Virginia hinter dem
Ohr, — machte mit grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht
verstand.
Ich begriff nur, daß sie den Alten in der Judenstadt den »Frei-
maurert nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemanden
bezeichnen wollten, der sich an halbwüchsigen Mädchen zu vergehen
pflegt, aber durch intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe
sicher ist. — — — ■ — — — — — — — —
Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drüben im Dunkel
des Hausflures verschwunden.
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511
V.
PUNSCH
Wir hatten das Fenster geöffnet um den Tabakrauch aus meinem
kleinen Zimmer strömen zu lassen.
Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen
Mäntel, die an der Türe hingen, daß sie leise hin und her schwankten.
»Prokops würdige Haupteszierde möchte am liebsten davonfliegen«,
sagte Zwakh und deutete auf des Musikers großen Schlapphut, der
die breite Krempe bewegte wie schwarze Flügel.
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
»Er will,« sagte er, »er will wahrscheinlich «
»Er will zum ,Loisitschek' zur Tanzmusik«, nahm ihm Vrieslander
das Wort vorweg.
Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den Klängen,
die die dünne Winterluft her über die Dächer trug.
Dann nahm er meine alte zerbrochene Guitarre von der Wand, tat
als zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem
Falsett und gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
»An Bein-del von Ei-sen
recht alt
»An Stränden net gar
a so kalt
»Messinung, a' Räucherl
und Röhn
»und immerrr nurr putzten
»Wie großartig er mit einemmal die Gaunersprache beherrscht!«
Und Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
»Und stok-en sich Aufzug
und Pfiff
»Und schmallern an eisernes
G'süff.
»Juch, —
Und Handschuhkren, Harom net san
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512 Gustav Meyrin/f, Der Gofem
»Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim ,Loisitsdiek' der
meschuggene Nephtali Schaffraneck mit dem grünen Augenschirm, und
ein geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und gröhlt den Text
dazu«, erklärte mir Zwakh. »Sie sollten auch einmal mit uns in
diese Schenke gehen, Meister Pernath. — Später vielleicht, bis wir
mit dem Punsch zu Ende sind, — was meinen Sie? — Zur Feier
Ihres heutigen Geburtstages?«
»Ja, ja kommen Sie nachher mit uns,« sagte Prokop und klinkte
das Fenster zu, — »man muß so etwas gesehen haben.«
Dann tranken wir den heißen Punsch und hingen unsern Ge-
danken nach.
Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
»Sie haben uns förmlich von der Außenwelt abgeschnitten, Josua,«
unterbrach Zwakh die Stille, »seit Sie das Fenster geschlossen haben
hat niemand mehr ein Wort gesprochen.«
»Ich dachte nur darüber nach, als vorhin die Mäntel so flogen,
wie seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt«, antwortete
Prokop schnell wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen:
»es sieht gar so wunderlich aus, wenn Gegenstände plötzlich zu
flattern anheben, die sonst immer tot daliegen. Nicht? — Ich sah
einmal auf einem menschenleeren Platz zu, wie große Papierfetzen,
— ohne daß ich vom Winde etwas spürte, denn ich stand durch
ein Haus gedeckt, — in toller Wut im Kreise herumjagten und
einander verfolgten, als hätten sie sich den Tod geschworen. —
Einen Augenblick lang schienen sie sich dann beruhigt zu haben,
aber plötzlich kam wieder eine wahnwitzige Erbitterung über sie und
in sinnlosem Grimm rasten sie umher, — drängten sich in einen
Winkel zusammen, um von neuem besessen auseinander zu stieben
und schließlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
Nur eine didee Zeitung konnte nicht mitkommen, sie blieb auf
dem Pflaster liegen und klappte haßerfüllt auf und zu, als sei ihr
der Atem ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was — wenn am
Ende wir Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären, wie solche
Papierfetzen? — Ob nicht vielleicht ein unsichtbarer unbegreiflicher
»Wind« auch uns hin und her treibt und unsre Handlungen bestimmt,
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Gustav MeyrfnU. Der Gofem 513
während wir in*unserer Einfalt glauben unter eigenem freien Willen
zu stehen?
Was, wenn das Leben in uns nichts anderes wäre, als ein rätsel«
harter Wirbelwind?! — Jener Wind, von dem die Bibel sagt: weißt
du von wannen er kommt und wohin er geht? Träumen
wir nicht auch zuweilen, wir griffen in tiefes Wasser und fingen
silberne Fische, und nichts anderes ist geschehen, als daß ein kalter
Luftzug unsere Hände traf?« —
»Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ists mit Ihnen?«
sagte Zwakh und sah den Musiker mißtrauisch an. —
»Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzählt wurde, —
schade, daß Sie so spät kamen und sie nicht mit anhörten, — hat
ihn so nachdenklich gestimmt«, meinte Vrieslander.
»Eine Geschichte von einem Buche?«
»Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam
aussah. — Pernath weiß nicht, wie er heißt, wo er wohnt, was er
wollte, und trotzdem sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein
soll, lasse es sich doch nicht recht schildern«.
Zwakh horchte auf.
»Das ist sehr merkwürdig,« sagte er nach einer Pause, »war der
Fremde vielleicht bartlos und hatte er schrägstehende Augen?«
»Ich glaube,« antwortete ich, »das heißt, ich — ich — weiß es ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?«
Der Marionettenspieler schüttelte den Kopf: »Er erinnert mich nur
an den ,Golem'«.
Der Maler Vrieslander ließ sein Schnitzmesser sinken:
»Golem? — Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen
Sie etwas über den Golem, Zwakh?«
»Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse«, ant-
wortete Zwakh und zuckte die Achseln. »Man verweist ihn ins
Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis
vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang
spricht dann jeder von ihm und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuer*
liehe. Werden so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich
an der eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der
Ursprung der Geschichte reicht wohl ins XVII. Jahrhundert zurück,
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514
Gustav MeyrinG, Der Gofom
sagt man. Nach verloren gegangenen Vorschriften der Kabbala soll
ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen — den sogenannten
Golem — verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe, die Glocken
in der Synagoge läuten, und allerhand grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur
ein dumpfes halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt,
auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen
Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen
Kräfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das
Siegel aus dem Munde des Golem zu nehmen versäumt, da wäre
dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen ge~
rast und hätte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel ver~
nichtet habe.
Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von
ihm übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in
der Altneusynagoge gezeigt wird.«
»Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Ka'iser auf die Burg be-
rufen worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sieht»
bar gemacht haben,« — warf Prokop ein, — »moderne Forscher be-
haupten, er habe sich dazu einer Laterna magica bedient.«
»Jawohl, keine Erklärung ist abgeschmackt genug, daß sie bei den
Heutigen nicht Beifall fände«, — fuhr Zwakh unbeirrt fort. — »Eine
Laterna magica! — Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben
solchen Dingen nach ging, einen so plumpen Schwindel nicht auf
den ersten Blick hätte durchschauen müssen. Ich kann freilich nicht
wissen, worauf sich die Golemsage zurückführen läßt, daß aber irgend
etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel sein Wesen
treibt und damit zusammenhängt, dessen bin ich sicher. Von Geschlecht
zu Geschlecht haben meine Vorjahren hier gewohnt und niemand
kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das perio*
dische Auftauchen des Golem zurückblicken, als gerade ich!«
Zwakh hatte plötzlich aufgehört zu reden, und man fühlte mit ihm,
wie seine Gedanken in vergangene Zeiten zurückwanderten.
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Gustav Meyrink, Der Gofem
515
Wie er den Kopf aufgestützt dort am Tische saß und beim Scheine
der Lampe seine roten jugendlichen Bäckchen fremdartig von dem
weißen Haar abstachen, verglich ich unwillkürlich im Geiste seine
Züge mit den maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er
mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie ähnlich ihnen der alte Mann doch sah! —
Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde können nicht loskommen von einander,
fühlte ich, und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorüber-
ziehen ließ, da schien es mir mit einemmal gespenstisch und unge-
heuerlich, daß ein Mensch wie er, trotzdem er eine bessere Erziehung
als seine Vorfahren genossen und Schauspieler hätte werden sollen,
plötzlich wieder zu dem schäbigen Marionettenkasten hatte zurück«
kehren können um nun abermals auf die Jahrmärkte zu ziehen und
dieselben Puppen, die schon seiner Vorväter kümmerliches Erwerbs-
mittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen
und schläfrigen Erlebnisse vorführen zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich/ sie
leben mit ven seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da
haben sie sich in Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn ge-
wohnt und ihn rast- und ruhelos gemacht, bis er wieder heimkehrte.
Darum hält er sie jetzt so liebevoll und kleidet sie stolz in Flitter.
»Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzählen?« forderte Prokop
den Alten auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob
auch wir gleichen Wunsches seien.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll,« meinte der Alte zögernd,
»die Geschichte mit dem Golem läßt sich schwer fassen. So wie
Pernath vorhin sagte: er wisse genau wie jener Unbekannte ausge-
sehen habe und doch könne er ihn nicht schildern. Ungefähr alle
dreiunddreißig Jahre wiederholt sich ein Ereignis in unsern Gassen,
das gar nichts besonders aufregendes an sich trägt und dennoch ein
Entsetzen verbreitet, für das weder eine Erklärung noch eine Recht-
fertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich nämlich, daß ein vollkommen fremder
Mensch, bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus
aus der Richtung der Altschulgasse her, — in altmodische verschossene
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516 Gustav Meyrinfi, Der Gofem
Kleider gehüllt, gleichmäßigen und eigentümlich stolpernden Ganges,
so, als wolle er jeden Augenblick vornüber fallen, durch die Juden«
Stadt schreitet und plötzlich unsichtbar wird.
Gewöhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heißt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis be~
schrieben und sei zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem er aus-
gegangen: einem uralten Hause in der Nähe der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hätten ihn um eine
Ecke auf sich zukommen sehen. Trotzdem er ihnen aber ganz deutlich
entgegen geschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Ge«
stalt sich in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner ge-
worden — und schließlich ganz verschwunden.
Vor Sechsundsechzig Jahren nun muß der Eindruck, den er hervor»
gebracht, besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich, —
ich war noch ein ganz kleiner Junge — daß man das Gebäude in
der Altschulgasse damals von oben bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, daß wirklich in diesem Hause ein
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man Wäsche gehängt, um von der Gasse
aus einen Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der
Tatsache auf die Spur gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an
einem Strick zum Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum
aber war er in die Nähe des Fensters gelangt, da riß das Seil und
der Unglückliche zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schädel.
Und als später der Versuch nochmals wiederholt werden sollte,
gingen die Ansichten über die Lage des Fensters derart auseinander,
daß man davon abstand.
Ich selber begegnete dem »Goleme das erstemal in meinem Leben
vor ungefähr dreiunddreißig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu und wir
rannten fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorge-
gangen sein muß. Man trägt doch um Gotteswillen nicht immer*
während, tagaus tagein die Erwartung mit sich herum, man werde
dem Golem begegnen.
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Gustav Meyrinf, Der GoCem 517
In jenem Augenblick aber, bestimmt — ganz bestimmt noch ehe
ich seiner ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf:
der Golem! Und im selben Moment stolperte jemand aus dem
Dunkel des Torflures hervor und jener Unbekannte ging an mir vor-
über. Eine Sekunde später drang eine Flut bleicher aufgeregter Ge-
sichter mir entgegen, die mich mit Fragen bestürmten, ob ich ihn ge-
sehen hätte.
Und als ich antwortete, da fühlte ich, daß sich meine Zunge
wie aus einem Krämpfe löste, von dem ich vorher nichts
gespürt hatte.
Ich war förmlich überrascht, daß ich mich bewegen konnte, und
deutlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich, wenn auch nur den
Bruchteil eines Herzschlags lang — in einer Art Starrkrampf be-
funden haben mußte.
Über all das habe ich oft und lang nachgedacht und mir dünkt,
ich komme der Wahrheit am nächsten, wenn ich sage: immer einmal
in der Zeit eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie
durch die Judenstadt, befällt die Seelen der Lebenden zu irgend einem
Zweck, der uns verhüllt bleibt, und läßt wie eine Luftspiegelung
die Umrisse eines charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht
vor Jahrhunderten hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung
dürstet
Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde für Stunde, und wir
nehmen es nicht wahr. Hören wir doch auch den Ton einer schwir-
renden Stimmgabel nicht, bevor sie das Holz berührt und es mit-
schwingen macht
Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne
innewohnendes Bewußtsein — ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein
Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen
herauswächst —
Wer weiß das?
Wie in schwülen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur Un-
erträglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, könnte es da nicht
sein, daß auch auf die stetige Anhäufung jener niemals wechselnden
Gedanken, die hier im Ghetto die Luft vergiften, eine plötzliche
ruckweise Entladung folgen muß? — Eine seelische Explosion, die
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518 Gustav Meyrinü, Der Gofem
unser Traumbewußtsein ans Tageslicht peitscht, um — dort den Blitz
der Natur — hier ein Gespenst zu schaffen, das in Mienen, Gang
und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der Massenseele un-
fehlbar offenbaren müßte, wenn man die geheime Sprache der For-
men nur richtig zu deuten verstünde?
Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes an-
künden, so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das
drohende Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der ab-
blätternde Bewurf einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die
einem schreitenden Menschen gleicht: und in Eisblumen am Fenster
bilden sich die Züge starrer Gesichter. — Der Sand vom Dache
scheint anders zu fallen als sonst und drängt dem argwöhnischen
Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die sich
lichtscheu verborgen hält, werfe ihn herab und übe sich in heimlichen
Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. — Ruht das
Auge auf eintönigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, be-
mächtigt sich unser die unerfreuliche Gabe überall mahnende bedeut-
same Formen zu sehen, die in unsern Träumen ins Riesengroße aus-
wachsen. Und immer zieht sich durch solche schemenhafte Versuche
der angesammelten Gedanken herden die Wälle der Alltäglichkeit
zu durchnagen, für uns wie ein roter Faden die qualvolle Gewißheit,
daß unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern Willen
ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch
werden könne.
Wie ich nun vorhin Pernath bestätigen hörte, daß ihm ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schief gestellten Augen, da stand der
»Golem« vor mir, wie ich ihn damals gesehen.
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas Uner-
klärliches nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang, dieselbe
Angst, die ich schon einmal in meinen Kinderjahren verspürt, als die
ersten spukhaften Äußerungen des Golem ihre Schatten voraus warfen.
Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knüpft sich an
einen Abend, an dem der Bräutigam meiner Schwester zu Besuch
gekommen war und in der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt
werden sollte.
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Gustau MeyrutK, Der Gofem
519
Es wurde damals Blei gegossen — zum Scherz — und ich stand
mit offenem Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten
habe, — in meiner wirren kindlichen Vorstellung brachte ich es in
Zusammenhang mit dem Golem, von dem ich meinen Großvater oft
hatte erzählen hören, und bildete mir ein, jeden Augenblick müsse
die Türe aufgehen und der Unbekannte eintreten.
Meine Schwester leerte dann den Löffel mit dem flüssigen Me-
tall in das Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah,
lustig an.
Mit welken zitternden Händen holte mein Großvater den blitzen«
den Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf ent-
stand eine allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander,
— ich wollte mich hinzudrängen, aber man wehrte mich ab.
Später, als ich älter geworden, erzählte mir mein Vater, es wäre
damals das geschmolzene Metall zu einem kleinen ganz deutlichen
Kopf erstarrt gewesen, — glatt und rund, wie nach einer Form ge-
gossen, und von solch unheimlicher Ähnlichkeit mit den Zügen des
»Golem«, daß sich alle entsetzt hätten.
Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hille!, der die Re-
quisiten der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse
Lehmfigur aus Kaiser Rudolfs Zeiten, darüber. Er hat sich mit
Kabbala befaßt und meint, jener Erdklumpen mit den mensch-
lichen Gliedmaßen sei vielleicht nichts anderes als ein ehemaliges
Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der bleierne Kopf. Und der
Unbekannte, der da umgehe, müsse das Phantasie- oder Gedanken-
bild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig gedacht
habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in regel-
mäßigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen Sternstellungen,
unter denen es erschaffen worden — wiederkehre, vom Triebe nach
stofflichem Leben gequält.
Auch Hilleis verstorbene Frau hat den »Golem« von Angesicht
zu Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefühlt, daß man sich im
Starrkrampf befindet, solange das rätselhafte Wesen in der Nähe
weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur
ihre eigne Seele habe sein können, die — aus dem Körper getreten
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520 Gustav Meyrfnf, Der Gofem
— ihr einen Augenblick gegenüber gestanden und mit den Zügen
eines fremden Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemächtigt,
habe sie doch keine Sekunde die Gewißheit verlassen, daß jener
Andere nur ein Stück ihres eignen Innern sein konnte.
»Es ist unglaublich«, murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grübeln versunken.
Da klopfte es an die Türe und das alte Weib, das mir des
Abends Wasser bringt, und was ich sonst noch nötig habe, trat
ein, stellte den tönernen Krug auf den Boden und ging stillschwei-
gend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer
umher, aber noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer Einfluß mit der Alten zur Tür hereingeschlüpft,
an den man sich erst gewöhnen mußte.
»Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man
nicht loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder
auftauchen sieht«, sagte plötzlich Zwakh ganz unvermittelt. »Dieses
erstarrte grinsende Lächeln kenne ich nun schon ein ganzes Menschen«
leben. Erst die Großmutter, dann die Mutter! — Und stets das
gleiche Gesicht, — kein Zug anders! Derselbe Name Rosina/
es ist immer eine die Auferstehung der andern.«
»Ist Rosina nicht die Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum?«,
fragte ich.
»Man spricht so«, meinte Zwakh, »Aaron Wassertrum aber
hat manchen Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiß.
Auch bei Rosinas Mutter wußte man nicht wer ihr Vater gewesen,
— auch nicht was aus ihr geworden ist. — Mit fünfzehn Jahren
hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht mehr aufgetaucht.
Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich
mich dunkel entsinne, — der ihretwegen in diesem Hause begangen
wurde.
Wie jetzt ihre Tochter spukte damals sie den halbwüchsigen Jungen
Im Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, — ich sehe ihn öfter, — doch
sein Name ist mir entfallen. Die andern sind bald gestorben und ich
Gustav Meyrin/i Der Goftm
521
meine, sie hat sie alle frühzeitig unter die Erde gebracht Ich erinnere
mich aus jener Zeit überhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie
verblichene Bilder durch mein Gedächtnis treiben. So hat es damals
einen halb blödsinnigen Menseben gegeben, der nachts von Schenke
zu Schenke zog und den Gästen gegen ein paar Kreuzer Silhouetten
aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken machte,
geriet er in eine unsägliche Traurigkeit, und unter Tränen und
Schluchzen schnitzelte er ohne aufzuhören immer das gleiche scharfe
Mädchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte
er — fast als Kind noch — eine gewisse Rosina, wohl die Groß-
mutter der heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber
verlor. —
Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die
Großmutter der jetzigen Rosina gewesen sein.« — —
Zwakh schwieg und lehnte sich zurück. —
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt
immer wieder zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn
und ein häßliches Bild, das ich einmal mit angesehen: — eine Katze
mit verletzter Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd — trat vor
mein Auge. ,
»Jetzt kommt der Kopf«, hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander
mit geller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann
an ihm zu schnitzen.
Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und Ich
rückte raeinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel und Josua Prokop
füllte wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge
der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster/ — manchmal ver-
stummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, — wie
sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht mit anstoßen wolle, fragte mich nach einer
Weile der Musiker.
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522
Gustav Mtyrüi/i Der Gofem
Ich aber gab keine Antwort. — So vollkommen war mir der Wille
midi zu bewegen abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den
Gedanken den Mund zu öffnen verfiel. —
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die
sich meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vries-
landers funkelndes Messer blinzeln, — das ruhelos aus dem
Holze kleine Späne biß, — um die Gewißheit zu erlangen, daß ich
wach sei
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder
allerlei wunderliche Geschichten über Marionetten — und krause
Märchen, die er für seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen
Dame, der Gattin eines Adligen, — die in das versteckte Atelier
heimlich zu Savioli zu Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische,
triumphierende Miene. —
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, überlegte ich, was sich damals
ereignet hatte, — dann hielt ich es nicht für der Mühe wert und für
belanglos. — Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte
ich jetzt den Versuch machen zu sprechen.
Plötzlich sahen die drei am Tische aufmerksam zu mir herüber und
Prokop sagte ganz laut: »Er ist eingeschlafen«, so laut, daß
es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter und ich erkannte, daß
sie von mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht
auf, das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte
mir in den Augen. —
Es fiel ein Wort — wie — »irr sein« — und ich horchte auf die
Rede, die in der Runde ging.
»Gebiete, wie das vom ,Golem' sollte man vor Pernath nie be-
rühren,« sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, — »als er vorhin von
dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter.
— Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt.«
Zwakh nickte: »Sie haben ganz recht Es ist, wie wenn man mit
offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche
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Gustav Meyr/nt, Der Goftm
523
Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der
Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt, ein flüchtiges Berühren
nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken.«
»War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch
erst vierzig sein«, sagte Vrieslander.
»Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung woher
er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen
tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Ge*
statt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein be-
freundeter alter Arzt gebeten, ich möge mich seiner ein wenig an«
nehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo
sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten
beunruhigen würde, aussuchen.« Wieder sah Zwakh
bewegt zu mir herüber.
— »Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und
schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand ge-
gründet. — Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem
Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. — Fragen
Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in
seiner Erinnerung wachrufen könnten, — wie oft hat mir das der
alte Arzt ans Herz gelegt! — Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode/ wir haben seine
Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, — möchte ich's nennen, — so
wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige
Erinnerung knüpft.«
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein
Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen
Händen das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, ein Ahnen, —
als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem
Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durch-
schritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die
Ursache zu ergründen.
Jetzt lag des Rätsels Losung offen vor mir und brannte mich
— unerträglich — wie eine bloßgeiegte Wunde.
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524 Gustav MeyrtnH, Der Go'em
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Er-
eignisse nachzuhängen, — dann der seltsame von Zeit zu Zeit immer
wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir un-
zugänglicher Gemächer gesperrt, — das beängstigende Versagen meines
Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, alles das
fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung. Ich war wahnsinnig
gewesen und man hatte Hypnose angewandt, — hatte das —
»Zimmer« verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern
meines Gehirns bildete — und mich zum Heimatlosen inmitten des
mich umgebenden Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, das verlorene Je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem
andern vergessenen Dasein verborgen/ — begriff ich, — nie würde
ich sie erkennen können: — eine verschnittne Pflanze bin ich, — ein
Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch,
den Eingang in jenes verschlossene »Zimmer« zu erzwingen, müßte
ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt in die
Hände fallen?! •
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde er«
zählte, zog mir durch den Sinn und plötzlich erkannte ich einen
riesengroßen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagen*
haften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen
sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle würde der Strick reißen, wollte ich ver-
suchen in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und
nahm etwas unbeschreiblich erschreckendes für mich an.
Ich fühlte: es sind da Dinge — unfaßbare — zusammengeschmiedet
und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg führt,
nebeneinander her.
Auch im Ghetto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand
finden kann, — ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur
zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter
die Menschen zu tragen!!
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe und das Holz
knirschte unter der Klinge des Messers.
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Gustav Meyri/t/f, Der Gofem S25
Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es
denn nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war
es, als habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann
ruhten seine Augen lange auf mir, — befriedigt, daß sie mich endlich
gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und
starrte unverwandt auf das hölzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu
suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein und plötzlich ge*
wannen die Züge des Holzkopfes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das
Buch gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur
eine Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen
aufhörte und ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir — wie damals — des Gesichtes bewußt
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders
Schoß und spähte umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher und eine fremde Hand
bewegte meinen Schädel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Mienen und
hörte seine Worte: um Gotteswillen, das ist ja der Golem.
Und ein kurzes Ringen entstand und man wollte Vrieslander mit
Gewalt das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:
»Was wollt Ihr, — es ist doch ganz und gar mißlungen « Und
er wand sich los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die
Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewußtsein und ich tauchte in eine tiefe Finster-
nis, die von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich,
wie es mir schien, nach einer langen langen Zeit erwachte, da erst
hörte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen.
»Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie
schüttelten, c — sagte Josua Prokop zu mir, »der Punsch ist aus und
Sie haben alles versäumt.«
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526 Gustav Meyrirtt, Der Gofem
Der heiße Schmerz, Ober das, was ich vorhin mitangehört, über*
mannte mich wieder und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt
habe, als ich Ihnen von dem Buche Ibbur erzählte — — und es
aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen könne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die
Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte,
nicht durchdringen.
Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel um und lachte:
»Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird
Ihre Lebensgeister erfrischen. c
Gustav Meyrinb.
(Tortsetzung fofgt.)
Für die Redaktion verantwortlich:
Ert'S» Ernst StfiwaßaS — Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kreuzstraße 3 b.
Für Österreich-Ungarn verantwortlich: Hugo He (Ter, Wien I, Bauernmarkt 3.
Gedruckt in der O ßzin von PoescBef etTrepte in Leipzig.
Papier von Edm. Obst in Leipzig.
Alle die Weißen Blätter betreffenden Zusendungen sind zu rich'en an die
Redaktion der Weißen Blätter, Charlottenburg, Sybelstraße 22.
Diesem Heft liegen Prospekte folgender Firmen bei: R. Piper 'SD Co, G.m.b.H.
München, Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, die
wir aufmerksamer Beachtung empfehlen.
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DIE WEISSEN BLÄTTER
EINE MONATSSCHRIFT
ERSTER JAHRGANG
NR. 6 FEBRUAR 1914
BESUCH BEI DUCHESNE
L
^OEIT ich über die heilige Katharina und die heilige Walburga
O schrieb, sind nur wenige Jahre verflossen und doch ist es schon
nicht mehr dieselbe Zeit. Jetzt erst realisiere ich, wie reizvoll es war,
religiösen Problemen nachzuhängen, während sie so ziemlich niemand
interessierten. Ich sage dies nicht aus Hochmut. Es sind Beleuchtungs-
fragen, und jeder kennt ja ihren Belang. Wir wissen, daß eine zu
offene Helle die Dinge schlagen und ihrer Intimität berauben kann/
wie sehr dagegen jenes andere gehemmte und entkräftete Licht alles
verstärkt und verdeutlicht, was es bestrahlt/ — Mitsommer vielleicht,
während das voll entfaltete Laub regungslos unter dem bedeckten
Himmel hängt.
Eine frühe, noch ungewohnte Christenheit sah alles so grell, daß
sie verwirrten Sinnes die Geschichte ihres Kultus wob. Aber seit
Dezennien, ja seit Jahrhunderten schon hat sich ein stetig wachsender
Indifferentismus wie Wolkenbänke aufgeschichtet. Die Dinge der
Religion ließ man links liegen, hörte auf, sich zu ereifern. Immer
weiter glitten sie wie Abgeschiedene von uns weg, und immer we-
niger »gehörten sie her«.
Merkwürdigerweise gärte dabei das christliche Agens wie ein
Sauerteig in uns rer entfrommten Welt unbeschadet weiter, fand andere
Ventile, pflanzt^ sich in unserer Philantropie wie zu einem blühen-
den Stabe auf und modifizierte von Grund auf unsere Kriegsführung
und unsere Sitten. Es war erstaunlich zu sehen, wie gut gerade der
Katholizismus es vertrug, daß man ihn in Ruhe ließ, und abgewandten
Sinnes lieber fliegen, forschen und entdecken lernte. Ja, es schien, als
37
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528 A Kofi, BesuS ßei Dudesn*
atme er indessen von den Strapazen unserer tausendjährigen Miß*
Verständnisse aus/ sachte begann er schon der bitteren, unleidlichen
Rinde sich zu entziehen, in die Menschenhände ihn verbaut hatten,
glitt einer neuen Kurve zu und evoluierte wie ein Planet. Ja, man
kann sagen: seine Idee evoluierte in dem Maße, als seine Dogmen
an Presenz und Deutlichkeit verloren. Nichts gleicht ja so vollkommen
einer Kugel als diese Idee. Und so drehte sie sich nur um ihre
Achse, als sie, ohne doch von uns abzurücken, wie der Neumond
unserem Gesichtskreis entschwand . . . Aber leider sind wir daran,
ihn auf seiner Bahn noch einmal störend aufzuhalten. Aus der Pe-
nombra unserer Gleichgültigkeit soll er noch einmal vorschnell ans
Licht, und wenn nicht alles trügt, so kommt wahrhaftigen Gottes der
Katholizismus jetzt in Mode.
Auf irgend einen Umschwung mußte man ja gefaßt sein. Mit
der Liebe als »Topik« ist es bekanndich vorbei, sie muß sich erst
von der Publizität erholen, die wir ihr ein Jahrzehnt lang ange-
deihen ließen, so daß wir eine Zeidang lieber nichts mehr von
ihr hören. Wer hinzukommt, wie ein Rad ausläuft, der harrt der
neuen Schwingung: so sind heute die Unerfahrensten blasiert. Und
daran ist ja nichts auszusetzen. Wohl aber, daß man darauf ver-
fiel, nunmehr das Religiöse gewissermaßen als Novität auf seine
Zugkraft hin zu erproben! Auch der laueste Katholik sieht heute
entsetzt eine Menge Leute deudich Miene machen, den Katholizismus
zu >entdedcenc Nicht als ausübende Katholiken versteht sich, nur als
imaginäre, die allen Ernstes glauben, aus Sport, und wie man Wag-
nerianer und später Antiwagnerianer war, so könne man auch ka-
tholisch sein. Ein grotesker Wahn, wenn man bedenkt, daß der Be-
griff Amateur-Katholik so wenig wie der des Amateur-Soldaten
existiert. Und zöge einer in Helmbusch und Epauletten einher, und
würfe sich gar in eine Generalsuniform, weil sie ihm so gut gefällt,
so hätte er doch erst recht mit militärischen Dingen nichts zu schaffen t
es sei denn, daß er dem Stande beitritt und sich dem Drill unter-
zieht. So fragt der Katholizismus nicht nach Velleitäten, er frägt
nicht, wer für den Pomp seiner Zeremonien und Gewänder, auch
nicht, wer für den suggestiven Zauber des Meßopfers schwärmt,
sondern er frägt nur, wer eingeht durch das kaudinische Jocb, das
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A. Kofß, Besucß ßei Du&esne
529
bis auf weiteres den einzigen Zugang bildet zu einer ehrwürdigen
und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden
Feste, daß nur mehr die ganz Einfältigen, die freiwillig Gedanken-
losen oder Leute von sehr merkwürdiger Abstraktionsfähigkeit ihre
Besatzung bilden. Und er fordert von diesen wenigen, daß sie es
über sidi bringen, die wankende Burg um ihres ewigen Grundrisses
willen nidit zu verlassen. Er fordert, daß sie, wenn auch ohne Mu-
sion und des Einsturzes gewärtig, den täglich unleidlicheren Ver-
hältnissen sich fügen. Er frägt nicht, welche Grimassen sie dabei
schneiden. Es genügt ihm, daß sie nicht ausziehen. Denn er bedarf
ihrer als Pfeiler für den kommenden Umbau.
In Rom, bei einem Kardinal, der ein sehr heiliges Leben führte,
war eines Tages im engsten Zirkel von der letzten Papstwahl die
Rede/ und auch von den politischen Intrigen, die damals in allen
Kanzleien so üppig und offenkundig in Blüte kamen, daß am Tage
der Entscheidung einer der Botschafter mit der Prognose: »Ce sera
un petit pape« — im Gegensatz zu Leo XIII. — unumwunden her-
ausrücken durfte. Der Neffe des Kardinals wagte zu bemerken, daß
sich der hl. Geist während dieses letzten Konklaves sehr passiv
verhalten habe. »Et vous croyez«, sagte der Kardinal, nicht etwa
ironisch, sondern mit der Fassung und erfahrenen Gelassenheit des
Veteranen: »Et vous croyez que dans cent ans nous aurons en-
core ces chlnoiseries-lä?« Mögen manche Katholiken ungläubig die
Köpfe schütteln, mögen sie den Neokatholiken unbegreiflich dünken:
dies waren seine Worte. Und hier möchte ich etwas über Konvertiten
einschalten, was nur scheinbar nicht hierher gehört.
Zwischen ihnen und den angestammten Katholiken herrscht so oft
eine merkwürdige Fremdheit, als wären sie gar keine richtigen Glaubens-
genossen. Der alte Bau, der für uns die edle Patina der Jahrhunderte
trägt, steht wie frisch getüncht und so hart und plötzlich ~- und so
neuartig vor ihren Augen. Nichts von seinen Herrlichkeiten ist ihnen
noch geläufig. Als nouveaus riches sind sie über Nacht zu dem ge-
langt, was den Erbangesessenen selbstverständlicher Besitz ist, und
dies je inniger sie sich damit verwachsen wissen. Daher nichts vor-
nehmeres, aber auch nichts selteneres als ein Konvertit dem man 's
nicht anmerkt.
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530
In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu
bleiben, ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß
eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte,
da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als
über ein so gefährliches und verwirrendes Thema nachdenken. Und
ich begreife sie sehr wohl. Seinem Geiste nach ist der Katho-
lizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu insgeheimes und
zu irisierendes. Für die Armen da, gewiß, aber wie ein König für
die Armen da ist, so ist er in seinem unantastbaren Adel denen so-
gleich entzogen, die in ihn hinein geheimnissen oder ihm mit Ana-
chronismen zu nahe treten. Denn er kennt kein Zurück/ und durch-
schrittene Bahnen umkreist er kein zweites Mal. O wüßte Claudel,
wie weit dieser Geist seiner versteinerten Muse entschwebt ist, wie
wenig ihr erledigtes Mittelalter den Unaufhaltsamen betrifft!
Wenn mir vorhin die Konvertiten einfielen, so geschah es, weil
mir bei der Äußerung des Kardinals, die ich zitierte, unwillkürlich
ihre erschrockenen Mienen vorschwebten. Der junge Diakon hingegen,
an den sich die Worte richteten, vernahm sie mit einem beschau-
lichen Lächeln. Er sollte sich bald darauf durch einen zu furwitzigen
Modernismus seinem Seminar mißliebig machen, auch sollte ihm —
gerade nach Torschluß — dünken, daß er für die Aviatik oder die
Armee — er stammte aus einer französischen Offiziersfamilie — pre-
destinierter gewesen wäre, als für den Priesterstand, den er offen-
bar ein wenig vorschnell erwählt hatte. In dieser Verfassung kam er
nach München und besuchte mich hin und wieder. Bei seinem skep-
tischen Naturell konnte von einem Glauben, der »Berge versetzt«,
nicht die Rede sein. Intelligent und rege, aber der Wissenschaft, der
Technik zugewandt und ohne jede Einstellung für das Religiöse, läßt
sich denken, wie ihm heutzutage in seinem Stande zumute sein mußte.
Seine Ironie war zu wenig gespielt, sein Achselzucken zu vielsagend,
seine Munterkeit zu sehr die eines gefangenen Eichhorns, kurz, sein
Stichwort war die Qual, — man brauchte es gar nicht lange zu suchen.
Eines Tages erschien er plötzlich zu ungewohnter Stunde, sich zu
verabschieden. Es habe sich eine Vikarstelle für ihn geboten/ ob er
die annähme, wisse er noch nicht, und er zuckte die Achseln/ doch
jedenfalls kehre er nach Frankreich zurück.
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A. KofS, Besucß Bei DuSesn«
531
Die Fenster standen groß offen und es war ein Frühlingstag, daß
ihn die Gestorbenen unter ihren Erdhügeln spüren mußten. Als eine
verwegene Negation des Todes rauschte er mit allen Schauern her-
ein, sein Licht hing sich wie ein Lockruf an den blassen und eleganten
Abbe und hob mit so weher Schärfe die Tragik seines Daseins her-
vor, daß ich aufatmete, als er wieder ging. Doch gleich darauf hielt
ich es selber im Hause nicht mehr aus. Draußen, unter freiem Him-
mel, angesichts der Straßen, der blühenden Anlagen, da gab es die
vieljährigen Bäume, die oft erstorbenen und nun wieder ergrünten,
und Menschen aller Art, erst da ließ sich das Schicksal des jungen
Abbes wieder einreihen und erdrückte nicht mehr. Da erst konnte man
sich ein Herz fassen, kalte Dinge in den Tag hineinzudenken.
Zwei Jahre waren vergangen, als ich ihn unvermutet wieder traf.
Er hatte sich in einem Lyzeum ganz der Erziehung junger Knaben
gewidmet, seine Hoffnungslosigkeit schien glücklich eingedämmt/ ich
fand ihn »zusammengerissen« und gefestigt, ohne daß er doch im
Stillen von seiner Skepsis das geringste eingebüßt hatte/ er zuckte
die Achseln womöglich noch höher als zuvor, und nie war Einer
seines Zeichens der Dogmen so ungewiß.
»Warum gehen Sie nicht weg?« fragte ich starr.
»O nein,« sagte er sehr ernst, »es ist keine Sache, die man
desertiert.« Dabei kam ein so anderer Ausdruck in sein Gesicht,
daß ich vor Ehrfurcht erschrak, und ich begriff, daß eine Weihe wie
die, welche er empfangen hatte, dem Flüchding zum Brandmal
werden müßte. Ja, für den Augenblick wollte mir alles andere ge-
ring scheinen im Vergleich zu dem Leben dieses im eigenen Lager
mißkreditierten und verdächtigten Abbes, der mit so großer Selbst-
verleugnung auf seinem Posten blieb. Weil hinter diesem Katho-
lizismus, dem wir doch sonst lieber heute als morgen davon-
liefen, das Rätsel steht, das wie eine noch ungehobene Monstranz
weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes
inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann aus-
strahlt.
Wird mich der Leser verstehen, wenn ich ihm das Bild nenne,
das da plötzlich vor mir aufstieg? Ein kleiner Reitertroß, welcher
dem vorsichtig nachziehenden Heere voransprengt, verwehrte Grenz-
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532
A KotB, BesuS Bti DuSes/te
linicn erkundend, ohne Deckung, verfallen, namenlos, und dennoch
vom Sturm seiner Gesinnung sich zu opfern hingerissen, weil dort
einige Helden liegen müssen, wo die kommenden Vielen freien Durch*
zug über neue Brücken finden sollen. Und auch jene Kundschafter
schwebten mir vor, die sich als erste in die mörderische Luft erhoben,
um sie für andere zu besiegen. Von dem mystischen Generalissimus
aber, der heute eine solche verschwindend kleine Schar durch seinen
Geist beseelt und vielleicht ohne es zu wissen, auf ihren gefahrlichen
Vorposten zurückhält, von Duchesne will ich nun sprechen.
II.
Ich wäre glücklich, wenn es mir gelänge, das Bild des Mannes zu
umreißen, der sich aus dem unmöglichen Kompromiß zwischen
Skepsis und Gläubigkeit seine gedankliche Würde und Unabhängig«
keit rettete, und — - klug wie eine Schlange — die Desinvoltura seines
Geistes bis in ihre kleinsten, spöttischesten Züge vorbehielt, während
er sich doch als ein Gebundener aller Waffen begab/ — der heute
mit einer Selbstverleugnung ohnegleichen als Trumpf einer Partei
steht, die nur darauf sinnt ihn auszustoßen, während er durch sein
geistiges Prestige ihre Wagschale hält/ — ■ der über die obskuren
Tage, durch welche sich der Katholizismus durchringen muß, wie ein
blühender Äst hinausreicht, und dessen Schatten so beseelt eine
Schwelle überhängt, die er nicht beschreiten wird. Es gibt heute auf
der Welt keine stolzere Gestalt, und keine, die so einsam steht,
wie Duchesne. Nicht mit den Unbedachten und den Fanatikern, die
blindlings ein zerfallendes Gemäuer verteidigen, sondern weil er
dessen unerschütterliche Basis ergründete, nur deshalb verharrt er
standhaften Fußes inmitten des immer hastigeren Gerölles. Gar
manche Werte, als unvergängliche ausgegeben, wird es ja als ver-
gangene vor sich hintreiben. Aber keine Kunst wird es dann sein
und keines Scharfblickes wird es mehr bedürfen, sich zu einem
Katholizismus zu bekennen, von dem die düstere, unziemliche und
abgenützte Wörtlichkeit sich endlich löste!
Ich war zum erstenmal nach Rom gekommen und wußte noch
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A Ko/B, BtsuS 6*i Ducfosne
533
nichts von Duchesne, als mich eines Tages Barrere auf die Gäste
aufmerksam machte, die er für den Abend erwartete: er hob den
soeben zum Monseigneur ernannten Abbe Duchesne vor allen an-
deren hervor und bestimmte mich in seiner impulsiven und gutigen
Art zu seiner Nachbarin. Nun war ich aber noch übertrieben jung,
wenn man so sagen darf und eine viel zu unwichtige Person, um von
dem neuen Würdenträger geführt zu werden. Man beförderte mich
also an seine Linke. Es war alles was sich machen ließ. Zu seiner
Rechten saß — zart und pariserisch — die sehr reizvolle junge Gattin
eines französischen Deputierten. Sie verstand es sogleich, sich mit einer
huldigenden kleinen Phrase Duchesne zuzuwenden, und ich beneidete
sie um ihre Sicherheit, erschrak jedoch, als sie ihn dann fast unver-
weilt auf religiöse Themen hin unternahm. Allein sie trug sich als
strenggläubige Katholikin und ohne Furcht. Leo XIII., obwohl schon
ein Sterbender, hatte sie noch empfangen, und ihr seinen Segen ge-
währt ... sie war so glücklich . . . dieser unvergeßliche Eindruck . . .
»Und werden Sie sich einige Zeit in Rom aufhalten?« fragte Duchesne.
»Ach nein, leider nicht.« Sie müsse wegen der ersten Kommunion
ihres ältesten Kindes zurück.
»Schade«, sagte er.
Es entstand eine kleine Pause/ man reichte ihr eben den Fisch,
aber dann erklärte sie eifrig, sie wolle jedenfalls den Ablaß gewinnen,
bevor sie Rom verließ. Hatte Monseigneur ihn schon gewonnen?
»Non,« gab er zur Antwort, »j'attends qu'il y ait un rabais.« Und
ohne aufzusehen, ließ er ihr ruhig Zeit sich zu sammeln. Ihr Gatte
fing die bestürzte, fast hilfesuchende Miene nicht auf, mit der sie
über den Tisch zu ihm hinsah, indes ich mich schnell zurücklehnte,
um Duchesne mit einem unauffälligen Blick zu überfliegen. Mein
Herz tat einen großen Ruck und stand horchend still. O diese hohe
wie in kühner Abwehr geschwungene Braue! dies aufblitzende, be-
drohliche Feuer des Auges! und welcher Ernst hinter dieser
grimmigen Maske! Jene unverbriefte augenblidtliche Sicherheit, zu
der eine intuitive Erkenntnis hinreißen kann, trug mich da, — des
Pfeils nicht achtend, wo er lag — schnurgerade zu dessen Ausgangs-
punkt hin. Nein, bei Burgunder und Salmi gab dieser Mann nichts
zum Besten von dem, was der Brennpunkt seines Lebens war. Be-
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534
A Ko/B, BesucB Bei DuSesnc
dachte sie es nicht und zog sie keine Schlüsse, die anmutige Frau,
die sich die Dinge zugute hielt, deren letzte Konsequenzen er trug?
Sein zierlicher violetter Mantel, als seidenes Nichts über den Sessel
zurückgeschlagen, hing er ihm nicht wie mit eisernen Schließen am
Halse an? und entnahm sie nichts der so wenig klerikalen, der so
priesterlichen Prägung dieser tragisch in sich gekehrten Zügel —
Ach! so neu war dies! wie wenn Berge zurücktretend ein Tal
einlassen. Ich war so entzückt, daß sich mir alles festlich erhöhte:
das Silherzeug wie neu gehäuft, als spende es seine Pracht zum
ersten Male, und auch die Blumen!
Aber leider ist hier zu viel von mir selbst die Rede, denn
ich muß zur Erklärung manches einschalten, so wenig es sonst her-
gehört. Mit sechs Jahren steckte ich schon in einem Kloster, das ich erst
mit zwölf, beflügelten Schrittes, auf immer verließ. Der Begriff und das
Hochgefühl, ja die Würde der Freiheit bestand für mich darin, daß
ich nunmehr mit Klosterfrauen, spitzenbesetzten Heiligenbildern auf
Tortenpapier und den frommen, aber so faden Öldrucken, vor
welchen es in keinem Saale, keinem Korridor, keinem Vorplatz ein
Entrinnen gab, auf immer außer Kontakt treten durfte. Dies hatte
der furchtbare Klosterjargon bewirkt, in dem das Erhabene und
Unbegreifliche, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee,
ohne Unterlaß hereingezogen wurde. Kein Anlaß war zu gering,
um uns von Gott zu sprechen. Schneller als man glaubt hat aber
die geheimnislose Aufmachung des Geheimnisvollen das religiöse
Bewußtsein eines Kindes zerstört und es wendet sich so bald als
möglich von einer Sache ab, die man ihm mit beschämend albernen
Reminiszenzen behing. Ich war mit so mächtigen Aversionen aus
meinem Kloster ausgetreten, daß ich mich fortan allen religiösen Er-
örterungen und dem Umgang kirchlicher Personen mit anstößiger
Deutlichkeit entzog und meiner Abneigung für sie auch dann, ja
dann erst recht mit wahrem Behagen treu blieb, als ich angefangen
hatte, dem Problem des Katholizismus still für mich allein mit ge-
spanntem, ja leidenschaftlichem Interesse nachzuhängen.
Und nun zurück zu jener Tafel: aber ich glaube, es werden
einige schon begriffen haben, warum da mein Herz so plötzlich
aufschlug und zu jubilieren anfing, und warum es da wie eine
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A. Koß. BesuS Bei DuSesne 535
Lerche immer wieder zum blauen Ziel emporstieg und sidi nicht
halten ließ.
Tags darauf bestürmte ich Barrere, mir zu einer Unterredung unter
vier Augen mit Duchesne zu verhelfen. Ihnen kann er's nicht ver-
weigern, und mich machen Sie für den Rest meiner Tage glücklich,
beteuerte ich.
Aber Barrere ließ sich durch meine melodramatische Geste nicht
beirren. Er dachte nicht, was ein jeder an seiner Stelle gedacht
hätte: die Kleine wird mich blamieren, wenn ich ihr willfahre. Er
zögerte nur einen Augenblick lang, dann schickte er eine Zeile zu
Duchesne hinauf: dieser wohnte nämlich im selben Hause, wenn
auch nach einer anderen Himmelsrichtung und fast eine Viertel Meile
Weges entfernt. Denn das Dach des Palais Farnese ist weitläufig
wie ein Stadtviertel und birgt einen ganzen Komplex verschiedenster
Wohnungen. Es hat sogar seine Slums sozusagen, unkontrolliert
bare Schlupfwinkel, aus welchen allerlei lichtscheues Volk sich nicht
mehr vertreiben läßt.
Duchesne schickte den Boten mit der Antwort zurück, daß er
mich am folgenden Morgen empfangen könne. Als Leiter des Archäo-
logischen Institutes hatte er eine hochgelegene, aber stattliche Flucht
von Zimmern inne. Beklommen erstieg ich die vielen Stufen und
begriff den Ansturm nicht mehr, der mich mit solcher Macht zu
diesem Schritt getrieben hatte: er erschien mir plötzlich so anmaßlich
und ungenügend motiviert. Worüber hatte ich mich nur gestern so
aufgeregt? Wegen , des Kleides, nicht wahr, das ich mir von Hause
nachschicken ließ und dessen Überhang man vergaß, so daß ich es
nicht tragen konnte. Lag mir denn auch wirklich so übermenschlich
viel an solchen Fragen? welchen Fragen? ... ich wußte auf der Welt
nicht mehr, was ich Duchesne sagen wollte, und angsterfüllt zog ich
die Klingel.
Der Diener verneigte sich stumm, zum Zeichen, daß ich erwartet
sei, und aus dem Halbdunkel trat eine Katze hervor, die sich ohne
Zögern meiner annahm und mir voranschritt. Zwar hätte nichts farb-
loser sein können als Duchesnes Empfang. Mir jedoch, da ich vor
ihm stand, verscholl alles Alltägliche, und alles Zufällige stürzte mir
zusammen wie Kulissen, die aus dem Wege müssen, und mein
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A. Ko(6, Besudü Bei DudSesne
wahres Leben umgab mich wie ein Paradies. Kindheit und Jugend
von mir fortgeweht und selbst die Jahre, die noch vor mir lagen,
im voraus abgesponnen, gehörten mir nicht mehr an, keine Zeit, nur
diese eine denkwürdige Stunde/ kaum ein Gesdiöpf, nur ein Ge-
danke, so stand ich vor ihm/ nicht von dem Zimmer wahr*
nehmend, in dem ich stand, nur den Himmel, der durch die Scheiben
sah: rosige Wolkenstreifen über den Janiculus. Es ist Abend,
dachte ich.
»Guten Morgen t, sagte Duchesne.
Doch ich blieb unter dem vagen Eindruck eines Abendhimmels
und sah so klar, wie ohne diese unverhoffte Begegnung mein Weg
sich verengte und ich abstürzte. Aber im magischen Schein dieses
sinkenden Tages, der ein aufziehender war, dünkte es mir mit nichten
wunderbar, daß der ausgerechnet einzige Mensch auf dieser Erde,
vor dem ich mir — wie ich nun einmal beschaffen war — die Be-
stätigung, das »Geländerc dessen holen würde, was ich mir nun
schon lange — Sprosse für Sprosse — trotzig aufbaute, hier vor mir
stünde mich zu vernehmen. Die Tatsache war schon vergessen, daß
sich mein Leben bisher zu einer Mosaik heftiger, stets unerfüllter
Wünsche mit erstaunlichem Tempo zusammensetzte. Stand doch auch
mein Umgang mit Menschen damals im Zeichen des erbitterten, weil
unstillbaren Wunsches auf einen Stuhl zu steigen, und was ich
gerade meinte oder dachte furchtbar hinauszuschreien, um die Nicht-
achtung zu übertönen, die meine apercus samt und sonders erfuhren.
Die sogenannten reifen Leute pflegen ja den Werdenden jeden Kre-
dit auf eigene Gedanken um so systematischer zu verweigern, je
gedankenloser sie selber sind. Und doch trägt Einer seine paar
Ideen, wenn überhaupt, schon sehr früh ungeklärt mit sich herum,
und sich selbst überlassen kommt vielleicht nichts seiner Bedrängnis
gleich.
Aber hier stand der gewaltige Duchesne und ihm bekannte ich
da in hastigen Umrissen die ganze Not meiner geistigen Existenz:
wie ich auf meiner Flucht von all denjenigen Dingen, die mir so
früh verleidet wurden, dem menschlichen Geiste auf allen mir zu-
gänglichen Gebieten, nur nicht den religiösen, nachzuspüren begann,
wie aber alle diese der Religion entfremdeten, oder sie ignorierenden,
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A. Koß, BesuS Bei DuSesne 537
ja sie scheinbar negierenden Pfade, sich mir zu guter Letzt als Um«
Schreibungen jener selben Mysterien bekundeten, deren Sinn, ja deren
Wahrheit mir eine zu unumwundene und plumpe Wörtlichkeit so
früh raubte/ wieso ich die Leute nicht verstünde, die es sich unter«
sagten, den Dogmen nachzuhängen aus insgeheimer Furcht, sie dann
bezweifeln zu müssen, und wie feig, wie träge, wie wenig menschen«
würdig mir dies erschiene/ um so mehr als sie den spekulativen Ge-
danken auf das äußerste anzuspornen vermöchten, und es eine Art
gab sfe zu jagen und zu verfolgen, bis sich ihre Fassetten zu einer
vieldeutigen Einheit blitzend zusammenballten, daran sich von neuem
Alles erproben, die kühnsten, furwitzigsten Spiele treiben ließe, die
selbst mit dem schwindligen Kosmos bemessen, ihre Schwingung
behielt ... die vielen Wohnungen auch wirklich birgt, von welchen
geschrieben steht, und also auch Hürden den Einfältigen gewährt/
daß sich der Freie aber nur deshalb zufrieden gibt, weil hier ein
Geheimnis hinter dem anderen lauert, und Unerforschliches hinter
dem Erforschlichen wie im Sternenraume immer neue Kreise ein-
bezieht. Eine solche Einsicht, meinte ich, in einem Zuge fortredend,
hatte so sehr den Charakter des einreißenden Affektes, daß man
wohl scheuen könne ihn vor sich selber auszuplaudern .... daher
das so sehr fakultative dessen, was man Frömmigkeit nennt und
für einen Bestandteil des Religiösen hielt, während es ein vielfach
sich lösendes Abzeichen sei.
Duchesne unterbrach mich mit keinem Wort. Am Fenster stehend,
und halb mir zugekehrt, hörte er mich an. Ich meine, wir sind so
empfindlich geworden, gerade in solchen Dingen, fuhr ich fort, denn
wir neigen so stetig vom Sichdichen weg! Wem der Katholizismus
seit Generationen, wem er sehr tief im Blute sitzt, der scheint heute
Nichtkennern unverständlich, fast hostil. Schon fordert er den Altar
als Hintergrund für Priestergewande. Mönchstrachten und Kloster-
schwestern im Straßenbild sind nicht glücklich
Die Sonne senkte Streifen goldenen Staubes herein. Bald wird sie
sinken, dachte ich, und meine Worte fingen an sich zu überstürzen :
durch das überdauernde und grenzenlose der Konnexe war eine
Sache groß. Alle Künste aber strebten seit vielen tausenden von
jähren an den Schleiern unseres Kultes zu weben und waren von
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538 A. Kotß. BesuS Sei DuSesne
jeher durch den Pulsschlag oder den Gedanken eminent katholisch.
Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer ver-
drängt, das universalste zum einschichtigen, die Sache, deren Schlag-
wort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge. So kehrt
fast Jeder um, wo dennoch ein Weg über jene Himmelsbrücke bis
zum alten Hellas hinüberreicht, das sich als gewaltiger Aufruf, als
elementarer Auftakt der Messianischen Zeit aus der Versenkung
hebt. Und die Gestalt des Erlösers . . . Hier brach ich ab. War es
denn nötig etwas hinzuzufügen? Mußte der Mann, zu dem ich mit
geweiteten Augen hinübersah, nicht mit einem Blick erraten, wie sich
auf dem eingeschlagenen Wege die Prinzipien, die man mir als
Gegensätze gelehrt hatte, ins Unabsehbare versöhnten und wie bren-
nend ein solcher Verdacht mich innerlich einschloß und umzüngelte?
Vielleicht hatten ihn schon viele geschöpft/ ich konnte es nicht wissen,
da ich ihn noch von niemand vernommen und zu niemand ge-
äußert hatte. Unter den geistvollen und mir unendlich überlegenen
Menschen, die ich schon kannte, war mir doch keiner vorgekommen,
dem ich gerade in solchen Dingen die Autorität zugestanden hätte,
mir diesen Verdacht zu bestätigen oder zu bestreiten/ keiner, dessen
Widerspruch mich nicht unbeschreiblich gereizt hätte, um dann an-
zunehmen, daß ich es besser wüßte . . .
Wozu hatte ich jetzt gesprochen, wenn dieser hier alle diese Dinge
nicht erriet?
Monseigneur, schloß ich unvermittelt, [täusche ich mich oder habe
ich recht?
Und Duchesne antwortete mir ohne zu zögern.
Aber mein Gehirn war plötzlich wie ausgelöscht und leer und ein
Büschel Fräsien, deren Duft ich bisher nicht wahrgenommen hatte,
ward überwältigend. Ihre archaische Seele ausatmend — diesem ewi-
gen Echo von Hoffnung, Frühling, unglücklicher Liebe — bestimmten
sie den Klang dieser Stunde und trugen ihre schwere und doch so
beschwingte römische Luft ins Unermessene hin.
Duchesne saß mir jetzt gegenüber und sprach unter anderem von
den Katholiken Deutschlands.
>En Allemagne on aurait fait de moi un Döllinger,« sagte er,
»ici on m'a fait Monseigneur.«
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A. Kofß, BesuS Sei Ducßesne
539
Und es fiel mir ein, daß Barrere sich fast ein wenig verwundert
über die Befriedigung geäußert hatte, welche ihm diese Ernennung
bereitete. Ich begriff die Genugtuung so wohl. —
Aber ich fühle, wie ungeduldig der Leser auf mich wird. Du-
chesnes Antwort ist es, die er wissen möchte, und ich kann sie ihm
nicht sagen, denn mein Besuch ist kein Interview gewesen.
Genug, daß dieser wegen seines Liberalismus so viel angefeindete
Mann der beißenden Sarkasmen, der bitter-frivolen Witze, sich als
ein heiliger Priester entlarvte. Die Entdeckung, obwohl gleich bei der
ersten Begegnung so vorschnell geahnt, war so wichtig, daß ich so-
gleich wußte, bevor ich es erfahren lernte: daß mein Leben, was
immer es mir bringen oder verwehren würde, dennoch in dieser
Unterredung mit Duchesne seinen eigendichen Abschnitt fand und
in ein vor oder nach ihr zerfiel. Ja ich verließ ihn so ganz von
diesem Bewußtsein eingenommen, daß ich wie im Traum die vielen
Stufen hinabging, die ich so bang erstiegen hatte. Vor dem kühlen Palast
lag jetzt der Campo di Fiore in der Mittagsglut. Wo sich träge und
lau, und doch nachhaltig wie ein Lied, sanfte Levkojen häuften, nahm
ich meinen Stand, zu glücklich um mich von der Stelle zu rühren.
Nichts war ja sinnlos und alles hing zusammen.
Ein paar Tage später traf es sich, daß ich infolge einer Konfusion,
in Duchesnes Wagen von einer Gesellschaft mit ihm zurückfuhr.
Wir sprachen dabei über das holperige Pflaster, die zunehmende
Hitze und die mangelhafte Beleuchtung des nächtlichen Rom.
Als bald darauf bei ihm selbst ein Empfang stattfand, kam ich
ihm nicht in die Nähe und als ich mich in der Folge wieder nach
Rom begab, suchte ich ihn nicht mehr auf.
Die Jahre verstrichen, ohne daß ich ihn wiedersah. Von dem neuen
Kurs begünstigt, hatte einstweilen in den klerikalen Blättern des
halben Kontinents jene berühmte Hetzjagd auf ihn eingesetzt, bei
welcher er nicht besser als ein Ketzer behandelt und seiner Er-
nennung zum Mitglied der französischen Akademie mit täglich neuen
Insulten entgegengetreten wurde. Ein Buch, das unter Leo XIII.
niemand zu rügen wagte, stand plötzlich auf dem Index, und der
Augenblick schien endlich gekommen, wo er, der ungerechtfertigten
Angriffe müde, durch einen offenen Bruch entgegnen würde. Wenn
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540
A KolB, Besudb Bei DucBesne
die Nichtkatholiken darauf wetteten, so konnten ihn seine feindlichen
Glaubensbrüder kaum erwarten. Aber idi wußte zu genau, daß er
diesen den Gefallen nicht tun würde, um mich auch nur zu erkun-
digen, welchen Entschluß er getroffen hatte.
Es wurde Mittsommer über die häßliche Kampagne, ich war gerade
in London und wollte nach Deutschland zurück, als ich durch eine
Zeitungsnotiz erfuhr, daß Duchesne sich in Paris befand. Plötzlich
lebte da übermächtig der Wunsch in mir auf, ihn wiederzusehen.
Seine Adresse war schnell ermittelt, ich schrieb ihm, daß ich über
Paris führe und fragte an, ob er mich empfangen wolle. Die Ant-
wort war ein kleines Billett, mit sorglicher Angabe der Untergrund-
bahn und der Stationen, wo ich ein- und umsteigen müsse, um am
schnellsten vom rechten Ufer zu ihm hinüberzukommen. Möglichst
bald, denn er sei im Begriff in die Bretagne zu fahren! Ich reiste
sogleich, war abends in Paris, und kündete mich für den nächsten
Morgen bei ihm an. An der Hand seiner Vermerke legte ich, bald
über, bald unter der Erde, dem komplizierten Weg zu seiner ver-
lorenen kleinen Sackgasse zurück, in der sich zweistöckige Häuser
altmodisch aneinanderreihten. Ich eilte eine Stiege hinauf, trat rasoS
durch eine Türe — wie damals stand er am Fenster — kein Jani-
culum mehr ~ gesenkte Jalousien, um das Sonnenlicht zu dämpfen/
wie damals wußte ich nichts von dem Raum um mich her. Ich hatte
mich verschleiert, wie man das unwillkürlich tut, wenn man jemand
nach acht Jahren wiedersieht/ sein verändertes Aussehen aber war
es, das ich mit Bestürzung wahrnahm. Nicht, daß er krank oder
stark gealtert schien, es war nodi das schnell bereite, fast bedroh-
liche Aufblitzen des Auges, die kühne und gebieterische Abwehr,
aber es war auch die Furche des Kummers, etwas so bitteres, ein
so wühlender Gram, daß mir — ich muß gestehen — einen Augen»
blick König Lear durch den Kopf schoß, wie er in seiner Verlassen-
heit die sturmgepeitschte Natur zum Zeugen erlittenen Unrechts an-
ruft. Es war nur eine andere Zügelung, aber es war dieselbe Ge-
hetztheit.
»Sie wissen,« sagte er, »auf welche Weise man mich zur Strecke
zu bringen sucht«.
»Aber so vergebens«, meinte ich achselzuckend.
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A Ko(6. SesuS Bei Ducßesne 541
»Keine Waffe scheint dafür zu schlechte, und er deutete auf die
Blätter und Zeitschriften, die ihm offenbar soeben zugekommen
waren. Vor ihm lag eine Revue aufgeschlagen.
»Ist Ihnen das schon bekannt?« fragte er, und er nannte die Be-
schuldigungen, die in heuchlerischen und perfiden Protesten gegen ihn
erhoben wurden.
»Warum in aller Welt lesen Sie dieses Zeug«, rief ich und starrte
ihn verwundert hinter den verschnörkelten Gittern meines Schleiers
an. Aber er machte kein Hehl daraus, wie sehr es ihm zu Herzen
ging. Ich war aufgesprungen.
»Monseigneur«, rief ich, »Sie müssen doch wissen, daß Sie der
Halt einer verstreuten kleinen Gemeinde sind, die einfach durch die
Tatsache, daß Sie da sind, lediglich durch den Eindruck Ihrer Existenz
beherrscht, verankert, durch Sie allein gehalten ist.«
»Es freut mich«, sagte er, doch ohne daß seine Züge sich er-
hellten. »Aber sehen Sie — es können doch auch Rechtdenkende an
mir irre werden, wenn sie alle diese Schmähungen lesen.« Und er
deutete wieder auf die Blätter hin.
»Das ist mir zu viel Bescheidenheit«, gestand ich.
Wir sprachen dann von anderen Dingen, aber auch sonst war
eine Unfireude und Entmutigung an ihm, die ich nicht kannte.
Brütend lag die Straße vor mir, als ich wieder aus dem Hause
trat, aber ich ging zu Fuß meinen langen flimmernden Weg.
Ist uns nicht, als wollten wir immerzu gehen, ungestört unser
Lebtag lang, wenn infolge eines starken Kontaktes ein geistiger
Pendel in uns schwingt? Es kann sein, daß dann unsere Füße ganz
mechanisch einsetzen, nicht wahr, oder wie eingewurzelt stehen.
Zwar hatte ich Duchesne gegenüber die richtige Note wohl nicht
getroffen. Schnell fertig hatte ich unüberlegt geglaubt, er würde sich
mit ein paar schlechten Witzen und einem ironischen Achselzucken
über den obskuren Tumult hinwegsetzen, der ihn verfolgte, und
während er meinen Besuch als eine Sympathiekundgebung erwartete,
hatte ich ihm nur Lebhaftigkeit bezeigt. Es war gewiß schade, den-
noch konnte mich das Bedauern darüber nur flüchtig stören. So leicht
wog da alles Persönliche! So unnachhaltig erwies es sich!
Ich erinnere mich keines heißeren Tages wie jenes 14. Juli in Paris.
542
A KotB, BesuS Bei Ducßesne
Die Häuser waren beflaggt, aber die Straßen schienen zu trauern,
da keine Fahne sich regte. Erst nachts, als ich zur Bahn fuhr, be-
lebte sich das Bild. Singendes Volk schwärmte durch die Straßen,
und alle Leierkästen der Stadt orgelten durch die Luft. Bin Mädchen
tanzte, hoch erhobenen Kopfes, unter dem dunklen Himmel, von
gaffenden Zuschauern umringt.
Doch welch barscher Novemberwind wirbelte die Blätter von
der feuchten Erde auf, als ich wiederkam! Alles Laub dahingerafft
und schon vergessen. Aber ich will nur den einen Moment heraus-
greifen, da ich im Flur von Professor Bergsons Hause der Aus-
gangstüre zuschritt und er mich geleitete. Ich weiß nicht wie es kam,
daß vor seiner offenen Schwelle und dem niedrigen Himmel, der
seinen erstorbenen und verwehten Garten überhing, Duchesnes Name
zwischen uns fiel, und wir seiner einzigartigen Stellung in der geistigen
Welt gedachten. Und Bergson sprach von dem Katholizismus im
Lichte dieses größten Katholiken, der, so klug, so wohl beraten und
durch den Irrtum anderer gewitzigt, laudos jenen treibenden und
lang ersehnten Schritt voranging, der den Schismatikern mißlang.
So klar entstand jetzt zwischen uns sein undeutliches, von den
Nebeln des Tages verhülltes Bild, als sei er schon entseelt und als
hätte sich sein Schatten zu uns gesellt. Bergson drückte die Klinke
wieder zu. Wir mußten lächeln. So ohnmächtig also verhielt sieb
hier der Tod, so wenig würde es für ihn zu holen geben, wenn er
da rufen würde!
Annette Kofß.
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Waftfier Krug. Zur Cßronid der Zeit
543
ZUR CHRONIK DER ZEIT
STADT UND LAND
DER Städter ist ein ärgerlicher Mensch. Entweder schlendert er
nachlässig durch die Straßen oder er zeigt eine Eile, die an
Schlangen erinnert: entweder ist er unendlich geschäftig oder gleich'
gültig und gönnerhaft, wie wenn ihn nichts betreffe. Sein Wesen ist
Eleganz, modische Kleidung, verbindliche Bewegungen. Sein Gespräch
kurz, telegraphisch oder liebenswürdig glatt. Diese Städter sehen sich
nicht nur in den Kleidern ähnlich, die die Männer aus London und
die Frauen, mondänenhaft ohne Ausnahme, aus Paris beziehen,
sondern auch in den Bewegungen, ja Gesichtern. Sie sind modisch
und sozusagen charakterlos. Die Mode ist ja ein Wechsel in der
Uniform. Diese Städter tragen keine Kleider sondern Uniformen.
Auch die Stadt trägt eine Uniform. Die Stadt früherer Zeiten
war keine Stadt in unserm Sinn. Sie war etwas eng begrenztes, in
sich Abgeschlossenes, mit engen Beziehungen von Nachbar zu Nach«
bar, von Viertel zu Viertel. Daher das Stadtbild und seine Kenn*
zeichen: Krumme Gassen, hohe Giebel, Buntes und Mannigfaltiges.
Unsere Stadt dagegen ist nichts Abgeschlossenes, sondern etwas
Aufgeschlossenes, frei daliegendes, mit Verkehr übers Land und
übers Ausland. Kein nachbarlicher Verkehr, keine Bekanntschaft von
Viertel zu Viertel. Fremde bewegen sich schnell durch Straßen, die
gerade sind, damit die Schnelligkeit befördert wird. Und eine namen-
lose äußere Gleichheit erleichtert dem einzelnen das äußere Leben,
das er selbst nun nicht mehr zu gestalten braucht. Auch die Stadt
trägt Uniform. Die Häuser gleichen einander, die Straßen und Plätze
gleichen einander. Und kommt man in die nächste Stadt, so erlebt
man nur eine Wiederholung.
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544
Wo solche Uniform vorhanden ist, wie sollte da das Innere an-
ders sein! Man hat etwas Glattes, Handliches nötig, um der Schnellig-
keit des Lebens gewachsen zu sein. So innerlich wie äußerlich. Das
Glatte, Handliche ist längst gefunden. Es ist auch hier die Eleganz.
Auch innerlich sind diese Städter nur elegant. Das heißt: sie haben
gewisse verbindliche, den Nachbar möglichst schonende, nämlich liberale
Gedanken. Sie empfinden mit einem gewissen, niemand verpflichtenden,
glatten Gefühl, das sich aus Sentimentalität, Sinnlichkeit und ein
wenig Musik zusammensetzt. Im übrigen ist man kühl und ver-
pflichtet sich nicht. Erscheinungen, die darüber hinausgehen, staunt
man an wie merkwürdige Tiere. Die Kunst ist zwar in Mode, aber
als Gegenstand intellektueller Betrachtung. Als Sache des Herzens
wird sie belächelt. Das heiße Herz stellt bloß. So findet man in
diesen Städten entweder glatte oder, wie sie sagen, interessante Kunst.
Desgleichen Literatur und Musik. Namendich aber das »Interessante«
ist bevorzugt. Man versteht darunter eine gewisse Neuigkeit der
Problemstellung, der Aufmachung, Reichtum an »geistreichen« Wen-
dungen und dergleichen Dinge mehr, die den kurzen Verstand als
neu reizen. Während der andere Verstand weiß, daß alle diese
»interessanten Details« aus zweiter Hand sind und nur dazu dienen,
über den Mangel an Gestalt hinweg zu täuschen. Weiß, daß vor
allen andern Künsten eine »interessante« Musik das Komischste
und Tollste ist, was einem unterkommen kann.
Da man nun, wenn man nicht auf Kopf und Hand gefallen ist,
alles lernen kann, nur nicht die Kunst des heißen Herzens, so sind
denn Tausende von Buchschreibern, Bildermalern, Holz-, Stein- und
Erzhauern, Erbauern und Musikanten am Werk, auf eine »inter-
essante« Art Buchstaben, Farben, Hölzer, Steine, Metalle und Noten
zu häufen und damit ein kaufmännisches Geschäft zu betreiben.
Der Kaufmann überhaupt ist das Zeichen dieser Stadt. Nach und
nach dringt sein Kalkül in alle Kreise. Selbst der Beamte mit allen
seinen zugeknöpften Taschen erschließt sich ihm. Die kühle, gelassene,
mit Geld und Geldeswert rechnende Art, nicht verpflichtet durch
eine Idee des Kopfes oder Herzens, das ist die Art, die als Ideal
dem Städter vorgaukelt. Das ist sein Heiligtum.
Was ist da natürlicher, als daß Geld und äußerliche Güter lächer-
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lieh uberschätzt werden? Daher denn auch bei denen, die nicht so*
viel haben, die Sucht, zu tun, als ob sie soviel haben. Die Lust
am Schein. Man muß reich sein oder reich scheinen. Ein Drittes gibt
es nicht. Und der Luxus, von Jahr zu Jahr gestiegen zu ekel-
erregender Höhe, reizt zur Luxusimitation. Da sieht man prächtig
Gekleidete: zu Hause aber hocken sie schäbig in Winkeln und durch
die Gassen irrt frierend der Geist. Da sieht man auch solche, die
ängstlich sind, nicht »vornehm« zu erscheinen. Sie sind ja keine
Bürger mehr und müssen Herren von Adel sein. Sie verrufen die
bürgerliche Kost und alle 14 Tage kommen sie zum Sekt zusammen.
Ihre Dichter, mit dem Einglas spielend, skandieren nach Geschäfts'
schluß die Verse großer Welt. Und Augen, ach so trostlose Augen,
stieren auf lauter Verödetes. Snob ist nicht Berlin-West, Snob ist
diese Erdkugel, die doch immer noch Gott in Händen hält.
Geht auf dieser Erde nun einer aus und sucht und findet wirk-
lich noch eine einfache Frau, die da spricht, da ihr Sohn sich einen
Namen gemacht hat: »wenn es nur auch recht ist, was er schreibt!«
— da wird es Licht um den, der gesucht hat. Wenn es nur auch
recht ist, was sie denken, reden und handeln ! Aber wer von diesen
Städtern fragt danach! Und fragt nicht vielmehr: wenn was wir tun
und reden nur modisch ist! Ihr alle, Ihr guten Idealisten, die Ihr von
den Errungenschaften dieser Jahre redet, von dem Streben nach Ein-
fachheit und Schlichtheit, Klarheit und Echtheit, nach Natürlichkeit
und Anschluß an die Tradition, auf Gebieten, auf welchen es auch
sei, die Ihr etwa hinweist auf Ausgaben alter Schriften und Denk-
mäler jeder Art, wie sie wieder gemacht und gekauft werden, auf
Gestaltungen vieler Kreise, die das Verlangen deutlich werden lassen,
an Vergangenes wieder anzuknüpfen, ~ Ihr alle lauft in den Wolken
spazieren. Der Sport ist Mode, die Natur ist Mode, die Kunst ist
Mode, die Literatur ist Mode. Es gibt gar nichts, das nicht, kaum
geboren, zur Mode würde. Es liegen auf den Tischen der Reichen
die teuren Bücher, weils Mode ist. Es liegen aber auch auf den
Tischen der Armen die billigen Bücher, weils Mode ist. Diese Stadt
und ihre Kultur, so sehr sie nach der Einfachheit der Natur strebt,
so sehr ist sie nur bequem und glatt, nur gefallig und geleckt.
Und nun zu sehen, wie dieser Städter ansteckend wirkt, wie er
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546 Waltßer Krug, Zur Cßronit der Zeit
das Land betört, daß es ihn nachäfft, so gut es kann, wie der ganze
geleckte, platte und hartherzige Kram hinaustransportiert und mitten
auf den Wiesen aufgestellt wird, in den fernsten Winkeln, auf den
höchsten Bergen, wie die ganze Welt mit der Bronze der Eleganz
überzogen wird! Die Eleganz aber schlägt nach innen wie ein Gift
und macht das Blut des Herzens kalt und gerinnen. Ein Tummel-
platz arbeitender und nicht arbeitender Elegants: das wird die Welt
werden, wenn der Stadter sie besiegt haben wird.
Indessen, ich preise den Bauer nicht. Der zu preisende Bauer, das
ist ein Thema von ehemals. Es gibt keine Bauern mehr. Man wird
sie vergebens suchen. Die Stadtseuche hat sie alle vertilgt. Selbst
dort sind sie gestorben, wo die Stadt fern lag, im Schwarzwald, in
der Schweiz. Nur noch Mischlinge gibt es, Zwitter von Stadt und
Land. Und diese sind schlimmer als alles andere. Denn sie haben
zwar das Hohle, Kalte, Anmaßende des Städters, aber nicht, was
Liebenswürdiges an ihm war. Wenn's hochkommt, ist der Schweizer
Wirt, der Schwarzwälder Handelsmann.
Wo ist das, was den Bauer festband an die Erde, den Boden?
Ihm die Gestalt dessen gab, das aus dem Boden gekommen ist, ver-
wachsen mit Wald, Baum, Feld und Matte, stehend gegen den
Horizont gleich Pflanzen und Tieren <und so, wie man, tiefen Sinnes
voll, von Menschen nur noch Irre stehen sieht)? So steht der Bauer
nicht mehr da. Er hat ja schon die Unsicherheit des Städters, der,
wenn er »draußen« ist, nicht mehr weiß, wie er seine Gliedmaßen
gebrauchen, wie er die Hände regen und die Füße stellen soll. So
schon ist der Bauer.
Wie sollte es auch anders sein! Seine Gedanken sind ja beim
Geld, beim Handel. Was ist der Wald ihm? Futter für eine
Papierfabrik. Das Feld? Ein Bauplatz. Sein Haus? Eine Wohnung
für Fremde. Die Fabriken fressen Löcher in seine Äcker und Wiesen,
in seine Berge und Forsten. Ja, sie fressen seine Heimat an und
verzehren sie wie eine scheußliche Krankheit, wie ein zehrendes Gift.
Es gibt Gegenden in Deutschland, wo die Werkstätten der Industrie
mit der grandiosen Kraft des Symbols als Geschwüre am Körper
der Natur dem Auge sich darbieten. Der Bauer aber sieht es und
sieht es nicht. Er kennt seine Welt nicht mehr, er kennt die Stimme
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WaftSer Krug, Zur Cßronid der Zeit
547
des Waldes nicht mehr, das Rausdien der Felder nicht mehr. Sonst
müßte er ja inne werden, was Unheimliches hier geschieht. Er wird
es aber nicht inne.
