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Full text of "Kritik der kritik?"

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Kritik der 
kritik? 





Moritz Heimann 



moritz Heimann 



♦ 



Kritik der Kritik! 



Vterlu« ßelittnthUS Berlin 



[jres FT.!:. - 



üloritz Heiniann 



Kritik der Kritik? 



Verlag ßeÜailtflUS Berlin 
1003 



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. ; : ' 



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Ein Russe sagte zu mir : „Ich verstehe nicht den 
Ton in der Kritik bei Ihnen zu Lande. Er klingt mir 
immer so, als sei hier das natürliche Verhältnis 
zwischen dem Dichter und dem Kritiker das feind- 
liche. Bei uns, wenn sich eine neue Kraft regt, wird 
sie von dem Beifall des ganzen Volkes in die Höhe ge- 
tragen. Wir sehen den Erfolg eines Dichters nicht 
sowohl als sein Glück, als vielmehr als das 
unsrige an. Wir fühlen uns vom Künstler be- 
schenkt, mit Dingen, die wir lieben und suchen, mit 
Dingen, von denen wir glauben, dass sie uns nötig 
sind, ja, von denen wir glauben, dass sie uns mehr 
sind als nötig. Und ist nun wirklich eine Sache dar- 
unter, die uns missfällt, vielleicht eine, die nachweis- 
bar schlecht ist — was soll man da thun, da doch die 
Absicht des Gebers freundlich war? Ich meine" — 
es ist immer noch der Russe, der spricht — „wenn mir 
ein Freund in mein schicklich ausgestattetes Zimmer 
eine Gabe stiftet, die nicht hineingehört, so kann nie- 
mand verlangen, auch er nicht, dass ich sie mir auf- 
stelle ; und ich werde sie, selbst auf die Gefahr hin, ihn 
zu verletzen, in die Rumpelkammer thun. Aber was 




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sollte mich wohl überreden, ihm darum anders als mit 
gutmütigem, nachsichtigen Dank zu begegnen? Ist 
nun gar mein Zimmer nicht schicklich und mit Sinn 
geordnet, hören Sie, so findet sich wohl auch für un- 
bedeutend Harmloses ein Plätzchen. Bei Ihnen da- 
gegen, wie ist man anspruchsvoll ! Ihr zieht ja schon 
die Augenbrauen hoch, wenn Ihr den Geber auf der 
Treppe hört. Klingelt er, so setzt Ihr Euch in Positur 
und sagt, mit Wolken auf der Stirn : „Wir wollen 'mal 
sehen !" Dann packt er aus — und Ihr werdet ganz 
sicherlich rabiat. Er bringt Euch eine Statue, Ihr 
hattet ein Relief erwartet ; e i n e runde Figur, und 
Ihr hattet auf eine Gruppe gerechnet; sie ist aus 
Bronze, und Ihr hattet sie marmorn gewollt. Und 
dann beweist Ihr mit vielem Aufwand, dass eine 
Statue kein Relief, und Bronze nicht Marmor sei. Ich 
wollte, dass Sie mir das einmal erklärten." 

Dieser Russe ist kein Geschöpf meiner Einbil- 
dungskraft, und was ich ihn sagen lasse, das hat er 
wirklich gesagt: nur, dass er, statt fünf Minuten, ein 
paar Jahre dazu brauchte. Immer wieder erstaunte 
er über den aufsässigen Ton, in welchem, vornehmlich 
in unseren Tagesblättern, den Dichtern aufgespielt 
wurde, und brachte mir aus russischen Zeitschriften 
Beispiele, wie anders sie es zu Hause hielten. Dabei 
passierte es ihm, dass er, in dem Masse, in welchem er 
bei uns heimisch wurde, und wie er allmählich, der 
das Deutsche schlecht beherrschte, sich zu orientieren 
lernte und einige vorschnelle Begeisterungen erkalten 
Hess, dass er selber sich gewöhnte, streng zu sein. 
Am Ende war er glücklich so weit, dass er an Autoren, 



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— 5 — 



die nach seiner Meinung schlechte Bücher schrieben, 
längst nicht mehr ästhetische Censur übte, sondern 
eine moralische Makel an sie heftete. Woraus zu 
schliessen gewesen wäre, dass es in Russland nicht 
nur, wie Tolstoj uns versichert, bessere Menschen, 
sondern auch im Durchschnitt bessere Autoren giebt 
als bei uns. 