Er kann es auch nicht mehr inne werden. Außer in der Mode,
die freilich kommen wird oder schon da ist. Aber dann hat es ja
keinen Sinn. - Sind Köpfe nicht Zeichen der Kraft? Wie wenig
Bauernköpfe sieht man noch! Wie soll da Bauernart wieder zu
Kräften kommen! Trifft man in deutschen Städten noch Köpfe von
1500? Sie sind alle abgestorben. Und da sie abgestorben waren,
konnte die Stadt werden. Dem Schädel des deutschen Bauern aber
ist die Stadt schon eingeschrieben. Auch dort, wo weder Stadt noch
Fabrik ihn je gesehen hat. Der Bauer hört und liest und spricht
davon und das merkt man ihm an. Seine Züge beginnen schon zu
verlaufen wie die jener Bauern, die abends aus der Fabrik heim*
hasten, um schnell noch das Feld zu bestellen. Man hat diesen Typus
gepriesen. Man hat gesagt, er stelle den glücklichen Mittelweg, ja
geradezu den Ausweg dar. Er habe das Verdienst der Stadt und
auch den Segen des Landes. Aber immer noch gilt, daß niemand
zween Herren dienen kann. Und immer noch rächt sich furchtbar
solcher Dienst. Diese Fabrik- oder Stadtbauern sind arm, verhetzte
Zwitter, Taumelnde zwischen Stadt und Land, krank an übergroßem
Verbrauch des Körpers und ganz wirbelig in Herz und Hirn. Ihre
Gesichter sind blaß und ihre Züge welk und abgespannt. Nur die
Hände noch scheinen die alten. Und wenn die Väter es noch tragen,
die Söhne tragen es nicht mehr und die Enkel werden als Kinder
sterben, wenn man sie nicht vollends zu Städtern macht. Es gibt
keine Mittelwege, es gibt nur Entweder — Oder. Es gibt nur Stadt
oder Land, kein Stadt-Land und keine Landstadt. — Komm Stadt
und unterjoche dein Land. Mache aus Wiesen und Ackern Fabriken
und Kiesgruben. Überziehe die Häuser und Straßen mit deinem
Glanz und spritze in die Adern das Serum deines Geistes. Und da
es schon sein muß, so sei es schnell. Schneide auch unsere fleischernen
Herzen heraus und gib uns steinerne dafür. Wir wollen sie tragen,
gekleidet, wie die letzte Mode es befiehlt.
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548 WaftSer Krug, Zur Cßronifi der Zeit
DER BALLETTMEISTER DIESER ZEIT
Welchen Wert man wieder auf den Tanz legt! Es begann mit der
Duncan. Aber ihr Grundsatz des Zurückgreifens auf die Echtheit der
Antike mußte an dem Mangel musikalischer Befähigung scheitern.
Die unzähligen emanzipierten Tänze, die nun folgten, waren, so
verschieden sie sich auch orientierten, doch eben nur emanzipiert.
Die Russen warfen dagegen die Frage auf, ob nicht etwa bei der
Verdammung des traditionellen Balletts Mängel der Technik mit
Mängeln des Instituts verwechselt worden seien. Bis endlich die
Schule Dalcroze einen gewissen Ausgleich suchte, den Rhythmus
mystisch-realistisch deutend.
So war in tausend Mannigfaltigkeiten eine Fertigkeit wieder auf-
erstanden, die vordem nur noch dem Operettenhaften des Daseins
zu dienen schien oder doch in tote Formen zu erstarren gedroht
hatte. Der Tanz ward ernster Männer wieder würdig, die Hof*
theater öffneten wieder ihre Türen und nichts mehr ließ man sich ent-
gehen. Es wurden dazu Bücher geschrieben, es wurden Bilder gemalt
und Statuen gemeißelt. Ja auch die deutsche Musik, sonst in hohem
Ernste solchem Treiben abhold, machte sich zu Zugeständnissen
bereit. Schon in Straußens Zarathustra schielten einige Takte be-
denklich nach Wien hinüber. In der Salome wurde eine exotisch-
naturalistische Tanzesraserei serviert. Im Rosenkavalier vergessenste
Formen bis zum neuesten Wiener Walzer neu hergerichtet.
Die Situation war immerhin kritisch. Die Duncan dachte an eine
Rückkehr zur Natur der Kunst aus der Künstlichkeit des Lebens.
Dalcroze baute auf der seelisch-leiblichen Mystik des Rhythmischen
eine ganze Schule auf. Das russische Ballett konnte als Atavismus
aufgefaßt werden. Strauß aber nahm die Aufgabe frisch von außen,
von der Seite des Effekts. Ein Walzer wirkt, es lebe der Walzer!
Die verrückte Form der Oper wird auch diesen tollsten Natura-
lismus gestatten. Die Illusion der Bühne wird — so hofft man —
nachher schon wieder aufleben. Und der Anachronismus? Er gehört
ja in die Rumpelkammer der Natürlichkeit. — Wo aber wollte das
alles hinaus?
In dieser Krisis schrieb Max Reger, äußerst beunruhigt, daß er
WaftSer Krug, Zur CßronfJS der Zeit 549
zu spat komme, eine Ballettsuite für großes Orchester: Entree,
Colombine, Harlequin, Pierrot und Pierrette, Valse d'amour, Finale.
Da ihm die Plastik des Dramatischen völlig fehlt, er sich aber gleich*
wohl auf die Seite der liberalen Natürlichkeit schlagen möchte, be-
stellt er sich und seinen Hörern eine ideelle Bühne, ein imaginäres
Ballett, und verfertigt dazu eine naturalistisch schildernde Musik, —
soweit dies im Gebiet des Imaginären möglich ist. In der Valse
d'amour zwar fällt die Idee untern Tisch. Die imaginäre Bühne wird
zur realen, der Musiker lüpft das Bein und gibt — die Kopie des
neuesten Dreivierteltaktes der Wiener Schule. Naturalisten werden
das naturalistisch finden. Sonst aber ist der Schein des Imaginären
gewahrt: Die Musik will den Vorgang illustrieren, den der Hörer
aufgefordert wird, sich selber darzustellen.
Daß sie es nicht kann, hat mit der Richtung nichts zu tun, son-
dern liegt in der Person Regers begründet, der wie jeder heutige
Künstler über seine Grenzen sich von Jahr zu Jahr weniger unter«
richtet zeigt. Denn das, was seiner Musik das Fratzenhafte gibt, ist
die namenlose Diskrepanz zwischen Wollen und Können, zwischen
musikalisch-absoluter, kontrapunktisch gelehrter Veranlagung und der
Sucht, Naturalismen nach Strauß, Debussy, Schönberg zur Schau
zu tragen. Diese Floskeln sind das Wirkende. Und Reger ist mit
der Einverleibung des modernen Barocks so weit gediehen, daß er
ganze Sätze aus Floskeln und sentimentalen Phrasen zusammen-
stückelt. Seine Anlage dringt nur noch im Finale und in der Entree
bis zum Ton durch. Und auch sie zeigt sich verändert. Sie ist noch
händelscher geworden als sie schon war, noch gemachter. Wie Entree
und Finale gegen Ende mühselig mit Hilfe des Blechs heraufgetrieben
werden, das ist unerhört rohe Madie. Es ist auch völliges Aus-der-
Rolle-fallen.
Aus welcher Rolle? Schlimme Frage! Sicherlich aus der Illustration:
Das vorgestellte Ballett ist ganz und gar abhanden gekommen. Aber
auch aus jeder ideellen. Denn bei solchen Partien denkt man nicht
einmal mehr an eine Kategorie des Balletts. An alles andere. Ein
Kritiker freilich meinte, es sei wirkliche Fastnachtsmusik. Möglich,
daß irgendeine verrückte oder widerlich sinnlich -süße Oboenfigur
karnevalistisch wirkt. Damit ist doch aber nicht gesagt . . . Regers
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Talent liegt so unbedingt auf dem Gebiet absolutester Musik, daß
es durch jede Zweckbestimmung zur Karrikatur werden muß. Es
ist, als ob er etwa selbst, der Koloß, im Rödichen auf den Brettern
hüpfte. Wie aber, wenn er sich dann plötzlich, so wie er ist, am
Klavier niederläßt und händelsch anhebt?
Indessen Reger will, daß man ihn irgendwie mit dem Ballett in
Beziehung bringt. Und das ist dann freilich der zweite Punkt des
Interesses. Man ist dankbar dafür. Reger hat sich nun gewissermaßen
aufgedeckt. Man erfährt nun und hat es schwarz auf weiß vom Ur-
heber selbst, daß diese tiefen und empfindungsreichen Adagios, die
wir bisher bewundert haben, nur Duette sind zwischen Pierrot und
Pierrette. Daß aller Weltschmerz bei Kolombinen landet. Daß die
Gottesnähe des hundertsten Psalms in einer Entr^e erscheint, in
einem Pinale wieder schwindet. Bisher waren da immer noch Zweifel
erlaubt. Das Ungesunde, das man spürte, als Sentimentalität, als
Sinnlichkeit, als Verweichlichung und gleichzeitige Verrohung, als
viehische Kraft und weibische Ohnmacht: Das alles konnte immer
noch irgendwie gedeutet werden. Nun wissen wir, daß es haltloser,
ohnmächtigster Zynismus ist. Und wenn alle Musik, auch der er«
habenste Gesang Beethovens, aus dem Geschlechte kommt, so tritt
doch das Geschlecht ins Blut und die Hand schreibt es nieder. Hier
aber gibt es keinen Umweg, keinen Geist, keine Seele, kein Herz
und kein Hirn. Hier ist ein Mensch so ohne Zentrum, daß alles
ganz unmittelbar vor sich geht. Hier schreibt nicht mehr die Hand,
sondern . . .
Furchtbarste Verwüstung einer Kunst, wenn selbst absolute Musik
zu solchem Ende kommt! Man sitzt da, rot vor Scham, daß in
Deutschland solches möglich ist, daß es angenommen und gebilligt —
was sage ich? gepriesen wird. Der Anstand verlangt, daß man's in
Ruhe anhört. Und man kann das schließlich nur, weil man sich damit
tröstet, daß solches Musizieren im Grunde eine völlig belanglose
Sache, etwas Gleichgültiges, eine Null ist. Daß immer schon alles
Langweilige und Widerwärtige heute in die Mode gekommen und
morgen wieder vergessen worden ist. Jemand sagt: »Ich halte mir
das viel schlimmer vorgestellt.« Ein anderer erwidert: »Wäre es
doch schlimmer gewesen!« Aber welches Gespräch! Was ist das für
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Waftßer Krug, Zur CßroniK der Zeit
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eine Kunst, die dem einen besser als geglaubt, dem andern nicht
sdilimm genug dahergekommen ist!
Der Harlequin konnte der Heiterkeit nicht entgehen. Die Floskeln
wirkten und das Publikum lachte. Doch war die Heiterkeit nicht die
über den Harlequin <an den gewiß niemand mehr dachte), sondern
darüber, daß ein Musiker schamlos genug ist, solches anzubieten.
Instinktiv empfanden die Hörer das Perverse dieser imaginierten Bühne,
die immer wieder sich vergißt, dieser schildernden Musik, die immer
wieder zum Absoluten strebt, dieser Sprache, deren Geilheit sich
immer wieder humorisch maskieren möchte. In der glücklichen Reak-
tion des Volkes erwiderten sie mit Heiterkeit und streng genommen
war Reger damit abgetan und ausgelacht. Das geheime heilige
Fluidum hatte von Seele zu Seele gewirkt und wieder einmal war
die tiefe Gerechtigkeit des Volksurteils erprobt worden.
Doch wirkungslos verhallte der lachende Spruch in den musi-
kaiischen Räumen der Welt. Die Sachverständigen schritten ans Werk,
zogen die Fahne des Witzes, Humor genannt, als des Wirkenden
unsrer Tage : Das Ballett aus der Ecke des Komischen gesehen, das
war Regers musikalischer Blick. Und so ward er ernannt zum Ballett-
meister dieser Zeit.
REINHARD WUCHNER
Am zweiundzwanzigsten Januar 19 . . schritt Reinhard Wuchner über
die Grenzen seines Verstandes. Schon abends hatte er zu Leuten
aus dem Dorfe gesagt, heute nacht werde es hell werden, er habe
einen rostigen Schlüssel, er müsse den Himmel aufschließen und den
Petrus ablösen. Gegen dreiviertel zwölf Uhr bemerkte man in dem
Zimmer des Gasthauses, in dem er wohnte, einen Feuerschein. Als
man, da die Tür verschlossen war, zum angelehnten Fenster ein-
steigen wollte, drückte Wuchner das Fenster zu. Nun brach man
die Tür auf. Da sah man denn auf dem Nachttisch lichterloh Tücher
und Papiere brennen. Wuchner aber stand ruhig davor, und als man
ihn mit Gewalt entfernte, sagte er, er habe kein Feuer gesehen, son-
dern nur die Muttergottes.
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WaMer Krug. Zur CBronii der Zeit
Was kettet uns an diesen Vorgang? Ist es die Logik des Fünfzig*
jährigen, dessen Sinnlidikeit in Trunk, Feuer und Frommsein einen
Ausweg sucht? Oder vielmehr der Wahnsinn, der den Geist die
Formen dieser Welt nicht mehr finden läßt? Oder etwa gar die Ein-
heit aus beidem, der Charakter der Handlung, die Tat selbst?
Es ist wohl etwas anderes. Denn es kann nicht geleugnet werden,
daß ein seltsames Aulmerken sich unserer bemächtigt hat. Man
denkt nicht: der arme Kerl! Oder: um Gotteswillen, was hätte da
passieren können! Sondern etwa: Welch reicher Mensch in all seiner
grenzenlosen Unbedingtheit! Wie arm dagegen wir an das Leben Ge-
bundenen! Wir gehen ein durch die Türen und blicken aus den
Fenstern nach dem Mond. Wir hüten das Feuer im Herd und in
der Ampel. Wir schauen auf zu den Bildern Petri und Mariä. Er
aber läßt die rasende Flamme ihn umhüllen und schließt den Himmel
auf und siehe, die Glorie der Muttergottes ist vor ihm. Welch un-
geheure Freiheit, Unbedingtheit, Hemmungslosigkeit! Wo ist da
Erde und Welt, Zeit und Raum? Entschlossen durchschreitet er die
Grenzen und steht leibhaftig vor dem Gotte, von dem wir nicht
einmal den Namen wissen. Doch nur entschlossen? Er weiß ja vor-
her, was geschehen wird, was er tun wird. Wenn aller Kräfte in
tiefster Nacht auseinanderliegen, wird das Licht ihn umleuchten, der
da wach und rüstig ist.
Eine Ahnung von der Herrlichkeit des Ich, das in den Wahnsinn
eingeht: das ist es, was am Beispiel dieses armen Teufels und Narren
uns hinreißt, uns Freie jeder Richtung, die wir spüren, wie hier
einer einfach das tut, was wir andern tun möchten. Bewegt stehen
wir da. Aber dann sehen wir, wie die Geschichte schließlich ausgeht.
Wie Wuchner von Gendarmen abgeführt und vor den Richter ge-
stellt wird, wie er hier kleinmütig sich entschuldigt, daß das Feuer
an der Kerze sich entzündet habe und daß er's habe brennen lassen,
weil es so kalt gewesen sei. Dann wird er ins Irrenhaus gebracht.
Das Ideal der äußersten Freiheit ins Narrenhaus! Aber die Klugen
haben es ja vorausgewußt. Darum sind sie auch unbewegt geblieben
und haben nur bedauert, daß Alkohol und erbliche Anlage den Fall
hinreichend erkläre, der im übrigen wieder einmal zeige, welcher An-
teil an der Zerrüttung der katholischen Kirche zukomme.
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Waßfrr Krug, Zur CßroniS der Zeit
553
Die Vernunft — das ist das Schlimme an den freien Geistern, die
leere Nützlichkeit, deren Hirn noch immer Gedanken ausschwitzt.
Diese Herrn, die in ihrer Scheu vor dem Wunderbaren so schön
alles beieinander haben und jede Regung des Geistes »auf die natür-
lichste Arte zu erklären wissen, haben irgendwann einmal einen
Altar errichtet, darauf geschrieben steht: »Dem Menschenverstand«.
Nun suchen sie ihn und finden ihn doch nicht mehr. Mit all ihren
großartigen Werkzeugen geht es ihnen nicht anders als den Tieren,
die der Instinkt verläßt, wenn die Umwelt sich ändert, wie den
Wespen, die ihre eigenen Larven nicht wiedererkennen, da man den
unterirdischen Gang inzwischen verändert hat. Sie finden den Altar
zwar noch, aber sie erkennen ihn nicht mehr. Sie begreifen nicht
mehr, was das heißt »dem Menschenverstand«, sie rütteln an dem
Stein, weil er ihnen den Weg versperrt.
Voll tiefen Sinns. Denn der Menschenverstand ist nicht der, den
sie geglaubt haben. Weder scheut er das Wunderbare noch ist er
frei nach ihrem Sinn. Sondern, sofern er wahrhaft gesund ist, hat
er eine uralte Kraft, zu erkennen das Wahre und das Falsche,
das Rechte und das Unrechte, die Kraft, dem Leib zu geben, was
des Leibes ist, und dem Geist, was des Geistes ist. Er hat den
Geist wieder frei gemacht von der Freiheit der Freien jeder Richtung.
Was ist dem armen Narren denn geschehen? Vielleicht ist sein
Geist nicht einmal krank? Vielleicht ist das Geistige immer gesund
und vermag gar nicht zu erkranken? Denn auch die denken, die
wir geisteskrank nennen, und oft ist die Schärfe ihres Denkens eine
solche, daß es uns graut. Aber sie denken wie Träumende. Und da
viele Arten von Versen wie die Gedanken Träumender sind, so
werden oftmals ihre Gedanken zu Gedichten. Wie wir denn das
Zarteste aus Hölderlins Zeit des Irrsinns haben. Sie denken wie die
Träumenden und die Dinge erscheinen ihnen schief und fremd und
weder fest noch rund. Es schwindelt sie. Und wie ein Wolf über-
fällt sie das Gedächtnis früherer Zeit und raubt ihnen das Gegen-
wärtige. Krank ist nicht ihr Geist. Aber ihr Hirn als die Form,
durch die der Geist in Zeit und Raum eintritt, als das Werkzeug,
das ihm den Weg in unsere Welt bahnt, als das Sieb, das alles
zurückhält, was auf dieser Welt nichts nütze ist. Nun hat er kein
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Waftter Krug, Zur Chronik der Zeit
Mittel mehr, sich verständlich zu machen. Nun bricht er mit allem
durA, was Sieb und Zaun, durchlöchert wie sie sind, nicht halten
können: mit der steinschweren Vergangenheit und mit den Fetzen
von Gedanken, die sich um Dinge mühen, die wir Irdischen, Leib«
eigenen nicht wissen. Vielleicht schauen sie Gott. Aber die Trümmer
des Bildes müssen wie Fratzen uns erschrecken. Und nur wenn das
Sieb des Hirns völlig vernichtet wäre, könnten sie uns sagen, was
sie sehen. In diesem heiligen Augenblick aber haben sie keine Form
mehr für uns und sterben.
Wo bleibt die katholische Schuld? Sind nicht das Fegefeuer und
die Muttergottes und Petrus und der Schlüssel die schwachen Krücken,
an denen der arme Narr sich noch vor unsre Tür geschleppt hat?
Man sage denn, sie hätten ihn gehindert, Gott zu schauen.
WaCtßerKrug.
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RoSert Walser, Sie Ben Stüdie 555
SIEBEN STUCKE
DAS EISENBAHN-ABENTEUER
EINMAL machte ich eine Eisenbahnfahrt, wobei ich ganz allein
in einem Wagenabteil saß wie der gedankenreiche Eremit in
seiner schweigsamen, weltabgelegenen Klause. Auf irgendeiner Station
hielt der Zug an, die Türe wurde mit beamtenhafter Schroffheit auf«
gerissen, und zu mir hinein in das sonderbare, auf Rädern gestellte
Zimmer stieg eine Frau. Es war mir nicht anders, als wenn der
Sonnenschein ins nächtlich-schwärzliche Küpe einstiege, so hell mutete
mich die liebe frauliche Erscheinung an, die wie auf Besuch zu mir
kam. Freundlich sagte sie guten Abend. Wer als ich war glücklicher
darüber? Der Zug setzte sich alsbald wieder in Bewegung und hin-
aus in die Nacht und ins unbekannte Land wurde die Kammer
getragen, in welcher nun zwei Personen saßen, die sich gegenseitig
freundlich anschauten. Ein Lächeln ergab ein Wort und indeß die
Räder fleißig fort und fortrasselten, hatte ich wie ein Schelm und Dieb
die passende Gelegenheit wahrgenommen, saß schon an ihrer Seite
und legte den Arm um ihre reizende Figur. Emsig arbeiteten die
Räder, und Gegenden, die ich nicht kannte, flogen draußen in der
stillen Mitternacht an uns beiden glücklichen Leuten vorüber. Emsig
arbeitete ich mit meinen Lippen auf den ihrigen, die kösdich waren,
wie Lippen eines Kindes. Ein Kuß lockte den andern hervor, ein
Kuß folgte auf den andern. Ich ließ mir bei dem süßen Geschäft
so recht Zeit, und da wurde ich zum Künstler im Küssen, zum
Künstler in der Liebkosung. O wie die Liebe, die Süße lächelte mit
dem schönen Mund und mit den schönen dunklen Augen, welche,
indem sie in die meinigen schauten, mich küßten. Paradiseslüsternheit
lag auf ihren Lippen und Paradieseslust glänzte ihr aus den Augen.
Ich unterdessen hatte es so recht schön gelernt, wie man es anstellen
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RoBert Wafser, Sießen Stüde
muß, um dem Kuß den höchsten Reiz abzugewinnen und ihm die tiefste
Wonne mitzugeben. Unter unserem lusterfullten Liebesgemach rasselten
immerfort die Räder und der Zug sauste durch die Länder und wir
zwei hielten uns umschlungen wie die Seligen in den überirdischen
Gefilden, Wange an Wange gedrückt und Körper an Körper, als
seien wir vorher zwei verschiedene Gedanken gewesen, doch jetzt
nur noch ein einziger. Wie beglückte es mich, daß sich das süße Ge-
schöpf durch das, was ich tat, glücklich fühlte. Ihren wonnigen Liebes-
durst zu stillen machte mich zum Glücklichsten der Sterblichen, machte
mich zum Gott. Doch jetzt blieb der Eisenbahnzug wieder stehen, die
reizendste der Frauen stieg aus, während ich weiterfahren mußte.
DIE STADT
Es war an einem sonnigen Wintertag, als der Reisende mit der
Eisenbahn in der Stadt anlangte. Eine einzige zusammenhängende
Freundlichkeit war die ganze Welt. Die Häuser waren so hell, und
der Himmel war so blau. Zwar war das Essen im Bahnhofsrestaurant
herzlich schlecht mit hartem Schafsbraten und lieblosem Gemüse.
Aber das Herz des Reisenden war mit einer eigentümlichen Freude
erfüllt. Er konnte es sich selber nicht erklären. Die Bahnhofshalle
war so groß, so licht, der arme alte Dienstmann, der ihm den Koffer
trug, war so dienstfertig mit seinen alten Gliedmaßen und so artig
mit seinem alten zerriebenen Gesicht. Alles war schön, alles, alles.
Selbst das Geldwechseln am Schalter des Wechselbureaus hatte einen
eigenen undefinierbaren Zauber. Der Reisende mußte nur immer über
alle die wehmütig-warmen Erscheinungen lächeln, und weil er alles, was
er sah, schön fand, fühlte er sich auch wieder von allem angelächelt. Er hatte
sein Mittagessen verzehrt, seinen schwarzen Kaffee mit Kirschwasser
ausgetrunken und ging jetzt mit eleganten, leichten, scherzenden Schritten,
so recht reisendenmäßig, in die wundervolle uralte Stadt hinein, die
da blendete im gelblich-hellen Mittagssonnenlicht. Menschen jeglichen
Schlages, Mädchen, Knaben und erwachsene Leute gingen eilig an
dem Gemächlichen und Vergnüglichen vorüber. Der Reisende konnte
sich so recht Zeit nehmen. Die Leute aber mußten an ihre täglichen
Arbeitsplätze eilen, daß es nur so an ihm vorüberglitt, wie deutliche
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RoSert Wafser, Sießen Städte
557
und doch wieder undeutliche und unverständliche Geistererscheinungen.
Wie kam dem schauenden und denkenden Fremdling der Anblick
des täglichen Lebens so rätselhaft und fremdartig vor. Da kam er
über eine hohe, breite, freie Brücke, unter welcher ein großer blauer
Strom herrlich-tiefsinnig vorüberfloß. Er stand still, es überwältigte
ihn. Zu beiden Seiten des Stromes war die alte Stadt aufgebaut,
graziös und kühn. Leichten, milden Schwunges ragten die Dächer in
die helle heitere Luft. Es glich einer romantischen Musik, einem un-
vergänglichen, reizenden Gedicht. Er ging langsamen, sorgfältigen
Schrittes weiter. Mit jedem neuen Schritt ward er aufmerksam auf
eine neue Schönheit. Alles kam ihm wie altbekannt vor und doch
war ihm alles neu. Alles überraschte ihn und indem es das tat, be-
glückte es ihn. Auf hoher Plattform stand ein uralter wunderbarer
Dom, der mit seinem dunkelroten Stein in der blauen Luft stand
wie ein Held aus undenklich alten Zeiten. In der Sonne, auf den
Fensterbänken lagen wohlig ausgestreckt die Katzen und alte Mütter-
chen schauten zu den Fenstern hinaus, als seien die alten schönen
Zeiten wieder lebendig geworden. O, es war so schön für den Reisenden,
daß er in der gassenreichen, halbdunklen, warmen Stadt so angenehm
und leicht umherspazieren konnte. Burgen und Kirchen und vor-
nehme Patrizierhäuser wechselten mit dem Marktplatz und mit dem
Rathaus ab. Mit einmal stand der Reisende wieder im Freien, dann
stand er wieder in einer stillen, feinen Vorstadtstraße, gelblich an-
gehaucht vom süßen, lieben Winterlichte, dann schaute er an einem
Wohnhaus hinauf, dann ging er wieder, dann fragte er einen Knaben
nach dem Weg. Zuletzt stand er auf einer kleinen anmutigen, von
einer Mauer eingefaßten, luftigen Anhöhe und von hier aus konnte
er die ganze Stadt so recht überblicken und aus dem befriedigten
Herzen grüßen.
DAS VEILCHEN
Es war ein dunkler warmer Märzabend, als ich durch das reizende,
gartenreiche Villenviertel ging. Vielerlei Menschenaugen hatten mich
schon gestreift. Es war mir, als schauten die Augen mich tiefer und
ernster an als sonst und auch ich schaute den vorübergehenden Menschen
ernster und länger in die Augen. Vielleicht ist es der beginnende
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Roßert WaCser, Sießen Studie
Frühling mit der wohllüstigen warmen Luft, der in die Augen einen
höheren Glanz legt und in die Menschenseelen einen alten und neuen
Zauber. Frauen nehmen sich in der Frühlings- und Vorfrühlingsluft
mit den weichen Brüsten, die sie tragen und von denen sie gehoben
und getragen werden, wunderbar aus. Die Gartenstraße war schwärzlich
aber sehr sauber und weich. Es kam mir vor und ich wollte mir
einbilden, ich gehe auf einem weichen, kostbaren Teppich. Voll Melo-
dien schien die Atmosphäre. Aus der dunklen geheimnisvollen Garten-
erde streckten schon die ersten Blumen ihre blauen und gelben und
roten Köpfchen schüchtern hervor. Es duftete und ich wußte nicht
recht nach was. Es schwebte ein stilles, angenehmes Fragen durch
die süße, dunkle, weiche Luft. Ich ging so, und indem ich ging, schmeichelte
sich ein zartes unbestimmtes Glücksgefuhl in mein Herz hinein. Mir
war zu Mut, als gehe ich durch einen herrlichen, lieben und uralten
Park, da kam eine schöne, junge, zarte Frau auf mich zu, violett
gekleidet. Anmutig war ihr Gang und edel ihre Haltung, und wie
sie näher kam, schaute sie mich mit rehartig-braunen Augen selt-
sam scheu an. Auch ich schaute sie an und als sie weiter gegangen
war, drehte ich mich nach ihr um, denn ich konnte der Lust und dem
hinreißenden Verlangen, sie noch einmal, wenn auch nur im Rücken,
zu sehen, nicht widerstehen. Wie eine Phantasie -Erscheinung glitt
die reizende Gestalt mehr und mehr in die Ferne. Ein Weh durch-
schnitt mir die Seele. »Warum muß sie davongehen ?c, sagte ich mir.
Ich schaute ihr nach, bis sie im zunehmenden Abenddunkel verschwand
und wie ein süßer, übersüßer Duft verduftete. Da träumte ich vor
mich hin, es sei mir ein großes, frauen förmiges Veilchen begegnet
mit braunen Augen und das Veilchen sei nun verschwunden. Die
Laternen indessen waren schon angezündet und strahlten rötlich-gelb
in den blassen Abend. Ich ging in mein Zimmer, zündete die Lampe
an, setzte mich an meinen altertümlichen Schreibtisch und versank
in Gedanken.
DIE KAPELLE
In der Großstadt, mitten in dem unabsehbaren Meer von gleich-
förmigen Häusern findet sich in einem finsteren Hof eine Art von
Kapelle, in welcher allerlei Leute aus den niederen Ständen zum
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RoBcrt Wafser, Sießen Städte
559
freundlichen Gottesdienst zusammenkommen. Audi ich war einmal
in der Versammlung. Ein drolliges, munteres Dienstmädchen, dem ich
gut war, hatte mich eingeladen, mitzukommen, und ich bereute nicht,
daß ich mit ihr gegangen war. Ehrbare Bürger, die mehr an die
Hoheit des Geldes als an die Hoheit und Herrlichkeit Gottes glauben,
hängen den armen, schlichten Leuten, die in die bescheidenen Ver-
sammlungen gehen, gern diesen oder jenen Spottnamen an, und ver-
suchen lächerlich zu machen, was den gläubigen und unschuldigen
Seelen heilig ist. Auch ich also ging eines Abends, da schon in den
dunklen Straßen die Lichter brannten, zu den Kindern in die Versamm-
lung. Ich will gern die Leute, die noch an einen Gott glauben, Kinder
nennen. Kinder sind mitunter geistreicher als die Erwachsenen, und
die Unklugen sind mitunter klüger als die Klugen. Gewiß!, es kam
auch mich ein Anflug spöttischen Lächelns an, als ich eintrat in das
kindlich -fromme Lokal, dessen Wände weiß waren wie die zier-
lose, schmucklose Unschuld selber. Ich setzte mich jedoch still nieder,
und alsbald fingen die Leute, Männer wie Frauen, an zu singen
wie aus einem einzigen frohmütigen Munde zum Lobe Gottes. Engel
schienen zu singen, nicht schlichte, schlechte Menschen. Von dem süßen
jungen, blühenden Glauben getragen, hallte der Gesang, gleich einem
feinen Duft, der die Eigenschaft hat, zu tönen, hin und her und ver-
hallte an den Wänden. Ich schaute mit eigentümlichen Empfindungen,
ganz bezaubert von den Tönen, zur Decke des Saales hinauf, welche
blau war, wie ein milder träumerischer Himmel. Weiße Sterne waren
in den hellblauen Grund hineingezeichnet, und die Sterne schienen
zu lächeln vom göttlichen Himmel hinab auf die jubilierende Ver-
sammlung. Eine heitere Kraft lag in dem Gesang, und der Gesang
selber war ein sonderbares, leichtes, liebes Wesen, welches auf
geistergleiche Weise lebte. Die, die sangen, schienen sich zu freuen
über den Gesang, doch schienen sie nicht zu ahnen, wie die Töne
sich von ihnen sonderten und ihr eigenes Leben in der Luft des
Saales lebten. Es klang, als werde es geboren und lebe eine kurze
Weile und müsse alsdann sterben. Aber es fing von Neuem wieder
an zu tönen und sich am sterblich-schönen Dasein zu erfreuen.
Ruhig und liebevoll glitzerten und schimmerten die goldenhellen
Kerzenlichter hinab in das Singen, das einem Himmel glich an Keusch-
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Robert Walser, Sieben Städte
heit und Schönheit, und als sie mit dem Gesang innehielten, mußten
sie lächeln, die lieben guten Leute, wie kleine Kinder, die ihre Auf-
gabe vollendet haben und sich nun darüber freuen. Nach einer
Weile war der Gottesdienst beendet, und ebenso still, wie sie die
Kapelle aufgesucht hatten, verließen die Leute sie wieder.
DER TÄNZER
Ich sah einst im Theater einen Tänzer, der mir und vielen andern
Leuten, die ihn ebenfalls sahen, einen tiefen Eindruck machte. Er
verspottete den Boden mit seinen Beinen, so wenig Schwere kannte
er und so leicht schritt er dahin. Eine graziöse Musik spielte zu
seinem Tanz, und wir alle, die im Theater saßen, dachten darüber
nach, was wohl schöner und süßer könne genannt werden, die leicht-
fertigen lieblichen Töne oder das Spiel von des lieben, schönen
Tänzers Beinen. Er hüpfte daher wie ein artiges sprungfertiges,
wohlerzogenes Hündchen, welches, indem es übermütig umherspringt,
Rührung und Sympathie erweckt. Gleich dem Wiesel im Walde lief
er über die Bühne, und wie der ausgelassene Wind tauchte er auf
und verschwand er. — Solcherlei Lustigkeit schien keiner von allen
denen, die im Theater saßen, je gesehen oder für möglich gehalten
zu haben. Der Tanz wirkte wie ein Märchen aus unschuldigen,
alten Zeiten, wo die Menschen, mit Kraft und Gesundheit ausge-
stattet, Kinder waren, die miteinander in königlicher Freiheit spielten.
Der Tänzer selber wirkte wie ein Wunderkind aus wunderbaren
Sphären. Wie ein Engel flog er durch die Luft, die er mit seiner
Schönheit zu versilbern, zu vergolden und zu verherrlichen schien.
Es war, als liebe die Luft ihren Liebling, den göttlichen Tänzer.
Wenn er aus der Luft niederschwebte, so war es weniger ein Fallen
als ein Fliegen, ähnlich wie ein großer Vogel fliegt, der nicht fallen
kann, und wenn er den Boden wieder mit seinen leichten Füßen
berührte, so setzte er auch sogleich wieder zu neuen kühnen Schritten
und Sprüngen an, als sei es ihm unmöglich, je mit Tanzen und
Schweben aufzuhören, als wolle, als solle und als müsse er unauf-
hörlich weitertanzen. Indem er tanzte, machte er den schönsten Ein-
druck, den ein junger Tänzer zu machen vermag, nämlich den, daß
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Roßtrt TPo/str, Sitßtti Stächt 561
er glücklich sei im Tanze. Br war selig durch die Ausübung seines
Berufes. Hier machte einmal die gewohnte tägliche Arbeit einen
Menschen selig — aber es war ja nicht Arbeit, oder aber er bewältigte
sie spielend, gleich, als scherze und tändele er mit den Schwierig«
keiten, und so, als küsse er die Hindernisse, derart, daß sie ihn lieb
gewinnen und ihn wieder küssen mußten. Einem heiteren, über und
über in Anmut getauchten Königssohne aus dem goldenen Zeitalter
glich er, und alle Sorgen und Bekümmernisse, alle unschönen Ge-
danken schwanden denen dahin, die ihn anschauten. Ihn anschauen
hieß ihn gleich auch schon lieben und verehren und bewundern. Ihn
seine Kunst ausüben sehen, hieß für ihn schwärmen. Wer ihn ge~
sehen hatte, träumte und phantasierte noch lang nachher von ihm.
DIE SONATE
Angenehme Wehmut — Schmerz, der den Stolz nicht kränkt.
Freude über solcherlei Schmerz. Ein leichter, gefälliger Gram. Selige
Erinnerungen. Die Erinnerungen üppig wie eine blühende Wiese.
Leises, wehmutreiches Andenken. Jetzt eine Schar von Vorwürfen,
die er sich selber macht. Nur die Vorwürfe, die man sich selber
macht, sind schöne. Die andern soll man und will man vergessen.
Man hat zuletzt niemandem als nur sich selbst Vorwürfe zu machen.
O, daß doch alle, alle Menschen nur allein sich selbst und sonst
niemandem etwas vorwerfen wollten. Reue? Ja, Reue! Reue ist süß
und tönereich. Die Reue ist ein Weltreich, unendlich und unermeßlich
an Ausdehnung. Aber die Reue ist etwas Zartes. Kaum vernimmt
man sie. Freude über die Reue. Ein edles Herz freut sich über
eine edle Empfindung. Dann will ich auch etwas von Hoffnungs-
losigkeit dabei haben. Engel sind ohne Hoffnung, haben Hoffnung
nicht nötig. Hofft ein Engel? Nein. Engel sind über alle, alle Hoff-
nungen erhaben. Etwas Engelgleiches soll in der Sonate tönen, die
ich im Sinne habe. Doch soll auch Hoffnung wieder dazwischen
klingen, wie wenn jemand ganz, ganz arm und verlassen ist und
dennoch immer, immer wieder hofft, gleichsam wie aus lieber, alter
kindlicher Gewohnheit. Jetzt wieder Freude, und zwar Freude über
jemandes andern Freude. Reine Kindlichkeit, reines glückliches Mit*
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Roßert Walser, SieSen Studie
empfinden. Selig sein im Gedanken, daß jemand anders es ist. Ist
nicht die Musik selber so? Ist nicht die Musik selber selig, darüber,
daß sie Herrlichkeit, Heiterkeit und Seligkeit verbreitet? Dann und
so kommt eine unsagbare perlende Verzagtheit. Stilles, süßes Weinen.
Auflösung in eine göttlich schöne Schwäche. Ein Weinen über sich
selber und über alles was da ist und je da war. Nicht ein Ent-
setzen, nicht ein Grauen. Die Sonate hier verbietet derlei Heftig-
keiten. Sanft wie ein leicht betrübter blauer Himmel will und soll
sie tönen. Ihre Farbe ist das matte Edelweiß der Perle, und ihr Ton
ist das Entschuldigen. Es gibt keine Schuld, weil es zu viel gibt, es
gibt keinen Schmerz, weil er zu groß, zu gewaltig ist für das Ver-
ständnis. Weil es zu viel Enttäuschungen gibt, gibt es keine, soll es
mit ein — einmal keine geben, keine mehr, keine mehr geben. Ah,
dergleichen und ähnliches soll sich in der Sonate, von welcher ich
träume, widerspiegeln, und ein junges schönes Mädchen, welches sieb
mit Leichtigkeit einzubilden vermag, sie sei ein Engel, soll sie spielen.
Ein Engel muß die engelgleiche Sonate spielen, und es muß her-
niedertönen aus dem Himmel des Spieles wie himmlischer Trost, wie
himmelreichähnliches Behagen/ denn eine reizende Behaglichkeit, eine
tiefsinnige Vergnügtheit denke ich dem Werke einzugeben. Schmerz
und Freude sind wie Freund und Freundin, die sich umhalsen, um-
armen und küssen. Lust und Weh sind wie Bruder und Schwester,
die sich geschwisterlich lieben. Das liebliche sonnige Entzücken ist
die Braut, und der Kummer, der sich ihr ins Herz schleicht, ist der
Bräutigam. Genugtuung und Enttäuschung sind unzertrennlich.
DAS GEBIRGE
Ich mußte mich an die Stille erst gewöhnen, auch an die rauhe
Bergluft. Alles atmete Einsamkeit und Reinheit, alles war Ruhe,
Stille und Größe. Im Anfang meines Aufenthaltes schneite es noch.
Es schneite noch manchmal auf die ausgedehnten Weiden und auf
die vielen schönen Tannen herab, aber nach und nach wurde es
wärmer. Auch in die Berge kam der süße Knabe Frühling und be-
glückte das Land mit seinem schönen, glücklichen Lächeln. Die blauen
und gelben Blumen sprossen aus der Erde hervor, und der Felsen
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RoSert Wafstr, Sießett Städte
563
bekam ein milderes, weißeres, weicheres Aussehen. Des Nachts
hörte ich in all der wundersamen tiefen Stille nur das ruhige leise
Plätschern eines Brunnens. Einsam stand im Schwarz der Nacht
als noch schwärzerer Fleck das Wirtshaus da. Ein einzelnes Fenster
etwa war erleuchtet. Ich las viel. Bei schlechtem Wetter saß ich in
der kleinen, heimeligen, reinlichen Stube und beschäftigte mich mit
dem Ordnen und Zerlegen von allerlei Gedanken. Ich war ein
rechter Müßiggänger. Eine alte ruinenhafte Klosterkirche war in der
Nähe. Doch ich schenkte dem Gebäude längst schon keine Auf-
merksamkeit mehr. Ich war in der Gegend kein Fremder mehr. Mich
lockte es, immer wieder zu den Tannen, diesen Königinnen, zu
gehen und bewundernd an ihnen emporzuschauen. Ich staunte immer
wieder von Neuem über ihre Zierlichkeit, Pracht und Schönheit,
über die Hoheit, deren Abbild sie sind, und über den Edelsinn,
den sie verkörpern. Wohin ich schaute, überall waren Tannen/ in
der Ferne und in der Nähe, unten in der Schlucht und oben auf
dem Rücken der Berge. Die Berge wurden immer grüner und schöner,
und es war süß für mich, im hellen warmen Sonnenschein über ihre
weichen, milden und üppigen Weiden zu gehen, auf denen jetzt die
lieben treuen Tiere friedlich und wonnig weideten. Pferde und Kühe
standen oder lagen, zu schönen Gruppen vereinigt, unter den präch*
tigen, langästigen Tannen. Die Blumen dufteten, alles war ein Sum-
men, ein Singen, ein Sinnen und ein Ruhen. Die ganze Bergnatur
schien ein glückliches, liebes, fröhliches Kind zu sein, und ich ging
jeden Tag, am Vor» oder am Nachmittag, zu diesem Kinde hin
und schaute ihm in die glänzend-unschuldigen Augen. Mir war, als
werde ich selber dadurch mit jedem Tag schöner. Muß mich nicht
die Betrachtung und der sorgfaltige Genuß von etwas Edlem und
Schönem schön und edel machen? Ich bildete mir solcherlei jedenfalls
ein und ging in der Gegend herum wie ein Träumer und Dichter.
Die holde Dichterin Natur dichtete immer größere und schönere
Gedichte/ indem ich so stand oder still davonging, war es mir, als
spaziere und lustwandele ich in einem Gedicht, in einem tiefen,
sonnenhellen, grünen und goldenen Traum herum, und ich war
glücklich. Es war kein Geräusch, das nicht anmutig klang, alles war
ein Klingen, ein Tönen, bald ein nahes, bald wieder ein entferntes,
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RoBtrt Walser. Sit Ben 5 tuet*
ich konnte nur horchen, es genießen und mit meinem Ohr es trinken.
Bin paarmal machte ich weitere Ausflüge, meistens aber blieb ich
in inniger sanfter Nähe warm daliegen, bezaubert vom blauen Him-
mel und gebannt von der himmlisch -schönen, weißen Götterland-
schaft, die mich wie mit großen weichen Götterarmen zu sich zog.
Alle Begierden, weiter in die lichte Ferne zu wandern, starben an
dem Entzücken und am Genuß, die die Nähe mich empfinden ließ
mit ihrem beseligenden Tönen. Von allen Weiden tönten die Glocken,
die die Tiere am Halse leise schüttelten beim sanften Grasen. Tag
und Nacht tönte es und duftete es. Ich habe einen solchen Frieden
nie gesehen und ich werde ihn nie wieder so sehen. Eines Tages
reiste ich ab. O wie oft, wie oft drehte ich mich beim Weggehen um,
damit ich all das Schöne, das ich nun verließ, noch einmal sähe, die
heiteren Berge, die lieben roten Dächer zwischen den edlen Tannen,
den stolzen Felsen, das ganze reizende Gebirge.
Roßert Walser.
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R. Gournai, Der DeutsSe Kaiser 565
DER DEUTSCHE KAISER
DER englische König, exempli causa, ist eine rechtliche Institution
der Verfassung Englands, aber wie Institutionen tun, er ist
auch eine Gestalt, welche die Persönlichkeiten überdauert, die sich
in der Folge der Generationen in ihr gehaben , eine psychische Form
ist diese Gestalt, die das jeweilige Psychologische ihrer Inhaber an
Wirksamkeit und Dignität übertrifft. Selbst das Genie, das sich ihrer
zu bedienen scheint, erhebt sich auf ihrer Grundform.
Während also, um allgemein zu sprechen, das Gesetz der Ver-
fassung das Individuum zu einer Person macht, zum Zaren, zum
King, wird es seinerseits wieder übertroffen durch eine plastische
Gewalt, welche die Person zur Gestalt macht. Nehmen wir an, daß
alle Völker die gleiche Verfassung hätten, ja wir können sogar wirt-
schaftliche und soziale Verhältnisse als unterscheidende Ursache fort-
lassen, so wäre noch nicht jene tiefste Quelle geschlossen, aus der
der Herrscher der Russen der Russen Vater und Väterchen ist, der
King der Gentleman unter den Gentlemen. Nun mag dem König
aus dem Staatsrecht sein Dasein als König allein garantiert sein,
garantiert ist es ihm nur innerhalb des Gebietes des Ausdrücklichen,
während die Fülle seines Daseins nur in der statuarischen Energie
jedes Staatenaufbaues sich erhält, welche in der »Gestalt« sich aus-
prägt.
Die preußische Geschichte hat nicht mit derselben Sicherheit die
Figur eines preußischen Königs gegossen, wie die Engländer ihren
King über alle Unterschiede hinaus, selbst die des Geschlechtes, ihn
bestimmten. Es gelingt uns nicht wie den Engländern, unweigerlich
im König zu haben, was wir von ihm erwarten. Wir stellen die
Varianten leicht über das Thema, und der so rücksichtslos und ein-
seitig vorgebrochene deutsche Individualismus kennt überhaupt kein
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566 R. Gournai Der DeutsSe Kaiser
»Thema«/ er betrachtet das Einmalige als das Wertvolle, und sdion
in diesem Sinne das Unerwartete, während aller politischer Aufbau
seinen Halt darin findet, das jedem durch sein eigenes Wesen Be-
kannte zu überhöhen. In dem größeren und vor allem in dem ak-
tivsten Teil Deutschlands gilt als typisch am Individuum das Indi-
viduelle, und der Rest lebt heute nur noch von der Negation dazu.
Aus diesem Zustand konnte dem einzelnen Mann, der an der
Spitze des Deutschen Reiches steht, kein inspirierender Anhauch
werden. Von dem letzten preußischen König, der sein Großvater
war, überkam ihm die Haltung des obersten Kriegsherrn/ das wurde
nun ein wichtiges Inegredienz der kaiserlichen Würde, aber wir werden
später sagen, warum kein ausfüllendes. Wilhelm der Erste, durch
Kriege und die Reichsbegründung eine historische Größe schon als
er den »Charakter-Major« annehmen mußte, überdeckte den Mangel
an charakteristischer Ausprägung, den die kaiserliche Würde zeigte.
Als sie den jetzigen Kaiser aufnahm, war sie noch durchaus
amorph.
Jene »plastische« Funktion des staadichen Lebens dauert solange,
wie der Staat dauert und überdauert ihn, aber die Wege, wie sie
ihren Einfluß zu Stande bringt, sind unendlich verschieden, und tragen
das Charakteristische ihres Werkes mit sich.
Sie bringen alle eine mehr oder weniger produktive Zumutung
an den König, eine Zumutung, welche ihren Druck nur in höchst sel-
tenen Fällen durch formulierte Willensakte zur Geltung bringt, son-
dern durch bald so, bald so verkleidete Selbstverständlichkeit. Mag
sein, daß diese Verkleidung das Agens im Fortschritt des nationalen
Schicksals sei, das Schicksal selbst liegt in jener Selbstverständlichkeit.
Und sucht man in Deutschland zu ihr vorzudringen, so scheint
sie sich aus der Diskussion über die Haltung herauszuschälen, welche
der einzelne in diesem Land zur Person des Kaisers einzunehmen
habe. Wie wenig positive, formende Wünsche sind direkt an die
Gestalt des deutschen Kaisers laut geworden, aber man führt
seine Sache, indem man untereinander die Geste zu ihm kon-
trolliert, und während die Liberalen den Konservativen ihren »By-
zantinismus« vorwerfen, begnügen diese sich, den Liberalen zu sagen,
ihre Auffassung vom Kaiser sei ebenso »liberal« wie die vom
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R. Gournai, Der Deutseße Kaiser
567
König. Man kennt diesen Streit, und wem brächte er noch neues
als denen, welche ihn aktiv und berufsmäßig fuhren? Aber er hat
Voraussetzungen, welche im Streit um Aktualitäten wenig beachtet
werden, und doch sind diese Voraussetzungen bei aller theoretischen
Ferne bindender als man glaubt.
Die »byzantinischec Art wünscht die individuelle Person des
Herrschers zu negieren, und daher erscheint diese als das Leben
einer wie immer definierten höchsten Macht. Die abstrakte, objektive
Maßgabe des Gesetzes als Ganzen tritt nicht mit dem Übergang*
losen »Sollen« auf, sondern in einem Willen, den man als eine Art
Versöhnung auffassen könnte zwischen Vorschrift und Befolgung, als
schlüge da der Willen des Gesetzes und das Wollen des Staats-
angehörigen und Untertanen im Herrscher zusammen. Jedenfalls ist
dieses königliche Dasein das Gesetz in seiner natürlichen Komplexion,
ohne jeden Abbruch wie er im bloßen »Sollen« liegt, und das Bedürfnis
solcher Komplexion ist historisch so gesichert, so unter allen Um*
ständen gegenwärtig, daß es keines anderen Nachweises für sie be-
dürfte und ihre theoretische Konstruktion nur dem Nachweis ihrer
Teile zu dienen braucht.
Was man nun unter der byzantinischen Haltung des Monarchen
versteht, das ist die grundlegende Form der Repräsentation oberster
Macht, welche vor allen Dingen Unabhängigkeit von der Exe*
kutive und den Wechselfällen der Machtausübung bedeutet, ohne
sie praktisch auszuschließen, denn streng genommen ist der entlegenste
Akt der Etikette noch Exekutive. Im Interesse der Darstellung
letzter Macht liegt es jedenfalls, die Absorption des Individuums
von seiner Stellung zu prästieren, denn die äußerste und lediglich über*
geordnete Macht bekäme etwas temporäres, von Erfolg und Miß-
erfolg abhängiges, anzuerkennendes und bestreitbares, wenn ihr In-
haber seine Haltung aus ihrer Anwendung bezöge. Vielmehr läßt
sich die Konstanz und Unangreifbarkeit der höchsten Macht und
ihrer Bedeutungen nur durch die Gesten der Unbewegtheit, psycho-
logischer Unerreichbarkeit darstellen, und dem entspricht das Indivi-
duum in seinen Formen der Ehrerbietung.
Was nun Unterschiede in der Grundhaltung eines Herrschers macht,
ist die Vielfältigkeit der Bedeutungen, die in ihm wohnen. Er kann
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568
R. Gourrtaf, Der Deutsdße Kaiser
ja der Vater sein seines Volkes, und ebenso der Richter/ so hat jeder
Herrscher die Geste eines fundamentalen »Berufes«, welcher dann eigen«
tümliche, aber nie ihre Herkunft verleugnende Erweiterungen findet, die
sich nur an den konkreten Fällen charakterisieren ließen. Jedenfalls voll«
zieht sich die Einbegreifung aller Staatsangehörigen in die Herrscherge-
stalt durch moralische Angleichung einer bestimmten Art. Jeder Stand,
jeder Beruf hat seine Ehre, die immer eine Verteidigungsstellung der
persönlichen Integrität an ihrer exponierten Stelle ist/ es sind gefärbte
Ehren, die dadurch, daß sie aller Möglichkeit sich zu gefährden ent-
zogen werden, zu einem Gipfel der Vornehmheit sich emporführen
lassen, sozusagen aus dem Bedürfnis einer vollendeteren Anschauung
ihrer selbst, und diese Entstehung spiegelt sich prinzipiell in der Be-
ziehung jedes Herrschers auf einen Beruf wieder. Von da aus be-
stimmt sich auch die Gestalt in ihren Tugenden, und wir haben
andererseits das Paradox, daß der Ursprung der intangiblen Gestalt
des Herrschers zugleich seine engste Beziehung zur Exekutive her-
stellt, das liegt eben im »Beruf«. Die Unnahbarkeit des Herrschers
ist um so mehr ausgesetzt, je mehr spezielle Leistungen von der
höchsten Stelle ausgehen, und um so mehr bedarf es auch der Sorg-
falt, um der Gestalt ihre Breite zu garantieren.
Aber nun geht der Liberale so vor, daß er die Person des Herr-
schers nur menschlich nimmt, d. h. prinzipiell unerweiterbar, und der
Herrscher gilt einfach als Träger einer »schweren Aufgabe«, der
»schwersten«, wie man manchmal in einem dunkeln architektonischen
Drange zugibt. Die Person des Herrschers dient als eine Art Orien-
tierungsstück in der Verfassung, eine Art geometrischen Ortes für
ihre Festsetzungen, und überlebt lediglich ex definitione die ver-
schiedenen Herrscher. Die Tatsache der persönlichen Spitze in allen
Staaten ist die alleruninteressanteste für die liberale Auffassung, ihre
Verdienste liegen vielmehr in der Präzisierung der rechtlichen Zu-
sammenhänge, nicht in ihrer seelischen Besetzung. Der Herrscher bleibt
Privatperson, als die er primär überhaupt immer erscheint, und nur so
übt er manchmal eine gewisse besondere Wirkung aus, die Fontane in
extremen Fällen liebenswürdig und tiefsinnig beschrieben hat. Man be-
merkt bei manchen Liberalen eine außerordentliche Geschiedenheit, ja
Jenseitigkeit zur herrschenden Familie, die gar keine Empfindlichkeit des
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R. GournaC Der DeutsSe Kaiser
569
Staatskürgers einschließt, sondern diesen Zustand ganz natürlich nimmt,
obgleich er gerade auf das Menschliche geht. Nun liegt in der by-
zantinischen Überhöhung des Individuums ja wieder eine Einheit
zwischen Untertanen und Herrscher ausgedrückt, welche der Libera-
lismus nicht anerkennt, weil er die Überhöhung nicht anerkennt, bei
jener Einstellung ist also der »Bruch« viel gründlicher als im kon-
servativen Gefühl — aber sollte die persönliche Eindringlichkeit,
welche gerade in größter sozialer Distanz bei den prinzipiell Skep-
tischen so deutlich auftritt, eine Kompensation sein? Sie ist jeden-
falls nicht konservativ/ die rein gesellschaftliche, unpsychologische
Haltung zur Person des Herrschers ist überhaupt ein Kriterium des
echten Konservativismus. Überflüssig an Bismarck und Friedrich Wil-
helm IV. zu erinnern. —
Wie setzen sich nun die betrachteten Schemen an den Daten des
deutschen Kaisertums durch? Wie wirken diese Voraussetzungen in
diesem Fall?
Das Byzantinische, oder, wenn man es frei von historischen Ex-
tremen nennen will, das Rituelle, hat natürlich die positiveren An-
knüpfungen. Sie liegen vor allem in der obersten Kommandogewalt
des Kaisers. Die Unterordnungsverhältnisse, die in sie auslaufen,
finden in der einen letzten subjektiven Ausfluß, eine absolute Maß-
geblichkeit, und damit ist der Schwerpunkt bezeichnet, von dem aus
der Kaiser seine Autorität überhaupt zu stabilieren hätte. Aber ohne
Zweifel sind die allseitigen Übertragungen der Machthaltung gerade
von dem militärischen »Beruf« aus ungeheuer schwierig/ diese Auto-
rität, ihr Sinn, ihr Ausdruck rundet sich widerwillig zu einer uni-
versalen Vornehmheit ab/ ist darin das gerade Gegenstück zur
Gentlemanvornehmheit.
Denn die moralischen Qualitäten der Soldaten sind Aufspeiche-
rungen zu potentiellen Leistungen, also in ihrem Optimum und unter
den modernen Friedensverhältnissen reine Dispositionen, während
die sekundären Erscheinungen, wie Disziplin, minutiöse Pflichttreue,
welche in Erscheinung treten, lediglich den besonderen Kreis even-
tuell obliegender Pflichten umschreiben, als Kontrolle der Bereitschaft
dienen und immer untergeordnet und jedenfalls relativ sind, sich mit
der vollen Aktivität und Eingesetztheit des Bürgers nicht vergleichen
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570
lassen. Diese Pflichten fallen ihrerseits gänzlich aus dem Konstruk-
tiven des bürgerlichen Daseins, sie sind destruktiv und in der Durch-
führung momentan. Nun geht die moralische Erziehung des Prie-
sters zum Beispiel auch auf die moralische Disposition mehr als auf
die konsequente, eigennützige Aktion/ aber die Schätze der Güte,
Milde, Liebe sollen eben jedem vorkommenden Fall der Bedürftig-
keit oder auch nur des Mangels an ähnlicher Gesinnung beim anderen
dienen, sie sind gerade besonders leicht umsetzbare Energie/ wäh-
rend die Temperierung des Soldaten letzten Endes gar nicht über-
greifen kann, weil sie auf negative Gewalt geht, die ihn um jede
menschliche Verbindung bringt, und nur in den Mitteln ihrer Durch-
führung, also mit der gewissen Schwächung ihres absoluten Gehalts,
werden Tugenden entwickelt: Tapferkeit, Gerechtigkeit.
Daraus schon folgt, daß der Zugang zu der militärischen Gestalt
für die Untertanen besonders schwierig ist. Denn in der hier typi-
schen Geste des Gehorsams liegt ja nicht einmal das Opfer des
ganzen Ichs, das Ich tritt vielmehr mit der Fiktion auf, auf eine be-
stimmte Leistung gänzlich reduziert zu sein. Der absolute militärische
Gehorsam auf allen Gebieten, wie unter Friedrich Wilhelm L, hat sich
ja selbstverständlich nicht gehalten/ nichtsdestoweniger ist es der ge-
mäßigtere Begriff der Disziplin, in dem sich die Devotion, die Ab-
hängigkeit von der höchsten Person äußert: er bestimmt die Geste, in
der die Autorität anerkannt wird, — wie der Engländer zu seinem
König spezifisch höflich ist.
Indem die kaiserliche Gestalt sich im Soldatischen fixiert, von der
Tradition des preußischen Königs immer wieder regeneriert, erhält
nun ihre Erweiterung zur »vollkommenen Vornehmheit« notwendig
etwas provisorisches, das man in jeder »Abrundung des Berufes«
durch das Medium der »Vornehmheit« des Herrschers vermuten
könnte, aber hier ist es evident und schwer zur Ruhe zu bringen.
Vor allem, daß der Beruf des Soldaten, soweit als er Beruf ist,
überhaupt nicht moralisch ist, nach dem tapfern Worte Moltkes. Ab-
solute Entsetzungen, wie »Vernichtung«, um es indifferent zu sagen,
erfordern absolute Mittel. Es liegt in der soldatischen Ehre daher
eine gewisse Unvergleichlichkeit mit anderen Ehren, die notwendig
festgehalten wird, denn jede andere Ehre betont ja gerade den
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Entschluß jedes Berufes, die Gemeinsamkeit der moralischen Grund-
sätze mit anderen Berufen aufrecht zu erhalten, nur der Soldat
macht davon die Ausnahme, weil seine wesentliche Leistung überhaupt
nicht mit der Arbeit anderer koexistieren kann. Man bemerkt die
Ungefugigkeit der Begriffe, die die Tatsache unterbauen sollen, daß
die militärische Autorität, ihre Geste, die Achse der kaiserlichen Ge-
walt in Deutschland tatsächlich ist.
Andererseits zersprengt sie nicht unser Schema, sondern stellt einen
extremen Fall zu ihm auf, den die intuitive Kraft einer nationalen
Gesinnung immer noch zum natürlichsten von der Welt machen könnte.
Aber die Sonderbarkeit des vorliegenden Falles wächst nur durch
den Umstand, daß die militärische Autorität, so sehr sie auf Autori-
tät aufgebaut ist, in ihrer höchsten Ausprägung am wenigsten zu
jener »königlichen c Umwandlung des Individuums, zu seiner Er-
weiterung in die »Gestalt« geeignet ist. Das Militärische eignet sich
vortrefflich zur Aufrichtung von Autorität, aber eben darum nicht
zur Aufrichtung ihrer konstanten, letzten Sammlung im Monarchen.
Eben wurde das Provisorische in der Totalverfassung einer höch-
sten Person besprochen, die das Militärische zum Kern hat/ in
anderer Weise gilt das Charakteristikum des Provisorischen für die-
sen Kern selbst.
Der Kaiser stellt ja nicht nur die Quelle der exekutiven militärischen
Macht dar/ er ist vielmehr der oberste Leiter selbst. Hier schiebt sich,
und das ist bezeichnend, kein Reichskanzler vor. Aus der höchsten
Sphäre, nämlich der rituellen, unpersönlichen Verehrung, ist er damit
schon ausgeschlossen, weil sein Dasein in hervorragendem Maße von
Erfolg und Mißerfolg abhängig ist. Alle stabileren, unpersönlicheren,
unanwendbaren, bildhaften Qualitäten, die ihm zufließen als dem
Landesherrn, dem Bischof, dem Richter, können die Tatsache nicht
unwirksam machen, daß die oberste Feldherrnstellung auf das Indi-
viduum in ihr hinlenkt, auf seine praktische Eignung, und daß das Pri-
vileg einer Familie auf diese Stellung ganz zufällig scheint, während
das monarchische Privileg an sich von Zufälligkeit am weitesten entfernt
ist. Nur unter einer Bedingung ließe sich vorstellen, daß die höchste
Macht im Staate durch einen Soldaten sich echt darstellt, wenn näm-
lich dieser Staat selbst sich als ein Provisorium ansehen müßte, sein
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572 R. Gournaf, Der DeutsSe Kaiser
bleibender Sinn überhaupt selbst in Frage stünde und damit die
tiefste Quelle des Herrsdiertums, — und das könnte immer nur durch
Krieg eintreten, im Momente dringender Notwehr. Sie wird dann
eben sein »Letztes und Höchstes <. Die Tatsache, daß Preußen
unter einer so anormalen Bedingung groß geworden ist, hängt ihm
noch nach, es bewahrt seine Geschichte in der konditionellen Autori«
tat seines Soldatenherrschers bis in diese Gegenwart. Aber nun stellt
das Kaiserreich seinem ganzen Auftreten nach doch das endgültige
Ende jenes »Provisoriums« dar, dessen tapfere, nüchterne und wenig
übersinnliche Durchhaltung Preußens besondere Leistung war, an der
die Staaten, welche nun einen Kaiser haben, nur im letzten Moment
teilgenommen haben, und ausdrücklich ohne die Bedeutung ihres
staatlichen Daseins Preußens anzugleichen, womit ihre Mitarbeit an
der Ausbildung des Kaisertums von vornherein etwas indirektes be^
kommen hat. Direkt kann sie nun bei der gegenwärtigen Reichsver-
fassung auch nur dem Kaiser als Heereskaiser zukommen, und darin
liegt gerade eine Verschärfung des Preußentums : der deutsche Kaiser
ist mehr Heereskaiser als der preußische König früher Heereskönig
war. Der Rest ist in der Hauptsache nur eine repräsentative Aner-
kennung durch die Bundesstaaten, die weitere Ausbildung der Kaiser*
liehen Gestalt dürfte er wesentlich nur aus Preußen erwarten, aber
der preußische Konservativismus hält sie ängstlich an der Stelle fest,
die an sich am allerexponiertesten, am unfugsamsten für eine Ent-
wicklung ist. Jedoch einen starren Konservativismus gibt es unmög-
lich, einen akademischen höchstens, und den dauernd so wenig, wie
es eine begrenzte künstlerische Initiative gibt. Nur die Theorie ver-
mag ihr eigenes Leben zu unterbinden, sie hat Grenzen — und
somit wenden wir uns zum »Liberalismus«.
Wir sind es schuldig geblieben, darzulegen, wie die Tatsache, daß
es zum Aufbau einer höchsten, dauernden Würde in einer Nation
komme, beim Individuum sich ansehe/ aber die Objektivität der
ganzen Verbindung zwischen Nation und Herrscher machte einen
solchen Exkurs überflüssig. Der Konservativismus bestimmt den
Wert des Menschen überhaupt an gewissen Eigenschaften, die man
extrem nennen möchte, sehr tiefliegenden Qualitäten, die über die
Kräfte des einzelnen zu gehen scheinen, und aus der Gesamtheit
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R. Gournai. Der DeutsSe Kaiser 573
erst hervortreten. Hingegen nun der Liberalismus stellt den Ein-
heitspunkt aller menschlichen Äußerungen überhaupt, den Menschen,
über jede seiner Leistungen/ und er erwartet von ihm alles, indem
er nichts von ihm erwartet. Während also der Konservativismus
den Menschen von Natur mit der Schutzschicht einer gewissen Be-
Stimmung eintreten läßt, gibt ihn der Liberalismus als eine Kraft
preis, die durch die Reibung mit einer vielfältigen, unendlichen Um-
welt erst zu einer Bestimmung kommt Dort der tragende Mensch
also — und hier der geschäftige, beide in einem Gebilde auftretend,
ja beide ein Mensch, und der Unterschied ist eine Akzentfrage. Er
scheint in diesem Lande dennoch eine Entscheidung zu verlangen,
denn er hat Gesinnungen hervorgebracht, politische Gesinnungen,
die sich bei uns stoßen, während sich die Begriffe, aus denen sie
hervorgehen, nicht notwendig kreuzen/ suchen es erst in der Kon-
sequenz auf einem Gebiet, wo sie vielleicht nicht maßgebend sein
dürften: eben auf dem politischen. Sie mögen vielleicht schuld sein,
daß unsere Politik eine sonderbare Uneigendichkeit hat.
Der liberale Mensch ist bei uns immer der »freie Mensche ge-
wesen und damit zugleich der Abgeschlossene/ das liberale Interesse
geht also auf das Individuum, und von dem Individuum geht es aus.
Diese Richtung des Interesses aus der Einzelheit des Menschen
ist überhaupt fundamental, unvermeidlich/ aber wir sind die abso-
lutesten Individualisten!
Und während wir in der Schätzung des Individuums die unge-
heuersten Schwankungen durchgemacht haben im »Warum «, ist
sicherlich die Schätzung der Besonderheit, individueller Merklichkeit
bei uns durchaus konstant geblieben. Wir schätzen den Menschen
also unsozial/ seine stärksten Wirkungen auf die Gesamtheit ändern
nichts daran, und auf dieser Linie bewegt sich unser ganzes libera-
listisches Denken auch in diesem Moment, in dem die Energie der
Nation seine schärfste Spiegelung im wirtschaftlichen Menschen findet.
Wir vermögen diesen Punkt nicht sogleich zu verlassen. Der
Werther-Mensch schuf der deutschen Idee vom Menschen wieder
seinen Platz in Europa,- er war die Proklamation des Menschen
seiner eigenen Gefühle, welcher nur durch sympathetisches Verstehen
in seiner Einzelheit zu erreichen war, der »Mensch in sich«, der
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574
Wesensmensch. Der so geneigte Mens* lebte schon in der empfind-
lichsten Verbindung zur Welt/ der alte Goethe sudite noch dieser
Empfindlichkeit ihre Verstehbarkeit zu erhalten durch objektive ästhe-
tische Maßstäbe, aber schon unter ihm romantisierte sich das Ich
vollkommen, das Wesen wurde aus dem Original Kuriosität/ es
wurde ganz wirkungslos, beziehungslos, ein zum Nichts degradiertes
X. Das Ich entwertete sich vollkommen, radikal, bis in die Tie r en der
Nation, aus denen er ohne Zweifel emporstieg: es entstand em ent-
schiedener Glauben an die Unglaubhaftigkeit eines absoluten persön-
lichen Wertes. Nach der allgemeinen Ansicht des heutigen Tages
ist das Ich nun unterhalb der Schwelle sozialer Erfaßbarkeit — das
Fremdwort ist so gut: Palpabilität/ d. h. es hat in dem Maße, als seine
Eigentümlichkeit Maßgabe seines Wertes sein sollte, sich der Ver-
gleichbarkeit entzogen. Etwas anderes drückt sich im Verfall unserer
Kultur seit vierzig Jahren nicht aus, als die Skepsis und Unlust, welche
dieser Entdeckung folgte. Ohne Zweifel haben andere Völker Europas
einen solchen Prozeß ebenfalls durchgemacht, auch sie haben sich sub-
jektiviert, aber sie haben auch einer vollkommenen gegenseitigen Ent-
ziehung wie bei uns zu steuern gewußt, durch gewisse objektive und
haltbare Maßstäbe, die für die Gegenseitigkeit des persönlichen Ver-
kehrs gelten, auf dem Gebiet der Manier, des Taktes, der Reserve, —
jener englischen Soziabilität, auf welcher die Begriffe englischen staat-
lichen Lebens aufgebaut sind. In unseren amerikanisierten Städten
fehlt nur eines: die Erfreulichkeit, daß es überhaupt Menschen gibt,
der allgemeine und durchgeführte Entschluß, ihn mit einem gewissen,
vielleicht nicht hohen, aber konstanten Wert über Null anzusetzen.
Der einzelne Mensch »an sich« ist uns der diskreditierte Mensch »in
sich«/ wir haben den Wesensindividualismus auf ein Minimum der
Bewertung hinabgedrückt, das nur einem theoretisch hochbegabten
Volke möglich ist, aber darum haben wir auch nicht die Freude an
großen Zahlen, wie der Amerikaner, der sie liebt, weil er mit ihnen
den Grundwert jedes Amerikaners multipliziert, während unser Jar-
gon sich in »Zuständen«, »Verhältnissen«, »Konjunkturen« bewegt,
worin der Mensch ein mathematisch-punktförmiges Etwas ist, von
dem kein eigenes Leben ausgeht.
Der deutsche Liberalismus hat aber doch mit dieser Reaktion nicht
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P. Goumai Der DeutsaSe Kaiser
575
seine Grundrichtung geändert, und ist von dem Maßstab der Be-
sonderheit, Eigentümlichkeit, ja der Unvergleichlichkeit nicht abge-
gangen. Er ist damit unpolitisch geblieben, wie er früher war/ die
romantisch verstandene Individualität kommunizierte ja nur durch Sym-
pathie, durch Dualität, aber nicht durch ein drittes, ein gemeinsames
Objekt, — der gegenwärtige, nicht minder in seiner neuen Richtung
fortgeschrittene Liberalismus schätzt ein ebenso disparates Geschöpf.
Die gegenwärtige Regierung plant nach ihren eigenen Worten »die ,
Politik so langweilig als möglich zu machen, damit wir unüberwind-
lich reich werden«/ das beweist schon ausreichend, daß der Erfolg
der Nation von der Erwerbstätigkeit des einzelnen zu erwarten ist,
möglichst ohne irgendwelche Reibungen mit den Angelegenheiten der
Gesamtheit. Im Prinzip wendet sich diese Politik wieder an den be-
rühmten deutschen »Träumer«, an einen Träumer, der Geld ver-
dient. Aber es ist doch wichtig, diesen neuen »Einzelnen« anzu-
schauen, denn die objektivierende Kraft der Geschichte läßt keines
ihrer Felder leer, so schlau sich auch menschliche Klugheit und Vor-
sicht ihrem verhängnisschweren Griff entziehen möchten.
Dieser neue »Einzelne« ist wertvoll, insofern es ein hervorragen-
des, durch die Kombination seiner Wirkungen unvergleichliches Energie-
zentrum ist/ natürlich bleibt, da die Kräfte des bloßen Gefühls und
Gedankens echolos und schattenlos geworden sind, in dieser Nation
nur der reine Wille übrig, der sich in seinen Taten zu quali-
fizieren hat und dies um so mehr tut, als er von seinen Taten un-
geprägt bleibt und in der Initiative lebt. Das Unternehmen steht
ihm also über dem Geschäft/ das Individuum vermeidet die Rück-
wirkung seines Berufes auf sich, es gibt keinen Beruf, sondern nur
einen allgegenwärtigen Maßstab des Erfolgs: das Geld. Dieser
Willenmensch, der die Welt in Energiezentren zerlegt, deren Leistungs-
einheit in Geld gezahlt wird, ist ebenso einzeln wie der Wesens-
mensch, den er überrannt hat, ebenso in seiner Einzelheit vereinzelt,
leer: der dynamische Mensch, dessen konstante Qualitäten nur der
Isolation gegen andere dienen, also Spontaneität, Initiative, Bemerk-
lichkeit heißen und wir sind vielleicht schon verstanden.
Jeder Herrscher stellt ein »Wesen« dar/ die Bedingungen sind
durch die Entwicklung des deutschen Subjektivismus heute durchaus
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R. Gournai Der DeutsSe Kaiser
gehemmt. Das Individuum besitzt als solches bei uns nicht Achtung ,-
die Ehrfurcht vor seiner repräsentablen Steigerung hat also keinen
Boden. Sie wird ihm kurzgesagt weder im Untereinander der Nation
zugetraut, aus angegebenen, unglaublich radikalen Gründen, noch
vollends im Übereinander begriffen. Aber so lange es Politik gibt, wird
die Vorstellung der Nation vom Wert des Menschen im Herrscher
Wesen haben, die Notwendigkeit wird in diesem echt deutschen
Dilemma zur Unerbittlichkeit: die vom Wesen entfernte, verschnit-
tene Willensindividualität, die die Einheit des Menschen verkennt,
wird eben Wesen, seelischer Typus, indem sie von der Unzerstör-
barkeit des Menschen so deutlich zeugt wie von seiner Entsteilbar-
keit, und richtet sich nun im Träger gegen alle Bedingungen wesent-
lichen Daseins, tritt auf als Impulsivität, Beweglichkeit, Initiative,
Partei/ demonstriert sich durch die sekundären Bedingungen, um es
anders zu wenden, durch die ein Charakter sich ausdrückt, aber die
niemals Charakter sind. Nur der Charakter selbst, diese tiefere Tiefe
der Psyche, besitzt das statische Gleichgewicht, welches der Nation
wenige, umfassende Züge heute und immer entgegenhalten kann.
Aber ist nicht dieses Dilemma, in zufälligerer Form, schon in den
Tendenzen des preußisch-deutschen Konservativismus beobachtet
worden? Die Unfähigkeit, den Herrscher zu einer ganz rituellen Hal-
tung zu stützen, seine Fesselung im Imperatorischen, drückt sich da
nicht die Schwäche des deutschen Individualismus aus? Jedenfalls be-
weist die militärische Attitüde des Herrschers die Insuffizienz der
konservativen, anschaulichen Kräfte/ die Frage nach dem Wert des
Menschen an sich ist in sich zu berechtigt, als daß sie sich ganz um-
gehen ließe, die Schwankungen und Voraussetzungen der Antwort
sind fundamentaler Besitz der nationalen Kultur/ diese Insuffizienz
ist der liberale, ichtheoretische Anteil am Konservativismus und macht
ihn erst echt deutsch.
Aber umgekehrt, der wesenlose, formale Sinn unseres Individua-
lismus ließe sich gar nicht an der Kaiserlichen Gestalt realisieren,
wenn er nicht seinerseits erst Bildsamkeit aus der Imperatorischen
Haltung des Kaisers bekäme. Der Kaiser ist spontan, stellt die ein-
dringliche Anpassung über das eigenwillige Schaffen, betont nicht die
intime Kontinuität, sondern das immer wieder neue Einsetzen, und
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sah in jüngeren Jahren in jedem Könnenden einen Konkurrenten,
wie er jeden zu gewinnen sucht und bereit ist, auf der Stelle fallen
zu lassen. Das sind Instinkte des modernen handelnden Menschen,
aber da es sich beim Kaiser um das Gegenobjekt, das Geld, am
allerwenigsten handelt, wären diese Qualitäten, die in sich gar keinen
Ausdruck haben, gar nicht wirkungsfähig gewesen, wenn sie nicht
in einem engeren Rahmen schon königlich durchlebt worden wären,
und das ist eben bei uns das Militärische. Unser Liberalismus und
unser Militarismus ergänzen sich aufs Natürlichste/ dem aktivistischen
Radikalismus läßt sich nur durch die militärische Geste eine Haltung
geben. Alle kaiserlichen Reden sind Initiativreden, aber in Befehls-
form: die Haltung des Befehls, differenziert durch ein bedeutendes
stilistisches Talent, bildet den Obergang vom militärischen zum indi-
viduellen Kaiser. Die »Konservativen«, welche den persönlichen
König nicht ganz aufgeben könnten, sehen ihn nur konsequent fort-
geführt in einem Herrscher, welcher seine Überlegenheit über das
bloße Individuum nur mit einer Geste dartun kann, welches eben
Individualität, Forcierung der Einzelheit und Trennung auf gleicher
Höhe, aber nicht zur Höhe ausdrückt. Sie enragieren sich für das
Militärische daran, von dem persönlichen, so wenig Ludwig XTV.
ähnlichen habitus sind sie betroffen/ sie halten es für zufällig, wäh-
rend es nur die Erweiterung ihrer eigenen Idee ist, deren spezifische
Inkarnation sie hypnotisiert. Das Individuelle, die menschliche Un-
verkennbarkeit des Höchsten als repräsentative Attitüde, ist ein lo-
gisches Produkt unseres deutschen Geistes, und nur ihm möglich.
Aber während es bei den Konservativen naheliegt, daß sie die per-
sönliche Note des Kaisers für eine bloße Fortsetzung seiner mili-
tärischen Rolle halten, ist es wahrhaft tragikomisch, daß die Liberalen
über diesen durchaus menschlichen Kaiser erstaunen, welcher doch
mehr ihr Kaiser ist, als der Kaiser der preußischen Konservativen.
Wir werden also immer individuelle, unverkennbare Töne des
Willens an dieser Stelle hören, alle vom Militärischen her stilisiert,
alle auf kürzestem Wege an die Bereitwilligkeit der Natur sich wen-
dend, und man wird diese Kaiserlichkeit verstehen, weil es die ist,
die jeder versteht, zu verstehen imstande ist. Man könnte sich trösten,
und sagen, daß wir Deutsche von Politik nichts verstehen, zu jenen
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Spannungen also, die zwischen Persönlichem und Unpersönlichem
entstehen und den Staat gliedern, fast unfähig sind, und daß dieses
unpolitische, unstaadiche Kaisertum, das wir zwar verstehen, aher
auf Grund einer Unsicherheit, die der Deutsche in politicis mit Recht
immer empfinden wird, nicht zu billigen wagen, daß dieses Kaiser-
tum das Maximum einer positiven Beziehung zur Politik ist, und
sogar merkwürdig schnell sich so herausgestellt hat. Denn sicher reprä*
sentiert es uns/ aber mit allseitiger Hilfe so, daß es niemals zu
jener Stabilität kommen kann, welche es den unmenschlichen, und
dennoch von Menschlichkeit so durchaus füllbaren Formen des Staates
geben müßte.
Nun mag unsere deutsche Auffassung vom »Kaiser«, an den
strengen Rechten der Politik gemessen, zu eng sein, zu beschränkt,
sie ist aber auch wieder zu weit für sie. Sie übertrifft den Zwang
des Staates zugunsten eines sublimeren Zustandes, der freilich fern
genug ist. Das militärische der Kaiserlichen Gestalt ist unter dem
Niveau großen politischen Zusammenhangs, aber das Individualistische,
wenn es auch die individuellsten Formen annimmt/ ist jenseits der
Notdurft der Berufe, und konstituiert eine wichtigere Entscheidung
über die Bestimmung menschlicher Gemeinschaft. Tatsächlich nämlich
den Glauben an ihre Genialität.
Wir haben nicht ein Wort von der Person des gegenwärtig
regierenden Kaisers gesprochen/ wir hätten uns damit Unrecht ge-
geben, denn was unter konservativen Kräften verstanden wurde,
muß das Individuum immer und unter allen Umständen über sich
hinaustreiben zur Paradoxie des typischen Individuums. Nun ist die
Person des gegenwärtigen Kaisers in der Tat vollkommen unbekannt,
und sein Nachfolger, welcher auch eine Individualität sein wird, wird
ebenso unbekannt bleiben.
Wirklich ist für das moderne Europa der Höhepunkt seines
Wissens um den Menschen schon lange überschritten/ der Mensch
taucht wieder in die Dunkelheit zurück, aus der ihn die Antike ein-
mal hervorholte, und auf ihre Weisen die Renaissance und das
christliche Mittelalter. Deutschland hat in diesen drei Jahrhunderten
der Moderne ungeheuere Ergebnisse über den Menschen gehabt/
es gibt nun das Beispiel eines fast bewußten, tiefen Ausruhens vom
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R. Gournai Der DeufsäSe Kaiser
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Menschen, die Unkenntlichkeit der höchsten Stelle findet sidi wieder
in der lethargischen Haltung der sozialisierten Massen, welche am
Mensch gründlichst vorbeizugehen gewillt sind und damit die Kosten
seiner ungeheueren Hervortreibung bezahlen. Hier versagen, aus
einer Ökonomie der Nerven und durch die Unergiebigkeit einer
vom alten Ruhm lebenden egozentrischen Bildung, alle intuitiven,
den Menschen selbst anschauenden Kräfte. Die Politik, wenn wir nicht
ganz Unrecht haben, muß in diesem Land heute leer ausgehen in
allen ihren wesentlichen Teilen, und nur die, welche noch die toten
Formen der großen kulturellen Erfolge hundert Jahre zurück be*
sitzen, und die disziplinarisch Geaichten haben die Selbsttäuschung
oder den Mut, ganze Politik zu machen.
Aber jene doppelte Unkenntlichkeit des Menschen ist vielleicht ein
besseres Symptom, daß uns der absolute Mensch nicht mehr lange
nachhängen wird, ein besseres Symptom als aller Reichtum, welcher
der Trost einer wesenlosen Politik geworden ist.
R. Gournai.
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580 Max S riefen Der Bourgeois
DER BOURGEOIS
I
UNTER den mannigfaltigen Zeichen, die uns das Absterben
der Lebensordnung anzeigen, unter deren Kraft und Richtung wir
noch leben, sehe ich keines, das überzeugender wäre als die tiefe Ent-
fremdung, die heute die, in ihrer besonderen Ordnung besten Köpfe und
stärkstenHerzen angesichts dieser Lebensordnung erfüllt. Die Geschichte
dieser Entfremdung ist noch gar jung. Ich finde die neue Haltung, die ich
hier im Auge habe, zuerst — wie es zu erwarten ist — bei Ge-
lehrten und Dichtern, — der Weltmensch mag »Träumer« sagen —
etwa bei Gobineau, Nietzsche, J. Burkhard, Stefan George. So ver-
schieden die Genannten in allem sind, was für Menschen wesent-
lich ist — darin empfanden und dachten sie gleichartig: daß die Ge-
samtheit der Kräfte, die das Charakteristische des Ganzen unserer
gegenwärtigen Lebensordnung aufgebaut haben, nur auf einer tiefen
Perversion aller geistigen Wesenskräfte, auf einem wahnbedingten
Umsturz aller sinnvollen Ordnung der Werte beruhen könne —
nicht also auf geistigen Kräften, die, der normalen »Natur des Men-
schen« angehörig, nur die in der uns bekannten Geschichte üblichen
Veränderungsbreiten ihrer Auswirkung gefunden hätten. Könnten
Leute, die heute noch bewußt oder unbewußt »mitmarschieren« und
die ihr Entfremdungsgefühl noch nicht zum Standort einer Betrach-
tung aus der geistigen und historischen Vogelperspektive emporge-
worfen hat, angesichts der oben Genannten bemerken, daß es stets
und überall Außenseiter gegeben habe, die, sei es kämpfend gegen
die Kultur ihrer Tage, sei es gleichgültig und souverän vor ihr standen
<wie Fichte gegen das Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit«, der
Aufklärung wie Goethe vor den Befreiungskriegen), so sollten diese
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Max SaSefer, Der Bourgeois
581
ein Doppeltes bedenken: Jene »Entfremdung« gegen das »Narrenschi ff
der Zeit« — schon Bismarck liebte das hübsche Wort — erfaßt
stärker und stärker auch die eigentlichsten Kinder der Zeit selbst,
erfaßt auch nicht mehr bloß »Dichter und Denker«, sondern z. B.
auch den Großkaufmann W. Rathenau, und den mit den lebendigen
Kräften unseres Wirtschaftslebens am innigsten durchdrungenen und
vertrauten Nationalökonomen Werner Sombart. Mit Gerede wie
»Träumer«, »weltferne Romantiker« usw., mit denen — paradoxer-
weise — gerade unsere weltfernsten Schreibtischgelehrten die neue
Haltung abzutun pflegen, ist hier wirklich nichts zu machen. Dazu ist
es nicht etwa die besondere historisch-tradierte Gesinnung einer be-
stimmten politischen, kirchlichen oder Kulturpartei oder die Veilletät
eines bestimmten literarischen Kreises, was zu den neuen Problem-
stellungen über Wesen und Herkunft des »Geistes« geführt hat,
der unsere Lebensordnung trägt. Die Entfremdung geht darum
auch nicht auf diese oder jene einzelne Seite oder Erscheinungs-
gruppe unserer Lebensordnung, sondern auf deren Totalität und sie
muß dies, da sie in letzter Linie gegen den Typus Mensch selbst
gerichtet ist, der die Existenz und Fortdauer dieser Lebensordnung
letztlich verbürgt. Diese Merkmale aber finde ich bei keiner der Be-
wegungen zusammengefaßt, die man in den letzten Jahrhunderten
als solche der »Restauration« oder der »Romantik« bezeichnet hat.
Ich finde sie nicht einmal bei Rousseau oder Tolsto), die wohl als
die radikalsten Kulturrevolutionäre ihrer Epochen und Völker gelten
können. Beide predigen im Grunde nur Moral gegen den zivilisierten
Menschen an sich und seine typischen Fehler, Laster, Einseitigkeiten.
Sie besitzen nicht das historische Bewußtsein eines bestimmten, eng-
umschriebenen Typus, der zu Enstehung und Aufbau der kapitalisti-
schen Lebensordnung geführt hat und sie immerfort trägt. Sie suchen sich
auch nicht diesen Typus zu erklären, sondern tadeln und moralisieren.
Es ist nicht der eigentümliche, machtvolle Eindruck, mit dem Som-
bart sein Buch über den Bourgeois beginnt, der sie leitet: »Der vor-
kapitalistische Mensch: das ist der natürliche Mensch. Der Mensch,
wie ihn Gott geschaffen hat. Der Mensch, der noch nicht auf dem
Kopfe balanziert und mit den Händen läuft <wie es der Wirtschafts-
mensch unserer Tage tut), sondern mit beiden Beinen fest auf dem
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582
Max Sdefer, Der Bourgeois
Boden steht und auf ihnen durch die Welt schreitete Auch die deutsche
Romantik war in allen ihren Vertretern eine bloß geistige Kultur-
partei, die oberhalb, ja bewußt jenseits der »Lebenswirklichkeit«, die
sie sich hinter bunten Kirchenfenstern selbst verbarg, bei Nacht, Mond
und in stiller Liebe und Freundschaft ihren Reigen wob. Sie kam
kaum zum Leiden an der Wirklichkeit, da sie sie floh und da ihr
das Ethos, sie neubilden und formen zu wollen, fehlte. Jenen neueren
»Entfremdeten« fehlt dieser Zug und damit auch jenes sentimentale
romantische »Zurück« — sei es in die Natur, sei es nach Hellas
oder in das Mittelalter. Sie wissen, daß es ein »Zurück« nicht gibt,
sondern nur ein Vorwärts in ein ganz Neues, Unbekanntes oder in
Tod und Verderben. Auch der Gegenstand der Entfremdung hat
sich mächtig geweitet. Die Entfremdung der Romantik z. B. betraf
im Grunde nur den Menschen und die Kultur der Aufklärung. Nun
aber hat die Anschauung und das Miterleben des zur vollen Reife
gekommenen Hochkapitalismus das Auge auch für die primitivsten
Anfänge und die ersten Spuren des Geistes und der Gesinnung
geschärft, deren sechs Jahrhunderte lange Evolution in dem »auf den
Händen laufenden Menschen« kulminierte. Wir suchen die ersten
Fußspuren des Bürgers schon im 13. Jahrhundert, das auf allen
Gebieten der Geschichtswissenschaft immer mehr als die große Wende
der Zeiten erscheint, in der ein neuer »Mensch« sich durchsetzt, der
unabhängig von seiner nationalen, religiös kirchlichen, politischen
Spezifikation auch in die ältesten Institutionen, z. B. die katholische
Kirche seinen neuen Geist ergießt.
Die neue Entfremdung, ein ganz undiskutierbares und unmittel-
bares Erlebnis, ist zweifellos auch der seelische Ausgangspunkt für
das Problem von Wesen und Ursprung des »kapitalistischen Geistes«,
das seit einer Reihe von Jahren — den Anstoß dürfte W. Sombarts
»Der moderne Kapitalismus« <1902> gegeben haben — einige unserer
besten Köpfe, ich nenne Max Weber, Ernst Troeltsch, Salz in Atem
hält. Hier sei nur von Sombarts neuem Buche die Rede, »Der
Bourgeois«, in dem er den Versuch macht, an Stelle der einzelnen
Kausalketten, die er in seinen vorher erschienenen Arbeiten »Luxus
und Kapitalismus«, »Heerwesen und Kapitaiismus«, zwecks Ver-
ständnis der kapitalistischen Lebensordnung verfolgte, eine Be-
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Max SaSefer, Der Bourgeois 583
Schreibung dieses »Geistes« zu geben und ein Gesamtgefüge der zu
ihm ruhrenden Kausalreihen zu entwickeln, in dem die früher bei ihm
so stark vermißte Frage nach der Art und dem Maße der Ab-
hängigkeit und Unabhängigkeit der Variabilität der einzelnen Reihen
eine bestimmte Antwort erhält.
Sombarts wundervoll aufgebautes Werk zerfällt in zwei Haupt«
teile, dessen erster der Beschreibung des Wesens und der Ent-
Wickelung des kapitalistischen Geistes, dessen zweiter der tieferen
und schwierigeren Frage nach seinen Quellen und Ursachen gewid-
met ist. Im ersten Teile scheidet er mit Fug und Recht zwei Haupt-
komponenten dieses »Geistes« : den (positiven) »Unternehmungsgeist«,
der das nach Macht, Herrschaft, Eroberung, Organisation vieler
Willen unter einen kühnen, energischen, auf Formung großer Massen
abzielenden rationalen Zweck gierige Element darstellt und den
(negativen) »Bürgergeist«, der im Gegensatz zum seigneuralen Geist
ein neues System von Tugenden und Wertschätzungen entwickelt,
ja bestimmte Weltbilder und metaphysisch-religiöse Systeme. Er ver-
folgt die nationalen Entfaltungsformen dieser beiden Elemente des
kapitalistischen Geistes und beschließt den ersten Teil mit einer über-
aus merkwürdigen Analyse des Bourgeois von »einst« und »jetzt«.
Im zweiten Teil, betitelt, »Quellen des kapitalistischen Geistes« sucht
er seine »biologischen Grundlagen«, ein Kapitel, in dem der kapi-
talistische Geist als der umfassende Ausdruck eines bestimmten Typus
Mensch erscheint, an dessen Konstitution die verschiedenen westeuro-
päischen Völker von Anfang an in verschiedenem Maße anteilnehmen ,•
es folgen als weitere »Quellen« »die sittlich-religiösen Mächte« des Ka-
tholizismus, Protestantismus und Judaismus, die »sozialen Umstände«,
die Wirksamkeit des modernen Staates, die Wanderungen, die Gold«
und Silberfunde, die Technik, die vorkapitalistischen Berufe, die bereits
fertigen kapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsformen selbst. Nach
dem gewaltigen Aufbau von Stoffmassen, mit denen Sombart spielend
operiert, nach dem Versuch, den Kapitalismus aus den tiefsten und
ältesten Wurzeln der europäischen Geschichte zu begreifen, nach der
furchtbaren Anklage gegen unsere Lebensformen, die — mit oder ohne
Wille des Verfassers ■— die 462 Seiten umfassende Darstellung ge-
worden ist, trotz des kühlen, nüchternen Tons in zehnter Potenz furcht-
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Max SSefer, Der Bourgeois
barer als alle Anklagen und alles Wutgebrull der herrschenden sozia-
listischen Parteien Buropas und ihrer Theoretiker zusammengenommen,
wirkt der l 1 ^ Seiten betragende »Ausblick auf die Zukunft«, der uns
wie durch eine ganz feine Ritze eine Aussicht auf die langsame Ver-
zappelung des Riesen »Kapitalismus« bringen soll, fast wie ein ironi-
ischer Scherz. Sombart durfte nichts hierüber sagen — oder viel mehr.
Wie es jetzt dasteht, wirken die drei Ursachen, die er als Todes*
keime des Kapitalismus ansieht — Verflachung im Rentnertum, Ver-
bureaukratisierung der Unternehmungen, Sinken des Geburtenüber-
schusses — im Verhältnis zu den vorher geschilderten Kräften, die
sein Wachstum und seine blühende Gesundheit hervorbrachten, ein
wenig gar zu disproportioniert: So, wie wenn man von der Mücke
auf der Nase eines Riesen dessen Tod erwartet!
Wichtiger als die Frage, ob Sombart die Natur und die Ursachen
des kapitalistischen Geistes richtig erkannte, wird — dies lehren schon
ältere Kritiken der neuen Problemstellung, die Sombart mit M. Weber,
Tröltsch und dem Verfasser teilt — auch diesmal wieder die Frage
sein, ob es so etwas wie einen »kapitalistischen Geist« als erste
Ursache der kapitalistischen Ordnung überhaupt gibt. Sowohl die
Vertreter der ökonomischen Geschichtsauffassung als — merkwürdiger-
weise — viele unserer tüchtigsten Historiker pflegen dies zu leugnen.
Jene sagen, es gäbe zwar einen »kapitalistischen Geist«, — aber dieser
sei eine bloße Folgeerscheinung der kapitalistischen, ökonomischen
Organisationsformen und der technischen Produktions formen, die sich
mit sachhafter Notwendigkeit aus den älteren entwickelt hätten.
Diese aber meinen, die typischen Motivationen des Wirtschaftsmenschen
seien in der Geschichte im Grunde immer dieselben gewesen, es hätte
z. B. stets Streben nach Reichtum über den standesgemäßen Unter-
halt hinaus gegeben, stets Erwerbs- und Arbeitstrieb über die Be-
dürfhisdeckung einer noch begrenzten Gemeinschaft hinaus etc. und
es gäbe hier nur teils Stärkenunterschiede, teils Unterschiede der
Verbreitung stärkerer Grade dieser Motive über größere Gruppen/
es habe immer den Gegensatz von Rechenhaftigkeit und Gefühlstra-
ditionalismus gegeben usw. Nicht die neuen Grundeinstellungen des
Trieblebens und das neue Ethos eines neuen Typus Mensch — wie wir
lieber sagen möchten als neuer »Geist« — hätten den Kapitalismus er-
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Max Sdßefer, Der Bourgeois 585
zeugt, sondern nur Faktoren wie Rüdewirkung der durch eine prinzipiell
gleichförmige Motivation sich bildenden ökonomischen Verhältnisse«
auf den Menschen, Fortschritte der Wissenschaft und Technik, steigendes
Wachstum der städtischen Bevölkerung usw. hätten das, was wir
Kapitalismus nennen, schließlich zur Kumulationswirkung gehabt.
Daß Sombart — zuerst in seinen Grundlagen des Kapitalismus —
mit diesen Ansichten gebrochen hat, erscheint uns als sein unbestreit-
barstes Verdienst. Die Vertreter der ökonomistischen Geschichts-
auffassung verwechseln das Problem des Ursprungs des Kapita-
lismus mit dem seiner jeweiligen Umformung und Fortbildung —
wie schon Sombart selbst und noch schärfer Max Weber hervor-
gehoben haben. Gewiß! Ist einmal die kapitalistische Unternehmungs-
form vorhanden und zur vorherrschenden geworden, so wachsen die
Menschen wie von selbst in dieses »Milieu« hinein/ sie müssen
zwangs sozial-wirtschaftlicher Notwendigkeit — auch wenn sie nicht
dem kapitalistischen Typus Mensch angehören — in derselben Rich-
tung mitmarschieren und werden außerdem durch Tradition seitens
der älteren Generation und durch die echten Angehörigen dieses
Typus auch mit der neuen Triebeinstellung seelisch angesteckt. In-
sofern vermitteln die kapitalistischen Organisationsformen die jeweilige
Fortdauer auch des kapitalistischen »Geistes«. Aber eine Frage ganz
anderer Ordnung ist der Ursprung dieser »Formen« selbst. So irrig
die Methode gewisser Sprachpsychologen ist, den Ursprung der
Sprache in Analogie mit den Ursachen ihrer Fortbildung verstehen
zu wollen, oder gewisser Biologen, den Ursprung einer pflanzlichen
Organisationsform in Analogie mit ihren Standortsvariationen, so
verkehrt ist es, den Ursprung des Kapitalismus in Analogie mit den
Ursachen seiner bloßen »Entwicklung« begreifen zu wollen. Der kapi-
talistische »Geist« kann auch bereits bestehen, ehe er sich in be-
stimmten »Formen« niederschlug. »B. Franklin war mit kapitalistischem
Geist erfüllt zu einer Zeit, wo sein Buchdruckerbetrieb der Form
nach sich in nichts von irgend einem Handwerksbetrieb unterschied«
<M. Weber). Auch kann der ursprüngliche »Geist«, der zum Kapi-
talismus führte, Intentionen ~ z. B. äußerst religiös transzendente
und spezifisch welthasserische — gehabt haben, die später im Fort-
geben des bloß sekundär, durch die schon bestehenden Formen des
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586 Max Sdefer, Der Bourgeois
Wirtschaftens reproduzierten »Geistes« völlig ausfielen. Erst all-
mählich beginnen wir die Rolle zu ahnen, die makroskopisch in der
Geschichte die Verdrängung von Ideenzusammenhängen und
Zielinhalten gehabt hat, deren ursprüngliche zugehörige Triebein-
Stellungen ohne jedes Bewußtsein ihres ursprünglichen Sinnes und
Inhaltes träge weiterschwingen — derselbe Vorgang, dessen Auf-
findung sieb mikroskopisch in der Psychopathologie des Individuums
so fruchtbar erwiesen hat. Ich bin überzeugt, daß eine ganze Reihe
von Baugesetzen der historischen Causalität, welche die ökonomische
Geschichtsauflassung als universal historisch gültig behauptet, für den
durdi den kapitalistischen Geist abgegrenzten Spielraum des histo-
rischen Seins und Geschehens volle Gültigkeit besitzt. Daß Klassen'
bildungen also Einheiten von Wirtschaftsinteressen erst sekundär
zu Standeseinheiten, Sitteneinheiten, Bildungseinheiten, politischen
Parteieinheiten, ja selbst in gewissem Maße zur Bildung von Na-
tionaleinheiten <s. deutscher Zollverein) führen/ daß Reichtum zu po-
litischer Macht führe,- daß Bevölkerungswachstum und Wohlhabenheit
im umgekehrten Verhältnis stehe und ökonomische Motive die Menge
und Art der Reproduktion in erster Linie bestimmen/ daß technisch-
ökonomische Anwendbarkeit von Erkenntnisresultaten — ganz jen-
seits der auf pure »Wahrheit« gerichteten Intention der einzelnen
Forscher — schon in Auswahlprinzipien, Denk-Formen und -Me-
thoden den Charakter der Wissenschaft und Weltanschauung der
modernen Welt bestimmt hat, usw. sind Regeln solcher Art. Aber
ich behaupte, daß der ganze Inbegriff von Gesetzmäßigkeiten dieser
Art durchaus keine universal historische Bedeutung besitzt, wie die
ökonomische Geschichtstheorie annimmt, sondern soweit und nur so-
weit gilt, als das Subjekt der Geschichte der Mensch von jener typi-
schen Erlebnis- und Triebkonstruktur ist, die Sombart als »kapi-
talistisch« bezeichnet. Für den Geschichtsverlauf des vorkapitalisti-
schen Menschen gelten aber diese Abhängigkeitsarten der Elemente
der historischen Wirklichkeit nicht/ ja bei einigen jener Sätze gerade-
zu die entgegengesetzten Regeln, z. B. daß durch Abstammung und
Tradition geeinter Stand sich auch bestimmte Rechts- und Bildungs-
formen erwirkt, vor allem aber zu einer gewissen qualitativen
und quantitativen Einheit und Gleichartigkeit des Besitzes, also zu
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einer Klassenbildung allererst hinführt. Eben darum ist auch alles
Erwerbsstreben des vorkapitalistischen Typus durch die Idee des
»standesgemäßen Unterhalts« bestimmt, abgemessen und be-
grenzt. Und ähnlich ist es hier die politische Machtstellung, die all-
überall schon die bloßen Spielräume und Möglichkeiten der Reichtums-
bildung beschränkt und bestimmt/ nicht aber der Reichtum die Macht
und deren Umfang. Der Grundherr drüdct unter Umständen seine
zinspflichtigen Bauern und beutet sie aus. Aber nicht durch seinen
Reichtum ist er Grundherr geworden, so wie z. B. später vor der
Revolution die französische Roture, die sich vermöge ihres Geldes
der Güter, Titel und Würden des alten französischen Adels be-
mächtigt. Es sind also überall die politischen Standesvorrechte die
den Reichtum im Gefolge haben oder haben können, nicht um-
gekehrt dieser jene wie unter der Herrschaft des »kapitalistischen
Geistes«.
Nur in anderer Richtung verkennen einige Historiker die Eigen-
art des Problems. Sie sehen vor den Bäumen den Wald nicht, vor
der Fülle der Einzelerscheinungen nicht die Umrißlinien des Ganzen,
sehen nicht die Struktur des neuen Ethos, auch als neuer Wirtschafts-
gesinnung. Selbst gebunden durch die kategoriale Struktur des Er-
lebens, die in ihrem eigenen Zeitalter die Herrschaft führt, vermögen
sie sich nicht wahrhaft in den Typus des vorkapitalistischen Menschen
einzuleben. Und da sie diesen verkennen, so können sie auch die
Eigenart des kapitalistischen Typus nicht klar sehen. Darum über-
sehen sie an erster Stelle, daß die Wandlung der herrschenden Ideale
und Wunschbilder weit wesentlicher ist als jene der historischen Vor-
gangswirklichkeit. Gewiß hat es auch in vorkapitalistischer Zeit Ein-
zelne, ja ganze Gruppen gegeben deren Erwerbstrieb über die Idee
des standesgemäßen Unterhaltes hinausging. Aber die Hauptsache ist,
daß dies nicht als normal und rechtmäßig, sondern als eine abnorme
Erscheinung allgemein empfunden wurde und daß die betreffenden
selbst im schrankenlosen Erwerb nicht eine »heilige Pflicht« sahen, son-
dern nur mit »schlechtem Gewissen« sich diesem Trieb hingaben. Das
Neue ist eben, daß dies Abnorme zum Normalen wird, und daß
es mit »gutem Gewissen«, ja mit der Sanktion einer »Verpflichtung« um-
kleidet betrieben wird. Daß also z. B. das, was jüdisches Recht und Ge-
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Max SaSefer, Der Bourgeois
setz nur dem Juden, und audi ihm nicht überhaupt, sondern nur dem
Fremden gegenüber erlaubt, <Zinsnehmen und Reklame etc> allge-
meine Einrichtung wird, daß das, was ursprünglich nur den heimatfernen,
traditionsentlasteten Kolonisten gegen die ihm gleichgültigen Fremden
beseelt, das, was den Ketzer gegen die verhaßte kirchliche Gemeinschaft,
zur allgemeinen Regel wird, daß überall »Fremdenrecht« und »Frem-
denmoral c zum herrschenden und zentralen Recht und zur anerkannten
Schätzungsweise wird, — darin ist die Grundtendenz des Wandels der
» Wirtschaftsgesinnung« zu sehen. F. Tönnies hat zuerst die tiefgreifende
Scheidung zwischen aufTreu und Glauben verbundener »Gemeinschaft«:,
die allen Gruppengliedern als Ganzes fühlbar einwohnt, in der Ver-
trauen und Solidarität herrscht, und »Gesellschaftc gemacht, in der
von prinzipiellen Mißtrauen beseelte, miteinander konkurrierende, ratio-
nale Subjekte ihre Interessengegensätze durch Verträge ausgleichen.
Ich habe gezeigt, daß die letzte philosophische Fundierung dieses
Unterschiedes schon auf der grundverschiedenen Gegebenheit des
seelischen Seins und Erlebens des »Anderen« beruht. In Gemein-
schaft ist der Andere mit seinem inneren Leben in Gestus und
Äußerung selbst wahrnehmungsmäßig da und gegeben, all sein Tun
und Sichäußern wird aus der bekannten Gesinnung heraus un-
mittelbar verstanden, so lange nicht besondere Enttäuschungen vor-
liegen. In der »Gesellschaft« ist der Andere zunächst von außen
gesehen, ist ein sich verändernder Körper, »hinter« dem Gedanken,
Gefühle, Entschlüsse wohnen, die erst mühsam zu erschließen
sind. Der »Hintergedanke« wird hier zur Form des Gedankens über-
haupt. Und das ist nun vielleicht die allgemeinste Formel für die
Umgestaltung der Wirtschaftsgesinnung, daß die in diesem Sinne
»gesellschaftlichen« Wertschätzungen immer tiefer auch in die
»Gemeinschaften« eindringen oder »Gemeinschaftsgeist« immer mehr
durch »Gesellschaftsgeist« innerlich zersetzt und aufgelöst wird.
Ebensowenig aber beachten jene Historiker, welche eine besondere
neuartige kapitalistische Wirtschaftsgesinnung leugnen, daß jenes nicht
durch den standesgemäßen Unterhalt begrenzte vorkapitalistische
Erwerbsstreben, das sich zweifellos findet, in dieser Zeit ge-
rade gezwungen war, irreguläre, dem eigentlichen Wirtschaftsleben
nicht zugehörige Bahnen einzuschlagen. Phantastische Projekten-
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Max Saßeftr, Der Bourgeois
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589
macherei, Schatz« und Goldsucherei, alchymistische Bestrebungen, syste-
matisch unternommene Raubzugunternehmungen, Spiel und Aus-
beutung des Aberglaubens — kurz lauter Bestrebungen, die neben
dem normalen Wirtschaftsleben einherliefen, waren damals die einzig
möglichen Bahnen, in die sich unter der Herrschaft der vorkapitali-
stischen Wirtschaftsgesinnung jene Art von Erwerbstrieb ergießen konnte.
Und darin besteht nun das Neue, daß sich im Laufe der Anbahnung
der kapitalistischen Organisations« und Rechtsformen eben die Trieb-
einstellung, die früher nur in dunklen Gassen und abseits von der Heeres-
straße des Lebens sich abenteuerlich auszuwirken vermochte, zur
beherrschenden Seele des regelmäßigen Wirtschaftslebens wurde/
ja, daß die zu solcher Betätigung nötigen menschlichen Eigenschaften
die Sanktion der Moral und des Rechtes, ja selbst der Religionen und
Kirchen erhielten. Daß dazu nun triebartig wird, ja suchtartig, was vor-
her noch auf Grund von besonderen Luxus- und Wohllebensinteressen
von einzelnen ausdrücklich und bewußt gewollt und geplant war/ daß es
weiter unabhängig von den besonderen Individualcharakteren, die in
die Gruppen eintreten, zur Struktur des die Einzelnen umfassenden
Gesamtgeistes wird,- daß es auch Weltanschauung und Wissen-
schaft bestimmt, indem es die vorwiegend auf Qualitäten gehende
contemplative Erkenntniseinstellung der mittelalterlich-antiken Welt-
anschauung in die quantifizierende, rechnende Einstellung verwandelt —
ohne Ahnung der forschenden Individuen — : Das alles macht die tiefe
Totalwendung aus. In all dem handelt es sich nicht um ein bloß
graduelles Mehr oder Weniger des Erwerbsstrebens — etwa durch
die steigende Übervölkerung der Städte hervorgerufen — sondern um
das Inkrafttreten neuer Motivations strukturen des wirtschaftlichen
Handelns, die gegen die älteren eine pure Umkehrung darstellen.
Es ist kein Gradunterschied, ob die Richtung der Motivation des
Händlers — wie schon K. Marx gesehen — Ware -Geld -Ware oder
Geld-Ware-Geld ist/ ob — wie ich anderenorts gezeigt — die Lebens-
werte den Nutzwerten in jeder konkreten praktischen Sphäre, in
Straf- und Zivilrecht, übergeordnet werden oder prinzipiell unterge-
ordnet werden, wie im Zeitalter des Kapitalismus, so daß schließlich
auch Grund und Boden, Menschenarbeit und geistige Güter aller
Art den Warencharakter annehmen. So wie die neue quantifizierende
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590 Max SaSefer, Det Bourgeois
Wissenschaft, »im Gegensätze zu der antiken Trennung der arbeiten-
den Hand von dem wissenschaftlichen Geiste, die schöpferische
Verbindung der Industriearbeit mit dem wissenschaftlichem Nach-
denken« <W. Dilthey), nicht eine Fortbildung der der qualitativ-
organologischen Weltansicht des Mittelalters und der Antike darstellt,
sondern einen schroffen Bruch mit ihr, so auch die neue Wirtschafts-
und Arbeitsgesinnung, die mit jener eine strenge innere Stileinheit
darstellt. Die Galilei, Lionardo, Benedetti, Ubaldi, welche die neue
Dynamik der antiken Statik hinzufügen, knüpfen überall an Auf*
gaben der Festungstechnik, der Schiffahrt, des Städtebaus, der Schiffs-
konstruktion und Schiffsausrüstung an. Nicht eine nachträgliche »An-
wendung« rein spekulativ gewonnenes Naturerkenntnis ist darum auch
die neue Technik/ sondern diese Erkenntnisart mit ihrem Ziel auf die
»undae quantitates« ist selbst bereits aus dem neuen Bürgergeiste
geboren und in ihren Kategorien bereits durch den neuen Willen zur
Herrschaft über die Natur bestimmt. Wohl »meinten« die Forscher-
individuen nur der »Wahrheit« zu dienen. Aber ihre intellektuelle
Organisation selbst, die Kategorien, in denen sie beobachteten und
forschten, waren bereits durch eben den Geist der Rechenhaftigkeit be-
stimmt, der sich im neuen kaufmännischen Hauptbuche seine Form
gegeben hatte. Wie stark die irreführende Neigung vieler Historiker
ist, auf ein mangelndes Können zu schieben, was faktisch einem
grundverschiedenen Willen und einer neuen Gesinnung entspricht,
zeigt Sombart — der diese Neigung so scharf bekämpft — selbst
an zwei Stellen seines Werkes. So fuhrt er einmal die mannigfachen
Fehler und Ungenauigkeiten der vorkapitalistischen kaufmännischen
Rechnungsbücher ganz ernstlich auf mangelhafte Rechenkunst der Be-
teiligten zurück/ die nach Keutgen bestehende Lückenhaftigkeit vieler
mittelalterlicher Stadtgesetze auf die zu geringe rationelle Denkfähig-
keit. Wer sähe aber nicht, daß die erste Erscheinung einfach auf
der größeren Gleichgültigkeit gegen genaue zahlenmäßige Be*
Stimmungen, aus der Einstellung auf die noch qualitativ umgrenzten
Hauptposten beruht/ die zweite aber darauf, daß prinzipiell die
ganze Gesetzgebung nur als eine Erfüllung der Lücken dessen galt,
was nicht schon durch Gemeinschafts-Sitte, Tradition, Treu und
Glauben als geregelt galt? Es ist immer wieder derselbe geschichts-
Max Sdüe/er, Der Bourgeois
591
philosophische Grundfehler, in den unsere Moral-, Rechts-, Kunst-
Wirtschaftsgeschichte so ungemein leicht verfällt: die geschichtlichen
Tatsachen bereits auf unsere kapitalistische Geistesstruktur, ihre
Maßstäbe und Ideale zu beziehen und ein »Nichtkönnen« da zu sehen,
wo ein anderesWollen, eine andere Gesinnung, ein anderes Ethos,
vorlag. Immer noch ist es der heimliche Glaube unserer »Gebildeten«,
daß z. B. die Griechen eine Produktionstechnik und eine auf Maß und
Zahl aufgebaute naturbestimmende Wissenschaft in unserem Sinne
nur darum nicht besaßen, weil sie eben noch »nicht so weit waren«.
Was faktisch ein Nichtwollen war — selbstverständlich gegenüber
einer Gott und vernunftdurchdrungenen Welt, einem »Kosmos«, der
Liebe, Anschauung, Verehrung allein fordern konnte — hält man
auch hier für ein Nichtkönnen. Aber erst die Bntgottung, Bntseelung
und Entwertung der Natur und Welt, welche der hyperdualistische,
Gott und Welt, — Seele und Körper auseinander reißende, pro-
testantische Geist der Neuzeit bewirkte, der neue Welt- und Qualitäten-
haß, der ihn mehr wie eine neue Gottesliebe regierte, konnte die
Natur als die träge Massenhaftigkeit sehen, die man durch formende
Arbeit erst zu einem Wohngebäude für Menschen einzurichten habe.
Dies Beispiel diene für viele.
IL
In dem deskriptiven Teile seines Werkes stellt Sombart das
Wesen des Unternehmungsgeistes und des Bürgergeistes in getrennten
Abschnitten dar. Das psychologische und das genetische Verhältnis
der beiden Grundkomponenten des kapitalistischen Geistes bildet
ohne Zweifel die tiefste Schwierigkeit, die sich der Losung des Prob-
lems entgegenstellt. Schon indem Sombart sein Buch »Der Bour-
geois« betitelt, zeigt er, daß es der Bürgergeist ist, dem er das
genetische Primat in der Bildung des kapitalistischen Geistes einräumt.
Was für diese seine Auflassung spricht, ist vor allem die Frage,
wie sich die positiven, kraftvollen, weite Pläne fassenden und erwä-
genden, kühnen und organisationsschaffenden Naturen, die sich zur
»Unternehmung« großen Stils als geeignet erwiesen, gerade dem Wirt-
schaftsleben und zwar in seiner normalen Breite zuwandten, ihre
Kräfte gerade darein ergossen. Denn eben darin liegt die Paradoxie des
AI
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592
Kapitalismus, daß Mens dien der genannten, biologisch und geistig hoch»
wertigen Eigenschaften, die sicher nicht von Hause aus zur Betätigung
im wirtschaftlichen Erwerbsleben drängen, hier die Führer des Wirt-
schaftslebens werden. Der Krieg, der Staatsdienst, der Kirchendienst,
die koloniale Unternehmung, eventuell Straßenraub, Piraterei und ähn-
liches, das »liegt« doch von Hause aus dieser Geistesart viel näher als
Gewerbe, Handel, Industrie, das bietet ein weit adäquateres Feld ihrer
Kraftbetätigung. Wieso flössen diese Kräfte in das Wirtschaftsleben?
Wieso kam es, daß sie diesem in der Antike und im frühen Mittelalter
verachtetsten Zweig der menschlichen Betätigung ihre heiße, große, stür-
mische Seele gaben? Wieso wurde der heldische und geniale Menschen-
typus auf ein Gebiet gedrängt, dessen Wesen nüchterne, kontinuierliche
Arbeit und Rechnung ist? Man kann auch sagen : Wieso wurde das pure
Wachstum des Geschäftes und der Unternehmung — das doch ursprüng-
lich ganz zur Sphäre der Privatinteressen gehört — mit einer rein-
sachlichen Hingabe und mit einer auf Unterhalt und Bedarf nicht mehr
bezogenen genialen Hastigkeit ergriffen, die ihrer eigensten Natur nach
nur überindividuellen Werten, dem Staate, der Religion, dem Glauben,
dem Kriege für das Vaterland, der Wissenschaft und Kunst sich zuzu-
wenden pflegen und sich früher auch nur ihnen zuwandten? Daß man
sein Leben und seine Kräfte für Staat und Land, für den geglaubten
Gott, für Kunst und Wissenschaft aufreibe, das ist natürlich und sinn-
voll. Aber wieso konnte an die Stelle dieser Dinge der neue, der
»kapitalistische« Heroismus für das »Geschäft« und sein Wachstum
treten? Man kann sich nur denken, daß diese Kräfte, die einmal vor-
handen nach Betätigung verlangten, zwangsläufig sich dem neuen
Felde zuwandten, und dies darum, da die bereits vom Bürgergeiste
langsam umgeformte Ordnung der Gesellschaft, ihre neue Moral, ihr
neues Rechtsbewußtsein usw. die Erfassung adäquaterer Gebiete
ausschloß, ja diese zum Teil als Qbel und Verbrechen brandmarkte
und sie eben damit zwang, auf dem Boden der neuen wirtschaft-
lichen Ziele der Dampf für den neuen Fortschritt zu werden.
Die alten Kräfte hatten ihre »Moral« verloren und die neue
Bürgermoral nahm sie in ihre Dienste und spannte sie an ihren
Wagen. Nicht also der Unternehmungsgeist, die heroische Kompo-
nente im Kapitalismus, nicht der »Königliche Kaufmann« und Organi-
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Max SaUftr. Der Bourgeois 593
sator, sondern der ressentiment erfüllte Kleinbürger, der nadi größter
Lebenssekurität und Berechenbarkeit seines angsterfüllten Lebens durstet
und das von Sombart so trefflich geschilderte neue bürgerliche Tugend-
und Wertsystem ausbildet, schritt in der Bildung des kapitalistischen
Geistes voran. Gewiß kommt alle quantitative Größe, aller Macht-
hunger über die Natur und ihre Kräfte, all die Bewältigung neuer,
großer Massen durch organisatorischen Willen, stammt die ganze
wilde Schönheit der kapitalistischen Welt, gleichsam die Saekulari-
sierung der religiösen und Machtromantik zur technischen und Utili-
tätsromantik nicht aus dem »Bürgergeiste«. Er allein hätte nimmer
den Kapitalismus erzeugt. Und es wäre ein Mißverständnis des
Sombartschen Buches, wenn man aus dem in dieser Hinsicht ein-
seitigen Titel »Der Bourgeois« dieses als seine Meinung folgern
wollte. Der Bürgergeist, für sich genommen, strebt zur wohlgepflegten
Herde und ist im Kerne auch wirtschaftlich unfruchtbar. Wer aber
darum sagen wollte, daß die Träger des »Unternehmungsgeistes,« der
neue Herrschaftswille über die Natur, daß mit einem Worte die
geistig, ethisch und biologisch aktiven, positiven, die — mit Max
Weber zu reden — das »Heldenzeitalter des Frühkapitalismus« be-
gründenden Kräfte voranschreitend die kapitalistische Ordnung ent-
wickelt hätten, der gibt auf die obengestellte Frage keine Antwort.
Auch die geistvolle Wendung W. Rathenaus, der die Gesamt-
erscheinung vom geistigen Standort des Unternehmers ansieht, es
sei gar nicht zu fragen, wie der Staatsmann zum rechnenden Bour-
geois und geschäftlichen Unterhändler für die besitzende Klasse ge-
worden sei, sondern wie sich langsam der Gewerbetreibende und
Kaufmann mit einer Art staatsmännischer Gesinnung gegenüber seinem
Geschäfte und Unternehmen erfüllt habe und dieses wie ein selbst-
ständig wachsendes uns forderndes Wesen ansehen gelernt habe, gibt
die Antwort nicht. Der Staat ist eben faktisch eine überindividuelle Wirk-
lichkeit/ das Geschäft — wie groß es immer sei und wie vieler Men-
schen Interessen an seinem Bestände und seinem Gedeihen teilnehmen —
ist es nicht und es heißt, einer Illusion und Fiktion dienen, es also
zu behandeln. Wie kam es zum Dienste an dieser »Fiktion?« Daß
die wesendichen Fortschrittsphasen innerhalb der Geschichte des
Kapitalismus an den Unternehmertypus geknüpft sind — das freilich
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594 Max SaSefer, Der Bourgeois
duldet gar keinen Zweifel. Audi die Führung in den ursprünglichsten
größeren Leistungen des Frühkapitalismus hatte stets dieser Typus
und nicht der sparende, sein Gewerbe, Handwerk oder kleines Kauf«
geschäft langsam erweiternde Kleinbürger, wie der Florentiner Woll-
händler, die englischen tradesmen, die französischen marchands, die
jüdischen Schnittwarenhändler oder gar die Seif made men im Stile
von Ohnets »Hüttenbesitzer«, die »bekannten Knoten der ersten
Generation«, wie sie Sombart nennt. Es ist selbst nur eine liberal-
kleinbürgerlich-spießige Geschichtskonstruktion, welche diesen Typus
und den Übergang des kleinen Handels und Handwerkskapitals in
Produktionskapital in den Vordergrund stellt, um dann über das
furchtbare, exzessive Naturphänomen des Kapitalismus die »sittliche
Weihe« einer durch »Treue, Fleiß und Sparsamkeit« entstandenen
normalen geschichtlichen Kumulationserscheinung auszugießen» in deren
Werden alles gemäß der »sittlichen Weltordnung« zugegangen sei/ der
Brave belohnt und der Böse bestraft wurde. Aber eine andere Frage
als die nach den Fortschritten und ursprünglichen Leistungen ist die
Frage nach dem Geiste und der Geistesart, durch die jene Leistungen
möglich wurden. Und hierin eben ging der »Bürgergeist« voran. Es
ist darum besonders erfreulich, daß Sombart besonders im sechsten und
siebenten Kapitel seines Budies die Übergangserscheinungen, die
von den älteren Auswirkungsformen des kühnen, kraftvollen Unter-
nehmungsgeistes in die neuen eigentlich kapitalistischen herüberführen,
einer eingehenden Betrachtung unterwirft. Solche sind ihm besonders
die Söldnerfuhrer und die Bandenführer der italienischen Renaissance,
in denen der Erwerbszweck der »Unternehmung« freilich noch durch
Ruhmgier in Schranken gehalten ist, denen aber schon durch die Aufgabe
der Fürsorge für die Bande zum Teil ähnliche Aufgaben obliegen,
wie dem kapitalistischen Unternehmer. Innerhalb der Grundherrschaft
und den italienischen Tyranneien des Trecento und Quattrocento, in
denen der moderne Staat, absolutes Fürstentum, berechnende und
allseitige Organisation großer Massen für bestimmte Zwecke — ohne
moralische Hemmung — geboren sind, bilden sich gleichfalls die großen
Kräfte der Organisation und Herrschaftskunst über Menschen zu
rationellen Zwecken aus. Überall bildet der zusammengesetzte Typus
von Kriegsmann und Erwerbsmensch den Übergang. Mit Verwun-
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Max Sdüefer, Der Bourgeois 595
derung hören wir die Zahlen der Freibeuter, Seeräuber, Entdeckungs-
fahrtunternehmer mit Erwerbszwecken, die es bis ins 17. Jahrhundert
in Italien, Frankreich, England, selbst Deutschland gab, Typen, die
ganz allmählich in die italienischen Handelsgesellschaften und in die
großen Handelskompagnien des 16. und 17. Jahrhunderts ubergehen.
Ganz im Sinne des oben Gesagten gewahren wir an der Spitze der
holländischen Faktoreien und der ostindischen Kompagnien und der
englisch-ostindischen Kompagnie eine Menge Angehörige des Adels,
»denen sich hier ein Ersatz bieten mochte für die verminderte Tätig»
keit des Berufekriegers im Heimadande«. Freibeutergeist erfüllt alle
diese Unternehmungen, die später bekanntlich zum Ausgangspunkt auch
großer politischer Machterweiterungen geworden sind. Es folgen als
neue Typen die Feudalherrn, die häufig in Verbindung mit bürgerlichen
Geldmännern an ihre ursprünglich nur der Bedarfedeckung und dem
seigneuralen Luxus dienende Grundherrschaften Industrien angliedern
und ihre Wirtschaft allmählich zu einer Erwerbs Wirtschaft ausgestalten.
Die innigste Verbindung von Feudalismus mit moderner Erwerbsgier
zeigen die auf die Negersklaverei begründeten Plantagenbesitzer der
Südstaaten Nordamerikas. Der Fürst und der Staatsbeamte mer-
kantilistischer Färbung, der den Staat zum Vertreter der Ware
macht (reinster Typ Colbert) gehen überall weit hinaus über die
noch stark mit traditionalistischem Geist erfüllte Kaufmannschaft und
werden deren Vorbild. Gustav Wasa, Colbert, Friedrich d. Große,
Frh. v. Heinitz entsprechen diesem Typ, wobei die absolute Fürsten-
gewalt allein schon die Gefahr einer zu großen Bureaukratisierung
ausschloß und das unternehmerische Vorgehen leicht, schmiegsam,
beweglich gestaltete. Gegen das Ende des 17. Jahrhunderts gesellt
sich zu diesen Unternehmertypen ein Heer von Spekulanten, in denen
sich Projektenmacherei und Unternehmungsgeist verbinden (Südsee-
schwindel in England, Lawsches System in Frankreich) und die die
Spielwut der Menge gewaltig anstacheln.
Die Anfange des Bürgergeistes findet Sombart in Florenz um die
Wende des 14. Jahrhunderts. Sein typischer, menschlicher und litera-
rischer Ausdruck ist ihm L. B. Alberti, der in seinen Büchern Del
governo della famiglia alles das schon gesagt haben soll, was später
Defoe und B. Franklin <- der seit langem als der »Heiligec des Bürger-
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596 Max Saoefer, Der Bourgeois
geistes gelten darf — auf englisch gesagt haben. Sombart fuhrt den
»Bürgergeist« in letzter Linie auf einen biopsydiisdien Typus zurück,
der nur auf Grund der Blutmischung verstanden werden kann. Ge«
rade an dieser gefahrlichsten, dem Angriff derer, die »wahr« und
»beweisbar« für identisch halten, offenliegendsten Stelle seines Wer*
kes, müssen wir ihm prinzipielle Zustimmung zollen. Wer mit vielen
Grundtypen des Menschentums vertraut und feste, klare Bilder von
diesen in seinem Geiste die seelische Einheit eben dieses Typus in
allen seinen Lebensäußerungen einmal geschaut und gefühlt hat, der
wird sich durch niemanden aufschwatzen lassen, daß hier ein Werk
des »Milieu«, der »Erziehung«, der Anpassung und Gewohnheit
vorliege. Aber das muß auch wohl Sombart zugestehen, daß er einen
strengen Beweis für diese These nicht geführt hat. Was ist nun
aber dieses sonderbare Naturspiel des Menschen, das Sombart
»Bourgeois« nennt? Man hat in neuester Zeit auf verschiedene
Weisen versucht, zwei Typen zu scheiden, unter deren eine sicher
auch der Bourgeois fällt. H. Bergson scheidet den »homme ouvert«
von dem »homme clos«, W. Rathenau den »Mutmenschen« vom
»Furchtmenschen«, W. James den aus einem Bewußtsein des Über*
flusses von Leben, Geist, Kraft entspringenden Typus der »Selbst«
hingäbe« von dem Typus der »Selbstbeherrschung«. Sombart, der
die beiden Typen mit ihrer besonderen Ausdrucksform innerhalb des
Wirtschaftslebens allzusehr gleichsetzt, spricht von verschwenderischen
oder seigneuralen und haushälterischen oder bourgeoisen Naturen/
solchen, deren Wesen luxuria oder avaritia ist, solche, die wesendidi
»herausgeben« und solche, die wesentlich »hereinnehmen«. Keine der
genannten Begriffsbestimmungen erschöpft den Kern dieses nur an*
schau* und fühlbaren Wesensgegensatzes/ jede ist in ihrer Art rieh«
tig. In unendlich vielen Beziehungen spricht sich dieser Wesensgegen«
satz aus. Der erste Typus liebt das Wagnis und die Gefahr, hat
das unreflektierte Selbstwertgefühl, das in Liebe zur Welt und der
Fülle ihrer Qualitäten von selbst überströmt und alles neidische oder
eifersüchtige Sichvergleichen mit anderen fernhält/ »sorgt« sich nicht
für sich und die Seinen, nimmt das Leben leicht und läßt leben und
nimmt nur ernst, was die Personsphäre der Menschen berührt/ er
hat das große, unbegründete Vertrauen zu Sein und Leben, das alle
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Max SScfer, Der Bourgeois 597
apriori kritische, mißtrauische Haltung ausschließt/ ist kühn, Opfer*
freudig, large in allen Dingen und wertet die Menschen nach ihrem
Sein und nicht nach ihrer nutzlichen Leistung für die Allgemeinheit.
Der zweite Typus lebt von vornherein unter dem natürlichen Angst»
druck des minderwertigen Vitaltypus, der ihn Gefahr und Wagnis
scheuen läßt/ der den Geist des Sichsorgens, damit die Sucht nach
Sicherheit und Garantie in allen Dingen, nach Regelhafiigkeit und Be-
rechnung aller Dinge gebiert/ er muß sich selbst sein Sein und seinen
Wert verdienen, sich durch Leistung sich selbst beweisen, da eben
in jenem Zentrum der Seele Leere ist, wo im anderen Typus die Fülle
ist/ an Stelle der Liebe zur Welt und ihrer Fülle tritt die Sorge, mit
ihr, der Feindlichen, fertig zu werden, sie quantitativ zu bestimmen,
sie nach Zwecken zu ordnen und zu formen. Wo jener gönnt und
leben läßt, da vergleicht dieser und will übertreffen. Seine Herrschaft
wird zum System schrankenloser Konkurrenz führen und zum Fort-
Schrittsgedanken, in denen nur das Mehrsein über einen Vergleichsfall
(Mensch oder Lebens- oder Geschichtsphase) hinaus als Wert überhaupt
empfunden wird. Wo jener schaut und kontempliert oder in sachhaften
Willensakten sich verlierend aufgeht, da wird dieser sorgen und
rechnen, über die Mittel die Eigenwerte der Ziele, über die Be-
ziehungen das Wesen der Sachen vergessen. Wo jener seiner Natur
und ihrer inneren Harmonie vertraut, wird jener mißtrauisch gegen
sein Triebleben ein System von Sicherungen errichten, durch das er
sich beherrscht und züchtigt. Auch das scheidet: »Der Eine fragt,
was kommt darnach/ der andere, was ist recht/ so aber unterscheidet
sich der Freie von dem Knechte <Storm>. Noch viel wäre über die-
sen Gegensatz zu sagen und doch nichts Erschöpfendes. Er muß
erschaut und gefühlt sein. Nicht folgen können wir Sombart, wenn
er diesen Gegensatz — hier offenbar von Freuds Theorien berührt —
in letzter Linie auf Gegensätze des geschlechtlichen Liebeslebens
zurückführt. Gewiß ist der Bourgeois auch das Gegenstück einer
»erotischen Natur«, wenn man mit »erotisch« hier das alle ge-
schlechtliche Scheidung weit überragende und viel ursprünglichere
Moment der emotionalen Hingabe an Werte überhaupt <Welt,
Gott, Vaterland, Schönheit usw.) versteht. Aber, daß sich diese zen-
trale Typenverschiedenheit nun auch im Geschlechtsleben ausspricht,
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598
Max SaSefer, Der Bourgeois
der Mann, für den die Frauen etwas bedeuten, meist auch einen Zug zur
wirtschaftlichen Verschwendung hat, der Geizige meist auch geschlecht«
lieh wenig reizbar ist, das erscheint doch mehr als eine nebensächliche
und untergeordnete Folge dieses umfassenden Konstitutionsunter-
schiedes als seine Ursache. Die mehr als fragwürdige Freudsche
Lehre, wonach alle Arten von Liebe bloße » Ausstrahlungen « der
libido sind, hätte Sombart nicht voraussetzen sollen. Außerdem finde
ich, daß Sombart seinen Bürger weit besser und schärfer zeichnet
als seinen Seigneur, dem er oft Züge verleiht, die diesem Typus
erst angehören, wenn er verlumpt und sozial überflüssig wird. Som-
bart möge doch gerade hier nicht vergessen, daß gerade die nicht
mehr auf edle Lebensqualitäten gehende, liebegeleitete, sondern
bloß auf den Sinnesgenuß bei vielen Weibern oder auf Geld und
Besitz abzielende (Geldheirat, deren Bedeutung er selbst in seinem
Luxus und Kapitalismus so klar hervorhob!) Vermischung des seig-
neuralen Typus mit dem Bürgertypus ohne Zweifel eine Haupt-
ursache zum Sieg des Bourgeoistypus und zum Untergang des
seigneuralen Typus darstellt. Gerade die wahllose und von der
Bewegung des Gesamtgemütes losgelöste gesteigerte Geschlechts-
sinnlichkeit ist eine spezifisch bourgeoise Erscheinung, wie sehr
auch die Bürgermoral sie nur mit »schlechtem Gewissen« und darum
heimlich und in dunklen Winkeln sich betätigen läßt. Eine Welt
scheidet die seigneurale, helläugige, vornehme und ritterliche Liebes-
emotion der Provencer Dichter und des Minnesangs von der ver-
künstelten Sinnlichkeit des 18. Jahrhunderts in Frankreich, wo auch der
Adel bereits mit der bourgeoisen Roture und ihren Instinkten völlig
durchsetzt ist. Der Dualismus von »Denken« und »Sinnlichkeit«, der
Ausfall der sie verbindenden Sphäre von Leidenschaft und tiefer
Gemütsbewegung ist überall und auch hier ein echt bürgerliches Phä-
nomen. Zu der Aufdeckung des Bürgergeistes in Albertis Familien-
büchern hat Sombart einen in mehr als einer Hinsicht wertvollen
Schritt getan. Zunächst ist hierdurch der Beweis erbracht, daß die
neue Bürgermoral nicht erst auf protestantisch-calvinistischem Boden
entstanden ist/ eine Tatsache, die schon durch die frühe Ausbildung
des Kapitalismus in Florenz und Oberitalien erwartet werden konnte.
Alberti zuerst erklärt ganz offen die Sparsamkeit nicht für eine Not-
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599
wendigkeit für die Armen, als die sie stets galt, nicht für eine Tugend
im Sinne der christlichen Askese, im Sinne der »freiwilligen Armut«,
sondern als eine Tugend für die Rei dien. Was wir selbst anderenorts
als eine der Haupttriebkräfte der modernen Bürgermoral — nicht der
christlichen, wie Nietzsche irrig meinte — im einzelnen aufwiesen,
das Ressentiment — hier Ressentiment gegen den seigneuralen
Lebensstil — ist nach Sombart »der Grundzug in den Familienbüchern
Albertis«. Aus kindischem Haß gegen die Signori gewinnt er seine
Maximen. Und in ekelhaftester Weise fälscht der Irreligiöse und zugleich
Kurientreue dabei die chrisdichen Werte herab, indem er den der
Befreiung des Geistes dienenden christlich-asketischen Regeln (Keusch-
heit, Einfachheit der Lebensweise usw.), geboren aus tiefstem inne-
ren Reichtumsgefuhl und ritterlichster Haltung gegen die »Neigungen«
überall die gemeinen militärischen Zwecke seines Wollwebersinnes
unterschiebt. Gefolgschaften, wie sie der Seigneur liebte, sind ihm
»schlimmer als wilde Bestien«. Die Sparsamkeit ist ihm eine »heilige«
Tugend! Die Umwertung der christlichen Tugenden in die Utilitäts-
moral, die Ausgießung des sie tragenden Pathos auf die neuen
Krämermaximen erscheint hier in so naiver und so grotesker Gestalt,
daß man sie — hier einmal gesehen — auch in den verstecktesten
späteren Formen immer wieder erkennen wird. Die Maximen, unter
denen der Kaufmann gute Geschäfte macht <»Ehrlich währt am
längsten«, Zuverlässigkeit in der Einhaltung von Verträgen, »reelle«
Bedienung, kredithebende bürgerliche Wohlanständigkeit, onestä, hone-
tete, honesty, die Geschäftsmaxime der »Solidität«, deren zugehörige
Inbegriffe von Handlungen), die auch solchen echter Tugend irgendwie
äußerlich gleichen können, werden jetzt — zu Tugenden umgelogen. Von
diesem ersten Anfang der Verschiebung und Umkehrung aller sonst in
der Geschichte geltenden Lebenswerte an verfolgt Sombart den Wandel
der fuhrenden Lebensideale des jeweilig herrschenden Typus des Bour-
geois bis zum »modernen Wirtschaftsmenschen« unserer Tage. Im
»Bourgeois alten Stils« behielt die vorkapitalistische Vorstellung, daß
Wirtschaft dem Wohle des Menschen diene noch eine gewisse Gültig-
keit. Noch fuhrt das »Rentnerideal,« führen in der Ferne fühlbare
Ziele, zu denen Erwerb und Reichtum dienen soll, ihre Herrschaft.
Die modernen Unternehmer aber sagen übereinstimmend auch das
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600
Max ScBefer, Der Bourgeois
Gegenteil von diesem »Ideale« aus. Ihnen ist Blüte, Wachstum des
Geschäfts als eines selbständigen Wesens, ist die Steigerung der
Überschüsse so Selbstzweck geworden, daß dadurch jede Rückbezie-
hung auf Menschenwohl und -wehe <mit Einschluß ihres eigenen)
völlig verschwindet. Der Unternehmer folgt oft wider Willen der Ex*
pansionstendenz der Unternehmung, des »Geschäfts«. Mit vollem Recht
hebt Sombart das hilflos Monomanische in den Antworten hervor,
die Leute wie Carnegie, Rockefeller, Dr. Strausberg auf die Frage,
warum sie das alles taten, gaben. Ein hier fragender Sokrates könnte
die Antworten in der Tat nur als Zeichen eines monomanischen Wahn*
sinns erklären. Die vier infantilen Ideale: das sinnlich Große <der
»Riese«) / die rasche Bewegung <Kreisel)/ das Neue und das Macht-
gefühl scheinen Sombart als die Leitideen des herrschenden Wirt-
schaftstypus. So geistvoll die Bemerkung ist, wir möchten ihr nur
so weit folgen, als sie die ungeheure Vereinfachung und den Rückfall
in den Primitivismus des Motivationslebens in unserer Zeit (bei
äußerster Differenzierung des Denkens, das diesen einfachen Motiven
dient) zum Ausdruck bringt. Sombart zeigt nicht den Grund der Er-
scheinung. Er dürfte darin liegen, daß <sei es mit einem Operetten-
schlager, sei es mit einem neuen Absatzartikel, sei es mit einem
organisatorischen Großbankunternehmen) derjenige heute am meisten
Erfolg hat, der in seiner eigenen seelischen Haltung am meisten die
»Masse« in sich selbst trägt. Die Massewerte selbst entspringen ja durch
Dedifferenzierung der Individuen in unwillkürlicher Nachahmung aller
von allen. Die Masse ist eo ipso das, was der Mensch als »Kind« ist.
Sie ist das Kind im Großen. Dem entspricht die moderne Geschäfts-
maxime: Größter Absatz (gleichgültig welcher Qualität) und kleiner
Gewinn vom Einzelstück. Wer das Gefühl für die größte Absatz-
fahigkeit einer Sache hat, hat den Erfolg. Daß die besondere Rein-
heit der Massenseele, der Massenbedürfnisse — paradoxerweise in
einem Individuum — selbst wieder eine gar nicht massenhafte, son-
dern äußerst seltene Sache ist, also nur eine Minorität es ist, die
der Masse klug und richtig zu dienen vermag, das liegt durchaus in
der Forderung der Logik. Auch die bürgerlichen Tugenden des
Alberti und des Franklin haben ihren Ort gewechselt. Früher hatte
sie der Mensch — heute sind sie in die Geschäfte selbst hineinge-
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Max SSefer, Der Bourgeois 601
I
I
wandert. Sie sind das öl des Geschäftsmechanismus geworden. Fleiß
beruhte früher auf Willensakten der Person. Heute reißt das Geschäfts-
tempo den Unternehmer in sein eigenes Tempo hinein. Analog sind
Sparsamkeit und Solidität innere Regeln des Geschäftsmechanismus
geworden, die ein seigneurales Verhalten des Inhabers des Geschäfts
in seiner Privatwirtschaft oder die persönliche Unsolidität des gegen-
wärtigen Inhabers einer »soliden Firma« nicht ausschließen. Wie mit
der Klugheit der »Maschinen« und »Methoden« die menschlichen
Personen nicht schritthalten konnten, so auch nicht mit den »Tugenden«
der Geschäfte. —
Sombart hat auch den Versuch gemacht, das unendlich weit schwie-
rigere Problem der Ursachen des kapitalistischen Geistes anzugreifen.
Er hat besonders über die biologischen Anlagen der Völker, aus
deren Zusammensetzung und sukzessiver Blutmischung sich die
Naturgrundlage der europäischen Geschichte aufbaut, über die Wir-
kung der großen Religionen und Philosophien eigenartige Thesen —
wie uns scheint oft fragwürdiger Art — aufgestellt. Wir hotten
anderenorts hierauf zurückzukommen.
Im Leben des individuellen Geistes ist klare Bewußtwerdung der
uns unterbewußt leitenden, seelischen Faktoren nicht ein gleichgültiger
Zuwachs von Erkenntnis zu diesen, die wir dann »anwenden«
könnten, wie ein erkanntes Gesetz der äußeren Natur. Der Prozeß
des Erkennens ist hier selbst ein Prozeß der Befreiung und der
langsamen Abtötung jener Kräfte. Nichts ist tötlicher für ein altes
Erlebnis, mit dem wir »nicht fertig« wurden, als der Strahl der Er-
innerungshelle, der darauf fallt. Eben dies gilt auch für die Funk-
tion, welche die historische Erkenntnis gegenwärtig an der Struktur
des kapitalistischen Geistes zu vollziehen sich anschickt. Indem wir
die Struktur uns vergegenständlichen, hört sie auf, uns zu beherr-
schen — sinkt sie unter uns. Sombarts Werk, dem neben seiner Er-
kenntnisbedeutung diese Heilkraft der historischen Besinnung in
hohem Maße einwohnt, ist ein weithin sichtbares Flammenzeichen,
daß die Tage des »Kapitalismus mit gutem Gewissen« vorüber sind.
Was er uns an Zukunftsperspektiven schuldig bleibt, ersetzt diese
Heilkraft seines Buches: »Es ist das Glück des Historikers, daß seine
»Tatsachen« ihrem Wesen nach niemals so fertig, so unabänderlich,
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Max Sa$e/er, Der Bourgeois
so unerlösbar sind wie die vergangenen »Tatsachen« der Naturge-
schichte, die nur erschlossen sind. Denn erst im Sinnzusammenhang
des Ganzen der Menschengeschichte — mit Einschluß ihrer jeweiligen
Zukunft ~ erhält hier die vergangene »Tatsache« selbst — nicht etwa
ihre bloße Deutung und Auffassung durch den Historiker — ihren
vollen Gehalt. Noch sind wir alle nicht frei genug vom »Geiste des
Kapitalismus«, um den Menschentypus, der ihn trug, voll »verstehen«
zu können. Noch müssen wir ihn mehr oder weniger hassen — und
das heißt mißverstehen. Aber die Zeit, da wir auch ihn noch lieben
dürfen, wird kommen. Dann wird er vielleicht eine versöhnlichere
Gestalt im neuen Bilde annehmen, als die ist, die Sombart von ihm
zeichnet. Im Bilde eines armen, monomanischen Riesen, der in der
Erde dunkel sinnlos wühlen mußte, sich selbst alles versagend, was
die Wonnen des irdischen und himmlischen Lichtes bestrahlen, schuf
er — kraft einer Art von welthistorischer Arbeitsteilung «— den Tanz-
und Tummelplatz für einen neuen Menschen, sich selbst dessen un-
bewußt, — was er tat und darum nicht ohne den tragischen Charakter
eines blinden Helden. Aber seine volle historische Tatsächlichkeit
selbst und erst recht ihr »Bild« in unserem Geiste, wird ganz davon
abhängen, was wir und unsere Kinder tun. — —
Max Scßefer.
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Tritdricß Affred S&müf Noerr, Paestum
PAESTUM
EINE ELEGIE
L
DIE VORFRÜHE
Gewalt brach an. Der Nacht geschah Gewalt.
Wahllos erwachte schwankender Alarm.
Schwer lallend kam verhallter Glockenschlag
Aus noch verschlafnem Tal. Kam Hahnenschrei
Aus grauen Mauern. Und es brach ein Streif
Aus bleichem Osten: Plötzlich angesagt
Dem Schlummer und dem traumlos stillen Land,
Wie eines Herrschers, der noch ferne ist,
Gebietender und rätselhafter Bote.
Der stand und blühte/ reifte und umwand
Mit unwillkommen kaltempfangnem Schein
Die starrgezackte Wand des Nachtgebirgs
Und den in Abwehr schwarz geballten Wald.
Ach, wie ein Weib, aus gnadentiefem Schlaf
Jäh aufgeschreckt, sich in den Arm des Manns
Gerissen fühlt, und fremder Zeugungskraft
Feindlich und wehrlos unterjocht: so schwoll,
Vom Lichte schwanger, freudlos noch, die Welt
Mit Form und Farben. Denn verhaßt und schwer
Ist unsrer Erde die Geburt des Tags.
Nun aber sprang des Lebens dunkles Tor.
Aus allen Himmeln klang vertrauter Laut,
In Wind und nahen Wassern war Gesang
TriedriS Alfred Sdsmid Noerr, Paestum
Und aller Dinge Sprache wurde hell
Und menschlichen Gedanken froh verwandt:
Der Tag trat in den Saal. Von Kraft umblitzt,
Rief er bei Namen jede Kreatur.
Und jede Kreatur erzitterte
Im innersten Gefüg vom Widerhall
Und leuchtete in ihrem Namen auf:
Gewölk ward Wolke, die gelöste Wand
Der Berge wurde Kuppe, Hang und Fels,
Die graue Fläche ward Gefild und Steg/
Und ein entfernter Donner rief: Das Meer!
Das heilige Meer, das sein besonntes Band
Auch heute um die neue Schöpfung schlang.
So schuf, ein Kind, der Tag sich seine Welt,
Die einzige. Das schönre Werk vielleicht
Ein andrer Tag/ ein anderes gewiß
Der künftige: denn was die Nacht besaß,
Kehrt nie zurück.
Doch dies begehrt der Mensch,
Daß etwas daure. Nicht ein Wandrer nur
Und ein im Wandern Schauender zu sein
Und loszulassen jegliche Gestalt,
Wenn sie der Strom ruft, dünkt ihn gut genug.
Ihm ward am Anfang andrer Schöpfung Macht
Und des Befehlens wunderbare Kraft:
Daß stehen bleibe, was er schön genannt.
n.
DER MORGEN
Froh solchen Denkens, tiefgesenkten Haupts,
Doch leichten Schrittes, weil mir unbewußt
Erwartung brannte, bot ich nun die Stirn
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Triedricß Alfred Scßmtd Noerr, Paestum
Dem Seewind, der miteins herüber strich
Und hob das Auge stolzen Mutes.
Da
Stand über braunes Steppengras erhöht
Poseidons Tempel. Schattend. Weiterhin
Noch größrer Wunder Ahnung oder Ausklang,
Gereihte Säulen, Giebel und Gebälk,
Grauknöchern: Das vergitterte Geripp
Vom Himmel ab geschleuderter Giganten, „
Die langsam hier im Dünensand vermodern.
Und mir entsank der Sprache rascher Mut.
Herwandern sah aus meinen flachen Tagen
Ich winzig mich im griechischen Gefild,
Bin später Gast und schon verräterisch
Nach Rückkehr schielend, flüchtigen Besuchs,
Vorwitzig, viel betastend, nichts gewillt
Und zwecklos, wie ein Ameis, der am Stamm
Hinauf, hinab läuft, ohne Sinn und Rast:
Nicht anders auch am Riesenbaum der Zeit
Erschien ich mir, wie ein Insekt, im Schorf
Uralt erstorbener Vergangenheit
Tiefhin verirrt, ganz ratlos und beraubt
Des Rückwegs in die leichte Gegenwart,
Die über mir mit fernen Blüten schaukelt,
Schon nicht erreichbar mehr dem Nahenden.
Und so gefangen in Vergangenheit,
Gebannt ins unvertraute Labyrint
Unsagbar fremd gealterter Gestalt,
Steh ich in Tages Mitte, umgewandt,
Ein Griechenträumer/ und es hallt mein Gang
Unwirklich laut in den gespaltnen Hallen.
Sieh: Alles hier ist zauberhaft erstarrt:
Kalt ragt der Schaft/ stumm lastet das Gebälk/
Verharrschtes Leben, schweigsam. Mit Gewalt
Zerbrochne Säulen, noch im Sturz geballt,
TriedriS Alfred 5<£mid Noerr, Paestum
Stückweis dem Grund verwachsen, ragen auf
Aus hartem Gras, nun jegliches für sich
Ein Monument. Und selbst die Gräser stehn
Wie Bäume, aufrecht, ernsthaft und verteilt.
Doch wo der Himmel zwischen Steinwerk leuchtet,
Ist seine Form von gelben Säulenschäften
Wie eine hohe Amphora geschnitten:
Am Hals metallblau / an geschwungner Mitte
Meergrün glasiert/ und unten, angeschmiegt
Dem Fuß, als Zeichnung kühner Töpferhand,
Gebirge, die der Schnee deckt, die auf Hängen
Zerstreute, weiße Statten stiller Menschen,
Noch tiefer unten grüne Fluren tragen
Mit Bäumen und mit Büffelherden/ klein,
So klein, daß nur das Aug hält, was der Stift
Verlieren müßte in der Zeichnung. Welt
Und Jahreszeiten nur ein Farbenhauch,
Geschöpft aus Gottes freier Phantasie,
Ein Bilderspiel, ein Traum, für einen Blick,
Der dauern könnte, wie der Stein. Und so,
Aus Luft und Fernsicht wunderbar gefugt,
Unwirklich, greifbar, leuchtet das Phantom.
Und wie Du wanderst, wechselt Form und Bild:
Jetzt silbergrau der Hals, mit blauem Schmelz
Der hochgewölbte Bauch belegt/ der steile
Und schmale Fall des Fußes am Gefäß
Voll Krakelur der Gräser/ auf den Grund
Die freigeschwungne Landschaft eingeschmolzen,
Bald Heide, bald Gebirg und bald das Meer.
Und alles dies ist nicht der Tempel selbst,
Ist nur das Leben zwischen Stein und Stein.
So edel nämlich fügte sich der Form
Der Stein, so weise zwang ihn hohe Kunst:
Daß seiner Linien Gegenform im Raum
Zu neuer Formen Offenbarung ward
Und daß aus Säulen um des Gottes Altar
TriedricS Äff red Sdsmid Noerr, Poes tum
Des Weihgefäßes hohes Sinnbild trat.
Wo aber sind, dem Göttlichen so nah
Und Göttern so verwandten Schöpfersinns
Die Menschen, die Gestalter? Lange sah
Der Gott, die goldne Tagesbahn im Bogen
Vom Frühgebirg zur abendlicben Flut
Rastlos erneuernd, ihres klaren Sinns
Froh sonnenwärts gewandte Augen strahlen
Er, ein Genoss des tätigen Geschlechts.
Dann aber langsam losch, wie ein Gespräcb,
Das allzuwach und starken Andrangs war,
Die Zwiesprach. Und es erbte von Geschlecht
Sich Müdigkeit und Abkehr zu Geschlecht,.
Und innrer Unrast andre Gottesangst
Erdachte Andres viel.
Wann aber, Welt,
Wann kommt die Menschheit wieder, so, wie die,
Die solcher Kunst und Großheit kundig war?
Wann solcher Einfalt ungeschmückte Tat
Und wann die Zahl der fromm Verstehenden?
Wohl muß es so sein, daß die Menschen einst
Viel höher waren, oder mehr als die,
So nun auf Flügeln durch die Lüfte fahren,
Auf Stahlpalästen quer durchs Weltmeer stampfen
Und fernen Qualms den reinen Horizont
Fremd und gewaltsam, ohne Melodie,
Zu gradem Ziel durchschneiden: Mächtig scheint
Der Wille und sein vielgeschäftiger Sieg
Im Allerlei und dünngewalzten Sinn
Des Daseins uns. Doch heimlich wohnt die Angst.
Sie aber waren riesiger im Geist
Und, wenn auch karger wollend, mächtiger
Und so auf Erden, wie uns Sehnsucht bleibt.
Ihr zürnt, Genossen? Nun, so sagt mir doch
Was groß und dauernd ist. Denn wahre Kunst,
Gewalt des Geists und einig Weltgefuhl
-
TriedriS Alfred Scßmid Noerr, Paestum
Der ungebrochnen Tat weiß nur von Größe,
Gehalt und Sinnbild: Und uns alle fallt
Gelächter an und Fluch der Kleinheit.
Schweigt!
DL
DER MITTAG
Schon brennt der Mittag näher. Hart und blau
Engt sich der Schatten um den Stein. Die Welt
Ist gottesnah und lauschend, so wie einst
Der Stunde tief geheimes Zeichen ahnend/
Und schleierlos, ein Glanzstreif, ruht das Meer.
Zu schweben scheint im Zittern heißer Luft
Ganz weiß von Licht Poseidons Heiligtum
Und leichter träumt es sich aus solchem Schlaf.
Gebete und Gesänge möcht' ich hören
Aus diesem Tempel, da der Glaube noch
Jung und gewiß war und wie Morgenwind
Vom Meer herüber, fruchtbar und gesund.
Und niedersteigen möcht 7 im Opferzug
Ich mit dem hohen Chor der weißen Priester
Zur nahen Dünung, Sänftigung des Schwalls
Vom Gott zu bitten, oder günstige Fahrt,
Da schon die Flut den nackten Fuß umgiert,
Dem Landmann drohend, doch den Schiffer lockend
Und so, mit ruhlos wechselndem Gesang,
Vom Glück den Menschen rauschend und vom Tod:
Das große Gleichnis unseres Geschicks.
— Vertan das Opfer,- ausgetönt im Wind
Die Hymnen, die euch ehrten jeden Tag,
Urheilige Gewässer: Täglich wich
Unmerklich eure Welle, wo am Strand
Die Scheiterhaufen immer seltner brannten,
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TriedHcß Affrtd 5<6mid Noerr. Patstum
609
Unmerklich löschend so ein Endgeschlecht
Euch scheu noch Ehrender.
Doch stehen blieb,
Stein über ihrem Staub, der Tempel: stolz,
In zeitvernichtender Allgegenwart,
Dem Meer gebaut.
Nun, da der Glaube tot
Und verstummt der Gesang der Bekenner,
Ruhend in sich und geheimnisvoll
Jenem von Anfang verschwistert:
Der weithin atmenden Salzflut
Geweiht und dem rollenden Seegang,
Bleibt, über der wechselnden Menschen
Gedächtnis erhoben,
Poseidons Haus und des Glaubens Gebild
All künftigem Ahnen ein Zeichen, bestehn:
Gleich tief, gleich rätselvoll
Glaube wie Meer:
Aufbrandend in Mensch heltsgezeiten
Und wieder ebbend/ vielstimmig
Im Wandel der Sprachen, die Zeiten hindurch,
Siegreich ein rauschender Zaubergesang,
Unendlich: Glaube, wie Meer.
IV.
DER ABEND
Des Mittags honigsüße Ruh ist um.