Da immer noch ein Stück Rousseau in uns rumort, 
und wir die Wilden, die besseren Menschen, immer 
noch ein wenig lieben und beneiden, so hätte ich viel- 
leicht wirklich mich dem Russen übergeben — wenn 
nicht der Bulgare gewesen wäre. Denn der erzählte 
uns von Zuständen in seinem Vaterland, die noch 
idyllischer und herzlicher sind als die des Russen. In 
Bulgarien ist es nur nötig, bulgarisch zu schreiben — 
nicht gut bulgarisch, sondern bloss bulgarisch 
schlechthin — und es ist schon gut und geehrt. 

Besagt dieses alles nun nicht: je weiter ein Volk 
in seiner Geistesdurchbildung zurück ist, um so mehr 
empfindet es sich als Volk; und je mehr es sich als 
Volk empfindet und je weniger es als solches Geltung 
und Anerkennung hat, um so dankbarer erweist es 
sich jedem Sohne, der sich zu ihm bekc mt?! 

Da drängt der schmeichelhafteste Schluss sich 
auf : weil wir es in Deutschland weit gebracht haben, 
weil wir frei sind und geordnet, reich und geehrt, 
eben darum sind wir vornehm und argwöhnisch. Wir 
haben alles, so brauchen wir uns nichts schenken zu 
lassen; und wer uns mit Gaben kommt, dem sehen 
wir und klopfen auf die Finger. 

Und um nun ernsthaft zu reden: sind solcherlei 



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Erscheinungen unerhört in Deutschland? Goethe 
warnte : 

„Niemand soll herein rennen 

Mit seinen besten Gaben; 

Sollen's die Deutschen mit Dank erkennen, 

Müssen sie Zeit haben." 

Goethe, wie ausser ihm kaum einer, hat die ganze 
grosse Skala des deutschen Interesses an der geisti- 
gen Produktion an sich erfahren. In frühen Jahren 
hatte der Ruhm seinen Namen über Länder und 
Meere getragen; als er vierzig Jahre alt war, kam er 
von Italien in die Heimat zurück, als in ein Land, das 
ihn kalt und fremd empfing ; und als alter Mann, der 
aus übervollen, gütigen Händen nur immer gegeben 
und gegeben hatte, war er nicht sicher davor, dass ihn 
Kabalen und eine erbitterte, errechnete Aesthetik zu- 
sammenwarf mit Leuten, die gerade wert waren, auf 
den Saum seines Mantels gestickt, auf die Nachwelt 
zu kommen. Man lese die Darstellung, die Viktor 
Hehn von Goethes immer beargwöhnter Geltung in 
seinem Vaterlande gab, und man wird auch von 
diesem seinen Schicksal, wie von seinem übrigen 
Leben, den tragischen Geschmack empfinden. 

Er hat über das vielfach bedenkliche Gehaben 
der Kritik je zuweilen, in Vers und in Prosa, sein 
kräftiges, einfaches, unpolemisches Wort gesagt. Ein- 
mal, im Jahre 1795, hat er in einem eigenen Aufsatz 
berliner „literarischen Sansculottisnius" auf wenigen 
würdevollen Seiten zurückgewiesen, als der Fürst von 
Gottes Gnaden, den er sich wusste. Wenn nun ein 
Heutiger, auch Dichter, in sich den Zorn und Drang 



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— 7 — 

fühlt, gegen die Kritik aufzutreten, sollte ihn da nicht 
das Gefühl solcher Nachfolge zwingen, in sich zu 
gehen und sich ernsthaft zu fragen, ob er auserwählt 
dazu sei? 

Es hat, wie bekannt, in diesen jüngsten Tagen 
ein Mann, die Kritik kritisierend, geglaubt, sich zu 
seinem Geschäft von Goethe allerlei Mut erholen zu 
dürfen. Er hat, wie jener, Ungebührliches bei den be- 
rufenen litterarischen Urteilern von heute angemerkt, 
und hat sich als den Mann erkannt, dem üblen Wesen 
Einhalt zu gebieten. So hat er den Kritiker, wie 
bei Mörike Lolegrin den sicheren Mann, angefahren: 
er sei „weder ein Halbgott, noch ein Begeisteter, son- 
dern ein Schweinpelz". Und da er schon einmal daran 
war, Goethes Beginnen fortzusetzen, und was jener 
geraten hatte, mit der That zu thun, so hat er es ge- 
wagt, den Hund, den Rezensenten, totzuschlagen. 