Und da nun schon ein goldgesäumter Streif
Wie zum Empfang gelagerten Gewölks
Am tiefen Abend horizonte brennt,
Das Taggestirn ins Flutbett zu geleiten/
Da schon vom Land ein dunkler Windhauch stößt
Und fern hinaus die Meeresfläche kräuselt,
Geschäftigen Diensts, dem Gott die Ruhestatt
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I
610 TriedriS Alfred SSmüf Noerr, Paestum
Sanft aufzulockern und aufs neu zu glätten,
Erheb ich mich und setze meinen Fuß
Auf Heide, unscheinbar Gemäuer bald
Und allerlei Geröll, meerwärts. Es scholl
Hier einst der Markt der Stadt vom frohen Lärm
Der Heimgekehrten, der Begierigen
Auf Neuigkeiten, bunt, aus aller Welt
Und der Geschäftigen. Nun schreite ich
Durch Dünengras. Wo übers heiße Feld
Jetzt Bienen taumeln, lag einst Schiff bei Schiff
Im guten Hafen, froh des Heimatstrands:
Dies alles, zur Erinnrung eingeschrumpft,
Ist nun audi Jahresring am Baum der Zeit,
Zeitlos: Mir ist, als schritt ich körperhaft
Quer durch die Ewigkeit, ich lebend noch
Erzitternd, fremdher, schwerlich ungestraft. —
Und weiter, weithin unfruchtbaren Wegs,
Geh' ich hinaus. Und rückwärts schon versinkt
Das Heiligtum im welligen Land. Voraus
Jedoch erhebt sich Buschwerk und Gemäuer:
Ein Wachtturm aus der Sarazenenzeit,
Auf Klippenrand, jenseits der Brandung Saum,
Einst trutziglich ins Meer gebaut,- damals,
Als schon die Tempel binnenwärts, gestürzt,
Nicht anders standen, als sie heute stehn.
Und heute, an den Wachtturm angelehnt,
Armselige Hütten, freundlich überwölbt
Von hundertjährigem Steineichenpaar
Und Kinderlärm im braunen Heidekraut:
Die Wacht im Meer ein breiter Bauernhof.
Und trocknen Fußes schreit ich durch den Ring
Des letzten Halbjahrtausends. Nahe schlägt
Mit leisem Schaumschlag, weiß, das Wellenband
Ans flache Land, verläuft und stirbt im Sand
Und hebt sich neu, lebendigen Atems.
Hier,
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TrtofriS Atfrtd SSmicf Notrr, Partum
611
Hier steh' ich denn am Rand der Gegenwart:
Unendlich hin seh ich im Abendglanz
Die Wellen tanzen, gleißen und verheißen
Bin Undeutsames. Gänzlich leeren Spiels/
Gestaltlos lockend/ fernsten Horizonts
Mit Farben trügend: wie der Zukunft ziemt.
An Muscheln aber, öden Sand und Tang
Verwesungsschaudernd stößt mein Fuß. Mein Blick,
Mein Wille, ganz vereinsamt, stürmt zurück,
Wo überm Hügelrand, im Abendblau,
Die hohen Giebel schweigsam trauern/ wo
Die höchsten Säulen noch das Weltmeer schauen.
Einst schenkte diese unserem Wunschgeschlecht
Okeanos, der unerforschliche. Dann,
Unsäglich kargend, den reisigen Turm
Streitklirrender Zeiten. Zuletzt
Ein schmutzig Gehöft, zur Notdurft des Fischers
Am Gegenwartsstrand.
Soeben tritt hervor
Aus der rauchichten Tür seiner Hütte
Der bäurische Fischer.
Und zum Beweis, daß ich bin,
Daß ich seines Geschlechts bin,
Seines Daseins Genosse, jetzt und hier,
Seines Atems teilhaftig:
Grüßt er mich mürrisch.
Ach! fernab steht
Meine Seele in Götterhallen,
Welche dahin sind!
Meeresjenseits grüß ich Genossen,
Welche vielleicht einst
Kommen werden, wenn dieses Leben,
Dieses Gehöft hier und diese Stunde
Tief im Land und im Sande vermodern
Und das Träumen der Gegenwart
Tausendjähr'ge Erinnrung ist.
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TriedriS Affred ' SSmid Noerr, Paestum
V.
DIE NACHT
Die Sonne dieses Tages sank ins Meer.
Bs blaßt sein Bild und dämmert. Zwielicht ätzt
Die Farben fort. Still frißt Verwitterung.
Mühselig ist der Rückweg nun. Bs trägt
Ihn kein Erwarten mehr. Kein Wunsch mehr prüft
Das Maß der Kräfte und der Wandrung Ziel.
Ein Säulenhain, nah dem Gestrüpp, erhebt,
Geborstnen Wohllauts, stumm den Lobgesang
Der gütigen Mutter, der Erhalterin
Ceres, der Äckersegnenden: und rings
Dorrt Scholl und Steppe. Gottgeweiht und blind
Und wie von Alter kindisch aber lallt
Er noch vergessne Hymnen. Alles, was
Einst Geist, fruchtschwere Wahrheit war und laut
Umjauchzt von Freude: Tot ist das. Und nur
Der Stein lobt noch die Götter: Fruchtbarkeit
Und Glück des Meeres. Dunkler Fluch vertrieb
Die Segensreichen, auf beglückter Stätte
Verbunden einst: Die Göttin morgen wärts
Zu Hängen des GebirgS/ den Gott des Meers
Jedoch gen Abend, öd liegt nun das Feld.
Was aber ist solch heiligen Zwanges Sinn?
Und wo ist Dauer, wenn bei Göttern nicht?
Andacht schaut sie auf ewigem Thron. Doch sie,
Sie treibts, zu wachsen, denn es wächst die Zeit,
Nur unser Leben frißt Vergangenheit:
Wohin denn tritt der Fuß der Sterblichen
Und nicht dem Untergang entgegen? Weh,
Schon soviel Schönheit war auf dieser Erde
Und soviel Sehnsucht, die das Wunder schuf:
Vergebens. Dämmrung fraß, Nacht nahm sie fort
Und künftige Tage kennen sie nicht mehr.
Trietfricß Affred Scßmid Noerr. Paestum
Jetzt nodi ist ahnend Rückschau hier gegönnt:
Noch glänzt dem Gott, schon fern erhöht, das Haus.
Doch ferner rollt und ferner seine Brandung,
Der Wind schon übertäubt sie. Bald, wie bald
Wird sie vom schwärmenden Gesumm der Bienen,
Vom Sommerlärm der Heide ganz erstickt sein:
Und dann ist Stille. Letzte Stille schleicht
Durch gottverlaßnes Land und knirschend wankt
Und bebt von Grund auf das Gebäu und stürzt,
Mit letztem Donner fern den Gott zu grüßen,
Der ihn dereinst mit Salzschaum angesprüht.
So wird es sein.
Still weiter wächst die Zeit. —
In ihres Wachstums Adern aber, Gott
Und Mensch und alle Schönheit nährend, kreist
Der Ewigkeit kostbarstes Blut: der Glaube,
Der allen Lebens letztes Gleichnis bleibt.
Und was war nun der Tag? Ein Atemzug,
Ein Lichtgedank, ein Lächeln, ein Verzug
Von weniger, als von Erinnerung:
Ein Blinzeln nur im ewigen Schlaf der Dinge.
Und nun kam wiederum, von je gewohnt,
Die Nacht: das flüchtig-leise Augenschließen
Des ewig aus sich selber wachen Geists.
Und also wacht ich auf aus diesem Tag,
Und meiner Irrfahrt in Vergangenheit.
Und unsere Sterne standen über mir.
Kuhläuten/ Büffelherden zogen heim,
Gesenkten Haupts und bösen Blicks vorbei
An schwarzen Tempelmassen. Rauch stieg auf
Vom nahen Schilfzelt lagerfroher Hirten
Und durch die Nacht glomm Herdglut und Gesang.
Am samtnen Himmel aber, abendwärts,
Stand tief des Jahres Wunder: der Komet,
Lotrechten Schweifes überm Weltmeer. Jetzt
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TriedriS Äff red SSmüf Noerr, Paestum
Noch diesen Augen vorgerückt, ein Ding,
So furchtbar, groß und wirklicher Gestalt,
Als dieser Stern, auf dem wir Mensch sind. Jetzt
In Ewigkeit nichts mehr: Gedächtnislos
Ins Unausdenkliche vergangen, wie
Aus Unausdenklichem heran gefahren,
Ein nennbar Ding nur diesen Augenblick.
Und doch im Weltenbaum der Zeit ein Strich,
Ein goldner Nerv, des Glaubens ewigem Puls
Benachbart und verschlungen auch, vielleicht:
Was stammelt noch das Wort? Durchzückt miteins
Stand ich. Denn mir wie Heimat war die Nacht
Und das Gewölbe, voll von Sternen, und
Das Rauschen ferner Brandung: Alles dies,
Was schön ist, glaubenswert und unfaßbar.
Triedricß ACfred Scßmid Noerr.
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Martin Bußer. Ereignisse und Begegnungen
615
EREIGNISSE UND BEGEGNUNGEN
3. MIT EINEM MONISTEN
ICH lernte vor kurzem einen Monisten kennen.
Ich merkte auf den ersten Blick, daß er ein vortrefflicher Mensch
war. Das Vortrefflichsein scheint übrigens durch den Monismus wesent-
lich erleichtert zu werden. Wir andern haben nur Erschwerungen zu
bieten.
»Sie sind Mystiker«, sagte der Monist und sah mich mehr ver-
zichtend als strafend an. So stelle ich mir einen Apoll vor, der es
verschmäht, den Marsyas zu schinden. Er unterließ sogar das Frage-
zeichen. Aber seine Stimme war leutselig. Ja, er brachte es zustande,
sublim und vortrefflich zugleich zu sein.
»Nein, Rationalist«, sagte ich.
Er geriet aus der schönen Haltung. »Wie ... ich meinte . . .«,
äußerte er.
»Ja,« bekräftigte ich, »das ist die einzige meiner Weltansichten,
der ich es erlaubt habe, sich zum Ismus zu verbreitern. Ich bin da-
für, daß die Ratio alles aufnehme, alles bewältige, alles verarbeite.
Nichts kann ihr widerstehen. Wie dürfte so ein lumpiges »Ding«
wagen, sich gegen ihren Anspruch zu empören? Sie kriegt sie alle
unter. Und nichts kann sich vor ihr verbergen. Wo fände es ein
Mauseloch, in das ihre Kategorien nicht hinabreichten? Sie klaubt
sie alle, alle auf. Ich finde das herrlich. Nur keine halbe Arbeit,
nur keine Neunzehntelarbeit! Nur nichts übersehen, nur nichts ver-
schonen, nur nichts bestehen lassen! Sie hat nur dann etwas getan,
wenn sie es vollständig getan hat. Sie macht sich an die Welt heran
und macht sie zurecht. Welch ein Meisterstück! Die rationalisierte
Welt! Die Welt ohne Lücke und ohne Widerspruch! Die Welt als
Syllogismus!«
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616 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
»Nein, aber...«, wandte er ein.
»Ganz recht«, konzedierte ich, »Sie würden es anders formulieren,
etwa: die Welt als die vollständige Induktionsreihe. Bitte, es kommt
mir nicht darauf an/ ich bin auf jeden Fall einverstanden. Wenn
nur ganze Arbeit gemacht wird! Da gibt es freilich welche, die die
Grenzen verwischen. Die mag ich nicht. Aber für Sie bin ich ein-
genommen. Sie sind mir nur noch, trotz allem, nicht vollständig
genug. Wenn Sie vollständig wären, würde ich Hurrah schreien.
Aber Sie lassen noch immer irgendwo verschämte Teleologien ein.
Das sollte nicht sein. Wenn der Menschenwille restlos bestimmt ist,
so ist es ganz gleichgültig, daß er dieses Bestimmtsein nicht über-
blickt, die Zukunft als von sich abhängig vorstellt und meint nicht
Durchgang sondern Ursprung zu sein: in den Augen Ihres Ideals,
des Betrachters der vollständigen Induktionsreihe, wäre er unfrei
und muß es daher auch für Sie sein«.
»Jedoch . . .«, rief er dazwischen.
»Gewiß,« erwiderte ich, »die Moral . . . Aber das kann meine
Neigung für hemmungslosen Rationalismus nicht beeinflussen. Ich
denke ihn mir als ein engmaschiges Netz, das alle Phänomene ein-
fängt und dem keins wieder entschlüpfen kann. Gestehet nur der
Seele keine Sonderstellung zu! »Führt« sie »zurück«, bis sie nicht
weiter zurück kann! Drückt sie an die Wand! Duldet nichts, was
sich euren einreihenden Befehlen entziehen möchte! Ruhet nicht, ehe
die Welt vor euren prüfenden Blicken steht wie eine wohlgeordnete
Registratur! Dann habt ihr bewiesen, daß der Geist der Herr ist
und daß er nur die erstbeste seiner Töchter auszusenden braucht
und sie bindet die Welt und den Vater dazu. So muß es immer
von neuem geschehen, von Geschlecht zu Geschlecht. Bis er wieder
den Finger hebt und alle Fesseln zerfallen und die Welt sich dehnt
und die Zettel eurer Zettelkästen wild umherfliegen im spielenden
Sturm.«
»So also . . .«, konstatierte er ärgerlich.
»Ja«, bestätigte ich und leugnete nichts. »Sie haben mich durch-
schaut. Wir brauchen auch gar nicht zu warten. Was im Menschen-
reich von einer Zeit zur andern geschehen muß, geschieht allzeit von
Augenblick zu Augenblick im Menschen. Wenn der Kreis gezogen
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Martin Bußen Ereignisse und Begegnungen 617
ist, der reinliche Kreis der Weltbegreifbarkeit, und wenn alles ein-
gebannt und alles Denken als Energieform und aller Wille als
Kausalitätsform entlarvt ist, dann schwingt Selbst, die heimliche
Lerche, sich aus dem Kreise auf und tiriliert. Ihr hattet das Ich zer-
legt und aufgeteilt, da schwebt es unberührt über euren Künsten,
das unantastbare. Ihr mögt meine Seele als ein lockeres Aggregat
von Empfindungen enthüllen: da rührt sie sich und fühlt empor-
gereckt den Glanz der Nacht oder ingrimmig die Not eines Kindes,
und ist Kristall/ und wenn sie schläft, fliegen all eure Formeln und
Berechnungen wie Motten um ihren feurigen Traum. Ihr mögt die
Elemente aufzeigen, aus denen ich bestehe, die Wandlungen, die
an mir geschehen, die Gesetze, die mich zwingen: wenn ich ganze
einmalige Gestalt mich zum Tun hebe und mich entscheide, bin ich
Element, ich Wandlung, ich Gesetz, und die Blitze der Schöpfung
zucken in meinen beginnenden Händen. Welcher Stoffe Verbindung,
welcher Tiere Nachkomme, welcher Funktionen Knecht ich bin, das
ist mir ersprießlich zu hören — und ist mir nichtig, wenn ich Un-
endliches zu denken, Unendliches zu schauen wage und ihm ver-
woben mich als Unendlichen erfahre. Daß es eine Zeit gab, da der
Mensch nicht auf der Erde war, die Kunde nehme ich willig auf —
und kenne ihre Sprache nicht mehr, wenn mir in der Flamme des
erlebten Augenblicks die Ewigkeit entgegenschlägt/ daß einst die
Erde erkalten und der Mensch verschwinden wird, lasse ich mir gern
erzählen — und habe es vergessen und vernichtet, wenn meine Tat
hinaus ins uferlose Werden brandet. Das ist das glorreiche Paradox
unseres Daseins, daß alle Begreifbarkeit der Welt nur ein Schemel
ihrer Unbegreifbarkeit ist. Aber diese Unbegreifbarkeit hat eine
neue, eine wundersame Erkenntnis zu spenden/ die ist wie die
Adams, der sein Weib Chawa erkannte. Was die kundigste und
kunstreichste Verknüpfung von Begriffen versagt, das gewährt das
demütige und getreue Erschauen, Erfassen, Erkennen irgend eines
Dinges. Die Welt ist nicht begreifbar, aber sie ist umschlingbar: durch
die Umschlingung eines ihrer Wesen. Jedes Ding und Wesen hat
zwiefache Beschaffenheit: die passive, aufnehmbare, bearbeitbare,
zerlegbare, vergleichbare, verknüpfbare, rationalisierbare, und die
andre, die aktive, unaufnehmbare, unbearbeitbare, unzerlegbare, un-
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618 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
vergleichbare, unverknüpfbare, unrationalisierbare. Diese ist das Ge-
genübertretende, das Gestalthafte, das Schenkende in den Dingen.
Wer ein Ding wahrhaft erlebte, daß dessen Selbst ihm entgegensprang
und ihn umfing, hat darin die Welt erkannte
»Sie sind also doch ein Mystiker«, sagte der Monist, als ich inne-
hielt, und er lächelte. Weil er zu Wort gekommen war? Weil er Recht
behielt? Oder weil es einen Monisten lächern muß, wenn so ein
Kerl sich nach weitläufiger Verstellung endlich doch als heilloser
Reaktionär entpuppt? Oder überhaupt. . .? Laßt uns nicht nach Mo«
tiven forschen und uns jedes Menschenlächelns, sofern es nicht ge-
radezu boshaft ist, freuen.
»Nein,« antwortete ich und sah ihn freundlich an, »da ich doch
der Ratio einen Anspruch zubillige, den ihr der Mystiker verwehren
muß. Und überdies fehlt es mir an Verneinung. Ich kann nur Zu«
stände verneinen, aber nicht das winzigste Ding. Der Mystiker kriegt
es wahrhaft oder scheinbar fertig, die ganze Welt, oder was er so
nennt, alles, was ihm seine Sinne an Gegenwart und Gedächtnis
darreichen, auszurotten und hinwegzuschaffen, um mit neuen, ent-
leibten Sinnen oder einer ganz übersinnigen Kraft zu seinem Gotte
vorzudringen. Mich aber geht eben diese Welt, diese schmerzens-
reiche und köstliche Fülle all dessen, was ich sehe, höre, taste, un-
geheuer an. Ich vermag von ihrer Wirklichkeit nichts hinwegzu-
wünschen, nein, nur noch steigern möchte ich diese Wirklichkeit.
Denn was ist sie doch? Die Berührung zwischen dem unsäglichen
Kreisen der Dinge und den erlebenden Kräften meiner Sinne, die
mehr und anderes sind als Ätherschwingung und Nervenstrom und
Empfinden und Verknüpfen von Empfindungen, — die leibhafter Geist
sind. Und die Wirklichkeit der erlebten Welt ist um so mächtiger,
je mächtiger ich sie erlebe, — sie verwirkliche. Wirklichkeit ist keine
feststehende Verfassung sondern eine steigerungsfahige Größe. Ihr
Grad ist funktionell abhängig von der Intensität unseres Erlebens.
Es gibt eine gemeine Wirklichkeit, die hinreicht, damit die Dinge
verglichen und klassifiziert werden. Aber ein Andres ist die große
Wirklichkeit. Und wie könnte ich sie meiner Welt geben, als indem ich
das Gesehene mit aller Kraft meines Lebens sehe, das Gehörte
mit aller Kraft meines Lebens höre, das Getastete mit aller Kraft
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Martin Bußer, Ereignisse und" Begegnungen 619
meines Lebens taste? Als indem ich mim über das erlebte Ding neige
mit Inbrunst und Gewalt und die Schale der Passivität mit meinem
Feuer schmelze, bis mir das Gegenübertretende, das Gestalthafte, das
Schenkende des Dinges entgegenspringt und mich umfängt, daß ich
darin die Welt erkenne? Wirkliche Welt — das ist offenbare, er-
kannte Welt. Und die Welt kann nicht anderswo erkannt werden
als in den Dingen und nicht anders als mit dem tätigen Sinnengeist
des Liebenden.«
»Ja, dann . . .«, behauptete der Monist.
»Nein, nein,« protestierte ich, »Sie irren sich: da ist ganz und gar
kein Einvernehmen mit Ihren Lehrsätzen. Denn der Liebende, das
ist einer, der jedes Ding, das er erfaßt, beziehungslos erfaßt. Es
fällt ihm nicht bei, das erlebte Ding in Relationen zu andern Dingen
einzustellen, da ihm ja zu dieser Stunde kein andres lebt als dieses,
dieses geliebte allein in der Welt, die Welt ausfüllend, es und die
Welt einander ununterscheidbar deckend. Wo ihr mit flinken Fingern
die Gemeinsamkeiten herausholt und in bereite Kategorien verteilt,
schaut er traumgewaltigen und urwachen Herzens das Ungemein«
same. Und dieses ist die schenkende Gestalt, das Selbst des Dinges,
das ihr in den reinlichen Kreis eurer Weltbegreifbarkeit nicht zu
bannen vermögt. Was ihr aushebt und zusammenbringt, das ist
ewig nur die Passivität der Dinge. Ihre Aktivität aber, ihre wirkende
Wirklichkeit offenbart sich einzig dem Liebenden, der sie erkennt.
Und so erkennt er die Welt. In den Zügen des Geliebten, dessen
Selbst er verwirklicht, gewahrt er das rätselhafte Angesicht des Alls.
Echte Kunst ist eines Liebenden Kunst. Der solche Kunst treibt,
dem erscheint, da er ein Ding der Welt erlebt, die heimliche Ge*
stalt des Dinges, die keinem vor ihm erschien, und auch er sieht sie
nicht, sondern er fühlt ihren Umriß mit seinen Gliedern und ein
Herz schlägt an seinem Herzen. So lernt er die Herrlichkeit der
Dinge, daß er sie sage und lobpreise und die Gestalt den Menschen
offenbare.
Echte Wissenschaft ist eines Liebenden Wissenschaft. Der solche
Wissenschaft treibt, dem tritt, da er ein Ding der Welt erlebt, das
heimliche Leben des Dinges gegenüber, das keinem vor ihm gegen-
übertrat, und gibt sich ihm anheim, und er erfährt es, gefüllt von
620
Martin Bußer, Ereignisse und" Begegnungen
Geschehen bis an den Rand seines Daseins. Sodann deutet er das
Erfahrene in schlichten und fruchtbaren Begriffen und ehrt das Ein-
same und Unvergleichbare, das ihm widerfuhr, durch bedachtsame
Redlichkeit.
Echte Philosophie ist eines Liebenden Philosophie. Der solche
Philosophie treibt, dem öffnet sich, da er ein Ding der Welt erlebt,
der heimliche Sinn, das Gesetz des Dinges, das sich keinem vor ihm
öffnete, und nicht wie ein Gegenstand, sondern als täte sich ihm der
eigene Sinn, der Sinn all der Zeit seines Lebens und all der Ge-
schicke und seines leidvollen und erhabenen Denkens Sinn, er-
schütternd auf. Und er, der also Erschütterte, merkt auf die Wei-
sung und ruft an: »O du Ding, ein Ding der Welt, du maßloses
ausgespanntes Ding, so rede zu mir!« Und er vernimmt es und
weiß: >So ist das Sein, so wird das Werden, in diesem Dinge wohnt
der Sinn der Welt.« So nimmt er das Gesetz des Dinges, das er
vernommen hat, mit botmäßiger und schöpferischer Seele an und
setzt es als das Gesetz der Welt ein, und hat daran nicht vermessen
getan, sondern würdig und getreu.
Alle echte Tat ist eines Liebenden Tat. Alle echte Tat kommt
aus der Berührung mit einem geliebten Ding und mündet im All.
Alle echte Tat gründet aus der erlebten Einheit Einheit in die Welt.
Nicht eine Eigenschaft der Welt ist die Einheit, sondern ihre Auf-
gabe. Einheit aus der Welt zu bilden ist das unendliche Werk.
Und um dieses Monismus willen, lieber Monist . . .«
Er stand auf und reichte mir die Hand. Wir sahen einander an.
Laßt uns an den Menschen glauben!
Martin Bußer.
Kurt "Woffenstem. Aufwachen 621
AUFWACHEN
Kaltes leerblaues Licht glitzert durch Bis und Glas
In mein Auge, entträumt, welches nach fernem Schlaf
Aufgedeckt nun und zitternd
Wieder Leben sieht, und sein Sehn.
O mein grelles Gehirn, Wache und Krampf und Schuß,
Wie entließest du dich, ließest du dich hinweg,
Wurdest Kissen und Stille,
Und befreundet dem weichen Mond.
Und indessen du lagst, wirkte für dich mein Herz,
Schneller, aufatmender, füllender, ja wie voll
Wuchs ich Armer mit Träumen,
Mit Gebirgen erfüllter Lust.
Nicht mehr mußten Gesicht, Zunge und Hände tun,
Was erdachter Befehl, innerster Fremde Stoß
Und das Ziehen der Ziele
Tags aufdrängen vertieftem Blut. —
— Was nun wieder ans Bett glitzert durch Eis und Glas
. . . Sonne des Winters hält Fülle und Fließen an
Und die Blicke zum Weltmeer
Spitz versammelt ein Ruf ins Hirn. _
Kurt Woffenstein.
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622 Gustav Meyrfnt, Der Gofem
DER GOLEM
ROMAN
<Fort3«zung>
VI
NACHT
Willenlos hatte ich midi von Zwakh die Treppe hinunterfahren
lassen.
Idi spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus
drang, immer deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und
Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen und man hörte,
wie sie draußen vor dem Torweg mitsammen sprachen.
»Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen.«
Wir traten hinaus auf die Gasse und ich sah, wie Prokop sich
bückte und die Marionette suchte.
»Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst«,
brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein
Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder, — in kurzen Inter-
vallen — wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze
Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm
und beugte sich noch tiefer herab. — Er kniete beinahe auf dem
Pflaster.
»Still doch! — Hört ihr denn nichts?«
Wir traten an ihn heran. — Er deutete stumm auf das Kanal»
gitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen
wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab. —
Nichts.
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623
»Was wars denn?« — flüsterte endlich der alte Marionettenspieler,
doch sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick — kaum einen Herzschlag lang — hatte es mir
geschienen, als schlüge da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte —
fast unhörbar. — Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte,
war alles vorbei/ nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungs-
echo weiter und löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des
Grauens auf. —
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
»Gehen wir / — was stehen wir da herum!«, mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Häuserreihe entlang. —
Prokop folgte nur widerwillig.
»Meinen Hals möcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien
in Todesangst.«
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie
leise dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.
»SALON LOISITSCHEK«.
»Heinte großes Konzehr«
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit ver-
blichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete
sich die Eingangstür nach innen und ein vierschrötiger Kerl mit ge-
wichstem schwarzem Haar, ohne Kragen — eine grünseidene Kravatte
um den bloßen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem
Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt — empfing uns mit Bücklingen.
»Jä, ja, das sin mir Gästäh. Pane Schaffiranek, rasch einen
Tusch!« setzte er über die Schulter in das von Menschen überfüllte
Lokal gewendet hastig seinem Willkommengruß hinzu.
Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten
liefe, war die Antwort.
»Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man«,
murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während
er uns aus den Mänteln half.
»Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei
mir versammelt«, beantwortete er triumphierend Vrieslanders er-
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624 Gustav Meyritt^ Der Gotem
staunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch
Geländer und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke
getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette
sichtbar wurden.
Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter
denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zer-
lumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt,
schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen
Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und
Zigaretten hinter dem Ohr, — Viehhändler mit haarigen Fäusten und
schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache
der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karrierten Hosen.
»Ich stell ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön un«
gestört sein«, krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen tanzenden Chinesen, schob sich lang«
sam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten. —
Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im
Zimmer verlöschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an. — Mit erschreckender
Deutlichkeit hörte man plötzlich wie die eisernen Gasstäbe fauchend
die flachen herzförmigen Flammen aus ihren Mündem in die Luft
bliesen dann fiel die Musik über das Geräusch her und
verschlang es.
Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem wallendem weißem Prophetenbart, ein schwarzseidenes
Käppchen — wie es die alten jüdischen Familienväter tragen — auf
dem Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern — starr
zur Decke gerichtet — saß dort ein Greis, bewegte laudos die Lippen
und fuhr mit dürren Fingern — wie mit Geierkrallen in die Saiten
einer Harfe. — Neben ihm in speckglänzendem schwarzem Taffet-
kleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen — ein Sinnbild
erheuchelter Bürgermoral — ein schwammiges Weibsbild, die Zieh-
harmonika auf dem Schoß.
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Gustav Meyrint, Der Gofom 625
Bin wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instru-
menten — dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luit gebissen und riß den
Mund weit auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte.
Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen
Röchellauten begleitet, ein wilder Baß:
»Roo — n — te, blau — we Stern
»Rititit« — (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort
die keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt — >
»Roonte blaue Steern
Hörndlach ess i' ach geern«,
»Rititit«
»Rothboart, Grienboart
allerlaj Stern«
»Rititit, rititit.«
Die Paare traten zum Tanze an.
»Es ist das Lied vom »chomezigen Borchu«, erklärte uns lächelnd
der Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der son-
derbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt.
»Vor wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei Bäckerge-
sellen: Rotbart und Grünbart — am Abend des »Schabbes Hagodel«
das Brot — Sterne und Hörnchen — vergiftet, um ein ausgiebiges
Sterben in der Judenstadt hervorzurufen, aber der »Meschores« —
der Gemeindediener — war infolge göttlicher Erleuchtung noch recht-
zeitig daraufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadt-
polizei überliefern. Zur Erinnerung an die wundersame Errettung
aus Todesgefahr dichteten damals die »Lamdonim« und »Bocheriech«
jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als Bordellquadrille hören.« —
»Rititit — Rititit«
»Rote blaue Steern — « immer hohler und fanatischer
erscholl das Gebell des Greises. —
Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den
Rhythmus des böhmischen »Schlapak« — eines schleifenden Schiebe-
tanzes über, bei dem die Paare die schwitzenden Wangen innig an-
einander preßten.
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Gustav Meyri/tt, D*r Gofem
»So recht. Bravo. Ah da! fang, hep, hep!« rief von der Estrade
ein schlanker junger Kavalier im Frack — das Monokle im Auge —
dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silber«
stück in der Richtung. Bs erreichte sein Ziel nicht: Ich sah noch, wie
es über das Tanzgewühl hinblitzte, da war es plötzlich verschwunden.
Ein Strolch — sein Gesicht kam mir so bekannt vor — ich glaube,
es muß derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben
Charousek gestanden — hatte seine Hand hinter dem Busentuch
seiner Tänzerin, wo er sie bisher hartnäckig ruhen gehabt, hervor*
gezogen — ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen — und die Münze war
geschnappt. Nicht eine Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf,
nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten leise.
»Wahrscheinlich einer vom »Bataillon«, nach der Geschicklichkeit zu
schließen,« sagte Zwakh lachend.
»Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom »Bataillon« ge-
hört,« fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. — Ich verstand
gar wohl. — Es war wie vorhin, — oben auf meinem Zimmer. Sie
hielten mich für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte
etwas erzählen. — Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß
vom Herzen in die Augen. — Wenn er wüßte, wie weh mir sein
Mitleid tat! -
Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler
seine Worte einleitete, — ich weiß nur, mir war, als verblute ich
langsam. Mir wurde immer kälter und starrer. Wie vorhin, als ich
als hölzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. — Dann
war ich plötzlich mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig
umhüllte, — einhüllte, wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
»Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Ba-
taillon.
— — — no, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er
voller Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. — Schon als
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Gustav Meyrink, Der Gofem
627
Jüngling kannte er nichts als Studium. Trockenes entnervendes Stu-
dium. Von dem, was er sich durdi Stundengeben mühsam erwarb,
mußte er noch seine kranke Mutter erhalten. — Wie grüne Wiesen
aussehen und Hecken und Hügel voll Blumen und Wälder, erfuhr er,
glaube ich, nur aus Büchern. Und wie wenig von Sonnenschein in
Prags schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht/ das war eigent-
lich selbstverständlich. —
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter.
So berühmt, daß alle Leute — Richter und alte Advokaten — zu
ihm fragen kamen, wenn sie irgend etwas nicht wußten. — Dabei
lebte er ärmlich wie ein Bettler in einer Dachkammer, deren Fenster
hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hülbens Ruf als Leuchte
seiner Wissenschaft wurde allmählich Sprichwort im ganzen Lande. —
Daß ein Mann, wie er, weichen Herzensempfindungen zugänglich sein
könnte, zumal sein Haar schon anfing weiß zu werden und sich nie-
mand erinnerte, ihn je von etwas anderem als von Jurisprudenz
sprechen gehört zu haben, hätte wohl keiner geglaubt. Doch gerade
in solchen verschlossenen Herzen glüht die Sehnsucht am heißesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl
schon als Höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: —
als nämlich Seine Majestät der Kaiser von Wien aus ihn zum Rek-
tor magnificus an unserer Universität ernannte, — da ging es von
Mund zu Mund, er habe sich mit einem jungen, bildschönen Fräulein,
aus zwar armer aber adliger Familie, verlobt.
Und wirklich schien von da an das Glück bei Dr. Hulbert einge-
zogen zn sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er
doch seine junge Gattin auf Händen, und jeden Wunsch zu erfüllen,
den er ihr nur irgend von den Augen abzulesen vermochte, war
seine höchste Freude.
In seinem Glück vergaß er jedoch keineswegs, wie es wohl so
manch anderer getan hätte, seiner leidenden Mitmenschen. »Mir hat
Gott meine Sehnsucht gestillt,c soll er einmal gesagt haben, — »er
hat mir ein Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein
Glanz vor mir hergegangen ist seit Kindheit an — er hat mir das
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628 Gustav Meyrint, Der Gofcm
lieblichste Wesen zu eigen gegeben, das die Erde tragt. Und so will
ich, daß ein Schimmer von diesem Glück, soweit es in meiner kleinen
Macht steht, auch auf andere fällt.«
Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten
annahm wie seines eignen Sohnes. Vermutlich in der Erwägung, wie
wohl ihm selbst ein solch gutes Werk getan hätte, wäre es ihm am
eigenen Leib und Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugend'
zeit passiert. Wie aber nun auf Erden manche Tat, die dem Men-
schen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht gleich der einer fluch*
würdigen, weil wir Menschen wohl doch nicht richtig unterscheiden
können zwischen dem, was giftigen Samen in sich trägt und was
heilsamen, so begab es sich auch hier, daß aus Dr. Hulberts mitleids*
vollem Werk das bitterste Leid für ihn selbst entsproßte.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem
Studenten und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daß sie der Rek*
tor gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam,
um sie zum Zeichen seiner Liebe mit einem Strauß Rosen als Ge*
burtstagspräsent zu überraschen, in den Armen dessen antraf, auf
den er Wohltat über Wohltat gehäuft hatte.
Man sagt, daß die blaue Muttergottesblume für immer ihre Farbe
verlieren kann, wenn der fahle schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verkündet, plötzlich auf sie fällt/ gewiß ist, daß die Seele
des alten Mannes für immer erblindete an dem Tage, wo sein Glück
in Scherben ging. Am selben Abend noch saß er, der bis dahin
nicht gewußt, was Unmäßigkeit ist, hier beim »Loisitschek« — fast
bewußtlos vom Fusel — bis zum Morgengrauen. Und der »Loisit-
schek« wurde seine Heimstätte für den Rest seines zerstörten Le-
bens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines Neubaus,
Im Winter hier auf den hölzernen Bänken. —
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte hatte man
ihm stillschweigend belassen.
Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berühmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daß man Ärgernis nähme an
seinem Wandel.
Allmählich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel
in der Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gründung
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629
jener seltsamen Gemeinschaft, die man noch heutigen Tags »das
Bataillon« nennt
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk
für alle die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War
irgend ein entlassener Sträfling daran zu verhungern, schickte ihn
Dr. Hülben splitternackt hinaus auf den Altstädter Ring — und das
Amt auf der sogenannten »Fischbanka« sah sich genötigt, einen An«
zug beizustellen. Sollte eine unterstandslose Dirne aus der Stadt ge-
wiesen werden, so heiratete sie schnell einen Strolch, der bezirkszu-
ständig war, und wurde dadurch ansässig.
Hundert solcher Auswege wußte Dr. Hulbert und seinem Rate
gegenüber stand die Polizei machtlos da. — Was diese Ausge«
stoßenen der menschlichen Gesellschaft »verdienten«, übergaben sie
getreulich auf Heller und Kreuzer der gemeinsamen Kassa, aus der
der nötige Lebensunterhalt bestritten wurde. — Niemals ließ sich
auch nur eines die geringste Unehrlichkeit zu schulden kommen. —
Mag sein, daß angesichts dieser eisernen Disziplin der Name »das
Bataillon« entstand.
Pünktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglücks
jährte, das den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts
beim »Loisitschek« eine seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrängt
standen sie hier: Bettler, Vagabunden, Zuhälter und Dirnen, Trunken«
bolde und Lumpensammler, und eine lautlose Stille herrschte wie beim
Gottesdienst. — Und dann erzählte ihnen Dr. Hulbert dort von der
Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen — gerade unter
dem Krönungsbilde Seiner Majestät des Kaisers — , seine Lebens«
geschiente: — wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben
und später Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle
kam, wo er mit dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner
jungen Frau trat — zur Feier ihres Geburtstages und zugleich zum
Gedächtnis jener Stunde, da er dereinst um sie anhalten gekommen
und sie seine liebe Braut geworden war, — da versagte ihm jedes-
mal die Stimme und weinend sank er am Tisch zusammen. — Dann
geschah es wohl zuweilen, daß irgend ein liederliches Frauenzimmer
ihm verschämt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halb-
welke Blume auf die Hand legte.
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630 Gustav Mtyrint, Der Gofem
Von den Zuhörern rührte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum
Weinen sind diese Menschen zu hart, — aber an ihren Kleidern
blickten sie herunter und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten
an der Moldau. — Er wird, denke ich, erfroren sein.
Sein Leichenbegängnis sehe ich noch heute vor mir. — Das
»Bataillon« hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mög-
lich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universität in vollem Ornat: in den
Händen das purpurne Kissenpolster mit der güldenen Kette darauf
und hinter dem Leichenwagen in unabsehbarer Reihe das
»Bataillon« barfuß, schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. — Einer
von ihnen hatte sein Letztes verkauft und ging daher: Leib, Beine
und Arme mit Lagen aus altem Zeitungspapier umwickelt und um-
Bunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, draußen im Friedhof, steht ein weißer Stein,
darein sind drei Figuren gemeißelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen
zwei Räubern. Von unbekannter Hand gestiftet. — Man munkelt,
Dr. Hulberts Frau soll das Denkmal errichtet haben.
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vor-
gesehen, danach bekommt jeder vom »Bataillon« mittags »beim
Loisitschek« umsonst eine Suppe/ zu diesem Zwecke hängen hier
am Tisch die Löffel an den Ketten, und die ausgehöhlten Mulden
in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt die Kellnerin
und spritzt mit einer großen blechernen Spritze die Brühe hinein und
wenn sich einer nicht ausweisen kann als »vom Bataillon«, so zieht
sie die Suppe mit der Spritze wieder zurück.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz
die Runde durch die ganze Welt.«
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner
Lethargie. Die letzten Sätze, die Zwakh gesprochen, wehten über
mein Bewußtsein hinweg. Ich sah noch, wie er seine Hände bewegte,
um das Vor- und Zurückschieben eines Spritzenkolbens klar zu
machen, dann jagten die Bilder, die sich rings um uns herum ab-
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Gustav Mtyrint, Der Goftm
631
rollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so gespenstischer
Deutlichkeit an meinem Auge vorüber, daß ich in Momenten ganz
mich selbst vergaß und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen
Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengewühl geworden. Oben
auf der Estrade: Dutzende Herren in schwarzen Fräcken. Weiße
Manschetten, blitzende Ringe. Eine Dragoncruniform mit Rittmeister-
schnüren. Im Hintergrund ein Damenhut mit lachsfarbigen Straußen-
federn.
Durch die Stäbe des Geländers stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah : er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war
da und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rücken dicht ganz dicht
an der Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plötzlich im Tanzen inner der Wirt mußte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise/ sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte/ man fühlte es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck hämischer wilder Freude in
dem Gesicht des Wirtes.
In der Eingangstür steht mit einemmal der Polizeikommissär in
Uniform. Er hat die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen.
Hinter ihm ein Kriminalschutzmann.
»Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? — Ich sperre die
Spelunke. Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die
Wachstube !c
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrötige gibt keine Antwort, aber das hämische Grinsen
bleibt in seinen Zügen.
Bloß starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plötzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen er-
wartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Eine vornehme schwarze Gestalt kommt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommissär zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hängen gebannt an den
herankommenden schwarzen Lackschuhen.
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632 Gustav MeyrtnM, Der Gofem
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen ge-
blieben und läßt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den
Füßen und wieder zurückschweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich über
das Geländer gebeugt und verbeißen das Lachen hinter ihren grau«
seidnen Taschentüchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstück ins Auge und spuckt
einem Mädchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins
Haar.
Der Polizeikommissär hat sieb verfärbt und starrt in der Ver-
legenheit immerwährend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristo^
kraten.
Er kann den gleichgültigen glanzlosen Blick dieses bartlosen unbeweg-
lichen Gesichtes mit der Hackennase nicht ertragen.
Es bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer quälender.
»So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Händen auf
den Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen« — flüstert der Maler
Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: »Ah — Hm.«
er kopiert die Stimme des Wirtes: »Jä, jä, das sin mir
Gästäh — da schaut man.« Ein schallendes Gejohle explodiert im
Lokal, daß die Gläser klirren/ die Strolche halten sich den Bauch vor
Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand und zerschellt. Der vier-
schrötige Wirt meckert uns erläuternd und ehrfurchtsvoll zu: »Seine
Durchlaucht Exzellenz Fürst Fern Athenstädt.«
Der Kavalier hat dem Beamten eine Visitkartehingehalten. Der Ärmste
nimmt sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter
geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
»Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, — äh —
sind meine lieben Gäste« — Seine Durchlaucht deutet mit einer nach-
lässigen Armbewegung auf das Gesindel, »wünschen Sie, Herr Kom-
missär, — äh — vielleicht vorgestellt zu werden?«
Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert etwas
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von »leidiger Pflichterfüllung« und rafft sich schließlich zu
den Worten auf: »Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht.«
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hinter-
grund auf den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im
nächsten Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen
Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen.
Der große kostbare Hut sitzt ihr schief und sie hat nichts an als
lange rosa Strümpfe und — einen Herrenfrack auf dem bloßen
Körper. — — —
Ein Zeichen: Die Musik feilt ein wie rasend
»Rititit — Rititit« —
und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaro-
mir an der Wand drüben ausgestoßen hat.
Wir wollen gehen.
Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hält die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich
langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den Bänken: »Der Loisitschek, der Loisit«
schek«, die Hälse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt
sich ein zweites noch seltsameres. Bin weiblich aussehender Bursche
in rosa Trikots, mit langem blondem Haar bis zu den Schultern,
Lippen und Wangen geschminkt wie eine Dirne und die Augen
niedergeschlagen in koketter Verwirrung, — hängt schmachtend an
der Brust des Fürsten Athenstädt.
Bin süßlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Türe: der Kommissär steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und flüstert hastig mit dem Kriminal«
Schutzmann, der etwas einsteckt. — Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden spähen herüber auf den blatternarbigen Loisa, der
einen Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelähmt — das
Gesicht kalkweiß und verzerrt vor Entsetzen — stehen bleibt.
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634 Gustav Meyrinf, Der Gofem
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort:
Das Bild, wie »Prokop lauscht, — wie ich es vor einer Stunde ge-
sehen — über das Kanalgitter gebeugt — und ein Todesschrei gellt
aus der Erde empor, c
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund
und biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzahne, daß
es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort
hervorbringen kann. —
Ich kann die Finger nicht sehen, — weiß, daß sie unsichtbar sind
— und doch empfinde ich sie wie etwas körperliches.
Und klar steht es in meinem Bewußtsein: sie gehören zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der
Hahnpaßgasse das Buch »Ibburc gegeben hat.
»Wasser, Wasser !e schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den
Kopf und leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
»In seine Wohnung schaffen, Arzt holen — der Archivar Hillel
kennt sich aus in solchen Dingen zu ihm bringen !c — beraten
sie murmelnd.
Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop
und Vrieslander tragen mich hinaus.
Gustav Meyrinß.
C Fortsetzung folgt.)
Für die Redaktion verantwortlich :
Erif» Ernst SaSwaBaS — Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kreuzstraße 3 b.
Für Österreich-Ungarn verantwortlich: Hugo Heßer, Wien I, Bauernmarkt 3.
Gedruckt in der Offizin von PoescßeC 9t Trepte in Leipzig.
Papier von Edm. OBst in Leipzig.
Alle die Weißen Blätter betreffenden Zusendungen sind zu richten an die
Redaktion der Weißen Blätter, Charlottenburg, Sybelstraße 22.
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»
DIE WEISSEN BLÄTTER
EINE MONATSSCHRIFT
ERSTER JAHRGANG
NR. 7 MÄRZ 1914
PUPPEN
Zw den Wacßspuppen von Lotte Pritzef
T TM den Umkreis zu bestimmen, in den die Existenz dieser
\JL Puppen fällt, könnte man von ihnen vermuten, daß es ihrem
Dasein gegenüber keine Kinder gibt, dies wäre gewissermaßen die
Vorbedingung ihres Entstehens gewesen, daß die Welt der Kinder
vorüber sei. In ihnen ist die Puppe endlich dem Einsehen, der Teil-
nehmung, der Lust und dem Kummer des Kindes entwachsen, sie
ist selbständig, sie ist groß geworden, frühalt, sie hat alle Unwirk-
lichkeiten ihres eigenen Lebens angetreten.
Wie bei gewissen Studenten, hat man sich nicht audi vor den
dicken, unveränderlichen Kinderpuppen tausendmal gefragt, was später
aus ihnen würde? — Sind nun hier die Erwachsenen zu jenen, von
echten und gespielten Gefühlen überpflegten Puppen-Kindheiten?
Sind hier ihre, in menschlich übersättigte Luft flüchtig hineingespielten
Früchte? Die Scheinfrüchte, deren Keime nie zur Ruhe kamen, bald
von Tränen fast fortgewaschen, bald der glühenden Dürre der Wut
ausgesetzt oder der Öde des Vergessenseins/ eingepflanzt in die
weichste Tiefe einer maßlos sich versuchenden Zärtlichkeit und hun-
dertmal wieder herausgerissen, in einen Winkel geschleudert zu kan-
tigen, zerbrochenen Dingen, verschmäht, verachtet, abgetan.
Ernährt mit Scheinspeise wie der »Ka«, das Wirkliche, wo's ihnen
durchaus sollte beigebracht werden, verwöhnt an sich verschmierend,
undurchdringlich und in dem äußersten Zustand vorweggenommener
Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgend einer
Stelle einzunehmen/ ohne eigenes Urteil, nachgiebig gegen jeden
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636 Rainer Maria ßt'/Xe, Puppen
Lappen und doch, wenn er einmal angeeignet war, ihn auf eine be-
sondere Art besitzend, nachlässig, selbstgefällig, unrein/ nur im Augen-
aufschlag einen Moment wach, dann sofort mit den unverhältnis-
mäßigen berührbaren Augen offen hinschlafend, wohl kaum imstande
zu unterscheiden, ob das mechanische Lid auf ihnen liegt, oder jener
andere Gegenstand, die Luft/ träge: hingeschleift durch die wechseln-
den Emotionen des Tages, in jeder liegen bleibend/ wie ein Hund
zum Mitwisser gemacht, zum Mitschuldigen, aber nicht wie er empfäng-
lich und vergeßlich, sondern eine Last in beidem/ eingeweiht in die
ersten namenlosen Erfahrungen ihrer Eigentümer, in ihren frühesten
unheimlichen Einsamkeiten herumliegend wie mitten in leeren Zimmern,
als ob es nur gälte, das neue Geräumige mit allen Gliedern grob
auszunutzen, — mitgezogen in die Gitterbetten, verschleppt in die
schweren Falten der Krankheiten, in den Träumen vorkommend, ver-
wickelt in die Verhängnisse der Fiebernächte: so waren jene Puppen.
Denn sie selber bemühten sich nie in alledem/ lagen dann vielmehr
da am Rande des Kinderschlafis, erfüllt höchstens von dem rudimen-
tären Gedanken des Hinunterfallens, sich träumen lassend/ wie sie's
gewohnt waren, am Tag mit fremden Kräften unermüdlich gelebt
zu sein.
•
Wenn man überlegt, wie dankbar Dinge sonst für Zärtlichkeiten
sind, wie sie unter ihnen sich erholen, ja wie ihnen (wenn man sie
nur liebt) selbst die härteste Abnutzung noch als eine zehrende Lieb-
kosung anschlägt, unter der sie zwar schwinden, aber gleichsam ein
Herz annehmen, das sie um so stärker durchdringt, je mehr ihr Kör-
per nachgibt <fast werden sie dadurch in einem höheren Sinne sterb-
lich und können jene Wehmut mit uns teilen, die unsere größte
ist — >/ wenn man dies überlegt und sich erinnert, welche feinfühlige
Schönheit gewisse Dinge sich anzueignen wußten, die ins menschliche
Leben ausführlich und innig einbegriffen waren/ ich meine da nicht
einmal, daß es nötig sei, in Madrid, durch die Säle der Armeria zu
gehen und die Rüstungen, Helme, Dolche und Doppelhänder anzu-
staunen, in denen die reine, kluge Kunst des Harnisch fegers unend-
lich übertroffen wurde durch ein Etwas, das der stolze und feurige
Rainer Maria Riflie, Puppen 637
Gebrauch diesem Gewaffen hinzufügte/ ich denke nicht an das Lachein
und Verweintsein im Innern oft getragener Steine, ich wage nicht,
an eine gewisse Perle zu denken, in der das Ungewisse ihrer Unter-
wasserwelt zu so geistiger Bedeutung gesteigert war, daß die ganze
Unkenntlichkeit des Schicksals in ihrem schuldlosen Tropfen sich zu
beklagen schien/ ich überspringe das Innige, das Rührende, das Ver-
lassen-Nachdenkliche von vielen Dingen, die mich durch ihr schönes
Eingewöhntsein ins Menschliche, da ich vorüberging, erschüttert haben/
nur ganz einfache möcht ich rasch aufrufen: einen Nähstode, ein
Spinnrad, einen häuslichen Webstuhl, einen Brauthandschuh, eine
Tasse, den Einband und die Blätter einer Bibel/ nicht zu reden von
dem großen Willen eines Hammers, von der Hingebung einer Geige,
von dem gutmütigen Eifer einer Hornbrille — , ja wirf nur jenes
Spiel Karten auf den Tisch, mit dem so oft Patiencen gelegt wor-
den sind, schon steht er im Mittelpunkt weher, längst anders über-
holter Hoffhungen. Wenn man sich dieses alles gegenwärtig machte
und man fände im selben Augenblick — sie unter einem Haufen
teilnahmsvollerer Dinge hervorziehend — eine unserer Puppen: sie
würde uns fast empören durch ihre schreckliche dicke Vergeßlichkeit,
der Haß, der, unbewußt, sicher immer einen Teil unserer Beziehun-
gen zu ihr ausmachte, schlüge nach oben, entlarvt läge sie vor uns
da, als der grausige Fremdkörper, an den wir unsere lauterste
Wärme verschwendet haben/ als die oberflächlich bemalte Wasser-
leiche, die sich von den Überschwemmungen unserer Zärtlichkeit
heben und tragen ließ, bis wir wieder trocken wurden und sie in
irgend einem Gestrüpp vergaßen. Ich weiß, ich weiß, wir mußten solche
Dinge haben, die sich alles gefallen ließen. Der einfachste Verkehr der
Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus, mit einer Person, die etwas
war, konnten wir unmöglich leben und handeln, wir konnten uns höch-
stens in sie hineindrücken und in ihr verlorengehen. Der Puppe gegen-
über waren wir gezwungen, uns zu behaupten, denn wenn wir uns an
sie aufgaben, so war überhaupt niemand mehr da. Sie erwiderte
nichts, so kamen wir in die Lage, für sie Leistungen zu übernehmen,
unser allmählich breiteres Wesen zu spalten in Teil und Gegenteil,
uns gewissermaßen durch sie [die Welt, die unabgegrenzt in uns
überging, vom Leibe zu halten. Wie in einem Probierglas mischten
Digitized by Google
638 Rainer Maria R/fie, Puppen
wir in ihr, was uns unkenntlich widerfuhr, und sahen es dort sich
färben und aufkochen. Das heißt, auch das erfanden wir wieder, sie
war so bodenlos ohne Phantasie, daß unsere Einbildung an ihr un-
erschöpflich wurde. Stundenlang, ganze Wochen mochte es uns be-
friedigen an diesem stillhaltenden Mannequin die erste Seide unseres
Herzens in Falten zu legen/ aber ich kann mir nicht anders vor-
stellen, als daß es gewisse, zu lange Nachmittage gab, in denen
unsere doppelten Einfälle ermüdeten und wir ihr plötzlich gegenüber
saßen und etwas von ihr erwarteten. Möglicherweise lag dann eins
von jenen Dingen in der Nähe, die von Natur häßlich und dürftig
und deshalb voll eigner Ansichten waren, der Kopf eines Kaspers,
der nicht umzubringen war, ein halbzerbrochenes Pferd, oder etwas,
was Lärm machte und es ohnehin kaum erwarten konnte, uns und
diese ganze Stube mit allen Kräften zu übertönen. Aber wenn nicht/
wenn nichts dalag und uns auf andere Gedanken brachte, wenn jenes
beschäftigungslose Geschöpf fortfuhr, sich schwer und dumm zu
spreizen, wie eine bäurische Danae nichts anderes kennend, als den
unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung: ich wollte, ich könnte
mich entsinnen, ob wir dann aufbegehrten, auffuhren und dem
Ungeheuer zu verstehen gaben, daß unsere Geduld zu Ende wäre?
Ob wir dann nicht, zitternd vor Wut, vor ihr standen und wissen
wollten, Posten für Posten, wofür sie unsere Wärme eigentlich ge-
brauche, was aus diesem ganzen Vermögen geworden sei? Dann
schwieg sie, nicht aus Überlegenheit, schwieg, weil das ihre ständige
Ausrede war, weil sie aus einem nichtsnutzigen, völlig unzurechnungs-
fähigen Stoff bestand, — schwieg und kam nicht einmal auf den
Gedanken, sich darauf etwas zugute zu tun, ob es ihr gleich zu
großer Bedeutung verhelfen mußte in einer Welt, in der das Schicksal,
ja Gott selber, vor allem dadurch berühmt geworden sind, daß sie
uns anschweigen. Zu einer Zeit, wo noch alle bemüht waren, uns
immer rasch und beschwichtigend zu antworten, war sie, die Puppe,
die erste, die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, das uns
später immer wieder aus dem Räume anhauchte, wenn wir irgendwo
an die Grenze unseres Daseins traten. Ihr gegenüber, da sie uns
anstarrte, erfuhren wir zuerst <oder irr ich mich?) jenes Hohle im
Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht
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Rainer Maria Mi*. Puppen 639
die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Ab«
gründe hinüberhöbe. Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, daß wir
uns gehen und anleiten lassen, unsere erste Neigung dort anzu-
legen, wo sie aussichtslos bleibt? So daß überall in den Geschmadc
jener unüberlegtesten Zärtlichkeit die Bitternis sich verteilte, daß sie
vergeblich war. Wer weiß, ob nicht mancher später, draußen im Leben,
aus solchen Erinnerungen den Verdacht nimmt, daß er nicht zu
lieben sei? Ob nicht in dem und jenem seine Puppe heillos weiter«
wirkt, so daß er hinter vagen Befriedigungen her ist, einfach aus
Widerspruch gegen das Unbefriedigtsein, mit dem sie sein Gemüt
verdorben hat? — Ich entsinne mich, auf dem Herrenhaus eines ab-
gelegenen russischen Gutes, in den Händen der Kinder, eine alte
vererbte Puppe gesehen zu haben, der die ganze Familie ähnlich
sah. — Es könnte ein Dichter unter die Herrschaft einer Marionette
geraten, denn die Marionette hat nichts als Phantasie. Die Puppe hat
keine und ist genau um so viel weniger als ein Ding, als die Marionette
mehr ist. Aber dieses Wenigersein-als-ein-Ding in seiner ganzen
Unheilbarkeit, enthält das Geheimnis ihres Übergewichts. An die
Dinge muß sich das Kind gewöhnen, es muß sie hinnehmen, jedes Ding
hat seinen Stolz. Die Dinge dulden die Puppe, keines liebt sie, man
könnte meinen, der Tisch wirft sie ab, kaum sieht man fort, liegt
sie schon wieder auf dem Fußboden. Anfänger der Welt, die wir
waren, konnten wir über nichts überlegen sein, als höchstens über
einen solchen halben Gegenstand, der uns hingelegt worden war, wie
man den Tieren in den Aquarien einen Scherben hinlegt, damit sie
an ihm ein Maß und Kennzeichen ihrer Umwelt fänden. Wir orien-
tierten uns an der Puppe. Sie lag tiefer von Natur, so konnten wir
unmerklich gegen sie abfließen, uns in ihr sammeln und, wenn auch
ein wenig trübe, die neuen Umgebungen in ihr erkennen. Aber wir
begriffen bald, daß wir sie weder zu einem Ding noch zu einem
Menschen machen konnten, und in solchen Momenten wurde sie
uns zu einem Unbekannten, und alles Vertrauliche, womit wir sie
erfüllt und überschüttet hatten, wurde uns unbekannt in ihr.
Daß wir dien aber dann doch nicht zum Götzen machten, du Balg,
und nicht in der Furcht zu dir untergingen, das lag daran, will ich
dir sagen, daß wir dich gar nicht meinten. Wir meinten etwas ganz
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640 Rainer Maria Riße, Puppen
anderes, Unsichtbares, das wir über dich und uns, heimlich und
ahnungsvoll, hinaushielten, und wofür wir beide gleichsam nur Vor-
wände waren, eine Seele meinten wir: die Puppenseele.
• *
*
Große mutige Seele des Schaukelpferds, du Wellenbadschaukel
des Knabenherzens, die die Spielzimmerluft aufregte, daß sie wie
über den berühmten Schlachtfeldern der Erde sich überschlug, stolze,
glaubwürdige, fast sichtbare Seele. Wie du die Mauern, die Fenster-
kreuze, die täglichen Horizonte zum Schwanken brachtest, als rüt-
telten schon die Stürme der Zukunft an diesen überaus vorläufigen
Übereinkünften, die, im Anstehn der Nachmittage etwas so Unüber-
windliches annehmen konnten. Ach wie rissest du einen, Schaukel-
pferdseele, hinaus und hinüber ins unaufhaltsam Heldische, wo man
heiß und glorios unterging mit der schrecklichsten Unordnung in den
Haaren. Dann lagst du daneben, Puppe, und hattest nicht soviel
Unschuld zu begreifen, daß dein heiliger Georg das Tier deiner
Stumpfheit unter sich wiegte, den Drachen, der unsere flutendsten
Gefühle in dir zur Masse werden ließ, zu einer perfiden gleichgül-
tigen Unzerbrechlichkeit. — Oder du, überzeugte Seele der Tram-
bahn, die in uns fast überhand nehmen konnte, wenn wir nur mit
einigem Glauben an unsere Wagennatur in der Stube herumfuhren.
Seelen, ihr, aller der einsamen Spiele und Abenteuer/ einfältig ge-
fällige Seele des Balls, Seele im Geruch der Dominosteine, uner-
schöpfliche Seele des Bilderbuchs. Seele der Schultasche, gegen die
man schon ein wenig mißtrauisch war, weil sie's oft ganz offen mit
den Erwachsenen hielt/ taube Trichterseele der braven, kleinen Blech-
trompete: wie wart ihr alle leutselig und beinahe greifbar. Nur du,
Puppenseele, von dir konnte man nie recht sagen, wo du eigentlich
warst. Ob du dich gerade bei einem aufhieltest, oder bei der schläf-
rigen Kreatur da drüben, der man dich beständig einredete/ sicher
verließen wir uns oft einer auf den anderen und am Ende hielt dich
keiner, und du wurdest mit Füßen getreten. Wann warst du eigendich
jemals gegenwärtig? Am Geburtstagsmorgen vielleicht, wenn eine
neue Puppe dasaß und sich fast etwas Körperwärme aneignete von
dem noch warmen Kuchen neben ihr? Oder am Vorabend von
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Rainer Maria Ritte. Puppen 641
Weihnachten, wenn die bisherigen Puppen die überwiegende Nähe
der künftigen ahnten durch die seit Tagen unzugängliche Zimmertür?
Oder, mit mehr Wahrscheinlichkeit, wenn eine Puppe so plötzlich
hinfiel und häßlich wurde: da war's eine Sekunde, als überraschte
man dich. Audi, glaube ich, warst du imstande, so ungenau weh-
zutun wie beginnender Zahnschmerz, von dem man noch nicht weiß,
wo er eigentlich sein wird, wenn die Lieblingspuppe Anna plötzlich
verloren ging, nie wiedergefunden werden sollte in alle Ewigkeit:
weg war. Aber im Grunde war man so beschäftigt, dich zu erhalten,
daß man keine Zeit hatte, dich festzustellen. Ich habe kein Urteil
darüber, wie es ist, wenn ein kleines Mädchen stirbt und eine ihrer
Puppen (vielleicht eine, die bis dahin recht vernachlässigt war) nicht
von sich läßt, auch ganz zuletzt nicht, so daß das arme Ding,
ordentlich dürr und welk von der heiß zehrenden Fieberhand, ins
Ernste, Endgültige mit hineingerissen wird: ob dann ein bißchen
Seele sich in ihm sammelt, neugierig, eine wirkliche Seele zu sehen?
«
O Puppenseele, die Gott nicht gemacht hat, du, von einer un-
besonnenen Fee launisch erbetene, von einem Götzen mit Überan-
strengung ausgeatmete Ding-Seele, die wir alle, halb ängstlich, halb
großmütig, erhalten haben und aus der keiner sich völlig zurück-
nehmen kann, — o Seele, die nie recht getragen worden ist, die
immer nur, beschützt von allerhand altmodischen Gerüchen, in Auf-
bewahrung war <wie die Pelze im Sommer): siehe, da sind nun in
dich die Motten gekommen. Zu lange hat man nicht mit dir gerührt,
nun schüttelt dich eine Hand, besorgt und mutwillig zugleich, ~ sieh
sieh, da flattern aus dir alle die kleinen wehleidigen Falter hervor,
unbeschreiblich sterbliche, die im Augenblick, da sie zu sich kommen,
schon anfangen, von sieb Abschied zu nehmen.
So haben wir dich am Ende recht zerstört, Puppenseele, indem
wir dich in unseren Puppen zu pflegen meinten, sie waren wohl
schon die Larven, die dich ausfraßen ~, da erklärt es sich auch, daß
sie so dick und träge waren und daß an sie keine Nahrung mehr
anzubringen war.
Nun flüchtet dieses neue, scheue Geschlecht hervor und flattert
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642
Rainer Maria Rittie. Puppen
durcb unser dunkles Gefühl. Sieht man es, man möchte sagen, daß
es kleine Seufzer sind, so dünn, daß für sie unser Ohr nicht mehr
ausreichte, sie erscheinen, schwindend, an der schwankendsten Grenze
unseres Gesichts. Denn dies allein beschäftigt sie: hinzuschwinden.
Geschlechdos wie die Kinderpuppen selbst es waren, finden sie
keinen Untergang in ihrer anstehenden Wollust, die nicht Zufluß
noch Abfluß hat. Es ist, als verzehrten sie sich nach einer schönen
Flamme, sich falterhaft hineinzuwerfen <und dann müßte der augen-
blickliche Geruch ihres Aufbrennens uns mit grenzenlosen, nie ge-
wußten Gefühlen überfluten). Wie man das so denkt und aufsieht,
steht man, fast erschüttert, vor ihrer wächsernen Natur.
Rainer Maria Rifäe.
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Kart Offen, Mistra, aus Afßanien
643
MISTRA/ AUS ALBANIEN
|\ER Morgen senkte die zitternden Lote seiner ungewissen Blicke
1— J auf die Ebene zu Fußen dem Taygetos, die noch fröstelnd
vom Tau der Nadit versdiauerte. Mit der steigenden Sonne, die
weit hinter der Berge Granitgewölben ansdiwoll, schrumpften Nebel
und Dunst zu Schatten, die Kälte und Blindheit um uns senkten.
»Die Quelle hier am Grund der steilen, schwarzen Höhe, ent-
stand durch ein Erdbeben. Qualm und Feuer brachen plötzlich aus
den Kluften und dann versiedite das Wasser oben in der Stadt,
das letzte Lebendige von Anbeginn zog sich zurück aus ihren
Trümmern und Gräbern. Nun mahlt die Sonne gelben Staub aus
ihren Steinen. Um uns aber wachsen und blühen Reben und Zypressen,
und den Ziegen fehlt es nie an saftigem Gras auf den Weideplätzen
der Niederung.«
Der Sohn des Popen Papanikolaou deutete seitwärts vom Tayge-
tos auf eine gelbe Felswand. Ockerfarben rauchte Lohe trocken in
die blendende, gesättigte Bläue des Firmamentes.
Im Zickzack führten Maultiersteige zwischen hohen gelben Mauern
hinan, aus deren Fugen buntes Unkraut leise wuchert. Klagend
öffnet sich endlich der Weg wie eine Trompete. Uralte Steine sind
kantig, hartnäckig schief eingelassen, wie Keime felsiger Saat ragen
sie spitz empor. Dazwischen wackelt Gras, mannshoch, trübe und
schmutzig. Ein breites ungeschmücktes Tor springt vorsichtig über
den Kehricht. In seinem Schatten lauert hinterhältig die erste Kirche,
glühendrot. Eingestürzt und knöchern klafft die Krypta, von Gestrüpp
wirr umhaart/ eine Kuppel rollt trübe grüne Ziegel, Schuppen fauler
Fische gleichend. Hohe Häuser, durchlöchert, ohne Fenster. Kubische
Backöfen zweckloser Gluten, rechts und links Ruinen einödiger
Paläste, gebraten in der Tage Hitze, gefroren in der feuchten Kälte
der Nächte. Ratten, Füchse und Hyänen poltern und klabautern
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Karf Otten, Mistra, aus AfBanien
durch das Gerümpel. O Stadt der Geister, hieratisch strenge Quader*
Straßen. Ihr Kirchen mit den blassen und roten Heiligen, flach und
zeigend, mit der Geste an die bröckelnden Mauern angeheftet.
Hinter den Altären ärmliche Säcklein aus Kattun, Knochen der Arme
und Beine, Schulterschaufeln, Schädel von Kindern klein und Weibern,
wie Knicker im Säckchen aufgehängt. Die trockene Luft staut sich
vom Dunst des Knochenmehls geschwängert und vergeht in sich.
Ihr prächtigen Säulen schwersten Marmors mit den infantilen Kapi-
talen in Hast geschnitzt, Wirrnis und Angst der Ornamente, die
Spiralen und Kurbeln und Knäuel in den Spinngewebeecken häufen.
Der Pantokrator blickt auf Gras und Knochen, auf Staub und Moder
aus streng gefesselten Mondaugen. Fledermäuse und Uhus hocken
in den Nischen hinter dem pentelischen Gerüste des Ikonostasios. In
diesem Kerker ließ Konstantinos Paläologos sich schmachten und von
erruhter Größe umträumen. Hier schlug man ihm den Nacken durch
und sein weicher Mund spie blaues Blut und biß in die grünende Erde.
Konzentrisch kreisen Gassen um schiefe Plätze, wo Grassamen
flattert, vorne dröhnen deine Paläste wie Burgen, ihr Rücken knackt
im Staub der Hütten. Trübes Leuchten vom glatten Glanz polierter
Fensterkreuze! Angst der Brücken, Flucht versprengter Straßen, er-
stickt im Mörtelstaub, Bruch und Trümmersturz. Euch wusch der
Regen der Gewitter blind, was die Bluttränen deiner Völker nicht
vermochten, von raschem Tode dahingerafft. Atemlosigkeit und Zug
und verklammerte Angst deiner Wege. Hier sollten Europas Bor-
delle angepflanzt werden. Beim Schein des dicken Mondes, der des
Taygetos rissige Flanken abwärts kugelt, erheben sich Georgios,
Leonidas, Loukas aus ihren Höhlen, rappeln sich die Skelette aus
den Massengräbern. Mörder auf Weg und Steg, Hinterhalt, Verrat,
Erpressung. Wie ließe sich das letzte Geheimnis der Raffinesse
dieser Weiber kristallisieren! Und die Angst vor dem Mord und
die Mysterien der roten Laterne. Die trüben Gefängnisse von Athen
und Nauplia müssen her und die Irren aus den Klöstern Thrakiens.
Die letzte Rettung für euer Siechtum, für den Sturz in die Tiefe
der Verwesung ist das Kloster der Frauen, das offen wie ein Schoß
am Berge klebt. Festung der Keuschheit, mauergekrönt, Zinnen aus
Bernstein, funkelnde Tiefe der Goldmosaiken im Hallen der Gewölbe.
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Karf Offen, Mistraj aus Afßanien
645
Ihr Nonnen, die ihr im Hof in starrer Stummheit schleicht, ihr
müßt eure Gewänder wechseln! Fort mit den verwaschenen, ver-
schossenen Kaftans, die olivenfahle Trübnis hilflos spiegeln. Gotr
steh euch bei! Ihr wurdet fett und mundfaul und eure Zöpfe sind
Dochte, die nunmehr Schweiß saugen. Das öl der Frömmigkeit habt
ihr verbrannt und nun jammert ihr dem Heiland -Bräutigam eures
Singsangs ungestillte Trostlosigkeit zu, bis an euren Tod. Und ihr
werdet eurer Knochen liebliches Rund den bruchigen Skeletten zu-
gesellen zu freudlosem Todesbeischlaf.
Nonnen Mistras, ihr verkörpert die muffige Unfruchtbarkeit des
Todes dieser Stadt. Ihr macht sie lebendig, ihr infiziert sie immer
wieder mit unstillbarer Sucht nach Enkeln. Aber die Straßen und
Häuser, die Kirdien und Ställe sind monotonen Schicksals geborstene
Krüge. Soviele Fenster soviel Blindheit, soviel Brücken soviel Dürre,
soviel Dächer soviel Blöße, soviel Kuppeln soviel Schweigen und
Bosheit. Du stummes Tier in der Haut des Berges, du maskierte
Leiche mit dem Visier des Goldes, noch niemand erkannte ich dich von
der Ebene aus. Du bist scnamlos und zwingst uns in deinem Leib
zu wühlen, du öffnest Gruben und Fallen um uns zu Fall zu
bringen. Die rosigen Brüste deiner Kuppeln, die braunen Haare
deiner lechzenden Steingefilde schmachten lüstern aus der Front.
Schützender Traum des letzten Byzantiners! Der Moslem trieb
die Schafe deiner Wehren in das Bett der reißenden Tiefe, ertränkte
deine Wälle mit Blei und schminkte deine Wege mit Blut. Die Häute
deiner Weiber wehten von den Beinknochen deiner Männer und
deine Gewölbe bersten von Kadavern und Spinnen. Nun walten
Mumien braun und dürr der Stille. Ihr Atem weht Staub, ge-
schwängert von widerlichem Duft. Von oben sendet der Lawinen-
rutsch und -stoß Felsgeröll, Sand und Bäume, deine letzten Stützen
einzurammen. Das Maultier, das den Nonnen Mehl und Wasser
zuträgt, muß jedes Frühjahr andere Wege suchen. Bis die letzte
den weißen Schleier unterm Kinn zum Stricke windet und mit dem
Kopfe: Tod! in den Wind der Berge läutet.
Karf Oüen.
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646
FLAUBERT UND DOSTOJEWSKI
GRUNDRISS EINES VERGLEICHES
»Wir nehmen keine DurAsdmittsphilosophie an,
denn wir glauben an das Ende, sehen das Ende, wollen
das Ende, denn wir selbst — sind ein Ende, oder
wenigstens der Anfang vom Endete
Meresdikowsky.
UF die Gefahr hin, des ärgsten Asthetizismus geziehen zu
J~~\ werden, möchten wir von der Behauptung ausgehen, daß keine
Nation, keine Volkseinheit, keine von jenen natürlichen Größen,
welche duren das Fluidum Sprache zusammengehalten werden, sterben
kann, auszusterben wagt, ohne ganz bestimmte Möglichkeiten ver-
wirklicht zu haben, die, gesondert betrachtet, einen ausschießlich
künsderischen Wert zu haben scheinen. Die Künstler haben aller-
dings alle persönlichen Beziehungen zum sogenannten Leben größten-
teils aufgelassen, um sich auf einen diplomatischen Verkehr mit den
unmittelbaren Realitäten zu beschränken <die da heißen: Geld, Pu-
blikum usw.)/ um ein Ideal aufzustellen, das zwischen Sein und Un-
sein hängend eine ewig quälende Frage gebiert, anstatt eine ewig
gültige Antwort zu schaffen. Nun : das Hinhorchen nach diesem be-
ständig lispelnden, murmelnden, gurgelnden Rätsel, das Herum-
schleichen um das Lager der Sphinx, das kosmische Nichts- Wissen
und Nichts- Wissen- Wollen können so viel zehrende Wollust und
freudige Pein mitteilen, daß ein schmerzlicher Verzicht in der Ein-
sicht liegt, jede bisher erreichte künstlerische Vollendung sei in jedem
einzelnen Falle nur in vollkommener Übereinstimmung mit einer
nationalen Eigenart erreicht worden. Der Beweis dafür ist am leich-
Otto Kaus, Ttaußtrt und Dostojewski 647
testen durch die Beobachtung gegeben, daß gerade die extremsten
Realisierungen ästhetischer Möglichkeiten am deutlichsten die Ent-
fernungen ahnen lassen, welche Volk von Volk trennen. Obwohl
eine beängstigende Analogie aus allem Gedanklichen jener Werke
herausgelesen werden kann, die man als »klassisch« ansehen muß/
obwohl die Zauberformeln, Schlußfolgerungen/ Wahrheiten und Lögen
letzten Endes immer dieselben sind/ obwohl uberall der Stein der
Weisen ein Synonym für Gold ist/ obwohl überall dieselbe Sonne
aufgeht, derselbe Mond scheint, derselbe unbekannte Gott waltet.
Jedes Volk, jeder Mensch steht am Ende seiner Tat oder seines
Lebens vor derselben Mauer, dem gleichen Abgrund.
Aber die Wege, auf denen er zu seinem Ziele gelangt, sind bei
jedem verschiedene. Der Tod gleicht alle Unterschiede aus, aber
Krankheiten gibt es viele.
Flaubert und Dostojewski standen beide vor derselben Aufgabe:
das Epos. Beide haben ihre Aufgabe rühmlich vollbracht, so daß
man die Empfindung hat, sie hätten nicht nur irgend ein Ausdrucks-
mittel ihrer Rasse vervollkommnet, erschöpft, sondern mehr: als
hätten sie das ganze Schicksal ihres Landes beschleunigt, nach einer
Seite hin erfüllt, als würden sie jetzt teilnehmen an jedem Sieg, an
jeder Niederlage, als leisteten sie ihren Brüdern Gesellschaft bei der
Arbeit und in der Muße, in Freud und Qual, im Wachen und
Träumen. Man denkt durch sie, man spricht durch sie, man liebt
durch sie/ sie sind die Linse im Auge und ein Schleier über allen
Dingen/ ein Schleier, der nicht verhüllt, sondern aus Glanz und
Licht gewoben zu sein scheint, denn die kleinen und großen Dinge
empfingen die Gabe des eigenen Leuchtens, des sprechenden Lichtes.
Beide Dichter bestanden dieselbe Prüfung, beide beantworteten das
Rätsel der Sphinx mit der gleichen Lösung. Das stimmt so genau,
daß es sich sogar an literar« historischen Begriffen nachweisen läßt:
Frankreich und Rußland sind die einzigen europäischen Nationen,
die ein realistisches Epos besitzen (wobei wir unter Realismus den
Gipfelpunkt des Klassizismus verstehen möchten).
Daher leiten wir die Berechtigung ab, diese zwei Namen in einem
Atem zu nennen. Mehr als sie einander gegenüberstellen, kann man
unmöglich tun/ zu vergleichen, das heißt: Analogien aufzudecken,
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645
Otto Kaus. Tfaußert und Dostq/ews/ti
<und Gegensätze sind auch Analogien, negativer Art) ist ein frucht-
bares Beginnen nur bei Phänomenen, die sich in der Entwicklung
befinden/ fertige Tatsachen widerstreben jeder Annäherung. Ich
glaube nicht, daß sich die beiden Dichter irgendwie befreundet hätten,
gemeinsame Interessen, gemeinsame Gewohnheiten gefunden hätten,
wenn sie sich in ihrem Leben jemals begegnet wären, — etwa zur
Zeit, da Flaubert an der »Education sentimentale« und Dosto-
jewski am »Idioten« schrieb. Es wäre bei einer kühlen Verbeugung
geblieben. Der Franzose hätte sich höchstens über das linkische Be-
nehmen des Russen gewundert und der Russe hätte sich gedacht:
schon wieder so einer, der die Verderbnis aussät. <Vide: die Fran-
zosen im »Spieler«.) Man denke nur an den Zwiespalt zwischen
Dostojewski und dem romanisch angehauchten Turgenjeff, der wieder
der beste Freund Flauberts war!
Denn das ist auch eine Tatsache, welche den engen Rahmen der
puren Ästhetik sprengt: daß nur jenen Individuen die Fähigkeit ge-
geben wurde, »klassisch« zu wirken, welche es verstanden, die ver-
borgenste Fiber ihres Fleisches mit dem hellsten Strahl ihres Geistes
zu verweben/ welche sich einem Prozeß der restlosen Entmateriali-
sierung unterwarfen, welche keinen Unterschied kannten zwischen
Werk und Leben. Deren Dasein neben dem Werke wie ausge-
löscht, in Demut versunken wirkt. Durch diese Einsicht dringt man
in ein wild umstrittenes und geizig überwachtes Gehege. Und es
scheint in der Tat von vornherein keine vernünftige Beziehung
zwischen der Art und Sitte zu liegen, nach welcher ein Mensch geht,
steht, liebt und ißt, und den Zielen, die er beim Schreiben und
Schatten verfolgt. Aber es ist von vornherein auch ein kunst-
fremdes Phänomen: daß ein Mensch im Sakko anders spricht, als
ein Mensch in der Toga. Die Seele des Dichters ist doch einfach
ewig, nicht wahr? und die Römer hatten auch einen Alltag? Harmonie
der Farben und Linien, Kontrapunkt, Steigerung und Spannung
sind überall möglich? Und doch sind das Dämme, Schranken, gegen
welche Generationen und Generationen ihre Heere entsenden, ohne
sie überwinden zu können. Bis einer kommt, dem die letzte Prüfung
keine Prüfung ist, das letzte Opfer kein Opfer, der aus der größten
Nähe zu den Dingen, die höchste Kunst, die letzte Ferne schafft.
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Otto Kaus, TtauBert und Dostojewski
649
Nicht als ob ihm dann alle Hilfsmittel mühelos zuströmten, auch
seiner harren unendliche Mühen, blutige Niederlagen — aber der
Erfolg ist eigentlich in ihm, noch bevor er einen Finger gerührt hat.
An Dostojewskis Werk haben die zehn Jahre Katorga und die
Zwangsarbeit in Sibirien kaum einen geringeren Anteil, als seine
rechte Hand, welche die unberechenbare Arbeit Wort für Wort,
Buchstaben um Buchstaben praktisch erledigte. Flauberts Reise nach
Ägypten ist wichtig wie irgend eines seiner Werke. Und zwar darf
man die Bedeutung dieser Ereignisse nicht einfach daraus deduzieren,
daß sie den Künstlern Stoff und Material boten/ der Zusammen-
hang ist tiefer, intensiver. Die Reise nach Ägypten entspricht einer Er-
oberung der Welt, ist im Leben Flauberts, was im Leben Europas
die Entdeckung Amerikas bedeutet. Wenn sie unterblieben wäre —
nun, so wäre etwas Anderes, Gleichwertiges geschehen. Aber es
mußte geschehen. Dostojewski trug Sibirien in sich, weil er ganz
Rußland in seiner Seele trug/ weil seine Seele bald wie ein Leichen-
tuch über Rußlands Leiche lag, bald wie eine Fahne von der höchsten
Zinne flatterte/ er ertrug Sibirien so leicht, weil er schon hundert
Belastungsproben durchgemacht hatte: jeder seiner Gedanken barg
in sich das Klirren der Ketten, das Hämmern der Bergwerke, das
Klatschen der Knuten. Den einen fesselt der Versuch, vor seinem
Lande zu fliehen, die Seele seines Volkes ebenso zu verleugnen,
wie er seine eigene Seele verleugnen möchte, stärker an seine
Mission, als jede Vaterlandsliebe. Der andere sieht aus der tiefsten
Schmach die alldurchdringende Erlösung wachsen.
Dabei gibt es wenige Künstler, die uns, sobald wir uns ent-
schlossen haben, ihr Werk als Hintergrund ihrer Persönlichkeit, ihre
Persönlichkeit als Hintergrund ihres Werkes in unser Blickfeld auf-
zunehmen, gleich diesen beiden in der ersten Impression so viel
Enttäuschungen, so viel Erstaunen mitteilen. Es überfällt uns ein
Gefühl der Befremdung, welches durch die wenigen Verständlich-
keiten, die sich hier und da von selbst ergeben, nur noch ärger be-
lastet wird. Denn alle unmittelbar auffallenden Analogien vertragen
650
Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski
nicht die leiseste Nachprüfung und schrumpfen zusammen, wenn man
sie zu Eingangspforten zu besserem Verständnis erweitern will. Vage
Analogien wären z. B. alle rein äußerlichen Übereinstimmungen,
zwischen Leben und Oeuvre <wir haben einige schon genannt: »Sa-
lammbö« — Reise nach Ägypten »Erinnerungen aus einem Totenhaus«
— Katorga, die Liebe zu Madame Schlesinger — Madame Arnoux/
Dostojewskis Epilepsie — das periodische Irresein der Fürstin Mischkin)/
ferner alles, was die »Rasse« durch einfachen aktuellen Kontakt ab-
gefärbt zu haben scheint. Die Einfachheiten der Dichter sind ganz
anderer Art, und eine unmittelbare Wärmeproduktion durch primi-
tive Reibung ist bei ihnen ausgeschlossen/ alle Strahlen, die von
ihnen ausgehen, kommunizieren wohl mit Lichtquellen, die hinter,
vor und neben ihnen stehen, aber beim Durchgang durch das Me-
dium ihrer Seele sind die Ablenkungen und Reflexionen so vielfach
und kompliziert, daß man es Zufall nennen könnte, wenn der Aus-
trittsstrahl parallel zum Einfallstrahl schwingt: Zufall, wenn wir uns
nicht in der Sphäre der Notwendigkeiten bewegten. Es wirkt banal,
gerade weil es logische Berechtigung hat, Foma Fomitsch gegenüber
vom »Schmarotzerproblem« zu sprechen/ in »Madame Bovary« das
Provinzielle aufzudecken /Petersburg als Verwaltungsstadt im »Doppel-
gänger« wiederzufinden/ die »Legende« ohne weiteres mit dem Livre
d'heures du Chevalier d'Etienne von Fouquet zu verknüpfen. Wir
halten es sogar für voreilig, ohne weiteres den Idioten als den rus-
sischen Christus zu begrüßen, aus Salammbö die Hochkultur zu er-
kennen, aus welcher Flaubert schafft. Das höchste Gebot des Russen
heißt: unterwerfe dich dir in dir ist die Einheit! Mag sich ihm
auch gleich Einheit als Zusammenhang mit dem Volk interpretieren,
so müssen wir seinen Spuren folgen und zuerst die Grenzen seiner
objektiven Einheit zu zeichnen suchen. Der Franzose sieht im Ich
den größten Feind der Allgemeinheit (unterwerfe dich) und zerhackt
und zerstückelt sich, bis er alle Schwere von sich abgewälzt hat.
Aber wir müssen diesen Zerbröckelungsprozeß mitmachen, wenn
wir sein Ziel begreifen wollen.
Am eindringlichsten kann man den Unterschied zwischen den beiden
Betrachtungsweisen an einer nebensächlichen Einzelheit erläutern.
Luschkin besucht Raskolnikow und_ was uns der Dichter zuerst mit-
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Otto Kaus, TCaußert und Dostojewski 651
teilt, Ist, daß dieser Mensch besondere Sorgfalt auf seine Wäsche
legt. Flauberts erste Sorge besteht darin, uns über die Vermögens-
verhältnisse seiner Helden aufzuklären. Ganz abgesehen davon, daß
man im ersten Falle von einer Kontrastwirkung sprechen könnte
<der verlotterte Raskolnikow — der Modegeck Luschkin), was nur einen
guten Beweis für die Kommunion von Technik und Seele beim form*
los gelästerten Russen erbringt, ist es so naheliegend, auf die »Kul-
tur« des Franzosen hinzuweisen, dem es selbstverständlich wird,
daß ein Mensch, der einem bestimmten Zensus angehört, seine äußere
Erscheinung nach bestimmten Ansprüchen kombiniert. Und doch ist
andererseits das russische Problem mit dem Abscheu unserer Jour-
mütter vor Leuten mit schmutzigen Krägen nicht abgetan. Die Platt-
heit der zweiten Argumentation entwertet den Tiefeinn der ersten.
Man braucht sich jedoch nur vorzuhalten, daß der Weg vom Be-
griff: Mensch, zum Begriff: Hemd, ein ganz anderer ist, als von:
Mensch zu »Kapital« <ob kürzer oder länger, ist in diesem Augen-
blick unwichtig), um einzusehen, daß man uns ebensowenig ver-
bieten kann, unser Augenmerk auf die Details zu lenken und sie in
den großen Zusammenhang einzubeziehen, als man uns verwehren
könnte, von Rembrandts Lichtreflexen, selbst mit Ausscheidung seiner
Köpfe, seiner Augen, seiner Palludamente direkt auf seine Religio-
sität zu schließen, von Watteaus »flachem Dreieck« ohne Beachtung
der Masken und Schäferinnen, des farbigen Rausches und des Flucht-
bedürfnisses, welches die Paare in die Cytherenbarke treibt <wie vor
einer Sintflut eigener Art), unmittelbar auf eine hinter der Kulisse
des Genusses und der Lust <die aufsteigenden Äste der Figur)
schlecht kaschierte Lebensöde und Leere, auf ein Nicht-beherrschen-
können der Welt überzugehen <die weit ausgreifende, im Vergleich
zum lastenden Objekt viel zu wuchtige Grundlinie).
Alle die Analogien, die wir früher zu verurteilen schienen, müs-
sen uns jedoch, wenn wir uns anstatt von der Oberfläche gegen den
Mittelpunkt, in der entgegengesetzten Richtung bewegen, wieder in
den Weg treten, und vielleicht sogar dasselbe Vorzeichen tragen,
dieselben Werte bergen, die wir jetzt verleugnen müssen, da sie als
Ausgangspunkt viel zu seitlich liegen. In weiten Umrissen ist der
Eindruck, den Flaubert und Dostojewski als einheitliche Phänome
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652 Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski
mitteilen, Ist der Zwiespalt, den ein rationelles Verstehen -Wollen
zwischen ihrem Leben und Schaffen erkennen muß, durch folgende
Überlegungen umschrieben:
Wir wissen, daß beide Dichter von furchtbaren, zentnerschweren
Sorgen besonderer Art erfüllt waren, die durch ihre Dimensionen,
ihre Gewaltsamkeit und Fülle an Stoff und Bedeutung das Werk,
die Mühe um das Werk zu überragen, zu erdrücken drohen/ welche
ihre Persönlichkeiten, die bei ungenauer Betrachtung schmächtig und
ungebunden, uninteressiert, schwach erscheinen, eben weil sie von
der Atmosphäre ihrer eigenen Welt aufgesogen werden, in einen
Quadernbau von Gedanken und Gefühlen, Stärken und Schwächen,
Bewußtheiten und Verborgenheiten verwandeln. Hinter ihrer Freiheit
wächst ein ungeheurer Zwang, wie auf einen Zauberwink ist unser
Urteil über ihr Menschentum verschoben. Für uns Westeuropäer,
die selbst der Sozialdemokratie wenig Geschmack mehr abgewinnen,
und unser Realitätsbedürfnis durch Rekordberichte und Sturzflüge
decken, für uns Deutsche, .die wir das »Mutter, mich hungert« in
den »Webern« schon als ein Minus an der Kunst des Werkes emp-
finden, hat es etwas Befremdendes, daß Dostojewski, in dem wir
einen so ausgezeichneten Romanschriftsteller, »Romancier«, schätzen,
wirklich und tatsächlich unsäglich unter dem Zweifel litt, ob die Bauern-
befreiung wünschenswert sei oder nicht, ob Christus oder die Auf-
klärung siegen werde/ warum die Geschworenengerichte in Rußland
schlecht funktionieren, welches Ziel, welche Formel das russische
Volk aus den Niederungen der unaufrichtigen Ergebenheit und un-
tätigen Unzufriedenheit reißen könnte/ ob es überhaupt diesem Volke
gelingen könnte, sich zur Einheitlichkeit emporzuranken/ ob der
»Deutsche« recht habe oder der Bauer. Der Dichter empfindet jede
Zwiespältigkeit im Millionenreich als einen Riß durch seine eigene
Seele, erlebt die ganze Nuancenskala der russischen Gärungen, Hoff-
nungen, naiven Ideale und fieberhaft verzweifelten, höllisch gewalt-
samen Methoden/ quält sich in unbeschreiblicher Weise um Fragen
rein politischer, nationalökonomischer, soziologischer Natur, bis hin-
unter zum großen Problem: warum die Tiere gequält werden? Seine
Kunst entwickelt sich ganz abseits von diesen Sorgen, in seinem
ganzen Werk findet sich kein einziger Satz, der als Programm oder
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Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski
653
auch nur als persönliche »Ansicht« aufgefaßt werden könnte. Bs
wäre uns ganz unmöglich, ohne Zuhilfenahme von intellektuellen
Überlegungen und rational erhärteten Erfahrungen, also von kunst-
fremden Elementen aus den Schriften des Dichters auch nur die
Pose des »Apostelhaften« zu konstruieren, die ihm (sozusagen nach
beglaubigten Zeugnissen) zukommt. Andererseits ist es besonders in
der letzten Zeit eine beliebte Aufgabe für die Vertreter der ver-
schiedensten Doktrinen geworden, aus den Werken des Dichters
Systeme zu deduzieren, philosophischer, juristischer, pädagogischer Art,
Systeme der Weltpolitik, des Glaubens. Für einen, der sich bemüht
hat, das ungeheure Feld des Dunkels, der Nacht, der Verschwiegen-
heit zu durchmessen, das Dostojewskis Gedanken von seiner Kunst
trennt, ist die Erfolglosigkeit solcher Versuche eine bewiesene Tat-
sache, solange sie das Hauptgebot übersehen: »Unterwerfe dich dir«.
Alles, was man in dieser Richtung zusammenstellen mag, ist mit
Bezug auf den Dichter selbst unwahr und erlogen, denn es findet
sich sicher auf der nächsten, wenn nicht auf derselben Seite das
Gegenteil mit derselben Schärfe, Wahrscheinlichkeit, mit demselben
Glaubenseifer vorgetragen. Immer und überall herrscht ein tadelloses
Gleichgewicht — , wenn auch von einem streng ästhetischen Stand-
punkt aus seine Werke oft überzuquellen scheinen, unökonomisch ge-
nannt werden dürfen. Darin liegt sogar der beste Beweis für das
unbedingt Irrationale im Schaffen Dostojewskis: daß seine Lücken
nicht durch intellektuelle Nahten geschlossen werden.
Es handelt sich hier nicht um die relativ einfache Frage, daß die
Tendenz immer die Kunst trübt. Tendenz im gewöhnlichen Sinne ist
allerdings ein grobes Unding, das sich sofort als kunstfremdes Ele-
ment verrät/ aber Zola, Tolstoj, Gogol — und sogar Flaubert haben
uns gezeigt, wie tückisch, wie heimlich, wie unterirdisch sich ein
Nebensinn im Herzen einer Welt einnisten kann, um ihr reines Rollen
zu stören. Und Dostojewski war der Überzeugung, daß eine jour-
nalistische, den Zwecken des Tages gewidmete Tätigkeit weit größere
Bedeutung besitze, als das vollkommenste Kunstwerk. Man stutzt
einen Augenblick und möchte sich fragen, wo die Unaufirichtigkeit
steckt? im Denker oder im Dichter?
Dabei kommen die Gedanken Dostojewskis nicht einmal als Bah-
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Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski
ncn der Anregung, als Hilfsmittel zur Materialbewältigung in Be-
tracht. Von der Idee: Mensch bis zum einzelnen Menschen ist die
Distanz um so größer, je größer der Eigenwert der Idee ist, und
ein abstraktes System <z. B. Nihilismus) ist imstande, den Zugang
zur Erscheinung vollkommen zu versperren. Man merkt es auch bei
Dostojewski. Das Werk, das sich am meisten auf gedankliche Strö-
mungen zu berufen scheint, die »Dämonen«, geht etwas auseinander,
ist zerfahren, lückenhaft und lebt mehr vom Glänze seiner Bruder
als vom eigenen Lichte/ die Distanz zwischen Vorbereitung und Kata-
strophe, zwischen den Vielen und dem Einzelnen ist hier am größten,
unser intuitives Verstehen wird *u stark in Anspruch genommen,
denn es fehlen die Zwischenstufen, die zur Höhe führen. Der Egoist,
der Obei nassem Schnee«) eine Dirne, die ihn um Liebe anbettelt,
unter die Schwelle ihrer möglichsten Erniedrigung hinabdrückt, indem
er ihr seine eigene Niedrigkeit aufbürdet, ist meilenweit entfernt
von jedem menschlichen Zusammenhang. Aljoscha Karamasoff, den
man nicht ohne Berechtigung als den Wortführer des Dichters an-
sehen könnte, wächst nicht um ein Haar über den Rahmen des Wer-
kes hinaus, nicht einen Augenblick schläft oder schlummert der Künst-
ler, auch nicht so lange, als z. B. Gogol benötigte, um sich aus
Tschitschikotts Kalesche in eine jagende Siegestroika hinüber zu
träumen. Oder etwa im Tagebuch des Starez Sossima? Aber dem
Christus des Heiligen steht doch der Großinquisitor Iwans gegen*
über. Man könnte sogar annehmen, da der Starez ähnliche Dinge
spricht, wie sie Dostojewski in seinen politischen und literarischen
Artikeln erörtert, der Dichter habe sich selbst widerlegt, indem er
sich ein Gegengewicht schuf. Damit verlieren wir aber auch das Recht,
die Gestalt Aljoschas anderswo anzupacken als bei der sinnvollen
Funktion, die ihr im Plane des Romanes zugeteilt ist.
Und doch ist der Dichter ohne diesen Ballast von Sorgen undenk-
bar, als könnte die materielle, stoffliche Fülle seines Lebens die
beste Basis für die immaterielle Erscheinungswelt abgeben. Wenn
wir uns in die politischen Schriften Dostojewskis versenken, beginnt
sich sogar das Geheimnis zu lüften/ nicht so, daß wir es verstehen
und erklären könnten, sondern wie sich alles bei Dostojewski lichtet
und klärt: in einer transzendenten Wahrheit. Ein Teil der Wahr-
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Otto Kaus. 7/iaußert und Dostojewski 655
heit steckt schon in der Einsicht, daß Dostojewski keinen Men-
sehen geschaffen hat, der so spricht wie er/ so warm, so be-
wüßt, so sicher. Am sichersten ist er dort, wo seine Prinzipien in
jene Unbestimmtheit münden, die Strachoff als einen wesentlichen
Zug seiner konkreten Anschauungen hervorhebt. Und während uns
im ersten Augenblick die Ehrlichkeit, Überzeugungskraft und sach-
liche Festigkeit, mit welcher er seine weltlichen Ziele verfolgt, das
Rätsel noch mehr verwirren möchte, indem wir hinter dem »Journa-
listen« Dostojewski plötzlich ein ganz anderes Gesicht erblicken, als
hinter dem Künsder, im ersten Falle ein bewegtes, mitleidendes, mit*
erlebendes, im zweiten Falle ein kaltes, ausdrucksloses, ehernes, zu
teilnahmslosem Schauen erstarrtes, — fühlen wir bald, daß gerade
aus diesem Widerspruch die Einheit erwächst. Der Denker, der
Mens<h Dostojewski muß auf der Erde gehen lernen, um sich zum
allgemeinen, zum Christus, zum Himmel, zur ewigen Ruhe empor-
schwingen zu können, und die Fähigkeit, diese ewige Ruhe in sich
zu fassen Vielleicht dieselbe Harmonie mit der ganzen Welt, das-
selbe Gefühl des Glückes, »so stark und so süß, daß man für die
wenigen Sekunden einer solchen Seligkeit zehn Jahre seines Lebens,
ja sogar das ganze Leben hingeben könnte«, das ihn und Fürst
Mischkin vor den epileptischen Anfallen erfüllt,) macht ihn zum Künst-
ler, zum Nachahmer Gottes / ebenso wie ihn die Anerkennung
des Volkes zum vollen Menschen, zum Priester erhebt, weil er
noch vor dem Volke zu existieren beginnt, führt ihn die Erkenntnis
Gottes zu den Dingen, zu sich selbst zurück, weil sie über ihnen
steht. Die Wege sind kongruent, weil sie dieselben Extreme ver-
binden/ sie gehen vom Ich zum unpersönlichen, ewigen Du und
streifen alle Abstufungen der dritten Person. Die Zone des Schwei-
gens und der Dunkelheit ist uns erhellt und belebt, wenn wir er-
kannt haben, daß hier Gott wohnt. Und die Unbestimmtheit der
Prinzipien kann uns nicht mehr den Blick trüben, die Unbestimmtheit,
die dann am stärksten ist, wenn er »Christus« sagt <denn Christus
ist nur der Sohn Gottes), sobald wir entdecken, daß es dasselbe
Schwanken ist, das den Rauch bewegt, welcher von einem Opfer-
altare aufsteigt: schwankend und schwebend mit Naturnotwendigkeit
nach oben. Der Altar ist: Rußland.
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656 Otto Kaus, Tfoußtrt und Dostojewski
Flauberts Sorgen sind ganz anderer Art. Was beim Russen Slawo-
philismus, Orthodoxie, Christus, Nihilismus heißt, wird hier Ästhetik,
Realismus, Romantik, Rhythmus. Für die Interessen seines Vater*
landes hat Flaubert kaum mehr als Verachtung übrig, er kann sich
für kein Problem erwärmen, die extremste volkswirtschaftliche Er»
kenntnis, zu welcher er nach der tiefgreifenden Umwälzung von 1870
<die sogar ihn mit seltsamer Unmittelbarkeit gepackt hatte) gelangt,
fordert: daß sich das Volk bedingungslos dem Ausspruch einer Aka-
demie der Wissenschaften unterwerfe. Darin liegt allerdings kein
Hauch von monistischem, unklarem, halb-religiösem Geiste, nicht
einmal von jenem Geiste, in dessen Umarmung der heilige Antonius
eine zweifelhafte Seligkeit findet, sondern nichts als die Forderung
nach Präzision/ und wenn er solche Gedanken ausspricht, so tut er
es mit der Geste: »So laßt mich endlich in Ruhe/ ich habe anderes
zu tun, als eurem Wirrwarr zuzusehen, ich muß am Schreibtisch
sitzen und Sätze drechseln, c Aber ebenso bestimmt, wie wir an
Dostojewskis Aufrichtigkeit und Hingebung glauben, ebenso fest sind
wir von der Unaufrichtigkeit dieser abwehrenden Geste überzeugt.
Warum sieht er doch die Unordnung und läßt sich zu idealen Vor-
schlägen verleiten? Mögen die noch so sehr von jeder realen Be-
dingung fern sein, so zeigen sie uns doch an, daß ihn die Fragen
im Innersten quälen. Das ist die Tragik im Leben Flauberts, daß er
nur solange eine Beziehung zur Welt hat, als diese Pose der Ab-
lehnung unaufrichtig ist, daß sein Empfängnisorgan der Schmerz ist.
Er steht fortwährend knapp vor der Gefahr, sich vollkommen von
jeder Erscheinung abzuschließen und sobald er sich zur endgültigen
Ablehnung entschließt, ist auch seine Kunst vor die letzte Mauer
gestellt. Diese tiefe, bohrende Qual zeigt uns die Richtung, die wir
einschlagen müssen, wenn wir irgendeine Gemeinsamkeit zwischen
dem Lebensprinzip Flauberts und dem Dostojewskis entdecken wol-
len. Muß jedoch überhaupt eine Gemeinsamkeit bestehen? Wir
nehmen es an, da selbst ihre Gegensätze nicht vollkommen bezie-
hungslos sind, sondern gleichsam Glieder einer und derselben logi-
schen Kette.
Flauberts Geist ist durchwirkt und durchzogen von Theoremen,
Methoden, Regeln über Kunst und Kunstfertigkeit/ er doziert, ist
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»Literaturpapst«. Dostojewski ist Apostel, Prediger, Allmensch und
seine ästhetischen Überzeugungen sind möglichst einfach. Der alte
Ichmenjeff spricht sie aus: »Bs ist ja nicht Gott weiß wie hoch und
erhaben, das sieht man . . . Bei dir ist alles viel einfacher, viel ver-
ständlicher. Bs ist wie . . . wie vertrauter, als hätte ich selbst alles
erlebt.« Damit soll nicht gesagt sein, daß sich der Russe vor allen
künstlerischen Problemen verschlossen hat/ Dostojewski war ein aus-
gezeichneter Kunstkenner und Kritiker und trug den heterogensten
Phänomenen ungeteiltes Verständnis entgegen <Cid, Phedre). Aber
erstens gibt es für Dostojewski auch in abstrakten Kunstfragen keine
Rätsel, sein Urteil findet keine Hindernisse/ es ist instinktiv und
stellt leicht zwischen sich und den einzelnen Phänomenen die Beziehung
her, die seinen Bedürfnissen entspricht/ — zweitens münden seine
ästhetischen Gedankenbahnen immer in den Begriff Volk und damit
zugleich in das große Meer seiner politischen Sorgen/ jene kamen
vor, nicht nach diesen/ der große Kampf zwischen »Westlertum« und
»Slawophilismus« ist ein Kampf um Tendenzen, welche das ganze
Leben Rußlands umfassen, nicht nur seine künstlerische Produktion,
ebenso wie der Nihilismus erst in dem Augenblick zur Tatsache
wird, da er sich zur literarischen Polemik zuspitzt. Man denke an
die Komplimente, die Flaubert an jene Kritiker austeilt, welche aus
der »Education« sein Urteil über historische Ereignisse und Per-
sönlichkeiten erraten möchten/ hat er ein Recht zur Ablehnung jeg-
licher Interpretation? Von einem ästhetischen Standpunkt müssen wir
ihm dieses Recht zugestehen, wenn auch nicht so leicht wie dem
Russen, — ist sein eigenes Gewissen jedoch fleckenlos rein? Kann
er sich selbst freisprechen? Die ungeheure Gewissenhaftigkeit mit der
er jede Emanation der Zeit, die er schildern will, studiert und unter-
sucht, kann man wohl auf die Hemmungen zurückführen, welche
zwischen ihm und der Erscheinung lagen, auf die Substanzkruste,
die ihm das »Ding an sich« verbarg. Wir würden ihn von jedem
persönlichen Interesse freisprechen, wenn nicht eben die Werke
selbst mit den Worten der Weisheit, anstatt mit denen der Wahr-
heit zu uns sprächen. Vergleichen wir einmal die beiden Freundes-
paare : Raskolniko w-Rasumichin, Frederic Moreau-Charles Deslauriers .
Die ursprüngliche, einfache Funktion, die ihnen zukommt, ist die,
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658
einen Kontrast zu schaffen, — letzten Endes den ewigen Kontrast
Hamlet-Fortinbras. Aber bei Dostojewski hört dieser Kontrast nie
auf, er setzt sich über das einzelne Faktum in gerader Linie fort/
bei Flaubert finden sich die Freunde wieder und die Verschmelzung
der Prinzipien, die sie vertreten sollten, läßt in uns etwas mehr zurück,
als jene wort» und begriffslose Erkenntnis, die uns der Russe mit-
teilt, eine Einsicht, die sogar präziser, enger ist, als die Formel,
welche Flaubert gerade nach Vollendung der »Education« sich und
den andern fortwährend vorhält: »man schafft nicht sein Schicksal,
sondern man erduldet es.« Als hätte er in der »Education« auch
jene Trostlosigkeit mitformuliert, die wir aus dem Satze nur dann
herauslesen, wenn wir die aktuelle Veranlassung kennen, die ihn
aus der Seele des Dichters lockt. Er muß z. B. erklären, warum er
nicht geheiratet habe. Um unseren Gedanken bis zur letzten Konse-
quenz zu fuhren, wollen wir uns ganz objektiv und banal fragen:
sagt Flaubert die Wahrheit <die ureigene Wahrheit, die Wahrheit
vor sich selbst), wenn er seine Ehelosigkeit auf diese Ursache zurück-
führen will? Steckt nicht etwas von derselben Unaufrichtigkeit darin,
die wir früher auch in der Geberde zu sehen glaubten: »Laßt mich
in Ruhe!«
Flaubert operiert mit dem Sicherungskoeffizienten einer Lüge
<Lebenslüge?>. Dostojewski ist wahrhaftig bis in die Haarwurzeln.
Und wenn wir es uns nicht verschweigen dürfen, daß auch das
rein Schicksalsmäßige bei Flaubert eine schwache Färbung wie von
individuellem Erleben bekommt, die kaum wahrnehmbar sein mag,
weil sie so subtil ist, wie es die Lüge eines Wahrheitssuchers sein
muß, so müssen wir annehmen, daß nur die Aufrichtigkeit, Festig-
keit und tatsächliche Fundierung seiner eigenen Überzeugung ihm zu
sehen verwehrt, wie grausam das Urteil klingt, das er über die
Februarrevolution fällt/ genau so unzweideutig wie der Ekel vor
der Kommune, die er miterlebt und die er in seinen Briefen, ohne
die Zubilligung des geringsten, mildernden Umstandes verdammt. Er
erlaubt sich eine ganz minimale, aber doch merkbare Verschiebung,
indem er begründete Negation mit Objektivität verwechselt. Das
Motto der »Dämonen« würde man widerspruchslos billigen, auch
ohne die Voraussetzungen zu kennen, die den Nihilismus zur größten
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Otto Kaus, TCaußert und Dostojewski 659
Verirrung des russischen Geistes stempeln. An den Voraussetzungen
kann man zweifeln, am Werke nicht. Flaubert darf wohl sagen:
c'est comme ca! — aber nicht weil es nicht anders hätte sein können,
sondern weil es so war. Um diese unscheinbare, beinahe unfaß-
bare Spanne unterscheidet sich der Realismus Flauberts vom Realis-
mus Dostojewskis. Der Russe hat uns ganz in der Hand, er könnte
uns führen, wohin er will, wir würden ihm glauben, auch wenn die
Wirklichkeit anders wäre, als er sie schildert/ Flaubert steht und
fällt mit der Welt, die er schildert. Jener gibt eine reine Wahr-
heit, dieser ein richtiges Urteil.
Man erlaube uns ein einziges Mal eine Abschwenkung auf
deutsches Gebiet. So schmal die Spalte scheinen mag, welche das
Prinzip des russischen vom Prinzip des französischen Realismus
trennt, erweitert sie sich vor unserem geistigen Auge zu einem
tiefen Abgrund, sobald wir die Möglichkeit erwägen, ob nicht aus
ihr eine gar seltene Wunderblume hervorsprießen könnte: der deutsche
Stil. Damit dieser Seitensprung nicht ganz überflüssig anmute, wollen
wir darauf hinweisen, daß die Einschiebung eines dritten Gliedes
zwischen die zwei Gebiete, die wir heute durchforschen, uns zum Be-
wußtsein bringt, daß die Beziehungen, die von Pol zu Pol gehen
<Romanen und Slaven), mehr als zufällige sein müssen/ und sich
zu einer Synthese vereinigen müssen, deren Existenz wir eben erst
ahnen, wenn wir ein verbindendes, ausgleichendes Prinzip hinzunehmen.
Aber widersprechen wir uns nicht, wenn wir Flaubert ein richtiges
Urteil zuerkennen, nachdem wir auf seine Lebenslüge hingewiesen
haben? Wir könnten uns leicht retten, indem wir die allgemeine
Eigenschaft der Franzosen feststellten, die natürliche Lebensentwick-
lung an einem bestimmten Punkte durch eine Linie der Praktizität
<und alles Rationale ist eine Emanation des praktischen Geistes),
durch eine Konvention abzuschneiden. Gerade bei Flaubert glauben
wir jedoch diese Beweisführung nicht ohne eine entsprechende Vor-
bereitung antreten zu können, denn das Niveau seines Daseins und
seines Schaffens ist nicht das einer Konvention, sondern einer höheren
Synthese. Während andere vielleicht vor dem Nichts stehen, mußte
er, als Franzose, sich selbst zum Nichts erst durcharbeiten, durch die
Konvention hindurch zur tieferen Synthese zurückfinden. Beim Russen
660
Otto Kaus, Tfaußtrt und DostojewsKi
hat auch das »Vorurteil« den Charakter einer freieren Konzeption
und gewährt der schöpferischen Kraft einen gewissen Spielraum, ver-
rät sozusagen von selbst seine Grenzen und die Lücken, die es
nicht ausfüllen konnte. Was für jeden seiner Landsleute ein Vorteil
ist: daß er es sich, ausgehend von einem angeborenen oder aner-
zogenen, sicheren Standpunkte der Zucht, erlauben darf, hemmungs-
los originell zu sein, einen großen Teil von sich, auch jenen Teil,
der dem Gelderwerbe nachjagt, als Luxussache zu betrachten/ sich
von der Geburt an zu differenzieren, — wurde für Flaubert zum
Nachteil. Er mußte die Konvention mit ihren eigenen Waffen be-
kämpfen, Logik und Methode, und außerdem noch ihre unmittel-
bare Deduktion abweisen, den Subjektivismus, der umso gefähr-
licher ist, als er sieb als ihre Negation gebärdet. Dann erst beginnt
der Kampf mit der Erscheinung. Daher der Selbstvernichtungsdrang,
der nicht grausam und scharf genug sein konnte, damit der Künstler
zur natürlichen Wiege des Lebens zurückkehrte. Er konnte es sich
nicht erlauben, die Stilforderungen, welche durch die Tradition ge-
geben waren, unmittelbar zu übernehmen und einfach weiter zu ent-
wickeln, seine Kunst entzieht sich jeder direkten historischen Ab-
leitung/ — Dostojewski fühlt in Gogols »Mantel« alle seine eigenen
Ideale vorausgeahnt. Flaubert mußte selbst den unendlich langen
Weg der Reife begehen, alle Zuflüsse und Ausläufer in sich auf-
nehmen und verfolgen/ so wurde ihm die Gnade seiner Rasse zum
Fluche von dem er sich langsam befreien mußte. Eine Verallge-
meinerung antizipierend könnte man sagen: aus seinen artistischen
Theoremen klingen Reminiszenzen der Bartholomäusnacht mit, in
welcher derselbe Kampf erstickt <nicht entschieden) wurde, den Flaubert
mit jedem Satze wieder auskämpft/ den Kampf zwischen einer ur-
wüchsigen, heftig andrängenden Vielheit und Wahrhaftigkeit und
einer Einheit, die sich schon zur Lüge und Form kristallisiert hat.
Nur ist es gerade diese Einheit, die er überwinden und jene Viel-
heit, die er vorlassen muß, um sie dann zu einer höheren Harmonie
zu führen. Der Katholizismus ringt mit dem Protestantismus, die
Göttin Vernunft drängt sich dazwischen und zum Schluß zergehen
alle Phantome der Vergangenheit in einer alldurchdringenden Atmo-
sphäre der Gegenwart.
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Otto Kaus, TüxuBert und Dostofewsti 661
Subjektiv muß die Rasseneigentümlichkeit bei Flaubert daher mit
dem entgegengesetzten Wert belehnt sein/ was dort ein Nutzen ist,
wird hier zum Schaden, was dort Freiheit heißt, wird hier zum
Zwang. Und in der Tat können wir auf Schritt und Tritt beobachten,
wie der Dichter nach einem Prinzip der »mißverstandenen Praktizitätc
arbeitet. Mit Zuhilfenahme Bergsonscher Postulate darf man sagen,
Flaubert sei immer krampfhaft bestrebt gewesen, seine Intuition
durch seine Vernunft zu ersticken/ die gerade Linie umzubiegen.
Während wir bei Dostojewski, trotz des anfänglichen Widerspruches,
beim Eindringen in seine Denkertätigkeit immer intensiver den aller-
tiefsten Zusammenhang seines Wesens begreifen, gerade weil wir
uns sagen: alles das ist meilenweit entfernt von seinem Werke/
keine seiner Gestalten ist auf irgend einer dieser Phasen stehen-
geblieben, sondern jeder Mensch, den er schildert, durchschneidet die
ganze Entwicklung des Dichters vom Anfang bis zum Ende, geht
mit bis zum Äußersten, — beobachten wir es bei Flaubert mit ge-
heimer Angst, wie er bestrebt ist, das Geheimnis, das ihn empor-
heben könnte, unter der Tarnkappe seines Geistes verschwinden zu
lassen/ den losen Schmetterling der Ewigkeit mit dem Netze der
Zeitlichkeit einzufangen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, das leider
nicht damit endet, daß das Fleisch auflodert zur Flamme, sondern
daß die Flamme zum Schluß nur schwach unter der Asche fort-
glimmen kann. Je mehr die Enden des Ringes sjch nähern, desto
größer wird die Spannung, wird die Gefahr. Und da endlich die
Seele vom Flechtwerk ganz umsponnen ist, wird ihr jede freie Äuße-
rung, jede Vollendung unmöglich. »Bouvard und Pecuchet« sind
nicht nur unvollendet, sondern, in einem höheren Sinne, unmöglich.
Dostojewski erreicht in den »Brüdern Karamasoffc und in der
Puschkinrede den Gipfel.
Die Lebenslüge Flauberts wollen wir konkret dahin deuten, daß
er sich seine Aufgabe zu erleichtern glaubt, indem er bei der Kunst
anknüpft, während er sich dadurch nur Hemmungen in den Weg legt.
Er will einen Abgrund, den man nur in weiten Bogen überfliegen
kann, durch einen mühsamen Ab- und Aufstieg überwinden. Bei
seinen persönlichen Erlebnissen verrät sich derselbe Zug in dem Be-
dürfnis, jeden einzelnen Augenblick, ohne sich Zeit zum Ausreifen,
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662
Otto Kaus. Tfaußert und Dostojewski
Vorbereiten, zur Gärung zu lassen, sofort zu einer Formel, zu einer
Bewußtheit umzugestalten. Die Folge davon ist, daß alles Schmerz-
liche doppelt schmerzlich wirkt, und selbst alles Freudige einen Miß*
ton der Verlegenheit und Peinlichkeit weckt. Reaktionen, die wir mit
Bestimmtheit erwarten, bleiben aus und dafür durchbrechen den
ruhigen Verlauf des Geschehens gewaltsame Ausbrüche, die teils
unzulänglich, teils ungerecht anmuten, und sich nicht erklären ließen,
wenn man nicht den Stachel des inneren Zweifels mitberechnete,
der den Dichter fortwährend plagt. Derselbe Zweifel, der aus allen
seinen Werken atmet, und die Erde nie zu einer Kirche mit einem
hohen Turm, sondern stets zu einem Wohnhaus für Menschen um-
gestaltet.
So daß man sich zum paradox klingenden Satz berechtigt fühlt:
Flauberts Ökonomie mündet in grenzenlose Verschwendung, Dosto-
jewskis Hemmungslosigkeit in größte Sparsamkeit. Denn eine Öko-
nomie, die einen zwingt, zehn natürliche Entwicklungsphasen durch
ebensoviel Nebenbedeutungen und Bedingtheiten zu ersetzen, wobei
sich zum Schluß doch nur die natürliche Synthese durchringt, be-
deutet einen Mißbrauch von Energie, gegen den die ungeheuren Ent-
ladungen des Russen als eine tröstende Wohltat abstechen. Flaubert
könnte man als einen Pointillisten ansprechen. Jede Linie setzt sich
aus hundert Unterbrechungen zusammen, ist die stärkste Konzentra-
tion und Vereinfachung einer verworrenen Vielheit, die jedoch nur
um den hohen Preis erreicht wird, daß eben die endgültige Linie selbst
hundertfach unterbrochen wird. Wie leicht kann durch die kleinste
Ritze die Verderbnis eindringen!
Und andererseits: wie ungeheuer muß die ursprüngliche Kraft,
die angeborene Berufung sein, wenn der Dichter über alle Abgründe
sicher zum Ziele schreitet! Gerade darin liegt sein Heroismus, daß
er nur Linien zeichnet, die kaum sich selbst tragen und darauf ver-
zichtet, die feste Gerade zu ziehen, die alle Möglichkeiten in sich
aufsaugen kann, ohne abgelenkt zu werden. Wären die Vorbeding*
ungen zum großen Verzicht nicht in ihm gewesen, hätte er sie nicht
bis zur äußersten Konsequenz erfüllt, so hätte er nicht seine Mission
zu Ende führen können. Die Verzweiflung, welche Dostojewski über
jede Verirrung der russischen Seele ergreift, ist nicht stärker, son-
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Otto Kaus, Tbufort und Dostojewski
663
dem nur aufrichtiger, als der so kühle, anmaßungs volle Ausdrude,
der in dem Antlitz einer reinen Schönheit ruht. Die reine Schönheit
ist die Rettung vor der größten Not und nur wer den Niedergang,
die unendliche Ratlosigkeit seiner Zeit in sich aufgenommen hat,
kann sich zum Hochmut emporschwingen, ohne zu Falle zu kommen.
Die bedingten Schönheitsideale gehen nicht so sehr an der Hyper-
trophie ihres eigenen Prinzips zugrunde/ sondern sie verkümmern
zugleich mit den Saftröhren, die sie mit dem Leben verbinden. Und
das unbedingte Schönheitsideal ist nur das verschämte Bekenntnis
einer Todesahnung.
Es soll hier nicht untersucht werden, ob Flaubert das Recht hatte,
dieses Urteil über sein Land zu fällen. Wichtig ist nur, daß ihm
seine Zeit Recht gab, als sie bei Sedan in Schlamm und Blut unter«
ging. Ob der Tod nur den Beginn einer Wiedergeburt bedeutet, ist
eine Frage des Glaubens/ wir wollen es nicht vor Flaubert be-
haupten, der uns davon abzuraten scheint, nicht vor Dostojewski
bejahen, der uns dazu auffordert. Wir können jedoch zu den zwei
ästhetischen Paradoxen, mit denen wir unsere Ausführungen eröff-
neten <die Verschmelzung von Mensch und Künstler im klassischen
Werke, Realismus als Gipfelpunkt des Klassizismus), ein drittes hin-
zufügen: daß nur der vollkommene Ausdruck der Zeit Eingang in
die Ewigkeit findet.
Und unsere Behauptungen durch einige Widersprüche belegen:
Dostojewski gesteht selbst ein, den Realismus, »der an das Phan-
tastische grenzt«, über alles zu lieben — und gibt uns eine Wirk-
lichkeit, die uns wie ein Schein umtaumelt/ Flaubert lacht darüber,
daß man ihn zum Pontife des Realismus ernennt und gibt uns einen
Schein, der die Konsistenz der Wirklichkeit hat. Dostojewski bemüht
sich ununterbrochen, soviel Subjektivität in sein Schaffen zu legen,
als ihm überhaupt möglich ist/ er geht soweit, daß er die eigentüm-
lichsten, krankhaftesten Realitäten seines Lebens in seine Kunst über-
nimmt, ~- der allgemeine Eindruck ist der einer opferfreudigen Selbst-
Verleugnung/ Flaubert donnert mit lauter Stimme seine Forderung
nach Zerstörung der Persönlichkeit in die Welt hinaus und seine
Werke verraten so deutlich die Erlösung, die sie einem persönlichen
Zweifel des Dichters bringen. Nur weil das Persönliche des Künstlers,
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Otto Kaus, TtauBert und Dostqjews/ti
erst durch die subjektivste Sublimierung in der Atmosphäre der All-
gemeinheit aufgeht, schmiegt sich auch das Werk der Geberde des
Allgemeinen an. Aber eines wissen wir: Dostojewski hat durch kein
Werk auch nur eine teilweise Erlösung gefunden, der Pondus seines
Daseins blieb jederzeit unvermindert in ihm hängen/ bei Flaubert
kann man eine stetige Purifizierung und Festigung seiner Beziehungen
zu sich und zur Welt verfolgen/ »Madame Bovaryc erledigt ihm
die Provinz, »Salammbö« die Romantik, »Bducation sentimentale«
die Großstadt. Damit findet sein Leben einen Abschluß und kann
sich nun dem Zuge der Erschlaffung ergeben. Seine Beziehungen
zur Welt haben eine konkrete Form gefunden, sie sind am auf-
richtigsten dann, wenn er vom Balkon seines Landhauses aus die
Sonntagsausflügler mit einem Opernglas beobachten kann. Er hat
aus seinen Erfahrungen soviel gelernt, daß er sich selbst wider-
sprechen darf. Oder ist es nicht eine der seltsamsten Situationen:
Flaubert, der Künstler mit den strengen Forderungen, schreibt im
letzten Jahrzehnt seines Lebens zwei Komödien, und trägt sie von
Bühne zu Bühne und bemüht sich, den Ratschlägen von Direktoren
und Schauspielern folgend, seine Werke den kleinlichsten Bedingungen
anzupassen. Mit der offenen Begründung: ich möchte etwas Geld
verdienen! — nachdem er kurz vorher genau auseinander gesetzt
hat, es wäre lächerlich, daß ein Dichter, der für die Ewigkeit schafft,
eine Belohnung von der Zeit fordert. Aber diese Kontraste können
ihm nicht mehr schaden. Früher reizte ihn das Wort einer Frau
zum Morde — jetzt ist er eingekapselt in Sicherheit und Methode.
Allerdings folgt jetzt die Periode seines künsderischen Niederganges,
eine Periode der Ziellosigkeit, in der seine Strenge gegen sich selbst
in eine sklavische Unterwerfung unter seine eigene, zum Götzen er-
hobene Methode umschlägt. Das Schicksal fügt es, daß es außerdem
die Zeit seiner grenzenlosen Vereinsamung ist, da ihm ein Freund
nach dem anderen hinstirbt und er eben auf den Verkehr mit den
eigenen Götzen angewiesen ist. In den »Trois contes« rekapituliert
er noch einmal die Entwicklung seiner Kunst, und was dann in ihm
zurückbleibt, ist, trotz der Rettung, die er durch die »Tentation«
versucht, nichts als der Begriff: Bourgeois. Zu viel, um eine Welt
zu lieben, zu wenig, um eine Welt zu schaffen.
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Otto Kaus, Tfaußert und Dostoj'ewsKi 665
Was uns an Dostojewskis Alltag am meisten auffällt, ist die Ge-
walt. Mag auch hinter den ungeheuren Dimensionen, in welche sein
Lehen in dem Augenblick der Entladung entströmt, und die während
der Vorbereitung seine Seele wie stets gespannte Federn von Innen
dehnen, nichts anderes stecken als der Endeffekt eines Lirzweifels,
— warum sind wir bei ihm eher geneigt mit seinen eigenen Worten
diesen Zweifel nur als den »Scharfsinn eines tieferen Gefühles«
aufzufassen? den Schmerz als eine Erkenntnis, nicht die Erkenntnis
als eine Qual? Die Widersprüche in seinem Leben sind so groß,
daß sie, anstatt uns niederschmetternd zu überfallen, uns einfach ver—
anlassen, unser Verständnis auszuschalten und uns ganz dem »tie-
feren Gefühl« zu überlassen. Dostojewski wird unschuldig zum Tode
verurteilt, steht auf dem Schafott, ertragt zehn Jahre Sibirien, das
erste Werk, das er nach seiner Rückkehr schreibt ist das heiterste
Buch der Weltliteratur »das Gut Stepantischikowo«. Und später wird
er erklären, er sei wie Puschkin ein treuer Diener des Zaren. Von
seinem Freund, der jahrelang mit ihm arbeitet, den er nach jedem
Anfall rufen läßt, um die Depression leichter zu überwinden, mit
dem er jeden Tag viele Stunden verbringt, wird er behaupten: »Er
verkehrt mit mir nur, weil er keinen Menschen hat, mit dem er reden
kann!« Seine Loyalität kann auch das unverschuldete Verbot der
»Zeit« nicht erschüttern, das ihm den Lebensunterhalt raubt und ihn
zwingt, mit seiner schwangeren Frau ins Ausland zu fliehen. Muß
nicht in ihm eine noch stärkere Gewalt stecken, als es die der
Zaren ist? Die Erklärung liegt zum Teil darin, daß er eigendich
nicht gegen eine konkrete Macht, sondern gegen das Gespenst des
blinden Zufalls kämpft. Als wollte er die Situation auf die Spitze
treiben und sich vor die letzte Prüfung stellen, verspielt er in Baden-
Baden das wenige Geld, das er mitgenommen hat, und geht nun
einer Periode entgegen, die bitterer sein dürfte, als die Zwangsarbeit
in Sibirien. Jedenfalls steckt in dem Gefühl der Gesundheit, das ihn
erfüllt, wenn er Ziegelsteine zum Bau einer Kaserne trägt, mehr
Heiterkeit, als in den verzweifelten Bettelbriefen, die er aus Dresden
nach Hause schickt: ein neugeborenes Kind, eine stillende Frau,
der »Idiot« unter der Feder — und buchstäblich kein Brot.
So finden wir in den alltäglichen Einzelheiten der beiden Dichter-
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666 Otto Kaus. Tfaußert und Dostojewski
leben dieselben Gegensätze ausgeprägt, welche die ewigen Werte ihrer
Schöpfungen unterscheiden, — selbst in jenen Einzelheiten die schein«
bar unabhängig vom immanenten Willen, vom persönlichen Fluidum
der Menschen sind. Beide Dichter sind Söhne von Ärzten, Flauberts
Vater ist ein berühmter Chirurg, Dostojewski wächst in einem
Armenkrankenhaus auf. Flaubert erlebt den Sturm der Banausen
gegen die >Madame Bovary«, Dostojewski steht auf dem Schafott.
Dem asketischen Flaubert, den Schöpfer des hl. Antonius, kann man
sich nicht ohne eine Fülle an Hilfsmitteln des Lebens, ohne Deko-
ration und Inszenierung vorstellen, bevor er sich zum Schreibtisch
setzt, muß er seinen Blick von vielen Reizen reinigen, die ihn ab-
lenken könnten, wenn nicht ein eherner Wille ihm befiehle. In den
»Erniedrigten und Beleidigten« sehen wir ein graues, ödes Man-
sardenzimmer, einen wackligen Schreibtisch, einen Mangel jeglichen
Komforts, der uns umsomehr ergreift, als er vom Dichter des Ver-
schwenders Dimitri selbst nicht besonders beachtet zu werden scheint.
Er klagt, aber er hält es doch aus. Die kahle Trivialität wirkt mehr
als Ganzes, als im Detail, obwohl sie sich aus Details zusammen-
setzt. Last not least, Dostojewski erleidet jeden Monat einen epU
leptischen Anfall, Flauberts Epilepsie ist milde und zeigt sich nur
selten.
Vom Alltäglichsten wollen wir auf die größte Perspektive über-
gehen und ein letztes, gewagtes Experiment anstellen/ diese Linien
bis dahin verfolgen, wo sie sich zur letzten Fiktion verknoten, bis
zum Gottbegriff. Wenn wir vom Gottbegriff alles Materielle, Dog-
matische, Schon-Geformte abstreifen <»der Katholizismus ist nicht
mehr Christentum und geht in Götzendienst über, der Protestantis-
mus aber nähert sich mit Riesenschritten dem Atheismus und wird
zu einer schwanken, veränderlichen und nicht ewig feststehenden
Sittenlehre.« Dostojewski contra Gradowsky) und ihn einfach als gewal-
tigen, gewaltigsten Hintergrund ausspannen, wie zeichnet sich das
Profil der beiden Dichter gegen diesen Grund ab? Eigentlich zeigt
nur der Franzose ein Profil, der Russe verschwindet vollkommen im
Schatten der Gottheit, seine Adern kommunizieren mit ihren Adern,
als schliefe er in ihrem Schöße, von einer blutreichen Placenta ge-
borgen/ seine Wesenheit verschwimmt mit ihrer Allheit, — nicht als
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667
ob er vom Geiste des Herrn erdrückt und überwältigt würde, son-
dern als wäre sein leb ein Symbol der Gottheit, die Gottheit ein
Symbol seiner Seele. Es gibt keinen Franzosen, der sidi nicht vor
dem weitesten Horizont in einer gewissen Verkürzung zeigte/ irgendwo
bricht sein Glaubenseifer ab und biegt in Menschliches um. Ebenso
wie die gerade Linie der Griechen direkt in die Unendlichkeit führte,
um nie mehr die Horizonte der Erde zu durchschneiden, während
der Bogen der Römer aus der Erde wuchs, um zur Erde zurück«
zukehren/ ebenso wie Rom seine Pforten Christus nie eröffnete und
sich nur seinem Namen ergab, um seinen Geist vergewaltigen zu
dürfen, während sich durch das ganze griechische Mythos Vor*
ahnungen und Erfüllungen des Messiasproblems verfolgen lassen,
— ebenso hat sidi der liebe Herrgott in Frankreich immer sehr wohl
gefühlt, wahrscheinlich weil niemand jemals so recht an ihn geglaubt
hat und ist in Rußland die Gotteslästerung an der Tagesordnung,
weil jeder, auch der Skeptiker, an ihn glaubt. Mit Ketten, die man
nicht trägt, oder nicht fühlt, braucht man nicht zu klirren, aber Kö-
nige glauben oft, unter der Last ihrer Krone zusammensinken zu
müssen. Pascal geht von der Mathematik aus und gelangt zur
Mystik/ das würde nichts besagen, wenn nicht seine Mystik im
Grunde nichts anderes wäre, als die Weiterführung seiner mathe-
matischen Methode, — wo sie doch die Aufhebung jeder Methode
bedingt. Oder hat Huysmans an Gott geglaubt, der noch von der
Schwelle des Klosters seinem Kritiker zuruft: c'est Cait! Der
französische Skeptizismus war immer stark genug, um nicht nur
dem Teufel einen Platz neben Gott, sondern auch Gott Gleich-
berechtigung neben dem Teufel einzuräumen, — da ihm beide stets
Begriffe waren und keine Wesenheiten, Formen und keine Inhalte.
Gott ist höchstens das »Ich«, <— und mit diesem für Flaubert der
Feind.
In der Bibel steht es geschrieben, Jehova habe den Lehm ange-
haucht und ihm dadurch eine ewige Seele eingeflößt. Für Dosto-
jewski hat dieser Vorgang Realitätswert, er wiederholt sich bei jeder
Geburt vor seinen Augen, — für Flaubert ist es nichts weiter als
ein guter Ausdruck. Dostojewski vermischt seinen Atem mit dem
Atem des Schöpfers, noch bevor dieser den Lehm berührt, noch be-
46
668
Otto Kaus, Ttaußtrt und Dostojewski
vor sich seine Atome mit den Atomen der Materie vermischt haben/
und deswegen sind för ihn alle Rätsel gelöst, noch ehe sie geformt
werden, alle Fragen kaum mehr als rhetorische Fragen, alle Kon-»
traste geebnet, noch ehe sie zur Reibung gelangen. Daher die Ent-
spannung, Befreiung, die aus den gefahrlichsten Situationen heraus»
wächst Alle Ereignisse sind nur Wiederholungen von mythischen
Geschehnissen einer ewigen Wiederkunft und teilen dem Leser ein
Gefühl des Deja-Vu mit. »Es ist wie — — wie vertrauter, als
hätte ich selbst alles erlebt, t Die Verhältnisse zuspitzend, könnte
man sagen: daher muß Fürst Mischkin die geliebte Vase der Gene»
raiin umschmeißen, weil er sie schon in dem Augenblick umgeworfen
hat, in dem er gebeten wird, darauf zu achten. So konnte dem Dich«
ter das große Wunderwerk gelingen, aus dem Planlosen ins eherne
Gesetz zu wachsen, — • weil der Mittelpunkt seiner Werke gar nicht
in dem Räume liegt, in dem sie sich entwickeln, sondern in einem
höheren, von dem aus die Übersicht eine unmittelbare, zwanglose,,
freie ist/ von dem aus man kein Opernglas braucht, um die Sonn-
tagsausflügler zu beobachten.
Flaubert hingegen steigt nicht aus höheren Sphären zu den Men-
schen herab, sondern lebt mitten unter ihnen, ist Mensch unter
Menschen. Er muß fortwährend die Ansatzstelle suchen, wo sich
der himmlische Sauerstoff zur Erde verdichtet und muß darauf be-
dacht sein, nicht daneben zu greifen. In Frankreich findet er seinen
Gott nicht und muß ihn anderswo suchen — aber auch in Tunis ver-
strickt er sich in Sorgen um die Legionenordnung der Punier, um
die Essenzen und Wohlgerüche der karthagischen Frauen, um die
Attribute der Gottheit. Es sind dieselben Schlingen, in denen er
sich verfing, sobald er vom Schreibtisch aufstand, um auf die Straße
zu gehen. Alle Versuchungen des heiligen Antonius fuhren noch
immer nicht zur Erlösung, selbst nicht, da sich alle Attribute der
Gottheit im Meere des Allseins vermischen. Mystischer Pantheismus
ist ein Kompromiß und keine Lösung. Man vergleiche, wie sich die
Prophezeiung erfüllt, welche an Julian ergeht <er werde Vater und
Mutter töten) und wie die obenerwähnte Vase in Scherben zersplit-
tert. Löwen und Bären, Schlangen und Panther begleiten Julian auf
seinem verhängnisvollen Wege, ~ Fürst Mischkin hat nichts als sich
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Otto Kaus, Ttaußert und Dostojewski 669
und seinen Zwang. Die transzendente Beziehung ergibt sich dem
Russen unmittelbar aus den Dingen, die ihn umgeben, aus dem Staub,
der auf den Möbeln liegt, aus der »Lucia«, die in einem Wirtshaus
letzten Ranges heruntergeleiert wird, aus der Tücke des Hausdieners,
aus der Stimme eines Mädchens, die um Hilfe schreit. Flaubert sieht
seine Aufgabe darin, unter kreisenden Bergen die Maus herauszu-
locken, er wälzt kompakte Massen und dreht und wendet sie, bis
alle Flächenstrahlungen zu einem Lichtpunkt konvergieren, der eine
extremste Differenzierung zu sein scheint und die intensivste Kon«
zentration ist. Der Nagel, an dem Archimedes die Welt aufhängen
wollte! <Und doch ist das Resultat ein ganz anderes als bei Balzac:
Balzac bringt alles, was er weiß, Flaubert nichts von dem, was er
weiß, nur weiß).
Von der Gottidee aus können wir uns die kühnsten Sprünge er-
lauben und zur Verallgemeinerung übergehen/ auch alle jene Ver-
allgemeinerungen akzeptieren, die von Russen oder gar Freunden
des Dichters gemacht werden und uns im ersten Augenblick be-
fremden, da sie gar zu unmittelbar am Werk oder an der Person
anknüpfen. Der Franzose findet zuerst die Konvention und dann
die Synthese, Rußland (ein Bauern- und Kosakenvolk, das sich nur
widerstrebend einer ad hoc geschaffenen, unzulänglichen Verwaltung
fugt, die es immer als fremd und überflüssig empfindet) zuerst die
Synthese und dann die Konvention. Infolgedessen ist die Synthese
des Franzosen eine Sublimierung des Sinnlichen <der Besitz schafft
Grenzen), der Stil des Russen: eine Befruchtung des Irdischen durch
übersinnlichen Samen. Jener wird auch das Zwecklose nur durch den
Willen erringen, dieser selbst den Alltag durch die Geduld der Kate-
chumenen zu beherrschen suchen.
Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Fürst Mischkin wirft die
Vase um, während er die christliche Liebe predigt/ aber in der Epi-
sode schwingt nicht ein Ton von Skeptizismus, von »tragischer Ironie«
mit. Flaubert entthronte den heiligen Geist, als er ihn in einen aus-
gestopften Papagei verwandelte. Für den Idioten wurde die drohende
irdische Niederlage zu einem Siege/ auch Saulus stürzte vom Pferde
und verzichtete auf die Eroberung von Damaskus, als er zum Pau-
lus wurde. Da die sterbende Magd mit brechendem Auge den Pa-
670
Otto Kaus, Tfaußert und Dostojewski
pagci anblickt, erkennen wir genau, daß sie nicht ins Himmelreich
eingehen wird/ daß die ewige Seligkeit eine Lebensluge ist.
Erst jetzt dürfen wir Foma Fomitsch als den typischen russischen
Schmarotzer ansprechen, den Helden aus dem »dunkelsten Winkel
der Großstadt«, als ein Opfer des Westlertums, des vom Volke ab*
gewandten Subjektivismus betrachten, Raskolnikow und Dimitris Er-
lösung durch Liebe als die Erlösung der ganzen Menschheit deuten.
Und wir dürfen auch sagen : die suggestive Wirkung, die vom Zalmph
der Tauit ausgeht, verrät nicht einen Glauben, sondern einen Aber-
glauben/ Flaubert als Mystiker entbehrt der Sicherheit, die ihn nie
verläßt, wenn er mit Frederic Moreau das Pflaster der Boulevards
tritt, selbst in der Situation, die dem Paris seiner Zeit am meisten
entspricht: In der Burg des Herodes, wo die Menschen unter den
Trümmern von Götterstatuen einherzugehen scheinen. Der Mangel
der höheren Wahrscheinlichkeit, der seiner Romantik anhaftet, be-
stätigt seinen Realismns. Wie konkret sind die Ausfuhrungen Dosto-
jewskis, wenn sie zu den abstraktesten Dimensionen fuhren, wie
lebendig ist sein Allmensch. Flauberts letzte Weisheit, der Bour-
geois — ist ein phantastisches Gespenst. Bei jenem wird die Aus-
nahme zur Regel, ist die Dunkelheit hell — bei diesem wird die
Regel zur Ausnahme, ist die Helligkeit dunkel. Bei Dostojewski
fangen die Menschen an zu leben, erst wenn sie auftreten/ sie öffnen
die Tür und steigen aus dem Leeren, sie treten ab und fallen ins
Nichts. Aber wir haben sie erkannt. Flaubert räumt alle Mißver-
ständnisse fort, flieht jede Überraschung — und zum Schluß verstehen
wir seine Helden ebensowenig wie im Anfang. Der Russe bringt
eine Analyse, die fortwährend Synthese gebiert, die Synthese der
Franzosen löst sich in Analyse auf und verschlingt sich zum gordi-
schen Knoten, den »Bouvard und Pecuchet« vergeblich zu entwirren
suchen.
Aber wo sich diese Widersprüche kreuzen, muß eine Gemeinsam-
keit liegen, die wir nur dunkel ahnen, wenn wir sagen: Rasse. Oder:
Mensch. Nehmt dem Franzosen seinen Stil und er wird selbst die
Lust am Absinth verlieren, solange ihr dem Russen seinen Brannt-
wein laßt, wird er Gott finden.
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Otto Kaus. T/außtrt und Dostojewski 671
Und wenn wir die beiden, dem Inhalte nach so verschiedenen
Systeme gegenüberstellen, — (Dostojewski: »Es muß sieb jeder an
der allgemeinen Sünde mitschuldig fühlen« Flaubert: »Der Künstler
muß, wie ein Gott, überall und nirgends sein«) — spricht aus ihnen
nicht dieselbe Zauberformel : daß sich das Unendlich-Kleine nur vom
Unendlich-Großen aus fassen läßt?
Otto Kaus.
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672
Gottfried Ben/t, ItBaka
ITHAKA
PERSONEN:
Alb recht, Professor der Pathalogie
Dr. Rönne, sein Assistent
Studierende der Medizin
Der Student Kautski
Der Student Lutz.
Im Laboratorium des Professors.
Am Ende eines Kurses. Der Professor, Studierende der Medizin.
Professor:
Und nun, meine Herren, habe ich Ihnen zum Schluß noch eine
ganz köstliche Überraschung aufgespart. Hier sehen Sie, habe ich die
Pyramidenzellen aus dem Ammonshorn der linken Hemisphäre des
Großhirns einer vierzehntägigen Ratte aus dem Stamme Katull ge-
färbt und siehe da, sie sind nicht rot, sondern rosarot mit einem
leicht braunvioletten Farbenton, der ins Grünliche spielt, gefärbt. Das
ist nämlich hochinteressant. Sie wissen, daß kürzlich aus dem Grazer
Institut eine Arbeit hervorgegangen ist, in der dies bestritten wurde,
trotz meiner eingehenden diesbezüglichen Untersuchungen. Ich will
mich über das Grazer Institut im allgemeinen nicht äußern, aber ich
muß doch sagen, daß mir diese Arbeit einen durchaus unreifen Ein«
druck machte. Und sehen Sie, da habe ich nun den Beweis in Hän-
den. Das eröffnet nämlich ganz enorme Perspektiven. Es wäre mög-
lich, daß man die Ratten mit langem, schwarzen Fell und dunklen
Augen von denen mit kurzem, rauhen Fell und hellen Augen auch
auf diese feine färberische Weise unterscheiden könnte, vorausgesetzt,
daß sie gleich alt sind, mit Kandiszucker ernährt, täglich eine halbe
Stunde mit einem kleinen Puma gespielt und bei einer Temperatur
von 37,36° in den Abendstunden zweimal spontan Stuhlgang ge-
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Gottfried Benn, Itßafia
673
lassen haben. Naturlich darf man nicht außer acht lassen, daß ahn«
liehe Erscheinungen auch unter anderen Bedingungen beobachtet wor-
den sind, aber immerhin erscheint mir diese Beobachtung einer ge-
nauen Veröffendichung wert, ja fast möchte ich sagen, ein Schritt
näher zur Erkenntnis der großen Zusammenhänge, die das All be-
wegen. Und damit guten Abend, meine Herren, guten Abend.
(Die Studierenden ab bis auf Kautski und Lutz.)
Lutz:
Wenn man nun, Herr Professor, dies Präparat genau angesehen
hat, läßt sich dann irgend etwas anderes sagen als : so, so, dies ist
also nicht rot, sondern rosarot mit einem leicht braunvioletten Farben-
ton, der ins Grünliche spielt, gefärbt?
Professor:
Aber meine Herren! Zunächst gibt es über die Färbungen der
Rattenhirne die große dreibändige Enzyklopädie von Meyer und
Müller. Die würde zunächst durchzuarbeiten sein.
Lutz:
Und wenn das geschehen wäre, würden sich dann irgendwelche
Schlüsse ergeben? Irgendetwas Funktionelles?
Professor:
Aber, mein Lieber! Schlüsse! Wir sind doch nicht Thomas von
Aquino, hi, hi, hi! Haben Sie denn gar nichts gehört von dem Morgen-
rot des Konditionalismus, der über unserer Wissenschaft aufgegangen
ist? Wir stellen die Bedingungen fest, unter denen etwas geschieht.
Wir variieren die Möglichkeiten ihrer Entstehung, die Theologie ist
ein Fach für sich.
Lutz:
Und wenn sich eines Tages Ihr gesamtes Auditorium erhöbe und
Ihnen ins Gesicht brüllte, es wolle lieber die finsterste Mystik hören,
als das sandige Geknarre Ihrer Intellektakrobatik und Ihnen in den
Hintern träte, daß Sie vom Katheder flögen, was würden Sie dann
sagen?
<Dr. Rönne tritt ein.)
Rönne:
Herr Professor, ich gebe Ihnen hiermit die Arbeit über die Lücke
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674 Gottfried Benn, Itßata
im Bauchfell des Neugeborenen zurück. Ich habe nicht das geringste
Interesse daran, einer bestimmten, in gewisser Richtung vorgeschulten
Gruppe mir unbekannter Leute die bei einer Sektion gefundene
Situation einer Bauchhöhle so zu schildern, daß sie sie sich nun vor-
stellen kann. Auch vermag ich es im Gehirn nicht, dies Spiel, diese
leichte und selbstgenugsame Naivität eines Einzelfalles zu zerstören
und aufzulösen.
*
Professor:
Ihre Gründe sind recht töricht, aber gut, geben Sie her. Genug
andere Herren interessieren sich für diese Arbeit. Wenn Sie aber
etwas weniger kurzsichtig wären, als Sie mir zu sein scheinen, wurden
Sie begreifen, daß es sich gar nicht um diesen Einzelfall handelt, daß
vielmehr die Systematisierung des Wissens überhaupt, die Organi-
sation der Erfahrung, mit einem Wort, die Wissenschaft bei jeder
Einzeluntersuchung in Frage steht.
Rönne:
Vor 200 Jahren war sie zeitgemäß, als sie aus der Vollkommen-
heit von Organen die Weisheit Gottes erwies und aus dem Maule
der Heuschrecken seinen großen Verstand und seine Güte. Ob man
aber nicht nach weiteren 200 Jahren ebenso darüber lächeln wird,
daß Sie, Herr Professor, drei Jahre Ihres Lebens darauf verwandten,
festzustellen, ob sich eine bestimmte Fettart mit Osmium oder Nil-
blau färbt?
Professor:
Ich habe nicht die geringste Absicht, mich mit Ihnen über Allge-
meinheiten zu unterhalten. Sie wollen diese Arbeit nicht machen.
Gut, dann gebe ich Ihnen eine andere.
Rönne:
Weder werde ich beschreiben, ob bei dem Senker in das Frucht-
land von Frau Schmidt die Dünndarmschlingen im 6. oder 8. Monat
durch den bewußten Spalt getreten sind, noch wie hoch bei einer
Wasserleiche gegen Morgen das Zwerchfell stand. Erfahrungen sam-
meln, systematisieren — subalternste Gehirntätigkeiten ! — Seit hundert
Jahren verblöden sie diese Länder und haben es vermocht, daß jeder
Art von Pöbel die Schnauze vor Ehrfurcht stillsteht vor dem größ-
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Gottfried Benn, Itßaüa 675
tcn Bettpisser, wenn er nur mit einem Brutschrank umzugehen weiß/
aber sie haben es nicht vermocht, auch nur das Atom eines Ge-
dankens aufzubringen, der außerhalb der Banalität stände! Einen
aus dem anderen kebsen/ möglichst nah am Nabel bleiben und den
Mutterkuchen nicht verleugnen — das sind Ihre Gedanken / — Maul-
wurfspack und Affenstirnen — eine Herde zum Speien!
Lutz:
Denn was schaffen Sie eigentlich? Hin und wieder buddeln Sie
eine sogenannte Tatsache ans Licht. Zunächst hat es ein Kollege
vor zehn Jahren bereits entdeckt/ aber nicht veröffendicht Nach fünf-
zehn Jahren ist alles beides Blech. Was wissen Sie eigentlich? Daß
die Regenwärmer nicht mit Messer und Gabel fressen und die Fairen-
kräuter keine Gesäßschwielen haben. Das sind Ihre Errungenschaften.
Wissen Sie sonst noch was?
Professor:
Zunächst ist es gänzlich unter meiner Wörde, auf diesen Ton zu
antworten.
Lutt:
Würde? Wer sind Sie? Antworten sollen Sie. Los!
Professor:
Ich will mich dem Rahmen einfügen. Gut. Also, meine Herren,
Sie sprechen wegwerfend von Theorien, meinetwegen. Aber in einem
Fach mit so eminent praktischen Tendenzen: Serum und Salvarsan
sind doch keine Spekulation?
Lutz:
Wollen Sie vielleicht behaupten, Sie arbeiten deswegen, damit
Frau Meier zwei Monate länger auf den Markt gehen kann und
damit der Chauffeur Krause zwei Monate länger sein Auto fährt?
Außerdem — kleinen Leuten den Tod bekämpfen, wen's reizt — — —
Und um es gleich zu sagen, Herr Professor, kommen Sie nun nicht
mit dem Kausaltrieb. Es gibt ganze Völker, die liegen im Sand und
pfeifen auf Bambusrohr.
Professor:
Und die Menschlichkeit? Einer Mutter das Kind erhalten, einer
Familie den Ernährer? die Dankbarkeit, die in den Augen aufblinkt —
676
Rönne:
Lassen Sie's aufblinken, Herr Professor! Kindersterben und jede
Art Verrecken gehört ins Dasein, wie der Winter ins Jahr. Bana-
lisieren wir das Leben nicht.
Lutz:
Außerdem interessieren uns diese praktischen Gesichtspunkte nur
ganz oberflächlich. Worauf wir aber eine Antwort erwarten, ist dies :
woher nehmen Sie den Mut, die Jugend in eine Wissenschaft ein«
zufuhren, von der Sie wissen, ihre Erkenntnismöglichkeit schließt mit
dem Ignorabismus? Weil es zufällig Ihrer Klabusterbeere von Ge-
hirn genügt, in der Zeit, wo Sie sich nicht fortpflanzen, Statistik über
Kotsteine zu betreiben? Mit was für Gehirnen rechnen Sie?
Professor:
Rönne:
ich weiß! Ich weiß! Feldherrntum des Intellekts! Jahr*
tausend aus Optik und Chemie! Ich weiß, ich weiß: weil die Farben-
blinden in der Minderzahl sind, haben Sie auch eine Erkenntnis.
Aber ich sage Ihnen, wagen Sie es, noch ein einziges Mal Ihre
Stimme zu erheben zu den alten Lugen, an denen ich mich krank
gefressen habe: mit diesen meinen Händen würge ich Sie ab. Ich
habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zerkaut! Ich habe ge-
dacht, bis mir der Speichel floß. Ich war logisch bis zum Kot-
erbrechen. Und als sich der Nebel verzogen hatte, was war dann
alles? Worte und das Gehirn. Worte und das Gehirn. Immer und
immer nichts als dies furchtbare, dies ewige Gehirn. An dies Kreuz
geschlagen. In dieser Blutschande. In dieser Notzucht gegen die
Dinge — , o, wenn Sie mein Dasein kennten, diese Qualen, dieses
furchtbare am-Ende-sein, von den Tieren an Gott verraten und Tier
und Gott zerdacht und wieder ausgespieen, ein Zufall in den Ne-
beln dieses Landes — ich sage Ihnen, Sie würden still und ohne Auf-
hebens abtreten und froh sein, wenn Sie nicht zur Rechenschaft ge-
zogen werden wegen Gehirnverletzung.
Professor:
Herr Kollege, es tut mir unendlich leid, wenn Sie sich nicht wohl-
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Gottfried Benn, Itßada
677
fohlen. Aber, wenn Sie degeneriert, neurasthenisch, oder was weiß
ich, an mittelalterlichen Bedürfnissen zugrunde gehn <— was hat das
mit mir zu tun? Was ereifern Sie sich gegen mich? Wenn Sie zu
schwächlich sind für den Weg zur neuen Erkenntnis, den wir gehen,
bleiben Sie doch zurück. Schließen Sie die Anatomien. Betreiben Sie
Mystik. Berechnen Sie den Sitz der Seele aus Formeln und Korol-
larien/ aber lassen Sie uns ungeschoren. Wir stehen über die Welt
verteilt: ein Heer: Köpfe, die beherrschen, Hirne, die erobern. Was
aus dem Stein die Axt schnitt, was das Feuer hütete, was Kant
gebar, was die Maschinen baute — das ist in unserer Hut. Unend-
lichkeiten öffnen sich.
Rönne:
Unendlichkeiten öffnen sich: eine mächtige Großhirnrinde über-
gestülpt trottet etwas dahin/ Finger stehen wie Zirkel/ Gebisse sind
umgewachsen zu Rechenmaschinen <— o man wird ein Darm werden
mit einem Kolben oben, der Systeme absondert. . . . Perspektiven!
Perspektiven! Unendlichkeiten öffnen sich! —
Aber wegen meiner hätten wir Quallen bleiben können. Ich lege
auf die ganze Entwicklungsgeschichte keinen Wert. Das Gehirn ist
ein Irrweg. Ein Bluff für den Mittelstand. Ob man aufrecht geht
oder senkrecht schwimmt, das ist alles nur Gewohnheitssache. —
Alle meine Zusammenhänge hat es mir zerdacht. Der Kosmos rauscht
vorüber. Ich stehe am Ufer: grau, steil, tot. Meine Zweige hängen
noch in ein Wasser, das fließt/ aber sie sehen nur nach Innen, in
das Abendwerden ihres Blutes, in das Erkaltende ihrer Glieder. Ich
bin abgesondert und ich. Ich rühre mim nicht mehr.
Wohin? Wohin? Wozu der lange Weg? Um was soll man sich
versammeln? Da ich einen Augenblick nicht dachte, fielen mir nicht
die Glieder ab?
Es assoziert sich etwas in einem. Es geht etwas in einem vor.
Ich fühle nur noch das Gehirn. Es liegt wie eine Flechte in meinem
Schädel. Es erregt mir eine von oben ausgehende Übelkeit. Es liegt
überall auf dem Sprung: gelb, gelb: Gehirn, Gehirn. Es hängt mir
zwischen die Beine herunter. ... ich fühle deutlich, wie es mir an
die Knöchel schlägt — — runterkratzen. . . .
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Gottfried Be ritt, Mafia
O so möchte ich wieder werden: Wiese, Sand, blumendurch-
wachsen, eine weite Rur. In lauen und in kühlen Wellen tragt einem
die Erde alles zu. Keine Stirne mehr. Man wird gelebt.
Kautski:
Aber sehen Sie um unsere Glieder das Morgenrot? Aus der
Ewigkeit, aus dem Aufgang der Welt? Ein Jahrhundert ist zu Ende.
Eine Krankheit ist gebrochen. Eine dunkle Fahrt, die Segel keuch«
ten/ nun singt die Heimat über das Meer.
Was Sie vertrieben hat, wer will es sagen? Fluch, Sündenfall,
irgendwas. Jahrtausende waren es ja auch nur Anläufe. Jahrtausende
blieb es ja auch latent. Aber dann, vor hundert Jahren kam es plötz-
lich zum Ausbruch und schlug wie eine Seuche über die Welt, bis
nichts mehr übrig blieb als das große fressende herrschsüchtige Tier:
der erkennende Mensch/ der reckte sich von Himmel zu Himmel und
aus seiner Stirne spielte er die Welt. Aber wir sind älter. Wir sind
das Blut/ aus den warmen Meeren, den Müttern, die das Leben
gaben. Sie sind ein kleiner Gang vom Meer. Kommen Sie heim.
Ich rufe Sie.
Rönne:
Was sagen Sie? Das Blut . . .? Das Meer . . .? Das Blut ist warm.
Die Meere waren warm, das habe ich auch gehört. Dann wäre es
zu heilen, wenn sie zurück an die Meere gingen?
Professor:
Lassen Sie sich von Rönne nicht irre machen. Er ist durch Denken
ohne ernste, zielgerichtete Arbeit etwas zermürbt Es wird solche
Opfer geben müssen auf unserem Weg.