Er hat das alles leider nicht gethan, Herr Suder- 
mann. Es fielen ihm keine lustigen Zitate ein, er 
schlug die würdevollen auf. Und gar wen totzu- 
schlagen, und sei es selbst den Kerr, das Hess sein Ge- 
wissen nicht zu, sein staatsbürgerliches, poliziertes, 
sein mittelmässiges Gewissen. 

Welch ein blechernes Geklapper von Mittel- 
mässigkeit! Wenn es ein gutes Unternehmen ist, 
unsere Kritik zu seigen, Sudermann hat es kompro- 
mittiert. Er hat sein Geschäft ohne Geist verrichtet, 
ohne Tiefe, ohne Philosophie, mittelmässig. 

Denn was thut er im Grunde — wenn nicht pri- 
vates Gelüst der „Grund" war — ? 



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Er dringt, bei allen Würdigen, auf einen allge- 
meinen anständigen Ton gegenüber den Verfassern. 

Aber das wäre ein unanständiger Ton. 

Vielmehr soll es wiederum und immer heissen: 
Was dem Einen recht ist, ist nicht dem Andern billig ; 
was dem Hauptmann recht ist, soll nimmermehr dem 
.... (Blumenthal) . . . billig sein. 

Diejenige Kritik wäre wahrhaft verroht, die dar- 
auf verzichten würde, Mäusedreck von Koriander zu 
sondern — Mäusedreck, das ist von Goethe, dem bei- 
nah Siebenzigjährigen ; die es sich gefallen Hesse, wenn 
immer wieder „Thalia und Melpomene durch Vermitt- 
lung einer französischen Kupplerin mit dem Nonsens 
Unzucht treiben" — das ist auch von Goethe, von 
dem Zwanzigjährigen. Zürnte nicht vielleicht Goethe 
am meisten dann der Kritik, wenn sie nicht zwischen 
ihm und . . . ( ) ... zu unterscheiden wusste? 

Es wäre wohl ein pfiffiges Ding, wenn sich 
so ein allgemeines, abstraktes Recht-und-Billigkeit 
herstellen Hesse, unter dessen Schutz sich jedermann 
gesichert fühlte ! Um bei dem Beispiel . . . ( ) . . . zu 
bleiben : Hat er nicht oft und aberoft seine Stücklein 
gegen Männer gespielt, denen er nicht die Riemen 
aufbinden soll? Immerhin, nicht um dessentwillen, 
sondern um seiner Arbeit, seiner Produktivität, seiner 
poetischen Werke willen soll man gegen ihn gehässig 
sein, so „ganz frech gehässig", wie Kerr empfiehlt. 
Armer Sudermann, er hat keine Ahnung, wie man 
über die „ganz freche Gehässigkeit" Kerrs entzückt 
sein kann. 

Der grosse Mittelmässige fragt: „Wie kann ich 



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— 9 — 



denn wissen, ob wer ein ächter Dichter ist, gegen den 
ich anständig sein muss ; oder ob er ein elender Skri- 
bent und Sudler ist, gegen den ich unanständig sein 
darf ! ?" Da sieh du zu! Denn das eben — 
spürst du es nicht? — ist ja das Herrliche, dass 
unser Urteilen auf Gefahr gestellt ist: vergehst du 
dich gegen einen wahren Wert, so bist du in der 
Hölle, wo ihre Schande am heissesten brennt ; hast du 
aber recht, ei, so ist aller Hohn dir verziehen, und 
wenn du ihn gut stilisierst, wird er dein Ruhm. 

Denn dieses hier ist nicht die Sphäre bürgerlicher 
Wohlanständigkeit. In den Künsten ist, was 
Nietzsche als neue Moral aufgestellt hat, längst alte 
Moral und hat immer gegolten. Sei falsch wie Yorick, 
aufdringlich wie Yorick, lecke die Teller wie Yorick, 
und schreibe den Tristram Shandy, und man wird dir 
die Hände küssen. Machst du schales, leeres Zeug, 
so hilft dir gegen die Verachtung und das Gelächter 
der Nachwelt kein gutes Führungsattest der Polizei 
und kein quittierter Steuerzettel. Es gilt hier nicht 
das Menschliche aus anderem Kreis. Wohl ist es 
wahr: dass Arbeit auch in dem schlechten Werk 
steckt, dass Hoffnung daran hängt und manche bit- 
tere Sorge. Ja, man kann noch näher zusehen und 



erkennen, dass, wie es vielleicht keinen Unterschied 
zwischen der Befruchtung einer Dirne und der einer 
Ehefrau giebt — weil Befruchtung mächtig über dem 
Individuellen ist — , dass ebenso in eines schlechten 
Poeten Seele ein Augenblick der Konzeption so rein 
aufleuchtet wie beim Genie. Aber — die Kinder sind 
verschieden ; das Vorher und Nachher ist anders. Und 



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— IO — 



wie in dem einen Falle das Leben, so richtet in dem 
andern die Kritik. Bedenke, dass Plato aus seinem 
Staat hat die Dichter entfernt wissen wollen; es 
scheint also wohl eine Schuld in ihnen zu sein: die 
kann nur wett gemacht werden durch Geist. 

Vor Gott sind alle Menschen gleich; womit ge- 
sagt ist : dass der Mensch ein Sünder sei, der es Gott 
ähnlich thun und über Gerechte und Ungerechte die- 
selbe Sonne scheinen lassen will. Es ist obenein die 
kläglichste Gottähnlichkeit, die gefahrloseste, die 
liberale. JDie grossen Dichter — vielleicht ist diese 
Psychologie Herrn Sudermann nicht zugänglich — 
sind keineswegs tolerant: sie ertragen das Mittel- 
mässige nur, wenn es sich bedingungslos unterwirft 
und demütig opfert; sie werden abgründig krank, 
wenn es auftrumpft. Und sie einzig haben den 
Schaden, wenn durch einen gleichmässig „anstän- 
digen" Ton die Accente der Huldigung und die der 
Verwerfung verwischt werden. 

In diesem Betracht darum, und in anderem, ist 
es innerlichst falsch, und also unnützlich, die Kritiker 
nach dem objektiven Thatbestand*) von ihnen ausge- 
sprochener Grobheiten oder Roheiten unterschieds- 
los*) abzuurteilen. Denn wenn zweie schimpfen, ist 
es nicht dasselbe. Es ist ein Unterschied, ob ein hasti- 
ger Gernegross heftige Reden führt, weil die be- 
treffenden Vokabeln am leichtesten zu handhaben 

*) Es liegt ausserhalb meines Themas und muss doch an- 
gemerkt weiden, dass Sudermann Nachsicht und Verzeihung 
einigen Leuten gegenüber hat, die einem wahren Zorn nicht zu- 
letzt hätten verfallen müssen. 



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— II — 

sind und die entsprechenden Gebärden am schnellsten 
auffallen; oder ob eine Persönlichkeit, mit nicht ge- 
meinen Gaben ausgestattet und in jeder Hinsicht sui 
juris, die Waffe führt. Selbst wenn auf eine solche 
Persönlichkeit der schlimmste, der Sudermannsche 
Ausdruck zuträfe : dass sie verrohte — so verroht sie 
auf eigene Gefahr, nicht auf dem Grunde einer allge- 
meinen VerroEung der berliner Theaterkritik. Für 
einen Kampf gegen sie wären Geisteskräfte vonnöten, 
nicht Gesinnung. — 

* * 

.* 

l>ei alledem, den Sudermann beiseite gesetzt, 
muss der unbefangene Betrachter dieser Dinge ge- 
stehen, dass er von vielen der von Sudermann mitge- 
teilten Aeusserungen der Kritik entrüstet und empört 
worden ist. Dieses ist ein reales, unverstelltes Ge- 
fühl und zwingt zur Besonnenheit. Wie immer, muss 
man auch hier sich hüten, jeden Schritt eines Mannes 
zu verdammen, dessen Weg und Ziel man verwirft. 
Vielleicht muss e s aU_. Verdienst Sudermanns aus- 
drücklich anerkannt bleiben, dass diese Dinge jetzt 
besprochen werden ; denn es giebt viele, die über und 
gegen unsere Kritik manches auf dem Herzen haben. 

Gewiss ist nichts damit gethan, dass ein paar 
Dutzend Sünden angekreidet werden. Die schlimmen 
Ausdrücke nicht geschrieben oder mit anständigen 
vertauscht, und der wirkende Wert der Kritik bliebe 
derselbe. 