Rönne:
Es hat das mittelländische Meer gegeben/ vor unvordenk-
liehen Zeiten/ aber es gibt es immer noch. Vielleicht war das das
Menschlichste, das es gegeben hat? Meinten Sie das?
Professor (fortfahrend):
Aber meine Herren, alle diese merkwürdigen Bedürfnisse und
Gefühle und auch das, von dem sie sprachen: Mythos und Erkennt-
Gottfried Benn, Malta
679
nis, wäre es nicht möglich, daß es alte Schwären unseres Blutes sind,
von alten Zeiten her, die sich abstoßen werden im Laufe der Ent-
wicklung, wie wir das dritte Auge nicht mehr haben, das nach hinten
sah, ob Feinde kämen? Die hundert Jahre, die es Naturwissen-
schaften und aus ihnen Technik gibt, wie hat sich alles Leben doch
verändert. Wieviel Geist ist der Spekulation, dem Transzendentalen
untreu geworden und richtet sich nur noch auf die Formung des
Materiellen, um neuen Bedürfnissen einer sich erneuernden Seele
gerecht zu werden! Könnte man nicht bereits von einem homo faber
sprechen, statt von einem homo sapiens wie bisher? Sollten sich nicht
vielleicht im Laufe der Zeit alle spekulativ-transzendentalen Bedürf-
nisse läutern und klären und still werden in der Arbeit um die
Formung des Irdischen? Ließe sich nicht von diesem Gesichtspunkte
aus die naturwissenschaftliche Forschung und das Lehren des Wissens
rechtfertigen?
Kautski:
Wenn Sie eine Gilde von Klempnern heranbilden wollen: ja.
Aber es gab ein Land: taubenumflattert/ Marmorschauer von Meer
zu Meer, Traum und Rausch —
Rönne:
. . . Gehirne: kleine, runde/ matt und weiß.
Sonne, rosenschößig, und die Haine blau durchrauscht.
Blühend und weich die Stirn. Entspannt an Strände. In Oleander
die Ufer hoch, in weiche Buchten süß vergangen . . . —
. . . Das Blut, als bräche es auf. Die Schläfen, als erhofften sie.
Die Stirn, ein Rinnen wie von flüggen Wassern.
O es rauscht wie eine Taube an mein Herz: lacht —
lacht — Ithaka! — Ithaka! . . . -
O, Bleibe! Bleibe! Gib mich noch nicht zurück! O welch
ein Schreiten, so heimgefunden, im Blütenfall aller
Welten, süß und schwer . . .
Ich will dir eine Tat tun, bleibe, bleibe! O, was ist
Kerker und was ist Tod. Rausch, Rausch ist stärker
als der Tod.
(Ergreift den Professor)
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Gottfried Benn, Itfiaka
Professor:
Aber meine Herren, was haben Sie denn vor? Ich will Ihnen ja
gerne entgegenkommen. Ich versichere Ihnen, ich werde in Zukunft
in meinen Kollegs immer darauf hinweisen, daß wir die letzte Weis«
heit hier nicht lehren können, daß daneben philosophische Kollegs
zu hören seien. Ich werde das Fragwürdige unseres Wissens durch«
aus zum Ausdruck bringen . . . (schreiend) Meine Herren, hören Sie!
Wir sind doch schließlich Naturwissenschaftler, wir denken nüchtern.
Was wollen wir uns in Situationen begeben, denen — sagen wir —
die heutige Gesellschaftsordnung nicht gewachsen ist . . . Wir sind
doch Ärzte, wir übertreiben doch die Gesinnung nicht. Niemand
wird erfahren, was hier geschah! Hilfe! Hilfe!
Mord! Mord!
Lutz (ergreift ihn ebenfalls):
Mord! Mord! Schaufeln her! Aufs Feld den Modder. Von unserer
Stirne sollen Geißeln gehn in dies Gezücbt! —
Professor (gurgelnd):
Ihr grünen Jungen! Ihr trübes Morgenrot! Ihr werdet verbluten
und der Mob feiert über euerm Blut ein Frühstück mit Prost und
Vivat! Erst tretet den Norden ein! Hier siegt die Logik! Überall
der Abgrund: Ignorabimus! Ignorabimus!
Lutz
<ihn mit der Stirn hin und her schlagend):
Ignorabimus! Das für Ignorabimus! Du hast nicht tief genug ge-
forscht. Forsche tiefer, wenn Du uns lehren willst! Wir sind die
Jugend. Unser Blut schreit nach Himmel und Erde und nicht nach
Zellen und Gewürm. Ja, wir treten den Norden ein. Schon schwillt
der Süden die Hügel hoch. Seele, klaftere die Flügel weit/ ja, Seele!
Seele! Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch. Wir rufen
Dionysos und Ithaka! —
Gottfried Benn.
Digitized by Cj
M. Bntmann. Drei GtJidlt
681
DREI GEDICHTE
GEBET
Ich bin vor Dir nur ein kleines Gesicht
Und lege es manchmal in Deine Hände,
Denke manchmal: Bring' es zum Ende,
Aber verlaß mich nicht.
Du redest hart durch die andern,
Wollte doch nur am Bache wandern,
Und im Spiegel Dich sehen.
Laß mich ein wenig seitwärts stehen
Nur als Dein Hauch,
Nimm mich nicht zum Gehrauch,
Wie die, die Dich künden.
Ich will mich hinter Deines Mantels Falten
Selber finden,
Und dann mich halten.
Ich bin vor Dir nur ein kleines Gesicht
Und lege es manchmal in Deine Hände,
Denke manchmal: Bring' es zum Ende,
Aber verlaß mich nicht.
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682
M. Benemann, Drvi Gedicßte
DIE WISSENDE
Ich weiß: Daß irgendwer jetzt durch die Nacht
Nach meiner Seele heiß verlangend greift,
Ich weiß: Daß einer längst an mich gedacht,
Und daß ich nun in ihm emporgereift.
Ich weiß: Daß irgendwo die lichte Nacht
Verlodert hin in übersterntem Glanz,
Daß Tage, wie des tiefsten Sommers Kranz,
Durch einen Einklang trunken angefacht.
Und irgendwo rauscht Bach und Meer und Strom
Durch zweier Schläge Herzempfanglichkeit,
Und überschlossen ragt von einem Dom
Der Schwur von aller Ewigkeit.
Doch irgendwann sinkt welkes Laub zur Nacht
Aus Händen, die einander müde sind,
Und Schwüre löst ein lockrer Herbsteswind,
Da Zweie hell einander angelacht.
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M. Benemann, Drei Gedichte 683
HERR, NUN ISTS ZEIT
Herr nun ist's Zeit. Es stehen Katastrophen
Am Horizonte wie erstarrt in Waffen.
Herr es ist Zeit, sie nun herbei zu raffen
Und ein Entsetzen in das leere Gaffen
In Deiner Völker ausgehrannten Ofen
Ein neues Grauen schwer hinein zu schaffen.
Herr es ist Zeit, uns Späher zu vernichten,
Die wir Dich nur wie ein Phantom erdichten:
Daß wir das Unerfaßliche nicht mehr befassen . . .
Herr es ist Zeit Dieb nun allein zu lassen.
Maria Benemann.
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Henriette Hardenberg, Vers*
VERSE
FÜR MEINEN BRUDER
In deiner Schärfe blutet dein schmaler Gedanke.
Deine Rippe zittert, wenn du die Kante senkst,
Wenn es klirrt durch deine Freiheit.
Peitscher, deine untergegangenen Augen verraten dich,
Und die Hand, am Kopfe gebogen.
Du erinnerst dich goldener Flüsse
Und ziehst ihre Wege nach.
AN EINEN
Der Bucklige spricht.
Die Glaswände sind zerbrochen zwischen uns,
Und ich seh dich viel klarer
Und bin freigeschüttelt.
Du, ich muß Riese sein:
Ich bin so weit, daß du in meine Kirche wandern sollst
Und alle frommen Dinge sehen:
Ich will, daß du jetzt alles weißt von mir.
Hör, meine Glocke brüllt für dich nach dir.
Wie Feuer schlägt sie in mich ein,
Bis du sie niederlegst mit deinem Willen,
Ihr Tönen meiner Schmerzen wandelst.
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Henriette Hardenberg, Verse
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DEM FREUND
Meine Stirn ist dein großer See.
Du mußt midi lieben.
Meine Linien führe im an dich heran,
Daß sie dich rühren.
Du bist weit zu erreichen an allen Seiten,
Und meine Tiefen dehnen sich langsam —
Ich kann sie nicht bringen,
Wenn ich zart bin:
So schmerzen wir uns immer.
Ich bin dein matter, hängender See,
Ich muß dich immer umlehnen.
Henriette Hardenßerg.
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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
EREIGNISSE UND BEGEGNUNGEN
4. DER HELD
Hauptmanns Odysseus und Wedekinds Simson zeigen mir schi
fer als je, wie die akklamierten Dichter der Zeit den Sinn ihi
Berufung vergessen.
Ich habe Hauptmann manches mensdienselige Gefühl, Wedeki
manches staunende Besinnen über die Grenzhaftigkeit und Üb<
grenzhaftigkeit des Menschen zu danken, aber im will dank!
sein, wenn ich an sie als Personen denken darf: jetzt sind sie I
mich nichts als Kundgebung <— Kundgebung des schmerzlichst
Vorgangs.
Dieser Odysseus und dieser Simson sind der Sphäre ihrer in
tionalen Ganzheit entrissen, der eine in kausale, der andre in psych
logische Wahrscheinlichkeit eingestellt, und Dichter haben das get
Darüber hilft mir keine Erinnerung an frühere Gaben hinweg.
Der homerische Held ist nicht »verständlich«, sondern wirkli
Seine Dichter, die zahllosen des Mythos und die letzterschienen
des epischen Berichts, haben die Wirklichkeit eines elementaren Me
sehen geschaut, als seine Zeitgenossen oder als in seinem Gedäd
nis Erzogene, und haben sie gebildet, wie Dichter einer ungebrochen
Zeit bilden: indem sie den Helden Wunder erleben, Wunder t
ließen. Das Wunder ist die natürliche Sprache der naivsten Frömmi
keit, der Frömmigkeit zum Helden. Es bedeutet nicht, wie ein Heutig
es übersetzen mag, eine Ausnahme vom Naturgesetz, sondern d
Ursprüngliche und Gesetzgebende, das Tun des zentralen, des ei
scheidenden Menschen, wie es notwendigerweise dem Hingegeben
und Andächtigen erscheint. Was darin bildnerische Aussprache find
ist das ungeheure Erlebnis der Führerschaß. Der Held tut nt-
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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
687
Übermenschliches, sondern die anderen tun Unterheldisches. Der
Held ist das Maß der Dinge.
Diese Anschauung mag als primitiv-kausal bezeichnet werden,
man könnte sie auch vorkausal nennen, weil sie allem vorausgeht,
was heute ursächliche Weltorientierung heißt. Diese hat ihre Ent-
stehung in dem Trieb, sich dem Irrationalen gegenüber durch Wissen
und Voraussehen der Zusammenhänge, durch Einteilung und Ein-
richtung des Geschehens zu behaupten/ sie hat ihre bestimmende
Entfaltung empfangen, als der Mensch stärker als die Andacht vor
dem Helden die Begierde verspürte, nicht länger in dessen Hände
gegeben zu sein, statt des heldischen das »allgemein-menschlichec
Maß aufzurichten und an Stelle der elementaren, unbegreiflichen, als
Wunder begeisternden Tat das zweckmäßige, verständige und ver-
ständliche Handeln zum richtunggebenden Gesetz zu machen. Nun
erst wird der Held als Ausnahme, bald auch nicht mehr als Aus-
nahme angesehen. Es bildet sich die Weltbetrachtung aus, die alles
Tun und alle Täter, und so auch den Helden, in das Getriebe der
Ursachen und Wirkungen einreiht, ihn daraus erklären, ja, wenn
sie es nur zu übersehen vermöchte, daraus berechnen zu können sich
unterfängt.
Ihr entgegen aber verharrt, an wehrhaftem Bewußtsein wachsend,
die ursprüngliche, die mythische Anschauung. Wie sie das Geschehen
der Welt als ein überkausal sinnvolles weiß, so erscheint ihr die
Tat des Helden als eine gesteigerte Offenbarung des Weltsinns. Sie
leitet sie nicht aus dem Getriebe der Ursächlichkeit ab, sondern er-
faßt sie aus dem Willen des Göttlichen, sich zu verwirklichen. Sie
erklärt den Helden nicht, sondern stellt sein Bildnis dar, das die irratio-
nale Bedeutung, die undeutbare, nur eben darstellbare manifestiert.
Ihr Träger ist der Dichter. Seine Berufung ist so tief gegründet, daß
er sich, wie Homer, als den Zweck des Helden empfinden darf/ denn
im Helden wird der Sinn wirklich, aber im Mythos wird diese Wirk-
lichkeit endgültig offenbar. Und es ist der Dichter, in dem der Mythos
zum Worte wird.
Die rationale Betrachtung des Helden mag um der Stiftung einer
einheidichen Weltorientierung willen berechtigt sein, von höherer
Legitimität ist die Frömmigkeit des Dichters. Er hat die riesenhafte
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688 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
Aufgabe, das heroische Wunder immer wieder lebendig zu machen,
jeder Zeit von neuem, daß es nicht etwa als Ausnahme vom Natur«
gesetz, sondern als das Ursprüngliche und Gesetzgebende, das Tun
des zentralen, des entscheidenden Menschen, daß es mit Hingabe
und Andacht als die fundamentale Tatsache empfunden werde, die
nicht aus den andern, sondern aus der die andern zu verstehen sind.
Er muß der kompakten Rationalität seiner Zeit gewachsen sein, daß
er sie berichtige, aber von ihr nicht wieder berichtigt werden könne.
Er muß die Gewalt und die Würde einer inappellabel Instanz
haben. Er muß die Wirklichkeit seines Blickes so groß, so unan-
zweifelbar vor den Blick der Menge einsetzen, daß ihr die Wahr-
heit ihrer Tage zum Trug und das scheinhafte Bild des Gedichts
zur innern Wahrheit der Welt werde. Er darf die stoffliche Wucht
des Wunders mindern, aber nur um es seelenhafter, nicht um es
wahrscheinlicher zu machen/ er darf das sichtbare Maß des Helden
dem unsern annähern, aber nur um uns innerlicher zu überwältigen,
nicht um uns den Glauben zu erleichtern. Er darf, er soll Kausalität
geben, aber die seiner Vision, die in sich notwendig und sinnvoll
zusammenhängend ist, nicht die des »historischen Verständnisses«.
Hauptmann will den freiertötenden Odysseus wahrscheinlicher,
glaubwürdiger machen/ aber er ist nur nichtig geworden und aus
einem Täter, dessen Rede selber Tat ist, ein Sprecher so langwieriger
ob auch wohlklingender Worte, daß ich ihm auch das klägliche biß-
chen Tat, das er zuletzt zu vollbringen vorgibt — daß er vier waffenlose,
betrunkene Kerle auf etliche Meter Entfernung abschießt — nicht glauben
mag. Dieser Dichter hat einst den »Florian Geyer« geschrieben, ein
Werk, in dem heroischer Atem weht/ aber diese Erinnerung ist alles
eher als Trost. Damals ließ er sich von einer Art des Sehens, die
in unserer Zeit erstarkt ist <es ist eine große Art, die das Heldische
im Volk verwurzelt und aus ihm aufkeimend sieht), anregen, er ge-
staltete sie/ jetzt läßt er sich von der Unart, der Unkraft, dem »Ver-
ständlichmachenwollen«, das in unserer Zeit wuchert, bestimmen, er
macht es mit. Die kompakte Rationalität der Zeit, die ihm schon
in den »Emanuel Quint« hineinreden durfte, hat ihn hingenommen.
Anders, aber nicht geringer vergeht sich Wedekind gegen den
ewigen Sinn des Helden. Bei Hauptmann ist das heroische Wesen
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Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen 689
in seiner Beziehung zur Welt entstellt, bei Wedekind in seiner
innern Struktur. Hauptmanns Odysseus ist kausalisiert: er bringt
nichts zustande, was nicht der normale Mensch nach den allgemein
anerkannten energetischen Formeln zustande bringen kann/ Wedekinds
Simson ist psychologisiert: es geschieht nichts mit ihm, ohne daß er
mit kundiger Selbstanalyse erforschte und mit pointierender Dialektik
vortrüge, was er dabei empfindet und warum er es empfindet. Seine
Taten werden durchaus der mythischen Oberlieferung gemäß berichtet,
sie sind nicht geschmälert worden, aber ihr Geist ist ihnen genommen,
und statt seiner ist ihnen ein Geist angestückt worden, der um seine
>Motive< Bescheid weiß und auch in der Terminologie beschlagen ist.
Der biblische Held hat keine Psychologie. Der angeschaute Held
hat keine Psychologie. Freilich, auch der unheldische Mensch stellt in
jedem Augenblick eine Totalität dar, die unendlich mehr und wesent-
lich anderes ist als die Summe ihrer »Teilec, d. h. der Produkte der
psychologischen Analyse/ auch ihn zerlegen ist irgendwo ein Unrecht.
Aber er rechtfertigt es durch sein Dasein: weil er selber gelockert,
disparat ist, weil in ihm selber, mag er noch so einfältig sein, ein
Auseinander waltet. Des Helden Wesen jedoch ist in seiner Ge-
stalt: in seiner fugenlosen Ganzheit, seiner stoßkräftigen Geschlossen-
heit/ er hat sein Erleben mannigfach, leibhaft und einig wie er sein
Tun hat, aber er hat keine »Motivec/ er ist vielfältig, aber wie ein
Gedicht, nicht wie ein Wörterbuch/ er weiß um die Blitze seiner
Leidenschaften, aber nicht um die Elektrizität. An ihm vollzogen
wird die psychologische Analyse zum Widerspruch: weil der Held
die Offenbarung der Ganzheit ist. Der Dichter aber, der ihn so
analysiert, sündigt wider den Geist/ denn ihm, dem Dichter, war
vom Geiste aufgegeben, die mythische Anschauung zu tragen und
zu hüten. Er darf den Helden beschreiben, wie einen Baum/ er darf
ihn erzählen, wie ein Erdbeben/ aber er darf ihn, den in seiner
Einigkeit Bestehenden, nicht als einen zerlegbaren Mechanismus vor-
fuhren. Der Held des Dichters darf sagen, was er fühlt, aber nicht,
wie es zugeht, daß er es fühlt — denn sonst ist er, der wirklichste
Mensch, ins Fiktive hinabgesunken. Der Held des Dichters darf
prahlen, darf lügen, aber er darf nicht jene selbstanalytische > Wahr-
heit« reden, welche die Zersetzung der Wirklichkeit ist.
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690 Martin Bußer, Ereignisse und Begegnungen
Die Helden sind die Gipfelungen und Knotungen des mensch«
heitlichen Geschehens. In ihnen offenbart sich dem Menschen leuch-
tend und unmittelbar der Charakter der Unableitbarkeit und Un«
zerlegbarkeit, der allem Geiste innewohnt, aber sich einzig hier, in der
zentralen Gestalt, vollkommen äußert. Doch der Trieb zum Ableiten
und Zerlegen, den die von ihm Besessenen den Trieb zum Erkennen
heißen <und wahrlich, er hat dessen Antlitz wie der Antichrist das
Antlitz Christi hat), hält vor dem Helden nicht ein/ ja, sich an diesem
zu üben ist sein heftigster Genuß: wo könnte sich seine Lüstern*
heit so sättigen, wo könnte er so viel Wirklichkeit vernichten wie
hier? Aber er ist betrogen. Wie in der Sage die lebendige Helena
von den Göttern aus Troja entrückt wird und der Kampf um ein
Schattenbild tobt, so ist es nicht der Held, sondern ein wesenloses
Gespenst, um das sie sich bemühen. Bis die realisierenden Menschen,
und unter ihnen der an Äußerung mächtigste, der Dichter, voran,
den Trug besiegen, den Helden heimführen und in seine Herrschaft
einsetzen.
Wie aber, wenn der Dichter den Sinn seiner Berufung vergißt
und an den Popanz glaubt?
*
Martin Bußer.
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Pauf Bofdt, Der Versuch zu faßen
691
DER VERSUCH ZU LIEBEN
EINE NOVELLE
TV/TLHELM kannte das hübsche Mädchen ein paar Monate. Es
W erfuhr alles.
Sein Kleid war von einer Damenhand geschmückt, die Schuhe oft
gewöhnlich. Es lächelte maßvoll, man konnte nicht zu schnell schrei-
ten — aber es sagte: »leb bin nicht grazil, icb bin fett« . .?
Sein Name war langweilig. Die Freunde hörten es Stefa Frühling
nennen und nahmen Wilhelms Einfall hin/ das hübsche Mädchen
wurde gewöhnt, andere Worte zu hören.
Als sie spazieren gingen und Wilhelm sagte: »Ich hab dich gern,
aber ich küsse die Mädchen nicht«, lächelte Stefa Frühling mit rot
geöffneten Lippen, drohend: »Das sag ich meiner schönen Schwester!«
Sie gingen oft spazieren. Sie drangen unbesorgt in verlassene Gär«
ten ein. Es war noch Winter da draußen vor der Stadt. Stefa Früh-
ling erzählte, wovon sie nachts geträumt hatte: »vom Verreisen ans
Meer«, »von einem Himmel ohne Häuser« — und wurde Schwatz-
liese gescholten. Alsbald schrie sie mit großer Kunst wie eine Elster,
wurde gelobt und echote alle Vogelrufe nach.
Abends fror Stefa Frühling, Wilhelm trug sie in seinem Paletot.
Das große Wickelkind krallte die Hände in sein Haar, eine unge-
sunde Zärtlichkeit.
Er ging nach Hause: Sie ist nicht fett, das ist nicht präzis. Sie
ist prick. Wie sie schrie, die pricke Drossel.
Stefa Frühlings Familie lud ihn ein. Während man plauderte,
saßen auf dem Sofa blond und schwarzhaarig Mutter und Mädchen.
»Dame und Damenjunges« dachte Wilhelm.
Dann war der Winter zu Ende. Die Tage fielen auseinander, und
Wilhelm verließ die Stadt.
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692 PaufBoCft. Der Versu<6 zu fießen
Ihr braun gesiegelter Brief lag morgens zwischen dem Teeporzellan.
Er gab ihn seinen Fingerspitzen zum Spielen. Das Format der Um«
schlage differierte/ aber das graphische Bild auf den Briefen hatte
photographische Ähnlichkeit. In gleichem Tempo schrieb sie ihre gro-
ben, flüchtigen Buchstaben über kleine und große Kuverts.
Im April reiste Wilhelm zurück, durch die Wälder. Die Sonne
glänzte und schwankte. »Ich werde in der Stadt eine Postkarte schrei-
ben: Ich bin hier, ich freue mich. Wir wollen spazieren gehen.«
In den Straßen fühlte er das Tupfen von Luft und Sonne in
seinem Gesicht. Alles erwartete ihn hier. Alle Müdigkeiten und An-
sammlungen waren fort.
Das Zimmermädchen brachte die eingegangenen Briefe. Wilhelm
sah nach der Handschrift und bog einen zwischen den Fingern: er
würde lächeln bei der Lektüre. Da fiel Stefa Frühlings Photographie
dunkel über die roten und grünen Tropfen der Briefmarken auf den
Schreibtisch.
Am gleichen Nachmittag sagte Stefa Frühling: »Ich werde hei-
raten«.
»Natürlich«, sprach er, »wirst du das.«
»Aber ich werde mich zunächst verloben und dann diese Spazier-
gänge aufgeben.«
»Wenn du verlobt bist, gratuliere ich dir. Ich habe auch ein kleines
Geschenk. Denke an mich, solange es vorhält.« Er hatte einen Kar-
ton Konfekt in der Tasche.
Sie sah ihn an. Die Größe seines Gefühls während der Reise
machte ihn verlegen. Werde ich mich morgen grämen? dachte er. Ich
liebe sie, wenn sie fort ist/ wenn ich sie sehe, tue ich sonst nichts
mehr.
Er sagte zögernd: »Ich habe dich nicht geküßt. Ich wußte niemals,
ob wir uns liebten. Ich weiß es wieder nicht.«
»Hattest du nicht Angst, daß ich dich verlassen könnte?«
»Ja, im Grunde war ich feige.«
»Und jetzt, da ich dich allein lasse, küssest du mich jetzt?«
»Vielleicht.«
Sie redeten/ sie gingen achtlos mit den Worten um/ sie infizierten
sich mit ihnen.
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PaufBoüft Der Versiuß zu rußen
693
»Wenn wir uns die Hände geben, sehen wir unsere Augen später
nicht mehr?«
Stefo Frühlings Stimme veränderte sich: »Idi bin doch so un-
schlüssig. Ich muß jetzt allein sein. Ich muß mich entschließen. Ich
werde alt. Heiraten, das ist wenigstens etwas Neues. Das andere
wäre freilich schöner, was ich nicht bekomme. Wir kriegen es ja
nicht fertig.«
»Ja,« sagte Wilhelm, »wir würden auch nicht mehr vollbringen als
heiraten: Anekdoten zusammentragen, das Zufallige annehmen, weil
es neu ist.«
»Wenn ich es nicht brauchte, wenn ich etwas anderes hätte/ ich
würde mich freuen, wenn ich nicht zu heiraten brauchte. Meine Mutter
rät mir dazu. Sie hat Furcht, ich könnte wieder ausbrechen. Sie
meint, wir sollen jetzt nicht zusammen sein.«
»Heirate«, sagte Wilhelm mitleidig und sah sie an und sah ihren
Mund: Sehr hübsch, sehr hübsch, dachte er — aber was für
Gefühle sonst!
Unterwegs zu den Häusern der Stadt begann er die Trennung
zu erleben. Das Gesicht der Tage alterte.
Er fand in seinem Zimmer die Lampe ohne öl. Es war niemand
mehr in der Küche. Da setzte er sich an den Schreibtisch und roch
an Stefa Frühlings Briefen. Die Sekunden stachen ihn. »Heute kann
ich sie nicht mehr sehen!« sagte er. Es wurde Schmerz in ihm.
Er machte Spaziergange mit seinen Freunden und spielte abends
Schach. Er bat sie in halbem Scherz, ihm eines ihrer Mädchen zu
überlassen: »Ich altere frauenlos. Ich bin jähzornig geworden. Suizid
drängt sich auf. Ich begreife nicht, daß ich keine Frauen habe.«
»Wir haben auch nur unser Auskommen, keine Rede von Aus-
schweifung. Uns allen fehlt das Tierherz des Zuhälters.«
»Was soll ich tun?«
»Dich um nichts kümmern. Die Frühling heiraten lassen, wen sie
will. Wie wolltest du sie lieben, da es Liebe nidit gibt!«
»Ist also mein Gefühl Schwindel? Ich bringe es nie heraus.«
»Pah, möchtest du mit ihr schlafen? Du lügst, wenn du nicht geil bist!«
Das Gespräch ging weiter, doch Wilhelms Gedanken versteckten
sieb hier. Er verlangte Hilfe von der Skepsis gegen die Leidenschaft.
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694
Paut Bofdt, Der VersuS zu ßeßen
In der Nacht fand er keinen Schlaf. Sein Körper blieb heiß. Die
Vorstellung seines Verlustes wurde maßlos. Trotzdem wußte er, »ich
liebe sie nicht«, und hatte Stöhnen in der Kehle.
»Die schlimmen Tage werden nicht heilen!« Er versuchte es mit
Sexualität, aber die Fleischesjugend einer Kokotte erlag seinen
seelischen Strapazen. Er holte sich Ekel und nervöse Tränen und
saß den Rest dieser Nacht halluzinierend am Schreibtisch.
Am dritten Abend besuchte er eine Gesellschaft. Das Haus leuch-
tete wie ein fremder Stern.
Stefa Frühlings Mutter wurde ein wenig verstört, ein wenig böse,
als sie ihn sah, sagte:
»Herr Kreißler, wir wollen uns aussprechen wie ein Mensch zum
andern«, sagte, »die Kleine ist zu Hause und weint.« — — Er
sagte: »Ah, das Kind einer Dame!« Zitternd. Freudeweiß.
Er ging in der Straße. Seidener Fluß Erotik! Luft, die Frauen
mit den Brüsten gepreßt hatten, fiel auf ihn. Im Cafe schrieb er ihr.
»Bleibe meine Freundin! Ich habe niemanden. Ich gehe zu Grunde,
wenn du mich verlässest. Ich altere frauenlos. Ich kenne die Dirnen
aller Stände, aber ich bin kein Tier mehr. Meine Gute wurde jäh-
zornig nach und nach. Du hast mein Herz geboren, nun herze es *—
du junge Mutter!
Sie treffen sich. Mondabends. Der Garten ist grün und die Luft
hell. Wilhelm redet nicht mehr. Alles ist entstellt. Er sieht ihr Ge-
sicht und empfindet Schweigen und Haß. Er sitzt schmerzmüde bei
ihrer Angst. Er beobachtet die Mädchenangst in ihren Augen. Er
spricht freundlich mit ihr und küßt sie nicht. Er genießt die Ver-
geltung für das, was er an drei Tagen gelitten hat. Seine Grausam-
keit erfrischt ihn. Er hilft ihr nicht, sieht ohne Mitleid, daß ihre Lieb-
kosungen täppisch und jungfräulich bleiben und bekommt einen Schluck
Küsse über die Lippen. Ihr Kuß ist mager und hat den Geruch von
Tränen.
Es dauert eine lange halbe Stunde, dann sagt Wilhelm: »Wir
wollen gehen.«
Pauf Bofdt.
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Osäat Loerfa Das Gofdßergwert 695
DAS GOLDBERGWERK
ERBARME dich, großer Pharao und gib Wasser den Ver-
dürstenden!
Höre an, Herr:
In der Wüstengebirge einem, wohin du unser achthundert verbannt
hast, denen deine Gnade ihr Leben schenkte, gibt es ein Goldberg-
werk. Daher kommen wir fünf, die hier vor dir im Staube lie-
gen, als Abgesandte. Seit einem Jahre wohl hat es nicht mehr ge-
regnet, die Zisternen sind brach, die Brunnen sind leer. Mensch und
Tier schreien, und alle sterben aus. An hundert Männer und Frauen
und Kinder sind schon tot. Acht Tagereisen ist es von unserem Berg-
werk bis zu diesem fruchtbaren Garten der Heimat.
Uns fünfen gab man vom letzten Brot und vom letzten Wasser,
daß wir reisten: zu dir, Pharao.
Den Sonnengott selber dürstete in der endlosen Wüste, und er
kam in unser Bergwerk trinken. Durch den Gürtel leeren kochenden
Dampfes beugte er jeden Morgen aus seiner Höhe das glühende
Angesicht, und er trank und trank aus unsera vier Quellen, bis sie
matt und erbärmlich wurden, und ihr Widerhallen in den Felsen
nur noch röchelte und dann hinsank. Des Gottes Hände sind un-
sichtbar und greifen alles beim Ursprung: da konnten wir ihnen
nicht wehren. Nun ist der Gott satt und geht einen anderen Weg
vorbei am Gebirge, aber sie, die nicht nebenaus können, kommen
alle um.
Pharao, rette, die du noch am Leben findest! Schicke eilends eine
Karawane, soviel Schläuche sie tragen kann! Entsende eilends die
Kundigsten im Brunnenbau, damit sie vielleicht einen neuen Quell
in der Tiefe des Gebirges auftun. Die Quelle wird nicht Wasser,
sondern Leben ergießen. Sie wird durch die erfrischten Menschen
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696
Oskar Loer/k Das Gotäßtrgwerfi
zu den Göttern aufwärts fließen, aufrecht wie ein Springbrunn. Die
Quelle bist dann du, und sie spricht deinen Namen.
Sei du die Quelle!« —
Ob die fünf Botschafter diese Gebete aus der Wüste an das Ohr
des Pharao getragen hatten? *—
Wie ein riesiger, schwarzer Stadtwall stand das verfluchte, gold-
reiche Gebirge der westlichen Hinöde gegen den Himmel, heiß rings-
um, ringsum dunstend und stinkend. Von seinen höchsten Zinnen
war bis in den zitternden Horizont hinein nichts zu sehen als Geröll
oder unfruchtbarer Sand.
Und die achthundert Menschen, Gerechte und Verbrecher, Greise
und nachgeborene Säuglinge, Töchter und Mütter, Söhne und Väter,
krochen wie Ungeziefer durch ihren großen Steinhaufen und er-
starben schon vor dem Tode: das Leben reichte ihnen nicht mehr in
die Füße hinab, es siechte in den Fingern, es wollte in den Kehlen
nicht mehr tönen. Seit ein paar Tagen war das Bergwerk stumm.
Kein Tor verschloß es nach außen, kein Bewaffneter stand im
Weg. Alle waren jetzt frei, und fast alle blieben. Sie begriffen endlich
das Herz der Wüste, an dem sie wohnten, sein Schlag dröhnte in
ihren Köpfen. Zuerst waren viele geflohen mit Speise, soviel sie
schleppen konnten, doch ohne Trank, und das Geschrei der Hyänen
bei Nacht, hinter dem Himmel, zeigte die Stätten ihres Todes an.
Manche waren umgekehrt und dann meist unterwegs, vor oder in
dem Bergwerk umgebrochen. Nun ging nur selten noch jemand, ver-
zweifelt begriffen sie ihre Machtlosigkeit vor der Wüste. Ihre Arbeit
stand still.
Sie lagen im Schatten ihrer Binsenhütten, die elend an den Felsen
klebten, sie hockten im Dunklen in den Arbeitsstollen der Berge,
sie saßen wie aus Gewohnheit hinter den trockenen, steinernen
Goldwäschertischen, die Arme glatt ausgestreckt, und die Millionen
Funken der Goldstäubchen darauf brannten ihre stumpfen Augen
blind. Ihre kleine Oase am Ostrand wurde Asche, die Bäume wur-
den steif, das Gras schwarz. Kein Euter gab mehr Milch, die letzten
Ziegen meckerten kaum noch, die letzten Antilopen von Zeit zu
Zeit, wenn sie die schwarze Angst wie ein Wahnsinn packte, die
Gänse taumelten.
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Osiar Loerfte, Das Goftfßergwert
697
Wer Wasser stehlen wollte, wurde von den anderen erschlagen,
und doch lag kein Wächter mehr vor den unreinen Lachen, weil die
Wächter sich gegenseitig getötet hatten, wenn einen die Gier nach
Wasser gepackt hatte. Die Felshöhlen mit dem letzten Korn und
Mehl aus der Heimat galten soviel wie das Erz/ man konnte vor
Durst nicht mehr essen. Kein Aufseher waltete.
Die Tage des Aufruhrs, des Bürgerkriegs und Mordes waren
vorüber.
Die Gehirne erschlafften und schlugen Gespensterschlachten. Der
Wahnsinnige, ein junger Priester aus der Gegend von Memphis,
um den sich längst niemand gekümmert hatte, wurde zuletzt wieder
angehört. Man verstand seine irren Reden, nickte mit dem Kopfe
und schloß die Augen. Der Priester saß noch immer zuhöchst im
Gebirge, im Auslug über die runde Weite. Die Sehnsucht nach der
Heimat sollte ihn verrückt gemacht haben. Anstatt Erz aus den
Tiefen zu meißeln, hatte er oben einen ungeheuren Felsen bearbeitet,
der jetzt wie eine gigantische menschliche Fratze anzusehen war,
nasenlos, mit einem starr offenen zahnlosen Maul, einem kleinen,
trotz mühevoller Meißelarbeit nur angedeuteten und gleichsam aus*
gelaufenen Augenloch und einem großen natürlichen. Der Priester
war verbannt worden, weil er ehrgeizig den Gott seines Gaues über
die angeseheneren Nachbargötter zu erhöhen getrachtet hatte, und
hier verkündete er im Irrsinn seinen neuen Gott weiter, den Fliegen
und Skorpionen und seinem eigenen Echo. Er schlief in dem höhlen«
gleichen Augenloch des Kolosses auf den notdürftig verdeckten Fels«
runzeln, doch manche Nacht ging er, ein brennendes Kikibündel
schwingend, wie ein ruhloser Gedanke in dem großen Götterkopf
umher, schrie und klagte. Als man ihm schließlich zu trinken ver-
wehrte, sprach er nichts dawider, erhob auch nicht seine Hand, er«
krankte und blieb auf seinem Lager. Der Widerhall seines Gesanges
hatte in den Schluchten gewohnt, nun hatte das stumme Grauen
auch sie. Alle Morgen schleppten sie die Toten der Nacht weit vor
das Bergwerk hinaus.
Die Boten kamen nicht wieder. Man suchte sie im Himmel rings«
um, und die Augen starben in den Himmel hinein.
Aber eines Morgens bohrte sich etwas durch die ösdiche rosa«
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698 Oskar Loerft, Das GoldBergwtrt
graue Dunstwand und wuchs heran. Da krochen alle von ihren
Matten, aus den Schachten, von den Steinhöhen wie verborgenes
Gewürm auf eine Beute. Ein Greis rief dem andern zu : Nun kommt,
die ihr wie die Lause in der Wüste wohnt, kommt, ihr Glückseligen.
Stöhnen und Jauchzen erwachte hier hinter der Welt. Ein Kind öff-
nete den Tierpferch, Ziegen und Antilopen kamen heraus und liefen
in dem elenden Menschenknäuel mit, der Karawane entgegen.
Als diese nahe war, erhoben sich schluchzende Stimmen : »Es ist
der Pharao selbst. Seht die Krone der beiden Länder. Das Erbarmen
kommt. Seht Pharao, den starken jungen Krieger. Seht das schöne
junge Weib an seiner Seite, die Königin, im Schmucke von Weiß-
gold und Lazuli.c
Die meisten warfen sich schon lang auf den Felsgrund, viele
weinten, und es rief wie aus der Erde: hilf uns, hilf uns. Kein
Verbrecher war jetzt hier unter den manchen Verbrechern, außer
einem.
Das war Hesi, ein Leichenräuber und Leichenschänder. Die Letz-
ten knieten nieder, nur er nicht. Seine schwarzen Augen glühten
fern auf der, die neben dem Pharao heranritt. Sein Haupt war
aufrecht, und, als wäre er kein Todgeweihter, drängte er sich über
die Hände seiner Brüder hinweg durch die vordersten Reihen. Dann
blieb er, bleich wie vor der Erscheinung eines Gottes, stehen, schat-
tete die Augen mit den Händen ab und starrte auf die Königin.
Seine Beine bebten wie die Beine der Tiere, die neben ihm standen,
sein Blut war so traurig und schwer wie das ihre, und jetzt war
auch sein Herz so erschrocken wie das der Tiere. Seht, er liebte
die Königin.
Er hörte nicht auf die Worte Apaanchus, des Pharaos, die der
zum Gruße sprach. Er sah an ihm vorbei und zuckte nur nach der
Seite zusammen, wenn er sich von Apaanchus Blick getroffen fühlte.
Er war am Verdürsten so gut wie alle, doch drängte er sich
nicht herzu, als Wasser- und Weinschläuche verteilt wurden.
Er war der Rüstigsten einer, doch eilte er sich nicht, mit anderen
huldigend den Fürsten vom Tiere zu heben. Er sah bloß ein Weil-
chen auf die vielen Sklavenkinder, die schüchtern den Kamelen die
Flanken streichelten und sie küßten, als wären dies die Götter der
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Oskar Lo*r6e. Das GoCcfargwtrt 699
Heimat, von denen sie manchmal dunkel gehört, doch dann zwang
seine Seele seine Augen zurück auf die Königin.
Deren Blick war in schwermütiger Verwunderung umhergegangen
unter den armen Verworfenen, die sich labten und denen dabei der
Schweiß ausbrach und die Schläfen dick wurden und schnell zu
schlagen begannen. Sie saß noch immer hoch auf ihrem prunkvoll
gesattelten Kamele, das seinen gelben Kopf stolz in die Höhe hielt.
Plötzlich fühlte sie, wie sie ganz und gar in einem einsamen, groß
aufgegangenen Anschaun gleichwie im Schatten stand. Sie griff an
den Zügel, als wollte sie ihr Tier beiseite wieder in die Sonne
ziehn. Doch hielt sie inne und sagte:
>Deine Augen fragen mich etwas.«
Er antwortete: »—Ich weiß es nicht. Züchtige mich darum nicht.«
»Du hast noch nicht getrunken.«
»Du sagst es.c
»Man sagt, ihr stürbet Durstes.«
»Du sagst es. — Wer bist Du?«
»Das Weib des Pharao, Zait, die Königin.«
Vier aus ihrem Gefolge wollten sich auf ihn stürzen und ihn
fortzerren. Doch Zait wehrte ab und sagte:
»Laßt ihn. Er spricht ehrerbietig. Laßt ihn sprechen. Wer bist du?<
»Ich heiße Hesi.«
»Du bist von hoher Abkunft?«
»Nein Königin, meine Anverwandten waren Weber in ihren
Hütten, Bauern in den Marschen, Hirten in den Sümpfen des Nordens.«
»Warum bist du hier?«
Hesi schwieg, errötete sehr und warf sich jäh auf die Knie und
Ellenbogen, dann klagte er sich an:
»Ich habe die Gräber deiner Vorfahren, der hohen Götter, be-
raubt. Ich kroch bei Nacht hinein auf den Wegen des Südwinds
und der Vögel, denn ich war sehr arm und hungerte, weil man
mich aus meinem Amte gejagt hatte.« Weinen schüttelte seinen
Körper, als er nach einer Weile hinzufugte: »In Gerechtigkeit«.
Er erhob sich, und in unendlicher Traurigkeit sah er fort nach
dem Horizont, und dem Horizont erzählten seine Augen.
Er hatte der Zunft der Balsamierer angehört. Junge tote Frauen
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Ostar Uxrfif, Das Go(cf6ergwer6
kamen oft unter seine Hände, vornehmer und schöner, als sie ihm
je erreichbar sein konnten. Der Knabe träumte ihrer Schönheit nach.
Auf seine Frage, warum sie mitunter erst einige Tage nach dem
Tode seiner Zunft überlassen wurden, hatte er mit Grauen gehört,
es geschähe aus Vorsicht, weil die Toten häufig geschändet worden
seien. Da hatte er begriffen, warum sein Stand so verachtet wäre,
warum ihm die Nachbarmädchen feindlich auswichen, und nach einem
halben Jahre hatte er sich an einem Weibe, aus dem unter seinem
Schnitte noch warmes Blut über seine Hände gelaufen war, selber
vergangen. Mütterliche Fürbitte hatte ihn damals vor der Verban-
nung bewahrt, doch er war verloren. Nicht viel später wurde er in
einer Grabkammer beim Raube ertappt, und er, der Dreißigjährige,
mußte es nun schon zwölf Jahre eine Gnade heißen, damals nicht
hingerichtet worden zu sein.
Die Königin hatte ihn in seinem klagenden Schweigen vor der
Wüste betrachtet. Und darum wehrte sie nun ihren Dienerinnen,
die sie endlich von ihrem Kamele heben wollten. Sie stieg ohne Hilfe
von dem Rücken des Tieres und wandte sich an Hesi.
»Euch soll geholfen werden, Hesi. Eure Botschaft hat mich wie
eine Geißel geschlagen. Ihr habt mich gejammert, und ich sprach zu
Apaanchu, dem Pharao, meinem Gemahl: Rüste mir ein Tier und
dir, ich will das Elend in der Wüste sehen und mit dir ratschlagen
und sinnen und helfen. Darum sind wir durch die Öde gereist,
Bruder von Schakalen.«
»Königin,« erwiderte Hesi traurig, »und dann reitet ihr wieder
heim und erzählt, ihr rittet, Brüder von Schakalen. Königin, deine
Worte sind gut, deine Worte sind bitter, deine Worte sind bitterer
als Vogelgalle. Mich dürstet sehr, mir schwindelt.«
Er drehte sich um, man reichte ihm eine Schale, ließ sie aus gro-
ßem Schlauche volllaufen. Hesi trank und trank, und als die Schale
halb leer war, schoß ihm durch den Kopf, er müsse den Rest der
Königin darreichen. Er taumelte bei diesem Gedanken, eine Antilope
scheuerte sich an ihm, da streckte er den Arm mit der Schale an ihr
Maul und fiel hin. Ein paar Gewaffhete fragten die Nächststehenden
nach seiner Hütte und trugen ihn auf das Lager.
Nach ein paar Stunden erwachte er. Er setzte die Türmatte bei-
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OsJfar Loerüe, Das Goü/BergwerJt 701
settc und legte sich wieder. Er konnte einen großen Teil der An*
Siedlung übersehen. Geradeaus, ziemlich fern, war das königliche
Lager inzwischen aufgeschlagen worden, viele große weiße Zelte.
Den Pharao, umgeben von Gefolge und einem hellen Haufen
Verbannter, bemerkte er rechts tief in einem Felsenkessel, in dem
sich aus alter Zeit her ein leerer Brunnenschaft befand. Die Bau«
meister hatten ihn geprüft und stiegen eben herauf. Sie schüttelten
den Kopf, und alle gingen weiter. »Sie werden nichts finden«, sagte
Hesi vor sich hin, aber es tat ihm nicht weh. Er wandte sich ab
und blieb liegen.
Da hörte er Stimmen über sich. Er sprang auf. Linker Hand, den
Felspfad herab, kam ein anderer Haufen, dessen Mitte die Königin
war. Sie strebten einem anderen Brunnenloch zu, das unweit seiner
Hütte in früheren Jahrhunderten geschlagen war/ ein breiter Stein«
wall umgab seinen Rand, lange Leitern hingen in seine Finsternis hinab.
Hesi drängte sich hinzu, nahm einem anderen die Hacke aus der
Hand und sprang die Sprossen hinab, ohne die Königin anzusehen,
doch wollte er nicht sich und seinen Brüdern dienen, sondern nur
ihr allein. Er wollte für sie arbeiten, aber kein Wasser finden, sonst
zöge sie ja wieder heim. So schickte er in Körben durch die Men-
schenkette auf den Leitern, von Hand zu Hand, nach oben, zu ihr,
was die harten Zeiten hinabgestreut hatten, Geröll, Tierknochen,
zerbrochene Gerate, Gold, ein paar Menschenschädel. Alles sollte die
Königin grüßen, alles belud seine vor Darben und Erregung ver-
zückte Seele mit Zärtlichkeit, und die Körbe stiegen steil in die lichte
Höhe wie aus eigener Kraft. Stunden vergingen, bevor die Härte
der Brunnensohle kam. »Laß!« sagte der Baumeister neben Hesi,
ohne mit seinem Hammer nur einmal anzuklopfen. Er stieg langsam
hinauf, Hesi folgte ihm Schritt' für Schritt. Der Tiefenkundige war
ein eider Mensch, der die Wüstensklaven verachtete und nicht warten
konnte, seine Kenntnis der Erdengeheimnisse zu offenbaren. Der
unsägliche Jammer, den seine Worte in den Herzen aufwecken
würden, schmeichelte seinem Gelüst nach Gewalt.
»Königin«, sprach er, »verwirf mich nicht aus deiner Gnade, aber
in diesen Bergen ist kein Wasser verborgen. Unsere Augen werden
es nicht sehen«.
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Osfar Loer6e, Das GoCdBergwerA
»Was dann?c fragte Hesi zuckenden Mundes Zait. »Ihr zieht heim,
und aus uns, den Brüdern von Schakalen, soll Fraß der Schakale
werden.«
»Du lügst«, sagte die Königin zu dem Kundigen, wankend
vor Schrecken, mit zorniger Stimme! »Geh abseits, du sollst fürder
nicht geachtet sein vor dem Angesicht des Pharao. Sucht ihr an*
deren!«
Zait wandte sich. Nacht fiel von ihrem bleichen Gesicht und um-
gab ihre Schritte, und ihre Seele schrie zu Hathor, der Göttin. Von
Gefährtinnen gefolgt, ging sie langsam zu ihrem Zelt und verschwand
darin. Einer Dienerin befahl sie, Pharao zu sich zu bitten. Er kam
bald und ging zu ihr.
Die Bergleute taten sich alle zusammen und klopften, wo die
Wasserfinder hinwiesen, fiebernd, durch die jäh über ihre Seelen ge-
hängte Finsternis tiefer geschwächt als zuvor. Die Pestilenz ihres
versiegelten Lebens fuhr, stöhnend in ihrem Atem aus. Die Hirne
schmerzten, schwer, als wäre das Gold, das sie sonst gruben, in
ihren Köpfen, und als müßten sie die Köpfe spalten. Sie sprachen
nicht, sie weinten nicht, sie pochten, als riefen sie wen aus der Tiefe,
sie bauten, als bauten sie Gräber.
Die Sonne wurde schon dunkel.
Die Kinder hatten sich fast alle vor den äußersten Wachen zu-
sammengetan, sehr krank fast alle, und alle sahen immer wieder zu
den Königszelten hinüber. Dort wohnten die Götter. Sie wohnten
draußen vor dem Schicksal.
Hesi war in seine Hütte zurückgegangen. Seine Glieder waren
kühl, doch sie glühten von innen bis in die Monde seiner Finger-
nägel. Er ging nicht trinken, obwohl ihn wieder dürstete. Er schlug
seine Schlafmatte gegen die Felswand, daß der Staub davonstob,
und legte sie mit großer Sorgfalt zurecht. Dann stand er fange
davor und sann nach. Er weinte ja? Und dann ging er fort.
Er stand am Pferch der Kamele. Es wurde dort zum Abend
Wasser ausgeteilt.
»Gebt mehr Wasser!«
Er hatte einen Napf voll, dann noch einen bekommen.
»Ich will mehr!« sagte er, nachdem er ausgetrunken hatte.
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Osftar Loerte. Das GofdSergwtrt
»Ich darf dir nicht mehr geben«, sagte ihm der Aufseher. »Es
sind eurer viele.«
»Ich sage dir, gib mehr!« antwortete Hesi mit drohend geballter
Faust für alle.
Er stieg mit dem zum drittenmal gefüllten Napf zu dem irren
Priester hinauf. Es trieb ihn hin zu ihm, der geheim war für das
Geheime, ein Mensch wie ein Acker und wie das Gras auf dem
Acker. Krank lag der Priester in seinem Kote auf den Matten. Hesi
streichelte ihm die Wangen, als wäre er ein Weib, und labte ihn.
Der Sieche trank, tastete dabei mit den Fingerspitzen über die ge*
schwollenen Adern an Hesis Hand, legte sich dann nieder und blieb
teilnahmslos abgewendet. Hesi saß hinter ihm, an die Felswand ge«
lehnt, und sah vor sich in dem Loch des steinernen Gottesauges
die Abendröte untergehen. Plötzlich weckte er in großer Angst den
Kranken und klagte : »Du, wir sterben jetzt alle, soviel wir hier sind.
Auch der Pharao und sein Weib. Das werden wir töten. Das haben
mir die Rinder meines Vaters gesagt, denn ich sehe sie heute wieder
grasen, ganz schwarz, nur an Bauch und Knöcheln rot. Ich habe ihnen
bunte Schilftroddeln und Decken geflochten, ich habe sie mit süßem Teig
gemästet. Ich strecke meine Hand und halte ihre Hörner darin, und
wenn ich die Hand betrachte, so ist sie leer. Sie redeten aber.
Und ich schließe dann die Augen und strecke wiederum die Hand
aus, und das tote Weib, an dem ich mich verging, liegt blutend
auf ihrer Fläche, und wenn ich die Hand betrachte, so ist sie wieder
leer. Doch die Tote sprach, wie das Vieh. So greife ich ganz
Agyptenland, und ich griff nichts. Doch ganz Ägyptenland bedrängte
mich mit seiner Rede. Ihr werdet heute Nacht sterben, Pharao.«
Der Kranke erhob sich steif wie in Furcht und Zustimmung, kroch
zu Hesi, klammerte sich mit Armen und Beinen an ihn, als er«
klettere er einen Baum, preßte und drückte ihn, und dann hei er ab
wie eine Frucht.
Hesi stieg hinab, vergiftet von dem Gedanken des riesigen Götzen«
kopfes, der wie ein Turm über dem Bergwerk zu wachen und
gebieten schien, er lief durch die schwarze Nacht zu dem tief-
sten Brunnen bei seiner Hütte, um den nun alle Insassen des Berg«
werks versammelt waren, er vertrieb die Arbeitenden aus seiner
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OsMar Loerfa Das GofdBergwtrfi
Tiefe in unablässigen Reden des Hasses, er fing selbst an zu arbeiten
und zwang aus der Kraft vergebener Liebe die Willenlosen zu Werk-
zeugen seines Willens.
Es war wie ein Gesumm von wilden Wespen um die Tiefe.
Immer neue Köpfe tauchten in den steinernen Kelch und sogen
Empörung und Wut aus den Worten Hesis, der schlug und schlug,
draufzu, draufzu, und dazwischen drohte und schrie wie ein Trun-
kener
»Packt sie! Steinigt sie! Sie sollen uns büßen, alle beide, für alle
Pharaonen seit Ewigkeit, von denen keiner seinen Fuß hier hatte,
seit Ewigkeit. Ah, sie müssen büßen für alle, die daheimgeblieben
sind und nicht ein einziges Mal in dreißig und sechzig und achtzig
Lebensjahren unser gedachten. Straft ganz Ägypten in ihnen! Soviel
Menschen daheim, soviel Steine auf sie! Straft in ihnen alle, die
jahrtausendelang im Nil getrunken haben und uns vergaßen und
jene vergessen haben, die vor uns hier mit ihren Händen an den
Felsen kratzten jahrtausendelang. Zerreißt sie! Laßt sie büßen selbst
für alles Vieh, weil es sein Maul wässerte und hüpfte auf seinen
Füßen und unser nicht gedachte, und für alle Vögel, die vor Freude
flattern, weil sie ihr Herz geletzt und auf den Bäumen um uns nicht
geklagte
Er brüllte heiß und lang auf und dann schüttelte sich sein Körper
weinend in einem Krampf.
Oben wuchs ein Murren. »Holt eure Felshauen,« rief man, »hebt
Steine auf! Packt sie fester!« Ein langer Mensch, der seine großen
Hände aufhob und warnte, wurde in den Brunnen gestoßen, wo
er mit gebrochenen Schenkeln wimmernd liegen blieb.
»Jedem soll es so ergehen, der widerspricht«, rief es oben.
»Ja, seid fest!« schrie Hesi, mitten an der Leiter hangend, und seine
Seele buhlte mit Zait. Dann sprang er wieder herauf, unter seine
Kameraden. »Laßt euch nicht durch Versprechen blenden. Sie wer-
den euch Reichtümer verheißen, wenn ihr ihnen das Leben laßt, aber
acht Tagereisen ist's nach Hause und in dreien seid ihr verschmachtet.
Hört nicht auf sie! Tötet!
Süß wird das Weib des Pharao zu euch reden wie nie eine Frau,
Ich höre es schon in beiden Ohren schallen, daß ich entrückt werde,
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OsJfar Loerfo, Das Gofdßirgwerfi 705
und muß es mit den Zähnen überknirschen. So wird sie zu mir
reden: Hesi, du, ich schenke dir ein Haus und einen Weingarten,
von Trauben blau und voll von alten Feigenbäumen, und du brauchst
nicht selber ernten, Affen werden in den Kronen auf und ab klettern
und die Früchte pflücken. Aber ich werde sie dafür erwürgen.
Und du dort, zu dir höre ich sie reden: Ich schenke dir einen
fetten Acker, achtzig Worfelweiber und Schafe, die Saaten einzu-
trampeln samt Eseln, sie zu dreschen. Hörst du, laß ihr süßes Fleisch
dich nicht betören, zertrümmre mit deinem Stein die Musik ihres
Mundes ! ^
Und ihr Weiber da, laßt mich euch die Geschenke'nennen, bevor
sie es tut, mit denen sie euch belügen wird. Hört, ich, Hesi, der
Ärmste, ich schenke euch Kikibündel mit Saft für eure Lampen, Ala-
basterstützen in euer Bett und grüne Schminke, ihr, die ihr heut
sterbt, ich schenke euch Kyphipillen aus Myrrhen, Ginster, milden
Weihrauch und Honig, ihr Geierfraß, und schaffe euch Meerkatzen
zum Spielzeug, Netze zum Vogelfang, ihr Stinkende und schon Ver-
weste unter der Sonne, vor denen mir ekelt, ich schenke jedem von
euch die Länder Tenu, Charu, Keft und Fenech, ihr Unrat und Kot
in der Wüste!«
Bei diesen Worten brauste der Zorn eines vor Durst und Ohn-
macht verrückten Weiber blindlings gegen ihn selbst auf, als rede
schon die Königin, und ein Stein flog ihm an seinen erhobenen Arm.
Er bückte sich, nahm ihn auf, zeigte ihn zärtlich und redete unter
einem irrsinnig schluchzenden und schreienden Lachen:
»Seht, seht! Tut so gegen sie! So habe ich euch doch den Haß
gelehrt, die Ehre der Unterdrückten und Zertretenen. Ihr seid ja
Tote. Tote kann man nicht töten. Wohlan denn, säumt nicht mehr!
Kommt, kommt!«
Dabei lief er voran und wälzte den Menschenhaufen gegen das
königliche Lager. Rasch waren die Kamele hingeworfen und gebun-
den, die Wachen, Soldaten und Offiziere gefesselt, fortgeschleift und
in die Schächte des Bergwerks gestürzt. Geschick und Kraft wogen
wie nichts gegen die fünffache Zahl der rasenden Gegner, denn es
waren nur wenig mehr Krieger in der Begleitung des Pharao, als
für gewöhnlich mit den Lebensmittelkarawanen in die Wüsten zogen.
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706 OsMar Loerte, Das Gold6ergwer&
Hesi hatte sich zwei schwere Golderzklumpen als Waffe erlesen und
schwang sie über sich, und sie gleißten von innen wie glühende
Steine gegen Pharao und Zait. Die standen hoch vor ihrem Zelte.
Haß zerrte alles in Hesis Gesicht gegen den zuckenden Mund hinab.
In seinen beiden Augen lag aber nur Zait allein wie auf zwei
Scheiterhaufen. Er sprang in großen Sätzen vor und wollte Zait
packen, ganz gleich, ob er mit ihr gesteinigt würde/ er wollte sie
für sich allein in einen Winkel schleppen und sie erwürgen oder ver-
gewaltigen. Er spolperte im Sprung und schlug hin. Sofort jedoch
richtete er sich empor. Er hatte Geifer in den Mundwinkeln. Die
Frauen entsetzten sich vor ihm, und ein paar Männer hielten ihn
gar fest. Er heulte und winselte in ihren Händen.
Der Haufe quoll dicht im Kreis um Apaanchu und Zait auf. Da
war es, als hätten Pharaos, des Sohnes der Götter, Haupt und das
verwundert bleiche Gesicht Zaits, den Steinen befohlen, noch in den
Händen der Empörer zu bleiben. Alle warteten, während das Feuer
von den Fackeln und Bränden strömte, auf Worte, auf die Ver-
teidigung ihres Königs. Der schwieg. Hesi verstummte. Da sagte
Apaanchu unbewegt:
iWas wollt ihr?«
»Steinigen — *■ * steinigen,« jammerte es in Chören, jammerten fern
die Gebirge mit.
Der Pharao ging auf einen jungen Menschen, der sich voran-
drängte, zu, und gab ihm einen Backenstreich. Dann trat er einen
Schritt zurück und hob die groß aufgetanen Augen gegen die
strömenden Feuer, dann auf Zait, die wie aus Stein hinter ihm
stand. Seine unverwirrte Gewalt erschreckte den Haufen der Sklaven,
als hätte der Blitz jemand erschlagen. Seine Stirn war wie hundert
von ihnen, seine Augen hundert, sein Mund, seine Hände. Nach
langer Betrachtung Zaits sprach er:
»Grabt nach Wasser!«
Die Antwort war ein anschwellendes Geheul und einige lahme
Steinwürfe.
»Ihr Toren!« schrie Apaanchu sie da an. »Was ladet ihr auf
euch!« Und nach kurzem Beschluß, feierlich: »Ich schwöre euch bei
den Göttern, Wasser wird springen, ehe es tagt. Und des zum Be-
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weis befehle ich euch: Nehmt allen Wein und alles Wasser aus den
Schläuchen, trinkt es, gießt es aus. Ich und die Königin begehren
keinen Tropfen vor dem Trunk, den diese Berge bewahren. — Wollt
ihr uns nun dennoch töten, wehe euch! Niemand wird euch in die
Freiheit führen, wie es in meinem Herzen beschlossen war.«
Da ließen sie in schauerndem Verwundern ab, gegen Apaanchu
und Zait vorzudringen. Viele warfen sieb in Reue vor ihnen zu
Boden und klagten sich an, viele wichen weit zurück, manche stürzten
zu den Weinschläuchen. Und selbst Hesi wurde weich. In sein Hirn
stieg ein Fiebertraum von Freiheit, und seine Augen wurden glück«
lieh, Zait länger im Leben zu sehen. Ermattet kehrte er sich ab und
stieg in den Brunnen unterhalb seiner Hütte, zu hämmern, zu graben.
Er schickte alle fort, die ihm helfen wollten.
Sie gingen und verkrochen sich wieder in Hütten und Schachten.
Der grausame Rausch der Verzweiflung war rasch vorüber. Jeder
von den Aufrührern hörte seinen einsamen Tod in seine Ohren
reden, ob er auch mit andern sprach oder sich qualvoll zum Schlaf
ausstreckte. Viele folgten, in Haufen geteilt, mit ihren Fackeln wieder
den Brunnenmeistern. Überall pochte es lastbar.
Apaanchu führte Zait langsam gegen Osten, ohne daß ihn jemand
zu gehen hinderte. Außer Hörweite, in einem groben Steingeröll,
blieb er stehen.
»Verzeih du mir meinen lügnerischen Schwur,« sagte er, »denn
die Götter vergeben ihn nicht. Ich tat ihn nur, um eine Stunde für
den Abschied von dir zu gewinnen, mein junges armes Weib. Du
bist aufrecht und gefaßt wie ich: wir reisen nun nach Osiris Hallen.
Laß sie drum unsern Trank aus Ägypten trinken, wir brauchen ihn
nicht mehr.«
»Mich dürstet. Midi dürstet, Apaanchu.« Sie brach in ein
schluchzendes Weinen aus. »Ich will nicht sterben. Mir graut vor
dem Tode. Ewig will ich leben.«
Er stützte sie und schwieg. Dann redete er sanften Tones:
»Ich flehte zu den Göttern, daß sie mich nicht ewig leben ließen.
Vor dem ewigen Leben befiel midi das Grauen. Es befiel mich so
tief, daß ich weiter die Götter bat, sie möchten auch die anderen
Menschen nicht ewig leben lassen, auch die geringsten nicht. Aber
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Oskar Loer£e, Das GofcfßergwerM
mein Grauen war noch nicht gestillt, und ich betete sie an, sie möchten
auch den Tieren ihr Leben nicht immer lassen, die doch keinen Be-
sitz in ihren Händen und keine Weisheit in ihren Herzen haben.
Sucht sie, flehte ich, in den Kronen und Rindenspalten der Bäume
und unter den Felsplatten der Höhlen. Und sieh, die großen Götter
haben all meine Bitten gewährt. Auch du bist von der göttlichen
Gnade nicht ausgenommen, Zait, denn sonst könnte ich dich nicht
so lieben wie jetzt.«
Zait erwiderte: »Ich danke dir für deine Bitte, Pharao, und danke
den Göttern für die Gewährung. Wenn du mir nicht zuvorgekommen
wärest, hätte ich vielleicht deine Bitte getan. Nun du aber vor den
Göttern lagst und Gnade fandest, so bin ich betrübt, daß ich wieder-
komme zu den Knien der Götter und nicht Gnade finde. Die Un-
gnade ist das, was auf mir lastet. Ich kann mich unter die Gnade
nicht beugen, da sie mir nicht frei ist, sondern im Zwang wie eine
Verachtung hingeworfen. Ich will nicht in der Sklaverei des Todes
stehen!« Und schluchzend fügte sie hinzu: »Du mußt, du mußt
mich leben lassen!«
Endlich faßte sie sich ein wenig und sprach in einer düsteren, ge-
waltsamen Verzücktheit: »Du, der Pharao, kannst nicht lügen. Und
wenn du schwörst, ist es Wahrheit. Der Brunnen wird quellen! Und
als sie unsere Tiere banden und unsre Sklaven fesselten und schlugen,
wußte ich: Der Brunnen wird quellen. Es war mir alles wie ein
sonderbares, erregendes Bild: die Augen schaudern, aber die Seele
lacht. Die Glieder zittern vor Entsetzen, aber die Seele vor gieriger
Freude. Der Brunnen wird quellen.«
»Die Brunnen quellen daheim, mein Weib, und der Nil leuchtet
wie eine ewige Straße. Aber hier ist die Wüste. Hör, wie es im
Schachte schallt: Fels Fels Stein bleibt Stein.«
»O, ginge erst die Sonne auf!«
»Die Sonne geht nicht auf.«
»Sie muß aufgehen und dich mir zeigen, fremder Mann«, sagte
Zait unendlich bange. »Ich sehe dich nicht im Dunkel und rufe:
Apaanchu, Apaanchu. — Ja, hier fühle ich dein Haupt, — hier deine
Arme, — hier deine Hände. Wie aber fängt es die Seele an, die
deine zu ertasten, die schon unterwegs ist nach den Hausungen der
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I
Ostar Loer/fe, Das Gotdßergwerk 709
Ewigkeit. Meine kann nicht mit, Apaanchu, kann nicht, sinkt unter
in diesen häßlichen Steinen wie in einem See, gezogen wie von Ge-
liebten: weil sie bleiben wollen und du nicht. Sie sinkt unter in den
Schluchten dieses Bergwerks, in der Wüste, im Himmel, — sie wird
von ihnen aufgesogen wie das Licht. Sie gehorcht mir ja nicht, wenn
ich sage: komm, es ist Zeit aufzubrechen. Rufe sie mir zurück,
Apaanchu, auf die Reise zu Osiri.c
»Ich brauche nicht rufen, weil ich sie bei mir fühle. Und auch deinen
Leib will ich hegen, solang ich noch kann. Wenn die Steine geflogen
kommen und wir bluten, will ich mein Gewand in Streifen reißen
und deine Wunden einhüllen. Dann werden die herzlosen Steine
fühlen, daß sie keine Macht über uns haben, und wütender daher-
geflogen kommen, und ich will weiter Binden reißen und dich halten,
und also werden wir sterben.«
»Auch ich möchte so, Apaanchu, mit 'dir gesteinigt werden und
dich dein Gewand in Streifen reißen sehen und die Streifen um meine
Glieder binden. Auch ich möchte sehr bluten, wenn wilder die Steine
geflogen kommen und möchte leiden. Apaanchu, von meinen Gliedern
wird nicht eins zu schmerzen vergessen, doch davor furchte ich mich
nicht, — aber dann, dann leben! Ich will unköniglich und bloß und
preisgegeben in Scham knien, doch dann leben. Ich kann nicht ster-
ben. — Wie ist diese Nacht grausam, o ginge dod> erst die Sonne
auf!«
»Zait, ist dies gar so schwer: die Sonne geht nicht auf?«
»Still, Kleingläubiger! Still! Ich weiß, sie geht auf. Schon wird es
blau in Ägypten und strömt wie blaue Wehmut zwischen der Störche
breitem Flug. Kann es denn sein, daß ich hier liege, finster und kühl,
und dort in Ägypten wird es Morgen? Kann es dort Morgen wer-
den, wenn ich tot bin?
Der Tauber gurrt: Das Tal ist hell, merkt es! Die Paviane heben
ihre Pfoten zur Sonne auf. Und schon liegt die Welt überschwemmt
von Liebe und ist reich an allem Segen. Die Vögel im Laube* paaren
sich und die Mäuse in den Scheunen. Die gelben Kornhaufen laufen
über und selbst der Drescheresel darf von den Ähren naschen. O,
alles Getier hat es besser als ich, noch die Wachtel, die vor dem
Ichneumon zitternd im Papyruswald wohnt.
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Oskar Loerfie, Das GofdBtrgwtrü
Der Morgen wird Mittag und der Mittag Abend werden und die
Stunden werden bestehen. Muß denn ich nicht dabei sein, Apaanchu?
Mir ist, als müßte ich immer dabei sein. Kannst du den Wind in
einem Sack fangen, kannst du den Mond mit einer Binsenmatte aus-
löschen? Der Wind fährt aus und der Mond wächst feurig rund.
Ich bin wie der Wind und ich bin wie der Mond. Kannst du denn
zum Süden sagen: werde Norden? Kannst du zum Nil sprechen:
lisch doch aus? Ich bin wie der Süden, ich bin wie der Nil, und du
sprichst zu mir: lisch doch aus! Wie bist du fremd!
Ich sage doch ich und das ist, als sagte ich ewig. Und wenn ich
das nicht darf, so hat mich all mein Leben belogen und ich muß es
anders lernen. Warum fließt mir dann rasches Blut in den Adern
und nicht fauler grauer Schlamm! — Wenn ich heute davon muß,
so seien alle meine Leiden verflucht, denn sie waren zu tief dafür.
— Und meine Freuden seien verflucht, denn sie haben mir nichts von
dieser Nacht gesagt, und ich hätte sie früh erwürgen sollen. Meine
Traume haben mich belogen, denn sie wußten nichts vom schnellen
Tode. Ich fange an, sie recht zu sehen, gib mir Zeit!
Ich habe Freundinnen gehabt, das tut mir weh. Siehe, heut früh
wird ein fremdes Schiff in den Hafen zu Memphis kommen, sie wer-
den hinabgehen und Schmuck erhandeln, Purpuriaken und weiße
Wurzeln, um das Bad zu süßen, Asantgewürz — : und ich beneide sie
darum. Sieh, Apaanchu, dieser Neid ist auch zuviel Fessel für den Tod.
Ich bin ihnen feind! — —
Die Feindschaft ist am Leben überschüssig für das Sterben.
Und die Liebe ist überschüssig.
Ich will anfangen wie ein Schüler.
Ich beginne schon mit der Liebe, Apaanchu.«
>Arme, Verirrte du! — Was habe ich dir getan?«
»— • Du hast mir dies getan, Apaanchu: daß ich sterben muß.«
»Oh! — Dich schlägt ein Gott mit Dunkelheit.«
»Schenke, schenke mir die Zeit für das Licht. Alle Dinge haben
mich betrogen. Auch du, auch du, Apaanchu, hast mich betrogen,
weil du mich geliebt hast. Liebe lügt ewigen Schimmer vor.«
»So hättest du auch~mich betrogen, Zait, denn auch du hast mich
geliebt.«
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Ostiar Loer/te, Das Gobfßergwerb
711
»Ja, Apaanchu, ich habe dich betrogen, aber jetzt betrüge ich nicht
mehr. Ich habe dich losgelassen in meinem Frost, ich smke in meine
Einsamkeit.«
»Und mich treibt noch der Schmerz, daß du Untreue mir ent»
schweben willst und doch nirgendwohin entschweben kannst, näher
an dich heran.«
»-— Apaanchu, so sind wir tief verschieden. Mit einer Wehmut
jenseits der Liebe nehme ich diese Erkenntnis aus unserer Drang-
sal. Schenke mir Zeit, mehr zu erkennen: um deiner Liebe willen.
— Vielleicht kommt aus der Erkenntnis auch meine Liebe noch
zurück. Nein, faß mich nicht an! Nicht mehr. Vorbei ist dies alles.«
»Ich fasse dich an, weil ich mich schenke. Das ist alles, was ich
jetzt kann.«
»Apaanchu! Das sind Worte ohne Sinn. Oder lehre mich ihren
Sinn. Wenn ich erschlagen liege, wo ist dann dein Geschenk, Apaanchu?
Nein, du kannst dich nicht schenken. — Nicht einmal den Stein kannst
du mir schenken, der mich erschlägt.
Es ist grauenvoll, Apaanchu, ich sehe hell, wenn ich leben könnte,
der Stein ist mir lieber als du. Er ist mir auch lieber als ich. Und
die Luft, in der ich stehe, und der Weg, den ich trete. Erst müßte
ich dir sie schenken und dann mich.'" Du wärest sehr traurig ohne
sie, im Leeren vor mir, und sehntest dich nach ihnen. Sprich, Apaanchu,
muß ich denn die Steine, die mich töten werden, nicht mehr lieben
als dich?
Der Mensch ist dem Menschen das Fremdeste.
O, über die Ohnmacht, die die Götter uns gaben! Wie ekelt
mich davor. Ägyptenland, Ägyptenland! könnte ich doch sprechen:
Stank sei dein Meer wie eines Trunkenen Gespei! Ein Schwindel
fasse Schilf und Rohr, und es breche um in seiner Schwäche! Ihr
Berge, zertreten seid ihr, wie ein Töpfer Ton tritt! — O Traurigkeit!«
»Zait, ja! O Traurigkeit! Ober dich, nur über dich. Nun fange
auch ich an, dir fremder zu werden. Nie grollte ich dir, außer nun,
um dieses Abschieds willen.«
Da schwiegen sie und horchten auf das Pochen in Hesis Brunnen.
Doch fern, oben in dem Götterkopf, wurde es lebendig. Viele
Menschen stiegen hinauf, Fackeln irrten daran umher, aus seinen
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712
Ostar Loerfo, Das Goüfßergwerli
Augen schien die Dunkelheit zu zucken. Etwas wie Murmeln und
Rufen scholl in der Ferne.
Nach einer Weile wurde es in Hesis Brunnen still.
Hesi stieg die lange Leiter herauf, und als sein Körper zur Hälfte
über die runde Brüstung ragte, blieb er stehen. Seine Hände glitten
zuckend über die Holme und obersten Sprossen und landen keine
Ruhe. Sein Gesicht war verwandelt, mild und verklärt und wie schon
verwesend. Er starrte lange zu Apaanchu und Zait hinüber. Nach
einer Weile rief er laut, aus seiner Tiefe: »Zait!«
Die Königin erschrak und sagte dann zu Apaanchu: »Er ruft uns«.
»Du irrst. Er rief deinen Namen.«
Zait hatte ein paar Schritte auf den Brunnen zu getan, Apaanchu
haschte sie bei der Hand und sagte: »Willst du folgen, wenn dein
Henker dich ruft?«
Zait erwiderte: »Ja, es zieht mich. Rede ich mit ihm, so werde
ich noch einen Hügel aus Worten zwischen mich und den Tod bringen.
Ich will ihn anflehen, vielleicht läßt er sich erbitten. Nein, halte mich
nicht, hindre mich nicht, du Fremder.«
Sie sagte diese Worte in traumhafter Kühle, so ganz in sich und
alles abweisend, daß Apaanchu sehr erschrak und in ratlosem Ent-
setzen ihr folgte. Tu es nicht, wollte er flüstern, doch 'sie war in
ihrem Göttlichen wie ein fremdes, geweihtes Tier, das man nicht
anreden kann, und an ihrer menschlichen Würdelosigkeit hatte er
keinen Teil.
Hesi erbebte, als er die Königin vor sich treten sah.
»Warum willst du mich töten?« fragte Zait nach einem Schweigen,
bevor er geredet hatte.
»Damit du nicht länger lebst als ich«, sagte Hesi mit einer grau*
samen Innigkeit!
»Ja, das verstehe ich«, erwiderte Zait aus der Wahrheit ihrer
jüngsten Wandlung.
»Doch ich will dich nicht mehr töten, 'damit ich nicht länger lebe
als du. Ich will alle, die vorhin in meine Verzweiflung gestimmt und
sich an dir vergangen haben, beschwören. Sie werden sich alle vor
dir auf die Erde werfen und flehentlich Abbitte tun. — Und dann
werden wir alle zusammen sterben. Dies ist unabwendbar.«
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Os6ar Loer&e, Das Gofdßtrgwert 713
■ — - — — — — -_ . l
»I<fi will dich nicht mehr hören, du Furchtbarer.«
Hesi schwieg und sah sie lange an.
Da Zait sich dennoch nicht zum Gehen wandte, siedete der Haß
in Apaanchu empor, und er fuhr sie mit verzweifelten Worten an.
Apaanchu,c erwiderte ihm Zait, »ich habe dir gesagt: du
hast keinen Teil an mir. Du hast nicht mehr Teil an mir als dieser
dort.«
»Ein guter Kebsmann«, sagte Apaanchu bebend.
Zait erwiderte ihm nichts.
Doch Hesi sah die Königin an und sprach mit einer Stimme, die
ruhig war, als erzähle er ein Märchen: »Ach, wie wollte ich dir
dienen, einer Magd gleich. Ich wollte dir einen Schwan in glühender
Asche braten, ihn mit einem Strohwisch abstäuben, dir Brombeeren
zum Nachtisch suchen und dich in allem betreuen. ~
Ach, und gingest du vor mir zu deinen Vorfahren, so würde ich
dir das Scherbchen Weizen auf die letzte Reise messen. Die Töpfer-
öfen sollten rauchen, und ich zöge dir viele Dienerinnen aus Ton
daraus hervor, du solltest im Hause des Todes auch glücklich sein
durch mich: Ein Zedernschiffchen mit Ruderern, einen Weinkrug aus
Holz, Amulette, von mir mit Reiß geschnitzt, alle Fülle vom
Glücke in den Häusern des Lebens weiß ich nicht soviel, Königin.
Wie wollte ich dir dienen.«
»Apaanchu!« rief Zait fast ohne Willen aus, wie wenn dieser sie
schützen sollte.