Der Notstand der Kritik ist wichtiger als die 



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Sünden der Kritiker, folgen sie doch zum grossen Teil 
aus ihm. „Papiers Natur ist Rauschen/' heisst es im 
Wunderhorn. Es liegt im Wesen der heutigen Zei- 
tung, dass den an ihr Beamteten sich die Maxime auf- 
drängt, dass die Welt den stille Wirkenden überhört, 
sogleich aber aufmerkt, wenn sie, aus welchem Munde 
immer, skandalisiert wird. Es ist so leicht, zu lärmen, 
und so schön, zu wünschen und zu fordern. Wenn 
man die Zähne nur recht weit sperrt, weil eine 
Dichtung tief unter Shakespeare, Kleist und Hebbel 
stehe, so braucht man nicht mehr eine Kritik zu 
liefern, die an Gewicht der Lessingischen ähnlich wäre. 
Und am bequemsten dient man der Moral, wenn man 
den Tugendpreis, um den geklettert wird, hoch hängt ; 
sich selber aber überhoben wähnt, mitzuklettern. Das 
alles ist so menschlich, dass, wer nicht zanken will, es 
füglich übersehen kann ; wie auch, da ein allgemeines 
Uebel bezeichnet werden soll, die Fähigkeiten Einzel- 
ner nicht geprüft werden sollen. 

Das Uebel aber hat eine Wurzel; diese :_da_ss Per- 
sönliches^ in der sachlichen Leistung und Erscheinung 
heute ein e grö ssere ^Rolle^spjelt als früher. Die Ent- 
wicklung aller öffentlichen Zustande, selbst der poli- 
tischen, hat es mit sich gebracht, dass die Kunst- 
leistung_ in_ einer Weise auf dem Individuellen basiert 
ist_ wie niemals vorher. Kein Gemeinsames umfasst 
die Schaffenden, dem sie glauben können zu dienen; 
sondern ein jeder sitzt auf seinem Hof, streng gegen 
den Nachbar umfriedigt. Man erinnere sich früherer 
Einungen: der jungen, leidenschaftlich kultivierenden 
Früh-Goethe-Zeit, der Romantiker, der revolu- 



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— 13 — 

tionären und der bürgerlichen Aufklärung. Wer ab- 
seits stehen musste, von dem Unverständnis der übri- 
gen oder von der eigenen die Gefahr liebenden Natur 
gezwungen, litt daran. „Individuen sind an sich schon 
komisch," sagt Hebbel ! Ja, noch die letz te Zeit des 
naturalistischen Sturms hatte etwas dem Aehnliches; 
es ging zu schneil vorüber. Mag auch die Einung 
nur scheinbar sein und immer nur auf kurze Zeit den 
Streit der Individuen binden und zu einem Wettstreit 
nach gemeinsamem Ziele sammeln! Jeder ächte 
Mann kämpft, auch in seinem persönlichsten Streben, 
für eine Sache oder um eine Sache. Geht man recht 
tief in einen ursprünglichen Menschen hinein, so findet 
man dort nicht mehr ihn, man findet eine Sache. Das 
Gefühl davon kommt, zum grössten Schaden, leicht 
abhanden, wenn die Persönlichkeit allgemein zu sehr 
isoliert wird. Und dieses ist der heutige Zustand, wo 
jeder auf seine Weise, und Gemeinsamkeit eifer- 
süchtig ablehnend, produziert. 

Entwicklungen solcher Art scheinen in den 
Künsten notwendigerweise einzutreten. 

In der Tonkunst sehen wir, wie Bach es ist, vor 
dem seine Kunst noch in ihrer objektiven Heiligkeit 
steht, der es seine Pflicht ist zu dienen; auszusprechen, 
was auf dem Grunde ihres, nicht seines Herzens liegt ; 
wie dann die Musik niederschwebt, sich der irdisch- 
menschlichen Einzelcxistenz geschwisterlich anbe- 
quemt; bis sie, in Beethoven, so sehr den menschlich- 
sten Ausdruck herzugeben weiss, dass jener zugleich 
fruchtbarste und gefährlichste Augenblick der Ent- 
wicklung eintritt, von dem fortschreitend sie die Ver- 



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14 — 



derbnis einleiten muss; und wie dann wirklich die 
[Musik von einer Königin eine Dienerin geworden ist, 
[Dienerin dem Subjekte und aller seiner Willkür. 

Aber wie aus dieser Verderbnis Bruckner rettet, 
mit seiner in hundert Jahren gültigen Sternenkunst 

— der einzigen heute, in der kein Tristan-Wille mehr 
giert, und die in dem hochherrlichen Fiat des Schluss- 
satzes der VIII. Symphonie so sehr in die strahlend 
reinen, glühend kalten Himmelskreise emporrauscht, 
dass nur eine arme Ahnung ihr folgen kann — , so 
dürfen wir hoffen und warten, dass auch die deutsche 
Poesie noch werde von der Qual der individuellen 
Zersplitterung befreit werden. 

Vorläufig aber sehen wir noch die Zersplitterung 

— und wie wir, so die Kritik. Und bewusst und_jm- 
bewusst antworte^die Kritik dem allzu Persö nlichen 
durc h ein allzu Persönliches. Sie findet, wenn sie die 
Reihe der Schaffenden übersieht, nichts Gemeinsames, 
dein sie sich mit gehörigem Selbstbewusstsein an- 
schliessen und hingeben könnte. Sie muss schliess- 
lich glauben, immer nur persönlichem Wollen und Er- 
reichen zu dienen, und fühlt sich recht menschlich 
gekränkt. 

Das wirkt ins Kleine und wirkt ins Grosse. Hass, 
Neid, Eifersucht, -Klatschbedürfnis sind Künstlern so 
natürlich wie anderen Menschen, und sind beweg- 
licher, wo Geist sie spielerisch benutzt. Wenn man m 
Briefen aus der grossen Weimarer Zeit liest, so er- 
staunt man, welch ein kleiner Weiberkrieg dort um 
die heut unerschütterlich gültigen Dinge geführt 
wurde. Eine Frau Schlegel war, ihrem Manne zu 



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— 15 — 



Liebe, schnell bereit, Goethe heute für einen Gott, 
morgen für einen passierten Greis zu erklären. 
Kabalen waren an der Tagesordnung. Aber in diesem 
persönlichen Spielwerk war das Gift aufgebraucht; 
und wenn man öffentlich urteilte, fühlte man sich ge- 
zwungen, sachliche Prinzipien zu gewinnen. Heute 
sitzt man, für einen redlichen Klatsch, nicht nahe ge- 
nug bei einander. Und die Frauen treiben ihre eige- 
nen Geschäfte und haben, scheint es, für lange ihre 
Handarbeitsunschuld eingebüsst. Zudem ist die Welt 
polierter geworden. Tugend steht so hoch im Preis, 
dass Neid und Missgunst ihre Naivetät verloren 
haben. Und, da sie nicht auszurotten sind, maskieren 
sie sich und schleichen sich in die sachlichen Er- 
wägungen ein. Dazu verhilft ihnen ein modernstes 
Laster, ein dämonischer Zerstörungstrieb in subli- 
mer Verfeinerung: die Psychologie. 

In einer Zeit der äussersten Individualisierung der 
Kunstübung wurde es für den Kritiker notwendig, 
weniger auf das Werk und mehr auf seinen Schöpfer 
zu blicken. Alte ästhetische Grundsätze wurden als 
dürr und trocken aufgegeben, und eine neue Philo- 
sophie der Kunst kam praktisch überschnell zur An- 
wendung. Während es früher den Feinsten vorbe- 
halten blieb, hinter dem am objektiven Massstab der 
Ueberlieferung und der Theorie kontrollierbaren 
Werk die Persönlichkeit des Verfassers durch Intui- 
tion zu gewahren, ist es jetzt so weit, dass die Pyra- 
mide auf der Spitze steht : heute weiss der Erste, der 
Beste alle Schlupfwinkel besonderer Seelen aus- 
wendig ; und es vermag wohl so ein Allerspürsamster, 



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— i6 — 



über das Wesen eines Autors nach einem Gedichte zu 
weissagen, dessen äussere dargestellte Situation er 
nicht versteht. Eine Genialität ist eingerissen — ! ein 
Erkennen des Letzten, bevor man das Vorletzte und 
was dem etwa noch vorangeht, erkennt. 