Apaanchu antwortete in immer steigendem Zorn über das Ge-
spräch: »Der Narr tut mir fast leid.«
Zait sagte verträumt: »Er tut dir leid?«
Apaanchu entgegnete, erzürnt über diese neue Güte gegen den
Sklaven: »Nun, Leichenräuber, sprich nur, was du dieser zu schenken
hast.«
Zait weinte über dieses Wort, doch Hesi sagte:
»Nichts, nur mich, und die kahlen Berge, auf denen unsere Füße
stehen. Doch ich will dir nichts von dem Elend hier sagen. Doch
dürfte ich 's, es würde, indem du es hörtest, ganz sanft.«
»Erzähle denn, Hesi. Alles ist jetzt gleich. Jetzt und immer gilt
nur, was ist in seinem Augenblick und was kommen wird. — Einst
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714
Oskar Loerte. Das GofdßergwerR
war Apaanchu der Pharao, einst war Hesi ein Dieb, einst war
Zait —€
Hesi fahr fort: »Einst war Zait das Weib eines Sklaven im
Wüstenbergwerk. — Du kommst in Bitternis und großes Geseufze.
Zwar gehst du alle Tage nadi Gold aus, dorn bitter tuts, wo es
dein Finger faßt. Die Schachte winden sich tief in den Stein, von
der Sonne ab, doch stehe ich im Dunklen vielleicht mit magrem
Lämpchen hinter dir und helfe dir, den harten Felsen mit Feuer
spröde zu machen und mit Eisen zu spalten. Und wenn wir Kinder
hätten, die müßten schon, was die Hacke abschlug, an ihre kleinen
Brüste pressen und wegschleppen. Nein, graue dich nicht! Sie ster-
ben selten in den Schachten, ihre Füße bekommen Schwielen, damit
laufen sie ins Sonnige, sie laufen zu der Reihe der Manner, die in
steinernen, groben Mörsern zerstampfen, was sie bringen. Sieh,
vielleicht sitze ich an einem solchen Mörser und ein Sohn ist der
Bote zwischen dir und mir.«
Apaanchu sagte geschüttelt, mit versiegender Stimme: »Erlaubst
du ihm denn schon, von deinem und seinem Sohn zu sprechen?«
Zait erwiderte: »Ich hasse ihn ja, mir graut vor ihm, aber es
liegt so weit wie Ägypten und ist so lügenhaft.« Dann schrie sie
auf: »Ah laß! <— Hesi, ich verbiete dir, von unserem Sohn zu
sprechen!«
Hesi sagte: »Von unserm Sohn. Nun lag's doch in deinem Munde,
das Holde.«
Apaanchu sprang zu und riß sein Schwert über den Sklaven
empor.
Hesi lächelte und sprach: »Wie irrst du doch! Dein Weib und
ich irrten nicht so. Es bleibt alles ein Spiel der Worte, bis das
Ende — -«
Apaanchu unterbrach ihn. »Du sollst nichts in ihr finden, was
sie mit dir gemein hat und wäre es nur dies, daß ich irrte und ihr
nicht.«
Zait schauderte auf und sagte: »Uns ist ja nichts gemeinsam.«
Und Hesi sagte: »Nein, Pharao, nichts. Denn sieh, was hier an
Leben verfließt, ist alles einsam. — Zait und Hesi, sie stehn viel-
leicht einer dicht beim andern und mahlen Erzgestein auf den Mühlen,
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Oskar Lotrh. Das Gottfforgwtrt 715
aber ihre Zungen sdilafen sdiwer. — Sie werden vielleicht zusammen
Greise und sitzen krumm an schrägen Granitplatten und waschen
und waschen: keiner aber spricht ein Wort.«
Apaanchu griff sich an die Kehle und unterbrach ihn mit lastbar
gedämpfter Stimme: »Ach Zait, soll die Schmach, daß er so redet,
noch nicht zu Ende sein?«
Zait sagte zitternd: »Es ist nur Spiel. Zum Gruseln, Apaanchu.
Ich höre nur ein Abenteuer, das gewiß nicht für mich sein wird. Ich
höre doch nur das Neue, das ich noch nicht kenne und das ich ge«
rechter lernen will als das Alte. Das alte Leben wurde heute eitel
Schmerz und nichts als weher Überfluß. — - Wozu bist du und wozu
ist dein Land mit allen den Vögeln aus Arabien, die jetzt, gesalbt
mit Weihrauch, darüberhin fliegen?«
Als hätte sie sie gerufen, strichen vier magere Geier von den
östlichen Felsen her im ersten Morgengrau über sie hin. Zait sagte
ganz versunken:
»Wozu diese bunten Wickel Leben: Vögel? Ihr wart mir so freund
einst, jetzt seid ihr mein Schmerz/ mein Schmerz, der fliegt und der
grüne Federn hat und hohle Posen und Schöpfe, Gekröse. Welch
Überfluß, wozu? Ihr alle seid ein Stückchen meines Schmerzes und
hebt es und tragt es und lebt es und sterbt es: ihr Ibisschwärme
über den Sykomoren und ihr Pelikane im Morast, ihr Marabus, die
ihr mit dem kahlen Kopfe mir zunickt und nickt, — und was du
irgend nennen kannst. — Was von mir werdet ihr morgen sein und
heben und leben und sterben? Überfluß meines Glückes vielleicht?
Ich weiß nicht, laßt mich sinnen. — Und du, Apaanchu, du heißt
es Schmach, wenn ich ein grauses Märchen noch anhören will, das
dieser da im Munde hält, ein süßes —«
Da ließ Apaanchu sein Schwert aus der Faust fallen, nahm es
auf, erhob es hastig und erschlug Zait.
Sie sagte im Sterben: »Siehst du, nun habe ich den Tod gelernt,
du fremder Mann. Du aber?«
Hesi sprang über den Brunnenwall und wollte neben Zait nieder«
stürzen. Der Pharao sprang ihm entgegen, und sie rangen mitein«
ander. Hesi war müde und schwach, seine Knie zitterten, und er
wehrte sich gegen Apaanchus würgende Hände nur wie gegen eine
49
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716 Osäar Locr&t, Das Goüfßerywerk
Angst Im Schlaf. Dann starb er wie ein Baum, dessen Zeit er-
füllt ist.
Apaanchu nahm sein Weib auf seine Arme und trug es fort, um
es zu begraben. Er ging über die Geröllhalde, auf der sie ihren
Abschied genommen hatten, und suchte die kleine verdorrte Oase.
Die Späher zuhöchst um das Götterstandbild hatten nun deutlich
gesehen, daß keine Tiere am östlichen Himmel aufgetaucht und wie-
der im Feisicht verschwunden waren, sondern eine zweite Karawane
war nahe. Die Obersten der Kornspeicher, der Häuser der Gerech-
tigkeit und der Streitmacht von Ägypten hatten Rat gehalten, nach-
dem der junge Pharao in Übereile fortgezogen war, und einen
zweiten Zug, reich an Wasser, Korn und allem Gut, ausgerüstet
und am nächsten Tage dem andern nachgesandt.
Man suchte nun den Pharao, um es ihm zu melden.
Er schickte die Boten von sich und starrte ihnen nach, bis die
neue Karawane in dem Bergwerk war. Dann befahl er Umkehr und
Aufbruch, führte alle Überlebenden heim nach Ägypten und schenkte
den meisten die Freiheit. Nur der Irre wurde vergessen und kam
um, und seitdem liegt das Bergwerk verödet.
Os6ar Loer6e*
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Gottfried KöCweC Vier GediSte
717
VIER GEDICHTE
EIN ERNTELIED
Ihr wißt, das alle Körner, die guten und die läsen,
sich aus verdorrten Ähren lösen.
Die einen fallen aus dem Scheffel auf die Tenne
und wandern durch den Höllenleib der Henne,
andre werden in den Mühlen zerrissen
oder brechen unter den Gebissen
hungeriger Pferde,
viele aber, die unbeirrt
des Weges gehen, suchen ihre Gräber in der Erde,
bis die Auferstehung in ihnen wurzelig wird.
Fragt nicht: Warum? Denn eure Frage verendet
schmerzhaft im unendlichen Gewölbe,
wenn ihr nicht glaubt, daß alle Körner dieselbe
Reise gehen, die sich im Leben ewig vollendet.
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718
Gottfried KöfweC Vur G«fi4t*
EWIGE STUNDE
Ich sah an einem himmelblauen Tag
nichts, als die wunderlichen Wolken wehn,
und fühlte meine Erde schaukelnd gehn,
auf der ich, süß vom Licht gekreuzigt, lag.
Die Stunde, die ich lebend so vollbrachte,
war weise wie ein hungeriges Tier/
ich wußte nicht mehr, daß ich selig lachte,
ich lachte, denn ich wußte nichts von ihr.
Als wiegte jemand ohne Aufenthalt
mich ewig fort von Tor zu Toren,,
war ich plötzlich tausend Jahre alt
und plötzlich ungeboren.
AUF DER WALDWIESE
Föhren, die im Glanz des Mittags blauten,
drängten an die reife Wiese, hielten
tiefgespannt den Atem an und schauten
auf die Falter, die im Tanze spielten.
Als die Tänzer müde waren, boten
farbenlaute Blumen weiche Sessel
an/ die gelben überschrien die roten,
blaue drängten vor die weiße Nessel.
Wolken, die vor Neugier schwollen, tauchten
aus dem Himmelsmeer/ die Bäume hauchten
plötzlich mächtig auf/ Applaus, das dünne
Donnnern eines fernen Hochgewitters,
wehte wogend über die Tribüne.
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Gottfried KöfweC Vier GediSte
719
DER HEILAND
Wenn der Al>end niederfällt
leise in die lauten Straßen
und die Lichter heimlich quält,
die erstehen und verblassen,
geht der Heiland durch die Stadt.
Mädchen führt er an den Händen
vor die bunten Fenster hin,
daß sie Gold und Seide fanden
für den törichtjungen Sinn/
denn der Heiland will erlösen.
Manner, die vor Sehnsucht brennen,
fuhrt er weise dann herbei/
sündig wird er keinen nennen,
wer nur ehrlich brunstig sei/
denn der Heiland will erlösen.
Dann in Spielen und Konzerten
weckt er Geigen und Gesänge,
daß ein Rausch die wirren Herden
Leiden stundenlang verdränge/
denn der Heiland will erlösen.
Fällt die späte Nacht den Straßen
in den seligmüden Schoß,
um sich auszuruhen, blasen
Engel aus dem Sternenschloß:
Heil den Menschen, die erlöst sind!
Gottfried Köfwef.
720
Gustav Meyrin/f, Der Goftm
DER GOLEM
ROMAN
(Fortaetzung)
VII
WACH
Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen und ich hörte,
wie Mirjam, die Tochter des Archivars Hiiiel, ihn eben ängstlich
fragte und er sie zu beruhigen trachtete.
Ich gab mir keine Mühe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen,
und erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daß Zwakh erzählte,
mir sei ein Unfall zugestoßen und sie kämen bitten, mir die erste
Hilfe zu leisten und mich wieder zu Bewußtsein zu bringen.
Noch immer konnte ich kein Glied rühren und die unsichtbaren
Finger hielten meine Zunge/ aber mein Denken war fest und sicher
und das Gefühl des Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wußte
genau, wo ich war und was mit mir geschah, und empfand es nicht
einmal als absonderlich, daß man mich wie einen Toten herauftrug,
samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hilleis niedersetzte und —
allein ließ.
Eine ruhige natürliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heim«
kommen nach einer langen Wanderung genießt, erfüllte mich.
Es war finster in der Stube und mit verschwimmenden Umrissen
hoben sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem matrieuch-
tenden Dunst ab, der von der Gasse heraufschimmerte.
Alles kam mir selbstverständlich vor und ich wunderte mich weder
darüber, daß Hillel mit einem jüdischen siebenflammigen Sabbath-
leuchter eintrat, — noch, daß er mir gelassen »guten Abende wünschte
wie jemandem, dessen Kommen man erwartet hat
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Gustav Meyrmi, Der Golem 721
Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
besonderes bemerkt hatte, — trotzdem wir einander oft drei*
bis viermal in der Woche auf den Stiegen begegnet waren, —
fiel mir plötzlich stark an ihm auf, wie er so hin und her ging,
einige Gegenstände auf der Kommode zurechtrückte und schließ«
lieh mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls siebenflammigen
anzündete.
Nämlich: sein Ebenmaß an Leib und Gliedern und der schmale
feine Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht älter
sein als ich: höchstens 45 Jahre zählen.
»Du bist um einige Minuten früher gekommen«, — begann er
nach einer Weile — »als anzunehmen war, sonst hätte ich die
Lichter schon vorher angezündet.« — Er deutete auf die beiden
Leuchter, trat an die Bahre und richtete seine dunklen tiefliegenden
Augen, wie es schien, auf jemand, der mir zu Häupten stand oder
kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte. Dabei bewegte er
seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
Sofort ließen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und
der Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte
hinter mich: Niemand außer Schemajah Hille! und mir war im
Zimmer.
Sein »Du« und die Bemerkung, daß er mich erwartet habe, hatten
also mir gegolten!
Viel befremdender als diese beiden Umstände an sich wirkte es
auf mich, daß ich nicht imstande war, auch nur die geringste Ver-
wunderung darüber zu empfinden.
Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich
— wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand
auf einen Sessel wies, und sagte:
»Es ist auch nichts wunderbares dabei Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge — die Kischuph — auf den Menschen/ das
Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnen«
strahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend.«
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern
sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte
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722
Gustav Meyrm/f, Der Golem
sich mir gegenüber und fuhr gelassen fort: »Audi ein silberner
Spiegel, hätte er Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert
wird. Glatt und glänzend geworden gibt er alle Bilder wieder, die
auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung, «
»Wohl dem Menschen« — , setzte er leise hinzu, »der von sich
sagen kann: Ich bin geschliffen.« — Einen Augenblick versank er in
Nachdenken, und ich hörte ihn einen hebräischen Satz murmeln:
Lischuosecho Kiwisi Adoschem.« Dann drang seine Stimme wieder
klar an mein Ohr:
»Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich
wach gemacht. Im Psalm David heißt es:
»Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte
Gottes ist es, welche diese Veränderung gemacht hat.«
»Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten, so wähnen
sie, sie hätten den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie
ihren Sinnen zum Opfer fallen und die Beute eines neuen viel
tieferen Schlafes werden, als der war, dem sie soeben entronnen
sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und das ist das, dem du dich
jetzt näherst. Sprich den Menschen davon und sie werden sagen, du
seist krank, denn sie können dich nicht verstehen. Darum ist es
zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden. »Sie fahren dahin
wie ein Strom —
Und sind wie ein Schlaf,
Gleich wie ein Gras, das doch bald welk wird —
Das des Abends abgehauen wird und verdorret«
Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht
hat und mir das Buch »Ibbur« gab? Habe ich ihn im Wachen oder
im Traum gesehen? — wollte ich fragen, doch Hillel antwortete
mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte fassen konnte«
»Nimm an, der Mann, der zu dir kam und den du den Golem
nennst, bedeute die Erweckung des Toten durch das innerste Geistes«
leben. Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in
Staub gekleidet!
Wie denkst du mit dem Auge? — Jede Form, die du siehst,
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Gustav Meyrinf, Der Gofem 723
denkst du mit dem Auge. Alles was zur Form geronnen ist, war
vorher dn Gespenst.«
Icn fühlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert ge-
wesen, sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in
ein uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hille! fort:
»Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben/ Schlaf und
Tod sind dasselbe.«
» kann nicht mehr sterben?« — Ein dumpfer Schmerz er*
griff mich.
»Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und
der Weg des Todes. Du hast das Bucb »Ibbur« genommen und
darin gelesen. Deine Seele ist schwanger geworden vom Geist des
Lebens«, hörte ich ihn reden.
»Hillel, Hillel, laß mich den Weg gehen, den alle Menseben gehen:
den des Sterbens« — sdirie alles wild in mir auf.
Smemajah Hilleis Gesicht wurde starr vor Ernst.
»Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch
den des Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud
steht: »Ehe Gott die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel
vor, darin sahen sie die geistigen Leiden des Daseins und die
Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen die einen die Leiden auf
sich. Die andern aber weigerten sich und diese strich Gott aus dem
Buche der Lebenden.« Du aber gehst einen Weg und hast ihn aus
freiem Willen beschritten — wenn du es jetzt auch selbst nicht mehr
weißt: Du bist berufen von dir selbst Gram dich nicht: allmählich,
wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen
und Erinnerung sind dasselbe.«
Der freundliche, fast liebenswürdige Ton, in den Hillels Rede aus-
geklungen war, gab mir meine Ruhe wieder und ich fühlte mich ge-
borgen wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiß.
Ich blickte auf und sah, daß jetzt viele Gestalten im Zimmer waren
und uns im Kreis umstanden: Einige in weißen Sterbegewändern,
wie sie die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und
Silberschnallen an den Schuhen — aber Hillel fuhr mir mit der
Hand über die Augen und die Stube war wieder leer.
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724
Gustav MeyrinH, Der GoCem
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine
brennende Kerze mit, damit im mir hinaufleuchten könne in mein
Zimmer.
Im legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer
kam nicht und ich geriet statt dessen in einen sonderbaren Zustand,
der weder Traumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelöscht, aber trotzdem war alles In der
Stube so deutlich, daß ich jede einzelne Form genau unterscheiden
konnte. Dabei fühlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der
gewissen qualvollen Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ahn*
lieber Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben wäre ich imstande gewesen, so
scharf und präzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Ge-
sundheit durchströmte meine Nerven und ordnete meine Gedanken
in Reihe und Glied wie eine Armee, die nur auf meine Befehle
wartete.
Ich brauchte bloß zu rufen, und sie traten vor mich und erfüllten,
was ich wünschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein
zu schneiden versucht hatte, — ohne damit zurecht zu kommen, da
sich die vielen zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den
Gesichtszügen decken wollten, die ich mir vorgestellt, — fiel mir ein
und im Nu sah ich die Lösung vor mir und wußte genau, wie ich
den Stichel zu fuhren hatte, um der Struktur der Masse gerecht zu
werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrücke und Traum*
gesiebter, von denen ich oft nicht gewußt: waren es Ideen oder Ge*
fühle, sah ich mich jetzt plötzlich als Herr und König im eigenen
Reich.
Rechenexempel, die ich früher nur mit Ächzen und auf dem Papier
hätte bewältigen können, fugten sich mir mit einemmal im Kopf
spielend zum Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten
Fähigkeit, das zu sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte:
Ziffern, Formen, Gegenstände oder Farben. Und wenn es sich um
Fragen handelte, die durch derlei Werkzeuge nicht zu lösen waren,
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Gustav Mtyrinü Der Gofem 725
— philosophische Probleme und ähnliches — , so trat an Stelle des
inneren Sehens das Gehör, wobei die Stimme Schemajah Hilleis die
Rolle des Sprechers übernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloßes Wort an meinem
Ohr hatte vorübergehen lassen, stand wertgetränkt bis in die tiefste
Faser vor mir, — was ich »auswendig« gelernt, »erfaßte« ich mit einem
Schlag als mein »Eigen«*tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich
nie geahnt, lagen nackt vor mir.
Die »hohen« Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzien-
rätlich biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden beklext, mich von
oben herab behandelt hatten — demütig nahmen sie jetzt die Maske
von der Fratze und entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bett-
ler, aber immerhin Krücken für einen noch frecheren Schwindel.
Träumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit
Hille! gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte/
und selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich über«
zeugt hat, daß der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig
vorhanden ist, wühlte ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der
geistigen Rätsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurück«
zugelangen, bis zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort
aus — glaubte ich — könnte es mir möglich sein, jenen Teil meines
Daseins zu überblicken, der für mich, durch eine seltsame Fügung
des Schicksals, in Finsternis gehüllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als
daß ich mich in dem düstren Hofe unsres Hauses stehen sah und
durch den Torbogen den Trödlerladen des Aaron Wassertrum
unterschied.
Als ob ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem
Hause gewohnt hätte — immer gleich alt und ohne jemals ein Kind
gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben weiter zu schürfen
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726 Gustav Meyrinü Der Gofem
in den Schächten der Vergangenheit, da begriff ich plötzlich mit
leuchtender Klarheit, daß wohl in meiner Erinnerung die breite Heer*
Straße der Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht
aber eine Menge winzig schmaler Fußsteige, die wohl bisher den
Hauptpfad ständig begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet
worden waren: »Woherc, schrie es mir fast in die Ohren, »hast du
denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben fristest? Wer
hat dich Gemmenschneiden gelehrt — und — gravieren und — all
das andere? Lesen, schreiben, sprechen — und essen — und gehen,
atmen, denken und fühlen?
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich
mein Leben zurück.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge
zu überlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt
dazu, was lag vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt
Jetzt! Jetzt! nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der
mich von dem Vergessenen trennte, mußte überflogen sein
da trat ein Bild vor mich, das ich auf der Rückwanderung meiner
Gedanken übersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit der
Hand über die Augen — genau wie vorhin unten in seinem
Zimmer. ]
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die
Reihe der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und
gangbar sie auch zu sein scheint. Die schmalen verborgenen Steige
sinds, die in die verlorene Heimat zurückfuhren: das, was mit feiner
kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht
die scheußliche Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterläßt,
— birgt die Lösung der letzten Geheimnisse.
So, wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner Jugend, wenn
ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornähme von Z
bis A, um dort anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen be-
gonnen, — so, — begriff ich, — so müßte ich auch wandern können
in die andere ferne Heimat, die jenseits alles Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit wälzte sich auf meine Schultern. Auch
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Gustav Meyrinfi, Dtr Goftm 727
Herkules trug eine Zeitlang das Gewölbe des Himmels auf seinem
Haupte, — fiel mir ein, und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus
der Sage entgegen. Und wie Herkules wieder los kam durch eine
List, indem er den Riesen Adas bat: »Laß mich nur einen Bausch
von Stricken um den Kopf binden, damit mir die entsetzliche Last nicht
das Gehirn zersprengte, so gäbe es vielleicht einen dunkeln Weg —
dämmerte mir — von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der Führerschaft meiner Gedanken weiter blind
zu vertrauen, beschlich mich plötzlich. Ich legte mich gerade und ver-
schloß mit den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu
werden durch die Sinne. Um jeden Gedanken zu töten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte
immer nur einen Gedanken durch einen andern vertreiben und starb
der eine, schon mästete sich der nächste an seinem Fleische. Ich flüchtete
in den brausenden Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten
mir auf dem Fuß/ ich verbarg mich im Hämmerwerk meines Herzens:
nur eine kleine Weile und sie hatten mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
»Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlüssel zur Kunst des
Vergessens gehört unsern Brüdern, die den Pfad des Todes wandeln/
Du aber bist geschwängert vom Geiste des Lebens.«
Das Buch Ibbur erschien vor mir und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag,
mächtig gleich einem Erdbeben, — der andere in unendlicher Ferne:
der Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem
Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand über
meine Augen und ich schlummerte ein.
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728
Gustav Meyrinf, Der GoCem
VIII
SCHNEE
Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und höchster Angst,
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, —
oder besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. — Ich hätte
keine Ruhe sonst —
Sagen Sie keiner Menschenseele, daß Ich Ihnen geschrieben habe.
Auch nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir — »neulichc — (Sie werden
durch diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie
waren, erraten, wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fürchte mich,
meinen Namen darunter zu setzen) — soviel Vertrauen eingeflößt —
und weiter, daß Ihr lieber seliger Vater mich als Kind unterrichtet
hat, — alles das gibt mir den Mut, mich an Sie, als vielleicht den
einzigen Menschen, der noch helfen kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Dom«
kirche auf dem Hradschin. f
Wohl eine Viertelstunde lang saß ich da und hielt den Brief in
der Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern
nacht her umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen — weg*
geweht von dem frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages.
Ein junges Schicksal kam lächelnd und verheißungsvoll — ein Früh«
lingskind — auf mich zu. Ein Menschenherz suchte Hilfe bei mir. —
Bei mir! Wie sah meine Stube plötzlich so anders aus. Der wurm«
stichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden drein und die vier
Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch herumsitzen
und behaglich kichernd Tarock spielen.
Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll
Reichtum und Glanz.
So sollte der morsche Baum noch Früchte tragen?
Ich fühlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir — verborgen gewesen in den Tiefen meiner
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Gustav Meyrinf, Der Gofem
729
Seele — verschüttet von dem Geröll, das der Alltag häuft, wie eine
Quelle losbricht aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
Und ich wußte so gewiß wie ich den Brief in der Hand hielt,
daß ich würde helfen können, um was es auch ginge. — Der Jubel
in meinem Herzen gab mir die Sicherheit, daß das Geschehnis fest
stand als reifer Bau.
Wieder und wieder las ich die Stelle: »und weiter, daß Ihr lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat c,
— mir stand der Atem still. — Klang das nicht wie Verheißung:
»heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein?«
Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt mir das
Geschenk entgegen, die Rückerinnerung nach der ich durstete, — würde
mir das Geheimnis offenbaren, — den Vorhang heben helfen, der
sich hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
»Ihr lieber seliger Vaterc , wie fremdartig die Worte klangen,
als ich sie mir vorsagte! — Vater! — Einen Augenblick sah ich das müde
Gesicht eines alten Mannes mit weißem Haar in dem Lehnstuhl neben
meiner Truhe auftauchen — fremd, ganz fremd und doch so schauerlich
bekannt dann kamen meine Augen wieder zu sich und die Hammer*
laute meines Herzens schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit verträumt? Ich blickte
auf die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fünf.
Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel
und schritt die Treppen hinab. Was kümmerte mich heute das Geraune
der dunkeln Winkel, die bösartigen engherzigen verdrossenen Be-
denken, die immer von ihnen aufstiegen: »Wir lassen dich nicht,
— Du bist unser, — wir wollen nicht, daß du dich freust — das
wäre noch schöner, Freude hier im Haus!«
Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gängen
und Ecken her um mich gelegt mit würgenden Händen: heute wich er
vor dem lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb
ich stehen an Hillels Tür.
Sollte ich eintreten?
Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz
anders heute — so als dürfe ich gar nicht hinein zu ihm Und schon
trieb mich die Hand des Lebens vorwärts — die Stiegen hinab.
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Gustav M*?rin/i, Der Gofem
Die Gasse lag weiß im Schnee.
Ich glaube, daß viele Leute mich gegrüßt haben, ich erinnerte mich
nicht, ob ich ihnen gedankt — Immer wieder fühlte ich an die Brust,
ob ich den Brief auch bei mir trüge:
Es ging eine Wärme von der Stelle aus. — —
Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengänge auf
dem Altstätter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes
Gitter voll Eiszapfen hing, — hinüber über die steinerne Brücke mit
ihren Heiligenstatuen und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
Unten schäumte der Fluß voll Haß gegen die Fundamente.
Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehöhlten Sandstein der
heiligen Luitgard mit »den Qualen der Verdammtenc darin: dicht
lag der Schnee auf den Lidern der Büßenden und den Ketten an
ihren betend erhobenen Händen.
Torbogen nahmen mich auf und entließen mich, Paläste zogen lang*
sam an mir vorüber mit geschnitzten hochmütigen Portalen, darinnen
Löwenköpfe in bronzene Ringe bissen.
Auch hier überall Schnee, Schnee. Weich, weiß wie das Fell eines
riesigen Eisbären,
Hohe stolze Fenster, die Simse beglitzert und verreift, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vögel war.
Wie ich die unzähligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin,
jede so breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank
Schritt um Schritt die Stadt mit ihren Dächern und Giebeln vor
meinem Sinn. — — — — — — — — — — — — — — —
Schon schlich die Dämmerung die Häuserreihen entlang, da trat
ich auf den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum
Thron der Engel. —
Fußtapfen — die Ränder mit Krusten aus Eis — führten hin zum
Nebentor.
Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene
Töne eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. — Wie Tränen-
tropfen der Schwermut fielen sie in die Verlassenheit.
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Gustav Meyrin/i, Der GoCem
731
Ich hörte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die
Kirchentüre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel und der goldene
Altar blinkte in starrer Ruhe herüber zu mir durch den grünen und
blauen Schimmer sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster
auf die Betstühle niedersank. Funken spähten aus roten gläsernen
Ampeln.
Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
Ich lehne mich in eine Bank. Mein Blut wird seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
Ein Leben ohne Herzschlag erfüllte den Raum — ein heimliches ge*
duldiges Warten.
Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
Aus weiter, weiter Ferne drang das Geräusch von Pferdehufen
gedämpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte näherkommen und
verstummte.
Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufällt —
Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen
und eine zarte schmale Damenhand hatte meinen Arm berührt
»Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler, es widerstrebt
mir, hier in den Betstühlen von den Dingen zu sprechen, die ich
Ihnen sagen muß.«
Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nüchterner Klarheit.
Der Tag hatte mich plötzlich angefaßt
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath,
daß Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier
herauf gemacht haben.«
Ich stotterte ein paar banale Worte.
» aber ich wußte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor Nach«
forschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns
gewiß niemand nachgegangen.«
Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon
am Klang ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die
damals voll Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahn*
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732 Gustav Meyrink, Der Gofem
paßgasse flüchtete. Ich war auch nicht erstaunt darüber, denn ich hatte
niemand anders erwartet.
Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Dämmerung
der Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein
mochte. Ihre Schönheit benahm mir fast den Atem und ich stand wie
gebannt. Am liebsten wäre ich vor ihr niedergefallen und hätte ihre
Füße geküßt, daß sie es war, der ich helfen sollte — daß sie mich
dazu erwählt hatte. —
»Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, — wenigstens so-
lange wir hier sind — die Situation, in der Sie mich damals gesehen
haben, c sprach sie gepreßt weiter »ich weiß auch gar nicht, wie
Sie über solche Dinge denken «
— »Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in
meinem Leben war ich so vermessen, daß ich mich Richter gedünkt hätte
über meine Mitmenschen«, — war das einzige, was ich hervorbrachte.
»Ich danke Ihnen, Meister Pernath«, sagte sie warm und schlicht.
»Und jetzt hören Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Ver-
zweiflung nicht helfen oder wenigstens einen Rat geben können.«
— Ich fühlte, wie eine wilde Angst sie packte, und hörte ihre Stimme
zittern. — »Damals im Atelier damals brach die schreck-
liche Gewißheit über mich herein, daß jener grauenhafte Oger mir
mit Vorbedacht nachgespürt hat. — Schon durch Monate war mir
aufgefallen, daß, wohin ich auch immer ging, — ob allein, oder mit
meinem Gatten, oder mit mit — mit Dr. Savioli, — stets das
entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trödlers irgendwo in der Nähe
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielen«
den Augen. — Noch zeigt sich ja kein Heichen, was er vorhat, aber
um so qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir
die Schlinge um den Hals!
Anfangs wollte mich — Dr. Savioli damit beruhigen, was denn
so ein armseliger Trödler wie dieser Aaron Wassertrum über-
haupt vermöchte — schlimmsten Falles könnte es sich nur um eine
geringfügige Erpressung oder dergleichen handeln, aber jedesmal
wurden seine Lippen weiß, wenn der Name Wassertrum fiel. Ich
ahne: Dr. Savioli hält mir etwas geheim, um mich zu beruhigen, —
irgend etwas Furchtbares, was ihm oder mir das Leben kosten kann.
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Gustav Meyrinit, Der Goftm
733
Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte:
daß ihn der Trödler mehrere Male des Nachts in seiner Woh-
nung besucht hat! — Ich weiß es, ich spüre es in jeder Faser met* -
nes Körpers: Bs geht etwas vor, das sich langsam um uns zusammen«
zieht wie die Ringe einer Schlange. — Was hat dieser Mörder dort
zu suchen?— Warum kann Dr.Savioli ihn nicht abschütteln? — Nein,
nein, ich sehe das nicht länger mit an/ ich muß etwas tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt«
Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie ließ
mich nicht zu Ende sprechen.
»Und in den letzten Tagen nahm der Alb, der mich zu erwürgen
droht, immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plötzlich erkrankt,
— ich kann mich nicht mehr mit ihm verständigen — darf ihn nicht
besuchen, wenn ich nicht stündlich gewärtigen soll, daß meine Liebe
zu ihm entdeckt wird — / er liegt in Delirien und das einzige, was
Ich erkundigen konnte, ist, daß er sich im Fieber von einem Scheu-
sal verfolgt wähnt, dessen Lippen von dner Hasenscharte gespalten
sind— Aaron Wassertrum!
Ich weiß, wie mutig Dr. Savioli ist/ umso entsetzlicher — können
Sie sich vorstellen? — wirkt es auf mich, ihn jetzt gelähmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Nähe eines grauenhaften
Würgengels empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
Sie werden sagen, ich sei feige f — und warum ich mich denn nicht
offen zu Dr. Savioli bekenne, — alles von mir würfe, wenn ich ihn
doch so liebe — : alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber — «
sie schrie es förmlich heraus, daß es wiederhallte von den Chor«
galerien, — »ich kann nicht! — Ich hab' doch mein Kind, mein liebes,
blondes, kleines Mädel! Ich kann doch mein Kind nicht hergeben! —
Glauben Sie denn, mein Mann ließe es mir!? Da, da, nehmen Sie
das, Meister Pernath« — sie riß im Wahnwitz ein Täschchen auf,
das vollgestopft war mit Perlenschnüren und Edelsteinen — »und
bringen Sie es dem Verbrecher/ — ich weiß, er ist habsüchtig — er
soll sich alles holen, was ich besitze, aber mein Kind soll er mir
lassen. — Nicht wahr, er wird schweigen? — So reden Sie doch
um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein Wort, daß Sie mir helfen
wollen!«
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734
Gustav Meyrittf, Der Gofom
Es gelang mir mit größter Mühe, die Rasende wenigstens soweit
zu beruhigen, daß sie sich auf eine Bank niederließ. —
Ich spradi zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre, zu-
sammenhanglose Sätze.
Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daß ich selbst kaum
verstand, was mein Mund redete. — Ideen phantastischer Art, die
zusammenbrachen, kaum daß sie geboren waren. —
Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mönchs-
statue in der Wandnische. — Ich redete und redete. Allmählich ver-
wandelten sich die Züge der Statue, die Kutte wurde ein faden-
scheiniger Überzieher mit hochgeklapptem Kragen und ein jugendliches
Gesicht mit abgezehrten Wangen und hektischen Flecken wuchs daraus
empor.
Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mönch wieder da.
Meine Pulse schlugen zu laut.
Die unglückliche Frau hatte sich über meine Hand gebeugt und
weinte still.
Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der
Stunde, als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals über-
mächtig erfüllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
»Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet
habe, Meister Pernath« — fing sie nach langem Schweigen leise wieder
an. »Es waren ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben —
und die ich nie vergessen konnte die vielen Jahre hindurch c
Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut
» Sie nahmen Abschied von mir — ich weiß nicht mehr, wes-
halb und wieso, — ich war ja noch ein Kind — und Sie sagten so
freundlich und doch so traurig:
»Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner,
wenn Sie je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir
Gott der Herr, daß ich es dann sein darf, der Ihnen hilft. c — Ich
habe mich damals abgewendet und rasch meinen Ball in den Spring-
brunnen fallen lassen, damit Sie meine Tränen nicht sehen sollten.
Und dann wollte ich Ihnen das rote Korallenherz schenken, daß ich
an einem Seidenband um den Hals trug, aber ich schämte mich, weil
das gar so lächerlich gewesen wäre.c
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Gustav Meyrinf, Der Gofrm
735
Erinnerung!
— Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein
Smimmer wie aus einem vergessenen fernen Land der Sehnsucht
trat vor mich — unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines Mädchen
in weißem Kleid und ringsum die dunkle Wiese eines Schloßparks —
von alten Ulmen umsäumt Deutlich sah ich es wieder vor mir. —
Ich mußte mich verfärbt haben/ ich merkte es an der Hast, mit der
sie fortfuhr: »Ich weiß ja, daß Ihre Worte damals nur der Stimmung
des Abschieds entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und —
und ich danke Ihnen dafür.«
Mit aller Kraft biß ich die Zähne zusammen und jagte den heulen«
den Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurück.
Ich verstand: Eine gnädige Hand war es gewesen, die die Riegel
vor meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem
Bewußtsein geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen
herübergetragen: Eine Liebe, die für mein Herz zu stark gewesen,
hatte für Jahre mein Denken zernagt und die Nacht des Irrsinns war
damals der Balsam für meinen wunden Geist geworden.
Allmählich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins über mich und kühlte
die Tränen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog
emst und stolz durch den Dom und ich konnte freudig lächelnd der
in die Augen sehen, die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
Wieder hörte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das
Trappen der Hufe. —
Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen und aus
geschlichteten Bergen von Tannenbäumen raunte es von Flitter und
silbernen Nüssen und vom kommenden Christfest.
Auf dem Rathausplatz an der Mariensaule murmelten bei Kerzen-
glanz die alten Bettelweiber mit den grauen Kopftüchern der Mutter-
gottes ihren Rosenkranz.
Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete
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Gustav Meyrirtf, Der Gofem
grell, von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bühne eines
Marionettentheaters.
Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand
und daran an der Schnur ein Totenschädel, ritt klappernd auf hölzer-
nem Schimmel über die Bretter.
In Reihen fest aneinander gedrängt starrten die Kleinen — die Pelz-
mützen tief über die Ohren gezogen — mit offenem Munde hinauf
und lauschten gebannt den Versen des toten Prager Dichters Oskar
Wiener, die mein Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
»Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
Der Kerl war mager wie ein Dichter
Und hatte bunte Lappen an
Und torkelte und schnitt Gesichter, c
Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz
mündete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da
in der Finsternis vor einem Anschlagszettel.
Ein Mann hatte ein Streichholz angezündet und ich konnte einige
Zeilen bruchstückweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein Be-
wußtsein ein paar Worte auf:
VERMISST!
1000 fl Belohnung
Alterer Herr . . . schwarz gekleidet . . .
Signalement:
. . . fleischiges glattrasiertes Gesicht . . .
Haarfarbe: weiß
. . . Polizeidirektion . . . Zimmer
Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam
hinein in die lichdosen Häuserreihen.
Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg über den Giebeln.
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Gustav Meyrinf, Der Gofem
737
Friedvoll schweiften meine Gedanken zurück in den Dom f und die
Ruhe meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom
Platz herüber, schneidend klar — als stünde sie dicht an meinem Ohr
— die Stimme des Marionettenspielers durch die Winterluft:
»Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Bs hing an einem Seidenbande,
Und funkelte im Frührotschein c
Gustav Meyrinfi.
(Tortstttung fofgt.)
BERICHTIGUNG:
Das Gedicht »Aufaadrcnc im Heft 6 ist von Herrn Alfred, nidit Kurt Wolfenstein.
Digitized
738
Teststeffungen
FESTSTELLUNGEN
Die Argonauten. Eine Monatsschrift. Herausgegeben von Ernst Blaß. Heide!«
berg, Richard Weißbach. — Wir erachten es als unsere schöne Pflicht, unsere Leser
von dieser Zeitschrift in Kenntnis zu setzen, und wünschen den Argonauten gute
Fahrt, die sie so glücklich begonnen haben, mit Orpheus als Geleitsmann und
Lynkeus als Lotsen, dem Sänger und dem Späher. Es sprechen in diesem ersten
Hefte außer dem Herausgeber (in herrlichen Gedichten und vortrefflichen Worten
Ober Werfeis »Wir sindt) A. Kronfeld, Leonard Nelson, Friedrich Burschcll und
Robert Musil. D. R.
Tamifie. Ein einfacher Mann las von Familientagen und wurde aufmerksam,
daß es doch was schönes sei, so als Einzelner zu einer großen Familie zu gehören,
die da alle Jahre einmal zusammenkäme, sich begucke und berate. Es ließ ihn nicht
ruhen, und er forschte in dem Geäst und Verzweig seines Stammes und konstatierte
erfreut eine stattliche Zahl — ich glaube es waren 74 — von Onkeln, Tanten,
Vettern, Kusinen, Nichten usw. Und er hielt sich darin auf dem Laufenden, kümmerte
sich — er hatte nichts zu tun und genoß in beschaulichem Alter seine guten Renten
— um die 74, und hatte keine ruhige Stunde mehr. Eine weitläufige Familie ist
bei den heutigen unruhigen Zeitläufen eine ununterbrochene Kette dramatischer
Ereignisse meist nicht freudiger, sondern trauriger Art. Die Gesundheit unseres so
kräftigen Mannes zerrüttete sich im Lauf eines Jahres beängstigend. Die Arzte rieten
ihm, dies und das aufzugeben. Er gab nichts auf — als seine Familie. Da erholte
er sich rasch wieder. R. I. K.
5tatistiH. — Die Kriminalität nimmt mit der Kälte zu. Hat es 10 Grad unter Null,
muß man die Sträflinge, die ihr Teil abgesessen haben, mit Gewalt aus den Ge-
fängnissen bringen, in die sie sehr bald wieder einziehen, geärgert darüber, daß die
Erlaubnis, in einem warmen Gefängnis zu weilen von dieser absurden Formalität
abhängt, daß man was angestellt haben muß. Widerwillig stellen sie also was an.
So wächst die Kriminalität mit der Kälte. — Eine andere Statistik: die Schweiz hat
die meisten Selbstmörder. Ein frommes Land, ein gebirgiges Land, — deshalb die
Selbstmorde? Tirol und die andern östlichen Alpenländer sind bergig und fromm,
kommen aber selbstmörderisch erst an siebenter Stelle- Ist die Armut Ursache? Das
sehr arme Irland liebt das Leben so sehr, daß es sich tötend an achter Stelle kommt.
Der Reichtum? Preußen ist ein, man sagt, reiches Land, und kommt an zweiter
Stelle. Da wäre ein Punkt. Aber England kommt an vierter und Armut gibt es
eigentlich da nur in London. Immer noch bleibt die Schweiz unerklärt. Der Selbst«
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TeststtCfungen
raord hat wohl überhaupt keine sozial oder national oder religiös bestimmten Ur-
sachen. Und was die Schweiz anlangt, so geht sie in der Selbstmordstatistik an der
Spitze, weil — alle Engländer, die sich umbringen wollen, nach der Schweiz reisen.
Ecco, sagt Herr Kerr. R. I. K.
Reif, Arthur SSnitzfor aCs PsycBofog. Bruns, Minden. — Dieses Buch psycho«
analysiert Gestalten Schnitzlerscher Erfindung. Es nimmt ihre Seele heraus, setzt an
ihre Stelle die der psychoanalytischen Theorie, konkludiert und siehe, zuweilen
stimmen die Ergebnisse. Manche entlegenen Stellen der Werke erhalten dabei
untereinander Verbindung, unterbücherliche Zusammenhänge tauchen auf. Oder doch
die Möglichkeit solcher. Interessant ist das Buch.
Und ganz verblendet. Der Irrtum ist: Gestalten eines Dichters hätten eine kausal
verständliche Seele. Sie haben aber nur eingeschobene und wieder abgebrochene
Stücke davon, eine Benützung davon, oft nur den Schimmer. Das ganze Unter-
fangen geht darum von einer falschen Voraussetzung aus. Personen eines Dicht-
werkes wie lebende Menschen behandeln, ist die Naivität des Affen, der in den
Spiegel greift. Der Mensch im Buch ist nie bloß aus sich selbst zu verstehen, er
ist nicht voll, sondern ausgestopft mit Absichten und Interessen des Dichters. Ins-
gesamt psychologisches, Ethisches umschlossen) bilden sie das, was wir — wahr-
haftig mit einem Noch- Fremd wort — das Ästhetische nennen. Es ist auffallend,
wie unempfindlich Reik für sein Vorhandensein ist, wenn er sich eine Stelle zu er-
klären sucht.
Beweist durch diesen Irrtum Schnitzler nichts für die Psychoanalyse, so zeugt
doch diese ein wenig wider ihn. Man erhält den beklemmenden Eindruck: Arthur
Schnitzler sei kein ganz unwürdiges Objekt für sie. Dieser Wienerische Autor ent-
hält, zieht man auch alle Entstellung ab, doch überraschend viel Sentimentalität.
Spezies Beischlaf und Totenkopf, oder Liebesnacht und Duellmorgen oder Impostiert-
sein von verrucht komplizierten Bösewichten. Und ähnliche Dinge, die der — nicht
wenig an die Manifestationen von spirits erinnernden — Banalität des Unbewußten
entsprechen. Man fühlt es, wenn er melancholisch wird, wenn eine Welle von
Stimmung heraufkommt, wenn er bedeutsam wird. Im — auch bei andren immer —
trüben Schaffensgrund fühlt man es, wo das Werk nicht ganz über ihm zugewachsen
ist. Auf diese Stellen legt Reik unerbittlich den lobenden Pinger. Denn er zeigt
uns tiefe (freilich vorpsychoanalytische) Ahnung eines großen Dichters.
Außer daß es Schnitzler in dieser Weise ein wenig kompromittiert, hat dieses
Buch nichts an sich, was es aus der Fülle der psychoanalytischen Literatur aus-
sondern sollte. Es ist nicht der erste Versuch, diese zur Klärung künstlerischer
Fragen zu verwenden. Es ist auch kein Versuch, der sich durch besonders künst-
lerisches Gefühl von den übrigen auszeichnete. Er steht und fällt in seinem Wert
mit ihnen. Ich halte alle Versuche für wertvoll, und die psychoanalytischen in ihren
Ursprüngen für geistvoll. Sie gaben mehr oder doch anderes, als die gewöhnliche
Psychologie gab und schienen auf viele Gebiete, wo dieser Wissenschaft Bedeutung
zukommt <so gewiß auch auf die Ästhetik), neues Licht zu werfen. Aber diese Ab-
zweigung der Psychologie verfällt immer mehr in Lächerlichkeit.
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740
Teststetfungen
S. Freuds Grundgedanken sind gewiß eine geniale Intuition und es steckt in ihnen
eine große Möglichkeit für die sonst sehr sterile Psychologie des Emotionalen, Aber
sie ist bis heute nicht zur wissenschaftlichen Wahrheit geworden. Statt daß man
nach dem ersten Finderglack und der ersten Absteckung des Umfangs zur metho-
-dischen Durcharbeitung geschritten wäre/ — soweit bis man den Kriterien genügt/ die
heute in der Wissenschaft von dem, was gelten will, gefordert werden, — ergoß
man sich in eine völlig extensive, expansive, imperialistische Ausnützung der neuen
Idee. Die Psychoanalyse wurde zum Universalschlüssel. Man weiß heute noch nicht,
ob die Freudschen Grundgedanken richtig sind oder Modifikationen bedürftig, und
die Anwendungen überschwemmen schon alles. Vom Herzbuben der Tarockkarten
Dis zum Volkslied erklärt sich alles aus Verdrängung infantiler Sexualität, Sexuali-
tät, Bisexualität und einigen wenigen andren Voraussetzungen. Wissenschaftlich
organisierte Ideenflucht hat ein kultivierter Psychologe dieses hemmungslose Sich-
verbreiten genannt. Solche Eignung einer Hypothese zum alles erklären ist wissenschaft-
lich prima vista verdächtig/ daß sich die Tatsachen panikartig einer Hypothese fügen,
beweist immer etwas gegen die Hypothese. Auch die Pythagoräer lasen mit freudiger
Überraschung im Wesen der Zahlen von eins bis zehn das Wesen aller Dinge und
hatten doch manchen Entschuldigungsgrund für sich, der heute fehlt. V. S.
Der Einzug des van der Goes. — Es ist pedantisch, die Leute zu schelten,
■daß sie für das neue Bild aus Spanien in das Kaiser Friedrich-Museum gehen und
seit Jahren für andere Bilder dort keine Zeit gehabt haben. Das Neue ist die liebens-
würdigste Verführung, es ist das Dauerndste an unserer Jugend, und der van der
Goes ist neu, trotzdem es sich um was altes handelt. "*
Dieses Alte trifft sich freilich sonderbar mit unserer Moderne/ ein kaltes Bild und
ein ungläubiges,- man bemerkt eine gewisse Taubheit gegen das Allergrößeste in
dem, was dargestellt ist. Nun ist aber Ungläubigkeit in jener Zdt Krankheit ge-
wesen und van der Goes starb irrsinnig: auch dies reizt die Leute zum Besuch:
les nerveux se cherchent.
Für unsere labilen Sinne ist das Bild also besonders lebendig. Unter die vollkom-
menen Schwerpunktes sichere Physiognomik der Eycks etwa sind durchaus por-
trätische Gesichter geschoben, in denen sich zu der flämischen Deutlichkeit etwas
von der tückischen Beobachtung der Desequilibrierten mischt. Nun ist die Bindung
der Frömmigkeit immerhin noch stark genug, um nicht die bloße Banalität, die wahl-
lose Treffsicherheit dieses umgekehrten van Gogh triumphieren zu lassen/ aber es
gibt da doch nur Leben, wie die Gegenwärtigen es im Malerischen verstehen und
zwar im besten Fall unerbittliche und durchkonstruierte Zufälligkeit. Aber in den
■geschweiften Ohrfeigengesichtern der Statisten durch die Fenster, in der querulanten
Langweile des Kindes besteht dieser eigenwillige und eigentumslose Maler auf seiner
schlimmen Anwartschaft.
Die bloße Malerei dieses Bildes ist höchster Bewunderung wert, wenn auch das
Bild nicht ebenso hoher Sympathie. Selbst seine einseitigsten Bewunderer können
tmendlich von ihm lernen. Doch ist seltsam, daß die Hand des stehenden Königs
dermaßen auf Wirklichkeitstäuschung gemalt ist, daß sie über die Bildebene
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7eststeffungen
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hinausfallt, also plötzlich vor jedem andern Gegenstand auf den Beschauer zu ge-
sehen vird.
Jedermann kennt die Glückwünsche, die sich die Acquisiteure des Bildes er*
werben haben/ ob dieses Bild gleichermaßen zu beglückwünschen sei, in dieser
Stadt zu leben, das ist problematisch. Denn für die Zeit der ersten Sensation
ist es peinlicherweise in den Raum des Genter Altares so gestellt worden, daß
es die Seitenflügel dieses Schatzes fast verdeckt/ auf diesen Seitenflügeln be-
finden sich Engel, die so wahrhaft vom Himmel auf diese Erde hinabgestiegen sind,
wie sie von dieser Erde einmal hinaufschwebten. Aber diese brüskierten Bilder
sind seit langem im Museum und lassen sich nicht noch einmal kaufen/ sie sind
zwar länger dort als irgendeiner der dort Angestellten, doch fehlt ihnen die Gabe
beiderseits ersprießlicher Kooperation, durch weiche sie sich von diesen angestellten
Herren die richtige Schätzung erwürben. Aber wenn es für diese preußisch gewor-
denen Bilder im Museum eine Ehre ist, so bedeutende Historiker zu Direktoren
zu haben, so ist es auch umgekehrt eine Ehre für diese Beamten, solche Bilder in
ihren sinnlos gebauten Kammern zu haben, von denen die erste gleich mit einer
toten Wand anfängt. Diese Ehre haben die betreffenden Herren augenscheinlich
nicht empfunden/ dafür waren sie jedenfalls nicht empfindlich, als sie die Eycks durch
die Vorstellung des van der Goes verstümmelten: das fällt auf sie zurück, denn
die Integrität eines schönen Bildes berührt das alles nichts. Für ein schönes Bild ist
der korrespondierende Verwalter ein Kompositum von Bader (für den Firnis; und
.Zeremonienmeister <für Platz und Illumination), und weiter gar nichts/ ein Kunst-
historiker montiert sich erst in den Zusammenhängen zwischen Bildern, und wie
wenig schert das gerade ein Bild! Es kann freilich niemanden entlassen, es hängt
an seiner verfinsterten Wand, während der Obskurant herumläuft. Aber dafür hat
es die Aussicht, ihn zu überdauern, und diese Aussicht ist sicher wie der Tod.
Jedoch die Lebenden können nicht ebenso resigniert sein/ es ist für sie alle un-
angenehm, daß man wegen Kunsthistorie, oder um den Wert des Ankaufs über
alle Frage zu stellen, eine bis auf die Knochen symptomatische Rücksichtslosig-
keit begeht. Diese Wissenschaft der Parallelen, die sich im Endlichen schneiden,
hat sich hier wirklich ihr besonderes Symbol bereitet, indem sie zwei unvergleichlich
schöne Bilder zu einander längs und mit dem Rücken auf dreiviertel Meter Abstand
gestellt hat, — tröstlich nur, daß auch ein Bild seinen Rücken hat! R. G.
Hugo von HofmannstBaf, Die Wege und die Begegnungen. Erster Druck" der
Bremer Presse. — Mit diesem Stück Prosa in Nachtblau und Gold tritt die mit
Spannung erwartete Bremer Presse zum erstenmal in die Erscheinung. Es handelt
sich hier um anderes und um mehr als einen Verlag, um mehr auch als um das
Buchgewerbe in Luxusdrucken. Die Bremer durchstöbern nicht die Druckoffizinen nach
seltenen schönen Schriften, sondern sie schaffen sich ihr eigenes Letternmaterial, hier
eine ganz admirable Antiqua mit holzgeschnittenen Initialen, Kopf- und Schluß-
stücken/ nicht dem besten Binder auf dem Markte wird die Bindung übergeben,
sondern es wird in der Werkstätte der Presse selber diese Arbeit besorgt mit ebenso
großem handwerklichem Können als mit bestem Geschmack. Der Idtende Gedanke
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Teststeffungen
der Bremer Presse ist nicht, irgendwelche Bucher sehr gut herzustellen/ hier diri-
gieren nicht kunstgewerbliche Absichten, sondern sie dienen einer Idee: diese ist
bestimmend und so wurde auch alles Technische vollendet. Köstliche Arbeit wird
hier nicht an ein Beliebiges oder Zufälliges verschwendet, sondern an in bestimm-
tem Geist Gewähltes/ ein bedeutendes Programm ist aufgestellt und wird in diesen
Drucken zur Erfüllung kommen, deren technische Vollendung als ein äußeres Zeichen
sichtbar machen soll, was sich hier vollzieht: der Druck von des Tacitus Ger-
mania mit Borchardts Übersetzung mag zur Orientierung mehr noch und deutlicher
dienen als diese kostbare kleine Prosa Hofmannsthals, welche des Dichters bekannte
Art und Weise wiederholt: von Träumen schwere Luft um einen Gedanken spie-
lend, der noch alle geburthafte Weiche hat und zur begrifflichen Deutlichkeit sich
vielleicht nie verhärten kann. Wofür keiner wie Hofmannsthal den Ausdrude hat.
Dem Schwebenden alle Schwere zu lassen und dem Enteilenden doch währende
Gegenwart. Ganz subjektiv zu sein und doch den Dingen, den ungeänderten Wirk-
lichkeiten ganz verhaftet. Wie gesagt: Borchardts Tacitus wird das Wollen der
Bremer Presse deutlicher hinstellen vor die Wenigen, nicht jene, welche gutgedruckte
seltene Bücher sammeln, sondern die, denen die Wiedergeburt des deutschen Geistes
starke Not ist. B.
E. W. B reift, Häßfide Kunst? Mit So Tafefn in Li<£tdru<6, C. Kufin Vertag.
München. — In der Einleitung gibt der Herausgeber als den kunstpädagogischen
Zweck seiner ausgewählten Bildwerke an, jenen, die vom »Häßlichen« der neuen
Kunst ablehnend sprechen, zu zeigen, daß dieses »Häßliche« auch in der ganz kon-
ventionell verehrten alten Kunst vorhanden sei. Also eine Aufgabe aus der Gegend
des Kunstwartes: Belehrung des Spießbürgers über Dinge, die mit der Belehrung
am allerletzten beizubringen sind. Zusammen damit geht dann selbstverständlich die
Verflachung nicht nur, sondern auch die Fälschung des Problemes, das hier, in den
Künsten, gar nicht beim rein Gegenständlichen liegt. Wäre das Gegenständliche in
der Kunst auch nur im geringsten bestimmend, dann wäre ja auch das landläufige
Urteil der Ahnungslosen, das um »Schöne und »Häßliche geht, vollauf berechtigt,
denn es gibt schöne und häßliche Gegenstände. Um seiner Aufgabe einen Sinn zu
geben, muß der Verfasser geistige Proleten wie Rosenberg und ähnliche »Kunst-
kritiker« ernst nehmen, was man sonst wohl nicht tut. Die Gattung dieser Schrei-
ber ist in einem ganz andern Kapitel abzuhandeln als in einem, das mit der Kunst
zu tun hat. Das was der Banause für Kunst und Kunsturteil hält, muß ihm un-
benommen bleiben. Kunstschaffen nicht nur, sondern auch Kunstaufnehmen ist keine
allgemeine, erlernbare Fähigkeit. Man muß sich über das Verunglückte und Über-
flüssige des Textes mit den gut reproduzierten Bildern trösten, die, wenn auch
nichts neues, so einiges altes bringen, das man gern immer wieder sieht, wozu wir
aber nicht Klinger und nicht Dietz und nicht Böcklin rechnen, die da neben Rem-
brandt, Gaugin und Signac aufmarschieren. Woraus man sieht, daß der Verfasser,
mehr Publikum als Künstler, mehr über das Publikum gedacht hat als über die
Kunst. Was uns für einen Kunstkritiker nicht der rechte Weg scheint. B.
Der Dom in Gefafir. - Geistige Güter haben einen recht unmerklichen Tod
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Teststeffungen 743
bei ihrer Beerdigung erst gibt es die argen Katastrophen, aber als Anzeigen nur
Kleinigkeiten, Symptome, und Symptome sind die Feigheiten unter den Wahr-
heiten. Es gehört etwas Mut dazu, solche Wahrheiten zu sagen, während die Tat-
sachen noch zu schwach sind, sie zu tragen.
Die Berliner Feuerwehr wurde am 12. Februar dem Kaiser vorgestellt, zu-
erst in Parade, dann bei der Arbeit. Zu diesem zweiten Teil diente das nächst-
liegende und ungeeignetste Objekt in Berlin, der Dom von Berlin. »Die Feuerwehr-
leute stürmten in das Innere«, von außen wurde ein passender »bedrohtere Turm
reichlich begossen und bestiegen, dann Halt gepfiffen, und die Kirche spielte bei den
folgenden Demonstrationen nicht mehr mit.
Nun ist wahr, der Protestantismus hat keinen Übergang vom Diesseits zum Jen-
seits/ seine Leitern reichen nicht in einem Stück zu Gott, und der Begriff der Heiligen
ist also ziemlich beliebig. Aber obgleich dieser Glaube etwas vom Skelett hat, so
besitzt er doch eine Epidermis und diese zarte Hülle müßte empfindlich sein, sonst
wäre die ganze Sache im Kern tot. Es gibt auch sehr viele Leute noch, wenn auch
bürgerlich und langweilig, die in der Kirche das Gotteshaus sehen und mit Be-
deutung ihren Hut abnehmen und sich still verhalten, wenn sie dort sind. Es gibt
sogar Leute, die nicht eigentlich gläubig sind, aber deren Pietät sich in den herge-
brachten Formen bewegt, und das gehört sich so.
Und gerade dieses Gotteshaus, weil es dem Schloß gegenüberliegt, wird zum
Voltigierbock für Feuerleute benutzt und zur Demonstration, wie geschickt sie
Wasserstrahlen aussenden/ dabei denkt man sich nichts, man kommt nicht »auf den
Gedankenc, aber das beweist, daß man nichts fühlt und in einer anderen Luft lebt
als die Dinge vertragen, die so verehrt sein sollen. Man ist nicht in Sympathie mit
den Leuten, deren Achtung und Respekt den Thron schützen und man harmoniert
unwissentlich mit denen, die ihrerseits alles tun, und dafür verworfen werden, daß
sie aie rvirene proranieren.
Die frommen Blätter und die Pastoren schweigen alle über diese Affäre, und es ist
möglich, daß die Steine dieser undeutschesten Kirche nicht zu reden vermögen/ wenn
man ihnen aber die schon lahme Zunge ausreißt, darf man nicht Jammern, wenn der
rote Saft nachstürzt. R. G.
Stefan George, Der Stern des Bundes. Georg BonaZ Berfin. — Man weiß
ja: der Kreis um George nahm nicht das Sublime seines Gedichtes auf, sondern
seine naiv- blöde Oberhebung, daß er die wahre Welt auf seinen Schultern trage,
Heiland und Atlas in Einem, und daß sein Name heilige. Die ganz unfruchtbaren
Jünglinge ließen sich mit Schauern heiligen, es entstand der »Kreise, es verödeten
die Blätter für die Kunst, und die »Jahrbücher für die geistige Bewegunge ver-
kündeten, die Gründung des Reiches läge ganz und allein in ihrer Hand. Die
Wasser, welche die abgestorbene Welt verdeckt und verschlungen hatten, liefen ab,
und aus der Arche des Jahrbuches stiegen die »Geistganzenc und redeten. Nun
ist auch mit diesem letzten Buche George selber zu ihnen getreten, ist »Kreis« ge-
worden. Der Feind ist zu Boden gerungen, die »gute« Sache hat gesiegt, man
zelebriert nicht mehr für den Kreis, sondern für jedermann, der 3 Mark Eintritt zahlt.
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744
Teststetfungen
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Der Tempel ist nach außen gestülpt, was sich, da er papieren war, leicht machen
ließ. Man brennt denselben Weihrauch, man hat die gleiche Geste, dasselbe Wort :
mit Betonung wird gezeigt, daß man gewonnen hat, oder »reüssiert« hat Oder
man tut so, was ja auf dasselbe herauskommt in einer Zeit, wo der Kredit wich»
tig und entscheidend ist. Es ist nicht ganz deutlich, wer oder was der Stern des
Bundes ist: man hat die Wahl zwischen einem Knaben, Maximin der Zweite
vielleicht, oder — es ist widerlich dies sagen zu müssen — Gott. In einem andern
Buche aus dem »Kreise steht der Satz über George: »Es ist kein Zufall, daß er
aus dem Schoß der Kirche kam.« Wir notieren diese vorsichtig nachbauende Schwen-
kung ins Neueste, Allerneueste nur. Pfäffisches war hier immer schon genug. Noch
zu diesem neuen Buche zu sagen: es gießt noch einmal das Mißlungene, Matte im
Siebenten Ring auf, hat Steigerungen zum Gedichte dort, wo das Liebeserlebnis
mit jenem Knaben zu stärkerer Bildhaftigkeit drängt, und ist im Ganzen überlagert
von den Schwaden Weihrauchs der Gottanbeter : George ist sich nun selber Mythus
geworden. Alle Treuges und Heislers und Wolfskehls dichten in ihn hinein, aus
ihm heraus: gerade daß er noch die Wortfüge gibt, erkennbar auch sie schon mehr
aus ihm lieben Worten, die weder schön noch deutsch sind noch im Sinn der Sprache
richtig gebildet. Und Gott, dies letzte Aufgebot dieses nicht einmal mehr in seiner
Würde sicheren Mannes, sei ihm verboten. Der Seinen Namen so nennt wie George
in diesem Buche, der betet nicht in seiner Stille, sondern macht vor Zuschauern
einen theatralischen Kniefall. O. S.
OCaf Gufßransson, Tünfzig unveröffentfießte Zeichnungen. Herausgegeßen von
Alfred Mayer. München Bei G. Mäffer. - Irgendwelche Fakten durch irgendeine
Verwandtschaft untereinander zu koordinieren, das gibt oft einem ganz Irrealen das
Aussehen eines Wirklichen. Irgendeine Zeichnung mit lauter Richtigkeiten, die auf
den Eindruck des »Lebens« zielen, das ist nur eine ganz grobe Versammlung von
Faktizitäten, die gar nichts miteinander gemein haben. Denn, die Realität ist ein
ganz isoliertes und autonomes Faktum und besteht aus sich selber. Die Realität ist
die Individualisation konfuser Fakten, Ist ihre Verdichtung/ der Punkt ist das realste
Faktum und Ausgang der Linie. Setzt der Zeichner seine Linie aus Analogie oder
aus Sentimentalität, so mißversteht er seine Kunst, so wie ein Mathematiker seine
Wissenschaft nicht verstünde, der in ein Kalkül seine personliche Abstammung oder
seine Anschauung über das Frauenstimmrecht hineinbrächte. Das Wunder Rem-
brandtscher Zeichnung, das Delacroix begriff, ist ihre Illogizität, ist ihre Linie, die
das reale Summum gibt, die Quintessenz der Fakten, ihr Dogma gewissermaßen.
Die Kubisten dürfen sich auf diesen Satz nicht berufen, der ja nur eine intuitive
Erkenntnis beschreibt, welche allein die künstlerische ist. Der Künstler, der sein
Werk durch eine Rechnung zu gewinnen meint, verrechnet sich. So macht man Sessel,
aber keine Bildwerke. Die Gesetzmäßigkeit, die wir nachher in einem Bildwerk finden,
kam aus der Tatsache des Werkes, nicht ging sie ihr voran. Die Zeitung, in der
Gulbransson sein Werk veröffentlicht, orientiert über ihn gar nicht, nicht einmal
sentimen talisch / er ist nicht, was man einen Karikaturisten nennt/ weder ist er das
im Gefühl, das sich mit einem invertierten Pathos äußerte, noch in der Zeichnung,
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745
die sich gar nicht in dem billigen Spaß der Übertreibungen ausgibt. Er fixiert das
Flüchtige jeder Erscheinung in der Linie, die das intensivste Leben der Erscheinung
mitteilt oder ausdrückt oder entscheidet. Er tut das so sicher und mit solcher
spielenden Leichtigkeit wie keiner unter den heute Zeichnenden und drückt mehr
aus als hundert malende Expressionisten. Er verzichtet auf keine Farbe, aber er
kocht sie ein, bringt sie auf ihren Extrakt/ er macht es sich schwerer damit, denn
die Farbe kann mit ihrer Sinnfälligkeit berauschend überrumpeln. Er verzichtet auf
jedes Mod6I£, aber er preßt das Plastische an die Peripherie, wo es Linie wird, und
macht es sich schwerer damit, denn man kann um die Zeichnung nicht herumgehn
wie um die Plastik. Er zeigt das Hinten mit, wenn er das Vorne zeichnet. Er
bringt das immer etwas Kindliche, das Malerei und Plastik haben, in eine hohe
Spiritualität, die ganz entmaterialisiert ist, von Malfarbe, Leinewand, Ton, Stein
befreit. Hier braucht der Geist nicht mehr Materialien, um sich mitzuteilen, er drückt
sich in sich selber aus, ohne ein stoffliches Medium und ohne das Verführerische,
das die stofflichen Medien der Bildkünste schon für sich selber haben, — o die schöne
blaue Farbe, o der schöne schwarze Stein ! — Hier ist ein Buch über G. mit einem
guten kurzen Text und vielen Blättern, die man nicht kannte. B.
Der Bfidt. Eine Kunstzeitscßrifi. - Es ist höchste Zeit, daß in der babylonischen
Verwirrung heutigen Kunstschaffens und Kunstsehens eine reinliche Ordnung ge«
schaffen wird. Daß hier wie in allen anderen Dingen Ordnung sein muß, daran
wollen wir auch unter den widerlichsten Umständen festhalten. Ordnung heißt nicht
Reaktion, heißt auch nicht Anpassung- Aber irgendwie Krach machen heißt auch
nicht revolutionieren. Achte Barthaare an Ölbildern definieren nicht nur keine neue
Kunst — wenn neu in der Kunst überhaupt einen Sinn hat — sondern steigern nur
die Chancen aller jener handgefertigter Scheußlichkeiten, welche, von der »Scholle«
etwa hergestellt oder von Stuck, die sonst gute Stube des Bürgers verunzieren.
Der Unsinn der einen treibt den unsicheren Kunstfreund mit Anführungszeichen
in den Stumpfsinn der andern. — Kritiker und Kunstzeitschriften wittern etwas.
Nicht nur die Händler. Die erstem merken, daß sie nicht mehr auf der Höhe ihrer
Höhe sind. Also üben sie eine kleine Schwenkung nach links ein, aber ihr von Haus
aus gebrechlicher Organismus kann die Bewegung nicht mehr vertragen / sie werden
zu sitzen kommen zwischen dem von ihnen gewärmten Stuhl und dem andern, den
wir ihnen wegziehen, um uns darauf zu setzen. — Die Kritiker denken in das Bild
hinein und so immer daneben. Sie haben ein »Kriterium«, was immer sagt, daß
man außerhalb der Sache steht. Und nicht in ihr. Sie treiben mit Bildern Mißbrauch,
indem sie sie auf beiläufiges, ganz ungegründetes Theoretisieren beziehen, zu dem
ihnen die Ästhetik nicht Recht gibt, weil sie keine haben. Oder sie konstruieren die
Welt der Bildwerke vom Werke eines Malers aus, das sie zum Gesetze machen.
Oder sie haben »Stimmungen« wie der Oskar Bie. Oder sie bestreiten ihren
kritischen Aufwand vom Mißtrauen, indem sie so tun als wüßten sie schon das
Wahre, aber es hätte in dieser verworfenen Zeit keinen Wert, es zu sagen. —
Wir wollen alles das nicht- Wir wollen uns nicht um die Kunst kümmern als
Draußenstehende, sondern von ihrem Erlebnis als von einer selbstverständlichen
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746 TeststelTungen
Tatsache ausgehen- Wenn irgendwas auf der Welt, so hat die Kunst die größte
Realität. Wir werden sehr subjektiv sein, gar nicht vorsichtig. Wir haben keine
diplomatische, sondern eine menschheitliche Aufgabe. Und die Kunsthändler sollen
uns schon ganz wurst sein. — — — So lautet ein Prospekt, den man uns schickt.
Erscheint dieser »Blick« nicht, dann sind wir jedenfalls um keine Enttäuschung reicher.
Für die Redaktion verantwortlich:
Eni' Ernst SSwaBaS — Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, Kreuzstraße 3 b.
Für Österreich-Ungarn verantwortlich: Hugo Helfer, Wien I, Bauernmarkt 3.
Gedruckt in der Offizin von PoesSef et Trepte in Leipzig.
Papier von Edm. Oßst in Leipzig.
Alle die Weißen Blätter betreffenden Zusendungen sind zu richten an die
Redaktion der Weißen Blätter, Charlottenburg, Sybelstraße 22.
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'Festsieffungen
FESTSTELLUNGEN
•
Otto Brafjtn, Kritische S Stiften üßer Drama und THeater. Berit n, S. Tisdher
Verfag. — Neben Hermann Bahra Aufsätzen wird diese Sammlung der Brahm-
sehen Schriften das wichtigste Dokument für die Geschichte dessen sein, was man
die moderne Literatur nennt, einer Periode, die abgeschlossen hinter uns liegt, in
ihren Strebungen und Zielen überschaubar und bestimmbar. Ja mehr als Bahr, der
als Mitschaffender mehr noch Partei ist, wird die kritische Tätigkeit Brahms (auch er
Partei, doch nicht dichterisch mitbestimmte) diese Zeit deutlich machen in der Stärke und
in der Schwäche ihrer Positionen. Es stellt ein hohes Zeugnis für Brahms ethischen
Willen sowohl als für seinen gut ausgebildeten Geist aus, daß, was nie als ein
Buch beabsichtigt war, was immer nur für den Tag geschrieben wurde und des
Vergänglichen im Objekte genug enthält, sich doch zu der starken Einheit und
inneren Einheitlichkeit eines Buches mit Anfang und Ende zusammenschloß, was
nicht nur als ein Verdienst des geschmackvoll edierenden Schienther anzusprechen,
sondern eben Ausdrude Brahmschen Wesens ist. Er hatte seine Grenzen: dies ist
kein Vorwurf, denn keiner kann über sich selbst wegspringen. Er füllte seine Gren-
zen aus: dies ist höchstes Lob, denn es verlangt dies Hingabe und Arbeit eines
ganzen Lebens. Es ist doch sehr viel, daß man imstande ist ein Buch, das von
Theaterstücken und Schauspielern und allerlei sonstigen Putilitäten handelt, mit aller
Teilnahme, ja mit Vergnügen am Schreiben des Verfassers zu Ende zu lesen ohne
zu ermüden. Brahm schrieb ein gutes, sachliches Deutsch, das nie flunkerte, seinen
Charakter ganz von der Ergriffenheit und Beherrschung des Stoffes bekam, und
das belebt wird von einer gar nicht preziös tuenden Grazie und einer nie auf'
dringlich werdenden Ironie Sein Wissen sagt er wie ein Weltmann, ohne den je
mit der Geste besonders auszuzeichnen/ und die Affekte seines Fühlens lassen ihn
auch in stärkster Begeisterung nie lyrisch stammeln, denn er hat einen sauberen,
an sich haltenden Geist, der sich in der Limitierung beherrscht. Und er ist nie
witzig um witzig zu sein. Er will gar nicht Aufsehen machen. Er ist immer an-
gezogen wie jedermann und wie es Brauch und Situation verlangen. Ich will nicht
fragen, ob sich das Brahmsche Wesen so fein und wohltuend etwa nur deshalb
vorstellt, weil es sich von dem aufgeregten Hintergrund heutigen Schreibens über
das Theater stark abhebt, denn solche Frage wäre Frage nach dem Menschlichen
und indiskret. F. B.
Erster deutsaSer Herßstsafon. — Von den 300 Nummern des Katalogs hätte
ich an die 200 gern entbehrt und statt deren mit Vergnügen die besten der neueren
Bilder von Meidner, Pechstein, Oppenheimer, Hädcel und einigen andern gesehen.
Teststetfungen
Denn die Kubisten interessieren midi nicht. Ich kann mir nichts melancholischeres
denken, als was ich einmal bei Feldmann in Cöln sah: die Ausstellung eines leben-
digen Künstlers, Picassos, drei Zimmer voll schöner, schöner Bilder und dahinter
ein viertes, mit den letzten kubistischen Arbeiten gewürfelt, düster wie eine mit
lehmfarbenem Mosaik ausgeschlagene Grabkammer, Picassos letzte »Periode« ! Ich
sah mich um, ob nicht der Künstler in einer Ecke am Strick baumelte. Mich fror.
— Neugierig, wie ich bin, habe ich eine Anzahl kubistischer Traktate mit Fleiß ge-
lesen. Einige sind, stellenweise, hübsch geschrieben. Und wenn man sie gelesen hat,
braucht man sich keine kubistischen Bilder mehr anzusehen. Man nickt und geht
mit Respekt vor soviel anständiger Verbohrtheit weiter. Im Herbstsalon hing ein
kubistisches Bild mit einem rosa Kokotten briefchen. das so recht in die algebraische
Umgebung hineingepatzt war. Da blieb man denn wieder stehen und freute sich:
Wie hübsch doch so ein hundsgemeines Rosa sein kann Eine frisch eingetroffene
Ladung Tschechen wies ebenfalls solche Farbenve'leitäten auf. Man freute sich —
und marschierte entschlossen vor die Farben, die Farben Kandinskys. Eine bren-
nende Aprikosenblüte, von der wir, mit unsern Europäernerven, vielleicht von den
kleinen, zarten Japanholzschnitten geträumt haben: etwas wie die große, glühende
Apotheose eines Utamaro. Es ist das Liebenswürdigste von den Kompositionen,
die dort einen einzigen brennenden Dornbusch bilden. Aber die andern sind wahr-
scheinlich stärker. Kandinsky ist nun auf seiner Suche soweit vorgedrungen, daß
seine Maieret nur noch eine Musik in Farben scheint. . . Vor bald hundert Jahren
haben die Romantiker begonnen, davon zu sprechen. Kandinsky hat es als erster
erreicht: Alles Gegenständliche ist aufgegeben, man erkennt von irgend welchen
»Vorlagen« nicht mehr, als etwa in einem Stück absoluter Musik an Nachahmungen
(Vogelruf, Geräusch) auftaucht. Aber bitte: vor Nachahmungen dieses genialen
Einzelfalls sei flehentlich gewarnt . . .
Die andre Säule des Herbstsalons: Franz Marc. Der Salon hätte das eine oder
andre seiner älteren Bilder zeigen sollen. Es ist immer reizvoll, nicht nur Bilder,
sondern auch ein Stück Entwicklung zu sehen. Der Weg Franz Marcs ging vom
Dekorativen ins Seelische. Er begann damit, daß er Tiere malte, wie eben ein
Maler Tiere malt, jetzt erzählt er von ihnen. Mit franziskanischer Liebe. Wie die
heilige Katrei vor Meister Ekehart ausrief: »Herr, ich bin Gott geworden!« so
könnte man von Franz Marc sagen, er sei Tier geworden. . . »Was,« ruft Fitze-
butze, der Räsonneur der jüngsten Malerei ergriffen aus, »was heißt das! was hat
das mit Malerei zu tun?« — Es gibt Künstler, bei denen das Handwerk gar keine
Rolle mehr spielt. Nicht, als ob sie es verleugneten. Aber ihre Inbrunst ist so groß,
daß die ergriffene Seele das sonst so lüsterne Auge betört und das Gesicht dem
Gefühl hörig macht. Die Bilder von Franz Marc: Wälder voll ausschreitenden Lieb-
reizes und schlank gewachsener, nein, noch im Wachstum sich streckender Kraft,
seine Tiere noch ganz in die Schöpfung versponnen, — saftig, leuchtend, stark. Und
ich finde diese Inbrust eines Intellektuellen ergreifender, als etwa die rührende Un-
geschicklichkeit des Zöllners Rousseau — den sie schlucken mit Haut und Haaren:
verständnisvoll. R. S.