So ist, was eine Zauberkraft grosser Männer war 
— Nietzsche ist der Rattenfänger, der am verführe- 
rischsten blies — zur allgemeinen Manier geworden. 
In mehr oder minder ohngefähren Formeln wird die 
Individualität eines Verfassers ausgedrückt, und das 
neue Werk findet die schon starr gewordenen Phrasen 
vor. Sie bequemen sich ungern, denn Psychologie 
schafft Eitelkeit. 

Ist es nötig, zu sagen, wie unwahrscheinlich es ist, 
dass anders als in Ausnahmefällen auf diese Weise 
Wahrheit geschaffen, Wahres auch nur konstatiert 
wird? wie wahrscheinlich, dass auch ein belesener und 
intelligenter Mensch, als ein rechter Düpe seiner Be- 
lesenheit und Intelligenz, vor dem Geheimnis des 
Werdenden ausgeschlossen und fremd steht? Auch 
wenn es nicht so wäre, müsste Bangen und Vorsicht 
unser Teil sein. Der grosse Gott braucht das ganze 
Leben eines Menschen und Zeit noch darüber, um den 
Charakter aufzubauen — und zu richten. Und wir 
wollten uns vermessen, schon das Ganze zu erkennen, 
wenn noch kein Ganzes da ist? Wir können es nicht, 
glücklicherweise ; wenn wir es könnten, müssten wir 
uns vor der Macht entsetzen, die im stände wäre, 
den Rest eines Lebens überflüssig zu machen. Bos- 
heit und Neugier ist diese Psychologie, keine Wahr- 
heit. Die Natur schickt uns alle auf nachtwandle- 



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— 17 — 



tischen Wegen, und keinem Menschen ist das Wort 
verraten, das uns wecke und töte. 

Die ungeduldige Zeit will gegen diesen Stachel 
ausschlagen. Und die Kritik hat, indem sie den Takt 
vor dem Anonymen der Seele verlor, Verderbliches 
wken helfen. Auch auf die Dichter selber — doch 
darüber scheint es mir hier nicht am Platze zu reden 
— und vornehmlich auf das Publikum. 

Die Leser solcher Krit iken gewöhnten sich ajj JÜ£ 
scheinbar erschöpfenden Urteile ; die konnte es, ohne 
innere Arbeit zu leisten, nehmen und weitergeben, 
und konnte ohne Kosten anspruchsvoll werden. So ist 
der Hochmut über die Leser gekommen. Sie glauben, 
dass sie nicht mehr nötig haben, belehrt zu werden; 
ja, sie ertragen nicht die Geste des Lehrenden. Sie 
wollten u nterhalten seinj und schliesslich können sie 
nicht schneller unterhalten werden, als durch einen 
Witz; und der Witz geschieht am leichtesten auf je- 
mandes Kosten. Schnell ist, ohne dass er es merkte, 
der Kritiker, der nicht mehr fähig war, ein Lehrer zu 
sein, der Amüseur des Publikums geworden, das 
heisst: sein Sklave. 

Denn die Kriti k kann nicht Kunst sein^ — wo- 
fern man dieses Wort in seinem wesentlichen Sinn 
gebraucht. Die Kritik als Kunst, das wäre : ein » 
hysteron proteron, eine verkehrte Kausalität und 
Zeitfolge. Das Genie spannt erst in uns die Saiten, 
auf denen es spielt. Nur der historische Wahn kann <l *\ 
dieses Grundverhältnis übersehen, und glauben, er 
könnte sich der herrischen, ewig erneuten Gegen- 
wärtigkeit genialer Werke entziehen und sie zum 



, 1 i , Digitized by Go 



Material für seinen spielenden Trieb erniedrigen. Will 
also die Kritik Kunst, d. , h. ^ souverän . sein, so muss sie 
das Genie aus ihrer Rechnung lassen ; das aber kann 
sie nicht; sie kann es prinzipiell nicht, selbst wenn in 
kargen Zeiten niemand da wäre, der sie zum Respekt 
zwingt. Die Kritik eine Kunst — das hat nur einen 
Sinn, den rohen, reinen, formalen Sinn des Satzes: 
l'art pour l'art. Könnte dieser Un-Sinn je Wirklich- 
keit sein, dann wäre die Kunst ein irres Kind und die 
Kritik ein Aeffchen. 

Will die Kritik wirken, so muss sie lernen zu 
dienen und zu lehren. Sie weiss ja selber um die Miss- 
lichkeit ihrer Lage und leidet darunter. Man kann 
sie oft versichern hören, dass, was ihre heftige, rück- 
sichtslose Behandlung der Theaterangelegenheiten 
betreffe, Notwehr sie zwinge. Das Interesse am 
Theater sei zu gleicher Zeit so leer und so ungeheuer, 
dass man ihm nicht ohne Hohn willfahren könne. 

Sie fühlt sich da also wie das notwendige Kor- i 
relat zu einer höchst unnotwendigen Sache, etwa wie 
der Gefangenenwärter zum Zuchthäusler; je schäd- 
licher dieser, um so nützlicher jener. 

Sie macht sich, scheint mir, ihre Verantwortung 
zu leicht. Denn die von ihr geübte Art des Kampfes 
wirkt nicht der Ueberwucherung der Theaterdinge 
entgegen. Mit allen Registern des Witzes, des 
Spottes, der Brutalität, ja, der Verachtung vermehrt 
sie nur den Lärm, durch den die theatralischen Inter- 
essen wachgehalten und gesteigert werden. In dem 
aufgeregten Staub wird die Feuersbrunst sichtbarer 
und wüster und lockt mehr Gaffer an als Flammen in 



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— i 9 — 

reiner Luft. Es hilft das Mindeste nicht, dass je zu- 
weilen die Kritiker ihren Unwillen verkünden. Einige 
Fälle giebt es, in welchen wir ihnen nicht glauben : ach, 
du, sagen wir, wie übel geschähe dir, wenn du nichts 
mehr zu lärmen hättest ; — ein paar andere, in denen 
der ehrenhafte Mann uns von seinem Gefühl über- 
zeugt, und doch geht es uns nicht an, es ist seine 
Privatsache. 

Denn alle die Anklagenden haben es in der 
Gewalt, durch positive Arbeit an den Zuständen zu 
bessern. Ihnen stehen Zeitungsspalten genug zur Ver- 
fügung, dass das Uebergewicht des Buches über das 
Theaterstück allmählich wohl zu schaffen wäre. 

Heute erlebt ein Theaterstück in einem Winter 
zwanzigmal Sieg oder Niederlage, das heisst in beiden 
Fällen : die erneute Aufmerksamkeit der lesenden 
Welt. Jede Zeitung rechnet es sich zur Aufgabe, die 
betreffenden Telegramme zu veröffentlichen. Ob aber 
ein gutes Buch von epischer, lyrischer oder essayisti- 
scher Art gebührend erwähnt wird, hängt oft an dem 
Zufall eines persönlichen Enthusiasmus. 

Während also über den Stand der Theaterdinee 
last jedermann im Lande unterrichtet ist, wissen nicht 
viele von dem Stand der übrigen Litteratur. Hier 
giebt es Arbeit ! Es ist kein Grund einzusehen, warum 
ein gutes Buch, wenn es schon in einer Zeitung — und 
oft wie matt — angezeigt wird, darnach für immer aus 
dem Gesichtskreis ihrer Leser entschwinden muss ! 
Warum nicht Leidenschaft und Kampf sich darüber 
machen sollten, auch wenn kein Parteiinteresse aufge- 
stöbert ist ! 



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20 



Auf e i n schlechtes Theaterstück kommen oft ge- 
nug hunderttausend, ja eine Million Menschen, die es 
sehen, und mit Vergnügen sehen. Die Barbarei ist so 
gross, dass ihr derjenige schmeichelt, der sie be- 
kämpft. Was will ihr gegenüber aller kritische Zorn 
ausrichten?! Ein Mann hat seine Meinung gesagt, 
weiter nichts ; und wieder ist das eine Privatsache. 

Und die Kritik kann sich auch nicht darauf be- 
rufen, dass sie die Kultur des Volks vor dem Ein- 
dringen falscher, schädlicher und niedriger Geltungen 
zu schützen habe. Es giebt heute keine deutsche Kul- 
tur, die durch schlechte Theaterstücke beleidigt wird. 

Sondern es gilt erst, zu kultivieren, langsam und 
ehr von unten herauf. An dieser Arbeit nimmt nur 
eil, wer positiv an ihr teilnimmt. 

Käme es zu solcher Arbeit, so würden unter den 
Kritikern als die schlimmsten die unfähigen bald er- 
kannt sein; sie würden ausgejätet werden; und von 
den übrig bleibenden soll jeder roh sein dürfen nach 
Herzenslust. 



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