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Teststeffungen
Tranf Wede/find, Gesammelte Werte. Sechs Bände. Münden, G. Müffer. Der
sechste Band enthält Wedekinds letztgeschriebenes Werk, die Simson-Tragödie —
von ihr aus muß, wer immer über dieses Dichters Schaffen urteilte, den Weg zu-
rüdegehen und ihn noch einmal und wieder erleben. Führt er auch immer noch über
Gipfel nicht nur, sondern auch über Niederungen: W. steht durch diese Tragödie
dieses höchste erreichte Ziel, in einem andern und bedeutungsvollen Licht. Wer
diese Tragödie schreiben konnte, dem bedeutete das Dichten nie die gelegentliche
Übung eines schönen Talentes, dem war es von tiefsten Sinn bewegter Wille auch,
mehr einem Volke sein zu müssen, als ein irgendwelcher Schönmacher. Dieser Mann
hat mit ganz andern Dingen noch gerungen als mit, sagen wir, seinen ,, Stoffen",
der trug noch andere Lasten als die angenehme Bürde des Talentes,- der hat, nicht
vom künstlerischen Asthma gequält, das Leben ganz anders bei den Hörnern ge-
nommen als die sog. Naturalisten das, was sie als das Leben vermeinten. Wedekind
ist der größte Dichter dieser Zeit, weif er auch ihr leidendster Mensch ist, der sich
dichterisch äußerte. Keine Zeit verträgt ihre Großen: aber manchmal anerkennt sie
sie negativ: die unsere hätte Wedekind gar zu gerne verhungern lassen. Um dem
zu wehren sang er seine Lieder zur Guitarre auf dem Podium. Da sagte man schnell:
ein Clown, ein Variete! und wollte sich ihn so vom Halse scharfen, da er schon
nicht materiell auszuhungern war. Also erklärte man, sein Geld sei falsch. Aber er
hat den Sieg behalten. Damit, daß er nichts sonst tat, als immer stärker der zu
werden, der er war. Er wurde nicht billiger, im Gegenteil! Aus dieser ethischen
Härte sprang der Simson, eine Tragödie, wie sie die Deutschen seit Kleist nicht
besaßen. Mit welchem Namen nur ein Zeitpunkt fixiert sein soll, kein Vergleich,
bei dem Simson über den Homburg sowohl wie über den Guiskard den Sieg ge-
wänne. Den Einwurf Hebbel meint man doch wohl nicht ernsthaft. — Auf den
ersten Seiten dieser Zeitschrift war gesagt worden, die moderne Literatur hätte uns
nur Bücher gegeben, aber kein Werk — dieses Urteil ist in einem Falle, aber nur
in dem einen, als unzutreffend zu bezeichnen. Wedekinds Schaffen gab ein Werk.
Hat es die Risse und Schründe seines Urhebers, so seien wir beglückt davon, daß
sich hier nie einer versiellte und anders tat als er war. Daß er noch unter einem
andern Schicksal steht als dem des Dichters, das legt ihn uns besser ans Herz, ver-
binde t ihn stärker mit dem Menschheitlichen noch. Übrigens: auf keinerlei Grup-
pierungen oder Einzelschulen der sogenannten „Moderne" fällt auch nur die Spur
eines Verdienstes um diesen Dichter Frank Wedekind. Die „Moderne" kann sich
ihn mit nichts zuschreiben. Er ist Einer ganz für sich immer gewesen, hat bei keinem
ästhetischen Programm Schulden gemacht. Warum erkennt es kein Theaterdirektor
als seine größte Pflicht (die vielleicht auch sein bestes Geschäft ist;, Wedekinds Werk
zu spielen, nicht dieses oder das, sondern jedes? Nicht nur die deutsche Schaubühne
würde dabei gewinnen. F. B.
Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters In deutschen Versen von Paul
von Winterfeld. C. H. Bedi Münden. Der umfangreiche Band ist aus dem Nach-
lasse W.s von Hermann Reich, dem Verfasser des gedankentiefen Mimus -Werkes,
herausgegeben und eingeleitet. W. war ein etwas genialischer Mann mit einem St offwissen
91
Teststeffungen
auf seinem Gebtete der mittellateinischen Philologie wie es in gleichem Umfang,
und, man kann das bei ihm « irklich sagen, in gleicher Tiefe Wenige besitzen. Nicht
ganz zü seinem Glücke übte er auch ein kleines versifikatorisches Talent, dessen
Zeugnisse als Lyrik anzusprechen, nicht anginge. Einer von jenen Dilettanten war er,
die Gefühle haben und gar keine Anschauung, keine innere Figur. Dieser dichternde
Zustand, diese leichte Banalität des nichts als Gefühligen, das schon Wunder was
auszudrücken meint, wenn es Seelenschmerz sagt, kommt auch in diesen Ober*
tragungen überall dort zum Vorschein, wo die unbedeutende Vorlage solches Dichten
unterstützt, verschwindet aber zum Glück in den starken Stücken, wie dem Wal«
tharius, dem Notker, ganz. W., ein feinorganisierter Mensch, merkte wohl hier die
Distanz und zog nicht in den engen Kreis seines Vermögens was nicht hineinge-
hörte. Sicher ist auch dieses freundliche Resultat nicht an solchen sprachschöpferischen
Phänomenen wie etwa Rudolf Borchardt zu messen, auch nicht an geringeren als
Borchardt, wie Vesper, aber es ist auch keineswegs in die Gegend zu stellen, wo
sich Fuldas Meier Helmbrecht aufhält. Im Ganzen eine respektable Arbeit, die kaum
ein anderer unternehmen wird und die immerhin ein Bild von der Art der Dichtung
gibt, die, schon deutsch im innern Wesen sich lateinisch ausdrückt, in welchem Um«
stände schon das Urteil liegt, daß das wahrhaft Große zu schaden ihr nicht be«
schieden sein konnte. Denn diese Dichter übersetzten sich selber, gaben ihr eigenes
dichterisches Element auf. B.
Sören Kierkegaard und die PSifosopßie der InnerßaSfeit. Von TSeodor Haeafer.
MünaSen, J. F. SaSreißer. Von der Bedeutung Kierkegaards wisse die heutige
Zeit nichts, was nichts gegen die Wirkung und Bedeutung ausmache, doch aber
bliebe es die Aufgabe des philosophischen Menschen und sein Stolz und sein Glück,
ein lebendiges Sein in ein lebendiges Wissen zu heben und dort zu sichern. Das
unternimmt der Verfasser in seiner oft bis zum Schimpfen temperamentvollen Schrift,
die nicht nur zeigt, daß er mit Nutzen Schelers Collegien gehört hat und auch sonst
eine vortreffliche Erudition besitzt — ohne Spur gelehrter Pedanterie — , sondern
auch hellen Sinn für Leben und Zeitdinge und stolzen Mut zu Urteilen, deren
Gründe oft tiefer liegen als im bloß Intellektuellen. Vortrefflich ist alles gegen den
Monismus, Mauthner, Naumann, ästhetisierende Kunstüberschätzung, Systemethiker,
vortrefflich alles für Bergson, Strindberg, Dostojewsky, Kraus Gesagte: zu all dem
kann man nicht anderer Meinung sein als der Verfasser. Wohl aber im Hauptthema.
K. hat nicht nur das vollständigste Buch über sich selbst in allen seinen Büchern
geschrieben, das alle Bücher anderer überflüssig macht, sondern er hat überhaupt
nichts anderes geschrieben als sich selber/ er ist das einzige Thema seiner Bücher/
alle Wege, die er geht, sind freiwillige Umwege zu sich selber,- er kommt immer zu
sich selber zurück: kommt nicht zu Gott, schleppt Gott in seine Höhle/ er war
Sokrates noch einmal und ein Dialektiker von solcher Inbrunst, daß es ihm sogar
den religiösen Charakter geben konnte, ihm, der nur im Sinne des protestantischen
Paradoxes religiös war, dessen genialer Zu- Ende- Denker er war und dessen defini-
tiver Erlediger. Womit die große Bedeutung Kierkegaards keineswegs historihziert
werden soll! Was übrigens auch damit geschähe, wenn in Erfüllung ginge, was der
Tiststeffungett
Verfasser 'wünscht: daß ihn die Philosophen berücksichtigen mögen. Ich vermisse
meinerseits K. gerne in den Systemen der berufsmäßigen Lehrkanzler/ bei den wenigen
heutigen Denkern ist er sicher existent, und für mich muß ich zum Verfasser be-
merken, daß ich vor 23 Jahren — ich war ein junger Student — zum erstenmal
Entweder« Oder las (der Titel des Buches zog mich in den Laden, in dessen Fenster
das Buch lag) und daß mir seitdem zum immer stärker drängenden Erlebnis die
Existenz dieses aufregenden Ingenium wurde, wenn es mir auch nicht gelang, dieses
Erlebnis in höherem Maße auszudrücken, als es nach meinem eben nicht sehr großen
Vermögen geschah. In all der Zeit war mir K. stärker als irgend sonst was die
laute Mahnung des Christentums, die nicht immer deutlich gehörte, aber nie nicht
gehörte. Keinem bin ich mit meinem inneren Leben stärker verpflichtet. Der Leser
entschuldige diese allzupersönliche Bemerkung zum Verfasser hin, der, wie manchmal
zum Schimpfen, so manchmal auch in das Mißtrauen des snobistischen Entdeckers
fällt, der auf seine Primeurs eifersüchtig ist und da vielleicht lieber glauben möchte,
man hätte sich die Kenntnis Kierkegaards mit schnellen Fingern erst kürzlich aus
des Verlegers Diederieh großem Kulturbottich gefischt, in dem neben Horneffer auch
Kierkegaard schwimmt — beides, wie der Verleger schwört, zur Rettung des deutschen
Geistes und dito Seele. — Ich muß noch eine unanständige Bemerkung des Ver-
fassers abweisen. Er schreibt in einer Anmerkung: „Die Gedanken Claudels sind
schon dadurch verdächtig, daß sie von Franz Blei in Deutschland eingeführt werden.
Was aber seine Dichtung angeht ..." Der Verf. will so Claudel durch mich er-
ledigen und gibt mich summarisch noch dem Käufer seiner Meinung drein. Es
schmeichelt mir, daß Verfasser mich bei seinen Lesern nicht nur überhaupt als be-
kannt, sondern sogar als sehr fixiert bekannt voraussetzt. Was er aber für die
Prägung einer kurrenten Münze hält, dürfte doch wohl nur ein recht fades über-
nommenes Klische sein, das sich die schnell arbeitende Journaliere für ihren Bedarf
fertigen muß/ die Zeitungsleute haben ein Recht darauf, das nicht zu kennen oder
zu verstehen, worüber sie ein Urteil abgeben gegen Zeilenhonorar. — Unanständig
ist es vom Verfasser — nicht, daß er mich nicht kennt natürlich, aber daß er Claudel
durch den diskreditieren will, der zuerst (vor fünf Jahren!) zwei außerordentliche
(moderne, nicht „mittelalterliche") Dramen von ihm übersetzt hat. Denn nur das
geschah — Gedanken Claudels (die ich nebenbei gar nicht bedeutend finde) habe
ich nie „eingeführt". Der Verfasser scheint übrigens nur die „Verkündigung" zu
kennen, anders würde er nicht so Einfältiges über den Dichter sagen, den, wie es
in einem Programmbuch von Hellerau geschah, einen neuen Dante zu nennen natür-
lich ebenso einfältig ist. Auch dieses Hellerauer Claudel-Buch kennt der Verfasser
noch, in dem einige, und wie ich glaube, meist jüdische Verfasser über Claudel sich
geäußert haben, wozu der Verf. bemerkt: „Was in Deutschland um Claudels Namen
herum entsteht, ist etwas sehr Merkwürdiges: ein literarisch- jüdischer Neokatholi-
ctsmus ohne jede wahrhaftige innere oder auch nur äußere Tradition . . . Spaß-
katholiken, Gimpel, Hanswürste, Leichenräuber und Aasvögel." Der Verf. sieht zu
schwarz. Die paar entwurzelten Juden, die vielleicht Neigung zeigen, in eine bet-
bruderhafte Verblödung fallen zu wollen, oder die paar poveren Christenjünglinge ,
93
*Feststeffungen
die ihre traurige Dichterei um kleine Heilige, Kardinäle und schöne Beichtkinder
mäßig ausschweifen lassen — ist das eine Zeirerscheinung, die auch nur irgendwas
mit dem Glauhen zu tun hat, für irgendwas symptomatisch wäre als dafür, daß
irgendwas heutzutage immer bei Hohlköpfen und «Herzen Mode wird für eine We.le?
Wäre das mehr, dann könnte man auch das Tangoranzen an den Nabel der Welt
binden. Aber die heute viel geübte Lust zu schimpfen ist so Passion geworden —
mit so nachlassendem Denken — daß sie sich auf die skurilsten Objekte stürzt und
deren Wichtigkeit übertreibt, nur um sich Genüge zu tun: die fünf Schimpfworte
des Verfassers geben den ganzen fünf „Neokatholiken" eine Existenz, die sie vor*
her sicher eher zu bezweifeln als zu behaupten geneigt waren. F. Blei
Trüfdristiicße Apo-ogeten. Aus dem GrieaSisaSen und Lateinischen Erster
Band. Mü iaSen, J. Kösef. — In der bekannten und sehr geschätzten Bibliothek
der Kirchenväter erschien dieser Band als der 12., in der Reihe der frühchristlichen
Apologeten als der erste/ er enthält als die wichtigsten Stfidce die Apologien des
Aristides und Justins des Märtyrers, des Tatian Rede an die Bekenner des Griechen-
tums und des Athenagoras Bittschrift für die Christen/ in sehr gewissenhaften Ober*
Setzungen (von Rauscher, Julius, Kukula und Eberhard) und mit allem gelehrten
Notenapparat. Was diese Dokumente für die Geschichte der christlichen Dogmatik
so wertvoll macht ist, daß ihre Verfasser Heidenchristen waren, welche, in griechischem
Kulte erzogen und in der alten Philosophie gebildet, erst in der zweiten Hälfte
ihres Lebens Christen wurden, nicht immer zum Vorteil der Kirche, in die sie nicht
nur die Heftigkeiten der Frischbekehrten hineintrugen, sondern auch vieles von dem
Sektengeiste, der ihnen aus der heidnischen Zeit anhaftete. Die Kirche brauchte
Jahrhunderte um das Phantasma der orientalisch*ch istlichen Derwische zu verdauen.
Diese Verdeutschung der Dokumente gibt dem gebildeten Leser die sehr zu dankende
Möglichkeit, Dinge, über die er sonst nur lesen konnte, selbst zu lesen. Heute
sind die Mystiker Mode, — es wäre für das Denk n d»r aus geistiger Insuffiziens
für Seuse, Bergson und Mme Guyau Schwärmenden <und nichts als Schwärmenden)
sehr gesund, sie begäben sich in die härtere Schule der Patres,- Staat und Mode
ist allerdings mit diesen Herrschaften nicht zu machen, denn von ihnen führen keine
leichten und gefälligen Wege ins Gefühlige, sondern steile und weite ins Geistige.
Der Augenaufschlag und das Wortspiel tun es da nicht/ ein zart plätscherndes
Salongespräch geben sie nicht her/ und einer blassen Erotik esoterischen Charakters
kann man mit Justin kein hektisches Rot auf die Wangen zaubern wie es den
Alamodeschwärmern mit Heinrich von Nördlingen gelingen soll. Aber wer weiss?
Denen, die heute alles befingern, gelingt vielleicht auch, die Kirchenväter zur Mode
einer »geistigen Bewegung« zu machen. B.
Rudoff Hans BartsaS, Vom sterbenden Ro/tofo. Mit Lithographien von
Hugo Steiner, Leipzig, Staaafmann. — Der Verleger schickte mir das Buch persönlich
wohl in der Meinung ich verstünde was besonderes vom Rokoko und vom schönen
Buch. Ich hatte dadurch zum erstenmal Gelegenheit, etwas von Bartsch zu lesen,
der eine angenehme Unterhaltung bietet, wenn man die Unterhaltung aus Büchern
denen mit einer Frau vorzieht, zu denen Leuten ich allerdings nicht gehöre. Ich bin
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Teststeffungen
nicht für unterhaltend« Bücher, was nicht heißt, daß ich die langweiligen liebe. Idi
bin eher für unterhaltende Frauen, was nicht heißt, daß ich die amüsanten liebe
Das Buch ist sehr schön gedrudtt, aber die Zeichnungen von Steiner verderben es.
Sie sind, man weiß nicht weshalb, auf den Stein gezeichnet ohne eine Spur vom
besonderen Reiz der Lithographie und ohne den geringsten Verstand des Zeichners
dafür. Peinliche Zeichnereien mit harten Farben koloriert, fein ausgeführt wie Eti-
ketten auf Weinflaschen. Kein Schattenstrich ist vergessen. Um den Geist zu ka-
pieren, in dem heute einer das Rokoko künstlerisch geben kann, sei dem Zeichner
Karl Walser empfohlen. Um zu erfahren, was eine Lithographie ist, möge er sich
Bonnards Daphnis und Chloe ansehn oder Klossowskis Li i hos zu Meier Gräfes
Orlando und Angelika, welches famose Buch (bei P. Cassircr erschienen) auch dem
Verleger Staackmann zeigen wird, wie man derlei macht. Ich glaube nur nicht, daß
die Autoren dieses Verlages das Besondere einer Ausstattung nötig haben. Sie werden
dadurch nicht besser, sondern durch die Pretension der Darbietung schlechter. F. B.
karf ScBefffcr, Itafon, TageßucB einer Reife, mit 118 Voffßifdern, Infefverfag
1913. — Ein Deutscher, dem deutschen Wesens Errettung aus hohlem Scheindasein
am Herzen liegt, sucht auch im Süden Wegweiser, die ihm neue Wege zeigen und
alte bestätigen sollen. Die Enttäuschung ist furchtbar. Zwar findet er in antiker
Architektur Gewähr für die Richtigkeit des heute angestrebten sachlichen Stils und
schon in Verona wölbt sich ihm die Brücke über Jahrtausende hinweg Dafür aber
wird ihm die Renaissance zum konventionellen Renommierstil. Selbst in den stärksten
Werken, dem Gattamalata, dem Colleoni. wittert er den Anfang des schmählichen
Endes, das unsere Zeit bedeutet, und gegen Raffael empfindet er einmal gar das
Gefühl des Hasses.
Erstaunt fragt man sich, wie ein Deutscher so überrumpelt werden kann, da doch
den Deutschen die Kunst Italiens geläufiger zu sein pflegt als ihre eigene Die Er«
Klärung Schefflers reicht nicht hin, daß den in Deutschland isoliert stehenden Werken
zuwachse, was Konvention daran sei, während in Italien ihnen in der ungeheuren
Gemeinschaft jede Physiognomie abhanden komme. Denn was zuwächst, ist Reich-
tum des Geistes, nicht des Herzens. Die Leere, die Scheffler immer wieder fröstelnd
empfindet, war auch in Deutschland. Es ist also doch wohl so, daß auch Scheffler
das typisch deutsche Schicksal ereilt, nur umgekehrt. Die Sehnsucht treibt auch in
ihm eine Idee herauf. Während aber die meisten nicht die Kraft haben, die Ideen hoch
genug zu treiben, und schließlich mit dem Ideal einer schönen Eleganz sich abfinden,
läßt Scheffler nicht ab von der Forderung seelischer Werte und an ihr muß das
italienische Mach-Werk grausam scheitern-
Diese Umkehr aber ist nicht so selten, wie Scheffler meint. Er hatte nicht nötig,
sich so nachdrücklich zu rechtfertigen. Denn die Gemeinde derer, denen dieses von
Herzen kommende Buch zu Herzen gehen wird, ist immerhin recht ansehnlich und
alle, in denen die Fülle der deutschen Sprache und die Wahrhaftigkeit der deutschen
Kunst noch lebt, wird das Italienische zwar irgendwie mitreißen, aber auch irgend-
wie erkälten. Wer aber erst Wege deutscher Zukunft sucht, wie kann er in den
südlichen Provinzen zureichendes Gelände finden? Es sei denn, daß zweierlei ihn
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t
Teststeffungen
reizt: Die Sympathie der grandiosen Selbstverständlichkeit antiker Profanarchitektur
und die Kontrastierung welsdien und gotischen Wesens, wie es in Italien nicht nur
die Werke der deutschen, sondern vor allem die deutsch beeinflußten älteren Meister
möglich machen.
Dies findet denn auch Scheffler Dabei ist aber nicht so sehr das Historische von
Bedeutung: die hypothetische Brücke von der Antike zur Gotik läßt sich geschieht'
lieh wohl kaum halten. Sondern das Theoretische. Denn wenn auch Wörter wie
gotisch, faustisch, kolossalisch, artistisch, sentimentalisch manchen Leser nicht viel
mehr als Wörter bleiben werden, so ist dodi der Kern durchaus wesenhaft: die
Kunst der Sachlichkeit gegen die Kunst der Illusion, die Kunst des Herzens gegen
die des Temperaments, Wahrheit gegen Eleganz. Da treten dann die Griechen in
toto, von den Römern die Profanarchitektur und die Bildniskunst, die frühesten Ita-
liener, die altdeutschen Meister, die Niederländer, die neueren Franzosen auf die
eine Seite und dem griechischen Tempel fügt sich sozusagen das gotische Fenster
ein. Auf der andern Seite aber steht, mit gesundem Menschenverstand und in der
geschickten Dekoration der Oper, das Wesen der italienischen Renaissance, eine
elegante Aufmachung der Antike für den italienischen Salon. Drei Männer aber
bleiben, kämpfend und fast grollend, abseits: Leonardo, Michel Angelo, Tintoretto,
Geister des gotischen Ideals in der Umwelt des Renaissancehaften.
Dieser Schluß, den ein Deutscher mit der ganzen Kraft seines Herzens zieht,
macht das Buch so wertvoll, daß man es jedem männlich denkenden zur ernsten
Lektüre wünschen möchte. W. K.
BEI DER REDAKTION GINGEN EIN:
Aus dem Verlage Hermann Barsdorf, Berlin : A. J. Storfer : Marias Jungfräuliche
Mutterschaft-
Aus dem Verlage Georg Müller, München: Denkwürdigkeiten des Kardinals von
Retz, herausgegeben von Benno Rüttenauer, drei Bände/ Jean Pauls Persönlida-
keit, herausgegeben von Eduard Berend,- Brentano: Aloys *<£> Imelde.
Aus dem Insel- Verlag: Schurig: W.A.Mozart, sein Leben und sein Werk, zwei Bände.
Aus dem Mercure de France, Paris: E. Pilon: Portraits de sentiment/ C. Culmont,
La Poesie Francaise du Moyen-Age.
Aus dem Verlage Nouvelle Revue Francaise, Paris: J. Renard: 1'oeil clair/ Pierre
Hamp: 1'enquete,- du Gard: Jean BarotS/ C. L. Philippe: Charles BlanoSard.
Aus dem Verlage Charpentier, Paris, Pawlowski: Voyage au Paris de la 4 C dimension.
Aus dem Verlage Oesterheld, Berlin, Kobor: Der Preis des Lebens.
Aus dem Verlage A. Juncker, Berlin, Wied: Pastor Sörensen.
Aus dem Verlage Bruno Cassirer, Berlin: Die Plastik der Ägypter.
Aus dem Verlage E. Rentsch, München, Rene Beeh (M. Barka) : Maierbriefe aus Algerien.
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Testsieflungen
FESTSTELLUNGEN
Egmont Seyerfen. Die 5<£merz(icf>e Scham. Die GesSiSte eines KnaBen um
19oo. BerDn, S. Tistßer. Soziabel sein heißt auch nachgiebig sein. Man ist es
manchmal sogar dort, wo man es um keinen Preis sein sollte: in den Künsten. Lobt
Dinge, die halbgelungen sind, aus einer schlampcrten Höflichkeit heraus oder aus
Scham darüber, daß im Grunde alles, was da geschrieben wird, so gar elend und
ein bißdien weniger Elendes schon eine kleine Freude ist. Der immer lebhafte Wunsch,
daß etwas über alles Maß vortrefflich sei — was in den Künsten allein zählt —
betrügt sich oft, tut, als fände er sich erfüllt, um — weiter die Hoffnung zu nähren.
Der Roman ist das Schmerzenskind der deutschen Literatur. Der Deutsche faßt sein
Weitbild lieber in die lyrischen und musikalischen Formen, isoliert wie er sich, nicht
aus Tugend, sondern aus Not, gern gefällt und individuell, wie er sich gerne hat.
Er ist gerne bei sich allein, sein Zugehörigkeitsgefühl zu den Menschen ist nur
theoretisch, praktisch stuft er sich, verhält sich, verabstandet sich, wird sozial, besten-
falls soziabel, menschlich nie. So fällt auch der deutsche Romandichter, wenn er
nicht fremde Muster kopiert, gern ins Vage/ füttert die Landschaft mit seinen Ge-
fühlen auf/ stopft seine Menschen mit seinen Psychologien voll, die tramer ihre
Herkunft vom Autor betonen/ redet zu seinem Text zu viel und meist ohne Welt-
kenntnis, ohne Weltbild, was zu haben man vom Romandichter schließlich verlangen
muß, denn er hat es nicht mit sich, sondern mit der Welt zu tun. Gut räsonnieren
konnte von den neueren nur der verstorbene Knoop,- wenn er es auch ein wenig
trocken tat, ließ man es sich doch gefallen, denn ringsum gab es des Gefühligen
allzuviel und mediokren Geistes auch. Dann gab es die vortrefflich gefaßte Familien-
geschichte der Buddenbrooks, deren leitmotivische Hebungen nur besorgt machten
für das von diesem Verfasser Kommende: daß es ihm in seinen Büchern immer an
so einer „dichterischen" Extratour belieben möchte, an so einer lyrischen falsch-
tönenden Begleitstimme, die den Stoff des Romanes adeln soll? Oder wie? Es ist
nicht einzusehn, warum der Romandichter sich noch eine Extralegitimation als Dichter
damit geben muß, daß er mit der Linken eine kleine Harfe im Diskant zupft. Er
ist dann eben nicht bei seiner Sache, nicht in ihr, nicht von ihr durchdrungen: er
vergißt sich nicht und hat keine Ehrfurcht. Geschlinge, das nur eine künstliche und
nicht Leben gebende Luft aufblies, waren H. Mann's Romane von der Herzogin,
bis in der Kleinen Stadt sein Wesen den Boden fand, worauf fest stehen. Hier glückte
das Artificum vollkommen, die schillernde Bewegtheit des musivisch zusammen-
gesetzten Bildes ließ gern übersehn, daß keiner dieser Menschen seine eigene Kontur,
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Teststeffungen
sein eigenes Bewegungsgesetz hatte. Darum heißt es auch die kleine (pointellierte)
Stadt. Der Verfasser des Wilfeber wird sein Buch wohl selbst nicht als einen Roman
wollen/ hier wird mit deutschen Zuständen abgerechnet von einem starken zornigen
und begeisterten Menschen, was wichtiger und wertvoller ist, als das formal Roman-
hafte, das entlehnt und ein Vorwand ist, an den Leser leichter mit den Dingen zu
kommen, die ihm zu sagen sind. Dann noch Hauptmanns Quint: ein Werk, das
der Dichter schon als junger Mensch in sich trug („der Apostel") und das so zu
einer Stärke auswuchs wie keines sonst. — Unter den hier genannten Büchern (an-
dere sind nicht zu nennen) steht eines abseits und darüber: Musils Verwirrungen,
die eine neue Welt in die Welt stellen und nicht die alten Kunstbestände variieren/
Ein schlankes Buch ohne eine überflüssige Zeile/ zusammengehämmert auf die größte
Dichtigkeit/ auf einer Höhe der Intellektuafität, die bis dahin von keinem deutschen
Romane erreicht oder auch nur erstrebt wurde. — Solche Betrachtung dem Roman
von Seyerlen vorausschicken, heißt ihn bedeutungsvoll finden,- und er ist es nach den
beiden Seiten hin, nach der schlimmen und der guten. Als ein Ganzes nicht etwa
mißlungen, sondern irrtümlich von Haus aus, enthält er einige Male zehn bis zwanzig
Seiten ersten Ranges. Ais Ganzes arbeitet er den Restbestand des Entwicklungs-
romanes auf, der vor Jahren einmal in der Fassung Hesses bürgerlich entzückte/
Lebensgeschichte, in der alles viel zu eitel und auf den Helden bezogen, vom Helden
aus gewertet wird/ Parteilichkeit des Zwanzigjährigen. Tausend Details werden mit
längst faliter Psychologie ins Breite gezogen, weil sie sich — von der psychologistischen
Einstellung aus — auf kein anderes Niveau bringen lassen. Hier also Abweg, Vor-
irrung, Irrtum, Jungdeutschestes. Aber dann: die Episode des Kinderfräuleins, die
andere der Schauspielerin, die Schwester des Gutsherrn, das Pferderennen: das ist
gar nicht mehr autorliche, sondern dichterische Darstellung/ ist gar nicht mehr in-
tellektuelles Nacfagebären, sondern köstliche Frucht mit schöner Kraft aus dem Leibe
gestoßen. Seyerlen ist 24 Jahre alt, seiner Jugend sei verziehen (wenn auch heute
nicht mehr erlaubt) daß er glaubte, die psychologischen Sandsäcke schleppen zu müssen !
sei dies und anderes verziehen, um der großen Seiten seines Buches willen. Er
wird wissen, was das Leben lebenswert macht, und nicht mehr Kraft und lang-
weiligen Fleiß daran vergeuden, das Zeug alles hinzuschreiben, was das Leben nicht
begehrenswert macht. Die Kunst ist kein Spiegel des — wie man so sagt — Lebens,
sondern, wenn schon einer, des Lebens. Die psychologischen Proben darauf, daß
zwei mal zwei vier ist: das ist ein Besitzgut des Familienblattromanes. In dem
Leben, das wir meinen, ist zwei mal zwei immer fünf. F. B.
Jean Paulis PersönfiaSßeit/ zeitgenössisaSe Beridite, gesammeft und Serausgegeßen
von Eduard Beßrend. Mit 15 BifdßeigaBen. Müncßen, G. Müfler. — Eine große
Liebe zu diesem Dichter der Himmel und der Abstürze wird es schmerzlich emp-
finden, daß die heutigen Deutschen ihn nicht lesen und wird das zu ändern versuchen.
Der Inselverlag tat das auf dem ehrlichen Wege einer Neuausgabe: Der Schul-
meisterreise aus dem Quintus. Aber zu dem für den heutigen Geschmack eingerich-
teten und bearbeitenden Titan, welche Schändung einer übernahm, der sich einen
Dichter selber nennt, hätte der Verlag nicht zustimmen sollen. Wer den Titan nicht
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Teststeffungen
liest, hat sich das selbst zuzuschreiben, nicht dem Buche. Die schönste Erinnerung
an den Dichter ist dieses Buch von Behrend, das Gedrucktes und Ungedrucktes über
seine Persönlichkeit aus zeitgenössischen Quellen in vortrefflicher Zusammenstellung
enthält. „Ich bin nicht der Mühe wert gegen das was ich gemacht habe", meinte
Jean Paul ebenso bescheiden wie stolz, und man muß seiner Bescheidenheit recht
geben. Trotzdem werden alle die wenigen, die das, was er gemacht hat, noch lesen,
sich gerne über den Menschen unterrichten lassen, der so außerordentlich sympathisch
etwas wie ein sublimer Philister ist im Vordergründe seiner Existenz. F.
Ernst Stadfer. Der AufBrudy. Vertag der Weissen BücBer, Leipzig. — Aus
dem eigenen Ich und aus dem Gefühl der anderen zu sprechen: dazwischen scheint
dem Dichter die Wahl gestellt, — daß er sie aber nicht trifft, macht ihn zum Dichter:
er allein kennt das Feld zwischen beiden. Dennoch verrät er sich oft durch Nach-
barschaft. Auf die stammelnde Ich-Lyrik setzte George den Trumpf eines Gegensatzes.
Unsere Lyrik ist zwischen den Extremen hin- und hergeschleudert worden, die uns
mehr über ihre äußersten Möglichkeiten belehrt haben als in der Kenntnis ihrer
innern Fähigkeiten bestärkt. Nicht so diese Gedichte. Stadler gab bereits Über-
setzungen von Jammes heraus (bei Kurt Wolff): der seltene Fall einer dem Ori-
ginal weit überlegenen Schöpfung, denn das billige Franziskanertum Jammes' hat
bei Stadler echte Töne bekommen. Diese Übersetzung stammt wohl aus der Zeit
der letzten Gedichte des »Aufbruchs«, die für sich hätten erscheinen sollen, unab-
hängig von den früheren, deren Gehalt noch oft erzwungen scheint, wenn auch die
Form schon sicher sich gibt. Die neueren Gedichte aber haben nichts vom Expe-
riment, jenen willkürlichen Schwerpunktsetzungen, in denen eine artistische Über-
fähigkeit sich heute ausbreitet. Diese Gedichte stammen aus der geläuterten
Atmosphäre eines Lebens, das selbst in seinen tiefsten Abhängigkeiten eingedrungen
ist und sich in sie ergab/ es sind keine religiösen Gedichte, aber sie sind fromm,
sie sind keine diskutablen Gedichte, aber sie sind vollkommen einnehmend, es sind
nicht einmal gedruckte Gedichte, sondern die Gedichte einer Stimme, sind nicht ein-
mal gedichtete Gedichte, sondern notwendige Zufälle aus einem getragenen Leben.
Es besteht die Manier, nach Erfüllungen solcher Art Erwartungen auszusprechen,
aber hier wäre das falscher noch als sonst/ es hieße das ein Leben voraussagen, in
dem alles was wir Zielen Untertan kennen nur Begleitung ist. R. G.
CBarfes Louis Pßifippe, Gesammefte Werte. JeSs Bände. Herausgegeßen
von Wifßefm Südef. Egon TfeisSef et de., Berfin. — Dem zu früh verstor-
benen Dichter, den das heutige französische Schrifttum als einen seiner Besten hält,
wirbt diese Ausgabe, der leider der Blanchard fehlt, eine Gemeinde, die ihm aus
unsern besten Lesern zu wünschen ist, jenen etwa, die Max Brods Tschechisches
Dienstmädchen oder Sternheims Busekow lieben, zwei Arbeiten, die wir wegen ihrer
in Deutschland so ungewohnten Beschränkung und Vereinfachung, die aus sich
selber zur höchsten Steigerung des Auszudrückenden führen, so sehr schätzen. Mit
den genannten deutschen Namen soll Verwandtschaft zu Phillippe nur insoweit an-
gezeigt werden als hier wie dort eine strenge Sauberkeit waltet, Sachlichkeit und
Hingabe ohne diese gewisse Nachhilfe, wie sie sich unbemittelte Autoren aus dem
115
TeststelTungen
nie crscfiöpfbarcn Schatzhaus ihrer sogenannten Psychologien leisten. Bei Philippe
ist ein Gefühl zur Menschheit waltend, das man früher einmal bei ihm mit Weiner-
lichkeit verwechselt hat, bis man darauf kam, wie innerlich fest dieses Gefühl ist
und wie gar nicht falscher, künstlerischer Notbehelf dazu, Dinge aufzublasen, denen
mit Kunstverstand kein Atem gegeben werden kann, weil der Autor diesen
Verstand nicht hat. Die Übertragung der Bücher durch W. S. ist gut lesbar. B.
Die Memoiren des Herzogs von Sainf-Simon. ÜBersetzt von H. Tfoerfte.
Zwei Bände. Mit Iffustrationen. Mündßen, G. Müffer. — Der Hof Ludwig des
Vierzehnten. Nad) den Denkwürdigkeiten von Saint-Simon. Herausgegeßen
und eingefeitet von W. Weigand. IOustriert. Leipzig. Insefverfag. — Daß aus
den berühmten Aufzeichnungen des grausam-hart sehenden und richtenden Herzogs
gleich zwei Ausgaben vor den deutschen Leser gestellt werden, möge ihn in der
Wahl nicht schwankend machen: er kann beide lesen, denn beide haben ihre be-
sonderen Meriten, wenn auch unserem Geschmacke die Ausgabe des Insel verlags
mehr zusagt. Sie ordnet ihre Auswahl um den König als zentrale Figur, die sie
ja auch für Saint-Simon war und noch über den Tod des Königs hinaus blieb:
das giebt der Auswahl eine gute Lesbarkeit, ähnlich der einer Biographie- Die
Ausgabe Müllers folgt den Memoiren wählend nach gutem Geschmack aus den
dreißig Bänden der französischen Ausgabe, bringt das Abgerundete einzelner Porträts
und das Pointierte einzelner Geschehnisse. Die Inselausgabe enthält in 168 Seiten
Einleitung von Weigand eine sehr schöne Studie über Zeit und Verfasser der
Memoiren, welche von Sainte-Beuves bekanntem Aufsatz, den Müllers Aus-
gabe als Einführung bringt, nicht ersetzt werden kann. In dieser Bilder nach
Stichen aus der Zeit, in Weigands Ausgabe meist Bilder nach Originalporträts
aus Gailerien, ganz vortrefflich von Emil Schaeffer ausgesucht und beschrieben
G. M.
La Poesie Trancaise du Moyen-Age. Pecueif de Textes. Par C. Oufmont.
Paris, Mercure de Trance. — Die Philologie ist eine deutsche Erfindung/ sie hat
ihre Unarten <wie alles Deutsche), aber auch ihre Vorzüge <wie nicht alles Deutsche) ,•
wo man sie mit einem guten weltmännischen Verstände angenommen hat, wie in
England, (eistet sie meist vorzügliches/ wo man sie, wie in Deutschland, oft um
nichts als ihrer selbst willen betreibt, leistet sie oft so Abstruses wie den Apparat,
der sämtliche ortographische Verschiedenheiten sämtlicher Ausgaben eines Autors
notiert, der zwischen 1830 und 1870 geschrieben hat,- wo man sie aber, wie in
Frankreich, so gut wie gar nicht akzeptiert hat, gibt es nur zufällig eine gute Aus-
gabe eines alten Textes und auf den einen Zufall kommen zwei Dutzend miserable
Bücher ohne Wert. Man denke etwa an Ausgaben der Pleiade oder Theophiles
oder Villons, um von älteren Literaturwerken zu schweigen, die, wenn überhaupt,
von Deutschen ediert werden, wie in den Stuttgarter Publikationen des L. V. Dieser
Jammer ging dem kenntnisreichsten und urteilsichersten französischen Literarhisto-
riker A. van Bever zu Herzen. Von ihm stammt der Plan dieser Sammlungen älterer
Literatur, die unter seiner Direktion veröffentlicht werden. Dieser erste Band reicht
vom 11. bis zum 15. Jahrhundert/ die Texte sind genau/ die älteren Stücke werden
116
Teststeffungen
in Obersetzungen beigegeben, den neueren Noten zu einzelnen Worten/ und die
Auswahl ist vortrefflich / man bedauert, daß es nur 370 Seiten sind. Denn hier
wurde im Dichterischen gewählt, unbestimmt vom landläufigen Urteil, das sich nach
weiß Gott welchen pädagogischen Zielen bildete. Gäbe man bei uns irgendeinem
Gymnasiallehrer die Aufgabe einer Anthologie mittelalterlicher Lyrik, man weiß
von vornherein, er würde seinen ganzen Aufwand mit Walthcr betreiben und
Nif hart wahrscheinlich ganz unterschlagen: das Vordrängen Walthers hat das üb«
liehe Bild, das gefälschte unserer großen Lyrik zustande gebracht. Es täte uns das
Buch not, das wie dieses französische unsere großen Dichter aufweist. Borchardts
Aufgabe wäre das oder Buttes. B.
Hans Brandenburg. Der moderne Tanz. Mit BifdBeigaßen. München, Sei
Georg Müffer. — Bies großes Buch über die Historie des Tanzes, vieles Wissen
mit Witz und Geist paraphrasiert, erfährt durch dieses Buch Brandenburgs etwas
mehr als die nötigen Ergänzungen im Historischen, insofern es nicht nur die Ge-
schichte des heutigen Tanzes enthält, sondern was wesentlicher ist, die Erscheinungen
dieses heutigen Tanzes aus dem Ganzen dieser Zeit deutet, mit keiner andern Vorein-
genommenheit als dieser durchaus zu billigenden, daß der Verfasser im Tanz die
Befreiung, die so nötige, aus dem nichts als Intellektuellen und Nutzhaften, das
unsere Zeit so knechtet, sieht. Sehr zu loben ist an dem Buche, daß der Verfasser
sich ganz frei hält von nahliegenden lyrischen Exaltationen und ähnlichen Beiläufig*
keiten, wie sie immer gern für unklare Gedanken lückenbüßend einspringen. Er bleibt
sachlich und versteht es, seinen Gedanken eine plastisch deutliche Form zu geben,
läßt sie nie im Gefühligen nach dem Relativen verschwimmen. So kam etwas De-
finitives zustande, das seinen guten Platz beanspruchen darf. Das Sensualistische
der Kunst des Tanzes wird nirgends zugunsten einer öden Körperpädagogik ge-
leugnet, aber doch auch nicht zu eben so öder sinnlicher Genießerei heruntergebracht.
Des Verfassers Ernst geht hier eher oft zu weit, so in der Ablehnung der Russen,
deren Kunst sehr groß und viel mehr ist als verfallendes Ballettanzen. Und deren
Kunst im einzelnen, der Pawlowa zum Beispiel, mehr ist als Spitzentanz. Wir
geben unsrerseits gern alles von der Duncan her zu datierende Tanzen hin für die
Russen, die alle diese Mimiken natürlich auch können. Dieser Einwand geht nur
auf eines der zwölf Kapitel des Buches, das des Verfassers bisher beste Arbeit
und den gebildeten Lesern sehr zu empfehlen ist. F. B.
K. T. TfögeC GesaSiaSte des Krotes66omisd>en. NaaS der AusgaSe von 1788
neu BearBeitet und ßerausgegeßen von Max Bauer. MünaSen. G. Mü/Ter. —
An diesem Buche erlebte der alte Philosophieprofessor von Liegnitz wenig Freude :
als es zum erstenmal gedruckt wurde, war er schon tot. Als es zum zweitcnmale
erschien, da war der Archivar Ebeling aus Dresden darüber gekommen und hatte
es erneuert, und wie er meinte, verbessert, d. h. er führte es bis auf seine Zeit
weiter, entrüstete sich über Nestroy und fügte eine begeisterte Geschichte jener
größten deutschen Vereinsverblödung, die sich Schlaraffia nennt, hinzu und was derlei
Komik mehr ist. Was den Nestroy anlangt, ist der neue Bearbeiter M. Bauer ja
mit Hilfe des geänderten allgemeinen Urteils nicht mehr der Ansichten Ebelings,
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Teststeffungen
aber in puncto Schlaraffia und Grüne Insel bedauert er, von diesen Gesellschaften
nicht so wie er es wünschte informiert worden zu sein. Da auch diesem Bearbeiter
des alten Buches sich die Begriffe weder des Komischen noch des Grotesken klar
und deutlich gaben, und er danach sein Feld nicht abstecken konnte, verfiel auch er
darauf, die Beispiele für menschliche Verblödung in eine Geschichte des Komischen
zu beziehen. Wo gut vorgearbeitet ist, im Historischen und Literarhistorischen, wo
die Urteile fixiert, die Werte definiert sind, da hält das Buch was es im Titel ver-
spricht. Hier ist der alte Flögel wesentlich und gut ergänzt, auch illustrativ. Wo aber
in neuen Zeiten neue Gebiete dargestellt werden sollen, da fehlt einmal der rechte
Schlüssel, der sie erschließen soll — der gut determinierte Begriff des Komischen.
Grotesken — und fehlt auch das was ihn zur Not ersetzen könnte: das instinktive
Urteil, das sich auf den Geschmack stützt. Da gibt es nichts als jurnalistisch.es Ge-
rede über Possenkomiker Berlins oder Wiens oder über diese und jene Variete-
nummer. Gewiß gehörte das in das Buch, aber anders als es hier geschehen ist.
So hat der alte Flögel zum drittenmal keine reine Freude an seiner Arbeit erlebt, denn
sie kam hier nur in die fleißigen Hände eines belesenen, aber kaum gelehrten und
schon gar nicht tief oder originell denkenden Mannes. Der aber Bibliotheken ge-
leert und das Buch damit gefüllt und was ehemals 170 Seiten stark war auf tausend
gebracht hat, aus denen man sich über eine Unmenge Gegenständliches informieren
kann. G. M.
'Fritz Mautkner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3. Band. Zur Grammatik
und Logik. 2. Auflage. Stuttgart, Cotta.
Mit zahlreichen kleinen Zusätzen und Verbesserungen erscheint hier der pikanteste
Teil des bekannten gelahrten Werkes in zweiter Auflage. Eine Vorrede, an deren
Schluß sich der Verfasser auf den Filzpantoffeln des Satzes »Mein guter Leser, lebe
wohl« mit einem heiteren und nassem Auge empfiehlt, erzählt u. a., der Verfasser
wolle seine Lehre »Hominismus« genannt wissen. Schon der »Pragmatist« F. C. Schiller,
der sein Buch »Humanism« nannte, hatte dem alten Wort »Humanismus«, in dessen
Kern die pathetische Anthropolatine schlecht gezähmter Christen lag, die ihres
Herrn und ihrer Zähmungsmittel vergessen hatten, zusammen mit der alten
Renaissance -Tendenz, die Antike gegen Christliches auszuspielen, einen Sinn
erteilt, der das zweite Element ganz von sich abstieß, den Menschen vom homo
sapiens der Alten ganz zum homo faber des modernen Industrialismus machte und
auch das erste erheblich verringerte, indem es die »Nur «-Menschlichkeit all unserer
Ideen, Begriffe, Erkenntnisse, behauptete und betonte. Mauthner findet aber selbst
in F. C Schillers fadem Pragmatismus noch zuviel »Menschenwürde« und sagt darum
lieber »Hominismus«, wobei man offenbar noch etwas mehr an den Wald und die
Affen denken soll. Mauthners Werk ist nicht nur als ein philosophisches, sondern
als der Inbegriff der Philosophie selbst gemeint. »Philosophie ist die Grenze der
Sprache selbst, der Grenzbegriff, der limes: ist Kritik der Sprache, der Menschen-
sprache.« Als einen der Ableger des kantischen »Kritizismus« — und schon dadurch dem
positiven Geiste der jungen Philosophie der Gegenwart zuwider — gibt es sich selbst/
nur, daß Vernunft-Kritik hier gar noch zu Sprach-Kritik geworden ist. Aber das ganz
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Teststeffungen
Sonderbare der Mauthnerschen Einstellung ist hierdurch noch nicht bezeichnet. Es
gab immer schon extremen Nominalismus, der selbständige Bedeutungserlebnisse leugnet
und jede Bedeutung, jeden Begriff auf einen mehr oder weniger willkürlichen Herr-
schaftsbereich von sprachlichen Reaktionen des Menschen gegen Einzelsensationen
zurückführte. Aller Zerfall (angherrschender Gedankenwelten ist seit dem Mittel«
alter historisch durch eine solche Richtung begleitet. Aber aller Nominalismus hatte
bisher irgend einen positiven Endsinn. Bald galt es, durch ihn die Welt vor über-
wucherndem Begriffsgestrüpp für die sinnlichen Beobachtung zu retten / bald diente er
dem Mystiker zur Verherrlichung seiner wortlosen Schau <so jetzt bei Bergson)/
bald — gerade umgekehrt — dem Zwecke, die schöpferische Kraft der Sprache und
menschlicher »Satzung« zu zeigen <z. B. Hobbes, H. Poincare). Bei Mauthner
nichts von dem Allem! Hier ist überall purer Nihilismus, dem Sprache allmächtig
ist und der sie zugleich verachtet, das letzte Wort — und ein »artikuliertes Lachen«
über das große »Nichts«, das bei der Subtraktion Welt minus Sprache — gemäß dieser
Lehre — übrig bleibt, die letzte Geste. Aber bei der Wahl zwischen den beiden
Hypothesen, ob es erst die Sprache sei, die ein »Chaos von Empfindungen« zu
einem Kosmos von Dingen gestaltet oder ob Herr Mauthner vermöge einer
sonderbaren Verquerung seines Geistes — bedingt durch sein Milieu — die
Welt zur jeweiligen Notierung einer Wortbörse macht, so daß ihm das Sonnen-
licht durch einen ungeheuren Mückenschwarm von Worten verborgen wird, bevor«
zuge ich — die letztere. Die »Verquerung« besteht darin, daß Herr Mauthner nicht
in Worten denken kann, ohne auch zugleich über sie zu denken. Aber man kann
nicht zugleich über das Wort Tintenfaß und über das Tintenfaß denken ! Das Wort
»Tintenfaß« ist ein neuer Gegenstand. Will man an Beides zugleich denken, so
denkt man — an keines von Beiden. So bleibt das Nichts ! Sie irren, Herr Mauth-
ner, wenn Sie meinen, die Logik zur Grammatik degradiert zu haben. Aber Sie
trafen vielleicht bis zu einem gewissen Grade die faktische »Logik« von Berlin W. r
wo man über alles redet und von nichts was weiß. Dieses »Nichts« verwechselten
sie mit dem — Universum. — Keine Kleinigkeit! —
Eine Menge feiner, netter Beobachtungen, wie sie ein so geistreicher Mann wie Herr
Mauthner (Geste: Voltaire en miniature) erwarten läßt, eine ebenso große wie ober-
flächliche Gelehrsamkeit, bietet das Werk ohne Zweifel. Als Summe vortrefflich,
als Ganzes — unmöglich- Einzelne Thesen hier zu kritisieren oder zu zeigen, wie
grundlos Mauthner an allen neueren denkpsychologischen und sprachphilosophischen
Arbeiten (Husserls Idee einer »reinen Grammatik« und Reform der Logik, Martys
Sprachphilosophie, Külpe, Bühler usw. usw.) vorübergegangen ist, ist nicht dieses
Orts. M. S.
Jadoß Baron von UexkutT: Bausteine zu einer Biofogiscßen WeftansaSauung .
T. Brudtmann, München 1913.
Zu den zentralsten Problemen der Gegenwart gehört es, der Biologie ein philo-
sophisches Fundament zu geben, in dem sie sich ihrer Einheit und Autonomie
gegenüber der anorganischen Naturwissenschaft und gegen die Psychologie bewußt
werde: Eine Aufgabe, die endgültig nur durch ein Zusammenarbeiten von Biologie
119
Teststeffungen
und Philosophie geleistet werden kann. Neben Roux, Driesch und Bergson ist nie«
mand hierzu so innerlichst berufen und durch sein vielseitiges fachliches Wissen,
vereinigt mit seinen eigenen Forschungen zur Entwickelungsmechanik so kompetent
wie Baron von Uexkull. Wenn Roux neuerdings <s. bes. sein Buch über Kausalbetrach-
tung und Verworns »Conditionismus«) mit besonderer Schärfe das methodologische
Problem förderte, Driesch <s. Ordnungslehre) seinen, noch allzu schematischen Vita-
Iismus an die allgemeinsten Fragen der Erkenntnislehre in vielem glücklich anknüpft,
Bergson umgekehrt die Frage, wie weit die mechanische Naturansicht und ihre
Kategorien durch das Leben bereits bedingt seien, in den Vordergrund stellte, so weift
Uexkull durch seine hier gesammelten populären Aufsätze zwar auf einem Niveau
geringerer begrifflicher Schärfe, aber mit wundervoller Klarheit und Anschaulichkeit
die philosophischen Probleme der Biologie auch für den Laien zu entwickeln und
sie mit konkreten Zeitfragen in lebendige Verbindung zu bringen. Die völlige Frei-
heit von Schultraditionen, die z. B. noch heute in Deutschland dem Problem der
Entwicklungsgeschichte der Arten und seiner Darwinistischen »Lösung« ein dem
faktischen Stande der Biologie nicht im entferntesten entsprechendes Gewicht ver-
schaffen, wirkt besonders erfrischend. Daß sich die moderne auf Mendels Sätze ge-
gründete exakte Erblichkeitslehre zu Darwinschen Stammtafeln etwa wie Chemie zur
Aichymie verhalten, daß ein aufklärendes, entwidcelungsmechanisches Experiment
über das Wesen des Lebens mehr zu sagen weiß als alle möglichen Hypothesen
über Artenumwandlung, ist immer noch nicht zum klaren Bewußtsein selbst vieler
Fachleute gekommen. Bei Uexkull wird es — bis zur historischen Ungerechtigkeit
gegen Darwin — aber auch diese rechtfertigt der ernste Wille zum Neuen — hart
und kalt gesagt. Von den positiven Ergebnissen Uexkulls hebe ich — hier nur kur-
sorisch — folgende als besonderer Beachtung würdige hervor: 1. Seinen vollberech-
tigten Kampf gegen die mechanistisch-materialistische »Nachtansicht«, die uns die
gedanklich von der Physik konstruierte Welt bewegter Stoff teilchen als die »eigent-
liche« und »wahre« Wirklichkeit aufschwatzen will — als entferne jeder Schritt
von der einförmigen Tastempfindlichkeit eines niedersten Tieres das Leben vom
Universum, anstatt es ihm näher zu bringen. Freilich, genügend philosophisch fundiert
ist dieser Kampf bei Uexkull nicht. Dazu wäre nötig, Ursprung und Grenze der
mechanischen Reduktion der Qualitäten genau aufzuweisen. 2. Die hier mehr popu-
läre, aber in ungemein anziehender Weise auseinandergesetzte Unterscheidung
Uexkulls <s. bes. sein früheres Werk »Innenwelt und Umwelt der Tiere)« der
objektiv wirksamen »Umwelt« und der für die Tiere selbst gegebenen »Merkwelt«,-
welch letztere keineswegs mit den subjektiven, seelischen Empfindungen
der Tiere zusammenfällt. Diese »Merkwelten« können ohne alle Art von frag-
würdiger »Tierpsychologie« studiert werden. So etwa ist der Seestern, der Feind
der Pilgermuschel, für diese (durch ihre hundert Augen) nur ein »Etwas von be-
stimmter Größe und Bewegung«/ außerdem ein Etwas von bestimmtem Geruch,
der sich jedoch von allen möglichen anderen chemischen Wirkungen für sie nicht
unterscheidet. Uns ist der Seestern auch als Form, Farbeneinheit usw. gegeben,
aber ohne Geruchsqualität. In der Zeichnung und Ausmalung dieser »Merkwelten«,
120
TeststetTungen
die dem Aktionssystem des Tieres genau entsprechen, bekundet Uexkull eine be-
sondere künstlerische Begabung. Bei Anpassungsstudien ist stets diese »Merkwelt«
des Tieres, vermöge deren sich das Tier nur Einiges aus der Fülle des Universums
zu seiner Umwelt herausschneidet, nicht aber unsere menschliche SpezialUmgebung
zugrunde zu legen, — wie es Darwin und Spencer taten, die damit nur die mensch-
liche Umgebung hypostasierten und fälschlich zur Welt an sich machten. Wie weitet
sich durch diese Idee die Natur und wie wächst ihr innerer Reichtum! Wie ent-
puppt sich gerade die Naturansicht Darwins und Spencers, die so stark gegen
»Anthropomorphismus« wetterten, als engster anthropomorphistischer Philisterstand-
punkt! Auch hier ist noch nicht Alles philosophisch präzisiert. Aber die Richtung
der Uexkullschen Betrachtungsart weist auf den rechten Weg. 3. Zu Beginn des
wundervollen Aufsatzes über das Tropenaquarium, den jeder Aquariumsbesucher
vorher lesen sollte, erzählt Uexkull eine kleine Geschichte von einem Waschbottich,
deren Sinn — fast mehr noch, als Uexkull selbst weiß — den Streit zwischen
Mechanistik und Vitaiismus in der Biologie erleuchtet. Ein kleines hessisches Bauern-
mädel fragt: »Wo hat der Vater den Waschbottich her?« Er hat ihn — sagt das
Brüderchen — von einem Baum im tiefen Wald heruntergeholt/ da hing er an den
Zweigen, wie in unserem Garten die Apfel. — Dagegen erzählt ein kleines Ber-
liner Dienstmädchen der Hausfrau, es habe heut gesehen, wie die Waschbottiche
»jemacht« werden. Aber — fragt es hinzu — wie wird denn das Holz > je macht -
Das — sagt die Frau — nimmt man von den Bäumen, die draußen im Tiergarten
stehen. Aber — wo werden die Bäume denn »jemacht.« Die »werden nicht gemacht/
die wachsen von selbst«. Ach was — so das Mädel — irgendwo werden sie schon
»jemacht« werden. — Hier sind zwei Welten. In der einen erklärt man sich Ge-
machtes nach Analogie mit Gewordenem. In der anderen Welt hat der Geist die
umgekehrte Tendenz. In der Welt, wo alles »entsteht« und »wächst« sind die Leute,
die glauben, daß alles »jemacht« wird, lächerlich. Sie gelten als blind für »das
Wesentliche und den großen, wunderbaren Zusammenhang des Gesamtwerdens«.
In der anderen Welt sind Jene faule Träumer, die nicht arbeiten wollen und die
keinen Sinn für »Fortschritt« haben. Mechanistik und Darwinismus sind Bilder vom
Leben, die Leute »jemacht« haben, die in der Welt des »Machens« leben. Sie wenden
Verstandeskategorien / die sich in der künstlichen Beherrschung der toten Welt, in
Arbeit und Fabrikation gebildet haben, auf ein Etwas an, an dessen Eigenart diese
zersplittern müssen: auf das Leben. Sie tragen auch in die lebendige Natur den
»Fortschritt« hinein. Uexkull gehört nach Geistesart, Charakter, Herkunft usw. ganz
der Welt an, wo alles entsteht und wächst. Das mag seine Objektivität oft ein
wenig schädigen/ aber es beleuchtet scharf und klar die nicht minder große »Sub-
jektivität« der herrschenden mechanistischen Schulen, deren Vertreter sich nur »ob-
jektiv«dünken, weil sie in der Mehrzahl sind. M. S.
Möfifer, Sym6ofi6. Neue Ausgabe, Regens hurg, Kösef. —
Der neue Abdruck von Möhlers »Symbolik« dürfte und sollte nicht nur den
engeren theologisch interessierten Kreisen willkommen sein. Wenn irgend ein
Werk, so vermag es diese tiefste, lebendigste und anschauungsgesättigste Ausein-
121
Testste Hungen
andersetzung der dogmatischen Unterschiede und Glaubensgegensätze der christ-
lichen Kirchen, die wir von katholischer Seite aus besitzen, klar zu machen, daß die
Dogmen (auch die scheinbar weit- und lebensfernsten) noch etwas anderes sind
als Ergebnisse abstruser Spekulationen (für die sie der Rationalismus ansieht), als
konventionelle Zeichen, in denen sich eine Gemeinschaft gleich wie in einer Fahne
das Bewußtsein ihrer Einheit gibt (als die sie seit Hume dem Nominalismus und der
Soziologie gelten) und als »Beschreibungen frommer Gefühle«, für die sie der Herrn'
huter Schleiermacher ansah: Ausdruck und Sinnformierung der tiefsten inneren
Lebensgegensätze der betreffenden Gruppen. Auch wer sie jenseits von wahr und
falsch stehend hält, — wie der Ungläubige — sollte sie als die komprimiertesten
Anschauungsbilder der geistigen Grundhaltungen schätzen, die sich in der Geschichte
in der Mannigfaltigkeit des Lebensstoffes und verzweigt auf die Teile der Kultur-
tätigkeit, Wirtschaft, Recht, Kunst, Wissenschaft usw. jeweilig entladen. Möhlers
Werk mag in Einzelheiten durch die historische und theologische Forschung über-
wunden sein. Die Großlinigkeit seiner Gesamtauffassung, die Wucht und die
lebensvolle Schönheit seiner Darstellung erteilen ihm klassischen Charakter. Der
persönliche und historische Standort des Autors zwischen der noch durch Goerres
und die Seinen genährten romantischen Lebendigkeit der Anschauung und der
größeren Klarheit, Präzision und Genauigkeit der modernen theologischen Wissen-
schaft, gibt dem Werke seine besondere Fruchtbarkeit und sein besonderes Gleich-
maß zwischen Erlebnis und Begriff, die weder vorher noch nachher wieder zu er-
reichen waren. Der Höhepunkt des Werkes ist die Auseinandersetzung der Glaubens-
gegensätze der lutherischen und der katholischen Kirche und die Entwicklung der Idee
der »Kirche« überhaupt. Wie die sola fideslehre und das neue, die Tradition und das leben-
dige Lehramt ausschaltende protestantische Schriftprinzip, wie die Umrechnung auch der
Liebe in die »heillosen Werke«, die Idee innerer Solidarität der Menschheit in Sitt-
lichkeit und Heilsgewißheit auflösten und dadurch die lebendige Wurzel der Kirchenidee
abgruben, wie der innere Bruch zwischen Religion und Ethos, zwischen Christus als Er-
löser und Heilsbringer und Christus als Lehrer und sittliches Vorbild, als das er z. B.
auch in der katholischen Idee der »Nachfolge Christi« figuriert, zu dem neuen
Dualismus von Gottesreich und Welt führten — das wird in den Mittelpunkt des Ganzen
gestellt/ und es wird gezeigt, wie Schritt für Schritt sich von diesem Quellpunkt aus
das ganze viel verästelte System der Glaubensgegensätze entwickeln mußte und
dabei die Reformatoren durch die Sachlogik ihrer Grundidee immer weiter und weiter
getrieben wurden, als sie anfänglich selbst wollten. So besonders in der Sakramenten-
lehre. Die Haltung Möhlers gegen die heretischen Lehrer ist stets von einer
schönen Largesse und Loyalität, die nur den besten Sinn der gegnerischen Auf-
stellung zugrunde legt/ sie ist gegen die einzelnen von feiner Abstufung des Urteils
und gegen Luthers Person atmet sie überall eine große menschliche und religiöse
Sympathie, die indes die geradlinige Charakterhaftigkeit der eigenen religiös kirch-
lichen Stellung nie schmälert.
Möge die dankenswerte Neuauf läge die religiöse Lage klären und solchen nützen, die
nur mit historischen und psychologischen Interessen an das Werk herangehen. M. S.
199
Test Stellungen
T. Kfuge, Zur NacBfofge End) Schmidts. TreiBurg, Troemer. — Als der
Damenprofessor abtrat, begann der Damenfeindliche Herr Roethe »heiter sich be-
scheidender Resignation« nicht erst hinzugeben, denn er tat das seit dem Jahre 1887,
wo er seine einzige literarische »Tat« vollbrachte, wenn Reinmar den Zweter heraus-
zugeben Oberhaupt schon was ist. Sicher nicht mehr als was jeder Seminarist zu-
stande bringt Von dieser Leistung ruht sich dieser Mann seit 27 Jahren auf seinem
Lehrstuhle aus, darin andern seines Berufes nicht unähnlich, seinem Schwager
E. Schröder z. B., der 13 Jahre brauchte, um einen Textabdruck der Kaiserchronik
zu liefern, oder Burdach, der vor lauter Titeländern überhaupt nie zum Arbeiten
kommt aber dafür gut bezahlt wird. Es wäre kein Grund da, von dieser längst
bekannten Affenschande unserer titel-, ämter- und würdenreichen Professoren im
Fache der Literatur zu reden, wenn gegen sie nichts sonst vorläge, als daß sie weder
was können noch was leisten. Neuerdings machten sie sich aber wichtig in Ange-
legenheit der Besetzung von Schmidts Lehrstuhl: sie treten allen in den Weg, die
ein Verdienst haben, und suchen ihresgleichen auf den Stuhl zu bringen, um in der
»heiter sich bescheidenden Resignation« ihres Nichtstuns und Nichtskönnens nicht
gestört zu werden. In den Blättern liest man, es sei schwer, Schmidt einen Nach-
I olger zu finden/ schwerer noch scheint es, einen zu finden, der noch unbedeutender
ist als der Roethe. Daß wir zu mindest drei Dozenten in Deutschland haben, von
denen jeder einer zehnmal mehr bedeutet als zwanzig Erich Schmidts, das weiß jeder
Gebildete, kennt sie, schätzt sie, liebt sie. An Tüchtigkeit nicht zu übertreffen ist
Petersen in Basel. Rudolf Unger in München danken wir das bedeutendste Werk
literarhistorischer Art, das neben Gundelfingens, des dritten, ,Shakespeare und der
deutsche Geist' in den letzten so und so viel Jahren nach Heyms , Herder' erschienen
ist: den , Hamann'. Unger, Gundelfingen Petersen : man treffe die Wahl, wenn man wirk-
lich nur von der Frage nach dem Bedeutendsten die Qual hat. Aus Kluges Broschüre er-
fahren wir, wenn wir es nicht schon wüßten, daß man mit guten Gründen unter
den Unbedeutendsten wählt und daß man da, das Unbegreifliche ist Ereignis, keinen
finden kann, der noch unbedeutender wäre als der Roethe, — jeder Vorgeschlagene
überragt ihn um die Dicke zweier aufeinander gelegter Broschürchen immer noch
Und das kann er »heiter sich bescheidend« nicht dulden. M.
Die Denkwürdigkeiten des KardinaCs von Petz. Herausgegeben von B. Rüt-
tenauer. Drei Bände. Münden Sei Georg Müßer. — »Les grands genies doivent
peser leurs paroles, elles restent, et c'est une beautc irreparable« — dieses schöne
Wort Chateaubriands fällt einem bei Saint-Simon ein, den sein Haß gegen den
König und die Maintenon falsch machte, der ihn aber so prachtvoll zu schreiben
verstand, daß die Schönheit des Bildes über seine Wahrheit täuscht bis auf unsere
Zeit, deren Demokratismus ja mit Wohlgefallen den »asiatischen Despoten« und
die »Königliche Mätresse« sieht. Retz hatte keine so großen Objekte. Verzehrte
Saint-Simon ohnmächtiger Zorn, daß er immer nur in der Antichambre blieb, wo
er sehen lernte, so verzehrten diesen Italiener vielfachere Feuer. Denn er war Ca-
tilina, Don Juan und Tartuffe, von einem Priesterrock zusammengehalten, und war
so von seinem achtzehnten Jahre an ein Berechnender. In seinem Brevier lag als
133
Teststelfungen
Lesezeichen ein Dolch. Die Fronde, in der er eine Rolle spielte, war eine kleine
Sache, von kleinen Leuten inszeniert, unter denen er der am wenigsten kleine war:
daher, daß man ihn groß nannte. Das heißt, so nannten ihn unter seinen Zeitgenossen
der Advokat Patru, die Kammerfrau de Motteville und Frau von Sevigne, der ja
auch Pradon besser gefiel als Racine. Der Kardinal Paul de Gondi von Retz
stammte aus der italienischen Gesellschaft von Astrologen, Spitzbuben, Giftmischern
und Wucherern, welche die Katharina von Medici unter ihren Röcken nach Frank-
reich gebracht hatte. Retz, der Kardinal, ist der Extrakt dieser Gesellschaft,- ein
Schüler des Vincenz von Paula, war er Atheist bis in seine Sterbestunde,- aber es
gibt Predigten dieses teuflischen Mannes, die von einem Heiligen sein könnten.
Den Kardinalshut, der ihn schweres Geld kostete, brauchte er zum Schutz vor einer
Regierung, deren Gegner er war, um ihr Herr zu werden/ und dann sah er den
Hut auf Richelieus und auf Mazarins Haupte. In seinen Memoiren lügt er mit
außerordentlichem Geschick, indem er die Wahrheit mit der Lüge und die Lüge mit
der Wahrheit dosiert. Er verschweigt seine Dunkelheiten nicht, aber er arrangiert
sie, sehr großer Schriftsteller, der er ist,- er gibt sich so viel Licht, daß sich höchst
einfach daraus die Schatten erklären sollen- Man hat den Eindruck, dieser Paul de
Gondi ist der sehr komplizierte Mensch, der von sich sprechend und als ein Schrift-
steller zum erstenmal in die Geschichte des menschlichen Geistes tritt. Er hat keine
Vorläufer. — Der Herausgeber der vorliegenden Ausgabe benützte eine alte Über»
tragung, die er nach dem Original ergänzte,- Einleitungen bringen alles Wissens-
nötige bei/ manche der zahlreichen Bildbeigaben möchte man entbehren, so besonders
Frauenbildnisse nach Stichen, die allzudeutlich Schablone sind und nicht die Spur
eines Porträthaften haben. F. B.
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DIE Weißen Blätter beginnen mit dem März-
lieft ihr zweites Halbjahr. Die ersten sechs
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Hefte werden den Lesern den Eindruck dessen,
was wir uns bei Gründung der Zeitschrift vor*
nahmen, gegeben haben, obschon wir selbst es
einsehen, daß uns manches nicht so gelang, wie
wir es erstrebten. Wir wenden uns nicht an die
unbekannte Menge, das Publikum, nicht an die
Menschen, die nur an den Tag und seine Schlag-
worte denken. Die Weißen Blätter betreiben
keine Bildungskolportage. In den Weißen Blättern
äußert sich nicht individuelle Laune, sondern Hin-
■j in den erschienenen Nummern wohl manches
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Eben, weil wir das Blatt der jungen Generation
sein wollen, geben wir auch älteren Leuten in
Aufsätzen das Wort, deren Verständnis für das
Kommende sich fest gebildet hat, und die um so
besser für die Jungen wirken können, da sie nicht
mehr selbst im Kampf stehen, der sie erregen und
verwirren kann. Die jungen Dichter, die wir vor-
stellten, müssen für sich selbst durch ihre Werke
reden.
Wir wollen auf dem Wege, den wir beschritten
haben, weitergehen, und uns bemühen da zu ver-
bessern, wo wir Fehler gemacht haben. Dazu
sollen uns die Leser helfen, die, wenn auch noch
nicht die Weißen Blätter, so doch ihr zukunfts-
frohes Programm lieben. Wir wissen wohl, daß wir
von dem sogenannten großen Publikum nie ge*
lesen werden. Das ist auch unser Ehrgeiz ebenso-
wenig, wie das, uns in eine gemachte ästhetische
Exklusivität zu begeben, und so eine Zeitschrift
zu machen, an denen nur Herausgeber und Mit-
arbeiter Freude haben, und sonst keiner weiter.
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AUS DEM INHALTSVERZEICHNIS
des ersten Semesters (September 1913 / Februar 1914)
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Alain, Heilmittellehre,
— Die Suffragetten,
— Kleine Vorschläge zum Leben
Franz Blei, Samuel Butler, Eine
Fußnote
— Die Katholiken in Deutschland
Max Brod, Von Gesetzmäßig-
keiten der Kritik
Martin Buber, Ereignisse und Be-
gegnungen :
1. Aus einem Gespräch
2. Der Altar
3. Mit einem Monisten
Friedrich Burschell, Barock und Ro-
koko, eine vorläufige Unter-
suchung
Kasimir Edschmid, Bilder aus den
Südvogesen
Carl Einstein, Ober Paul Claudel
S. Friedländer, Dionysisches Chri-
stentum
R. Gournai, Der Deutsche Kaiser
— Deutsche Weltpolitik — und
kein Krieg
Ludwig Hatvany, Zwecke d. Kunst
Wilh. Hauscnstcin,Georg Büchner,
Von ethnograph. Sammlungen
L AUFSÄTZE
Ulrich Hegendorff, Zur Rehabili-
tierung der Tugend
Kurt Hiller, Prolog
A. Kolb, Besuch bei Duchesne
Walther Krug, Krankheiten
— Der Meister
— Zur Chronik der Zeit
— Stadt und Land
— Der Ballettmeister dieser Zeit
— Reinhard Wuchner
Robert Musil, Politisches Bekennt-
nis eines jungen Mannes (Frag-
ment)
Rampolla, Aus Aufzeichnungen
E. E. S., Der Beruf des Dichters
Max Scheler, Der Bourgeois
— Versuche einer Philosophie des
Lebens
Ernst Stadler, Romain-Rolland:
Jean Christophe
A. Suares, Dostojewski und die
— Verona (Frauen
%* Von dem Charakter der kom-
menden Literatur
Felix Weltsch, Daniel und die
Wissenschaft
Emile Zola, Briefe an Cezanne
****************************************
II. GEDICHTE
Rudolf Borchardt, Wannsee
Max Brod, Lob des einfachen
Lebens :
Sonett an die Geliebte
Max Brod, An ein Mädchen im
Theater
Ausflug mit den Eltern
Erinnerungen an das erste Exil
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Franz Werfe], Neue Gedichte:
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Rene Schickele, Hymnen und Pam-
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Friedrich Schmid-Noerr, Vier Ge-
Mitternachtsspruch
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— Zwei Oden und ein Lied:
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Der Rabe im Schnee
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Verliebte Vogelscheuche
Näher mein Gott
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Gegenwart
Ein Lied
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Ewige Wiederkehr
— Die Unverlassene
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— Paestum. Eine Elegie:
Kurt Wolfenstein, Aufwachen
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I. Die Vorfrühe
Paul Zech, Der Blassen Blonden
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II. Der Morgen
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III. Der Mittag
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Herbert Eulenberg, Krieg dem
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Krieg. Eine bürgerliche Be-
penspiel der Liebe, ein Akt
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gebenheit in einem Aktus
Franz Werfel, Der Besuch aus
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Ed. Kehlmann, Dialog vom Gral
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IV. EPISCHES
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Franz Blei, Abenteuer
Rudolf Leonhard, Sechs Lesenden:
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Kasimir Edschmid, Maintonis
I. Saul unter den Propheten
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Hochzeit, eine Novelle
II. Don Juan vor der Hölle
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III. Die Erweckung des Cc-
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IV. Der Wandrer Franziskus
V. Die Sünden des Heiligen
Franz von Assisi
VI. Sebastian im Gestühl
Paul Merkel, siehe Ren6 Schikele
Gustav Meyrink, Der Golem. Ein
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III. J
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V. Punsch
VI. Nacht
Ren£ Schickele, Zwischen den
kleinen Seen (I und II sind
unter dem Pseudonym Paul
Merkel erschienen)
Carl Sternheim, Busekow. Eine
Novelle
Robert Walser, Sieben Stücke:
Das Eisenbahn-Abenteuer
Die Stadt
Das Veilchen
Die Kapelle
Der Tänzer
Die Sonate
Das Gebirge
II
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V. FESTSTELLUNGEN <GLOSSEN>
G. Fuchs, Die Frau in der Kari-
katur (Langen, München)
Frühchristliche Apologeten. Aus
dem Griechischen und Latei-
nischen. 1 .Bd. (Kösel, München)
Barres - Anekdoten
R. H. Bartsch, Vom sterbenden Ro-
koko (Staadcmann, Leipzig)
E. Behrend, Jean Pauls Persönlich-
keit (Müller, München)
F. Blei, Landfahrer und Abenteurer
(Müller, München)
H. Brandenburg, Der moderne
Tanz (Müller, München).
O. Brahm, Kritische Schriften über
Drama und Theater (S.Fischer,
Berlin)
Der Bücherwurm (Verlag des
Bücherwurm, Dachau)
G. K. Chesterton, The Victorian
Age in Literature (William <D
Norgate, London)
K.F. FIögel,Geschichted. Grotesk-
komischen (Müller, München)
Georgian Poetry 1911/1912 (The
Poetry Bookshop, London)
R. de Gourmont, Reflexions de la
vie (Mercure de France, Paris)
Th. Haedcer, Sören Kierkegaard
und d. Philosophie d. Innerlich-
keit (J. F. Schreiber, München)
G. Hauptmann, Lohengrin (Ull-
stein, Berlin)
Erster deutscher I ierbstsalon
Der Hof Ludwigs des Vierzehnten
(Inselverlag, Leipzig)
Hölderlin i. d. Inselbücherei (Insel-
verlag, Leipzig)
Hölderlins sämtl. Werke (Müller,
München)
Von Köpenick bis Zabern
Kluge, Zur Nachfolge Erich
Schmidts (Troemer, Freiburg)
E. Lissauexs Cyclus „1813", siehe
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Die Monumentalität des Dürf-
tigen
Ch- Louis Philippe, Gesammelte
Werke (Fleischet, Berlin)
St. Mallarme, Poesies (Nouvelle
Revue Franchise, Paris)
Thomas Malory, Der Tod Arthurs
(Inselverlag, Leipzig)
Fr. Mauthner, Beiträge zu einer
Kritik der Sprache, Bd. III.
(Cotta, Stuttgart)
Möhler, Symbolik (Kösel, Mün-
chen)
Die Monumentalität des Dürftigen
(E.Lissauers Cyclus „1813")
Mahler Müller, Idyllen <K. WolfF,
Leipzig)
C. Oulmont, La Poesie Franchise
du Moyen-Age (Mercure de
France, Paris)
Kardinal von Rctz, Denkwürdig-
keiten (Müller, München)
K.Riezler, d. Erforderlichkeit d.Un-
möglichen (Müller, München)
Saint-Simon, Memoiren (Müller,
München)
K. Scheff ler, Italien : Tagebuch einer
Reise (Inselverlag, Leipzig)
Schrenck-Notzing, Mediumistische
Materialisationen (Reinhardt,
München)
E.Seyerlen, Die schmerzliche Scham
(S. Fischer, Berlin)
E. Stadler, Der Aufbruch (Ver-
lag der Weißen Bücher, Leipzig)
Paget Toynbee, Lettres de la
Marquise du Deffand ä Horace
Walpole
(Methuen, London)
J. v. Uexkull, Bausteine zu einer
biologischen Weltanschauung
(Bruckmann, München)
F. Wedekind, Gesammelte Werke
(Müller, München)
F. Werfel, Wir sind (K. Wolff,
Leipzig)
Winckelmanns kleine Schriften zur
Geschichte der Kunst des Al-
tertums (Inselverlag, Leipzig)
P. v. Winterfeld, Deutsche Dichter
des lateinischen Mittelalters
(C. H. Beck, München)
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